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edition suhrkamp
Das Buch von Pierre Bourdieu über das Fernsehen und dessen Wirkungsweise war selbst ein Fernsehereignis. Der Autor hielt zwei Vorlesungen am Collège de France über Struktur und Wirkung des Fernsehens, die vom Fernsehen ausgestrahlt wurden. In der ersten Vorlesung stellte er die unsichtbaren Zensurmechanismen heraus, die auf dem Bildschirm gelten, und deckte damit die Geheimnisse der Kunstprodukte dieses Mediums auf, ihre Bilder und Formulierungen. In der zweiten Vorlesung erklärte Pierre Bourdieu, in welcher Weise das Fernsehen, das eine zentrale Stellung innerhalb des Journalismus besetzt, den Charakter der Diskurse beeinflußt und verändert hat: in der bildenden Kunst, Literatur, Philosophie und Politik, ja selbst in Jurisdiktion und Wissenschaft - und zwar dadurch, daß auch auf diese Gebiete teilweise die Logik der Einschaltquoten übergegriffen und die demagogische Unterwerfung unter die Erfordernisse des kommerziellen Plebiszits stattgefunden hat. Pierre Bourdieu war Professor am Collège de France. Er verstarb am . Januar . Von ihm liegen im Suhrkamp Verlag vor: Homo academicus (stw ); Die feinen Unterschiede (stw ); Rede und Antwort (es ); Die politische Ontologie Martin Heideggers (es ); Sozialer Raum und »Klassen« (stw ); Sozialer Sinn (stw ); Soziologische Fragen (es ); Zur Soziologie der symbolischen Formen (stw ); Praktische Vernunft (es ); Reflexive Anthropologie (zusammen mit Loic J. D. Wacquant).
Pierre Bourdieu Über das Fernsehen Aus dem Französischen von Achim Russer
Suhrkamp
Titel der Originalausgabe: Sur la télévision. Das Buch erschien als Band der von Pierre Bourdieu herausgegebenen Reihe »Liber - Raison d‘agir«.
edition suhrkamp Erste Auflage © Liber - Raison d‘agir © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Jung Satzcentrum, Lahnau Druck: Nomos Verlagsgesellschaff, Baden-Baden Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt Printed in Germany -
Inhalt ;XFJ’FSOTFIWPSUS˚HF Vorbemerkung
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Das Fernsehstudio und seine Kulissen 15 Die unsichtbare Struktur und ihre Auswirkungen Angaben zu den beiden Fernsehvorträgen *N#BOOFEFT+PVSOBMJTNVT %JF0MZNQJTDIFO4QJFMF /BDIXPSU +PVSOBMJTNVTVOE1PMJUJL
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Zwei Fernsehvorträge
Vorbemerkung1 Um über die übliche Hörerschaft des Collège de France hinaus eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, habe ich mich entschlossen, die beiden folgenden Vorträge im Fernsehen zu zeigen. Ich bin nämlich der Auffassung, daß das Fernsehen aufgrund der unterschiedlichen Mechanismen, die ich kurz beschreiben werde – eine vertiefte, systematische Untersuchung hätte viel mehr Zeit erfordert –, für verschiedene Sphären der kulturellen Produktion, für Kunst, Literatur, Wissenschaft, Philosophie, Recht, eine sehr große Gefahr bedeutet; ich meine sogar, daß es in Gegensatz zu dem, was gerade verantwortungsbewußte Journalisten vermutlich in gutem Glauben denken und sagen, eine nicht weniger große Gefahr für das politische und demokratische Leben darstellt. Ich könnte das leicht nachweisen, wenn ich mir die Behandlung vornähme, die das Fernsehen und in seinem
Dieser Text stellt die überarbeitete Transkription der Aufzeichnung zweier Fernsehsendungen dar, die am . März im Rahmen einer Reihe vom Collège de France produzierter und vom Privatsender Paris Premiere im Mai ausgestrahlter Kurse entstanden (Sur la television und Le champ journalistique et la télévision, Collège de France – CNRS audiovisuel). Der anschließende Text (der ursprünglich ein dem Einfluß des Fernsehens gewidmetes Heft der Actes de la recherche en sciences sociales einleitete) resümiert die ematik der Vorträge in stärker begrifflich orientierter Sprache. Das gegründete Collège de France stellt heute den Gipfel der institutionalisierten Wissenschaft m Frankreich dar, ein Pantheon von Nobelpreisträgern (in den Naturwissenschaften) und anderer Leuchten ihres jeweiligen Faches. Seit hat Pierre Bourdieu hier den Lehrstuhl für Soziologie inne. (A. d. Ü.)
Gefolge die Presse um der Steigerung von Einschaltquoten und Auflagen willen den Urhebern von fremdenfeindlichen und rassistischen Äußerungen und Taten angedeihen lassen, oder die Zugeständnisse aufzeigte, die es tagtäglich einer national beschränkten, um nicht zu sagen nationalistischen Auffassung von der Politik macht. Für den Fall, daß ich verdächtigt werde, ausschließlich französische Besonderheiten hochzuspielen, möchte ich auf die tausend pathologischen Züge des amerikanischen Fernsehens verweisen, etwa auf die Behandlung des Prozesses gegen O.J. Simpson in den Medien oder darauf, wie kürzlich eine simpler Fall von Totschlag zum »Sexualverbrechen« aufgebauscht und damit eine ganze Reihe unkontrollierbarer juristischer Konsequenzen ausgelöst wurde. Am besten aber werden die durch schrankenlosen Wettbewerb um die Einschaltquote ausgelösten Gefahren von dem Vorfall illustriert, der sich kürzlich zwischen Griechenland und der Türkei ereignete: Nachdem ein privater Fernsehsender zur Mobilisierung für das winzige, unbewohnte Eiland Imia aufgerufen und entsprechende kriegerische Parolen verlautbart hatte, zogen die anderen privaten Fernseh- und Rundfunkanstalten in Griechenland nach und überboten sich, gefolgt von der Tagespresse, in nationalistischen Delirien; aufgrund derselben Logik der Schlacht um die Einschaltquote legten sich daraufhin die türkischen Fernsehanstalten und Zeitungen ins Zeug. Griechische Soldaten landeten auf dem Inselchen, Flottenverbände wurden verlagert, ein Krieg mit knapper Not vermieden. Vielleicht liegt das Neue an den Explosionen von Fremdenhaß und Nationalismus in der Türkei und in Griechenland, aber auch im ehemaligen Jugoslawien, in
Frankreich und andernorts wesentlich allein in den von den modernen Kommunikationsmitteln gebotenen Möglichkeiten, diese primitiven Leidenschaften auszubeuten. Da ich meinen Kurs als Eingriff konzipierte, habe ich mich bemühen müssen, dem zu entsprechen, was ich mir vorgenommen hatte, und mich so auszudrücken, daß jedermann mich verstehen konnte. Dies hat mich in mehr als einem Fall zu Vereinfachungen oder approximativen Ausführungen gezwungen. Um das Wesentliche, das heißt das gesprochene Wort, in den Vordergrund zu rücken, habe ich mich im Einvernehmen mit dem Produzenten und im Unterschied von (oder in Gegensatz zu) dem, was sonst im Fernsehen gang und gäbe ist, entschlossen, alle formalen Spielereien bei Bildeinstellung oder Aufnahmetechnik zu meiden und auch auf Illustrationen – Auszüge aus Sendungen, Faksimiles von Dokumenten, Statistiken usw. – zu verzichten: Sie hätten nicht nur kostbare Zeit in Anspruch genommen, sondern womöglich auch die Linie argumentierender Beweisführung verwischt, an die ich mich halten wollte. Der Kontrast zu dem gewöhnlichen Fernsehen, dem Gegenstand der Untersuchung, und zwar im Sinne einer Selbstbehauptung des analytischen und kritischen Diskurses, war gewollt, mochte er auch die pedantischen und schwerfälligen, didaktischen und dogmatischen Züge einer professoralen Vorlesung annehmen. Wie es heißt, wird bei politischen Diskussionen in den Vereinigten Staaten darauf geachtet, daß die Wortmeldungen sieben Sekunden in der Regel nicht überschreiten. Angesichts solcher Tendenzen bleibt die auf Argumenten aufgebaute öffentliche Rede eine der verläßlichsten Formen des Widerstands gegenüber Manipulation und ein Ausdruck von Gedankenfreiheit.
Ich weiß wohl, daß die Kritik durch den Diskurs, auf die ich mich beschränken muß, nichts weiter als ein Notbehelf ist, ein Substitut, und weniger effizient und unterhaltsam als eine echte Kritik des Bildes durch das Bild, wie man sie hier und da findet, von Jean-Luc Godard (in Tout va bien, Ici et ailleurs oder Comment ça va) bis hin zu Pierre Carles. Ich weiß auch, daß, was ich tue, die Fortsetzung und Ergänzung des Kampfes darstellt, den alle um die »Unabhängigkeit ihres Kommunikationskodes« bemühten Film- und Fotoproduzenten führen, insbesondere – ich muß ihn noch einmal zitieren – Jean-Luc Godard, dessen Analyse einer Fotografie Joseph Krafts und ihrer Verwendung ein Muster kritischer Reflexion über Bilder darstellt. Und ich könnte mein eigenes Programm mit den Worten dieses Regisseurs formulieren: »Die Arbeit bestand darin, sich politisch (ich würde sagen: soziologisch) mit Bildern und Tönen und ihren Beziehungen auseinanderzusetzen. Sie bestand darin, nicht mehr zu sagen: >Das ist ein genaues Bild<, sondern: >Das ist genau genommen ein Bild<; nicht mehr zu sagen: >Das ist ein Offizier der Nordstaaten auf einem Pferd<, sondern: >Das ist ein Bild eines Pferdes und eines Offiziers<.« Ohne mich allzu großen Illusionen hinzugeben, möchte ich wünschen, daß meine Untersuchungen nicht als »Angriffe« gegen die Journalisten und das Fernsehen aufgefaßt würden, zu denen mich irgendeine nostalgische Sehnsucht nach einem Kulturfernsehen im Stil der »Télé Sorbonne« früherer Zeiten triebe, oder auch eine ebenso sterile wie regressive Ablehnungshaltung gegenüber dem, was das Fernsehen zum Beispiel durch die Ausstrahlung mancher Reportagen trotz allem zustande bringt. Obwohl ich alle Gründe habe zu befürchten, daß meine Untersuchungen vor allem die
narzißtische Selbstgefälligkeit eines Journalismus bedienen, der dazu neigt, sich selbst in pseudokritischer Haltung zu beäugen, hoffe ich, denen Werkzeuge oder Munition zu liefern, die in diesem Bereich dafür kämpfen, daß, was ein hervorragendes Instrument direkter Demokratie hätte werden können, sich nicht endgültig in ein Mittel symbolischer Unterdrückung verwandle.
Zusatz des Übersetzers Die in den folgenden Fernsehvorträgen genannten Größen der Medienszene kennt in Frankreich jedes Kind; sie bedurften daher so wenig einer Vorstellung wie etwa ein Reich-Ranicki oder ein Rudolf Augstein in Deutschland. Jenseits der Landes-(und Sprach-)Grenzen sind die meisten von ihnen dafür um so unbekannter. Dem Übersetzer erschien es daher angebracht, das Literaturverzeichnis zu den Vorträgen um ein Personenverzeichnis zu ergänzen, das den deutschsprachigen Lesern mindestens eine umrißhafte Vorstellung von den erwähnten Mediengrößen vermittelt: weniger, weil es um sie als Individuen ginge (das Gegenteil ist der Fall), als weil ihre publizistische Machtstellung für die anderer Mediengewaltigen in anderen Ländern stehen mag. Siehe S. ff.
&STUFS7PSUSBH Das Fernsehstudio und seine Kulissen Ich möchte hier im Fernsehen eine Reihe von Fragen zum Fernsehen aufwerfen. Eine etwas paradoxe Absicht, denn ich glaube nicht, daß man im Fernsehen viel sagen kann, zumal nicht über das Fernsehen. Wenn es aber wahr ist, daß man im Fernsehen nichts sagen kann, sollte ich dann nicht mit vielen der größten Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller daraus den Schluß ziehen, es gar nicht erst zu versuchen? Mir scheint, man braucht diese krasse Alternative »alles oder nichts« nicht hinzunehmen. Ich glaube, es ist wichtig, im Fernsehen zu sprechen – aber unter bestimmten Voraussetzungen. Dank der audiovisuellen Abteilung des Collège de France verfüge ich heute über ganz außergewöhnliche Voraussetzungen: Erstens ist meine Redezeit nicht begrenzt; zweitens zwingt mir niemand ein ema auf (ich habe mich selbst dafür entschieden und kann meine Entscheidung immer noch umstoßen); drittens sitzt nicht, wie in den üblichen Sendungen, jemand da, der mich im Namen der Technik, der »Zuschauer-denen-man-erklärenmuß«, der Moral, der Schicklichkeit usw. zur Ordnung ruft. Also eine ganz ungewöhnliche Situation, besitze ich doch, um mich altmodisch auszudrücken, eine ganz unübliche Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Indem ich unterstreiche, was meine Voraussetzungen an
Außergewöhnlichem haben, sage ich schon etwas über die gewöhnlichen Voraussetzungen, unter denen man sonst im Fernsehen sprechen muß. Warum aber, wird man einwenden, wird trotz allem akzeptiert, unter den gewöhnlichen Voraussetzungen in Fernsehsendungen aufzutreten? Eine sehr wichtige Frage, und trotzdem wird sie von der Mehrzahl der Forscher, der Wissenschaftler, der Schriftsteller, die an solchen Sendungen teilnehmen, nicht gestellt – von den Journalisten ganz zu schweigen. Daß diese Frage nicht gestellt wird, muß man, wie mir scheint, unbedingt in Frage stellen. Meines Erachtens verrät derjenige, der eine solche Teilnahme akzeptiert, ohne sich die Frage zu stellen, ob er überhaupt etwas wird sagen können, deutlich, daß er nicht kommt, um etwas zu sagen, sondern aus ganz anderen Gründen, und zwar: vor allem um sich zu zeigen und gesehen zu werden. «Sein«, sagt Berkeley, »ist wahrgenommen werden.« Für manche unserer Philosophen (und unserer Schriftsteller) ist Sein: im Fernsehen wahrgenommen werden, von den Journalisten wahrgenommen werden, von ihnen, wie man so sagt, gern gesehen werden (was zahlreiche Kompromisse und Kompromittierungen mit sich bringt) – und tatsächlich können sie kaum davon ausgehen, durch ihr Werk auf Dauer zu existieren, so daß sie sich gezwungen fühlen, so oft wie möglich auf dem Bildschirm zu erscheinen, also in regelmäßigen und möglichst kurzen Abständen Schriften zu publizieren, die, wie Gilles Deleuze bemerkt hat, hauptsächlich verfaßt werden, um deshalb Einladungen zu Fernsehsendungen zu erhalten,
Diese Präambel erscheint vielleicht ein wenig lang, aber ich finde es wirklich wünschenswert, daß die Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler sich ausdrücklich – und womöglich gemeinsam, damit nicht jeder es nur mit sich selbst abmachen muß – die Frage stellen, ob man Einladungen zu Fernsehsendungen annimmt oder nicht, ob man Bedingungen damit verbindet oder nicht, usw. Mir liegt sehr daran (mag dies auch ein Wunschtraum bleiben), daß sie dieses Problem angehen, und zwar gemeinsam, daß sie Verhandlungen mit Fachjournalisten und anderen aufzunehmen versuchen, um zu einer Art vertraglicher Abmachung zu gelangen. Selbstverständlich geht es nicht darum, die Journalisten zu verurteilen oder zu bekämpfen, die unter den Zwängen, die auszuüben sie genötigt sind, häufig genug selbst leiden. Ganz im Gegenteil: Es geht darum, sie an Überlegungen zu beteiligen, die darauf abzielen, Mittel zur gemeinsamen Überwindung der bedrohlichen Instrumentalisierung ausfindig zu machen. Die schlichte, Weigerung, sich überhaupt im Fernsehen zu äußern, scheint mir nicht vertretbar. Ich denke sogar, daß man in bestimmten Fällen förmlich dazu verpflichtet ist – allerdings müssen vernünftige Voraussetzungen dafür gegeben sein. Bei der Entscheidung ist das Spezifische des Instruments Fernsehen in Rechnung zu stellen. Wir haben es hier mit einem Instrument zu tun, das jedenfalls theoretisch die Möglichkeit gibt, jedermann zu erreichen. Daher sind ein paar Vorfragen zu berücksichtigen: Geht das, was ich zu sagen habe, jeden an? Bin ich bereit, meine Rede formal so zu gestalten, daß alle sie verstehen? Verdient sie, von allen verstanden zu werden? Mehr noch: Soll sie überhaupt von allen verstanden werden? Eine Aufgabe gerade
der Forscher und Wissenschaftler – und vor allem vielleicht der Sozialwissenschaftler – besteht darin, die Erträge ihrer Forschung allen zugänglich zu machen. Wir sind, wie Husserl sagte, »Beamte der Menschheit«, vom Staat bezahlt, um etwas aus dem Bereich der Natur oder der Gesellschaft ans Licht zu bringen, und es gehört, wie mir scheint, zu unseren Verpflichtungen, das Entdeckte offenzulegen. Ich habe mich immer bemüht, die Frage der Teilnahme oder Nichtteilnahme an einer Sendung von der Beantwortung dieser Vorfragen abhängig zu machen, und würde mir wünschen, daß alle, die vom Fernsehen eingeladen werden, sie sich stellen oder nach und nach verpflichtet werden, sie sich zu stellen, weil die Zuschauer und Fernsehkritiker sich fragen, sobald einer von ihnen auf dem Bildschirm erscheint: Hat er etwas zu sagen? Sind die Voraussetzungen so, daß er sich verständlich machen kann? Verdient das, was er sagt, hier geäußert zu werden? Mit einem Wort: Was macht er da eigentlich?
