Sibylle Volkmann-Raue Helmut E. Lück (Hrsg.) Bedeutende Psychologinnen des 20.Jahrhunderts
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Sibylle Volkmann-Raue Helmut E. Lück (Hrsg.) Bedeutende Psychologinnen des 20.Jahrhunderts
Sibylle Volkmann-Raue Helmut E. Lück (Hrsg.)
Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts 2., überarbeitete Auflage
III VS VERLAG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
2., überarbeitete Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Kea S. Brahms I Eva Brechtel-Wahl VS verlagfür Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer sclence-auslness Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seinerTeile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung desVerlags unzulässig undstrafbar. Das gilt insbesondere für vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungund Verarbeitung in elektronischen Systemen. DieWiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und dahervon jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: text plus form, Dresden Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17815-8
Inhalt
Sibylle Volkmann-RauelHelmut E. Lück Einleitung
9
Psychoanalyse
Christina Deimel Lou Andreas-Salome: Die Dichterin der Psychoanalyse
15
Brigitte Boothe Helene Deutsch: Mütterlichkeit als Lebensentwurf
27
Sibylle Volkmann-Raue Sabina Spielrein: Die Destruktion als Ursache des Werdens
39
Gerhard Bauer Karen Horney: Der neurotische Mensch in unserer Zeit
57
Elke Mühlleitner Anna Freud: Gel(i)ebte Psychoanalyse
71
Ingeborg Fulde Marie Langer: Psychoanalyse und Revolution
85
Entwicklungspsychologie
Werner Deutsch Clara Stern: Als Frau und Mutter für die Wissenschaft leben
101
LilliGast Melanie Klein: Die Psychoanalyse des Kindes
117
6
Elfriede Billmann-Mahecha Rosa Katz: Auf der Suche nach einer kulturpsychologischen Entwicklungspsychologie
129
RudoljMiller Martha Muchow: Die Entwicklung der Lebenswelt des Kindes
141
Gerald Bühring Charlotte Bühler: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem
153
Anastasia Tryphon Bärbel Inhelder: Die andere Seite der genetischen Psychologie
165
Sozialpsychologie und Angewandte Psychologie
Helmut E. Lück Tamara Dembo: Auf der Suche nach Konzepten für ein besseres Leben
179
Hellmuth Metz-Göckel Anitra Karsten: Psychische Sättigung
193
]oachim Lompscher Bljuma Vol'fovna Zejgarnik: Einheit des Psychischen
207
Edelgard Daub Franziska Baumgarten-Tramer: Für die Wissenschaftlichkeit praktischer Psychologie
223
Helga Sprung Else Frenkel-Brunswik: Wanderin zwischen der Psychologie, der Psychoanalyse und dem Logischen Empirismus
235
Brigitte Bauer Marie [ahoda: Die Utopie einer gerechteren Welt
247
7
Charlotte E. Haver Bildung und Identität bei Töchtern aus jüdischem Haus
263
Sachregister
269
Namensregister
271
Kurzporträts der Autorinnen und Autoren
275
Abbildungsnachweis
279
Einleitung
Unabhängig voneinander hatten wir in den letzten Jahren psychologiehistorische Seminare zu bedeutenden Psychologinnen und Psychoanalytikerinnen des 20. Jahrhunderts durchgeführt. Diese Veranstaltungen waren auf großes Interesse bei den Studierenden gestoßen und ermutigten uns zu dem vorliegenden Buch, das nach freundlicher Aufnahme hier in überarbeiteter Auflage vorgelegt wird. Alle Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, die für dieses Buch ausgewählt wurden, kommen erstens aus dem deutschsprachigen Raum, haben zweitens mindestens eine für die psychologische Theoriebildung relevante psychologische Abhandlung veröffentlicht und sind drittens schon verstorben. Da die Einschätzung in der Fachwelt nie einhellig sein kann, ist es nicht überraschend, wenn einzelne Psychologinnen in diesem Buch vermisst werden. Eine Einigung über die Bedeutung einzelner Persönlichkeiten in unserem Fach wird sich wohl nie erzielen lassen. Die Schwierigkeiten, die Frauen in der Frühzeit der Psychologie hatten, sollten nicht vergessen werden: Das Frauenstudium war lange Zeit verboten und galt aus verschiedenen Gründen als unerwünscht. Noch mehr galt dies für eine akademische Laufbahn. In den Biographien werden z. B. Konflikte zwischen wissenschaftlicher Laufbahn und Frauen- bzw. (Mutter-)Rolle im damaligen, meist engen, gesellschaftlichen Rahmen aufgezeigt. Im Rahmen der Genderforschung gibt es inzwischen eine nennenswerte Anzahl von Untersuchungen zu Frauen in der Wissenschaft und speziell auch in der Psychologie. Auf diese Forschung soll hier jedoch nicht eingegangen werden. Unser Ziel ist es, Leben und Werk einiger herausragender Psychologinnen und Psychoanalytikerinnen sichtbar werden zu lassen. Anhand der Darstellung von Originalschriften soll es ermöglicht werden, den Beitrag dieser Frauen innerhalb der Psychologie zu verdeutlichen und für die heutige Psychologie einzuschätzen. Natürlich sind 18 Biographien von Wissenschaftlerinnen zu wenig für eine quantitative Betrachtung, doch fällt auf, wie viele der Psychologinnen aus dem deutsch-jüdischen Kulturkreis stammten und ab 1933 in die Emigration gezwungen wurden. Da unser Auswahlkriterium nicht die Herkunft, sondern die Bedeutung der wissenschaftlichen Leistung der hier S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Einleitung
dargestellten Psychologinnen war, hielten wir diesen Befund für erklärungsbedürftig. Zu den Darstellungen der Biographien und Schriften bietet der Beitrag von Charlotte E. Haver über "Bildung und Identität bei Töchtern aus jüdischem Haus" einen möglichen Interpretationsansatz und eröffnet eine neue Perspektive hierzu. Die Anordnung der Beiträge erfolgt zwanglos in drei durchaus heterogenen Gruppen. Am Anfang steht die Gruppe der Psychoanalytikerinnen, von der Pionierzeit der Psychoanalyse bis zu der Zeit der Etablierung. Die zweite Gruppe bilden Entwicklungspsychologinnen, wobei früher der Begriff der Kinderpsychologin üblich war. Die dritte Gruppe bilden diejenigen Psychologinnen, die in der Sozialpsychologie und der Angewandten Psychologie geforscht und gearbeitet haben, wobei sich einige Wissenschaftlerinnen dieser Gruppe durchaus auch anderen Forschungsthemen zugewandt haben. Diese dritte Gruppe umfasst drei Psychologinnen, die als Schülerinnen Kurt Lewins der Gestaltpsychologie nahe standen und mit Studien zur Willensund Affektpsychologie Pionierleistungen zur modernen Motivationspsychologie erbracht haben. Dieses Buch richtet sich an verschiedene Zielgruppen: zum einen an Haupt- oder Nebenfach-Studierende der Psychologie und zum anderen an Psychologinnen und Psychologen und ErziehungswissenschaftIerInnen, sowie an alle LeserInnen, die an Frauenforschung und BiographieForschung allgemein interessiert sind. Besondere Bedeutung hat hierbei der wissenschaftliche Anspruch des Buchs, das sich von populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen abheben soll. Formal wird dies in den "ausgewählten Bibliographien" der Psychologinnen sowie einem Sach- und Namensregister als Strukturierungshilfe konkretisiert. Gleichwohl war unser Ziel, dass die inhaltlichen Darstellungen gut lesbar und damit auch für Laien verständlich sein sollten. Eine ausgewiesene Fachkompetenz und möglichst zusätzliche wissenschaftsgeschichtliche Forschungserfahrung der Autorinnen und Autoren sind die Grundlage einer prägnanten, kompetenten und auf das Wesentliche konzentrierten, verständlichen Darstellungsform. Für diese Gratwanderung, die auch Kunst genannt werden darf, danken wir den Autorinnen und Autoren ganz besonders. Jeder Buchbeitrag stellt die Biographie und eine Schrift der dargestellten Psychologin in den jeweiligen speziellen zeitgeschichtlichen, politischen, kulturellen und historisch-gesellschaftlichen Kontext.
Einleitung
11
Fast alle Beiträge haben folgenden Aufbau: Biographie Darstellung eines ausgewählten Textes Bewertung des Textes in seiner Zeit und aus heutiger Sicht Ausgewählte Bibliographie Literatur Die Darstellung der Schriften soll deren Lektüre nicht ersetzen, sondern in die Gedankengänge und Argumentationen der Wissenschaftlerinnen einführen und Leserinnen und Leser anregen, sich mit dem einen oder anderen Text (und/oder) dem Gesamtwerk einer der Psychologinnen oder auch deren Biographie intensiver zu beschäftigen. Für die vorliegende zweite Auflage wurden alle Beiträge von den Verfasserinnen und Verfassern durchgesehen. Die Beiträge der inzwischen verstorbenen Autoren Gerhard Bauer, Werner Deutsch und [oachim Lompscher wurden von uns durchgesehen und - wo erforderlich - aktualisiert. Unser Dank gilt natürlich an erster Stelle allen Autorinnen und Autoren. Deren freudige Bereitschaft, an diesem Projekt mitzuwirken, hat uns bei der Arbeit beflügelt, und die gute Zusammenarbeit erleichterte uns, auftauchende Hürden zu meistern. Wir danken Frau Christina Deimel für Ihre beständige Hilfe bei der Planung des Bandes, der Koordinierung und Formatierung der Beiträge. Herrn Dr. Claus Koch danken wir herzlich, dass er die Idee zu diesem Buchprojekt begeistert aufgegriffen und zusammen mit Frau Marie Ashauer realisiert hat. Der Beltz Verlag ermöglichte uns dankenswerterweise auch die Veröffentlichung einer zweiten Auflage des Buches in einem anderen Verlag. Frau Kea Brahms vom VS Verlag für Sozialwissenschaften sei für die fachliche Begleitung bei der Neuauflage des Buches ganz herzlich gedankt. Schließlich danken wir dem Kurt Lewin Institut für Psychologie der FernUniversität für die Ermöglichung der Drucklegung sowie einzelnen Institutionen und Personen, die uns freundlicherweise die Genehmigung zum Abdruck der Portraits gegeben haben. Münster und Hagen, im November 201.0 Sibylle Volkmann-Raue Helmut E. Lück
Psychoanalyse
Christina Deimel
Lou Andreas-Salome: Die Dichterin der Psychoanalyse
"Jdl. gehorchte ohne es zu wissen dem groBen Plan des Lebens, das ein Geschenk über alles VerBtehn und Erwarten lächelnd sehen bereit hielt für mich" (Lou Andreas-Salome an Rainet' Maria Rilke am
26. 2. 1901).
Biographie Lou Andreas-Salome beschrieb 1931bis 1933, als sie ihren autobiographischen Lebensrückblick verfasste, ihre Geburtsstadt St. Petersburg als eine Mischung aus Paris und Stockholm, trotz der Paläste, der illuminierten Eishäuser auf der Newa und des langen Wmters (AndreasSalome (LAS), 1951., S. ']6). Doch Ende des 19. Jahrhunderts führten die sozialenUnterschiede immer häufigerzu einem Auflehnender russischen Bevölkerung gegenüber den restaurativen Zaren. Das Attentat auf Zar Alexan.d.er L l.866 förderte die Verschärfung des Autokratismus, der wiederwn zur weiteren Verbreitung der revolutionären Bewegung in den Kreisen der IntellektueUen bis in die Schulen der höheren Bildung führte. Als Lau Andreas-SaJ.om.e am 15.Februar 1861 in St. Petersburg als Louise von Salome geboren wurde, wuchs sie, losgelöst von den benannten gesellschaftlichen Veränderungen, in einem Mikrosystem auf, das zarentreu aber auch international war. Sie war die jüngste Tochter unter drei älteren Brüdern, zwei weitere Brüder waren früh verstorben. Gustav von Salome (1804-1879) - ihr Vater - war Nachfahre deutschstämmiger Hugenotten, die im 1:6. Jahrhundert aus Frankreich vertrieben wurden und über das Baltikum schließlich 1:81.0 nach St. Petersburg kamen. Er diente als General im zaristischen Heer. Ihre Mutter, Louise von Salome, geborene Wilm (:l82)-:I9:I3), war die Waise eines wohlhabenden Hamburger ZuckerfabrikanS. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Christina Deimel
ten mit norddeutschen und dänischen Wurzeln. Neben den Beziehungen zu Verwandten im Ausland war der Salomesche Haushalt offen für Menschen verschiedener Religion und Abstammung. Man beschäftigte Tataren, Esten, schwäbische Kolonisten, darunter "Evangelisch, Griechisch und Mohammedanisch, Gebet nach Osten und Gebet nach Westen" (zit. LAS, 1951, S. 75). Gesprochen wurde meist Deutsch oder Französisch. Russisch nahm eine weniger bedeutsame Rolle ein. Auch die Schüler mit denen AndreasSalome in ihrer Schulzeit in Kontakt kam, waren Angehörige verschiedener Nationen. Zunächst besuchte sie eine kleine englische Privatschule und später die protestantisch-reformierte Petrischule, in der sie - nach eigenen Aussagen - nichts lernte. Als sie sich gegenüber ihrem Vater beklagte, dass in den höheren Klassen nur in Russisch unterrichtet würde, schrieb er ihr nicht mehr vor, zur Schule zu gehen. In den folgenden Jahren hospitierte sie nur noch gelegentlich. In der Auseinandersetzung mit der religiösen Welt der Erwachsenen bildete Andreas-Salome bereits im Kindesalter ein selbstständiges Gottesverständnis. Die Thematisierung der Frage nach einer göttlichen Existenz beschäftigte sie lebenslang. Als sie mit siebzehn in den Konfirmationsunterricht des orthodox-protestantischen Pfarrers Hermann Dalton ging, wurden für sie diese Gegensätze wieder aktuell und die konservative Haltung des Pfarrers stieß bei Andreas-Salome auf Opposition. Auf die Behauptung, Gott sei immer und überall gegenwärtig, entgegnete Lou, die Hölle sei sehr wohl ein Ort ohne Gott (vgl. Salber, 1990, S. 19). Um einen offenen Konflikt zur Schonung ihres erkrankten Vater zu vermeiden, nahm sie zwar weiter am Unterricht teil, ihr Entschluss, aus der Kirche auszutreten, formte sich hingegen mehr und mehr. In der niederländischen Gemeinde St. Petersburg predigte Henrik Gillot (1836-1916), ein moderner Theologe, dessen Haltung eher Andreas-Salomes Ansichten entsprach. Sie besuchte regelmäßig seine Predigten und Gillot wurde zu ihrem Lehrer und Vertrauten. Als Gustav von Salome am 23. Februar 1879 starb, eröffnete sie ihrer Mutter unter heftigsten Auseinandersetzungen, dass sie sich nicht konfirmieren lassen wolle (vgl.Salber, 1990, S. 19). Gillot begann 1878, zuerst geheim und dann mit dem Einverständnis der Familie, Andreas-Salome zu unterrichten. Zusammen lasen sie die Schriften europäischer Philosophen, darunter Kierkegaard, Kant und Spinoza, sowie theologische Schriften. Gemeinsam begaben sie sich in einen Raum, der neben der Realwelt der anderen existierte und nicht viel Platz für Einflüsse von außen ließ. So begründete Andreas-Salome auch ihr fehlendes aktives Engagement, wenn auch nicht mangelndes Interesse innerhalb der
Lou Andreas-Salome
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politischen Entwicklungen. Dass Gillot selbst als Niederländer wenig Verbindungen zu Russland hatte, wirkte sich auch auf sie "entrussendu (LAS, 1951, S. 76) aus, dabei stand das Studiumziel, das intellektuelle Fortkommen im Vordergrund. Erst im Erwachsenenalter wurde ihr der Bezug zu Russland bewusst. Doch der zweifache Familienvater verliebte sich in seine junge Schülerin und offenbarte sich ihr. Für Andreas-Salome zerbrach ihr Idealbild von Gillot. Sie fasste den Entschluss, sich auch räumlich von ihm zu trennen und plante ein Studium im Ausland. Gillot unterstützte schließlich ihren Wunsch gegenüber der Mutter. Im Herbst 1880 reiste sie, begleitet von ihrer Mutter, die ihre Tochter nicht ohne Aufsicht im Ausland leben lassen wollte, nach Zürich. Zu diesem Zeitpunkt waren erst wenige europäische Universitäten für Frauen zugänglich. Zürich bot sich zudem an, da in der Nähe Verwandte lebten, bei denen sie wohnen konnten. Andreas-Salome besuchte Seminare in Theologie, Philosophie und Kunstgeschichte. Unter anderen studierte sie bei dem Theologen Alois Emanuel Biedermann, dem sie durch ihren "scharfenu Verstand auffiel und der sie einer Prüfung unterzog, um den fehlenden, aber notwendigen Schulabschluss für die Einschreibung auszugleichen (vgl. Welsch & Wiesner, 1988, S. 31). Leiter des Lehrstuhls der Kunstgeschichte war Gottfried Kinkel. Andreas-Salome stürzte sich in ihre Studien, arbeitete immens und erkrankte etwa nach einem halben Jahr an Bluthusten, der bereits in St. Petersburg aufgetreten war. Sie unterbrach ihre Studien, suchte Besserung in verschiedenen Seebädern und reiste im Frühjahr 1882 mit ihrer Mutter ins wärmere Italien. Sie bezogen eine Wohnung in Rom. Dort wohnte auch Malwida von Meysenburg (1816-1903), Autorin der "Memoiren einer Idealistin" und eine Freundin Kinkels, der Andreas-Salome ein Empfehlungsschreiben mitgab und ihr damit von Meysenburgs Tür öffnete. Bei von Meysenburg traf sie auf Paul Ree (1849-19°1), einen jungen Philosophen und Freund Friedrich Nietzsches (1844-1900). Ree schrieb an Nietzsche, berichtete ihm von Andreas-Salome und forderte ihn auf nach Rom zu kommen, um Andreas-Salome dort zu treffen. Zu einem ersten Zusammentreffen kam es im Petersdom. "Von welchen Sternen sind wir hier einander zugefallen" (LAS, 1951, S. 99), begrüßte sie der Philosoph. Wie von Meysenburg an Nietzsche am 27. März 1882 schrieb, schienen er und Andreas-Salome "im philosophischen Denken zu denselben Resultaten gelangt zu sein" (zit. n. Brief von Meysenburg an Nietzsche, 27. März 1882 in Pfeiffer, 1970, S. 104). Es entstand eine intensive Freundschaft zwischen den dreien und die Idee, eine Studiengemeinschaft zu gründen. Andreas-Salome muss die Vision gehabt haben, einen Studienkreis, ähnlich dem mit Gillot zu rekonstruie-
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ren. Doch dem intellektuellen Ziel, wie es Andreas-Salome ohne weiteres verfolgte, stand entgegen, dass sich beide Männer in sie verliebten. Beide Heiratsanträge lehnte sie ab und sah auch die Idee der Studienwohngemeinschaft in Gefahr, die sie unter sich scherzhaft die .Dreieinigkeit" nannten. Zudem kam scharfe Kritik von außen. Ihre Mutter, Malwida von Meysenburg und auch Gillot kritisierten das Vorhaben. Sie hielten jedoch daran fest. Als Andreas-Salome bereits Tage später mit ihrer Mutter aus Rom abreiste, folgten ihnen Nietzsche und Ree, Nach einigen Streitigkeiten über den Sommer hinweg und Intrigen der Nietzsche-Schwester Elisabeth, gab es einen Bruch mit Nietzsche und auch zwischen den Freunden Ree und Nietzsche. Ree und Andreas-Salome bezogen im Herbst, wie geplant, eine gemeinsame Wohnung in Berlin und studierten. In den dortigen wissenschaftlichen Kreisen waren sie, dank ihrer Bekanntschaft mit dem damals bereits bekannten Philosophen Nietzsche, willkommene Gäste. Doch der Druck der Familie von Salome auf die einzige Tochter bezüglich einer beruflichen oder familiären Entscheidung, was eine Rückkehr nach Russland bedeutet hätte, wurde zunehmend größer. Zusammen mit Ree verbrachte sie den Winter 1882/83 nahe Meran, wo sie ihren ersten Roman schrieb. /11m Kampf um Gott" wurde 1885 unter dem Pseudonym Henri Lou mit erfolgreicher Rezeption veröffentlicht, was ihr in ihrer Familie das Renomee einer Schriftstellerin einbrachte (vgl. Koepcke, 1986, S. 122, S. 127). Von nun an genoss sie mehr Freiheiten, arbeitete als Schriftstellerin und hielt weiterhin am Studium mit Ree fest. Doch als im November 1886 der Orientalist Fred Charles Andreas (1846-1930) sich bei Andreas-Salome vorstellte und sie kurze Zeit später ihre Verlobung bekannt gaben, erkannte Ree, dass er sie nicht mehr für sich gewinnen konnte. Der spätere Armenarzt unterhielt ab 1887 keinen Kontakt mehr zu ihr. Andreas-Salome und Andreas wurden ironischerweise 1887 von Henrik Gillot getraut. Die verschiedenen Erwartungen der beiden Eheleute führten zu einer gegenseitigen, wenn auch von ihr erzwungenen Übereinkunft und die Ehe ging in den Jahren bis zu Andreas Tod 1930 nicht über ein geschwisterliches, aber intellektuell gegenseitig interessiertes Zusammenleben hinaus, während beide Liebesbeziehungen zu anderen eingingen. Andreas-Salome war 1902 vom Wiener Arzt Friedrich Pineles schwanger, verlor aber das Kind bei einem Leitersturz. Andreas hatte eine uneheliche Tochter mit der Haushaltshilfe Apel, die Andreas-Salome nach Apels Tod adoptierte. Die gemeinsamen Interessen der Eheleute bezogen sich vornehmlich auf geistige Dinge.
Lou Andreas-Salome
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Hielt sich Lou Andreas-Salome mit Ree bevorzugt unter Wissenschaftlern auf, so besuchte sie zusammen mit ihrem Ehemann vor allem literarische Kreise. Eines der literarischen und künstlerischen Zentren Europas zur Jahrhundertwende war München. In der Münchener Boheme saßen mehr oder weniger bekannte Literaten und Intellektuelle an absinthklebrigen Tischen, diskutierten und planten neue Projekte. Zwischen Jacobsohns Schaubühne und einem ästhetischen Lebensgefühl machte sie 1897 die Bekanntschaft des jungen Dichters Rene Maria Rilke (1875-1926). Sie schrieb über ihr Erleben in der vergleichbaren Pariser Boheme wenige Jahre zuvor: "Aber was hier am stärksten berührte, war das Menschliche: es war der frohe Auftrieb, die bewegte Jugend und Zuversicht, der es nichts verschlug, .. /' (LAS, 1951, S. 121).
Die ästhetische Mythisierung der Lebensumstände, bei der das Ich die Projektion seiner eigenen Lebensgefühle nach außen in einer Rückspiegelung als Realität empfindet, und die Realwelt an Bedeutung verliert, hatte große Ähnlichkeit mit ihrer mit Gillot gemachten Erfahrungen bezüglich der politischen Verhältnisse in Russland. Zwar hatte bei Andreas-Salome nicht das Ästhetische Vorrang vor allem, hingegen stand das geistige Vorankommen im Zentrum und prägte das Studieren als eine Art Lebensphilosophie. Dieser Aspekt wird auch immer wieder in ihrem bis an die physischen und psychischen Grenzen gehenden Arbeitseinsatzes deutlich, der sich in mehr als zweihundert Veröffentlichungen niederschlug. Diese Arbeitslust übertrug sich auch auf den jungen Dichter Rilke und es bleibt offen, wie weit sich Rilkes Werk ohne Andreas-Salomes Einfluss entwickelt hätte. Zwischen ihr und dem fast fünfzehn Jahre jüngeren Rilke scheint für sie ein erstes Liebeserleben stattgefunden zu haben. Rilke schrieb in einem Gedicht an Andreas-Salome im Juli 1897, als sich das Paar fern jeder Konvention im Urlaub ohne Andreas in Wolfratshausen aufhielt: "Aus allem Schönen gehst Du mir entgegen, mein Frühlingswind Du, Du mein Sommerregen, Du meine Juninacht mit tausend Wegen, auf denen kein Geweihter schritt vor mir: Ich bin in Dir!JJ (Brief Rilkes an Andreas-Salome, Juli 1897, 1989, S. 22).
In den Jahren 1899 und 1900 unternahmen beide zusammen Reisen nach Russland. Die zweite Reise fand ohne Andreas statt. Sie besuchten AndreasSalomes Familie und bereisten das Land. Da Andreas-Salome der Name
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Rene nicht gefiel, nannte sie ihren Freund "Rainer u • Diesen Namen legte er bis zu seinem Tod im schweizerischen Wallis 1926 nicht wieder ab. Trotz der Trennung 1900 bestand eine lebenslange Freundschaft zwischen beiden, aus der ein umfassender Briefwechsel hervorging. Andreas-Salome arbeitete seit ihrem ersten Roman weiterhin literarisch. Sie reiste viel, arbeitete an verschiedenen Orten und traf in den Künstlerund Intellektuellenkreisen der Großstädte wie München, Berlin, Wien und Paris auf die geistige hautevolee ihrer Zeit. Zu ihren Bekannten gehörten unter anderen Gerhard Hauptmann, Frank Wedekind, Martin Buber, Ellen Key,Max Rheinhardt, Marie von Ebner-Eschenbach, Arthur Schnitzier, Frieda von Bülow und Paul Bjerre, Zusammen mit Bjerre, dem schwedischen Psychoanalytiker, fuhr sie 1911 zum 2. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß nach Weimar, auf dem sie Sigmund Freud (1856-1939) kennenlernte und ihm nach einem halben Jahr autodidaktischen Studiums nach Wien folgte. Kurze Zeit besuchte sie auch die Gesellschaft von Alfred Adler (1870-1937), sehr zum Mißfallen Freuds, dem Adler "inzwischen spinnefeind" geworden war (LAS, 1951, S. 209). Sie wandte sich aber schließlich wie ihr Lehrvater von Adler ab (Brief an Adler am 12. August 1913; LAS, 1958, S. 175 ff.), Häufig besuchte sie als einzige Frau Freuds Mittwochs-Gesellschaft, ergriff dort jedoch selten das Wort, ganz im Gegensatz zum frühen Berliner Kreis. Dennoch fühlte sie sich in Freuds Gesellschaft wie in einer Familie (vgL Welsch & Wiesner, 1988, S. 238 f.), Sie freundete sich mit Freud und dessen Tochter Anna an. Aus der langjährigen Freundschaft mit Freud gingen über zweihundert Briefe hervor. Andreas-Salome war die einzige Frau, mit der Freud einen längeren Briefkontakt unterhielt (Rattner, 1999, S. 56). Er unterstützte sie zudem in der wirtschaftlichen Depression der zwanziger Jahre und vermittelte ihr 1927/28 eine Lehrtätigkeit in Königsberg. Bereits 1913 begann Andreas-Salome psychoanalytisch zu arbeiten, wie aus einem Brief an Rilke hervorgeht (LAS an Rilke, 28. Oktober 1913, 1989, S. 206). Sie hatte sich nie einer Lehranalyse unterzogen und in Briefen an Freud tauchten Fragen bezüglich der Analyse von Patienten erst 1917 auf (LAS an Freud, 19.10.1917, 1966, S. 73). Ab 1914 arbeitete sie in Göttingen, wo Andreas bereits 1903 eine Professur für Iranistik angenommen hatte. Andreas-Salome, die sich in die Praxis der Analyse genauso ernsthaft stürzte, wie vorher in die Theorie, arbeitete oft soviele Stunden am Tag, dass Freud ihr dringend riet, sie zu reduzieren. Rilke, der sich zeitweise mit dem Gedanken einer Analyse bei Viktor Emil von Gebsattel (1883-1976) beschäftigte, riet sie davon ab (vgL Pfeiffer,
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1965, S. 266). Das Aufräumen seiner Seele konnte, wie Rilke selber feststellte, nur dann möglich sein, wenn ihm der Gedanke, nicht mehr zu schreiben, ernst sei (Rilke an LAS, 24.01.1912, 1989, S. 252). Der Weg Lou Andreas-Salomes zur Psychoanalyse scheint aus biographischer Perspektive und unter Beachtung der literarischen und philosophischen Inhalte ihrer Studien fast zwangsläufig gewesen zu sein. Sie formulierte: "Zwei einander sehr entgegengesetzte Lebenseindrücke sind es gewesen, die mich für die Begegnung mit Freuds Tiefenpsychologie besonders empfänglich machten: das Miterleben der Außerordentlichkeit und Seltenheit des Seelenschicksals eines Einzelnen - und das Aufwachsen unter einer Volksart von ohne weiteres sich gebender Innerlichkeit" (LAS, 1951, S. 191).
Der "Einzelne~~ der sie an seinem Seelenschicksal teilhaben ließ, war Rilke. Das Aufwachsen unter Russen, bei denen "zweierlei aufeinandertreffe, was sich sonst weniger häufig gesellt: eine Simplizität der Struktur - und eine Befähigung, im einzelnen Fall redselig eindringend Kompliziertes aufzuschließen, seelisch Schwierigem Äußerung zu finden" (LAS, 1951, S. 191),
bildete ihren Zugang zur Psychoanalyse. Während die Psychoanalyse bei vielen durch ihre Inhalte moralische Konflikte hervorrief, begegnete Andreas-Salome ihr mit "russischer ll Offenheit und großem Interesse. Der Wegfall einer Tabuisierung ermöglichte erst ihr IIHineinstürzenll in die Analyse im Alter von bereits fünfzig Jahren. Karl Abraham (1877-1925) schrieb am 28. April 1912an Freud, dass er "einem solchen Verständnis der Psychoanalyse bis ins Letzte und Feinste noch nicht begegnet sei (Freud & Abraham, 1965, S. 118). Das Bezeichnen menschlichen Verhaltens war auch die zentrale Ebene des Handlungsaufbaus in ihren Romanen, die durchaus als psychologische Literatur eingeordnet werden können und die wie schriftliche Manifeste ihren Weg zur Psychoanalyse begleiten. Lou Andreas-Salome lebte und arbeitete bis zu ihrem Tod am 5. Februar 1937 in Göttingen. 11
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Rezension: "Narzissmus als Doppelrichtung" (1921) Eine der bedeutendsten Schriften Lou Andreas-Salomes ist die Ergänzung des Freudschen Narzissmusbegriffs in dem Aufsatz: "Narzissmus als Doppelrichtung'; der 1921 in der Zeitschrift Imago veröffentlicht wurde. Andreas-Salome schuf in ihren psychoanalytischen Schriften Synthesen zwischen literarischen Elementen und psychoanalytischen Themen. Freud, der als Anhänger der antipodischen Analyse eher ein Gegner der Synthese innerhalb des wissenschaftlichen Arbeitens war und seine männlichen Kollegen häufig daran kritisierte, nahm Andreas-Salomes 1I0riginalitätU begeistert auf (vgl. Etkind, 1996, S. 48). Die Narzissmusthematik erweckte bereits 1912 die Aufmerksamkeit Andreas-Salomes, denn das narzisstische Bild war ihr bekannt: von Rilke, Nietzsche und auch von sich selbst. Sie kommunizierte mit Freud über dieses Thema, der 1914 selbst seine Schrift "Zur Einführung des Narzissmus" veröffentlichte. Das Bild des Narkissos wurde von Freud für die Begrifflichkeit der Libidobesetzung des eigenen Ichs herangezogen. Sowohl beim primären als auch beim sekundären Narzissmus nimmt das Ich die Position des Objektes ein. Der primäre Narzissmus kennzeichnet die Libidophase in der nach autoerotischer Selbst- und Weltverwechselung des Säuglings, die erste Objektwahl auf ihn selbst fällt (LAS, 1921, S. 361). Die Phase des Autoerotismus liegt vor der narzißtischen Phase. Der Narzissmus verschwindet, wenn beim gesunden Menschen die Objektbesetzung beginnt, das heißt die Libido auf ein in der Außenwelt befindliches Objekt übertragen wird. Erfolgt die Objektbesetzung, bildet sie einen Gegensatz zum Autoerotismus und zum Narzissmus. Der sekundäre Narzissmus beschreibt die gegensätzliche Tendenz. Nachdem die Objektbesetzung vollzogen wurde, kann beispielsweise durch ein negatives Erlebnis oder einen Objektverlust die Libido wieder zurück auf das Ich bezogen werden. Lou Andreas-Salome ergänzte die von Freud herausgestellte Bezugnahme der Libido auf uns selbst um eine passive Komponente: die Verwurzelung mit dem Urgrund, die sogenannte Doppelrichtung. In ihrer Terminolo.gie ist der Urgrund und das Unbewusste gleichbedeutend. Es liegt eine LTberschneidung von Unbewusstem und Narzissmus vor, wobei festzustellen bleibt, dass eine strenge Differenzierung innerhalb der Psychoanalyse nicht getroffen wurde (vgl. Welsch & Wiesner 1988, S. 319). Deutlich
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wird jedoch wie weit für Andreas-Salome beide ineinander verwoben sind, wenn sie den Vorgang des Kunstschaffens beschreibt: "Bei dem, was Kunst genannt wird, künstlerisches Schaffen, oder sagen wir allgemeiner: poetisch anstatt praktisch gerichtete Betätigung, braucht man die narzisstische Kinderstube nicht erst an Restbeständen daraus aufzuspüren wie bei Objektbesetzung und Wertsetzungen: unmittelbar nimmt es immer wieder von dorther den Ausgang, auf eigenem Pfad, verfährt bis in alle letzten Ziele, narzisstisch "wertend" und "besetzend" (LAS, 1921, S. 379).
Und weiter stellt sie fest, "daß wir meistens nur erinnernd dorthin zurück können, wo InnenErlebnis und Außen-Vorfall noch ungetrennt für dasselbe Geschehen stehen" (LAS, 1921, S. 379 f.).
Dem Narzissmus wird also nicht nur die narzisstische Aktivität des Ichs zugeschrieben, sondern auch eine passive Seite. Auf der passiven Seite, "die uns allen auch lebenslänglich, jeglichen Augenblick und bei jedem Eindruck zu Gebote [steht (Einf. d. V.)], würden wir uns durch unsere logisch-praktische Anpassung an die Ich- und Realwelt nicht ihrer so grundsätzlich entledigen, dass wir meistens nur erinnernd dorthin zurückkönnen..." (LAS, 1921, S. 379),
dringen dem Künstler aus dem Unbewussten Sachvorstellungen ins Bewußtsein, die er in kreativem Schaffen äußert. Andreas-Salome übernimmt in ihrer Schrift drei Ansatzpunkte Freuds, um an ihnen die IIDoppelrichtungU zu belegen: die Objektbesetzung (1), die Wertsetzung (2) und das künstlerische Schaffen, die Sublimierung (3). Dabei stellt sie Freuds Darstellungen jeweils voran. So auch bei der Objektbesetzung (1): Ein IILiebesüberschuss/' der die Grenzen des Ich übersteigt, wird in die Außenwelt auf eine Person oder ein Ding abgeladen. Der Vorgang wird von Freud als Sexualüberschätzung bezeichnet (Freud, 1914, S. 155). Es entsteht ein Konglomerat zwischen Selbstbehauptung und Selbstauflösung. Das Zuviel dieser Liebe verdeckt, wie ein Zuviel an Lust, das Selbst für die
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Psychoanalyse. Erst im Prozess der Objektbesetzung wird die Libido, bzw. werden die psychischen Energien sichtbar. Andreas-Salome stellt nun die Verbindung der Libido zum Urgrund, zum Unbewussten, heraus und macht sie zugleich zum Träger von unbewussten Inhalten. Das Objekt wird zum Symbol. Die Quelle der Symbolbildung ist, so nimmt Andreas-Salome an, die Tendenz, das Liebgewordene in allen Dingen wiederzufinden. Dies trifft auch auf spätere Objektbesetzungen zu. Der Narzissmus verarmt durch die Herausgabe des Zuviels. Dieser Mangel kann durch Gegenliebe neutralisiert werden. Dem Narzissmus wird nicht so sehr die Objektbesetzung an sich und auch nicht die Sexualüberschätzung gefährlich. Er wird dem Objekt der Libido gefährlich. Das Objekt wird zu einer Art Vertreterschaft zugelassen, abhängig von der Rolle des Objektes, die durch die Wertsetzung (2) des Ich-Ideals bestimmt wird. Freud benennt den Narzissmus "Keimpunkt des Idealbildens" (LAS, 1921, S. 374). Je gesteigerter das Objekt auftritt, desto schneller verflüchtigt es sich in seiner realen Beschaffenheit. Das heißt, je mehr das Objekt bereichert wird, desto mehr bleibt es hinter seiner Symbolität zurück. Das Interesse an dem "Objekt der Außenwelt" schwindet. Die Umwelt fordert sachlichere Maßstäbe von den Menschen, als diese mit einer "infantilen Wunschpraktik" verarbeitet werden können (LAS, 1921, S. 374). Es wird erforderlich, eine Rangordnung einzuführen. Diese erfolgt durch eine Rückwirkung unseres idealisierten Ebenbildes in Bezug auf unseren Urgrund. Die Idealisierung hebt sich nach und nach in der Auseinandersetzung mit der Außenwelt auf (LAS, 1921, S. 374). Der Begriff der Sublimierung (3), die Übertragung der Libido auf ein Produkt im künstlerischen Schaffensvorgang, wurde von Freud in die Psychoanalyse eingebracht und hat das Interesse der Dichterin AndreasSalome besonders auf sich gezogen. In ihren Überlegungen spielte immer wieder Rainer Maria Rilke eine Rolle, dessen bis dahin unveröffentlichtes Gedicht "Narziß" sie in ihre Schrift einbaute. Die poetische Betätigung, so Andreas-Salome, nimmt ebenfalls ihren Ausgang aus dem narzißtischen Ursprung. Durch die Aufhebung der Verdrängungsmechanismen streben Erlebnisse des Unbewussten ins Bewußtsein. Freud nennt die Poesie sogar "Spezifikum gegen Verdrängungsgifte" (zit. LAS, 1921, S. 380). Das Ich wird dabei umgangen. Das Kunstwerk, bzw. das Gedicht, ist wie das Objekt ein Symbol für Unbewusstes. Dem Dichter steht sein Unbewusstes zur Verfügung, weil es ihm möglich ist, seine Verdrängungsmechanismen auszuschalten.
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Bewertung der theoretischen Schrift in ihrer Zeit und aus heutiger Sicht Auf die psychoanalytischen Schriften von Lou Andreas-Salome wurde zu Zeit ihres Entstehens im Gegensatz zu ihrem literarischen Werk eher selten zurückgegriffen, obwohl Sigmund Freud selbst ihre Schriften einen Gewinn für die Psychoanalyse nannte. Die geringe Beachtung kann aber ebenfalls an der allgemeinen schwachen Behandlung der Narzissmusthematik liegen, während bei Andreas-Salome der Narzissmus das zentrale Thema ist und von ihr "mein Spezialfimmel" genannt wird (LAS, 1936, S. 123). In den siebziger Jahren wird bei der Behandlung des Narzissmusbegriffs auf ihre Schrift "Narzissmus als Doppelrichtung"; wie zum Beispiel bei Heinz Kohut (1973), zumindest verwiesen und in den letzten fünfzehn Jahren wurde vermehrt mit ihrer Narzissmusergänzung gearbeitet. Besondere Würdigung erfährt die Schrift in der neueren Literatur unter anderem bei Martin Altmeyer (2000). Altmeyer hebt neben einer Darstellung, die er zwischen Sigmund Freuds und Sandor Ferenczis Narzissmusmodelle setzt, auch den allumfassenden Aspekt ihres Ansatzes hervor. Durch die Investition überschüssiger narzißtischer Libido aus dem Ich in eine Objektbeziehung, in die Wertsetzung oder in einen kreativen Gestaltungsprozess entsteht die Tendenz der Wiederherstellung der ursprünglichen Weltverbundenheit. Die Arbeits- und Lebensleidenschaft setzen sich bei Andreas-Salome auch in ihrem Narzissmusbegriff fort. So wertet Etkind: "Narzißmus ist bei ihr nicht Ausgangs-, sondern Endstadium einer Entwicklung, nicht Auslöser für psychotische Erstarrungen und Fehlentwicklungen, sondern ganz im Gegenteil der Ursprung von Liebe, Kunst und Ethos; die "positivsten Anteile" der Psyche finden in ihm zusammen" (Etkind, 1996, S. 42).
Während zu ihren Lebzeiten hauptsächlich ihre literarischen Schriften Beachtung fanden, hat sich das Bild heute eher gewandelt. Das zunehmende Interesse an ihren psychoanalytischen Schriften ist auch auf eine allgemeine Faszination an ihrer Lebensgeschichte zurückzuführen, die sich in mehreren Biografien und biografischen Romanen niederschlug. Über diesen Weg haben aber auch immer mehr Wissenschaftler und Leser einen Zugang zu ihren theoretischen Schriften gefunden, über den das theoretische Werk der Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salome zunehmend aufgearbeitet wird.
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Ausgewählte Bibliographie (1894) Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Wien: Carl Konegen/Neuauflagen: Frankfurt: Insel Verlag. 1983/2000. (1902) Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen. Stuttgart: J. G. Cotta'sche Verlagsbuchhandlung/Frankfurt a M.: Ullstein 1983. ll (1915/16) .Anal" und J1Sexual • Imago, 4, S. 249-273. (1928) Rainer Maria Rilke. Leipzig: Insel Verlag 1929 (2. Auflage). (1958) In der Schule bei Freud - Tagebuch eines Jahres 1912/1913. E. Pfeiffer, (Hrsg.), Zürich: Max Niehans Verlag/Frankfurt a. M., Berlin: Ullstein 1983.
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Helene Deutsch: Mütterlichkeit als Lebensentwurf
"Das Bedürfnis nach sublimierter Erotik ist der weiblichen Psyche so eigen. dass junge Mädchen,. die die Notwendigkeit einer platonisdten,. idealisierten Liebe leugnen und sich frfihzeitig in sexuelle Aktivität begeben, darauf meist mit Gefühlen der Leere und der Enfliuschung reagieren" (Deutsdt. 1948,S. 168).
