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de Gruyter Lehrbuch Ralf Steudel Chemie der Nichtmetalle
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Ralf Steudel
Chemie der Nichtmetalle Von Struktur und Bindung zur Anwendung 3., vollständig neu bearbeitete Auflage unter Mitwirkung von Ingo Krossing und Yana Steudel
Walter de Gruyter · Berlin · New York
IV Professor Dr. rer. nat. Ralf Steudel Institut für Chemie Technische Universität Berlin Straße des 17. Juni 135 10623 Berlin Professor Dr. Ingo Krossing Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Anorganische und Analytische Chemie Albertstraße 21 79104 Freiburg Dr. Yana Steudel Institut für Chemie Technische Universität Berlin Straße des 17. Juni 135 10623 Berlin Das Buch enthält 133 Abbildungen und 57 Tabellen.
ISBN 978-3-11-019448-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Ü Gedruckt auf säuerefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
© Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Datenkonvertierung: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde. – Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza. – Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen. Einbandkonzept: +malsy, Willich.
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Vorwort Das vorliegende Buch ist ursprünglich aus Vorlesungen entstanden, die ich viele Jahre lang an der Technischen Universität Berlin gehalten habe und die auf Anregung des Verlages zu einem Lehrbuch erweitert wurden. Es wendet sich an Studierende der Chemie in allen Stufen der Ausbildung vom Vordiplom oder Bachelor bis zur Promotion. Nachdem die früheren Auflagen über mehrere Jahrzehnte an den Hochschulen und Fachhochschulen freundlich aufgenommen und darüber hinaus in mehrere Sprachen übersetzt wurden, hoffe ich, dass diese Neubearbeitung ebenso viele Leser finden möge. Die bewährte Einteilung in einen theoretischen Teil I und einen stofflichen Teil II wurde beibehalten. Der gesamte Text wurde auf den neuesten Stand gebracht. Dabei hat der neue Koautor, Prof. Dr. Ingo Krossing, frische Ideen eingebracht und an der Bearbeitung der Kapitel 2 (Bindungstheorie), 10 (Phosphor, Arsen) und 13.1 (Fluor) mitgewirkt. Alle Gleichungen, Grafiken und Abbildungen wurden neu erstellt und optimiert. An größeren Änderungen sind außerdem folgende zu erwähnen. Im allgemeinen Teil I wurde auf die bisherige Darstellung des Atombaues und der Valence-Bond-Theorie der kovalenten Bindung verzichtet. Dadurch ist das Werk etwas schlanker geworden. Da die Molekülorbital-Theorie im Bereich der Anorganischen Chemie der VB-Theorie weit überlegen ist, werden die Bindungsverhältnisse in allen Molekülen prinzipiell auf der Grundlage der MO-Theorie erklärt, was in der Lehrbuchliteratur nicht weit verbreitetet ist. Die zuvor im Kapitel „Schwefel, Selen, Tellur“ untergebrachte Behandlung der hypervalenten oder hyperkoordinierten Verbindungen wurde in das Kapitel 2 „Chemische Bindung“ vorgezogen. Ein Abschnitt über quantenchemische Rechenmethoden ist in diesem Kapitel neu hinzu gekommen. Damit sollen die mehr präparativ orientierten Leser in die Lage versetzt werden, wissenschaftliche Publikationen mit einem theoretischen Teil nach ihrer Qualität zu beurteilen. Aktualisiert wurde auch das Kapitel Bindungseigenschaften, in dem die an kovalenten Bindungen messbaren Größen erläutert werden. Im speziellen Teil II werden die nichtmetallischen Elemente und ihre wichtigsten und interessantesten Verbindungen behandelt, wobei die Reihenfolge der Kapitel der Stellung der Elemente im Periodensystem angepasst wurde. Dabei wird den heutigen Erwartungen entsprechend in viel stärkerem Umfang als zuvor auf die zahlreichen praktischen Anwendungen der entsprechenden Verbindungen und Produkte im täglichen Leben und auf ihre Bedeutung für die Industrie, die Landwirtschaft, die Medizin, den Umweltschutz und andere Bereiche hingewiesen. Die Literatur wurde bis zum Frühjahr 2008 berücksichtigt. Die zahlreichen im Text angegebenen Zitate haben den Zweck, über neuere Quellen einen Einstieg in die betreffenden Sachverhalte zu ermöglichen. Nicht immer sind dabei die zitierten Autoren diejenigen, denen der Verdienst um eine bestimmte Entdeckung zukommt, insbesondere bei den zitierten Übersichtsartikeln und Fortschrittsberichten. Um den Umfang der Fußnoten in Grenzen zu halten, wurde bei Arbeiten mit mehr als drei Autoren auf die Nennung aller Namen bis auf einen verzichtet. Nur ausnahmsweise zitiert wurden die bekannten Handbücher der Anorganischen Chemie (z.B. GMELIN) und der Chemischen Technologie (z.B. ULLMANN, WINNACKER-KÜCHLER und KIRK-OTHMER), die jedoch nach wie vor außerordentlich wichtige Quellen für verlässliche Informationen sind. Solchen Nachschlage-
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Vorwort
werken, die von Experten verfasst wurden und die auf einer kritischen Sichtung der Literatur beruhen, ist der Vorzug zu geben vor anonym publizierten Datensammlungen im Internet, die oft gravierende Fehler enthalten. Auch die jährlich erscheinenden Fortschrittsberichte der Royal Society of Chemistry zur Anorganischen Chemie (Ann. Rep. Prog. Chem., Sect. A) bieten eine gute Möglichkeit, sich über aktuelle Entwicklungen bezüglich einzelner Elemente zu informieren (www.rsc.org/annrepa). Dieses Lehrbuch hat von zahlreichen stimulierenden Diskussionen mit Studierenden, Doktoranden und Kollegen profitiert, denen ich für ihre Hinweise danke. Anregungen und Kritik der Leser sind immer willkommen. Meiner Frau Dr. Yana Steudel danke ich sehr herzlich für die aufopferungsvolle Mitarbeit bei der Erstellung der mehr als 1000 Grafiken und Abbildungen sowie dem Verlag Walter de Gruyter für die konstruktive Zusammenarbeit. Berlin-Charlottenburg, im Juli 2008
Ralf Steudel, TU Berlin
Inhalt
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Inhalt Teil I: Die chemische Bindung 1
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die chemische Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.1 Die Ionenbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.1.2 Die Ionisierungsenergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.1.3 Die Elektronenaffinität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.1.4 Ionengitter und Ionenradien . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.1.5 Gitterenergie und Gitterenthalpie . . . . . . . . . . . . . . 16 2.1.6 Bestimmung von Gitterenergie und Gitterenthalpie . . . . . 17 2.1.7 Bedeutung der Gitterenthalpie . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1.8 Polarisation von Anionen durch Kationen . . . . . . . . . . 22 2.2 Moleküle und ihre Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.2.1 Strukturbestimmungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.2.2 Die VSEPR-Methode zur Strukturermittlung . . . . . . . . 26 2.3 Molekülsymmetrie und Punktgruppensymbole . . . . . . . . . . . . . 36 2.4 Die kovalente Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.4.1 Das Molekül-Ion [H2]+ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.4.2 Das Molekül H2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.4.3 Homonukleare Moleküle mit s- und p-Orbitalen . . . . . . 53 2.4.4 Photoelektronenspektroskopie kleiner Moleküle . . . . . . 59 2.4.5 Heteronukleare zweiatomige Moleküle . . . . . . . . . . . 62 2.4.6 Dreiatomige Moleküle der Symmetrie D∞h . . . . . . . . . 64 2.4.7 Dreiatomige Moleküle der Symmetrie C2v . . . . . . . . . . 68 2.4.8 Vieratomige Moleküle der Symmetrie D3h . . . . . . . . . . 70 2.4.9 Vieratomige Moleküle der Symmetrie C3v . . . . . . . . . . 74 2.4.10 Fünfatomige Moleküle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2.5 Die koordinative Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2.6 Hyperkoordinierte oder hypervalente Verbindungen . . . . . . . . . . 83 2.7 Quantenchemische Berechnung von Struktur und Eigenschaften von Molekülen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.7.1 Physikalische Grundlagen: ab initio-Methoden . . . . . . . 91 2.7.2 Näherungen für die Wellenfunktion/Molekülorbitale . . . . 91 2.7.3 Ab initio-Methoden: Näherungen für den HAMILTON-Operator 95 2.7.4 Ab initio-Methoden: Das Basissatz- und Korrelations-Limit 98 2.7.5 DFT-Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.7.6 Ablauf einer quantenchemischen Geometrieoptimierung . . 101 2.7.7 Qualität der Geometrieoptimierung am Beispiel von P4 und S4N4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2.7.8 Berechnung physikalischer Messgrößen . . . . . . . . . . . 103
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Inhalt
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Die VAN DER WAALS-Wechselwirkung 3.1 Der Dipoleffekt . . . . . . . . 3.2 Der Induktionseffekt . . . . . 3.3 Der Dispersionseffekt . . . . 3.4 VAN DER WAALS-Radien . . . 3.5 VAN DER WAALS-Moleküle . .
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Bindungseigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Bindungsenthalpie und Dissoziationsenthalpie . . . . . . . . 4.2.1 Zweiatomige Moleküle . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Mehratomige Moleküle . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Warum ist Sauerstoff gasförmig und Schwefel fest? 4.3 Der Kernabstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die Valenzkraftkonstante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Zweiatomige Moleküle . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Zweiatomige Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Dreiatomige Moleküle . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Zusammenhänge zwischen den Bindungseigenschaften . . . . 4.6 Polarität kovalenter Bindungen und Elektronegativität . . . . 4.6.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2 Elektronegativitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3 Das Bindungsmoment . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Elektronendichteverteilung in Molekülen und Kristallen . . .
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Wasserstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Elementarer Wasserstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Wasserstoff-Ionen H+ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Säuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Basen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Die relative Stärke von Säuren und Basen . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Verdünnte Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Konzentrierte und wasserfreie Säuren . . . . . . . . . . . . . 5.6 Die Wasserstoffbrückenbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2 Allgemeine Eigenschaften von Wasserstoffbrücken . . . . . 5.6.3 Experimenteller Nachweis von Wasserstoffbrücken . . . . . 5.6.4 Beispiele für Wasserstoffbrückenbindungen . . . . . . . . . 5.6.5 Theorie der Wasserstoffbrückenbindung . . . . . . . . . . . 5.7 Wasserstoffverbindungen (Hydride) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.2 Kovalente Hydride . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.3 H2 als Komplexligand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.4 Salzartige Hydride . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.5 Metall- oder legierungsartige Hydride (Einlagerungshydride)
149 149 154 156 160 162 162 165 167 167 169 170 173 181 185 185 186 186 188 191
Teil II: Chemie der Nichtmetalle 5
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Inhalt
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Bor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . 6.2 Bindungsverhältnisse . . . . . . . . 6.3 Elementares Bor . . . . . . . . . . . 6.3.1 Herstellung . . . . . . . . 6.3.2 Kristallstrukturen . . . . . 6.3.3 Bindungsverhältnisse . . . 6.4 Metallboride und Borcarbid . . . . . 6.4.1 Boride . . . . . . . . . . 6.4.2 Borcarbid . . . . . . . . . 6.5 Borane und Hydroborate . . . . . . 6.5.1 Allgemeines . . . . . . . 6.5.2 Diboran . . . . . . . . . . 6.5.3 Höhere Borane . . . . . . 6.5.4 Hydroborate . . . . . . . 6.6 Organoborane . . . . . . . . . . . . 6.7 Carborane . . . . . . . . . . . . . . 6.8 Halogenide des Bors . . . . . . . . 6.8.1 Trihalogenide . . . . . . . 6.8.2 Subhalogenide . . . . . . 6.9 Sauerstoffverbindungen des Bors . . 6.9.1 Allgemeines . . . . . . . 6.9.2 Bortrioxid und Borsäuren 6.9.3 Borate . . . . . . . . . . 6.10 Bor-Stickstoff-Verbindungen . . . . 6.10.1 Allgemeines . . . . . . . 6.10.2 Borazin . . . . . . . . . . 6.10.3 Bornitrid . . . . . . . . . 6.10.4 Nitridoborate . . . . . . .
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195 195 196 199 200 201 202 204 204 205 206 206 207 209 211 214 215 217 218 219 221 221 221 224 226 226 227 229 231
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Kohlenstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Bindungsverhältnisse . . . . . . . . . . . 7.3 Modifikationen des Kohlenstoffs . . . . . 7.3.1 Graphit . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Diamant . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Fullerene . . . . . . . . . . . . 7.3.4 Kohlenstoff-Nanoröhren . . . . 7.3.5 Oberflächenverbindungen . . . 7.4 Ruß, Kohle und Koks . . . . . . . . . . . 7.5 Graphitverbindungen . . . . . . . . . . . 7.5.1 Kovalente Graphitverbindungen 7.5.2 Ionische Graphitverbindungen . 7.6 Halogenide des Kohlenstoffs . . . . . . . 7.7 Chalkogenide des Kohlenstoffs . . . . . . 7.7.1 Oxide . . . . . . . . . . . . . . 7.7.2 Sulfide, Selenide, Telluride . .
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X
Inhalt
7.8
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7.7.3 Kohlensäuren und Carbonate . . . . . . . . Nitride des Kohlenstoffs . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8.1 Hydrogencyanid und Cyanide . . . . . . . . 7.8.2 Binäre Kohlenstoff-Stickstoff-Verbindungen
Silicium und Germanium . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Bindungsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . 8.3 Die Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Silicide und Germanide . . . . . . . . . . . 8.5 Hydride von Silicium und Germanium . . . 8.5.1 Herstellung . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Reaktion der Silane . . . . . . . . 8.6 Halogenide von Silicium und Germanium . . 8.6.1 Fluoride . . . . . . . . . . . . . . 8.6.2 Chloride . . . . . . . . . . . . . . 8.6.3 Sonstige Si-Halogenide . . . . . . 8.7 Oxide von Silicium und Germanium . . . . . 8.8 Oxosäuren, Silicate und Germanate . . . . . 8.8.1 Kieselsäuren und Siloxane . . . . 8.8.2 Silicate . . . . . . . . . . . . . . . 8.8.3 Germanate . . . . . . . . . . . . . 8.9 Gläser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.10 Silicium-Stickstoff-Verbindungen . . . . . . 8.11 Organosilicium-Verbindungen . . . . . . . . 8.11.1 Organosilane . . . . . . . . . . . 8.11.2 Ungesättigte Organosilicium- und -germanium-Verbindungen . . . . 8.11.3 Organosiloxane . . . . . . . . . . 8.12 Sonstige Si-Verbindungen . . . . . . . . . . 8.12.1 Siliciumcarbid . . . . . . . . . . . 8.12.2 Siliciumnitrid . . . . . . . . . . . 8.12.3 Siliciumsulfide . . . . . . . . . .
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Stickstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Elementarer Stickstoff . . . . . . . . . . . . . . 9.2 N2 als Komplexligand . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Bindungsverhältnisse in Stickstoffverbindungen 9.4 Hydride des Stickstoffs . . . . . . . . . . . . . . 9.4.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . 9.4.2 Ammoniak NH3 . . . . . . . . . . . . 9.4.3 Hydrazin N2H4 . . . . . . . . . . . . 9.4.4 Diazen (Diimin) N2H2 . . . . . . . . . 9.4.5 Hydrogenazid HN3 und Azide . . . . 9.4.6 Tetrazen(2) N4H4 . . . . . . . . . . . 9.4.7 Hydroxylamin NH2OH . . . . . . . . 9.4.8 Wasserähnliche Lösungsmittel . . . .
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XI
Inhalt
9.5 9.6
9.7
Halogenide und Oxidhalogenide des Stickstoffs . . . . . . . . 9.5.1 Halogenide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5.2 Oxidhalogenide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oxide des Stickstoffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.2 Distickstoffoxid N2O . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.3 Stickstoffmonoxid NO und Distickstoffdioxid N2O2 9.6.4 Distickstofftrioxid N2O3 . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.5 Stickstoffdioxid NO2 und Distickstofftetroxid N2O4 . 9.6.6 Distickstoffpentoxid N2O5 . . . . . . . . . . . . . . Sauerstoffsäuren des Stickstoffs . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7.2 Salpetersäure HNO3 oder HONO2 . . . . . . . . . . 9.7.3 Peroxosalpetersäure HNO4 bzw. HOONO2 . . . . . 9.7.4 Salpetrige Säure HNO2 bzw. HONO . . . . . . . . . 9.7.5 Peroxosalpetrige Säure HOONO . . . . . . . . . . . 9.7.6 Hyposalpetrige Säure (HON)2 . . . . . . . . . . . .
10 Phosphor und Arsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Bindungsverhältnisse in P- und As-Verbindungen . . . 10.3 Phosphor und Arsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 Herstellung der Elemente . . . . . . . . . . 10.3.2 Modifikationen von Phosphor und Arsen . . 10.4 Hydride von Phosphor und Arsen . . . . . . . . . . . . 10.4.1 Phosphan und Arsan . . . . . . . . . . . . . 10.4.2 Diphosphan(4) . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Phosphide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Organophosphane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.7 Diphosphene und Phosphaalkine . . . . . . . . . . . . 10.8 Halogenide des Phosphors und Arsens . . . . . . . . . 10.8.1 Trihalogenide EX3 . . . . . . . . . . . . . . 10.8.2 Tetrahalogenide E2X4 . . . . . . . . . . . . . 10.8.3 Pentahalogenide EX5 . . . . . . . . . . . . . 10.8.4 Starke LEWIS-Säuren . . . . . . . . . . . . . 10.9 Phosphorane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.10 Oxide des Phosphors und Arsens . . . . . . . . . . . . 10.10.1 Phosphor(III)-oxid . . . . . . . . . . . . . . 10.10.2 Phosphor(V)-oxid . . . . . . . . . . . . . . 10.10.3 Arsenoxide . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.11 Sulfide des Phosphors und Arsens . . . . . . . . . . . 10.12 Oxosäuren von Phosphor und Arsen und deren Derivate 10.12.1 Oxosäuren mit einem P-Atom . . . . . . . . 10.12.2 Kondensierte Phosphorsäuren . . . . . . . . 10.12.3 Peroxophosphorsäuren . . . . . . . . . . . . 10.12.4 Thiophosphorsäuren . . . . . . . . . . . . . 10.12.5 Halogeno- und Amidophosphorsäuren . . . .
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336 336 339 340 340 341 341 344 345 347 348 348 348 350 351 352 352
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355 355 355 358 359 360 363 364 365 366 368 370 371 372 374 374 377 379 381 381 382 384 385 387 387 391 392 393 393
XII
Inhalt
10.12.6 Oxo- und Thiosäuren des Arsens und ihre Salze . . . . . . . 393 10.13 Phosphor(V)-nitrid und Nitridophosphate . . . . . . . . . . . . . . . . 394 10.14 Phosphazene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 11 Sauerstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Elementarer Sauerstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.1 Molekularer Sauerstoff O2 . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.2 Atomarer Sauerstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.3 Ozon O3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Bindungsverhältnisse am Sauerstoffatom in kovalenten und ionischen Verbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.1 Oxide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.2 Peroxide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.3 Superoxide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.4 Ozonide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.5 Dioxygenylverbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.6 Vergleich der Bindungsverhältnisse in den Ionen [O2]•+, [O2]• – und [O2]2– . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Hydride des Sauerstoffs und Peroxoverbindungen . . . . . . . . . . . 11.3.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.2 Wasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.3 Wasserstoffperoxid H2O2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.4 Das Hydroxylradikal [OH]• . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Fluoride des Sauerstoffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.2 Sauerstoffdifluorid OF2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.3 Disauerstoffdifluorid O2F2 . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Bindungsverhältnisse in den Hydriden und Fluoriden des Sauerstoffs 12 Schwefel, Selen und Tellur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Bindungsverhältnisse und Tendenzen in der 16. Gruppe 12.3 Herstellung der Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.1 Gewinnung von Schwefel . . . . . . . . . . . 12.3.2 Herstellung von Selen und Tellur . . . . . . . 12.4 Modifikationen der Chalkogene . . . . . . . . . . . . . 12.4.1 Schwefel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4.2 Modifikationen von Selen und Tellur . . . . . 12.5 Homoatomare Chalkogen-Kationen . . . . . . . . . . . 12.6 Kettenaufbau- und -abbau-Reaktionen . . . . . . . . . . 12.7 Hydride der Chalkogene . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.7.1 Hydride H2E . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.7.2 Polysulfane H2Sn . . . . . . . . . . . . . . . 12.8 Metallchalkogenide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.9 Diorganopolysulfane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.10 Oxide der Chalkogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.10.1 Dioxide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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399 399 399 406 407
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411 411 414 415 416 417
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418 419 419 419 421 425 426 426 426 427 428
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431 431 432 434 434 435 436 436 443 444 447 448 448 449 451 455 455 456
XIII
Inhalt
12.10.2 Trioxide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.10.3 Niedere Schwefeloxide . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.11 Oxo-, Thio- und Halogeno-Säuren der Chalkogene . . . . . . . 12.11.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.11.2 Schweflige Säure (H2SO3) . . . . . . . . . . . . . . . 12.11.3 Selenige Säure (H2SeO3) und Tellurige Säure (H2TeO3) 12.11.4 Schwefelsäure (H2SO4) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.11.5 Selensäure (H2SeO4) und Tellursäuren (H2TeO4 und Te(OH)6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.11.6 Peroxoschwefelsäuren (H2SO5, H2S2O8) . . . . . . . . 12.11.7 Halogenoschwefelsäuren (HSnO3nX) . . . . . . . . . . 12.11.8 Thioschwefelsäure (H2S2O3) und Sulfandisulfonsäuren (H2SnO6). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.11.9 Dithionsäure (H2S2O6) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.11.10 Dithionige Säure (H2S2O4) . . . . . . . . . . . . . . . 12.12 Halogenide und Oxidhalogenide . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.12.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.12.2 Schwefelhalogenide . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.12.3 Schwefeloxidhalogenide . . . . . . . . . . . . . . . . 12.12.4 Selen- und Tellurhalogenide . . . . . . . . . . . . . . 12.13 Schwefel-Stickstoff-Verbindungen . . . . . . . . . . . . . . . .
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458 461 462 462 463 465 466
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470 471 471 472 472 473 477 478 480
13 Die Halogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Die Elemente Fluor bis Iod . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Bindungsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Fluor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4.1 Herstellung von Fluor . . . . . . . . . . . . . . . 13.4.2 Eigenschaften von Fluor . . . . . . . . . . . . . . 13.4.3 Herstellung von Fluoriden . . . . . . . . . . . . . 13.4.4 Verwendung fluorierter Verbindungen . . . . . . . 13.4.5 Bindungsverhältnisse in Fluoriden . . . . . . . . . 13.4.6 Stabilisierung niedriger Oxidationsstufen . . . . . 13.5 Chlor, Brom und Iod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.1 Herstellung und Eigenschaften der Elemente . . . 13.5.2 Halogenide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.3 Polyhalogenid-Ionen . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.4 Positive Halogen-Ionen . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.5 Interhalogenverbindungen . . . . . . . . . . . . . 13.5.6 Sauerstoff-Verbindungen von Chlor, Brom und Iod 13.6 Pseudohalogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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485 485 486 488 489 489 491 491 493 496 497 499 499 502 504 507 509 512 523
14 Die Edelgase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2 Vorkommen, Gewinnung und Verwendung 14.3 Xenonverbindungen . . . . . . . . . . . . 14.3.1 Xenonfluoride . . . . . . . . .
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525 525 526 527 528
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XIV
Inhalt
14.3.2 Reaktionen der Xenonfluoride . . . . . . . . . . . . 14.3.3 Oxide und Oxosalze des Xenons . . . . . . . . . . . 14.3.4 Oxidfluoride des Xenons . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.5 Sonstige Xenon-Verbindungen . . . . . . . . . . . . 14.4 Verbindungen der übrigen Edelgase . . . . . . . . . . . . . . . 14.5 Elektronegativitäten der Edelgase . . . . . . . . . . . . . . . . 14.6 Bindungsverhältnisse bei Edelgasverbindungen . . . . . . . . . 14.6.1 Zweiatomige Moleküle und Ionen . . . . . . . . . . 14.6.2 Mehratomige Moleküle und Ionen . . . . . . . . . . 14.6.3 Existenz und Nichtexistenz von Edelgasverbindungen
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529 531 532 533 535 536 537 537 537 540
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
Teil I: Chemische Bindung und Moleküleigenschaften
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Einführung
Deutschland ist der viertgrößte Chemieproduzent der Welt – hinter den USA, Japan und China – und in Europa mit Abstand führend. Der Anteil Deutschlands an der weltweiten Chemieproduktion betrug im Jahre 2006 rund 8 %, bei einem Umsatz von mehr als 150 Milliarden Euro, erwirtschaftet von 440000 Mitarbeitern. Das ist mehr als der Anteil der gesamten deutschen Wirtschaftsleistung an der Weltwirtschaft (6 %). Mehr als 40 Chemieparks gibt es in Deutschland, darunter die BASF mit dem größten Chemieareal der Welt in Ludwigshafen. Die nichtmetallischen Elemente und ihre Verbindungen bilden die Grundlage vieler klassischer und moderner industrieller Verfahren und wichtiger Anwendungen, ohne die die Menschheit nicht in dem Wohlstand leben könnte, der sich zumindest in den Industrie- und Schwellenländern entwickelt hat. Klassische Produkte sind beispielsweise die Düngemittel auf Basis von Ammoniak, die dafür sorgen, dass die meisten Menschen ausreichend zu essen haben und ohne die in den vergangenen hundert Jahren wohl mehrere Milliarden (und nicht Millionen) Menschen verhungert wären. Für die Entwicklung und Erforschung der Ammoniak-Synthese aus den Elementen wurden daher nicht weniger als drei Nobelpreise vergeben. Auch das 1880 in Deutschland eingeführte SOLVAY-Verfahren zur Sodaherstellung, das 1888 von SIEMENS erfundene und noch heute verwendete Verfahren zur O3-Herstellung im elektrischen Ozonisator, die erste technische ChloralkaliElektrolyse, die 1890 in Griesheim installiert wurde, oder das 1895 in Louisiana, USA, eingeführte FRASCH-Verfahren zur Schwefel-Gewinnung sind bis heute wichtige Prozesse. Im Jahre 1911 wurde die erste Wasserstoffperoxid-Fabrik der Welt in Kärnten errichtet, und 1915 begann die Produktion von Salpetersäure aus Ammoniak in Hoechst. 1933 wurde erstmals fast reines D2O durch fortgesetzte Elektrolyse von Wasser isoliert und damit die Voraussetzung für den späteren Bau von Kernreaktoren geschaffen. Die 1941 von ROCHOW und Mitarbeitern entwickelte Direktsynthese von Methylchlorsilanen bildet bis heute die Grundlage der Silikonchemie, die global ein Milliardengeschäft darstellt. Diesen klassischen und teilweise schon historischen Verfahren stehen zahlreiche moderne Entwicklungen gegenüber, die auf den 23 nichtmetallischen Elementen basieren. Dies kann mit einem kurzen Streifzug quer durch den entsprechenden Teil des Periodensystems leicht dokumentiert werden, denn nichtmetallische Produkte begleiten uns heute direkt oder indirekt durch jeden Tag. Wasserstoff dient heute nicht mehr nur als chemisches Reduktions- und Hydrierungsreagenz, sondern in steigendem Maße als sekundärer Energieträger für umweltfreundliche Fahrzeuge, sei es durch direkte Verbrennung in einem klassischen Motor, sei es durch Erzeugung elektrischer Energie in Brennstoffzellen. Daher sind die effiziente Erzeugung und die kostengünstige Speicherung dieses Elementes aktuelle Forschungsthemen von überragender Bedeutung. Möglicherweise wird anstelle der geplanten Wasserstoffwirtschaft aber eine Methanolwirtschaft treten, wobei das leicht zu speichernde MeOH aus CO2 und H2 herzustellen wäre.1 Andererseits fliegen Raketen, angetrieben durch die Ver1
G. A. Olah, A. Goeppert, G. K. Surya Prakash, Beyond Oil and Gas: The Methanol Economy, Wiley-VCH, Weinheim, 2006.
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1 Einführung
brennung von flüssigem Wasserstoff mit flüssigem Sauerstoff oder – im Falle von Feststoffraketen – von einer Mischung aus Ammoniumperchlorat und Aluminiumpulver, in den Weltraum und erlauben die Stationierung von Satelliten in Erdumlaufbahnen sowie den Aufbau und Betrieb der Internationalen Raumstation. Zurück zur Erde: Wasserstoffbrücken-Bindungen sind Strukturelemente, die fast das gesamte belebte und unbelebte Geschehen auf unserem Planeten beeinflussen, vom flüssigen Wasser in den Ozeanen bis zur Doppelhelix der DNA. Das Element Bor tritt uns als Bornitrid und Borcarbid in Form von Hochleistungskeramiken und als Neutronenabsorber in Kernreaktoren entgegen. Der große Neutroneneinfangquerschnitt von 10B gibt auch Anlass zu der Hoffnung, dass mit borreichen Verbindungen eine bessere Strahlentherapie von Krebsgeschwüren entwickelt werden kann. Überzüge aus Bornitrid oder Diamant auf Metallen veredeln bereits heute deren Eigenschaften und ermöglichen neue Anwendungen unter extremen Bedingungen. Hydroborate sind unverzichtbare Reduktionsmittel in der chemischen Synthese und Borane erlauben über die Hydroborierungsreaktion den Zugang zu synthetisch wertvollen Organoborverbindungen. Bleichmittel wie Perborat als Komponenten von Waschmitteln helfen seit langem, Wäsche zu reinigen. Elementarer Kohlenstoff in Form von Graphit dient als Anodenmaterial in modernen Lithium-Ionen-Batterien, die unsere Camcorder, Mobiltelefone und Notebooks mit elektrischer Energie versorgen. Diamanten werden nicht nur für Schmuckzwecke verwendet, sondern sind wegen ihrer Härte für Hochleistungsschneid- und -bohrwerkzeuge nahezu unersetzlich. Ruß wird in riesigem Umfang in der Reifen- und Druckindustrie eingesetzt, unter anderem auch in den Tonern der weit verbreiteten Laserdrucker. Carbonfasern sind im Flugzeugbau als ultraleichte und doch sehr feste Materialien geschätzt. Die Entdeckung der faszinierenden Fullerene hat für ein Fülle neuer organischer Verbindungen gesorgt, und die damit verwandten Kohlenstoff-Nanoröhren werden gegenwärtig für subtile elektronische Anwendungen intensiv erforscht (>5000 Publikationen allein in 2007!). Dem steht das Problem der globalen Erwärmung gegenüber, die auf die Absorption von infraroter Strahlung durch kleine Moleküle wie H2O, CO2, N2O und CH4 in der Atmosphäre zurückzuführen ist, und die dazu führt, dass neue Technologien der Energieerzeugung und der unterirdischen CO2-Speicherung eingeführt werden müssen. Silicium, zweithäufigstes Element in der Erdkruste und daher seit dem Altertum in Gestalt der natürlichen Silikate für Keramiken und Gläser genutzt, bildet heute in hochreiner Form die Basis für den Bau von miniaturisierten Transistoren und Schaltkreisen, ohne die die moderne Kommunikations- und Unterhaltungsindustrie nicht existieren würde. Silane, erstmals 1916 von STOCK und Mitarbeitern gründlich studiert, sind zusammen mit den Chlorsilanen Vorstufen für die Herstellung des von der Mikroelektronik geforderten ultrareinen Siliciums. Mono- und polykristallines dotiertes Silicium dienen in Solarmodulen zur regenerativen und dezentralen Stromerzeugung. Silikone andererseits sind Materialien für eine unüberschaubare Zahl von Anwendungen nicht nur im Labor und in der chemischen Industrie, sondern auch im Maschinenbau, im Fahrzeugbau, im Hochbau und neuerdings sogar in der Küche in Gestalt von Backformen und allerlei anderen Utensilien, ganz abgesehen von den medizinischen Implantaten. Lichtleiter aus hochreinem Siliciumdioxid bringen uns zahlreiche Fernsehprogramme ins Haus, und moderne „hightech“ und „high-chem“ Produkte wie Fasern aus Silicaten oder Siliciumcarbid haben neuartige Verbundwerkstoffe und Wärmedämmungsmaterialien ermöglicht. Und schließlich
1 Einführung
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nutzen wir ein spezielles Lithiumaluminiumsilicat als temperaturunempfindlichen Werkstoff CERAN für die Kochfelder moderner Küchenherde. Stickstoff ist nicht nur als Inertgas im Labor und bei der Verpackung von Lebensmitteln täglich präsent, sondern in Form von Ammoniak und Salpetersäure in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen. Die weltweite Produktion von Ammoniak steigt seit 1950 noch stärker als die Weltbevölkerung an. Hochenergietreibstoffe wie Hydrazin und seine Derivate helfen, Raumfahrzeuge zielgenau zu fernen Planeten und Kometen zu steuern. Andererseits belasten Stickoxide aus Verbrennungsanlagen und -motoren die irdische Atmosphäre. Chemiker und Ingenieure haben aber mittlerweile kluge Lösungen zur katalytischen Entfernung von NOx aus Rauch- und Abgasen gefunden. Zu allgemeiner Überraschung selbst der Fachwelt wurde aber das kleine radikalische Molekül NO, bekannt als Zwischenprodukt der Salpetersäure-Herstellung, auch als ein Neurotransmitter im menschlichen Körper erkannt, wo es für die Regulierung von Blutdruck, Blutgerinnung und Immunsystem zuständig ist, eine Erkenntnis, die 1998 mit dem Nobelpreis für Medizin honoriert wurde und die kurz danach zur Entwicklung neuer Medikamente geführt hat. Phosphor ist das Element, das im Körper von Säugetieren in Form von Adenosintriphosphat (ATP) für die Energieversorgung der Muskeln sorgt. Ungefähr 40 kg ATP verbraucht ein ruhender Mensch an einem Tag. Dieser Wert steigt bei schwerer Arbeit bis auf 0.5 kg pro Minute! Daher spielen P-haltige Dünge- und Futtermittel in der Agrarwirtschaft und Tierproduktion eine zentrale Rolle. Auch viele unserer Nahrungsmittel und Getränke enthalten Phosphate, unter anderem auch als Rohstoff für den Knochenaufbau. Grundlage der Energielieferung von ATP ist seine exotherme Hydrolyse zum Diphosphat ADP, bei der 61.1 kJ mol–1 freigesetzt werden. Eine analoge Reaktion spielt sich bei der industriellen Herstellung thermischer Phosphorsäure aus P4O10 ab, die wiederum für die Herstellung derjenigen Phosphate gebraucht wird, die in großem Umfang als konservierende und Geschmack-verbessernde Lebensmittelzusätze verwendet werden. Daneben sind die zahllosen Stickstoff- und Phosphor-haltigen Wirkstoffe zu nennen, die der Landwirtschaft helfen, Schädlinge zu bekämpfen. Arsen und seine Verbindungen werden allgemein als Giftstoffe angesehen und in der Tat wird diese Eigenschaft medizinisch und landwirtschaftlich genutzt. Beispielsweise ist Arsenik seit dem Jahr 2000 auch in Europa zur Therapie einer speziellen Variante der Leukämie zugelassen (Handelsname Trisenox), und gewisse Organoarsenverbindungen werden zur Behandlung der Schlafkrankheit sowie im Pflanzenschutz eingesetzt. Mit der Entdeckung der heilsamen Wirkung des Salvarsans (RAs)n (n = 3–5) und des Neosalvarsans durch PAUL EHRLICH2 und Mitarbeiter wurde im Jahre 1910 die Chemotherapie begründet. Heute wird Arsen aber auch als Legierungsbestandteil in Metallen und vor allem als Komponente der Halbleiter Galliumarsenid und Indiumarsenid hoch geschätzt. Sauerstoff, häufigstes Element auf der Erdoberfläche und Lebenselixier für die Atmung von Pflanzen, Tieren und Menschen, wird in modernen Anwendungen vor allem in Form zahlreicher Peroxoverbindungen eingesetzt, allen voran H2O2, das als umweltfreundliches Oxidationsmittel in enormen Mengen produziert wird. Andererseits bewegen uns Sauerstoffradikale, die im menschlichen Körper krebserregende und AlterungsProzesse in Gang setzen und die wir daher durch Verzehr von Antioxidantien in Gestalt von Vitaminen, Schokolade und Rotwein zu zügeln versuchen. Die moderne Stahlpro2
Nobelpreis für Medizin des Jahres 1908.
6
1 Einführung
duktion kann auf die oxidierende Wirkung von reinem Sauerstoff nicht verzichten, um Roheisen zu Stahl zu veredeln. Von den übrigen Chalkogenen ist der Schwefel in Gestalt der Schwefelsäure das Arbeitspferd der chemischen Industrie, wird doch diese Chemikalie in größeren Mengen produziert als jede andere Verbindung. Dabei spielt das moderne Doppelkontakt-Verfahren eine entscheidende Rolle. Der benötigte Elementarschwefel wird zum größten Teil durch Entschwefelung von Erdgas und Rohöl hergestellt, wofür ebenfalls modernste Verfahren entwickelt wurden, um die Umwelt vor schwefelhaltigen Abgasen zu bewahren. Schwefelverbindungen dienen andererseits dazu, im Rahmen einer verfeinerten Technologie der Gummivulkanisation besonders langlebige Autoreifen herzustellen. Die schon länger bekannte Natrium-Schwefel-Batterie wird gegenwärtig als fortschrittlichstes Stromspeichersystem für den Megawattbereich entwickelt. Damit lassen sich die zeitlichen Differenzen zwischen Angebot und Nachfrage nach elektrischer Energie als Folge der zunehmenden Stromerzeugung aus Wetter- und Tageszeit-abhängigen Wind- und Solaranlagen ausgleichen, in Analogie zur Funktion eines Pumpspeicherwerkes. Und wenn wir in Bewunderung all dieses Fortschritts am Wochenende eine Flasche Wein genießen, werden wir daran erinnert, dass SO2 und Sulfite seit dem Altertum als Konservierungsstoffe eingesetzt werden. Selen ist zwar ein eher seltenes Element, aber für Säugetiere essentiell und wegen der allmählichen Verarmung der landwirtschaftlichen Böden ein wichtiger Bestandteil von Mineraldüngern. Mehr als 20 natürlich vorkommende und zum größten Teil essentielle Se-haltige Proteine wurden identifiziert. Daneben sind elementares Selen und bestimmte Metallselenide wie CuInSe2 als Photohalbleiter geschätzt. Das lange Zeit etwas exotische Halogen Fluor, erstmals 1886 von HENRI MOISSAN3 hergestellt, tritt uns heutzutage in Hochleistungswerkstoffen wie Teflon und Nafion, aber auch in zahlreichen pharmazeutischen Präparaten als lipophiler Substituent entgegen. Zahncremes enthalten ionische Fluoride, um der Karies entgegen zu wirken, Na3AlF6 ist der Elektrolyt bei der technischen Aluminium-Herstellung, UF6 hilft, die Uranisotope 235U und 238U zu trennen, und SF dämmt als Isoliergas in Doppelscheibenfenstern 6 den Wärmeverlust aus Wohngebäuden. Besonderes Interesse haben aber die zahlreichen neuen Verbindungen erregt, die nur unter Verwendung von elementarem Fluor hergestellt werden können, allen voran die Edelgasverbindungen, deren Strukturen und Eigenschaften die Weiterentwicklung der chemischen Bindungstheorie entscheidend beeinflusst haben. Chlor andererseits ist industriell das bei weitem wichtigste und daher völlig unverzichtbare Halogen, werden doch nahezu unendlich viele organische Verbindungen über chlorhaltige Zwischenprodukte synthetisiert. Wichtigstes Verfahren zur Chlorproduktion ist die Elektrolyse, bei der elektrische Energie in besonders effizienter Form, nämlich ohne größere Wärmeentwicklung in chemische Energie umgewandelt wird. Durch eine neue Entwicklung unter Einsatz einer Sauerstoff-Verzehrelektrode konnte die Effizienz dieses Verfahrens in jüngster Zeit noch einmal um 30 % gesteigert werden. In Form der FCKWs haben die beiden leichteren Halogene allerdings in der jüngeren Vergangenheit Furore gemacht, als ihre schädliche Auswirkung auf die stratosphärische Ozonschicht durch CRUTZEN, MOLINA und ROWLAND erkannt wurde.4 Aber menschlicher Entdecker3 4
Nobelpreis für Chemie des Jahres 1906. Nobelpreis für Chemie des Jahres 1995.
1 Einführung
7
und Erfindergeist hat nicht nur zum baldigen Herstellungsverbot dieser Substanzen geführt, sondern hat auch alternative Lösungsmittel und Treibmittel hervorgebracht, so dass langfristig mit einem Verschwinden der FCKWs aus der Stratosphäre und mit einer Stabilisierung der Ozonkonzentration gerechnet werden kann. Die Edelgase schließlich werden seit langem in Entladungslampen als Leuchtstoffe für Reklamezwecke verwendet, weiterhin als inerte Schutzgase im Labor und in der Technik, und Helium darüber hinaus als Kühlgas in Kernreaktoren und zum Auftrieb von Luftschiffen. Aber heute sind auch Hunderte von faszinierenden Edelgasverbindungen bekannt, und immer werden noch neue erfunden, wie etwa die ungewöhnlichen Kationen [Xe2]+, [Xe4]+ und [AuXe4]2+, die erst in den letzten Jahren in Form von Salzen isoliert wurden. Damit ist bewiesen, dass zumindest das Xenon weniger „edel“ ist als früher angenommen wurde, eine Erkenntnis, die längst auch für die Edelmetalle gilt, deren „Verbindungs-Zoo“ ebenfalls wächst und wächst. Die oben skizzierten Entwicklungen und Produkte werden zusammen mit vielen anderen Beispielen im stofflichen Teil II dieses Lehrbuches ausführlich beschrieben, beginnend mit dem Wasserstoff und gefolgt von den übrigen Nichtmetallen in der Reihenfolge entsprechend ihrer Stellung im Periodensystem. Die Ausbildung an Hochschulen und Fachhochschulen kann jedoch nicht nur auf praktische Anwendungen gerichtet sein. Vielmehr wird von Chemikern erwartet, den Dingen mit wissenschaftlichen Methoden auf den Grund zu gehen und Struktur, Eigenschaften und Reaktivität von Molekülen auf der Basis gegenwärtiger Theorien zu verstehen. Nur aus diesem Verständnis heraus ist es möglich, chemische Prozesse oder funktionelle Eigenschaften von Stoffen zu verbessern und für bestimmte Verfahren maßgeschneiderte neue Verbindungen herzustellen. Es sind diese kontinuierlichen Optimierungsprozesse, die heute in der Wirtschaft eine so große Rolle spielen, und zwar auch bei der Herstellung schon länger bekannter Stoffe. Ein tiefgreifendes Verständnis auf molekularer Grundlage zu gewinnen, heißt, sich mit den theoretischen Konzepten der Chemie zu beschäftigen. Die notwendigen Grundlagen dafür werden, soweit sie für das Verständnis der Nichtmetallchemie erforderlich sind, im Teil I dargelegt. Dabei ist es nicht immer nötig, auf quantenchemische Rechnungen von hohem Niveau zurückzugreifen. In der Chemie gibt es eine ganze Reihe empirisch gewonnener Konzepte, die den Charakter von Modellvorstellungen haben und die die enorme Fülle des Stoffes zu ordnen gestatten. Solche Modelle sind nicht unbedingt „wahr“ oder „richtig“, sondern einfach nur nützlich. Man muss sich jedoch der Grenzen der Modelle bewusst bleiben und darf von ihnen keine Erklärung der Natur erwarten. Da in der Chemie die meisten neuen Erkenntnisse immer noch durch Experimente gewonnen werden, ist das empirische Arbeiten und das Ordnen der Ergebnisse mittels Arbeitshypothesen und Modellen für den erfahrenen Chemiker ein vertrauter Vorgang, für den Neuling, der auf der Suche nach der Wahrheit ist, aber vielleicht etwas verwirrend. In diesem Sinne werden im theoretischen Teil I zunächst die modernen Vorstellungen und Erkenntnisse zur Theorie der chemischen Bindung (Kap. 2) und der VAN DER WAALS-Wechselwirkung (Kap. 3) sowie zum Thema „Eigenschaften kovalenter Bindungen in Molekülen“ (Kap. 4) dargelegt. Dadurch soll der Leser in die Lage versetzt werden, die verschiedenen Strukturen und Reaktionen von Nichtmetallverbindungen im folgenden stofflichen Teil II besser zu verstehen und einzuordnen. Lehrbücher beschäftigen sich hauptsächlich mit den bekannten Tatsachen und Theorien. Was noch nicht bekannt ist und noch der Erforschung harrt, nimmt naturgemäß weniger Raum ein, da man dabei das Reich der Spekulation betritt. Es ist aber eine bekannte
8
1 Einführung
Erfahrung, dass sich hinter jeder Antwort auf eine wissenschaftliche Frage neue Fragen auftun. In der Chemie ist bereits die große Zahl chemischer Elemente und die unübersehbare große Zahl von Kombinationen dieser Elemente eine Garantie dafür, dass den Chemikern die Forschungsthemen nicht ausgehen werden. Beispielsweise wurden früher im Gebiet anorganischer Ringverbindungen zunächst homocyclische Ringe, dann Pseudoheterocyclen mit einer alternierenden Anordnung zweier Elemente im Ring studiert. Heutzutage werden anorganische Moleküle mit drei, vier und fünf verschiedenen Elementen in einem Ring hergestellt, wobei auch noch Metalle mit Nichtmetallen kombiniert werden. Logischerweise ergeben sich beim Übergang vom Einstoffsystem über das Zweistoffsystem zu Multikomponentensystem gewaltige Möglichkeiten der Kombination und der Mischungsverhältnisse. Man kann daher sagen, dass der größte Teil der denkbaren chemischen Substanzen noch unentdeckt bzw. noch nicht synthetisiert worden ist, obwohl bereits 2·107 Verbindungen charakterisiert wurden. Dies soll an einem weiteren Beispiel erläutert werden: An der Nahtstelle zwischen organischer und anorganischer Molekülchemie ergeben sich ebenfalls zahlreiche Möglichkeiten, neue Verbindungen zu konstruieren, indem man beispielsweise einzelne oder mehrere C-Atome in einem organischen Molekül durch das analoge Silicium ersetzt. Man überzeugt sich leicht, dass etwa der systematische Austausch von ein bis sechs C-Atomen im Toluolmolekül MeC6H5 verschiedene Siladerivate ergibt, deren Anzahl im oberen zweistelligen Bereich liegt! Bei einem größeren Molekül wie Cholesterin kommt man auf diese Weise leicht zu astronomischen Zahlen. Die entsprechenden Silapharmaka, das sind einfach Si-substituierte Derivate bekannter pharmazeutischer Präparate, stellen übrigens ein hochaktuelles Forschungsgebiet dar. Allgemein hat die elementorganische Chemie in den vergangenen Jahrzehnten eine enorme Fülle neuer und interessanter Verbindungen hervorgebracht und damit zu einer explosionsartigen Vermehrung des Wissens geführt, was zum Beispiel am ständig steigenden Umfang der relevanten Fachzeitschriften erkennbar ist. Der begrenzte Umfang eines Lehrbuches reicht nicht aus, um alle interessanten und aktuellen Informationen zu präsentieren. Daher beschränkt sich der stoffliche Teil II dieses Buches im Wesentlichen auf die Grundlagen, die mehr oder weniger jeder Chemiker wissen sollte, angereichert durch interessante neuere Erkenntnisse aus der aktuellen Forschung. Die zitierte Literatur erlaubt dann eine Vertiefung und Erweiterung der Kenntnisse.
9
2
Die chemische Bindung
Die theoretische Beschreibung und Charakterisierung von chemischen Bindungen zwischen den Atomen in Molekülen und Kristallen gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Chemie. Insbesondere, wenn auch noch eine möglichst anschauliche Deutung der experimentellen Beobachtungen oder der rechnerischen Ergebnisse erwartet wird, sind Vereinfachungen und Modellierungen nicht zu vermeiden. Es ist daher in der Chemie üblich, das Phänomen der Bindung auf verschiedenen Ebenen von Genauigkeit zu behandeln, je nachdem, welche Fragen man beantworten möchte. In diesem Sinne arbeitet man einerseits mit Modellvorstellungen und Idealisierungen, wendet aber andererseits die quantenchemische Theorie an, um möglichst exakte Lösungen für Einzelprobleme zu erhalten. Eine Theorie ist dann gut, wenn sie eine große Zahl von Beobachtungen auf der Grundlage eines Modells beschreibt, das nur einige wenige Parameter benötigt, und vor allem, wenn sie Voraussagen über die Ergebnisse künftiger Beobachtungen zu machen gestattet. Dennoch sollte man sich immer bewusst sein, dass eine Theorie immer nur in unserer Vorstellung existiert und keine eigene Wirklichkeit besitzt, was dann auch für die Elemente dieser Theorie gilt (z.B. für Orbitale). Da jede Theorie eine Arbeitshypothese darstellt, die nicht bewiesen werden kann, muss immer damit gerechnet werden, dass sie in der Zukunft durch eine bessere Theorie abgelöst wird. Es ist allgemein bekannt, dass BOHR’s Atomhypothese aus dem Jahre 1913, obwohl zu jener Zeit sehr nützlich und mit dem Nobelpreis gewürdigt, wenige Jahre später durch die wellenmechanische Beschreibung der Atome abgelöst wurde, die sich als überlegen herausstellte und die folglich ebenfalls zur Verleihung von Nobelpreisen geführt hat.1 Von einer Theorie der chemischen Bindung wird man mindestens verlangen müssen, dass sie Antworten auf folgende grundlegende Fragen geben kann: Warum bilden sich aus Atomen Moleküle? Warum verbinden sich Atome in bestimmten Verhältnissen und oft in mehreren Verhältnissen miteinander (z.B. NO, NO2)? Warum besitzen Moleküle und Kristalle bestimmte Strukturen? Warum reagieren Moleküle in einer ganz bestimmten Weise miteinander? Zur Beantwortung dieser und damit zusammenhängender Fragen ist es zweckmäßig, die Bindungsverhältnisse in Nichtmetallverbindungen von bestimmten Grenztypen her zu betrachten. Diese idealisierten Grenztypen sind: (a) die Ionenbindung (b) die kovalente Bindung einschließlich der koordinativen (dativen) Bindung (c) die VAN DER WAALS-Wechselwirkung.
1
Nobelpreise für Physik wurden verliehen an: NIELS BOHR (1922), LOUIS V. DE BROGLIE (1929), WERNER HEISENBERG (1932), ERWIN SCHRÖDINGER (1933), WOLFGANG PAULI (1945) und MAX BORN (1945). Nobelpreise für quantenchemische Rechungen gingen an WALTER KOHN (1998) und JOHN POPLE (1998).
10
2 Die chemische Bindung
Es muss aber schon hier darauf hingewiesen werden, dass die Bindungen in den meisten Substanzen nur durch mehrere dieser idealisierten Bindungstypen oder durch Übergänge zwischen diesen gedeutet werden können. Im Folgenden wird zunächst die theoretisch recht einfach zu beschreibende Ionenbindung in Kristallen behandelt. Dann werden Modellvorstellungen zur Geometrie von isolierten Molekülen vorgestellt. Es schließt sich die Theorie der kovalenten Bindung auf der Grundlage der MO-Theorie an. Im Kapitel 3 wird dann die VAN DER WAALS-Wechselwirkung zwischen Molekülen erklärt, und im darauf folgenden Kapitel 4 werden messbare Eigenschaften kovalenter Bindungen behandelt, die helfen können, die oben gestellten und ähnliche Fragen zu beantworten.
2.1
Die Ionenbindung
2.1.1 Einführung Eine große Zahl von Verbindungen kristallisiert in Strukturen, die aus einer periodisch regelmäßigen dreidimensionalen Anordnung von Kationen und Anionen bestehen (Ionengitter). Kationen und Anionen können atomar oder molekular, d.h. zusammengesetzt sein, wie folgende Beispiele zeigen: Li+ und H– in LiH Ca2+ und F– in CaF2 Al3+ und O2– in Al2O3
[NO]+ und [HSO4]– in [NO][HSO4] [H3O]+ und [ClO4]– in [H3O][ClO4] [NH4]+ und [BF4]– in [NH4][BF4]
Das stöchiometrische Verhältnis von Anionen und Kationen ergibt sich aus der Bedingung der elektrischen Neutralität des Kristalls. Der Strukturtyp, d.h. die Geometrie und Symmetrie des Gitters, wird im Wesentlichen durch die relative Größe der Ionen und durch das Verhältnis ihrer Ionenladungen bestimmt. Atomare Ionen entstehen aus neutralen Atomen durch Ionisierung oder Elektronenaufnahme. Die damit verbundenen Enthalpieänderungen nennt man Ionisierungsenergie Ei bzw. Elektronenaffinität Eea.
2.1.2 Die Ionisierungsenergie Ei Die Ionisierung eines neutralen gasförmigen Atoms entsprechend der Gleichung A(g.)
A+(g.) + eÇ
H ° = Ei
erfordert eine Enthalpie ∆ H °, die man aus historischen Gründen als Ionisierungsenergie Ei bezeichnet.2 Diese Größe ist immer positiv, d. h. die Enthalpie muss dem System 2
In der Literatur werden für die Ionisierungsenergie oft die Symbole I und IE verwendet. Statt Ionisierungsenergie wird auch der Begriff Ionisierungspotential (IP) benutzt. In allen Fällen handelt es sich um eine Enthalpie; die besten Zahlenwerte findet man im Internet bei http://webbook.nist.gov/ (Website des US-amerikanischen National Institute of Science and Technology).
11
2.1 Die Ionenbindung
Ionisierungsenergie
(eV) 26 He 24 Ne 22 20 18 Ar 16 N 14 O 12 H P 10 S 8 B 6 Al 4 Na Li K 2 0 0 10 20
Kr
Xe
Zn
Ga
30
Cd
Rb
In
Lu
Cs
40 50 Ordnungszahl
60
70
Hg
Rn
Ti
Ra
80
90
Abb. 2.1 Die erste Ionisierungsenergie der Elemente als Funktion der Ordnungszahl (in eV).
zugeführt werden. Bei dieser Definition wird stillschweigend unterstellt, dass das am lockersten gebundene Elektron (aus dem obersten besetzten Atomorbital) abgetrennt wird. Der Wert von Ei ist stark von der Stellung des Atoms A im Periodensystem abhängig. Besonders leicht ionisierbar sind Metallatome und besonders schwer ionisierbar sind Edelgasatome. Die Ionisierungsenergien der gasförmigen Atome liegen zwischen 4 und 25 eV, das sind etwa 400 bis 2400 kJ mol–1 (1 eV = 96.49 kJ mol–1). In Abbildung 2.1 ist die (erste) Ionisierungsenergie der Elemente als Funktion der Ordnungszahl dargestellt. Die auffallend hohe Stabilität bzw. schwierige Ionisation der Edelgasatome und edelgasähnlichen Ionen ist von großer Bedeutung. Sie ist zurückzuführen auf die bei dieser Konfiguration besonders hohe effektive Kernladung Zeff, der die Valenzelektronen ausgesetzt sind. Nach den Regeln von SLATER3 erhält man für die Elemente der ersten Achterperiode folgende Zeff -Werte: Li
Be
B
Zeff:
1.30
1.95
2.60
Ei (eV):
5.4
9.3
8.3
C 3.25 11.3
N 3.90 14.5
O 4.55 13.6
F 5.20 17.4
Ne 5.85 21.6
Zwischen der Ionisierungsenergie und der Energie des Orbitals, aus dem das abgespaltene Elektron stammt, besteht ein direkter Zusammenhang. Oft werden diese beiden Energien gleichgesetzt (KOOPMANS’ Theorem), was nicht ganz korrekt ist. Beispielsweise beträgt Ei des C-Atoms 11.3 eV, während die Energie des 2p-Orbitals von Kohlenstoff zu 10.7 eV berechnet wurde. Dass beide Größen nicht gleich groß sind, liegt daran, dass sich bei der Abspaltung eines Elektrons die übrigen Elektronen umordnen, da jetzt die inter3
Siehe die 2. Auflage dieses Lehrbuches, de Gruyter, Berlin, 1998, S. 38.
12
2 Die chemische Bindung
elektronische Abstoßung kleiner und die effektive Kernladung damit größer geworden ist. Je kleiner das Atom ist, um so stärker fällt dieser Einfluss ins Gewicht. In Abbildung 2.1 fällt die relativ kleine Ionisierungsenergie von O (13.6 eV) auf, die kleiner ist als die des vorhergehenden Elementes N (14.5 eV). Das liegt daran, dass im entstehenden Ion O+ wie im N-Atom das 2p-Niveau mit drei Elektronen gleichen Spins halbbesetzt ist, was zu einer maximalen Austauschwechselwirkung führt. Ein solcher Zustand ist besonders günstig, weil jedes Elektron ein Orbital für sich hat und weil sich Elektronen gleichen Spins wegen des PAULI-Verbots gegenseitig ausweichen, also nicht das gleiche Raumsegment besetzen dürfen. Aus beiden Gründen wird unter diesen Umständen die COULOMB-Abstoßung minimiert. Wenn aber nun wie beim O-Atom ein weiteres p-Elektron eingebaut wird, muss es in ein schon halbbesetztes Orbital eintreten. Dort trifft es auf das schon im gleichen Raumsegment vorhandene Elektron, was zu Abstoßung führt. Daher ist ein solches Elektron weniger fest gebunden und die Ionisierungsenergie ist entsprechend niedriger.4 Dass die Ionisierungsenergie des Boratoms kleiner ist als die des Berylliums, liegt daran, dass das Elektron beim Bor aus dem 2p- und beim Be aus dem tiefer liegenden 2s-Niveau abgespalten wird. Die zweite Ionisierungsenergie Ei(2) eines Atoms entsprechend der Gleichung A+(g.)
A2+(g.) + eÇ
ist immer wesentlich größer als Ei(1), da jetzt ein Elektron von einem positiv geladenen Atomrumpf entfernt werden muss. Beispielsweise beträgt Ei(2) für das C-Atom 24.4 eV, obwohl das abgespaltene Elektron aus dem gleichen 2p-Niveau stammt, wie das erste Elektron. Das bedeutet, dass sich die Orbitalenergien im Ion C+ erheblich von denen im C-Atom unterscheiden, was ebenfalls mit der veränderten effektiven Kernladung erklärt werden kann.5 Ei(2) ändert sich ähnlich wie Ei(1) periodisch mit der Ordnungszahl, wobei die Maxima der Kurve jetzt bei den entsprechenden edelgasähnlichen Ionen liegen (z.B. Na+, K+, usw.). Der in Abbildung 2.1 dargestellte Kurvenverlauf erscheint also bei diesen Werten um eine Ordnungszahl nach rechts verschoben. Entsprechendes gilt für die dritte Ionisierungsenergie.
2.1.3 Die Elektronenaffinität Eea Zahlreiche Nichtmetallatome können in der Gasphase in exothermer Reaktion ein Elektron aufnehmen: B(g.) + eÇ
BÇ(g.)
ÇH ° = Eea
Die Elektronenaffinität Eea ist in diesem Falle definitionsgemäß positiv, obwohl es sich um eine vom System abgegebene Enthalpie handelt, die eigentlich ein negatives Vorzeichen tragen müsste.6 Die Werte von Eea liegen zwischen 0 und 3.6 eV entsprechend 0 bis 350 kJ mol–1 (Abb. 2.2). Ist Eea gleich Null oder negativ, bildet das Atom in der Gasphase 4 5 6
A. B. Blake, J. Chem. Educ. 1981, 58, 393. Die Eigenwerte εj der Einelektronen-SCHRÖDINGER-Gleichung werden Orbitalenergien genannt. In der Literatur werden für Eea auch die Abkürzungen A und EA verwendet; die besten Zahlenwerte findet man im Internet bei http://webbook.nist.gov/.
13
2.1 Die Ionenbindung
4.0
Eea (1) in eV Cl
3.6
F
Br
3.2
I
2.8 2.4
S
2.0 1.6
O C
1.2 0.8
H
0.4 0
Li B
He
Ç0.4 1
Si
P Na Al
N Be
Mg
2
3
Elektronenaffinität Eea (1) in eV At
B C 0.28 1.27 Se
Ge
Te
Po
Sb
K
Rb
Ga
In
O N 1.46 Ç0.07 (Ç8.29) (Ç8.08)
F 3.40
Ne 0
Al Si 0.46 1.38
P 0.74
S 2.08 (Ç6.11)
Cl 3.61
Ar 0
Bi
Ga Ge 0.30 1.24
As 0.80
Kr 0
Cs Pb Tl
Se Br 2.02 3.36 (Ç4.35)
Sn In 0.30 1.25
Sb 1.05
Sn
As
He 0
H 0.75
Te 1.97
I 3.06
Xe 0
Werte in Klammern: Eea(2) in eV Ca 4
5
6
Abb. 2.2 Die Elektronenaffinitäten der einzelnen Hauptgruppen in Abhängigkeit von der Periode.
kein stabiles Anion. Dies gilt z.B. für die Edelgasatome, für Stickstoff sowie für die Elemente der 2. Gruppe des Periodensystems. In Abbildung 2.2 ist gezeigt, dass sich die Elektronenaffinitäten im Periodensystem nicht so systematisch ändern wie die Ionisierungsenergien. Die Elektronenaffinität ist identisch der Ionisierungsenergie des betreffenden Anions: BÇ(g.)
B(g.) + eÇ
Ei (BÇ) = Eea(B)
Beispielsweise beträgt Eea des C-Atoms 1.27 eV, d.h. die Ionisierungsenergie des Anions C– ist mit 1.27 eV sehr viel kleiner als die des neutralen C-Atoms mit 11.3 eV. Die Anlagerung eines zweiten oder gar dritten Elektrons an ein Anion ist in jedem Falle stark endotherm, d.h. Eea(2) und Eea(3) sind immer negativ. Dies bedeutet, dass zwei- und mehrfach negativ geladene atomare Ionen nicht in freier Form existieren können. Auch aus den Werten der Elektronenaffinitäten geht hervor, dass edelgasähnliche Monoanionen besonders stabil sind. Daher weisen die Halogenatome die bei weitem größten Werte von Eea auf. Hier muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass kleine mehrfach geladene Anionen wie O2– und S2– aber auch [CO3]2–, [SO4]2– und [PO4]3– als isolierte gasförmige Ionen nicht existieren, weil sie sofort durch Abspaltung von ein bzw. zwei Elektronen in die stabileren Monoanionen übergehen würden.7 Daher können an solchen Ionen auch keine experimentellen Bestimmungen vorgenommen werden. Die entsprechenden Werte 7
R. Janoschek, Z. Anorg. Allg. Chem. 1992, 616, 101. A. I. Boldyrev, J. Simons, J. Phys. Chem. 1994, 98, 2298.
14
2 Die chemische Bindung
von Eea(2) sind daher mit Hilfe thermodynamischer Kreisprozesse errechnet worden (vgl. Lehrbücher allgemeine/physikalische Chemie). In kondensierten Phasen sind alle Anionen von Kationen oder polaren Lösungsmittelmolekülen umgeben, die stabilisierend wirken; man sagt auch, die Anionen sind gitterstabilisiert. Die wirkliche Ladung von Ionen in Lösungen und in Festkörpern ist nur in wenigen Fällen bekannt;8 sie hängt auch davon ab, welchen Volumenanteil man den einzelnen Ionen zuweist.
2.1.4 Ionengitter und Ionenradien Der Aufbau eines Ionengitters sei am Beispiel der Steinsalzstruktur erläutert.9 Durch die Beugung von Röntgenstrahlen am dreidimensionalen Gitter eines Kristalls (Einkristallstrukturanalyse) kann man die Lage der Ionen genau lokalisieren und die Kernabstände bestimmen. Im Falle von NaCl wurde dabei eine kubisch-flächenzentrierte Elementarzelle gefunden. Die Elementarzelle ist die kleinste, für einen Einkristall repräsentative Einheit. Sie enthält alle Symmetrieelemente des Kristalls, der aus ihr durch periodische Reproduktion (Translation) aufgebaut werden kann. Die Ionenlagen der NaCl-Struktur sind in Abbildung 2.3 dargestellt. 0
0 0.5
0
0
0 0.5
0
1
-
0.5
0.5
+ 2 3 5 10
55.8 30
1 2 3 5 15
0
0.5 0
0
0
0.5
0.5 0
0
0.5
0.5
29.8 20 10
1
2 3 5 10
0.5
0.5 0
0.5
0.5
0 -0.2
0
0.5 0.5 -0.6 0.5
0.5 0.8. .0.3 0
0.5 0
+ -
55.8 30
0.2 .
+
+ +
-
100 pm
0.5 0.5
1 2 3 5 15
+
29.8 20 10
0.5
0.5
-
+
+
-
+
-
0.3. 0.8 . 0.5 0
-0.9
Abb. 2.3 Die Anordnung der Ionen in der NaCl-Struktur (rechts); links ist die experimentell ermittelte Elektronendichteverteilung auf der (110)-Fläche des NaCl-Kristalls gezeigt. Die größeren Chlorid-Ionen haben Maxima bei 55.8, die kleineren Natrium-Ionen bei 29.8 e – Å–3 (1 Å = 100 pm).
8 9
Vgl. zum Beispiel S. Sasaki et al., Acta Cryst. A 1980, 36, 904. In dieser Struktur kristallisieren alle Alkalimetallhalogenide mit Ausnahme von CsX (X = Cl bis I). Letztere Salze kristallisieren in der kubisch-raumzentrierten CsCl-Struktur mit der Koordinationszahl 8 für alle Ionen (jedes Ion befindet sich im Zentrum eines Würfels aus Gegenionen).
15
2.1 Die Ionenbindung
Da die Röntgenstrahlen an den Elektronen der Atome gebeugt werden, lässt sich aus einer hochauflösenden Bestimmung der Reflexintensitäten des Beugungsbildes eines Einkristalles außer den Ionenlagen auch noch die gesamte Elektronendichte-Verteilung berechnen. Für NaCl ist das Ergebnis in Abbildung 2.3 in Form eines Konturdiagramms dargestellt, und zwar für den in der Abbildung rechts gezeigten Ausschnitt aus der (110)-Fläche des Kristalls. Aus diesem Diagramm kann man Folgendes entnehmen: Die Elektronendichte ist an den Atomkernen am größten und nimmt nach außen hin zunächst sehr rasch, dann langsamer ab. Auf der Verbindungslinie von Kation und Anion gibt es einen Punkt geringster Elektronendichte mit weniger als 0.2 e– Å–3 (1 Å = 100 pm). Die Ladungsdichte an dieser Stelle ist also nahezu Null. Daher kann man diesen Punkt als Begrenzungspunkt für die beiden sich „berührenden“ Ionen entgegengesetzter Ladung betrachten. Der Ionenradius ist dann durch die Entfernung des Atomkerns von der Stelle minimaler Elektronendichte auf der Verbindungslinie Anion-Kation definiert. Integriert man die Elektronendichte in den durch diese Definition der Ionenradien abgegrenzten kugelförmigen Ionenvolumina, erhält man im Falle von NaCl 10.05 Elektronen für das Na+-Kation und 17.70 für das Cl–-Anion. Zu erwarten sind 10 bzw. 18 Elektronen. Die fehlenden 0.25 Elektronen sind in den bei der Integration nicht mit berücksichtigten Zwischenräumen der Kugelpackung zu suchen (Abb. 2.3). Das Ergebnis der Integration kann als Beweis dafür betrachtet werden, dass der Kristall aus Ionen und nicht aus Atomen besteht. Für die weitere Betrachtung nimmt man vereinfachend an, dass die Ionen kugelförmig und nicht komprimierbar (starr) sind und dass sie daher einen charakteristischen Durchmesser besitzen. Die aus den Elektronendichtekarten abgeleiteten Ionenradien (Kristallradien) sind jedoch nicht für jedes Ion konstant, sondern etwas von der jeweiligen Struktur und vor allem von der Koordinationszahl abhängig.10 Die folgenden Beispiele illustrieren die Abhängigkeit des Ionenradius von der Hauptquantenzahl der Valenzelektronen und von der Ionenladung bei gleicher Koordinationszahl 6 (Werte in pm): [He] Li+: 90
[Ne] Na+: 116 F–: 119 O2–: 126
[Ar] K+: 152 Cl–: 167 S2–: 170
[Kr] Rb+: 166 Br–: 182 Se2–: 184
[Xe] Cs+: 181 I–: 206 Te2–: 207
Allgemein beobachtet man, dass die Radien mit steigender Hauptquantenzahl der Valenzelektronen größer werden und dass sie mit zunehmender positiver Ionenladung kleiner, mit zunehmender negativer Ladung entsprechend größer werden. Ursache dafür ist die entsprechende Änderung der effektiven Kernladungszahl und der interelektronischen Abstoßungskräfte. In einer Reihe von isoelektronischen Ionen steigen daher die Radien von den Kationen zu den Anionen an, z.B.: Ca2+ < K+ < Cl– < S2– Die Vorstellung von einer reinen Ionenbindung ist eine idealisierende Vereinfachung. Am ehesten wird diesem Ideal ein Kristall entsprechen, bei dem zwei Elemente möglichst unterschiedlicher Elektronegativität eine Ionenbindung eingehen. Da die Alkalimetalle die geringsten und Fluor und Sauerstoff die höchsten Elektronegativitätswerte aufweisen 10
I. D. Brown, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 1, 446.
16
2 Die chemische Bindung
(Kap. 4.6.2), kann man also die Fluoride und Oxide dieser Metalle als am besten geeignete Beispiele für diesen Bindungstyp ansehen.
2.1.5 Gitterenergie und Gitterenthalpie Entscheidend für das Verständnis der Stabilität und der Eigenschaften von Ionenverbindungen ist die Gitterenergie bzw. die Gitterenthalpie, für die die Symbole Uo bzw. ∆gH° gebräuchlich sind. Die Gitterenthalpie ist definiert als die Enthalpie, die bei der Vereinigung äquivalenter Mengen gasförmiger Kationen und Anionen aus unendlich großer Entfernung zu einem Einkristall von 1 mol frei wird: A+(g.) + BÇ(g.)
AB(f.)
g H° < 0
∆gH° ist als vom System abgegebene Enthalpie stets negativ, wird aber meistens ohne Vorzeichen verwendet. Wenn man also beispielsweise von einer großen Gitterenthalpie spricht, so meint man einen hohen Absolutwert von ∆gH°, d.h. einen sehr stark negativen Wert. Die Gitterenergie erhält man, wenn man die Volumenänderung berücksichtigt: ∆gH° = ∆gU° + p∆V
(2.1)
In der Literatur ist es üblich, sowohl für die Gitterenergie als auch für die Gitterenthalpie bei 0 K das Symbol Uo zu verwenden (beim absoluten Nullpunkt sind beide Größen identisch). Da sich die Zahlenwerte der beiden Größen bei einfachen Ionenkristallen aber auch bei 25°C kaum unterscheiden (siehe unten), kann man selbst bei dieser Temperatur so verfahren. Wir werden hier aber für die Gitterenthalpie ∆gH° schreiben. Die Gitterenergie Uo selbst setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen, die für drei Metallhalogenide in Tabelle 2.1 zusammengestellt sind. Tab. 2.1 Komponenten der Gitterenthalpie einiger Metallhalogenide (in kJ mol–1). Aufgrund der gewählten Näherungen stimmen diese Gitterenthalpien nur qualitativ mit den in Tabelle 2.2 enthaltenen aktuellen Werten überein. NaCl und AgCl kristallisieren in der NaCl-Struktur und CsI in der CsCl-Struktur. Verbindung:
NaCl
AgCl
CsI
COULOMB-Wechselwirkung: Abstoßung nach BORN: VAN DER WAALS-Anziehung: Nullpunktsenergie:
–862 +100 –13 +8
–875 +146 –121 +4
–619 +63 –46 +29
Summe:
–767
–846
–573
Den größten Beitrag leistet die elektrostatische Wechselwirkung der Ionen, d.h. die Anziehung entgegengesetzt geladener Ionen und die Abstoßung der gleichnamig geladenen Ionen (COULOMB-Wechselwirkung). Daneben ist aber auch noch die VAN DER WAALSAnziehung der Ionen zu berücksichtigen, die unabhängig von der Ladung zwischen allen Atomen wirksam ist und die im Kapitel 3 behandelt wird. Man beachte, dass diese Komponente auch kovalente Bindungsbeiträge enthält. Daher ist ihr absoluter Betrag umgekehrt proportional zur PAULING-Elektronegativitätsdifferenz ∆χP der beteiligten Atome
2.1 Die Ionenbindung
17
(∆χP = 2.3 (NaCl) > 1.9 (CsI) > 1.3 (AgCl); die VAN DER WAALS-Anziehung beträgt in kJ mol–1: –13 (NaCl) < –46 (CsI) < –121 (AgCl). Im Gleichgewichtszustand werden die Anziehungskräfte durch Abstoßungskräfte kompensiert, die auf eine gegenseitige Durchdringung der Elektronenhüllen benachbarter Ionen und auf die Abstoßung der Atomkerne zurückzuführen sind. Da die Ionen wie alle Atome keine feste Begrenzung besitzen, tritt beim Aufbau eines Kristalls, wenn sich, wie im Falle des NaCl, Kationen und Anionen bis auf einen Kernabstand von 281.4 pm nähern, eine gewisse Durchdringung und Abstoßung der äußeren Elektronenhüllen auf, die zu einer Kontraktion der Ionen führt. Dadurch wird die Gitterenergie also etwas kleiner. Der Beitrag dieser BORN-Abstoßung ist in der dritten Zeile der Tabelle 2.1 aufgeführt. Als vierte Komponente der Gitterenergie ist die Nullpunktsenergie zu berücksichtigen. Darunter versteht man die Schwingungsenergie der Ionen, die der Kristall selbst bei 0 K aufweist und die daher bei der Bildung des Kristalls aus gasförmigen Ionen nicht freigesetzt wird. Diese Schwingungsenergie kann man aus der Energie der Gitterschwingungen berechnen, die man ihrerseits dem Infrarot- oder Ramanspektrum entnimmt. Die Nullpunktsenergie vermindert die Gitterenergie nur sehr wenig.
2.1.6 Bestimmung von Gitterenergie und Gitterenthalpie Gitterenergien und -enthalpien können nicht direkt gemessen, sondern nur indirekt bestimmt werden. Theoretisch exakt lässt sich die Gitterenthalpie über einen BORN-HABERKreisprozess erhalten, sofern einige thermodynamische Daten des Systems bekannt sind. Nach dem Satz von HESS ist die Enthalpiedifferenz zwischen zwei Zuständen unabhängig vom Weg, auf dem man vom Anfangszustand zum Endzustand gelangt. Um die Gitterenthalpie z.B. von NaCl gewissermaßen experimentell zu ermitteln, kann man daher nach dem in Abbildung 2.4 gezeigten Schema einen Kreisprozess durchführen (MAX BORN und FRITZ HABER, 1919). Die einzelnen Enthalpiebeträge des Kreisprozesses sind: ∆g H° ∆f H° ∆s H° ∆r H°
Ei D° Eea
Gitterenthalpie Na+Cl– (–790 kJ mol–1). Standard-Bildungsenthalpie von kristallinem NaCl (–411 kJ mol–1). Standard-Sublimationsenthalpie von Natriummetall (+107 kJ mol–1) bzw. molekularem NaCl (+196 kJ mol–1).11 Standard-Reaktionsenthalpie der Bildung des gasförmigen NaCl-Moleküls (–556 kJ mol–1). erste Ionisierungsenergie des Na-Atoms (+496 kJ mol–1). Dissoziationsenthalpie des Cl2-Moleküls (+242 kJ mol–1). Elektronenaffinität des Cl-Atoms (–349 kJ mol–1).
Aus Abbildung 2.4 ist ersichtlich, dass die konkurrierende Bildung von molekular aufgebauten NaCl nur um etwa 34 kJ mol–1 ungünstiger ist, als die tatsächlich erfolgende Salzbildung. Dies ist auf die Polarisation der Bindung im zweiatomigen NaCl-Molekül zu-
11
Für molekulares NaCl wurde ∆sH° zu 196 kJ mol–1 abgeschätzt.
18
2 Die chemische Bindung
∆H [kJ mol −1]
Na+(g) + e-+ Cl (g)
+
Na (g) + e-+ Cl (g)
+724
+724 + Eea
+ Ei
+228 +107 0
+
-
Na (g) + Cl (g)
+375
Na(g) + Cl(g) 1 2
+ D Na(g) + +∆sub H ° Na(f) +
1 2 1 2
Cl2(g)
+∆g H °
Cl2(g)
+∆ r H ° 0 NaCl (g)
∆ f H ° = −411 Na+Cl-(f) Salz
∆ r H ° ≈ −34
NaCl (f)
+∆subH °
Molekular
−181 −377 −411 ∆H [kJ mol −1 ]
Abb. 2.4 BORN-HABER-Kreisprozess zur Ermittlung der Gitterenthalpie eines Salzes am Beispiel von Na+Cl– und konkurrierende Bildung von molekular aufgebautem NaCl.
rückzuführen, die im Abschnitt 2.1.8 beschrieben wird. Dieses einfache Beispiel soll zeigen, dass es auch für klassische Nichtmetallverbindungen, wie die Phosphorhalogenide PX5, nicht von vornherein klar ist, ob sie eine Molekülstruktur wie PX5 oder eine ionische Struktur wie [PX4]+[PX6]– ausbilden. Verstanden werden kann die experimentelle Beobachtung nur durch eine Analyse auf Basis eines geeigneten Kreisprozesses. Bei den Energiebeträgen in Abbildung 2.4 handelt es sich ausschließlich um Enthalpiewerte ∆ H°, da die Ermittlung unter konstantem Druck (bei 25°C) erfolgt. Daher liefert der BORN-HABER-Kreisprozess die Gitterenthalpie, die sich von der Gitterenergie um die Volumenarbeit p∆V unterscheidet (Glg. 2.1). Beim NaCl beträgt p∆V bei 25°C nur 5.0 kJ mol–1. Dieser Betrag liegt innerhalb der Fehlergrenze der Gitterenergien, deren Richtigkeit im Allgemeinen 2 % nicht unterschreitet. Daher kann man den zahlenmäßigen Unterschied zwischen der Gitterenergie und der Gitterenthalpie meistens vernachlässigen. Aus dem Kreisprozess in Abbildung 2.4 ergibt sich folgender Zusammenhang zwischen ∆gH° und den anderen Größen: ∆gH° = ∆fH° + Eea – 12 D – Ei – ∆sH°
(2.2)
Ein relativ akkurates und einfaches Verfahren zur Abschätzung der Gitterenergien von einfachen und komplexen Salzen bedient sich als Alternative zu den Ionenradien, die nur für sphärische Ionen gut bestimmt sind, der Ionenvolumina Vion, wie hier am Beispiel eines Salzes A+B– gezeigt werden soll: Vion (A+) =
VZelle (A+BÇ) Ç Vion (BÇ) Z
Das Zellvolumen VZelle ist das Volumen der Elementarzelle des Salzes und Z ist die Anzahl der Formeleinheiten in der Zelle. Die Summe der Ionenvolumina Vion liefert das
19
2.1 Die Ionenbindung
molekulare Volumen Vm (in nm3), das die Bestimmungsgröße für die Gitterenergie darstellt: Vm = Vion (A+) + Vion (BÇ)
Für beliebige Salze gilt: U° = | z+ || zÇ |.n.
3
î Vm
Èí
(2.3)
(2.3)
Dabei sind z+ und z– die Beträge der Ladungszahlen der Anionen und Kationen, n ist die Zahl der Ionen (2 für AB, 3 für AB2, etc.), α und β sind empirisch erhaltene Konstanten (für A+B–: α = 117.3 kJ mol–1 nm; β = 51.9 kJ mol–1; für A2+(B–)2: α = 133.5 kJ mol–1 nm; β = 60.9 kJ mol–1).12 Die nach diesen Beziehungen erhaltenen Gitterenergien stimmen mit den aus Kreisprozessen wie in Abbildung 2.4 erhaltenen Gitterenthalpien meistens bis auf einige kJ mol–1 überein. Größere Abweichungen ergeben sich, wenn, wie bei den schwereren Kupfer- und Silberhalogeniden, keine reine Ionenbindung vorliegt (vgl. das Thema Polarisation im Abschnitt 2.1.8). Aus der Gleichung 2.3 ersieht man, dass die Gitterenergie besonders groß wird, wenn die Summe der Ionenvolumina, und damit auch der Ionenradien, klein ist (z.B. LiF gegenüber CsI), oder wenn die Ionenladungen groß sind (z.B. Al2O3, vgl. Tab. 2.2). Tab. 2.2 Gitterenthalpien einiger Salze bei 25°C (in kJ mol–1)a H–
Cl–
Br–
–1049 –930 –829 –795 –759 –2978 –2651
–864 –790 –720 –695 –670 –2540 –2271
–820 –754 –691 –668 –647 –2451 –2131
–764 –705 –650 –632 –613 –2340 –2087
–2814 –2478 –2232 –2161 –2063 –3791 –3401
Al3+
–6252
–5513
–5360
–5227
–15525
Ag+
–974
–918
–905
–892
–2910
Li+ Na+ K+ Rb+ Cs+ Mg2+ Ca2+
–918 –807 –713 –684 –653 –2718 –2406
F–
I–
O2–
nach H.D.B. Jenkins, H.K. Roobottom, CRC Handbook of Chemistry and Physics, CRC Press, Boca Raton, 80. Aufl., 1999–2000, Kap. 12, S. 22.
a
2.1.7 Bedeutung der Gitterenthalpie Die Gitterenthalpie ist ein Ausdruck für die Stärke der Bindung zwischen den Ionen im Kristall. Daher lässt sich eine Reihe physikalischer und chemischer Eigenschaften von Salzen auf deren unterschiedliche Gitterenthalpien zurückführen. So nehmen mit steigen12
H. D. B. Jenkins, H. K. Roobottom, J. Passmore et al., Inorg. Chem. 1999, 38, 3609. H. D. B. Jenkins, L. Glasser, Chem. Soc. Rev. 2005, 34, 866. Analog kann mit Vm als Ordnungsgröße auch die Festkörperentropie ermittelt werden; Näheres in der zitierten Originalliteratur.
20
2 Die chemische Bindung
der Gitterenthalpie im Allgemeinen der Schmelz- und der Siedepunkt sowie die Härte zu, während die Koeffizienten der thermischen Ausdehnung und der Kompressibilität abnehmen. Für die Löslichkeit eines Salzes in einem Lösungsmittel ist die Gitterenthalpie von wesentlicher Bedeutung. In einem Lösungsmittel der Dielektrizitätskonstanten ε vermindert sich die COULOMB-Anziehung f entgegengesetzt geladener Ionen umso mehr, je größer ε ist. Für zwei einfach geladene Ionen gilt: f =
1 4µ° µ
2 . e
(2.4)
(2.4)
d2
d: Kernabstand der Ionen
Bei der Auflösung eines Salzes muss die Gitterenthalpie durch einen energieliefernden Prozess aufgebracht werden. Dieser Prozess ist die Solvatation der Ionen des zu lösenden Stoffes. Darunter versteht man die Anziehung (Bindung) der Lösungsmittelmoleküle aufgrund ihrer Dipolmomente durch die Kationen bzw. Anionen. Auch Wasserstoffbrücken können zwischen dem Lösungsmittel und den Ionen entstehen. Die Solvatationsenthalpie ist definiert als die bei der Überführung von 1 mol gasförmiger Ionen in eine unendlich große Menge Lösungsmittel freiwerdende Enthalpie: A+(g.) + Lösungsmittel (fl.)
A+(solv.)
solvH ° << 0
Als vom System abgegebene Enthalpie ist ∆solvH° stets negativ. In der Praxis bestimmt man die Solvatationsenthalpie über einen Kreisprozess bzw. neuerdings durch quantenchemische Rechnungen. Näherungsweise ist die Solvatationsenthalpie nach BORN gegeben durch die Gleichung 2.5: solvH° = Ç
a2e2 (1Ç 1µ ) 2r
(2.5)
(2.5)
a : Ladungszahl des Ions r : Ionenradius
Aus den Gleichungen 2.4 und 2.5 ergibt sich, dass die Löslichkeit eines Salzes umso besser sein wird, je größer die Dielektrizitätskonstante des Lösungsmittels ist. Allgemein gute Löseeigenschaften für Salze besitzen daher Wasser (ε = 78 bei 20°C) und einige wasserähnliche Lösungsmittel, wie verflüssigtes NH3 (ε = 17 bei 20°C), SO2 (16 bei 25°C) und HF (84 bei 0°C) sowie wasserfreies H2SO4 und HSO3F. Außerdem sind oftmals stark polare organische Lösungsmittel13 verwendbar, z.B. Dimethylsulfoxid (DMSO, ε = 47), Tetramethylensulfon (Sulfolan), Nitromethan (ε = 37), Nitrobenzol (ε = 36), Acetonitril (ε = 37), Tetramethylharnstoff, Dimethylformamid (ε = 82), Hexamethylphosphorsäuretriamid (HMPA) und Tetrahydrofuran (THF) (ε = 7.6). Daneben werden auch Salzschmelzen bzw. Ionische Flüssigkeiten als Lösungsmittel und Reaktionsmedien verwendet.14
13 14
Zahlen zur Polarität von Lösungsmitteln findet man bei C. Reichardt, Angew. Chem. 1979, 91, 119. Unpolare Lösungsmittel sind beispielsweise Hexan, CCl4 und CS2. T. A. O’Donnell, Superacids and Acidic Melts as Inorganic Chemical Reaction Media, VCH, New York, 1993. Ionische Flüssigkeiten: P. Wasserscheid, Chem. unserer Zeit 2003, 37, 52 und das Themenheft Acc. Chem. Res. 2007, 40, Heft 11.
21
2.1 Die Ionenbindung
Entsprechend Gleichung 2.5 wird ∆solvH° mit kleiner werdendem Ionenradius und mit steigender Ionenladung negativer, absolut genommen also größer. Die Summe der Solvatationsenthalpien von Kation und Anion ist bei löslichen Salzen absolut genommen größer und bei schwerlöslichen Salzen kleiner als die Gitterenthalpie. Für die Auflösung von Salzen spielt allerdings außer der Lösungsenthalpie ∆lH° auch noch die Lösungsentropie ∆lS° eine Rolle, die bei diesem Prozess meist positiv ist (Ausnahmen sind z.B. Salze des Fluorid-Ions): ∆lG° = ∆lH° – T ∆lS°
(2.6)
Ist ∆lG° negativ, ist das Salz gut löslich. Ein Salz wird also in einem gegebenen Lösungsmittel löslich sein, wenn die GIBBS-Gitterenthalpie ∆gG° kleiner als die Summe der GIBBSLösungsenthalpien ∆lG° der Ionen in diesem Lösungsmittel ist. Halogen-Austauschreaktionen Viele Nichtmetallchloride E–Cl (E: B, C, P, S, usw.) reagieren mit festen Alkalimetallhalogeniden unter Halogenaustausch. Beispielsweise erhält man aus Thionylchlorid und einem Alkalibromid MBr das gemischte Halogenid SOBrCl: Cl
Br
+ MBr + MCl O S Cl Cl Man kann nun mit Hilfe der Gitterenthalpien die Frage beantworten, welches Bromid MBr am besten für den Austausch geeignet ist. Das Gleichgewicht der Austauschreaktion wird um so mehr rechts liegen, je kleiner die Gitterenthalpie von MBr gegenüber der von MCl ist, da dann bei der Überführung von MBr in MCl um so mehr Enthalpie gewonnen wird. Die Gleichgewichtskonstante Kp ist gegeben durch: O
S
G ° oder bei 25°C: log Kp = Ç3.065.G ° (kJ molÇ1) RT Die Änderung der GIBBS-Energie ∆G° unter Standardbedingungen kann bei einer vergleichenden Betrachtung in guter Näherung durch die reine Enthalpieänderung ∆ H° ersetzt werden. Beide Größen sind nach dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik durch die Gleichung ∆G° = ∆ H° – T∆S° verbunden und im Allgemeinen ist die Entropieänderung ∆S° und auch noch das Produkt T∆S° bei Raumtemperatur klein gegenüber ∆ H°. Aus den Zahlenwerten in Tabelle 2.2 sieht man nun, dass bei den Alkalimetallhalogeniden die Differenz der Gitterenthalpien von Chlorid und Bromid vom Li zum Cs schwach abnimmt. Daher ist LiBr vom thermodynamischen Standpunkt aus gesehen am besten für den Austausch Cl/Br geeignet, während für die Rückreaktion CsCl zu verwenden wäre. Ähnliche Überlegungen gelten für den Austausch anderer Halogene. Bei der Reaktion ln Kp = Ç
C Cl + MF
C F + MCl
stimmt die Beobachtung, dass LiF am schlechtesten und CsF bzw. „nackte“ FluoridIonen15 wie im Salz [NMe4]+F– am besten zur Substitution von Cl durch F geeignet sind, mit entsprechenden thermodynamischen Überlegungen überein. 15
H. D. B. Jenkins, K. O. Christe, J. Am. Chem. Soc. 2003, 125, 9457.
22
2 Die chemische Bindung
Komplexbildung mit Metallhalogeniden Viele ionische Metallhalogenide MX bilden mit Halogenverbindungen Y Komplexe, deren Stabilität von der Größe des Kations abhängt. Beispiele dafür sind die Reaktionen: MF + HF
M[HF2]
MCl + ICl3
M[ICl4]
MF + SF4
M[SF5]
Für Reaktionen dieser Art kann man folgenden Kreisprozess aufstellen: M+(g.) + XÇ(g.) + Y
II
I
MX(f.) + Y
M+(g.) + [XY]Ç(g.) III
IV
M[XY](f.)
Die Enthalpie der Stufe IV ist für die Stabilität des Komplexes gegenüber seinen Komponenten maßgeblich und gegeben durch: ∆ H(IV) = ∆ H(I) + ∆ H(II) + ∆ H(III) = ∆gH°(MX) + ∆ H(II) – ∆gH°(M[XY])
Das Dissoziationsgleichgewicht IV wird nun um so mehr auf der Seite des Komplexsalzes liegen, je negativer ∆ H(IV) ist. Da ∆ H(II) vom Kation unabhängig ist, ergibt sich, dass ∆ H(IV) bei Variation des Kations nur von der Differenz der Gitterenthalpien ∆gH° des Halogenids MX und des komplexen Salzes M[XY] abhängt (Stufen I und III). Wenn Y ein neutrales Teilchen ist, wird M[XY] wegen des größeren Anions immer eine geringere Gitterenthalpie als MX besitzen. Der Unterschied in den Gitterenthalpien hängt aber auch von der Kationengröße ab und ist für die größten Kationen am kleinsten (Tab.2.3). Daher sind die von großen Kationen gebildeten Komplexsalze M[XY] hinsichtlich einer Zersetzung in die Ausgangsstoffe am beständigsten. In der präparativen Chemie verwendet man aus diesem Grunde oft extrem große Kationen wie Tetraorganylammonium-, -phosphonium- und -arsonium-Ionen oder von Cryptanden koordinierte Kationen wie K[2.2.2.]+, um komplexe Anionen in Form von Salzen zu stabilisieren.
2.1.8 Polarisation von Anionen durch Kationen Es wurde schon darauf hingewiesen, dass einfache Anionen wie S2– oder Br– wegen ihrer negativen Ladung in Kristallen viel größer sind als isoelektronische Kationen. Die voluminöse Elektronenhülle solcher Anionen lässt sich relativ leicht deformieren, wenn einseitig gerichtete Kräfte angreifen. Diesen Effekt nennt man Polarisation. In einem Ionengitter mit regelmäßiger Koordination von Anionen und Kationen und hohen Koordinationszahlen ist nur eine geringe Polarisation möglich, da die Anionen annähernd kugelsymmetrisch von Kationen umgeben sind. Wird diese Symmetrie jedoch erniedrigt, wie in einer Schmelze, oder gänzlich aufgehoben, wie beim Lösen oder Verdampfen des Kristalls, kommt es zur Bildung von Ionenpaaren und größeren Aggregaten, in denen keine reinen Ionenbindungen mehr vorliegen.
23
2.1 Die Ionenbindung
Im Dampf von NaCl lassen sich unter anderem zweiatomige Moleküle NaCl nachweisen. Diese und ähnliche bei Raumtemperatur unbeständigen Moleküle kann man bei tiefen Temperaturen isolieren, wenn man sie in eine feste Matrix aus einem inerten Material einbettet. Eine derartige Matrix kann aus einem festen Edelgas (Ar, Xe) bei der Temperatur des flüssigen Heliums bestehen. Unter diesen Bedingungen sind NaCl-Moleküle beliebig lange haltbar und können bequem spektroskopisch untersucht werden (Methode der Matrix-Isolierung). Die Bindung in Ionenpaaren dieser Art sei am Beispiel der Moleküle NaCl und AgCl erläutert. Bei zweiatomigen Molekülen lässt sich die Elektronenverteilung mit Hilfe der so genannten spinfreien Einelektronen-Dichtefunktion P(1) berechnen. P(1) ist für jede beliebige N-Elektronen-Wellenfunktion ψ(1, 2 … N) folgendermaßen definiert: P(1) = N · ∫ψ(1,2 … N)2 ds1 dτ2 … dτN ∫ψ(1,2 … N)2 ds1 bedeutet die Integration über die Spinkoordinaten des Elektrons 1 und ∫ψ(1,2 … N)2 dτ2 … dτN die Integration über die Orts- und Spinkoordinaten aller übrigen N–1 Elektronen. ψ kann beispielsweise nach der HARTREE-FOCK-Methode ermit-
telt werden. P(1)dV1 ist nun die Wahrscheinlichkeit, ein Elektron mit beliebigem Spin und unabhängig vom Ort und Spin aller übrigen Elektronen im Volumenelement dV1 anzutreffen. Die Dichtefunktion kann man direkt zur Charakterisierung von Bindungen heranziehen, indem man sie in Form eines Konturdiagramms darstellt. In Abbildung 2.5 ist ein solches Diagramm für die Moleküle NaCl (schwache Polarisation, ionisch), AgCl (starke Polarisation, partielle Kovalenz) und Cl2 (keine Polarisation, Kovalenz) dargestellt.
NaCl
AgCl
Cl _ Cl
Abb. 2.5 Von Polarisation zur kovalenten Bindung: Berechnete Konturliniendiagramme der Elektronendichte in den zweiatomigen Molekülen NaCl, AgCl und Cl2. Von außen nach innen verlaufen die Konturlinien bei 0.001, 0.002, 0.004, 0.008, 0.020, 0.040, 0.080, 0.200, … e–/a03 (a0 = 52.9 pm; 1 e–/Å3 ≈ 6.75 e–/a03). Am Stattelpunkt der Elektronendichte zwischen den beiden Atomen fällt die Elektronendichte auf Werte von 0.23 (NaCl), 0.37 (AgCl) bzw. 1.01 e–/Å3 (Cl2) ab.
Diese Moleküle enthalten alle ein Chloratom (in Abb. 2.5 rechts). Als weitere Bindungspartner treten Na, Ag und Cl auf. Bei Annahme einer idealen Ionenbindung im Molekül Na+Cl– (∆χP = 2.3) sollte man zwei sich nicht durchdringende, annähernd kugelförmige Ionen erwarten. Dies trifft in Abbildung 2.5 nur noch näherungsweise zu: Das kleinere Kation dringt teilweise in die Elektronenhülle des Anions ein und deformiert dessen ehemals kugelförmige Ladungsverteilung. Einige Konturlinien umschließen bereits das gesamte Molekül, was für die Elektronendichteverteilung in Molekülen mit kovalenter Bindung charakteristisch ist. Zwischen beiden Atomkernen sinkt die Elektronendichte allerdings immer noch stark ab und zwar auf 0.23 e– Å–3. Dies ist fast der gleiche Wert wie zwischen den Ionen Na+ und Cl– im festen Steinsalz (siehe oben). Ag+ und Na+
24
2 Die chemische Bindung
besitzen in etwa die gleichen Ionenradien (113 versus 114 pm bei KZ 4). Sollte die Bindung im AgCl vergleichbar sein, müsste man eine ganz ähnliche Verteilung der Elektronendichte wie für NaCl erwarten. Allerdings beträgt ∆χP für AgCl nur 1.3; daher muss mit einem stärkeren kovalenten Bindungsanteil, sprich mit einer starken Polarisation der Elektronendichte durch das Ag+-Kation gerechnet werden. Demzufolge beträgt die minimale Elektronendichte auf der Ag–Cl-Kernverbindungslinie nun 0.37 e– Å–3, ist also um den Faktor 1.6 größer als beim NaCl-Molekül (0.23 e– Å–3). Damit nähert sich AgCl schon der Situation des eindeutig kovalent gebundenen, in Abbildung 2.5 rechts gezeigten Chlor-Moleküls, für das die Elektronendichte auf der Kernverbindungslinie nur auf einen minimalen Wert von 1.01 e– Å–3 abfällt. Experimentelle Hinweise auf den partiell kovalenten Charakter der Bindung in Ionenpaaren kann man aus den elektrischen Dipolmomenten dieser Moleküle erhalten. Lägen z.B. in den Molekülen KCl, KBr und CsCl jeweils zwei kugelsymmetrische Ionen im jeweiligen Kernabstand (d) vor, so sollte das Dipolmoment theoretisch µ = e · d sein (e: Elementarladung). Die so berechneten Werte liegen bei diesen drei Molekülen im Bereich 13.0 bis 14.7 D. Die experimentellen Dipolmomente betragen dagegen zwischen 9 und 11 D, d.h. die Ladungen auf den Atomen dieser Ionenpaare sind offenbar nur noch partielle Ladungen (Kap. 4.6.1). Die Frage nach der relativen Stabilität von Molekül (Ionenpaar) und Ionengitter kann man mit Hilfe einer Enthalpiebetrachtung beantworten. Die atomare Bildungsenthalpie eines zweiatomigen Moleküls wie NaCl ist die Enthalpie der Reaktion Na(g.) + Cl(g.)
NaCl(g.)
Im Falle von gasförmigem NaCl beträgt die atomare Bildungsenthalpie ∆fH = –411 kJ mol–1. Der Kernabstand des Moleküls ist 236 pm. Diese Werte sind mit denen des festen Natriumchlorids zu vergleichen. Im Steinsalz wurde der Kernabstand zu 281 pm bestimmt. Der um 16 % geringere Wert im NaCl-Molekül spricht ebenfalls für eine Polarisation des Anions durch das Kation. Obwohl bei dieser Polarisation Enthalpie gewonnen und das Molekül dadurch stabilisiert wird, bildet NaCl dennoch ein Ionengitter. Die atomare Bildungsenthalpie von Steinsalz ist die Enthalpie der Reaktion Na(g.) + Cl(g.)
NaCl(f.)
Sie kann aus den in Abschnitt 2.1.6 diskutierten Enthalpien berechnet werden: ∆atfH = ∆fH° – ∆sublH°(Na) – 12 D(Cl2) = –411 – 109 – 121 = –641 kJ mol–1
Dieser hohe negative Wert, der für 25°C gilt, erklärt, warum NaCl bei Raumtemperatur nicht aus Molekülen, sondern aus einem Ionengitter besteht. Bei der Polymerisation von 1 mol gasförmiger NaCl-Moleküle zu einem Steinsalz-Einkristall werden nämlich –641 + 411 = –230 kJ mol–1 frei. Zum Abschluss dieses Abschnittes soll betont werden, dass die Polarisation von Anionen durch Kationen und der damit verbundene kontinuierliche Übergang von der reinen Ionenbindung zu einer stark polaren Atombindung nicht nur bei Ionenpaaren auftritt, sondern auch in Kristallen, wenn z.B. einem großen Anion (I–, S2–) ein kleines Kation (Ag+, Li+) gegenüber steht und wenn die Polarisation durch eine niedrige Koordinationszahl oder durch eine Koordination von geringer Symmetrie begünstigt wird. Das Kation mit der besten Fähigkeit zur Polarisation ist das Proton H+, das wegen seiner geringen Größe die größte Feldstärke aufweist und das weit in die Elektronenhülle von Anionen eindrin-
2.2 Moleküle und ihre Geometrie
25
gen kann. Das H+-Ion bildet daher selbst mit den Anionen der elektronegativsten Nichtmetalle keine Ionengitter sondern Moleküle mit stark polaren Atombindungen (z.B. HF, H2O).
2.2
Moleküle und ihre Geometrie
2.2.1 Strukturbestimmungsmethoden Die meisten Verbindungen der Nichtmetalle bestehen aus diskreten Molekülen, in denen die Atome durch kovalente Bindungen zusammengehalten werden. Zwischen diesen Molekülen wirken VAN DER WAALS-Kräfte, die rund 100mal schwächer sind als die kovalenten Bindungskräfte (Kap. 3). Grundsätzlich ist es wünschenswert, von jedem bekannten Molekül die Struktur genau zu kennen. Daher werden heute in der Forschung zahllose Strukturbestimmungen vorgenommen. Die dafür geeigneten experimentellen Methoden unterscheiden sich je nach dem Aggregatzustand der betreffenden Verbindung und der Größe der zugrunde liegenden Moleküle.16 Am wichtigsten und am weitesten verbreitet ist die Einkristallstrukturanalyse mit Röntgenbeugungsmethoden,16b die heute in fast allen Chemiefachbereichen zur Verfügung steht. Hierbei wird ein Einkristall der Substanz mit monochromatischer Röntgenstrahlung bestrahlt. Die Photonen werden an den Elektronen gestreut und es kommt zu Beugungs- und Interferenzerscheinungen, aus denen die Elektronenverteilung im Kristall und damit die Lage der Atome berechnet werden kann.17 Da die Atome jedoch während der Bestrahlungsdauer Schwingungen ausführen, erhält man gemittelte Atomlagen. Der Kristall kann während der Messung gekühlt werden, wodurch sich auch Substanzen untersuchen lassen, die bei 20°C flüssig oder gasförmig sind, die man aber zuvor bei entsprechend tiefer Temperatur kristallisieren muss. Gasförmige oder flüchtige Substanzen aus nicht zu großen Molekülen können auch mittels Elektronenbeugung studiert werden. Dabei werden monochromatische Elektronen, d.h. ein Strahl von Elektronen gleicher Geschwindigkeit, an den frei rotierenden und schwingenden Molekülen der Probe gebeugt, die dazu aus einer Düse in eine Vakuumkammer einströmt. Die Beugung der Elektronen findet hauptsächlich an den Atomkernen statt, wodurch deren Abstände zueinander bestimmt werden können. Eine weitere Methode für gasförmige Proben ist die Mikrowellenspektroskopie, die bei kleinen Molekülen sehr genaue Strukturdaten liefert. Dabei werden die Moleküle durch Absorption von Photonen zu Rotationen angeregt. Da die Trägheitsmomente für die Rotationen eines Moleküls um seine drei Achsen außer von der Masse der Atome auch von der Molekülgeometrie abhängen, kann man diese berechnen. Schließlich kann die Struktur von jedem nicht zu großen Molekül nach quantenchemischen Methoden berechnet werden. Darauf wird im Abschnitt 2.7 eingegangen. Des Weiteren sind indirekte Strukturbestimmungsmethoden wie die Schwingungsspektroskopie (IR, Raman) oder die kernmagnetische Resonanzspektro16
17
(a) E. A. V. Ebsworth, D. W. H. Rankin, S. Cradock, Structural Methods in Inorganic Chemistry, 2. Aufl., Blackwell Sci. Publ., Oxford, 1987. (b) W. Massa, Kristallstrukturbestimmung, 5. Aufl., Teubner, Wiesbaden, 2007. Die Kerne befinden sich in guter Näherung an den Orten maximaler Elektronendichte.
26
2 Die chemische Bindung
skopie (NMR) in Lösung und im Festkörper hilfreiche Methoden, um die Struktur einer unbekannten Verbindung zu ermitteln. Es ist leicht einzusehen, dass die verschiedenen Methoden zur Strukturbestimmung etwas unterschiedliche Ergebnisse liefern werden. Das liegt nicht nur daran, dass verschiedene physikalische Effekte ausgenutzt werden. Vielmehr spielt wegen der Molekülschwingungen auch die Temperatur der Probe eine Rolle. Weiterhin enthalten nur gasförmige Substanzen isolierte Moleküle. In Kristallen wirken die Nachbarmoleküle auf das betrachtete Molekül anziehend oder abstoßend ein und verändern damit seine Geometrie. So kommt es, dass oftmals Moleküle, die in der Gasphase hochsymmetrisch sind, in Kristallen eine geringere Symmetrie aufweisen, weil sie durch eine asymmetrische Umgebung deformiert worden sind (Einfluss von Packungseffekten). Besonders groß ist der Einfluss unterschiedlicher Kationen auf die Struktur von Anionen und umgekehrt. Wann immer möglich, werden daher im vorliegenden Text die Strukturen für die gasförmigen Verbindungen angegeben. Wenn man sich mit einer konkreten chemischen Verbindung beschäftigt, dann steht die Frage nach der Geometrie der betreffenden Moleküle meist am Anfang. Da man nicht von allen Molekülen die Struktur im Gedächtnis behalten kann, ist es wünschenswert, diese Frage auf eine einfache Weise zu beantworten. Es gibt in der Tat eine Methode, bei gegebener Zusammensetzung die Geometrie eines beliebigen kleinen Moleküls durch einige elementare Überlegungen abzuleiten. Dieses Verfahren heißt VSEPR-Methode18 (valence shell electron pair repulsion). Grundlage ist also die Annahme, dass sich die Molekülgeometrie aus der Abstoßung von Elektronenpaaren in der Valenzschale der Atome ergibt. Diese Modellvorstellungen sollen im Folgenden an einfachen Beispielen erläutert werden.
2.2.2. Die VSEPR-Methode zur Strukturermittlung Die ersten Vorstellungen über das Zustandekommen von kovalenten Bindungen stammen von GILBERT NEWTON LEWIS (1916).19 Danach haben die Atome das Bestreben, durch Paarung von Elektronen eine Elektronenkonfiguration zu erreichen, die dem nächst höheren Edelgas entspricht. Im Falle zweier H-Atome wird durch Ausbildung eines gemeinsamen Elektronenpaars die Heliumkonfiguration erreicht:
H. + . H H H So wurde die Reaktion von H-Atomen zu H2-Molekülen zuerst erklärt, wobei der Strich zwischen den H-Atomen ein Elektronenpaar symbolisiert. O-Atome haben zwei ungepaarte Elektronen und können somit zwei gemeinsame Elektronenpaare ausbilden:
.
.
O. + . O
O
O
Das O2-Molekül enthält danach eine Doppelbindung und daneben vier Elektronenpaare, die nicht an der Bindung teilnehmen („freie“ oder besser „nichtbindende“ Elektronenpaare). Im Falle von Stickstoffatomen kann eine Dreifachbindung entstehen:
.
.
. . N . + N. 18 19
N
N
R. J. Gillespie, E. A. Robinson. Angew. Chem. 1996, 108, 539. G. N. Lewis, J. Am. Chem. Soc. 1916, 38, 762.
27
2.2 Moleküle und ihre Geometrie
In analoger Weise können O-Atome mit H-Atomen zu dem gewinkelten Wassermolekül H2O und N-Atome mit H-Atomen zum pyramidalen Ammoniakmolekül NH3 kombiniert werden:
.
N
. . N . + 3 H
H
H
H
In diesen Beispielen erreichen die beteiligten Atome die jeweilige Edelgaskonfiguration, wenn man die gemeinsamen Elektronenpaare jeweils bei jedem Atom mitzählt. Für Nund O-Atome ergibt sich also eine Oktettkonfiguration, wie sie das Neonatom aufweist. Es wurde im Rahmen dieser Vorstellungen behauptet, dass die Edelgaskonfiguration besonders stabil sei. Die VSEPR-Methode beruht nun auf Modellvorstellungen darüber, wie diese acht Valenzelektronen geometrisch angeordnet sind, da angenommen wird, dass dadurch die Geometrie des Moleküls bestimmt wird. Für die Wechselwirkung der Valenzelektronen in einem Molekül gilt einerseits die COULOMB-Abstoßung der Elektronen aufgrund ihrer negativen Ladung und andererseits das PAULI-Verbot, wonach sich zwei Elektronen gleichen Spins nicht zur gleichen Zeit am gleichen Ort aufhalten dürfen, sondern bestrebt sind, den größtmöglichen Abstand voneinander einzunehmen. Hinzu kommt aber, dass die Elektronen von den positiv geladenen Atomkernen oder Atomrümpfen angezogen werden und daher die Tendenz zeigen, sich zwischen zwei Atomrümpfen aufzuhalten. Betrachten wir zunächst einige einfache Moleküle des Typs AXn, die nur gleichartige Bindungen A–X enthalten. Der Substituent X sei einwertig, d.h. er geht nur eine Einfachbindung ein. Beispiele hierfür sind H2O, NH3 und CH4, in denen nur Einfachbindungen vorliegen und die Zentralatome in ihrer Valenzschale acht Elektronen aufweisen. Diese Elektronen sollen sich nun auf dem als kugelförmig angesehenen Atomrumpf so anordnen, dass der Abstand von Elektronen gleichen Spins maximal und die Energie damit minimal wird. Jedes Elektronenpaar besteht aus einem Elektron mit α-Spin (s = +) und einem mit β-Spin (–). Der maximale Abstand zwischen vier Elektronen mit α-Spin wird bei tetraedrischer Anordnung erreicht. Das gleiche gilt für die Elektronen mit β-Spin. Die Orientierung dieser beiden Tetraeder zum Beispiel im Methanmolekül CH4 ist an sich beliebig; da aber die Anziehung durch die H-Atomkerne dazu führen muss, dass jeweils ein α- und ein β-Elektron zwischen dem C-Atom und einem H-Atom lokalisiert werden, ergibt sich eine insgesamt tetraedrische Anordnung von vier Elektronenpaaren in so genannten Elektronendomänen (Abb. 2.6). α
H αβ
β Orientierung
β
in Methan
α
α α
β
β
α βH
α H β αβ H
Abb. 2.6 Wahrscheinlichste Anordnung für die vier Valenzelektronen mit α- bzw. β-Spin und Orientierung dieser beiden Tetraeder im Methanmolekül.
28
2 Die chemische Bindung
Eine Elektronendomäne ist nach dieser Vorstellung ein Raumsegment um das Zentralatom, in dem sich ein oder mehrere Elektronen aufhalten. Benachbarte Domänen sollen sich nicht überlappen. Die Größe, die Gestalt und die Orientierung dieser Domänen bestimmt nun die Geometrie des betreffenden Moleküls. Daher hat Methan nach diesem Modell die Gestalt eines Tetraeders mit Valenzwinkeln α = 109.5°. Zur Erweiterung dieser Vorstellungen auf andere Moleküle muss zunächst das Problem behandelt werden, n Punkte (Elektronendomänen) auf einer Kugeloberfläche (Atomrumpf) so anzuordnen, dass sämtliche Nachbarn maximale Abstände besitzen. Die mathematische Behandlung dieses Problems ergibt die in Abbildung 2.7 dargestellten Lösungen: Eine lineare Anordnung für n = 2, ein gleichseitiges Dreieck für n = 3 und das schon behandelte Tetraeder für n = 4. Für n = 5, 7 und 8 sind mehrere Lösungen möglich. Besonders interessant ist der Fall n = 5, für den eine trigonale Bipyramide mit zwei axialen und drei äquatorialen Positionen oder eine quadratische Pyramide erhalten werden. Bei der quadratischen Pyramide ist die Spitzenposition (apical) nicht mit den vier Positionen an den Basisecken äquivalent. Die chemische Erfahrung zeigt jedoch, dass die meisten nichtmetallischen Moleküle des Typs AX5 die trigonale Bipyramide bevorzugen.
2
3 gleichseitiges Dreieck
5 2:3 trigonale Bipyramide
4 Tetraeder
5 1:4
6
quadratische Pyramide
Oktaeder
Abb. 2.7 Anordnungsmöglichkeiten von Punkten auf einer Kugeloberfläche, so dass alle Abstände benachbarter Punkte maximal werden. Für fünf Punkte ergeben sich zwei Möglichkeiten.
Die in Abbildung 2.7 dargestellten Anordnungsmöglichkeiten können nun dazu dienen, die Geometrie von Molekülen der Typen AXn zu bestimmen. Dabei ist A ein Zentralatom und X ein einwertiger Ligand oder Substituent. Da nur Einfachbindungen vorhanden sind, ist die Zahl der Elektronendomänen gleich n. Damit ist die Geometrie entsprechend Abbildung 2.8 festgelegt. Beispiele für solche Verbindungen finden sich in Tabelle 2.3.
29
2.2 Moleküle und ihre Geometrie
AX2
AX3
AX2E
AX4
AX3E
AX2E2
AX6
AX5
AX4E
AX3E2
AX2E3
AX5E
AX4E2
Abb. 2.8 Schematisierte Geometrie von Molekülen, die in ihrer Valenzschale bis zu sechs Elektronendomänen aufweisen. X: einwertiger Substituent, E: nichtbindendes Elektronenpaar.
30
2 Die chemische Bindung
Tab. 2.3 Geometrie von Molekülen und Ionen nach dem VSEPR-Modell (X = Halogen) Anzahl der Elektronenpaare
Anordnung
Typ
Gestalt
Beispiele
2
linear
AX2
linear
BeF2 (gasf.)
3
dreieckig
AX3
dreieckig
BX3, [CO3]2–
AX2E
V-förmig
CF2, SiCl2
AX4
tetraedrisch
[BeX4]2–, [BX4]-, CX4, [NX4]+ SiX4, GeX4, [PX4]+, [AsX4]+
AX3E
trigonal-pyramidal
NX3, [OH3]+, PX3, AsX3, SbX3, P4O6, As2O3, Sb2O3
AX2E2
V-förmig
OX2, SX2, SeX2, TeX2
AX5
trigonal-bipyramidal
PCl5, PF5, PF3Cl2, SbCl5, Sb(CH3)3Cl2
AX4E
C2v
SF4, SeF4, R2SeCl2, R2SeBr2, R2TeCl2, R2TeBr2
AX3E2
T-förmig
ClF3, BrF3, C6H5ICl2
AX2E3
linear
[ICl2]–, [I3]–, XeF2
AX6
oktaedrisch
SF6, SeF6,TeF6, S2F10,Te(OH)6, [PCl6]–, [PF6]–, [Sb(OH)6]–, [SbF6]–, [SiF6]2-
AX5E
quadratischpyramidal
ClF5, BrF5, IF5
AX4E2
quadratisch
XeF4, [ICl4]–, I2Cl6, [BrF4]–
4
5
6
tetraedrisch
trigonalbipyramidal
oktaedrisch
Moleküle mit nichtbindenden Elektronenpaaren (E) am Zentralatom wie H2O und NH3 sind vom Typ AXmEn. Hierbei ist die Gesamtzahl der Elektronenpaare am Atom A gleich m + n. Diese Moleküle werden ähnlich wie die vom Typ AXn behandelt, d.h. die Paare E werden als stereochemisch aktiv angesehen, die sich wie Pseudosubstituenten verhalten. Betrachten wir als Beispiel das Molekül H2O (Typ AX2E2). Die vier Elektronenpaare am O-Atom bilden ein Tetraeder, wobei nur zwei Tetraederecken von H-Atomen besetzt sind. Das Molekül H2O ist also gewinkelt. Ebenso bilden die vier Elektronendomänen im Molekül NH3 (AX3E) formal ein Tetraeder, d.h. NH3 ist eine trigonale Pyramide. In den beiden zuletzt genannten Molekülen sind die Tetraeder der Elektronendomänen jedoch verzerrt, da die nichtbindenden Elektronenpaare mehr Raum beanspruchen als die bindenden Paare. Das liegt daran, dass die bindenden Elektronen der positiven Ladung zweier Atomkerne ausgesetzt sind, während sich nichtbindende Elektronen im positiven Feld nur eines Kerns aufhalten. Daher sind die Domänen unterschiedlich groß und die Valenzwinkel zwischen den OH-Bindungen im H2O (104.5°) und zwischen den NH-Bindungen im NH3 (107.3°) sind daher kleiner als der ideale Tetraederwinkel von 109.5°. Dies trifft auch auf zahlreiche weitere Moleküle der gleichen Typen zu, wie die Daten in den Tabellen 2.4 und 2.5 zeigen.
31
2.2 Moleküle und ihre Geometrie
Tab. 2.4 Valenzwinkel α in Molekülen und Ionen vom Typ AX2E2 Molekül
α(°)
Molekül
α (°)
OH2 SH2 SeH2 TeH2 OF2 SF2 SeF2 OCl2 SCl2 SeCl2
104.5 92.1 90.9 90.3 103.1 98.2 94 111 103 99.6
[Cl3]+ [BrF2]+ [ICl2]+ HOF HOCl HOBr [ClO2]– [NH2]– [NF2]–
96 92 93 97.2 102.5 110 108.6 99.4 96.7
Tab. 2.5 Valenzwinkel α in Molekülen und Ionen vom Typ AX3E Molekül
α(°)
Molekül
α(°)
NH3 PH3 AsH3 SbH3 NF3 PF3 AsF3 SbF3 NCl3 PCl3 AsCl3
107.3 93.5 92.0 91.7 102.2 97.7 95.8 87.3 107.1 100.3 98.9
PBr3 AsBr3 SbBr3 PI3 AsI3 SbI3 [SF3]+ [SeF3]+ [TeF3]+ [SCl3]+
101.1 99.8 98.2 102 100.2 99.1 97.5 94.5 90(2) 103.3
SbCl3
97.2
Weitere Beispiele von Verbindungen, die formal zwischen zwei und sechs Valenzelektronenpaare aufweisen, sind in Tabelle 2.3 aufgeführt. Die Strukturen dieser Moleküle sind in Abbildung 2.8 schematisch dargestellt. Sind nur zwei Elektronendomänen vorhanden wie im gasförmigen BeF2, ergibt sich ein lineares Molekül. Bei drei Domänen wie im BF3 resultiert ein trigonal-planares, sternförmiges Molekül. Fünf bzw. sechs solche Domänen führen zu trigonal-bipyramidalen bzw. oktaedrischen Strukturen. Es ist bemerkenswert, dass die Ergebnisse von Strukturuntersuchungen an nichtmetallischen Verbindungen in den meisten Fällen mit den Vorhersagen nach der VSEPR-Methode übereinstimmen, obwohl das Modell auf ziemlich einfachen Annahmen beruht. Zu Abweichungen von den Vorhersagen kommt es vor allem bei Molekülen und Ionen, die formal mehr als sechs Elektronendomänen am Zentralatom aufweisen.20 Auf diese Verbindungen wird bei den betreffenden Elementen eingegangen. 20
Zu heptakoordinierten Verbindungen wie IF7 siehe R. Minkwitz, Angew. Chem. 1994, 106, 2017.
32
2 Die chemische Bindung
Die in Abbildung 2.8 dargestellten regelmäßigen Molekülstrukturen werden nur dann erhalten, wenn Moleküle vom Typ AXn vorliegen und alle Substituenten identisch sind. Mit unterschiedlichen Substituenten oder nichtbindenden Elektronenpaaren oder wenn Mehrfachbindungen zu einem oder mehreren Substituenten vorliegen, treten mehr oder weniger starke Verzerrungen (Symmetrieerniedrigungen) auf. Dafür gelten die folgenden Regeln. Nichtbindende Elektronenpaare Wie bereits erwähnt, befinden sich die nichtbindenden Elektronenpaare in einem Molekül vom Typ AXmEn im Gegensatz zu den bindenden Paaren im Feld nur eines Atomkerns. Man muss daher annehmen, dass die mit nichtbindenden Paaren besetzten Domänen mehr Raum beanspruchen und größer sind als die der bindenden Paare. Wird in einem regulären Oktaeder (z.B. SF6) ein bindendes durch ein nichtbindendes Elektronenpaar ersetzt (z.B. ClF5), entsteht eine quadratisch-pyramidale Geometrie. Wegen der größeren Domäne für das nichtbindende Paar sind die Valenzwinkel zwischen axialen und äquatorialen Bindungen kleiner als der Oktaederwinkel von 90°. Auch sind jetzt die Kernabstände in der axialen Richtung deutlich kleiner als in der Basisebene der Pyramide. Beispiele hierzu findet man in Tabelle 2.6. Tab. 2.6 Kernabstände d (pm) und Valenzwinkel α (°) in Molekülen und Ionen vom Typ AX5E. In Klammern sind die Standardabweichungen der Strukturparameter angegeben. Verbindung
dax
deq
α
[XeF5]+[RuF6]–
179.3(9)
184.5(8)
–
[XeF5]+[AgF4]–
182.6(9)
185.2(19)
77.7(3)
[XeF5]+[PtF6]–
181.0
184.3
79
ClF5
157(1)
167(2)
86(2)
BrF5
168.9(8)
177.4(3)
84.8(1)
IF5
184.4(25)
186.9(5)
81.9(5)
Na+[TeF5]–
186.2(4)
195.2(4)
87.8
([NH4]+)2[SbF5]2–
191.6(4)
207.5(2)
88.0
([NH4]+)2[SbCl5]2–
236
258–269
85
Stehen einem oder mehreren nichtbindenden Elektronenpaaren in einem Molekül mehrere Positionen zur Wahl, dann neigen diese Elektronen wegen ihres größeren Raumbedarfs und der stärkeren Abstoßung mit anderen Elektronen dazu, die Positionen einzunehmen, die den größten Raum bieten. Vor allem werden zwei oder mehrere nichtbindende Elektronenpaare so weit wie möglich voneinander getrennt sein. In einem Molekül vom Typ AX4E2 nehmen die nichtbindenden Paare daher trans-Positionen ein. Solche Moleküle sind folglich quadratisch-planar (Beispiel: XeF4). In der trigonalen Bipyramide sind die äquatorialen und axialen Positionen nicht äquivalent. Die Ecken der Äquatorebene sind wegen der Valenzwinkel von 120° weiter voneinander entfernt als von den Spitzen der Bipyramide, zu denen die Winkel nur 90° betragen. Nichtbindende Elektronenpaare besetzen daher immer zuerst die äquatorialen Positionen, wie folgende Beispiele zeigen:
33
2.2 Moleküle und ihre Geometrie F E
S
F F
E
F
E
F
Cl
F F
E E
Xe
F
F
+
F
F E E
Xe
E
F
Da nichtbindende Elektronenpaare mehr Raum beanspruchen als bindende, sind die Winkel zwischen axialen und äquatorialen Bindungen in Molekülen der Typen AX4E und AX3E2 im Allgemeinen kleiner als die Idealwerte 90°, 120° und 180° der regelmäßigen trigonalen Bipyramide. So betragen die Valenzwinkel im SF4 101.6° (Feq–S–Feq) und 173.1° (Fax–S–Fax). Im ClF3 betragen die Winkel 87.5° (Fax–Cl–Feq) und 175° (Fax–Cl– Fax). Das Molekül XeF2 ist exakt linear. Wegen der Verschiedenartigkeit der äquatorialen und axialen Positionen treten in Molekülen der Typen AX5, AX4E und AX3E2 auch zwei verschiedene Kernabstände d(AX) auf, und zwar ist d(A–Xeq) um 5–15 % kleiner als d(A–Xax); vgl. Tabelle 2.7. Tab. 2.7 Kernabstände d (pm) und Valenzwinkel α (°) in Molekülen und Ionen der Typen AX4E und AX3E2 Verbindung
dax
deq
α(ax-ax/eq-eq)
[PF4]– SF4 FS–SF3 SeF4 Ph2TeF2 Me2TeCl2 [BrF4]+[Sb2F11]– [IF4]+ ClOF3 [IO2F]– XeO2F2 AX3E2:
174 164.6 167.3 177.1 200.6 251 186 184 171.3 200 189.9
160 154.5 156.9 168.2 211.5 210 177 177 160.3 193 171.4
168.3/99.9 173.1/101.6 167.0/104.9 169.2/100.6 175.3/96.9 172.3/98.2 173.5/92.4 160/92 170.5 (ax) 180 (ax) 183.2 (ax)
ClF3 BrF3 [XeF3]+[SbF6]–
169.8 181.0 190.5
159.8 172.1 183.5
175.4 (ax) 172.4 (ax) 160.9 (ax)
AXE4:
Substituenten verschiedener Elektronegativität Unter der Elektronegativität eines Atoms oder eines Restes versteht man dessen Fähigkeit, die Elektronen einer Bindung zu sich heranzuziehen. Die Elektronegativität χ nimmt im Periodensystem von links unten nach rechts oben hin zu (Kap. 4.6.2). Unter dem Einfluss stark elektronegativer Substituenten werden bindende Elektronenpaare kontrahiert. Ihre Raumbeanspruchung wird also geringer und die anderen bindenden und nichtbindenden Paare können sich mehr ausbreiten. Aus diesem Grunde nehmen die Valenzwinkel mit steigender Elektronegativität der Substituenten ab. Die folgenden Beispiele illustrieren die Größenordnung dieses Effektes:
34
2 Die chemische Bindung
H2O: 104.5° / OF2: 103.1° wegen χ(F) > χ(H) PBr3: 101.1° / PCl3: 100.3° / PF3: 97.8° wegen χ(F) > χ(Cl) > χ(Br) Weitere Beispiele finden sich in den Tabellen 2.4 bis 2.7. Bei abnehmender Elektronegativität des Zentralatoms A breiten sich nichtbindende Elektronenpaare auf dessen Oberfläche mehr aus als bindende Paare. Aus diesem Grunde werden die Valenzwinkel in der Reihe H2O > H2S > H2Se > H2Te kleiner. Sind in einem Molekül Substituenten unterschiedlicher Elektronegativität vorhanden, müssen nach dem oben Gesagten die Winkel zwischen den Bindungen zu den elektronegativeren Substituenten kleiner sein als die anderen. Sind die Substituenten jedoch sehr groß, so ist zu erwarten, dass auch die sterische Behinderung die Valenzwinkel beeinflusst. In einer trigonalen Bipyramide besetzen die elektronegativsten Substituenten immer zuerst die axialen Positionen. Das gilt beispielsweise für die Fluoratome in PCl4F und PCl3F3. Man beobachtet also bei diesen Molekülen keine stabilen Isomere mit F-Atomen in äquatorialen Positionen. In den Molekülen CH3PF4 und (CH3)2PF3 befinden sich die weniger elektronegativen Methylgruppen erwartungsgemäß in der Äquatorebene. Mehrfachbindungen Eine Mehrfachbindung besteht im Rahmen des VSEPR-Modells aus mehr als zwei Elektronen. Das Modell sieht vor, dass sich diese Elektronen in einer Domäne befinden. Beispielsweise wird die lineare Geometrie von CO2 durch die Abstoßung zweier Elektronendomänen erklärt. Wegen der größeren Elektronenzahl beanspruchen Mehrfachbindungsdomänen mehr Raum als die von Einfachbindungen. Daraus folgt, dass in Molekülen des Typs AX3Y mit einer Mehrfachbindung A=Y die Winkel X–A–X kleiner sind als die Winkel X–A=Y. In Molekülen mit Mehrfachbindungen und nichtbindenden Elektronenpaaren treten besonders starke Abweichungen von der regulären Molekülgestalt auf. Das zeigen folgende Beispiele: O
S
P F Winkel:
F
S
P F
Cl
Cl
Cl
ClPCl: 101.8°
FPF: 101.1°
F
F
O
OSF: 106.8° FSF: 92.8°
In tetraedrischen Molekülen mit mehreren Mehrfachbindungen ist der zwischen diesen liegende Winkel der größte des Moleküls: O
F S F
O
OSO: 124.0° FSF: 96.1°
O
Cl S Cl
O
OSO: 123.5° ClSCl: 100.3°
Bei trigonal-bipyramidalen Molekülen sind die Mehrfachbindungen wegen ihrer größeren Raumbeanspruchung immer in der Äquatorebene zu finden. Beispiele hierfür sind Thionyltetrafluorid SOF4 und Xenondioxiddifluorid XeO2F2. Eine Übersicht über einfache Moleküle mit ein bis zwei Mehrfachbindungen findet sich in Abbildung 2.9.
35
2.2 Moleküle und ihre Geometrie AX 2 AX 3
AX 2E
O Cl Cl
O
C
S
C
O
H
O
O
O
O
O
Cl AX 4 O
N O
O
N
O
C
+
N
Cl
O
O
S
Cl
Cl
AX 3E
O
AX 2E 2
O
S
O
Cl Cl
Cl
S
F
Cl
Cl
O
N
P
O
O
S
O
I
F F
O O
O F F
AX 5
F
S
O
F F O
AX 4E
F O
Xe
O
O
F
AX 6
F F
F
O I F
I
F
HO
F
HO
O I
OH OH
OH
Abb. 2.9 Geometrie von Molekülen mit Mehrfachbindung.
Abschließende Bemerkungen zum VSEPR-Modell Das Modell der Elektronenpaarabstoßung liefert eine rationelle Systematik der Strukturen kleiner Moleküle auf einer anschaulichen Grundlage. Zwar ist das Modell weitgehend empirisch und an den vorliegenden experimentellen Strukturdaten orientiert, es hat sich aber selbst bei der Prognose der Geometrie unbekannter Moleküle bewährt.21 Nur wenige Nichtmetallverbindungen sind bekannt, bei denen die Molekülstruktur mit dem VSEPR-
21
Zur theoretischen Begründung des Modells siehe: R. F. Bader, R. J. Gillespie, P. J. MacDougall, J. Am. Chem. Soc. 1988, 110, 7329. P. J. MacDougall et al., Can. J. Chem. 1989, 67, 1842.
36
2 Die chemische Bindung
Modell falsch vorhergesagt wird. Dazu gehören die Ionen [BrF6]–, [SeX6]2– und [TeX6]2– mit X = Cl, Br oder I. Diese Ionen sind vom Typ AX6E und sollten daher eine verzerrt oktaedrische Struktur aufweisen. Tatsächlich bilden sie aber reguläre Oktaeder, d.h. das nichtbindende Elektronenpaar ist ohne stereochemischen Einfluss. Bei einer bestimmten Größe und Anzahl von Substituenten ist ohnehin zu erwarten, dass die Molekülgeometrie von den sterischen Erfordernissen bestimmt wird. Bei den Verbindungen der Übergangsmetalle gibt es jedoch eine größere Anzahl von Ausnahmen von den Vorhersagen des VSEPR-Modells. Trotz der Erfolge und der großen Popularität der VSEPR-Methode muss kritisch angemerkt werden, dass dieses Modell nicht die wirkliche Elektronendichteverteilung in Molekülen beschreibt. Beispielsweise suggeriert das Modell, dass eine Bindung immer durch (mindestens) zwei Elektronen zustande kommt. Wie im Abschnitt 2.4 gezeigt werden wird, ergibt die Theorie der chemischen Bindung, dass in den meisten Molekülen Mehrzentrenbindungen vorliegen, wobei ein Elektronenpaar auch für die Bindungen zu zwei Substituenten verantwortlich sein kann. Beispiele hierfür sind die Moleküle XeF2 und SF6. Andererseits können Bindungen zwischen zwei Atomen auch durch nur ein sowie durch drei Elektronen vermittelt werden. Kovalente Bindungen werden also nicht immer durch Elektronenpaare begründet. Man sollte daher die Elektronendomänen des VSEPR-Modells als lokale Anhäufungen von Elektronendichte zwischen den aneinander gebundenen Atomen betrachten und nicht als Elektronenpaare. Diese Anhäufungen kommen durch die Anziehung der Elektronen durch die beiden Atomrümpfe zustande. Die VSEPR-Methode versagt auch bei einfachen Problemen, wie dem O2-Molekül, das paramagnetisch ist, weil es zwei ungepaarte Elektronen enthält, so dass die oben angegebene LEWIS-Formel nicht korrekt ist. Zwar wird die gewinkelte Struktur des Carbens CH2 richtig vorhergesagt, allerdings steht in diesem paramagnetischen Molekül mit Triplett-Grundzustand der gefundene Winkel H–C–H von 131.5° im klaren Widerspruch zur VSEPR-Erwartung (<120°). Man darf daher diese anschaulichen Modellvorstellungen nicht überbewerten. Exakte Lösungen des Strukturproblems von Molekülen sind nur von einer exakten quantenmechanischen Theorie zu erwarten. Diese wird im Abschnitt 2.4 behandelt.
2.3
Molekülsymmetrie und Punktgruppensymbole
Für viele Zwecke ist es notwendig, nicht nur die ungefähre Molekülgeometrie, sondern auch die Molekülsymmetrie zu kennen. Das gilt für Chemiker vor allem dann, wenn Molekülspektren auszuwerten sind, aber auch, wenn es die Bindungsverhältnisse in mehratomigen Molekülen zu analysieren gilt. Darüber hinaus ist die Beschäftigung mit der Symmetrie von Gegenständen eine ästhetische Erfahrung, da viele Objekte, die wir als besonders schön und harmonisch gestaltet empfinden, diese Qualität aufgrund ihrer Symmetrie und ihrer Proportionen aufweisen. Die Symmetrie eines Moleküls ergibt sich aus dessen Verhalten gegenüber bestimmten Symmetrieoperationen. Diese sollen an einigen Beispielen erläutert werden. Man betrachte die beiden gewinkelten Moleküle H2O und HOCl:
37
2.3 Molekülsymmetrie und Punktgruppensymbole
H
O
H
H
O
Cl
Das H2O-Molekül kann um eine Achse, die den Valenzwinkel halbiert, gedreht werden und kommt nach einer Drehung um 180° in eine Lage, die von der Ausgangslage ununterscheidbar ist. Nach einer weiteren Drehung um 180° befindet sich das Molekül wieder in der Ausgangslage. Eine solche Drehung nennt man Symmetrieoperation, die Drehachse (Symbol: C) heißt ein Symmetrieelement des Moleküls. Die Zähligkeit n der Drehachse wird als Index angegeben (Cn); nach n-maliger Drehung um 2π/n befindet sich das Molekül wieder in der Ausgangslage. Beim H2O-Molekül gibt es also das Symmetrieelement C2, eine zweizählige Drehachse. Das HOCl-Molekül weist dagegen keine zweizählige Achse auf sondern nur eine C1-Achse, die bei allen Molekülen vorhanden ist. Dieses Symmetrieelement ist trivial und wird daher im Allgemeinen nicht besonders erwähnt. Ein weiteres Symmetrieelement des H2O-Moleküls ist die Spiegelebene (Symbol: σ), die den Valenzwinkel halbiert und senkrecht auf der Molekülebene steht. Das O-Atom liegt also in der Spiegelebene. Fällt man nun in Gedanken von einem H-Atom das Lot auf diese Ebene und verlängert diese Gerade um den gleichen Betrag, kommt man zum Ort des zweiten H-Atoms. Eine derartige Spiegelung beider H-Atome an der Ebene σ vertauscht zwar die beiden Atome, jedoch ist auch hier der Endzustand vom Ausgangszustand ununterscheidbar. Eine derartige Spiegelebene ist beim HOCl-Molekül kein Symmetrieelement. Ein gemeinsames Symmetrieelement von H2O und HOCl ist allerdings eine Spiegelebene, die mit der Molekülebene zusammenfällt. Dieses Symmetrieelement ist bei allen planaren Molekülen vorhanden. Eine besondere Symmetrieoperation ist die Drehspiegelung, d.h. die Drehung um eine Achse Cn und nachfolgende Spiegelung an einer zu dieser Achse senkrechten Ebene. Man spricht in diesem Fall von einer Symmetrieoperation zweiter Art. Das entsprechende Symmetrieelement heißt Drehspiegelachse und erhält das Symbol Sn, wobei n die Zähligkeit der Drehachse angibt. Die Reihenfolge von Drehung und Spiegelung ist beliebig. Moleküle mit Drehspiegelachsen sind z.B. SiCl4 (S4, halbiert den Winkel ClSiCl) und trans-1,2-Dichlorethen ClHC=CHCl (S2, geht durch die C-Atome). Cl
Cl
Cl
Si Cl
Cl
SiCl4 (S4)
H
C
C
H Cl
1,2-C2H2Cl2 (S2)
Die vierte Symmetrieoperation neben Drehung, Spiegelung und Drehspiegelung ist die Inversion, d.h. die Spiegelung aller Atome an einem Punkt, den man Symmetrie- oder Inversionszentrum nennt (Symbol: i). Eine solche Operation ist beispielsweise beim linearen Molekül CO2 möglich. Der Punkt i liegt im Kern des C-Atoms. Die Inversion besteht darin, dass man irgendein Atom des Moleküls mit i verbindet und diese Strecke um den gleichen Betrag verlängert. Dann muss am Endpunkt dieser Geraden ein gleichartiges Atom vorhanden sein, wenn das Molekül punktsymmetrisch sein soll. Über ein
38
2 Die chemische Bindung
Inversionszentrum verfügen auch die Moleküle XeF4 (quadratisch), SF6 (oktaedrisch) und C6H6 (sechseckig). Für solche Moleküle gilt in der Schwingungsspektroskopie das Alternativverbot, wonach die Normalschwingungen entweder im Infrarot- oder im Ramanspektrum aktiv sind (und nicht in beiden gleichzeitig). Beispielsweise sind die asymmetrische Valenzschwingung sowie die Deformationsschwingung von Molekülen wie CO2 oder XeF2 infrarotaktiv, während die symmetrische Valenzschwingung Ramanaktiv ist. Man beobachtet also im IR-Spektrum zwei Banden und im Ramanspektrum nur eine Linie.22 Eine bei allen Molekülen mögliche und daher meistens nicht besonders erwähnte Symmetrieoperation ist die Identität (Symbol: E), wonach jedes Molekül mit sich selbst identisch ist. Diese Operation entspricht einer Drehung um C1, also um 360°. Die sonstigen Drehachsen und die zugehörigen Drehwinkel ϕ sind in folgender Übersicht mit leicht zu merkenden Beispielen zusammengefasst: C2: C3: C4: C5: C6: C∞:
ϕ = 180° ϕ = 120° ϕ = 90° ϕ = 72° ϕ = 60° ϕ beliebig
H2O BF3 XeF4 [C5H5]– C6H6 lineare Moleküle
Als „unendlich-zählige“ Drehachse C∞ wird eine Achse bezeichnet, bei der um einen beliebigen Winkel gedreht werden kann, was nur bei linearen Molekülen möglich ist. Ein Molekül gilt als besonders symmetrisch, wenn es möglichst viele verschiedenartige Symmetrieelemente besitzt. In diesem Sinne ist H2O mit den Symmetrieelementen C2 und 2σ von höherer Symmetrie als HOCl, das nur das Symmetrieelement σ aufweist. In Tabelle 2.8 sind die vier Symmetrieoperationen noch einmal zusammengefasst. Tab. 2.8 Symmetrieoperationen und Symmetrieelemente Symmetrieoperation
Symmetrieelement
Symbol
wichtigste Typen
Drehung
Drehachse
C
C2, C3, C4, C5, C6, C∞
Spiegelung
Spiegelebene
σ
σv , σh, σd
S2, S4
Drehspiegelung
Drehspiegelachse
S
Inversion
Inversionszentrum
i
Zur Charakterisierung der Symmetrie eines Moleküls gibt man nun aber nicht alle vorhandenen Symmetrieelemente direkt an, sondern man bedient sich bestimmter Symbole, die nach dem in Abbildung 2.10 dargestellten Schema für jedes Molekül abgeleitet werden können. Diese Symbole werden als Punktgruppensymbole bezeichnet. Sie symbolisieren bestimmte Symmetrieklassen oder -typen.
22
Daneben gibt es noch schwächere Signale für Kombinations- und Oberschwingungen.
39
2.3 Molekülsymmetrie und Punktgruppensymbole räumliche Strukturformel nein
spezielle Gruppe?
Cn ? nein
Td Ih Oh C∞v D∞h linear linear Tetra- Okta- Ikosaohne i mit i eder eder eder
ja
σ ? nein ja i ? nein ja Cs
nur S 2n oder S 2n mit i?
ja
Ci
C1
Sn (selten) nein nein
σh?
n σv ? nein
Cn
ja
nein n C2 Cn ja
ja
nein
C nh
ja
ja
n σd ? nein
C nv
σh?
Dn (selten)
D nh ja
D nd
Abb. 2.10 Fließschema zur Ermittlung der Punktgruppensymmetrie von Molekülen.
Punktgruppensymbole bestehen aus einem großen Buchstaben und einem Index. Der Index besteht seinerseits aus einer Zahl, einem kleinen Buchstaben oder aus beidem. Moleküle von besonders hoher Symmetrie erhalten eigene Symbole: Td steht für Tetraeder (CH4, P4), Oh für Oktaeder ([SiF6]2–, [PCl6]–) und Ih für Ikosaeder ([B12H12]2–). Diese Polyeder (Abb. 2.11) werden von gleichseitigen Dreiecken eingehüllt. Bei ihnen sind alle Ecken äquivalent, d.h. gleichberechtigt.
Tetraeder
Oktaeder
Ikosaeder
Abb. 2.11 Polyeder von besonders hoher Symmetrie: Tetraeder mit 24 Symmetrieoperationen (8 C3, 3 C2, 6 S4, 6 σd , E); Oktaeder mit 48 Symmetrieoperationen (8 C3, 6 C2, 6 C4, i, 8 S6, 6 S4, 3 σh, 6 σd , E); Ikosaeder mit 120 Symmetrieoperationen (z.B. 12 C5, 10 C3, 15 C2, i, …).
40
2 Die chemische Bindung
Zu den speziellen Punktgruppen zählt man auch die linearen Moleküle. Lineare Moleküle ohne Inversionszentrum erhalten das Symbol C∞v. Einige Beispiele sind: N2O, ClCN, OCS und [SCN]–. Diese Moleküle weisen eine ∞-zählige Drehachse auf (C∞). Die Achse mit der höchsten Zähligkeit betrachtet man nun stets als vertikale Achse und gibt ihr den Index „v“, im vorliegenden Fall also C∞v. Weitere Symmetrieelemente der C∞v-Moleküle sind die unendlich vielen Spiegelebenen, die die Molekülachse enthalten und die daher ebenfalls vertikal genannt werden (σv). Lineare Moleküle mit Inversionszentrum erhalten das Symbol D∞h. Beispiele sind die Moleküle CO2, CS2, XeF2, C3O2 sowie die Ionen [NO2]+, [N3]– und [HF2]–. Auch bei diesen Molekülen liegt eine C∞v-Achse vor. Senkrecht zu dieser Achse sind jedoch jetzt zusätzlich unendlich viele C2-Achsen vorhanden. Damit handelt es sich um die so genannte Diedersymmetrie (Symbol: D). Die Diedersymmetrie ist eine besonders hohe Symmetrie, die immer dann vorliegt, wenn senkrecht zur höchstzähligen Achse Cn genau n zweizählige Achsen vorhanden sind: nC2⊥Cn. Andere Beispiele für Diedermoleküle sind BF3, XeF4, PF5 und IF7. Der Index „h“ in einem Punktgruppensymbol steht für „horizontal“ und besagt, dass senkrecht zur höchstzähligen Achse (Cnv) eine Spiegelebene σh vorhanden ist. Dies ist beim CO2 und den anderen Diedermolekülen der Fall; daraus ergibt sich das Symbol D∞h für die genannten Moleküle. Nach diesen Erläuterungen können nun die Symbole für beliebige Moleküle nach dem in Abbildung 2.10 gegebenen Schema ermittelt werden. Nach Aussonderung der speziellen Gruppen ist die erste Frage die nach einer mindestens zweizähligen Drehachse (Cn). Ist keine solche Achse vorhanden, können wenigstens eine Spiegelebene σ und/oder ein Inversionszentrum i Symmetrieelemente sein. Ein Molekül ohne jede Symmetrie erhält das Symbol C1 (z.B. CFClBrI). Besitzt das Molekül eine Cn-Achse, sind nur höchst selten eine geradzählige Drehspiegelachse S2n und eventuell ein Inversionszentrum i die einzigen weiteren Symmetrieelemente (Gruppe Sn). Meistens sind weitere Drehachsen (z.B. C2) oder Spiegelebenen (σv , σh, σd ) vorhanden. Das Symbol σd steht für eine diagonale Spiegelebene, das ist eine in der Mitte zwischen zwei C2-Achsen eines Diedermoleküls liegende vertikale Spiegelebene. Beispielsweise weist das trigonal-planare BF3-Molekül folgende Symmetrieelemente auf: C3, 3C2⊥C3, σh, 3σd. Das Punktgruppensymbol ist daher D3h. Weitere Beispiele finden sich in Tabelle 2.9. Alle Punktgruppen, die eine mehr als zweizählige Drehachse (C3, C4, …) oder Drehspiegelachse (S3, …) enthalten, heißen entartet. Zu den entarteten Punktgruppen gehören viele hochsymmetrische Moleküle einschließlich der linearen, tetraedrischen, oktaedrischen und ikosaedrischen. Bei entarteten Punktgruppen kommt es zu entarteten Moleküleigenschaften wie entarteten Molekülorbitalen und Molekülschwingungen. Entartet heißen Orbitale oder Schwingungen, wenn sie die gleiche Energie aufweisen. Dies wird im weiteren Verlaufe dieses Kapitels deutlich werden. Oft wird der Begriff lokale Symmetrie benutzt. Darunter versteht man die Symmetrie eines Molekülteils, für den man sich besonders interessiert. Beispielsweise hat die Aminogruppe im pyramidalen Chloraminmolekül Cl–NH2 die Symmetrie C2v , obwohl das Molekül als Ganzes nur die Symmetrie Cs aufweist.
41
2.4 Die kovalente Bindung
Tab. 2.9 Punktgruppensymbole wichtiger Molekültypen Molekültyp AB2
ABC
Geometrie
Beispiele
Punktgruppe
linear
CO2, XeF2, C3O2
D∞h
gewinkelt
SO2, [NO2]–
C2v
linear
COS, N2O
C∞v
gewinkelt
HOCl, ClNO
CS
trigonal-planar
BCl3, [NO3
trigonal-pyramidal
PH3, XeO3
C3v
planar
BClF2, ClNO2
C2v
pyramidal
ClNH2, OSCl2
CS
tetraedrisch
[ClO4]–, [BF4]–
Td
quadratisch
XeF4
D4h
AB3C
tetraedrisch
OPCl3, [S2O3]2–
C3v
AB5
trigonal-bipyramidal
PF5
D3h
AB6
oktaedrisch
SF6
Oh
AB5C
oktaedrisch
SClF5
C4v
AB3
AB2C
AB4
2.4
]–
D3h
Die kovalente Bindung
In Molekülen werden die Atome durch kovalente Bindungen zusammengehalten, die Atome haben dabei jedoch ihre ursprüngliche Identität verloren und etwas Neues ist entstanden. Chemiker neigen aber dazu, die Bildung von Molekülen modellmäßig so zu interpretieren, dass in den Molekülen noch immer die ursprünglichen Atome zu erkennen sind (Modell der atoms in molecules, AIM).23 Um das Zustandekommen von Molekülen auf der Basis der Quantentheorie zu erklären, gibt es zwei theoretische Ansätze, nämlich die Valenzbindungs(VB)-Theorie und die Molekülorbital(MO)-Theorie. Beide Theorien wurden parallel zueinander entwickelt, und zwar von WALTER H. HEITLER, FRITZ W. LONDON und LINUS PAULING (VB-Theorie) bzw. FRIEDRICH HUND und ROBERT S. MULLIKEN (MO-Theorie). In der Anorganischen Chemie hat sich die MO-Theorie als bei weitem überlegen erwiesen;24 nur sie wird daher hier behandelt. 23 24
Eine gute Einführung findet sich im Internet unter: http://www.chemistry.mcmaster.ca/bader/ aim/. B. M. Gimarc, Molecular Structure and Bonding – The Qualitative Molecular Orbital Approach, Academic, New York, 1979. T. A. Albright, J. K. Burdett, M.-H. Whangbo, Orbital Interactions in Chemistry, Wiley, New York, 1985. J. Reinhold, Quantentheorie der Moleküle, Teubner, Wiesbaden, 3. Aufl., 2006.
42
2 Die chemische Bindung
Die wesentlichen Grundlagen aller Bindungstheorien für Moleküle sind COULOMB’s Gesetz, das PAULI-Prinzip und HEISENBERG’s Unschärferelation, die alle bereits zum Verständnis der Atome erforderlich sind. Wie in den Atomen bewegen sich die Elektronen auch in den Molekülen so um die Atomkerne, dass sich die COULOMB-Anziehung durch die Atomkerne und die COULOMB-Abstoßung durch die übrigen Elektronen auf der einen Seite (potentielle Energie) mit der Zentrifugalkraft (kinetische Energie) auf der anderen Seite die Waage halten. Die MO-Theorie geht nun davon aus, dass sich die Elektronen eines Moleküls nicht bevorzugt in der Nähe bestimmter Kerne aufhalten, sondern über das ganze Kerngerüst delokalisiert sind. Sie befinden sich also nicht mehr in Atomorbitalen (AOs), die zu bestimmten Atomkernen gehören, sondern in MOs, die sich über das ganze Molekül erstrecken. Insbesondere sind sie nicht unterscheidbar. Um dieses Modell zu entwickeln, betrachtet man zweckmäßig das einfachste aller Moleküle, das Ion [H2]+, das aus nur zwei Kernen und einem Elektron besteht. Nachdem man bei diesem Molekül-Ion die Vorgehensweise verstanden hat, kann man das Modell auf H2 und andere Mehrelektronenmoleküle erweitern, indem man ähnlich argumentiert wie beim Aufbau der Mehrelektronenatome. Man nimmt an, dass die beim [H2]+ erfolgreichen theoretischen Ansätze sinngemäß auf andere homonukleare zweiatomige Moleküle übertragen werden können.25 Für die MO-Theorie hat daher das Ion [H2]+ eine ähnliche Bedeutung wie das H-Atom für die Atomtheorie.
2.4.1 Das Molekül-Ion [H2]+ Das Molekül-Ion [H2]+ entsteht bei der Ionisierung von H2 in einer elektrischen Gasentladung oder in der Ionenquelle eines Massenspektrometers. Bei beiden Prozessen wird die Ionisierung durch den Zusammenstoß mit schnellen Elektronen bewirkt, deren kinetische Energie größer als die Ionisierungsenergie von H2 (15.4 eV) sein muss: H2
[H2]+ + eÇ
H ° = 1.49 MJ molÇ1
Der für [H2]+ spektroskopisch ermittelte Gleichgewichtskernabstand beträgt d = 106 pm = 2.00 a0 (a0: atomare Längeneinheit 52.9 pm). Die Bindungsenthalpie ist mit 269 kJ mol–1 wesentlich kleiner als beim H2-Molekül (457 kJ mol–1). Die Molekülsymmetrie von [H2]+ ist D∞h. Das Elektron des [H2]+ bewegt sich im Feld zweier Atomkerne; die MOs müssen daher Zweizentrenorbitale sein. Es ist nun das entscheidende Problem der MO-Theorie, geeignete Einelektronen-Wellenfunktionen ψ zu finden, mit denen ein solcher Elektronenzustand beschrieben werden kann. Aber selbst wenn man solche Funktionen gefunden hat, kann die SCHRÖDINGER-Gleichung nicht exakt gelöst werden, weil die potentielle Energie 25
W. Kutzelnigg, Einführung in die Theoretische Chemie, Bd. 2, VCH, Weinheim, 1978. A. Szabo, N. S. Ostlund, Modern Quantum Chemistry, McGraw Hill, New York, 1982. W. J. Hehre, L. Radom, P. v. R. Schleyer, J. A. Pople, Ab initio Molecular Orbital Theory, Wiley, New York, 1986. W. Kutzelnigg in Z.B. Maksic (Herausg.), The Concept of the Chemical Bond, Kap. 1, Springer, Berlin, 1990, S. 1. F. Jensen, Introduction to Computational Chemistry, Wiley, Chichester, 1999.
43
2.4 Die kovalente Bindung
eines Elektrons im Feld zweier gegeneinander schwingender Kerne26 nur näherungsweise ermittelt werden kann. Die MO-Theorie macht daher schon beim einfachsten Molekül von Näherungen Gebrauch. Die erste dieser Vereinfachungen ist die BORN-OPPENHEIMERNäherung, die besagt, dass die Schwingungsbewegung der Atomkerne wegen deren großer Masse sehr viel langsamer ist als die Bewegungen der leichteren Elektronen, so dass beide getrennt behandelt werden können. Man kann daher annehmen, dass die Elektronenbewegung unabhängig von den Kernbewegungen ist. Das bedeutet, dass die Atomkerne bei der Entwicklung der Theorie als ruhend angesehen werden. Die Methode, die man zur mathematischen Konstruktion geeigneter MehrzentrenWellenfunktionen benutzt, besteht darin, dass man eine Linearkombination von Atomfunktionen, d.h. von Einzentrenfunktionen, verwendet. Man spricht daher von der LCAONäherung (linear combination of atomic orbitals, LCAO). Zur Unterscheidung von Einzentren- und Mehrzentrenfunktionen werden wir von nun an die Wellenfunktionen von MOs mit ψ und die wasserstoffähnlichen Einzentrenfunktionen mit φ bezeichnen. Die LCAO-Näherung Die beiden Atomkerne des Wasserstoffmolekül-Ions seien mit A und B bezeichnet. Sie sollen sich im experimentell ermittelten Kernabstand befinden. An jedem Kern gibt es ein kugelsymmetrisches 1s-Orbital. Diese Orbitale überlappen sich in der Region zwischen den beiden Kernen (Abb. 2.12). φA (1s)
φ B (1s)
(a)
HA
HB
+ (b)
φA
z
+
φB
Abb. 2.12 Überlappung zweier 1s-Orbitale zweier H-Atome im Molekülion [H2]+. (a) Profildarstellung der Wellenfunktionen; (b) Projektionen der Orbitale in die Molekülebene.
Das Elektron bewegt sich nun mit größter Wahrscheinlichkeit im kernnahen Raum. Befindet es sich gerade in der Nähe des Kerns A, so wird es vom Kern B nur wenig beeinflusst werden. Wäre der Kern B gar nicht vorhanden, würde sich das Elektron am Kern A 26
Alle Atomkerne eines Moleküls schwingen auch bei 0 K gegeneinander (Nullpunktsschwingung), um die Unbestimmtheitsrelation zu erfüllen; siehe Kap. 4.7.1.
44
2 Die chemische Bindung
im 1s-Orbital aufhalten. Man wird daher annehmen dürfen, dass das MO in der Nähe des Kerns A dem 1s-Orbital des H-Atoms ähnelt. Entsprechendes gilt für den Kern B. Wenn man daher die Beeinflussung des 1s-Orbitals am Kern A durch den Kern B und umgekehrt zunächst vernachlässigt, kann man das MO von [H2]+ im Grundzustand durch folgende Linearkombination annähern: ψ = c1 · φA (1s) + c2 · φB (1s)
Die linearen Koeffizienten c gestatten es, sozusagen beliebige Mischungen der beiden Atomfunktionen herzustellen. Normalerweise benutzt man diese Gleichung jedoch in der Form: X = N [φA (1s) + λ · φB (1s)]
(2.7)
N: Normierungsfaktor λ: Mischungskoeffizient Der Normierungsfaktor N sorgt dafür, dass die Funktion nach Quadrierung bei der Integration über das gesamte Volumen die richtige Anzahl von Elektronen, hier 1, ergibt. Der Mischungskoeffizient λ gibt an, mit welchem relativen Gewicht die beiden AOs in das MO eingehen. Er ist daher ein Maß für die Polarität des Moleküls bzw. für die Polarisierung des MOs. Im Prinzip kann λ je nach Art der beiden Atome beliebige Werte zwischen –∞ und +∞ annehmen. Im Falle von [H2]+ müssen die Gewichte beider AOs aus Symmetriegründen natürlich gleich groß sein. Da es die Elektronendichte ist, die D∞h-Symmetrie aufweist, und da die Elektronendichte durch die Quadrate (c1φA)2 und (c2φB)2 beschrieben wird, gilt für A = B: c12 = c22. Das bedeutet: c1 = c2 bzw. c1 = –c2 oder λ = ±1. Daraus folgt, dass die Linearkombination (2.7) zwei MOs ψ+ und ψ– beschreibt, nämlich: y+ = N+ (´A + ´B)
mit N+ =
yÇ = NÇ (´A Ç ´B)
mit NÇ =
1 2 (1 + S) 1 2 (1 Ç S)
(2.8)
(2.8)
(2.9)
(2.9)
In den Normierungsfaktoren tritt das Überlappungsintegral S = ∫ φA* φB dτ auf, das über alle Volumenelemente dτ integriert und das positiv ist, wenn in der Überlappungsregion beide Wellenfunktionen gleiches Vorzeichen haben; andernfalls ist es negativ. Ein positives Überlappungsintegral bedeutet Bindung, ein negativer Wert von S bedeutet Abstoßung („Antibindung“). Die beiden Zweizentrenfunktionen in den Gleichungen 2.8 und 2.9 können nun verwandt werden, um die Energie des Ions [H2]+ als Funktion des Kernabstandes R zu ermitteln. Durch Einsetzen von ψ+ bzw. ψ– in die SCHRÖDINGER-Gleichung H X = EeX erhält man zunächst die Gesamtenergie Ee = Epot + Ekin des Elektrons, wobei man für seine potentielle Energie Epot nach COULOMB’s Gesetz folgenden Ansatz macht:
45
2.4 Die kovalente Bindung
eÇ ra
rb
A
Epot = Ç
e2 e2 Ç ra rb
B
R
Die Geamtenergie E des Ions [H2]+ gegenüber seinen Dissoziationsprodukten H und H+ ergibt sich dann zu: E = Ee +
e2 Ç EH R
EH = Ç13.6 eV
Von der (negativen) Energie Ee des Elektrons im [H2]+ wird also die elektronische Energie eines H-Atoms abgezogen. Außerdem ist die Abstoßungsenergie e2/R der beiden Atomkerne berücksichtigt worden, die natürlich positiv ist. E (a.u.)
+0.3
+0.2 +0.1
1 u = yÇ
0 1g = y È
Ç0.1 0
2
4
6
8
10
12 R (ao)
Abb. 2.13 Niedrigste Energieniveaus von [H2]+ als Funktion des Kernabstandes R einschließlich der Kernabstoßung (1 a.u. = 1 Hartree = 27.2 eV = 2625.5 kJ mol–1).
In Abbildung 2.13 ist die auf diese Weise aus den Funktionen ψ+ bzw. ψ– berechnete Energie des [H2]+ als Funktion des Kernabstandes R dargestellt. Als Nullpunkt wird die Energie der Dissoziationsprodukte gewählt. Es zeigt sich, dass nur die Funktion ψ+ einen stabilen Molekülzustand mit einem Energieminimum beschreibt. Mit der Funktion ψ– dagegen ergibt sich bei allen endlichen Kernabständen eine größere Energie als die der Dissoziationsprodukte; daher ist dieser „Zustand“ instabil. Das Elektron des [H2]+ kann sich entweder im MO ψ+ oder im MO ψ– aufhalten; entsprechend ist das Molekül-Ion stabil oder instabil. Man nennt diese beiden MOs daher bindend (ψ+) bzw. antibindend (ψ–). Antibindende Orbitale werden oft durch einen Stern (ψ*) gekennzeichnet. Die anschauliche Deutung dieser Befunde ergibt sich aus der für beide Fälle berechneten Elektronendichteverteilung, wobei im antibindenden „Zustand“ der Kernabstand des bindenden Zustandes zugrunde gelegt wird. Diese Verteilung ist in Abbildung 2.14a für einen Schnitt durch das Ion dargestellt, wobei die Atomkerne in der Schnittebene liegen. Entscheidend ist der Verlauf der Elektronendichte ρ auf der Kernverbindungslinie. Dieser ist in Abbildung 2.14b in einer Profilzeichnung dargestellt. Man erkennt, dass die Dichte im antibin-
46
2 Die chemische Bindung
denden Fall in der Mitte zwischen beiden Kernen auf Null abfällt. Das antibindende MO besitzt also eine Knotenebene senkrecht zur Kernverbindungslinie. Dadurch wird die Abstoßung der beiden Kerne voll wirksam und das Teilchen dissoziiert spontan. Im bindenden Zustand ist die Elektronendichte dagegen zwischen den Kernen überall relativ groß. Dadurch wird die Abstoßung der beiden Kerne durch die beiden Anziehungsterme Elektron-Kern A und Elektron-Kern B überkompensiert und der Zustand ist stabil, d.h. die Energie ist niedriger als die der Dissoziationsprodukte. (a)
Knotenebene
(b)
1u y2(1u) A
B
y2(1g)
1g A
B
Abb. 2.14 (a) Konturliniendiagramm der Elektronendichte des bindenden (ψ+ = 1σg) bzw. antibindenden (ψ– = 1σu) MOs im Molekülion [H2]+. (b) Änderung der Elektronendichte in [H2]+ entlang der H-H Kernverbindungslinie in den beiden MOs.
Die Wellenfunktion ψ+ führt zu einem Energieminimum bei R = 130 pm, das einer Bindungsenergie von 165 kJ mol–1 entspricht (61 % der experimentellen Energie). Qualitativ ist damit also die Bildung eines Moleküls [H2]+ aus H und H+ erklärt. Die Übereinstimmung mit den experimentellen Werten (106 pm und 269 kJ mol–1) lässt jedoch zu wünschen übrig. Eine wesentlich bessere Übereinstimmung erzielt man, wenn man die Atomfunktionen φA und φB in der LCAO-Näherung so modifiziert, dass sie der veränderten Situation im Molekül entsprechen. Im [H2]+ bewegt sich das Elektron im Feld zweier Atomkerne (Protonen), d.h. die effektive Kernladung Zeff, die auf das Elektron wirkt, muss einen Wert zwischen 1 (bei R = ∞) und 2 (bei R = 0) haben. Durch Optimierung der Energie findet man für den Gleichgewichtskernabstand von R = 2 ao den Wert Zeff = 1.25. Dies bedeutet eine Kontraktion der 1s-Atomfunktionen der beiden Atome, da Z im Exponent der Wellenfunktion steht: ´(1s) = N.e
Ç
Zr ao
Setzt man die so modifizierten (kontrahierten) Atomfunktionen in die LCAO-Gleichung 2.7 ein, findet man das Energieminimum des Molekülions bei einer Bindungsenergie von 236 kJ mol–1 (88 % des experimentellen Wertes). Eine weitere wesentliche Verbesserung erreicht man, indem man die Erniedrigung der Symmetrie der AOs von Oh im isolierten
47
2.4 Die kovalente Bindung
Atom auf D∞h im Molekül-Ion berücksichtigt. Durch die polarisierende Wirkung des Nachbarkerns wird jedes AO so deformiert, dass es in Richtung des Nachbaratoms expandiert und in entgegengesetzter Richtung kontrahiert. Dies kann mathematisch durch Hinzufügen einer Polarisationsfunktion zur ursprünglichen Atomfunktion erreicht werden, etwa durch folgenden Ansatz: ´'(1s) = N.e
Ç
Zr ao
[1 + z]
Hierbei ist λ eine Variable, deren Wert durch Variation bis zum Erreichen des Energieminimums gefunden wird; λ nimmt dabei meist sehr keine Werte an (0.01–0.03). Die Koordinate z bezieht sich auf die Kernverbindungslinie und gibt den Abstand vom jeweiligen Atomkern an, der sich im Ursprung befindet. In positiver z-Richtung befindet sich jeweils der Nachbarkern. Eine solche Linearkombination entspricht dem Hinzumischen von etwas 2pz-Charakter zum 1s-Orbital des H-Atoms:27 + 1s
+
-
+ 2pz
-
+
stark polarisiertes 1s-Orbital ´'(1s)
Setzt man nun diese kontrahierte und polarisierte Atomfunktion φ' in Gleichung 2.7 ein, ergibt sich die Bindungsenergie von [H2]+ zu 263 kJ mol–1, was nur noch unwesentlich vom experimentellen Wert abweicht.28 Es sei schon hier darauf hingewiesen, dass auch bei allen weiteren Beispielen kovalenter Bindungen so vorgegangen wird wie hier beschrieben, indem modifizierte Atomfunktionen in die Linearkombination eingebracht werden, auch wenn darauf nicht immer explizit hingewiesen wird. Dies ist nur ein mathematisches Verfahren, um den Aufenthaltsort des s-Elektrons besser zu beschreiben, da die „wahre“ Wellenfunktion ja unbekannt bleibt. Es bedeutet nicht, dass für die Bindung von s-Elektronen zusätzlich p-Orbitale verwendet werden. Es ist interessant, die potentielle und kinetische Energie des Elektrons im [H2]+ mit denen des H-Atoms zu vergleichen, um die Ursache der Bindungsbildung zu erkennen. Da die Energie E bei der Bindungsbildung abnimmt, muss entweder die kinetische oder die potentielle Energie des Elektrons abnehmen (bei einem ruhenden H+ gibt es weder potentielle noch kinetische Energie). Die Rechnung ergibt, dass Ekin beim H-Atom 0.5 Hartree und beim [H2]+ im Gleichgewichtskernabstand 0.6 Hartree beträgt, d.h. die kinetische Energie nimmt als Folge der Orbitalkontraktion zu. Es ist also die Abnahme der potentiellen Energie des Elektrons, die zu einer kovalenten Bindung führt. Dies kann durch die Anziehung des Elektrons durch nunmehr zwei Atomkerne anschaulich erklärt werden.
27
28
In ähnlicher Weise werden den Basisfunktionen bei elektronenreicheren Atomen Anteile von d-, f- oder sogar g-Funktionen zugemischt, um eine entsprechende räumliche Polarisierung zu erreichen; J. Simons, J. Phys. Chem. 1991, 95, 1017. Weitere Modifizierungen führen zu perfekter Übereinstimmung: W. Kolos, L. Wolniewicz, J. Chem. Phys. 1964, 41, 3663 und 3674.
48
2 Die chemische Bindung
In der Chemie ist es üblich, die energetischen Verhältnisse bei der Molekülbildung aus Atomen in einem MO-Diagramm darzustellen.29 Für die Vereinigung von H mit H+ zu [H2]+ ist das entsprechende Diagramm in Abbildung 2.15 gezeigt. Für stabile Zustände sind alle Energien negativ. Die Energie des H-Atoms beträgt –13.6 eV (–0.5 Hartree); für H+ lässt sich keine Energie angeben, daher wird sein virtuelles (leeres) 1s-Orbital auf die Höhe des 1s-AO des H-Atoms gesetzt. In der Mitte des Diagramms sind die Energien des Molekül-Ions eingezeichnet, die es beim Gleichgewichtskernabstand 2ao hat, wenn das Elektron entweder im 1σg- oder im 1σu-MO untergebracht wird. Eingezeichnet ist die Besetzung des stabilsten MOs. Das Elektron wird mit seinem Spin durch einen Pfeil symbolisiert, wobei die Pfeilrichtung den Spin α bzw. β kennzeichnet. Man erkennt, dass die Besetzung des 1σg-MOs mit dem einen vorhandenen Elektron zu einem stabilen Zustand führt, der um 269 kJ mol–1 (2.7 eV) tiefer liegt als die getrennten Teilchen H und H+. Eine Besetzung des antibindenden 1σu-MOs mit dem Elektron würde dagegen sofort zur Dissoziation des Molekül-Ions führen. Die Energie Null erreicht das Elektron, wenn es ganz vom Molekül abgetrennt wird. Daher nennt man diese oberste Grenze für die Energie auch die Ionisierungsgrenze. Sie gilt entsprechend für die Atome. Die Energie des H-Atoms von –13.6 eV ist identisch der negativen Ionisierungsenergie dieses Atoms. Das Diagramm in Abbildung 2.15a enthält sowohl die elektronische Energie als auch die Kernabstoßungsenergie. Eine andere, meistens verwendete Art von Diagramm berücksichtigt nur die (elektronischen) Orbitalenergien (Abb. 2.15b). (a) Gesamtenergie
E (eV)
H
−4.6
+
H2
H
Ee
+
(b) Elektronische Energie H
− E (ψ )
1 σu
+
H
H2
+
1 σu
∼ ∼ −13.6 −16.3
1s
1s 1 σg
EH
+ E (ψ )
1s
1s
1 σg
Abb. 2.15 Energieniveaudiagramme für das Molekülion [H2]+. (a) Auf der Ordinate ist die Gesamtenergie bestehend aus elektronischer Energie und Kernabstoßung aufgetragen. (b) Auf der Ordinate ist nur die elektronische Energie aufgetragen.
29
Exakter wäre die Bezeichnung Energieniveaudiagramm, da ja außer den MOs auch meist die energetische Lage der AOs mit angegeben wird. Da sich aber der Begriff MO-Diagramm eingebürgert hat, verwenden wir ihn im weiteren Text mit diesem Vorbehalt.
49
2.4 Die kovalente Bindung
Die Orbitalenergien der MOs 1σg und 1σu lassen sich auf der Basis der LCAO-Näherung berechnen, wenn man sowohl das Überlappungsintegral S als auch das so genannte reduzierte Resonanzintegral β kennt. Man erhält dann für [H2]+ näherungsweise:30 í (1 + S ) í E(yÇ) = E(´A) Ç (1 Ç S )
E(y+) = E(´A) +
Das Integral S hat im vorliegenden Fall beim Gleichgewichtsabstand den Wert 0.6. Das Integral β ist immer negativ; es beträgt im Energieminimum von [H2]+ etwa –0.16. Daraus folgt, dass sich die Orbitalenergien der MOs 1σg und 1σu so von der Orbitalenergie des H-Atoms unterscheiden, wie es in Abbildung 2.15b gezeigt ist. Das antibindende MO wird energetisch stärker destabilisiert, als das bindende MO stabilisiert wird. Mit anderen Worten, die Aufspaltung der MO-Energien ist asymmetrisch bezüglich der AO-Energie. Das Elektron des Molekül-Ions besetzt das bindende MO, das deutlich stabiler ist als das 1s-Niveau des H-Atoms. Diagramme dieser Art geben also die Änderung der elektronischen Energie wieder, nicht jedoch die Kernabstoßung. Im folgenden Text werden wir ausschließlich derartige MO-Diagramme verwenden.
2.4.2 Das Molekül H2 Die kovalente Bindung im Molekül H2 unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der im Molekül-Ion [H2]+. Der Gleichgewichtskernabstand beträgt 74.1 pm (1.40ao), die Bindungsenergie ist mit 457 kJ mol–1 wesentlich größer als bei der Einelektronenbindung des Ions [H2]+. Die Vorgehensweise ist analog zu der im Abschnitt 2.4.1 beschriebenen. Es kommen jedoch einige Komplikationen hinzu, die für alle Mehrelektronenmoleküle gelten. Die beiden Elektronen (1) und (2) bewegen sich jetzt nicht mehr wie beim [H2]+ im Feld von zwei ortsfesten Kernen A und B, sondern auch noch im Feld des jeweiligen anderen Elektrons: (1) ra
re
A
rb B
R rc
Epot = Ç
e2 e2 e2 e2 e2 e2 Ç Ç Ç È È ra rb rc rd re R
rd (2)
Dadurch enthält die potentielle Energie zusätzlich einen Term für die Abstoßung der gleichnamig geladenen Elektronen. Da sich die Elektronen in undeterminierter Weise be30
Genau genommen bedeutet E(φA) in den beiden Formeln die quasi-klassische Energie des Molekül-Ions, d.h. die elektronische Energie des H-Atoms im Abstand 2ao zu einem Proton; bezüglich einer exakten Berechnung siehe W. Kutzelnigg, Einführung in die Theoretische Chemie, Bd. 2, VCH, Weinheim, 1978.
50
2 Die chemische Bindung
wegen, kann die potentielle Energie nicht mehr genau berechnet werden. Man kennt jedoch sehr gute Näherungsverfahren, um dieses Problem zu lösen. Zur Beschreibung der Elektronenbewegung dienen Einelektronen-Wellenfunktionen ψ, die durch die gleiche LCAO-Näherung wasserstoffähnlicher Atomfunktionen φ gefunden werden wie beim Ion [H2]+ (Abschnitt 2.4.1). Auch hier ist eine Kontraktion der 1s-AOs durch eine erhöhte effektive Kernladung (Zeff = 1.19) und eine Polarisation durch den benachbarten Atomkern erforderlich, um eine bessere Übereinstimmung der berechneten Bindungseigenschaften mit den experimentellen Werten zu erreichen. Mit diesem Verfahren erhält man zwar den richtigen Gleichgewichtskernabstand von 1.40 ao, jedoch eine Bindungsenergie, die nur 77 % des experimentellen Wertes beträgt. Weiter unten wird beschrieben, wie man zu einer besseren Übereinstimmung kommt. Das MO-Energieniveaudiagramm für H2 ist im unteren Teil der Abbildung 2.16a gezeigt. Die beiden Elektronen besetzen im Grundzustand mit dem Termsymbol 1Σg+ das
Abb. 2.16 (a) MO-Diagramm für das Molekül H2 im Grundzustand (1Σ +g, unten) und im ersten angeregten Zustand (3Σu+, oben). Dargestellt ist die elektronische Energie der H-Atome und des Moleküls H2. Die Richtung der Elektronenspins in den isolierten Atomen ist unbestimmt. (b) Energie des H2-Moleküls in den Zuständen 1Σ +g und 3Σu+ als Funktion des Kernabstandes R. Die Energie der beiden getrennten H-Atome wurde gleich Null gesetzt.
2.4 Die kovalente Bindung
51
Orbital 1σg, wobei ihre Spins antiparallel (α und β) sein müssen, um dem PAULI-Prinzip Genüge zu tun. Aus der Tatsache, dass jetzt zwei bindende Elektronen vorhanden sind, ergibt sich, dass die Bindung stärker sein muss als die im [H2]+. Für den (ungünstigeren) Fall, dass die beiden Elektronen die Orbitale 1σg und 1σu je einfach und mit parallelem Spin besetzen, ergibt sich das Termsymbol 3Σu+ (Abbildung 2.16a oben). In Abbildung 2.16b ist die Potentialkurve des H2-Moleküls dargestellt. Man erkennt, dass die 3Σ + Konfiguration bei allen Kernabständen R < ∞ energiereicher ist als die Energie der u getrennten Atome. Das liegt daran, dass das antibindende MO stärker destabilisierend wirkt, als das bindende MO stabilisiert. Wird im H2-Molekül also ein Elektron aus dem 1σg-MO in das antibindende 1σu-Orbital „promoviert“, tritt spontane Dissoziation in zwei H-Atome ein. Um zu einer besseren Übereinstimmung der berechneten mit der experimentellen Bindungsenergie zu kommen, muss die so genannte Elektronenkorrelation berücksichtigt werden, die bei allen Mehrelektronenmolekülen wichtig ist. Darunter versteht man die Tatsache, dass sich die Elektronen wegen ihrer gleichnamigen Ladung gegenseitig ausweichen, also versuchen, nicht zur gleichen Zeit das gleiche Raumsegment zu besetzen. Ihre Bewegung ist also korreliert und nicht unabhängig voneinander wie bei zwei ungeladenen Teilchen. Beim H2-Molekül kann man dieses Phänomen in der Rechnung dadurch berücksichtigen, dass man die Linearkombination der AOs um einige Terme erweitert.31 Mit insgesamt 10 zusätzlichen Termen weicht die berechnete Energie um weniger als 4 kJ mol–1 vom experimentellen Wert ab. Die Elektronenkorrelation ist mit dafür verantwortlich, dass die Bindungsenergie von H2 nicht doppelt so groß ist wie die von [H2]+. Da der Kernabstand im H2 viel kleiner ist als beim [H2]+, ist demzufolge auch die Kernabstoßung größer. Die Ionisierungsenergie von H2 beträgt 15.4 eV. Das Kation [He2]+ Wir haben bisher kovalente Bindungen mit einem und zwei bindenden Elektronen betrachtet. Als nächstes wollen wir eine 3-Elektronen-σ-Bindung analysieren. Ein solcher Fall liegt im Kation [He2]+ vor, das im gasförmigen Helium entsteht, wenn man es einer elektrischen Entladung aussetzt. Dabei werden He-Atome ionisiert, worauf sich He+ in exothermer Reaktion mit He zu [He2]+ vereinigt. Der Gleichgewichtskernabstand beträgt 108.1 pm und die Bindungsenergie 228 kJ mol–1. Da sich die Elektronen des Heliumatoms im 1s-AO befinden, kann deren Zustand in ähnlicher Weise wie beim H2 durch Wellenfunktionen beschrieben werden, die durch Linearkombination von AOs erhalten werden. Die MO-Diagramme in Abbildung 2.15 und 2.16 sind also analog zu übertragen, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Orbitalenergie des He-1s-Orbitals wegen der höheren Kernladung jetzt wesentlich kleiner ist (–24.5 eV). Die beiden bindenden Elektronen im 1σg-MO überkompensieren sowohl die Abstoßung durch das eine antibindende Elektron im 1σu-MO als auch die Kernabstoßung, so dass ein stabiles Teilchen entsteht. In einer Gasentladung fangen die Kationen aber schnell ein Elektron ein, wodurch aus [He2]+ ein neutrales He2 entsteht. Ein solches Molekül ist jedoch nicht stabil, da jetzt zwei bindende und zwei antibindende Elektronen vorhanden wären und wegen der Asymmetrie der Aufspaltung die Abstoßung durch die antibindenden Elektronen zusammen mit der Kernabstoßung größer ist als die Anziehung durch die binden31
J. Simmons, J. Phys. Chem. 1991, 95, 1017.
52
2 Die chemische Bindung
den Elektronen. Daher tritt sofort Dissoziation ein. Bezüglich des VAN DER WAALS-Moleküls He2 siehe Kapitel 3.6.5. Aus der obigen Diskussion geht hervor, dass ein antibindendes Elektron die Wirkung eines bindenden Elektrons mehr als kompensiert. Es ist daher nicht sinnvoll, aus der Zahl der bindenden Elektronen, abzüglich der Zahl der antibindenden, einen Bindungsgrad oder Bindungsordnung zu errechnen. Diese Begriffe sind auch deshalb fragwürdig, weil die Stärke von Bindungen entscheidend von der Größe der Aufspaltung der MOs im Energieniveaudiagramm abhängt und weil diese Aufspaltung vom Kernabstand abhängt, der bei verschiedenen Molekülen verschieden ist. Wie in Kapitel 4 gezeigt werden wird, sind direkt messbare Bindungseigenschaften besser geeignet, die Stärke einer Bindung zu charakterisieren. Im weiteren Verlauf der Diskussion wird deutlich werden, dass sowohl die bindenden als auch die antibindenden MOs für das Verständnis von Molekülstrukturen und vor allem von Reaktionen zwischen Molekülen von größter Bedeutung sind. Im Falle des H2-Moleküls kann hierfür dessen Fähigkeit, als Ligand in Übergangsmetallkomplexen zu fungieren, als Beispiel dienen (Kap. 5.7.3). Dabei spielt die Symmetrie der MOs eine entscheidende Rolle. Dies soll hier mit der Isotopenaustauschreaktion H2 + D2
2 HD
illustriert werden. Diese einfache Reaktion erfordert eine hohe Aktivierungsenergie, obwohl man erwarten könnte, dass sie glatt über den im folgenden Schema unter (a) gezeigten 4-Zentren-Übergangszustand abläuft. Dabei lösen sich die Bindungen in H2 und D2 und simultan werden die neuen Bindungen in den zwei Molekülen HD gebildet: (a)
D H
+
D
D
D
D
H
H
H
H
+
D H
(b)
D D
DD 11u
H H
HH 1 1 g
Tatsächlich ist diese Reaktion jedoch, wie in (b) gezeigt, symmetrieverboten. Es findet nämlich keine Überlappung zwischen geeigneten Orbitalen der Reaktionspartner statt. Die 1σg-MOs von H2 und D2 sind zwar von gleicher Symmetrie und können sich mit einem positiven Wert von S überlappen, sie stoßen sich aber ab, da sie beide voll besetzt sind (gleiche Situation wie in He2). Die beiden 1σu-MOs sind leer und führen daher nicht zu einer Wechselwirkung. Es verbleibt folglich nur die in (b) gezeigte symmetrieverbotene Wechselwirkung zwischen dem 1σg-MO von H2 und dem 1σu-MO von D2. Deren Überlappungsintegral ist aber bei einem rechteckigen Übergangszustand aus Symmetriegründen gleich Null. Daher kann die Reaktion nicht über einen 4-Zentren-Mechanismus ablaufen. Der tatsächliche Reaktionsweg beinhaltet die Homolyse einer Bindung unter Bildung von Wasserstoffatomen, die dann eine Kettenreaktion starten: H2 H + D2
2H HD + D usw.
53
2.4 Die kovalente Bindung
2.4.3 Homonukleare Moleküle mit s- und p-Orbitalen
s
+
+
+
+ px
_
dxz
py
+
s
_
+
_
_
_
+
+
In diesem Abschnitt werden die zweiatomigen homoatomaren Moleküle der Elemente der ersten Achterperiode behandelt, also Li2 bis F2. Die Valenzelektronen dieser Atome besetzen die Orbitale der Niveaus 2s und 2p, während die inneren Elektronen im 1s-Orbital wegen der jetzt ziemlich hohen Kernladung so stark am Atomkern konzentriert sind, dass sie nicht an Bindungen zu Nachbaratomen teilnehmen können. Voraussetzung für die Bildung von MOs ist ein von Null verschiedenes Überlappungsintegral S zweier oder mehrerer AOs. Ist S > 0, hat das MO bindenden, bei S < 0 antibindenden und bei S = 0 nichtbindenden Charakter. Werden nun zwei Atome zu einem Molekül vereinigt, deren Elektronen außer dem 1s-Orbital auch noch andere Orbitale besetzen, so sind die Überlappungsverhältnisse aller Orbitalkombinationen zu prüfen. Wie weiter oben gezeigt wurde, kann die Überlappung von Orbitalen aus Symmetriegründen gleich Null sein. Solche Orbitale heißen orthogonal zueinander. Beispiele sind in Abbildung 2.17 gezeigt.
_ dx2−y2
Abb. 2.17 Überlappung orthogonaler AOs. Das Überlappungsintegral ist aus Symmetriegründen gleich Null.
Ein von Null verschiedener Wert von S resultiert daher nur bei der Überlappung von Orbitalen gleicher Symmetrie. Aus AOs mit σ-Symmetrie entstehen σ- und σ*-MOs, bei der Überlappung von π-AOs entstehen π- und π*-MOs. Letztere sind durch eine Knotenebene charakterisiert, die die Kernverbindungslinie und damit die Atomkerne enthält. In Abbildung 2.18 (mitte) sind die MOs für verschiedene Orbitalkombinationen schematisch durch Begrenzungslinien illustriert. Rechts sind die Oberflächen der resultierenden MOs bei einer formalen (Rest-)Elektronendichte von 0.05 e–/Å3 dargestellt. Da man bei linearen Molekülen die Kernverbindungslinie als z-Achse definiert, sind in diesem Fall die Orbitale s und pz von σ-Symmetrie und px sowie py von π-Symmetrie. Die fünf d-Orbitale sind teils von σ- (dz 2), teils von π- (dxy , dxz, dyz) und teils von δ-Symmetrie (dx 2 –y 2). Während bei π-Symmetrie eine Knotenfläche durch die Kernverbindungslinie geht, sind es bei δ-Symmetrie zwei Knotenflächen. Die entstehenden MOs können bei Molekülen der Symmetrie D∞h in gerade (g) und ungerade (u) eingeteilt werden. Bei der grafischen Darstellung von Molekülorbitalen kann man entweder wie in Abbildung 2.18 so genannte Begrenzungslinien verwenden oder Oberflächen berechnen, die einem bestimmten Wert der formalen Elektronendichte, d.h. des Quadrates der Wellenfunktion, entsprechen. Da dieser Wert auch für unbesetzte Orbitale berechnet werden kann, handelt es sich hier und in den folgenden Abbildungen nur um eine formale Dichte. Die energetische Aufspaltung von zwei sich überlappenden AOs in zwei MOs ist umso größer, je besser die Überlappung ist, da das reduzierte Resonanzintegral β in der Nähe
54
2 Die chemische Bindung +
+
a
g
+
s
s
+
+
+ Ç
s
-
+
p
p
+
+
-
+
+
-
Ç
-
-
d
-
+
-
g
+-
+
u
+
e
u
-
p
+
p
c
p
+
p
p
+
Ç
u
s +
+
-
+
b
f
+
-
-
+
g
p
Abb. 2.18 Linearkombination von AOs (links) zu MOs (rechts) bei σ- oder π-Symmetrie. Die Addition der AOs führt zu bindenden, die Subtraktion zu antibindenden MOs. Rechts sind die Oberflächen der berechneten MOs des F2-Moleküls dargestellt, die als Abbruchkriterium für die Ausdehnung des MOs einer Elektronendichte von 0.05 e–/Å3 entsprechen.
des Gleichgewichtskernabstandes dem Überlappungsintegral S proportional ist. Bei gleichem Kernabstand und gleicher Orbitalenergie ist die Überlappung zweier σ-Orbitale aus Symmetriegründen immer stärker als die zweier π-Orbitale. Neben der Symmetrie ist auch noch die Energie der kombinierten AOs wichtig, und zwar ist die Überlappung umso besser, je weniger sich die Orbitalenergien unterscheiden. Falls sich die Orbitalenergien um mehr als 15 eV unterscheiden, kann die Wechselwirkung trotz gleicher Symmetrie vernachlässigt werden. Zur Erläuterung dieser Zusammenhänge sollen die Energieniveaudiagramme der zweiatomigen homonuklearen Moleküle der Elemente der ersten Achterperiode diskutiert werden. Dazu ist es zunächst notwendig, die relativen Orbitalenergien der Niveaus 2s und 2p zu betrachten. In Abbildung 2.19 wird gezeigt, dass diese beiden Niveaus beim Lithium einen sehr geringen, beim Neon dagegen einen sehr großen Abstand haben. Da-
55
Energie / kJ mol Ç1
2.4 Die kovalente Bindung
Ç500 2p
Ç1500 Ç2500
2s
Ç3500 Ç4500 Li
Be
B
C
N
O
F
Ne
Abb. 2.19 Orbitalenergien der Niveaus 2s und 2p bei den Elementen der ersten Achterperiode.
her sind die Orbitalkombinationen beim Molekül F2 einfacher zu finden als beim Li2. Wir beginnen aus diesem Grund auf der rechten Seite des Periodensystems. Im Fluoratom besetzen die neun Elektronen die Orbitale 1s, 2s, 2px, py und pz. Bei der Bildung des Moleküls F2 aus zwei F-Atomen kombinieren nun diejenigen Orbitale beider Atome, die nach Symmetrie und Energie zusammenpassen. In Abbildung 2.20 ist das MO-Diagramm für diesen Fall dargestellt. E (eV)
F
F2
F2 Orbitale
F 3u
3u
1g
1g
Ç17.4
2p
2p 1u
1u
3g
3g 2u Ç46.0
2s
2u 2s
2g
2g
Abb. 2.20 MO-Diagramm für die Bildung des Moleküls F2 aus den Atomen. Eine Wechselwirkung von s- mit p-Orbitalen unterbleibt aufgrund der großen Energieunterschiede. Rechts sind die Oberflächen der berechneten MOs des F2-Moleküls dargestellt, die als Abbruchkriterium für die Ausdehnung des MOs einer Elektronendichte von 0.05 e–/Å3 entsprechen.
56
2 Die chemische Bindung
Die 1s-Orbitale sind in diesem Diagramm nicht eingezeichnet, da sie wegen der hohen effektiven Kernladung so stark an den Atomkernen konzentriert sind, dass praktisch keine Überlappung mit anderen Orbitalen stattfindet. Wie beim H2 werden die Linearkombinationen φ1s+φ1s und φ1s–φ1s aber als MOs 1σg und 1σu mitgezählt. Die 2s-Orbitale kombinieren miteinander unter Bildung der MOs 2σg und 2σu. Eine denkbare Wechselwirkung von 2s mit 2pz des Nachbaratoms, die wegen der gleichen Symmetrie dieser Orbitale diskutiert werden muss, kann man beim F2 vernachlässigen, da die betreffenden Orbitalenergien um mehr als 20 eV differieren, was zu einem sehr kleinen Überlappungsintegral führt. Die 2pz-Orbitale kombinieren daher nur untereinander und bilden die MOs 3σg und 3σu. Die π-Orbitale können aus Symmetriegründen nur paarweise, nämlich px mit px und py mit py kombinieren. Wegen der Entartung der p-Orbitale und wegen der gleichen Überlappung der beiden Paare resultieren je zwei entartete MOs, nämlich das bindende Niveau 1πu und das antibindende 1πg. Die vierzehn Valenzelektronen des F2-Moleküls besetzen nun die sieben energieärmsten der in Abbildung 2.20 dargestellten MOs. Von diesen sind vier bindend und drei antibindend. Das entartete 1πg-Niveau ist das HOMO des Moleküls (highest occupied molecular orbital). Diese Analyse stimmt mit den experimentell ermittelten Moleküleigenschaften überein. Die Ionisierungsenergie von F2 ist mit 15.7 eV deutlich kleiner als die von F-Atomen (17.4 eV). Sowohl der Kernabstand von 142 pm, als auch die Dissoziationsenthalpie von 159 kJ mol–1 entsprechen ungefähr einer Einfachbindung. Diese ist allerdings viel schwächer als etwa die CC-Bindung von Ethan. Das liegt daran, dass beim F2-Molekül die vielen Elektronenpaare in antibindenden MOs bei dem kleinen Kernabstand zu einer beträchtlichen COULOMB-Abstoßung führen, und zwar auch als Folge der unsymmetrischen Aufspaltung der bindenden und antibindenden MOs. Die „Einfachbindung“ im F2 ist daher untypisch schwach, was die hohe Reaktivität von elementarem Fluor erklärt. Im Falle des hypothetischen Moleküls Ne2 wären zwei weitere Valenzelektronen vorhanden, die das 3σu-MO besetzen müssten. Damit wären aber gleich viel bindende und antibindende Elektronen vorhanden, so dass eine starke Abstoßung resultierte. Aus diesem Grund existiert ein derartiges Molekül nicht. Wird Neongas aber ionisiert, dann verbindet sich das Kation Ne+ spontan mit einem Ne-Atom zum Molekül-Ion [Ne2]+, dessen Dissoziationsenthalpie von 131 kJ mol–1 mit der von F2 vergleichbar ist. Die positive Überschussladung stabilisiert dabei alle Orbitale. Im Molekül O2 besetzen die zwölf Valenzelektronen die MOs 2σg, 2σu, 3σg und 1πu vollständig und das 1πg-Niveau teilweise, nämlich mit nur zwei Elektronen (Abb. 2.21). Diese beiden Elektronen versuchen, sich so weit wie möglich voneinander zu entfernen. Somit enthält jedes der beiden entarteten Orbitale nur ein Elektron und diese beiden haben parallele Spins. Daraus ergibt sich, dass das O2-Molekül im Triplett-Zustand mit zwei ungepaarten Elektronen vorliegt. Da das oberste besetzte MO von O2 energiereicher ist als das von O-Atomen, ist die Ionisierungsenergie des O2-Moleküls (12.1 eV) kleiner als die des O-Atoms (13.6 eV). Weitere Eigenschaften von O2 sind in Tabelle 2.10 aufgeführt. In elektronisch angeregten Zuständen kann O2 auch als Singulett-Molekül existieren (Kap. 11.1.1). Um eine Vorstellung von der Geometrie der MOs im O2 zu erhalten, ist in Abbildung 2.22 die berechnete Elektronendichte ρ für die besetzten MOs der Valenzschale in Form von Konturlinien dargestellt. Die Dichte ρ ist dem Quadrat der Wellenfunktion ψ proportional.
57
2.4 Die kovalente Bindung
Tab. 2.10 Bindungseigenschaften einiger zweiatomiger Moleküle in der Gasphase Molekül
Valenzelektronen
Dissoziationsenthalpie bei 298 K (kJ mol–1)
Kernabstand (pm)
Spinzustand
[Ne2]+
15
131
175
Dublett
F2
14
159
142
Singulett
O2
12
495
121
Triplett
N2
10
945
109
Singulett
C2
8
596
124
Singulett
B2
6
300
159
Triplett
Be2
4
11
244
Singulett
Li2
2
103
267
Singulett
E
O2
N2
3σu 1πg 2p
3σg −λ’ 2σg 1πu
2σu 2s
2σg+λ3σg
Abb. 2.21 MO-Diagramme für die Moleküle O2 (links) und N2 (Mitte). Rechts sind die Oberflächen der berechneten MOs des N2-Moleküls dargestellt, die als Abbruchkriterium für die Ausdehnung des MOs einer Elektronendichte von 0.05 e–/Å3 entsprechen. Die Wechselwirkung der MOs 2σg und 3σg führt beim N2 aufgrund der kleineren 2s/2p-Energiedifferenz zu einer anderen energetischen Reihenfolge der MOs. Zu beachten ist, dass die Orbitale des N2-Moleküls wegen der geringeren effektiven Kernladung etwas höher liegen als die entsprechenden Orbitale von O2.
58
2 Die chemische Bindung
1u
4.0
2.0
2.0 x
0
x
Ç2.0
Ç4.0 Ç2.0
2.0
0
z
Ç4.0
4.0
4.0
Ç4.0
Ç2.0
z
0
2.0
4.0
2g
2.0
4.0
2u
2.0
0
x
0
Ç2.0
Ç2.0 Ç4.0
0
Ç2.0
Ç4.0
x
1g
4.0
Ç4.0
Ç2.0
0
z
2.0
Ç4.0
4.0
Ç4.0 Ç2.0
z
0
2.0
4.0
3g
4.0 2.0 x
0
Ç2.0 Ç4.0 Ç6.0 Ç4.0 Ç2.0
z
0
2.0
4.0
6.0
Abb. 2.22 Konturliniendiagramme der Elektronendichte für die obersten fünf besetzten MOs des Moleküls O2. Von außen nach innen verlaufen die Konturlinien bei 0.0001, 0.001, 0.005, 0.05, 0.1, 0.25 und 0.5 e–/a03 (a0 = 52.9 pm); Abstände sind in Einheiten von a0 angegeben. Dargestellt ist jeweils ein Schnitt durch das Orbital, und zwar so, dass die Atomkerne in der Schnittebene xz liegen; nach R. S. Mulliken, Angew. Chem. 1967, 79, 541.
Bei den Molekülen N2, C2 und B2 treten insofern Komplikationen auf, als die Energiedifferenz zwischen den Niveaus 2s und 2p jetzt kleiner als 15 eV ist. Je geringer aber diese Differenz ist, umso mehr kommt es zu einer Wechselwirkung der σ-MOs gleicher Symmetrie. Das MO-Diagramm im linken Teil der Abbildung 2.21 (O2) darf jetzt nicht mehr verwendet werden. Das korrekte Diagramm ist im mittleren Teil dieser Abbildung (N2) dargestellt. Man gelangt zu diesem Diagramm, indem man diejenigen MOs, die glei-
2.4 Die kovalente Bindung
59
che Symmetrie aufweisen und energetisch benachbart sind, linear kombiniert, wodurch einerseits ein stärker bindendes MO entsteht, das tiefer liegt als das tiefere Ausgangsniveau, und andererseits ein schwächer bindendes MO, das höher liegt als das höchste Ausgangsniveau. Dies betrifft in erster Linie die MOs 2σg und 3σg (in geringerem Umfang auch die antibindenden MOs 2σu und 3σu). Es entstehen also zwei neue Niveaus, die man kurz mit 2σg+λ3σg sowie 3σg–λ’2σg bezeichnen kann. Aus Abbildung 2.21 geht hervor, dass das (3σg–λ’2σg)-MO beim N2 höher liegt als die beiden entarteten 1πu-MOs. Die so entstandenen σ-MOs haben jetzt keinen reinen s- oder p-Charakter mehr, sondern sind s-p-Hybridorbitale. Das in Abbildung 2.21(mitte) dargestellte Diagramm gestattet es, die elektronischen und Bindungseigenschaften der Moleküle N2, C2, B2 und Li2 zu verstehen. Distickstoff hat 10 Valenzelektronen, die die untersten fünf MOs besetzen, wobei die zweifache Entartung des 1πu-Niveaus zu berücksichtigen ist. Da somit viel mehr bindende als antibindende Elektronen vorhanden sind, ergibt sich eine sehr starke Mehrfachbindung, deren Eigenschaften in Tabelle 2.10 aufgeführt sind. Das oberste besetzte MO (HOMO) ist immer noch bindend, was daraus hervorgeht, dass die Ionisierungenergie von N2 (15.6 eV) größer ist als die von N-Atomen (14.5 eV). Auch die elektronischen Eigenschaften der Moleküle C2 und B2 sind nur mit dem mittleren Diagramm in Abbildung 2.21 zu erklären. C2 tritt im Dampf von Graphit und in rußenden Flammen auf. Es ist ein Singulett-Molekül mit acht Valenzelektronen; HOMO ist das 1πu-Niveau. Das Molekül B2 ist dagegen ein Triplett-Molekül mit zwei ungepaarten Elektronen gleichen Spins auf dem 1πu-Nivau (Tab. 2.10). Berylliumatome haben die Elektronenkonfiguration 2s2. Das Molekül Be2 weist daher bei Anwendung von Abbildung 2.21 zwei bindende und zwei antibindende Elektronen auf, was normalerweise zu Abstoßung führt. Das mittlere Diagramm zeigt jedoch, dass in diesem Falle das bindende MO stärker stabilisiert ist als das antibindende destabilisiert wird. Daher kommt es auch mit vier Valenzelektronen zu einer allerdings sehr schwachen Bindung. Tatsächlich beträgt die Dissoziationsenthalpie von Be2 nur ca. 11 kJ mol–1. Im Dampf über flüssigem Lithium existiert das Molekül Li2 im Gleichgewicht mit atomarem Li. Analoges gilt für die anderen Alkalimetalle. Die kovalente Bindung im Li2 ist zwar viel stärker als im Be2, verglichen mit H2 aber relativ schwach: Die Dissoziationsenthalpie beträgt 103 kJ mol–1, der Kernabstand ist 267 pm. Wegen der geringen effektiven Kernladung, die auf das 2s-Elektron von Li wirkt, ist dieses Orbital groß und diffus, so dass das Überlappungsintegral der 2s-2s-Wechselwirkung in Li2 klein ist.
2.4.4 Photoelektronenspektroskopie kleiner Moleküle Für die Konstruktion von MO-Diagrammen von Molekülen ist die Kenntnis der Orbitalenergien erforderlich. Mit der Photoelektronenspektroskopie (PS oder PES)32 ist es möglich, diese Energien näherungsweise zu messen. Man macht dabei die Annahme, dass die Orbitalenergien mit den negativen Ionisierungsenergien der Elektronen in dem betreffenden Orbital identisch sind. Dieses Postulat heißt KOOPMANS’ Theorem (Abschnitt 2.1.2). 32
J. H. D. Eland, Photoelectron Spectroscopy, Butterworths, London, 1974. S. Hüfner, Photoelectron Spectroscopy, 2. Aufl., Springer, Berlin, 1996.
60
2 Die chemische Bindung
Tatsächlich bedeutet aber die Entfernung eines Elektrons aus einem beliebigen AO oder MO, dass sich die Energien aller verbleibenden Elektronen ändern (Relaxation), und zwar bedeutet die überschüssige positive Ladung im entstehenden Kation, dass die Orbitalenergien abnehmen. Auch die Elektronenabstoßung nimmt ab, wenn ein Elektron weniger vorhanden ist. Diese Effekte werden im Folgenden jedoch vernachlässigt, weswegen alle Überlegungen nur qualitativer Natur sind. Bei der hier interessierenden Photoelektronenspektroskopie gasförmiger Moleküle wird das Teilchen durch Bestrahlung mit monochromatischen Photonen ionisiert. Dabei kann ein Elektron aus dem HOMO oder einem energetisch tiefer liegenden MO abgespalten werden, soweit die Energie der Photonen dazu ausreicht. Man verwendet üblicherweise UV-Strahlung und spricht daher von UPS im Gegensatz zur XPS, bei der Röntgenstrahlen (X-Strahlen) benutzt werden, mit denen dann selbst die innersten Elektronen abgespalten werden können. Die Energiebilanz bei einer derartigen Photoionisation ist denkbar einfach. Die Photonenenergie h·ν wird zum Teil für die Ionisierungsenergie Ei des Moleküls M verbraucht, der Rest findet sich ausschließlich in Form von kinetischer Energie Ekin der abgespaltenen Elektronen wieder: h·ν = Ei(M) + Ekin(e–) Da h·ν bekannt ist, muss man lediglich Ekin(e–) messen, um Ei(M) berechnen zu können. Meistens werden UPS-Spektrometer mit einer Helium-Gasentladungslampe ausgestattet, deren intensivste Emissionslinie einer Energie von 21.2 eV entspricht (α-Linie von HeI). Diese Linie kommt aus dem Übergang eines angeregten He-Atoms von der Konfiguration 1s12p1 in den Grundzustand 1s2 zustande. Damit können die Valenzelektronen aus solchen MOs abgespalten werden, deren absolute Orbitalenergien kleiner als 21 eV sind. In einem Photoelektronenspektrometer werden die zu untersuchenden Moleküle in einer Ionisationskammer bei sehr kleinem Druck ionisiert. Die Photoelektronen verlassen die Kammer durch eine kleine Öffnung, hinter der sie in ein elektrisches Feld nach Art eines Plattenkondensators eintreten. In dem Feld tritt eine Ablenkung ihrer Flugbahn ein, die umso größer ist, je länger sich die Elektronen in dem Feld aufhalten, das heißt je langsamer sie fliegen. Ein Detektor misst die Intensität des Elektronenstroms am Ausgang des Feldes hinter einem Spalt. Durch Variation der Feldstärke kann man dafür sorgen, dass Elektronen aller Geschwindigkeiten nacheinander am Detektor ankommen, so dass ihre Intensität gemessen werden kann. Aufgezeichnet wird die Intensität des Signals als Funktion von Ei(M). Jedes mit Elektronen besetzte MO eines Moleküls führt im PE-Spektrum zu einem Signal, das entweder aus einer einzelnen Linie besteht oder aus einer Gruppe von äquidistanten Linien. Zur Illustration ist in Abbildung 2.23 das Spektrum von gasförmigem N2 gezeigt, das mit HeI-Strahlung erzeugt wurde. Man erkennt Signale im Bereich 15.6 bis 19.1 eV, die der Abspaltung von Elektronen aus den obersten drei MOs entsprechen. Die energieärmste Linie bei 15.6 eV repräsentiert den Übergang des Moleküls N2 aus dem Schwingungsgrundzustand in den elektronischen Grundzustand des Kations [N2]+, das sich ebenfalls im Schwingungsgrundzustand befindet (adiabatische Ionisation). Das abgespaltene Elektron stammt aus dem HOMO, das von σg-Symmetrie ist. Das entstehende Molekül-Kation befindet sich in einem Dublett-Zustand, der daher mit dem Termsymbol 2Σg+ bezeichnet wird. Die benachbarte Linie bei etwas höherer Energie kommt dadurch zustande, dass das Kation [N2]+ im ersten schwingungsangeregten Zustand ent-
61
2.4 Die kovalente Bindung
2 + [g
+
N2
2
`u
2 + [u
19
18
17
16
Ei (eV)
Abb. 2.23 Photoelektronenspektrum von N2 im Bereich der Valenzelektronen. Die drei Liniengruppen entsprechen der Abspaltung eines Elektrons aus den drei obersten besetzten MOs.
steht, wofür zusätzliche Energie aufzuwenden ist, nämlich die Schwingungsenergie h·ν der Valenzschwingung des Molekül-Ions. Die Energiedifferenz zwischen den ersten beiden Linien im PE-Spektrum liefert also diese Schwingungsenergie, aus der man die Wellenzahl der Valenzschwingung zu 2190 cm–1 berechnen kann. Das Ramanspektrum des Neutralmoleküls N2 liefert die Valenzschwingung zu 2345 cm–1, was einer stärkeren Bindung entspricht (Kap. 4.4.1). Wenn die Bindung im Kation der Konfiguration 2Σg+ schwächer ist als im N2, bedeutet das, dass das abgespaltene Elektron aus einem bindenden MO stammt. Auf diese Weise kann also experimentell gezeigt werden, dass das HOMO von N2 bindenden Charakter hat. Die nächste Liniengruppe im Bereich 16.7–18.2 eV entspricht der Abspaltung eines Elektrons aus dem 1πu-MO, wodurch ein Kation der Konfiguration 2Πu entsteht. Dazu ist also mindestens die Energie 16.7 eV nötig; bei gleichzeitiger Schwingungsanregung des Kations entsprechend mehr. Die Tatsache, dass die Linien dieser Gruppe äquidistant sind, zeigt, dass sie die verschiedenen Schwingungsniveaus des Kations repräsentieren. Aus dem Linienabstand ergibt sich die Wellenzahl der Valenzschwingung des [N2]+ (2Πu) zu 1850 cm–1. Die Bindung in diesem Kation ist also noch schwächer als die von [N2]+ (2Σ+g ), d.h. das abgespaltene Elektron stammt aus einem MO mit stark bindendem Charakter, was mit dem Diagramm im mittleren Teil von Abbildung 2.21 übereinstimmt. Bei 18.8 und 19.1 eV treten schließlich im PE-Spektrum von N2 noch zwei Linien auf, die der Ionisierung aus dem 2σu-MO entsprechen, das antibindenden Charakter hat. In der Tat entspricht der Abstand dieser beiden Linien einer Wellenzahl von 2397 cm–1, die größer ist als die des Neutralmoleküls (2345 cm–1). Die Bindung im [N2]+ (2Σ+u) ist also stärker als im N2. Photoelektronenspektren kleiner Moleküle liefern demnach Informationen über die (ungefähren) Energien der besetzten MOs und über deren bindenden, nichtbindenden oder antibindenden Charakter.
62
2 Die chemische Bindung
2.4.5 Heteronukleare zweiatomige Moleküle Entscheidend für die MO-Beschreibung heteronuklearer Moleküle ist die Kenntnis der Symmetrien und der relativen Energien aller Valenzorbitale, damit man beurteilen kann, welche AOs kombinieren und ob sie stark oder schwach überlappen. Um die relativen Energien der obersten besetzten AOs abzuschätzen, kann man näherungsweise die negativen Ionisierungsenergien als Orbitalenergien verwenden. Zur Illustration dieser Verhältnisse seien die Moleküle HF und CO diskutiert. Zur Konstruktion des ersten Diagramms benötigt man die Ionisierungsenergien Ei(H) = 13.6 eV und Ei(F) = 17.4 eV. Wie bei linearen Molekülen üblich, wird die Molekülachse als z-Achse definiert und die AOs werden nach σ- und π-Symmetrie klassifiziert. In Abbildung 2.24 ist das MO-Diagramm für HF dargestellt. Man erkennt, dass aus der Wechselwirkung von 1s(H) und 2pz(F) nur ein bindendes σ-MO und ein antibindendes σ*-MO entstehen. Die π-AOs des Fluoratoms finden am H-Atom keine Entsprechung und bleiben daher nichtbindend. Auch das 2s(F) AO ist nichtbindend, da seine Orbitalenergie von –46.4 eV für eine Wechselwirkung mit dem 1s(H) AO bei –13.6 eV zu niedrig ist. Am Fluoratom sind also drei nichtbindende Elektronenpaare vorhanden, die sich allerdings auf zwei unterschiedlichen Energieniveaus befinden. Das σ-MO, welches das bindende Elektronenpaar aufnimmt, ist stärker am F-Atom lokalisiert, d.h. in der Linearkombination 2pz(F) + λ1s(H) ist der Mischungskoeffizient λ kleiner als 1. Das antibindende σ*-MO 1s(H)–λ’2pz(F) ähnelt dagegen stärker dem
Abb. 2.24 MO-Diagramm für das heteronukleare Molekül HF. Die beiden π-Orbitale des Fluoratoms sind nichtbindend und bilden das HOMO des Moleküls. Die π-MOs und das unveränderte 2s(F) Orbital sind die MO-Beschreibung der drei nichtbindenden Elektronenpaare des Fluor-Atoms im HF-Molekül im LEWIS-Sinne. Für das σ- und das σ*-MO sind die Oberflächen der berechneten MOs dargestellt, die als Abbruchkriterium für die Ausdehnung des MOs einer Elektronendichte von 0.05 e–/Å3 entsprechen.
2.4 Die kovalente Bindung
63
1s-Orbital des H-Atoms (λ’<1). Das bindende Elektronenpaar hält sich daher öfter am Fluoratom als am Wasserstoff auf. Der stark polare Charakter der Bindung im HF, der auf die beträchtliche Elektronegativitätsdifferenz zwischen H und F zurückzuführen ist, kommt also auch im MO-Diagramm zum Ausdruck. Die sehr hohe Dissoziationsenthalpie von HF (565 kJ mol–1) ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass das Elektron des Wasserstoffatoms bei der Molekülbildung in das sehr viel tiefer liegende σ-MO des Moleküls übergeht. Das Photoelektronenspektrum von HF bestätigt diese qualitative MO-Analyse, wonach sich die 8 Valenzelektronen im HF auf drei verschiedenen Energieniveaus befinden.33 Um die Frage zu klären, welche AOs von der Energie her zusammenpassen, ist es also nötig, zumindest die Ionisierungsenergie Ei der beteiligten Atome zu kennen. Sind diese Werte unbekannt, kann man ersatzweise die Elektronegativitäten χ verwenden. Nach ALLEN ergibt sich die Elektronegativität eines Atoms aus den Ionisierungsenergien seiner Valenzelektronen (Kap. 4.6.2). Da sich die Elektronegativität der Nichtmetalle mit deren Stellung im Periodensystem in einer systematischen und leicht zu merkenden Weise ändert, kann man danach die relativen Energien der obersten besetzten AOs abschätzen. Das Molekül CO ist isoster mit N2, d.h. beide Moleküle stimmen in folgenden Eigenschaften überein: (a) (b) (c) (d)
Zahl der Atome Zahl der Elektronen Anordnung der Elektronen Summe der Kernladungszahlen
Man kann daher das MO-Diagramm von N2 (Abb. 2.21) in erster Näherung auch noch für CO verwenden. Das Molekül CO ist gewissermaßen ein etwas gestörtes Stickstoffmolekül, wobei die unterschiedlichen Elektronegativitäten von C und O zu einer leichten Asymmetrie führen. Die AOs von Sauerstoff liegen etwas tiefer als die entsprechenden Kohlenstofforbitale. Ihre energetische Reihenfolge ist aber die gleiche wie beim N2. Eine genaue Analyse der Bindung im CO-Molekül führt allerdings zu dem Ergebnis, dass das HOMO, das beim N2 bindenden Charakter hat, beim CO schwach antibindend ist. Dieses MO ist überwiegend am C-Atom lokalisiert. Ähnlich verfährt man in anderen Fällen isosterer oder isoelektronischer Moleküle. Isoelektronisch mit CO und N2 sind die Ionen [CN]– und [NO]+. In diesem Fall sind von den obigen vier Bedingungen nur die ersten drei erfüllt.34 Bevor wir uns mit komplizierteren Molekülen befassen, sollen hier noch einmal die Regeln und Prinzipien zusammengefasst werden, die bei der Konstruktion von MOs durch Linearkombination von AOs beachtet werden müssen:
33
34
Die Ionisierungsenergie von HF beträgt 16.0 eV, ist also etwas kleiner als die von F-Atomen. Das bedeutet möglicherweise, dass das entartete π-Niveau (HOMO) etwas energiereicher ist als in Abb. 2.24 angegeben. Dies liegt daran, dass das F-Atom im HF eine negative Partialladung trägt, wodurch alle seine Orbitale etwas destabilisiert werden. Allerdings ist die Ionisierungsenergie wegen der Relaxation des Kations HF+ nur ein ungefähres Maß für die HOMO-Energie (vgl. Abschnitt 2.1.2). Als isoelektronisch im weiteren Sinne bezeichnet man auch solche Verbindungen, die nur in der Zahl der Valenzelektronen übereinstimmen, z.B. HF und HCl oder [SO4]2– und [BrO4]–.
64
2 Die chemische Bindung
(a) (b) (c) (d) (e) (f)
Aus n AOs entstehen n MOs. Nur AOs gleicher Symmetrie können kombiniert werden (σ mit σ; π mit π). Die Energien der AOs dürfen sich nicht zu sehr unterscheiden (∆ E<15eV). Die AOs müssen sich überlappen. Die MOs müssen zueinander orthogonal sein. Die MOs müssen, wenn sie nicht entartet sind, zu den Symmetrieoperationen der Punktgruppe, der das Molekül angehört, symmetrisch oder antisymmetrisch (und nicht unsymmetrisch) sein. (g) Antibindende MOs sind energetisch stärker destabilisiert als die bindenden MOs gegenüber den Ausgangsorbitalen stabilisiert werden.
2.4.6 Dreiatomige Moleküle der Symmetrie D∞h Lineare Moleküle mit Inversionszentrum gehören zur Punktgruppe D∞h. Bekannte dreiatomige Vertreter sind XeF2 und die Ionen [HF2]– und [I3]–, die nur σ-Bindungen aufweisen, sowie die Moleküle und Ionen CO2, CS2, [NO2]+ und [N3]–, denen Mehrfachbindungen zugrunde liegen. Theoretisch am einfachsten zu behandeln ist das Ion [HF2]–, mit dem wir daher beginnen werden. Anschließend wird CO2 diskutiert und im Kapitel 14.6.2 findet sich die entsprechende Analyse für die Edelgasdihalogenide. Salze mit dem Hydrogendifluorid-Anion sind von großer technischer Bedeutung (Kap. 5.6.4 und 13.4). Sie entstehen in exothermer Reaktion, wenn man ionische Fluoride wie KF in flüssigem HF auflöst oder mit gasförmigem HF reagieren lässt: KF + HF
K[HF2]
Die MO-Analyse des linearen Anions ähnelt der von HF (Abb. 2.24). Die drei Atomkerne FHF definieren die z-Achse, so dass die Orbitale 1s(H) und 2pz(F) von σ-Symmetrie sind. Andere Orbitale brauchen nicht berücksichtigt zu werden, da sie entweder eine zu geringe Energie haben (2s von Fluor) oder π-Symmetrie aufweisen. Da am zentralen H-Atom keine π-Orbitale geringer Energie vorhanden sind, kann keine π-Wechselwirkung auftreten. Das Problem reduziert sich daher darauf, aus den drei genannten σ-AOs drei σ-MOs zu konstruieren. In Abbildung 2.25 ist die Überlappung der drei Orbitale gezeigt. Unter Beachtung der oben genannten Regeln zur Konstruktion von MOs erhält man folgende Linearkombinationen: F F X1(σg) = N1 [φ2p + λφH1s + φ2p ] F F X2(σu) = N2 [φ2p – φ2p] F F X3(σ*g) = N3 [φ2p – λ’φH1s + φ2p ]
Das durch ψ1 beschriebene MO ist bindend, da das Überlappungsintegral überall positiv ist. Es beschreibt eine stehende Elektronenwelle ohne Knotenfläche.35 Die energetisch höheren Zustände müssen jeweils eine zusätzliche Knotenfläche symmetrisch zu den Symmetrieelementen des Moleküls aufweisen. Das durch ψ2 beschriebene MO besitzt eine Knotenfläche durch den Kern des H-Atoms und senkrecht zur Molekülachse. An der 35
Vergleiche das Modell des Elektrons im linearen Kasten, dessen energieärmster Zustand ebenfalls ohne Knoten ist. Die nächst höheren Zustände haben einen, dann zwei Knoten und so weiter.
65
2.4 Die kovalente Bindung E F
H
H
F
HF2
F
F
gÉ y3:
+
+
y2:
y1:
+
z +
+
+
2 pz
1s
+
1s
z
u
2 pz g
z
2 pz
Abb. 2.25 Die Dreizentrenbindung im Molekül-Ion [HF2]–. Links: Linearkombination der drei σ-AOs. Rechts: MO-Diagramm für die drei σ-MOs. Die Oberflächen der berechneten MOs, die als Abbruchkriterium für die Ausdehnung des MOs einer Elektronendichte von 0.05 e–/Å3 entsprechen, sind dargestellt.
Linearkombination kann daher die 1s-Funktion des H-Atoms nicht beteiligt sein. Da das MO nur aus Fluorfunktionen besteht, die sich kaum überlappen, ist es nichtbindend. Das dritte MO hat zwei Knotenebenen senkrecht zur Molekülachse und ist damit antibindend. In diesen Orbitalen befinden sich vier Elektronen, so dass sich die in Abbildung 2.25 dargestellte Besetzung der MOs der Symmetrien σg und σu ergibt. Es liegt also eine 3-Zentren-4-Elektronen-σ-Bindung vor. Das Molekül wird durch nur ein bindendes Elektronenpaar zusammengehalten; das zweite Elektronenpaar befindet sich in einem MO, das an den Fluoratomen lokalisiert ist und das nicht zur Bindung beiträgt. Dementsprechend sind die beiden Bindungen in diesem Anion viel schwächer als die Bindung im HFMolekül. Das zeigt sich bei einem Vergleich der Gleichgewichts-Kernabstände d und der Valenzkraftkonstanten fr:
d (pm) fr (N
cm–1)
HF
[HF2]–
93
113
97
23
Neben den hier betrachteten Valenzelektronen sind an den beiden Fluoratomen noch je drei nichtbindende Elektronenpaare in den AOs 2s, 2px und 2py vorhanden. Diese Elektronen stoßen sich ab, weswegen die lineare Geometrie des Anions am günstigsten ist, bei der die Fluoratome, die wie im HF-Molekül negativ geladen sind, den größtmöglichen Abstand zueinander haben. Die Bindungen im Hydrogendifluorid-Anion können als ein spezieller Fall von Wasserstoffbrücken-Bindungen angesehen werden (Kap. 5.6). Sie zeigen, dass ein Atom (hier Wasserstoff) mit einem Orbital (hier 1s) mehr als ein Partneratom binden kann.