Eine unsichtbare Zensur Um auf das Wesentliche zurückzukommen: Ich habe zu Anfang vorgebracht, daß mit dem Auftritt auf dem Bildschirm eine regelrechte Zensur verbunden ist, ein Verlust an Autonomie, was unter anderem daran liegt, daß das ema und die Voraussetzungen vorgegeben sind, unter denen etwas mitgeteilt werden kann, und vor allem, daß die beschränkte Redezeit derart einengt, daß sehr wahrscheinlich gar nichts gesagt werden kann. Man wird von mir erwarten,
daß ich diese Zensur, der nicht nur die Studiogäste unterliegen, sondern auch die Journalisten, die mit dazu beitragen, daß sie ausgeübt wird, politisch nenne. Tatsächlich gibt es politische Eingriffe, gibt es politische Kontrolle (namentlich vermittels der Besetzung von Führungspositionen); und gewiß ist vor allem in Zeiten wie der heutigen, in der eine Reservearmee für die Fernseh- und Rundfunkmetiers in Bereitschaft steht und eine sehr große Stellenunsicherheit herrscht, die Neigung zu politischem Konformismus groß. Noch bevor man sie zur Ordnung rufen muß, beugen sich die Menschen, einer bewußten oder unbewußten Form von Selbstzensur. Es existieren daneben ökonomische Zensurinstanzen. Tatsächlich geben letzten Endes ökonomische Zwänge beim Fernsehen den Ausschlag. Aber man darf sich nicht damit begnügen zu sagen, daß die Vorgänge bei den Fernsehsendern von den Leuten bestimmt werden, die sie besitzen, von den Firmen, die dort Werbespots bezahlen, vom Staat, der Subventionen vergibt. Wenn man von einem Fernsehkanal nichts wüßte als den Namen des Eigentümers, den Anteil der unterschiedlichen Werbeeinblendungen am Budget und die Höhe der Subventionen, verstünde man noch nicht viel. Dennoch ist es nicht unwichtig, an diese Zusammenhänge zu erinnern. Es ist nicht belanglos zu wissen, daß NBC der General Electric gehört (was heißt, daß bei eventuellen Interviews mit Anrainern von Atomkraftwerken wahrscheinlich ... und übrigens würde niemand auf die Idee kommen...), daß CBS Westinghouse gehört, daß ABC Disney gehört und TF Bouygues gehört, was über eine ganze Reihe von Vermittlungsschritten durchaus seine Folgen hat. Klarerweise wird eine französische Regierung, die weiß, daß TF für
Bouygues steht, bestimmte Schritte gegen Bouygues nicht unternehmen. Hinter diesen altbekannten, abgeklapperten Tatsachen, die noch die primitivste Kritik wahrnimmt, verstecken sich aber anonyme, unsichtbare Mechanismen, über die auf vielerlei Art eine Zensur ausgeübt wird, die aus dem Fernsehen ein phantastisches Instrument zur Aufrechterhaltung der symbolischen Ordnung macht. Hier muß ich einen Moment innehalten. Soziologische Analysen rufen oft ein Mißverständnis hervor: Wer selbst zum Untersuchungsgegenstand gehört – in diesem Fall die Journalisten -, neigt dazu, das Aussprechen, das Entschleiern von Mechanismen als ein gegen Personen gerichtetes Denunzieren aufzufassen, als »Angriffe«, wie man so sagt, als persönliche, ad hominem geführte Attacken (dabei bräuchte der Soziologe nur ein Zehntel von dem zu zitieren, was er hört, wenn er mit Journalisten spricht, über die lukrativen Einladungen z. B., die sie ihrer Bekanntheit verdanken, oder über das zu Recht so genannte »Fabrizieren« von Sendungen, um von denselben Journalisten der Parteilichkeit und des Mangels an Objektivität bezichtigt zu werden). Die Menschen mögen es im allgemeinen nicht, als Objekte aufgefaßt, objektiviert zu werden, und die Journalisten mögen es weniger als irgendeiner. Sie fühlen sich als Zielscheibe, aufgespießt, wo doch die Untersuchung eines Milieus, je weiter sie fortschreitet, die Beteiligten von ihrer Verantwortlichkeit losspricht – was nicht heißt, daß man alles entschuldigt; und je besser man versteht, wie es funktioniert, um so besser versteht man auch, daß die Beteiligten manipuliert sind und Manipulatoren zugleich. Sie manipulieren sogar sehr oft um so besser, wenn sie selbst manipuliert sind, ohne es zu wissen. Ich hebe diesen Punkt
hervor, obwohl ich weiß, daß, was ich sage, trotz allem als persönliche Kritik aufgefaßt werden wird – eine Reaktion, mit der man sich auch eine Analyse vom Leibe halten kann. Ich glaube sogar, daß das Hochspielen von Skandalen, von Taten und Untaten dieses oder jenes Moderators oder der exorbitanten Bezüge bestimmter Fernsehproduzenten insofern dazu beitragen kann, vom Wesentlichen abzulenken, als die Korruptheit von Personen jene strukturelle Korruptheit maskiert (darf man da aber noch von Korruptheit sprechen?), die über Mechanismen wie den Kampf um Marktanteile das gesamte Spiel beeinflußt und die ich versuchen will zu analysieren. Ich möchte also eine Reihe von Mechanismen auseinandernehmen, die dazu führen, daß das Fernsehen eine besonders schädliche Form symbolischer Gewalt darstellt. Die symbolische Gewalt ist eine Gewalt, die sich der stillschweigenden Komplizität derer bedient, die sie erleiden, und oft auch derjenigen, die sie ausüben, und zwar in dem Maße, in dem beide Seiten sich dessen nicht bewußt sind, daß sie sie ausüben oder erleiden. Aufgabe der Soziologie wie aller Wissenschaften ist es, Verborgenes zu enthüllen; sie kann daher dazu beitragen, die symbolische Gewalt innerhalb der sozialen Beziehungen zu verringern, und ganz besonders in den von der Medienkommunikation geprägten Beziehungen. Nehmen wir den einfachsten Fall: die sogenannten »Vermischten Meldungen«, seit jeher der Tummelplatz der Sensationspresse. Blut und Sex, Tragödien und Verbrechen haben immer schon Verkaufsziffern in die Höhe getrieben, und so mußte die Diktatur der Einschaltquote derartige Ingredienzien an die vorderste Stelle, an den Beginn der
Fernsehnachrichten spülen, die früher ausgeklammert oder auf die hinteren Ränge verwiesen wurden, weil man sich bemühte, nach dem Vorbild der seriösen Tagespresse als respektabel zu erscheinen. Die »Vermischten Meldungen« sind aber auch die Meldungen, die alles vermischen. Das Grundprinzip von Zauberern besteht darin, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken als auf das, was sie gerade tun. Die symbolische Aktion des Fernsehens zum Beispiel auf der Ebene der Nachrichten besteht darin, die Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, die alle Welt interessieren, die omnibus – für alle – da sind. OmnibusMeldungen sind solche, die, wie es heißt, niemanden schockieren dürfen, bei denen es um nichts geht, die nicht spalten, die Konsens herstellen, die alle interessieren, aber so, daß sie nichts Wichtiges berühren. Die »Vermischte Meldung« stellt jenen Grundbaustein der Nachrichten dar, der sehr wichtig, weil für alle von Interesse ist, ohne zu irgendwelchen Konsequenzen Anlaß zu geben, und der Zeit beansprucht, Zeit, die dazu verwendet werden könnte, über andere Dinge zu sprechen. Zeit aber ist im Fernsehen ein äußerst knappes Gut. Und wenn wertvolle Minuten verschleudert werden, um derart Unwichtiges zu sagen, so deswegen, weil diese unwichtigen Dinge in Wirklichkeit sehr wichtig sind, und zwar insofern, als sie Wichtiges verbergen. Ich hebe dies hervor, weil wir aus anderen Untersuchungen wissen, daß weite Teile der Bevölkerung keinerlei Tageszeitung lesen, daß sie dem Fernsehen als einziger Informationsquelle völlig ausgeliefert sind. Das Fernsehen hat eine Art faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne eines Großteils der Menschen. Legt das Fernsehen den Akzent auf die »Vermischten Meldungen«, so füllt es die
Zeit mit Leere, mit nichts oder fast nichts, und klammert relevante Informationen aus, über die der Staatsbürger zur Wahrnehmung seiner demokratischen Rechte verfügen sollte. Damit ist die Tendenz zu einer Spaltung gegeben, einer Spaltung zwischen denen, die die sogenannte seriöse Presse lesen können (soweit diese angesichts der Konkurrenz des Fernsehens seriös bleibt), die zur internationalen Presse, zu fremdsprachigen Rundfunknachrichten Zugang haben auf der einen Seite – und auf der anderen Seite denen, deren ganzes politisches Rüstzeug in den vom Fernsehen gelieferten Nachrichten, also in fast gar nichts besteht (abgesehen von der Information, die im puren Kennenlernen der meistgezeigten Männer und Frauen besteht, im Kennen ihrer Gesichter, ihrer Ausdrucksweisen, Dingen, die noch die kulturell Hilflosesten entziffern können – wodurch ihnen übrigens große Teile des politischen Führungspersonals suspekt werden).
Verstecken durch Zeigen Ich habe bisher den Akzent auf das Offensichtlichste gelegt. Jetzt möchte ich zu etwas weniger Offensichtlichem übergehen und darlegen, wie das Fernsehen paradoxerweise verstecken kann, indem es zeigt, etwas anderes zeigt, als es zeigen müßte, wenn es täte, was es angeblich tut, nämlich informieren; oder auch, indem es zeigt, was gezeigt werden muß, aber so, daß man es nicht zeigt oder bedeutungslos macht oder so konstruiert, daß es einen Sinn annimmt, der mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat.
Dafür möchte ich zwei Beispiele anführen, die ich Arbeiten von Patrick Champagne entnehme. In dem Buch La misère du monde hat Patrick Champagne ein Kapitel der publizistischen Verarbeitung der sogenannten BanlieuePhänomene gewidmet, dem Bild, das die Medien von den proletarischen Wohnvierteln am Rand französischer Großstädte liefern. Er zeigt, wie Journalisten aufgrund der ihrem Beruf immanenten Tendenzen, ihrer Weltsicht, ihrer Ausbildung, ihrer Einstellungen, aber auch aufgrund der Logik ihres Gewerbes aus jener besonderen Lebenswirklichkeit in den Vorstädten in Übereinstimmung mit ihren Wahrnehmungskategorien einen ganz besonderen Aspekt auswählen. Lehrer verwenden zur Erklärung solcher Kategorien – das heißt der unsichtbaren Strukturen, die das Wahrgenommene organisieren – am liebsten die Metapher »Brille«. Solche Kategorien sind Produkt unserer Erziehung, unserer Geschichte usw. Die Journalisten tragen eine spezielle »Brille«, mit der sie bestimmte Dinge sehen, andere nicht, und mit der sie die Dinge, die sie sehen, auf bestimmte Weise sehen. Sie treffen eine Auswahl, und aus dem, was sie ausgewählt haben, errichten sie ein Konstrukt. Das Auswahlprinzip ist die Suche nach dem Sensationellen, dem Spektakulären. Das Fernsehen verlangt die Dramatisierung, und zwar im doppelten Sinn: Es setzt ein Ereignis in Bilder um, und es übertreibt seine Bedeutung, seinen Stellenwert, seinen dramatischen, tragischen Charakter. An den Vorstädten sind die Aufruhrszenen von Interesse. Aufruhr: welch vielsagendes Wort... (Mit den
Herausgegeben von Pierre Bourdieu, Paris, Editions du Seuil, . Auf deutsch unter dem Titel Das Elend der Welt erschienen. (A. d. Ü.)