Biographie1 Helene Rosenbach wurde 1:984 in Przemysl, Polen, als jüngste Tochter - zwei Schwestern,. ein Bruder jüdischer Eltern geboren. Der Vater, angesehener Rechtsanwalt mit weiteren hohen juristischen Ämtern, war das - in der Wahrnehmung der Tochter von der ungeliebten Mutter dominierte -Oberhaupt der bürgerlkh-wohlsiluierterlFamilie, die in engem Kontakt mit weiblichen Verwandten in unmittelbarer Umgebung lebte. Helene Deutsch distanzierte sich früh vom tradierten Lebensstil weiblicher Zurückgezogenheit im familiären Binnenraum ohne Entfaltungs- und Tätigkeitsspektrum: Zum einen schloss sie sich dem Vater an, interessierte sich aktiv für sein berufliches WIrken und die damit verknüpften geseUschsftspolitisehen Fragen. Zum andern unterhielt sie seit der frühen Adoleszenz eine geheime IJebesbeziehung zu Hermann Liebermann, einem verheirateten, wesentlich älteren, prominenten Sozialistenführer. Helene Deutsch erwarb in Lemberg das Abitur und. studierte als eine der ersten Frauen Medizin, mit psychiatrischer Spezialisierung, in Wien und. München; dabei wurde sie zur interessierten und beeindruckten Leserin von Freuds ersten theoretischen Abhandlungen zur kindlichen Sexualität und der Traumdeutung. S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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In München lernte sie nach schmerzvoller Trennung von Liebermann ihren späteren Ehemann, Felix Deutsch, einen zionistischen Juden aus Wien, Arzt, Pionier der Psychosomatik und späterer Psychoanalytiker, kennen. Das Paar heiratete 1912. Nach zahlreichen Fehlgeburten kam 1917 das einzige Kind, Martin, zur Welt. Die berufliche Entwicklung der Helene Deutsch fand - nach psychiatrischer Tätigkeit an der Wiener Universitätsklinik unter Leitung des späteren Nobelpreisträgers [ulius Wagner-Jauregg - 1914 zunächst in München, bei dem international renommierten Psychiater Emil Kraepelin statt. Die Rückkehr nach Wien brachte ihr neben der vorübergehenden Leitung der Frauenabteilung an der Klinik von [ulius Wagner-Jauregg den Eintritt in die durch Freud initiierte und geleitete psychoanalytische MittwochabendGesellschaft. Sie gab die Kliniktätigkeit auf, um sich ganz der Psychoanalyse widmen zu können, und trat 1918 der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft Freuds bei. Mit Freud verband sie eine enge und vielfältige Arbeitsbeziehung; er war ihr Lehranalytiker, Lehrer und Supervisor. Helene Deutsch begann eine intensive Vortrags-, Lehr- und Publikationstätigkeit - unter anderem zum noch heute aktuellen Thema der inauthentischen oder Als-üb-Persönlichkeit - und engagierte sich als Leiterin des neuen Wiener psychoanalytischen Ausbildungsinstituts. 1935 war die bereits international bekannte und geschätzte Psychoanalytikerin, der man als privilegierter Schülerin Freuds mit großem Respekt begegnete, durch die nationalsozialistische Bedrohung der jüdischen Bevölkerung zur Emigration mit ihrer Familie in die Vereinigten Staaten, nach Boston, gezwungen. Die Existenz der psychoanalytischen Forschung und Praxis in Deutschland und Österreich war bis auf einen marginalen Rest vernichtet. Mit der 1925 vorgelegten Monographie "Zur Psychologie der weiblichen Sexualfunktionen" legte sie erstmals eine systematisch geschlossene psychoanalytische Studie zur Weiblichkeit vor, deren kontinuierliche Weiterentwicklung in klinischer Beobachtung und in Selbstanalyse zum umfangreichen zweibändigen Werk "Psychologie der Frau" aus den Jahren 1948 und 1954 führte. Helene und Felix Deutsch genossen in den Vereinigten Staaten hohes Ansehen; ihnen zu Ehren begründete man am Bostoner Psychoanalytischen Institut einen Preis. Als letzte Publikation - nicht aber als letztes aktives Engagement im Diskurs der Psychoanalyse und der Weiblichkeit - erschien 1973 Helene Deutschs Autobiographie IISelbstkonfrontationl~nachdem sie, selbst Großmutter geworden, begonnen hatte, Jugend und Generationenbeziehungen zu studieren, unter anderem anhand von Interviews mit Stu-
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denten der amerikanischen Cambridge Universität. Helene Deutsch starb verwitwet 1982 in den Vereinigten Staaten. Rezension des zweibändigen Werkes "Psychologie der Frau" (1948 und 1954) Was trägt die klassische Psychoanalyse zum Verständnis der Weiblichkeit bei? Sie untersucht, wie Vorstellungen und Phantasien vom Weiblichen in der individuellen Entwicklung entstehen und mit welchen Liebeswünschen und Bestrafungsängsten, mit welchen Interessen an Anerkennung und welchen Befürchtungen, bedroht, beschämt und verachtet zu werden, sie verbunden sind. Als Mädchen geboren werden und sich zu einer Person entwickeln, die sich als weiblich versteht und anderen ihre Weiblichkeit zu verstehen gibt, das ist Ergebnis vielfältiger Erfahrungen auf der Ebene körperlicher, emotionaler und sozialer Beziehungen in einem gesellschaftlich-kulturellen Raum. Sie reichen von den Phantasien der Eltern über das Geschlecht des Kindes bis zu den Phantasien von Glück und Erfüllung, die ein Mädchen, eine Jugendliche, eine Erwachsene mit der eigenen Geschlechtszugehörigkeit verbindet. Mit diesen Imaginationen, Einstellungen und Handlungsbereitschaften begegnen Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen den existentiellen Herausforderungen, die sie bewältigen müssen. Dabei kommt es zur psychischen und psychosozialen Weiterentwicklung oder zur Erstarrung. Es kommt zu progressiven oder zu regressiven Formen der Konfliktverarbeitung. Die Konfrontation mit den sexuellen Erfahrungsfeldern und mit den Chancen und Grenzen der biologischen und sozialen Geschlechterordnung spielt hier eine Schlüsselrolle. Helene Deutsch (1954) nennt drei existentielle Herausforderungen, denen Individuen männlichen und weiblichen Geschlechts unausweichlich begegnen: (1) der Eintritt ins extrauterine Leben, (2) die Entwöhnung von der mütterlichen Brust und allgemeiner vom mütterlichen Versorgungssystem, (3) die Konfrontation mit der eigenen sexuellen Leiblichkeit und ihren Begrenzungen. Helene Deutsch geht davon aus, dass es sich hier jeweils um einschneidende Erschütterungen einer bis dahin fraglosen Sicherheit handelt. Sie spricht bezüglich dieser drei Konstellationen eines zentralen Verlustes sogar jeweils von einer "traumatischen Disposition" (Deutsch, 1954, S. 85-86). So ist (1) der Verlust der intrauterinen Existenz das "Urtrauma", (2) der Verlust des mütterlichen Genährtwerdens das "Entwöhnungstrauma" und (3) das Gewahrwerden eines fehlenden Penis am eigenen Mädchenkör-
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per das I1GenitaltraumaU (Deutsch, 1954, S. 85-86). In der heutigen Psychou terminologie ist in diesen Zusammenhängen die Wortwahl - im Sinne der I1TraumatisierungU für intrusive Schädigungen eines Organismus verwendet - missverständlich. Helene Deutsch selbst führt den Begriff zunächst in Anführungszeichen ein und kennzeichnet beispielsweise das "Entwöhnungstraumau als "grausame Vernichtung einer Einheit zwischen Objekt und Umwelt", will damit aber nicht einen destruktiven Aspekt kennzeichnen, sondern das dramatisch Umwälzende jener biologisch basierten Reifungserfordernisse hervorheben. In der Auffassung Deutschs sind beide Geschlechter gleichermaßen vom "Urtraumau und vom "Entwöhnungstraumau betroffen, nicht aber vom I1Genitaltrauma", Letzteres ist für kleine, aber auch später für pubertierende Mädchen - anders als bei Freud, der die infantilen Kastrationsphantasien als entscheidende Bewältigungsaufgabe für beide Geschlechter formuliert eine zentrale Erschütterung der Sicherheit und des Selbstgefühls (Deutsch, 1948, S. 134). Es handelt sich um die infantile Körperphantasie, mangelhaft ausgestattet, kastriert zu sein. Diese als "weiblicher Kastrationskomplex" gekennzeichneten Phantasien um die weibliche Penislosigkeit oder den phallischen Mangel gehen auf Freud (1905; 1931) zurück. Deutsch verbindet diese infantile Vorstellung mit anderen weiblichen Körperphantasien, beispielsweise von der Menstruation als Wundenblutung und innerer Zerstörung. Helene Deutsch geht wie Freud davon aus, dass jedes Ich im Körperlichen seinen Kern hat. Jedes Ich ist ursprünglich ein primitiver Regulator für Unlustmeidung und Lustsuche. Sie kommt dabei aber zu einer besonders pointierten eigenen Perspektive. Der Säugling, dann das Kleinkind ist zunächst l1Trauma
"ganz auf bestimmte biologische Vorgänge seines Organismus gerichtet, die nicht nur der Ernährung, der Erhaltung und dem Wachstum dienen, sondern gleichzeitig eine Quelle der Lust sind, der das Kind mit Leidenschaft nachstrebt. Daraus ergeben sich von Anfang an psychophysische Korrelationen, die auf jeder Entwicklungsstufe einem anderen Ziele zustreben, dabei jedoch nur beschränkte, sich wiederholende Ausdrucksmöglichkeiten besitzen. Diese erscheinen immer wieder in den drei Tendenzen: zum Einverleiben, zum Ausscheiden und Behalten. Ihre Regulation bewirkt auf jeder Entwicklungsstufe ein anderes, der Höhe der Entwicklung zweckmäßig angepasstes Verhalten. Durch das Walten der oben genannten Tendenzen können in verschiedenen Phasen Analogien im Verhalten entstehen; diese Analogien führen
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dazu, daß eine frühere Entwicklungsstufe progressive Inhalte einbeziehen wird, und umgekehrt eine höhere Stufe regressive Elemente aufweisen kann" (Deutsch, 1954,S. 43).
Deutsch formuliert hier ein einfaches Handlungs- und Beziehungsmodell, auf das sie die Entwicklung zur weiblichen Identität aufbaut. Basale Lebensfunktionen eines Organismus sind Aufnehmen und Ausstoßen, Bewahren und (wie man sinnfällig ergänzen muss:) Weitergeben. Aufnehmen und Ausstoßen, Bewahren und Weitergeben sind die Modi, mit denen ein kleines Kind, ein junges Mädchen, eine erwachsene Frau jene zentralen Trennungskrisen und Verluste kreativ bewältigt, um zur weiblichen Identität zu gelangen. Als leitendes Entwicklungsmotiv sieht dabei Helene Deutsch - wie viele Fachkollegen ihrer Zeit - die regressive Sehnsucht zurück zu den Ursprüngen geborgener intrauteriner Existenz. Diese Ursprungssehnsucht wirkt als mächtiger Progressionsschub, das Alte im Neuen aktiv wiederherzustellen. Er ist der Schlüssel zum Geheimnis des Weiblichen, dem "weiblichen Gesetz" (Deutsch, 1954, S. 109) oder zu Mütterlichkeit als Lebensentwurf. Das weibliche Gesetz beinhaltet die "Bereitwilligkeit zur gefühlsmäßig positiven Identifizierung und zum masochistischen Geben" (Deutsch 1954, S. 109). Diese "für die Weiblichkeit charakteristischen Merkmale ... (sind) ... auch der ,Mütterlichkeit' in allen Phasen der Fortpflanzung eigen" (Deutsch, 1954,S. 109).
Die Trennungs- und Enttäuschungskrisen der Kindheit und Pubertät, denen das Mädchen sich zu stellen hat, mobilisieren ein mächtiges reparatives Entwicklungspotential. Zu reparieren ist ein beschädigtes Selbstgefühl. Zu gewinnen ist weibliche Autonomie. Wenn Ausstossen und Aufnehmen, Bewahren und Geben die basalen Bewältigungsmodi der Trennungs- und Verlustkrisen sind, dann wandelt sich das primitive Inkorporieren der mütterlichen Brust zur Imitation, später Identifikation mit der mächtigen, aktiven Mutter und schließlich zur Aneignung von Mütterlichkeit als kreativer Rezeptivität und leidensbereitem Geben. Ein intaktes weibliches Selbstgefühl entsteht in dieser Sicht durch die Identifikation mit jener primären Instanz, die Trägerin aller Vital-Ressourcen ist. Weibliche Autonomie entsteht nicht als Abschluss nach
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außen, als abgrenzende Selbstbewahrung, sondern gerade als Bereitschaft zu Öffnung und Preisgabe. Das ist kreative Rezeptivität. Identifikation und leidensbereites Geben sind nicht nur als zentrale Aspekte weiblichen Selbstgefühls zu verstehen, sondern Grundpfeiler des Mütterlichen. Identifikation mit der mütterlichen Instanz besteht in der Aneignung mütterlicher Funktionen, einerseits mit den aktiven Leistungen der mächtigen Mutter, andererseits mit der weiblich-mütterlich-sexuellen Fähigkeit, sich in der Selbstpreisgabe durchdringen und erfüllen zu lassen. Die Fähigkeit zur positiven Identifikation mit dem Kind bereichert den eigenen Selbstwert durch das Glück der Verlängerung und Vermehrung des eigenen Lebens im zukunftsoffenen Leben des Kindes. Die kreative Rezeptivität, die Bereitschaft zu empfangen und schützend zu bewahren, führt zum Kind - und allen Kind-Substituten, d. h. allen Wesen und Dingen, die zu schützen, zu pflegen und zu bewahren sind. Die Fähigkeit, alles zu geben, was das Kind braucht, um leben und gedeihen zu können, zeigt, dass die Mutter kein Mängelwesen, sondern Trägerin und Inhaberin der wertvollsten Güter ist. Helene Deutsch spricht vom lustvoll-Ieidensbereiten Geben. Es ist dem Erleben der Überwältigung abgewonnen und gehört zu Koitus, Schwangerschaft und Geburt. Es wird erotisiert, hat aber auch infantile Wurzeln in basalen Körpererfahrungen der Säuglingszeit. Deutsch sieht das leidensbereite Geben, Preisgeben, Spenden, SichÖffnen, Sich-Überlassen als Leistung im Dienst der Überwindung der infantilen und pubertären Phantasie vom phallischen Mangel oder der genitalen Wunde. Die Frau präsentiert in Überwindung des I1Traumasll den eigenen Körper als kostbaren Träger wertvoller Ressourcen, die sie als Liebesgeschenk einsetzt und preiszugeben bereit ist. Sich Öffnen und Sich Überlassen sind nicht mehr Ausdruck der Hilflosigkeit und Unterlegenheit, sondern Akte des Einverständnisses: Dienerschaft in bezug auf das Kind; stolze Selbstauslieferung an den gewählten Sexualpartner. Das zweibändige Werk der Helene Deutsch richtet sich schwerpunktmäßig auf charakteristische Muster des Erlebens und der Beziehungen geschlechtsreifer jugendlicher und erwachsener Frauen. So beginnt auch der erste Band nicht beim Säugling, sondern thematisiert Vorpubertät, Pubertät und Adoleszenz, um in der Mitte des Buches zu Feminität, Erotik, Passivität, Masochismus und lesbischer Liebe überzugehen. Die erotisch-feminine Frau, die sich selbst zum kostbaren Liebesgeschenk zu machen versteht, wird dem Typus mit I1Männlichkeitskomplexll gegenübergestellt. Als I1MännIichkeitskomplex" fasst Helene Deutsch eine innere Flucht in idealisierte Maskulinität. Es geht um jene Frauen, die einen mütterlichen oder femini-
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nen Lebensentwurf aus Angst vor rezeptiv-passiven Anteilen ihres psychischen Lebens unbewusst verwerfen. Sie ziehen kompensatorisch männlich geprägte Lebensdomänen vor. Deutsch sieht als konflikthaften Kern solcher Lebenswahlen Enttäuschungen an der Mutter und Wut über sie an. Die Themen Passivität, als Hemmung expansiver und behauptender Strebungen und Masochismus, als .Jeidensbereites Geben" werden ausführlich behandelt; Aufmerksamkeit gilt auch der lesbischen Liebe, die häufig kein Resultat eines "Männlichkeitskomplexes u sei, sondern einer tiefen Sehnsucht nach umfassender Vereinigung mit der Mutter entspringt. Während für Freud ein Mädchen dann den entscheidenden Schritt zur weiblichen Identität tut, wenn es den "Objektwechselu vollzieht, wenn es also den väterlichen Beziehungspartner an die Stelle des mütterlichen setzt und sich aktiv von der Mutter löst, ist für Helene Deutsch ein Wechsel weg von der Mutter hin zum Vater kein Thema. Die Mutter bleibt das zentrale und wichtigste Objekt der Liebe und des Hasses; Mütterlichkeit bleibt das zentrale Lebensthema. Demgegenüber bleiben die ödipale Paardynamik und der Objektwechsel randständig. Gleichwohl ist für Deutsch die triadische Beziehungsdynamik von Beginn an wirksam, auch wenn die Autorin das nur gelegentlich explizit macht. Das Denken in triadischen Positionen ist sogar sinnfällig und erlaubt eine verdichtete, stark vereinfachte Systematisierung. Wie die modernen psychoanalytischen Säuglingsforscher unterscheidet bereits Deutsch den phantasierten vom realen Säugling und eine primäre triadische Konstellation, diejenige des phantasierten Kindes als Wunschoder Schreckbild der künftigen Mutter. Hier entsteht das dritte Objekt im Phantasieren des Mädchens, der Schwangeren oder als gemeinsames Phantasieren des werdenden Elternpaares. Das Kind wird als ein Drittes im Bund phantasiert, steht also in der mütterlichen Vorstellungswelt in Relation zu einer realen oder phantasierten Vaterfigur. Auch eine zweite triadische Konstellation, die der Vermittlung (Boothe & Heigl-Evers, 1996), ist für Deutsch schon thematisch. Mutter und Säugling befinden sich im primären Austausch. Die Mutter erscheint als die Botschafterin dessen, was Welt bedeutet. Sie macht Welt für das Kind erlebbar, und in dieser Welt weist sie dem Vater den Platz an. Eine dritte triadische Konstellation ist die Situation des eigenständigen kindlichen Aufbrechens in die Welt, seine enthusiastische Erprobung der eigenen Kräfte, der Annäherung an die Welt und der "Wiederannäherung an die schützende und sichernde Mutterinstanz (in der Diktion von Mahler, Pine & Bergman, 1978). Hier ist ein reiches Spektrum vielfacher IdentifiU
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zierungen mit und Übernahmen von mütterlichen Verhaltens- und Handlungsformen gegeben. Die Identifikationen mit mütterlichen Funktionen gestatten dabei einerseits einen Zuwachs an Autonomie und andererseits Vertrautheit und Nähe durch ein Gleichsein. Dabei wird ihm die Welt zum einen zur Mutter, die es wiederfindet, aber auch zum väterlichen Ort als dem dritten Objekt. Die vierte triadische Konstellation ist traditionell als die phallische Phase bekannt und bei Deutsch durch das infantile IIGenitaltraumall gekennzeichnet. Das Mädchen bietet sich jetzt den beiden elterlichen Beziehungspartnern als eigenständige Figur dar, die für ihre erregende Leiblichkeit, ihr sexuelles Potential, ihre besondere Persönlichkeit Anerkennung und Bestätigung einfordert. Das Mädchen erlebt im Wetteifer um Applaus und Anerkennung den Jungen als überlegen. In der Sicht von Helene Deutsch ereignet sich hier eine dramatische Wendung: Es geht jetzt für das Mädchen um den Verzicht auf phallische Konkurrenz im Dienst des Selbstschutzes und der Selbstachtung. Das gelingt in der Sicht von Helene Deutsch durch eine Hemmung von Expansion und Aggression, Behauptung und offensiver Profilierung. Diese angeeignete und inszenierte Passivität zielt auf Teilhabe, Empathie und Unterstützung. Eine erneute Annäherung an idealisierte Mutterfiguren gehört zu den wichtigen weiblichen Bewältigungsmaßnahmen dieser Entwicklungsphase. Die fünfte triadische Konstellation ist die ödipale Situation. Hier wendet sich das Mädchen der mütterlichen Person aktiv zu, in der Absicht, mit diesem Liebesobjekt eine exklusive Beziehung zu etablieren, von welcher der Dritte, die väterliche Figur, ausgeschlossen ist. Es ist jedoch auch die Hinwendung zur väterlichen Figur, unter Ausschluss der mütterlichen, möglich und im Rahmen der Beziehungsentwicklung des Kindes wesentlich. Im Werk der Helene Deutsch fehlt eine Thematisierung originär ödipaler Konfigurationen, Motive und Einstellungen fast völlig. Auch die sechste triadische Konstellation, die man als besondere Herausforderung der Adoleszenz sehen muss, hat bei Deutsch allenfalls marginale Bedeutung. Es handelt sich um die eigentliche Loslösung aus dem familiären Raum und die Fähigkeit, im Gegenüber den Fremden, das Fremde zu sehen und anzuerkennen. Diese Herausforderung, die für die Etablierung eines funktionsfähigen Überichs von grosser Bedeutung ist, wird bei Freud gelegentlich diskutiert, vor allem im skeptischen Blick auf die weibliche Entwicklung, von der es bei ihm heisst, dass Mädchen und junge Frauen psychisch an das familiäre System gebunden bleiben, in der Erwartung elterlicher Liebe, Entschädigung und Wiedergutmachung. Helene Deutsch
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scheint diese Auffassung zu teilen, freilich betont sie gegenüber Freud stärker die regressive Sehnsucht nach Vereintsein mit der Mutter oder die aktive Übernahme eigener mütterlicher Funktionen, um die Kindheitsfamilie unmittelbar durch eigene Mütterlichkeit zu ersetzen. Bewertung der theoretischen Schrift in ihrer Zeit und aus heutiger Sicht Die "Psychologie der Frau" hat nie das Ausmass an Prominenz und Zustimmung erfahren wie etwa Karen Horneys eingängige Überlegungen zur "Genese des weiblichen Kastrationskomplexes" (1924), zur "Verleugnung der Vagina" (1933) oder der "Angst vor der Frau" (1932) (alles in Horney, 1977). Beide Autorinnen betonen die Bedeutung der frühen Mutterbindung. Aber Karen Horney setzt darüber hinaus dem von Anfang an strittigen phallischen Monismus Freuds eine griffige Opposition entgegen, die sich in überschaubaren Thesen fassen lässt, während Helene Deutsch die infantile weibliche Kastrationsphantasie noch stärker ausarbeitet und an zahlreichen Einzelbeobachtungen aus dem Alltag und dem klinischen Feld illustriert. Dabei scheut sie normative Bewertungen nicht, kritisiert beispielsweise die männlich identifizierten Frauen und zeichnet das Bild der Mütterlichkeit mit idealisierender Tendenz. Sie konnotiert Passivität und Masochismus positiv, und dabei gelingen ihr aufschlussreiche Beobachtungen zu weiblichem Lusterleben; aber sie bringt die bei dieser Thematik wichtigen Beziehungen zu Selbstverachtung, Submission und Abhängigkeit nicht ausreichend zur Sprache, so dass die Würdigung des .Jeidensbereiten Gebens" von Zeit zu Zeit ans Peinliche grenzt. Dass Helene Deutsch unerschrocken und ohne den üblichen Tadel am scheinbar misogynen Freud über die kindliche Phantasie eines phallischen Mangels nachdenkt, regt dazu an, an diesem Beispiel die Entwicklungschancen auszuloten, die in der mutigen und kreativen Konfrontation mit erlebter Kränkung und Zurücksetzung liegen. Dass die frühen Beziehungen zur Mutter in der weiblichen Entwicklung den tragenden Grund für alle späteren Entwicklungsherausforderungen bilden, ist heutzutage allgemein anerkannt (Mertens, 1992) und im übrigen ein zentrales Thema der Bindungstheorie (Bowlby, 1969). Es gibt vielfache Belege dafür, dass dieses In-mütterlicher-Beziehung-Sein zwar, wie Helene Deutsch es formulierte, erweitert, nicht aber überwunden wird.
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Erst im Rahmen einer lIMehr-Personen-PsychologieU als innere Beziehungsmatrix (Kernberg, 1988; Ogden, 1986) lässt sich in der infantilen weiblichen Entwicklung die Beziehungskrise und -chance des Objektwechsels genauer betrachten. Diese Entwicklungsherausforderung bringt mit sich, dass Passivität in Aktivität verwandelt wird, dass die bisher erworbene Aktivität, Potenz, Beherrschung und Kontrolle als Ressourcen geschätzt werden und dass sich das kleine Mädchen, sowohl auf körperlicher wie auf intellektueller und emotionaler Ebene, als kompetent und intakt erlebt und sich selbst wie sein ganzes lIeigenesU Reich zu verteidigen und zu schützen bereit ist. Das bewahrt vor dem Entgleiten in masochistische Submission, maligne lILeidensbereitschafe' und der neurotischen Inszenierung eines nicht zu überwindenden mütterlichen Machtimperiums. Erst auf der Basis dieser im Trauerprozess erworbenen Freiheit kann der mutige Schritt zum Liebesobjekt als dem Anderen, zu dem man anerkennend in Kontakt tritt, ohne sich seiner zu bemächtigen, gelingen (Benjamin, 1988).
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Anmerkungen 1
Biographische Angaben nach Deutsch (1973), Sayers (1999).
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Sabina Spielrein: Die Destruktion als Ursache des Werdens
"Leben. heißt schöpferl8Ch sein, und wer es nicht mehr ist,. ist schon tot" (Spielrein. 1916/19191/ 1983,5.8'7).
Biographie Sabina Spielrein wurde am 7.11.:1885 als erstes Kind des wohlhabenden, jüdischen Kaufmanns Nikolay Spie1rein
und dessen Ehefrau Eva, geh. Luyublinskaya, in Rostow am Don geboren. Sie hatte drei jüngere Brüder, jen <",887), Isaek ("'1!9') und Emil <",899). Die einzige Schwester, Emilja r:rS95) starb 6-jährig, als Sabina :16 Jahre alt war. Die Familie Spielrein hatte hohes Ansehen in Rostow; der Großvater mütterlicherseits ist Rabbiner gewesen. Sabina fiel in "der Schule als frühreifes, intelligentes Kind auf. Sie trat mit 5 Jahren in eine Fröbel-Kinderschule in Warschm ein. wo sie aller Wahrscheinlichkeit nach ffinf Jahre die meiste Zeit von ihrer Familie getrennt lebte" (Familien-Anamnese von C. G. Jung, in: M:indeT, :19% S. 61).
Ihre Brüder und sie erfuhren eine umfassende Bildung, sie erlernten mehrere Sprachen. '9031egte Sabina in Rostow das Abitur mit Auszeichnung ab. Sabina und zwei ihrer Brüder studierten an europäischen Universitäten, da durch einen Erlass des Zaren die Zulassung jüdischgläubiger Studentinnen und Studenten an den Universitäten Russlands beschränkt war (Minder, '9% S. 6t, Anm. 2: S. '24). S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Aufgrund massiver Verhaltensstörungen hielt sich Sabina 1904,von ihrer Mutter begleitet, zur Therapie in einem Schweizer Sanatorium in Interlaken auf. Vom 17.8.19°4-1.6.19°5 wurde sie danach in der Nervenklinik ,Burghölzli' bei Zürich 9 lh Monate von Eugen Bleuler (1857-1939), dem Direktor der Klinik, und Carl Gustav Jung (1875-1961) als Sekundararzt gegen Honorar behandelt (Minder, 1993, S. 114). Die Diagnose lautete "schwere Hysterie", wobei Jung nach Minder (1992, S. 18) in der Zeit der Behandlung Spieireins noch wenig Erfahrung mit dem Krankheitsbild der l1Hysteriell hatte. Später sprach Jung in einem Vortrag in Amsterdam (1907) von "psychotischer Hysterie", ein Begriff, der im Diagnoseschlüssel der Klinik 1904 noch nicht existierte (Minder, 1994, 125, Fußn.8). "Dazu stellten sich grenzhaft paranoide Zustände ein. Vom 7.-8. Jahre an fing Pate an mit einem Geiste zu sprechen, (...) weil sie eine ausserordentliche Person sei" (Anamnese [ungs über Spielrein, in: Minder, 1994,S. 57/S. 64)·
Auch Sabinas "Letzter Wille", der den Krankenakten handschriftlich in deutscher Sprache in Burghölzli beiliegt, könne ein "eindrückliches Zeugnis aus diesem Symptomkreis (abgeben)" (Minder, 1994, S. 64).Zur Genese der Störung führt Jung in seinem ersten, offenbar zu diesem Zeitpunkt nicht versandten Brief an Sigmund Freud (1856-1939) vom 25.9.19°5aus, dass sich "die körperlichen Züchtigungen auf den Hintern, die der Vater der Pate zwischen dem 4 & 7ten appliziert hat, (...) (sich) unglücklicherweise mit dem praematuren & jetzt sehr starken Sexualgefühl der Pateassociiert (haben). (...) Die Masturbation trat immer auf nach Züchtigungen die sie durch den Vater erlitt" (Minder, 1993,S. 115).
Nach Jungs Protokoll waren masochistische Züge, Zwänge, sowie "ausgeprägte Störungen derAffektivität (festzustellen). Am auffälligsten waren die Tic-Störungen. (Beinzuckungen, Herausstrecken der Zunge, ruckweises Rotieren des Kopfes, Grimassen und Abwehrbewegungen), die fast während ihrer gesamten Hospitalisation auftraten" (Minder, 1994,S. 66).
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Er sah die Grundlage von SpieIreins Symptomen in einem I1Complexu sexueller Assoziation zu einem physischen Trauma, woran auch die Mutter SpieIreins beteiligt gewesen sein müsse (vgl. Nitzschke, 2001, S. 76). Eugen Bleuler schrieb am 6.1.1905 an Sabinas Vater zu deren Befinden: "Da die Erinnerung an Sie für Ihre Tochter sehr viel Aufregung hat, so wird es nach unserer Ansicht überhaupt gut sein, wenn Fräulein SPIELREINin den nächsten Monaten nicht mehr direct an Sie schreibt" (Minder, 1994,S. 116).
Als historisch bedeutsam kann die Tatsache betrachtet werden, dass Spielrein offenbar die erste Patientin [ungs war, an der die damals noch neue, in der Klinik .Burghölzli' wenig praktizierte psychoanalytische Methode Freuds, das ,freie Assoziieren; ausprobiert worden ist: ,,25. 9. 1905. Bericht über Fräulein Spielrein an Herrn Professor Freud in Wien, an Frau Spielrein übergeben zur eventuellen Verwendung. (...) Ich habe nach Ihrer Methode das Krankheitsbild ziemlich vollständig analysiert, auch mit Anfangs sehr günstigem Erfolg" (Jung, Minder, 1993, S. 115)·
Alle in der Klinik bis dahin hospitalisierten Hysterikerinnen und Hysteriker, waren, wenn überhaupt, mittels Hypnose therapiert worden (vgl. Minder, 1994, S. 67). Weiter schrieb Jung: "Während der Behandlung hatte die Pat. die Malchance, sich in mich zu verlieben. Sie schwärmt nun der Mutter immer in ostentativer Weise von ihrer Liebe vor, wobei eine geheime chicanöse Freude am Schrecken der Mutter eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt" (Minder, 1994, S.122).
SpieIreins Entlassung aus der Klinik erfolgte am 1. Juni 1905 in "gebessertem Zustand" (Minder, 1994, S. 69), nachdem sie am 25.4.19°5 in Zürich ein Medizinstudium aufgenommen hatte. "Teufel! Ich war an der Universität. So ein Berg von Eindrücken. ( ) Mit den Studenten werde ich nicht übereinkommen; das fühle ich ( ) aber leider weiß ich noch längst nicht, ob ich wissenschaftlich werde arbeiten können: erstens, ob es die Gesundheit erlaubt? (...) Indes-
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sen ohne die Wissenschaft ist für mich das Leben völlig sinnlos (...) Wenn ich doch so ein kluger Mensch wäre wie mein Jung(e)! Teufel! Ich möchte schon wissen, ob aus mir was werden kann. Aber dumm ist auch, daß ich kein Mann bin: Ihnen gelingt alles leichter. Unverschämt ist noch, daß für sie das ganze Leben eingerichtet ist. Aber ich will keine Sklavin sein!" (Spielrein, Tageb. v. 25.IV.o51 zit. n. Bose & Brinkmann, 1986, S. 215/16).
Eine weitere ambulante Behandlung Spieireins scheint nicht erfolgt zu sein. Minder hat gegenüber Lothane versichert, daß ,Ier sich geirrt habe, als er schrieb, daß Spielrein [ungs ambulante Patientin bis 1909 geblieben sei" (Lothane, 2001, S. 44). liEs war mein psychoanalytischer Schulfall sozusagen, weshalb ich ihr eine besondere Dankbarkeit und Affektion bewahre" (jung an Freud, 4. Juni 19°9, zit. nach Minder, 1994, 5. 77). Sicher scheint beim heutigen Forschungsstand, dass während der Therapie zwischen Spielrein und Jung eine Übertragungs- bzw. Gegenübertragungs-Liebe entstanden war (vgl. Minder, 1994; Lothane, 2001; Nitzschke, 2001). Zur Art der Beziehung zwischen Spielrein und Jung waren in den letzten Jahren die verschiedensten Hypothesen spekulativer Art in der Literatur zu finden. Zum einen ging es um die von Carotenuto bzw. Cremerius (1986, S. 21) vorgetragene, die Diskussion dominierende These, dass eine sexuelle Beziehung zwischen beiden nach der Therapie in Burghölzli bestanden habe, zum anderen um die Annahme von Missbrauch in der Therapie selbst (z. B.Wackenhut & Willke, 1995; Höfer, 1997), was Lothane (2001, S. 67) und Nitzschke (2001, S. 71) und andere Autoren zurecht nach dem vorliegenden Material bezweifeln. Nach Richebächer (2001, 5.4) war zwischen Spielrein und Jung, der seit 1903 verheiratet war, eine sehr vielschichtige Beziehung entstanden. Im Jahr 1909 wurde auch Freud durch einen Briefwechsel mit beiden Beteiligten als Vermittler einbezogen (Me Guire, 1974, S. 255/259). Zum ersten Mal wurde hier der später für die psychoanalytische Behandlungstechnik so relevant gewordene Begriff der IIGegenübertragungN von Freud in einem Brief an Jung (7.6.19°9) eingebracht. man wird der IIGegenübertragung" Herr, in die man doch jedesmal versetzt wird, und lernt seine eigenen Affekte verschieben und zweckmäßig plazieren" (Me Guire, 1974, S. 255).
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Einen Tag später, am 8.6.19°9, schrieb Freud an Spielrein, "ob die Gefühle, welche diese Beziehung überdauert haben, nicht etwa verdienen, unterdrückt und erledigt zu werden, in der eigenen Seele meine ich und ohne äußere Aktion und Heranziehung dritter Personen" (Carotenuto, 1986, S. 116).
D. h. Freud hatte Spielrein, wie er Jung am 18.6'09 mitteilte, "eine würdigere, sozusagen endopsychische Erledigung der Sache nahegelegt" (Me Guire, 1974, S. 259)· Freud habe damals "reziprok einen Übertragungs- bzw. Gegenübertragungs-Konflikt gleichermaßen gegenüber beiden Beteiligten aufgezeigt (vgl. Lothane, 2001, S. 59). Tagebuchaufzeichnungen SpieIreins nach einem Treffen mit Jung spiegeln eine symbiotische Dimension in der Beziehung wider: ll
" ... Da sagte er, dass er mich liebt, weil wir einen merkwürdigen Parallelismus der Gedanken haben; manchmal kann ich ihm seine Gedanken voraussagen; (... ) aber er sagte mir auch, dass er mich nie heiraten würde, da ein großer Philister in ihm steckt. (...) Ich fühlte mich als Mutter, ich wollte ihm nur gutes" (Spielrein, 9.11.10, zit. nach Carotenuto, 1986, S. 74).
Die Erfahrungen beider scheinen sich in [ungs .Anima-Animus-Theorte" niedergeschlagen zu haben. Neun Jahre später schrieb C. G. Jung an Spielrein folgenden bedeutsamen Brief: "Die Liebe von S. zu J. hat in letzterem etwas bewusst gemacht, das er vorher nur undeutlich ahnte, nämlich eine schicksalsbestimmte Macht des Ubw., die ihn später zu den allerwichtigsten Dingen führte. Die Beziehung mußte "sublimiert" sein, weil sie sonst in die Verblendung und in die Verrücktheit geführt hätte (Concretmachen des Ubw.)" (Jung, 1.9.1919, in Carotenuto, 1986, S. 223).
Jung zumindest schien also für sich selbst die Frage nach der Art seiner Liebe beantwortet zu haben. Nitzschke (2001, S. 73)schreibt hierzu:
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Sibylle Volkmann-Raue "Es ist sicher relativ unwichtig, ob die große Liebe, die Jung und Spielrein füreinander empfanden, eine sexuelle Erfüllung fand" (Bettelheim, 1983, S. 40). Was also bedeutet die Rekonstruktion detaillierter Handlungsabläufe, wenn es um die Macht des Begehrens, wenn es um die Angst der Entgrenzung geht?"
Am 20.1.1911 hatte Spielrein ihr Medizinexamen bestanden und am 9.2.1911 fand die Disputation über ihre Dissertation statt. Hervorzuheben ist, dass Spielrein überhaupt die erste Frau war, die mit einer analytischen Dissertation "i1ber den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie (Dementia Praecox)" bei Eugen Bleuler promovierte (Spielrein, 1911). Das Sommersemester 1911 verbrachte sie in München, studierte Kunstgeschichte und Musik und konzipierte die hier rezensierte Schrift zur "Destruktion als Ursache des Werdens". Im Herbst folgte bis April 1912 ein neunmonatiger Aufenthalt in Wien; 1911 wurde sie Mitglied der ,Wiener Psychoanalytischen Vereinigung'. Die damals erst zö-jährlge nahm an den Treffen der "Mittwochs-Gesellschaft" teil und hielt, was für eine Frau damals ungewöhnlich war, am 29.11.1911 einen Vortrag "Über Transformation", einem Teilaspekt aus obiger Schrift. Im April 1912 kehrte Spielrein nach Rostow zurück (Richebächer, 2001, S. 5) und heiratete 1912 mit 27 Jahren den russisch-jüdischen Arzt Pawel Scheftel. 1913 wurde ihre erste Tochter Renata (möglicherweise in Berlin) geboren. Im gleichen Jahr teilte ihr Sigmund Freud seinen Bruch mit C. G. Jung mit: "Mein persönliches Verhältnis zu Ihrem germanischen Heros ist definitiv in die Brüche gegangen. Sein Benehmen war zu schlecht. Es hat sich in meinem Urteil viel über ihn geändert. (...) Die Kooperation in der Wissenschaft bleibt voraussichtlich erhalten" (20.1.1913, zit. n. Bose & Brinkmann, 1986, S. 246).
Doch dann kam es anders: Jung widmete sich ab 1913 dem Aufbau seiner "Analytischen Psychologie" und begründet seine eigene tiefenpsychologische Schule. Spielrein hatte sich die Jahre zuvor sowohl um eine persönliche als auch theoretische Versöhnung beider Psychoanalytiker bemüht. Ab 1913 hat sie als Analytikerin in München und Berlin (1914) sowie in Chäteau d'Oex in der Schweiz praktiziert, wobei unklar ist, ob sie damals
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von ihrem Mann getrennt lebte (vgl. Minder, 1992, S. 5). Kurz nach Beginn des 1. Weltkriegs soll sie sich in Zürich aufgehalten haben (Richebächer, 2001, S. 5). Auf dem VI. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß 1920 in Den Haag hielt sie ein Referat mit dem Titel: "Zur Frage der Entstehung und Entwicklung der Lautsprache", in dem sie eine erste Theorie zur Bedeutung der mütterlichen Brust und des Saugens für die Entwicklung des Kindes vortrug (vgl. die späteren Theorieansätze von Melanie Klein, Beitrag in diesem Buch). Im gleichen Jahr lebte sie in Lausanne und zog 1921 nach Genf um. Dort führte sie verschiedene Wissenschaftler des Institut JeanJacques-Rousseau, darunter Pierre Bovet (1887-1965), Edouard Claparede (1873-1940) und [ean Piaget (1896-1980) in die psychoanalytische Methode ein. Letzterer ließ sich 1921 acht Monate lang von Spielrein aus "wissenschaftlichem Interesse an der Psychoanalyse" analysieren: "Ich habe eine Lehranalyse bei einer direkten Schülerin Freuds gemacht. (...) Da es keine Heilanalyse war und auch keine Lehranalyse. da ich ja keineswegs Psychoanalytiker werden wollte" (...) fand sie eben" daß es nicht der Mühe wert sei" jeden Tag eine Stunde Zeit mit einem Herrn zu verlieren" der die Theorie nicht schlucken wollte" (Piaget (1977" S. 182)" zit. nach Cifali, 1986" S. 257-258).
Seltsam ist, dass Piaget weder in seiner Autobiographie noch in den beiden Interviews (mit Bringuier, 1977 und Karmentxu, 1979) den Namen Spielrein als den seiner Analytikerin erwähnte, sondern den Namen ,De la Fuente", Selbst Bärbel Inhelder (pers. Gespräch, Genf v. 24.2.1993) hatte keine Erklärung hierfür (vgl. Volkmann-Raue, 1993, S. 160). Der Status von Spielrein in Genf war nicht ganz klar. Am 28.2.1922 wurde in einer Lokalzeitung folgendes Inserat abgedruckt: ,,,Institut [ean-Iacques-Rousseau, Frau Dr. med. Spielrein, ehemalige Assistentin von Prof. Freud, Wien, steht dienstags abends im Institut J.-J. Rousseau, (...) allen unentgeltlich zur Verfügung" die sich über erzieherische und wissenschaftliche Psychoanalyse erkundigen wollen" (Cifali, 1986, S. 257).
Über Claparede schrieb Freud 1921 an Spielrein am 3.1.1921 sehr kritisch, dass dieser "die Libidotheorie seinen Lesern in ganz irriger Form vorstelle"
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und kurz vor dem Berliner Kongress in ähnlich abwertendem Tenor über die "Genferu allgemein: "Die Leute in Genf (sind) samt u sonders Dilettanten, auf die Sie langsam etwas von Ihrer analytischen Bildung übertragen müßten" (Freud, 1922,zit. nach Volkmann-Raue, 1993,S. 163).