66
2 Die chemische Bindung
Das BeH2-Molekül Zur Vorbereitung der MO-Analyse von CO2 soll hier zunächst das hypothetische lineare Molekül BeH2 behandelt werden, bei dem ein Zentralatom mit s- und p-Valenzorbitalen an zwei einfache Substituenten gebunden ist. Das Be-Atom hat die ValenzelektronenKonfiguration 2s2, jedoch kann auch ein 2p-AO von σ-Symmetrie an Bindungen teilnehmen, da es nur wenig energiereicher ist als das 2s-Niveau (Abb. 2.19). Die Ionisierungsenergie von Be beträgt 9.2 eV. Nach quantenchemischen Rechnungen ist BeH2 genau wie gasförmiges BeF2 linear gebaut.36 Man erhält die richtigen Linearkombinationen, indem man alle Zentralatomorbitale mit den Substituentenorbitalen, wie in Abbildung 2.26 gezeigt, kombiniert. Auf diese Weise entstehen durch die Linearkombination der vier σ-AOs vier σ-MOs von g- und u-Symmetrie. Alle MOs sind symmetriegerecht und orthogonal. Die beiden π-AOs des Berylliumatoms bleiben nichtbindend, da Wasserstoff nicht über π-AOs verfügt. Wie in Abbildung 2.26 gezeigt ist, resultieren zwei bindende, zwei nichtbindende und zwei antibindende MOs.
Abb. 2.26 MO-Diagramm des linearen Moleküls BeH2. Die vier Valenzelektronen besetzen die beiden Dreizentren-MOs σg und σu. Die Oberflächen der berechneten MOs, die als Abbruchkriterium für die Ausdehnung des MOs einer Elektronendichte von 0.05 e–/Å3 entsprechen, sind dargestellt.
36
Berylliumdihydrid ist eine polymere Substanz, die nicht unzersetzt verdampft werden kann.
67
2.4 Die kovalente Bindung
Da vier Valenzelektronen vorhanden sind, werden die beiden bindenden MOs jeweils doppelt besetzt. Die Bindungen kommen durch die Stabilisierung sowohl der beiden Be-Elektronen als auch der H-Elektronen zustande. Ungepaarte Elektronen am Zentralatom sind dazu nicht erforderlich. Dieses Ergebnis ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert und wichtig. Alle bindenden MOs sind doppelt besetzt, d.h. es genügen vier Valenzelektronen, um ein stabiles Molekül mit einem Zentralatom zu erzeugen, das über vier AOs verfügt. Die beiden bindenden MOs sind von verschiedener Symmetrie. Daher können sie nicht miteinander wechselwirken. Das σg-MO hat reinen s-Charakter, das σu-MO hat bezüglich des Be-Atoms reinen p-Charakter. Beide MOs sind orthogonal zueinander. Das CO2-Molekül Das oben für BeH2 erzielte Ergebnis hat Modellcharakter für andere dreiatomige lineare Moleküle, bei denen das σ-System ebenfalls aus zwei bindenden und zwei antibindenden MOs besteht. Dies trifft zum Beispiel auf das Molekül CO2 zu. Am C-Atom sind wie beim BeH2 die σ-AOs 2s und 2pz zu berücksichtigen. An den O-Atomen sind nur die 2pz-AOs an den σ-Bindungen beteiligt, da die 2s-AOs energetisch so tief liegen, dass ihre Wechselwirkung mit den Kohlenstoff-Orbitalen vernachlässigt werden kann. Daher ähnelt das Ergebnis weitgehend dem σ-System von BeH2. In Abbildung 2.27a ist das vollständige MO-Diagramm für die σ- und π-Bindungen von CO2 dargestellt.
E (eV)
a)
b) C
O
uÉ
O
gÉ
O +
+
z
+
2p
+ 1g
Ç13.6
O
2u: 2u
Ç11.3
C
2p
1g:
1u
2s u
+
+ 1u:
+
z
+
z
g
Abb. 2.27 (a) MO-Diagramm für die σ- und π-MOs des linearen Moleküls CO2. Alle energetisch günstigen MOs sind mit Elektronenpaaren besetzt. Die vier bindenden Elektronenpaare sind über alle drei Atome delokalisiert. (b) Einer der zwei Sätze von symmetrieäquivalenten entarteten MOs mit π-Symmetrie (xz-Ebene); der zweite Satz ist orthogonal zum ersten (yz-Ebene). Nur die Niveaus 1πg und 1πu sind besetzt.
68
2 Die chemische Bindung
Wie bei den zweiatomigen Molekülen O2 und N2 (Abschnitt 2.4.3) liegen die π-Bindungen im CO2 in zwei zueinander senkrechten Ebenen vor (xz- und yz-Ebene). Diese beiden π-Systeme sind identisch und durch Rotation des Moleküls um 90° um die z-Achse ineinander überführbar. Die Überlappungsverhältnisse in der xz-Ebene sind wie folgt: Aus den drei 2px-AOs entstehen drei MOs von πu- und πg-Symmetrie (Abb. 2.27b). Das 1πu-MO ist bindend, da das Überlappungsintegral positiv ist. Es weist keine Knotenfläche zwischen den Atomen auf. Das 1πg-MO ist durch eine Knotenfläche am Ort des C-Atoms gekennzeichnet, wodurch es nichtbindenden Charakter erhält. Das 2πu-MO ist als Folge der zwei Knotenflächen zwischen den Atomen antibindend. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Kombination von drei AOs bei linearen Molekülen immer zu einem bindenden, einem nichtbindenden und einem antibindenden MO führt, unabhängig davon, ob es sich um σ- oder π-Wechselwirkungen handelt. Da nun in der yz-Ebene des Moleküls noch einmal derartige Orbitale vorhanden sind, sind die Niveaus 1πu, 1πg und 2πu jeweils zweifach entartet (Abb. 2.27a). Sauerstoff hat vier Elektronen auf dem 2p-Niveau, die zusammen mit den vier Elektronen des Kohlenstoffs 12 Valenzelektronen ergeben. Dadurch sind im CO2 alle MOs bis zum nichtbindenden 1πg-Niveau doppelt besetzt. Antibindende MOs sind nicht besetzt, wodurch ein sehr stabiles Molekül resultiert. Die bindenden Elektronen sind jeweils über drei Zentren delokalisiert. Dagegen sind die nichtbindenden Elektronen im HOMO an den beiden O-Atomen lokalisiert. Sie entsprechen im LEWIS-Bild den nichtbindenden Elektronenpaaren. In ähnlicher Weise können die Bindungen im Azid-Ion [N3]¯, im Nitronium-Ion [NO2]+ und im Kohlendisulfidmolekül CS2 beschrieben werden.
2.4.7 Dreiatomige Moleküle der Symmetrie C2v Zu dieser Gruppe von Molekülen gehören beispielsweise die Verbindungen H2O, H2S, OF2, SCl2, CF2 und SiF2, aber auch Kationen wie [ClF2]+ (isoelektronisch mit SF2). Diese Moleküle enthalten nur σ-Bindungen. Zusätzliche π-Bindungen sind in Molekülen wie NO2, [NO2]–, O3, SO2 und ClO2 vorhanden. Da es sich bei der Punktgruppe C2v nicht um eine entartete Gruppe handelt, können die hier zu behandelnden Moleküle keine entarteten MOs aufweisen. Als repräsentatives Beispiel für gewinkelte AB2-Moleküle ohne π-Bindung wird das H2O-Molekül behandelt. Spezies mit π-Bindung werden im stofflichen Teil dieses Buches erläutert (z.B. O3: Kap. 11.1.3). Das Wassermolekül (Winkel 104.5°) hat als dominierendes Symmetrieelement die C2-Achse, die hier als z-Achse angesehen wird. Die y-Richtung sei senkrecht zur Molekülebene. Dann ist das 2py-AO des O-Atoms ein π-Orbital, das im Molekül nichtbindend sein muss, da Wasserstoff nicht über geeignete π-AOs verfügt. Somit sind zur Konstruktion der σ-Bindungen die Sauerstoff-Orbitale 2s, 2px und 2pz mit den beiden 1s-Orbitalen der H-Atome zu kombinieren. Da jedoch das 2s-AO von Sauerstoff um ca. 18 eV energieärmer ist als die AOs von Wasserstoff, kann man es in erster Näherung unberücksichtigt lassen. Die Linearkombination der verbleibenden vier AOs führt dann zu folgenden MOs:
2.4 Die kovalente Bindung
69
Abb. 2.28 (a) Linearkombination der AOs zu den MOs des Moleküls Wasser in der ersten Näherung. (b) MO-Diagramm für die MOs im gewinkelten Molekül H2O. Links sind die AOs eingezeichnet, von denen fünf zufällig die gleiche Energie aufweisen. Für H2O gültig ist das als 2. Näherung bezeichnete Diagramm. Von den acht Valenzelektronen des Moleküls befinden sich sechs in bindenden MOs. Das HOMO ist das π-Orbital am O-Atom und eine MO-Entsprechung eines nichtbindenden Elektronenpaares. Das zweite, nach LEWIS erforderliche nichtbindende Elektronenpaar hat σz–λ’2s Charakter und ist immer noch bezüglich O-H schwach bindend! Die Oberflächen der berechneten MOs, die als Abbruchkriterium für die Ausdehnung des MOs einer Elektronendichte von 0.05 e–/Å3 entsprechen, sind ganz rechts dargestellt.
Die MOs σz und σx sind bindend, aber nicht von gleicher Energie. Eine Rechnung ergibt, dass σz das tiefstliegende σ-MO ist, gefolgt von σx. Die anderen beiden MOs sind antibindend. In Abbildung 2.28 sind die bisher betrachteten Orbitale im Energieniveaudiagramm dargestellt. Man erkennt, dass sich das σz-MO energetisch in der Nähe des 2s-AO des O-Atoms befindet, so dass es zu einer Wechselwirkung kommen kann, wenn die Symmetrie der beiden übereinstimmt. Tatsächlich sind beide Orbitale totalsymmetrisch, was bedeutet, dass sie zu allen Symmetrieelementen der Punktgruppe symmetrisch sind. Die Wechselwirkung von 2s(O) mit σz führt zu den neuen MOs 2s(O)+λσz und σz– λ’2s(O), die in der 2. Näherung in Abbildung 2.28 eingezeichnet sind. Das letztgenannte MO liegt jetzt höher als σx. Die acht Valenzelektronen des Moleküls besetzen die drei bindenden MOs und das nichtbindende 2py-AO des Sauerstoffs, das zugleich das HOMO darstellt. Das Photoelektronenspektrum von H2O stimmt mit dieser Analyse überein, indem es im Bereich bis 20 eV drei Liniengruppen zeigt, die der Abspaltung von Elektro-
70
2 Die chemische Bindung
nen aus den obersten drei Energieniveaus entsprechen.37 Die Ionisierungsenergie des H2O-Moleküls beträgt 12.6 eV. Das H2O-Molekül wird oft mit zwei (äquivalenten) nichtbindenden Elektronenpaaren gezeichnet. Obige Analyse zeigt aber, dass nur ein wirklich nichtbindendes Paar vorhanden ist, das sich in einem p-Orbital senkrecht zur Molekülebene befindet (2py). Das zweite, nahezu nichtbindende Paar ist um etwa 1.5 eV fester gebunden und liegt in einem MO vor, das in z-Richtung am O-Atom zu einer relativ hohen Elektronendichte führt (σz–λ’2s). Dennoch ist die Gesamtelektronendichte von H2O, wie Abbildung 2.29 zeigt, in der Molekülebene nahezu kreisförmig. In der dazu senkrechten Spiegelebene, die den Valenzwinkel halbiert, ist die Dichte praktisch kreisförmig. H2O
H2S
Abb. 2.29 Berechnete Gesamtelektronendichte der Moleküle H2O (links) und H2S (rechts). Dargestellt ist jeweils die Dichte in der Molekülebene (jeweils links) und die Dichte senkrecht zur Molekülebene in der yz-Ebene, wobei sich die H-Atome rechts befinden.
Die hier ausgeführten Bindungsverhältnisse von H2O können sinngemäß auf H2S übertragen werden, wenn man die geringere Elektronegativität (geringere absolute Orbitalenergien) des Schwefelatoms berücksichtigt (Abb. 2.29). Die Ionisierungsenergie von H2S beträgt dementsprechend nur 10.5 eV.
2.4.8 Vieratomige Moleküle der Symmetrie D3h Ein trigonal-planarer Stern hat die Symmetrie D3h, ebenso wie die wichtigen Moleküle und Ionen BF3, BCl3, SO3, [CO3]2– und [NO3]–. In allen diesen Teilchen liegen sowohl σals auch π-Bindungen vor. Am Beispiel des BF3 werden wir zeigen, wie man die MOs mit der LCAO-Methode findet. Da die Punktgruppe D3h eine entartete Gruppe ist, kommt es zu entarteten σ- und π-MOs. Dabei ist als neue Regel zu beachten, dass die entarteten MOs in Punktgruppen mit ungeradzahliger Hauptdrehachse (hier C3) zu dieser Achse und zu einigen weiteren Symmetrieelementen weder symmetrisch noch antisymmetrisch, sondern unsymmetrisch sind. Die C3-Achse soll als z-Achse gelten; das Molekül liegt so in der xy-Ebene, dass die x-Achse mit einer B–F-Bindungsachse zusammenfällt. Das σ-Bindungssystem von BF3 wird aus den Bor-AOs 2s, 2px und 2py sowie den Fluor-AOs 2pσ konstruiert, wobei letztere in Richtung der Kernverbindungslinien orientiert sind. Daraus ergeben sich durch die in Abbildung 2.30 dargestellten Linearkombinationen sechs MOs. Das 2s-AO von Fluor liegt energetisch zu tief, um mit den Bororbitalen zu kombinieren. 37
H. Bock, Angew. Chem. 1977, 89, 631.
2.4 Die kovalente Bindung
71
Abb. 2.30 MO-Diagramm des Moleküls BF3 mit allen σ- und π-MOs. Die p-AOs der Fluoratome enthalten je 5 Elektronen, so dass insgesamt 18 Valenzelektronen vorhanden sind. Die vier bindenden Elektronenpaare (σs, σx, σy, πb) sind über das Molekül delokalisiert. Dagegen befinden sich die fünf weiteren Elektronenpaare in MOs, die einer MO-Darstellung der nichtbindenden Elektronenpaare der Fluoratome entsprechen und die keinen Koeffizienten am Boratom aufweisen. Die Linearkombinationen der Bor- und Fluor-AOs zu den σ-MOs sind im Diagramm schematisch dargestellt. Die MOs mit π-Symmetrie sind in Abb. 2.31 gezeigt.
Die Kombination von 2s(B) mit den drei 2pσ (F) führt zu den beiden totalsymmetrischen MOs σs und σs*. Aus Symmetriegründen ist hierbei die Überlappung mit allen drei Fluororbitalen gleich groß. Aus dem 2px-AO von Bor und den drei Fluororbitalen entstehen zwei MOs, die zum Symmetrieelement C3 unsymmetrisch sind. In diesen Kombinationen ist die Überlappung mit dem Fluororbital auf der x-Achse stärker als mit den beiden anderen AOs. Das bedeutet, dass der Koeffizient vor der Wellenfunktion φ(2pσ) dieses F-Atoms in den beiden Linearkombinationen größer ist als die Koeffizienten vor den Wellenfunktionen der anderen beiden Fluoratome. Dies wird ausgeglichen durch die MOs, die aus dem 2py(B)-Orbital entstehen. In diesem Fall befindet sich das auf der
72
2 Die chemische Bindung
x-Achse liegende Fluoratom gerade auf der Knotenebene des Zentralatomorbitals. Sein 2pσ-AO ist daher orthogonal zu 2py(B) und kann folglich an der Linearkombination nicht teilnehmen. Betrachtet man die MOs σx und σy zusammen, erkennt man, dass alle drei Fluoratome in gleichem Umfang an den Linearkombinationen beteiligt sind, d.h. die D3h-Symmetrie ist gewahrt. Entsprechendes gilt für das Paar σx*/σy*.38 Eine Rechnung ergibt, dass die MOs σx/σy sowie σx*/σy* jeweils paarweise entartet sind. In Abbildung 2.30 ist das vollständige MO-Diagramm für BF3 gezeigt, wobei auch die vier π-MOs eingezeichnet sind. Diese entstehen durch Wechselwirkung der AOs 2pz(B) mit den drei 2pz-Orbitalen der Fluoratome. Die Überlappung dieser Orbitale kann man am besten in Form einer Projektion in die Molekülebene darstellen, wobei sich die pπ-Orbitale als Kreise abbilden. Die vier Linearkombinationen sind in Abbildung 2.31 zu sehen, wobei ein bindendes (πb), ein antibindendes (πa) sowie zwei unsymmetrische und zugleich entartete nichtbindende MOs resultieren (πn). An diesen zwei MOs ist seitens des Boratoms kein Orbital beteiligt. Alle vier π-MOs sind zueinander und zu den σ-MOs orthogonal. Um dies zu erkennen, muss man beachten, dass die Koeffizienten vor den Wellenfunktionen der Fluoratome bei den unsymmetrischen Kombinationen wiederum nicht immer gleich groß sind.
Abb. 2.31 MOs des Moleküls BF3 mit π-Symmetrie: Linearkombinationen des 2pz AOs von B mit den drei 2pz AOs der Fluoratome. Es entstehen ein bindendes, zwei entartete nichtbindende und ein antibindendes π-MO. Schematisch gezeigt sind Projektionen der Orbitale in die Molekülebene; daneben sind die Oberflächen der berechneten MOs, die die als Abbruchkriterium für die Ausdehnung des MOs einer Elektronendichte von 0.05 e–/Å3 entsprechen, dargestellt.
38
Dies wird durch die Faktoren vor den Wellenfunktionen in den Linearkombinationen erreicht.
2.4 Die kovalente Bindung
73
Noch unberücksichtigt sind in der bisherigen Diskussion diejenigen Fluororbitale, die senkrecht zu den BF-Bindungen in der Molekülebene liegen. Diese werden hier näherungsweise als nichtbindend angesehen, obwohl sie genau genommen ein Teil des σ-Bindungssystems sind. Von den 13 MOs des BF3-Moleküls sind danach vier bindend, fünf nichtbindend und vier antibindend. Da das Molekül in den betrachteten AOs über 18 Elektronen verfügt, sind alle bindenden und nichtbindenden Zustände mit Elektronenpaaren besetzt (Abb. 2.30). Von besonderem Interesse sind die vier bindenden Paare. Am stärksten tragen die drei σ-Elektronenpaare zur Bindungsenergie bei. Wegen der unterschiedlichen Orbitalenergien von Bor und Fluor sind die bindenden MOs so polarisiert, dass sich die σ-Elektronen mehr an den Fluoratomen als am Boratom aufhalten. Auf dem Boratom entsteht dadurch eine positive Ladung. Analoges gilt für das bindende π-MO, das ein Teil der 4-Zentren-6-Elektronen-π-Bindung ist. Das Elektronenpaar im πb-MO ist vollkommen über alle drei BF-Bindungen delokalisiert. In analoger Weise können die Ionen [CO3]2– und [NO3]– behandelt werden, die mit dem Molekül BF3 isoelektronisch sind. Nach der HÜCKEL-MO-Theorie sind planare Moleküle mit 4n+2 π-Elektronen Aromaten (n = 0, 1, 2, …), d.h. elektronisch besonders stabilisierte Moleküle. Obwohl diese Definition im Allgemeinen nur auf cyclische Moleküle angewandt wird,39 kann man auch die hier behandelten Moleküle und Ionen als Aromaten betrachten. Im Falle von BF3 und den verwandten Ionen wird aufgrund ihrer Geometrie von „Y-Aromatizität“ gesprochen. Die Ionisierungsenergie von BF3 beträgt 15.7 eV. BF3 und BCl3 sind bekannte LEWIS-Säuren (Abschnitt 2.5 und Kap. 6.2). Beispielsweise reagiert BF3 mit Fluorid-Ionen zum tetraedrischen Anion [BF4]–. Dabei wird ein nichtbindendes Elektronenpaar der LEWIS-Base F– in das LUMO des BF3-Moleküls delokalisiert, worauf sich dessen Geometrie von trigonal-planar nach tetraedrisch ändert. Das LUMO von BF3 ist das πa-MO, das nur wenig energiereicher ist als die 2p-AOs des isolierten Boratoms. Im Anion [BF4]– sind alle vier Bindungen identisch, was im Abschnitt 2.4.10 begründet werden wird. Die Frage, warum BF3 trigonal-planar und nicht pyramidal gebaut ist, kann jetzt beantwortet werden. Nur bei planarer Geometrie ist die beschriebene π-Bindung möglich, die zur Bindungsenergie beiträgt. Auch haben die partiell negativ geladenen Fluoratome mit ihren vielen nichtbindenden Elektronen im planaren Fall den maximalen Abstand voneinander, wodurch sich ihre Abstoßung auf ein Minimum reduziert. Letztlich kann aber immer nur eine genaue quantenchemische MO-Berechnung der Gesamtenergie alternativer Strukturen darüber entscheiden, welche Geometrie am günstigsten ist.
39
Die bekanntesten Beispiele sind Benzol (C6H6) mit 6 und Naphthalin (C10H8) mit 10 π-Elektronen.
74
2 Die chemische Bindung
2.4.9 Vieratomige Moleküle der Symmetrie C3v Das Ammoniakmolekül ist ein typischer Vertreter dieser Symmetrie und zugleich ein interessanter Fall im Hinblick auf eine intramolekulare Umlagerung, da NH3 zur pyramidalen Inversion befähigt ist (Kap. 9.3). Bei unserer MO-Behandlung kleiner Moleküle ist NH3 das erste nicht-planare Molekül, bei dem also keine Trennung der Bindungen in solche von σ- und π-Symmetrie möglich ist. Dennoch kann es in pyramidalen Molekülen π-Bindungen geben, wenn man nur die lokale Symmetrie an einzelnen Atompaaren betrachtet. Derartige Fälle sind zum Beispiel die pyramidalen Oxoanionen Sulfit [SO3]2– und Chlorat [ClO3]–. In der Punktgruppe C3v ist die C3-Achse das dominierende Symmetrieelement, das hier mit der z-Achse des kartesischen Koordinatensystems identifiziert wird. Die x-Achse soll in einer der Spiegelebenen des Moleküls liegen; die Lage der y-Achse ergibt sich dann automatisch. Die vier Valenzorbitale 2s und 2pxpypz des Stickstoffatoms und die drei 1s-AOs der H-Atome ergeben zusammen sieben MOs von σ-Symmetrie, deren Herleitung in ähnlicher Weise erfolgt wie bei den Molekülen H2O und BF3. Zweckmäßig geht man so vor, dass das 2s-AO des N-Atoms wegen seiner um 12 eV niedrigeren Orbitalenergie zunächst als unbeteiligt angesehen wird, wodurch sich eine gerade Anzahl von MOs ergibt (1. Näherung). Danach wird geprüft, ob diese Annahme berechtigt ist. Die Überlappungsverhältnisse der sechs AOs sind in Abbildung 2.32 dargestellt. Man erkennt, dass aus jedem Zentralatomorbital ein bindendes und ein antibindendes σ-MO entsteht. Eine Rechnung ergibt, dass die unsymmetrischen MOs σx und σy sowie die antibindenden MOs σx* und σy* jeweils paarweise entartet sind, wofür das Symmetriesymbol e verwendet wird. Das MO-Diagramm für die 1. Näherung ist im linken Teil von Abbildung 2.32 gezeigt. Daraus geht hervor, dass das symmetrische Molekülorbital σz energetisch dem ebenfalls symmetrischen Atomorbital 2s(N) benachbart ist (∆ E < 15eV), wodurch es zu einer Wechselwirkung dieser beiden Orbitale kommt. Diese wird in der 2. Näherung berücksichtigt (Abb. 2.32 rechts). Durch die Linearkombination der Wellenfunktionen für das 2s-AO und das σz-MO entstehen zwei neue Niveaus, symbolisiert durch 2s+λσz und σz–λ’2s. Auf diese Weise resultieren nunmehr drei stark bindende, ein schwach bindendes sowie drei antibindende MOs. Die acht Valenzelektronen besetzen die untersten vier Zustände. Die Ionisierungsenergie von NH3 beträgt 10.07 eV. Das Ammoniakmolekül ist folglich sehr stabil. Das HOMO von NH3 ist das schwach bindende a1-MO, dessen Konturliniendiagramm (links) und Isodichteoberfläche (rechts) wie folgt aussehen:
+
N
+
+
H
Ein derart asymmetrisches MO führt unter anderem zu einem atomaren Dipolmoment (Kap. 4.7.5), das für viele chemische Reaktionen des Ammoniaks verantwortlich ist. Der Valenzwinkel im NH3-Molekül beträgt 107°; in den homologen Hydriden PH3 (94°) und AsH3 (92°) sind die Winkel kleiner (Tab. 2.5). Dies kann auf die größeren Kernabstände und die kleineren Partialladungen in diesen Molekülen zurückgeführt werden, wodurch
2.4 Die kovalente Bindung
75
Abb. 2.32 MO-Diagramme für das Molekül NH3 in der ersten (links) und zweiten (rechts) Näherung. Gültig ist das rechte Diagramm, in dem die Wechselwirkung der symmetrischen Orbitale 2s und σz berücksichtigt ist, deren Energien nur um ca. 10 eV differieren. In der linken Darstellung sind die bindenden und antibindenden Linearkombinationen der zugrunde liegenden AOs für die 1. Näherung eingezeichnet. Die unsymmetrischen Kombinationen σx/σy sowie σx*/σy* sind jeweils paarweise entartet. Rechts sind die Oberflächen der berechneten bindenden MOs sowie des nur schwach bindenden HOMO, die als Abbruchkriterium für die Ausdehnung des MOs einer Elektronendichte von 0.05 e–/Å3 entsprechen, dargestellt.
sich die gegenseitige Abstoßung der H-Atome verringert. Isoelektronisch mit NH3 und PH3 sind das Oxonium-Ion [H3O]+ und das Sulfonium-Ion [H3S]+, die ebenfalls C3v-Symmetrie aufweisen. Ein besonderer Fall trigonal-pyramidaler Koordination liegt im Molekül P4 vor, das tetraedrisch gebaut ist und das dem weißen Phosphor zugrunde liegt (Kap. 10.3.2). Da die Molekülsymmetrie Td ist, betragen die Valenzwinkel hier nur 60° (Abb. 2.33). Früher wurde angenommen, dass die P–P-Bindungen im P4-Molekül wegen der kleinen Valenzwinkel besonders schwach seien. Dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich bei diesem Molekül um einen typischen Cluster, bei dem es im Zentrum zu ei-
76
2 Die chemische Bindung P
P
P P (a)
(b)
(c)
(d)
Abb. 2.33 LEWIS-Formel von P4 (a), Struktur des P4-Moleküls als Kugel-Stab-Modell (b) und als raumerfüllendes Modell (c) sowie Gestalt des Kations [P4H]+ (d).
ner besonders starken Überlappung der AOs kommt. Die Kernabstände und die Bindungsenergien der PP-Bindungen in P4 und anderen Phosphormodifikationen sind daher durchaus vergleichbar. Aufgrund der hohen Symmetrie (Td ) gibt es im MO-Diagramm doppelt (e) und dreifach (t) entartete MOs (Abb. 2.34). Energie (Hartree) 0.09 Ç0.37
e
LUMO HOMO
e
Ç0.40
Ç0.47
HOMO (e )
HOMO-2 (t 2)
HOMO-5 (a1)
HOMO-6 (t 2)
HOMO-9 (a1)
t2 a1
t2
Ç0.73 Ç1.09
LUMO (e )
a1
Abb. 2.34 MO-Diagramm des Moleküls P4. Nur die Energien der MOs und die Oberflächen der berechneten bindenden MOs sowie des LUMO, die als Abbruchkriterium für die Ausdehnung des MOs einer Elektronendichte von 0.05 e–/Å3 entsprechen, sind dargestellt. Für die entarteten MOs von e- und t-Symmetrie ist nur jeweils eine der zwei bzw. drei möglichen symmetrieäquivalenten Linearkombinationen gezeigt.
Aus Abbildung 2.34 erkennt man gut die über das ganze Molekül delokalisierte ClusterBindung. Diese Anordnung ist spannungsfrei, und daher sind die Bindungen im P4 auch stark. Der untere Satz von MOs mit a1- und t2-Symmetrie in Abbildung 2.34 ist nur aus AOs mit 3s-Charakter aufgebaut, während der energiereichere obere Satz von a1-, t2- und e-Symmetrie nur aus AOs mit 3p-Charakter entsteht. Im unteren a1- und t2-MO-Satz kompensieren sich bindende und antibindende Wechselwirkungen genau. Daher sind diese vier MOs mit ihren Elektronen gewissermaßen die MO-Darstellung der vier nicht-
77
2.4 Die kovalente Bindung
bindenden Elektronenpaare. Die PP-Bindungen werden also nur durch diejenigen MOs, die aus AOs mit 3p-Charakter bestehen, vermittelt. Aus diesen Betrachtungen ergibt sich, dass die nichtbindenden Elektronenpaare energetisch abgesenkt sind und kaum für eine Reaktion zur Verfügung stehen. Es findet also s-p-Trennung statt. Dies spiegelt sich auch in der Struktur des protonierten Moleküls [HP4]+ wider (Abb. 2.33d). P4 wird nicht an einer Ecke, wie man es nach der LEWIS-Formel in Abbildung 2.33a erwarten würde, sondern auf einer Kante protoniert. Die Kante entspricht auch der Lage des HOMOs der Symmetrie e in Abbildung 2.34.
2.4.10 Fünfatomige Moleküle Die tetraedrischen Moleküle und Ionen [BH4]–, CH4 und [NH4]+ sind isoelektronisch, ebenso [AlH4]–, SiH4 und [PH4]+. Wegen der kubischen Symmetrie dieser Moleküle sind die kovalenten Bindungen nach der MO-Methode besonders einfach abzuleiten. Als Beispiel betrachten wir das Methan. Die Punktgruppe Td enthält als Hauptdrehachsen vier C3, die mit den C–H-Bindungen zusammenfallen. Zur Definition der Koordinatenachsen betrachtet man das CH4-Tetraeder in einen Würfel einbeschrieben (Abb. 2.35). Die Achsen x, y und z liegen dann parallel zu den Würfelkanten, d.h. in Richtung der C2-Achsen des Moleküls. y
H H
x
C
z
H H
Abb. 2.35 Definition des kartesischen Koordinatensystems beim tetraedrischen Methanmolekül, das dazu in einen Würfel einbeschrieben wurde.
Die vier Valenzorbitale des C-Atoms und die 1s-Orbitale der vier H-Atome ergeben acht MOs, wobei wegen der hohen Symmetrie mit Entartungen und wegen der C3-Achse mit unsymmetrischen Linearkombinationen zu rechnen ist. In Abbildung 2.36 ist gezeigt, wie die Zentralatomorbitale mit den Wasserstofforbitalen überlappen. Aus dem 2s-AO des Kohlenstoffs entstehen die totalsymmetrischen MOs σs und σs* (a1-Symmetrie). Die drei p-Orbitale des C-Atoms überlappen mit den vier 1s H-AOs in jeweils gleicher Weise, so dass drei miteinander entartete bindende und drei antibindende MOs entstehen (σx, σy , σz sowie σx*, σy*, σz*). Das MO-Diagramm ist in Abbildung 2.36 dargestellt. Die beiden totalsymmetrischen MOs haben in der Punktgruppe Td die Symmetrie a1, während die dreifach entarteten Niveaus von t2-Symmetrie sind. Die acht Valenzelektronen (je vier von C und den H-Atomen) besetzen die vier bindenden Orbitale, wodurch ein sehr stabiler Zustand erreicht wird. Alle Elektronen gelangen bei der Errichtung des Moleküls aus den Atomen auf ein niedrigeres Energieniveau. Die antibindenden MOs bleiben leer, und nichtbindende MOs sind nicht vorhanden.
78
2 Die chemische Bindung
E (eV)
x,y,z
t2
a1
Ç10.6
É : x,y,z
És:
+
_+
_
+
+
_+
+
2p
_
+
Ç13.6
x,y,z t2
Ç19.5
+ x,y,z:
_
+ +
_
_
2s
a1
+
+ +
+
+
s:
Abb. 2.36 MO-Diagramm für das Molekül Methan. Die beiden MOs von a1-Symmetrie sind totalsymmetrisch und die t2-MOs sind dreifach entartet. (Die drei 2p-Orbitale sind bei kubischer Symmetrie äquivalent, weswegen die MOs σx, σy, σz sowie σx*, σy*, σz* jeweils entartet sind). Eine Mischung von s- und p-Orbitalen des Zentralatoms tritt nicht auf. Rechts neben dem MO-Diagramm sind die Linearkombinationen der vier 1s-AOs der H-Atome mit den 2s- und 2p-Orbitalen des C-Atoms zu den resultierenden acht MOs dargestellt, daneben sind die Oberflächen der berechneten MOs, die als Abbruchkriterium für die Ausdehnung des MOs einer Elektronendichte von 0.05 e–/Å3 entsprechen, abgebildet.
Dieses Ergebnis stimmt vollkommen mit dem Photoelektronenspektrum des CH4-Moleküls überein, das im Bereich der Valenzelektronen zwei Signalgruppen aufweist, die der Abspaltung eines Elektrons aus dem a1- bzw. dem t2-Nivau entsprechen (Abb. 2.37). Die Ionisierungsenergie von Methan beträgt 12.6 eV. Die Tatsache, dass beim CH4 alle Valenzelektronen in stark bindenden MOs untergebracht sind, führt zu sehr starken Bindungen, die nicht nur für die hohe thermische Stabilität von Methan verantwortlich sind, sondern die auch die außerordentliche Härte von Diamant bedingen, der ebenfalls tetraedrisch koordinierte C-Atome enthält (Kap. 7.3.2). Ein wichtiges Ergebnis der MO-Analyse von CH4 ist, dass das tiefstliegende MO (a1) sei-
79
2.5 Die koordinative Bindung CH4
25
20
15
10
Ei (eV)
Abb. 2.37 Photoelektronenspektrum von Methan im Bereich der Valenzelektronen. Die Signalgruppe bei 13–16 eV entspricht der Abspaltung eines Elektrons aus dem t2-Niveau (HOMO). Die Aufspaltung und Verbreiterung des Signals ist auf Spin-Bahn-Kopplung, Schwingungsanregung und auf einen JAHN-TELLER-Effekt im Kation zurückzuführen. Die Signalgruppe bei 22–24 eV entsteht durch Abspaltung eines Elektrons aus dem a1-Niveau. Die Feinstruktur ist hier auf die gleichzeitige Schwingungsanregung des Kations zurückzuführen.
tens des Zentralatoms reinen s-Charakter hat, während das t2-Niveau reinen p-Charakter aufweist. Es ist also weder eine s-p-Mischung (Hybridisierung) erforderlich noch die Promotion eines Elektrons vom 2s- auf das 2p-Niveau. Vielmehr werden die MOs direkt aus den AOs konstruiert und ungepaarte Elektronen sind für die Bindungsbildung nicht erforderlich. Darin unterscheidet sich die MO-Methode grundlegend von den früheren Vorstellungen zur kovalenten Bindung (z.B. nach LEWIS). Tetraedrische Moleküle mit σ- und π-Bindungen sind ebenfalls bekannt. Hierzu gehören zum Beispiel einige Oxoanionen der Nichtmetalle wie Sulfat, Phosphat und Perchlorat. Die π-Bindungen erfordern am Zentralatom energetisch günstige unbesetzte Orbitale. Dafür kommen in erster Linie die antibindenden MOs der σ-Bindungen in Frage, in Ausnahmefällen auch die d-Orbitale des Zentralatoms; vergleiche hierzu Abschnitt 2.6.
2.5
Die koordinative Bindung
Wenn zwei Atome oder Moleküle eine kovalente σ-Bindung eingehen, indem sich zwei Orbitale überlappen und das bindende MO mit einem Elektronenpaar besetzt wird, können diese Elektronen entsprechend folgendem Schema entweder von beiden Bindungspartnern beigesteuert werden oder von einem Partner stammen: A. + . B A B A + D A D Im zweiten Fall spricht man von einer koordinativen oder dativen Bindung.40 Bei diesem Bindungstyp wird formal eine Elektronenladung vom Donor D auf den Akzeptor A übertragen, was durch so genannte Formalladungen ( bzw. ) zum Ausdruck gebracht wird. h j 40
A. Haaland, Angew. Chem. 1989, 101, 1017.
80
2 Die chemische Bindung
Diese Ladungsangaben sind jedoch rein formaler Natur. Es wird nämlich bei einer koordinativen Bindung keine volle Elementarladung übertragen, sondern das bindende Elektronenpaar hält sich nach wie vor mit größerer Wahrscheinlichkeit am Donor auf als am Akzeptor. In der Sprache der MO-Theorie bedeutet dies, dass das Donororbital zum bindenden MO deutlich mehr als 50 % beiträgt (bei der Linearkombination der Ausgangsorbitale). Als Ergebnis stellt man fest, dass auf den beteiligten Atomen nur Teilladungen δe+ und δe– vorhanden sind, die man als Partialladungen bezeichnet und als δ–A–Bδ+ symbolisiert. In Abbildung 2.38 ist die Wechselwirkung der beiden Orbitale für den Fall der kovalenten und der koordinativen Bindung schematisch dargestellt. E
dativ, hart _ hart
kovalent A
B
AB
A
AD
dativ, weich _ weich D
A
AD
D
É
É
É
d
d
d
Abb. 2.38 MO-Diagramme für die kovalente Bindung zwischen zwei Atomen A und B (links), sowie die dative (koordinative) Bindung zwischen einem im HSAB-Sinne harten Akzeptor und einem harten Donor (Mitte) bzw. einem weichen Akzeptor und einem weichem Donor (rechts) beim Zusammenführen der Fragmente aus unendlicher Entfernung in den Gleichgewichtskernabstand d.
Die entstehenden Bindungen sind in diesen beiden Fällen nicht voneinander unterscheidbar, da auch bei einer heteroatomaren kovalenten Bindung A–B in der Regel eine Polarität vorliegt, die auf die unterschiedlichen Elektronegativitäten der Bindungspartner zurückzuführen ist und die durch Partialladungen beschrieben werden kann (siehe Kap. 4.7.5). Wegen des Zusammenwirkens mehrerer Effekte bei der Ladungsverteilung ist es sogar möglich, dass die tatsächliche Polarität einer koordinativen Bindung der durch die Formalladungen angezeigten entgegengesetzt gerichtet ist. Dies sei am Beispiel des Adduktes F3B←NH3 gezeigt: F
H
¶Ç ¶È
B ¶Ç
F
F
¶Ç
¶È
H
N ¶Ç H
¶È
¶È
Der Pfeil vom N zum B bedeutet, dass das Bindungselektronenpaar vom N-Atom stammt. Aus den verschiedenen Elektronegativitäten χ (B: 2.0; N: 3.1; H: 2.2; F: 4.1) folgt eindeutig die gezeigte reale Verteilung der Ladungen, die im Gegensatz zur formalen Beschreibung als F3B––N+H3 steht.
81
2.5 Die koordinative Bindung
Nach einer von G. N. LEWIS (1923) aufgestellten Theorie kann man die Bildung einer koordinativen Bindung als eine Reaktion zwischen einer LEWIS-Säure (ElektronenpaarAkzeptor) und einer LEWIS-Base (Elektronenpaar-Donor) auffassen. Bekannte LEWISSäuren sind BH3, BF3, BCl3, AlCl3, SiF4, SiCl4, PF5, AsF5, SbF5, BrF3, XeF6 und SO3. Als Spezialfall kann auch das Proton H+ als sehr starke LEWIS-Säure aufgefasst werden. Alle genannten Verbindungen besitzen eine „Elektronenlücke“, im MO-Bild ist dies ein energetisch niedrig liegendes unbesetztes MO (meist das LUMO), das mit einem besetzten Donororbital in Wechselwirkung treten kann (Abb. 2.38). LEWIS-Basen sind hingegen Verbindungen mit nichtbindenden oder schwach bindenden Elektronenpaaren (meist) im HOMO, also z.B. NR3, PR3, ONR3, OPR3, H2O, R2O (Ether), R2S (Sulfane), R2SO (Sulfoxide) sowie die Anionen F–, Cl– und [CN]– (R = organischer Rest). Elektronenpaar-Akzeptoren sind also Neutralmoleküle oder Kationen, während Elektronenpaar-Donoren Neutralmoleküle oder Anionen sind. Für das Verständnis der Stärke und des Typs der dativen Bindung gelten die Regeln des HSAB-Konzeptes:41 Harte, stark polarisierende Säuren treten bevorzugt mit harten, schwer polarisierbaren Basen in Wechselwirkung. Für diesen in Abbildung 2.38(mitte) gezeigten Fall sind die Orbitalenergien von Donor und Akzeptor recht unterschiedlich und die Bindung beinhaltet neben dem kovalenten auch einen erheblichen elektrostatischen Anteil (z.B. im [SiF6]2–). Hingegen hat die dative Bindung zwischen weichen Donoren und Akzeptoren wenig elektrostatischen Anteil und die Bindungsenergie resultiert fast ausschließlich aus der Absenkung des gemeinsamen σ-MOs im Vergleich zu den Orbitalenergien der isolierten Teilchen A und D (Abb. 2.38 rechts). Insgesamt ist im rechten Fall der Energiegewinn aber kleiner als bei der kovalenten Bindung links. Die dative Bindung zwischen beiden Typen wird oft auch durch einen Pfeil symbolisiert: A←D. Das entstehende Addukt kann man auch mit einem Punkt zwischen den Bestandteilen schreiben, z.B. BF3·NR3. Die Entscheidung, ob ein Molekül kovalent oder dativ gebunden ist, ist oft nicht einfach und die Übergänge sind gleitend. Dazu betrachten wir die drei isoelektronischen Verbindungen Ethan H3C–CH3, Methylammonium-Kation [H3C–NH3]+ und AmminBoran H3B←NH3. Bei Ethan und Ammin-Boran stimmt nicht nur die Summe und Anordnung der Elektronen überein, sondern auch die Summe der Kernladungen ist identisch (isostere Verbindungen). In Tabelle 2.11 sind zur Charakterisierung der zentralen Bindungen einige messbare Parameter angegeben. Tab. 2.11 Vergleich der Eigenschaften der drei isoelektronischen Moleküle Ethan, [H3C–NH3]+ und H3B←NH3 (∆ r H°: Dissoziationsenthalpie; d: Kernabstand der zentralen Bindung; µ: Dipolmoment des Moleküls). Die in Klammern angegebenen Werte wurden mit der G3-Methode berechnet. H3C–CH3
[H3C–NH3]+
H3B←NH3
∆ r H° (kJ mol–1)
377 (370)
(439)
130 (117)
d (pm)
153 (152)
(151)
166 (165)
µ (D)
0 (0)
41
(2.2)
5.2 (5.4)
HSAB: hard and soft acids and bases; siehe R. G. Pearson (Ed.), Chemical Hardness, WileyVCH, 1997.
82
2 Die chemische Bindung
Man erkennt, dass das Dipolmoment von H3B←NH3 sehr groß ist, während das von Ethan aus Symmetriegründen Null ist. Im Methylammonium-Kation, welches formal als Addukt aus [CH3]+ und NH3 beschrieben werden kann, ist das Dipolmoment aber bereits deutlich kleiner als im Ammin-Boran. Die B–N-Bindung ist wesentlich länger als die C–C-Bindung, und die Enthalpie der Dissoziation der zentralen Bindung ist beim Ethan viel größer als beim Addukt aus BH3 und NH3. Im Falle des Methylammonium-Adduktes ist der Abstand sogar kürzer als in Ethan und die Dissoziationsenthalpie ebenfalls höher. Dabei ist zu beachten, dass bei der Dissoziation des Ethans zwei CH3-Radikale, im Falle der Addukte aber zwei normale Moleküle bzw. ein Molekül und ein Molekül-Ion entstehen. Um zu entscheiden, ob das Teilchen nun eine dative oder eine kovalente Bindung aufweist, kann folgendes von Haaland41 etablierte Verfahren eingesetzt werden: Man untersucht, ob eine heterolytische (Fall a) oder eine homolytische Bindungsspaltung (Fall b) günstiger ist. [H3C NH3]+
(a) heterolytisch
[CH3]+ + NH3
homolytisch
[CH3]
(b)
Å
Å+
+ [NH3]
Für das Methylammonium-Kation ist die heterolytische Spaltung (a) mit 439 kJ mol–1 etwas günstiger als die homolytische Spaltung (b) mit 466 kJ mol–1. Demzufolge dürfen wir das Methylammonium-Kation also ein Addukt aus [CH3]+ und NH3 mit einer dativen Bindung nennen. Für das Ammin-Boran ist die Auswertung noch eindeutiger: Fall (a) ist um fast 900 kJ mol–1 günstiger; es liegt wie erwartet ein klassisches Addukt mit dativer Bindung vor. Der Schmelzpunkt von Ethan beträgt –183°C, der von H3B←NH3 aber +124°C. Dieser für ein so kleines Molekül extrem hohe Wert ist offensichtlich auf das große Dipolmoment zurückzuführen, das im Kristall zu starken intermolekularen Anziehungskräften führt (Kap. 3.6.1). Da die Elektronegativität von Stickstoff viel größer ist als die von Bor, ist der Dipolvektor der B–N-Bindung vom negativen Stickstoff zum positiven Bor gerichtet, d.h. auch H3B←NH3 ist eine Verbindung, bei der die tatsächlichen Partialladungen auf den zentralen Atomen den Formalladungen entgegengesetzt sind. Enthält ein Molekül benachbart zueinander sowohl ein Akzeptor- als auch ein Donoratom, kann es zu einer intramolekularen koordinativen Bindung kommen. Diese können vom σ- oder vom π-Typ sein. Beispiele dafür finden sich bei den Bor-Stickstoff-Verbindungen (Kap. 6.10). Auch das Molekül BF3 weist eine intramolekulare koordinative π-Bindung auf (Abschnitt 2.4.8). Ein interessanter Fall ist das Dimethylaminochlorsilan Me2N–SiH2Cl, das in der Gasphase monomer, im festen Zustand aber dimer ist: Cl H H
Si
N
H3C H3C
N
Si Cl
CH3 CH3 H H
d(Si
Neq) = 181 pm
d(Si
Nax) = 206 pm
Im Dimer sind die Si-Atome trigonal-bipyramidal koordiniert. Aus den Kernabständen geht hervor, dass die dativen Si–N-Bindungen länger (schwächer) sind als die normalen
2.6 Hyperkoordinierte oder hypervalente Verbindungen
83
kovalenten Bindungen. Das ist aber nicht immer so. In den bekannten Ionen [NH4]+ (Tetraeder) und [SiF6]2– (Oktaeder) sind alle Bindungen äquivalent. Die Änderung der Koordinationszahlen an den Akzeptoratomen ist natürlich mit einer entsprechenden Änderung der Geometrie verbunden. Die Stärke einer koordinativen Bindung kann durch induktive Effekte (Kap. 4.6) beeinflusst werden. Beispielweise ist die LEWIS-Basizität von Me3N größer als die von NH3, da die Methylgruppen dafür bekannt sind, dass sie negative Ladung auf das N-Atom übertragen (sie wirken „Elektronen-schiebend“). Daher erfordert die Dissoziation des Adduktes Me3N→BH3 eine um 15 kJ mol–1 höhere Enthalpie als die von H3B←NH3. Aus ähnlichen Gründen bilden kationische Akzeptoren deutlich stärkere dative Bindungen als vergleichbare Neutralmoleküle (vgl. [H3C–NH3]+ oben). Koordinative Bindungen sind weit verbreitet. Zahlreiche Beispiele werden im Teil II behandelt. Auch Wasserstoff-Brückenbindungen können als koordinative Bindungen aufgefasst werden (siehe Kap. 5.6).
2.6
Hyperkoordinierte oder hypervalente Verbindungen42
Viele Nichtmetalle bilden Verbindungen, bei denen die Valenzelektronenzahl am Zentralatom formal größer als 8 ist und damit die Edelgaskonfiguration überschreitet. Diese Verbindungen werden daher oft als hypervalent bezeichnet. Beispiele dafür sind in Tabelle 2.12 angegeben, in der auch die experimentell ermittelten Molekülstrukturen aufgeführt sind, die in den meisten Fällen mit den nach der VSEPR-Methode ermittelten Geometrien übereinstimmen. Bei der Ermittlung der Valenzelektronenzahl des Zentralatoms wird dabei postuliert, dass jede Bindung zu einem einwertigen Liganden wie Fluor zwei und jede Bindung zu einem zweiwertigen Liganden wie Sauerstoff vier Elektronen erfordert. Früher wurde angenommen, dass bei diesen und analogen Verbindungen der Nichtmetalle die d-Orbitale des Zentralatoms an den σ- und π-Bindungen in ähnlicher Weise beteiligt sind wie die s- und p-Orbitale. Zahlreiche theoretische Arbeiten insbesondere zur Frage der Bindung im Molekül SF6 haben aber gezeigt, dass die 3d-Orbitale wegen ihrer hohen Orbitalenergie nur in sehr geringem Maße zur Bindungsenergie des Moleküls beitragen.43 Die Bindungen im SF6 und anderen hypervalenten Verbindungen werden deshalb am besten als Mehrzentrenbindungen beschrieben, worauf im Folgenden genauer eingegangen wird. Das Molekül SF6 gehört zur Punktgruppe Oh und die drei linearen Bindungsachsen F–S–F definieren zugleich drei kartesische Koordinatenachsen x, y und z. Die Position
42 43
G. S. McGrady, J. W. Steed, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1938. A. E. Reed, F. Weinhold, J. Am. Chem. Soc. 1986, 108, 3586. C. S. Ewig, J. R. van Wazer, J. Am. Chem. Soc. 1989, 111, 1552. A. E. Reed, P. von Ragué Schleyer, J. Am. Chem. Soc. 1990, 112, 1434. E. Magnusson, J. Am. Chem. Soc. 1993, 115, 1051. J. M. Galbraith, J. Chem. Ed. 2007, 84, 783.
84
2 Die chemische Bindung
Tab. 2.12 Hyperkoordinierte (hypervalente) Verbindungen der Nichtmetalle (VE = Valenzelektronenzahl). Koordinationszahl
VE am Zentralatom
Verbindung
Ungefähre Geometrie am Zentralatom
2
10
[I3]–, XeF2
linear
10
SO2
gewinkelt
12
SO3, S(NR)3
trigonal-planar
10
OSCl2, OSeF2, [SO3]2–
trigonal-pyramidal
14
XeO3
trigonal-pyramidal
10
OPCl3
tetraedrisch
12
Cl2SO2, [SO4]2–
tetraedrisch
14
[ClO4]–
tetraedrisch
12
XeF4
quadratisch
10
PF5
trigonal-bipyramidal
12
SOF4
trigonal-bipyramidal
12
[SF5]–
quadratisch-pyramidal
14
[XeF5]–
pentagonal planar
12
SF6, SeF6, TeF6, [ClF6]+, [BrF6]+, [PF6]–, [SiF6]2–
oktaedrisch
14
[SeCl6]2–, XeF6
(verzerrt) oktaedrisch
7
14
IF7, [TeF7]–, [SbF7]2–
pentagonal-bipyramidal
8
16
[TeF8]2–
quadrat.-antiprismatisch
3
4
5
6
der Valenzorbitale von S und F im Energieniveaudiagramm (Abb. 2.39) zeigt, dass für kovalente Bindungen in erster Linie die Orbitale F(2p) und S(3spxpypz) in Frage kommen, die vergleichbare Orbitalenergien aufweisen, während das 2s-Niveau von Fluor so tief und die 3d-Orbitale des Schwefelatoms so hoch liegen, dass sie in erster Näherung vernachlässigt werden können. Betrachtet man seitens der Fluoratome zunächst nur dasjenige p-Orbital, das σ-Symmetrie bezüglich einer FSF-Achse aufweist, sind insgesamt sechs Fluororbitale mit vier Schwefelorbitalen zu 10 MOs zu kombinieren. In diesen Orbitalen befinden sich 12 Elektronen, nämlich sechs vom Schwefel- und je eins von jedem Fluoratom. Das kugelförmige 3s-AO des Schwefelatoms bildet mit den sechs oktaedrisch angeordneten 2pσ-AOs der Fluoratome je ein totalsymmetrisches bindendes und antibindendes MO von a1g-Symmetrie. Dabei überlappen jeweils sieben Orbitale (7-Zentren-σ-Bindung). Die drei 3p-AOs des S-Atoms können dagegen nur mit jeweils zwei Fluororbitalen
85
2.6 Hyperkoordinierte oder hypervalente Verbindungen E
6F
S σ*p
σ s*
3p
n
2 pσ
xyz +
σp + +
3s
σs + +
+ + +
+ +
Abb. 2.39 Vereinfachtes MO-Diagramm des Moleküls SF6 aus der Kombination der 3s- und 3p-AOs(S) und den 2pσ-AOs der Fluoratome, die die σ-MOs bilden. Neben dem σs-Niveau sind die bindende Linearkombination des AOs 3s mit den sechs 2pσ-AOs und die Oberfläche des berechneten MOs dargestellt, wobei das Abbruchkriterium einer Elektronendichte von 0.05 e–/Å3 entspricht. Die antibindende Kombination σs* wird erhalten, indem das Vorzeichen des 3s-AOs vertauscht wird. Beide MOs sind totalsymmetrisch. Rechts neben dem σp-Niveau ist eine der drei symmetrieäquivalenten, entarteten Linearkombinationen der 3p-AOs des S-Atoms mit je zwei der 2pσ-AOs der F-Atome dargestellt. Es bilden sich das dreifach entartete MO σp(t1u) und das entsprechende antibindende MO σp*. Von σp ist die berechnete Oberfläche eines der drei entarteten MOs gezeigt (Abbruchkriterium: 0.08 e–/Å3).
überlappen, nämlich mit denen, die auf der Achse des betreffenden 3p-Orbitals liegen. Die anderen vier F-Orbitale sind jeweils orthogonal zu dem betreffenden Zentralatomorbital. Auch hierbei entstehen ein bindendes und ein antibindendes MO. Die entsprechenden Energieniveaus sind jedoch dreifach entartet, da in x-, y- und z-Richtung je eine derartige 3-Zentren-σ-Bindung errichtet wird. Die betreffenden MOs bilden folglich zwei Energieniveaus von t1u-Symmetrie (Abb. 2.38). Weitere bindende oder antibindende MOs sind mit diesem Satz von Orbitalen nicht mehr möglich, jedoch gibt es noch zwei nichtbindende MOs, die durch Linearkombination von je vier F(2pσ)-AOs entstehen und die das zweifach entartete eg-Niveau bilden. Die 12 Valenzelektronen besetzen nun die vier bindenden und die zwei nichtbindenden MOs, was bedeutet, dass am Schwefelatom tatsächlich nur 8 Elektronen vorhanden sind. Vier Elektronen halten sich in den eg-MOs auf, die an den Fluoratomen lokalisiert sind. SF6 ist also nach dieser Analyse kein wirklich
86
2 Die chemische Bindung
„hypervalentes“ Molekül. Verbindungen wie SF6 werden daher besser als hyperkoordiniert bezeichnet. Die Elektronegativitätsdifferenz zwischen Schwefel und Fluor beträgt 1.5 Einheiten, was zur Folge hat, dass die soeben konstruierten σ-Bindungen stark polar sind. Die Fluoratome sind also partiell negativ geladen, während sich auf dem Schwefelatom eine erhebliche positive Ladung von mehr als zwei Elementarladungen aufbaut. Dadurch entsteht am Schwefel eine starke Anziehungskraft auf die nichtbindenden Elektronen an den Fluoratomen, die daher bestrebt sein werden, Elektronendichte auf das Schwefelatom zu übertragen. Dafür gibt es zwei Bindungsmechanismen. Erstens beteiligen sich auch die parallel zu den FSF-3-Zentren-Bindungen orientierten 2pπ-Orbitale der Fluoratome an der Bindung in den drei σp-MOs; siehe Abbildung 2.40.
Ç
0.01 e ÅÇ3
Ç
0.03 e ÅÇ3
Ç
0.05 e ÅÇ3
Ç
0.08 e ÅÇ3
Abb. 2.40 Eines der der entarteten σp MOs von SF6 mit t2-Symmetrie: gezeigt sind die zusätzlichen π-Wechselwirkungen mit den pπ-AOs der F-Atome bei verschiedenen Abbruchkriterien für die Berechnung der Orbitaloberfläche. Man kann die Einbindung der parallel zur zentralen FSF-Achse befindlichen 2pπ-AOs der F-Atome in die Bindung gut erkennen. Allerdings zeigt sich für zunehmende Elektronendichte des Abbruchkriteriums, dass die Hauptkomponente dieses MOs klar in der axialen FSF-σp-Bindung liegt.
Dadurch wird also eine schwache zusätzliche π-Bindung zwischen den F-Atomen und dem S-Atom gebildet, wodurch sich auch die elektrostatische Abstoßung der gleichnamig geladenen F-Atome verringert, die wegen der kleinen Valenzwinkel von 90° enger benachbart sind, als dem VAN DER WAALS-Abstand entsprechen würde. Zweitens können die nichtbindenden Fluor-Elektronen im eg-Niveau teilweise in diejenigen 3d-AOs des Zentralatoms delokalisiert werden, die die gleiche Symmetrie aufweisen, nämlich dxy, dxz und dyz. Auch diese koordinativen σ-Bindungen sind wegen des großen Energieunterschiedes der beteiligten Orbitale sehr viel schwächer als die σ-Bindungen; sie tragen aber auch etwas zur Bindungsenergie bei. Zusammenfassend kann man also feststellen, dass die Bindungen im SF6-Molekül im Wesentlichen stark polare Mehrzentren-σ-Bindungen sind, denen sich aber in einer Art Rückbindung mehrere schwächere koordinative Mehrzentrenbindungen überlagern, wodurch ein sehr stabiles Molekül entsteht. Hier erhebt sich nun die Frage, warum die Hexafluoride SF6, SeF6 und TeF6 sehr stabile Verbindungen sind, während OF6 nicht existiert. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Das O-Atom ist viel kleiner als seine höheren Homologen, weswegen sechs F-Atome auf seiner Oberfläche keinen Platz finden. Mit anderen Worten, in einem oktaedrischen Molekül OF6 mit OF-Kernabständen wie im OF2 käme es zu einer so starken Annäherung der ne-
2.6 Hyperkoordinierte oder hypervalente Verbindungen
87
gativ geladenen Fluoratome, dass erhebliche Abstoßungskräfte wirksam würden, die zu einer exothermen Abspaltung von zwei Molekülen F2 unter Bildung von OF2 führen würden. Hinzu kommt, dass die Bindungen im Molekül OF6 wegen der geringeren Polarität deutlich schwächer wären als die im SF6. Eine analoge Analyse wie in Abbildung 2.39 zeigt außerdem, dass die Orbitalenergie des 2s-AO von Sauerstoff mit –31.1 eV so viel niedriger ist als die Energie der 2p-Orbitale der Fluoratome (–17.4 eV), dass eine Wechselwirkung zwischen diesen Orbitalen vernachlässigt werden kann. Daher überlappen die σ-Orbitale des Fluoratoms nur mit den drei Zentralatom-Orbitalen vom 2p-Typ, wodurch nur drei bindende neben drei nichtbindenden und drei antibindenden MOs entstehen. Verglichen mit SF6 ergibt sich damit ein bindendes Elektronenpaar weniger. SF6 ist thermodynamisch beständig gegenüber einer Dissoziation in sowohl SF4+F2 als auch SF2+2F2. Das hypothetische Molekül H6S ist dagegen nach ab-initio-MO-Rechnungen energiereicher als seine Zersetzungsprodukte H2S+2H2, d.h. es ist instabil. Das liegt hauptsächlich an der sehr großen Bindungsenthalpie von H2 (D298 = 436 kJ mol–1), die fast dreimal so groß ist wie die von F2 (D298 = 159 kJ mol–1) und die bei Dissoziation des „Superschwefelwasserstoffs“ H6S freigesetzt würde. Auf ähnliche Weise ist Hexamethyltellur Me6Te, obwohl thermisch recht beständig, thermodynamisch instabil, sowohl im Hinblick auf eine Zersetzung zu Me4Te+Me2 als auch gegenüber Me2Te+2Me2. Hierfür ist in erster Linie die hohe Bindungsenthalpie der C–C-Bindung des Ethans (Me2) (331 kJ mol–1) verantwortlich. Diese Betrachtungen lassen verstehen, warum PH5, ClH5 und H2Xe nicht existieren, während PF5, ClF5 und XeF2 thermodynamisch stabile Verbindungen sind. Die Isolierung des thermodynamisch instabilen Hexamethyltellur (Kap. 12.12.4) zeigt jedoch, dass in manchen Fällen die Aktivierungsenthalpie der Zersetzungsreaktion so groß ist, dass metastabile Substanzen unter milden Bedingungen in reiner Form synthetisiert werden können. Daher gibt es eine große Zahl hyperkoordinierter Verbindungen, die im Einzelnen bei den betreffenden Elementen behandelt werden. SF6 ist eine Modellverbindung, deren bindungstheoretische Behandlung sinngemäß auf analoge Moleküle wie Interhalogenverbindungen, Edelgasverbindungen, Sulfurane, Phosphorane usw. übertragen werden kann, die alle nur mit dem Konzept der Mehrzentrenbindung verstanden werden können.44 Die Energien der d-Orbitale der entsprechenden Zentralatome sind ähnlich hoch wie die von Schwefel, was aus folgenden Promotionsenergien hervorgeht: Um ein 3p-Elektron auf das 3d-Niveau zu bringen, sind beim Cl-Atom 11.2 eV erforderlich und um beim P-Atom ein 3s-Elektron auf das 3d-Niveau zu promovieren, muss man 16 eV aufwenden. Die Bindungsenergien kovalenter Bindungen liegen aber nur im Bereich von 1–5 eV! Man muss daher die Vorstellung aufgeben, dass für n Bindungen in einem Molekül ABn auch n AOs am Zentralatom nötig seien. Bei Molekülen mit π-Bindungen ist die Situation ähnlich. Dies soll am Beispiel des tetraedrischen Sulfat-Anions erläutert werden, das isoelektronisch ist mit den Ionen [SO3F]–, [SiO4]4–, [PO4]3– und [ClO4]– sowie mit dem Molekül SO2F2. Wie beim CH4-Molekül liegen beim Sulfat-Ion zunächst vier σ-Bindungen vor, die durch Wechselwirkung der Orbitale 3s, 3px, 3py und 3pz des Schwefelatoms mit den 2pσ-Orbitalen der vier O-Atome zustande kommen:
44
J. Cioslowski, S. T. Mixon, Inorg. Chem. 1993, 32, 3209. D. L. Cooper et al., J. Am. Chem. Soc. 1994, 116, 4414. G. S. McGrady, J. W. Steed, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1938. J. M. Galbraith, J. Chem. Educ. 2007, 84, 783.
88
2 Die chemische Bindung
O
O
2
S
O
O
In dieser LEWIS-Strukturformel erfüllt das Sulfat-Ion die Oktettregel und ist am elektropositiveren S-Atom doppelt positiv geladen und an den elektronegativeren O-Atomen einfach negativ geladen. Die Analyse des vollständigen MO-Diagramms in Abbildung 2.41 zeigt, dass diese Beschreibung weitgehend korrekt ist: Die vier a1- und t2-MOs, die von den 2s-AOs des Sauerstoffs gebildet werden, sind nichtbindend und greifen in erster Näherung nicht in die Bindung ein. Die vier σ-Bindungen werden durch das σs-MO von a1-Symmetrie, sowie die drei entarteten σp-MOs von t2-Symmetrie gebildet. Die acht energetisch höher liegenden MOs von e-, t2- und t1-Symmetrie sind nichtbindend und entsprechen MO-Darstellungen der nichtbindenden Elektronenpaare an den O-Atomen, d.h. jedes O-Atom trägt insgesamt drei nichtbindende Elektronenpaare, von denen eines hauptsächlich 2s-Charakter und zwei hauptsächlich 2p-Charakter haben. E (eV) sÉ
S
a1
t2
a1
4O
3p
n.b.
t1 t1
t2
2p
t2
e
n.b.
t2
e _#2
e _#1
3s
a1 p
t2 t2 2s
s
a1
a1
Abb. 2.41 MO-Diagramm des Sulfat-Ions: Die unteren vier MOs, die aus den 2s-AOs der O-Atome gebildet werden sind in erster Näherung nichtbindend. Die vier σ-Bindungen werden durch die σsund σp-MOs gebildet, deren berechnete Oberflächen links neben dem Diagramm dargestellt sind (Abbruchkriterium: 0.05 e–/Å3). Das totalsymmetrische σs-MO entspricht einer Linearkombination des 3s-AO am S-Atom und von vier 2p-AOs der O-Atome. Die drei entarteten σp-MOs entsprechen einer Linearkombination der drei 3px,y,z-AOs am Schwefel mit jeweils vier 2p-AOs der O-Atome. Beides sind 5-Zentren-Bindungen. Die energetisch höher liegenden MOs von e-, t2- und t1-Symmetrie sind nichtbindend und entsprechen einer MO-Darstellung der nichtbindenden Elektronenpaare an den O-Atomen.
89
2.6 Hyperkoordinierte oder hypervalente Verbindungen
Diese stark polaren σ-Bindungen führen natürlich zu einer hohen positiven Ladung auf dem Zentralatom und daraus entsteht eine starke Anziehungskraft auf die nichtbindenden π-Elektronen der negativ geladenen O-Atome. Daher ist das System bestrebt, die negative Ladung auf den O-Atomen zu reduzieren. Dies wird durch folgende Verfeinerung unseres Modells ermöglicht: Die vier a1- und t2-MOs, die von den 2s-AOs des Sauerstoffs gebildet werden, sind nur in erster Näherung nichtbindend. Sie können in gewissem Umfang auch noch mit den 3s(a1)- und 3p(t2)-AOs des S-Atoms bindend wechselwirken, was zur Übertragung von Elektronendichte von O- zum S-Atom führt. Dies folgt aus den berechneten Oberflächen der a1- und t2-MOs (Abbruchkriterium: 0.05 e– Å–3):
a1:
t2 :
Zudem können die 2pπ-AOs der O-Atome einerseits mit den σp*-MOs (t2) der benachbarten SO-Bindungen überlappen und andererseits zu einem geringen Grad auch die e-MOs mit den symmetriegerechten 3d-Orbitalen des Zentralatoms (dx 2 –y 2 und dz2), wodurch die weitere Möglichkeit zur Delokalisierung von Elektronendichte von den Liganden zum Zentralatom entsteht. Daher überlagern sich den vier klassischen σ-Bindungen (σs und σp) mehrere schwache σ- und π-Bindungen, die alle vom Mehrzentrentyp sind. Es liegt auf der Hand, dass diese komplizierten Verhältnisse nicht ohne weiteres in einer ValenzstrichFormel ausgedrückt werden können. Die klassische Schreibweise für das Sulfat-Ion O
O S
O
O
O
usw.
S O
O
O
zeigt jedoch an, dass die SO-Bindungen bezüglich ihrer Bindungsstärke zwischen den Einfach- und Doppelbindungen liegen. Wir werden hier weiter diese Notation verwenden, sind uns aber darüber im Klaren, dass die letztgenannte Bindung keinen reinen π-Charakter hat. Die delokalisierte π-Bindung ist vielmehr die Summe über alle gezeigten weiteren Wechselwirkungen inklusive der starken COULOMB-Anziehung zwischen dem positiv geladenen S-Atom und den negativ geladenen O-Atomen. Die Bindungen in den Molekülen SO2 und SO3 können in analoger Weise verstanden werden,45 wenn man jeweils von entsprechenden Modellen ohne π-Bindungen ausgeht. Das σ-Bindungsgerüst im SO2 entspricht dem im H2S-Molekül (Symmetrie C2v), das im SO3 dem im BF3 (Symmetrie C3v):
O
45
S
O
2
O
O
S
3
O
E. Magnusson, J. Am. Chem. Soc. 1993, 115, 1051. J. Cioslowski, S. T. Mixon, Inorg. Chem. 1993, 32, 3209. T. P. Cunningham et al., J. Chem. Soc. Faraday Trans. 1997, 93, 2247.
90
2 Die chemische Bindung
Ab initio MO-Rechnungen haben ergeben, dass die Atome tatsächlich etwa so geladen sind, wie diese einfachen Grenzstrukturen es beschreiben. Da aber in beiden Oxiden bei dieser Betrachtungsweise am positiv geladenen S-Atom noch ein 3pπ-Orbital (senkrecht zur Molekülebene) unbesetzt ist, kommt es zu einer teilweisen Delokalisierung von nichtbindenden π-Elektronen der O-Atome in dieses Zentralatomorbital (koordinative p-p-πBindung über 3 Zentren beim SO2 und über 4 Zentren beim SO3). Diese π-Bindungen entsprechen denen im O3 bzw. im BF3. Darüber hinaus können nichtbindende Elektronen der O-Atome in geringem Umfang in d-Orbitale des Schwefelatoms delokalisiert werden, was allerdings wegen der sehr viel höheren Energie der 3d-Orbitale nur zu einer sehr schwachen zusätzlichen π-Wechselwirkung führt. Insgesamt liegen also neben den stark polaren σ-Bindungen zwei verschiedene Typen von Mehrzentren-π-Bindungen vor, von denen die p-p-π-Bindungen viel stärker sind als die extrem schwachen p-d-π-Bindungen. Üblicherweise wird die Stärke der SO-Bindungen in den beiden Oxiden daher durch folgende Formeln beschrieben: O O
S
O
O
S
O
Darin soll zum Ausdruck kommen, dass die Bindungsstärke, charakterisiert beispielsweise durch die kleinen Kernabstände (143 pm) oder die hohen Valenzkraftkonstanten, viel größer ist als bei einer SO-Einfachbindung, wie sie etwa in Molekülen wie R–O–S–O–R vorliegt (dSO = 162 pm für R = Me). Die doppelten Valenzstriche „=“ bedeuten also nicht, dass Doppelbindungen wie im Ethen vorliegen, sondern dass neben σ-Bindungen noch weitere bindungsverstärkende Wechselwirkungen auftreten. Diese verschiedenen Mehrzentren-π-Bindungen sind einzeln viel schwächer als die σ-Wechselwirkung, zusammen tragen sie aber doch erheblich zur Bindungsenergie bei. Dass die Angabe eines Bindungsgrades oder einer Bindungsordnung unter diesen Umständen sinnlos ist, liegt auf der Hand. Man spricht daher am besten von Mehrfachbindungen, da man die Zahl der am Zentralatom vorhandenen Valenzelektronen nicht kennt, wodurch auch der Begriff „hypervalent“ fragwürdig wird. Bei den homologen Elementen Se und Te sind die π-Wechselwirkungen mit Sauerstoffatomen wegen der unterschiedlichen Größe der Orbitale und dem daraus resultierenden kleineren Überlappungsintegral noch schwächer als beim Schwefel, weswegen diese Elemente die Errichtung von σ-Bindungen bevorzugen. SeO2 und TeO2 sind daher unter Standardbedingungen polymer, und Verbindungen mit Te=O-Bindungen sind bei 25°C unbekannt.
2.7
Quantenchemische Berechnung von Struktur und Eigenschaften von Molekülen
In diesem Abschnitt soll qualitativ erläutert werden, wie man heute die Strukturen und Eigenschaften von Molekülen und Molekül-Ionen mit quantenchemischen Methoden berechnet. Rein mathematisch ist dies nicht exakt möglich; dennoch sollen die physikali-
2.7 Quantenchemische Berechnung von Struktur und Eigenschaften von Molekülen
91
schen Zusammenhänge korrekt erläutert werden, um den Leser mit der Bedeutung der am häufigsten verwendeten Fachausdrücke vertraut zu machen. Zuerst werden die so genannten ab initio-Methoden behandelt und dann die für vielatomige Teilchen meist verwendete Dichtefunktionalthorie (DFT).
2.7.1 Physikalische Grundlagen: ab initio-Methoden Die Gesamtenergie eines Teilchens hängt von der Bewegung der Kerne und der Elektronen ab. In der zeitunabhängigen SCHRÖDINGER-Gleichung wird dies durch den HAMILTONOperator H berücksichtigt:46 HX = EeX H: X: Ee:
Hamilton-Operator, der auf die Wellenfunktion angewandt wird; entspricht einer Rechenvorschrift. In der Sprache der Quantenchemie ist dies die Methode, die eingesetzt wird (z.B. das Verfahren nach HARTREE-FOCK, d.h. die HF-Methode). Wellenfunktion (eindeutig, stetig, normierbar); entspricht der mathematischen Beschreibung des Aufenthaltsortes der Elektronen und damit der Beschreibung der Molekülorbitale. Energieeigenwert (skalare Größe); entspricht den Orbitalenergien der einzelnen Orbitale.
Selbst für kleine Systeme wie [H2]+ ist die explizite Behandlung stark erschwert und kann nur unter Verwendung der BORN-OPPENHEIMER-Näherung der Separierung von Elektronenund Kern-Bewegung erfolgen (Abschnitt 2.4.1). Wenn wir geeignete Wellenfunktionen für die Molekülorbitale finden und uns ein beliebiges Teilchen aus der Anzahl der Atome und der Elektronen aufbauen, können wir für eine gegebene Geometrie die SCHRÖDINGERGleichung mit einer geeigneten Methode (HAMILTON-Operator) näherungsweise lösen und erhalten die Energieeigenwerte (Orbitalenergien) für alle beteiligten Wellenfunktionen (MOs). Wird nun die Gesamtenergie eines Teilchens als Funktion verschiedener, starrer Kernabstände berechnet, so entspricht die Struktur mit der minimalen berechneten Energie aller betrachteten Strukturen einem stabilen Zustand bzw. einer dreidimensionalen geometrieoptimierten Struktur des untersuchten Teilchens. Dies ist der generelle Weg, um von Anfang an, also quasi ab initio und ohne weiteres Vorwissen, Strukturen und Eigenschaften von Teilchen zu berechnen.
2.7.2 Näherungen für die Wellenfunktion der Molekülorbitale Die Molekülorbitale werden nach der im Abschnitt 2.4 erläuterten LCAO-Näherung erhalten. Im LCAO-Ansatz beschreibt man die Gesamtwellenfunktion (Summe aller MOs) als eine Linearkombination der Atomorbitale aller beteiligten Atome. Die mathematische Funktion, die man für die AOs einsetzt, wird als Basisfunktion bezeichnet. Der komplette 46
Physikalische Grundlage des Hamilton-Operators: H = T + V, wobei T = Operator der kinetischen Energie und V = Operator der potentiellen Energie ist.
92
2 Die chemische Bindung
Satz an Basisfunktionen, der wiederum die Gesamtwellenfunktion beschreibt, wird Basissatz genannt. Welche Funktionen werden als Basisfunktionen zur Beschreibung der Bewegung der Elektronen im Feld der positiv geladenen Atomrümpfe verwandt? Vom theoretischen Standpunkt aus bieten sich hier SLATER-Funktionen des folgenden Typs an: STO = N·e(–α·r) Hierbei sind STO ein Slater Type Orbital, N ein Normierungsfaktor (Konstante), α eine Konstante, die den Verlauf der Funktion beeinflusst, und r der Abstand des Elektrons vom Kern. Die STOs beschreiben den spitzen Verlauf der Elektronendichte in Kernnähe und auch das asymptotische Abklingen weit vom Kern entfernt physikalisch richtig. Leider lassen sich STOs sehr schlecht integrieren. Daher ist der Zeitaufwand für quantenchemische Rechnungen, die STOs als Basisfunktionen einsetzen, um ein Vielfaches höher als bei den im Folgenden besprochenen GTOs (Gaussian Type Orbitals).47 Die von den anderen Programmen als Basisfunktionen eingesetzten mathematischen Funktionen sind GAUß-Funktionen: GTO = N·e(–α·r 2) Der Koeffizient α steuert den Verlauf der GAUß-Funktion: Ein großer Koeffizient α (z.B. 1000) bewirkt einen sehr spitzen Verlauf, während ein kleiner Koeffizient α (z.B. 1) einen sehr weiten Kurvenverlauf hervorruft. Vergleicht man den Verlauf der Elektronendichte eines STOs mit dem eines GTOs in Abhängigkeit von r, ergibt sich für ein 1s-Orbital das in Abbildung 2.42 gezeigte Bild.
1.0 0.8 GTO STO
0.6 0.4 0.2 0
0
1
2
3
4
5
r
Abb. 2.42 Verlauf der STO- und GTO-Funktionen für ein 1s-Orbital bei gleichem Koeffizient α = 1 (r: Abstand vom Kern).
47
Nur ein kommerziell verfügbares Programm, die ADF Suite (Amsterdam Density Funktional Suite of Programs), setzt auf Grund der besseren Beschreibung des Verlaufs der Elektronendichte durch STOs letztere explizit für die Rechnung ein.
2.7 Quantenchemische Berechnung von Struktur und Eigenschaften von Molekülen
93
Es zeigt sich, dass ein einzelnes GTO nicht ausreicht, um den Verlauf der Elektronendichte in einem Atom sauber zu beschreiben. Daher werden die einzelnen Basisfunktionen des kompletten Basissatzes durch eine Linearkombination mehrerer GTOs gebildet (meist aus 3 bis 9 GTOs mit verschiedenem Koeffizienten α). Dies ist in Abbildung 2.43 für das 1s-Orbital des C-Atoms gezeigt; es wird durch eine Linearkombination von 5 primitiven GTOs angenähert.
Überlagerung der 5 Gauß-Funktionen (GF) 1.0 0.8 0.6 GF1 0.4
0
11.67; N = 0.46
GF2: î =
3.59; N = 0.44
GF3: î =
42.25; N = 0.18
GF4: î = 186.29; N = 0.04 GF2
GF5: î = 1238.40; N = 0.005
GF3
0.2 GF5
GF1: î =
GF4 0
0.5 r in bohr
1.0
Abb. 2.43 Linearkombination von fünf primitiven GAUSS-Funktionen (GF) zum 1s-Orbital eines C-Atoms.
In einem Basissatz sind die Koeffizienten α derjenigen primitiven GTOs, die als Linearkombination die Basisfunktion bilden, für jedes Element optimiert, so dass sich bei atomaren Berechnungen optimale Energieeigenwerte (Orbitalenergien) der AOs ergeben. Die optimierten Koeffizienten α und die Normierungsfaktoren N sind im Programm gespeichert und werden während einer Rechnung nicht mehr verändert. Minimaler Basissatz: Wird in einer quantenchemischen Rechnung nur eine Basisfunktion pro besetztem Atomorbital eingesetzt, spricht man von einem minimalen Basissatz. Diese sind nur noch historisch bedeutsam (z.B. STO-3G). Split-Valence-Basissätze: Basisfunktionen, die eine abgeschlossene Schale darstellen, wie etwa die 1s2-Schale des Boratoms mit einer 1s22s22p1 Konfiguration, sind in guter Näherung am Atom lokalisiert und haben fast nichts mit der Bindung im Gesamtmolekül zu tun. Daher ist es vernünftig, die Elektronen in abgeschlossenen Schalen nur durch eine einzige Basisfunktion zu beschreiben. Dies ist bei den Valenzelektronen völlig anders: Hier sollen delokalisierte, oft auch gebogene Bindungen beschrieben werden. Daher muss der Verlauf der Elektronendichte flexibler gestaltet werden. Man erreicht dies, indem man die AOs der Valenzelektronen mit mehr als einer Basisfunktion beschreibt, etwa mit zwei oder drei Basisfunktionen, die jeweils einen unterschiedlichen Charakter haben. Ein Beispiel für solch eine Split-Valence-Basis für Kohlenstoff sieht folgendermaßen aus (SV aus dem Programm Turbomole):
94
2 Die chemische Bindung
AOs 1s
2s
2p
$basis * c Ahlrichs SV * Zahl und Typ der primitiven GTOs 5 s 1238.40169 0.545688321E-02 186.290050 0.406384092E-01 42.2511763 0.180255939 11.6765579 0.463151218 3.59305065 0.440871733 1 s 0.402451474 1.00000000 1 s 0.130901827 1.00000000 3 p 9.46809706 0.383878717E-01 2.01035451 0.211170251 0.547710047 0.513281721 1 p 0.152686138 1.00000000 * Exponent î präexponentieller Faktor N $end
GTO = N exp(Çîr 2 )
In der obigen Datei steht der Koeffizient α am Anfang und als zweiter Eintrag der präexponentielle Faktor N. Beide Werte sind für jedes Element optimiert und werden im Laufe der Rechnung nicht verändert. Insgesamt hat der SV-Basissatz also neun Basisfunktionen für das Element C, die aus 19 GTOs gebildet werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die 2p-Funktionen dreifach zählen, da in der Datei nicht zwischen den 2px-, 2py- und 2pz-Funktionen unterschieden wird. Also muss die Zahl der 2p-Basisfunktionen und der ihr zugrunde liegenden primitiven GTOs mal drei genommen werden. Double-Zeta, Triple-Zeta und weitere Basissätze: Eine noch bessere Beschreibung des Verlaufs der Elektronendichte wird erreicht, wenn man jedes AO nicht nur durch eine Basisfunktion darstellt, sondern durch zwei (DZ, double zeta basis), drei (TZ, triple zeta basis) oder gar vier Basisfunktionen (QZ, quadruple zeta basis). Dies betrifft nun nicht mehr nur die Valenzelektronen, sondern alle Elektronen im Molekül. Natürlich sind TZ-Basen besser als DZ-Basen und QZ-Basen sind besser als TZ-Basen, da sie den Verlauf der Elektronendichte immer besser beschreiben. Man sagt auch, die größeren Basen sind flexibler. Allerdings erfordert dies einen stark erhöhten Rechenaufwand. Polarisationsfunktionen: Wenn zusätzlich eine Basisfunktion mit einer höheren Drehimpulsquantenzahl als der zur Beschreibung des Grundzustandes notwendigen zu einem Basissatz hinzugefügt wird, spricht man von einer Polarisationsfunktion (Abschnitt 2.4.1). Beispielsweise benötigt das Element Kohlenstoff im Grundzustand nur s- und p-Funktionen (Orbitale). Wird trotzdem ein Satz d-Funktionen hinzugefügt, nennt man dies polarisieren. Die folgende Grafik zeigt schematisch den Nutzen dieser Polarisation (zur Verdeutlichung des Effektes ist λ recht groß gewählt):
2.7 Quantenchemische Berechnung von Struktur und Eigenschaften von Molekülen
+
-
-
+
+
-
+
-
+
95
+
-
p
stark polarisiertes p-Orbital d Die Polarisationsfunktion wird in der Praxis, anders als in der Grafik oben, nur mit einem kleinen Gewicht beigemischt (λ ≈ 0.01–0.03) und ermöglicht die bessere Simulation des Verlaufs der Elektronendichte in gebogenen Bindungen (z.B. in gespannten Ringen). Die zusätzliche Rechenzeit für diese Modifizierung ist viel kleiner als der große Nutzen bei der Berechnung von Molekülen aller Art. Daher werden heute fast nur noch polarisierte Basissätze eingesetzt. Die Verwendung von Polarisationsfunktionen bedeutet aber nicht die Besetzung von d-Orbitalen bei Hauptgruppenelementen wie B, C, N oder O. Es handelt sich vielmehr nur um einen mathematischen Trick zur besseren Wiedergabe des Verlaufs der Elektronendichte.
2.7.3 Ab initio-Methoden: Näherungen für den HAMILTON-Operator Im Folgenden sollen die Prinzipien der verschiedenen Methoden (HAMILTON-Operatoren) kurz erläutert werden, ohne auf die dahinter liegende Mathematik einzugehen. Ziel ist es, die Ergebnisse der Berechnungen auf der Basis der gemachten Näherungen beurteilen zu können. Korrelationsenergie: Physikalisch müssen in einem Molekül die Bewegungen aller Elektronen im Feld der positiv geladenen Atomrümpfe beschrieben werden (Abschnitt 2.4.2). Für die Gesamtenergie eines Teilchens gibt es folgende Beiträge (K: Kern, e: Elektron): Egesamt = Epot,KK + Epot,Ke+ Epot,ee + Ekin,ee Im BORN-OPPENHEIMER-Bild sind die Kerne ortsfest. Daher sind Epot,KK und Epot,Ke leicht zu berechnen. Der Term, der die abstoßende Elektron-Elektron-Wechselwirkung Epot,ee enthält, ist mathematisch beliebig schwierig. Im Prinzip müssen die repulsiven Wechselwirkungen aller delokalisierten Elektronen untereinander berücksichtigt werden. Den repulsiven Beitrag der Elektron-Elektron-Wechselwirkung nennt man dynamische Elektronenkorrelation. Ihn möglichst genau zu beschreiben, ist das Anliegen der korrelierten Methoden.48 Insgesamt trägt die Korrelationsenergie nur etwa 1 % zur Gesamtenergie eines 48
Der Begriff Korrelation entstammt der mathematischen Statistik und bedeutet, dass die Verteilungsfunktionen f(x) und g(y) zweier Variablen x und y nicht unabhängig voneinander sind, sondern korrelieren. In unserem Fall korrelieren die Bewegungen der Elektronen. Dabei müssen noch zwei Spezialfälle berücksichtigt werden, die auf das PAULI-Prinzip zurückgehen. Das FERMI-Loch: Zwei Elektronen gleichen Spins (αα oder ββ) dürfen sich nicht zur gleichen Zeit am gleichen Ort aufhalten (orthogonale Wellenfunktionen: ∫ψ1*ψ2dτ = 0 bzw. das Überlappintegral ist 0). Das COULOMB-Loch: Zwei Elektronen ungleichen Spins (α und β) dürfen sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort aufhalten, haben dort aber ein Minimum der Wahrscheinlichkeit ihres Aufenthaltes.
96
2 Die chemische Bindung
Teilchens bei. Allerdings sind es genau diese Beträge, die sich sehr stark auf die Genauigkeit einer berechneten Bindungsenthalpie auswirken können. Die Vernachlässigung der Elektronenkorrelation führt teilweise zu Fehlern, die bei elektronisch komplizierten Verbindungen mehrere hundert kJ mol–1 oder mehr als 100 % der richtigen Bindungsdissoziationsenthalpie betragen können. Methode nach Hartree und Fock: Mit diesem Ansatz wird eine einzige elektronische Konfiguration (meist der elektronische Grundzustand) beschrieben. Im HARTREE-FOCKAnsatz (HF) wird Epot,ee durch die Wechselwirkung eines Elektrons mit dem durchschnittlichen elektrischen Feld der übrigen Elektronen approximiert. Während das Fermi-Loch durch die Antisymmetrie der Wellenfunktion berücksichtigt wird – zwei Elektronen gleichen Spins müssen in verschiedenen Orbitalen untergebracht sein – wird das CoulombLoch im HF-Ansatz vollständig vernachlässigt (es wird ja nur ein Elektron explizit betrachtet). Daher wird Epot,ee bei der HF-Methode grundsätzlich unterschätzt. Die Unterschätzung der Elektron-Elektron-Abstoßung zeigt sich typischerweise in etwa 2–8 pm zu kurzen Kernabständen der mit der HF-Methode optimierten Teilchen (Abschnitt 2.7.7). HF-Rechnungen sind eine sehr schnelle Methode, mit der auch große Moleküle aus bis zu 1000 Atomen berechnet werden können. Sie skaliert in der Rechenzeit etwa linear mit der Zahl der besetzten Orbitale. Methode nach Møller und Plesset: Bei dieser Methode wird Epot,ee einfach als Störung der ungestörten HF-Wellenfunktion beschrieben. Diese Näherung ist immer dann sehr gut, wenn das zu untersuchende Teilchen bereits nach der HF-Methode erfolgreich beschrieben wurde und die Störung insgesamt klein ist (etwa 1 % der Gesamtenergie). Man setzt den HAMILTON-Operator wie folgt an: Hλ = H° + λP Hλ: gestörter Hamiltonoperator
λ: skalarer Faktor
H°: Hamilton-Operator des HF-Bildes
λ P: Störoperator
Die gestörte Wellenfunktion Xλ und die gestörten Energieeigenwerte werden dann durch eine TAYLOR-Reihe entwickelt:
Die in Klammern gesetzten Indizes (n) mit n = 0–∞ zeigen dabei näherungsweise an, wie viele Elektronen miteinander wechselwirken dürfen. Wird die Reihe nach (n) = (0) und (1) abgebrochen, entspricht dies explizit der HF-Methode (Bewegung eines Elektrons im durchschnittlichen Feld aller übrigen Elektronen). Wird die Reihe nach (n) = (0), (1) und (2) abgebrochen, wird erstmals explizit eine Elektron-Elektron-Wechselwirkung berücksichtigt. Man nennt diese Methode dann „MP2“. Für die MP2-Energie gilt: EMP2 = E(0) + E(1) + E(2) = EHF + E(2) Wird die Reihe nach der 3-Elektronen-Wechselwirkung (3) abgebrochen, nennt man sie MP3 usw. Werden explizit alle (n) Elektron-Elektron-Wechselwirkungen berücksichtigt, dann entspricht EMPx der Energie des Full-CI (siehe unten). Zwei Spezialfälle sind für
2.7 Quantenchemische Berechnung von Struktur und Eigenschaften von Molekülen
97
jede MP-Methode zu berücksichtigen: Die Option MPx(full) (x = 2, 3, …) bedeutet, dass auch Elektronen aus abgeschlossenen Schalen für die Korrelation berücksichtigt werden. Dies widerspricht der chemischen Erfahrung, da Elektronen in abgeschlossenen Schalen eigentlich nicht zur Bindung beitragen. Die Option MPx(FC) andererseits bedeutet, dass Elektronen in abgeschlossenen Schalen (FC steht für frozen core) nicht für die Korrelation herangezogen werden. Anders formuliert: Nur Valenzelektronen, die normalerweise für den Aufbau der Bindungen verantwortlich sind, werden für die Korrelation berücksichtigt. Das MP2(FC)-Verfahren ist heute bei allen quantenchemischen Programmen die Standard-Option, da mit vernünftigem rechnerischen Aufwand viele Defizite der HFMethode ausgeglichen werden. MPx(full) muss extra angefordert werden. MP2(FC)Rechnungen skalieren in der Rechenzeit etwa mit der vierten Potenz der Zahl der besetzten Orbitale. Es sei aber angemerkt, dass MPx-Methoden nur funktionieren, wenn die Störung klein ist, d.h. wenn die HF-Rechnung bereits eine gute Näherung für die zu untersuchenden Teilchen ist. Notorische Problemfälle sind Teilchen mit teilweise besetzten nd-Orbitalen (n = 3–5). Typischerweise wird Epot,ee aufgrund der unvollständigen Beschreibung der ElektronElektron-Repulsion in der MP2-Methode überschätzt. Dies führt zu Kernabständen, die um 2–5 pm zu lang sind. Im Gegensatz zur HF-Methode, werden mit MP2 aber auch dispersive (VAN DER WAALS-)Wechselwirkungen erfasst. Gegenwärtig können Verbindungen bis zu einer Größe von etwa 50 Nichtwasserstoffatomen mit MP2 berechnet werden. Konfigurationswechselwirkung: Ein Defizit der HF-Methode ist, dass ein Teilchen nur durch eine einzige elektronische Konfiguration beschrieben wird, d.h. nur eine einzige Besetzung der MOs ist zulässig. Man nennt sie daher auch eine Ein-Determinanten-Methode, da eine elektronische Konfiguration jeweils über eine Determinante beschrieben wird (SLATER-Determinante). Dies trifft auf viele Moleküle auch zu und die Strukturen und Eigenschaften eines Moleküls werden oft zu 97 bis 99 % durch die Determinante des elektronischen Grundzustandes bzw. einer Konfiguration erfasst. Allerdings ist es für elektronisch komplizierte Verbindungen, für einige anorganische Molekülverbindungen, für offenschalige Systeme sowie für hochgenaue Rechnungen notwendig, auch andere Konfigurationen zu berücksichtigen (siehe Abbildung 2.44). a)
b)
c)
d)
S0
SS
SD
ST
Abb. 2.44 Schematische Darstellung der Grundkonfiguration (Ψ°, a) und einer einfach (ΨS, b), zweifach (ΨD, c) bzw. dreifach (ΨT, d) substituierten Konfiguration.
98
2 Die chemische Bindung
Insgesamt kann man dann die exakte Grundzustands-Wellenfunktion ψ wie folgt formulieren: ψ = c0 ψ 0 + cs ψ s + cD ψ D + cT ψ T + ........
Dabei haben die angeregten Konfigurationen meist ein geringes Gewicht (zwischen 0 und 5 %). Trotzdem ist ihre Berücksichtigung in vielen Fällen notwendig; oft reichen aber bereits Einfach- und Zweifachanregungen aus. Man nennt dies die Methode der Konfigurations-Wechselwirkung (CI, configuration interaction). Werden alle theoretisch möglichen Konfigurationen berücksichtigt, wird dies als Full-CI bezeichnet und entspricht in etwa der gegenwärtig für sehr kleine Systeme erreichbaren maximalen Rechengenauigkeit. Durch die Wechselwirkung der elektronischen Konfigurationen wird explizit die Elektron-Elektron-Wechselwirkung Epot,ee sehr genau erfasst. Daher können auch schwierige Systeme (offenschalige Systeme, schwach gebundene Teilchen, VAN DER WAALSKomplexe etc.) sicher mit dieser Methode berechnet werden. Allerdings ist diesen Methoden eigen, dass sie relativ große (flexible) Basissätze benötigen, um bei sinnvollen Rechenwerten zu konvergieren. Aufgrund der Berücksichtigung vieler Konfigurationen in Kombination mit großen Basissätzen ist das Full-CI-Verfahren sehr rechenaufwendig und für größere Systeme nicht realisierbar. Daher bricht man in der Praxis bei Zwei- bis Vierfachsubstitutionen ab. Es gibt zwei verwandte Methoden, die in der Literatur regelmäßig zur Erzielung hochgenauer Ergebnisse eingesetzt werden: Quadratische Konfigurationswechselwirkung QCI: Die nachgestellten Buchstaben S, D, T, oder Q bedeuten den Einschluss von Ein-, Zwei-, Drei- oder Vierfachanregungen. QCISDT bedeutet also eine quadratische Konfigurationswechselwirkung mit Ein-, Zweiund Dreifachanregungen. Gekoppelte Paar-Theorie (CC, coupled cluster): S, D, T, etc. symbolisieren wieder den Grad der berücksichtigten Anregungen. Beispiel CCSD(T): Coupled cluster mit Ein-, Zwei- und Dreifachanregungen. Beide Methoden sind sehr rechenaufwendig und es scheint sich die CC-Methode als das etwas bessere Modell herauszukristallisieren. Beide Methoden skalieren in der Rechenzeit etwa mit der siebenten Potenz der Zahl der besetzten Orbitale. Dies bedeutet in der Praxis eine Obergrenze von Molekülen aus 10 bis 15 Atomen, die mit diesen Methoden untersucht werden können. Sie werden oft als Referenzwerte zur Kalibrierung einfacher Modelle eingesetzt.49
2.7.4 Ab initio-Methoden: Das Basissatz- und das Korrelations-Limit Die Qualität von Basissätzen wird immer besser, je flexibler diese die Verteilung der Elektronendichte in einem Molekül beschreiben. Daher sind polarisierte Basissätze im49
Exakte experimentelle thermodynamische Daten findet man in der Datenbank des NIST (National Institut of Science and Technology) unter http://webbook.nist.gov/chemistry/. Es handelt sich um eine über die Summenformel durchsuchbare Datenbank. Eine weitere Datenbank für experimentelle Referenzwerte und Hilfe bei der Computerchemie ist die Computational Chemistry Comparison and Benchmark DataBase: http://srdata.nist.gov/cccbdb/.
2.7 Quantenchemische Berechnung von Struktur und Eigenschaften von Molekülen
99
mer besser als minimale Basen. Im Grenzfall unendlich flexibler Basissätze erreichen diese dann die methodenabhängig beste berechenbare Energie, das Basissatzlimit. Besser kann ein Molekül mit einer gegebenen Methode bezüglich seines Basissatzes nicht berechnet werden. Ganz analog zum Basissatz-Limit kann man auch für die dynamische Elektronen-Korrelation ein Limit definieren (Korrelationslimit). Beide Größen (Korrelation und Basissatz) tragen im Wechselspiel zur Qualität der Rechnung bei. Korrelierte ab initio-Methoden konvergieren wesentlich langsamer als HF- oder DFTRechnungen. Letztere sind bei einer guten TZ-Basis mit d- und f-Polarisationsfunktionen meist sehr nahe am Basissatz-Limit. MP2 benötigt oft schon eine QZ-Basis, um an das Basissatz-Limit zu gelangen. Elektronisch delikate Teilchen, die hochkorrelierte Methoden benötigen, erfordern meist sehr große und flexible Basissätze und vice versa. Für reale Systeme wendet man in der Praxis meist MP2- und DFT-Methoden (Abschnitt 2.7.5) mit DZ- und TZ-Basen an. CCSD(T)-Rechnungen werden für Modellsysteme als Referenz verwendet; dabei werden Basissätze bis zu QZ, 5Z und manchmal auch größer eingesetzt.
2.7.5 DFT-Methoden HOHENBERG und KOHN zeigten 1964, dass die Energie eines elektronischen Systems als Funktion der Elektronendichte ρ ausgedrückt werden kann. Die exakte mathematische Formulierung der Dichtefunktionaltheorie geht auf Arbeiten von KOHN und SHAM zurück:
Diese Gleichung ist exakt gültig. Problematisch und für eine weite Verbreitung hinderlich ist ihre mathematische Struktur. DFT- und HF-Theorie haben eine gemeinsame Basis, die bei der Betrachtung der Gesamtenergie eines Teilchens im Grundzustand klar wird: E DFT = Ekin,e + Epot,eK + Epot,ee + Ex + Ec o Ekin,e: Epot,eK: Epot,ee: Ex: Ec:
kinetische Energie der Elektronen potentielle Energie der Elektronen im Feld der positiv geladenen Atomrümpfe potentielle COULOMB-Energie der Elektron-Elektron-WW Austauschenergie (FERMI-Korrelation), d.h. Elektronen gleichen Spins dürfen sich nicht am selben Ort aufhalten. Korrelationsenergie der dynamischen Elektronen-Korrelation. Diese ist für die exakte Grundzustandsenergie Eo eines Teilchens als Ec = Eo – E HF o definiert.
Aus dieser Betrachtung erkennt man, dass die HF-Theorie ein Spezialfall der DFT ist, bei dem Ec = 0 ist. Ebenso ist ersichtlich, dass die Elektronenkorrelation in der DFT im Gegensatz zur HF-Theorie in gewissem Umfang enthalten ist. Zur Berechnung von EDFT als Funktion der Elektronendichte stellen Ex und Ec die größten Probleme dar. Man fasst sie auch als Exc zusammen: Exc = Ex + Ec
100
2 Die chemische Bindung
Im Folgenden erwähnen wir zwei Modelle, die den Verlauf Elektronendichte beschreiben: Bei der lokalen Dichteapproximation (LDA) wird ein homogenes Elektronengas gleich bleibender Dichte um die Kerne herum verteilt. Dies hat eine deutliche Unterschätzung von Ex und eine sehr starke Überschätzung von Ec zur Folge. Fehlerkompensation führt dennoch oft zu brauchbaren Ergebnissen. Die gradientenkorrigierte Dichteapproximation (GGA) andererseits berücksichtigt das Abklingen der Elektronendichte von Kernnähe zu Kernferne durch eine stetige Abnahme der Elektronendichte, eben dem Gradienten der Elektronendichte. Die Gradientenkorrektur führt zu einer deutlich verbesserten Beschreibung von Ex und Ec. Hybrid HF-DFT-Funktionale: Eine weitere Verbesserung der Genauigkeit der DFTMethoden sind die sogenannten Hybrid-Funktionale. Wir haben zuvor gesehen, dass man formal E DFT = E HF o o + Ec
und
Exc = Ex + Ec
setzen kann. Daraus würde folgen, dass man einfach die im HF-Formalismus beschrieeinsetzt und Ec aus der DFT bene Austauschenergie Ex zur Berechnung der Energie E DFT o verwendet. Dies ist zwar gegenüber der reinen HF-Methode ein erheblicher Fortschritt in der Qualität der Berechnung, allerdings immer noch schlechter als die GGA-Approximation. Insgesamt hat sich herausgestellt, dass die exakte HF-Austauschenergie Ex nur hinzu gemischt werden sollte. In einem Ansatz von PERDEW, zu etwa 20–25 % dem E GGA x BECKE und ERNZERSHOF kann dies wie folgt beschrieben werden: GGA) E hybrid = E GGA + 0.25 (E HF xc xc x – Ex
Wie viel E HF o und nach welchem Schema es beigemischt wird, wurde empirisch an Trainings-Molekülsätzen optimiert.50 Gegenwärtig werden überwiegend GGA- und HF-DFTMethoden eingesetzt. Eine Übersicht findet sich in Tabelle 2.13. Tab. 2.13 Übersicht über gängige DFT-Methoden. GGA-Funktionale
Hybrid-Funktionale
B–P86 (oft auch B88P86 genannt)
B3–LYP
B–LYP
B3–PW91
PBE
PBE-0 (oft auch PBE1-PBE genannt)
Mit diesen sechs Methoden sind viele der Literaturstellen, in denen DFT-Rechnungen beschrieben werden, erfasst. Der Strich zwischen den beiden Teilen wie in B–P86 symbolisiert die Trennung zwischen Austausch- (B) und Korrelationsmethode (P86). Die Buchstaben/Zahlen-Kombinationen sind Kürzel für Namen und Jahreszahlen, die mit den
50
Trainings-Molekülsätze sind der G2- und der G3-Satz von Molekülen (J. A. Pople et al., J. Chem. Phys. 1998, 109, 7764). Von allen aufgeführten Teilchen sind die Atomisierungsenergien, Protonenaffinitäten, Ionisierungsenergien, Elektronenaffinitäten, Strukturen und Schwingungsfrequenzen aus experimentellen Messungen hochgenau bekannt.
2.7 Quantenchemische Berechnung von Struktur und Eigenschaften von Molekülen
101
entsprechenden Methoden verbunden sind.51 BP86 ist immer noch die am weitesten verbreitete GGA-Methode. Insgesamt gilt folgende Abstufung in der Qualität der DFTRechnungen: LDA << GGA < HF–DFT DFT-Rechnungen sind nur wenig aufwendiger als HF-Rechnungen und skalieren bei den neuen Programmpaketen auch in etwa linear mit der Zahl der besetzten Orbitale, so dass Teilchen bis zu einer Größe von etwa 1000 Atomen berechnet werden können. Demgegenüber ist der Rechenaufwand für die Hybrid-Methoden HF-DFT deutlich höher und die maximal zugängliche Teilchengröße beträgt etwa 200 Atome.
2.7.6 Ablauf einer quantenchemischen Geometrieoptimierung Jede quantenchemische Rechnung beginnt mit der Definition einer dreidimensionalen Start-Geometrie des zu untersuchenden Teilchens. Danach wird festgelegt, wie viele Elektronen zu diesem Teilchen gehören und welcher Basissatz (Wellenfunktion) eingesetzt werden soll. Im LCAO-Ansatz müssen wir dann jedem erzeugten delokalisierten MO eine Start-Orbitalenergie zuordnen, d.h. einen Eigenwert der Energie. Diese können entweder vernünftig geraten werden oder durch eine kurze semiempirische Rechnung wie die Extended-HÜCKEL-Methode als Startwert näherungsweise berechnet werden. In der anschließenden SCF-Rechnung, werden nun im Rahmen der gewählten Methode die Koeffizienten der AOs variiert, bis die Gesamtenergie einem Minimum entgegen strebt (Abbruchkriterium). Die Wellenfunktion ist nun selbst konsistent und entspricht der elektronischen Struktur des Teilchens im Bild der Methode mit der gegebenen Startgeometrie. Dieser Schritt wird eine Einzelpunkt- oder single-point-Rechnung genannt. Im nächsten Schritt wird der Energiegradient bei Variation der Ortskoordinaten der Kerne ermittelt, also dE/dxdydz. Sofern der Gradient kleiner als ein vorgegebenes Limit ist (z.B. 0.000001 H Å–1; 1 H = 1 HARTREE = 2625.51 kJ mol–1), wird die Optimierung abgebrochen und man erhält einen stationären Punkt auf der Hyperfläche der potentiellen Energie eines Teilchens. Ist der Gradient zu groß, wird die Startstruktur variiert und der SCF-Prozess beginnt von vorne, bis der Energiegradient kleiner als das Abbruchkriterium ist. Im Anschluss wird an dem stationären Punkt eine Frequenzrechnung durchgeführt. Ist die optimierte Struktur ein wahres Minimum, sind die Eigenwerte aller Normalschwingungen real. Man kann sich das folgendermaßen verdeutlichen: Die Hyperfläche der potentiellen Energie eines Teilchens (PES, potential energy surface) hat genau so viele Dimensionen oder Freiheitsgrade F, wie dieses Teilchen Normalschwingungen aufweist: F = 3n–6 F = 3n–5 51
(nicht lineare Moleküle) (lineare Moleküle)
B88–P86: BECKE’s GGA-Austausch-Funktional von 1988 (A. D. Becke, Phys. Rev. A 1988, 38, 3098) zusammen mit PERDEW’s Korrelationsfunktional von 1986 (J. P. Perdew, Phys. Rev. B 1986, 33, 8822). B3–LYP: BECKE’s 3-Parameter Austausch-Funktional (A. D. Becke, J. Chem. Phys. 1993, 98, 5648) mit dem Korrelationsfunktional von LEE, PARR und YANG (C. Lee, W. Yang, and R. G. Parr, Phys. Rev. B 1988, 37, 785).
102
2 Die chemische Bindung
Dabei ist n die Anzahl der Atome. Wird eine der berechneten Frequenzen bzw. Normalschwingungen imaginär, bedeutet dies, dass bei einer Auslenkung der Atome des Moleküls in Richtung dieser Schwingung die potentielle Energie des Teilchens abnimmt. Dies kann bei einem wahren Minimum natürlich nicht eintreten. In einem wahren Minimum lenken die Normalschwingungen die Ortskoordinaten der Atome so aus, dass die potentielle Energie des Teilchens immer zunimmt.
2.7.7 Qualität von Geometrieoptimierungen am Beispiel von P4 und S4N4 Zur Demonstration der unterschiedlichen Qualität verschiedener Rechenverfahren wurden die Strukturen der beiden clusterartigen Moleküle P4 (Td , Abb. 2.33) und S4N4 (D2d , Abb. 12.10) mit verschiedenen Methoden und sukzessiv flexibler werdenden Basissätzen (DZ bis QZ) berechnet (Tabelle 2.14). Mit der QZ-Basis ist man bereits dicht am Basissatzlimit. Daher geben die QZ-optimierten Geometrien die Struktur der beiden Moleküle nahe dem Methodenlimit wieder. Besonders das S4N4 mit seinen zwei langen und schwachen SS-Bindungen von etwa 260 pm ist dabei ein Prüfstein für die Güte der Rechnungen.52 Tab. 2.14 Geometrien von P4 (Td) und S4N4 (D2d), berechnet mit den Methoden HF, MP2, CCSD(T), BP86, B3LYP und PBE0 unter Verwendung von DZ-, TZ- und QZ-Basissätzen. Basis
HF
MP2
CCSD(T)
ab initio P4
S4N4
BP86 DFT
B3LYP
PBE0
exp.
HF-DFT
DZ
dPP
218.9
220.9
222.5
223.2
222.3
220.1
TZ
dPP
218.1
220.8
221.8
222.3
221.5
219.4
QZ
dPP
217.2
219.3
220.4
221.2
220.4
218.3
DZ
dSN dSS
160.4 261.0
165.4 319.6
164.8 285.5
165.8 290.5
164.3 287.7
162.8 277.0
TZ
dSN dSS
160.1 245.3
164.2 302.3
164.0 266.8
164.9 276.6
163.4 275.0
162.2 261.2
QZ
dSN dSS
159.7 244.6
162.6 299.0
163.5 276.4
162.1 274.5
161.0 260.6
221.0
162.9 259.7
Aus den Werten in Tabelle 2.14 folgt, dass die Kernabstände der normalen Bindungen (PP und SN) durch HF-Rechnungen etwas unterschätzt werden; dies ist aufgrund der Näherung auch zu erwarten (Betrachtung eines Elektrons im durchschnittlichen Elektronengas aller anderen). Die MP2-optimierten Geometrien korrigieren diesen Fehler bereits recht gut, aber die besten Ergebnisse liefert die aufwendigste Methode CCSD(T). Erst bei Betrachtung der schwachen SS-Bindung fallen große Unterschiede auf: Die HF-Theorie mit einer DZ-Basis sagt den SS-Abstand zufällig korrekt vorher; mit besseren TZ- und 52
W. Scherer et al., Chem. Commun. 2000, 635.
2.7 Quantenchemische Berechnung von Struktur und Eigenschaften von Molekülen
103
QZ-Basissätzen unterschätzt die HF-Methode diese Abstände aber um etwa 15 pm, d.h. die HF-Theorie ist keine gute Methode zur Beschreibung der Bindungen im S4N4. Daher ist die Berücksichtigung der dynamischen Elektronenkorrelation durch die MP2-Methode auch nicht erfolgreich und alle MP2-Kernabstände sind deutlich zu groß. Erst CCSD(T)-Rechnungen mit einer TZ- oder QZ-Basis geben wieder gute, mit dem Experiment übereinstimmende Abstände. Hingegen sind die Abweichungen der DFT-Geometrien vom Experiment nicht so drastisch. Beim Übergang von der TZ- zur QZ-Basis findet kaum noch eine Veränderung statt. Dies zeigt, dass die DFT- oder HF-DFT-Methoden bereits mit einer TZ-Basis in der Nähe des Basissatzlimits sind. Besonders die PBE0-Methode meistert alle Klippen der Rechnung bravourös und liefert für S4N4 eine Geometrie, die sich nur noch sehr unwesentlich vom Experiment unterscheidet.
2.7.8 Berechnung physikalischer Messgrößen Für den präparativ arbeitenden Chemiker sind besonders die einer Reaktion zugrunde liegende Thermodynamik sowie die Vorhersage von experimentell zugänglichen Messgrößen zur Syntheseplanung hilfreich. Prinzipiell approximiert jede quantenchemische Rechnung die Teilchen in der Gasphase im Vakuum bei einer Temperatur von 0 K. Da aber bei der Strukturoptimierung im letzten Schritt das Schwingungsspektrum des betrachteten Moleküls berechnet wird, können unter Zuhilfenahme der statistischen Thermodynamik und der ebenfalls berechneten Nullpunktsenergie (Kap. 4.2.1) die Enthalpie H und die GIBBS-Energie G für Standardund Nicht-Standard-Bedingungen berechnet werden. Alle heute verwendeten Programmpakete enthalten diese Option. Seit einigen Jahren können durch die Verwendung von Solvensmodellen auch Lösungsmitteleffekte berücksichtigt werden (COSMO, PCM, IPCM oder SCIPCM-Modelle).53 Insgesamt kann also inzwischen die einer molekularen Reaktion zugrundeliegende Thermodynamik durch den Einsatz von quantenchemischen Rechnungen in verschiedenen Phasen zumindest nachvollzogen werden und mit etwas Erfahrung kann man sich auch an die Vorhersage von Reaktionen wagen.54 Weiterhin ist die Vorhersage physikalischer Observabler möglich. So lassen sich Schwingungsspektren und IR-Intensitäten, NMR-Spektren und Kopplungskonstanten, EPR-Spektren und Hyperfeinkopplungskonstanten, UV/VIS-Spektren und Oszillatorstärken des Überganges, Polarisierbarkeiten und Dipolmomente mit recht guter Genauigkeit schon aus einfachen DFT- oder MP2-Rechnungen erhalten. Zudem können die an einer Reaktion beteiligten MOs visualisiert werden.
53 54
J. Tomasi, B. Mennucci, R. Cammi, Chem. Rev. 2005, 105, 2999. W. J. Hehre, L. Radom, P. v. R. Schleyer, J. A. Pople, Ab initio Molecular Orbital Theory, Wiley, New York, 1986. F. Jensen, Introduction to Computational Chemistry, Wiley, Chichester, 1999. W. Koch, M. C. Holthausen, A Chemist’s Guide to Density Functional Theory (2nd ed.), WileyVCH, 2001.
104
3 Die VAN DER WAALS-Wechselwirkung
3.1 Der Dipoleffekt
3
105
Die VAN DER WAALS-Wechselwirkung1
Bekanntlich lassen sich alle atomaren und molekularen Gase wie Ar, Xe, HCl oder SiH4 durch Abkühlen auf ausreichend tiefe Temperaturen bei Normaldruck verflüssigen und schließlich zur Kristallisation bringen. Nur beim He erfordert die Kristallisation außer starker Kühlung einen erhöhten Druck, nämlich 2.6 MPa. Das zeigt, dass auch zwischen solchen Atomen und Molekülen, die untereinander keine kovalenten Bindungen mehr eingehen, Anziehungskräfte wirken. Diese Kräfte nennt man VAN DER WAALS-Kräfte;2 sie führen zu relativ schwachen Bindungen mit einer Bindungsenergie von maximal 20 kJ mol–1. Diese Energie manifestiert sich bei den kristallinen Stoffen, d.h. den Atom- und Molekülgittern, als Sublimationsenergie, bei den entsprechenden Flüssigkeiten als Verdampfungsenergie. Grundsätzlich sind VAN DER WAALS-Kräfte zwischen allen Atomen, Ionen und Molekülen wirksam. Sie tragen daher auch zur Bindungsenergie kovalenter Bindungen und zur Gitterenergie von Ionenkristallen bei. Die VAN DER WAALS-Kräfte lassen sich in drei Komponenten zerlegen: den stets vorhandenen Dispersionseffekt und die bei Atomen und Molekülen mit einem permanenten Dipolmoment zusätzlich auftretenden Dipol- und Induktionseffekte. Am leichtesten verständlich ist der Dipoleffekt.
3.1
Der Dipoleffekt
Ein Atom, Molekül oder Molekülteil hat ein elektrisches Dipolmoment µ, wenn die Schwerpunkte der positiven und der negativen Ladungen nicht zusammenfallen, sondern durch einen Abstand l getrennt sind. Das Dipolmoment ist dann definiert als µ = e · l (e: Elementarladung). Das Dipolmoment ist ein Vektor, dessen Betrag direkt gemessen werden kann, beispielsweise mittels Mikrowellenspektroskopie gasförmiger Moleküle oder durch Bestimmung der Orientierungspolarisation der gelösten Substanz in einem elektrischen Kondensatorfeld. Die Maßeinheit des Dipolmomentes ist das Debye (D).3 Zwei Ladungen e+ und e– im Abstand von 100 pm erzeugen ein Dipolmoment von 4.8 D. Die SI-Einheit des elektrischen Dipolmomentes ist allerdings 1 C m (Coulomb·Meter), wobei 1 D = 3.336·10–30 C m. Moleküle haben dann und nur dann ein Dipolmoment, wenn sie zu einer der Punktgruppen Cn oder Cnv gehören (n = 1, 2, 3 …; C1v = Cs). Bei einer anderen Symmetrie fal1
2
3
G. C.Maitland, M. Rigby, E. B. Smith, W. A. Wakeham, Intermolecular Forces – Their Origin and Determination, Oxford, 1987. Eine ausführliche und immer noch sehr lesenswerte Diskussion findet man bei H. A. Stuart, Molekülstruktur, 3. Aufl., Springer, Berlin, 1967. Nach JOHANNES VAN DER WAALS, der 1873 die Zustandsgleichung realer Gase publizierte, die das Volumen und die Wechselwirkung von Molekülen in der Gasphase berücksichtigt (Nobelpreis für Physik des Jahres 1910). Benannt nach dem Physiker PETER DEBYE (1884–1966; Nobelpreis für Chemie des Jahres 1936).
106
3 Die VAN DER WAALS-Wechselwirkung
len die Schwerpunkte der positiven und negativen Ladungen immer zusammen. Beispiele sind in Tabelle 3.1 aufgeführt. Tab. 3.1 Dipolmomente µ wichtiger Moleküle (in Debye) µ
µ
µ
µ
CO
0.11
H2O
1.83
O3
0.53
CH3F
1.86
NO
0.14
H2S
0.94
H2O2
1.57
CH3CN
3.92
HF
1.83
NH3
1.47
SO2
1.63
Pyridin
2.22
HCl
1.11
PH3
0.57
SCl2
0.36
THF
1.63
HBr
0.83
N2O
0.16
H2SO4
2.73
HCN
2.98
HI
0.45
NF3
0.23
OPF3
1.87
CH3OH
1.70
IF
1.95
NCl3
0.39
HN3
1.70
+ _ _ +
_
+ _
+
+ _
_
+ _
+
Da zur Beschreibung der Polarität eines Moleküls oft die Partialladungen δe verwendet werden (siehe Kap. 4.6), kann man das elektrische Dipolmoment eines zweiatomigen Moleküls auch wie folgt definieren: µ = δe · d (d = Gleichgewichtskernabstand). Bei nicht zu hohen Temperaturen orientieren sich Dipolmoleküle aufgrund ihrer Wechselwirkung in bestimmter Weise zueinander und gehen dadurch in einen energieärmeren Zustand über, z.B. folgendermaßen:
+ _
Bei den ersten beiden Anordnungen ist die Bindungsenergie proportional zu µ2/r3, sofern der Abstand r der Dipolschwerpunkte groß ist sowohl gegenüber l als auch gegenüber dem Produkt k·T (starre Orientierung: k: BOLTZMANN-Konstante, T: absolute Temperatur). Bei höheren Temperaturen wird die Orientierung der Dipole durch die Wärmebewegung der Moleküle gestört und teilweise aufgehoben. Die Bindungsenergie ist dann temperaturabhängig und proportional zu µ4/kTr6. Der Dipoleffekt ist offensichtlich groß bei kleinen Molekülen mit großem Dipolmoment. Daher weisen diese meistens höhere Siedepunkte auf als solche mit kleinerem Dipolmoment aber vergleichbarer Molekülmasse. Beispielweise siedet SF4 (Symmetrie C2v) bei –40°C, SF6 (Punktgruppe Oh) aber bei –64°C. Selbstverständlich können sich Dipolmoleküle bei entsprechender Orientierung auch gegenseitig abstoßen. Diese energiereicheren Anordnungen sind jedoch weniger wahrscheinlich als diejenigen, bei denen eine Anziehung resultiert. Daher wird beispielsweise die Assoziation in Flüssigkeiten auch durch eine starke Wärmebewegung nicht völlig aufgehoben, es sei denn, die Temperatur ist sehr hoch. Die Reichweite des Dipoleffektes beträgt etwa 500 pm. Unter Reichweite ist dabei die Entfernung zu verstehen, bei der die Wechselwirkungsenergie U auf den Betrag abgenommen hat, den das Produkt k·T bei 25°C hat (2.5 kJ mol–1); k·T ist die Energie, die in einem Schwingungsfreiheitsgrad gespeichert wird. Ist das Produkt k·T größer als U, dann führt bereits eine Schwingung zur Dissoziation der „Bindung“. Die so definierte Reichweite beträgt bei der Wechselwirkung von Kationen mit Anionen (im Vakuum) etwa 50000 pm und bei einem Paar Ion/
107
3.2 Der Induktionseffekt
Dipol etwa 1400 pm. Sie ist also für den Dipoleffekt mit 500 pm entsprechend der hohen Potenz von r im Nenner des Abstandsgesetzes sehr klein. Moleküle ohne äußeres Dipolmoment können ein Quadrupolmoment besitzen, d.h. zwei interne Dipole, die sich gegenseitig kompensieren. Ein Beispiel dafür ist das lineare Molekül XeF2, das zwei stark polare XeF-Bindungen aufweist, deren Dipole aber entgegengesetzt gerichtet sind. Ein Quadrupolmoment ist ebenfalls für intermolekulare Anziehung verantwortlich und führt beispielsweise dazu, dass XeF2 einen höheren Schmelzpunkt hat als XeF4 und XeF6 (Tab. 14.1 im Kapitel Edelgase). In Abbildung 3.1 ist die Kristallstruktur von XeF2 gezeigt. Während die partiell positiv geladenen Xenonatome mit 431.5 pm weiter voneinander entfernt sind als im festen Xenon, kommt es zu einer Annäherung von Xenon- und Fluoratomen benachbarter Moleküle: Der Xe····F-Abstand von 341 pm ist kleiner als die Summe der betreffenden VAN DER WAALS-Radien (365 pm; siehe Tab. 3.3). Da die Wechselwirkung von Quadrupolen aber mit einer hohen Potenz des Abstandes kleiner wird, spielt sie nur bei unmittelbarer „Berührung“ der Moleküle eine Rolle. 431.5 pm
Xe 341
pm
F
699 pm
302 pm 309 pm 200 pm
Abb. 3.1 Anordnung der Moleküle in der Kristallstruktur von Xenondifluorid (tetragonale Symmetrie). Das Xenonatom im Zentrum ist an zwei Fluoratome im Abstand von 200 pm kovalent gebunden und von weiteren acht ungebundenen Fluoratomen der Nachbarmoleküle im Abstand von 341 pm umgeben.
3.2
Der Induktionseffekt
Ein Molekül mit einem permanenten Dipolmoment µ induziert in einem benachbarten Atom oder Molekül ebenfalls ein Dipolmoment (µind), das immer so gerichtet ist, dass zwischen beiden Dipolen eine Anziehung resultiert. Dabei spielt es keine Rolle, ob das benachbarte Molekül bereits ein Dipolmoment aufweist oder nicht. Der Induktionseffekt
108
3 Die VAN DER WAALS-Wechselwirkung
überlagert sich also dem Dipoleffekt. Er ist aber im Gegensatz zu diesem temperaturunabhängig. Meistens ist der Induktionseffekt viel kleiner als der Dipol- und der Dispersionseffekt. Man kann ihn daher im Allgemeinen vernachlässigen.
3.3
Der Dispersionseffekt
Bei Molekülen mit einem nicht zu großen Dipolmoment (<1 D) ist der Beitrag des Dispersionseffektes zu den VAN DER WAALS-Kräften größer als der der beiden anderen Effekte zusammen. Bei den Edelgasen, die bei tiefen Temperaturen in kubisch-dichtesten Kugelpackungen mit der Koordinationszahl 12 kristallisieren, sowie bei Molekülen ohne Dipolmoment (Cl2, CH4, SF6) ist der Dispersionseffekt allein für die Gitterenergie des Atom- bzw. Molekülgitters und damit für die Verdampfungs- bzw. Sublimationsenergie verantwortlich. Edelgasatome sind wie alle Atome kugelsymmetrisch. Dies ist aber nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage, d.h. ein Edelgasatom ist nur im zeitlichen Mittel kugelsymmetrisch. Wird ein Atom zu einem Zeitpunkt betrachtet, ist sein atomares Dipolmoment im Allgemeinen nicht Null. Die beiden Elektronen eines Heliumatoms zum Beispiel befinden sich zwar mit größter Wahrscheinlichkeit auf verschiedenen Seiten des Atomkerns, sie haben aber von diesem in der Regel etwas verschiedene Abstände und bilden mit dem Kern einen Winkel von weniger als 180°. Damit ist ein Dipolmoment vorhanden, da jetzt die Schwerpunkte der negativen und der positiven Ladungen nicht genau zusammenfallen. Das so definierte atomare Dipolmoment induziert nun in einem Nachbaratom ein gleichgerichtetes Dipolmoment, wodurch sich eine Anziehung zwischen den beiden Atomen ergibt: _
_
2+
2+ _
¦at
_
¦ind
Nach LONDON ist die resultierende Anziehungsenergie U bei zwei gleichartigen Atomen gegeben durch: U=¾
1 3 á2 E 2 4 (4®o) r 6 i
Ei: Ionisierungsenergie (eV) á: Polarisierbarkeit r :Kernabstand
Voraussetzung für die Gültigkeit dieser Beziehung ist, dass r groß gegenüber dem Atomdurchmesser ist. Der Dispersionseffekt, dessen Reichweite etwa 400 pm beträgt, ist also bei Atomen und Molekülen mit hoher Polarisierbarkeit besonders groß. Solche Atome („weiche“ Atome) sind zum Beispiel die schweren Nichtmetallatome Xe, I, Br und Se. „Harte“ Atome mit geringer Polarisierbarkeit sind dagegen C, N, O, F und Ne. So
109
3.3 Der Dispersionseffekt
wird verständlich, warum F2 und Cl2 unter Standardbedingungen Gase sind, während Br2 eine Flüssigkeit und I2 ein Feststoff ist. Die Härte eines Atoms ist definiert als die halbe Differenz zwischen Ionisierungsenergie und Elektronenaffinität: η = 12 (Ei – Ea). Werden zwei Edelgasatome einander genähert, überwiegen aufgrund des Dispersionseffektes zunächst die Anziehungskräfte und es ergibt sich ein energieärmerer Zustand. Von einem bestimmten Abstand an nimmt jedoch die Energie wieder zu, da bei zu starker Annäherung starke Abstoßungskräfte sowohl zwischen den beiden Atomkernen als auch zwischen den Valenzelektronen der beiden Atome wirksam werden. Die Wechselwirkungsenergie E muss folglich durch einen Anziehungs- und einen Abstoßungsterm beschrieben werden: a b + 12 r6 r Die Faktoren a und b sind für das betreffende Edelgas charakteristische Konstanten, die experimentell zugängliche Größen wie α und Ei enthalten. Der der obigen Gleichung entsprechende Energieverlauf ist für die Edelgase in Abbildung 3.2 dargestellt. Man erkennt, dass die Bindungsenergie und der Gleichgewichtskernabstand mit dem Atomradius zunehmen. E=¾
E (kJ mol¾1)
¾0.5
~ ~
0
300
He Ne
400
500
600
700
r (pm) Ar
Kr
Xe
¾1.0
¾1.5
¾2.0
Abb. 3.2 Energie von jeweils zwei gleichartigen Edelgasatomen aufgrund der Dispersionswechselwirkung als Funktion ihres Kernabstandes r. Bei sehr großen Werten von r ist die Energie definitionsgemäß Null. Der Kernabstand im Minimum ist der Gleichgewichtsabstand d.
110
3 Die VAN DER WAALS-Wechselwirkung
Dementsprechend nehmen nicht nur die Schmelz- und Siedepunkte, sondern auch die Schmelz- und Verdampfungsenthalpien vom He zum Xe hin zu (Tab.3.2). Tab. 3.2 Schmelz- und Siedepunkte sowie Schmelz- und Verdampfungsenthalpien der Edelgase.a Schmelzpunkt (K) Helium
Siedepunkt (K)
∆ H 0Schmelz
(kJ
mol–1)
0 ∆ H Verd.
(kJ mol–1)
4.2
0.021
0.082
Neon
24
27
0.324
1.736
Argon
84
87
1.21
6.53
Krypton
117
121
1.64
9.1
Xenon
161
166
3.10
12.7
Radon
202
211
–
18.1
a
He erstarrt bei 0.95K unter einem Überdruck von 2.6 MPa
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Dispersionseffekt bei unmittelbarer Berührung der Moleküle dominiert, es sei denn, dass man es mit kleinen und harten Molekülen mit großem Dipolmoment zu tun hat, bei denen der Dipoleffekt überwiegt (Beispiele: H2O, HCN).
3.4
VAN DER
WAALS-Radien
Im kristallinen Xenon haben die Atome bei Normaldruck (1.013 bar) einen Abstand, der näherungsweise dem Minimum der in Abbildung 3.2 dargestellten Energiekurve, d.h. dem Gleichgewicht zwischen anziehenden und abstoßenden Kräften entspricht. Der kleinste in der kubisch-dichtesten Kugelpackung messbare Kernabstand wird als VAN DER WAALS-Abstand bezeichnet. Die Hälfte dieses Abstandes heißt (kristallographischer) VAN DER WAALS-Radius des betreffenden Atoms.4 Andererseits hat man von allen Edelgasen (E) in der Gasphase Dimere E2 und Komplexe EX (X = Halogen) beobachtet und deren Kernabstände bestimmt (siehe unten, Abschnitt 3.5). Die daraus ermittelten (idealen) VAN DER WAALS-Radien der Halogene und der Edelgase sind in Tabelle 3.3 angegeben. Entsprechend kann man bei Molekülkristallen die kleinsten Abstände benachbarter, aber nicht kovalent gebundener Atome verwenden, um für die entsprechenden Atome VAN DER WAALS-Radien zu ermitteln. So erhält man beispielsweise aus der Struktur des besonders effizient gepackten rhomboedrischen Hexaschwefels (S6) für das S-Atom den Wert 175 pm. Man darf aber die Genauigkeit der in Tabelle 3.3 aufgeführten Radien nicht überschätzen. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass Atome keine starren Kugeln mit einer festen Begrenzung sind, sondern einen langsamen Abfall der Elektronendichte aufweisen. Zwei Atome können daher verschiedene Abstände zueinander einnehmen und sich 4
Auch die anderen Edelgase kristallisieren in kubisch-dichtesten Kugelpackungen. Die auf eine Temperatur von 0 K extrapolierten kleinsten interatomaren Abstände betragen beim Ne 315.5, beim Ar 375.5, beim Kr 399.1 und beim Xe 433.6 pm. Mit steigender Temperatur werden diese Abstände größer; J. Donohue, The Structures of the Elements, Wiley, New York, 1974.
3.4
VAN DER
111
WAALS-Radien
dennoch jedesmal „berühren“. Gebundene Atome sind auch nicht mehr in jedem Falle kugelförmig. Hinzu kommt, dass der VAN DER WAALS-Radius auch von der Oxidationsstufe, von der Partialladung und von der Art der Bindungen an dem betreffenden Atom abhängt. Weiterhin ist zu bedenken, dass die Gitterkonstanten von Kristallen wegen der Molekülschwingungen von der Temperatur abhängen und dass Kristallstrukturen bei verschiedenen Temperaturen gemessen werden.5 Tab. 3.3 VAN DER WAALS-Radien der Nichtmetallatome (in pm) H: 110–130 C: 170 Si: 200
N: 160 P: 190 As: 200 Sb: 220
O: 150 S: 165 Se: 200 Te: 220
F: 152 Cl: 190 Br: 197 I: 216
He: 179 Ne: 155 Ar: 187 Kr: 200 Xe: 217
Eine praktische Anwendung finden die VAN DER WAALS-Radien bei der Konstruktion von Molekülmodellen aus so genannten Kalotten. Bei diesen Modellen entspricht der Radius der Kalotten dem VAN DER WAALS-Radius der Atome (r1 und r2 in Abbildung 3.3), und der Kernabstand entspricht der Summe der Kovalenzradien (r3 und r4), die als additiv angesehen werden. Mit diesen Modellen erhält man ein einigermaßen realistisches Bild von der Raumerfüllung eines Moleküls.
r3
r1 A
r2
r4 B
Abb. 3.3 Kalottenmodell eines zweiatomigen heteronuklearen Moleküls AB, um die Raumerfüllung der Atome anschaulich zu machen (r1, r2: VAN DER WAALS-Radien; r3, r4: Kovalenzradien).
Liegen in einem Molekül oder Kristall anscheinend nicht aneinander gebundene Atome in einem Abstand vor, der wesentlich kleiner als die Summe der VAN DER WAALS-Radien ist, so kann dies manchmal als ein Anzeichen einer (schwachen) kovalenten Bindung gedeutet werden. Diese Deutung setzt allerdings voraus, dass an beiden Atomen geeignete Orbitale vorhanden sind, die sich zu einer σ- oder π-Bindung überlappen können. Beispiele hierfür sind die Moleküle S4N4 und [S8]2+, die schwache transannulare Bindungen enthalten (Kap. 12). Andererseits gibt es aber auch sehr viele Moleküle, in denen benachbarte Atome durch kovalente Bindungen zu dritten Atomen in einen Abstand gezwungen werden, der bis zu 80 pm unter dem VAN DER WAALS-Abstand liegen kann, und zwar ohne dass eine direkte Bindung zwischen diesen Atomen vorhanden ist. Beispielsweise beträgt der Abstand der Cl5
Zur Problematik von VAN DER WAALS-Radien und entsprechenden Zahlenwerten siehe S. C. Nyburg, C. H. Faerman, Acta Cryst. 1985, 341, 274 und S. S. Batsanov, J. Chem. Soc., Dalton Trans. 1998, 1541.
112
3 Die VAN DER WAALS-Wechselwirkung
Atome im Cl2O nur 280 pm und im SCl2 nur 310 pm (VAN DER WAALS-Abstand nach Tab. 3.3: 350 pm). Die F-Atome im OF2 und im SF6 sind nur 220–230 pm voneinander entfernt, obwohl der VAN DER WAALS-Abstand 290 pm beträgt. Die O-Atome im SO2, SO3, NO2, [NO2]–, [ClO2]–, [SO4]2– und [ClO4]– befinden sich in Abständen voneinander, die um 40–90 pm unter dem VAN DER WAALS-Abstand zweier Sauerstoffatome liegen. Ähnliches gilt für die IodAtome im I2O5-Molekül. Diese Befunde zeigen, dass sich nicht aneinander gebundene Atome gegenseitig etwas durchdringen können. Dadurch entstehen Abstoßungskräfte, die den aus den Bindungen resultierenden Anziehungskräften im Molekül die Waage halten. Unter sehr hohem Druck werden die festen Edelgase wie alle anderen Molekülkristalle auch zu einer wesentlich höheren Dichte gezwungen, d.h. die (intermolekularen) Kernabstände werden wesentlich kleiner, wodurch sich die physikalischen Eigenschaften drastisch ändern können. Beispielsweise geht Xenon bei Drucken von über 150 GPa in einen metallischen Zustand über. Unter diesen Bedingungen überlappen sich die Valenzorbitale so stark, dass es zu einer elektronischen Bandstruktur wie bei Metallen kommt.
3.5
VAN DER
WAALS-Moleküle
Obwohl zwischenmolekulare Wechselwirkungen in erster Linie in kondensierten Phasen wirksam sind, gibt es derartige Effekte natürlich auch bei Gasen. Mit ausgefeilten spektroskopischen Methoden kann man schwach gebundene Dimere zwischen Edelgasatomen oder Molekülen auch in der Gasphase nachweisen. Solche Dimere werden als VAN DER WAALS-Moleküle oder -Komplexe bezeichnet.6 Ihre Eigenschaften können heutzutage auch mit theoretischen Methoden genau ermittelt werden.7 Bei steigendem Druck oder fallender Temperatur werden daneben auch größere Cluster beobachtet, die als Zwischenglieder zwischen dem monomeren Molekül einerseits und der kondensierten Phase (Flüssigkeit oder Kristall) andererseits aufzufassen sind. Beispielsweise enthält gasförmiges Argon bei 120 K und einem Druck von 445 hPa etwa 0.5 % Dimere (Ar2). Lässt man Argon unter hohem Druck aus einer Düse in ein Vakuum ausströmen, kommt es zu adiabatischer Abkühlung, wodurch Cluster aus bis zu 20 Atomen entstehen, die in einem derartigen Molekularstrahl massenspektrometrisch nachgewiesen wurden. Die Bindungsenergie von Ar2 beträgt im Schwingungsgrundzustand 1.2 kJ mol–1; der Kernabstand hat im Energieminimum den Wert 375.7 pm.8 Bei Raumtemperatur befinden sich jedoch viele Dimere bereits in schwingungsangeregten Zuständen. Noch viel geringer ist die Bindungsenergie von (H2)2, da die Polarisierbarkeit von H2 wesentlich kleiner ist als die von Argonatomen. In Gemischen von Ar mit HCl bzw. H2O wurden die Spezies Ar·HCl bzw. Ar·H2O spektroskopisch identifiziert. Gasphasenkomplexe zwischen reaktiven Molekülen wie F2 + H2O können als Vorstufen für die Reaktion zwischen den Komponenten angesehen werden und ihre Geometrie kann den Reaktionsverlauf beeinflussen.9 6 7 8 9
J. S. Winn, Acc. Chem. Res. 1981, 14, 341; P. Schuster, Angew. Chem. 1981, 93, 532. Themenhefte Chem. Rev. 1994, 94 und 2000, 100. G. Chalasinski, M. M. Szczesniak, Chem. Rev. 1994, 94, 1723 und 2000, 100, 4227. Die Kernabstände von He2 und Ne2 betragen 297.0 bzw. 309.9 pm. H. Bürger, Angew. Chem. 1997, 109, 743.
4.1 Allgemeines
4
Bindungseigenschaften
4.1
Allgemeines
113
In den vorstehenden Kapiteln wurden die Theorien der verschiedenen chemischen Bindungen dargelegt. Bisher ist aber nicht die Frage gestellt worden, wie eigentlich eine kovalente Bindung zu definieren und innerhalb eines Moleküls abzugrenzen ist. Die IUPAC-Definition1 lautet: There is a chemical bond between two atoms or groups of atoms in the case that the forces acting between them are such as to lead to the formation of an aggregation with sufficient stability to make it convenient for the chemists to consider it as an independent molecular species. In diesem Zusammenhang stellen sich aber weitere Fragen: (a) Haben alle kovalenten Bindungen gleiche oder ähnliche Eigenschaften? (b) Welche messbaren Unterschiede gibt es zwischen verschiedenen σ-Bindungen und zwischen σ- und π-Bindungen? (c) Wie kann man die unterschiedliche Reaktivität kovalenter Bindungen deuten und verstehen? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es zweckmäßig, möglichst viele experimentelle Messungen an kovalenten Bindungen vorzunehmen, die Messwerte zu vergleichen und mit Hilfe der theoretischen Bindungsmodelle zu interpretieren. Es ergibt sich dabei, dass eine kovalente Bindung zwar ein Teil eines Moleküls ist, dass die Abgrenzung dieses Teils gegen den Rest des Moleküls aber nahezu unmöglich ist, da das gesamte Molekül die Eigenschaften einer bestimmten Bindung beeinflusst. Bei einer genaueren Betrachtung zeigt sich nämlich, dass die Elektronenverteilung in einer Bindung von der Konfiguration aller übrigen Elektronen abhängt, zumindest aber von denen, die der Bindung unmittelbar benachbart sind. Dies ist eine Folge der Delokalisierung der Valenzelektronen über ausgedehnte Molekülorbitale. Experimentell direkt oder indirekt zugängliche Bindungseigenschaften sind die Bindungsenthalpie (B.E.) und die Dissoziationsenthalpie (D), der Gleichgewichtskernabstand (d) und die Valenzkraftkonstante (fr). Diese Größen und Begriffe sollen im Folgenden erläutert werden. In diesem Zusammenhang interessieren auch noch die Begriffe Bindungsgrad und Bindungsordnung. Für qualitative Betrachtungen sollen diese oft verwendeten Begriffe hier vorläufig so verstanden werden, dass bei einer Einfachbindung nur σ-Bindungen vorliegen, während bei einer Doppelbindung zusätzlich eine ungefähr gleich starke π-Bindung vorhanden ist. Bei einer Dreifachbindung gibt es zusätzlich zum σ-System zwei π-Bindungssysteme vergleichbarer Stärke in zwei zueinander senkrechten Ebenen. Klassische Beispiele dafür sind Ethan H3C–CH3, Ethen H2C=CH2 und Ethin HC≡CH. Oft sind Bindungen nach ihren Eigenschaften aber als von mittlerer Stärke einzustufen, wofür sowohl ein geeignetes Symbol als auch ein gängiger Begriff
1
IUPAC: International Union of Pure and Applied Chemistry
114
4 Bindungseigenschaften
fehlen.2 Ein Beispiel ist das Thionylchlorid Cl2SO, dessen SO-Bindung weder „einfach“ noch „doppelt“, sondern von mittlerer Stärke ist („Mehrfachbindung“). In solchen Fällen kann man sich mit folgender Schreibweise behelfen: Cl
Cl
S O S O Cl Cl Der Doppelpfeil ↔ ist aus der Valenzbindungs(VB)-Theorie entlehnt, in der eine Resonanz oder Mesomerie zwischen Strukturen verschiedener Elektronenverteilung postuliert wird, um die wirklichen Verhältnisse zu beschreiben.
4.2
Bindungsenthalpie und Dissoziationsenthalpie
4.2.1 Zweiatomige Moleküle Zunächst sei die Bildung eines zweiatomigen Moleküls AB aus den gasförmigen Atomen A und B betrachtet: A(g.) + B(g.)
AB(g.)
Bei der Annäherung von A an B ändert sich die Energie des Systems entsprechend der in Abbildung 4.1 dargestellten Kurve. Diese Funktion ergibt sich aus der Überlagerung von Anziehungs- und Abstoßungskräften, wobei die Anziehung bei mittleren Kernabständen und die Abstoßung bei kleinen Abständen überwiegt. Die Anziehungskräfte folgen aus der elektrostatischen Anziehung aller ungleichnamigen Ladungen und der quantenmechanischen Wechselwirkung aufgrund einer positiven Überlappung teilweise besetzter Orbitale, während die abstoßenden Kräfte auf der Abstoßung gleichnamiger Ladungen, dem PAULI-Verbot, der Besetzung antibindender Molekülorbitale mit Elektronen und dem Anstieg der kinetischen Energie der Elektronen bei der Bindungsbildung beruhen. Insbesondere der letztgenannte Effekt ist für den Wiederanstieg der Energie bei kleinen Kernabständen verantwortlich, während die Kernabstoßung erst bei sehr kleinen Werten von R dominiert. Die oft als Potentialkurve bezeichnete Funktion in Abbildung 4.1 gibt also die Gesamtenergie des Systems (A,B) wieder und nicht nur die potentielle Energie. Bei sehr großem Kernabstand ist die Energie definitionsgemäß Null. Im Gleichgewichtszustand, d.h. im Energieminimum, hat das Molekül den Kernabstand d. Die dem Energieminimum entsprechende Energie heißt Bindungsenergie (B.E.), wofür in der Spektroskopie das Symbol De verwendet wird (der Index e steht für equilibrium).3 Da bei entsprechenden Experimenten aber der Druck (und nicht das Volumen) konstant gehalten wird, handelt es sich bei B.E. und De in der Praxis um Enthalpien. Wir werden daher von 2
3
Obwohl die Chemiker wahrscheinlich „Weltmeister“ im Erfinden einfacher Symbole für schwierige Sachverhalte sind, gibt es für die unterschiedlich starken und unterschiedlich polaren kovalenten Bindungen in Molekülen keine einfachen Notationen. In der Spektroskopie wird für den Kernabstand im Energieminimum das Symbol Re oder re verwendet.
115
4.2 Bindungsenthalpie und Dissoziationsenthalpie
nun an den Begriff Bindungsenergie durch Bindungsenthalpie ersetzen, obwohl in der Literatur in diesem Zusammenhang häufig von Energie gesprochen wird. E
A
B
A + B
d 0
R
Do
B.E. (De )
Abb. 4.1 Energieverlauf für die Annäherung zweier Atome A und B unter Bildung einer kovalenten Bindung im Molekül AB (R: Kernabstand d: Gleichgewichtskernabstand, fr: Valenzkraftkonstante = Krümmung im Energieminimum, Do: Dissoziationsenthalpie bei 0 K, B.E.: Bindungsenthalpie).
Bei der Vereinigung von A und B zu AB wird nicht die gesamte Bindungsenthalpie frei, sondern ein etwas geringerer Betrag. Der abgegebene Enthalpiebetrag heißt Dissoziationsenthalpie und erhält das Symbol D mit dem Index der absoluten Temperatur, bei 0 K also D0. Die Differenz B.E.–D0 heißt Nullpunktsenergie, weil diese Energie auch bei 0 K, wenn alle Translations- und Rotationsfreiheitsgrade eingefroren sind, im Molekül als Schwingungsenergie4 verbleibt. Diese Nullpunktsenergie ist eine Folge von HEISENBERG’s Unschärferelation. Die Energie der Nullpunktsschwingung beträgt für ein einzelnes Molekül hν, wobei h PLANCK’s Konstante und ν die Frequenz der Grundschwingung des Moleküls AB ist. Die Schwingungsfrequenz ν kann aus dem Schwingungsspektrum (Infrarot- oder Ramanspektrum) ermittelt werden (Abschnitt 4.4). Im Falle des H2-Moleküls erhält man für 1 mol (NA = AVOGADRO’s Konstante): 1 h 2
NA = 0.5.(6.626.10Õ34).(1.25.1014).(6.023.1023) = 25 kJ molÕ1
Damit ergibt sich die Bindungsenthalpie zu: 1
B.E. = D0 + 2 h NA = 432 + 25 = 457 kJ molÕ1 (bei 0 K)
Der Betrag von hν ist bei allen anderen zweiatomigen Molekülen kleiner als beim H2, da die Frequenz ν mit steigender Atommasse rasch kleiner wird (H2: ν = 1.25·1014, O2: ν = 4
Bei der Anregung von Schwingungen ändert sich das Volumen nicht, so dass Energie und Enthalpie identisch sind. Daher werden hier die traditionellen Begriffe Nullpunktsenergie und Schwingungsenergie beibehalten. Zur Frage, ob man die Bindungsenergie oder die Bindungsenthalpie zur Charakterisierung von kovalenten Bindungen verwenden soll, siehe R. S. Treptow, J. Chem. Educ. 1995, 72, 497.
116
4 Bindungseigenschaften
0.47·1014, Cl2: 0.17·1014s–1). Daher beträgt die Nullpunktsenergie beim O2-Molekül nur noch 9 kJ mol–1 und beim Cl2 nur 3 kJ mol–1. Weil der letztgenannte Wert in der gleichen Größenordnung liegt wie die experimentelle Ungenauigkeit der Bindungsenthalpie, kann man den Unterschied zwischen Bindungsenthalpie und Dissoziationsenthalpie bei derartigen Molekülen meistens vernachlässigen. Da sich das Molekül also nicht im Minimum der Potentialkurve sondern auf dem untersten Schwingungsniveau befindet, ändert sich sein Kernabstand ständig zwischen den beiden Extremwerten, die in Abbildung 4.1 durch die Kurve vorgegeben sind. Der Mittelwert dieser Extremwerte wird bei experimentellen Strukturbestimmungen als Kernabstand erhalten. Dieser Mittelwert (do) ist nicht identisch mit dem Wert im Minimum der Kurve (de), sondern wegen der Asymmetrie (Anharmonizität) der Potentialfunktion geringfügig größer. Für chemische Belange ist diese Differenz aber im Allgemeinen ohne Bedeutung. Quantenchemische Rechnungen liefern den Kernabstand im Energieminimum. Die Dissoziationsenthalpie kann aus thermodynamischen Daten5 berechnet oder experimentell ermittelt werden, z.B. aus den UV-Bandenspektren gasförmiger Moleküle. Aus Do berechnet man dann die Bindungsenergie. Bei zweiatomigen Molekülen ist Do identisch mit der atomaren Bildungsenthalpie bei 0 K (Enthalpie der Bildung aus den Atomen). D ist temperaturabhängig: Do(H2) = 432.3 kJ mol–1 und D300(H2) = 436.0 kJ mol–1. Dieser geringe Unterschied wird oft vernachlässigt. Die Ursache der Temperaturabhängigkeit ist folgende. Beim H2-Molekül sind die Oszillationen außer der Nullpunktsschwingung bei 300 K noch weitgehend eingefroren. Angeregt sind die drei Freiheitsgrade der Translation mit der Energie 32 RT und die zwei Freiheitsgrade der Rotation mit der Energie RT (Gaskonstante R = 8.314 J K–1 mol–1). Das Molekül verfügt also über eine thermische Energie von 52 RT. Zwei getrennte H-Atome besitzen bei 300 K aber je drei Freiheitsgrade der Translation mit der Gesamtenergie 62 RT. Bei der Dissoziation H2 → 2 H ist also außer der Dissoziationsenergie noch die thermische Energie 12 RT aufzubringen, bei 300 K sind das 1.25 kJ mol–1. Außerdem ist die Volumenvergrößerung mit einem Energieaufwand von p∆V = RT verbunden, so dass insgesamt ein zusätzlicher Aufwand von 32 RT oder 3.75 kJ mol–1 entsteht. Daher ist D300 bei H2 um diesen Betrag größer als Do. Bei höheren Temperaturen ist schließlich auch noch die in den Schwingungsfreiheitsgraden der Moleküle gespeicherte Energie zu berücksichtigen. Aus den bisherigen Diskussionen in diesem und den vorangegangenen Kapiteln ergibt sich, dass eine kovalente Bindung durch ein Energieminimum der Potentialkurve charakterisiert ist. Dieses Minimum muss aber nicht immer wie in Abbildung 4.1 bei einer negativen Energie liegen. Im Falle einer endothermen Molekülbildung liegt das Minimum oberhalb der Abszisse, die die Energie Null der getrennten Teile A und B markiert. Dieser Fall liegt z.B. im Ion [He2]2+ vor, das mit dem Molekül H2 isoelektronisch ist. Dieses Kation ist zwar um ca. 835 kJ mol–1 energiereicher als 2 He+, aber zur Dissoziation des Di5
I. Barin, Thermochemical Data of Pure Substances, Parts I und II, 2. Aufl., VCH, Weinheim, 1993; M. W. Chase et al., NIST-JANAF Thermochemical Tables, 4th ed., J. Phys. Chem. Ref. Data Monograph 9, Woodbury, NY, 1998, Suppl. 1. P. J. Linstrom, W. G. Mallard (Eds.), NIST Chemistry Webbook, NIST Standard Reference Data Base Nr. 69, Juni 2005, National Institute of Standards and Technology, (Internet-Seite: http://webbook.nist.gov/chemistry/). T.-R. Luo, Comprehesive Handbook of Chemical Bond Energies, CRC Press, Boca Raton, FL, 2007.
4.2 Bindungsenthalpie und Dissoziationsenthalpie
117
kations in zwei Monokationen muss eine Energiebarriere von ca. 135 kJ mol–1 überwunden werden. Der Kernabstand von [He2]2+ beträgt 70.25 pm, etwas weniger als im H2 (74.14 pm). Zweifellos ist die starke Kernabstoßung für die endotherme Natur dieses metastabilen Dikations verantwortlich.
4.2.2 Mehratomige Moleküle Enthält ein mehratomiges Molekül wie SO2, H2O oder BF3 nur gleichartige Bindungen, muss die Bindungsenthalpie (B.E.) für alle Bindungen gleich groß sein. Dessen ungeachtet sind aber die Dissoziationsenthalpien bei einer stufenweisen Dissoziation nicht gleich groß. Dies soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden: SO2
SO + O
D1 = 546 kJ molÕ1
SO
SO + O
D2 = 517 kJ molÕ1
SO2
S + 2O
H° = 1063 kJ molÕ1
Die angegebenen Enthalpien beziehen sich auf die Moleküle und Atome im jeweiligen elektronischen Grundzustand. Bei diesem Beispiel ist D1 > D2, weil bei der Abtrennung des ersten O-Atoms von SO2 die verbleibende Bindung geschwächt wird, wofür ebenfalls eine gewisse Enthalpie aufzuwenden ist. Dies erkennt man an dem größeren Kernabstand im entstehenden Molekül SO (148 pm) verglichen mit SO2 (143 pm). Schwefelmonoxid ist ein hochreaktives Molekül, das wie O2 in einem Triplett-Grundzustand vorliegt. Bei der stufenweisen Dissoziation von CO2 ist dagegen D1 < D2, da jetzt bei der Abtrennung eines O-Atoms von CO2 das sehr stabile CO-Molekül mit seiner Dreifachbindung entsteht, also Enthalpie gewonnen wird: CO2
CO + O
D1 = 532 kJ molÕ1
CO
CO + O
D2 = 1076 kJ mol Õ1
CO2
C + 2O
° = 1608 kJ molÕ1 H298
Der Kernabstand im CO (113 pm) ist dementsprechend deutlich kleiner als im CO2 (116 pm). Bei symmetrischen Molekülen ABn, die nur gleichartige Bindungen enthalten, verwendet man als Maß für die Bindungsstärke die mittlere Bindungsenthalpie (m.B.E.), die als arithmetisches Mittel der einzelnen Dissoziationsenthalpien definiert ist. Für SO2 erhält man: m.B.E. =
1 2
(D1 + D2) =
1 2
.1063 = 531.5 kJ molÕ1
Die Ursache dafür, dass D1 ungleich D2 ist, liegt also darin, dass sich bei der Spaltung der ersten Bindung die Elektronen in den verbleibenden Bindungen umordnen. Dabei ändern sich die Kernabstände und/oder die Valenzwinkel. Eine Winkeländerung muss beispielsweise bei der Dissoziation von CCl4 in die Radikale [CCl3]• und Cl• stattfinden. Diese Reaktion kann durch Pyrolyse von CCl4 bei 1000°C realisiert werden. Das zunächst erwartete pyramidale CCl3-Fragment lagert sich simultan in das trigonal-planare Radikal [CCl3]• um, das mit der Matrix-Technik isoliert und spektroskopisch charakterisiert
118
4 Bindungseigenschaften
wurde. Entsprechendes gilt für die Dissoziation von CCl3Br und CCl3I in [CCl3]• und ein Br- bzw. I-Atom. Cl C
Cl
Cl Td
ÕCl
Cl
C
Cl
Cl C3v
Cl Cl Cl
C
Cl
D3h
Enthält ein Molekül mehr als zwei Elemente, kann die mittlere Bindungsenthalpie nicht mehr als arithmetisches Mittel aller Dissoziationsenthalpien erhalten werden. In diesen Fällen kann man näherungsweise die Werte von analogen binären Verbindungen übernehmen, beim BCl2F beispielsweise vom BCl3 und vom BF3. Man wird sich dabei gegebenenfalls durch Vergleich der Kernabstände und Valenzkraftkonstanten vergewissern, dass vergleichbare Bindungen vorliegen oder entsprechende Korrekturen anbringen. Die Summe der so abgeschätzten mittleren Bindungsenthalpien muss gleich der negativen atomaren Bindungsenthalpie des Moleküls sein. Die mittleren Bindungsenthalpien typischer Einfach-, Doppel- und Dreifachbindungen zwischen beliebigen Elementen (E) liegen in folgenden Bereichen: E–E: E=E: E≡E:
40 – 565 kJ mol–1 420 – 810 kJ mol–1 800 – 1090 kJ mol–1
Hierzu muss allerdings angemerkt werden, dass die Definition von Bindungsgraden fragwürdig ist, da es keine Methode gibt, diese Größe zu messen. Verschiedene Autoren definieren Bindungsgrade oder „Bindungsordnungen“ sehr unterschiedlich. Daher ist es besser, auf diese Begriffe ganz zu verzichten und direkt messbare Größen zur Charakterisierung von Bindungseigenschaften zu verwenden. In Tabelle 4.1 sind Bindungsenthalpien aufgeführt, wie sie häufig in der Literatur verwendet werden. Aus diesen Daten geht hervor, dass stark polare Einfachbindungen die höchsten Bindungsenthalpien aufweisen, z.B. die Bindungen HF, SiF, PF, CF, OH, GeF und AsF, für die die mittlere Bindungsenthalpie größer als 450 kJ mol–1 ist. Tatsächlich gibt es bei zweiatomigen Molekülen AB eine Korrelation zwischen der Bindungsenthalpie und der Elektronegativitätsdifferenz ∆χ der beteiligten Atome:6 DAB =
DAA.DBB + 32.06.û
A und B sind hierbei beliebige Atome aus den Hauptgruppen des Periodensystems und DAA bzw. DBB sind die Bindungsenthalpien der entsprechenden homonuklearen Moleküle. Vergleicht man die Bindungsenthalpien homonuklearer Einfachbindungen innerhalb der Hauptgruppen des Periodensystems, also bei homologen Elementen, stellt man in der Regel einen systematischen Gang derart fest, dass die Werte mit steigender Ordnungszahl exponentiell abnehmen (Abb. 4.2). Dies gilt beispielsweise bei den zweiatomigen Mole-
6
R. R. Reddy, T. V. R. Rao, R. Visvanath, J. Am. Chem. Soc. 1989, 111, 2914.
363
428
289
247
314
S
Cl
Ge
As
Se
290
–
–
371
–
–
–
444
–
–
–
651
536
–
372
293
B
213
–
–
285
247
–
243
327
272
264
301
485
358
305
362
C
Mehrfachbindungsenthalpien: C=C 582 C=N 615 C≡C 759 C≡N 887
295
322
P
I
326
Si
268
565
F
Te
459
O
362
386
N
–
411
C
Sb
390
B
Br
432
H
H
Einfachbindungsenthalpien:
201
–
–
201
–
301
–
218
–
352
452
190
138
O
C=O 699 C≡O 1072
201
–
–
243
–
–
–
201
247
300
–
283
201
159
N
234
–
–
310
–
–
–
391
226
214
226
Si
N=N 418 N≡N 941
278
330
440
249
285
484
452
249
360
490
582
155
F
–
–
–
217
–
–
–
255
264
S
P=P 290 P≡P 481
184
–
–
264
–
–
–
326
230
201
P
212
–
–
276
–
–
188
Ge
O=O 494 S=S 423
208
311
314
216
200
322
349
240
Cl
–
–
–
226
193
Se
S=O 420 Se=O 425
200
–
–
258
–
146
As
195
–
126
Sb
C=S 573 C=Se 456
175
176
260
190
Br
121
126
Te
151
I
Tab. 4.1 Mittlere Bindungsenthalpien (25°C; kJ mol–1) unter Vernachlässigung der Nullpunktsenergie (Daten teilweise aus Encycl. Inorg. Chem. 2005, Vol. 1, p. 442. Siehe auch Fußnote 5).
4.2 Bindungsenthalpie und Dissoziationsenthalpie
119
120
4 Bindungseigenschaften
külen der Alkalimetalle, die im Dampf dieser Elemente vorhanden sind und deren kovalente Bindungen durch Überlappung der einfach besetzten s-Orbitale der Valenzschale zustande kommen. Für diesen Gang gibt es zwei Ursachen. Einerseits nimmt das Überlappungsintegral ab, wenn die Atomorbitale größer und damit diffuser werden. Die stärkste homonukleare Einfachbindung liegt daher im H2-Molekül vor, während Cs2 mit 38 kJ mol–1 am unteren Ende der Skala liegt. Zum anderen nimmt die Abstoßung zwischen den Atomrümpfen zweiatomiger Moleküle mit der Ordnungszahl zu, da die Zahl innerer Elektronen zunimmt. Die schwächsten homonuklearen Bindungen werden daher von den schwersten Elementen gebildet. 400
m.B.E. (kJ molÕÍ)
300
C
B
S
Cl
P
200 Al
100
Li Na
K Rb Cs
Ga
In
Br
Se
Si Ge
Sn
N
As
O
Te
F
I
Sb
0 Abb. 4.2 Mittlere Bindungsenthalpien von homonuklearen Einfachbindungen in den Hauptgruppen des Periodensystems. Für die Alkalimetalle, die Elemente der 13. Gruppe und die Halogene wurden die Dissoziationsenthalpien der zweiatomigen Moleküle A2 verwendet. Bei den anderen Elementen handelt es sich um die in Tabelle 4.1 angegebenen Werte.
Auch in der 13. Gruppe bilden die Atome zweiatomige Moleküle mit einer Einfachbindung (vgl. Kap. 2.4.3), und erneut nimmt die Bindungsenthalpie vom B2 zum In2 stark ab (Abb. 4.2). In der 14. Gruppe kann man die Bindungsenthalpien der Einfachbindungen von den Elementen Diamant, Silicium, Germanium und α-Zinn ableiten, die alle in der gleichen kubischen Struktur kristallisieren. Auch diese Werte zeigen den erwarteten Gang (Abb. 4.2). Dagegen zeigt ein Vergleich der jeweiligen Enthalpien in den Gruppen 15, 16 und 17 des Periodensystems, dass die Bindungen >N–N<, –O–O– und F–F auffallend kleine Bindungsenthalpien aufweisen. Die Ursachen dafür sind komplex.7 Einerseits wird die gegenseitige Abstoßung der bei diesen Bindungen an beiden Atomen vorhandenen nichtbindenden Elektronenpaare dafür verantwortlich gemacht (PAULI-Abstoßung). Überhaupt ist bei diesen kleinen und sehr elektronegativen Atomen die lokale Elektronendichte sehr groß, was eine Annäherung eines gleichartigen Atoms behindert. Es kommt daher auch zu einer Abstoßung der nichtbindenden mit den bindenden Elek7
A. Kovacs, C. Esterhuysen, G. Frenking, Chem. Eur. J. 2005, 11, 1813.
4.2 Bindungsenthalpie und Dissoziationsenthalpie
121
tronen des Nachbaratoms.8 Andererseits sind besonders beim F2-Molekül die Atomorbitale wegen der sehr großen effektiven Kernladung stark kontrahiert, wodurch das Überlappungsintegral klein wird.7 Bei der Bindung – >C–C<– sind alle diese Effekte nicht vorhanden und bei den höheren Homologen >P–P<, –S–S– und Cl–Cl ist einerseits die Elektronendichte viel geringer und andererseits verringert der größere Kernabstand die Abstoßung der nichtbindenden Valenzelektronen. Vergleichsweise schwach sind aber aus den oben dargelegten Gründen auch die Bindungen >N–O–, >N–F, –O–F und –O–Cl. Die kleinen Bindungsenergien der genannten Elementkombinationen sind unter anderem dafür verantwortlich, dass F2 sehr reaktionsfähig ist, dass H2O2 und N2H4 thermodynamisch instabil sind, dass N2 und O2 nicht wie ihre höheren Homologen stabile Ringmoleküle mit Einfachbindungen bilden (vgl. P4, S8) und dass alle Stickstoffoxide endotherme Verbindungen sind. Dies soll am Beispiel der Chalkogene etwas genauer auseinander gesetzt werden.
4.2.3 Warum ist Sauerstoff gasförmig und Schwefel fest? Die unterschiedliche Molekülgröße von elementarem Sauerstoff (O2) einerseits und elementarem Schwefel (S8) andererseits lässt sich thermodynamisch in einfacher Weise begründen. Dazu betrachten wir das hypothetische Gleichgewicht zwischen den gasförmigen Spezies O2 und O8, wobei wir annehmen, dass das cyclische Molekül O8 eine dem S8 analoge, kronenförmige Molekülstruktur von D4d-Symmetrie hat: 4 O2(g.)
O8(g.)
(1)
(1)
Das Gleichgewicht der Reaktion (1) liegt auf der linken Seite, wenn die GIBBS-Energie ∆G°(1) positiv ist. Solche Reaktionen heißen endergonisch. Um ∆G°(1) abzuschätzen, machen wir für niedrige Temperaturen (300 K) folgende Näherung. Nach dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik gilt: ∆G° = ∆ H° – T·∆S°
Der Betrag von T·∆ S° ist bei Raumtemperatur für die meisten Reaktionen klein gegenüber dem Betrag von ∆ H°. Daraus folgt für ∆ H° >> 0 immer auch ∆G° > 0 bzw. für ∆ H° << 0 immer auch ∆G° < 0. Man kann also die Lage des Gleichgewichtes (1) bei 300 K näherungsweise aus der Reaktionsenthalpie abschätzen. Um diese Reaktionsenthalpie aus den Bindungsenthalpien in Tabelle 4.1 zu berechnen, führen wir Reaktion (1) so aus, dass wir die vier O2-Moleküle dissoziieren, wozu jeweils 489 kJ mol–1 erforderlich sind, und danach die acht OO-Einfachbindungen von O8 (je 138 kJ mol–1) neu errichten. Die Enthalpieänderung ist dann: ∆ H°300 = 4 · 498 – 8 · 138 = +887 kJ mol–1 (O8)
Man sieht, dass ∆ H° >> 0 und damit ∆G° > 0, d.h. O2 ist stabiler als O8. Bei der analogen Reaktion 4 S2(g.)
8
S8(g.)
(2)
D. Lauvergnat, P. C. Hiberty, J. Mol. Struct. (Theochem) 1995, 338, 283.
(2)
122
4 Bindungseigenschaften
führt die entsprechende Rechnung wegen der sehr viel größeren SS-Einfachbindungsenthalpie zu einem negativen Wert von ∆ H°300: ∆ H°300 = 4 · 425 – 8 · 264 = –410 kJ kJ mol–1 (S8)
In diesem Falle ist also ∆ H° << 0 und damit ∆G° < 0, d.h. die Reaktion ist exergonisch. Das Gleichgewicht liegt daher bei 300 K ganz auf der Seite des S8, was mit der Erfahrung übereinstimmt. Um die genaue Gleichgewichtslage zu berechnen, muss die GIBBS-Energie ∆G° dieser Reaktion berechnet werden. Dazu verwendet man die Entropien So der beteiligten Moleküle,9 die folgende Werte aufweisen: S°300(S2): 0.228 kJ mol–1 K–1
S°300(S8): 0.424 kJ mol–1 K–1
Die Reaktionsentropie ∆S°300 ergibt sich dann zu –0.488 kJ mol–1 und das Produkt T·∆S°300 hat den Wert –145 kJ mol–1. Damit erhält man ∆G°300(2) = –265 kJ mol–1. Für ein Gasphasengleichgewicht gilt das Massenwirkungsgesetz in der Form Kp =
p (S8) p4(S2)
wobei pi der Partialdruck der Spezies i ist. Da ln Kp = –∆Go/RT, kann man die Gleichgewichtskonstante für die Reaktion (2) bei 300K zu 6·1045 berechnen. Wird Schwefeldampf auf höhere Temperaturen erhitzt, treten darin als Gleichgewichtskomponenten alle Moleküle von S2 bis S8 auf, und oberhalb 1000 K ist S2 die dominierende Spezies (Kap. 12.4.1). Dies kann mit einer Rechnung analog der obigen leicht begründet werden. Die Reaktionsenthalpie ist nur schwach temperaturabhängig, aber die Entropien haben einen großen Einfluss: S°1000(S2): 0.270 kJ mol–1 K–1 S°1000(S8): 0.631 kJ mol–1 K–1 ∆S°1000 = –0.449 kJ mol–1 K–1 Damit wird T·∆S°1000 = –449 kJ mol–1 und ∆G°1000(2) ergibt sich zu +39 kJ mol–1! Das Gleichgewicht (2) liegt also jetzt auf der linken Seite. Das S2-Molekül entspricht in seiner Elektronenkonfiguration dem O2-Molekül (Triplett-Zustand), d.h. beide Moleküle enthalten formal Doppelbindungen. Wie die oben zitierten Werte zeigen, sind die Bindungsenthalpien von O2 und S2 nicht wesentlich voneinander und von denen anderer Doppelbindungen verschieden. Das zeigt, dass auch Elemente höherer Perioden stabile Doppelbindungen bilden können. Dass S2 nicht als reine Verbindung bei Raumtemperatur stabil ist, sondern zum S8-Ring polymerisiert, liegt nicht an der Instabilität der Bindung im S2, sondern lediglich daran, dass bei der Überführung einer SS-Doppelbindung in zwei Einfachbindungen freie Reaktionsenthalpie gewonnen wird. Eine bei Raumtemperatur beständige, wenn auch nicht thermodynamisch beständige Verbindung mit einer SS-Doppelbindung ist das Thiothionylfluorid F2S=S (Kap. 12.12.2). 9
Die Entropie eines gasförmigen Moleküls ist eine Zustandsfunktion, die von der Masse der beteiligten Atome, der Geometrie des Moleküls, den Wellenzahlen der Normalschwingungen und der Temperatur abhängt. Sind diese Daten bekannt, kann S berechnet werden, wobei man ein ideales Gas zugrunde legt.
123
4.3 Der Kernabstand
Für thermodynamische Betrachtungen der obigen Art sind die Bindungsenthalpien gut geeignet. Mit Hilfe der Daten in Tabelle 4.1 kann man auch zeigen, dass die Dimerisierung von P2 zum tetraedrischen P4 exotherm ist, während die analoge Reaktion von N2 zum analogen, aber hypothetischen N4 endotherm wäre. Nur unter extremen Bedingungen (2000 K, 110 GPa) polymerisiert N2 zu einer Phase mit NN-Einfachbindungen und trigonal-pyramidal koordinierten Atomen, in Analogie zum schwarzen Phosphor, der thermodynamisch stabilen Form dieses Elementes. Auf die unter diesen extremen Bedingungen vorliegenden Bindungen können die Daten in Tabelle 4.1 nicht angewandt werden. Bei der Diskussion von Reaktionsmechanismen muss man jedoch vorsichtig sein, wenn es dabei um die homolytische Spaltung einzelner Bindungen geht. In diesen Fällen dürfen nicht die mittleren Bindungsenthalpien verwendet werden sondern nur die betreffenden Dissoziationsenthalpien. Beispielweise beträgt die mittlere Bindungsenthalpie im S8-Ring 264 kJ mol–1. Dieser Wert ergibt sich als arithmetisches Mittel aller acht Dissoziationsenthalpien. Für die Spaltung der ersten SS-Bindung, d.h. für die Ringöffnung unter Bildung eines kettenförmigen S8-Diradikals, sind aber nur 150 kJ mol–1 erforderlich!
4.3
Der Kernabstand
Zahlreiche Messungen haben gezeigt, dass der Kernabstand einer kovalenten Bindung ebenso wie die Bindungsenthalpie in gewissen Grenzen eine charakteristische Bindungseigenschaft ist. Beispielsweise findet man den Abstand Si–Cl bei verschiedenen Chlorsilanen im Bereich 200–205 pm, sofern die Koordinationszahl des Siliciums immer gleich ist (Tab. 4.2). Tab. 4.2 Kernabstände d(SiCl) in verschiedenen Chlorsilanen Verbindung
dSiCl (pm)
SiClF3
199
PhSiCl3
200
CCl3SiCl3
201
Si2Cl6
201
SiCl4
202
(SiCl3)2O
202
SiCl3SH
202
HSiCl3
202
H2SiCl2
202
H3SiCl
205
Wenn Kernabstände charakteristische Größen sind, dann sollten sie sich auch in je einen Anteil der beiden beteiligten Atome aufteilen lassen. Da die Atome Si und Cl unterschiedlich groß sind, verwendet man die Kernabstände von homonuklearen Einfachbindungen, um für jedes Atom einen Kovalenzradius abzuleiten, worunter man den halben
124
4 Bindungseigenschaften
Kernabstand einer homonuklearen Bindung versteht. Beispielsweise erhält man aus dem CC-Kernabstand im kubischen Diamant (154.5 pm) den kovalenten Einfachbindungsradius des tetraedrisch koordinierten C-Atoms zu r1(C) = 77.3 pm. Aus dem Kernabstand im gasförmigen Cl2-Molekül (198.8 pm) ergibt sich r1(Cl) = 99.4 pm. Man stellt nun fest, dass die vier äquivalenten Kernabstände im Molekül CCl4 (176.6 pm) gerade der Summe der Kovalenzradien von C und Cl entsprechen: dCCl = r1(C) + r1(Cl) = 77.3 + 99.4 = 176.7 pm Die Kovalenzradien sind also in diesem Falle additiv. Im kristallinen Silicium ist dSiSi = 235.2 pm; der Kovalenzradius des Siliciumatoms für eine Einfachbindung ergibt sich folglich zu 117.6 pm. Addiert man nun die Einfachbindungsradien von Si und Cl, erhält man als Erwartungswert für den Kernabstand der Si–Cl-Bindung 217.0 pm. Die Kernabstände in Tabelle 4.2 zeigen aber, dass in Chlorsilanen kürzere Bindungen vorliegen. Dies kann so interpretiert werden, dass es eine zusätzliche Bindungsverstärkung gibt, die in den homonuklearen Bindungen Si–Si und Cl–Cl nicht vorhanden ist. Seit langem ist bekannt, dass polare Bindungen stärker (kürzer) sind als vergleichbare unpolare. Da sich die Elektronegativitäten von Si (2.1) und Cl (3.2) erheblich unterscheiden (Abschnitt 4.6.2), ist die Si–Cl-Bindung polar und es kommt zu einer Verkürzung. Diese Bindungsverstärkung kann auch so interpretiert werden, dass nichtbindende Elektronen des partiell negativ geladenen Chloratoms teilweise in unbesetzte Molekülorbitale am Siliciumatom delokalisiert werden, wodurch eine schwache π-Bindung entsteht. Die dazu am tetraedrisch koordinierten Silicium zur Verfügung stehenden Orbitale sind die antibindenden MOs von t2-Symmetrie (Kap. 2.4.10).10 Folglich kann die Differenz zwischen der Summe der Kovalenzradien und den experimentellen Kernabständen (Tab. 4.2) auf diese zusätzliche π-Bindung zurückgeführt werden. In der Tat sind gerade diejenigen SiCl-Bindungen am kürzesten, bei denen das Si-Atom mit den elektronegativsten Substituenten verbunden und folglich stark positiv aufgeladen ist. Dieses Beispiel zeigt, dass man bei der Definition von kovalenten Einfachbindungsradien umsichtig vorgehen und polare Bindungen oder solche mit zusätzlichen verstärkenden oder schwächenden Effekten vermeiden muss. Tatsächlich ist die Größe eines Atoms in einem Molekül eine Funktion der Koordinationszahl, der Partialladung und damit auch der Substituenten. Für die Hauptgruppenelemente sind die Kovalenzradien in Tabelle 4.3 zusammengestellt. Der Kovalenzradius des dreifach koordinierten N-Atoms wurde beispielsweise am Methylamin H3C–NH2 ermittelt, aus dessen Kernabstand dCN = 147 pm durch Subtraktion von r1(C) = 77 pm der Wert r1(N) = 70 pm erhalten wird. Tab. 4.3 Kovalenzradien (r1) der Hauptgruppenelemente (in pm; modifiziert nach C. H. Suresh, N. Koga, J. Phys. Chem. A 2001, 105, 5940) H
30
C
77
N
70
O
73
F
54
B
82
Si
118
P
106
S
103
Cl
99
Ge
122
As
119
Se
116
Br
114
Sn
141
Sb
138
Te
135
I
133
10
Die hier beschriebene π-Bindung ähnelt der im Sulfat-Ion (Kap. 2.6).
125
4.3 Der Kernabstand
Für Wasserstoff ist in Tabelle 4.3 nicht der halbe Kernabstand von H2 aufgeführt, sondern ein Kovalenzradius, der sich aus der Additivität der Radien von E–H-Bindungen ergibt. Beispielsweise beträgt der mittlere SiH-Abstand in 8 verschiedenen teilhalogenierten Silanen SiHxXy (x + y = 4) 148 pm. Mit dem Radius des Si-Atoms von ca. 118 pm folgt der Kovalenzradius von H zu 30 pm. Mit steigendem Bindungsgrad wird der Kernabstand kleiner, und man kann Kovalenzradien auch aus den Kernabständen von Doppel- und Dreifachbindungen ableiten. Für die Moleküle N2 und Ethin C2H2 erhält man beispielsweise die Dreifachbindungsradien r3(N) = 55 pm und r3(C) = 60 pm. Daraus berechnet man d(C≡N) = 115 pm, was mit den an Nitrilen experimentell ermittelten Werten gut übereinstimmt. Da die Stärke einer kovalenten Bindung kontinuierlich variabel ist, ändern sich auch die Kernabstände stufenlos vom Wert für eine VAN DER WAALS-Wechselwirkung (Kap. 3) bis zum Wert für eine Dreifachbindung, was der höchste bei Nichtmetallen mögliche Bindungsgrad ist. Dies ist am Beispiel der NO-Bindungen in verschiedenen Stickstoffverbindungen ersichtlich, die in Tabelle 4.4 aufgeführt sind. Es erscheint nicht sinnvoll, diesen verschiedenen NO-Bindungen spezifische Bindungsgrade zuzuweisen. Tab. 4.4 Kernabstände (pm) von NO-Bindungen in Stickstoffverbindungen der Oxidationsstufen –1 bis +5 (term.: terminale Bindung) NO+
106
NO2
119.7
ClNO
109
N2O4
121
ONONO (term.)
112
ON–O–NO
121
FNO
113.6
HONO2 (term.)
121.0
NO
115
NO–3
122.2
NO+2
115.0
FNO2
123
ONF3
115.8
NO–2
cis-N2O2
116
cis-N2O 2– 2
HONO (term.)
117.7
HO–NO2
140.6
N2O
118.4
HO–NO
143.3
FNO2
118
H2N–OH
147
FONO2 (term.)
118.8
ClO-NO2
147
ClNO2
119
FO–NO2
151.5
ClONO2 (term.)
119
123.6 140
Das Hauptproblem bei der Ableitung von Kovalenzradien ist die Auswahl der Referenzsubstanzen, die Bindungen mit definierten Bindungsgraden (1.0/2.0/3.0) enthalten müssen. Aber auch wenn dieses Problem gelöst ist, bleibt eine Reihe von Ausnahmen, vor allem bei stark polaren Atombindungen. Man wird daher am ehesten dann eine gute Übereinstimmung zwischen dem tatsächlichen und dem berechneten Kernabstand erhalten, wenn die molekulare Umgebung der betreffenden Atome, insbesondere die Koordinationszahl, nicht zu sehr von der abweicht, die in den Referenzsubstanzen vorliegt, die zur Ableitung der Kovalenzradien benutzt wurden. Einen Sonderfall stellen die Moleküle der Typen AB5, AB4E und AB3E2 dar. Bei trigonal-bipyramidalen Molekülen sind die apicalen AB-Bindungen etwas länger als die equa-
126
4 Bindungseigenschaften
torialen. Zum Beispiel findet man im PF5 apical d(PF) = 157.7 pm und equatorial 153.4 pm. Bei einem Kovalenzradius des F-Atoms von 54 pm11 ergibt sich der Kovalenzradius des fünffach koordinierten Phosphoratoms in apicaler Richtung zu 104 pm und in equatorialer Richtung zu 99 pm. Analog erhält man auch für das S-Atom im SF4 (Typ AB4E) und für das Cl-Atom im ClF3 (Typ AB3E2) zwei verschiedene Kovalenzradien.
4.4
Die Valenzkraftkonstante
4.4.1 Zweiatomige Moleküle Zwei kovalent aneinander gebundene Atome bilden ein schwingungsfähiges System, d.h. einen zweiatomigen Oszillator. Wird der Kernabstand der beiden Atome durch eine Krafteinwirkung geändert, tritt eine rücktreibende Kraft K auf. Dies ist unmittelbar aus der Potentialkurve in Abbildung 4.1 verständlich. Bei den meisten Molekülen ist K der Änderung des Kernabstandes ∆r in guter Näherung proportional: K = fr · ∆r Diese Beziehung ist als HOOKE’s Gesetz bekannt. Der Proportionalitätsfaktor fr heißt Valenzkraftkonstante und wird üblicherweise mit der Dimension N cm–1 verwendet.12 Die Konstante fr ist eine für die Stärke der kovalenten Bindung charakteristische Größe: Sie gibt die Krümmung der Potentialkurve im Energieminimum an. Die Werte von fr liegen im Bereich von 1 bis 25 N cm–1. Die Anwendung von HOOKE’s Gesetzes bedeutet, dass die Energiekurve in der Nähe des Energieminimums durch eine quadratische Parabel angenähert wird:
Epot = Kdr = fr .r . d(r) =
1 2 2 fr (r)
Diese Näherung ist nur für kleine Abstandsänderungen ∆r, d.h. für kleine Schwingungsamplituden, gültig. Korrekturen sind aber im Allgemeinen nur bei Beteiligung von H-Atomen erforderlich, die wegen ihrer geringen Masse relativ große Amplituden aufweisen. Schwingungen, die durch HOOKE’s Gesetz beschrieben werden können, nennt man harmonische Schwingungen. Man spricht daher vom Modell des harmonischen zweiatomigen Oszillators. Die Frequenz eines solchen Oszillators hängt nur von den Atommassen m1 und m2 sowie von der Valenzkraftkonstante fr ab: (cmÕ1) =
11 12
1 . 2
fr . (m1 + m2) m1. m2
R. J. Gillespie, E. A. Robinson, Inorg, Chem. 1992, 31, 1960. Eine ältere Einheit ist mdyn/Å, wobei 1 N cm–1 = 1 mdyn/Å.
127
4.4 Die Valenzkraftkonstante
In der Schwingungsspektroskopie13 verwendet man jedoch nicht die Frequenz sondern die Wellenzahl, für die meistens das Symbol ∼ν (oder ω) verwendet wird und die folgendermaßen definiert ist: ~ Wellenzahl (cmÕ1) : 1 (Frequenz) ~ = = ¸: Wellenlänge (cm) c ¸ c: Lichtgeschwindigkeit (cm sÕ1) Molekülschwingungen, bei denen sich der Kernabstand periodisch ändert, heißen Valenzschwingungen. Sie liegen je nach den Atommassen und Kraftkonstanten im Bereich von 150–4200 cm–1. Gibt man die Atommassen in Massenzahlen M1 und M2 und fr in N cm–1 an, dann gilt: ~ (cmÕ1) = 1303 .
bzw.
fr . (M1 + M2) M1 . M2
M1 . M2 fr (N cmÕ1) = 0.589 .10Õ6 . ~ 2 . M + M 1 2
Um fr für ein zweiatomiges Molekül zu ermitteln, braucht man also nur die Wellenzahl ∼ν der Valenzschwingung zu messen. Das ist durch Infrarot- oder Ramanspektroskopie möglich. Bei kleinen Molekülen ist der Wert von ∼ν auch durch eine die Bandenanalyse von UV-Spektren zugänglich. In Tabelle 4.5 sind die Wellenzahlen und Valenzkraftkonstanten einiger bekannter Moleküle angegeben. Tab. 4.5 Experimentelle Wellenzahlen ∼ν der Valenzschwingungen und daraus berechnete Valenzkraftkonstanten fr zweiatomiger Moleküle.
∼ν (cm –1) H2
4161
fr (N cm–1) 5.14
F2
892
O2
1556
11.4
N2
2330
22.4
Cl2
558
3.20
Br2
317
2.37
I2
207
1.60
13
4.45
J. Weidlein, U. Müller, K. Dehnicke, Schwingungsspektroskopie, 2. Aufl., Thieme, Stuttgart, 1988; K. Nakamoto, Infrared and Raman Spectra of Inorganic and Coordination Compounds, 5. Aufl., Part A, Wiley, New York, 1997.
128
4 Bindungseigenschaften
4.4.2 Zweiatomige Gruppen In manchen Fällen kann man das Modell des zweiatomigen harmonischen Oszillators auch bei größeren Molekülen anwenden. Das setzt voraus, dass in diesen Molekülen zweiatomige Gruppen vorhanden sind, deren Valenzschwingung nicht oder nur wenig mit den Schwingungen des Molekülrestes gekoppelt ist. Beispielsweise kann man die Gruppe SO in Thionylverbindungen X2S=O und die Gruppe PO in Phosphorylverbindungen X3P=O als zweiatomige Oszillatoren behandeln. Dies soll am Beispiel der Phosphorylhalogenide erläutert werden. Alle 10 Glieder dieser Gruppe mit X = F, Cl, Br wurden hergestellt und infrarotspektroskopisch untersucht. Wegen des höheren Bindungsgrades der formalen Doppelbindung P=O gegenüber den formalen Einfachbindungen P–X liegt die PO-Valenzschwingung ∼ν(PO) bei sehr viel höheren Wellenzahlen als die PX-Schwingungen. Daher kann eine Schwingungskopplung zwischen diesen Oszillatoren vernachlässigt werden. In Abbildung 4.3 ist gezeigt, wie ∼ν (PO) in linearer Weise von der Summe der Elektronegativitäten der Halogenatome X abhängt. Eine solche Abhängigkeit kann dazu dienen, Gruppenelektronegativitäten aus IRSpektren abzuleiten. 1400
~ PO (cmÕÍ)
OPF3
1300
OPCl3 OPBr3
Zû
1200
9
10
11
12
Abb. 4.3 Abhängigkeit der Wellenzahl der PO-Valenzschwingung in 10 Phosphorylhalogenid-Molekülen POX3 (X = F, Cl, Br) von der Elektronegativität der Halogenatome (einschließlich gemischter Halogenide). Auf der Abszisse ist die Summe der Elektronegativitäten der drei Substituenten X in der PAULING-Skala aufgetragen.
Die Kraftkonstante der PO-Bindung ändert sich also mit dem induktiven Effekt der Substituenten, was mit folgenden Strukturformeln verstanden werden kann: O
P
X X X
O
P
X X X
Je elektronegativer die Substituenten X sind, um so mehr wird das Phosphoratom positiv aufgeladen, so dass es seinerseits formal nichtbindende Elektronen vom Sauerstoff anzieht. Dadurch wird die π-Bindung begünstigt und somit die Kraftkonstante fr(PO) erhöht. Die π-Bindung kommt wie beim Phosphat-Ion durch Hyperkonjugation der 2pπAOs am Sauerstoff mit den antibindenden t2-MOs am Phosphoratom zustande. Diese unbesetzten MOs liegen energetisch um so tiefer, je höher die positive Ladung des P-Atoms
129
4.4 Die Valenzkraftkonstante
ist. Die Kraftkonstante fr(PO) kann in Fällen wie dem hier behandelten näherungsweise nach dem Modell des zweiatomigen Oszillators berechnet werden.
4.4.3 Dreiatomige Moleküle Bei mehratomigen Molekülen führt eine eingehende Schwingungsanalyse unter Verwendung der Wellenzahlen aller 3N–6 Schwingungsfreiheitsgrade sowie der Kernabstände, der Valenzwinkel und eventuell der Wellenzahlen isotop substituierter Derivate des Moleküls zu den exakten Valenzkraftkonstanten aller Bindungen. Die Zahl der zu bestimmenden Kraftkonstanten steigt jedoch mit der Zahl der Atome rasch an. Schon beim dreiatomigen Molekül sind mindestens vier Konstanten zu bestimmen, da die potentielle Energie in folgender Weise von den inneren Koordinaten r und α abhängt. Zur Vereinfachung betrachten wir ein gewinkeltes symmetrisches Molekül der Symmetrie C2v (Beispiel: SO2): r1 A r2 B B ý
Epot = fr (r)2 +
1 f (ý)2 2 ý
+ frr (r1 )(r 2) + frý (r)(ý)
Die potentielle Schwingungsenergie wird also als Summe aus Beträgen aufgefasst, die den einzelnen Teilen des Moleküls zugeordnet werden. Wie beim zweiatomigen Oszillator trägt eine Längenänderung ∆r jeder der beiden (identischen) Bindungen 12 fr·(∆r)2 bei, zusammen also fr·(∆r)2. Eine Deformation des Winkels um ∆a trägt 12 fα·(∆a)2 bei, wodurch die Deformationskraftkonstante fα definiert wird. Nun sind aber die verschiedenen Änderungen innerer Koordinaten nicht unabhängig voneinander, weswegen es erforderlich ist, Wechselwirkungskraftkonstanten einzuführen. Eine Änderung der Länge einer Bindung (∆r1) führt automatisch zu einer Änderung der Länge der anderen Bindung (∆r2), da sich die Valenzelektronen umordnen. Dies wurde bereits im Abschnitt 4.4.2 erörtert. Analog gibt es eine Änderung der Kernabstände, wenn man den Winkel ändert und umgekehrt, was durch die Konstante frα beschrieben wird. Ein gewinkeltes dreiatomiges Molekül hat folgende 3 Schwingungsfreiheitsgrade:
~ s symmetrische Valenzschwingung
 Deformationsschwingung
~ as antisymmetrische Valenzschwingung
Da man aus drei Observablen nicht vier unbekannte Kraftkonstanten ermitteln kann, ist es erforderlich, weitere Messwerte zu gewinnen. Man nimmt daher an, dass die entsprechenden Kraftkonstanten isotop substituierter Moleküle identisch sind, was sich für den Fall harmonischer Schwingungen auch beweisen lässt. Durch teilweise oder vollständige Substitution von 16O durch 18O im SO2 gewinnt man also sechs neue Messwerte für die drei Schwingungen, wodurch sich die vier Kraftkonstanten exakt berechnen lassen. Die Wellenzahlen der gasförmigen Isotopomeren von SO2 sind in Tabelle 4.6 aufgelistet.
130
4 Bindungseigenschaften
Tab. 4.6 Normalschwingungen des gasförmigen Schwefeldioxid-Moleküls bei verschiedener isotoper Substitution (Wellenzahlen in cm–1) Isotopomer 32S16O 2 32S16O18O 32S18O 2
∼ν sym
δsym
∼ν asym
1151.4 1122.5 1099.0
517.8 507.3 496.8
1360.5 1341.1 1316.3
Die damit berechneten Kraftkonstanten (N cm–1) des SO2-Moleküls lauten: fr: 10.08 fα: 0.79 frr: 0.10 frα: 0.30 Man erkennt, dass die abstandserhaltenden Kräfte des Moleküls (fr) viel größer sind als die winkelerhaltenden (fα). Daher findet man die Deformationsschwingungen eines Moleküls bei kleineren Wellenzahlen als die Valenzschwingungen. Auch ergibt sich daraus die Erkenntnis, dass ein Molekül kein starres Gebilde ist, wie es so genannte Kugel-StabModelle suggerieren. Die Nullpunktsschwingungsenergie (ZPE, zero point energy) eines mehratomigen Moleküls ist durch ZPE (J molÕ1) = 0.5.N . Z(h. × = 6.05 Z ~ A
i
i
i
i
gegeben (ν in s–1, ∼ν in cm–1). Beim SO2 beträgt diese Summe bereits 18 kJ mol–1. Bei Raumtemperatur ist die gesamte Schwingungsenergie entsprechend größer. Die Absorption infraroter Strahlung durch kleine Moleküle mit polaren Bindungen ist von großer Bedeutung für den Treibhauseffekt. Die von der Erdoberfläche ausgehende IR-Strahlung wird zum Teil in den Weltraum abgegeben, teilweise aber von den Molekülen in der Atmosphäre absorbiert, in erster Linie von H2O und CO2. Im Laufe der Zeit hat sich dabei ein Gleichgewicht eingestellt, das bis vor 100 Jahren zu einer mittleren Oberflächentemperatur geführt hat, an die das irdische Leben gut angepasst ist. Durch die starke Zunahme der Konzentrationen von CO2, N2O, CH4 und anderen Treibhausgasen als Folge von Industrialisierung und Bevölkerungswachstum heizt sich die untere Atmosphäre aber langsam immer mehr auf. Das Erwärmungspotential einer Verbindung hängt von deren Verweilzeit in der Atmosphäre sowie von ihrem IR-Spektrum ab. Besonders wirksam in diesem Zusammenhang sind bestimmte halogenierte Verbindungen, die wasserunlöslich, unreaktiv und mit stark polaren Bindungen ausgestattet sind, wodurch sich eine hohe IR-Absorptionsintensität bei gleichzeitig hoher Verweilzeit wegen geringer Wasserlöslichkeit ergibt (Beispiele: FCKWs und SF6). Wichtig für den Treibhauseffekt ist aber auch noch, dass diese Absorptionen in den spektralen Bereichen liegen, die nicht schon von H2O und CO2 besetzt sind. Dies trifft auf Methan und Lachgas zu, deren relatives Treibhauspotential um den Faktor 21 (CH4) bzw. 300 (N2O) größer ist als das von CO2 (die entsprechenden Faktoren für fluorierte Verbindungen liegen im Bereich 103–2·104). Wasserdampf und CO2 machen aber zusammen immer noch 84 % des Treibhauseffektes aus.14
14
M. E. Elrod, J. Chem. Educ. 1999, 76, 1702. Siehe auch das Themenheft zur Atmosphärenchemie in Chemie unserer Zeit 2007, 41, Heft 4.
131
4.5 Zusammenhänge zwischen den Bindungseigenschaften
4.5
Zusammenhänge zwischen den Bindungseigenschaften
Die in den vorangegangenen Abschnitten behandelten Größen Bindungsenergie B.E., Gleichgewichtskernabstand d und Valenzkraftkonstante fr sind alle an der Potentialkurve des zweiatomigen Moleküls definiert worden. In Abbildung 4.4 sind diese Größen noch einmal für zwei kovalente Bindungen unterschiedlicher Stärke angegeben. Daraus erkennt man, dass es zwischen diesen Größen Zusammenhänge geben muss, denn wenn B.E. klein ist, ist d üblicherweise groß. Gleichzeitig wird fr , die Krümmung der Kurve im Minimum, dann klein. E A d1
B
A + B
d2
0
R D2
D1
B.E.2
B.E.1
Abb. 4.4 Energieverlaufskurven (Potentialkurven) für zwei kovalent gebundene Moleküle unterschiedlicher Bindungsenergie (R: variabler Kernabstand, d: Gleichgewichtskernabstand, fr: Valenzkraftkonstante = Krümmung der Kurve im Minimum, D: Dissoziationsenthalpie bei 0 K, B.E.: Bindungsenthalpie).
In der Literatur sind für zahlreiche Elementkombinationen AB empirisch gefundene Korrelationen angegeben worden, die im Prinzip für alle kovalenten Bindungen ähnlich sein müssen. Um dies zu verstehen, betrachten wir die CC-Bindungen in verschiedenen Verbindungen. Allgemein wird angenommen, dass Ethan eine CC-Einfachbindung enthält, die der im Diamant ähnelt. Im Ethen liegt eine CC-Doppelbindung vor und im Ethin eine CC-Dreifachbindung. Aus den Werten in Tabelle 4.7 geht hervor, dass sich die mittleren CC-Bindungsenergien dieser Moleküle in der Tat fast wie 1:2:3 verhalten. Entsprechendes gilt für die Valenzkraftkonstanten fr. Demgegenüber ändern sich die Kernabstände nur relativ wenig mit der Bindungsstärke, nämlich bei den genannten Molekülen um nur 22 %. Da sich alle Bindungseigenschaften kontinuierlich ändern können, lassen sich entsprechende Funktionen gegenseitiger Abhängigkeit zeichnen, wie sie in Abbildung 4.5 dargestellt sind.
132
4 Bindungseigenschaften
Tab. 4.7 Eigenschaften von CC-Bindungen in verschiedenen Verbindungen (d: Kernabstand, fr: Valenzkraftkonstante, m.B.E.: mittlere Bindungsenergie) Verbindung
Formel
d(CC) (pm)
fr(CC) (N cm–1)
m.B.E. (kJ mol–1)
Diamant
Cn
154.5
–
357
Ethan
C2H6
153.4
4.4
362
Graphit
Cn
141.5
–
478
Benzol
C6H6
139.8
6.7
504
Ethen
C2H4
133.9
9.2
582
Ethin
C2H2
120.3
15.6
759
fr 16 (N cmÕ1) 12
16 fr (N cmÕ1) 12
8
8
4
4
0 115
d (pm)
125
135
145
155 d (pm)
0
0
200
400 600 800 m.B.E. (kJ molÕ1)
160 150 140 130 120 110 300
400
500
600
700
800
m.B.E. (kJ molÕ1)
Abb. 4.5 Zusammenhänge zwischen verschiedenen messbaren Eigenschaften der CC-Bindungen in Diamant, Graphit und vier Kohlenwasserstoffen, gezeichnet nach den Werten in Tabelle 4.7 (d: Gleichgewichtskernabstand, fr: Valenzkraftkonstante, m.B.E.: mittlere Bindungsenthalpie).
Derartige Kurven, die es für viele Kombinationen nichtmetallischer Elemente gibt, können zur Abschätzung der Werte von d, fr bzw. m.B.E. durch Interpolation dienen. Daneben gibt es aber auch Ausnahmen von den hier geschilderten Zusammenhängen, vor allem, wenn Fluoratome beteiligt sind sowie bei metallischen Verbindungen.15 15
M. Kaupp, B. Metz, H. Stoll, Angew. Chem. 2000, 112, 4780 und zitierte Literatur.
4.6 Polarität kovalenter Bindungen und Elektronegativität
4.6
133
Polarität kovalenter Bindungen und Elektronegativität
4.6.1 Allgemeines Eine Bindung zwischen zwei Atomen wird als polar bezeichnet, wenn die Verteilung der Elektronen, insbesondere der Valenzelektronen, unsymmetrisch ist, so dass der Schwerpunkt der negativen Elektronenladungen nicht mit dem Schwerpunkt der positiven Kernladungen zusammenfällt. Praktisch sind alle Bindungen zwischen verschiedenen Atomen mehr oder weniger polar, ebenso Bindungen zwischen gleichen aber nicht-äquivalenten Atomen. Ein Beispiel dafür ist die SS-Bindung im Thiosulfat-Ion [SSO3]2–, das formal Schwefelatome in den Oxidationsstufen –2 und +6 enthält. Unpolar sind nur Bindungen zwischen gleichen Atomen in gleicher Umgebung, wie die Bindungen in den Molekülen O2, Cl2, S8 oder die NN-Bindung im N2H4. Ein direkter Nachweis der Polarität der SS-Bindung im Thiosulfat-Ion gelingt mittels ESCA (electron spectroscopy for chemical analysis), bei der es sich um eine Variante der Photoelektronenspektroskopie (PES) handelt (vgl. Kap. 2.4.4). Hierbei wird die feste oder gasförmige Verbindung durch Bestrahlung mit monochromatischer Röntgenstrahlung ionisiert und die kinetische Energie der abgespaltenen Elektronen gemessen. Damit kann die Ionisierungsenergie bzw. die Bindungsenergie (binding energy) dieser Elektronen bestimmt werden. Daher spricht man auch von XPS (X-Strahlen war der ursprüngliche Name für Röntgenstrahlen). Um die Ladung auf den Atomen einer Verbindung zu erhalten, ermittelt man die Ionisierungsenergie für innere Elektronen, die an der Bindung nicht direkt teilnehmen, deren Orbitalenergie aber von der Ladung auf dem betreffenden Atom abhängt. Im Falle des Schwefels, dessen Valenzelektronen in den Niveaus 3s und 3p gebunden sind, misst man beispielsweise die Ionisierungsenergie der 2p-Elektronen und vergleicht sie mit den Werten für elementaren Schwefel, dessen Atome ungeladen sind. Die Differenz zwischen diesen Werten ist eine Art chemischer Verschiebung, die allein auf die Ladung auf dem betrachteten S-Atom in der untersuchten Verbindung zurückzuführen ist. In Abbildung 4.6 sind als Beispiele die Photoelektronen-Spektren von S8 und dem Thiosulfat-Ion [SSO3]2– gezeigt. Man erkennt, dass das Ion zwei S-Atome enthält, deren Ladungen einmal positiv und zum anderen negativ sein müssen, da die Ionisierungsenergie einmal um 3.7 eV größer und zum anderen um 2.3 eV kleiner ist als die von S8 (164.2 eV). Eine negative Ladung auf dem Atom erniedrigt und eine positive erhöht die Ionisierungsenergie. Durch eine einfache elektrostatische Rechnung kann man die Atomladungen aus der chemischen Verschiebung ermitteln. Durch Vergleich der chemischen Verschiebung mit der anderer Verbindungen, die nur ein S-Atom enthalten (z.B. Sulfid, Sulfit, Sulfat), ergeben sich die Oxidationsstufen der beiden S-Atome im Thiosulfat-Ion zu –2 und +6.16 Das terminale S-Atom wird also bei der Ermittlung der Oxidationsstufen genauso behandelt wie die drei O-Atome. Für das qualitative Verständnis der Eigenschaften und Reaktionen chemischer Bindungen und Verbindungen ist der Begriff der Bindungspolarität von großer Bedeutung. Es gibt verschiedene empirische Möglichkeiten, um eine Vorstellung über die Größe und 16
B. J. Lindberg et al., Physica Scripta 1970, 1, 286.
134
4 Bindungseigenschaften S6+ S0 S2Õ
Intensität
5 eV
Na2S2O3
Ei
Intensität
5 eV
S8
Ei
Abb. 4.6 Photoelektronenspektren (XPS) von Natriumthiosulfat (oben) und von α-S8 (unten). Auf der Abszisse ist die Ionisierungsenergie (Ei) der 2p-Elektronen der Schwefelatome von rechts nach links ansteigend aufgetragen. Das Spektrum von Thiosulfat wurde durch Kurvenzerlegung in drei Komponenten aufgeteilt.
Richtung der Polarität kovalenter Bindungen zu erhalten. Das wichtigste Konzept ist das der Elektronegativität von Atomen, das im Folgenden erläutert wird. Daneben sind an kleinen Molekülen zahlreiche quantenchemische Rechnungen ausgeführt worden, die die Ladungsverteilung und insbesondere die Ladungsumverteilung bei der Molekülbildung aus Atomen aufzeigen. Darauf wird im Anschluss eingegangen.
4.6.2 Elektronegativitäten (χ) Der Begriff der Elektronegativität wurde 1932 von LINUS PAULING als die Fähigkeit eines Atoms definiert, in einem Molekül die Elektronen der kovalenten Bindung an sich zu ziehen. Trotz dieser etwas vagen Definition, die es nicht erlaubt, Elektronegativitäten direkt zu messen, hat dieser Begriff für die anorganische Chemie eine außerordentliche Bedeutung gewonnen. Die von PAULING zur Bestimmung von χ-Werten eingeführte Methode beruht auf den Bindungsenthalpien von Molekülen. Eine von ALLRED und ROCHOW entwickelte alternative Bestimmungsmethode basiert auf der effektiven Kernladungszahl und dem Kovalenzradius der Atome. Ein von ALLEN vorgeschlagenes Verfahren schließlich benutzt die Ionisierungsenergien der s- und p-Elektronen isolierter Atome. Die nach diesen drei Methoden ermittelten Werte für die Elektronegativitäten der Atome werden in der Literatur häufig verwendet. Daneben gibt es aber noch andere Methoden, Elektronegativitäten zu definieren und zu bestimmen,17 die weniger populär sind und auf die hier nicht eingegangen werden kann. 17
K. D. Sen, C. K. Jørgensen (Herausg.), Electronegativity, in: Struct. Bonding (Berlin) 1987, 66, 1–190.
4.6 Polarität kovalenter Bindungen und Elektronegativität
135
Thermodynamische Elektronegativitäten nach PAULING Zwischen unpolaren und stark polaren kovalenten oder gar ionischen Bindungen gibt es einen kontinuierlichen Übergang. Dies zeigt sich beispielsweise bei folgender Reihe binärer Fluoride: F2 – OF2 – NF3 – CF4 – BF3 – BeF2 – LiF Während die Bindung im homonuklearen Molekül F2 unpolar ist, ist LiF eine ionische Substanz und die Fluoride von C, B und Be enthalten stark polare kovalente Bindungen. Ähnlich ändert sich die Polarität in der Reihe der folgenden Hydride: HF – H2O – NH3 – CH4 – BH3 – LiH Während HF eine stark polare kovalente Bindung mit positiv polarisiertem Wasserstoff enthält, sind die Bindungen im Methan nur noch schwach polar, obwohl die H-Atome immer noch positiv geladen sind. Dagegen ist der Wasserstoff im BH3 negativ geladen und LiH ist ein Salz mit dem Anion H–. PAULING war nun aufgefallen, dass polare kovalente Bindungen sehr viel stärker sind als vergleichbare unpolare, wobei von ihm die thermodynamischen Bindungsenthalpien zur Charakterisierung herangezogen wurden. Beispielsweise haben die mittleren Bindungsenthalpien obiger Hydride, soweit sie kovalente Bindungen enthalten, folgende Werte (kJ mol–1): HF: 565 H2O: 465 NH3: 389 CH4: 415 Noch deutlicher wird der Trend, wenn man die Dissoziationsenthalpien und (harmonischen) Valenzkraftkonstanten der folgenden zweiatomigen Moleküle AB vergleicht: A–B: D00
mol–1):
(kJ fr (N cm–1):
HF
OH
NH
CH
566 9.7
424 7.8
335 6.0
334 4.5
PAULING nahm an, dass die Bindungsenergie eines hypothetischen unpolaren Moleküls AB gleich dem arithmetischen Mittel der Bindungsenergien in den homonuklearen Molekülen A2 und B2 sein sollte. Wenn man näherungsweise die Dissoziationsenergien verwendet, kann man schreiben: DAB =
1 2
(DA2 + DB2)
Angewandt auf Chlorwasserstoff ergibt sich: DHCl =
1 2
(DH2 + DCl2) =
1 2
(436 + 240) = 338 kJ molÕ1
Die experimentelle Dissoziationsenergie des HCl-Moleküls beträgt aber 432 kJ mol–1. Die Differenz von 96 kJ mol–1 ist nach PAULING auf die Polarität der kovalenten Bindung zurückzuführen. Für diese Differenz ∆ wurden die Begriffe ionische Resonanzenergie oder Ionen-Kovalenz-Resonanzenergie vorgeschlagen: DHCl =
1 2
(DH2 + DCl2) +
136
4 Bindungseigenschaften
Allgemein gilt also: DAB =
1 2
(DA2 + DB2) +
PAULING postulierte nun, dass ∆ dem Quadrat der Elektronegativitätsdifferenz der Atome A und B proportional sei: 96.5 xû(B) Õ û(A)x 2 ¬°Ó² xûx 2
Der Faktor 96.5 entspricht der Umrechnung des ∆-Wertes von kJ mol–1 in Elektronenvolt, die seinerzeit von PAULING benutzte Einheit für die Dissoziationsenthalpien. Die Elektronegativitätsdifferenz ∆χ ergibt sich damit zu û = ÏÓÍϺ.
Setzt man nun χ für irgendein Element willkürlich fest, dann sind damit alle anderen PAULING-Elektronegativitäten definiert. Als Bezugspunkt dient der Wasserstoff mit χP = 2.2. Damit ergibt sich beispielsweise χ(Cl) wie folgt: ûPØCl× = ÏÓÍϺ . ¬º Ö ûPØp× ÏÓÍϺ . ¬Ó²¬ Ö ºÓº ·Óº
In Tabelle 4.8 sind die χP-Werte nach PAULING für die Hauptgruppenelemente zusammengestellt. Die Zahlen basieren auf Literaturwerten für die mittleren Bindungsenthalpien zahlreicher Moleküle.18 Man erkennt, dass die Elektronegativität in den Hauptgruppen des Periodensystems von links unten nach rechts oben hin ansteigt. Das elektronegativste aller derjenigen Elemente, von denen Verbindungen bekannt sind, ist damit das Fluor (χP = 4.0). Die χP-Werte der Nebengruppenelemente liegen alle zwischen 1.2 und 2.5. Die Brauchbarkeit der Elektronegativitäten nach PAULING zur Abschätzung von Bindungspolaritäten, zur Beschreibung induktiver Effekte und zur Korrektur von Kernabständen ist erwiesen. Die Genauigkeit, mit der die Zahlenwerte χP ermittelt werden können, darf jedoch nicht überschätzt werden. Einerseits sind manche Bindungsenergien nur mit mäßiger Zuverlässigkeit bekannt, andererseits kann nicht jede Bindungsverstärkung nur auf den Elektronegativitätsunterschied der beteiligten Atome zurückgeführt werden. Vielmehr hat auch die Koordinationszahl einen Einfluss, so dass einem Element je nach Koordinationszahl eigentlich verschiedene χP-Werte zugeordnet werden müssen. Weiterhin können wie in den Molekülen BF3, SiF4 und PF3 Mehrfachbindungsanteile vorliegen, die eine hohe Ionen-Kovalenz-Resonanzenergie vortäuschen. Zur Berechnung der χP-Werte dürfen daher nur die Bindungsenergien solcher Moleküle herangezogen werden, in denen sich die Atome in normalen Bindungszuständen befinden und in denen reine Einfachbindungen vorliegen. Außerdem sollten alle Atome eine Edelgaskonfiguration aufweisen. Elektronegativitäten nach ALLRED und ROCHOW A. L. ALLRED und E. G. ROCHOW haben einen einfachen elektrostatischen Ansatz zur Berechnung von Elektronegativitäten vorgeschlagen, der große Popularität erlangt hat. In einer kovalenten Bindung zwischen den Atomen A und B konkurrieren die Atomrümpfe von A und B um die Bindungselektronen. Die Anziehungskraft K jedes der beiden Atomrümpfe auf die Bindungselektronen kann durch folgende Form von COULOMB’s Gesetz ausgedrückt werden: 18
A. L. Allred, J. Inorg. Nucl. Chem. 1961, 17, 215 und D. Quane, ibid. 1971, 33, 2722.
137
4.6 Polarität kovalenter Bindungen und Elektronegativität
Tab. 4.8 Elektronegativitäten der Hauptgruppenelemente Atom
χP
χAR
χspec
H
2.20
2.20
2.30
Li
0.98
0.97
0.91
Be
1.57
1.47
1.58
B
2.04
2.01
2.05
C
2.55
2.50
2.54
N
3.04
3.07
3.07
O
3.44
3.50
3.61
F
3.98
4.10
4.19
(PAULING)
(ALLRED/ROCHOW)
Ne
(ALLEN)
4.79
Na
0.93
1.01
0.87
Mg
1.31
1.23
1.29
Al
1.61
1.47
1.61
Si
1.90
1.74
1.92
P
2.19
2.06
2.25
S
2.58
2.44
2.59
Cl
3.16
2.83
2.87
Ar
3.24
K
0.82
0.91
0.73
Ca
1.00
1.04
1.03
Ga
1.81
1.82
1.76
Ge
2.01
2.02
1.99
As
2.18
2.20
2.21
Se
2.55
2.48
2.42
Br
2.96
2.74
2.69
Kr
2.97
Rb
0.82
0.89
0.71
Sr
0.95
0.99
0.96
In
1.78
1.49
1.66
Sn
1.96
1.72
1.82
Sb
2.05
1.82
1.98
Te
2.10
2.01
2.16
I
2.66
2.21
2.36
Xe
2.58
138
4 Bindungseigenschaften
1 4Áo
K=
Zeff .e2
Zeff : effektive Kernladungszahl r : Kovalenzradius
r2
Dabei wird angenommen, dass sich die Bindungselektronen mit größter Wahrscheinlichkeit in dem Abstand vom Atomkern aufhalten, der durch den Kovalenzradius gegeben ist (Abschnitt 4.3). Die effektive Kernladung Zeff wird nach bestimmten Regeln berechnet.19 Hieraus ergibt sich, dass die Elektronegativität eines Atoms dem Quotienten Zeff/r2 proportional sein sollte: Zeff r2 Um Zahlenwerte berechnen zu können, muss man noch einen Proportionalitätsfaktor einführen. In der folgenden Gleichung wurden der Faktor und der Summand so gewählt, dass eine optimale Übereinstimmung der damit berechneten χAR-Werte mit denen der PAULING-Skala erreicht wird:
û s
ûAR ÏÓ·²¬ .
Zeff Ö ÏÓ¯´´ r2
Trägt man diese ALLRED-ROCHOW-Elektronegativitäten gegen die PAULING-Werte der entsprechenden Elemente auf, streuen die Punkte grob um eine nahezu gerade Linie. Das bedeutet, dass beide Systeme im Wesentlichen äquivalent sind, wenn auch die Werte einzelner Elemente voneinander abweichen. Für die Hauptgruppenelemente sind die ALLREDROCHOW-Elektronegativitäten in Tabelle 4.8 und in Abbildung 4.7 enthalten. Man erkennt, dass die Elektronegativität in einer Periode des Periodensystems von links nach rechts ansteigt. Der Anstieg in einer Gruppe von unten nach oben ist jedoch nicht gleichförmig. Das ist auf den Einfluss der dazwischen liegenden Nebengruppenelemente zurückzuführen. Periode 1.
Li
Be
B
C
N
O
F
2. 3. 4. 5. 6.
0
1
2
3
4 û (Allred-Rochow)
Abb. 4.7 Gang der Elektronegativitäten nach ALLRED und ROCHOW in den Hauptgruppen des Periodensystems. Man beachte die Unstetigkeit in der 3. Periode, die auf die zwischenzeitlich erfolgte Besetzung der d-Orbitale bei den Nebengruppenelementen zurückzuführen ist. 19
G. Burns, J. Chem. Phys. 1964, 41, 1521 und zitierte Literatur.
4.6 Polarität kovalenter Bindungen und Elektronegativität
139
Die χAR-Werte der Nichtmetalle sind in dieser Skala alle größer als 1.8, die der Metalle sind kleiner als 1.5 und im Bereich 1.4 bis 1.8 liegen die Elemente, die sowohl in metallischen wie nichtmetallischen Modifikationen auftreten (Metalloide). Man sollte jedoch bedenken, dass Elektronegativitäten von Atomen nicht für jede Bindungssituation konstant sein können. Das ergibt sich zwanglos aus obiger Gleichung, denn der Kovalenzradius eines Atoms hängt vom Bindungsgrad ab. Eine Mehrfachbindung ist kürzer als eine Einfachbindung, so dass das betreffende Atom also in der Mehrfachbindung eine höhere Elektronegativität aufweist als in der Einfachbindung. Dieses Ergebnis stimmt mit der chemischen Erfahrung überein. Spektroskopische Elektronegativitäten nach ALLEN Die bisher behandelten Systeme von PAULING und ALLRED/ROCHOW benutzen Moleküleigenschaften, um die Elektronegativität von Atomen zu bestimmen. Die Methode von L. C. ALLEN verwendet dagegen spektroskopisch an isolierten Atomen bestimmbare Energien zur Berechnung der jeweiligen Elektronegativität. Nach den heutigen theoretischen Vorstellungen sind bei allen Hauptgruppenelementen hauptsächlich die s- und p-Elektronen an kovalenten Bindungen beteiligt. Die Orbitalenergien dieser Elektronen sollten folglich ein Maß für die Anziehung des Atomrumpfes auf die Valenzelektronen sein. ALLEN definiert daher die Elektronegativität als die mittlere absolute Orbitalenergie der Valenzelektronen: m . Áp + n . Ás ûspec m +n Hierin sind m und n die Zahl der p- bzw. s-Elektronen des betrachteten Atoms. Für die absoluten Orbitalenergien ε werden die Ionisierungsenergien der Elektronen in dem betreffenden Orbital verwendet (in Elektronenvolt), wobei im Falle von Multipletts eine Mittelung vorgenommen wird.20 Diese so genannten spektroskopischen Elektronegativitäten (χspec) stimmen sehr gut mit den Werten von PAULING einerseits und mit denen von ALLRED und ROCHOW andererseits überein, wenn man sie mit dem Faktor 0.169 multipliziert, was bei den Werten in Tabelle 4.8 geschehen ist. Insbesondere wird auch hier gefunden, dass Germanium eine etwas höhere Elektronegativität aufweist als Silicium. Die Methode von ALLEN erlaubt es, auch die Elektronegativitäten von Edelgasatomen zu bestimmen. Die erhaltenen Werte sind erwartungsgemäß etwas größer als die der Halogenatome, die im Periodensystem links neben dem betreffenden Edelgas stehen. Der allgemeine Trend, wonach die Elektronegativitäten in den Perioden von links nach rechts stetig ansteigen, setzt sich also bis zur 18. Gruppe fort. Dies ist besonders gut aus Abbildung 4.8 zu erkennen, in der die Elektronegativitäten als dritte Dimension des Periodensystems aufgetragen sind. Mit ALLEN’s Methode kann man auch zeigen, dass und wie die Elektronegativität eines Atoms von seiner Partialladung abhängt, da diese unmittelbar die Ionisierungsenergie (Ei) beeinflusst. Beispielsweise beträgt Ei des neutralen Kohlenstoffatoms 11.3 eV. Für das Kation C+ gilt dagegen Ei = 24.4 eV und für das einfach geladene Anion C– gilt Ei = 1.6 eV. Demgemäß erhöht eine positive Partialladung die Elektronegativität und eine negative verringert sie. Dieser Zusammenhang ist für die Bestimmung von Gruppenelektronegativitäten außerordentlich wichtig.
20
L. C. Allen, J. Am. Chem. Soc. 1989, 111, 9003.
140
4 Bindungseigenschaften
Ne
H Be
Li
Mg
Na
Ca
K Rb
Ge
Ga
Sr
In
Sn
As Sb
Ar
Cl
S
P
Si
Al
O
N
C
B
F
Kr
Br
Se
Te
I
Xe
Abb. 4.8 Größe der spektroskopischen Elektronegativität nach ALLEN als „dritte Dimension des Periodensystems“ in den Hauptgruppen. Die Höhe der Säulen entspricht dem Wert von χspec. Man beachte die Sonderstellung des H-Atoms.