Worten geschieht dasselbe. Mit Alltagswörtern verblüfft man weder den »Bourgeois« noch das »Volk«. Die Wörter müssen schon etwas Besonderes haben. Paradoxerweise wird das Fernsehen im Grunde vom Wort dominiert. Das Photo ist nichts ohne seine Legende, die sagt, was man zu lesen hat – legendum -, das heißt aber oft genug: Legenden, die Unsinn schwafeln. Benennen heißt bekanntlich sichtbar machen, schaffen, ins Leben rufen. Und Benennungen können unheilvolle Verwirrung stiften: Islam, islamisch, islamistisch – ist der Schleier nun islamisch oder islamistisch? Und wenn es sich einfach um ein Tuch handelte, mehr nicht? Manchmal habe ich Lust, jedes Wort der Sprecher in Frage zu stellen, so oft reden sie leichtfertig daher, ohne sich im mindesten über Problematik und Bedeutung ihrer Formulierungen im klaren zu sein und über die Verantwortung, die sie übernehmen, wenn sie sich vor Tausenden von Zuschauern äußern, ohne zu verstehen, was sie sagen, und ohne zu verstehen, daß sie es nicht verstehen. Denn solche Wörter bringen etwas hervor, schaffen Phantasmen, Ängste, Phobien oder schlicht falsche Vorstellungen. Was Journalisten interessiert, ist, grob gesagt, das Ungewöhnliche, d. h., was für sie ungewöhnlich ist. Was für andere banal ist, kann für sie ungewöhnlich sein, und umgekehrt. Sie interessieren sich für das, was gewöhnlich nicht stattfindet, für das Nichtalltägliche – die Tagespresse muß täglich das Nichtalltägliche bringen, keine leichte Arbeit... Daher ihre Vorliebe für das gewöhnliche Ungewöhnliche, für Feuersbrünste, Überschwemmungen, Morde, »Vermischte Meldungen«. Das Ungewöhnliche ist aber auch und vor allem das, was, gemessen an den Nachrichten der anderen Medien, nicht gewöhnlich ist; was anders ist als das Gewöhnli-
che und anders als das, was die anderen vom Gewöhnlichen melden oder gewöhnlich melden. Ein furchtbarer Druck, der zur Jagd nach dem Scoop zwingt. Um als erster etwas zu sehen und zu zeigen, ist man zu fast allem bereit, und da alle sich gegenseitig in die Karten schauen, um einander zuvorzukommen, vor den anderen da zu sein oder es anders als die anderen zu zeigen, machen alle am Ende dasselbe, und das Ringen um Exklusivität, das andernorts, in anderen Berufsfeldern Originalität, Einzigartigkeit hervorbringt, endet hier in Uniformisierung und Banalisierung. Diese interessierte, unablässige Jagd nach dem Ungewöhnlichen kann ebenso politische Auswirkungen zeitigen wie direkt politische Anweisungen oder von Furcht diktierte Selbstzensur. Über die außerordentliche Macht des vom Fernsehen ausgestrahlten Bildes können die Journalisten Wirkungen ohnegleichen hervorrufen. Der Anblick, den eine Vorstadt täglich bietet, ihre Monotonie, ihre Tristesse sagt niemandem etwas, interessiert niemanden, und am wenigsten die Journalisten. Wenn sich die Journalisten wirklich für sie interessieren, wenn sie sie wirklich zeigen wollten, wäre das allerdings auch äußerst schwierig. Denn nichts ist schwieriger, als die Realität in ihrer Banalität erfahrbar zu machen. Flaubert sprach gerne davon, »das Mittelmäßige sorgfältig auszumalen«. Darin besteht das Problem der Soziologen: das Gewöhnliche ungewohnt zu machen; es so zu schildern, daß sichtbar wird, wie außergewöhnlich es ist. Die politischen Gefahren, die mit der üblichen Nutzung des Fernsehens verbunden sind, kommen daher, daß es erzeugen kann, was Literaturkritiker den effet du réel nennen, den Wirklichkeitseffekt: Es kann zeigen und dadurch errei-
chen, daß man glaubt, was man sieht. Diese Macht, etwas vor Augen zu führen, hat mobilisierende Wirkungen. Sie kann Gedanken oder Vorstellungen ins Leben rufen, aber auch Bevölkerungsgruppen konstituieren. Die »Vermischten Meldungen«, die Zwischenfälle und Unfälle des Alltags können mit politischen, ethischen usw. Implikationen aufgeladen werden, die starke und oft negative Gefühle auslösen wie Rassismus, Fremdenhaß, Ausländerfeindlichkeit; noch der simple Bericht richtet ja, denn er impliziert immer eine soziale Konstruktion der Wirklichkeit, die sozial mobilisierende (oder demobilisierende) Folgen haben kann. Das andere Beispiel, das ich Patrick Champagne entlehne, betrifft die Schülerstreiks von . Hier zeigte sich, wie Journalisten in bestem Glauben, in voller Naivität, ganz von ihren eigenen Interessen – von dem, was sie interessiert – geleitet, von ihren Vorannahmen, ihren Wahrnehmungsund Bewertungskategorien, ihren unbewußten Erwartungen, Wirklichkeitseffekte und Effekte in der Wirklichkeit hervorrufen können, die niemand gewollt hat und die in manchen Fällen katastrophal sein können. Die Journalisten hatten den Mai im Kopf und Angst, »ein neues « zu verpassen. Da man es mit Jugendlichen zu tun hatte, die nicht sehr politisiert waren und nicht recht wußten, was sie sagen sollten, baute man Sprecher auf (die man vermutlich unter den politisiertesten fand), nahm sie ernst, und die Sprecher nahmen sich auch ernst. Das eine ergab das andere, und das Fernsehen, das die Wirklichkeit wiederzugeben behauptet, wurde ein Instrument zur Schaffung von Wirklichkeit; aus dem Beschreiben der sozialen Welt durch das Fernsehen wird ein Vorschreiben. Das Fernsehen entscheidet zunehmend darüber, wer und was sozial und
politisch existiert. Nehmen wir an, ich will erreichen, daß das Rentenalter auf fünfzig Jahre herabgesetzt wird. Vor ein paar Jahren hätte ich eine Demonstration organisiert, wir hätten Transparente gemalt, wären durch die Straßen gezogen und hätten beim Erziehungsministerium eine Erklärung abgegeben; heute – ich übertreibe nur wenig – müßte ich mir einen geschickten Werbeberater nehmen. Für die Medien würden wir ein paar Gags aufziehen, die bei ihnen ankommen, Verkleidungen, Masken usw., und über das Fernsehen vielleicht ähnliches erreichen wie durch eine Demonstration mit Teilnehmern. Im Alltäglichen wie auf globaler Ebene geht es in der Politik unter anderem um die Durchsetzung von Wahrnehmungsprinzipien, um die Brillen, mit denen die Menschen die Welt aufgrund bestimmter Einteilungen sehen (Jugend und alte Leute, Ausländer und Franzosen usw.). Die Durchsetzung solcher Einteilungen schafft Gruppen, die sich mobilisieren und es auf diesem Wege schaffen können, ihre Existenz geltend zu machen, Druck auszuüben und Vorteile zu erlangen. In solchen Auseinandersetzungen spielt heute das Fernsehen eine entscheidende Rolle. Wer heutzutage noch glaubt, daß es ausreicht zu demonstrieren, ohne an das Fernsehen zu denken, läuft Gefahr, sein Ziel zu verfehlen: Demonstrationen müssen mehr und mehr für das Fernsehen produziert, also so gestaltet werden, daß die Fernsehleute sich aufgrund ihrer Wahrnehmungskategorien dafür interessieren, sie aufgreifen, den Adressatenkreis erweitern und ihnen damit erst zur vollen Wirkung verhelfen.
Die zirkuläre Zirkulation der Nachricht Bisher habe ich so getan, als wäre der Urheber all dieser Prozesse der Journalist. Aber der Journalist ist ein abstraktes, nichtexistentes Gebilde; was existiert, sind Journalisten, die sich durch ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre Bildungsstufe, ihre Zeitung, ihr »Medium« voneinander unterscheiden. Die Welt der Journalisten ist eine zerrissene Welt, ein Welt voller Konflikte, Konkurrenz, Feindseligkeiten. Meine Analyse ist dennoch zutreffend, denn die Produkte der Journalisten sind, darauf kommt es mir an, letztlich noch viel homogener, als man glaubt. Noch hinter den deutlichsten Unterschieden – sie haben vor allem mit der politischen Couleur der Zeitungen zu tun (die übrigens unleugbar immer mehr jegliche Couleur vermissen lassen...) – stecken tiefgreifende Ähnlichkeiten, die hauptsächlich auf die von den Nachrichtenquellen ausgehenden Beschränkungen zurückzuführen sind und darüber hinaus auf eine ganze Reihe von Mechanismen, von denen der wichtigste die Wettbewerbslogik ist. Das liberale Kredo predigt ständig, daß das Monopol Uniformität und Konkurrenz Vielfalt hervorbringt. Ich habe natürlich nichts gegen Konkurrenz, ich stelle nur fest, daß sie sich auf Journalisten und Journale, die denselben Zwängen, denselben Umfragen, denselben Anzeigenkunden ausgeliefert sind, homogenisierend auswirkt (man braucht nur daran zu denken, mit welcher Leichtigkeit Journalisten von einer Zeitung zur anderen wechseln). Vergleichen Sie bloß die Titelseiten der Wochenpresse im Vierzehntagerhythmus: Sie finden fast überall dieselben Aufmacher. Ebenso unterscheiden sich
die Fernseh- oder Radionachrichten der meistverbreiteten Programme besten- oder schlimmstenfalls in der Reihenfolge der Meldungen. Das liegt zum Teil am kollektiven Charakter der Produktion. Filme zum Beispiel werden von Kollektiven produziert, der Vorspann führt die Namen auf. Das Kollektiv aber, das Fernsehsendungen herstellt, besteht nicht nur aus den Mitgliedern einer Redaktion; es schließt die Gesamtheit der Journalisten ein. Immer wieder hört man die Frage: »Wer ist eigentlich das Subjekt eines Diskurses?« Nie weiß man wirklich, ob man das Subjekt dessen ist, was man sagt... Wir sagen viel weniger Originelles, als wir glauben. Das gilt ganz besonders in Welten, in denen die kollektiven Zwänge erheblich sind, und vor allem die von der Konkurrenz ausgehenden Zwänge, insofern sie jeden Produzenten zu Dingen veranlaßt, die er unterlassen würde, wenn es die anderen nicht gäbe; Dinge zum Beispiel, die er tut, um vor den anderen da zu sein. Niemand liest so viele Zeitungen wie die Journalisten, die im übrigen zu der Ansicht neigen, daß jedermann sämtliche Zeitungen läse. (Sie vergessen, daß viele keine Zeitung lesen, und die anderen eine einzige. Es kommt nicht oft vor, daß man am selben Tag Le Monde, Le Figaro und Liberation liest, wenn man nicht gerade vom Fach ist.) Für Journalisten ist Zeitunglesen unerläßlich und die Presserundschau ein Arbeitsinstrument: Um zu wissen, was man sagen wird, muß man wissen, was die anderen gesagt haben. Dies ist einer der Mechanismen, die Homogeneität unter den Produkten erzeugen. Wenn Liberation auf der ersten Seite über ein Ereignis berichtet, muß Le Monde nachziehen; gleichzeitig wird sich diese Zeitung ein wenig absetzen, um Distanz an den Tag zu legen und ihrem
Ruf als niveauvolles, seriöses Blatt gerecht zu werden. Aber diese kleinen Unterschiede, auf die Journalisten subjektiv so viel Wert legen, verbergen enorme Ähnlichkeiten. In den Redaktionskonferenzen verbringt man beträchtlich viel Zeit damit, von anderen Zeitungen zu sprechen, besonders von dem, »was sie gemacht haben und wir nicht« (»das haben wir verschlafen!«) und was man – selbstverständlich – hätte machen müssen, da die anderen es gemacht haben. Diese wechselseitige Bespiegelung bringt eine schreckliche Abkapselung, eine geistige Einzäunung hervor. Ein anderes Beispiel dieser gegenseitigen Abhängigkeit, die alle Interviews mit Journalisten bestätigt haben: Den Ablauf der Mittagsnachrichten im Fernsehen kann man nur gestalten, wenn man die Nachrichtensendung vom Vorabend gesehen und die Morgenpresse gelesen hat; Entsprechendes gilt für die abendlichen Nachrichtensendungen. Das gehört zu den stillschweigenden Anforderungen des Berufs. Und zwar gleichzeitig, um auf dem laufenden zu sein und um sich abheben zu können, und das oft durch verschwindend kleine Unterschiede, denen die Journalisten eine phantastische Bedeutung beimessen und die vom Fernsehzuschauer völlig unbemerkt bleiben. (Ein besonders typischer Effekt dieses Feldes: Man glaubt, den Wünschen des Kunden am besten zu entsprechen, bezieht sich aber nur auf die Konkurrenz.) Journalisten sagen zum Beispiel (ich zitiere): »Wir haben die Nase vorn gehabt«; sie geben damit zu, daß sie in Konkurrenz stehen und daß ein gut Teil ihrer Bemühungen der Produktion winziger Unterschiede gilt. »Wir haben die Nase vorn gehabt«, das heißt: Wir sind ein Sinndifferential; »sie haben den O-Ton nicht, wir haben ihn«. Vom Durchschnittszuschauer absolut nicht wahrnehmbare Dif-
ferenzen – er könnte sie nur wahrnehmen, wenn er gleichzeitig mehrere Programme verfolgte -, Differenzen also, die völlig unbemerkt bleiben, sind von den Produzenten aus gesehen äußerst wichtig, denn wenn sie wahrgenommen würden – so stellen sich die Produzenten vor -, trügen sie zu einer höheren Einschaltquote bei, dem verborgenen Gott dieses Universums, und der Verlust von einem Prozent bei der Einschaltquote kann schon der Tod der Sendung sein. Dies ist nur ein Beispiel für die in meinen Augen falschen Gleichsetzungen zwischen dem Inhalt von Sendungen und der unterstellten Wirkung. Die Entscheidungen, die im Fernsehen getroffen werden, sind gewissermaßen subjektlos. Zum Beleg dieser vielleicht ein wenig übertriebenen Behauptung möchte ich nur die Auswirkungen des kurz erwähnten Effekts zirkulärer Zirkulation anführen: Die Journalisten, die im übrigen viele Gemeinsamkeiten aufweisen, solche der beruflichen Voraussetzungen, aber auch der Herkunft und Ausbildung, lesen einander, sehen einander, begegnen sich bei Debatten, bei denen man immer auf dieselben Gesichter trifft, und all das führt zu einer Geschlossenheit des Milieus und – scheuen wir uns nicht, es auszusprechen – zu einer Zensur, die ebenso wirksam ist wie die einer zentralen Bürokratie, eines förmlichen politischen Eingriffs, ja wirksamer noch, weil unauffälliger. (Um die Undurchlässigkeit dieses Teufelskreises zu ermessen, braucht man bloß den Versuch zu unternehmen, eine nicht ins Schema passende Nachricht über Algerien, über den Status von Ausländern in Frankreich oder dergleichen einzuschleusen, in der Hoffnung, sie würde in die Öffentlichkeit gelangen: Pressekonferenz, Presseerklärung – nichts hilft; Analysen gelten als langwei-