Auf dem VII. Internationalen Psychoanalytiker Kongreß in Berlin (22.9.27.9.1922) trugen Spielrein und Piaget Referate vor. Spielrein hielt am 27.9.1922 nachmittags unter Vorsitz von Dr. Emil Oberholzer einen Vortrag zum Thema: "Ein psychologischer Beitrag zum Problem der Zeit", der später unter dem Titel: "Die Zeit im unterschwelligen Seelenleben" publiziert wurde. Die damals 37-jährige Analytikerin hatte zu diesem Zeitpunkt insgesamt schon 25 Veröffentlichungen vorgelegt. Der erst zö-jährige Piaget, hatte am 25.9.1922, während Freud den Vorsitz innehatte, über "La pensee de I'enfant" (deutsch: Das symbolische Denken und das Denken des Kindes, 1923) referiert. Es war Piagets einzige persönliche Begegnung mit Freud, der 1922wegen seiner Krebserkrankung zum letzten Mal an einem Kongress teilnahm (vgl. Volkmann-Raue, 1993, S. 83146). Spielrein und Piaget, die offenbar zu dieser Zeit inhaltlich ähnliche Fragestellungen bearbeiteten, zitierten sich nach dem Berliner Kongress wechselseitig in den Veröffentlichungen ihrer Vorträge: "So habe ich mich denn systematisch dem Studium des vorbewußten und kindlichen Denkens gewidmet. Auf diesem Wege ist mir am Genfer Institut ein wertvoller Forscher, Dz. Piaget begegnet, ebenfalls Psychoanalytiker', (...) Seitdem arbeiten wir, wenn auch jeder für sich, so doch vorwiegend auf demselben Gebiete" (Spielrein, 1923,9, S.301).
Piaget verwies in der Veröffentlichung seines Berliner Vortrages (1923, S. 286) in einer Fußnote (!) auf die Arbeit Spieireins: "Mme Spielrein wird in Kürze eine sehr anregende Theorie des Symbolismus veröffentlichen. (...) Wir hoffen, diese Hypothese gemeinsam aufnehmen zu können" (Piaget, 1923, in: Volkmann-Raue, 1993,S. 110).
Spielrein hatte beabsichtigt, eine Abhandlung "Über den Ursprung des Symbols" zu veröffentlichen, worauf sie in ihrem Artikel "Einige Analogien zwischen dem Denken des Kindes, des Aphasikers und dem unterbewuß-
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ten Denken" hinweist ("mon travail (a paraitre) sur l'origine du symbol", Spielrein, 1923, S. 320). Warum der geplante Artikel zum "Ursprung des Symbols" nie erschienen ist, bleibt weiterhin unklar (vg1. Vidal, 2001, S. 147). Im Januar 1923 hielt sie in der Psychoanalytischen Vereinigung von Zürich ein Referat zur "Aphasieu und kurz darauf, im März 1923, auch noch in der Psychoanalytischen Gruppe von Genf (vg1. Spielrein, 1923, 18, S. 305, Fußn. 1, nur im frz. Orig. vorhanden I). Piagets anvisierte Kooperation mit Spielrein wurde jedenfalls nicht mehr realisiert, da sie im gleichen Jahr nach Russland zurückkehrte. " ... Ein bedeutsamer Aufenthalt, und doch verläßt sie Genf, nachdem sie Edouard Claparede ihre gesamten Schriften hinterlassen hat. Warum? (...) Es hat wohl zum Lebensunterhalt nicht genügt" (Cifali, 1986., S.25 8).
Welche Gründe Spielrein dazu bewogen hatten, Genf und die Schweiz, fast überstürzt, zu verlassen, muß hier offen bleiben. Leider liegen zu ihrem weiteren Werdegang in Russland nur spärliche Informationen aus zuverlässigen Quellen vor. Nach ihrer Rückkehr war Spielrein als Analytikerin an der Poliklinik des Psychoanalytischen Instituts in Moskau tätig und schon ab Herbst 1923 wurde sie als Mitglied der russischen Sektion der ,Psychoanalytischen Gesellschaft' aufgeführt (Internat. J. Psycho- Ana1., 1924, V, S. 258). Neben Ivan D. Ermakov, O. Schmidt, Aleksandr R. Lurija und Moshe Wulff war sie im "Komitee, das der "Gesellschaft und (dem) Institut vorstand" (VolkmannRaue, 1993, S. 170). Zusammen mit Ermakov leitete sie eine psychoanalytische Kinderklinik in Moskau und arbeitete - wie Piaget in Genf - zum kindlichen Denken und zur Sprache. Schon am 15.11.1923 hielt sie vor der russischen psychoanalytischen Sektion einen Vortrag zum Thema: "Aphasisches Denken und infantiles Denken" und am 20.12.1923 wurde ihr Beitrag: "Bemerkungen aus der Analyse eines Kindes" erwähnt (Internat. J. PsychoAna1., 1924, V, S. 261). Warum sie sich zurückgezogen hatte, bleibt unklar, zumal sie innerhalb der russischen Sektion hohe Funktionen innegehabt hatte. Ein letztes Mal trat sie 1925 auf einem psychoanalytischen Kongress in der Sowjetunion auf. Schon 1924 war Spielrein in ihre Heimatstadt Rostow zurückgekehrt (Branover, 1997, S. 11), wo 1925 ihre zweite Tochter Eva geboren wurde. Bis 1929 publizierte sie nichts mehr, sie scheint in Rostow als Psychiaterin gearbeitet zu haben (vg1. Ljunggren, in: Bose & Brinkmann, 1986, S. 261).
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Im Jahr 1930gab die Russische Psychoanalytische Gesellschaft ihre letzte Mitteilung heraus und 1931 erschien die letzte, größere Arbeit Spieireins: "Kinderzeichnungen bei offenen und geschlossenen Augen", Wie lange sie in den ,,30er Jahren Stalins" noch als Analytikerin tätig sein konnte, ist nicht bekannt. Das offizielle Verbot der Psychoanalyse durch Stalin erfolgte im Jahr 1936. Die Brüder Isaak und [an sollen im Jahr 1919 aus Überzeugung in die Sowjetunion zurückgegangen sein und alle drei Brüder Spieireins: Isaak, der Psychologe, Emil, der Biologe und [an, der Mathematiker sollen dann zwischen 1935 und 1937 im "Gulag des Stalinismus verschwunden" sein (Minder, 1992, S. 5). Ihre Mutter war im Jahr 1921 gestorben und ihr Vater Nikolay Spielrein starb 1938, was vermutlich auch das Todesjahr ihres Ehemanns Pawel Scheftel ist (vgl. Minder, 1992,S. 6). Zur Annahme, Sabina Spielrein sei im Jahr 1941 umgekommen, wird in dem als einzige Quelle zitierten Interview von Ljunggren mit Menicha Spiel rein, der Nichte Spieireins, wörtlich folgendes ausgeführt: "Die Deutschen eroberten Rostow zweimal. Es wird gesagt, daß alle Juden in der Stadt bereits beim ersten Mal zur Synagoge genommen wurden, wo sie erschossen wurden. Sabina (...) solllauteinerVersion zu einem deutschen Offizier vorgegangen sein und sich präsentiert haben, Deutsch war ja ihre zweite Muttersprache geworden. Das konnte nur aufeineArt endenfür sieund ihre Töchter" (Ljunggren, 1983,S. 4 d. Orig., eig. Unterl., Herv.: S. V-R).
Es wird also keineswegs eindeutig gesagt, daß Spielrein am 22. Juni 1941 zusammen mit ihren beiden Töchtern von Nazis in der Synagoge erschossen wurde, wie es Carotenuto (1986, S. 389) dargestellt. Vermutlich muß das Todesjahr von Spielrein aufgrund neuerer Quellen korrigiert werden. In der Literatur wurde aber auch immer wieder das Jahr 1942 als Todesjahr Spieireins angeführt (vgl. Bose & Brinkmann, 1986, S. 7; Minder, 1992, S. 6; Nitzschke, 2001, S. 79, Richebächer, 2001, S. 6 und in einem email ihres Neffen Evald Spielrein, 1999). Weitere russische Quellen hierfür sind die Russisch Jüdische Enzyklopädie (1997, S. 416), Stepanov (1999) sowie Ovcharenko (1992) (zit. nach Issei, 2000, S. 21)3, die beide fast gleichlautend formulieren: "Das letzte Mal wurde sie im Sommer 1942 in einer für die Vernichtung bestimmten jüdischen Kolonne gesehen, die die Nazis in Richtung
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der Smeerskij-Schlucht, gewaltige Schluchten am Stadtrand, trieben" (Stepanov, 19991 S. 4-5 des russ, Orig. und Ovcharenko, 19921 S. 16 der Übers.).
Bei der 2. Okkupation Rostows durch die Deutschen (vom 27.7.1942-14.2.1943) fanden IIErschießut:gen zehntausender Bewohner der Stadt statt" (Ovcharenko, 199~ S. 15 d. Ubers). Die Forschungsarbeit von Issel (1999/2000, S. 21), die von mir begleitet wurde, ergab in einer militärgeschichtlichen Analyse, dass sich die Deutschen Truppen 1941 nur wenige Tage in Rostow aufgehalten hatten. Das Todesjahr 1941 stimmt nicht, das beweist Issel (2003) in einer detaillierten Analyse und auch Riechebächer (2005, S. 357) folgt dem.s Es ist wahrscheinlicher, das Jahr 1942 für die Tötung vieler tausender Bewohnern Rostows durch deutsche Soldaten anzunehmen. Danach ist Sabina Spielrein vermutlich nach dem 11.8.1942 umgekommen (Issei, 2003, S. 205). Diese Version erfährt eine starke Unterstützung durch ein uns vorliegendes Dokument (vom 8.10.1995)5 des Archivs der Holocaust-Gedenkstätte ,Yad Vashem' in Jerusalem. Eine Zeitzeugin, Valeria Elwowa, hat dort als Todesjahr Spieireins ebenfalls das Jahr 1942 angegeben und unter der Rubrik: ,Ort und Umstände des Todes' die Eintragung gemacht: "umgekommen mit allen Juden der Stadt Rostow am Don" (vgL Issei, 2003, S. 208).
Rezension: "Die Destruktion als Ursache des Werdens" (1912) Zuerst werde ich die wesentlichen Gedankengänge der Spielreinsehen Schrift skizzieren. Der Abhandlung wird ein langes Zitat C. G. [ungs von Spielrein vorangestellt, wobei sie betont, dass seine Position am ehesten den eigenen, von ihr gewonnenen Resultaten entspräche. Ein Auszug: ,,(...) Selbst fruchtbar sein - heißt sich selber zerstören, denn mit dem Entstehen der folgenden Generation hat die vorausgehende ihren Höhepunkt überschritten" (Iung, 1911,Jahrbuch, Bd. 31 zit. n. Spielrein 1 9871s. 99). l
Ihre Beschäftigung mit sexuellen Problemen hat Spielrein zu der Frage geführt, warum es neben den positiven Gefühlen bei der Sexualbetätigung ebenso zu negativen beim Individuum kommt. Unter biologischer Betrach-
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tungsweise findet sie eine Begründung darin, dass bei der Zeugung, d. h. der Vereinigung einer männlichen mit einer weiblichen Zelle, jede dieser Zellen in ihrer Einheit vernichtet wird und so aus "diesem Vernichtungsprodukt das neue Leben entsteht" (S. 100). Es finden also Destruktions- und Rekonstruktions-Prozesse in einem Organismus statt. Dem Werden entsprechen die "Wonnegefühle im Fortpflanzungstriebe selbst" und Angst und Ekel sind "Gefühle, welche der destruktiven Komponente des Sexualinstinktes entsprechen" (S. 101). Unter individualpsychologischer Betrachtungsweise stellt Spielrein die These auf, dass wir psychisch nichts in der Gegenwart erleben. Ein Ereignis sei für uns nur insofern gefühlsbetont, als es früheres gefühlsbetontes Erleben anregen kann, das im Unbewussten verborgen liegt (5. 101). Das bedeutet, dass beim Erleben der Gegenwart immer eine Verbindung mit dem Unbewussten besteht. Die (ersten) Lustempfindungen (der pflegenden Personen) suchen "wir immer von neuem zu erleben" (S. 103) und selbst wenn wir längst ein "normales" Sexualziel haben, beschäftigt sich das Unbewusste mit Vorstellungen, die für uns bereits in frühester Kindheit lustbetont waren (S. 103/104). Die Grundlage aller psychischen Produktionen ist das Streben nach Erlangung von Lust, aber wir empfinden auch Erleichterung, wenn auf Kosten der Ichvorstellung eine Artvorstellung gebildet wird, so wie der Künstler Freude an seinen Sublimationsprodukten hat, wenn er statt des Individuellen das Typische schafft (5. 112). Spielrein stellt weiter die These auf, daß es das Hauptmerkmal des Individuums ist, dass es ein .Dioiduum" ist (S. 106). Dem Bewusstsein entspricht eine Differenzierungstendenz des Ichs, verbunden mit einem Selbsterhaltungsstreben. Dem Unbewussten entspricht das "Wir'~ eine Assimilationstendenz (also Auflösung) der ichdifferenzierten Vorstellungen in typische, uralte Artvorstellungen. Die Ichpsyche kann nur Lustgefühle wünschen, die Artpsyche dagegen belehrt darüber, was positiv oder negativ gefühlsbetont ist (S. 109). Neben dem Beharrungswunsch der Ich-Psyche besteht deshalb also ein Transformationswunsch der Art-Psyche: "Man sucht das einem selbst Ähnliche (die Eltern, Ahnen), in dem sich das eigene Ich-Partikel auflösen kann, weil die Auflösung im Ähnlichen nicht brüsk zerstörend, sondern unbemerkt vor sich geht (5. 110), (...) aber mit Wonnegefühlen einhergeht, weil die Auflösung im ähnlichen Geliebten (= in der Liebe) stattfindet" (5.112).
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Dem Selbsterhaltungstrieb, der das Individuum vor fremden Einflüssen schützen will, entspricht die Differenzierungstendenz der ganzen Ichpersönlichkeit. Der Arterhaltungstrieb dagegen äußert sich psychisch in der Auflösung und Umwandlung des Ichs in einem Wir (S. 127): einem neuen Ichleben in der Person des Geliebten. Er ist sowohl positiv als auch negativ insofern, als er das Alte auflösen, vernichten muß, damit Neues entstehen kann. Der Abschnitt zum ,Leben und Tod in der Mythologie' durchbricht die logische Stringenz der Schrift. Er ist als Nachweis der "Destruktionskomponente der Sexualität gedacht" (S. 141), ist aber von nur schwer nachvollziehbarer, willkürlich wirkender Beispielhaltigkeit (z. B. der Nibelungensage, der Holländersage, der Bibel, Zarathustra usw.) und offenbar der Versuch, die theoretischen Ansätze C. G. [ungs einzubeziehen. Spielrein faßt ihre theoretische Position abschließend folgendermaßen zusammen: "Der Tod an sich ist grauenhaft, der Tod im Dienste des Sexualinstinkts. also als dessen destruierende Komponente, die zum Werden führt, ist heilbringend" (5. 140). "Entsprechend den biologischen Tatsachen, (besteht) der Fortpflanzungstrieb auch psychologisch aus zwei antagonistischen Komponenten und (ist) demnach ebensogut ein Werde- als ein Zerstörungstrieb" (5. 142).
Bewertung der Schrift in ihrer Zeit und aus heutiger Sicht Die Thesen der Arbeit, die von der damals erst zö-jährigen Autorin am 29.11.1911 in der "Mittwochs-Gesellschaftu vorgetragen worden war, wurden anfangs von Zeitgenossen eher reserviert aufgenommen. Besonders das Kapitel zu "Leben und Tod in der Mythologie" fand wenig Zustimmung. Freud kritisierte daran v. a., dass Spielrein versucht habe, das "psychologische Material biologischen Gesichtspunkten (unterzuordnen)," d. h. die Trieblehre auf biologische Voraussetzungen wie die Arterhaltung zu gründen. In ihrem Schlusswort im "Verein u wies die Autorin sogar selbst darauf hin, dass eine Begriffsverwirrung durch die Weglassung des grundlegendsten Kapitels der Schrift entstanden sei: "Sie fasse den Sexualtrieb als partiellen Fall des Transformationstriebes auf. Sie habe den Konflikt im bezug auf das persönliche und nicht das kosmische Ich gemeint. Ob sich die Todeswünsche gegen die eige-
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Sibylle Volkmann-Raue ne oder die andere Person richteten, hinge von dem Vorwiegen der sadistischen oder masochistischen Komponente ab. - Das Aufgehenwollen sei eine normale Tendenz und finde sich bei Frauen häufig als Destruktionsvorstellung ausgesprochen" (29.11.1911, Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Nunberg und Federn, Bd. Irr, S. 351 f., zit. n. Brinkmann & Bose, 1986, S. 240).
Gegenüber Jung, dem damaligen Herausgeber des Freud später seine Kritik an der Arbeit etwas:
lIJahrbuchs'~
relativierte
"Von der Arbeit der Spielrein kenne ich nur ein Kapitel, das sie im Verein verlesen hat. Sie ist sehr gescheit; alles, was sie sagt, hat Sinn, ihr Destruktionstrieb ist mir nicht sehr sympathisch, da ich ihn für persönlich bedingt halte. Sie scheint mehr Ambivalenz, als normal ist, zu führen" (Me Guire, 1974,21.3.1912, S. 548).
Jung erwiderte Freud daraufhin einige Tage später in einem Brief, dass er meine, dass nach einem vielversprechenden Anfang der Arbeit die Fortsetzung und der Schluss erheblich abfielen. "Von der Arbeit muß man sagen: desinit in piseem mulier formosa superne [= es endet unten in einem Fisch, was oben ein wohlgestaltetes Weib ist, Horaz, S. V-R]. ( ) Ich bitte Sie, meine Kritik der kleinen Autorin nur in refraeta dosi ( ) zukommen zu lassen" (Me Guire, 1974, J > F, 1.4.1912, S. 552).
Nach einer Überarbeitung der Abhandlung, die Spielrein zusammen mit Jung vorgenommen hat, wurde ihre Schrift 1912 veröffentlicht. Paul Federn schrieb daraufhin 1913 eine detaillierte und faire Rezension in der ,Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse': "Die referierte Arbeit benützt oft die analytische Methode zu Deutungen, sie orientiert aber diese nach nicht psychoanalytisch gefundenen oder nachweisbaren Zusammenhängen. Sie geht von Ahnungen und Gefühlen aus. So sucht sie psycho-biologische Parallelismen aufzustellen und begibt sich damit auf ein Gebiet, welches der psycho-analytischen Kritik nicht zugänglich ist. An vielen Stellen scheinen die Zusammenhänge sehr wahrscheinlich" (Federn, 1913, S. 92).
Sabina Spielrein
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Freud, der wohl eine negative Reaktion SpieIreins wegen dieser Kritik befürchtete, schrieb daraufhin an die Autorin: "In der ersten Nummer der Zeitschrift (...) befindet sich auch eine Kritik Ihrer letzten großen Arbeit. Wir haben uns gestattet, frei zu kritisieren, da die Züricher es direkt von uns verlangt haben. Zürnen Sie nicht und lesen Sie es wohlwollend durch" (Freud, 1913, v. 20.1.1913, zit. n. Bose & Brinkmann, 1986, S. 246).
Sieben Jahre später wies Freud auf die Spielreinsehe Arbeit in "Jenseits des Lustprinzips" in der berühmt gewordenen Fußnote (1920, S. 162) hin: "In einer inhalts- und gedankenreichen, für mich leider nicht ganz durchsichtigen Arbeit hat Sabina Spielrein ein ganzes Stück dieser Spekulation vorweggenommen. Sie bezeichnet die sadistische Komponente des Sexualtriebs als die "destruktive" (Freud, 1920/1984, 5.162, Pußn.x).
Analysiert man die Originalarbeit SpieIreins genau, so ist die Behauptung, Spielrein habe den "Todestriebu Freuds vorweg genommen (vgl. Carotenuto, 1986, S. 268/S. 320 und Cremerius, S. 18) allerdings nicht haltbar, da Spielrein nur von einer "destruierenden Komponente" des Sexualinstinkts spricht. Erst dem dualistischen Denken Freuds entspringt die weitergedachte Idee, dem "Eros als Gegenspieler einen eigenständigen Trieb, den "Thanatos'~ entgegenzustellen (Volkmann-Raue, 1993, S. 157). Zu diesem Schluss kommt auch Nitzschke, der die Schrift aus heutiger Sicht sehr positiv bewertet: ll
"was Sabina Spielreins Schrift (...) so spannend macht, das ist die Unvoreingenommenheit im Denken und Schreiben, durch die sich die Autorin auszeichnet. (...) Nicht bemüht, sich in irgendeinen theoretischen Rahmen einzuordnen, (...) schöpft sie aus der Authentizität ihrer eigenen Erfahrung" (Nitzschke, Psyche, 1, 1988,89/90 und 2001, S. 78).
Obwohl Carotenuto mit seinem Buch (1986) primär eine Woge populärwissenschaftlicher Literatur (z. B. Martynkewicz, 1999, Höfer, 2000) zum Leben Sabina SpieIreins ausgelöst hat, wurde damit in der Folge aber auch das wissenschaftliche Interesse wieder auf die Schriften und das wissenschaftliche Werk dieser Pionierin der Psychoanalyse gelenkt (vgl. Sonderband des Journal of Analytical Psychology zu "Sabina Spielrein", 2001).
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Dieses enthält originelle theoretische Ideen zu Fragen der Triebtheorie, des kindlichen Denkens, der kindlichen Sprache und der Kinderanalyse allgemein. Die praktizierende Psychotherapeutin, die sich auch für die organisatorische Entwicklung der psychoanalytischen Institutionen engagierte, hat durch ihr wissenschaftliches Werk in der Frühzeit der "psychoanalytischen Bewegung" bedeutende, innovative, auch unkonventionelle theoretische Ideen und Denkanstöße in die Psychoanalyse eingebracht, deren umfassende psychologiegeschichtliche Würdigung noch ausstehen. Ausgewählte Bibliographie zu Sabina Spielrein (1911/1987)Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie (Dementia Praecox), Jb. psychoanaL psychopathoL Forsch., 3, 329-400. (1922/1987)Die Entstehung der kindlichen Worte Papa und Mama, Imago, 8, 345--67. (1923/1987)Quelques analogies entre la pensee de l'enfant, celle de l'apha-sique et la pensee subconsciente, Archives de Psychologie, 18, 306-22. (1923/1987)Die Zeit im unterschwelligen Seelenleben, Imago, 9,300-17. (1931/1987)Kinderzeichnungen bei offenen und geschlossenen Augen, 345-383. In: Sämtliche Schriften, Freiburg 1987 oder (Gießen 2002)
Literatur: Bose, G. & Brinkmann, E. (Hrsg.). (1986).Sabina Spielrein. Ausgewählte Schriften. Marginalien. Berlin: Verlag Brinkmann und Bose. Branover, G. G. (Hrsg.). (1997).Russisch Jüdische Enzyklopädie. Bd. 3, S. 416, Moskau. Carotenuto, A. (Hrsg.). (1986). Sabina Spielrein. Tagebuch einer heimlichen Symmetrie (Vorwort von J. Cremerius, S. 9-29). Freiburg: Kore-Verlag. Cifali, M. (1986).Sabina Spielrein in Genf. In G. Bose und E. Brinkmann (Hrsg.), Sabina Spielrein. Ausgewählte Schriften (S.255-258). Berlin: Verlag Brinkmann und Bose. Federn, P (1913).Sabina Spielrein, Die Destruktion als Ursache des Werdens. Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse, 1, 89-94, Leipzig. Freud, S. (1920/1984).Jenseits des Lustprinzips. Frankfurt/M.: Fischer. Höfer, R. (2000).Die Psychoanalytikerin Sabina Spielrein. Rüsselsheim: Christel Göttert Verlag. International Journal ofPsycho-Analysis (Vol. m 1922,Vol. IV 1923,VoLV 1924).E. Iones (Ed.). (reproduced 1953:London). Issel, B. (2003). Zum Tode von Sabina Spielrein. In: H.-P. Brauns (Hrsg.). Zentenarbetrachtungen. Historische Entwicklungen in der neueren Psychologie bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. 196-210. Beitr. z. Gesch. d. PsychoL (Hrsg. H. E. Lück), Bd.19. Frankfurt a. M.: Peter Lang Verlag. Lothane, Z. (2001).Zärtlichkeit und Übertragung - Unveröffentlichte Briefe von C. G. Jung und Sabina Spielrein. In A. Karger, O. Knellessen, G. Lettau und Chr. Weismüller (Hrsg.), Sexuelle Übergriffe in Psychoanalyse und Psychotherapie (S. 35--69). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Ljunggren, M. (1983). Sabina mellan Jung och Freud, Expressen v. 15. 7., S. 4. (Übers.: S. Walmann, eig. Unterl.).
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Lütkehaus L. (2002). Vorwort: Produktive Krankheit - Lebendige Theorie. I-VII. in: Sabina Spielrein. Sämtliche Schriften. Gießen: Psychosozial-Verlag. Edition Kore. Martynkewicz, W. (1999). Sabina Spielrein und Carl Gustav Jung, Berlin: Rowohlt. Me Guire, W. & Sauerländer, W. (Hrsg.). (1974). Sigmund Freud. C. G. Jung. Briefwechsel. Frankfurt/M.: Fischer. Minder, B. (1992). Sabina Spielrein. Jungs Patientin am Burghölzli. Med. Diss.: Bem. Minder, B. (1993).Jung an Freud 1905:Ein Bericht über Sabina Spielrein. Gesnerus, 50, 113-120. Minder, B. (1994). Sabina Spielrein. Jungs Patientin am Burghölzli, Luzifer-Amor, 7, 55-127. Nitzschke, B. (2001)."Poesie" und Prosa. Eine Nachbetrachtung zum Beitrag von .~vi Lothane über Sabina Spielrein und C. G. Jung. In A. Karger et al. (Hrsg.). Sexuelle Ubergriffe in Psychoanalyse und Psychotherapie (5. 71-81). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Richebächer, S. (2005). Sabina Spielrein. Biographie. Zürich: Dörlemann Verlag. Spielrein, S. (1912).Die Destruktion als Ursache des Werdens. In Spielrein, S. (1987).Sämtliche Schriften (5.98-143). Freiburg: Kore-Verlag. Spielrein, S. (1912). Die Destruktion als Ursache des Werdens. Jahrbuch psychoanal. psychopath. Forsch., 4, 465-5 03Spielrein, S. (1987). Sämtliche Schriften. Freiburg: Kore-Verlag. Spielrein, S. (2002). Sämtliche Schriften. Gießen: Psychosozial-Verlag. Edition Kore. Spielrein, S. (1916/1919?/1983). Les Vents. Romanfragment. Patio, 1, S. 84-87. Spielrein, E. (1999). Persönl. Mitteilung vom 23.6.1999 an die Verfasserin. Spielrein-Sonderband (2001). Journal of Analytical Psychology, Stepanov, S. (1999). Schulpsychologe, 26,4-5, Moskau (Ubers.: J. Zocholl). Vidal, F. (2001). Sabina Spielrein, [ean Piaget - going their own ways, Journal of Analytical Psychology, Sabina Spielrein, Vol. 46, no.r, 139-153, London. Volkmann-Raue, S. (1993).Psychologie-historischer Kommentar zu [ean Piaget, Sigmund Freud und Sabina Spielrein. In S. Volkmann-Raue (Hrsg.). [ean Piaget: Drei frühe Schriften zur Psychoanalyse (5. 154-175). Freiburg: Kore-Verlag.
Anmerkungen 1
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Karmentxu, M. (1979). Schüler, laßt Euch nicht durch die Schule ruinieren. Interview mit [ean Piaget. Corsera, No. 7, 17. Februar. (Übers.: G. Schmidt, eig. Unterl.). ,,Infine, sono stato psieanalizzato da un'allieva diretta di Freud, la De la Fuente" (Karmentxu, 1979, S. 9). [evtl. ein Spitzname?] Es ist aber festzuhalten, daß sich Piaget selbst nie als Psychoanalytiker verstanden hat. Vgl. Issel, B. (1999) (einger. 2000). Zum Tode von Sabina Spielrein. Arbeitsergebnisse eines psychologiehistorischen Forschungsprojektes (1998-1999) der "Dortmunder Arbeitsstelle für Piaget-Forschung" im Fach Psychologie der Universität Dortmund. Vortrag, gehalten auf der 7. Fachtagung "Geschichte der Psychologie" der DGPs, Berlin, 29.8·1999· - Ovcarenko, V.I. (1992). Der Russische Psychoanalytische Bote, 2, S. 64-69, Moskau. Das Datum sollte endlich in der einschlägigen Literatur korrigiert werden (z. B. Spielrein, Sämtliche Schriften, Kore-Editionen, 2002, Biographische Übersicht, S. 389). Dokument (Nr. 131°°4) zu S. Spielrein. Yad Vashem, Jerusalem, vom 8.10.1995 (eig. Unterlagen).
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Karen Homey: Der neurotische Mensch in unserer Zeit
...Es i!lt ja aud! tIO viel leichter, reuig zu aetn, als sich zu ändern" (Karen Homey, 1997,S. 185).
Kurzbiographie
Karen Horney, aus einer gut situierten hanseatischen Familie stammend, wurde am 16.9.1885 im Hamburg geboren. Ihr Vater, ein Norweger, war Kapitän; gelegentlich durfte Karen ihn auf einer seiner Seereisen begleiten. Er stellte den Prototyp einer patriarchalischen Autorität dar, demgegenüber war die Beziehung zur Mu~ einer intelligenten und dynamischen Frau,. wesentlich herzlicher. Sie war es auch, die ihre Tochter in ihrem Studienwunsch unterstützte. Karen Horney studierte Medizin,. sie entwickelte Interesse an der Psychoanalyse und arbeitete in Berlin nach ihrer Approbation 1912 an einer psychiatrischen Klinik. Ihre Promotion schrieb sie zum Thema ,.Posttraumatische Syndrome" (1915). 1909 hatte sie den Berliner Rechtsanwalt Oskar Homey geheiratet. Die erste der drei gemeinsamen Töchtern wurde 191:1 geboren, Brigitte, die später als Schauspielerin Berühmtheit erlangen sollte. Die offizielle Trennung Hom.eys von ihrem Mann erfolgte erst 1926; danach war sie als alleinerziehende Mutter finanziell und privat stark belastet, wozu sie einen Ausgleich im Beruf suchte (Olvedi, 1992-146). Die Scheidung der Ehe fand erst 1937 statt, nachdem Karen Horney schon längere Zeit in Amerika lebte und arbeitete. 1910 hatte sie eine Analyse bei Kar! Abraham, einem der loyalsten Freudschiller in Deutschland, begonnen, die sie 1921bei Hanns Sachs in Berlin
fortführte.
S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1919 eröffnete Karen Horney ihre erste eigene Praxis in Berlin. Sie übernahm an der Berliner Poliklinik ab 1920einige Fälle und behandelte in ihrer dortigen Lehrtätigkeit z. B. Themen zur psychoanalytischen Behandlung (für Medizinstudenten, Psychiater und nicht-psychiatrische Ärzte). Auf dem VII. Internationalen Psychoanalytiker Kongress 1922 in Berlin unter Vorsitz von Sigmund Freud hielt sie einen Vortrag "Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes", der viel Beachtung fand. In den folgenden Jahren leistete Horney Pionierarbeit auf dem Gebiet der Psychologie der Frau, sie lehnte den Freudschen Denkansatz des Penisneids von Frauen ab, ebenso wie später dessen Theorie des Destruktionstriebes (vgl. Artikel über Sabina Spiel rein, in diesem Band). Innerhalb der psychoanalytischen Gruppierung stieß Horney durch ihre konzeptuelle Kritik an orthodoxen Positionen der Psychoanalyse häufig auf Widerstand und wurde z. B. bei der Vergabe von Posten übergangen. Horneys Veröffentlichungen von 1930 bis 1932 befassen sich überwiegend mit der Psychologie der Frau, wie die folgenden Aufsätze belegen: "Das Mißtrauen zwischen den Geschlechiern" (1930)' "Die Verleugnung der Vagina" oder "Die Problematik der Ehe". Aus dieser Zeit rührt auch ihre Charakterisierung als "Rebellin der Psychoanalyse". 1932 emigrierte sie auf Einladung von Franz Alexander in die Vereinigten Staaten, wo sie zuerst in Chicago, und später, ab 1934, in New York als Psychotherapeutin, Lehranalytikerin und Dozentin am Psychoanalytischen Institut arbeitete. Sie hatte engen Kontakt zu einigen der führenden Psychoanalytiker ihrer Zeit, so zu Fritz Perls, Otto Fenichel, Wilhelm Reich und Erich Fromm, mit dem sie eine langjährige berufliche und persönliche Beziehung verband. In den letzten 15 Jahren ihres Lebens in Amerika schrieb Horney ihre wichtigsten fünf Bücher, durch die sie sich als Neoanalytikerin einen Ruf in der Psychologie erwarb (Paris, 1996). Im Jahre 1937erschien ihr erstes, wohl bedeutendstes Buch, "Der neurotische Mensch unserer Zeit", das einerseits nach seinem Erscheinen für großes Aufsehen sorgte und Horney in intellektuellen Kreisen berühmt machte (Paris,1996, 24), das aber andererseits bei vielen orthodoxen Psychoanalytikern auf empörte Ablehnung stieß. Der Grund dafür dürfte gewesen sein, dass sich Karen Horney der gängigen Auffassung über den Menschen als eines von Trieben beherrschten, antisozialen Wesens entgegenstellte und sowohl die Wirkung kultureller Normen und Werte bei der Entstehung psychischer Störungen als auch die konstruktiven, auf Selbstverwirklichung drängenden Kräfte bei deren Therapie hervorhob. Die dort angesprochenen Themen wurden weiter entfaltet in den Werken "Neue Wege in der Psycho-
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analyse" (1939), I1Selbstanalysell (1942), "Unsere inneren Konflikte" (1945) und in ihrem letzten Buch "Neurose und menschliches Wachstum" (1950). 1941 trat Karen Horney aus dem New Yorker Psychoanalytischen Institut wegen Diskriminierung und Disqualifizierung als Therapeutin aus. Zusammen mit mit Clara Thompson, Erich Fromm u. a. gründete sie eine eigene ,Gesellschaft zur Förderung der Psychoanalyse' (,Association for the Advancement of Psychoanalysis'), die aus der Psychoanalytischen Gesellschaft ausgeschlossen wurde sowie ein eigenes Ausbildungsinstitut, das ,American Institute for Psychoanalysis', In Zusammenarbeit v. a. mit Erich Fromm leistete sie einen unermüdlichen Einsatz zur Revision des pessimistischen Menschenbildes der Psychoanalyse Sigmund Freuds. 1942 eröffnete Horney eine Privatpraxis in New York und lebte ein libertinäres Leben (Paris, 1996, S. 34). Interessant ist, daß sich Karen Horney nach Paris (1996, 23) "Mitte der 30er Jahre vom Thema der weiblichen Psychologie abgewandt und eine Theorie entwickelt (haben soll), die sie als geschlechtsneutral bezeichnete", Häufig sei Horney, zumindest von amerikanischen Feministinnen, "zu stark mit den frühesten Stadien ihres Denkens (zur weiblichen Psychologie) identifiziert und darüber die Bedeutung ihres späteren Werks" vernachlässigt worden (Paris, 1996,S. 23 f.). Karen Horney starb am 4. Dezember 1952 mit 67 Jahren in New York an den Folgen einer Krebserkrankung. 1955 wurde in New York die Karen-Horney-Klinik von Mitarbeitern gegründet; diese existiert noch heute. Rezension: Der neurotische Mensch unserer Zeit Karen Horney stellte als das große und zentrale Thema des neurotischen Menschen die Angst in den Mittelpunkt. Um Angst abzuwehren, werden die unterschiedlichsten Wege eingeschlagen, die alle ein und demselben Zweck dienen, denn neurotische Menschen können die mit Angst verbundene Spannung nicht aushalten und das macht sich selbst in I1KleinigkeitenU bemerkbar: z. B. darin, dass der neurotische Mensch nicht warten kann (Horney, 199~ S. 129),dass er keine Schwächen zulassen kann, dass es ihm nicht möglich ist, nachzugeben. Das "alter ego" der Angst, die Feindseligkeit, verlangt alles von den anderen und, da das nicht zu bekommen ist, alles von der eigenen Person. Wenn die Welt es nicht perfekt darbietet, muss es der neurotische Mensch selbst machen, und zwar mit der ihm eigenen perfektionistischen Feindseligkeit oder dem feindseligen Perfektionismus.
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So wie jede Unzulänglichkeit den Mitmenschen und ihrem Verhalten bitter zum Vorwurf gemacht wird, so wird auch jede eigene Unzulänglichkeit, für eine unverzeihliche Demütigung gehalten. Da Angst im Verständnis von Karen Homey grenzenlos ist, nehmen auch die Mechanismen, sie zu betäuben, riesige Dimensionen an. Karen Horney gibt u. a. eine präzise Beschreibung der Menschen, die aus der Angst heraus, nicht genug zu gelten, einen übertriebenen Ehrgeiz entwickeln, der sie dazu antreibt, auf möglichst vielen Gebieten Herausragendes zu leisten, was dann unfehlbar zu einer Zersplitterung von Energie führt. Es ist immer das gleiche Lied beim neurotischen Menschen: "er möchte alles haben, aber infolge seiner destruktiven Triebe und Ängste steht er am Ende mit leeren Händen dar" (Horney, 1997, S. 139). Eine der wichtigsten Botschaften, die uns Karen Horney übermittelt, lautet, dass Angst (das Kernstück der Neurose) immer auch mit Feindseligkeit verbunden ist. Diese richtet sich zwar in erster Linie projektiv nach außen, wird aber trotzdem als eigene Schuld empfunden. Es gibt keinen neurotischen Menschen, der sich nicht mit Selbstvorwürfen abplagt, nicht selten verbunden mit einem heftigen Bedürfnis nach Strafe. Aber es ist eben nur das ausgelebte Bedürfnis nach Selbstbezichtigung. Denn Selbstbezichtungen können den Zweck erfüllen, sich sowohl einer tiefergehenden Einsicht des eigenen Verschuldens zu entziehen als auch eine reale Wiedergutmachung (soweit dies überhaupt möglich ist) des angerichteten Schadens zu vereiteln. "Wenn es einem Menschen leid tut, eine Sache getan oder unterlassen zu haben, und er infolgedessen seinen Irrtum wiedergutmacht oder die dafür verantwortliche Haltung ändern will, wird er nicht in Schuldgefühlen schwelgen... Es ist ja auch so viel leichter, reuig zu sein, als sich zu ändern" (Horney, 1997, S. 185).
Karen Horney ist wahrscheinlich eine der ersten Psychologinnen, die über das Thema "Konkurrenz u und "Perfektionismus geschrieben haben, wenngleich sie dies nicht als allgemeines gesellschaftliches Phänomen, sondern als individuelles Problem unter die Lupe nimmt. Das, wie sie sagt, "neurotische Konkurrenzbedürfnis" ist einerseits gekennzeichnet durch Furcht vor Mißerfolg (in Form von missgünstigem Neid auf andere Menschen und der daraus folgenden Furcht vor Liebesverlust), als auch durch Furcht vor dem Erfolg. Der Erfolg würde nämlich eine fortwährende Bewährungsprobe darstellen, ob den eigenen perfektionistischen Ansprüll
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chen auch Genüge getan wird - und ob er überdauernd gestaltet werden kann. Die ungeheure Angst vor den anderen, vor dem Urteil der anderen stellt sich als projektive Spiegelung der ungeheuren auf die eigene Person gerichteten Feindseligkeit dar. Wenn man den gängigen Begriff Batesons zur Hilfe nimmt, werden wir Zeuge eines inneren Double bind: stets der Erste im Rennen sein zu müssen und gleichzeitig gar nicht erst anzutreten. Hinter allem neurotischen Verhalten steckt auch hier die Angst: das Sich-Klein-Machen (bei gleichzeitigem Ausleben des Triumphes über andere auf der Phantasieebene) ist "notwendig um die Not der Angst abzuwenden. Wie immer gibt es eine Lösung, die aber letztlich eine unfruchtbare ist: "Immer mehr ersetzt der Neurotiker erreichbare Ziele durch grandiose Ideen" (Horney, 1997, S. 168). In der Analyse der Grandiosität als Ausweg aus dem inneren Dilemma der gefühlten Ohnmacht und dem Zwang zu fabelhaften Leistungen ist Horney ihrer Zeit weit voraus - später werden Fritz Perls und Paul Watzlawick mit diesen Gedanken Aufsehen erregen, ganz als ob der Neurotiker panische Angst vor dem Erreichen eines begrenzten, möglicherweise bescheidenen Zieles hätte. Die Flucht in die Phantasieebene und das damit verbundene Verpassen des IIrichtigenU, gleichzeitig unwiederbringlichen Zeitpunktes macht die Tragik im Leben des Neurotikers aus: "So wird der Neurotiker es im allgemeinen für sicherer halten, die Dinge, die er tun möchte, nicht zu tun," Wie oft in diesem Hauptwerk veranschaulicht Karen Horney die Unentrinnbarkeit der selbst geschaffenen Situation, des selbsterrichteten Gefängnisses durch das Modell des Teufelskreises (circulus vitiosus): ll ,
Grandiose Ideen als scheinbare Konfliktlösungen --+ Ausweichen vor der Realität --+ Empfindlichkeit, verbunden mit Gefühlen der Wertlosigkeit und Tendenz zur Selbsterniedrigung --+ Feindseligkeit in Bezug auf die Umwelt als Projektion von Selbstverachtung --+ Angst --+ Beruhigungsversuche durch grandiose Phantasien außerhalb der Realität.
Horney zieht ein bitteres Fazit des Lebens, das der neurotische Mensch führt: "Er fühlt sich wie ein Gefangener in einem Keller mit vielen Türen, und welche er auch öffnet, sie führen alle nur in neue Dunkelheit. Und er weiß die ganze Zeit, dass andere draußen in der Sonne wandeln" (Horney, 1997, S. 171 ) .