Gruppenelektronegativitäten Elektronegativitäten lassen sich nicht nur für Atome, sondern auch für Atomgruppen (Substituenten) definieren und ermitteln. Gruppenelektronegativitäten kann man sowohl berechnen21 als auch aus den chemischen Verschiebungen in Kernresonanzspektren sowie aus den Valenzschwingungen zweiatomiger Gruppen in größeren Molekülen ableiten (Abschnitt 4.4.2). Auch andere Bestimmungsmethoden sind bekannt. Die Ergebnisse differieren jedoch je nach Methode mehr oder weniger stark; sie hängen auch davon ab, mit welchem Bindungspartner die betrachtete Gruppe verbunden ist. Immer ist jedoch der typische induktive Effekt der Nachbaratome zu erkennen. Beispielsweise steigt die Gruppenelektronegativität in der Reihe –CH3 (χ = 2.3), –CCl3 (2.8), –CF3 (3.4) stark an, da die Chlor- bzw. Fluoratome wegen ihrer verglichen mit Wasserstoff größeren Elektronegativität Elektronendichte vom C-Atom abziehen und damit dessen positive Partialladung und folglich auch seine Elektronegativität erhöhen.
4.6.3 Das Bindungsmoment Polare Bindungen besitzen ein permanentes Dipolmoment µ. Dieses so genannte Bindungsmoment setzt sich aus mehreren Anteilen zusammen. Formal lässt sich das Dipolmoment einer Bindung in vier Anteile zerlegen:22 µ = µe + µat + µhom + µpol
Der erste Summand (µe) gibt den Anteil des Dipolmomentes wieder, der von der Übertragung der Ladung δe von einem Atom auf das andere infolge einer Elektronegativitätsdifferenz herrührt. Dieser Ladungsübergang führt zu einer positiven Partialladung am 21 22
S. G. Bratsch, J. Chem. Educ. 1988, 65, 223; D. Bergmann, J. Hinze, Struct. Bonding (Berlin) 1985, 66, 145. M. Klessinger, Angew. Chem. 1970, 82, 534.
4.6 Polarität kovalenter Bindungen und Elektronegativität
141
weniger elektronegativen Atom A und zu einer gleich großen negativen Ladung am Partneratom B: Â+
ÂÕ
A B Ist d der Kernabstand, so gilt µe = δe · d. Infolge der positiven Partialladung wird die Elektronegativität des Atoms A erhöht und umgekehrt wird die des Atoms B infolge der negativen Partialladung erniedrigt. Nach dem Prinzip des Elektronegativitätsausgleiches erfolgt der Ladungsübergang nun gerade so, dass die aktuellen Elektronegativitäten von A und B im Molekül AB gleich groß werden:
isolierte Atome: û(A) < û(B) Atome im Molekül AB: û(AÂ+) = û(BÂÕ)
Ist dieser Zustand erreicht, herrscht Gleichgewicht bei der Ladungsverteilung. In einem kleinen Molekül haben danach die Atome eine mittlere Elektronegativität, die sich ungefähr aus dem geometrischen Mittel der Neutralatom-Elektronegativitäten ergibt.23 Zwei Punktladungen e+ und e– im Abstand von 100 pm erzeugen ein Dipolmoment von 4.8 D. Würde zum Beispiel das zweiatomige gasförmige Molekül KCl (d = 266.7 pm) aus den Ionen K+ und Cl– bestehen, dann betrüge das Dipolmoment 12.8 D. Das beobachtete Dipolmoment beträgt demgegenüber nur 10.27 D, woraus folgt, dass die Partialladungen in diesem Ionenpaar nur 80 % einer Elementarladung ausmachen (δ = 0.8). Als vektorielle Größe hat das Dipolmoment eine Richtung. Meistens wird der negative Pol als Ausgangspunkt des Vektors angesehen. Im kristallinen KCl sind die Atom- bzw. Ionenladungen noch geringer als im gasförmigen Molekül. Mittels Photoelektronenspektroskopie kann die Ladung auf den Atomen eines Moleküls direkt bestimmt werden. In Tabelle 4.9 sind beispielsweise die relativen IonisieTab. 4.9 Differenz der Ionisierungsenergien ∆Ei der 1s-Elektronen des Kohlenstoffs in verschiedenen Verbindungen bezogen auf Methan (bestimmt mittels XPS) Molekül
∆Ei (eV)
C2H6
–0.20
C2H4
–0.10
CH4
0.00
CH3COCH3
1.40
CH3OH
1.60
CH3F
2.80
CH2O
3.30
C2F4
5.58
CH2F2
5.60
CHF3
8.28
CF4 23
11.00
R. T. Sanderson, J. Chem. Educ. 1988, 65, 112 und 227. Bei größeren Molekülen ist auch die Konnektivität für die Ladung der Atome von Bedeutung.
142
4 Bindungseigenschaften
rungsenergien der 1s-Elektronen des Kohlenstoffatoms in verschiedenen Molekülen24 aufgeführt, die das Ausmaß der Ladungsübertragung demonstrieren. Man erkennt, dass Fluoratome einen größeren Einfluss haben als Sauerstoff. Bei den fluorierten Methanderivaten CHmFn steigt die Ionisierungsenergie des C-Atoms mit jedem F-Atom um ca. 2.75 eV an. Das Zentralatom in CF4 muss hochgradig positiv geladen sein, da die 1s-Ionisierungsenergie des C-Atoms dieses Moleküls um 11 eV größer ist als die von CH4. Der zweite Beitrag zum Bindungsmoment ist das atomare Dipolmoment (µat), das durch die Asymmetrie der Ladungsverteilung in bestimmten Molekülorbitalen zustande kommt. Bei einem stark asymmetrischen Molekülorbital wie dem HOMO von NH3 (Abb. 4.9) liegt der Schwerpunkt der Elektronenladung nicht mehr wie bei einem Atomorbital im Atomkern. Daraus resultiert ein Dipolmoment, das man als atomares Dipolmoment bezeichnet, weil es sozusagen an einem einzelnen Atom des Moleküls lokalisiert ist. Dieses atomare Moment erklärt zum Beispiel die Tatsache, dass das Dipolmoment von NH3 (1.468 D) viel größer ist als das von NF3 (0.235 D), obwohl die Elektronegativitätsdifferenz zwischen N und F (∆χAR = 1.0) etwas größer ist als die zwischen N und H (∆χAR = 0.9). Wie in Abbildung 4.9 gezeigt wird, kommen diese molekularen Dipolmomente durch Vektoraddition der Komponenten µe und µat zustande.
µat µges
N H
H
µat
H
µe
µges
N F
F
F
µe
Abb. 4.9 Vektorielle Addition der Dipolmomente µe und µat der Moleküle NH3 und NF3 zum Gesamtdipolmoment µges (Symmetrie C3v).
Die Moleküle NH3 und NF3 sind beide von C3v-Symmetrie. Zunächst addieren sich die drei Momente µe der NH-Bindungen zu einem Dipolvektor, dessen positives Ende im Schwerpunkt der drei H-Atome liegt. Hinzu kommt das atomare Moment, dessen positives Ende im Kern des Stickstoffatoms liegt. Beide Momente (µe und µat) haben folglich die gleiche Richtung und addieren sich zum Gesamtmoment µges. Beim NF3 dagegen haben die elektrostatischen Momente µe eine andere Richtung als beim NH3. Das positive Ende liegt jetzt im Kern des Stickstoffatoms, da Fluor gegenüber Stickstoff die größere Elektronegativität aufweist. Dadurch entsteht auf dem N-Atom eine positive Partialladung. Diese führt dazu, dass das nichtbindende HOMO kontrahiert, wodurch das atomare Moment nicht so groß ist wie beim NH3; es hat aber nach wie vor die gleiche Richtung wie beim NH3. Folglich kommt es bei der Vektoraddition zu einer teilweisen Kompensation von µe und µat, weswegen das Gesamtmoment µges nur 16 % des Wertes vom NH3 beträgt. Außerdem hat das Gesamtmoment von NF3 die entgegengesetzte Richtung zu der von NH3. Für das chemische Verhalten von NH3 (starke LEWIS-Base) und NF3 (sehr schwache LEWIS-Base) sind diese Dipolmomente von entscheidender Bedeutung. Der Beitrag µhom zum Bindungsmoment heißt homöopolares Dipolmoment oder Asymmetriedipolmoment und ist durch die verschiedene Größe zweier überlappender Orbitale
24
Daten nach D. Bergmann, J. Hinze, Angew. Chem. 1996, 108, 162.
4.6 Polarität kovalenter Bindungen und Elektronegativität
143
bedingt. Das homöopolare Dipolmoment ist stets vom Atom mit dem kleineren Orbital (negatives Ende) zu dem mit dem größeren Orbital gerichtet, da die Überlappung immer näher am Kern des kleineren Atoms erfolgt (Abb. 4.10) und weil die Elektronendichte im Überlappungsgebiet bei der Bindungsbildung zunimmt. Der Beitrag µhom ist daher z.B. im HCl-Molekül dem Dipolmoment µe (H←Cl) entgegengesetzt gerichtet.
+
+
-
µhom
Abb. 4.10 Das homöopolare Dipolmoment einer kovalenten Bindung als Folge der unterschiedlichen Größe der beteiligten Orbitale. Diese Komponente des molekularen Dipolmomentes ist vom kleineren auf das größere Atom gerichtet, da die Ladungsanhäufung im Überlappungsbereich näher am kleineren Atom stattfindet.
Bisher wurde stillschweigend angenommen, dass sich die drei Momente µe, µat und µhom gegenseitig nicht beeinflussen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Den polarisierenden Einfluss dieser drei Dipolmomente auf die Ladungsverteilung in der Bindung berücksichtigt man daher durch ein Korrekturglied µpol. Diese einzelnen Beiträge zum Bindungsmoment lassen sich, wenn überhaupt, nur rechnerisch voneinander isolieren. Dabei zeigt sich, dass sie oft verschiedene Vorzeichen besitzen, sich also teilweise kompensieren. Allgemein kann man feststellen, dass die Bindungspolarität bei kleinen Elektronegativitätsunterschieden der beteiligten Atome nur durch eine eingehende Analyse und Abschätzung aller Beiträge nach Größe und Richtung ermittelt werden kann. Bei Bindungen zwischen Atomen sehr unterschiedlicher Elektronegativität wird dagegen der auf die Ladungsübertragung zurückgehende Anteil des Bindungsmomentes (µe) alle anderen Komponenten übertreffen und somit für die Polarität maßgeblich sein. Stark polare Bindungen dieses Typs liegen beispielsweise bei folgenden Elementkombinationen vor: E–F (E: H, B, C, N, Si, P, S), E–O (E: H, B, C, Si, P, S) und E–Cl (E: B, Si). In allen diesen Fällen ist der Elektronegativitätsunterschied gleich oder größer als 1. Für der Beurteilung der Bindungspolarität ist jedoch nicht nur die Elektronegativitätsdifferenz sondern auch die Ladungskapazität κ wichtig.25 Darunter versteht man den Kehrwert der 1. Ableitung der Elektronegativität nach der Ladung Q eines neutralen Atoms: 1 Âû » = ÂQ Q = 0
Kleine elektronegative Atome wie F, O und N haben eine kleine Ladungskapazität. Zwar ziehen sie im neutralen Zustand Elektronen stark an, sie sind aber auch rasch gesättigt, d.h. die Elektronegativität sinkt mit zunehmender negativer Partialladung δQ rascher ab als bei großen Atomen. Das kann man an folgendem Beispiel zeigen. Das Fluoratom weist eine Elektronenaffinität von 3.45 eV auf, d.h. das Ion F– (Ladung –1 e) ist um diesen Energiebetrag stabiler als das neutrale Atom zusammen mit einem isolierten Elektron. Ein Fluoratom mit einer Partialladung von nur –0.65 e ist jedoch um 4.2 eV stabiler als das Neutralatom! Die Steigerung der negativen Atomladung von –0.65 auf –1.00 führt also zu einem Anstieg der Energie. 25
P. Politzer et al., J. Mol. Struct. (Theochem) 1992, 259, 99.
144
4 Bindungseigenschaften
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Dipolmoment eines Moleküls eine Messgröße ist, die in komplexer Weise aus einzelnen Komponenten zusammengesetzt ist und die daher nicht ohne eine vorherige Zerlegung in ihre Komponenten zur Ermittlung der Polarität kovalenter Bindungen herangezogen werden sollte. Ob ein Molekül insgesamt ein Dipolmoment aufweist, hängt von seiner Symmetrie ab. Nur Moleküle, die zu den Punktgruppen Cn, Cs und Cnv (n = 1, 2, …) gehören, können ein Dipolmoment haben. Bei allen anderen führt die höhere Symmetrie zu einer vollständigen Kompensation der Dipolmomentvektoren. So hat SiF4 zwar stark polare Bindungen, sein Dipolmoment ist jedoch Null. Die Dipolmomente von kovalenten Bindungen und von Molekülen spielen eine große Rolle bei der intermolekularen Anziehung (Assoziation; siehe Kap. 3), bei der Komplexbildung zwischen Metall-Ionen und Liganden, bei der Absorption von infraroter Strahlung, bei Wasserstoffbrücken-Bindungen und vor allem auch bei der Reaktivität von Molekülen. Eine Tabelle mit Dipolmomenten wichtiger Moleküle findet sich im Kapitel 3.
4.7
Elektronendichteverteilung in Molekülen und Kristallen
Quantenchemische Rechnungen ergeben nicht nur die Geometrie und die Energie von Molekülen, sondern man erhält auch ein vollständiges Bild der Elektronendichteverteilung im Molekül. In Abbildung 2.29 sind Konturliniendiagramme der Gesamtelektronendichte in den Molekülen H2O und H2S dargestellt. Darüber hinaus kann man auch die Dichteverteilung der Elektronen in den einzelnen Orbitalen berechnen. Dies ist in Abbildung 2.22 für das O2-Molekül gezeigt. Aufschlussreicher für das Verständnis der chemischen Bindung ist allerdings die Ladungsumverteilung, die stattfindet, wenn sich das Molekül aus den Atomen bildet. Bei dieser Analyse befinden sich zunächst die ungebundenen Atome auf den gleichen Positionen im Raum wie im späteren Molekül, jedoch ist die Bindung noch nicht „eingeschaltet“ worden. Man nennt diesen hypothetischen Zustand das Promolekül. Man berechnet nun die Elektronendichten einerseits für das Promolekül und andererseits für das wirkliche Molekül und zieht beide Ergebnisse voneinander ab. Damit erhält man Dichtedifferenzkarten, die die Umverteilung der Elektronen bei der Errichtung kovalenter Bindungen zeigen. Diese Differenzdichte wird auch als Deformationsdichte bezeichnet. In Abbildung 4.11a ist dies für das F2-Molekül gezeigt. Man erkennt, wie sich bei der Molekülbildung die Elektronendichte in der Mitte zwischen den Kernen erhöht und wie sie in der Nähe der Kerne abnimmt. Gleichzeitig findet aber auch eine Erhöhung der Ladungsdichte auf der der Bindung abgewandten Seite des Moleküls statt. Die beiden Atome polarisieren sich also gegenseitig. Bei dieser Rechnung wurde das Promolekül aus zwei F-Atomen so konstruiert, dass die beiden einfach besetzten 2pz-AOs auf der Molekülachse liegen.26 Führt man die analoge Rechnung für zwei Neonatome durch, ergibt sich, dass beim hypothetischen Ne2-Molekül in der Mitte zwischen 26
L. G. Vanquickenborne, in P. L. Huyskens, W. A. P. Luck, T. Zeegers-Huyskens (Herausg.), Intermolecular Forces, Kap. II, Springer, Berlin, 1991, S. 31. Siehe auch K. L. Kunze, M. B. Hall, J. Am. Chem. Soc. 1986, 108, 5122.
145
4.7 Elektronendichteverteilung in Molekülen und Kristallen
den Kernen eine Dichteabnahme erfolgt, wodurch es zu einer starken Abstoßung der Atomkerne kommt (Abb. 4.11b).
(a)
(b)
Abb. 4.11 Berechnete Elektronendichtedifferenzkarten für das Molekül F2 (a) und für das hypothetische Molekül Ne2 bei einem Kernabstand von 159 pm (b). Die Konturlinien verbinden Punkte gleicher Dichtezu- bzw. -abnahme. Ausgezogene Linien bezeichnen Bereiche, in den die Dichte bei der Errichtung der kovalenten Bindung in F2 bzw. bei der Annäherung der beiden Ne-Atome zunimmt. Die punktierten Linien sind das Bild der Knotenebenen, während die gestrichtelten Linien Bereiche bezeichnen, in denen die Dichte abnimmt. Mit Genehmigung nach L. G. Vanquickenborne in P. L. Huyskens, W. A. P. Luck, T. Zeegers-Huyskens (Herausg.), Intermolecular Forces, Kap. II, Springer, Berlin, 1991.
Elektronendichten in Molekülen lassen sich seit einigen Jahren auch experimentell bestimmen, und zwar durch sehr genaue Röntgenbeugungsmessungen an Einkristallen bei tiefen Temperaturen (optimal bei 4 K), wobei eine sehr große Zahl von Reflexen gemessen werden muss. Dabei erhält man die Dichteverteilung in Molekülen auch unter dem Einfluss der Nachbarmoleküle.27 Aus Ergebnissen dieser Art geht hervor, dass bei Errichtung einer kovalenten Bindung eine komplizierte Ladungsumverteilung in den Atomen stattfindet. Die oben diskutierten Werte der Partialladungen auf Atomen in Molekülen geben daher die tatsächlichen Verhältnisse nur unzureichend wieder. Alle Ergebnisse zeigen vielmehr, dass die Ladungsumverteilung meistens stark anisotrop ist. Auch sind die Atome in Molekülen nicht mehr kugelsymmetrisch, sondern zumindest im Bereich der Valenzelektronen asphärisch.
27
P. Coppens, Angew. Chem. 2005, 117, 6970. T. S. Koritsánszky, P. Coppens, Chem. Rev. 2001, 101, 1583.
146
147
Teil II: Chemie der Nichtmetalle Von den ca. 110 bekannten chemischen Elementen gelten 23 als Nichtmetalle. Das einzige streng gültige Kriterium, um zwischen Metall und Nichtmetall zu unterscheiden, ist die elektrische Leitfähigkeit bei 0 K. Bei dieser Temperatur haben die Metalle eine endliche Leitfähigkeit (die Supraleiter eine unendlich große Leitfähigkeit), während die Leitfähigkeit der Nichtmetalle Null ist, das heißt, sie sind Isolatoren. Bei höheren Temperaturen ist die Unterscheidung nicht mehr eindeutig, da einerseits manche Nichtmetalle eine gewisse elektrische Leitfähigkeit aufweisen, die durch Erhöhung des Druckes bei gleichzeitig erhöhter Temperatur bis zu Werten gesteigert werden kann, die typisch für Metalle sind.1 Andererseits nimmt die Leitfähigkeit vieler Metalle bei erhöhter Temperatur (z.B. im fluiden, überkritischen Zustand) so stark ab, dass sie als nichtmetallisch angesehen werden können. Hinzu kommt, dass manche Elemente bei Normaldruck und 25°C in mehreren Modifikationen existieren, von denen einige Isolatoren, andere Halbleiter und wieder andere metallische Leiter sein können. Beispiele dafür sind Diamant/Graphit, weißer/violetter/ schwarzer Phosphor, gelbes/graues Arsen und rotes/graues Selen. Erst recht ändern sich die physikalischen Eigenschaften bei Erhöhung des Druckes. So ist elementarer Schwefel unter Standardbedingungen ein sehr guter Isolator, aber bei sehr hohem Druck wird Schwefel ein Halbleiter, der bei sehr tiefen Temperaturen sogar supraleitend wird (bei <17 K und 160 GPa). Dennoch ist es gerechtfertigt, die Chemie der Nichtmetalle gesondert zu betrachten, da es zwischen den hier behandelten 22 Elementen viele chemische Ähnlichkeiten gibt. Diese sind eine Folge der Valenzelektronenkonfiguration, die bei den Nichtmetallen durch eine Besetzung von s- und p-Orbitalen charakterisiert ist, während die d-Orbitale an den kovalenten Bindungen praktisch nicht beteiligt sind. Die atomaren Ionisierungsenergien der Nichtmetalle (7.9–24.6 eV) sind daher deutlich größer als die der meisten Metalle. Das vorliegende Buch befasst sich mit der Chemie der Elemente Wasserstoff, Bor, Kohlenstoff, Silicium und Germanium, sowie der Pniktide Stickstoff, Phosphor und Arsen, der Chalkogene Sauerstoff bis Tellur, der Halogene Fluor bis Iod und der Edelgase Helium bis Radon.
1
Beispielsweise hat die elektrische Leitfähigkeit von Wasserstoff bei einem Druck von 180 GPa und einer Temperatur von 4400 K einen Wert von 2000 Ω–1 cm–1, der dem fluider (überkritischer) Alkalimetalle entspricht; F. Hensel, P. P. Edwards, Chem. Eur. J. 1996, 2, 1201. Sauerstoff wird bei einem Druck von 96 GPa metallisch leitend; P. P. Edwards, F. Hensel, ChemPhysChem. 2002, 3, 53.
148
149
5.1 Elementarer Wasserstoff
5
Wasserstoff
Wasserstoff 2 ist in vieler Hinsicht ein Rekordhalter unter den chemischen Elementen.3 Beispielsweise ist Wasserstoff das bei weitem häufigste Element im Sonnensystem mit einem Anteil von 71 Massen-% oder 91 Atom-%. An der Erdoberfläche, bestehend aus Atmosphäre, Erdkruste (Lithosphäre), Hydrosphäre und Biosphäre, hat das Element Wasserstoff allerdings nur einen Massenanteil von weniger als 1 %. Ein Mensch besteht gewichtsmäßig zu etwa 10 % aus Wasserstoff. Wasserstoffatome sind kleiner und leichter als alle anderen Atome. Sie bilden Verbindungen mit fast allen anderen Elementen. Die Zahl dieser Verbindungen ist, wenn man die organischen Wasserstoffverbindungen mit berücksichtigt, größer als die jedes anderen Elementes. Die häufigste Wasserstoffverbindung und zugleich wichtige Quelle für elementaren Wasserstoff ist natürlich das Wasser, das zu 11.2 Massen-% aus H besteht. Daneben spielen Kohlenwasserstoffe (Erdgas, Erdöl) eine bedeutende Rolle für die industrielle Wasserstoffgewinnung. Mehr als 80 % des in Europa verbrauchten Wasserstoffs werden aus Wasser und fossilen Brennstoffen, d.h. aus Kohle und Kohlenwasserstoffen (z.B. Erdgas) erzeugt, wobei CO2 als Nebenprodukt entsteht. Für eine umweltfreundliche Energiewirtschaft müssen jedoch andere Methoden der H2-Erzeugung aus Wasser entwickelt werden, beispielsweise durch photochemische Wasserspaltung oder auf mikrobiologischem Wege durch die Aktivität von bakteriellen Enzymen (Hydrogenasen).4
5.1
Elementarer Wasserstoff
Wasserstoff wird technisch durch die folgenden vier Verfahren hergestellt, von denen das erstgenannte in Europa die weitaus größte Bedeutung hat:5 (a) Katalytische Reduktion von Wasserdampf mit Methan (aus Erdgas) oder anderen niederen Alkanen bei 800–900°C an einem Nickelkatalysator (Steam-Reforming-Verfahren): CH4 + H2O
3 H2 + CO
° = 207 kJ mol¾1 H298
Diese Reaktion ist endotherm und bedarf daher einer exothermen Begleitreaktion. Dazu dient die Verbrennung von Methan, womit der Reaktor von außen beheizt wird.
2 3 4 5
M. Kakiuchi, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1882. H.-J. Quadbeck-Seeger, R. Faust, G. Knaus, U. Siemeling, World Records in Chemistry, WileyVCH, Weinheim, 1999. Siehe hierzu das Themenheft „Wasserstoff“ in Chem. Rev. 2007, 107, Heft 10. K. H. Büchel, H.-H. Moretto, P. Woditsch, Industrielle Anorganische Chemie, 3. Auflage, WileyVCH, Weinheim, 1999, S. 15–21.
150
5 Wasserstoff
Zur Entfernung des CO wird das noch Wasserdampf enthaltende Gasgemisch bei 300–400°C und erhöhtem Druck über einen chromaktivierten Eisenoxidkatalysator und anschließend bei 220°C über einen kupfer- und zinkhaltigen Katalysator geleitet. Diese Katalysatoren beschleunigen die Einstellung des folgenden Wassergas-Gleichgewichtes: CO + H2O
H2 + CO2
° = ¾41 kJ mol¾1, G298 ° = ¾28 kJ mol¾1 H298
Das CO2 wird aus dem Gasgemisch entweder mit Methanol, Monoethanolamin (MEA) oder Methyldiethanolamin (MDEA) ausgewaschen oder besser unter erhöhtem Druck adsorbiert, was zu sehr reinem H2 führt. Durch Erwärmen der Lösungen bzw. durch Druckminderung über dem Adsorber kann das CO2 freigesetzt werden. (b) Reduktion von Wasserdampf mit glühendem Koks bei >1000°C (Kohlevergasung) nach der Gleichung H2O + Cf.
H2 + CO
und anschließende katalytische Reduktion von weiterem H2O durch das entstandene CO (Wassergas-Gleichgewicht; siehe oben). Gemische aus H2 und CO heißen Synthesegas (Syngas) oder Wassergas. (c) Die Elektrolyse wässriger Salzlösungen (z.B. bei der technischen ChloralkaliElektrolyse zur Produktion von NaOH und Cl2; Kap. 13.5.1) liefert sehr reinen Wasserstoff, benötigt aber viel elektrischer Energie: NaCl + H2O
Energie
NaOH +
1 2
H2 +
1 2
Cl2
(d) Partielle Oxidation von höheren Kohlenwasserstoffen in Gegenwart von Wasserdampf und ohne Katalysator: ¾CH2¾ +
1 2
O2
¾CH2¾ + H2O
CO + H2
° = ¾92 kJ mol¾1 H298
CO + 2 H2
° = 150 kJ mol¾1 H298
Hierfür werden vor allem Schweröl und Rückstände der Erdöldestillation verwendet. Die exotherme Reaktion liefert die Energie für die begleitende endotherme Umsetzung. Das Kohlenmonoxid wird anschließend wie oben erläutert mit Wasserdampf zu weiterem Wasserstoff umgesetzt. Die Weltjahresproduktion an Wasserstoff beträgt ca. 48·106 t. Der größte Teil des technisch erzeugten Wasserstoffs wird zur Synthese von Ammoniak NH3 aus den Elementen (HABER-BOSCH-Verfahren), von Methanol aus CO und 2 H2, von höheren Alkoholen aus Alkenen, CO und H2 (Oxo-Synthese), sowie zur Hydrierung von Benzol zu Cyclohexan (für die Caprolactam-Synthese) und zur Reduktion von Nitrobenzol zu Anilin verwendet. Marktführer für die dafür benötigten Katalysatoren ist die Süd-Chemie AG, München. Weiterhin benötigt man Wasserstoff zur Entschwefelung von Erdöl (Hydrodesulfurierung, HDS, Kap. 12.4.1), zur Fetthärtung (Hydrierung von CC-Doppelbindungen), zum autogenen Schneiden und Schweißen, als Raketentreibstoff (Hauptstufe der europäischen Ariane 5-Rakete), als Heizgas (im Gemisch mit anderen Gasen) sowie als Reduktionsmit-
151
5.1 Elementarer Wasserstoff
tel beispielsweise zur Gewinnung der Elemente W, Mo, Co und Ge aus ihren Oxiden. In zunehmendem Maße wird Wasserstoff auch als Treibstoff, d.h. als Energieträger für umweltfreundliche Busse und PkWs sowie für den Betrieb von Brennstoffzellen eingesetzt, in denen die Reduktion von O2 mit H2 zu H2O zur Gewinnung elektrischer Energie genutzt wird (Wasserstofftechnologie).6 In den Handel kommt H2 als komprimiertes Gas (ca. 200 bar) in rot angestrichenen Stahlzylindern oder flüssig bei –253 °C in hochisolierten Tankwagen (liquid hydrogen, LH2). Im Rhein-Ruhr-Gebiet gibt es ein über 200 km langes Netz von Rohrleitungen, in denen H2 unter Druck transportiert wird. Im Labormaßstab stellt man H2 entweder durch Elektrolyse 30 %iger Kalilauge an Nickelelektroden her oder man zersetzt wässrige Säuren mittels unedler Metalle wie Zn oder Fe: 2 [H3O]+ + Zn
H2 + Zn2+ + 2 H2O
Während der elektrolytisch erzeugte Wasserstoff sehr rein ist, vor allem wenn man unter völligem Luftausschluss arbeitet, erhält man bei der Säurezersetzung ein Gas, dessen Reinheit von der des verwendeten Metalls abhängt und das gewöhnlich neben O2 und N2 spurenweise auch noch H2S, AsH3 und eventuell Kohlenwasserstoffe enthält. Um reinstes, luftfreies H2-Gas herzustellen, reinigt man den elektrolytisch gewonnenen oder einer Stahlflasche entnommenen Wasserstoff, indem man ihn durch ein elektrisch beheiztes Röhrchen aus Pd oder Ni diffundieren lässt, das die Verunreinigungen nicht zu durchdringen vermögen. Andererseits kann man den Wasserstoff auch bei erhöhter Temperatur mit metallischem Uran, Titan oder der Legierung FeTi zu den entsprechenden Hydriden umsetzen und diese dann im Vakuum thermisch zersetzen. Analog kann man H2 zur Reinigung an feinverteiltem Pd adsorbieren lassen und anschließend bei 200°C unter vermindertem Druck wieder desorbieren, wobei man etwa 100 ml H2 (25°C, 0.1 MPa) auf 1 g Pd erhält (siehe Abschnitt 5.7.4). Technisch wird H2 auch durch Absorption der Verunreinigungen an einem Molekularsieb gereinigt. Natürlicher Wasserstoff besteht aus den Isotopen 1H (leichter Wasserstoff oder Protium), 2H (Deuterium, D) und 3H (Tritium, T)2 und zwar im Verhältnis 1:1.50·10–4:10 –18. Tritium ist radioaktiv und zerfällt mit einer Halbwertszeit von 12.35 Jahren unter e–-Emission (β-Strahler) zu 3He. Es eignet sich daher zur radioaktiven Markierung von Wasserstoffverbindungen. Natürlich vorkommendes Tritium entsteht in der Atmosphäre aus N-Atomen durch Einfang von Neutronen aus der kosmischen Höhenstrahlung: 14 7N
+
1 0n
3 1H
+
12 6C
Der natürliche Vorrat der Erdoberfläche an Tritium beträgt etwa 11 kg, jedoch wurde ein Vielfaches dieser Menge durch die in den Jahren 1953–63 oberirdisch durchgeführten Kernwaffentests in die Atmosphäre entlassen und seitdem zum größten Teil in Form des Isotopomers HTO in den Ozeanen deponiert. Seitdem nähert sich der T-Gehalt der Gewässer und Niederschläge wieder langsam dem natürlichen Wert an. Industriell wird Tritium durch Neutronenbeschuss von 6Li (Abschnitt 5.7.3) hergestellt. Auch das Abwasser von Kernkraftwerken enthält Spuren von Tritium in Form von HTO. Tritium ist als T-haltiges Uranhydrid UT3/UH3 kommerziell erhältlich, aus dem es durch Erhitzen freigesetzt werden kann. 6
H. Wendt, M. Götz, Chemie unserer Zeit 1997, 31, 301.
152
5 Wasserstoff
Der große Massenunterschied zwischen 1H und 2H führt dazu, dass sich diese beiden Isotope stärker voneinander unterscheiden als die Isotope anderer Elemente. Dies zeigt sich besonders beim Vergleich von Reaktionsgeschwindigkeiten und Gleichgewichtskonstanten. Die Reaktionsgeschwindigkeiten deuterierter Verbindungen sind meistens kleiner als die gewöhnlicher Wasserstoffverbindungen, da die Schwingungsenergie bei gleicher Temperatur geringer ist. Solche Isotopeneffekte werden in der Praxis zur Anreicherung und Isolierung deuterierter Moleküle aus dem natürlichen Isotopengemisch ausgenutzt. Beispielsweise reichert sich das im natürlichen Wasser enthaltene HDO bei der Elektrolyse von gewöhnlichem Wasser im Elektrolyten an, da [H3O]+ etwas schneller kathodisch reduziert wird als [H2DO]+. Mit steigendem Deuteriumgehalt bildet sich aus HDO zunehmend D2O, da sich das Gleichgewicht 2 HDO
H2O + D2O
rasch einstellt (Gleichgewichtskonstante bei 400 K in der Gasphase: 0.25). Auf diese Weise wurde 1933 erstmals (fast) reines schweres Wasser (D2O) hergestellt. D2O wird als Kühlflüssigkeit und Moderator in bestimmten, mit nicht-angereichertem Uran betriebenen Kernreaktoren verwendet.7 Deuterierte Verbindungen weisen oft einen geringeren Dampfdruck auf und diffundieren langsamer als H-Verbindungen, so dass man H- und D-Verbindungen auch durch fraktionierte Destillation, durch Gegenstromdiffusion sowie durch H/D-Austausch z.B. zwischen H2S und H2O voneinander trennen kann. Man erzielt D-Gehalte von über 99.9 %. Einige physikalische Eigenschaften von D2 und von D2O sind in Tabelle 5.1 zusammengestellt. Tab. 5.1 Physikalische Eigenschaften von H2, D2, H2O und D2O H2
D2
Schmelzpunkt (°C)
–259.2
–254.4
Siedepunkt (°C)
–252.8
–249.5
100.0
101.4
kritische Temperatur (°C)
–240.0
–234.8
374.2
370.9
kritischer Druck (MPa)
1.315
1.665
22.1
21.9
größte Dichte (g cm–3) Viskosität bei 20°C (mPa s) Ionenprodukt bei 25°C
(mol2
L–2)
H2O 0.00
D2O 3.81
1.00
1.11
1.00
1.25
1.10–14
0.3·10–14
Elementares Deuterium (D2) stellt man aus D2O durch Elektrolyse oder durch Reduktion mit metallischem Na oder Mg her. Viele deuterierte Verbindungen können durch Isotopenaustausch erhalten werden. Beispielsweise reagieren H2, CH4, NH3 und H2O an fein verteilten Pt- oder Ni-Katalysatoren mit D2 zu den isotop substituierten Molekülen (HD, HDO, CH3D, usw.), wobei die im Gleichgewichtszustand erreichte Isotopenverteilung im Wesentlichen vom Mengenverhältnis der Ausgangsstoffe abhängt. Der Deuterierungsgrad wird IR-spektroskopisch oder mittels Massenspektrometrie ermittelt. Auch 7
Für die Entdeckung von Deuterium erhielt HAROLD CLAYTON UREY den Nobelpreis für Chemie des Jahres 1934.
153
5.1 Elementarer Wasserstoff
mit D2O ist ein Isotopenaustausch möglich, so dass manche H-Verbindungen durch mehrfaches Lösen in D2O und Eindampfen der Lösung deuteriert werden können (Ammoniumsalze, Hydrogensalze mehrprotoniger Säuren usw.). In anderen Fällen führt eine Deuterolyse zu der gewünschten Verbindung, z.B.: LiAlH4 + 4 D2O
LiOD + Al(OD)3 + 4 HD
SiCl4
+
2 D2O
SiO2 + 4 DCl
Al2S3 +
6 D2O
2 Al(OD)3 + 3 D2S
Analog erhält man ND3 aus Mg3N2, D2SO4 aus SO3 sowie D3PO4 aus P4O10, jeweils mit D2O. Die Atome H (Kernspin I = 12) und D (I = 1) sind wichtige Sonden für die Analyse von Substanzen mittels Kernresonanzspektroskopie (nuclear magnetic resonance, NMR, spectroscopy). Elementarer Wasserstoff ist ein farb-, geruch- und geschmackloses Gas, das bei Normaldruck kaum in Wasser löslich ist. Ein Liter Wasserstoff wiegt unter Normalbedingungen nur ca. 90 mg; es ist das leichteste aller Gase. Daher wurden vor 100 Jahren Luftschiffe mit Wasserstoff gefüllt.8 Bei 20°C ist Wasserstoff relativ reaktionsträge. Wegen der großen Dissoziationsenthalpie von 436 kJ mol–1 zerfällt molekularer Wasserstoff erst bei sehr hohen Temperaturen in merklichem Umfang in Atome. Die Dissoziationskonstante Kp = p2(H)/p(H2) beträgt bei 2000 K erst 3.14·10–4, bei 3000 K aber bereits 2.81 kPa. Eine sehr weitgehende Dissoziation (über 90 %) erreicht man jedoch, wenn man H2 einer starken Mikrowellenentladung aussetzt. Dazu lässt man das Gas unter vermindertem Druck (0.5 bis 5 hPa) durch ein Quarzrohr strömen, das von außen mit Mikrowellen bestrahlt wird. Hinter der Entladung rekombinieren die Atome auf folgende Weise: H + H + M
H2 + M*
Dabei ist M ein Stoßpartner (Atom, Molekül oder Gefäßwand), der einen Teil der Rekombinationsenthalpie (= negative Dissoziationsenthalpie) aufnehmen muss, um das Molekül gegen erneute Dissoziation zu stabilisieren. M geht dabei in einen thermisch oder elektronisch angeregten Zustand M* über. Die Halbwertszeit von H-Atomen hängt wegen der stark druckabhängigen Stoßzahl sehr von den äußeren Bedingungen einschließlich der Gefäßdimensionen ab und liegt bei derartigen Versuchen bei einigen Zehntelsekunden. Bei den in Vakuumapparaturen erzielbaren hohen Strömungsgeschwindigkeiten genügt diese Zeit jedoch, um die Atome einige Meter weit weg zu leiten. Wasserstoffatome sind außerordentlich reaktionsfähig. Sie reduzieren viele Oxide schon bei Raumtemperatur zu den Elementen (z.B. SO2, CuO, PbO, Bi2O3, SnO2) oder zu niederen Oxiden (NO2 zu NO usw.). Mit bestimmten Elementen entstehen flüchtige Hydride (mit O2, S8, P4, As, Sb, Ge), Halogene werden unter Bildung von Halogenwasserstoff reduziert. Eine wesentliche Rolle als Reaktionszwischenprodukte spielen H-Atome bei bestimmten Kettenreaktionen, so bei der Verbrennung von Knallgas (H2 + O2) und von Chlorknallgas (H2 + Cl2), die nach folgenden Mechanismen ablaufen: 8
Der erste Flug eines Zeppelins (LZ 1) fand im Jahre 1900 statt; LZ 4 wurde 1908 durch einen Funken zerstört, und am 6. 5. 1937 verbrannte der Zeppelin „Hindenburg“ bei der Landung während eines Gewitters in New Jersey, USA.
154
5 Wasserstoff
Kettenstart:
Knallgas Knallgas
Chlorknallgas Chlorknallgas
H2
Cl2
2H
2 Cl
Kettenreaktion: H + O2
OH + O
Cl + H2
HCl + H
OH + H2
H 2O + H
H + Cl2
HCl + Cl
Kettenabbruch: OH + H + M
H2O + M*
Cl + H + M
HCl + M*
O + H2 + M
H2O + M*
2 Cl + M
Cl2 + M*
2 OH + M
H2O2 + M*
2H + M
H2 + M*
5.2
Wasserstoff-Ionen H+
Wasserstoff bildet die Ionen H+ und H–. Das erste wird als Wasserstoff-Ion vom HydridIon H– unterschieden, das in salzartigen Hydriden wie LiH vorliegt (Abschnitt 5.7.4). Wasserstoff-Ionen H+, d.h. freie Protonen, entstehen bei der Ionisierung von gasförmigen H-Atomen durch Beschuss mit energiereichen Elektronen. Dieser Prozess spielt sich beispielsweise in einer Glimmentladung in gasförmigem H2 ab. Auch in der Ionenquelle eines Massenspektrometers werden auf analoge Weise H2-Moleküle und andere wasserstoffhaltige Moleküle dissoziiert und die H-Atome ionisiert. Die von der Sonne auf die Erde gelangende kosmische Höhenstrahlung besteht zu ca. 80 % aus Protonen. In kondensierten Phasen sind freie Protonen H+ nicht wie andere Ionen existenzfähig; sie werden vielmehr wegen ihrer extrem hohen elektrischen Feldstärke, die eine Folge des kleinen Durchmessers ist, sofort solvatisiert. Dabei entstehen durch Protonierung einzelner Lösungsmittelmoleküle definierte Ionen, die aber ihrerseits weiter solvatisiert sind. Protonierungen dieser Art sind: H+ + H2O
[H3O]+
H+ + H3PO4
H + + NH3
[NH4]+
H+ + HF
H + + R 2O
[R2OH]+
H+ + H2SO4
[H4PO4]+ [H2F]+ [H3SO4]+
Das durch Protonierung von H2O-Molekülen entstehende Oxonium-Ion [H3O]+ wird in wässriger Lösung durch weitere Solvatation in [H5O2]+, [H7O3]+ und [H9O4]+ überführt. Diese drei Kationen heißen Diaqua-, Triaqua- bzw. Tetraaquawasserstoff-Ion; auch der Name Hydronium-Ionen ist für hydratisierte Protonen in Gebrauch und das Kation [H5O2]+ wird auch als ZUNDEL-Komplex bezeichnet. Das vollständig hydratisierte Proton wird oft einfach als Wasserstoff-Ion bezeichnet und mit H+(aq) symbolisiert. Die gesamte Hydratationsenthalpie des Protons, d.h. die Enthalpie der Reaktion H+(g.) + H2O(fl.)
[H3O]+(aq)
° = ¾1090 kJ mol¾1 H298
ist, absolut betrachtet, wesentlich größer als die anderer einwertiger Kationen. Sie setzt sich zusammen aus der Enthalpie der Reaktion
5.2 Wasserstoff-Ionen H+
155
H+(g.) + H2O(g.)
° = ¾690 kJ mol¾1 H298
[H3O]+(g.)
und der Solvatationsenthalpie des Oxonium-Ions: [H3O]+(g.) + n H2O(fl.)
° = ¾ 400 kJ mol¾1 ΔH298
H+(aq)
Die Lebensdauer eines Ions [H3O]+ ist in wässriger Lösung mit ca. 10–13 s außerordentlich klein, da folgendes Austauschgleichgewicht existiert: [H3O]+ + H2O*
H2O + [H3O*]+
Das Proton ist also nicht für längere Zeit an einem bestimmtem O-Atom lokalisiert, sondern wechselt innerhalb einer Wasserstoffbrücke sehr oft seinen Platz: O H
O
O
H O
Einen ähnlich schnellen Protonenaustausch, den man mit Hilfe der Kernresonanzspektroskopie studieren kann, beobachtet man auch bei anderen Verbindungen mit kinetisch labilen H-Atomen, z.B. zwischen NH3 und [NH4]+. Reines Wasser ist bei 25 °C in geringem Umfang in Ionen dissoziiert: [H3O]+ + [OH]¾
2 H 2O
Dieses Gleichgewicht ist stark temperaturabhängig. Das Produkt der molaren Konzentrationen der beiden Ionen, das Ionenprodukt kw = c(H+) · c(OH–), hat bei 25°C den Wert 1.001·10–14 mol2 L–2, bei 100°C aber bereits den Wert 5.483·10–13 mol2 L–2. Die Konzentrationen von H+ und OH– betragen also bei 25°C je 1·10–7 mol L–1, bei 100°C je 7.4·10–7 mol L–1. Der negative dekadische Logarithmus der Wasserstoff-Ionenkonzentration heißt pH-Wert:9 pH = – 10log c(H+) Sind in einer wässrigen Lösung die Konzentrationen von H+ und [OH]– gleich groß, reagiert die Lösung neutral. Aus den obigen Zahlen folgt, dass der Neutralpunkt einer wässrigen Lösung bei 25° bei pH = 7.00 liegt, bei 100°C aber bei pH = 6.13. In alkalischen Lösungen ist c(H)+ < c(OH–), in sauren Lösungen gilt c(H+) > c(OH–). Die Ionen H+ und [OH]– zeichnen sich in wässriger Lösung durch eine ungewöhnlich hohe Wanderungsgeschwindigkeit im elektrischen Feld aus. Trotz der starken Hydratation wandern diese beiden Ionen schneller als vergleichbare andere Ionen. Der Grund dafür ist ein besonderer Mechanismus für den Ladungstransport. Da das Lösungsmittel durch Wasserstoffbrücken stark vernetzt ist, kann der Transport eines [H3O]+-Ions durch die Lösung über einen simultanen Platzwechsel zahlreicher Protonen in den H-Brücken erfolgen, wie folgendes Schema zeigt: H
O
H
O
H
O
H
O
H
H
O
H
O
H
O
H
O
H H H H H H H H Analog „wandern“ die Hydroxid-Ionen formal von links nach rechts durch konzertierte Protonenverschiebung von rechts nach links: 9
Der Begriff pH-Wert (potentia hydrogenii) wurde 1909 von S. P. L. SÖRENSEN eingeführt.
H
156
5 Wasserstoff
O
H
H
O
H
H
O H
H
O
O
H
H
H
O H
H
O H
H
O H
Dieser Mechanismus, den man Protonenleitfähigkeit nennt und der von GROTTHUSS bereits 1806 vorgeschlagen wurde, ist auch für die außerordentlich hohe Geschwindigkeit der Reaktion [H3O]+ + [OH]¾
2 H2O
verantwortlich, bei der ebenfalls lediglich ein Proton in einer H-Brücke seinen Platz wechselt. Ähnlich wie Wasser sind auch einige andere protonenhaltige Lösungsmittel im reinen (wasserfreien) Zustand schwach in Ionen dissoziiert. Der Dissoziationsgrad kann über die elektrische Leitfähigkeit bestimmt werden. Wichtige Beispiele sind flüssiges Ammoniak, flüssiges Hydrogenfluorid und wasserfreie Schwefelsäure: 2 NH3
[NH4]+ + [NH2]¾
3 HF
[H2F]+ + [HF2]¾
2 H2SO4
[H3SO4]+ + [HSO4]¾
Wegen ihrer Analogie zum Wasser werden solche Lösungsmittel als wasserähnlich bezeichnet.
5.3
Säuren
Die Eigendissoziation von Wasser und wasserähnlichen Lösungsmitteln ist vom Typ H+ + A¾
HA
wobei die Ionen H+ und A– solvatisiert sind. Man macht nun bereits seit der Begründung der Theorie der elektrolytischen Dissoziation durch SVANTE ARRHENIUS im Jahre 1887 die Wasserstoff-Ionen, d.h. die solvatisierten Protonen, für die saure Reaktion einer Lösung verantwortlich. In Wasser heißt also ein Stoff eine Säure, wenn er beim Auflösen in H2O die Konzentration der Wasserstoff-Ionen erhöht, so dass c(H+) > c(OH–) wird. Diese Definition kann man leicht auf alle protonenhaltigen wasserähnlichen Lösungsmittel HA übertragen, indem man eine Säure dadurch definiert, dass sie in dem Lösungsmittel die Konzentration der solvatisierten Protonen, also der Lösungsmittel-Kationen [H2A]+, erhöht. Die Ionen [H3SO4]+ und [H4PO4]+ heißen Sulfatacidium- bzw. Phosphatacidium-Ion. Im wässrigen System (Aquosystem) sind HCl, HBr, HI, H2SO4, HNO3, HClO4 und H3PO4 Säuren, die scheinbar dissoziieren, in Wirklichkeit aber die Lösungsmittelmoleküle protonieren: HCl
+
H2O
H2SO4 + H2O H2SO4 + 2 H2O
[H3O]+ + Cl¾ [H3O]+ + [HSO4]¾ 2 [H3O]+ + [SO4]2¾
157
5.3 Säuren
Man nennt diese Säuren daher Protonensäuren. Säuren mit einem aciden H-Atom heißen einbasig oder einprotonig, H2SO4 ist eine zweibasige oder zweiprotonige und H3PO4 eine dreibasige oder dreiprotonige Säure. Als Säuren verhalten sich in Wasser jedoch auch solche Stoffe, die selbst keine Protonen enthalten, sondern erst durch Reaktion mit dem Lösungsmittel die H+-Konzentration erhöhen: 2 [H3O]+ + 2 [ClO4]¾
Cl2O7 + 3 H2O
[H3O]+ + [HSO4]¾
SO3 + 2 H2O
Diese Verbindungen werden als Säureanhydride oder, wenn man vom speziellen Fall H2O absieht, als Ansolvosäuren bezeichnet (von solvens = Lösungsmittel). In Wasser verhalten sich auch CO2, N2O5, P4O10, SO2, SeO2 und XeO3 als Ansolvosäuren. Die Protonensäuren sind dagegen Solvosäuren, da sie funktionale Bestandteile des Lösungsmittels enthalten. Oxoniumsalze Die Reaktion von Protonensäuren und Säureanhydriden mit Wasser zu Oxonium-Ionen und Säure-Anionen lässt sich experimentell leicht überprüfen. Von vielen dieser Säuren und Anhydride sind nämlich kristalline Hydrate vom Typ HA·nH2O (n = 1, 2, 3 …) bekannt, die sich direkt aus den Komponenten herstellen lassen. Die spektroskopische und strukturelle Untersuchung dieser Verbindungen hat gezeigt, dass die Hydrate der starken Protonensäuren und ihrer Anhydride in Wirklichkeit Oxoniumsalze sind und daher folgendermaßen formuliert werden müssen: [H3O]A, [H5O2]A, usw. Dies gilt beispielsweise für die in Tabelle 5.2 aufgeführten Verbindungen. Tab. 5.2 Oxoniumsalze starker Säuren Zusammensetzung
Struktur
Schmelzpunkt (°C)
HX· H2O (X = F, Cl, Br, I)
[H3O]X
–36 (X = F)
HCl · 2 H2O
[H5O2]Cl
–18
HCl · 3 H2O
[H5O2]Cl · H2O
–25
HBr · 4 H2O
[H7O3][H9O4]Br2· H2O
–56
HClO4· H2O
[H3O][ClO4]
+50
HClO4· 2 H2O
[H5O2][ClO4]
–18
HClO4· 3 H2O
[H7O3][ClO4]
H2SO4· H2O
[H3O][HSO4]
+8.5
H2SO4· 2 H2O
[H3O]2[SO4]
–38
H2SO4· 4H2O
[H5O2]2[SO4]
H2SeO4· 4H2O
[H5O2]2[SeO4]
Nicht zur Gruppe der Oxoniumsalze gehört dagegen das Dihydrat der relativ schwachen Oxalsäure: (COOH)2·2H2O. In dieser Verbindung sind die beiden Säureprotonen an den Carboxylgruppen fixiert und nur über Wasserstoffbrücken mit den Wassermolekülen verbunden. Es liegt damit ein normales Hydrat mit isolierten H2O-Molekülen vor. Eine Ent-
158
5 Wasserstoff
scheidung zwischen Hydrat und Oxoniumsalz ist mit Hilfe der Infrarotspektroskopie möglich. Die Teilchen H2O, [H3O]+ und [H5O2]+ weisen typische Absorptionsbanden auf, die deutlich voneinander verschieden sind. Das Oxonium-Ion [H3O]+ ist mit dem NH3-Molekül isoelektronisch und von C3v-Symmetrie (trigonale Pyramide). Die Valenzwinkel H–O–H wurden in Oxoniumsalzen zu 112–117° bestimmt. In Abbildung 5.1 sind die durch Röntgenstrukturanalysen entsprechender Salze ermittelten Strukturen der Kationen [H3O]+, [H5O2]+, [H7O3]+ und [H9O4]+ schematisch dargestellt. H H
O
O
H
H
H
H
H
O H H2O
O
H O H
H
H
H OH2
H
H2O [H3O]+,
Abb. 5.1 Strukturen der Oxonium-Ionen [H5O2 schwach koordinierenden (schwach basischen) Anionen.
OH2
OH2 ]+,
[H7O3]+ und [H9O4]+ in Salzen mit
In der Struktur von [H5O2][ClO4] erkennt man diskrete Ionen [H5O2]+, die über Wasserstoffbrücken mit den Anionen vernetzt sind und die die in Abbildung 5.1 dargestellte Molekülstruktur aufweisen. Die beiden H2O-Moleküle des [H5O2]+-Ions werden durch ein Proton zusammengehalten, das sich je nach Anion entweder genau in der Mitte zwischen den beiden O-Atomen befindet oder zwei dicht benachbarte Lagen einnimmt, die nur durch eine kleine Energiebarriere voneinander getrennt sind. Der Kernabstand d(OO) dieser Wasserstoffbrücke ist mit 242 pm sehr klein, was für eine sehr starke H-Brücke spricht. Die vier äußeren H-Atome des [H5O2]+-Ions befinden sich in Abbildung 5.1 paarweise oberhalb und unterhalb der Zeichenebene. In der Gasphase ist das Ion [H5O2]+ von C2-Symmetrie mit d(OO) = 239 pm und einem Valenzwinkel OHO von 174°; im Salz [H5O2][SbF6] liegt das Kation dagegen in C2h-Symmetrie vor. Die Strukturen der Ionen [H7O3]+ und [H9O4]+ sind analog, wobei die Geometrie an allen O-Atomen pyramidal ist und alle H-Brücken unsymmetrisch sind. Die Oxoniumsalze der starken Mineralsäuren mit dem Kation [H3O]+ ähneln in ihrer Kristallstruktur oft den entsprechenden Ammoniumsalzen. Die beiden Salze [H3O][ClO4] und [NH4][ClO4] sind sogar isomorph. Allgemein weisen die Oxonium- bzw. Hydroniumsalze aber wesentlich niedrigere Schmelzpunkte auf, weswegen ihr Salzcharakter auch erst relativ spät entdeckt wurde. Besonders niedrig liegen die Schmelzpunkte der wasserreichen Oxoniumsalze (Tab. 5.2). Mittels moderner spektroskopischer und quantenchemischer Methoden wurde untersucht, wie viele Moleküle H2O in der Gasphase nötig sind, um beispielsweise das Molekül HBr in ein Oxonium-Kation und ein Bromid-Anion zu dissoziieren. Danach sind mindestens vier H2O-Moleküle erforderlich. Es entsteht ein Wasserstoffbrücken-gebundener Komplex [(H3O)(H2O)3]Br, in dem Kation und Anion durch drei verbrückende H2O-Moleküle voneinander getrennt sind:
159
5.3 Säuren
O H H
O H
H
H
H O
O H
H
H
Br
In analoger Weise müssen die bei der Autoprotolyse von Wasser entstehenden Ionen [H3O]+ und [OH]– durch eine Kette von mindestens drei H2O-Molekülen getrennt sein, um gegenüber neutralem H2O stabil zu sein. Oxoniumsalze sind in Wasser Säuren, da sie wie alle Salze in ionisierenden Lösungsmitteln weitgehend dissoziieren und damit die Konzentration der Wasserstoffionen erhöhen. Organylsubstituierte Derivate sind die aus Alkoholen ROH oder aus Ethern R2O mit starken Protonensäuren HX (HF/AsF5, HClO4, H2SO4) entstehenden Salze [ROH2]X und [R2OH]X, von denen auch die „Dimere“ [(ROH)2H]X bzw. [(R2O)2H]X bekannt sind, die formal Derivate des ZUNDEL-Komplexes [H5O2]+ sind. Flüssiges Ammoniak Flüssiges NH3 ist das wichtigste wasserähnliche Lösungsmittel. Es wird daher im Kapitel 9.4.8 gesondert behandelt. Hier soll nur festgestellt werden, dass die Verhältnisse im Ammonosystem denen im Aquosystem weitgehend analog sind. Säuren sind danach Stoffe, die die Konzentration der [NH4]+-Ionen erhöhen. Wegen der hohen Protonenaffinität (Basizität) des NH3-Moleküls (siehe unten, Tab. 5.3) gehören dazu alle Verbindungen, die auch in Wasser als stärkere oder schwächere Protonensäuren bekannt sind, z.B. HCl: HCl + NH3
[NH4]+ + Cl¾
Natürlich sind im Ammonosystem auch die Ammoniumsalze selbst Säuren. Diese Säurelösungen verhalten sich ähnlich wie wässrige Säuren: Sie färben bestimmte Indikatoren, reagieren mit unedlen Metallen unter H2-Entwicklung und lassen sich mit Basen titrieren. Die Eigendissoziation von flüssigem NH3 ist allerdings wesentlich geringer als die von H2O. Das Ionenprodukt kA = c(NH4+)·c(NH2–) beträgt etwa 10–29 mol2 L–2. Der Neutralpunkt liegt daher beim pH = 14.5. Wasserfreie Schwefelsäure Reine wasserfreie Schwefelsäure ist ein Lösungsmittel von sehr geringer Protonenaffinität. In den meisten Lösungsmitteln verhält sich H2SO4 vielmehr als Protonierungsmittel, d.h. als Säure. Um H2SO4-Moleküle zu protonieren, bedarf es daher noch stärkerer Säuren. Die stärksten Protonierungsmittel, die man kennt, sind Fluoroschwefelsäure HSO3F, Trifluormethylschwefelsäure HSO3CF3, Dischwefelsäure H2S2O7 sowie Gemische von HSO3F mit SbF5 und SO3. Mit diesen so genannten Supersäuren kann man auch solche Verbindungen protonieren, die wie H2SO4 gewöhnlich selbst als Säuren fungieren: H2SO4 + HSO3F
[H3SO4]+ + [SO3F]¾
160
5 Wasserstoff
Nach einer von J. N. BRØNSTED und unabhängig von T. M. LOWRY im Jahre 1923 vorgeschlagenen Definition ist eine Säure ein Protonendonor und eine Base ein Protonenakzeptor. In diesem Sinne verhält sich also H2SO4 gegenüber HSO3F als Base. Schwefelsäure ist also nicht unter allen Umständen eine Säure, und das gilt auch für andere Säuren, so für H3PO4, das sich in H2SO4 als Base verhält: H3PO4 + H2SO4
[H4PO4]+ + [HSO4]¾
Daher werden für die anorganischen Säuren gelegentlich die rationellen Namen verwendet, die sich auf die Struktur beziehen, z.B. für Schwefelsäure Schwefeldioxid-bis-hydroxid SO2(OH)2 oder für Orthophosphorsäure Phosphoroxid-tris-hydroxid PO(OH)3. Viele protonierte Säuremoleküle (Acidium-Ionen) sind in Form von Salzen isoliert worden. Beispiele dafür sind die Verbindungen [D3SO4][SbF6] (deuteriertes Sulfatacidiumhexafluoroantimonat), [P(OH)4][ClO4] (Phosphatacidiumperchlorat) und [Se(OH)3][ClO4] (Selenat-(IV)-acidiumperchlorat). Diese Salze lösen sich in Nitromethan unter Dissoziation in Ionen, was man an der elektrischen Leitfähigkeit der Lösung erkennen kann. Nach diesen Erfahrungen ist das Verhalten eines Stoffes als Säure oder Base abhängig vom jeweiligen Lösungsmittel und kann daher nicht absolut definiert werden. Ebenso ist die Stärke einer Säure entscheidend vom Lösungsmittel abhängig. Neben den genannten protonenhaltigen Lösungsmitteln sind für die präparative Chemie auch noch folgende Flüssigkeiten von Bedeutung, auf die die oben entwickelten Vorstellungen analog übertragen werden können:10 Alkohole ROH, Eisessig CH3COOH, Fluoroschwefelsäure HSO3F sowie die verflüssigten Gase H2S, HCN und HF.
5.4
Basen
Nach ARRHENIUS ist das Hydroxid-Ion in wässrigen Lösungen Träger der basischen Eigenschaften. Danach sind Basen solche Stoffe, die beim Auflösen in H2O die HydroxidIonen-Konzentration erhöhen, so dass c(OH–) > c(H+) wird. Bekannte Basen sind die Hydroxide der Alkali- und Erdalkalimetalle, die sich in Wasser wegen ihres salzartigen Aufbaus in Form von Metall-Kationen und [OH]–-Ionen lösen. Letztere liegen hydratisiert als [H3O2]– vor. Da die Hydroxide funktionale Bestandteile des Lösungsmittels H2O enthalten, nennt man sie auch allgemein Solvobasen. In Analogie zu den Ansolvosäuren gibt es jedoch auch Verbindungen, die keine [OH]–-Ionen enthalten und dennoch in Wasser basisch reagieren. Dazu gehören die löslichen Oxide, Sulfide, Amide und Nitride der Alkali und Erdkalimetalle sowie NH3, N2H4 und andere. Diese Verbindungen, die man als Ansolvobasen bezeichnen kann, reagieren mit H2O unter Bildung von Hydroxid-Ionen: O2¾ + H2O [NH2]¾ + H2O NH3 + H2O
10
2 [OH]¾
NH3 + [OH]¾ [NH4]+ + [OH]¾
J. Jander, Ch. Lafrenz, Wasserähnliche Lösungsmittel, VCH, Weinheim, 1968.
161
5.4 Basen
Nach der Definition von BRØNSTED und LOWRY ist eine Base ein Protonenakzeptor. Diese Definition trifft auf die Teilchen [OH]–, O2– und NH3 zu, die alle mit Protonen reagieren. Überträgt man diesen Base-Begriff auf andere protonenhaltige Lösungsmittel, so sind jeweils die Lösungsmittel-Anionen wie [NH2]–, [HSO4]– und [HF2]– für die basischen Eigenschaften verantwortlich. Den salzartigen Hydroxiden im Aquosystem entsprechen die salzartigen Amide M[NH2] in flüssigem Ammoniak, die Hydrogensulfate M[HSO4] in wasserfreier Schwefelsäure und die Hydrogendifluoride M[HF2] in flüssigem HF. Diese Verbindungen lösen sich in Form von Ionen und erhöhen somit die Konzentration der Lösungsmittel-Anionen. Oben wurde gezeigt, dass H3PO4 in wasserfreier Schwefelsäure protoniert wird, also als Base reagiert. Dies entspricht dem Verhalten von NH3 in H2O. Die Protonen gehen jeweils auf das Molekül oder Ion mit der höchsten Basizität über. Die Gleichung [H3O]+ + [HSO4]¾
H2SO4 + H2O
kann demnach sowohl so verstanden werden, dass H2SO4 im Lösungsmittel H2O als Säure (Protonendonor) reagiert, als auch so, dass H2O im Lösungsmittel H2SO4 eine Base B (Protonenakzeptor) ist. Als Basizität bezeichnet man die freie Reaktionsenthalpie ∆Go der folgenden allgemeinen Reaktion: B + H+
[BH]+
In Tabelle 5.3 sind die berechneten Basizitäten einiger elementarer Moleküle und Ionen angegeben, und zwar für eine wässrige Lösung bei 25°C. Tab. 5.3 Basizitäten (∆G°298; kJ mol–1) einfacher Moleküle und Anionen in Wasser (nach F. M. Bickelhaupt et al., Eur. J. Inorg. Chem. 2007, 3646). NH3: –643
[NH2]–: –818
H2O: –504
[OH]–: –738
F–: –638
PH3: –571
[PH2]–: –743
H2S: –515
[SH]–: –663
Cl–: –577 Br –: –564
]–:
AsH3:–521
[AsH2
–721
H2Se: –511
[SeH]–:
–645
SbH3: –506
[SbH2]–: –707
H2Te: –530
[TeH]–: –638
I–: –568
Nach GRIMM’s Hydridverschiebungssatz sind die isoelektronischen Anionen [NH2]–, [OH]– und F– einander äquivalent (isolobal). Man erkennt aus den Daten in Tabelle 5.3, dass die Basizitäten dieser Ionen in der genannten Reihenfolge abnehmen, was mit der zunehmenden Kernladungszahl begründet werden kann. Aus diesem Grunde ist das Amid-Ion in Wasser nicht beständig, sondern übernimmt vom H2O ein Proton und bildet NH3. Ein entsprechender Trend gilt auch für die Paare NH3/H2O und PH3/H2S.
162
5.5
5 Wasserstoff
Die relative Stärke von Säuren und Basen
5.5.1 Verdünnte Lösungen Ebenso wie das Verhalten einer Verbindung als Säure oder Base von den Reaktionspartnern abhängt, steht auch die Stärke einer Säure bzw. Base nicht absolut fest, sondern ist von der Umgebung abhängig. In verdünnten wässrigen Lösungen, auf die das Massenwirkungsgesetz angewandt werden kann, wird die Stärke einer Säure HA bekanntlich durch die Gleichgewichtskonstante folgender Reaktion angegeben: HA + n H2O
H+(aq) + A¾(aq)
Ka =
c (H+) . c (A¾) c (HA)
Da es sich formal um eine Dissoziation von HA handelt, nennt man Ka die Dissoziationsoder Säurekonstante von HA und gibt ihr das Symbol Ka (Index „a“ vom lat. acidum). Je mehr das obige Gleichgewicht auf der rechten Seite liegt, um so größer wird die Wasserstoff-Ionen-Konzentration und um so stärker ist die Säure; Ka ist dann besonders groß. Analog wird die Stärke einer Base B durch die analoge Gleichgewichtskonstant Kb angegeben, z.B. bei folgenden Reaktionen (M = Metall): NH3 + H2O MOH
[NH4]+ + [OH]¾ M+ + [OH]¾
Allgemein gilt also: B + H2O
[BH]+ + [OH]¾
Kb =
c (BH+) . c (OH¾) c (B)
Oft wird die Basenstärke jedoch durch die Dissoziationskonstante der korrespondierenden Säure [BH]+ beschrieben, d.h. man betrachtet das Gleichgewicht [BH]+ + H2O
B + [H3O]+
mit der Gleichgewichtskonstante Ka(BH+). In Wasser gilt bei 25°C: Kb = 10–14/Ka(BH+). Bei mehrprotonigen Säuren wie H2SO4 und H3PO4 erhält man wegen der schrittweisen Reaktion mit dem Lösungsmittel mehrere Säurekonstanten: H2SO4 + n H2O
H+(aq) + [HSO4]¾
Ka1
[HSO4]¾ + n H2O
H+(aq) + [SO4]2¾
Ka2
Da sich die verschiedenen Dissoziationskonstanten einer Säure um viele Zehnerpotenzen unterscheiden können, wird meistens der dekadische Logarithmus von Ka verwendet, den man als pKa-Wert bezeichnet: pKa = –log Ka Wenn man die relative Stärke einfacher anorganischer Säuren in Wasser analysieren will, unterteilt man die in Frage kommenden Verbindungen zunächst in zwei Gruppen, nämlich in die binären kovalenten Hydride, wie HF, HCl usw., und in die Sauerstoffsäuren wie SO2(OH)2 oder NO2(OH), in denen die aciden H-Atome Bestandteile von OH-Gruppen sind.
163
5.5 Die relative Stärke von Säuren und Basen
Binäre kovalente Hydride Kovalente und daher zumeist flüchtige Hydride sind von allen Nichtmetallen mit Ausnahme der Edelgase bekannt. Diese Verbindungen sind in Wasser, soweit sie sich lösen, teils Protonendonoren und teils Protonenakzeptoren. Als H+-Donoren bekannt sind vor allem die vier Wasserstoffhalogenide HX (X = F, Cl, Br, I). Die wässrigen Lösungen von HX sind sehr unterschiedlich starke Säuren und es ist aufschlussreich, die Faktoren zu untersuchen, die die jeweilige Säurestärke bestimmen. Die zu der Reaktion H+(aq) + X¾(aq)
HX(aq)
gehörende Gleichgewichtskonstante Ka lässt sich ermitteln, wenn die GIBBS-Energie ∆rG° der Reaktion bekannt ist, da zwischen beiden Größen folgender Zusammenhang besteht: ∆rG° = –R T lnKa
R = allgemeine Gaskonstante, T = absolute Temperatur
Der Wert von ∆rG° kann nach dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik aus der Reaktionsenthalpie ∆rH° und der Änderung der Entropie ∆rS° während der Reaktion ermittelt werden: ∆rG° = ∆rH° – T ·∆rS°
Um die nicht unmittelbar messbare Größe ∆rG° der obigen Dissoziationsreaktion zu erhalten, bedient man sich am besten des folgenden Kreisprozesses: HX(g.)
2
H(g.)
3
X(g.)
4
X¾(g.) 5
1
HX(aq)
H+(g.)
7
H+(aq)
6
+
X¾(aq)
Die Summe der GIBBS-Energien ∆rG° für die Teilschritte 1 bis 6 muss gleich der für den Schritt 7 sein, da G° als Zustandsfunktion vom Wege unabhängig ist, auf dem das Ziel erreicht wird. Die einzelnen Zahlenwerte von ∆rG°, die teils berechnet, teils experimentell ermittelt wurden,11 sind in Tabelle 5.4 aufgeführt. Tab. 5.4 GIBBS-Energien ∆G°298 (kJ mol–1) der hypothetischen Teilreaktionen der Dissoziation von Halogenwasserstoff-Molekülen in Wasser im Sinne eines Kreisprozesses (nach R. Schmid, A. M. Miah, J. Chem. Educ. 2001, 78, 116). Zum Vergleich sind die Dipolmomente µ(HX) angegeben. 1: 2: 3: 4: 5+6: 7: pKa:
Teilreaktion
HF
HCl
HBr
HI
HX(aq) ν→ HX(g.) HX(g.) ν→ H(g.) + X(g.) H(g.) ν→ H+(g.) + e– X(g.) ν→ X–(g.) H+(g.) + X–(g.) ν→ H+(aq) + X–(aq) HX(aq) ν→ H+(aq) + X–(aq)
23.6 540 1314 –324 –1537 +17.5 +3.1
13.4 404 1314 –345 –1409 –22.5 –3.9
17.4 339 1314 –321 –1382 –33.1 –5.8
–6.1 272 1314 –292 –1347 –59.5 –10.4
1.83
1.11
0.83
0.45
µ (D): 11
R. Schmid, A. M. Miah, J. Chem. Educ. 2001, 78, 116.
164
5 Wasserstoff
Aus den Dissoziationskonstanten der Wasserstoffhalogenide geht hervor, dass die Säurestärke in Wasser vom HF zum HI hin extrem stark zunimmt. Während wässrige Flusssäure nur eine etwa ebenso schwache Säure wie wässrige Essigsäure ist, zählt eine HILösung zu den stärksten Säuren. Dieser Befund ist überraschend, da die Polarität der HXBindung und auch die Dipolmomente der Moleküle HX vom HF zum HI stark abnehmen (Tab. 5.4). Ob ein Hydrid in Wasser als starker oder schwacher Protonendonor fungiert, hängt also nicht von der Polarität der Element-Wasserstoff-Bindung ab. Ähnliches gilt übrigens auch für wasserähnliche Lösungsmittel. Zum Beispiel ist HBr auch in Eisessig (100 %ige Essigsäure) eine stärkere Säure als HCl. Wenn man die einzelnen ∆rG°-Werte in Tabelle 5.4 für die verschiedenen Moleküle HX vergleicht, zeigt sich, dass in erster Linie die GIBBS-Energie der Dissoziation (Stufe 2) für den Gang der pKa-Werte verantwortlich ist. Die stark polare HF-Bindung führt also wegen ihrer großen Bindungsenthalpie gerade zu einer schwachen Dissoziation von HF in wässriger Lösung. Auch die absolut genommen geringere Elektronenaffinität des Fluoratoms trägt zur geringeren Dissoziation von HF(aq) bei. Oder anders ausgedrückt: Die verglichen mit Fluor größere Elektronenaffinität des Chlor-Atoms ist mit dafür verantwortlich, dass Salzsäure stärker ist als Flusssäure. Bei den Hydriden der Chalkogene findet man übrigens den gleichen Gang der Säurekonstanten wie bei den Wasserstoffhalogeniden. Beispielsweise ist H2Te in Wasser eine stärkere Säure als H2S und dieses ist stärker sauer als H2O (Kap. 12.8). Sauerstoffsäuren Die einfachen Sauerstoffsäuren der Nichtmetalle sind alle vom Typ EOm(OH)n, d.h. es handelt sich um kovalente Hydroxide. Dennoch verhalten sich diese Verbindungen in Wasser überwiegend als Protonendonoren. Trotz der im Prinzip ähnlichen Bindung des Wasserstoffs in diesen Säuren bestehen in der Säurestärke sehr große Unterschiede. Dafür sind in analoger Weise wie bei den binären Hydriden thermodynamische Gründe verantwortlich. Tabelle 5.5 gibt einen Überblick über die pKa-Werte einiger Sauerstoffsäuren. Die sehr starken Säuren HClO4, HNO3 und H2SO4 sind in Wasser (in der ersten Stufe) praktisch vollständig dissoziiert. Daher sind die pKa-Werte nur schwierig zu bestimmen. H3PO4 und HNO2 sind dagegen nur mäßig starke Säuren und HOCl, H3BO3 sowie H3AsO3 sind sehr schwache Säuren. Bei mehrprotonigen Säuren gilt pKa1 < pKa2, d.h. Ka1 ist immer wesentlich größer als Ka2. Dies ist aus elektrostatischen Gründen plausibel, da die Ablösung eines Protons von einem Anion mehr Energie erfordert als die Ablösung von einem neutralen Molekül. Tab. 5.5 pKa-Werte einiger Sauerstoffsäuren von Nichtmetallen in wässriger Lösung bei 25°C pKa HClO4 H2SO4 HNO3 H2SeO4 NH3SO3 H3PO3 [HSO4]–
<–5 –2.8 –1.3 <0 1.0 1.8 1.92
pKa HClO2 [HSeO4]– H3PO4 H3AsO4 H2SeO3 H5IO6 HNO2
1.94 2.05 2.15 2.25 2.57 3.29 3.3
pKa [HSeO3]– [H2PO4]– HOCl HOBr H3BO3 H3AsO3 [HPO4]2–
6.60 7.20 7.50 8.68 9.14 9.22 12.37
165
5.5 Die relative Stärke von Säuren und Basen
Bei Säuren wie H2CO3 und H2SO3, die in wässriger Lösung in undissoziierter Form nicht bekannt sind, ermittelt man Ka bzw. pKa, indem man die Konzentration des physikalisch gelösten CO2 bzw. SO2 in das Massenwirkungsgesetz einsetzt, d.h. man behandelt CO2 und SO2 als Ansolvosäuren: CO2(aq)
Ka =
H+(aq) + [HCO3]¾(aq)
c (H+) . c (HCO¾3 ) c (CO2)
Auf diese Weise erhält man allerdings pKa-Werte, die nicht der wahren Stärke der hypothetischen Säuren H2CO3 bzw. H2SO3 entsprechen. Ähnlich verfährt man beim NH3, von dem kein Derivat NH4OH bekannt ist, sondern das in Wasser als solvatisiertes Molekül vorliegt: NH3(aq)
[NH4]+(aq) + [OH]¾(aq)
Diese für das Aquosystem entwickelten Vorstellungen können sinngemäß auf verdünnte Lösungen in nichtwässrigen Systemen übertragen werden. In allen diesen Systemen ermittelt man die Lage der jeweiligen Dissoziationsgleichgewichte durch Messung des pHWertes, der elektrischen Leitfähigkeit oder der Gefrierpunktserniedrigung.
5.5.2 Konzentrierte und wasserfreie Säuren Die Säuren HCl, HClO4 und H2SO4 sind in Wasser sehr starke Säuren, da sie in verdünnter Lösung praktisch vollständig dissoziiert sind. Dennoch weisen diese Lösungen nicht die höchste bekannte Acidität auf. Wenn man im System H2O/H2SO4 zu immer konzentrierteren Lösungen übergeht, steigt die Acidität, d.h. die Protonendonorstärke, immer weiter an, obwohl der Dissoziationsgrad abnimmt. Reine wasserfreie Schwefelsäure ist nur relativ schwach dissoziiert. Das Ionenprodukt c(H3SO4+)·c(HSO4–) beträgt bei 25°C etwa 10–4 mol2 L–2. Dennoch ist 100 %ige Schwefelsäure ein stärkerer Protonendonor als irgendeine wässrige Säure. Um die Protonendonorstärke einer konzentrierten wässrigen oder einer wasserfreien Säure zu ermitteln, geht man anders vor als bei verdünnten Lösungen. Nach einer von L. P. HAMMETT eingeführten Methode setzt man dem System, dessen Acidität bestimmt werden soll, eine geeignete schwache Base B zu, z.B. ein Nitroanilin, das dann mehr oder weniger stark protoniert wird und dabei seine Farbe ändert, was photometrisch verfolgt werden kann: H+ + B
[HB]+
Ka (HB+) =
c (H+) . c (B) c (HB+)
In den Ausdruck für die Gleichgewichtskonstante, die zugleich die Dissoziationskonstante der Säure [HB]+ ist, setzt man für c(H+) die sogenannte HAMMETT-Aciditätsfunktion H0 ein, die analog zum pH-Wert verdünnter Lösungen definiert ist: H0 = –log c(H+) Aus den Gleichungen für H0 und Ka erhält man nun: H0 = pKa (HB)+ + log
c (B) c (HB+)
166
5 Wasserstoff
Den Quotienten c(B)/c(HB+) bestimmt man auf spektralphotometrischem Wege, indem man eine Base B verwendet, die in der freien Form und in der protonierten Form verschieden gefärbt ist. Dafür eignen sich auch Mono-, Di- und Trinitrotoluol, die als Neutralmoleküle farblos, in der protonierten Form aber gelb sind. Dann ist es nur noch erforderlich, den pKa-Wert von [HB]+ zu ermitteln. Das kann in einer verdünnten Lösung erfolgen, für die H0 mit dem pH-Wert identisch wird, und diesen kann man direkt messen. 12 H2SO4
10
HB (HSO4)4 H2S2O7
HClO3
8 ¾H0
13.5
HF
6 HCl
4
13.0 HNO3
H3PO4
HSO3F
¾H0 12.5
2 0
0
0.2 0.4 0.6
0.8 1.0
Molenbruch HA in H2O
(a)
12.0
0
H2SO4
0.2
0.4
0.6
Molenbruch Säure
0.8
1.0 Säure
(b)
Abb. 5.2 HAMMETT-Aciditätsfunktion Ho für die Lösungen einiger Säuren HA. (a) Lösungen von HA in Wasser; (b) Lösungen von Supersäuren in wasserfreier Schwefelsäure.
Nach diesem Verfahren findet man für 100 %ige Schwefelsäure H0 = –12, während eine 0.1 n wässrige Schwefelsäure den pH = 1.0 aufweist. Die Acidität steigt also von der verdünnten zur wasserfreien Schwefelsäure um 1013 Einheiten an! Verbindungen oder Gemische, deren Acidität größer ist als die von 100 %iger H2SO4, heißen Supersäuren. In Abbildung 5.2 ist der Verlauf der H0-Werte einer Reihe bekannter Säuren in Abhängigkeit vom Wassergehalt, ausgedrückt als Molenbruch x = n(HA)/[n(HA)+n(H2O)], dargestellt (n: Molzahl der jeweiligen Komponente). Die Größe H0 kann bei Säuren und sauren Lösungen Werte bis etwa –25 annehmen. Besonders stark negative Werte werden bei HSO3F, H2S2O7 und Gemischen von H2SO4 mit H[B(HSO4)4] sowie von HF oder HSO3F mit SbF5 und eventuell noch SO3 erreicht.12, 13 Mit diesen Säuren kann man auch solche Stoffe protonieren, die nur eine sehr geringe Protonenaffinität aufweisen und die daher in anderen Medien nicht als Basen fungieren. Beispielsweise wird HNO3 in wasserfreier Schwefelsäure zu dem Acidium-Ion [H2NO3]+ protoniert, das aber nicht stabil ist und in [NO2]+ und H2O zerfällt, so dass sich folgende Bruttoreaktion ergibt: 12
13
Für eine 1:1-Mischung aus HSO3F und SbF5 beträgt Ho ca. –21 und für eine 1:1-Mischung aus HF und SbF5 ca. –25. Letztgenannte Mischung enthält komplexe Anionen [Sb2F11]– mit den Kationen H+, [H3F2]+, [H2F]+ und [H4F3]+ mit in dieser Reihenfolge abnehmenden Konzentrationen; P. M. Esteves, A. Ramirez-Solis, C. J. A. Mota, J. Am. Chem. Soc. 2002, 124, 2672. R. J. Gillespie, Acc. Chem. Res. 1968, 1, 202. T. O’Donnell, Superacids and Acidic Melts as Inorganic Chemical Reaction Media, VCH, Weinheim, 1993.
167
5.6 Die Wasserstoffbrückenbindung
[NO2]+ + [H3O]+ + 2 [HSO4]¾
HNO3 + 2 H2SO4
Dieses Gemisch ist als Nitriersäure bekannt, da man mit ihm aromatische Kohlenwasserstoffe in Nitroverbindungen überführen kann: R
H + [NO2]+
R
NO2 + H+
Das Nitronium-Ion [NO2]+ ist ein Beispiel für eine größere Zahl von Ionen, die zu elektrophil sind, um in Wasser oder anderen weniger aciden Medien beständig zu sein: [NO2]+ + 3 H2O
2 [H3O]+ + [NO3]¾
In hoch aciden Flüssigkeiten14 der hier beschriebenen Art wurden viele neue Verbindungen hergestellt, die eine wesentliche Bereicherung der Nichtmetallchemie darstellen.15 Die stärksten bisher isolierte Protonensäuren sind die festen Carboransäuren H[HCB11F11] und H[HCB11Cl11].16 Auf Carborane wird beim Bor im Kapitel 6.7 eingegangen. Supersäuren werden auch als Katalysatoren eingesetzt, z.B. für die Isomerisierung von gesättigten Kohlenwasserstoffen bei niedrigen Temperaturen.
5.6
Die Wasserstoffbrückenbindung17
5.6.1 Allgemeines Die physikalischen Eigenschaften einer Reihe kovalenter Wasserstoffverbindungen wie H2O, NH3 und HF zeigen, dass diese Hydride zu einer ungewöhnlich starken intermolekularen Wechselwirkung befähigt sind. Diese Wechselwirkung, an der die H-Atome in spezifischer Weise beteiligt sind, ist wesentlich stärker als die VAN DER WAALS-Wechselwirkung (Kap. 3), aber in der Regel schwächer als bei kovalenten Bindungen. Man betrachtet sie daher als einen speziellen Bindungstyp und spricht von Wasserstoffbrückenbindungen oder kurz Wasserstoffbrücken (hydrogen bonds). Die Bindungsenthalpien von Wasserstoffbrücken liegen bei neutralen Molekülen im Bereich von 10 bis 65 kJ mol–1. Sie können bei Beteiligung von Ionen aber auch weit größer sein (bis ca. 140 kJ mol–1). Bezüglich der Bindungsenthalpie liegen die Wasserstoffbrücken also zwischen den VAN DER WAALS-Wechselwirkungen und den kovalenten Bindungen. Wasserstoffbrücken werden vor allem zwischen solchen Molekülen gebildet, von denen das eine ein oder mehrere positiv geladene Wasserstoffatome enthält, d.h. Wasser14 15 16 17
Bezüglich fester Supersäuren siehe K. Arata, Adv. Catal. 1990, 37, 165. G. A.Olah, Angew. Chem. 1993, 105, 805. C. A. Reed et al., J. Am. Chem. Soc. 2006, 128, 3160. H. Willner et al., Angew. Chem. 2007, 119, 6462. P. Schuster, G. Zundel, C. Sandorfy (Herausg.), The Hydrogen Bond, Vols. I–III, North-Holland Publ. Co., Amsterdam, 1976. P. L. Huyskens, W. A. P. Luck, T. Zeegers-Huyskens (Herausg.), Íntermolecular Forces, Springer, Berlin, 1991. G. A. Jeffrey, An Introduction to Hydrogen Bonding, Oxford University Press, Oxford, 1997. T. Steiner, Angew. Chem. 2002, 114, 51. M. MeotNer, Chem. Rev. 2005, 105, 213.
168
5 Wasserstoff
stoffatome mit einer positiven Partialladung, während das andere ein möglichst stark elektronegatives Atom mit einem nichtbindenden Elektronenpaar und damit ein Elektronendonor (Protonenakzeptor) sein sollte. Solche Atome sind F, O und N, aber in gewissem Umfang sind auch noch Cl, S und P geeignet, vor allem in Form von Anionen wie Cl– und [HS]–. In zahlreichen organischen und metallorganischen Verbindungen beobachtet man H-Brücken aber auch zu Bindungselektronenpaaren, beispielsweise zu den π-Elektronen von Mehrfachbindungen oder aromatischen Ringen (X–H-π-Bindungen).18 Auch intramolekulare Wasserstoffbrücken sind in großer Zahl bekannt. Um das Zustandekommen von H-Brückenbindungen zu verstehen, kann man zunächst das folgende einfache Modell benutzen: ®(¾) ®(+)
X H Y Zwischen dem positiv geladenen H-Atom der Bindung X–H (Protonendonor) und dem nichtbindenden Elektronenpaar am Atom Y des Elektronendonors bzw. Protonenakzeptors, kommt es zu einer elektrostatischen Anziehung. Diese Anziehung wird um so stärker sein, je größer der Elektronegativitätsunterschied und je geringer der Größenunterschied zwischen den Atomen X und H ist, da die Polarität der XH-Bindung dann am größten ist. Solche stark polaren Bindungen mit positiv geladenem Wasserstoff sind F–H, O–H und N–H, im Allgemeinen aber nicht mehr C–H19 und B–H. Des weiteren muss auch das Atom Y möglichst klein und elektronegativ sein, damit das nichtbindende Elektronenpaar auf möglichst kleinem Raum konzentriert ist, wodurch eine hohe negative Ladungsdichte und zugleich ein großes atomares Dipolmoment erreicht werden. Mit abnehmendem Abstand zwischen den Atomen H und Y kommt es jedoch zu einer zunehmenden Überlappung von Orbitalen dieser Atome und damit zu einer kovalenten Bindung. Die beteiligten Orbitale sind das unbesetzte σ*-Orbital der XH-Bindung (LUMO) und das nichtbindende, mit zwei Elektronen besetzte Orbital am Atom Y (HOMO). Die Elektronen im HOMO werden mit zunehmender Annäherung von XH an Y teilweise in das σ*-Orbital delokalisiert, was einen Energiegewinn zur Folge hat (siehe unten). Diese einfachen Modellvorstellungen lassen bereits verstehen, warum H2O, NH3 und HF im flüssigen Zustand starke Wasserstoffbrücken bilden, während man ähnliches bei H2S, PH3 und HCl nur noch andeutungsweise beobachtet. Die höheren Homologen dieser Hydride sind im flüssigen Zustand ganz überwiegend durch VAN DER WAALS-Kräfte gebunden.
18
19
Die Bindungsenergie des Benzol-Wasser-Adduktes H2O·C6H6 beträgt ca. 13 kJ mol–1 (eine OHGruppe ist auf das Zentrum des Benzolringes gerichtet, die andere rotiert frei um diese Achse); siehe S. Tsuzuki, K. Honda, T. Uchimaru, M. Mikami, K. Tanabe, J. Am. Chem. Soc. 2000, 122, 11450. C–H-Bindungen sind dann geeignet, wenn die Elektronegativität des C-Atoms durch induktive Effekte (z.B. in CHCl3) oder eine kleine Koordinationszahl (z.B. in Ethin, C2H2) erhöht ist. Bei weniger polaren C–H-Bindungen entstehen entsprechend schwächere H-Brücken.
5.6 Die Wasserstoffbrückenbindung
169
5.6.2 Allgemeine Eigenschaften von Wasserstoffbrücken Folgende allgemeine Eigenschaften von H-Brücken lassen sich feststellen: a) Die meisten Wasserstoffbrücken sind unsymmetrisch, d.h. das H-Atom befindet sich wesentlich näher am Atom X als am Atom Y und die X–H-Bindung ist wesentlich stärker als die Y····H-Bindung. Nur bei besonders starken Wasserstoffbrücken und wenn X und Y gleichartige Atome sind, kommt es vor, dass sich das H-Atom genau in der Mitte befindet, dass also eine symmetrische Brücke vorliegt (wenn X und Y identisch und gleich F oder O sind). Dann handelt es sich um eine kovalente 3-Zentren-4-ElektronenWechselwirkung, die im Kapitel 2.4.6 bereits ausführlich dargestellt wurde. b) Wasserstoffbrücken sind bevorzugt linear oder nur schwach gewinkelt. Bei einer linearen Atomanordnung X–H–Y wird die maximale Anziehung zwischen H und Y bei minimaler Abstoßung der beiden negativ geladenen Atome X und Y erreicht, d.h. die Bindungsenthalpie wird bei dieser Anordnung maximal. Je schwächer die Wechselwirkung, desto mehr kann sich der Winkel XHY dem Wert 90° annähern. c) Der Valenzwinkel α, den die Wasserstoffbrücke mit der Bindung Y–R bildet, liegt üblicherweise im Bereich 110–140o. X
H
Y á
R d) In den meisten Wasserstoffbrücken weist das H-Atom die Koordinationszahl 2 auf. Seltener wird wie im Nitramid H2N–NO2 der Wert 3 erreicht, d.h. es liegen gegabelte H-Brücken vor (X=N, Y=O): Y X
H
Y In festen Kohlenhydraten sind allerdings 25 % aller O–H····O-Brücken gegabelt und in kristallinen Aminosäuren ist dieser Anteil sogar noch höher. e) In den meisten Fällen wird zu dem nichtbindenden Elektronenpaar des Atoms Y nur eine Wasserstoffbrücke errichtet. Zu den Ausnahmen gehört das kristalline Ammoniak, bei dem von jedem Elektronenpaar an den N-Atomen drei Wasserstoffbrücken ausgehen:20 N
H
N H
N
H N
Verfügt das Atom Y über mehrere Elektronenpaare wie in den atomaren Anionen F–, Cl– und Br–, können jedoch bis zu sechs H-Atome an ein Y-Atom koordinieren. Beispiels20
R. Boese, N. Niederprüm, D. Bläser, A. Maulitz, M. Y. Antipin, P. R. Mallinson, J. Phys. Chem. B 1997, 101, 5794.
170
5 Wasserstoff
weise besteht das Ion [H4F5]– aus einem zentralen Fluorid-Ion, das tetraedrisch von vier HF-Molekülen koordiniert ist („Anionen-Koordination“). In dem Polyhydrogenchlorid Pyridin·6HCl, das als Salz [C6H5NH]Cl·5HCl zu formulieren ist, befindet sich das Chlorid-Ion im Zentrum der sechs XH-Moleküle!
5.6.3 Experimenteller Nachweis von Wasserstoffbrücken Physikalische Konstanten Bestimmte physikalische Größen einer Verbindung werden im flüssigen und festen Aggregatzustand stark vom Ausmaß der intermolekularen Wechselwirkung beeinflusst. Das gilt für die Schmelztemperatur (Schmp.), die Siedetemperatur (Sdp.), die Verdampfungsenthalpie (∆vapH°), das elektrische Dipolmoment (µ), die Dielektrizitätskonstante (Permittivität, ε) und die Viskosität (η). Daher kann man in vielen Fällen Hinweise auf das Vorliegen von Wasserstoffbrücken erhalten, indem man die Zahlenwerte der genannten Größen mit denen von ähnlichen Verbindungen vergleicht, bei denen die Voraussetzungen dafür fehlen. Die Werte aller eben genannten Größen werden durch die Bildung intermolekularer Wasserstoffbrücken erhöht. Damit lässt sich aber kein exakter Beweis für das Vorliegen von H-Brücken erbringen; dieser bleibt immer einer spektroskopischen oder strukturellen Untersuchung vorbehalten. Abbildung 5.3 zeigt beispielhaft den Verlauf der Siedepunkte vergleichbarer Verbindungen. Normalerweise nimmt die Siedetemperatur mit steigender Atom- bzw. Molekülmasse zu, wie man es in der Reihe der Edelgase und der Hydride der Elemente der 14. Gruppe beobachtet. Bei den Elementen der 15., 16. und 17. Gruppe fällt jedoch jeweils das leichteste Hydrid durch seinen hohen Siedepunkt auf. Bei diesen Verbindungen
H 2O
100
H2Se
H 2S
NH3 CH4
H2Te
AsH3
PH3
+
HCl
+
200
HF
SiH4
Ar
SbH3 HI
+
300
+
Siedepunkt (in K bei 1 bar)
400
HBr
GeH4
SnH4 Xe
Kr
Ne 0
1
2
3
4
Periode Abb. 5.3 Einfluss von Wasserstoffbrücken-Bindungen auf die Siedepunkte analoger Verbindungen. Man erkennt den starken Einfluss der H-Brückenbindungen bei H2O, HF und NH3, in gewissem Maße auch noch bei H2S und HCl, im Vergleich zu Ne, CH4, Ar und SiH4.
5.6 Die Wasserstoffbrückenbindung
171
ist auch die Schmelztemperatur erhöht. Im Kapitel 3 wurde bereits gezeigt, dass dafür nicht allein die VAN DER WAALS-Kräfte verantwortlich gemacht werden können. Vielmehr liegt bei diesen Hydriden in der flüssigen Phase eine starke Assoziation über Wasserstoffbrücken vor. Beim Dimethylether Me2O andererseits fehlen die Voraussetzungen für die Bildung von H-Brücken, so dass hier das erste Glied der Reihe Me2X (X = O, S, Se, Te) eine normale Siedetemperatur aufweist. Entsprechendes beobachtet man auch bei einem Vergleich der Verdampfungsenthalpien am Siedepunkt. Da die Assoziation in der Gasphase wegen des im Mittel größeren intermolekularen Abstandes meistens wesentlich geringer ist als in kondensierten Phasen, ist die Verdampfung bei der Siedetemperatur mit der Auflösung sehr vieler Wasserstoffbrücken verbunden. Die dafür erforderliche Enthalpie muss daher zusätzlich zur Überwindung der VAN DER WAALS-Anziehung und zu der für die Volumenvergrößerung nötigen Enthalpie aufgebracht werden. In der Reihe CH4 – NH3 – H2O – HF weist Wasser die bei weitem größte Verdampfungsenthalpie auf. Die Erhöhung des Dipolmomentes und der Dielektrizitätskonstanten im flüssigen Wasser und in wasserähnlichen Lösungsmitteln ist für die Löslichkeit von Salzen von größter Bedeutung. Je größer µ und ε sind, desto besser ist im Allgemeinen die Löslichkeit von Ionenverbindungen (siehe Kap. 2.1.7). Alle molekularen Flüssigkeiten mit außergewöhnlich großen ε-Werten sind durch intermolekulare H-Brücken assoziiert, z.B. auch HCN und HSO3F. Wasser besitzt eine wesentlich höhere Viskosität als seine Derivate vom Typ R2O (Ether), die keine Wasserstoffbrücken bilden können. Besonders hoch ist die Viskosität von Verbindungen mit mehreren OH-Gruppen, wie Glycerin, wasserfreier Schwefelsäure und Phosphorsäure. Die Ursache dafür ist auch hier die dreidimensionale Vernetzung dieser Flüssigkeiten durch H-Brücken. Neben den bisher diskutierten Größen, die eigentlich nur einen Hinweis auf die Stärke, nicht aber auf die Art der intermolekularen Wechselwirkungen geben, ist auch die Bestimmung der Molmasse geeignet, das Ausmaß der Assoziation eines gelösten Stoffes in einem inerten Lösungsmittel zu ermitteln. Strukturanalyse Durch Beugung von Röntgen-, Elektronen- oder Neutronenstrahlen kann man die Atomlagen und damit die Kernabstände in kristallinen und z.T. auch in gasförmigen Verbindungen bestimmen. Auf diese Weise lassen sich Wasserstoffbrückenbindungen direkt und eindeutig nachweisen. Wenn in einer Gruppe X–H····Y der Kernabstand d(HY) wesentlich kleiner ist als die Summe der VAN DER WAALS-Radien der Atome H und Y, kann man eine H-Brücke annehmen. Werden die Lagen der H-Atome nicht bestimmt, so ist eine H-Brücke dann als wahrscheinlich anzusehen, wenn der Kernabstand d(XY) gleich oder kleiner als die Summe der VAN DER WAALS-Radien der Atome beteiligten X und Y ist. Beispielsweise beträgt der VAN DERWAALS-Abstand zweier Fluoratome 270 pm, während d(FF) im kristallinen HF nur 249 pm und im Anion [HF2]– sogar nur 226 pm beträgt. Weitere Beispiele werden weiter unten diskutiert (Abschnitt 5.6.4). Bei H-Brücken zwischen gleichartigen Atomen wie Ο–H····O oder fast gleichartigen Atomen wie N-H····O und O-H····N gibt es zwischen dem XH-Abstand und dem HY-Abstand jeweils eine eindeutige, nicht-lineare Korrelation: Je stärker die Brücke, d.h. je kürzer der Abstand HY wird, um so mehr verlängert sich die XH-Bindung.17
172
5 Wasserstoff
Molekülspektroskopie Der empfindlichste und spezifischste Nachweis von Wasserstoffbrücken gelingt mit Hilfe der Infrarotspektroskopie. In einer Brücke X–H····Y ist die Bindung X–H immer polar und damit führt die Valenzschwingung ν(XH) zu einer starken Änderung des lokalen Dipolmomentes und folglich zu einer intensiven Absorptionsbande im IR-Spektrum. Die Wellenzahl der Valenzschwingung der nicht-assoziierten Gruppe XH misst man am besten an der gasförmigen Verbindung oder in einem inerten Lösungsmittel wie CCl4 oder CS2 bei starker Verdünnung. Untersucht man nun die Verbindung im assoziierten Zustand, indem man entweder ein Lösungsmittel verwendet, das als Elektronendonor fungiert (z.B. Acetonitril MeCN oder Dimethylsulfoxid DMSO), oder indem man einfach die Konzentration von HX erhöht, so zeigt sich, dass die Bande der assoziierten XHGruppe bei kleineren Wellenzahlen auftritt und wesentlich breiter und intensiver ist als die des isolierten Moleküls XH. Folgender Vergleich zwischen den XH-Valenzschwingungen von CH4, HCl und H2O in verschiedenen Aggregatzuständen illustriert diese Verhältnisse (ν3 ist sowohl beim Wasser als auch beim Methan die asymmetrische Valenzschwingung):
CH4(ν3): HCl: H2O(ν3):
gasförmig
flüssig
fest (90 +10 K)
2914 2886 3707
2909 2785 3400
2906 cm–1 (keine H-Brücken) 2768 cm–1 (schwache H-Brücken) 3277 cm–1 (mäßig starke H-Brücken)
Die Wellenzahlverschiebung ist darauf zurückzuführen, dass die Bindung X–H durch die Brückenbildung H····Y geschwächt wird, da das σ*-MO der XH-Bindung teilweise mit Elektronen besetzt wird. Hierdurch vergrößert sich der XH-Kernabstand (d), was wegen der Beziehung µ = δe ·d eine Vergrößerung des Dipolmomentes µ und damit der IR-Absorptionsintensität zur Folge hat. Gleichzeitig steigen aber auch die Partialladungen δe auf den Atomen H und X, da das bindende Elektronenpaar der XH-Bindung von dem sich nähernden nichtbindenden Paar am Atom Y abgestoßen wird (gegenseitige Polarisierung der Dipole).21 Dadurch vergrößert sich µ ebenfalls. Bei O-H····O-Brücken korreliert die Wellenzahl der OH-Schwingung in umgekehrter Weise mit dem OO-Abstand, d.h. mit der Stärke der Wechselwirkung. Auch für die chemische Verschiebung des Protons im NMR-Spektrum gibt es eine (positive) Korrelation mit d(OO). Außer einer XH-Valenzschwingung liefert eine Wasserstoffbrücke X–H····Y im Schwingungsspektrum auch eine HY-Valenzschwingung, die jedoch üblicherweise als XY-Valenzschwingung bezeichnet wird, da die Gruppe XH als Ganzes gegen das Atom Y schwingt. Da derartige Schwingungen wegen der Schwäche der H····Y-Wechselwirkung normalerweise bei sehr kleinen Wellenzahlen auftreten, sind sie im IR-Spektrum schwierig zu beobachten. Im Ramanspektrum sind diese Banden jedoch leicht zu finden. Beispielsweise findet man die OO-Schwingung bei flüssigem Ethanol bei ca. 270 cm–1. Aus der Temperaturabhängigkeit der Ramanintensität dieser Linie wurde die Brückenbin-
21
D. Feil, J. Mol. Struct. 1990, 237, 33. P. O. Astrand, K. Ruud, K. V. Mikkelsen, T. Helgaker, J. Phys. Chem. A 1998, 102, 7686.
173
5.6 Die Wasserstoffbrückenbindung
dungsenthalpie zu 10.5 kJ mol–1 abgeleitet.22 Substitution von H (Protium) durch Deuterium hilft bei der Identifikation der relevanten Schwingungen. Bei kleinen Neutralmolekülen wie dem Wasserdimer (H2O)2 sind deuterierte Wasserstoffbrücken X–D····Y geringfügig stärker als die analogen H-Brücken X–H····Y, da die Nullpunktsschwingungsenergie der D-Brücke wegen der größeren Masse des D-Atoms geringer ist. In gewissem Umfang kann man auch aus anderen spektroskopischen Beobachtungen, insbesondere aus 1H-Kernresonanzspektren23 und aus Massenspektren24, aber auch aus Messungen der unelastischen Neutronenstreuung Informationen über H-Brücken erhalten. In vielen Fällen ist jedoch keine klare Abgrenzung gegen die VAN DER WAALS-Bindungskräfte möglich, so dass es bei sehr schwachen Wechselwirkungen oftmals zweifelhaft ist, ob tatsächlich H-Brücken vorliegen oder nicht. In solchen Fällen kann nur eine Strukturanalyse die Brückenfunktion des Wasserstoffs nachweisen.
5.6.4 Beispiele für Wasserstoffbrückenbindungen Hydrogenfluorid Kristallines Hydrogenfluorid (Schmp. –83.6°C) besteht bei –125°C aus planaren ZickZack-Ketten von HF-Molekülen, die über lineare unsymmetrische Wasserstoffbrücken assoziiert sind:25, 26 F H
F
H F
H
F
H F
H
H
d(FF) = 249(1) pm, Winkel FFF = 120°
Im flüssigen HF liegen analoge, aber nicht mehr planare Kettenmoleküle vor. Gasförmiges HF besteht dagegen bei 20°C unter dem eigenen Sättigungsdampfdruck (Sdp. 19.5°C) nach massenspektrometrischen Untersuchungen hauptsächlich aus monomerem HF und verschiedenen Oligomeren (HF)n mit n = 2–6, die miteinander im temperatur- und druckabhängigen Gleichgewicht stehen. Die Strukturen und Bindungsverhältnisse dieser Oligomeren werden weiter unten diskutiert. Auch in vielen Salzen der Säuren HF und (HF)n müssen Wasserstoffbrücken angenommen werden. Eine der stärksten Brücken liegt im Hydrogendifluorid-Ion [HF2]– vor, das 22 23
24 25 26
H. G. M. Edwards, D. W. Farwell, A. Jones, Spectrochim. Acta 1989, 45A, 1165. Durch H-Brückenbildung wird die Elektronendichte am H-Atom reduziert, was gegenüber Tetramethylsilan (TMS) zu einer Verschiebung des Signals zu tieferem Feld führt. Beispielsweise beobachtet man das als Triplett aufgespaltene Signal des OH-Protons von reinem Ethanol bei ca. 5.2 ppm, während eine Lösung von Ethanol in CCl4 ein Singulett für das OH-Proton liefert, das je nach Konzentration bei 4 bis 1 ppm liegt. N. Nishi et al., J. Am. Chem. Soc. 1988, 110, 5246. Die Struktur von kristallinem HOF ist analog: eine planare Zick-Zack-Kette von O–H····O-Bindungen bildet das Gerüst, von dem die Fluoratome abzweigen. Die Kristallstrukturen der übrigen Wasserstoffhalogenide sind komplex und durch mehrere Phasen und Fehlordnung charakterisiert; siehe A. F. Wells, Structural Inorganic Chemistry, 5th ed., Clarendon, Oxford, 1975, S. 308.
174
5 Wasserstoff
in Salzen des Typs M[HF2] enthalten ist. Solche Salze können leicht aus den Fluoriden MF und Hydrogenfluorid hergestellt werden. Im K[HF2] ist das Anion linear und symmetrisch (Symmetrie D∞h): [F – H – F]
d(HF) = 113 pm, d(FF) = 226 pm
Im Salz [NH4][HF2] liegen ebenfalls symmetrische [HF2]–-Ionen vor, die aber nun noch über N–H····F-Brücken mit den [NH4]+-Kationen verbunden sind. Diese äußeren Wasserstoffbrücken vergrößern den Kernabstand d(FF) im Anion auf 232 pm und bedingen, dass zur Gitterenergie des Salzes mit der H-Brückenbindungsenthalpie eine weitere Komponente hinzukommt. Hydrogenfluorid bildet wegen der starken Wechselwirkung zwischen HF-Molekülen und Fluorid-Ionen verschiedene saure Salze des Typs MX·nHF (n = 1–4). Im K[H2F3] liegen gewinkelte Anionen [H2F3]– der Symmetrie C2v vor, das Anion [H3F4]– bildet eine trigonale Pyramide (C3v) und [H4F5]– ist tetraedrisch gebaut (Td). In diesen Anionen liegen im Gegensatz zum [HF2]–-Ion unsymmetrische H-Brücken zwischen dem zentralen Fluorid-Ion und den HF-Molekülen vor. Eis und Wasser27 Von H2O sind dreizehn verschiedene kristalline Phasen bekannt,28 die in bestimmten Temperatur- und Druckbereichen stabil sind (Abb. 5.4) oder die als metastabile Phasen hergestellt wurden (z.B. Eis Ic, IV und IX). Beim Druck von 1013 hPa erstarrt Wasser bei 0°C zu hexagonalem Eis Ih, in dem eine dem hexagonalen ZnS (Wurtzit) ähnliche Packung der Sauerstoffatome vorliegt.29 Diese Struktur besteht gewissermaßen aus SechserRingen von OH-Gruppen (in Wirklichkeit handelt es sich um zwölfgliedrige Ringe; vgl. Abb. 5.5). In dieser Struktur ist jedes O-Atom exakt tetraedrisch von vier anderen O-Atomen umgeben. Der kleinste Kernabstand d(OO) beträgt bei –50°C 276 pm. Die Dichte wurde bei 0°C zu 0.92 g cm–3 bestimmt. Die H-Atome liegen entweder genau auf der OO-Verbindungslinie oder sind nur wenig von dieser entfernt, so dass es sich um lineare oder allenfalls schwach gewinkelte H-Brücken handelt.30 Der Kernabstand d(OH) = 100.5 pm ist etwas größer als im gasförmigen H2O-Molekül (95.8 pm) und zeigt, dass die H-Brücken unsymmetrisch sind. Die übrigen kristallinen Modifikationen von H2O sind nur bei höheren Drucken oder sehr tiefen Temperaturen stabil und haben dichtere Strukturen als Eis Ih. Die meisten von ihnen sind bei der Temperatur des flüssigen Stickstoffs (–196°C) unter Normaldruck metastabil. Sie können daher unter diesen Bedingungen untersucht werden. Sie enthalten z.T. Vierer- und Fünfer-Ringe aus OH-Gruppen. Durch Kondensation von Wasserdampf bei tiefen Temperaturen kann man darüber hinaus glasiges Eis herstellen, das sich beim Aufwärmen über kubisches Eis Ic (Diamantstruktur der O-Atome) in gewöhnliches Eis Ih umwandelt. Bei extrem hohem Druck (60 GPa) existiert Wasser als 27 28 29 30
R. Ludwig, Angew. Chem. 2001, 113, 1856. W. F. Kuhs (Ed.), The Physics and Chemistry of Ice, Royal Society of Chemistry, Cambridge, 2007. C. Lobban, J. F. Finney, W. F. Kuhs, Nature 1998, 391, 268. Sehr kleine, staubfreie Wassertropfen, wie sie in Wolken vorkommen, können bis auf –38°C unterkühlt werden, ohne zu kristallisieren. Da der Valenzwinkel im H2O-Molekül 104.5° beträgt, der Tetraederwinkel zwischen den O-Atomen aber 109.5°, ist anzunehmen, dass die H-Brücken schwach gewinkelt sind.
175
5.6 Die Wasserstoffbrückenbindung VII VIII
Druck (kbar)
20
15 VI
10
V
5
IV
II
0
Flüssigkeit
III
I
-100
¾50
0
50
100
T (°C)
Abb. 5.4 Phasendiagramm von H2O im Bereich bis 25 kbar (2.5 GPa). Die verschiedenen polymorphen Modifikationen sind durch römische Zahlen gekennzeichnet. Eis Ih, II, III, V, VI, VII und VIII sind stabile Phasen, während Eis Ic, IV und IX unter allen Bedingungen metastabil sind (ebenso wie glasiges Eis). Eis IX existiert nur unterhalb –100°C.
c (735 pm)
)
2 pm
c
a (45
Basisfläche c Prismenfläche a
Abb. 5.5 Struktur von hexagonalem Eis Ih (oben). Dargestellt sind die Positionen der O-Atome (leere Kreise) und der H-Atome (volle Kreise). Die H-Atome sind jedoch fehlgeordnet, da sie auf jeder O–O-Verbindungslinie eine von zwei äquivalenten Positionen einnehmen können, und zwar so dass jedes H2O-Molekül C2v-Symmetrie aufweist (symmetrisches Doppelminimum-Potential). Die H-Brückenbindungen führen zu einer insgesamt tetraedrischen Koordination der O-Atome. Die hexagonale Kristallsymmetrie, die sich aus dieser Struktur ergibt, ist im unteren Teil gezeigt.
176
5 Wasserstoff
Eis X, in dem symmetrische H-Brücken vorliegen, d.h. man kann nicht mehr zwischen intra- und intermolekularen OH-Bindungen unterscheiden. In der Nähe des Schmelzpunktes (bei Unterkühlung um 1 K oder weniger) befindet sich auf Eiskristallen eine quasi-flüssige Wasserschicht, deren Dicke je nach Temperatur 10–100 nm beträgt und die für das Kristallwachstum von entscheidender Bedeutung ist. Mit Hilfe dieser Vorstellung erklärt man beispielsweise die unterschiedliche Gestalt (Morphologie) von Schneeflocken und anderen Eiskristallen, die entweder plättchenoder prismenförmig sein können, deren sechszählige Symmetrie aber meistens gut zu erkennen ist.31 Flüssiges Wasser besitzt bei Temperaturen in der Nähe des Erstarrungspunktes eine komplexe Struktur. Man nimmt an, dass bei 0°C zahlreiche Oligomere und größere Cluster aus bis zu 100 H2O-Molekülen vorhanden sind, in denen die Moleküle ähnlich wie im hexagonalen Eis I gebunden sind. Von jedem H2O-Molekül im Inneren des Clusters gehen also in der Regel vier Wasserstoffbrücken aus. An der Oberfläche dieses eisartigen Netzwerkes müssen jedoch auch Moleküle mit drei oder zwei Brücken vorhanden sein, während man eine einzelne H-Brücke pro Molekül ausschließen kann (Abb. 5.6). Ein wesentliches Argument für die Annahme größerer geordneter Bereiche im flüssigen Wasser ist die nahe Übereinstimmung der Dielektrizitätskonstanten, die beim Eis am Schmelzpunkt 92 und beim flüssigen Wasser bei 0°C 88.5, bei 100°C 55.5 und bei 200°C noch 34.5 beträgt. An der Oberfläche der Cluster findet allerdings ein ständiger Ab- und Aufbau statt, da die gemessene Lebensdauer einer Wasserstoffbrücke im flüssigen Wasser nur ca. 10–11 s beträgt. Dieser geringe Wert ist auf die geringe Brückenbindungsenergie zurückzuführen, die in der Größenordnung der thermischen Schwingungsenergie der Moleküle bei 20°C liegt. Der mittlere OO-Abstand von flüssigem Wasser wurde bei 25°C zu 285 pm ermittelt. Er ist damit etwas größer als im hexagonalen Eis Ih. Die Dichte von Wasser hat bei 4.0°C ein Maximum, im Falle von D2O liegt das Dichtemaximum bei 11.2°C (Abschnitt 5.1, Tab. 5.1). Die Tatsache, dass diese maximale Dichte größer ist als die von Eis, wird so gedeutet, dass in Wasser bei diesen niedrigen Temperaturen auch Strukturelemente mit verzweigten H-Brücken vorliegen (Abb. 5.6). Dadurch erhöht sich die Koordinationszahl einiger O-Atome bezüglich der umgebenden O-Atome von vier auf fünf, wodurch die Raumerfüllung größer wird. Neben den hochmolekularen Clustern enthält flüssiges Wasser aber auch niedermolekulare Oligomere (H2O)n mit n = 2, 3, 4 …, deren Strukturen weiter unten diskutiert werden und die man nachweisen kann, indem man Wasser adiabatisch in ein Hochvakuum verdampft und den Dampf spektroskopisch analysiert. Aus IR- und Ramanspektren sowie aus Röntgenbeugungsmessungen32 wurde geschlossen, dass der Gehalt an freien, d.h. nicht an H-Brücken beteiligten OH-Gruppen im flüssigen Wasser bei 25°C etwa 20 % und beim kritischen Punkt (374°C/22.1 MPa) etwa 70 % beträgt.33 Die Bindungsenthalpie der einzelnen H-Brücken wurde experimentell zu 11 kJ mol–1 bestimmt. Die Verdampfungsenthalpie von Wasser bei 25°C beträgt 44 kJ mol–1. 31 32 33
Y. Furukawa, Chemie unserer Zeit 1997, 31, 58. H. Ohtaki, T. Radnai, T. Yamaguchi, Chem. Soc. Rev. 1997, 26, 41. Am kritischen Punkt beträgt die Dichte von Wasser ρ nur noch 0.322 g cm–3 und die Dielektrizitätskonstante ε nur noch 6. Dies sind die Gründe, weswegen ionische und polare Verbindungen in überkritischem Wasser schlechter, unpolare Verbindungen dagegen besser löslich sind als im unterkritischen Bereich; H. Weingärtner, E. U. Franck, Angew. Chem. 2005, 117, 2730.
177
5.6 Die Wasserstoffbrückenbindung
H
H
O
O H
O H
O
O H
H
H
H
H
H O
O H
H
H
H O
H
H O
H
H
Abb. 5.6 Acht mögliche Bindungszustände von H2O-Molekülen im flüssigen Wasser. Die durch gestrichelte Linien angedeuteten H-Brückenbindungen sind unsymmetrisch (nicht zentriert). Die Geometrie an den O-Atomen ist bei vierfacher Koordination verzerrt tetraedrisch, bei dreifacher pyramidal. Die erste Struktur enthält eine verzweigte H-Brücke. Man erkennt, dass Moleküle mit zwei freien OH-Gruppen dennoch über H-Brücken gebunden sein können.
Beim Lösen salzartiger Verbindungen in Wasser werden die Ionen hydratisiert, d.h. das elektrische Feld der Ionen löst die Wasserstoffbrücken der H2O-Moleküle teilweise auf und bewirkt, falls es stark genug ist, dass um das Ion eine erste Hydrathülle mit geordneten H2O-Molekülen entsteht. Diese Art der Wechselwirkung zwischen einem Ion und Dipolmolekülen nennt man Strukturbildung. Sie tritt vor allem bei kleinen oder mehrfach geladenen Kationen und Anionen, die eine hohe elektrische Feldstärke aufweisen, in Erscheinung (bei H+, Li+, Na+, Mg2+, F–, [SO4]2–). Beispielsweise bindet das Sulfat-Ion in seiner ersten Hydrathülle 12–13 H2O-Moleküle, die jeweils mit einem H-Atom an ein Sulfat-O-Atom gebunden sind, während das zweite H-Atom mit den Wassermolekülen der näheren Umgebung verbunden ist.34 In dieser Umgebung, d.h. in etwas größerem Abstand von dem betrachteten Ion, vermag das elektrische Feld gerade noch die gegenseitige Orientierung der Wassermoleküle und damit die Bildung der Struktureinheiten des reinen Wassers zu behindern. In dieser Sphäre sind die H2O-Moleküle im Mittel durch weniger Wasserstoffbrücken verknüpft als in reinem Wasser. Sie sind dementsprechend leichter und freier beweglich. Daher nennt man diese Bereiche der Hydrathülle Bereiche der Strukturbrechung. Diese Art der Wechselwirkung ist nicht nur für die zweite Hydrathülle kleiner Ionen charakteristisch, sie tritt auch bei der Hydratation großer, leicht polarisierbarer Ionen auf und bestimmt dort die Struktur der ersten Hydrathülle (bei K+, Rb+, Cs+, Br–, I–, [SCN]–, [ClO4]–). Strukturbildner erhöhen also die Zahl der H-Brücken, während Strukturbrecher die Zahl der H-Brücken, verglichen mit reinem Wasser, vermindern.35 Wasserdampf verhält sich bei Drucken bis zu etwa 90 % des Sättigungsdampfdruckes und bei Temperaturen um 25°C nahezu ideal, d.h. er besteht dann überwiegend aus monomerem H2O. In der Nähe des Sättigungsdampfdruckes kann man aber vor allem bei erhöhter Temperatur Aggregate wie (H2O)2 nachweisen. Beim kritischen Punkt beträgt der Anteil an monomerem H2O nur noch ca. 72 %. Mit Hilfe der Matrixtechnik kann man der34 35
W. R. Cannon, B. M. Pettitt, J. A. McCammon, J. Phys. Chem. 1994, 98, 6225. Abbildungen für die Hydrathüllen von Alkalimetall-Kationen mit bis zu 20 Wassermolekülen findet man bei F. Schulz, B. Hartke, ChemPhysChem. 2002, 3, 98.
178
5 Wasserstoff
artige Oligomere nach Abschrecken des mit Ar oder N2 verdünnten Wasserdampfes auf 20 K IR-spektroskopisch nachweisen. In unpolaren Lösungsmitteln, wie aliphatischen und aromatischen Kohlenwasserstoffen, CCl4, CS2 und anderen, löst sich H2O in sehr geringem Maße, und zwar überwiegend monomer. Bei niedrigen Temperaturen lassen sich IR-spektroskopisch jedoch auch in solchen Lösungen Oligomere (H2O)n mit n = 2–6 nachweisen. In schwach polaren organischen Lösungsmitteln, wie den partiell chlorierten Kohlenwasserstoffen, ist H2O teils monomer, teils oligomer gelöst. Bei Verwendung stärker polarer Lösungsmittel (Alkohole, Ether, Ketone, Amine, Nitrile, Carbonsäuren, Sulfoxide), die selbst als Partner für H-Brücken in Frage kommen, entstehen Komplexe zwischen dem Lösungsmittel und dem gelösten Wasser, wobei deren Zusammensetzung von der Temperatur und der Konzentration abhängt. Unpolare (hydrophobe) Stoffe wie Edelgase, H2, N2 und O2 aber auch CH4, CF4, C2F6 und SF6 lösen sich in flüssigem Wasser nur in sehr geringem Umfang (Molenbruch <8·10–5 bei 25°C).36 Ein Beispiel ist gasförmiges Methan, dessen Lösungsenthalpie ∆ Ho in Wasser bei 25°C zwar exotherm ist, der Beitrag der Lösungsentropie –T∆ So ist jedoch so groß, dass sich die GIBBS-Energie der Hydratation zu ∆Go = +8.4 kJ mol–1 ergibt (Sättigungskonzentration 2.5·10–3 mol-% CH4). Die geringe Löslichkeit ist folglich auf den großen Entropieverlust (∆So < 0) zurückzuführen, der mehr als doppelt so groß ist wie bei einer analogen Lösung von H2O in CCl4 und der dadurch zustande kommt, dass die gelösten Moleküle zunächst die H2O-Cluster aufbrechen müssen, um Platz für sich zu schaffen. Um das gelöste Molekül ordnen sich die H2O-Moleküle aber offenbar neu, und zwar in einer solchen Weise, dass die Ordnung gegenüber reinem Wasser zunimmt. Diesen Vorgang nennt man hydrophoben Effekt.37 Bei den gasförmigen n-Alkanen mit 2 bis 7 C-Atomen nimmt der Entropieverlust beim Lösen in Wasser gegenüber Methan sogar noch zu, d.h. die Hydrophobie steigt mit wachsender Größe des Teilchens noch an. Betrachtet man jedoch die Löslichkeit von flüssigen n-Alkanen in Wasser,38 zeigt sich, dass die Überwindung der starken intermolekularen Dispersionskräfte (Kap. 3.6.3) in den reinen flüssigen Alkanen der Hauptgrund für die schlechte Löslichkeit in Wasser ist. Dadurch neigen solche Verbindungen in Wasser zur Phasentrennung. Hydrophobe Effekte spielen bei vielen Vorgängen in Wasser eine entscheidende Rolle. Sie bestimmen zum Beispiel die Stabilität von biologischen Membranen und die Tertiärstruktur von Proteinen. Aber auch bei der Aggregation oberflächenaktiver Substanzen und bei der Flotation von Mineralien sind diese Effekte am Werke. Gashydrate und Clathrathydrate39 Elementares Chlor reagiert mit Wasser bei 0°C und einem Druck von 1013 hPa zu einem kristallinen Gashydrat, das erst bei +10°C schmilzt und ungefähr die Zusammensetzung Cl2·7H2O aufweist. Dessen kubische Struktur besteht aus einem Wirtsgitter von Wassermolekülen, die pentagon-dodekaedrische Käfige und ähnliche Polyeder bilden (Abb. 5.7). 36 37
38 39
T. M. Letcher, R. Battino, J. Chem. Educ. 2001, 78, 103. W. Blokzijl, J. B. F. N. Engberts, Angew. Chem. 1993, 105, 1611; M. E. Paulaitis, S. Garde, H. S. Ashbaugh, Curr. Opin. Colloid Interf. Sci.1996, 1, 376. N. T. Southall, K. A. Dill, A. D. J. Haymet, J. Phys. Chem. B 2002, 106, 521. V. Barone, M. Cossi, J. Tomasi, J. Chem. Phys 1997, 107, 3210. E. D. Sloan, Clathrate Hydrates of Natural Gases, 2nd ed., Dekker, New York, 1998. J. S. Loveday, R. J. Nelmes, Phys.Chem.Chem.Phys. 2008, 10, 936.
5.6 Die Wasserstoffbrückenbindung
179
Abb. 5.7 Käfigstruktur der Wassermoleküle in Gashydraten des kubischen Typs I. Dargestellt sind die Lagen der O-Atome des Wirtsgitters, die pentagonal-dodekaedrische Polyeder (Symbol [512]) sowie weniger symmetrische Polyeder der Art [51262] bilden. Diese Symbole geben die Zahl der Kanten der den Käfig begrenzenden Flächen und als Exponenten die Anzahl dieser Flächen an.
Diese Polyeder sind über H-Brücken zu einem dreidimensionalen Gitter verbunden, das in dieser Form keine stabile Struktur darstellt, sondern nur gebildet wird, wenn kleine Gastmoleküle wie He, Ne, Ar, Kr, Xe, H2, N2, Cl2, Br2, CH4, H2S, AsH3, SO2, SF6 oder andere zugegen sind, die in die Hohlräume der Polyeder des Wirtsgitters eingelagert werden, wobei die Symmetrie und Zusammensetzung des Gashydrates einerseits vom Druck und der Art des Gases sowie von der Temperatur abhängt, andererseits aber bei Besetzung aller Hohlräume einen Sättigungswert erreicht. Die Strukturen der Gashydrate sind die Folge (a) der Wasserstoffbrücken zwischen den Wassermolekülen und (b) der Abstoßung zwischen den Wassermolekülen und den überwiegend hydrophoben Gastmolekülen. Methanhydrat (MH) kommt in mächtigen Lagerstätten in der Nähe bestimmter Küsten am Meeresgrund vor und stellt eine riesige Energiereserve dar. In Steinkohleeinheiten gerechnet sind die Vorräte an Methanhydrat größer als die von Erdgas und Erdöl zusammen genommen. Die Zersetzungstemperatur vom MH beträgt bei 1013 hPa Gasdruck –79°C, steigt aber mit dem äußeren Druck steil an und beträgt bei 0.5 GPa bereits +47°C. Wegen seiner Bedeutung als Energieträger aber auch wegen des möglichen Vorkommens auf anderen Planeten oder deren Monden ist MH das bei weitem am besten untersuchte Gashydrat. Darüber hinaus sind die im Grönlandeis eingeschlossenen Gase („Lufthydrat“) als Zeugen vergangener Zeiten von Bedeutung für die Klimaforschung. Auch manche starken Säuren bilden derartige Einschlussverbindungen, die man in diesen Fällen Clathrathydrate nennt. Dabei bilden die Wassermoleküle zusammen mit den H+-Ionen Käfige, in denen sich die Anionen der Säuren befinden. Ammoniak und Amine Festes Ammoniak kristallisiert in einer kubischen Struktur, in der alle H-Atome an gleichartigen Wasserstoffbrücken beteiligt sind, so dass von jedem N-Atom drei Brückenbindungen ausgehen müssen. Die N····H-Abstände betragen 240 pm und die N–H····N-Winkel 161°. Besonders starke N-H····N-Brücken liegen in bestimmten protonierten Diaminen vor, bei denen die beiden N-Atome so angeordnet sind, dass optimale Voraussetzungen für die gleichzeitige Bindung eines Protons an beide N-Atome gegeben sind. Zwei Beispiele sind die folgenden, vom Naphthalin bzw. Fluoren abgeleitete Bisdimethylamino-Derivate:
180
5 Wasserstoff
Me2N
NMe2
Me2N
H NMe2
Me2N
NMe2
Me2N
H NMe2
+
+
Die pKa(BH+)-Werte dieser Diamine betragen in Wasser 12.1 bzw. 12.8, d.h. das Proton wird sehr stark gebunden. Daher werden solche Verbindungen als Protonenschwämme 40 bezeichnet, da sie Protonen gleichsam aufsaugen wie ein Schwamm das Wasser aufsaugt. Das protonierte Bisdimethylaminofluoren weist eine praktisch lineare, sehr kurze Wasserstoffbrücke auf (dNN = 263 pm). Bei anderen ungeladenen Stickstoffbasen wurden pKa(BH+)-Werte von bis zu 17 gemessen.41 Ein weiterer interessanter Fall einer N-H····N-Brücke ist die folgende Einschlussverbindung eines Ammonium-Kations in den Hohlraum des kugelförmigen Cryptanden (A), wobei vier Ν–H····N-Brücken ausgebildet werden (B): O
A:
N
N O
O
O
N
O
N
O N
O
B: N
O
H H O
N H
H
N
N
Derartige supramolekulare Komplexe42 sind für das Verständnis der molekularen Erkennung eines Substrats (hier [NH4]+) durch einen Rezeptor (A) von Bedeutung. Wasserstoffbrücken der Typen N-H····N und N-H····O sorgen auch für den Zusammenhalt der Doppelhelix von Desoxyribonukleinsäure (DNA), in der die Basen Thymin und Adenin jeweils über zwei und Cytosin und Guanin über drei derartige Wasserstoffbrücken aneinander gebunden sind. Neben den bisher besprochenen Brücken der speziellen Typen F-H····F
O-H····O
N-H····N
sind überwiegend solche bekannt, bei denen X und Y verschiedene Atome sind. Ein Überblick über diese Bindungstypen und eine Reihe von Beispielen ist in Tabelle 5.6 gegeben. 40 41 42
H. A.Staab, T. Saupe, Angew. Chem. 1988, 100, 895. R. Schwesinger, Nachr. Chem. Techn. Lab. 1990, 38, 1214. J. M. Lehn, Angew. Chem. 1988, 100, 92.
181
5.6 Die Wasserstoffbrückenbindung
Tab. 5.6 Typen von Wassserstoffbrücken in anorganischen Verbindungen und entsprechende Beispiele (Me: Methyl, Et: Ethyl) O–H····O (H2O)n H2SO4 B(OH)3 K2[HPO4] Na[HCO3]
F–H····F (HF)n KHF2 KH2F3
O–H····S BaS2O3·H2O N–H····F [NH4][HF2] [NH4]2[SiF6] [NH4][BF4]
O–H····N NH2OH
AlO(OH) CuSO4·5 H2O CaSO4·2 H2O K2XeO4·8 H2O [H3O][ClO4] H2O2
2 NH3·H2O O–H····Cl MnCl2·2 H2O [H5O2]Cl·H2O
N–H····O H2NNO2 NH2OH N–H····N NH3 [NH4][N3] N2H4
N–H····Cl [NH4]Cl [N2H6]Cl2 Cl–H····O HCl in Et2O C–H····O C2H2 in Me2CO Me2SO in CHCl3 C–H····N HCN Cl–H····Cl [NR4][HCl2]
Ein besonders bemerkenswertes Beispiel für eine O-H····F-Brücke ist das planare Ion [(FH2O)2]2–, das beim Erwärmen einer Suspension von ZnF2 und Ethylendiamin (en) in wasserhaltigem Methanol in Form des Salzes [Zn(en)3][F2(H2O)2] entsteht (F····O-Abstände 258.6 und 267.9 pm): 2¾
O H
H F
F H
H O
Obwohl die Struktur sehr vieler Wasserstoffverbindungen auch von dem Energiegewinn bestimmt wird, der bei der Bildung von H-Brücken entsteht, gibt es doch auch solche Verbindungen, die keine derartigen Brücken enthalten, obwohl scheinbar alle Voraussetzungen dafür gegeben sind. Das ist z.B. bei den Hydroxiden NaOH, Ca(OH)2, Mg(OH)2 und Fe(OH)2 der Fall.
5.6.5 Theorie der Wasserstoffbrückenbindung43 Wasserstoffbrücken X-H····Y werden hauptsächlich zwischen kleinen und sehr elektronegativen Atomen X und Y gebildet. Die stärksten Brücken findet man, wenn X und/oder Y Fluor-, Sauerstoff- oder Stickstoffatome sind und nur bei F, O und N kommt es unter bestimmten Umständen zu symmetrischen Brücken, und zwar bei Kationen, Anionen und 43
S. Scheiner, Hydrogen Bonding – A Theoretical Perspective, Oxford University Press, New York, 1997. D. C. Clary, D. M. Benoit, T. Van Mourik, Acc. Chem. Res. 2000, 33, 441.
182
5 Wasserstoff
Neutralmolekülen.44 Die Energie des Wasserstoffatoms in einer H-Brücke kann durch drei Arten von Potentialkurven wiedergegeben werden. Diese sind in Abbildung 5.8 schematisch dargestellt. E
X H X
(a)
d(XH)
X H
(b)
X
d(XH)
X H
(c)
Y
d(XH)
Abb. 5.8 Energie des H-Atoms in verschiedenen Wasserstoffbrücken als Funktion des Kernabstandes dXH bei konstantem Abstand dXX bzw. dXY. (a) symmetrische H-Brücke X–H–X mit zentriertem Proton (Beispiel: KHF2) (b) zwei äquivalente Minima bei völlig gleichartigen Atomen X (Beispiele: Eis Ih, KH2PO4) (c) asymmetrische Potentialkurve bei verschiedenen Atomen X und Y (häufigster Fall von H-Brücken).
Die symmetrische Brücke X–H–X ist theoretisch am einfachsten zu behandeln. Solche H-Brücken werden nur bei sehr kleinen Kernabständen d(XX) beobachtet, wodurch es zu einer beträchtlichen Orbitalüberlappung zwischen den drei Atomen kommt. Dadurch entsteht eine normale kovalente 3-Zentren-4-Elektronen-Bindung, die bereits im Kapitel 2, Abbildung 2.25, erklärt wurde. Die Tatsache, dass nur ein bindendes Elektronenpaar für zwei Bindungen vorhanden ist, entspricht dem experimentellen Befund, wonach die Bindungen im [HF2]–-Ion erheblich schwächer sind als im HF-Molekül mit seiner 2-Zentren2-Elektronen-Bindung. Andere Beispiele für starke und z.T. symmetrische H-Brücken sind die Anionen [HO2]3– im Cr[HO2], [H(OH)2]– in Natronlauge, sowie [H(CO3)2]3–, [H(NO3)2]– und [H(SO4)2]3– in den entsprechenden Na-Salzen, weiterhin das Kation [H5O2]+ (Symmetrie C2h im [H5O2][SbF6]). Während man die Bindungen in den symmetrischen Brücken als kovalent beschreiben kann, ist die Situation bei den schwächeren unsymmetrischen Brücken weniger eindeutig. Berechnungen des Energieverlaufs für ein H-Atom zwischen zwei O-Atomen zeigen, dass nur für sehr kleine OO-Abstände (240–260 pm) ein Kurvenbild wie in Abbildung 5.8(a) erhalten wird. Mit steigendem Kernabstand geht die Kurve in die Form (b) über, wobei zunächst ein sehr flaches Minimum und dann ein in der Mitte liegendes kleines Energiemaximum erhalten werden. In diesem Fall stehen dem H-Atom also zwei energetisch äquivalente Lagen zur Verfügung und es kann in entsprechenden Verbindungen von der einen in die andere überwechseln (symmetrisches Doppelminimumpotential, z.B. im Eis Ih). Allgemein gilt, dass die H-Brücken durch das Zusammenspiel von vier verschiedenen Kräften zustande kommen: Einer elektrostatischen Wechselwirkung, der 44
J. Emsley, Chem. Soc. Rev. 1980, 9, 91.
183
5.6 Die Wasserstoffbrückenbindung
gegenseitigen Polarisation der Reaktionspartner, der VAN DER WAALS-Anziehung und einer kovalenten Bindung mit einer geringen Ladungsübertragung. Unsymmetrische Wasserstoffbrücken des Typs X-H····Y sind bei weitem am häufigsten. Das H-Atom befindet sich dabei im tiefer liegenden Energieminimum der Kurve (c) in Abbildung 5.8, d.h. es ist am Atom X gebunden, das die höhere Protonenaffinität aufweist. In Tabelle 5.7 sind die Protonenaffinitäten (Epa) für einige gasförmige Moleküle und Ionen angegeben. Aus elektrostatischen Gründen sind die Epa-Werte für Anionen größer als für vergleichbare Neutralmoleküle. Die Zahlen für NH3 und für F– zeigen, dass beispielsweise bei der Reaktion von NH3 mit HF in der Gasphase primär ein VAN DER WAALS-Molekül H3N····H-F und nicht ein Ionenpaar [H3NH]+····F– entsteht. Erst wenn sich viele derartige Moleküle zusammen lagern, entsteht ein Ionenkristall von Ammoniumfluorid, da dann zusätzlich die Gitterenergie (Kap. 2.1.5) gewonnen wird. Analoges gilt für den gasförmigen Komplex H2O····H-Cl. Tab. 5.7 Protonenaffinitäten (kJ mol–1) einiger gasförmiger Moleküle und Ionena NH3 854
H2O 691
HF 484
[NH2]– 1690
[OH]– 1635
F– 1554
PH3 785
H2S 705
HCl 567
[PH2]– 1551
[HS]– 1470
Cl– 1395
Quellen: S.G. Lias, J. Phys. Chem. Ref. Data 1988, 17, 1–861 und 1984, 13, 695–808; NIST Standard Reference Database 69 – August 1997 (http://www.webbook.nist/gov).
a
Experimentell und theoretisch genau untersucht wurden die gasförmigen Oligomere von HF und H2O, die auch in den beiden flüssigen Verbindungen vorkommen. Die Struktur des Dimers (HF)2 wurde durch quantenchemische Rechnungen wie folgt ermittelt (Cs-Symmetrie):45 F
H
F
d(FF) = 274(1) pm, Winkel FFH = 112(1)° H Bei einer rein elektrostatischen Wechselwirkung der beiden Dipole hätte man einen Winkel von 0° (parallele Anordnung) oder von 180° erwartet, da dann gleichnamig geladene Atome so weit wie möglich voneinander entfernt wären. Bei einer rein kovalenten Bindung zwischen beiden Molekülen wird andererseits angenommen, dass das nichtbindende pπ-Orbital des rechten Moleküls mit dem σ*-MO46 des linken Moleküls überlappt, wofür ein Winkel von 90° am günstigsten wäre.47 Der beobachtete Winkel von 108° stellt 45 46 47
W. Klopper, M. Quack, M. A. Suhm, J. Chem. Phys. 1998, 108, 10096 und Mol. Phys. 1998, 94, 105. Man beachte, dass das σ*-MO von HF überwiegend H(1s)-Charakter hat. P. Schuster, Z. Chem. 1973, 13, 41; A. E. Reed, L. A. Curtiss, F. Weinhold, Chem. Rev. 1988, 88, 899.
184
5 Wasserstoff
einen Kompromiss dar, bei dem elektrostatische und kovalente Wechselwirkung zusammen ein Maximum an Stabilisierung ergeben. Die Dissoziationsenthalpie, d.h. die Stärke der H-Brückenbindung, beträgt 19 kJ mol–1. Die Oligomere (HF)n mit n = 3–5 sind cyclische Moleküle.45 Die Struktur von (HF)2 stellt einen Ausschnitt aus der Struktur von kristallinem HF dar (siehe oben) und kann als Modell für alle anderen schwachen H-Brückenbindungen dienen. Die teilweise Delokalisierung des pπ-Elektronenpaares in das antibindende MO der XH-Bindung des Nachbarmoleküls erklärt die Schwächung dieser Bindung, was an dem verglichen mit monomerem HX vergrößerten Kernabstand zu erkennen ist. In analoger Weise ist die Bindung in den cyclischen Oligomeren (HF)n mit n = 4–6 zu erklären. Es muss jedoch betont werden, dass bei allen schwachen H-Brücken die elektrostatische Wechselwirkung dominiert.48 Oligomere des Moleküls H2O sind in den letzten Jahren intensiv erforscht worden.27 Das gasförmige Dimer (H2O)2 hat eine dem (HF)2 analoge Struktur (Symmetrie Cs): H O
H
O H
H
d(OO) = 297.6 pm
Der kleinste Winkel zwischen der OO-Achse und der C2-Drehachse des rechten Moleküls beträgt 57° und das Brücken-H-Atom liegt etwas oberhalb der OO-Achse. Die Dimerisierungsenthalpie bei 25°C wurde zu –15 kJ mol–1 berechnet.49 Die Partialladungen auf den an der H-Brücke beteiligten Atomen sind gegenüber denen im monomeren H2O-Molekül deutlich erhöht.21 Die Struktur von (H2O)2 wird verständlich, wenn man wiederum eine teilweise Delokalisierung des nichtbindenden Elektronenpaars am O-Atom in das antibindende MO der an der Brückenbindung beteiligten OH-Gruppe annimmt. Die Ladungsübertragung ist allerdings sehr gering. Hauptsächlich findet eine gegenseitige Polarisierung der Moleküle statt. Allgemein gilt, dass der OH-Kernabstand in dieser OH-Gruppe um so größer ist, je kleiner der OO-Abstand der Brücke O-H····O ist, d.h. je stärker die Brückenbindung ist. Für (H2O)3, (H2O)4 und (H2O)5 wurden spektroskopisch und durch ab-initio-MORechnungen cyclische Strukturen gefunden, wobei die OO-Kernabstände 281, 275 bzw. 274 pm betragen:50
(H2O)4
48 49 50
(H2O)5
A. C. Legon, Chem. Soc. Rev. 1987, 16, 467. E. Dunn, E. K. Pokon, G. C. Shields, J. Am. Chem. Soc. 2004, 126, 2647. M. B. Day, K. N. Kirschner, G. C. Shields, J. Phys. Chem. A 2005, 109, 6773.
5.7 Wasserstoffverbindungen (Hydride)
185
Derartige Oligomere aus bis zu 8 Monomeren sind mittels Röntgenstrukturanalysen auch in Hohlräumen von Ionenkristallen als Hydratwasser nachgewiesen worden. Ringe aus fünf H2O-Molekülen kommen auch im Eis III und in einigen Gashydraten vor (siehe oben). Auch die Ammoniakoligomere (NH3)n mit n > 2 sind cyclisch. Ein charakteristisches Merkmal der schwächeren H-Brückenbindungen ist ihre geringe Lebensdauer, wodurch sie sich von den stärkeren kovalenten Bindungen deutlich unterscheiden. Im flüssigen und gasförmigen Zustand werden die H-Brücken dauernd gelöst und wieder neu geknüpft, und zwar gegebenenfalls zwischen anderen Partnern. Das liegt an der Fluktuation der thermischen Energie (Schwingungsenergie) der Moleküle, die ja nur im Mittel gleichmäßig verteilt ist, im Einzelfall aber die Bindungsenergie um so öfter übersteigt, je geringer diese ist und je höher die Temperatur ist. Die mittlere Schwingungsenergie von 2.5 kJ mol–1 pro Freiheitsgrad bei 25°C führt daher bei H-Brücken mit einer Bindungsenergie von 10 bis 50 kJ mol–1 zu einer Lebensdauer von Bruchteilen einer Sekunde. Die Tatsache, dass nur das Wasserstoffatom zu diesem Bindungstyp befähigt ist und nicht auch andere positiv polarisierte Atome (z.B. Lithium), ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass nur das H-Atom keine inneren Elektronen besitzt, die von dem nichtbindenden Elektronenpaar des Atoms Y bei genügender Annäherung abgestoßen würden. Das kleinste Alkalimetall-Kation Li+ neigt dagegen zu höheren Koordinationszahlen.
5.7
Wasserstoffverbindungen (Hydride)
5.7.1 Allgemeines Die Wasserstoffverbindungen der chemischen Elemente teilt man zweckmäßig nach der Art, in der der Wasserstoff gebunden ist, in verschiedene Gruppen ein. Da die Eigenschaften von Verbindungen im Wesentlichen eine Folge der Bindungsverhältnisse sind, erhält man damit zugleich eine grobe Unterteilung nach bestimmten physikalischen und chemischen Eigenschaften: (a) Kovalente Hydride Bindung: überwiegend kovalent, unpolar bis stark polar Beispiele: B2H6, SiH4, P2H4, H2O2, [NH4]+, [ReH9]2–, [PtH6]2– (b) Salzartige Hydride Bindung: überwiegend ionisch Beispiele: LiH, NaH, CaH2 (c) Metallartige Hydride Bindung: teils metallisch, teils kovalent, teils ionisch Beispiele: PdHn, UH3, FeTiH2 Diese Einteilung soll nicht besagen, dass zwischen den drei Gruppen scharfe Grenzen bestehen und dass die Zuordnung einer Verbindung zu einer der drei Klassen immer zweifelsfrei möglich ist. Die Übergänge sind vielmehr fließend, was wegen des kontinuierlich möglichen Übergangs zwischen den einzelnen Grenztypen chemischer Bindung auch zu erwarten ist.
186
5 Wasserstoff
5.7.2 Kovalente Hydride Zu dieser Gruppe gehören alle Hydride der Nichtmetalle einschließlich der meisten organischen Verbindungen. Mit Ausnahme einiger Edelgase bilden alle Nichtmetalle flüchtige Hydride, ebenso einige Hauptgruppenmetalle (z.B. Sn, Sb, Bi). Die höhermolekularen Homologen dieser Verbindungen sind jedoch bereits schwer- bis nichtflüchtig (Polyborane, -silane, -sulfane). Einige Derivate der kovalenten Hydride besitzen eine ionische Struktur, z.B. Salze mit den Anionen [BH4]–, [NH2]– und [OH]– oder mit den Kationen [NH4]+, [PH4]+, [H3O]+. Alle diese Verbindungen werden bei den entsprechenden Nichtmetallen behandelt. Eine überwiegend kovalente Element-Wasserstoffbindung enthalten aber auch einige Metallhydride. Dabei handelt es sich einerseits um binäre Hydride der Elemente Be, Mg, Al und Ga, die bei Raumtemperatur polymer und daher nichtflüchtig sind. Andererseits ist eine große Zahl komplexer Hydride der Übergangsmetalle bekannt,51, 52, 53 die teils flüchtig wie beispielsweise [MnH(CO)5], teils salzartig (K2[ReH9]) sind und die als Koordinationsverbindungen mit dem Liganden H– aufgefasst werden können. In derartigen Verbindungen kann der Ligand H– auch mehrere Metallatome miteinander verbrücken. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist das Chromhydrid [(Cp*CrH)4], das Kubanstruktur aufweist mit Wasserstoffatomen der Koordinationszahl drei im würfelförmigen Cr4H4-Gerüst (Cp* = Pentamethylcyclopentadienid-Ligand).54 In dem Salz [(Ph3P)2N][HCo6(CO)15] ist das H-Atom, das sich im Zentrum des Metallatom-Oktaeders befindet, sogar 6-fach koordiniert.55 Auf diese Verbindungen kann hier nicht näher eingegangen werden. Von besonderem Interesse für das Verständnis des Moleküls H2 sind jedoch Metallkomplexe mit dem Liganden Diwasserstoff.
5.7.3 H2 als Komplexligand56 Die meisten Metalle und verschiedene Metallkomplexe reagieren mit Diwasserstoff unter Spaltung der H-H-Bindung. Beispielsweise addiert Vaskas 16-Elektronen-Komplex molekularen Wasserstoff unter oxidativer Addition zu einem oktaedrischen cis-Dihydridokomplex: [IrCl(CO)(PPh3)2] + H2
[IrCl(H)2(CO)(PPh3)2]
Formal oxidiert hierbei der Wasserstoff das Ir(I) zu Ir(III) und wird selbst zu H(–1) reduziert. Diese Reaktion ist reversibel, d.h. beim Spülen mit Argon oder beim Anlegen eines Vakuums wird der Wasserstoff wieder eliminiert (reduktive Eliminierung). 51 52 53 54 55 56
R. H. Crabtree, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1327 und 1805. K. Yvon, G. Renaudin, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1814. W. Bronger, Angew. Chem. 1991, 103, 776. R. A. Heintz, B. S. Haggerty, H. Wan, A. L. Rheingold, K. H. Theopold, Angew. Chem. 1992, 104, 1100. T. F. Koetzle et al., Angew. Chem. 1979, 91, 86. G. J. Kubas, Proc. Natl. Acad. Sci. USA 2007, 104, 6901, und Chem. Rev. 2007, 107, 4152. A. S. Weller, J. S. McIndoe, Eur. J. Inorg. Chem. 2007, 4411. S. Sabo-Etienne, B. Chaudret, Coord. Chem. Rev. 1998, 178–180, 381. M. Gellier et al., J. Am. Chem. Soc. 2005, 127, 17592.
187
5.7 Wasserstoffverbindungen (Hydride)
Der Kernabstand der beiden Hydridliganden ist mit 240 pm viel größer als der Kernabstand im freien Molekül H2 (74 pm), so dass keine merkliche H-H-Wechselwirkung vorliegen kann. Im Jahre 1984 wurde aber gefunden, dass [W(CO)3(cht)], wobei „cht“ für Cycloheptatrien steht, mit sperrigen Phosphanen (R = iPr) zu [W(CO)3(PR3)2] reagiert, einem 16-Elektronen-Komplex, der erstaunlicherweise H2-Moleküle unter Standardbedingungen side-on koordiniert: R3P
O
O
C
C
W
C R3P
O
H H
Diese Reaktion wird von einem Farbwechsel von purpurrot nach gelb begleitet. Der HHKernabstand des neuen Komplexes wurde durch eine Neutronenbeugungsuntersuchung bei 30 K zu 84 pm bestimmt, was nur wenig über dem oben zitierten Wert von H2 liegt. Die HH-Valenzschwingung bei 2695 cm–1 und die bei Verwendung von HD gemessene NMR-Kopplungskonstante JHD = 33.5 Hz zeigen, dass das H2- bzw. HD-Molekül noch intakt ist, da die Kopplungskonstante bei Dihydridokomplexen unter 2 Hz liegt. Tatsächlich gibt es zwischen dem HH-Abstand und der Kopplungskonstante eine lineare Beziehung: dHH (pm) = 143 – 1.68 · 1JHD Gegenüber freiem H2 ist die HH-Bindung von H2-Komplexen mehr oder weniger geschwächt, d.h. das Molekül ist aktiviert worden. Dies ist mit folgendem Bindungsmodell vereinbar (Abb. 5.9). Zwischen dem H2-Molekül und dem Metallatom kommt es zu einer σ-Bindung, bei der Elektronen aus dem HOMO von H2 in ein vakantes Orbital von M delokalisiert werden. Andererseits überlappt ein besetztes d-Orbital des Metallatoms mit dem LUMO von H2, das bezüglich der HH-Bindung antibindend ist. Dadurch wird die HH-Bindung geschwächt. + +
(a)
+
+
(b)
+ M(p)
H2(g)
M(d)
H 2( u)
Abb. 5.9 Bindung des Liganden H2 an ein Metallatom in Diwasserstoff-Komplexen (side on). (a) σ-Bindung durch Überlappung des besetzten 1σg-Molekülorbitals von H2 mit einem unbesetzten σ-Atomorbital des Metallatoms (M), (b) π-Bindung durch Überlappung eines besetzten d-Atomorbitals von M mit dem unbesetzten 1σuMolekülorbital von H2.
Mehr als 600 Komplexe mit dem Liganden η2-H2 mit nahezu allen Übergangsmetallen wurden inzwischen hergestellt, die zeigen, dass auch eine reine σ-Bindung zur Koordina-
188
5 Wasserstoff
tion an ein Metallzentrum befähigt ist. Die Synthese erfolgt allgemein entweder durch H2-Addition an einen 16-Elektronen-Komplex oder durch Protonierung eines Hydridokomplexes. Je stärker die Donorstärke des Metalls, um so schwächer ist die HH-Bindung im Liganden. Bei besonders großen HH-Abständen spricht man von „gestreckten H2-Liganden“, d.h. es gibt einen kontinuierlichen Übergang von den Diwasserstoff- zu den Dihydrido-Komplexen. Die Grenze zwischen beiden Typen liegt etwa bei einem HH-Abstand von 130 pm. Auch Bis-Diwasserstoff-Komplexe und gemischte Hydrido-Dihydrogen-Komplexe wurden synthetisiert, z.B. RuH2(H2)2(PR3)2 und [Fe(H2)(H)2(PR3)]. Diese Ergebnisse sind von großem mechanistischen Interesse in Zusammenhang mit der Metall-katalysierten Hydrierung von Substraten sowohl in der chemischen Industrie als auch in der Biologie sowie in Zusammenhang mit der Speicherung von H2 durch Metallverbindungen.
5.7.4 Salzartige Hydride Die Alkalimetalle sowie die Erdalkalimetalle Ca, Sr und Ba reagieren mit Wasserstoff bei höheren Temperaturen wie folgt: 2 M(fl.) +
H2(g.)
2 MH(f.)
Dabei entstehen die salzartigen Hydride MH bzw. MH2 in Form farbloser Kristalle. Die Herstellung dieser Verbindungen in reiner Form ist allerdings außer beim Lithium schwierig, da die Synthese in einer Gleichgewichtsreaktion erfolgt und eine erhebliche Aktivierungsenergie, d.h. hohe Temperaturen erfordert. Die Reaktionen sind aber exotherm, wodurch sich die Gleichgewichtslage mit steigender Temperatur immer mehr auf die Seite der Ausgangsprodukte verschiebt. Der Dissoziationsdruck pH2 gehorcht in bestimmten Temperaturbereichen einer ARRHENIUS-Gleichung logp = –A/T + B. Um die reinen Hydride zu erhalten, lässt man daher die Reaktionsmischung nach der in einigen Stunden erreichten Gleichgewichtseinstellung sehr langsam unter Wasserstoffatmosphäre abkühlen, wodurch ein Maximum an Metall in Hydrid überführt wird. Die Reaktionstemperatur beträgt beim Li 725°C, beim Ca anfangs 500°C. Wegen der ungünstigen Gleichgewichtslage bei hohen Temperaturen, die auf die relativ kleinen Bildungsenthalpien der salzartigen Hydride zurückzuführen ist, ist nur LiH (Schmp. 691°C) unzersetzt schmelzbar. Die Hydride der Alkalimetalle kristallisieren kubisch in der Steinsalzstruktur; die der Erdalkalimetalle bilden rhombische Kristalle. Diese Strukturen bestehen aus Metall-Kationen und Hydrid-Ionen H–, die mit dem Heliumatom isoelektronisch sind. Die negativ geladenen Wasserstoff-Ionen kann man durch physikalische und chemische Experimente identifizieren. Schmilzt man ein salzartiges Hydrid, wobei man zur Erniedrigung des Schmelzpunktes ein entsprechendes Metallchlorid in dem Umfang zusetzt, dass ein besonders tief schmelzendes Eutetikum entsteht, und elektrolysiert man nun die Schmelze, dann entwickelt sich Wasserstoff an der Anode: 2 H¾
H2 + 2 e¾
Diese Zersetzung ist analog der anodischen Chlorentwicklung bei der Schmelzflusselektrolyse von NaCl (Kap. 13.5.1). Mit Protonendonoren reagieren Hydrid-Ionen spontan nach H+ + H ¾
H2
189
5.7 Wasserstoffverbindungen (Hydride)
Folglich werden alle salzartigen Hydride von Wasser und Säuren stürmisch zersetzt. CaH2 verwendet man daher als Trockenmittel für indifferente organische Lösungsmittel, wobei unlösliches Ca(OH)2 und gasförmiges H2 entstehen. CaH2 eignet sich dafür am besten, da es am wenigsten reaktiv ist und sich daher am leichtesten handhaben lässt. Beim Zusammenschmelzen von CaH2, SrH2 oder BaH2 mit entsprechenden Halogeniden dieser Metalle erhält man in einer Wasserstoffatmosphäre interessante ternäre Verbindungen: CaH2 +
CaCl2
2 CaHCl
Diese Hydridhalogenide, die tetragonal kristallisieren, weisen eine mit zunehmender Polarisierbarkeit von Kation und Halogenid-Ion immer intensivere und tiefere Färbung auf. Während CaHCl farblos ist, bildet BaHI schwarze Kristalle. Die Bildung salzartiger Hydride mit dem Anion H– lässt die Vermutung zu, dass sich H2 bei der Reaktion mit stark elektropositiven Metallen halogenähnlich verhält. Eine thermodynamische Betrachtung der Hydrid- und Halogenidbildung zeigt jedoch, dass diese Analogien nur formal sind und dass Wasserstoff nicht als Pseudohalogen angesehen werden darf. Die Enthalpie der entscheidenden Reaktion 1 X (g.) 2 2
X(g.)
+ e¾
X¾(g.)
d.h. die Überführung von H2 bzw. Cl2 usw. in entsprechende Anionen, ergibt sich nach folgender Gleichung: ° = H298
1 D (X2 ) 2
¾ Eea (X)
Aus den bekannten Werten der Dissoziationsenthalpien D (Tab. 4.1) und der Elektronenaffinitäten Eea (Abb. 2.2) erhält man folgende Enthalpieänderungen ∆ H°298: X2:
H2
F2
Cl2
Br2
I2
∆ H°298:
+151
–193
–126
–155
–167 kJ mol–1
Im Gegensatz zur Halogenid-Ionenbildung ist also die Hydrid-Ionenbildung endotherm. Das liegt sowohl an der vergleichsweise großen Dissoziationsenthalpie des H2-Moleküls als auch an der niedrigen Elektronenaffinität des Wasserstoffatoms. Daraus folgt, dass nur die elektropositivsten Metalle, deren Ionisierungsenthalpien besonders klein sind (Abb. 2.1), mit Wasserstoff salzartige Hydride bilden können, da die Gitterenthalpie sonst nicht ausreicht, um die Enthalpien aller endothermen Reaktionsschritte bei der Salzbildung zu kompensieren (Kap. 2.1). Derartige endotherme, wenn auch hypothetische Stufen sind außer der Hydrid-Ionenbildung auch noch die Verdampfung und die Ionisierung des Metalls. Salzartige Hydride werden als Hydrierungs- und Reduktionsmittel verwendet. Vor allem dienen sie aber zur Herstellung anderer Hydride. Größere Bedeutung besitzt Lithiumalanat LiAlH4, das auch als Tetrahydridoaluminat bezeichnet wird und das man durch Hydrierung von AlCl3 oder AlBr3 mit LiH erhält: 4 LiH
+ AlX3
LiAlH4 + 3 LiX
X = Cl, Br
LiAlH4 (Schmp. 150°C) ist eine farblose, wasserempfindliche Substanz, die sich in trockenem Ether als Dietherat LiAlH4·2R2O löst. Mit dieser Lösung kann man bestimmte
190
5 Wasserstoff
Metall- und Nichtmetallhalogenide wie BeCl2, BCl3, SiCl4, Si2Cl6 und AsCl3 in die entsprechenden Hydride überführen: Si2Cl6 + 3 LiAlH4
2 Si2H6 + 3 LiCl + 3 AlCl3
Lithiumalanat enthält das tetraedrische Anion [AlH4]–, das mit Silan SiH4 und dem Phosphonium-Ion [PH4]+ isoelektronisch ist. Salzartige Hydride können auch eingesetzt werden, um komplexe Übergangsmetallhydride herzustellen.57 So reagiert Platinschwamm mit KH in einer Wasserstoffatmosphäre bei 580–775 K je nach Druck zu K2PtH4 (bei 0.1–1 MPa) oder zu K2PtH6 (bei 1.5–1.8 GPa): 2 KH + Pt +
x 2
H2
K2PtH2+x
In dieser bemerkenswerten Reaktion oxidiert der elementare Wasserstoff das Platin formal bis zur Oxidationsstufe +4! Während das Anion [PtH4]2– quadratisch gebaut ist, bildet [PtH6]2– ein Oktaeder. Besondere Bedeutung besitzt das Hydrid 6LiD, das als nuklearer Sprengsatz in Wasserstoffbomben eingebaut wird.58 Durch Zusatz von etwas Tritium (als LiT) werden folgende Reaktionen möglich, sofern die Zündtemperatur von ca. 108 K erreicht wird (bei dieser Temperatur liegen alle Atome als positive Ionen vor): 6Li
+ n
T +
4He
+ 4.8 MeV
4He
D + T + n + 17.6 MeV Die Fusion von Deuterium- mit Tritiumatomkernen wird auch in dem im Entwicklungsstadium befindlichen Fusionsreaktor ITER angestrebt.59 Die dabei freigesetzte Energie von 17.6 MeV wird als kinetische Energie zu 20 % dem α-Teilchen und zu 80 % dem Neutron mitgegeben. Mit diesen schnellen Neutronen kann im Mantel des Reaktors aus dem häufigeren Lithiumisotop 7Li (natürliche Häufigkeit 92.5 %) neues Tritium gewonnen werden: 7Li
+ n T + 4He + n Die bei dieser Reaktion freigesetzten langsamen Neutronen sind geeignet, die obige Spaltung von 6Li in T und He zu betreiben, so dass letztlich aus natürlichem Lithium und Deuterium das sehr stabile Helium entsteht. Bei der technischen Durchführung sind jedoch außerordentliche Schwierigkeiten zu überwinden, unter anderem deswegen, weil die Fusionstemperatur über 100 Millionen Kelvin beträgt.
57 58 59
W. Bronger, G. Auffermann, Angew. Chem. 1994, 106, 1144. Die erste Wasserstoffbombe wurde am 1. 11. 1952 gezündet. ITER: Internationaler thermonuklearer Experimentalreaktor; siehe J. Ache, Angew. Chem. 1989, 101, 1.
5.7 Wasserstoffverbindungen (Hydride)
191
5.7.5 Metall- oder legierungsartige Hydride (Einlagerungshydride) Verschiedene Metalle und Metalllegierungen reagieren mit Wasserstoff zu Hydriden, die oft eine nichtstöchiometrische und von Druck und Temperatur abhängige Zusammensetzung aufweisen:60 M +
x 2
H2
MHx
Der Wasserstoffgehalt ist im Allgemeinen um so größer, je niedriger die Temperatur und je höher der Druck ist. Geeignete Metalle sind Mg, Ti, Nb, Fe, U, Pd und Pt. Die auf diese Weise erhältlichen Hydride sind meistens dunkle Pulver, die noch in gewissem Umfang metallische Eigenschaften aufweisen, beispielsweise elektrische Leitfähigkeit oder Paramagnetismus. Der Wasserstoffgehalt ist in vielen Fällen kontinuierlich variabel und nur in Grenzfällen werden manchmal stöchiometrische Zusammensetzungen wie TiH2 oder UH3 erreicht oder fast erreicht. Verbindungen dieser Art sind als Wasserstoffspeicher interessant, da aus ihnen der elementare Wasserstoff durch Erwärmen wieder freigesetzt werden kann. Die Auflösung von H2 in den Metallen Ti, Zr, V, Nb, Ta, Pd und in der Legierung FeTi ist exotherm, während Mg, Cr, Mo, Fe, Co, Ni, Pt, Cu, Ag und Au den Wasserstoff in endothermer Reaktion lösen. 32
Druck (bar)
28 24 20 16 12
313°C 300°C 290°C 280°C 250°C
8 4 0
180°C
80°C
0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 x in PdHx
Abb. 5.10 Isothermen des Dissoziationsdruckes im System Palladium-Wasserstoff (1 bar = 0.1 MPa).
In Abbildung 5.10 ist die Aufnahme von Wasserstoff durch metallisches Palladium dargestellt, das als Hydrierungskatalysator besonderes Interesse beansprucht. Bei 25°C nimmt Pd unter einem H2-Druck von 0.1 MPa etwa 0.6 mol H pro mol Pd auf (PdH0.6). Der maximale Wasserstoffgehalt wird bei –78°C mit der Zusammensetzung PdH0.83 erreicht. Dieses Hydrid kristallisiert kubisch in einer defekten NaCl-Struktur. Seine Bildungsenthalpie beträgt –40 kJ mol–1. Bei der Wasserstoffaufnahme weitet sich das Palladiumgitter beträchtlich auf. Während die Gitterkonstante, d.h. der Netzebenenabstand, bei der Zusammensetzung PdH0.03 (α-Phase) 389 pm beträgt, findet man beim PdH0.6 (β-Phase) bereits 401.8 pm. Parallel mit der Wasserstoffaufnahme ändert sich auch die magnetische Suszeptibilität χ des paramagnetischen Palladiums, und zwar wird χ linear 60
H. Peisl, Phys. Bl. 1981, 37, 209.
192
5 Wasserstoff
mit steigendem H-Gehalt kleiner und verschwindet bei der Zusammensetzung PdH0.65, d.h. dieses Hydrid ist diamagnetisch. Als Ursache für dieses Verhalten wird die Aufweitung des Gitters infolge der Wasserstoffeinlagerung angesehen. Der Paramagnetismus des metallischen Palladiums zeigt an, dass sich ein Teil der 10 Valenzelektronen im Leitfähigkeitsband befindet, so dass im Valenzband Elektronenlöcher vorhanden sind. Der energetische Abstand beider Bänder ist offenbar gering. In dem Maße, wie nun aber der Abstand der Pd-Atome vergrößert und damit die Orbitalüberlappung verringert wird, nimmt der Abstand zwischen Valenzband und Leitungsband zu. Die Elektronen bevölkern daher mehr und mehr das tiefer liegende Valenzband. Enthält dieses alle Valenzelektronen, ist Diamagnetismus zu erwarten. Als Beweis für die Richtigkeit dieser Deutung des wasserstoffabhängigen Magnetismus der Pd-Hydride kann man den experimentellen Befund werten, dass der Diamagnetismus des Hydrids PdH0.65 erhalten bleibt, wenn man den Wasserstoff durch Abpumpen im Hochvakuum vorsichtig entfernt. Dabei erhält man metastabiles β-Pd, das eine aufgeweitete Gitterstruktur besitzt. Bei hohen Temperaturen bildet Palladium nur noch dann Hydride, wenn man den Wasserstoffdruck entsprechend erhöht. Bei Rotglut zeigt Wasserstoff die ungewöhnliche Eigenschaft, nahezu ungehindert durch ein dünnes Pd-Blech hindurch zu diffundieren, was man zur Reinigung von H2 ausnutzen kann. Bindung des Wasserstoffs in Einlagerungshydriden Alle experimentellen Befunde zeigen, dass sich der Wasserstoff in atomarer Form auf Zwischengitterplätzen des aufgeweiteten Metallgitters befindet, wodurch eine Art Legierung entsteht. Von dieser Vorstellung sind die Begriffe Einlagerungshydrid und legierungsartiges Hydrid abgeleitet. Im Falle des kubisch-raumzentriert kristallisierenden Metalls Niob, das für seine hohe Wasserstofflöslichkeit bekannt ist, befinden sich die H-Atome auf Tetraederplätzen, von denen es sechs pro Metallatom gibt (Abb. 5.11). Es ist jedoch aus elektrostatischen Gründen unmöglich, alle Tetraederplätze mit H-Atomen zu besetzen. Da die Elektronen der H-Atome an das Leitungsband des Metalls abgegeben werden, befinden sich auf den Zwischengitterplätzen formal Protonen, die sich abstoßen. Dieses Modell erklärt die hohe Beweglichkeit (Diffusionsgeschwindigkeit) des Wasserstoffs in Metallen. Beispielsweise beträgt der Diffusionskoeffizient von Wasserstoff in Niob 10–5 cm2 s–1, was bedeutet, dass eine 1 mm dicke Metallplatte in 100 s durchsetzt wird. Die Koordinationszahlen 4 und 6 für H-Atome liegen auch in einigen stöchiometrischen Hydridokomplexen von Übergangsmetallen vor, die mittels Neutronenbeugung strukturell charakterisiert wurden.61 Die Legierung FeTi wird kommerziell als Wasserstoffspeicher genutzt.62 Sie zeichnet sich aus durch hohe Löslichkeit für H2 (Bildung von FeTiH2), durch geringe Dichte, niedrige exotherme Lösungsenthalpie, niedrigen Dissoziationsdruck bei Raumtemperatur sowie niedrigen Preis. Durch gelindes Erwärmen kann der Wasserstoff, der dann extrem rein ist, wieder freigesetzt werden. Auch die Legierung LaMg2Ni dient als Wasserstoffspeicher.
61 62
R. Bau et al., J. Am. Chem. Soc. 2008, 130, 3888 und zit. Lit. L. Schlapbach, Top. Appl. Phys. 1988, 63, 1 und 1992, 67, 1.
193
5.7 Wasserstoffverbindungen (Hydride)
(a)
(b)
Abb. 5.11 Mögliche Zwischengitterplätze für Wasserstoffatome im kubisch-raumzentrierten Kristallgitter eines Metalls (offene Kreise: Metallatome, volle Kreise: Wasserstoffatome): (a) Oktaederplätze, (b) Tetraederplätze. In den unteren Teilbildern sind alle möglichen Zwischengitterplätze einer Elementarzelle eingetragen.
194
6.1 Allgemeines
6
Bor
6.1
Allgemeines
195
Bor ist das erste Element und das einzige Nichtmetall in der 13. Gruppe des Periodensystems (3. Hauptgruppe). Die Chemie des Bors1 ist einzigartig und besonders faszinierend, da sie sich erheblich von der seiner höheren Homologen Al, Ga, In und Tl, aber auch von der aller anderen Nichtmetalle unterscheidet. Ähnlichkeiten bestehen am ehesten mit dem Silicium (Schrägbeziehung im Periodensystem). Aber die ausgeprägte Neigung von Boratomen zur Bildung käfigartiger Strukturen von hoher Stabilität findet man bei keinem anderen Nichtmetall. Bor ist in der Erdkruste zwar ein seltenes Element (ca. 0.001 %), es findet sich aber in ausgedehnten Lagerstätten in angereicherter Form, und zwar ausschließlich in Form von Sauerstoffverbindungen. Die für den Abbau wichtigsten Bormineralien sind Borax Na2B4O5(OH)4·8H2O, Kernit Na2B4O6(OH)2·3H2O und Colemanit CaB3O4(OH)3·H2O. Die größten Förderländer sind die Türkei, die USA (Californien) und Argentinien. In Form von Boraten findet sich Bor aber spurenweise in allen natürlichen Gewässern; im Ozeanwasser ist es zu ca. 4.6 mg L–1 enthalten (als B(OH)3). Bor ist ein essentielles Element für Pflanzen, Tiere und Menschen, obwohl die Konzentration an Borat in Organismen gewöhnlich sehr niedrig ist. Beispielsweise enthält menschliches Blut nur 0.01–0.17 mg(B) L–1, im Rotwein ist Borsäure dagegen in Konzentrationen von bis zu 10 mg(B) L–1 enthalten. Natürliches Bor besteht aus den zwei Isotopen 10B (19.9 %) und 11B (80.1 %)2. Das häufigere Isotop 11B, das in Form von isotopenreinen Verbindungen im Handel erhältlich ist, weist den Kernspin I = 23 auf; es eignet sich damit für Kernresonanzspektroskopie. 10B hat den Kernspin I = 3. Beide Isotope geben zu Spin-Spin-Kopplungen Anlass, wenn man zum Beispiel BH-Verbindungen mittels Protonenresonanzspektroskopie untersucht. Allgemein kann man sagen, dass die NMR-Spektroskopie für die Strukturaufklärung insbesondere von Bor-Wasserstoff-Verbindungen die bei weitem wichtigste Methode ist, wobei wegen seiner größeren Häufigkeit, seiner höheren Empfindlichkeit und seines kleineren Quadrupolmomentes fast ausschließlich das Isotop 11B verwendet wird.3
1
2 3
D. M. Schubert, R. J. Brotherton, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 1, 499. Themenheft Boron Chemistry in Inorg. Chim. Acta 1999, 289, Heft 1–2. H. Siebert (Herausg.), Advances in Boron Chemistry, Royal Society, 1997. J. F. Liebman, A. Greenberg, R. E. Williams (Herausg.), Advances in Boron and the Boranes, VCH, Weinheim, 1988. Das Atomverhältnis 11B/10B schwankt je nach Herkunft der Minerale etwa zwischen 3.92 und 4.14, entsprechend einem 11B-Gehalt von 79.7 bis 80.6 %. S. Hermánek, Inorg. Chim. Acta 1999, 289, 20.
196
6.2
6 Bor
Bindungsverhältnisse
Das Boratom weist im Grundzustand die Valenzelektronenkonfiguration 2s2p1 auf. Bor bildet daher zahlreiche Verbindungen vom Typ BX3, in denen es trigonal-planar koordiniert ist, z.B. BH3, BF3, BCl3, BMe3 und B(OH)3. Diese Geometrie ergibt sich sowohl nach dem VSEPR-Modell (Kap. 2.2.2) als auch aus MO-Berechnungen als die energetisch günstigste Anordnung. Die Bindungsverhältnisse im BF3 wurden bereits behandelt (Kap. 2.4.8). Bei trigonal-planarer Geometrie bleibt das pz-Orbital des Zentralatoms in Verbindungen wie BH3 und BMe3 leer. Da dieses Orbital aber eine niedrige Orbitalenergie aufweist, kommt es für koordinative Bindungen in Frage. Daher sind Verbindungen des Typs BX3 LEWIS-Säuren. Sie ähneln darin den substituierten Silanen SiX4. Die relative Stärke der LEWIS-Säuren BX3 kann durch die Enthalpieänderung ∆Go bei der Reaktion mit einer geeigneten LEWIS-Base angegeben werden. Derartige Messungen werden etwa mit Trimethylamin oder Pyridin als Basen ausgeführt. Je größer die GIBBS-Energie ∆Go der Reaktion ist, um so stabiler ist der Komplex und um so größer ist definitionsgemäß die Acidität von BX3: Me3N + BX3
Me3N BX3
Aus solchen Messungen wurde folgende Abstufung der Akzeptorstärken abgeleitet: BH3 > BI3 ≈ BBr3 > BCl3 > BF3 > BH2Me > BHMe2 > BMe3 Es muss allerdings betont werden, dass sich mit schwächeren LEWIS-Basen wie Dimethylsulfid eine etwas andere Reihung ergeben kann. Dennoch ist die obige Reihe überraschend, da man eigentlich für BF3 die größte Acidität erwarten würde. Dieses Molekül enthält wegen der hohen Elektronegativitätsdifferenz von ∆χ = 2.1 zwischen Bor und Fluor extrem polare BF-Bindungen, die zu einer hohen positiven Partialladung auf dem Boratom führen, wodurch dessen Akzeptorstärke noch erhöht wird.4 Andererseits verfügen die Fluoratome über nichtbindende Elektronenpaare in 2pπ-Orbitalen, welche die gleiche Symmetrie aufweisen wie das unbesetzte 2pπ-Orbital des Boratoms. Bei einer Überlappung dieser Fluororbitale mit dem Zentralatomorbital entsteht eine koordinative 4-Zentren-π-Bindung, durch die die Partialladungen auf allen Atomen etwas verringert werden. Quantenchemische Rechnungen haben dennoch Partialladungen von +1.48 e auf dem Boratom und –0.49 e auf jedem Fluoratom ergeben.5 Durch die π-Bindung liegt das LUMO des BF3-Moleküls jedoch energetisch höher als in Molekülen wie BH3 und BMe3 und aus diesem Grunde ist BF3 der schlechtere Akzeptor (LUMO ist das π*-MO; siehe Kap. 2.4.8 und 2.5). Beim BCl3 ist die intramolekulare koordinative π-Bindung noch etwas stärker als beim BF3. Deswegen und wegen der geringeren Elektronegativitätsdifferenz beträgt die positive Ladung auf dem Boratom nur noch +0.28 e. Wegen der geringeren LUMO-Energie ist die LEWIS-Acidität von BCl3 aber größer als die von BF3. 4
5
Dass BF3 nicht wie das homologe AlF3 eine ionische Struktur aufweist, liegt an der extrem hohen Ionisierungsenergie, die zur Bildung des Kations B3+ aufgewandt werden müsste (71.4 eV) und die durch die Summe der Elektronenaffinitäten der drei F-Atome (zusammen 10.2 eV) und der Gitterenergie des hypothetischen Salzes B3+3F– nicht kompensiert werden kann. G. Frenking et al., J. Am. Chem. Soc. 1997, 119, 6648, und Inorg. Chem. 2003, 42, 7990.
197
6.2 Bindungsverhältnisse
Bei der Adduktbildung mit einem Amin kommt es zu einer erheblichen Ladungsübertragung vom Donor auf das Borhalogenid. Die entstehende koordinative σ-Bindung ist um so stärker, je größer die Ladungskapazität des Akzeptors ist, auf den die negative Ladung übertragen wird. Die Ladungskapazität κ ist die reziproke Differenz aus Ionisierungenergie und Elektronenaffinität: κ = 1/(Ei – Eea).6 Die experimentell ermittelten Elektronenaffinitäten von BF3, BCl3 und BBr3 steigen in dieser Reihenfolge an. Je größer das Molekül ist, um so leichter kann offenbar ein zusätzliches Elektron untergebracht werden. Auch aus diesem Grunde ist die Wechselwirkung eines Amins mit BBr3 stärker als mit BCl3 und mit diesem stärker als mit BF3. Im Falle von BH3, das bei der Dissoziation von Diboran B2H6 entsteht, ist keine intramolekulare π-Bindung möglich. Daher ist das pπ-AO am Bor unbesetzt und BH3 ist die stärkste LEWIS-Säure vom Typ BX3. Andererseits ist die geringere Acidität der organylsubstituierten Borane BR3 auf sterische Behinderung der Reaktion mit dem Amin durch die Alkylgruppen zurückzuführen. Bei zunehmender Größe der Substituenten R am Bor vermindert sich dessen Akzeptorstärke drastisch. Die intramolekularen π-Bindungen in Verbindungen des Typs BX3 verstärken nicht nur die B–X-Bindungen, sondern führen auch zu einer erheblichen Barriere für die Rotation um diese Bindung, z.B. in Verbindungen des Typs R2B–OR.7 Für Verbindungen dieser Art ist die energetisch günstigste Konformation bei einem Torsionswinkel an der B–O-Bindung von 0° erreicht. Daher ist das Molekül B(OH)3 komplett planar, d.h. auch die H-Atome liegen mit dem Boratom in einer Ebene. Wenn eine LEWIS-Säure BX3 intermolekular mit einer LEWIS-Base reagiert, entsteht eine koordinative σ-Bindung. Gleichzeitig ändert sich die Geometrie am Boratom. Sind die vier Atome im entstehenden Komplex oder Addukt identisch wie beim Anion [BF4]–, entsteht ein Ion der Symmetrie Td. Sind die Substituenten jedoch nicht äquivalent, muss man mit mehr oder weniger starken Abweichungen von der Tetraedersymmetrie rechnen. Diese Komplexe können je nach Ligand neutral, negativ oder positiv geladen sein, wie folgende Beispiele zeigen (py = Pyridin): [BH4]– [Me3NBH3] [py2BH2]+ [py4B]3+ Die meisten Verbindungen vom Typ BX3 sind äußerst hydrolyseempfindlich8 und reagieren mit Wasser zu Orthoborsäure: BX3 + 3 H2O
B(OH)3 + 3 HX
X = F, Cl, I, Me, OMe, NMe2, H(B2H6)
Demgegenüber sind die tetraedrischen Verbindungen [BX4]– gegen Hydrolyse bemerkenswert beständig. Sie ähneln darin den isoelektronischen Kohlenstoffhalogeniden CX4. Beispielsweise löst sich NaBF4 unzersetzt in Wasser, KBH4 ist an feuchter Luft bei 25°C haltbar und der Komplex BCl3·NMe3 wird selbst von siedendem Wasser nicht angegriffen! Das zeigt, dass die Hydrolyse der BX3-Verbindungen über eine primäre Adduktbildung mit dem Molekül H2O verläuft, die bei den BX4-Verbindungen nicht mehr möglich ist, da alle Valenzorbitale des Boratoms besetzt sind: 6 7 8
P. Politzer, J. Phys. Chem. 1987, 86, 1072. M. T. Ashby, N. A. Sheshtawy, Organometallics 1994, 13, 236. BBr3 und BCl3 reagieren mit Wasser heftig, BF3 dagegen wesentlich langsamer.
198
6 Bor
X
B
X
+
O
X
H
X
H
X
X B
H O
H
X
B
X
+
HX
OH
Im Falle von BF3 lässt sich das Hydrolyse-Zwischenprodukt BF3·OH2 isolieren. Nach einem ähnlichen Mechanismus läuft die Aminolyse der Bortrihalogenide mit sekundären Aminen ab. Hierbei konnten die Zwischenprodukte BX3·NHR2, BX2NR2 und BX(NR2)2 isoliert werden. Als Endprodukt entsteht B(NR2)3. Vergleich zwischen Bor und den übrigen Nichtmetallen Das Boratom unterscheidet sich von den anderen Nichtmetallen der ersten Achterperiode dadurch, dass es mehr Valenzorbitale als Valenzelektronen besitzt. Dessen ungeachtet kann Bor in seinen Verbindungen aber alle Koordinationszahlen von 1 bis 8 annehmen. Beispiele dafür sind folgende Verbindungen: 1 BF
2 HOBO
3 BF3
4 [BF4
5 6 7 8 ]–
kristallines Bor, Borane, Carborane
Im Unterschied zu C, N und O zeigt das Boratom wenig Neigung, Doppelbindungen einzugehen, obwohl in neuerer Zeit derartige Verbindungen in zunehmender Zahl hergestellt wurden. Terminale B=O-Bindungen sind nur in Hochtemperaturmolekülen wie H–O–B=O anzutreffen und Iminoborane RB=NR oligomerisieren bei 20°C mehr oder weniger schnell. Stabiler sind ionische Verbindungen wie K3[BN2], K3[BP2] und K3[BAs2], die formal folgende, mit CO2, CS2 bzw. CSe2 isoelektronische Anionen der Symmetrie D∞h enthalten:9 [N=B=N]3–
[P=B=P]3–
[As=B=As]3–
Anders als Kohlenstoff und Silicium bildet Bor nur relativ wenige kovalente Verbindungen mit homonuklearen Einfachbindungen vom Zweizentrentyp, und zwar vor allem solche mit der Einheit >B–B<, während längere Ketten und homoatomare Ringe fast ganz fehlen. In den Metallboriden liegen jedoch in den Anionen häufig Ketten, Ringe, Leitern, Schichten und Cluster von Boratomen vor. Im elementaren Bor, in allen Boranen und Carboranen sowie in vielen weiteren Borclustern, zu denen auch das im Kapitel 13.4.6 abgebildete B8F12 gehört, hat man es mit B–B-Mehrzentrenbindungen zu tun. Dieser äußerst wichtige Bindungstyp wird daher ausführlich bei den entsprechenden Substanzen behandelt. Verbindungen mit klassischen B=B-Doppelbindungen wurden dagegen erst in jüngster Zeit synthetisiert.10 Ein Beispiel ist das Addukt R(H)B=B(H)R, wobei die beiden cyclischen Carbenliganden R = C[N(2,6-iPr2C6H3)CH]2 als Elektronendonoren stabilisierend auf das zentrale Diboren H–B=B–H wirken. Wegen dieser Adduktbildung sind die Boratome nicht linear sondern trigonal-planar koordiniert (dBB = 156 pm). 9 10
H. G. von Schnering et al., Angew. Chem. 1990, 102, 63. G. H. Robinson et al., J. Am. Chem. Soc. 2007, 129, 12412 und 2008, 130, 3298. D. Scheschkewitz, Angew. Chem. 2008, 120, 2021.
199
6.3 Elementares Bor
Infolge der geringen Elektronegativität des Boratoms (2.0 auf der ALLRED-ROCHOWSkala) sind die Bindungen B–F, B–O, B–Cl und B–N stark polar und daher sehr stabil. Auch die Bindung B–H ist etwas polar, wobei der Wasserstoff negativ geladen ist. Daher ähneln die Borane in ihrer Reaktivität mehr den Silanen (Hδ–) als den Alkanen (Hδ+). Sie sind beispielsweise hydrolyseempfindlich und an der Luft zum Teil selbstentzündlich. Ihre Strukturen sind jedoch vollkommen von denen anderer Nichtmetallhydride verschieden. Die negative Partialladung auf den H-Atomen der Borane führt zu interessanten Effekten. Beispielsweise stehen sich in dem kristallinen Boran-Ammoniak-Addukt H3B·NH3 negativ und positiv geladene H-Atome benachbarter Moleküle gegenüber. Daher kommt es zu einer schwachen intermolekularen Diwasserstoff-Bindung, die durch einen H.....H-Kernabstand von 202 pm charakterisiert ist, der deutlich kleiner ist als der doppelte VAN DER WAALS-Radius eines H-Atoms.11 Ähnlichkeiten bestehen am ehesten zwischen Bor und Silicium: Die Borane sind wie die Silane molekular, leicht flüchtig und vielfältig in ihren Strukturen. Die Chloride BCl3 und SiCl4 sind beide flüssig, monomer und leicht hydrolysierbar. Das einzige beständige Oxid des Bors ist B2O3, das ähnlich wie SiO2 polymer und im Gegensatz zu CO2, NO2 und Cl2O dreidimensional vernetzt ist. B2O3 reagiert mit Metalloxiden und -hydroxiden zu Boraten. Diese enthalten wie das Oxid selbst die thermisch und chemisch sehr beständigen B–O–B-Brücken, die wie die Si–O–Si-Brücken in den Silicaten durch koordinative π-Bindungen verstärkt sind: B
O
B
B
O
B
B
O
B
Im Gegensatz zu den unbeständigen Kieselsäuren und der ebenfalls unbeständigen Kohlensäure lassen sich aber verschiedene Borsäuren in reinem, kristallinem Zustand isolieren.
6.3
Elementares Bor
Das Element Bor kristallisiert in zahlreichen Modifikationen, von denen aber einige nur durch Gitterdefekte oder Spuren von Verunreinigungen stabilisiert sind. Drei reine BorPhasen wurden durch Röntgenstrukturanalysen genau charakterisiert. Diese bestehen aus dreidimensional-unendlichen Anordnungen von Boratomen, wobei sich jedoch verschiedene Strukturelemente als Untereinheiten der jeweiligen Elementarzelle erkennen lassen (Tab. 6.1). Das α-rhomboedrische Bor ist wahrscheinlich die bei Normalbedingungen stabile Form, während es sich beim β-rhomboedrischen und beim β-tetragonalen Bor um Hochtemperaturmodifikationen handelt, obwohl die Energiedifferenzen nach ab-initioRechnungen sehr klein sind. Das in der älteren Literatur beschriebene „α-tetragonale Bor“ hat sich als eine borreiche Verbindung herausgestellt, die geringe Mengen Kohlenstoff und manchmal auch noch Stickstoff enthält. Elementares Bor kann auch als amorpher Festkörper erhalten werden. 11
C. A. Morrison, M. M. Siddick, Angew. Chem. 2004, 116, 4884.
200
6 Bor
Tab. 6.1 Modifikationen von elementarem Bor Name
Raumgruppe
Atome pro Elementarzelle
Struktureinheiten der Elementarzelle
α-rhomboedrisches Bor
R3m R3m P41 oder 43
12 320 a
ein B12-Ikosaeder B84-, B10- und B1-Einheiten B12- und andere Einheiten
β-rhomboedrisches Bor β-tetragonales Bor
a Mehrere Atompositionen sind nur teilweise besetzt.
6.3.1 Herstellung Wegen der starken B–O-Bindungen in den Boraten und im Oxid B2O3 ist die Gewinnung von elementarem Bor schwierig und kostenintensiv. Bor wird daher kommerziell nur in kleinem Maßstab hergestellt, und zwar durch Reduktion von B2O3 mit Magnesium in einer Argonatmosphäre. Das Reaktionsprodukt wird mit Salzsäure ausgelaugt und dadurch von MgO befreit. Dieses Verfahren führt jedoch zu einem amorphem Produkt mäßiger Reinheit (ca. 95 %). Reineres Bor erhält man vor allem durch Reduktion von gasförmigem BCl3 mit H2. Im Labormaßstab kann sehr reines Bor durch Reaktion von BBr3 mit H2 sowie durch Pyrolyse von BI3 oder B2H6 hergestellt werden, sofern die Ausgangsprodukte entsprechend gereinigt werden. Bei der Pyrolyse von BI3 an einem 800–1100°C heißen Tantaldraht entstehen Kristalle von α-rhomboedrischem Bor, und zwar vor allem, wenn das Iodid sehr rein ist. B2H6 zersetzt sich schon bei 600–800 °C zu Bor und Wasserstoff. Die Reduktion von BBr3 (oder BCl3) mit H2 wird bei 800–1600°C an einem heißen Substrat durchgeführt (chemical vapor deposition, CVD): 2 BBr3 + 3 H2
2 Bf. + 6 HBr
Als Substrate eignen sich Drähte aus Tantal oder Wolfram. Je nach Temperatur und sonstigen Reaktionsbedingungen erhält man amorphes, α-rhomboedrisches oder β-rhomboedrisches Bor. Letzteres entsteht auch bei der Kristallisation einer Borschmelze (Schmp. ca. 2450 °C), z.B. bei der Reinigung von Bor durch Zonenschmelzen im Vakuum. Die durch CVD auf Wolframdrähten aufgewachsenen Bordrähte werden wegen ihrer extrem hohen Festigkeit und Steifigkeit industriell zur mechanischen Verstärkung von Bauteilen aus Kunststoffen oder Metallen (Al, Ti) verwendet (Verbundwerkstoffe, z.B. für den Flugzeugbau, die Raumfahrt und für Sportgeräte wie Golf- und Tennisschläger sowie Angelruten). Bor bildet je nach Modifikation dunkelrote, braune oder schwarze glänzende Kristalle, die extrem hart sind (härter als Korund Al2O3, leichter als Aluminium, fester als Stahl). Die Härte von β-rhomboedrischem Bor beträgt 9.3 (nach MOHS). Bor ist in seinen verschiedenen Modifikationen ein Halbleiter. Die Bandlücke von β-rhomboedrischem Bor beträgt ca. 1.6 eV. Die verschiedenen Bor-Modifikationen sind monotrop und ihr gegenseitiges Verhältnis im Phasendiagramm ist weitgehend unklar, da alle Umwandlungen wegen der komplizierten Strukturen kinetisch gehemmt sind. Man nimmt jedoch an, dass α-rhomboedrisches Bor bis ca. 1300 K stabil ist, dass bei höheren Temperaturen β-tetragonales Bor bis
6.3 Elementares Bor
201
ca. 1500 K beständig ist und dass β-rhomboedrisches Bor bis zum Schmelzpunkt (ca. 2450°C) die stabilste Phase ist.12 Bei hohen Temperaturen ist Bor äußerst korrosiv, da es mit vielen Metallen Boride bildet und sich gegenüber Oxiden als sehr starkes Reduktionsmittel erweist, das selbst CO und SiO2 reduziert! Daher ist kristallines Bor nur schwierig in hoher Reinheit herzustellen. Bei tieferen Temperaturen ist Bor dagegen ziemlich reaktionsträge. Es wird weder von Flusssäure noch von Salzsäure angegriffen, dagegen wird es von heißen, stark oxidierenden Säuren wie HNO3 oder Königswasser zu Borsäure oxidiert. Beim Schmelzen mit Alkalihydroxiden erhält man unter H2-Entwicklung entsprechende Borate.
6.3.2 Kristallstrukturen Von allen kristallinen Bormodifikationen hat das α-rhomboedrische Bor die einfachste Struktur (Dichte 2.46 g cm–3). Die Elementarzelle enthält nur zwölf Atome. Diese bilden ein Ikosaeder, das in Abbildung 6.1 dargestellt ist und dessen Oberfläche aus 20 gleichseitigen Dreiecken besteht. Alle Atome eines Ikosaeders sind äquivalent. Jedes Atom hat innerhalb des Ikosaeders fünf nächste Nachbarn, und zwar an den Basisecken einer fünfseitigen Pyramide, an deren Spitze es selbst sitzt. Das Ikosaeder besteht gewissermaßen aus zwei solchen Pyramiden, die sich ihre Basisebenen zuwenden, die aber nicht spiegelbildlich, sondern um 36° gegeneinander verdreht sind. Jedes Boratom eines Ikosaeders befindet sich auf einer fünfzähligen Symmetrieachse (C5). Die kürzesten Kernabstände innerhalb des Ikosaeders betragen im Mittel 177 pm. Im α-rhomboedrischen Bor sind nun die B12-Ikosaeder folgendermaßen miteinander verknüpft. Sechs der zwölf Atome, und zwar die in Abbildung 6.1 mit „1“ bezeichneten, haben einen weiteren nächsten Nachbarn im Abstand von 170 pm. Dieser gehört einem benachbarten Ikosaeder an und befindet sich genau auf der C5-Achse des ersten Ikosaeders. Die sechs mit „2“ bezeichneten Boratome (Abb. 6.1) haben je zwei weitere Nachbarn, die zwei verschiedenen Ikosaedern angehören und die mit dem betrachteten Atom ein gleichseitiges Dreieck von 200 pm Kantenlänge bilden. 50 % aller Atome weisen also die Koordinationszahl 7 auf, die anderen sind sechsfach koordiniert. Auf diese Weise entsteht eine kubisch-dichteste Kugelpackung von Ikosaedern. Das Innere der Ikosaeder ist leer. Die Struktur des β-rhomboedrischen Bors ist wesentlich komplizierter.13 Die hexagonale Elementarzelle enthält 320 Atome. Die Struktur besteht aus ikosaedrischen B12-Einheiten, die von 12 B6-Einheiten so umgeben sind, dass nahezu kugelförmige B84-Baugruppen entstehen. Diese sind über einzelne B-Atome und über B10-Einheiten miteinander verbunden. Die Mehrzahl der Atome hat die Koordinationszahl 6. Die Dichte beträgt 2.33 g cm–3. Auch β-tetragonales Bor besteht aus B12-Einheiten, die in komplizierter Weise miteinander vernetzt sind. Die Struktur weist jedoch zahlreiche Defekte auf, indem bestimmte Atompositionen in manchen Elementarzellen besetzt und in anderen unbesetzt sind.
12 13
Wegen der Schwierigkeiten, reinstes Bor herzustellen, findet man in der Literatur unterschiedliche Angaben für die Schmelztemperatur. G. A. Slack et al., J. Solid State Chem. 1988, 76, 52.
202
6 Bor
2 1
2
2
1
1
1
1
1
2
2
2
Abb. 6.1 Struktur von α-rhomboedrischem Bor, bestehend aus Ikosaedern (links), deren Verknüpfung rechts gezeigt ist. Die mit „1“ bezeichneten Atome sind sechsfach, die mit „2“ bezeichneten Atome siebenfach koordiniert.
6.3.3 Bindungsverhältnisse In den kristallinen Bormodifikationen haben die Boratome Koordinationszahlen zwischen 4 und 8. Da ein Boratom aber nur drei Valenzelektronen besitzt, müssen alle Atome an Mehrzentrenbindungen beteiligt sein. Dieser Bindungstyp wurde schon für andere Verbindungen ausführlich diskutiert (Kap. 2.4). Ein Atomorbital kann im einfachsten Fall Ausgangspunkt einer 2-Zentren- oder einer Mehrzentrenbindung sein, wobei die Anzahl der Bindungspartner nicht durch die Überlappungsverhältnisse, sondern nur durch die räumlichen Erfordernisse begrenzt ist. Die Überlappung der Orbitale kann beispielsweise so erfolgen, wie es in Abbildung 6.2 dargestellt ist. Im Fall (a) überlappen die 2p-Atomorbitale dreier symmetrisch angeordneter Boratome (Symmetrie D3h). Es entstehen ein bindendes und zwei entartete antibindende Molekülorbitale. Mit nur zwei Elektronen kann in diesem Falle eine Bindung errichtet werden, da jedes weitere Elektron in einem antibindenden MO untergebracht werden müsste. Im weniger symmetrischen Fall (b) überlappt ein 2p-Orbital des mittleren Atoms mit zwei Orbitalen der beiden Nachbaratome (Symmetrie C2v). Das Resultat ist ähnlich wie im Fall (a). Auch hierbei entsteht eine 3-Zentren-2-Elektronen-Bindung, die man in diesem Fall als offene, im Fall (a) als geschlossene 3-Zentrenbindung bezeichnet. Diese beiden Bindungstypen findet man auch in den höheren Boranen sowie im α-rhomboedrischen Bor zwischen den Ikosaedern. Innerhalb der B12-Baugruppen muss man jedoch Mehrzentrenbindungen höherer Ordnung annehmen, um zu einer befriedigenden Deutung der Stabilität des Ikosaeders zu gelangen. Jedes Atom des Ikosaeders verfügt über vier Atomorbitale, von denen eines für die Bindung nach außen zur Verfügung stehen muss, so dass drei für die Bindungen innerhalb des B12-Gerüstes übrig bleiben. Eine MOBetrachtung muss also 36 Atomorbitale im Ikosaeder berücksichtigen. Das MO-Diagramm für diesen Fall ist in Abbildung 6.3 dargestellt. Man erkennt, dass 13 bindende und 23 mehr oder weniger antibindende Molekülorbitale entstehen, d.h. das B12-Ikosaeder erreicht mit 26 Valenzelektronen seine maximale Stabilität. Von den insgesamt 36 Elektronen der 12 Boratome bleiben daher 10 für die Bindungen nach außen übrig.
203
6.3 Elementares Bor
Überlappung im bindenden Molekülorbital:
+
+ +
+
+
B
B
Symbol: B
B
B
B
Á
Á MO-Schema:
+
2p
n
2p
(a)
2p
(b)
Abb. 6.2 Zwei Typen von 3-Zentren-2-Elektronen-Bindungen, wie sie in Boranen, Carboranen und im elementaren Bor vorliegen. (a) Geschlossene 3-Zentrenbindung (Symmetrie D3h). (b) Offene 3-Zentrenbindung (Symmetrie C2v).
36 Molekülorbitale des Ikosaeders
E
12 B-Atome
2p
Abb. 6.3 Energieniveaudiagramm für die Molekülorbitale in einem B12-Ikosaeder (Symmetrie Ih). An jedem Boratom wurden drei Atomorbitale für die Bindungen im Ikosaeder berücksichtigt; das vierte AO ist für die Bindungen nach außen reserviert. Es entstehen 13 bindende MOs unterschiedlicher Symmetrie.
204
6 Bor
Dieses Ergebnis entspricht genau den experimentellen Befunden. So gibt es zum Beispiel kein Boran B12H12, weil ja nur 10 Elektronen für 2-Zentrenbindungen zu terminalen H-Atomen zur Verfügung stehen. Wohl aber kennt man das sehr stabile Ion [B12H12]2–, das aus einem B12-Ikosaeder besteht, wobei an jedem Boratom ein Wasserstoffatom gebunden ist. Im α-rhomboedrischen Bor können demnach die Bindungen zwischen den Ikosaedern nur zur Hälfte 2-Zentrenbindungen sein. Dafür werden sechs Elektronen je Ikosaeder benötigt und die Bindungen gehen von den in Abbildung 6.1 mit „1“ bezeichneten Atomen aus. Die restlichen vier Elektronen ermöglichen den verbleibenden sechs Atomen nur noch die Errichtung von sechs geschlossenen 3-Zentrenbindungen zu jeweils zwei benachbarten Ikosaedern.
6.4
Metallboride und Borcarbid14
6.4.1 Boride Viele Metalle bilden mit elementarem Bor binäre Verbindungen, deren Zusammensetzung zwischen M5B und MB100 variiert, obwohl am häufigsten Phasen mit den Stöchiometrien M2B, MB, MB2, MB4, MB6 und MB12 beobachtet werden. Manche dieser Boride werden als extrem harte, chemisch inerte und feuerfeste Materialien verwendet, deren elektrische Leitfähigkeit von Halbleitung über metallische Leitung bis zu Supraleitung (z.B. MgB2 bei Temperaturen unterhalb 39 K) reichen kann. Die Herstellung in größerem Maßstab geht von B2O3, dem Metalloxid und einem elektropositivem oxophilen Metall wie Mg oder Al aus; diese Komponenten werden bei Temperaturen bis zu 2000°C zur Reaktion gebracht, z.B.: CaO + 3 B2O3 + 10 Mg
CaB6 + 10 MgO
In kleinerem Maßstab und zur Herstellung reinerer Boride lässt man die betreffenden Elemente direkt miteinander reagieren oder reduziert das Metalloxid mit überschüssigem elementarem Bor oder Borcarbid. Auch die simultane Reduktion von Metallhalogenid und Borhalogenid mit Wasserstoff bei 1000–1400°C ist zur Herstellung reiner Boride zum Beispiel nach dem CVD-Verfahren geeignet: TiCl4 + 2 BCl3 + 5 H2
TiB2 + 10 HCl
Während in den metallreichen Boriden einzelne Boratome von 6 oder 8 Metallatomen umgeben sind, kommt es bei höheren Borgehalten zunehmend zur Ausbildung von B–B-Bindungen, wodurch B2-Paare, Fragmente von Bn-Ketten, einzelne Ketten, Doppelketten („Leitern“) oder Tripelketten, verzweigte Ketten, Schichten und schließlich dreidimensionale Netzwerke von Bn-Clustern entstehen, in deren Hohlräumen die Metallatome eingelagert sind (Abb. 6.4). Besonders interessant ist die hexagonale Struktur des Supraleiters MgB2, die aus planaren Schichten von kondensierten B6-Ringen analog den Schichten des Graphits besteht, 14
T. Lundström, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 1, 481.
205
6.4 Metallboride und Borcarbid
(a)
(b)
(c)
(d)
(e)
(f)
Abb. 6.4 Strukturelemente in metallreichen Boriden. (a) Isolierte Boratome wie im Nb2Fe14B; (b) B2-Hanteln wie im Cr5B3; (c) Zick-Zack-Kette wie im FeB; (d) verzweigte Kette wie im Rb11B8; (e) Doppelkette oder Leiter wie im Ta3B4; (f) Dreifachkette wie im V2B3.
zwischen denen die Mg2+-Ionen so eingelagert sind, das sich über und unter dem Zentrum jedes B6-Ringes ein Kation befindet. Diese formal aus Β–-Ionen bestehenden Schichten sind isoelektronisch mit dem Graphen des Graphits, und MgB2 ähnelt daher den ionischen Graphitverbindungen (Kap. 7.5.2). CaB6 besteht aus dreidimensional eckenverknüpften [B6]2–-Oktaedern, zwischen denen die Ca2+-Ionen eingelagert sind. Wegen ihrer hohen Schmelzpunkte (z.B. TiB2: 3500 K) werden Metallboride als Hochtemperaturwerkstoffe eingesetzt, da sie teilweise selbst bei Temperaturen oberhalb 1200°C nicht von Luft oder Metallschmelzen angegriffen werden. TiB2 wird beispielsweise für Mantelrohre von Thermoelementen und zum Bau von Behältern für flüssige Metalle wie Aluminium eingesetzt. CaB6 andererseits dient zur Desoxygenierung von flüssigem Kupfer, da Bor in Kupfer kaum löslich ist. Auch verschiedene ternäre Metallboride werden praktisch genutzt, z.B. Mo2FeB2, das als Cermet (ceramic metal) bezeichnet wird. Die ternäre Legierung AlMgB14 ist fast so hart wie Diamant und eignet sich daher für Schneidwerkzeuge.
6.4.2 Borcarbid Borcarbid B4C ist ein preiswertes, extrem hartes aber leichtes Material, das wegen seiner hervorragenden mechanischen Eigenschaften zum Beispiel für schusssichere Westen, als Schleif- und Läppmittel sowie für Trennscheiben verwendet wird. Da das Isotop 10B einen sehr hohen Neutronen-Einfangquerschnitt hat, wird B4C in Kernreaktoren in Form von Stäben zur Steuerung der Kettenreaktion durch Absorption der Neutronen eingesetzt. Weiterhin wird Borax im Wasser des Notkühlsystems von Kernkraftwerken gelöst, um die Kettenreaktion erforderlichenfalls unterbrechen zu können. Thermische (langsame) Neutronen reagieren mit 10B unter Emission von α-Teilchen zu stabilem 7Li. Diese exotherme Reaktion wird auch für die Strahlentherapie von Tumoren in Betracht gezogen, wobei eine lokale Erwärmung des kranken, zuvor mit einer borreichen 10B-Verbindung infiltrierten Gewebes angestrebt wird. Die Tumorzellen werden durch die Energie der LiAtome und α-Teilchen abgetötet.15 15
D. Gabel, Chemie unserer Zeit 1997, 31, 235. M. F. Hawthorne, A. Maderna, Chem. Rev. 1999, 99, 3421.
206
6 Bor
Borcarbid wird im Elektroofen durch Reduktion von Boroxid mit Petrolkoks bei 1400–2300°C hergestellt: 2 B2O3 + 7 Cf.
B4C + 6 CO
° = 1812 kJ molÀ1 H298
Borcarbid (Schmp. 2400°C) ist chemisch bis 600°C beständig und widersteht der Oxidation durch Luftsauerstoff bis 1000°C, da sich eine Schutzschicht von B2O3 bildet. Das Carbid wird durch Sintern zu Formkörpern verarbeitet, so dass man auf diese Weise Panzerplatten, Reibschalen, Sandstrahldüsen etc. fertigen kann. Die Zusammensetzung von Borcarbid kann in weiten Grenzen schwanken (C-Gehalt 9–20 Atom-%), weswegen die Formel auch mit B12C3 angegeben wird. Die Struktur basiert auf der des α-rhomboedrischen Bors. Die Phase B12+xC3-x besteht beispielsweise aus B12-Ikosaedern, die teils direkt, teils über zusätzliche Bor- und Kohlenstoffatome miteinander verknüpft sind, wobei B–B- und B–C-Bindungen entstehen. Bei höheren C-Gehalten liegen auch B11C-Ikosaeder vor. Dem Borcarbid strukturell verwandt ist das Silicid B3Si, das aus einem Netzwerk von B12-Ikosaedern und unendlichen Bändern von Si4-Einheiten besteht und das ein luftstabiler Hochtemperatur-Halbleiter ist.
6.5
Borane und Hydroborate16
6.5.1 Allgemeines Bor und Wasserstoff bilden zahlreiche binäre Verbindungen miteinander, die zum Teil eine recht ungewöhnliche Zusammensetzung aufweisen und keine Analogien zu den Hydriden anderer Nichtmetalle zeigen. Die meisten Verbindungen lassen sich zwei allgemeinen Bruttoformeln zuordnen: BnHn+4: B2H6, B4H8, B5H9, B6H10, B8H12, B10H14, B12H16, B16H20, B18H22* BnHn+6: B4H10, B5H11, B6H12, B9H15*, B10H16, B13H19, B14H20 Die gesternten Verbindungen treten in zwei Isomeren auf. Daneben existieren aber auch noch andere stabile Borane (z.B. B8H18, B20H16 und B20H26) sowie einige instabile Verbindungen. Zu diesen gehört auch BH3, der Grundkörper der Borane, der als Zwischenprodukt eine Rolle spielt. Das bei weitem wichtigste Borhydrid ist das Diboran B2H6. Viele Borane sind hochtoxisch, leicht entzündlich oder sogar an Luft selbstentzündlich; sie bilden mit Luft und Sauerstoff explosive Gemische. Andere sind luftstabile Feststoffe. Alle Borane sind endotherme Verbindungen und ihre Verbrennung zu B2O3 und H2O ist außerordentlich stark exotherm: B2H6 + 3 O2
16
B2O3 + 3 H2O
° = À2138 kJ molÀ1 H298
N. S. Hosmane, J. A. Maguire, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 1, 494; N. N. Geenwood, in H. W. Roesky (Herausg.), Rings, Clusters and Polymers of Main Group and Transition Elements, Elsevier, Amsterdam, 1989, S. 49.
207
6.5 Borane und Hydroborate
Die Nomenklatur der Borane sei an einigen Beispielen illustriert: BH3: Boran(3) B2H6: Diboran(6) B4H10: Tetraboran(10) Vor dem Wortstamm Boran gibt ein Praefix die Zahl der Boratome an, während die Zahl der H-Atome in runden Klammern angefügt wird. Dies kann jedoch unterbleiben, wenn wie beim Diboran nur eine Verbindung mit dieser Zahl von Boratomen existiert. Hydroborate sind salzartige Verbindungen, die Borwasserstoff-Anionen enthalten. Das einfachste derartige Anion ist das Tetrahydroborat-Ion [BH4]– (Boranat-Ion), aus dem technisch Diboran und Boran-Addukte hergestellt werden. Daneben existieren aber noch viele zum Teil komplexe Ionen mit bis zu 20 Boratomen.
6.5.2 Diboran B2H6 ist ein farbloses Gas (Sdp. –92.5°C), das einfach herzustellen ist. Im Labor benutzt man zu seiner Synthese die Hydrierung von Halogeniden des Typs BX3: 4 BCl3 + 3 LiAlH4 4 BF3 + 3 NaBH4
Ether 25°C Ether
2 B2H6 + 3 LiCl + 3 AlCl3 2 B2H6 + 3 NaBF4
Auch LiH und NaH können unter geeigneten Bedingungen verwendet werden. Sehr einfach ist auch die Zersetzung von Boranaten mit konzentrierter Phosphorsäure (85 %): 2 LiBH4 + H3PO4
B2H6 + 2 H2 + Li2HPO4
Technisch wird Diboran durch katalytische Gasphasenhydrierung von BCl3 mit H2 bei 450°C sowie durch Umsetzung von BF3 mit NaBH4 in Diglyme17 hergestellt (Gleichung siehe oben). Bei allen diesen Reaktionen entsteht nicht das eigentlich zu erwartende Monoboran BH3, sondern das Dimer B2H6. Beide Verbindungen stehen miteinander im Gleichgewicht: B2H6
2 BH3
Die entsprechende Dissoziationsenthalpie von B2H6 beträgt etwa 150 kJ mol–1, d.h. das Gleichgewicht liegt bei 25°C ganz auf der Seite des Dimers. Ursache dieser Dimerisierung ist die extrem große LEWIS-Acidität des BH3-Moleküls, das bei Abwesenheit geeigneter Donoren mit seinesgleichen so reagiert, dass jedes Boratom formal ein Elektronenoktett erhält. Das ist durch Errichtung von zwei Mehrzentrenbindungen möglich. Strukturuntersuchungen ergaben folgendes Bild des gasförmigen B2H6-Moleküls:18 H H
17 18
H äB å
B H
H H
å (HBH) = 121.7°
d (BH) = 119 pm (terminal)
ä (HBH) = 96.4°
d (BH) = 133 pm (Brücke)
¯ (BHB) = 83.6°
d (BB) = 176 pm
Diglyme = Bis(2-methoxyethyl)ether MeOC2H4OC2H4OMe. Struktur im Schwingungsgrundzustand bestimmt mittels Mikrowellenspektroskopie: J. L. Duncan, J. Harper, Mol. Phys. 1984, 51, 37. Siehe auch P. Luger et al., Z. Anorg. Allg. Chem. 2004, 630, 1313.
208
6 Bor
Die Boratome sind verzerrt tetraedrisch von je vier H-Atomen umgeben, jedoch gibt es auch eine Orbitalüberlappung zwischen den Boratomen, deren Kernabstand dem in den Ikosaedern des elementaren Bors entspricht. Die Molekülsymmetrie ist D2h. Nach neueren quantenchemischen Rechnungen sind die Valenzorbitale der Boratome sp2-hybridisiert.19 Betrachtet man nun die Bindungen zu den terminalen H-Atomen wegen ihres kleineren Kernabstandes als 2-Zentren-2-Elektronen-Bindungen zwischen je einem sp2Hybridorbital des Boratoms und dem 1s-AO des betreffenden H-Atoms, dann bleiben an jedem Boratom für die Bindungen zu den zweifach koordinierten H-Atomen und dem benachbarten Boratom zwei orthogonale Orbitale verfügbar. Deren Überlappung mit den 1s-Orbitalen der brückenbildenden H-Atome geht aus Abbildung 6.5 hervor.20 H(1s)
H(1s) +
+
B(sp2)
-
+
+
-
B(sp2)
B(2p)
+
+
B(2p)
+
H(1s)
H(1s)
(a)
(b)
Abb. 6.5 Überlappung der Atomorbitale in den beiden zentralen 4-Zentren-2-Elektronenbindungen des Diborans. (a) Die sp2-Hybridorbitale der Boratome werden mit den 1s-AOs der H-Atome zu einem stark bindenden MO kombiniert. (b) Die senkrecht zur B–B-Bindung orientierten 2p-Orbitale der Boratome überlappen mit den 1s-AOs der H-Atome. Die terminalen H-Atome sind weggelassen.
Zu den beiden so entstehenden rautenförmigen BHHB-4-Zentrenbindungen steuern die verbrückenden H-Atome je ein Elektron bei und je ein weiteres Elektron kommt von den beiden Boratomen (zwei 4-Z-2-E-Bindungen).21 Weitere Elektronen würden keine Verstärkung der Bindung, sondern eine Schwächung verursachen. Insgesamt führen diese Überlappungsverhältnisse zu 6 bindenden Molekülorbitalen, die mit den 12 Valenzelektronen des Moleküls besetzt sind. Ein wirklicher Elektronenmangel liegt also nicht vor. Während die Atomladungen auf den verbrückenden H-Atomen nahezu Null sind, sind die Boratome positiv (+1.20e) und die terminalen H-Atome negativ geladen (–0.62e).19 Durch Einwirkung starker LEWIS-Basen (Donoren D) auf B2H6 können die Brückenbindungen gespalten werden. Man erhält dabei Addukte des Borans BH3: B2H6 + 2 D
2 D BH3
D = CO, NR3, PH3, PF3, PR3, Me2S
Beispiele: Borancarbonyl H3B·CO ist der einzige unter Standardbedingungen stabile Carbonylkomplex eines Hauptgruppenelementes. Die Verbindung entsteht bei –45°C in nahezu quantitativer Ausbeute. Aus H3B·PH3 lässt sich durch Reaktion mit LiBH4 oder 19 20 21
F. Wang, W. Pang, M. Huang, J. Electron Spectr. Rel. Phenom. 2006, 151, 215. M. M. Balakrishnarajan, R. Hoffmann, J. Am. Chem. Soc. 2004, 126, 13119. Oft wird die Wechselwirkung (WW) zwischen den Boratomen vernachlässigt und nur die 3-Z-WW(B–H–B) betrachtet (zwei 3-Z-2-E-Bindungen mit sp3-Hybridisierung der Boratome).
209
6.5 Borane und Hydroborate
B2H6/BuLi das Salz Li3[P(BH3)4] herstellen, in dem formal vier BH3-Moleküle koordinativ an ein Phosphid-Ion P3– gebunden sind. Technisch werden die thermisch beständigen BH3-Addukte mit den Aminen R3N, R2NH und RNH2 sowie mit Dimethylsulfid Me2S hergestellt. Beispielsweise erhält man Boran-Amin-Addukte aus den Aminhydrochloriden und Boranat bei 20–40°C: NaBH4 + [R2NH2]Cl
H3B NR2H + NaCl + H2
Das flüssige Addukt H3B·SMe2 dient in der organischen Synthese als selektives Reduktionsmittel und für Hydroborierungsreaktionen (Abschnitt 6.6). Aus ihm lässt sich das Dimethylsulfid (Me2S) mit stärkeren LEWIS-Basen wie Aminen verdrängen.
6.5.3 Höhere Borane Die höheren Borane sind farblose Verbindungen von sehr unterschiedlicher thermischer Stabilität, die teilweise hydrolyseempfindlich oder sogar an Luft selbstentzündlich sind, während andere luftstabil sind. Als extreme Beispiele seien genannt: iso-B9H15, das selbst bei –30°C instabil ist, und B20H16, das erst bei 197°C schmilzt. B4H10 ist bei 25°C gasförmig (Sdp. 16°C), die übrigen Borane sind flüssig oder fest. Die Toxizität und der hohe Preis dieser Verbindungen haben eine praktische Anwendung bisher verhindert. Herstellung Zur Synthese höherer Borane eignen sich folgende Methoden. Die entstehenden Reaktionsgemische werden durch fraktionierte Destillation oder Kondensation in einer Vakuumapparatur oder durch präparative Gaschromatographie getrennt. (a) Thermolyse von B2H6 oder anderen Boranen unter genau definierten Bedingungen: 2 B2H6 5 B2H6 2 iso-B9H15
120°C
B4H10 + H2
200À240°C >À30°C
2 B5H9 + 6 H2 B8H12 + B10H14 + 2 H2
(b) LEWIS-Basen-katalysierte Umwandlungen: 4 B4H10 B5H11
Me3N (CH2)6N4
3 B2H6 + 2 B5H9 + 2 H2 B9H15
(c) Säurezersetzung von Magnesiumborid Mg3B2,22 hierbei entstehen neben viel B2H6 auch B4H10, B5H9, B5H11, B6H10 und B10H14. 22
Durch diese Reaktion wurden von ALFRED STOCK und Mitarbeitern in Breslau in den Jahren 1909–1916 die ersten Borane (B4H10, B2H6 und B10H14) hergestellt. Die zahlreichen bahnbrechenden Arbeiten von STOCK (1876–1946), vor allem auf den Gebieten Laboratoriumstechnik und der Chemie der Elemente Bor und Silicium, haben die Gesellschaft Deutscher Chemiker veranlasst, im Jahre 1950 den ALFRED-STOCK-Gedächtnispreis zu stiften, der zu den angesehensten Auszeichnungen im Bereich der Anorganischen Chemie zählt.
210
6 Bor
(d) Wasserstoffabspaltung durch Einwirkung einer elektrischen Entladung: 2 B 5H 9
B10H16 + H2
2 B10H14
B20H16 + 6 H2
(e) Protonierung von Hydroborat-Anionen mit folgender Umlagerung: K[B9H15] + HClfl. [B20H18]2À
+ H+(aq)
À80°C
B9H15 + KCl +
1 2 H2
n-B18H22 und iso-B18H22
Die Verfahren (a) und (b) sind bei weitem am universellsten anwendbar. Bei der Thermolyse von B2H6 tritt BH3 als reaktives Zwischenprodukt auf, das mit B2H6 zum instabilen B3H9 reagiert, welches anschließend spontan H2 abspaltet, so dass B3H7 entsteht, das mit weiterem BH3 zu B4H10 reagiert. Strukturen Die Borane besitzen komplizierte Strukturen,23 die allerdings oft von hoher Symmetrie sind und die aus folgenden Strukturelementen aufgebaut werden können: 2-Zentren-Bindungen:
B
H
B
H
3-Zentren-Bindungen:
B
B
B
B B
B
B
B
B
In Abbildung 6.6 sind beispielhaft die Strukturen von B4H10, B5H9, B6H10 und B20H16 dargestellt. Für die ersten drei Moleküle sind außerdem topologische Strukturformeln unter Verwendung der obigen Symbole für die verschiedenen Bindungstypen angegeben. Neben diesen clusterartigen Verbindungen gibt es auch so genannte makropolyedrische Borane, die aus zwei BxHy-Clustern bestehen, die durch eine BB-Bindung verbunden sind (z.B. B20H26). Von den höheren Boranen leiten sich zahlreiche Substitutionsprodukte dadurch ab, dass terminale H-Atome durch andere einwertige Reste (Halogenatome, Organylgruppen) ersetzt sind. Die Substrukturen der Bn-Gerüste in den Boranen und Hydroborat-Anionen werden in closo-, nido-, arachno- bzw. hypho-Cluster eingeteilt, je nachdem ob sie geschlossen (closo), nestartig an einer Seite offen (nido) oder an mehreren Seiten offen sind (arachno, hypho). B20H16 ist ein closo-Boran der Symmetrie D2d. Die Hydride der allgemeinen Formel BnHn+4 wie B5H9, B6H10 und B10H14 sind nido-Cluster (Abb. 6.6), während Verbindungen der Formel BnHn+6 arachno-Borane darstellen. Ein Beispiel hierfür ist B4H10 (Symmetrie C2v), in dem die Boratome die Koordinationszahl 6 aufweisen. Manche der höheren Borhydride werden als conjuncto-Borane bezeichnet, nämlich dann, wenn sich ihre Strukturen durch Zusammensetzen von kleineren Boranen erzeugen lassen.