lig und kommen als Meldung nicht in Frage, es sei denn, sie sind von einer Berühmtheit unterzeichnet, deren Name Aufsehen erregt. Um den Teufelskreis aufzubrechen, muß man in ihn einbrechen, was aber nur möglich ist, wenn man sich dabei mediengerecht verhält; man muß einen »Coup« landen, der die Medien interessiert, oder wenigstens eines von ihnen, dessen Meldung die anderen aufgrund des Konkurrenzeffekts möglicherweise aufgreifen.) Wenn man sich die naiv scheinende Frage stellt, wie die Leute sich eigentlich informieren, deren Aufgabe darin besteht, uns zu informieren, zeigt sich, daß sie, grob gesagt, von anderen Informanten informiert werden. Natürlich, es gibt die Presseagenturen, offizielle Quellen (Ministerien, Polizei usw.), mit denen die Journalisten auf komplexe Weise zusammenarbeiten müssen, usw. Das Entscheidende aber an der Information, jene Information über die Information nämlich, die zu entscheiden ermöglicht, was wichtig, was übermittelnswert ist, kommt zum großen Teil von anderen Informatoren. Und das führt zu einer Art Nivellierung, einer Homogenisierung der Wichtigkeitshierarchien. Ich erinnere mich an ein Interview mit einem Programmdirektor, der sich seiner Sache völlig sicher war. Ich fragte ihn: »Warum plazieren Sie das an erster und jenes an zweiter Stelle?« Er antwortete: »Das versteht sich von selbst.« Und wahrscheinlich saß er ebendeswegen an der Stelle, wo er saß; weil nämlich seine Wahrnehmungskategorien genau den objektiven Anforderungen entsprachen. (Während ich ihm zuhörte, mußte ich an eine Äußerung Godards denken: »Verneuil ist im Vergleich zu dem Direktor von FR ein Zigeuner. Naja, im Vergleich.«) Gewiß, in demselben journalistischen Milieu
finden unterschiedliche Journalisten auf unterschiedlichen Posten seine Selbstverständlichkeiten in ungleichem Maße selbstverständlich. Die Programmdirektoren, denen die Einschaltquote zur zweiten Natur geworden ist, haben ein Gespür für das Selbstverständliche, das der kleine Anfänger unter den Reportern nicht unbedingt teilt, der auf seinen emenvorschlag zur Antwort erhält: »Völlig uninteressant...« Man darf sich das Milieu nicht als homogen vorstellen: Es gibt die kleinen, die jungen, die subversiven Mitarbeiter, die Quertreiber, die verzweifelt darum ringen, kleine Keile in den enormen homogenen Brei zu treiben, den der (Teufels-)Kreis der zirkulär zirkulierenden Information Leuten aufnötigt, die – nicht zu vergessen – miteinander gemein haben, der Einschaltquote unterworfen zu sein, wobei die Führungskräfte selbst nur die ausübenden Organe der Einschaltquote sind. Die Einschaltquote ist ein Meßinstrument, mit dessen Hilfe die verschiedenen Sender feststellen können, wieviel Zuschauer sie erreichen (einige Sender verfügen bereits über die Möglichkeit, alle Viertelstunden ihre Einschaltquote zu ermitteln, und sogar – diese Verfeinerung wurde kürzlich erst eingeführt – die Schwankungen nach groben sozialen Kategorien). Man weiß also sehr genau, was ankommt und was nicht. Dieses Meßinstrument ist für den Journalisten das göttliche Gericht: bis hin in die autonomsten Refugien des Journalismus – in der französischen Presse mögen sich vielleicht gerade noch der Canard Enchaine, Le Monde diplomatique und ein paar kleine, von idealistischen »Träumern« redigierte Avantgardezeitschriften dem entziehen – steckt die Einschaltquote jetzt in allen Köpfen. In Redaktionsstuben, in Verlagshäusern, allerorten regiert heutzutage
die »Einschaltquotenmentalität«. Überall ist Maßstab der Verkaufserfolg. Vor knapp dreißig Jahren noch, und das seit der Mitte des . Jahrhunderts, seit Baudelaire, Flaubert usw., war der unmittelbare Verkaufserfolg bei Avantgardeschriftstellern – also bei Schriftstellern, die von Schriftstellern gelesen, von Schriftstellern anerkannt wurden, und ebenso bei Künstlern, die von Künstlern anerkannt wurden – verdächtig: als Anzeichen dafür, daß jemand sich mit den Zeitläufen, mit dem Geld usw. arrangiert hatte. Gegenwärtig dagegen gilt der Markt mehr und mehr als legitime Legitimationsinstanz. Das zeigt eine andere neue Einrichtung deutlich: die Bestsellerliste. Noch heute morgen hörte ich einen Radiosprecher den letzten Bestseller gelehrt kommentieren: »Die Philosophie ist dieses Jahr aktuell, denn Sophies Welt hat Exemplare erreicht.« Als unumstößliches Verdikt, als göttliches Urteil zitierte er Verkaufsziffern. Über die Einschaltquote schlägt die Logik des Kommerzes auf die Kulturerzeugnisse durch. Man muß aber wissen, daß historisch gesehen alle Kulturerzeugnisse, die ich jedenfalls schätze – ich hoffe, ich bin nicht der einzige – und die auch noch manch anderer zu den höchsten Errungenschaften der Menschheit zählen mag, Mathematik, Poesie, Literatur, Philosophie -, daß all das gegen das Äquivalent der Einschaltquote, gegen die Logik des Kommerzes entstanden ist. Daß die Einschaltquotenmentalität selbst bei Avantgardeverlegern Einzug hält, in wissenschaftliche Institute dringt, die sich jetzt aufs Marketing verlegen, ist sehr beunruhigend, denn damit geraten die Voraussetzungen für die Herstellung von Werken in Gefahr, die esote-
risch erscheinen mögen, weil sie der Publikumserwartung nicht entgegenkommen, sich aber, auf Dauer gesehen, ihr Publikum schaffen.
Die Dringlichkeit und das »Fast-inking« Im Fernsehen zeitigt die Einschaltquote eine ganz besondere Wirkung: Sie setzt sich in Zeitdruck um. Die Konkurrenz zwischen den Zeitungen, zwischen den Zeitungen und dem Fernsehen, zwischen den einzelnen Fernsehsendern nimmt die Form eines Wettlaufs um den Scoop an, darum, der erste zu sein. Alain Accardo zeigt in einem Buch, in dem er eine Reihe von Interviews mit Journalisten veröffentlichte, wie Fernsehjournalisten dazu gebracht werden, von einer Überschwemmung zu berichten, weil die Konkurrenz von einer Überschwemmung berichtet hat, und möglichst etwas darüber zu bringen, was der andere nicht gebracht hat. Kurzum, es gibt emen, die den Zuschauern aufgedrängt werden, weil sie sich den Produzenten der Sendung aufdrängen; und sie drängen sich ihnen auf, weil die Konkurrenzsituation sie ihnen aufdrängt, in der sie sich gegenüber anderen Produzenten von Sendungen befinden. Diese Art wechselseitiger Pression bringt eine ganze Reihe von Konsequenzen hervor, die sich in Entscheidungen für oder gegen emen niederschlagen. Zu Beginn sagte ich, daß das Fernsehen die Artikulation von Gedanken nicht gerade begünstigt. Ich stellte eine Verbindung zwischen Geschwindigkeit und Denken her, und zwar eine negative. Das ist ein alter Topos des philosophi-
schen Diskurses: Schon Platon unterschied zwischen dem Philosophen, der Zeit hat, und den Leuten auf der agora, auf dem öffentlichen Platz, die es eilig haben. Er behauptet in etwa, daß man nicht denken kann, wenn man es eilig hat. Das ist eine eindeutig aristokratische Einstellung. Es ist der Gesichtspunkt des Privilegierten, der Zeit hat und sein Privileg nicht allzusehr in Frage stellt. Aber hier ist nicht der Ort, diesen Aspekt zu diskutieren; fest steht jedenfalls, daß es eine Verbindung zwischen Denken und Zeit gibt. Und eines der Hauptprobleme des Fernsehens ist die Frage der Beziehungen zwischen Denken und Geschwindigkeit. Kann man denken, wenn man es eilig hat? Wenn das Fernsehen immer nur Denkern das Wort erteilt, die als besonders reaktionsschnell gelten, muß es sich mit fast-thinkers abfinden, Denkern, die, wie ein gewisser Westernheld, schneller schießen als ihr Schatten... Es fragt sich, warum sie diesen ganz besonderen Umständen gewachsen sind, warum sie es schaffen, unter Voraussetzungen zu denken, unter denen keiner außer ihnen denkt. Die Antwort liegt, scheint mir, darin, daß sie in »Gemeinplätzen« denken. »Gemeinplätze«, von denen Flaubert in Bouvard und Pécuchet berichtet, das sind banale, konventionelle Vorstellungen, wie alle sie haben; es handelt sich aber auch um Vorstellungen, die jeder versteht, so daß das Problem ihres Verständnisses sich gar nicht erst stellt. Nun lautet jedoch die Grundfrage aller Kommunikation, sei es eine Rede, ein Buch oder eine Fernsehbotschaft, ob die Voraussetzungen des Verständnisses erfüllt sind: Verfügt der Hörer über den Kode, mit dem er dekodieren kann, was ich sage? Wenn Sie einen »Gemeinplatz« von sich geben, ist das Problem von vornherein gelöst. Die Kommuni-
kation gelingt augenblicklich, weil sie in gewisser Hinsicht gar nicht stattfindet. Oder nur zum Schein. Der Austausch von Gemeinplätzen ist eine Kommunikation ohne anderen Inhalt als eben den der Kommunikation. Die »Gemeinplätze«, die im alltäglichen Gespräch eine enorme Rolle spielen, haben den Vorteil, daß jedermann sie aufnimmt und augenblicklich versteht: Aufgrund ihrer Banalität sind sie dem Sender wie dem Empfänger gemeinsam. Im Gegensatz dazu ist Denken von vornherein subversiv: Es muß damit beginnen, die »Gemeinplätze« zu demontieren, und damit fortfahren, daß es demonstriert, Beweise führt. Wenn Descartes von Beweisführung spricht, spricht er von langen Begründungsketten. Das braucht Zeit, eine ganze Reihe von Aussagen, die mit »also«, »folglich«, »damit«, »vorausgesetzt, daß« usw. untereinander verkettet sind, muß aneinandergefügt werden. Diese Entfaltung denkenden Denkens ist unaufhebbar an Zeit gebunden. Wenn das Fernsehen bestimmte fast-thinkers bevorzugt, die geistiges fast-food anbieten, vorgekaute, vorgedachte geistige Nahrung, so liegt das nicht nur daran; daß man (was auch zur Unterwerfung unter den Zeitdruck gehört) sein Adreßbuch hat, in dem immer dieselben Namen stehen (zu Rußland Herr oder Frau X, zu Deutschland Herr Y); es gibt obligatorische Interviewpartner, die die Suche nach jemandem erübrigen, der wirklich etwas zu sagen hätte, das hieße oft: nach jungen, noch unbekannten Leuten, die in ihrer Forschungsarbeit stecken und wenig dazu neigen, Medien zu frequentieren – man müßte sie erst auftreiben, wo man doch die Medienhirsche bei der Hand hat, die stets disponibel und bereit sind, ihre schriftliche Stellungnahme abzusondern oder ihre Interviews zu geben. Es liegt auch
daran, daß man, um unter Voraussetzungen zu denken, unter denen sonst keiner mehr denkt, Denker von einem ganz besonderen Schlage sein muß.
Echt falsche und falsch echte Debatten Ich muß auf die Fernsehdiskussionen zurückkommen, hier kann ich mich kurz fassen, weil die Beweisführung, wie ich denke, leichter ist. Zunächst einmal gibt es die echt falschen Debatten, die man sofort als solche erkennt. Wenn Sie im Fernsehen Alain Mine und Attali, Alain Mine und Sorman, Ferry und Finkielkraut, Julliard und Imbert sehen, dürfen Sie davon ausgehen, daß die unter einer Decke stecken. (In den Vereinigten Staaten gibt es Leute, die davon leben, daß sie im Duo von Universität zu Universität ziehen, um solche Auftritte zu bestreiten...) Das sind Leute, die sich kennen, die sich treffen, die zusammen essen gehen. (In seinem Tagebuch L‘annee des dupes, das bei Seuil erschien, hat Jacques Julliard erzählt, wie so etwas funktioniert.) Bei einer Sendung von Durand über die Eliten zum Beispiel, die ich mir genauer ansah, waren sie alle dabei: Attali, Sarkozy, Mine ... Einmal wandte Attali sich an Sarkozy und sprach ihn an mit »Nicolas... Sarkozy«, wobei zwischen Vor- und Familienname eine kleine Pause entstand. Hätte er nur den Vornamen genannt, wäre deutlich geworden, daß sich beide gut kennen, daß sie unter einer Decke stecken, während sie zum Schein zwei entgegengesetzte Standpunkte einnahmen. So blieb es bei einem kleinen, kaum merklichen Signal zwischen Komplizen. Und wirklich ist das Universum
der ständigen Fernsehgäste eine geschlossene Welt, in der jeder jeden kennt und die einer Logik ständiger Selbstbestätigung lolgt. (Die Debatte zwischen Serge July und Philippe Alexandre bei Christine Ockrent oder ihre Parodie bei den Guignols, die das Wesentliche davon zeigt, ist ins dieser Hinsicht beispielhaft.) Man widerspricht einander, aber das ist ein abgekartetes Spiel... So sollen Julliard und Imbert zum Beispiel die Rechte bzw. die Linke vertreten. Von jemandem, der alles durcheinanderbringt, sagen die Kabylen: »Er hat mir den Osten in den Westen gesteckt.« Diese Leute stecken einem die Rechte in die Linke. Ist sich das Publikum ihrer Komplizenschaft bewußt? Sicher ist das nicht. Sagen wir: vielleicht. Solche Skepsis äußert sich in Gestalt einer totalen Ablehnung der Hauptstadt Paris, einer Ablehnung, die die faschistische Kritik am Parisertum für ihre Zwecke einzuspannen versucht und die sich anläßlich der Novemberstreiks oft mit Worten Luft machte wie: »Das sind ja alles bloß Pariser Geschichten.« Diese Leute spüren durchaus, daß da etwas ist, verstehen aber nicht, bis zu welchem Punkt diese Welt in sich geschlossen, also gegenüber anderen, gegnüber der schieren Existenz anderer abgeschlossen ist. Es gibt auch scheinbar echte, zum Schein echte Debatten. Eine von ihnen möchte ich kurz untersuchen: diejenige, die Cavada während der Novemberstreiks organisiert hat. Allem Anschein nach eine demokratische Debatte, die gerade dadurch ein bezeichnendes Licht auf andere wirft. Wenn Les Guignols de l‘Info, eine satirische Sendung des privaten Fernsehprogramms Canal +, die Größen aus der Welt der Politik und der Medien karikiert. (A. d. Ü.)