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Aus dem allen ergibt sich ein ungeheurer Lebensneid auf alle, die es angeblich besser haben, die sich sicherer, ausgeglichener, glücklicher fühlen und mehr Selbstvertrauen besitzen. Zentral für die Analyse des neurotischen Menschen ist das Dilemma, dass er immer zweierlei will, sich in gegensätzlichen Positionen aufhalten möchte, und letztlich an der sich selbst auferlegten Spannung zu zerbrechen droht: Wir finden diesen Wunsch nach dem Vereinigen von Gegensätzen an vielen Stellen: "Gleichzeitig mit der Betonung seiner Unwürdigkeit wird der Neurotiker große Ansprüche auf Rücksicht und Bewunderung erheben und durchaus nicht bereit sein, die geringste Kritik zu dulden" (Horney, 1997, S.176). Horney unterscheidet vier Hauptwege, durch die ein Mensch versucht, sich gegen die Grundangst zu schützen: Liebe, Unterwürfigkeit, Macht und Distanzierung. Dabei ist es häufig, dass zur Angstreduzierung eine Mischung aus diesen Techniken angewendet wird. "Beruhigung für die große, unterirdische (sie!)Angst (wird) nicht nur auf die eine, sondern auf vielfache Weisen gesucht, die dazu noch miteinander unvereinbar sind" (Horney, 1997, S. 79). Das Beschreiten von Wegen, die einander ausschließen und die unweigerlich zu Konflikten führen, ist ein Kennzeichen des neurotischen Menschen. Der Kern der Neurose besteht vorwiegend aus völlig unlösbaren Konflikten und weiter: neurotische Bedürfnisse bestehen aus "Angst, aus dem Gefühl, nicht liebenswert zu sein, aus der Unfähigkeit, an irgendeine Form der Liebe zu glauben, und aus einer allgemeinen Feindseligkeit" (Horney, 1997, S. 90). Das Hauptwerk von Karen Horney hat somit neben dem durchgehenden Thema der Angst das Nebenthema: Liebe. Wenn wir über Liebe sprechen, und das noch im Kontext des "neurotischen Menschen", dann sollte eine Definition gewagt werden, nämlich was neurotische und was nicht-neurotische Liebe unterscheiden könnte. Karen Horney versucht das durch ein Bild zu veranschaulichen: "Wir können auf einen Baum klettern, weil wir unsere Kraft und Geschicklichkeit prüfen wollen und die Aussicht von oben genießen möchten, oder wir können hinaufklettern, weil ein wildes Tier uns verfolgt" (Horney, 19971 S. 81).
Das wilde Tier ist in diesem Fall die dringliche Notwendigkeit des Sicherheitsbedürfnisses. Dieses Bedürfnis wird so drängend und im subjektiven Erleben unaufschiebbar, dass ein Mensch einen anderen nur als Mittel zum
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Zwecke benutzt, das heißt, dass er ihn hauptsächlich zur Erfüllung bestimmter Bedürfnisse benötigt. Ein weiterer Baustein der negativen Definition von Liebe ist mit der Unfähigkeit gegeben, die Persönlichkeit des anderen zu achten, seine Eigentümlichkeiten, Grenzen und Bedürfnisse, seine Wünsche und seine Entwicklung zu respektieren. Der neurotisch Liebende klammert sich an den, den er zu lieben vorgibt, wie ein Ertrinkender an den Schwimmer, der ihn retten will. Hinzu kommen beim neurotisch Liebenden ein spezielles Misstrauen, Furcht und Unglaube, "dass ein Mensch ihn wirklich lieben könnte" - so, als ob er seine eigene Liebesunfähigkeit auf andere übertrüge. Positiv gewendet: "Ein Mensch, der echte Zuneigung zu anderen empfinden kann, wird keine Zweifel darüber haben, dass die anderen auch ihm zugetan sein können" (Horney, 1997, S. 88).
Wir haben es beim neurotischen Menschen und seiner speziellen Liebesunfähigkeit mit einem Paradoxon zu tun: Das, was er am meisten verlangt, sucht er auch am stärksten von sich fern zu halten. Er verdurstet systematisch nahe der Quelle. Er fürchtet das, was ihm an Zuneigung entgegengebracht wird und misstraut ihm zutiefst. Obwohl der neurotische Mensch längst von der Liebe anderer abhängig ist, fürchtet er emotionelle Abhängigkeit. "Emotionelle Abhängigkeit ist ... eine wirkliche Gefahr für jeden, der nicht ohne die Liebe anderer Menschen leben kann, und alles, was auch nur im entferntesten einer solchen Abhängigkeit ähnelt, kann einen verzweifelten Kampf gegen sie hervorrufen" (Horney, 1997, S. 88).
Diese äußerste Widersprüchlichkeit der Innenwelt des neurotischen Menschen, das Dilemma zwischen der Unfähigkeit zu lieben und seinem großen Bedürfnis nach Liebe, kann indes nur dadurch aufrechterhalten werden, dass es aus dem Bewusstsein ausgeblendet wird. Der neurotische Mensch versteht seinen (destruktiven) Mechanismus nicht, er versteht nicht, warum seine Beziehungen und/oder beruflichen Bindungen so oft unbefriedigend verlaufen, er kommt zu dem (für ihn naheliegenden, aber falschen Ergebnis), dass die "anderen durch ihre Gedankenlosigkeit, ihre Untreue und ihre ausbeuterischen Absichten an allem schuld seien oder dass er aus irgend-
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einem unerforschlichen Grund einfach die Gabe nicht besitze, sich beliebt zu machen" (Horney, 199~ S. 83). Der neurotische Mensch befindet sich chronisch in innerer Not, und das Grundelement dieser Not heißt: Angst. Wenn wir vom "neurotischen" Menschen sprechen, dann müssen wir nach weiteren definitorischen Anteilen bei Karen Horney suchen. Außer der Rigidität in den Reaktionen der Person ist neurotisches Verhalten nach Horney gekennzeichnet durch eine Diskrepanz zwischen Potential und Leistung und durch (unbewusste) emotionale Konflikte. Unsicherheit braucht Beruhigung und dieses Bedürfnis nach Beruhigung hat den Charakter von Sucht, von "Zwangsmäßigkeit". Der neurotische Mensch kann nicht mehr wählen, er ist zum zwanghaften, von ihm selbst (seinem "wahren Selbst") entfremdeten Agieren und Reagieren verdammt. So kann er auch nicht wählen zwischen einem freiwilligen, ihn selbst erfüllenden Alleinsein und der Freude, mit einem anderen zusammen zu sein, nein, er wird meist Opfer eines speziellen Problems, der Unfähigkeit, allein zu sein, einer Unfähigkeit, die sich, von leichtem Unbehagen und Unruhe angefangen, bis zu ausgesprochenem Entsetzen vor der Einsamkeit äußern kann. Irrationalerweise sucht der Neurotiker - zwanghaft und unersättlich - die Gegenwart des anderen (oder wegen der Austauschbarkeit könnte man auch sagen: eines "beliebigen anderen", Hauptsache, dieser steht ihm zur Verfügung); andererseits ist er auch nicht glücklich, wenn er mit seinem Idol zusammen ist. Horney folgert daraus, dass der Wunsch nach der Gegenwart des anderen nicht der Ausdruck echter Zuneigung ist, sondern nur des Bedürfnisses nach Beruhigung, die durch die Tatsache, dass der andere verfügbar ist, hergestellt ist (der andere wird zum Objekt degradiert...). Nun geschieht etwas, was die letztlich auch demütigende, unwürdige Position des neurotischen Menschen besiegelt: "Da die Gewinnung von Zuneigung von vitaler Bedeutung ist, ergibt sich, dass der Neurotiker jeden Preis für sie bezahlen wird ... und jedes Opfer bringen, ohne Rücksicht darauf, wie nachteilig dieses für ihn sein kann" (Horney, 1997, S. 93). Geopfert wird dabei das, was Laing das "wahre Selbst" nennt: In seiner willfährigen und gefühlsmäßig abhängigen Haltung wagt er nicht, dem anderen zu widersprechen oder ihn zu kritisieren ... wenn Menschen dieses Typs sich kritische oder herabsetzende Bemerkungen erlauben, fühlen sie sich ängstlich, selbst wenn ihre Bemerkungen harmlos sind. Diese willfährige Haltung (geboren aus der Notwendigkeit, Verlustängste zu kontrollie-
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ren) führt zur Aufgabe jeder Art von Selbstbehauptung und zur Neigung, sich ausbeuten und mißbrauchen zu lassen. Immer wieder gerät der Neurotiker in einen Teufelskreis: Verlustangst, Beruhigungsbedürfnis, Willfährigkeit verbunden mit Anklammerung, gleichzeitig Groll, versklavt zu sein, Unterdrückung des Grolls (aus Verlustangst), neue Angst. Eingebettet ist dies alles in das (realistische) Gefühl, dass das Leben unwiederbringlich ruiniert sei. Die Frage, die von Karen Horney nicht bzw. nicht schlüssig beantwortet wird, könnte nun lauten: warum entsteht aus unterdrücktem Groll Angst? Abgesehen von einer allgemeinen Antwort, die sich an Freuds erster Angsttheorie orientieren müsste (dass verdrängte Triebregungen, vor allem sexueller Natur, in Angst umgewandelt werden) könnte die Antwort lauten: die Unterdrückung des Grolls als eines Restes von Widerstand gegen die freilich selbst auferlegte, gleichzeitig unbewusste Unfreiheit erzeugt Angst, den letzten Rest an Autonomie und Unabhängigkeit (und Würde) zu verlieren. Diese Angst wird aber, anstatt sie in reflektierten Umgang mit dem "Warnsignal des Grolls bzw. des Zorns zu überführen, in den großen, generalisierten Topf der Katastrophenangst des Neurotikers (Fritz Perls) bzw. der generalisierten Verlustangst geworfen. Und alsbald wird nach dem oft erprobten Mittel der Angstabwehr verlangt, das da heißt: ein anderer möge mich beruhigen, durch sein Dasein, durch sein uneingeschränktes Für-mich-da-Sein meine Angst lindern. Zu der (generalisierten) Verlustangst kann eine zweite allgemeine Angst hinzutreten, die sich aus der Bilanz ergibt, dass das eigene Leben ruiniert sei, dabei kann ein Teilaspekt von Einsicht dämmern, dass man zu tragfähigen und dauerhaften Beziehungen nicht fähig sei. Diese bilanzierende Einschätzung des ruinieren Lebens aufgrund unglücklicher Beziehung kann, wenn man Karen Horney folgt, zu einer blinden Abwehr gegen alles, was auch im entferntesten nach "Abhängigkeit aussieht. Die Abwendung vom anderen, vom "Du u , der resignierte und gleichzeitig wütende Verzicht auf den Partner, oft heroisch und dogmatisch verbrämt als letztendliche existentielle Grundentscheidung, darf jedoch nicht über zwei weitere Merkmale des neurotischen Liebesbedürfnisses hinwegtäuschen: Die Zwanghaftigkeit und die Unersättlichkeit, die den Charakter der Gier annehmen können. Vergesellschaftet damit ist die Wahllosigkeit: die Person, die die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen verspricht, wird ersetzbar und U
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ausgetauscht, wenn eine andere Person zur Bedürfniserfüllung besser in der Lage scheint. Zu den faszinierendsten Ausführungen von Karen Homey zählt zweifellos der Exkurs über die Gier, speziell die Habgier. Karen Horney stellt die These auf, dass Habgier durch Angst bedingt wird, nicht genug zu bekommen oder bekommen zu haben - letztlich liebevolle Zuwendung. "Zum Beispiel kann das Gefühl, geliebt zu sein, ganz plötzlich die Intensität eines zwangsmäßigen Kaufdranges reduzieren" (Horney, 199~ S. 97). Besitz zu erwerben ist ein, wenn auch nur vorübergehend wirksames, Betäubungsmittel gegen das ungestillte Verlangen nach Zuwendung. Diese Gedanken sind sicherlich Allgemeingut. Interessant ist der Ansatz von Karen Horney, dass "habgierige Menschen ihrer Fähigkeit, selbstständig etwas produzieren zu können, mißtrauen und sich daher zur Erfüllung ihrer Bedürfnisse auf die Außenwelt verlassen müssen" (Horney, 1997, S. 98). Man könnte diesen Gedanken fortführen und einmünden lassen in eine Psychopathologie des Sammelns, z. B. von Kunstwerken oder Kunstereignissen: das tiefe Mißtrauen, etwas selbst gestalten zu können, was es wert ist, beachtet zu werden, führt zu einer impliziten Verneinung der dem Individuum selbst innewohnenden Fähigkeiten. Mit anderen Worten: jemand anderes kann oder könnte das besser als man selbst (ohne das man das ausprobiert hat), und deshalb wird auf das, was die anerkannten Experten sagen mehr Wert gelegt als auf die (der Perfektion ermangelnden) eigenen Produktionen). Die grundsätzliche Absage daran, die "eigene Melodie" zum Klingen zu bringen, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten das eigene Potential zu erkennen, wertzuschätzen und womöglich auch auszubauen, dieser Verzicht darauf ist ein Teil der unersättlichen Gier nach Dingen "von außen", Die Unersättlichkeit wird auch in der Liebe praktiziert, wobei der neurotische Mensch nach bedingungsloser Liebe strebt. Bedingungslose Liebe umfasst das Verlangen, geliebt zu werden, ohne dass man sich darum besonders zu bemühen habe ohne Gegenliebe investieren zu müssen ohne dass dem anderen daraus ein Vorteil entstünde unter Einschluß eines Opfers für den anderen. Wenn ich Karen Horney richtig verstehe, so kann ihrer Meinung nach der Neurotiker nicht abwarten. Entweder er verzichtet ganz und zieht sich schmollend zurück, oder er will alles sofort.
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Dabei ist er in seinem Vorgehen, an das für ihn lebenswichtige Gut der "Liebe so wie er sie versteht - zu gelangen, nicht zimperlich. Karen Horney beschreibt die drei häufigsten Wege, Liebe zu bekommen: N
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durch Bestechung: indem man dem, der Liebe geben soll, Wohltaten erweist, um ihn gewogen zu machen. Appellieren an Mitleid. Die Handlungsanweisung lautet hier: "Du sollst mich lieben, denn ich leide und bin hilflos." Gleichzeitig dient das Leiden als Begründung dafür, übermäßige Anforderungen zu stellen. Eine Variante ist die Technik, sich zur hilflosen Person zu machen, also Umstände herbeizuführen, die mit realer Not und Hilfsbedürftigkeit verbunden sind, so dass der andere zur Hilfeleistung genötigt wird. Berufung auf Gerechtigkeit: der Verweis auf das, was man für den anderen getan hat, so dass jetzt ein Anrecht auf entsprechende Gegenleistung besteht. Auch hier gibt es die Variante: "Du hast mich zum Leiden gebracht oder mir Schaden zu gefügt, deswegen bist Du verpflichtet, mir zu helfen und für mich zu sorgen (Horney, 1997, S.110).
Unersättlichkeit und Angst vor Zurücksetzung verhalten sich antipodisch zueinander, interagieren jedoch ebenfalls in Form eines Teufelskreises (circulus vitiosus). Angst führt zu übertriebenem Liebesbedürfnis mit dem Verlangen nach unbedingter Liebe ~ Gefühl der Zurücksetzung ~ intensive feindselige Reaktion auf die Zurücksetzung ~ Bedürfnis, die Feindseligkeit zu unterdrücken aus Furcht vor dem Liebesverlust ~ Spannung infolge einer unklaren allgemeinen Wut ~ verstärkte Angst ~ verstärktes Sicherheitsbedürfnis. .. (vgl. Horney, 1997, 5.106).
Wir kommen damit zu drei wichtigen Kennzeichen einer Neurose nach Horney: 1.
"Jede Schutzmaßnahme kann über ihre beruhigende Eigenschaft hinaus neue Angst erzeugen" (Horney, 199~ S.106) und zwar dadurch, dass hinter der Gewährung immer auch die Verweigerung als Möglichkeit steht - und die kann nicht ausgehalten werden.
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"Das Entstehen eines circulus vitiosus ist der Hauptgrund dafür, dass schwere Neurosen sich stets verschlimmern müssen, auch wenn die äußeren Bedingungen sich nicht ändern." Die Kontaktaufnahme mit der Umwelt vollzieht sich auf den Wegen, Ansprüche zu stellen und Anklagen zu erheben, teils ohne sich der (destruktiven) Natur dieser Interventionen im Klaren zu sein, jedoch immer mit dem Bewusstsein, recht zu haben.
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Kritische Würdigung
Karen Horney schreibt sehr eingängig, auch ohne Fachkenntnisse versteht der Leser ihre Botschaft. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Grenzlinie zwischen neurotischen Verhalten und nicht-neurotischen Verhalten nicht klar markiert wird - und sicherlich nicht klar markiert werden kann. Karen Horney geht über die Psychoanalyse von 5igmund Freud an vielen Stellen weit hinaus, indem sie die Verwicklung des Individuums in immer wiederkehrende Teufelskreise, aus denen es subjektiv (und wahrscheinlich auch objektiv) kein Entrinnen gibt, aufzeigt. Insofern ist dies eine Vorstufe zu systemischer Betrachtungsweise, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beispielsweise mit den Namen Paul Watzlawick und Helm Stierlin assoziiert werden. Eine der zentralen Annahmen Karen Horneys könnte so auf den Punkt gebracht werden: Der neurotische Mensch übt einen gewaltig großen Druck aus. Er ist nämlich der Meinung, dass es ohne Druck nicht geht, er habe sonst überhaupt keine Chance. Und das ist gerade das existentielle Dilemma, das sich aus dem "Zwang zum Unmöglichen" und der "Unerzwingbarkeit des Unmöglichen" konstituiert. Konkreter: der Neurotiker sieht sich gezwungen, Zuwendung, Liebe, Beachtung erzwingen zu wollen und wird, weil es so nicht geht, gleichzeitig konfrontiert mit der Unmöglichkeit, es auf diese Weise zu erreichen. Um der Unerträglichkeit dieses Dilemmas zu entgehen, schlägt er Wege ein, die sämtlich in die Destruktivität und Vereinsamung führen. Das wusste auch schon mancher Dichter. 50 heißt es in dem Gedicht von Laragon über die Unmöglichkeit einer (dauerhaften) glücklichen Liebe: Et quand il veut serrer son bonheur il le broie, zu Deutsch: wenn er sein Glück umklammern will, zerbröselt er es.
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Einen Ausweg aus diesem Dilemma sieht m. E. auch Karen Homey nicht, denn "in dem Neurotiker (sind) alle Konflikte in einem solchen Maß intensiviert, dass jede befriedigende Lösung unmöglich werden kann" (Horney, 1997, S. 216). Insoweit bleibt Karen Horney bei der diagnostischen Feststellung eines absolut desolaten Ist-Zustandes stehen, auf diesem Feld aber ist sie konkurrenzlos scharfsichtig und differenziert - auch unerbittlich. Die immer zu stellende Frage nach der Existenz eines Ausweges für den neurotischen Menschen bleibt weitgehend unbeantwortet bzw, unverbindlich unbeantwortet. An anderer Stelle verweist sie auf den Wert "emotionaler Unterstützung, Ermutigung, Interesse an seinem Glück" (Horney, 1974, S. 109 ff.). Ausgewählte Bibliographie Horne)" K. (1997).Die Psychologie der Frau. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Homey, K. (2000). Neurose und menschliches Wachstum. Das Ringen um Selbstverwirklichung. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag.
Literatur Horne)" K. (1973). Unsere inneren Konflikte. München: Kindler Verlag. Horne)" K. (1974). Selbstanalyse. München: Kindler Verlag. Horne)" K. (1997).Der neurotische Mensch unserer Zeit. Frankfurt a. M.: Fischer TaschenbuchVerlag. Olvedi, U. (1992).Frauen um Freud. Freiburg: Herder-Verlag. Paris, B. J. (1996). Karen Homey. Leben und Werk. Freiburg i. B.: Kore-Verlag. Rattner, J. (1990). Klassiker der Tiefenpsychologie. München: Psychologie Verlags Union. Rubins, [ack L. (1980). Karen Horney. Sanfte Rebellin der Psychoanalyse. München: Kindler Verlag.
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AnnaFreud: Gel(i)ebte Psychoanalyse
..Es scheint mir so ein schönes Ziel: das Kind angstlos zu machen und heimisdl. in allem" (Anna Freud an Lau AndreesSaIome am 1L 12 1927,Rothe &: Weber, 2001, S. 551).
Zur Biographie. Kindheit und Jugend in Wien Anna Freud. war die jüngste Tochter Sigmund und Martha Freud.s. Sie kam am j. Dezember 1895' in Wien zur Welt und wuchs mit ihren drei Brüdem
und zwei Schwestern im bürgerlich-jüdischen Milieu der Habsburgermonarchie auf. Ihr Leben ist auf enge Weise mit der Biographie ihres Vaters, dem Begründer der Psychoanalyse. verknüpft. 1895veröffentlichte Sigmund Freud mit seinem Kollegen Iosef Breuer die "Studien über Hysterie," im gleichen Jahr begann er die Theorie des Unbewussten und des Traumes, zu erforsehen. Biographische Details über seine Tochter erwähnte er in Briefen an seine Freunde und Arbeitskollegen sowie in der 1900 veröffentlichten "Traumdeutung". Anna Freud trat früh in die Fußstapfen ihres Vaters, und sie ergriff selbst den Beruf der PsycltuanaIytikerin. In Wien besuchte sie die Volksschule und das Cottage-Lyzeum und maturierte 1912. Anschließend absolvierte sie eine Lehrerinnenausbildung, und. von 1915' bis 1920 unterrichtete sie an der Volksschule des CottageLyzeum. Damals begann sie auch ihre psychoanalytische Ausbildung im selbstverwalteten Studium, theoretische Kenntnisse hatte sie sich bereits früh durch eigene Lektüre angeeignet Zusammen mit ihrem Vater besuchte sie 1918 den V. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Budapest, S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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und seit diesem Zeitpunkt wohnte sie regelmäßig den Sitzungen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung bei. Sie absolvierte, was damals nicht ungewöhnlich schien, ihre Analyse von 1918 bis 1921 bei Sigmund Freud, besuchte seine Vorlesungen an der Wiener Universität, daneben die Vorlesungen Paul Schilders an der Psychiatrischen Universitäts-Klinik, wo man ihr auch die Teilnahme an den Visiten gestattete. Im Mai 1922 hielt die Siebenundzwanzigjährige ihren ersten Vortrag in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zum Thema "Schlagephantasien und Tagträume", Der auf ihren eigenen Erfahrungen basierende Text, "eine kaum verhüllte Beziehungsphantasie, in der es um das Verhältnis zwischen Vater und Tochter geht" (Stephan, 1992, S. 294), war in intensiven Gesprächen mit ihrer wesentlich älteren Freundin und Vertrauten Lou Andreas-Salome entstanden und beinhaltete ebenso autobiographische Erfahrungen der Analytikerin in Göttingen. Beide Frauen wurden im Mai 1922 Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Ein Jahr zuvor hatte Sigmund Freud die berühmte Schriftstellerin nach Wien eingeladen. Anna Freud unterhielt, wie ihr Vater, einen jahrelangen Briefwechsel mit Lou Andreas-Salome (Rothe & Weber, 2001).
Pädagogik und Kinderpsychoanalyse Anna Freuds Interesse, die Psychoanalyse mit pädagogischen Fragestellungen und Anwendungen zu verbinden, kann ebenfalls auf die Empfehlung von Lou Andreas-Salome zurückgeführt werden. So nahm sie Kontakt zu August Aichhorn auf und begann sich für dessen Arbeit mit verwahrlosten Kindern und Jugendlichen zu interessieren. Zusammen mit diesem unkonventionellen Wiener Pädagogen sowie den bekannten Vertretern der Wiener Jugendbewegung, Siegfried Bernfeld und Wilhelm Hoffer, organisierte Anna Freud einen informellen Diskussionszirkel. Diese regelmäßig stattfindenden Gesprächsrunden mit angehenden Kinderpsychoanalytikern nannte sie später "Kinderseminar Anna Freud praktizierte ab 1923 an der gleichen Adresse wie ihr Vater, in der Berggasse 19. Zum etwa gleichen Zeitpunkt, nach der ersten Gaumenoperation Freuds und der Diagnose seiner Krebserkrankung, übernahm Anna Freud auch eine zentrale Rolle bei den Behandlungen und der Pflege ihres Vaters. ll •
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Außerdem übernahm sie mehr und mehr von seinen Verpflichtungen und Geschäften, sie baute ihre eigene Vortragstätigkeit aus, und reiste auch im Namen Sigmund Freuds und der Psychoanalyse. Einen weiteren Abschnitt ihrer eigenen Analyse setzte sie 1924/25 bei ihm fort. Als Ende 1924 das Lehrinstitut der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung eröffnet wurde und die psychoanalytische Ausbildung wie in Berlin, genau wie später auf internationaler Ebene strukturiert und vereinheitlicht wurde, arbeitete sie den Kurs über die Technik der Kinderanalyse aus. Aus dem Seminar ging ihre erste Buchveröffentlichung "Einführung in die Technik der Kinderanalyse" im Jahr 1927hervor. Sigmund Freud urteilte über seine Tochter in einem Brief an den Berliner Psychoanalytiker Max Eitingon: "Das erfreulichste Ereignis dieser Zeit ist Annas Kurs über Technik der Kinderanalyse. Ich vermute, daß sie Ihnen genug darüber mitteilt. Aber es ist wirklich das allgemeine Urteil, daß sie klar und geläufig unter voller Beherrschung des Gegenstandes vorträgt und daß sie das Auditorium zu fesseln versteht. Sie pflegt mir den Inhalt jeder Kursstunde am Abend vorher zu erzählen, und ich bin besonders zufrieden damit, daß sie nicht nach Schülerart anderswo Gelerntes zu applizieren sucht, sondern den Stoff unbefangen auffaßt, selbständig beurteilt und seine Eigenart zur Geltung bringt. Mit denen der Klein verglichen, sind ihre Anschauungen konservativ, ja reaktionär zu nennen, aber es steht zu vermuten, daß sie recht hat" (Schröter, 2004, S. 486 f.).
Freud deutete in seinem Brief den aufziehenden Konflikt mit der Kinderanalytikerin Melanie Klein in London an, und Anna Freud arbeitete in ihrem Lehrbuch für angehende Kinderanalytiker die Unterschiede heraus. Ihre Einführung galt als ein grundlegendes Beispiel für die Wiener Schule der Kinderpsychoanalyse, die mit dem Namen Anna Freud seither eng verbunden ist. Der Veröffentlichung folgte eine jahrelange Kontroverse um die Theorie und richtige Methode der Kinderpsychoanalyse. Nach dem Tod Hermine Hug-Hellmuths wurde Anna Freud die bedeutendste Kinderanalytikerin in Wien. Melanie Klein, die ihre psychoanalytische Ausbildung in Budapest und Berlin absolviert hatte, baute ab 1926 ihre Praxis in London auf. Kurz nach dem Erscheinen von Anna Freuds Buch diskutierten die Londoner Psychoanalytiker im "Symposion on Child-Analysis" die wesentlichen Differenzen.
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Anna Freuds Auseinandersetzung mit Melanie Klein beruhte auf einem Klein ~laubte im Gegensatz zu Freud, dass sich das Uber-Ich nicht als Folge des Odipuskomplexes, sondern mit ihm zusammen entwickelte und seinen innerpsychischen Ursprung in den kannibalistischen und sadistischen Impulsen des Kindes hatte. Anna Freud datierte die Entstehung des LTber-Ichs auf einen späteren Zeitpunkt in der Entwicklung des Kindes. Sie war der Ansicht, daß das Über-Ich des Kindes - im Gegensatz zum erwachsenen Über-Ich - wesentlich auch von den äußeren Einflüssen abhängig ist und betonte den Kontext der Familie sowie die pädagogischen Anteile, die ihrer Meinung nach eine Kinderanalyse begleiten sollten. ~.ntscheidendenPunkt.
"Anna Freud mochte zwar die Bedeutung der Mutter für die frühkindliche Entwicklung anerkannt haben, aber für sie war die Mutter ein reales Bezugsobjekt, nicht Phantasieobjekt. das Brust hieß. Und sie hielt das Kind nicht für ein traumatisiertes Bündel von angeborenen sadistischen Phantasmen, sondern für ein Wesen in Entwicklung, dessen Ich Nahrung brauchte, um Reife und Stärke zu erlangen" (Appignanesi & Forrester, 1994, S. 41 2 ) .
Melanie Klein wollte die Kinderanalyse nicht von der Erwachsenenanalyse unterscheiden. Sie analysierte - im Gegensatz zu Anna Freud - sehr kleine Kinder und entwickelte eine eigene Spielmethode. Im Spiel zeigten sich die kindlichen Konflikte und diese lieferten das Material für ihre Tiefendeutungen, die beim erwachsenen Patienten mittels freier Assoziation hervorgebracht würden. Für Anna Freud hingegen war die Sprachfähigkeit des Kindes eine der Grundvoraussetzungen für die Analysierbarkeit. Die Auseinandersetzung mit der Londoner Gruppe setzte Anna Freud auf mehreren internationalen psychoanalytischen Kongressen und in den einschlägigen Publikationen fort, und - obwohl Anna Freud auch Revisionen in ihrer Theorie vornahm und später ebenfalls kleinere Kinder analysierte - erreichte der Konflikt noch einmal einen Höhepunkt, als sie 1938 nach London emigrierte. In den von den Londoner Analytikern so genannten IIcontroversial discussions" von 1941 bis 1945 ging es dann sogar um noch grundlegendere Fragen als zuvor, nämlich um die richtige Psychoanalyse und wer von beiden Gruppen die "reine Lehre" Freuds vertrete (King & Steiner, 2000). Der Streit wurde mit einem Kompromiß gelöst, man einigte sich auf drei verschiedene psychoanalytische Ausbildungsgänge
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innerhalb der British Psycho-Analytical Society und konnte auf diese Weise den Zerfall der Gesellschaft verhindern. Ein Aspekt der jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Kontrahentinnen und deren Anhängern war auch, die Lehranalyse der Tochter durch den eigenen Vater in subtiler Weise gegen die Kompetenz von Anna Freud ins Feld zu führen, und mehrmals äußerte sich Sigmund Freud zu diesem, wie er meinte, unhaltbaren Vorwurf, indem er die Gegner seiner Tochter in die Schranken wies und an deren eigene oft noch unzureichende Ausbildung vor der Etablierung der Lehrinstitute erinnerte. Anna Freuds Kinderpsychoanalyse war, wie bereits deutlich geworden ist, von Anfang an von der Pädagogik und ihren eigenen Erfahrungen als Lehrerin geprägt. 1930 veröffentlichte sie ein weiteres Buch, die "Einführung in die Psychoanalyse für Pädagogen", Mit ihrer Spezialisierung, dem Unterricht und ihren Publikationen begann sie vor allem Nichtmediziner an das Lehrinstitut der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zu ziehen. Die Kinderanalyse erhielt zunehmend eine eigene Struktur als Studiengang und Profession. Unter anderem war die Amerikanerin Dorothy Burlingham auf die Behandlungsmethode für ihren ältesten Sohn aufmerksam geworden und zog mit ihren Kindern nach Wien. Anna Freuds Vorlesungen trugen zur Verbreitung einer psychoanalytischen Betrachtungsweise der kindlichen Entwicklung auch im Wiener Schulwesen und Stadtschulrat der sozialistischen Stadtregierung bei. Im "Roten Wien" der zwanziger Jahre wurden verschiedene fortschrittliche Erziehungsprojekte gefördert. 1928 war Anna Freud Mitbegründerin der "Burlingham-Rosenfeld Schule" in Wien-Hietzing. An der Schule unterrichteten unter anderen die späteren Psychoanalytiker Erik Erikson und Peter Blos, und mehrere Schüler kamen zu Anna Freud in die Analyse. Ein weiteres pädagogisches Projekt, das unter Anna Freuds Einfluß stand, war die von ihr und den beiden Amerikanerinnen Dorothy Burlingham (1891-1979) und Edith [ackson im Februar 1937 eröffnete Kindertageskrippe, die "Jackson Nursery" in Wien. Es handelte sich dabei um eine Einrichtung zur systematischen Beobachtung von Kleinkindern, die als Waisen oder Kinder minder bemittelter Familien zur Pflege und Fürsorge aufgenommen worden waren. Mit Dorothy Burlingham verband Anna Freud eine lebenslange Freundschaft und wissenschaftliche Zusammenarbeit. Burlingham bezog eine Wohnung in der Berggasse, später wohnten die beiden Frauen an der gleichen Adresse in London. 1932 erfüllten sie sich den Traum eines eigenen Landsitzes und kauften ein Bauernhaus in der Nähe Wiens.
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Zu Anna Freuds Lehr- und Publikationstätigkeit kamen zusätzlich immer mehr Repräsentations- und Verwaltungsaufgaben in der organisierten psychoanalytischen Bewegung. Ende 1924 wurde sie als Nachfolgerin Otto Ranks (1884-1939) in das sogenannte "Geheime Komitee", das inoffizielle Führungsgremium der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, aufgenommen. 1925 erfolgte ihre Wahl in den Unterrichtsausschuss der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Außerdem übernahm sie Aufgaben im Internationalen Psychoanalytischen Verlag und übersetzte Fachliteratur aus dem Englischen. Ab 1927 fungierte sie als Sekretärin der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. 1933 wurde Anna Freud Vize-Präsidentin der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, und 1935, als Helene Deutsch nach Boston emigrierte, folgte sie dieser in der Funktion der Leiterin des Wiener psychoanalytischen Lehrinstituts. 1936 erschien eines ihrer Hauptwerke, "Das Ich und die Abwehrmechanismen", auf das später noch genauer einzugehen ist.
Emigration und Kriegsjahre Nach dem Einmarsch Hitlers im März 1938 schlossen sämtliche psychoanalytische Einrichtungen in Wien: Lehrinstitut, Verlag und Bibliothek in der Berggasse 7, die Jackson-Nursery am Wiener Rudolfsplatz sowie die von den Psychoanalytikern geleiteten Erziehungsberatungsstellen. Nahezu alle Wiener Analytiker verließen Österreich, und mit Hilfe internationaler Unterstützung konnte die Familie Freud nach London emigrieren. Nach einem Verhör bei der Gestapo und der Begleichung der "Reichsfluchtsteuer" konnte Anna Freud ihren Vater ins Exil begleiten. Sigmund Freud starb im September 1939, kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Und nun, nach seinem Tod, war es vor allem Anna Freud, die das Erbe des Begründers der Psychoanalyse verwaltete und in einer äußerst schwierigen Lage, vor dem Zerfall und der Zerstörung schützte (vgL Penichel tqqß). Sie wurde zum Mitglied der British Psycho-Analytical Society gewählt und arbeitete als Lehr- und Kontrollanalytikerin in London. Während des Krieges setzte sie gemeinsam mit ihrer Freundin Dorothy Burlingham die Arbeit mit Kindern fort. Ende 1940 gründeten die beiden das Kriegskinderheim "Hampstead War Nurseries", ein Projekt des amerikanischen Foster Parents' Plan, das sie bis Kriegsende leiteten. Zwei Bücher gingen aus dieser Arbeit mit traumatisierten Heimkindern hervor. Es handelte sich
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dabei um die Kinder ausgebombter Familien, die in den War Nurseries betreut wurden, und dabei beobachteten Anna Freud und ihre Mitarbeiter die psychischen Auswirkungen und Re-Traumatisierungen während der Bombardements.
Londoner Jahre Aus dem Kriegskinderheim entstand 1947 der sogenannte Hampstead Child Therapy Course, ein Ausbildungslehrgang für Kinderpsychoanalytiker. 1952 konnte Anna Freud dazu eine eigene Klinik eröffnen. In dieser Forschungseinrichtung entwickelten die Mitarbeiter unter anderem das sogenannte lIHampstead Diagnostic Profileu als Hilfsmittel zur Beurteilung der mannigfaltigen Aspekte der kindlichen Entwicklung. Für Anna Freud war stets die empirische Beobachtung die Grundlage ihrer theoretischen Schlussfolgerungen und Abhandlungen. Zum Beispiel wertete sie in ihrem berühmt gewordenen Konzept der I1Entwicklungslinienu umfangreiches Datenmaterial aus und stellte fest, dass der Zustand des Kindes einem ständigen Wandel unterliegt. Das Kind kann - im Gegensatz zum Erwachsenen - nicht auf Grund seiner Symptomatologie beurteilt werden, seine Entwicklung folgt nicht linear in Phasen. Die Entwicklung zur Reife ist vielmehr "eine Reihe von Schritten auf einer Anzahl von Entwicklungsliniert", Die psychische Entwicklung erfolgt von Abhängigkeit zu emotionaler Selbständigkeit. Anna Freud leitete den Hampstead Child Therapy Course & Clinic dreißig Jahre lang bis zu ihrem Tod im Jahre 1982. Heute heißt die Einrichtung in London Anna Freud Center. Mit zahlreichen Auszeichnungen und Ehrendoktoraten (unter anderem von den amerikanischen Universitäten Harvard und Yale) wurden Anna Freuds Leistungen gewürdigt. Sie erhielt 1950, anlässlich ihrer ersten Amerikareise, das Ehrendoktorat der Clark-University in Worcester, Massachusetts, eben jener Hochschule, an der ihr Vater 1909 die ersten Vorlesungen über Psychoanalyse auf amerikanischen Boden gehalten hatte. 1971 kam sie anlässlich des Internationalen Psychoanalytischen Kongresses zum ersten Mal nach ihrer Vertreibung in ihre Heimatstadt Wien zurück. Bei dieser Gelegenheit eröffnete sie in der Berggasse 19 das Freud Museum. Ein Ehrendoktorat der medizinischen Fakultät der Wiener Universität folgte ein Jahr später, und 1975 erhielt sie das Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich.
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Anna Freuds Nachlass, wie der ihres Vaters, wird heute in der Library of Congress in Washington aufbewahrt. "Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1982archivierte sie jedes Stück Papier, das sie in 20 Maresfield Gardens erreichte, und bewahrte von jedem mit der Maschine geschriebenen Brief, der das Haus verließ, einen Durchschlag auf. Ihr Ablagesystem war alphabetisch nach den Namen ihrer BriefpartnerInnen geordnet. Am Ende jedes Jahres wurden sämtliche Papiere des betreffenden Jahres am linken Rand mit zwei Löchern versehen und mit Spagat zu fünfzehn Zentimeter dicken, buchähnlichen Paketen verschnürt. Jedes der Pakete wurde dann mit dem jeweiligen Jahr und A-E., F-H.,I-L.,M-R oder S-Z bezeichnet. Das System war immer dasselbe: Es gab genau fünf Pakete für jedes Jahr.... Obwohl die maschingeschriebenen Nachkriegsbriefe nicht persönlich sind, zeigen sie natürlich in ihren Einzelheiten und insgesamt Anna Freud als eine Frau von außergewöhnlicher Energie, Ordnungsliebe, Produktivität, Klarheit des Verstandes und Altruismus. Allerdings ist auch ihr Wunsch., alles unter ihrer Kontrolle zu haben, permanent spürbar, wenngleich er niemals tyrannisch ist: Sie war eine aufgeklärte Herrseherin. die die Wünsche ihrer UntertanInnen förderte und von ihnen erwartete, daß sie sich zwar nicht ihr persönlich, aber der Psychoanalyse gegenüber loyal verhielten - wie sie sie verstand und verkörperte" (Young-Bruehl, 1995., S. 20 ff.).
Auch die Londoner Adresse Maresfield Gardens Nr. 20, wo Anna Freud bis zu ihrem Tod am 9. Oktober 1982wohnte und wirkte, beherbergt heute ein Freud Museum. Seit 2002 wird Anna Freud mit einer eigenen blauen Plakette neben der von Sigmund Freud gewürdigt. Das Ich und die Abwehrmechanismen 1936erschien im Internationalen Psychoanalytischen Verlag das heute als Hauptwerk Anna Freuds bezeichnete Buch DasIch und dieAbwehrmechanismen. Sie widmete es Sigmund Freud zum 80. Geburtstag. "Das Objekt der analytischen Therapie waren von Anfang an das Ich und seine Störungen, die Erforschung des Es und seiner Arbeitsweise war immer nur Mittel zum Zweck", schreibt Anna Freud in ihrem ersten Kapitel. Freuds Jenseits des Lustprinzips (1920g) und Massenpsychologie und Ich-Analyse
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(1921C) stellten die Grundlage für eine verstärkte Beschäftigung mit dem Ich, die zuvor als unanalytisch galt, dar. Anna Freud bereicherte das Verständnis der Arbeitsweise des psychischen Apparates wie er von Freud in seiner zweiten Strukturtheorie (Es- Ich - Über-Ich) dargelegt wurde. Dabei beschrieb sie keine möglichst umfassende und ausführliche Darstellung aller Abwehrmechanismen, sondern in konkreten Beispielen die Vielfalt, Komplexität und Ausbreitung des Begriffs der Abwehr. "Anna Freuds Buch Das Ich und die Abwehrmechanismen ist sorgfältig in vier Teile gegliedert, die aus insgesamt zwölf Kapiteln bestehen, aber es hat in Wirklichkeit drei Hauptthemen, die seinen drei Hauptzwecken dienen. Anna Freud wollte erstens einen Überblick über die technischen und theoretischen Entwicklungen geben, die die AnalytikerInnen gelehrt hatten, dem Es, dem Ich und dem Über-Ich die gleiche klinische Aufmerksamkeit zu widmen - und insbesondere Freuds ursprüngliches Verfahren der "Es-Analyse" mit der "Ich-Analyse" in Einklang zu bringen. Zweitens wollte sie einen Überblick über alle Abwehrmechanismen, die ihr Vater und seine KollegInnen identifiziert und beschrieben hatten, geben. Sie tat das nicht, indem sie diese in ihrer chronologischen Reihenfolge oder der Entwicklungsfolge ihres Auftauchens anführte, sondern indem sie den drei Quellen der Angst zuordnete, die ihr Vater in Hemmung, Symptom und Angst umrissen hatte - der objektiven Angst, der instinktiven Angst und der Angst des Über-Ichs" (Young-Bruehl, 1995, S. 305).
Anna Freud hatte sich seit ihrer ersten Arbeit von 1922 IISchlagephantasien und Tagträume" für die Behandlung von Abwehrproblemen interessiert. 1936faßte sie ihre bis dahin gesammelten Erfahrungen mit Kindern vor und nach der Latenzphase zusammen. Damit lieferte sie auch den theoretischen Hintergrund für die Kritik an Melanie Klein. "Der Weg zum Es über die Abwehr ist somit Anna Freuds Alternative zu Melanie Kleins direktem Eindringen in das Es durch die Symboldeutung. Im Hinblick auf die Kinderanalyse spielt der Begriff von der Affektabwehr bei Anna Freud eine wesentliche Rolle. Hierunter versteht sie, daß nicht nur die Triebansprüche durch das Ich zurückgewiesen werden, sondern auch die diese Triebe begleitenden Affekte wie Liebe, Sehnsucht, Eifersucht, Haß, Zorn oder Wut. Wo immer solche Affektumwandlungen sichtbar werden, muß man diesen Vorgang
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Elke Mühlleitner einer Ich-Tätigkeit zuschreiben. Die Analyse dieser Affektumwandlungen ist nun geeignet, beim Kind auf die Seite der Ich Analyse zu treten und als Abwehranalyse ein ausgewogenes Bild von der Persönlichkeit des Kindes zu erlangen. Durch diesen Vorgang gelingt es ihr, die gerade durch die Einseitigkeit der Kleinsehen Symboldeutung entstehende Gefahr zu umgehen, daß man in der Kinderanalyse reiche Auskünfte über das Es erhält, während man arm an Kenntnissen über das kindliche Ich bleibe' (Besser, 1977, S. 161).