23
Für seine Verdienste um die Aufklärung von Boranstrukturen wurde 1976 der Nobelpreis für Chemie an W. N. LIPSCOMB verliehen.
211
6.5 Borane und Hydroborate H H
H
B4H10
H
B
H
B
B
H
H
B
H
H
H H
H B
B5H9
B
H
H B H
H B
B
H
H
H H
H
B6H10
H B
H
H B
B H
B
H
B
B H
H
H
B10H14
Abb. 6.6 Geometrie und topologische Formeln der Borane B4H10 (C2v), B5H9 (C4v) und B6H10 (C5v) sowie zwei Ansichten von Dekaboran-14 (B10H14). Bei diesem Molekül trägt jedes Boratom ein terminales H-Atom; zusätzlich sind vier verbrückende H-Atome vorhanden.
6.5.4 Hydroborate Von den Hydroboraten besitzt das bereits erwähnte Boranat-Ion [BH4]– die weitaus größte Bedeutung. Dieses Anion ist isoelektronisch mit CH4 und [NH4]+ und tetraedrisch gebaut. Mit Hydrid-Ionen reagiert B2H6 in Ether analog wie mit LEWIS-Basen: B2H6 + 2 MH
Ether
2 MBH4
M = Li, Na, K
Die technische Synthese dieser drei wichtigen Salze beruht auf der Hydrierung von leicht zugänglichen und preiswerten Bor-Sauerstoff-Verbindungen. Bei dem in den USA
212
6 Bor
üblichen SCHLESINGER-Verfahren wird Borsäuretrimethylester (Methylborat) bei 260 °C hydriert: B(OMe)3 + 4 NaH
NaBH4 + 3 NaOMe
Die Hydrolyse der Reaktionsmischung liefert Methanol, das abdestilliert und wieder verwendet wird. Das NaOH wird mit i-Propylamin extrahiert, worauf die wässrige Phase eingedampft wird und so festes NaBH4 liefert. Das von der BAYER AG entwickelte Borosilicatverfahren beruht auf der Gleichung: Na2B4O7.7SiO2 + 16 Na + 8 H2
400À500°C
4 NaBH4 + 7 Na2SiO3
Das als Ausgangsprodukt dienende Borosilicatglas wird in einer Vorstufe aus Quarzsand und Borax erschmolzen und nach dem Abkühlen fein gemahlen. Nach der Reaktion wird das NaBH4 mit flüssigem NH3 unter Druck aus dem Produktgemisch extrahiert. Durch Umsetzung von NaBH4 mit LiCl erhält man das in organischen Lösungsmitteln besser lösliche LiBH4 und mit KOH das thermisch beständigere KBH4; alle drei Boranate dienen als Reduktionsmittel. Während B2H6 gegenüber O2 und H2O extrem empfindlich ist, kann NaBH4 an trockener und KBH4 sogar an feuchter Luft unzersetzt aufbewahrt werden. Die Alkalimetallboranate sind Salze. LiBH4 löst sich in Tetrahydrofuran (THF) in Form solvatisierter Ionen. Das aus AlCl3 und NaBH4 zugängliche Al(BH4)3 ist dagegen eine kovalente Verbindung und dementsprechend bei 25°C flüssig und leicht flüchtig. Das Al-Atom ist darin oktaedrisch von H-Atomen umgeben. NaBH4 ist ein wirksames Hydrierungsmittel. Mit B2H6 reagiert es je nach Versuchsbedingungen zu verschiedenen höheren Hydroboraten: 2 NaBH4 + B2H6
0°C
2 Na[B2H7]
25À35°C
NaBH4 + B2H6 0.2 MPa Na[B3H8] + H2 2 NaBH4 + 5 B2H6
180°C Et3N
Na2[B12H12] + 13 H2
Die höheren Hydroborate enthalten die gleichen Strukturelemente wie die Borane. Eine eindeutige Nomenklatur dieser Ionen, deren Ladung zwischen –1 und –4 variiert, wird wie folgt erreicht: [B2H7]–: Heptahydrodiborat(1–), Symmetrie Cs [B6H6]2–: Hexahydro-closo-hexaborat(2–), Symmetrie Oh Von den zahlreichen Hydroboraten, die mehr als ein Boratom enthalten, sind diejenigen der allgemeinen Formel [(BH)n]2– (n = 6–12) besonders interessant, da sie aus geschlossenen, polyedrischen Gerüsten von Boratomen bestehen und ein quasi-aromatisches Verhalten zeigen. Von diesen sieben Ionen sind [B10H10]2– und [B12H12]2– thermisch und gegen Hydrolyse am beständigsten und daher am besten untersucht. Salze mit dem Ion [B12H12]2– entstehen beim Erhitzen von Diboran-Boranat-Gemischen in Gegenwart von LEWIS-Basen (siehe oben) sowie bei der Oxidation von NaBH4 mit elementarem Iod durch thermische Disproportionierung des primär gebildeten Na[B3H8]. [B10H10]2– wird am besten aus B10H14 in siedendem Xylol gewonnen (R = Et). Eine alternative Methode ist die Thermolyse von Tetraethylammonium-Boranat:
213
6.5 Borane und Hydroborate
B10H14 + 2 R3N 10 [R4N][BH4]
ÀH2
B10H12(NR3)2
[R3NH]2[B10H10]
[R4N]2[B10H10] + 8 R3N + 11 H2 + 8 C2H6
Durch Erhitzen der Reaktionsprodukte mit Natronlauge erhält man Na2B10H10. Die Strukturen der Ionen [B10H10]2– und [B12H12]2– sind in Abbildung 6.7 dargestellt. Im [B10H10]2– bilden die Boratome ein Polyeder aus zwei quadratischen Pyramiden. Das Ion [B12H12]2– enthält ein B12-Ikosaeder. Jedes Boratom trägt außerdem ein terminales H-Atom, das über eine 2-Zentrenbindung gebunden ist. Im [B12H12]2– sind alle Bor- und alle Wasserstoffatome untereinander äquivalent. Das 11B-NMR-Spektrum einer aus isotopenreinem 11B hergestellten Probe besteht daher nur aus einem Dublett, das durch Kopplung der Boratomkerne mit den jeweils benachbarten Protonen zustande kommt. Ersetzt man im [B12H12]2– formal eine Gruppe [BH]– durch [NH]+, erhält man das ungeladene Heteroboran NB11H12 (Azadodekaboran), in dem alle Gerüstatome, also auch der Stickstoff, die Koordinationszahl 6 aufweisen!24 1
1 5
2
4
4
3
3
2
6
8
9
5
9
6
8
10
7
7
11 10
12
Abb. 6.7 Strukturen der Bn-Gerüste in den Anionen [B10H10]2– (links; Symmetrie D4d) und [B12H12]2– (rechts; Symmetrie Ih). Nummerierung der Boratome zwecks näherer Bezeichnung bei Substitutionen.
Im [B10H10]2– sind nur die beiden apicalen (an den Spitzen) und die acht übrigen (äquatorialen) Boratome untereinander äquivalent. Daher besteht das 11B-NMR-Spektrum aus zwei Dubletts im Intensitätsverhältnis 1:4. Die Ionen [B10H10]2– und [B12H12]2– sind sich chemisch ähnlich und gegenüber allen anderen Hydroboraten durch ihre enorme Stabilität ausgezeichnet. Ihre wasserlöslichen Alkalimetallsalze sind mindestens bis 600°C bzw. 800°C beständig; sie werden von Laugen selbst bei 100°C nicht angegriffen, widerstehen milden Oxidationsmitteln, und auch verdünnte Salzsäure greift [B12H12]2– bei 100°C nicht und [B10H10]2– nur langsam an! Diese erstaunliche Beständigkeit gegenüber Laugen und Säuren ist kinetisch bedingt, da thermodynamisch gesehen glatt Hydrolyse zu Borsäure und Wasserstoff erfolgen sollte. Als Ursache dieses Verhaltens wird die sehr weitgehende (quasi aromatische) Delokalisierung der Elektronen in den hochsymmetrischen Bn-Gerüsten angesehen.25 Dadurch sind alle Reaktionen, bei denen ein Boratom entfernt und damit die Symmetrie erniedrigt wird, mit einer hohen Aktivierungsenthalpie verbunden. In der Tat sind gerade diejenigen Borane und Hydroborat-Ionen am stabilsten, die ein geschlossenes und sehr symmetri24 25
J. Müller, J. Runsink, P. Paetzold, Angew. Chem. 1991, 103, 201. Zur elektronischen Struktur der Bn-Cluster siehe D. J. Wales, Encycl. Inorg. Chem. 1994, 3, 1113.
214
6 Bor
sches Bn-Gerüst enthalten. Das Dodekahydro-closo-dodekaborat(2–)-Ion [B12H12]2– ist dafür das bekannteste Beispiel. Wie bei anderen aromatischen Systemen lassen sich bei den Anionen [B10H10]2– und [B12H12]2– zahlreiche elektrophile und nukleophile Substitutionsreaktionen unter Erhaltung des Bn-Grüstes ausführen. So reagieren beide Ionen mit Cl2, Br2 und I2 je nach Reaktionsbedingungen zu partiell oder total halogenierten Derivaten wie [B12Cl12]2–, [B12Br12]2– und [B12I12]2–. Wenn man [B10H10]2– nacheinander mit Salpetriger Säure und NaBH4 umsetzt, entsteht das Diazoniumsalz B10H8(N2)2, das im Vakuum bei 100°C sublimiert werden kann und in dem zwei N2-Moleküle koordinativ an die beiden apicalen B-Atome gebunden sind. Dieses farblose Salz reagiert mit NH3, Pyridin, CO, H2S und MeCN unter Verdrängung beider N2-Moleküle durch die neuen Liganden.
6.6
Organoborane26
Die teilweise oder vollständige Substitution der H-Atome in Boranen durch Alkyl- oder Aryl-Gruppen (R) führt zu Organoboranen, von denen die Derivate des BH3 die bei weitem größte Bedeutung besitzen. Die beiden wichtigsten Synthesewege zu Verbindungen der Art RBH2, R2BH und R3B sind: (a) Die Hydroborierung von Alkenen mit Diboran oder Boran-Addukten: BH3.D
ÀD +D
BH3
+Alken
RBH2
+Alken
R2BH
+Alken
R3B
Der Donor D ist in diesen Fällen entweder Tetrahydrofuran (THF) oder Dimethylsulfid. Die Reaktionstemperaturen liegen bei 0–20°C. Das Alken koordiniert mit seinen π-Elektronen an das Boratom gefolgt von einer Einschiebung in die BH-Bindung. Mono- und Diorganoborane sind in Analogie zum Diboran bei 20°C gewöhnlich dimer: (RBH2)2 bzw. (R2BH)2. Nur mit sehr sperrigen Substituenten liegt das Dimerisierungsgleichgewicht auf der Seite des Monomeren. Beispielsweise ist das mesitylsubstituierte Derivat Mes2BHHBMes2 im festen Zustand dimer, aber in Lösung existiert bei 25°C ein Gleichgewicht zwischen viel Dimer und wenig Monomer (Dissoziationsenthalpie 70 kJ mol–1).27 (b) Die Umsetzung von Bor-Halogen- oder Bor-Sauerstoff-Verbindungen mit metallorganischen Reagenzien: BF3 + 3 RMgCl BBr3 + Ph2Hg
R3B + 3 MgClF Ph2BBr + HgBr2
Organoborane sind oft luftempfindlich und teilweise selbstentzündlich. Sie spielen eine wichtige Rolle in der organischen Synthese. Im Gegensatz zum Diboran B2H6 und zum Hexamethyldialuminium Me6Al2 sind Verbindungen des Typs R3B monomer. Die starke
26 27
F. Jäkle, J. A. Soderquist, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 1, 560. M. Zaidlewicz, Kirk-Othmer Encycl. Chem. Technol. 2005, 13, 631. T. B. Marder et al., J. Organomet. Chem. 2003, 680, 165.
215
6.7 Carborane
LEWIS-Säure Trimethylbor reagiert mit MeLi in Diethylether zum Komplex Li[BMe4], dessen Kristallstruktur durch intermolekulare CH3....Li-Wechselwirkungen bestimmt wird. Auch Ph3B und (C6F5)3B sind LEWIS-Säuren, wobei die Acidität verglichen mit BCl3 wie folgt abgestuft ist: (C6F5)3B > BCl3 > Ph3B. Die Komplexe K[BPh4] und Na[B(CN)4] enthalten vier B–C-Bindungen. Eine aromatische Organoborverbindung liegt im heterocyclischen Boratabenzol-Anion [C5H5BR]– vor, das mit verschiedenen Substituenten R in Form von Salzen mit Alkalimetall-Kationen isoliert wurde und das im Fall von R = Me mit Toluol isoelektronisch ist. Derartige Anionen koordinieren ähnlich wie [C5H5]– sandwichartig an Metallatome.28
6.7
Carborane29
Beim Ersatz einzelner Boratome in den polyedrischen Gerüsten der Borane oder der Hydroborate durch andere Nichtmetallatome entstehen Heteroborane, die man als Carba-, Aza-, Phospha-, Thiaborane usw. bezeichnet. Die weitaus größte Bedeutung besitzen die Carbaborane (kurz: Carborane); dabei handelt es sich um gemischte Hydride von Bor und Kohlenstoff. Das historisch erste Carboranmolekül B3C2H5 wurde in geringer Ausbeute bei der Reaktion von Pentaboran B5H9 mit Acetylen in einer elektrischen Entladung erhalten. In dieser bemerkenswerten Reaktion wird die Dreifachbindung des Acetylens gespalten. Das 1,5-Dicarba-closo-pentaboran(5) hat die Gestalt einer trigonalen Bipyramide mit den C-Atomen in den apicalen Positionen:
C B
H
Generell gilt, dass diejenigen Carboran-Isomere am beständigsten sind, in denen die Gerüst-C-Atome am weitesten voneinander entfernt sind. Die am besten untersuchte Gruppe von Carboranen hat die allgemeine Formel C2Bn–2Hn. Diese Verbindungen leiten sich formal von den closo-Hydroboraten [(BH)n]2– durch Ersatz zweier Gruppen [BH]– durch zwei mit diesen isoelektronische Gruppen CH ab. Auf diese Weise entstehen neutrale Moleküle, die ebenfalls geschlossene Gerüste aus Bor- und Kohlenstoff-Atomen enthalten, wobei nun aber je nach der Position der
28 29
X. Zheng, G. E. Herberich, Eur. J. Inorg. Chem. 2003, 2175. B. Wrackmeyer, Chemie unserer Zeit 2000, 34, 288. R. E. Williams, Encycl. Inorg. Chem. 1994, 1, 433. Themenheft Boron Chemistry, Chem. Rev. 1992, 92, Heft 2.
216
6 Bor
C-Atome verschiedene Isomere möglich sind. Dies sei am Beispiel der Dicarba-closo-dekaborane C2B10H12 erläutert, die sich vom ikosaedrischen Ion [B12H12]2– ableiten.30 Abbildung 6.8 zeigt die drei möglichen Isomere der Bruttoformel C2B10H12.
1,2-C2B10H12
1,7-C2B10H12
1,12-C2B10H12
Abb. 6.8 Strukturen der Gerüste in den drei isomeren closo-Carboranen der Zusammensetzung C2B10H12. Die Nummerierung der Atompositionen entspricht der in Abbildung 6.7.
Die C-Atome können sich in den Stellungen 1,2(ortho), 1,7(meta) oder 1,12(para) befinden. Die Abzählung der Atome beginnt dabei an einer Spitze des Ikosaeders, geht in der Ebene der benachbarten fünf Atome im Uhrzeigersinn weiter, ebenso in der nächsten Ebene und endet an der dem Atom 1 gegenüberliegenden Position (Abb. 6.8). 1,2-C2B10H12 (Schmp. 320°C) entsteht bei der Reaktion von nido-B10H14 mit Acetylen in Gegenwart von LEWIS-Basen (D) wie Dialkylsulfiden R2S, Nitrilen RCN, Phosphanen R3P oder tertiären Aminen R3N: B10H14 + RC
CR
D
R C
C R + 2 H2 B10H10
Die Gruppen R können außer H auch Alkyl-, Aryl- oder andere Reste sein, wodurch eine große Zahl C-substituierter Carborane zugänglich wurde. 1,2-C2B10H12 ist bis etwa 470°C beständig. Oberhalb dieser Temperatur wandelt es sich langsam, aber in guter Ausbeute in das 1,7-Isomer (Schmp. 265°C) um, das beim Erhitzen auf 615°C in geringer Ausbeute in das thermodynamisch stabile 1,12-Isomer (Schmp. 261°C) übergeht. Das C2B10-Gerüst zersetzt sich erst oberhalb 630°C. Als Zwischenprodukt tritt bei dieser Isomerisierung eine nicht-ikosaedrische closo-Struktur auf, die in Form eines Derivates isoliert und durch Röntgenstrukturanalyse charakterisiert werden konnte.31 Die Carborane C2B10H12 sind chemisch ähnlich resistent wie einige closo-Hydroborate. So werden sie weder von kochendem Wasser noch von starken Oxidations- oder Reduktionsmitteln angegriffen. Dagegen führen nukleophile Reagenzien zu einem teilweisen Abbau des C2B10-Käfigs, wobei Carborane mit neun bis sechs Boratomen entstehen. Als Beispiel sei die Bildung des nido-Carborans C2B9H13 angeführt:
30
31
Das Zwischenglied [CB11H12]– spielt als besonders schwach koordinierendes Anion bei der Synthese besonders starker Elektrophile und Supersäuren eine Rolle; siehe C. A. Reed, Acc. Chem. Res. 1998, 31, 133, und S. Körbe, P. J. Schreiber, J. Michl, Chem. Rev. 2006, 106, 5208. A. J. Welch et al., Angew. Chem. 1997, 109, 617.
217
6.8 Halogenide der Bors
C2B10H12
[MeO]À
H+
]À
[C2B9H12
NaH
C2B9H13 [C2B9H11]2À
Das C2B9-Gerüst leitet sich vom C2B10-Ikosaeder durch Verlust eines Boratoms, d.h. einer Spitze ab (Abb. 6.8). Die vakante Position eignet sich wegen der dort freiliegenden Atomorbitale ausgezeichnet als Koordinationsstelle für Metallatome. Das Ion [C2B9H11]2– ist folglich ein ähnlich guter Ligand wie das Cyclopentadienid-Anion [C5H5]–. Aus FeCl2, Na2[C2B9H11] und Na[C5H5] erhält man daher den Ferrocen-analogen Komplex [Fe(C5H5)(C2B9H11)], der Fe(III) enthält. Die Strukturen dieses und analoger Metallacarbaborane32 von Fe, Co und Ni mit zwei C2B9H11-Liganden sind in Abbildung 6.9 dargestellt.
Mn+
Fe3+
[(C5H5)(C2B9H11)Fe]
[(C2B9H11)2M]x-
Abb. 6.9 Metallkomplexe mit dem anionischen Liganden [1,2-C2B9H11]2–. Die schwarzen Kreise symbolisieren die CH-Gruppen und die offenen Kreise die BH-Einheiten. Der links gezeigte Gemischtligandkomplex ist neutral, da der Cp-Ligand [C5H5]– einfach geladen ist. Die rechts gezeigten Komplexe sind je nach Oxidationsstufe des Metallatoms (Mn+ = Fe2+, Co3+, Ni3+, Ni4+) neutral oder negativ geladen (x = 0–2).
Eine riesige Zahl von Carboranen und ihren Substitutionsprodukten wurde synthetisiert, auch solche mit einem B:C-Verhältnis nahe 1. Letztere Verbindungen stellen einen Übergang von den Boranen zu den Kohlenwasserstoffen dar.
6.8
Halogenide der Bors
Die wichtigsten binären Borhalogenide sind vom Typ BX3 (X = F, Cl, Br, I). Sie werden auch als Trihaloborane bezeichnet. Daneben existieren aber noch verschiedene Subhalogenide mit geringerem Halogengehalt, z.B. B2X4 und B4X4. In diesen subvalenten Verbindungen ist die Oxidationsstufe des Boratoms niedriger als in den Trihalogeniden. 32
C. E. Housecroft, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 1, 524.
218
6 Bor
6.8.1 Trihalogenide (BX3) Von den Bortrihalogeniden hat BF3 (Sdp. –100°C) die größte technische Bedeutung, gefolgt von BCl3 (Sdp. 12.5°C). Industrielle Synthesereaktionen für die beiden Halogenide gehen von Borsäure bzw. Borcarbid aus: B(OH)3 + 3 HF
H2SO4
2 B(OH)3 + 6 HSO3F B4C + 6 Cl2
BF3 + 3 H2O 2 BF3 + 6 H2SO4
700°C
4 BCl3 + Cf.
BF3 kommt komprimiert in Stahlflaschen und als flüssiges Etherat BF3·OEt2 (siehe unten) in den Handel. BBr3 (Sdp. 91°C) und BI3 (Sdp. 210°C), die kaum technische Bedeutung haben, können wie folgt hergestellt werden:33 BF3 + AlBr3
BBr3 + AlF3
KBH4 + 2 I2
BI3 + KI + 2 H2
Alle Trihalogenide des Bors sind farblos und bei 25°C teils gasförmig (BF3, BCl3), teils flüssig (BBr3) oder fest (BI3). Sie bestehen aus trigonal-planaren Molekülen der Symmetrie D3h mit dem Dipolmoment Null. Als LEWIS-Säuren reagieren die Bortrihalogenide, vor allem aber BF3 und BCl3, mit Aminen, Ethern, Nitrilen, Ketonen und anderen LEWIS-Basen zu Addukten. BF3·OMe2 ist eine farblose Flüssigkeit (Sdp. 126°C). BCl3·NMe3 bildet farblose, sublimierbare Kristalle (Schmp. 243°C). Von allen Trihalogeniden wurden außerdem entsprechende Tetrahalogenoborate mit den Anionen [BX4]– hergestellt. Tetrafluoroborate entstehen aus BF3 und ionischen Fluoriden oder Chloriden: BF3 + KF 4 BF3 + 3 KCl
KBF4 3 KBF4 + BCl3
Mit wenig flüssigem Wasser reagiert BF3 über ein Addukt BF3·OH2 zu einer Lösung von Oxoniumtetrafluoroborat: 4 BF3 + 6 H2O
3 [H3O]+ + 3 [BF4]À + B(OH)3
In dieser Lösung sind außerdem die Anionen [BF3(OH)]–, [BF2(OH)2]– usw. enthalten.34 In der Literatur wird die wässrige Lösung von [H3O][BF4] oft als Tetrafluorborsäure (HBF4) bezeichnet. Diese sehr starke Säure (pKa = –4.9) wird kommerziell aus 70 %iger Flusssäure und Orthoborsäure hergestellt und zur Produktion von Tetrafluoroboraten verwendet: B(OH)3 + 4 HF
33 34
[H3O][BF4] + 2 H2O
Bei der Reaktion von KBH4 mit I2 entstehen in Nebenreaktionen auch HI und B2H6; A. G. Briggs, R. E. Simmons, Naturwissenschaften 1990, 77, 595. Das Dihydrat von BF3 (BF3·2H2O), eine farblose sirupöse Flüssigkeit, hat im Kristall die Struktur eines Monohydrates der Hydroxotrifluorborsäure BF3OH2·H2O.
219
6.8 Halogenide der Bors
Die Tetrafluorborate von Cu, Zn, Cd, Ni und Pb werden in der Galvanotechnik eingesetzt. Die thermische Stabilität der Halogenoborate nimmt mit der Kationengröße zu. NaBF4 zersetzt sich bei 384°C, CsBF4 schmilzt unzersetzt bei 550°C. Die Ionen [BCl4]–, [BBr4]– und [BI4]–, die im Gegensatz zum Anion [BF4]– hydrolyseempfindlich sind, können nur mit großen Kationen in Form beständiger Salze isoliert werden. Als Säurehalogenide der Borsäure reagieren die Bortrihalogenide mit Element-Wasserstoff-Verbindungen nach dem Schema B X + H E
B E + H X
E = O, N, P, S
Sie werden zum Beispiel von überschüssigem Wasser zu Borsäure B(OH)3 und HX hydrolysiert. Mit Alkoholen reagieren BCl3 und BBr3 zu Borsäureestern B(OR)3, mit sekundären Aminen zu entsprechenden Amiden B(NR2)3. Methanthiol MeSH reagiert mit BCl3 zu MeS–BCl2 und HCl. Eine weitere charakteristische Reaktion ist der Substituentenaustausch. In einer flüssigen Mischung von BCl3 und BBr3 stellt sich bei 25°C innerhalb einiger Stunden folgendes Gleichgewicht ein, das mittels 11B-NMR- oder Raman-Spektroskopie verfolgt werden kann: BCl3 + BBr3
BBrCl2 + BBr2Cl
Ähnlich reagieren auch BF3 und BCl3 miteinander. Trialkylborane können mit dem handelsüblichen BF3-Etherat zu Alkyldifluorboranen umgesetzt werden: R3B + 2 BF3. OEt2
3 RBF2 + 2 Et2O
BF3 und B(OH)3 setzen sich in der Gasphase miteinander zu BF2(OH) und BF(OH)2 um. B2O3 reagiert mit BF3 bzw. BCl3 beim Erwärmen zu Trifluor- bzw. Trichlorboroxin B3O3X3. Diese planaren Heterocyclen enthalten sechsgliedrige B3O3-Ringe mit alternierender Atomanordnung (Pseudoheterocyclen). BF3 und in gewissem Umfang auch BCl3 sind wirkungsvolle Katalysatoren für eine Reihe organischer Synthesen. Auch dabei dürften in vielen Fällen die LEWIS-Säure-Eigenschaften eine entscheidende Rolle spielen. Beispielsweise wird die Nitrierung von Aromaten mit N2O5 durch BF3 katalysiert, was auf die Bildung von Nitronium-Ionen zurückgeführt wird: O2N O NO2 + BF3
[NO2]+ + [F3B ONO2]À
6.8.2 Subhalogenide35 Die weiter oben bereits erwähnten Dibortetrahalogenide B2X4 enthalten eine BB-Einfachbindung. Alle vier möglichen binären Verbindungen sind bekannt; von Bedeutung sind jedoch nur B2F4 und B2Cl4, die im kristallinen Zustand aus planaren Molekülen B2X4 der Symmetrie D2h bestehen. Alle Valenzwinkel betragen ungefähr 120°. Im flüssigen und gasförmigen Zustand hat B2Cl4 jedoch die geringere Symmetrie D2d , da die beiden 35
A. G. Massey, Adv. Inorg. Chem. Radiochem. 1983, 26, 1; J. A. Morrison, Chem. Rev. 1991, 91, 35.
220
6 Bor
Molekülhälften um 90° gegeneinander verdreht sind. Die Energiebarriere für die Torsion um die BB-Achse beträgt nur etwa 7.5 kJ mol–1. Offenbar wird im Kristall die maximale Gitterenthalpie bei planarer Konfiguration erreicht, so dass die Moleküle in diesen etwas energiereicheren Zustand übergehen. B2F4 entsteht bei der gemeinsamen Kondensation von BF3 und Kupferatomen. Dazu wird metallisches Kupfer durch elektrische Heizung im Vakuum verdampft und der aus atomarem Kupfer bestehende Dampf zusammen mit BF3 bei –196°C kondensiert: 2 BF3 + 2 Cu
F2B BF 2 + 2 CuF
B2F4 ist unter Standardbedingungen ein farbloses Gas. Mit BF reagiert es zu weiteren Subfluoriden wie B3F5, B8F12 (Kap. 13.4.6) und B10F12.36 B2Cl4 erhält man als farblose Flüssigkeit bei der Zersetzung von BCl3 in einer Hochfrequenzentladung in Gegenwart von Quecksilberdampf: 2 BCl3 + 2 Hg
Cl2B
BCl2 + Hg2Cl2
Auch die Reduktion von BCl3 in einer elektrischen Entladung zwischen Kupferelektroden oder in Gegenwart von Kupferdrahtwendeln ist eine geeignete Synthesemethode. B2F4 kann auch durch Fluorierung von B2Cl4 mit SbF3 erhalten werden (Halogenaustausch). Mit Alkenen und Alkinen reagieren die Dibortetrahalogenide unter Addition: X2B
BX2 + H2C
CH2
X 2B
CH2 CH2 BX2
B2Cl4 verhält sich sowohl als Säurehalogenid der Hypodiborsäure B2(OH)4 als auch als LEWIS-Säure. Die interessanteste Reaktion ist jedoch die langsam schon bei Raumtemperatur, schneller beim Erwärmen ablaufende Disproportionierung: B2Cl4
BCl3 +
1 n
(BCl)n
n = 8 À 12
Hierbei entstehen nebeneinander B8Cl8, B9Cl9, B10Cl10, B11Cl11 und B12Cl12. Die beiden erstgenannten Chloride bestehen aus geschlossenen Bn-Clustern, ähnlich denen der closo-Hydroborate. Der kleinste derartige Cluster liegt im B4Cl4 vor, das man als Nebenprodukt der B2Cl4-Synthese in der elektrischen Entladung in Gegenwart von Hg erhält. Als repräsentative Beispiele seien die Strukturen von B4Cl4 und B8Cl8 erläutert. Im B4Cl4-Molekül bilden die Boratome ein Tetraeder, im B8Cl8 ein Dodekaeder (Abb. 6.10). Nimmt man an, dass die terminalen Chloratome über 2-Zentren-2-Elektronen-Bindungen gebunden sind, werden im B4Cl4 dafür 4 der 12 Valenzelektronen der Boratome benötigt, d.h. es verbleiben 8 Elektronen. Damit können gerade vier geschlossene 3-Zentrenbindungen innerhalb des B4-Käfigs gebildet werden, nämlich auf jeder Tetraederfläche eine. Die BB-Kernabstände betragen 170 pm. Chlorierung von B4Cl4 führt über B2Cl4 zu BCl3. Mit lithiumorganischen Verbindungen (LiR) reagiert B4Cl4 zu entsprechenden organischen Tetrahedranen (BR)4, die allerdings einfacher aus RBF2 mit Na/K-Legierung (M) in Pentan erhalten werden können (R = tBu):37 4 R BF2 + 8 M 36 37
(RB)4 + 8 MF
P. L. Timms et al., Dalton Trans. 2005, 607. T. Mennekes et al., Angew. Chem. 1991, 103, 199.
221
6.9 Sauerstoffverbindungen des Bors
B
B
Cl
B
B
Cl
Cl
Cl
B
Cl
Cl
B
Cl
Cl B
Cl
B
B B
B
Cl
B Cl Cl
Abb. 6.10 Strukturen der clusterartigen Subchloride B4Cl4 (Tetraeder) und B8Cl8 (Dodekaeder).
Verbindungen mit einem B4-Gerüst können je nach Substituenten ganz verschiedene Strukturen aufweisen. Neben den schon erwähnten Tetrahedranen mit einem B4-Tetraeder im Zentrum, kann die B4-Einheit auch ringförmig (R = NMe2, NEt2), kettenförmig oder rautenförmig (bicyclisch) gebaut sein.38 Die zuletzt genannten Derivate enthalten planar koordinierte B-Atome der KZ = 4 und weisen aromatischen Charakter auf.
6.9
Sauerstoffverbindungen des Bors
6.9.1 Allgemeines Bor und Sauerstoff bilden miteinander thermisch und chemisch außerordentlich beständige Verbindungen. Die wichtigsten Vertreter sind Bortrioxid B2O3, Orthoborsäure B(OH)3, verschiedene Metaborsäuren (HBO2)n und zahlreiche monomere und polymere Borate. Borax und Colemanit sind die wichtigsten Bormineralien, aus denen praktisch alle anderen Borverbindungen sowie elementares Bor hergestellt werden. Bor-SauerstoffVerbindungen werden industriell hauptsächlich zur Herstellung von Glas, Keramiken, Emaille und Reinigungsmitteln sowie in geringerem Umfang als Flussmittel beim Löten und Schweißen und weiterhin als Flamm- und Korrosionsschutzmittel verwendet. Auch als Komponente von Düngemitteln werden Borate eingesetzt, um das Bordefizit landwirtschaftlicher Böden auszugleichen. In neuerer Zeit wurde mit der Säure H2B12(OH)12 und ihren Salzen M2B12(OH)12 eine Klasse von Oxoverbindungen erschlossen, die strukturell den ikosaedrischen closo-Boranen verwandt ist (Abschnitt 6.5.4).
6.9.2 Bortrioxid und Borsäuren Orthoborsäure H3BO3 bzw. B(OH)3 kommt in der Natur als Mineral Sassolin vor, wird aber heute ausschließlich und in riesigem Umfang durch Hydrolyse von Borax oder Colemanit mit Schwefelsäure hergestellt: 38
A. Berndt et al., Angew. Chem. 2002, 114, 1597. W. Siebert et al., ibid. 1600.
222
6 Bor
Na2B4O5(OH)4 + H2SO4 + 3 H2O CaB3O4(OH)3 + H2SO4 + 2 H2O
25°C 90°C
4 H3BO3 + Na2SO4 3 H3BO3 + CaSO4
Bei der ersten Reaktion fällt die schwerlösliche Borsäure aus, während das Natriumsulfat erst beim Kühlen auskristallisiert. Im zweiten Fall fällt aus der heißen Lösung Gips aus, und erst nach Filtration und Abkühlen erhält man die Borsäure. Diese ist eine sehr schwache Ansolvosäure, die sich in Wasser mäßig gut löst und die in der Lösung monomer und praktisch undissoziiert vorliegt. Die Löslichkeit steigt mit der Temperatur stark an (positive Lösungsenthalpie), und zwar von 4.7 Gew.-% bei 20°C auf 27.5 Gew.-% bei 100°C. Der pKa-Wert von 9.14 bezieht sich auf folgende Gleichung: B(OH)3 + 2 H2O
[H3O]+ + [B(OH)4]À
Im kristallinen Zustand bildet Borsäure eine Schichtstruktur, in der planare B(OH)3-Moleküle über Wasserstoffbrücken zu zweidimensional-unendlichen Schichten verbunden sind, während zwischen diesen Schichten nur VAN DER WAALS-Kräfte wirken (Abb. 6.11). Dem entspricht die schuppige Ausbildung der farblosen Kristalle (Schmp. 171°C). Mit Wasserdampf ist Borsäure flüchtig.
B O H
Abb. 6.11 Ausschnitt aus einer Schicht der Kristallstruktur der Orthoborsäure. Die planaren B(OH)3-Moleküle sind über lineare, aber unsymmetrische Wasserstoff-Brückenbindungen verknüpft, wodurch cyclische Einheiten entstehen.
Eine ähnliche Schichtstuktur mit H-Brücken zwischen den OH-Gruppen bildet die Hypodiborsäure (HO)2B–B(OH)2, die auch als Diboronsäure bezeichnet wird und die durch Hydrolyse von B2Cl4 oder B2(OR)4 hergestellt wird.39 Wie die meisten Oxosäuren der Nichtmetalle kondensiert Borsäure beim Erhitzen unter Abspaltung von Wasser und geht über Oligo- und Polyborsäuren schließlich in Bortrioxid über: 90À130°C
3 B(OH)3 À3H O 2
B3O3(OH)3
140À160°C
400°C
(HBO2)n ÀH O B2O3 2
Die dabei zuerst entstehende orthorhombische cyclo-Triborsäure (α-Metaborsäure) hat die in Abbildung 6.12 dargestellte Struktur. Den Molekülen liegt der planare BoroxinRing (B3O3) zugrunde, der in der Boratchemie ein häufiges Strukturelement darstellt. Die einzelnen Moleküle sind über H-Brücken zu Schichten verbunden. 39
N. C. Norman et al., New. J. Chem. 2003, 27, 773.
223
6.9 Sauerstoffverbindungen des Bors
B O H Abb. 6.12 Ausschnitt aus einer
Schicht der Kristallstruktur von cyclo-Triborsäure B3O3(OH)3. Alle OH-Gruppen bilden Wasserstoffbrücken zu benachbarten Molekülen.
Beim stärkeren Erhitzen entstehen zwei weitere Modifikationen der Metaborsäure (β: monoklin, γ: kubisch), in denen die Boroxin-Ringe über brückenbildende O-Atome direkt miteinander verknüpft sind, was voraussetzt, dass die Boratome teilweise (β-HBO2) oder alle (γ-HBO2) die Koordinationszahl 4 annehmen. Aus diesen Modifikationen entsteht durch langsames Entwässern bei Rotglut das Anhydrid B2O3, das schwierig kristallisiert und aus der Schmelze meistens glasig erhalten wird (siehe Gläser, Kap. 8.9). Hexagonales B2O3 (Schmp. 455–475°C) besteht aus trigonal-planaren BO3-Gruppen, die durch Eckenverknüpfung miteinander zu Ringen und Bändern und diese dreidimensional-unendlich zu einem Raumnetz verbunden sind. Bei sehr starkem Erhitzen verdampft B2O3 in Form V-förmiger Moleküle O=B–O–B=O der Symmetrie C2v. Auch bei der Verbrennung bzw. Oxidation von amorphem Bor entsteht Bortrioxid, und zwar in sehr stark exothermer Reaktion, was für Raketentreibsätze genutzt werden kann. Bortrioxid ist hygroskopisch und reagiert mit Wasser wieder zu B(OH)3, mit Alkoholen in der Wärme zu Borsäureestern B(OR)3. Der technisch wichtige Trimethylester B(OMe)3 ist eine farblose Flüssigkeit (Sdp. 68°C), die zur Synthese von NaBH4 eingesetzt wird (Abschnitt 6.5.2). In Laugen löst sich B2O3 zu Boraten, mit HF bildet es BF3. Bortrioxid wird technisch in großem Maßstab produziert und hauptsächlich in der keramischen und Glasindustrie (Borosilicatglas) sowie zu Herstellung anderer Borverbindungen verwendet. Wässrige Boratlösungen enthalten nur bei hohen pH-Werten (pH > 11) ausschließlich das Anion [B(OH)4]–. Im schwächer alkalischen Bereich, wenn nebeneinander B(OH)3 und [B(OH)4]– vorliegen, tritt bei nicht zu großer Verdünnung folgende Kondensationsreaktion ein: 2 B(OH)3 + [B(OH)4]À
[B3O3(OH)4]À + 3 H2O
Das trimere Anion leitet sich von der cyclo-Triborsäure durch Addition eines [OH]–-Ions an ein Boratom ab. Es ist die vorherrschende Spezies in der wässrigen Lösung; daneben sind aber auch noch [B3O3(OH)5]2–, [B4O5(OH)4]2– und [B5O6(OH)4]– vorhanden. Im neutralen und sauren Bereich hydrolysieren diese Polyanionen sofort zu B(OH)3, das bei pH < 6 dominiert. Auch beim starken Verdünnen tritt Hydrolyse ein. Die erwähnten Anionen, die auch in einigen kristallinen Boraten enthalten sind, haben folgende Strukturen:
224
6 Bor
OH
OH O HO
B
B
O
O O
[B3O3(OH)4 +
[OH]À
HO B
OH B OH
O
HO
O B OH
]À ]2À
B
B
HO
O
O
B
B
O
O OH [B4O5(OH)4]2À (im Borax) O
[B3O3(OH)5
B
B
O
OH O
O
[B5O6(OH)4
B
OH
]À
Außer mit [B(OH)4]– kondensiert B(OH)3 in wässriger Lösung auch mit anderen Polyhydroxoverbindungen, wie Glycerin oder der Hexose Mannit. Die dabei nach dem Schema C OH C OH
+
HO
B
OH
OH
C
O
C
O
B
OH OH
+ [H3O]+
entstehenden Oxonium-Ionen können im Gegensatz zur freien Borsäure direkt mit Natronlauge titriert werden. In der organischen Chemie häufig verwendete Reagenzien sind die substituierten Boronsäuren RB(OH)2 mit R = Alkyl oder Aryl, die bei der Hydrolyse von RBCl2 entstehen. Die unsubstituierte Verbindung HB(OH)2 wurde im Reaktionsgemisch von Diboran mit Wasserdampf spektroskopisch nachgewiesen. Die sehr starke LEWIS-Säure B(OC6F5)3 ist ein nützlicher Katalysator in der organischen Synthese sowie ein wichtiges Reagenz in der metallorganischen Chemie.40 Mit bestimmten Chelatliganden reagiert diese Verbindung zu Addukten mit der Koordinationszahl 5 am Boratom.
6.9.3 Borate41 Borate sind zwar von fast allen Metallen bekannt, aber die Natriumborate sind die wichtigsten technischen Borverbindungen. Man unterscheidet monomere Borate, niedermolekulare Di-, Tri-, Tetra- und Pentaborate sowie höhermolekulare Polyborate. Alle BoratAnionen enthalten als Baugruppen BO3-Dreiecke und/oder BO4-Tetraeder. Wasserfreie Borate entstehen beim Zusammenschmelzen von B(OH)3 mit Metalloxiden, -hydroxiden oder -carbonaten. Die natürlich vorkommenden Borate sind jedoch fast alle hydratisiert, d.h. sie enthalten Strukturwasser (OH-Gruppen) oder Kristallwasser (H2O-Moleküle).42 Dies gilt auch für die aus wässrigen Lösungen kristallisierten Salze. 40 41 42
G. Erker, Dalton Trans. 2005, 1883. D. M. Schubert, Struct. Bonding 2003, 105, 1. D. A. Keszler, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 1, 472. Bedauerlicherweise werden die Formeln von Boraten in der Literatur nicht einheitlich geschrieben. Manchmal wird das Strukturwasser mit dem Kristallwasser zusammengefasst, z.B. für Borax in der Formel Na2B4O7·10H2O statt Na2B4O5(OH)4·8H2O. Nur die zweite Formel gibt die Struktur korrekt wieder. Borax wird gelegentlich auch als Tinkal bezeichnet.
225
6.9 Sauerstoffverbindungen des Bors
Monoborate enthalten folgende Anionen: 3À
O O
B
§À
O
O
O
B
O
O
À
OH HO
B
OH
OH
Aus diesen Einheiten können die in Diboraten nachgewiesenen Anionen [B2O5]4– und [B2O(OH)6]2– durch Kondensation aufgebaut werden. Natriumtetraborat Na2[B4O5(OH)4]·3H2O, das durch Umkristallisieren von Borax bei Temperaturen oberhalb 61°C erhalten wird, ist die weltweit in größten Mengen gehandelte Borverbindung. Natriumperborat findet technisch in großem Umfang als Bleichmittel Verwendung;43 man erzeugt es aus alkalischer Natriumtetraboratlösung und H2O2. Das bei ca. 25°C ausfallende Produkt hat die Zusammensetzung Na2[B2(O2)2(OH)4]·6H2O. Im Anion dieses Salzes sind die Boratome durch zwei Peroxogruppen verbrückt, d.h. es handelt sich um ein Peroxodiborat: HO
O B
HO
OH
O
2À
B O
O
OH
Alle strukturell charakterisierten Tri-, Tetra- und Pentaborate enthalten den Boroxin-Ring B3O3, und zwar entweder isoliert wie im Na3B3O6, dem Natriumsalz der cyclo-Triborsäure, kondensiert mit einem zweiten Ring wie im Borax, oder spirocyclisch über ein gemeinsames Boratom mit einem zweiten Ring verbunden (Abschnitt 6.9.1). BaB2O4, das ebenso wie LiB3O5 für optische Frequenzwandler hergestellt wird,44 enthält ebenfalls Boroxin-Ringe und kristallisiert daher in einer Schichtstruktur; seine strukturelle Formel ist daher Ba3[B3O6]2. Auch Kernit enthält polymere, aus spirocyclisch verknüpften B3O3Ringen bestehende Anionen. Bestimmte hochmolekularen Metaborate wie Ca[BO2]2 weisen dagegen kettenförmige Anionen auf: O
O B O
B O
B O
B O
O O Eine dreidimensional-unendliche Struktur liegt schließlich im Turmalin vor, einem komplexen Alumosilicat, das ca. 10 % Bor enthält und das das häufigste borhaltige Mineral darstellt, das jedoch wegen der geringen Bor-Konzentration nicht bergmännisch abgebaut wird. Eine ähnliche chemische Zusammensetzung hat das im Labor und in der Technik verwendete Borosilicatglas Duran (Kap. 8.9). Die bisher besprochenen B–O-Verbindungen enthalten keine B–B-Bindungen. Oxidiert man aber das sehr stabile Anion [B12H12]2– mit H2O2 (30 %), erhält man Salze mit 43 44
Als Komponente von Waschmitteln. Eine wässrige Lösung von „Natriumperborat-Tetrahydrat“ NaBO3·4H2O [identisch mit Na2B2O4(OH)4·6H2O] reagiert wie eine alkalische H2O2-Lösung. Zur Erzeugung von sichtbarem oder ultraviolettem Licht in gepulsten Hochenergielasern.
226
6 Bor
dem closo-Anion [B12(OH)12]2–, aus denen man mit konzentrierter Salzsäure bei 150°C die freie Säure H2B12(OH)12 gewinnen kann, die sich erst oberhalb 300°C zersetzt. Diese Säure und ihr Anion enthalten ein ikosaedrisches B12-Gerüst, eingehüllt von einer ebenfalls ikosaedrischen Schale von 12 O-Atomen. Die beiden OH2-Gruppen der Säure befinden sich in den Positionen 1 und 12 (vgl. Abb. 6.8). Während Cs2[B12H12] in Wasser gut löslich ist, sind die übrigen Alkalimetallsalze sowie die freie Säure nur schwer löslich. Bor bildet auch mit Schwefel und Selen zahlreiche heterocyclische Ringe, und zwar sowohl in Neutralmolekülen als auch in Thio- und Selenoborat-Anionen.45 Beispielsweise sind die binären Chalkogenide B2S3, (BS2)n, (BSe2)n und B8S16 alle aus trigonalplanaren BX3-Gruppen aufgebaut, die miteinander zu 4-, 5- oder 6-gliedrigen planaren Ringen verknüpft sind. Ringe der Zusammensetzung B2S2, B2S3, B3S3, B2S4 und B4S2 sind auch in entsprechend substituierten Verbindungen bekannt, von denen der letztgenannte auch B–B-Bindungen enthält. An jedem Boratom befindet sich außerdem ein einwertiger Rest R oder ein weiteres Schwefelatom. Wie bei den Oxoboraten gibt es auch bei den Thioboraten Vertreter mit Boratomen der Koordinationszahl 4. Alle Bor-SchwefelVerbindungen sind sehr hydrolyseempfindlich.
6.10 Bor-Stickstoff-Verbindungen 6.10.1 Allgemeines Das im Abschnitt 6.2 bereits erwähnte Boran-Ammoniak-Addukt, das man bei der Reaktion von Diboran mit Ammoniak erhält, ist isoelektronisch und sogar isoster mit dem Ethanmolekül. Beide Moleküle haben eine analoge Konformation (H-Atome auf Lücke): H3B
NH3
(dBN = 167.2 pm)
H3C
CH3
(dCC = 154 pm)
Die angegebenen BN-Kernabstände gelten für die gasförmigen Verbindungen, im festen Zustand beträgt dBN beim H3B·NH3 nur 156.5 pm.46 Die Analogie zwischen BN- und CCBindungen führt zu vielen strukturellen Ähnlichkeiten zwischen gesättigten Kohlenstoffund Bor-Stickstoff-Verbindungen. In der Bindung >B–N<, die den Aminoboranen zugrunde liegt, stehen eine LEWISSäure und eine LEWIS-Base unmittelbar nebeneinander. Es ist daher zu erwarten, dass es zu einer koordinativen π-Bindung kommt, die sich der σ-Bindung überlagert: B N
(a)
B
N
(b)
Das Strukturelement (b) ist isoster mit der CC-Doppelbindung von Alkenen, woraus wiederum eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit zwischen bestimmten ungesättigten Kohlen45 46
O. Conrad, C. Jansen, B. Krebs, Angew. Chem. 1998, 110, 3397. W. T. Klooster et al., J. Am. Chem. Soc. 1999, 121, 6337.
227
6.10 Bor-Stickstoff-Verbindungen
stoff- und BN-Verbindungen folgt. Die Analogie wird besonders deutlich, wenn man durch Elektronen-ziehende Gruppen am Boratom dessen LEWIS-Acidität noch steigert, beispielsweise wie folgt: (CF3)2B
N(i-Pr)2
(dBN = 137 pm)
H2C
CH2
(dCC = 134 pm)
Iminoborane47 sind schließlich die strukturellen Verwandten der Alkine: R B
N R
R B
N R
Diese Verhältnisse werden im folgenden an wenigen Beispielen erläutert, obwohl die Zahl der BN-Verbindungen insgesamt sehr groß ist.48 Analoge Verbindungen werden auch zwischen Bor und Phosphor gebildet.49
6.10.2 Borazin Der oben erwähnte Boran-Ammoniak-Komplex H3B·NH3 zersetzt sich beim Erwärmen unter H2-Abspaltung zum Aminoboran H2B–NH2, das jedoch unbeständig ist und sich bereits bei tiefen Temperaturen unter weiterer H2-Abspaltung in das cyclische Borazin (HBNH)3 umwandelt. Besonders viel H2 wird während der Hydrolyse von H3B·NH3 freigesetzt. Daher wird dieses Addukt als einfach zu handhabender Wasserstoffspeicher diskutiert. Am bequemsten kann H3B·NH3 aus NaBH4 und [NH4]2SO4 in THF bei 40°C hergestellt werden.50 H3B·NH3 ist recht gut in Wasser löslich, ohne dass Zersetzung eintritt. Substituierte Aminoborane R2B–NR (R = Organyl, R’ = H, Organyl, Halogen) sind in großer Zahl bekannt. Zur Errichtung von BN-Bindungen kann man entweder BCl- mit NH-Verbindungen kondensieren oder eine Salzeliminierung durchführen, z.B. aus einer Bor-Halogen-Verbindung und einem Lithiumamid: R2B X + Li NR2'
R2B NR2' + LiX
Auf diesem Wege erhält man zum Beispiel aus BCl3 und NH4Cl beim Erhitzen unter HClAbspaltung das 1,3,5-Trichlorborazin (Schmp. 84°C), das sich mit LiBH4 oder NaBH4 zu Borazin reduzieren lässt:51 3 BCl3 + 3 NH4Cl B3N3Cl3H3 + 3 NaBH4
150°C PhCl 25°C n-Bu2O
B3N3Cl3H3 + 9 HCl B3N3H6 + 3 NaCl +
3 2 B2H6
Substituierte Borazine erhält man entsprechend aus substituierten Aminen oder Ammoniumsalzen sowie durch Substitution der Cl-Atome im B3N3H3Cl3. Borazin selbst ist eine 47 48 49 50 51
P. Paetzold, Adv. Inorg. Chem. Radiochem. 1987, 31, 123. R. C. Bakus, D. A. Atwood, R. T. Paine, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 1, 544. P. P. Power, Angew. Chem. 1990, 102, 527. P. V. Ramachandran, P. D. Gagare, Inorg. Chem. 2007, 46, 7810. Als Primärprodukt entsteht das kristalline Addukt Cl3B·NH3, das beim Erwärmen HCl abspaltet und wahrscheinlich über Cl2B–NH2 und ClB=NH in Trichlorborazin übergeht; A. G. Avent et al., J. Chem. Soc. Chem. Commun. 1995, 855.
228
6 Bor
farblose Flüssigkeit von aromatischem Geruch (Sdp. 55°C),52 die in einigen physikalischen Konstanten dem isosteren Benzol (Sdp. 80°C) in gewissem Umfang ähnelt. Die Molekülstruktur lässt sich mit folgenden Elektronenformeln beschreiben: HB
H N
H N
HB
BH
BH
HB
H N
BH
NH NH HN HN NH B B B H H H Das Molekül ist im Kristall planar gebaut und die BN-Kernabstände sind nahezu identisch (Mittelwert 142.9 pm).53 Die Valenzwinkel im Ring betragen an den Boratomen 117° und an den Stickstoffatomen 123° (Symmetrie D3h). Die BN-Bindungen sind stark polar und dadurch in ihrem chemischen Verhalten drastisch von den CC-Bindungen des Benzols verschieden. Infolge der Polarisierung der σ-Elektronen sind die N-Atome ungeachtet ihrer positiven Formalladung negativ und die B-Atome positiv geladen. Borazin ist daher viel reaktionsfähiger als Benzol. Es addiert beispielsweise 3 mol HCl, H2O oder CH3OH, wobei im ersten Fall B3N3H9Cl3 entsteht, das mit NaBH4 zum cyclo-Hexananalogen Molekül B3N3H12 (Schmp. 204°C) reduziert werden kann. Bei der Thermolyse von Borazin bei 380°C erhält man zwei Verbindungen, die formal dem Biphenyl und dem Naphthalin entsprechen: HN
HB HN HB
NH B NH
HB N HB
NH BH NH
HN HB
H B
N H
N B
H B
N H
NH BH
Die π-Bindung in diesen quasi-aromatischen Verbindungen kann wie folgt erklärt werden. Wie beim Benzol (Abb. 7.2) überlappen beim Borazin die sechs senkrecht zur Ringebene stehenden 2p-AOs. Die Linearkombination dieser Orbitale ergibt drei bindende und drei antibindende Molekülorbitale (Abb. 6.13). Im Unterschied zum Benzol werden die π-Elektronen aber nicht von allen Ringatomen, sondern nur von den drei N-Atomen geliefert, wodurch ein viel geringerer Energiegewinn durch die π-Bindungen resultiert. Außerdem sind die Stickstofforbitale an den bindenden MOs stärker beteiligt (größere Koeffizienten in der LCAO) als die Bororbitale, d.h. die π-Elektronen sind nicht gleichmäßig über alle Ringatome verteilt, sondern überwiegend an den N-Atomen konzentriert. Diese schwachen π-Bindungen sind daher genau wie die σ-Bindungen so polarisiert, dass die N-Atome eine negative und die B-Atome eine positive Partialladung erhalten, die also den Formalladungen in der oben wiedergegebenen Strukturformel entgegengesetzt ist. Entsprechend der Polarisierung wird HCl von Borazin derart addiert, dass drei neue NH- sowie BCl-Bindungen entstehen; mit Wasser erhält man entsprechend NH3 und B(OH)3. 52 53
Im Labor kann Borazin einfach aus [NH4]2SO4 und NaBH4 hergestellt werden; T. Wideman, L. G. Sneddon, Inorg. Chem. 1995, 34, 1002. R. Boese, A. H. Maulitz, P. Stellberg, Chem. Ber. 1994, 127, 1887.
229
6.10 Bor-Stickstoff-Verbindungen
E (eV)
Á(a''2 )
3B
Á(e'')
3N
À8.3 2p
2p
À13.1
(e'') (a''2 ) Abb. 6.13 Energieniveaudiagramm für die π-Bindungen im planaren Borazin B3N3H6. Die Molekülorbitale entstehen aus der Wechselwirkung von drei Bor- und drei Stickstoff-Atomorbitalen vom Typ 2p, während die sechs Elektronen alle von den N-Atomen stammen (dative Bindungen).
6.10.3 Bornitrid54 Genau wie elementarer Kohlenstoff existiert das isoelektronische Bornitrid in mehreren Modifikationen, die formal dem Graphit (α-BN) bzw. dem Diamant (β- und γ-BN) entsprechen. Hexagonales α-BN oder h-BN entsteht als Pulver beim Zusammenschmelzen von Orthoborsäure mit Harnstoff in einer NH3-Atmosphäre bei 500–950°C und anschließendem Tempern bei 1800°C: 2 B(OH)3 + (H2N)2CO
2 h-BN + CO2 + 5 H2O
Auch die Reduktion von B2O3 mit Koks in einer Stickstoffatmosphäre bei Temperaturen oberhalb 1500°C, mit Ammoniak bei 900°C oder mit CaB6 unter Stickstoff bei 1500°C wird technisch zur Herstellung von h-BN genutzt. Überzüge aus h-BN werden durch CVD aus BCl3 und NH3 oder durch Pyrolyse von Borazin hergestellt (pyrolytisches BN, p-BN): BCl3 + NH3
200À1300°C
h-BN + 3 HCl
h-BN besteht zwar wie Graphit aus planaren Schichten von kondensierten Sechsringen, die (BN)x-Schichten sind jedoch anders übereinander gestapelt als die Schichten im Graphit (Abb. 6.14). Zwischen den Schichten sind nur VAN DER WAALS-Kräfte wirksam. Der kovalente BN-Kernabstand ist im h-BN mit 144.6 pm nur wenig größer als im Borazin. Man muss daher auch hier schwache koordinative π-Bindungen annehmen, die den sehr starken σ-Bindungen überlagert sind. Diese Bindungsverhältnisse führen zu extremer thermischer Beständigkeit bis weit über 2000°C. Aus der Schichtstruktur folgt, dass h-BN weich ist wie Graphit, weswegen es als Hochtemperaturschmiermittel verwen54
R. T. Paine, C. K. Narula, Chem. Rev. 1990, 90, 73; H. W. Roesky et al., Chem. Eur. J. 1996, 2, 1269.
230
6 Bor
Abb. 6.14 Ausschnitt aus der Kristallstruktur von hexagonalem α-Bornitrid (hBN). Die planaren Schichten bestehen aus sechsgliedrigen Pseudoheterocyclen. Die Stapelfolge ist so, dass ungleiche Atome benachbarter Schichten übereinander liegen (ABAB…), wodurch die elektrostatische Anziehung aufgrund der unterschiedlichen Atomladungen maximal wird.
det wird.55 Der Schmelzpunkt liegt bei ca. 3200°C. Im Gegensatz zum Graphit ist hexagonales Bornitrid jedoch farblos und ein elektrischer Isolator mit einer Breite der verbotenen Zone von ca. 500 kJ mol–1 (ca. 5.2 eV). Diese Unterschiede resultieren aus den deutlich verschiedenen Bandstrukturen der beiden Verbindungen. Während im Graphit das Band der π-Orbitale aus einer quasi-kontinuierlichen Folge von Zuständen besteht, von denen die untere Hälfte mit Elektronen besetzt ist (Abb. 7.5), ist das π-Band im h-Bornitrid wegen der unterschiedlichen Elektronegativitäten der Atome B und N in zwei Subbänder augespalten, deren Abstand ca. 5.2 eV beträgt. Nur das tiefer liegende, aus den bindenden π-MOs hervorgegangene Band ist mit Elektronen besetzt (vgl. das MOSchema von Borazin). Daher ist h-Bornitrid bei 25°C ein guter elektrischer Isolator, der erst bei sehr hohen Temperaturen ein Halbleiter wird. In Pulverform wird h-BN auch als Füllmittel für Gummi und Kunststoffe eingesetzt. Durch Heißpressen des Pulvers in induktiv beheizten Graphitformen unter Stickstoff können bei 1700–1900°C Tiegel, Schmelzpfannen, Auskleidungen für Raketenbrennkammern und Wärmeisolierungen für Plasma-Öfen hergestellt werden, die die sehr gute Temperaturwechselbeständigkeit von h-BN ausnutzen. Das Material ist luftbeständig bis 1000°C und ein guter Wärmeleiter. h-Bornitrid ist nicht nur thermisch sehr beständig, sondern auch chemisch ziemlich inert. Mit F2 reagiert es aber zu BF3 und N2, mit HF quantitativ zu NH4BF4. Mit kochendem Wasser tritt langsame Hydrolyse zu NH3 und B(OH)3 ein. Ähnlich wie man Graphit unter hohem Druck in Diamant umwandeln kann, lassen sich aus hexagonalem h-BN (maximale Dichte 2.34 g cm–3) zwei Modifikationen höherer Dichte herstellen. Diese Umwandlungen sind mit einer Änderung der Koordinationszahl aller Atome von 3 nach 4 verbunden. Die koordinativen π-Bindungen innerhalb der BNSchichten werden formal durch koordinative σ-Bindungen zwischen den nunmehr gewellten Schichten ersetzt:
55
h-BN ist ungiftig und wird wegen seines seidigen Glanzes in der Kosmetik in Cremes, Lidschatten und Lippenstiften verwendet. Hersteller in Deutschland: ESK-Kempten, die zur WACKER Chemie AG gehört.
231
6.10 Bor-Stickstoff-Verbindungen
B
N
B N
B N
Das so erhaltene Bornitrid kristallisiert als AB-Verbindung in der kubischen ZinkblendeStruktur (β-BN oder c-BN) oder in der hexagonalen Wurtzit-Struktur (γ-BN oder w-BN). Das Phasendiagramm von BN unterscheidet sich allerdings erheblich von dem des Kohlenstoffs.56 Unter Standardbedingungen ist c-BN nach neueren Untersuchungen thermodynamisch stabil, jedoch ist die Umwandlung von h-BN in c-BN kinetisch gehemmt. c-BN erhält man daher aus h-BN bei ca. 1500°C und 6 GPa Druck; bei wesentlich höheren Drucken entsteht γ-BN. Der BN-Kernabstand von c-BN beträgt 156 pm. Bei Temperaturen oberhalb 1390°C wandelt sich dieser so genannte anorganische Diamant bei Normaldruck wieder in den anorganischen Graphit (h-BN) um, der die Hochtemperaturform darstellt.57 Auch BN-Nanoröhren wurden in Analogie zu den Kohlenstoff-Nanoröhren (Kap. 7.3.4) synthetisiert. c-BN (Dichte 3.49 g cm–3) ist wie Diamant (c-C) farblos, nichtleitend und extrem hart, aber im Gegensatz zu diesem bis 1400°C luftstabil. Daher wird das Material unter den Handelsnamen Borazon und Amborit als Schleifmittel und für Schneidwerkzeuge eingesetzt. Bornitrid gehört demnach wie SiC, Si3N4 und B4C zu den nichtoxidischen keramischen Materialien. Die extrem gute Wärmeleitfähigkeit von c-BN und c-C wird auf Gitterschwingungen zurückgeführt. Es wurden auch ternäre Keramiken der ungefähren Zusammensetzung BC2N hergestellt, die sich vom c-BN bzw. h-BN dadurch ableiten lassen, indem die Hälfte der Atome durch C-Atome ersetzt wird, d.h. diese Stoffe sind quasi Mischkristalle aus Graphit und h-BN beziehungsweise aus Diamant und c-BN (mit BN-, BC-, CC- und CN-Bindungen).58
6.10.4 Nitridoborate59 Nitridoborate enthalten planare Anionen der Zusammensetzung [BN]n– (n = 2–4), [BN2]3–, [BN3]6–, [B2N4]8– und [B3N6]9–, die in entsprechenden Kristallen folgende Strukturen aufweisen:
56
57 58 59
c-BN wird aus h-BN auf ähnliche Weise wie Diamant aus Graphit hergestellt (Kap. 7.3.2), wobei für die Schmelze Alkali- oder Erdalkalimetalle, deren Nitride oder Ammoniumborat verwendet werden. V. L. Solozhenko, V. Z. Turkevich, W. B. Holzapfel, J. Phys. Chem. B 1999, 103, 2903. R. Riedel, J. Bill, A. Kienzle, Appl. Organomet. Chem. 1996, 10, 241. H.-J. Meyer et al., Z. Anorg. Allg. Chem. 2000, 626, 625 und Angew. Chem. 2002, 114, 3468.
232
6 Bor
Nitridoborate entstehen beim starken Erhitzen von h-Bornitrid mit den Nitriden, Aziden oder Amiden von Alkali- oder Erdalkalimetallen. Thermisch sind diese Verbindungen sehr stabil, aber an der Luft tritt rasche Zersetzung ein. Alkali- und Erdalkalimetalle bilden salzartige Verbindungen mit dem linearen Dinitridoborat-Anion, das mit den Anionen [C3]4–, [CN2]2– und [N3]– sowie dem CO2-Molekül isoelektronisch ist. Vom Li3[BN2] sind zwei Phasen bekannt, die sich durch die relativen Anordnungen der Kationen und Anionen unterscheiden. Beim Erhitzen geht α-Li3[BN2] bei etwa 862°C in β-Li3[BN2] über, das bei 916°C schmilzt.
7.1 Allgemeines
7
Kohlenstoff
7.1
Allgemeines
233
Kohlenstoff unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von den anderen 21 Nichtmetallen und insbesondere von den weiteren Elementen der 14. Gruppe des Periodensystems (4. Hauptgruppe). Das liegt vor allem daran, dass das C-Atom sehr starke Bindungen mit H-Atomen und mit den anderen Nichtmetallen der ersten Achterperiode eingeht, d.h. mit B, C, N, O und F. Die Zahl der Kohlenstoffverbindungen ist daher größer als die aller anderen Nichtmetalle mit Ausnahme des Wasserstoffs. Es ist deswegen gerechtfertigt, diese Verbindungsklasse als Organische Chemie gesondert zu betrachten. Dazu berechtigen aber besonders die speziellen am C-Atom möglichen Bindungsverhältnisse, die den meisten organischen Verbindungen Eigenschaften verleihen, die sie von den übrigen Nichtmetallverbindungen deutlich unterscheiden. Darauf wird weiter unten noch näher eingegangen. Zum Stoffgebiet der Anorganischen Chemie zählen traditionsgemäß die allotropen Modifikationen und einige einfachere Verbindungen des Kohlenstoffs, wie Halogenide, Oxide, Oxosäuren und sonstige Chalkogenide sowie die Nitride. Darüber hinaus spielen aber in der anorganischen Nichtmetallchemie organische Reste als Substituenten eine bedeutende Rolle. Substanzen dieser Art werden als elementorganische bzw. Organoelement-Verbindungen bezeichnet; eine Untergruppe davon sind die metallorganischen Verbindungen. Dies zeigt einmal mehr, dass die künstliche Trennung der Molekülchemie in Anorganische und Organische Chemie nicht sinnvoll ist. Natürlich vorkommende Kohlenstoffverbindungen sind die Carbonate (Kalkstein und Dolomit), Graphit und Diamant, Kohle und Erdöl, das Methan des Erdgases einschließlich Methanhydrat1, sowie die zahlreichen organischen Verbindungen biologischen Ursprungs (Biomasse). Biogas enthält bis zu 70 % CH4. Hinzu kommt das CO2 in der Luft (0.034 %) und im Meerwasser. Trotz der geringen CO2-Konzentration von gegenwärtig 380 ppm enthält die Erdatmosphäre 2.5·1012 t Kohlenstoff, die Hydrosphäre 1.5·1014 t. Vor 200 Jahren betrug die CO2-Konzentration der Atmosphäre nur 280 ppm. Natürlicher Kohlenstoff besteht zu 98.89 % aus dem Isotop 12C mit dem Kernspin I = 0. Für die NMR-Spektroskopie wichtig ist daher der geringe Gehalt an 13C (1.11 %; I = 12 ). Das spurenweise in der Natur vorkommende Isotop 14C ist ein β-Strahler mit einer Halbwertszeit von 5570 a. Dieses Isotop entsteht durch kosmische Strahlen, die in der Atmosphäre thermische Neutronen erzeugen, die ihrerseits mit 14N zu 14C und 1H reagieren. Die so gebildeten C-Atome werden sofort zu 14CO2 oxidiert. Da auch dieses CO2 bei der Photosynthese der grünen Pflanzen assimiliert wird, enthalten alle lebenden Organismen 1
Erdgas, das in Norddeutschland z.B. bei Söhlingen gefördert wird, besteht zu >90 % aus CH4 neben 1 % CO2, einigen % N2 und geringen Konzentrationen anderer Kohlenwasserstoffe (KW) bis C23 sowie Spuren von Hg. Erdgas ist außerdem immer mit Wasserdampf gesättigt. Andere norddeutsche Erdgasquellen liefern ein Gas mit einem H2S-Gehalt von bis zu 35 % („Sauergas“). Von H2S, H2O, höheren KW und Hg befreites Erdgas ist ein wichtiger Energieträger. In Deutschland sind Erdgasrohrleitungen mit einer Gesamtlänge von über 320000 km verlegt.
234
7 Kohlenstoff
eine gewisse Konzentration an 14C, die erst beim Tod des Organismus langsam durch radioaktiven Zerfall abnimmt und auf diese Weise die Bestimmung des Alters von fossilen Pflanzenteilen gestattet (Kohlenstoffuhr).
7.2
Bindungsverhältnisse in der 14. Gruppe
Von den Elementen der 14. Gruppe sind Kohlenstoff, Silicium und Germanium typische Nichtmetalle. Die beiden letzteren weisen im kristallinen Zustand allerdings bereits Halbleitereigenschaften auf und ihre höheren Homologen Zinn und Blei sind echte Metalle. Die Elektronenkonfiguration des C-Atoms ist 2s2px1py1 (3P-Zustand). Da der Energieunterschied zwischen dem Grundzustand und dem angeregten 5S-Zustand mit der Orbitalbesetzung 2s1px1py1pz1 nur ca. 4 eV beträgt (386 kJ mol–1), sind in nahezu allen C-Verbindungen sämtliche vier Valenzorbitale an den kovalenten Bindungen beteiligt. Nach der MO-Theorie ist es aber nicht erforderlich, Valenzelektronen auf ein höheres Niveau zu promovieren oder gar Atomorbitale zu hybridisieren. Vielmehr kann ausgehend vom Grundzustand des Atoms jedes bekannte Molekül erklärt werden (Kap. 2.4). Die Koordinationszahl des C-Atoms kann in Verbindungen alle Werte zwischen 1 und 8 annehmen, jedoch dominieren die Koordinationszahlen 3 und 4. Beispiele sind: Cl
Cl C
O
O
C
O
O
C
C Cl
Cl
Cl
Cl
Höhere Koordinationszahlen beobachtet man bei den Carboranen (Kap. 6.7) und bestimmten metallorganischen Verbindungen wie Hexamethyldialuminium Me6Al2, in denen Organylreste eine Brückenfunktion ausüben: CH3
H3C Al H3C
CH3
Al CH3
CH3
Winkel (CAlC) = 110° (im Ring) Winkel (AlCAl) = 70°
Die Koordination am Aluminium ist hierbei verzerrt tetraedrisch, während die verbrückenden C-Atome fünffach koordiniert sind. Koordinationszahlen von 5 bis 8 findet man auch bei manchen Übergangsmetallclustern, in denen ein C-Atom in einem Metallkäfig eingeschlossen ist. Beispielsweise besteht der Rutheniumcarbonyl-Komplex [Ru6C(CO)17] aus einem oktaedrischen Metallcluster mit einem einzelnen C-Atom im Zentrum. Das Carbonylat-Anion [Co8C(CO)18]2– enthält einen quadratisch-antiprismatischen Metallcluster mit eingeschlossenem C-Atom. Über die Ladung und Oxidationsstufen dieser carbidischen C-Atome kann man nur spekulieren. In allen C-Verbindungen mit Koordinationszahlen größer als 1 liegen Mehrzentrenbindungen vor. Das C-Atom hat auf der PAULING-Skala die Elektronegativität 2.50 (Tab. 4.8). Dieser Wert erlaubt es dem C-Atom nicht, mit irgendeinem stark elektronegativen Nichtmetall ionische Verbindungen etwa mit dem Kation C4+ zu bilden. CF4 und CO2 sind daher keine Ionenverbindungen sondern molekulare Gase. Lediglich einfach geladene Kationen vom
7.2 Bindungsverhältnisse in der 14. Gruppe
235
Typ [R3C]+ sind in Form von Salzen herstellbar (Carbenium-Ionen).2 Beispiele dafür sind die protonierte Kohlensäure [C(OH)3]+, die Trihalocarbenium-Ionen [CX3]+ (X = Cl, Br, I) und das Trisazidocarbenium-Ion im Hexachloroantimonat [C(N3)3][SbCl6]. Mit stark elektropositiven Metallen bildet das C-Atom andererseits Carbide, die formal Anionen wie C4– (Methanid, isoelektronisch mit N3–, O2–, F– und Ne),3 [C2]2– (Acetylid, isoelektronisch mit N2 und CO)4 oder [C3]4– (Allenid, isoelektronisch mit CO2)5 enthalten: C4–: Li4C, Be2C, Al4C3 [C2]2–: K2C2, CaC2 [C3]4–: Ca3C3Cl2 Calciumcarbid CaC2 kristallisiert in einer tetragonal verzerrten NaCl-Struktur mit parallel ausgerichteten [C2]2–-Ionen auf den Anionenplätzen. Ca3[C3Cl2] enthält formal das nahezu lineare, von Kationen umgebene [C3]4–-Ion neben zwei Chlorid-Ionen. Die Bindungen in den kristallinen Carbiden Li4C, Be2C und Al4C3 sowie in den zahlreichen Übergangsmetallcarbiden6 sind zwar stark polar, aber überwiegend kovalent, da mehrfach geladene kleine Anionen wie C4– nicht realistisch sind, sondern spontan Elektronen abstoßen und in einfach geladene Anionen übergehen würden (Kap. 2.1.3). Ionen des Typs [R3C]– werden Carbanionen genannt. Allgemein ist jedoch festzustellen, dass die Neigung des C-Atoms zur Bildung ionischer Bindungen schwach ausgeprägt ist. Besondere Bedeutung besitzen im Gegenteil gerade die unpolaren bis schwach polaren Bindungen C–C und C–H, die in den meisten organischen Verbindungen vorkommen. Die C–C-σ-Bindung weist von allen homonuklearen Einfachbindungen zwischen zwei Nichtmetallen die zweithöchste Bindungsenthalpie auf (nach H2). Das geht deutlich aus Abbildung 4.2 hervor. C-Atome zeigen daher eine ausgeprägte Tendenz zur Bildung von Ketten und Ringen, und entsprechende Verbindungen sind thermisch und chemisch sehr beständig. Auch die C–H-Bindung ist einerseits durch eine hohe Bindungsenthalpie charakterisiert und andererseits in der Regel nur schwach polar. Chemisch besonders inert sind daher vor allem die Alkane, d.h. die Kohlenwasserstoffe der allgemeinen Formel CnH2n+2, also CH4, C2H6, usw., sowie die von diesen abgeleiteten Alkylgruppen –CnH2n+1. Die Bindungsverhältnisse im Molekül CH4 wurden im Kapitel 2.4.10 behandelt. Das vierfach koordinierte C-Atom unterscheidet sich in seinem Bindungszustand von den meisten Nichtmetallen dadurch, dass es in seiner Valenzschale weder energetisch günstig liegende unbesetzte Orbitale noch nichtbindende Elektronenpaare aufweist. Der Angriff nukleophiler und elektrophiler Reagenzien ist daher gleichermaßen erschwert. Dies ist einer der wichtigsten Gründe für die Sonderstellung der gesättigten Kohlenstoffverbindungen. Hinzu kommt, dass das kleine C-Atom z.B. in Verbindungen wie CF4 durch die Substituenten gegen den Angriff von Reagenzien perfekt abgeschirmt ist, während bei größeren Zentralatomen wie beim SiF4 die Abschirmung wesentlich unvollkommener ist. Dies erklärt zum Beispiel, warum SiF4 und SiCl4 schon bei 20°C nach 2 3 4 5 6
Für die Erforschung von Carbokationen erhielt GEORGE A. OLAH den Chemie-Nobelpreis 1994. A. Maercker, Angew. Chem. 1992, 104, 598, und darin zitierte Literatur S. Hemmersbach, B. Zibrowius, U. Ruschewitz, Z. Anorg. Allg. Chem. 1999, 625, 1440. CaC2 wird großtechnisch aus CaCO3 und Koks im Elektroofen hergestellt. Ca3C3Cl2 entsteht bei 900°C aus Ca, CaCl2 und Graphit: H.-J. Meyer, Z. Anorg. Allg. Chem. 1991, 593, 185. W. Lengauer, A. Eder, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 2, 674; H. Tulhoff, Ullmann’s Encycl. Ind. Chem. 1986, A5, 61.
236
7 Kohlenstoff
SiX4 + 2 H2O
SiO2 + 4 HX
hydrolysiert werden, wogegen CF4 und CCl4 bei 20°C gegen H2O beständig sind, obwohl die analogen Reaktionen zu CO2 und HF bzw. HCl thermodynamisch durchaus möglich sind (∆Go<0). Die Fähigkeit des C-Atoms, thermodynamisch sehr stabile Mehrfachbindungen auszubilden, ist allgemein bekannt (siehe CO und CO2; Kap. 4). Geeignete Partner dafür sind vor allem die Atome C, N, O und S, aber auch Si, Ge, P, As, Se und Te. Mit zunehmendem Kovalenzradius des Partneratoms wird allerdings die Tendenz dieser Mehrfachbindungen, unter spontaner Polymerisation in Einfachbindungen überzugehen, immer stärker. Beispiele für Verbindungen mit p-p-π-Bindungen sind: Cl C
O
H C
S
C H
C
S
S
C Cl
KohlenEthin KohlenThiophosgen monoxid disulfid Alle vier genannten Verbindungen sind thermodynamisch instabil, bei Normalbedingungen aber beständig, da die Aktivierungsenergien für den Übergang in die stabilen Verbindungen zu groß sind, um eine spontane Reaktion bei 25°C zuzulassen.7 Graphit mit seinen σ- und π-Bindungen ist allerdings thermodynamisch stabiler als Diamant, der nur σ-Bindungen aufweist (siehe unten). Eine weitere Besonderheit der Kohlenstoffchemie ist die weitgehende Delokalisierung von π-Elektronen in aromatischen Systemen wie Benzol C6H6 oder dem Cyclopentadienid-Anion [C5H5]– (Abb. 7.1). Diese planaren Moleküle sind von hoher Symmetrie (D6h bzw. D5h ), da alle CC-Bindungen äquivalent sind. Wenn man die Molekülebene als xy-Ebene definiert, können die σ-Bindungen an den C-Atomen unter Verwendung der Atomorbitale 2s und 2px py konstruiert werden (vgl. BF3; Kap. 2.4.8). H C
HC
HC
CH
HC
CH
C H
CH
HC
-
CH C H
Abb. 7.1 Benzol (links) und das Cyclopentadienid-Anion als planare HÜCKEL-Aromaten mit äquivalenten CC- und CH-Bindungen. Die Kreise symbolisieren die Delokalisierung der sechs π-Elektronen.
Die senkrecht zur Molekülebene (xy-Ebene) orientierten pz-Orbitale der C-Atome überlappen miteinander, wodurch π-Molekülorbitale entstehen, die sich über den gesamten Ring erstrecken. Die Ringebene stellt für diese MOs eine Knotenebene dar. Zur graphischen Darstellung der Überlappungsverhältnisse im Benzolmolekül benutzt man zweckmäßig 7
Die jeweils stabileren Systeme sind: Graphit mit CO2, Benzol, polymeres CS2 bzw. dimeres CSCl2. Auch Ethen C2H4 ist bei 25°C thermodynamisch instabil bezüglich einer Polymerisation zu Polyethylen (PE).
237
7.2 Bindungsverhältnisse in der 14. Gruppe
eine Projektion der π-Orbitale in die Molekülebene, wodurch sich 2p-Orbitale kreisförmig abbilden. Bei sechs C-Atomen sind 6 einfach besetzte π-Orbitale zu kombinieren, woraus 6 Molekülorbitale entstehen. Diese Kombinationen sind in Abbildung 7.2 dargestellt. Wegen der hohen Molekülsymmetrie kommt es zu zweifachen Entartungen. Die Energie dieser MOs steigt mit zunehmender Knotenzahl an. In Abbildung 7.3 ist das Energieniveaudiagramm für die π-MOs von Benzol gezeigt. Mit Elektronen besetzt sind die drei bindenden Zustände, wodurch sich sehr starke CC-Bindungen ergeben (Kernabstand 140 pm). +
b2g: +
+ +
+
e2u:
+ + + +
e1g:
+
+
+ + +
a2u:
+
+
+ +
Abb. 7.2 Die sechs π-Molekülorbitale von Benzol. Dargestellt sind die oberhalb der Molekülebene befindlichen Lappen der 2pπ-Orbitale der sechs C-Atome in Form einer Projektion in die Molekülebene. Durch Linearkombination entstehen sechs orthogonale π-Molekülorbitale. Die Energie der MOs steigt mit der Zahl der gestrichelt gezeichneten Knotenflächen. Mit Elektronen besetzt sind die Niveaus a2u und e1g (siehe Abb. 7.3).
6C
E
b2g e2u
2p e1g a2u
Abb. 7.3 Energieniveaudiagramm für die π-Molekülorbitale des Benzolmoleküls. Alle π-Elektronen befinden sich in bindenden MOs, aber auf zwei verschiedenen Energieniveaus.
238
7 Kohlenstoff
Da die energetische Aufspaltung der π-Orbitale geringer ist als die der σ-Orbitale, bildet das e1g-Niveau das HOMO und das e2u-Niveau ist das LUMO des Benzolmoleküls. Sind in einem planaren Ringsystem aus gleichartigen Atomen sechs oder allgemein 2n+2 (n = 0, 1, 2, …) π-Elektronen vorhanden, handelt es sich um ein aromatisches System (HÜCKEL-Aromat). Auch von anderen Nichtmetallen sind HÜCKEL-Aromaten bekannt. Einfache Beispiele sind die quadratischen Ionen [S4]2+, [Se4]2+ und [Te4]2+ (Kap. 12.5). Die Delokalisierung der π-Elektronen wird in den Strukturformeln durch einen Kreis symbolisiert, in den gegebenenfalls die Anzahl der π-Elektronen eingetragen wird. Dem Benzol verwandte Heterocyclen mit aromatischem Charakter sind Pyridin C5H5N (Azabenzol), Silabenzol C5SiH6 und Phosphabenzol C5H5P.
Benzol
Si Silabenzol
N Pyridin
P Phosphabenzol
In den drei heterocyclischen Verbindungen sind die π-Elektronen allerdings nicht mehr vollkommen gleichmäßig über alle Ringatome delokalisiert, da sich die Elektronegativitäten von Kohlenstoff einerseits und Silicium, Stickstoff und Phosphor andererseits deutlich unterscheiden (Tab. 4.8). Wegen der niedrigeren Symmetrie (C2v) der drei Heterocyclen gibt es in diesen Fällen auch keine entarteten MOs mehr.
7.3
Modifikationen des Kohlenstoffs8
Reiner Kohlenstoff bildet zwei bei Raumtemperatur beständige und gut untersuchte polymere Modifikationen, nämlich Graphit und Diamant, die beide als Mineralien vorkommen, aber auch synthetisch hergestellt werden. Unter den festen Elementen stellen diese beiden Materialen das weichste und das härteste Material dar. Darüber hinaus wurden aber im Labor noch weitere Modifikationen hergestellt, nämlich eine Reihe käfigartiger Kohlenstoffmoleküle Cn (n > 20), die gemeinsam als Fullerene bezeichnet werden. Strukturell verwandt mit den Fullerenen sind die Kohlenstoff-Nanoröhren. Von größter technischer Bedeutung sind außerdem die kohlenstoffreichen Produkte Kohle, Koks, Kohlefasern und Ruß.
8
A. Krüger, Neue Kohlenstoffmaterialien, Teubner, Wiesbaden, 2007. K. H. Büchel, H.-H. Moretto, P. Woditsch (Herausg.), Industrielle Anorganische Chemie, 3. Aufl., Wiley-VCH, Weinheim, 1999.
239
7.3 Modifikationen des Kohlenstoffs
7.3.1 Graphit Graphit ist die bei Normalbedingungen thermodynamisch stabile Kohlenstoff-Modifikation (Dichte 2.22 g cm–1). Die Struktur besteht aus planaren Schichten aus kondensierten Sechsringen. Eine einzelne Schicht wird in Analogie zu den kondensierten Aromaten wie Anthracen und Phenanthren als Graphen bezeichnet. In den Schichten sind die Atome durch σ- und π-Bindungen miteinander verknüpft, während zwischen den Schichten nur VAN DER WAALS-Dispersionskräfte wirksam sind (Abb. 7.4).
C 246 pm
670 pm
C C
(a)
C
C
C
C C
C C
C
C
C C
C C
C
C C
(b)
Abb. 7.4 (a) Ausschnitt aus der Struktur von hexagonalem Graphit; (b) Bindungsverhältnisse in den einzelnen planaren Schichten dargestellt durch eine von mehreren Grenzstrukturen für die delokalisierten π-Bindungen. Die kürzesten Kernabstände betragen 151.5 pm.
In den Schichten des Graphitgitters ist jedes C-Atom von drei nächsten Nachbarn in Form eines gleichseitigen Dreiecks umgeben. Unter Verwendung der Valenzorbitale 2s, px und py sowie von drei Valenzelektronen bildet jedes C-Atom mit seinen drei Nachbarn je eine σ-Bindung. Die Winkel zwischen den Bindungen betragen 120°. Das vierte Elektron befindet sich im pz-Orbital, dessen Achse senkrecht zur Schichtebene steht und das daher von π-Symmetrie ist. Jedes dieser pπ-Orbitale überlappt nun mit den drei pπ-Orbitalen der Nachbaratome.9 Dadurch entstehen Molekülorbitale, die sich über die gesamte Schichtebene erstrecken. Die in Abbildung 7.4 dargestellte Grenzstruktur zeigt, dass pro Sechsring formal zwei π-Bindungen vorhanden sind. Tatsächlich sind jedoch alle CCBindungen gleich. Der CC-Kernabstand ist mit 141.5 pm etwas größer als im Benzol (140 pm). Der gewöhnliche Graphit kristallisiert hexagonal und weist die in Abbildung 7.4a gezeigte Schichtfolge ABAB… auf.10 Die schwarze Farbe des Graphits und die innerhalb 9 10
Die Bindungssituation ähnelt der im Molekül BF3 (Kap. 2.4.8) und der im Benzol (siehe oben). Auch rhomboedrischer Graphit mit der Schichtfolge ABC… ist bekannt.
240
7 Kohlenstoff
30
25
E (eV)
20
15
10
5
0.0
0.1
0.2
0.3
0.4
Zustandsdichte
0.5
Abb. 7.5 Zustandsdichte von Graphit (Abszisse: Zustände pro eV und pro C-Atom). Die punktierte Linie markiert das FERMI-Niveau, d.h. das oberste bei 0 K besetzte Niveau. Valenz- und Leitungsband gehen lückenlos ineinander über.
der Schichten gute elektrische Leitfähigkeit sind auf die leicht anregbaren und innerhalb der Schicht gut beweglichen π-Elektronen zurückzuführen, die ein zweidimensionales Elektronengas bilden. Die Überlappung der π-Orbitale ergibt ein Valenzband (bindende MOs) und ein Leitungsband (antibindende MOs), die sich geringfügig überlappen. Dadurch ist Graphit ein allerdings schlechter metallischer Leiter. In Abbildung 7.5 ist die Zustandsdichte (density of states, DOS) für Graphit dargestellt, aus der hervorgeht, dass beim FERMI-Niveau zwar ein Minimum der Zustandsdichte, aber keine Bandlücke vorliegt. Senkrecht zu den Schichten ist die elektrische Leitfähigkeit um den Faktor 105 kleiner als parallel zu den Schichten. Der Abstand der Graphene beträgt 335 pm. Dies entspricht einer VAN DER WAALS-Wechselwirkung. Die geringen Kräfte zwischen den einzelnen Schichten bedingen die gute Spaltbarkeit von Graphitkristallen parallel zur hexagonalen Basisebene und ermöglichen seine Verwendung als Schmiermittel. Graphit wird darüber hinaus für die Herstellung von Tiegeln sowie zur hitzefesten Auskleidung von Öfen und Düsen verwendet. Auch Elektroden für Lichtbogenöfen und Batterien sowie Bleistiftminen enthalten Graphit. Natürliche Vorkommen von Graphit finden sich in China, Korea, Kanada und auf Madagaskar, aber auch in Deutschland und Österreich. Synthetisch wird Graphit nach dem ACHESON-Verfahren aus pulverisiertem Petrolkoks (oder Anthrazitkohle) hergestellt, der mit Teer zu einer plastischen Masse angeteigt wird, aus der man Stäbe herstellt, die zunächst bei 800–1300°C gebrannt (verkokt) und dann mittels Stromdurchgang auf 3000°C erhitzt werden, wobei der amorphe Kohlenstoff kristallisiert (graphitisiert). Durch thermische Zersetzung von Kohlenwasserstoffen bei 800°C wird unter H2-Abspaltung pyrolytischer Graphit bzw. Glaskohlenstoff hergestellt (HOPG, highly oriented pyrolytic graphite). Kohlefasern (Carbonfasern) erhält man durch entsprechende Pyrolyse von Baumwolloder Kunststofffasern. Je nach Pyrolysetemperatur sind die Fasern amorph (500–1500°C)
241
7.3 Modifikationen des Kohlenstoffs
oder kristallin (2000–3000°C), d.h. graphitisiert.11 Carbonfasern sind leicht, fest, hitzeund korrosionsbeständig.12 Sie werden in Form von Verbundwerkstoffen in der Luft- und Raumfahrtindustrie sowie zur Herstellung von Golfschlägern verwendet.
7.3.2 Diamant13 In Abbildung 7.6 ist das Phasendiagramm von Kohlenstoff gezeigt, aus dem hervorgeht, dass Diamant erst bei Drücken oberhalb von ca. 10 GPa die thermodynamisch stabile Modifikation darstellt. Dies ist auf die verglichen mit Graphit wesentlich höhere Dichte von Diamant zurückzuführen (3.51 g cm–1).
20
Diamant 10
Schmelze
Druck (GPa)
30
Graphit 0
0 1000 2000 3000 4000 5000
Temperatur (K)
Abb. 7.6 Schematisches Phasendiagramm von Kohlenstoff.
Zur Umwandlung von Graphit in Diamant kann man diesen entweder unter hohen statischen Druck setzen, ihn einer Stoßwelle aussetzen oder mit hochenergetischen Teilchen (Elektronen oder Ionen) bestrahlen. Technisch wird die Diamantsynthese jedoch im Allgemeinen nach dem Schmelzverfahren ausgeführt. In bestimmten flüssigen Metallen und Metalllegierungen ist die Löslichkeit von Graphit unter hohem Druck größer als die von Diamant. Dies gilt z.B. für Fe, Co, Ni und für Mischungen aus diesen Metallen. Beispielsweise lösen sich in flüssigem Ni bei 1800 K und 9 GPa ca. 4.0 Massen-% Graphit aber nur 3.6 % Diamant. Wird daher das flüssige Metall mit Graphit gesättigt, kristallisiert Diamant aus. Auf diese Weise werden Kristalle mit bis zu 1 mm Kantenlänge erhalten, die allerdings Spuren von Metall enthalten. Durch eine Art Umkristallisation aus flüssigem Ni können dann wasserklare Kristalle von 1 cm Kantenlänge erhalten werden.14 Bei den heute verwendeten Verfahren wird eine Fe-Co-Schmelze eingesetzt, die etwas Titan und Kupfer enthält und die Herstellung wasserklarer Diamantkristalle von bis zu 9 mm Durchmesser ermöglicht. Der natürlich vorkommende Diamant ist bei geologischen Prozessen durch Kristallisation aus einer Schmelze bei hohem Druck entstanden, wobei es sich allerdings um Sili11 12 13 14
I. N. Ermolenko, I. P. Lyubliner, N. V. Gulko, Chemically Modified Carbon Fibers, VCH, Weinheim, 1990. Wichtigster Hersteller in Deutschland ist die SGL Carbon AG, Wiesbaden. U. Schwarz, Chemie unserer Zeit 2000, 34, 212. M. Takano, Y. Takeda, O. Ohtaka, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1785.
242
7 Kohlenstoff
616 pm
catschmelzen handelt.13 Der dafür notwendige Druck erfordert, dass die Diamantbildung in Tiefen von mehr als 140 km erfolgte. Durch Vulkanismus sind die so gebildeten Diamanten an die Erdoberfläche transportiert worden, wo sie durch Verwitterung der Gesteine frei gesetzt und unter anderem im Sediment von Flüssen gefunden werden. Hauptsächlich werden die Diamant-führenden Gesteine jedoch bergmännisch, z.T. auch unterirdisch, abgebaut und entsprechend aufbereitet. Weltweit werden ca. 20 t Diamanten pro Jahr gefördert. Hauptfundorte sind der südliche Teil Afrikas, Russland (Ostsibirien) und Australien. Die Produktion von synthetischem Diamant übersteigt die Menge der jährlich geförderten natürlichen Diamanten allerdings bei weitem. Die Masse (das „Gewicht“) von Schmuckdiamanten wird in Karat angegeben: 1 Karat = 0.2 g. Entscheidend für die Qualität von Brillanten sind der Schliff, die Farbe, das Gewicht und die Reinheit bezüglich Einschlüssen. 98 % aller natürlichen Diamanten enthalten bis zu 0.2 % N, was zu starker Absorption im UV und im IR führt. Völlig reine Diamanten sind bis herab zu 225 nm transparent. Selten kommen in der Natur auch Bor-haltige Diamanten vor, die eine bläuliche Farbe haben und p-Halbleiter sind. Carbonados sind natürliche polykristalline Diamanten, die oft Graphit und andere Verunreinigungen enthalten und daher schwarz aussehen. Sie werden zur Herstellung von Werkzeugen verwendet. In der Diamantstruktur bilden die C-Atome ein dreidimensionales Netzwerk (Abb. 7.7).15 Darin ist jedes Atom tetraedrisch von vier anderen umgeben und mit diesen durch σ-Bindungen ähnlich wie im CH4-Molekül verbunden (Kap. 24.10). Diese Art der Bindung führt dazu, dass Diamant im schroffen Gegensatz zum weichen Graphit das härteste Material darstellt, das man kennt. Reine Diamantkristalle sind außerdem farblos und elektrisch nichtleitend. Die Wärmeleitfähigkeit von Diamant ist jedoch größer als die von Kupfer oder Silber! Erhitzt man Diamant an der Luft auf 600–800°C, verbrennt er zu CO und CO2. Bei stärkerem Erhitzen unter Luftausschluss wandelt er sich in Graphit um (bei ca. 1500°C). Die große Aktivierungsenergie dieser Reaktion verhindert, dass sich Diamanten schon bei Standardbedingungen in Graphit umwandeln. Diamant ist säurebeständig und Laugen greifen ihn erst oberhalb 500°C an. Zum Schneiden von Diamanten werden Laserstrahlen verwendet.
250 pm
15
Abb. 7.7 Ausschnitt aus der Kristallstruktur von kubischem Diamant. Jedes Atom ist exakt tetraedrisch koordiniert. Die Struktur besteht formal aus sechsgliedrigen Ringen in der Sesselkonformation. Alle Kernabstände betragen 154.5 pm.
In Meteoriten kommen auch hexagonale Diamantkristalle vor, deren Struktur der von Wurtzit entspricht. Die sechsgliedrigen Ringe liegen darin teils in der Sessel- und teils in der Wannenkonformation vor; J. Donohue, The Structures of the Elements, Wiley, New York, 1974.
7.3 Modifikationen des Kohlenstoffs
243
30
25
E (eV)
20
15
10
5
0.0
0.1
0.2
0.3
0.4
Zustandsdichte
0.5
Abb. 7.8 Zustandsdichte von Diamant (Abszisse: Zustände pro eV und pro C-Atom). Die punktierte Linie markiert das FERMI-Niveau. Im Gegensatz zum Graphit (Abb. 7.5) gibt es hier eine Bandlücke von 5.5 eV.
In der kubischen Diamantstruktur kristallisieren auch die unter Standardbedingungen stabilen Modifikationen des Siliciums, des Germaniums sowie das graue Zinn (α-Sn). Im Gegensatz zum Diamant, der ein Isolator ist, sind Si und Ge, wenn sie durch Zonenschmelzen oder auf anderem Wege weitgehend gereinigt wurden, Eigenhalbleiter, d.h. sie weisen eine schwache, mit steigender Temperatur stark zunehmende elektrische Leitfähigkeit auf. Diamant wird erst bei sehr hohen Temperaturen ein Halbleiter. Das ist auf eine vom C zum Sn abnehmende Breite der verbotenen Zone (Bandlücke) zwischen dem Valenzband und dem Leitungsband zurückzuführen. Bei der Überlappung der s- und p-Orbitale benachbarter C-Atome entstehen bindende und antibindende Molekülorbitale. Die bindenden MOs eines Diamantkristalls bilden das Valenzband, die antibindenden bilden das energetisch wesentlich höher liegende Leitungsband. Da das Valenzband vollständig mit Elektronen gefüllt ist, ist elektrische Leitfähigkeit erst dann möglich, wenn einzelne Elektronen in das normalerweise leere Leitungsband überführt werden. Die dazu erforderlichen Energien betragen beim Diamant 530, beim Si 108, beim Ge 64 und beim α-Sn nur noch 8 kJ mol–1. Beim Diamant kann dieser hohe Energiebetrag nur durch Bestrahlen mit Röntgenstrahlen zugeführt werden. Beim Si und Ge genügt dagegen einfaches Erhitzen, um eine starke Abnahme des elektrischen Widerstandes zu erzielen. Durch Dotierung z.B. mit Bor kann jedoch auch Diamant bei 25°C elektrisch leitend gemacht werden. Die Zustandsdichte von Diamant ist in Abbildung 7.8 dargestellt. Diamant lässt sich auch aus der Gasphase abscheiden, indem man z.B. Methylradikale mit Wasserstoffatomen bei einem Druck von 1–10 kPa zu Kohlenstoffradikalen und H2 umsetzt. Diese Radikale und Atome werden in einem Gemisch aus molekularem Wasserstoff und einigen wenigen Prozent eines Kohlenwasserstoffs wie CH4 thermisch bei 2000–2800°C (etwa an der Oberfläche eines heißen Drahtes) oder in einer elektrischen Entladung (Plasma) erzeugt:16 16
B. Dischler, C. Wild (Herausg.), Low-Pressure Synthetic Diamond, Springer, Berlin, 1998. K. Kohse-Höinghaus, Chemie unserer Zeit 1998, 32, 242.
244
. . 2 CH3
CH4 + H
.
7 Kohlenstoff
CH3 + H2 C2H2 + 2 H2
Aus im Einzelnen nicht bekannten reaktiven C-Verbindungen wächst auf einem geeigneten, auf 500–1000°C temperierten Substrat (z.B. Ti oder W) eine dichte Diamantschicht, die die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Oberfläche entsprechend verändert (CVD: chemical vapor deposition). Auf diese Weise ist die Beschichtung auch von komplex geformten dreidimensionalen Gegenständen, z.B. mechanischen Werkzeugen, möglich. Industriediamanten werden zur Herstellung von Werkzeugen zum Drehen, Bohren oder Profilschneiden, als Lagerwerkstoff und als Ziehsteine (Düsen) zum Ziehen von Drähten verwendet.
7.3.3 Fullerene Die Fullerene sind eine Familie von Verbindungen, die aus Molekülen der Art Cn bestehen, wobei für ganz bestimmte geradzahlige Werte von n ≥ 20 stabile, kugelförmige oder elliptische Käfige entstehen.17 Das bekannteste dieser Moleküle ist C60 oder [60]Fulleren, das strukturell einem klassischen Fußball ähnelt, da sich die 60 C-Atome an den Ecken von 12 gleichseitigen Fünfecken und von 20 gleichseitigen Sechsecken befinden (Abb. 7.9). Fullerenmoleküle sind im Gegensatz zum Diamant und Graphit in organischen und bestimmten anorganischen Lösungsmitteln löslich. Die neben C60 bekanntesten und in reiner Form isolierten Spezies sind C70, C76, C80, C82 und C84.18 Da die Fullerene vollkommen aus C-Atomen bestehen, handelt es sich um Kohlenstoffallotrope. Herstellung Fullerene verschiedener Molekülgröße sind in dem Ruß-ähnlichen Produkt enthalten, das durch Verdampfung von Graphit in einem Lichtbogen unter Schutzgas und anschließende Kondensation des Dampfes auf einer kalten Fläche entsteht. Auch durch Widerstandsheizung, Laserbestrahlung oder in einem Hochfrequenzplasma kann der Graphit verdampft werden. Graphit verdampft in Form von kleinen Molekülen wie C2, die beim Abkühlen miteinander zu größeren Aggregaten reagieren. Das so entstehende Gemisch von Kohlenstoffmolekülen schlägt sich an den kälteren Teilen der Apparatur nieder. Es wird mit einem geeigneten Lösungsmittel extrahiert und anschließend wird die Lösung chromatographisch fraktioniert.19 Nach Umkristallisation der in den Fraktionen gelösten Komponenten erhält man z.B. C60 in einer Reinheit von 98 %. Auch größere Cluster sind auf diese Weise in geringer Ausbeute erhältlich (Isolierung durch präparative HPLC). C60 und C70 sind in Hexan, CH2Cl2, CS2 und Toluol löslich. 17
18
19
F. Diederich, Y. Rubin, Angew. Chem. 1992, 104, 1123; J. D. Crane, H. W. Kroto, Encycl. Inorg. Chem. 1994, 2, 531; M. M. Kappes et al., Angew. Chem. 1996, 108, 1839. F. Langa, J.-F. Nierengarten, Fullerenes – Principles and Applications, RSC, Cambridge, 2007. Für die Entdeckung der Fullerene wurde 1996 der Nobelpreis für Chemie gemeinsam an folgende Autoren vergeben: R. F. Curl, Angew. Chem. 1997, 109, 1637; H. W. Kroto, ibid. 1649; R. E. Smalley, ibid. 1667. A. D. Darwish et al., J. Chem. Soc. Chem. Commun. 1994, 15.
7.3 Modifikationen des Kohlenstoffs
245
Abb. 7.9 Molekülstruktur der Fullerene C60 (oben; Symmetrie Ih) und C70 (unten; Symmetrie D5h).
Strukturen Da einige Fullerene in mehreren Isomeren existieren, gibt man in solchen Fällen mit der Formel die Symmetrie des Moleküls an: C60-Ih ist von Ih-Symmetrie, d.h. alle C-Atome sind äquivalent (1 Signal im 13C-NMR-Spektrum). Alle stabilen Fullerenmoleküle enthalten 12 Fünfecke, die jeweils nur an Sechsecke aus C-Atomen grenzen (isolated pentagon rule, IPR). Im Falle von C60 sind es 20 Sechsecke, beim C70-D5h dagegen 25 (Abb. 7.9). Das Isomer C76-D2 ist ein chirales Molekül, dessen Enantiomere isoliert werden konnten. Die trigonale Koordination der C-Atome in den Fullerenen ähnelt der beim Graphit; die senkrecht zu den Oberflächen ausgerichteten 2p-Orbitale der C-Atome bilden mit den darin enthaltenen Elektronen ein delokalisiertes π-Bindungssystem. Diese Situation entspricht weitgehend der in den Graphenschichten des Graphits, nur dass es keine Schichtränder mit Fremdatomen gibt. Da C60 zwei dreifach entartete LUMOs von geringer Energie aufweist, ist die Verbindung ein Elektronenakzeptor. Die Bandlücke von kristallinem C60 beträgt 1.9 eV, d.h. die feste Verbindung ist ein Halbleiter. Eigenschaften Die Fullerene bilden braune bis schwarze Pulver; in Lösung ist C60 dagegen fuchsinrot und C70 wird als Portwein-rot beschrieben. Diese beiden Verbindungen sind bei 20°C längere Zeit beständig; manche Fullerene erleiden jedoch in Gegenwart von Luft und Wasserdampf langsame Zersetzung. Die Bildungsenthalpie ∆f Ho von kristallinem C60 bei 298 K beträgt 2282 kJ mol–1 (38 kJ mol–1 pro C-Atom bezogen auf Graphit); die Dichte ist 1.78 g cm–3.
246
7 Kohlenstoff
Reaktionen20 Mit Ausnahme des kommerziell erhältlichen C60 sind reine Fullerene kostspielig und stehen daher nur in kleinen Mengen zur Verfügung. Dennoch wurden bereits viele Derivate hergestellt, vor allem von C60. Elektrochemisch und mit Alkalimetallen kann man Fullerene zu Anionen reduzieren. Die festen Alkalimetallsalze MC60, M2C60 und M3C60 entsprechen den Graphitverbindungen mit Alkalimetallen, d.h. die Kationen sind zwischen die C60-Anionen eingelagert. K3C60, dessen Anion in einem Dublettzustand vorliegt, ist ein metallischer Leiter, der bei 19 K supraleitend wird. Auch hochgeladene FulleridAnionen wie [C70]6– wurden hergestellt. K6C60 hat eine kubisch-raumzentrierte Struktur. Mit den Halogenen F2, Cl2 bzw. Br2 reagiert C60 stufenweise zu zahlreichen kovalenten Halogeniden wie C60F18, C60F20, C60F24, C60F48, C60Cl6, C60Cl24, C60Cl30, C60Br6, C60Br8 und C60Br24. Auch C70Cl10 und C70Br10 sind bekannt. Dabei wird wie bei den Graphitfluoriden eine entsprechende Zahl von C–C-π-Bindungen zugunsten der neuen C–X-σ-Bindungen aufgelöst, so dass tetraedrisch koordinierte C-Atome entstehen. Im äußersten Fall könnte ein vollkommen gesättigtes Derivat C60X60 entstehen, was jedoch mit Halogenen bisher nicht realisiert werden konnte. Durch Hydrierung oder Zn/HCl-Reduktion erhält man Fullerenhydride wie C60H2, C60H4, C60H18 und C70H38.21 Die Oxidation von Fullerenen mit Peroxosäuren oder mit O2 unter Bestrahlung liefert Oxide oder Epoxide, und auch Ozonide sind bekannt.22 Auf diese Weise wurden beispielsweise C60O, C60O2, C120O und C70O erhalten. Mit entsprechenden funktionellen (hydrophilen) Gruppen erhält man wasserlösliche Fullerenderivate.23 Auf die zahlreichen organischen und metallorganischen Derivate der Fullerene kann hier nicht eingegangen werden. Heterofullerene sind Käfige, in denen einzelne C-Atome durch andere Atome wie Bor oder Stickstoff ersetzt wurden. Von diesen sind die Azafullerene bei weitem am besten untersucht.24 Als endohedrale Komplexe bezeichnet man Fullerene, in deren Käfig andere Atome oder Moleküle eingesperrt wurden, was durch das Symbol @ gekennzeichnet wird. Beispielsweise entsteht He@C60, wenn man C60 in Gegenwart von KCN unter HeÜberdruck (270 MPa) auf ca. 600°C erhitzt.25 Wird dabei das Isotop 3He verwendet, das einen Kernspin von I = 12 aufweist, kann man mittels 3He-NMR-Spektroskopie die spezifische magnetische Abschirmung im Inneren von Fullerenkäfigen und ihren Derivaten einschließlich der Anionen durch die chemische Verschiebung des He-Signals studieren.26 Auch andere Edelgasatome (Kr, Xe) sowie H2 und selbst große Metallatome wurden in den Innenraum von C60 eingesperrt, der einen verfügbaren Innendurchmesser von ca. 330 pm aufweist (Kernabstand zwischen den gegenüber liegenden C-Atomen minus doppelter VAN DER WAALS-Radius des C-Atoms). Zur Herstellung solcher Verbindungen wie La@C60, La2@C82 oder U@C82 verdampft man Graphit zusammen mit dem entsprechenden Metall.27 Durch die Einlagerung von Metallatomen oder Metallcarbiden und -ni20 21 22 23 24 25 26 27
A. Hirsch (Herausg.), Fullerenes and Related Structures, Springer, Berlin, 1999 (Vol. 199 der Reihe Top. Curr. Chem.); C. Thilgen, A. Herrmann, F. Diederich, Angew. Chem. 1997, 109, 2363. D. Johnels et al., Angew. Chem. 2008, 120, 2838 und zitierte Literatur. D. Heymann, R. B. Weisman, Compt. Rend. Chim. 2006, 9, 1107. E. Nakamura, H. Isobe, Acc. Chem. Res. 2003, 36, 807. O. Vostrowsky, A. Hirsch, Chem. Rev. 2006, 106, 5191. R. J. Cross, A. Khong, M. Saunders, J. Org. Chem. 2003, 68, 8281. F. Diederich et al., Chem. Eur. J. 1997, 3, 1071. T. Sternfeld et al., Angew. Chem. 2003, 115, 3244. Y. Kubozono et al., J. Am. Chem. Soc. 1996, 118, 6998.
7.3 Modifikationen des Kohlenstoffs
247
triden können auch solche Fullerenkäfige stabilisiert werden, bei denen wie im C68 kantenverknüpfte Fünfringe vorliegen, die also nicht der Regel von den isolierten Fünfecken gehorchen. Beispiele für carbidische und nitridische Einlagerungen sind die Verbindungen Sc2C2@C68 und
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7.3.4 Kohlenstoff-Nanoröhren Nanoröhren aus Kohlenstoffatomen (carbon nanotubes, CNTs)29 sind wegen ihrer herausragenden mechanischen und elektrischen Eigenschaften von großer Bedeutung für die Materialwissenschaften und die Elektronik. Daher werden diese erst vor relativ kurzer Zeit entdeckten Materialien intensiv erforscht und die entsprechende Literatur vermehrt sich nahezu explosionsartig. Man unterscheidet einwandige und mehrwandige Röhren (single wall und multiwall nanotubes, SWNTs und MWNTs). Eine idealisierte Struktur ist in Abbildung 7.10 dargestellt, aus der zu erkennen ist, dass es sich um eine fullerenartige Röhre mit trigonal koordinierten C-Atomen handelt. Im Prinzip wurde eine Schicht der Graphitstruktur zu einer Röhre aufgerollt. Die C-Atome bilden überwiegend 6-Ringe (an den Wänden), jedoch müssen für den Verschluss der Röhren an den Kappen auch sechs 5-Ringe eingebaut werden, um eine entsprechende Krümmung der Oberfläche zu erzielen. Der Durchmesser von einwandigen Röhren liegt üblicherweise bei ca. 1.2–1.4 nm (1 nm = 10–9 m), die Länge kann bis zu 1 cm betragen.
Abb. 7.10 Struktur von Kohlenstoff-Nanoröhren (SWNT). Die Enden können auf verschiedene Weise verschlossen werden (jcrystal.com/steffenweber/gallery/NanoTubes/NanoTubes.html).
28 29
L. Dunsch, Nachr. Chemie 2007, 55, 503. L. Dunsch, S. Yang, Phys. Chem. Chem. Phys. 2007, 9, 3067. Siehe hierzu das Themenheft in Acc. Chem Res. 2002, Heft 12.
248
7 Kohlenstoff
Diese Nanoröhren stellen Kohlenstofffasern von höchster Festigkeit dar. Sie weisen eine extrem hohe thermische Leitfähigkeit auf und sie haben interessante elektrische Eigenschaften (Halbleiter oder metallische Leiter, je nach Geometrie). Sie können durch chemische Reaktionen in ähnlicher Weise modifiziert und funktionalisiert werden wie die Fullerene (siehe oben). Die Synthese der CNTs erfolgt am einfachsten durch Gasphasenabscheidung bei ca. 1000 K (Pyrolyse) aus metallorganischen Vorläufern, oft in Gegenwart eines Kohlenwasserstoffs wie Methan, Ethan, Acetylen, Benzol oder Xylol. Als Metalle eignen sich insbesondere Fe, Co und Ni, die kleine Nanopartikel bilden, in und auf denen C-Atome in Form von carbidischem Kohlenstoff rasch wandern können und von denen aus die CNTs wachsen. Eisenpentacarbonyl Fe(CO)5 und Ferrocen (C5H5)2Fe sind daher geeignete Vorläufer. Die Röhren bilden oft Bündel oder Knäuel. Durch anschließendes Erhitzen auf 1800–2600 °C werden Strukturdefekte geheilt und restliches Metall verdampft. Die Funktionalisierung gelingt mit den üblichen Reaktionen der Organischen Chemie. Besonders reaktiv sind die Kappen und Enden der Nanoröhren, an denen die trigonale Koordination der C-Atome am stärksten gestört ist. Die Funktionalisierung kann dazu führen, dass die an sich unlöslichen und unschmelzbaren CNTs in organischen Lösungsmitteln löslich werden. Mehrwandige CNTs (MWNTs) bestehen aus vielen, eng anliegenden konzentrischen Röhren, die dann Außendurchmesser von 250 nm erreichen können. Der Durchmesser richtet sich nach der Größe des Metallpartikels, an dem die Röhren wachsen. Je nach Orientierung der Sechsringe bezüglich der Röhrenachse sind die CNTs chiral oder achiral. Im Jahre 2004 wurden weltweit bereits mehrere hundert Tonnen Nanoröhren hergestellt, und zwar hauptsächlich MWNTs. Wichtigste Produzenten sind die USA, Japan und China. Potentielle Anwendungsbereiche sind Verbundwerkstoffe, um deren Festigkeit zu erhöhen, elektrisch leitfähige Beschichtungen, Elektroden von Li-Ionen-Batterien, Feldemissions-Displays und Träger für Katalysatoren.
7.3.5 Oberflächenverbindungen Die Atome an der Oberfläche von Atomgittern, wie sie im Diamant und Graphit vorliegen, befinden sich in einem stark gestörten Bindungszustand, da sie nicht genügend Nachbaratome haben, um alle Valenzelektronen für kovalente Bindungen verwenden zu können. Es bleiben daher Elektronen ungepaart und diese verleihen den oberflächennahen Atomen eine erhöhte Reaktionsfähigkeit. Daher können Fremdatome oder Atomgruppen an solchen Oberflächen chemisch gebunden werden (Chemisorption). Eine Oberflächenverbindung liegt dann vor, wenn die Bindungen zu den Fremdatomen nach Art und Stärke einer normalen chemischen Bindung entsprechen. Diamantpulver, das normalerweise hydrophob ist, wird beim Erhitzen in einer O2Atmosphäre auf 500°C sowie beim Behandeln mit Oxidationsmitteln hydrophil. Dabei bilden sich Oberflächenoxide folgender Art: HO
C
O
O
O
C
C
O C
C
249
7.4 Ruß, Kohle und Koks
Durch Erhitzen der Proben auf 800°C im Hochvakuum können die Fremdatome wieder entfernt werden (Desorption als CO, CO2, H2O). Danach reagiert die saubere Oberfläche mit Luft aber schon bei Raumtemperatur zu neuen Oxiden; mit Cl2, F2 und H2 entstehen erst bei erhöhter Temperatur Oberflächenverbindungen. Beim Graphit oder graphitähnlichem mikrokristallinem Kohlenstoff werden Oberflächenverbindungen bevorzugt an den Rändern der ebenen Schichten gebildet, da die Atome in den Schichten valenzmäßig gesättigt sind. Durch Oxidation von Graphit mit O2 bei 400°C oder mit rauchender Salpetersäure bei 25°C erhält man saure Oberflächenoxide („Graphitoxid“) mit folgenden funktionellen Gruppen:30 COOH
COOH
COOH O C
COOH
O OH OH
COOH O OH
Diese Gruppen können, soweit sie Wasserstoff enthalten, mit Natronlauge titriert werden. Ketogruppen werden mit Natriummethylat titriert. Auch Ionenaustauschreaktionen an entsprechenden Graphitpräparaten sind möglich. Ruß, also besonders feinteiliger Kohlenstoff, kann nach oxidativer Behandlung mit NO2, HNO3 oder O3 bis zu 15 % Sauerstoff enthalten. Oberflächenverbindungen lassen sich mittels 13C-NMR-, IR- und Ramanspektroskopie, XPS (Photoelektronenspektroskopie mit Röntgenstrahlen), EXAFS (Röntgenabsorptions-Feinstrukturspektroskopie), Thermogravimetrie und auf chemischem Wege (durch Titration) charakterisieren. Oberflächenverbindungen, die man auch beim SiO2 kennt, sind naturgemäß von erheblichem praktischem Interesse, da sie die mechanischen, elektrischen, optischen und chemischen Eigenschaften des Trägermaterials stark beeinflussen. Oberflächenoxide des Kohlenstoffs spielen bei der technisch eminent wichtigen Oxidation von Kohlenstoff zu CO und CO2 eine Rolle.
7.4
Ruß, Kohle und Koks31
Eine technisch sehr wichtige Form des Kohlenstoffs ist der Ruß, der in riesigen Mengen produziert wird. Der größte Teil wird als Verstärkerfüllstoff für Gummi (z.B. Autoreifen) eingesetzt, der Rest wird einerseits als Schwarzpigment für Lacke, Druckfarben, Toner und Kunststoffe sowie andererseits für die Herstellung von Elektroden für Batterien ver-
30 31
R. Schlögl, Chemie unserer Zeit 1994, 28, 166. H.-K. Jeong et al., J. Am. Chem. Soc. 2008, 130, 1363 und zit. Lit. O. Vohler et al., Ullmann’s Encycl. Ind. Chem. 1986, A5, 95.
250
7 Kohlenstoff
wandt. Industrieruß (carbon black)32 wird hauptsächlich aus so genanntem Rußöl hergestellt, das einen hohen Anteil aromatischer Kohlenwasserstoffe aufweist und das aus Steinkohlenteer und aus Erdöl gewonnen wird. Das Rußöl wird unter Sauerstoffmangel bei 1200–1900°C verbrannt, im Prinzip nach folgender Gleichung: C18H12 + 3 O2
18 Cf. + 6 H2O
Dazu dient ein 20 m langer, horizontaler Reaktor, in den das Öl zusammen mit Erdgas und vorgeheizter Luft eingedüst wird, während der hintere Teil durch Einspritzen von Wasser gekühlt wird, um die Oxidation des Rußes zu unterbinden (Furnaceruß-Verfahren). Die Verbrennung des Methans erzeugt eine sehr hohe Temperatur, während die zugesetzte Luftmenge nicht ausreicht, um das Rußöl vollständig zu oxidieren, weswegen dessen C-Gehalt als Ruß anfällt. Die größte Rußproduktionsanlage Westeuropas ist das Werk der EVONIK DEGUSSA in Kalscheuren bei Köln. Ruß besteht bis zu 99.5% aus Kohlenstoff neben Spuren von H, O, N und S. Er kann amorph oder graphitisch-mikrokristallin hergestellt werden. Die Teilchengröße liegt je nach Herstellungsverfahren zwischen 15 und 200 nm, beim Druckfarbenruß im Bereich 20–80 nm. Der Reaktionsmechanismus der Rußbildung aus niedermolekularen Kohlenwasserstoffen ist komplex und beinhaltet den stufenweisen Aufbau von zweidimensionalen Aggregaten aus kondensierten Kohlenstoffringen, die an den Rändern mit Wasserstoffatomen abgesättigt sind (polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe, PAH). Auch Fullerene treten in Ruß-bildenden Flammen auf.33 Aktivkohle ist ein poröser Kohlenstoff, der durch partielle Oxidation von Kohlenstoff beispielsweise mit Wasserdampf oder durch Verkohlung von organischem Material hergestellt wird. Ausgangsprodukte sind Holz, Sägemehl, Stroh, Nussschalen, Braunkohle, Torf und Koks.34 Durch die große innere Oberfläche sind solche A-Kohlen und damit verwandte mesoporöse Kohlenstoffmaterialien sehr gute Adsorptionsmittel. Kohle35 ist kein reiner Kohlenstoff, sondern ein physikalisches Gemenge aus organischen und anorganischen Verbindungen. Der organische Anteil ist aus dem Lignin und der Cellulose des Holzes entstanden und enthält neben C auch H, O, N und S. Die Zusammensetzung des organischen Anteils einer amerikanischen Steinkohle wurde zu C100H87.9O8.8N1.5S1.3 bestimmt. Neben phenolischen OH-Gruppen sind Carbonyl- und Carboxylgruppen, Etherbrücken sowie Furanringe vorhanden. Außer ungesättigten C6und C5-Ringen liegen auch gesättigte Ringe und paraffinische Gruppen vor. Die genaue Struktur der organischen Matrix ist jedoch unbekannt. Der organisch gebundene Schwefel ist in Form von Thiolen, Thioethern und Thiophen-Einheiten vorhanden.36 Bei den anorganischen Bestandteilen handelt es sich um Sand, Tone, Carbonate, Schiefer und Pyrit, die beim Verbrennen der Kohle die Asche bilden. Diese besteht hauptsächlich aus SiO2, Al2O3, CaO und Fe2O3. Außerdem enthalten Kohlen spurenweise Cu, Cr, Mn, Ni, P, Pb, 32 33 34 35 36
J.-B. Donnet, R. C. Bansal, M.-J. Wang (Herausg.), Carbon Black, Dekker, New York, 1993. K.-H. Homann, Angew. Chem. 1998, 110, 2573. O. Vohler et al., Ullmann’s Encycl. Ind. Chem. 1986, A5, 95. C. Liang, Z. Li, S. Dai, Angew. Chem. 2008, 120, 3754. J. C. Crelling, Ullmann’s Encycl. Ind. Chem. 1986, A7, 153; J. Klein et al., in H.-J. Rehm, G. Reed (Herausg.), Biotechnology, Vol. 6b, Kap. 16, VCH, Weinheim, 1988. Der Schwefelgehalt deutscher Steinkohle verteilt sich etwa im Verhältnis 1:1 auf organisch und anorganisch gebundenen Schwefel.
251
7.5 Graphitverbindungen O
OH Me O
Anthrazit
O
O OH
HO O
O OH
HOOC
O
Braunkohle
OH
Abb. 7.11 Repräsentative Teilstrukturen von Anthrazit (links) und Braunkohle (rechts).
Zn und radioaktive Nuklide. Der Kohlenstoffgehalt nimmt vom Holz (ca. 60 %), aus dem Kohlen entstanden sind, über die Zwischenprodukte Torf, Braunkohle und Steinkohle bis zum Anthrazit (>90 % C) zu. Repräsentative Teilstrukturen von Anthrazit und Braunkohle sind in Abbildung 7.11 dargestellt. In Deutschland wurden im Jahr 2007 ca. 45 % der Elektrizität durch das Verbrennen von Stein- und Braunkohlen gewonnen. Koks entsteht beim Verkoken von Kohle, das heißt bei der trockenen Destillation unter Luftausschluss. Dabei entweichen CH4, C2H2, CO, H2O, H2S, NH3 und andere Gase und der Kohlenstoffgehalt steigt an. Koks ist ein poröser aber fester Kohlenstoff, der jedoch auch noch die Aschekomponenten der Kohle enthält.
7.5
Graphitverbindungen
Vom Graphit leiten sich Verbindungen ab, die nicht einfach molekulare Kohlenstoffverbindungen sind, sondern eine polymere Struktur aufweisen, in der die Schichten der Graphits noch erhalten sind. Man unterteilt diese Verbindungsklasse zweckmäßig nach der Art der Bindung zu dem neu hinzukommenden Partner. Diese Bindung kann überwiegend kovalent oder überwiegend ionisch sein. Außer aus natürlichem Graphit lassen sich solche Verbindungen auch aus hochgradig orientiertem pyrolytischem Graphit (HOPG) herstellen.
7.5.1 Kovalente Graphitverbindungen Unter geeigneten Bedingungen reagiert Graphit bei 350–650°C mit Fluor in stark exothermer Reaktion, aber ohne Entzündung zu den stabilen, kristallinen Graphitfluoriden (C2F)n und (CF)n.37 Bei 350–400°C erhält man das schwarze (C2F)n, vor allem wenn natürlicher Graphit verwandt wird. Bei 600–640°C entsteht (CF)n, das grauweiß ist und industriell aus Naturgraphit oder Petrolkoks hergestellt wird. Beide Verbindungen sind elektrisch nichtleitend; die Dichten liegen bei 3 g cm–1. Präparate mittlerer Zusammen37
N. Watanabe, T. Nakajima, H. Touhara, Graphite Fluorides, Elsevier, Amsterdam, 1988; R. Hagiwara, M. Lerner, N. Bartlett, J. Chem. Soc., Chem. Commun. 1989, 573.
252
7 Kohlenstoff
setzung sind Gemische aus den beiden Verbindungen. Diese beiden Fluoride bilden hexagonale Schichtstrukturen, wobei im Falle des (CF)n an jedem C-Atom ein Fluoratom gebunden ist, wodurch sich eine tetraedrische Koordination und damit eine gewellte (sessel- oder bootförmige) Ringkonformation ergibt (Abb. 7.12a).
=C =F
(a)
(b)
Abb. 7.12 Ausschnitte aus den Strukturen der polymeren Graphitfluoride (CF)n (links) und (C2F)n (rechts).
Der Abstand der Schichten (halbe c-Achse) beträgt ca. 600 pm; er hängt etwas von der Qualität des verwendeten Graphits ab. Auch im Fluorid (C2F)n sind alle C-Atome tetraedrisch koordiniert, jedoch bilden sie Doppelschichten, die beidseitig F-Atome tragen, wie der Ausschnitt aus der Struktur in Abbildung 7.12b zeigt. Die CC-Kernabstände (153 pm) entsprechen denen im Diamant; der Schichtabstand (c/2) beträgt 809 pm. An den Kanten der Schichten sind CF2- und CF3-Gruppen gebunden. Beim Erhitzen disproportionieren die Graphitfluoride zu flüchtigen Kohlenstofffluoriden (CF4, C2F6, etc.) und schwarzem amorphem Kohlenstoff. Die Graphitfluoride sind hydrophob und chemisch resistent. Sie sind von Bedeutung als Schmiermittel und als wasserabstoßende Stoffe. Darüber hinaus sind sie verantwortlich für den Anodeneffekt, das ist ein starker Anstieg der Überspannung bei der Elektrolyse fluoridhaltiger Schmelzen, wie sie zur Produktion von Fluor (Kap. 13.4.1) und von Aluminium verwendet werden. Der Anodeneffekt wird vermieden, wenn man Elektroden aus amorphem Kohlenstoff verwendet. Lithium-Graphitfluorid-Batterien beruhen auf folgender exothermen Reaktion: n Li + (CF)n
n LiF + Cn
Als Elektrolyt dient beispielsweise eine Lösung von Li[PF6] in Propylencarbonat (siehe auch Kap. 13.4.4). Solche Batterien sind umweltfreundlich und zeichnen sich durch hohe Betriebs- und Lagerzeiten aus (bis über 10 Jahre). „Graphitoxid“, das zum Beispiel bei der Oxidation von Graphit mit rauchender Salpetersäure entsteht, wurde bereits im Abschnitt 7.3.5 behandelt.
253
7.5 Graphitverbindungen
7.5.2 Ionische Graphitverbindungen Mit bestimmten Reaktionspartnern reagiert Graphit entweder unter Elektronenaufnahme (a) oder Elektronenabgabe (b). Dabei entstehen ionische Verbindungen folgender Art (M = Metall): M+[Cn]¿
(a) Cn + M
(b) Cn + A
[Cn]+A¿
Nach dem Schema (a) reagieren die stark elektropositiven Alkalimetalle K, Rb, Cs und bei höheren Temperaturen auch Li, Na Ca, Sr, Ba und sogar Sm, Eu, Yb und Tm. Am besten untersucht sind die Kaliumverbindungen.38 Kalium reagiert bei Temperaturen oberhalb von 200°C unter Luftausschluss mit ausgeheiztem Graphit je nach Temperatur und molaren Verhältnissen in exothermer Reaktion und stufenweise zuerst zu KC60, gefolgt von KC48, KC36 und KC24 und schließlich zu KC8. Diese Verbindungen sind goldbronzefarben (KC8) oder blaugrau und im Gegensatz zum diamagnetischen Graphit paramagnetisch. Die Strukturen der einzelnen Phasen sind aus Abbildung 7.13 zu ersehen. Graphit
C8K
C24K
C36K
C48K
C60K
A
A
A
A
A
A
B
a
a
a
a
a
A
A
A
A
A
B
B
B
B
A
A
A
B
B
A
a A
b B A
b
A
B A B A
Abb. 7.13 Schematische Darstellung der Strukturen von Graphit-Kalium-Verbindungen verschiedener Zusammensetzung. Die senkrechten Striche geben die jeweilige Identitätsperiode an (c-Achse der Elementarzelle).
38
A. Charlier, M. F. Charlier, D. Fristot, J. Phys. Chem. Solids 1989, 50, 987. M. S. Dresselhaus, G. Dresselhaus, Adv. Phys. 2002, 51, 1.
254
7 Kohlenstoff
Die Kaliumatome lagern sich zwischen die Graphene der Graphitstruktur ein. Beim KC8, das zuletzt gebildet wird, das aber als „Stufe 1“ bezeichnet wird, ist jede Zwischenschicht besetzt, bei den übrigen Phasen nur jede zweite, dritte, vierte oder fünfte (Stufen 2, 3, …). Die 4s-Valenzelektronen der K-Atome werden an das Leitungsband des Graphits abgegeben, so dass eine überwiegend ionische Bindung resultiert. Der CC-Kernabstand von KC8 ist mit 143.1 pm etwas größer als im Graphit (141.5 pm), was auf die teilweise Besetzung der antibindenden π*-Zustände des Graphits zurückzuführen ist. Die Leitfähigkeit von KC8 weist einen positiven Temperaturkoeffizienten auf. Sie ist innerhalb der Graphenschichten etwa zehnmal, senkrecht zu den Schichten etwa hundertmal größer als beim reinen Graphit. Bei Temperaturen unterhalb 1.0 K wird C8K in Richtung der Schichten supraleitend. Beim Erhitzen im Vakuum zersetzt sich Graphitkalium in die Komponenten. Auch von Wasser wird es zersetzt. Durch Reaktion mit Alkylhalogeniden lässt sich Graphitkalium in funktionalisierte Derivate überführen. In der organischen Synthese wird KC8 als Reduktions- und Enthalogenierungsreagenz eingesetzt. Rb und Cs bilden ebenfalls Phasen der Zusammensetzung MC8; mit anderen Metallen werden jedoch in der ersten Stufe Verbindungen der Zusammensetzung MC6 gebildet. Durch Verwendung binärer Legierungen können Graphitverbindungen auch mit zwei verschiedenen Metallen hergestellt werden. Die Einlagerung von Li+-Ionen und Elektronen in eine Graphit-Anode findet in LithiumIonen-Batterien beim Ladevorgang statt. Die Lithium-Ionen kommen von der Kathode, die aus LiCoO2 besteht und sich dabei in Li1–xCoO2 umwandelt. Bei der Entladung findet der umgekehrte Vorgang statt. Solche Batterien, die in Wirklichkeit Akkus mit einer Nennspannung von 3.6 V sind, haben eine wesentlich höhere Energiedichte und Lebensdauer als andere gängige Akkumulatoren und sind daher heute die wichtigsten Spannungsquellen für tragbare elektronische Geräte.39 Nach dem obigen Schema (b) reagiert Graphit mit starken Oxidationsmitteln wie Cl2, Br2, N2O5, SO3 sowie mit Gemischen von H2SO4 mit HNO3 oder von F2 mit HF. Dabei entstehen beispielsweise C8Cl, C8Br, C24HSO4·2H2SO4 und C24HF2·2HF. Oft werden diese Verbindungen durch anodische Oxidation von Graphit in Gegenwart des Reaktionspartners (z.B. HClO4) hergestellt. Auch diese Verbindungen weisen gegenüber reinem Graphit eine erhöhte elektrische Leitfähigkeit auf, so dass man eine ionische Bindung annimmt (Bildung positiver Löcher im Valenzband des Graphits). Die Leitfähigkeit erreicht zum Teil die des Aluminiums! Viele Metallhalogenide, insbesondere Fluoride und Chloride, lassen sich durch Sublimation zwischen den Schichten der Graphitstruktur einlagern. Beispielsweise reagiert FeCl3 mit Graphit in Gegenwart von Cl2 unterhalb 300°C zu CnFeCl4·xFeCl3 mit n ≈ 27 und x ≈ 3, dessen Struktur in Abbildung 7.14 gezeigt ist. Der Abstand der Graphene vergrößert sich durch die Einlagerung von FeCl3-Molekülen und [FeCl4]–-Anionen von 335 pm im Graphit auf 940 pm. Die elektrische Leitfähigkeit der Einlagerungsverbindungen mit Metallhalogeniden übersteigt in Einzelfällen die des Kupfers (z.B. mit AsF5).
39
D. J. Sollmann, Nachr. Chemie 2007, 55, 979. Themenheft „Batteries“ in Chem. Rev. 2004, 104, Heft 10.
255
7.6 Halogenide des Kohlenstoffs C Cl Fe Cl C Cl Fe Cl C
Abb. 7.14 Schematische Darstellung der Struktur des Einlagerungsproduktes von FeCl3 in Graphit. Die Schichten der Eisen- und Chlor-Atome sind durch Linien angedeutet.
Charakteristisch für die ionischen Graphitverbindungen sind die schichtartige Struktur, die stufenweise Einlagerung des Reaktionspartners zwischen den Schichten und die Empfindlichkeit gegen Wasser, das diese Verbindungen zersetzt. Bedeutsam ist dieses Verhalten des Graphits für seine Verwendung als Elektrodenmaterial in Batterien und bei Elektrolysen. Graphitverbindungen zeigen auch katalytische Eigenschaften, z.B. bei der Isomerisierung von Kohlenwasserstoffen.40 Auch andere schichtartig kristallisierende Verbindungen bilden Einlagerungsverbindungen (Silicate, Metallhydroxide und Metalldichalkogenide).41
7.6
Halogenide des Kohlenstoffs
Die einfachsten Halogenide des Kohlenstoffs sind vom Typ CX4; sie sind von allen Halogenen bekannt. Das Subhalogenid CF2 (Kap. 13.4.6) und fluorierte Kohlenwasserstoffe (Kap. 13.4.4) sowie die Graphitfluoride (Abschnitt 7.5.1) werden an anderer Stelle behandelt. Tetrafluormethan CF4 ist ein chemisch ziemlich inertes Gas (Sdp. –128°C), das technisch durch Fluorierung von Kohlenstoff hergestellt wird.42 Es findet in der Elektronikindustrie zum trockenen Ätzen von Silicium zwecks Herstellung von integrierten Schaltkreisen Verwendung. Dazu wird CF4 in einer Hochfrequenzentladung bei einem Druck von 0.1–1.0 hPa teilweise zu CF3-Radikalen und F-Atomen zersetzt; letztere reagieren mit dem Silicium zu flüchtigem SiF4. Tetrachlormethan (Sdp. 76°C) ist ein wichtiges Lösungsmittel und Reagenz, das einerseits bei der Chlorierung von Methan entsteht (Kap. 13.5.2), andererseits durch Chlorierung von CS2 produziert wird: CS2 + 3 Cl2
40 41 42
CCl4 + S2Cl2
K. Arata, Adv. Catal. 1990, 37, 165. A. J. Jacobson, Encycl. Inorg. Chem. 1994, 3, 1556. Bezüglich weiterer C–F-Verbindungen siehe D. D. DesMarteau, C. W. Bauknight, T. E. Mlsna, Encycl. Inorg. Chem. 1994, 3, 1223.
256
7 Kohlenstoff
Die Halogenide CBr4 (blassgelbe Kristalle) und CI4 (rote Kristalle) sind dagegen von geringer Bedeutung. Auch CIBrClF wurde hergestellt; es enthält ein asymmetrisches Kohlenstoffatom und ist daher chiral. Bei –78°C reagieren CCl4, CBr4 und CI4 mit SbF5 in SO2ClF als Lösungsmittel zu den entsprechenden Trihalomethylcarbenium-Ionen, die durch 13C-NMR-Spektroskopie sowie durch Abfangreaktionen nachgewiesen wurden:43 [CX3]+ + [SbClF5]¿
CX4 + SbF5
Durch Reaktion von CI4 mit Ag[Al(OR)4] wurde das Salz [CI3][Al(OR)4] hergestellt und durch Strukturanalyse charakterisiert (R = C(CF3)3).44 Das Kation ist mit BI3 isoster und wie dieses von D3h-Symmetrie.
7.7
Chalkogenide des Kohlenstoffs
7.7.1 Oxide In einer Zeit des Klimawandels sind die Verbrennungsprodukte fossiler Brennstoffe in aller Munde, insbesondere das Treibhausgas Kohlendioxid. Durch Verbrennung von Kohle, Öl und Erdgas wurden 1990 weltweit ca. 22·109 t CO2 in die Atmosphäre emittiert; in Deutschland liegt der Ausstoß von CO2 aktuell (2008) bei ca. 4.5·108 t/a. Man geht davon aus, dass der CO2-Gehalt der Atmosphäre infolge Verbrennung fossiler Energieträger ungefähr bis zum Jahre 2200 von jetzt 380 ppm weiter ansteigt, und erst danach kontinuierlich abnimmt, da die Vorräte an fossilen Brennstoffen dann zur Neige gehen und etwa im Jahre 2400 weitgehend erschöpft sein werden. Als Gegenmaßnahme wird in neuerer Zeit das CO2 aus den Abgasen von Kraftwerken und Kohlevergasungsanlagen abgetrennt und in ehemalige Erdgaslagerstätten eingepresst (CCS-Verfahren, carbon capture and storage). Derartige Anlagen gibt es bereits in Norwegen; in Deutschland sind sie in der Planung der RWE AG. Bezüglich anderer Treibhausgase siehe Kap. 4.4.3. Neben CO2 sind vom Kohlenstoff noch weitere niedermolekulare Oxide in reiner Form bekannt: C
O
CO
O
C O
CO2
O
C C C O
C3O2
Darüber hinaus wurden höhermolekulare cyclische Oxide wie C6O6, C12O6, C12O9 und C40O10 hergestellt, auf die hier aber nicht eingegangen werden kann, da ihre Synthese rein organischer Natur ist. Des Weiteren sind verschiedene Fullerenoxide bekannt (Abschnitt 7.3.3).
43 44
G. A. Olah, L. Heiliger, G. K. S. Prakash, J. Am. Chem. Soc. 1989, 111, 8020. I. Krossing et al., Angew. Chem. 2003, 115, 1569.
257
7.7 Chalkogenide des Kohlenstoffs
Kohlenmonoxid CO entsteht als farbloses, giftiges und geruchloses Gas beim Verbrennen von Kohle und Kohlenstoffverbindungen unter Sauerstoffmangel: C(f.) + O2(g.)
CO2(g.)
° = ¿394 kJ mol¿1 H298
CO2(g.) + C(f.)
2 CO(g.)
° = 173 kJ mol¿1 H298
Die zweite Reaktion heißt BOUDOUARD-Gleichgewicht. Diese Reaktion, die bei technischen Prozessen eine wichtige Rolle spielt, ist endotherm. Daher verschiebt sich das Gleichgewicht mit steigender Temperatur immer mehr zur Seite des CO. Die Gleichgewichtslage ist außerdem stark druckabhängig, und zwar führt steigender Druck zur Bildung von CO2 und festem Kohlenstoff. Unter Normalbedingungen ist CO thermodynamisch instabil, jedoch ist die Disproportionierung zu CO2 und festem Kohlenstoff durch eine große Aktivierungsenergie kinetisch gehemmt, so dass CO bei 25°C als metastabile Verbindung existiert. CO ist in Wasser und organischen Lösungsmitteln schlecht löslich; sein Siedepunkt beträgt 82 K.45 Technisch entsteht CO in großen Mengen beim Steam-Reforming-Prozess zur H2-Gewinnung aus CH4 und H2O sowie bei der Kohlevergasung (Kap. 5.1). Auch wird es durch partielle Oxidation von Kohlenwasserstoffen hergestellt, z.B.: CH4 +
1200¿1500°C 3 O 2 2
CO + 2 H2O
CO ist das Anhydrid der Ameisensäure, aus der es im Labor durch Entwässern mit heißer konzentrierter Schwefelsäure hergestellt werden kann: HCOOH + H2SO4
CO
+ [H3O][HSO4]
Die Schwefelsäure wirkt dabei als Katalysator und als wasserbindendes Agens. Mit NaOH reagiert CO unter Druck umgekehrt zu Natriumformiat: CO + NaOH
160°C
HCOONa
CO ist ein äußerst wichtiges Reduktionsmittel, das mit O2 in stark exothermer Reaktion –1 zu CO2 verbrennt (∆ H° 298 = –283 kJ mol ). Mit Übergangsmetallen bildet CO koordinative Bindungen. Die dabei entstehenden Carbonylkomplexe sind in großer Zahl bekannt. Mit Nickelmetall reagiert CO beispielsweise zu flüchtigem Ni(CO)4, mit fein verteiltem Eisen zu Fe(CO)5. Die Bindung des CO-Liganden in den Metallcarbonylen ist analog der des N2-Liganden in den Distickstoffkomplexen. Da CO und N2 isostere Moleküle sind, ist die Analogie sehr weitgehend. Beide Moleküle weisen auch ähnliche physikalische Konstanten auf (Schmelzpunkt von CO: –190°, von N2: –196°C). Trotz der in der CO-Formel auftretenden Formalladungen ist das Dipolmoment des Moleküls sehr klein (0.12 D), da die Formalladungen durch die Ladungsverschiebung weitgehend kompensiert werden, die von der Elektronegativitätsdifferenz von C und O herrührt. Das O-Atom ist aber immer noch leicht positiv, das C-Atom entsprechend negativ geladen. Die Dissoziationsenthalpie von CO (1076 kJ mol–1) ist ähnlich groß wie die von N2 (942 kJ mol–1). Die Giftigkeit von CO beruht auf seiner schnellen Reaktion mit dem Eisen-Ion des roten Blutfarbstoffes Hämoglobins, wobei ein Carbonylkomplex entsteht, der nicht mehr 45
H. Ledon, Ullmann’s Encycl. Ind. Chem. 1986, A5, 203.
258
7 Kohlenstoff
zum O2-Transport geeignet ist. Da CO fester gebunden wird als O2, verdrängt es dieses sogar aus dem Hämoglobin-Komplex. Atmet ein Mensch 1 Stunde lang Luft mit einem Gehalt von 0.1 % CO ein, wird ungefähr die Hälfte der Hämoglobinmoleküle des Blutes von CO blockiert. Mit Cl2 reagiert CO in Gegenwart von Aktivkohle in exothermer Reaktion zu dem äußerst giftigen Phosgen O=CCl2, dem Säurechlorid der Kohlensäure. Von größter Bedeutung ist die Hydrierung von CO mit H2, die je nach Katalysator zu Methanol, Methan oder niederen Kohlenwasserstoffen (Benzin) führt. Die letztgenannte Reaktion heißt FISCHERTROPSCH-Synthese: Cu/Cr/Zn-Oxid
x CO + y H2
Fe/Co ¿H2O Ni
CH3OH CnH2n+m CH4 + H2O
Kohlendioxid CO2 entsteht bei der vollständigen Verbrennung von Kohle, Holz, Heizöl, Benzin, Dieselöl, Erdgas und Biogas (Methan),46 weiterhin beim Kalkbrennen sowie bei der Zersetzung von Carbonaten mit Säuren. Auch bei der Atmung wird CO2 gebildet. Ein erwachsener Mensch atmet in 24 h ca. 1 kg CO2 aus. Industriell wird CO2 hauptsächlich als Nebenprodukt der Ammoniaksynthese und der Produktion von Wasserstoff aus Methan oder Kohle gewonnen47 und überwiegend zur Herstellung von Soda und anderen Carbonaten, von Harnstoff, Mineralwasser, in Feuerlöschern und in Form von Trockeneis als Kühlmittel verwendet. Trockeneis ist festes CO2, das in Blöcken und Platten in den Handel kommt und das bei Normaldruck ohne zu Schmelzen bei –78°C sublimiert.48 Zur Extraktion von Coffein aus grünen (ungerösteten) Kaffeebohnen wird flüssiges CO2 unter hohem Druck verwendet (HDE: Hochdruckextraktion mit überkritischem CO2 bei 7.5–50 MPa). Durch Entspannen (Druckminderung) der abgetrennten CO2-Phase auf ca. 5 MPa erniedrigt sich die Temperatur und das Coffein kristallisiert aus, so dass es abgetrennt werden kann. Das CO2 wird dann erneut komprimiert und in den Kreislauf zurückgeführt. Der Dampfdruck von CO2 beträgt bei 20°C 5.73 MPa; die kritische Temperatur liegt bei 31°C. CO2 löst sich gut in vielen organischen Lösungsmitteln, weniger gut in H2O.49 Unter sehr hohem Druck polymerisiert CO2 zu einer dem Tridymit (SiO2; Kap. 8.7) entsprechende Phase mit tetraedrisch koordinierten C-Atomen; bei extrem hohen Drü46
47
48
49
Durch Extraktion mit einem organischen Amin kann CO2 aus Abgasen von Verbrennungsprozessen ausgewaschen und durch Erhitzen der Lösung in reiner Form gewonnen und beispielsweise zur Herstellung von Mineralwasser verwendet werden. Aus dem H2/CO2/N2-Gemisch wird das CO2 mit wässrigem Kaliumcarbonat (Bildung von KHCO3) oder mit Ethanolamin unter Druck ausgewaschen und durch Erwärmen der Lösung wieder freigesetzt. Wahrscheinlich sind die weißen Polkappen des Mars mit Trockeneis bedeckt, da die Atmosphäre dieses „roten Planeten“ zu 90 % aus CO2 besteht und die Temperatur entsprechend niedrig ist. Der atmosphärische Druck auf der Marsoberfläche beträgt allerdings nur 6.1 hPa. S. Topham, Ullmann’s Encycl. Ind. Chem. 1986, A5,165.
259
7.7 Chalkogenide des Kohlenstoffs
cken (50 GPa) geht diese Phase in eine dem Stishovit analoge Struktur mit sechsfach koordinierten C-Atomen über. Durch die Photosynthese der grünen Pflanzen sowie gewisser Algen (Phytoplankton) wird das CO2 der Atmosphäre und der Ozeane zu Kohlenhydraten reduziert, und zwar in einem Umfang von 200 Milliarden Tonnen (CH2O)n pro Jahr. Die gegenwärtige Emission von CO2 überwiegt jedoch bei weitem die bei der Photosynthese verbrauchte Menge, so dass die CO2-Konzentration der Atmosphäre kontinuierlich ansteigt. Dadurch kommt es etwa seit dem Jahr 1920 zu einer zunehmenden Erwärmung der Erdoberfläche einschließlich der Atmosphäre und der Hydrosphäre (Kap. 4.4.3), andererseits aber auch zu einer Verminderung des pH-Wertes des Ozeanwassers, in dem sich ein Teil des CO2 löst. Gegenwärtig beträgt der pH-Wert des ozeanischen Oberflächenwassers 8.1; dieser Wert nimmt mit der Tiefe ab, da der CO2-Gehalt infolge der Oxidation organischen Materials ansteigt. Das CO2-Molekül enthält wie das isoelektronische Azid-Ion [N3]– zwei 3-Zentren4-Elektronen-π-Bindungen (Kap. 2.4.6). CO2 ist das einzige thermodynamisch stabile Kohlenstoffoxid. Vom CO2 leitet sich das instabile Peroxid CO3 ab, das beim Bestrahlen einer Lösung von O3 in festem oder flüssigem CO2 entsteht. CO3 ist gasförmig nicht beständig, sondern zersetzt sich zu CO2 und O2. Trikohlenstoffdioxid C3O2 entsteht als farbloses Gas (Sdp. 7°C) beim Entwässern von Malonsäure mit P4O10 im Vakuum bei 150°C: H2C
COOH COOH
O
C C C O + H2O
C3O2 wird auch beim Bestrahlen von CO gebildet: 4 CO
h.
C3O2 + CO2
Bei 25°C ist C3O2 nur unter vermindertem Druck haltbar. Bei Normaldruck erfolgt Polymerisation zu einem roten Produkt. Mit Wasser reagiert C3O2 wieder zu Malonsäure, d.h. es ist deren Anhydrid. Die Bindung im linearen C3O2-Molekül kann folgendermaßen beschrieben werden. Es liegt ein lineares Gerüst aus drei C-Atomen und zwei O-Atomen vor. Den σ-Bindungen überlagern sich zwei 5-Zentren-π-Bindungen, die jeweils aus fünf mit ihren Achsen in einer Ebene liegenden 2p-Orbitalen mit π-Symmetrie gebildet werden. Deren Überlappung führt jeweils zu zwei bindenden, einem nichtbindenden und zwei antibindenden Molekülorbitalen, die insgesamt mit sechs Elektronen besetzt sind. Von den zwölf π-Elektronen besetzen daher acht die bindenden π-Molekülorbitale, wie es der Valenzstrichformel entspricht; die übrigen vier Elektronen besetzen nichtbindende π-MOs.
7.7.2 Sulfide, Selenide und Telluride Zum CO2 analoge Verbindungen sind CS2 und CSe2, jedoch wurde bisher kein CTe2 synthetisiert. Kohlendisulfid CS2 (Schwefelkohlenstoff) ist eine farblose, giftige, äußerst leicht entzündliche Flüssigkeit vom Sdp. 46°C, die technisch aus Methan und überschüssigem Schwefeldampf hergestellt wird:
260
7 Kohlenstoff
CH4 + 2 S2
550¿650 °C
CS2 + 2 H2S
Der anfallende Schwefelwasserstoff wird nach dem CLAUS-Verfahren wieder zu Elementarschwefel oxidiert. CS2 wird als Lösungsmittel sowie für die Produktion von CCl4, von Vulkanisationschemikalien, von pharmazeutischen Präparaten und von Kunstfasern (Viskose) verwendet.50 Der primäre Rohstoff für die Herstellung von Viskose ist Zellstoff aus Bäumen und anderen Nutzpflanzen, der zu über 90 % aus Cellulose besteht. Ein Teil der OH-Gruppen der Glucose-Einheiten der Cellulose wird mit Natronlauge deprotoniert, was gleichzeitig eine Quellung bedingt. Dieses Produkt („CellONa“) wird durch Reaktion mit CS2 in das Xanthogenat Cell-O–C(=S)–SNa überführt, wobei eine zähflüssige, spinnfähige Masse entsteht, die Viskose genannt wird. Diese Viskose wird anschließend nass gesponnen, indem man sie durch Spinndüsen in ein Bad von Schwefelsäure presst, wodurch feste Fasern (CellOH) entstehen und das CS2 zurückgewonnen wird. In Gegenwart von Metalloxiden als Katalysatoren reagiert CS2 mit H2O über COS zu CO2 und H2S. Mit wässrigen Laugen oder Sulfiden entstehen Trithiocarbonate: 3 CS2 + 6 NaOH
2 Na2CS3 + Na2CO3 + 3 H2O
CS2 + K2S
K2CS3
CS2 dient auch zur Produktion von Thiocyanaten durch Reaktion mit NH3: CS2 + 2 NH3
NH4[SCN] + H2S
Durch Umsetzung des Ammoniumsalzes mit NaOH erhält man das Thiocyanat NaSCN. Kohlendiselenid CSe2, eine gelbe tränenreizende Flüssigkei vom Sdp. 125°C, erhält man durch Einleiten von gasförmigem CH2Cl2 in flüssiges Selen: CH2Cl2 + 2 Se(fl.)
600°C
CSe2 + 2 HCl
Von den gemischten Dichalkogeniden des Kohlenstoffs sind alle außer COTe bekannt. CS2 polymerisiert unter Druck (4 GPa) bei 150°C sowie beim Bestrahlen (313 nm), CSe2 schon langsam bei Standardbedingungen. Lässt man CS2-Dampf unter einem Druck von 10 Pa durch eine elektrische Entladung strömen, kann man dahinter Kohlenmonosulfid CS nachweisen und bei –190°C mit dem überschüssigen CS2 kondensieren („ausfrieren“). CS ist ein carbenanaloges Molekül; es ist daher ähnlich reaktiv wie CF2, SiF2 und BF (Kap. 13.4.6). In der Gasphase zerfällt CS innerhalb einer Minute über das instabile C2S2 wie folgt:51 2 CS 2 C 2S 2
S=C=C=S C3S2 + CS2
C3S2 ist eine braunrote Flüssigkeit, deren Moleküle eine dem C3O2 entsprechende lineare Kumulenstruktur aufweisen: S=C=C=C=S. Analoge Se- oder Te-Verbindungen sind 50
51
A. D. Dunn, W.-D. Rudorf, Carbon Disulphide in Organic Chemistry, Wiley, New York, 1989; M.D.S.Lay et al., Ullmann’s Encycl. Ind. Chem. 1986, A5, 185; G. Gattow, W. Behrendt, Carbon Sulfides and Their Inorganic and Complex Chemistry, Top. Sulfur Chem., Vol. 2, Thieme, Stuttgart, 1977. R. Steudel, Z. Anorg. Allg. Chem. 1968, 361, 180. E. K. Moltzen, K. J. Klabunde, A. Senning, Chem. Rev. 1988, 88, 391.
261
7.7 Chalkogenide des Kohlenstoffs
nicht bekannt. In neuerer Zeit wurde außerdem eine Reihe cyclischer Kohlenstoffsulfide hergestellt, die bei 25°C beständig sind, z.B. C3S8, C4S6, C6S8, C6S10, C6S12, C9S9.52
7.7.3 Kohlensäuren und Carbonate Die hier interessierenden Verbindungen sind H2CO3, H2CS3 und H2CSe3 sowie von diesen ableitbare Derivate. CO2 ist zwar das Anhydrid der Kohlensäure H2CO3, es reagiert jedoch bei pH = 7 nur langsam mit H2O, und zwar nach: CO2 + H2O
H2CO3
Kc = 3.9 .10¿¨
In einer wässrigen CO2-Lösung ist auch nach Gleichgewichtseinstellung das meiste Kohlendioxid physikalisch gelöst und nur durch Wasserstoffbrücken-Bindungen solvatisiert. Nur etwa 0.1 % liegen als H2CO3, [HCO3]– und [CO3]2– vor: H2CO3 + H2O [HCO3]¿ + H2O
[H3O]+ + [HCO3]¿
K1 = 5.8 .10¿5 mol L¿1
[H3O]+ + [CO3]2¿
K2 = 4.7 .10¿11 mol L¿1
Eine wässrige CO2-Lösung („Kohlensäure“) ist folglich eine sehr schwache Säure (pKa = 6.3). Die Hydratisierung von CO2 zu Hydrogencarbonat ist von großer biologischer Bedeutung, da diese Reaktion bei Säugetieren für die pH-Regulierung im Blut verantwortlich ist und damit auch den Transport von CO2, das bei der Atmung entsteht, entscheidend beeinflusst. Die Aktivierungsenergie der Reaktion beträgt 55 kJ mol–1, was bei einer Körpertemperatur von 37°C zu einer ziemlich langsamen Gleichgewichtseinstellung führen würde. Durch das zinkhaltige Enzym Carboanhydrase wird die Reaktion jedoch um den Faktor 107 beschleunigt.53 In schwach alkalischen Lösungen löst sich CO2 direkt zum Hydrogencarbonat: CO2 + [OH]¿
[HCO3]¿
Kc = 4 .107 mol¿1 L
Wegen der stets geringen Konzentration ist die wahre Kohlensäure H2CO3 in Wasser immer weitgehend in [HCO3]– und [H3O]+ dissoziiert. Reines H2CO3 lässt sich daher aus wässriger Lösung nicht isolieren, da bei Entwässerung CO2 entweicht, wodurch sich alles H2CO3 zersetzt.54 Aus wasserfreiem Na2CO3 kann man jedoch mit Chlorwasserstoff in Dimethylether bei –35°C ein Etherat H2CO3·Me2O herstellen (farblose Kristalle; Schmp. –47°), das sich aber oberhalb von –26°C zu CO2, H2O und Me2O zersetzt. In analoger Weise wurde aus NaHCO3 und HCl in wasserfreiem Methanol bei tiefen Temperaturen wasserfreies H2CO3 hergestellt, das sich im Vakuum sublimieren ließ. Das planare H2CO3-Molekül bildet Dimere, die durch zwei H-Brücken aneinander gebundenen sind. Die monomolekulare Zersetzung von H2CO3 zu CO2 und H2O ist exotherm, aber kinetisch gehemmt (Aktivierungsenergie 184 kJ mol–1). In Gegenwart von Wasser ist die 52
53 54
C. P. Galloway, T. B. Rauchfuss, X. Yang in R. Steudel (Herausg.), The Chemistry of Inorganic Ring Systems, Elsevier, Amsterdam, 1992, S. 25. J. Beck et al., J. Chem. Soc., Dalton Trans. 2006, 1174. W. Kaim, B. Schwederski, Bioanorganische Chemie, 4. Aufl., Teubner, Stuttgart, 2005. In der Industrie wird oft auch CO2 als „Kohlensäure“ bezeichnet.
262
7 Kohlenstoff
Hemmung aber sehr gering. Diese echte Kohlensäure ist stärker sauer als das oben beschriebene hydratisierte CO2.55 Ein kristallines Derivat der Kohlensäure ist das Trihydroxycarbenium-Ion im Salz [C(OH)3][SbF6], das auf folgende Weise bei –60°C hergestellt wird: OC(OSiMe3)2 + 3 HF + SbF5
[C(OH)3][SbF6] + 2 Me3SiF
Das Hexafluoroantimonat zersetzt sich bei –4°C unter CO2-Abspaltung. Das darin enthaltene planare Carbenium-Kation (Symmetrie C3h ) ist durch Wasserstoffbrücken an die umgebenden Anionen gebunden.56 Beim kontinuierlichen Einleiten von CO2 in starke Laugen erhält man zuerst das entsprechende Carbonat und anschließend wegen der allmählichen pH-Wert-Erniedrigung das Hydrogencarbonat: CO2 + 2 NaOH Na2CO3 + CO2 + H2O
Na2CO3 + H2O 2 NaHCO3
Diese beiden Salze kommen in den USA in ausgedehnten Lagerstätten vor. Weltweit wird Soda (Na2CO3) jedoch überwiegend nach dem SOLVAY-Verfahren aus Kalkstein und Steinsalz hergestellt: CaCO3
T
NH3 + CO2 + H2O
NH4HCO3
NH4HCO3 + NaCl 2 NaHCO3 CaO + NH4Cl
CaO + CO2 NaHCO3 + NH4Cl
T
Na2CO3 + H2O + CO2 CaCl2 + 2 NH3 + H2O
Durch entweichende Gase oder ausfallende Niederschläge werden diese Reaktionen begünstigt. Als Summe obiger Gleichungen ergibt sich unter Berücksichtigung der Rückführung von CO2 und NH3: CaCO3 + 2 NaCl
Na2CO3 + CaCl2
Soda wird in großem Umfang zur Glasherstellung verwendet, insbesondere für Flaschenglas. Darüber hinaus dient Soda zur Produktion anderer Natriumsalze (Phosphate, Silicate, Chromate und Nitrate). Im Salz KHCO3 liegen dimere Anionen vor, die zwei Wasserstoffbrücken enthalten. Mit ionischen Fluoriden großer Kationen reagiert CO2 bei 25°C zu Fluorocarbonaten:57 [Pip]+F¿ + CO2
[Pip]+[CO2F]¿
[Pip]+: Hexamethylpiperidinium
Das Anion [CO2F]– ist isoelektronisch mit dem Nitrat-Anion; von Wasser wird es sofort zu Hydrogencarbonat, HF und CO2 zersetzt. Trithio- und Triselenocarbonate erhält man aus CS2 bzw. CSe2 durch folgende Reaktionen: 55 56 57
W. Hage et al., Science 1998, 279, 1332. J. A. Tossell, Inorg. Chem. 2006, 45, 5961. R. Minkwitz, S. Schneider, Angew. Chem. 1999, 111, 749. X. Zhang, U. Groß, K. Seppelt, Angew. Chem. 1995, 107, 2019.
263
7.7 Chalkogenide des Kohlenstoffs
CS2 + [SH]¿ + [OH]¿
[CS3]2¿ + H2O
CSe2 + [SeH]¿ + [OH]¿
[CSe3]2¿ + H2O
Auf analoge Weise lassen sich auch gemischte Chalkogenocarbonate synthetisieren. Die Anionen [CE3]2– (E = O, S, Se) sind trigonal-planar gebaut. Die π-Elektronen sind wie im isoelektronischen BF3-Molekül delokalisiert (4-Zentren-6-Elektronen-π-Bindung; Kap. 2.4.8). Durch folgende Grenzstrukturen kann die Delokalisierung beschrieben werden: O O
O
C
O
O
C
O O
O
C
O
Im Gegensatz zur Kohlensäure lässt sich die freie Trithiokohlensäure aus stark saurer wässriger Lösung isolieren, indem man eine Suspension von BaCS3 in H2O bei 0°C in 10 %ige Salzsäure einträgt. H2CS3 scheidet sich als rotes Öl ab (Schmp. –27°C). In Wasser ist H2CS3 eine mittelstarke Säure (K1 = 1.2 bei 0°C). Auf analogem Wege, aber in Diethylether, ist aus BaCSe3 die Säure H2CSe3 als dunkelrotes, hochviskoses Öl hergestellt worden (Zers. > –10°C). Beide Säuren zersetzen sich bei 25°C langsam zu CS2 und H2S bzw. CSe2 und H2Se. Persäuren: Wässrige Trithiocarbonatlösungen lösen Schwefel unter Bildung von Perthiocarbonat-Ionen [CS4]2– auf. Aus dem Salz [NH4]2[CS4] und HCl-Gas lässt sich bei –78°C in Me2O die Perthiokohlensäure H2CS4 in Form gelber Kristalle erhalten, die sich aber schon bei der Herstellungstemperatur, schneller beim Schmelzpunkt (–37°C) zu H2S, CS2 und Schwefel zersetzen. Die Konnektivitäten von H2CS4 und [CS4]2– sind: HS S C SH S
bzw.
S S C S S
Im Gegensatz zu diesen echten Persäuren ist das als Bleichmittel verwendete „Natriumpercarbonat“ ein Addukt aus Na2CO3 und H2O2 (Kap. 11.3.3). Durch anodische Oxidation von Carbonationen bei –20°C wurde jedoch Peroxodicarbonat synthetisiert und als Kaliumsalz isoliert: 2 [CO3]2¿
[C2O6]2¿ + 2 e¿
Das Anion besteht aus zwei planaren CO3-Einheiten, die durch eine OO-Bindung von 147 pm und mit einem Torsionswinkel von 93° miteinander verknüpft sind.58 Durch Reaktion von KHCO3 mit H2O2 (30 %) bei –10°C wurde außerdem das Salz KHCO4·H2O2 hergestellt, das eine COOH-Gruppierung enthält und daher ein Derivat der Monoperoxokohlensäure darstellt.59 Die entsprechenden freien Säuren H2CO4 und H2C2O6 sind jedoch nicht bekannt.
58 59
M. Jansen et al., Angew. Chem. 2002, 114, 2002. A. Adam, M. Mehta, Angew. Chem. 1998, 110, 1457.
264
7.8
7 Kohlenstoff
Nitride des Kohlenstoffs
7.8.1 Hydrogencyanid und Cyanide60 Hydrogencyanid HCN ist eine farblose, extrem giftige Flüssigkeit (Sdp. 25°C) von großer technischer Bedeutung. Die wässrige Lösung heißt Blausäure, oft wird jedoch auch die wasserfreie Verbindung so genannt. Zur Herstellung von HCN gibt es verschiedene Verfahren, die alle von Methan und Ammoniak ausgehen (BMA-Verfahren: „Blausäure aus Methan und Ammoniak“). Das ANDRUSSOW-Verfahren beruht auf einer partiellen Oxidation eines Gemisches aus Methan und Ammoniak bei über 1000°C an einem Pt/Rhoder Pt/Ir-Katalysator: CH4 + NH3 +
3 2
O2
HCN + 3 H2O
Diese Reaktion ist stark exotherm. Beim Methan-Ammoniak-Verfahren der Firma EVODEGUSSA wird das Gasgemisch thermisch bei 1200–1250°C an einem Pt/Al-Katalysator durch äußere Wärmezufuhr dehydriert: NIK
CH4 + NH3
HCN + 3 H2
° = 256 kJ mol¿1 H298
Reines flüssiges HCN neigt zur exothermen Polymerisation zu einem braunschwarzen Feststoff, wogegen es durch Kühlung auf 5°C und durch Zusatz von etwas Orthophosphorsäure (H3PO4) oder Ameisensäure (HCOOH) stabilisiert wird. Die Cyanide NaCN und KCN werden durch Reaktion der konzentrierten wässrigen Hydroxide mit HCN hergestellt. Metallcyanide werden in der Galvanotechnik und der Härtetechnik eingesetzt. Wässrige Lösungen der Alkalicyanide reagieren wegen starker Hydrolyse alkalisch und enthalten freies HCN. Auch CO2 (z.B. aus der Luft) setzt in Gegenwart von H2O aus Cyaniden HCN frei: NaCN + CO2 + H2O
Na2CO3 + HCN
Durch Oxidation von Cyanid-Ionen mit milden Oxidationsmitteln erhält man Dicyan, ein toxisches Gas (Sdp. –21°C):61 2 KCN + CuSO4
1 (CN)2 2
+ CuCN + K2SO4
Das Kupfer(I) wird mit H2O2 wieder zum Kupfer(II) oxidiert, so dass letztlich HCN mit H2O2 zu (CN)2 und H2O umgesetzt wird. Durch katalytische Umsetzung von wässriger Blausäure mit elementarem Chlor wird Chlorcyan (Sdp. 13°C) produziert, das ebenfalls äußerst toxisch ist: HCN(aq) + Cl2
ClCN + HCl(aq)
Die kovalenten Cyanide HCN, ClCN und – in geringerem Umfang – (CN)2 dienen zur industriellen Synthese zahlreicher organischer Stickstoffverbindungen einschließlich Herbiziden und Aminosäuren. HCN ist zusammen mit Aceton und Methanol auch der Ausgangspunkt für die Produktion von Acrylglas. 60 61
H. Klenk et al., Ullmann’s Encycl. Ind. Chem. 1987, A8, 159. Eine bessere Methode ist die Pyrolyse von Diacetylglyoxim; D. J. Park et al., Synth. Commun. 1990, 20, 2901.
265
7.8 Nitride des Kohlenstoffs
Die extreme Giftigkeit von Blausäure und Cyaniden beruht auf der Koordination des Cyanid-Ions an die Metall-Ionen (Fe, Cu) des Enzyms Cytochrom-c-Oxidase, das im Atmungsprozess für die Reduktion des O2-Moleküls zu H2O verantwortlich ist und das durch das Cyanid blockiert wird.
7.8.2 Binäre Kohlenstoff-Stickstoff-Verbindungen Wird Graphit in Gegenwart von (CN)2 verdampft, erhält man Dicyanopolyine, d.h. stabförmige Moleküle, deren Kettenenden mit Cyanogruppen besetzt sind. Isoliert wurden die Verbindungen NC–C2n–CN mit n = 3–8, z.B.C18N2:62 N
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
N
Diese bemerkenswerten Substanzen bilden farblose Kristalle, die sich bei 20°C zu einem schwarzen Polymer zersetzen. Offenbar verdampft Graphit, wie auch die Bildung der Fullerene zeigt, in Form kleiner Cn-Moleküle, die mit den aus (CN)2 bei der hohen Temperatur gebildeten CN-Radikalen zu derartigen Polyinen reagieren. Manche binären Kohlenstoffnitride sind polymere Substanzen, die durch Pyrolyse organischer Stickstoffverbindungen oder durch CVD-Methoden erhalten werden, wobei die Zusammensetzung schwankt. Die Strukturen sind vermutlich denen des Graphits verwandt. Durch Anwendung eines sehr hohen Druckes bei hoher Temperatur (30 GPa/ 3000 K) wurde aber auch ein diamantähnliches Produkt der ungefähren Zusammensetzung C2N erhalten, das mindestens so hart wie Diamant ist.63 Eine niedermolekulare C–N-Verbindung ist das Tetraazidomethan C(N3)4 mit einem Stickstoffgehalt von über 93 %. Die Verbindung entsteht durch nukleophilen Angriff von Azid-Ionen auf Trichloracetonitril CCl3CN bei 50°C und kann als farblose explosive Flüssigkeit isoliert werden. CCl3CN + 4 NaN3
C(N3)4 + NaCN + 3 NaCl
Erwartungsgemäß ist C(N3)4 hochreaktiv und addiert z.B. an CC-Doppel- und -Dreifachbindungen. Mit Wasser entsteht das Azid der Kohlensäure, (N3)2CO.64
62 63 64
A. Hirsch et al., Chem. Eur. J. 1997, 3, 1105. T. Komatsu, Phys. Chem. Chem. Phys. 2004, 6, 878. Siehe auch: R. Riedel et al., Angew. Chem. 2007, 119, 1498. K. Banert et al., Angew. Chem. 2007, 119, 1187.
266
8.1 Allgemeines
8
Silicium und Germanium
8.1
Allgemeines
267
Silicium und Germanium bilden zusammen mit Kohlenstoff, Zinn und Blei die 14. Gruppe des Periodensystems (4. Hauptgruppe). In dieser Gruppe vollzieht sich der Übergang vom nichtmetallischen zum metallischen Verhalten an der Grenze Ge/Sn. Kohlenstoff ist seiner Chemie nach zu urteilen ein Nichtmetall, obwohl es mit dem Graphit eine Kohlenstoffmodifikation gibt, die metallische Leitfähigkeit aufweist. Silicium und Germanium sind zwar im elementaren Zustand Halbleiter, dem chemischen Verhalten nach sind beide Elemente jedoch wie Kohlenstoff typische Nichtmetalle. Elementares Silicium sowie verschiedene Siliciumverbindungen sind von größter technischer Bedeutung: Silicium ist das grundlegende Material für die Mikroelektronik und die Solartechnik, Silicate sind als Ton, Porzellan, Glas, Keramik und Emaille seit dem Altertum bekannt, Silikone sind wertvolle Polymere für viele bekannte, aber auch für weniger bekannte high-tech-Anwendungen, und Kieselsäure findet als Adsorptionsmittel im Labor, als Füllstoff für Kunststoffe und als Träger für Katalysatoren vielfältige Verwendung. Silicium1 ist nach Sauerstoff das zweithäufigste Element in der Erdkruste, an deren Aufbau es mit ungefähr 27.7 Massen-% beteiligt ist. Im Gegensatz zum Kohlenstoff kommt Si aber nicht elementar, sondern ausschließlich in Form von Sauerstoffverbindungen vor (SiO2 und Silicate). Beide Elemente, Si und O, gehen sehr starke Bindungen miteinander ein, was die hohe Affinität des Siliciums zum Sauerstoff erklärt, die zusammen drei Viertel der Masse der Erdkruste ausmachen. Das natürliche Si-Isotopengemisch besteht aus 28Si (92.2 %), 29Si (4.7 %) und 30Si (3.1 %), wovon sich 29Si mit dem Kernspin I = 12 gut für NMR-spektroskopische Untersuchungen eignet. Germanium2 ist dem Silicium in seinem chemischen Verhalten sehr ähnlich. Das Verhältnis beider Elemente entspricht dem zwischen den analogen Elementpaaren P/As, S/Se und Cl/Br. Die Chemie des Siliciums ist daher weitgehend repräsentativ für die des Germaniums. Ge ist zwar in der Erdkruste spurenweise weit verbreitet, es ist aber dennoch ein relativ seltenes Element (7·10–4 Massen-% der Erdkruste), das man in konzentrierter Form hauptsächlich in Schwefelverbindungen findet (Thiogermanate). Von den fünf natürlich vorkommenden Isotopen 70Ge (20.5 %), 72Ge (27.4 %), 73Ge (7.8 %), 74Ge (36.5 %) und 76Ge (7.7 %) eignet sich nur 73Ge für NMR-spektroskopische Messungen (I = 12 ).
1
2
P. D. Lickiss, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 8, 5109. Siehe auch das Themenheft Chem. Rev. 2005, 105, No. 5.J. Y. Corey, E. R. Corey, P. P. Gaspar (Herausg.), Silicon Chemistry, Ellis Horwood, Chichester, 1988. C. Qin, L. Gao, E. Wang, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1630.
268
8.2
8 Silicium und Germanium
Bindungsverhältnisse
Die Atome Si und Ge weisen wie alle Atome der 14. Gruppe in der Valenzschale vier Ektronen in der Anordnung s2px1py1 auf (3P-Grundzustand). Die wichtigsten Oxidationsstufen des Siliciums und Germaniums sind daher +2 und +4. Kleine Moleküle mit zweiwertigem Silicium können wegen ihrer extremen Reaktivität nicht bei Raumtemperatur isoliert werden. Sie lassen sich aber bei hohen Temperaturen im Gleichgewicht mit anderen Verbindungen sowie unter Ungleichgewichtsbedingungen erzeugen, z.B. in einem Mikrowellenplasma, einem Strömungsreaktor oder durch Photolyse eines Vorläufermoleküls eingefroren in einer inerten und rigiden Matrix. Unter diesen Bedingungen lassen sich solche exotischen Spezies bequem spektroskopisch studieren. Beispiele sind die folgenden Silylene SiX2 und zweiatomigen Moleküle: SiH2 SiF2 SiCl2 Si2 SiO SiS Die Silylene bilden gewinkelte Singulett-Moleküle, die den Carbenen CX2 entsprechen (carbenanaloge Verbindungen). Die Bindungsverhältnisse ähneln denen im H2O-Molekül (Kap. 2.4.7), nur dass am Zentralatom zwei Elektronen weniger vorhanden sind, d.h. das senkrecht zur Molekülebene stehende p-Orbital ist unbesetzt (LUMO). Silylene neigen daher zur Dimerisierung bzw. Oligomerisierung. Mit sperrigen N-Donorliganden ist es aber gelungen, zahlreiche bei 25°C beständige Silylene herzustellen,3 wofür folgende Verbindungen als Beispiele dienen sollen (Np: Neopentyl): tBu N
tBu
Np
N Si ..
N Si ..
Si ..
N
N tBu
N tBu
Np
Germanium.3
Analoge Verbindungen gibt es auch vom Die Stabilisierung wird auch durch eine teilweise Delokalisierung des nichtbindenden Elektronenpaars des N-Atoms in das LUMO des Siliciums erreicht. Silylene und Germylene sind auch als Liganden in Übergangsmetallkomplexen bekannt. Siliciummonoxid SiO ist das Analogon zum CO und weist zusätzlich zur σ-Bindung zwei π-Bindungen auf, die allerdings schwächer sind als beim Kohlenmonoxid. Das liegt daran, dass die Überlappung der beiden 3pπ-Orbitale von Si mit denen des O-Atoms schlechter ist als im Falle der 2pπ-Orbitale des Kohlenstoffs (Kap. 4.2.2). Analoges gilt für Si2, das dem Molekül C2 entspricht, und für SiS. Auch mit C, N und P kann Si derartige p-p-π-Bindungen bilden (siehe unten). Der bei weitem häufigste und daher wichtigste Bindungszustand des Si-Atoms – ähnliches gilt für Germanium – ist der vierwertige, beispielsweise im SiH4 und seinen zahllosen Derivaten. In Analogie zu den Alkanen CnH2n+2 bilden Silicium und Germanium Hydride der allgemeinen Formeln SinH2n+2 (Silane) bzw. GenH2n+2 (Germane). SiH4 und GeH4 sind Tetraedermoleküle wie CH4. Die höheren Silane und Germane enthalten ho3
S. Nagendran, H. W. Roesky, Organometallics 2008, 27, 457.
269
8.2 Bindungsverhältnisse
monukleare SiSi- bzw. GeGe-Bindungen. Analoges gilt für die Halogenide SinX2n+2 bzw. GenX2n+2 (X = F, Cl, Br, I). Die Bindungen im SiH4 können in Analogie zu denen im CH4-Molekül (Kap. 2.4.10) verstanden werden: Die Zentralatomorbitale 3spx py pz kombinieren mit den vier 1s-AOs der H-Atome zu vier bindenden und vier antibindenden Molekülorbitalen (vier Fünfzentren-Bindungen). Die acht Valenzelektronen besetzen das totalsymmetrische bindende und die drei entarteten bindenden MOs. Dieses Bindungsmuster gilt auch für die Organosilane, die Si-Halogenide und für tetraedrische Oxoanionen wie [SiO4]4–. Die hohen Werte der mittleren Bindungsenergien von SiH-, SiC-, SiF-, SiCl- und SiO-Bindungen (300–580 kJ mol–1) sind für die hohe thermische Stabilität von vielen Si-Verbindungen verantwortlich (siehe Tab. 4.1). Silicium und Germanium unterscheiden sich vom Kohlenstoff vor allem durch ihre geringere Elektronegativitäten und die wesentlich größeren Atomradien. In der ALLRED-ROCHOW-Skala sind die Elektronegativitäten (χAR) wie folgt: C: 2.5
Si: 1.7
Ge: 2.0
Da für Wasserstoff χAR = 2.2 gilt, sind die Bindungen E–H bei den drei Elementen unterschiedlich polarisiert. In allen gesättigten Verbindungen vom Typ SiX4 und GeX4 sind die Zentralatome positiv geladen, woraus folgt, dass diese Verbindungen LEWIS-Säuren darstellen. Dies gilt vor allem für die Si-Derivate, da die Elektronegativität von Si deutlich geringer ist als die von Ge. Diese LEWIS-Acidität hat weitreichende Konsequenzen für die Strukturchemie des Siliciums. Steht keine LEWIS-Base zur Verfügung, kommt es unter bestimmten Umständen zu einer intramolekularen koordinativen Bindung, durch die die positive Ladung auf dem Si-Atom etwas verringert wird. Beispiele hierfür sind die Elementkombinationen Si–N, Si–O und Si–F. Bei diesen Bindungen kommt es zu einer teilweisen Delokalisierung der formal nichtbindenden Elektronen am N-, O- oder F-Atom in die unbesetzten σ*-Molekülorbitale von t2-Symmetrie am Zentralatom. Derartige π-Bindungen sind relativ schwach und entsprechen einer Hyperkonjugation, wie sie bereits bei anderen Molekülen erläutert wurde. Diese Vorstellungen sind das Ergebnis zahlreicher ab-initio-MO-Rechnungen; sie erklären die in Tabelle 8.1 zusammengestellten Strukturbesonderheiten. Tab. 8.1 Vergleich der Valenzwinkel C–E–C, Si–E–Si und Ge–E–Ge in analogen Verbindungen (E = N oder O) H3C–O–CH3:
111.5°
(H3C)3N:
110.6°
H3Si–O–SiH3:
144.1°
(H3Si)3N:
119.7°
H3Ge–O–GeH3:
126.5°
(H3Ge)3N:
120°
Während Dimethylether (H3C)2O am Zentralatom mit 111.5° einen normalen Valenzwinkel aufweist, wurden beim (H3Ge)2O 126.5° und beim (H3Si)2O sogar 144.1° gemessen. Nach den Vorstellungen der VSEPR-Methode führt ein Abzug von Elektronen vom O-Atom unter Errichtung von π-Bindungen zu einer Winkelaufweitung. Noch stärker ist der Effekt bei den Stickstoffverbindungen. Beim Trimethylamin Me3N betragen die Valenzwinkel am N-Atom 110.6°, beim Trisilylamin und beim Trigermylamin aber 120°, d.h. das N-Atom ist bei diesen beiden Molekülen planar koordiniert! Bei dieser Geometrie kann das pπ-AO am Stickstoff mit den drei 3p-Orbitalen der benachbarten Si- bzw. Ge-Atome überlappen, die an den antibindenden t2-MOs der tetraedrischen Substituenten maßgeblich beteiligt sind. Außer zu einer Änderung der Valenzwinkel führen diese
270
8 Silicium und Germanium
π-Bindungen auch zu einer Verstärkung der SiN-, SiO- bzw. SiF-Bindungen. So kommt es, dass die mittlere Bindungsenergie der Bindungen im SiF4 größer ist als im CF4 und im GeF4, während normalerweise die Bindungsenergien vergleichbarer Bindungen in einer Gruppe des Periodensystems von oben nach unten abnehmen (Tab. 8.2). Analoges gilt für SiCl4. Auch die außerordentliche thermische Stabilität von SiO2 ist auf die ungewöhnlich hohe Bindungsenergie zurückzuführen. Die Valenzwinkel am verbrückenden O-Atom der verschiedenen SiO2-Modifikationen liegen im Bereich 144–147°; im Disiloxan [tBu(OH)2Si]2O werden sogar 180° erreicht. Tab. 8.2 Mittlere Bindungsenthalpien einiger Elementkombinationen bei 25°C (kJ mol–1) C Si Ge
–H
–F
–Cl
–O–
411 326 289
485 582 452
327 391 349
358 452 –
Neben diesen α-Donorbindungen gibt es bei manchen Siliciumverbindungen auch noch weitere dative Bindungen, z.B. beim Strukturelement Si–O–N. In Molekülen wie (CF3)F2Si– O–NMe2 beobachtet man am O-Atom besonders kleine Valenzwinkel (in der Gasphase: 84°), was auf eine dative Bindung vom Stickstoff zum Silicium oder alternativ auf eine elektrostatische Anziehung zwischen diesen entgegengesetzt geladenen Atomen zurückgeführt werden kann (so genannter α-Effekt). Diese schwache Si....N-Anziehung existiert auch in Verbindungen, in denen zwischen dem Si-Atom und dem Stickstoff mehrere Methylengruppen liegen, so dass es zumindest bei niedrigen Temperaturen zu einem Ringschluss kommt.4 Die Tetrahalogenide SiX4 und GeX4 bilden als LEWIS-Säuren mit Donoren (LEWIS-Basen) wie Fluorid-Ionen oder tertiären Aminen Addukte folgender Art: SiF4 + F¿
[SiF5]¿
GeF4 + F¿
[GeF5]¿
SiCl4 + bipy bipy: 2,2'-Bipyridin
F¿
[SiF6]2¿
[(bipy)SiCl4] N
N
Die entstehenden Verbindungen sind formal hypervalent. Die fünffach koordinierten Derivate sind trigonal-bipyramidal gebaut. Wie die analogen Phosphorane erleiden sie bei Raumtemperatur in Lösung einen raschen intramolekularen Ligandenaustausch (Pseudorotation), sofern dabei nicht die Regel verletzt wird, dass die elektronegativsten Substituenten in den axialen Positionen gebunden werden. Das oktaedrische Hexafluorosilicat-Dianion [SiF6]2– ist mit dem Molekül SF6 isoelektronisch. Die sechs identischen kovalenten Bindungen können mit dem Konzept der Mehrzentrenbindungen erklärt werden (Kap. 2.6). Dabei werden nur die Si-Orbitale 3s, px, py und pz mit den 2pσ-Orbitalen der Fluoratome kombiniert; die 3d-Orbitale des Siliciums sind in erster Näherung nicht beteiligt. Nach diesen Vorstellungen sind am Si-Atom nur 8 Valenzelektronen vorhanden und die Verbindungen sind daher nicht wirklich hypervalent. Daher wurde der korrektere Begriff hyperkoordiniert 4
N. M. Mitzel et al., J. Am. Chem. Soc. 2005, 127, 13705.
271
8.2 Bindungsverhältnisse
vorgeschlagen. Hyperkoordinierte Siliciumverbindungen mit den Koordinationszahlen 5 und 6 sind in großer Zahl bekannt.5 Sie spielen auch eine wichtige Rolle als Reaktionszwischenprodukte, so etwa bei der Hydrolyse von Halogeniden des Siliciums: Si
Cl
+
O
H
O
Si
H H
Si
OH + HCl
H Cl Primär entsteht bei dieser Reaktion ein Addukt, das anschließend ein Molekül HCl eliminiert, wodurch ein Silanol resultiert. Die Formulierung des Zwischenproduktes wird durch die Isolierung der oben erwähnten SiCl4-Amin-Addukte gestützt. Durch die Wiederholung dieser nukleophilen Substitutions-Reaktion werden schließlich alle vier Cl-Atome durch OH-Gruppen ausgetauscht, d.h. es entsteht Orthokieselsäure Si(OH)4. Im Falle von CCl4 ist die analoge Reaktion zwar thermodynamisch begünstigt (∆Go < 0), aber kinetisch gehemmt, da das wesentlich kleinere C-Atom so effizient durch die großen Chloratome abgeschirmt wird, dass ein nukleophiler Angriff erschwert ist. CCl4 hydrolysiert daher erst beim Erhitzen mit Wasser und auch dann nur langsam. CF4 und CCl4 sind folglich keine LEWIS-Säuren. Diese Beispiele zeigen, dass sich manche Analogien zwischen der Chemie des Kohlenstoffs und der des Siliciums und Germaniums nur auf die Zusammensetzung und die Strukturen entsprechender Verbindungen beziehen, während die Reaktivität analoger Substanzen wegen der unterschiedlichen Atomradien ganz verschieden sein kann. Die Koordinationszahl des Siliciums kann in seinen Verbindungen Werte zwischen 1 und 10 annehmen. Dabei wird unter Koordinationszahl (KZ) die Anzahl der Nachbaratome im gleichen oder fast gleichen Abstand vom Zentralatom verstanden. Weitaus am häufigsten ist die KZ 4 (Quarz, Silicate, Silane, Halogen- und Organosilane), gefolgt von der KZ 6. Beispiele für die KZ 10 sind die beiden folgenden Sandwich-Komplexe des Si(II)6 und des Si(IV), in denen Pentamethylcyclopentadienid-Anionen [Me5C5]– (links) bzw. Carboran-Anionen [C2B9H11]2– (rechts) als Liganden fungieren (C-Atome schwarz; die H-Atome sind nicht eingezeichnet):
Si ..
Si
[(Me5C5)2Si] [(C2B9H11)2Si]
5 6
C. Chuit et al., Chem. Rev. 1993, 93, 1371. R. R. Holmes, Chem. Rev. 1996, 96, 927. R. Tacke et al., Inorg. Chem. 2007, 46, 5419. P. Jutzi et al., Chem. Ber. 1989, 122, 1629.
272
8 Silicium und Germanium
Wie Kohlenstoff bildet auch Silicium eine Reihe von ungesättigten Verbindungen mit p-p-π-Bindungen. Beispiele sind folgende Gruppierungen:7 >Si=C< Silen (Silaethen)
>Si=N– Silazen (Silanimin)
>Si=O Silanon (Silaketon)
–Si≡C– Silin (Silaethin)
>Si=Si< Disilen
>Si=P– Silaphosphen
>Si=S Silanthion
–Si≡Si– Disilin
Verbindungen dieser Art sind allerdings nur dann bei Normalbedingungen beständig und damit in reiner Form isolierbar, wenn die Mehrfachbindungen durch große Substituenten abgeschirmt werden, so dass eine Oligomerisierung kinetisch gehemmt wird. Zu diesem Zweck wurde eine ganze Reihe sperriger Substituenten entwickelt. Am Beispiel der Disilene sollen hier die entsprechenden thermodynamischen Verhältnisse etwas ausführlicher betrachtet werden. Die Mutterverbindung H2Si=SiH2 ist nicht in reiner Form isolierbar. Dafür sind die gleichen Gründe maßgeblich, wie sie für die zweiatomigen Moleküle S2 (Kap. 4.2.3) und P2 (Kap. 10.2) diskutiert wurden, die ebenfalls bei Raumtemperatur unbeständig sind. Die Überführung der SiSi-Doppelbindung in zwei SiSi-Einfachbindungen ist exergonisch, d.h. die GIBBS-Energie der Reaktion ist negativ. Daher würde Si2H4, wenn es intermediär eventuell entstehen sollte, sofort zu höheren cyclo-Silanen oder zu polymerem (SiH2)2n oligomerisieren: n H2Si
SiH2
(SiH2)2n
G° < 0
Beim homologen Ethen H2C=CH2 ist die entsprechende Polymerisation zu dem thermodynamisch stabileren Polyethylen ebenfalls exergonisch, aber mit einer höheren Aktivierungsenergie behaftet. Sie läuft daher nur in Gegenwart eines Katalysators oder beim Erwärmen spontan ab. Die π-Bindung der Disilene ist der der Alkene weitgehend analog, jedoch ist das Überlappungsintegral bei größeren Orbitalen generell kleiner, so dass die Aufspaltung zwischen bindendem und antibindendem Molekülorbital im Falle des Siliciums geringer ist (Abb. 8.1). Daher sind solche Verbindungen reaktiver als die Alkene. Durch Bestrahlung ungesättigter Moleküle kann ein bindendes π-Elektron in das π*-MO überführt und auf diese Weise die dafür erforderliche Energie gemessen werden (HOMO-LUMO-Differenz). Bei Alkenen ist hierfür typischerweise eine Energie von 6 eV entsprechend einer Wellenlänge von 200 nm erforderlich. Im Falle der Disilene liegt die längstwellige Absorptionsbande im Bereich 390–480 nm entsprechend einer Energie von ca. 3 eV. Die Flanke dieser Bande reicht bis ins sichtbare Spektralgebiet (violett), weswegen Disilene gelb gefärbt sind. Die Doppelbindung zwischen den beiden Si-Atomen führt zu einer Rotationsbarriere von mehr als 100 kJ mol–1 für die Torsion um die SiSi-Achse (Abschnitt 8.11.2). Während einer solchen Torsion ändert sich die Energie des Moleküls in der in Abbildung 8.2 dargestellten Weise (Torsionspotential). Bei Torsionswinkeln (τ) von 90° und 270° erreicht die Energie des Moleküls ein Maximum, weil bei diesen Winkeln keine π-Bindung möglich ist: Die 3p-AOs der Si-Atome 7
V. Y. Lee, A. Sekiguchi, Organometallics 2004, 23, 2822 und Angew. Chem. 2007, 119, 6716. A. Sekiguchi, Pure Appl. Chem. 2008, im Druck.
273
8.3 Die Elemente
E
E
(eV)
C
Á
C
(eV)
Si
Si
Á ¿11.3
2p
2p
¿8.2
3p
3p
Abb. 8.1 Energieniveaudiagramme für die π-Bindungen in Alkenen (links) und in Disilenen (rechts). Die Aufspaltung zwischen den π- und π*-Molekülorbitalen ist bei den Disilenen etwa doppelt so groß wie bei den Alkenen.
E
0°
90°
180°
270°
360°
Abb. 8.2 Potentialkurve für die Rotation um die SiSi-Doppelbindung in Disilenen.
sind dann orthogonal zueinander und das Molekül liegt in einem Triplettzustand vor. Die Energiedifferenz zwischen den Minima und Maxima entspricht also der Aktivierungsenergie für die Rotation um die SiSi-Achse und damit für die E-Z-Isomerisierung bei unsymmetrischer Substitution. Bei den gesättigten Silanen ist die Rotationsbarriere dagegen sehr klein (5 kJ mol–1 bei Si2H6). Für Germanium gelten entsprechende Überlegungen.7 Wie bei Disilenen liegt die Barriere (∆ H° 298) für die Rotation um die Doppelbindung auch bei Digermenen R2Ge=GeR2 größenordnungsmäßig bei 1 eV (Si=Si: 1.1 eV, Ge=Ge: 0.9 eV).8
8.3
Die Elemente
Unter Standardbedingungen kristallisieren Silicium und Germanium in der kubischen Diamantstruktur mit Kernabständen von 235 pm (SiSi) bzw. 244 pm (GeGe). Nur durch Anwendung hoher Drucke gelingt es, andere Modifikationen mit noch höherer Dichte herzustellen. Eine graphitanaloge Modifikation ist weder beim Si noch beim Ge bekannt. Auch gibt es zu den Fullerenen beim Si und Ge keine analogen Strukturen. 8
S. Masamune et al., J. Am. Chem. Soc. 1990, 112, 9394.
274
8 Silicium und Germanium
Elementares Silicium (Schmp. 1414°C) wird industriell aus SiO2 hergestellt, und zwar durch Reduktion von gereinigtem Quarz mit Koks und Holzkohle im Elektroofen bei 1700°C (Lichtbogen- oder Carbothermisches Verfahren): SiO2 + 2 Cf.
° = 695 kJ mol¿1 (Si) H2100
Sifl. + 2 CO
Diese Reaktion ist endotherm und liefert ein flüssiges Rohsilicium, das noch mit den Nebenbestandteilen des Quarzes und des Kokses verunreinigt ist. Dieses Rohsilicium (Reinheit >98 %) dient als Legierungsmaterial für Aluminium und Magnesium sowie zur Herstellung von Organosilanen, Silikonen, Siliciumnitrid und von Reinstsilicium. Die Weltjahresproduktion von Silicium übersteigt 4·106 t. Um Silicium im kleinen Maßstab herzustellen, kann man SiO2 mit Mg oder Al reduzieren; diese Reaktionen sind exotherm: 3 SiO2 + 4 Al
3 Si + 2 Al2O3
Sehr reines Silicium, wie es für die Mikroelektronik und Photovoltaik9 benötigt wird, erhält man durch thermische Zersetzung leicht flüchtiger Si-Verbindungen, die ihrerseits aus Rohsilicium gewonnen werden. Das wichtigste Verfahren nutzt Trichlorsilan als Zwischenprodukt. Dazu wird fein gemahlenes Rohsilicium im Wirbelschichtofen bei 330°C mit Chlorwasserstoff in ein Gemisch aus Chlorsilanen überführt: Sif. + 3 HCl
SiHCl3 + H2
° = ¿218 kJ mol¿1 H298
Durch fraktionierte Kondensation und mehrfache Destillation wird SiHCl3 (Sdp. 32°C) von Verunreinigungen und Nebenprodukten wie BCl3, SiH2Cl2, SiCl4 und Metallchloriden (AlCl3, FeCl2) abgetrennt und dadurch hoch gereinigt. Bei der Reduktion von SiHCl3 mit H2 an einem dünnen Si-Stab, der durch Stromdurchgang auf ca. 1100°C geheizt wird, scheidet sich reinstes Si in polykristalliner, aber kompakter Form ab: SiHCl3 + 2 H2
3 Sif. + SiCl4 + 8 HCl
° = 964 kJ mol¿1 H1400
Reinstes Si in Form von Granalien wird auch durch Pyrolyse von hoch gereinigtem Silan bei 600°C produziert: SiCl4
Sif. + 2 H2
° = ¿34.3 kJ mol¿1 H298
Als thermischer Prozess oder in einem Mikrowellenplasma wird diese Reaktion auch dazu genutzt, Schichten von amorphem Silicium („a-Si“) auf nichtleitenden Oberflächen abzuscheiden,10 z.B. für Solarzellen und LCDs (liquid crystal displays). Das entstehende a-Si enthält noch eine gewisse Menge Wasserstoff („a-Si:H“), was erwünscht ist, um die freien Valenzen (dangling bonds) abzusättigen. Dieses Verfahren der Gasphasenabscheidung (CVD: chemical vapor deposition) gewinnt zunehmend an Bedeutung für die verschiedensten Stoffe. Dabei wird allgemein ein strömendes, reaktives Gas (manchmal ver9
10
Die Photovoltaik beschäftigt sich mit der direkten Umwandlung von Licht in elektrische Energie mit Hilfe von Halbleitermaterialien. In Deutschland betrug die installierte Leistung im Jahre 1997 ca. 45 MW und in 2007 bereits mehr als 3500 MW. Zur Herstellung von Solarsilicium und Solarzellen siehe P. Woditsch, C. Häßler, Nachr. Chem. Tech. Lab. 1995, 43, 949. Führender Hersteller von Reinstsilicium in Europa ist die WACKER-Chemie GmbH in Burghausen (Bayern); für Solarzellen ist es die Firma SIEMENS Solar. J. M. Jasinski, S. M. Gates, Acc. Chem. Res. 1991, 24, 9.
275
8.3 Die Elemente
dünnt mit einem inerten Trägergas) durch einen Reaktor geleitet, in dem sich das erwärmte Substrat befindet, auf dem der Film abgeschieden werden soll. Auch die Reaktion von SiH4 mit SiBr4 oder SiI4, die bei 450–800°C durchgeführt wird, dient dazu, polykristalline Schichten von Silicium beispielsweise auf Glas oder anderen silicatischen Oberflächen abzuscheiden: SiH4 + SiX4
2 Sif. + 4 HX
Zur Herstellung von einkristallinem Si wird das Element in einem Quarztiegel unter Argonatmosphäre bei einer Temperatur dicht oberhalb des Schmelzpunktes geschmolzen. In die Schmelze wird ein Impfkristall oberflächlich eingetaucht, an dem die weitere Kristallisation erfolgt. Der Impfkristall wird in dem Maße, wie er infolge Kühlung wächst, langsam unter Rotation aus der Schmelze gezogen, wodurch ein stabförmiger Einkristall von 30 cm Durchmesser und 2 m Länge erhalten werden kann, der 265 kg wiegt (CZOCHRALSKI-Tiegelziehverfahren).11 Nach diesem Verfahren werden etwa 95 % der Weltproduktion von SiliciumEinkristallen hergestellt, die dann zu Wafern (Siliciumscheiben) zersägt, anschließend poliert, geätzt und beschichtet werden, um sie dann für integrierte Schaltkreise zu verwenden.12 Zur Hochreinigung von polykristallinem Si und Ge (Abreicherung von Verunreinigungen auf weniger als 10–9 Atom-%) unterwirft man die Elemente dem Zonenschmelzverfahren, das darauf beruht, dass die Verunreinigungen in der Schmelze besser löslich sind als in der festen Phase. Hierbei wandert eine durch induktive Heizung erzeugte Schmelzzone durch die stabförmigen Elemente, die dadurch umkristallisiert werden, ohne dass sie mit anderen Stoffen als dem Schutzgas Argon in Berührung kommen. Will man das Silicium mit Bor oder Phosphor dotieren, um die Leitfähigkeit zu erhöhen, setzt man dem Schutzgas Spuren von B2H6 bzw. PH3 zu, die sich in der heißen Zone in die Elemente zersetzen. Silicium kristallisiert in oktaederförmigen, harten und spröden Kristallen von dunkelgrauer Farbe (Dichte 2.33 g cm–3). Si ist ein Halbleiter13 mit einer Bandlücke von 1.12 eV (108 kJ mol–1) und leitet daher den elektrischen Strom bei 25°C nur schwach; die Leitfähigkeit steigt jedoch beim Erwärmen oder bei Verunreinigung stark an. Beispielsweise bedingt eine Dotierung mit 1 ppm Bor einen Anstieg der Leitfähigkeit etwa um den Faktor 105. Die Boratome werden anstelle von Si-Atomen in die Diamantstruktur eingebaut. Da Bor gegenüber Silicium ein Elektron weniger mitbringt, sind jetzt im Valenzband nicht mehr alle Zustände mit Elektronen besetzt, woraus die erhöhte Leitfähigkeit resultiert (p-Leitung). Umgekehrt führt die Dotierung mit Phosphoratomen dazu, dass pro P-Atom ein Elektron zu viel vorhanden ist, das daher im Leitungsband untergebracht werden muss, was ebenfalls zu erhöhter Leitfähigkeit führt (n-Leitung). Mit Wasser reagiert Silicium oberflächlich nach der Gleichung Si + 2 H2O
SiO2 + 2 H2
wobei das entstehende SiO2 tiefer liegende Schichten vor der weiteren Reaktion schützt. In Laugen löst sich Silicium aber unter H2-Entwicklung vollständig auf: 11 12 13
J. Evers et al, Angew. Chem. 2003, 115, 46. G. Wenski et al., Chemie unserer Zeit 2003, 37, 198. Ein Halbleiter ist ein Material mit einer Leitfähigkeit bei 25°C im Bereich 10–9 bis 102 Ω–1 cm, wobei die Leitfähigkeit mit der Temperatur exponentiell ansteigt. Die Bandlückenenergien (Eg) bekannter Halbleiter liegen im Bereich 0.5–2.5 eV; C. E. Stanton et al., Encycl. Inorg. Chem. 2005, 8, 5063.
276
8 Silicium und Germanium
Si + 4 NaOH
Na4SiO4 + 2 H2
Gegen Säuren ist Si mit Ausnahme eines Gemisches aus HNO3 und HF beständig. An der Luft bedeckt sich Si vor allem beim mechanischen Zerkleinern mit Oberflächenoxiden,14 die seine Reaktivität stark vermindern (Passivierung). Nicht passiviertes, fein verteiltes Si ist dagegen pyrophor. Germanium wird überwiegend aus Ge-haltigen Zinkerzen (ZnS, ZnCO3) gewonnen, die beim Rösten (Verbrennen im Luftstrom) einen Flugstaub liefern, der GeO2 enthält. Das rohe Dioxid wird zunächst mit konzentrierter Salzsäure zu flüchtigem GeCl4 (Sdp. 83°C) verarbeitet, aus dem man nach fraktionierter Destillation durch anschließender Hydrolyse hochreines Dioxid herstellt, das dann zum Element reduziert wird: GeO2 + 2 H2
Gefl. + 2 H2O
Eine weitere Reinigung kann wie beim Silicium durch Zonenschmelzen erfolgen. Germanium kristallisiert in grauweißen, spröden Oktaedern (Schmp. 938°C, Sdp. 2830°C; Dichte 5.32 g cm–3). Es ist resistent gegen nicht-oxidierende Säuren, reagiert aber mit oxidierenden zu GeO2. Von geschmolzenen Alkalihydroxiden wird Ge unter Wasserstoffentwicklung zu Germanaten gelöst. Elementares Germanium ist im Gegensatz zu Glas in einem sehr weiten Bereich für infrarote Strahlung durchlässig (5000–600 cm–1), worauf seine Verwendung für Linsen und Hohlspiegel in Nachtsichtgeräten beruht, mit denen die Wärmestrahlung von Objekten und Lebewesen registriert wird (Wärmebildkameras). In der Halbleitertechnik ist Ge (Bandlücke 0.66 eV) fast vollständig von dem preiswerteren Si verdrängt worden.
8.4
Silicide und Germanide
Viele Metalle reagieren mit Silicium zu stöchiometrischen binären Verbindungen, die Silicide genannt werden und die den Boriden, Carbiden, Nitriden usw. entsprechen. Mit stark elektropositiven Metallen entstehen Silicide, in denen das Metall überwiegend ionisch an ein mehr oder weniger großes Anion gebunden ist. In Tabelle 8.3 sind einige Beispiele aufgeführt. Am bekanntesten sind Mg2Si und Ca2Si, die formal Si4–-Ionen enthalten. NaSi ist ein Salz mit tetraedrischen Anionen [Si4]4–, die mit dem P4-Molekül isoelektronisch und isostrukturell sind (Abb.8.3). Die Silicide CaSi und SrSi bestehen formal aus Ca2+- bzw. Sr2+-Ionen und planaren Zick-Zack-Ketten von [Sin]2n–, die mit Schwefelketten isoelektronisch sind. Die Anionen im CaSi2 weisen dagegen eine Schichtstruktur auf: Die gewellten Schichten bestehen aus kondensierten Si6-Ringen ähnlich denen des isoelektronischen schwarzen Phosphors bzw. des grauen Arsens (Abb. 10.2). Zwischen den Schichten sind die Ca2+-Ionen eingelagert. Viele Metalle bilden mit Silicium Legierungen variierender Zusammensetzung (z.B. Ferrosilicium, siehe 8.6.2).
14
Zur Oberflächenchemie von elementarem Silicium siehe H. N. Waltenburg, J. T. Yates, Chem. Rev. 1995, 95, 1589. Die oberflächliche Oxidation von Silicium durch O2 ist von großer Bedeutung bei der Produktion von Transistoren, bei denen das so erzeugte SiO2 als elektrisch isolierende Substanz zwischen den halbleitenden (elektronisch aktiven) Zonen dient.
277
8.4 Silicide und Germanide
Tab. 8.3 Aufbau und Symmetrie der Anionen in den binären Siliciden einiger elektropositiver Metalle Zusammensetzung
Anionen
Ca2Si
Si4–
Li7Si2
Si4– und [Si2]6– („Hanteln“)
Ba3Si4
[Si4]6– („Schmetterling“; C2v)
NaSi
[Si4]4– (Td; wie P4)
SrSi
[Sin]2n– (helicale Ketten wie Schwefel)
Li12Si17
[Si5]6– (D5h) und [Si4]12– (D3h)
CaSi2
gewellte Schichten aus [Si6]6–-Ringen
Ge 4¿
Si
Si
Si
6¿
Si
Si
Si
Si
Ge
(b)
Abb. 8.3 Strukturen der Anionen (a) [Si4
]4–
Ge Ge
Ge
Si
Ge (a)
4¿
(Td), (b)
Ge Ge
Ge
(c) [Si4]6–
(C2v) und (c)
[Ge9]4–
(C4v).
CaSi2 reagiert unter O2-Ausschluss mit Cl2 quantitativ nach folgender Gleichung: CaSi2 + Cl2
2 Sif. + CaCl2
Das dabei entstehende Silicium ist hochreaktiv. Es entzündet sich sogar unter Wasser und verbrennt dabei zu SiO2 und H2! Mit überschüssigem Cl2 reagiert es über (SiCl)n zu Chlorsilanen der Typen SinCl2n+2 (Ketten), SinCl2n (Ringe) und SinCl2n–2 (bicyclisch, z.B. Si10Cl18). Mit Methanol reagiert dieses Si bei 20–60°C heftig zu Si(OMe)4 und H2. Das ähnlich wie Graphitfluorid schichtförmig aufgebaute Siliciummonochlorid (SiCl)n, das auch aus CaSi2 und ICl erhalten werden kann, lässt sich mit SbF3 zu (SiF)n fluorieren und mit LiAlH4 zu (SiH)n hydrieren. Bei Einwirkung von Säuren entstehen aus CaSi2 oder CaSi amorphe, braune Hydride der Zusammensetzung SiH0.7–0.9; aus Ca2Si wird dagegen SiH4 entwickelt. Silicium und Germanium reagieren mit Alkalimetallen zu Legierungen, die sich in flüssigem Ammoniak zu polyatomaren Anionen auflösen. Diese Ionen gehören zur Gruppe der ZINTL-Ionen.15 Man kann diese tief gefärbten Verbindungen aus Lösungen kristallin isolieren, wenn das Kation mit einem Cryptanden wie 2,2,2-crypt komplexiert wird. Beispiele sind die Ionen [Si5]2–, [Si9]3–, [Ge4]2–, [Ge5]2–, [Ge9]2– und [Ge9]4–, die wie folgt entstehen: 15
Die zuerst von EDUARD ZINTL bearbeiteten homopolyatomaren Anionencluster werden von Hauptgruppenelementen wie Si, Ge, Sn, Pb, As, Sb, Bi gebildet. S. C. Sevov, J. M. Goicoechea, Organometallics 2006, 25, 5678.
278
8 Silicium und Germanium À
2 Na + 4 Ge + 2 crypt
[Na(crypt)]2[Ge4]2¿
6 K + 18 Ge + 6 crypt
[K(crypt)]6[Ge9]2¿[Ge9]4¿
À
Die neunatomigen Cluster bilden je nach Elektronenzahl Polyeder verschiedener Symmetrie: [Ge9]4– hat die Geometrie eines überdachten quadratischen Antiprismas von C4v-Symmetrie (Abb.8.3), während [Ge9]2– von D3h-Symmetrie ist. Alkalimetallgermanide wie M4Ge9 können auch direkt aus den Elementen durch Erhitzen unter Luftausschluss hergestellt werden. Den Ge-Clusteranionen verwandt sind die mit Liganden stabilisierten neutralen Cluster wie Ge8[N(SiMe3)2]6 und Ge8[C6H3(Ot-Bu)2]6, die aus (GeBr)n und entsprechenden Alkalimetallsalzen der Liganden synthetisiert werden. Zahlreiche weitere Verbindungen dieser Art sowie analoge heteroatomare Cluster wurden in neuerer Zeit hergestellt.16
8.5
Hydride von Silicium und Germanium
Silicium bildet eine größere Zahl von kettenförmigen Silanen der allgemeinen Formel SinH2n+2, die zwar formal den Alkanen entsprechen, die aber deutlich reaktiver sind als diese. Auch cyclische Silane SinH2n und polymere Hydride der Zusammensetzung SiH0.7–0.9 sind bekannt. Von den kettenförmigen Silanen wurden alle Glieder bis zum Si15H32 isoliert bzw. nachgewiesen. Diese Silane sind farblos und teils gasförmig (n = 1, 2), teils flüssig (n > 2). SiH4 kondensiert bei –112° und erstarrt bei –185°C. Die Si–H-Bindung der Silane ist um ca. 90 kJ mol–1 schwächer als die C–H-Bindung der Alkane. Daher sind die Aktivierungsenthalpien vergleichbarer Reaktionen beim Silicium wesentlich kleiner als beim Kohlenstoff. Bei Raumtemperatur sind die Silane beständig, jedoch nur unter Ausschluss von O2 und H2O. An der Luft tritt Selbstentzündung und Verbrennung zu SiO2 und H2O ein.17 Silane und teilsubstituierte Derivate wie Et3SiH sind daher starke Reduktionsmittel. Diese Reaktionen unterstreichen die Oxophilie des Siliciums. Die den Alkanen entsprechenden Germane GenH2n+2 sind bis zum Ge9H20 bekannt. Von diesen Hydriden des Ge(IV) sind die höheren (n > 2) ebenfalls luftempfindlich. Sie werden daher wie die Silane in evakuierten oder mit Schutzgas gefüllten Glas- oder Stahlapparaturen gehandhabt. GeH4 ist ein Gas (Sdp. –88°C), die höheren Germane sind bei 25°C flüssig oder fest. Substanzen der Zusammensetzung GeH und GeH2 sind polymer und enthalten Ge–Ge-Bindungen. Ringförmige und ungesättigte Germaniumhydride sind nicht bekannt.
16 17
A. Schnepf, Eur. J. Inorg. Chem. 2008, 1007. Bei den Alkanen ist die analoge Reaktion ebenfalls thermodynamisch möglich (∆Go < 0), jedoch ist die Aktivierungsenergie so hoch, dass es einer Zündung bedarf, bevor Kohlenwasserstoffe zu brennen beginnen.
8.5 Hydride von Silicium und Germanium
279
8.5.1 Herstellung SiH4, Si2H6 und Si3H8 werden am besten durch Hydrierung der entsprechenden Chloride (Chlorsilane) mit LiAlH4 oder LiH in Ether hergestellt: SiCl4 + LiAlH4
SiH4 + LiCl + AlCl3
Si2Cl6 + 6 LiH
Si2H6 + 6 LiCl
Ein Silangemisch (Rohsilan) entsteht bei der Zersetzung von Mg2Si mit 20 %iger Phosphorsäure bei 50–60°C:18 Mg2Si + 4 H+
SiH4 + 2 Mg2+
Das erforderliche Magnesiumsilicid erhält man in exothermer Reaktion durch Erhitzen der beiden gut vermischten Elemente unter Argon auf 650°C. In dem so hergestellten Rohsilan sind alle Silane bis zu n = 15 enthalten, wobei die Konzentrationen mit steigender Molekülmasse stark abnehmen. Eine Trennung des Gemisches ist durch fraktionierte Vakuumdestillation oder präparative Gaschromatographie möglich. Dabei zeigt sich, dass die höheren Silane (n > 3) aus Isomerengemischen verzweigter und unverzweigter Moleküle bestehen. Beispielsweise wurden n-Tetrasilan H3Si(SiH2)2SiH3 und iso-Tetrasilan (H3Si)3SiH isoliert. Derartige Isomere können mittels 1H- und 29Si-NMR-Spektroskopie identifiziert werden. Unklar ist bisher der Reaktionsmechanismus, nach dem diese Silane gebildet werden.19 50 mg-Mengen reines SiH4 erhält man beim trockenen Erhitzen von LiAlH4 mit überschüssigem SiO2 auf 170°C. In technischem Maßstab wird reines SiH4 aus SiCl4 und LiH in einer LiCl-KCl-Schmelze gewonnen. Höhere Silane kann man auch aus SiH4 durch Einwirkung stiller elektrischer Entladungen, wie sie zur Herstellung von Ozon verwendet werden, synthetisieren: SiH4
SiH2 + H2
SiH2 + SiH4
Si2H6
SiH2 + Si2H6
Si3H8
Auf diese Weise sind auch gemischte Si-Ge-Hydride präparativ zugänglich, wobei man ein SiH4-GeH4-Gemisch einsetzt. Das Zwischenprodukt Silylen SiH2 ist ein hochreaktives carbenanaloges Molekül der Symmetrie C2v, das auch bei der UV-Photolyse von Phenylsilan PhSiH3 spektroskopisch nachgewiesen wurde.20 Es entsteht weiterhin bei der Thermolyse von Methyldisilan: MeH2Si SiH3
18 19 20
MeSiH3 + SiH2
F. Fehér et al., Z. Anorg. Allg. Chem. 1985, 530, 187 und 191. Diese Reaktion (mit Salzsäure) wurde zuerst von ALFRED STOCK und Mitarbeitern (1916) durchgeführt. Bei der Protonierung von Siliciden erhält man bessere Ausbeuten, wenn man Mg2Si in flüssigem NH3 mit der Säure NH4Br zersetzt. M. J. Almond, S. L. Jenkins, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 8, 5080. J. M. Jasinski, R. Becerra, R. Walsh, Chem. Rev. 1995, 95, 1203.
280
8 Silicium und Germanium
Charakteristische Reaktionen von Silylenen sind Einschiebung in kovalente Bindungen (siehe oben, Si2H6-Bildung) und die Addition an ungesättigte Verbindungen wie Diene. Monogerman GeH4, ein farbloses luftstabiles Gas, wird am besten durch Reduktion von GeO2 mit NaBH4 in essigsaurer wässriger Lösung hergestellt. Dabei entsteht als Nebenprodukt Ge2H6. Auch die Zersetzung von Mg2Ge mit wässriger Salzsäure oder mit NH4Br in flüssigem Ammoniak führt hauptsächlich zu GeH4, neben etwas Ge2H6 und Spuren höherer Germane mit bis zu 9 Ge-Atomen. Diese lassen sich aber besser durch Zersetzung von GeH4 in einer stillen elektrischen Entladung erhalten.
8.5.2 Reaktionen der Silane Beim Erhitzen zersetzen sich die Silane in die Elemente. Auf diese Weise wird aus SiH4 bei 570–670°C hochreines Silicium industriell hergestellt. Als Zwischenprodukte treten dabei höhere Silane auf, die bei geeigneter Reaktionsführung auch isoliert werden können. Anders als die Alkane enthalten die Silane negativ polarisierten Wasserstoff und δ+ δ– folglich ein positiv geladenes Si-Atom [S i– H], was die Reaktion mit Hydroxid-Ionen begünstigt: SiH4 + 2 KOH + H2O
K2SiO3 + 4 H2
Si2H6 + 4 KOH + 2 H2O
2 K2SiO3 + 7 H2
In reinem Wasser oder leicht sauren wässrigen Lösungen tritt dagegen keine Hydrolyse ein. Auch die Bildung von Silyl-Kationen kann auf die Polarität der Si–R-Bindung zurückgeführt werden (R = Ph, MeS, i-PrS): CH2Cl2
R4Si + [Ph3C][ClO4]
[R3Si][ClO4] + Ph3CR
Mit verschiedenen Halogeniden wie HCl, BCl3 und PCl3 reagieren Silane unter Wasserstoff-Halogen-Austausch: SiH4 + HX
AlX3
3 Si2H6 + BCl3
SiH3X + H2 3 Si2H5Cl +
X = Cl, Br, I 1 2
B2H6
Die teilhalogenierten Silane eignen sich für Kondensationsreaktionen: 2 H3SiCl + H2O
(H3Si)2O + 2 HCl
3 H3SiI + 4 NH3
(H3Si)3N + 3 NH4I
4 H3SiI + 3 N2H4 3 H3SiBr + 3 KPH2
(H3Si)2N N(SiH3)2 + 2 [N2H6]I2 ¿100°C
(H3Si)3P + 2 PH3 + 3 KBr
Auf verschiedene Weise werden Salze der Silane (Silanide) hergestellt: SiH4 + K Si2H6 + KH
KSiH3 +
1 2 H2
KSiH3 + SiH4
281
8.6 Halogenide von Silicium und Germanium
Beide Reaktionen laufen bei 25°C in 1,2-Dimethoxyethan (Monoglym, H3C–O–CH2– CH2–O–CH3) ab. KSiH3 kristallisiert bei 25°C in der NaCl-Struktur. Das Anion ist wie das isoelektronische PH3 pyramidal gebaut. Mit vielen Elementhalogeniden reagiert KSiH3 unter nukleophiler Substitution: Me2AsCl + KSiH3 MeI + KSiH3 PhGeBr3 + 3 KSiH3
H3Si AsMe2 + KCl MeSiH3 + KI PhGe(SiH3)3 + 3 KBr
GeH4 und Ge2H6 reagieren ähnlich wie SiH4 und Si2H6. Beim Erhitzen zerfallen die Germane in die Elemente, wobei durch Katalyse mit Goldpartikeln Germanium auch in Form von Nanodrähten erzeugt werden kann. Von O2 wird GeH4 erst beim Erhitzen angegriffen und zu GeO2 und H2O oxidiert. Es ist sogar gegen 30 %ige Natronlauge beständig. Wie SiH4 bildet es Germylhalogenide GeH3X und Metallgermanide, z.B. KGeH3, das aus K und GeH4 in flüssigem NH3 oder in Hexamethylphosphortriamid (HMPA) gewonnen wird und dazu dient, organische Derivate herzustellen.
8.6
Halogenide von Silicium und Germanium
Die wichtigsten binären Halogenide des Siliciums sind vom Typ SinX2n+2, d.h. sie leiten sich formal von den Silanen durch Ersatz der H-Atome durch X = F, Cl, Br und I ab (Perhalogensilane). SiF4 und vor allem SiCl4 werden technisch in großem Umfang produziert. Darüber hinaus kennt man weniger gut charakterisierte, höhermolekulare Halogenide der Typen (SiX2)n und (SiX)n sowie die instabilen monomeren Subhalogenide SiF2 und SiCl2. Auch alle gemischten Halogenide des Typs SiXnY4–n sind bekannt. Wichtig sind außerdem die ternären Halogenide SiHnX4–n. Germanium bildet binäre Halogenide der Typen GeX4, Ge2X6, GeX2 und (GeX)n (X = F, Cl, Br, I) sowie verschiedene Hydridchloride GeHnX4–n.