man sich nämlich anschaut, was während dieser Debatte vor sich ging (ich werde wieder mit dem Sichtbarsten anfangen und versuchen, zum Verstecktesten vorzudringen), stellt man eine Reihe von Zensurmaßnahmen fest. Zunächst einmal: die Rolle des Moderators. Sie frappiert die Zuschauer immer. Sie sehen genau, daß seine Einwürfe die anderen Teilnehmer einengen. Er legt das ema fest, bestimmt die Fragestellung (die oft, wie in Durands Sendung »Sollen die Eliten verbrannt werden?«, so absurd ist, daß alle Antworten, positive wie negative, es gleichermaßen sind). Er wacht über die Einhaltung der Spielregeln, die nicht für alle dieselben sind: für einen Gewerkschaftler gelten andere als für Herrn Peyrefitte von der Académie Française. Der Moderator erteilt das Wort, er signalisiert die Wichtigkeit von Beiträgen. Manche Soziologen haben versucht, das in verbaler Kommunikation implizierte Nichtverbale herauszuarbeiten: Mit unseren Blicken, durch Schweigen, Gesten, Mimik, Augenbewegungen usw. sagen wir ebensoviel wie mit Worten. Auch mit der Betonung, mit allem möglichen. Wir geben daher viel mehr von uns, als wir kontrollieren können (was diejenigen eigentlich beunruhigen müßte, die dem Spiegel des Narziß fanatisch ergeben sind). Schon auf der Ebene des Sprechens gibt es so viele Ausdrucksmöglichkeiten – konzentriert man sich auf die phonologische Ebene, konzentriert man sich nicht auf die syntaktische usw. -, daß niemand, nicht einmal der Kontrollierteste (außer vielleicht, wenn er eine Rolle spielt oder Parteichinesisch spricht), alles im Griff hat. Auch der Moderator greift unbewußt ein, durch seine Fragestellung, seinen Tonfall. Die einen fährt er an: »Antworten Sie, Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, oder »Ich erwarte
Ihre Antwort. Werden Sie den Streik wiederaufnehmen?« Auch die verschiedenen Weisen, »danke« zu sagen, sind sehr bezeichnend. »Danke« kann heißen: »Ich danke Ihnen, ich bin Ihnen dankbar, ich nehme Ihre Worte mit Dankbarkeit auf.« Es gibt aber auch eine Art, jemandem zu danken, die wie eine Entlassung klingt. »Danke« heißt dann: »O.k., Schluß jetzt. Der nächste bitte.« Das alles äußert sich in infinitesimaler Weise, in winzigen Nuancen des Tons, aber der Gesprächspartner registriert es, er registriert die offenkundige Semantik und die versteckte, er registriert beide und kann dadurch heillos verwirrt werden. Der Moderator gibt die Redezeit vor, er gibt den Redeton vor: respektvoll oder herablassend, entgegenkommend oder ungeduldig. Man kann zum Beispiel auf eine Art »ja, ja« sagen, die Druck ausübt, die den Gesprächspartner Ungeduld spüren läßt oder Gleichgültigkeit ... (Wir wissen, daß es bei den Interviews, die wir machen, sehr wichtig ist, den Menschen Zustimmung, Interesse zu signalisieren, sonst sinkt ihnen der Mut und sie verstummen. Sie erwarten nur wenig, ein »ja, ja«, ein Kopfnicken, kleine Signale des Einverständnisses, wie man so sagt.) Diese Zeichen des Einverständnisses manipuliert der Moderator, unbewußt häufiger als bewußt. So wird der Respekt vor den Größen des Kulturlebens jemanden, der als Autodidakt gerade einmal in diese Welt hineingeschnuppert hat, zur Bewunderung falscher Größen bewegen, zur Bewunderung von Mitgliedern der Académie Française und von Trägern anderer ehrfurchtgebietender Titel. Eine andere Moderatorenstrategie besteht darin, den Zeitdruck zu manipulieren, die Uhr einzusetzen, um das Wort abzuschneiden, unter l )ruck zu setzen, zu unterbrechen. Und wie alle Moderato-
ren macht auch der unsere sich zum Anwalt des Publikums: »Ich unterbreche Sie, ich verstehe nicht, was Sie meinen.« Er will damit nicht sagen, daß er ein Idiot ist, er will sagen, daß der Durchschnittszuschauer, der zwangsläufig ein Idiot ist, nichts versteht und daß er selbst sich zum Sprecher der »Dummköpfe« macht, um eine intelligente Darbietung zu unterbrechen. Dabei sind, wie ich feststellen konnte, die Leute, in deren Namen er sich diese Zensorenrolle herausnimmt, über die Unterbrechungen am aufgebrachtesten. Das Ergebnis war, daß der Vertreter der Gewerkschaft CGT in einer zweistündigen Sendung alles in allem genau fünf Minuten Redezeit hatte, alle Beiträge zusammengenommen (dabei hätte es bekanntlich ohne die CGT keinen Streik, keine Sendung usw. gegeben). Während gleichzeitig scheinbar – und insofern war die Sendung Cavadas von Interesse – alle äußeren Anzeichen formaler Gleichheit respektiert waren. Und das stellt unter demokratischem Gesichtspunkt ein äußerst wichtiges Problem dar: Offenkundig sind nicht alle Teilnehmer gleichermaßen mit solchen Diskussionsrunden vertraut. Es gibt die Profis in der Runde, professionelle Wortführer und Studiogäste, und die Amateure (das können Streikteilnehmer sein, die, säßen sie in einer gemütlichen Ecke beisammen...) – eine extrem ungleiche Zusammensetzung. Um ein gewisses Gleichgewicht herzustellen, müßte der Moderator ungleich sein, das heißt den Unbeholfensten ein wenig nachhelfen, wie wir es bei unseren Erhebungen für La misère du monde taten. Wenn man will, daß jemand, der nicht zu den Wortgewaltigen gehört, es schafft, etwas zu sagen (und oft sagt er dann ganz außerordentliche Dinge, Dinge, die diejenigen, die ständig das Wort führen, nicht
einmal denken können), muß man ihn beim Sprechen unterstützen. Um das ein bißchen edler auszudrücken, könnte ich sagen: Das ist die sokratische Aufgabe in Reinkultur. Es geht darum, sich jemandem zur Verfügung zu stellen, der etwas Wichtiges zu sagen hat und von dem man wissen will, was er zu sagen hat, was er denkt; es geht darum, ihm zu helfen, es herauszubringen. Das machen die Fernsehmoderatoren ganz und gar nicht. Nicht nur helfen sie den Hilflosen nicht, sie schlagen ihnen sozusagen auch noch die Krücken weg. Dafür gibt es -zig Methoden: nicht zur rechten Zeit das Wort geben, das Wort geben, wenn nicht mehr damit gerechnet wird, Ungeduld zeigen usw. Bisher sind wir auf der Ebene der Erscheinungen. Wir müssen uns jetzt auf eine zweite Ebene begeben: die der Zusammensetzung der Diskussionsrunde. Sie ist entscheidend. Die Runde selbst ist das Ergebnis einer unsichtbar bleibenden Arbeit. Da ist zum Beispiel die ganze Arbeit der Einladung: Manche Leute lädt man gar nicht erst ein; andere lädt man ein, und sie lehnen ab. Schließlich steht die Runde, und das Sichtbare verbirgt das Unsichtbare: Ein konstruiertes Sichtbares zeigt die sozialen Voraussetzungen seiner Konstruktion nicht. Darum sagt man sich nicht: »Sieh an, der und der ist nicht dabei.« Ein Beispiel dieser Manipulationsarbeit (eines unter tausenden): Während der Streiks gab es zwei aufeinanderfolgende Sendungen des Cercle de Minuit iiber die Intellektuellen und die Streiks. Es existierten, grob gesagt, zwei Lager unter den Intellektuellen. Bei der ersten Sendung vermittelten die Intellektuellen, die gegen den Streik waren, im großen ganzen den Eindruck, zum rechten Spektrum zu gehören. Bei der zweiten Sendung
(die diesen Eindruck korrigieren sollte) änderte man die Zusammensetzung der Runde, fügte Teilnehmer hinzu, die noch weiter rechts standen, und eliminierte die Befürworter des Streiks, womit diejenigen, die in der ersten Sendung rechts gestanden hatten, als links erschienen. Rechts und links, das ist nun einmal relativ. In diesem Fall also änderte eine Zusammensetzung der Diskussionsrunde den Sinn der Botschaft. Die Zusammensetzung der Runde ist wichtig, weil sie den Eindruck demokratischer Ausgewogenheit vermitteln muß (der Grenzfall ist die Konfrontation von zwei Kontrahenten: »Ihre dreißig Sekunden sind abgelaufen ...«). Man demonstriert Gleichheit, und der Moderator geriert sich als Schiedsrichter. In Cavadas Runde traten zwei Kategorien auf: Engagierte Akteure, Protagonisten, Streikende; und dann andere, die auch Protagonisten waren, aber die Position von Beobachtern einnahmen. Es gab solche, die sich zu erklären hatten (»Warum machen Sie das, warum bereiten Sie den Benutzern der öffentlichen Verkehrsmittel Scherereien?« usw.), und andere, die da waren, um zu erklären, um einen Meta-Diskurs zu liefern. Ein anderer unsichtbarer und doch ganz entscheidender Faktor: die in Vorbereitungsgesprächen mit den späteren Teilnehmern festgelegten Spielregeln, die manchmal zu einer Art Drehbuch mit mehr oder weniger strengen Anweisungen ausarten können, denen die Fernsehgäste zu
Um Mitternacht herum (daher der Titel) ausgestrahlte Talkshow mit kulturellem Schwerpunkt (inzwischen abgesetzt). Pierre Bourdieu stellte hier mit Hans Haacke ihr gemeinsames Buch Libre-echange vor (deutsch: Freier Austausch, Frankfurt/M., Fischer Verlag ). (A. d. Ü.)
folgen haben (die Vorbereitung kann in bestimmten Fällen, etwa bei Unterhaltungssendungen, fast die Form einer Generalprobe annehmen). In diesem von vornherein festgelegten Drehbuch gibt es praktisch keinen Raum mehr für Improvisation, für freie, ungezügelte Meinungsäußerung – sie wäre für den Moderator und seine Sendung zu riskant, ja gefährlich. Eine andere unsichtbare Eigenschaft dieses Raumes ist die Logik des Sprachspiels, wie die Philosophen sagen. Es gibt stillschweigend anerkannte Regeln für das Spiel, das ablaufen soll, denn jedes soziale Universum, in dem geredet wird, verfügt über eine Struktur, die einiges zuläßt und anderes nicht. Die erste stillschweigende Voraussetzung dieses Sprachspiels: Die demokratische Diskussion folgt den Regeln des Catch-as-catch; man braucht Konfrontationen, den Guten, das Biest... Aber dennoch sind nicht alle Schläge erlaubt. Die Schläge müssen der Logik einer formalen, kunstvollen Sprache folgen. Weitere Eigenschaften des Raumes: die schon erwähnte Komplizität zwischen den Profis, denen, die ich die fast-thinkers nenne, den Spezialisten des Wegwerfdenkens; die Fernsehleute nennen sie bons clients, gute Kunden. Das sind Leute, die man einladen kann, von denen man weiß, daß sie sich benehmen werden, daß sie keine Schwierigkeiten verursachen, keine Vorfälle provozieren und daß sie redselig sind. Es gibt ein Universum solch »guter Kunden«, die sich hier wohl fühlen wie der Fisch im Wasser, und andere, die sind wie Fische auf dem Trockenen. Und ein letztes unsichtbares Element: das Unbewußte der Diskussionsleiter. Es ist mir sehr oft passiert, und das sogar mit Journalisten, die mir ausgesprochen wohlwollten, daß ich alle meine Antworten damit beginnen mußte, die Frage
in Frage zu stellen. Mit ihrer Brille, mit ihren Denkkategorien versehen, formulieren die Journalisten Fragen, die mit nichts etwas zu tun haben. Zum Beispiel haben sie über die Probleme der Vorstädte all die Phantasmen im Kopf, von denen ich vorhin sprach, und man kann nicht darauf eingehen, ohne zuerst höflich zu sagen: »Ihre Frage ist sicher sehr interessant, aber mir scheint, es gibt noch eine andere, wichtigere...« Wenn man nicht wenigstens einigermaßen gut vorbereitet ist, antwortet man auf Fragen, die sich überhaupt nicht stellen.
Widersprüche und Spannungen Das Fernsehen verfügt als Kommunikationsinstrument nur über sehr wenig Autonomie, es ist einer ganzen Reihe von Zwängen ausgesetzt, die von den sozialen Beziehungen zwischen den Journalisten herrühren: heftige, unerbittliche, bis zum Absurden reichende Konkurrenz zwischen ihnen, aber zugleich auch heimliches Einverständnis und objektive Komplizenschaft, die auf gemeinsamen Interessen beruhen, welche ihrerseits mit ihrer Position im Feld der symbolischen Produktion und damit zusammenhängen, daß sie gemeinsame geistige Strukturen, Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien haben, die aus ihrer sozialen Herkunft, ihrer Ausbildung (oder Nichtausbildung) resultieren. Woraus hervorgeht, daß dieses scheinbar entfesselte Kommunikationsinstrument Fernsehen in Wirklichkeit gefesselt ist. Als das Fernsehen in den sechziger Jahren aufkam, haben eine Menge »Soziologen« (in ganz großen
Anführungszeichen) vorschnell erklärt, das Fernsehen als »Massenkommunikationsmittel« werde die Menschen »vermassen«. Das Fernsehen werde alle Zuschauer nach und nach nivellieren, homogenisieren. Dabei hat man die Widerstandskräfte unterschätzt. Und vor allem hat man die Fähigkeit des Fernsehens unterschätzt, diejenigen umzuformen, die es machen, und darüber hinaus die anderen Journalisten und die Gesamtheit der Kulturproduzenten (durch die unwiderstehliche Faszination, die es auf manche unter ihnen ausübte). Das wichtigste und kaum recht vorhersehbare Phänomen war der außerordentliche Einfluß des Fernsehens auf die Gesamtheit der kulturellen Tätigkeiten, einschließlich der wissenschaftlichen und künstlerischen. Heute hat das Fernsehen einen Widerspruch bis zum Äußersten, bis an seine Grenze getrieben, der alle Bereiche der Kulturproduktion befällt. Ich meine den Widerspruch zwischen einerseits den ökonomischen und sozialen Voraussetzungen für die Hervorbringung bestimmter Werke (ich habe das Beispiel Mathematik genannt, weil es am einleuchtendsten ist, aber dasselbe gilt für Avantgardedichtung, für Philosophie, Soziologie usw.), Werke, die man »rein« nennt – ein lächerliches Wort, sagen wir: autonom im Hinblick auf kommerzielle Zwänge -, und andererseits den sozialen Voraussetzungen für die Verbreitung der unter solchen Voraussetzungen entstandenen Produkte; den Widerspruch zwischen den Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, um avantgardistische Mathematik, avantgardistische Poesie usw. zu machen, und den Voraussetzungen, die man braucht, um diese Dinge aller Welt bekannt zu machen. Das Fernsehen treibt diesen Widerspruch zum
Äußersten in dem Maße, in dem es mittels Einschaltquote mehr als alle anderen Bereiche kultureller Produktion dem Druck des Kommerziellen unterworfen ist. Entsprechend stark sind in diesem Mikrokosmos, der Welt des Journalismus, die Spannungen zwischen denen, die Werte wie Autonomie, Freiheit gegenüber dem Kommerziellen, gegenüber Aufträgen, Chefs usw. verteidigen möchten, und denen, die sich den Zwängen unterwerfen und von ihnen dafür belohnt werden... Diese Spannungen gelangen kaum zum Ausbruch, jedenfalls nicht auf dem Bildschirm, denn die Voraussetzungen dafür sind selten gegeben: Ich denke etwa an den Gegensatz zwischen den großen Stars mit den Rieseneinkünften, die im Rampenlicht stehen und dafür besonders entlohnt werden, aber auch besonders unterwürfig sind, und den unsichtbaren Handlangern der Nachrichtensendungen und Reportagen, die immer kritischer, weil infolge der Logik des Arbeitsmarktes immer besser ausgebildet sind und dabei immer uninteressantere, unbedeutendere Dinge zu tun haben. Hinter den Mikrophonen, den Kameras stehen heute Menschen, die viel gebildeter sind als ihre Kollegen in den sechziger Jahren; anders gesagt: Die Spannung zwischen dem, was beruflich verlangt wird, und den Ansprüchen, die man in den Journalistenschulen und auf den Universitäten erwirbt, steigt immer weiter – obwohl, wer wirklich Karriere machen will, sich schon vorgreifend anpaßt... Ein Journalist sagte neulich, aus der Krise im Alter von (mit entdeckte man, daß der Beruf nicht hält, was man sich von ihm versprochen hatte) werde eine Dreißiger-Krise. Die Fernsehleute entdecken die fürchterlichen Zwänge ihres Berufs immer früher, und vor allem die von der Einschalt-
quote ausgehenden Zwänge. Im Journalismus finden sich mit die meisten Unruhigen, Unzufriedenen, Empörten oder zynisch Resignierten; unter ihnen (natürlich vor allem am unteren Ende der Hierarchie) breiten sich Zorn, Ekel oder Lustlosigkeit gegenüber einer Arbeit aus, die man zugleich als »anders als die anderen« erlebt oder erleben will. Die Situation ist jedoch alles andere als eine, in der Mißmut und Ablehnung die Gestalt echten individuellen oder gar kollektiven Widerstands annehmen könnten. Wenn man verstehen will, wovon ich gesprochen habe und was, obwohl ich mir alle Mühe gab, nicht mißverstanden zu werden, doch als individuelle Schuldzuweisung an Moderatoren und Kommunikatoren aufgefaßt worden sein wird, muß man sich auf die Ebene der Mechanismen, die das Ganze steuern, die Ebene der Strukturen begeben. Platon (um ihn noch einmal zu zitieren) sagte, wir seien Marionetten der Gottheit. Das Fernsehen ist ein Universum, das den Eindruck vermittelt, daß die Akteure, trotz allem Anschein von Wichtigkeit, von Freiheit, von Autonomie und manchmal sogar einer erstaunlichen Aura (man braucht nur die Fernsehzeitschriften zu lesen), Marionetten eines Zwangszusammenhanges sind, der zu beschreiben, einer Struktur, die herauszuarbeiten und ans Licht zu bringen ist.