Das Ich und die Abwehrmechanismen ist auch ein Buch über die bis dahin in der psychoanalytischen Literatur wenig beachtete Pubertät, die Anna Freud in zahlreichen späteren Studien noch beschäftigte. Das vierte Kapitel widmete sie der Pubertät und anhand dieses Lebensabschnittes beschrieb sie die Abwehr aus Angst vor der Triebstärke. ,IIn der Pubertät sind es u. a. besonders zwei Einstellungen des Ichs dem Triebleben gegenüber, die in ihrer Steigerung für den Beobachter neue Lebendigkeit bekommen und den Zugang zum Verständnis einiger typischer Eigenheiten der Pubertät verschaffen: nämlich die Askese des Jugendlichen und seiner Intellektualität" (19841 S. 119).
Eine der Schlüsselhypothesen sah Anna Freud in der Reihenfolge, in der das kleine Kind verschiedene Abwehrmechanismen entwickelte; aus genau dieser Reihenfolge kann ersehen werden, in der welcher das Kind in der Pubertät und Adoleszenz die frühen Widerstände wiederholt. Anna Freud entwickelte Freuds Struktur- und Angsttheorie weiter. Zur Orientierung der Abwehrvorgänge hat sie eine Einteilung nach Angst und Gefahr vorgenommen. Im Falle des oben zitierten Beispiels der Askese und Intellektualisierung in der Pubertät schreibt sie: "Die Gefahr, die dem ich droht, ist die der Überschwemmung durch den Trieb; die Angst, von der es beherrscht wird, ist Angst vor der Triebquantität" (1984, S. 129). Anna Freud filterte in ihrem Buch zehn einzelne Abwehrmechanismen, die zum Teil in der psychoanalytischen Literatur beschrieben worden waren, heraus und ordnete sie bestimmten Angstsituationen zu: Verdrängung, Reaktionsbildung, Projektion, Introjektion, Regression, Sublimierung, Isolierung, Ungeschehenmachen, Verkehrung ins Gegenteil, und Wendung gegen das Selbst. In ihrer Schlussbemerkung resümierte sie folgendermaßen:
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"Die Verdrängung leistet für die Beseitigung der Triebabkömmlinge dasselbe wie die Leugnung für die Beseitigung der Außenweltreize. Die Reaktionsbildung dient der Sicherung gegen Rückkehr des Verdrängten von innen her, die Phantasie vom Gegenteil der Sicherung der Leugnung gegen Erschütterung durch die Außenwelt. Die Hemmung der Triebregung gegenüber entspricht der Ich-Einschränkung zum Zwecke der Vermeidung äußerer Unlust. Die Intellektualisierung der Triebvorgänge als Gefahrverhütung nach innen ist dasselbe wie die immer vorhandene Wachsamkeit des Ichs für die Gefahren der Außenwelt. Alle jene Abwehrvorgänge. die wie die Verkehrung ins Gegenteil oder die Wendung gegen die eigene Person in Veränderung der Triebvorgänge selbst bestehen, entsprechen nach außen hin den hier nicht mehr einbezogenen Versuchen des Ichs, die Verhältnisse der Außenwelt durch aktiven Eingriff zu verändern" (S. 137).
Bewertung der Arbeit Eine der ersten, die Anna Freuds Werke las, war stets Lou Andreas-Salome, ihre langjährige Vertraute und Briefpartnerin, die Sigmund Freuds Werk im neuen Buch fortgesetzt und erweitert sah: ,.,... was er als Schöpfer vollbracht, so verwertet und in solche vollkommene Interpretation gehoben zu sehen. Und zwar als Dein Eigenes auf Deinem eigensten Gebiet durch die durchgehende Anwendung auf Kinderanalyse. von der her ja nur wenig von ihm an Erfahrung gezogen worden war" (Rothe & Weber., 2001., S. 667).
Der etwas jüngere Kollege Otto Fenichel, der eine ausführliche Besprechung für die Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse verfasste, hob die empirische Grundlage und klare Logik des Buches respektvoll hervor, formulierte aber auch seine Kritik: ,.,Sein Grundsatz, daß die Devise ,Je tiefer das behandelte Material, desto besser die Psychoanalyse' falsch sei, und erst die Psychoanalyse der sogenannten oberflächlichen Schichten, nämlich die Abwehrmechanismen, die wirklichen psychischen Verschiedenheiten der Menschen uns erklären wird, stimmt vollkommen mit der von uns seit Jahren vertretenen Anschauung überein. - Widerspruch wird der Begriff der
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Elke Mühlleitner ,primären Triebfeindlichkeit des Ichs' bzw. der ,Angst vor der Triebquantität' erfordern. Er könnte im Sinne der Engländer so ausgelegt werden, daß das die Quantität der Triebe fürchtende Ich seine Verdrängungen auch ohne Einfluß der Außenwelt vornehmen würde; tatsächlich zieht Anna Freud für die Pubertät ähnliche Konsequenzen" (Fenichel, 1998, S. 395).
und wenig später schrieb er an seine Kollegen: "Nach übereinstimmenden Berichten steht bei sämtlichen Sitzungen, Kursen und Seminarien die Debatte über das Anna Freudsche Buch absolut im Vordergrunde, etwa so, wie seinerzeit Neuerscheinungen Freuds die ganze Vereinigung beeinflußten. Leider wird dabei nicht nur die Bedeutung der Abwehrforschung für die Technik, sondern auch die Lehre von der ,genuinen Angst des Ichs vor der Triebquantität' allgemein übernommen. Hitschmann hat den Ablauf der Zeiten einmal durch folgenden elegischen Ausspruch charakterisiert: ,Früher hat auf diesem Stuhl Freud gesessen und uns von der Mächtigkeit der Triebe erzählt. Jetzt sitzt hier Anna Freud und erzählt uns von der Mächtigkeit der Triebabwehr'" (ebd.., S. 492).
Das Ich und die Abwehrmechanismen gehärt heute gleichwohl zu den Klassikern der Freudschen Psychoanalyse und wird zu Recht als ein Standardwerk der psychoanalytischen Ausbildung gelesen, dessen Klarheit und didaktische Leistung von allen Seiten gewürdigt wurden. Es entstand in einem Kontext, der für die Geschichte der psychoanalytischen Theorie und Praxis von großer Bedeutung ist, nämlich in der Zeit, als sich die so genannte Es-Analyse zur Widerstands- und Charakteranalyse und schließlich zur Ich-Analyse entwickelte. Anna Freud legte das Hauptgewicht auf Freuds Strukturtheorie, sie wird heute zusammen mit Heinz Hartmann, Ernst Kris und Rudolf Löwenstein zu den Vorläufern der psychoanalytischen Ichpsychologie gezählt. Als das Buch herauskam, galt die Ich-Analyse noch als revolutionär, später wurde sie - vor allem in der amerikanischen Psychoanalyse - zum mainstream und heute ist sie Vorwürfen und zunehmender Ablehnung ausgesetzt, da die Trieb- und Libidotheorie Freuds vor allem in der amerikanischen IchPsychologie mehr und mehr der Erforschung von kognitiven Aspekten und Anpassungsmechanismen gewichen war.
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Anna Freuds gesamtes Werk ist eng mit ihrer Biographie verknüpft, ihr Beitrag zur Psychoanalyse und zur Entwicklungspsychologie ist heute unbestritten. Dennoch war sie zahlreichen Vorwürfen und der Kritik ausgesetzt. Zur oben schon erwähnten Kritik von Seiten der englischen Schule der Psychoanalyse kam vor allem später die Lacan'sche Kritik an der IchPsychologie. Außerdem wurde Anna Freud oftmals von feministischer Seite angegriffen: Ihre Arbeit sei zu sehr die klare "Übersetzung der väterlichen Theorie und "Botschaft des Vaters; viel zu wenig ginge sie auf die präödipale Phase des Kindes und die Rolle der Mutter ein; Weiblichkeit sei kein Thema bei ihr. "Das Begehren tritt immer stärker zurück, und die moralischen Instanzen werden immer mächtiger. Die viel gerühmte Klarheit der Sprache geht einher mit einem Verlust gelebter Sinnlichkeit (Stephan, 1992, S. 297). Doch Anna Freud, so ihre Biographin Young-Bruehl, dachte weder reduktionistisch noch monokausal, sie bevorzugte auch keine spezielle Entwicklungslinie oder Lebensabschnitt und könne schon deshalb der aufgeklärten und selbstbewußten Frau etwas bieten. Anna Freud war die Idealtochter in einem intellektuellen Familienbetrieb. In ihrer Kindheit galt sie als die phantastische Träumerin, später wurde sie zur loyalen Schülerin, Mitarbeiterin und opferbereiten Beschützerin des Vaters, der ihr sein Vermächtnis, die Psychoanalyse, vererbte. ll
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Marie Langer: Psychoanalyse und Revolution
"Wenn man in eine Linksparlci eintritt,. in eine, welche die utopie sucht,. tut man es aus dem. Bedürfnis heraus, draußen. in der AuBenwell das Unrecht abzuschaffen. .Aber dieses Unrecht verbindet sidt unbewusst mit demjenigen, das man selbst in der AuSenwelt und in der Phantasi.ewelt sidl. und anderen angetan ha~ (Langer, 1984,. S. 70).
Die Rebellin Sich mit dem Leben der Psychoanalytikerin Marie Langer zu beschäftigen, bedeutet in intensiver und. vielfältiger Weise internationale politische, kulturelle und intellektuelle Welten des 20. Jahrhunderts mit ihren Katastrophen und. Hoffnungen wieder aufleben zu lassen. Wenn es auch nicht ungewöhnlich ist, dass viele bedeutende Analytikerinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Folge des allgemein herrschenden Antisemitismus und der nationalsozialistischen Verfolgung gezwungen waren, aus Deutschland, ÖSterreich und Ungarn zu emigrieren - ich nenne hier nur wenige der Bekanntesten: Ann.a Freud, Melanie Klein, Edith Iacobson, Margaret Mahler, Karen Homey - so repräsentiert Marie Langer in der direkten Verbindung von politisch revolutionärem Engagement und. Psychoanalyse eine auch unter Psychoanalytikern eher seltene Arbeits- und Lebenshaltung. Marie Langer wurde 1910als die vier Jahre jüngere von zwei Töchtern eines Ehepaares des assimilierten wohlhabenden jüdischen Bürgertums in Wien geboren. In ihrem autobiographischen Buch "Von Wien bis Managua" spricht sie davon, dass ihre Mutter - die aus einer atheistischen Familie stammte - darunter gelitten habe, Jüdin zu sein und aus diesem Grund ihrer Tochter den .,katholisdtslen aller Mädchennamen" (Langer, ''186, S.33) S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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mitgab. Ihre eigene Auseinandersetzung mit Religiosität schildert Marie Langer folgendermaßen: "Mit 17 Jahren hatte ich eine religiöse Krise. Zuerst wollte ich "in Opposition zu meinen Eltern" mich ernsthaft zur jüdischen Religion bekennen" um dann - einen langen und leidvollen Karfreitag lang katholisch zu werden. Danach wurde ich endgültig Atheistin und später dann Kommunistin" (Langer, 1986, S. 35).
Religiosität wurde offensichtlich von ihr mit Einengung und Unterwerfung gleichgesetzt, sie wünschte sich eine eigene, von der Familie abgegrenzte Identität, wollte einer von ihr gewählten Gruppe angehören, aber all dies nicht um den Preis, Individualität und Spontaneität aufzugeben. Diese Haltung, entwickelt unter den Bedingungen eines aufgeschlossenen Bürgertums im sozialdemokratischen Wien, gehört zu dem in der Adoleszenz sich herausbildenden Kern einer Identität und wird ihr später in ihrer institutionellen Tätigkeit im Rahmen der Psychoanalytischen Vereinigung den Weg zu unorthodoxem Verhalten weisen. Mutter und Schwester gegenüber empfand Marie Langer eher durchgängig zwiespältige Gefühle, für deren gemeinsame Vorliebe für Kleidung und Mode hatte sie nur Desinteresse und beschloss, ein Leben als "Dame" abzulehnen. ,,,In gewisser Weise wurde mein Leben durch eine negative Identifikation mit meiner Schwester und Mutter geprüft: Ich kann nicht Auto fahren, weil sie es konnten. (Meine Mutter fuhr Auto zu einer Zeit" als dies ein totales Wagnis für Frauen bedeutete). Gucki tanzte hervorragend" ich ganz schlecht ... Ich glaubte" den Preis dafür zahlen zu müssen" ein anderes Leben führen zu wollen; so verzichtete ich auf ihr Terrain: Auf das ,Weibliche'. Allerdings habe ich in der Schule einmal auf die Frage nach meinem späteren Studium geantwortet: ,Medizin - falls ich vorher nicht heirate.' Die Lehrerin hat mich voller Verachtung angeschaut ..." (Langer" 1986, S. 57).
Marie Langer erkämpfte sich mit 12 Jahren den Besuch eines Gymnasiums mit dem ausgesprochenen Wunsch, späteren Zugang zur Universität zu erhalten. 1922 trat sie in die renommierte lISchwarzwaldschule" ein, deren Gründerin, Eugenie Schwarzwald, von reformpädagogischen Konzepten für die Mädchenbildung überzeugt war und an deren Schule ein sozial-
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demokratisches und feministisches Klima herrschte. Bereitwillig griff die Jugendliche die dort herrschende Freimütigkeit auf, mit der über Sexualität als etwas Natürlichem gesprochen wurde: Mit 15 Jahren verliebte sie sich zum ersten Mal ernsthaft und beschloss, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Diese Erfahrung stellt sie in einen Kontext aus Trotz und Eigensinn gegenüber der im Elternhaus herrschenden Doppelmoral - die Eltern predigten die Jungfräulichkeit vor der Ehe, hatten aber beide Liebschaften - und einer unerschöpflichen Wissbegier, die Geheimnisse der Erwachsenenwelt zu erforschen. Mit 17 Jahren fand sie sich alleine in Wien wieder, als die Eltern aufgrund beginnender wirtschaftlicher Schwierigkeiten sich um die Textilfabrik in Zwickau (Sudetendeutschland) kümmern mussten. Mit überraschender Freimütigkeit schildert sie ihren für die damalige Zeit offenen Umgang mit Sexualität und den Zwiespalt, in den sie das Drängen auf Heirat von seiten ihrer Mutter brachte. Sie löste diesen Konflikt, indem sie sechs Monate vor dem Abitur heiratete, und auf Anraten ihrer Klassenlehrerin als Ehefrau das Abitur ablegte, was damals so ungewöhnlich war, dass es den Zeitungen einige Artikel wert war. Marie Langer studierte Medizin in Wien in einer zunehmenden Atmosphäre von Antisemitismus und Faschismus. Nach dreijähriger Ehe ließ sie sich in Freundschaft scheiden, ging für ein Semester zum Studium nach Kiel, hörte und sah dort auf einer Wahlkampagne 1932 Hitler reden. "Da habe ich alles gesehen, was kommt" (Assal, 2.2.1986, Radio Interview).
1933 tritt Marie Langer in die KPÖ ein, weil sie die Revolution versprach, die totale Umwälzung. In der Partei fand sie eine neue Familie und ihr Leben erhielt einen neuen Sinn jenseits des Persönlichen und Individuellen. Unter ihrem Decknamen Mimi Manovill war sie mit organisatorischen Tätigkeiten und Kurierdiensten beauftragt. In ihrer Wohnung fand der letzte Kongress der österreichischen KP vor dem Krieg statt. Marie Langer war immer der Ansicht, dass die Partei ihr das Leben gerettet hatte, denn nur dort herrschte die klare Meinung, dass der Faschismus unausweichlich in den Krieg führen würde. Sechs Wochen nach ihrem Eintritt wurde die Partei verboten und alle Aktivitäten fanden unter strengen Sicherheitsrnaßnahmen und begleitet mit der Angst vor Entdeckung statt. Antisemitische Einstellungspolitik erschwerte die Aufnahme einer klinischen Tätigkeit im Krankenhaus nach dem Studium und so begann Marie Langer in der Frauenabteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik zu arbeiten. Der
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Wunsch nach Klärung eigener Konflikte und einem besseren Verständnis ihrer psychotischen Patientinnen führte zur Aufnahme einer Analyse. Auf Vorschlag ihres Analytikers - Dr. Richard Sterba - wurde sie nach einem Jahr als Lehranalyse fortgesetzt, Marie Langer las den ganzen Freud - wie sie später stolz betont -, besuchte Seminare am Institut der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und begann mit Patientenbehandlungen unter Supervision von Jeanne Lampl de Groot. "Mit der Analyse und der Partei gleichzeitig zu leben, war nicht immer einfach" (Langer, 1986., S. 88).
Mit diesen schlichten Worten schildert sie eine Zeit höchster Anspannung: Gefährliche illegale politische Tätigkeit, Geheimhalten ihrer analytischen Ausbildung bei den Genossen, da die Partei kein Verständnis für die bürgerliche Psychoanalyse aufbrachte, Verhaftung nach der Versammlung einer pazifistischen Ärztegruppe und im Anschluss daran die Drohung mit Ausschluss aus der Wiener Vereinigung, die nur Dank der Hilfe ihres Analytikers abgewandt werden konnte. Während der zwei Tage im Gefängnis lernte sie den ebenfalls politisch im Untergrund tätigen linkssozialistischen, acht Jahre älteren Chirurgen Max Langer kennen, der sie bat, mit nach Spanien zu gehen, als er den Auftrag von der englischen Labour-Party erhielt, im Bürgerkrieg medizinische Einheiten mit Instrumenten auszurüsten. Im September 1936 brach Marie Langer mit ihrem späteren Ehemann Max nach Spanien auf, wo beide in der Sanitätsgruppe der 15. Internationalen Brigade bis Januar 1938 als Ärzte Verwundeten halfen und medizinische Hilfe organisierten. Die Allgegenwärtigkeit des Faschismus in Europa und der Anschluss Österreichs bewogen sie 1938 nach Südamerika zu emigrieren. Sie lebten drei Jahre in Uruguay, wo Marie Langer ihren ersten Sohn Tomas zur Welt brachte. Als 1941 Max Langer die Leitung einer Textilfabrik in Buenos Aires angeboten bekam, ging die Familie nach Argentinien.
Die Psychoanalytikerin In Uruguay hatte Marie Langer keine Möglichkeit, in ihrem Beruf zu arbeiten, ihr medizinischer Abschluss wurde nicht anerkannt und eine psychoanalytische Gemeinschaft bestand nicht. Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Buenos Aires setzte sie sich mit Angel Garma in Verbindung, der in Berlin 1931 seine psychoanalytische Ausbildung abgeschlossen hatte, Mitglied der
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Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft war, seit 1938in Argentinien lebte und eine psychoanalytische Gruppe gegründet hatte. Seit Beginn der 30-er Jahre hatte sich in intellektuellen und wissenschaftlichen Kreisen in Argentinien ein ständiges wachsendes Interesse an der Psychoanalyse entwickelt und Marie Langer wurde freundlich aufgenommen. Im Dezember 1942gehörte sie mit Angel Garrna, Celes Ernesto Carcamo, Ferrari Hardoy, Enrique Pichon Riviere und Arnaldo Rascovsky zu den Gründungsmitgliedern der Asociaci6n Psicoanalitica Argentina (APA), deren erster Präsident Garma wurde. Auf Anregung Garmas studierte Marie Langer die Schriften Melanie Kleins, deren aus der Tradition Freuds heraus ganz eigenständig weiterentwickelten Konzepte zur frühkindlichen Entwicklung für ihr analytisches Denken bestimmend wurden. Buenos Aires wurde zum Zentrum der Psychoanalyse in Lateinamerika: Ärzte aus Mexiko, Uruguay, Brasilien kamen, um sich zu Analytikern ausbilden zu lassen und gemeinsam mit ihren Kollegen widmete sich Marie Langer in den darauf folgenden 20 Jahren einer regen Lehr- und Ausbildungstätigkeit. Nachdem sie 1959 endlich ihr medizinisches Examen anerkannt bekam und es ihr offiziell erlaubt war, als Ärztin zu arbeiten, wurde sie mit 49 Jahren erstmalig zur Präsidentin der APA gewählt. 1956 fand der erste lateinamerikanische Kongress für Psychoanalyse statt, in Uruguay bildete sich eine Psychoanalytische Vereinigung, die "Zeitschrift für Psychoanalyse" erschien, es kam zur Gründung einer lateinamerikanischen Organisation mit Kongressen im zweijährigen Rhythmus. In den Jahren 1960bis 1974 fand in Lateinamerika, ausgehend von Argentinien, eine psychoanalytische IIExplosionlistatt. Die Psychoanalyse fand Eingang in die Medizinischen Fakultäten, Psychoanalytiker hielten Vorträge über Psychosomatik, entwickelten Behandlungskonzepte für Gruppen und die psychoanalytische Ausbildung fand große Verbreitung an den Universitäten und Krankenhäusern. Marie Langers ältester Sohn Tomas schildert das intensive Engagement seiner Mutter für die psychoanalytische Sache: Arbeitstage mit zehn Stunden täglicher Praxis, abends Seminare und Sitzungen in der Vereinigung, Reisen zu Kongressen und Schreiben bestimmten den Lebensrhythmus seiner Mutter. Die Wochenenden verbrachte die Familie - Marie Langer wurde in diesen Jahren Mutter weiterer vier Kinder - in einem Haus auf dem Lande, 50 km von der Hauptstadt entfernt. "Ich würde sagen, damals musste ich die Psychoanalyse lernen, da ich jetzt Psychoanalytikerin war. Ich würde dir auch sagen, daß ich da-
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Auf welchem sozialen und historischen Hintergrund ist das überaus große Interesse an der Psychoanalyse gerade in Buenos Aires zu verstehen? "Ein wesentlicher Grund liegt in der langen europäischen Kulturtradition dieser Stadt, denn mit der Emigrationswelle aus Europa an der Wende zum 20. Jahrhundert brachten vor allem ItalienerInnen, aber auch RussInnen, Deutsche usw. europäisches Gedankengut nach Argentinien. Die argentinische Mittel- und Oberschicht war also durchaus fähig, aufgrund ihrer traditionellen, nach europäischen Mustern ausgerichteten Bildungspolitik, theoretische Konzepte europäischer Prägung sehr leicht aufzunehmen. Ein zweiter, sehr wichtiger Grund liegt sicher auch in der ausdifferenzierten Klassenstruktur, die wohl kaum ein anderes lateinamerikanisches Land zu diesem Zeitpunkt aufzuweisen hatte. Es gab eine sehr reiche Mittelschicht, die auch gebildet genug war, um das Bedürfnis der PsychoanalytikerInnen nach PatientInnen zu erfüllen, die in einem stabilen, festgefügten, ökonomisch abgesicherten sozialen Gefüge lebten, das eine Analyse auch über mehrere Jahre hinweg möglich macht. Als letzter, noch viel zu wenig beachteter Grund, ist zu nennen, dass die Gründung der APA (1942) und ihr Aufbau in den folgenden 10 Jahren in eine Zeit der gesellschaftlichen Systemöffnung fiel" (Kremlicka, 1993, S. 118 f.).
Diese Überlegungen verweisen auf eine - wenn auch ambivalente - Öffnung der Psychoanalytiker gegenüber der aktiven Teilnahme an öffentlichen und politischen Entwicklungen, insbesondere im Bereich der Gesundheitsfürsorge. Der Begriff des "Salud Mental" mit den damit verbundenen Bemühungen um Prophylaxe im Gesundheitssystem greift die Bedeutung aktiven HandeIns und Verantwortungsübernahme für die psychische Gesundheit der Bevölkerung auf. Analytische Gedanken fanden
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Eingang und Verbreitung in Arbeitsfeldern der sozialen Fürsorge, immer mehr Psychologen wollten zur analytischen Ausbildung zugelassen werden. Der Analytiker Emilio Rodrigue, mit dem Marie Langer gemeinsam an dem Buch über "Psychoanalytische Cruppenpsychotherapie" gearbeitet hatte, wurde 1969 Präsident der argentinischen Psychiater-Gewerkschaft (FAP), bei der eine Nähe zu den Kommunisten bestand. Durch ihre Mitarbeit im Leitungsgremium der FAP erlebte Marie Langer eine Aufbruchstimmung, mit anderen gemeinsam an neuen sinnvollen Projekten zu arbeiten. Hatte sie bis dahin zahlreiche Artikel zur psychoanalytischen Ausbildung, Gruppentherapie und psychosomatischen Erkrankungen von Frauen geschrieben - ihr Buch "Mutterschaft und Sexus" erschien 1951 - wandte sie sich nun vermehrt der Frage zu, was der Beitrag von Psychoanalytikern zur Abschaffung extremer sozialer Ungerechtigkeit in einer Gesellschaft sein kann. Fragen der Klassenzugehörigkeit, unreflektiert ausgeübter Macht und Herrschaft und der sozialen Benachteiligung von Frauen rückten vor dem Hintergrund ihrer nach wie vor bestehenden Idealisierung einer sozialen Revolution in das Zentrum ihres Denkens und Handeins. An deren Sinnhaftigkeit zweifelte sie auch nicht angesichts der Realität von Diktatur und Terror in den kommunistischen Ländern; sie verspürte allerdings nie mehr das Bedürfnis, einer kommunistischen Partei beizutreten. Die vorherrschende Strömung innerhalb der APA - wie überhaupt in der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung - interessierte sich allerdings keineswegs für die soziale und ökonomische Realität außerhalb ihrer Institution und vertrat den Standpunkt, Psychoanalyse, deren Finanzierung der Analysand selber zu leisten habe, müsse sich ganz auf die Behandlung und Erfahrung unbewusster Konflikte in der exklusiven Situation der vierstündigen Analyse auf der Couch beschränken. Neben diesem eingeschränkten Wissenschaftsverständnis von Psychoanalyse reagierte die Vereinigung mit einer zunehmend rigiden Aufnahmepraxis und verfestigte die hierarchische und autoritäre Struktur innerhalb der Institute, die schon seit längerer Zeit zu internen Auseinandersetzungen und der Bildung von verschiedenen Gruppierungen geführt hatte. Angeregt durch die Ereignisse des Mai 1968 und die internationale Studentenbewegung begannen Analytiker und Ausbildungskandidaten insbesondere in Zürich und Venedig die rigiden und sie von allen Entscheidungs- und Diskussionsprozessen ausschließenden Organisationsformen der Psychoanalytiker heftig in Frage zu stellen. Auf dem 26. Internationalen Psychoanalytischen Kongress im Juli 1969 in Rom wurde 500 m entfernt von der offiziellen Veranstaltung ein Gegenkongress ins Leben gerufen unter
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dem Namen "The Platform - Working Groups of European Psychoanalysts", auf dem alle von dem offiziellen Kongress verworfenen Themen täglich diskutiert wurden. "Unser Hauptziel war, die autoritären, konservativen und reaktionären Strukturen des sich zelebrierenden psychoanalytischen Establishments zu denunzieren, das in seinem Kongress versuchte, u. a. das Thema "Protest und Revolution" zu deuten, und dessen wohlwollendes Interesse für uns nur als nrepressive Toleranz" verstanden werden konnte" (Rothschild., 1993., S. 57).
"Plataforma internacionale" erhielt ein enormes öffentliches Interesse. Unter den zahlreichen Lehranalytikern, die vorbei schauten, war neben den Argentiniern Armando Bauleo und Hermann Kesselmann auch Marie Langer, die sich sofort für die Gruppe begeisterte, fand sie doch hier junge Kollegen, die von der Notwendigkeit revolutionärer Veränderungen überzeugt waren. Ermutigt und gestärkt zurückgekehrt nach Argentinien forderte die Plataforma-Gruppe Diskussionen über Psychoanalyse und Marxismus, die Möglichkeit eines Kongresses in Havanna und die selbstorganisierte psychoanalytische Ausbildung. Dieser Prozess führte 1971 zum endgültigen Bruch mit der APA und kurz nach dem 27. Internationalen Kongress in Wien trat Marie Langer mit 17 anderen Analytikerinnen und Analytikern aus der Vereinigung aus. In Wien hielt sie - gewissermaßen als Abschiedsrede einen Vortrag mit dem Titel: IIPsychoanalyse und/oder soziale Revolution", der nie von den offiziellen Organen der IPV gedruckt wurde. In den darauf folgenden Jahren arbeitete sie an der Universität, hielt Vorlesungen und Seminare, wurde Präsidentin der FAP und versuchte, ihre Vorstellungen einer anderen Psychoanalyse in der unentgeltlichen Krankenhausarbeit mit therapeutischen Gruppen, die gleichzeitig Ausbildungsgruppen für junge Kollegen waren, umzusetzen. Diese fruchtbare Zeit wurde jäh abgebrochen durch die Verschärfung der sozialen Gegensätze in Argentinien und eine diktatorische Regierung, die alle sozial- und gesundheitspolitischen Erneuerungen beendete. Marie Langer stand auf der Todesliste der berüchtigten AAA (I1Alianza Anticomunista Argentinia"), einer paramilitärischen Todesschwadron und war gezwungen, 1974 das Land zu verlassen. Sie ging mit schwerem Herzen auf dringende Bitte von Kollegen und der Familie nach Mexico City, wo ihre jüngste Tochter verheiratet war.
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"Meine beiden Lieben vereint" In Mexiko arbeitete Marie Langer abgesehen von ihrer privaten Praxis an der Universität als Professorin für die Fachausbildung in klinischer Psychologie, supervidierte unentgeltlich psychoanalytische Therapien in Institutionen und hielt den Kontakt zu emigrierten Analytikern wie zu ihrer Freundin Sylvia Bermann, mit der sie bereits in Buenos Aires zusammengearbeitet hatte. Diese hatte als Ärztin in einer Brigade am Bürgerkrieg in Nicaragua teilgenommen und wurde 1981 vom Dekan der Medizinischen Fakultät gebeten, einen Lehrstuhl für die Ausbildung der Lehrkräfte in Leön zu übernehmen. Statt dessen bildete sich das "equipo internationalista de Salud Mental", ein Team von 12 Ärzten und Psychologen, alle analytisch ausgebildet, von denen je zwei Mitglieder einmal im Monat für zwei bis neun Tage nach Nicaragua fuhren, um den Aufbau einer medizinischpsychiatrischen Versorgung im Land zu unterstützen. "Aus diesem ersten Zusammentreffen und aus allen folgenden, entstanden für uns viele verschiedene Aufgaben, die einer allein niemals hätte bewältigen können: Teilnahme an der Ausarbeitung der Psychoprophylaxe der Geburt; Unterrichtung der Kinderärzte, um ihnen einen besseren Umgang mit den Problemen von Kindern, Müttern und Familie zu ermöglichen, Beratung in der medizinischen Psychologie, Entwurf eines Forschungsprojektes für die Studenten im zweiten Ausbildungsjahr ... Sexualerziehung, Balint-Gruppen mit Ärzten und Krankenschwestern ... Hinzu kommen noch die Kurse im Psychiatrischen Krankenhaus von Managua, wo wir bis heute für einen Teil der Ausbildung von psychiatrischen Praktikanten zuständig sind.... In Managua geben wir einen umfassenden Kurs in psychoanalytischer Theorie, einen zweiten über Gruppentherapie und einen weiteren über Familientherapie" (Langer 1986, S. 13).
Große Bedeutung hatte die Arbeit in den CAPS, Tageskliniken für psychisch Kranke, in denen dynamische Psychiatrie gelehrt wurde und die Mitarbeiter mit psychoanalytischem Denken - das Unbewusste, die Bedeutung von Übertragung und Gegenübertragung, Projektion, Identifikation - vertraut wurden. In wöchentlichen Zusammenkünften entwickelte das equipo in Mexico City entlang den jeweils aktuellen Notwendigkeiten Konzepte für die weitere Arbeit und reflektierte das bislang Geleistete. Die sechs Jahre ihrer kontinuierlichen Mitarbeit im equipo ermöglichten Marie Langer
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anzuknüpfen an die Hoffnung ihrer Jugend: Durch praktische Tätigkeit einen Beitrag zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu leisten. Auf der Suche nach finanzieller Unterstützung und internationaler Solidarität reiste Marie Langer zu Vortragsreisen regelmäßig nach Europa - Schweiz, Österreich, Deutschland - wiederbelebte die seit 1971 bestehenden Freundschaften mit sozialkritischen Analytikern wie [udith Valk, Paul Parin und Goldy Parin-Matthey in Zürich und flocht ein Netzwerk vielfältiger aktiver Unterstützung. Regelmäßige finanzielle Zuweisungen, aktive Mitarbeit europäischer Kollegen für mehrere Monate in Nicaragua, Radio- und Presseinterviews, Vorträge in psychoanalytisch arbeitenden Institutionen und die Koordination mit medico international für das Projekt "Salud Mental in Nicaragua" führte zu reichhaltigen Begegnungen mit alten Freunden und neuen Bindungen zu neuen Kollegen. "Dass ich wirklich ganz meine beruflichen Interessen und meine politischen Überzeugungen integrieren kann in einer einzigen Arbeit - das ist blendend" (Langer, 02.02.1986).
Marie Langer starb am 22. Dezember 1987 in Buenos Aires, der Stadt, in der sie 32 Jahre lang gelebt hatte und die ihr zur zweiten Heimat geworden war, im Kreise ihrer Familie an einer Krebserkrankung. Theorie und Klinik - Die Psychoanalyse und der weibliche Körper In den 4o-er Jahren erarbeitet sich Marie Langer die psychoanalytischen Konzepte Melanie Kleins und begegnet gleichzeitig in ihrer klinischen Arbeit zunehmend Frauen, die wegen funktioneller und psychosomatischer Beschwerden eine Analytikerin aufsuchen. Aus der Verbindung von Kleinian'scher Theorie und klinischer Erfahrung entstand ihr Buch "Mutterschaft und Sexus. Körper und Psyche der Frau'; das 1951 in Buenos Aires unter dem Titel "Maternidad y Sexo" erschien. Marie Langer war damals 41 Jahre alt, zum fünften Mal Mutter geworden, und in ihrer persönlichen und beruflichen Identität fasziniert von den Theorien Melanie Kleins zu den frühen unbewussten Ängsten, die sich um den weiblichen Körper zentrieren und das Verhältnis des Mädchens zu seiner Mutter und seiner eigenen Weiblichkeit determinieren. Klein hatte für das Mädchen spezifische weibliche Konflikte postuliert, deren Bewältigung - anders als bei Freud nicht einfach parallel zu den Entwicklungsaufgaben des Jungen verläuft.
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"Nun, warum habe ich mir die Theorie von Melanie Klein zu eigen gemacht? Wegen ihres Verständnisses der psychosexuellen Entwicklung des Mädchens und der Psychologie der Frau. Bei Freuds Theorie - bei allem Respekt Freud gegenüber - darin war ich damals viel ehrerbietiger als jetzt, wo ich nicht mehr an die Vorteile der Ehrfurcht glaube -, weil die Freudianische Theorie über die Frau mir teilweise unverständlich war und mir teilweise erniedrigend vorkam. Aber außerdem, und das ist das Wichtigste, war sie mir klinisch nicht von Nutzen. Freud beschreibt uns das Mädchen als kastrierten Jungen. Doch ein kastrierter Mann wäre nicht zur Reproduktion fähig. Melanie Klein berücksichtigt diese angeborene Fähigkeit und untersucht das spezifisch Weibliche, das heißt die Phantasien und Ängste des kleinen Mädchens in Bezug auf ihre noch latenten biologisch-reproduktiven Fähigkeiten" (Langer, 1986, S. 184 f.).
"Mutterschaft und Sexus" besteht aus einem theoretischen und einem klinischen Teil. In den drei dem klinischen Teil vorausgehenden Kapiteln gibt Marie Langer vor dem Hintergrund des zeitgenössischen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes einen historisch-soziologischen Überblick über die Rolle der Frau in unterschiedlichen Gesellschaftsformen - wobei sie auch anthropologische Forschungen miteinbezieht - diskutiert kritisch die seinerzeit bedeutendsten psychoanalytischen Konzepte zur psychischen Entwicklung des Mädchens und zur weiblichen Sexualität und stellt Melanie Kleins Erweiterung dieser Konzepte vor. Anhand der biologisch vorgegebenen Einschnitte im weiblichen Lebensrhythmus - Menstruation, Defloration, Schwangerschaft, Geburt und Stillen, schließlich Klimakterium - arbeitet sie die unbewussten Konflikte heraus, die in Frauen wirksam sind, die intensive Schwierigkeiten haben, "das weibliche Schicksalu - repräsentiert durch die körperlichen Veränderungen - in ihr Selbstbild zu integrieren und ohne Angst und Schuldgefühle mit ihren individuellen Ausformungen zu gestalten und zu genießen. In der analytischen Arbeit mit Frauen kommt der Problematik einer ungelösten feindseligen Mutterbindung eine besondere Bedeutung zu. Negative Gefühle binden an die Mutter, verhindern die Annahme eigener Weiblichkeit und Erwachsenwerden. In zahlreichen Fallvignetten zeigt Marie Langer die Dynamik von Neid, Aggression, unerfüllter Liebe, Projektion und Spaltung im Unbewussten der Frauen, die zu einer Ablehnung des eigenen Körpers und seiner weiblichen Funktionen führt. Die unbewusste Feindseligkeit findet ihren Niederschlag in vielfältigen Symptomen: Frigidi-
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tät, Sterilität, Fehlgeburten, medizinisch unerklärliche Schmerzen, Unfähigkeit zu stillen, multiplen Ängsten und Depressionen. Marie Langers reiche klinische Erfahrung und theoretische Klarheit vermitteln ein differenziertes Bild von der Intensität innerer Konflikte und ihrer Auswirku~genauf das Selbstbild von Frauen. Anschaulich schildert sie, wie in den Ubertragungen auf die Analytikerin immer neue Facetten unbewusst verinnerlichter Bilder von Weiblichkeit und die damit verbundenen Ängste einer Deutung zugänglich werden und die Auflösung festgefügter Identifikationen neue Entwicklungen ermöglicht. Als Analytikerin gelangt Marie Langer zu der sicheren Überzeugung, dass keine unauflösbaren, mit dem Geschlecht verknüpften Gründe - wie Freuds "gewachsener Fels" - existieren, die verhindern, dass Frauen ein erfülltes Leben führen können. "Die Frauen können genauso viel wie die Männer hervorbringen, wenn auch viele ihrer Werke in mancher Hinsicht anders sind als die der Männer: Sie sind nicht Sublimierungen des männlichen Sexualtriebes, sondern des weiblichen und im besonderen des mütterlichen Triebes" (Langer, 1988,S. 358).
"Mutterschaft und Sexus" - Damals und heute "Mutterschaft und Sexus" erschien in der Aufbauzeit der Argentinischen Psychoanalytischen Vereinigung und in einem gesellschaftlichen Klima, in dem Frauen aufgrund des stattfindenden Urbanisierungsprozesses in Argentinien bereits vielfältigen beruflichen Tätigkeiten nachgingen, und in der von Eva Per6n organisierten Frauenpartei Möglichkeiten angeboten bekamen, sich zu engagieren und aktiv zu werden. Die Einführung des Wahlrechts, verbesserter Zugang zu Bildung für Frauen und die Legalisierung der Scheidung 1954 ermöglichten mehr Frauen eine Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben. Auf der anderen Seite gehörte Mutterschaft zu den unhinterfragten Aufgaben einer Frau, und auch Marie Langer teilte diese Überzeugung. "Wenn es uns gelingt, gesunde Mädchen, die ihre Weiblichkeit freudig akzeptieren können, mit einem geringen Maß an Angst und Schuldgefühl zu erziehen, können wir hoffen, dass Schwangerschaft und Geburt das werden, was sie für einige Gesellschaften und für
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einige glückliche Frauen in unserer Gesellschaft schon heute sind: Die Verwirklichung ihrer biologischen Fähigkeiten, die vom vollen Bewußtsein darüber begleitet ist, an der größtmöglichen Erfahrung teilzunehmen: Ein Wesen in sich getragen, es genährt und ihm das Leben geschenkt zu haben" (Langer, 1988, S. 325).
Es gab damals in Argentinien kaum spezielle Arbeiten, die sich mit dieser Thematik aus psychoanalytischer Sicht auseinandersetzten und so gewann Marie Langers Buch eine große Bedeutung in der Ausbildung zum Analytiker. Die Einbeziehung kulturvergleichender Untersuchungen wie die Margaret Meads und die Aufarbeitung bislang existierender psychoanalytischer Konzepte zur Weiblichkeit stellen den klinischen Teil in einen sozialen Zusammenhang und erweitern den Blickwinkel der jungen Analytikergeneration. Die psychoanalytischen Konzepte haben in Theorie und Klinik in den vergangenen 50 Jahren eine enorme Ausdifferenzierung erfahren und so erscheinen die Deutungslinien entlang des Kleinianschen Modells in "Mutterschaft und Sexus" uns heute in dieser Form schematisch und eindimensionaL Insofern ist das Buch wesentlich historisch zu lesen: Als ein Bemühen, in einer Zeit weitreichender Unkenntnis der inneren Bedingungen funktioneller und psychosomatischer Symptome - insbesondere auch unter Medizinern - Psychoanalyse im emanzipatorischen Sinn für Frauen fruchtbar zu machen. "Die charakteristische Denkrichtung unserer Zeit ist triebfeindlich. Diese Tendenz macht aus einem biologischen Vorgang von eminentem individualpsychologischen Gehalt eine medizinische Operation" (Langer, 1988, S. 307).
Diese weitsichtige Bemerkungen Marie Langers haben heute, in einer Zeit, in der an der technischen Beherrschbarkeit der Entstehung neuen Lebens gearbeitet wird, nichts an Aktualität eingebüßt.
Ausgewählte Bibliographie Langer, M. (1959). Die 11 Gestalt 11 einer Gruppe unfruchtbarer Frauen. Zeitschrift für psychosomatische Medizin, 5, 53--62. Grinberg, L., Langer, M. & Rodrigue, E. (1960). Psychoanalytische Gruppen-Therapie. Praxis und theoretische Grundlagen. Stuttgart: KIett-Verlag.