8.6.1 Fluoride Siliciumtetrafluorid SiF4 (Tetrafluorsilan) ist ein farbloses Gas, das zwar durch Fluorierung von Si oder SiO2 hergestellt werden kann,21 das man aber bequemer wie folgt erhält: 2 CaF2 + 2 H2SO4 + SiO2
SiF4 + 2 CaSO4 + 2 H2O
Um das entstehende Wasser zu binden und die Hydrolyse von SiF4 zu vermeiden, arbeitet man mit konzentrierter Schwefelsäure. Sehr reines SiF4 kann im Labor durch Pyrolyse von Bariumhexafluorosilicat hergestellt werden: 21
Die Reaktion von F-Atomen mit Si zu SiF4 und SiF2 spielt beim Ätzen von Si-Wafern mittels einer elektrischen Entladung in einer CF4-Atmosphäre eine Rolle (Plasma-Ätzung bei 1–150 Pa); D. L. Flamm in J. Y. Corey, E. R. Corey, P. P. Gaspar (Herausg.), Silicon Chemistry, Horwood Publ., Chichester 1988, S. 391.
282
8 Silicium und Germanium
BaSiF6
300¿350°C Vakuum
BaF2 + SiF4
Großtechnisch wird SiF4 bei der Herstellung von Phosphorsäure aus Apatit als Nebenprodukt gewonnen (Kap. 10.12.1). Die Hydrolyse von SiF4, die bei Wasserüberschuss zu SiO2 und HF führt, ist eine Gleichgewichtsreaktion: SiF4 + 2 H2O
SiO2 + 4 HF
In der Gasphase erhält man bei SiF4-Überschuss als Hauptprodukt Hexafluordisiloxan F3Si–Ο–SiF3, ein farbloses Gas. Mit wenig flüssigem Wasser reagiert SiF4 dagegen nach: 3 SiF4 + 6 H2O
2 [H3O]2[SiF6] + SiO2
Das Oxoniumsalz der Hexafluorkieselsäure ist eine starke Säure, die mit Hydroxiden und Carbonaten zu entsprechenden Hexafluorosilicaten reagiert. Na2SiF6 wird mancherorts neben NaF zur Fluoridierung von Trinkwasser zwecks Karies-Prophylaxe verwandt; MgSiF6 dient als insektizides Holzschutzmittel im Hochbau. GeF4 (Sdp. –37°C) wird durch Erhitzen von BaGeF6 auf 600°C hergestellt. Dieses Salz erhält man aus BaF2, GeO2 und Flusssäure. GeF4 ist ein farbloses, an der Luft wie SiF4 stark rauchendes Gas, das mit Wasser zu GeO2 und Oxoniumhexafluorogermanat [H3O]2[GeF6] reagiert. SiF4 und GeF4 sind starke LEWIS-Säuren, die mit Donormolekülen wie Ammoniak, Aminen, Ethern, Ketonen, Aminoxiden, Dimethylsulfoxid, Schwefelwasserstoff und Acetonitril Addukte bilden, und zwar in den Molverhältnissen 1:1 und 1:2. Beispiele sind: SiF4(NH3)2 SiF4[OS(CH3)2]2 GeF4(SH2)2 GeF4(NCCH3) Zu dieser Klasse von Verbindungen gehören auch die komplexen Anionen [SiF6]2–, [GeF5]– und [GeF6]2–. Vom Silicium ist ein monomeres gasförmiges Difluorid SiF2 bekannt, dessen Synthese und Reaktionen im Kapitel Fluor behandelt werden (Kap. 13.4.6). Si2F6 kann aus Si2Cl6 durch Halogenaustausch mit ZnF2 hergestellt werden. Das Difluorid GeF2 ist ein Feststoff, der wesentlich beständiger ist als das gasförmige SiF2. Überhaupt stellt man fest, dass die Beständigkeit der Oxidationsstufe +2 in der 14. Gruppe vom Kohlenstoff zum Blei hin stark zunimmt. GeF2 bildet farblose Kristalle, in denen GeF2-Einheiten über F-Atome miteinander verbrückt sind, so dass jedes Germaniumatom vierfach koordiniert ist (pseudo-trigonal-bipyramidale Koordination). GeF2 entsteht bei der Reduktion von GeF4 mit Ge bei 150–300°C sowie aus Ge und HF bei 225°C: Gef. + GeF4
2 GeF2
Gef. + 2 HF
GeF2 + H2
8.6.2 Chloride Siliciumtetrachlorid SiCl4 ist das bei weitem wichtigste binäre Halogenid des Siliciums. Es entsteht in zahllosen Reaktionen durch Chlorierung von Si oder Si-Verbindungen. Technisch chloriert man Si-reiches Ferrosilicium, eine Fe-Si-Legierung mit einem Si-Gehalt von mehr als 90 %:
283
8.6 Halogenide von Silicium und Germanium
Fe/Si +
>400°C 7 2 Cl2
SiCl4 + FeCl3
Ferrosilicium (Fe/Si) wird durch Reduktion von Quarz mit Koks in Gegenwart von Eisenschrott oder Eisenoxiden produziert, wozu eine etwas niedrigere Temperatur erforderlich ist als für die Reduktion von Quarz allein. Fe/Si reagiert mit Chlor rascher als reines Silicium; diese Reaktion ist stark exotherm. SiCl4 ist eine farblose Flüssigkeit (Sdp. 58°C), die durch fraktionierte Destillation gereinigt wird und dann zur Herstellung von sehr reinem Si dient (über SiH4). Seine am besten untersuchte Reaktion ist die Hydrolyse, die über Zwischenprodukte zu Kieselgel und Salzsäure führt: + H2O
+ SiCl4
+ 3H2O
SiCl4 SiCl3OH Cl3Si O SiCl3 2 SiO2(aq) + 6 HCl TetraTrichlorHexachlorKieselgel chlorsilan silanol disiloxan Bei vorsichtiger Hydrolyse unter Kühlung und mit H2O-Unterschuss können die genannten Zwischenprodukte isoliert werden. Mit Alkoholen entstehen die entsprechenden Kieselsäureester Si(OR)4. SiCl4 ist eine schwächere LEWIS-Säure als SiF4. Daher existieren zwar verschiedene Addukte mit tertiären Aminen, aber ein [SiCl6]2–-Ion ist nicht bekannt. SiCl4 reagiert außer mit Wasser und Alkoholen auch mit NH3 unter HCl-Eliminierung. Beispielsweise entsteht bei –60°C in Ether Hexachlordisilazan in 40 % Ausbeute: 2 SiCl4 + 3 NH3
Cl3Si
NH
SiCl3 + 2 NH4Cl
Als Nebenprodukt lässt sich cyclo-Hexachlortrisilazan (SiCl2NH)3 isolieren. Mit GRIGNARD-Reagenzien wie RMgBr sowie mit Organolithiumverbindungen reagieren Si–ClVerbindungen zu Organosiliciumverbindungen (Abschnitt. 8.11). Si2Cl6 und höhere Chlorsilane SinX2n+2 (bis n = 6) entstehen bei der Chlorierung von CaSi2 bei 140°C (Abschnitt 8.4) und bei der elektrischen Zersetzung von SiCl4 in Gegenwart von Si (z.B. als Elektrodenmaterial). Eine interessante Synthese höherer Glieder ist die katalytische Disproportionierung der niederen Homologen in Gegenwart von Trimethylamin (Me3N) in geringer Konzentration (0.1 %): 4 Si2Cl6
Si5Cl12 + 3 SiCl4
Leitet man SiCl4-Dampf bei Temperaturen oberhalb 1000°C über Si, entsteht in einer Gleichgewichtsreaktion gasförmiges SiCl2 (Dichlorsilylen), das beim langsamen Abkühlen wieder disproportioniert: Sif. + SiCl4
2 SiCl2
Kp = 1 bar (bei 1615 K)
Beim Abschrecken auf tiefe Temperaturen polymerisiert SiCl2 zu Perchlorpolysilan (SiCl2)n von kettenförmiger Struktur. Daneben entstehen die niedermolekularen Perchlorsilane bis zum Si6Cl14. Setzt man vor dem Kondensieren BCl3, CCl4 oder PCl3 zu, schiebt sich das carbenanaloge SiCl2 in die E–Cl-Bindungen ein, wodurch Cl2B–SiCl3, Cl3C–SiCl3 bzw. Cl2P–SiCl3 entstehen.22 Germaniumtetrachlorid GeCl4 (Tetrachlorgerman) wird aus den Elementen oder aus GeO2 und konzentrierter Salzsäure hergestellt. Die farblose, an der Luft rauchende Flüssigkeit (Sdp. 83°C) wird von Wasser rasch hydrolysiert. In einer Mikrowellenentladung 22
C.-S. Liu, T.-L. Hwang, Adv. Inorg. Chem. Radiochem. 1985, 29, 1.
284
8 Silicium und Germanium
kann man GeCl4 zu Ge2Cl6 und Cl2 umsetzen. Monomeres Dichlorgermylen GeCl2 entsteht bei der Reduktion von GeCl4 mit Ge bei Temperaturen oberhalb 680°C und bei der thermischen Zersetzung von Trichlorgerman: GeHCl3
GeCl2 + HCl
GeCl2 bildet bei 25°C farblose Kristalle, die von Wasser rasch zu Ge(OH)2 hydrolysiert werden und die an der Luft langsam zu GeO2 und GeCl4 oxidiert werden. Im festen GeCl2 und selbst im Komplex GeCl2·Dioxan liegen die Moleküle über Cl-Brücken assoziiert vor. Ein Salz mit dem Trichlorogermanat(II)-Anion [GeCl3]– erhält man aus CsCl, GeCl4 und einem Reduktionsmittel wie H3PO2.
8.6.3 Sonstige Si-Halogenide SiBr4 (Sdp. 153°C) und SiI4 (Schmp. 121°C) können aus den Elementen bei erhöhter Temperatur synthetisiert werden. Beide Verbindungen sind farblos, feuchtigkeitsempfindlich und thermisch weniger beständig als SiF4 und SiCl4. Auch alle gemischten SiHalogenide vom Typ Si(X,Y)4 sind bekannt. Die ternären Chlorsilane SiH3Cl, SiH2Cl2 und SiHCl3 erhält man auf folgende Weise: Sif. + 3 HCl
CuCl2 300°C
SiCl4 + H2 2 SiHCl3
SiHCl3 + H2 SiHCl3 + HCl
AlCl3 300°C
SiH4 + HCl
SiCl4 + SiH2Cl2 SiH3Cl + H2
Die Reaktionsprodukte werden durch fraktionierte Destillation getrennt. Trichlorsilan ist ein großtechnisches Produkt, aus dem reinstes Si hergestellt wird (Abschnitt 8.3), das aber auch zur Synthese von Organosilanen benötigt wird. Mit H2O reagiert SiHCl3 zu SiO2, HCl und H2; in einer O2-Atmosphäre verbrennt es zu SiO2, HCl und H2O. An bestimmte Alkene lagern sich die teilweise substituierten Silane unter Hydrosilylierung23 zu Organochlorsilanen an: RHC
CH2 + H
SiCl3
RH2C
CH2 SiCl3
Solche Reaktionen laufen entweder nach einem radikalischen Mechanismus ab oder werden durch Übergangsmetallkomplexe oder Basen katalysiert. Die radikalischen Reaktionen werden durch organische Peroxide gestartet. Hexachloroplatinsäure H2PtCl6·6H2O ist ein effizienter Katalysator24 für die Hydrosilylierung von cyclischen und kettenförmigen Alkenen, wofür außer SiHCl3 auch SiH2Cl2, MeSiHCl2, EtSiHCl2, Et3SiH und (EtO)3SiH eingesetzt werden. Auf diese Weise werden zahlreiche Organosiliciumverbindungen technisch hergestellt (Abschnitt 8.11.1). 23 24
C. Marschner, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1926. Man nimmt an, dass zunächst das Alken an das Metallatom koordiniert. Danach soll das Silan mit der Si–H-Bindung oxidativ an das Metallatom addieren, gefolgt von einer H-Verschiebung an das Alken und schließlich einer Eliminierung der Organo-Si-Verbindung.
285
8.7 Oxide von Silicium und Germanium
8.7
Oxide von Silicium und Germanium
Silicium und Germanium bilden mit Sauerstoff folgende binäre Verbindungen, die unter Standardbedingungen polymer sind: SiO SiO2
GeO GeO2
Die Dioxide treten in mehreren Modifikationen auf. Die Monoxide sind bei hohen Temperaturen in der Gasphase monomer, im festen Zustand dagegen polymer. Die bei weitem wichtigste Verbindung ist Siliciumdioxid, das in der Natur in zahlreichen kristallinen und amorphen Formen vorkommt und das technisch in großem Umfang hergestellt wird. Kristalline Formen sind Quarz (Bergkristall, Amethyst), Tridymit, Cristobalit und die Hochdruckformen Coesit und Stishovit. Amorph bzw. mikrokristallin und meistens wasserhaltig sind Opal (Chalzedon, Achat, Feuerstein) und das aus den Schalen von fossilen Kieselalgen (Diatomeen) bestehende Kieselgur, das an manchen Stellen der Erde in Schichten bis zu 100 m Dicke vorkommt und beispielsweise in Russland, Großbritannien, Nordafrika und Kalifornien als „Kieselerde“ abgebaut wird (siehe Abschnitt 8.8.1). Zwischen den bei Normaldruck thermodynamisch stabilen Modifikationen von SiO2 bestehen folgende temperaturabhängige Umwandlungsgleichgewichte: å-Quarz (trigonal)
575°C
ä-Quarz (hexagonal)
867°C
ä-Tridymit
1470°C
(hexagonal)
ä-Cristobalit
1713°C
Schmelze
(kubisch)
α-Tridymit und α-Cristobalit sind bei allen Temperaturen thermodynamisch instabile, in
der Praxis aber metastabile Formen. Mit Ausnahme von Stishovit enthalten alle SiO2-Modifikationen tetraedrisch koordinierte Si-Atome, die über zweifach koordinierte O-Atome zu einem dreidimensional unendlichen Raumnetz verknüpft sind. Die Si–O-Bindungen sind stark polar und sehr stabil. In der Hochdruckmodifikation Stishovit, die bei 1300°C und einem Druck von 12 GPa entsteht und in der Rutilstruktur (TiO2) kristallisiert, sind die Si-Atome oktaedrisch von O-Atomen koordiniert; die Koordinationszahl der O-Atome ist dann 3. Wegen der komplizierten dreidimensionalen Verknüpfung der Atome in den SiO2-Modifikationen sind die Phasenumwandlungen langsam, sofern es sich nicht nur um eine Änderung der Kristallsymmetrie handelt (z.B. α→β und umgekehrt). Aus diesem Grunde erhält man aus einer SiO2-Schmelze nur bei sehr langsamem Abkühlen Cristobalit. Beim rascheren Abkühlen erstarrt die Flüssigkeit dagegen glasig. Das entstehende Kieselglas (Quarzglas) ist bei 25°C metastabil und kristallisiert erst beim Tempern auf 1000°C allmählich. Kristallines und glasiges SiO2 sind gegen Säuren (außer Flusssäure) und verdünnte Laugen ziemlich beständig; beim Zusammenschmelzen mit Alkalimetallhydroxiden oder -carbonaten entstehen jedoch Metasilicate: SiO2 + 2 NaOH
Na2SiO3 + H2O
Feinteiliges und insbesondere frisch durch Hydrolyse von SiCl4 hergestelltes Kieselgel ist wesentlich reaktionsfähiger, da in solchen Präparaten noch zahlreiche Silanolgruppen (Si–OH) enthalten sind, die erst beim Lagern oder Erhitzen unter H2O-Abspaltung in die chemisch sehr beständigen Siloxangruppen (Si–O–Si) übergehen. Daher wird Kieselgel (SiO2·aq) oft auch als Kieselsäure bezeichnet. Besonders feinteiliges SiO2 wird indus-
286
8 Silicium und Germanium
triell in großem Maßstab durch Flammenhydrolyse von SiCl4 produziert, und zwar nach der Gleichung: SiCl4 + 2 H2 + O2
SiO2 + 4 HCl
In der Knallgasflamme herrschen sehr hohe Temperaturen, wodurch kugelförmige amorphe SiO2-Teilchen von etwa 10 nm Durchmesser entstehen (pyrogene Kieselsäure), die unter dem Handelsnamen Aerosil bekannt sind. Das dafür benötigte SiCl4 wird bei 900°C aus Ferrosilicium und HCl-Gas hergestellt (Hydrochlorierung): Fe/Si + 4 HCl
SiCl4 + Fe + 2 H2
HCl und H2 werden also bei diesem Prozess im Kreislauf geführt. Aerosil ist Füllstoff in weißen Silikon-Dichtungsmassen, es färbt die aus Kunststoff gefertigten Yachten weiß, und wird wegen seiner hohen Reinheit auch in Kosmetikartikeln und Tabletten eingesetzt. Daneben beeinflusst Aerosil das Fließverhalten von Farben und Lacken und dient zum Polieren von Mikrochips. Bezüglich einer durch Fällung aus wässriger Lösung hergestellten Kieselsäure siehe Abschnitt 8.8.2. Erhitzt man SiO2 mit Si im Molverhältnis 3:1 im Hochvakuum auf 1000–1300°C, entweicht gasförmiges SiO: Sif. + SiO2
2 SiO
Siliciummonoxid SiO disproportioniert beim langsamen Abkühlen wieder zu Si und SiO2. Beim Abschrecken erhält man dagegen schwarzbraunes, polymeres (SiO)n, das je nach den Versuchsbedingungen glasig oder faserförmig entsteht. Das glasige SiO bedeckt sich an der Luft mit SiO2 und ist dann gegen weitere Oxidation ziemlich beständig. Faserförmiges SiO ist pyrophor. Mit der Matrix-Technik wurde monomeres SiO zusammen mit den Heterocyclen (SiO)2 und (SiO)3 bei tiefen Temperaturen in festem Ar oder N2 isoliert. Die Dissoziationsenthalpie von SiO beträgt 715 kJ mol–1, was einer Doppelbindung entspricht. Bei seiner Polymerisation entstehen neue SiO- und SiSi-Einfachbindungen. Germaniumdioxid wird durch Hydrolyse von GeCl4 mit wässrigem NH3 hergestellt. Dabei entsteht die hexagonale Form, die in Wasser mit saurer Reaktion mäßig löslich ist und die dem β-Quarz entspricht (tetraedrisch koordinierte Ge-Atome). In Laugen löst sich GeO2 zu Germanaten. Beim Erhitzen auf 380°C wandelt sich das hexagonale GeO2 in eine tetragonale Form um, die in Wasser fast unlöslich ist und die in der Rutilstruktur kristallisiert (oktaedrische Koordination der Ge-Atome). GeO2 lässt sich durch Erhitzen mit elementarem Germanium zu monomerem GeO reduzieren. Polymeres GeO erhält man bei der Reduktion von GeO2 mit H3PO2 in salzsaurer Lösung, wobei Ge(OH)2 als Zwischenprodukt entsteht, das bei 650°C zu GeO entwässert wird. (GeO)n reagiert mit HCl bei 175°C zu GeHCl3 und H2O.
287
8.8 Oxosäuren, Silicate und Germanate
8.8
Oxosäuren, Silicate und Germanate
8.8.1 Kieselsäuren und Siloxane Die einfachste Oxosäure des Siliciums sollte in Analogie zu den Säuren der im Periodensystem benachbarten Nichtmetalle die Formel H4SiO4 besitzen: OH
OH HO Si OH
HO
P
O O
HO
S
O OH
HO Cl O
O O OH OH Orthokieselsäure Si(OH)4 ist aber im Gegensatz zu den drei anderen genannten Säuren nicht in reiner Form isolierbar. Bei der Hydrolyse von SiCl4 mit überschüssigem Wasser erhält man zwar bei großer Verdünnung und Einhaltung eines pH-Wertes von 3.2 primär eine Lösung von Si(OH)4. Diese sehr schwache Säure ist aber nicht beständig, sondern kondensiert spontan – auch in Gegenwart von Wasser – unter H2O-Abspaltung zu einem Gemisch von Oligo- und Polykieselsäuren: (HO)3SiOH + HOSi(OH)3
¿ H2O
(HO)3Si
O
Si(OH)3
¿ H2O
(H2SiO3)n
Da im Molekül Si(OH)4 vier OH-Gruppen vorliegen, kann die Kondensation zunächst eindimensional unter Ketten- und Ringbildung, dann zweidimensional unter Bildung von Schichten und schließlich dreidimensional erfolgen, wobei als Endprodukt das unlösliche Kieselgel entsteht: n Si(OH)4
(SiO2)n
+ 2n H2O
Die bei dieser spontanen Kondensation notwendigerweise als Zwischenprodukte auftretenden Kieselsäuren sind ebenfalls unbeständig und daher nicht isolierbar. Unter den natürlich vorkommenden Silicaten finden sich aber zahlreiche Salze dieser Säuren. Die obige Kondensationsreaktion ist umkehrbar. SiO2 löst sich in reinem Wasser ausschließlich in Form von undissoziiertem Si(OH)4. Die Sättigungskonzentration beträgt aber nur 7·10–5 mol L–1 (20°C/0.1 MPa), wenn der Bodenkörper aus Quarz besteht. Dennoch können Organismen wie Diatomeen („Kieselalgen“), Radiolarien, Schwämme und manche Pflanzen auf diese Weise Si aufnehmen und in Form von SiO2 zur mechanischen Stabilisierung ihres Körpers durch Kieselsäureskelette (SiO2·nH2O) einsetzen (Biomineralisation).25 Die Löslichkeit von amorphem, durch Fällung hergestelltem SiO2 ist mit 2·10–3 mol L–1 (bei pH ≈7) wesentlich größer als die von Quarz. Diese unterschiedliche Löslichkeit von amorphem und kristallinem SiO2 in H2O wird ausgenutzt, um große Quarzkristalle industriell herzustellen. Bei diesem als Hydrothermalsynthese26 bezeichneten Verfahren arbeitet man mit Wasser dicht unterhalb der kritischen Temperatur (374°C/22.1 MPa). Unter diesen Bedingungen ist SiO2 bei pH-Werten über 7 recht gut löslich. In einem senkrecht stehendem, geschlossenen, mit alkalischem Wasser (0.5–1.0 M NaOH oder Na2CO3) gefülltem Stahlrohr (Autoklav) befindet sich unten in der Auflö-
25 26
D. Volkmer, Chemie unserer Zeit 1999, 33, 6. R. Tacke, Angew. Chem. 1999, 111, 3197. M. Takano, Y. Takeda, O. Ohtaka, Encycl. Inorg. Chem. 1994, 3, 1372.
288
8 Silicium und Germanium
sungszone amorphes SiO2 oder Quarzpulver, das auf 340°C erhitzt wird, während die Impfkristalle in der darüber liegenden Wachstumszone auf 330°C gehalten werden. Nach 20–100 Tagen sind die Kristalle von α-Quarz auf eine Länge von einigen Dezimetern und einen Durchmesser von einigen Zentimetern angewachsen. Auf ähnliche Weise sind wahrscheinlich natürlich vorkommende Quarzkristalle entstanden. α-Quarz ist ein wichtiger Werkstoff, der optische Transparenz in einem weiten Spektralbereich (IR bis UV) mit hoher chemischer und thermischer Unempfindlichkeit vereint. Quarzkristalle werden auch wegen ihres piezoelektrischen Effektes27 verwendet. Bei der Hydrolyse von Monochlorsilan entsteht primär Silanol (Hydroxosilan), das jedoch spontan zu Disiloxan kondensiert: H3Si
Cl + H2O 2 H3Si
OH
H3Si
OH + HCl
H3Si
O
SiH3 + H2O
Mit aliphatischen Alkoholen reagieren Chlorsilane analog zu Alkoxysilanen. Vorsichtige Hydrolyse von SiHCl3 führt über das instabile Silantriol SiH(OH)3 unter Polykondensation zu Oligomeren der Zusammensetzung (HSiO1.5)2n mit n = 4–7. Diese Verbindungen, die mit Methylnitrit (MeONO) methyliert und dadurch stabilisiert werden können, besitzen käfigartige Strukturen folgender Art:28 R
Si
O
O
Si
R
O O O R Si O Si R R Si O Si R O O O O R
Si
O
Si
R
R
O Si O R Si O O R O Si O Si R O O Si R O Si R
Si
R
O Si R O O R Si O O Si O R
R R
Si
O
Si
O Si O R O R Si O R Si O O Si O R
R Si O O Si R O Si R O R Si O O O Si R O Si R O
Die Winkel an den O-Atomen sind jedoch etwas kleiner als 180°. Am einfachsten werden die Oktamere durch Hydrolyse von RSi(OEt)3 in Gegenwart von t-Bu4NF hergestellt (R z.B. Cyclopentyl, Phenyl): 8 RSi(OEt)3 + 12 H2O
R8Si8O12 + 24 EtOH
Man bezeichnet solche supramolekularen Verbindungen als Silasesquioxane oder Spherosiloxane. Ihre allgemeine Formel ist (RSiO1.5)2n. Sie können auch durch kinetisch gesteuerte Hydrolyse von Organotrichlorsilanen RSiCl3 synthetisiert sowie durch Oxidation entsprechender Polysilane (Abschnitt 8.11.1) mit meta-Chlorperbenzoesäure hergestellt werden. Die Variation der organischen Reste R erlaubt es dabei, ganz bestimmte Eigenschaften wie flüssigkristallines Verhalten oder katalytische Aktivität einzustellen. 27
28
Piezoelektrischer Effekt: Längenänderung eines Kristalls als Folge einer angelegten elektrischen Spannung; kann bei Wechselspannung zu Schwingungen führen (Schwingquarz in elektrischen Uhren). R. H. Baney et al., Chem. Rev. 1995, 95, 1409; im englischen Schrifttum wird auch der Ausdruck „silsesquioxane“ verwendet (lat. sesqui = anderthalbmal). In Analogie zu den Silikonen wird das Oktamer auch einfach als T8 bezeichnet.
289
8.8 Oxosäuren, Silicate und Germanate
In den Heterosilsesquioxanen sind entweder einzelne O-Atome durch RN-Gruppen oder einzelne RSi-Einheiten durch ein anderes Atom mit oder ohne einen Liganden ersetzt.
8.8.2 Silicate Silicate entstehen, wenn man SiO2 (Quarzsand) mit Oxiden, Hydroxiden oder Carbonaten der Alkali- oder Erdalkalimetalle zusammenschmilzt. Dabei werden je nach dem Mischungsverhältnis mehr oder weniger viele Siloxanbrücken gespalten und es entstehen zuerst hoch- und dann niedermolekulare Anionen: Si
O Si
+ Na2O
Na+ ¿O Si
+
Si O¿ +Na
Natrium- und Kalium-Silicate sind in Form wässriger Lösungen als Wasserglas im Handel. Sie werden aus Quarzpulver und Carbonat bei 1600°C erschmolzen: SiO2 + 2 Na2CO3
Na4SiO4 + 2 CO2
oder durch hydrothermalen Aufschluss aus Quarz und Natronlauge bei 200°C erzeugt (im Autoklav). Je nach dem Molverhältnis erhält man ein Gemisch von Ortho-, Oligo- und Metasilicaten. Nach dem Lösen in Wasser liegen infolge Hydrolyse hauptsächlich Hydrogensilicate wie MH3SiO4 und M2H2SiO4 vor; daher reagieren diese Lösungen stark alkalisch: Na4SiO4 + 3 H2O
4 Na+ + 3 [OH]¿ + [H3SiO4]¿
Hydrogensilicat-Anionen kondensieren je nach Konzentration, pH-Wert und Temperatur zu einer Vielzahl von linearen, cyclischen und käfigartigen Oligomeren, von denen 48 definierte Strukturen mit bis zu 9 Si-Atomen mittels 29Si-NMR-Spektroskopie nachgewiesen wurden.29 Beispiele sind ein prismatisches Hexamer und ein kubisches Oktamer, dessen Struktur dem auf der vorigen Seite abgebildeten kubischen Silasesquioxan entspricht (wobei R = O–). Säuert man wässrige Silicatlösungen an, entstehen zunächst die freien Kieselsäuren, die dann spontan kondensieren, so dass sich schließlich gelartiges Kieselgel (SiO2·aq) ausscheidet, das noch zahlreiche Silanolgruppen sowie viel durch H-Brückenbindungen gebundenes Wasser enthält. Derartige Produkte werden technisch als Fällungskieselsäure bezeichnet; ihr Feststoffgehalt (Glührückstand) beträgt bis zu 25 %. Kieselgel ist naturgemäß sehr hydrophil. Für manche Anwendungen ist aber ein hydrophobes Produkt erforderlich, das man durch Reaktion von Kieselgel mit Organochlorsilanen (R3SiCl oder R2SiCl2) erhält, wobei die Silanolgruppen in entsprechende Disiloxangruppen (SiOSi) überführt werden.30 Auf diese Weise wird auch die hydrophobe C18-Phase für die Hochleistungsflüssigkeitschromatographei (HPLC) hergestellt, nämlich durch Reaktion mit C18H27SiMe2Cl. Einige der in natürlichen Silicatmineralien vorkommenden niedermolekularen Anionen sind in Abbildung 8.4 dargestellt. Mehr als 1000 in der Natur vorkommende Silicate wurden charakterisiert und mehrere hundert synthetische Silicate kommen noch 29 30
C. T. G. Knight, R. J. Balec, S. D. Kinrade, Angew. Chem. 2007, 119, 8296. P. M. Price, J. H. Clark, D. J. Macquarrie, Dalton Trans. 2000, 101.
Schichtsilicate [(Si4O10)n]4n¿
[Si2O7]6¿
[Si3O9]6¿
Abb. 8.4 Anionenstrukturen verschiedener Silicate.
[SiO4]4¿
[Si4O12]8¿
Gerüstsilicate
[Si6O18]12¿
[(SiO3)n]2n¿ [(Si4O11)n]6n¿
290 8 Silicium und Germanium
8.8 Oxosäuren, Silicate und Germanate
291
hinzu. Außer durch Röntgenstrukturanalyse können feste Silicate auch mittels 17O- und analysiert werden. Orthosilicate (Inselsilicate) enthalten das tetraedrische Anion [SiO4]4–, das mit dem Sulfat-Ion isoelektronisch ist. Beispiele sind Olivin Mg2SiO4 und Granat Ca3Al2[SiO4]3. Natürliche Disilicate sind z.B. Thortveitit Sc2Si2O7 und Barysilit Pb3Si2O7. In den Anionen des Thortveitits liegen lineare Siloxanbrücken vor. In den verschiedenen cyclo-Silicaten sind SiO4-Tetraeder über gemeinsame O-Atome so verknüpft, dass heterocyclische Ringe mit alternierender Atomanordnung SiOSiO… entstehen, wobei die SiO-Einheiten als diskrete Ringglieder gelten. Diese Silicate der allgemeinen Formel [(SiO3)n]2n– heißen Metasilicate. Natürliche Beispiele sind α-Wollastonit Ca3[Si3O9] und Beryll Be3Al2[Si6O18]. Strukturell charakterisiert wurden aber alle Typen mit n = 3, 4, 6, 8, 9, 12 und 18. Darüber hinaus gibt es auch bicyclische und dimere Anionen. Das Disilicat-Ion ist das Anfangsglied einer Reihe von kettenförmigen Anionen, die bei sehr großer Kettenlänge ebenfalls die idealisierte Formel [(SiO3)n]2n– aufweisen (Abb. 8.4). Natürliche Silicate dieser Art sind z.B. β-Wollastonit CaSiO3 und Enstatit MgSiO3. In den Kristallen dieser Mineralien liegen parallel zueinander negativ geladene Kettenmoleküle vor, zwischen denen die Kationen eingelagert sind, wobei elektrostatische Kräfte für den Zusammenhalt des Kristalls sorgen. Da bei einer solchen Struktur die Größe und die Ladung der Kationen offensichtlich von untergeordneter Bedeutung sind, kennt man auch Metasilicate mit unterschiedlichen Kationen, z.B. Diopsid CaMg[Si2O6] und Spodumen LiAl[Si2O6]. Werden mehrere (SiO3)n-Ketten über gemeinsame O-Atome miteinander verbunden, entstehen zunächst Doppelketten- oder Band-Strukturen und schließlich zweidimensional unendliche Schichten (Phyllosilicate). Mögliche Verknüpfungen zeigt Abbildung 8.4. Zu den Bandsilicaten gehören die Amphibole, während die Tone und Glimmer den Schichtsilicaten zuzurechnen sind. Auch die verschiedenen Asbeste bestehen aus Band- oder Schichtsilicaten.31 Ein bekanntes natürliches Schichtsilicat ist der Bentonit, eine Mischung aus verschiedenen Tonmineralien mit Montmorillonit NaMgAl5[(Si4O10)3]·12H2O als Hauptbestandteil. Bentonit wird in großen Mengen abgebaut und wegen seiner großen inneren Oberfläche als Adsorptionsmittel zur Reinigung von Speiseöl, Wein und Saft sowie als Trockenmittel verwendet. Bei einer dreidimensionalen Verknüpfung von SiO4-Tetraedern über gemeinsame Ecken entstehen die Strukturen des Quarzes, Tridymits und Cristobalits. In diesen sind alle O-Atome in Siloxanbrücken gebunden; Kationen sind daher nicht vorhanden. Von diesen SiO2-Strukturen leiten sich dennoch ionische Silicate ab, nämlich die Gerüst- oder Tektosilicate, die dreidimensional unendlich ausgedehnte Anionen enthalten. Diese entstehen formal dadurch, dass man in der (SiO2)n-Struktur bis zu 50 % der Si-Atome durch das isoelektronische Ion Al– ersetzt. Aus Gründen der Elektroneutralität ist dann eine entsprechende Zahl von Kationen notwendig. Beispiele für derartige Alumosilicate sind Orthoklas (Kalifeldspat) K[AlSi3O8] und Anorthit (Kalkfeldspat) Ca[Al2Si2O8]. Die Kationen befinden sich dabei in den Hohlräumen der aus SiO4- und AlO4-Tetraedern bestehenden Struktur. Auch die Ultramarine sind Alumosilicate, deren blaue oder grüne 29Si-NMR-Spektroskopie
31
Eine sehr lesenwerte Übersicht über Strukturen, Eigenschaften und gesundheitlichen Folgen von Asbest findet man bei C. Röhr, Chemie unserer Zeit 1998, 32, 64.
292
8 Silicium und Germanium c
b
a Sauerstoff
Silicium oder Aluminium
d
Sodalith-Käfig
e
Sodalith
Sodalith-Käfig
f
Linde A
Faujasit, Linde X, Linde Y
Abb. 8.5 Schematisierte Strukturen von Zeolithen verschiedener Art. (a) Zweikernige Baugruppe in Alumosilicaten (zwei eckenverknüpfte Tetraeder) (b) Sodalith-Käfig aus 24 Tetraedern (c) Sodalith-Käfig, schematisiert (d) Struktur von Sodalith (e) Struktur des Zeoliths A (beispielsweise Linde A) (f) Struktur der Zeolithe Faujasit, Linde X und Linde Y.
Färbung auf eingeschlossene Polysulfid-Radikal-Anionen ([S2• ]– und [S3• ]–) zurückzuführen ist. Die blaue Form wurde als Lapislazuli seit dem Altertum als wertvolles mineralisches Pigment und Halbedelstein verwendet. Hauptfundort ist Afghanistan. Seit nahezu 200 Jahren wird dieses Silicat jedoch auch synthetisch hergestellt. Die weite Verbreitung der Alumosilicate ist dafür verantwortlich, dass neben Silicium auch das Aluminium ein sehr häufiges Element in der Erdkruste darstellt. Al steht nach O und Si mit 8.2 % an dritter Stelle und ist damit das häufigste Metall. Alumosilicate leiten sich im Übrigen auch von den oben besprochenen Oligo- und PolysilicatAnionen ab. Eine besonders interessante und technisch wichtige Gruppe der Alumosilicate sind die Zeolithe,32 deren Strukturen durch größere Hohlräume charakterisiert sind, d.h. es handelt sich um mikroporöse kristalline Festkörper. Beim Mineral Faujasit [Na2,Ca,Mg]29[Al58Si134O384]·240 H2O beispielsweise besteht die Struktur aus korbartigen Bauelementen, wie sie in Abbildung 8.5 dargestellt sind. Derartige Gruppen sind so miteinander verbunden, dass zahlreiche Hohlräume und Kanäle entstehen. In den Hohlräumen befinden sich die Kationen und die Moleküle des in der Formel angegebenen Wassers. Ein Teil des Wassers liegt allerdings in Form von Silanolgruppen vor.33 Da die Kationen elektrostatisch gebunden und damit frei beweglich sind, können sie leicht gegen 32 33
C. D. Williams, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 8, 5831. J. Chen et al., Angew. Chem. 1995, 107, 2898.
8.8 Oxosäuren, Silicate und Germanate
293
andere ausgetauscht werden. Zeolithe eignen sich daher als Kationenaustauscher. Die Hohlräume der Faujasit-Struktur sind, wie aus Abbildung 8.5 zu erkennen ist, nur durch Fenster bestimmter Größe zugänglich. Der Innendurchmesser der Käfige beträgt 660 bzw. 1160 pm, die zugehörigen Fenster sind aber nur 250 bzw. 740 pm weit. Derartige Strukturbesonderheiten, die bei zahlreichen natürlich vorkommenden und synthetisch gewonnenen Zeolithen zu finden sind, ermöglichen die Verwendung dieser Silicate als wasserunlösliche Adsorptionsmittel und als Molekularsiebe. Entfernt man nämlich das in den Hohlräumen befindliche und über Wasserstoffbrücken gebundene Wasser durch Erhitzen des Zeoliths im Vakuum auf ca. 350°C, so hat man danach ein stark hygroskopisches Material, das sich zum Trocknen von Gasen und Lösungsmitteln eignet und das nach der Verwendung als Trockenmittel durch erneutes Erhitzen im Vakuum wieder regeneriert werden kann. Die Trocknung der Lösungsmittel beruht dabei darauf, dass H2O starke Wasserstoffbrücken-Bindungen zu den anionischen O-Atomen des Silicats bildet, wozu Ether, Ester, Kohlenwasserstoffe usw. nicht in der Lage sind, während Alkohole und Amine nicht so fest gebunden werden wie Wasser. Aus ähnlichen Gründen kann man mit Molekularsieben auch Wasserdampf aus O2, N2, Cl2 und Edelgasen entfernen. Gleichzeitig gibt es aber auch einen Siebeffekt, da kleinere Moleküle durch die Poren in die inneren Käfige eintreten können, wozu größere Moleküle nicht in der Lage sind. Dieser Siebeffekt ermöglicht beispielsweise die Entfernung von O2 aus Argon und die Abtrennung von O2 aus Luft. Als Adsorptionsmittel werden Zeolithe in der Gaschromatographie eingesetzt, womit man beispielsweise die Trennung von ortho- und para-H234 sowie von H2, HD und D2 erreicht. Zeolithe werden heute überwiegend synthetisch hergestellt, beispielsweise durch Auflösen des Minerals Boehmit (AlOOH) in Natronlauge zu Natriumaluminat Na[Al(OH)4], das dann mit Wasserglas (Na2SiO3) und Natronlauge zum gelartigen Alumosilicat umgesetzt wird. Durch Behandeln mit Wasserdampf wird das Gel zur Kristallisation gebracht. Man kann die Eigenschaften der so hergestellten Zeolithe dem Verwendungszweck anpassen, indem man die Größe der Käfige und Fenster variiert.35 Der wichtigste synthetische Zeolith ist das Produkt „Linde A“ mit der idealisierten Zusammensetzung Na12[Al12Si12O48]·27 H2O, das hauptsächlich in Waschmitteln eingesetzt wird (Zeolith A, Na[AlSiO4]).36 Aber auch Faujasit wird industriell hergestellt. Voraussetzung für die Verwendung der Zeolithe als Trockenmittel ist, dass die Struktur beim Entwässern nicht zerstört wird. Zeolithe dienen weiterhin als Katalysatoren in der Petrochemie (z.B. der Si-reiche Zeolith ZSM 5). Um Zeolithe mit maßgeschneiderten Größen der Poren und Kanäle zu erhalten, setzt man bei der Synthese sperrige organische Amine als strukturdirigierende Agentien (Templatmoleküle)34 zu, die am Ende durch Erhitzen des Produktes auf 500°C in Gegenwart von Sauerstoff (Calcinieren) ausgebrannt werden. Besonders große Poren im Bereich 15–100 Å und damit eine extrem große innere Oberfläche 34
35 36
Im o-H2 sind die Kernspins der H-Atome parallel, im p-H2 antiparallel ausgerichtet. o-H2 ist um 80 J mol–1 energiereicher als p-H2. Bei 25°C besteht Wasserstoffgas aus 75 % o-H2 und 25 % p-H2; nahe 0 K liegt im Gleichgewicht nur p-H2 vor. M. E. Davis, Chem. Eur. J. 1997, 3, 1745. S. I. Zones et al., ibid. 1998, 4, 1312. Moderne Kompaktwaschmittel bestehen zu ca. 40 % aus Gerüststoffen, die „Builder“ genannt werden (z.B. Zeolith), 35 % Bleichmitteln (z.B. Perborat), 20 % Tensiden, je 1 % Enzymen und Vergrauungsinhibitoren, 0.3 % optischen Aufhellern und 2 % sonstigen Zusätzen.
294
8 Silicium und Germanium
(>1000 m2 g–1) erhält man bei Zusatz von kationischen Tensiden, die sich in Lösung zu Micellen organisieren und mit den Alumosilicat-Anionen Komplexe bilden, deren Gestalt die Struktur des schließlich entstehenden mesoporösen Produktes bestimmen.37 Eine weitere neue Entwicklung ist die Synthese von Titanosilicaten, das sind Zeolithe, in denen ein Teil der Si-Atome durch Ti ersetzt ist und die besonders für katalytische Anwendungen interessant sind.38 Ti ist dabei wie Si und Al tetraedrisch von O-Atomen koordiniert, aber im Gegensatz zu Silicium zu Redoxreaktionen befähigt.
8.8.3 Germanate In Analogie zum Silicium bildet auch Germanium keine bei Raumtemperatur beständigen Oxosäuren, wohl aber eine große Zahl von entsprechenden Salzen, nämlich Germanaten und Polygermanaten. Diese erhält man durch Lösen von GeO2 in Laugen oder durch Zusammenschmelzen von GeO2 mit Metalloxiden. Dabei entstehen je nach dem Mischungsverhältnis und den Reaktionsbedingungen Orthogermanate [GeO4]4– oder kettenförmige Metagermanate [GeO3]2– sowie verschiedene Oligogermanate mit Anionen wie [Ge2O7]6–, [Ge5O11]2–, [Ge5O12]4– und [Ge9O20]4–.
8.9
Gläser39
Wenn man Siliciumdioxid oder bestimmte Silicate schmilzt und anschließend nicht zu langsam abkühlt, erhält man im Allgemeinen nicht kristalline, sondern glasige Produkte. Derartige Silicatgläser sind von größter praktischer Bedeutung. Es soll daher hier der glasige Zustand etwas näher betrachtet und gegen den kristallinen Zustand abgegrenzt werden. Ein Glas ist ein fester Körper mit einer dichten Packung von Atomen, wobei diese zwar eine Nahordnung, aber über mehrere Atomabstände hinweg keine periodische Fernordnung wie ein Kristallgitter aufweisen. Im Falle des Kieselglases („Quarzglas“) hat man sich die Atomanordnung etwa wie in Abbildung 8.6 vorzustellen. Die Glasbildung ist immer die Folge einer verhinderten Kristallisation, d.h. das Glas befindet sich nicht im thermodynamischen Gleichgewicht, sondern es ist amorph und damit metastabil und energiereicher als der entsprechende Kristall. Ganz überwiegend werden Gläser durch Erstarren von Schmelzen erhalten, seltener durch Kondensation von Dämpfen oder nach dem Sol-Gel-Verfahren (siehe unten). Wenn beim Abkühlen einer Schmelze keine Kristallisation eintritt, dann muss die Umordnung der in der Schmelze vorhandenen Teilchen zur Struktur des Kristalls erschwert sein. Dies liegt bei den Silicaten an der hohen Viskosität der Schmelze, die auf die starken Si–O-Bindungen in Verbindung mit der dreidimensionalen Vernetzung zurückzuführen ist. Außerdem hat eine SiO2-Schmelze eine komplizierte Zusammensetzung mit molekularen Clustern verschie37 38 39
J. Y. Ying, C. P. Mehnert, M. S. Wong, Angew. Chem. 1999, 111, 58. R. Murugavel, H. W. Roesky, Angew. Chem. 1997, 109, 491. J.-L. Adam, J. Lucas, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 6, 3670. C. Rüssel, D. Ehrt, Chemie unserer Zeit 1998, 32, 126.
295
8.9 Gläser
(a)
(b)
Abb. 8.6 Schematisierte zweidimensionale Darstellung der Verknüpfung der SiO4-Tetraeder (a) im kristallinen und (b) im glasigen SiO2. Die Koordinationszahl der Si-Atome (schwarz) ist in beiden Fällen 4 (das vierte O-Atom liegt oberhalb bzw. unterhalb der Papierebene). Die „Ringgrößen“ (Zahl der Tetraeder) variieren im glasigen Zustand zwischen 4 und 8, verglichen mit 6 im Quarz.
dener Größe. Dies gilt besonders für Silicate mit polymeren Anionen, wobei in der Schmelze Anionen verschiedener Größe miteinander im Gleichgewicht stehen. Gläser mit einer Raumnetzstruktur kennt man aber nicht nur vom SiO2 und den Silicaten, sondern auch von anderen Oxiden wie B2O3, GeO2, P2O5, As2O5, Sb2O5, TeO2 und den Salzen dieser Oxide, sofern sie polymere Anionen enthalten (Oxidgläser). Die meisten der heute gebräuchlichen Gläser sind aber Vielkomponentensysteme, die aus 7–10 verschiedenen Oxiden erschmolzen werden. Die genannten Verbindungen werden als Netzwerkbildner bezeichnet, im Gegensatz zu den Netzwerkwandlern, das sind vor allem Alkali- und Erdalkalimetalloxide, die die dreidimensionale Vernetzung durch die Bildung von terminalen O-Atomen vermindern (siehe Abb. 8.4). Daneben gibt es die große Gruppe der Chalkogenidgläser, die ebenfalls durch polymere, auf kovalenten Bindungen beruhenden Strukturen charakterisiert sind.40 Hierzu gehören elementares Selen, die binären Verbindungen SiS2, GeSe2, As2S3 und As2Se3 sowie ternäre und quartäre Mischungen wie As12Ge33Se55, das kommerziell hergestellt wird, da es für infrarote Strahlung durchlässig ist. Diese Chalkogenidgläser, die allesamt Halbleiter mit Bandlücken zwischen 1 und 3 eV darstellen, werden im Allgemeinen durch Abkühlen einer Schmelze erzeugt. Anders als kristalline Stoffe werden Gläser beim Erhitzen nicht bei einer bestimmten Temperatur flüssig, sondern erweichen allmählich und gehen bei der Glasübergangstemperatur Tg in den zähflüssigen Zustand über. Dieser Übergang ist endotherm. Die Glasübergangstemperatur, die auch als Transformationstemperatur bezeichnet wird, ist die Temperatur, oberhalb derer ein Glas unter Krafteinwirkung fließt. Misst man die Volumenausdehnung (oder die Längenausdehnung) eines Glaskörpers als Funktion der Temperatur, ergibt sich Tg als die Temperatur, bei welcher der lineare Ausdehnungskoeffizient plötzlich ansteigt. Die Viskosität beträgt bei Tg typischerweise 1012–13 Pa s. Durch längeres 40
H. Eckert, Angew. Chem. Adv. Mat. 1989, 101, 1763. Bezüglich Metallhalogenidgläsern wie BeF2, AlF3 und ZrF4 siehe die in der voran stehenden Fußnote zitierte Literatur.
296
8 Silicium und Germanium
Erhitzen (Tempern) auf Temperaturen oberhalb von Tg können Spannungen im Glas abgebaut werden (Relaxation), jedoch besteht auch die Gefahr der beginnenden Kristallisation oder der Entmischung (Phasentrennung). Erst deutlich oberhalb der Erweichungstemperatur Ts (Viskosität ca. 106 Pa s) können Gläser durch Verformung bearbeitet werden. Kieselglas (Quarzglas) hat eine besonders hohe Glasübergangstemperatur von ca. 1200°C und erfordert Temperaturen von über 1800°C zum Glasblasen oder zur Herstellung von optischen Bauteilen wie Linsen, Prismen oder Fenstern. Durchsichtiges Kieselglas wird durch Schmelzen von reinstem Bergkristall in der Knallgasflamme oder auf elektrischem Wege erzeugt. Für Quarzgut, das nur durchscheinend ist, wird reiner Sand bei ca. 1800°C weitgehend geschmolzen, jedoch verbleiben noch Phasengrenzen und Gasblasen, die dem abgekühlten Produkt ein milchiges Aussehen geben. Glasfasern für Lichtleiter werden auf eine komplizierte Weise durch Gasphasenabscheidung von SiO2 hergestellt. Solche Fasern können Licht ohne größere Verluste über Entfernungen von mehr als 100 km weiterleiten, wenn hochreines SiO2 verwendet wird. Dieses wird durch Gasphasenoxidation von reinstem SiCl4 in einem Hochfrequenzplasma oder in einer Knallgasflamme erzeugt: SiCl4 + O2
1200¿1800°C
SiO2 + 2 Cl2
Hierzu wird beispielsweise ein Quarzglasrohr dadurch auf der Innenseite mit reinstem SiO2 beschichtet, dass man auf der einen Seite ein SiCl4/O2-Gemisch zuführt, auf der anderen Seite das Cl2 abpumpt und den Druck auf 2 kPa einstellt, während das Gasgemisch im Rohr von außen auf 1200°C erhitzt oder durch eine Mikrowellen-Gasentladung zur Reaktion gebracht wird. Die Entladungszone wird langsam an dem gesamten Rohr entlang geführt, so dass eine dicke Schicht von reinstem SiO2 entsteht, die zur Erhöhung des Brechungsindex auch noch mit Germanium dotiert werden kann, wozu man dem SiCl4 etwas GeCl4 beimischt. Danach wird das Rohr soweit erhitzt, dass es kollabiert, wonach es zum faserförmigen Lichtleiter ausgezogen werden kann. Für den Laborbetrieb geeignete Gläser sind Jenaer Geräteglas 20, Duran, Rasotherm und Pyrex, bei denen es sich um Borosilicatgläser handelt. Deren Anionen sind denen der Alumosilicate verwandt, nur dass Al weitgehend durch B ersetzt ist. Das häufig verwendete Duranglas besteht aus SiO2 (74 %), B2O3 (14 %), Al2O3 (3.5 %), Na2O (4.5 %) und BaO (3 %) nebst Spuren von K2O und CaO. Alkalisilicatgläser weisen wesentlich niedrigere Glasübergangs- und Erweichungstemperaturen als Kieselglas auf (Duran: Tg = 534°C). Andererseits sind solche Gläser hydrolytisch und thermisch etwas weniger resistent als Kieselglas. Fensterglas besteht aus SiO2 (72 %), Al2O3 (1.5 %), Na2O (14.5 %), CaO (8.5 %) und MgO (3.5 %). Technisch hergestellte Glasfasern (Glaswolle) haben eine ähnliche Zusammensetzung wie Duranglas; sie werden durch Zusammenschmelzen von Quarzsand, Soda (Na2CO3), Pottasche (K2CO3), Borax, Feldspat, Dolomit (CaCO3·MgCO3) und Altglasscherben hergestellt und hauptsächlich zur Wärmedämmung im Hausbau eingesetzt.41 Ein besonders temperaturunempfindliches Glas wird aus dem Inselsilicat LiAlSiO4 mit gewissen Zusätzen hergestellt und als CERAN für Kochfelder von Küchenherden verwendet.
41
Andere anorganische Fasern sind Steinfasern (Steinwolle), Kohle- oder Graphitfasern sowie Fasern aus Siliciumcarbid oder Al2O3.
8.9 Gläser
297
Ein neues Verfahren zur Glasherstellung eröffnen die Sol-Gel-Verfahren,42 die ohne Schmelze auskommen. Ausgangsprodukt ist ein Alkoxid wie Si(OEt)4 (Kieselsäureester), das in Ethanol gelöst und dann durch allmähliche Wasserzugabe hydrolysiert wird. Dabei werden Basen oder Säuren als Katalysatoren zugesetzt. In dem Maße, wie die OEtGruppen durch OH-Gruppen ersetzt werden, tritt spontane Polykondensation ein. Über ein transparentes Sol (Dispersion von kolloiden Teilchen) entsteht ein festes Gel von SiO2(aq), das bei 120°C zum so genannten Xerogel entwässert und dann bei 600–1200°C unter beträchtlicher Schrumpfung in ein Glas überführt werden kann. Die Glasbildung erfolgt oberhalb der Glasübergangstemperatur, aber unterhalb der Schmelztemperatur. Durch Zumischen von Alkoxiden anderer Elemente können auf diese Weise Gläser der verschiedensten Zusammensetzung erzeugt werden.43 Wird das oben beschriebene Gel unter speziellen Bedingungen so getrocknet, dass es sein Volumen behält, entsteht ein sehr lockeres Aerogel, dessen Dichte typischerweise nur 0.1 g cm–3 beträgt, so dass es auf Wasser schwimmt. Solche Gele sind außerordentlich gut wärmeisolierend und eignen sich als hochporöse Materialien unter anderem als Träger für Katalysatoren.44 Glasiges Erstarren beobachtet man auch bei zahlreichen Systemen, die in der Schmelze aus kleinen Molekülen oder Ionen bestehen. Beispielsweise erstarrt eine Schmelze von KNO3, die 30 bis 47 mol-% Ca[NO3]2 enthält, als Glas, da die unterschiedlichen Ionenladungen und Ionengrößen die Kristallisation erschweren. Ein häufiger Fall ist auch das glasige Erstarren von Verbindungen, die durch Wasserstoffbrücken assoziiert sind, wie konzentrierte Schwefel- oder Phosphorsäure, Glycerin und andere Alkohole. Hier ist es die Assoziation der Flüssigkeiten, wodurch die Moleküle nicht die zum Kristallwachstum notwendige Beweglichkeit besitzen. Allgemein gilt, dass Gläser energiereicher als die entsprechenden kristallinen Verbindungen sind, da in ihnen noch ein Teil der Schmelzenthalpie enthalten ist, die bei der Kristallisation abgegeben wird. Den Gläsern stehen die keramischen Werkstoffe Porzellan, Töpferwaren und Steingut nahe, die jedoch in der Regel einen kristallinen Anteil von wenigstens 30 % aufweisen.45 Glaskeramiken haben ebenfalls einen beträchtlichen kristallinen Anteil, der durch eine geeignete Temperaturbehandlung (Tempern) eines Glases gezielt herbeigeführt wird. Die winzigen Kristallite sind dabei in der Regel in der amorphen Glasmatrix statistisch verteilt und orientiert, so dass sich keine anisotropen Eigenschaften ergeben.39
42
43 44 45
J. D. Wright, N. A. J. M. Sommerdijk, Sol-Gel Materials, Chemistry and Applications, Gordon and Breach, Amsterdam, 2001. Themenheft Sol-Gel Chemistry and Materials, in Acc. Chem Res. 2007, 40, No. 9. D. A.Loy, K. J. Shea, Chem. Rev. 1995, 95, 1431. R. Corriu, D. Leclercq, Angew. Chem. 1996, 108, 1525. N. Hüsing, U. Schubert, Angew. Chem. 1998, 110, 23. A. C. Pierre, G. M. Pajonk, Chem. Rev. 2002, 102, 4243. Yanagida, K. Koumoto, M. Miyayama (Herausg.), The Chemistry of Ceramics, Wiley, Chichester, 1996.
298
8 Silicium und Germanium
8.10 Silicium-Stickstoff-Verbindungen Silicium bildet eine große Zahl von Verbindungen mit Si–N-Bindungen. Diese Bindungen können am einfachsten durch Kondensation von Si-Halogeniden mit Ammoniak oder Aminen errichtet werden: 3 H3Si Cl + 4 NH3
(H3Si)3N + 3 NH4Cl
Trisilylamin ist wie das analoge Trimethylamin eine farblose Flüssigkeit, aber eine viel schwächere LEWIS-Base als dieses. Mit Me2NH reagiert H3SiBr formal zu Me2NSiH3, das jedoch nicht monomer, sondern als cyclisches Pentamer vorliegt (Schmp. 3°C): Me2 N H3Si
SiH3 NMe2
Me2N
SiH3
H3Si Me2N
Si H3
NMe2
d (SiN) = 198 pm Winkel (NSiN) = 178° Winkel (SiNSi) = 110°
Formal entstehen hierbei koordinative σ-Bindungen zwischen den N-Atomen des einen Moleküls und den Si-Atomen des Nachbarmoleküls, wodurch sich die Koordinationszahl von N auf 4 und von Si auf 5 erhöht. Silylamine werden von H2O hydrolysiert. SiCl4 reagiert mit Ammoniak bei 25°C in CH2Cl2 über Zwischenstufen zu polymerem Siliciumdiimid, wenn man das primär entstehende Produktgemisch zur Vervollständigung der Reaktion und zur Abtrennung des sublimierbaren Nebenproduktes schließlich auf 600°C erhitzt: SiCl4 + 6 NH3
Si(NH)2 + 4 NH4Cl
Si(NH)2 wird technisch hergestellt, ist aber extrem hydrolyseempfindlich. Es entspricht nach dem Hydridverschiebungssatz46 formal dem ebenfalls polymeren SiO2, und so wie aus letzterem zahllose Silicate (Oxosilicate) hergestellt werden können, lassen sich aus Si(NH)2 viele Nitridosilicate gewinnen, die aus tetraedrischen SiN4-Einheiten aufgebaut sind.47 Das einfachste Anion dieser Art liegt im Ba5Si2N6 vor, das ein aus zwei kantenverknüpften Tetraedern bestehendes Anion [Si2N6]10– enthält. In stärker vernetzten Nitridosilicaten sind die SiN4-Baugruppen z.T. auch dreidimensional über gemeinsame Kanten verknüpft, z.B. im MgSiN2. Daneben existiert eine zunehmende Zahl von synthetischen Oxonitridosilicaten, die ternäre Anionen enthalten. Bezüglich Siliciumnitrid, siehe Abschnitt 8.12.2. 46 47
Dieser Satz besagt, dass die Gruppen CH2, NH und O bindungsmäßig vergleichbar, d.h. isoelektronisch und isolobal sind; ebenso die Gruppen CH3, NH2, OH und F. W. Schnick, H. Huppertz, Chem. Eur. J. 1997, 3, 249 und 679. F. Liebau, Angew. Chem. 1999, 111, 1845.
299
8.11 Organosilicium-Verbindungen
8.11 Organosilicium-Verbindungen Vom Silicium ist eine unübersehbar große Zahl von organischen Verbindungen bekannt.48 Hierzu gehören zum Beispiel die Organosilane, die Organodisilene und die Organosiloxane. Funktionalisierte Organosilane sowie Organosiloxane (Silikone) sind von enormer technischer Bedeutung. Die organische Chemie des Germaniums ist der des Siliciums weitgehend analog,49 jedoch von geringer praktischer Bedeutung.
8.11.1 Organosilane Die wichtigste Labormethode zur Errichtung von Si–C-Bindungen ist die Alkylierung oder Arylierung von Chlorsilanen wie SiCl4 mittels Li-, Zn-, Hg- oder Al-Organylen oder durch GRIGNARD-Verbindungen: SiCl4 + 4 RMgX
R4Si + 2 MgX2 + 2 MgCl2
X = Cl, Br
Aus SiHCl3 erhält man entsprechend Triorganylsilane R3SiH, z.B.: SiHCl3 + 3 i-PrLi
i-Pr3SiH + 3 LiCl
Ausgehend von Si2Cl6 kann man Me6Si2 herstellen, das mit MeLi oder MeONa zu Trimethylsilylsalzen M[Me3Si] (M = Li, Na) reagiert, woraus unsymmetrisch substituierte Organylsilane hergestellt werden können: Me6Si2 + MeLi
Me3SiLi + Me4Si
Me3SiLi + R X
Me3Si
R + LiX
X = Cl, Br
Me3SiLi + Ph3SiCl
Me3Si
SiPh3 + LiCl
Ein weiteres wichtiges Verfahren zur Synthese von Organosiliciumverbindungen ist die Hydrosilylierung (Abschnitt 8.6.3). Technisch von größter Bedeutung ist die sogenannte Direktsynthese nach dem ROCHOW-Verfahren, bei dem Alkyl- oder Arylchloride in einem Wirbelschichtofen mit pulverisiertem Silicium bei 280–330°C in Gegenwart eines Kupferoxidkatalysators umgesetzt werden. Am wichtigsten ist die (exotherme) Reaktion von CH3Cl mit Si, die zur Herstellung von Me2SiCl2 für die Produktion von Silikonen dient (Abschnitt 8.11.3): Sif. + 2 MeCl
Cu2O
Me2SiCl2
Das zugesetzte Cu2O wird während der Reaktion über CuCl in den eigentlichen Katalysator Cu3Si umgewandelt, der dann mit dem Monochlormethan reagiert. Als Nebenprodukte erhält man die anderen Vertreter der Reihe MenSiCl4–n (n = 1–4), die durch Destillation abgetrennt werden; Me2SiCl2 (Sdp. 70°C) hat von allen Produkten den höchsten Siedepunkt. 48
49
H. Sakurai, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 8, 5159; R. West et al., ibid. 2005, 6, 3389. M. Weidenbruch, Chem. Rev. 1995, 95, 1479; E. Hengge, R. Janoschek, ibid. 1495; M. K. Steinmetz, ibid. 1527. M. B. Holl, D. R. Peck, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1650.
300
8 Silicium und Germanium
Die Si–C-Bindung ist thermisch sehr stabil und auch chemisch nicht besonders reaktiv. Beispielsweise zersetzt sich Tetramethylsilan Me4Si (TMS; Sdp. 27°C) erst oberhalb von 650°C. Die mittlere Si–C-Bindungsenthalpie beträgt 318 kJ mol–1 (Tab. 4.1), aber die erste Si–C-Dissoziationsenthalpie von TMS ist mit 387 kJ mol–1 sogar noch größer. Von verdünnter Natronlauge wird TMS nicht hydrolysiert, obwohl die Reaktion zu SiO2 und CH4 thermodynamisch möglich, d.h. exergonisch ist. Eine Besonderheit peralkylierter Oligosilane (R2Si)n ist die σ-Konjugation, die zu einer starken Absorption im nahen UV führt und die auf diese Weise nachgewiesen werden kann. Dabei handelt es sich um eine teilweise Delokalisierung von Elektronendichte aus bindenden Si–C-Orbitalen in die antibindenden Orbitale benachbarter Si–Si-Bindungen, die in anti-Stellung ungefähr in der gleichen Ebene liegen: C
C +
C +
-
Si
+
Si
Si
-
Si C
Funktionalisierte Organosilane tragen entweder am Si-Atom eine funktionelle Gruppe (H, Na, OH, OMe), oder der organische Rest (R) weist eine derjenigen funktionellen Gruppen auf, die aus der Organischen Chemie bekannt sind. Tris(trimethylsilyl)silan (Me3Si)3SiH ist ein Reduktionsmittel in der organischen Synthese, das dabei in ein Silylradikal übergeht. Sind am tetraedrisch koordinierten Si-Atom vier verschiedene Gruppen gebunden, tritt wie bei den entsprechenden Kohlenstoffverbindungen Chiralität auf. Ein Beispiel dafür ist das Methylnaphthylphenylsilan (CH3)(C10H7)(C6H5)SiH, dessen Enantiomere getrennt wurden. Ein interessantes Silan ist das Tetrasulfan (EtO)3Si–(CH2)3–S4–(CH2)3–Si(OEt)3, das in großem Maßstab zur Vulkanisation von Gummi für Autoreifen verwendet wird, und zwar in Verbindung mit Kieselsäure (SiO2) als Füllstoff.50 Während die Tetrasulfangruppe mit dem organischen Polymer reagiert und kovalente S–C-Bindungen bildet, setzen sich die Ethoxygruppen mit oberflächlichen Silanol-Gruppen der Kieselsäure um, wobei EtOH und sehr starke Si–O–Si-Bindungen entstehen. Dadurch wird das Füllmaterial mit der organischen Matrix fest verbunden, was zu geringerem Abrieb beim Fahren und damit zu einer längeren Lebensdauer der Reifen führt. Aus den Organosilangruppen R2Si und RSi lassen sich große Ringe, lange Ketten und polyedrische Cluster aufbauen, und viele derartige Verbindungen wurden synthetisiert. Beispiele für Cluster sind das auf der folgenden Seite abgebildete Hexasilaprisman und Octasilakuban. Die Seitengruppen R müssen in diesen Fällen möglichst sperrig sein, um den Cluster kinetisch zu stabilisieren, z.B. durch 2,3-Diethylphenyl. Man erhält solche Verbindungen durch reduktive Enthalogenierung von RSiCl3. Bei der Enthalogenierung von R2SiCl2 beispielsweise mit flüssigem Natrium in Toluol bei 110°C entstehen Polysilylene, die jedoch besser als Organopolysilane bezeichnet werden sollten:51 n R2SiCl2 + 2n Na 50 51
(R2Si)n + 2n NaCl
U. Deschler, P. Kleinschmit, P. Panster, Angew. Chem. 1986, 98, 237. R. D. Miller, Angew. Chem. Adv. Mat. 1989, 101, 1773.
301
8.11 Organosilicium-Verbindungen
Si
R Si R Si
R Si
R
R R
Si
Si Si R
Si R Si
Si R
R
Si R
Si
Si Si R R R Bei dieser Reaktion, die nach einem Radikalkettenmechanismus abläuft, treten cyclische Oligomere als Nebenprodukte auf. Substituierte cyclo-Silane der Typen R10Si5 und R12Si6 sind in großer Zahl bekannt. Sie entsprechen den analogen cyclo-Alkanen. Organopolysilane haben ungewöhnliche Eigenschaften, die zu einer Reihe von möglichen Anwendungen führen: Sie sind lichtempfindlich (photosensitiv), ausgestattet mit aromatischen Substituenten sind sie unzersetzt schmelzbar und können daher zu Fasern versponnen werden. Beim gesteuerten Pyrolysieren und Oxidieren von (Me2Si)n-Fasern entsteht faserförmiges β-Siliciumcarbid, das ein wichtiger Werkstoff ist (Abschnitt 8.12.1). Behandelt man Methylchlorsilane mit wässriger Flusssäure, erhält man über die Zwischenstufen der Silanole52 die entsprechenden Methylfluorsilane: MeSiCl3 + 3 HF
H 2O
MeSiF3 + 3 HCl
MeSiF3 ist ein Gas, das mit wässriger KF-Lösung zu Methylpentafluorosilicat reagiert, das seinerseits gegen Hydrolyse beständig ist: MeSiF3 + 2 KF
H 2O
K2[MeSiF5]
8.11.2 Ungesättigte Organosiliciumund -germanium-Verbindungen7, 53 Silicium und Germanium bilden unter bestimmten Voraussetzungen beständige Verbindungen, die den Alkenen, Alkinen und Aromaten der Kohlenstoffchemie entsprechen. Die Grundkörper wie Disilen H2Si=SiH2 und Digermen H2Ge=GeH2 (in Analogie zum Ethen H2C=CH2) sind unter Standardbedingungen instabil bezüglich einer Oligomerisierung zu cyclischen Silanen bzw. Germanen. Durch sperrige Substituenten kann diese Reaktion jedoch kinetisch unterdrückt werden, so dass entsprechende Derivate in reiner Form isoliert werden können. Durch die großen Substituenten wird gleichzeitig die Stabilität der cyclischen Verbindungen verringert, so dass auch thermodynamisch eine Stabilisierung der ungesättigten gegenüber der gesättigten Verbindung eintreten kann. Als sperrige oder sterisch anspruchsvolle Substituenten haben sich neben t-Butyl unter anderem folgende Gruppen bewährt:
52 53
Übersicht über Organosilanole: P. D. Lickiss, Adv. Inorg. Chem. 1995, 42, 147. R. West, Polyhedron 2002, 21, 467. M. Weidenbruch, Eur. J. Inorg. Chem. 1999, 373.
302
8 Silicium und Germanium
Me
Me
Et
Me
Me
Et
Me
Mesityl Xylyl 2,6-Diethyl1-Adamantyl (Mes) (Xyl) phenyl (Ad) Daneben werden aber noch viel größere Substituenten eingesetzt, um extrem empfindliche Strukturen abzuschirmen. Organodisilene R4Si2 entstehen bei der Enthalogenierung von bestimmten Diorganyldihalogensilanen (a), bei der Photolyse von cyclo-Trisilanen, die ebenfalls durch Enthalogenierung von Diorganyldichlorsilanen mittels Lithiumnaphthalid bei –78°C zugänglich sind (b) sowie bei der Dimerisierung von Silylenen R2Si (c): (a)
2 R2SiBr2 + 4 Li
(b)
3 R2SiCl2 + 6 Li cyclo-R6Si3
(c)
2 R2Si:
¿78°C
h.
R2Si
SiR2 + 4 LiBr
cyclo-R6Si3 + 6 LiCl R2Si
SiR2 + R2Si:
R2Si
SiR2
Die UV-Photolyse des nach (b) erzeugten Trisilans R6Si3 bei 25°C in cyclo-Hexan liefert das Disilen in nahezu quantitativer Ausbeute, da das primär entstehende Silylen sofort nach Gleichung (c) dimerisiert. Das Produkt bildet gelbe, luftempfindliche Kristalle (R = 2,6-Dimethylphenyl). Auch die UV-Photolyse acyclischer Trisilane führt zu Disilenen: h.
Mes2Si(SiMe3)2 ¿50°C Mes2Si: + Mes3Si SiMes3 2 Mes2Si: Mes2Si SiMes2 Disilene sind generell charakterisiert durch eine planare oder fast planare Umgebung der Si=Si-Gruppe, einen wesentlich kleineren SiSi-Kernabstand als bei Silanen und durch eine beachtliche Rotationsbarierre für die Torsion um die SiSi-Bindung (Abschnitt 8.2). Auch die Wellenzahl der SiSi-Valenzschwingung ist gegenüber gesättigten Silanen um ca. 30 % erhöht. Alle diese Beobachtungen sprechen für eine SiSi-Doppelbindung, vergleichbar der CC-Bindung in Alkenen. Bei unsymmetrischer Substitution (RR´Si=SiRR´) tritt dementsprechend Z/E-Isomerie auf, wobei das (E)-Isomer in der Regel das stabilere ist, das jedoch durch Bestrahlung weitgehend in das (Z)-Isomer umgewandelt werden kann. Mittels 29Si-NMR-Spektroskopie können die beiden Isomere nebeneinander nachgewiesen werden. Aus der Temperaturabhängigkeit der spontanen (Z)→(E)-Isomerisierung wurden für verschiedene Disilene Aktivierungsenthalpien von 105–130 kJ mol–1 abgeleitet. Beim vergleichbaren Stilben (PhHC=CHPh) beträgt diese Enthalpie 179 kJ mol–1. Trotz der sterischen Abschirmung gehen Disilene mit geeigneten Reagenzien Additionsreaktionen ein. Auch mit gewissermaßen anorganischen Substituenten wie (Alkyl)3Si- wurden Disilene hergestellt. Digermene werden auf analoge Weise wie Disilene synthetisiert. Ihre Strukturen unterscheiden sich jedoch insoweit von den Alkenen und Disilenen, als die Ge-Atome nicht planar, sondern leicht pyramidal koordiniert sind.
303
8.11 Organosilicium-Verbindungen
Ein zweifach ungesättigtes Sildien liegt im Tetrasilabutadien R6Si4 vor, das besser als Tetrasil-1,3-dien zu bezeichnen ist und das wie folgt erhalten wurde (R: 2,4,6-i-Pr3C6H2): R2Si
SiR2 + 2 Li
R2Si
R2Si
SiRBr + R2Si
SiRLi
SiRLi + LiR R2Si
SiR
SiR
SiR2 + LiBr
Die Verbindung bildet rotbraune Kristalle, die bei 237°C unzersetzt schmelzen, aber außerordentlich luftempfindlich sind. Die Si4-Kette ist im Kristall nicht planar; der Torsionswinkel an der mittleren SiSi-Bindung beträgt 51°. Auch das entsprechende Tetragermabutadien ist bekannt. Weitere Beispiele für ungesättigte Si- und Ge-Verbindungen, die in reiner Form isoliert wurden, sind folgende Moleküle: R
R
R
R Si
Si
Si
Si
Si
R R cyclo-Tetrasilen
R
Me2Si
R Si
Si Si
R R
R
R Ge
SiMe2
Si R R R Octasilapentalen (R = SiMe3) R
R
R
Si
R
R R Si
Si
Si
Trisilaallen (R = SiMe3)
(R = SiMe2t-Bu) R
R
R
Ge R
Ge R
cyclo-Trigermen
Das cyclo-Tetrasilen isomerisiert photochemisch (λ > 420 nm) zum Bicyclo[1.1.0]tetrasilan, das sich aber im Dunkeln langsam wieder in die ungesättigte Verbindung umwandelt. Eine besondere präparative Herausforderung war die Synthese von Verbindungen mit einer SiSi-Dreifachbindung in Analogie zu den Alkinen. Die Stammverbindung Disilin (HSiSiH) besitzt quantenchemischen Rechnungen zufolge allerdings nicht die dem Acetylen analoge lineare Geometrie, sondern bildet ein bicyclisches Molekül mit einer SiSiEinfachbindung, die von den beiden H-Atomen überbrückt wird (Symmetrie C2v). In neuester Zeit sind aber Verbindungen mit einer echten SiSi-Dreifachbindung hergestellt worden, und zwar mit dem zentralen Strukturelement R3Si–Si≡Si–SiR3 (Tetrasil-2-in).54 Anders als bei den Alkinen betragen allerdings die Bindungswinkel an den zweifach koordinierten Si-Atomen nicht 180°, sondern ca. 137° (E-Konformation). Bei dieser Geometrie kommt es innerhalb der durch die vier Si-Atome definierten Ebene zu einer 54
M. Weidenbruch, Angew. Chem. 2005, 117, 518. A. Sekiguchi, M. Ichinohe, R. Kinjo, Bull. Chem. Soc. Japan 2006, 79, 825.
304
8 Silicium und Germanium
stabilisierenden Wechselwirkung der bindenden π-Elektronen mit dem antibindenden σ*-MO der benachbarten SiSi-Einfachbindung (Hyperkonjugation). Der zentrale SiSi-
Kernabstand von 206 pm ist deutlich kleiner als der Einfachbindungsabstand im elementaren Silicium (235 pm). Mit besonders sperrigen organischen Substituenten R wurden auch entsprechende Germaniumverbindungen R–Ge≡Ge–R (Digermine) hergestellt.55 Silabenzol C5SiH6 und Germabenzol C5GeH6 sind instabil, aber die monosubstituierten Derivate mit dem sperrigen Substituenten Tbt am Heteroatom wurden als bei 25°C beständige Verbindungen isoliert (Tbt: 2,4,6-Tris[bis(trimethylsilyl)methyl]phenyl). Alle Eigenschaften dieser Verbindungen zeigen, dass sie aromatischen Charakter haben.55 Auch entsprechende Derivate des Naphthalins und des Anthracens sind bekannt. Wegen der schwierigen Synthese und extremen Reaktivität haben ungesättigte Organosiliciumverbindungen aber bisher keine praktische Anwendung gefunden.
8.11.3 Organosiloxane56 Die chemische Resistenz der CH3Si-Gruppe und die hohe Bindungsenergie von Si– O-Bindungen sind von großer praktischer Bedeutung für die Eigenschaften und die daraus folgende Verwendung der Silikone. Das sind polymere Dimethylsiloxane folgender Art: CH3 H3C Si CH3
O O Si CH3
CH3 O Si
O
.....
CH3
Ausgangsprodukte für die Produktion von Silikonen sind verschiedene Organochlorsilane, die nach dem ROCHOW-Verfahren hergestellt werden (Abschnitt 8.11.1). Die Hydrolyse oder Methanolyse von Methylchlorsilanen führt zu entsprechenden oligomeren Produkten, die die chemisch und thermisch sehr stabilen Siloxanbrücken enthalten: n Me2SiCl2 + n H2O n Me2SiCl2 + 2n MeOH
(Me2SiO)n + 2n HCl (Me2SiO)n + 2n MeCl + n H2O
Das bei der Hydrolysereaktion entstehende HCl wird abgetrennt und mit Methanol zu MeCl umgesetzt, das erneut für das ROCHOW-Verfahren verwendet wird. Analog wird mit dem bei der Methanolyse entstehenden MeCl verfahren. Bei dieser Art von Polykondensation führt das monofunktionelle Me3SiCl zu Kettenendgruppen (M), das difunktionelle Me2SiCl2 zu Kettengliedern (D) und das trifunktionelle MeSiCl3 zu Verzweigungsstellen (T). Setzt man auch noch SiCl4 zu, entstehen zusätzlich quartäre Verzweigungsstellen (Q). Diese Gruppen können mittels 29Si-NMR-Spektroskopie nachgewiesen werden. Durch geeignete Mischung der genannten Komponenten kann man daher den mittleren Polymerisationsgrad und die dreidimensionale Struktur der späteren Polymere vorausbe55 56
N. Tokitoh et al., J. Am. Chem. Soc. 2006, 128, 1023 und Acc. Chem. Res. 2004, 37, 86. Silikone – Chemie und Technologie, Vulkan-Verlag, Essen, 1989. H.-H. Moretto, M. Schulze, G. Wagner, Ullmann’s Encycl. Ind. Chem. 1993, A24, 57.
8.12 Sonstige Si-Verbindungen
305
stimmen und so dünnflüssige, ölige, fettartige, harzartige oder feste Substanzen herstellen. Bei der Kondensation entsteht zunächst ein Gemisch von cyclischen und linearen Oligomeren, das durch Erhitzen mit KOH cyclisiert wird, d.h. die linearen Polymere werden in Ringe umgewandelt, wobei hauptsächlich das Tetramer (Me2SiO)4 neben etwas Pentamer entsteht. Diese Ringe werden destillativ abgetrennt. Durch eine anionische Ringöffnungspolymerisation (ROP) der Cyclen bei ca. 140°C wird dann das eigentlich Produkt erzeugt (Katalysator: Alkalimetalloxid oder -hydroxid oder eine andere LEWISBase). Auch eine kationische ROP mit perfluorierten Sulfonsäuren oder H2SO4 als Katalysator ist möglich. Die Valenzwinkel SiOSi betragen in Organopolysiloxanen meistens 130–140°, die Kernabstände d(SiO) im Mittel 164 pm. Die mechanische Elastizität beruht auf der nahezu ungehinderten Rotation um die SiO-Bindungen. Durch Variation der organischen Substituenten und der Kettenendgruppen ergibt sich eine Vielzahl von verschiedenen Eigenschaften. Die klassischen Polydimethylsiloxane sind transparent, farblos, chemisch und thermisch sehr beständig, wasserabstoßend und nicht entflammbar. Außerdem ändert sich die Viskosität mit der Temperatur nur wenig. Verwendung finden Silikone z.B. als Wärmeübertragungsöle für hohe Temperaturen in Thermostaten und Wärmetauschern, als Kühlmittel in Transformatoren, als Hydrauliköle, als Schmier- und Isoliermaterial, für Dichtungen, Folien, Membranen, Lacke und Schläuche, weiterhin in der Kosmetik sowie in der Medizin für Implantate.57 Silikonöle haben meistens die Struktur MDnM. Silikongummi enthält außerdem einen Füllstoff (z.B. Kieselgel). Niedermolekulare (cyclische) Diorganylsiloxane haben insektizide Eigenschaften; für Säugetiere sind diese Substanzen aber ungiftig. Ein großer Vorteil der Silikone gegenüber anderen organischen Polymeren ist ihre hohe Entzündungstemperatur (450°C) und die Verbrennung zu untoxischen Stoffen wie H2O, CO2 und SiO2. Aus Organotrichlorsilanen RSiCl3 können durch Alkoholyse entsprechende Alkoxide hergestellt werden, die die Grundlage der siliciumorganischen Steinschutzstoffe darstellen. Diese Verbindungen werden zum Imprägnieren korrosionsgefährdeter poröser Sandsteine oder Kalksteine von Bauten und Denkmälern eingesetzt. Mit der Feuchtigkeit der Luft tritt Hydrolyse der Alkoxygruppen und anschließend Polykondensation zu Silasesquioxanen (Abschnitt 8.8.1) ein. Auf diese Weise werden die Poren der Steine durch eine hydrophobe Schutzschicht verschlossen.58
8.12 Sonstige Si-Verbindungen 8.12.1 Siliciumcarbid Siliciumcarbid gehört zu den wichtigsten nichtoxidischen keramischen Werkstoffen.59 Reduziert man SiO2 (z.B. reinsten Sand) mit Koks (Petrolkoks) im stöchiometrischen 57
58 59
D. R. Weyenberg in J. Y. Corey, E. R. Corey, P. P. Gaspar (Herausg.), Silicon Chemistry, Kap. 27, Ellis Horwood, Chichester, 1988. J. E. Mark, H. R. Allcock, R. West, Inorganic Polymers, Prentice Hall, Engelwood Cliffs, 1992. J. Grobe et al., Nachr. Chem. Tech. Lab. 1993, 41, 1233. G. Roewer et al., Structure&Bonding 2002, 101, 59.
306
8 Silicium und Germanium
Verhältnis 1:3 bei Temperaturen oberhalb von 2000°C im elektrischen Ofen, erhält man nicht elementares Silicium, sondern Siliciumcarbid SiC: SiO2 + 3 Cf.
SiCf. + 2 CO
° = 619 kJ mol¿1 H298
Beim ACHESON-Verfahren wird ein Lichtbogen zwischen Kohleelektroden zum Aufheizen verwendet, während das ESK-Verfahren eine elektrische Widerstandsheizung benutzt.60 Das so in großem Maßstab chargenweise hergestellte technische Produkt ist meistens verunreinigt und daher grün bis schwarz gefärbt. Reines SiC, das sowohl hexagonal in der Wurtzit-Struktur (α-SiC) als auch kubisch in der Zinkblende-Struktur (β-SiC) kristallisiert,61 ist farblos und wie elementares Silicium ein Halbleiter (Bandlücke 1.9 eV). SiC ist thermisch und chemisch (z.B. gegen Säuren) außerordentlich beständig und von ähnlicher Härte wie Diamant. Als Carborund wird SiC als Schleifmittel und als Silit zur Herstellung von Heizwiderständen in elektrischen Öfen für sehr hohe Temperaturen verwendet (Silitstaböfen). Wegen seiner sehr guten Wärmeleitfähigkeit werden Wärmetauscher für sehr hohe Temperaturen aus siliciuminfiltriertem SiC gefertigt. In der Stahlindustrie dient SiC zur Erhöhung des Si-Gehaltes der Stahlschmelze (Legierung) sowie zur Desoxidation von flüssigem Gusseisen (Bildung von SiO2). Auch für feuerfeste Tiegel, Muffeln und Ofenausmauerungen eignet sich SiC. Die dafür verwendeten SiC-Ziegel (SiC-Steine) werden aus dem Pulver durch Brennen mit einem Bindemittel hergestellt. Da sich die Ziegel an der Luft mit einer SiO2-Schutzschicht überziehen, die die weitere Oxidation verhindert, ist Siliciumcarbid auch bei hohen Temperaturen oxidationsbeständig. SiC gilt, wie das im folgenden Abschnitt behandelte Si3N4, als moderne Hochleistungskeramik, die man auch in Form von Fasern herzustellen versucht, und zwar durch Pyrolyse von Vorläufermolekülen (precursors), die polymer sein müssen, damit sie sich zu Fäden verspinnen lassen.62
8.12.2 Siliciumnitrid63 Si3N4 ist ein wichtiges keramisches Material, das wegen seiner Stabilität gegenüber Oxidation, seiner Härte und Verschleißfestigkeit, seiner Bruchfestigkeit und seines kleinen thermischen Ausdehnungskoeffizienten geschätzt wird. Siliciumnitrid kristallisiert in zwei hexagonalen Modifikationen. In beiden sind die Si-Atome tetraedrisch von Stickstoff koordiniert, während die N-Atome trigonal-planar mit drei Si-Atomen verbunden sind. Die Strukturen bestehen formal aus Schichten, die in der Hochtemperaturmodifikation (β-Si3N4) in der Abfolge ABAB… und in der Tieftemperaturform (α-Si3N4) mit der Folge ABCDABCD… gestapelt sind und die durch starke kovalente Bindungen miteinander verknüpft sind. Die Hochdruckphase γ-Si3N4 kristallisiert im Spinell-Strukturtyp.
60 61
62 63
ESK-Verfahren: benannt nach dem Elektroschmelzwerk Kempten im Allgäu, das SiC produziert.
α-SiC ist die Hochtemperaturmodifikation (stabil oberhalb ca. 2100 K), β-SiC die Tieftempera-
turmodifikation, jedoch ist die gegenseitige Umwandlung kinetisch gehemmt. Das handelsübliche SiC besteht daher überwiegend aus α-SiC. M. Birot, J.-P. Pillot, J. Dunoguès, Chem. Rev. 1995, 95, 1443. H. Lange, G. Wötting, G. Winter, Angew. Chem. 1991, 103, 1606.
307
8.12 Sonstige Si-Verbindungen
Die wichtigste industrielle Synthese von Siliciumnitrid ist die direkte Nitridierung von Si-Pulver bei 1100–1400°C: 3 Sif. + 2 N2
° = ¿755 kJ mol¿1 H298
Si3N4
Dabei entsteht α-Si3N4 als farbloses, elektrisch nichtleitendes Pulver. Die Bildung von β-Si3N4 findet merklich erst oberhalb 1500°C statt. Der relative Gehalt an α- und β-Form
sowie an amorphem Produkt kann außer durch Röntgenbeugung auch mittels 29Si-Festkörper-NMR-Spektroskopie ermittelt werden. Von praktischer Bedeutung ist auch die carbothermische Reduktion von SiO2 in einer strömenden N2- oder NH3-Atmosphäre: 3 SiO2 + 2 N2 + 6 Cf.
1450°C
Si3N4 + 6 CO
Des Weiteren wird pulverförmiges α-Si3N4 durch Glühen von Siliciumdiimid (Abschnitt 8.10) bei 900–1500°C gewonnen: 3 Si(NH)2
Si3N4 + 2 NH3
Si3N4 kann aber auch mittels Gasphasenabscheidung entweder als Pulver oder als Film hergestellt werden: 3 SiCl4 + 4 NH3
Si3N4 + 12 HCl
Si3N4-Pulver wird durch Sintern zu entsprechenden Werkstücken geformt, wobei sehr hohe Temperaturen und Drücke angewandt werden müssen. Man sintert z.B. bei 1800°C unter Zusatz von Bindemitteln. Verschiedene Metalloxide (MgO, Y2O3, Al2O3) werden für diesen Zweck eingesetzt. Auf diese Weise werden beispielsweise Ventile für Verbrennungsmotoren hergestellt. Die im Vergleich zu Metallen höhere thermische Belastbarkeit ermöglicht höhere Verbrennungstemperaturen und damit einen höheren Wirkungsgrad des Motors, während die geringe Dichte von 3.2 g cm–3 zu einer Gewichtsreduzierung führt.
8.12.3 Siliciumsulfide In Analogie zu den Oxiden SiO und SiO2 kennt man die Sulfide SiS und SiS2 sowie entsprechende Selenide und Telluride. SiS2 entsteht beim Erhitzen der Elemente auf 800–1400°C sowie durch Umsetzung von SiO2 mit Al2S3 bei 1100°C. Anders als SiO2, das eine Raumnetzstruktur aufweist, besteht SiS2 aus Kettenmolekülen, die verzerrt tetraedrisch koordinierte Si-Atome in spirocyclischer Verknüpfung enthalten (kantenverknüpfte [SiS4]-Tetraeder): Si
S
S
S
S
Si
Si
S Si
S Si
S S S S S S Der Aufbau aus Kettenmolekülen macht sich in einer faserigen Struktur der farblosen SiS2-Kristalle bemerkbar. SiS2 ist reaktiver als SiO2 und reagiert zum Beispiel mit Wasser zu SiO2(aq) und H2S. Erhitzt man SiS2 mit Si im Vakuum auf ca. 850°C oder leitet man CS2-Dampf bei einem Druck von 2 hPa und 1000°C über festes Si, entsteht monomeres SiS, das sich an kalten Flächen als rotes glasartiges (SiS)n niederschlägt.
308
8 Silicium und Germanium
Eine interessante Silicium-Schwefel-Verbindung ist das Silanthion F2Si=S, das bei der Reaktion von SiS mit F2 sowie bei der Pyrolyse von (F3Si)2S bei Temperaturen oberhalb 500°C neben SiF4 entsteht und das bei tiefen Temperaturen in einer Argonmatrix (im Gemisch mit anderen Produkten) ausgefroren und spektroskopisch identifiziert wurde. Der quantenchemisch berechnete SiS-Kernabstand von 191.1 pm des planaren Moleküls entspricht einer Doppelbindung.64
64
H. Bürger et al., Eur. J. Inorg. Chem. 1999, 2013.
9.1 Elementarer Stickstoff
9
309
Stickstoff
Stickstoff ist ein lebenswichtiges Element, das in Aminosäuren, Purinbasen und vielen anderen Heterocyclen die Gestalt und Funktion essentieller Bestandteile lebender Organismen bestimmt, nämlich der Proteine, der Nukleinsäuren und zahlreicher Enzyme und Hormone. Der menschliche Körper besteht zwar nur zu 3 % aus Stickstoff, damit ist N aber nach O, C und H das vierthäufigste Element in unserem Körper. Die chemische Industrie produziert daher große Mengen an N-haltigen Düngemitteln, um ein entsprechendes Nahrungsangebot für die wachsende Menschheit zu ermöglichen.1 In größeren Mengen natürlich vorkommende N-Verbindungen sind außer N2 der in Indien abgebaute Salpeter (KNO3) und der Chile-Salpeter (NaNO3), die jedoch beide für Europa praktisch keine Bedeutung mehr haben. Das Element Stickstoff 2 steht zusammen mit Phosphor, Arsen, Antimon und Bismut in der 15. Gruppe des Periodensystems (5. Hauptgruppe). Alle diese Elemente weisen in der Valenzschale 5 Elektronen auf. Die Chemie des Stickstoffs unterscheidet sich jedoch von der seiner höheren Homologen mindestens ebenso stark wie die Chemie des Sauerstoffs von der des Schwefels. Die Gründe dafür sind die gleichen wie bei diesen Elementen: Sprunghafter Anstieg des Atomradius vom N zum P und deutlich höhere Elektronegativität von N gegenüber den anderen Elementen. Das Fehlen von d-Orbitalen in der Valenzschale des N-Atoms kann dagegen nicht für die Unterschiede verantwortlich gemacht werden. Aus diesen Gründen wird die Chemie des Stickstoffs getrennt behandelt, und erst im Kapitel 10 wird auf die Elemente Phosphor und Arsen eingegangen. Natürlicher Stickstoff ist fast ein Reinelement, das zu 99.64 % aus 14N besteht, der Rest ist 15N. Letzteres wird in angereicherter Form für NMR-Spektroskopie und in der Massenspektrometrie für die Markierung von Stickstoffverbindungen genutzt.
9.1
Elementarer Stickstoff
Distickstoff N2 ist der Hauptbestandteil der Luft, in der er nach Trocknung zu 78.09 Vol.-% enthalten ist (Kap.14.2). Auch in den Ozeanen sind große Mengen N2 gelöst. Die meisten Stickstoffverbindungen werden aus Luftstickstoff hergestellt. Elementarer Stickstoff ist eines der wichtigsten Industriegase. Überhaupt sind 6 der 10 wichtigsten Grundstoffe der chemischen Industrie Gase, nämlich N2, O2, Cl2, NH3, C2H4 und C3H6. Man gewinnt N2 in großem Umfang aus Luft, indem man gekühlte Luft kondensiert und danach fraktioniert destilliert. Auf diese Weise hergestellter Stickstoff ent1
2
Die Einführung von mineralischem Dünger in Deutschland im Jahre 1880 führte innerhalb von 10 Jahren zu einer Verdopplung der Erträge von Kartoffeln und Roggen. Heute hängen ca. 40 % der Nahrungsmittelproduktion von N-haltigen Düngemitteln ab. A. Hammerl, T. M. Klapötke, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 6, 3531 und online edition.
310
9 Stickstoff
hält noch einen Teil der Edelgase, insbesondere Argon, dessen Siedepunkt nur 10 K höher liegt als der von N2. Stickstoff mit einer Reinheit von 95 % wird in großem Umfang durch Membrantrennung aus Luft gewonnen, wobei man die stark unterschiedlichen Löslichkeiten und Diffusionsgeschwindigkeiten von N2 und Ar einerseits sowie von O2, H2O und CO2 andererseits in einem organischen Kunststoff ausnutzt.3 Chemisch reinen Stickstoff kann man im Labor durch thermische Zersetzung von reinstem Natriumazid bei 275°C herstellen: 2 NaN3
2 Na + 3 N2
Fast der gesamte aus der Luft gewonnene Stickstoff wird nach dem HABER-BOSCH-Verfahren mit Wasserstoff zu Ammoniak reduziert. Aus Ammoniak wird in großem Umfang durch katalytische Oxidation NO hergestellt (OSTWALD-Verfahren), das mit O2 zu NO2 umgesetzt wird, aus dem man dann durch Einleiten in Wasser und weitere Oxidation mit Luftsauerstoff Salpetersäure erhält: N2
H2 Fe
NH3
O2 Pt/Rh
NO
O2
NO2
H2O, O2
HNO3
Aus NH3 bzw. HNO3 werden praktisch alle anderen nichtmetallischen Stickstoffverbindungen hergestellt. Molekularer Stickstoff ist ein reaktionsträges Gas (Schmp. 63.3 K; Sdp. 77.4 K), das aus diesem Grunde bei bestimmten chemischen Synthesen und in der Lebensmittelindustrie als preiswertes Schutzgas verwendet wird, im letztgenannten Fall oft im Gemisch mit CO2, und zwar zur Verlängerung der Haltbarkeit von abgepackten Früchten, Gemüsen, Gewürzen, Käse, Saft, Bier und Milchprodukten. Zur chemischen Aktivierung benötigt das N2-Molekül im Allgemeinen hohe Temperaturen oder einen Katalysator. Dies gilt für fast alle Reaktionen, bei denen die NN-Dreifachbindung gespalten wird. Beispielsweise erfolgt die Ammoniaksynthese an einem eisenhaltigen Katalysator bei 380–550°C und bei einem Druck von 40–50 MPa. Auch die exotherme Reaktion mit elementarem Lithium zum rubinroten Nitrid Li3N ist keine Ausnahme, da die Reaktion eine Temperatur von 150–500°C erfordert. Der Grund für die Reaktionsträgheit von Stickstoff ist die extrem hohe Dissoziationsenthalpie des N2-Moleküls, das eine Dreifachbindung enthält (Kap. 2.4.3): N
N
2N
° = 942 kJ mol)1 *H298
Dadurch sind die meisten Reaktionen von N2 endotherm. Die Dissoziationsreaktion kann auch in elektrischen Entladungen realisiert werden, wobei im Plasma extrem reaktionsfähige N-Atome entstehen. Beispielsweise reagiert N2 in einem derartigen Plasma mit metallischem Natrium zu dunkelblauen Kristallen von Natriumnitrid Na3N. Ungeachtet der Reaktionsträgheit des Stickstoffmoleküls vermögen einige Mikroorganismen Luftstickstoff bei normaler Temperatur und normalem Druck zu assimilieren und über NH3 als Zwischenprodukt zum Aufbau von Aminosäuren zu verwenden. Dieser bemerkenswerte Prozess ist für das pflanzliche und tierische Leben von großer Bedeutung, da die im Erdboden vorhandenen löslichen Stickstoffverbindungen bei landwirtschaftlicher Nutzung nicht ausreichen, um den Stickstoffbedarf der Pflanzen zu decken. Vom
3
G. Maier, Angew. Chem. 1998, 110, 3128.
311
9.2 N2 als Komplexligand
chemischen Standpunkt aus gesehen ist diese enzymatische N2-Assimilation (StickstoffFixierung) bisher nur teilweise aufgeklärt. Als erster Schritt findet eine koordinative Bindung des N2-Moleküls an mehrere benachbarte Schwermetall-Ionen wie Fe und Mo statt, die Bestandteile der als Nitrogenasen4 bezeichneten Enzyme sind. Die Bruttogleichung der enzymatischen N2-Fixierung lautet: N2 + 8 e) + 16 ATP + 8 H+
2 NH3 + H2 + 16 ADP + 16 Pi
Der Energieträger Adenosintriphosphat (ATP; siehe Kap. 10) wird dabei unter Energieabgabe in das entsprechende Diphosphat (ADP) und ionisches Monophosphat (Pi) gespalten, während N2 stufenweise in einer 6-Elektronen-Reduktion bei gleichzeitiger Protonierung zu zwei Molekülen Ammoniak reduziert wird. Als Zwischenprodukte treten die komplexgebundenen Hydride Diazen (N2H2) und Hydrazin (N2H4) auf.5 Im Jahre 1965 ist es erstmals gelungen, rein anorganische Komplexe mit dem Molekül N2 als Ligand herzustellen. Diese einfachen Komplexe dienen als Modellverbindungen, um die Aktivierung von N2 durch Komplexbildung zu studieren. In den vergangenen Jahren ist dieses Gebiet intensiv erforscht worden, so dass heute Hunderte von DistickstoffKomplexen bekannt sind.
9.2
N2 als Komplexligand6
Das Stickstoffmolekül ist isoster mit dem Molekül CO und isoelektronisch mit den Ionen [NO]+ und [CN]–, von denen zahlreiche Übergangsmetallkomplexe bekannt sind: N
N
C
O
N
O
C
N
Es war daher schon aus Analogiegründen zu erwarten, dass auch N2-Komplexe stabil sein würden. Da sich die beiden Elektronen im HOMO des N2 in einem Orbital befinden, das zu einer erheblichen Elektronendichte auf den der Dreifachbindung abgewandten Seiten des Moleküls führt, sind sie für koordinative Bindungen gut geeignet (Kap. 2.4.3). Seit der Entdeckung des ersten N2-Komplexes wurden über 250 Distickstoffkomplexe hergestellt, und zwar von fast allen Übergangsmetallen einschließlich der Lanthanoide, darunter Komplexe mit einem, zwei und drei Molekülen N2 pro Zentralatom sowie mehrkernige Komplexe, in denen ein N2-Molekül an mehrere Metallatome gebunden ist. Die Koordinationsverhältnisse sind dabei wie folgt:
4
5 6
Unter Nitrogenasen versteht man eine Klasse von Enzymen, die die Reduktion von N2 zu NH3 katalysieren und die clusterartige Reaktionszentren aus Sulfid-verbrückten Eisen- und Molybdänatomen (FeMo-Cofaktor, FeMoco) enthalten, die ihrerseits an Proteine gebunden sind; siehe Y. Hu, B. Schmid, M. W. Ribbe, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 6, 3621. F. Barriere, ibid. 2005, 6, 3637. B. M. Barney et al., Dalton Trans. 2006, 2277. D. Sellmann et al., Chem Eur. J. 2004, 10, 819. M. Hidai, Y. Mizobe, Chem. Rev. 1995, 95, 1115. H.-J. Himmel, M. Reiher, Angew. Chem. 2006, 118, 6412. Y. Ohki, M. D. Fryzuk, Angew. Chem. 2007, 119, 3242. P. J. Chirik et al., Organometallics 2007, 26, 2431.
312
9 Stickstoff
M
N
N
M
I M
N
N
N
N
M
N
M N IX
N
M
M
M
V
M
N
II M
N
VI N
M N
M
N
M
M VII
III M
N
N
M
N
M
N VIII
IV
Am weitesten verbreitet ist die end-on-Koordination I bzw. II, jedoch sind in den letzten Jahren auch zahlreiche side-on-Komplexe synthetisiert worden (VIII und IX). Die Synthese der N2-Komplexe sei an einigen Beispielen erläutert: (a) Addition von N2 an einen Komplex mit oder ohne Ligandenaustausch: [Ru(H2O)(NH3)5]Cl2 + N2
[Ru(N2)(NH3)5]Cl2 + H2O
Oft wird ein Vorläuferkomplex in einer Atmosphäre von N2 reduziert. Diese Methode hat die größte Anwendungsbreite. (b) Oxidation eines Hydrazidokomplexes mit H2O2: [CpMn(CO)2(N2H4)] + 2 H2O2
)40°C Cu2+
[CpMn(CO)2(N2)] + 4 H2O
(c) Reduktion eines Metallsalzes mit Hydrazin, das dabei zu N2 oxidiert wird: 2 (NH4)2OsCl6 + 3 N2H4 + 14 NH3
100°C H 2O
2 [Os(N2)(NH3)5]Cl + 10 NH4Cl
(d) Thermolyse eines Azidokomplexes: [Ru(H2O)(NH3)5]2+
+ [N3]) )H2O
[Ru(N3)(NH3)5]+
*T ) 1/2 N2
[Ru(N2)(NH3)5]2+
(e) Azotierung eines Ammin-Komplexes mit Salpetriger Säure: [Os(N2)(NH3)5]Cl2 + HNO2
[Os(N2)2(NH3)4]Cl2 + 2 H2O
313
9.2 N2 als Komplexligand
Die Bindungsverhältnisse in den N2-Komplexen wurden durch Strukturanalysen, spektroskopische Beobachtungen (Infrarot- und Ramanspektren7) und theoretische Untersuchungen an Modellverbindungen aufgeklärt. Danach liegen in den meisten der bei Raumtemperatur isolierbaren Komplexe folgende Strukturelemente vor: M N N M N N M M N N end-on-Koordination in einkernigen Komplexen
N cis-Stellung zweier N2-liganden
N
lineare Brücke in zweikernigen Komplexen
+
+
+
+
+
+
+
In den einkernigen Komplexen entspricht die Bindung der N2-Liganden an das Metallatom weitgehend der Bindung von CO-Liganden in Carbonylkomplexen. Die Gruppe M=N=N ist praktisch linear. Anders als beim CO erfolgt jedoch die Bildung von Brücken zwischen zwei Metallatomen über eine Koordination an beiden N-Atomen eines N2-Moleküls. Die Bindung Metall-N2 besteht aus einer koordinativen σ-Bindung und einer oder zwei koordinativen π-Bindung(en): 7 N N M 4 Die σ-Bindung entsteht durch Überlappung des obersten besetzten σ-Molekülorbitals (3σg) des N2-Moleküls mit einem unbesetzten σ-Orbital des Zentralatoms (Abb. 9.1a). Durch diese Bindung wird von allen Liganden negative Ladung auf das Zentralmetall übertragen. Um diese Ladung teilweise wieder abzubauen, wird über andere Orbitale Elektronendichte auf die Liganden zurückgegeben. Dies geschieht bei den N2-Komplexen durch Überlappung besetzter d-Orbitale des Metalls, die π-Symmetrie zur σ-Bindung besitzen, mit unbesetzten π-Orbitalen des Liganden. Dafür kommen nur die beiden π*-Orbitale des N2-Moleküls in Frage (Abb. 9.1b). Eine π-Bindung kann wegen der Ro-
N2
M (a)
N2
M (b)
Abb. 9.1 Die kovalente Bindung zwischen einem Metallatom (M) und einem N2-Molekül in Distickstoff-Komplexen bei einer end-on-Koordination. (a) σ-Bindung durch Überlappung des HOMOs von N2 (3σg–λ2σg) mit einem σ-Atomorbital von M; (b) π-Bindung (Rückbindung) durch Überlappung eines besetzten d-Atomorbitals von M mit dem LUMO von N2 (1πg). 7
Die NN-Valenzschwingung von N2 ist in der Gasphase IR-inaktiv, in einseitig end-on-gebundenen N2-Liganden jedoch IR-aktiv, da durch die Bindung zum Metallatom ein Dipolmoment induziert wird. Bei beidseitiger symmetrischer end-on-Koordination ist die NN-Schwingung wieder IR-inaktiv, aber im Ramanspektrum beobachtbar, entsprechend dem Alternativverbot, das eine Folge des Inversionszentrums ist.
314
9 Stickstoff
tationssymmetrie der Gruppe M=N=N in zwei zueinander senkrechten Ebenen erfolgen, wenn genügend d-Elektronen am Metall vorhanden sind und die übrigen Liganden dies zulassen. Durch die π-Bindung(en), die man auch Rückbindung nennt, wird zwar die Metall-Ligand-Wechselwirkung verstärkt, da aber am Liganden Orbitale besetzt werden, die bezüglich der NN-Bindung antibindend sind, wird gleichzeitig die NN-Bindung geschwächt. Dies zeigt sich deutlich an den Kernabständen d(NN), die in den meisten N2-Komplexen größer sind als im freien N2-Molekül und die bis zu 155 pm betragen können (im N2: 110 pm). Entsprechend verhalten sich die Wellenzahlen der NN-Valenzschwingungen und die NN-Valenzkraftkonstanten. Die Rückbindung ist für die Stabilität der N2-Komplexe von Übergangsmetallen von entscheidender Bedeutung. Sie setzt voraus, dass das Metall in einer niedrigen Oxidationsstufe vorliegt, damit die d-Orbitale mit Elektronen besetzt sind. Oxidiert man das Metallatom, wird der N2-Ligand eliminiert. Ebenso geben einige N2-Komplexe beim Behandeln mit CO den Stickstoff ab; an dessen Stelle wird dann CO gebunden (irreversibler Ligandenaustausch). Das weist auf eine höhere Stabilität von Carbonyl-Komplexen hin und erklärt, warum bisher keine bei Raumtemperatur beständigen binären Komplexe des Typs M(N2)n erhalten wurden, die den Metallcarbonylen wie Ni(CO)4 und Fe(CO)5 entsprechen würden. Lediglich bei tiefen Temperaturen wurden solche Komplexe spektroskopisch nachgewiesen. Die thermische Beständigkeit der N2-Komplexe ist sehr unterschiedlich. Einige zersetzen sich erst bei 300°C. Die Reaktivität dieser Komplexe wird zwar intensiv erforscht, hat jedoch noch nicht zu praktischen Anwendungen geführt. Die Protonierung von koordiniertem N2 zu NH3 gelingt nur in wenigen Fällen. Jedoch wurden auf anderem Wege Komplexe mit den Liganden N2H2 und N2H4 hergestellt. Bei der enzymatischen Reduktion von N2 zu NH3 sind N2H2 und N2H4 als Zwischenprodukte anzunehmen. Spektroskopische Untersuchungen zeigen, dass auch kompakte Metalle an ihrer Oberfläche N2 binden können und es ist erwiesen, dass bei der technischen NH3-Synthese primär eine komplexe Bindung zwischen dem metallischen Eisen des Katalysators und dem molekularen N2 entsteht (Abschnitt 9.4.2).
9.3
Bindungsverhältnisse in Stickstoffverbindungen
Als erstes Element der 15. Gruppe verfügt das Stickstoffatom über fünf Valenzelektronen mit der Anordnung 2s2px1py1pz1 (4S-Grundzustand). Die Valenzschale enthält keine d-Orbitale und ab-initio-Rechnungen zeigen, dass die energetisch sehr viel höher liegenden nächsten unbesetzten Niveaus 3s und 3p für die kovalenten Bindungen in N-Verbindungen ohne Bedeutung sind. Wie alle Nichtmetalle der ersten Achterperiode strebt das N-Atom formal die Elektronenkonfiguration des Neons an. Ausgehend von der Konfiguration 2s2p3 gelingt das durch Errichtung von drei kovalenten Bindungen oder durch Bildung entsprechender Ionen, wie folgende Beispiele zeigen: kovalent: kovalent und ionisch: ionisch:
NH3, NF3, NCl3 [NH2]– im KNH2, [NH]2– im Li2NH N3– im Li3N und im Ba3N2, [N2]2– im SrN2
315
9.3 Bindungsverhältnisse in Stickstoffverbindungen
Die Koordinationszahl des N-Atoms kann in seinen Verbindungen alle Werte zwischen 1 (N2) und 8 (Li3N) annehmen. Ähnlich wie Kohlenstoff und Sauerstoff, die Nachbarn des Stickstoffs im Periodensystem, hat auch das N-Atom eine ausgeprägte Neigung, Mehrfachbindungen einzugehen. Geeignete Partner für starke π-Bindungen sind vor allem die Atome C, N, O, P und S. Folgende Beispiele illustrieren diesen Bindungstyp: R
C
N
N N
kovalente Cyanide und Cyanokomplexe
R
NR
F
kovalente Imide
N N
N
O
Nitrosyl-Ion
Distickstoff
R C
N
F
O N O
Difluorodiazen
Nitronium-Ion
SF3
Schwefelnitridtrifluorid S RN
NR
Schwefeldiimide
Außer den drei ungepaarten 2p-Elektronen kann auch noch das nichtbindende Elektronenpaar des N-Atoms zur Errichtung kovalenter Bindungen herangezogen werden.8 Dabei handelt es sich formal um koordinative Bindungen, wie sie in den Ionen [NH4]+, [NF4]+ und [N2H6]2+ sowie in folgenden Verbindungen vorliegen: F F
R B
F
R
N
O
F O
N
F
R
F
BortrifluoridTrialkylamin
Trifluoraminoxid
O
N
[Cu(NH3)4]2.
H
O Salpetersäure
KupfertetramminIon
In diesen Fällen handelt es sich um koordinative σ-Bindungen. Daneben hat das dreiwertige N-Atom auch noch die Möglichkeit zur Bildung koordinativer π-Bindungen, beispielsweise im Molekül O=NF3, das nach neueren theoretischen Untersuchungen besser mit einer Doppelbindung zum O-Atom geschrieben wird, da der Kernabstand und die Elektronendichte zwischen N und O einer solchen Bindung entsprechen.9 Verbindungen des Typs R3N (R = beliebiger Rest) sind am Zentralatom pyramidal gebaut und verhalten sich normalerweise als LEWIS-Basen. Die Wechselwirkungsenergie hängt dabei stark von den Substituenten R ab. Sie beträgt beispielsweise gegenüber der LEWIS-Säure SO3 beim NH3 82.0 kJ mol–1, beim NMe3 151.9 kJ mol–1 und beim Pyridin 25.5 kJ mol–1. Diese Energien korrelieren mit der Energiedifferenz zwischen dem Donororbital der Base und dem virtuellen Akzeptororbital (LUMO) von SO3. Auch gegenüber BCl3 und AlCl3 ist Trimethylamin eine stärkere Base als Ammoniak.
8
9
Viele Stickstoffverbindungen, anorganische und organische, eignen sich wegen der nichtbindenden Elektronen am Stickstoffatom als N-Donor-Liganden in Metallkomplexen; siehe D. A. House, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 1, 210. I. Love, J. Phys. Chem. A 2006, 110, 10507.
316
9 Stickstoff
Die Valenzwinkel von Aminen R3N liegen im Allgemeinen in der Nähe des Tetraederwinkels (siehe Tab. 2.5). Moleküle dieser Art sind zu pyramidaler Inversion befähigt, worunter man eine intramolekulare Umlagerung versteht, die zu einer äquivalenten Konformation führt, bei der sich das N-Atom auf der anderen Seite der Ebene befindet, die durch die drei an das Stickstoffatom gebundenen Atome definiert wird. Diese Umlagerung sei am Beispiel des NH3 erläutert: N H
H
H
H
C3v
N
H
H
D3h
H
H N
H
C3v
Diese Reaktion wird durch ein symmetrisches Doppelminimumpotential beschrieben; der planare Übergangszustand ist von D3h-Symmetrie.10 Die Planarisierung ist die Fortsetzung der symmetrischen Deformationsschwingung des NH3-Moleküls. Im Falle von NH3 und den Methylaminen MexNH3–x (x = 0–3) haben die Energiebarrieren (Eb) zwischen den beiden pyramidalen Konformationen folgende Werte: 24 kJ mol–1 (NH3), 20 kJ mol–1 (MeNH2) und 31 (Me3N) kJ mol–1. Daher tritt bei Raumtemperatur sehr häufig Inversion ein. Im Falle von NH3 erfolgt die Inversion wegen eines Tunneleffektes im Prinzip selbst bei 0 K, d.h. das isolierte Molekül hat bei allen Temperaturen eine dynamische Struktur.11 Bei Ammoniakderivaten hängt die Höhe der Barriere von den Substituenten R ab. Elektronegative Substitutenten erhöhen Eb (Beispiel NF3: ca. 300 kJ mol–1). Amine mit drei verschiedenen Substituenten (R1R2R3N) sind chiral, in welchem Falle die beiden oben erwähnten Konformationen Spiegelbilder voneinander sind (Enantiomere). Eine Trennung der beiden Enantiomere ist jedoch wegen der raschen Racemisierung durch pyramidale Inversion im Allgemeinen nicht möglich. Viele formale Derivate des Ammoniaks sind am N-Atom nicht pyramidal sondern planar gebaut. Ein Beispiel hierfür ist Trisilylamin N(SiH3)3, das ein planares Gerüst NSi3 aufweist: SiH3 H3Si
N
SiH3
d(NSi) = 173.4 2 0.2 pm Winkel (SiNSi) = 119.7 2 0.1°
Zur Erklärung der ebenen Geometrie am Stickstoff nimmt man eine teilweise Delokalisierung des nichtbindenden Elektronenpaares in unbesetzte Orbitale an den Silylgruppen an (koordinative π-Bindung). Dabei könnte es sich theoretisch um die 3d-Orbitale der SiAtome handeln, aber energetisch tiefer liegen die σ*-Molekülorbitale der SiH-Bindungen. Diese können im Rahmen einer negativen Hyperkonjugation Elektronendichte aufnehmen. Die Folgen dieser koordinativen π-Bindung sind: 10
11
Auch bei PH3, AsH3, NF3 und NCl3 erfolgt die Inversion über einen trigonal-planaren Übergangszustand, nicht jedoch bei PF3, PCl3, PBr3 und den anderen Halogeniden der schwereren Pnictide. Diese Moleküle invertieren über einen T-förmigen Übergangszustand von C2v-Symmetrie (vgl. die Struktur von ClF3); P. Schwerdtfeger, P. Hunt, Adv. Mol. Struct. Res. 1999, 5, 223. Im kristallinen NH3 sind alle H-Atome durch Wasserstoffbrückenbindungen zu Nachbarmolekülen fixiert; siehe Kap. 5.6.2.
317
9.3 Bindungsverhältnisse in Stickstoffverbindungen
(a) (b) (c) (d)
Vergrößerung der Valenzwinkel am N-Atom, Verstärkung der Bindungen SiN, Verringerung der LEWIS-Basizität des N-Atoms und Schwächung der SiH-Bindungen.
π-Bindungen dieser Art sind immer dann zu erwarten, wenn dem Elektronendonor ein Akzeptor benachbart ist und die Energiedifferenz zwischen dem HOMO des Donors und dem LUMO des Akzeptors nicht zu groß ist (Kap. 2.5). Dabei muss die Delokalisierung der Stickstoffelektronen in die Akzeptororbitale nicht besonders weitgehend sein. Entscheidend ist, dass die Elektronenübertragung aus dem HOMO am N-Atom erfolgt, während ein einfacher Abzug von Elektronen durch stark elektronegative Nachbargruppen allein nicht zu einer planaren Geometrie führt. So ist zwar das Radikal-Kation [NH3]•+ planar, das Molekül NF3 aber nicht (Winkel FNF = 102.2°). Weitere Verbindungen mit π-Bindungen dieser Art sind:
SO3 H3Si
N
C
S
Winkel (SiNC) = 180°
O 3S
N
SO3
Winkel (SNS) = 120°
In den Hydrazinderivaten (H3Si)2N–N(SiH3)2, (Me3Si)2N–N(SiMe3)2 und (Cl3Si)2N– N(SiCl3)2 ist die Geometrie an den N-Atomen ebenfalls planar. Auch die sterische Abstoßung großer Substitutenten kann ein Grund für planare Geometrie am N-Atom sein. Dies ist beispielsweise bei den perfluorierten Aminen (C2F5)3N und (C3F7)3N der Fall. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass ähnliche koordinative π-Bindungen auch von O-Atomen (Kap. 11.2) und F-Atomen (Kap. 13.4.5) gebildet werden, so dass der Stickstoff darin keine Ausnahme bildet. Bei den höheren Homologen des Stickstoffs führen diese π-Bindungen nicht zu einer Planarisierung, da die Inversionsbarriere hier viel höher ist. Daher enthalten die Moleküle P(SiH3)3 und As(SiH3)3 pyramidale Gerüste PSi3 bzw. AsSi3. Die folgenden Stickstoffverbindungen zeigen, dass das N-Atom in seinen Verbindungen in allen Oxidationsstufen zwischen –3 und +5 vorkommen kann: –3
–2
–1
0
+1
+2
+3
+4
+5
NH3
N2H4
N2H2
N2
N2F2
NO
NF3
NO2
N2O5
Gemischtvalente Verbindungen mit N-Atomen in verschiedenen Oxidationsstufen sind beispielsweise das Oxid N2O3 und das Nitramid Η2Ν–NO2. Bindungsenthalpien und Bildungsenthalpien Wegen der außergewöhnlich großen Dissoziationsenthalpie des N2-Moleküls sind zur Herstellung von Stickstoffverbindungen aus den Elementen oft beträchtliche Reaktionsenthalpien erforderlich. Selbst die Oxidation mit Disauerstoff, die bei den meisten Elementen exotherm verläuft, ist hier endotherm: 1 2
N2 +
1 2
O2
NO
° = 90.3 kJ mol)1 (NO) *H298
318
9 Stickstoff
Verbindungen mit einer positiven Standard-Bildungsenthalpie heißen endotherm. Dazu gehören alle gasförmigen Stickstoffoxide, die Azide, Hydrazin, S4N4 und NCl3. Diese Verbindungen sind bei Raumtemperatur metastabil und neigen zur spontanen Zersetzung, wenn die Aktivierungsenergie der Zerfallreaktion klein ist (z.B. bei AgN3 und NCl3) oder wenn sie durch einen Katalysator herabgesetzt wird (z.B. bei N2H4 durch Cu2+-Ionen). Als ein Reaktionsprodukt entsteht bei einer solchen Zersetzung gewöhnlich N2 oder eine andere stabile, d.h. exotherme Stickstoffverbindung. Exotherme N-Verbindungen sind NH3, Li3N, NF3 und N2F4. Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass bei der Reaktion zweier endothermer Stickstoffverbindungen unter Bildung von N2 ungewöhnlich viel Enthalpie frei werden muss. Solche Reaktionen sind daher zum Betrieb von Raketenmotoren geeignet. Beispielsweise wird in der Oberstufe der europäischen Rakete „Ariane“ als Brennstoff Methylhydrazin MeHN–NH2 und als Oxidationsmittel flüssiges N2O4 verwendet. Bei der Vermischung dieser Komponenten tritt eine spontane Kaltreaktion ein und nach Zündung eine Verbrennung mit roter Flamme zu drei extrem stabilen Verbindungen: 4 MeHN
NH2 + 5 N2O4
9 N2 + 4 CO2 + 12 H2O
Bei dieser Reaktion werden unter Standardbedingungen –4742 kJ mol–1 pro Formelumsatz oder –1186 kJ mol–1 pro Mol Methylhydrazin freigesetzt! Einfachbindungen zwischen zwei Stickstoffatomen wie im Hydrazin sind meistens schwach und werden daher besser als Teilbindungen bezeichnet. Das liegt unter anderem an der Abstoßung der nichtbindenden Elektronenpaare im Strukturelement >N–N< (Kap. 4.2.2). Der gleiche Effekt tritt bei Bindungen vom Typ >N–O– auf. Als Folge dieser Bindungsschwächung sind Hydrazin N2H4 und Hydroxylamin NH2OH von geringer thermischer Stabilität und höhere Homologe dieser Verbindungen wie Triazan H2N–NH–NH2 und Hydroxylhydrazin H2N–NH–OH konnten bisher nicht in reiner Form isoliert werden. Für diese Verbindungen ist eine ähnlich geringe Stabilität zu erwarten, wie sie bei H2O3 und H2O4, den höheren Homologen des Wasserstoffperoxids, beobachtet wurde. Die geringe NN-Einfachbindungsenthalpie ist auch verantwortlich dafür, dass elementarer Stickstoff als N2 und nicht als tetraedrisches N4 (wie P4) oder als polymeres Nx in Analogie zu rotem oder schwarzem Phosphor (Px) existiert. Beständiger als N2H4 sind dessen Salze, die das Kation [N2H6]2+ enthalten. Darin ist die NN-Bindung wesentlich stabiler als im N2H4, da jetzt die Abstoßung der nichtbindenden Elektronenpaare entfällt. Die beiden positiven Ladungen sind über die sechs H-Atome delokalisiert, da deren Elektronegativität geringer ist als die von Stickstoff. Aus dem gleichen Grunde lassen sich zwar Triazaniumsalze mit dem Kation [H2N–NH2–NH2]+ herstellen, aber Triazan N3H5 selbst ist nicht bekannt. Die am mittleren N-Atom des Kations [N3H6]+ doppelt organylsubstituierten Triazaniumsalze sind sogar ziemlich stabil. Auch durch induktive Substitutenteneffekte lassen sich NN-Einfachbindungen stabilisieren, da dabei ebenfalls positive Partialladungen erzeugt werden und damit die Elektronenpaarabstoßung vermindert wird. Ein Beispiel dafür ist das Hexakis(trifluormethyl)tetrazan R2N–NR–NR–NR2 (R = CF3), eine farblose Flüssigkeit von erheblicher thermischer Stabilität. Die N4-Kette der gasförmigen Verbindung ist helical mit einem Torsionswinkel von 95° an der mittleren NN-Bindung; die Koordination an den N-Atomen ist fast planar, was mit einer negativen Hyperkonjugation der nichtbindenden Elektronenpaare mit den σ*-MOs der CF-Bindungen erklärt werden
319
9.3 Bindungsverhältnisse in Stickstoffverbindungen
kann.12 Etwas beständiger sind längere Ketten auch manchmal dann, wenn einerseits aromatische Substituenten verwendet werden und andererseits einige Doppelbindungen vorhanden sind. So kennt man die kettenförmigen Verbindungen Triazen PhN=Ν–NMe2, Pentadiazen PhN=N–NMe–N=NPh, Hexadiazen PhN=N–NPh–NPh–N=NPh und Octatriazen PhN=N–NPh–N=N–NPh–N=NPh sowie das cyclische Phenylpentazol, dem ein fast planarer, aromatischer Fünfring zugrunde liegt:13 N Ph
N
N
N N Bei der thermischen Zersetzung von Phenylpentazol entstehen Phenylazid und N2. Stickstoffreiche hochenergetische Moleküle und Salze sind ein aktuelles Forschungsgebiet.14 Ein Beispiel ist das schon lange bekannte Natriumazotetrazolat, das durch Oxidation von 5-Aminotetrazol mit alkalischer KMnO4-Lösung bei 100°C erhalten wird und dessen Derivate mit anderen Kationen im wasserfreien Zustand extrem reib- und stoßempfindlich sind:
2
N N
N
N NH2
+ KMnO4, NaOH ) MnO2, H2O
(Na+)
2
N
NH
N N
N N
N
N N
N
Einige Stickstoffverbindungen liegen bei Raumtemperatur als stabile freie Radikale vor. Dazu gehören die Oxide NO und NO2, das Fluorid NF2 und das Dikalium-stickstoffoxidbis-sulfat (FREMY’s Salz) K2[ON(SO3)2], das bei der Reaktion von NO mit K2SO3 entsteht. Diese Verbindungen sind open-shell-Moleküle, da keine abgeschlossene Elektronenkonfiguration (closed shell) erreicht wird. Die ungepaarten Elektronen sind in der Regel delokalisiert. Alle diese Radikale stehen im Gleichgewicht mit entsprechenden Dimeren, die diamagnetisch sind und in kondensierten Phasen vor allem bei tiefen Temperaturen vorherrschen. Die aus der Temperaturabhängigkeit dieser Gleichgewichte bestimmten Dissoziationsenthalpien sind, soweit bekannt, sehr unterschiedlich und, verglichen mit normalen Einfachbindungsenthalpien, relativ klein:
12 13 14
° : 8.7 kJ mol)1 *H298
N2O2
2 NO
N2O4
2 NO2
57 kJ mol)1
N 2O 3
NO + NO2
40.5 kJ mol)1
N2F4
2 NF2
87 kJ mol)1
H. Oberhammer et al., Angew. Chem. 1995, 107, 645. Röntgenstrukturanalyse: J. D. Wallis, J. D. Dunitz, J. Chem. Soc. Chem. Commun. 1983, 910. Die NN-Kernabstände liegen im Bereich 130–135 pm. J. M. Shreeve et al., Angew. Chem. 2006, 118, 3664.
320
9 Stickstoff
Die Moleküle N2O2, N2O4, N2O3 und N2F4 enthalten im Grundzustand NN-Bindungen, die wegen der Delokalisierung nichtbindender Elektronendichte der O- bzw. F-Atome in das antibindende σ*-MO der NN-Bindung relativ schwach sind (negative Hyperkonjugation). Eine Tabelle mit NO-Kernabständen findet sich im Kapitel 4.3 (Tab. 4.4).
9.4
Hydride des Stickstoffs
9.4.1 Allgemeines Vom Stickstoff sind vier flüchtige und in reiner Form herstellbare Hydride bekannt, nämlich Ammoniak NH3, Hydrazin H2N–NH2, Hydrogenazid HN3 und Tetrazen H2N–N=N–NH2. Weitere binäre N–H-Verbindungen sind die Salze Ammoniumazid [NH4]N3 und Hydraziniumazid [N2H5]N3. Darüber hinaus spielt die unbeständige Verbindung Diazen HN=NH eine Rolle als Zwischenprodukt. Ammoniak ist mit einer Weltjahresproduktion von 1.4·108 t das bei weitem wichtigste Stickstoffhydrid, das zu ca. 87 % zu Düngemitteln verarbeitet wird. Aus NH3 werden aber auch viele andere Stickstoffverbindungen hergestellt. In flüssiger Form wird NH3 als wasserähnliches Lösungsmittel (Kap. 9.4.8) und wegen seiner hohen Verdampfungsenthalpie als Kältemittel in Kühlaggregaten verwendet.
9.4.2 Ammoniak NH3 Ammoniak wird in exothermer Reaktion aus den Elementen hergestellt, wobei man durch hohe Temperaturen (400–500°C) und Verwendung eines Katalysators für eine Aktivierung des N2-Moleküls und dadurch für eine hohe Reaktionsgeschwindigkeit sorgt (HABER-BOSCH-Verfahren): N2 + 3 H 2
2 NH3
° = )91.8 kJ mol)1(N2) *H298
Als Katalysator dient metallisches α-Eisen verteilt auf Al2O3 mit den Promotoren CaO und K2O, die die Standfestigkeit des Katalysators erhöhen, indem sie das Kristallwachstum der kleinen Eisenpartikel behindern.15 Wegen der Volumenabnahme (negatives Reaktionsvolumen) kann die Gleichgewichtslage durch Anwendung hoher Drucke (20–40 MPa) im Sinne der NH3-Bildung beeinflusst werden. In Abbildung 9.2 ist die NH3-Gleichgewichtskonzentration als Funktion von Druck und Temperatur dargestellt. Die Abtrennung des NH3 vom nicht umgesetzten H2-N2-Gemisch erfolgt durch Kondensation. Auf diese Weise wird NH3 technisch in riesigem Umfang aus Synthesegas und Luftstickstoff erzeugt und hauptsächlich zu Düngemitteln wie [NH4]2[SO4], [NH4][NO3] und (H2N)2CO (Harnstoff) sowie zu Salpetersäure verarbeitet. Die erste auf dem HABER15
K. H. Büchel, H.-H. Moretto, P. Woditsch, Industrielle Anorganische Chemie, 3. Auflage, WileyVCH, Weinheim, 1999.
321
9.4 Hydride des Stickstoffs Vol-%
90 80
NH3
70 1000 bar
60
600 bar
50
500 bar
40
400 bar
30
300 bar 200 bar
20
100 bar
10 0
50 bar
200
300
400
500
600
700
Temperatur (°C)
Abb. 9.2 HABER-BOSCH-Verfahren: Gleichgewichtskonzentration von NH3 im Gemisch mit H2 und N2 als Funktion von Temperatur und Druck bei einem ursprünglichen Molverhältnis H2:N2 = 3:1.
BOSCH-Verfahren basierende Ammoniak-Fabrik der Welt ging 1913 bei der BASF in Oppau in Betrieb, ab 1917 wurde auch in Leuna bei Merseburg Ammoniak hergestellt.16 Der Reaktionsmechanismus der Ammoniak-Synthese ist weitgehend aufgeklärt.17 Sowohl N2- als auch H2-Moleküle werden an der Oberfläche der Eisenkristalle erst adsorbiert, dann durch Elektronenübertragung vom Metall auf die Liganden chemisch gebunden (siehe Komplexe mit den Liganden H2 und N2: Kap. 5.7.3 und 9.2) und dabei in die Atome N und H gespalten, so dass ein gemischtes Eisenhydrid und -nitrid entsteht. Bemerkenswerterweise sind die Reaktionen von N2 und H2 mit metallischem Eisen zu Fe–Hund Fe–N-Gruppen trotz der sehr hohen Dissoziationsenthalpien exotherm! Diese chemisorbierten Atome reagieren dann miteinander über gebundene NH- und NH2-Radikale zu NH3, das schließlich desorbiert wird. Im Handel ist NH3 in verflüssigter Form in Stahlflaschen erhältlich (Sdp. –33.4°C). Im Labor kann man es auch aus Ammoniumsalzen nach NH4Cl + NaOH
NH3 + NaCl + H2O
herstellen. Schon 100 ppm NH3 in der Luft rufen Augenreizungen hervor. Beim Erhitzen zerfällt NH3 teilweise in die Elemente. In Gegenwart von Luft oder O2 wird es in der Hitze zu N2 und H2O oxidiert. Leitet man jedoch NH3-Luft-Gemische über einen netzartigen Pt/Rh-Katalysator, so findet bevorzugt folgende Reaktion statt: 2 NH3 +
16 17
5 2
O2
2 NO + 3 H2O
° = )103 kJ mol)1 *H298
FRITZ HABER erhielt den Nobelpreis für Chemie des Jahres 1918, CARL BOSCH den des Jahres 1931. Für die Aufklärung der elementaren Schritte bei der heterogenen Katalyse erhielt GERHARD ERTL den Chemie-Nobelpreis des Jahres 2007(Nobelvortrag: Angew. Chem. 2008, 120, 3578).
322
9 Stickstoff
Die angegebene Enthalpie bezieht sich auf den Formelumsatz; pro Mol NO werden also nur 227 kJ mol–1 freigesetzt. Das industriell bei einer Temperatur von 800–940°C und einem Druck von 0.1–0.5 MPa in hoher Ausbeute hergestellte NO reagiert beim Abkühlen mit weiterem O2 zu NO2, aus dem man durch Einleiten in Wasser Salpetersäure gewinnt: 2 NO2 +
1 2
O2 + H2O
2 HNO3
Auf diesen Reaktionen basiert die technische Salpetersäureherstellung (OSTWALD-Verfahren), die in Deutschland großtechnisch im Jahre 1915 bei der BASF eingeführt wurde und die den Import von Chilesalpeter im Laufe der folgenden Jahre überflüssig machte. Eine weitere industrielle Synthese mit NH3 ist die Herstellung von Cyanwasserstoff, die sehr hohe Temperaturen erfordert: CH4 + NH3
HCN + 3 H2
° = 20/ kJ mol)1 *H298
Durch Umsetzung mit Natron- oder Kalilauge werden aus HCN die Cyanide KCN und NaCN hergestellt (Kap. 7.8). Alle drei Verbindungen sind extrem giftig. Ammoniak ist ein stechend riechendes Gas, das sich sehr gut und exotherm in Wasser löst. Konzentrierte Lösungen enthalten bis zu 35 Massen-% NH3. Die hohe Löslichkeit ist auf die strukturelle Verwandtschaft von H2O und NH3 und ihre Fähigkeit zur intermolekularen Bildung von Wasserstoffbrücken zurückzuführen (Kap. 5.6). Diese Lösungen enthalten das meiste NH3 physikalisch gelöst, aber solvatisiert. Die elektrische Leitfähigkeit und das basische Verhalten der Lösungen zeigen jedoch folgendes Gleichgewicht an: NH3 + H2O
[NH4]+ + [OH])
Das Gleichgewicht liegt ganz auf der linken Seite. Die Basenkonstante Kb = c(NH)·c(OH–)/c(NH3) beträgt bei 25°C nur 1.8·10–5 mol L–1. Daher ist selbst in einer 0.1 molaren NH3-Lösung bei 25°C das NH3 zu weniger als 1 % ionisiert, d.h. wässriges Ammoniak ist eine sehr schwache Base.18 Eine Verbindung NH4OH existiert nicht, jedoch wurden bei tiefen Temperaturen die kristallinen Hydrate NH3·H2O und 2NH3·H2O nachgewiesen, die durch Wasserstoffbrücken-Bindungen charakterisiert sind und die keine Ammonium-Ionen enthalten. Mit stärkeren Protonendonoren wie HCl, H2SO4 oder HNO3 reagiert NH3 praktisch quantitativ zu den entsprechenden Ammoniumsalzen, die in großer Zahl bekannt sind und die wegen der ähnlichen Kationenradien von [NH4]+ und K+ meistens ähnliche Löslichkeiten besitzen wie die entsprechenden Kaliumsalze. Die Ammoniumsalze enthalten das mit [BH4]– und CH4 isoelektronische und regulär tetaedrisch gebaute [NH4]+-Ion. Sie sind in wässriger Lösung vollständig dissoziiert, wobei die Lösung infolge Hydrolyse schwach sauer reagiert, wenn es sich um das Salz einer starken Säure handelt: [NH4]+ + H2O
NH3 + [H3O]+
pKa(NH+4) = 9.25
Das [NH4]+-Ion ist also in Wasser eine schwache Säure (pKa = 9.5). NH4Cl ist ein Nebenprodukt des SOLVAY-Prozesses zur Sodaherstellung (Kap. 7.7). Die Salze [NH4]2[SO4] und NH4NO3 werden in großem Umfang als Stickstoffdünger19 verwendet, während NH4Cl 18 19
Bezüglich starker Stickstoffbasen vgl. Kapitel 5.6.4. Ammoniumsulfat fällt in großen Mengen bei der Caprolactam-Synthese an.
323
9.4 Hydride des Stickstoffs
unter anderem als Elektrolyt in Trockenbatterien dient. Ein weiterer wichtiger StickstoffDünger ist der Harnstoff, der industriell wie folgt aus NH3 und CO2 hergestellt wird: 2 NH3 + CO2 NH4[NH2COO]
NH4[NH2COO]
° = )!!- kJ mol)1 *H298
(NH2)2CO + H2O
° = !6 kJ mol)1 *H298
Das in der ersten Stufe bei 170–190°C/13–20 MPa in schneller Reaktion aus flüssigem Ammoniak und CO2 erhaltene Ammoniumcarbamat zersetzt sich anschließend langsamer zu Harnstoff und Wasser. Harnstoff ist ein farb- und geruchloser Feststoff, der sehr gut wasserlöslich ist und der daher im Winter auch zum Enteisen von Straßen und von Landebahnen auf Flughäfen verwendet wird. Das Enzym Urease katalysiert die Hydrolyse von Harnstoff zu NH3 und CO2. Ammoniumnitrat zersetzt sich bei Erhitzen je nach Bedingungen zu H2O, N2, N2O und NO2, und diese Zersetzung kann explosionsartig erfolgen. Katastrophale Unglücke mit explodierenden Düngemittellagern haben sich in Europa ereignet (im Jahre 1921 in Ludwigshafen und 2001 in Toulouse). Im Gemisch mit 6 % Dieselöl wird NH4NO3 als preiswerter Sprengstoff (Handelsname ANFO) in Steinbrüchen eingesetzt. Die H-Atome des NH3-Moleküls können unter wasserfreien Bedingungen durch stark elektropositive Metalle ersetzt werden. So reagiert gasförmiges NH3 mit Alkalimetallen beim Erhitzen zu salzartigen Amiden: Li + NH3
400°C
LiNH2 +
1 H 2 2
Einige Amide gehen beim stärkeren Erhitzen unter NH3-Abspaltung erst in Imide, dann in Nitride über: 2 MNH2
M2NH + NH3
3 M2NH
2 M3N + NH3
Diese Salze enthalten im Falle der Alkali- und Erdalkalimetalle formal die Ionen [NH2]–, [NH]2– und N3–. Sie werden von Wasser augenblicklich zu NH3 und Metallhydroxid zersetzt (Hydrolyse). Alle Nichtmetalle mit Ausnahme einiger Edelgase sind zur Bildung kovalenter Element-Stickstoff-Bindungen befähigt, und die Zahl der entsprechenden Verbindungen ist unübersehbar groß. Die beiden wichtigsten Reaktionen zur Errichtung von kovalenten Element-Stickstoff-Bindungen sind: E X + H
N
E N
+ HX
E: B, C, Si, N, P, As, S, Se, Cl X: F, Cl (Br, I) E
OH + H
N
E
N
+ H 2O
E: B, N, P, S, Cl
Auf diese Weise werden aus Ammoniak, Amiden und Imiden viele wichtige Verbindungen hergestellt, die bei den betreffenden Elementen behandelt werden.
324
9 Stickstoff
9.4.3 Hydrazin N2H4 Hydrazin20 ist eine der wenigen Verbindungen mit einer NN-Einfachbindung. Diese Bindung hat aus den im Kapitel 4.1 erwähnten Gründen nur eine niedrige Bindungsenthalpie. Hydrazin ist deswegen eine endotherme Verbindung (Bildungsenthalpie bei 298 K: 95.4 kJ mol–1) und seine Herstellung und Handhabung setzen schonende Bedingungen voraus. In den meisten Fällen werden jedoch wässrige Lösungen mit maximal 64% N2H4 eingesetzt, so genanntes Hydrazinhydrat, das ein azeotropes Gemisch genau dieser Zusammensetzung bildet und das gefahrlos gehandhabt werden kann. In Deutschland und den USA wird Hydrazin hauptsächlich nach dem BAYER-Verfahren hergestellt, das eine Modifizierung des älteren RASCHIG-Verfahrens darstellt. Hierbei wird konzentriertes NH3(aq) mit verdünnter Hypochloritlösung und Aceton bei 35°C vermischt, wobei ein Ketazin entsteht: NH3 + NaOCl
NH2Cl + NaOH
NH2Cl + NH3 + NaOH + 2 Me2CO
Me2C
N
N
CMe2 + NaCl + 3 H2O
Anschließend werden zunächst das überschüssige Ammoniak und dann ein Aceton-Wasser-Azeotrop bei 95°C aus der Mischung abdestilliert. Danach wird das Ketazin bei 180°C mit Wasser unter Druck hydrolysiert: Me2C
N
N
CMe2 + 2 H2O
N2H4 + 2 Me2CO
Das freigesetzte Aceton destilliert ab und kehrt in den Kreislauf zurück. Die zurückbleibende N2H4-Lösung wird durch Eindampfen bis auf ca. 64 % konzentriert. Durch Destillation über festem NaOH kann ein N2H4-Gehalt von etwa 95 % erhalten werden. Wasserfreies Hydrazin stellt man durch Entwässern dieses Konzentrates mit BaO [→Ba(OH)2] oder mit Ba3N4 (Bariumpernitrid) her, das mit H2O quantitativ zu Ba(OH)2, N2H4 und N2 reagiert. Reines N2H4 ist eine farblose, ölige Flüssigkeit (Schmp. 2°; Sdp. 114°C), die an der Luft stark raucht. Beim Erhitzen oder bei Initialzündung explodiert N2H4 mit großer Gewalt, wobei N2 und NH3 entstehen. Das Molekül N2H4 ist in der Gasphase ähnlich verdrillt gebaut wie H2O2; die beiden NH2-Gruppen sind um den Torsionswinkel τ = 91° gegeneinander verdreht (gauche-Konformation; Symmetrie C2). Daher besitzt das Molekül ein Dipolmoment von 1.84 D. Der NN-Kernabstand beträgt 144.7 pm. Bei einer Torsion um die NN-Bindung muss eine Barriere von 12.8 kJ mol–1 (τ = 180°) bzw. 41.8 kJ mol–1 (τ = 0°) überwunden werden.21 Mit Wasser ist Hydrazin unbegrenzt mischbar. Sowohl N2H4 als auch seine wässrige Lösung sind stark toxisch. Die wässrige Lösung reagiert als Reduktionsmittel, als schwache Base und als Komplexbildner. Halogene werden von N2H4 zu Halogenwasserstoffen, Cu(II)-Salze zu Kupfer(I)-oxid und dann zu metallischem Kupfer, Silber- und Quecksilbersalze sofort zu den Metallen reduziert. An der Luft tritt langsame Autoxidation von N2H4 ein. Charakteristische Reaktionen sind auch die Reduktion von Selenit und Tellurit zu elementarem Se bzw. Te. In allen diesen Fällen wird N2H4 zu N2 oxidiert. 20 21
E. W. Schmidt, Hydrazine and its Derivatives, Vol. 2, Wiley, Chichester, 2001. J.-W. Son, H.-J. Lee, Y.-S. Choi, C.-J. Yoon, J. Phys. Chem. A 2006, 110, 2065.
325
9.4 Hydride des Stickstoffs
N2H4 ist eine bifunktionelle Base, von der sich zwei Reihen von Salzen mit den Kationen [N2H5]+ und [N2H6]2+ ableiten (pKb1 = 6.1; pKb2 = 15). Diese Ionen sind mit den Molekülen CH3NH2 bzw. C2H6 isoelektronisch. Die [N2H5]+-haltigen Salze lösen sich in Wasser unter einfacher Dissoziation, die [N2H6]2+-haltigen erleiden dagegen starke Hydrolyse nach [N2H6]2+ + H2O
[N2H5]+ + [H3O]+
Die wichtigsten Salze sind Hydraziniumsulfat [N2H6][SO4] und -hydrogensulfat [N2H5][HSO4]. Bereits in der ersten Protonierungsstufe ist Hydrazin in Wasser eine schwächere Base als NH3. Wie dieses bildet es aber mit bestimmten Metall-Ionen Komplexe, wobei N2H4 als zweizähniger N-Donor-Ligand fungiert, z.B. in [M(N2H4)2]Cl2 mit M = Mn, Fe, Co, Ni, Cu oder Zn. Hydrazinhydrat wird zur Korrosionsunterdrückung in Dampferzeugungsanlagen und als Reduktionsmittel verwendet. Daneben dient es zur Synthese von organischen Hydraziden, die als Insektizide, Herbizide oder Pharmaka eingesetzt werden.22 Ein typisches Hydrazinderivat im Pharmasektor ist das klassische Tuberkulose-Medikament Neoteben: O H N
C
N NH2
Wasserfreies Hydrazin und Methylhydrazin werden als Raketentreibstoffe verwendet, wobei N2O4 als Oxidationsmittel dient, beispielsweise in der 3. Stufe der europäischen Rakete Ariane 5.
9.4.4 Diazen (Diimin) N2H223 Das Molekül HN=NH ist der Grundkörper der organischen Azoverbindungen, z.B. von Azobenzol (PhN=NPh). Diimin ist äußerst instabil (endotherm) und nur in der Gasphase bei sehr kleinem Partialdruck, in Lösungen als Zwischenprodukt und in festen Matrizen bei Temperaturen unterhalb –165°C nachgewiesen worden. Auch Metallkomplexe mit dem Liganden N2H2 sind charakterisiert worden. Bei Normalbedingungen disproportioniert N2H2 zu N2H4 und N2 oder zerfällt zu N2 und H2. Von den drei planaren Isomeren H N H
H
N
N H
N
N
N
H
H trans cis iso ist die trans-Form am stabilsten, die cis-Form ist um 22 kJ mol–1 energiereicher und die iso-Form ist am instabilsten. trans-N2H2 entsteht bei der Thermolyse von Phenylsulfonylhydrazid Ph–SO2–NH–NH2 bei ca. 120°C mit anschließender Kondensation bei –196 °C. Das Derivat Methyldiazen MeNNH lässt sich dagegen in reiner Form isolieren.
22 23
Chemie unserer Zeit 2003, 37, 88–127 (3 Aufsätze). D. Sellmann, A. Hennige, Angew. Chem. 1997, 109, 270 und zitierte Literatur.
326
9 Stickstoff
Stabile Salze des Diazens sind die Diazenide oder Pernitride, z.B. SrN2 und BaN2, die das Anion [N2]2– enthalten (NN-Kernabstand im SrN2: 122.5 pm) und die aus den Elementen unter hohem Druck hergestellt werden. Dabei oxidiert der Stickstoff das Metall bzw. das Metall reduziert das N2-Molekül.24 Im Rahmen der Erforschung energiereicher Verbindungen wurde auch die heterocyclische Verbindung C4N12H4 hergestellt, die formal ein Derivat des Ammoniaks, des Hydrazins und des Diazens ist: N N N N NH2 N H2N
N
N
N
N N Die Atome C und N dieses Moleküls liegen alle in einer Ebene. Dieses 3,3’-Azobis(6-amino-1,2,4,5-tetrazin) ist thermisch bis 250°C beständig und weist eine extrem hohe endotherme Bildungsenthalpie von 862 kJ mol–1 auf.
9.4.5 Hydrogenazid HN3 und Azide Hydrogenazid ist die Stammverbindung einer größeren Zahl kovalenter und ionischer Azide. Im Gegensatz zu den basischen Hydriden NH3 und N2H4 ist HN3 in Wasser eine schwache Säure (pKa = 4.64), die als Stickstoffwasserstoffsäure bezeichnet wird. In stark sauren Medien wird HN3 andererseits zum Kation [H2NNN]+ protoniert. Natriumazid NaN3 wird industriell durch Einleiten von N2O in eine Schmelze von NaNH2 bei 190°C gewonnen: 2 NaNH2 + N2O
NaN3 + NaOH + NH3
Eine andere Möglichkeit ist die Oxidation von Amid mit geschmolzenem Nitrat im Verhältnis 3:1 bei 180°C: 3 NaNH2 + NaNO3
NaN3 + 3 NaOH + NH3
Das NaN3-NaOH-Gemisch wird durch Umkristallisieren aus Wasser getrennt. Aus NaN3 kann wässriges HN3 mittels Ionenaustausch oder durch Reaktion mit verdünnter H2SO4 und Destillation erhalten werden. Beide Verbindungen sind äußerst toxisch. Wasserfreies HN3 ist eine wasserhelle, leicht bewegliche Flüssigkeit (Schmp. –80°C, Sdp. 36°C), die außerordentlich leicht unter Explosion in die Elemente zerfällt (endotherme Bildungsenthalpie).25 Wie bei anderen kovalenten Aziden wird dabei die Bindung HN–NN in exothermer Reaktion gespalten. Das carbenanaloge Zwischenprodukt NH (Nitren) lässt sich abfangen. Die Nitrene NR mit R = H, Alkyl oder Aryl sind hochreaktiv und können sich in Element-Wasserstoff-Bindungen einschieben. Bei der Photolyse von wässrigem HN3 entsteht daher Hydroxylamin H2NOH durch Einschiebung von NH in eine OH-Bindung des H2O-Moleküls: 24 25
R. Kniep et al., Angew. Chem. 2001, 113, 565; Inorg. Chem. 2001, 40, 4866; Angew. Chem. 2002, 114, 2392. Auch andere kovalente Azide wie FN3, ClN3, BrN3 und IN3 sind explosiv. Nicht explosiv und bei 25°C beständig ist das aus HN3, HF und SbF5 erhältliche Salz [H2N3][SbF6].
327
9.4 Hydride des Stickstoffs h.8
HN3
NH + H
N2 + NH OH
H2N
OH
Wässrige Lösungen mit bis zu 20 Massen-% HN3 sind ohne Gefahr einer Explosion handhabbar. In wässrigem HN3 lösen sich Zn, Fe, Mn und Cu unter N2-Entwicklung auf, d.h. HN3 reagiert als Oxidationsmittel, das dabei zu NH3 (und N2) reduziert wird. Azide, die durch doppelte Umsetzung aus NaN3 hergestellt werden, ähneln in ihrem Aussehen und in der Löslichkeit oft den Chloriden, weswegen das Anion [N3]– als Pseudohalogenid-Ion bezeichnet wird (Kap. 13.6). Das Azid-Ion (Symmetrie D∞h) enthält im Gegensatz zum zickzack-förmigen HN3-Molekül (Symmetrie Cs) zwei gleichartige NN-Bindungen: N
N
N
N
N
N
H
N
N
N
H
d(NN) = 116 pm
d(NN) = 124 bzw. 113 pm
Winkel(NNN) = 180°
Winkel(NNN) = 171° Winkel(HNN) = 109°
Das Ion [N3]– ist mit CO2, N2O, [NO2]+ und [OCN]– isoelektronisch, weswegen die Beschreibung der Bindungsverhältnisse im CO2 (Kap. 2.4.6) sinngemäß auf das Azid-Ion übertragen werden kann. Während sich rein ionische Azide beim Erhitzen kontrolliert zu N2 und Metall zersetzen, explodieren die kovalenten Verbindungen und die Schwermetallazide oft schon auf Schlag. Bleiazid Pb(N3)2 ist ein wichtiger Initialzünder für Sprengstoffe. Eine Mischung aus NaN3, NaNO3 und Borpulver wird zum Aufblasen von Airbags in Kraftfahrzeugen verwendet. Durch elektrische Zündung entstehen aus dem NaN3 elementarer Stickstoff und Natrium, das mit dem NaNO3 zu weiterem N2 sowie Na2O reagiert; das Na2O wird letztlich als harmloses Natriumborat gebunden. Azidionen sind ausgezeichnete Liganden in Metall- und Nichtmetallkomplexen, wodurch sich extrem stickstoffreiche Moleküle und Ionen herstellen lassen. Beispiele dafür sind die Anionen [Te(N3)6]2– und [Nb(N3)7]2–. Mit großen Gegenionen wie [PPh4]+ sind die entsprechenden Salze relativ stabil. Derartige Verbindungen sind auch im Rahmen der Erforschung energiereicher Treibstoffe von Interesse, da bei der Zersetzung zu N2 sehr viel Energie freigesetzt wird. Dies gilt auch für eine Reihe anderer, ziemlich exotischer Materialien, die mehrere NN-Bindungen enthalten. Beispielweise reagiert HN3 bei tiefen Temperaturen mit [N2F][SbF6] (Kap. 9.5.1) in Gegenwart von HF zu dem Salz [N5][SbF6] mit dem spektakulären gewinkelten Kation [N5]+ (Symmetrie C2v): HN3 + [N2F][SbF6]
[N5][SbF6] + HF
N N
N
N
N
d(NN) = 110 und 130 pm; Winkel(NNN) = 111° und 168°
328
9 Stickstoff
Diese Verbindung zersetzt sich erst bei 70°C.26 Zahlreiche weitere Salze mit dem Pentastickstoff-Kation wurden durch doppelte Umsetzung hergestellt; viele davon sind allerdings bei 25°C instabil und äußerst stoßempfindlich.
9.4.6 Tetrazen(2) N2H4 Bei der Thermolyse von Bis(trimethylsilyl)diazen entsteht das Dimer Tetrakis(trimethylsilyl)tetrazen, aus dem durch Reaktion mit Trifluoressigsäure bei –78°C das nur unterhalb –30°C beständige Tetrazen(2)27 erhalten wird: (Me3Si)2N
N
N
N(SiMe3)2 + 4 CF3COOH
N4H4 + 4 CF3COOSiMe3
N4H4 bildet farblose, sublimierbare Kristalle, in denen es in der trans-Konformation vorliegt (Symmetrtie C2h): NH2 N
N
H 2N
Bei 0°C zersetzt sich N4H4 lebhaft zu N2, [NH4][N3] und [N2H5][N3].
9.4.7 Hydroxylamin NH2OH Hydroxylamin H2N–OH ist formal ein Derivat des Ammoniaks, das aber auch dem Hydrazin H2N–NH2 einerseits und dem Wasserstoffperoxid HO–OH andererseits nahe steht. Hydroxylamin wird technisch nach folgenden Verfahren hergestellt: (a) Reduktion von Nitrit mit Sulfit bei 0°C mit anschließender Hydrolyse des Hydroxylamin-disulfonates bei 100°C (modifiziertes RASCHIG-Verfahren): NH4NO2 + 2 SO2 + NH3 + H2O 2 [NH4]2[HON(SO3)2] + 4 H2O + 2 NH3
[NH4]2[HON(SO3)2] [NH3OH]2[SO4] + 3 [NH4]2[SO4]
Das Nebenprodukt Ammoniumsulfat wird als Stickstoffdünger verwendet. (b) Katalytische Hydrierung von NO in schwefelsaurem Medium bei 40–60°C mit Platin- oder Palladium-Katalysator (BASF-Verfahren): 2 NO + 3 H2 + 2 H+
Pt
2 [NH3OH]+
NH2OH ist in Wasser eine sehr schwache Base (pKb = 8.2 bei 25°C), schwächer als Ammoniak und Hydrazin. Es bildet mit Säuren HX beständige und sehr gut wasserlösliche Hydroxylammoniumsalze [NH3OH]X, aus denen es durch Reaktion mit NaOH oder Natriummethylat freigesetzt werden kann: 26 27
K. O. Christe et al., Inorg. Chem. 2001, 123, 6308. N. Wiberg, H. Bayer, H. Bachuber, Angew. Chem. 1975, 87, 202; M. Veith, G. Schlemmer, Z. Anorg. Allg. Chem. 1982, 494, 7.
329
9.4 Hydride des Stickstoffs
[NH3OH]X + CH3ONa
NH2OH + CH3OH + NaX
Reines Hydroxylamin bildet farblose, hygroskopische Kristalle (Schmp. 32°C), die sich schon bei Raumtemperatur langsam zersetzen; oberhalb 100°C verläuft die Reaktion zu NH3, N2 und H2O explosionsartig. Hydroxylamin kommt als 50 %ige wässrige Lösung in den Handel; bei hoher Reinheit ist die Lösung bei 25°C bis zu 1 Jahr lang haltbar, erleidet aber langsame Autoxidation. Verwendung findet wässriges Hydroxylamin in der pharmazeutischen Industrie und zur Reinigung der Oberflächen von Siliciumwafern. Hydroxylamin ist ein Reduktionsmittel, z.B. gegenüber Cu2+, [Hg2]2+ und Ag+, wobei es zu N2 oxidiert wird. Mit anderen Oxidationsmitteln können aber auch N2O, NO, [NO2]– oder [NO3]– entstehen. Nur von sehr starken Reduktionsmitteln (Sn2+, V2+, Cr2+) wird NH2OH zu NH3 reduziert. Hauptverwendung für [NH3OH]+-Salze ist die Synthese von Caprolactam durch Oximierung von Cyclohexanon und anschließende BECKMANN-Umlagerung in Gegenwart von rauchender Schwefelsäure: O O + NH2OH
) H2O
NOH
H2SO4
NH Caprolactam
Aus Caprolactam wird durch Zugabe von wenig Wasser (Ringöffnung) und anschließende Polykondensation der entstandenen Capronsäure das kettenförmige 6-Polyamid (Handelsnamen: Perlon, Nylon) hergestellt.
9.4.8 Wasserähnliche Lösungsmittel Unter wasserähnlichen Lösungsmitteln versteht man solche Flüssigkeiten, die ähnlich wie Wasser eine gute Löslichkeit für viele anorganische und polare organische Verbindungen aufweisen und die darüber hinaus durch einen breiten Flüssigkeitsbereich und möglichst geringe Viskosität auch in praktischer Hinsicht als Lösungsmittel geeignet sind. Zu dieser Gruppe gehören folgende Verbindungen im wasserfreien und flüssigen Zustand: (a) Protonenhaltige Lösungsmittel: NH3, HF, H2SO4, HSO3F, CH3COOH, HCl, HCN (b) Protonenfreie Lösungsmittel: SO2, N2O4, BrF3, SeOCl2, POCl3, NOCl, COCl2 sowie bestimmte Halogenide von As, Sb, Bi und Hg Diese Verbindungen weisen im reinen Zustand oft nur eine geringe elektrische Leitfähigkeit auf. Demgegenüber sind die Lösungen verschiedener Substanzen in diesen Flüssigkeiten wesentlich besser leitend. Das beweist die Anwesenheit von Ionen, weswegen man auch von ionisierenden Lösungsmitteln spricht und zwar auch dann, wenn das reine Lösungsmittel wie im Falle des flüssigen SO2 keine Eigendissoziation aufweist. Wegen der häufigen Bildung von Ionen können viele Reaktionen in wasserähnlichen Systemen durch konduktometrische oder potentiometrische Messungen verfolgt werden.
330
9 Stickstoff
Im Folgenden wird als wichtigstes und repräsentatives Beispiel nur das flüssige Ammoniak eingehend behandelt. Ammoniak schmilzt bei –77.7°C (Tripelpunkt) und siedet bei –33.4°C. Löslichkeiten in flüssigem Ammoniak Die Löslichkeit einer Ionenverbindung in einem beliebigen Lösungsmittel ist abhängig vom Verhältnis der Gitterenthalpie zur Summe der Solvatationsenthalpien der Ionen (Kap. 2.1.7). Die Solvatation hängt stark von der Dielektrizitätskonstante (ε) des Lösungsmittels ab, die sich bei Wasser (78.3) und flüssigem Ammoniak (16.9) beträchtlich unterscheiden (beide Werte bei 25°C). Daher sind zwischen der Löslichkeit in Wasser einerseits und in Ammoniak andererseits erhebliche Unterschiede möglich. Beispielsweise nehmen die Löslichkeiten der Kaliumhalogenide in NH3 mit steigender Anionengröße, also in der Reihe KF – KCl – KBr – KI zu. Dies entspricht den Verhältnissen in Wasser. Andererseits ändern sich die Löslichkeiten der Silberhalogenide in Ammoniak in der folgenden Weise: AgF < AgCl < AgBr < AgI, also gerade umgekehrt wie in Wasser. Bei 25°C lösen sich in 100 mL flüssigem NH3 ca. 207 g AgI! Diese hohe Löslichkeit ist auf die hohe Solvatationsenthalpie des Kations Ag+ zurückzuführen, da sich in NH3 der Amminkomplex [Ag(NH3)2]+ bildet. Die besonderen Löslichkeitsverhältnisse im Ammonosystem ermöglichen zum Beispiel folgende doppelte Umsetzung: 2 AgCl + Ba(NO3)2
NH3 H 2O
2 AgNO3 + BaCl2
In dieser Gleichgewichtsreaktion ist BaCl2 die in NH3 am schwersten lösliche Komponente. Es fällt daher aus der Lösung aus. Infolgedessen läuft die Reaktion in NH3 von links nach rechts ab, während sie in H2O wegen der Schwerlöslichkeit des AgCl gerade umgekehrt erfolgt. Salze mehrwertiger Anionen wie Sulfate, Sulfite, Carbonate, Phosphate, Oxide und Sulfide sind in flüssigem NH3 schwer- oder unlöslich. Eigendissoziation von flüssigem Ammoniak Flüssiges Ammoniak ist selbst beim Siedepunkt nur in sehr geringem Umfang dissoziiert: 2 NH3
[NH4]+ + [NH2])
c (NH +4 ) . c (NH 2 ) = 10)29 ()33°C) )
Das Ionenprodukt ist noch kleiner als das von Ethanol (ca. 10–20)! Dessen ungeachtet sind aber alle Stoffe, die die Konzentration der Ammonium-Ionen in flüssigem Ammoniak erhöhen, Säuren. Das sind beispielsweise alle löslichen [NH4]+-Salze, von denen die mit den Anionen I–, [CN]–, [SCN]–, [NO3]–, [NO2]–, [N3]– und [BF4]– besonders gut löslich sind. Diese Verbindungen entsprechen den Oxoniumsalzen im Aquosystem. Die sauren Lösungen der Ammoniumsalze haben die Eigenschaft, unedle Metalle wie Mg oder Al unter Wasserstoffentwicklung aufzulösen: Mg + 2 [NH4]+
Mg2+ + 2 NH3 + H2
Ähnlich wie wässrige Säuren zersetzen sie Magnesiumsilicid unter Silanentwicklung: Als Basen verhalten sich in Ammoniak solche Stoffe, die die Konzentration der Amid-
331
9.4 Hydride des Stickstoffs
Mg2Si + 4 [NH4]+
2 Mg2+ + 4 NH3 + SiH4
Ionen erhöhen. Dafür kommen vor allem KNH2 und Ba[NH2]2 in Frage, da NaNH2 unlöslich ist und LiNH2 und Ca[NH2]2 nur eine geringe Löslichkeit aufweisen. Diese ionischen Amide entsprechen den Hydroxiden im Aquosystem. Zwischen Säuren und Basen sind Neutralisationsreaktionen möglich, die ebenso wie in Wasser mit Farbindikatoren oder elektrometrisch verfolgt werden können. Beispielsweise entsteht bei der Titration der starken Base KNH2 mit einer NH4Cl-Lösung das schwer lösliche Salz KCl: [NH4]+ + Cl) + K+ + [NH2])
KCl + 2 NH3
Der Äquivalenzpunkt dieser Reaktion ist daher durch ein Leitfähigkeitsminimum ausgezeichnet. Ammonolyse-Reaktionen Sehr viele Nichtmetallhalogenide reagieren mit trockenem Ammoniak unter Kondensation. Dies gilt auch für flüssiges Ammoniak. Zum Beispiel reagiert BCl3 bei Temperaturen unterhalb 0°C nach BCl3 + 6 NH3
B(NH2)3 + 3 NH4Cl
Bortriamid ist im Ammonosystem eine schwache, d.h. kaum dissoziierte Base. Es ist das Analogon zur Orthoborsäure B(OH)3 im Aquosystem, die durch Hydrolyse von BCl3 entsteht. Schwefel (S8) reagiert mit flüssigem NH3 unter geeigneten Bedingungen in präparativ verwertbarer Weise zu Heptaschwefelimid: S8 + NH3
S7NH + H2S
Solvatisierte Elektronen in flüssigem Ammoniak28 Die bemerkenswerteste Erscheinung in flüssigem Ammoniak ist zweifellos die Tatsache, dass sich bestimmte Metalle in trockenem NH3 zu blauen, bei höheren Konzentrationen bronzefarbenen Lösungen auflösen. Hierzu gehören vor allem die Alkali- und Erdalkalimetalle, deren Löslichkeit gut (Li, Na, K, Ca) bis sehr gut (Cs) ist. Bei –50°C lösen sich zwischen 0.19 und 0.43 mol Alkalimetall pro Mol NH3. Beim Eindampfen der Lösungen erhält man die Alkalimetalle unverändert zurück, während die Erdalkalimetalle als Hexaammoniakate auskristallisieren, z.B. Ca(NH3)6. Außer durch Lösen der Metalle entstehen die blauen Lösungen auch bei der Elektrolyse ammoniakalischer Metallsalzlösungen, und zwar entwickelt sich die blaue Farbe an der Kathode. Die Metall-Lösungen besitzen eine Reihe gemeinsamer Eigenschaften, die näherungsweise von dem gelösten Metall unabhängig sind. Sowohl die blauen als auch die bronzefarbenen Lösungen weisen eine sehr gute elektrische Leitfähigkeit auf und die Ladungsträger haben eine sehr hohe Beweglichkeit, d.h. es müssen in den Lösungen Ionen oder Elektronen oder beides vorhanden sein. Die Leitfähigkeit der konzentrierten Lösungen entspricht der von reinen Metallen wie Natrium oder Quecksilber. Magnetische Suszeptibilitätsmessungen haben ergeben, dass die blauen Lösungen paramagne28
J. L. Dye, Progr. Inorg. Chem. 1984, 32, 327; P. P. Edwards, Adv. Inorg. Chem. Radiochem. 1982, 25, 135.
332
9 Stickstoff
tisch sind; die Suszeptibilität entspricht einem ungepaarten Elektron pro Metallatom. Bei steigender Konzentration fällt die Suszeptibilität ab, bis Diamagnetismus (und zugleich ein Leitfähigkeitsminimum) erreicht wird, um bei weiter steigender Konzentration wieder in Paramagnetismus überzugehen. Zur Erklärung dieser und der weiter unten aufgeführten experimentellen Befunde nimmt man eine reversible Dissoziation der Metallatome an: M + x NH3
+ + e) Mam am
Diese Reaktion wird durch die geringe Gitterenthalpie und die geringe Ionisierungsenergie der Alkalimetalle einerseits und durch die hohe Solvatationsenthalpie der Kationen andererseits gefördert. Für die gemeinsamen Eigenschaften der blauen Metall-Lösungen werden die solvatisierten Elektronen (em) verantwortlich gemacht. Mit steigender Konzentration kommt es jedoch zu einer antiferromagnetischen Wechselwirkung benachbarter Elektronen (Bipolaronen, [e2]2–), wodurch sich deren Spins antiparallel einstellen (Spinquantenzahlen je zur Hälfte + 12 und – 12), was zu Diamagnetismus führt. Außerdem bilden sich solvatisierte Metall-Anionen (Alkalid-Ionen), die ebenfalls diamagnetisch sind: ) Mam + eam
)
Mam
Durch diese Reaktion verringert sich auch die elektrische Leitfähigkeit. Während also die verdünnten Lösungen die Eigenschaften von Elektrolytlösungen aufweisen, ähneln die konzentrierten Lösungen den flüssigen Metallen. Informationen über die Struktur der solvatisierten Elektronen erhält man aus Messungen der Dichte und des Absorptionsspektrums der Lösungen. Die Dichte von NH3 beträgt beim Siedepunkt 0.68 g cm–3; die Dichte der Lösungen ist dagegen wesentlich geringer. Zum Beispiel findet man für eine bei 19°C gesättigte Li-Lösung nur 0.477 g cm–3; das ist die geringste Dichte aller bei dieser Temperatur bekannten Flüssigkeiten! Da sich die Metall-Kationen in den Lösungen normal verhalten, muss die Dichteabnahme, d.h. die Volumenvergrößerung, auf die Elektronen zurückgeführt werden. Aus genauen Dichtemessungen wurde der Raumbedarf der gelösten Elektronen zu 94 mL mol–1 ermittelt. Das ist ein wesentlich größerer Wert, als er für beispielsweise für das große Iodid-Ion in Ammoniak bestimmt wurde. Dieser bemerkenswerte Befund wird so gedeutet, dass sich infolge der COULOMB-Abstoßung zwischen den gelösten Elektronen und den Valenzelektronen der NH3-Moleküle Hohlräume bilden, in denen die solvatisierten Elektronen eingefangen sind. Die innere Oberfläche der Hohlräume wird dabei von den (partiell positiv geladenen) Wasserstoffatomen gebildet. Der Radius der Hohlräume lässt sich aus der Dichte der Metall-Lösungen sowie aus den Absorptionsspektren (Abb.9.3) zu 300–340 pm abschätzen. Das Absorptionsspektrum z.B. von Kalium in flüssigem NH3 besteht aus einer einzelnen breiten Bande bei 1580 nm, deren langwellige Flanke bis ins sichtbare Gebiet reicht und dadurch die blaue Farbe bedingt. Die Idee von Hohlräumen in der flüssigen Phase wird gestützt durch die Strukturen der Elektride, in denen sich die Elektronen offenbar in Hohlräumen der Kristallstruktur befinden (siehe unten). Die konzentrierten Metall-Lösungen weisen ein sehr hohes Reflexionsvermögen und daher metallischen Glanz auf. Sie entstehen aus den verdünnten Lösungen durch Konzentrierung oder durch Abkühlung, wobei im letztgenannten Fall eine Entmischung in eine konzentrierte, spezifisch leichtere Phase (!) und eine verdünnte aber schwerere blaue Lösung eintritt.
333
Extinktionskoeffizient (L mol)1 cm)1)
9.4 Hydride des Stickstoffs NH3 bei -30°C 40.103
,max = 1580 nm
30
20 H2O bei +25°C 10 0
,max = 720 nm
5 000
10 000
15 000
20 000 Wellenzahl (cm)1)
Abb. 9.3 Absorptionsspektren solvatisierter Elektronen in flüssigem Ammoniak (links) und in Wasser (rechts).
Solvatisierte Elektronen und Alkalid-Ionen sind auch in Form kristalliner Verbindungen isoliert worden, die bei tiefen Temperaturen beständig sind.29 Beispielsweise reagiert metallisches Natrium mit einer Lösung des Cryptanden 2,2,2-crypt30 in EtNH2 zu goldgelben Kristallen von [Na(2,2,2-crypt)]+Na–, in denen das komplexe Kation wegen seiner Größe wenig polarisierend wirkt und dadurch die Bildung von Natrid-Ionen (Na–) ermöglicht. NMR-Spektren solcher auch mit K, Rb und Cs bekannter Verbindungen ergeben getrennte Signale für die Ionen M+ und M–! Wird Cs-Metall bei einer Temperatur unterhalb von –40°C in einer Lösung eines Kronenethers wie [18]Krone-6 in Dimethylether aufgelöst, erhält man beim Einengen das Salz [Cs(Krone-6)2]+e–, dessen Kristallstruktur sowie optische und magnetische Eigenschaften dahingehend interpretiert wurden, dass sich die Elektronen ähnlich wie im flüssigem Ammoniak in Hohlräumen mit einem Durchmesser von ca. 240 pm befinden. Verbindungen mit Elektronen als Anionen heißen Elektride (in Analogie zu den Halogeniden).31 Damit Alkalide und Elektride beständig sind, müssen die komplexen Kationen möglichst groß und in jedem Fall nicht reduzierbar sein. Es ist besonders bemerkenswert, dass die Kristallstrukturen von [Cs(Krone-6)2]+Na– und [Cs(Krone-6)2]+e– sehr ähnlich sind. Dort wo sich in der ersten Struktur die Anionen befinden, sind in der zweiten Struktur Hohlräume vorhanden, die offenbar mit den als Anionen fungierenden Elektronen besetzt sind. Die Kationenstrukturen beider Verbindungen sind praktisch identisch! Bei Raumtemperatur beständig sind Natride, wenn statt des Kronenethers ein Stickstoffbasierter Cryptand wie aza222 verwendet wird.29
29 30 31
J. L. Dye et al., J. Am. Chem. Soc. 1999, 121, 10666 und zitierte Literatur. Der Cryptand 2,2,2-crypt (oder C222) ist N(CH2CH2OCH2CH2OCH2CH2)3N; der Kronenether [18]Krone-6 besteht aus einem 18-gliedrigen Ring aus sechs Einheiten –CH2–CH2–O–. Übersichten: J. L. Dye, Inorg. Chem. 1997, 36, 3816 und J. Am. Chem. Soc. 1996, 118, 7329.
334
9 Stickstoff
Reaktionen der Elektronen in flüssigem Ammoniak Die wichtigste Reaktion der solvatisierten Elektronen em ist die sogenannte Amid-Reaktion, d.h. die Zersetzung der Metall-Ammoniak-Lösungen unter Bildung von Metallamid: [NH2]) +
) NH3 + eam
1 2
c (NH )2 ) . p H2 ) ) c (e am 1/2
H2
Kc =
Diese Reaktion ist kinetisch gehemmt, d.h. die Metall-Lösungen sind metastabil. Beim längeren Stehen oder bei Zugabe eines Katalysators (Ni, Fe3O4, Pt) zersetzen sie sich aber spontan unter Entfärbung und Wasserstoffentwicklung. Die Amidreaktion ist reversibel, d.h. eine KNH2-Lösung reagiert mit Wasserstoff unter – Druck (10 MPa) teilweise zu eam und NH3, was an der auftretenden Blaufärbung qualitativ erkannt und quantitativ verfolgt werden kann. Durch Variation von Druck und Temperatur wurden auf diese Weise die Gleichgewichtskonstante Kc = 5·105 kPa1/2 (25°C) und die –1 Reaktionsenthalpie ∆ r H° 298 = –67 kJ mol ermittelt. Solvatisierte Elektronen sind sehr starke Reduktionsmittel, die die meisten Nichtmetalle je nach den stöchiometrischen Verhältnissen zu monoatomaren oder polyatomaren Anionen reduzieren32 (Tab. 9.1). Durch Verdampfen des Lösungsmittels NH3 können die entsprechenden Salze oft in reiner Form oder als Ammoniakate isoliert werden. Auch in der organischen Synthese werden Alkalimetall-Lösungen in Ammoniak als Reduktionsmittel eingesetzt, wobei die Reduktionswirkung auch durch die Metallid-Ionen hervorgerufen wird (BIRCH-Reduktion). Tab. 9.1 Reaktionen von Nichtmetallen mit Alkalimetallen in flüssigem Ammoniak Nichtmetall
Metall
Reaktionsprodukte
P
Li–Cs
M3P, M3P7, M3P11
As
Cs
Cs3As7
O2
Li
Li2O, Li2O2. LiO2
Na
Na2O, Na2O2
K
KO2, K2O2
Rb
Rb2O2, RbO2
O3
Li
LiO3· 4 NH3
S8
K
K2S, K2S2, K2S4, K2Sx
Se
K
K2Se, K2Se2, K2Se3, K2Se4
Te
K
K2Te, K2Te2
32
Die polyatomaren Anionen der Gruppen 14 und 15 werden auch als ZINTL-Ionen bezeichnet; siehe S. M. Kauzlarich, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 9, 6006. J. D. Corbett, Chem. Rev. 1985, 85, 383.
335
9.4 Hydride des Stickstoffs
Solvatisierte Elektronen in Wasser Solvatisierte Elektronen lassen sich auch in Wasser, in Eis und in vielen anderen Medien erzeugen und nachweisen. In flüssigem Wasser reagieren solvatisierte Elektronen jedoch wesentlich schneller mit dem Lösungsmittel als in Ammoniak, und zwar zu HydroxidIonen und Wasserstoffatomen: [OH]) + H
) + H O eaq 2
Die Halbwertszeit dieser Reaktion beträgt nur 0.8·10–3 s. Daraus ergibt sich, dass Elektronen in Wasser nur etwa 1 ms lang beobachtbar sind. Daher erfordern entsprechende Experimente einen großen messtechnischen Aufwand. Hydratisierte Elektronen entstehen bei der α-, β- oder γ-Bestrahlung von Wasser nach der Gleichung ) [H2O]+ + eaq
H2O
oder durch photochemische Ionisierung von gelösten Anionen wie Iodid oder Hexacyanoferrat(III): )
Iaq
h.8
) I + eaq
Wegen der dabei erforderlichen sehr hohen Strahlungsintensität arbeitet man im Allgemeinen im Pulsbetrieb (Pulsradiolyse), und zwar entweder mit Strahlen schneller Elektronen oder mit einem gepulsten Laser bei einer Wellenlänge von 218 nm. Hydratisierte Elektronen treten aber auch bei chemischen Reaktionen als Zwischenprodukte auf. Solche Reaktionen sind beispielsweise die Umsetzung von H-Atomen mit alkalischen Lösungen nach H + [OH])
) H2O + eaq
oder die Zersetzung von Natriumamalgam in Wasser: Na(Hg)
H 2O
+ + e) Naaq aq
– In diesen Fällen lassen sich die hydratisierten Elektronen eaq mittels N2O nachweisen, das in charakteristischer Weise zu N2 reduziert wird:
) N2O + eaq + H2O
N2 + 2 [OH])
Das Absorptionsspektrum der Elektronen in Wasser unterscheidet sich von dem der blauen Metall-NH3-Lösungen vor allem in der Lage des Absorptionsmaximums (720 nm, Abb. 9.3). Die Anregungsenergie für den optischen Übergang beträgt hier etwa 167 kJ mol–1 gegenüber 84 kJ mol–1 in NH3. Mit steigender Temperatur verschiebt sich das Maximum weiter in den infraroten Bereich (1200 nm bei 300°C). Aus ESR-Spektren eingefrorener wässriger Lösungen wurde der kleinste Abstand zwischen dem solvatisierten Elektron und den benachbarten H-Atomen der Wassermoleküle zu 210 pm bestimmt. Das Elektron befindet sich formal in einem kugelförmigen Orbital, das aus den antibindenden MOs der benachbarten OH-Bindungen gebildet wird. Daher werden diese Bindungen geschwächt, was sich an der OH-Valenzschwingung ablesen lässt, die zu kleineren Wellenzahlen verschoben ist. Der effektive Ionenradius hydratisierter Elektronen, die wahrscheinlich von sechs Wassermolekülen umgeben sind, beträgt 250–300 pm. Die Solvatationsenergie des Elektrons ist kleiner als die der Halogenionen.
336
9 Stickstoff
Das Redoxpotential der hydratisierten Elektronen gegen die Normalwasserstoffelektrode beträgt –2.87 V. Daher sind diese Teilchen sehr starke Reduktionsmittel, die nahezu alle anorganischen Verbindungen mit Ausnahme der Alkali- und Erdalkalimetall-Ionen und der Halogenid-Ionen reduzieren. Einige Beispiele sind in Tabelle 9.2 aufgeführt. Man kann zwischen einfacher Elektronenanlagerung und dissoziativem Elektroneneinfang unterscheiden. Alle diese Reaktionen verlaufen extrem schnell. Beispielsweise liegen die – Geschwindigkeitskonstanten für die bimolekularen Reaktionen von eaq mit O2, CO2 oder 10 –1 –1 N2O in der Größenordnung von 10 L · mol s . Daher vermindern schon Spuren dieser – – Stoffe die Lebensdauer des eaq beträchtlich. In stark saurer Lösung wird eaq protoniert, was zu H-Atomen führt, die auf diese Weise in Lösung erzeugt und studiert werden können. Tab. 9.2 Reaktionen hydratisierter Elektronen mit verschiedenen einfachen Verbindungen Ausgangsprodukt
primäres Reaktionsprodukt
Folgeprodukte
H
H–
H2 + [OH]–
CO2
[CO2]–
[C2O4]2–
[N2O]–
N2 + O–
N2O [NH4
]+
NH4
NH3 + H
[NO3]–
[NO3]2–
NO2
Cu2+
Cu+
Cu+
Zn2+
Zn+
[MnO4]–
9.5
Zn + Zn2+
[MnO4
]2–
[MnO4]2–
Halogenide und Oxidhalogenide des Stickstoffs
9.5.1 Halogenide Alle Halogenide des Stickstoffs lassen sich formal von den Hydriden durch Substitution von H durch X (X = F, Cl, Br, I) ableiten: X X
N
N
X
X
Stickstofftrihalogenide
X
X
N
N X
N
N X
N
N
X
X
Distickstofftetrahalogenide (trans und gauche)
Distickstoffdihalogenide (cis und trans)
Halogenazide
Im Falle der NH3-Derivate sind auch teilhalogenierte Verbindungen bekannt (Halogenamine NH2X und Dihalogenamine NHX2). Weiterhin gibt es auch gemischte Halogenide. Die Beständigkeit nimmt mit zunehmender Atommasse des Halogens ab, so dass nur mit
9.5 Halogenide und Oxidhalogenide des Stickstoffs
337
Fluor alle Verbindungstypen33 bekannt sind. Verbindungen mit Ν–Cl-, Ν–Br- und Ν–I-Bindungen sind thermodynamisch instabil (endotherm) und in vielen Fällen schon bei 25°C labil. Praktische Bedeutung haben nur NF3 und NH2Cl. Die Trihalogenide NX3 erhält man durch vollständige Halogenierung von NH3 oder [NH4]+-Verbindungen mit elementarem Halogen: NH3 + 3 X2
NX3 + 3 HX
NF3 entsteht als farbloses Gas (Sdp. –129°C) bei der Reaktion von NH3 mit verdünntem Fluor in Gegenwart von Kupfer sowie bei der Elektrofluorierung von Harnstoff oder NH4F in flüssigem Hydrogenfluorid an einer Nickelanode (Kap. 13.4.3). NF3 ist bei Raumtemperatur reaktionsträge und im Gegensatz zu NH3 eine sehr schwache LEWISBase, so dass es nur mit extrem starken LEWIS-Säuren koordinative Bindungen eingeht. Das liegt an dem induktiven Effekt der drei Fluoratome, die zu einer positiven Partialladung auf dem N-Atom führen (Kap. 4.6.3). Bei höheren Temperaturen (>200°C) ist NF3 wegen einsetzender Dissoziation in NF2-Radikale und Fluoratome sehr reaktiv und ein starkes Oxidationsmittel. NF3 wird daher in großem Umfang in der Halbleiterindustrie zur Reinigung der Reaktoren für die chemische Gasphasenabscheidung (chemical vapor deposition, CVD), zum trockenen Ätzen von Siliciumwafern sowie bei der Herstellung von LCDs verwendet (liquid crystal displays).34 Derivate des NF3 sind die Tetrafluorammoniumsalze [NF4][BF4] und [NF4][SbF6], deren tetraedrisches Kation Stickstoff der Oxidationsstufe +5 enthält. Diese und analoge Salze werden aus den entsprechenden Komponenten durch Photolyse bei tiefen Temperaturen oder in einer Gasentladung hergestellt:35 NF3 + F2 + BF3
[NF4][BF4]
Mit O2 reagiert NF3 in einer Glimmentladung zu Stickstoffoxidtrifluorid ONF3, einem farblosen, sehr toxischen Gas (Sdp. –85°C), das mit dem Ion [NF4]+ isoelektronisch ist und das in guter Ausbeute aus NOF und F2 durch UV-Bestrahlung hergestellt werden kann. Ein in Analogie zum wohlbekannten PF5 denkbares Fluorid NF5 existiert dagegen nicht, was auf die geringe Größe des N-Atoms zurückzuführen ist, die zu einer starken Annäherung der fünf F-Atome führen würde. Daher liegt das Gleichgewicht NF5 ; NF3 + F2 auf der Seite der Dissoziationsprodukte. Die D3h-Struktur von NF5 entspricht aber dennoch einem lokalen Minimum auf der Potentialfläche. Stickstofftrichlorid ist im Gegensatz zu NF3, das eine negative Bildungsenthalpie aufweist, eine extrem endotherme Verbindung. NCl3 entsteht beim Einleiten von Cl2 in eine saure, wässrige NH4Cl-Lösung. Reines Stickstofftrichlorid ist ein gelbes, hochexplosives Öl, das sich in organischen Lösungsmitteln löst und wegen seiner Gefährlichkeit nur wenig untersucht wurde. Es reagiert mit Wasser langsam zu NH3 und HOCl. Chloriert man NH3 in der Gasphase mit einem Unterschuss an Halogen (verdünnt mit N2), erhält man Chloramin, das in reinem Zustand zur spontanen Zersetzung neigt: 2 NH3 + Cl2 3 NH2Cl 33 34 35
NH2Cl + NH4Cl N2 + NH4Cl + 2 HCl
H. J. Emeléus, J. M. Shreeve, R. D. Verma, Adv. Inorg. Chem. 1989, 33, 139. A. Tasaka, J. Fluorine Chem. 2007, 128, 296. K. O. Christe et al., Inorg. Chem. 2006, 45, 7981.
338
9 Stickstoff
Analog lässt sich Bromamin herstellen. NH2Cl löst sich gut in Wasser und Diethylether. Es ist ein wichtiges Zwischenprodukt bei der Synthese von Hydrazinderivaten und anderen Stickstoffverbindungen. Beispielsweise reagiert es mit Dimethylamin zu dem als Raketentreibstoff eingesetzten Dimethylhydrazin: 2 Me2NH + NH2Cl
Me2NNH2 + [Me2NH2]Cl
Das Tribromid NBr3 entsteht bei der Einwirkung von Brom auf saure Ammoniumsalzlösungen. Bei der Reaktion von Iod mit konzentrierter wässriger Ammoniaklösung erhält man NI3·NH3 als schwarzen, ebenso wie NBr3 hochexplosiven Festkörper. Von den Halogeniden des Typs N2X4, die sich vom Hydrazin ableiten, kennt man nur das Tetrafluorhydrazin, ein farbloses Gas, das bei der Reduktion von NF3 mit Kupfer bei 375°C oder mit Quecksilberdampf in einer Glimmentladung entsteht: 2 NF3 + M
N2F4 + MFx
M: Cu, As, Sb, Bi, Hg
N2F4 (Sdp. –73°C) ist eine exotherme Verbindung. Die Atomverknüpfung entspricht der des Hydrazins, wobei jedoch in der Gasphase bei 25°C die trans- und gauche-Konformere miteinander im Gleichgewicht stehen. Beim trans-Isomer sind die NF2-Gruppen um 180° gegeneinander verdreht, wodurch ein Inversionszentrum entsteht (Symmetrie C2h). Bei dem um ca. 1 kJ mol–1 weniger stabilen gauche-Isomer beträgt die Verdrillung nur 67°.36 Im Gegensatz zum NF3 ist N2F4 schon bei 25°C außerordentlich reaktionsfähig und ein starkes Fluorierungsmittel. Das liegt an der außergewöhnlich niedrigen Dissoziationsenthalpie der NN-Bindung, die dazu führt, dass N2F4 unter vermindertem Druck mit dem Radikal NF2 im Gleichgewicht steht:
&
N 2F 4
° = 87 kJ mol)1(N2F4) *H298
2 NF2
Bei Normaldruck ist die Dissoziation bei erhöhter Temperatur nachweisbar. Mit vielen Reaktionspartnern reagiert N2F4 daher zu NF2-haltigen Verbindungen, z.B. mit Cl2 bei UV-Bestrahlung zu NClF2, mit S2F10 zu F2N–SF5 und mit NO zu F2N–NO. Das tiefblaue Stickstoffdifluorid-Radikal ist mit dem Ozonid-Ion isoelektronisch und wie dieses gewinkelt gebaut. Distickstoffdifluorid N2F2 (Difluordiazen) kann aus Difluoramin wie folgt hergestellt werden: 193 K
NHF2 + KF KF.HNF2
293 K
KF.HNF2 1 2 N2F2
+ KHF2
NHF2 seinerseits wird am besten durch Fluorierung von Harnstoff und anschließende saure Hydrolyse gewonnen: F2 / N 2
(H2N)2CO H O / 0°C H2NCONF2 2
H2SO4 90°C
HNF2
Difluordiazen bildet planare Moleküle, von denen die cis- oder (Z)-Form um 13 kJ mol–1 stabiler ist als die trans- oder (E)-Form. Das Gleichgewicht zwischen beiden stellt sich jedoch erst bei höheren Temperaturen rasch ein, weswegen man das Gemisch bei Raumtemperatur oder darunter durch Hochvakuumdestillation oder Gaschromatographie in 36
J. R. Durig, Z. Shen, J. Phys. Chem. A 1997, 101, 5010.
339
9.5 Halogenide und Oxidhalogenide des Stickstoffs
die Komponenten trennen kann. N2F2 ist gegen O2 und H2O beständig, es zersetzt sich bei 300°C in die Elemente. cis-N2F2 reagiert mit AsF5 bei 25°C zu dem Salz [N2F][AsF6], welches das lineare, mit CO2, N2O und [NO2]+ isoelektronische Kation [N2F]+ enthält.37 Halogenazide entstehen bei der Reaktion von Halogenen mit Aziden: F2 + HN3
FN3 + HF H 2O
Cl2 + NaN3
Et2O 0°C
I2 + AgN3
ClN3 + NaCl IN3 + AgI
Fluorazid ist ein gelbgrünes Gas, das sich schon bei 25°C langsam zu N2F2 und N2 zersetzt. Die übrigen drei Halogenazide sind explosive, im reinen unverdünnten Zustand extrem gefährliche Verbindungen.1
9.5.2 Oxidhalogenide des Stickstoffs Zwei Reihen von Oxidhalogeniden mit Stickstoff-Halogen-Bindungen sind bekannt: O N
O
X
O
X Nitrosylhalogenide (X = F, Cl, Br)
N
Nitrylhalogenide (X = F, Cl, Br)
Bei den Nitrosylhalogeniden handelt es sich um die Säurehalogenide der Salpetrigen Säure HONO, wobei die OH-Gruppe durch ein Halogenatom ersetzt wurde. Entsprechend leiten sich die Nitrylhalogenide formal von der Salpetersäure HONO2 ab. Ersetzt man in der Salpetersäure nur das Wasserstoffatom durch ein Halogenatom, erhält man Halogennitrate XONO2 (X = Cl, Br, I; Kap. 13.5.6) bzw. Pernitrylfluorid FONO2.38 Zu den Oxidhalogeniden des Stickstoffs sind weiterhin auch die schon erwähnten Verbindungen NOF3 und ONNF2 zu rechnen, zu denen es bei den übrigen Halogenen keine Analogien gibt. Auch die Verbindung ONOF ist bekannt. Nitrosylhalogenide entstehen bei der Reaktion von NO mit dem entsprechenden Halogen: X2 + 2 NO
2 XNO
Während FNO beständig ist, dissoziieren ClNO und vor allem BrNO schon bei 25°C teilweise in die Ausgangsprodukte und INO ist bei dieser Temperatur vollkommen unbeständig. Alle drei Verbindungen sind starke Oxidationsmittel. FNO (Sdp. –60°C) ist farblos, ClNO (Sdp. –5°C) ist orangegelb und BrNO (Sdp. 24°C) ist rot gefärbt. Alle drei Moleküle sind gewinkelt und von Cs-Symmetrie. Nitrosylchlorid entsteht auch bei der Reak37 38
K. O. Christe et al., J. Am. Chem. Soc. 1991, 113, 3795. Zur Struktur von kristallinem ClNO, ClNO2 und ClONO2 siehe A. Obermeyer, H. Borrmann, A. Simon, J. Am. Chem. Soc. 1995, 117, 7887.
340
9 Stickstoff
tion von HCl-Gas mit N2O3 in Gegenwart von P4O10, bei der Einwirkung von Salzsäure auf NaNO2 und bei der Reaktion der konzentrierten Säuren HCl und HNO3; diese Mischung ist als Königswasser bekannt. Als Derivate der Salpetrigen Säure hydrolysieren die Nitrosylhalogenide primär zu HNO2 und HX, sekundär entstehen durch Disproportionierung von HNO2 auch HNO3 und NO: XNO + H2O
HNO2 + HX
3 HNO2
HNO3 + 2 NO + H2O
Mit bestimmten Metallhalogeniden (LEWIS-Säuren) reagiert ClNO zu Nitrosyl-Salzen wie [NO][SbCl6] und [NO]2[PtCl6], die auch als Nitrosonium-Salze bezeichnet werden. Die beiden Nitrylhalogenide FNO2 und ClNO2 sind farblose Gase, die aus planaren Molekülen der Symmetrie C2v bestehen. Die Bindungsverhältnisse ähneln denen in der Salpetersäure. FNO2 (Sdp. –72°C) kann durch Fluorierung von NO2 oder durch Halogenaustausch aus ClNO2 hergestellt werden: NO2 + CoF3
300°C
FNO2 + CoF2
2 NO2 + F2
25°C
2 FNO2
ClNO2 + HF
25°C
FNO2 + HCl
Nitrylchlorid (Sdp. –15°C) erhält man durch Oxidation von ClNO mit Cl2O, N2O5 oder O3, durch Chlorierung von N2O5 mit PCl5, oder am besten durch Reaktion von wasserfreier Salpetersäure mit Chloroschwefelsäure: HNO3 + HSO3Cl
ClNO2
+ H2SO4
ClNO2 ist giftig und korrosiv; es zersetzt sich bei 100°C zu Cl2 und NO2. Bei der alkalischen Hydrolyse entstehen Nitrit und Hypochlorit. Die beiden isomeren Bromide BrNO2 und BrONO sind bei 25°C unbeständig.
9.6
Oxide des Stickstoffs
9.6.1 Allgemeines Stickstoffoxide sind von enormer Bedeutung, beispielsweise als Zwischenprodukte bei der Herstellung von Salpetersäure, bei der Luftverunreinigung durch Verbrennungsgase, in Zusammenhang mit der Abnahme des stratosphärischen Ozons (Kap. 11.1.3), im globalen Stickstoffkreislauf und bei der Regulierung von Körperfunktionen bei Säugetieren und Menschen. Die in Tabelle 9.3 aufgeführten Stickstoffoxide sind in reiner Form bekannt; mehrere dieser Oxide existieren in Form verschiedener Isomere unterschiedlicher Konnektivität. Als Gase sind alle Stickstoffoxide endotherme Verbindungen, die beim Erhitzen in die Elemente zerfallen. Sie enthalten NO- und teilweise auch NN-Bindungen. NO und NO2 sind Radikale (open-shell-Moleküle).
341
9.6 Oxide des Stickstoffs
Tab. 9.3 Oxide des Stickstoffs, die in reiner Form isoliert wurden Oxidationsstufe des Stickstoffs:
+1
+2
+3
+4
+5
N2O
NO
N2O3
NO2
N2O5
N2O2
N2O4
9.6.2 Distickstoffoxid N2O N2O ist ein farbloses, reaktionsträges Gas (Sdp. –89°C), das im Labor und in der Industrie durch Zersetzung von Ammoniumnitrat hergestellt wird: NH4NO3
180)250°C
N2O + 2 H2O
Diese Reaktion wird durch Chlorid-Ionen katalysiert. Bei Temperaturen oberhalb 300°C kann die Reaktion einen explosionsartigen Verlauf nehmen. Daher wird beim technischen Verfahren eine 80–85 %ige wässrige Lösung von NH4NO3 in eine 260°C heiße Schmelze von NaNO3/KNO3 eingeleitet. Eine andere Labormethode ist die Kondensation von Amidoschwefelsäure mit konzentrierter Salpetersäure bei 50–80°C: H3N)SO3 + HNO3
N2O + [H3O][HSO4]
Das Molekül N2O ist linear (Symmetrie C∞v). Die Kernabstände dNN = 112.9 und dNO = 118.8 pm entsprechen etwa der Strukturformel N≡N=O. Distickstoffoxid ist mit CO2 isoster und mit den Ionen [NO2]+ und [N3]– isoelektronisch. N2O löst sich in Wasser nur in sehr wenig und ohne jede Reaktion. Eingeatmet zeigt es einen angenehmen Geruch und eine betäubende Wirkung. Es kommt daher als Lachgas in Stahlflaschen für Narkosezwecke in den Handel. Weiterhin wird es als Treibgas in Sprühdosen verwendet (z.B. für Schlagsahne). N2O entsteht biogen bei der Reduktion von Nitraten durch Mikroorganismen im Erdboden und gelangt dadurch in die Atmosphäre, wo es wegen seiner langen Verweildauer als Treibhausgas wirkt (Kap. 4.4.3).
9.6.3 Stickstoffmonoxid NO und Distickstoffdioxid N2O2 Das Monoxid NO („Stickoxid“) wird industriell in riesigem Umfang durch katalytische Oxidation von NH3 hergestellt und hauptsächlich zu Salpetersäure verarbeitet (Kap. 9.4.2). Ein weitaus kleinerer Teil dient zur Herstellung von Hydroxylamin (Kap. 9.4.7). Im Labor erhält man es am besten in KIPP’s Gasentwickler aus Natriumnitrit und 3-molarer Schwefelsäure: 3 NaNO2 + 3 H2SO4
2 NO + HNO3 + H2O + 3 NaHSO4
Primär entsteht dabei die unbeständige Salpetrige Säure, die zu NO und HNO3 disproportioniert. Auch durch Reduktion von Nitriten mit Iodid-Ionen oder mit Eisen(II)-Ionen erhält man relativ reines NO.
342
9 Stickstoff
NO ist ein farbloses, giftiges Gas, das im Gegensatz zu N2O ziemlich reaktionsfreudig ist (Sdp. –152°C, Schmp. –164°C). Das NO-Molekül weist eine ungerade Elektronenzahl auf, daher ist Stickstoffmonoxid wie O2 paramagnetisch. Das Dimerisierungsgleichgewicht 2 NO
° = )8.7 kJ mol)1 *H298
N2O2
liegt bei Raumtemperatur weitgehend auf der linken Seite. Erst im flüssigen und vor allem im festen Zustand ist Stickstoff(II)-oxid vollständig dimerisiert. Distickstoffdioxid ist ebenfalls farblos und besteht in allen Phasen aus planaren Molekülen von cis-N2O2 (Symmetrie C2v):39 N O
N O
d(NN) = 227.7 pm d(NO) = 115.5 pm Winkel(ONN) = 97.9°
Die Bindung im Molekül NO wird nach der MO-Theorie mit Hilfe des im Kapitel 2.4.3 für N2 angegebenen Schemas verständlich. Bei 11 Valenzelektronen ist das π*-Niveau mit einem Elektron besetzt (SOMO, singly occupied molecular orbital). Für die sehr schwache NN-Bindung im N2O2 wird eine π*-π*-Bindung nach folgendem Schema verantwortlich gemacht: +N
O+
N+ +O
Das π*-Elektron von NO wird relativ leicht abgegeben, weswegen dieses Molekül als Reduktionsmittel reagieren kann. Es wird dabei zum Nitrosyl-Kation [NO]+ oxidiert, das mit dem N2-Molekül isoelektronisch ist. Mit O2 reagiert NO in einer exothermen Gleichgewichtsreaktion zu NO2 bzw. N2O4. Lange Zeit glaubte man, dass diese Reaktion über N2O2 als Zwischenprodukt führt: N 2O 2 + O 2
N 2O 4
2 NO2
Bei sehr geringen NO-Konzentrationen, z.B. in Luft, findet dann keine oder nur sehr langsame Oxidation statt, was tatsächlich beobachtet wurde, da das postulierte vorgelagerte Gleichgewicht 2 NO ; N2O2 bei geringem Partialdruck von NO praktisch ganz auf der Seite des monomeren NO liegt und die Reaktion daher fast zum Stillstand kommt. Nach neueren theoretischen Arbeiten ist der tatsächliche Mechanismus aber so, dass zuerst NO und O2 einen radikalischen Komplex ONOO bilden, der anschließend mit weiterem NO zu dem peroxidischen N2O4-Isomer ONOONO reagiert, das sich dann durch Homolyse der OO-Bindung zu 2NO2 zersetzt oder zum Grundzustand von N2O4 isomerisiert.40 Das wahre vorgelagerte Gleichgewicht ist also die reversible Reaktion NO + O2 ; ONOO. Eine derartige mehrstufige Reaktion ist durch eine negative Aktivierungsenergie ausgezeichnet, d.h. die Reaktion wird mit steigender Temperatur langsamer, da 39
40
S. G. Kukolich, J. Am. Chem. Soc. 1982, 104, 4715. In der Gasphase wurde die Struktur von cis-N2O2 durch Mikrowellenspektroskopie bestimmt, was voraussetzt, dass das Molekül ein Dipolmoment aufweist. Dagegen besitzt trans-N2O2 kein Dipolmoment. L. F. Olson et al., J. Am. Chem. Soc. 2002, 124, 9469.
343
9.6 Oxide des Stickstoffs
das schwach exotherme vorgelagerte Gleichgewicht dann mehr und mehr auf die linke Seite verschoben wird. Unter hohem Druck zersetzt sich NO bei 30–50°C langsam nach: 3 NO
N2O + NO2
Mit den Halogenen F2, Cl2 und Br2 reagiert NO zu den entsprechenden Nitrosylhalogeniden XNO. Diese reagieren mit LEWIS-Säuren wie BF3 und SbCl5 zu den Nitrosylsalzen [NO][BF4] bzw. [NO][SbCl6]. Da das N-Atom im Nitrosyl-Kation [NO]+ die Oxidationsstufe + 3 aufweist, kommt man auch von N2O3 ausgehend leicht zu entsprechenden Verbindungen. So entsteht Nitrosylhydrogensulfat (Bleikammerkristalle) aus N2O3 und konzentrierter Schwefelsäure: N2O3 + 3 H2SO4
2 [NO][HSO4] + [H3O][HSO4]
Andere [NO]+-Salze sind [NO][ClO4], [NO]2[PtCl6] und [NO][AsF6]. Die gegenüber NO stärkere Bindung im Kation [NO]+ erkennt man an den Kernabständen d und den Valenzkraftkonstanten fr , wie folgende Übersicht zeigt: NO (gasf.): d = 115.1 pm fr = 15.9 N cm–1
[NO]+ (gasf.): d = 106.3 pm fr = 24.8 N cm–1
Alle Nitrosylsalze reagieren mit Wasser zu Nitrit-Ionen bzw. Salpetriger Säure: [NO]+ + 2 H2O
HNO2 + [H3O]+
NO kann in Übergangsmetallkomplexen ähnlich wie CO, [CN]– und N2 als π-Säure-Ligand fungieren. So kennt man beispielsweise die tetraedrischen Nitrosylkomplexe [Cr(NO)4] und [Co(CO)3NO] sowie das oktaedrische Anion [Fe(CN)5NO]–. Die Bindungsverhältnisse zwischen NO und dem Zentralmetall entsprechen denen beim Liganden N2 (Abschnitt 9.2), nur dass NO ein 3-Elektronen-Ligand ist, der formal zunächst ein Elektron an das Zentralatom abgibt und dann als [NO]+ analog wie CO und N2 gebunden wird. Die drei genannten Komplexe erfüllen daher alle die Edelgasregel (18 Valenzelektronen am Zentralatom). NO kann aber auch als verbrückender Ligand fungieren. Stickstoffmonoxid entsteht in großem Umfang in Verbrennungsanlagen (Kraftwerke, Heizanlagen, Müllverbrennung) und in Verbrennungsmotoren von Kraftfahrzeugen, Flugzeugen, Schiffen und Diesel-Lokomotiven nach folgender Gleichung: N2 + O 2
2 NO
° = 180.6 kJ mol)1(N2) *H298
NO gelangt auf diese Weise direkt oder nach Oxidation zu NO2 in die Luft. Diese Reaktion erfordert in beiden Richtungen sehr hohe Temperaturen oder einen Katalysator, da eine bimolekulare Reaktion mit einem Vierzentren-Übergangszustand symmetrieverboten ist. Tatsächlich verläuft die unkatalysierte Reaktion über O-Atome (thermisches NO).41 Auf ähnliche Weise entstehen NO und NO2 in der Luft bei Gewittern, die ca. 7·106 t N pro Jahr als NOx binden, das letztlich als HNO3 mit dem Regen ausgewaschen wird und dadurch als natürlicher Stickstoffdünger fungiert. 41
Daneben entsteht NO bei Verbrennungsprozessen aus den im Brennstoff enthaltenen Stickstoffverbindungen (Brennstoff-NO). Von allen fossilen Brennstoffen enthält nur Erdgas keine Stickstoffverbindungen.
344
9 Stickstoff
Zur Entstickung der Abgase von Kraftfahrzeugen mit Benzinmotor werden diese im Auspuffrohr mit Katalysatoren ausgerüstet, die die Reduktion von NO und NO2 durch CO und Kohlenwasserstoffe beschleunigen. Gleichzeitig werden dabei unverbrannte Kohlenwasserstoffe und CO zu CO2 und H2O oxidiert. Der Katalysator besteht aus einem Keramikträger mit einem Überzug aus Al2O3, auf dem ca. 2 g Platinmetalle (Pt, Rh oder Pd) aufgebracht werden. In modernen Kraftwerken wird NO durch katalytische Reduktion mit einer genau dosierten Menge NH3 nach der Gleichung 4 NO + 4 NH3 + O2
350°C
4 N2 + 6 H2 O
aus dem Abgas entfernt (DeNOx-Verfahren).42 Der dafür benutzte Katalysator besteht gewöhnlich aus V2O5 und WO3 auf einem TiO2-Träger Ein ähnliches Verfahren dient zur Entstickung der Abgase von Dieselmotoren in Lastkraftwagen, indem eine Harnstofflösung in das heiße Abgas eingespritzt wird. Stickstoffmonoxid ist in der Biomedizin eines der am intensivsten untersuchten Moleküle,43 denn spurenweise kommt NO im Körper verschiedener Tiere sowie von Menschen vor, wo es als Botenstoff (Neurotransmitter) fungiert und an der Regulierung von Blutdruck, Blutgerinnung und Immunsystem beteiligt ist. Für diese Entdeckung wurde 1998 der Nobelpreis für Medizin und Physiologie vergeben. Die Biosynthese von NO erfolgt in einer komplexen 5-Elektronen-Reaktion durch enzymatische Oxidation und De-iminierung der stickstoffreichen Aminosäure Arginin zu Citrullin und NO (=NH → =N–OH → =O + NO).44 Nach Erfüllung seiner Funktion wird NO zu Nitrit und Nitrat oxidiert und ausgeschieden. Wegen der geringen physiologischen NO-Konzentrationen ist diese Oxidation langsam; im menschlichen Blut beträgt die Lebensdauer von NO ca. 2 ms. Bestimmte organische NO-Verbindungen wie Nitroglycerin sowie die N-heterocyclischen Wirkstoffe in den kommerziellen Potenzmitteln Viagra und Cialis setzen unter physiologischen Bedingungen NO frei und dienen daher zur Behandlung entsprechender Erkrankungen.
9.6.4 Distickstofftrioxid N2O3 N2O3 ist das Anhydrid der Salpetrigen Säure. Es wird durch Sättigen von flüssigem N2O4 mit gasförmigem NO bei –80°C erhalten: NO + NO2
N2O3
° = ) 40.5 kJ mol)1 *H298
In der Gasphase ist N2O3 weitgehend, aber nicht vollständig in NO und NO2 dissoziiert. Die Moleküle N2O3 sind in allen Phasen planar und enthalten wie N2O2 und N2O4 eine schwache, durch einen sehr großen Kernabstand charakterisierte NN-Bindung:45
42 43 44 45
Auch andere Entstickungsverfahren sind bekannt; siehe H.-G. Schäfer, F. N. Riedel, ChemikerZtg. 1989, 113, 65. A. Daiber, V. Ullrich, Chemie unserer Zeit 2002, 36, 366. S. Pfeiffer, B. Mayer, B. Hemmens, Angew. Chem. 1999, 111, 1824. J. Horakh, H. Borrmann, A. Simon, Chem. Eur. J. 1995, 1, 389.
345
9.6 Oxide des Stickstoffs
O d(NN) = 189 pm ()160°C)
N
N O
O
Flüssiges N2O3 ist tiefblau und erstarrt bei –100°C zu blauen Kristallen. Auch in organischen Lösungsmitteln löst es sich mit blauer Farbe. Im Gegensatz zu NO und NO2 ist N2O3 diamagnetisch. Mit Laugen reagiert N2O3 zu Nitrit-Ionen, mit Wasser entsprechend zu HNO2: N2O3 + 2 [OH])
2 [NO2]) + H2O
Auch ein äquimolares Gemisch von NO und NO2 verhält sich dabei wie N2O3. Mit starken Säuren entstehen unter Wasserabspaltung Nitrosylsalze, z.B. [NO][ClO4], und mit Alkoholen erhält man Ester der Salpetrigen Säure, z.B. Ethylnitrit C2H5ONO.
9.6.5 Stickstoffdioxid NO2 und Distickstofftetroxid N2O4 Das Dioxid NO2 ist ein großtechnisches Zwischenprodukt der Salpetersäureproduktion. Im Labor stellt man es durch Vermischen stöchiometrischer Mengen von NO und O2 oder durch thermische Zersetzung von trockenen Schwermetallnitraten im O2-Strom her: Pb(NO3)2
400°C
PbO + 2 NO2 +
1 2 O2
NO2 ist ein braunes, paramagnetisches Gas, das je nach Druck und Temperatur das farblose, diamagnetische Dimer N2O4 in verschiedenen Konzentrationen enthält: 2 NO2
N2O4
° = )57 kJ mol)1(N2O4) *H298
Die Lage dieses Gleichgewichtes kann durch Messung des Volumens (Druckes), der magnetischen Suszeptibilität oder der Lichtabsorption bestimmt werden. Gasförmiges Stickstoff(IV)-oxid ist bei 100°C/0.1 MPa zu etwa 90 % dissoziiert (Kp = 6.50 bar–1 bei 298 K). Auch die Flüssigkeit ist in der Nähe des Siedepunktes (21°C) noch durch NO2 braun gefärbt. Mit sinkender Temperatur hellt sich die Farbe jedoch auf und bei –11°C erhält man farblose Kristalle von N2O4. Stickstoffdioxid ist ein giftiges und äußerst korrosives Gas, das oberhalb von 150°C zu NO und O2 zerfällt; bei 800°C ist der Zerfall vollständig. NO2 kann relativ leicht zum Nitrit-Anion [NO2]– reduziert und zum Nitronium-Kation [NO2]+ oxidiert werden, und es ist sehr aufschlussreich, die Eigenschaften dieser drei Teilchen miteinander zu vergleichen:
&
O N O Winkel: fr(NO):
O
N
180°
134°
17.2
10.4
O
O
N
O
115° 7.7 N cm)1
Die Bindung im Nitrit-Ion ähnelt der im isoelektronischen Ozonmolekül. Danach bildet das N-Atom zwei σ-Bindungen zu den O-Atomen. Diesen überlagert sich eine 3-Zentren4-Elektronen-π-Bindung. Die elektronische Struktur des NO2-Moleküls ist weitgehend
346
9 Stickstoff
analog. Das ungepaarte Elektron befindet sich nach ESR-spektroskopischen Messungen in einem σ-Orbital am N-Atom. Die Abstoßung zwischen den nichtbindenden Elektronen ist geringer als beim [NO2]–, was zu einer Bindungsverstärkung führt, die sich in der größeren Valenzkraftkonstanten fr zeigt. Die drei auf der Molekülebene senkrecht stehenden p-Orbitale der drei Atome, die zusammen vier Elektronen enthalten, bilden wie beim O3 eine 3-Zentren-4-Elektronen-π-Bindung (je ein bindendes und nichtbindendes Elektronenpaar). Beim [NO2]+ liegen ähnliche Bindungsverhältnisse wie beim CO2 vor (Kap. 2.4.6). N2O4 besteht in der Gasphase aus planaren Molekülen der Symmetrie D2h: O
O N
O
d(NN) = 175.6 pm
N O
Die ungewöhnlich lange NN-Bindung korreliert mit einer niedrigen Dissoziationsenergie von 54 kJ mol–1. Die Partialladungen auf den N-Atomen betragen ca. +0.46 elektrostatische Einheiten. Schwingungsspektroskopisch wurden auch weniger stabile N2O4-Isomere nachgewiesen, die sich bei tiefen Temperaturen fixieren lassen, nämlich ein Molekül mit senkrecht zueinander stehenden NO2-Gruppen sowie ein Cs-symmetrisches Isomer mit der Atomverknüpfung ONONO2, das ca. 44 kJ mol–1 energiereicher als der Grundzustand ist. In flüssigem IF5 löst sich N2O4 als salzartiges Nitrosylnitrat [NO][NO3], das beim Abkühlen zusammen mit 1 mol IF5 pro Formeleinheit auskristallisiert. Bei der Hydrolyse von NO2 bzw. N2O4 entstehen Nitrit und Nitrat: N2O4 + 2 [OH])
[NO2]) + [NO3]) + H2O
N2O4 ist danach das gemischte Anhydrid der Salpetrigen Säure und der Salpetersäure. In wasserfreien Säuren wie HNO3 und H2SO4 dissoziiert N2O4 zu [NO]+ und [NO3]–. Dagegen ist es im reinen flüssigen Zustand selbst kaum dissoziiert, wie die geringe elektrische Leitfähigkeit zeigt. NO2 und N2O4 sind starke Oxidationsmittel, die auch relativ edle Metalle wie Kupfer in Nitrate überführen. Auf diese Weise können Metallnitrate in wasserfreier Form hergestellt werden. N2O4 wird als Oxidationsmittel in Raketenmotoren eingesetzt (zur Oxidation von N2H4, MeHNNH2 bzw. Me2NNH2). NO2 gelangt als Folge von Verbrennungsprozessen zusammen mit NO in die Atmosphäre, wo beide eine Verweildauer von 6–48 h haben und letztlich als Salpetersäure ausgewaschen werden (saurer Regen). Bei Sonnenbestrahlung wird NO2 aber auch in NO und elektronisch angeregte Sauerstoffatome O(1D) gespalten. Als Folgeprodukt bildet sich dann in bodennahen Schichten giftiges Ozon [O2 + O(1D) → O3]. Da das NO anschließend von O2 wieder zu NO2 oxidiert wird, können aus einem NO2-Molekül in Bodennähe bis zu 10 O3-Moleküle gebildet werden. Aus O3 und NO2 entsteht auch das instabile Radikal [NO3]•, das ebenfalls am Stickstoffkreislauf in der Troposphäre beteiligt ist. Eine weitere wichtige Nitroverbindung in der Atmosphäre ist das Peroxoacetylnitrat (PAN), das durch Addition von NO2 an Acetylradikale [CH3CO]•• entsteht: MeC(O)OONO2.46
46
G. Lammel, P. Wiesen, Nachr. Chem. Tech. Lab. 1996, 44, 477.
347
9.6 Oxide des Stickstoffs
9.6.6 Distickstoffpentoxid N2O5 N2O5 ist das Anhydrid der Salpetersäure und kann aus dieser durch vorsichtiges Entwässern mit P2O5 erhalten werden: 2 HNO3 + P2O5
0°C
N2O5 +
2 n (HPO3)n
Auch durch Oxidation von N2O4 mit O3 sowie durch anodische Oxidation von HNO3 in Gegenwart von N2O4 wird N2O5 hergestellt. Es bildet farblose, sublimierbare Kristalle, die sich bei Raumtemperatur langsam zu NO2 und O2 zersetzen und die mit Wasser heftig zu HNO3 reagieren. Im gasförmigen Zustand besteht N2O5 aus Molekülen folgender Geometrie (Symmetrie C2): O
O N
O
O
d(NO) = 118.8 pm (terminal) d(NO) = 149.8 pm (Brücke) Winkel (NON) = 111.8°
N O
Die beiden NO3-Einheiten sind planar, aber um 133° gegeneinander verdreht. Beim Erwärmen des Gases erfolgt teilweise Dissoziation zu NO2 und instabilem NO3. In Lösungsmitteln wie CCl4 und CHCl3 löst sich N2O5 ebenfalls molekular. Im festen Zustand besteht dieses Oxid dagegen aus Ionen, d.h. es liegt als Nitroniumnitrat [NO2]+[NO3]– vor. Salze mit dem Kation [NO2]+ entstehen auch, wenn man N2O5 in starken anorganischen Säuren löst: N2O5 + HClO4
[NO2][ClO4] + HNO3
N2O5 + HSO3F
[NO2][SO3F] + HNO3
Auch aus anderen Stickstoff(V)-Verbindungen lassen sich Nitroniumsalze gewinnen, z.B.: HNO3 + 2 SO3
[NO2][HS2O7]
ClNO2 + SbCl5
[NO2][SbCl6]
Alle diese Verbindungen sind farblose Salze, die von Wasser zersetzt werden. Das Kation [NO2]+ ist auch in der so genannten Nitriersäure, einem Gemisch aus den wasserfreien Säuren HNO3 (98 %ig) und H2SO4, enthalten, mit der aromatische Kohlenwasserstoffe in großem Umfang in exothermer Reaktion in Nitroverbindungen überführt werden: [NO2]+ + Aryl H
Aryl NO2 + H+
[NO2]+ entsteht dabei durch Protonierung von HONO2 am O-Atom der OH-Gruppe und anschließende Wasserabspaltung. Auch N2O5 selbst, gelöst in CH2Cl2 oder HNO3, eignet sich zur Nitrierung von Aromaten bei Raumtemperatur.
348
9.7
9 Stickstoff
Sauerstoffsäuren des Stickstoffs
9.7.1 Allgemeines Die beiden wichtigsten Oxosäuren des Stickstoffs sind die Salpetersäure HNO3 und die Salpetrige Säure HNO2. Darüber hinaus sind folgende Oxosäuren bekannt: Hyposalpetrige Säure HON–NOH, Peroxosalpetrige Säure HOONO und Peroxosalpetersäure HOONO2 (Tab. 9.4). Die beiden letztgenannten Verbindungen sind nur in wässrigen Lösungen (als Anionen) für einige Zeit beständig. Peroxonitrit [Ο=Ν–O–O]– ist aber von großer physiologischer Bedeutung.44 Orthosalpetersäure H3NO4 ist unbekannt, jedoch existieren stabile Orthonitrate mit dem tetraedrischen Anion [NO4]3–. Die Säurestärke der oben genannten Oxosäuren nimmt mit sinkender Oxidationsstufe des Stickstoffs stark ab. Tab. 9.4 Sauerstoffsäuren des Stickstoffs. Die eingeklammerten Verbindungen wurden nicht in reiner Form isoliert. Oxidationsstufe des Stickstoffs:
+1
+3
+5
HONNOH
(HONO)
HONO2
(HOONO)
HOONO2
9.7.2 Salpetersäure HNO3 oder HONO2 Salpetersäure und ihre Salze, die Nitrate, sind von großer Bedeutung für die Produktion von Düngemitteln (z.B. Ammoniumnitrat), Sprengstoffen und anderen organischen Nitroverbindungen. Ein natürliches Vorkommen von Nitrat ist der Chilesalpeter (NaNO3), dessen Bedeutung allerdings immer mehr abnimmt. Wässrige Salpetersäure wird großtechnisch durch Absorption von NO2 bzw. N2O4 aus der katalytischen NH3-Oxidation unter Druck in Wasser hergestellt: N2O4 + H2O 3 HNO2
HNO3 + HNO2 HNO3 + 2 NO + H2O
Das bei der Disproportionierung von HNO2 entstehende NO wird in den Kreislauf zurückgeführt und erneut zu NO2 oxidiert. Die wässrige Säure kann durch Eindampfen bis auf einen Gehalt von 68 Massen-% HNO3 konzentriert werden. Diese als konzentrierte Salpetersäure bezeichnete Lösung (Molverhältnis HNO3:H2O = 1:1.65) siedet bei 122°C als azeotropes Gemisch.47 Ein derartiges Gemisch kann daher nur durch Vakuumdestillation in Gegenwart von konzentrierter Schwefelsäure als wasserentziehendes Mittel weiter entwässert werden. Bei einem technischen Verfahren wird konzentrierte Salpetersäure mit N2O4 und O2 unter Druck zu nahezu wasserfreiem NHO3 (98–99 %) umgesetzt. Im Labor erhält man wasserfreie Salpetersäure durch Reaktion von KNO3 mit konzentrierter 47
Bei konstanter Temperatur siedendes und daher durch Destillation nicht trennbares Gemisch, es sei denn, man destilliert bei einem anderen Druck.