;XFJUFS7PSUSBH Die unsichtbare Struktur und ihre Auswirkungen Um nicht nur, wenn auch noch so penibel, die Vorgänge in einem Fernsehstudio zu beschreiben, sondern um die Mechanismen ausfindig zu machen, die diese erklären, bin ich gezwungen, einen ein wenig technisch klingenden Begriff einzuführen: den des journalistischen Feldes. Die Welt des Journalismus ist ein Mikrokosmos mit eigenen Gesetzen. Dieser Mikrokosmos ist definiert durch seine Stellung in einem umfassenden Ganzen und durch die Anziehung und Abstoßung, die andere Mikrokosmen auf ihn ausüben. Er ist autonom, folgt seinem eigenen Gesetz, das heißt: Was in ihm vor sich geht, kann nicht direkt von äußeren Faktoren her erschlossen werden. Daher mein Einwand gegen die bloß ökonomische Erklärung der Entwicklungen im Journalismus. Was bei TF vor sich geht, kann man zum Beispiel nicht durch die bloße Tatsache erklären, daß dieser Kanal Bouygues gehört. Natürlich wäre eine Erklärung unzureichend, die das nicht berücksichtigt, aber eine Erklärung, die nur das berücksichtigt, wäre nicht weniger unzureichend. Und sie wäre vielleicht noch unzureichender, weil sie den Eindruck erwecken würde, zureichend zu sein. Es gibt einen mit der marxistischen Tradition verbundenen Materialismus, der zu kurz greift und nichts erklärt, der anprangert, ohne das geringste aufzuklären.
Marktanteile und Konkurrenz Um zu verstehen, was bei TF vor sich geht, muß man alle Faktoren berücksichtigen, die dazu beitragen, daß TF sich in einem Universum objektiver Beziehungen zwischen den verschiedenen Fernsehkanälen befindet, die zueinander in Konkurrenz stehen, in einer Konkurrenz jedoch, deren Form, von außen nicht erkennbar, durch Kräfteverhältnisse definiert ist, die über Indikatoren wie Marktanteile, Stellenwert bei den Werbekunden, das von angesehenen Journalisten verkörperte kollektive Kapital usw. erfaßt werden können. Anders gesagt, es finden zwischen diesen Anstalten nicht nur Interaktionen statt, man hat es nicht nur mit Leuten zu tun, die miteinander sprechen (oder auch nicht), Leuten, die einander beeinflussen, einander lesen, all das, was ich bisher erzählt habe; es existieren auch völlig unsichtbare Kräfteverhältnisse, und das hat zur Folge, daß, wer verstehen will, was bei TF oder Arte vor sich geht, die Gesamtheit der objektiven Kräfteverhältnisse berücksichtigen muß, aus denen die Struktur des Feldes besteht. Im Feld der Wirtschaftsunternehmen zum Beispiel kann ein sehr mächtiges Unternehmen den Wirtschaftsraum fast völlig umgestalten; es kann die Preise so senken, daß neue Unternehmen nicht Fuß fassen können, und so eine Art Zugangsbarriere errichten. Solche Auswirkungen sind nicht unbedingt gewollt. TF hat die Fernsehlandschaft einfach dadurch verändert, daß dieser Sender eine Menge spezifischer Faktoren in sich versammelte, die in diesem Universum Einfluß haben und sich effektiv in Marktanteile umsetzen. Diese Struktur wird weder von den Fernsehzu-
schauern noch von den Journalisten wahrgenommen. Sie nehmen die Auswirkungen wahr, sehen aber nicht, wie weit der relative Stellenwert der Institution, in der sie sich befinden, sie selbst, ihre Stellung und ihren Stellenwert innerhalb der Institution bestimmt. Wenn ein Journalist verstehen will, was er bewirken kann, muß er sich eine Reihe von Parametern bewußt machen: einerseits die Position seines Unternehmens innerhalb des journalistischen Feldes, ob er also im Fernsehen oder für eine Tageszeitung arbeitet, zweitens seine eigene Position im Raum seines Presseorgans oder seines Senders. Ein Feld ist ein strukturierter gesellschaftlicher Raum, ein Kräftefeld – es gibt Herrscher und Beherrschte, es gibt konstante, ständige Ungleichheitsbeziehungen in diesem Raum -, und es ist auch eine Arena, in der um Veränderung oder Erhaltung dieses Kräftefeldes gekämpft wird. In diesem Universum bringt jeder die (relative) Kraft, über die er verfügt und die seine Position im Feld und folglich seine Strategien bestimmt, in die Konkurrenz mit den anderen ein. Die wirtschaftliche Konkurrenz der Sender oder Zeitungen um Leser oder Zuschauer oder, wie es auch heißt, um Marktanteile spielt sich konkret in Form einer Konkurrenz zwischen den Journalisten ab, und diese Konkurrenz hat ihre eigenen, spezifischen Ziele: den Scoop, die Exklusivmeldung, das berufliche Ansehen, und sie wird nicht als rein wirtschaftlicher Kampf um finanzielle Gewinne erfahren und verarbeitet, obwohl sie den Zwängen unterliegt, die mit der Position eines Informationsmediums innerhalb ökonomischer und symbolischer Kräfteverhältnisse verbunden sind. Es gibt heute objektive, unsichtbare Beziehungen zwischen Leuten, die sich vielleicht niemals
begegnen – zwischen Mitarbeitern von Le Monde Diplomatique und TF etwa, um einen Extremfall zu wählen -, aber gezwungen sind, bei dem, was sie tun, bewußt oder unbewußt Zwänge oder Einflüsse zu berücksichtigen, die sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu demselben Universum geltend machen. Anders gesagt, wenn ich heute wissen will, was dieser oder jener Journalist denken oder schreiben wird, was er einleuchtend oder undenkbar, selbstverständlich oder seiner unwürdig findet, muß ich die Position kennen, die er in diesem Raum innehat, das heißt den spezifischen Stellenwert des Mediums, für das er arbeitet und das sich unter anderem ökonomisch bemißt, in Marktanteilen, aber auch, und das ist schwerer zu quantifizieren, in seinem symbolischen Stellenwert. (Wenn man alles erfassen wollte, müßte man im Grunde auch die Position des inländischen Medienfeldes innerhalb des globalen Feldes einbeziehen und zum Beispiel die auf ökonomisch-technischer und vor allem symbolischer Ebene dominierende Stellung des amerikanischen Fernsehens berücksichtigen, das für viele Journalisten ein Vorbild und eine Inspirationsquelle darstellt, aus der sie ihre Einfalle, Szenarios, Verfahren beziehen.) Die heutige Form dieser Struktur läßt sich besser verstehen, wenn man die Geschichte des Prozesses nachzeichnet, aus der sie hervorging. In den fünfziger Jahren spielte das Fernsehen im journalistischen Feld kaum eine Rolle; wer von Journalismus sprach, dachte kaum an das Fernsehen. Die Fernsehleute waren doppelt untergeordnet: Weil man sie im Verdacht hatte, von politischen Instanzen gesteuert zu werden, waren sie in ihrem Prestige kulturell, symbolisch untergeordnet, und sie waren zugleich wirtschaftlich untergeordnet, insofern sie von staatlichen Subventionen
abhingen und also weniger effizient, weniger mächtig waren. Mit den Jahren (der Prozeß wäre im Detail zu beschreiben) kehrte sich diese Beziehung vollständig um; heute tendiert das Fernsehen dazu, im journalistischen Feld ökonomisch und symbolisch zu dominieren. Das macht vor allem die Pressekrise spürbar: Zeitungen verschwinden, andere kämpfen unablässig ums Überleben, um die Gewinnung oder Wiedergewinnung ihrer Leserschaft, wobei jedenfalls in Frankreich diejenigen am meisten bedroht sind, die vor allem Vermischtes und Sport boten und einem Fernsehen nicht viel entgegenzusetzen haben, das sich immer mehr auf diese emen hin orientiert, und zwar in dem Maße, in dem es vom seriösen Journalismus nicht mehr dominiert wird (der nämlich an erster Stelle, auf der ersten Seite, Nachrichten aus dem Ausland, politische Meldungen, ja sogar politische Analysen bringt oder brachte und die »Vermischten Meldungen« und den Sport auf die angebrachten Plätze verwies). Mit dieser Beschreibung breche ich die Dinge übers Knie; man müßte ins Detail gehen, eine Sozialgeschichte (es gibt sie leider nicht) der Entwicklung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Nachrichtenmedien anfertigen (und nicht nur die Geschichte eines Mediums). Das Wichtigste wird auf der Ebene der Strukturgeschichte der Gesamtheit dieses Universums deutlich. Was in einem Feld zählt, ist der relative Stellenwert: Eine Zeitung kann völlig identisch bleiben, sie braucht keinen einzigen Leser zu verlieren, sich in nichts zu ändern und kann sich nichtsdestoweniger völlig transformieren, weil ihr Stellenwert und ihre relative Position im Raum sich transformieren. Zum Beispiel hört eine Zeitung auf zu dominieren, wenn ihre
Macht, den sie umgebenden Raum zu gestalten, sich abschwächt, wenn sie nicht mehr den Ton angibt. Man kann sagen, daß Le Monde im Bereich der Presse den Ton angab. Es existierten bereits ein Feld und der Gegensatz, den alle Pressehistoriker feststellen, zwischen den Zeitungen, die news, Nachrichten, Vermischtes liefern, und denen, die views, Meinungen, Analysen usw. liefern; zwischen Zeitungen mit hoher Auflage wie France Soir und solchen mit relativ niedriger Auflage, die dafür eine quasioffizielle Autorität ausüben. Le Monde stand unter beiden Aspekten gut da: Die Auflage war hoch genug, um für Anzeigenkunden eine Macht darzustellen, und zugleich verfügte die Zeitung über genug symbolisches Kapital, um Autorität auszuüben. Sie versammelte die beiden in diesem Feld ausschlaggebenden Machtfaktoren. Die Meinungspresse ist im . Jahrhundert aufgekommen, und zwar in Reaktion auf die auflagenstarken Blätter, die einem breiten Publikum Sensationen boten, was bei gebildeten Lesern immer schon Angst oder Abscheu ausgelöst hat. Das Fernsehen, dieses Massenmedium schlechthin, ist als Phänomen, abgesehen von seiner Reichweite, nicht vollkommen neu. Nebenbei gesagt, eines der großen Probleme der Soziologen besteht darin, nicht auf eine der beiden symmetrisch einander entsprechenden Illusionen hereinzufallen: die Illusion des jamais vu, noch nie dagewesen (es gibt Soziologen, die das hinreißend finden, und es wirkt auch sehr schick, vor allem im Fernsehen, unerhört Neues, Revolutionäres anzukündigen), und die des toujours ainsi, alles wie gehabt (das findet sich eher bei konservativen Soziologen: »Nichts Neues unter der Sonne, immer wird es oben und unten geben, reich und arm...«). Die Gefahr ist
immer sehr groß und um so größer, als der Vergleich zwischen Epochen äußerst schwierig ist: Nur Strukturen lassen sich miteinander vergleichen, und man läuft ständig Gefahr, sich zu täuschen und als unerhört zu beschreiben, was banal ist – einfach aus mangelndem Wissen. Darin liegt einer der Gründe dafür, daß Journalisten manchmal gefährlich sind: Da sie nicht immer wirklich gebildet sind, wundern sie sich über Dinge, die nicht sehr verwunderlich sind, und über wirklich Staunenswertes wundern sie sich nicht... Die Geschichte ist für uns Soziologen unerläßlich; leider wissen wir in vielen Bereichen, vor allem im zeitgeschichtlichen, noch nicht sehr viel, vor allem über neue Phänomene wie den Journalismus.