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Langer, M. Siniego, A. & Ulloa, F. (1979).Institutionelle Gruppenanalyse in der Arbeiterklasse. In E. Englert (Hrsg.), Die Verarmung der Psyche (5.140-156). Frankfurt/M. Langer, M. (1982).Der Widerspruch in der Lehranalyse. PsA-Info 19: 28-36. Langer, M. (1983). Uber die Anwendung der Psychoanalyse beim Aufbau einer neuen Gesellschaft. "Journal", 8, 3-10. Psychoanalytisches Seminar Zürich. Langer, M. (1984).Loyalität und Ambivalenz im Zusammenhang mit den Erfahrungen bei der Aufbauarbeit in Nicaragua. "Journal" 10,69-74: Psychoanalytisches Seminar Zürich. Langer, M. (1985).Bericht über die Balintgruppen in Nicaragua. PsA-Info 24, 31-37. Langer, M. (1986). Von Wien bis Managua. Wege einer Psychoanalytikerin. Freiburg (Breisgau): Kore-Verlag. Langer, M. (1987). Das gebratene Kind und andere Mythen. Die Macht unbewußter Phantasien. Freiburg (Breisgau): Kore-Verlag. Langer, M. (1988).Mutterschaft und Sexus. Körper und Psyche der Frau. Freiburg (Breisgau): Kore Verlag.
Literaturhinweise Assal, P. & Figge, K. (1986).Interview mit Marie Langer im Rahmen der Sonderreihe "Zeitgenossen". SWF2, 02.02.1986. Bessermann Vianna, H. C. (1988).Psychoanalyse und Politik in Brasilien. Psyche 42: 997-1015. Cesio, F. (1976). Geschichte der Psychoanalyse in Lateinamerika. In: Eicke, D. (Hrsg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Band II. Freud und die Folgen (1). S. 1265-1278, Zürich. Kindler-Verlag. Heenen-Wolff, S. (1988).Marie Langer. Von Wien bis Managua. Psyche 42: 648-651. Kennel, R & Reering, G. (Hrsg.). (1997). Klein-Bion. Eine Einführung. Tübingen: edition diskord. Klein, M. (1973).Die Psychoanalyse des Kindes. München: Kindler-Verlag. Kremlicka, R. (1993). Marie Langer. Von der "institutionellen" zur ,Jreien" Psychoanalyse. Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Wien. Nadig, M. & Erdheim, M. (1984).Frauen-Leben Psychoanalyse. Gespräche mit Marie LangerGlas und Goldy Parin-Matthey, In H.-M. Lohmann (Hrsg.), Psychoanalyse auf der Couch. Frankfurt/M. Paris. Qumram-Verlag. Parin, P. (1988). Marie Langer, 31. August 1910-22. Dezember 1987."Journal" 17:25-27. Psychoanalytisches Seminar Zürich. Rothschild, B. (1993)."Plataforma" in den letzten zwanzig Jahren. Luzifer-Amor 12. S. 55--62.
Entwicklungspsychologie
Werner Deutsch
Clara Stern: Als Frau und Mutter für die Wissenschaft leben
Ein Doppelportrit
Die "illustrierte Geschichte der Psychologie'~ die Helmut E. Lück und Rudolf Miller herausgegeben haben und die 1993 herausgekommen ist, ist kein gewöhnliches Buch. Kaum jemand außer den Herausgebern und ihren Redakteuren vom Verlag dürfte es in einem Zug von vorne bis hinten gelesen haben. Man blättert in dieser Geschichte wie in einem Familienalbum, in dem Fotografien die Hauptsache sind. Die Person, um die es in diesem Beitrag geht, wird zwar nicht in einem eigenen Buchkapitel der Illustrierten Geschichte vorgestellt, aber sie erscheint in dem Kapitel" das Wilfred Schmidt über ihren Mann verfasst hat, auf einer Fotografie, die fast die gesamte Seite 125 eimtimmt. Entstanden ist die Fotografie im ersten Weltkrieg, im Jahr 1917 in Hamburg. Dorthin waren die belden abgebildeten Personen, der Psychologieprofessor William Stern und seine Frau Clara Stern, geborene Joseephy zusammen mit der 1900 geborenen älteren Tochter Hilde, dem :1902 geborenen Günther und. der 1904 geborenen jüngeren Tochter Eva gezogen. Für das Ehepaar Stern ging ein Lebenstraum in Erfüllung. Durch den überraschenden Tod von Ernst Meumann hatte William Stern das Glück, den ersten und. einzigen Ruf auf eine ordentliche Professur in einer Stadt zu erhalten, deren konservativ gesinnte Bürgerschaft sich lange gegen die Einrichtung einer Universität gesträubt hatte. Stern war bei der Nachfolge Meumanns allerdings nicht erste Wahl gewesen.. und. erst nach Ende des ersten Weltkriegs wurde 1919 mit großer Unterstützung von seiner Seite S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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unter dem Bürgermeister von MeIle das Institut für Vorlesungs- und Kolonialwesen in die Universität Hamburg umgewandelt. Die Fotografie zeigt den 1871 in Berlin geborenen William Stern und seine 1877 ebenfalls dort geborene Frau Clara Stern auf einem, vielleicht sogar dem Höhepunkt ihres Lebens. Endlich fand das Werk, das sie bis dahin teilweise in enger Zusammenarbeit geschaffen hatten, die Anerkennung, die William Stern als einem mit der deutschen Kultur verwachsenen Juden lange verwehrt worden war. In einer Zeit bitterer äußerer Not war die Berufung Sterns von der schlesischen Provinzuniversität Breslau in die Weltstadt Hamburg wie ein Wunder, an dessen Verwirklichung Clara und William Stern kaum zu hoffen gewagt hatten. Für Clara Stern war das Erreichen des Höhepunkts in der wissenschaftlichen Laufbahn ihres Mannes das Ende ihrer Laufbahn als Amateurwissenschaftlerin (vgl. Deutsch, 1994). Als Frau und Mutter hatte sie mit der Geburt ihres ersten Kindes ein entwicklungspsychologisches Projekt begonnen, das auf Tagebuchaufzeichnungen über die Entwicklung ihrer drei Kinder beruhte (Stern & Stern, 1900-1918). Wer die Idee zu diesem Projekt gehabt hat, lässt sich heute nicht mehr klären. Vermutlich haben Clara und William Stern sie gemeinsam ausgebrütet. Clara Stern hat das Tagebuchprojekt dann etliche Jahre mit einer bewundernswerten Ausdauer und akribisch durchgeführt. Die allerletzte Tagebucheintragung stammt vom 23.02.1918 und betrifft den Sohn Günther. Die Tagebucheinträge für die beiden anderen Kinder waren schon früher abgeschlossen worden und datieren noch aus der Zeit in Breslau. Sobald Kinder nicht mehr Kinder sind, stößt das Tagebuchverfahren als wissenschaftliche Methode zur Aufzeichnung von lebensnahen Beobachtungen an eine natürliche Grenze. Die Lebenswelten von Eltern und Kindern einerseits und von Geschwistern andererseits driften auseinander. Was gibt es da noch vor Ort zu beobachten? Die Familienbande lockern sich und werden günstigenfalls durch den Austausch von Erfahrungen bei gemeinsamen Mahlzeiten mehr oder weniger regelmäßig zusammengeführt. An die Stelle der Tagebücher, die Eltern über die Entwicklung ihrer Kinder angelegt haben, treten dann andere Tagebücher, die ihre pubertierenden Kinder über ihre eigenen Erlebniswelten selbst führen und streng vor den Blicken von Erwachsenen, einschließlich ihrer Eltern, verbergen. So hatte Clara Stern den Gegenstand ihrer Tätigkeit als einer Amateurwissenschaftlerin von hohen Graden verloren, als ihre Kinder begannen, teilweise in Opposition zu den Vorstellungen ihrer Eltern, eigene Wege zu gehen und ihr Mann endlich die höchste Stufe einer Universitätskarriere im Deutschland der damaligen Zeit erreicht hatte. Am 2.1.1919 schreibt sie in einem
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Brief an "Frau Cohn", der Frau des besten Freundes ihres Mannes, nach Freiburg: (zitiert nach Lück & Löwisch, 1994, S.120) "Von mir ist nicht viel zu sagen, ich bin nur Hausfrau! Ich versuche, das Heim so zu gestalten, dass jeder von seinem Boden aus froh arbeiten kann. Und da unsere Kinder hier noch wenig Freundschaft gefunden haben, bin ich sehr häuslich und verkehrslos. Wir stehen natürlich zu einem sogen. "Kreis" - er ist wirklich ein Kreis - denn alle sind gleich weit entfernt von mir. Grüßen Sie Ihren Mann herzlich von uns Beiden. Alles Gute für die Kinder und für Sie im Neuen Jahr senden Ihre Clara Stern Mögen Sie vielleicht Bonbons, das Pfund zu 6,20 M? Eine Cousine meines Mannes versorgt uns mit diesem "Zuckerersatz/~ den ich Ihnen leicht besorgen kann."
Bis an ihr Lebensende hat diese Frau ein Leben für andere geführt - für ihren Mann, dem sie nicht nur in den erfolgreichen Hamburger Jahren, sondern gerade auch nach 1933 in der Emigration von den Niederlanden in die Vereinigten Staaten den Rücken freigehalten hat, damit er seine wissenschaftlichen Pläne vollenden konnte, für ihre drei Kinder, die durch die halbe Welt geirrt sind, um gerade noch rechtzeitig wie ihre Eltern dem nationalsozialistischen Terror zu entkommen, für ihre beiden ersten Enkelkinder, die nach dem frühen Scheitern von Hildes erster Ehe und ihrer mehrfachen Inhaftierung aus politischen Gründen auf die Fürsorge der Großeltern, insbesondere der Großmutter, angewiesen waren, für ihre zahlreichen Geschwister, die in alle Winde zerstreut immer wieder den Kontakt zu ihrer Schwester Clara Stern gesucht haben, für die vielen Gäste, die in Breslau und Hamburg von den Sterns aufgenommen und betreut worden sind, und schließlich für alle Mühseligen und Beladenen, die bei Clara Stern Trost, Zuspruch und materielle Unterstützung gefunden haben. Wer so lebt, geht in den Mühen und Sorgen des Alltags auf und manchmal auch unter. Wissenschaft ist in Clara Sterns Leben eine Episode geblieben, begrenzt auf die Zeit, in der sie als Mutter zusammen mit ihrem Mann das alltägliche Leben ihrer Kinder als einen höchst aufschlussreichen, ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Gegenstand entdeckt und über mehr als eine Dekade intensiv und produktiv verfolgt hat.
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Von der höheren Tochter zur Amateurwissenschaftlerin auf Zeit Eine wissenschaftliche Laufbahn ist Clara Stern nicht in die Wiege gelegt worden. Am 12. März 1877 geboren, ist sie in einer weit verzweigten, wohlhabenden Familie mit sechs Geschwistern aufgewachsen, von denen eines als Säugling verstorben ist. Ihr Vater ist in Mecklenburg Großgrundbesitzer gewesen, bevor er nach seiner Heirat in Berlin Bankier wurde. Ihre Mutter stammte aus dem Rheinland und war über deren Mutter mir dem Dichter Heinrich Heine verwandt. Clara Sterns Großmutter wurde über 90 Jahre alt. Sie war das Haupt der Familie Joseephy und setzte als letztes Familienmitglied die jüdische Tradition fort. In einem unveröffentlichten Manuskript erinnert sich Eva Michaelis-Stern, die jüngere Tochter von Clara und William Stern, daran dass die drei Stern-Kinder auf Veranlassung ihrer Mutter der Urgrossmutter zum jüdischen Neujahrsfest Gratulationskarten schreiben mussten (Michaelis-Stern, 1991). Über Clara Joseephys kindliche Entwicklung und Ausbildung ist wenig bekannt. Sie wächst als "höhere Tochter" auf, die auf den Stand einer Frau und Mutter in einem gut situierten Haushalt vorbereitet wird. Auf einer Fahrradtour im Grunewald begegnet sie dem Einzelkind William Stern, einem armen Schlucker, dessen akademische Laufbahn noch in den Sternen steht, was der Familie Joseephy, die auf dem Berliner Kurfürstendamm residiert, überhaupt nicht passt. Gegen den Willen ihrer Familie heiratet Clara Joseephy im Frühjahr 1899 William Stern und zieht zu ihm nach Breslau, wo er nach erfolgreicher Habilitation eine Dozententätigkeit an der Universität übernommen hat. Am 07.04.1900 kommt in Breslau Hilde Stern zur Welt. Ihre Geburt markiert den Beginn des Projekts, durch das Clara Stern zusammen mit ihrem Mann einen Platz im Pantheon der Entwicklungspsychologie erobert hat. Die junge Frau und Mutter dokumentiert die Entwicklung ihrer drei Kinder in einer lebendigen Sprache, die anschaulich und nüchtern zugleich ist. Clara Stern konnte bei diesem Projekt auf keinerlei akademische Vorbildung zurückgreifen. Sie war und blieb eine Amateurwissenschaftlerin, der es gelang, durch fortlaufende Beobachtungen einzelne Entwicklungsverläufe durch lebensnahe Schilderungen plastisch vor Augen zu führen. Hierbei verfügte sie offensichtlich über Eigenschaften, die für das Gelingen einer solchen Aufgabe besonders günstige Voraussetzungen sind. Ihr Mann William Stern hat in einem Manuskript zu einer autobiographischen Darstellung die Passung zwischen Person und Aufgabe so auf den Punkt gebracht:
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"Um die Aufzeichnungen besonders wertvoll zu gestalten, kamen Eigenschaften meiner Frau hinzu, die ich hier erwähnen muß: ein intuitives mütterliches Verstehen für die Regungen der Kinder ging hier die seltene Verbindung ein mit einer unbeirrbaren Objektivität der Beobachtung und mit Vorsicht im Deuten des Beobachteten; hinzu kamen eine plastische und lebendige Darstellungsweise und eine unermüdliche Konsequenz in der Durchführung der einmal begonnenen Aufgabe. So entstanden nun Bücher auf Bücher, Aufzeichnungen in einem Umfang und einer Vielseitigkeit, wie sie wohl weder vorher noch nachher zustande gekommen sind. Sie erstrecken sich weit über die frühe Kindheit hinaus, tief in die Schulzeit hinein und bilden so einen Schatz an psychologischem Material, das bis heute erst zu einem ganz kleinen Bruchteil ausgeschöpft ist" (Stern, o. J., S. 44).
Das Tagebuchprojekt von Clara und William Stern hat reiche Früchte getragen. Es ist nicht beim Datensammeln geblieben, sondern die Tagebucheinträge sind sorgfältig analysiert zu Publikationen weiterverarbeitet worden, die in der Entwicklungspsychologie den Status von Klassikern erobert haben. Mit dem Umzug von Breslau nach Hamburg ist Clara Sterns wissenschaftliches Engagement zum Erliegen gekommen. Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes im amerikanischen Exil im Jahre 1938 zieht sie von Durham/North Carolina nach New York wo bereits eine ihrer Schwestern, ihre Kinder Günther und Hilde sowie ihre Enkel leben. Clara Stern wird amerikanische Staatsbürgerin, die ihren Lebensunterhalt als Briefzensorin verdient. In der Nacht zum 8. Dezember 1948 stirbt sie in New York an den Folgen eines Gehirnkarzinoms. Siegfried Peine (0. J.) hat in einem Nachruf, der vermutlich in der Zeitschrift .Aufbau' erschienen ist, folgendes über sie geschrieben: "In der Nacht zum 8. Dezember ist die Witwe William Sterns, des bekannten Psychologen und Begründers der personalistischen Philosophie in New York einem schweren inneren Leiden erlegen. Wenn man sonst von einem Menschen, dessen Leben bedeutend war, sagen mag, dass, wer ihn gekannt, ihn nicht vergessen wird, so wird man in diesem Fall hinzusetzen müssen: es gibt viele, die sie nicht gekannt, obwohl sie ihr viel zu verdanken haben. In einer nur großen Persönlichkeit eigenen Bescheidenheit wirkte diese Frau, früher die weit geschätzte Mitarbeiterin ihres Gatten auf den Gebieten der
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psychologischen und pädagogischen Forschung, hier in der Stille, oft ihren abnehmenden Kräften trotzend, war sie immer aus der Tiefe ihres reichen, verstehenden und tatbereiten Herzens von Mensch zu Mensch aufbauend. So wird und soll das Leben Clara Sterns über das im 69.Jahre erfolgte Ende ihres physischen Daseins hinaus noch lange in höherem Sinne gestaltend weiterwirken",
Das Buch X
Das Doppelporträt aus dem Jahre 1917stellt Clara und William Stern in Pose dar. Er steht aufrecht, den Blick mit hellwachen Augen auf den Betrachter gerichtet. Anders Clara Stern. Sie hat in gerader Haltung auf einem Lehnstuhl Platz genommen. Ihr Gesicht erscheint vom Betrachter abgewandt im Seitenprofil. Auf der Höhe ihres Schosses hält sie ein Buch in den Händen. Man hat den Eindruck, sie könnte es im nächsten Moment aufschlagen. Das Buch in Clara Sterns Schoss wird nicht irgendein Buch sein. Es hat einen festen Einband mit einem Prägedruck, der Auskunft über den Autor bzw. die Autorin und den Buchtitel gibt. Bis jetzt hat niemand die eingeprägten Buchstaben entschlüsseln können. Wir können also nur spekulieren, um welches Buch es sich handeln könnte. Wenn dieses Buch mehr als nur Staffage ist, kommen mehrere Kandidaten in Frage. Es könnte eines der in Leder gebundenen Tagebücher sein, in die Clara - in Ausnahmefällen auch William - Stern die Beobachtungen über die Entwicklung ihrer drei Kinder eingetragen hat. In der Tat haben sie für jedes Kind separate Tagebücher geführt, deren Inhalt und Umfang Behrens & Deutsch (1991) beschrieben haben. Nach einer langen Odyssee von Breslau über Hamburg nach Durham/North Carolina und Cambridgel Mass. sind die 24 Bände zusammen mit dem übrigen wissenschaftlichen Nachlass von William und Clara Stern im Archiv der [ewish National and University Library an der Hebrew University in Jerusalem gelandet. Von den Tagebüchern ist eine elektronische Abschrift mit finanzieller Unterstützung des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik in Nijmegen (Niederlande) der Deutschen Forschungsgemeinschaft (De 338/1-1, De 338/2-1, De338/2-3), der Mac Arthur Foundation und von Frau Eva Michaelis-Stern (Jerusalem) erstellt worden. Diese Tagebücher sind der Grundstock für das entwicklungspsychologische Werk von Clara und William Stern. Aus heutiger Sicht wirkt das Tagebuch der Sterns auf manche Forscher amateurhaft und wissenschaftlich unprofessionell. Mit ihren freien Beobachtungen und
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freien Beschreibungen müssen sich die Sterns den Vorwurf gefallen lassen, Anekdotensammlungen angelegt zu haben, die, vornehm ausgedrückt, für die Entwicklungspsychologie höchstens heuristischen Wert haben. Der laborerfahrene Experimentator William Stern sah in der auf die Kindheit ausgerichteten Entwicklungspsychologie die große Chance, zusammen mit seiner Frau Clara eine lebensnahe - heute würde man sagen ökologisch valide - Forschung zu betreiben, in der sich entwickelnde Individuen und nicht durch unrealistische Objektivitätsideale verfremdete Sachen im Mittelpunkt stehen (vgl. Lamiell, 2000). Unter dem Reihentitel,Monographieen [sicl] über die seelische Entwicklung des Kindes' sollten sechs, von Clara und William Stern gemeinsam verfasste Monographien erscheinen, in denen das Tagebuchmaterial thematisch ausgewertet und zusammengefasst wird. (Stern & Stern, 1907, VI). Folgende Themen waren geplant: Die Kindersprache Erinnerung und Aussage in der ersten Kindheit Kind im Bild Das Spiel des Kindes Willens- und Gemütsleben Denken und Weltanschauung Von den geplanten Veröffentlichungen sind nur zwei unter der gemeinsamen Autorenschaft von Clara und William Stern erschienen, nämlich 1907 "Die Kindersprache" und 1909"Erinnerung, Aussage und Lüge in der ersten Kindheit", Die beiden Bände werden nicht selten falsch zitiert, indem William Stern zum Erstautor und Clara Stern zur Koautorin gemacht wird, beispielsweise in der verdienstvollen Biographie von Gerald Bühring über "William Stern oder Streben nach Einheit" (Bühring, 1996, S. 240). Es könnte also sein, dass Clara Stern auf der Fotographie aus dem Jahre 1917eines der beiden, gemeinsam mit ihrem Mann verfassten Bücher in Händen hält, die übrigens 95 bzw. 93 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen noch bzw. wieder über den Buchhandel erworben werden können: "Die Kindersprache" als reprographischer Nachdruck der 4. Auflage in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt 1987 und "Erinnerung, Aussage und Lüge in der ersten Kindheit" unter dem Titel "Recollection, Testimony and Lying in Early Childhood" in einer vorzüglichen, von [ames T. Lamiell übersetzten amerikanischen Ausgabe aus dem Jahre 1999.
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Im Jahre 1914 sind zwei weitere Bücher erschienen, die als Kandidaten für das Buch X, das Clara Stern in Händen gehalten hat, in Frage kommen. Es könnte erstens das ihr gewidmete und von ihrem Mann verfasste Lehrbuch "Psychologie der frühen Kindheit" sein oder zweitens ein pädagogischer-psychologischer Ratgeber mit dem Titel "Aus einer Kinderstube. Tagebuchblätter einer Mutter", Die im Titel des zweiten Buches genannte Mutter ist zweifelsohne Clara Stern, die im Buch dargestellten Kinder Ursei, Heinz und Ännchen sind mit Sicherheit die Stern-Kinder Hilde, Günther und Eva. Doch wer ist Toni Meyer, die Autorin des Ratgebers? Ist Toni Meyer möglicherweise ein Pseudonym für Clara Stern? Diese - naheliegende - Hypothese kann inzwischen ad acta gelegt werden. Toni Meyer ist Toni Meyer gewesen. Dank eines Hinweises durch Maria Amata Neyer OCD, vom Edith-Stein-Archiv in Köln (Brief vom 12.11.2001) konnte die Identität von Toni Meyer geklärt werden. Sie hat in Breslau studiert, war mit Edith Stein befreundet und häufig in der Familie Stern zu Gast gewesen. Toni Meyer kannte die Familienverhältnisse der Sterns aus eigener Anschauung und hat daraus, sicherlich unterstützt durch Clara Stern, ein Buch gemacht, das nach heutigen Maßstäben in die Kategorie Ratgeberliteratur gehört. Das wissenschaftliche Oeuvre von Clara Stern ist verglichen mit dem ihres Mannes begrenzt. Es umfasst IInurli zwei Bücher, die an Bedeutung bis heute nicht verloren haben, sowie einige Zeitschriftartikel (darunter die sogenannte Breslauer Erklärung vom 5. Oktober 1913 gegen die Freigabe der psychoanalytischen Methode zur Anwendung der normalen Erziehung) und Vorträge. Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um Gemeinschaftswerke, bei denen die Anteile der einen und der anderen Person nicht mehr zu trennen sind. Fest steht allerdings, dass Clara Stern die Bürde des Tagebuchschreibens weitgehend alleine getragen hat. Ohne die Goldader der Tagebuchaufzeichnungen hätte keines der in diesem Abschnitt genannten Bücher das Licht der wissenschaftlichen Welt erblicken können. Eine späte Würdigung hat Clara Stern 1991 während einer Spracherwerbstagung der Nordic Research Academy im Anglo-American Center von Mullsjö in Schweden erfahren. Dort sang am 4. August ein ad hoc-Chor mit Stimmen aus mehr als 10 Nationen auf eine geläufige Melodie folgenden neuen Text:
o Clara Stern, o Clara Stern, wie voll sind Deine Blätter! Du schreibst nicht nur zur Sommerzeit, nein auch im Winter, wenn es schneit.
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o Clara Stern, o Clara Stern, wie voll sind Deine Blätter!
Brain on a broomstick Wer das Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen besucht, hat Gelegenheit, Clara und William Stern anders kennen zu lernen als auf dem Doppelporträt des Jahres 1917, nämlich als zwei nebeneinander auf einer Stahlstange platzierte Bronzeköpfe. Böse Zungen behaupten, diese Köpfe sähen aus wie ,brains on a broomstick', Auf einer Schiefertafel hinter den .brains' von Clara und William Stern ist ein Zitat aus ihrem Gemeinschaftswerk "Die Kindersprache" eingraviert worden. Es lautet so: "Und dennoch kann die Kindersprachkunde mehr als die Analyse individueller Sprachentwicklungen sein; denn sie vermag Bildungsgesetze zu formulieren, die in jeder Kindersprache wirksam sind" (Stern & Stern, 190 7, S. 3).
Clara und William Stern haben nicht nur einen Riesenschatz von Entwicklungstatsachen zu Tage gefördert, sondern diese Tatsachen mit aller gebotenen Vorsicht theoretisch aufgearbeitet. Im Gegensatz zum gegenwärtigen Mainstream haben sie keine Minitheorien formuliert, die dann in mehr oder weniger künstlichen Situationen, Paradigmen genannt, getestet wurden. Sie sind den umgekehrten Weg gegangen und haben da angefangen, wo sie die Entwicklung ihrer eigenen Kinder unter natürlichen Bedingungen beobachten konnten. Keine Beobachtung ist absolut theoriefrei. In die Auswahl und Dokumentation von Entwicklungstatsachen fließen Vorannahmen ein. Clara Stern ist an die Daueraufgabe der Entwicklungstagebücher spontan, aber nicht naiv herangegangen. Ihr selbstkritisches Vorgehen ist gerade heute ein überzeugendes Beispiel für eine empirische Forschung, die Probleme nicht herunterspielt, aber auch nicht vor ihnen kapituliert. Zwei bisher nicht veröffentlichte Zitate aus dem Hilde-Buch VIII mögen dies verdeutlichen: "Gerade jetzt, da wir unsere optimistische Abhandlung über Erinnerung, Aussage und Lüge bei unserem Kinde abgeschlossen haben,
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Werner Deutsch überrascht uns dieses mit den ersten unzweifelhaften Unwahrheiten. Da soll einer versuchen, in Kinderseelen zu lesen, da soll sich einer einbilden, zu wissen, wie ein Kind uns versteht, was es denkt usw. Hihi !!!_"
Für Clara und William Stern entstehen entwicklungspsychologische Theorien aus der Empirie. Ausgangspunkt sind detaillierte Beschreibungen einzelner Entwicklungsverläufe von einmaligen und einzigartigen menschlichen Individuen. In einem nächsten Schritt werden diese Entwicklungsverläufe auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin verglichen. Theorien werden bei den Sterns durch empirisch kontrollierte Schritte des Verallgemeinerns geschaffen. Verallgemeinerungen sind damit immer auch Abstraktionen, indem von Besonderheiten abgesehen wird und Gemeinsamkeiten betont werden. Der Bereich der Sprachentwicklung ist besonders gut geeignet, um erstens die Sternsehen Grundprinzipien des Verhältnisses von Empirie und Theorie offen zu legen und zweitens Möglichkeiten aufzuzeigen, wie eine nicht-historisierende Anknüpfung an die Konzeption von Clara und William Stern heute gelingen kann. Im Folgenden werden Passagen aus einem Vortrag (Deutsch, 1997, S. 83-86) in etwas abgewandelter Form wiedergegeben, die dem von Marianne Hassler und Jürgen Wertheimer herausgegebenen Buch "Der Exodus aus Nazideutschland und die Folgen" entnommen sind. Die gegenwärtige Spracherwerbsforschung ist universalisch geprägt. Diese Orientierung geht auf einen der bekannten Wissenschaftler unserer Tage, den amerikanischen Linguisten Noam Chomsky, zurück. In seiner Auseinandersetzung mit behavioristischen Konzeptionen der Spracherwerbsforschung hat er den Standpunkt vertreten, der Spracherwerb beruhe auf einer biologischen Grundlage, an der alle Exemplare der Spezies Mensch gemeinsam teilhaben. Die biologische Grundlage soll aus einem Wissen bestehen, das in den spezifischen Grammatiken aller natürlicher Sprachen als universeller Teil enthalten sei. Und dieses Wissen könne durch den Kontakt mit irgendeiner der 3000 bis 4000 natürlichen Sprachen der Spezies Mensch ausgelöst werden, wenn der Kontakt zum passenden Zeitpunkt stattfindet. Jeder, der sich empirisch mit dem (Erst-) Spracherwerb eines Kindes beschäftigt, wird mit zwei Tatsachen konfrontiert. Erstens sind die Entwicklungsverläufe oft sehr verschieden. Zweitens gibt es eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen Kindern, die eine bestimmte natürliche Sprache erwerben, doch es ist recht schwierig, solche Gemeinsamkeiten über
Clara Stern
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den Erwerb von verschiedenen natürlichen Sprachen - von allen ganzen zu schweigen - zu entdecken. Das Chomskysche Programm zum Spracherwerb klingt attraktiv, doch die empirischen Bestätigungen halten sich - noch - in bescheidenen Grenzen. In dieser Situation lohnt es, den Blickzurück zu werfen auf die Konzeption, die Clara und William Stern zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorgestellt haben. Auch sie gehen von biologischen Voraussetzungen aus, die allerdings kein genetisch fixiertes Wissen beinhalten, sondern Dispositionen sind, die den Spracherwerb in Gang setzen und in Richtung auf eine oder mehrere Zielsprachen vorantreiben. Während des Spracherwerbs konvergieren innere Dispositionen mit äußeren Einflüssen, beispielsweise mit dem Sprachangebot, das Kinder in ihrer sozialen Umgebung erfahren. Auf dem Weg zur Zielsprache können vorübergehende sprachliche Besonderheiten auftreten, die mit dem Prozess des Spracherwerbs und nicht mit irgendwelchen Eigenschaften von Zielsprachen zu tun haben. Ein Beispiel: Der zielsprachliche Gebrauch etwa von Ich und Du oder Mein und Dein hat eine Vorgeschichte, die in den allermeisten Entwicklungsverläufen ziemlich ähnlich ist. Am Anfang verwenden Kinder häufig, aber keineswegs immer, Namen da, wo ältere Kinder oder Erwachsene ein Pronomen gebrauchen. Für ihre eigenen Kinder Hilde, Günther und Eva haben Clara und William Stern den Beginn, das erste Auftreten von Wörtern zur Personbeziehung wie Eva, Papa, Ich und Du und auch die iJbergänge von der Kindersprache zur Zielsprache genau festgehalten. Dabei sind sie zunächst bei ihren eigenen Kindern auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede gestoßen, die sie durch Hinzunahme von weiteren verfügbaren Einzelfallstudien zum Spracherwerb versucht haben, genau zu bestimmen nach dem Motto: Wo hören die Gemeinsamkeiten auf und wo fangen die Unterschiede an? Mit anderen Worten: Die Sterns betrachten auf der Basis von einzelnen Spracherwerbsverläufen gleichzeitig universelle wie differenzielle Aspekte. Der Aufbau und Wandel der Personreferenz ist hierfür ein besonders günstiges Beispiel zur Illustration. Aus zwei Eintragungen aus den Tagebüchern der Sterns wird das mit einem Schlag klar. In einer Tagebuchnotiz vom 20.11.1901 hält Clara Stern fest, wann ihre erstgeborene Hilde sich zum ersten Mal selbst bezeichnet hat. "Gestern Abend zeigte ich Hilde ihre eigene Visitenphotographie und fragte: "Wer ist denn das?" Antwort: "Hilde Hilde hat dies kleine Bild wohl kaum gesehen, aber oft zeigen wir ihr unser Cabinettbild, wo sie mit uns zusammen photographiert ist und ließen sie "Papa JJ •
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Werner Deutsch und "Mama" zeigen, was schon lange richtig geschieht, aber auf ihr eigenes Conterfei hatte sie noch nicht richtig reagiert, trotz unseres wiederholten Zeigens und Benennen. Das geschah gestern zu ersten Mal."
Die erste Selbstbezeichnung ist der eigene Name, den Hilde bereits vorher nachgeahmt hatte, ohne allerdings die semantische Beziehung zwischen ihm und den eigenen Namen zu kennen. Da Namen feste Beziehungen zu Personen (und Gegenständen) haben, Pronomen dagegen variable Bezeichnungen für bestimmte kommunikative Rollen sind, bestätigt Hildes Beginn der sprachlichen Selbstreferenz alle Erwartungen. Beim zweiten Kind konstatiert Clara Stern in einer Tagebucheintragung vom 8.2.1904: "Wenn mit anderen etwas geschieht, wenn z. B. Hilde einen guten Happen bekommt, wenn ihr die Nase geputzt wird, gleich kommt der drollige Bub' und verlangt "I au, I au", soll heißen "Ich auch, Ich auch". Hier tritt zum ersten Male, wenn auch noch undeutlich, das Ich auf, was um so merkwürdiger ist, da dem Ich noch keine Spur von irgendeiner Eigennamennennung vorausgegangen ist. In der Regel tritt das "Ich" viel später auf."
Clara Stern ist überrascht, dass ihr Sohn Günther, der sich später bezeichnenderweise den Namen Anders zulegte, die erste Selbstreferenz mit einem Pronomen und nicht wie Hilde mit dem Namen ausdrückte. Auch das dritte Kind der Sterns bezeichnete sich zuerst pronominal, was jetzt für Clara Stern dann keine Überraschung mehr war. Unsere eigenen Untersuchungen zum Aufbau und Wandel der Personreferenz knüpfen da an, wo die Sterns zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgehört haben. Tritt der Geschwistereffekt nur zu Beginn der Entwicklung auf, oder ist er auch während des Übergangs von der Kindersprache zur Zielsprache nachweisbar? Berührt dieser Effekt nur die Seite des sprachlichen Ausdrucks oder wirkt er sich auch auf die perzeptuellen, kognitiven und motivationalen Prozesse des Erkennens von Personen aus? Treten bei ein- und zweieiigen Zwillingen Besonderheiten in der Entwicklung zu Tage, die bei einzeln - mit und ohne ältere Geschwister - aufwachsenden Kindern gar nicht vorkommen? Mit zig Kindern können wir genau die differentiellen und universellen Tendenzen in der Entwicklung der Personreferenz bestätigen, die die Sterns zunächst an ihren eigenen drei Kindern bemerkt hatten (vgl. Deutsch et al.,
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2001). Darüber hinaus können wir die oben genannten weiterführenden Fragen recht klar beantworten. Der Geltungsbereich des Geschwistereffekts ist auf die rein sprachliche Seite der Personreferenz beschränkt Er betrifft jedoch nicht nur die volitionale, d. h. Wünsche und Bedürfnisse artikulierende Funktion der Sprache, sondern auch die Funktion sachlichen Konstatierens. Bei Zwillingen treten Personreferenzen auf, die bis jetzt bei keinem Nicht-Zwilling beobachtet werden konnten. Sie schaffen eigene Bezeichnungen für die Zwillingsdyade wie .gaga' und .tata; bevor sie zum ersten Mal einzelne Personen benennen. Vielleicht macht dieses Beispiel zum Geschwistereffekt in der Entwicklung der Personreferenz deutlich, dass eine nicht-historisierende Anknüpfung an das immense Werk der Sterns möglich ist und hierbei theoretische Perspektiven aufscheinen, die bei einer ausschließlichen Fixierung auf den gegenwärtigen stateof theart gar nicht in den Blick kommen.
Clara Stern lesen Wer sich Clara Sterns Werk nähern will, sollte die beiden Bücher lesen, die sie gemeinsam mit ihrem Mann verfasst hat (Stern & Stern, 1907; Stern & Stern 1909). Beide Bücher sind nicht nur über Bibliotheken oder Antiquariate zugänglich, sondern in modernen Ausgaben (Stern & Stern, 1987; Stern & Stern, 1999) erhältlich, die über den Buchhandel erworben werden können. So weit, so gut! Doch wen lesen wir, wenn wir uns ein Buch von Stern & Stern vornehmen? Ist die Erstautorin Clara Stern tatsächlich die Verfasserin der Texte, oder hat Clara Stern ihrem Mann mit den Entwicklungstagebüchern nur zugearbeitet, so dass William Stern der wahre Autor von Stern & Stern ist? H. Sprung und L. Sprung sind 1996 der Frage nachgegangen, wie Frauen vom ausgehenden 19. bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts zur Psychologie als Wissenschaft gekommen sind. Sie unterscheiden fünf Einstiegsmodelle, von denen das Partnerinnenmodell, d. h. Frauen als private Mitarbeiterinnen ihrer Lebenspartner, am besten auf den Fall Stern & Stern passt. William Stern hat selbst immer wieder darauf hingewiesen (vgL Deutsch, 1994), dass seine Frau nicht nur das ausgeführt hat, was ihr Mann geplant hatte. Die Zusammenarbeit der Sterns funktionierte als eine Arbeitsgemeinschaft zwischen gleichwertigen Partnern. Äußeres Zeichen hierfür ist ein gemeinsames Arbeitszimmer mit einem gemeinsamen Schreibtisch gewesen, das von den 3 Sternkindern, besondere Anlässe ab-
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gesehen, nicht betreten werden durfte. Beim Lesen von .Stern & Stern' lesen wir also tatsächlich ,Stern & Stern'. Es gibt allerdings auch einen Weg zu Clara Stern, der nicht über ihren Mann läuft. Sie ist die Hauptverantwortliche für das große Tagebuchprojekt gewesen. Zu Lebzeiten sind in direkter oder indirekter Form (Meyer, 1914) nur Tagebuchauszüge publiziert worden. Ein Versuch, einen kommentierte Fassung der elektronischen Abschrift zu erarbeiten, ist am Einspruch eines Familienmitglieds gescheitert. Die Grenze zwischen Wissenschaft und Privatleben ist in den Tagebüchern fließend, so dass alle Personen, die in ihnen vorkommen, das Recht haben, ihre Privatsphäre vor dem Zugriff wissenschaftlicher Neugier zu schützen. Inzwischen liegt Clara Sterns allerletzte Tagebucheintragung 84 Jahre zurück. Von den in den Tagebüchern erwähnten Personen gehört vermutlich niemand mehr zu den Lebenden. Ist jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt gekommen, Clara Sterns Hauptwerk, die Entwicklungstagebücher, über Fachkreise hinaus durch eine Internetversion einer allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich zu machen? Statt einer Reise nach Jerusalem zu den Originaltagebüchern könnte dann jeder sie im Internet jederzeit besuchen. Es lohnt sich, die Person, die als Frau und Mutter zu einer hervorragenden Amateurwissenschaftlerin geworden ist, näher kennenzulernen. Ausgewählte Bibliographie Stern, C. & Stern, W. (1907). Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung. Leipzig: Barth. Stern, C. & Stern W. (1909). Erinnerung, Aussage und Lüge in der ersten Kindheit. Leipzig: Barth. Stern, C. & Stern W. (1999). Recollection, Testimony and Lying in Early ChiIdhood. Translator J.T. LamieiL Washington,DC: American Psychological Association.
Literatur Behrens, H. & Deutsch, W. (1991). Die Tagebücher von Clara und William Stern. In H. E. Lück & R. Miller (Hrsg.), Theorien und Methoden psychologiegeschichtlicher Forschung (S. 67-76). Göttingen: Hogrefe. Bühring, G., (1996). William Stern oder Streben nach Einheit. Frankfurt a. M.: Lang. Deutsch, W. (1994). Nicht nur Frau und Mutter - Clara Sterns Platz in der Geschichte der Psychologie. Psychologie und Geschichte, 3/4, 171-182. Deutsch, W. (1997). Im Mittelpunkt die Person: Der Psychologe und Philosoph William Stern (1871-1938). In M. Hassier & J.Wertheimer (Hrsg.), Der Exodus aus Nazideutschland und die Folgen (S. 73--90). Tübingen: Attempto.
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Deutsch, W., Wagner, A., Burchardt, R., Schulz, N. & Nakath, J. (2001). Person in the language of singletons, siblings and twins. In S. Levinson & M. Bowerman (Eds.), Language acquisition and conceptual development, (284-315). Cambridge: Cambridge. Lamiell, J. T. (2000). Stern, Louis William (1871-1938). A biographical sketch. In A. E. Kazdin (Ed.), Encyclopedia of Psychology. Washington,DC/New York:American Psychological Association an Oxford Press. Lück, H. E. & Löwisch, D.-J. (Hrsg.) (1994).Der Briefwechsel zwischen William Stern und [onas Cohn. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Meyer, T. (1914). Aus einer Kinderstube. Tagebuchblätter einer Mutter. Leipzig: Teubner. Michaelis-Stern, E. (1991b). Daten über das Leben von Clara Stern, gebe Joseephy. [erusalem: Unveröffentlichtes Typoskript. Neyer, M. Amata OCD, Brief vom 12.11.2001 aus Köln an Werner Deutsch in Braunschweig. Peine, S. (0. J.). Clara Stern, vermutlich erschienen in der Zeitschrift IIAutbau" Schmidt, W. (1993). William Stern. In Lück, H. E. & Miller, R. (Hrsg.), illustrierte Geschichte der Psychologie (5.124-124). München: Quintessenz. Sprung, H. & Sprung, L. (1996). Frauen in der Geschichte der Psychologie - Integrationsformen in die Psychologie und Vortragsaktivitäten auf deutschen Psychologiekongressen 1904-1978. In H. Gundlach (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte der Psychologie und Psychotechnik (S. 205-222). München/Wien: Profil. Stern, W. (1914).Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahr. Mit Benutzung ungedruckter Tagebücher von Clara Stern. Leipzig: Quelle & Meyer. Stern, W. (0. J.). Selbstdarstellung. Manuskript Department of the [ewish National and University Library of the Hebrew University Jerusalem.
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Melanie Klein: Die Psychoanalyse des Kindes
,.Meine Vorschläge zur Theorie bauen sidt in allen Stücken auf dem von Freud übermittelten Wissensschatze auf. Indem ich seine Resultate auf die Psyehoanal}'Be des Kindes anwandte, fand ich den Zugang zur Psyd1e des kleinen Kindes und die Möglichkeit,. es zu lII\alysieren und zu heilen" (Me1anie Klein, 1932,S. 3).