349
9.7 Sauerstoffsäuren des Stickstoffs
Schwefelsäure und anschließender Vakuumdestillation des reinen HNO3 (Sdp. 84°C/1013 hPa). Konzentrierte Salpetersäure, die überschüssiges NO2 enthält und dann braun gefärbt ist, heißt rauchende Salpetersäure. Beim Destillieren unter Normaldruck und beim Stehen im Licht zersetzt sich HNO3 teilweise unter Braunfärbung wieder zu NO2, O2 und H2O: 2 HNO3
2 NO2 +
1 2 O2
+ H2O
Daher wird HNO3 in braunen Flaschen aufbewahrt. Wasserfreie Salpetersäure ist eine farblose Flüssigkeit, die teilweise in [NO2]+, [NO3]– und H2O dissoziiert ist und daher eine beträchtliche elektrische Leitfähigkeit aufweist: [H3O]+ + [NO2]+ + 2 [NO3])
3 HNO3
Dieses Gleichgewicht stellt sich sehr schnell ein, was man daran erkennen kann, dass im 15N-NMR-Spektrum nur 1 Signal zu beobachten ist. Das Nitrat-Ion ist trigonal-planar gebaut (Symmetrie D3h), und das Salpetersäuremolekül ist in der Gasphase ein planares Molekül der Symmetrie Cs (Winkel HON = 102°): O O
N
O
O O
O
N
O
HO
N
O O
HO
N
O
Dem σ-Bindungsgerüst überlagert sich im Nitrat-Ion eine delokalisierte π-Bindung, die als 4-Zentren-6-Elektronen-Bindung anzusehen ist und durch Überlappung der vier senkrecht auf der Molekülebene stehenden 2p-Orbitale zustande kommt (symbolisiert durch die gestrichelten Linien; vgl. das isoelektronische Molekül BF3 im Kap. 2.4.8). Alle drei NO-Kernabstände sind daher gleich. Die Valenzkraftkonstante von 8.0 N cm–1 entspricht einer Mehrfachbindung. Im HNO3-Molekül ist die π-Bindung dagegen nur über die Nitrogruppe delokalisiert, und die OH-Gruppe ist über eine einfache σ-Bindung an das N-Atom gebunden. Dies geht aus den unterschiedlichen NO-Kernabständen hervor, die 121 pm (2x) und 141 pm betragen. Der Winkel ONO in der Nitrogruppe beträgt 130°. Wasserfreie Salpetersäure ist ein starkes Oxidationsmittel, und die wässrige Lösung ist eine starke Säure. Die konzentrierte Säure löst Kupfer und Quecksilber, nicht aber Gold oder Platin48 und wird dabei je nach Konzentration zu NO2 (konz. Säure) oder NO (verd. Säure) reduziert: [NO3]) + 4 H+ + 3 e)
NO + 2 H2O
[NO3]) + 2 H+ + e)
NO2 + H2O
Andererseits werden einige unedle Metalle (Al, Fe, Cr) in reinem Zustand von konzentrierter Salpetersäure nicht gelöst, da sich auf ihnen eine dünne, aber dichte und fest haftende Oxidschicht bildet, die den weiteren Angriff der Säure verhindert. Diesen Vorgang nennt man Passivierung. 48
Gold und die Platinmetalle werden von Königswasser gelöst, einer 3:1-Mischung aus konz. HCl und konz. HNO3, die Cl2, NOCl und Chlorid-Ionen in hoher Konzentration enthält, wodurch die entstehenden Metallkationen komplex gebunden werden (als [AuCl4]– bzw. [PtCl6]2–). Dadurch verringert sich der edle Charakter dieser Metalle entsprechend NERNST’s Gleichung.
350
9 Stickstoff
Eine konzentrierte Salpetersäure der Zusammensetzung H2O·HNO3 erstarrt bei –38°C zu Kristallen von Oxoniumnitrat [H3O][NO3]. Durch Umsetzung von HNO3 mit NH3 und mit Metallhydroxiden oder -carbonaten lassen sich die entsprechenden Nitrate herstellen, die in Wasser alle leicht löslich sind. Alkalimetallnitrate zersetzen sich beim Erhitzen zu Nitriten, während Schwermetallnitrate bei der Thermolyse NO2 und Metalloxid liefern: KNO3 Cu(NO3)2
KNO2 +
1 2
O2
CuO + 2 NO2 +
1 2
O2
Nitrate sind daher vor allem bei höheren Temperaturen starke Oxidationsmittel. Von nascierendem Wasserstoff 49 wird das Nitrat-Ion schon bei Raumtemperatur bis zum NH3 reduziert. Schmilzt man NaNO3 mit Na2O bei 300°C zusammen, erhält man farbloses Natriumorthonitrat Na3NO4, das ein tetraedrisches, mit CF4 isoelektronisches Anion enthält. Die entsprechende Säure H3NO4 ist jedoch nicht bekannt. Gegenüber Übergangsmetall-Ionen kann das Nitrat-Ion als meistens zweizähniger Komplexligand fungieren. Beispielsweise enthalten die wasserfreien Nitrate des Ti4+, Co3+ und Cu2+ koordinativ (und nicht ionisch) gebundene Nitratogruppen. Diese Nitrate sind daher schon bei mäßig erhöhter Temperatur unzersetzt flüchtig. Konzentrierte 50–70 %ige wässrige Salpetersäure wird zur Herstellung von Stickstoffdüngemitteln wie Ammoniumnitrat und zum Aufschluss von Rohphosphat (Ca3[PO4]2) verwendet, das dabei in wasserlösliches Hydrogenphosphat überführt wird. Die wasserfreie Säure findet Verwendung zur Nitrierung organischer Verbindungen.
9.7.3 Peroxosalpetersäure HNO4 bzw. HOONO2 Die in reiner Form nicht bekannte Peroxosalpetersäure entsteht bei der Reaktion von konzentriertem Wasserstoffperoxid mit wässriger Salpetersäure oder mit dem Salz [NO2][BF4], jeweils bei Temperaturen unterhalb von 0°C: HOOH + [NO2][BF4] HOOH + HONO2
HOONO2 + HBF4 HOONO2 + H2O
Die Verbindung HOONO2 wird aber auch in der oberen Atmosphäre aus den Radikalen HO2 und NO2 in einer reversiblen Reaktion gebildet. Das freie Molekül HOONO2 besteht aus einer planaren OONO2-Einheit und einer ungefähr senkrecht dazu stehenden OHGruppe. Da sowohl die Ο–O- als auch die Ν–O-Einfachbindung homolytisch leicht zu spalten sind, erklärt sich die hohe Reaktivität von HNO4. In saurer Lösung beträgt die Halbwertszeit ca. 30 min, in alkalischer Lösung tritt rasch Zersetzung zu Nitrit und O2 ein. Salze sind daher nicht bekannt. Wässriges HNO4 ist ein starkes Oxidationsmittel, das Chlorid-Ionen zu Cl2 oxidiert.50
49 50
Beispielsweise aus der Reaktion von Zink mit Salzsäure. E. H. Appelman, D. J. Gosztola, Inorg. Chem. 1995, 34, 787. A. R. Ravishankara et al., J. Phys. Chem. A 2005, 109, 586.
351
9.7 Sauerstoffsäuren des Stickstoffs
9.7.4 Salpetrige Säure HNO2 bzw. HONO Salpetrige Säure, auch Salpetrigsäure genannt, ist instabil und daher nicht in reinem Zustand herstellbar, sondern nur in der Gasphase und in verdünnter Lösung einige Zeit haltbar. Dagegen sind die Nitrite beständige Salze, die auf folgende Weise hergestellt werden: NO + NO2 + 2 NaOH
2 NaNO2 + H2O *T
NaNO3 + Fe
NaNO2 + FeO
Natriumnitrit wird in der Lebensmittelindustrie zur Bekämpfung von Chlostridium-Bakterien auf Fleisch verwendet, durch deren Toxine Lebensmittelvergiftungen (Botulismus) ausgelöst werden. Durch doppelte Umsetzung erhält man aus NaNO2 leicht Ba[NO2]2, das mit Schwefelsäure unter Ausfällung von BaSO4 zu einer reinen, verdünnten HNO2Lösung umgesetzt werden kann. Diese wässrige Lösung disproportioniert langsam, schneller beim Erwärmen nach: [H3O]+ + [NO3]) + 2 NO
3 HNO3
In der Gasphase zerfällt HNO2 dagegen in einer endothermen Gleichgewichtsreaktion teilweise nach: 2 HNO2
NO2 + NO + H2O
Salpetrige Säure besteht in der Gasphase aus planaren Molekülen von cis- und trans-HNO2: O O H
N
O
N
H
O trans cis Das trans-Isomer ist um 2 kJ mol–1 stabiler als die cis-Form. Die Isomerisierung durch Rotation um die zentrale Bindung erfordert eine Aktivierungsenthalpie von 45 kJ mol–1. Wässriges HNO2 (pKa = 3.35 bei 18°C) ist nur wenig stärker als Essigsäure und reagiert sowohl als Reduktionsmittel (gegenüber Permanganat [MnO4]–), als auch als Oxidationsmittel (gegenüber I– und Fe2+). Die Nitrite der Alkalimetalle und des Ammonium-, Barium- und Thallium-Ions enthalten ein ionisch gebundenes Nitrit-Ion. Von ihm leiten sich formal auch die organischen Nitroverbindungen R–NO2 und die Ester der Salpetrigen Säure R–O–NO ab. Das NitritIon kann aber gegenüber Metall-Ionen (M) auch als Komplexligand fungieren, und zwar als Nitrogruppe Μ–NO2 und als Nitritogruppe Μ–ONO. Derartige kovalente Strukturen findet man auch in den Übergangsmetallnitriten. Einer der bekanntesten Nitrokomplexe ist das Natriumhexanitrocobaltat Na3[Co(NO2)6]. Mit H2O2 reagiert NaNO2 zu gelbem Peroxonitrit [ONOO]–, einem sehr starken Oxidationsmittel, das in alkalischer Lösung einigermaßen beständig ist, aber allmählich zum Nitrat isomerisiert und daher nicht in reiner Form isoliert werden kann.51 Siehe auch Abschnitt 9.7.5. 51
S. Goldstein, G. Czapski, Inorg. Chem. 1995, 34, 4041; J. R. Leis, M. E. Pena, A. Ríos, J. Chem. Soc. Chem. Commun. 1993, 1298.
352
9 Stickstoff
Wässriges HNO2 reagiert mit überschüssigem H2O2 bei 0°C zu Peroxosalpetersäure HOONO2, die in maximal 1.5-molarer Konzentration erhalten wurde und die sich bei 22°C in saurer Lösung mit einer Halbwertszeit von 30 min zersetzt (Abschnitt 9.7.3). In alkalischer Lösung erfolgt rasche Zersetzung zu Nitrit und O2. Wie zu erwarten, ist HOONO2 ein sehr starkes Oxidationsmittel.52
9.7.5 Peroxosalpetrige Säure HOONO Stickstoffmonoxid und Tetramethylammoniumsuperoxid reagieren in flüssigem Ammoniak zum entsprechenden Peroxonitrit, das als gelbes, mikrokristallines und hygroskopisches Pulver isoliert wurde: [Me4N][O2] + NO
[Me4N][OONO]
Diese Reaktion ist von großer Bedeutung, da es einerseits Hinweise gibt, dass im Säugetierorganismus die bei der Sauerstoffatmung entstehenden Superoxid-Anionen in ähnlicher Weise mit NO zu toxischem Peroxonitrit reagieren,53 und da andererseits Peroxosalpetrige Säure als Reaktionsprodukt von OH-Radikalen mit NO2 in der Stratosphäre vermutet wird. In der Gasphase sind die Moleküle HOONO planar und von cis-cis-Konformation, wahrscheinlich als Folge einer intramolekularen O....H-Wasserstoffbrückenbindung. Die wässrige Säure HOONO ist schwach (pKa = 6.5+0.1) und unter physiologischen Bedingungen (pH = 7.4) nur ca. 1s lang beständig, wobei durch Homolyse der OO-Bindung und Rekombination der beiden Radikale das Isomer Salpetersäure HONO2 entsteht. In stark alkalischer Lösung zersetzt sich das Peroxonitrit-Anion dagegen in bimolekularer Reaktion zu Nitrit und O2. Die Gleichgewichtskonstante der Reaktion HOONO + H2O
7.5·10–4
HONO + H2O2
L–1
wurde zu mol bestimmt. Das oben erwähnte Salz [Me4N][OONO] enthält ein planares Anion von cis-Konformation. Dieses Salz ist im trockenen Zustand bei Raumtemperatur haltbar; beim Erhitzen isomerisiert es bei ca. 110°C ohne Gewichtsverlust in exothermer Reaktion zum Nitrat. Umgekehrt können Nitrat-Ionen durch UV-Bestrahlung (200 nm, π-π*-Anregung) zur Isomerisierung zum Peroxonitrit veranlasst werden. Peroxonitrite sind starke 2-Elektronen-Oxidationsmittel.
9.7.6 Hyposalpetrige Säure (HON)2 Die Säure (HON)2 ist sowohl in reinem Zustand als auch in Form von Salzen, den Hyponitriten, bekannt. Reduziert man NaNO2 in wässriger Lösung bei 0°C mit Natriumamalgam, erhält man eine Na2N2O2-Lösung, aus der mit AgNO3 das gelbe, schwer lösliche Ag2N2O2 gefällt werden kann: 52 53
E. H. Appelman, D. J. Gosztola, Inorg. Chem. 1995, 34, 787; Z. Chen, T. P. Hamilton, J. Phys. Chem. 1996, 100, 15731. A. Daiber, V. Ullrich, Chemie unserer Zeit 2002, 36, 366.
353
9.7 Sauerstoffsäuren des Stickstoffs
2 NaNO3 + 8 Na + 4 H2O
trans-Na2N2O2 + 8 NaOH
Beim Eintragen des Silbersalzes in etherische HCl-Lösung entsteht die freie Säure, die beim Einengen der filtrierten Lösung in farblosen, explosiven Blättchen auskristallisiert. (HON)2 ist eine sehr schwache Säure (pK1 = 7.2), die sich langsam und irreversibel schon in der Kälte nach folgender Gleichung zersetzt: (HON)2
N2O + H 2 O
Die so dargestellte Säure enthält die O-Atome in trans-Stellung, was auch für das Anion des oben beschriebene Na-Salzes gilt: OH N
O
N
HO trans-(NOH)2
N
N
O trans-[N2O2]2)
N O
N O
cis-[N2O2]2)
Eine Rotation um die NN-Bindung ist wie bei anderen Derivaten des Diazens nur durch Überwindung einer relativ hohen Barriere möglich. Die dafür erforderliche Aktivierungsenthalpie steht bei Raumtemperatur nicht zur Verfügung, so dass auf diese Weise keine Isomerisierung stattfinden kann. Statt dessen kann aber eine Inversion am N-Atom erfolgen, wofür die Barriere niedriger ist. Mit Stickstoffbasen reagiert (HON)2 zu den entsprechenden trans-Hyponitriten, von denen mehrere strukturell charakterisiert wurden.54 Farbloses cis-Na2N2O2 entsteht bei der Reaktion von NO mit Na in flüssigem Ammoniak bei –50°C als amorphes Pulver sowie bei der Reaktion von Na2O mit N2O bei 360°C in kristalliner Form.55 Mit Wasser reagiert die Verbindung zu N2O und NaOH.
54 55
D. S. Bohle et al., Inorg. Chem. 1999, 38, 2716. C. Feldmann, M. Jansen, Z. Anorg. Allg. Chem. 1997, 623, 1803.
354
10.1 Allgemeines
10
355
Phosphor und Arsen
10.1 Allgemeines In der 15. Gruppe des Periodensystems beobachtet man ähnlich wie in den beiden Nachbargruppen von oben nach unten den Übergang von einem rein nichtmetallischen Element (N) über Elemente mit nichtmetallischen und metallischen Modifikationen (P, As) zu rein metallischen Elementen (Sb, Bi). Im vorliegenden Kapitel werden nur die unter Normalbedingungen eindeutig nichtmetallischen Elemente Phosphor1 und Arsen2 behandelt, wobei jedoch die Chemie des Arsens nur knapp umrissen wird, da viele As-Verbindungen den entsprechenden Phosphorverbindungen ähneln. Phosphor wird daher als repräsentatives Element ausführlicher besprochen, auch weil P-Verbindungen in der Industrie und der Physiologie eine äußerst wichtige Rolle spielen. Oft werden die Elemente der 15. Gruppe zusammen als Pnictide bezeichnet.
10.2 Bindungsverhältnisse in Pund As-Verbindungen Die Valenzelektronenkonfiguration des Phosphoratoms im Grundzustand ist 3s23px1 py1 pz1. Mit den drei halbbesetzten Orbitalen kann das P-Atom drei kovalente Bindungen eingehen oder formal ein dreifach negativ geladenes Ion P3– bilden.3 Zwischen diesen beiden Extremen sind Zwischenstufen möglich, wie folgende Beispiele zeigen: drei kovalente Bindungen: PH3, PCl3, PMe3, P4 kovalente und ionische Bindungen: [PH2]– und Na+ in Na[PH2] ionische Bindung: P3– und Na+ in Na3P Analoge Verbindungen sind vom Arsen bekannt. Sie alle weisen am Zentralatom formal ein Elektronenoktett auf. Gemäß den Regeln des VSEPR-Modells sind Phosphane PX3 und Arsane AsX3 ausnahmslos trigonal-pyramidal gebaut, wobei die Valenzwinkel normalerweise im Bereich 90–102° liegen (Tab. 2.5). Dies wird verständlich, wenn man die drei kovalenten σ-Bindungen unter Verwendung der drei p-Orbitale des Zentralatoms konstruiert. Die Valenzwinkel α sollten danach nahe bei 90° liegen, was beim PH3 (93.5°) auch näherungsweise zutrifft. Beim PF3 (α = 97.7°) liegen dagegen keine reinen Einfachbindungen vor. Vielmehr kommt es wegen der Elektronegativitätsdifferenz zwischen P 1
2 3
D. E. C. Corbridge, Phosphorus – An Outline of its Chemistry, Biochemistry and Technology, 5. Aufl., Elsevier, Amsterdam, 1995. M. E. Schlesinger, Chem. Rev. 2002, 102, 4267 (Thermodynamik). P. F. Kelly, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 7, 4308. New Aspects of Phosphorus Chemistry I–V, Top. Curr. Chem., Vols. 220, 223, 229, 232 und 250 (2000–2005). M.-A. Munoz-Hernández, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 1, 268. Zur Existenz von kleinen, mehrfach geladenen Anionen vgl. Kap. 2.1.3.
356
10 Phosphor und Arsen
und F zu einer hohen positiven Partialladung am P-Atom und dadurch zu einer koordinativen π-Bindung (Hyperkonjugation) zwischen den formal nichtbindenden 2pπ-Orbitalen der Fluoratome und den tiefsten unbesetzten Molekülorbitalen am P-Atom. Diese weisen am P-Atom hauptsächlich 3p-Charakter auf, sind von e-Symmetrie und bezüglich der PFBindungen schwach antibindend (Kap. 2.4.9). Als Folge dieser Wechselwirkung haben die PF-Bindungen einen gewissen Mehrfachbindungscharakter, was unter anderem die hohe Bindungsenthalpie erklärt (490 kJ mol–1).4 Der relativ große Valenzwinkel ist die Folge der gleichnamigen Ladung der Substituenten, die sich daher gegenseitig abstoßen. Aufgrund des steigenden Platzbedarfs der schwereren Halogenatome nehmen die Winkel in der Reihe PF3 – PCl3 – PBr3 – PI3 zu (Tab. 2.5). In Verbindungen vom Typ PX3 bzw. AsX3 (X = einwertige Gruppe) kann das am Zentralatom vorhandene nichtbindende Elektronenpaar für eine weitere σ-Bindung aktiviert werden, wobei es sich formal um eine koordinative Bindung handelt. Beispielsweise entsteht durch Protonierung von EH3 das Kation [EH4]+. Solche Kationen sind tetraedrisch gebaut. Ihre kovalenten Bindungen sind aber alle gleich und entsprechen denen im CH4 (Kap. 2.4.10; Valenzwinkel 109.5°). Beispiele für derartige Phosphonium- und Arsonium-Kationen sind (R: organischer Rest): [PH4]+ [PCl4]+ [R4P]+ [AsH4]+ [AsCl4]+ [R4As]+ Die LEWIS-Basizität der Pnictide in Verbindungen vom Typ EX3 nimmt allerdings mit zunehmendem Atomradius stark ab. Dies erkennt man an folgenden Werten der Protonenaffinität in der Gasphase (kJ mol–1): NH3: 854 PH3: 785 AsH3: 748 NMe3: 949 PMe3: 959 AsMe3: 897 Koordinative Bindungen liegen auch in den zahlreichen Übergangsmetall-Komplexen vor, die Liganden des Typs EX3 wie zum Beispiel PF3 oder Ph3P enthalten. Dabei ist das Molekül EX3 nicht nur ein σ-Donor sondern auch ein π-Akzeptor, da auch hierbei die beiden untersten unbesetzten Molekülorbitale am P-Atom Elektronen vom Metallatom übernehmen können. Diese Orbitale sind keine d-Orbitale, sondern haben am P-Atom im Wesentlichen 3p-Charakter. Der entscheidende Unterschied zwischen der Chemie des Stickstoffs einerseits und der von Phosphor und Arsen andererseits ergibt sich aus den viel größeren Atomradien der schwereren Pnictide (Tab. 4.3) sowie aus ihren geringeren Elektronegativitäten (Tab. 4.8). Der größere Radius erlaubt höhere Koordinationszahlen und damit die Bildung hyperkoordinierter Verbindungen (Kap. 2.6). Beispiele dafür sind die folgenden trigonal-bipyramidalen Moleküle PF5
PCl5
Ph5P
AsF5
Me5As
sowie die Ionen: [PF6]– [PCl4]– [PCl6]– [AsF6]– [AsCl6]– Die Bindungsverhältnisse in diesen Ionen entsprechen denen in den isoelektronischen Schwefelverbindungen SF4 und SF6. In allen Fällen hyperkoordinierter Verbindungen 4
A. E. Reed, P. von R. Schleyer, J. Am. Chem. Soc. 1987, 109, 7362.
357
10.2 Bindungsverhältnisse in P- und As-Verbindungen
können die σ-Bindungen als Mehrzentrenbindungen beschrieben werden, ohne dass d-Orbitale des Zentralatoms in Anspruch genommen werden müssen. Beim PF5 beispielsweise resultieren aus der σ-Wechselwirkung der vier Valenzorbitale des P-Atoms mit den 2p-Orbitalen der fünf F-Atome vier bindende, ein nichtbindendes und vier antibindende Molekülorbitale.5 Die 10 Valenzelektronen besetzen die untersten fünf Zustände, wodurch sich eine stabile, abgeschlossene Elektronenkonfiguration ergibt (vier bindende und ein nichtbindendes Paar). Das nichtbindende Elektronenpaar ist über die fünf F-Atome delokalisiert, so dass am P-Atom nur 8 bindende Elektronen vorhanden sind und die Oktettregel nicht verletzt wird.6 Da die äquatorialen Bindungen seitens des P-Atoms von den Atomorbitalen 3s, 3px und 3py gebildet werden, die axialen Bindungen aber von den Orbitalen 3s und 3pz, sind die äquatorialen Bindungen etwas stärker als die axialen. Beispielsweise betragen die PF-Kernabstände beim PF5 äquatorial 153 und axial 158 pm. Zu bestimmten Atomen können Phosphor und Arsen außer σ- auch noch π-Bindungen ausbilden. Die wichtigsten weil stärksten π-Bindungen sind vom (pπ–pπ)-Typ. Für π-Bindungen zum Phosphor geeignete Partneratome sind vor allem die leichteren Nichtmetalle B, C, N und O, aber auch P, S und As. Dabei sind zwei Typen von π-Wechselwirkungen strikt zu unterscheiden: (a) Ist das betrachtete P-Atom dreiwertig, wie in den Phosphaalkenen R–P=CR2, den Phosphazenen R–P=N–R oder den Diphosphenen R–P=P–R, kommt die π-Bindung wie bei entsprechenden Diazenen R–N=N–R durch Überlappung zweier pπ-Orbitale zustande. Diese Situation kann als klassische π-Bindung bezeichnet werden. Analoges gilt für die Phosphaalkine R–C≡P, die eine Dreifachbindung enthalten, die der in Nitrilen R–C≡N und in Molekülen wie N2 und P2 ähnelt. Um eine klassische π-Bindung handelt es sich auch beim Phosphabenzol, einem planaren Molekül, das dem Pyridin entspricht und in dem ein aromatisches System unter Einschluss des 3pπ-Orbitals des P-Atoms vorliegt:
Benzol
N
P
Pyridin
Phosphabenzol
(b) Ist das betrachtete P-Atom fünfwertig, wie in den Phosphanoxiden R3P=O oder den Phosphoryliden R3P=CH2, handelt es sich um π-Wechselwirkungen zwischen den pπ-Orbitalen an den Substituentatomen mit unbesetzten Molekülorbitalen am P-Atom (Hyperkonjugation). Im Falle von Ph3PO beispielsweise ist der PO-Kernabstand mit 149 pm viel kleiner als bei den Brückenbindungen im P4O10 (160 pm). Da jedoch die Valenzorbitale 3s und 3pxpypz des P-Atoms für die Errichtung der σ-Bindungen verwandt wurden und die 3d-Orbitale energe5
6
T. A. Albright, J. K. Burdett, M.-H. Whangbo, Orbital Interactions in Chemistry, Wiley, New York, 1985. Die d-Orbitale spielen in diesen Verbindungen in erster Linie eine Rolle als Polarisationsfunktionen. Ihre Elektronen-Population ist sehr klein; siehe D. L. Cooper et al., J. Am. Chem. Soc. 1994, 116, 4414. Im Falle von Fluorliganden muss man allerdings zusätzlich mit einer π-Rückbindung von nichtbindenden F-Elektronen in σ*-MOs des Zentralatoms rechnen.
358
10 Phosphor und Arsen
tisch viel zu hoch liegen, erfolgt die π-Wechselwirkung der beiden 2p-AOs des terminalen O-Atoms mit den beiden tiefstliegenden, antibindenden σ*-MOs am Phosphor. Diese zweifach entarteten MOs weisen hauptsächlich 3p-Charakter auf. Es kommen daher zwei π-Bindungen zustande, deren Auswirkung auf die PO-Bindung annähernd mit folgenden Grenzstrukturen beschrieben werden kann:7 R3P O
R3P O
Da diese koordinativen π-Bindungen jedoch viel schwächer sind als die σ-Bindungen, kann ein eindeutiger „Bindungsgrad“ nicht angegeben werden. In analoger Weise sind die π-Bindungen zu den terminalen O-Atomen in den Phosphat-Ionen und den Phosphoroxiden sowie zu den terminalen S-Atomen in den Thiophosphat-Ionen und den Phosphorsulfiden zu beschreiben. In all diesen Fällen haben ab-initio-MO-Rechnungen ergeben, dass die 3d-AOs des Phosphors nicht beteiligt sind. Auch in den Phosphazenen des fünfwertigen Phosphors liegen keine klassischen π-Bindungen vor. Zusammenfassend kann man sagen, dass das P-Atom zu unterschiedlichsten Bindungsverhältnissen befähigt ist, was eine außerordentliche Vielfalt von Verbindungen zur Folge hat. Die Koordinationszahlen am P-Atom variieren dabei zwischen 1 und 6; bei weitem am häufigsten sind jedoch Verbindungen mit den Koordinationszahlen 3 und 4. Die formalen Oxidationsstufen variieren zwischen –3 und +5. Beispiele dafür sind folgende Verbindungen: –3
–2
–1
0
+1
+2
+3
+4
+5
PH3
P2H4
LiP
P4
H3PO2
P2F4
P4O6
H4P2O6 P4O10
Für Arsenverbindungen gilt Entsprechendes. Die wahrscheinlich wichtigste Untersuchungsmethode für Phosphorverbindungen ist die 31P-NMR-Spektroskopie. Bei einzelnen Verbindungen werden die verschiedenen Anwendungen dieser Methode erläutert.
10.3 Phosphor und Arsen Phosphor und Arsen sind Reinelemente, von denen nur jeweils ein stabiles Isotop bekannt ist, nämlich 31P mit dem Kernspin I = 12 und 75As mit I = 32. Von den 16 radioaktiven Phosphorisotopen ist 32P das bei weitem wichtigste; es wird durch Neutronenbestrahlung aus 32S(n,p) bzw. 31P(n,γ) hergestellt und zerfällt als β-Strahler mit einer Halbwertszeit von 14.28 d.
7
D. G. Gilheany, Chem. Rev. 1994, 94, 1339.
10.3 Phosphor und Arsen
10.3.1
359
Herstellung der Elemente
Phosphor findet sich als sehr reaktionsfähiges und insbesondere sehr oxophiles Element in der Erdkruste nahezu ausschließlich in Form von Orthophosphaten, von denen die Apatite am wichtigsten sind, nämlich Fluorapatit Ca5[(PO4)3F], Chlorapatit Ca5[(PO4)3Cl] und Hydroxylapatit Ca5[(PO4)3(OH)]. Daneben gibt es riesige Lagerstätten von amorphem Phosphorit, dessen Zusammensetzung etwa der des Fluorapatits entspricht. Im Jahre 2000 wurden 133·106 t Phosphat abgebaut. Die Knochen von Wirbeltieren bestehen zu ca. 23 % aus Mineralien, wovon 87 % Ca5[(PO4)3(OH)] und 12 % CaCO3 sind. In der Erdkruste ist Phosphor das elfthäufigste Element. Elementarer Phosphor wird aus Phosphorit durch Reduktion mit Koks freigesetzt, wobei Quarz zugesetzt werden muss, um eine flüssige Schlacke aus Calciumsilicat und -fluorid oder -fluorosilicat zu bilden, die aus dem Ofen abfließt: 2 Ca5(PO4)3F + 15 C + 9 SiO2
3 P2 + 15 CO + 9 CaSiO3 + CaF2
Die für diese Reduktion erforderliche sehr hohe Temperatur von 1400–1500°C wird in einem elektrischen Lichtbogenofen erreicht.8 Bei dieser Temperatur besteht der zusammen mit dem Kohlenmonoxid aus dem Ofen entweichende Phosphordampf überwiegend aus P2-Molekülen.9 Beim Abkühlen des von Staub befreiten Gasgemisches wird der Phosphor in einem Turm durch Einsprühen von Wasser kondensiert, wobei P2 zu P4 dimerisiert, das als flüssiger weißer Phosphor (Schmp. 44°C, Sdp. 280°C) gewonnen wird (Jahresproduktion weltweit ca. 1.0·106 t). Aus weißem Phosphor werden alle anderen Phosphormodifikationen hergestellt. Etwa 85 % des weißen Phosphors dienen zur Herstellung sehr reiner thermischer Phosphorsäure, der Rest wird zu rotem Phosphor, zu Phosphorsulfiden, -chloriden, und -oxidchloriden sowie zu Organophosphorverbindungen verarbeitet. Arsen kommt in der Natur vor allem in Form von Sulfiden und Arseniden vor. Wichtige Mineralien sind besonders der rote Realgar As4S4 und das gelbe Auripigment As2S3, die beide schon in der Antike verwendet wurden und die beim Rösten in flüchtigen Arsenik As2O3 übergehen. Arsenopyrit FeAsS ist ein Begleiter von Eisenerzen. Wegen der weiten Verbreitung von Metallarseniden werden Arsenerze nicht bergmännisch gewonnen; vielmehr fällt das Element als Nebenprodukt der Kupfer-, Zinn-, Zink-, Silber- und Goldgewinnung an. Das beim Rösten der Erze erhaltene technische Arsentrioxid As2O3 wird entweder sublimiert oder mit HCl zu AsCl3 umgesetzt, das fraktioniert destilliert und als Dampf (Sdp. 130°C) bei ca. 620°C mit H2 zu metallischem grauem Arsen reduziert wird. Hochreines, durch Sublimation gereinigtes Arsen wird zur Herstellung des Halbleiters Galliumarsenid GaAs verwendet, der zur Produktion von Hochleistungschips für Mobiltelefone, Satelliten und Verkehrsleitsysteme dient. 8
9
Ein moderner Ofen hat einen Durchmesser von 12 m und produziert 4 t P4 pro Stunde. Um 1 t P4 zu erzeugen, braucht man ca. 8 t Phosphorit, 2.8 t Quarzkies SiO2, 1.25 t Koks, 0.05 t Elektrodenmasse und 13 MWh Energie. Als Nebenprodukte entstehen 7.7 t Schlacke, 0.15 t Ferrophosphor (Fe2P) und 2500 m3 Abgas mit 85 % CO-Gehalt. Im Phosphorit vorhandenes Fluorid findet sich in der Schlacke als CaF2 oder Ca4[Si2O7F2]. Das Gleichgewicht P4 ; 2 P2 (∆ H°298 = 229.1und ∆G°298 = 182.2 kJ mol–1) liegt bei Temperaturen oberhalb 1200°C auf der rechten Seite, ähnlich wie das Gleichgewicht S8 ; 4 S2; siehe Kap. 4.2.3. Bei 800°C ist 1 % des P4 in P2 dissoziiert.
360
10 Phosphor und Arsen
Während der menschliche Körper weniger als 0.3 ppm As enthält, liegt die Konzentration bei manchen Meerestieren im Bereich 3–30 ppm.
10.3.2
Modifikationen von Phosphor und Arsen
Weißer Phosphor ist eine bei Raumtemperatur wachsweiche, farblose bis schwach gelbliche Masse, die den elektrischen Strom nicht leitet und die in allen Phasen aus tetraedrischen P4-Molekülen besteht.10 Diese Form des Phosphors ist giftig, außerordentlich reaktionsfähig und in fein verteilter Form an der Luft selbstentzündlich. P4 löst sich in organischen Lösungsmitteln, besonders gut in CS2, nicht dagegen in Wasser, weshalb man P4 unter H2O aufbewahrt. Die Bindung im P4-Molekül wurde bereits diskutiert (Kap. 2.4.9). Erhitzt man weißen Phosphor auf 180–350°C, möglichst in Gegenwart von katalytischen Mengen Iod, wandelt er sich in exothermer Reaktion in polymeren, amorphen, roten Phosphor um,11 der beim weiteren Erhitzen auf 450–550°C unter Farbvertiefung kristallisiert und dann als violetter oder Hittorf’s Phosphor bezeichnet wird. Durch geeignete Wahl der Reaktionsbedingungen wurde eine faserige Modifikation des Phosphors hergestellt, die strukturell Hittorf’s Phosphor eng verwandt ist.12 Alle diese Modifikationen sind spezifisch dichter sowie wesentlich reaktionsträger als weißer Phosphor und daher ungiftig, außerdem in CS2 unlöslich und dadurch sowie durch den wesentlich höheren Schmelzpunkt von ca. 610°C als polymer ausgewiesen. Bei diesem „Schmelzpunkt“ handelt es sich in Wirklichkeit um eine Zersetzungstemperatur, da ein polymeres Netzwerk nur unter Depolymerisation schmelzen und verdampfen kann; dabei entstehen bei Normaldruck P4-Moleküle. Bei Temperaturen oberhalb 800°C dissoziiert P4 reversibel in zwei P2-Moleküle. Die Bindungsverhältnisse von P2 entsprechen denen von N2. Erhitzt man weißen oder roten Phosphor unter hohem Druck (1.2 GPa bei 200°C), wandelt er sich in orthorhombischen schwarzen Phosphor um, der die bei Raumtemperatur und Normaldruck thermodynamisch stabile Form darstellt. Diese Reaktion kann in einer Hochenergiekugelmühle durchgeführt werden, in der die fallenden Stahlkugeln beim Auftreffen auf den roten Phosphor lokal sowohl die notwendige hohe Temperatur als auch den erforderlichen Druck erzeugen. Größere Kristalle von Pschwarz erhält man beim Erhitzen von Prot in einer evakuierten Ampulle auf 600°C in Gegenwart von Au, Sn und SnI4.13 Schwarzer Phosphor kristallisiert je nach (steigendem) Druck orthorhombisch (halbleitend), rhomboedrisch (halbmetallisch) oder kubisch (metallisch). Die Dichte dieser Materialien übertrifft noch die des violetten Phosphors; die kubische Form ist ein Tieftemperatur-Supraleiter. Schwarzer Phosphor ist unlöslich und reaktionsträge. Bei Temperaturen oberhalb von 550°C wandelt er sich in violetten Phosphor um, der dann bis zum Schmelzpunkt (610°C) die stabile Form ist. 10 11
12 13
A. Simon, H. Borrmann, J. Horakh, Chem. Ber. 1997, 130, 1235; H. Okudera, R. E. Dinnebier, A. Simon, Z. Kristallogr. 2005, 220, 259. Technisch wird roter Phosphor in großen Kugelmühlen bei langsam von 270° auf 350°C steigender Temperatur erzeugt, anschließend zur Entfernung von P4-Resten mit heißer Natronlauge gewaschen, unter N2 getrocknet und gegebenenfalls durch Zusatz von Mg(OH)2 oder Al(OH)3 gegen Autoxidation stabilisiert. M. Ruck et al., Angew. Chem. 2005, 117, 7788. S. Lange, P. Schmidt, T. Nilges, Inorg. Chem. 2007, 46, 4028.
361
10.3 Phosphor und Arsen
Strukturen der P- und As-Modifikationen Für den roten Phosphor wird eine Struktur angenommen, die aus helicalen Ketten von P2und P10-Einheiten besteht,14 ähnlich der Struktur von (CuI)3P12 (Abb. 10.1a).15 Derartige Phosphor-Nanoröhren wurden aus den CuI-Addukten (CuI)3P12 und (CuI)8P12 durch Extraktion des CuI mittels wässriger KCN-Lösung hergestellt.16 (a) Strukturmodell für roten Phosphor
P2
P2
P10
P10
P2
(b)
P8
P2
P9
P2
P8
P2
P9
P2
Ausschnitt aus der Struktur von Hittorf’schen bzw. faserigen Phosphor
Abb. 10.1 (a) Für den roten Phosphor postulierte Struktur; (b) Zentrales Strukturelement von Hittorf’s Phosphor und von faserigem Phosphor.
Die Kristallstruktur von Hittorf’s Phosphors ist kompliziert und besteht aus tubulären Strängen von miteinander vernetzten P2-, P8- und P9-Einheiten, die mit benachbarten, senkrecht verlaufenden Strängen zu Doppelschichten verknüpft sind (Abb. 10.1b). Das Strukturprinzip des faserigen Phosphors ist dem von Hittorf’s Phosphors analog, nur erfolgt die Verknüpfung der aus P2-, P8- und P9-Einheiten aufgebauten Stränge an der Spitze der P9-Einheiten parallel zum ersten Strang. Dagegen ist der zweite Strang in Hittorf’s Phospor gegen den ersten um 90° verdreht angeordnet. In beiden Modifikationen liegen ausschließlich dreifach koordinierte P-Atome vor, die über Einfachbindungen der Länge 217–230 pm miteinander verknüpft sind. Die Kristalle des orthorhombischen schwarzen Phosphors bestehen aus parallel übereinander liegenden Doppelschichten aus P-Atomen in sechsgliedrigen Ringen in Sesselkonformation. In den Schichten sind die Ringe axial verknüpft (Abb. 10.2 rechts). Dieses Strukturprinzip führt zu einer starken Wellung der Schichten. Hingegen ist die Verknüpfung der P6-Ringe im rhomboedrischen Phosphor und die der As6-Ringe im isostrukturellen grauen Arsen äquatorial (Abb. 10.2 links). 14 15 16
H. Hartl, Angew. Chem. 1995, 107, 2857; S. Böcker, M. Häser, Z. Anorg. Allg. Chem. 1995, 621, 258. M. H. Möller, W. J. Jeitschko, J. Solid State Chem. 1986, 65, 178. A. Pfitzner, E. Freudenthaler, Angew. Chem. 1995, 107, 1784. A. Pfitzner et al., Angew. Chem. 2004, 116, 4324.
362
10 Phosphor und Arsen
Pschwarz, rhomboedrisch / Asgrau
Pschwarz, orthorhombisch
Abb. 10.2 Struktur des des orthorhombischen schwarzen Phosphors (rechts) und des rhomboedrischen Phosphors bzw. grauen Arsens (links).
In den beiden Hälften der Doppelschicht bilden die P-Atome Zick-Zack-Ketten mit Valenzwinkeln von 97° und Einfachbindungen von 222 pm Länge. Jedes P-Atom der Kette ist außerdem mit einem Atom in der anderen Hälfte der Doppelschicht verbunden (Kernabstand 224 pm, Winkel 102°), so dass ein System von kondensierten Sechsringen entsteht. Bemerkenswerterweise ist der kleinste Abstand zweier nicht direkt verbundener Atome einer Doppelschicht (d’) mit 331 pm wesentlich kleiner als der VAN DER WAALSAbstand von 380 pm. Dies zeigt das Vorliegen von schwachen koordinativen Bindungen an. Das Verhältnis d’/d beträgt 1.49 und entspricht etwa dem im grauen Selen (Tab. 12.3), das ebenfalls Halbleitereigenschaften aufweist. Der kleinste Kernabstand zwischen den Doppelschichten des schwarzen Phosphors ist mit 359 pm auch noch deutlich geringer als der VAN DER WAALS-Abstand. Dennoch sind die Bindungen zwischen den Doppelschichten schwach und bedingen eine ähnlich gute Spaltbarkeit der Kristalle parallel zu den Schichten wie beim Graphit. Die Dichte der Phosphormodifikationen steigt vom weißen (1.82 g cm–3) über den roten (~2.16), den violetten (2.35), den orthorhombischen (2.69) und den rhomboedrischen (3.56) bis zum kubischen Phosphor (3.88 g cm–3) stetig an. Roter Phosphor wird als Brandschutzmittel, zur Herstellung von Streichholz-Köpfen und Streichholz-Reibflächen sowie für Feuerwerkskörper verwandt. Vom Arsen sind drei kristalline Modifikation bekannt, die den analogen Phosphormodifikationen sehr ähnlich sind. Die thermodynamisch stabile Form ist das rhomboedrische graue Arsen, das den elektrischen Strom leitet und metallisch glänzende Kristalle bildet (Dichte 5.78 g cm–3). Diese bestehen aus gewellten Schichten von As-Atomen, die in den Schichten zu Sechsringen verbunden sind (Abb. 10.2 links). Jedes Atom hat in seiner Schicht drei nächste Nachbarn im Abstand von 252 pm und in der benachbarten Schicht drei übernächste Nachbarn im Abstand von 312 pm. Diese sekundären Kontakte sind in Abbildung 10.2 (links) mit unterbrochenen Bindungen für drei dunkel eingefärbte Atome der nächsten Schicht eingezeichnet. Die lokale Koordination der As-Atome ist daher 3+3 und verzerrt oktaedrisch. Der VAN DER WAALS-Abstand beträgt hier 400 pm. Beim Erhitzen sublimiert graues Arsen bei etwa 610°C, ohne vorher zu schmelzen. Dabei findet ähnlich wie beim roten und schwarzen Phosphor eine Depolymerisation statt; der Dampf besteht aus tetraedrischen As4-Molekülen (d = 244 pm). Leitet man diesen Dampf in eiskaltes CS2 ein, erhält man eine Lösung von As4, aus der beim Einengen und
363
10.4 Hydride von Phosphor und Arsen
Abkühlen gelbes Arsen, bestehend aus As4-Molekülen, auskristallisiert. Diese Modifikation entspricht dem weißen Phosphor und ist ein Nichtleiter. Bei Raumtemperatur wandelt sich gelbes Arsen, vor allem im Licht, schnell in graues Arsen um. In gasförmigen Gemischen von P4 und As4 wurden bei Temperaturen um 1000°C auch die gemischten Tetraedermoleküle AsP3, As2P2 und As3P spektroskopisch nachgewiesen. Metallisches Arsen wird in geringer Konzentration als Legierungsbestandteil zur Erhöhung der Härte von Blei, Bronze und Kupferlegierungen sowie zur Herstellung bestimmter Gläser verwendet.
10.4 Hydride von Phosphor und Arsen Die wichtigsten Hydride des Phosphors und Arsens sind: PH3 Phosphan (Phosphin)
H2P–PH2 Diphosphan
AsH3 Arsan (Arsin)
Während vom Arsen nur zwei weitere Hydride bekannt sind, nämlich das nur unterhalb –100°C beständige Diarsan As2H4, das bei der Zersetzung von AsH3 in einer Glimmentladung entsteht, und das bei der sauren Hydrolyse einer Mg-P-As-Legierung spurenweise entstehende Triarsan As3H5, kennt man vom Phosphor eine große Zahl weiterer Hydride. Wie im Kapitel 4.2 gezeigt wurde, ist die mittlere Bindungsenthalpie der P–P-Einfachbindung wesentlich größer als die der N–N- oder der As–As-Bindung. Phosphoratome zeigen daher wie S- und Si-Atome eine ausgeprägte Neigung zur Bildung von Ketten und Ringen, was man in vergleichbarem Umfang weder beim Stickstoff noch beim Arsen beobachtet. Ketten, Ringe und Cluster liegen auch den höheren Hydriden des Phosphors zugrunde.17 In reiner Form isoliert wurden aber bisher außer PH3 und P2H4 nur noch P3H5, P5H5 und P7H3, die folgende Strukturen aufweisen:
H2P
H P
Kette
PH2
H P
HP HP
PH PH
Ring
P HP PH P
P
PH P
Käfig
PH3, P2H4 und P3H5 sind die Anfangsglieder der homologen Reihe der kettenförmigen Phosphane mit der allgemeinen Formel PnHn+2. Dagegen ist P5H5 ein Vertreter der monocyclischen Phosphane mit der allgemeinen Formel PnHn, während P7H3 ein typisches polycyclisches Phosphan ist. Neben diesen Verbindungen wurden zahlreiche phosphorreichere Hydride NMR-spektroskopisch identifiziert. Diese Phosphane sind unbeständig und können nicht formelrein gewonnen, sondern nur angereichert werden. Es sind jedoch 17
M. Baudler, K. Glinka, Chem. Rev. 1993, 93, 1623.
364
10 Phosphor und Arsen
sehr viele organylsubstituierte Derivate (Organophosphane) sowie Salze (Polyphosphide) dieser Verbindungen in reiner Form bekannt; diese werden in den Abschnitten 10.5 und 10.6 behandelt.
10.4.1
Phosphan und Arsan
PH3 ist ein farbloses, äußerst giftiges Gas (Sdp. –88°C) von charakteristischem Geruch, das im Labor am besten durch Hydrolyse von Calciumphosphid hergestellt wird: Ca3P2 + 6 H2O
2 PH3 + 3 Ca(OH)2
Als Nebenprodukt entsteht dabei Diphosphan, das durch fraktionierte Kondensation und Destillation abgetrennt werden kann. Bei der technischen PH3-Synthese wird weißer Phosphor in heißer Natronlauge disproportioniert: P4 + 3 NaOH + 3 H2O
PH3 + 3 NaH2PO2
Das als Nebenprodukt entstehende Phosphinat (früher: Hypophosphit) dient als technisches Reduktionsmittel. Die Reaktion kann jedoch in alkoholischem Medium so geführt werden, dass Phosphonat entsteht, wodurch sich die PH3-Ausbeute verdoppelt: P4 + 4 NaOH + 2 H2O
2 PH3 + 2 Na2HPO3
AsH3 (Sdp. –62°C) ist ebenfalls ein giftiges Gas, das bei der Hydrierung von Arsenverbindungen entsteht: AsCl3 + 3 LiAlH4
AsH3 + 3 LiCl + 3 AlH3
[HAsO4]2¾ + [BH4]¾ + 2 H+
AsH3 + [B(OH)4]¾
Auch bei der Einwirkung von naszierendem Wasserstoff (aus Zink und verdünnter Schwefelsäure) auf wasserlösliche Arsenverbindungen entsteht AsH3, was man zum Nachweis von Arsen ausnutzt (MARSH’s Probe). PH3 und AsH3 sind oxidationsempfindlich und verbrennen an der Luft zu H3PO4 bzw. As2O3 und H2O. Beim Erhitzen zersetzt sich PH3 teilweise, AsH3 vollständig in die Elemente. Beide Hydride weisen positive Bildungsenthalpien auf (∆f H° 298(PH3): +5.5 kJ mol–1; AsH3: + 66.4 kJ mol–1). Die Moleküle PH3 und AsH3 sind wie NH3 trigonal-pyramidal gebaut, wobei die Valenzwinkel in der Reihe vom NH3 zum SbH3 stark abnehmen: NH3: 107.3° PH3: 93.8° AsH3: 91.8° SbH3: 91.7° Das nichtbindende Elektronenpaar befindet sich beim PH3 und AsH3 nicht mehr wie beim NH3 in einem stark gerichteten Orbital, sondern in einem schon fast reinen s-Orbital. Dementsprechend nimmt die LEWIS-Basizität dieser Hydride vom NH3 zum AsH3 stark ab. Auch ist die Barriere der pyramidalen Inversion (Kap. 9.3) sehr viel höher als bei NH3 und den Aminen (NH3: 24, PH3: 156 kJ mol–1). Daher kann man chirale substituierte Phosphane18 und Arsane bei 25°C in die Enantiomere trennen. Bei der Protonierung der Hydride PH3 bzw. AsH3 entstehen die tetraedrischen Phosphonium- und Arsonium-Ionen [PH4]+ und [AsH4]+. Salze mit diesen Kationen disso18
K. M. Pietrusiewicz, M. Zablocka, Chem. Rev. 1994, 94, 1375.
365
10.4 Hydride von Phosphor und Arsen
ziieren viel leichter in PH3 bzw. AsH3 und die entsprechende Säure, als das bei den analogen Ammoniumsalzen der Fall ist. [PH4]I, das unter wasserfreien Bedingungen aus PH3 und HI entsteht, sublimiert unter Dissoziation bei 80°C, [PH4]Cl bereits bei –28°C. In wässriger Lösung hydrolysiert [PH4]I zu PH3, [H3O]+ und I–. Daher kann man aus [PH4]I und einer Lauge reines PH3 herstellen: [PH4]I + KOH
PH3 + KI + H2O
[AsH4]Br und [AsH4]I bilden sich, wenn man AsH3 und HBr bzw. HI bei –160°C miteinander kondensiert. Bei Raumtemperatur sind unsubstituierte Arsoniumsalze nicht beständig. Leitet man PH3 in eine Lösung von Natrium in flüssigem Ammoniak ein, erhält man farblose Kristalle des Salzes NaPH2: PH3 + Na
NH3(fl.)
NaPH2 +
1 2
H2
Analog reagiert AsH3. Derivate des Natriumdihydrogenphosphids sind die organylsubstituierten Verbindungen LiPR2 und KPR2, die aus R2PCl und dem entsprechenden Alkalimetall zugänglich sind und die für Synthesen außerordentlich wertvoll sind. Sie eignen sich zur Errichtung von P–P-Bindungen: P Cl + M P
P P
+ MCl
Industriell wird PH3 zum Einbau von Spuren von Phosphor in Halbleiter-Silicium (Dotierung) sowie zur Hydrophosphorylierung von Formaldehyd in salzsaurer Lösung verwandt: PH3 + 4 HCHO + HCl
[P(CH2OH)4]Cl
Das Phosphoniumchlorid wird für die flammhemmende Ausrüstung von Cellulosetextilien (Baumwolle) und Kunststoffen eingesetzt.
10.4.2
Diphosphan(4)19
P2H4, das Analogon des Hydrazins N2H4, entsteht als Nebenprodukt bei der Zersetzung von technischem Ca3P2 mit Wasser bei 0°C, da das aus Calcium und überschüssigem Phosphor hergestellte Phosphid außer P3–-Ionen auch P–P-Bindungen enthält, nämlich in Form von Ca2P2: Ca2P2 + 4 H2O
P2H4 + 2 Ca(OH)2
Ca2P2 enthält hantelförmige Anionen [P2]4–, die mit dem Disulfid-Anion [S2]2– isoelektronisch sind. P2H4 kann wegen seiner geringeren Flüchtigkeit durch Destillation vom PH3 abgetrennt und als farblose Flüssigkeit isoliert werden. Auch die Zersetzung von PH3 in einer elektrischen Entladung liefert P2H4 (und H2). Gasförmiges P2H4 besteht wie das analoge N2H4 aus Molekülen in der gauche-Konformation mit dPP = 222 pm. P2H4 ist an der Luft selbstentzündlich und zersetzt sich im Licht sowie oberhalb –30°C langsam unter Disproportionierung zu PH3 und wasserstoffärmeren Hydriden, von denen Triphos19
M. Baudler, K. Glinka, Chem. Rev. 1993, 93, 1623 und 1994, 94, 1273. Die Verbindungsnamen geben die Zahl der P-Atome und – in Klammern – die Zahl der H-Atome an.
366
10 Phosphor und Arsen
phan P3H5 rein isoliert und die höheren Homologen P4H6 bis P9H11 spektroskopisch (MS, NMR) nachgewiesen werden konnten: 2 P 2H 4
PH3 + P3H5
Ein Gemisch aus P3H5 und P4H6 zersetzt sich oberhalb –20°C wie folgt: P3H5 + P4H6
cyclo-P5H5 + 2 PH3
Pentaphosphan(5) ist das thermisch und thermodynamisch beständigste cyclo-Polyphosphan. Das tricyclische P7H3, dessen Struktur weiter oben gezeigt wurde, erhält man auf folgendem Wege: Li3P7 + 3 Me3SiCl (Me3Si)3P7 + 3 MeOH
10.5
(Me3Si)3P7 + 3 LiCl ¾40°C
P7H3 + 3 Me3SiOMe
Phosphide20
Phosphor bildet mit fast allen Elementen binäre Verbindungen, wobei in vielen Fällen mehrere stöchiometrische Verhältnisse möglich sind. Daher gibt es eine sehr große Zahl binärer Phosphide und Polyphosphide. Repräsentative Beispiele sind die folgenden aus Lithium hergestellten und strukturell charakterisierten Phasen: Li3P
LiP
Li3P7
Li3P8.33
LiP5
(P3–)
1
([P7]3–)
([P7]3–)([P11]3–)
3
∞
(P–)
∞([P5
LiP7 ]–)
1
∞([P7
LiP15 ]–)
1
∞([P15]–)
Die Natur der jeweiligen Anionen ist unter den Bruttoformeln angegeben: Die Strukturen reichen vom monoatomaren über polycyclische käfigartige Anionen bis zu ein-, zweiund dreidimensional unendlichen Verknüpfungen, symbolisiert durch ∞x , wobei x die Dimensionalität der Verknüpfung angibt. Bei ∞1 [P7]– handelt es sich also um eine eindimensional unendliche Verknüpfung von P7-Käfigen, wobei jeder Käfig einfach negativ geladen ist. Die häufig beobachteten Käfig-Ionen [P7]3– und [P11]3– sind wie folgt gebaut:
[P7]3¾ [P11]3¾ 20
R. Pöttgen, W. Hönle, H. G. v. Schnering, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 7, 4255 und Chem. Rev. 1988, 88, 243.
367
10.5 Phosphide
Die meisten dieser Verbindungen sind elektronenpräzise und die zweifach koordinierten P-Atome tragen formal die negativen Ladungen. Daneben sind auch delokalisierte molekulare Polyphosphid-Anionen mit ausschließlich zweifach koordinierten P-Atomen bekannt (siehe unten). Viele Metallphosphide werden durch vorsichtiges Erhitzen von Phosphor mit den entsprechenden Elementen unter Luftausschluss hergestellt, z.B. Na3P, Ca3P2, CaP und Li3P7. Geeignet ist auch die Reduktion von Phosphor mit Alkali- oder Erdalkalimetallen in flüssigem Ammoniak (Kap. 9.4.8). Wird roter Phosphor in Dimethylformamid mit KPH2 abgebaut, entstehen KP5 und K2HP7, die getrennt werden können. Das nur in Lösung erhältliche KP5 enthält das cyclische Anion [P5]–. Das Anion [P5]– ist nur ein Beispiel von vielen nichtmetallischen Anionen und Kationen, denen planare Ringe aus vier bis zehn Atomen zugrunde liegen und deren Bindungen daher in σ- und π-Bindungen separiert werden können. Andere Vertreter dieser Substanzklasse sind beispielsweise [P4]2–, [S4]2+, [P6]4– und [S5N5]+. Zählt man die bei diesen Spezies vorhanden Valenzelektronen in den π-Orbitalen zusammen, erhält man die magischen Zahlen 4n+2 der HÜCKEL-MO-Theorie, nämlich 6, 10 oder 14, bei denen wegen der weitgehenden Delokalisierung der π-Elektronen besonders stabile Teilchen entstehen. Das quadratisch-planare [P4]2– liegt im Salz Cs2P4·2NH3 vor21 und das hexagonal-planare [P6]4– im K4P6:22
P P
6
P P
2¾
¾
P P
P
6 P
P
P P
P 10 P
P P
4¾
P
P
P
P P Ti P
P
P
2¾
P
P
[(P5)2Ti]2¾
Auch die mit [P4]2– valenz-isoelektronischen Kationen [E4]2+ (E = S, Se, Te) sind 6π-Elektronen-HÜCKEL-Aromaten (Kap. 12.5). Die π-MOs der vier- und fünfgliedrigen Ringsysteme sind in Abbildung 10.3 dargestellt. Der aromatische Charakter von [P4]2–, [P5]– und [P6]4– zeigt sich auch in ihrer Fähigkeit als Liganden für Übergangsmetalle zu dienen.23 Ein besonders schönes Beispiel für einen Cyclopentadienyl-analogen Komplex ist das oben abgebildete Sandwich-artige [(η5-P5)2Ti]2–.24 Neben den ionischen Phosphiden gibt es auch kovalente (BP, SiP) und metallartige Phosphide (z.B. Ferrophosphor Fe2P). Dementsprechend reicht die elektrische Leitfähigkeit der Phosphide vom Nichtleiter über Halbleiter und metallische Leiter bis zum Tieftemperatur-Supraleiter. Aus rotem Phosphor und dem entsprechenden Metallpulver hergestelltes AlP und Zn3P2 dienen in der Schädlingsbekämpfung als PH3-Quelle. Aus den hochreinen Elementen gewonnenes Galliumphosphid GaP wird zur Herstel21 22 23 24
F. Kraus, J. C. Aschenbrenner, N. Korber, Angew. Chem. 2003, 115, 4162. H. P. Abicht, W. Hönle, H. G. V. Schnering, Z. Anorg. Allg. Chem. 1984, 519, 7. Komplexe mit Pn- und Asn-Liganden: O. J. Scherer, Acc. Chem. Res. 1999, 32, 751. M. Peruzzini, L. Gonsalvia, A. Romerosa, Chem. Soc. Rev. 2005, 34, 1038. E. Urnezius et al., Science 2002, 295, 832.
368
10 Phosphor und Arsen
E
E [P5]-(D5h)
2-
[P4] (D4h)
n.b.
Abb. 10.3 Die π-Molekülorbitale der HÜCKEL-Aromaten [P4]2– und [P5]–. Die zu [P4]2– analogen MOs gelten adaptiert auch für die Ionen [E4]2+ (E = S, Se, Te).
lung grünes Licht emittierender Leuchtdioden verwendet. Das analoge Galliumarsenid GaAs ist ein wichtiges Halbleitermaterial, das aus den Elementen unter H2-Atmosphäre erschmolzen und durch Züchtung von Einkristallen nach den Methoden von BRIDGMAN oder CZOCHRALSKI gereinigt wird (Schmp. 1240°C; Zinkblende-Struktur).25 Die Bandlücke von 1.42 eV kann durch Legieren mit Al in das sichtbare Gebiet verschoben werden, wodurch sich Legierungen der Zusammensetzung AlnGa1–nAs für Leuchtdioden und Laser eignen.
10.6 Organophosphane26 Formal können in den zahlreichen Hydriden des Phosphors die H-Atome durch Alkyl, Aryl (R) oder Silylgruppen (SiR3) ersetzt werden, weswegen eine große Zahl von Derivaten existiert.27 Diese entsprechen den acyclischen, monocyclischen oder polycyclischen Phosphanen. Die wichtigsten Vertreter sind die Spezies PR3 und die Monocyclen (PR)n mit n = 3–6. Die PR3-Synthese erfolgt zweckmäßigerweise aus PCl3 und metallorganischen Verbindungen RM (M = Li, MgX). Dabei werden die Chloratome stufenweise durch R substituiert. Beispielsweise ist Triphenylphosphan aus PCl3 und Phenylmagnesiumbromid oder Phenyllithium zugänglich. Organylsubstituierte Phosphane und Arsane sind stärkere LEWIS-Basen als die zugrunde liegenden Hydride. Daher reagiert Ph3P mit Phenyliodid zum salzartigen Tetraphenylphosphoniumiodid:
25 26
27
J. F. Janik, Powder Techn. 2005, 152, 118. R. Engel, J. I. Cohen, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 7, 4355. K. B. Dillon, F. Mathey, J. F. Nixon, Phosphorus – The Carbon Copy: From Organophosphorus to Phospha-organic Chemistry,Wiley, 1998. Organylderivate: M. Baudler, K. Glinka, Chem. Rev. 1993, 93, 1623. Silylderivate: G. Fritz, P. Scheer, Chem Rev. 2000, 100, 3341.
369
10.6 Organophosphane
PCl3 + 3 PhLi
¾3LiCl
Ph3P
+PhI
[Ph4P]I
Entsprechendes gilt für Ph3As, das aus AsCl3 hergestellt wird. Organophosphane und -arsane dienen als Liganden in Übergangsmetallkomplexen, wobei Größe (Kegelwinkel) und Donoreigenschaften (HOMO-Energie) durch Variation von R gewissermaßen durchstimmbar sind.28 Vor allem zweizähnige Diphosphanliganden wie R2P–(CH2)n–PR2 werden wegen des Chelateffektes häufig verwendet, wobei für R = Ph folgende Abkürzungen gebräuchlich sind: dppm (n = 1), dppe (n = 2) und dppp (n = 3). Entsprechende Metallkomplexe sind als industrielle Katalysatoren von allergrößter Bedeutung. Durch Oxidation bzw. Reaktion mit Schwefel entstehen aus Phosphanen die entsprechenden Phosphanoxide R3P=O bzw. -sulfide R3P=S. In der Reihe der cyclischen Phosphane RnPn kennt man unter anderem die Phenylverbindungen Ph3P3, Ph4P4, Ph5P5 und Ph6P6, denen folgende Strukturen zugrunde liegen:
P P
P
P
P
P
P
P P
P P
P
P P
P
P
P P
Nur der P3-Ring ist planar, alle anderen Ringe sind gefaltet. Je nach Substituent ist eine dieser Ringgrößen am beständigsten; kleine Ringe werden durch große Substituenten stabilisiert. Folgende Synthesewege eröffnen den Zugang zu cyclo-Phosphanen: 2 n
RPH2 + Cl2PR RPX2 + 2 M
1 n
(RP)n + 2 HCl
(RP)n + 2 MX
P4 + 2 RMgBr + 2 RBr
4 n
M: Li, Na, Mg; X: Cl, Br
(RP)n + 2 MgBr2
Allen monocyclischen Phosphanen und den ionischen Polyphosphiden liegen Ringe der Größen 3–6 zugrunde. Aus den Polyphosphiden können durch Alkylierung mit MeBr die entsprechenden Organopolyphosphane erhalten werden: 3 MeBr + Li3P7
Me3P7 + 3 LiBr
Auch entsprechende cyclo-Arsane (RAs)n sowie kettenförmige Verbindungen mit AsAsEinfachbindungen sind bekannt, z.B. As2I4, Me4As2, As4S3, (CF3As)4, (MeAs)5 und (PhAs)6.29
28 29
P-Donor-Liganden: A. Schier, H. Schmidbaur, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 7, 4101. Kegelwinkel: K. A. Bunten et al., Coord. Chem. Rev. 2002, 233–234, 41. I. Haiduc, D. B. Sowerby, The Chemistry of Inorganic Homo- and Heterocycles, Vol. 2, Academic Press, London, 1987. F. Kober, Chemikerzeitung 1981, 105, 199.
370
10 Phosphor und Arsen
10.7 Diphosphene und Phosphaalkine Diphosphene sind die den organischen Diazenen entsprechenden Phosphorderivate: R R
N
N
(E)-Diazen
R
P
P
R
(E)-Diphosphen
R
P
P
R
(Z)-Diphosphen
In beiden Verbindungstypen liegen planare Gerüste CNNC bzw. CPPC vor, so dass cis- und trans- bzw. (Z)- und (E)-Isomere existieren. (Z) für „zusammen“ und (E) für „entgegen“ beziehen sich auf die Positionen der Reste R. Unter Standardbedingungen beständige Diphosphene wurden erst erhalten, als man gelernt hatte, die Dimerisierung zu cyclo-Tetraphosphanen durch sperrige Substituenten zu unterdrücken. Die Synthese gelingt aus Organyldichlorphosphanen durch Enthalogenierung mittels Magnesium: tBu
2 RPCl2 + 2 Mg
(E)-RP PR + 2 MgCl2
R:
tBu tBu
"Supermesityl"
Bei dieser Synthese wird das (E)-Isomer erhalten, das luftstabil ist. Der durch Röntgenstrukturanalyse ermittelte PP-Kernabstand von 203 pm ist deutlich kleiner als der im schwarzen Phosphor (222 pm), so dass man zusätzlich zur σ-Bindung eine (p-p)π-Bindung ähnlich der in Alkenen und Diazenen annimmt. Die Isomerisierung zum (Z)-Isomer gelingt durch Laser-Bestrahlung. Hierbei wird ein π-Elektron aus dem HOMO in das LUMO(π*) angehoben, wodurch die Rotationsbarriere der PP-Bindung praktisch aufgehoben wird. Bei der Modellverbindung HP=PH beträgt die Rotationsbarriere 132 kJ mol–1.30 Zahlreiche analoge Verbindungen R–E=E–R mit P=P-, P=As-, P=Sb- und As=As-Mehrfachbindungen wurden hergestellt.31 Auch molekulare Verbindungen mit Sb=Sb- und Bi=Bi-Doppelbindung sind bekannt.32 E=E-Doppelbindungen des Typs R–E=E–R sind im Unterschied zu den Disilenen und ihren schwereren Homologen bemerkenswert „klassisch“.33 Weitere klassische Doppelbindungen am P-Atom sind in Form der Phosphorylverbindungen wie Cl–P=O34 und der verwandten Phosphazene des dreiwertigen Phosphors (–P=N–) bekannt, sowie bei den Phosphaalkenen (–P=C<)35 und den Silaphosphenen (–P=Si<). Dagegen sind Dreifachbindungen am P-Atom selten. Beispiele sind die Phos30 31 32 33 34 35
W. W. Schoeller et al., J. Chem. Soc. Faraday Trans. 1997, 93, 2957. E. Niecke, O. Altmeyer, M. Nieger, Angew. Chem. 1991, 103, 1158. M. Yoshifuji, K. Toyota, Chem. Org. Silicon Comp. 2001, 3, 491 und Pure Appl. Chem. 2005, 77, 2011. N. Tokitoh, Y. Arai, R. Okazaki, S. Nagase, Science 1999, 120, 433. P.P. Power, Chem. Rev. 1999, 99, 3463. M. Binnewies, H. Schnöckel, Chem. Rev. 1990, 90, 321. Verbindungen mit C=P-Bindungen: R. Appel, F. Knoll, Adv. Inorg. Chem. 1989, 33, 259 und E. Fluck, B. Neumüller in Rings, Clusters and Polymers of Main Group and Transition Elements (H. W. Roesky, Herausg.), Elsevier, Amsterdam, 1989, S. 195.
371
10.8 Halogenide des Phosphors und Arsens
phaalkine R–C≡P, die den Nitrilen R–C≡N entsprechen. Ein bei 20°C beständiges Phosphaalkin entsteht wie folgt:36 (Me3Si)3P + tBuCOCl
¾Me3SiCl
Me3Si
¾3HCl
P C
NaOH
3 Me3SiH + PCl3
tBu OSiMe3
¾¿Me3Si)2O
tBu C P (Sdp. 61°C)
Der CP-Kernabstand von 153.6 pm ist wesentlich kleiner als bei CP-Einfachbindungen (187 pm) und entspricht einer Dreifachbindung. Beim Erhitzen auf 130°C im geschlossenen Rohr tetramerisiert die Verbindung zum Tetraphosphacuban (RCP)4, das nur noch Einfachbindungen enthält.37 Ein spektakuläres gemischtes Phosphaalken und Diphosphen entsteht bei der Reaktion eines sperrigen, N-stabilisierten Carbens mit P4: R2C=P–P=P–P=CR2. Die CP4C-Kette ist planar und wird als Gemisch der (Z)- und (E)-Isomere erhalten. Letzteres ist dunkelblau und schmilzt bei 184°C!38 Auf der Basis von Organophosphorverbindungen, die oft auch Phosphor in ungewöhnlichen Bindungssituationen enthalten, wurden π-konjugierte Polymermaterialien hergestellt, die einzigartige Eigenschaften besitzen.39 Strukturelemente, aus denen solche Materialien aufgebaut werden, sind: P
Arylphosphan
P P
Phosphol
P C
Phosphaalken
P
Diphosphen
Hierbei bezeichnet eine unterbrochen gezeichnete Bindung alle Positionen, an denen das Strukturelement in ein Polymer eingebaut werden kann. Da die elektronischen Eigenschaften des Phosphoratoms in diesen Verbindungen durch Oxidation sowie durch Reaktion mit LEWIS-Säuren oder Metallen verändert werden können, sind diese Materialien für Anwendungen in der Optoelektronik vielversprechend.
10.8 Halogenide des Phosphors und Arsens Elementarer Phosphor reagiert mit allen Halogenen unter Bildung von Phosphorhalogeniden bzw. -halogenid-Ionen. Die folgenden Moleküle und Ionen wurden mit Ausnahme des P2X10 strukturell charakterisiert: 36 37 38 39
F. Mathey, Angew. Chem. 2003, 115, 1616. A. Mack, M. Regitz, Chem. Ber. 1997, 130, 823. G. Bertrand et al., Angew. Chem. 2007, 119, 7182. T. Baumgartner, R. Reau, Chem. Rev. 2006, 106, 4681.
372
10 Phosphor und Arsen
P Subhalogenide:
P
P
+
P
X
X P + [P5X2]
X
XX
P
P
[PX4]
PIII-Halogenide:
X +
PV-Halogenide:
X
P
X X [PX4]+
P X X X ¾X¾
X
P X
X
X P X X X PX5
P
P
P X
X
X
PX3
X +
X
P2X4
X
X ¾
X
X
P X
+X¾
+
XX
P
X [P3X6]+
[P2X5]+
X X X X P X X X [PX6]¾
X X X X X P P X X X P2X10 X X
Zusätzlich sind Moleküle der Zusammensetzung P6X6, P4X2 und P7X3 in Lösung als Komponenten von Mischungen beschrieben worden. Bei weitem am wichtigsten sind die neutralen Halogenide PX3 und PX5. Deren thermische Beständigkeit nimmt mit steigender Atommasse des Halogens soweit ab, dass PI5 unbekannt ist; lediglich Salze mit dem Kation [PI4]+ sind verfügbar. Von technischer Bedeutung sind vor allem PCl3 und PCl5. Neben den binären Verbindungen gibt es zahlreiche gemischte Halogenide sowie Oxidund Sulfidhalogenide, von denen POCl3 und PSCl3 die wichtigsten sind. Arsen bildet ebenfalls Halogenide der Typen AsX3, As2X4 und AsX5 sowie die Ionen [AsX2]+, [AsX4]–, [AsX4]+ und [AsX6]–. Daneben kennt man zahlreiche mehrkernige, halogenverbrückte Anionen wie [As2Br8]2– und [As3I12]3–40 sowie das subvalente [As6X8]2– mit lokaler D3d-Symmetrie.41
10.8.1
Trihalogenide EX3 (E = P, As)
Alle vier binären Phosphortrihalogenide sind bekannt. PF3 erhält man aus PCl3 und Fluorierungsmitteln wie CaF2, AsF3 oder ZnF2; AsF3 wird aus As2O3 durch Fluorierung mittels Hydrogenfluorid hergestellt:
40 41
2 PCl3 + 3 CaF2
2 PF3 + 3 CaCl2
As2O3 + 6 HF
2 AsF3 + 3 H2O
G. A. Fisher, N. C. Norman, Adv. Inorg. Chem. 1994, 41, 233. U. Müller, H. Sinning, Angew. Chem. 1989, 101, 187. C. A. Ghilardi et al., Chem Commun. 1988, 1241.
373
10.8 Halogenide des Phosphors und Arsens
Phosphortrifluorid ist ein farbloses Gas (Sdp. –102°C), AsF3 eine farblose Flüssigkeit (Sdp. 63°C). Die bei weitem größte Bedeutung aller P-Trihalogenide besitzt PCl3 (Schmp. –94°C, Sdp. 76°C), das technisch in großem Umfang aus P4 und Cl2 in siedendem PCl3 oder in der Gasphase hergestellt wird. Es ist Ausgangsprodukt für die Produktion von PCl5, POCl3, PSCl3, Phosphonsäure und deren Derivaten. PCl3 und PBr3 sind farblose Flüssigkeiten, die ebenso wie PI3, das rote Kristalle bildet, in exothermer Reaktion aus den Elementen synthetisiert werden; das gleiche gilt für AsCl3 (Schmp. –16°, Sdp. 130°C), AsBr3 (Schmp. 31°, Sdp. 221°C)und AsI3 (Schmp. 140°C). Alle Trihalogenide des Phosphors und Arsens sind toxische, hydrolyseempfindliche Verbindungen, die mit Ausnahme von AsI3, das in einem Schichtgitter kristallisiert, Molekülgitter bilden und daher destilliert bzw. sublimiert werden können. Sie reagieren in charakteristischer Weise mit Element–Wasserstoff-Bindungen unter HX-Abspaltung: PCl3 + 3 H2O
H3PO3 + 3 HCl
PCl3 + 6 NH3
P(NH2)3 + 3 NH4Cl
Auf analoge Weise werden aus PCl3 und Alkoholen Phosphonsäureester und mit Aminen wie Me2NH die wichtigen Zwischenprodukte Me2NPCl2 und (Me2N)2PCl hergestellt. P–N-Bindungen können auch mittels Trimethylsilylverbindungen errichtet werden: RPCl2 + Me2N
SiMe3
RClP NMe2 + Me3SiCl
Die substituierten Phosphane RPCl2, R2PCl bzw. R3P stellt man im Allgemeinen aus PCl3 mittels Organolithium- oder GRIGNARD-Verbindungen her (Abschnitt 10.6). Triphenylphosphan wird aber nach Art einer WURTZ-Reaktion aus Chlorbenzol synthetisiert: PCl3 + 3 PhCl + 6 Na
Ph3P + 6 NaCl
Alle Trihalogenide des P und As können sowohl als LEWIS-Säuren als auch als LEWIS-Basen reagieren. PF3 und PCl3 eignen sich als Liganden in Übergangsmetallkomplexen. Beispielsweise reagiert PCl3 mit Ni(CO)4 zu Ni(PCl3)4. Analog bildet PF3 Komplexe wie [Fe(CO)n(PF3)5–n] mit n = 0–4. Gegenüber Me3N verhalten sich PCl3 und AsCl3 als LEWIS-Säuren: Me3N + PCl3 (AsCl3)
Me3N
PCl3 ( AsCl3)
Auch mit Halogenid-Ionen reagieren PX3-Moleküle (X = F, Cl, Br) als LEWIS-Säuren und bilden Phosphanide:42 PCl3 + [Et4N]Cl
[Et4N][PCl4]
Flüssiges AsF3 ist teilweise in Ionen dissoziiert und leitet daher den elektrischen Strom: 2 AsF3
[AsF2]+ + [AsF4]¾
Diese Ionen, die mit GeF2 bzw. SeF4 isoelektronisch sind, können in Form kristalliner Salze isoliert werden: 42
Phosphanide sind kovalente Derivate des hypothetischen Anions [PH4]–: K. B. Dillon, Chem. Rev. 1994, 94, 1441. Die Symmetrie von [PCl4]– ist C2v.
374
10 Phosphor und Arsen
AsF3 + SbF5
[AsF2][SbF6]
AsF3 + KF
K[AsF4]
AsCl3 + [Me4N]Cl
[Me4N][AsCl4]
Die Struktur von [AsF2][SbF6] entspricht einer Mischung aus einem ionischen Salz und einem Addukt der Moleküle AsF3 und SbF5. Mit O2 und Oxidationsmitteln reagiert PCl3 zu POCl3, mit Schwefel beim Erhitzen zu PSCl3. Beide Verbindungen werden auf diese Weise technisch produziert. Phosphoroxidtrichlorid POCl3 wird für die Herstellung von Hexamethylphosphorsäuretriamid (HMPT, HMPA) verwandt, das ein wichtiges hochpolares, aprotisches Lösungsmittel ist: POCl3 + 6 Me2NH
PO(NMe2)3 + 3 [Me2NH]Cl
Die Moleküle POCl3 und PSCl3 haben die Struktur verzerrter Tetraeder. Die PO-Bindung kann als Mehrfachbindung aufgefasst werden. Dies gilt auch für die PS-Bindung im PSCl3 und im PSF3, wie folgender Vergleich der PS-Kraftkonstanten mit der einer PSEinfachbindung zeigt: fPS(N cm–1):
P(SMe)3
PSCl3
PSF3
2.56
4.89
5.21
Bei den Phosphoryl- und Thiophosphorylverbindungen hängt die Stärke der Bindungen PO bzw. PS wie bei den Thionylverbindungen stark von der Elektronegativität der Substituenten X ab (Kap. 4.4.2). Die größten Kraftkonstanten werden bei X = F erreicht. Vom Arsen ist nur ein monomeres Oxidhalogenid bekannt, nämlich AsOF3, das aus AsCl3, As2O3 und F2 hergestellt wird.
10.8.2
Tetrahalogenide E2X4 (E = P, As)
Die beiden Iodide P2I4 und As2I4 sind die beständigsten Tetrahalogenide des Phosphors bzw. des Arsens. Sie werden aus den Elementen hergestellt, wobei man mit einem Unterschuss an Iod arbeitet. Dabei bleibt ein Teil der P–P-Bindungen des P4 bzw. der As–AsBindungen des grauen Arsens erhalten: P 4 + 4 I2
CS2
2 P2I4
(rote Kristalle, Schmp. 126°C)
Im kristallinen Diphosphortetraiodid weisen die Moleküle eine trans-Struktur von C2h-Symmetrie auf. Auch P2Cl4, P2F4 und H2P–PF2 wurden hergestellt.
10.8.3
Pentahalogenide EX5 (E = P, As)
Mit überschüssigem Cl2 bzw. Br2 reagieren PCl3 bzw. PBr3 zu PCl5 bzw. PBr5. Diese reversible Reaktion ist als oxidative Addition bekannt, während die Rückreaktion als reduktive Eliminierung bezeichnet wird: PCl3 + Cl2
PCl5
375
10.8 Halogenide des Phosphors und Arsens
Aus PCl5 und Fluorierungsmitteln wie AsF3 oder HF erhält man PF5. Molekulares PI5 ist dagegen unbekannt. Seitens des Arsens ist AsF5, das aus den Elementen synthetisiert werden kann, das einzige bei 25°C beständige Pentahalogenid. Die bei weitem größte Bedeutung hat PCl5, das gelblich-weiße Kristalle bildet (Schmp. 167°C) und das industriell aus PCl3 und Cl2 in Rührgefäßen oder in mit Blei ausgekleideten Türmen hergestellt wird. Die Moleküle PF5 und AsF5 sind trigonal-bipyramidal gebaut. Dies gilt auch für gasförmiges PCl5. Im festen Zustand liegt PCl5 dagegen als Salz [PCl4]+[PCl6]– vor. Diese Art der Isomerie zwischen Molekülen und einem Salz nennt man Bindungsisomerie. PBr5 ist in der Gasphase vollständig in PBr3 und Br2 dissoziiert. Im festen Zustand besteht es ebenfalls aus Ionen: [PBr4]+Br–. Kationen des Typs [PX4]+ sind mit den entsprechenden Siliciumhalogeniden SiX4 isoelektronisch und tetraedrisch gebaut. Die Anionen [PX6]– bilden reguläre Oktaeder. In trigonal-bipyramidalen Molekülen wie PF5 sind die drei äquatorialen und die zwei axialen Fluoratome nicht äquivalent. Man beobachtet vielmehr zwei verschiedene Kernabstände (dPF = 153 und 158 pm) und zwei verschiedene Valenzkraftkonstanten fPF. Das 19F-Kernresonanzspektrum von PF sollte daher aus zwei Signalen im Intensitätsverhält5 nis 3:2 bestehen, die beide wegen der Kopplung der Fluoratome (I = 12 ) mit dem Phosphoratom (I = 12 ) in je ein Dublett aufgespalten sein sollten. Tatsächlich beobachtet man jedoch nur ein Dublett, d.h. alle F-Atome sind magnetisch äquivalent. Dieser scheinbare Widerspruch wird durch die Annahme einer so genannten Pseudorotation überwunden, durch die die äquatorialen und axialen F-Atome rasch ihre Plätze wechseln, so dass sie im zeitlichen Mittel äquivalent erscheinen (Abb. 10.4). Bei dieser intramolekularen Umlage2
2
2 4
4
1
1
5
5
5 3
3
3
D 3h
4 1
C 4v
D 3h
Abb. 10.4 Pseudorotation bei einem trigonal-bipyramidalen Molekül. Die D3h-Struktur links geht über einen C4v-Übergangszustand in eine neue D3h-Geometrie rechts über. Dadurch gelangen die zwei ehemals axialen Substituenten (2, 3) in eine äquatoriale Position.
rung43 ändern sich die Kernabstände und Valenzwinkel nur wenig, so dass keine große Energiebarriere zu überwinden ist. Daher friert die Pseudorotation beim PF5 selbst bei –150°C noch nicht ein. Analoges gilt für AsF5.
43
P.Wang et al., J. Chem. Soc. Chem. Commun. 1990, 201. Die Pseudorotation nach BERRY gilt für alle acyclischen Phosphorane. Bei den cyclischen Derivaten kommt auch der alternative „turnstile“-Mechanismus in Betracht; W. S. Sheldrick, Top. Curr. Chem. 1978, 73, 1.
376
10 Phosphor und Arsen
Grundsätzlich muss man bei allen trigonal-bipyramidalen Molekülen, also auch bei SF4 und ClF3, mit einer Pseudorotation rechnen. Bei gemischt-substituierten Verbindungen wie Me2PF3 hat sich jedoch gezeigt, dass von den theoretisch denkbaren Isomeren I, II und III immer nur die Verbindung nachweisbar ist und isoliert werden kann, bei der die elektronegativsten Atome die axialen Positionen besetzen (Formel I): H3C
F P F
H3C
F
F
P CH3
F
F
F
CH3
I
CH3 P F
F
II
CH3 III
Wegen der Ungleichartigkeit der Substituenten findet also in solchen Molekülen keine Pseudorotation statt. Das kann mit der unterschiedlichen Raumbeanspruchung der bindenden Elektronenpaare begründet werden (Kap. 2.2.2), die ihrerseits eine Folge der unterschiedlichen Elektronegativitäten ist. PF5 und AsF5 sind farblose Gase, die von Wasser sofort zersetzt werden und die daher an der Luft stark rauchen. Sie sind starke LEWIS-Säuren und daher auch ausgezeichnete Fluorid-Ionen-Akzeptoren: PF5 + LiF
Li[PF6]
PF5 + Me3N
Me3N
PF5 + Me3P
Me3P PF5
2 AsF5 + 2 HF
PF5
[H2F]+ + [As2F11]¾
(in flüss. HF)
In organischen Lösungsmitteln gelöstes Li[PF6] wird in Li-Ionen-Batterien (die in Wirklichkeit Akkumulatoren sind) als Elektrolyt verwendet. PCl5 reagiert mit ChloridIonen zu [PCl6]–. Von Wasser wird PCl5 in heftiger Reaktion über POCl3 zu H3PO4 zersetzt: +H2O
PCl5 ¾2HCl
+3H2O
POCl3 ¾3HCl PO(OH)3
Mit Ammoniak und Aminen entstehen entsprechend P–N-Verbindungen (siehe unten). Beim Erhitzen dissoziiert PCl5 reversibel zu PCl3 und Cl2 (siehe oben). Es reagiert daher auch als Chlorierungsmittel. P4O10 + 6 PCl5 SO2 + PCl5 ROH + PCl5
10 POCl3 SOCl2 + POCl3 RCl + POCl3 + HCl
PCl5 löst sich in unpolaren Lösemitteln wie CCl4 oder Benzol monomer oder dimer, wobei für das auch im PCl5-Dampf nachgewiesene P2Cl10 eine Struktur wahrscheinlich ist, bei der zwei PCl6-Oktaeder eine gemeinsame Kante besitzen (zwei gemeinsame ClAtome). In Acetonitril (MeCN) und Nitrobenzol (PhNO2) löst sich PCl5 dagegen ionisch als [PCl4][PCl6]. Mit Chlorid-Ionen-Akzeptoren wie BCl3 und SbCl5 reagiert PCl5 zu Salzen mit dem Tetrachlorphosphonium-Kation [PCl4]+.
377
10.8 Halogenide des Phosphors und Arsens
Arsenpentachlorid ist nur unterhalb –50°C beständig und AsBr5 ist unbekannt; dennoch kennt man bei 25°C beständige Salze mit den Ionen [AsX4]+ (X = Cl, Br) und [AsCl6]–: AsCl3 + Cl2 + PCl5
[AsCl4][PCl6]
[Et4N]Cl + AsCl3 + Cl2 AsBr3 + Br2 + Ag+
[Et4N][AsCl6] [AsBr4]+ + AgBr
Außer PF5 und PCl5 sind auch alle gemischten Derivate PClnF5–n mittels Elektronenbeugung in der Gasphase strukturell charakterisiert worden.44 Daneben gibt es auch noch andere gemischte Pentahalogenide des Phosphors.
10.8.4
Starke LEWIS-Säuren
Das Molekül PF5 und noch stärker seine Homologen AsF5 und SbF5 sind starke LEWISSäuren. SbF5 wird generell als stärkste unter Standardbedingungen stabile LEWIS-Säure in technischen Prozessen eingesetzt. Da derartige Verbindungen sowohl in der Technik als auch in der Grundlagenforschung ein großes Potential besitzen, wird hier die Säurestärke kurz betrachtet. Generell kann man diese Größe durch die Reaktion mit einem Donor ermitteln, wobei die Reaktionsenthalpie ∆ H° 298 als Maß für die Säurestärke betrachtet wird (siehe Kap. 6.2). Bei Verwendung verschiedener Donoren zeigt sich allerdings, dass die so definierte Säurestärke keine allgemein gültige Größe ist, sondern vom Donor abhängt. Ein in der Fluorchemie häufig verwendetes Maß für die Säurestärke von Verbindungen wie AsF5 und SbF5 ist die Fluorid-Ionen-Affinität (FIA), bei der ein F–-Ion die Rolle des Donors übernimmt. Bevor darauf näher eingegangen wird, soll zunächst die präparative Seite derartiger Reaktionen behandelt werden. Verschiedene Metall- und Nichtmetallfluoride haben die Fähigkeit, mit Fluorid-Ionen komplexe Anionen zu bilden. Besonders starke F–-Akzeptoren sind BF3, AsF5, SbF5 und PtF5, daneben aber auch AlF3, SiF4 und PF5, aus denen dabei folgende, mit SF6 isoelektronische Ionen entstehen: [AlF6]3–
[SiF6]2–
[PF6]–
In diesen Ionen sind die Zentralatome oktaedrisch koordiniert und aus räumlichen und elektronischen Gründen gegen den Angriff nukleophiler Teilchen wie H2O relativ gut abgeschirmt. Während SiF4 und PF5 mit Wasser sofort hydrolysieren, sind die HexafluoridIonen in Wasser unzersetzt löslich. Außer in Lösungen existieren sie auch in Ionengittern und Schmelzen entsprechender Salze. Die zugehörigen Säuren H3AlF6, H2SiF6 und HPF6 sind jedoch nicht wasserfrei herstellbar, sondern zerfallen sofort in HF und das entsprechende Fluorid. In wässrigen Lösungen sind sie vollständig dissoziiert; beim Abkühlen von wässrigen „H2SiF6-Lösungen“ kristallisiert das Oxoniumsalz [H3O]2[SiF6] aus. Durch Reaktion kovalenter Fluoride mit F–-Akzeptoren lassen sich salzartige Verbindungen herstellen, zu denen es bei den übrigen Halogenen keine Analogien gibt: 44
H. Oberhammer et al., Inorg. Chem. 1986, 25, 2828.
378
10 Phosphor und Arsen
IF7 + AsF5
[IF6][AsF6]
2 XeF2 + PtF5
[Xe2F3][PtF6]
3 ONF + 2 IrF6
2 [NO][IrF6] + ONF3
ONF3 + AsF5 NF3 + F2 + SbF5
[ONF2][AsF6] 200°C 18.5 MPa
[NF4][SbF6]
Durch diese Reaktionen sind die Fluorid-Ionen-Akzeptoren als starke LEWIS-Säuren ausgewiesen. Dieses Verhalten beruht auf einem Elektronenmangel am Zentralatom, an dem wegen des induktiven Effektes der Fluoratome eine hohe positive Partialladung entsteht. Bietet man diesen Säuren keine LEWIS-Base an, so verringern einige von ihnen den Elektronenmangel durch intra- oder intermolekulare koordinative Bindungen zwischen dem Zentralatom und den Fluoratomen. Intramolekulare koordinative π-Bindungen liegen im BF3, SiF4 und PF3 vor (Kap. 2.4.8). Im Falle von flüssigem SbF5 beobachtet man dagegen eine intermolekulare Koordination, die durch brückenbildende Fluoratome charakterisiert ist. Während SbF5-Moleküle in der Gasphase bei hoher Temperatur die Geometrie einer trigonalen Bipyramide aufweisen, wurde in der flüssigen Phase unterhalb von 15°C (Schmp. 7°C) folgende cis-Verknüpfung von SbF6-Oktaedern nachgewiesen, durch die ketten- oder ringförmige Polymere entstehen: F F
F Sb F
F F
F Sb
F F
F Sb F
F F
F Sb
F F
F Sb F
F F
F F F F F Diese Struktur folgt aus dem 19F-NMR-Spektrum: Im Falle des polymeren SbF5 sind in jeder SbF5-Einheit drei Sorten nicht-äquivalenter F-Atome vorhanden, deren molekulare Umgebung unterschiedlich ist. Es handelt sich F
(a) um die F-Atome an der oberen und der unteren Spitze der Oktaeder, (b) um die einfach koordinierten F-Atome in den Basisebenen und (c) um die Brücken-F-Atome, die beiden Oktaedern angehören. Da die Intensität des Resonanzsignals der Zahl der beteiligten Fluoratome proportional ist, erwartet man folglich ein Spektrum bestehend aus drei Linien im Intensitätsverhältnis 2:2:1. Das entspricht genau dem experimentellen Befund. Wären die SbF6-Oktaeder in trans-Stellung verknüpft, würde man nur zwei Linien im Intensitätsverhältnis 4:1 finden. Im kristallinen Zustand ist SbF5 tetramer, wobei die (SbF5)4-Moleküle aus schwach verzerrten cis-verknüpften SbF6-Oktaedern bestehen. Analog sind die Strukturen der bei niedrigen Temperaturen gebildeten gasförmigen Oligomere Sb2F10 und Sb3F15 zu verstehen. In der 19F-NMR-Spektroskopie wird CCl3F als Referenzverbindung verwendet; die chemischen Verschiebungen variieren über einen sehr weiten Bereich von 900 ppm (bei 1H etwa 20 ppm). Die Stärke gängiger LEWIS-Säuren auf der Basis der Fluorid-Ionen-Affinität (FIA) ist aus Tabelle 10.1 zu ersehen. EXn ist die LEWIS-Säure in ihrem Standardzustand (Index „ss“ für standard state). Je größer die FIA, desto stärker ist die LEWIS-Säure EXn.
379
10.9 Phosphorane ¾rH FIA
¾
EXn + F(g.)
¾
[XnE F](g.)
Tab. 10.1 Stärke von LEWIS-Säuren auf der Basis der Fluorid-Ionen-Affinität (FIA). Falls nicht anders angegeben, beziehen sich die Werte auf die LEWIS-Säuren in der Gasphase. FIA-Werte in eckigen Klammern gelten für den Standardzustand der jeweiligen LEWIS-Säure (g: gasförmig; fl: flüssig; f: fest). LEWIS-Säure/Anion
FIA [kJ mol 1] –
As(OTeF5)5/[FAs(OTeF5)5] Sb4F20 (g)/[Sb4F21]– Sb3F15 (g)/[Sb3F16]– AuF5/[AuF6]– B(OTeF5)3/[FB(OTeF5)3]– Sb2F10 (g)/[Sb2F11]– 4 SbF5 (fl)/ [Sb4F21]– 3 SbF5 (fl)/ [Sb3F16]– 2 SbF5 (fl)/[Sb2F11]– AlI3 (g)/[FAlI3]– AlBr3 (g)/[FAlBr3]– SbF5 (g)/[SbF6]– AlF3 (g)/[FAlF3]– AlCl3 (g)/[FAlCl3]– GaI3 (g)/[FGaI3]–
593 584 582 556 550 549 [534] [528] [506] 499 494 489 467 457 454
LEWIS-Säure/Anion –
BI3 (g)/[FBI3] B(C6F5)3/[FB(C6F5)3]– GaBr3 (g)/[FGaBr3]– SbF5 (fl)/[SbF6]– BBr3 (g)/[FBBr3]– GaCl3 (g)/[FGaCl3]– GaF3 (g)/[FGaF3]– AsF5 (g)/[AsF6]– BCl3 (g)/[FBCl3]– PF5 (g)/[PF6]– AlI3 (s)/[FAlI3]– AlBr3 (f)/[FAlBr3]– BF3 (g)/[BF4]– AlCl3 (f)/[FAlCl3]–
FIA [kJ mol 1] 448 444 436 [434] 433 432 431 426 405 394 [393] [393] 338 [332]
Man erkennt, dass die FIA-Werte vom Aggregatzustand der Säure abhängen. Dies wird besonders im Falle von SbF5 deutlich, das bei Normalbedingungen flüssig ist und mit Fluoriden die Ionen [SbF6]–, [Sb2F11]–, [Sb3F16]– und [Sb4F21]– bildet. Aus dem polymeren SbF5 müssen also erst die entsprechenden Oligomere gebildet werden, wozu ein gewisser Enthalpiebetrag aufgewendet werden muss. Daher ist die FIA von n Äquivalenten flüssigem SbF5 um 43–55 kJ mol–1 geringer als die von gasförmigem SbnF5n.
10.9 Phosphorane Als Phosphorane bezeichnet man die Substitutionsprodukte des hypothetischen Hydrids PH5, das nach theoretischen Rechnungen trigonal-bipyramidal gebaut ist. Im PH5 können entweder einige oder alle H-Atome substituiert werden. Daher gehören genau genommen auch PF5 (Pentafluorphosphoran) und gasförmiges PCl5 (Pentachlorphosphoran) zu dieser Verbindungsklasse, nicht jedoch festes PCl5 oder PBr5, die als Salze mit tetraedrischen Kationen und oktaedrischen Anionen vorliegen. PH5 ist nicht beständig, da bei der Abspaltung von H2 die sehr starke H–H-Bindung entsteht, weswegen diese Reaktion exotherm und exergonisch (∆G°298 > 0) ist. Es gibt jedoch folgende Typen von kovalent gebundenen Phosphoranen (R = Organyl):
380
10 Phosphor und Arsen
PF5, RPF4, R2PF3, R3PF2 Fluorphosphorane
P(OR)5
R5P
Oxophosphorane
Organylphosphorane
PCl5, RPCl4, R2PCl3 Chlorphosphorane
Auch Aminogruppen R2N– können an das fünfwertige P-Atom gebunden sein. Des weiteren gibt es eine große Zahl gemischter Derivate. Die vielleicht einfachsten Vertreter sind die drei Fluorphosphorane HPF4, H2PF3 und H3PF2. Diese farblosen, gasförmigen Verbindungen werden aus wasserfreiem Hydrogenfluorid und einer P–H-Verbindung hergestellt:45 HPO(OH)2 + 4 HF
HPF4 + 3 H2O
H2PO(OH) + 3 HF
H2PF3 + 2 H2O
H2P PH2 + 4 HF
H3PF2 + [PH4][HF2]
Phosphonsäure Phosphinsäure Diphosphan
HPF4 kann auch aus PF5 und Me3SiH durch H/F-Austausch gewonnen werden, und H2PF3 entsteht bei der Reaktion von NaH2PO2 mit HSO3F:46 NaH2PO2 + 3 HSO3F
¾25°C
H2PF3 + NaHSO4 + H2S2O7
Bei der alkalischen Hydrolyse von HPF4 und H2PF3 entstehen wieder die Ausgangsprodukte bzw. deren Anionen. HPF4 zersetzt sich bei 25°C in irreversibler Reaktion langsam zu PF3 und HF. Das Phosphoran H2PF3 ist auch bei 100°C noch beständig. H3PF2 ist dagegen bei 25°C nur ca. 1 h haltbar. Die Halogenide des Phosphors dienen zur Synthese von organylsubstituierten Phosphoranen, wie folgende Reaktionen zeigen: PCl3
PhMgBr
Ph3P
PCl3 + RCl + AlCl3 2 R3P + SF4 2 PF5 + Ph4Sn
+PhI
+PhLi
[Ph4P]I ¾LiI
Ph5P
[RPCl3][AlCl4]
HF oder AsF3
RPF4
2 R3PF2 + Sf. PhPF4 + [Ph3Sn][PF6]
Phosphorane sind starke LEWIS-Säuren, die mit Donoren, wie tertiären Aminen oder Fluorid-Ionen zu 1:1-Addukten reagieren, in denen das P-Atom oktaedrisch koordiniert ist. Auch oktaedrisch koordinierte Anionen der Typen [PR6]– und [P(OR)6]– wurden hergestellt. Zu den Phosphoranen gehören auch die oben erwähnten Phosphanoxide, -sulfide und -selenide sowie die Phosphanimine R3P=NR, die aus primären Aminen und PCl5 zugänglich sind. Vom Arsen sind Verbindungen bekannt, die Arsorane, die den Phosphoranen entsprechen, wenngleich ihre Zahl wesentlich geringer ist.47 Sie enthalten Bindungen zwischen 45 46 47
R. Minkwitz et al., Inorg. Chem. 1989, 28, 4238 und 1998, 37, 4662 sowie J. Phys. Chem. 1989, 93, 6672. D. Mootz et al., Z. Naturforsch. B 1997, 52, 1051. R. Bohra, H. W. Roesky, Adv. Inorg. Chem. 1984, 28, 203.
10.10 Oxide des Phosphors und Arsens
381
As einerseits und C, N, O, S und/oder Halogenen andererseits. Als Beispiele seien genannt: AsF5, Pentaphenylarsen Ph5As und Arsensäureorthomethylester As(OMe)5. Nicht immer kann jedoch aus der Formel auf die Koordinationszahl 5 geschlossen werden. Beispielsweise liegt Me3AsBr2 als Salz [Me3AsBr]+Br– vor, während Me3AsCl2 eine kovalente Verbindung mit fünffach koordiniertem Arsenatom ist. Alle bisher strukturanalytisch oder spektroskopisch untersuchten Phosphorane und Arsorane enthalten trigonal-bipyramidal koordinierte Zentralatome, obwohl sich die Geometrie manchmal der einer quadratischen Pyramide annähert.48 An den Spitzen der Bipyramide befinden sich jeweils die elektronegativsten Substituenten. Die beim PF5 beschriebene Pseudorotation (Abschnitt 10.8.3) wurde auch bei anderen Phosphoranen nachgewiesen, z.B. beim Diethylaminotetrafluorphosphoran Et2NPF4, bei dem sich je zwei F-Atome in axialen und äquatorialen Positionen befinden. Bei Raumtemperatur sind die F-Atome jedoch NMR-spektroskopisch äquivalent. Beim Kühlen der Probe auf –85°C ändert sich das Spektrum durch Einfrieren der Preudorotation und die F-Atome sind nur noch paarweise äquivalent. Im Allgemeinen tritt keine Pseudorotation ein, wenn dadurch wie bei H3PF2 oder Me3PF2 die weniger elektronegativen Substituenten in axiale Positionen gelangen würden.
10.10 Oxide des Phosphors und Arsens49 Phosphor verbrennt im O2-Strom bei vermindertem Druck zu P4O6 und bei O2-Überschuss zu P4O10. Letzteres ist das bei weitem wichtigste Oxid des Phosphors. Daneben gibt es aber auch noch die Zwischenglieder P4O7, P4O8 und P4O9 sowie polymeres P2O5 und das Ozonid P4O18. Vom Arsen kennt man analoge Oxide, von denen As2O3 und As2O5 die größte Bedeutung besitzen. Im Gegensatz zu den durchweg endothermen Stickstoffoxiden sind die Phosphor- und Arsenoxide exotherme Verbindungen, d.h. ihre Bildungsenthalpien sind negativ.
10.10.1 Phosphor(III)-oxid P4O6 wird durch Verbrennen von P4 im Luftstrom in einer Strömungsapparatur hergestellt, wobei auf Sauerstoffmangel zu achten ist. Von dem gleichzeitig entstehenden höheren Oxiden einschließlich P4O10 und dem verdampften P4 kann das Produkt durch Sublimation befreit werden, nachdem P4 durch UV-Bestrahlung in nichtflüchtigen roten Phosphor überführt wurde. P4O6 ist bei Raumtemperatur farblos und wachsweich (Schmp. 24°C). Es besteht in allen Phasen und in Lösung aus käfigartigen P4O6-Molekülen. Diese leiten sich formal vom P4-Tetraeder dadurch ab, dass alle sechs PP-Bindungen durch gewinkelte POP-Brücken ersetzt werden: 48 49
Zur Stereochemie am fünf- bzw. sechsfach koordiniertem P-Atom siehe W. S. Sheldrick, Top. Curr. Chem. 1978, 73, 1. J. Clade, F. Frick, M. Jansen, Adv. Inorg. Chem. 1994, 41, 327. B. T. Sterenberg, L. Scoles, A. J. Carty, Coord. Chem. Rev. 2002, 231, 183.
382
10 Phosphor und Arsen
O P
P O O
O
d (PO) = 164 pm (gasf.)
P
Winkel POP = 126.4°
Winkel OPO = 99.8° P O O Die vier P-Atome bilden nach wie vor einen Tetraeder (Molekülsymmetrie Td). P4O6 ist an der Luft bei 25°C beständig. Es reagiert mit überschüssigem kaltem Wasser zu Phosphonsäure: P 4 O6 + 6 H 2 O
4 H3PO3
Danach ist P4O6 das Anhydrid der Phosphonsäure. Mit heißem Wasser tritt dagegen Disproportionierung ein, wobei unter anderem PH3, H3PO4 und elementarer Phosphor entstehen. In jüngster Zeit gelang die Synthese und vollständige Charakterisierung des Ozonids P4O18 durch Umsetzung von P4O6 mit O3 im Sinne einer [1+3]-Cycloaddition:50 P4O18
Gegenüber dem weiter unten behandelten P4O10 sind bei dieser Struktur alle terminalen O-Atome durch O3-Einheiten ersetzt, die mit den P-Atomen viergliedrige Ringe bilden. P4O18 zersetzt sich bei –35°C langsam zu P4O10 und O2.
10.10.2 Phosphor(V)-oxid In überschüssigem Sauerstoff verbrennt Phosphor unter außerordentlicher Wärmeentwicklung zu so genanntem Phosphorpentoxid P2O5 oder P4O10. Dieses Oxid wird auch technisch durch Verbrennung von P4 hergestellt: P4(g.) + 5 O2
P4O10(g.)
° = ¾2904 kJ mol¾1 (P4O10) fH298
Zur Entfernung niederer Phosphoroxide wird P4O10 bei Rotglut im O2-Strom sublimiert. Dabei erhält man farblose, hexagonale Kristalle, die aus P4O10-Molekülen bestehen. Diese leiten sich vom P4O6 dadurch ab, da jedes P-Atom zusätzlich ein exocyclisches O-Atom trägt. Durch Elektronenbeugung wurden für das gasförmige Molekül folgende Parameter ermittelt: 50
M. Meisel et al., Angew. Chem. 2003, 42, 2484.
383
10.10 Oxide des Phosphors und Arsens
O P
O
O
O P
O O
O
P O P O O
d (P O) = 143 pm d (P O) = 160 pm Winkel P O P: 123.5° Winkel O P O: 116.5° Winkel O P O: 101.6°
Die charakteristische Eigenschaft von P4O10 ist seine heftige Reaktion mit Wasser; P4O10 ähnelt darin dem SO3. Die Hydrolyse verläuft in Stufen über Tetrametaphosphorsäure H4P4O12 und Diphosphorsäure H4P2O7 zu Orthophosphorsäure H3PO4: +2 H2O
P4O10
H4P4O12
+2 H2O
2 H4 P 2 O 7
+2 H2O
4 H3PO4
In der ersten Stufe werden zwei der sechs POP-Brücken des P4O10 hydrolysiert, wobei die cyclische Metaphosphorsäure (HPO3)4 entsteht: O O
H2O
O
H2O
P O
O
P O P O O P O H2O O
HO
O P HO O O
P
O
O OH P O O P O OH H2O
2
O
P
O
P
O
HO OH HO OH
Mit flüssigem Wasser reagiert P4O10 explosionsartig. Mit wenig Wasser, z.B. mit Wasserdampf oder in schwach wasserhaltigen indifferenten Lösungsmitteln, zerfließt P4O10 zu einem sirupösen Gemisch von Polyphosphorsäuren. P4O10 ist daher eines der wirksamsten Trockenmittel für Gase und Lösungsmittel. Es kann darüber hinaus auch zur Wasserabspaltung aus Verbindungen benutzt werden. So erhält man aus HNO3 das Anhydrid N2O5, aus HClO4 entsprechend Cl2O7, aus H2SO4 entsteht SO3, und aus Malonsäure erhält man Kohlensuboxid C3O2 (Tricarbondioxid). Erhitzt man P4O10 längere Zeit im abgeschmolzenen Rohr auf 450°C, entsteht die thermodynamisch stabile orthorhombische Modifikation, die aus Schichten von P6O6-Ringen aufgebaut ist, wobei die PO4-Tetraeder jeweils über drei Ecken miteinander verknüpft sind, und zwar ähnlich wie in den isoelektronischen Schichtsilicaten (Kap. 8.8.2).51 Industriell wird P4O10 zur Herstellung reiner (thermischer) Phosphorsäure, als wasserentziehendes Mittel sowie zur Synthese von Phosphorsäureestern verwendet, wobei entweder Ether oder Alkohole mit dem Oxid umgesetzt werden: P4O10 + 6 Et2O
4 PO(OEt)3
P4O10 + 6 ROH
2 ROPO(OH)2 + 2 (RO)2PO(OH)
Phosphorsäuretriester werden als schwerentflammbare Hydraulikflüssigkeiten, als Schmiermitteladditive, als flammhemmende Weichmacher für PVC sowie als Extraktionsmittel für Metall-Ionen eingesetzt. 51
D. Stachel, I. Svoboda, H. Fuess, Acta Cryst. C 1995, 51, 1049.
384
10 Phosphor und Arsen
Phosphor(III,V)-oxide Die beiden Oxide P4O6 und P4O10 sind die Endglieder einer Reihe, die formal durch schrittweises Hinzufügen von terminalen O-Atomen zum P4O6-Molekül entsteht: P4O6 (Td)
P4O7 (C3v)
P4O8 (C2v)
P4O9 (C3v)
P4O10 (Td)
Die Phosphor(III,V)-oxide entstehen, wenn man P4O6 entweder thermisch disproportioniert oder stöchiometrisch oxidiert. Auch bei der Reduktion von P4O10 mit rotem Phosphor entstehen derartige Oxide: 2 P 4O 6 + O 2 P4O10 + Prot
+ CCl4
2 P4O7
150¾450°C
P4O8, P4O9
Die letztgenannte Reaktion wird unter N2 im Bombenrohr durchgeführt. Je nach den Versuchsbedingungen erhält man Gemische bzw. Mischkristalle der verschiedenen Oxide, die durch Sublimation getrennt werden können. Einkristallstrukturanalysen haben gezeigt, dass P4O9, P4O8 und P4O7 dem P4O10 analoge Molekülstrukturen aufweisen, wobei ein, zwei bzw. drei terminale O-Atome des P4O10-Moleküls fehlen.52 Die verschiedenen Oxide können durch ihre 31P-NMR-Spektren nachgewiesen werden.
10.10.3 Arsenoxide Arsen verbrennt an der Luft oder in reinem O2 zu Arsen(III)-oxid, das man auch durch Hydrolyse von AsCl3 mit wenig Wasser herstellen kann: 2 As +
3 2
O2
2 AsCl3 + 3 H2O
As2O3 As2O3 + 6 HCl
Arsentrioxid ist die wichtigste Arsenverbindung, da es das Ausgangsprodukt für die Synthese vieler anderer Verbindungen ist. As2O3 löst sich in heißem Wasser als Arsonsäure H3AsO3, kristallisiert aber beim Erkalten zum größten Teil in Form kubischer As4O6Kristalle wieder aus (Löslichkeit bei 25°C: 21.6 g L–1). Auch in Nitrobenzol und in der Gasphase (beim Sublimieren) liegen diese dem P4O6 analogen Moleküle vor (Symmetrie Td). Erhitzt man As4O6 auf Temperaturen oberhalb 200°C, wandelt es sich in polymeres As2O3 um, das monoklin kristallisiert. Oberhalb 260°C und unter erhöhtem O2-Druck entsteht polymeres AsO2, ein gemischt-valentes Oxid. Der aus einem Schwamm isolierte Naturstoff Arsenicin A ist formal ein Derivat von As4O6, in dem drei O-Atome durch isolobale CH2-Gruppen ersetzt wurden. Löst man Arsen oder As2O3 in konzentrierter Salpetersäure, erhält man eine Lösung von Arsensäure H3AsO4, die beim Eindampfen und vorsichtigen Entwässern als Hydrat 2H3AsO4·H2O erhalten wird, die aber beim Erwärmen leicht in Arsen(V)-oxid übergeht: 2 H3AsO4
52
300°C
As2O5 + 3 H2O
S. Strojek, M. Jansen, Z. Naturforsch. B 1997, 52, 906.
385
10.11 Sulfide des Phosphors und Arsens
As2O5, das beim weiteren Erhitzen Sauerstoff abspaltet, löst sich in Wasser nur langsam, wobei wieder H3AsO4 entsteht. Die polymere Struktur dieses Oxids besteht aus AsO4Tetraedern und AsO6-Oktaedern, die über gemeinsame Ecken zu Bändern verknüpft sind. As2O5 und P2O5 bilden miteinander Mischkristalle.
10.11
Sulfide des Phosphors und Arsens
Roter und weißer Phosphor reagieren mit Schwefel beim Erhitzen je nach Molverhältnis unter Gleichgewichtsbedingungen zu den Sulfiden P4S3, P4S5, P4S6, P4S7, P4S9 und P4S10. Daneben gibt es zahlreiche weitere Phosphorsulfide, die auf andere Weise hergestellt werden.53 Diese Verbindungen, die je nach Polarität der Moleküle mehr oder weniger gut in CS2 löslich sind, kristallisieren in Molekülgittern (gelbe bis blaßgelbe Kristalle). Die Molekülstrukturen sind bekannt. P4S10 wird technisch im 100 kt-Maßstab aus den flüssigen Elementen bei Temperaturen oberhalb von 300°C hergestellt. Die Struktur von P4S10 entspricht der von P4O10, d.h. es gibt verbrückende und terminale S-Atome. Im P4S9 fehlt eines dieser endständigen S-Atome (vgl. P4O9). Die Strukturen der wichtigsten Sulfide sind in Abbildung 10.5 dargestellt.
P4S10
P4 S 7
α-P4 S 4
53
P4 S 9
α-P4 S 5
β-P4 S 4
β-P4 S 5
P4 S 3
Abb. 10.5 Molekülstrukturen der wichtigsten Phosphorsulfide (leere Kreise: Phosphor).
M. E. Jason, T. Ngo, S. Rahman, Inorg. Chem. 1997, 36, 2633 und 2641. R. Blachnik et al., Z. Anorg. Allg. Chem. 1995, 621, 1637 und 1999, 625, 1966. T. Bjorholm, H. J. Jakobsen, J. Am. Chem. Soc. 1991, 113, 27.
386
10 Phosphor und Arsen
Wie bei den Phosphoroxiden liegen auch in den Sulfiden heterocyclische Strukturen vor, die thermisch sehr beständig sind. Dies gilt selbst für den homocyclischen P3-Ring im P4S3, der dem im P4-Molekül entspricht. P4S3 kann unzersetzt destilliert werden (Schmp. 174°C; Sdp. 408°C). Isoelektronisch mit P4S3 ist das Ion [P7]3–, das im Salz Sr3P14 vorliegt und das eine dem P4S3 analoge Struktur aufweist. P4S5 zersetzt sich beim Erhitzen zu P4S3 und P4S7 (Schmp. 308°C). P4S10 (Schmp. 288°C) zersetzt sich beim Schmelzen teilweise zu P4S9 und Schwefel; alternativ kann P4S10 mit PCl3 zu P4S9 (und PSCl3) entschwefelt werden. Auch bei den anderen Phosphorsulfiden findet in der Schmelze eine Gleichgewichtseinstellung zwischen verschiedenen Molekülsorten statt, was man mittels 31P-NMR-Spektroskopie verfolgen kann. Insgesamt sind 19 binäre P-Sulfide bekannt. Phosphorarme P-S-Schmelzen neigen beim Abkühlen zur Glasbildung.54 Phosphorsulfide sind leicht entzündlich und müssen daher bei höheren Temperaturen unter Schutzgas gehandhabt werden. P4S10 reagiert mit Wasser zu H3PO4 und H2S, mit Alkoholen zu H2S und Di-estern der Dithiophosphorsäure HS–PS(OR)2, die auf diese Weise industriell hergestellt werden: P4O10 + 8 ROH
4 (RO)2P(S)SH + 2 H2S
S
COOEt COOEt EtO EtO
P
OMe
Malathion
Cl
S
S
P
MeO
(MeO)2P(S)SH +
O
Cl N
Chlorpyriphos
Cl
MeO
COOEt COOEt
S P
MeO
O
NO2
Parathion
Die Ester der Dithiophosphorsäure dienen zur Herstellung von Insektiziden wie Malathion, als Flotationshilfsmittel zur Trennung von Erzen sowie als Schmierölzusatz. Malathion (auch Carbafos, Maldison, Mercaptothion) ist das in USA am häufigsten eingesetzte Insektizid; eng verwandt mit diesen Verbindungen sind auch die oben gezeigten Thiophosphate Parathion und Chlorpyriphos. Diese Verbindungen binden irreversibel an das Enzym Cholinesterase. P4S10 ist auch ein wichtiges Schwefelungsreagenz in der organischen Synthese zur Umwandlung von Carbonyl- in Thiocarbonylverbindungen. Hierbei spielt die extreme Oxophilie des P(V) eine Rolle. Für diesen Zweck wird oft auch LAWESSON’s Reagenz (MeO–C6H4–PS2)2 eingesetzt, das durch Reaktion von P4S10 mit Anisol hergestellt wird und das einen viergliedrigen P2S2-Ring als zentrale Struktureinheit enthält.55 Wird P4S3 bei 20°C in CS2 mit I2 behandelt, entsteht durch Öffnung einer PP-Bindung das Halogenid β-P4S3I2, das sich bei 125°C in das isomere α-P4S3I2 umlagert. Diese Diiodide reagieren mit (Me3Sn)2S zu α- bzw. β-P4S4 und Me3SnI. 54 55
M. Tullius, D. Lathrop, H. Eckert, J. Phys. Chem. 1990, 94, 2145. T. Ozturk, E. Ertas, O. Mert, Chem. Rev. 2007, 107, 5210.
387
10.12 Oxosäuren von Phosphor und Arsen und deren Derivate
Erhitzt man P4O6 mit S8 oder P4O10 mit P4S10 erhält man verschiedene Oxidsulfide des Phosphors, deren Strukturen denen der Oxide entsprechen, wobei terminale oder verbrückende O-Atome teilweise durch Schwefel ersetzt sind.56 Elementares Arsen reagiert mit Schwefel zu den Verbindungen As4S3, As4S4, As2S3 und As2S5. Die Sulfide As4S4 (Realgar) und As2S3 (Auripigment) kommen als Minerale vor. As4S3 und As4S5 entstehen auch beim Fällen wässriger salzsaurer As(III)- bzw. As(V)-Lösungen mit H2S. As4S3 besteht aus P4S3-analogen Molekülen. As4S4 enthält ebenfalls käfigartige Moleküle, die den Molekülen des S4N4 entsprechen (Kap. 12.13), wobei jedoch die N-Atome des S4N4 durch S-Atome und die S-Atome des S4N4 durch As ersetzt sind. As2S3 kristallisiert monoklin und ist wie das monokline As2O3 polymer.
10.12 Oxosäuren von Phosphor und Arsen und deren Derivate Die Sauerstoffsäuren des Phosphors und ihre Salze, Ester und sonstigen Derivate sind die wichtigsten Phosphorverbindungen. Die Vielfalt dieser Verbindungsklasse ist außerordentlich groß. Daher erscheint es zweckmäßig, zunächst die Strukturelemente zu betrachten, aus denen die einzelnen Oxo-, Thio- und Halogenosäuren aufgebaut sind, um im Anschluss daran die Eigenschaften und Reaktionen entsprechender Verbindungen zu behandeln.
10.12.1 Oxosäuren mit einem P-Atom Alle Oxosäuren enthalten die Gruppe P–OH, die die sauren Eigenschaften bedingt, da sie mit Wasser nach folgendem Schema reagiert: >P OH + H2O
>P O ¾ + [H3O]+
Daneben enthalten alle Oxosäuren terminale O-Atome und gelegentlich auch P–H-Gruppen. Als Beispiele seien die drei wichtigsten Monophosphorsäuren genannt: OH O
P
OH
OH OH
OH Orthophosphorsäure H3PO4
O
P
O
H
H
H
OH Phosphonsäure H3PO3
P
Phosphinsäure H3PO2
Im Gegensatz zur PO–H-Bindung reagiert die P–H-Bindung mit Wasser nicht zu Oxonium-Ionen, d.h. die an das P-Atom gebundenen H-Atome können in Wasser nicht titriert werden. H3PO3 ist daher in Wasser eine zweiprotonige und H3PO2 eine einprotonige Säure, was man auch durch folgende Schreibweise zum Ausdruck bringt: H2[HPO3] für Phosphonsäure und H[H2PO2] für Phosphinsäure. 56
J. Clade, F. Frick, M. Jansen, Adv. Inorg. Chem. 1994, 41, 327.
388
10 Phosphor und Arsen
Die Gruppen P–OH, P=O und P–H und damit die genannten Säuren können auf folgende Weise hergestellt werden: (a) Protonierung von Anionen, z.B.: Ca3(PO4)2 + 3 H2SO4
2 H3PO4 + 3 CaSO4
(b) Hydrolyse von Halogeniden: POCl3 + 3 H2O
H3PO4 + 3 HCl
PCl3 + 3 H2O
H3PO3 + 3 HCl
(c) Hydrolyse von Phosphoroxiden: P4O10 + 6 H2O
4 H3PO4
P 4 O6 + 6 H 2 O
4 H3PO3
Ist am P-Atom wie beim PCl3 oder P4O6 ein nichtbindendes Elektronenpaar vorhanden, isomerisiert die bei der Hydrolyse entstehende Gruppe P–OH wie folgt: >P OH
H >P O
Daher erhält man aus PCl3 nicht die Phosphorigsäure P(OH)3, sondern Phosphonsäure HPO(OH)2. Die Gruppe P–H entsteht auch bei der Disproportionierung von weißem Phosphor in wässrig-alkalischer Lösung nach dem Schema: >P P< + H2O
[OH]¾
z. B.: P4 + 3 [OH]¾ + 3 H2O
H >P H + O P< PH3 + 3 [H2PO2]¾
Diese Reaktion entspricht der Disproportionierung von Cl2 zu HCl und HOCl und von S8 zu H2S und Thiosulfat in alkalischer Lösung. In allen drei Fällen findet ein nukleophiler Abbau der Element–Element-Bindungen durch die Hydroxid-Ionen statt. Orthophosphorsäure H3PO4 und Orthophosphate Phosphorsäure, die bei weitem wichtigste Phosphorverbindung, wird in riesigen Mengen produziert, die von allen anorganischen Mineralsäuren nur noch von der Schwefelsäure übertroffen werden. H3PO4 wird technisch aus natürlich vorkommendem Fluorapatit bzw. Phosphorit Ca5[(PO4)3F] hergestellt. Das Phosphat wird entweder mit verdünnter Schwefelsäure aufgeschlossen (Gewinnung von Aufschlussphosphorsäure oder Nassphosphorsäure) oder mit Koks zu weißem Phosphor reduziert, der mit überschüssiger Luft zu P4O10 verbrannt wird, bei dessen vollständiger Hydrolyse dann H3PO4 entsteht (thermische Phosphorsäure; siehe Abschnitt 10.10). Thermische Phosphorsäure hat Lebensmittelqualität und wird daher in der Getränkeindustrie als Säuerungsmittel für Limonaden sowie für weitere Lebensmittel eingesetzt. Bei weitem am wichtigsten ist allerdings die Nassphosphorsäure, die wie folgt produziert wird:
389
10.12 Oxosäuren von Phosphor und Arsen und deren Derivate
Ca5(PO4)3F + 5 H2SO4 + 2 H2O
3 H3PO4 + 5 (CaSO4.2 H2O)
+ HF
Das Nebenprodukt Gips wird abfiltriert. Beim Eindampfen der zunächst verdünnt anfallenden Säure reagiert HF teilweise mit dem im Mineral enthaltenen SiO2 zu SiF4, das zusammen mit HF entweicht und zu verschiedenen Fluorverbindungen weiterverarbeitet wird. Man erhält auf diese Weise 85–90 %ige wässrige H3PO4-Lösungen. Wasserfreies H3PO4 kann durch Eindampfen der wässrigen Lösung im Vakuum bei 80°C erhalten werden und bildet farblose Kristalle (Schmp. 42°C), bestehend aus H3PO4-Molekülen, die durch Wasserstoffbrücken zu Schichten verbunden sind. Auch in wässriger Lösung ist Phosphorsäure durch H-Brücken vernetzt. Daher sind konzentrierte H3PO4-Lösungen sirupartig viskos. H3PO4 ist in Wasser eine dreiprotonige mittelstarke Säure (Tab. 5.5). Von ihr leiten sich Salze mit den Formeln M[H2PO4] (Dihydrogenphosphate), M2[HPO4] (Hydrogenphosphate) und M3[PO4] (Orthophosphate) ab. Bei physiologischen pH-Werten liegt Phosphat als [HPO4]2– vor. Orthophosphate sind von fast allen metallischen Elementen bekannt. Sie enthalten das tetraedrische Ion [PO4]3–, dessen Elektronenstruktur der der isoelektronischen Anionen [SiO4]4–, [SO4]2– und [ClO4]– entspricht (Kap. 2.6). Das technisch wichtigste Phosphat ist Ca[H2PO4]2, das im Gegensatz zum Calciumorthophosphat wasserlöslich ist und daher unter dem Handelsnamen „Superphosphat“ als Düngemittel und für die Tierernährung eingesetzt wird. Man erzeugt Superphosphat durch Aufschluss von Apatit oder Phosphorit mit H2SO4 analog der oben erwähnten Herstellung von H3PO4, jedoch mit einem Molverhältnis von Phosphorit zu Säure von 2:7. Der entstehende Gips verbleibt im Produkt. Setzt man für den Aufschluss jedoch H3PO4 ein, erhält man ein Gips-freies Produkt (Tripelphosphat), d.h. ein Düngemittel mit besonders hohem P-Gehalt. Wird für den Aufschluss Salpetersäure verwendet, entsteht ein kombinierter P-N-Dünger. Auch [NH4]2[HPO4], hergestellt aus NH3 und H3PO4, ist ein wichtiger Bestandteil von Düngemitteln. Ein wichtiger Prozess ist die Fällung von Orthophosphat aus Brauchwasser, um die Eutrophierung von Gewässern zu verhindern. Dafür werden Eisen(III)-salze verwendet, die das bei einem pH-Wert von 6.0 besonders schwer lösliche FePO4 ergeben, das abfiltriert und in der Landwirtschaft als Phosphordünger verwendet wird. Ester der Orthophosphorsäure werden außer durch Reaktion von P4O10 mit Alkoholen oder Phenolen auch durch Kondensation von Alkoholen mit POCl3 und eventuell nachfolgender Hydrolyse hergestellt: Cl O P Cl Cl
+ ROH ¾ HCl
OR O
P
Cl Cl
+ 2 H2O ¾ 2 HCl
+ ROH ¾ HCl
OR O P
OR Cl + H2O ¾ HCl
OR
OR O P
OH OH
O P
OR OH
+ ROH ¾ HCl
OR O
P
OR OR
390
10 Phosphor und Arsen
Phosphorsäureester spielen bei biologischen Prozessen eine bedeutende Rolle, beispielsweise Adenosintriphosphat ATP als Energiespeicher: NH2
ATP = Adenosintriphosphat
¾O
P
HO
O
P ¾O
N
O
O
O
O
P ¾O
O
O H
OH HO
Triphosphat
N
N N
H
Ribose
Adenin
Die Nukleinsäuren DNA und RNA sind Diester der Phosphorsäure. Phosphonsäure H3PO3 H3PO3 wird durch vorsichtige Hydrolyse von PCl3 mit konzentrierter Salzsäure hergestellt und kann durch Eindampfen der Lösung kristallin erhalten werden (Schmp. 70°C). Industriell wird PCl3 bei 190°C mit Dampf hydrolysiert. Die Kristallstruktur ist durch starke intermolekulare OH···O-Wasserstoffbrücken gekennzeichnet. H3PO3 ist in Wasser sehr leicht löslich und dissoziiert in zwei Stufen, so dass Hydrogenphosphite MH[HPO3] und Phosphite M2[HPO3] existieren. H3PO3 und seine Ionen sind wie alle Verbindungen mit PH-Bindungen oder mit Phosphor in der Oxidationsstufe +3 starke Reduktionsmittel. Beim Erhitzen disproportioniert die Säure nach 4 H3PO3
PH3 + 3 H3PO4
Diese Reaktion ist zur Herstellung von Phosphan geeignet. Phosphinsäure H3PO2 Weißer Phosphor disproportioniert in warmer Ba[OH]2-Lösung gemäß der Gleichung: 2 P4 + 3 Ba(OH)2 + 6 H2O
3 Ba[H2PO2]2 + 2 PH3
Aus dem Bariumphosphinat kann die Säure mit H2SO4 oder durch Kationenaustausch freigesetzt werden. H3PO2 ist durch Eindampfen der wässrigen Lösung kristallin isoliert worden (Schmp. 26°C). Phosphinsäure ist eine mittelstarke, einprotonige Säure und ein starkes Reduktionsmittel. Sie disproportioniert im wasserfreien Zustand bei 140°C zu PH3 und H3PO3, das sich dann seinerseits zu PH3 und H3PO4 zersetzt. Diese Disproportionierungen entsprechen denen der Chlor- und Brom-Sauerstoffsäuren bzw. ihrer Salze. Natriumphosphinat Na[H2PO2], früher als Hypophosphit bezeichnet, wird in der Galvanotechnik als Reduktionsmittel eingesetzt.
391
10.12 Oxosäuren von Phosphor und Arsen und deren Derivate
10.12.2 Kondensierte Phosphorsäuren Kondensierte Phosphorsäuren und Phosphate57 enthalten das Strukturelement P–O–P, das bei Kondensationsreaktionen entsteht: P OH + HO P P OH + Cl P
P O P + H2O P O P + HCl
Die kondensierten Phosphate entsprechen den Polysulfaten (S–O–S) und den Polysilicaten (Si–O–Si). Wie bei diesen kann die Kondensation zu ketten- oder ringförmigen Strukturen führen. Im Folgenden werden nur kondensierte Phosphor(V)-säuren betrachtet. Der Grundkörper ist die Diphosphorsäure H4P2O7, die beim Erhitzen von H3PO4 auf Temperaturen über 200°C sowie bei der Kondensation von H3PO4 mit POCl3 entsteht: HO 2 H3PO4
¾ H2O
OH
HO P
O
P OH
180°C ¾ HCl
5 3
H3PO4 +
1 3
POCl3
O O Diphosphate erhält man durch thermische Wasserabspaltung von Hydrogenphosphaten: 2 M2HPO4
M 4 P 2O 7 + H 2 O
Höher kondensierte Phosphate werden beim Entwässern von Gemischen aus Hydrogenphosphat und Dihydrogenphosphat oder von reinen Dihydrogenphosphaten gebildet: 2 Na2HPO4 + NaH2PO4
Na5P3O10 + 2 H2O
n NaH2PO4
NanPnO3n + n H2O
Dabei entstehen aus den [HPO4]2–-Ionen einbindige Endgruppen und aus den [H2PO4]–Ionen zweibindige Kettenglieder. Wird bei der Kondensation auch noch H3PO4 zugesetzt, können außerdem dreibindige Verzweigungseinheiten entstehen: O
O O P
O
O Endgruppe (I)
O
P
O O
O P
O
O
O
Kettenglied (II)
Verzweigung (III)
Enthält ein kondensiertes Phosphat die Gruppen I und II, besteht es also aus kettenförmigen Anionen, nennt man es ein Polyphosphat, z.B. Natriumtriphosphat Na5[P3O10]. Die allgemeine Formel der Polyphosphate ist Mn+2[PnO3n+1] (M = einwertiges Metall-Ion). Bestehen die Anionen dagegen nur aus den Kettengliedern II, was bedeutet, dass sie ringförmig gebaut sind, liegt ein Metaphosphat vor, z.B. Na3[P3O9]. Die allgemeine Formel der Metaphosphate ist Mn[PnO3n]. Enthalten die Anionen eines kondensierten Phosphates unter anderem die Verzweigungsgruppe III, so spricht man von einem Ultraphosphat. Die 57
J. P. Attfield, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 7, 4240.
392
10 Phosphor und Arsen
Baugruppen I–III können durch ihre unterschiedlichen chemischen Verschiebungen im 31P-Kernresonanzspektrum nachgewiesen werden. Die POP-Brücken werden von Wasser zu POH-Gruppen hydrolysiert, weswegen kondensierte Phosphate(V) in wässiger Lösung langsam bis zur Orthophosphorsäure abgebaut werden. Bei vorsichtiger Hydrolyse kann man aber Zwischenprodukte isolieren. So erhält man bei der Hydrolyse von P4O10 mit Eiswasser in über 70 %iger Ausbeute die cyclische Tetrametaphosphorsäure H4P4O12 (Abschnitt 10.10.2), deren Na-Salz isoliert wurde. Metaphosphate sind die Salze der polymeren Säuren (HPO3)n, wobei n Werte von 3 an aufwärts annehmen kann. Das oben bereits erwähnte Natriumtrimetaphosphat Na3[P3O9] enthält das cyclische, sesselförmige Anion [P3O9]3–, das mit dem trimeren Schwefeltrioxidmolekül S3O9 isoelektronisch ist: O O O
P O
O
P O
O P
O
O Die Valenzwinkel an den Brücken-O-Atomen, die je zwei PO4-Tetraedern gemeinsam angehören, betragen im [P3O9]3– etwa 127°. Sie können in Polyphosphaten allgemein Werte zwischen 120° und 180° annehmen. Niedermolekulare Polyphosphate wurden früher in großem Umfang als Wasserenthärter verwendet, da die Anionen mit Metall-Ionen wie Ca2+ und Mg2+ lösliche Chelatkomplexe bilden. Inzwischen wurden die Polyphosphate in Waschmitteln weitgehend durch Zeolithe ersetzt. Polyphosphate werden auch zwecks Konservierung in der Lebensmitteltechnologie (Zusatz zu Fleisch, kondensierter Milch und Schmelzkäse), in der Leder-, Textil- und Papierindustrie sowie als Bestandteil von Zahnpasten eingesetzt.
10.12.3 Peroxophosphorsäuren Ersetzt man in der Orthophosphorsäure formal eine oder zwei OH-Gruppen durch OOHGruppen, erhält man Monoperoxophosphorsäure H3PO5 bzw. Diperoxophosphorsäure H3PO6. Beide Verbindungen können durch Perhydrolyse von P4O10, d.h. durch Reaktion mit H2O2/H2O-Gemischen, hergestellt werden: P OH + H2O2
¾20°C
P OOH + HO P
Peroxodiphosphate mit dem Anion [P2O8]4– entstehen in Analogie zur Synthese der Peroxodisulfate [S2O8]2– auch bei der anodischen Oxidation von Phosphat-Ionen: 2 [PO4]3¾
[P2O8]4¾ + 2 e¾
Das als K4[P2O8] isolierbare Anion enthält eine P–O–O–P-Brücke.
393
10.12 Oxosäuren von Phosphor und Arsen und deren Derivate
10.12.4 Thiophosphorsäuren Ersetzt man in den Oxosäuren des Phosphors die O-Atome formal durch Schwefelatome, gelangt man zu den Thiosäuren. Während die freien Thiosäuren unbeständig sind, kann man Salze mit entsprechenden Anionen in reiner Form isolieren: O O
P
O O
O
S
P
S S
S
O
P
S S
S
S
P
S
S
Dithiophosphat Trithiophosphat Tetrathiophosphat Monothiophosphat Alle vier Ionen können durch alkalische Hydrolyse bzw. Thiolyse von P4S10 hergestellt werden:
P4S10 + 6 Na2S
¾ H2O
P4S10 + 12 NaOH
4 Na3[PS4] 2 Na3[PO2S2] + 2 Na3[POS3] + 6 H2O
Auch kondensierte Thiophosphate sind bekannt. Beispielsweise reagiert P4S10 mit flüssigem Ammoniak zu [NH4]3[P3S9], einem cyclo-Nonathiotriphosphat.
10.12.5 Halogeno- und Amidophosphorsäuren Weitere Derivate der Phosphorsäuren leiten sich von diesen dadurch ab, dass man formal eine oder mehrere OH-Gruppen durch andere einwertige Reste wie F, Cl, Br, NH2, CN oder N3 ersetzt. Schließlich sei erwähnt, dass auch mehrere Phosphorsäuren mit PP-Bindungen (niedere Phosphorsäuren) bekannt sind.
10.12.6 Oxo- und Thiosäuren des Arsens und ihre Salze Wichtige Verbindungen dieser Gruppe sind die Arsenite M[AsO2] bzw. M3[AsO3] (Salze der unbeständigen Arsonsäure H3AsO3) Arsenate M[H2AsO4], M2[HAsO4] und M3[AsO4] (Salze der Arsensäure H3AsO4) Thioarsenite M3[AsS3] (Salze der Trithioarsonsäure) Thioarsenate M3[AsS4] (Salze der Tetrathioarsensäure) Als einzige beständige Säure dieser Salze kann die Arsensäure als Hydrat H3AsO4·H2O hergestellt werden, und zwar durch Oxidation von As2O3 mit konzentrierter Salpetersäure und Eindampfen der Lösung unterhalb 30°C. Diese Säure ist ungefähr so stark wie Phosphorsäure (Tab. 5.5) und ein mäßig starkes Oxidationsmittel. Dagegen ist die sehr schwache Arsonsäure H3AsO3 (pKa = 9.2) nur als wässrige Lösung von As2O3 bekannt, in der die Verbindung als As(OH)3 vorliegt. Von ihr leiten sich die Orthoarsenite wie Ag3[AsO3] und die polymeren Metaarsenite M[AsO2] ab, z.B. K[AsO2].
394
10 Phosphor und Arsen
Thioarsenite und -arsenate erhält man durch Auflösen von As2S3 bzw. As2S5 in wässrigen Sulfidlösungen, z.B. in Na2S-Lösung. Die freien Säuren dieser Salze, die man aus diesen mit HCl herstellen kann, zersetzen sich schon bei tiefen Temperaturen zu H2S und dem entsprechende Arsensulfid. Auch zahlreiche Seleno- und Telluroarsenite sind bekannt.58
10.13 Phosphor(V)-nitrid und Nitridophosphate Bei der Ammonolyse von PCl5 oder (PCl2N)3 bei 780°C entsteht ein farbloses Gemisch aus α- und β-P3N5: 3 PCl5 + 5 NH4Cl
P3N5 + 20 HCl
Phasenrein entsteht P3N5 bei der Pyrolyse von [P(NH2)4]I: 3 [P(NH2)4]I
825°C
â-P3N5 + 3 NH4I + 4 NH3
α-P3N5 ist ein in gängigen Lösungsmitteln sowie heißen Säuren und Laugen unlösliches beigefarbenes Pulver. Die Struktur von α-P3N5 besteht aus eckenverknüpften PN4-Tetraedern. Bei hohem Druck (11 GPa) und hoher Temperatur (1500°C) kann α-P3N5 in γ-P3N5
umgewandelt werden, das aus PN4-Tetraedern und quadratischen PN5-Pyramiden aufgebaut ist.59 Mit Li3N, zugänglich aus den Elementen, reagiert P3N5 je nach Mischungsverhältnis und Temperatur zu verschiedenen salzartigen Nitridophosphaten wie Li7[PN4], Li12[P3N9] und Li10[P4N10], deren Anionen aus (eckenverknüpften) PN4-Tetraedern bestehen; [P4N10]10– hat eine dem isoelektronischen P4O10 ensprechende Struktur (Symmetrie Td). Weitere Nitridophosphate wie M[P4N7] mit M = Na–Cs, M3[P6N11] mit M = K–Cs und M[P2N4] mit M = Ca, Sr wurden durch Umsetzung der jeweiligen Metallazide mit P3N5 hergestellt.60
10.14 Phosphazene Als Phosphazene bezeichnet man Verbindungen, die das Strukturelement P=N– enthalten. Wegen ihrer vielfältigen kommerziellen Anwendungen sind sie die wichtigsten und interessantesten Phosphor-Stickstoff-Verbindungen. Die meisten Phosphazene sind oligomer, und man trifft zweckmäßig folgende Einteilung: 58 59 60
A. Fromm, W. S. Sheldrick, Z. Anorg. Allg. Chem. 2008, 634, 225. Telluroarsenite: B. Eisenmann, H. Schäfer, Z. Anorg. Allg. Chem. 1979, 456, 87. S. Horstmann, E. Irran, W. Schnick, Angew. Chem. 1997, 109, 1938. W. Schnick et al., Angew. Chem. 2001, 113, 2713 und Chem. Eur. J. 2002, 8, 3530. K. Landskron, E. Irran, W. Schnick, Chem Eur. J. 1999, 5, 2548. K. Landskron, W. Schnick, J. Solid State Chem. 2001, 156, 390. K. Landskron, S. Schmid, W. Schnick, Z. Anorg. Allg. Chem. 2001, 627, 2469.
395
10.14 Phosphazene
cyclo-Phosphazene
kettenförmige Phosphazene
Cl N
Cl n = 3, 4, 5...
P
N
R
Cl n
n = 1, 2, 3...
P
R'
R: z. B. Cl R': z. B. PCl4
Cl n
Verbindungen dieser Art entstehen bei der komplexen Reaktion von PCl5 mit NH4Cl, die bei 120°C im Autoklaven oder bei 135°C bei Normaldruck in Tetrachlorethan oder Dichlorbenzol durchgeführt wird. Die Bildung cyclischer Phosphazene beruht auf folgender Bruttoreaktion: n PCl5 + n NH4Cl
[PCl2
N ]n + 4n HCl
Für die einzelnen Schritte dieser auch industriell durchgeführten Kondensation wird folgender Mechanismus angenommen, der durch die Isolierung von Zwischenprodukten gestützt wird. Die in runde Klammern gesetzten Verbindungen sind hypothetisch: NH4Cl + PCl5
[NH4][PCl6]
¾3 HCl
(HN PCl3) + 2 PCl5
[Cl3P N PCl3][PCl6] Schmp. 310¾315°C (Zers.) + NH4Cl
[Cl3P N PCl2 N PCl3][PCl6] Schmp. 228°C + NH4Cl
¾3 HCl ¾ PCl5
(HN PCl2 N PCl2 N PCl3)
¾HCl
+ 2 PCl5 ¾HCl
Cl Cl P
(HN PCl2 N PCl3)
N
N Cl P Cl
¾ HCl ¾ PCl5
P N
Cl Schmp. 114°C Cl
Hexachlor-cyclo-triphosphazatrien (PCl2N)3, eine farblose kristalline Verbindung, ist das Hauptprodukt dieser Reaktion. Daneben entstehen mit abnehmender Ausbeute die Homologen (PCl2N)n mit n = 4–7, die durch Destillation im Vakuum getrennt werden können. Sie sind Ausgangsprodukte für eine große Zahl von Derivaten, die unter Erhaltung der Ringes durch nukleophile Substitution hergestellt werden. Beispielsweise können die ClAtome ganz oder teilweise durch F, Br, Alkyl, Aryl, O-Alkyl, NH2, N3 und andere Gruppen ersetzt werden. Geeignete Reaktionen sind die Umsetzung mit GRIGNARD-Reagenzien (Alkylierung), mit Alkoholaten, Ammoniak, Aminen, Thiolaten und mit KSO2F (Halogenaustausch). Auch FRIEDEL-CRAFTS-Reaktionen sind möglich. Um die Bromderivate herzustellen, geht man von PBr3/Br2 aus. Die teilweise oder ganz organylsubstituierten Verbindungen sind auch zugänglich, indem man NH4Cl mit RPCl4 oder R2PCl3 umsetzt.
396
10 Phosphor und Arsen
(NPCl2)3 Sessel-(NPCl2)4
gewelltes (NPF2)4
Abb. 10.6 Molekülstrukturen der cyclischen Phosphazene (PNCl2)3, sesselförmiges (NPCl2)4 und (NPF2)4.
Von verschiedenen cyclischen Phosphazenen wurden die Kristall- und Molekülstrukturen bestimmt (Abb. 10.6), so dass es möglich ist, die Bindungsverhältnisse zu diskutieren. Der Sechsring des (PCl2N)3 ist planar; die sechs Valenzwinkel im Ring betragen 120° (Symmetrie D3h). Alle Kernabstände d(PN) sind gleich groß (158 pm), und wesentlich kleiner als die Summe der Einfachbindungsradien (177 pm). Auch die Valenzkraftkonstante f(PN) zeigt das Vorliegen von Mehrfachbindungen an. (PCl2N)4 kristallisiert je nach Temperatur als sessel- oder wannenförmiger Ring (Symmetrie C2h bzw. S4) und auch der Ring des (PF2N)4 ist nicht planar. Anders als im Benzol liegt beim (PCl2N)2 trotz der hohen Symmetrie kein aromatisches π-Elektronensystem vor. Die UV-Spektren der cyclischen Dichlorphosphazene und andere Eigenschaften können am besten mit Dreizentrenbindungen erklärt werden, die sich jeweils über eine Gruppe PNP erstrecken und die sich den stark polaren PN-σ-Bindungen überlagern. Wenn die dreizählige Drehachse (C3) des Ringes als z-Achse des Koordinatensystems angesehen wird, können π-Bindungen durch eine teilweise Delokalisierung der nichtbindenden Elektronen in den pz-Orbitalen der negativ geladenen N-Atome in die unbesetzten Orbitale an den benachbarten positiv geladenen P-Atomen entstehen. Energetisch passende Akzeptor-Orbitale geeigneter Symmetrie sind in erster Linie die σ*-MOs der PCl-Bindungen (Hyperkonjugation).61 Diese Verhältnisse sind denen im Sulfat-Ion völlig analog (Kap. 2.6). Daher können die cyclischen Phosphazene wie die cyclischen Metasilicate und das cyclische S3O9 als Systeme von eckenverknüpften Tetraedern aufgefasst werden. Dieses Modell erklärt zahlreiche experimentelle Befunde, beispielsweise die identischen Kernabstände im (PCl2N)3, die Stabilität des Ringes und die chemischen Ähnlichkeiten von (PCl2N)3 und (PCl2N)4, da die Zahl der PN-Einheiten beliebig zunehmen kann, ohne dass es zu wesentlichen Eigenschaftsänderungen kommen muss, wie es bei einem 61
A. B. Chaplin, J. A. Harrison, P. J. Dyson, Inorg. Chem. 2005, 44, 8407.
10.14 Phosphazene
397
aromatischen System der Fall wäre. Dass größere Ringe nicht mehr planar sind, ist mit dem Dreizentrenmodell ebenfalls vereinbar. Bei unsymmetrischer Substitution einiger Cl-Atome im (PCl2N)3 ändern sich die Valenzwinkel und die Kernabstände im Ring und der Ring wird uneben. Bei den gemischt substituierten Derivaten gibt es zahlreiche Isomeriemöglichkeiten, und zwar kann der Ring verschiedene Konformationen annehmen (Sessel- oder Wannenform), die Position der Substituenten kann variieren (Stellungsisomerie) und gleichartige Substituenten können sich auf der gleichen oder auf verschiedenen Seiten des Ringes befinden. Die cyclischen Phosphazene sind die historisch ältesten Beispiele für anorganische Heterocyclen. Ähnliche Ringsysteme werden von allen Nichtmetallen mit Ausnahme der Edelgase gebildet. Besonders häufig sind dabei die Heterocyclen, die zwei Elemente in alternierender Anordnung enthalten (Pseudoheterocyclen). Neben den einfachen Ringen gibt es auch kondensierte und spirocyclische Ringsysteme anorganischer Natur.62 Wird (PCl2N)3 längere Zeit auf 250°C erhitzt, entsteht ein kautschukartiges Polymer der gleichen Zusammensetzung, das in allen Lösungsmitteln unlöslich ist und daher offenbar aus vernetzten Ketten besteht. Von Wasser wird die Substanz hydrolysiert. Erhitzt man kürzere Zeit auf 230–250°C, entsteht ein kettenförmiges Polymer (PCl2N)n mit n = 10000–15000, das in organischen Lösungsmitteln löslich ist und an dem daher nukleophile Substitutionsreaktionen durchgeführt werden können, beispielsweise mit LiR, RMgX, RNH2, R2NH oder RONa (R = organischer Rest). Dabei werden die ClAtome schrittweise ersetzt, was man mittels 31P-NMR-Spektroskopie verfolgen kann. Dadurch ist es möglich, nacheinander verschiedene Substituenten einzuführen. Die Polymerisation von (PCl2N)3 erfolgt wahrscheinlich nach einem ionischen Mechanismus durch Heterolyse einer P–Cl-Bindung und nukleophilen Angriff des Phosphoniumzentrums auf das N-Atom eines benachbarten Moleküls (ringöffnende Polymerisation, ROP). Die Polyphosphazene bilden die größte Gruppe anorganischer Polymere.63 Sie weisen hochwertige physikalische und chemische Eigenschaften auf und werden daher für viele Anwendungen in Betracht gezogen. Beispielsweise kann man mit R = –OAr einen Hitzeund Schall-isolierenden Schaumstoff herstellen, mit R = –OCH2CF3 lassen sich unbrennbare Fasern erzeugen und mit R1 = –OCH2CF3 und R2 = –OCH2(CF2)nCHF2 entstehen Kohlenwasserstoff-beständige Materialien, die sich für Benzinleitungen, Dichtungen und O-Ringe eignen. Durch weitere Variation der Substituenten kann man entweder wasserlösliche oder wasserabweisende, hydrolysierende oder nicht hydrolysierende Polymere erzeugen, für die es viele potentielle Anwendungen gibt.64 Das kettenförmige (PN)nGrundgerüst der Polyphosphazene weist eine cis-trans-planare Konformation auf (Tor62
63 64
R. Steudel (Herausg.), The Chemistry of Inorganic Ring Systems, Elsevier, Amsterdam, 1992. H. W. Roesky (Herausg.), Rings, Clusters and Polymers of Main Group and Transition Elements, Elsevier, Amsterdam, 1989. I. Haiduc, D. B. Sowerby (Herausg.), The Chemistry of Inorganic Homo- and Heterocycles, Vols. 1 und 2, Academic Press, London, 1987. I. Haiduc, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 7, 4329. Übersicht über anorganische Polymere: I. Manners, Angew. Chem. 1996, 108, 1713. H. R. Allcock, Chemistry and Applications of Polyphosphazenes, Wiley, Hoboken, N. J., 2003. J. E. Mark, H. R. Allcock, R.West, Inorganic Polymers, Prentice Hall, Englewood Cliffs, 1992. M. Gleria, R. De Jaeger (Herausg.), Phosphazenes: A Worldwide Insight, Nova Sci. Publ., Hauuauge, N. Y., 2004. P. H. R. Allcock, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 7, 4586.
398
10 Phosphor und Arsen
sionswinkel abwechselnd 0 und 180°). Es zeichnet sich durch hohe mechanische Flexibilität (niedrige Glasübergangstemperatur), thermische Stabilität, Oxidationsbeständigkeit und optische Transparenz oberhalb 220 nm aus, d.h. es unterscheidet sich vorteilhaft von vielen organischen Polymeren. In gewissem Umfang ist es dem isoelektronischen (SiO)n-Gerüst der Polysiloxane (Silikone) ähnlich. Die sehr starken PN- bzw. SiO-Bindungen sind für die hohe thermische Belastbarkeit solcher Polymere verantwortlich.
399
11.1 Elementarer Sauerstoff
11
Sauerstoff
Sauerstoff 1 ist das häufigste Element an der Erdoberfläche: Es hat an der Erdkruste einen Massenanteil von 47.4 %. Sauerstoff findet sich in Form von O2 in der Luft sowie gebunden im Wasser der Ozeane, Flüsse, Seen und der Atmosphäre sowie in Mineralien wie Oxiden und Oxosalzen (Borate, Carbonate, Silicate, Phosphate, Sulfate). Sauerstoff ist außerdem zusammen mit H, C, N, S und P primärer Baustein aller lebenden Zellen. Es ist damit das bei weitem wichtigste Element. Natürlicher Sauerstoff ist ein Gemisch aus drei stabilen Isotopen mit folgenden Massenanteilen: 16O (99.76 %), 17O (0.05 %) und 18O (0.20 %). Das Isotop 18O wird bei der Untersuchung von Reaktionsmechanismen zum Markieren sauerstoffhaltiger Verbindungen eingesetzt. Es wird aus H218O erhalten, das man durch fraktionierte Destillation von natürlichem Wasser herstellt. Das Isotop 17O mit einem Kernspin von 52 eignet sich für NMR-spektroskopische Untersuchungen.
11.1
Elementarer Sauerstoff
11.1.1
Molekularer Sauerstoff O2
Disauerstoff (O2) wird großtechnisch durch fraktionierte Destillation verflüssigter Luft hergestellt. Trockene Luft besteht aus 20.95 Vol-% (23.16 Massen-%) O2, 78.08 Vol-% N2, 0.93 % Edelgasen (hauptsächlich Argon; Kap. 14) und 0.038 % CO2.2 Diese Komponenten können aufgrund ihrer verschiedenen Siedepunkte durch fraktionierte Kondensation und anschließende fraktionierte Destillation getrennt werden. Da dieser Prozess aber einen erheblichen Energieaufwand erfordert, verwenden Großverbraucher auch Molekularsiebe (Zeolithe; Kap. 8.8.2) zur Zerlegung der Luft in ihre Bestandteile, und zwar ohne vorherige Verflüssigung. In großem Umfang wird Sauerstoff in der Stahlindustrie eingesetzt, um den Kohlenstoffgehalt des Roheisens (ca. 4 %) auf die für Stahl typischen Werte von 0.5–1.5 % abzusenken (Verbrennung des Kohlenstoffs mit der Sauerstofflanze). Für die Produktion von 1 t Stahl werden ca. 100 kg O2 benötigt. Größte Hersteller von Industriegasen in der EU sind die Linde AG und Air Liquide. Der Sauerstoffgehalt der Luft ist eine Folge der Photosynthese, die vor ca. 0.5·109 Jahren im Rahmen der Evolution biologischer Systeme begann und die eine photochemische Oxidation von Wasser darstellt, katalysiert durch das manganhaltige Enzym Wasseroxidase: 2 H2O 1 2
h.<
O2 + 4 H+ + 4 e)
D. T. Sawyer et al., Encycl. Inorg. Chem. 2005, 6, 4054. Spurenweise sind darüber hinaus CH4 (1.73 ppm), N2O (0.3 ppm), NO (0.2 ppm), H2 (0.5 ppm) und CO (1 ppm) in der Luft vorhanden. Der Wassergehalt feuchter Luft kann bis zu 4 % betragen. D. Möller, Luft: Chemie, Physik, Biologie, Reinhaltung, Recht, de Gruyter, Berlin, 2003.
400
11 Sauerstoff
Die Stelle im Enzym, an der die Oxidation von H2O stattfindet, ist ein Cluster von vier sauerstoffverbrückten Manganatomen und einem Ca2+-Ion, eingebunden in ein Protein. Durch 18O-Markierung des Wassers wurde 1941 bewiesen, dass der freigesetzte Sauerstoff aus dem H2O und nicht aus dem CO2 stammt. Zur Produktion von einem Molekül O2 werden im Photosystem II vier Lichtquanten mit einer Wellenlänge <680 nm verbraucht. Weitere 4 Quanten benötigt das Photosystem I für die Produktion von ATP als Energiequelle zur Reduktion von CO2 zu Hexose. Jährlich werden auf der Erde etwa 1010 t Kohlenstoff durch Photosynthese in Kohlenhydrate eingebaut. Im Labormaßstab erhält man reinsten Sauerstoff durch Elektrolyse 30 %iger Kalilauge an Reinnickelelektroden oder durch katalytische Zersetzung von 30 %igem H2O2 an einem platinierten Nickelblech, das man nach Bedarf in die Flüssigkeit senkt. Bei vollständiger Zersetzung erhält man aus 1 kg H2O2 bis zu 300 L Sauerstoffgas. Für die meisten Zwecke genügt jedoch der in (blauen) Stahlflaschen verfügbare hochkomprimierte Sauerstoff. Gebraucht wird Sauerstoff außer zur Stahlherstellung aus Roheisen auch für organische Oxidationen wie beim WACKER-Prozess (katalytische Oxidation von Ethen zu Acetaldehyd), zum Schweißen und Schneiden mit Acetylenbrennern und für die künstliche Beatmung. Tränkt man Holzkohle oder Holzmehl mit flüssigem Sauerstoff, erhält man den Sprengstoff Oxyliquit. Sauerstoff ist als Gas farb- und geruchlos, im flüssigen und festen Zustand ist er schwach blau gefärbt (Sdp. –183°C, Schmp. –218°C). Die Bindung im O2-Molekül wurde bereits im Kapitel 2.4.3 diskutiert. Der Grundzustand des Moleküls O2 ist ein Triplett-Zustand (3O2), d.h. das Molekül enthält zwei ungepaarte Elektronen mit parallelen Spins. O2 ist daher im gasförmigen und flüssigen Zustand paramagnetisch, was zu seiner quantitativen Bestimmung in Gasgemischen ausgenutzt wird. Im festen Zustand ist O2 teils paramagnetisch (γ-Phase), teils diamagnetisch (α- und β-Phase). Im Jahre 2006 wurde entdeckt, dass festes O2 unter sehr hohem Druck zu rhombenförmigen O8-Molekülen oligomerisiert (ε-Phase), denen vier π*-π*-Bindungen zwischen den vier O2-Molekülen zugrunde liegen.3 Diamagnetischer Singulett-Sauerstoff (1O2) entsteht bei bestimmten chemischen Reaktionen, die im folgenden Abschnitt erläutert werden. Singulett-Disauerstoff 4 In den Jahren 1928–1930 haben ROBERT S. MULLIKEN und ERICH HÜCKEL unabhängig voneinander die Existenz zweier Singulett-Zustände von Disauerstoff vorausgesagt, deren Elektronenkonfiguration sich nur im 1πg-Niveau von der des 3Σ g– -Grundzustandes unterscheidet: E 3;) g
1+ g
1;+ g
1:g:
3 4
R. Steudel, M. W. Wong, Angew. Chem. 2007, 119, 1798, und zitierte Literatur. W. Adam, Chemie unserer Zeit 1981, 15, 190; A. A. Gorman, Chem. Soc. Rev. 1991, 10, 205; J. M. Aubry, B. Cazin, Inorg. Chem. 1988, 27, 2013; V. Nerdello et al., Chem. Commun. 1998, 599.
401
11.1 Elementarer Sauerstoff
Tab. 11.1 Bindungseigenschaften von gasförmigem Disauerstoff (16O2) im Triplet-Grundzustand und zwei elektronisch angeregten Singulett-Zuständena (d: Kernabstand, D: Bindungsenthalpie bei 0 K). 1Σ
3Σ g
1∆
dOO (pm):
120.75
121.56
122.69
D (kJ mol–1):
491
396
333
0
95
158
rel. Energie (kJ a
mol–1):
g
g
Quelle: K. P. Huber, G. Herzberg, Constants of Diatomic Molecules, van Nostrand-Rheinhold, New York, 1979.
Die Bindungseigenschaften von O2 in seinen verschiedenen elektronischen Zuständen sind in Tabelle 11.1 zusammengestellt.5 Während der kurzlebige 1Σ +g -Zustand rasch in den Zustand 1∆g übergeht und daher von geringer Bedeutung ist, spielt der 1∆g-Zustand bei Oxidationsreaktionen eine wichtige Rolle. O2-Moleküle in diesen elektronisch angeregten Zuständen entstehen bei elektrischen Entladungen in gasförmigem Sauerstoff. Sie wurden auch in der Erdatmosphäre als Folge der Bestrahlung durch die Sonne nachgewiesen. Bei vermindertem Druck hat der 1∆ -Zustand eine Lebensdauer von ca. 45 min, da die unimolekulare Umwandlung in g O2(3Σ –g ) spinverboten ist. Die Desaktivierung erfolgt über eine spinerlaubte bimolekulare Reaktion unter Emission roter Strahlung (633 und 703 nm):6 2 O2 (1+g)
)
2 O2 (3;g )
Die Umkehrung dieser Reaktion, d.h. die Absorption roter Strahlung, ist die Ursache dafür, dass O2 im flüssigen und festen Zustand blau gefärbt ist. In Lösung erhält man 1O2 bei der Zersetzung verschiedener kovalenter Peroxide. Beispielsweise wird beim Einleiten von Chlorgas in eine eiskalte alkalische Wasserstoffperoxid-Lösung ein sehr attraktives rotes Leuchten beobachtet,7 das auf die Desaktivierung von 1O2 zurückzuführen ist, das wie folgt entsteht: H2O2 + Cl2 + 2 [OH]) [ClOO])
[ClOO]) + Cl) + 2 H2O 1O
2
+ Cl)
Aus Gründen der Spinerhaltung kann bei der letztgenannten Reaktion kein 3O2 entstehen, da sich dann die Zahl der ungepaarten Elektronen auf beiden Seiten der Gleichung unterscheiden würde. Für Reaktionen, die bei mäßigen Temperaturen ablaufen, gilt, dass sich die Summe aller Spinquantenzahlen auf beiden Seiten der Gleichung nicht unterscheiden darf (Spinerhaltungssatz). Dadurch sind die Reaktionen von 3O2 mit diamagnetischen 5
6 7
Eine genaue Berechnung der Energiedifferenz zwischen 1O2 und 3O2 zeigt, dass richtige Werte nur erhalten werden, wenn man auch die teilweise Besetzung energetisch höher liegender Molekülorbitale mit einbezieht (complete active space-Rechnungen, CAS). Damit erhält man für 3O2 die Besetzung (1πu)3.92(1πg)2.07(2πu)0.01 und für 1O2 (1πu)3.87(1πg)2.12(2πu)0.01. Das 2πu-MO entsteht aus der Linearkombination der vier 3pπ-AOs; R. Janoschek, Chemie unserer Zeit 1991, 25, 59. Zwei Linien treten auf, weil 3O2 entweder im Schwingungsgrundzustand (633 nm) oder im ersten schwingungsangeregten Zustand (703 nm) entstehen kann. Statt Cl2 kann auch N-Bromsuccinimid verwendet werden; S. Albrecht, H. Brandl, T. Zimmermann, Chemie unserer Zeit 1998, 32, 251 (mit schönen Farbfotos).
402
11 Sauerstoff
Molekülen wie z.B. H2 (Knallgas) oder organische Verbindungen bei 25°C kinetisch gehemmt, d.h. mit einer hohen Aktivierungsenergie behaftet. Auch bei der durch Molybdat-Ionen katalysierten exothermen Zersetzung von Wasserstoffperoxid nach 2 H2O2
1O
2
+ 2 H 2O
kann kein 3O2 entstehen. Bei pH-Werten von 8–13 wird zunächst ein Diperoxid-Anion [Mo(O)2(O2)2]2– gebildet, das sich dann in einer Reaktion 1. Ordnung im geschwindigkeitsbestimmenden Schritt zu [MoO4]2– und 1O2 zersetzt. Phosphonsäureester reagieren mit Ozon bei tiefen Temperaturen unter [1+3]-Cycloaddition zu kovalenten Ozoniden, die sich bei wenig höherer Temperatur unter [2+2]Cycloreversion zu 1O2 und Phosphorsäureestern zersetzen:8 O (RO)3P + O3
O
(RO)3P
(RO)3PO + 1O2
O 1O 2
In Lösung liegt die Lebensdauer von im Bereich von 4 bis 600 µs. Besonders gut geeignete Lösungsmittel für Reaktionen mit Singulett-Sauerstoff sind CFCl3 und CF2Cl2 (lange Lebensdauer von 1O2). Die Desaktivierung erfolgt in einer Reaktion 1. Ordnung durch Übertragung der Überschussenergie auf Lösungsmittelmoleküle, die dabei zu internen Schwingungen angeregt werden.9 Im Gegensatz zu 3O2 reagiert 1O2 mit vielen organischen Verbindungen schon bei Raumtemperatur. So entstehen mit 1,3-Dienen unter [4+2]-Cycloaddition entsprechende Peroxide, mit Alkenen, Alkinen, Ketenen, Allenen, Sulfinen und Oximen erfolgt [2+2]-Cycloaddition, während bestimmte Alkene in einer en-Reaktion Hydroperoxide ROOH liefern. Komplexe mit O2-Liganden Das Disauerstoff-Molekül ist die Grundlage der biologischen Atmungsprozesse fast aller Organismen, bei denen Fette, Kohlenhydrate und Proteine zu Wasser, Kohlendioxid und Harnstoff abgebaut werden, während die gewonnene Energie zur Synthese von ATP (Adenosintriphosphat) verwendet wird. Ein erwachsener Mensch nimmt täglich ca. 800 L O2 auf, wovon etwa 5 % (= 50 g) zu reaktiven Sauerstoffspezies wie [O2]• –, [HO2]•, [OH]•, H2O2 und [ONOO]– (Peroxonitrit) umgesetzt werden, die alle extrem toxisch sind, da sie Krebserkrankungen initiieren und das Altern beschleunigen; daher müssen diese Spezies vom Organismus rasch beseitigt werden (z.B. durch Antioxidantien).10 Die Löslichkeit von O2 in Wasser beträgt bei einem O2-Druck von 0.1 MPa nur 1 mmol L–1. Daher nutzen viele Organismen Metallkomplexe mit O2 als Ligand, um Disauerstoff innerhalb ihres Körpers zu transportieren und zu aktivieren. Fast alle Nebengruppenmetalle bilden Komplexe mit O2-Liganden, wobei jedoch die formale Oxidationsstufe der O-Atome zwischen Null (O2), – 12 ([O2]• –) und –1 ([O2]2–) variiert. Die bei ein- und zweikernigen Komplexen gefundenen Konnektivitäten sind in Abbildung 11.1 dargestellt. 8 9 10
A. Dimitrov, K. Seppelt, Eur. J. Inorg. Chem. 2001, 1929. M. A. J. Rodgers, J. Am. Chem. Soc. 1983, 105, 6201; P. R. Ogilby, C. S. Foote, J. Am. Chem. Soc. 1983, 105, 3423; M. A. J. Rodgers, P. T. Snowden, J. Am. Chem. Soc. 1982, 104, 5541. M. Battran, Naturwiss. Rundschau 2002, 55, 513.
403
11.1 Elementarer Sauerstoff
M
O
M
31 O O 32
O
O
M
M
O *)31
M M
O O
M
O
O
M
trans *)31%31
O
M
*)31%32
O X
cis
M
O O
M
symm. *)32%32
O M
*)31:31
M
O
M
asymm. *)32%32
Abb. 11.1 Durch Röntgenstrukturanalysen ermittelte Atomverknüpfungen in ein- und zweikernigen Metall-Disauerstoff-Komplexen.
Ob es sich um Disauerstoff-, Superoxid- oder Peroxid-Komplexe handelt, kann manchmal durch Messung der magnetischen Suszeptibilität oder mittels ESR-Spektren entschieden werden. Auch die mittels Ramanspektroskopie ermittelte OO-Valenzschwingung gibt Auskunft über die Bindungsstärke im Liganden und damit über seine Ausstattung mit Valenzelektronen (siehe unten). Manchmal ist jedoch eine klare Zuordnung der Valenzelektronen nicht möglich. Auf welche Weise ein O2-Ligand gebunden wird, hängt vom betreffenden Metall, von den übrigen Liganden und von der Koordinationszahl des Metallatoms ab.11 Einige Übergangsmetallkomplexe reagieren mit O2 bei Raumtemperatur in Benzol derart, dass Disauerstoff als η2-Ligand gebunden wird. Dies geschieht entweder in einer einfachen Additionsreaktion oder unter Verdrängung anderer Liganden: [RuCl2(AsPh3)3] + O2
[RuCl2(O2)(AsPh3)3]
[Pt(PPh3)4] + O2
[Pt(O2)(PPh3)2] + 2 PPh3
Auf diese Art wurden O2-Komplexe unter anderem mit den elektronenreichen Zentralmetallen Mn, Co, Ni, Ru, Ir, Rh, Pd und Pt (in niedrigen Oxidationsstufen) hergestellt. Einige dieser Komplexe geben den Disauerstoff beim Erwärmen reversibel ab, zum Beispiel: [Rh(O)2(diphos)2]PF6
MeOH
[Rh(diphos)2]PF6 + O2
diphos: Ph2P (CH2)2 PPh2
In anderen Fällen kann der O2-Ligand auf chemischem Wege reversibel entfernt werden, z.B. durch Spülen mit H2, wobei ein Hydridokomplex entsteht, der mit überschüssigem O2 erneut zum Disauerstoff-Komplex reagiert. Auch die elektronenarmen Metalle Ti, V, Cr, Mo und W (in hohen Oxidationsstufen) bilden Komplexe mit einem η2-O2-Liganden, der jedoch in diesen Fällen als Peroxogruppe eingeführt wird: 2 [CrO4]2) + 9 H2O2 + 2 [OH])
2 [Cr(O2)4]3) + 10 H2O + O2
Bei dieser Reaktion wird das Cr(VI) zum Cr(V) reduziert, weswegen der Tetraperoxokomplex paramagnetisch ist. K3CrO8 bildet braune Kristalle. Die Anionengeometrie ist 11
R. R. Conry, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1359.
404
11 Sauerstoff
quasi tetraedrisch und der OO-Kernabstand beträgt 146.6 pm, was etwa dem OO-Abstand im ionischen Peroxid BaO2 entspricht: 3)
Im sauren Bereich reagieren Chromat-Ionen [HCrO4]– mit H2O2 zu blauem „CrO5“, das in Wasser als Neutralkomplex [(H2O)CrO(O2)2] vorliegt, der mit Pyridin oder Diethylether (Donor D) als blaues [DCrO(O2)2] aus der wässrigen Phase extrahiert werden kann. Die beiden Peroxogruppen sind darin ebenfalls η2-gebunden. E
3dxy
3dxy 3dxz)1:gs 3dz2 )1:us
3dz2 3dx2)y2
3dx2)y2
3dxz
3dyz
3dyz
1:gs 1:ga
1:ga 3dxz+1:sg
1:us
3dz2 +1:us
1:ua
1:ua
M
36g
36g
O2
Abb. 11.2 Energieniveaudiagramm für die Molekülorbitale in einem Metall-Disauerstoff-Komplex bei side-on-Koordination des Liganden an ein Metall der ersten Übergangsperiode. Die Energieniveaus der fünf 3d-Orbitale des Metallatoms sind unter dem Einfluss der übrigen Liganden energetisch aufgespalten. Ebenso führt die Symmetrieerniedrigung des O2-Liganden von D∞h nach C2v zu einer Aufspaltung der zuvor entarteten Energieniveaus von π-Symmetrie.
405
11.1 Elementarer Sauerstoff
Strukturuntersuchungen zeigen, dass der Ligand O2 in den bisher genannten Komplexen mit dem Zentralmetall ein Dreieck der Symmetrie C2v (oder Cs) bildet. Bezüglich der Bindungsverhältnisse kann man annehmen, dass O2 gegenüber dem Metallatom als π- und π*-Donor sowie als π*-Acceptor fungiert. Unter der Symmetrie C2v spalten die entarteten Niveaus 1πu und 1πg von O2 in je zwei Niveaus auf, was zu einer Paarung der beiden antibindenden Elektronen im tiefer liegenden der beiden π*-Niveaus führt. Die Wechselwirkung aller besetzten Ligandorbitale mit den d-Orbitalen eines oktaedrisch koordinierten Metallatoms ist in Abbildung 11.2 gezeigt. Die beiden stärksten Effekte sind die Wechselwirkung von 1πu mit dz2, die zu einer σ-Bindung führt, wenn das Metallatomorbital unbesetzt ist (koordinative Hinbindung), und die Wechselwirkung von 1πg mit dxz, die einer π-Bindung entspricht. In Abbildung 11.3 sind die Überlappungsverhältnisse schematisch dargestellt. Außerdem kann das unbesetzte π*-Niveau d-Elektronen vom Metall übernehmen (koordinative Rückbindung), was zu einer Schwächung der OOBindung führt, und zwar um so mehr, je mehr Elektronendichte auf den O2-Liganden übertragen wird. Diese Schwächung ist um so stärker, je besser die Metallorbitale mit den Ligandorbitalen überlappen, je stärker also die Metall-Ligand-Bindung ist. Deren Stärke hängt vom Metallatom und von den übrigen Liganden ab. Insbesondere hat die unterschiedliche Elektronegativität χ der Liganden einen großen Einfluss: Je größer χ, um so mehr Elektronen zieht ein Ligand vom Zentralmetall ab und um so schwächer wird die Rückbindung zum O2. Der OO-Kernabstand sollte sich also mit steigender Elektronegativität der Liganden verkleinern. Das zeigen folgende Beispiele: [Ir(O2)Cl(CO)(PPh3)3]: [Ir(O2)I(CO)(PPh3)3]:
d(OO) = 130 pm d(OO) = 151 pm
+
+
+
+
+
+
Für den OO-Abstand wurden bei einkernigen Komplexen Werte zwischen 130 und 152 pm gemessen. In den Komplexen, die den Liganden O2 beim Erwärmen reversibel abgeben, findet man nur eine geringe Schwächung der OO-Bindung gegenüber der im gasförmigen O2-Molekül (d = 121 pm). Im Komplex [Ir(O2)(diphos)2][PF6] beträgt der OO-Abstand 152(1) pm. Auch die Verschiebung der OO-Valenzschwingung, die im O2 bei 1556 cm–1 und in den Komplexen bei wesentlich kleineren Wellenzahlen bis herab zu 800 cm–1 beobachtet wird, zeigt die Schwächung der OO-Bindung als Folge der Übertragung von Elektronendichte auf den Liganden bei der Komplexbildung an.
O2
M (a)
O2
M (b)
Abb. 11.3 Überlappung von Orbitalen des Zentralatoms M mit denen des Liganden O2 in einem Disauerstoff-Komplex bei side-on-Koordination. (a) σ-Bindung zwischen einem leeren p-Orbital des Metallatoms und dem besetzten 1πu-MO von O2. (b) π-Bindung (Rückbindung) zwischen einem besetzten d-Orbital des Metallatoms und dem unbesetzten 1πg-MO von O2.
406
11 Sauerstoff
Bei Komplexen mit dem Peroxid-Ion als seitlich (side-on) gebundenem Liganden, z.B. mit Metallen, die keine oder nur wenige d-Elektronen aufweisen, kommt es zu einer Elektronendichteübertragung vom Ligand auf das Metallatom, und zwar sowohl aus dem π- als auch aus dem π*-Niveau (Abb. 11.2). Disauerstoffkomplexe sind Modellsubstanzen, um den Mechanismus der Sauerstoffübertragung in Organismen zu studieren.12 In zahlreichen Organismen sind Metallkomplexe als prosthetische Gruppen an Proteine gebunden und in dieser Form als Sauerstoffträger und -überträger z.B. bei der Atmung wirksam. Dabei handelt es sich überwiegend um Eisenkomplexe mit einer gewinkelten η1-Koordination des O2-Moleküls.13 Weiterhin dienen O2-Komplexe als Modelle für solche Oxidationsreaktionen, die durch Nebengruppenmetalle katalysiert werden.14 Der komplex gebundene Sauerstoff ist meistens reaktionsfähiger als O2-Gas bei der gleichen Temperatur. Beispielsweise reagiert [RuCl2(O2)(AsPh3)3] bei Raumtemperatur mit Ph3P zu Ph3PO und mit SO2 zu einem Sulfatokomplex. Man kann daher in manchen Fällen von einer Aktivierung des O2-Moleküls durch die Komplexbildung sprechen, was auch daran liegt, dass die Komplexe diamagnetisch sind und daher die Spinerhaltung kein Problem darstellt. Abschließend sei erwähnt, dass auch von dem zu O2 analogen Molekül S2 zahlreiche Komplexe hergestellt wurden.
11.1.2
Atomarer Sauerstoff
Sauerstoffatome können ähnlich wie H-Atome durch Dissoziation von O2 in einer Hochfrequenz- oder Mikrowellenentladung erzeugt werden (Plasmalyse). Der erreichbare Dissoziationsgrad hängt von der Stärke der Entladung, vom Gasdruck und von der Beschaffenheit der Gefäßwandungen ab, da gewisse Verunreinigungen die Rekombination der O-Atome an der Wand unterdrücken, indem sie die als Katalysator wirkende Wand vergiften. Die heterogene Rekombination an der Wand findet zwischen adsorbierten Atomen statt, und die Rekombinationsenthalpie wird von der Wand als Schwingungsenergie (Wärme) aufgenommen: O + O
O2
° = ) 499 kJ mol)1 +H298
In der Gasphase reagieren O-Atome im 3P-Grundzustand15 bei Raumtemperatur und bei Drücken von einigen Hektopascal in Dreierstoßreaktionen außer zu O2 auch zu Ozon: O + O2 + M 12 13 14
15
O3 + M*
° = )!". kJ mol)1 +H298
R. J. Jones, D. A. Summerville, F. Basolo, Chem. Rev. 1979, 79, 139. Vgl. hierzu das Themenheft über Metal-Dioxygen Complexes in Chem. Rev. 1994, 94, 567–856, sowie Lehrbücher der bioanorganischen Chemie. J. P. Caradonna, Encycl. Inorg. Chem. 1994, 6, 2866; D. H. R. Barton, A. E. Martell, D. T. Sawyer (Herausg.), The Activation of Dioxygen and Homonuclear Organic Oxidations, Plenum, New York, 1993. Das Termsymbol 3P bezeichnet links oben die Spinmultiplizität 2S+1 (hier: Triplett, da zwei ungepaarte Elektronen vorhanden sind) und den Bahndrehimpuls L, der im vorliegenden Fall gleich 1 2 ist, wofür der Symbolbuchstabe P verwendet wird. Elektronisch angeregte O-Atome im Singulett-Zustand 1D sind um 201 kJ mol–1 energiereicher; sie enthalten nur gepaarte Elektronen.
407
11.1 Elementarer Sauerstoff
Der Stoßpartner M muss die freigesetzte Enthalpie ganz oder teilweise aufnehmen, um eine sofortige Rückreaktion zu vermeiden. Trotz der leichten Ozonbildung in O-O2-Gemischen findet man jedoch nur sehr geringe stationäre O3-Konzentrationen in solchen Gasen, da das meiste Ozon in einer Folgereaktion wieder abgebaut wird: O + O3
° = )593 kJ mol)1 (O3) +H298
2 O2
Diese Reaktion ist besonders schnell, da Stöße zwischen zwei Teilchen bei geringen Drucken sehr viel häufiger stattfinden als solche zwischen drei Teilchen (O + O + M → O2 + M*). Will man daher O3 aus atomarem Sauerstoff herstellen, muss man diese Folgereaktion unterdrücken. Das gelingt, indem man das Gas einen mit flüssigem Stickstoff gefüllten Glasfinger (Kühlfinger) umströmen lässt, an dessen Oberfläche in sehr hoher Ausbeute O3 gebildet, dann aber sofort eingefroren und so dem weiteren Angriff der O-Atome entzogen wird. Sauerstoffatome entstehen auch bei der Photolyse von O3 und von NO2, was vor allem bei Tieftemperaturexperimenten mit der Matrixtechnik ausgenutzt wird: h.<
O3
h.<
NO2
O2 + O NO + O
Auf diese Reaktionen wird im Abschnitt 11.3.4 näher eingegangen. Atomarer Sauerstoff ist ein extrem starkes Oxidationsmittel. Er reagiert mit vielen Stoffen schon bei sehr tiefen Temperaturen. Die Konzentration der O-Atome in einem Gasstrom kann man durch Titration mit NO2 ermitteln. Das NO2 wird dabei zunächst zum NO abgebaut: NO2 + O
NO + O2
NO reagiert dann mit weiteren O-Atomen nach NO + O
NO*2
)h.<
NO2
Über ein angeregtes NO2-Molekül entsteht dann wieder Stickstoffdioxid, wobei die Anregungsenergie als gelb-grüne Lichtemission beobachtet wird. Zur kontinuierlichen Titration der O-Atome in der Gasphase setzt man daher dem strömenden Gas so lange NO2 in steigender Konzentration zu, bis das Leuchten erlischt, d.h. bis alle O-Atome durch Reaktion mit dem NO2 verbraucht werden, so dass die Oxidation von NO nicht mehr stattfinden kann. NO ist also gewissermaßen der Indikator, der auf die O-Atome anspricht.
11.1.3
Ozon O3
Ozon (Trisauerstoff) ist neben Disauerstoff das einzige weitere Molekül, das nur aus Sauerstoffatomen besteht und das sich bei Normalbedingungen in reiner Form herstellen lässt. O3 ist wesentlich energiereicher als O2 und daher instabil. Seine Entstehung nach 3 2
O2
O3
° = !15 kJ mol)1 +fH298
ist endotherm. Im reinen Zustand, vor allem in kondensierter Form, ist Ozon daher explosiv und nur mit großer Vorsicht sicher zu handhaben. Der kontrollierte Zerfall von O3 zu
408
11 Sauerstoff
O2 in der Gasphase, der durch Erhitzen oder durch Katalysatoren beschleunigt werden kann und der unter Volumenzunahme erfolgt, kann zur volumetrischen Bestimmung von O3 in O2/O3-Gemischen genutzt werden. Ozonhaltigen Sauerstoff stellt man zweckmäßig in dem von WERNER VON SIEMENS bereits im Jahre 1888 entwickelten Ozonisator her, bei dem reiner, d.h. vor allem trockener Sauerstoff bei 25°C/0.1 MPa durch den Ringspalt zwischen zwei konzentrischen Glasrohren geleitet wird. Das äußere Rohr ist außen und das innere Rohr innen mit einer Metallfolie belegt, die als Elektroden dienen und an die eine niederfrequente Wechselspannung von einigen tausend Volt angelegt wird, so dass es im Gasraum zwischen den Elektroden zu stillen elektrischen Entladungen kommt. Wird das Ozonisatorrohr, das sich infolge dielektrischer Verluste erwärmt, auf Raumtemperatur gekühlt, kann man bei nicht zu kleinen Strömungsgeschwindigkeiten O3-Konzentrationen von bis zu 10 % erhalten. Die O3-Bildung erfolgt teils über O-Atome, teils über angeregte O2-Moleküle und teils über eine dissoziative Ionenrekombination: O*2 + O2
O + O3
O + O2 + M
O3 + M*
[O2]+ + [O2])
O + O3
(M: z.B. N2)
Hierbei ist M ein Stoßpartner, der einen Teil der Reaktionsenthalpie aufnimmt. Reines O3 erhält man aus O2/O3-Gemischen durch fraktionierte Kondensation. Ozon ist in kondensierten Phasen tief blau gefärbt und diamagnetisch (Schmp. –193°C, Sdp. –112°C). O3 ist extrem giftig und hat einen charakteristischen Geruch, der in Luft schon ab ca. 200 µg m–3 wahrnehmbar ist. Ozon ist ein sehr starkes Oxidationsmittel das in zunehmendem Maße an Stelle von Chlor zur Entkeimung von Trinkwasser sowie in Badeanstalten zur Wasseraufbereitung verwendet wird. Auch die Aufarbeitung von Abwässern durch Oxidation organischer Komponenten mit O3 ist von Bedeutung. Zur quantitativen Bestimmung von Ozon titriert man iodometrisch, nachdem man durch Einleiten des Gases in eine mit Borsäure gepufferte KI-Lösung eine äquivalente Menge I2 freigesetzt hat: O3 + 2 I) + H2O
O2 + I2 + 2 [OH])
B(OH)3 + [OH])
[B(OH)4])
Bei dieser Reaktion attackiert das Nukleophil I– ein endständiges O-Atom des Ozonmoleküls, worauf ein O2-Molekül abgespalten wird. Nach Protonierung des Hypoiodit-Anions [IO]– wird dieses von einem weiteren Iodid-Anion attackiert und es entsteht molekulares Iod: I) + O 3
[I O O O])
[IO]) + H2O
IOH + [OH])
IOH + I)
[IO]) + O2
I2 + [OH])
Das Molekül O3 hat die Symmetrie C2v; sein Dipolmoment beträgt 0.53 D. Die Kernabstände wurden zu 127.2 pm bestimmt, der Valenzwinkel beträgt 117.8°. Interessant ist ein Vergleich der Bindungseigenschaften mit denen anderer Verbindungen mit OO-Bindungen (Tab. 11.2). Neben den zwei σ-Bindungen, die denen im H2O-Molekül entsprechen, liegt beim O3 zusätzlich eine 3-Zentren-4-Elektronen-π-Bindung vor:
409
11.1 Elementarer Sauerstoff
O
O O
O
O
O
Tab. 11.2 Experimentell bestimmte Bindungseigenschaften von Ozon (O3) und anderen Verbindungen mit OO-Bindungen (ohne Anharmonizitätskorrektur). Die Korrelation zwischen den drei Parametern ist klar zu erkennen. OO-Kernabstand (pm) Kraftkonstante fr (N
cm–1)
O3 (gasf.) O2 (gasf.) [O2]– (gasf.)
[O2]2– (Na2O2)
127.2
149
5.7
mittl. Bindungsenthalpie (kJ mol–1)
300
121 11.4 495
135 5.4 395
2.8 –
Die beiden terminalen O-Atome haben einen Abstand von 218 pm, was wesentlich kleiner als der VAN DER WAALS-Abstand ist, der 280 pm beträgt. Dies darf jedoch nicht als Folge einer Anziehung zwischen diesen beiden Atomen gedeutet werden (Abschnitt 3.6.4). Die delokalisierte π-Bindung, die sich über drei Zentren erstreckt, kommt durch Überlappung der drei p-Orbitale zustande, die senkrecht zur Molekülebene orientiert sind. Die Molekülebene ist für die π-Orbitale eine Knotenebene. Aus den drei p-Orbitalen entstehen durch Linearkombination drei Molekülorbitale, von denen je eines bindend, nichtbindend und antibindend ist: E OB OA
2p:
OC
>3 = N3 (8Ap ) -28Bp / 8Cp )
>2 = N2 (8Ap ) 8Cp )
>1 = N1 (8Ap / -18Bp / 8Cp )
Die drei MOs sind mit vier Elektronen besetzt, d.h. das antibindende MO bleibt frei. Eine ähnliche 3-Zentren-4-Elektronen-Bindung liegt beim Nitrit-Ion [NO2]– vor, das mit dem O3-Molekül isoelektronisch ist. Analoges gilt für das Molekül SO2. In der Erdatmosphäre kommt Ozon in allen Höhen vor, vom Boden bis mindestens 100 km. In den oberen Schichten der Atmosphäre (Stratosphäre: 12–50 km Höhe) bildet sich Ozon durch Photolyse von O2 mit UV-Strahlung der Wellenlängen ≤250 nm und anschließende Reaktion der entstandenen O-Atome mit O2-Molekülen ähnlich wie im SIEMENSOzonisator (siehe oben). Dieser Prozess läuft vor allem in den Tropen ab, wo die Strahlungsintensität der Sonne am größten ist. Das Maximum der O3-Konzentration von ca. 5·1012 Molekülen pro cm3 (4 mg m–3) wird je nach Jahreszeit und geographischer Lage in 15–30 km Höhe beobachtet, wo Temperaturen von etwa 210–250 K herrschen. Diese Ozonschicht enthält 90 % des atmosphärischen Ozons und hält 99 % der solaren UV-
410
11 Sauerstoff
Strahlung mit Wellenlängen von ≤320 nm zurück, indem O3 photolytisch zu O2 und O-Atomen im 3P-Grundzustand und im angeregten 1D-Zustand zersetzt wird (das Absorptionsmaximum von O3 liegt bei 260 nm). Nur dadurch ist organisches Leben auf der festen Erdoberfläche, d.h. außerhalb der Gewässer, möglich. Die übrigen 10 % des Ozons befinden sich in der Troposphäre (0–12 km Höhe). Verschiedene teils natürliche, teils anthropogene Stoffe wirken zersetzend auf stratosphärisches O3, wobei vor allem folgender Reaktionszyklus wichtig ist: NO + O3
NO2 + O2
NO2 + O
NO
+ O2
NO entsteht in der Stratosphäre aus N2O, das biogenen Ursprungs und relativ reaktionsträge ist, so dass es durch Konvektionsströmungen auch in größere Höhen transportiert wird, wo es mit O(1D)-Atomen zu 2 NO reagiert. Die Nettoreaktion des obigen Zyklus ist folglich 2 O3 → 3 O2, d.h. NO wirkt als Katalysator für die Zersetzung von Ozon. In ähnlicher Weise wird H2O von O-Atomen in OH-Radikale überführt, die mit O3 zu O2 und HO2 reagieren. Das HO2-Radikal wird dann von O-Atomen wieder in OH und O2 umgewandelt. Durch diese natürlichen Auf- und Abbauprozesse stellt sich in der Stratosphäre eine Gleichgewichtskonzentration von Ozon ein. Katalytisch noch wirksamer als NO und OH sind jedoch Chlor- und Bromatome, die in der Stratosphäre durch Photolyse industriell hergestellter halogenierter Kohlenwasserstoffe entstehen:16, 17
. . 2 ClO + M
&
Cl + O3
&
Cl2O2
Cl + NO
&
ClO + O2 h.<
Cl2O2 + M*
& & ClO +
2 Cl + O2
&
NO2
Die hohe Effizienz dieser Katalyse ist daran zu erkennen, dass die Atome mehrere hunderttausend Reaktionszyklen durchlaufen. Das hat dazu geführt, dass die Ozonkonzentration in manchen Gegenden der Erde und jahreszeitlich schwankend stark abgenommen hat (Ozonloch), was eine erhöhte Strahlenbelastung an der Erdoberfläche mit entsprechendem Hautkrebsrisiko zur Folge hat.18 Daher haben viele Länder die Produktion von denjenigen halogenierten Kohlenwasserstoffen verboten, die in der Atmosphäre besonders langlebig sind und daher bis in die Stratosphäre transportiert werden können.19 Dazu gehören besonders die Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe (FCKWs) CF2Cl2, CFCl3 und CFCl2CClF2 sowie entsprechende Bromverbindungen (Halone). Neben dem oben formu16
17 18 19
P. J. Crutzen, Angew. Chem. 1996, 108, 1879; M. J. Molina, Angew. Chem. 1996, 108, 1901; F. S. Rowland, Angew. Chem. 1996, 108, 1909; siehe auch das Themenheft zur Atmosphärenchemie in Chemie unserer Zeit 2007, 41, Heft 4. Für Ihre Forschungsergebnisse zur Chemie der Atmosphäre haben CRUTZEN, MOLINA und ROWLAND gemeinsam den Chemie-Nobelpreis 1995 erhalten (siehe vorhergehende Fußnote). In Deutschland erkranken jährlich mehr als 100000 Menschen an Hautkrebs. In den EU-Ländern ist die Produktion von FCKWs seit 1995 verboten. Eine natürliche Quelle von Cl-Atomen in der Atmosphäre ist Monochlormethan, das in einem Umfang von ca. 5·106 t/a von Pilzen und ozeanischen Kleinlebewesen freigesetzt wird.
11.2 Bindungsverhältnisse am Sauerstoffatom in kovalenten und ionischen Verbindungen 411
lierten Dichlorperoxid Cl2O2, das ein Derivat des H2O2 ist und das und wie dieses C2-Symmetrie aufweist, spielen beim Ozonabbau auch noch die Verbindungen HCl, HOCl und ClONO2 (Chlornitrat, Kap. 13.5.6) eine wichtige Rolle. Diese Verbindungen entstehen aus Cl+CH4 bzw. durch Rekombination der Radikale Cl+OH und ClO+ NO2. Aus ihnen werden nach HCl + HOCl HCl + ClONO2
Cl2 + H2O Cl2 + HNO3
und anschließende Photolyse der Chlormoleküle wieder Chloratome gebildet, die in den Katalysezyklus zurückkehren. Auch in Bodennähe enthält die Atmosphäre Ozon, und zwar durchschnittlich 40–80 µg m–3. Durch Luftverunreinigungen wie NO2 können jedoch bei starker Sonneneinstrahlung Konzentrationen bis zu 200 µg m–3 aufgebaut werden (Sommersmog). NO2 wird dabei von Photonen mit einer Wellenlänge unter 430 nm zu NO und O(3P) zersetzt und die O-Atome reagieren dann wie oben gezeigt wurde mit O2 zu O3. Zur Messung der lokalen O3-Konzentration dient die Reaktion mit Iodid (siehe oben). Durch die Absorption von Sonnenlicht bzw. von UV-Laserstrahlung beim Durchgang durch die Atmosphäre oder bei Rückstreuung von bestimmten Schichten der Atmosphäre kann aber auch die gesamte Ozonmenge in einer senkrechten Säule über der Erdoberfläche ermittelt werden; Maßeinheit dafür ist die DOBSON-Einheit. 100 DOBSON-Einheiten (DOBSON unit, DU) entsprechen einer 1 mm hohen Schicht von reinem gasförmigem O3 bei 1 bar. Typische Extremwerte für Deutschland sind 350 DU im Frühjahr und 280 DU im Dezember.
11.2
Bindungsverhältnisse am Sauerstoffatom in kovalenten und ionischen Verbindungen
Die Reduktion von O2 durch Elektronenanlagerung führt über die Stufe des SuperoxidAnions [O2]• – und des Peroxid-Anions [O2]2– zu den Oxid-Ionen O• – und O2–. In Gegenwart von Protonendonoren entstehen entsprechend die Ionen [O2H]– und [OH]–. Diese Prozesse sind von großer biologischer Bedeutung bei der Atmung, d.h. der Oxidation organischer Verbindungen bei gleichzeitiger Reduktion von O2 zu H2O. Andererseits erhält man durch Oxidation von O2 das Dioxygenyl-Kation [O2]•+. Verbindungen mit diesen Ionen sowie ihren Derivaten werden im Folgenden besprochen.
11.2.1.
Oxide
Oxide sind Verbindungen, die negativ polarisierte Sauerstoffatome enthalten, ohne dass OO-Bindungen vorhanden sind. Die Oxidationsstufe des Sauerstoffs ist –2. Man kennt sowohl heteropolare (ionische) Oxide wie MgO als auch kovalente Oxide, die teils polymer sind (SiO2), teils aus diskreten kleinen Molekülen bestehen (CO2, N2O) und dann bei entsprechend tiefen Temperaturen in einem Molekülgitter kristallisieren.
412
11 Sauerstoff
Heteropolare Oxide Die elektropositivsten Metalle reagieren mit Sauerstoff in stark exothermen Reaktionen zu festen Oxiden, die in Ionengittern kristallisieren (Na2O, CaO, Al2O3). Diese Strukturen enthalten formal das mit dem Ne-Atom isoelektronische Oxid-Ion O2–. Die Bildung dieses Ions aus O2-Gas nach 1 O (g.) 2 2
O2) (g.)
+ 2 e)
+r H ° = ("1 kJ mol)1
wäre stark endotherm. Auch die Bildung aus O-Atomen wäre mit +634 kJ mol–1 immer noch stark endotherm. Daher sind Oxid-Ionen im freien (gasförmigen) Zustand nicht existent: Sie würden sofort ein Elektron eliminieren und in O• – übergehen. In den ionischen Oxiden werden die Oxid-Ionen jedoch durch das Feld der umgebenden Kationen stabilisiert (Kap. 2.1). In Metalloxiden werden an den O-Atomen (Oxid-Ionen) Koordinationszahlen von bis zu 8 beobachtet, wie folgende Beispiele zeigen: KZ = 4 bei ZnO (Wurtzitstruktur), KZ = 6 bei MgO (Steinsalzstruktur), KZ = 8 bei Li2O und Na2O (Antifluoritstruktur). Das Oxid-Ion ist ein extrem starker Protonenakzeptor. Sofern heteropolare Oxide in protonenhaltigen Lösungsmitteln überhaupt löslich sind, reagieren sie daher sofort mit dem Lösungsmittel unter Bildung von [OH]– bzw. H2O. In Wasser liegt das Gleichgewicht O2) + H2O
2 [OH])
vollkommen auf der rechten Seite. Die heteropolaren Hydroxide M+[OH]– und ihre substituierten, aber ebenfalls noch heteropolaren Derivate M+[OR]– (z.B. Alkoxide) stehen zwischen den ionischen und den kovalenten Oxiden, da das O-Atom durch Bindungen beider Typen mit seinen Nachbarn verbunden ist. Kovalente Oxide Alle Nichtmetalloxide enthalten den Sauerstoff in einer überwiegend kovalenten Bindung mit folgenden Elektronenanordnungen: O
O
O
Die Koordinationszahl des Sauerstoffatoms in kovalenten Oxiden variiert zwischen 1 und 3. Die Koordinationszahl 1 liegt beispielsweise in folgenden Verbindungen vor: Cl O
NF3 (1)
O
N (2)
N
O
S (3)
C Cl
O (4)
Diese Bindungstypen sind weit verbreitet und auch in den Oxo-Anionen [CO3]2–, [SO4]2–, [ClO4]– sowie in zahlreichen molekularen Oxiden wie Cl2O, NO2 und XeO3 zu finden. Die Koordinationszahl 2 findet man im Molekül H2O und allen seinen formalen Derivaten. Die Bindungsverhältnisse im H2O-Molekül wurden im Kapitel 2.4.3 behandelt. Derivate des Wassers sind formal auch die Moleküle Cl2O, HOCl, N2O5 und viele andere Nichtmetalloxide mit verbrückenden Sauerstoffatomen, an denen in der Regel Valenz-
11.2 Bindungsverhältnisse am Sauerstoffatom in kovalenten und ionischen Verbindungen 413
winkel von ca. 105° beobachtet werden. In manchen H2O-Derivaten vom Typ R2O findet man allerdings am Sauerstoff Valenzwinkel, die sehr viel größer als 105° sind und sogar 180° erreichen können.20 Voraussetzung ist dabei stets, dass das O-Atom an Atome gebunden ist, die starke Elektronenakzeptoren (LEWIS-Säuren) sind. Man deutet diese Befunde daher mit einer oder zwei zusätzlichen koordinativen π-Bindungen vom Sauerstoff zu den Nachbaratomen, wodurch die Elektronendichte am O-Atom verringert wird.21 Diese π-Bindung entsteht durch Überlappung der mit dem formal nichtbindenden Elektronenpaar des O-Atoms besetzten p-Orbitals mit einem unbesetzten, energetisch tief liegenden Substituentenorbital; bei linearer Geometrie sind zwei p-Orbitale am O-Atom zu einer derartigen Wechselwirkung befähigt (vgl. CO2, Abschnitt 2.4.6): E
O
E
E
O
E
E
2
O
E
Geeignete Atome E sind Si, P und S, aber auch Metalle wie Ru, die über energetisch tief liegende Akzeptororbitale verfügen. Im Disiloxan (H3Si)2O beträgt der Winkel (SiOSi) 144°, in der analogen Kohlenstoffverbindung (H3C)2O dagegen 112°. Ähnliche Werte findet man in den verschiedenen Modifikationen des SiO2 (α-Quarz: 144°; α-Cristobalit: 147°) sowie in Metasilicat-Anionen. In den Phosphoroxiden P4O6 und P4O10 und in verschiedenen Metaphosphaten wurden an den POP-Brücken Winkel zwischen 121° und 134° ermittelt. Im Disulfat-Ion [S2O7]2– beträgt der Winkel (SOS) 124°, und im polymeren Schwefeltrioxid (SO3)n ist er mit 121° nur geringfügig kleiner. Den größten Winkel, nämlich 180°, findet man im Anion [O3P–O–PO3]4– der Verbindung Zr[P2O7]. Diese Beispiele zeigen, dass O-Atome ähnlich wie Fluoratome zu einer intramolekularen koordinativen π-Bindung befähigt sind, wenn der LEWIS-Base Sauerstoff eine geeignete LEWISSäure gegenüber steht. Trotz seiner hohen Elektronegativität ist der Sauerstoff dann bereit, Elektronen abzugeben. Bei der Deutung aufgeweiteter Valenzwinkel durch koordinative π-Bindungen muss man allerdings berücksichtigen, dass auch sterische Effekte als Ursache in Frage kommen. In gewinkelten Gruppen BAB, in denen ein kleines Atom A (z.B. N, O) mit zwei größeren Atomen B (z.B. Si, P, S, Cl) verbunden ist, wird der Kernabstand d(BB) immer wesentlich kleiner sein als der VAN DER WAALS-Abstand. Es kommt daher zwischen den Atomen B zu einer Wechselwirkung, die wegen der gleichartigen Partialladungen auf diesen Atomen meistens abstoßender Natur sein dürfte und die folglich auf eine Vergrößerung des Valenzwinkels gerichtet ist. Man wird deswegen nur extreme Abweichungen des Winkels vom Wert 105° mit einer koordinativen π-Bindung deuten und sich um eine Bestätigung einer solchen Interpretation durch ab-initio-MO-Rechnungen bemühen. Die Koordinationszahl 3 ist in Sauerstoffverbindungen ebenfalls häufig anzutreffen. Beispiele sind das Oxonium-Ion [H3O]+ sowie Donor-Akzeptor-Komplexe von Ethern mit BF3: F
R O R 20 21
B
F F
A. F. Wells, Structural Inorganic Chemistry, 5. Aufl., Clarendon, Oxford, 1984. Auch die Entfernung eines Elektrons durch Ionisierung führt zu einer Winkelaufweitung: Im Kation [H2O]+ beträgt der Winkel 110° gegenüber 104.5° im Neutralmolekül.
414
11 Sauerstoff
Normalerweise ist die Geometrie am dreifach koordinierten O-Atom so, dass das O-Atom an der Spitze einer trigonalen Pyramide steht. Man kann auch von einem Pseudotetraeder sprechen, wenn man das nichtbindende Elektronenpaar am Sauerstoff als vierten Substituenten betrachtet. In seltenen Fällen kommt es jedoch vor, dass auch dieses Elektronenpaar für eine Bindung benutzt wird. In Analogie zu den Beobachtungen bei bestimmten Oxiden mit zweifach koordiniertem Sauerstoff ist auch hier Voraussetzung, dass am Nachbaratom ein energetisch günstiges Akzeptororbital zur Verfügung steht, so dass eine koordinative π-Bindung entstehen kann.
11.2.2
Peroxide
Peroxide enthalten Sauerstoff in der Oxidationsstufe –1, und zwar in Form der Ionen [O2]2– oder [RO2]– sowie in Derivaten des Typs R–O–O–R mit kovalenten Bindungen. Stets liegt also eine OO-Einfachbindung vor. Diese ist wegen ihrer geringen Bindungsenthalpie besonders reaktiv. Technisch wichtige Peroxide sind H2O2, Na2O2, Natriumperborat (Kap. 6.9.3), Ammoniumperoxodisulfat [NH4]2[S2O8] (Kap. 12.12.6) und Natriumpercarbonat, das in riesigen Mengen in Waschmitteln eingesetzt wird. Ionische Peroxide22 Salzartige Peroxide sind von den Alkalimetallen sowie von Ca, Sr und Ba bekannt. Größere Bedeutung besitzen Na2O2 und BaO2. Natriumperoxid wird technisch durch Verbrennung von Natrium in CO2-freier Luft bei 350–400°C im Drehrohrofen produziert, wobei Na2O als Zwischenprodukt auftritt: 2 Na + O2
Na2O2
° = )0!7 kJ mol)1 +H298
Na2O2 ist ein hellgelbes, hygroskopisches Salz (Schmp. 675°C), das zwei Hydrate bildet (mit 2 und 8 H2O) und das als sehr starkes Oxidationsmittel mit oxidierbaren Stoffen wie Schwefel, Kohle- oder Aluminiumpulver heftig reagiert. Bei Reaktion mit CO2 entwickeln alle Alkaliperoxide Sauerstoff: Na2O2 + CO2
Na2CO3 +
1 O 2 2
Na2O2 wird als Bleichmittel in der Papierindustrie (für Altpapier) sowie in der Textilindustrie eingesetzt. Bariumperoxid wird durch Erhitzen von BaO-Pulver auf 500–600°C im Luftstrom (bei 0.2 MPa) gewonnen: BaO +
1 O 2 2
BaO2
° = )71 kJ mol)1 +H298
Es zersetzt sich wie Na2O2 bei höheren Temperaturen wieder zum Oxid und O2. Bei der vorsichtigen Hydrolyse von ionischen Peroxiden erhält man H2O2 bzw. dessen Anion [HO2]–, da das Ion [O2]2– ein sehr starker Protonenakzeptor ist. Diese Reaktion kann als Hydrolyse des Salzes einer starken Base (NaOH) und einer sehr schwachen zweiprotonigen Säure (H2O2) aufgefasst werden: 22
W. Hesse, M. Jansen, W. Schnick, Progr. Solid State Chem. 1989, 19, 47; T. Bremm, M. Jansen, Z. Anorg. Allg. Chem. 1992, 610, 64.
11.2 Bindungsverhältnisse am Sauerstoffatom in kovalenten und ionischen Verbindungen 415
[O2]2) + H2O
[HO2]) + [OH])
Da die Zersetzung von H2O2 zu H2O und O2 von Hydroxid-Ionen katalysiert wird, muss man dabei unter Kühlung arbeiten oder das Peroxid in verdünnte Säure eintragen. Kovalente Peroxide Wichtigster Vertreter der kovalenten Peroxide ist das Wasserstoffperoxid H2O2, als dessen Derivate alle übrigen Peroxoverbindungen aufgefasst werden können. Diese Stoffklasse wird im Abschnitt 11.3.2 behandelt.
11.2.3
Superoxide
Rubidium und Caesium verbrennen in einer Sauerstoffatmosphäre beim Druck von 0.1 MPa nicht zu Oxiden oder Peroxiden, sondern zu Verbindungen des Typs MO2, die das Radikal-Anion [O2]• – enthalten. NaO2 und KO2 können aus den jeweiligen Peroxiden und O2 bei hohem Druck (30 MPa) und hoher Temperatur (500°C) hergestellt werden. LiO2 bildet sich nur bei tiefen Temperaturen aus atomarem Li und O2 sowie aus Li2O2 und O3 und kann nur spektroskopisch nachgewiesen, aber nicht rein erhalten werden. Das Superoxid-Ion (früher: Hyperoxid) entsteht in exothermer Reaktion durch Elektronenanlagerung an O2, da Disauerstoff eine positive Elektronenaffinität besitzt: O2(g.) + e)
[O2]) (g.)
° = )Eca(O2) = ) 42 kJ mol)1 + H298
Zur Bildung stabiler Superoxide bedarf es aber offenbar eines großen Kations. Außer den Alkalimetallsuperoxiden sind auch noch Ba[O2]2, Sr[O2]2, [Me4N][O2] und komplexere Salze mit sehr großen Kationen bekannt.23 Die Salze NaO2, KO2, RbO2 und CsO2 kristallisieren bei Raumtemperatur oder darüber in der Steinsalzstruktur (Hochtemperaturphase), jedoch sind die Anionen infolge freier oder gehinderter Rotation fehlgeordnet. Bei tieferen Temperaturen werden mehrere Phasenübergänge als Folge zunehmender Ordnung beobachtet, wodurch tetragonale, orthorhombische und monokline Phasen entstehen. KO2 löst sich in Acetonitril und Dimethylformamid (DMF) und wird in der organischen Synthese vor allem zur Oxidation von Organoschwefelverbindungen verwendet. Superoxide sind gelbe bis orangefarbene Feststoffe mit stark oxidierenden Eigenschaften. KO2 wird technisch durch Oxidation einer Suspension von flüssigem Kalium mit sauerstoffangereicherter Luft hergestellt und für die Regenerierung verbrauchter Luft verwendet,24 da KO2 sowohl CO2 als auch H2O bindet und dabei O2 freisetzt: 4 KO2 + 4 CO2 + 2 H2O
4 KHCO3 + 3 O2
Superoxide sind paramagnetisch, da das Anion ein ungepaartes Elektron enthält. In Wasser ist [O2]• – eine starke BRØNSTED-Base (Protonenakzeptor) und ein mittelstarkes 1-Elektronen-Reduktionsmittel, wobei es in O2 übergeht. Bei der Hydrolyse reiner Superoxide entstehen jedoch in heftiger Reaktion H2O2 bzw. das Anion [HOO]–, O2 und [OH]–: 23 24
H. Seyeda, M. Jansen, J. Chem. Soc., Dalton Trans. 1998, 875. Beispielsweise in U-Booten und Raumfahrzeugen.
416
11 Sauerstoff
&)
[O2]
&
+ H 2O
HO2 + [OH])
2 HO2
H2O2 + O2
&
H2O2
H2O +
1 2
O2
Das bei der Hydrolyse primär gebildete radikalische Wasserstoffsuperoxid [HO]• ist in Wasser eine schwache Säure (pKa = 4.8). Es lässt sich bei tiefen Temperaturen IR-spektroskopisch nachweisen, wenn man HI in einer O2-Matrix bei 4 K photolytisch spaltet: HI H
&
h <
H
+ O2
&
+
&
I
&
HO2
Auch bei der Zersetzung von H2O2 in Gasentladungen oder auf photochemischem Wege wurde [HO]• als Zwischenprodukt nachgewiesen. Die Reduktion von O2 durch 1 Elektron unter Bildung von [O2]• – läuft bei allen biologischen Atmungsprozessen in den Mitochondrien als Nebenreaktion ab. Aus [O2]• – entsteht dann sofort [HO]•, das ein wirkungsvolles Oxidationsmittel für Membranlipide ist und auch an der DNA mutagene Schäden verursacht. Daher müssen Organismen dieses Radikal rasch abbauen. Dies geschieht durch die manganhaltige Superoxid-Dismutase, die die Disproportionierung von [HO]• zu H2O2 und O2 beschleunigt.
11.2.4
Ozonide
Die Eigenschaften der Peroxide und Superoxide lassen erkennen, dass die Tendenz zur Bildung höherer Oxide mit steigendem Kationenradius zunimmt. Mit den relativ großen Ionen Na+, K+, Rb+, Cs+ und [Me4N]+ sind aber noch sauerstoffreichere Salze bekannt.25 Die Ozonide MO3 enthalten das paramagnetische, gewinkelte Ion [O3]• –, dessen ungepaartes Elektron sich in einem antibindenden π*-Molekülorbital befindet (vgl. O3). Dementsprechend sind die OO-Kernabstände in den Ozoniden der Alkalimetalle mit 133.3–135.3 pm größer als beim kristallinen Ozon (127.2 pm); die OOO-Valenzwinkel betragen 113.0–114.6°. Reine Ozonide entstehen bei der Einwirkung von O3 auf die festen Superoxide von K, Rb oder Cs, wobei die Reaktionsenthalpie durch Kühlung abgeführt werden muss: KO2 +
O3
KO3 +
O2
Diese Ozonide können durch Extraktion mit flüssigem Ammoniak vom schwerlöslichen Superoxid getrennt und anschließend kristallisiert werden. Die Ozonide der Alkalimetalle Na bis Cs zersetzen sich in exothermer Reaktion langsam schon bei Raumtemperatur, schneller beim Erwärmen auf 35–50°C zu den entsprechenden Superoxiden und O2. Tetramethylammoniumozonid [Me4N][O3] ist thermisch etwas stabiler als die Alkalimetallozonide. Mehr als 40 ionische Ozonide wurden hergestellt, meistens mit großen bis sehr großen Kationen. Bezüglich kovalenter Ozonide, die durch Addition von Ozon an Phosphonsäureester entstehen, siehe Abschnitt 11.1.1. 25
M. Jansen, H. Nuss, Z. Anorg. Allg. Chem. 2007, 633, 1307.
11.2 Bindungsverhältnisse am Sauerstoffatom in kovalenten und ionischen Verbindungen 417
11.2.5
Dioxygenylverbindungen
Diese Verbindungen enthalten Sauerstoff in der Oxidationsstufe + 12, und zwar meistens in Form des Ions [O2]•+, das nach der offiziellen Nomenklatur Dioxygen(1+)-Ion heißt. Dieses Kation entsteht aus dem O2-Molekül durch Ionisierung, d.h. durch Entfernung eines Elektrons aus dem entarteten π*-Niveau: O2(g.)
° = Ei(O2) = 1168 kJ mol)1 + H298
[O2]+(g.) + e)
Wegen der großen Ionisierungsenergie kann dieser Prozess chemisch nur dann realisiert werden, wenn der Reaktionspartner über eine extrem große Elektronenaffinität verfügt. Ein solcher Partner ist Platinhexafluorid, das mit O2 schon bei 25°C zu dem orangefarbenen, im Vakuum sublimierbaren Salz [O2][PtF6] reagiert, das mit K[PtF6] isomorph ist. O2 + PtF6
25°C
[O2][PtF6] O2 + Pt + 3 F2
450°C
Bei dieser Reaktion oxidiert das Pt(VI) den Disauerstoff zu [O2]+ und wird dabei selbst zu Pt(V) reduziert. Bei 450°C kann [O2][PtF6] auch direkt aus den drei Elementen hergestellt werden. Ein anderer Weg zu ionischen Dioxygenylverbindungen führt über das Disauerstoffdifluorid O2F2, das mit Fluorid-Ionen-Akzeptoren unter Fluorabspaltung zu [O2]+-Salzen reagiert: O2F2 + BF3
[O2][BF4] +
1 2
F2
Analog reagieren PF5, AsF5 und SbF5. Man kann jedoch auch einfach ein Gemisch aus F2, O2 und AsF5 bzw. SbF5 bestrahlen. [O2][BF4] ist mit dem orthorhombischen Nitrosyltetrafluoroborat [NO][BF4] isomorph. Die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen [O2]+- und [NO]+-Salzen sind auf die vergleichbare Raumbeanspruchung der beiden Kationen zurückzuführen. Das Ion [O2]+ ist paramagnetisch, da es ein ungepaartes Elektron auf dem π*-Niveau enthält. Das magnetische Moment von Dioxygenylsalzen setzt sich daher gegebenenfalls aus den Einzelmomenten für das Kation und das Anion zusammen, sofern auch dieses paramagnetisch ist (z.B. [PtF6]–). Die interessanteste Reaktion von [O2]+ ist wahrscheinlich die reversible Addition eines Cl2-Moleküls zum planaren, trapezförmigen Kation [Cl2O2]+, isoliert in Form der paramagnetischen, schwarzen Salze [Cl2O2][SbF6] und [Cl2O2][Sb2F11].26 Die beiden Komponenten dieses Kations sind durch eine π*-π*-Bindung miteinander verknüpft (siehe das Molekül O8 im Abschnitt 11.1.1 und das Kation [I4]2+ im Kapitel 13.5.4). Kovalente Dioxygenylverbindungen müssten vom Typ [O2R]• sein, wobei R eine größere Elektronegativität als O2 besitzen muss, da es sich andernfalls um Derivate des Hydroperoxyradikals HO• handeln würde. Folglich kommen für R nur Fluor und eventuell gewisse perfluorierte Substituenten in Frage (z.B. –CF3 oder –SF5). Das Radikal [O2F]• 26
T. Drews, W. Koch, K. Seppelt, J. Am. Chem. Soc. 1999, 121, 4379.
418
11 Sauerstoff
entsteht bei der Reaktion von O2 mit Fluoratomen, die bei tiefen Temperaturen photochemisch aus F2 erzeugt werden können:
2 O2 + 2 F
&
2 [O2F]
&
O4F2
O2 + O2F2
Dioxygenylfluorid [O2F]• wurde IR- und ESR-spektroskopisch identifiziert. Bei Temperaturen, unter denen eine Diffusion möglich ist, steht [O2F]• mit seinem Dimeren, dem Tetrasauerstoffdifluorid O4F2, im Gleichgewicht. Dieses Gemisch zersetzt sich aber allmählich zu O2 und O2F2. Näheres über Sauerstofffluoride im Abschnitt 11.4.
11.2.6
Vergleich der Bindungsverhältnisse in den Ionen [O2]• +, [O2]• – und [O2]2–
Es ist sehr aufschlussreich, die Bindungsverhältnisse in den zweiatomigen Gruppen [O2]+, O2, [O2]– und [O2]2– zu vergleichen, wozu man zweckmäßig, die verschiedenen experimentell zugänglichen Bindungseigenschaften betrachtet. In Tabelle 11.3 sind die an entsprechenden Verbindungen ermittelten Kernabstände, Valenzkraftkonstanten und Dissoziationsenthalpien angegeben. Alle Werte zeigen, dass die OO-Bindung beim Übergang vom [O2]+ zum [O2]2– stark geschwächt wird. Das ergibt sich zwanglos aus der Molekülorbital-Analyse dieser Moleküle nach dem im Kapitel 2.4.3 angegebenen Schema. Tab. 11.3 Bindungseigenschaften der OO-Bindungen in den zweiatomigen Molekülen und Ionen [O2]+, O2, [O2]– und [O2]2–. Mit zunehmender Besetzung des antibindenen 1πg-Niveaus mit Valenzelektronen wird die kovalente Bindung immer schwächer. Zahl der π*E lektronen
Kernabstand (pm)
Kraftkonstante (N cm–1)
Dissoziationsenthalpie D 00 (kJ mol–1)
[O2]+ (g.)
1
111.6
16.5
643
O2 (g.)
2
120.7
11.4
495
[O2]–
(g.)