Eine banalisierende Kraft Um auf die Frage der Konsequenzen zurückzukommen, die das Auftauchen des Fernsehens mit sich bringt: Zwar hat der Gegensatz schon früher bestanden, aber nie in dieser Schärfe (ich wähle einen Mittelweg zwischen »nie dagewesen« und »wie gehabt«). Durch seine Reichweite stellt das Fernsehen den Pressejournalismus und überhaupt die Welt der Kultur vor ein furchtbares Dilemma. Neben ihm scheint die Massenpresse ziemlich belanglos, die dereinst schaudern ließ (Raymond Williams stellte die Hypothese auf, daß die ganze romantische Dichtung in England von dem Horror ausgelöst wurde, den das Aufkommen der Massenpresse den Schriftstellern einflößte). Durch seine
Reichweite und seinen außerordentlichen Stellenwert löst das Fernsehen Effekte aus, die, obwohl nicht völlig neu, doch sehr neuartig sind. Zum Beispiel kann das Fernsehen an einem Abend während der Acht-Uhr-Nachrichten mehr Menschen erreichen als die ganze französische Morgen- und Abendpresse zusammengenommen. Wenn die von einem solchen Medium gelieferten Meldungen aseptische, homogenisierte Omnibus-Meldungen werden, liegen die möglichen politischen und kulturellen Auswirkungen auf der Hand. Das Gesetz ist altbekannt: Je breiter das Publikum ist, auf das ein Presseorgan oder überhaupt ein Kommunikationsmedium zielt, je stromlinienförmiger muß es sich verhalten; es muß alles Kontroverse meiden und sich befleißigen, »niemanden zu schockieren«, wie es heißt, niemals Probleme aufzuwerfen, oder höchstens Scheinprobleme. Im täglichen Leben spricht man oft vom Wetter, weil man bei diesem ema sicher sein kann, nicht auf Widerspruch zu stoßen – das Softthema schlechthin, wenn Sie sich nicht gerade als Urlauber mit einem Bauern unterhalten, der auf Regen wartet. Je breiter das Publikum ist, auf das ein Informationsmedium zielt, desto mehr problemfreie Omnibus-emen stellt es in den Vordergrund. Das ema wird entsprechend den Wahrnehmungskategorien des Rezipienten konstruiert. Deshalb kommt die ganze kollektive Anstrengung um Homogenisierung und Banalisierung, um »konform« und »unpolitisch« zu sein, die ich beschrieben habe, perfekt Vgl. Raymond Williams, Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien zur historischen Semantik von >Kultur<, München, Rogner & Bern-. hard, . (A.d.Ü.)
an, obwohl eigentlich kein Subjekt sie lenkt, obwohl sie niemals von irgend jemandem so gedacht und gewollt war. Solche Dinge beobachtet man oft in der sozialen Welt: Es ereignet sich etwas, das keiner will und das doch ganz den Anschein haben kann, als sei es gewollt (»Man macht das, um...«). Hier wird die vereinfachende Kritik gefährlich: Sie dispensiert von der notwendigen Arbeit, Phänomene zu verstehen wie etwa dies, daß jenes höchst merkwürdige Produkt »Fernsehnachrichten« zustande kommt, ohne daß jemand es wirklich so will, ohne daß die Geldgeber spürbar einzugreifen hätten – ein Produkt für den Durchschnitts-geschmack, das Altbekanntes bestätigt und vor allem die mentalen Strukturen unangetastet läßt. Gewöhnlich spricht man von Revolutionen, wenn die materiellen Grundlagen einer Gesellschaft angetastet werden (durch Verstaatlichung von Kircheneigentum z. B.); es gibt aber auch symbolische Revolutionen, solche, die von Künstlern, Wissenschaftlern oder auch großen religiösen oder manchmal, seltener, von politischen Propheten ausgelöst werden – Revolutionen, die an die mentalen Strukturen rühren, das heißt: unsere Sicht- und Denkweisen verändern. Auf dem Gebiet der Malerei war dies der Fall bei Manet, der einen grundlegenden Gegensatz erschütterte, eine Struktur, auf der die ganze akademische Ausbildung beruhte: den Gegensatz zwischen dem Zeitgenössischen und dem Antiken. Wenn ein so mächtiges Instrument wie das Fernsehen sich auch nur im geringsten auf eine solche symbolische Revolution zubewegen würde, es würde, dessen bin ich mir sicher, sofort gebremst... Aber ohne daß das irgendwer verbieten müßte, bloß von der Konkurrenz getrieben und den anderen erwähnten Mechanismen, tut das Fernsehen sowieso nichts
dergleichen. Es ist den mentalen Strukturen des Publikums vollendet angepaßt. Zu dieser Logik zählt auch der Moralingehalt des Fernsehens, seine »Aktion Sorgenkind«Mentalität. »Gute Gefühle«, sagte Gide, »bringen schlechte Literatur hervor«; aber gute Gefühle bringen hervorragende Einschaltquoten. Es wäre der Mühe wert, einmal über den Moralismus der Fernsehleute nachzudenken: Oft genug Zyniker, sind sie in ihren Äußerungen zu moralischen Fragen doch unwahrscheinlich konformistisch. Unsere Nachrichtensprecher, Moderatoren, Sportreporter haben sich zu Moralaposteln entwickelt; mühelos schwingen sie sich zu Verkündern einer typisch kleinbürgerlichen Moral auf, die bestimmen, »was zu halten ist« von dem, was sie »die Probleme der Gesellschaft« nennen, von Aggressionen in den Vorstädten oder von der Gewalt an den Schulen. Dasselbe gilt für Kunst oder Literatur: Die sogenannten literarischen Sendungen, gerade die bekanntesten, fördern die etablierten Werte, den Konformismus und Akademismus oder auch das, was gerade hoch im Kurs steht, und zwar tun sie es immer dienstfertiger. Die Journalisten (genauer gesagt: das journalistische Feld) verdanken ihre Bedeutung in der sozialen Welt dem Umstand, daß sie ein faktisches Monopol über die Instrumente zur Herstellung und Verbreitung von Informationen auf nationaler Ebene innehaben, und vermittels dieser Instrumente ein Monopol über den Zugang einfacher Bürger, aber auch anderer Kulturproduzenten – Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller – zu dem, was man manchmal »Öffentlichkeit« nennt, das heißt zum breiten Publikum. (Dieses Monopol macht sich störend bemerkbar, sobald man versucht, als Individuum oder als Mitglied einer Verei-
nigung, irgendeiner Gruppierung, ein breites Publikum zu informieren.) Obwohl sie eine untergeordnete, dominierte Stellung in den Feldern der Kulturproduktion einnehmen, üben sie eine ganz seltene Form von Herrschaft aus: Sie haben die Verfügungsgewalt über die Mittel, sich öffentlich zu äußern, öffentlich zu existieren, gekannt zu werden, zu öffentlicher Bekanntheit zu gelangen (was für Politiker und für manche Intellektuelle ein entscheidendes Ziel darstellt). Dies führt dazu, daß sie (jedenfalls die mächtigsten unter ihnen) ein Ansehen genießen, das zu ihren intellektuellen Meriten oft in keinerlei Verhältnis steht... Und sie können einen Teil dieser Macht, Ruhm zu vergeben, zugunsten ihrer eigenen Person verwenden (daß selbst die anerkanntesten Journalisten gesellschaftlichen Kategorien, die sie gelegentlich dominieren können, wie Intellektuellen – zu denen sie brennend gern gehören würden – und Politikern strukturell untergeordnet sind, trägt wohl zur Erklärung ihres konstanten Hangs zum Antiintellektualismus bei). Vor allem aber verhilft ihnen ihr ständiger Zugang zu öffentlicher Sichtbarkeit, zur Äußerung vor einem breiten Publikum – etwas, was jedenfalls bis zur Erfindung des Fernsehens sogar für hochberühmte Kulturproduzenten ganz undenkbar war – dazu, daß sie der ganzen Gesellschaft die Grundlagen ihrer Weltsicht, ihre Problemstellung, ihre Optik aufnötigen können. Man wird einwenden, daß die Journalistenwelt uneinheitlich ist, daß sie differenziert und diversifiziert und also in der Lage ist, alle Meinungen, alle Gesichtspunkte zu vertreten oder ihnen Gelegenheit zu geben, sich zu äußern (und tatsächlich kann man die untereinander konkurrierenden Journalisten und Medien bis zu einem gewissen Punkt gegeneinander ausspielen, sofern
man über ein Minimum an symbolischem Stellenwert verfügt). Aber das journalistische Feld beruht wie die anderen Felder unweigerlich und jenseits aller Unterschiede von Position und Meinung auf einer Gesamtheit von allen geteilter Grundannahmen und Dogmen. Aus diesen Grundannahmen, die in einem bestimmten System von Denkkategorien wurzeln, in einer bestimmten Beziehung zur Sprache – eben in allem, was zum Beispiel ein Urteil wie »kommt gut beim Zuschauer an« impliziert -, ergibt sich der Ausschnitt, den Journalisten in der sozialen Wirklichkeit und auch in der Gesamtheit der symbolischen Produktionen wahrnehmen. Kein Diskurs (wissenschaftliche Analyse, politisches Manifest usw.), keine Aktion (Demonstration, Streik usw.), die nicht, um überhaupt öffentlich diskutierbar zu werden, die Probe der journalistischen Auswahl bestehen müßten – das heißt eine erbarmungslose Zensur, die die Journalisten ausüben, ohne es überhaupt zu wissen, und bei der nur durchschlüpft, was in der Lage ist, sie zu interessieren, ihre »Aufmerksamkeit zu wecken«, das heißt ihren Kategorien, ihrem Wahrnehmungsschema zu entsprechen, und bei der sie als unbedeutend oder gleichgültig symbolische Äußerungen zurückweisen, die es verdienen würden, alle zu erreichen. Eine weitere, schwieriger zu erfassende Folge des relativen Gewichts des Fernsehens im publizistischen Raum und des Einflusses kommerzieller Zwänge auf dieses dominierend gewordene Fernsehen ist der Übergang von einer Politik kultureller Aufklärung zu einer Art spontaneistischer Demagogie (die sich natürlich vor allem im Fernsehen breitmacht, aber auch die seriöse Presse ergreift, in der in Form »freier Stellungnahmen«, »offener Aussprachen«
usw. Leserbriefen immer mehr Platz eingeräumt wird). Das Fernsehen der fünfziger Jahre erhob einen kulturellen Anspruch und bediente sich seines Monopols in gewisser Weise, um jedermann Produkte mit kulturellen Intentionen (Dokumentarfilme, Fernsehbearbeitungen klassischer Werke, Kulturdebatten usw.) aufzudrängen und den Geschmack des breiten Publikums zu formen; das Fernsehen der neunziger Jahre will diesen Geschmack nur mehr bedienen und ausschlachten, um über Rohprodukte die größtmögliche Zuschauerzahl zu erreichen – paradigmatisch dafür die Talkshow, die Psychoshow, hüllenlose Erfahrungsberichte oft extremer Art, die einer Form von Voyeurismus und Exhibitionismus entgegenkommen (wie übrigens auch die Unterhaltungssendungen, an denen man sogar als einfacher Zuschauer brennend gern teilnimmt, um wenigstens einen Augenblick lang sichtbar zu sein). Indessen teile ich nicht die Nostalgie mancher nach dem pädagogisch-paternalistischen Fernsehen der Vergangenheit; ich denke, daß es zu einer wirklich demokratischen Nutzung der Massenmedien in nicht geringerem Gegensatz steht als der populistische Spontaneismus und die demagogische Unterwerfung unter populäre Geschmacksrichtungen.
Von der Einschaltquote entschiedene Kämpfe Wir müssen nun über den bloßen Anschein hinausgehen, müssen das, was sich vor der Kamera abspielt, und auch die Konkurrenz innerhalb des journalistischen Feldes hinter uns lassen und uns mit dem Kräfteverhältnis zwischen den
verschiedenen Organen beschäftigen insofern, als dieses Verhältnis selbst die Form der Interaktionen bestimmt. Um zu verstehen, warum wir heute regelmäßig diese und jene Debatte zwischen diesem und jenem Journalisten sehen, müssen wir die Positionen der verschiedenen Presseorgane einbeziehen, die sie im journalistischen Raum vertreten, und ihre Position innerhalb dieser Organe. Und auch wenn wir verstehen wollen, was ein Kommentator in Le Monde schreiben und was er nicht schreiben kann, müssen wir diese beiden Faktoren immer im Kopf haben. Die mit der Position verbundenen Zwänge werden als Verbote oder ethische Anweisungen erfahren: »Das ist mit der Tradition von Le Monde unvereinbar«, oder: »Das steht dem Geist von Le Monde entgegen«, »hier kann man das nicht machen«, usw. Alle diese Erfahrungen, die in Form ethischer Vorschriften verkündet werden, übersetzen die Struktur des Feldes in das Verhalten einer Person, die eine bestimmte Position in diesem Raum einnimmt. Die verschiedenen Protagonisten in einem Feld haben oft abwertende Vorstellungen von den anderen Akteuren, zu denen sie in Konkurrenz stehen, und äußern sich stereotyp und beleidigend über sie (so produziert im Raum des Sports jede Sportart stereotype Vorstellungen von den anderen – die Rugbyspieler nennen die Fußballer manchots, Armamputierte). Bei diesen Vorstellungen handelt es sich oft um Kampfstrategien, die das bestehende Kräfteverhältnis verändern oder erhalten sollen. Gegenwärtig ist zu beobachten, daß Pressejournalisten in dominierter Position – solche, die bei kleinen Blättern in untergeordneter Stellung tätig sind – gegenüber dem Fernsehen einen sehr kritischen Diskurs entwickeln.
Im Grunde genommen sind solche Vorstellungen Stellungnahmen, in denen sich vor allem die Position dessen niederschlägt, der sie in mehr oder weniger verschleierter Form artikuliert. Zugleich aber sind dies auch Strategien, die auf eine Veränderung der Position abzielen. Heutzutage ist die Auseinandersetzung um das Fernsehen im journalistischen Milieu zentral; das macht die Untersuchung dieses Gegenstands besonders schwierig. Der Diskurs über das Fernsehen, der wissenschaftlichen Anspruch erhebt, ist zum Teil nichts anderes als die Wiedergabe dessen, was die Fernsehleute über das Fernsehen sagen. (Journalisten halten einen Soziologen für um so besser, als das, was er sagt, sich dem annähert, was sie denken. Man darf daher nicht hoffen – und das ist übrigens auch gut so -, sich bei Fernsehleuten beliebt zu machen, wenn man die Wahrheit über das Fernsehen sagt.) Nun gibt es Indizien dafür, daß der Pressejournalismus gegenüber dem Fernsehen immer mehr auf dem Rückzug ist: In allen Blättern schwillt die Fernsehbeilage an, und die Pressejournalisten selbst legen größten Wert darauf, vom Fernsehen übernommen zu werden (und natürlich auch darauf, im Fernsehen gesehen zu werden, was ihren Preis bei der Presse hochtreibt: Ein Journalist muß seine Fernsehsendung haben, wenn er etwas gelten will; es kommt sogar vor, daß Fernsehjournalisten sehr wichtige Positionen bei der Presse erhalten, womit das Spezifische des Schreibens, des Metiers überhaupt in Frage gestellt wird: Wenn eine Fernsehjournalistin von einem Tag auf den anderen die Leitung eines Presseorgans übernehmen kann, fragt man sich, worin spezifisch journalistische Kompetenz eigentlich besteht); und schließlich wird dieser Rückzug auch dadurch indiziert, daß das, was die Amerika-
ner agenda nennen (die emen, über die man zu sprechen, die man zu kommentieren hat, die wichtigen Probleme), immer mehr vom Fernsehen vorgegeben wird (in der zirkulären Zirkulation der Nachrichten, die ich beschrieben habe, hat das Fernsehen einen entscheidenden Stellenwert, und selbst wenn einmal ein ema – eine Affäre, eine Debatte – von Pressejournalisten lanciert wird, so erlangt es zentrale Bedeutung doch erst, wenn es vom Fernsehen aufgegriffen, orchestriert und gleichzeitig damit politisch relevant gemacht wird). Dadurch wird die Position der Pressejournalisten bedroht und gleichzeitig die Besonderheit ihrer Arbeit in Frage gestellt. Alles, was ich hier sage, wäre zu präzisieren und zu überprüfen: Ich bilanziere eine Reihe von Forschungsergebnissen und entwickle zugleich ein Programm für weitergehende Untersuchungen. Diese Dinge sind sehr kompliziert, und ihre Kenntnis kann nur durch aufwendige empirische Arbeiten vorangebracht werden (was einige selbsternannte Päpste einer nichtexistenten Wissenschaft, der »Mediologie«, nicht hindert, noch vor jeder Bestandsaufnahme ihre oreiligen Schlußfolgerungen über den Zustand der Medienwelt zu verkünden). Das Wichtigste aber ist, daß aufgrund des Anwachsens der symbolischen Bedeutung des Fernsehens und aufgrund der Bedeutungszunahme jener Fernsehkanäle, die sich mit dem größten Zynismus und dem größten Erfolg der Jagd
Bourdieu spielt auf den Fall der populären Fernsehsprecherin Christine Ockrent an, die Chefredakteurin des Nachrichtenmagazins L‘Express wurde. (A.d.Ü.) Vgl. Regis Debray, Cours de mediologie generale (Paris, Gallimard, ) und die von ihm seit herausgegebene Zeitschrift Les Cahiers de Mediologie. (A. d. Ü.)