Biographie
Die formativen Jahre der Psychoanalyse waren in hohem Maße geprägt von Frauen mit oder ohne akademische Ausbildung. die die noch. junge Wissenschaft zu ihrer intellektuellen Heimat und Profession machten und wesentliches zu ihrer theoretischen Ausdifferenzierung und zur Ersdilie/lung neuer Anwendungsfelder beitrugen. Tatsächlich bildete die Psychoanalyse von Beginn an eine vergleichsweise rühmliche Ausnahme im Kanon der Wissenschaften.. wenn es darum ging, der Intellektualität und wissenschaftlichen Ambitianiertheit von Frauen eine weitgehend vorbehaltlose Anerkennung und Respekt zu zollen. Der Anteil von Psychoanalytikerinnen an der Erschließung des psychoanalytischen Gegenstandsfeldes, an alt den unterschiedlichen Themenbereichen, denen sich.die Psychoanalyse zuwandte, aber auch an der Bildung von Organisationsstrukturen, ohne die sich eine junge Wissenschaft nicht etablieren kann, ist beträchtlich. Melanie Klein ist neben .Anna Freud. sicherlich die bekannteste Exponentin jener .Lajenanalyukertnnerr; wie die nichtärztlichen PsychoanalytikerInnen genannt wurden, und gilt als Begründerin der Objektbeziehungstheorie. Geboren als Melanie Reizes in Wien am )0. März 1882 als viertes von vier Kindern des Ehepaars Moriz und Ldbussa Reizes, wuchs Melanie in S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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einem bürgerlich-jüdischen Elternhaus auf. Ihr Vater entstammte einer streng orthodoxen Familie aus Lemberg (Galizien), aus deren Tradition er sich im Verlauf seines gegen den väterlichen Willen aufgenommenen Medizinstudiums löste. Ihre Mutter Libussa, Tochter einer kultivierten und angesehenen Rabbinerfamilie, war die zweite Ehefrau des Vaters und mehr als zwanzig Jahre jünger als dieser. Die Familie übersiedelte vor Melanies Geburt nach Wien, und lebte dort unter zunächst sehr bescheidenen Verhältnissen von den spärlichen Einkünften einer zahnärztlichen Praxis. Erst durch das Erbe von Moriz Reizes Vater gelangte die Familie zu ein wenig finanzieller Sicherheit und schaffte so den Anschluß an die bürgerliche Mittelschicht Wiens. Melanie war das Lieblingskind der Mutter. Das Verhältnis zu ihrer ältesten Schwester Emilie (Ihrg, 1876), ihrerseits vom Vater bevorzugt, wird von ihr als von jeher sehr zwiespältig beschrieben. Als Melanie vier Jahre alt war, starb ihre nächstältere Schwester Sidonie (Jhrg. 1878)mit nur acht Jahren an Tuberkulose. Von großer Bedeutung schien die Beziehung zu ihrem fünf Jahre älteren Bruder Emanuel (Jhrg. 1877) gewesen zu sein, dem sie innig verbunden war und dessen Intellektualität sie sehr bewunderte. Tatsächlich gehörte die Absicht, Medizin zu studieren, bereits früh zu ihrem Lebensentwurf, was sich aber, zu ihrem tiefen und noch in späteren Jahren geäußerten Bedauern, nicht realisierte (vgl. Geissmann & Geissmann, 1998, Sarr). Mit 21 Jahren, im Jahr 1903, heiratete Melanie Reizes nach längerer Verlobungszeit den einige Jahre älteren Chemie-Ingenieur Arthur Klein. Arthur Klein war ein Freund ihres Bruders Emanuel, der infolge einer rheumatischen Herzerkrankung nur wenige Monate zuvor und zudem im gleichen Jahr wie der Vater verstorben war. Das Paar ließ sich in Rosenberg (Ungarn), dem Heimatort Arthurs, nieder, wo in den folgenden Jahren ihre beiden Kinder Melitta (1904) und Hans (1907) zur Welt kamen; ihr drittes Kind Ernst wurde erst 1914 in Budapest geboren. Nach eigenem Bekunden empfand Melanie Klein ihre Heirat bereits sehr früh als eine Fehlentscheidung (vgl. J. Segal, 1992, S. 5 sowie Grosskurth, 1993, S. 26, S. 51). Tatsächlich litt sie von Beginn ihrer Ehe an unter Depressionen, die sich - im Verlauf der Schwangerschaften und als Reaktion auf die empfundene Enge des Lebens in der Provinz - zunehmend verstärkten und neben einem mehrmonatigen Sanatoriumsaufenthalt in der Schweiz (1909) auch zur Folge hatten, daß ihre Mutter, anfänglich nur Gast im Hause Klein, ganz zu ihr und ihrer Familie zog, dort die Führung des Haushaltes übernahm. Zwar erlaubte dies längere Phasen der Abwesenheit, verstrickte Melanie aber zugleich in eine unüberschaubares Geflecht von Schuldgefühlen und Abhängigkeit mit ihrer
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Mutter, worunter auch ihre Ehe zunehmend zu leiden schien - eine Entwicklung, die Libussa wohl aktiv herbeiführte (vgl. Grosskurth, 1993, S. 64, S. 71). Der Umzug nach Budapest 1911, Arthur Klein hatte sich von seiner Firma auf Melanies Drängen dorthin versetzen lassen, war für diese sehr bedeutsam. Zum einen lockerte sich, zumindest äußerlich, die mütterliche Umklammerung und zum anderen fand sie hier die ersehnte intellektuelle und kulturelle Anregung (Segal, 1979, S. 31). Tatsächlich besserte sich ihr Zustand, allerdings nur vorübergehend.
Die Begegnung mit der Psychoanalyse 1913 und 1914 erlitt sie, ausgelöst durch ihre Schwangerschaft mit Ernst und, nach Ernsts Geburt 1914, durch die Krebserkrankung und den Tod ihrer Mutter, neuerliche schwere depressive Schübe, die sie dann auch veranlassten, sich in Analyse bei Sandor Ferenczi (1873-1933), einem der nächsten Schüler Freuds, zu begeben. Nach eigenem Bekunden war es die Lektüre von Freuds Schrift "Über den Traum" (1901a), die sie zu der Entscheidung führten. Aus der Hilfesuchenden wurde schnell eine engagierte Schülerin der Psychoanalyse, die sich, ermutigt von Ferenczi, besonders der noch in ihren ersten Anfängen steckenden Kinderanalyse widmete (Segal, 1979, S. 31). Einer heute umstrittenen, damals aber durchaus üblichen Vorgehensweise folgend, waren ihre eigenen Kinder ihre ersten Probanden. Bereits 1919, nach dem Ende ihrer Analyse, trug sie in der Ungarischen Vereinigung die 1921 auch veröffentlichte Fallstudie einer Kinderanalyse vor - de facto handelte es sich um ihren Sohn Erich - und wurde sogleich als Mitglied aufgenommen (vgl. Geissmann & Geissmann, 1998, S.113). Die Hochblüte der Psychoanalyse in Ungarn wurde durch die Machtübernahme des repressiven Horty-Regimes beendet und der aufkommende Antisemitismus vertrieb auch die Familie Klein aus Budapest, was sich hier mit einer, nur vordergründig beruflich motivierten, räumlichen Trennung von Arthur und Melanie verband. Melanie selbst bezeichnete es als "das Vorspiel zu unserer endgültigen Trennung" (vgl. Grosskurth, 1993, S. 111).
Die Berliner Jahre und dieAnfänge der Kinderanalyse 1920 traf Melanie Klein den Begründer des Berliner Psychoanalytischen Instituts, Karl Abraham (1877-1925), auf einem Kongreß der ,Internatio-
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nalen Psychoanalytischen Vereinigung' in Den Haag und faßte sogleich den Entschluß, nach Berlin zu ziehen (1921), dort zu praktizieren und ihre Analyse bei ihm fortzusetzen (1924). Tatsächlich fand sie in Abraham, einem engen Schüler Freuds, einen engagierten Förderer ihrer kinderanalytischen Studien (Segal, 1979, S. 32), die allerdings, ebenso wie ihre Person, im Kreis der Berliner Gruppe alles andere als unumstritten waren. 1923 wurde sie Mitglied der ,Berliner Psychoanalytischen Gesellschaft; gegen die Ressentiments und Vorbehalte der übrigen Mitglieder von Abrahams Autorität geschützt. In der Periode von 1924-25 überschlugen sich die Ereignisse im Leben Melanie Kleins: abgesehen von dem Analysebeginn bei Abraham und der endgültigen Trennung von ihrem Mann Arthur (das genaue Jahr ist ungesichert), der zwischenzeitlich ebenfalls nach Berlin gezogen war, heiratete ihre Tochter Melitta den Psychoanalytiker Walter Schmideberg. Außerdem datiert in diese Zeit eine für sie sehr bedeutsame, indes unglückliche Liebesaffäre mit dem Berliner Journalisten C. Z. Kloetzel (vgL Grosskurth, 1993, S. 177 ff.). Als Karl Abraham Ende 1925 unerwartet starb, kam nicht nur ihre Analyse zu einem jähen Ende, auch ihr weiterer Verbleib in Berlin schien angesichts ihrer prekären Position dort unmöglich (a. a. 0., S. 33). Seit Beginn ihrer Berliner Jahre unterhielt sie enge Beziehungen zu einigen Mitgliedern der British Society, insbesondere zu Ernest [ones (1879-1958), dem Begründer der Londoner Gruppe und zu [oan Riviere (1883-1962), einem weiteren Gründungsmitglied der ,British Psychoanalytical Society' und Analysandin Freuds sowie zu Alix Strachey, einer Analysandin Karl Abrahams (vgl. Gast, 1996). Nach einer erfolgreichen Vortragsreise nach London im Jahr 1925 folgte sie im darauffolgenden Jahr deren Einladung, sich dauerhaft in London niederzulassen, und erwarb bereits 1927 die Mitgliedschaft in der ,Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft',
Die .Londoner Schule" der Kinderanalyse In England erfuhr ihre theoretische Arbeit im Bereich der Kinderanalyse sehr viel mehr Wertschätzung als im kontinentalen Europa und sie prägte den Diskurs der englischen Psychoanalyse nachhaltig. Tatsächlich verschaffte sie der Britischen Psychoanalyse, aufgrund ihrer Arbeit nun ein nicht zu überhörender Impulsgeber in der psychoanalytischen Kinderanalyse, die ersehnte Profilierung angesichts der federführenden psychoanalytischen Gruppen in Wien und Berlin (vgl. Gast a. a. O.),ja mehr noch: die Londoner
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Schule der Kinderanalyse, als welche sie nun firmierte, avancierte gar zur Herausforderin der I1Wiener Schule" um Anna Freud. Doch auch hier, in der Britischen Gesellschaft, formierten sich ab etwa 1935 die Kritiker ihrer Entwürfe, allen voran ihre eigene Tochter Melitta, mittlerweile selbst Analytikerin, die später zu ihrer erbittertsten Feindin in den sogenannten I1Controversial Discussions", einer Grundsatzdiskussion um Kleins Theorien, in den vierziger Jahren wurde (vgl. King & Steiner, 2000). Bereits auf dem 1927 in London veranstalteten Symposion über Kinderanalyse, das sich kritisch mit Anna Freuds Buch über Kinderanalyse auseinandersetzte, wurde der Konflikt mit der Wiener Gruppe, die Kleins Arbeiten verwarf und Anna Freuds Auffassungen zur Kinderanalyse den Vorzug gab, virulent. Mit der Emigration der Familie Freud nach London im Jahr 1938jedoch wurde die Statik der englischen Vereinigung jedoch nachhaltig erschüttert, befand sich doch Kleins Kontrahentin Anna Freud nun in unmittelbarer Nähe, was letztlich zu einer, wenn auch nicht formell vollzogen, so doch internen Spaltung der ,British Psychoanalytical Society' führte (vgl. Brühmann, 1996). Die Gruppe der Kleinianer blieb ab Mitte der vierziger Jahre eher für sich, regelte ihre Ausbildung intern und bildete einen eigenständigen Diskurs aus, in dessen Mittelpunkt Melanie Klein durch ihr persönliches Engagement in der Ausbildung wie auch durch ihre anhaltende theoretische Produktivität stand. Bis zu ihrem Tod im Jahre 1960entwickelte sie ihre Theorie der frühen Objektbeziehungen immer weiter und schuf damit ein hochkomplexes und für heutiges psychoanalytisches Denken und klinisches Handeln essentielles Theoriegebäude. Rezension: Die Psychoanalyse des Kindes Melanie Kleins Erkenntnisinteresse bediente sich Freudscher Einsichten, die sie auf eine Entwicklungsphase richtete, die Freud, zumindest in systematischer Weise, nur ungenügend konzeptualisierte: die des Kleinstkindes und dessen innere Verfaßtheit. Während Freud die Strukturmomente der kindlichen Psyche gleichsam retrograd aus der Analyse des Erwachsenen erschloß, führte Klein das Kind sui generis in das Forschungsfeld der Psychoanalyse ein (vgl. Frank 1999). Diese auf das Kleinkind fokussierte Perspektive begreift in Kleins Denken unablösbar die Frage nach den frühesten Objektbeziehungen ein. Sie entfaltete ihre Überlegungen konsequent im Kontext der zweiten Triebtheorie Freuds, wobei sie Freuds ModelIierung des Todestriebes als primäres Strukturmoment des Psychischen exponier-
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te, So essentielle metapsychologische Konzepte wie das Unbewußte, die Wirkweise der Triebkonflikte, der Übertragung und des iJber-Ichs ebenso wie den Ödipuskomplex, den sie in der kindlichen Entwicklung zeitlich weit vorverlegte, wertete sie, im krassen Gegensatz zu ihrer Kontrahentin Anna Freud (vgl. Beitrag von Mühlleitner in diesem Band), als relevant und bedeutsam von Beginn des psychischen Lebens an, was nicht zuletzt die Perspektive nahelegt, daß sich die Analyse des Kindes von der des Erwachsenen substantiell nicht unterscheidet, sondern vielmehr analog verläuft. Auch hier also sind, so Kleins Auffassung, die sie durch umfangreiches klinisches Material zu belegen suchte, bereits Übertragungsprozesse am Werk, die der Deutung zugänglich sind und es gilt, die Emanationen des (kindlichen) Unbewußten zu entschlüsseln. Allein das Medium, in dem sich dies ereignet und welches unbewußten Prozessen Gestalt verleiht, unterscheidet sich bei Erwachsenen und bei Kindern. "Meine Beobachtungen ergaben, dass sich auch beim Kinde eine Übertragungsneurose entwickelt, die der beim Erwachsenen analog ist, sofern nur beim Kinde eine der Erwachsenenanalyse adäquate Methode (d. h. ohne pädagogische Beeinflussung und mit voller Analyse der auf den Analytiker gerichteten negativen Regungen) zur Anwendung kommt. Ich fand, dass die Strenge des Über-Ichs beim Kinde in allen Altersstufen selbst durch tiefgehende Analyse nur sehr schwer gemildert werden kann, und dass die Herabsetzung der Strenge des ÜberIchs auch ohne erzieherische Beeinflussung seitens des Analytikers zu keiner Schädigung, sondern zur Stärkung des Ichs führt" (Klein, 1932, S. 12).
Diese Einsicht Kleins war die Geburtsstunde der Spieltechnik, in der alle kindlichen Ausdrucksweisen, allen voran und paradigmatisch das Spiel, gleichsam als präsymbolische Formen und damit als Äquivalent zur Sprache und zum (sprachlich vermittelten) Traum bzw. zur freien Assoziation betrachtet wurden. Diese Betrachtungsweise eröffnete ihr die konzeptuelle Entfaltung ihrer Grundannahme, nämlich die von der Bedeutung und Struktur einer von der realen äußeren Welt weitgehend unabhängigen Innenwelt, die von phantasmatischen, den Triebkonflikten entstammenden (Teil-) Objekten bevölkert ist. Es sind dies also innere Objekte, die ihrerseits, um es pointiert zu formulieren, Emanationen der (konstitutionell-anthropologisch gegebenen und genuin konfliktuösen) Triebstruktur des Subjekts sind. Mit dieser Gegenstandsbildung verließ sie den Bereich beobachtba-
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ren Verhaltens zugunsten der analytischen Reflexion subjektkonstitutiver Strukturmomente der conditio humana. In ihrer zum Klassiker der Kinderanalyse gewordenen Monographie "Die Psychoanalyse des Kindes", 1932 in deutscher und englischer Sprache erschienen und ihrem Berliner Lehrer Karl Abraham gewidmet, legt Melanie Klein Rechenschaft über ihre Forschungen bis zu diesem Zeitpunkt ab. Es ist dies zwar keine Fassung ihrer Theorie letzter Hand - bedeutsame theoretische Konzepte wie das der paranoid-schizoiden und der depressiven Position sowie ihre Überlegungen zu Neid und Dankbarkeit sollten erst in den darauffolgenden Jahren folgen - ihm gebührt aber doch der Rang eines Grundlagenwerkes, insofern die hier explizierten technischen Prinzipien der Kinderanalyse danach keinen nennenswerten Veränderungen mehr unterworfen wurden, hier also ihre endgültige Formulierung fanden. Zudem gewährt es einen unschätzbaren Einblick in die Entwicklung Kleinianischen Denkens, das sich, ausgehend von der Kinderbeobachtung und der in der klinischen Situation entwickelten Spieltechnik in immer dezidierter werdender Weise mit den Wirkungen des Todestriebs in der kindlichen Psyche befaßt. Das heißt, in diesem Buch wird man Zeuge der sukzessiven Verfertigung einer Theorie, denn in seinem Duktus bildet sich der Übergang und Zusammenhang von Beobachtung, deren Deutung, der Entwicklung der analytischen Technik und einer theoretisch-metapsychologischen Konzeptualisierung in besonders eindrücklicher Weise ab. Das Buch selbst besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil geht auf die Vorlesungsreihe in der ,British Psycho-Analytical Society' 1925 zurück, mit der sie ja den Grundstein ihrer Karriere in England legte. In diesen Vorlesungen erläutert sie die Kernprinzipien der von ihr entwickelten Technik der Kinderanalyse und deren spezifische Anwendung in den verschiedenen Altersgruppen. Der zweite Teil indes ist, au~~ehend von der klinischen Erfahrung der Kinderanalyse, theoretischen Uberlegungen gewidmet und bildet, wollte man diese werkgeschichtlich einordnen, das Fundament, auf dem ihre später elaborierten Entwürfe beruhen. In ihn gehen ihre zahlreichen Vorarbeiten der vorangegangenen Jahre ein und erfahren eine im Grunde gegenstandsbildende Verdichtung, die die Richtung ihrer nachfolgenden (metapsychologischen) Forschung definiert. Damit geht eine Ausweitung der Perspektive einher, insofern Klein die kinderanalytischen Befunde wiederum auf die Psychoanalyse Erwachsener anwendet und deren theoretische Auswertung als Beitrag zu einer allgemeinen psychoanalytischen Theorie der frühesten Entwicklungsstufen" (Klein, 1932, S. 3) versteht. 11
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Klein untersucht hier vorrangig die Auswirkungen früher Angstsituationen auf die kindliche psychosexuelle Entwicklung. Den Hintergrund dieser frühen Angstsituationen nun bilden nicht vordergründig äußere Ereignisse, sondern die konflikthaften Prozesse in der kindlichen Innenwelt, wie sie sich vor allem durch die Frühstadien des ödipalen Konflikts sowie durch die in diesem Kontext erwachsene archaische Grausamkeit der frühen Über-Ich-Struktur, jenem Vorläufer des Gewissens, ergeben. Melanie Kleins Auffassung des Ichs als gleichsam innere, aus .guten' und .bösen' Teilobjekten gebildete Welt sowie die zentrale Bedeutung, die der Sadismus (gegenüber diesen phantasmatischen, gleichwohl hochspezifischen Objekten) in der kindlichen Psyche spielt, erfährt hier eine weitere Ausdifferenzierung, die für die spätere metapsychologische Grundlegung ihrer Theorie von entscheidender Bedeutung sein wird: so exponiert sie nun die Angst - und nicht den libidinös-narzißtischen Lustanspruch wie Freud - als Motor der Entwicklung und als Strukturanten des Psychischen. Die Angst, so ihre bereits früh entwickelte und hier ausformulierte Kernthese, antwortet auf destruktive Impulse, wie sie dem Psychischen genuin eigen sind. Ausgehend von dieser Denkfigur wendet sie sich nun verstärkt der Analyse der sadistischen, gegen die Objekte gerichteten Impulse zu und beschreibt diese erstmals explizit als Abkömmlinge des von Freud seit 1919 vorgeschlagenen Todestriebs. Dieses von der psychoanalytischen seientiftc community äußerst kontrovers aufgenommene Konstrukt fand Kleins ungeteilte Zustimmung, insofern es ihr die metapsychologische Konsolidierung ihrer Auffassung von der entscheidenden Rolle der Angst für die frühe psychische Entwicklung erlaubte. Zugleich verhalf ihr Freuds zweite Triebtheorie des Lebens- und Todestriebes und der daraus abzuleitenden grundsätzlichen Konflikthaftigkeit gleichzeitiger Liebes- und Haßimpulse (gegen das Objekt) zu einem entscheidenden Durchbruch in der theoretischen Verankerung zweier auf klinischen Beobachtungen beruhenden Annahmen, die sich als die Kernkonzepte ihres gesamten CEuvreserweisen sollten: die Konzepte der paranoid-schizoiden und der depressiven Position, mit denen sie zwei sowohl entwicklungspsychologisch als auch strukturell relevante Modi psychischen Funktionierens und des Objektbezugs bezeichnet. Diese Entwürfe werden erst in ihren nachfolgenden Arbeiten modelliert - die Arbeit an der Formulierung der depressiven Position beginnt 1935 mit der Schrift "Zur Psychogenese der manisch-depressiven Zustände" und die Ausarbeitung der paranoid-schizoiden Position folgt dann knapp zehn Jahre später, ab etwa 1946 mit der Arbeit "Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen" - doch in der hier im Mittelpunkt stehenden
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Monographie "Die Psychoanalyse des Kindes" liegen die Voraussetzungen hierfür gleichsam als noch ungehobener Schatz. Der Hauptfokus ihrer theoretischen Betrachtungen hier, 1932, liegt in der Bindung der Angst an den Todestrieb und auf der theoretischen Erschließung des Zusammenhanges zwischen Todestrieb, Angst und Über-Ich, dessen Entstehung sie aus dem engen Kontext der ödipalen Konfliktsituation, in den Freud die Über-Ich-Bildung stellte, teilweise herausnimmt, indem sie eine frühe (Vorläufer-) Struktur postuliert, die als Abwehr gegen bedrohliche Todestriebimpulse dient und sich in diesem frühkindlichen Kontext zunächst als A~gst und erst dann als Schuldgefühl bemerkbar macht. Jenes archaische Uber-Ich stellt, um dies kurz zu präzisieren, die auf phantasmatische Objekte projizierte und das Selbst bedrohende eigene Destruktivität dar, ist also, wie Money-Kyrle (1975, S. XIX) betont, eine paranoid-schizoide und nicht ich-syntone Struktur. Erst die integriertere und realistischere Wahrnehmung der Objekte, wie sie in der depressiven Position möglich wird, und das Aufscheinen depressiver Schuldgefühle aufgrund der vorangegangenen Angriffe gegen das (Liebes-) Objekt hat schließlich eine Umbildung des Über-Ichs zur Folge. Zu erwähnen bliebe noch ein weiterer diskursiver Strang, der vor allem den zweiten Teil des Buches durchzieht, in dieser Ausdrücklichkeit indes in Kleins Werk singulär bleibt: die Diskussion der Geschlechterdifferenz. Von 1923 an bis zur Emigration der Psychoanalytischen Gemeinschaft aus dem kontinentalen Europa war die Debatte um die sogenannten Weiblichkeitstheorien der Psychoanalyse ein markanter Topos, in deren Verlauf die Freudsche Position angegriffen und alternative Entwürfe entwickelt wurden. Eine Kontroverse entfachte Freuds Vorstellung, das kleine Mädchen konzeptualisiere sich als kleiner Mann/Junge, bis es durch die Entdeckung seiner Penislosigkeit eines Besseren belehrt werde und dadurch in eine überaus konflikthafte psychische Situation gerate, aufgrund derer sich ihre Entwicklung zur Weiblichkeit hin vollziehe. Die Gegner dieser Auffassung propagierten eine genuine psychische Repräsentanz der Zweigeschlechtlichkeit und bestanden darauf, daß sich das kleine Mädchen sehr wohl von Beginn an als weiblich begreife. Zu dieser Sichtweise nun neigte auch Klein, und man kann ihre Untersuchungen zur Angst und deren unterschiedliche Auswirkungen auf die Sexualentwicklung des Mädchens und des Jungens, wie sie dies im zweiten Teil ihres Buches ausführlich vorstellt, als sehr originären und überaus differenzierten Beitrag zu dieser Debatte lesen, der auch für die heutige Gender-Debatte noch anregend ist. Melanie Kleins Arbeiten haben von ihrer Aktualität und diskursiven
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Bedeutung nichts eingebüßt; im Gegenteil, die kleinianische Tradition hat einen festen Platz im Spektrum der psychoanalytischen Theoriebildung eingenommen. Was als Interesse an der Analyse von Kindern, also als ein recht umschriebenes Forschungsgebiet begann, wurde im Lebenswerk Kleins zu einem allgemeinen, diesen Anwendungsbereich überschreitenden psychoanalytischen Entwurf über die Bedingungen der menschlichen Subjektkonstitution, der das große Projekt der Aufklärung Freuds über die conditio humana in origineller Weise weiterentwickelt und das psychoanalytische Denken in hohem Maße bereichert hat.
Ausgewählte Bibliographie Das Gesamtwerk Melanie Kleins (GSK) ist seit 2002 in deutscher Ausgabe zugänglich: Klein, M. (1995-2002). Gesammelte Schriften. (4 in 6 Bde). In Ruth Cycon (Hrsg.), Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog. (1920) Familienroman in statu nascendi. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 6, 151-155. In: GSK 1,1. (1923 a) Zur Frühanalyse. Imago, 9,222-259. In: GSK 1,1. (1927 a) Symposion on Child Analysis. International Journal of Psycho-Analysis, 8, 339-370. Dtsch. in: GSK 1,1. (1928a) Frühstadien des Ödipuskonfliktes. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 14, 65-77. In: GSK 1,1. (1930a) Die Bedeutung der Sym.bolbildung für die Ich-Entwicklung. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 16, 57-72. In: GSK 1,1. (1932) Die Psychoanalyse des Kindes. Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. GSK II. (1935) Zur Psychogenese der manisch-depressiven Zustände. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 23, (1937), 275-305. In: GSK I, 2. (1946) Notes on some schizoid mechanisms. (Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen). International Journal of Psyche-Analysis, 27, 99-110. Dtsch. in: GSK III. (1948) A contribution to the theory of anxiety and guilt. (Beitrag zur Theorie von Angst und Schuldgefühl). International Journal of Psycho-Analysis, 29, 114-123. Dtsch. in: GSK m. (1952 c) Some theoretical conclusions regarding the emotionallife of the infant. (Theoretische Betrachtungen über das Gefühlsleben des Säuglings). In: P.Heimann, S. Isaacs, M. Klein, J. Riviere, Developments in Psycho-Analysis. London: Hogarth. Dtsch. in: GSK In. (1955 a) The psycho-analytic play-technique. Its history and significance. (Die psychoanalytische Spieltechnik: ThreGeschichte und Bedeutung). In: P.Heimann, M. Klein, R. MoneyKyrIe (Hrsg.), New Directions in Psycho-Analysis. The Significance of Infant Conflict in the Pattern of Adult Behaviour. London: Tavistock. Dtsch. in: GSK In. (1957 b) Envy and Gratitude. A Study of Unconscious Sourees. (Neid und Dankbarkeit. Eine Untersuchung unbewußter Quellen). London: Tavistock. Dtsch. in: GSK In. (1961) Narrative of a Child Analysis. The Conduct of the Psycho-Analysis of children as seen in the Treatment of a Ten-Year-Dld-Boy. (Der Fall Rich.ard.Das vollständige Protokoll einer Kinderanalyse, durchgeführt von Melanie Klein). London: Hogarth. Dtsch.: München: Kindler, 1975.
Melanie Klein
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Elfriede Bülmann-Mahecha
Rosa Katz: Auf der Suche nach einer kulturpsychologischen Entwicklungspsychologie
nEs fällt alles, was das Spezifische der Kultur des Menschen dieses oder jenes Landes ausmadrt, ihr Lebensinhalt, durch die Maschen der B11gemeinen Psychologie hindurch" (Katz &: Kau. 1928,. S. 34).
Biographie· "Und noch mit über 85 Jahren musste sie, um sich wohl zu fühlen, immer arbeiten.H So erinnert sich Gregor Katz, der jüngere der beiden Söhne, an seine Mutter Rosa Katz.' Den Höhepunkt ihrer Karriere aber erlebte sie gemeinsam mit ihrem Mann David Katz, als dieser 1951 den XIII. Internationalen Kongress in Stockholm ausrichtete. Teilnehmer erinnem sich an sie als eine glänzende Gesellschafterin,; gleichwohl war sie auf diesem Kongress auch mit einem eigenen Beitrag vertreten. Für diese weibliche Doppelrolle - Frau und private Mitarbeiterin eines namhaften Wissenschaftlers und gleichzeitig selbst Wissenschaftlerin - gibt es nach Helga und Lothar Sprung (1996) viele Beispiele in der Geschichte der Psychologie. Rosa Katz, geh. Heine und weitläufig mit Heinrich Heine verwandt, bewegte sich im Laufe ihres Lebens in verschiedenen geographischen. politischen und sprachlichen Kulturen. nicht immer auf eigenen Wunsch. Am 9. April 1885 in Odessa (Ukraine) als Zweitälteste von vier Kindern eines
deutschsprachigen Vaters und einer russischsprachigen Mutter geboren,
erlebte sie ihr erstes Schuljahr in Alexandria in Ägypten. wo ihr Vater als Ingenieur tätig war. Zurück in der Ukraine, besuchte sie dort ein Mädchengymnasium mit einer Zusatzausbildung zur Lehrerin. Eine feste AnS. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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stellung wurde ihr als Jüdin allerdings verweigert. Im Aufstand von 1905 pflegte sie Verwundete; ihr jüngerer Bruder Gregor, Steuermann auf See, wurde wegen sozialistischer Agitation nach Sibirien verbannt, nach seiner Rückkehr erneut verhaftet und vermutlich im Gefängnis getötet. Rosa Heine besuchte nach ihrem Abitur die höheren Frauenkurse an der Historisch-Philologischen Fakultät und hörte u. a. Verlesungen in Psychologie. Um ihre Psychologie-Kenntnisse zu erweitern und da die russischen Universitäten infolge der Unruhen oft geschlossen waren, ging sie 1907 auf Empfehlung eines Freundes und finanziert vom Vater nach Göttingen. Die gute Schulbildung, die das Mädchen Rosa Heine erfuhr, und die großzügige Unterstützung ihres Studiums in Deutschland sind sicherlich nicht nur ihrer bürgerlichen, sondern auch ihrer jüdisch-liberalen Herkunft zu verdanken, in der die Bildung der Kinder erste Priorität besitzt. Zu jener Zeit konnten sich Frauen noch nicht an deutschen Universitäten immatrikulieren, Rosa Heine erwirkte eine Genehmigung als Hörerin bei Georg Elias Müller und dessen Assistenten David Katz. Weiterhin hörte sie bei Edmund Husserl und Leonard Nelson. Mit letzterem verband Rosa Heine eine enge, freundschaftliche Beziehung, wie der erhaltene Briefwechsel belegt," 1913 promovierte sie bei Georg Elias Müller und war dann an der Odenwaldschule unter der Leitung von Paul Geheeb als Lehrerin tätig. Bei Kriegsausbruch musste sie aufgrund ihrer russischen Staatsangehörigkeit die Odenwaldschule verlassen und zog zu einem Onkel nach Berlin. Dort war sie u. a. wissenschaftliche Assistentin bei Hermann Cohen und bei Max Dessoir. Ihr späterer Mann David Katz, der sich 1911 in Göttingen habilitierte, war freiwilliger Kriegsteilnehmer. 1919 erhielt er einen Ruf an die Universität Rostock auf eine neue Professur für Pädagogik und Philosophie. Im gleichen Jahr heiraten David Katz und Rosa Heine. David Katz gründete in Rostock das Psychologische Institut und errichtete eine tierpsychologische Forschungsstation. Nach der Geburt der beiden Söhne Wilhelm Theodor 1920und [ulius Gregor 1922 intensivierten David und Rosa Katz in enger Zusammenarbeit ihre kinderpsychologischen Forschungen und verfassten pädagogische Schriften. Dabei dienten ihnen u. a. die Tagebücher, die sie über ihre beiden Kinder führten, als Quellenmaterial. 1933 wurde David Katz als Jude infolge des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" "beurlaubt Als freiwilliger Kriegsteilnehmer konnte er nicht einfach entlassen werden; deshalb wurde seine Professur kurzerhand abgeschafft (vgl. Geuter, 1984, S. 99 f.). Er erhielt eine Einladung als Research Fellow nach Manchester (England) und war ab 1935 ll •
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in London tätig, wohin ihm seine Familie folgte. In London konnte David Katz unter Assistenz von Rosa Katz seine tierpsychologischen Forschungen fortsetzen, bis er 1937 einen Ruf an die Universität Stockholm auf eine Stiftungsprofessur für Pädagogik und Psychologie erhielt. Die Familie musste also innerhalb von vier Jahren zweimal das kulturelle und sprachliche Umfeld wechseln - besonders Schweden erlebten David und Rosa Katz als relativ fremd. Für Rosa Katz war es nach Deutschland und England bereits der dritte Wechsel des Landes und die vierte Sprache, in der sie heimisch werden musste. Diese Erfahrungen dürften nicht unwesentlich zu ihrer Sensibilität für kulturelle Einflüsse auf die kindliche Entwicklung beigetragen haben. Im Institut in Stockholm hatte Rosa Katz zwar eine Abteilung für Kinderpsychologie mit zwei oder drei Räumen inne, aber nie eine eigene Universitätsstelle. Eine solche wurde von ihr auch nicht angestrebt, um sich nicht dem Verdacht des Nepotismus auszusetzen. Ihre einzigen eigenen Einnahmequellen waren Hörergelder für Psychologische Diagnostik, Honorare für Veröffentlichungen und einige Kindertherapien. Ihre bekannteste Arbeit ist das zusammen mit David Katz veröffentlichte Buch "Gespräche mit Kindern" (1928); des Weiteren arbeitete sie u. a. über Erziehungsfragen, über die Verständigung verschiedensprachiger Kinder, über Neologismen und Schimpfwörter bei Kindern und über die Kompensationsfähigkeit. In größeren Arbeiten nach dem Tod von David Katz im Jahre 1953 untersuchte sie die philologische Frühbegabung, die Einstellung zum eigenen Vornamen und widmete sich der Gerontopsychologie. Darüber hinaus besorgte sie die zweite, erweiterte Auflage des ursprünglich von David Katz herausgegebenen "Handbuch der Psychologie", das in mehreren Sprachen erschien. Am 26. März 1976 ist Rosa Katz verstorben. Hält man sich die verschiedenen Lebensumstände von Rosa Katz und das in allen Lebensphasen Geleistete vor Augen, so stellt man sich eine sehr disziplinierte Frau mit starken Grundsätzen vor. Genau so wird sie von ihren Söhnen geschildert, die sie mitunter als eher distanziert erlebt haben. Der schriftliche Nachlass von David und Rosa Katz befindet sich in der Handschriftenabteilung der schwedischen Nationalbibliothek. In diesem Nachlass befinden sich neben persönlichen Dokumenten und wissenschaftlichen Korrespondenzen unter anderem Originalmaterialien zu den veröffentlichten Büchern, Literaturexzerpte und Zeitungsausschnitte, umfangreiches Fotomaterial, zahlreiche Vorlesungs- und Vortragsmanuskripte sowie persönliche und Kindertagebücher. Dieser Nachlass ist bis auf einige Briefe bisher kaum erschlossen.
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Rezension des Buches "Gespräche mit Kindern" (1928) 1928 legten David und Rosa Katz ein Buch mit dem Titel i.Gespräche mit
Kindern. Untersuchungen zur Sozialpsychologie und Pädagogik" vor, in dem sie 154 Alltagsgespräche dokumentierten und analysierten, die sie mit ihren beiden Söhnen Theodor und [ulius Gregor zwischen Oktober 1925 und Oktober 1926 geführt und zunächst aus rein privaten Gründen aufgeschrieben haben. [ulius Gregor war damals zwischen drei und vier Jahre alt, sein Bruder Theodor zwischen fünf und sechs. Die Besonderheiten dieser Dokumentation liegen für Katz und Katz darin, dass es sich um freie Gespräche "aus dem natürlichen täglichen Umgang mit Kindern" handelt (Katz & Katz, 1928, S. 1). Was bringt streng experimentalpsychologisch ausgebildete Eltern dazu, private Alltagsgespräche mit ihren Kindern wissenschaftlich zu analysieren? Aufschluss darüber gibt das umfangreiche Einleitungskapitel, in dem Katz und Katz ihre theoretischen Grundpositionen im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes und auf die Rolle, die der Sprache dabei zukommt, ausführen. "Mit der Erwerbung der Sprache setzt die eigentliche Menschwerdung ein, so bedeutungsvoll auch für die Reifung des Kindes sein persönlicher Umgang mit den Dingen wird, weit größere Wirkung hat in dieser Hinsicht die Belehrung: durch Frage und Antwort, durch Rede und Gegenrede, in unzählig vielgestaltigen Formen der Diskussion vollzieht sich die Übernahme der tradierbaren Kulturwerte" (ebd., S. 4).
Ganz in der Tradition Wilhelm von Humboldts, ohne diesen Bezug allerdings zu erwähnen, gehen Katz und Katz davon aus, dass die Sprache die Weltansicht eines Menschen formt: "Der Inhalt der Gespräche ist kennzeichnend für das Denken, Fühlen und willentliche Stellungnehmen des Kindes zu seiner Umwelt, allgemein: er bestimmt ganz vornehmlich das, was wir als die Welt des Kindes bezeichnen dürfen" (ebd., S.5).An späterer Stelle heißt es: "Jedes Kind beginnt - in deutlich erkennbarer Weise nach vollzogenem Erwerb der Muttersprache - sich auf seine Art eine ,Weltanschauung' zu bilden. [...] Dieser Gedankeninhalt ist nicht nur regional, sondern in einem noch weit höheren Grade familiär bestimmt. [...] Soviel Familien, soviel geistige Idiome, soviel Gedankenwelten der Kinder. Das
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Kind übernimmt die Wertungen und Anschauungen seiner Umgebung und verändert sie in seiner Weise" (ebd., S. 34 f.).
Die Analyse von Dialogen im Alltag erlaube, das kindliche Sprechen und damit auch das kindliche Denken von seinem "natürlichen ganzheitlichen Ausgangspunkt" (ebd., S. 2), nämlich von der Rede im vertrauten sozialen Umfeld her zu analysieren. Diese Zugangsweise steht im Widerspruch zu den Methoden der Allgemeinen Psychologie: "Es fällt alles, was das Spezifische der Kultur des Menschen dieses oder jenes Landes ausmacht, ihr Lebensinhalt, durch die Maschen des Forschungsnetzes der allgemeinen Psychologie hindurch. [... ] In der Kinderpsychologie ist die Arbeitsteilung noch nicht so weit fortgeschritten, und so ist denn dem Kinderpsychologen die Aufgabe auferlegt, die Arbeit des Kulturpsychologen, Ethnologen usw. seinem Forschungssubjekt gegenüber mitzuleisten. Man könnte alles, was die inhaltliche Seite der Kinderseele angeht, unter den Begriff ,Kinderkultur' fassen" (ebd., S. 34).
Die Entwicklung des Kindes fassen David und Rosa Katz als einen schöpferischen Prozess auf. Sie beziehen sich dabei v. a. auf Kurt Koffka und Heinz Wemer und führen weiter aus: "Wo aber mit der Möglichkeit von seelischen Neuschöpfungen zu rechnen ist, da hört jede Prognose auf" (ebd., S. 32). Den strukturgenetischen Ansatz Piagets erachten sie nur für bestimmte Bereiche der kognitiven Entwicklung als sinnvoll, nämlich für die Analyse der Aneignung "überindividueller Sinnzusammenhänge", wie sie zum Beispiel in der Mathematik gegeben sind, nicht aber "bezüglich der Verknüpfung subjektiver funktionaler Sachverhalte" (ebd., S. 36). Nach den grundlegenden Darlegungen im Eingangskapitel gliedert sich das Buch in zwei Teile. Im ersten Teil werden die einzelnen Gespräche in chronologischer Reihenfolge dokumentiert und diskutiert. Im zweiten Teil werden inhaltliche Betrachtungen über die Welt des Kindes, formale Betrachtungen der Gespräche und pädagogische Überlegungen angestellt. Das Kernstück des Buches bilden aber die Gespräche und deren Diskussion. Welcher Methoden bedienten sich die Autoren? Weder die Datengewinnung noch die Dateninterpretation erfolgten nach vorher festgelegten Regeln. Ein Teil der Gespräche kann im nachhinein als non-direktiv charakterisiert werden, ein anderer Teil als befragend. Bei den eher non-direktiven Gesprächen "steckten sich die Kinder in der Regel
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die Ziele selbst" (ebd., S. 7); dasselbe gilt auch für das Setzen des Schlusspunktes eines Gespräches (ebd., S. 23). Bei den Befragungen bestimmten hingegen im Wesentlichen die Eltern den Gesprächsverlauf. Sie nennen diesen Teil der Gespräche "Beichtgespräche". Mit ihrer Hilfe wollten sie, wie sie ausführen, den Kindern abends in unregelmäßigen Abständen aus pädagogischen Gründen Gelegenheit geben, das, was sie tagsüber getan haben, kritisch zu reflektieren. Hinzu kommen noch einige wenige "Prüfungsgespräche", die in der Art von Piagets klinischen Interviews geführt worden sind. Notiert wurden die Gespräche entweder von dem Elternteil, der nicht in das Gespräch involviert war, oder von dem Gesprächsführenden selbst in unmittelbarem Anschluss aus der Erinnerung. Es war für die Kinder ein gewohnter Anblick, dass sich ihre Eltern Notizen machten; Katz und Katz gehen deshalb - nicht ganz zu Recht, wie die Söhne sich erinnern - davon aus, dass die Kinder die Notizen nicht auf sich bezogen. Bezüglich der Genauigkeit der Aufzeichnungen schreiben sie: "Die Gespräche sind wörtlich fixiert und auch wörtlich hier abgedruckt worden" (ebd., S. 38). Dann erfolgt allerdings eine Einschränkung: "Da es uns weder um Phonetik noch Grammatik der Kindersprache zu tun war, so haben wir uns weder bemüht, die besondere Mundart der Kinder im Text phonetisch korrekt nachzubilden, noch haben wir die kleineren Verstöße, welche die Kinder gegen die Grammatik begangen haben, im einzelnen berücksichtigt" (ebd.).Dies kann zwar heute nicht mehr ganz befriedigen, aber Katz und Katz heben mehrmals ausdrücklich ihr primär inhaltliches Interesse hervor, das diese Art der Protokollierung rechtfertigen mag: "Man hat in der Kinderpsychologie bis jetzt [...] zwar mit großer Sorgfalt die Frage der Technik des Spracherwerbs verfolgt, aber sich zu wenig darum gekümmert, was denn das Kind eigentlich mit der erworbenen Sprache anfängt" (Katz 1930, S. 459). Zur Begründung ihres Wagnisses, sich - in Abgrenzung zu "atomisierenden Betrachtungstendenzen" - primär den Inhalten der kindlichen Gesprächsbeiträge zuzuwenden, stützen sie sich ausdrücklich auf William Stern: ,,[...] Stern selbst - ihm und seiner Frau verdanken wir die gründlichste Monographie über die Entwicklung der Kindersprache - hat darauf hingewiesen, daß ganz neue Probleme auftauchen, wenn wir das Sprechen des Kindes als Rede, d. h. als zusammenhängende Äußerung im Ganzen seines personalen Lebens und Erlebens betrachten" (Katz & Katz, 1928, S. 2).