3
135
5.4
395
[O2]2– (Na2O2)
4
149
2.8
–
Alle vier Spezies unterscheiden sich nur in der Zahl der Elektronen auf dem zweifach entarteten π*-Niveau, und zwar nimmt diese Zahl von 1 beim [O2]+ in der Reihe zum [O2]2– um je eins zu. Die Besetzung aller stabileren Molekülorbitale bleibt zwar unverändert, für eine detailliertere Diskussion muss aber berücksichtigt werden, dass die Aufspaltung der Atomorbitale in Molekülorbitale vom Grad der Überlappung und damit vom Kernabstand und der Ionenladung abhängt. Das Schema kann daher nur qualitativ für alle vier Spezies gültig sein. Hinzu kommt, dass das Ion [O2]2– in isolierter Form nicht existiert, da es bezüglich einer Dissoziation in [O2]– und e– instabil ist. Seine Eigenschaften können daher nur an entsprechenden Verbindungen ermittelt werden, bei denen aber meistens unklar ist, wie groß die Ladung auf dem Anion tatsächlich ist.
11.3 Hydride des Sauerstoffs und Peroxoverbindungen
11.3
Hydride des Sauerstoffs und Peroxoverbindungen
11.3.1
Allgemeines
419
Wasser ist wahrscheinlich die wichtigste Verbindung auf der Erde.27 Seine physikalischen und chemischen Eigenschaften wurden bereits beim Wasserstoff (Kap. 5) sowie im Kapitel 2.4.7 (Bindungsverhältnisse) beschrieben. Von großer Bedeutung ist außer H2O dessen Homologes H2O2. Beide Verbindungen sind die einzigen binären Sauerstoffhydride, die in reiner Form hergestellt werden können. Die sauerstoffreicheren Hydride H2On mit n = 3 und 4 wurden in der Gasphase und in verdünnten Lösungen spektroskopisch nachgewiesen (IR-, MW- und 1H-NMR-Spektroskopie). Sie entstehen bei der Zersetzung von H2O2 in einer Glimmentladung (H2O2 → H• + [HO2]•; 2 [HO2]• → H2O4; H2O2 → 2 [OH]•; [OH]• + [HO2]• → H2O3). Lösungen von H2O3 können auch aus Ozon und Anthrahydrochinon in Analogie zur technischen Synthese von H2O2 (siehe unten) erhalten werden. Die Instabilität von H2O3 und H2O4 bei Raumtemperatur entspricht den thermodynamischen Überlegungen zur Beständigkeit von längeren Sauerstoffketten (Kap. 4.2.3). Auch H2O2 ist bereits eine nur metastabile Verbindung, die sich katalytisch in exothermer Reaktion zu H2O und O2 zersetzt. Von H2O2 und H2O3 leitet sich aber eine größere Zahl kovalenter Di- und Trioxide R–On–R mit n = 2 bzw. 3 ab. Die Radikale [HOn]• mit n = 1 und 2 sind als Reaktionszwischenprodukte von Bedeutung. Sie wurden mit der Matrix-Technik isoliert und durch IR-, ESR- und UVSpektren charakterisiert. Beide Hydride entstehen unter anderem bei der Verbrennung von Knallgas sowie bei atmosphärischen Reaktionen; das Hydroperoxyradikal [HO]• tritt auch bei der Hydrolyse von Superoxiden als Zwischenprodukt auf (Kap. 11.2.3). In wässriger Lösung disproportioniert es aber rasch in bimolekularer Reaktion zu H2O2 und O2.
11.3.2
Wasser28
Wasser steht auf der Erde als Rohstoff zwar in unbegrenzter Menge zur Verfügung, 97 % davon liegen aber als Salzwasser in den Meeren vor. Von den restlichen 3 % ist der weitaus größte Teil in den arktischen und antarktischen Eiskappen sowie in Gletschern gebunden. Das natürliche Wasser in Flüssen, Seen und im Untergrund muss in der Regel vor seiner Verwendung als Trinkwasser oder für industrielle Zwecke gereinigt werden. In Deutschland beträgt die Förderung von Wasser für alle Zwecke größenordnungsmäßig 5·1010 m3 a–1. Verwendet werden Grundwasser (einschließlich Uferfiltrat), Quellwasser und Oberflächenwasser (z.B. Talsperrenwasser).28 In anderen Ländern wird auch Meer-
27
28
Der menschliche Körper besteht je nach Alter aus 65–70 % H2O. Auch unsere Nahrung enthält reichlich Wasser wie folgende Zahlen zeigen: Mageres Fleisch 76%, Fisch 81 %, Tomaten 74 %, Gemüse ca. 88 %, Früchte ca. 80 %. Karl Höll, Wasser (Herausg. A. Grohmann), 8. Auflage, de Gruyter, Berlin, 2002.
420
11 Sauerstoff
und Brackwasser zu Trinkwasser aufbereitet.29 Ammonium-, Nitrit- und Nitrat-Ionen gelten als anthropogene Verunreinigungen im Grundwasser. Ein wichtiger erster Schritt bei der Aufbereitung von Süßwasser ist die Entkeimung und Oxidation organischer Verbindungen, wozu entweder Cl2, O3 oder ClO2 verwendet werden. Dabei werden gleichzeitig Eisen(II)- und Mangan(II)-Ionen in höhere Oxidationsstufen überführt, was die Ausflockung dieser Elemente in Form von Hydroxiden begünstigt. Chlor erzeugt allerdings unerwünschte organische Chlorverbindungen, weswegen viele Städte inzwischen Ozon oder Chlordioxid verwenden. Nach der Oxidation wird das Wasser durch physikalische Methoden (Flockung, Sedimentation, Filtration, Aktivkohle-Behandlung) weiter gereinigt.28 Enthält das Rohwasser zu viel gelöste Hydrogencarbonate (hartes Wasser), wird das [HCO3]–-Ion mit einer Aufschlämmung von Calciumhydroxid (Kalkmilch) als unlösliches Carbonat ausgefällt: Ca(HCO3)2 + Ca(OH)2
2 CaCO3 + 2 H2O
Demineralisiertes Wasser erhält man aus Trinkwasser durch Ionenaustausch an einem wasserunlöslichen Polymer (z.B. Polystyrol, PS), das an seiner Oberfläche geeignete funktionelle Gruppen trägt. Das Wasser fließt nacheinander durch einen Kationenaustauscher und einen Anionenaustauscher, in denen folgende Reaktionen ablaufen: Kationenaustausch: [H3O]+[PS Anionenaustausch: [PS
SO3]) + Na+
Na+[PS
NMe3]+[OH]) + Cl)
NMe3]+Cl) + [OH])
[PS
[H3O]+ + [OH])
Folgereaktion:
SO3]) + [H3O]+
2 H2 O
Wenn die Kapazität der Austauscher erschöpft ist, wird der Kationenaustauscher mit Salzsäure und der Anionenaustauscher mit Natronlauge regeneriert: Na+[PS [PS
SO3]) + HCl(aq)
NMe3]+Cl) + NaOH
[H3O]+[PS [PS
SO3]) + NaCl
NMe3]+[OH]) + NaCl
Man erzielt Restgehalte von 0.02 g Salz pro Liter (Überprüfung durch Messung der elektrischen Leitfähigkeit). Eine weitere Reinigung kann durch umgekehrte Osmose erfolgen.29 Zur Gewinnung von völlig reinem und luftfreiem Wasser im Labor wird in einer Quarzapparatur zweimal destilliert. Die molekulare Struktur von Eis, Wasser und Wasserdampf sowie die Lösungsmitteleigenschaften von Wasser wurden bereits im Kapitel 5.6.4 (Wasserstoffbrückenbindung) erläutert. Hervorzuheben ist die außergewöhnlich starke Solvatation von Ionen in flüssigem Wasser, die auf das Dipolmoment und die geringe Größe des H2O-Moleküls zurückzuführen ist. Das H2O-Molekül ist außerdem wegen der hohen OH-Bindungsenergie extrem robust und wird bei 25°C nur von den stärksten Reduktionsmitteln (z.B. Alkalimetalle) und Oxidationsmitteln (z.B. F2) angegriffen. Im überkritischen Zustand, d.h. bei Temperaturen oberhalb von 374°C und Drücken >22 MPa, sind die Lösungsmitteleigenschaften von Wasser von denen bei Normalbedingungen ganz verschieden. Die Dichte beträgt dann weniger als 0.322 g cm–3, und daher ist 29
Dazu wird das Salzwasser entweder unter vermindertem Druck verdampft und anschließend kondensiert oder der umgekehrten Osmose unterworfen; K. H. Büchel, H.-H. Moretto, P. Woditsch, Industrielle Anorganische Chemie, Wiley-VCH, Weinheim, 1999, Kap. 1.1.
421
11.3 Hydride des Sauerstoffs und Peroxoverbindungen
die Polarität des Mediums viel geringer. Folglich nimmt die Löslichkeit polarer und ionischer Substanzen stark ab, während die unpolarer Stoffe stark zunimmt.30
11.3.3
Wasserstoffperoxid H2O2
Herstellung Wasserstoffperoxid ist eine der wichtigsten Verbindungen der chemischen Industrie. Es wird technisch in großem Umfang als wässrige Lösung mit Konzentrationen zwischen 35 und 85 % produziert. Die Weltjahresproduktion beträgt ca. 2.2·106 t H2O2. Die Synthese erfolgt hauptsächlich nach dem Anthrachinon-Verfahren, das auf der Autoxidation eines substituierten Anthrahydrochinons durch Luftsauerstoff beruht (AO-Verfahren; R = Ethyl, t-Butyl oder t-Amyl):31 OH R
O + O2
R + H2O2
O OH Diese mehrstufige Reaktion verläuft nach einem Radikalketten-Mechanismus. In einem kontinuierlich geführten Kreisprozess wird das Chinon anschließend katalytisch wieder zum Hydrochinon hydriert, wozu man elementaren Wasserstoff (4 bar) verwendet, der an metallischem Ni oder Pd bei 40°C aktiviert wird. Diese Reaktionen spielen sich in einem organischen Lösungsmittelgemisch ab, das in Wasser unlöslich ist und aus dem das H2O2 durch Gegenstromverteilung mit Wasser extrahiert wird. Da das Chinon im Kreislauf geführt wird, hat man es also mit einer Synthese von H2O2 aus den Elementen O2 und H2 zu tun. Technisch hergestelltes Wasserstoffperoxid enthält immer Spuren von Stabilisatoren (100–1000 ppm; Natriumdiphosphat, Natriumstannat oder organische Chelatliganden), um die spontane Zersetzung zu H2O und O2 zu unterdrücken. Wasserstoffperoxid wird in nahezu allen Industriezweigen verwendet,31 hauptsächlich jedoch zum Bleichen von Zellstoff, Textilien, Federn, Haaren, Stroh und Papier einschließlich Altpapier, zum Aufhellen von Furnierhölzern, zur Trink- und Brauchwasseraufbereitung, zur Abwasserklärung und oxidativen Beseitigung von Industrieabfällen, zur Herstellung von Perborat, Percarbonat und organischen Peroxiden (siehe unten) sowie für zahlreiche katalytische Oxidationen organischer Verbindungen.32 Das in Waschmitteln eingesetzte Natriumpercarbonat ist kein Salz der Perkohlensäure sondern ein Addukt der Zusammensetzung Na2CO3 ·1.5 H2O2, das direkt aus diesen Komponenten hergestellt wird. Da in Deutschland im Jahr 2001 mehr als 600000 Tonnen Waschmittel verbraucht wurden, die 10–20 % Percarbonat enthielten, erkennt man sofort die Bedeu30 31 32
H. Weingärtner, E. U. Franck, Angew. Chem. 2005, 117, 2730. D. Bröll, et al., Angew. Chem. 1999, 111, 3180. J. M. Campos-Martin, G. Blanco-Brieva, J. L. G. Fierro, Angew. Chem. 2006, 118, 7116. H. Offermanns, G. Dittrich, N. Steiner, Chemie unserer Zeit 2000, 34, 150. G. Strukul (Herausg.), Catalytic Oxidations with Hydrogen Peroxide as Oxidant, Kluwer, Dordrecht, 1992. R. Noyori, M. Aoki, K. Sato, Chem. Commun. 2003, 1977.
422
11 Sauerstoff
tung von Wasserstoffperoxid. In der leicht alkalischen Waschlauge liegt H2O2 als Monoanion [HOO]– vor, das mit dem in Waschmitteln vorhandenen Tetraacetylethylendiamin Ac2N-CH2-CH2–NAc2 (EDTA) zu Peressigsäure CH3C(=O)OOH reagiert, die schon bei 40°C die Schmutz- und Farbstoffe der Wäsche oxidiert und somit als Bleichmittel wirkt.33 Eigenschaften und Struktur von H2O2 Reines H2O2 kann aus hochprozentigen Mischungen durch fraktionierte Kristallisation erhalten werden. Es kristallisiert in farblosen Nadeln, die bei –0.9°C schmelzen. Flüssiges H2O2 ist fast farblos, in dicker Schicht aber blau und wegen sehr starker Assoziation über Wasserstoffbrücken eine sirupartige Flüssigkeit, die erst bei 150°C siedet. Wasserfreies H2O2 wird am besten unter Kühlung in paraffinierten Flaschen oder in Gefäßen aus Polyethylen aufbewahrt. Die Zersetzung zu H2O und O2 wird schon durch Spuren von Schwermetall-Ionen34 sowie durch Pt, MnO2 und vor allem durch alkalisch reagierende Stoffe katalysiert: H2O2
H2O +
1 2
O2
° = )100.4 kJ mol)1 + H298
Diese Reaktion läuft nach einem radikalischen Mechanismus ab, wobei [HO]• und [HO2]• als Zwischenprodukte auftreten. d (OO) = 149 pm
H O H
O
2
d (OH) = 96.5 pm Winkel OOH = 99.4° 2 = 112°
Abb. 11.4 Struktur des Moleküls H2O2 in der Gasphase (Symmetrie C2). Im Kristall sind die geometrischen Daten wegen intermolekularer Wasserstoffbrücken-Bindungen etwas anders.
Das Molekül H2O2 hat die Symmetrie C2 (Abb. 11.4), d.h. es liegt eine Kette aus vier Atomen vor. Der Diederwinkel τ beträgt beim gasförmigen Molekül 112°.35 Dieser Wert ist das Resultat von zwei Effekten. Zum einen stoßen sich die nichtbindenden p-Elektronenpaare an den beiden O-Atomen ab. Diese Wechselwirkung ist am stärksten bei Diederwinkeln von 0° und 180° und wird minimal bei τ = 90°. Zum anderen stoßen sich die beiden H-Atome ab, die wegen der Elektronegativitätsdifferenz zwischen Sauerstoff (3.5) und Wasserstoff (2.2) positiv geladen sind. Diese Wechselwirkung ist minimal bei τ = 180° und maximal bei τ = 0°. Als Kompromiss zwischen den zwei Effekten ergibt sich der Torsionswinkel von 112°.36 Bei der Rotation einer OH-Gruppe um die OO-Verbindungs33 34
35 36
S. Glathe, D. Schermer, Chemie unserer Zeit 2003, 37, 336. Beispielsweise reduziert Fe2+ in der so genannten FENTON-Reaktion das H2O2 zu [OH]– und [HO]•. Letzteres reagiert mit weiterem H2O2 zu H2O und [HO2]•. Das HO2-Radikal reduziert Fe3+ wieder zu Fe2+ und geht dabei in O2 und H+ über. Mit bestimmten Chelatliganden am Eisenatom treten dabei auch Hydroxo- und Oxokomplexe von Fe4+ auf. J. A. Dobado, J. M. Molina, D. P. Olea, J. Mol. Struct. (Theochem) 1998, 433, 181. L. Margules, J. Domaison, J. E. Boggs, J. Mol. Struct. (Theochem) 2000, 500, 245. Bei gasförmigen Derivaten des H2O2 beobachtet man z.T. ähnliche, teilweise aber auch wesentlich größere Torsionswinkel. Beispiele sind: MeOOMe 119°, F5SOOSF5 129°, Me3SiOOSiMe3 143°.
423
11.3 Hydride des Sauerstoffs und Peroxoverbindungen
linie ist bei τ = 180° eine Potentialschwelle von nur 4.6 kJ mol–1 zu überwinden (transBarriere). Die cis-Barriere ist wegen der zusätzlichen H···H-Abstoßung mit 30.7 kJ mol–1 wesentlich höher. Das H2O2-Molekül ist wegen seiner niedrigen Symmetrie chiral. Die beiden Enantiomere unterscheiden sich nur durch das Vorzeichen des Torsionswinkels, der +112° oder –112° (gleich +248°) betragen kann. Man spricht in diesem Fall von helicaler Chiralität. Ein positiver Winkel liegt vor, wenn man das näher am Betrachter liegende H-Atom im Uhrzeigersinn um die OO-Achse drehen muss, um es bei τ = 0 in eine Ebene mit den übrigen Atomen zu bringen (rechtsdrehende Helix). Im kristallinen H2O2 beträgt der Torsionswinkel wegen der intermolekularen H-Brückenbindungen 120.5° (bei 110 K). Enantiomere haben grundsätzlich die gleiche Bildungsenthalpie. Die auf die hohe Elektronendichte an den O-Atomen zurückzuführende geringe Bindungsenthalpie der OO-Bindung ist für die Neigung von H2O2 zu radikalischen Reaktionen verantwortlich. Auch durch Photolyse von H2O2 erhält man OH-Radikale. Außerdem reagiert H2O2 aber auch als Nukleophil, das mit LEWIS-Säuren wie Fe2+ Addukte bildet. Reaktionen von H2O237 In verdünnter wässriger Lösung ist H2O2 teilweise in Ionen dissoziiert: H2O2 + H2O
[H3O]+ + [HO2])
Kc = 2.10)12 mol L)1(20°C)
Die Dissoziationskonstante von H2O hat dagegen den Wert 1.8·10–16 mol L–1, d.h. H2O2 ist in Wasser eine sehr schwache Säure. Alkalische H2O2-Lösungen enthalten daher neben [OH]–-Ionen auch das Ion [HO2]–. Solche Lösungen entstehen bei der Hydrolyse von Na2O2 oder KO2 (Kap. 11.2), jedoch sind derartige Lösungen instabil. Das Anion [HO2]– ist ein starkes Nukleophil, das beispielsweise SO2 angreift und zu Hydrogensulfat oxidiert: [HOO]) + SO2
[HOOS(O)O])
[HSO4])
Am stabilsten ist H2O2 im sauren Bereich (pH < 4), aber sowohl in saurer als auch in alkalischer wässriger Lösung ist H2O2 ein starkes Oxidationsmittel. Der Sauerstoff wird dabei zur Oxidationsstufe –2 reduziert: H2O2 + 2 e)
2 [OH])
H2O2 oxidiert z.B. I– zu I2, H2S zu Schwefel, SO2 zu [SO4]2–, [NO2]– zu [NO3]–, As2O3 zu [AsO4]3–, Cr(III)-Salze zu Chromat(VI) und Fe(II) zu Fe(III). Die Oxidation nichtmetallischer Substrate wird durch 1-Elektronen-Katalysatoren beschleunigt, gewöhnlich Eisenoder Kupfer-Ionen, die spurenweise meist zugegen sind. Gegenüber sehr starken Oxidationsmitteln wirkt H2O2 reduzierend: H2O2
O2 + 2 H+ + 2 e)
Dies gilt z.B. gegenüber [MnO4]–, Cl2, Ce(IV)-Salzen und O3. Permanganat-Ionen werden in saurer Lösung zu Mn2+ reduziert, was zur titrimetrischen Bestimmung wässriger H2O2-Lösungen ausgenutzt wird. Durch Verwendung von H218O2 konnte gezeigt werden, dass der bei der Oxidation von H2O2 entstehende Sauerstoff quantitativ aus dem H2O2 stammt. Dies zeigt, dass die OO-Bindung bei der Oxidation erhalten bleibt, da andernfalls ein Isotopenaustausch mit dem Lösungsmittel H2O eintreten würde. Das Gleiche gilt 37
D. T. Sawyer, Encycl. Inorg. Chem. 1994, 6, 2947.
424
11 Sauerstoff
für die durch FeCl3 katalysierte Zersetzung von H2O2, bei der ein Isotopenaustausch ebenfalls ausbleibt und für die daher folgender Mechanismus angenommen wird: H2O2 + FeCl3
[FeCl3(OH)2]
[FeCl3(OH)2] + H2O2
FeCl3 + 2 H2O + O2
Es findet also eine konzertierte Übertragung der zwei H-Atome eines H2O2-Moleküls auf das „Addukt“ aus H2O2 und FeCl3 statt, bei dem es sich um einen Hydroxokomplex von Fe(V) handelt. Wegen der bei der Zersetzung frei werdenden Energie erwärmt sich die Lösung und daher beschleunigt sich die Reaktion von selbst. Aus diesem Grunde kann es bei konzentrierten H2O2-Lösungen zu einer explosionsartigen Reaktion kommen.38 Im Körper von Säugetieren sorgt das Enzym Katalase für die Zersetzung von Wasserstoffperoxid, das durch Reduktion von O2 entstanden ist (Abschnitt 11.1.1). Als Inhibitoren, d.h. negative Katalysatoren der Zersetzungsreaktion wirken Diphosphat-Ionen und verschiedene organische Säuren, die Metall-Ionen komplexieren. Solche Stoffe werden den handelsüblichen H2O2-Lösungen in geringer Konzentration zur Stabilisierung zugesetzt. Peroxoborate enthalten das cyclische Anion 2)
OH O HO
B
O
B
O O
OH
OH
das als Natriumsalz in erheblichen Mengen produziert wird, um es Waschmitteln als Bleichmittel zuzusetzen, obwohl in Deutschland heute überwiegend Percarbonat verwendet wird. Die Synthese erfolgt aus Natriumtetraborat (z. B Kernit) und H2O2 bei 20–30°C, wobei das technisch als Natriumperborat-Tetrahydrat bezeichnete Salz Na2[B2(O2)2(OH)4] auskristallisiert. Von Bedeutung ist außerdem das unter den Handelsnamen Caroat und Oxone vertriebene Tripelsalz 2K[HSO5]·K[HSO4]·K2[SO4], das durch Vermischen von H2O2 (85 %ig) mit rauchender Schwefelsäure (Oleum, 57–74 % freies SO3) bei 8°C und anschließende Neutralisation mit Kalilauge oder K2[CO3] hergestellt wird. Oxone ist ein wichtiges Oxidationsmittel in der organische Synthese,39 das auch zum Bleichen von Fasern in saurer Lösung eingesetzt wird. Es enthält das Anion [HOOSO3]– der Peroxomonoschwefelsäure. Durch Reaktion von konzentrierten H2O2-Lösungen mit P4O10 erhält man Monoperoxophosphorsäure H3PO5. Aus Wasserstoffperoxid werden sehr viele der als Polymerisationsinitiatoren verwendeten organischen Peroxide hergestellt; außerdem auch großtechnisch bedeutsame Zwischenprodukte wie Peroxocarbonsäuren, die z.B. für Epoxidationen eingesetzt werden. In wasserfreien Medien ist die Reaktivität von H2O2 von der in Wasser deutlich verschieden.37
38
39
Die bei der kontrollierten Zersetzung von hochkonzentriertem H2O2 frei werdende Energie und die damit verbundene Wasserdampf- und Sauerstoffentwicklung werden zum Antrieb von Torpedos und Raketen genutzt. V. Jadhav, M. Y. Park, Y. H. Kim, Chem. Peroxides 2006, 2, 1001.
425
11.3 Hydride des Sauerstoffs und Peroxoverbindungen
Das Hydroxylradikal [OH]•
11.3.4
Hydroxylradikale spielen eine äußerst wichtige Rolle als Reaktionszwischenprodukte bei Verbrennungsreaktionen sowie in der Troposphäre, wo sie dafür sorgen, dass bestimmte Spurengase wie CO und CH4 oxidiert und damit wasserlöslich werden, so dass sie vom Regen ausgewaschen werden können. Auch im menschlichen Körper entstehen in geringer Konzentration Hydroxylradikale, und zwar durch stufenweise Reduktion von O2 im Rahmen des Atmungsprozesses. Durch Reaktion von [OH]• mit der DNA werden dann verschiedene Folgeprodukte gebildet, von denen einige mutagen sind, weswegen die menschliche Nahrung auch Radikalfänger enthalten sollte wie etwa Glutathion, Carotinoide, Polyphenole sowie die Vitamine A, C und E (Antioxidantien).10 Der größte Teil des bei der Atmung verbrauchten O2 wird jedoch nach Koordination an die Eisen- oder Kupferionen entsprechender Enzyme direkt zu H2O reduziert, wobei freie Radikale nicht auftreten (4-Elektronen-Reduktion).40 Die homolytische Dissoziation von H2O in H• und [OH]• erfordert 498 kJ mol–1 und ist daher keine geeignete Reaktion zur Erzeugung von OH-Radikalen. Durch Photolyse von O3 entstehen aber in der Atmosphäre je nach Wellenlänge der einfallenden Strahlung entweder O-Atome im Grundzustand 3P oder im elektronisch angeregten 1D-Zustand: - < 320 nm
O3
h .<
- > 320 nm
O(1D) + O2(1+g) )
O(3P) + O2(3;g )
Die angeregten O-Atome, die eine Lebensdauer von ca. 150 s haben, reagieren mit Wasserdampf nach: O(1D) + H2O
2 [OH]
&
Auf diese Weise werden verhältnismäßig hohe OH-Konzentrationen von einigen 107 Molekülen cm–3 in der durch die Sonne beschienenen Troposphäre erreicht.41 Der wichtigste Reaktionspartner für die OH-Radikale in der Troposphäre ist CO, das in riesigen Mengen in die Atmosphäre gelangt und dort von [OH]• zu CO2 oxidiert wird, wobei H-Atome entstehen, die nun mit Disauerstoff zu HO2-Radikalen reagieren:
&
H + O2 + M
[HO2]
&
+ M*
•
[HO] oxidiert NO zu NO2, wodurch wieder OH-Radikale gebildet werden. Tatsächlich sind fast alle Reaktionen von [OH]• Radikalkettenreaktionen, bei denen am Ende wieder [OH]• entsteht. Eine Senke für diese Radikale, d.h. ein Prozess zur Entfernung von [OH]•, ist die Reaktion mit NO2, die zu HNO3 führt, und SO2 wird über [HOSO2]• zu Schwefelsäure oxidiert. Methan wird von [OH]• zu Methylradikalen (und H2O) abgebaut, die dann von O2 über mehrere Zwischenstufen zu Formaldehyd oxidiert werden. Da die genannten Oxidationsprodukte von CO, NO und CH4 in Wasser leicht löslich sind, werden sie mit dem Regen aus der Atmosphäre ausgewaschen. Man schätzt, dass jährlich 3·109 t CO, 40 41
J. P. Klinman, Acc Chem. Res. 2007, 40, 325. D. Möller, Luft: Chemie, Physik, Biologie, Reinhaltung, Recht, de Gruyter, Berlin, 2003, S. 286–324.
426
11 Sauerstoff
0.5·109 t CH4 und ebenso viel Isopren oxidiert werden. Hydroxylradikale bewirken daher eine Selbstreinigung der Atmosphäre im Bereich der Troposphäre (bis 12 km Höhe), und zwar besonders in den Tropenregionen, wo die Sonneneinstrahlung am intensivsten und die Radikalkonzentration damit am höchsten ist.42 In wässriger Lösung können OH-Radikale durch Radiolyse von H2O in Gegenwart von N2O erzeugt werden:
&
H2O
h .<
H + N2O
&
& & [OH]
H + [OH] N2 +
11.4
Fluoride des Sauerstoffs
11.4.1
Allgemeines
In Analogie zu den Hydriden bildet Sauerstoff Fluoride der Typen [OnF]• und OnF2. In diesen Verbindungen sind die O-Atome jedoch positiv polarisiert, und die Oxidationsstufe des Sauerstoffs ist größer als Null. Daher sind diese Verbindungen keine Fluoroxide. Wie ein Vergleich der Bindungsverhältnisse zeigt, ist die Analogie zu den Hydriden formaler Natur. Es existiert aber auch die gemischte Verbindung HOF. Die Radikale [OnF]• sind nur mit n = 1 und 2 bekannt. Beide Verbindungen sind instabil. Fluoride vom Typ OnF2 wurden mit n = 1, 2 und 4 synthetisiert. Die in der älteren Literatur beschriebene Verbindung O3F2 hat sich als ein Gemisch von O2F2 und O4F2 herausgestellt, jedoch wurde die analoge Verbindung (CF3)2O3 in reiner Form hergestellt und strukturell charakterisiert. Mit Ausnahme von OF2 sind alle Sauerstofffluoride im Hinblick auf einen Zerfall in die Elemente thermodynamisch instabil.
11.4.2
Sauerstoffdifluorid OF2
Sauerstoffdifluorid kann man durch Einleiten von elementarem Fluor in 2 %ige Natronlauge (0.5 M) herstellen: 2 F2 + 2 NaOH
OF2 + H2O + 2 NaF
Die Ausbeute an OF2 beträgt maximal 80 %, da ein Teil des OF2 durch Hydrolyse verlorengeht: OF2 + 2 [OH])
O2 + 2 F) + H 2 O
Ausbeuten bis zu 80 % erreicht man auch bei der Reaktion von F2 mit feuchtem KF oder CsF. Ein weiteres Verfahren zur Herstellung von OF2 ist die Elektrolyse einer wässrigen KHF2-Lösung. Alle diese Reaktionen laufen wahrscheinlich über die intermediäre Bildung von HOF, das bei der Reaktion von F2 mit Eiswasser entsteht und in Form farbloser 42
D. H. Einhalt, Phys. Chem. Chem. Phys. 1999, 1, 5401. Siehe auch das Themenheft in Chem. Rev. 2003, 103, Heft 12. A. Wahner, G. K. Moortgat, Chemie unserer Zeit 2007, 41, 192.
427
11.4 Fluoride des Sauerstoffs
Kristalle isoliert werden konnte (Schmp. –117°C). Bei 25°C ist HOF nicht stabil. Das Molekül enthält formal Sauerstoff der Oxidationsstufe 0, so dass man die Verbindung Hydroxylfluorid nennen sollte. In der Literatur wird aber der zum HOCl analoge Name Hypofluorige Säure bevorzugt. HOF reagiert mit F2 zu OF2 und HF, mit H2O zu H2O2 und HF und mit wässriger Iodidlösung zu [I3]–, [OH]– und F–. OF2 ist ein farbloses, giftiges Gas (Sdp. –145°C). Seine Standardbildungsenthalpie bei 25°C beträgt etwa –17 kJ mol–1. Das OF2-Molekül ist gewinkelt (Symmetrie C2v), der Valenzwinkel beträgt 103.3°. OF2 ist ein wesentlich stärkeres Oxidations- und Fluorierungsmittel als elementares Fluor (!), es ist aber weniger reaktiv als F2. Mit Halogenwasserstoffen HX reagiert es in wässriger Lösung nach folgender Gleichung: OF2 + 4 HX
H2O + 2 HF + 2 HX
X = Cl, Br, I
Viele Nichtmetalle werden von OF2 beim Erwärmen oxidiert bzw. fluoriert. Wasserdampf reagiert mit OF2 bei Zündung explosionsartig zu O2 und HF; zwischen H2S und OF2 erfolgt schon bei Raumtemperatur Explosion. Krypton und Xenon reagieren mit OF2 bei 25°C im Sonnenlicht zu den entsprechenden Edelgasdifluoriden. Reines OF2 ist nicht explosiv, sondern zersetzt sich beim Erwärmen auf 200–250°C sowie beim Belichten zu O2 und F2. Durch UV-Photolyse von OF2 in einer N2-Matrix bei 4 K kann man das Radikal [OF]• erzeugen, das sich IR-spektroskopisch nachweisen lässt: h .<
OF2
&
[OF] + F
&
Das Radikal [OF]• entsteht auch bei der Reaktion von Fluoratomen mit N2O, wozu man ein Gemisch von OF2 und N2O in N2-Matrix photolysiert:
&
F + N2O
[OF]
&
+ N2
Beim Aufwärmen des Kondensates rekombinieren die OF-Radikale hauptsächlich zu O2F2.
11.4.3
Disauerstoffdifluorid O2F2
O2F2 stellt man am besten aus einem gasförmigen Gemisch von O2 und F2 her, das bei 77 bis 90 K und einem Druck von 10–20 hPa einer Hochspannungsglimmentladung ausgesetzt oder in einem Nickelrohr auf 600–800°C erhitzt wird. Außerdem bildet sich O2F2 neben OF2 bei der UV-Photolyse von O3/F2-Gemischen bei 120 bis 195 K über primär gebildete Fluoratome:
&
F + O3 2 [OF]
&
&
[OF] + F2
O2 + [OF] O2F2 OF2 + F
&
&
Reines O2F2 ist eine gelbe Substanz (Schmp. –154°C), die sich in CClF3 mit gelber Farbe löst. Die Verbindung zersetzt sich bereits bei –50°C in schwach exothermer Reaktion in die Elemente, wobei [O2F]• als Zwischenprodukt auftritt. Die Struktur des gasförmigen O2F2-Moleküls, die durch Mikrowellenspektoskopie ermittelt wurde, entspricht der von H2O2 (Abb. 11.4). Die Symmetrie ist in beiden Fällen C2, die Valenzwinkel betragen beim O2F2 109.2° und der Torsionswinkel τ = 88.1°. Die Dissoziationsenergie der OO-Bindung
428
11 Sauerstoff
wurde zu 193 kJ mol–1 berechnet, aber die der OF-Bindung beträgt nur 82 kJ mol–1. Die trans-Rotationsbarriere ist mit 81 kJ mol–1 relativ hoch, was auf die Hyperkonjugation zwischen den O-Atomen und den OF-Bindungen zurückzuführen ist (siehe unten). O2F2 ist ein starkes Fluorierungs- und Oxidationsmittel. Es oxidiert Cl2 zu ClF und ClF3, während H2S in SF6 überführt wird. Mit elementarem Schwefel tritt selbst bei –180°C Explosion ein. Mit Fluorid-Ionen-Akzeptoren reagiert O2F2 zu Dioxygenylsalzen (Kap. 11.2.5).
11.5
Bindungsverhältnisse in den Hydriden und Fluoriden des Sauerstoffs
Die Bindungsverhältnisse in einigen Fluoriden des Sauerstoffs weisen Besonderheiten auf, die vor allem bei einem Vergleich mit den analogen Hydriden zu Tage treten. In Tabelle 11.4 sind die Kernabstände und Valenzkraftkonstanten der betreffenden Verbindungen zusammengestellt. Ein Vergleich dieser Werte zeigt, dass in allen Hydriden normale OH-Einfachbindungen vorliegen und dass die OO-Bindungen, soweit vorhanden, wesentlich schwächer sind als im O2-Molekül. Bei den Fluoriden beobachtet man dagegen interessante Anomalien. Die OF-Bindung im Radikal [OF]• kann man als normale Einfachbindung (Zweizentrenbindung) ansehen, da der Kernabstand etwa der Summe der Kovalenzradien entspricht. In allen anderen in Tabelle 11.4 aufgeführten Fluoriden ist die OF-Bindung aber wesentlich schwächer. Das gilt vor allem für [O2F]• und O2F2. Gleichzeitig beobachtet man bei diesen beiden Verbindungen OO-Bindungen, deren Kernabstand sich kaum von dem der Doppelbindung im O2-Molekül unterscheidet. Dies wird verständlich, wenn man die hohe Elektronegativität der Fluoratome berücksichtigt. Dadurch werden die antibindenden σ*-Orbitale der OFBindungen so stark stabilisiert, dass sie gute Akzeptoren für die nichtbindenden p-Elektronen an den benachbarten O-Atomen werden. So kommt es zu einer besonders starken Hyperkonjugation, die aus zwei π-Bindungen entlang der OO-Achse besteht, nämlich je eine in jeder der beiden OOF-Einheiten (Abb. 11.5). Diese Hyperkonjugation wird auch als anomerer Effekt bezeichnet. +
O
O F
F
+
+
Abb. 11.5 Bindungsverhältnisse im Molekül O2F2, dessen Konformation der des H2O2-Moleküls ähnelt (Symmetrie C2). Gezeigt ist die Hyperkonjugation der nichtbindenden 2p-Elektronenpaare an den beiden O-Atomen mit den unbesetzten σ*-Molekülorbitalen derjenigen OF-Bindungen, die in der gleichen Ebene liegen. Die OO-Bindung wird dadurch verstärkt, aber die OF-Bindungen werden geschwächt.
429
11.5 Bindungsverhältnisse in den Hydriden und Fluoriden des Sauerstoffs
Die wegen der teilweisen Besetzung der σ*-Orbitale relativ schwachen OF-Bindungen im O2F2 sind sowohl für dessen Zersetzlichkeit als auch für die extreme Reaktionsfähigkeit schon bei tiefen Temperaturen verantwortlich. Für die Dissoziation von O2F2 zu [O2F]• und F• sind nur 81 kJ mol–1 erforderlich,43 das sind 78 kJ mol–1 weniger als die Dissoziationsenthalpie von F2. Daher ist O2F2 ein hochreaktives Fluorierungsmittel. Im Falle der Hydride des Sauerstoffs ist die Hyperkonjugation wegen der geringeren Elektronegativität des Wasserstoffs vernachlässigbar schwach. Tab. 11.4 Vergleich der Kernabstände d (pm) und Valenzkraftkonstanten fr (N cm–1) der kovalenten Bindungen in den Hydriden und Fluoriden des Sauerstoffs (Moleküle und Radikale). Verbindung •
[HO]
d(OH) d(OO) fr(OH) fr(OO) Verbindung 97
•
d(OF) d(OO) fr(OF) fr(OO)
–
7.1
–
[OF]
132
–
5.42
–
H2O
96
–
7.7
–
OF2
141
–
3.95
–
HOF
96
–
6.9
–
HOF
144
–
4.0
– 10.5
•
•
[HO2]
97
133
6.5
5.9
[O2F]
H2O2
95
149
7.4
4.6
O2F2
–
121
–
O2
11.4
O2
–
–
1.43
158
122
1.50
10.3
–
121
–
11.4
Längere homoatomare Ketten aus Sauerstoffatomen findet man in Verbindungen wie CF3OOOCF3 und CF3OC(O)OOOC(O)OCF3, die bei tiefen Temperaturen in reiner Form hergestellt wurden, und die Derivate des Wasserstofftrioxids H2O3 darstellen, dessen Moleküle eine Helixstruktur aufweisen.44
43 44
E. Kraka, Y. He, D. Cremer, J. Phys. Chem. A 2001, 105, 3269. K. Suma, Y. Sumiyoshi, Y. Endo, J. Am. Chem. Soc. 2005, 127, 14998.
430
431
12.1 Allgemeines
12
Schwefel, Selen und Tellur
12.1
Allgemeines
Schwefel gehört zu den wichtigsten Elementen sowohl in der belebten Natur als auch in der chemischen und pharmazeutischen Industrie. Selbst im außerirdischen Universum sind Schwefelverbindungen weit verbreitet, wenn auch oft nur in geringer Konzentration.1 Die Erdkruste besteht zwar nur zu ca. 0.07 Massen-% aus S, während Selen und Tellur noch sehr viel seltener sind. Bedeutende Vorkommen von Schwefel sind aber Elementarschwefel, zahlreiche Metallsulfide wie Pyrit FeS2, Bleiglanz PbS, Zinkblende ZnS, Zinnober HgS und Kupferglanz Cu2S sowie verschiedene Sulfate. Wichtige natürliche Sulfate sind Gips CaSO4·2H2O, Anhydrit CaSO4· 12 H2O und Schwerspat BaSO4. Meerwasser enthält ca. 2.7 g L–1 Sulfat-Ionen, Flusswasser ca. 0.01 g L–1. Alle Organismen enthalten Schwefel in anorganischer und organischer Form. Ein Mensch von 70 kg enthält ca. 170 g S (hauptsächlich als Aminosäuren Cystein, Cystin und Methionin), aber nur 0.02 g Se (z.B. als Selenocystein). Dennoch ist Selen wie Schwefel für Menschen und Säugetiere ein essentielles Element, während Tellur toxisch ist. Tab. 12.1 Eigenschaften der Chalkogene Element Valenzelektronenkonfiguration
Farbe der stabilsten Modifikation
Schmp. Sdp. natürliche Häufigkeit (°C) (°C) der Isotope in mol-%
S
3s2p2p1p1
gelb
115a
445
Se
4s2p2p1p1
grau bis schwarz 221
685
Te
5s2p2p1p1
metallisch glänzend, messingfarben
450
990
Po
6s2p2p1p1
254
962 alle Isotope radioaktiv
a
32S: 36S:
95.0, 33S: 0.76, 34S: 4.22 0.02
74Se:
78Se:
0.9, 76Se: 9.2, 77Se: 7.6 23.7, 80Se: 49.8, 82Se: 8.8
120Te:
0.01, 122Te: 2.57, 4.76, 125Te: 7.10, 126Te:18.89, 128Te: 31.73, 130Te: 33.97 123Te:0.89, 124Te:
Tripelpunkt
Vom Selen und Tellur gibt es stabile und relativ häufige Isotope, die für die Kernresonanzspektroskopie geeignet sind (siehe Tab. 12.1). Beispielsweise weisen 77Se,123Te und 125Te jeweils den Kernspin 12 auf. 125Te ist auch für die MÖSSBAUER-Spektroskopie geeignet. Beim Schwefel eignet sich nur 33S (I = 23 ) für NMR-Spektroskopie, jedoch sind die geringe Häufigkeit dieses Isotops und sein Quadrupolmoment hinderlich. Vom Polonium, dem schwersten Element und einzigen Metall in der 16. Gruppe, sind nur radioaktive Nuklide bekannt. 1
A. Müller, B. Krebs (Herausg.), Sulfur – Its Significance for Chemistry, for the Geo-, Bio- and Cosmosphere and Technology, Elsevier, Amsterdam, 1984.
432
12 Schwefel, Selen und Tellur
12.2
Bindungsverhältnisse und Tendenzen in der 16. Gruppe
In ihren chemischen Eigenschaften sind sich die Elemente Schwefel, Selen2 und Tellur3 untereinander ähnlicher als ihrem leichteren Homologen, dem Sauerstoff. Zwischen der ersten und der zweiten Achterperiode des Periodensystems ändert sich der Kovalenzradius der Atome stärker als zwischen den jeweils benachbarten höheren Perioden. Das hat auch eine sprunghafte Änderung der Elektronegativität χ beim Übergang vom Sauerstoff zum Schwefel zur Folge, wie folgende Zahlen zeigen: Kovalenzradius (pm) χ(Allred-Rochow)
O
S
Se
Te
66 3.5
103 2.4
117 2.5
137 2.0
Aus diesen Zahlen ist zu ersehen, dass sich insbesondere Schwefel und Selen sehr ähnlich sind, so dass die Chemie des Schwefels als repräsentativ für die des Selens angesehen werden kann. Analoges gilt im Übrigen für die Elementpaare Si/Ge, P/As und Cl/Br. Alle Chalkogenatome haben im Grundzustand die Valenzelektronenkonfiguration s2px2py1pz1 mit zwei ungepaarten Elektronen (3P-Zustand; Tab. 8.1). Daraus folgt, dass die Atome durch zwei kovalente Bindungen oder durch Aufnahme zweier Elektronen unter Bildung von E2–-Ionen die Edelgaskonfiguration erreichen können (Beispiele: H2S und Na2S). Weitere Substituenten können durch koordinative Bindungen wie im Trichlorsulfonium-Ion [SCl3]+ oder durch Errichtung von Mehrzentrenbindungen gebunden werden. Beispiele dafür sind die Moleküle SF4, Me4Te und TeF6. Deren Bindungsverhältnisse wurden bereits im Kapitel 2.6 bei den hypervalenten Verbindungen behandelt; siehe auch die dortige Tabelle 2.11 bezüglich weiterer Beispiele. Generell kommen die Chalkogene S, Se und Te in allen neun Oxidationsstufen von –2 bis +6 vor, wie folgende Beispiele zeigen: –2
–1
±0 +1
+2
+3
+4
+5
+6
H2S
H2S2
S8 S2Cl2
SCl2
[S2O4]2–
SO2
S2F10
SO3
Die Koordinationszahlen von Schwefel, Selen und Tellur können in Verbindung mit sterisch nicht zu anspruchsvollen Substituenten Werte bis zu 6 annehmen (Beispiele: SF6, SeF6, Me6Te); beim Tellur wird sogar die Koordinationszahl 8 erreicht (z.B. in [TeF8]2–). In der 16. Gruppe vollzieht sich in der Reihe O–S–Se–Te–Po bei den Elementen der Übergang von reinen Nichtmetallen (O, S) über Elemente mit Halbleitereigenschaften (Se, Te) zu einem reinen Metall. Elementares Polonium weist metallische Leitfähigkeit auf (spez. Widerstand 43·10–3 Ω cm) und besitzt im Gegensatz zu allen anderen Chalkogenen einen positiven Temperaturkoeffizienten des elektrischen Widerstandes, was für Metalle charakteristisch ist. Deswegen wird Polonium hier nicht weiter behandelt. Die leichteren Chalkogene Sauerstoff und Schwefel sind bei Normaldruck Isolatoren. In der 16. Gruppe nimmt also der spezifische Widerstand vom S zum Te stark ab. Ursache dafür 2 3
B. Krebs, S. Bonmann, I. Eidenschink, Encycl. Inorg. Chem. 1994, 7, 3667. R. S. Laitinen, R. Oilunkaniemi, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 9, 5516
433
12.2 Bindungsverhältnisse und Tendenzen in der 16. Gruppe
sind die unterschiedlichen Kristallstrukturen mit sehr verschiedenen Koordinationszahlen der Atome in den thermodynamisch stabilen Modifikationen. Die Koordinationszahlen steigen bei den unter Standardbedingungen stabilen Modifikationen von 1 beim Disauerstoff (O2) über 2 beim cyclo-Octaschwefel (S8) bis auf 2+4 bei den polymeren Modifikationen von Selen und Tellur an. Dadurch ändern sich die physikalischen Eigenschaften der Elemente erheblich. Stark erhöhter Druck verändert die Kristallstrukturen ebenfalls und damit auch die elektrischen Eigenschaften. Beispielsweise wird Schwefel bei 83 GPa ein metallischer Leiter mit einer Schichtstruktur (Koordinationszahl 4). Bei 162 GPa geht diese Phase in die rhomboedrische Struktur des β-Poloniums mit der Koordinationszahl 6 über (Dichte 6.5 g cm–3). Diese beiden metallischen Phasen werden bei Temperaturen von 10 bzw. 17 K sogar supraleitend!4 Alle Chalkogene (außer Polonium) sind in der Lage, homoatomare ketten- und ringförmige Moleküle mit Bindungen zwischen gleichartigen Atomen zu bilden. Die unterschiedliche und vor allem beim Sauerstoff und Tellur relativ geringe Energie dieser Bindungen wurde schon im Kapitel 4.2.2 diskutiert. Am stärksten ist die Tendenz zur Ringund Kettenbildung beim Schwefel ausgeprägt, der darin nur noch vom Kohlenstoff und allenfalls noch vom Phosphor übertroffen wird. Dies führt unter anderem dazu, dass Schwefel das Element mit den meisten kristallinen Modifikationen ist. In Form von Polychalkogen-Kationen [En]x+ sind allerdings auch viele homoatomare Selen- und vor allem Tellurspezies bekannt (Abschnitt 12.5). Die Fähigkeit, bei Raumtemperatur beständige Verbindungen mit Mehrfachbindungen zu anderen Atomen zu bilden, nimmt in der 16. Gruppe von oben nach unten stark ab. Sie ist beim Tellur kaum noch vorhanden. Beispiele sind folgende Verbindungen: O
C
O
farbloses Gas
S
S
farblose Flüssigkeit
Se
O
molekulares Gas
C
Se
gelbe Flüssigkeit, polymerisiert leicht O
S O
C
Se O
Se
C
Te
Te
rotbraun, instabil
TeO2:
kettenförmig polymer
C
Te
unbekannt
Te
O O
O O
polymer
Eine Diskussion der Bindungen in SO2, SO3 und dem Sulfat-Ion findet sich im Kapitel 2.6. Allgemein werden Mehrfachbindungen um so eher gebildet, je geringer der Elektronegativitätsunterschied der beteiligten Atome ist und je größer die Summe der Elektronegativitäten beider Atome ist. Vom Schwefel zum Tellur nimmt weiterhin die Beständigkeit von Verbindungen mit dem Chalkogen in höheren Oxidationsstufen ab. TeO3 und SeO3 sind stärkere Oxidationsmittel als SO3, und Se(IV) wie im Selenit-Ion [SeO3]2– wird durch S(IV), z.B. im Disulfit-Ion [S2O5]2–, zu Se(0) reduziert.
4
V. V. Struzhkin et al., Nature 1997, 390, 382, und zitierte Literatur.
434
12 Schwefel, Selen und Tellur
12.3
Herstellung der Elemente
12.3.1
Gewinnung von Schwefel
Elementarer Schwefel findet sich in der Natur in ausgedehnten unterirdischen Lagerstätten, beispielsweise in den USA, Mexiko und Polen. Er wird hauptsächlich nach dem FRASCH-Verfahren gewonnen, wobei man den Schwefel (Tripelpunkt 115°C) mit überhitztem Wasser aus dem unterirdischen Gemisch mit Sand und Kalkstein heraus schmilzt und dann mit Pressluft an die Erdoberfläche drückt.5 Der so erhaltene Schwefel wird durch Destillation im Vakuum gereinigt, anschließend entweder verfestigt („geformt“, nämlich in Kugeln, Tabletten, oder größeren Brocken) oder in wärmeisolierten und beheizten Rohrleitungen, Kesselwagen und Tankschiffen flüssig an den Verwendungsort transportiert. Etwas weniger als die Hälfte der Weltproduktion an Schwefel und Schwefelverbindungen basiert auf den natürlichen Lagerstätten von Elementarschwefel, der größere Teil wird dagegen aus H2S gewonnen. Schwefelwasserstoff kommt einerseits als Bestandteil von so genanntem saurem Erdgas (Sauergas)6 vor, andererseits entsteht H2S in riesigen Mengen bei der in Raffinerien durchgeführten Entschwefelung von Rohöl nach dem HDS-Verfahren (Hydrodesulfurierung7). Dabei werden die vorzugsweise im Heizöl, im Schwerbenzin (Siedebereich 80–180°C) und im Kerosin (Gasöl; Siedebereich 180–360°C) enthaltenen organischen Sulfide (z.B. Thiophenderivate), Thiole und Disulfide durch katalytische Hydrierung zu H2S und Kohlenwasserstoffen hydriert: C
S
C
+ 2 H2
H2S + 2
C
H
Die Reaktion findet bei 300–400°C und 2–6 MPa H2-Druck an einem Mo-Ni- oder einem Mo-Co-Katalysator statt. Zur Erzielung niedriger S-Restgehalte wird ein zweistufiges Verfahren angewandt. In der ersten Stufe (Entschwefelung bis ca. 350 ppm) werden die reaktiveren Verbindungen wie Thiole, Sulfide und Disulfide hydriert. In der zweiten Stufe zersetzt man bei höherer Temperatur und höherem H2-Druck die weniger reaktiveren Thiophenverbindungen. Je geringer der S-Restgehalt sein soll, umso länger die Reaktionszeit und umso höher die Kosten. Die Gewinnung von Schwefel aus H2S-haltigen Gasen geschieht durch Auswaschen des Schwefelwasserstoffs mit einer nichtwässrigen Lösung organischer Amine oder Alkohole, Austreiben des H2S aus der Lösung durch Erhitzen, und Oxidation des H2S mit Luft zu Elementarschwefel nach dem CLAUS-Verfahren. Bei diesem Prozess wird im so genannten CLAUS-Ofen ein Teil des H2S bei 850°C zu H2O und SO2 verbrannt, das dann sofort von dem restlichen H2S zu Schwefel reduziert wird:
5 6 7
Der mit 16 Jahren nach USA ausgewanderte HERMANN FRASCH führte dieses intelligente Verfahren 1894 in Louisiana ein. Siehe W. Botsch, Chemie unserer Zeit 2001, 35, 324. Saures Erdgas wird z.B. in Norddeutschland, Südfrankreich, Russland und in der kanadischen Provinz Alberta gefördert. R. J. Angelici, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1860; Polyhedron 1997, 16, Heft 18 (11 Aufsätze).
435
12.3 Herstellung der Elemente
H2S +
3 2
O2
SO2 + 2 H2S H2S +
3 2
O2
SO2 + H2O
(1)
3 Sfl. + 2 H2O
(2)
3 Sfl. + 3 H2O
° = È 660 kJ molÈ1 H298
Zur Vervollständigung der exothermen Komproportionierung (2) werden die Gase in einem nachgeschalteten Reaktor bei 200–350°C durch einen Al2O3- oder TiO2-Katalysator geleitet; der elementare Schwefel fließt flüssig aus diesen Reaktoren ab. Insgesamt werden weltweit jährlich ca. 35·106 t Elementarschwefel nach dem FRASCH- und dem CLAUS-Verfahren erzeugt. Große Bedeutung im Zusammenhang mit der Luftreinhaltung besitzen auch die Verfahren zur Entschwefelung von SO2- oder merkaptanhaltigen industriellen Abgasen von Kraftwerken und Raffinerien. Darauf wird bei den Schwefel-Sauerstoff-Verbindungen eingegangen (Abschnitt 12.10.1). Etwa 85 % der gesamten Schwefelproduktion werden zu H2SO4 verarbeitet, der Rest dient zur Gummivulkanisation sowie zur Herstellung von zahlreichen Chemikalien wie Schwefeldioxid, Phosphorsulfide, Schwefelhalogenide, Kohlendisulfid, Thiosulfat, Schwefelfarbstoffe und pharmazeutische Präparate. Außerdem wird Schwefel zur Herstellung von Schwarzpulver und von Feuerwerkskörpern sowie für Depotdünger verwendet. Im Weinbau wird elementarer Schwefel zur Bekämpfung der Schwarzfäule, einer Pilzkrankheit, eingesetzt.
12.3.2
Herstellung von Selen und Tellur
Selen und Tellur sind in der Erdkruste weit weniger verbreitet als Schwefel. Sie kommen in Form von Seleniden und Telluriden vor, sind aber spurenweise auch in vielen sulfidischen Erzen enthalten. Beim Rösten (Verbrennen) dieser Sulfide, was die erste Stufe der Verarbeitung dieser Erze zum Metall ist, entstehen die flüchtigen Oxide SO2, SeO2 und TeO2, von denen sich die beiden letzteren als bei 25°C feste Verbindungen im Flugstaub anreichern und daraus isoliert werden. SeO2 und TeO2 werden dann in wässriger Lösung mit SO2 zu den Elementen reduziert: H2SeO3 + 2 SO2 + H2O
Se + 2 H2SO4
Hauptsächlich werden Selen und Tellur aber aus den bei der elektrolytischen Raffination (Reinigung) von metallischem Kupfer und Nickel anfallenden Anodenschlämmen gewonnen.8 Tellur ist im Rohkupfer als Cu2Te, Ag2Te und (Ag, Au)2Te enthalten. Die beiden letztgenannten Verbindungen kommen auch in Silber- bzw. Golderzen vor. Die Weltjahresproduktion von Selen beträgt ca. 2500 t, die von Tellur ca. 140 t. Elementares Selen wird als Photohalbleiter in der Röntgenographie, für Hochleistungsfotokopiertrommeln und für Photozellen verwendet. Das ternäre Selenid CuInSe2 dient zur Herstellung von Solarzellen. Auch als Legierungsbestandteil für Stahl und Blei wird Se8
G. Knockaert, Ullmann’s Encycl. Ind. Chem., 6th ed., electronic release, 1998. Marktführer für Selen ist die Norddeutsche Affinerie in Hamburg mit ihrer Tochtergesellschaft Retorte GmbH in der Nähe von Nürnberg.
436
12 Schwefel, Selen und Tellur
len gebraucht. Tellur ist ein geschätzter Legierungsbestandteil in Verbindung mit Kupfer, Eisen und Blei. Te-Verbindungen finden hauptsächlich in der Pulver-Metallurgie und in der Elektronikindustrie Verwendung.
12.4
Modifikationen der Chalkogene
12.4.1
Schwefel
Alle natürlichen Schwefelvorkommen enthalten S8-Moleküle, und auch alle technischen Prozesse zur Gewinnung von Elementarschwefel liefern hauptsächlich S8-Moleküle, die thermodynamisch bei 25°C/0.1 MPa stabiler sind als Ring- oder Kettenmoleküle anderer Größe. Durch gezielte Synthesen ist es aber möglich, metastabile Schwefelallotrope herzustellen, die sich bei Raumtemperatur nur langsam oder gar nicht in S8 umwandeln und die daher leicht charakterisiert werden können.9 Man unterscheidet monotrope Modifikationen eines Elementes, die nur auf Umwegen aus der stabilen Form erzeugt werden können, von enantiotropen Modifikationen, die sich reversibel in die stabile Form umwandeln und die daher im Phasendiagramm erscheinen. Das Phasendiagramm des Schwefels ist auszugsweise in Abbildung 12.1 dargestellt. Druck
151°C / 131 MPa
~
ï-S8
~
Umwandlung ï
î
bei 96°C / 0.50 Pa
Schmelze
î-S8
Gasphase
115°C (Tripelpunkt)
Schmelzpunkt î-S8 Temperatur
Abb. 12.1 Vereinfachtes Phasendiagramm von elementarem Schwefel (nicht maßstäblich). Die bei Standardbedingungen stabile Modifikation ist der orthorhombische α-S8. Der monokline β-S8 ist wegen seiner geringeren Dichte nur bis zu einem Druck von 131 MPa existenzfähig.
9
R. Steudel, B. Eckert, Top. Curr. Chem. 2003, 230, 1.
437
12.4 Modifikationen der Chalkogene
C2 S1’
204.1
S1
108
.4°
S3
107
S3’
204.9 pm
108 .0°
.4°
S2’
°
9.0
10
S4’
204.4
(a)
S4
204.7
S2
204.8
(b)
Abb. 12.2 (a) Struktur des S8-Moleküls im orthorhombischen α-Schwefel bei 25°C. Die zweizählige Drehachse führt jeweils die Atome S(n) in S(n’) über. Die Lagesymmetrie C2 kommt durch die unsymmetrische Wechselwirkung mit den Nachbarmolekülen zustande. Im isolierten Zustand ist die Symmetrie des S8-Moleküls D4d. (b) Packung der S8-Moleküle im orthorhombischen α-Schwefel.
Unter Standardbedingungen kristallisiert cyclo-Octaschwefel orthorhombisch mit 16 Molekülen S8 in der Elementarzelle (α-Schwefel, besser: α-S8). Abbildung 12.2 zeigt die Geometrie der S8-Moleküle und ihre Anordnung im Kristall. Die Atome eines Ringes liegen abwechselnd in zwei zueinander parallelen Ebenen, so dass der Ring die Gestalt einer Krone aufweist. Der mittlere Kernabstand beträgt 204.8 pm, die Valenzwinkel betragen 108° und die Diederwinkel 98°. Die Kristalle sind hellgelb, sehr spröde und sehr gut löslich in CS2, gut löslich in CHBr3 und 1,4-C6H4Cl2 und mäßig löslich in Toluol. Bei 96°C (0.4 Pa Dampfdruck beim Tripelpunkt) wandelt sich die thermodynamisch stabile Modifikation in monoklinen β-Schwefel (besser: β-S8) um (∆ H° = 32 kJ mol–1 S8). β-Schwefel besteht ebenfalls aus S8-Molekülen. Der Dampfdruck dieser Modifikation ist bei 100°C bereits so groß, dass Schwefel im Hochvakuum sublimiert werden kann. β-S8 schmilzt bei 120°C. Dieser so genannte ideale Schmelzpunkt des Schwefels entspricht aber nicht dem thermodynamischen Gleichgewicht von flüssiger und fester Phase. Vielmehr beobachtet man, dass der Gleichgewichtsschmelzpunkt, d.h. die Temperatur, bei der Gasphase, Schmelze und β-S8 koexistieren, nach einiger Zeit konstant bei 115°C liegt (Tripelpunkt). Diese Temperatur nennt man daher auch den natürlichen Schmelzpunkt des Schwefels. Ursache dieser Schmelzpunktserniedrigung ist eine relativ langsame Gleichgewichtseinstellung zwischen Molekülen verschiedener Größe in der Schmelze. Diese besteht schon beim Schmelzpunkt nicht mehr nur aus S8-Molekülen, sondern enthält auch kleinere und größere Ringmoleküle, die aus dem S8-Ring entstanden und in der Schmelze gelöst sind. Diese Komponenten führen als Fremdstoffe zu einer Schmelzpunktserniedrigung von ca. 5 K entsprechend einem Fremdmolekülgehalt von ca. 5.5 mol-%. Über die Größe und Art der tatsächlich vorhandenen Moleküle Sn (n 8) bestand lange Zeit keine Klarheit, jedoch haben Untersuchungen mit der Ramanspektroskopie so-
438
12 Schwefel, Selen und Tellur
wie der Hochdruckflüssigkeitschromatographie (HPLC, high pressure liquid chromatography) ergeben, dass die Schwefelschmelze bei allen Temperaturen neben S8-Molekülen auch noch Homocyclen anderer Größe sowie polymeren, in CS2 unlöslichen Schwefel (S∞) enthält.10 Der in CS2 unlösliche Anteil einer abgeschreckten Schmelze wurde früher als µ-Schwefel bezeichnet, während der löslichen Anteil als ein Gemisch aus „λ-Schwefel“ (S8) und „π-Schwefel“ (Nicht-S8-Moleküle) aufgefasst wurde. Das im flüssigen Schwefel vorliegende Gleichgewicht x S8
y Sn (n 8)
ist stark temperaturabhängig (Tab. 12.2). Dicht oberhalb des Schmelzpunktes ist Schwefel hellgelb und dünnflüssig. Bei 159°C nimmt die Viskosität aber innerhalb eines Temperaturintervalls von nur 18° um mehrere Zehnerpotenzen zu und erreicht bei 187°C ein Maximum. Von etwa 200°C an lassen sich in der nunmehr rotbraunen Schmelze mittels ESR-Spektroskopie auch freie Radikale nachweisen. Bei höheren Temperaturen nimmt die Viskosität langsam wieder ab. Gleichzeitig wird das Signal im ESR-Spektrum aber immer intensiver. Beim Siedepunkt (445°C) ist die Schmelze dunkel-rotbraun und dünnflüssig. Tab. 12.2 Molekulare Zusammensetzung von flüssigem Schwefel nach Gleichgewichtseinstellung bei verschiedenen Temperaturen (Werte in Massen-%). Der Anteil großer Ringe Sx (x = 11, 13 …) wurde als Differenz zu 100 % berechnet. S∞ steht für polymeren, in CS2 unlöslichen Schwefel. Molekülart
Temperatur 116°C
122°C
159°C
220°C
S8
93.6
93.1
83.4
54.3
S7
3.1
3.3
5.2
4.6
S6
0.5
0.6
0.9
0.9
S9
0.3
0.4
0.6
0.6
S10
0.1
0.1
0.2
0.2
S12
0.4
0.4
0.5
0.4
Sx
1.8
1.9
6.2
4.8
S∞
0.2
0.2
3.0
34.2
Diese Erscheinungen sind auf entsprechende Änderungen in der molekularen Zusammensetzung der Schmelze zurückzuführen. Außer der Viskosität haben auch die meisten anderen physikalischen Eigenschaften bei 159°C eine gewisse Diskontinuität. Diese ist darauf zurückzuführen, dass bei dieser Temperatur in der Schmelze plötzlich hochmolekulare Ring- und Kettenmoleküle entstehen, deren Konzentration mit der Temperatur zunächst noch ansteigt. Die Größe dieser Moleküle kann bis zu 105 Atome betragen. Ihr Anteil am Gesamtschwefelgehalt der Schmelze wurde bei 200° zu etwa 28 % ermittelt, während die Ringmoleküle Sn (n =/ 8) bei dieser Temperatur zusammen etwa 11 % ausmachen.10 Bei weiter steigender Temperatur nimmt die Molekülgröße der Polymeren infolge thermischer Crackung ab, die Viskosität sinkt wieder, aber die Gesamtkonzentration an 10
R. Steudel, Top. Curr. Chem. 2003, 230, 81.
439
12.4 Modifikationen der Chalkogene
xi
1.0
S2
0.5 S3
0.2
S4
0.1
S7
0.05
S6 S8
0.02 0.01
S5 800
900
1000
1100
1200
1300 T (K)
Abb. 12.3 Molekulare Zusammensetzung des gesättigten Dampfes über einer Schwefelschmelze als Funktion der absoluten Temperatur. Auf der Ordinate sind die Molenbrüche xi der Spezies S2 bis S8 in logarithmischer Weise aufgetragen (xi = ci / Σci). Oberhalb von 1000 K dominiert S2.
biradikalischen Kettenmolekülen steigt weiter an. Die zunehmende Dunkelfärbung ist auf die Farbe dieser Ketten und auf noch kleinerer Fragmente wie S2, S3 und S4 zurückzuführen, die mit den größeren Ringen und Ketten im Gleichgewicht stehen. Die Zusammensetzung der Gasphase über flüssigem Schwefel ist ähnlich komplex wie die der Schmelze.11 Massenspektrometrisch lassen sich alle Moleküle Sn mit n = 2–8 nachweisen, die in einem temperatur- und druckabhängigen Gleichgewicht stehen (Abb. 12.3). Oberhalb 1000 K ist S2 das häufigste Molekül im gesättigten Dampf. Am kritischen Punkt (1313 K) beträgt die mittlere Molekülgröße S2.78. Schwefelatome dominieren erst oberhalb 2500°C und nur bei sehr kleinem Druck (1 mPa). Alle Moleküle Sn mit n > 4 sind ringförmig gebaut. Das S4-Molekül weist dagegen eine planare kettenförmige Struktur mit cis-Konformation auf (Symmetrie C2v). Das S3-Molekül (Thio-Ozon) ist wie O3, SO2 und S2O gewinkelt gebaut. Das S2-Molekül hat eine dem O2 analoge Triplett-Elektronenkonfiguration, d.h. es ist paramagnetisch und enthält eine Doppelbindung. Bei einem Druck von nur 0.1 Pa ist S2 bereits oberhalb 600°C die Hauptkomponente des Schwefeldampfes und kann durch rasches Abschrecken auf tiefe Temperaturen in Edelgasmatrizen isoliert werden. Durch Abschrecken von gesättigtem Schwefeldampf in einem flüssigen Lösungsmittel wird industriell Polymerschwefel hergestellt, der zur Vulkanisation von Gummi verwendet wird (Handelsname: Crystex). Bei diesem Verfahren polymerisieren die meisten der unbeständigen Moleküle des Dampfes und fallen aus der Lösung als S∞ aus, wogegen S8 im Lösungsmittel verbleibt. Monotrope Schwefelmodifikationen Bei Normaldruck sind α- und β-S8 die einzigen enantiotropen, d.h. reversibel ineinander umwandelbaren Modifikationen des Schwefels. Alle anderen sind nur über die Schmelze, über Lösungen, durch Druckerhöhung oder durch chemische Reaktionen zugänglich. 11
R. Steudel, Y. Steudel, M. W. Wong, Top. Curr. Chem. 2003, 230, 117.
440
12 Schwefel, Selen und Tellur
Von besonderem Interesse sind die Homocyclen Sn (n = 6–20), deren Strukturen Aufschluss über die für die Stabilität solcher Moleküle verantwortlichen Faktoren geben und die Komponenten des flüssigen und teilweise auch des gasförmigen Schwefels sind. Schon seit langem ist bekannt, dass S6 beim Ansäuern wässriger Thiosulfatlösungen entsteht und aus dem Reaktionsgemisch mit Toluol extrahiert werden kann: 1
Na2S2O3 + 2 HCl
n
Sn + SO2 + 2 NaCl + H2O
Aus der Toluol-Phase erhält man S6 in bis zu 12 %iger Ausbeute in Form eigelber, lichtempfindlicher, rhomboedrischer Kristalle. Daneben entstehen S7, S8 und polymerer Schwefel. Das S6 entsteht über folgende Gleichgewichtsreaktionen zwischen verschiedenen Sulfanmonosulfonsäuren: [S2O3]2È + [HS2O3]È
[S3O3]2È + [HSO3]È
[S3O3]2È + [HS2O3]È
[S4O3]2È + [HSO3]È
usw. und schließlich: [S7O3]2È
S6 + [SO3]2È
In eleganter Weise entstehen cyclische Schwefelmoleküle, wenn man von einem vorgebildeten Ring ausgeht, wie er in dem π-Komplex [Cp2TiS5] vorliegt (Cp = [η5-C5H5]–, Cyclopentadienid-Anion). Diese Verbindung, die den sechsgliedrigen Metallacyclus TiS5 enthält, wird aus [Cp2TiCl2] und einem ionischen Polysulfid hergestellt und bildet rotviolette luftstabile Kristalle. Diese reagieren in einem indifferenten organischen Lösungsmittel schon bei tiefen Temperaturen mit Dichlorsulfanen SnCl2 (n = 1–8) sowie mit SO2Cl2 wie folgt: [Cp2TiS5] + SnCl2 x [Cp2TiS5] + x SO2Cl2
S5+n + [Cp2TiCl2]
(3)
S5x + x SO2 + x [Cp2TiCl2] (4)
Auf diese Weise wurden nach Gleichung (3) die Homocyclen mit 6, 7, 9, 11, 12 und 13 Atomen synthetisiert, während diejenigen mit 10, 15 und 20 Atomen nach Gleichung (4) zugänglich sind (x = 2–4; Trennung durch fraktionierte Kristallisation). Die Modifikationen S7, S18 und S20 sind auch aus abgeschreckten Schwefelschmelzen isoliert worden. Die Strukturen zahlreicher Schwefelringe wurden durch Röntgenstrukturanalysen ermittelt (Abb. 12.4). Danach bestehen diese Moleküle aus nicht-ebenen Ringen, in denen die mittleren Kernabstände nahezu den gleichen Wert wie im S8 aufweisen (S6: 206 pm, S12: 205 pm) oder nur wenig größer sind (S7: 209 pm). Die einzelnen Kernabstände können jedoch stark von den Mittelwerten abweichen. Besonders interessant ist die Struktur von S7, das im festen Zustand zugleich die instabilste aller homocyclischen Schwefelmodifikationen darstellt. Die Kernabstände dieses Moleküls variieren zwischen 200 und 218 pm, sind also teils kleiner und teils größer als der Einfachbindungswert von 205 pm (Abb. 12.5a). Diese Struktur kann folgendermaßen verstanden werden. S7 enthält zwischen den Atomen 6 und 7 eine Bindung mit einem Torsionswinkel von 0°, der zu einer starken Wechselwirkung der nichtbindenden 3p-Elektronenpaare an den beteiligten Atomen führt (vergleiche die Struktur von H2O2, Kap. 11.3.3). Dadurch wird nicht nur der Kernabstand dieser Bindung auf 218 pm vergrößert, es entsteht auch eine starke Tendenz, Elektronendichte in andere Molekülteile zu delokalisieren. Dies gelingt, indem das be-
441
12.4 Modifikationen der Chalkogene S6
S8
S7
S10
S11
S12
S13
endo-S18
S20
exo-S18
S
Abb. 12.4 Molekülstrukturen der Schwefelhomocyclen S6, S7, S8, S10, S11, S12, S13, endo-S18, exo-S18, S20 sowie des polymeren S∞, ermittelt durch Röntgenstrukturanalysen von Einkristallen.
setzte π*-MO der langen Bindung (6/7) mit den unbesetzten σ*-MOs der beiden übernächsten Bindungen überlappt, wie es in Abbildung 12.5b in Form einer Explosionszeichnung gezeigt ist. Diese Überlappung führt zu einer Stabilisierung der zuvor rein antibindenden π*-Elektronen (Abb. 12.5c). Zugleich entsteht eine π-Bindung zwischen den Atompaaren 4/6 und 5/7, wodurch diese Bindungen auf 200 pm verkürzt werden. Da jedoch an den Bindungen 2/4 und 3/5 die antibindenden σ*-MOs teilweise besetzt werden, kommt es zu einer Schwächung dieser Bindungen, deren Kernabstände sich dadurch auf 210 pm vergrößern. Wegen der sehr langen Bindung S(6)–S(7) ist S7 instabiler und reaktionsfähiger als andere Schwefelhomocyclen. Am beständigsten nach S8 ist S12, das sich erst dicht unterhalb seines Schmelzpunktes von 148°C in S8 umwandelt. Bei allen anderen Ringen erfolgt die Zersetzung, oft beschleunigt durch Licht, schon unterhalb 70°C, wobei im Allgemeinen neben S8 auch polymerer, in CS2 unlöslicher Schwefel entsteht, der auch durch Abschrecken heißer
442
12 Schwefel, Selen und Tellur
E
1
5
6
218
7
200
-
+
210 +
-
-
(a)
+
Ê
+
4
Ê
-
-
+
3
+
2
205
(b)
(c)
Abb. 12.5 Struktur und Bindungsverhältnisse von Heptaschwefel (S7). (a) Konformation, Atomnummerierung und Kernabstände (in pm); Symmetrie Cs. (b) Schematische Darstellung der Hyperkonjugation des besetzten π*-Molekülorbitals an der Bindung S(6)–S(7) mit den beiden unbesetzten σ*-MOs der Bindungen S(3)–S(5) und S(2)–S(4) (Explosionszeichnung der Orbitalüberlappung). (c) Stabilisierung der π*-Elektronen der Bindung S(6)–S(7) (HOMO des Moleküls) durch die Hyperkonjugation mit den beiden σ*-MOs der Bindungen S(2)–S(4) und S(3)–S(5). Dadurch verkürzen sich die Bindungen S(4)–S(6) und S(5)–S(7), während sich die Bindungen S(2)–S(4) und S(3)–S(5) verlängern.
Schwefelschmelzen und Extrahieren mit CS2 als unlöslicher gelber Rückstand erhalten werden kann:12 cyclo-S8 cyclo-Sn (n 8)
Sn (n >> 8)
Für die unterschiedliche Stabilität der verschiedenen Sn-Ringe müssen in erster Linie Abweichungen vom idealen Valenzwinkel und vom idealen Diederwinkel verantwortlich gemacht werden. Thermodynamisch gesehen sind die Nicht-S8-Ringe allerdings nur wenig instabiler als S8. Die mittleren SS-Bindungsenthalpien von S6 und S7 sind nur um ca. 4 kJ mol–1 oder 1.5 % kleiner als die von S8; bei den größeren Ringen ist die Differenz noch geringer. Die leichte Umwandlung in S8 ist auf die niedrige Dissoziationsenthalpie der ersten SS-Bindung in solchen Molekülen zurückzuführen. Im Kapitel 4.2.3 wird erklärt, warum elementarer Schwefel als S8 fest und nicht wie Sauerstoff als S2 gasförmig ist. Moleküle mit homocyclischen Ringen sind in der anorganischen Chemie weit verbreitet und von fast allen Nichtmetallen der Gruppen 13.–16. bekannt (B, C, Si, Ge, N, P, As, S, Se, Te), wobei mindestens 3, meistens aber 4–8 gleiche Atome miteinander verbunden sind.13
12 13
R. Steudel, S. Passlack-Stephan, G. Holdt, Z. Anorg. Allg. Chem. 1984, 517, 7. I. Haiduc, D. B. Sowerby (Herausg.), The Chemistry of Inorganic Homo- and Heterocycles, Vols. I und II, Academic Press, London, 1987; R. Steudel (Herausg.), The Chemistry of Inorganic Ring Systems, Elsevier, Amsterdam, 1992; C. E. Housecroft, Clusterverbindungen von Hauptgruppenelementen, VCH, Weinheim, 1996. I. Haiduc, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 4, 2028.
443
12.4 Modifikationen der Chalkogene
12.4.2
Modifikationen von Selen und Tellur
Die thermodynamisch stabilen Modifikationen dieser Elemente sind polymer. Die Strukturen des kristallinen, grauen, hexagonalen Selens (Schmp. 221°C) und des metallischen hexagonalen Tellurs (Schmp. 450°C) sind sich sehr ähnlich. Beide bestehen aus langen helicalen Ketten mit einer dreizähligen Symmetrie (Abb. 12.6). Alle Atome sind verzerrt oktaedrisch koordiniert, da jedes Atom außer den zwei nächsten Nachbarn in der Kette noch vier übernächste Nachbarn in drei anderen Ketten hat (Koordinationszahl 2+4), und zwar in einem Abstand, der wesentlich kleiner ist als der VAN DER WAALS-Abstand. Erst beim Polonium wird eine regulär oktaedrische Koordination erreicht (Tab. 8.3).
~
~
~
~
~
~
~
Abb. 12.6 Ausschnitt aus der Kristallstruktur von hexagonalem Selen (gilt analog für hexagonales Tellur). Links: Die Kettenmoleküle bilden eine Helix; diese liegen in der Struktur parallel zueinander. Rechts: Blick in Richtung der hexagonalen Achse der Elementarzelle. Für ein ausgewähltes Atom ist die verzerrt oktaedrische 2+4-Koordination durch gestrichelte Linien angedeutet. Die Helices eines Kristalls haben alle den gleichen Drehsinn (Kernabstände in Tab. 12.3). Tab. 12.3 Kernabstände zwischen nächsten Nachbarn (d) und zwischen den übernächsten Nachbarn (d’) in den thermodynamisch stabilen Modifikationen von Selen, Tellur und Polonium d (pm)
d’ (pm)
d’/d
Se (hexagonal)
237.4
342.6
1.44
Te (hexagonal)
283.5
349.4
1.23
Po (kubisch)
335.9
335.9
1.00
Während die elektrische Leitfähigkeit von grauem Selen beim Bestrahlen mit sichtbarem Licht stark zunimmt, bleibt die von metallischem Tellur (Bandlücke 0.33 eV) fast unverändert. Die Leitfähigkeit ist in beiden Fällen stark anisotrop und beide Elemente sind p-Typ-Halbleiter. Selen und Tellur bilden miteinander eine lückenlose Mischkristallreihe. Mit der Zunahme der Koordinationszahl steigt die elektrische Leitfähigkeit an, da mehr und mehr Orbitale überlappen, was schließlich beim Polonium zu der charakteristischen Bandstruktur von Metallen führt. In Übereinstimmung damit findet man beim Schwefel, Selen und Tellur eine starke Leitfähigkeitszunahme, wenn man diese Elemente unter hohen Druck setzt und damit das Verhältnis d’/d verkleinert und die mittlere Koordinations-
444
12 Schwefel, Selen und Tellur
zahl erhöht. Nur vom Selen14 sind bei Normalbedingungen noch weitere Modifikationen isoliert worden, beim Tellur kennt man aber mehrere Hochdruckmodifikationen. Beim Abschrecken einer Schmelze von Se erhält man schwarzes, glasiges Selen. Amorphes Selen wird als Photohalbleiter in der Röntgendiagnostik eingesetzt. Fällt man Selen aus Selenit-Lösungen ([SeO3]2–) durch Reduktion mit SO2, erhält man rotes, amorphes Selen, das dem polymeren Schwefel entspricht und wahrscheinlich aus einem Gemisch von langen Ketten und sehr großen Ringen besteht. Diese Form geht beim Kochen mit CS2 unter Depolymerisation in Lösung. Die Lösung enthält die Homocyclen Se6, Se7 und als Hauptbestandteil Se8, die im dynamischen Gleichgewicht miteinander stehen. Aus der Lösung kristallisieren beim Eindampfen rote Kristalle von α-Se8 und dunklere Prismen von β-Se8 (beide monoklin) zusammen mit Kristallen von Se6 und Se7 aus. Se7 wird aber besser aus [Cp2TiSe5] und Se2Cl2 in CS2 hergestellt: [Cp2TiSe5]
+ Se2Cl2
Se7 + [Cp2TiCl2]
Diese metastabilen, aus Ringen bestehenden oder amorphen Se-Modifikationen wandeln sich beim Erhitzen auf 130°C in graues Selen um. Auch gemischte S-Se-Ringe wurden in großer Zahl hergestellt, z.B. S7Se, 1,2-S6Se2 und 1,2,3-Se3S5.15 Die Gasphase über geschmolzenem Selen oder Tellur enthält ähnlich wie beim Schwefel alle Moleküle von E2 bis E6, aber kaum E7 und E8. Sesselförmige Te6-Moleküle wurden, eingebettet in einer Matrix von Silberiodid, in Form der kristallinen Phase [(AgI)2Te6] isoliert.
12.5
Homoatomare Chalkogen-Kationen16
In enger chemischer und struktureller Beziehung zum elementaren Schwefel, Selen und Tellur stehen folgende Ionen, die in Form thermisch beständiger Salze isoliert und strukturell charakterisiert wurden: [S4]2+ [Se4]2+ [Te4]2+
[S8]2+ [Se8]2+ [Te6]2+
[S19]2+ [Se10]2+ [Te6]4+
[Se17]2+ [Te7]2+
[Te8]2+
[Te8]4+
Auch polymere Kationen sowie gemischte Spezies aus den Elementen S/Se, S/Te und Se/Te sind bekannt. Die oben aufgeführten, oftmals tief gefärbten Kationen entstehen bei der Oxidation der betreffenden Chalkogene mit starken Oxidationsmitteln wie SO3, AsF5, WCl6, S2O6F2 oder anderen Reagenzien, wobei man mit einem sehr schwach nukleophilen Lösungsmittel (HF, SO2, HSO3F, H2SO4) oder mit einer Salzschmelze arbeiten muss. Das Molverhältnis Chalkogen/Oxidationsmittel bestimmt dabei die Art des Reaktionsproduktes, wie folgende Beispiele zeigen: 14 15 16
R. Steudel, E.-M. Strauss, Adv. Inorg. Chem. Radiochem. 1984, 28, 135; R. Steudel et al., Angew. Chem. 1986, 98, 81. R. S. Laitinen, P. Pekonen, Coord. Chem. Rev. 1994, 130, 1. J. Beck, Coord. Chem. Rev. 1997, 163, 55. I. Krossing, Handbook of Chalcogen Chemistry, Chapt. 7.1, Royal Society of Chemistry, London, 2006.
445
12.5 Homoatomare Chalkogen-Kationen
2 [S4]2+ + 4 [SO3F]È
S8 + 2 S2O6F2
[S8]2+ + 2 [SO3F]È
S8 + S2O6F2 17 Sef. + 2 WCl6
350°C
[Se17]2+ + 2 [WCl6]È [Te4]2+ + 2 [WCl6]È
4 Tef. + 2 WCl6
2 [Te8]2+ + 2 [ReCl6]2È
15 Tef. + TeCl4 + 2 ReCl4
Die Ionen [Se8]2+ (flaschengrün) bzw. [Te4]2+ (karminrot) entstehen auch, wenn man elementares Selen bzw. Tellur mit konzentrierter Schwefelsäure kocht, was man seit langem zum qualitativen Nachweis dieser Chalkogene ausnutzt. Diese Oxidation wird durch Zusatz von etwas Peroxodisulfat oder SO3 erleichtert, so dass man dann auf das Erhitzen verzichten kann. In rauchender Schwefelsäure lösen sich daher die Chalkogene mit charakteristischen Farben (Schwefel tiefblau, Selen flaschengrün, Tellur karminrot). Mit Hydraziniumsulfat [N2H6][SO4] können die positiven Ionen wieder zum Element reduziert werden: Sef.
[S2O8]2È
grau
[Se8]2+
grün
[S2O8]2È N 2 H4
2[Se4]2+
gelb
[S2O8]2È N 2 H4
8 SeO2
farblos Von Wasser werden alle diese Ionen unter Disproportionierung zu dem elementaren Chalkogen und dem entsprechenden Dioxid zersetzt, z.B.: 2 [Se4]2+ + 6 H2O
7 Sef. + SeO2 + 4 [H3O]+
Verschiedene Polychalkogensalze wurden kristallin in reiner Form hergestellt, unter anderem mit den Anionen [AsF6]–, [SO3F]–, [HS2O7]–, [Sb2F11]–, [AlCl4]– und [WCl6]–. Wahrscheinlich sind auch die seit langem bekannten festen Verbindungen „S2O3“ (blau), „SeSO3“ (gelb) und „TeSO3“ (rot), die bei 25°C aus dem Chalkogen und flüssigem SO3 entstehen, solche Salze mit Polysulfat-Anionen (TeSO3: [Te4][S4O13]). In der älteren Literatur wurden diese Substanzen fälschlicherweise als Oxide beschrieben. Die spektroskopischen, magnetischen und chemischen Eigenschaften der Polychalkogen-Kationen zeigen, dass ihnen generell cyclische Strukturen zugrunde liegen. Kristallstrukturanalysen verschiedener Salze haben folgende repräsentative Kationenstrukturen ergeben: Te
Te
Se
2+
Se Te
Te
Se
Se Se
2+
Se Se Se
Die Ionen [S4]2+ (farblos), [Se4]2+ (gelb) und [Te4]2+ (rot) sind quadratisch gebaut (Symmetrie D4h). Sie stellen anorganische HÜCKEL-Aromaten dar. Die Bindungen in diesen Homocyclen können wie folgt verstanden werden. Die σ-Bindungen entsprechen denen im H2O bzw. H2S (Kap. 2.4.7), d.h. das s- und zwei p-Orbitale des Chalkogens werden unter Beteiligung von vier Elektronen benutzt, um zwei kovalente Bindungen zu errichten. Da-
446
12 Schwefel, Selen und Tellur
mit verbleiben zwei Elektronen im pπ-Orbital. Die π-Atomorbitale der vier Ringatome ergeben bei der Linearkombination die in Abbildung 12.7 dargestellten Molekülorbitale. Bei einem Neutralmolekül E4 wären diese π-Orbitale mit 8 Elektronen besetzt; wegen der zweifach positiven Ladung sind es aber hier nur 6, was der HÜCKEL-Regel entspricht.17 Wie man sieht, befinden sich zwei Elektronen in einem bindenden 4-Zentren-MO und stabilisieren die für Chalkogene ungewöhnliche planare Struktur. Die Kernabstände in den quadratischen Kationen sind dementsprechend deutlich kleiner als bei den entsprechenden Einfachbindungen.
uÊ :
g:
u:
E
+
S S S S2+
Êu
+
+
+
+
g
3p
+
+
+
+
+
(a)
u
(b)
Abb. 12.7 Die π-Bindung im quadratischen Tetraschwefel-Kation [S4]2+. (a) Linearkombination der vier 3pπ-Atomorbitale zu vier Molekülorbitalen (Projektion der Atomorbitale in die Molekülebene). (b) Energieniveaudiagramm der Atom- und Molekülorbitale. Die sechs π-Elektronen sind gleichmäßig über alle vier Atome delokalisiert.
Die bicyclischen Kationen [S8]2+, [Se8]2+ und [Te8]2+ weisen eine endo-exo-Konformation auf (Symmetrie Cs), die beispielsweise beim [Se8]2+ dazu führt, dass im 77Se-NMR-Spektrum fünf Linien beobachtet werden. Alle drei Ionen enthalten eine schwache transannulare Brückenbindung von größerem Kernabstand als er zwischen den unmittelbar benachbarten zweibindigen Atomen in den beiden Fünfringen gefunden wird. Zwei Atome pro Ring sind also dreibindig, was verständlich wird, wenn man bedenkt, dass ein positiv geladenes Chalkogenatom E+ einem Pnictidatom entspricht (S+ ist mit P isoelektronisch), das in seinen Element-Modifikationen dreibindig ist. Im Salz [Te8][WCl6]2 ist das bicyclische Kation allerdings von geringerer Symmetrie. [Te7]2+ und [Se10]2+ sind ebenfalls bicyclisch gebaut, [Te6]2+ hat die Gestalt eines Bootes, [Te6]4+ bildet ein trigonales Prisma und [Te8]4+ einen Würfel, bei dem allerdings zwei gegenüberliegende Kanten fehlen. Die großen Ionen [Se17]2+ und [S19]2+ bestehen jeweils aus zwei siebengliedrigen Homocyclen, die durch drei bzw. fünf Chalkogenatome verbunden sind. 17
Nach ERICH HÜCKEL ist ein planares Ringmolekül aus gleichartigen Atomen ein Aromat, wenn 4n+2 Elektronen in den π-Orbitalen vorhanden sind (n = 0, 1, 2 …).
447
12.6 Kettenaufbau- und -abbau-Reaktionen
12.6
Kettenaufbau- und -abbau-Reaktionen
Die Bildung von Ketten und Ringen ist für die Chalkogene Schwefel, Selen und Tellur besonders charakteristisch. Die meisten derartigen Verbindungen sind vom Schwefel bekannt, weswegen hier einige Synthesemöglichkeiten für SS-Bindungen zusammengestellt werden sollen: (a) Kondensation von einem Hydrid mit einem kovalenten Halogenid: S H + Cl S
S S
+ HCl
(b) Reaktion von einem Metallsulfid (oder Polysulfid) mit einem Halogenid: SÈ M+ + Cl S S S (c) Oxidation von Hydriden, z.B. mit Iod: S H + I2 + H S
+ MCl
S S
+ 2 HI
(d) Kondensation von einem Hydrid mit einem kovalenten Hydroxid (Oxosäure): S H + HO S
S S
+ H2O
(e) Aufschwefeln von kovalenten oder ionischen Sulfiden mit S8 beim Erwärmen: x S8 + R S 2 R
R Sn R
n = 3, 4, ...; R = H, Cl, Organyl oder Metall
Ein Abbau von Verbindungen mit wenigstens zwei benachbarten SS-Bindungen unter Eliminierung von S-Atomen aus der Kette oder dem Ring kann außer durch starkes Erhitzen auch auf chemischem Wege erreicht werden. Eine Reihe nukleophiler Moleküle und Ionen reagiert mit S8 und anderen Polyschwefelverbindungen schon bei 20–80°C unter Entschwefelung. So erhält man beispielsweise aus S8 und 8 mol Triphenylphosphan die äquivalente Menge Phosphansulfid R3PS, mit Cyanid-Ionen entsteht Thiocyanat ([SCN]–), mit ionischen Sulfiden oder Hydrogensulfiden entsprechende Polysulfide ([Sn]2–) und mit Hydrogensulfit ([SO3H]–) wird Thiosulfat ([S2O3]2–) gebildet. Analog reagiert Hydrogensulfit mit elementarem Selen zu Selenosulfat [SeSO3]2–. Diese Reaktionen laufen stufenweise und nach einem SN2-Mechanismus ab.18 Zum Beispiel führt der nukleophile Angriff von Cyanid-Ionen auf den S8-Ring zunächst zur Ringöffnung: S8 + [CN]È
[NC S S S S S S S S]È
Die Ringöffnung ist im Allgemeinen der geschwindigkeitsbestimmende, d.h. langsamste Schritt. Das Primärprodukt wird rasch weiter abgebaut, wobei einerseits [SCN]– entsteht; daneben treten aber [S7CN]–, dann [S6CN]–, usw. als Zwischenprodukte auf, bis schließlich nach S8 + 8 [CN]È
8 [SCN]È
alle SS-Bindungen gespalten sind. Durch photometrische Bestimmung der [SCN]–-Ionen mit Fe3+ als rotes [Fe(SCN)3] kann man die Menge des S8 bestimmen. 18
SN2: Nukleophile (N) Substitution (S) 2. Ordnung.
448
12 Schwefel, Selen und Tellur
Analog zu S8 reagieren andere Verbindungen mit mehreren benachbarten SS-Bindungen, z.B. Organylpolysulfane: R S S S R + [CN]È
R S S R + [SCN]È
Daher sind die meisten Verbindungen mit Schwefelketten empfindlich gegen nukleophile Reagenzien wie Laugen, Sulfit, Cyanid, NH3, H2S und Amine.
12.7
Hydride der Chalkogene
Die Elemente S, Se und Te bilden flüchtige Hydride des Typs H2E, die kovalente Bindungen enthalten. Darüber hinaus sind nur noch vom Schwefel höhere Hydride in reiner Form bekannt (Sulfane). Außer diesen binären Hydriden kennt man aber noch eine sehr große Zahl organischer und anorganischer Derivate mit z.T. sehr langen Schwefelketten als zentralem Strukturelement, nämlich die ionischen Polysulfide, die Dihalogensulfane, die Diorganylsulfane, die Polythionate und andere.
12.7.1
Hydride H2E (E = S, Se, Te)
Die Hydride H2S, H2Se und H2Te sind farblose, sehr giftige und widerlich riechende Gase. Diese Verbindungen können mit unterschiedlicher Ausbeute auf folgende Weise hergestellt werden: (a) Aus den Elementen durch Gleichgewichtseinstellung beim Erhitzen an Stücken von Bimsstein: 600°C
H2 + S(g.) H2 + Se(g.)
350-400°C
H2S H2Se
Um H2Te (Sdp. –4°C) aus den Elementen zu erhalten, elektrolysiert man eine halbkonzentrierte Schwefelsäure bei –70°C zwischen einer Te-Kathode und einer Pt-Anode. (b) Aus Metallchalkogeniden durch Protonierung der Chalkogenid-Ionen: NaHS + H3PO4
H2O
Al2S3 + 6 H2O Al2Se3 + 6 HCl
H2O
H2S + NaH2PO4 3 H2S + 2 Al(OH)3
analog: D2S, H2Se
3 H2Se + 2 AlCl3
analog: H2Te
H2Se und H2Te werden von Luftsauerstoff rasch zu H2O und Se bzw. Te oxidiert (Autoxidation), weswegen ihre Herstellung unter O2-Ausschluss erfolgen muss. Die Hydride H2O und H2S sind exotherme, H2Se und H2Te dagegen endotherme Verbindungen. Die wässrigen Lösungen von H2S, H2Se und H2Te reagieren schwach sauer. Die Säurestärke nimmt in der angegebenen Reihenfolge zu, wie die folgenden Werte der Dissoziationskonstanten Ka (bei 25°C) zeigen:
449
12.7 Hydride der Chalkogene
H2S H2E [HE]È
H2Se
H2Te 2.3.10È3
H+ + [HE]È
K1: 1.0.10È«
1.9.10È4
H+ + E²È
K2: 1.0.10È14
8.8.10È16
1.6.10È11
Als Ursache dieses überraschenden Ganges der Dissoziationskonstanten ist ähnlich wie bei den Halogenwasserstoffen die Abnahme der mittleren HE-Bindungsenergie vom Schwefel zum Tellur hin anzusehen. Die extrem kleine und in ihrem Zahlenwert noch etwas unsichere zweite Dissoziationskonstante von H2S bedeutet, dass das Sulfid-Ion S2– in wässriger Lösung bei pH-Werten kleiner als 12 praktisch nicht vorhanden ist. Dennoch kann man bestimmte Metallsulfide wie CuS, HgS und Ag2S sogar aus stark saurer Lösung der Metall-Ionen mit H2S fällen. Bei dieser Reaktion reagiert wahrscheinlich das Metall-Ion, z.B. [Cu(H2O)6]2+, mit dem Hydrogensulfid-Ion [HS]– zu einem Komplex wie [Cu(SH)(H2O)5]+, der dann intermolekular kondensiert und über mehrere Zwischenstufen unlösliches Kupfersulfid bildet. Wegen der kleinen Werte von K1 und vor allem von K2 der binären Chalkogenhydride unterliegen alle ionischen Metallchalkogenide MHE und M2E in Wasser, sofern sie löslich sind, einer starken Hydrolyse, was man zur Herstellung der Hydride ausnutzten kann, indem man wenig Wasser zu dem festen Barium- oder Aluminium-Salz tropft. Nur die Metallsulfide mit sehr kleinem Löslichkeitsprodukt können mit wässrigen Lösungen koexistieren; der lösliche Anteil ist jedoch auch in diesen Fällen weitgehend hydrolysiert. Die Löslichkeit der Sulfide, Selenide und Telluride ist verständlicherweise stark pH-abhängig. Aus den oben genannten Gründen kann man Metallchalkogenide aus wässrigen Lösungen nur dann in reiner Form isolieren, wenn sie sehr schwer löslich sind. Die hydrolyseempfindlichen Sulfide, Selenide und Telluride der Alkali- und Erdalkalimetalle sowie des Aluminiums stellt man daher auf trockenem Wege oder in einem Lösungsmittel geringer Protonendonorstärke her (C2H5OH oder flüssiges NH3). Die Hydride H2E (E = S, Se, Te) sind ziemlich reaktionsfreudig. Sie sind einerseits schwache Reduktionsmittel, andererseits geeignet für Kondensationsreaktionen mit den Halogendien von Bor, Silicium, Germanium, Phosphor, Schwefel und Selen. Beispielsweise erhält man aus H2Se und S7Cl2 die heterocyclische Verbindung S7Se: H2Se + S7Cl2
S7Se + 2 HCl
Weitere Reaktionen vor allem des Schwefelwasserstoffs werden an anderer Stelle behandelt. Wichtige organische Derivate von H2S und H2Se sind die Aminosäuren Cystein HS– CH2–CH(NH2)–COOH und Selenocystein HSe–CH2–CH(NH2)–COOH, die in zahllosen Proteinen und Enzymen vorkommen und die für die Redoxbalance in Säugetierorganismen wichtig sind.
12.7.2
Polysulfane H2Sn (n > 1)
Schwefelwasserstoff löst sich in flüssigem Schwefel teilweise unter Aufschwefelung entsprechend folgendem Gleichgewicht: H2S + Sn(fl.)
H2Sn+1
450
12 Schwefel, Selen und Tellur
Die Löslichkeit von H2S beträgt zwischen 200° und 400°C etwa 0.2 g/100 g S8. Bei höheren und tieferen Temperaturen ist sie niedriger. Die dabei entstehenden Sulfane H2Sn sind kettenförmige, den linearen Alkanen CnH2n+2 und Phosphanen PnHn+2 entsprechende Verbindungen.19 Sie können durch ihre 1H-NMR-Spektren identifiziert werden. Die chemische Verschiebung der Protonen ist bei den ersten 35 Gliedern der Reihe H2Sn ausreichend verschieden, um diese Verbindungen nebeneinander nachzuweisen.20 Die hypothetische Reaktion von H2S mit kristallinem S8 ist bei 25°C schwach endotherm (∆ H° 298 > 0) und endergonisch (∆G° 298 > 0). Die Polysulfane H2Sn sind daher unter Standardbedingungen thermodynamisch instabil in Bezug auf eine Zersetzung zu gasförmigem H2S und α-S8. Diese Zersetzung wird schon durch Spuren von NH3 oder Hydroxiden sowie durch Quarzpulver katalysiert. Aus der dabei entwickelten H2S-Menge kann man die Zusammensetzung des Sulfans ermitteln. Zur Herstellung definierter Polysulfane eignen sich zwei Methoden: (a) Eine Natriumpolysulfidlösung (Na2Sn) wird bei –10°C in Salzsäure gegeben, wobei sich ein Sulfangemisch H2Sn als gelbes, schweres Öl absetzt. Dieses als „Rohöl“ oder „Rohsulfan“ bezeichnete Gemisch kann durch Crackdestillation, bei der die höheren Sulfane absichtlich zersetzt werden, in H2S2, H2S3 und S8 zerlegt werden. Die Isolierung der höheren Glieder (bis n = 6) ist teils durch Hochvakuumdestillation, teils durch selektive Extraktion von Rohsulfan möglich. (b) Durch Kondensation von Sulfanen (n = 1, 2) mit Chlorsulfanen (n = 1–4) erhält man bei –50°C nach folgenden Reaktionen höhere Sulfane mit bis zu acht S-Atomen: 2 H2S + SCl2
H2S3 + 2 HCl
2 H2S + S2Cl2
H2S4 + 2 HCl
2 H2S2 + SCl2
H2S5 + 2 HCl
Dabei wird jeweils das Sulfan in großem Überschuss eingesetzt, um die unerwünschte Bildung längerer Ketten zu unterdrücken. Das Gemisch aus unverbrauchtem Ausgangssulfan und Reaktionsprodukten wird dann durch Vakuumdestillation getrennt. Die Sulfane sind Flüssigkeiten, die mit zunehmender Molmasse immer stärker gelb gefärbt, immer öliger und schwefelähnlicher und auch immer schwerer flüchtig werden. Die höheren Glieder (n > 6) können wegen ihrer ähnlichen physikalischen Eigenschaften und wegen ihrer thermischen Empfindlichkeit nicht mehr voneinander oder von S8 getrennt werden. Die Struktur des gasförmigen Moleküls H2S2 entspricht der von H2O2, jedoch ist der Torsionswinkel mit 90° deutlich kleiner. Gasförmiges H2S3 existiert wie das Pentasulfid-Ion in einer cis- und einer trans-Form, die miteinander im Gleichgewicht stehen. Die Rotationsbarriere an der SS-Bindung beträgt ca. 26 kJ mol–1 (trans-Barriere). Die Polysulfane eignen sich für Kondensationsreaktionen. Aus ihnen konnten z.B. neue Schwefelhomocyclen und ein neues Schwefeloxid hergestellt werden: Bei der Re-
19 20
R. Steudel, Top. Curr. Chem. 2003, 231, 99. Die entsprechenden Selenverbindungen sind unbeständig, jedoch wurden mittels NMR-Spektroskopie zahlreiche substituierte Selane R2Sen sowie gemischte S/Se-Ketten in Thiaselanen nachgewiesen: H. Eggert, O. Nielsen, L. Henriksen, J. Am. Chem. Soc. 1986, 108, 1725; M. Pridöhl, R. Steudel, F. Baumgart, Polyhedron 1993, 21, 2577; J. Hahn, R. Klünsch, Angew. Chem. 1994, 106, 1824.
451
12.8 Metallchalkogenide
aktion von Rohsulfan mit Thionylchlorid nach dem Verdünnungsprinzip erhält man bei –40°C in CS2/Me2O cyclo-Octaschwefeloxid: H S7
Cl S
+ H
O
Cl
S S S
S
O
S
S S S
+ 2 HCl
S8O kristallisiert aus CS2 in intensiv gelben Nadeln, die sich bei 78°C spontan, langsam auch schon bei Raumtemperatur zu SO2 und polymerem Schwefel zersetzen. Der S8-Ring weist eine Kronenform auf wie der Ring des orthorhombischen α-Schwefels.
12.8
Metallchalkogenide
Metallchalkogenide sind die Salze der Hydride H2En (E = S, Se, Te; n = 1, 2, …). Die Vielfalt der Metallsulfide, -selenide und -telluride ist außerordentlich groß, da praktisch alle Metalle mit den schweren Chalkogenen Verbindungen bilden. Diese können binär oder ternär (z.B. Kupferkies CuFeS2) oder noch komplizierter zusammengesetzt sein. Oft existieren in einem bestimmten System Metall/Chalkogen mehrere Phasen. Viele Metallchalkogenide, vor allem Sulfide, sind als Mineralien bekannt und als Metallerze geschätzt (Zinkblende ZnS, Bleiglanz PbS, Argentit Ag2S, Grauspießglanz Sb2S3). Das Mineral Pyrit (Eisen(II)-disulfid, FeS2) wird dagegen nur wegen seines Schwefelgehaltes abgebaut.21 Viele Schwermetallselenide und -telluride sind Halbleiter. Beispielsweise werden CuInSe2 und CdTe für die Solarstromerzeugung genutzt, während CdxHg1–xTe mit x = 0–1 in optoelektronischen Bauteilen für den infraroten Spektralbereich, z.B. für Nachtsichtgeräte, verwendet wird. Zwischen den Strukturen und chemischen Eigenschaften der Oxide eines Metalls einerseits und denen der Sulfide, Selenide und Telluride andererseits bestehen im Allgemeinen nur geringe Ähnlichkeiten. Das liegt an der geringeren Elektronegativität und höheren Polarisierbarkeit der schwereren Chalkogenatome. Vor allem aber ist die Fähigkeit zur Bildung homoatomarer Ketten und Ringe seitens der schwereren Chalkogene für drastische Unterschiede zu den Oxiden verantwortlich. Bekannte Beispiele sind die Verbindungen [Cp2TiS5] und [NH4]2[Pt(S5)3], die heterocyclische MS5-Ringe enthalten (Metallacyclen). In der Pt-Verbindung sind drei η2-Pentasulfid-Liganden an ein gemeinsames Metallatom (M) gebunden, das dadurch oktaedrisch koordiniert ist.22 Im Folgenden werden nur die ionischen Chalkogenide und Polychalkogenide der Alkalimetalle behandelt.23 Die Chalkogenverbindungen der Nichtmetalle werden bei den betreffenden Elementen besprochen. 21 22
23
Pyrit [Eisen(II)-disulfid] hat wahrscheinlich in der Frühphase der biologischen Evolution auf der Erde eine entscheidende Rolle gespielt; siehe G. Wächtershäuser, Microbiol. Rev. 1988, 52, 452. Mit den S-Donor-Liganden H2S, [HS]–, S2–, [RS]– und [Sn]2– wurden zahlreiche Metallkomplexe hergestellt: S. R. Collinson, M. Schröder, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 8, 4811. N. Takeda, N. Tokotoh, R. Okazaki, Top. Curr. Chem. 2003, 231, 153. Bezüglich der Chalkogenide anderer Metalle siehe M. G. Kanatzidis, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 2, 825 und W. S. Sheldrick, Handb. Chalcogen Chem. 2007, 543.
452
12 Schwefel, Selen und Tellur
Chalkogenide der Alkalimetalle Sättigt man Natron- oder Kalilauge mit H2S, erhält man eine Hydrogensulfidlösung, aus der nach Zugabe der äquivalenten Menge Lauge beim Abkühlen die wasserhaltigen Sulfide auskristallisieren: NaOH + H2S
NaSH + H2O
NaSH + NaOH
Na2S + H2O
Auf diese Weise werden Na2S·9H2O und K2S·5H2O technisch hergestellt. Diese farblosen Salze, die von Luftsauerstoff langsam unter Gelbfärbung zu Polysulfiden und Thiosulfat oxidiert werden, können nur unter teilweiser Zersetzung entwässert werden. Die wasserfreien Chalkogenide stellt man daher auf anderem Wege her. Technisch wird Na2S durch Reduktion von Na2SO4 mit einer aschearmen Kohle wie Anthrazit bei 700–1100°C erhalten: Na2SO4 + Cf.
Na2S + 4 CO
Na2S wird hauptsächlich in der Gerberei als Enthaarungsmittel für Tierhäute und außerdem für die Synthese von Schwefelfarbstoffen verwandt. Im Labor erhält man Na2S und K2S am besten durch Reduktion von Schwefel mit der äquivalenten Menge Alkalimetall, gelöst in flüssigem NH3: NH3
16 K + S8
8 K 2S
Das eigentliche Reduktionsmittel sind dabei die solvatisierten Elektronen (Kap. 9.4.8). Da ionische Sulfide in NH3 unlöslich sind, ist die Ausbeute quantitativ. Analog werden Na2Se, Na2Te, K2Se und K2Te hergestellt. Diese farblosen Salze kristallisieren in der Antifluoritstruktur, d.h. in der Struktur von CaF2 sind die Kationenplätze durch die Chalkogenid-Ionen und die Anionenplätze durch die Metall-Kationen besetzt. Durch Erhitzen der Na- oder K-Chalkogenide mit weiterem Chalkogen unter Luftausschluss, z.B. in einer Ampulle, auf 500–600°C kann man Polychalkogenide24 gewinnen: Na2S +
1 8
S8
K 2S +
3 8
S8
500°C 500°C
Na2S2 K 2 S4
Auf diese Weise erhält man Na2S2 (hellgelb), K2S2–6 (gelb bis rot), Na2Se2 (grau) und Na2Te2 (grauschwarz, metallisch glänzend). Wässrige Lösungen der Polysulfide entstehen beim Erhitzen von Sulfidlösungen mit Schwefel: [HS]È + S8 [S9]2È + [HS]È
[S9]2È + H+ 2 [S5]2È + H+
In der Lösung liegen jedoch Gleichgewichtsgemische von Polysulfid-Ionen mit bis zu 6 Atomen vor:
24
2 [S5]2È
[S4]2È + [S6]2È
2 [S4]2È
[S3]2È + [S5]2È
R. Steudel, Top. Curr. Chem. 2003, 231, 127.
12.8 Metallchalkogenide
453
Stöchiometrisch zusammengesetzte Polychalkogenide der Alkalimetalle kann man auch in flüssigem Ammoniak herstellen, indem man die Elemente im entsprechenden Molverhältnis einsetzt. Auch die Reaktion von Carbonat mit dem Chalkogen in Methanol führt manchmal zum Ziel, z.B. bei der Synthese von Cs4Se16 bei 160°C/1.3 MPa (siehe unten). Die Reaktion von Natrium mit Schwefel zu einem Polysulfidgemisch läuft auch bei der Entladung eines Natrium-Schwefel-Akkumulators ab. Die Elektroden dieses bei ca. 300°C betriebenen Akkus bestehen einerseits aus flüssigem Natrium und andererseits aus flüssigem Schwefel, der durch Beimischen von Graphitpulver elektrisch leitend gemacht wird. Die Elektroden sind durch ein Diaphragma aus Natriumpolyaluminat („β-Aluminiumoxid“) getrennt, das bei der Betriebstemperatur ein guter Natrium-Ionenleiter ist. Bei der Entladung des Akkus wird Na zu Na+ oxidiert, das durch das Diaphragma in den Anodenraum wandert, wo S8 zu [S4]2– reduziert wird, so dass schließlich flüssiges Na2S4 (Schmp. 275°C) vorliegt. Bei der Aufladung des Akkus spielen sich die umgekehrten Reaktionen ab. Die Betriebsspannung beträgt maximal 2.08 V; die Energiedichte von 790 W h kg–1 ist um den Faktor 5 günstiger als beim Bleiakku und die Lebensdauer von 15 Jahren (6500 Zyklen bei einem Entladegrad von 65 %) macht diese Natrium-Schwefel-Batterie, wie sie oft genannt wird, zu dem zur Zeit fortschrittlichsten Stromspeichersystem, um beispielsweise regenerativ oder nachts erzeugte elektrische Energie für Zeiten hohen Bedarfs am Tage zu speichern. Entsprechende, in Japan errichtete Anlagen, in denen 100–200 zylindrische Zellen in einem beheizbaren Modul zusammengeschaltet werden, erreichen bei 10–20 Modulen mit Gehäuse ein Gewicht von bis zu 100 t. Na-S-Batterien sind emissionsfrei und von den Materialien her im Gegensatz zum Bleiakku ausgesprochen umweltfreundlich. Strukturen der Polychalkogenid-Anionen Die Polysulfide der Alkali- und Erdalkalimetalle enthalten isolierte Anionen [Sn]2–, die mit entsprechenden Dichlorsulfanen Sn–2Cl2 isoelektronisch sind und die Ketten verschiedener Konformation bilden. Während Na2S2 wie Na2O2 hantelförmige Anionen enthält, ist das Trisulfid-Ion gewinkelt. Das Tetrasulfid-Ion hat eine gauche-Konformation wie H2O2 und H2S2, d.h. es ist chiral, und in den Kristallen von Na2S4 und K2S4 sind die beiden Enantiomere im Verhältnis 1:1 enthalten (Torsionswinkel + oder –). Beim Pentasulfid-Ion sind an den beiden zentralen SS-Bindungen die Torsionswinkelkombinationen + + (oder – –) sowie + – (identisch mit – +) möglich, d.h. es gibt drei Isomere (davon zwei optische Isomere). Man nennt die Vorzeichenfolge der Torsionswinkel das Motiv des Moleküls oder Ions. Im Na2S5 liegt das Rotamer mit dem Motiv + – (Symmetrie Cs) vor, während K2S5, Rb2S5 und Cs2S5 helicale Anionen mit den Motiven + + und – – (Symmetrie C2) im Verhältnis 1:1 enthalten. Theoretisch gibt es bei n Torsionsachsen 2n Torsionswinkelkombinationen. Beim Hexasulfid-Ion sind es also bereits 8; davon sind allerdings vier paarweise identisch, so dass nur 6 Hexasulfid-Isomere existieren. In Abbildung 12.8 sind die durch Röntgenbeugung ermittelten Strukturen der genannten Anionen in den Salzen Na2S4, Na2S5 und Cs2S6 gezeigt. In den Alkalimetallpolyseleniden ähneln die Strukturen der Anionen in der Regel denen der analogen Polysulfid-Ionen. Lediglich bei den besonders selenreichen Phasen kommt es zu Besonderheiten, indem entweder neue Strukturen wie das bicyclische Anion [Se11]2– auftreten (Abb. 12.9a) oder zusätzlich zu den Anionen noch isolierte Selenhomocyclen (z.B. Se6 und Se7) in der Struktur vorhanden sind. Das vierfach koordinierte SeAtom von [Se11]2– liegt in der Ebene seiner nächsten Nachbarn; sein Bindungszustand entspricht dem des Iods im Anion [ICl4]–.
454
12 Schwefel, Selen und Tellur
Cs2S6
Na2S5
Na2S4
Abb. 12.8 Strukturen der Polysulfid-Anionen in den Salzen Na2S4, Na2S5 und Cs2S6. Die Symmetrie dieser Anionen ist: [S4]2– und [S6]2–: C2; [S5]2–:Cs.
(a)
(b)
Abb. 12.9 Strukturen der Anionen in den Salzen Cs2Se11 (a) und Cs2Te5 (b). Das monomere Anion [Se11]2– ist spirocyclisch gebaut. Die Anionen der Zusammensetzung [Te5]2– sind dagegen polymer. Charakteristisch sind die planar-quadratische Koordination einiger Atome und die Ausbildung sesselförmiger 6-Ringe.
Alkalimetallpolytelluride25 zeigen nur noch wenige Ähnlichkeiten mit den Polysulfiden entsprechender Zusammensetzung, da das Telluratom noch stärker als Selen dazu neigt, durch zusätzliche dative Bindungen eine höhere Koordinationszahl anzunehmen (np2→nσ*-Bindungen). Ursache ist die vom Schwefel zum Tellur abnehmende HOMOLUMO-Energiedifferenz. Während [Te2]2–, [Te3]2– und [Te4]2– strukturell den entsprechenden Polysulfiden ähneln, kommt es bei den Te-reicheren Anionen in der Regel zu cyclischen oder unendlich ausgedehnten Strukturen mit zweifach und vierfach (quadratisch) koordinierten Atomen (Abb. 12.9b). In den Kristallen von Cs3Te22 wurden durch Röntgenstrukturanalyse neben polymeren [Te6]3–-Ionen auch noch neutrale, kronenförmige Te8-Moleküle gefunden, die als reine Verbindung unbekannt sind. Andererseits enthält Cs2Te13 kettenförmige [Te13]2–-Ionen der Symmetrie Cs. Welches Produkt bei einer Synthese entsteht, hängt von der Stöchiometrie, von den Reaktionsbedingungen und vor allem von der Art und Größe des Kations ab. In gemischten Polychalkogen-Anionen bevorzugt Tellur gegenüber Selen und Schwefel die Positionen mit der höheren Koordinationszahl. In Lösung wurden die Polychalkogenid-Ionen spektroskopisch mittels UV-Vis, Raman, NMR (77Se, 123Te, 125Te), ESR und Elektrospray-MS charakterisiert. Damit wurden auch die in solchen Lösungen spurenweise vorhandenen Radikal-Anionen [S3]• – und 25
M. G. Kanatzidis, Angew. Chem. 1995, 107, 2281.
455
12.10 Oxide der Chalkogene
[Se2]• – identifiziert, die mit den entsprechenden Dimeren [S6]2– bzw. [Se4]2– im Gleichgewicht stehen. [S3]• – ist die farbgebende Komponente im blauen Halbedelstein Lapis lazuli (Kap.8.8.2).
12.9
Diorganopolysulfane R2Sn
Ersetzt man in den Hydriden H2Sn den Wasserstoff formal durch aliphatische oder aromatische Gruppen, erhält man Diorganopolysulfane R–Sn–R, die in der Literatur auch als organische Polysulfide bezeichnet werden. Diese Derivate sind thermisch wesentlich beständiger als die entsprechenden Hydride und daher sind sie von größerer Bedeutung.26 Organopolysulfane R–Sn–R mit bis zu 13 Schwefelatomen wurden in reiner Form hergestellt und noch längere Ketten wurden in Gemischen nachgewiesen. Auch ringförmige Vertreter sind in großer Zahl bekannt. Eine gezielte Synthese ist durch Verwendung von Schwefeltransfer-Reagenzien möglich, wozu sich verschiedene Metallpolychalkogenide eignen: 2 R S Cl + [Cp2TiS5]
SCl SCl
R S7 R + [Cp2TiCl2]
S S + [Cp2TiS5]
S S
S S S
+ [Cp2TiCl2]
Beim Erwärmen bis zum Schmelzpunkt gehen die meisten schwefelreichen Organopolysulfane in Gemische von Homologen über, die sich beim längeren Erhitzen zu S8 und den stabileren Disulfanen R2S2 zersetzen: R2Sn 2 R2Sn
R2SnÈ8 + S8 R2SnÈx + R2Sn+x
Systeme dieser Art spielen bei der Vulkanisation von Gummi mit Schwefel eine Rolle. Organische Polysulfide wurden auch aus zahlreichen Organismen isoliert, z.B. aus Algen, Seescheiden, Zwiebeln, Knoblauch und Pilzen.26
12.10 Oxide der Chalkogene Die drei Chalkogene S, Se und Te sind leicht zu oxidieren, unter anderem durch Verbrennung an der Luft.27 Die wichtigsten Oxide sind die Dioxide und die Trioxide, die teils monomer, teils polymer sind: 26 27
R.Steudel, Chem. Rev. 2002, 102, 3905 und Encycl. Inorg. Chem. 2007, online edition. Die leichte Oxidierbarkeit von Schwefel wird seit langem im Schießpulver (Schwarzpulver) genutzt, einer Mischung aus 75 % KNO3, 13 % Holzkohle und 12 % Schwefel. Bei der explosionsartigen Reaktion entstehen hauptsächlich CO2, N2, K2SO4 und K2CO3.
456
12 Schwefel, Selen und Tellur
SO2
SeO2
TeO2
SO3
SeO3
TeO3
Daneben sind von allen drei Elementen gasförmige Monoxide bekannt, die jedoch nur bei hohen Temperaturen im dynamischen Gleichgewicht mit ihren Zersetzungsprodukten (Dioxid und Chalkogen) sowie in elektrischen Entladungen auftreten und die nicht in reiner Form isolierbar sind, sondern nur mit Hilfe der Matrix-Technik bei sehr tiefen Temperaturen stabilisiert werden können. Vom Schwefel wurden jedoch folgende weitere Oxide in reinem Zustand isoliert: S2O
S6O
S6O2
S7O
S7O2
S8O
S9O
S10O
Diese Verbindungen werden als niedere Schwefeloxide bezeichnet, da der Schwefel in ihnen eine niedrigere Oxidationsstufe als im SO2 besitzt. Darüber hinaus kennt man beim Schwefel polymere Oxide mit sehr hohem Schwefelgehalt (Polyschwefeloxide) und auch solche mit sehr hohem Sauerstoffgehalt (Peroxide). Polymer sind auch die gemischtvalenten Selen- und Telluroxide Se2O5, Te4O9 und Te2O5, die Chalkogenatome in den Oxidationsstufen +4 und +6 enthalten. Daneben existieren zahlreiche ternäre Chalkogenoxide.28
12.10.1 Dioxide Schwefeldioxid wird in riesigem Umfang durch Verbrennen von Schwefel, durch Rösten sulfidischer Erze im Wirbelschichtofen (vor allem von Pyrit, FeS2, und Kupferkies, CuFeS2), durch Reduktion von CaSO4 in Gegenwart von SiO2, sowie durch thermische Zersetzung von FeSO4 und von technischer Abfall-Schwefelsäure hergestellt und fast ausschließlich zu H2SO4 verarbeitet. SO2-haltige Gase entstehen auch bei der Verbrennung von Kohle, Heizöl, Dieselöl und Benzin, die stets geringe Mengen bis einige Prozent Schwefel in Form von Verbindungen29 enthalten. Auf diese Weise gelangt zusätzliches SO2 in die Luft,30 sofern nicht eine Rauchgasentschwefelung durchgeführt wird. Die beiden wichtigsten Verfahren hierfür sind: (a) das Gips-Verfahren, d.h. die Rauchgaswäsche mit einer wässrigen Suspension von Ca[OH]2 oder CaCO3, wobei folgende Reaktionen ablaufen: Ca[OH]2 + SO2 +
1 2
O2
CaSO4 + H2O
CaCO3 + SO2 +
1 2
O2
CaSO4 + CO2
In zahlreichen Kohlekraftwerken wird auf diese Weise Gips (CaSO4·2H2O) erzeugt, der in der Bauindustrie eingesetzt wird. Bei der Oxidation des SO2 spielen die im Kalk enthaltenen Spuren von Eisen- und Mangan-Ionen eine katalytische Rolle. 28 29
30
M. S. Wickleder, Handb. Chalcogen Chem. 2007, 344. In Rohöl und seinen Derivaten ist Schwefel in Form von organischen Sulfiden (R2S, Thioether), Disulfanen (RSSR) und Thiolen (RSH) enthalten, wozu auch Thiophenringe gehören. Kohle enthält darüber hinaus auch anorganischen Schwefel, z.B. Pyrit: W. L. Orr, C. M. White (Herausg.), Geochemistry of Sulfur in Fossile Fuels, ACS Symp. Ser. Nr.429, Washington, 1990. Bezüglich anthropogener SOx- und NOx-Emissionen und verwandter Probleme, siehe C. Brandt, R. van Eldik, Chem. Rev. 1995, 95, 119.
457
12.10 Oxide der Chalkogene
(b) das WELLMAN-LORD-Verfahren, bei dem das Rauchgas mit einer wässrigen Na2SO3-Lösung gewaschen wird: Na2SO3 + SO2 + H2O
2 NaHSO3
Diese Reaktion ist reversibel; das SO2 wird anschließend aus der Lösung durch Erhitzen gewonnen und mit H2S nach dem CLAUS-Verfahren zu Elementarschwefel reduziert oder anderweitig weiterverarbeitet. Die moderne Rauchgasentschwefelung hat dazu geführt, dass das Phänomen des sauren Regens in Mitteleuropa weitgehend gebannt wurde, wodurch allerdings auf den intensiv landwirtschaftlich genutzten Böden Mittel- und Nordeuropas ein Schwefeldefizit entstanden ist, das durch Düngemittel mit einem erhöhten Schwefelgehalt ausgeglichen werden muss. Aus natürlichen Quellen (insbesondere den Ozeanen) gelangen jedoch ebenfalls enorme Mengen Schwefel in die Atmosphäre, und zwar als Dimethylsulfid Me2S (DMS, ca. 4·107 t/a). DMS wird im Meer vom Phytoplankton (schwebende Mikroorganismen) gebildet und in der Luft unter anderem zu SO2 und Methansulfonsäure MeSO3H oxidiert. Diese starke Säure ist neben H2SO4 und HNO3 ein wesentlicher Bestandteil des sauren Regens. SO2 ist ein farbloses, giftiges und korrosives Gas (Schmp. –75.5°, Sdp. –10°C). Es besteht in allen Aggregatzuständen aus isolierten Molekülen. Diese haben in der Gasphase folgende Eigenschaften: O
S
d (SO) = 143 pm, Winkel 119° O
fr = 10 N cmÈ1, ¯ = 1.63 D
Die Bindungen im SO2 sind denen im SO3 sehr ähnlich. Die Kernabstände und Valenzkraftkonstanten stimmen fast überein (Kap. 2.6). SO2 ist in Wasser ein schwaches Reduktionsmittel. Es reduziert Selenite zu elementarem Selen und Tellurite zu Tellur; Chlorite werden in ClO2 überführt. SO2 geht bei diesen Reaktionen in H2SO4 über. Mit F2 und Cl2 reagiert SO2 zu den entsprechenden Sulfurylhalogeniden SO2X2. Beim Behandeln mit bestimmten Metall- oder Nichtmetallchloriden entsteht in einer Sauerstoff-Halogen-Austauschreaktion Thionylchlorid: PCl5 + SO2 COCl2 + SO2
POCl3 + SOCl2 CO2 + SOCl2
Gegenüber LEWIS-Säuren und -Basen verhält sich SO2 teils als Donor, teils als Acceptor. Einerseits bildet es mit tertiären Aminen kristalline Komplexe des Typs Me3N→SO2, andererseits kann es auch als Ligand in Metallkomplexe eintreten, z.B. im Eisencarbonyl [Fe2(CO)8SO2]. Flüssiges Schwefeldioxid ist ein gutes Lösungsmittel für viele organische und anorganische Verbindungen und in gewissem Sinne wasserähnlich, obwohl es entgegen älteren Literaturangaben selbst nicht dissoziiert ist. Es eignet sich als Reaktionsmedium für Redox- und Komplexbildungsreaktionen sowie vor allem für zahlreiche doppelte Umsetzungen, wobei die Übertragung von O2–-Ionen eine besondere Rolle spielt. Ein Beispiel dafür ist die Neutralisation von Sulfiten mit Thionylchlorid: SOCl2 + M2SO3
2 MCl + 2 SO2
458
12 Schwefel, Selen und Tellur
Diese Reaktion verläuft über die Ionen [SOCl]+ und [SO3]2–: SOCl2
[SOCl]+ + ClÈ
M2SO3
2 M+ + [SO3]2È
[SOCl]+ + [SO3]2È
2 SO2 + ClÈ
Selendioxid und Tellurdioxid entstehen beim Verbrennen von Se bzw. Te an der Luft bzw. im O2-Strom sowie bei der Oxidation dieser Elemente mit konzentrierter Salpetersäure, wenn man anschließend eindampft und den Rückstand auf 300°C (SeO2) bzw. 400°C (TeO2) erhitzt. SeO2 bildet farblose, in Wasser, Benzol und Eisessig lösliche Kristalle, die bei 315°C sublimieren. In der Gasphase besteht SeO2 wie SO2 aus isolierten Molekülen (Symmetrie C2v, dSeO = 174 pm, Winkel 101°). Im kristallinen Zustand liegt dagegen ein kettenförmiges Polymer aus eckenverknüpften SeO3-Pyramiden vor:
O
O
O
O
Se
Se
Se
O
O
d(SeO) = 178 pm (in der Kette) d(SeO) = 173 pm (Seleninylgruppen)
Die Kernabstände zeigen, dass alle SeO-Bindungen in dieser Struktur Mehrfachbindungen sind; der Einfachbindungsabstand beträgt 183 pm. SeO2 löst sich in Wasser zu Seleniger Säure H2SeO3 bzw. H2Se(OH)6, die durch Eindampfen der Lösung im Vakuum in Form farbloser Kristalle von H2SeO3 erhalten werden kann; diese Kristalle verwittern an der Luft zu SeO2. SeO2 kann leicht zu Se reduziert werden; es ist daher ein mäßig starkes Oxidationsmittel, das in dieser Funktion vor allem in der organischen Chemie verwendet wird. Mit HCl reagiert SeO2 zu einer Additionsverbindung SeO2·2HCl, die von konzentrierter Schwefelsäure zu SeOCl2 dehydratisiert wird. Auf diesem Wege wird Seleninylchlorid hergestellt: SeO2.2 HCl + H2SO4
SeOCl2 + [H3O][HSO4]
Das farblose α-TeO2 (Schmp. 733°C), das man bei der Verbrennung von Te in O2, bei der Oxidation von Te mit konzentrierter Salpetersäure sowie bei der thermischen Zersetzung von Te(OH)6 erhält, kristallisiert in einer tetragonalen Struktur, wobei jedes Te-Atom pseudo-trigonal-bipyramidal (Typ AX4E) von vier O-Atomen umgeben ist, wodurch zwei etwas verschiedene TeO-Kernabstände resultieren (äquatorial 190 und axial 208 pm). Gelbes orthorhombisches β-TeO2 kommt als Mineral Tellurit vor und bildet ein Schichtgitter. α-TeO2 ist in Wasser sehr wenig, in SeOCl2 besser löslich. In Salzsäure löst es sich zu [TeCl6]2–-Ionen, in Natronlauge zu Telluriten [Oxotellurate(IV)]. TeO2 kann auch mit Kohle, Al oder Zn zu metallischem Tellur reduziert werden.
12.10.2 Trioxide Schwefeltrioxid wird industriell in großem Umfang durch katalytische Oxidation von SO2 mit Luftsauerstoff nach dem Kontaktverfahren hergestellt: SO2 +
1 2
O2
SO3
° = Ȩ«Æ® kJ molÈ1; K p (700K) = 240 barÈ0.5 H700
459
12.10 Oxide der Chalkogene
Da dieses Gleichgewicht einerseits bei Raumtemperatur eingefroren ist, andererseits aber bei hohen Temperaturen wegen der negativen Reaktionsenthalpie auf der linken Seite liegt, verwendet man Katalysatoren zur Beschleunigung der Gleichgewichtseinstellung bei mittleren Temperaturen. Beim modernen Doppelkontaktverfahren wird in einer ersten Stufe bei höherer Temperatur (600°C; hohe Reaktionsgeschwindigkeit) und in den folgenden Stufen bei niedrigerer Temperatur (420°C; hohe Ausbeute) gearbeitet. Wenn das bis zur vorletzten Stufe entstandene SO3 zwischen den beiden letzten Kontakten durch Auswaschen mit konzentrierter Schwefelsäure entfernt wird, erreicht man insgesamt einen SO2-Umsatz von über 99.5 %. Im Allgemeinen besteht der Katalysator aus V2O5 auf SiO2 oder einem Silicat als Träger und dotiert mit K2SO4 als Aktivator. Am Katalysator spielen sich formal folgende Reaktionen ab: SO2 + 2 V5+ + O2È 2 V4+ +
1 2
O2
SO2 + V2O5
SO3 + 2 V4+ 2 V5+ + O2È SO3 + V2O4
Das SO3 wird aus dem Reaktionsgemisch mit H2SO4 ausgewaschen, wobei sich Polyschwefelsäuren bilden, die anschließend mit H2O zu H2SO4 hydrolysiert werden: (n È1) SO3 + H2SO4
H2SnO3n+1
+ (n È1) H2O
n H2SO4
Polyschwefelsäuren sind als Oleum oder rauchende Schwefelsäure im Handel. Aus ihnen kann man in einfacher Weise durch Destillation reines SO3 herstellen. Modifikationen von SO3 Gasförmiges Schwefeltrioxid besteht aus den Molekülen SO3 und S3O9, die miteinander in einem druck- und temperaturabhängigen Gleichgewicht stehen: 3 SO3
S3O9
H ° = È126 kJ molÈ1 (S3O9) °
Das Molekül SO3 ist trigonal-planar gebaut (Symmetrie D3h), mit einem SO-Abstand von 141.7 pm. Bei 44.5°C/1013 hPa kondensiert gasförmiges Schwefeltrioxid zu einer farblosen, leicht beweglichen Flüssigkeit, die überwiegend aus S3O9-Molekülen neben wenig SO3 besteht. Die Flüssigkeit erstarrt bei 17°C zu eisartigen Kristallen von rhombischem γ-SO3, die nur noch aus S3O9-Molekülen bestehen. Dieses trimere SO3 bildet einen sesselförmigen S3O3-Heterocyclus mit sechs exoständigen O-Atomen: O O
O S O
O S
O O S O O
d(SO) = 163 pm Winkel (OSO) = 99° Winkel(SOS) = 121° d(SO) = 137 pm (axial) d(SO) = 143 pm (equat.)
im Ring außerhalb des Ringes
Der Ring kann als ein System von drei verzerrten SO4-Tetraedern aufgefasst werden, die über gemeinsame Ecken verknüpft sind. Ähnliche Strukturen liegen auch den beiden anderen kristallinen SO3-Modifikationen zugrunde. Bei Temperaturen unterhalb etwa 30°C, vor allem aber unterhalb 20°C, polymerisiert S3O9 in Gegenwart von Spuren von
460
12 Schwefel, Selen und Tellur
H2O allmählich zu monoklinem β-SO3, das aus einem Gemisch kettenförmiger Moleküle besteht und das eigentlich eine Polyschwefelsäure darstellt, da die Kettenenden höchstwahrscheinlich OH-Gruppen aufweisen: O HO
(S
O)n
H
d(S O) = 161 pm, d (S O) = 141 pm
O β-SO3 schmilzt bei 32–45°C unter Depolymerisation zu einem Gemisch von SO3 und S3O9. Um das handelsübliche, flüssige Schwefeltrioxid vor dieser Polymerisation zu schützen, wird es mit geringen Mengen von Stabilisatoren versetzt. Die thermodynamisch stabile SO3-Modifikation, das asbestartige α-SO3, entsteht beim Kondensieren von gasförmigem SO3 auf gekühlten Flächen (–80°C), wenn man anschließend auf 25°C erwärmt und mehrere Stunden lang mit Röntgenstrahlen bestrahlt. Die Struktur von α-SO3 ist nicht bekannt, wird aber ähnlich der des β-SO3 sein. Die Depolymerisationstemperatur von etwa 62°C zeigt einen höheren Polymerisationsgrad an.
Reaktionen von Schwefeltrioxid Schwefeltrioxid ist ungewöhnlich reaktionsfähig. Es verhält sich dabei teils als Oxidationsmittel, teils als LEWIS-Säure, selten auch als LEWIS-Base. SO3 oxidiert S8 bei gelindem Erwärmen zu SO2, ebenso SCl2 zu SOCl2 und SO2Cl2, sowie PCl3 zu POCl3. Weißer Phosphor (P4) verbrennt in SO3 zu P4O10, und auch HI, H2S und PH3 werden bei 25°C oxidiert. Mit vielen LEWIS-Basen bildet SO3 teils stabile Donor-Akzeptor-Komplexe, teilweise werden aber erst durch intramolekulare Umlagerungen stabile Produkte erhalten. So erhält man mit Pyridin kristallines Pyridin-1-Schwefeltrioxid (C5H5N→SO3). Mit H2O entsteht über eine ähnliche primäre LEWIS-Säure-Base-Wechselwirkung durch Umlagerung des Adduktes schließlich H2SO4, wobei ein zweites H2O-Molekül beteiligt ist (sechsgliedriger Ring als Zwischenprodukt):31 O
O H2O + SO3
H
O
S
H
O
O
HO
S
O
OH
Analog reagiert SO3 mit HCl zu Chloroschwefelsäure HSO3Cl. Mit NH3 entsteht das Ammoniumsalz der Amidoschwefelsäure. Bei dieser Reaktion schiebt sich SO3 formal als Gruppe –O–SO2– in eine der NH-Bindungen ein. Aus diesem Ammoniumsalz kann die so genannte Amidoschwefelsäure (Sulfaminsäure) durch Umsetzung mit 60 %iger Salpetersäure freigesetzt werden, wobei das Anion protoniert wird: 2 NH3 + SO3
[NH4][SO3NH2]
+ HNO3
H3NÈSO3 + [NH4][NO3]
Amidoschwefelsäure existiert also nicht in der diesem Namen entsprechenden Struktur „H2NSO3H“, sondern nur als tautomeres Zwitterion mit einer kovalenten S–N-Bindung. Es handelt sich bei dieser Säure demnach nicht um eine Hydroxoverbindung, sondern um eine NH-acide Substanz. 31
R. Steudel, Angew. Chem. 1995, 107, 1433.
461
12.10 Oxide der Chalkogene
Mit Salzen anorganischer Säuren reagiert SO3 teils unter Addition an das Anion, KF + n SO3
KSnO3 nF
Na2SO4 + (n È1) SO3
Na2SnO3 n+1
teils unter Verdrängung des Anhydrids: K2SeO4 + n SO3
K2SnO3 n+1 + SeO3
2 KClO4 + 3 SO3
K2S3O10 + Cl2O7 K2S3O10 + CO2
K2CO3 + 3 SO3
Selentrioxid und Tellurtrioxid Selentrioxid wird in der oben beschriebenen Weise aus K2SeO4 und flüssigem SO3 hergestellt. Es bildet farblose, hygroskopische Kristalle (Schmp. 118°C), die aus achtgliedrigen Ringmolekülen Se4O12 bestehen. In der Gasphase steht dieses Tetramer mit monomerem SeO3 im Gleichgewicht; oberhalb 160°C tritt allerdings Zersetzung zu Se2O5 und O2 ein. Monomeres SeO3 ist von D3h-Symmetrie (dSeO = 169 pm). Selentrioxid ist ein noch stärkeres Oxidationsmittel als SO3; es reagiert außerdem wie SO3 als LEWIS-Säure, manchmal aber auch als LEWIS-Base. Tellurtrioxid entsteht beim Entwässern von Orthotellursäure bei 300–320°C: TeO3 + 3 H2O
Te(OH)6
Je nach Reaktionsbedingungen erhält man α-TeO3 oder β-TeO3.32 Während α-TeO3 mit Wasser teilweise wieder zu Te(OH)6 reagiert, ist β-TeO3 in Wasser, konzentrierter Salzsäure und konzentrierter Kalilauge unlöslich. TeO3 ist ein starkes Oxidationsmittel, das sich oberhalb von 400°C zu Te2O5 und O2 zersetzt; alle drei Oxide sind polymer.
12.10.3 Niedere Schwefeloxide33 Das wichtigste dieser Oxide ist das Dischwefeloxid S2O, das zusammen mit SO2 und Spuren von SO3 bei der Verbrennung von elementarem Schwefel in reinem Sauerstoff unter stark vermindertem Druck entsteht. In reiner Form erhält man es beim Überleiten von Thionylchlorid-Dampf über gepulvertes Silbersulfid bei 160°C und 10–50 Pa: OSCl2 + Ag2S
S2O + 2 AgCl
Das Molekül S2O ist wie alle Glieder der Reihe O3 – SO2 – S2O – S3 gewinkelt und hat im Grundzustand eine dem SO2 entsprechende Struktur:
S
32 33
S
O
S
S
O
Winkel (SSO) = 118.0° d(SO) = 145.7 pm d(SS) = 188.7 pm
M. A. K. Ahmed, H. Fjellvag, A. Kjekshus, J. Chem. Soc. Dalton Trans. 2000, 4542. R. Steudel, Top. Curr. Chem. 2003, 231, 203.
462
12 Schwefel, Selen und Tellur
S2O ist nur in der Gasphase bei Partialdrucken unter 1 hPa einige Tage haltbar. Bei höheren Drucken und beim Kondensieren mit flüssigem N2 und anschließendem Aufwärmen auf 25°C disproportioniert S2O zunächst nach 2 S2O
SO2 + S3
und polymerisiert zusammen mit dem S3 und unter weiterer Disproportionierung in einer Radikalkettenreaktion nach folgendem Prinzip zu Polyschwefeloxiden SxO (x > 3) und SO2: S
S +S
S +S
O
O
O
S +S
S
S
S
S
S
S
S
S
S S
+ SO2
O
Diese Polyschwefeloxide sind in organischen Lösungsmitteln unlöslich. Sie entsprechen dem polymeren Schwefel. Bei 100°C zersetzen sie sich endgültig zu SO2 und S8. Ähnliche Oxide, aber mit ringförmiger Struktur, erhält man bei der Oxidation von Schwefelhomocyclen mit Trifluorperessigsäure CF3C(O)OOH: Sn + CF3CO3H
SnO + CF3CO2H
n = 6 È 10
Diese oben bereits erwähnten homocyclischen Schwefeloxide S6O bis S10O sind gelb bis orange gefärbt und kristallin; sie zersetzen sich bei 20°C unterschiedlich schnell zu SO2 und elementarem Schwefel.
12.11
Oxo-, Thio- und Halogeno-Säuren der Chalkogene
12.11.1 Allgemeines Vom Schwefel ist eine große Zahl von Sauerstoffsäuren bekannt, angefangen bei kleinen und hoch reaktiven Molekülen wie HOSOH, HOSSOH und H2SO2 über die Schweflige Säure H2SO3 bis zur Schwefelsäure und den Peroxoschwefelsäuren (Tab. 12.4). Viele dieser Schwefelsäuren sind von außerordentlicher Bedeutung, und zwar sowohl bei technischen Prozessen, als auch für den geobiologischen Schwefelkreislauf in der Natur und letztlich auch für die Chemie der Atmosphäre und damit für den Umweltschutz (Luftreinhaltung, saurer Regen). Tab. 12.4 Formeln der einfachsten Schwefel-Sauerstoff-Säuren mit den Oxidationsstufen des Schwefels von ±0 bis +6. Bei den sauerstoffärmeren Säuren sind mehrere Tautomere möglich, die unterschiedliche Namen tragen. ±0
+1
+2
+3
+4
+5
+6
H2SO
H2S2O2
H2SO2
H2S2O4
H2SO3
H2S2O6
H2SO4 H2SO5 H2S2O7 H2S2O8
463
12.11 Oxo-, Thio- und Halogeno-Säuren der Chalkogene
Ersetzt man in diesen Säuren ein oder mehrere O-Atome durch Schwefel, gelangt man zu Thiosäuren, z.B. Thioschwefelsäure O HO
O
S
OH
O Schwefelsäure
HS
S
OH
O
Thioschwefelsäure und Thioschweflige Säure H2S2O2 (siehe Tab. 12.4). Bei Substitution einer OH-Gruppe in einer Oxosäure durch ein Halogenatom erhält man eine Halogenosäure: O HO
S
Cl
HO
S
F
O
O
Chloroschwefelsäure
Fluoroschweflige Säure
Die wichtigsten Säuren des Selens und Tellurs sind Selenige Säure H2SeO3, Selensäure H2SeO4, die polymere Tellursäure H2TeO4 und die monomere Orthotellursäure Te(OH)6. Verglichen mit den Oxosäuren des Schwefels sind die Se- und Te-Säuren von deutlich geringerer Bedeutung. Nicht alle Chalkogensäuren, von denen Salze oder organische Derivate (Ester) bekannt sind, lassen sich in reiner Form isolieren. Manche der im Folgenden besprochenen Säuren sind nur in Form ihrer Anionen oder nur in wässriger Lösung bekannt. Dies gilt für alle Säuren des Schwefels mit Oxidationsstufen <+6. Zur Frage der Oxidationsstufen in der Thioschwefelsäure siehe Kapitel 4.6.1. Die Acidität der Chalkogen-Sauerstoff-Säuren34 steigt im Allgemeinen mit der Oxidationsstufe des Zentralatoms stark an (siehe Kap. 5.5.2). Für die meisten Chalkogensäuren sind Trivialnamen eingeführt, die auch hier verwendet werden. Die Salze aller Schwefel-Sauerstoff-Säuren können aber auch als Sulfate bezeichnet werden, wenn in Klammern die Oxidationsstufe des oder der S-Atome hinzugefügt wird. Sulfit-Ionen sind daher auch als Sulfat(IV)-Ionen bekannt. Im Allgemeinen werden aber die Trivialnamen Sulfat, Sulfit, Dithionit, usw. verwendet.
12.11.2 Schweflige Säure (H2SO3) SO2 löst sich in Wasser zu einer sauren Lösung mit reduzierenden Eigenschaften (Löslichkeit bei 15°C etwa 45 Vol. SO2 in 1 Vol. H2O). Aus dieser Lösung lässt sich weder durch Einengen noch durch Abkühlen die Verbindung H2SO3 isolieren.35 Beim Einengen erhält man SO2 und H2O, beim Abkühlen kristallisiert das Gashydrat SO2·6H2O aus. Dem 34 35
A. H. Otto, R. Steudel, Eur. J. Inorg. Chem. 2000, 617 und 2379. In der Gasphase wurden H2SO3-Moleküle massenspektrometrisch nachgewiesen, ihre Lebensdauer bei 25°C ist jedoch gering, besonders in Gegenwart von H2O, das den exothermen Zerfall zu SO2 und H2O katalysiert (Autokatalyse; K. R. Liedl et al., Chem. Eur. J. 2002, 8, 5644).
464
12 Schwefel, Selen und Tellur
Ramanspektrum zufolge enthält die Lösung hauptsächlich physikalisch gelöstes SO2 sowie die Ionen [H3O]+, [SO3H]–, [HSO3]– und, bei höheren Konzentrationen, auch das Disulfit-Ion [S2O5]2–: SO2 (aq) + 2 H2O 2 [SO3H]È
[H3O]+ + [SO3H]È
pKa = 1.86 (25°C)
H2O + [S2O5]2È
Kc = 2.10È3 L molÈ1 (25°C)
Die Anionen haben folgende Strukturen (es ist jeweils nur eine Grenzstruktur dargestellt):
O
S O
H O
O
Sulfit (C3v) d (SO) = 153 pm Winkel (OSO) = 107.4°
S
O
O
O Sulfonat (C3v)
S O
OH
Hydrogensulfit (CS)
O S O
O S O O
Disulfit d (SS) = 220.9 pm
Die Schwefelatome dieser Ionen sind pyramidal bzw. tetraedrisch koordiniert. Ionen der Zusammensetzung [H,S,O3]– liegen in wässriger Lösung in Form zweier Tautomerer vor, indem das H-Atom einmal am Schwefel (Sulfonat [HSO3]–) und zum anderen an einem der O-Atome gebunden ist (Hydrogensulfit [HOSO2]– oder [SO3H]–). Diese beiden Tautomere lassen sich sowohl durch 17O-NMR-, Raman- und XANES-Spektroskopie36 unterscheiden und quantitativ bestimmen. In wässriger Lösung dominiert bei 25°C das Hydrogensulfit-Ion, jedoch wird mit steigender Temperatur immer mehr Sulfonat gebildet. Mit relativ großen Kationen wie [NH4]+, Rb+ und Cs+ wurden die entsprechenden Sulfonate M[HSO3] kristallin isoliert. Von beiden Formen des Anions sind auch Organylderivate bekannt, nämlich Sulfonate (a) und Schwefligsäure-Halbester (b): R O
S O
O
(a)
RO
S O
O
(b)
Durch Einleiten von SO2 in Natronlauge bis zur Sättigung erhält man eine Hydrogensulfitlösung, aus der durch Neutralisation mit weiterem NaOH oder durch Kochen mit Na2CO3-Lösung Natriumsulfit Na2SO3 hergestellt wird: NaOH + SO2
NaSO3H
+ NaOH
Na2SO3 + H2O
Na2SO3 ist ein technisches Reduktionsmittel, das auch zur Herstellung von Na2S2O3, in der Kunstseide-Industrie zum Entschwefeln der Spinnspulen, in der Textilindustrie als so genanntes Antichlor und in der Photoindustrie als Oxidationsschutz für Entwicklerlösungen verwendet wird.
36
XANES: X-ray absorption near edge spectroscopy
465
12.11 Oxo-, Thio- und Halogeno-Säuren der Chalkogene
Beim Konzentrieren einer Lösung von „NaSO3H“ sowie beim Sättigen einer wässrigen Na2SO3-Lösung mit SO2 kristallisiert Natriumdisulfit aus, das sich in schwach exothermer Reaktion aus dem Hydrogensulfit bildet: 2 NaSO3H
Na2S2O5 + H2O
Na2SO3 + SO2
Na2S2O5
Daher ist Natriumhydrogensulfit im festen Zustand nicht bekannt. Die relativ lange und schwache SS-Bindung im Disulfit-Ion führt dazu, dass Na2S2O5 bereits bei 400°C zu Na2SO3 und SO2 zerfällt. Hydrogensulfit wird in der Literatur auch als Bisulfit bezeichnet und Disulfit auch als Pyrosulfit. Sulfite, Hydrogensulfite, Sulfonate und Disulfite verhalten sich wegen der oben erwähnten Gleichgewichte chemisch sehr ähnlich. Sie werden vor allem in wässriger Lösung leicht zu Sulfat oxidiert, z.B. von Luftsauerstoff, Iod und Fe3+-Ionen. Mit MnO2 entsteht Dithionat, mit unedlen Metallen sowie mit NaH und bei kathodischer Reduktion erhält man Dithionit. Beim Kochen wässriger Sulfitlösungen mit Schwefel wird dieser nukleophil abgebaut, und es entsteht in einer heterogenen Reaktion schließlich Thiosulfat: 8 Na2SO3 + S8
8 Na2S2O3
Als Derivate der Schwefligen Säure sind die Fluoroschweflige Säure HSO2F, die Thioschweflige Säure H2S2O2 und die Dithioschweflige Säure H2S3O aufzufassen. Alle drei Säuren sind jedoch nicht beständig und nur in Form von Derivaten bekannt, z.B.: K
O
S O
RS
F
Kaliumfluorosulfit
S O
SR
Bisorganyltrisulfanoxid (Bisorganyldithiosulfit)
KSO2F entsteht in reversibler Reaktion bei der Einwirkung von SO2 auf gepulvertes KF. Beim Erhitzen zerfällt dieses Salz, das als Fluorierungsmittel verwendet wird, wieder in seine Komponenten. Trisulfanoxide erhält man durch Kondensation von Thiolen RSH mit Thionylchlorid (SOCl2) unter Abspaltung von HCl.
12.11.3 Selenige Säure (H2SeO3) und Tellurige Säure (H2TeO3) Trotz seiner polymeren Struktur ist SeO2 in Wasser sehr gut löslich. Die Lösung enthält hauptsächlich die schwache und daher kaum dissoziierte Säure H2SeO3, die man durch Einengen der Lösung in Form farbloser Kristalle isolieren kann. H2SeO3 zersetzt sich beim Erwärmen zu SeO2 und H2O. Selenige Säure ist ein mäßig starkes Oxidationsmittel, das durch N2H4, SO2, H2S oder HI zu rotem Selen reduziert wird: H2SeO3 + N2H4
Se
+ N 2 + 3 H 2O
Durch Umsetzung von Seleniger Säure mit Laugen erhält man Hydrogenselenite MHSeO3 bzw. Selenite. Natriumselenit Na2SeO3 wird Futtermitteln zugesetzt, um das
466
12 Schwefel, Selen und Tellur
Selendefizit von landwirtschaftlichen Böden auszugleichen. Dieses Salz sowie BaSeO3 und ZnSeO3 werden in der Glas- und Keramikindustrie zum Färben verwendet. In konzentrierten Hydrogenselenitlösungen sind auch Diselenit-Ionen [Se2O5]2– enthalten, die keine SeSe-Bindung, sondern eine zentrale SeOSe-Brücke aufweisen. Mittels sehr starker Oxidationsmittel wie F2, O3, [MnO4]– oder H2O2 kann man aus H2SeO3 oder Seleniten die Selensäure H2SeO4 bzw. Selenate herstellen. TeO2 ist im Gegensatz zu SO2 und SeO2 in Wasser fast unlöslich. Bei dem Versuch H2TeO3 durch Hydrolyse von TeCl4 oder durch Ansäuern von Telluritlösungen herzustellen, erhält man kein stabiles H2TeO3, sondern nur Präparate, die sich spontan zu TeO2 und H2O zersetzen. Tellurite, die auch als Tellurate(IV) bezeichnet werden, erhält man durch Auflösen von TeO2 in starken Laugen. Sie enthalten das pyramidale Ion [TeO3]2–. Auch verschiedene Polytellurite M2TenO2n+1 sind bekannt, z.B. [Te2O5]2– in dem Salz K2Te2O5·3H2O.
12.11.4 Schwefelsäure (H2SO4) Schwefelsäure ist die bei weitem wichtigste Schwefelverbindung (Weltjahresproduktion ca. 140·106 t). Sie wird fast ausschließlich nach dem Doppelkontaktverfahren hergestellt (Abschnitt 12.10.2) und für die Produktion von Düngemitteln, Kunststoffen, TitandioxidPigmenten, Farbstoffen und anderen Chemikalien verwendet. Wasserfreie Schwefelsäure (100 %) ist eine farblose, ölige Flüssigkeit, die bei 10.4°C erstarrt und bei 290–317°C unter teilweiser Zersetzung zu H2O und SO3 siedet. H2SO4 ist im festen und flüssigen Zustand durch Wasserstoffbrücken stark vernetzt und daher ziemlich viskos. Die Flüssigkeit enthält verschiedene Ionen und Moleküle entsprechend folgenden Gleichgewichten: 2 H2SO4
[H3SO4]+ + [HSO4]È
2 H2SO4
[H3O]+ + [HS2O7]È
2 [HS2O7]È
Ionenprodukt 2.7.10È4 molÈ2 LÈ2 (25°C)
[HSO4]È + [HS3O10]È
SO3 löst sich in H2SO4 zu Dischwefelsäure H2S2O7 und höheren Polyschwefelsäuren H2SnO3n+1 (n = 3, 4), die miteinander im Gleichgewicht stehen: 2 H2SO4 + 2 SO3
2 H2S2O7
H2SO4 + H2S3O10
Diese Gemische sind unter den Namen rauchende Schwefelsäure und Oleum im Handel, und zwar mit 20 % oder 65 % „freiem“ SO3 (SO3-Gehalt über die Formel H2SO4 hinaus), da gerade diese Gemische jeweils ein Schmelzpunktsminimum aufweisen, während andere Zusammensetzungen bei 25°C bereits fest sind. Die Acidität der Polyschwefelsäuren nach HAMMETT nimmt mit steigender Kettenlänge zu (Kap. 5.5.2). Mit Wasser reagiert H2SO4 zu verschiedenen Oxonium-Salzen und Hydraten (Tab. 5.2). In wässriger Lösung ist H2SO4 als starke, zweiprotonige Säure praktisch vollständig in die Ionen [H3O]+ und [HSO4]– dissoziiert, während die Dissoziationskonstante der zweiten Stufe etwa 10–2 mol L–1 beträgt. Außer den Sulfaten lassen sich von den meisten elektropositiven Elementen auch die Hydrogensulfate isolieren. Die genannten Säuren und ihre Anionen haben folgende Strukturen:
467
12.11 Oxo-, Thio- und Halogeno-Säuren der Chalkogene
O O
S
O
O O
HO
S
O Sulfat d(SO) = 151 pm (4x)
HO
O
Hydrogensulfat d(S OH) = 156 pm (1x) d(S=O) = 147 pm (3x) O S
OH
O
O
HO
S
Schwefelsäure d(S OH) = 153.5 pm (2x) d(S=O) = 142.6 pm (2x)
O O
O
S
OH
O
Dischwefelsäure
Salze der Polyschwefelsäuren lassen sich folgendermaßen herstellen: 2 KHSO4 K2SO4 + (n È1) SO3 (g.)
T
K2S2O7 + H2O K2SnO3 n+1
In Wasser werden alle Polysulfate rasch zu [SO4]2– hydrolysiert. Beim stärkeren Erhitzen der Salze zersetzen sie sich zu Sulfat und SO3. Konzentrierte Schwefelsäure (98 %) ist ein mäßig starkes Oxidationsmittel, das von unedlen Metallen, beim Kochen auch durch edlere wie Cu zu SO2 reduziert wird. Diese Säure wirkt außerdem stark wasserentziehend und verkohlt daher die meisten Kohlenhydrate. Wasserfreie Schwefelsäure wird auch als wasserähnliches, aber stark protonierend wirkendes Lösungsmittel verwendet. H2SO4 löst wegen seiner hohen Dielektrizitätskonstanten (bei 25°C: ε = 100) viele Elektrolyte, während Nichtelektrolyte im Allgemeinen nur dann gut löslich sind, wenn sie durch Protonierung in Ionen überführt werden können.
12.11.5 Selensäure (H2SeO4) und Tellursäuren (H2TeO4 und Te(OH)6) Selensäure ist der Schwefelsäure sehr ähnlich. H2SeO4 bildet farblose, hygroskopische Kristalle vom Schmp. 58°C. Diese erhält man durch Oxidation von SeO2 mit H2O2 (30 %), Brom oder Chlor in H2O und Entwässern der Lösung bei 160°C/2 hPa. Bei Temperaturen oberhalb 260°C zersetzt sich H2SeO4 zu SeO2, H2O und O2. Die zugehörigen Salze, die Selenate, erhält man durch Neutralisieren der Säure mit entsprechenden Carbonaten oder durch Oxidation von Seleniten. Salze mit den Orthoselenat-Anionen [SeO5]4– und [SeO6]6– entstehen beim Zusammenschmelzen von Selenaten mit ionischen Oxiden wie Li2O oder Na2O unter O2-Hochdruck. Je nach Kation liegt das Anion [SeO5]4– als trigonale Bipyramide (Li+) oder als quadratische Pyramide (Na+) vor; [SeO6]6– bildet ein reguläres Oktaeder. H2SeO4 ist eine ebenso starke Säure wie H2SO4, jedoch ein stärkeres Oxidationsmittel. Die meisten Selenate und Hydrogenselenate sind mit den entsprechenden Sulfaten und
468
12 Schwefel, Selen und Tellur
Hydrogensulfaten isomorph. Auch Fluoro-, Chloro-, Amido- und Peroxoselensäure sind bekannt. Ebenso existieren Diselenate mit dem Anion [Se2O7]2–. Na2SeO4 wird Düngemitteln in geringer Konzentration zugesetzt. Orthotellursäure hat die Formel Te(OH)6 und unterscheidet sich stark von der Selensäure und der Schwefelsäure. Man erhält Te(OH)6 in Form farbloser Kristalle durch Oxidation von Te oder TeO2 mit Gemischen starker Oxidationsmittel wie HClO3(aq), H2O2(30 %) oder KMnO4/HNO3. Te(OH)6 kristallisiert aus wässriger Lösung beim Abkühlen oder Versetzen mit Ethanol. In diesen Kristallen sind die Te-Atome regulär oktaedrisch von sechs OH-Gruppen koordiniert (dTeO=191 pm). Ähnlich wasserreiche, oktaedrische Verbindungen sind von den Nachbarn des Tellurs im Periodensystem bekannt, wie die folgende Reihe zeigt: [Sn(OH)6]2– Hydroxostannat
[Sb(OH)6]– Hydroxoantimonat
Te(OH)6 Orthotellursäure
IO(OH)5 Periodsäure
Orthotellursäure Te(OH)6 ist ein mäßig starkes, aber kinetisch langsam wirkendes Oxidationsmittel. In Wasser ist Te(OH)6 eine schwache zweiprotonige Säure (pK1 = 7.70, pK2 = 11.0), von der Salze entsprechender Zusammensetzung isoliert wurden, z.B. Li6TeO6. Die meisten Tellurate(VI) werden aber durch Festkörperreaktionen hergestellt. Durch Fällen von wässrigem Te(OH)6 mit Ag+-Ionen erhält man Ag6TeO6, und beim Zusammenschmelzen von NaOH mit Te(OH)6 entsteht Na6TeO6. Durch Reaktion von [Et3N][OH] mit Te(OH)6 in Wasser wurde das bisher einzige Tellurat erhalten, das sowohl im Kristall als auch in nicht-wässriger Lösung ein tetraedrisches Anion [TeO4]2– enthält, während die Tellurate(VI) sonst fast immer oktaedrisch koordinierte Te-Atome aufweisen. Beim Erhitzen auf 100–200°C geht Te(OH)6 in die polymere Metatellursäure H2TeO4 über, von der sich beispielsweise die Salze Na2TeO4 und [NH4][HTeO4] ableiten. Diese Tellurate(VI) enthalten oktaedrisch von O-Atomen koordinierte Telluratome. Durch gemeinsame Ecken dieser zu Ketten verbundenen Oktaeder resultiert die Zusammensetzung [TeO4]2– der polymeren Anionen. Oberhalb von 220°C geht H2TeO4 unter Wasserabspaltung in TeO3 über, aus dem ab 400°C Te2O5 und schließlich TeO2 entstehen. Die Säure H2Te2O6 ist eine polymere, gemischtvalente Verbindung mit oktaedrisch koordinierten Te(IV)- und Te(VI)-Atomen.
12.11.6 Peroxoschwefelsäuren (H2SO5, H2S2O8) Die beiden Peroxosäuren O
O HO
S O
O
OH
und
HO
S O
O O
O
S
OH
O
Peroxomonoschwefelsäure Peroxodischwefelsäure wurden in wasserfreier, kristalliner Form durch Kondensation von 100 %igem H2O2 mit Chloroschwefelsäure unter starker Kühlung hergestellt:
469
12.11 Oxo-, Thio- und Halogeno-Säuren der Chalkogene
HSO3Cl + HOOH
È HCl
HSO3OOH
+ HSO3Cl È HCl
HSO3OOSO3H
H2SO5 ist eine hygroskopische, zersetzliche Verbindung, die bei 45°C schmilzt und sich in kaltem Wasser löst, wobei langsam Hydrolyse zu H2SO4 und H2O2 eintritt. H2S2O8 (Schmp. 65°C) ist ebenfalls äußerst hygroskopisch und wie H2SO5 ein sehr starkes Oxidationsmittel. Beim Lösen von H2S2O8 in Wasser entstehen in stark exothermer Reaktion primär H2SO4 und H2SO5. Weitaus wichtiger sind die Salze dieser Säuren. Peroxodisulfate werden durch anodische Oxidation von Sulfaten hergestellt (2 [SO4]2– → [S2O8]2– + 2e–). Sie sind vor allem in Gegenwart geeigneter Katalysatoren wie Ag+-Ionen starke Oxidationsmittel und überführen beispielsweise Mn2+-Ionen in [MnO4]– und Cr3+-Ionen in [CrO4]2–. H2S2O8 ist bequem auch aus seinen Salzen erhältlich. Das Tripelsalz 2KHSO5·KHSO4·K2SO4 ist ein technisches Bleichmittel, das thermisch stabiler, d.h. besser haltbar ist als reines KHSO5. Dieses Tripelsalz (Handelsnamen: Caroat und Oxone) wird in zwei Stufen aus Oleum und H2O2 und anschließende Neutralisation der Peroxomonoschwefelsäure mit Kalilauge hergestellt.
12.11.7 Halogenoschwefelsäuren (HSnO3nX) Mit den drei wasserfreien Halogenwasserstoffen HF, HCl und HBr reagiert Schwefeltrioxid zu den entsprechenden Halogenoschwefelsäuren: O SO3 + HX
HO
S
X
X = F, Cl, Br
O
Hydrogeniodid HI wird dagegen von SO3 auch bei tiefen Temperaturen zu I2 und H2O oxidiert. HSO3F und HSO3Cl sind farblose, bei 25°C beständige, an der Luft rauchende Flüssigkeiten. HSO3Br, das bei –35°C in flüssigem SO2 hergestellt wird, zersetzt sich dagegen schon beim Schmelzpunkt (8°C) zu Br2, SO2 und H2SO4. Eine analoge Zersetzung erfährt HSO3Cl beim Erhitzen. Fluoro- und Chlorosulfate werden aus Metallhalogeniden durch Reaktion mit SO3 hergestellt: CaF2 + 2 SO3
Ca(SO3F)2
HSO3F reagiert mit Wasser heftig zu Oxoniumfluorosulfat [H3O][SO3F], dessen Anion dann langsam hydrolysiert. Die wasserfreie Säure dient als Fluorierungsmittel sowie als hochacides Lösungsmittel (Schmp. –89°C, Sdp. 163°C; Dielektrizitätskonstante bei 25°: ca. 120). Das Anion [SO3F]– ist mit dem Perchlorat-Ion isoster und auch etwa gleich groß, weswegen Fluorosulfate und Perchlorate oft Mischkristalle bilden und ähnliche Löslichkeiten aufweisen. Chloroschwefelsäure reagiert mit Wasser explosionsartig. HSO3Cl ist ein wichtiges Sulfonierungsmittel für organische Verbindungen: RH + 2 HSO3Cl
RSO3H + HCl
470
12 Schwefel, Selen und Tellur
12.11.8 Thioschwefelsäure (H2S2O3) und Sulfandisulfonsäuren (H2SnO6) Thioschwefelsäure ist bei 25°C instabil und daher in reiner Form unbekannt. Säuert man wässrige Thiosulfatlösungen stark an, erhält man zunächst eine klare Lösung, aus der sich aber allmählich Schwefel abscheidet, da sich die Säure in einer intramolekularen Redoxreaktion zersetzt: H 2S 2 O 3
H2O + SO2 +
1 n
Sn
(n = 6, 7, 8...)
Stabil und leicht herzustellen sind die Thiosulfate, die beim Kochen von Sulfitlösungen mit Schwefel entstehen. Das bekannteste Salz ist das Natriumthiosulfat-5-Wasser Na2S2O3·5H2O, das früher in der Fotografie als Fixiersalz verwendet wurde, da es unbelichtetes AgBr als [Ag(S2O3)2]3– aus der fotografischen Emulsion herauslöst. Heute wird statt dessen [NH4]2[S2O3] eingesetzt, das durch Auflösen von S8 in wässrigem [NH4]2[SO3] bei 80–100°C hergestellt wird. Aus diesem Salz lässt sich durch Reaktion mit H2SO4 in wasserfreiem Methanol bei –80°C das einzige bekannte Hydrogenthiosulfat, nämlich [NH4][HS2O3] herstellen. Die Struktur des Anions im wasserfreien Na2S2O3 (Symmetrie C3v) entspricht der des [SO4]2–-Ions: S O
S
O O Eine charakteristische und auch praktisch wichtige Reaktion des Thiosulfat-Ions ist die Oxidation durch elementares Iod, wobei quantitativ Tetrathionat entsteht, wovon man in der Iodometrie Gebrauch macht (Bestimmung einer Menge Iod durch Titration mit eingestellter Thiosulfatlösung): 2 [S2O3]2È + I2
[S4O6]2È + 2 IÈ
Tetrathionate sind die Salze der Disulfandisulfonsäure HO3S–S–S–SO3H, die wie andere Sulfandisulfonsäuren (Polythionsäuren) in reiner Form nicht beständig ist. Die Salze dieser Säuren können aber wie folgt synthetisiert werden: Trithionat (n = 1):
Kondensation von SCl2 mit [HSO3]È-Ionen SCl2 + 2 [HSO3]È
Tetrathionat (n = 2):
H 2O
[S3O6]2È + 2 HCl
Oxidation von [S2O3]2È-Lösung mit I2 (siehe oben), oder Kondensation von [HSO3]È mit S2Cl2
Pentathionat (n = 3):
Kondensation von SCl2 mit [HS2O3]È-Ionen SCl2 + 2 [HS2O3]È
Hexathionat (n = 4):
H 2O
[S5O6]2È + 2 HCl
Kondensation von S2Cl2 mit [HS2O3]È-Ionen S2Cl2 + 2 [HS2O3]È
H 2O
[S6O6]2È + 2 HCl
12.11 Oxo-, Thio- und Halogeno-Säuren der Chalkogene
471
Alle diese Anionen sind in Form der farblosen Alkali- und Erdalkalimetall-Salze isoliert worden. Es sind auch Salze hergestellt worden, in denen ein Teil der S-Atome der Sulfankette durch Se- oder Te-Atome ersetzt ist, z.B. [Se(SSO3)2]2– und [Te(SSO3)2]2–.
12.11.9 Dithionsäure (H2S2O6) Dithionsäure ist nur in wässriger Lösung bekannt. Die Salze erhält man durch Oxidation von Hydrogensulfiten, am besten mit Braunstein (MnO2): 2 [HSO3]È 2 MnO2 + 3 SO2
H 2O
[S2O6]2È + 2 H+ + 2 eÈ MnS2O6 + MnSO4
Hierbei handelt es sich um radikalische Einelektronen-Oxidationen, die primär zum Radikal [HSO3]• führen, das dann zur Dithionsäure bzw. dem Dithionat-Anion dimerisiert. Dieses Anion hat die aufgrund der Herstellung zu erwartende symmetrische Struktur mit tetraedrisch koordinierten Schwefelatomen: O O
O S
O O O Die Oxidation von Sulfit zu Dithionat durch Eisen- oder Mangan-Ionen spielt sich als unerwünschte Nebenreaktion auch bei der nassen Rauchgasentschwefelung nach dem GipsVerfahren ab (Abschnitt 12.11.1). Die Säure H2S2O6 entsteht in wässriger Lösung durch Behandeln von BaS2O6 mit Schwefelsäure, da das Nebenprodukt BaSO4 unlöslich ist und abfiltriert werden kann. Dithionsäure ist eine mäßig starke, zweiprotonige Säure, die sich in Lösung oberhalb 50°C wie folgt zersetzt: H 2S 2 O 6
S
H2SO4 + SO2
In analoger Weise zerfallen die Dithionate oberhalb 200°C.
12.11.10 Dithionige Säure (H2S2O4) Dithionite werden technisch durch Reduktion von Hydrogensulfiten in wässriger Lösung mittels Natriumamalgam, Ameisensäure, Zinkstaub oder durch kathodische Reduktion hergestellt: 2 [HSO3]È + 2 eÈ
[S2O4]2È + 2 [OH]È
Na2S2O4·2H2O, das aus der wässrigen Lösung auskristallisiert, lässt sich im Vakuum oder durch Umkristallisation aus Methanol entwässern. Dieses Salz ist ein wichtiges technisches Reduktions- und Bleichmittel, das vor allem in der Textil- und Papierindustrie verwendet wird (z.B. bei der Herstellung von Küpenfarbstoffen). Führender Hersteller in Deutschland ist die BASF AG. Die Säure H2S2O4 kann man nicht isolieren,37 da sich Dithionitlösungen schon beim Ansäuern zersetzen: 37
Y. Drozdova, R. Steudel, R. Hertwig, W. Koch, Th. Steiger, J. Chem. Phys. A 1998, 106, 990.
472
12 Schwefel, Selen und Tellur H+
2 [S2O4]2È + H2O
2 [HSO3]È + [S2O3]2È
Das Anion [S2O4]2– weist im wasserfreien Na2S2O4 als Folge der Wechselwirkung mit den Kationen eine cis-Konformation (a) auf, während in Lösungen die energetisch günstigere trans-Konformation (b) vorliegt:
(a)
O
S O
O
S O
(b)
O
O
S
S
O
O
In den bisher strukturell untersuchten kristallinen Dithioniten ist die SS-Bindung extrem lang (im Na2S2O4: 239 pm) und daher leicht zu spalten, was die hohe Reaktionsfähigkeit der Dithionite erklärt. In Lösungen stellt sich sogar folgendes Gleichgewicht ein: [S2O4]2È
.È
2 [SO2]
Die Dissoziationskonstante wurde in H2O bei 25°C zu 0.63·10–9 mol L–1 bestimmt. Eine 1 molare [S2O4]2–-Lösung enthält danach 2.5·10–5 mol L–1 Radikal-Anionen [SO2]• –, die durch ihr ESR-Spektrum nachgewiesen wurden. Derartige Lösungen sind daher empfindlich gegenüber O2. In polaren organischen Lösungsmitteln wie DMF, DMSO und MeCN liegt obiges Gleichgewicht sogar auf der rechten Seite! Das Radikal-Ion [SO2]• – ist mit dem Molekül ClO2 isoelektronisch und von C2v-Symmetrie.
12.12 Halogenide und Oxidhalogenide der Chalkogene 12.12.1 Allgemeines In Tabelle 12.5 sind die wichtigsten Halogenide der Chalkogene zusammengestellt. Entsprechend der Valenzelektronenkonfiguration s2px2py1pz1 bilden alle Chalkogene (E) Halogenide vom Typ EX2. Durch Mehrzentrenbindungen können jedoch auch Tetra- und Hexahalogenide entstehen. Darüber hinaus sind von allen Chalkogenen auch solche Halogenide bekannt, in denen E–E-Bindungen vorliegen, z.B. S2F10, Se2Br2, TeI. Aus den in Tabelle 12.5 angegebenen Formeln kann man im Allgemeinen nicht auf die Strukturen der betreffenden Verbindungen schließen. Analog zusammengesetzte Verbindungen können ganz verschiedene Strukturen besitzen. Beispielsweise ist SF4 ein molekulares Gas, das aus Molekülen der Symmetrie C2v besteht. SCl4 ist dagegen eine nur unterhalb –30°C beständige, salzartige Verbindung [SCl3]+Cl–, und die monoklinen Kristalle von TeCl4 bestehen aus Te4Cl16-Einheiten, in denen [TeCl3]+-Kationen über ChloridAnionen miteinander verbrückt sind. Tabelle 12.5 zeigt weiter, dass vor allem Fluoride und Chloride beständig sind, während Chalkogeniodide nur vereinzelt hergestellt werden konnten. Die Te-reichen niederen
473
12.12 Halogenide und Oxidhalogenide der Chalkogene
Tab. 12.5 Die wichtigsten Halogenide der Chalkogene (die gemischten Halogenide wurden nicht alle aufgeführt). Die eingeklammerten Verbindungen sind nicht in reiner Form isoliert worden, sondern nur in Lösung oder in der Gasphase nachgewiesen worden. Die Tellurhalogenide mit Oxidationsstufen kleiner als +2 sind zum Teil polymer. Oxidationsstufe:
< +2
+2
+4
+5
+6
Schwefel:
S2F2
(SF2)
SF4
S2F10
SF6
S2Cl2
SSF2
SCl4
S2Br2
SCl2
SClF5 SBrF5
(S2I2) SnCl2 Selen:
Se2Cl2
(SeCl2)
SeF4
SeF6
Se2Br2
(SeBr2)
SeCl4
SeClF5
(Se2I2) Tellur:
SeBr4
Te3Cl2
(TeCl2)
TeF4
TeF6
(Te2Cl2)
(TeBr2)
TeCl4
TeClF5
Te2Cl
(TeI2)
TeBr4
TeBrF5
Te2Br
TeI4
Te2I TeI
Halogenide Te2X (X = Cl, Br, I) und TeI sind polymer.38 Te2Cl2 und Te2Br2 sind instabil und wurden nur in Lösung spektroskopisch nachgewiesen. Die meisten dieser Halogenide werden direkt aus den Elementen synthetisiert.
12.12.2 Schwefelhalogenide Fluoride Elementarer Schwefel verbrennt im Fluorstrom in stark exothermer Reaktion hauptsächlich zu SF6, das technisch auf diese Weise produziert wird: 1 8
S8 + 3 F2
SF6
° = È1220 kJ molÈ1 H298
Auch durch Fluorierung von SO2 mit F2 kann SF6 gewonnen werden: SO2 + 3 F2
SF6 + O2
Die Triebkraft dieser Reaktion kommt von den sehr starken Bindungen der Moleküle auf der rechten Seite der Gleichung verglichen mit der schwachen Bindung im elementaren 38
R. Kniep, A. Rabenau, Top. Curr. Chem. 1983, 111, 145. R. Kniep, Kontakte(Darmstadt) 1989 (1), 3.
474
12 Schwefel, Selen und Tellur
Fluor. SF6 ist ein farb- und geruchloses, ungiftiges Gas (Sdp. –64°C), das wegen seiner kleinen Dielektrizitätskonstanten und vor allem wegen seiner chemischen Reaktionsträgheit in Hochspannungsanlagen als Isoliergas eingesetzt wird. SF6 wird auch als Schutzgas in Leichtmetallgießereien verwendet, da es das Entzünden von Magnesiumschmelzen verhindert. Weiterhin dient es als thermisches Isoliergas in Fensterdoppelscheiben. SF6 ist chemisch außerordentlich resistent; es widersteht geschmolzenem KOH (Schmp. 410°C) und Wasserdampf bei 500°C sowie der Einwirkung von O2 in einer elektrischen Entladung! Dieses Verhalten ist überraschend, da die freie Reaktionsenthalpie ∆G° der Hydrolysereaktion SF6 + 4 H2O
H2SO4 + 6 HF
stark negativ ist, so dass das Gleichgewicht ganz auf der rechten Seite liegt. Die Resistenz von SF6 insbesondere gegenüber nukleophilen Reaktionspartnern ist auf die sterische Abschirmung des positiv geladenen S-Atoms durch die negativ geladenen F-Atome sowie auf die vollständige Besetzung aller Valenzorbitale der F-Atome zurückzuführen, wodurch sich für LEWIS-Basen keine Angriffsmöglichkeit ergibt. Dadurch sind entsprechende Reaktionen kinetisch gehemmt (hohe Aktivierungsenthalpie). Demgegenüber hydrolysiert SF4 sehr leicht. SF6-Derivate des Typs RSF5 können aus diesen Gründen nicht aus SF6 hergestellt werden. Man erhält sie aus SF4 oder SClF5. Schwefeltetrafluorid SF4 entsteht als farbloses, sehr reaktionsfreudiges Gas auf folgende Weise: 1 8
S8 + 4 CoF3
3 SCl2 + 4 NaF
130°C MeCN 75°C
SF4 + 4 CoF2 SF4 + S2Cl2 + 4 NaCl
SF4-Moleküle sind von C2v-Symmetrie. Die Geometrie entspricht einer trigonalen Bipyramide mit einem nichtbindenden Elektronenpaar in einer äquatorialen Position. SF4 sollte daher im 19F-NMR-Spektrum zwei Signale liefern, was bei –98°C auch zutrifft. Bei 25°C wird jedoch nur ein Signal beobachtet, da ähnlich wie beim PF5 rasche Pseudorotation erfolgt. Die Aktivierungsenergie für diesen Prozess beträgt ungefähr 25 kJ mol–1. SF4 reagiert mit H2O sofort zu SO2 und HF, wobei SOF2 als Zwischenprodukt auftritt. Mit salzartigen Fluoriden großer Kationen entstehen Pentafluorosulfate(IV): CsF + SF4
Cs[SF5]
Mit starken Fluorid-Ionen-Akzeptoren reagiert SF4 andererseits zu TrifluorsulfoniumSalzen folgender Art: SF4 + BF3
[SF3][BF4]
O2 oxidiert SF4 in Gegenwart von katalytischen Mengen NO2 zu Thionyltetrafluorid SOF4, wobei NO2 aus Gründen der Spinerhaltung (Kap. 11.1.1) als Sauerstoffüberträger dient, das dabei zu NO reduziert und anschließend von O2 wieder zu NO2 oxidiert wird. SF4 ist ein Fluorierungsmittel, das spezifisch Carbonyl- und Thiocarbonylgruppen fluoriert: R2C=O + SF4
R2CF2 + SOF2
475
12.12 Halogenide und Oxidhalogenide der Chalkogene
Diese wichtige Reaktion wird oft zur Einführung von Fluoratomen in organische Verbindungen verwendet. Auch anorganische Oxide und Sulfide können auf diese Weise in Fluoride überführt werden: I2O5 + 5 SF4
2 IF5 + 5 SOF2
Andererseits addiert sich SF4 auch an viele Verbindungen, manchmal unter Einschiebung in bestimmte Bindungen: R C F5S O
O
N + SF4
R CF2 N SF2
SF5 + SF4
F 5S
O
SF4 O
SF5
SF4 lässt sich leicht zu SF6 fluorieren und mit ClF zu SClF5 fluorochlorieren (oxidative Addition): 380°C
SF4 + ClF
110°C
SF4 + Cl2 + CsF
SClF5 SClF5 + CsCl
Schwefelchloridpentafluorid ist ein farbloses Gas (Sdp. –21°C), das wesentlich reaktionsfähiger als SF6 ist, da die SCl-Bindung schwächer als die SF-Bindungen ist. SClF5 reagiert daher einerseits nach radikalischen Reaktionsmechanismen und wird andererseits viel leichter als SF6 hydrolysiert. Es ist außerdem ein starkes Oxidationsmittel. Beim Erhitzen auf über 400°C zersetzt sich SClF5 über SF5-Radikale zu SF4 und SF6. Die gleiche Reaktion läuft bei UV-Bestrahlung ab: 2 SClF5
SF4 + SF6 + Cl2
SClF5 kann daher zur Einführung von SF5-Gruppen verwendet werden, wofür folgende Reaktionen als Beispiele dienen sollen: SClF5 + C2F4 2 SClF5 + O2
h.
F5S
CF2 CF2 Cl
F 5S O
O
SF5 + Cl2
Mit H2 reagiert SClF5 beim Bestrahlen zu dem extrem giftigen Dischwefeldecafluorid: 2 SClF5 + H2
F5S SF5 + 2 HCl
S2F10 (Sdp. 30°C) enthält eine mit 227 pm relativ lange SS-Bindung. Das Molekül dissoziiert daher thermisch in zwei SF5-Radikale und reagiert mit Cl2 bzw. Br2 zu SClF5 bzw. SBrF5. Bei 150°C zersetzt sich S2F10 zu SF4 und SF6. Besonders interessant sind die beiden isomeren Schwefelfluoride FSSF und SSF2, die durch Fluorierung von S8 mittels AgF bzw. durch Reaktion von S2Cl2 mit Kaliumfluorosulfit hergestellt werden: 3 8
S8 + 2 AgF
S2Cl2 + 2 KSO2F
125°C
FSSF + Ag2S SSF2 + 2 KCl + 2 SO2
Difluordisulfan FSSF ist ein farbloses Gas (Sdp. 15°C), das sich in Gegenwart von Alkalimetallfluoriden zu Thiothionylfluorid SSF2 (Sdp. –11°C) isomerisiert. Dieses Fluorid disproportioniert thermisch zu S8 und SF4. Beide S2F2-Isomere enthalten SS-Doppelbindungen mit Kernabständen von 186–189 pm. Sie sind daher folgendermaßen zu formulieren:
476
12 Schwefel, Selen und Tellur
F S
S
F
S F
S
F Während im SSF2 die hohe positive Partialladung auf dem zentralen Schwefelatom die SS-Doppelbindung stabilisiert, ist die SS-Mehrfachbindung im FSSF eine Folge der (negativen) Hyperkonjugation zwischen den nichtbindenden 3p-Elektronenpaaren an den beiden S-Atomen und den antibindenden σ*-Orbitalen der nicht-benachbarten SF-Bindungen. In diesem Fall liegen also genau wie im analogen FOOF-Molekül (Kap.11.4.3) sogar zwei π-Bindungen vor.39 Diese beiden Fluoride FSSF und SSF2 waren die ersten Verbindungen, die Doppelbindungen zwischen schwereren Nichtmetallen enthalten und sich dennoch unter Standardbedingungen in reiner Form herstellen lassen.
Chloride und Bromide Elementarer Schwefel reagiert mit Chlor schon bei 25°C unter Spaltung der SS-Bindungen: S S
+ Cl2
S Cl + Cl S
Ausgehend von S8 erhält man dabei je nach Molverhältnis der Reaktanden ein Gemisch von verschiedenen Dichlorsulfanen SnCl2, hauptsächlich aber S2Cl2. Mit überschüssigem Chlor entsteht in Gegenwart katalytischer Mengen FeCl3 schließlich SCl2, eine dunkelrote Flüssigkeit (Sdp. 60°C). SCl2 zersetzt sich bei Raumtemperatur langsam nach: 2 SCl2
S2Cl2 + Cl2
Handelsübliches „SCl2“ enthält daher immer erhebliche Mengen S2Cl2 und Cl2. Aus diesem Gemisch kann reines SCl2 durch Destillation isoliert werden, da die Gleichgewichtseinstellung vor allem in Gegenwart von etwas PCl3 gehemmt ist. Dichlordisulfan S2Cl2 ist eine strohgelbe Flüssigkeit von stechendem Geruch (Sdp. 138°C), die wie alle S-Chloride hydrolyseempfindlich ist. Mit Wasser reagiert es in komplexer Reaktion zu HCl, H2S, S8, SO2 und Schwefelsauerstoffsäuren. Schwefelreichere Chlorsulfane SnCl2 (n bis 8) sind einerseits durch Kondensationsreaktionen von SCl2 bzw. S2Cl2 mit entsprechenden Sulfanen zugänglich: Cl
S2 Cl + H Sn H + Cl S2 Cl
Cl Sn+4 Cl + 2 HCl
Andererseits führt die vorsichtige Chlorierung von Schwefelhomocyclen wie S6, S7 und S8 bei niedrigen Temperaturen in einem Lösungsmittel unter Ringöffnung zu den entsprechenden Dichlorsulfanen S6–8Cl2. Diese Verbindungen sind gelbe bis orangerote, ölige Flüssigkeiten. SCl2 und S2Cl2 sind wichtige industrielle Produkte. SCl2 wird von O2 sowie von SO3 in SOCl2 und SO2Cl2 überführt. Auch andere Oxidationsmittel liefern SOCl2. Alle Chlorsulfane reagieren mit Element-Wasserstoff-Verbindungen unter HCl-Abspaltung und Errichtung von Element-Schwefel-Bindungen. Mit HBr entstehen z.B. die entsprechenden Dibromsulfane: SnCl2 + 2 HBr 39
SnBr2 + 2 HCl
R. Steudel et al., J. Am. Chem. Soc. 1997, 119, 1990.
477
12.12 Halogenide und Oxidhalogenide der Chalkogene
Schwefeldichlorid besteht aus dreiatomigen gewinkelten Molekülen der Symmetrie C2v. Das Molekül S2Cl2 weist dagegen eine dem H2O2 analoge Struktur der Symmetrie C2 auf. Analog kann man für die höheren Dichlorsulfane Strukturen mit spiralig gewundenen Ketten annehmen. Da diese Verbindungen glasig erstarren, wurden Kristallstrukturanalysen bisher nicht berichtet. Bei –78°C reagiert SCl2 mit flüssigem Chlor zu farblosen Kristallen von SCl4, das sich oberhalb –30°C wieder zu SCl2 und Cl2 zersetzt. SCl6 wird nicht gebildet. SCl4 ist ein Trichlorsulfoniumchlorid [SCl3]+Cl–. Andere Salze mit dem trigonal-pyramidalen Kation [SCl3]+ sind [SCl3][AlCl4] und [SCl3][AsF6]. Auch einige Sulfenylchloride RSCl (R = Organyl), die aus Disulfanen RSSR und Cl2 zugänglich sind, reagieren mit Chlor zu Trichloriden RSCl3, die z.T. noch bei Raumtemperatur beständig sind. Entsprechende Bromide und Iodide sind nicht bekannt, wohl aber Organylschwefeltrifluoride RSF3.
12.12.3 Schwefeloxidhalogenide Die Thionylhalogenide SOX2 (X = F, Cl, Br) bestehen aus pyramidalen Molekülen und enthalten Schwefel der Oxidationsstufe +4. Die größte Bedeutung besitzt Thionylchlorid SOCl2, das industriell durch Oxidation von SCl2 mit SO3 oder SO2Cl2 hergestellt wird. Im Labor kann man es nach SO2 + PCl5
SOCl2 + POCl3
gewinnen und durch fraktionierte Destillation isolieren. SOCl2 (Sdp. 76°C) ist eine farblose Flüssigkeit, die von H2O rasch zu SO2 und HCl zersetzt wird und die ebenso leicht mit anderen OH- sowie NH- und SH-Gruppen unter HCl-Eliminierung reagiert. Durch Halogenaustausch erhält man aus SOCl2 die anderen Thionylhalogenide: SOCl2
+ NaF, È NaCl MeCN
SOClF
+ NaF, È NaCl MeCN
SOCl2
+ KBr, È KCl flüss. SO2
SOBrF
+ KBr, È KCl flüss. SO2
SOF2 SOBr2
Vom Schwefel der Oxidationsstufe +6 leiten sich die Sulfurylhalogenide SO2X2, die Disulfurylhalogenide S2O5X2, das Thionyltetrafluorid SOF4 und einige SF6-Derivate ab. Sulfurylfluorid SO2F2, das Difluorid der Schwefelsäure, entsteht beim trockenen Erhitzen von Ba[SO3F]2, das seinerseits aus BaCl2 und HSO3F zugänglich ist: Ba(SO3F)2
BaSO4 + SO2F2
SO2F2 entsteht aber auch aus SO2Cl2 durch Halogenaustausch mittels NaF. Sulfurylchlorid SO2Cl2 ist eine farblose Flüssigkeit, die technisch und im Labor durch Addition von Cl2 an SO2 hergestellt wird, wobei Aktivkohle als Katalysator dient. SO2Cl2 dient zur Einführung der Substituenten –Cl und –SO2Cl in organische Verbindungen (Sulfochlorierung). Von Wasser werden die Sulfurylhalogenide langsam zu Schwefelsäure und HX zersetzt. Mit NH3 reagieren sie unter anderem zu Sulfuryldiamid SO2(NH2)2 (Sulfamid). Ein wichtiges Oxidationsmittel ist das Peroxodisulfurylfluorid S2O6F2, das sich formal vom S2O5F2 durch Ersatz des Brücken-O-Atoms durch die Peroxogruppe ableitet und das daher das Fluorid der Peroxodischwefelsäure darstellt. S2O6F2 (Sdp. 67°C) entsteht neben SO3F2 bei der Reaktion von F2 mit SO3 in Gegenwart von AgF2:
478
12 Schwefel, Selen und Tellur
SO3 + F2
F SO2 O F
+ SO3
F SO2 O O SO2 F
Die Verbindung SO3F2 (Sdp. –31°C) wird als Fluorfluorosulfat bezeichnet, obwohl sie kein positiv polarisiertes F-Atom enthält. Die Fluorosulfate der übrigen Halogene sind durch folgende Reaktionen zugänglich: Cl2 + S2O6F2
2 Cl(OSO2F)
Br2 + 2 S2O6F2
Br(OSO2F) + Br(OSO2F)3
I2 + S2O6F2
I(OSO2F), I3(OSO2F), I(OSO2F)3
In diesen Fällen handelt es sich um Derivate mit Cl, Br und I in positiven Oxidationsstufen (+1 bzw. +3), da die Halogenatome jeweils über ein O-Atom an den Schwefel gebunden sind. Durch Fluorierung von SOF2 bei 150°C in Gegenwart von Platin erhält man Thionyltetrafluorid, das in Gegenwart von CsF weiter zu Pentafluoroschwefelhypofluorit fluoriert werden kann: O = SF2 + F2
Pt
O = SF4
+ CsF, + F2
FO
SF5
Beide Verbindungen sind farblose Gase. FOSF5 ist sehr reaktionsfreudig und kann in zahlreiche Derivate überführt werden.
12.12.4 Selen- und Tellurhalogenide Die Fluoride des Selens und des Tellurs entsprechen weitgehend denen des Schwefels (Tab. 12.5). SeF6 und TeF6, die bei der Verbrennung von Se bzw. Te im Fluorstrom entstehen, sind farblose, giftige Gase, die jedoch reaktionsfähiger sind als SF6. Tellurhexafluorid wird bereits durch Wasser in einigen Stunden hydrolysiert. Durch den größeren Atomradius sind die Zentralatome in diesen Molekülen weniger gut abgeschirmt als der Schwefel im SF6. Daher ist TeF6 sogar eine schwache LEWIS-Säure. Es reagiert beispielsweise mit [Me4N]F bei 0°C zu [Me4N]2[TeF8]40 und mit tertiären Aminen zu Donor-Akzeptor-Komplexen der Formel (R3N)2TeF6, das heißt zu Verbindungen mit achtfach koordinierten Telluratomen. SeF4, eine farblose Flüssigkeit, entsteht bei der vorsichtigen Fluorierung von Selen mit einem F2-N2-Gemisch oder mit ClF3. In der organischen Chemie wird SeF4 als Fluorierungsmittel eingesetzt. Mit Cl2 reagiert Selen bei 25°C zu farblosen bis schwach gelben Kristallen von SeCl4, die aus kubanartigen Se4Cl16-Molekülen bestehen und die beim Erhitzen sublimieren (bei etwa 195°C). In der Gasphase ist SeCl4 fast vollständig in SeCl2 und Cl2 dissoziiert. SeCl4 ist sowohl ein Donor als auch ein Akzeptor für Chlorid-Ionen. In wässriger Lösung, in der es auch aus SeO2 und konzentrierter Salzsäure hergestellt werden kann, reagiert SeCl4 mit NH4Cl zu intensiv gelbem Ammoniumhexachloroselenat(IV), das beim Einleiten von HCl in die Lösung auskristallisiert: 40
K. O. Christe et al., J. Chem. Soc. Chem. Commun. 1991, 837.
479
12.12 Halogenide und Oxidhalogenide der Chalkogene
SeO2 + 4 HCl
È ² H2O
SeCl4
É ² np4Cl
[NH4]2[SeCl6]
Andererseits reagiert SeCl4 mit AlCl3 beim Kochen in SO2Cl2 zu gelben Kristallen von AlSeCl7, das aus den Ionen [SeCl3]+ und [AlCl4]– besteht, wobei jedoch jedes Se-Atom außer von drei nächsten Cl-Nachbarn im Abstand von 211 pm noch von drei übernächsten Nachbarn im Abstand von 304 pm umgeben, also verzerrt oktaedrisch koordiniert ist. Kationen und Anionen sind demnach sowohl ionisch als auch kovalent (über gemeinsame Cl-Atome) aneinander gebunden. In analoger Weise besteht die Struktur des kristallinen TeCl4 aus [TeCl3]+-Ionen, die in Analogie zum SeCl4 über brückenbildende Cl–-Ionen zu kubanartigen Te4Cl16-Molekülen verknüpft sind, in denen jedes Te-Atom verzerrt oktaedrisch von sechs Cl-Atomen umgeben ist. TeCl4 (Schmp. 223°C) wird aus den Elementen synthetisiert. Es ist das einzige in reiner Form isolierbare nicht-polymere Tellurchlorid. TeCl6 ist unbekannt und TeCl2 existiert nur in der Gasphase: Wenn TeCl4 oder Gemische aus Te und TeCl4 erhitzt werden, lässt sich TeCl2 spektroskopisch als gewinkeltes Molekül nachweisen (analoges gilt für TeBr2): TeCl4 Te + TeCl4
TeCl2 + Cl2
H° = 119 kJ molÈ1
2 TeCl2
Aus TeCl4 wurden folgende hyperkoordinierten Organotellurverbindungen hergestellt:41 TeCl4 + 4 MeLi Me4Te + XeF2 Me4TeF2 + Me2Zn
È78°C, Et2O È30°C 0°C, Et2O
Me4Te + 4 LiCl Me4TeF2 + Xe Me6Te + ZnF2
Hexamethyltellur Me6Te ist ein farbloser Feststoff; zu dessen Struktur und Stabilität siehe Kapitel 2.6. Das analoge Derivat (CF3C6H4)6Te entsteht bei der Kondensation von 4-CF3C6H4Li mit TeCl4; es besteht aus thermisch sehr stabilen Molekülen mit einer oktaedrischen Koordination des Zentralatoms.42 Die Bildung von Haloselenat(IV)- und Halotellurat(IV)-Anionen wie [SeCl6]2–, [SeBr6]2–, [TeCl6]2– und [TeBr6]2–, sowie von Kationen wie [SeCl3]+ und [TeCl3]+ ist charakteristisch für die Tetrahalogenide des Selens2 und des Tellurs.3 Beim Schwefel ist die Tendenz dazu viel schwächer ausgeprägt. Daneben sind aber auch noch Analogien zu den Schwefelchloriden vorhanden, z.B. in Form der Oxidhalogenide SeOCl2, RSeOCl, SeO2F2 und SeO2Cl2 sowie in der überraschenden Reaktion TeCl4 + H2S7
S7TeCl2 + 2 HCl
bei der das orangefarbene Heptaschwefeltellurdichlorid entsteht, das aus einem kronenförmigen S7Te-Achtring mit zwei exocyclischen Cl-Atomen besteht.
41
42
W. R. McWhinnie, Encycl. Inorg. Chem. 1994, 8, 4117. M. Minoura et al., Angew. Chem. 1996, 108, 2827. L. Ahmed, J. A. Morrison, J. Am. Chem. Soc. 1990, 112, 7411. R. W. Gedridge et al., Organometallics 1989, 8, 2817 und 1991, 10, 286. M. Minoura et al., Tetrahedron 1997, 53, 12195.
480
12 Schwefel, Selen und Tellur
Bindungsverhältnisse in den Selen- und Tellur-Halogeniden Die kovalenten Bindungen in SeF6 und TeF6 entsprechen denen im oktaedrischen SF6, da die Elektronegativitäten der Zentralatome nicht sonderlich differieren (Kap. 2.6). Bei genügender Größe des Zentralatoms können noch weitere Atome koordinativ gebunden werden, zum Beispiel in [TeF7]–, das eine pentagonale Bipyramide bildet (Symmetrie D5h), und in [TeF8]2–. Die Ionen [SeX6]2– und [TeX6]2–, die außer den Bindungselektronen noch ein nichtbindendes Elektronenpaar in der Valenzschale des Zentralatoms aufweisen, sind oktaedrisch gebaut. Nach der VSEPR-Methode erwartet man für diese Ionen eigentlich eine geringere Symmetrie als Oh. Am besten ist die Bindung in diesen Ionen so zu interpretieren, dass sich das nichtbindende Elektronenpaar im kugelförmigen s-Orbital der Valenzschale des Zentralatoms befindet und dass nur die drei p-Orbitale zur Bindung der Liganden benutzt werden. Jedes p-Orbital kann durch eine 3-Zentren-4-Elektronen-σ-Bindung zwei transständige Liganden binden. Da die Achsen der drei p-Orbitale miteinander rechte Winkel bilden, resultiert die beobachtete oktaedrische Geometrie der Anionen [SeX6]2– und [TeX6]2–. Die Kationen [SeCl3]+ und [TeCl3]+ sind isoelektronisch mit den Chloriden AsCl3 und SbCl3 und weisen wie diese im isolierten Zustand die Symmetrie C3v auf. Die Verknüpfung der [TeCl3]+-Ionen über Cl-Brückenatome im Te4Cl16 kann man ebenfalls mit 3-Zentrenbindungen deuten.
12.13 Schwefel-Stickstoff-Verbindungen43 Zwischen Schwefel und Stickstoff sind im Prinzip folgende Bindungen möglich: S N
S N
S N
Zwischen diesen Typen gibt es kontinuierliche Übergänge. Darüber hinaus kann das S-Atom auch noch höhere Oxidationsstufen und damit höhere Koordinationszahlen annehmen. Entsprechend obigen Bindungsmustern können SN-Verbindungen gesättigt oder ungesättigt sein. Die meisten SN-Verbindungen sind cyclisch oder sogar polycyclisch, aber auch kettenförmige Vertreter sind bekannt. Schließlich gibt es neben Neutralmolekülen, die die Mehrheit darstellen, auch SN-Kationen und -Anionen. Aus der sehr reichhaltigen Chemie der Schwefel-Stickstoff-Verbindungen werden hier nur einige repräsentative Beispiele herausgegriffen. Grundkörper der binären Schwefel-Stickstoff-Verbindungen ist das Tetraschwefeltetranitrid S4N4, das bei einer Vielzahl von Reaktionen zwischen S-Verbindungen und NH3 entsteht, das man aber am besten durch Einleiten von gasförmigem Ammoniak in eine CCl4-Lösung von SCl2 oder von S2Cl2, das mit Cl2 gesättigt wurde, herstellt: S2Cl2 + Cl2 + NH3
43
S4N4, S8, NH4Cl und andere
T. Chivers (Herausg.), A Guide to Chalcogen-Nitrogen-Chemistry, World Scientific, Singapore, 2004. T. Chivers, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 8, 5378.
12.13 Schwefel-Stickstoff-Verbindungen
481
Dabei handelt es sich um eine komplizierte Redoxreaktion, bei der ein Produkt mit Schwefel der Oxidationsstufe +3 entsteht. S4N4 kann aus dem Reaktionsgemisch nach Waschen mit Wasser durch Extraktion mit Dioxan in Form organge-gelber Kristalle (Schmp. 178–187°C, Zers.) isoliert werden. Als endotherme Verbindung (∆fHo = 460 kJ mol–1) explodiert S4N4 auf Schlag sowie beim starken Erhitzen und beim Verreiben in einem Mörser. S N
Abb. 12.10 Molekülstruktur von Tetraschwefeltetranitrid S4N4 als Kugel-Stab-Modell und als raumerfüllendes Modell (Symmetrie D2d). Die S-Atome bilden ein Tetraeder, die N-Atome ein Quadrat. Alle acht SN-Bindungen sind Mehrfachbindungen (Kernabstände: 162 pm), die beiden SSBindungen (258 pm) sind dagegen nur Teilbindungen.
Abbildung 12.10 zeigt, dass das S4N4-Molekül eine käfigartige Struktur besitzt, in der die N-Atome ein Quadrat und die S-Atome ein Tetraeder bilden. Alle SN-Kernabstände sind gleich groß (162 pm), d.h. es liegen Mehrfachbindungen mit delokalisierten π-Elektronen vor. Die geschlossene Käfigstruktur kommt durch zwei zusätzliche, schwache SSBindungen zustande, die mit 258 pm sehr viel länger sind als die Einfachbindungen im S8 (205 pm). S4N4 ist sehr reaktionsfreudig und eine Vielzahl von anderen SN-Verbindungen kann, wie das Schema in Abbildung 12.11 zeigt, aus ihm hergestellt werden. S2N2 entsteht bei der Thermolyse von S4N4 an einem Silberdraht. Es bildet farblose Kristalle, die aus quadratischen Ringen der Symmetrie D2h bestehen und die mit dem Kation [S4]2+ valenz-isoelektronisch sind. Bei der Reduktion von S4N4 mit Zinn(II)-chlorid entsteht farbloses S4(NH)4, dessen Moleküle eine dem S8-Ring entsprechende kronenförmige Struktur (dSN = 167 pm) aufweisen. Fluorierung von S4N4 liefert je nach Reagenz kristallines (NSF)4 oder gasförmiges NSF, das mit AgF2 weiter zu NSF3 fluoriert werden kann. Diese beiden Fluoride enthalten SNDreifachbindungen. Bei 25°C polymerisiert NSF innerhalb einiger Tage zum cyclischen (NSF)3. Der Ring des (NSF)4 ist nicht planar und enthält alternierend lokalisierte Mehrfachbindungen (dSN = 154 pm) neben vier Einfachbindungen (dSN = 166 pm); die F-Atome sind exocyclisch an die S-Atome gebunden, so dass keine Ähnlichkeit zum S4(NH)4 besteht. Bei der Chlorierung von S4N4 erhält man primär 1,5-S4N4Cl2 (Spaltung einer SS-Bindung), während mit zusätzlichem Cl2 unter Ringkontraktion gelbe Kristalle von (NSCl)3 entstehen. (NSCl)3 reagiert mit AlCl3 bei 50°C in CH2Cl2 zum Thiazyltetrachloroaluminat [NS][AlCl4], einem gelben Salz, dessen Kation [NS]+ dem Nitrosyl-Ion [NO]+ entspricht. Das planare cyclo-Tetrathiazyl-Kation [S4N4]2+ ist von D4h-Symmetrie und entsteht bei der Oxidation von S4N4 mit überschüssigem S2O6F2 oder SbCl5. Dieses Kation [S4N4]2+ ist ein HÜCKEL-Aromat mit 10 π-Elektronen, davon 6 in bindenden und 4 in antibindenden MOs (dSN = 155 pm). Ein ähnliches planares 10 π-Elektronensystem, das jedoch von D3h-Symmetrie ist, liegt im cyclo-Trithiazyl-Anion [S3N3]– vor, das bei der Um-
482
12 Schwefel, Selen und Tellur
S
È
S N S
SnCl2
N AgF2 / CCl4
N
S
Cl
Cl2 / CCl4
S
Tetraschwefeltetraimid
S
S2O6F2
S4N4
CH3OH
NH
N
200-300°C Vakuum
2+
N
10
S
NH S
S HN
N
S [N3]È
S
S
Dischwefeldinitrid
N
HN
(SN)x
S
N
10
0°C
N 6 N
HgF2 / CCl4
N S Cl S
N
Cl S
F S
N S
N
F
F
N
S
N
S N
S
25°C
F
(NSF)3
F
Abb. 12.11 Einige Reaktionen von Tetraschwefeltetranitrid S4N4.
setzung von S4N4 mit ionischen Aziden entsteht, wobei ein großes Kation zur Stabilisierung des Anions erforderlich ist. S2N2 polymerisiert bei 0°C innerhalb einiger Tage in einer Festkörperreaktion zu messingfarbenem polymerem Schwefelnitrid (SN)x44, das in hoher Ausbeute auch aus (NSCl)3 und Trimethylsilylazid erhalten werden kann. (SN)x bildet faserförmige Kristalle, die aus parallel angeordneten, planaren Kettenmolekülen bestehen, und zwar mit SN-Kernabständen von alternierend 159 und 163 pm: N S
S
N N
S
S
N N
S
S
N N
S
S N
Offensichtlich liegt ein eindimensional-unendliches, delokalisiertes π-Elektronensystem vor. Die elektrische Leitfähigkeit ist hochgradig anisotrop und bei 25°C entlang der Faserrichtung ca. 50mal größer als senkrecht dazu. Sie beträgt bei 20°C je nach Reinheit und Perfektion der Kristalle bis zu 4000 Ω–1 cm–1 und nimmt bei Abkühlen auf 4 K um
44
M. M. Labes, P. Love, L. F. Nichols, Chem. Rev. 1979, 79, 1.
483
12.13 Schwefel-Stickstoff-Verbindungen
den Faktor 1000 zu. (SN)x ist gewissermaßen ein eindimensionales Metall; bei Temperaturen unter 0.26 K wird es sogar supraleitend.45 Die gezielte Synthese von SN-Bindungen ist durch Kondensations- und andere Reaktionen möglich: 4 Me2NH + Cl2SO 3 Ph
NH2 + Cl2SO
3R R
Me2N Ph
NH2 + SF4
N = SF2 + 3 H2N
SO NMe2 + 2 [Me2NH2]Cl
N = S = O + 2 [PhNH3]Cl
R N = SF2 + 2 [RNH3]F
R
R
N=S=N
R + 2 [RNH3]F
Schwefeldiimide können auch durch SO2-Eliminierung aus N-Sulfinylverbindungen erhalten werden: 2R
N=S=O
R
N=S=N
R + SO2
Der Grundkörper der N-Sulfinylverbindungen, das unsubstituierte Thionylimid HNSO, entsteht bei der Reaktion von NH3 mit SOCl2, wenn man in der Gasphase mit genau stöchiometrischen Mengen und unter vermindertem Druck arbeitet: 3 NH3 + SOCl2
HN = S = O + 2 NH4Cl
Reaktionen von Schwefelhalogeniden mit flüssigem Ammoniak sind im Allgemeinen komplex und führen zu einer Vielzahl von Verbindungen. So entstehen etwa bei der Reaktion von S2Cl2 mit NH3 neben S8 die Schwefelimide S7NH, S6(NH)2 und S5(NH)3, die durch Säulenchromatographie getrennt wurden. Diese Verbindungen enthalten achtgliedrige Ringe, die sich vom S8-Ring durch Substitution einzelner S-Atome durch Imidogruppen ableiten, wobei jedoch zwischen zwei NH-Gruppen immer mindestens ein S-Atom verbleibt. Das Endprodukt dieser formalen Substitution ist daher das oben schon erwähnte Tetraimid S4(NH)4 (Abb. 10.11).Während es nur ein Heptaschwefelimid S7NH gibt, existieren drei isomere Hexaschwefeldiimide und zwei isomere Pentaschwefeltriimide, je nachdem, welche S-Atome im S8 substituiert werden. Alle diese Isomere wurden in Form farbloser Kristalle isoliert. S7NH wird jedoch am besten in einer zweistufigen Synthese aus S8 mit Natriumazid hergestellt: 7 8
S8 + NaN3 + H2O
S7NH + NaOH + N2
Bei der im Lösungsmittel HMPA46 ausgeführten nukleophilen Öffnung des S8-Ringes durch das Azid-Ion entsteht eine Lösung, die das intensiv blau gefärbte, kettenförmige Anion [SSNSS]– enthält. Bei der anschließenden sauren Hydrolyse der Mischung erhält man S7NH. Salze mit dem Ion [NS4]– können auf verschiedene Weise hergestellt werden; dieses planare Anion ist von (E,Z)-Konformation. Schwefel-Stickstoff-Verbindungen gibt es auch mit Schwefel in der Oxidationsstufe +6. Einfache Beispiele sind die so genannte Amidoschwefelsäure H3NSO3 (Abschnitt 12.10.2) 45
46
Für die Entdeckung dieses und anderer elektrisch leitender rein nichtmetallischer Polymere wurde der Nobelpreis für Chemie des Jahres 2000 an A. J. HEEGER, A. G. MACDIARMID und H. SHIRAKAWA verliehen. HMPA: Hexamethylphosphorsäuretriamid (Me2N)3PO.
484
12 Schwefel, Selen und Tellur
und andere Sulfonsäuren von Ammoniak und Hydroxylamin wie Imidodischwefelsäure HN(SO3H)2 und Hydroxylamin-N,N-dischwefelsäure HON(SO3H)2. Diese Verbindungen entstehen beispielsweise als unerwünschte Produkte bei der nassen Rauchgaswäsche mit Kalksuspensionen aus den im Rauchgas enthaltenen Oxiden SO2 und NO2, die in der Waschlösung bei pH = 5 als Sulfit bzw. Nitrit vorliegen:47
47
[NO2]È + 2 [HSO3]È + H+
[HON(SO3)2]2È + H2O
[HON(SO3)2]2È + [HSO3]È
[HN(SO3)2]2È + [HSO4]È
H. Gutberlet et al., VGB Kraftwerkstechnik 1996, 76, 139.
485
13.1 Allgemeines
13
Die Halogene
13.1
Allgemeines
Von den fünf Elementen, die in der 17. Gruppe (7. Hauptgruppe) stehen, sind nur die ersten vier von Interesse, nämlich Fluor, Chlor, Brom und Iod. Alle bisher bekannten Isotope des erst 1940 entdeckten Astat sind radioaktiv und das stabilste unter ihnen (210 85At) hat eine Halbwertszeit von nur 8.3 Stunden. Daher ist dieses Element von geringer Bedeutung. Einige Eigenschaften der Halogene sind in Tabelle 13.1 zusammengestellt. Nach produzierter Tonnage gerechnet, hat das Chlor bei weitem die größte Bedeutung für unsere Zivilisation; wenn jedoch der Einfluss der Elemente auf Medizin, Agrochemie oder neue Materialien für Hochtechnologien betrachtet wird, ist sicher das Element Fluor von höchster Wichtigkeit. So sind gegenwärtig etwa 50 % der neu zugelassenen pharmazeutischen Präparate und 33 % der Wirkstoffe für Agrar-Anwendungen (Pestizide) fluorhaltig. Viele Hochleistungspolymere für die Halbleitertechnologie, für Brennstoffzellen und vieles mehr sind ebenfalls hochgradig fluoriert. In Displays der neuesten Generation sind fluorierte Flüssigkristalle enthalten. Das Ätzen der Leiterbahnen für integrierte Schaltungen (Chips) auf Siliciumwafern beruht auf rein anorganischer Fluorchemie.1 Für die erfolgreiche Synthese und die qualifizierte Verwendung derartiger Materialien ist eine fundierte Kenntnis von Struktur und Eigenschaften der oft schwierig zu handhabenden, weil reaktiven Elementfluoride unerlässlich. Tab. 13.1 Eigenschaften der Halogene (die Dissoziationsenthalpien D und Kernabstände d gelten für die gasförmigen Verbindungen). Element Valenzelektronenkonfiguration
Schmp. (°C)
Sdp. (°C)
D (kJ mol–1)
d (pm) Isotope (mol-%)
F
2s2p5
–220
–188
158
144
19F:
Cl
3s2p5
–101
–34
244
199
35Cl:
75.8
37Cl:
24.2
79Br:
50.7
81Br:
49.3
Br I
4s2p5 5s2p5
–7 114
+59 184
193 151
228 267
127I:
100
100
Fluor und Iod sind Reinelemente, während Chlor und Brom aus jeweils zwei natürlichen Isotopen bestehen. Das Nuklid 19F mit einem Kernspin von I = 12 eignet sich besonders gut für die Kernresonanzspektroskopie, während alle anderen natürlich vorkommenden Halogenisotope Kernspins von >1 aufweisen. Künstlich hergestellte, radioaktive Halogen1
Eine gut zu lesende Einführung liefert das Buch: P. Kirsch, Modern Fluoroorganic Chemistry, Wiley-VCH, Weinheim, 2004. Siehe auch G.-V. Röschenthaler, Nachr. Chemie 2005, 53, 743.
486
13 Die Halogene
isotope werden zur Aufklärung von Reaktionsmechanismen und Austauschreaktionen sowie in der medizinischen Diagnostik eingesetzt.