nach dem Sensationellen, dem Spektakulären, dem Ungewöhnlichen hingeben, sich tendenziell ein bestimmtes Konzept von Nachricht, wie es bislang der dem Sport und Vermischten gewidmeten sogenannten Sensationspresse vorbehalten war, des gesamten journalistischen Feldes bemächtigt. Und damit prägt gleichzeitig eine bestimmte Kategorie von Journalisten – diejenigen nämlich, die man mit Traumhonoraren anwirbt, weil sie es fertigbringen, sich skrupellos den Erwartungen des anspruchslosesten Publikums unterzuordnen, also die zynischsten, jedem Berufsethos und erst recht allen politischen Fragen gegenüber unempfindlichsten unter ihnen – tendenziell die »Werte«, die Vorlieben, die Verhaltens- und Sprechweisen, das »menschliche Ideal« der Gesamtheit der Journalisten. Getrieben von der Konkurrenz um Marktanteile, greifen die Fernsehanstalten mehr und mehr auf die alten Tricks der Sensationspresse zurück: Was auch immer in der Welt geschehen sein mag, die Fernsehnachrichten beginnen immer häufiger mit Fußballergebnissen oder diesem oder jenem anderen Sportereignis, das eigens programmiert wurde, um in die Acht-Uhr-Meldungen zu kommen, oder mit den Anekdotenhaftesten, ritualisiertesten Aspekten des politischen Lebens (Besuchen ausländischer Staatsoberhäupter, Besuchen des eigenen Staatsoberhaupts im Ausland usw.), ganz zu schweigen von Naturkatastrophen, Unfällen, Feuersbrünsten, kurz allem, was bloß die Neugier kitzelt und keinerlei spezifische Kompetenz voraussetzt, vor allem keine politische. Die »Vermischten Meldungen«, ich habe es schon gesagt, produzieren politische Leere; sie entpolitisieren und reduzieren die Welt auf Anekdoten und Klatsch (der überregional oder global sein kann, man denke
an das Leben der Stars, der Königsfamilien usw.), wobei man die Aufmerksamkeit auf Ereignisse ohne politische Konsequenzen lenkt und fixiert, die man dramatisiert, um »Lehren daraus zu ziehen« oder sie in »Probleme unserer Gesellschaft« zu verwandeln. Hier werden dann oft die Fernsehphilosophen zu Hilfe gerufen, auf daß sie dem Sinnlosen Sinn geben, dem Anekdotischen und Beiläufigen, das künstlich in den Vordergrund geschoben und zum Ereignis stilisiert wird, dem Tragen eines Kopftuchs in der Schule, dem Angriff auf einen Lehrer oder irgendeinem anderen »gesellschaftlichen Vorfall«, der geeignet ist, die pathetische Empörung eines Finkielkraut auszulösen oder einen Comte-Sponville zu moralisierenden Betrachtungen zu veranlassen. Dieselbe Bemühung um das Sensationelle, also um den kommerziellen Erfolg, kann auch zu Meldungen führen, die, den wilden Konstruktionen (spontaner oder kalkulierter) Demagogie überlassen, durch das Appellieren an elementare Instinkte und Leidenschaften (man denke an Kindesentführungen und Empörung auslösende Skandale) ungeheures Interesse hervorrufen können und Formen rein sentimentaler undl karitativer Mobilisierung auslösen oder auch ebenso leidenschaftliche, aber aggressive, dem symbolischen Lynchen verwandte Reaktionen, etwa bei Kindesentführungen oder Vorfällen, die mit stigmatisierten Gruppen in Verbindung gebracht werden.
Die Frage, ob es islamischen Mädchen erlaubt sein soll, auch in den überkonfessionellen öffentlichen Schulen ihrer Religionszugehörigkeit durch Anlegen eines Kopftuchs Rechnung zu tragen, spielte in Frankreich in den Mitte der neunziger Jahre eine große Rolle. (A. d. Ü.)
Infolgedessen stehen die Pressejournalisten heute vor der Entscheidung: Sollen sie die Richtung auf das dominierende Modell hin einschlagen, also Zeitungen nach dem Vorbild der Fernsehnachrichten machen, oder den Unterschied betonen und eine Strategie der Produktdifferenzierung entwickeln? Sollen sie den Wettbewerb aufnehmen und das Risiko eingehen, auch noch das der kulturellen Botschaft strikter Observanz verbliebene Publikum zu verlieren, oder den Unterschied vertiefen? Das Problem stellt sich auch innerhalb des Fernsehens selbst, das ein Feld für sich und zugleich ein Unterfeld innerhalb des journalistischen Feldes ist. Bei dem heutigen Stand meiner Überlegungen denke ich, daß die Entscheidungsträger Opfer der »Einschaltquotenmentalität« sind und sich unbewußt weigern, wirklich zu wählen. (Es läßt sich sehr oft beobachten, daß die wichtigen gesellschaftlichen Entscheidungen von niemandem getroffen werden. Wenn der Soziologe immer eine Art Störenfried ist, so deswegen, weil er darauf drängt, sich Dinge bewußt zu machen, über die man eigentlich lieber im unklaren bliebe.) Ich denke, die Haupttendenz bringt die Organe der Kulturproduktion alten Schlages dahin, auf ihren spezifischen Charakter zu verzichten und sich auf ein Terrain zu begeben, auf dem sie von vornherein verloren sind. So ist der Kulturkanal Arte von einer Position intransigenter, ja aggressiver Hermetik sehr rasch auf einen mehr oder weniger schmählichen Kompromiß mit den Anforderungen der Einschaltquote eingeschwenkt; heute kompromittiert es sich doppelt: leichte Kost zur Prime time, Hermetisches zu vorgerückten Nachtstunden. Le Monde steht vor einer ähnlichen Entscheidung. Ich will die Analyse jetzt nicht weitertreiben; ich habe, glaube ich, hinlänglich gezeigt, wie
man von der Untersuchung unsichtbarer Strukturen – die, wie die Schwerkraft, zu den Dingen gehören, die keiner sieht, die man aber voraussetzen muß, um zu verstehen, was geschieht – zu persönlichen Erfahrungen übergehen kann, wie unsichtbare Kräfteverhältnisse sich in persönliche Konflikte, in existentielle Entscheidungen umsetzen. Das Feld des Journalismus hat eine Besonderheit: Es ist viel stärker von externen Kräften abhängig als alle anderen Felder der Kulturproduktion, das Feld der Mathematik, das der Literatur, der Rechtsprechung, der Naturwissenschaften usw. Es hängt ganz unmittelbar von der Nachfrage ab, es unterliegt der Sanktion durch den Markt, durch das Plebiszit, vielleicht mehr noch als das politische Feld. Der in allen Feldern beobachtbare Gegensatz zwischen dem »Reinen« und dem »Kommerziellen« (beim eater zum Beispiel der Gegensatz zwischen Boulevard und Avantgarde, ein Gegensatz, der dem zwischen TF und Le Monde entspricht: gebildeteres Publikum auf der einen Seite, weniger gebildetes auf der anderen, mehr Studenten auf der einen, mehr Geschäftsleute auf der anderen) setzt sich hier mit besonderer Brutalität durch, und der kommerzielle Pol ist besonders stark: Noch nie war er so einflußreich, und auch im Vergleich mit der Rolle, die er zur selben Zeit in anderen Feldern spielt, ist seine Machtstellung ohne Beispiel. Darüber hinaus existiert in der journalistischen Welt kein Äquivalent zu der etwa in der wissenschaftlichen Welt beobachtbaren immanenten Justiz, die Regelverletzungen ahndet, während derjenige, der sich an die Spielregeln hält, von seinen Kollegen Beachtung erfährt (die sich zum Beispiel in Verweisen, Zitaten niederschlägt). Wo gibt es im Journalismus positive, wo negative Sanktionen? Die einzige,
embryonale Form von Kritik stellen satirische Sendungen wie die Guignols dar. Und was positive Sanktionen angeht, so ist mehr als die ausdrückliche Übernahme einer Meldung durch ein anderes Informationsorgan kaum auszumachen; und das ist ein seltenes, wenig ins Auge fallendes und zweideutiges Indiz.
Der Einfluß des Fernsehens Die Welt des Journalismus ist ein Feld für sich, das jedoch vermittels der Einschaltquote unter der Fuchtel des ökonomischen Feldes steht. Und dieses zutiefst heteronome, kommerziellen Zwängen sehr stark unterworfene Feld übt seinerseits strukturell Druck auf andere Felder aus. Dieser strukturelle, objektive, anonyme, unsichtbare Effekt hat nichts zu tun mit dem, was man unmittelbar sieht und was man gewöhnlich denunziert, das heißt mit dem Eingriff dieser oder jener Person... Man kann, man darf sich nicht damit begnügen, die Verantwortlichen namhaft zu machen. Karl Kraus zum Beispiel attackierte eine Person sehr heftig, deren Funktion mit der des Herausgebers des Nouvel Observateur von heute zu vergleichen ist: Unablässig denunzierte er deren kulturzerstörerischen kulturellen Konformismus, ihre Gefälligkeit gegenüber dürftigen oder erbärmlichen Skribenten, ihren geheuchelten Pazifismus, der die pazifistischen Ideen diskreditierte... Fast immer richtet Kritik sich gegen Personen. Wenn man aber Soziologie betreibt, erfährt man, daß Männer und Frauen gewiß Verantwortung haben, daß sie in dem, was sie tun können und was
nicht, aber weitgehend definiert sind durch die Struktur, in der sie stecken, und durch die Position, die sie in dieser Struktur innehaben. Man kann sich also nicht mit der Kritik an diesem oder jenem Journalisten, Philosophen oder Journalphilosophen zufriedengeben... Jeder hat seine privaten Zielscheiben, auch ich: Bernard-Henri Levy ist eine Art Symbol des Medienschriftstellers oder Medienphilosophen für mich geworden. Aber es ist eines Soziologen unwürdig, über Bernard-Henri Levy zu sprechen... Denn er ist nur eine Art Epiphänomen einer Struktur, Ausdruck seines Feldes, ganz wie ein Elektron. Man versteht nichts, wenn man das Feld nicht versteht, das ihr hervorbringt und ihm seine schwache Kraft verleiht. Das ist wichtig, um die Analyse zu entdramatisieren und um rational zu handeln. Ich bin wirklich der Überzeugung, daß Untersuchungen wie diese (und daß ich sie im Fernsehen vortrage, zeigt es) vielleicht zum Teil dazu beitragen können, die Dinge zu ändern. Alle Wissenschaften erheben diesen Anspruch. Auguste Comte sagte: »Aus Wissenschaft folgt Prognose, aus Prognose folgt Handlung.« Die Sozialwissenschaft darf diesen Ehrgeiz ebenso hegen wie alle anderen. Wenn der Soziologe einen Raum wie den Journalismus beschreibt – wobei er zunächst Instinkte, Gefühle, Leidenschaften einbringt, Instinkte und Leidenschaften, die sich durch die Untersuchungsarbeit sublimieren -, dann hat er eine gewisse Hoffnung darauf, Wirkungen auszulösen. Zum Beispiel kann er, indem er das Bewußtsein der Mechanismen erhöht, dazu beitragen, Menschen, die von diesen Mechanismen manipuliert werden, ob Journalisten oder Fernsehzuschauern, ein wenig mehr Freiheit zu geben. In Klammern gesagt: Ich denke, daß Journalisten, die sich
hier gewissermaßen »objektiviert« fühlen können, dann, wenn sie mir gut zuhören, sagen werden – so hoffe ich jedenfalls -, daß ich, indem ich Dinge durchleuchte, die sie in etwa erahnen, aber lieber nicht genau wissen wollen, ihnen Befreiungsinstrumente gebe, mit denen sie diese Mechanismen meistern können. In der Tat sind zeitungsübergreifende Allianzen denkbar, die manche der von der Konkurrenz ausgelösten Effekte auszuschalten in der Lage wären. Wenn ein Teil dieser unheilvollen Effekte aus Struktureffekten hervorgeht, die Konkurrenzsituationen erzeugen, die ihrerseits den Zeitdruck auslösen, der wiederum zur Jagd nach dem Scoop zwingt, die dazu führen kann, extrem gefährliche Meldungen zu lancieren, bloß um einen Konkurrenten außer Gefecht zu setzen, ohne daß das auch nur ein Zuschauer mitbekommt – wenn das alles so läuft, dann kann die Tatsache, daß diese Mechanismen bewußt und explizit gemacht werden, zu einer gegenseitigen Abstimmung führen mit dem Ziel, die Konkurrenz zu neutralisieren (in etwa so, wie es in Extremsituationen, bei Kindesentführungen zum Beispiel, manchmal geschieht, könnte man sich vorstellen – oder erträumen -, daß die Journalisten sich darauf einigen, Politiker, die für – und durch – ihre fremdenfeindlichen Äußerungen bekannt sind, nicht mehr einzuladen, bloß weil er die Einschaltquote hochtreibt; was sehr viel wirksamer wäre als alle scheinheiligen »Proteste« zusammengenommen). Ich mache hier wirklich in Utopie, und ich bin mir dessen auch bewußt. Aber denen, die dem Soziologen immer seinen Determinismus und Pessimismus vorwerfen, möchte ich nur entgegenhalten, daß ein Bewußtsein von den strukturellen Mechanismen, aus denen unmoralisches Verhalten hervorgeht, es ermöglichen würde,
etwas zu ihrer Kontrolle zu unternehmen. In diesem hochgradig zynischen Universum ist viel von Moral die Rede. Als Soziologe weiß ich, daß Moral nur effizient ist, wenn sie sich auf Strukturen, auf Mechanismen stützt, durch die Menschen an der Moral Interesse gewinnen. Und wenn so etwas wie moralische Unruhe aufkommen soll, dann muß sie in dieser Struktur selbst Stützpunkte und Verankerungen, muß sie Anerkennung finden. Diese Anerkennung könnte auch vom Publikur ausgehen (wenn es aufgeklärter wäre und sich die Manipulationen bewußt machen würde, denen es zum Opfer fällt). Ich denke also, daß gegenwärtig alle Felder der Kulturproduktion dem strukturellen Druck des journalistischen Feldes ausgesetzt sind – und nicht diesem oder jenem Journalisten, diesem oder jenem Programmdirektor, die selber von den in diesem Feld wirkenden Kräften überrollt werden. Und dieser Druck übt auf alle Felder sehr ähnliche Effekte aus. Das journalistische Feld wirkt als Feld auf die anderen Felder ein. Anders gesagt, ein Feld, das selbst immer stärker von der kommerziellen Logik dominiert ist, übt immer mehr Druck auf andere aus. Durch den von der Einschaltquote ausgehenden Druck wirkt die Wirtschaft auf das Fernsehen ein und durch die Bedeutung des Fernsehens für den Journalismus auf alle Presseerzeugnisse, auch auf die »reinsten«, und auf die Journalisten, die sich nach und nach vom Fernsehen die emen vorgeben lassen. Und in gleicher Weise lastet er durch den Stellenwert, den die Gesamtheit des journalistischen Feldes innehat, auf allen Feldern der Kulturproduktion.