13.2
Die Elemente Fluor bis Iod
Halogen-Moleküle Aufgrund ihrer Valenzelektronenkonfiguration s2px2py2pz1 bilden die elementaren Halogene in allen Aggregatzuständen zweiatomige Moleküle. Diese ordnen sich bei genügend tiefen Temperaturen zu Molekülgittern, deren Gitterenthalpie auf die sehr schwachen VAN DER WAALS-Kräfte zwischen den Molekülen zurückzuführen ist. Daraus erklären sich die z.T. sehr niedrigen Schmelz- und Siedetemperaturen. Fluor und Chlor sind gelbgrüne Gase, Brom ist eine rotbraune Flüssigkeit und Iod bildet glänzende, grauschwarze Kristalle, die beim Erwärmen sublimieren. Der starke Anstieg der Schmelz- und Siedetemperaturen vom Fluor zum Iod hat mehrere Gründe. Da die Halogenmoleküle kein Dipolmoment besitzen, sind die VAN DER WAALS-Kräfte ausschließlich auf den Dispersionseffekt zurückzuführen, der seinerseits wesentlich von der Polarisierbarkeit der Atome abhängt (Kap. 3.3). Da die Polarisierbarkeit aber mit dem Atomradius stark ansteigt, nimmt die intermolekulare Wechselwirkung vom Fluor zum Iod entsprechend zu. Darüber hinaus sind aber noch andere Kräfte wirksam. Cl2, Br2 und I2 kristallisieren in Schichtstrukturen. Die Moleküle einer Schicht liegen in einer Ebene. Die Schichten sind derart übereinander gestapelt, dass die Moleküle jeder Schicht über bzw. unter den Lücken liegen, die sich zwischen den Molekülen der benachbarten Schicht befinden. Zwischen den Schichten wirken nur VAN DER WAALSKräfte, wie man aus den relativ großen Kernabständen entnehmen kann (beim I2: 425–433 pm). Diese schwachen Kräfte machen sich in einer ausgeprägten Spaltbarkeit der Kristalle parallel zu den Schichtebenen bemerkbar. Innerhalb der Schichten werden jedoch intermolekulare Kernabstände beobachtet, die wesentlich kleiner als die VAN DER WAALS-Abstände sind, so dass man dort schwache kovalente Teilbindungen annehmen kann. Dieser Effekt nimmt vom Cl2 zum I2 hin stark zu. Die kleinsten Abstände zwischen den Molekülen einer Schicht betragen beispielsweise beim Iod 349 pm (Einfachbindungsabstand in gasförmigen Iod: 267 pm, VAN DER WAALS-Abstand: 440 pm). Bei diesem Kernabstand muss man bereits mit einer beträchtlichen Orbitalüberlappung rechnen. Offensichtlich liegen im kristallinen Iod intermolekulare Mehrzentrenbindungen vor, die sich jeweils über eine ganze Schicht erstrecken und die mit einer Elektronendelokalisierung verbunden sind, auf die man die schon an Metalle erinnernden physikalischen Eigenschaften des Iods zurückführen kann: Die Kristalle sind von dunkler Farbe, aber glänzend, und die schwache elektrische Leitfähigkeit ist in den Schichtebenen 3400mal größer als senkrecht zu den Schichten. Kristallines Iod ist also ein zweidimensionaler Halbleiter. Diese Mehrzentrenbindungen kommen durch die teilweise Delokalisierung von nichtbindenden Elektronen aus den besetzten π*-MOs eines Moleküls in die unbesetzten σ*-MOs der Nachbarmoleküle zustande; strukturell zeigt sich dies in der Aufweitung der kovalenten Ι–I-Bindung von 267 pm im gasförmigen Iod auf 272 pm im Kristall. Der folgende Ausschnitt aus einer Schicht der bei 4 K bestimmten I2-Struktur soll die Möglichkeiten der Orbitalüberlappung zwischen den Molekülen verdeutlichen, die ein planares Netzwerk bilden:
487
13.2 Die Elemente Fluor bis Iod
~
271.7
395.6
348.8
348.8
348.8 348.8
395.6
~
Eine detaillierte Darstellung derartiger Mehrzentrenbindungen, die in der Halogenchemie eine große Rolle spielen, wird bei den Polyhalogeniden gegeben (Abschnitt 13.5.3). Halogen-Atome Alle zweiatomigen Halogenmoleküle dissoziieren bei hohen Temperaturen in Atome. Der thermische Dissoziationsgrad ist außer von Druck und Temperatur auch von der Dissoziationsenthalpie (Tab. 13.1) abhängig. Diese ändert sich vom F2 zum I2 nicht gleichsinnig, sondern erreicht beim Cl2 ein Maximum. Der relativ kleine Wert beim F2 ist auf die Abstoßung der nichtbindenden Elektronenpaare an beiden Atomen und auf den kleinen Atomradius zurückzuführen, der zu einer hohen Elektronendichte führt (Kap. 4.2.2). Daher ist der thermische Dissoziationsgrad α unter gleichen Bedingungen beim F2 größer als bei den anderen Halogenen. Bei 1000 K und 0.1 MPa beträgt α beim F2 ca. 4 %, beim Cl2 0.03 %, beim Br2 0.2 % und beim I2 ca. 3 %. Auch durch Bestrahlung sowie durch Einwirkung einer Mikrowellenentladung können die Halogenmoleküle dissoziiert werden. Reaktionsfähigkeit Fluor ist das reaktionsfreudigste Element überhaupt. Es reagiert bei Raumtemperatur oder bei höheren Temperaturen außer mit O2 und den leichteren Edelgasen mit allen anderen Elementen sowie mit sehr vielen anorganischen und den meisten organischen Verbindungen. Oft verlaufen diese Reaktionen äußerst heftig, teilweise explosionsartig. Chlor, Brom und Iod sind wesentlich weniger reaktiv. Die extreme Reaktionsfähigkeit von elementarem Fluor ist einerseits auf die geringere Dissoziationsenthalpie des F2-Moleküls zurückzuführen, andererseits sind die Bindungen zwischen einem Element E und Fluor meistens sehr viel stärker als bei den anderen Halogenen, wodurch entsprechende Reaktionen stark exotherm sind, was dann durch Temperaturerhöhung reaktionsbeschleunigend wirkt. Zur Illustration seien die mittleren Bindungsenthalpien der CX-Bindungen in den Kohlenstofftetrahalogeniden CX4 angeführt, darunter in Klammern der typische Bereich der mittleren C–X-Bindungsenthalpien in verschiedenen Bindungssituationen (kJ mol–1): F3C–F 485 (460 … 535)
Cl3C–Cl 327 (300 … 360)
Br3C–Br 285 (260 … 330)
I3C–I 213 (200 … 260)
488
13 Die Halogene
13.3
Bindungsverhältnisse
Halogenid-Ionen Alle Halogene bilden negative Halogenid-Ionen X–, die den salzartigen Halogeniden zugrunde liegen, denen die Halogene ihren Namen verdanken (Halogen = Salzbildner). Die Elektronenaffinität, d.h. die bei der Anlagerung eines Elektrons an das gasförmige Atom freigesetzte Enthalpie ist bei den Halogenen größer als bei allen anderen Elementen (Kap. 2.1.3). Die Tendenz eines Halogenmoleküls, in wässriger Lösung nach X2 + 2 eÄ
2 XÄ
(1)
in das entsprechende Halogenid-Ion überzugehen, nimmt dagegen vom F2 zum I2 sehr stark ab. Das obige Gleichgewicht liegt um so mehr auf der rechten Seite, je elektronegativer das Halogen ist, d.h. die GIBBS-Energie ∆G°(1) nimmt vom F2 zum I2 stark ab. Das zeigt sich an den zugehörigen Reduktionspotentialen E°, die folgendermaßen definiert sind: E° =
n
ÄG° n .F
Zahl der Elektronen (hier: 2)
F Faraday-Konstante (96 487 C molÄ1)
Diese E°-Werte betragen unter Standardbedingungen: F2
Cl2
Br2
I2
At2
+2.89
+1.36
+1.08
+0.62
+0.2 Volt
Ursächlich für diesen Gang sind einerseits die unterschiedlichen Hydratationsenthalpien der Anionen sowie andererseits die Dissoziationsenthalpien der Moleküle (Tab. 13.1) und die Elektronenaffinitäten der Atome (Abb. 2.2). Wegen dieser thermodynamischen Verhältnisse verdrängt jedes Halogen seine höheren Homologen aus ihren salzartigen Halogeniden. Aus dem gleichen Grunde nimmt die Stärke der Halogenwasserstoffe als Reduktionsmittel vom HF zum HI hin zu. Während HF bzw. F– nur elektrochemisch zu F2 oxidiert werden können, genügen schon relativ schwache Oxidationsmittel, um HI oder Iodide zu I2 zu oxidieren. Kovalente Verbindungen In den kovalenten Verbindungen der einwertigen Halogene treten diese in den Oxidationsstufen –1, 0 und +1 auf. Beispiele dafür sind die Verbindungen Cl2, ClF, BrF und ICl. Die Oxidationsstufe des Fluoratoms ist jedoch in allen Verbindungen (außer F2) –1, da Fluor wegen seiner hohen Elektronegativität in einer Bindung stets der negativ polarisierte Partner ist. Das einfach kovalent gebundene Fluoratom kann als LEWIS-Base noch zusätzlich koordinative Bindungen eingehen und damit die Koordinationszahl 2 erreichen. Dieser Fall liegt in den durch Wasserstoffbrücken gebundenen Fluorverbindungen und in zahlreichen Fluoriden vor, in denen F-Atome eine Brückenfunktion ausüben. Das Beispiel der fluoridverbrückten Anionen [F5E–F–EF5]– (E = As, Sb) illustriert diesen Bindungstyp: Hierbei ist die Geometrie am zentralen Fluoratom gewinkelt (C2v):
489
13.4 Fluor
Verbindungen mit höher koordinierten Fluoratomen sind auch bekannt, beispielsweise MgF2, das in der Rutilstruktur mit KZ(F) = 3 kristallisiert. Wegen der sehr hohen Ionisierungsenergie des Fluoratoms sind Verbindungen mit Fluorkationen F+ oder mit positiv polarisierten F-Atomen nicht herstellbar. Diesen Bindungszustand kennt man jedoch bei den übrigen Halogenen, deren Ionisierungsenergien mit steigendem Atomradius stark abnehmen. Dabei muss der jeweilige Bindungspartner eine höhere Elektronegativität aufweisen als das Halogenatom X. Dies ist der Fall bei den Bindungen X–F und X–O, weswegen Fluor und Sauerstoff am ehesten zur Bildung von Verbindungen mit positiv polarisierten Cl-, Br- oder I-Atomen geeignet sind. Außer den oben schon genannten Interhalogenverbindungen gehören auch Bromnitrat BrONO2, Chlorhydroxid ClOH und Iodtrisfluorosulfat I(SO3F)3 zu dieser Stoffklasse. Die isolierten Kationen F+, Cl+, Br+ und I+ sind so starke LEWIS-Säuren, d.h. so elektrophil, dass sie in kondensierten Phasen nicht für sich existieren können, sondern nur in koordinierter Form, z.B. in den folgenden Salzen, in denen die Pyridinliganden (C5H5N) Elektronendichte auf die Halogenatome übertragen: [F(py)]F
[Cl(py)2][NO3]
[Br(py)2][NO3]
[I(py)2][NO3]
Bei den schwereren Halogenen Cl, Br und I sind wesentlich höhere Koordinationszahlen als beim Fluor möglich. Geeignete Bindungspartner sind vor allem F und O, zum Teil auch noch Cl. Mit diesen Partnern erreichen Chlor und Brom maximal die Koordinationszahl 6 wie in [ClF6]+ und Iod sogar die Koordinationszahl 8, z.B. im Anion [IF8]–. Diese und analoge Halogenverbindungen gehören zur Klasse der hypervalenten oder hyperkoordinierten Verbindungen, deren Bindungen nach der MO-Theorie als Mehrzentrenbindungen beschrieben werden können (Kap. 2.6). Aus den oben angestellten Überlegungen geht hervor, dass das Element Fluor in der Gruppe der Halogene eine ähnliche Sonderstellung einnimmt wie der Sauerstoff in der Gruppe der Chalkogene. Daher wird anschließend zunächst das Fluor behandelt und die übrigen Halogene werden dann zusammenhängend besprochen.
13.4
Fluor2
13.4.1
Herstellung von Fluor
Fluor findet sich in der Natur hauptsächlich in Form der kristallinen Minerale Flussspat CaF2, Kryolith Na3[AlF6] und Fluorapatit Ca5[(PO4)3F].3 Das Mineral Phosphorit hat die 2 3
D. D. DesMarteau et al., Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1561. Ca5[(PO4)3F] ist auch ein Bestandteil der Zähne, und Zahncremes enthalten ionische Aminfluoride, um Karies zu unterdrücken.
490
13 Die Halogene
gleiche Zusammensetzung wie Fluorapatit, ist aber amorph. Die natürliche Häufigkeit von Fluor in der Erdkruste beträgt nur 0.065 %; sie ist damit aber immer noch größer als die von Chlor. Elementares Fluor und die meisten Fluoride werden aus Fluorwasserstoff HF hergestellt. Zur technischen Produktion von HF wird wasserfreier Flussspat in einem Drehrohrofen bei 200–350°C mit 100 %iger Schwefelsäure umgesetzt: CaF2 + H2SO4
2 HF + CaSO4
Diese Reaktion ist mit +59 kJ mol–1 endotherm und muss daher bei erhöhter Temperatur durchgeführt werden. Das gasförmige HF-Rohprodukt wird mit H2SO4 gewaschen und durch fraktionierte Kondensation und anschließende Destillation gereinigt. Erhebliche Mengen HF und SiF4 werden auch bei der Aufarbeitung von Phosphorit zu Phosphorsäure gewonnen (Kap. 10.12) und unter anderem zu AlF3 bzw. Na3AlF6 für die Aluminiumherstellung durch Schmelzflusselektrolyse verarbeitet. Flüssiges HF (Schmp. –84°C, Sdp. 20°C) ist ein ausgezeichnetes polares Lösungsmittel für organische und anorganische Verbindungen, allerdings werden viele Metalle, Glas und andere Materialien durch HF korrodiert. Manche Kunststoffe, insbesondere fluorierte organische Polymere (Teflon, KEL-F, Teflon-PFA; siehe unten) sind aber inert gegenüber HF. Rostfreier Stahl kann bei normalen und leicht erhöhten Temperaturen verwendet werden, während sich bei höheren Temperaturen Kupfer, Nickel und die Cu-Ni-Legierung Monel bewährt haben. Auf der Haut erzeugt HF schwere und nur langsam heilende Wunden. Elementares Fluor kann wegen seines hohen Standardpotentials nur durch anodische Oxidation von Fluorid-Ionen hergestellt werden,4 und zwar nur mit Elektrolyten, die keine anderen Anionen (z.B. [OH]–) enthalten. Wasserfreies HF ist selbst nur schwach in Ionen dissoziiert: 3 HF
[H2F]+ + [HF2]Ä
c (H2F+) .c (HF2Ä ) 10Ä10
Daher verwendet man für die Elektrolyse Schmelzen der Zusammensetzung KF·xHF, wobei x zwischen 2 und 13 variiert. Die Schmelzpunkte dieser Elektrolyten liegen je nach HF-Gehalt zwischen –100° und +72°C. Einem hohen HF-Gehalt entspricht ein niedriger Schmelzpunkt. Die Elektrolysetemperatur liegt beispielsweise bei 60°C. In den Elektrolyten liegen die Fluorid-Ionen stark solvatisiert als [HnFn+1]– bzw. [F–·nHF] vor. Die Elektrolysezellen und die Kathoden werden aus Stahl gefertigt, die Anoden bestehen aus graphitfreiem Kohlenstoff. Durch Einleiten von HF in den Elektrolyten hält man dessen Zusammensetzung während der Elektrolyse ungefähr konstant. Das bei einer Badspannung von ca. 10 V entwickelte F2, das mit HF und gegebenenfalls mit CF4 verunreinigt ist, wird anschließend durch Tiefkühlung auf –140°C gereinigt, wobei die Verunreinigungen kondensieren. An der Kathode entwickelt sich Wasserstoff. Je 40 % des so erzeugten elementaren Fluors werden zur Herstellung von SF6 und UF6 verwandt, der Rest zur Synthese von Verbindungen wie ClF3, C3F8 und Fluorgraphit (Kap. 7.5.1). Führender Hersteller von Fluor und F-haltigen Verbindungen in Deutschland ist die Solvay Fluor GmbH. F2 ist in Stahlflaschen im Handel.
4
Bei der thermischen Zersetzung bestimmter Fluorverbindungen wie K2[NiF6] oder MnF4 entsteht ebenfalls F2, jedoch ist dies keine technische Methode zur Herstellung von Fluor.
491
13.4 Fluor
13.4.2
Eigenschaften von Fluor
F2 und HF sind stark ätzende Chemikalien, die auf der Haut schwierig heilende Wunden verursachen. F2 kann noch in sehr kleinen Konzentrationen von etwa 0.01 ppm am Geruch erkannt werden, der dem eines Gemisches aus O3 und Cl2 ähnelt. Fluor und einige kovalente Fluoride wie S2F10 und PF3 sind extrem giftig. Da Fluor mit fast allen Elementen reagiert und sehr viele anorganische und organische Verbindungen angreift, sind nur wenige Materialien zum Bau von Apparaturen geeignet, in denen mit F2 experimentiert werden soll. Resistent gegen F2 sind bei 25°C einige Metalle und Legierungen, die sich in einer F2-Atmosphäre rasch mit einem Film von Metallfluorid überziehen, der dicht ist und fest haftet und so den weiteren Angriff von F2 verhindert (Passivierung). Zu diesen Metallen gehören Cu, Ni, Stahl, Messing (Cu-Zn-Legierung), Bronze (Cu-Sn-Legierung) und Monel. Nur in Sonderfällen kann man mit Glas- oder Keramikbauteilen arbeiten (mit N2 verdünntes Fluorgas), da SiO2 zu gasförmigen SiF4 fluoriert wird, sobald auch nur Spuren von HF vorhanden sind: SiO2 + 4 HF H 2O + F 2
SiF4 + 2 H2O 2 HF +
1 2
O2
Neben metallischen Werkstoffen spielen auch noch Polytetrafluorethylen (PTFE, Teflon) sowie ein Perfluoralkoxy-Copolymer (PFA) eine Rolle, vor allem für Dichtungen, Kühlfallen und flexible Rohrleitungen. Zur Beseitigung kleiner Mengen F2 leitet man das Gas über CaCl2, Al2O3 oder in 30 %ige Kalilauge: 2 Al2O3 + 6 F2 2 KOH + F2
4 AlF3 + 3 O2 2 KF + H2O +
O2
Mit Wasser reagiert F2 zu HOF, das mit Acetonitril ein Addukt CH3CN·HOF bildet. Diese Mischung ist ein sehr guter Sauerstoffüberträger für organische Oxidationen.5
13.4.3
Herstellung von Fluoriden
Alle Fluoride werden letztlich aus HF hergestellt, sei es auf dem Umweg über elementares Fluor, sei es durch direkte Umsetzung mit Hydrogenfluorid oder Flusssäure (HFaq). Hydrogenfluorid, das in allen Phasen stark assoziiert ist, ist ein wasserähnliches Lösungsmittel. Von ihm leiten sich Salze mit den Anionen F–, [HF2]–, [H2F3]– und [H3F4]– ab. Durch thermische Zersetzung von K[HF2] kann man im Labor reines HF herstellen. Fluoridionen-Akzeptoren wie SbF5 verhalten sich in HF als Ansolvosäuren: 2 HF + SbF5
[H2F]+ + [SbF6]Ä
Lösliche, ionische Fluoride reagieren in HF dagegen als Basen. In Wasser ist HF nur eine schwache Säure (Kap. 5.5), aber die Lösung ist stark ätzend und greift Glas unter Fluorierung an, so dass man Flusssäure in Gefäßen aus Polyethylen, Platin oder Blei aufbewahrt und handhabt. 5
S. Rozen, M. Carmeli, J. Am. Chem. Soc. 2003, 125, 8118.
492
13 Die Halogene
Zur Herstellung kovalenter und ionischer Fluoride dienen folgende Verfahren: (a) Reaktion von HF oder HF(aq) mit einem Oxid, Hydroxid oder Carbonat; geeignet zur Herstellung von KF, K[HF2], [NH4]F, [NH4][HF2], BaF2, AlF3, Na3[AlF6], BF3, K[BF4], SiF4. (b) Halogenaustausch mittels HF, NaF oder KF (besonders geeignet für die Halogenide der Gruppen 14–16 des Periodensystems): PCl3 + 3 HF
50°C
SbCl5 + 5 HF
PF3 + 3 HCl SbF5 + 5 HCl
150°C
SPCl3 + 3 HF Sulfolan SPF3 + 3 HCl
(c) Direktfluorierung mit F2 (hierbei werden normalerweise die höchsten Oxidationsstufen erreicht): 1 8
S8 + 3 F 2
SF6
I2 + 5 F2
2 IF5
U 3O 8 + 9 F 2 AgCl + F2
3 UF6 + 4 O2 AgF2 +
1 2
Cl2
Viele Elemente und Verbindungen setzen sich mit F2 unter spontaner Entzündung und starker Wärmeentwicklung um. So reagieren festes F2 und flüssiges H2 selbst bei 20 K noch heftig miteinander! Daher wurden mit F2 einerseits und Verbindungen wie H2, B2H6, N2H4, C2H5OH, Li, LiH und BeH2 andererseits versuchsweise Raketenmotoren betrieben, wobei Verbrennungstemperaturen von 4000–5600 K erreicht wurden. (d) Fluorierung mit metallischen oder nichtmetallischen Fluorierungsmitteln wie AgF, AgF2, CoF3, MnF3, ZnF2, ClF3, BrF3, IF5, AsF5, SbF3, SF4, K[SO2F]: 3 PCl5 + 5 AsF3 OPCl3 + ZnF2 3 COCl2 + 2 SbF3
25°C 40°C 130°C
3 PF5 + 5 AsCl3 OPClF2 + ZnCl2 3 COF2 + 2 SbCl3
(e) Die Elektrofluorierung stellt ein besonders elegantes Verfahren der Fluorierung dar. Dabei löst man das Ausgangsprodukt in wasserfreiem HF. Falls die Lösung keine ausreichende Leitfähigkeit aufweist, wird noch etwas KF zugesetzt. Dann wird bei 20°C oder tieferen Temperaturen unter Verwendung sehr großer Elektroden elektrolysiert; die Anode besteht normalerweise aus Ni. Die Badspannung (5–6 Volt) wird so gewählt, dass noch keine F2-Entwicklung eintritt. Dennoch werden unter diesen Bedingungen die verschiedensten Verbindungen anodisch fluoriert, selbst Alkylgruppen. Die Reaktionsbedingungen haben einen wesentlichen Einfluss auf die Art und Ausbeute der Produkte. Das Verfahren wird hauptsächlich zur Herstellung organischer Fluorverbindungen verwandt:
493
13.4 Fluor
CS2
CF3SF5
(n-C4H9)3N
C8H17SO2F
(n-C4F9)3N
CH3SO2F
C4H8SO2 Sulfolan
CF3SO2F
C8F17SO2F C4F9SO2F
Sulfolan ist der Trivialname für das ringförmige Tetrahydrothiophensulfon. Da Hydrogenfluorid ein sehr gutes Lösungsmittel für anorganische und organische Verbindungen ist, wird die Methode der Elektrofluorierung breit angewandt.
13.4.4
Verwendung fluorierter Verbindungen
Fluorierte Kohlenwasserstoffe: Lange Zeit wurde das aus Flussspat gewonnene Hydrogenfluorid hauptsächlich für die Produktion von C-Cl-F-Verbindungen verwandt.6 Im Wesentlichen handelte es sich dabei um folgende Derivate von Methan und Ethan: CCl3F CCl2F2
CHCl2F CHClF2
CCl2F–CCl2F CClF2–CClF2
CCl2F–CClF2 CClF2–CF3
Diese Verbindungen sind farblos und ungiftig. Sie werden aus entsprechenden C-Cl- bzw. C-Cl-H-Verbindungen durch teilweisen Halogenaustausch mittels HF in Gegenwart von SbF5 als Katalysator hergestellt und zeichnen sich durch niedrige Siedepunkte, hohe chemische Resistenz, Unbrennbarkeit und gute Lösungsmitteleigenschaften aus. Daher fanden Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe Verwendung als Kühlmittel in Kälteanlagen, als Lösungsmittel, als Treibmittel in Sprühdosen sowie bei der Schaumstoffherstellung. Im Labor eignen sie sich als Badflüssigkeiten für Kältebäder und als Lösungsmittel für aggressive Stoffe wie SO3. Wegen des schädlichen Einflusses dieser Verbindungen auf die stratosphärische Ozonschicht (Kap. 11.1.3) wurde die Produktion der nur aus C, Cl und F bestehenden Verbindungen in den meisten Ländern eingeschränkt oder ganz eingestellt (Montreal-Protokoll). Solche Verbindungen aber, die noch Wasserstoff enthalten, sind weniger schädlich, da sie bereits in der Troposphäre rasch abgebaut werden und somit nicht in die Stratosphäre gelangen. Als Ersatzstoffe kommen CH2F–CF3, CHCl2–CF3, CH3–CCl2F und CHClF2 in Frage.7 Fluorierte Polymere: Chlordifluormethan dient auch zur Herstellung von Polytetrafluorethylen (PTFE): CHCl3 + 2 HF n CHClF2
6 7
Kat. 750°C ÄHCl
CHClF2 + 2 HCl F2C=CF2 + F2C=CF CF3
FCKW: Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe. Zur Entsorgung von FCKWs werden die Verbindungen mit H2 und O2 verbrannt, wobei HCl, HF, Cl2 und CO2 entstehen (Incineration). P. Zurer, Chem. Eng. News 1989, July 24, S. 4 und October 9, S. 7. A. Heaton, S. Hodgson, T. Overton, R. Powell, „The challenges to develop CFC (chlorofluorocarbon) replacements: A problem based learning case study in green chemistry,“ Chem. Educ. Res. Pract. 2006, 7, 280.
494
13 Die Halogene
Aus Tetrafluorethen C2F4 erhält man durch radikalische Polymerisation bei 20–100°C und vermindertem Druck den Werkstoff Polytetrafluorethylen (–CF2–CF2–)n, abgekürzt PTFE (Warenzeichen: Hostaflon TF, Teflon). Die Polymerisation ist stark exotherm. PTFE ist chemisch außerordentlich widerstandsfähig und im Temperaturbereich –270° bis +260°C verwendbar. Es ist nicht brennbar, physiologisch inert und wird nur bei höherer Temperatur bzw. hohem Druck von F2, ClF3 und anderen starken Fluorierungsmitteln sowie von geschmolzenen Alkalimetallen angegriffen.8 Ähnlich resistente Materialien sind Polychlortrifluorethylen (–CF2–CFCl–)n, abgekürzt PCTFE (Warenzeichen: Hostaflon C2, KEL-F), sowie Viton (–CHF–CF2–CF2–)n und Teflon FEP (–CF2–CF2–CF(CF3)–)n. PCTFE ist je nach Polymerisationsgrad als Öl, Fett, Wachs oder festes Material erhältlich und beispielsweise als hochresistentes Hahnfett und Dichtungsmaterial verwendbar. Fluorverbindungen zur Energiespeicherung und -erzeugung: Lithium-Ionen-Batterien (Akkumulatoren) enthalten meistens Elektrolyten aus LiPF6 in einem Lösungsmittel wie Ethylencarbonat, Propylencarbonat oder Dimethylcarbonat. Um die Oxidationsbeständigkeit zu erhöhen und die Entflammbarkeit zu reduzieren, werden neuerdings fluorierte Carbonate verwendet, beispielsweise Monofluorethylencarbonat. Auch das protonenleitende Polymer Nafion, ein sulfoniertes und fluoriertes Polymer, das als Membran in Brennstoffzellen verwendet wird, ist ein hochfluoriertes Material, das über einen der oben beschriebenen Fluorierungswege hergestellt wird: CF2 CF2
CF2 x
CF O
x = 5Ä13.5; z = 1Ä3 y
CF2
O CF
z
CF2
CF2 SO3H
CF3
Fluorierte Verbindungen in der Halbleiterindustrie: Die Gase NF3, CF4, C2F6 und SF6 dienen in der Elektronikindustrie zum Plasmaätzen von Silicium. Durch Einwirkung einer Mikrowellenentladung auf diese Gase werden Fluoratome erzeugt, die elementares Silicium als SF4 abtragen. Auf analoge Weise werden auch Kraftstoffbehälter von Automobilen, die heutzutage aus organischen Polymeren bestehen, oberflächlich fluoriert, wodurch die Dichtigkeit und die chemische Resistenz erhöht werden. Das klassische Ätzverfahren bei der Herstellung integrierter Schaltungen auf Siliciumwafern beruht dagegen auf der Einwirkung von Flusssäure. Dabei wird die Si-Oberfläche interessanterweise mit H-Atomen belegt. In neuerer Zeit wird allerdings auch das Gas ClF3 zum Ätzen verwendet. Flüssigkristalle: Alle flüssigkristallinen Farbstoffe, die in Active-Matrix-Displays moderner TFT-Bildschirme (thin film transistor) eingesetzt werden, sind fluoriert. Man macht dabei von den großen Dipolmomenten von CF- und SF-Bindungen Gebrauch, wodurch ein sehr zuverlässiges Schalten ermöglicht wird. Beispiele für solche superfluorierten Materialien sind: 8
Gefäße aus PTFE werden daher zur Herstellung hochreiner Chemikalien für die Elektronik sowie in der Spurenanalytik (ppb-Analytik) eingesetzt, wo kleinste Verunreinigungen ausgeschlossen werden müssen.
495
13.4 Fluor
R
X
R
F
X: SF5 oder OCF3
F Die Verwendung der stark polaren und hydrolysestabilen SF5-Gruppe, die durch Fluorierung des entsprechenden Disulfans RSSR mit einem F2-N2-Gemisch (1:9) hergestellt wird, verbessert die Materialeigenschaften. Der verstärkende Effekt der SF5-Gruppe zeigt sich bei einem Vergleich des Dipolmomentes von PhCF3 (2.6 D) mit dem von PhSF5 (3.4 D). Fluorierte Pharma- und Agro-Wirkstoffe:9 Warum sind fluorierte Verbindungen als Pharmazeutika interessant? Fluor und Wasserstoff besitzen ähnliche VAN DER WAALS-Radien (135 gegenüber 120 pm), aber im Gegensatz zu H zeigt F einen starken induktiven Effekt. Durch eine metabolische Stabilisierung, d.h. verlangsamten Abbau im Körper, verbessert sich die Bioverfügbarkeit. Außerdem erhöht der Ersatz von CH- durch CFbzw. von CH3- durch CF3-Gruppen die Lipophilie. Dies führt häufig zu völlig veränderter Reaktivität, die als orthogonale Reaktivität von H und F bezeichnet wird. Aus diesen Gründen führt der selektive Ersatz von H durch F regelmäßig zu Wirkstoffen, die bis zu 1000mal aktiver als die Stammverbindungen sind. Beispiele hierfür sind das Cytostatikum Fluoruracil, der Entzündungshemmer Paramethason und der Anti-Malaria-Wirkstoff Mefloquin: O Me
HO Me
Me
H H
OH
CF3
OH HO
N H
O
N F Paramethason
F
HN
H
CF3 O
CF3 Mefloquin
F3C
O
N H
5-Fluoruracil
O F Sevofluran Cl
F F
F O
F
F
Isofluran
Auch die Narkosemittel Sevofluran, Isofluran und Halothan (CF3–CHClBr) sind hier zu nennen. Die narkotisierende Wirkung von Anästhetika ist um so stärker, je größer die Lipidlöslichkeit im Verhältnis zur Wasserlöslichkeit ist. Daher sind die genannten Stoffe dem auch immer noch eingesetzten Lachgas und den früher verwendeten Narkotika Diethylether und Chloroform weit überlegen.
9
V. Gouverneur et al., Chem. Soc. Rev. 2008, 37, 320.
496
13 Die Halogene
13.4.5
Bindungsverhältnisse in Fluoriden
Einzelne Nichtmetallfluoride werden bei den betreffenden Elementen behandelt. Hier sollen nur einige allgemeine und vergleichende Betrachtungen angestellt werden, die für molekulare Fluoride insgesamt gelten. In mancher Beziehung steht das Fluor dem Sauerstoff näher als den übrigen Halogenen. Dies zeigt sich zum Beispiel bei einem Vergleich der Elektronegativitäten χ, die für die Bindungsenthalpien von wesentlicher Bedeutung sind: χ (ALLRED-ROCHOW): χ (PAULING):
F
O
Cl
Br
4.10 3.98
3.50 3.44
2.83 3.16
2.74 2.96
I 2.21 2.66
Dieser Unterschied folgt aus den Werten von χAR deutlicher als aus denen von χP . Auch die Kovalenz- und Ionenradien von O und F sind ähnlicher als die von Fluor und seinen schwereren Gruppenhomologen:
r (pm):
F
O
Cl
F–
O2–
Cl–
54
73
99
136
140
181
Daraus ergeben sich gewisse Analogien zwischen der Kristallchemie von Fluoriden10 einerseits und Oxiden andererseits. Auch die Fähigkeit des Fluors, analog zum Sauerstoff die verschiedensten Elemente zu den höchsten Oxidationsstufen zu oxidieren, zeigt diese Ähnlichkeit. Entsprechende Verbindungen sind beispielsweise AgF2, K2[NiF6] und SF6. Andererseits gibt es Elemente, die nicht als binäre Fluoride, sondern nur als Oxidfluoride (oder als Oxide bzw. Oxoanionen) die höchste Oxidationsstufe erreichen, z.B. NOF3, ClO2F3 und XeO3F2; die theoretisch denkbaren Moleküle NF5, ClF7 und XeF8 sind allerdings bisher unbekannt. Die mit dem Substituenten Fluor erreichbaren Koordinationszahlen sind meistens höher als die bei den übrigen Halogenen realisierbaren. So gibt es zu den folgenden Fluoriden [NF4]+ SF6 XeF6 [PF6]– IF7 ReF7 [SbF7]2– [TeF8]2– [XeF8]2– nicht die analogen Chloride, Bromide oder Iodide. Dafür dürften neben den meist deutlich höheren Bindungsenthalpien der Fluoride auch sterische Gründe maßgeblich sein. Trotz seiner hohen Elektronegativität bildet Fluor mit allen Nichtmetallen molekulare und nicht etwa salzartige Fluoride. Selbstverständlich sind aber die Bindungen in diesen Fluoriden fast alle stark polar. Wegen ihrer großen Anziehungskraft für Bindungselektronen üben Fluoratome in kovalenten Bindungen einen starken induktiven Effekt aus. Das zeigt sich an folgenden Beispielen: (a) Im SOF2 ist die SO-Bindung wesentlich kürzer als in jeder anderen Thionylverbindung. Entsprechendes gilt bei den Sulfuryl-, Seleninyl-, Selenyl- und Phosphorylverbindungen. 10
W. Massa, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1535.
497
13.4 Fluor
(b) (CF3)3N ist eine wesentlich schwächere LEWIS-Base als (CH3)3N. Die Gruppenelektronegativität der CF3-Gruppe beträgt etwa 3.5, die der CH3-Gruppe etwa 2.4. (c) CF3COOH ist eine wesentlich stärkere Säure als CH3COOH. (d) NF3 ist viel weniger basisch als NH3 und bildet daher nur noch mit extrem starken LEWIS-Säuren Ammoniumverbindungen wie [NF4]+.
13.4.6 Stabilisierung niedriger Oxidationsstufen Von verschiedenen Nichtmetallen sind relativ beständige subvalente Verbindungen bekannt, in denen das Nichtmetall in einer ungewöhnlich niedrigen Oxidationsstufe vorliegt. Solche Subverbindungen werden bevorzugt mit Fluor und mit Sauerstoff gebildet, während sie mit anderen Partnern wesentlich unbeständiger sind. Das bekannteste Suboxid ist das Kohlenmonoxid CO. Es ist zwar bezüglich eines Zerfalls in CO2 und Graphit thermodynamisch instabil, aber infolge der hohen Aktivierungsenthalpie und -entropie dieser Disproportionierung ist CO bei Raumtemperatur metastabil, d.h. beständig. In ähnlicher Weise ist die Beständigkeit aller anderen subvalenten Verbindungen kinetisch und nicht thermodynamisch bedingt. Mit CO isoster ist das Bormonofluorid BF, das durch Reduktion von BF3 mit kristallinem Bor in einer Gleichgewichtsreaktion hergestellt wird: BF3(g.) + 2 B(f.)
2000°C 1 hPa
3 BF(g.)
+BF3
F2B BF2 + F2B BF BF2
BF reagiert anschließend mit BF3 unter Einschiebung in eine B–F-Bindung zu B2F4 und mit diesem zu B3F5. Letzteres ist nicht beständig, sondern disproportioniert zu B2F4 und B(BF2)3, das zu B8F12 dimerisiert. Dieses Molekül enthält ein interessantes B8-Gerüst:
Mit CO reagiert B(BF2)3 zu (F2B)3BCO und mit PF3 zum kristallinen (F2B)3BPF3. Derartige Reaktionen werden so ausgeführt, dass man dem BF/BF3-Gemisch hinter der heißen Zone den Reaktionspartner zusetzt und das Gemisch sofort mit flüssigem Stickstoff kondensiert. Im Gegensatz zu CO (dCO = 113 pm) liegt dem Molekül BF (dBF = 126 pm) annähernd eine Einfachbindung zugrunde. Dies ergibt sich sowohl aus dem Kernabstand als auch aus der Valenzkraftkonstanten. Das nichtbindende Elektronenpaar und die unbesetzten p-Orbitale am Boratom verleihen dem Molekül carbenanaloge Eigenschaften, d.h. es reagiert bevorzugt in Additions- und Einschiebungsreaktionen unter Errichtung zweier neuer Einfachbindungen. Fehlen geeignete Reaktionspartner, disproportioniert BF bei
498
13 Die Halogene
hohen Temperaturen und in Gegenwart von festem Bor rasch zu Bor und BF3, bei tiefen Temperaturen tritt Polymerisation ein. Carbenanaloge Verbindungen sind auch die beiden Fluoride CF2 und SiF2, die beide etwas beständiger als BF sind. Difluorcarben entsteht bei folgenden Thermolyse- bzw. Photolysereaktionen:11 T
T
CF2N2 ÄN 2
ÄPF5
CF3PF4
CF2 h . ÄBr2
T
CHClF2 ÄHCl
CBr2F2
Die Halbwertszeit der Dimerisierung von CF2 zu C2F4 beträgt bei den geringen Drucken, unter denen die Pyrolyseraktionen ausgeführt werden, etwa 1 s. C2F4 reagiert sofort mit weiterem CF2 zu cyclo-C3F6, cyclo-C4F8 und zu polymerem (CF2)n. Wahrscheinlich tritt CF2 auch bei der Synthese von C2F4 und bei der thermischen Depolymerisation von Polytetrafluorethylen als Zwischenprodukt auf (vgl. Abschnitt 13.4.4). Die Moleküle CF2 (α = 105°) und SiF2 (α = 100°) sind gewinkelt und diamagnetisch und enthalten normale Einfachbindungen: d(E-F) = 130(C) und 160(Si) pm. Difluorsilylen SiF2, das in der Gasphase eine Halbwertszeit von etwa 150 s aufweist (25°C; 20 Pa), entsteht in hoher Ausbeute bei der Reduktion von SiF4 mit festem Silicium und bei der thermischen Disproportionierung von Hexafluordisilan Si2F6:12 1 2
SiF4(g.) +
1 2
Si(f.)
1150°C 20 Pa
SiF2(g.)
700°C ÄSiF4
Si2F6(g.)
Beim Fehlen anderer Reaktionspartner reagiert SiF2 einerseits mit dem stets vorhandenen SiF4 zu perfluorierten Polysilanen SinF2n+2 (n = 1–14), andererseits bildet es diradikalische, kettenförmige Polymere (SiF2)n, die man auch bei Abfangreaktionen als Baugruppen findet. Mit BF3 reagiert SiF2 ähnlich wie mit SiF4, nämlich zu F2B–(SiF2)n–F (n = 1–3: farblose Flüssigkeiten). Aus Hexafluorbenzol und SiF2 entstehen C6F5SiF3 und C6F4(SiF3)2. Zahlreiche weitere Reaktionen mit ungesättigten organischen Verbindungen wurden untersucht. Diese Beispiele zeigen die Bedeutung der Subverbindungen als Zwischenprodukte und für präparative Zwecke. Andere überraschend beständige Subfluoride von Nichtmetallen sind [NF2]• und [O2F]•, die als freie Radikale mit ihren Dimeren N2F4 bzw. O4F2 im temperatur- und druckabhängigen Gleichgewicht stehen.
11 12
D. L. S. Brahms, W. P. Dailey, Chem. Rev. 1996, 96, 1585. C.-S. Liu, T.-L. Wang, Adv. Inorg. Chem. Radiochem. 1985, 29, 1.
499
13.5 Chlor, Brom und Iod
13.5
Chlor, Brom und Iod13
13.5.1
Herstellung und Eigenschaften der Elemente
Chlor Das Element Chlor kommt in der Natur wegen seiner hohen Reaktionsfähigkeit nur in gebundener Form vor, und zwar hauptsächlich in Chloriden des Natriums, Kaliums und Magnesiums, aber auch in vielen organischen Verbindungen.14 Für die Chlorproduktion ist NaCl die bei weitem wichtigste Ausgangsverbindung; es findet sich im Meerwasser, in einigen salzhaltigen Binnenseen und in Lagerstätten, die durch Austrocknung derartiger Gewässer entstanden sind (Steinsalz). Deutschland und Österreich verfügen über ausgedehnte Salzlagerstätten, aus denen NaCl, KCl und MgCl2 gewonnen werden; führender deutscher Anbieter ist die K+S AG (Kali und Salz). In einigen warmen Ländern wird NaCl immer noch durch Eindunsten von Meerwasser in flachen Teichen (Salinen) gewonnen. Im Meerwasser sind die Halogene F, Cl, Br und I etwa im Verhältnis 0.7 : 1000 : 35 : 0.03 vorhanden. Die natürliche Häufigkeit von Cl in der Erdkruste beträgt 0.013 %. Elementares Chlor ist einer der wichtigsten Grundstoffe der chemischen Industrie, der zur Herstellung zahlreicher Produkte wie Arzneimittel, Dünge- und Pflanzenschutzmittel, Kunststoffe (z.B. PVC), Textilfasern, Farben und neue Werkstoffe gebraucht wird. Chlor wird daher in riesigen Mengen durch Elektrolyse von gesättigten wässrigen NaClLösungen sowie von Salzsäure gewonnen. In Europa ist Deutschland der bei weitem größte Chlorproduzent. Bei der NaCl-Elektrolyse läuft folgende Umsetzung ab: 2 NaCl + 2 H2O
Energie
2 NaOH + H2 + Cl2
Die entscheidende Reaktion ist die anodische Oxidation der Chlorid-Ionen. Die Kathodenreaktion hängt von der Art des Verfahrens ab. Es gibt drei Varianten dieses als Chloralkali-Elektrolyse bezeichneten Prozesses. Beim Amalgamverfahren wird flüssiges Quecksilber als Kathodenmaterial verwandt, an dem wegen einer sehr großen Überspannung nicht Wasserstoff-Ionen, sondern Natrium-Ionen entladen werden, so dass ein verdünntes, flüssiges Natriumamalgam entsteht, das kontinuierlich aus der mit einem schwach geneigten Boden ausgestatteten Elektrolysezelle abfließt. Anschließend fließt das Amalgam in einem Amalgamzersetzer durch ein Bett von Graphitpartikeln, während im Gegenstrom Wasser einströmt. Katalysiert durch den Graphit wird das Amalgam zu Natronlauge und Wasserstoff hydrolysiert, wobei das Quecksilber freigesetzt wird und in den Kreislauf zurückkehrt: 2 Na + 2 H2O
2 NaOH + H2
Die bis zu 200 Anoden der trogförmigen Elektrolysezelle bestehen aus Titan; die Betriebsspannung beträgt ca. 4.5 V. Beim Diaphragmaverfahren sowie beim Membranverfahren sind Anoden- und Kathodenraum der Elektrolysezelle durch eine Wand getrennt, um eine Vermischung und Reaktion der Produkte zu verhindern. Während das aus einem mineralischen oder PVC-Ge13 14
J.-P. Lang, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 2, 866. In der Natur kommen ca. 3500 Verbindungen von Chlor, Brom und Iod vor, aber nur 12 von Fluor.
500
13 Die Halogene
flecht bestehende und mit einem fluororganischen Harz beschichtete Diaphragma eine Durchmischung des Elektrolyten mechanisch verhindert, für Ionen aber durchlässig ist, stellt die aus einem Kationen-Ionenaustauscher gefertigte Membran eine Sperre für alle Teilchen außer Na+ dar. Damit die Membran nicht von heißem Chlor und Natronlauge zerstört wird, verwendet man ein PTFE-Copolymer, das durch geeignete funktionelle Gruppen zum Ionenaustausch befähigt ist (z.B. Nafion, Abschnitt 13.4.4). An der Kathode läuft folgende Reaktion ab: 2 H2O + 2 eÄ
H2 + 2 [OH]Ä
Bei der Chloralkali-Elektrolyse entstehen auf 1 t Cl2 neben Wasserstoff auch noch 1.1 t NaOH. Im Jahre 1997 wurden in Westeuropa etwa 64 % des Chlors nach dem Amalgamverfahren, 24 % nach dem Diaphragmaverfahren, 11 % nach dem Membranverfahren und der Rest nach anderen Verfahren (z.B. Schmelzflusselektrolyse von NaCl zur Na-Herstellung) gewonnen. Da das Membranverfahren 30 % weniger elektrische Energie erfordert (2.5 MWh/t Cl2) und umweltfreundlich ist, werden neue Anlagen nach diesem Prinzip errichtet und die europäischen Hersteller haben sich verpflichtet, bis zum Jahre 2020 alle Amalgam-Anlagen auf das Membranverfahren umzurüsten. In Deutschland wurden im Jahre 2006 ca. 4.5·106 t Cl2 produziert, davon 1.3·106 t nach dem Amalgamverfahren. Bei der Chlorierung organischer Verbindungen fallen große Mengen Salzsäure an, die bei der BAYER AG elektrolytisch nach dem Membranverfahren wieder zu Chlor verarbeitet wird. Dabei wird eine Sauerstoff-Verzehrkathode eingesetzt, wodurch eine niedrigere Zersetzungsspannung erreicht und ca. 30 % der elektrischen Energie gegenüber dem Membranverfahren eingespart wird (1.8 MWh/t Cl2). Die Bruttoreaktion ist in diesem Fall: 4 HCl + O2
2 Cl2 + 2 H2O
Im Labor entnimmt man Cl2 einer Stahlflasche oder stellt es durch Oxidation von Chlorid-Ionen mit starken Oxidationsmitteln in saurer Lösung her, beispielsweise durch Reaktion von konzentrierter Salzsäure mit Braunstein (MnO2) oder mit KMnO4: 4 HCl + MnO2
Cl2 + MnCl2 + 2 H2O
Chlor ist bei Raumtemperatur ein gelbgrünes, erstickend riechendes und sehr giftiges Gas, das die Schleimhäute stark angreift (Sdp. –34°C). Gasförmiges Cl2 ist schwerer als Luft und kondensiert unter Druck leicht zu einer grüngelben Flüssigkeit (Dampfdruck bei 20°C: 65 kPa). Es reagiert mit fast allen Metallen, beim Erwärmen oft unter Feuererscheinung, z.B. mit Alkali- und Erdalkalimetallen, mit Cu, Fe, As, Sb und Bi. Von den Nichtmetallen reagiert H2 nach Zündung in einer Kettenreaktion explosionsartig (Chlorknallgas, Kap. 5.1). Ebenso verbinden sich viele Wasserstoffverbindungen lebhaft mit Chlor: C2H2 + Cl2
2 C(f.) + 2 HCl
NH3 + 3 Cl2
NCl3 + 3 HCl
In Wasser ist Cl2 nur mäßig löslich (6 g L–1 bei 25°C); in der Lösung stellt sich folgendes konzentrationsabhängiges Gleichgewicht ein: Cl2 + H2O
HOCl + HCl
Chlor wird zur Synthese zahlreicher anorganischer und vor allem organischer Verbindungen eingesetzt, die aber oft nur Zwischenprodukte für die Herstellung von Substanzen
501
13.5 Chlor, Brom und Iod
sind, die selbst chlorfrei sind, aber anders nicht ökonomisch gewonnen werden können.15 In der Industrie wird etwa ein Drittel des erzeugten Chlors im Kreislauf geführt. Beispiele für die Verwendung von elementarem Chlor sind die Synthese von Chlorkohlenwasserstoffen, die Herstellung von vielen Metall- und Nichtmetallchloriden wie Phosgen COCl2 (aus CO und Cl2), PCl3, SCl2, S2Cl2 und FeCl3 aus den Elementen sowie SiCl4 und TiCl4 aus den Dioxiden durch Reaktion mit Koks und Cl2. Hinzu kommt die Gewinnung von so genannter Natronbleichlauge (NaClO) aus Natronlauge und Cl2. Die Desinfektion (Entkeimung) von Trink- und Badewasser und das Bleichen von Zellstoff und Papier mit Chlor verlieren an Bedeutung, da hierfür mehr und mehr Wasserstoffperoxid oder Ozon eingesetzt werden (siehe diese). Brom Wie alle Halogene kommt auch Brom16 in der Natur nur in gebundener Form vor, und zwar vergesellschaftet mit Chlor in analogen Verbindungen. Aus den Bromiden, die einerseits im Meerwasser enthalten sind und die andererseits bei der Gewinnung von Kalisalzen (KCl) angereichert werden, wird das Brom durch Einleiten von Cl2 in die schwach angesäuerte wässrige Lösung freigesetzt und durch einen Luftstrom ausgetrieben: 2 BrÄ + Cl2
Br2 + 2 ClÄ
Es kann anschließend mit konz. H2SO4 getrocknet und durch Destillation gereinigt werden. Besonders salzhaltig ist das Wasser im Toten Meer, aus dem mehr als die Hälfte des weltweit gehandelten Broms stammen. Im Labor stellt man Br2 aus KBr durch Oxidation in saurem Medium, z.B. mit MnO2 und H2SO4 her. Brom ist bei Raumtemperatur flüssig und tief rotbraun gefärbt. Es ist in Wasser weniger gut löslich als Cl2, mit vielen unpolaren Lösungsmitteln (z.B. CCl4) ist es aber unbegrenzt mischbar. Die Reaktionsfähigkeit von Br2 ist geringer als die von Cl2, im Allgemeinen reagieren aber beide Elemente analog. Brom wird zur Synthese von organischen Pflanzenschutzmitteln sowie von Flammschutzmitteln benötigt; als Bromid dient es zur Herstellung von AgBr, das die lichtempfindliche Substanz in vielen photographischen Filmen darstellt; bei bestimmten hochwertigen Filmen wird jedoch AgI verwendet. Seit Einführung der Digitalfotografie ist der Bedarf an derartigen Filmen allerdings stark gesunken. Iod Iod findet man in der Natur sowohl in Iodiden und Iodaten als auch in Form von organischen Verbindungen. Bei der Verbrennung von Tang, der die Fähigkeit zur Anreicherung von Iod besitzt, erhält man in der Asche Iodide. Auf diese „biogene“ Weise ist wahrscheinlich auch der hohe Iodidgehalt einiger fossiler Solen zu erklären, die in mehreren Ländern (Japan, USA, u.a.) unterirdisch gefunden werden. Das sind hochkonzentrierte, durch Eindunsten früherer Gewässer entstandene Salzlösungen, aus denen das Iod durch Einleiten von Cl2 und Ausblasen mit Luft – ähnlich wie beim Brom beschrieben – gewonnen wird: 2 IÄ + Cl2 15 16
I2 + 2 ClÄ
V. Hopp, Chemiker-Ztg. 1991, 115, 341. D. Price, B. Iddon, B. J. Wakefield (Herausg.), Bromine Compounds, Elsevier, Amsterdam, 1988.
502
13 Die Halogene
Chile ist der größte Produzent von Iod und Iodiden. Der in Chile vorkommende Chilesalpeter (NaNO3) enthält Iod in Form von Ca[IO3]2, das bei der Aufarbeitung des Salpeters durch Umlösen in den Mutterlaugen als NaIO3 anfällt. Aus diesem werden durch Reduktion mit SO2 oder Na2SO3 elementares Iod oder Iodide hergestellt, die auch nach Europa exportiert werden. Andererseits werden in Japan große Mengen Iod aus den bei der Erdgasförderung anfallenden Salzlaugen gewonnen. Iodide lassen sich elektrolytisch oder auch schon durch relativ schwache Oxidationsmittel zu I2 oxidieren. Elementares Iod bildet schwarzgraue, glänzende, schuppige Kristalle, die leicht sublimieren und auf diese Weise gereinigt werden können. Der Dampf und gewisse Iod-Lösungen (in CCl4, CHCl3, CS2) sind violett. In anderen Lösungsmitteln wie H2O, Ether oder Dioxan löst sich Iod mit brauner Farbe, in aromatischen Kohlenwasserstoffen dagegen mit roter Farbe. Diese Farbunterschiede sind auf intermolekulare Wechselwirkungen zurückzuführen. Während die violette Farbe dem freien I2-Molekül zukommt, sind die braunen und roten Färbungen durch Charge-Transfer-Komplexe verursacht, die durch einen teilweisen Elektronenübergang von den Lösungsmittelmolekülen (Donoren) auf die I2-Moleküle (Akzeptoren) zustande kommen. Solche CT-Komplexe, die auch vom Br2 und Cl2 bekannt sind, zeichnen sich meistens durch eine intensive Absorption von sichtbarem Licht aus. Mit Triphenylphosphan bildet I2 ein gelbes 1:1-Addukt, das eine lineare P–I–I-Einheit enthält und daher als Donor-Akzeptor-Komplex aufzufassen ist (teilweise Delokalisierung der nichtbindenden 3s-Elektronen des Phosphors in das σ*-LUMO von I2, daher dII = 316 pm).17 Die Ladungsübertragung kann so weit gehen, dass es zur Spaltung der I–I-Bindung kommt. Beispielsweise liegt das analoge tBu3P·I2 als Salz [tBu3PI]+I– vor, und die Verbindung py·I2 ist als Salz [I(py)2]+[I3]– zu formulieren (py = Pyridin). Ein bekannter CT-Komplex des Iods ist die blaue Einlagerungsverbindung von [I5]–-Ionen in den zentralen Hohlraum in der spiraligen Struktur von Amylose, die ein Bestandteil der Stärke ist. Dieser Iod-Stärke-Komplex (λmax ≈ 600 nm) wird zum analytischen Nachweis von Iod verwendet (Polyiodid-Ionen werden im Abschnitt 13.5.3 erläutert).
13.5.2
Halogenide
Fast alle Elemente bilden Halogenide, d.h. binäre Element-Halogen-Verbindungen, in denen das Halogen der elektronegativere Partner ist. Die binären Verbindungen können in Ionengittern kristallisieren (KCl, AlF3), polymere Strukturen bilden (Graphitfluorid) oder in relativ kleinen Molekülen existieren (SCl2, PF5). Neben den binären Halogeniden sind aber auch kompliziertere Verbindungen in großer Zahl bekannt, z.B. Oxidhalogenide (SOF4), Hydroxidhalogenide (HSO3Cl), komplexe Anionen wie [SiF6]2– und Kationen wie [PCl4]+. Die Fluoride des Wasserstoffs und einiger Nichtmetalle wurden bereits im Abschnitt 13.4 behandelt. Weitere Fluoride und die Chloride, Bromide und Iodide der meisten Nichtmetalle werden bei den betreffenden Elementen beschrieben. Hier sollen nur die Halogenwasserstoffe HCl, HBr und HI und in den Abschnitten 13.5.3 bis 13.5.5 die Verbindungen der Halogene untereinander behandelt werden. 17
C. A. McAuliffe et al., J. Chem. Soc. Chem. Commun. 1991, 1163.
503
13.5 Chlor, Brom und Iod
Wasserstoffhalogenide HCl, HBr und HI Die Wasserstoffverbindungen der Halogene können aus den Elementen synthetisiert werden. Da die GIBBS-Energie ∆G° der Reaktion H2 + X 2
2 HX
X = Halogen
vom Fluor zum Iod stark zunimmt,18 liegt das Gleichgewicht um so weniger auf der rechten Seite, je schwerer das Halogen ist. Während Fluor und Chlor in einer Wasserstoffatmosphäre quantitativ zu HX verbrennen, kann man HBr nur dann in guter Ausbeute aus den Elementen herstellen, wenn man die Reaktionstemperatur auf 150–300°C hält, wobei dann zur Reaktionsbeschleunigung ein Katalysator erforderlich ist (Aktivkohle oder Platin). In gleicher Weise verfährt man im Falle des Hydrogeniodids, dessen GIBBS-Bildungsenergie aus den gasförmigen Elementen nur noch mit –5 kJ mol–1(HI) exotherm ist, weswegen sich HI bereits beim gelinden Erwärmen teilweise in die Elemente zersetzt. Die homogene Gasphasenreaktion der HX-Bildung erfolgt in allen vier Fällen nach einem Radikalkettenmechanismus (Kap. 5.1). Hydrogenchlorid (Sdp. –84°C) wird technisch durch Protonierung von Chlorid-Ionen hergestellt, wozu die Reaktion von KCl mit konzentrierter Schwefelsäure dient, die beim Erwärmen zu HCl und K2SO4 führt. HCl entsteht außerdem in großen Mengen bei den technisch wichtigen Chlorierungen organischer Verbindungen19 nach: C H + Cl2
C Cl + HCl
Auf diese Weise werden aus Methan die Derivate CH3Cl, CH2Cl2, CHCl3 und CCl4 sowie aus Benzol Chlorbenzol C6H5Cl hergestellt. HCl entsteht weiterhin bei der Synthese von Isocyanaten, die in großem Umfang zu Polyurethanen verarbeitet werden: C NH2 + COCl2
C N C O + 2 HCl
Der Chlorwasserstoff wird durch Absorption in H2O aus den Reaktionsgasen entfernt und kommt entweder als konzentrierte (30–32 Massen-%) oder rauchende Salzsäure (38 %) in den Handel oder wird elektrolytisch nach dem Membranverfahren wieder zu Cl2 verarbeitet. Bei einem HCl-Gehalt von 20.2 % bildet Salzsäure ein azeotropes Gemisch vom Sdp. 110°C.20 Auch HBr lässt sich aus KBr und einer starken, nichtflüchtigen Mineralsäure herstellen, wenn man eine nichtoxidierende Säure wie H3PO4 verwendet. Bequemer ist jedoch die Hydrolyse eines Nichtmetallbromids wie PBr3: PBr3 + 3 H2O
3 HBr
+ H3PO3
In analoger Weise lässt sich Iodwasserstoff aus PI3 herstellen. Alle Halogenwasserstoffe sind unter Standardbedingungen (25°C/1013 hPa) farblose Gase, die sich relativ leicht verflüssigen lassen. Im festen Zustand bilden sie Molekülgit18 19 20
–1 ∆fG° 298 beträgt –273 (HF), –92 (HCl), –36 (HBr) und +26 (HI) kJ mol , bezogen auf die Halogene
in den Standardzuständen. Vinylchlorid (und damit Polyvinylchlorid PVC) wird aus Ethylen, O2 und HCl hergestellt. Ein azeotropes Gemisch siedet bei konstanter Temperatur, kann also nicht durch fraktionierte Destillation getrennt werden, es sei denn, man ändert den Druck.
504
13 Die Halogene
ter. HF ist infolge starker Wasserstoffbrückenbindungen in allen Phasen stark assoziiert (Kap. 5.6.4). Bei den übrigen Verbindungen liegt nur im flüssigen Zustand eine stärkere Dipolassoziation vor. Die Dipolmomente nehmen vom HF (1.9 D) zum HI (0.4 D) stark ab. Mit wenig Wasser reagieren alle Wasserstoffhalogenide zu verschiedenen, nur bei tiefen Temperaturen beständigen Oxoniumsalzen (Kap. 5.6.4). In Wasser sind HF, HCl, HBr und HI sehr gut löslich. Die Säurestärke der Lösungen nimmt vom HF zum HI stark zu (Tab. 5.4). Während der Dissoziationsgrad einer Säure im Allgemeinen mit steigender Konzentration abnimmt, beobachtet man bei der Flusssäure genau das Gegenteil. Das liegt daran, dass das Gleichgewicht HF + H2O
[H3O]+ + FÄ
wegen der Komplexierung von F–-Ionen durch HF unter Bildung von [HF2]–, [H2F3]–, [H3F4]– und [H4F5]– mit steigendem HF-Gehalt nach rechts verschoben wird. Die Salze [H3O]F, [H3O][HF2] und [H3O][H3F4] wurden in reiner Form isoliert. Obwohl im Allgemeinen angenommen wird, dass verdünnte Salzsäure vollständig dissoziiert ist, liegt bereits bei einem molaren Verhältnis HCl : H2O von 0.28 : 1 ein Teil der Anionen als [HCl2]– vor. Eine bei 20°C gesättigte wässrige HCl-Lösung hat eine Konzentration von 40.4 Massen-%.21 Wegen der Bildung starker Wasserstoffbrücken löst sich HCl auch in Alkoholen und in Diethylether sehr gut. Eine charakteristische Eigenschaft von HBr und HI und ihrer Anionen Br– und I– ist ihre leichte Oxidierbarkeit zu Br2 bzw. I2, die sich aus den Werten der Redoxpotentiale ergibt. HI wird schon durch Luftsauerstoff oxidiert, so dass sich saure, wässrige Iodidlösungen an der Luft allmählich braun färben (Autoxidation unter Bildung von [I3]–).
13.5.3
Polyhalogenid-Ionen
Elementares Iod löst sich in wässriger Kaliumiodidlösung wesentlich besser als in reinem Wasser. Ursache dafür ist eine Komplexbildung zwischen I2-Molekülen und Iodid-Ionen entsprechend folgendem Gleichgewicht: IÄ + I 2
[I3]Ä
Kc =
c(I3Ä) c (IÄ ) .c (I2)
Die Reaktionsenthalpie beträgt in Wasser nur –17 kJ mol–1. Aus der dunkelbraunen Lösung kristallisiert beim Einengen oder Abkühlen das schwarze Salz K[I3]·H2O aus. Wasserfreie Triiodide erhält man bei Verwendung größerer Kationen: RbI3, CsI3 und [Co(NH3)6][I3]3 wurden kristallin isoliert. Bei den leichteren Homologen des Iods ist die Tendenz zur Bildung von Polyhalogeniden weniger ausgeprägt. Es sind jedoch einige kristalline Trichloride und Tribromide bekannt, z.B. [Me4N][Cl3] und [NH4][Br3]. Darüber hinaus wurde eine größere Zahl gemischter Polyhalogenid-Ionen hergestellt, die zwei oder drei verschiedene Halogene einschließlich Fluor enthalten können. Als Beispiele seien [ICl2]–, [I2Br]–, [IBrF]– und 21
Der Magensaft von Menschen und höheren Tieren enthält HCl in einer Konzentration von 0.1–0.5 % (pH-Wert 2.3 bis 0.9).
505
13.5 Chlor, Brom und Iod
[BrCl2]– genannt. Derartige Anionen entstehen aus einem Halogenid-Ion (oder einem entsprechenden X–-Donor) und einem Halogenmolekül oder einer Interhalogenverbindung: KI + Cl2
K[ICl2]
PCl5 + ICl
[PCl4][ICl2]
Große einwertige Kationen sind zur Isolierung solcher Salze besonders gut geeignet; die Gründe dafür wurden im Kapitel 2.1.7 beschrieben. Die oben definierte Gleichgewichtskonstante Kc hat in Wasser bei 25°C für die verschiedenen Trihalogenid-Ionen folgende Werte: [I3]–: 725; [ICl2]–: 167; [Br3]–: 18; [Cl3]–: 0.01.22 Die Triiodide sind also weitaus am beständigsten. Dies gilt auch für die wasserfreien Salze, die beim Erhitzen entsprechend obigem Gleichgewicht dissoziieren. Beim CsI3 erreicht der I2-Gleichgewichtsdampfdruck erst bei 250°C den Wert 0.1 MPa. Alle Trihalogenid-Ionen sind, soweit bekannt, linear oder fast linear gebaut (Valenzwinkel 170–180°). In Lösung sind die Ionen [I3]–, [Br3]– und [ICl2]– zentrosymmetrisch (Symmetrie D∞h), d. h. beide Kernabstände sind gleich groß. Im kristallinen Zustand kommt es jedoch infolge einer asymmetrischen Wechselwirkung mit den umgebenden Kationen oft zu einer Symmetrieerniedrigung. So betragen im Anion von [NH4][I3] die beiden I–I-Kernabstände 279 und 311 pm (Symmetrie C∞v). In den gemischten Ionen bildet jeweils das Halogen mit der geringsten Elektronegativität das Zentralatom. Vor einer Diskussion der Bindungsverhältnisse ist es zweckmäßig, die Bindungseigenschaften der Trihalogenid-Ionen mit denen der Halogenmoleküle zu vergleichen. Sowohl eine Betrachtung der Kernabstände als auch der Valenzkraftkonstanten zeigt, dass die Bindungen in diesen Ionen schwächer sind als in den Molekülen X2 (Tab. 13.2). Tab. 13.2 Valenzkraftkonstanten einiger Trihalogenid-Ionen und der entsprechenden Halogenmoleküle (fr in N cm–1; nach W. Gabes, R. Elst, J. Mol. Struct. 1974, 21, 1). Br2: 2.46 [Br3]–:
0.94
BrCl: 2.67 [BrCl2
]–:
1.08
I2: 1.72 [I3]–:
0.70
ICl: 2.38 [ICl2
]–:
1.06
IBr: 2.07 [IBr2]–: 0.94
Die MO-Theorie ermöglicht eine elegante Interpretation der experimentellen Befunde.23 Wenn man die z-Achse in die Molekülachse legt, überlappen im linearen Ion [I3]– die drei 5pz-Orbitale der Iodatome. Die Wechselwirkung dieser drei Orbitale führt ähnlich wie im Fall des linearen [HF2]–-Ions zu drei σ-Molekülorbitalen, von denen je eines bindend, nichtbindend und antibindend ist (Abb. 13.1).
22
23
Das Trifluorid-Anion wurde IR- und Raman-spektroskopisch bei tiefen Temperaturen nachgewiesen, als gasförmiges KF, RbF oder CsF zusammen mit F2 und überschüssigem Argon bei 15 K kondensiert wurde; [F3]– ist valenz-isoelektronisch mit KrF2. Die aus kristallinem CsF und Br2 bei 20°C entstehende Verbindung CsF·Br2 ist dagegen kein Trihalogenid, sondern enthält die Brommoleküle eingelagert in eine tetragonale CsF-Struktur: T. Drews, R. Marx, K. Seppelt, Chem. Eur. J. 1996, 2, 1303. G. A. Landrum, N. Goldberg, R. Hoffmann, J. Chem. Soc. Dalton Trans. 1997, 3605.
506
13 Die Halogene E I
Æu :
+
I
IÄ
+
+
uÆ
z
g:
+
u:
+
+
+
g
5pz
z
u
+
z
(b)
(a)
Abb. 13.1 Die 3-Zentren-4-Elektronen-Bindung im linearen Triiodid-Anion [I3]–. (a) Linearkombinationen der drei σ-Atomorbitale vom 5p-Typ, die vereinfacht dargestellt wurden (ohne innere Knotenflächen). (b) Energieniveaudiagramm für die drei σ-Molekülorbitale. Während das bindenden Elektronenpaar über alle drei Atome delokalisiert ist, ist die nichtbindende Elektronendichte an den terminalen Atomen lokalisiert.
Die drei Molekülorbitale sind mit vier Valenzelektronen besetzt. Da nur zwei davon bindende Elektronen sind, ergibt sich eine relativ schwache kovalente Bindung. Der Valenzwinkel von 180° ist die Folge einer solchen 3-Zentren-4-Elektronen-σ-Bindung, da die Überlappung bei einer Winkelverkleinerung geringer werden würde.24 Die negative Ionenladung befindet sich zum größten Teil auf den terminalen Atomen. Elementares Iod hat eine starke Neigung zur Ausbildung von Mehrzentrenbindungen. Dies zeigt sich nicht nur an der Struktur des kristallinen Iods selbst (siehe oben), sondern auch an der Existenz zahlreicher Polyiodid-Anionen wie [I5]–, [I7]–, [I9]–, [I8]2–, [I10]2–, [I11]–, [I12]2–, [I13]3–, [I16]2– und [I29]2–, die alle in Form definierter Salze isoliert wurden und die als Addukte von I2-Molekülen an die Anionen I– bzw. [I3]– aufgefasst werden können.25 Das Ion [I5]– hat im Salz [Me4N][I5] die Symmetrie C2v: I
d' I d I
I
I
I
[I5]Ä (C2v)
24
25
ì = 80°
I
I
ë = 177°
I
d' = 317 pm d = 281 pm
I
ì
I
I
ë
I
[I8]2Ä
Auch die π-Orbitale der drei Atome überlappen und spalten energetisch in bindende, nichtbindende und antibindende MOs auf. Da aber alle π-MOs mit Elektronenpaaren besetzt sind, tragen sie nicht zur Bindung bei. P. H. Svensson, L. Kloo, Chem. Rev. 2003, 103, 1649.
507
13.5 Chlor, Brom und Iod
Dieses Ion ist annähernd planar und besteht gewissermaßen aus einem zentralen IodidIon, das mittels zweier 5p-Orbitale zwei I2-Moleküle gebunden hat. Entsprechend werden in den Ionen [I7]– und [I9]– Kernabstände beobachtet, die die Anlagerung von zwei bzw. drei Molekülen I2 an ein Ion [I3]– erkennen lassen. Die Anionen sind dann noch weiter durch schwache Mehrzentrenbindungen miteinander verknüpft. Das diamagnetische Salz Cs2I8 enthält das Z-förmige Anion [I8]2– (siehe oben). Dieses besteht aus zwei unsymmetrischen [I3]–-Ionen und einem zentralen I2-Molekül. Zu den Polyiodid-Ionen mit mehr als fünf Atomen kennt man beim Brom und Chlor keine Analoga, und auch bei den Pentahalogeniden existiert nur das Bromid [Br5]– und kein entsprechendes Chlorid. Allerdings gibt es das Ion [Br10]2–, bestehend aus zwei Br2-Molekülen und zwei [Br3]–-Anionen.
13.5.4
Positive Halogen-Ionen13, 26
Positive Element-Ionen wurden bereits bei den Chalkogenen vorgestellt, beispielsweise [O2]+, [S8]2+ und [Se4]2+. Sie bilden sich umso leichter, je weniger elektronegativ das betreffende Element ist. Dennoch bedarf es auch bei den schwereren Nichtmetallen meistens starker Oxidationsmittel, um das Element zu einem positiven Ion zu oxidieren. Wegen des stark elektrophilen Charakters solcher Ionen können diese nur in Gegenwart wenig nukleophiler Anionen bzw. entsprechender Lösungsmittel hergestellt werden; in Wasser tritt sofort Disproportionierung ein. Von den Halogenen ist zu erwarten, dass sich I2 am leichtesten zu einem positiven Ion oxidieren lässt. In der Tat zeigt bereits geschmolzenes Iod eine beträchtliche elektrische Leitfähigkeit, die auf folgende Eigendissoziation zurückgeführt wird: 3 I2
[I3]+ + [I3]Ä
Das Ion [I3]+ und analoge Halogen-Kationen des Chlors und des Broms können durch Oxidation der Elemente, durch Komproportionierung der Elemente mit entsprechenden Interhalogenverbindungen oder durch spezielle Reaktionen hergestellt werden. Beispiele sind folgende, allerdings nur bei tiefen Temperaturen stabile Salze: Cl2 + ClF + AsF5
Ä 78°
2 Cl2 + IrF6
[Cl3][AsF6] gelbe Kristalle [Cl4][IrF6]
blaue Kristalle
[Cl2 ist bisher nur in der Gasphase nachgewiesen worden. [Cl3]+ist mit SCl2 isoelektronisch (Symmetrie C2v) und [Cl4]+ bildet ein Rechteck (D2h) als Folge einer π*-π*-Wechselwirkung zwischen den Komponenten Cl2 und [Cl2]+ (siehe unten). Thermisch stabiler sind Salze mit den Kationen [Br2]+ und [Br3]+, die durch Oxidation von Br2 mittels Peroxodisulfurylfluorid bzw. BrF5 erhalten werden: (a) Br2 + S2O6F2 2 BrSO3F gefolgt von: ]+
Br2 + 2 BrSO3F + 10 SbF5 (b) 7 Br2 + BrF5 + 5 AsF5 26
2 [Br2][Sb3F16] + Sb2F9SO3F 5 [Br3][AsF6]
N. Burford, J. Passmore, J. S. P. Sanders in From Atoms to Polymers (J. F. Liebmann, A. Greenberg, Herausg.), VCH, Weinheim, 1989, S. 53.
508
13 Die Halogene
Das Bromoniumsalz [Br2][Sb3F16] bildet rote paramagnetische Kristalle (Schmp. 86°C), während [Br3][AsF6] braun und diamagnetisch ist. Dieses Salz reagiert mit Br2 reversibel zu [Br5][AsF6];27 das planare Kation [Br5]+ hat wie [I5]+ eine Struktur von C2h-Symmetrie: 227
251 pm 97°
Seitens des Iods wurden die Ionen [I2]+, [I3]+, [I5]+, [I4]2+ und [I15]3+ sowie verschiedene gemischte Kationen wie [I2Cl]+, [I2Br]+, [I3Cl2]+ und [I3Br2]+ in Salzen isoliert. Das hellblaue, paramagnetische [I2]+, das früher fälschlich als I+ angesehen wurde, entsteht beim Lösen von I2 in rauchender Schwefelsäure (65 % SO3 in H2SO4), wobei SO3 als Oxidationsmittel wirkt, das dabei zu SO2 reduziert wird. Bei Verwendung reiner Schwefelsäure als Lösungsmittel kann man I2 auch mit S2O6F2 zu [I2]+ oxidieren. Beim Abkühlen der Lösungen dimerisiert [I2]+ zum roten, diamagnetischen [I4]2+. Löst man I2 in Oleum, das nur 25 % SO3 enthält, oder oxidiert man eine I2-H2SO4-Mischung mit Iodsäure HIO3, entsteht das braune Ion [I3]+, das mit weiterem I2 zum ebenfalls braunen [I5]+ reagiert. Alle Polyiodid-Ionen können auch durch Oxidation von I2 mit AsF5 oder SbF5 in flüssigem SO2 hergestellt werden: 2 I2 + 5 SbF5
2 [I2][Sb2F11] + SbF3
3 I2 + 3 AsF5
2 [I3][AsF6] + AsF3
2 I2 + 4 SbF5
[I4][SbF6][Sb3F14]
Mit überschüssigem Iod reagiert [I3]+ zu [I5]+, dessen Struktur der von [Br5]+ analog ist. Das kettenförmige Kation [I15]3+ besteht aus drei locker gebundenen [I5]+-Einheiten mit einem Inversionszentrum im zentralen Atom: 267
268
292 290
290 pm
342 i
270
Die kovalente Bindung in den Kationen [Cl2]+, [Br2]+ und [I2]+ ist erwartungsgemäß stärker als in den entsprechenden Halogenmolekülen. Das zeigt sich sowohl an der Verringerung der Kernabstände als auch am Anstieg der Kraftkonstanten (Tab. 13.3). Tab. 13.3 Harmonische Kraftkonstanten und Kernabstände von Cl2, [Cl2]+, Br2, [Br2]+, I2 und [I2]+ 35Cl 2
[35Cl2]+
79Br 2
[79Br2]+
127I 2
[127I2]+
fr (N cm–1)
3.23
4.40
2.46
3.29
1.72
2.15
d (pm)
199
189
228
215
267
Diese Bindungsverstärkung kann mit den bekannten MO-Diagrammen der Halogenmoleküle erklärt werden (Kap. 2.4.3). Die obersten besetzten Niveaus sind die antibindenden π*-Orbitale. Bei der Oxidation von X2 zu [X2]+ wird also ein antibindendes Elektron ent27
H. Hartl, J. Nowicki, R. Minkwitz, Angew. Chem. 1991, 103, 311.
509
13.5 Chlor, Brom und Iod
-
-
+
+
+
-
+
fernt. Das entstehende Radikal-Kation neigt nur im Falle von [I2]+ zur Dimerisierung und auch hier nur bei tiefen Temperaturen. Das Dimer ist in der Verbindung [I4][SbF6][Sb2F14] planar und rechteckig (Symmetrie D2h), woraus man auf eine Bindung zwischen den beiden [I2]+-Einheiten durch die einfach besetzten, in der Molekülebene liegenden π*-MOs schließen kann:
Die Kationen des Typs [X3]+ sind gewinkelt gebaut (Symmetrie C2v).28 [Cl3]+ ist mit SCl2 isoelektronisch. Das Ion [Cl2F]+ hat die Symmetrie Cs mit der Atomverknüpfung (Konnektivität) ClClF. Die analogen Kationen [ClF2]+, [BrF2]+ und [ICl2]+ werden im Abschnitt 13.5.5 behandelt. Das planare Ion [I5]+ kann formal als Komplex aus einem zentralen Iodonium-Ion I+ und zwei I2-Liganden angesehen werden, d.h. als koordiniertes Iod-Kation I+. Dieses Ion existiert auch in einer andersartig koordinierten Form, nämlich als [I(Pyridin)2]+. Salze mit diesem Kation entstehen durch Disproportionierung von I2: I2 + 2 py + AgNO3
CHCl3
[I(Py)2]NO3 + AgI
Dieses Iodsalz, das aus der Lösung mit Petrolether gefällt werden kann, löst sich außer in CHCl3 auch in Aceton zu elektrisch gut leitenden Lösungen, bei deren Elektrolyse an der Kathode Iod abgeschieden wird! Analoge, wenn auch weniger stabile Komplexe wurden auch vom Chlor und Brom hergestellt.
13.5.5
Interhalogenverbindungen
Als Interhalogenverbindungen bezeichnet man Verbindungen des Typs XYn, wobei X und Y verschiedene Halogenatome sind und n eine ungerade Zahl zwischen eins und sieben ist. Neben diesen binären Verbindungen sind auch einige ternäre Beispiele bekannt. Die einfachsten Vertreter dieser Klasse sind die Verbindungen XY, die den elementaren Halogenen X2 und Y2 entsprechen: ClF
BrF
BrCl
IF
ICl
IBr
farbloses Gas
hellrotes Gas
rotbraunes Gas
braun, fest Zers. > 0°C
rote Kristalle
schwarze Kristalle
Diese und alle anderen Interhalogenverbindungen können direkt aus den Elementen synthetisiert werden, wobei es von der Wahl der Reaktionsbedingungen (Temperatur, Reaktionszeit, Lösungsmittel oder nicht, Mischungsverhältnis) abhängt, welche Verbindung 28
K. O. Christe, R. Bau, D. Zhao, Z. Anorg. Allg. Chem. 1991, 593, 46; J. Li, S. Irle, W. H. E. Schwarz, Inorg. Chem. 1996, 35, 100.
510
13 Die Halogene
überwiegend entsteht. Durch Sublimation oder fraktionierte Destillation bzw. Kondensation werden die Reaktionsgemische getrennt. Mit überschüssigem Halogen Y2 gelangt man zu Verbindungen der Typen XY3, XY5 und XY7: 1 2 X2
1
+ 2 Y2
XY
+ Y2
XY3
+ Y2
+ Y2
XY5
XY7
Folgende Verbindungen wurden hergestellt: ClF3 BrF3 IF3 I2Cl6 ClF5 BrF5 IF5 IF7 farbloses gelb, gelb, fest gelbe farbloses farblos, farblos, farbloses Gas flüssig (Zers.> –30°) Kristalle Gas flüssig flüssig Gas Mit Ausnahme des dimeren Iodtrichlorids handelt es sich also ausschließlich um Fluoride von Chlor, Brom und Iod. Es existieren weder Fluorhalogenide FYn, noch Bromide oder Iodide der Art XBrn und XIn. Das zeigt, dass im Fall n > 1 nur Fluor und in einem Fall auch noch Chlor als Substituenten geeignet sind und dass nur Cl, Br und I als Zentralatome in Frage kommen. Die Trihalogenide XY3 sind T-förmig gebaut (Symmetrie C2v), die Pentahalogenide haben die Geometrie quadratischer Pyramiden (C4v) und IF7 bildet eine etwas verzerrte pentagonale Bipyramide. Diese Strukturen entsprechen den Vorhersagen nach dem Modell der Elektronenpaarabstoßung (Kap. 2.2.2). Sie beziehen sich allerdings nur auf die gasförmigen Verbindungen. In kondensierten Phasen beobachtet man öfters Assoziation über brückenbildende Halogenatome. Beispielsweise sind ClF3, BrF3 und ICl3 im festen und flüssigen Zustand dimer. Das Molekül I2Cl6 ist planar und hat folgende zentrosymmetrische Geometrie: Cl
Cl
ë I ì
I Cl
Cl
d (I Cl) = 240 pm d' (I Cl) = 270 pm
ì = 94° ë = 84°
Cl
Cl
Ein Derivat des Iodtrichlorids ist das Phenylioddichlorid C6H5ICl2, das aus Phenyliodid und Chlor hergestellt wird und das gelbe, nadelförmige Kristalle bildet. Alle Halogenfluoride sind sehr reaktionsfreudig, vor allem bei höheren Oxidationsstufen der Zentralatome. ClF3 und BrF3 werden in technischem Maßstab aus den Elementen hergestellt und als starke Fluorierungsmittel vor allem auch in der organischen Synthese eingesetzt.29 Verschiedene Interhalogenverbindungen wie ICl, I2Cl6, BrF3 und IF5 weisen im flüssigen Zustand eine beträchtliche elektrische Leitfähigkeit auf (BrF3: 8.0·103 Ω–1 cm–1), die auf eine Eigendissoziation zurückgeführt wird. Berücksichtigt man die Assoziation der Moleküle in kondensierten Phasen, so erfordert die Dissoziation nur eine geringe Verschiebung eines brückenbildenden Halogenatoms: F
F Br
F
29
F
Br
Br F
F
F
F
S. Rozen, Acc. Chem. Res. 2005, 38, 803.
F
+
F Br
F
F
511
13.5 Chlor, Brom und Iod
Die Annahme derartiger Dissoziationsgleichgewichte, die an das Verhalten anderer Lösungsmittel wie H2O, NH3, HF oder H2SO4 erinnert, wird dadurch gestützt, dass die betreffenden komplexen Halogen-Ionen in Form salzartiger Verbindungen isoliert wurden. Die Kationen erhält man durch Reaktion mit starken LEWIS-Säuren, die dabei als Halogenid-Ionen-Akzeptoren fungieren: BrF3 + SbF5
[BrF2][SbF6]
IF5 + SO3
[IF4][SO3F]
ICl3 + AlCl3
[ICl2][AlCl4]
IF7 + AsF5
[IF6][AsF6]
Die Anionen entstehen entsprechend durch Reaktion mit einem ionischen Halogenid: NaF + BrF3
Na[BrF4]
KF + IF5
KF + ICl3
K[ICl3F]
[Me4N]F + IF7
K[IF6] [Me4N][IF8]
Außerdem lassen sich Halogenid-Ionen und komplexe Halogenid-Ionen direkt weiter halogenieren: KCl + 2 F2 ]Ä
[ICl2
+ Cl2
K[ClF4] [ICl4]Ä
Der überwiegend ionische Aufbau dieser Verbindungen ergibt sich einerseits aus Strukturanalysen, andererseits aus der Tatsache, dass sich ein Salz wie [BrF2][SbF6] in flüssigem BrF3 zu einer elektrisch sehr gut leitenden Lösung auflöst. Das Ion [BrF2]+ verhält sich in der Lösung als Säure, die mit der Base [BrF4]– neutralisiert werden kann. Neutralisationsanaloge Reaktionen dieser Art lassen sich am besten konduktometrisch verfolgen, wobei der Endpunkt einer Reaktion wie [BrF2][SbF6] + Ag[BrF4]
Ag[SbF6] + 2 BrF3
durch ein Leitfähigkeitsminimum zu erkennen ist. Entsprechendes gilt für die anderen ionogenen Lösungsmittel. Die Strukturen der Ionen [XYn–1]+ und [XYn+1]– entsprechen meistens, jedoch nicht immer den Erwartungen nach dem VSEPR-Modell (Kap. 2.2.2), wie folgende Beispiele zeigen: [BrF2]+ gewinkelt (C2v)
[BrF4]– quadratisch (D4h)
[IF4]+ ψ-trigonalbipyramidal
[IF6]+ oktaedrisch (Oh)
[IF6]– verzerrt oktaedrisch
[IF2]– ist mit XeF2 isoelektronisch und wie dieses linear gebaut. [IF6]– ist mit XeF6 isoelektronisch und beide bilden verzerrte Oktaeder; dagegen stellt [BrF6]– ein reguläres Oktaeder dar. Die Tendenz der schweren Halogenatome, möglichst hohe Koordinationszahlen zu erreichen, die sich in der Bildung der Halogenfluoride und vor allem in deren Assoziation in kondensierten Phasen äußert, ist auch daran zu erkennen, dass in Salzen wie [BrF2][SbF6] oder [ClF2][AsF6] Fluorbrücken zwischen den Kationen und den Anionen vorliegen. Beispielsweise ist die LEWIS-Säure [BrF2]+ im erstgenannten Salz durch zwei schwache koordinative Bindungen mit zwei F-Atomen der oktaedrischen Anionen verbunden:
512
13 Die Halogene
F Sb
F F
F
F F
Sb
F Br
F
F
d (Br F) = 169 pm d' (Br F) = 229 pm Winkel (FBrF) = 93.5° (im Kation)
F
F
F F F Die vier F-Atome um das Bromatom liegen mit diesem in einer Ebene. Die Kernabstände d(Br····F) sind wesentlich kleiner als der VAN DER WAALS-Abstand von 325 pm. Diese Kation-Anion-Wechselwirkung ist teils ionischer, teils kovalenter Natur. Sie führt zu einer einseitigen Verzerrung der SbF6-Oktaeder.
13.5.6
Sauerstoff-Verbindungen von Chlor, Brom und Iod
Zu dieser Gruppe von Verbindungen gehören die Oxide, die Oxosäuren und ihre Salze, die Säurehalogenide, die Nitrate, Fluorosulfate und Perchlorate von Chlor, Brom und Iod sowie Reagenzien wie das Iodosobenzol Ph–I=O, das in der Organischen Chemie als Oxidationsmittel eingesetzt wird. Oxide Von Chlor, Brom und Iod sind zusammen mehr als 25 Oxide bekannt,30 jedoch wurden nur 11 in reiner Form hergestellt. Die wichtigsten Verbindungen sind in Tabelle 13.4 zusammengestellt. Es handelt sich um Verbindungen mit den Halogenen in positiven Oxidationsstufen, da der Sauerstoff in jedem Fall das elektronegativere Element ist. Die binären Fluor-Sauerstoff-Verbindungen OF2 und O2F2 sind dagegen Sauerstoff-Fluoride und keine Halogenoxide. Sie wurden daher bereits beim Sauerstoff behandelt (Kap. 11.4). Tab. 13.4 Wichtige Oxide der Halogene, geordnet nach steigendem Sauerstoffgehalt. In reiner Form bei 25°C hergestellte Verbindungen sind fett gedruckt. Chlor
Brom
Cl2O: Cl–O–Cl
Br2O: Br–O–Br
Iod
Cl2O2: Cl–O–O–Cl und Cl–ClO2 Br2O3: Br–O–BrO2 ClO2: O=Cl=O
BrO2: O=Br=O
Cl2O4: Cl–O–ClO3
I2O4: ([IO2]+[IO2]–)n I4O9: Br2O5: O2Br–O–BrO2
Cl2O6: [ClO2]+[ClO4]– und O2Cl–O–ClO3
I2O5: O2I–O–IO2 I4O12: (IO3)4
Cl2O7: O3Cl–O–ClO3
30
M. Jansen, T. Kraft, Chem. Ber. 1997, 130, 307. H. S. P. Müller, E. A. Cohen, J. Phys. Chem. A 1997, 101, 3049. H. Oberhammer et al., J. Phys. Chem. 1994, 98, 8339.
513
13.5 Chlor, Brom und Iod
Mit Ausnahme von I2O5 sind alle Halogenoxide endotherme Verbindungen. Sie sind fast alle sehr reaktionsfreudig und stellen starke Oxidationsmittel dar. Beim Erwärmen zerfallen sie alle in die Elemente, die Chloroxide unter Explosion. Ihre Handhabung und Untersuchung ist daher schwierig, und die praktische Bedeutung ist entsprechend begrenzt. Das für die Technik wichtigste Oxid ist ClO2, das in großem Umfang zur Wasserentkeimung eingesetzt wird. Andere Chloroxide spielen beim Ozonabbau in der Stratosphäre eine fatale Rolle (Kap. 11.1.3). Chloroxide Dichloroxid Cl2O entsteht in Form eines gelbroten Gases bei der Reaktion von Cl2 mit HgO: 2 Cl2 + 2 HgO
Cl2O + HgO.HgCl2
Hierzu leitet man Chlor, verdünnt mit Luft, bei 20°C über trockenes Quecksilber(II)-oxid. Cl2O wird bei 2°C flüssig; es explodiert beim Erwärmen oder bei Kontakt mit oxidierbaren Substanzen. Mit flüssigem Wasser reagiert Cl2O in einer Gleichgewichtsreaktion zu Hypochloriger Säure, so dass es deren Anhydrid darstellt: Cl2O + H2O
2 HOCl
Das Molekül Cl2O ist wie H2O gewinkelt (Symmetrie C2v). Chlordioxid ClO2 ist das bei weitem wichtigste Chloroxid. Es ist ein gelbes Gas (Sdp. 10°C), das nach verschiedenen Verfahren aus Chloraten hergestellt wird. Im Labor lässt man konzentrierte Schwefelsäure bei 0°C auf KClO3 einwirken: 3 KClO3 + 3 H2SO4 3 HClO3
3 HClO3 + 3 KHSO4 2 ClO 2 + [H 3O][ClO 4]
Bei der technischen Synthese wird NaClO3 in schwefelsaurer Lösung mit SO2 reduziert: 2 NaClO3 + SO2 + H2SO4
2 ClO2 + 2 NaHSO4
ClO2 ist äußerst explosiv und zerfällt schon beim gelinden Erwärmen, bei Berührung mit oxidierbaren Substanzen oder sogar ohne erkennbaren Anlass in exothermer Reaktion in die Elemente. Bei starker Verdünnung mit CO2, N2 oder Luft sowie nach Adduktbildung mit Pyridin zu C5H5N·ClO2 kann ClO2 aber sicher gehandhabt werden. Dieses Oxid löst sich mäßig gut in Wasser. In dieser Form wird es in großem Umfang zur oxidativen Desinfektion und Reinigung von Trinkwasser eingesetzt.31 Eine weitere wichtige Anwendung ist das Bleichen der Pulpe bei der Papierherstellung, wofür früher elementares Chlor verwendet wurde. In alkalischer Lösung disproportioniert ClO2 zu Chlorit und Chlorat: 2 ClO2 + 2 [OH]Ä
[ClO2]Ä + [ClO3]Ä + H2O
Das Molekül ClO2 ist gewinkelt und enthält ein ungepaartes Elektron. Der Valenzwinkel beträgt in der Gasphase 117.4°; Grenzstruktur (a):
31
Zur Erzeugung einer verdünnten wässrigen ClO2-Lösung wird in Wasserwerken eine NaClO2-Lösung entweder mit Cl2 zu ClO2 reduziert oder mit verdünnter Salzsäure vermischt (Disproportionierung von HClO2).
514
13 Die Halogene
O
(a)
O
O
271
O
Cl 147 O
14 8
O
Cl
Cl
(b)
[ClO2] ist isoelektronisch mit dem Radikalanion [SO2]• –, zeigt aber im Gegensatz zu diesem bei Raumtemperatur keine Tendenz zur Dimerisierung.32 Im festen Zustand (bei –150°C) ist ClO2 aber dimer und diamagnetisch; siehe obige Struktur (b), Abstände in pm, Symmetrie Ci. Oxidiert man ClO2 bei 0°C mit Ozon, erhält man Dichlorhexoxid Cl2O6: •
2 ClO2 + 2 O3
Cl2O6 + 2 O2
Ein anderer Zugang zum Cl2O6 besteht in folgender Reaktion: ClO2F + HClO4
Cl2O6 + HF
Cl2O6 ist bei 20°C eine tiefrote Flüssigkeit, die bei 3°C erstarrt. Unterhalb von –30°C kann Cl2O6 unzersetzt aufbewahrt werden. In der Gasphase und als Flüssigkeit besteht Cl2O6 aus unsymmetrischen Molekülen O2Cl–O–ClO3 mit Chlor in den Oxidationsstufen +5 und +7. Im festen Zustand liegt die Verbindung dagegen als Chlorylperchlorat [ClO2]+[ClO4]– vor. Dementsprechend reagiert Cl2O6 mit Wasser zu Chlorat- und Perchlorat-Ionen, ist also das gemischte Anhydrid von Chlorsäure mit Perchlorsäure: Cl2O6 + 3 H2O
2 [H3O]+ + [ClO3]Ä + [ClO4]Ä
Das beständigste Chloroxid ist das Dichlorheptoxid Cl2O7, das mit dem Disulfat-Ion [S2O7]2– isoelektronisch und diesem analog gebaut ist (zwei eckenverknüpfte ClO4-Tetraeder). Cl2O7 entsteht bei der vorsichtigen Entwässerung von Perchlorsäure mit P2O5 bei Temperaturen zwischen –70° und 0°C: 2 HClO4 + P2O5
Cl2O7 + 2 HPO3
Das Oxid wird als farblose Flüssigkeit (Schmp. –92°C) von der polymeren Metaphosphorsäure HPO3 im Vakuum abdestilliert. Mit Wasser reagiert Cl2O7 unter Rückbildung von HClO4. Zu den Chloroxiden gehört auch das Chlorperchlorat ClClO4 (Cl2O4), das als blassgelbe Flüssigkeit (Sdp. 45°C) erhalten wird, wenn man Chlorfluorosulfat bei –45°C auf Perchlorate einwirken lässt: ClSO3F + CsClO4
ClClO4 + CsSO3F
Cl2O4 ist ein gemischtvalentes Chloroxid mit der Atomverknüpfung Cl–O–ClO3; mit HCl reagiert die Verbindung zu Cl2 und HClO4. Bromoxide Drei Bromoxide wurden in reiner Form hergestellt und durch Strukturanalysen charakterisiert.33 Weniger beständige Verbindungen wie BrO und BrBrO sind möglicherweise am Ozonabbau in der Stratosphäre beteiligt. 32 33
Andere relativ beständige freie Radikale mit 19 Valenzelektronen sind das Ozonid-Ion [O3]• – (siehe Ozon) sowie [NF2]• (siehe N2F4). K. Seppelt, Acc. Chem. Res. 1997, 30, 111.
515
13.5 Chlor, Brom und Iod
Dibromoxid Br2O entsteht zwar bei der Reaktion von Br2 mit HgO (in Analogie zu Cl2O), es wird aber am besten durch Hydrolyse von BrOTeF5 gewonnen: 2 BrOTeF5 + H2O
Br2O + 2 HOTeF5
Br2O ist ein gelbes Gas, das beim Abkühlen zu gelben, in dicker Schicht braunen Kristallen kondensiert. Die Molekülsymmetrie ist C2v (Valenzwinkel in der Gasphase: 112°, im Kristall 114°). Durch Reaktion von Br2 mit O3 in inerten Lösungsmitteln wie CCl3F erhält man bei –55°C ein Gemisch aus Br2O3 und Br2O5, das sich durch Extraktion mit CH2Cl2 und EtCN und Umkristallisieren in die reinen Komponenten zerlegen lässt. Das orange-gelbe Br2O3, das sich oberhalb –40°C zersetzt, ist formal ein Brombromat BrOBrO2, enthält also Brom in den Oxidationsstufen +1 und +5. Die Molekülsymmetrie ist C1. Das farblose, nur unterhalb –20°C beständige Br2O5 weist eine dem I2O5 analoge Atomverknüpfung auf (siehe unten). Iodoxide Die wichtigste binäre I–O-Verbindung ist das Diiodpentoxid I2O5, das Anhydrid der Iodsäure, das aus dieser durch thermisches Entwässern bei etwa 250°C hergestellt wird: 2 HIO3
I2O5 + H2O
I2O5 ist ein farbloses, kristallines Pulver, das erst oberhalb von 300°C in die Elemente zerfällt. Die Kristalle bestehen aus I2O5-Molekülen, die miteinander durch schwache koordinative Bindungen in Wechselwirkung stehen. O I O
O
O I
O
d (IO) = 193 pm (am Brücken-O-Atom) d' (IO) = 179 pm (endständig) Winkel (IOI) an der Brücke: 139°
I2O5 reagiert mit Wasser zu Iodsäure. Mit CO bildet es bei 170°C quantitativ I2 und CO2, was zur iodometrischen CO-Bestimmung ausgenutzt wird. Entwässern von H5IO6 mit konz. H2SO4 führt zum gelben tetrameren Iodtrioxid I4O12, das je zwei Iodatome mit den Koordinationszahlen 3 und 6 und den Oxidationsstufen +5 und +7 enthält. I2O4 ist ebenfalls ein gemischtvalentes Oxid und besteht formal aus den Ionen [IO2]+ und [IO2]–. Oxosäuren der Halogene Die vom Chlor, Brom und Iod bekannten Sauerstoffsäuren sind in Tabelle 13.5 aufgeführt. Nur wenige dieser Verbindungen wurden in reiner, wasserfreier Form hergestellt, nämlich Perchlorsäure HClO4, Iodsäure HIO3, Metaperiodsäure HIO4 und Orthoperiodsäure H5IO6. Die übrigen Oxosäuren sind nur in wässriger Lösung oder in der Gasphase bekannt. Von allen Säuren existieren aber entsprechende Salze in reiner Form. Die Summenformeln in Tabelle 13.5 geben nicht die Molekülstrukturen wieder. Der Wasserstoff ist stets in Form von OH-Gruppen gebunden. Die Atomverknüpfung und die Nomenklatur sind daher folgendermaßen: HOCl Hypochlorige Säure, HOClO Chlorige Säure, HOClO2 Chlorsäure, HOClO3 Perchlorsäure. Die Bezeichnung der Brom- und Iod-Sauerstoffsäuren erfolgt analog.
516
13 Die Halogene
Tab. 13.5 Einkernige Oxosäuren der Halogene (in reiner, wasserfreier Form bekannte Verbindungen sind fett gedruckt). Alle Verbindungen enthalten den Wasserstoff an Sauerstoff gebunden. Oxidationsstufe
Cl
Br
I
+1
HClO
HBrO
HIO
+3
HClO2
HBrO2
+5
HClO3
HBrO3
HIO3
+7
HClO4
HBrO4
HIO4, H5IO6
Mehrkernige Säuren, die bei anderen Nichtmetallen weit verbreitet sind, kennt man beim Chlor und Brom nicht. Vom Iod gibt es jedoch Salze mit den Anionen [I3O8]–, [I2O9]4–, [I2O10]6– und [I3O14]7–, die I(V) bzw. I(VII) enthalten. Chlor-Sauerstoff-Säuren Hypochlorige Säure HOCl: Das Molekül HOCl (Chlorhydroxid) entsteht bei der Reaktion von Cl2 mit gasförmigem oder flüssigem Wasser: Cl2 + H2O
HOCl + HCl
In flüssigem Wasser liegt das Gleichgewicht ganz auf der linken Seite, da HOCl die Cl–Ionen des vollständig dissoziierten Hydrogenchlorids zu Cl2 oxidiert. Erst wenn man die Chlorid-Ionen z.B. mit suspendiertem HgO als unlösliches HgO·HgCl2 abfängt, kann man relativ konzentrierte HOCl-Lösungen erhalten, die sich allerdings schon bei 0°C langsam zu Salzsäure und O2 zersetzen. Aus den konzentrierten Lösungen lässt sich mit CCl4 das Dichloroxid als Anhydrid der Hypochlorigen Säure ausschütteln, das mit HOCl im Gleichgewicht steht. Die Lösungen enthalten also nebeneinander Cl2, HOCl und Cl2O, weswegen ihre gelbe Farbe nicht ohne weiteres dem HOCl zugeschrieben werden kann. HOCl ist in Wasser eine sehr schwache Säure (pKa = 7.50), aber ein starkes Oxidationsmittel. Das Molekül HOCl ist gewinkelt (Valenzwinkel in der Gasphase: 102°). Durch Einleiten von Chlor in stark alkalische Lösungen bei Temperaturen unter 35°C erhält man Bleichlauge, die Chlorid und Hypochlorit enthält: Cl2 + 2 NaOH
NaOCl + NaCl + H2O
° = Ä104 kJ molÄ1 H298
Chlorige Säure HClO2: Die sehr unbeständige Säure HClO234 entsteht bei der reversiblen Disproportionierung von ClO2 in Wasser. Beständiger als die freie Säure sind die Salze, die technisch hergestellt und als Bleichmittel für Textilien verwendet werden. Natriumchlorit entsteht beim Einleiten von ClO2 in eine Na2O2- bzw. NaOH/H2O2-Lösung: 2 ClO2 + H2O2 + 2 NaOH
34
2 NaClO2 + O2 + 2 H2O
Nach ab-initio-Rechnungen ist das stabilste Isomer der Zusammensetzung HClO2 das Peroxid HOOCl, gefolgt von HOClO; beide Moleküle sind nicht planar (Torsionswinkel 80±6°): J. S. Francisco et al., J. Phys. Chem. 1994, 98, 5644.
517
13.5 Chlor, Brom und Iod
Hierbei fungiert H2O2 als Reduktionsmittel! NaClO2 kann außerdem durch Reduktion von NaClO3 mit Oxalsäure hergestellt werden. In wässriger Lösung wirkt NaClO2 stark oxidierend. Im wasserfreien Zustand bildet es mit oxidierbaren Stoffen explosive Gemische. Das Anion [ClO2]– hat die Molekülsymmetrie C2v. Strukturell ähnelt es dem isoelektronischen Kation [ClF2]+. Chlorsäure HClO3: Chlorsäure kann wegen ihrer Zersetzlichkeit nur in wässriger Lösung hergestellt werden, und zwar bis zu einem Gehalt von 40 %. Man erhält solche Lösungen nach der Gleichung: Ba(ClO3)2 + H2SO4(aq)
2 HClO3(aq) + BaSO4
Die Salze der Chlorsäure heißen Chlorate; sie werden ausschließlich durch Disproportionierung von Hypochloriten beim Erwärmen in wässriger Lösung gewonnen: 3 [ClO]Ä
[ClO3]Ä + 2 ClÄ
Wahrscheinlich wird dabei das Anion [ClO]– durch die freie Säure HOCl oxidiert. In der Praxis elektrolysiert man eine heiße NaCl-Lösung (50–90°C), wobei auf eine Trennung von Kathoden- und Anodenraum verzichtet wird, so dass das anodisch entwickelte Chlor mit der kathodisch entstehenden Natronlauge reagiert: Cl2 + [OH]Ä
[ClO]Ä + ClÄ + H+
6 [ClO]Ä + 3 H2O
2 [ClO3]Ä + 4 ClÄ + 6 H+ +
3 2 O2
+ 6 eÄ
Wässrige Chlorsäure und feste Chlorate sind sehr starke Oxidationsmittel. KClO3 wird in großen Mengen zur Herstellung von Zündhölzern, Feuerwerkskörpern und Sprengstoffen gebraucht. Das Chlorat-Anion [ClO3]– ist mit dem Sulfit-Ion isoelektronisch. Beide sind trigonalpyramidal gebaut (Symmetrie C3v); die freie Säure HClO3 ist von Cs-Symmetrie:
HO
Cl O
O
O
Cl O
O
Perchlorsäure HClO4: Perchlorsäure ist die beständigste Chlorsauerstoffsäure; sie kann als farblose Flüssigkeit aus einem Gemisch von KClO4 und H2SO4 im Vakuum abdestilliert werden: KClO4 + H2SO4
HClO4 + KHSO4
Wasserfreies HClO4 zersetzt sich beim Erwärmen manchmal unter Explosion. Auch mit brennbaren Substanzen tritt Explosion ein. Daher müssen beim Experimentieren mit HClO4 entsprechende Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden. In wässriger Lösung ist HClO4 dagegen stabil und eine sehr starke Säure und daher bei genügender Verdünnung vollständig dissoziiert (Tab. 5.5). Perchlorate werden durch anodische Oxidation von Chloraten und damit letztlich aus Chlor hergestellt: 1 2 Cl2
+ 4 H2O
[ClO4]Ä + 8 H+ + 7 eÄ
518
13 Die Halogene
Aus NaClO4 und NH4Cl erhält man in Wasser das schwer lösliche Salz [NH4][ClO4], das der wichtigste Treibstoff für Feststoffraketen ist; es zerfällt beim Abbrennen in stark exothermer Reaktion zu den gasförmigen Produkten N2, Cl2 und H2O.35 Die beiden Booster der Ariane 5-Rakete enthalten je 240 t eines Gemisches aus [NH4][ClO4] (68 %), Al-Pulver (18 %) und Polybutadien (14 %), das beim Start innerhalb von 140 s abbrennt! Auch durch thermische Disproportionierung bestimmter Chlorate wie KClO3 entstehen Perchlorate: 4 KClO3
3 KClO4 + KCl
Bei zu starkem Erhitzen zerfällt KClO4 allerdings zu KCl und O2. Das tetraedrische Perchlorat-Ion ist mit den Ionen [SO4]2–, [PO4]3– und [SiO4]4– isoelektronisch; das Molekül HClO4 hat in der Gasphase folgende Struktur: OH
O
Cl O
O
Cl O
O
O
O
In der Reihe der Chlorsauerstoffsäuren und ihrer Anionen nimmt die ClO-Bindungsstärke mit der Oxidationsstufe des Cl-Atoms zu. Dies zeigt sich deutlich an den Werten der Valenzkraftkonstanten fr (in N cm–1): [ClO]–: 3.3
[ClO2]–: 4.2
[ClO3]–: 5.6
[ClO4]–: 7.2
Als Folge davon beobachtet man die zahlreichen Disproportionierungsreaktionen, bei denen aus sauerstoffarmen Ionen einerseits Chlorid-Ionen und andererseits sauerstoffreichere Anionen entstehen. HClO4 und [ClO4]– sind erwartungsgemäß am stabilsten. Analoge Verhältnisse findet man – mit Ausnahmen – auch bei anderen Nichtmetallen (bei S, Se, Br, I). In der Reihe der Chlorsauerstoffsäuren nehmen die Dissoziationskonstanten in wässriger Lösung (Ka) mit der Oxidationsstufe des Zentralatoms stark zu. Auch dafür ist die vom [ClO]– zum [ClO4]– zunehmende Bindungsenthalpie in den Anionen verantwortlich. Mit steigendem π-Bindungsgrad wird die negative Ladung an den O-Atomen immer geringer und damit die heterolytische Spaltung der OH-Bindung nach O H + H2O
O Ä + [H3O]+
aus elektrostatischen Gründen immer günstiger. Entsprechend ist der Anstieg der ersten Dissoziationskonstanten in der Reihe H4SiO4 < H3PO4 < H2SO4 < HClO4 zu erklären (Tab. 5.5).
35
R. J. Seltzer, Chem. Engg. News, 1988, August 8, p. 7.
519
13.5 Chlor, Brom und Iod
Brom-Sauerstoff-Säuren Vom Brom sind vier Sauerstoffsäuren bekannt, die den entsprechenden Chlorverbindungen ähneln. Alle vier Säuren sind aber nur als wässrige Lösung herstellbar. Dagegen kann man ihre Salze in reinem Zustand isolieren. Hypobromite, Bromite und Bromate entstehen je nach Temperatur bei der Disproportionierung von Brom in alkalischer Lösung: Br2 + 2 [OH]Ä
[BrO]Ä + BrÄ + H2O
2 [BrO]Ä
[BrO2]Ä + BrÄ
[BrO]Ä + [BrO2]Ä
[BrO 3] Ä + Br Ä
Perbromate können dagegen nicht durch Disproportionierung erhalten werden, weswegen ihre Existenz lange bezweifelt wurde. Perbromat-Ionen entstehen durch Oxidation von Bromat-Ionen mit sehr starken Oxidationsmitteln wie F2 oder XeF2 sowie durch anodische Oxidation in wässriger Lösung: [BrO3]Ä + F2 + 2 [OH]Ä
[BrO4]Ä + 2 FÄ + H2O
[BrO3]Ä + XeF2 + H2O
[BrO4]Ä + Xe + 2 HF
Aus diesen Lösungen kann man nach Zugabe von RbF das Salz RbBrO4 auskristallisieren, aus dem sich durch Ionenaustausch wässrige Perbromsäure herstellen lässt. Die Anionen [BrO]–, [BrO2]–, [BrO3]– und [BrO4]– wurden u.a. durch 17O- und 81Br-NMRSpektroskopie charakterisiert; die Br–O-Kernabstände nehmen mit steigender Oxidationsstufe ab.36 Iod-Sauerstoff-Säuren Löst man elementares Iod in Natronlauge, erhält man zwar zunächst Hypoiodit-Ionen [IO]–; diese gehen jedoch allmählich unter erneuter Disproportionierung in Iodat- und Iodid-Ionen über: I2 + 2 NaOH 3 NaIO
NaIO + NaI + H2O NaIO3 + 2 NaI
Noch unbeständiger als die Hypoiodite ist die Säure HOI, die bei der Reaktion von wässriger Iodlösung mit HgO intermediär entsteht. HIO2 und Iodite sind unbekannt. Iodsäure HIO3 wird durch Oxidation von I2 mittels HNO3, Cl2, H2O2 oder HClO3 in wässriger Lösung hergestellt und kann in Form farbloser Kristalle isoliert werden. HIO3 ist ein starkes Oxidationsmittel. Durch Entwässern von HIO3 erhält man I2O5. Die Iodate der Formel MIO3 enthalten das pyramidale Ion [IO3]–. In einigen Salzen der Zusammensetzung MIO3·HIO3 und MIO3·2HIO3 sind Iodsäure-Moleküle über O–H····O-Wasserstoffbrücken an die Iodat-Ionen gebunden. Solche sauren Salze sind beispielsweise auch von der Salpetersäure bekannt, so etwa NaNO3·HNO3. Natriumiodat NaIO3 wird spurenweise dem Kochsalz zugesetzt, um einem Iodmangel bei der menschlichen Ernährung vorzubeugen; der Tagesbedarf liegt aber nur bei ca. 0.1 mg Iod. Wird NaIO3 in 7 M HNO3 gelöst und bei 60°C eingedampft, entstehen Kristalle von NaI3O8, dessen kettenförmiges Anion von C2v-Symmetrie ist. 36
W. Levason et al., J. Chem. Soc. Dalton Trans. 1990, 349.
520
13 Die Halogene
Bei der Oxidation von I2 oder Iodaten mit sehr starken Oxidationsmitteln wie NaOCl (Cl2 in Natronlauge) entstehen Periodate: [IO3]Ä + [ClO]Ä
[OH]Ä 100°C
[IO4]Ä + ClÄ
Industriell wird Iodat auch anodisch zu Periodat oxidiert. Aus der wässrigen Lösung erhält man beim Abkühlen das Salz Na3H2IO6, das sich von der Orthoperiodsäure bzw. Hexaoxoiod(VII)-säure H5IO6 ableitet, die man durch Behandeln des Bariumsalzes mit konzentrierter Salpetersäure gewinnt. Erst beim Umkristallisieren des Natriumsalzes aus verdünnter Salpetersäure entsteht NaIO4. Periodate sind sehr starke Oxidationsmittel, die beispielsweise Mn2+-Ionen zu Permanganat oxidieren und die auch in der Organischen Chemie häufig eingesetzt werden. In der Orthoperiodsäure H5IO6 und bei den in Salzen nachgewiesenen Ionen [H4IO6]–, [H3IO6]2–, [H2IO6]3– und [IO6]5– ist das Zentralatom oktaedrisch koordiniert. Das Iodatom verhält sich damit ähnlich wie seine Nachbarn im Periodensystem, von denen analoge Verbindungen bekannt sind, zu denen es bei den leichteren Homologen keine Analogien gibt. Beim Erhitzen auf 130°C zersetzt sich H5IO6 zu I2O5, H2O und O2. Durch vorsichtiges Entwässern von H5IO6 mittels H2S2O7 bei 50°C erhält man Metaperiodsäure HIO4, die im kristallinen Zustand aus eindimensional unendlichen Ketten von cis-kantenverknüpften IO6-Oktaedern besteht. Jede der polymeren Ketten ist außerdem über H-Brücken mit vier benachbarten Ketten verknüpft.37 Säurehalogenide Von den Halogensauerstoffsäuren leiten sich verschiedene Säurehalogenide ab, die formal dadurch entstehen, dass die OH-Gruppe einer Säure durch ein Halogenatom ersetzt wird. Da dieses Halogenatom elektronegativer als der Rest des Moleküls sein muss, kommen dafür nur Fluor und Chlor in Frage. Die wichtigsten Verbindungen sind die Halogenylfluoride FXO2 (X = Cl, Br, I) und ClClO2, die Perhalogenylfluoride FXO3 sowie das Iodoxidpentafluorid IOF5, das formal ein Derivat der Orthoperiodsäure IO(OH)5 ist. Das einzige nicht von einer Säure ableitbare Oxidhalogenid ist das ClOF3, das formal aus ClF5 durch Substitution von 2 F durch O entsteht. Halogenylfluoride FClO2, FBrO2, FIO2: Diese Verbindungen sind Derivate der Säuren HClO3, HBrO3 und HIO3. Sie besitzen die Molekülsymmetrie Cs: F
X O
O
F
X O
O
X = Cl, Br, I
FClO2 entsteht als farbloses Gas bei der Fluorierung von ClO2 mit elementarem Fluor oder besser mit einem Fluorierungsmittel: ClO2 + AgF2 (CoF3, BrF3) 37
25°C
T. Kraft, M. Jansen, Angew. Chem. 1997, 109, 1842.
FClO2 + AgF
521
13.5 Chlor, Brom und Iod
Die charakteristischen Reaktionen des Chlorylfluorids sind die Hydrolyse FClO2 + H2O
HClO3 + HF
und die Bildung von Chlorylsalzen: FClO2 + AsF5 2 FClO2 + SnF4
[ClO2][AsF6] [ClO2]2[SnF6]
Diese Salze bestehen aus isolierten Ionen, die sich schwingungsspektroskopisch nachweisen lassen. Das Chloryl-Kation ist mit dem SO2-Molekül isoelektronisch und gewinkelt gebaut. Gegenüber Fluorid-Ionen verhält sich FClO2 als LEWIS-Säure. So entsteht aus KF und FClO2 das Difluorochlorat K[ClO2F2], das auch aus KClO3 und HF durch Austausch eines O-Atoms gegen zwei F-Atome erhältlich ist. Bromylfluorid wird durch Fluorierung von BrO2 mittels BrF5 in Form farbloser Kristalle (Schmp. –9°C) hergestellt. Iodylfluorid bildet ebenfalls farblose Kristalle; es entsteht beim Lösen von I2O5 in wasserfreiem Hydrogenfluorid: I2O5 + HF
FIO2 + HIO3
Chloroxidtrifluorid ClOF3 entsteht als farblose Flüssigkeit bei der Reaktion von F2 mit Cl2O, NaClO2 oder ClNO3. Das Molekül ClOF3 ist trigonal-bipyramidal gebaut. Mit BF3, AsF5 und SbF5 reagiert ClOF3 zu Salzen mit dem pyramidalen Kation ClOF. Perhalogenylfluoride FClO3, FBrO3, FIO3: Die Fluoride FXO3 sind Derivate der Perhalogensäuren HOXO3, in denen die OH-Gruppe durch Fluor ersetzt wurde. FClO3 ist isoelektronisch mit dem Perchlorat-Ion und verzerrt tetraedrisch gebaut (Symmetrie C3v). Es entsteht bei der Fluorierung von KClO3 mit F2 KClO3 + F2
FClO3 + KF
und bei der Reaktion von KClO4 mit Fluoroschwefelsäure bei 50–85°C: KClO4 + HSO3F
FClO3 + KHSO4
Perchlorylfluorid ist ein farbloses Gas (Sdp. –47°), das gegen Hydrolyse ähnlich resistent ist wie SF6. Dies liegt an einer starken kinetischen Hemmung des nukleophilen Angriffs, so dass beispielsweise mit konzentrierter Natronlauge erst bei 200–300°C Reaktion erfolgt, obwohl das folgende Gleichgewicht thermodynamisch gesehen ganz auf der rechten Seite liegt: FClO3 + 2 [OH]Ä
FÄ + [ClO4]Ä + H2O
FClO3 reagiert mit Fluorid-Ionen-Akzeptoren nicht zu Perchlorylsalzen. Perbromylfluorid, das aus KBrO4 und SbF5 in flüssigem HF hergestellt wird, reagiert schon bei 25°C mit Laugen zu Perbromat und Fluorid. Periodylfluorid entsteht bei der Fluorierung von Periodaten mittels F2 in HF: [IO4]Ä + F2
FIO3 + FÄ +
1 2
O2
Von den verschiedenen Iod(VII)-säuren leiten sich auch die Fluoride IO2F3, HOIOF4 und IOF5 ab, die ein zentrales Iodatom der Koordinationszahlen 5 oder 6 enthalten. IOF5, das
522
13 Die Halogene
bei der Einwirkung von IF7 auf POF3 bei 20°C als farblose Flüssigkeit entsteht, besteht aus oktaedrischen Molekülen der Symmetrie C4v. Halogenderivate von Oxosäuren der Nichtmetalle Da die Halogene Cl, Br und I in der Oxidationsstufe +1 auftreten können, kann man in bestimmten Oxosäuren anderer Nichtmetalle den Wasserstoff formal durch ein derartiges Halogenatom ersetzen. So entsteht Chlornitrat Cl–O–NO2 durch Substitution von H in der Salpetersäure durch Cl. Brom und Iod sind sogar in der Lage, mehrere H-Atome gleichzeitig zu substituieren, wobei das Halogen dann in der Oxidationsstufe +3 vorliegt, z.B. im Iodnitrat I(NO3)3, im Iodphosphat IPO4 und in dem in der Organischen Chemie häufig verwendeten Oxidationsmittel Phenyliod-bis(trifluoracetat) PhI(O2CCF3)2. Diese und analoge Verbindungen enthalten positiv polarisierte Halogenatome, die dabei immer an O-Atome gebunden sind. Diese Bindungen sind überwiegend kovalent, aber stark polar. Als Oxosäuren kommen HNO3, H3PO4, H2SO4, HSO3F, HBrO3, HClO4 und CH3COOH in Frage. An einigen Beispielen sollen die Eigenschaften derartiger Verbindungen erläutert werden. Acetat: Iodbenzol geht bei Chlorierung mit Cl2 in PhICl2 über, aus dem durch alkalische Hydrolyse Iodosobenzol PhIO erhalten wird. Umkristallisieren von PhICl2 oder PhIO aus Eisessig liefert das Oxidations-Reagenz PhI(O2CCH3)2, das mit CF3COOH zu PhI(O2CCF3)2 reagiert. Nitrate: Chlornitrat entsteht als blassgelbe Flüssigkeit bzw. farbloses Gas (Schmp. –107°C, Sdp. 18°C) durch Reaktion von Dichloroxid mit Distickstoffpentoxid bei –20°C: Cl2O + N2O5
Ä20°C
ClONO2
ClONO2 ist das gemischte Anhydrid der Säuren HOCl und HNO3. Es unterscheidet sich vom Nitrosylchlorid ClNO und vom Nitrylchlorid ClNO2 durch die Cl–O-Bindung. Bei der alkalischen Hydrolyse entstehen erwartungsgemäß [ClO]– und [NO3]–: ClONO2 + 2 [OH]Ä
[ClO]Ä + [NO3]Ä + H2O
Das positiv polarisierte Cl-Atom von ClONO2 reagiert mit negativ geladenen Cl-Atomen zu Cl2. Auf diese Weise lassen sich andere Halogennitrate herstellen: BrCl + ClONO2 ICl3 + 3 ClONO2
BrONO2 + Cl2 I(ONO2)3 + 3 Cl2
Analog reagieren ICl, HCl, TiCl4 und CrO2Cl2. Alle Halogennitrat-Moleküle sind planar gebaut (Symmetrie Cs). Ihre thermische Stabilität nimmt vom Fluor zum Iod hin ab. Chlornitrat entsteht auch in der Stratosphäre, und zwar durch Kombination der Radikale ClO und NO2. Zusammen mit HCl zählt ClONO2 zu den häufigsten Chlorverbindungen in der oberen Atmosphäre (siehe Kap. 11.1.3). Fluorosulfate: Chlorfluorosulfat ClOSO2F ist eine gelbe Flüssigkeit, die in nahezu quantitativer Ausbeute aus ClF und SO3 bei 25°C entsteht: ClF + SO3
ClOSO2F
523
13.6 Pseudohalogene
Iodtrisfluorosulfat I(OSO2F)3 ist eine feste gelbe Substanz, die bei der Oxidation von I2 mit Peroxodisulfurylfluorid gebildet wird. Die Struktur ist polymer. Mit H2O reagiert I(OSO2F)3 zu IO(OSO2F) und HSO3F. Lässt man I(OSO2F)3 in flüssigem Disulfurylfluorid auf KSO3F einwirken, erhält man ein komplexes Tetrakisfluorosulfatoiodat(III): K[SO3F] + I(OSO2F)3
S 2O5 F 2
K[I(OSO2F)4]
Die farblosen Kristalle dieses Salzes, das auch aus KICl4 und S2O6F2 entsteht, enthalten quadratisch-planar koordinierte Iodatome, wie sie auch im Anion [ICl4]– vorliegen. Die analoge Bromverbindung ist aus KBrO3 und S2O6F2 unter O2-Abspaltung zugänglich. Vom Brom kennt man auch ein Bisfluorosulfatobromat(I), das wie folgt entsteht: CsBr + S2O6F2
Br2
Cs[Br(OSO2F)2]
Perchlorate: Fluorperchlorat FOClO3 entsteht beim Einleiten von verdünntem F2 in 78 %ige Perchlorsäure; es wird durch Erwärmen der Mischung gasförmig erhalten und durch fraktionierte Kondensation gereinigt: F2 + HOClO3
HF + FOClO3
ClOSO2F reagiert mit CsClO4 zu Chlorperchlorat ClOClO3 (siehe Chloroxide). Aus Br2 und ClOClO3 erhält man bei –45°C Bromperchlorat: Br2 + 2 ClOClO3
Cl2 + 2 BrOClO3
BrOClO3 ist eine rote Flüssigkeit, die sich oberhalb –20°C zersetzt. Die gasförmigen Moleküle FOClO3, ClOClO3 und BrOClO3 haben wie die Stammverbindung HOClO3 die Symmetrie Cs.38
13.6
Pseudohalogene
Eine Reihe einwertiger Atomgruppen zeigt in ihrem chemischen Verhalten so starke Ähnlichkeiten mit den Halogenen, dass man sie als Pseudohalogene bezeichnet.39 Hierzu zählen vor allem die Gruppen: –CN Cyanid
–N3 Azid
–OCN Cyanat
–CNO Isocyanat
–SCN Thiocyanat
Diese Gruppen X bilden Wasserstoffverbindungen HX, die in Wasser die Ionen [H3O]+ und X– liefern und damit den Hydrogenhalogeniden ähneln. Von diesen Säuren leiten sich Salze MX ab. Die Silbersalze AgX sind wie AgI in Wasser schwer löslich. Die Ionen X– können wie I– bereits durch schwache Oxidationsmittel oxidiert werden. In einigen Fällen erhält man auf diese Weise freie Pseudohalogene wie Dicyan (CN)2 oder so genanntes Dirhodan (SCN)2, das jedoch besser als Dicyanodisulfan S2(CN)2 bezeichnet wird. Zwi38 39
H. Oberhammer et al., J. Phys. Chem. 1994, 98, 8339. H. Brand, A. Schulz, A. Villinger, Z. Anorg. Allg. Chem. 2007, 633, 22.
524
13 Die Halogene
schen den Halogenen und den Pseudohalogenen existieren auch gemischte Verbindungen wie Chlorcyan ClCN und Fluorazid FN3. Die genannten Pseudohalogene können die Halogene in kovalenten, ionischen und komplexen Verbindungen ersetzen. Beispiele sind die Verbindungs-Paare PCl3 / P(CN)3 und [AgCl2]– / [Ag(CN)2]–. Hinsichtlich ihrer Elektronegativität stehen die Pseudohalogene dem Iod nahe. In neuerer Zeit wurden jedoch auch komplexere Gruppen und Ionen synthetisiert, die ebenfalls als Pseudohalogene angesehen werden.39 Dazu gehören beispielsweise die planaren Methanid-Gruppen –C(CN)3, –C(CN)2NO und –C(CN)2NO2.
14.1 Allgemeines
14
Die Edelgase
14.1
Allgemeines
525
Die Elemente He, Ne, Ar, Kr, Xe und Rn, die in der 18. Gruppe (8. Hauptgruppe) des Periodensystems stehen, unterscheiden sich von den übrigen Nichtmetallen durch ihre Reaktionsträgheit, die auf die besondere Elektronenkonfiguration der Edelgasatome zurückzuführen ist und die zu dem Namen Edelgase geführt hat. Nachdem aber in neuerer Zeit einige Hundert Edelgasverbindungen hergestellt wurden,1 ist dieser historische Name zumindest für das Element Xenon nicht mehr ganz passend. Außer Helium, dessen Valenzschale mit zwei Elektronen vollständig gefüllt ist, besitzen alle Edelgase die Valenzelektronenkonfiguration s2p6, d.h. Oktetts ohne ungepaarte Elektronen. Die besondere Stabilität dieser Konfiguration zeigt sich in den Ionisierungsenergien, die größer sind als die aller Elemente der jeweils gleichen Periode (Abb. 2.1). Die effektiven Kernladungszahlen Zeff sind ebenfalls größer als die der anderen Elemente der betreffenden Periode. Daher sind die Edelgasatome kleiner als die Atome der im Periodensystem links neben ihnen stehenden Nichtmetalle. Die Elektronenaffinitäten der Edelgase sind Null, d.h. diese Elemente zeigen keine Tendenz zur Bildung negativer Ionen. Die Edelgase sind daher als einzige Elemente unter Standardbedingungen atomar. Die Wechselwirkung von Edelgasatomen untereinander ist auf VAN DER WAALS-Kräfte beschränkt und die niedrigen Siedepunkte (Tab. 3.2) sind auf die geringe Wechselwirkungsenergie zurückzuführen. Edelgasatome sind isoelektronisch mit entsprechenden Halogenid-Ionen. Zwischen diesen Ionen ähnlicher Elektronenkonfiguration und dem betreffenden Edelgas, z.B. F– verglichen mit Ne, bestehen aber nur geringe chemische Ähnlichkeiten. Beispielsweise reagiert Ne nicht wie F– mit starken LEWIS-Säuren (z.B. BF3) zu stabilen Komplexen und es wird in wässriger Lösung nicht wie die analogen Anionen protoniert. Von den schwereren Edelgasen Kr und Xe sind jedoch in neuerer Zeit Koordinationsverbindungen spektroskopisch nachgewiesen worden, in denen diese Atome ähnlich wie Halogenid-Ionen als Liganden an ein Metallatom gebunden sind, z.B. KrCuF und KrAgF. In reiner Form isolierbare Komplexe dieser Art kennt man aber nur vom Xenon, beispielsweise das planar-quadratische Kation [AuXe4]2+ im Salz [AuXe4][Sb2F11]2, in dem ein Edelgas der Oxidationsstufe ±0 koordinativ an ein Edelmetall der Oxidationsstufe +2 gebunden ist!2 Wenn n die Hauptquantenzahl der Valenzelektronen bedeutet, dann ist das unterste unbesetzte Atomorbital der Edelgase das s-Orbital der Schale n+1. Die Promotionsenergien für ein np-Elektron auf das (n+1)s-Niveau haben folgende Werte (in eV): Ne: 16.6 Ar: 11.5 Kr: 9.9 Xe: 8.3 Rn: 6.8
1
2
W. Grochala, Chem. Soc. Rev. 2007, 36, 1533 (sehr lesenswerter Aufsatz mit Ausblick auf die Zukunft). D. A. Atwood, B. Zemva, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 6, 3651. J. H. Holloway, E. G. Hope, Adv. Inorg. Chem. 1998, 46, 51. K. Seppelt, Z. Anorg. Allg. Chem. 2003, 629, 2427.
526
14 Die Edelgase
Diese Energien sind viel größer als die Bindungsenergien von kovalenten Bindungen (1–5 eV), weswegen eine Promotion von Valenzelektronen bei der Bildung von edelgashaltigen Molekülen ausgeschlossen werden kann. Statt dessen werden von Edelgasatomen kovalente Bindungen in neutralen Molekülen ausschließlich als Mehrzentrenbindungen gebildet, die nicht an das Vorhandensein ungepaarter Elektronen gebunden sind. In gasförmigen Ionen wie [He2]+, [HeF]+, [ArF]+ oder [Ar2]+, die spektroskopisch nachgewiesen wurden, sowie in den Kationen [Xe2]+ und [AuXe4]2+ liegen dagegen Zweizentrenbindungen mit 2 bzw. 3 Elektronen vor. Ausführlicher wird im Abschnitt 14.6 auf die Bindungsverhältnisse eingegangen. Bisher wurden nur von Kr, Xe und Rn bei Raumtemperatur isolierbare Verbindungen erhalten. Einzige bekannte Argonverbindung ist HArF, das bei tiefen Temperaturen nachgewiesen wurde. Während vom Krypton nur einige wenige Verbindungen hergestellt werden konnten, die noch dazu bei 25°C thermodynamisch instabil sind, kennt man vom Xenon weit über 100 Verbindungen in reiner Form. Die ersten binären Xenonverbindungen wurden im Jahre 1962 synthetisiert. Beim Radon behindert dessen Radioaktivität die experimentellen Untersuchungen so sehr, dass nur qualitative Angaben über seine Verbindungen vorliegen. Die Chemie der Edelgase ist daher weitgehend identisch mit der Chemie des Xenons.
14.2
Vorkommen, Gewinnung und Verwendung
Alle Edelgase sind in der Luft vorhanden, die im trockenen Zustand neben 78.08 Vol.-% N2, 20.95 % O2 und 0.038 % CO2 noch 0.935 % Edelgase enthält. Dieser Anteil besteht fast ganz aus Argon, wie die folgenden Zahlen zeigen (Vol.-%): He: Ne: Ar: Kr: Xe: Rn:
0.0005 (5.24 ppm) 0.0018 (18.18 ppm) 0.9337 0.0001 (1.14 ppm) 8·10–6(0.087 ppm) 6·10–18
Alle sechs Elemente stellen Isotopengemische dar. Besonders wichtige Isotope sind 4He (99.9999 %), 3He (0.0001 %, Kernspin I = 12 ), 20Ne (90.5 %), 40Ar (99.6 %) und 129Xe (26.4 %, I = 12 ). Die technische Gewinnung der Edelgase basiert auf der fraktionierten Destillation bzw. Kondensation von Luft. Helium wird darüber hinaus aus bestimmten amerikanischen Erdgasen gewonnen, die einige Prozent davon enthalten. Die Weltjahresproduktion von He beträgt ca. 5000 t. Helium ist weiterhin als radioaktives Zerfallsprodukt ein Bestandteil gewisser Mineralien (Uranerze und Monazit), aus denen es durch Pulverisieren und Erhitzen in kleinem Umfang isoliert werden kann. Das Helium des Erdgases stammt ebenfalls aus dem radioaktiven α-Zerfall schwerer Nuklide, vor allem von Thorium und Uran. Das Isotop 3He entsteht beim β-Zerfall von Tritium (Kap. 5.1). Zur Gewinnung von Radon lässt man eine Radiumsalzlösung einige Zeit lang in einem verschlossenen Gefäß stehen und pumpt dann das entwickelte Radon ab. Die Halbwertszeit des stabilsten Ra-
14.3 Xenonverbindungen
527
donisotops 222Rn beträgt 8.3 d. Radon-haltige Mineralwässer mit einer Aktivität von bis zu 180000 Bq L–1 treten an verschieden Stellen in Deutschland an der Erdoberfläche aus, z.B. in der Region Erzgebirge-Vogtland-Fichtelgebirge (Oberschlema, Bad Brambach, Bad Steben) sowie an den Rändern des Oberrheingrabens (Heidelberg, Bad Kreuznach, Bad Münster am Stein). Dieses Radon stammt aus unterirdischen Uran-haltigen Mineralien, die stets Radium als Teil der Zerfallsreihe von 238U enthalten. Die leichteren Edelgase He, Ne und Ar kommen in Stahlflaschen in den Handel. He wird als Füllgas für Ballone und Luftschiffe verwendet, im Labor dient es als Trägergas bei der Gaschromatographie. Flüssiges Helium ist ein wichtiges Kühlmittel (Sdp. 4.2 K), unter anderem für die supraleitenden Magneten moderner Kernresonanz-Spektrometer. Ne dient als Füllgas für elektrische Entladungsröhren (Lichtreklame) und Ar wird als Schutzgas beim Schweißen und für gasgefüllte Glühlampen verwendet. Im Labor wird reinstes Ar ebenfalls als als Schutzgas für die Handhabung sehr reaktionsfähiger Substanzen in einer Trockenbox (glove box) benötigt. Krypton und Xenon werden auch als Füllgase für Speziallampen gebraucht. Xe dient darüber hinaus als Narkosegas.
14.3
Xenonverbindungen
Xenon geht nur mit solchen nichtmetallischen Atomen oder Atomgruppen starke Bindungen ein, die eine ausreichende Elektronegativität besitzen. Das sind nach den bisherigen Erfahrungen nur Fluor, Sauerstoff, Stickstoff und Chlor sowie solche Kohlenstoffatome, die durch besonders elektronegative Substituenten positiv geladen und damit ebenfalls stark elektronegativ geworden sind, beispielsweise in der Gruppe –C6F5. Wenn bereits ein F-Atom am Xenon vorhanden ist, können aber auch andere Atome gebunden werden. Die thermodynamisch beständigsten Edelgasverbindungen sind die Xenonfluoride und einige von diesen abgeleitete Fluoroxenate. Die binären Fluoride haben eine negative Bildungsenthalpie und können direkt aus den Elementen hergestellt werden. Xenon-Sauerstoff-Verbindungen sind dagegen thermodynamisch instabil (endotherm) und daher mehr oder weniger zersetzlich, teilweise sogar explosiv (z.B. Xenonoxide). Fast alle in kristalliner Form bekannte Verbindungen mit Xenon in einer positiven Oxidationsstufe werden aus den Fluoriden hergestellt. XeF2 ist die einzige im Handel erhältliche Edelgasverbindung; es wird auch als Oxidations- und Fluorierungsmittel eingesetzt. Gegenüber Metallatomen in positiven Oxidationsstufen kann Xenon als LEWIS-Base und Ligand reagieren. Zu dieser neuen und interessanten Gruppe von Verbindungen gehören beispielsweise die Kationen [AuXe4]2+, [HgXe]2+ und [F3AsAuXe]+, die mit den Gegenionen [SbF6]– bzw. [Sb2F11]– in kristalliner Form isoliert wurden.2
528
14.3.1
14 Die Edelgase
Xenonfluoride
Xenon reagiert bei geeigneter Aktivierung durch Erhitzen, Bestrahlen oder in einer elektrischen Entladung mit elementarem Fluor zu den Fluoriden XeF2, XeF4 bzw. XeF6.3 Deren Synthese erfolgt über folgende Gleichgewichtsreaktionen: Xe + F2
XeF2
Ho° = Ä97.5 kJ molÄ1
XeF2 + F2
XeF4
Ho° = Ī¿.3 kJ molÄ1
XeF4 + F2
XeF6
Ho° = Ä56.1 kJ molÄ1
Je größer die Fluorkonzentration im Reaktionsgemisch ist, um so mehr steigt die Ausbeute an höheren Fluoriden an. Kleine Mengen XeF2 gewinnt man durch Sonnenbestrahlung eines Gemisches von Xe und F2 im Molverhältnis 1:2. Bei größeren Ansätzen (bis 1 kg) bestrahlt man mit einer UV-Lampe und setzt 1 % HF als Katalysator zu. XeF6 wird durch Erhitzen eines Xe/F2-Gemisches (1:5) auf 120°C in Gegenwart von NiF2 als Katalysator hergestellt, wobei eine heterogene Reaktion abläuft. Analog erhält man XeF4 durch Erhitzen eines Xe/F2-Gemisches (1:5) bei einem Druck von 0.6 MPa auf 300°C in einem Nickelgefäß. Versuche, XeF8 herzustellen, hatten bisher keinen Erfolg, obwohl Xenon in einigen Sauerstoff-Verbindungen die Oxidationsstufe +8 erreicht. Einige Eigenschaften der Xenonfluoride sind in Tabelle 14.1 zusammengestellt. Alle drei Verbindungen bilden bei Raumtemperatur farblose Kristalle, die im Vakuum sublimieren und die im Falle von XeF2 und XeF4 aus isolierten Molekülen aufgebaut sind. Die linearen XeF2-Moleküle (D∞h) liegen in der tetragonalen Kristallstruktur parallel zueinander, wobei die Xe-Atome eine raumzentrierte Anordnung einnehmen. Dadurch ist jedes Xenonatom außer von zwei nächsten noch von acht übernächsten Fluoratomen (im Abstand 342 pm) koordiniert (Abb. 3.1 im Kap. 3). Xenontetrafluorid besteht aus planarquadratischen Molekülen der Symmetrie D4h und kristallisiert in einer monoklinen Struktur. XeF6 kristallisiert je nach Temperatur in sechs verschiedenen Modifikationen, die aus tetrameren bzw. hexameren cyclischen Molekülen mit unsymmetrischen F-Brücken zwischen XeF5-Einheiten bestehen. Bei Raumtemperatur stabil ist eine kubische Phase, die aus tetrameren und hexameren Einheiten besteht. Eine ähnliche Assoziation wurde beim flüssigen SbF5 gefunden (Kap. 10.8.3). In der Gasphase ist XeF6 ein fluktuierendes Molekül, das zwischen zwei verschiedenen Strukturen sehr ähnlicher Energie und von C3vbzw. Oh-Symmetrie hin und her schwingt.4 Tab. 14.1 Eigenschaften der Xenonfluoride Tripelpunkt (°C) mittl. Bindungsenthalpie (kJ mol–1) XeF-Kernabstand (pm) Dichte (g cm–1) 3 4
XeF2
XeF4
XeF6
129 126 200 4.32
117 122 195 4.04
49 116 189 3.73
Xe kann auch mit Gemischen aus AgF2 und AsF5 oder BF3 in wasserfreiem HF zu XeF2 oxidiert werden; N. Bartlett et al., J. Am. Chem. Soc. 1990, 112, 4846. D. A. Dixon et al., J. Am. Chem. Soc. 2005, 127, 8627.
529
14.3 Xenonverbindungen
XeF2 und XeF4 sind dagegen in allen Phasen monomer. Die experimentell mittels IR- und Ramanspektren oder durch Elektronenbeugung und Röntgenstrukturanalyse ermittelten Molekülstrukturen entsprechen den Erwartungen nach dem Modell der Elektronenpaarabstoßung (Kap. 2.2.2).
14.3.2
Reaktionen der Xenonfluoride
Die drei Xenonfluoride sind bei 25°C beständig; sie zersetzen sich jedoch beim Erhitzen in die Elemente. XeF2 löst sich in Wasser (ca. 25 g L–1 bei 0°C). Diese Lösung zersetzt sich nur langsam, und zwar zu HF, Xe und O2. Dagegen kann XeF4 nur in sorgfältig getrockneten Glas- oder Quarzgefäßen (besser in KEL-F-, Ni- oder Monelbehältern5) aufbewahrt werden. XeF6 reagiert mit Glas und Quarz zu XeOF4 und O2. Die Xenonfluoride sind naturgemäß sehr starke Oxidations- und Fluorierungsmittel, wobei die Reaktionsfähigkeit mit der Oxidationsstufe des Xenons ansteigt. Bei Redoxreaktionen geht das Xenon im Allgemeinen sofort in die Oxidationsstufe ± 0 über. XeF2 ist aber kinetisch relativ stabil. Mit bestimmten Hydroxoverbindungen reagieren die Xenonfluoride unter Kondensation nach dem Schema: Xe F + H
O
Xe O
+ HF
Auf diese Weise gelingt die Synthese einer größeren Zahl von Verbindungen mit Xe– O-Bindungen. Diese Reaktionen werden in den Abschnitten 14.3.3 bis 14.3.5 behandelt. Des Weiteren sind XeF2, XeF4 und XeF6 unter geeigneten Bedingungen zum Austausch von Fluorid-Ionen befähigt, wobei sie teils als F–-Donoren, teils als F–-Akzeptoren reagieren. Auf diese Weise erhält man in Analogie zum entsprechenden Verhalten der Interhalogenverbindungen Salze mit [XeFn]-Kationen oder -Anionen. Redoxreaktionen XeF2 und XeF4 reagieren mit H2 bei 300–400°C, XeF6 schon bei 25°C, zu HF und Xe: XeF2 + H2
Xe + 2 HF
Beim Schütteln mit Quecksilber erhält man quantitativ Xe und HgF2 bzw. Hg2F2. Diese beiden Reaktionen dienen zur Analyse der Xenonfluoride (Bestimmung von Xe durch Wägung und von F– durch Titration). Wässrige Iodidlösung wird von allen Xenonfluoriden zu I2 oxidiert. Die Reaktionsfähigkeit gegenüber oxidierbaren Stoffen nimmt vom XeF2 zum XeF6 stark zu. Daher finden sich nur für XeF2 viele Flüssigkeiten, in denen es sich molekular und ohne Reaktion löst (HF, SO2, CH3NO2, CH3CN, CCl4, Dioxan). XeF4 und XeF6 lösen sich gut in flüssigem HF. Fluorid-Ionen-Austauschreaktionen Xenondifluorid verhält sich gegenüber starken LEWIS-Säuren als F–-Donor. Beispielsweise reagiert es mit den Pentafluoriden des As, Sb, Bi, Ru, Ir und Pt je nach dem Mischungsverhältnis zu folgenden Verbindungen: 5
KEL-F ist ein Handelsname für Poly(fluortrichlorethylen); Monel ist eine Cu-Ni-Legierung.
530
14 Die Edelgase
XeF2 + MF5
2:1
[Xe2F3][MF6]
1:1
[XeF][MF6]
1:2
[XeF][M2F11]
Diese früher als Addukte aufgefassten Verbindungen, die meistens gefärbt sind und Schmelzpunkte zwischen 50° und 150°C aufweisen, haben Strukturanalysen und Schwingungsspektren zufolge eine überwiegend ionische Struktur. Die Verbindungen des ersten Typs enthalten das planare, V-förmige Kation [Xe2F3]+, das im Hexafluoroarsenat folgende Geometrie aufweist: Xe
+
F
d (Xe F) = 190 pm, Winkel (XeFXe) = 151°
Xe F
F
d (Xe F) = 214 pm, Winkel (FXeF) = 178°
Die Salze des dritten Typs enthalten zweikernige Anionenkomplexe mit Fluorbrücken ähnlich denen im flüssigen SbF5. Im [XeF][Sb2F11] wurde folgende Atomanordnung gefunden: F F
Sb F
Xe F
Sb
d (Xe F) = 184 pm F F
d (Xe F) = 235 pm Winkel (XeFSb) = 147°
F
F Der relativ geringe Abstand des Kations [XeF]+ zu einem Fluoratom des Anions ist als kovalente Teilbindung zu deuten, d.h. die Wechselwirkung zwischen dem Kation und dem Anion ist teils ionisch, teils kovalent. Entsprechendes ist für die Salze des Typs [XeF][MF6] anzunehmen, da [XeF]+ eine sehr starke LEWIS-Säure ist. Analoge Derivate des XeF4 sind die Salze [XeF3][SbF6] und [XeF3][Sb2F11]. [XeF][Sb2F11] reagiert in Gegenwart der magischen Säure HF/SbF5 (Kap. 5.5.2) mit Xenon zu [Xe2]+[Sb4F21]–, das einer Röntgenstrukturanalyse zufolge eine schwache Xe– Xe-Bindung der Länge 309 pm enthält; das Anion besteht aus vier eckenverknüpften SbF6-Oktaedern:6 [XeF]+ + 3 Xe + H+
2 [Xe2]+ + HF
Die Bindungsverhältnisse in diesen Xenonium-Kationen werden im Abschnitt 14.6 diskutiert. Xenonhexafluorid kann Fluorid-Ionen sowohl abgeben wie auch aufnehmen. Es ist ein stärkerer F–-Donor als die beiden anderen Xenonfluoride. Mit AsF5, SbF5 und PtF5 reagiert XeF6 zu Salzen des Typs [XeF5][MF6]. In der Arsenverbindung liegen [XeF5]+-Kationen mit einer ungefähr quadratisch-pyramidalen Anordnung der F-Atome vor. Die Kat6
T. Drews, K. Seppelt, Angew. Chem. 1997, 109, 264.
531
14.3 Xenonverbindungen
ionen sind über drei unsymmetrische Fluorbrücken mit zwei oktaedrischen [AsF6]–Anionen verknüpft, so dass das Xenonatom von einem nichtbindenden Elektronenpaar und 5 nächsten sowie 3 übernächsten F-Atomen umgeben ist. Mit AuF5 reagiert XeF6 im Verhältnis 1:2 zum Salz [Xe2F11][AuF6], dessen Kation die Konnektivität [F5Xe– F–XeF5]+ aufweist. Ähnlich hohe Koordinationszahlen wie in den [XeF5]+-Salzen treten auch in den Fluoroxenaten auf, die bei der Reaktion von XeF6 mit Alkalimetallfluoriden (außer LiF) entstehen. So erhält man aus CsF und flüssigem XeF6 bei 50°C das gelbe Salz Cs[XeF7], das sich bei höherer Temperatur (50–280°C) zu Cs2[XeF8] und XeF6 zersetzt: CsF + XeF6
50°C
CsXeF7
>>50°C ÄXeF6
Cs2XeF8
400°C
CsF, Xe, F2
Das Oktafluoroxenat(VI), das ebenfalls gelb gefärbt ist, stellt eine der thermisch stabilsten Edelgasverbindungen dar; das Anion hat die Geometrie eines quadratischen Antiprismas. Das Anion von Cs[XeF7] bildet ein überdachtes Oktaeder. Neben den oben beschriebenen salzartigen Verbindungen kennt man auch eine Reihe stöchiometrischer Mischkristalle wie XeF2·IF5, XeF2·XeF4 und XeF2·XeOF4, welche die nahezu ungestörten Moleküle nebeneinander enthalten. Weiterhin reagiert XeF2 als LEWIS-Base und damit als Ligand in Metallkomplexen. Ein Beispiel ist das Salz [Ba(XeF2)5][AsF6]2.
14.3.3
Oxide und Oxosalze des Xenons
XeF2 löst sich in Wasser bei 0°C molekular und ohne sichtbare Reaktion, aber mit gelber Farbe. Erst nach einiger Zeit, schneller beim Erwärmen oder beim Versetzen mit Laugen tritt Hydrolyse ein, die jedoch nicht zu XeO, sondern zu einer Oxidation des Sauerstoffatoms im Wassermolekül führt: XeF2 + H2O
Xe + 2 HF +
1 2
O2
XeF4 reagiert mit Wasser bei 20°C sofort, wobei in einer unübersichtlichen Reaktion Xe, O2, HF und Xenontrioxid XeO3 entstehen. XeO3, das am besten durch vorsichtige Hydrolyse von XeF6 mit überschüssigem H2O bei 20°C und in Gegenwart von MgO zum Abfangen der Flusssäure hergestellt wird, kann durch Eindampfen aus der wässrigen Lösung in Form farbloser, äußerst explosiver Kristalle erhalten werden. XeO3 ist hygroskopisch und ein starkes Oxidationsmittel. In Wasser löst es sich überwiegend molekular; die Lösung ist beständig, wirkt äußerst stark oxidierend und reagiert schwach sauer, entsprechend folgendem Gleichgewicht: 2 H2O + XeO3
[H3O]+ + [HXeO4]Ä
Danach ist XeO3 kein Protonenakzeptor, sondern wie SO3 eine LEWIS-Säure. Salze der hypothetischen Säure H2XeO4 können durch Vermischen von XeO3- und NaOH-Lösungen im Molverhältnis 1:1 gefolgt von Einfrieren bei tiefen Temperaturen und Entfernen des überschüssigen Wassers durch Sublimation im Vakuum erhalten werden (Gefriertrocknung). Auf diese Weise wurden NaHXeO4·1.5H2O und CsHXeO4·1.5H2O hergestellt (farblose Kristalle).
532
14 Die Edelgase
Macht man XeO3-Lösungen stark alkalisch oder löst man XeO3 oder XeF6 gleich in starken Laugen, tritt Disproportionierung des Xe(VI) zu Xe(0) und Xe(VIII) ein: 2 [HXeO4]Ä + 4 Na+ + 2 [OH]Ä
Na4XeO6 + Xe + O2 + 2 H2O
Außer auf diese Weise können Perxenate wie Na4XeO6·nH2O (n = 0, 2, 6, 8) und Ba2XeO6 auch durch Ozonisierung einer XeO3-Lösung unter Zusatz des entsprechenden Metallhydroxids erhalten werden. Im Gegensatz zu den Xenaten(VI) sind die Perxenate thermisch außerordentlich stabil. Das Natriumsalz ist farblos und enthält nahezu oktaedrische [XeO6]4–-Ionen. Beim Lösen in Wasser erfolgt starke Hydrolyse gemäß der Gleichung: [XeO6]4Ä + H2O
[HXeO6]3Ä + [OH]Ä
Eine Perxenonsäure ist nicht bekannt. Versetzt man Ba2XeO6 mit konzentrierter Schwefelsäure, entweicht gasförmiges XeO4: Ba2XeO6 + 4 H2SO4
2 BaSO4 + XeO4 + 2 [H3O][HSO4]
XeO4 (Schmp. –36°C) ist bei –196°C gelb und selbst bei –40°C noch explosiv. Es zersetzt sich oberhalb von 0°C zu den Elementen, und zwar oftmals unter Explosion. Beide Xenonoxide sind stark endotherme Verbindungen. XeO4 besteht in der Gasphase aus Molekülen der Symmetrie Td (isoelektronisch mit [IO4]–). XeO3 ist wenig flüchtig und bildet ein Molekülgitter, in dem etwas verzerrte trigonal-pyramidale XeO3-Einheiten vorliegen, die über O-Atome unter Bildung schwacher koordinativer Xe–O-Bindungen verknüpft sind. Die Kernabstände (XeO3: 176 pm, XeO4: 174 pm) entsprechen folgenden Strukturformeln:
O
Xe O
O O
O
Xe2 O
O
Die starke Neigung von XeO3 zur Erhöhung der Koordinationszahl am Xenonatom kommt auch in der Reaktion mit F–-Ionen zum Ausdruck: MF + XeO3
H2O 0°C
MXeO3F
M: K, Rb, Cs
Die Fluoroxenate(VI), die aus der Lösung rein isoliert werden können, enthalten polymere, kettenförmige Anionen, die aus XeO3-Pyramiden bestehen, welche über F-Brücken verknüpft sind.
14.3.4
Oxidfluoride des Xenons
Ersetzt man im XeF4 oder XeF6 zwei F-Atome durch ein O-Atom, gelangt man formal zu Oxidfluoriden. Fast alle theoretisch denkbaren Oxidfluoride von Xe(IV), Xe(VI) und Xe(VIII) sind bekannt. XeF6 reagiert mit wenig Wasser und mit bestimmten Oxiden schrittweise zu XeOF4, XeO2F2 und XeO3F2:
533
14.3 Xenonverbindungen
2 XeF6 + SiO2 XeF6 + H2O
50°C 20°C
2 XeOF4 + SiF4 XeOF4 + 2 HF
XeOF4 (Schmp. –46°C) ist eine farblose Flüssigkeit, die aus Molekülen der Symmetrie C4v besteht (quadratisch-pyramidal), bei deren vollständiger Hydrolyse XeO3 erhalten wird. XeOF4 zersetzt sich erst bei 300°C. Die übrigen Oxidfluoride entstehen in O/F-Austauschreaktionen aus XeF6 und XeO3 bzw. XeO4: XeF6 + 2 XeO3
25°C
3 XeO2F2
XeF6 + XeO4
XeO3F2 + XeOF4
XeF6 + XeO3F2
XeO2F4 + XeOF4
XeO2F4 wurde spektroskopisch identifiziert. Das Schwingungsspektrum von XeO3F2 (Schmp. –54°C) ist mit einer D3h-Symmetrie des Moleküls vereinbar. XeO2F2 (Schmp. 31°C) ist von C2v-Symmetrie.
14.3.5
Sonstige Xenon-Verbindungen
Ähnlich wie mit Wasser reagieren die Xenonfluoride auch mit anderen Hydroxoverbindungen (EOH) unter HF-Abspaltung. Während mit Alkoholen Verpuffung oder gar Explosion erfolgt, sind verschiedene Sauerstoffsäuren für gezielte Kondensationsreaktionen geeignet:7 XeF2 + HO E
Ä pF
F Xe O E
Å np Ä pF
E O Xe O E
Fluoroschwefelsäure HSO3F und Pentafluoroorthotellursäure HOTeF58 reagieren mit XeF2 nach diesem Schema zu folgenden Verbindungen: XeF(OSO2F) farbl. Kristalle Schmp. 37°C
Xe(OSO2F)2 gelb Schmp. 44°C
XeF(OTeF5) gelb, flüssig
Xe(OTeF5)2 farbl. Kristalle Schmp. 36°C
Die Triebkraft dieser Reaktionen ist die stark exotherme Bildungsenthalpie des Hydrogenfluorids. Während die beiden Tellurverbindungen bis 130°C beständig sind, zersetzen sich die Fluorosulfate schon bei 25° langsam zu Xe und S2O6F2 (und gegebenenfalls XeF2). Die Kristalle von XeF(SO3F) bestehen einer Röntgenstrukturanalyse zufolge aus folgenden Molekülen:
7 8
K. Seppelt, Acc. Chem. Res. 1979, 12, 211; D. Lentz, K. Seppelt, Angew. Chem. 1979, 91, 68; L. Turowsky, K. Seppelt, Z. Anorg. Allg. Chem. 1992, 609, 153. HOTeF5 wird nach Te(OH)6 + 5 HSO3F → HOTeF5 + 5 H2SO4 hergestellt; es ist eine sehr stabile Verbindung und in Wasser eine starke Säure.
534
14 Die Edelgase
O O Xe
S
F O
d (Xe F) = 194 pm, Winkel (XeOS) = 124° d (Xe O) = 216 pm, Winkel (FXeO) = 177°
F Die Xe–O-Bindung ist überwiegend kovalent und nicht ionischer Natur. Die übrigen Verbindungen sind analog gebaut. Xe(OTeF5)2 enthält ein planares TeOXeOTe-Gerüst mit den TeF5-Substituenten in trans-Stellung. Mit XeF4 und XeF6 reagiert HSO3F bei tiefen Temperaturen ähnlich wie mit XeF2. Im ersten Falle wurde XeF2(SO3F)2 als gelbgrüne Flüssigkeit isoliert, die sich bei 25°C langsam zu Xe, XeF4 und S2O6F2 zersetzt. Aus XeF6 entsteht XeF4(SO3F)2, das ebenfalls flüssig ist und bei Raumtemperatur in XeF4 und S2O6F2 übergeht. Stabiler sind auch hier die Pentafluorooxotellurate. Das farblose Xe(OTeF5)4 und das rotviolette Xe(OTeF5)6 entstehen bei der Reaktion von XeF4 bzw. XeF6 mit B(OTeF5)3, das seinerseits aus HOTeF5 und BCl3 gewonnen wird. In Analogie zum XeF4 ist die zentrale XeO4-Gruppe in Xe(OTeF5)4 planar gebaut. Mit HN(OSO2F)2 reagiert XeF2 bei 0°C zu HF und F–Xe–N(OSO2F)2, das eine lineare FXeN-Gruppe enthält, wobei die Kernabstände XeF (197 pm) und XeN (220 pm) stark verschieden sind. Wird XeF2 bei –50°C in Dichlormethan mit B(C6F5)3 umgesetzt, kommt es zu einem Aryltransfer vom Bor zum Xenon und man erhält das Salz [C6F5Xe]+[(C6F5)2BF2]–, eine farblose, nur bei Temperaturen unterhalb –30°C beständige Verbindung mit einer Xe– C-Bindung, die mit AsF5 zu [C6F5Xe]+[AsF6]– reagiert. Dieses Arylxenonium-Salz (Schmp. 102°C), das auch aus XeF2, (C6F5)3B und AsF5 in wasserfreiem HF hergestellt werden kann, ist bis 125°C beständig. Ein Neutralmolekül mit Xe–C-Bindung erhält man wie folgt:9 [C6F5Xe][AsF6] + Cs(OOCC6F5)
H2O 25°C
C6F5 Xe
OC(O)C6F5 + CsAsF6
Die Xenonverbindung fällt aus der wässrigen Lösung aus; sie zersetzt sich bei 85°C in stark exothermer Reaktion zu Xe und C6F5C(O)OC6F5. Die zentrale Gruppe C–Xe–O ist linear gebaut (dXeC = 212 pm, dXeO = 237 pm). Andere, aber weniger stabile Verbindungen mit einer Xe–C-Bindung sind C6F5XeF, C6F5XeCl, (C6F5)2Xe und [C6F5XeF2][BF4].9 Zur Charakterisierung derartiger Verbindungen eignet sich besonders die 129Xe-NMR-Spektroskopie.10 In Abbildung 14.1 sind die chemischen Verschiebungen einiger Xe-Verbindungen schematisch dargestellt. Man erkennt, dass elementares Xe am stärksten abgeschirmt ist und dass eine Abhängigkeit zwischen Resonanzfrequenz und Oxidationsstufe des Xenonatoms existiert. Als Bezugssubstanz wird flüssiges XeOF4 bei 24°C verwandt.
9 10
H. J. Frohn, V. V. Bardin, Organometallics 2001, 37, 4750. D. Raftery, Ann. Rep. NMR Spectrosc. 2006, 57, 205. M. Gerken, G. J. Schrobilgen, Coord. Chem. Rev. 2000, 197, 335.
535
14.4 Verbindungen der übrigen Edelgase [XeO6]4Ä
+2000
+1000
XeF4 XeOF4
[XeF]+
XeF2
0
-1000
-2000
Xe
-3000
-4000
-5000
129Xe-NMR-Spektrum.
Abb. 14.1 Chemische Verschiebung einfacher Xenonverbindungen im Die Entschirmung nimmt mit steigender Oxidationsstufe zu, wobei jedoch Unregelmäßigkeiten auftreten.
14.4
Verbindungen der übrigen Edelgase
Argon: Bei der UV-Bestrahlung von HF in einer Argonmatrix bei 7.5 K mit anschließendem Tempern bei 18 K entsteht spurenweise das spektroskopisch nachgewiesene Molekül HArF, das nach quantenchemischen Rechnungen linear gebaut ist. Der exotherme Zerfall in die Ausgangsprodukte HF + Ar ist einer quantenchemischen Rechnung zufolge mit der Überwindung einer Aktivierungsbarriere von ca. 96 kJ mol–1 verbunden. Krypton: Vom Krypton existieren nur Verbindungen der Oxidationsstufen 0 und +2.11 Die einzige binäre Kryptonverbindung, die in reiner Form gewonnen wurde, ist das Difluorid KrF2. Es wird durch UV-Bestrahlung einer flüssigen Mischung von Kr und F2 im Molverhältnis 4:1 bei –196°C hergestellt. KrF2 kann durch Sublimation unterhalb –10°C gereinigt werden, bei höheren Temperaturen zerfällt es in die Elemente. KrF2 bildet farblose Kristalle (je eine Hoch- und Tieftemperaturmodifikation), die aus linearen Molekülen der Symmetrie D∞h bestehen und die sich in Hydrogenfluorid lösen. Die Verbindung ist im Gegensatz zu den Xenonfluoriden endotherm und daher schon oberhalb –20°C zersetzlich, seine chemische Reaktivität ist aber analog zu der von XeF2. Die mittlere Kr– F-Bindungsenthalpie beträgt nur 48 kJ mol–1 und die Bildungsenthalpie wurde kalorimetrisch zu +60 kJ mol–1 ermittelt. Aus dem Kernabstand d(KrF) = 189 pm lässt sich der Kovalenzradius des Kryptonatoms zu 125 pm abschätzen. Mit Hg reagiert KrF2 zu HgF2 und Kr, mit Wasser oder verdünnter Natronlauge sofort zu O2, Kr und HF bzw. NaF. Mit starken LEWIS-Säuren wie AsF5, SbF5, BiF5 und AuF5 bildet KrF2 Salze mit den Kationen [KrF]+ und [Kr2F3]+. Beispielsweise reagiert SbF5 bei –20°C mit KrF2 zu farblosen Kristallen von [KrF+][Sb2F1], die sich beim Schmelzpunkt von ca. 50°C zu Kr, F2 und SbF5 zersetzen. Krypton-Sauerstoff-Bindungen liegen im ziemlich instabilen Kr(OTeF5)2 vor. Wahrscheinlich sind alle Kryptonverbindungen endotherm. Radon: Untersuchungen zur Chemie des Radons sind wegen dessen α-Strahlung und der kleinen Halbwertszeit schwierig. Reine Verbindungen konnten bisher nicht isoliert werden, jedoch reagiert Rn spontan mit ClF, ClF3 und anderen Halogenfluoriden bei 25°C zu RnF2. Andere Halogenide oder Oxide wurden bisher nicht nachgewiesen.
11
G. J. Schrobilgen et al., Inorg. Chem. 2001, 40, 300, und Coord. Chem. Rev. 2002, 233–234, 1.
536
14.5
14 Die Edelgase
Elektronegativitäten der Edelgase
Für Xenon und Krypton kann man Elektronegativitäten (χ) nach der Methode von ALLRED und ROCHOW (Kap. 4.6.2) berechnen, wenn man die effektive Kernladungszahl Zeff der Valenzelektronen nach den Regeln von SLATER ermittelt: é = 3.59 . 103 .
Zeff
+ 0.744 r2 Für ein 5p-Elektron des Xenons ergibt sich Zeff = 8.25. Den gleichen Wert erhält man für ein 4p-Elektron des Kryptons. Die Einfachbindungs-Kovalenzradien (r1) von Xe und Kr lassen sich wie folgt ermitteln. Im gasförmigen XeF2 beträgt der XeF-Kernabstand 200 pm, im KrF2 ist d(KrF) = 189 pm. Subtrahiert man von diesen Werten den Radius des Fluoratoms (54 pm12), erhält man für zweiwertiges Krypton bzw. Xenon:
r1 (Kr): 135 pm r1 (Xe): 146 pm
r1 (Br): 114 pm r1 (I): 133 pm
Diese Radien sind erwartungsgemäß etwas größer als die der benachbarten Halogenatome, da letztere von Substanzen mit Zweizentrenbindungen abgeleitet wurden. Für Xenon (IV) erhält man analog 140 pm und für Xenon (VI) 135 pm. Damit ergeben sich für Krypton und Xenon folgende χAR-Werte: Kr(II): 2.4
Xe(II): 2.1
Xe(IV): 2.3
Xe(VI): 2.4
Die Elektronegativitäten von Krypton(II) und Xenon(II) sind nach dieser Rechnung also etwas kleiner als die der benachbarten Halogene Brom (2.7) und Iod (2.2). Als Ursache muss man den zu großen Kovalenzradius der Edelgasatome vermuten, der von Verbindungen mit Dreizentrenbindungen abgeleitet wurde. Andererseits lassen sich die Elektronegativitäten nach der Methode von ALLEN direkt aus den Ionisierungsenergien der isolierten Atome berechnen (Kap. 4.6.2). Danach erhält man für die Edelgase folgende χspec-Werte: Ne: 4.8
Ar: 3.2
Kr: 3.0
Xe: 2.6
Diesen Werten ist der Vorzug zu geben, da sie den Erwartungen entsprechen, denen zufolge die Edelgase etwas elektronegativer als die im Periodensystem benachbarten Halogenatome sein sollten.
12
R. J. Gillespie, E. A. Robinson, Inorg. Chem. 1992, 31, 1960.
14.6 Bindungsverhältnisse in Edelgasverbindungen
14.6
537
Bindungsverhältnisse in Edelgasverbindungen
Für eine Analyse der Bindungsverhältnisse teilt man die Edelgasverbindungen zweckmäßig in die zweiatomigen und die mehratomigen Vertreter ein.
14.6.1
Zweiatomige Moleküle und Ionen
Wie im Kapitel 3.3 gezeigt wurde, existieren die zweiatomigen Neutralmoleküle He2, Ne2, Ar2, Kr2 und Xe2 nur als VAN DER WAALS-Moleküle mit sehr kleinen Bindungsenthalpien bei gleichzeitig sehr großen Kernabständen verglichen mit entsprechenden kovalenten Bindungen. Bei den zweiatomigen Kationen ist die Situation aber vollkommen anders. Das erste jemals beobachtete Molekül mit einer kovalenten Bindung zu einem Edelgasatom war das Kation [HHe]+, das im Jahre 1925 massenspektrometrisch entdeckt wurde. Es entspricht dem isoelektronischen Molekül H2 und weist wie dieses eine normale 2-Elektronen-σ-Bindung auf. Die Bindung im [HHe]+ ist allerdings polar, da die 1s-Orbitalenergien von H (–13.6 eV) und He (–24.6 eV) sehr stark differieren. Darüber hinaus wurden auch alle homoatomaren und heteronuklearen zweiatomigen Edelgas-Kationen vom [He2]+ bis zum [Xe2]+ und vom [HeNe]+ bis zum [KrXe]+ in der Gasphase nachgewiesen. Deren Bindungen sind als 3-Elektronen-σ-Bindungen zu verstehen (Kap. 2.4.3). Die Dissoziationsenthalpien (Do) der homoatomaren Kationen nehmen erwartungsgemäß mit steigender Atomgröße ab.13 Für das im Abschnitt 14.3.5 erwähnte, jedoch gasförmige Ion [Xe2]+ wurde Do zu 99 kJ mol–1 ermittelt. Die Dissoziationsenthalpien der Edelgashydrid-Ionen [HE]+ sind identisch mit den Protonenaffinitäten der neutralen Edelgasatome, die folgende Werte aufweisen (kJ mol–1): He: 193 Ne: 218 Ar: 402 Kr: 444 Xe: 559 Dieser Gang der Werte entspricht der vom He zum Xe stark zunehmenden Polarisierbarkeit α der Edelgasatome E (Kap. 3.3). Salze mit den Kationen [HE]+ wurden bisher nicht isoliert, jedoch kennt man die Kationen [XeF]+, [XeCl]+ und [Xe2]+ in Form von Salzen, z.B. [XeF][SO3F] und [XeCl][Sb2F11]. Diese Kationen enthalten kovalente 2-Elektronenσ-Bindungen.
14.6.2
Mehratomige Moleküle und Ionen
Diese Verbindungen können am besten auf der Basis der MO-Theorie verstanden werden, wobei Mehrzentrenbindungen angenommen werden. Die MO-Beschreibung des XeF2-Moleküls ähnelt der des isoelektronischen TriiodidIons [I3]–, das ebenfalls linear gebaut ist. Beschränkt man sich auf eine σ-Wechselwirkung zwischen dem Zentralatom und zwei Ligandatomen, so kommen aus energetischen Gründen nur die Orbitale 5s und 5pz des Zentralatoms und je ein 2pz-Orbital der beiden 13
G. Frenking, D. Cremer, Structure Bonding (Berlin) 1991, 73, 17.
538
14 Die Edelgase
E
Xe
F
Æu:
+
+
Xe
(eV)
F
uÆ
+
+
Æg:
5pz
+
Æg
z Ä17.4
g:
F
z Ä12.1
u:
F
+
+
2pz
u
+
z
+
+
+
z
Ä27
5s
(a)
g (b)
Abb. 14.2 Die kovalente Bindung im Xenondifluorid. (a) Linearkombinationen für die vier σ-Molekülorbitale. (b) Schematisches Energieniveaudiagramm für die σ-Molekülorbitale (das 2s-AO von Fluor liegt bei –46.4 eV und kann daher vernachlässigt werden).
Fluoratome in Betracht. Sowohl das 5s- als auch das 5pz-Orbital des Xenons überlappen mit den zwei 2pz-Orbitalen der beiden Fluoratome und es resultieren zwei bindende und zwei antibindende Molekülorbitale (Abb. 14.2). Bei 8 Valenzelektronen in den Ausgangsorbitalen werden die beiden bindenden (σg und σu) und das unterste antibindende MO (σ) besetzt. Netto resultiert also eine 3-Zentren-σ-Bindung und die Stabilisierung des Moleküls ist im Wesentlichen auf die Absenkung der 5pz-Elektronen des Xenons auf das σu-Niveau zurückzuführen. Auf diese Weise können auch die Bindungen im XeF4 und im XeF6 behandelt werden, wenn man die anderen 5p-Orbitale des Xenonatoms zur Bindung von je zwei F-Atomen heranzieht. So entstehen das quadratische XeF4 und ein oktaedrisches Molekül XeF6. Dass das Molekül XeF6 nicht oktaedrisch, sondern C3v-symmetrisch gebaut ist, liegt an mehreren miteinander konkurrierenden Faktoren,14 die hier nicht auseinander gesetzt werden können. Nach ab-initio-MO-Rechnungen beträgt die Energiedifferenz zwischen der Oh- und der C3v-Struktur aber nur 10 kJ mol–1. Auf die oktaedrische Geometrie kann auch das für das analoge SF6-Molekül abgeleitete MO-Diagramm sinngemäß angewandt werden (Abb. 2.39 im Kap. 2). 14
M. Kaupp et al., J. Am. Chem. Soc. 1996, 118, 11939.
14.6 Bindungsverhältnisse in Edelgasverbindungen
539
Die erhebliche Elektronegativitätsdifferenz zwischen Xenon und Fluor führt dazu, dass die Bindungen in den Xenonfluoriden stark polar sind und dass das Zentralatom positiv geladen ist. Diese vom XeF2 zum XeF6 zunehmende positive Ladung kann mittels Photoelektronen-Spektroskopie nachgewiesen werden. Dazu ionisiert man die gasförmigen Verbindungen mittels Röntgenstrahlen und misst die Energien, die zur Abspaltung von Elektronen aus inneren, an der Bindung nicht direkt beteiligten Orbitalen erforderlich sind (ESCA-Methode: electron spectroscopy for chemical analysis). Diese Energien haben für jedes Element im neutralen Zustand charakteristische Werte. Je größer die positive Ladung auf dem betreffenden Atom in einem Molekül ist, um so größer ist auch die Ionisierungsenergie Ei (Abb. 14.3). Umgekehrt führt eine negative Partialladung zu einer Verringerung der Ionisierungsenergie, z.B. bei den Fluoratomen. Beim Xenon wird im vorliegenden Fall ein Elektron aus dem entarteten 3d-Niveau entfernt, wodurch es beim entstehenden Kation zu einer Aufspaltung in zwei Energieniveaus kommt (3d5/2 und 3d3/2).15 XeF6: XeF4: XeF2: 1s
F2: Xe:
670
3d5/2
675 680 685
3d3/2
690 695 700
Ei
Abb. 14.3 Schematische Darstellung der Ionisierungsenergien von Xenon und Fluor im elementaren Zustand und in den Xenonfluoriden, gemessen mittels ESCA. Die Balken entsprechen beim Fluor einer Ionisierung aus dem 1s-Niveau und beim Xenon aus dem 3d-Niveau. Zunehmende Ionisierungsenergie zeigt eine zunehmende positive Ladung auf dem betreffenden Atom an und umgekehrt.
Die große positive Ladung auf dem Zentralatom von XeF6 hat zur Folge, dass die scheinbar nichtbindenden Elektronen in den 2pπ-Orbitalen der Fluoratome vom Xe angezogen und teilweise in Orbitale delokalisiert werden, die überwiegend am Zentralatom lokalisiert sind. Das sind einerseits die unbesetzten 5d-Orbitale von Xe und andererseits die antibindenden σ*-MOs derjenigen XeF-Bindungen, die ungefähr senkrecht zur betrachteten XeF-Bindung stehen. Diesen letztgenannten Effekt nennt man negative Hyperkonjugation. Durch diese zwei Typen von Rückbindung werden die Ladungen auf den beteiligten Atomen wieder etwas verringert; zugleich wird die Bindungsenergie etwas erhöht. Verglichen mit den σ-Bindungen sind diese schwachen π-Bindungen jedoch von untergeordneter Bedeutung. 15
N. Bartlett et al., J. Am. Chem. Soc. 1974, 96, 1989; G. M. Bancroft et al., ibid. 1991, 113, 9125.
540
14 Die Edelgase
Die Bindungen in den Oxiden XeO3 und XeO4 entsprechen denen in valenz-isoelektronischen Oxoanionen wie [ClO3]– und [ClO4]–. Auch bei diesen Molekülen und Ionen sind die σ-Bindungen wesentlich wichtiger als die π-Bindungen (Kap. 2).
14.6.3
Existenz und Nichtexistenz von Edelgasverbindungen
Hier stellt sich nun die Frage, warum in Analogie zum XeF2 nicht auch die Verbindungen H2Xe, XeCl2, XeBr2 oder Me2Xe als bei 25°C haltbare Verbindungen hergestellt werden können. Die Moleküle H2Xe, HXeCl und XeCl2 wurden zwar bei tiefen Temperaturen in Edelgasmatrizen spektroskopisch nachgewiesen,16 jedoch sind solche Verbindungen bei Normalbedingungen instabil. Während die Reaktion Xe + E E E Xe E für E = F exotherm ist, ist die Bildung von H2Xe und XeCl2 aus den Elementen stark endotherm. Dies liegt hauptsächlich an den viel größeren Dissoziationsenthalpien (D98) von H2 (436 kJ mol–1) und Cl2 (244 kJ mol–1) verglichen mit der von F2 (158 kJ mol–1). Darüber hinaus zeigen die bisher isolierten Edelgasverbindungen, dass die Substituenten E sehr elektronegativ sein müssen, damit es zu beständigen, in reiner Form isolierbaren Verbindungen kommt. Alle in den voran stehenden Abschnitten diskutierten Verbindungen von Kr, Xe und Rn weisen Substituenten auf, deren Elektronegativität größer ist als 3 und damit größer als die des zentralen Edelgasatoms. Dies gilt für –F und =O ebenso wie für die Gruppen –OTeF5, –OSO2F, –N(OSO2F)2 und –C6F5, bei denen der induktive Effekt der vielen F- und O-Atome dafür sorgt, dass die Gruppenelektronegativität deutlich größer als 3 wird. Die Atome H, Br, I und die Gruppen CH3 und C6H5 sind dagegen nicht elektronegativ genug, um in reiner Form isolierbare Verbindungen des Xenons zu ermöglichen. Ist die Elektronegativität von E zu gering, liegen die obersten besetzten Valenzorbitale des Substituenten höher als die des Edelgases (Abb. 14.2) und damit wird die Stabilisierung der Elektronen des Zentralatoms deutlich geringer. Das schließt nicht aus, dass Einzelmoleküle mit derartigen Substituenten hergestellt und in der Gasphase oder in festen inerten Matrizen nachgewiesen werden können (z.B. HXeF). Es ist also strikt zwischen der Stabilität des Einzelmoleküls und der Stabilität einer Verbindung, d.h. eines Kollektivs von Molekülen zu unterscheiden. Dass die Oxide des Xenons endotherm sind, obwohl die Elektronegativität von Sauerstoff 3.4 beträgt, liegt ebenfalls an der hohen Dissoziationsenthalpie des O2-Moleküls (498 kJ mol–1), wodurch die Reaktion Xe + 2 O2
XeO4
endotherm wird. Warum gibt es nun in Analogie zu XeF2 und KrF2 nicht auch Fluoride des Argons, Neons und Heliums? Auch diese Frage kann mit dem Argument der Elektronegativität und unter Verwendung eines MO-Diagramms wie in Abbildung 14.4 beantwortet werden. 16
XeH2: M. Pettersson, J. Lundell, M. Räsänen, J. Chem. Phys. 1995, 103, 205; N. Runeberg, M. Seth, P. Pyykkö, Chem. Phys. Lett. 1995, 246, 239. HXeCl, HXeBr, HXeI, HKrCl: M. Pettersson, J. Lundell, M. Räsänen, J. Chem. Phys. 1995, 102, 6423. HXeSH und HXeOH: M. Petterson et al., J. Am. Chem. Soc. 1999, 121, 11904, und Inorg. Chem. 1998, 37, 4884.
541
14.6 Bindungsverhältnisse in Edelgasverbindungen
In diesen Fällen sind die potentiellen Zentralatome zu elektronegativ, d.h. ihre obersten besetzten Valenzorbitale liegen zu tief verglichen mit den HOMOs der Substituenten, so dass die Stabilisierung der Elektronen des Edelgases wiederum zu gering ausfällt, um die Abstoßung der Atomkerne zu überwinden. Es liegt auf der Hand, dass in Zukunft am ehesten vom Ar neutrale Verbindungen synthetisiert werden dürften. Bis dahin sind die Clathrate (Kap. 5.6.4) die einzigen in reiner Form isolierbaren „Verbindungen“ der leichteren Edelgase. Ne
F
F
E
(eV)
uÆ:
+
+
uÆ
Ne
+
z Ä17.4
g:
+
u:
+
g
F
F 2pz
+
z
+
Ä21.6
+
2pz
u
z
(a)
(b)
Abb. 14.4 Theoretische Bindungsverhältnisse für das hypothetische Molekül NeF2. (a) Linearkombination der drei Atomorbitale (b) Energieniveaudiagramm für die σ-Molekülorbitale. Die besetzten 2s-Atomorbitale von Ne und F liegen energetisch zu tief für eine Wechselwirkung mit den 2p-AOs; sie sind praktisch als Rumpforbitale zu betrachten. Ihre Wechselwirkung miteinander führt zu drei doppelt besetzten MOs, die nicht zur Bindung beitragen. Daher wurden sie nicht eingezeichnet.
542
Sachregister
543
Sachregister Verbindungsklassen lassen sich auch über das ausführliche Inhaltsverzeichnis finden. A ab initio-Rechnungen 91 Abschirmung der Kernladung 11 Achat 285 ACHESON-Verfahren zur Graphitherstellung 240 Acidität, der Halogenwasserstoffe 163 –, der Oxosäuren 164 –, der Supersäuren 166 –, von LEWIS-Säuren 196, 215 Aciditätsfunktion 165 Acidiumsalze 156, 160 Acrylglas 264 Adamantylrest 302 Adenosintriphosphat (ATP) 311, 337, 400, 402 Addukte 81,197, 208, 270, 282, 460 Aerogel 297 Aerosil 286 Air Liquide 399 Ätzen von Silicium 281, 337, 494 Airbag 327 AIM (atoms in molecules) 41 Aktivkohle 250 Alkalide 332 Alkane 149, 150, 235 Alkene 214, 284 allgemeine Gaskonstante 116 allotrope Modifikationen, siehe Modifikationen Alternativverbot in der Schwingungsspektroskopie 38, 313 Alumosilicate 291 Amalgam-Verfahren 499 Amborit 231 Ameisensäure für die CO-Herstellung 257 Amethyst 285 Amide 323 Amidoschwefelsäure 460 Amid-Reaktion 334 Amine 180, 315, 317 Aminoborane 226 Ammoniak 74, 316, 320
–, festes 179 –, flüssiges 159, 330 Ammoniakate 331 Ammonium-Ion 322 Ammonolyse 331 Ammonosystem 159, 330 Amphibole 291 ANDRUSSOW-Verfahren zur HCN-Herstellung 264 Anhydrit 431 ANFO (Sprengstoff) 323 Anionenaustauscher 420 Anodeneffekt 252 anodische Oxidation 263, 469, 490, 400 anomerer Effekt 428 Anorthit 291 Ansolvobasen 160 Ansolvosäuren 157, 222 Anthrachinon-Verfahren zur H2O2-Herstellung 421 Anthrazit 251 antibindende Orbitale 46, 53 Antioxidantien 402, 425 Apatit 359 apicale Substitutenten 213 Aquakomplexe 241 äquatoriale Substituenten 32, 33, 356, 361 Aquosystem 156 Argentit 451 Argon 310 –, physikalische Eigenschaften 109, 110 Argon-Dimer 112 Argon-Verbindungen 526, 535 Ariane-Rakete 318, 518 aromatische Systeme 213, 215, 221, 236, 238, 319, 367, 445 ARRHENIUS, S. 156 Arsan 363 Arsen 5, 359 –, elementares 356 -halogenide 371 -hydride 363
544 Arsen -isotope 358 -modifikationen 362 -oxide 381, 384 -Sauerstoffsäuren 384, 387, 393 -sulfide 385, 387 Arsenik 359, 384 Arsenopyrit 359 Arsonsäure 384 Arsorane 380 Asbest 291 Assoziation 510 Astat 485 Atmung 258, 265, 402 Atomladungen 133, 539 ATP, siehe Adenosintriphosphat Aufenthaltswahrscheinlichkeit, siehe Elektronendichte Aufschlussphosphorsäure 388 Aufschwefelung 447, 449 Auripigment 359 Austauschwechselwirkung 12 AVOGADRO’s Konstante (NA) 115 axiale Substituenten 33, 357, 361 Azafullerene 246 azeotropes Gemisch 348 Azide 310, 326 B Bandlücke von Halbleitern 243, 245, 275, 368, 443 Barysilit 291 Basen 160, 322, 325, 328 Basenstärke 162, 322 BASF 3, 321, 322, 328, 471 Basisfunktion 91 Basissatz 92 Basizitäten einfacher Moleküle 161 BAYER AG 212, 500 BAYER-Verfahren zur Hydrazinherstellung 324 Bentonit 291 Benzin 258 Benzol 236 Bergkristall 285 Beryll 291 Bildungsenhalpie, atomare 116 bindende Molekülorbitale 46, 53 Bindung, dative 79
Sachregister
Bindung, chemische 9, 113 Bindung, ionische 10 Bindung, koordinative 79 Bindung, kovalente 41 Bindung, polare 118 Bindungseigenschaften 113 Bindungsenergie 114 –, im [H2]+ 46 –, im H2 49 Bindungsenthalpie 114, 487 –, Tabelle 121 Bindungsenthalpie, mittlere 117 Bindungsgrad 52, 113 Bindungsisomerie 374 Bindungsmoment 140 Bindungsordnung 52, 113 Bindungspolarität 133 Biogas 233 Biomineralisation 287 Bipolaronen 332 BIRCH-Reduktion 334 Bisulfit 465 Blausäure 264 Bleichmittel 225, 501, 513, 516 Bleiglanz 431 Bleikammerkristalle 343 BMA-Verfahren zur HCN-Herstellung 264 Boehmit 293 BOHR, N. 9 Bor 4, 195 –, elementares 199 -carbid 205 -halogenide 197, 217 -hydride 206 -nitrid 229 -oxid 199, 221, 223 -oxosäuren 221 -silicid 206 -Stickstoff-Verbindungen 226 -subhalogenide 219, 497 -sulfide 226 Boranat-Ion 207 Boratabenzol-Anion 215 Borane 206, 209 Borate 224 Borax 195, 205, 224 Borazin 227 Borazol, siehe Borazin Borazon 231
Sachregister
Boride 204 BORN, M. 9 BORN-Abstoßung in Salzen 16 BORN-HABER-Kreisprozess 17 BORN-OPPENHEIMER-Näherung 43 Boronsäure 224 Borosilicatglas 296 Borosilicat-Verfahren 212 Boroxin-Ring 219, 222, 225 Borsäure 222 BOSCH, C. 321 BOUDOUARD-Gleichgewicht 257 Braunkohle 251 Brillanten 242 BROGLIE, L. V. DE 9 Brom 485 –, elementares 499 -isotope 485 -Kationen 507 -oxide 512 -Sauerstoffsäuren 515, 519 BRØNSTEDT, J. N. 160 Bronze 491 C Calcinieren 293 Caprolactam 150, 329 Carbanionen 235 Carben-analoge Verbindungen 268, 283, 497, 498 Carbenium-Ionen 235, 256, 262 Carbide 235 Carboanhydrase 261 Carbonados 242 Carbonate 261 carbon black, siehe Ruß Carbonfasern 240 Carbonylkomplexe 235, 248, 257 Carborane 215 Carborund 306 Caroat 424, 469 CAS-Rechnungen 400 CCS-Verfahren (carbon capture) 256 CERAN 5, 296 Cermet 205 Chalkogene 431 Chalkogenide 451 Chalkogenidgläser 295 Chalkogen-Kationen 417, 444
545 Chalzedon 285 Charge-Transfer-Komplexe 502 chemical vapor deposition, siehe CVD Chemisorption 248, 321 Chilesalpeter 309, 322, 502 Chiralität 245, 248, 256, 300, 316, 423 Chlor 485 -Alkali-Elektrolyse 6, 499 –, atomares 410, 487 –, elementares 499 -isotope 485 -Kationen 507 -knallgas 154 -nitrat 522 -oxide 512 -peroxid 410 -Sauerstoffsäuren 515, 519 Chlorierungsmittel 376 Chloroschwefelsäure 469 Chlortriphos 386 Chlorylsalze 521 cis-trans-Isomerie 351, 353, 370 Clathrat-Hydrate 178 CLAUS-Verfahren zur Gasentschwefelung 434 closed-shell-Konfiguration 319 Cluster 75, 176, 202, 220, 278, 363 CNT (carbon nanotubes) 247 Coesit 285 Colemanit 195 COULOMB-Abstoßung 27, 332 COULOMB’s Gesetz 20, 138 COULOMB-Loch 95 COULOMB-Wechselwirkung in Salzen 16 Cristobalit 285 Cryptanden 180, 333 Crystex 439 CsCl-Struktur 14 CT-Komplexe, siehe charge-transfer-Komplexe CVD (chemical vapor deposition) 200, 204, 229, 243, 274, 296, 307 Cyanide 264, 322 Cyanwasserstoff 264, 322, 326 Cycloaddition von Ozon 381 –, von Singulett-Sauerstoff 402 Cyclopentadienid-Anion 217, 236 Cycloreversion 402 Cystein 449 CZOCHRALSKI-Tiegelziehverfahren 275
546 D dative Bindung 19 DEBYE, P. 105 Deformationsdichte 144 Deformationskraftkonstante 129 Deformationsschwingung 129, 316 DEGUSSA, siehe EVONIK Delokalisierung von Elektronen 42, 236, 367, 482, 486 Deuterium 151, 190 Deuterolyse 153 Diamant 241, 248 –, anorganischer 231 -struktur 242 -synthese 241 Diaphragma-Verfahren der Chlor-Alkali-Elektrolyse 499 Diatomeen 287 Diazene 311, 325,338 Diazenide 326 Diboran 197, 208 Diboren 198 Diboronsäure 222 Dichtedifferenz 144 Dichtefunktional-Rechnungen 99 Dicyan 264 Diedersymmetrie 40 Diederwinkel 422 Dielektrizitätskonstante von Lösungsmitteln 20 Difluorcarben 498 Difluorsilylen 498 DFT, siehe Dichtefunktional Digermene 301 Digermine 304 Diglyme 207 Diimin 325 Dikmethylsulfid (DMS) 457 Diopsid 291 Dioxygenyl-Kation 417 Diphosphan 363, 365 Diphosphate 391 Diphosphene 370 Dipoleffekt 105 Dipolmoment 105, 140 –, atomares 108, 142 –, homöopolares 142 –, Tabelle 106 –, von Ionenpaaren 24
Sachregister
Direktsynthese von Me2SiCl2 299 Disauerstoff-Komplexe 402 Dischwefelsäure 466 Disilene 272, 301 Disiline 272, 303 Disiloxan 269, 283, 288, 413 Dispersionseffekt 108 Disproportionierung 220, 283, 364, 388, 390, 517, 519 Dissoziationsenthalpie 115 Dissoziationsgrad von Halogenen 487 Dissoziationskonstanten 162, 448, 449, 465 Distickstoff-Komplexe 311 Disulfit-Ion 464 Dithionige Säure 471 Dithionsäure 471 Diwasserstoff-Bindung 199 Diwasserstoff-Komplexe 186 DOBSON-Einheit 411 Donor-Akzeptor-Komplexe, siehe Addukte Doppelbindungen 90, 113, 118, 131, 370 Doppelkontakt-Verfahren zur SO3-Herstellung 459 Doppelminimum-Potential 182, 316 doppelte Umsetzung 330 d-Orbitalbeteiligung 83, 86, 87 Dotierung von Halbleitern 243, 275, 365 Drehachse von Molekülen 37, 201 Drehspiegelachse 37 Dreielektronen-Bindung 51 Dreifachbindung 113, 118, 131, 303 Dreizentrenbindung 65, 169, 396, 480, 506 Dublett-Zustand 60, 246 Düngemittel 320, 323, 389 Duranglas 296 E Edelgase 525 –, Kristallstruktur 110 –, physikalische Eigenschaften 110 Edelgasdimere 112 Edelgaskonfiguration 26 Edelgasverbindungen 525 effektive Kernladung 11, 46 Einelektronenbindung 48 Einfachbindung 113, 118 Einkristallstrukturanalyse 25
Sachregister
Einlagerungshydride 191 Einlagerungsverbindungen 255, 502 Eis 174 –, Kristallstruktur 174 -Modifikationen 174 Elektride 332 Elektrofluorierung 337, 492 Elektrolyse-Verfahren 150, 490, 499, 517 Elektronen, solvatisierte 331 Elektronegativität 128, 134 – nach ALLEN 139 – nach ALLRED und ROCHOW 136 – nach PAULING 135 –, spektroskopische 139 Elektronegativitätsausgleich 141 Elektronenakzeptor 79 Elektronenaffinität 12 Elektronenbeugung zur Strukturbestimmung 25 Elektronendichte 144 –, in [H2]+ 45 –, in Ionenpaaren 23 –, in NaCl 15 Elektronendichtedifferenz 144 Elektronendomäne 27, 34 Elektronendonor 79 Elektronengas 240 Elektronenkorrelation 51, 95 Elektronenpaar 26 Elektronenpaarabstoßung 28 Elektronenspin 48 Elektronenspinresonanz (ESR) 438 Elektrophile, siehe LEWIS-Säuren Elementarzelle 14 Enantiomere 316 enantiotrope Modifikationen 436 endergonisch 121 endohedrale Komplexe 246 Energie, kinetische 44, 47 –, potentielle 44, 47, 49 –, thermische 116 Energieniveaudiagramme, siehe MO-Diagramme end-on-Koordination 312 Enstatit 291 entartete Orbitale 40, 56, 78 entartete Punktgruppe 40 Enthärtung von Wasser 420 Entkeimung von Wasser 408, 420, 513
547 Entropie 122 Entstickung von Abgasen 344 Erdgas 233, 434 Erdöl (Rohöl) 434, 456 ERTL, G. 321 Erwärmungspotential von Gasen 130 ESCA (Spektroskopie) 133, 539 ESK-Verfahren zur Siliciumcarbid-Herstellung 306 ESR, siehe Elektronenspinresonanz EVONIK 250, 264 exergonisch 122 F Fällungskieselsäure 289 FARADAY-Konstante 488 Faujasit 292 FCKW 130, 410, 493 Feldspat 291 Fensterglas 296 FENTON-Reaktion 422 FERMI-Loch 95 FERMI-Niveau 240, 243 Ferrosilicium 282, 286 Fetthärtung 150 Feuerstein 285 FISCHER-TROPSCH-Synthese 258 Flammenhydrolyse 286 Fluor 6, 485 –, elementares 490 -isotope 485 –, Reaktivität 487 Fluorapatit 359 Fluorchlorkohlenwasserstoffe, siehe FCKW Fluoride 491 Fluoridierung von Trinkwasser 282 Fluorid-Ionen-Affinität (FIA) 376 Fluorid-Ionen-Akzeptoren 375, 530 fluorierte Kohlenwasserstoffe Fluorierungsmittel 328, 338, 427, 465, 469, 474, 478, 492, 510, 529 Fluorocarbonat 262 Fluoroschwefelsäure 469 Fluorosulfit 465 Flusssäure 164, 490 Flussspat 490 Formalladungen 80, 228 FRASCH-Verfahren zur Schwefel-Gewinnung 434
548 freie Elektronenpaare 26 freie Radikale 243, 319, 338, 425, 438, 472, 514 FREMY’s Salz 319 Fullerene 244 Fulleride 246 Furnaceruß-Verfahren 250 Fusionsreaktor 190 G Galliumarsenid 359, 368 Gasentladung 153, 210, 215, 220, 255, 279, 296, 310, 338, 406, 408 Gashydrate 178 Gaskonstante (R) 116 Gasphasenabscheidung, siehe CVD Gastmolekül 179 gauche-Konformation 324 GAUSS-Funktion 92 gemischtvalente Verbindungen 383, 384, 456, 468, 514 Geometrie von Molekülen 25, 30 gerade 53 Germabenzol 304 Germanate 294 Germane 278 Germanide 276 Germanium 267 –, elementares 273 -halogenide 281 -hydride 278 -isotope 267 -oxide 285 Germylene 268, 284 Gerüstsilicate 291 Gewitter 343 GIBBS-Energie 121, 163, 488 Gitterenergie 16 Gitterenthalpie 16 –, Tabelle 19 Gläser 294 Glasfasern 296 Glaskeramik 297 Glaskohlenstoff 240 Glasübergangstemperatur 295 Glaswolle 296 Gleichgewichtskernabstand 115 Glimmer 291 Graphen 239
Sachregister
Graphit 239, 249, 251 –, anorganischer 231 Graphitoxid 249 Graphitverbindungen 251 Granat 291 Grauspießglanz 451 Grenzstrukturen 239, 263 GRIMM’s Hydridverschiebungssatz 161, 298 Gruppenelektronegativität 140, 540 Gruppenschwingungen 128 GTO 92 H HABER, F. 17 HABER-BOSCH-Verfahren zur AmmoniakHerstellung 310, 320 Halbleiter 200, 204, 243, 245, 248, 275, 295, 306, 368, 435, 443, 451, 486 Halogen-Austauschreaktionen 21, 282, 477, 492 Halogene 6, 485 –, physikalische Eigenschaften 485 Halogen-Azide 336 Halogen-Kationen 507 Halogenid-Ionen 13–15, 488, 502 Halogenwasserstoffe 503 HAMILTON-Operator 91 HAMMETT-Aciditätsfunktion 165 Harnstoff 229, 323 harmonischer Oszillator 126 harmonische Schwingungen 126 Härte von Atomen 109 harte Säuren und Basen 81 hartes Wasser 420 Hartree (Energieeinheit) 45 HARTREE-FOCK-Rechnungen 91, 96 Hauptsatz, zweiter, der Thermodynamik 21, 121, 163 HDE (Hochdruckextraktion) 258 HDS-Verfahren zur Rohöl-Entschwefelung 434 HEISENBERG, W. 9 HEISENBERG’s Unbestimmtheitsrelation 115 HEITLER, W. H. 41 Helium 525 –, Molekül-Ion 51, 116 –, physikalische Eigenschaften 110 Helium-3 246, 526 Herbizide 325
Sachregister
Heteroborane 213, 215 Heterocyclen 222, 226, 227, 238, 381, 382, 459, 483 Heterofullerene 246 Hexafluorkieselsäure 282 Hexamethyltellur 479 Hinbindung 405 HITTORF ’s Phosphor 360 HMPA (Lösungsmittel) 374 Hochdruckmodifikationen von Elementen 112, 147 Hochtemperaturwerkstoffe 205 Holz 251 HOMO 56 Homolyse von Bindungen 123 homonukleare Moleküle 53, 120 Homocyclen 363, 367, 369, 437, 442, 444 HOOKE’s Gesetz 126 HOPG 240 Hostaflon 494 HPLC 289, 438 HÜCKEL, E. 400 HÜCKEL-Aromaten 73, 236, 367 HÜCKEL-Regel 446 HUND, F. 41 Hybridorbitale 59 Hydrate 157 Hydrationsenthalpien 20 hydratisierte Elektronen 335 Hydrazin 311, 318, 324, 338 Hydride 163, 185, 188 Hydrid-Ion 154, 186, 188 Hydridverschiebungssatz 161, 298 Hydrierungsmittel 189, 212, 258 Hydroborate 207, 211 Hydroborierung 214 Hydrodesulfurierung 434 Hydrogenasen 149 Hydrogenazid 326 Hydrogenchlorid 503 Hydrogencyanid 264, 322 Hydrogenfluorid 173, 490 –, dimeres 183 Hydrolysen 198, 271, 283, 325, 449 Hydronium-Ionen 154 Hydroperoxide 402 hydrophober Effekt 178 Hydrophosphorylierung 365 Hydrosilylierung 284
549 Hydrothermalsynthese 287 Hydroxid-Ion 220 Hydroxylamin 328 Hydroxylradikal 352, 410, 425 Hyperkonjugation 304, 316, 318, 356, 396, 428, 442, 476 hyperkoordinierte Verbindungen 83, 86, 479 Hyperoxide 415 hypervalente Verbindungen 83 Hypochlorige Säure 516 Hypodiborsäure 220 Hypofluorige Säure 427 Hyposalpetrige Säure 352 I Ikosaeder 39, 201 Imide 323 Iminoborane 227 Impfkristall 275 Induktionseffekt 107 induktiver Effekt 128, 140, 318, 377, 496, 540 Insektizide 386 Inselsilicate 291 Interhalogenverbindungen 509 Inversion, pyramidale 316, 364 Inversionszentrum 37 Iod 485 –, elementares 499 -isotope 485 -Kationen 507 –, Kristallstruktur 487 -oxide 512 -Sauerstoffsäuren 515 -Stärke-Komplex 502 Iodierung von Kochsalz 519 Iodometrie 470 Iodosobenzol 522 Ionenaustausch 420, 519 Ionenbindung 10 Ionenbindungsanteil 141 Ionengitter 10, 14 Ionen-Kovalenz-Resonanzenergie 135 Ionenpaar 22, 23 Ionenprodukt, von H2O 155 –, von NH3 159, 330 Ionenradien 14, 15 ionische Flüssigkeiten 20 Ionisierungsenergie 10 Ionisierungspotential 10
550 IPR (isolated pentagon rule) 245 isoelektronisch 63, 311, 327 Isomerisierung, von Carboranen 216 –, von Disilenen 302 Isosterie 63, 81, 228, 257, 311 Isotope 130, 151, 195, 233, 267 Isotopenaustausch 52, 152 Isotopeneffekt 152 Isotopomere 129, 151 ITER (Fusionsreaktor) 190 IUPAC 113 K Käfigverbindungen 179 Kalifeldspat 291 Kalkfeldspat 291 Kalkstein 233 Kalottenmodelle 111 Karat 242 Katalase 424 Katalyse 149, 150, 258, 299, 310, 320, 344, 421, 459 –, Ammoniaksynthese 319 –, OSTWALD-Verfahren zur NO-Herstellung 310 –, SO2-Oxidation 459 Kationenaustauscher 293, 420 KEL-F 494 Keramik 231 Kernabstand 116, 123 –, Tabellen 32, 33, 123, 125, 132 Kernit 195 Kernfusion 190 Kernladungszahl, effektive 11, 46 Kernreaktor 151, 152, 205 Kernresonanz, magnetische 153, 195, 213, 246, 289, 375, 378, 431 Kettenabbau-Reaktionen 447 Kettenaufbau-Reaktionen 447 Kettenreaktion 52, 153 Kieselalgen 287 Kieselerde 285 Kieselgel 283, 285, 287, 289 Kieselglas 285, 294 Kieselgur 285 Kieselsäuren 285, 287 Kieselsäureester 283, 297 Klimawandel 130 Knallgas 154
Sachregister
Knochen (Zusammensetzung) 359 Knotenflächen von Orbitalen 46 Königswasser 340, 349 Kohle 249 Kohlefasern 240 Kohlenhydrate 400 Kohlensäuren 261 Kohlenstoff 233 –, elementarer 238 -halogenide 255 -isotope 233 -nanoröhren 246 -nitride 264 -oxide 256 -selenide 259 -sulfide 259 -telluride 260 -uhr 234 Kohlenwasserstoffe 258 Kohlevergasung 150 Koks 251 KOHN, W. 9 Komplexbildung mit Metallhalogeniden 22 Komproportionierung 507 Kondensationsreaktionen 223, 391, 447, 450 kondensierte Borate 224 kondensierte Phosphate 391 Konfigurationswechselwirkung 97 Kontaktverfahren zur SO3-Herstellung 458 Konturliniendiagramme der Elektronendichte 14, 23, 46, 57, 70 KOOPMAN’s Theorem 11, 59 Koordinationszahlen von Nichtmetallen 169, 186, 198, 234, 271, 315, 358, 412, 432, 489, 496 koordinative Bindungen 79, 196, 226, 298, 313, 356, 377, 405, 413 korrespondierende Säure 162 kovalente Bindungen 41 Kovalenzradien 111, 123 Kraftkonstanten, siehe Valenzkraftkonstanten Krebstherapie 205 Kreisprozesse, thermodynamische 17, 22, 163 Kristallradien 15 Kristallwasser 224 Kronenether 333 Kryolith 490
551
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Krypton 525 –, physikalische Eigenschaften 110 -Verbindungen 525, 535 Kupferglanz 431 Kupferkies 451 L Lachgas 341 Ladungskapazität 143, 197 Ladungsumverteilung in Molekülen 144 Lapislazuli 292 LAWESSON’s Reagenz 386 LCAO-Näherung 43 legierungsartige Hydride 190 LEWIS, G. N. 26, 81 LEWIS-Basen 81, 315, 356, 368 LEWIS-Säuren 81, 269, 282, 376, 377, 460 LH2 151 Lichtleiter 296 Linde AG 399 Linde A-Zeolith 292 Linearkombination von Atomorbitalen 43, 64, 237, 409 LIPSCOMB, W. N. 210 Lithium-Ionen-Batterie 252, 254 lokale Symmetrie von Molekülen 40 LONDON, F. W. 41 Löslichkeit von Salzen 20 Lösungsenthalpie 21 Lösungsentropie 21 Lösungsmittel, wasserähnliche 156, 329 Lösungsmitteleffekte 103 LOWRY, T. M. 160 Luft (Zusammensetzung) 399, 456, 526 LUMO 76 M Malathion 386 Malonsäure 259 MARSH’s Probe auf Arsen 364 Massenwirkungsgesetz 162 Matrix-Isolierung 23, 286, 308 Mehrfachbindung 89, 114, 236, 433 Mehrzentrenbindungen 83, 198, 202, 486, 506 Membran-Verfahren der Chlor-AlkaliElektrolyse 499 Mesitylrest 302 Mesomerie 114
Messing 491 Metallacarbaborane 217 Metallacyclen 286, 451 metallartige Hydride 190 Metallchalkogenide 451 Metallhydride 191 metallische Leitfähigkeit 147, 240, 246, 432 Metalloide 139 Metallselenide 451 Metallsulfide 451 Metaphosphate 391 Metasilicate 291 Metatellursäure 468 Methan 149, 257, 258, 260, 264, 322 –, Bindung in 77 -hydrat 179 –, Photoelektronenspektrum von 79 –, Vorkommen 233 Methanolsynthese 150 Mikrowellenspektroskopie 25 Mineralwässer, Rn-haltig 527 Mischungskoeffizient 44 mittlere Bindungsenthalpie 117, 119 Modellvorstellungen in der Chemie 7, 9 MO-Diagramme 48, 50, 55, 57, 62, 66, 67, 69, 72, 76, 78, 85, 89, 203, 505, 538, 541 Modifikationen von Elementen 147, 200, 238, 360, 436, 443 molekulare Erkennung 180 Molekularsiebe 293 Molekülgeometrie 25 Molekül-Ionen, homoatomare 42, 51, 56 Molekülorbitale 44, 91 Molekülsymmetrie 36 Møller-Plesset(MP)-Rechnungen 95 Monel (Legierung) 490 monotrope Modifikationen 200, 436, 439 Montmorillonit 291 MO-Theorie 41 MULLIKEN, R. S. 41, 400 MWNT (carbon nanotubes) 247 N n-Leitung 275 NaCl-Struktur 14 Nafion 494 Nanoröhren 231, 246 Narkosemittel 341, 495, 527 Nassphosphorsäure 388
552 Natrid-Ionen 333 Natrium-Schwefel-Akkumulator 453 negative Hyperkonjugation 316, 318, 320, 539 Neon 525 –, physikalische Eigenschaften 110 Neoteben 325 Neutralpunkt 155 Neutronenabsorber 205 Neutronentherapie 205 nichtbindende Elektronenpaare 26, 32 nichtexistierende Edelgasverbindungen 540 nichtoxidische Keramik 231, 305 Nichtmetalle, Definition 147 niedere Schwefeloxide 456, 461 Nitrate 350 Nitren 326 Nitride 323 Nitridierung von Silicium 307 Nitridoborate 231 Nitridophosphate 394 Nitridosilicate 298 Nitriersäure 167 Nitrierung von Aromaten 219, 347 Nitrite 351 Nitrogenasen 311 Nitronium-Ion 167, 219, 315, 345, 347 Nitrosylhalogenide 339 Nitrosyl-Ion 315, 340, 343 Nitrylhalogenide 339 NMR-Spektroskopie, siehe Kernresonanz Nobelpreise 5, 6, 9, 105, 152, 210, 235, 244, 321, 344, 410, 483 Normierungsfaktor 44 Nukleophile, siehe LEWIS-Basen nukleophiler Angriff 271, 388, 408, 447 nukleophile Substitution 281, 395, 447 Nullpunktsenergie 115 –, von Kristallen 17 –, von Molekülen 115, 130 Nylon 329 O Oberflächenverbindungen 248 Oktaeder 39 Oktett-Konfiguration 27 OLAH, G. A. 235 Oleum 459, 466 Oligomere von H2O 176, 184
Sachregister
Olivin 291 Opal 285 open-shell-Konfiguration 319 Orbital 42 Orbitalenergie 12, 45, 49, 55, 93, 139 Orbitalkontraktion 46, 50 Organoborane 214 Organofluorverbindungen 485, 493 Organophosphane 368 Organopolysulfane 455 Organosilane 299 Organosiloxane 304 Organotellurverbindungen 479 Orthoborsäure 222 orthogonale Orbitale 53 Orthokieselsäure 287 Orthoklas 291 Orthonitrate 350 Orthophosphate 388 Orthophosphorsäure 359, 387 Orthoselenate 467 Orthosilicate 291 Orthotellursäure 468 ortho-Wasserstoff 293 OSTWALD-Verfahren zur NO-Herstellung 310, 322 Oxidationsmittel 254, 327, 337, 339, 346, 349, 407, 408, 414, 423, 424, 460, 477, 491, 522 Oxidationsstufen 317, 341, 358, 432, 462, 473, 516 oxidative Addition 186, 374, 475 Oxide 411 Oxidgläser 295 Oxone 424, 469 Oxonium-Ionen 154, 157 Oxoniumsalze 157 Oxoliquit (Sprengstoff) 400 Oxophilie 278, 386 Oxosynthese von Alkoholen aus CO 150 Ozon 346, 407 Ozonide 382, 402, 416 Ozonloch 410 Ozonschicht 409 P π-Bindungen 53, 196, 228, 236, 272, 313, 315, 349, 370, 413, 446, 482 π*-π*-Bindungen 342, 400, 417, 507
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p-Leitung 242, 275, 443 Packungseffekte in Kristallen 26 PAH 250 PAN 346 Parathion 386 Partialladungen 80, 141, 228 para-Wasserstoff 293 Passivierung 276, 349, 491 PAULI, W. 9 PAULING, L. 41, 134 PAULI-Prinzip 12, 27, 95 PAULI-Verbot, siehe PAULI-Prinzip Pentazolring 319 Perchlorsäure 354, 517 Perlon 329 Pernitride 326 Peroxide 225, 414, 421 Peroxoborat 225, 424 Peroxocarbonate 265 Peroxophosphorsäuren 392 Peroxosalpetersäure 350, 352 Peroxosalpetrige Säure 352 Peroxoschwefelsäuren 468 Perxenate 532 PES 101 Phasendiagramme 175, 241, 436 Phosphaalkene 370 Phosphaalkine 371 Phosphabenzol 357 Phosphane 363 Phosphanide 373 Phosphazene 394 Phosphide 366 Phosphinate 390 Phosphinsäure 387, 390 Phosphite 390 Phosphol 371 Phosphonsäure 381, 387, 390 Phosphor 5, 75, 355 –, elementarer 359 -halogenide 371 -hydride 363 -isotope 358 -modifikationen 361 -nitrid 394 -oxide 381 -oxidhalogenide 128, 373 -säuren 359, 387 -säureester 383, 389
553 -sulfide 373, 385 -ylide 357 Phosphorane 379 Phosphorigsäure 388 Phosphorit 388 Photoelektronen-Spektroskopie 59, 141, 539 Photohalbleiter 443 Photosynthese 259, 399 Photovoltaik 274 pH-Wert 155 Phyllosilikate 291 piezoelektrischer Effekt 288 pK-Wert 162 PLANCK’s Konstante (h) 115 Pnictide 355 polare Lösungsmittel 20 Polarisation von Anionen 22 Polarisation von Orbitalen 47, 94 Polarisierbarkeit 109 Polarität kovalenter Bindungen 118, 133, 140, 143 Polarisationsfunktion 47, 94 Polonium 431, 443 Polyamid (Nylon, Perlon) 329 Polyanionen 223 Polyborate 222 Polychalkogenide 451 Polyeder 39, 213 Polyethylen 236, 272 Polyhalogenid-Ionen 504 Polyine 265 Polyiodide 504, 506 Polykondensation 304 Polymerisation 236, 272, 304, 305, 397, 494 Polymerschwefel 439 Polyphosphate 391 Polyphosphorsäuren 382, 390 Polyschwefeloxide 462 Polyschwefelsäuren 459, 466 Polyselenide 452 Polysilylene 300 Polysulfane 449 Polysulfate 467 Polysulfide 452 Polytelluride 452 Polythionsäuren 470 Polytetrafluorethylen, siehe PTFE POPLE, J. 9 Potentialkurven 114, 131, 182, 273
554 Promolekül 144 Promotionsenergie 243 Proton 154 Protonenakzeptor 161 Protonenaffinitäten 183, 356, 537 Protonendonor 156, 161 Protonendonorstärke 165 Protonenleitfähigkeit 156 Protonensäuren 157 Protonenschwämme 180 Pseudohalogene 523 Pseudoheterocyclen 8, 219, 230, 397 Pseudorotation 270, 374, 381, 474 Pseudosubstituenten 30 PTFE (Polytetrafluorethylen) 493 Pulsradiolyse 335 Punktgruppen von Molekülen 36 Punktgruppensymbole 39 Punktsymmetrie 37 pyramidale Inversion 316, 364 Pyridin 315, 460, 509 Pyrit 431, 451 pyrogene Kieselsäure 286 Pyrolysen 200, 240, 248, 274 Pyrosulfit 465 Q Quadrupolmoment 107 quantenchemische Rechnungen 90 Quarz 285, 413 Quarzglas 285, 294–296 Quarzgut 296 R Racemisierung 316 Radikal-Anionen 415, 416, 454, 472 Radikal-Kationen 417, 509, 526, 530, 537 Radon 525 -Verbindungen 526 Ramanspektren 313 RASCHIG-Verfahren zur Hydrazin-Herstellung 324 rauchende Schwefelsäure 459, 466 Rauchgasentschwefelung 456 Reaktionsentropie 122 Realgar 359 Reduktionsmittel 189, 201, 209, 212, 254, 257, 278, 300, 324, 329, 334, 390, 457, 471 Reduktionspotential von Halogeniden 488
Sachregister
reduktive Eliminierung 186, 374 Reinelemente 358, 483 Resonanz zwischen Grenzstrukturen 114 Resonanzenergie 135 Resonanzintegral 49 Ringöffnung 123, 305, 447, 476 ROCHOW-Synthese zur Me2SiCl2-Herstellung 299 Rohsulfan 450 Röntgenstrukturanalyse 25 ROP 305 Rückbindung 313, 405 Ruß 249 Rußöl 250 S
σ-Konjugation 300 σ-Orbitale 46, 53
Salpeter 309 Salpetersäure 310, 322, 348 Salpetrige Säure 351 salzartige Hydride 188 Salze, in Wasser 177 Salzsäure 164, 503, 504 Salzschmelzen als Lösungsmittel 279 Sandwich-Komplexe 217 Sassolin 221 Sauergas 233, 434 Sauerstoff 5, 399 –, atomarer 406 -fluoride 417, 426 -hydride 419 -isotope 399 –, Molekülgröße 121, 400, 407 –, Singulett-Form 400 Sauerstoffsäuren in Wasser 164 Säureanhydride 223, 257, 259, 346, 381, 515 Säurehalogenide 219, 258, 339 Säurekonstante 162 Säuren 156 –, wasserfreie 159 saure Salze 174 saurer Regen 346, 457 Säurestärke 162 SCF-Methode 101 Schichtsilicate 29 Schießpulver 455 SCHLESINGER-Verfahren 212 Schrägbeziehung 195
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SCHRÖDINGER, E. 9 SCHRÖDINGER-Gleichung 44, 91 Schwarzpulver 455 Schwefel 6, 431 –, dampf 122, 439 –, elementarer 121, 434 -dioxid 130, 456 -halogenide 472, 476 -hexafluorid 85, 473 -hydride 448 -kationen 444 -isotope 431 -oxide 451, 455 -oxidhalogenide 21, 472, 477 -säuren 462, 466 -schmelze 438 -Stickstoff-Verbindungen 480 -trioxid 89, 459 -wasserstoff 434, 448 Schweflige Säure 462 Schwerspat 431 Schwingungsfrequenzen von Molekülen 115, 126, 172 Schwingungsspektroskopie 126 selbstkonsistentes Feld (SCF) 101 Selen 431 –, elementares 435, 443 –, rotes 444 -halogenide 472, 478 -hydride 448 -isotope 431 -Kationen 444 -ocarbonat 263 -oxide 455, 458, 461 -säure 467 -wasserstoff 448 Selenide 451 Selenige Säure 465 Selenocystein 449 side-on-Koordination 187, 312, 405 SIEMENS-Ozonisator 408 SIEMENS SOLAR 274 Silabenzol 238, 302 Silane 278 Silanide 280 Silanole 288 Silasesquioxane 289 Silazane 283 Silicate 289
555 Silicide 276 Silicium 267 –, Ätzen von 281 –, elementares 273 -carbid 305 -halogenide 277, 280, 281 -hydride 278 -isotope 267 -nitrid 306 -oxide 285 -oxosäuren 285, 287 -Stickstoff-Verbindungen 298, 306 -sulfide 307 Silit 306 Silikone 304 Siloxane 287, 304 Silylamine 298 Silylene 268, 279, 283, 302, 498 Singulett-Disauerstoff 400–402 Singulett-Zustand 56, 406 SLATER-Funktionen 92 SLATER-Regeln 11 Soda 262 Sodalith 292 Sol-Gel-Verfahren 297 Solvatation von Ionen 20, 154, 177 Solvatationsenthalpie 20 solvatisierte Elektronen 331 SOLVAY-Verfahren zur Sodaherstellung 262 Solvobasen 160 Solvosäuren 157 Sommersmog 411 SOMO 342 spektroskopische Elektronegativität 139 Spherosiloxane 288 Spiegelebene bei Molekülen 37 Spin von Elektronen 48 Spinerhaltungssatz 401 Spinmultiplizität 406 spinverbotene Reaktion 401 Spodumen 291 Steam-Reforming-Verfahren 149 Steinsalz-Struktur 14 Steinschutzstoffe 305 sterische Wechselwirkung 36, 197 Stickstoff 5, 309 –, elementarer 309 -Fixierung 311 -halogenide 336
556 Stickstoff -hydride 320 -isotope 309 -oxide 319, 340 -oxidhalogenide 339 -sauerstoffsäuren 348 -wasserstoffsäure 326 Stishovit 285 STO 92 STOCK, A. 209 Stoßpartner 153 Strahlentherapie von Tumoren 205 Stratosphäre 409 Strukturbestimmung von Molekülen 25 Strukturbildung in Wasser 177 Strukturwasser 224 Substituentenaustausch 214, 219 subvalente Verbindungen 217, 497 Süd-Chemie AG 150 Sulfaminsäure 460 Sulfane 449 Sulfandisulfonsäuren 470 Sulfanoxide 465 Sulfat-Ion, Bindung 89 Sulfide 451 Sulfit-Ion 464 Sulfolan 493 Sulfonat-Ion 464 Sulfonierung 469 Sulfurylhalogenide 477 Supermesityl-Rest 370 Superoxide 415 Superoxid-Dismutase 416 Superphosphat 389 Supersäuren 159, 166 Supraleitung 147, 204, 246, 254, 360, 433, 483 supramolekulare Komplexe 180 supramolekulare Verbindungen 288 SWNT (nanotubes) 247 Symmetrieelemente 37 Symmetrieoperationen 36 symmetrieverbotene Reaktionen 52, 343 Symmetriezentrum 37 Synthesegas (Syngas) 150 T Tautomerie 464 Teflon 494
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Teilbindungen 481, 486, 530 Tektosilicate 291 Tellur 431 –, elementares 435 -halogenide 472, 478 -hydride 448 -isotope 431 -Kationen 444 -oxide 455, 458, 461 -oxosäuren 461, 465, 467 -wasserstoff 448 Tellurige Säure 465 Tellurit 458 Tellurite 466 Template 293 Termsymbole 50, 406 Tetraeder 39 Tetrafluorborsäure 218 Tetrahedrane 220 Tetramethylsilan, siehe TMS Tetrathionat 470 Tetrazan 318 Tetrazen 319, 328 thermische Phosphorsäure 388 Thioarsenate 393 Thioborate 226 Thiocarbonate 260, 263 Thiocyanate 260 Thiolyse 393 Thionylhalogenide 21, 477 Thiophosphorsäuren 385, 392 Thioschwefelsäure 463, 470 Thiosulfat-Ion 447, 465, 470 Thortveitit 291 Tinkal 224 Titanosilicate 294 TMS (Tetramethylsilan) 173, 300 Tone 291 Torsionspotential 220, 272, 324, 423 totalsymmetrisch 69 Transformationstemperatur 295 Treibhauseffekt 130 Treibhausgase 130, 341 Triazan 318 Tridymit 285 Trinkwasser-Aufbereitung 408 Tripelphosphat 389 Triplett-Zustand 56, 406 Trisulfanoxid 465
557
Sachregister
Tritium 151, 190 Trockeneis 258 Trockenmittel für Gase und Lösungsmittel 189, 293, 383 Troposphäre 410, 425 Tunneleffekt bei NH3 316 Turmalin 225 U überkritische Lösungsmittel 176, 420 Überlappung von Orbitalen 43, 53, 54 Überlappungsintegral 44, 53 Ultramarine 291 Ultraphosphate 391 Umrechnungsfaktoren für Energie 45, 101 Umwelt-Verschmutzung 346 Unschärferelation 115 UPS (Spektroskopie) 60 Urease 323 V Valenzbindungs-Theorie 41 Valenzkraftkonstanten 115, 126, 131, 409, 505, 508, 518 Valenzschwingung 115 Valenzwinkel von Molekülen (Tab.) 31–34, 269 VAN DER WAALS, J. 105 VAN DER WAALS-Moleküle 112 VAN DER WAALS-Radien 110 VAN DER WAALS-Wechselwirkung 105 –, in Salzen 16 VB-Theorie 41 verbotene Zone von Halbleitern 243 Verbundwerkstoffe 200, 241, 248 verzweigte Wasserstoffbrücken-Bindungen 169, 177 Vinylchlorid 503 virtuelle Orbitale 48 Viskose 260 Viton 494 vorgelagertes Gleichgewicht 342 VSEPR-Methode zur Strukturermittlung 26 Vulkanisation von Gummi 300 W WACKER CHEMIE 230, 274 Wafer 275 Waschmittel 293, 421
Wasser 176, 419 -Aufbereitung 408, 419 –, Phasendiagramm 175 –, schweres 152 –, überkritisches 176 wasserähnliche Lösungsmittel 156, 329, 457 Wasserdampf 177 wasserfreie Schwefelsäure als Lösungsmittel 159, 165, 166 Wassergas 150 Wasserglas 289 Wasserhärte 420 Wasseroxidase 399 Wasserstoff 3, 149 –, atomarer 153 -isotope 151, 293 –, ortho- 293 –, para- 293 –, physikalische Eigenschaften 152 –, Verwendung 150 Wasserstoffbrücken-Bindung 155, 158, 167, 222 –, allgemeine Eigenschaften 169 –, Nachweis von 170 –, Theorie der 182 Wasserstoffhalogenide 163, 503 Wasserstoff-Ionen 154, 156 Wasserstoff-Komplexe 186 Wasserstoffperoxid 421 Wasserstoffspeicher 191, 227 Wasserstofftechnologie 151 Wechselwirkungskraftkonstante 129 weiche Atome 109 weiche Säuren und Basen 81 Wellenfunktion 91 Wellenzahl 127 WELLMANN-LORD-Verfahren zur Rauchgasentschwefelung 457 Wollastonit 291 X Xenon 7, 525 –, Elektronegativität 536 –, physikalische Eigenschaften 110 -difluorid, Kristallstruktur 107 -fluoride 528 -hydride 540 -isotope 526 -NMR-Spektroskopie 526, 535
558 Xenon -oxide 531 -oxidfluoride 532 -oxosalze 531 -Verbindungen 527 Xerogel 297 XPS (Spektroskopie) 60, 133, 539 Xylylrest 302 Y Ylide 357 Ypsilon-Aromatizität 73 Z Zähligkeit von Drehachsen 37 Z/E-Isomerie 302, 338, 370
Sachregister
Zeolithe 292 Zeppeline 153 ZINTL-Ionen 277, 334 Zinkblende 431 Zinnober 431 Zonenschmelzen 275 ZPE (zero point energy) 130 ZUNDEL-Komplex 154 Zustandsdichte 240, 243 zweiatomige Gruppen, Valenzschwingung von 128 zweiter Hauptsatz der Thermodynamik, siehe Hauptsatz zweite Ionisierungsenergie 12 Zweizentrenorbitale 42 Zwitterion 460