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In den Diskussionen der einzelnen Gespräche wird zunächst die für das Verstehen notwendige Kontextinformation gegeben, z. B.über vorangegangene Erlebnisse der Kinder, über allgemeine Erfahrungen der Kinder oder über Lebensgewohnheiten der Familie. Es folgen meist eine Paraphrase der einzelnen Aussagen und eine Interpretation. Bei der Interpretation wird mitunter auf zeitgenössische theoretische Positionen der Kinderpsychologie Bezug genommen, so z. B. auf die Arbeiten von Heinz Werner, Clara und William Stern, Charlotte Bühler und Karl Bühler. Katz und Katz erheben keinen Allgemeingültigkeitsanspruch für ihre Interpretationen und stellen es ausdrücklich frei, die Gespräche anders zu interpretieren. Die ausführliche Dokumentation der Gespräche war nach Auffassung von Katz und Katz auch dadurch gerechtfertigt, "daß man später einmal imstande sei, falls man dafür Interesse haben sollte, festzustellen, wie man zu einer bestimmten Zeit wirklich mit Kindern in der Familie gesprochen hat" (ebd., S. 1). In der Tat geben die abgedruckten Gespräche, aber auch die zugehörigen Diskussionen sowie die Ausführungen im zweiten Teil unter I1Pädagogischesli einigen Aufschluss über die Kindheit im Hause Katz. Die Verallgemeinerung auf Kinder dieser Zeit, die die Autoren nahe legen, ist sicherlich nicht gerechtfertigt; vermutlich repräsentiert die Familie aber zumindest den Typus des Bildungsbürgertums, mit der Besonderheit, dass die Erziehung der Kinder in dieser Psychologenfamilie wohl über das übliche Maß hinaus geplant und reflektiert wurde. Wie sieht diese Erziehung aus? Das ganze Buch hinterlässt den Eindruck einer unbedingten Achtung vor dem Kind, wie die folgende Interpretation eines lIBeichtgesprächsll, in dem Theodor zugegeben hat, das Kindermädchen GIga geschlagen zu haben, veranschaulichen mag: "Wenn T. an Tante O. die Forderung richtet, das wieder in Ordnung zu bringen, was sie ,kaputt gemacht' hat, so entspricht das dem ihm beigebrachten Grundsatz, daß man immer das gut zu machen habe, was man absichtlich oder unabsichtlich einem anderen zerstört hat. Der Junge erwartet mit Recht, daß man als Erwachsener diesen Grundsatz auch Kindern gegenüber befolgt und hat die Tante infolge ihrer Weigerung geschlagen, was zwar nicht zu entschuldigen ist und auch nicht entschuldigt werden soll, was aber doch verständlich erscheint" (ebd., S. 67 f.).
Diese Achtung ist verbunden mit konkreten Erziehungszielen, die konsequent verfolgt werden. Hervorgehoben werden die Selbständigkeits-
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erziehung im Sinne von Maria Montessori sowie die moralische Erziehung. Probleme haben die Eltern mit den angestellten "Miterzieherinnen Vor allem mit der Erziehung durch das Kindermädchen sind David und Rosa Katz wenig einverstanden; sie äußern sich mehrfach richtiggehend abwertend in dieser Richtung, indem sie zum Beispiel Olgas kognitive Fähigkeiten anzweifeln. Die Erziehung ganz in die eigene Hand zu nehmen, schien allerdings auch nicht möglich: "Immer wieder mußten wir leider die Erfahrung machen, wie schwer es ist, gewisse Erziehungsgrundsätze zur Durchführung zu bringen, wenn ungebildetes und halbgebildetes Personal mit den Kindern in Berührung kommt, und wie ließe sich das verhindern" (ebd., S. 86 f.). Angesichts der "Miterzieher heutiger Kinder, vor allem aus dem Medienbereich, wirken die Befürchtungen von Katz und Katz geradezu rührend: "Eine kurze Unterhaltung mit einer ungebildeten Person kann eine Verwirrung in der kindlichen Seele anrichten, die bei der großen Eindrucksfähigkeit des Kindes nicht so leicht wieder zu beseitigen ist (ebd., S. 87). ll •
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Bewertung der Schrift in ihrer Zeit und aus heutiger Sicht David und Rosa Katz stellen ihre Studie selbst in den Rahmen der damals wie heute aktuellen Kontroverse zwischen Erklären und Verstehen, zwischen einer naturwissenschaftlichen und einer geisteswissenschaftlichen Orientierung: "Die Untersuchung unserer Dialoge erfolgt nach zwei Richtungen: sie wollen nach der formalen Seite erklärt und nach ihrem Inhalt verstanden werden" (ebd., S. 22), wobei der Schwerpunkt dem "Verstehen gewidmet ist. Mehr noch: Die Autoren "glauben, dass gerade unter dem Gesichtspunkt des Verstehens vom Kinde her [...] der Diskussion der Verstehensfrage neue Impulse erwachsen können" (ebd., S. 37). Dennoch können David und Rosa Katz nicht als Vertreter der damaligen geisteswissenschaftlichen Psychologie angesehen werden. Zwar nahmen sie in dem vorgestellten Werk eine eindeutige Position ein; in ihren allgemeinpsychologischen und auch in anderen kinderpsychologischen Arbeiten fühlten sie sich aber völlig frei in ihrer Methodenwahl, die äußerst vielfältig und kreativ war. Ihre empirischen Zugänge reichten vom klassischen Experiment über testpsychologische Untersuchungen, strukturierte und unstrukturierte Beobachtungen bis zur Analyse persönlicher Dokumente. In ihren pädagogischen Auffassungen war Rosa Katz von Maria Montessori beeinflusst, möglicherweise aber auch von dem bereits erwähnten ll
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Göttinger Philosophen Leonard Nelson. Nelson, der heute u. a. als ein Wegbereiter der Kinderphilosophie gilt, versuchte, die sokratische Methode für pädagogische Zwecke theoretisch zu begründen und praktisch umzusetzen (vgL Nelson, 1987).3 Entsprechende Gedanken scheinen mir, obwohl nicht explizit erwähnt, sowohl die Führung als auch die Analyse der Gespräche mit den Kindern inspiriert zu haben. Entwicklungspsychologie muss nach Auffassung von David und Rosa Katz gleichzeitig Sozialpsychologie und Kulturpsychologie sein. Ersteres versuchten sie durch die Analyse von Dialogen empirisch umzusetzen. Letzteres wird v. a. in der Bedeutung sichtbar, die sie der Sprache für die kindliche Weltaneignung beimessen. Ihre Ausführungen zum Spracherwerb weisen - bei allen Unterschieden im Detail - erstaunliche Parallelen zu Jerome Bruner auf, einem der wichtigsten gegenwärtigen Protagonisten einer kulturpsychologischen Orientierung. So schreiben sie z. B. zur Frage nach der Analyseeinheit bei Untersuchungen zum Spracherwerb: "Der Dialog ist die natürlichste und wohl auch wichtigste Form der Gedankenentwicklung beim Kind" (ebd., S. 13), während Bruner (1997) zum selben Thema schreibt: "Sätze als grammatische Einheiten mögen zwar ein Fetisch des Formalgrammatikers sein, sie sind jedoch nicht die .natürlichen' Einheiten der Kommunikation. Diese natürlichen Formen sind Diskurseinheiten" (5. 89). Katz und Katz fordern eine Entwicklungspsychologie, die kindliches Erleben und Verhalten in ihrem soziokulturellen Kontext untersucht, ähnlich wie heute wieder Jerome Bruner, Michael Cole und etliche ökologisch orientierte Entwicklungspsychologen (vgL z. B. Görlitz, Harloff, Mey & Valsiner, 1998). Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Diskussion lohnt es sich, das Buch "Gespräche mit Kindern" neu zu lesen, auch wenn der programmatische Anspruch in den Interpretationen der einzelnen Gespräche nicht immer eingelöst wird und der "pädagogische Zeigefinger" mitunter etwas störend wirkt. Das Buch wurde ins Englische und Schwedische übersetzt, ist heute in entwicklungspsychologischen Kreisen aber so gut wie unbekannt. In den gängigen Lehrbüchern zur Entwicklungspsychologie taucht der Name Katz nicht einmal auf. Zu Unrecht, wie ich meine. Zwar würden wir heute angesichts der Weiterentwicklung qualitativer Forschungsmethoden andere Maßstäbe an die Erhebung und die Interpretation des Materials stellen. Auch der damals durchaus übliche "Rückgriff auf die eigenen Kinder bedarf einer kritischen Reflexion nicht nur im Hinblick auf mögliche Wahrnehmungsverzerrungen durch die Eltern, sondern auch im Hinblick auf den persönlichen Schutz der untersuchten Kinder, die als Erwachsene - wie U
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auch in diesem Fall- nicht immer gern auf ihre Zeit als I1Versuchspersonenu zurückblicken. Trotz dieser Einwände zeugen die Untersuchungen von der theoretischen und empirischen Fruchtbarkeit, freie Gespräche von und mit Kindern direkt im Alltag zu beobachten.
Ausgewählte Bibliographie Heine, R. (1909). Ein Beitrag über die sogenannte Vergleichung übermerklicher Empfindungsunterschiede. Zeitschrift für Psychologie, 54, 56--70. Heine, R. (1914). Über Wiedererkennen und rückwirkende Hemmung. Zeitschrift für Psychologie, 68, 161-236 [Dissertation]. Heine, R. (1917). Deutschland und die Deutschen in der russischen Literatur. 1. Turgenjew. 2. Dostojewski. Nord und Süd, 41, 204-209 und 310-315. Katz, R. (1925). Das Erziehungssystem der Maria Montessori. Rostock. Katz, D. &Katz, R. (1925). Die Erziehungirn vorschulpflichtigenAlter. Leipzig: Quelle & Meyer. Katz, D. & Katz, R. (1926). Verhalten eines Kindes bei Behinderung eines Armes. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 99,197-201. Katz, R. (1927). Beobachtungen an Kindern beim Märchenerzählen. Zeitschrift für angewandte Psychologie, 28,140-143. Katz, D. & Katz, R. (1928). Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Sozialpsychologie und Pädagogik. Berlin: Springer. Katz, D. & Katz, R. (1928). Psychologische Untersuchungen über Hunger und Appetit. Archiv für die gesamte Psychologie, 65, 269-320. Katz, R. (1930). Das Tasten des Kindes. Archiv für die gesamte Psychologie, 77,35-47. Katz, D. & Katz, R. (1931). Die Schimpfworte des Kindes. Zeitschrift für angewandte Psychologie, Beiheft 59, 120-131. Katz, R. (1933). Gemeinschaftsleben verschiedensprachiger Kinder. Zeitschrift für Kinderforschung, 42, 321-364. Katz, D. & Katz R. (1936). The child as a teacher. Investigations into the social psychology of the child. Acta Psychologica, 2, 76-124. Katz, D. & Katz, R. (1936). Some problems concerning the feeding behaviour of monkeys. Proceedings of the Zoological Society of London, Ser. A, Part 2, 579-582. Katz, D. & Katz, R. (1937). Behaviour of monkeys under light of poor visibility. Proceedings of the Zoological Society of London, Sero A, Part 2, 183-186. Katz, R. (1940)' Uber motorische und geistige Umstellung bei Ausschaltung normaler Lösungsmethoden. Zeitschrift für Kinderpsychiatrie, 7, 17-26. Katz, R. (1946). La readaption motrice et intelleetuelle immediate chez l'enfant. Journal de psychologie normale et pathologique, 39, 83-129. Katz, R. (1946). Kann der Tastsinn Ausdruck erfassen? Schweizerische Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen, 5, 117-126. Katz, R. (1951). Ein Beitrag zur Persönlichkeits- und Milieudiagnose des Kindes. In G. Ekman et al. (Hrsg.), Essays in psych.ology.Uppsala: Almqvist & Wiksells. Katz, R. (1957). Philologische Frühbegabung. Groningen: Wolters. Katz, D. & Katz, R. (Hrsg.). (1960). Handbuch. der Psychologie (2. erw. Aufl.). Basel: Schwabe & Co. Katz, R. (1964). Psychologie des Vornamens. Bern: Huber. Katz, R. (1972). Rosa Katz. In L. J. Pongratz (Hrsg.), Psychologie in Selbstdarstellungen (S. 103125). Bern: Huber.
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Anmerkungen *
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Das Foto hat Gregor Katz, Stockholm, zur Verfügung gestellt. Die folgenden Ausführungen sind zum einen der Autobiographie von Rosa Katz in Pongratz (1.972) entnommen; zum anderen basieren sie auf ausführlichen Gesprächen mit ihren beiden Söhnen Theodort und Gregor Katz, denen ich an dieser Stelle für ihre Gesprächsbereitschaft und für ihre mehrfach erwiesene Gastfreundschaft in Stockholm herzlich danke. Die Briefe befinden sich im Nelson-Archiv in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Zunächst hatte Nelson die sokratische Methode zur politischen Schulung eingesetzt; 1923 gründete er auf der Basis seiner Ideen das Landerziehungsheim Walkemühle, das von den Nationalsozialisten geschlossen wurde. Seine Schüler Minna Specht und Gustav Heckmann führten die Schule im dänischen Exil fort; nach dem Krieg übernahm Minna Specht die Leitung der Odenwaldschule, Gustav Heckmann widmete sich der sokratischen Methode im Hochschulbereich.
RudolfMiUer
Martha Muchow: Die Entwicklung der Lebenswelt des Kindes
..Wenn wir ... einen kleinen AutlBchnitt aus MaI'tha Mudlows wi88etlSChaftlich Arbeit der Ver-
gessenheit entreiBen. ... so verbinden wir damit den Wunsch,. daß auch ihre mensd1lid\e Gestalt nicht vergessen werden möchte. BetIOIIders unserer Jugend möchten wir etwas vermitteln, von dem hellen I..eudtten,. das für uns, die wir sie gekannt haben, für immer von ihrem lauteren und gütigen Wesen,. ihrer tapferen aufrechten Haltung, ihrem tiefen Verantwortungsgefühle und Forscherernst IlUSstrahlt" (Strnad.. 1949, S. 18).
Biografie" Martha Muchow wird am 25. September 1:8g2 in Harnburg geboren. Bereits 1.91.3, ein Jahr nach dem Abitur, legt sie die Lehramtsprüfung ab und sammelt Lehrerfahrung an einer höheren Mädchenschu1e in Tondem. Von 1.91-6 bis 1.919 arbeitet sie in Harnburg als Volksschullehrerin. Nach Elfriede Stmad ("949) war es der Drang nach wiBsens<:haftli Arbeiten, der sie nach Harnburg zurückgeführt hat. Siebesucht als psychologisch interessierte Lehrerin neben ihrer Lehrertätigkeit psychologische Vorlesungen bei WIlliam Stern am Kolonialinstitut - dem Vorläufer der Universität - und nimmt seit 1916 als freiwillige Mitarbeiterin an den schulpsychologis<:hen Untersuchungen des Labors teil. Ab 1917 ist sie an der Ausarbeitung eines Schüler-Beobachtungsbogens für die Auslese begabter Volksschüler beteiligt (vgL Stern, 1.918). Entstanden sind ihre wissenschaftlichen Arbeiten alle im Kontext um William Stern im Hamburger psychologischen Laboratorium, das in den Jahren bis "933 - nach Leipzig - zwn zweitgrößten psychologischen Institut heranwächst Gearbeitet hat sie dort von 1916bis 1933. Es ist wohl die besondere Atmosphäre an diesem Institut, die ihr das Hineinwachsen in den Kreis der Mitarbeiter um William Stern erleichtert. S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Nicht nur dessen persönliche Ausstrahlung, sondern auch der inhaltliche Schwerpunkt "Begabungs- und Intelligenzforschung als integraler Bestandteil einer allgemeinen [ugendkunde" (Moser, 1991, S. 488) bieten ihr eine Chance, die in außerhochschulischen Tätigkeiten gewonnenen Erfahrungen wissenschaftlich aufzuarbeiten. Dieses Wissenschaftsverständnis wird auch gestützt durch William Stern. Dessen ,;LTberzeugung von der Notwendigkeit des Gegenwartsbezuges wissenschaftlichen Handeins zieht sich nicht nur wie ein roter Faden durch sein psychologisches Lebenswerk, er fordert dies auch für die Psychologie" (Moser 1991, S. 488). Im Sommersemester 1919, das Psychologische Laboratorium ist seit Ostern des Jahres ein Universitätsinstitut, beginnt sie ein Studium der Psychologie, Philosophie, der deutschen Philologie und Literaturgeschichte an der neugegründeten Hamburger Universität und besucht insbesondere Vorlesungen bei Stern und Cassirer. Im Herbst 1920wird sie auf Initiative von Stern zum ersten Mal vom Schuldienst freigestellt und als "wissenschaftliche Hilfsarbeiterin" (Unterrichtsassistentin) des Laboratoriums angestellt. Bis zum Ende ihrer Tätigkeit wird diese Freistellung immer wieder auf Drängen von Stern verlängert. Die Begründungen in seinen Anträgen verdeutlichen dabei das hohe Maß an Wertschätzung, das Stern seiner Mitarbeiterin entgegenbringt. 1923 promoviert sie "summa cum Iaude" mit einer Arbeit über die "Psychologie des Erziehers", In den in unregelmäßigen Abständen publizierten Institutsberichten wird 1931 und 1933 über den Fortgang ihrer Lebensraumstudie berichtet. Hintergrund dieser Arbeiten sind sozialpädagogische Motive und Erfahrungen, wie sie insbesondere auch durch die praktische Arbeit Martha Muchows in den Hamburger Volksheimen sowie durch ihr Engagement in der Jugendbewegung mit ihrer Zugehörigkeit zur WandervogelBewegung geprägt worden sind. Hierzu zählt auch ihre Beschäftigung mit Tuberkulose-gefährdeten Hamburger Arbeiterkindern. Während der Kur auf Föhr führt sie mit diesen Untersuchungen durch, deren Ergebnisse sie in ihrer Veröffentlichung über DieWirkung des Seeklimas aufSchulkinder (1926) präsentiert. Immer ist ihre wissenschaftliche Arbeit orientiert an der Umsetzung auf praktische Problemstellungen. So erweitert sich ihr Aufgabenbereich noch mehr nach der Übernahme der Ausbildung künftiger Volksschullehrer durch das Institut. Sie arbeitet mit in verschiedenen Ausschüssen des Hamburger Lehrervereins (Gesellschaft der Freunde des Vaterländischen Schul- und Erziehungswesens). Dieses bietet ihr eine ideale Verbindung
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zwischen praktischer Pädagogik und wissenschaftlicher Reflexion. Strnad (1949, S. 13) beschreibt das Engagement mit folgenden Worten: "In der Lehrerbildung, die seit 1925 an der Hamburger Universität neue Formen entwickelt, wirkt Martha Muchow für die Einführung eines sozialpädagogischen Praktikums. Sie führt die Lehrerstudenten in Kindergärten und Tagesheime und leitet sie zu Beobachtungen am Kleinkind an, die ihnen das Kind in seiner urtümlichen Haltung und die Welt seines Spielens und Gestaltens nahe bringen,"
Ihr ungeheurer Fleiß wird auch erkennbar in der Vielzahl weiterer Aktivitäten. Seit 1926 ist sie ständige Mitarbeiterin des "Kindergarten - Zeitschrift des Deutschen Fröbelverbandes, des Deutschen Verbandes für Schulkinderpflege und der Berufsorganisation der Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen e. V. Parallel dazu entwickelt sich eine zunehmend engere Verbindung zu der Arbeit des Fröbel-Seminars und der Fröbel-Bewegung. II •
"Mit dankbarem Herzen erkannte ich in ihr die berufene Persönlichkeit, die als Trägerin der Gedanken Fröbels ihm auf dem Wege der Wissenschaft die Anerkennung und Würdigung erringen würde, die er in der breiten Öffentlichkeit bisher nicht gefunden" (Klostermann, 1934, o. 5.).
In ihrer Verbindung von praktisch-erzieherischen und wissenschaftlichen Aktivitäten beleuchtet sie insbesondere die Bedeutung des kindlichen Spiels in der frühen Erziehung und argumentiert im Vergleich der Ansätze von Maria Montessori, [ean Piaget oder Charlotte Bühler immer wieder aus der Position Friedrich Fröbels (Muchow, 1932, S. 95). Schon 1929hatte sie in einer Publikation mit dem Titel "Friedrich Fröbel und Maria Montessori" gemeinsam mit Hilde Hecker diese Diskussion aus einer wissenschaftlichtheoretischen Perspektive aufgenommen und damit den Stellenwert der IIKinderpsychologiell und insbesondere den der Stern-Schule in der Diskussion ihrer Zeit verdeutlicht. In einer Bewertung der Vielzahl ihrer Aktivitäten schreibt ihre Biografin Elfriede Strnad (1949, S. 16) dazu: "Fast unvorstellbar ist es dem Freundeskreis, wie sie all ihren Aufgaben gerecht werden kann; wie sie es fertig bringt, bei allem was sie tut,
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Rudolf Miller ganze Arbeit zu leisten. Sie gehört nicht zu den Menschen, die etwas ,aus dem Ärmel schütteln',"
Mit der Durchsetzung nationalsozialistischer Politik in allen Bereichen des öffentlichen Lebens verschlechtern sich nicht nur die Bedingungen für das Institut, sondern auch für die verbliebenen Mitarbeiter. Aufgrund ihres bisherigen sozialpolitischen Engagements erlebt insbesondere Martha Muchow diese Zeit als eine zusätzliche psychische Belastung. 'IZU der Überfülle der Arbeit, den Sorgen um die täglich wachsende
Verwahrlosung einer hungernden und in unfreiwilligem Nichtstun jahrelanger Arbeitsmarktkrisen verkommenden Bevölkerung kommt die immer bedrohlicher sich zuspitzende politische Lage im Winter 1932/33. Schon lange ist Martha Muchow im tiefsten beunruhigt. ... Sie ist schwer überarbeitet und kann keine Möglichkeit der Entlastung oder auch nur kurzer Entspannungspausen finden. In dieser Situation trifft sie ganz unerwartet am 9. April 1933 der Tod ihrer Mutter" (Strnad, 19491 S. 17).
Der letzte Institutsbericht aus dem Jahre 1933 (Stern, 1933) enthält Hinweise auf eine Reihe unvollendeter Arbeiten. Aufgrund des Gesetzes zur "Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 werden William Stern und Heinz Werner ihrer Ämter enthoben. Martha Muchow muss als einzige Arierin die iJbergabe des Institutes an den Erziehungswissenschaftier Gustav Deuchler vornehmen. Nach den von Zinnecker (1978, S. 23) zitierten Aussagen des Bruders Hans Heinrich Muchow war sie nach dem erzwungenen Weggang von William Stern starken Diffamierungen ausgesetzt, da sie an einem "jüdischen Institut" gearbeitet hatte. Moser (1991, 496/497) verweist auf einen Brief vom 10.7.33, in dem die noch verbliebenen Mitarbeiter des Institutes als Juden oder als Judengenossen denunziert werden. Zu Martha Muchow heißt es dort: 'IFräulein Dr. Muchow, die engste Vertraute von Prof. Stern, die ihn auch heute täglich besucht und mit ihm alle Pläne ausarbeitet, ist die gefährlichste von allen dreien. Sie war aktives Mitglied des marxistischen "Weltbundes für Erneuerung der Erziehung." (...) Ihr pädagogisch-psychologischer Einfluß ist unheilvoll und einer deutschen Staatsauffassung direkt zuwiderlaufend,"
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Zum 25. September 1933, ihrem 41. Geburtstag, muss sie aus dem Institut ausscheiden. Sie soll wieder in den Schuldienst "... und äußert den Wunsch, eine Anfängerklasse zu übernehmen - aber ihre Kraft ist erschöpft. Zwei Tage später findet man sie bewußtlos in ihrer Wohnung, und am 29. September 1933 ist sie gestorben" (Strnad, ebend., S. 18). Sie hatte den Freitod gesucht (vgl. Zinnecker, 1998, S. 23). Der Lebensraum des Großstadtkindes Die Darstellung ihrer umfangreichen Forschungsarbeiten mit dem Titel "Der Lebensraum des Großstadtkindes" erschien posthum 1935 in einer Auflage von 1000 Exemplaren in der Schriftenreihe "Ertrag der Hamburger Erziehungsbewegung'; einer in der Weimarer Republik fortschrittlichen Initiative. "Ihrem problemliehen und methodischen Ansatz nach arbeiten diese Untersuchungen ganz allgemein mit dem einer Psychologie der individuellen Differenzen, wie er von William Stern in den verschiedenen Auflagen seiner "Differentiellen Psychologie" entworfen und fortschreitend durchgeführt worden ist. Sie folgen in der Problembereitung und in der Methodengestaltung der Grundeinsteilung und der Methodenlehre - gleichgültig ob sich die Verfasser daran systematisch geschult haben oder nicht -, wie sie in dem genannten Werke in dem Kapitel über Variationen und Korrelationen gegeben sind" (Muchow, 1931, S. 186).
In seiner Einführung zu dem Reprint arbeitet Zinnecker (1997) das Besondere ihres Ansatzes heraus. Es ist die Akzentuierung der aktiven Seite von Weltbewältigung und die Vermittlung des Forschers zwischen dem Kind und Jugendlichen, seiner Lebenswelt und der der Erwachsenen. Diese Entwicklung ist zu sehen vor dem Hintergrund der "Personalistischen Psychologie" William Sterns und der damit verbundenen Neuformulierung der Mensch-Umwelt-Beziehung. Zeitgleichheit und räumliche Nähe zu dem ebenfalls in Hamburg arbeitenden Jakob von Uexküll beeinflussen die intensive Diskussion zwischen "Personalismus und Biologie", wie sie in der Festschrift zum 60. Geburtstag von William Stern ausführlich dokumentiert wird (vgl. Giese, 1931). Darin erscheinen Mensch und Umwelt als
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dialektische Einheit. Hans Heinrich Muchow (1935, S. 7) fasst dieses wie folgt zusammen: "Indem man das Verhältnis Person/Welt grundsätzlich neu durchdachte, trat immer deutlicher heraus, daß in der Beziehung Kind/Großstadt nicht die Welt der Großstadt erst durch nachträgliche Konvergenz mit der Person (des Kindes) in Beziehung tritt, sondern dass es sich bei der vom Großstadtkind "gelebten" wie überhaupt bei jeglicher "gelebten Welt" um ein eigentümliches, zwischen Person und Welt sich realisierendes Leben handelt."
Insbesondere in dieser Begriffsdifferenzierung wird der Bezug zur Merkund Wirkwelt von Uexküll (1921) erkennbar. Es war das Ziel, den "Lebensraum" des Großstadtkindes als den Raum, in dem das Kind lebt, den es durchlebt und erlebt, möglichst phänomengetreu zu beschreiben. Martha Muchow sieht darin die Aufgabe " ... einer systematischen kulturpsychologischen Orientierung der Erforschung des Kindes und seiner Welt, vor allem des Jugendlichen und seiner Welt; selbstverständlich nicht als durchgängigen Ersatz der allgemein-formal-entwicklungspsychologischen Einstellung, sondern als notwendige ergänzende Ausgestaltung" (Muchow, 1931, S. 195).
Den Lebensraum selbst definiert Martha Muchow als den "Raum in dem man lebt", in ihrer Untersuchung wird dieses zugespitzt auf die Forschungsfrage "Welches ist der Raum, in dem das großstädtische Kind lebt?" (ebenda, S. 11). Dieser wurde dann kartografisch erfasst, in dem sie die Kinder aufforderte: "Malt alle Straßen und Plätze blau über, die ihr genau kennt, in denen ihr oft spielt, durch die ihr oft geht und die ihr euch vorstellen könnt, wenn ihr jetzt die Augen zumacht" (ebenda, S. 11).
Sie unterscheidet Lebensraum und Streifraum. Die Ergebnisse zeigen die Prägung der Lebensräume als "durchlebten Raum'; d. h. Nutzungsraum der Kinder, die keineswegs den gesamten großstädtischen Raum umfassen, sondern durch die geografischen und verkehrsgeografischen Gegebenheiten bestimmt werden. Die Aktionsbreite ist geschlechtsspezifisch unterschiedlich.
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"Besonders die Mädchen, so haben wir gesehen, sind diesem Heimatbezirk eng verbunden, wobei angeborene, aber auch durch die Umwelt bedingte Geschlechtsunterschiede eine Rolle spielen. Die Jungen sind viel expansiver; ihre Lebensraumpläne sind daher nicht nur umfassender, sondern auch vielseitiger" (ebenda, S. 28).
Der Lebensraum als Raum, den das Kind lebt, wurde in einem weiteren Untersuchungsschritt analysiert. Dazu gehören bebaute und unbebaute Plätze, verkehrsreiche und verkehrsarme Straßen sowie Warenhäuser. Dabei zeigt sich, dass es im Gegensatz zum Lebensraum des Erwachsenen bei den Kindern "nur kleine, ja wir dürfen sagen verschwindend kleine Teilräume daraus (sind), die in die personale Welt der Kinder eingehen" (ebenda, S·93)·
Die Struktur der kindlichen Lebensräume, die sich schichtenförmig um die Wohnung und Wohnstraße ausbreiten, wird bestimmt durch die Geeignetheit als Spielgelände, Spielplatznähe, Bebauungsart, Nähe zum kindlichen Erleben usw. Diese Lebensräume sind nicht nur in ihrer Größe, sondern auch in ihrer Dichte von Alter, Geschlecht und Begabung abhängig. Jüngere Kinder und Mädchen "haben meist sehr eng um den Wohnbezirk gelagerte und sehr dicht gefügte Lebensräume; sie sind der häuslichen Sphäre noch eng verhaftet und streben nicht in die Ferne" (ebenda, S. 93). "In dieser Weise als durchlebter und erlebter Raum betrachtet, unterscheidet sich der Lebensraum des Großstadtkindes nur formal und strukturell, kaum aber inhaltlich von dem des Großstadterwachsenen. Erst wenn wir sehen, wie das Kind mit bestimmten, auch inhaltlich näher charakterisierten Stücken unserer (erwachsenen) Umwelt umgeht, wie sich dabei ein ganz anderes Beachtungsrelief ergibt, wie es einen bestimmten Großstadtteil zu seiner Welt "umlebt", haben wir den wirklichen "Lebensraum des Großstadtkindes" erkannt" (ebenda, S.94).
Wertung
Wenn Zinnecker im Zusammenhang mit Martha Muchows Arbeiten von einer verlorenen Forschungstradition spricht, so trifft dieses für die heutige
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pädagogische Psychologie ebenso zu wie für die Entwicklungspsychologie (vgl. Silbereisen u. a., 2000). Es ist wahrscheinlich die Interdisziplinarität der Studie, die ihr einerseits einen hohen Stellenwert, vergleichbar der MarienthaI-Studie, zuweist (vgl. Lück, 1999), andererseits aber ihre Wertigkeit innerhalb engerer psychologischer Forschung als eher gering erscheinen lässt. Lediglich einige umweltpsychologische Ansätze zur Erforschung der Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen in unserer Zeit lassen die Auseinandersetzung mit Martha Muchows theoretischem Ansatz und methodischen Vorgehen sinnvoll erscheinen. Erst spät wurde die Stadt von der Psychologie unter einer eher phänomenologischen Perspektive wiederentdeckt, d. h. es rücken solche Person-Umwelt-Einheiten in den Mittelpunkt des Interesses, die als intentionale Gefüge die Stadt als gelebten und erlebten Raum zugänglich machen. Dabei ist intentionsanalytisch die Umwelt gerade in ihrer sinnhaften Räumlichkeit und Dinglichkeit von Bedeutung. Diese Forschungsergebnisse finden sich in umweltpsychologischen Arbeiten heute unter dem Konzept Aneignung (vgl. Miller, 1998). Lebensalter, Geschlecht, Milieu bestimmen dabei die im Spiel und der Raumnutzung stattfindenden Prozesse der Raumaneignung weitgehend unabhängig von seiner funktionalen Definition. Abgesehen von der Lebensraumstudie wird Martha Muchow in der Psychologie meist nur im Rahmen der Betrachtungen des Hamburger Psychologischen Institutes und dort insbesondere verbunden mit dem Namen William Stern erwähnt (vgl. Moser, 1991). Dabei verdient diese engagierte und qualifizierte pädagogische Psychologin aus vielfältigen Gründen eine besondere Würdigung. Aber ihr Name und ihre Arbeiten sind vermutlich nur solchen Psychologen näher bekannt, die über den engen Tellerrand der eigenen Disziplin hinausblicken. Auch in der Einleitung des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, der 1994in Hamburg stattfand, sucht man vergeblich nach ihrem Namen (Pawlik, 1994). Dieses ist umso bedauerlicher, als ihre Biografin dazu schreibt: "In Kreisen der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, die von Felix Krueger geführt wird, schätzt man Martha Muchow um ihrer wissenschaftlichen Leistung wie um ihrer uneigennützigen Haltung willen. An den Vorbereitungen und der Durchführung des Psychologen-Kongresses von 1931, der in Hamburg stattfindet, ist sie stark beteiligt und erwirbt sich viel Anerkennung und Vertrauen" (Strnad, 1949, S. 15).
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So ist es nicht verwunderlich, dass nicht aus einer primär psychologischen, sondern aus einer pädagogisch-sozialpädagogischen Perspektive an ihre wohl wichtigste Arbeit Der Lebensraum des Großstadtkindes mit einem Reprint (Zinnecker, 1998) erinnert wurde. Gleichzeitig verweist die Doppelautorenschaft der posthum erschienenen Veröffentlichung, gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder Hans Heinrich Muchow, auf das tragische Ende ihrer persönlichen und wissenschaftlichen Biografie. Ihr Bruder schreibt dazu im Vorwort: "Die Darstellung, zu der manche Vorarbeit schon bereitlag und aus der eine Reihe von Skizzen schon bekannt geworden waren, sollte von meiner Schwester voraussichtlich im Jahre 1934veröffentlicht werden. Die Zeitereignisse des Jahres 1933 ließen die Arbeit an dem Werk zunächst zurücktreten, bis dann der Tod meiner Schwester die Feder aus der Hand nahm. Ich erfülle eine Ehrenpflicht und zugleich eine Dankesschuld, wenn ich das Werk, das ich von seinen Anfängen an in Gesprächen und Mitarbeit habe begleiten dürfen, weiterzuführen versuche und zum Druck befördere. Ob ich freilich überall die letzten Absichten meiner verstorbenen Schwester erfülle, ist mir zweifelhaft; daß ich der wissenschaftlichen und pädagogischen Welt nur ein Fragment überliefere, ist mir schmerzliche Gewißheit" (Muchow, 1935, S. 8).
Ihr leider früh beendetes Lebenswerk ist insbesondere von folgenden Quellen beeinflusst: Zum einen durch die Mitgliedschaft im Weltbund für die Erneuerung der Erziehung und die sich daraus ableitende enge Beziehung zur internationalen pädagogischen Reformbewegung sowie in der Hamburger Schulreform und Volksheimbewegung. Zum anderen durch ihre wissenschaftliches Arbeiten als Verknüpfung von induktiver Empirie mit den deduktiven Konzepten der Geisteswissenschaften in Anlehnung an Edmund Husserl, Eduard Spranger und ihren Lehrer William Stern. Im Rückblick werden drei von ihr bearbeitete Problemfelder erkennbar. Neben der psychologischen Begründung vorschulischer Erziehung beschäftigte sie sich mit der "geistigen Hygiene" von Schulkindern und in diesem Zusammenhang sehr intensiv mit der sozialpädagogischen Intervention in der Jugendfürsorge und der Heimerziehung. Im letzten Teil ihres Schaffens beschäftigt sie sich dann mit milieu-, kultur- und epochaltypologischen Themen. In dieser Phase entstanden die Forschungsarbeiten zu dem posthum veröffentlichten Werk "Der Lebensraum des Großstadtkindes". Fries (1996) akzentuiert in ihrer Dissertation die Rolle wissenschaftlich arbeiten-
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der Frauen und behandelt insbesondere den Einfluss der wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen auf Martha Muchows Beitrag zur Entwicklung der Kinderpsychologie am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die enge Verknüpfung zwischen außeruniversitärer Praxis und wissenschaftlichem Arbeiten dokumentiert sie wie folgt: "In der Psychologie integrierten Frauen ihre Erfahrungen und Fragen aus der sozialpädagogischen Praxis in die Forschungsarbeit der Institute, deren Mitarbeiterinnen sie unterdessen geworden waren. Beispielhaft stehen dafür die Biographien und die Arbeiten von Martha Muchow (1892-1933) und von Hildegard Hetzer (1899-1991), als deren wichtigste Leistung die Gestaltung eines engen Verhältnisses zwischen sozialpädagogischer Praxis und theoretisch empirischer Forschung während der expansiven Etablierungs- und Spezialisierungsphase der Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendalters (...) gewertet werden muß" (ebenda, S. 12).
Es bleibt zu hoffen, dass diese Arbeit im Sinne des vorangestellten Zitats einen kleinen Beitrag dazu leistet, Martha Muchows Arbeiten der "Vergangenheit zu entreißen', die nach wie vor gültige Aktualität ihrer Forschungsfragestellungen zu verdeutlichen und ein Interesse an der Beschäftigung mit ihren Originalarbeiten zu wecken. Ausgewählte Bibliographie Muchow, M. (1927). Das Montessori-System und die Erziehungsgedanken Friedrich Fröbels. In H. Hecker und M. Muchow, Friedrich Fröbel und Maria Montessori (5. 57-198). Leipzig: Quelle und Meier. Muchow, M. (1929). Psychologische Probleme der frühen Erziehung. Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, Nr. 19. Erfurt: Stenger. Muchow, M. (1931). Zur Frage einer lebensraum- und epochaltypologischen Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen. In Festschrift William Stern (Beiheft 59 der Zeitschrift für angewandte Psychologie, 5.185-202). Leipzig: Barth. Muchow; M. & Muchow, H. H. (1935). Der Lebensraum des Großstadtkindes. Hamburg: Riegel.
Literatur Fries, M. (1996). Mütterlichkeit und Kinderseeie. Zum Zusammenhang von Sozialpädagogik, bürgerlicher Frauenbewegung und Kinderpsychologie zwischen 1899 und 1933 - Ein Beitrag zur Würdigung Martha Muchows. Frankfurt: Peter Lang Verlag.
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Giese, F. (1931). Personalismus und Biologie. In: Festschrift William Stern zum 60. Geburtstag am 29. April 1931, Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie (5.4-100), hrsg. von seinen Mitarbeitern am Psychologischen Institut Hamburg. Leipzig: Johann Ambrosius Barth. Hecker, H. & Muchow, M. (1929). Friedrich Fröbel und Maria Montessori. Leipzig: Barth. Klostermann, H. (1934). Nachruf auf Martha Muchow. Nachrichten für die Mitglieder des Comenius-Fröbel-Vereins 1934, Nr. 16. Lück, H. E. (1999). Muchow, M. & Muchow, H. H. (1997). Der Lebensraum des Großstadtkindes. Neuausgabe mit biographischem Kalender und Bibliographie Martha Muchow. Herausgegeben und eingeleitet von Jürgen Zinnecker. Weinheim. Rezension in Gruppendynamik - Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie, 30(1),105-106. Miller, R. (1998). Umweltpsychologie - Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer. Moser, H. (1991). Zur Entwicklung der akademischen Psychologie in Hamburg bis 1945. Eine Kontrast-Skizze als Würdigung des vergessenen Erbes von William Stern. In Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 3, Teil II (S. 483-518). Im Auftrag der Universität Hamburg hrsg. von E. Krause, G. Otto, W. Walter. Berlin/Hamburg: Dietrich Reimer. Muchow, M. & Muchow, H. H. (1935). Der Lebensraum des Großstadtkindes. Hamburg: Martin Riegel. Muchow, M. (1926). Psychologische Untersuchungen über die Wirkung des Seeklimas auf Schulkinder. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 27, 18-31. Muchow, M. (1931). Zur Frage einer lebensraum- und epochaltypologischen Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen. In: Festschrift William Stern zum 60. Geburtstag am 29. April 1931, Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie (5. 185202), hrsg. von seinen Mitarbeitern am Psychologischen Institut Hamburg. Leipzig: Johann Ambrosius Barth. Muchow; M. (1932). Das kindliche Spiel und die Organisation des Spiels im Kindergarten unter psychologischem Gesichtspunkt betrachtet. Kindergarten 1932, Heft 2. Pawlik, K. (1994). (Hrsg.). William Stern - Die Differentielle Psychologie in ihren methodischen Grundlagen. Bern: Huber. Silbereisen, R. & Zinnecker, J. (2000). (Hrsg.). Entwicklung im sozialen Wandel. Weinheim: Beltz - Psychologie Verlags Union. Stern, W. (1918). Die Methoden der Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg. In: Das psychologisch-pädagogische Verfahren der Begabtenauslese. Eine Sammlung von Beiträgen, hrsg. von W. Stern. Leipzig: Quelle und Meyer. Stern, W. (1933). Aus den letzten Arbeiten des Psychologischen Instituts der Hamburgischen Universität 1931-1933. Zeitschrift für angewandte Psychologie 45,397-417. Stmad, E. (1949). Martha Muchow in ihrer Bedeutung für die sozialpädagogische Arbeit. In M. Muchow; Aus der Welt des Kindes. Beiträge zum Verständnis des Kindergarten- und Grunclschulalters (5. 7-20). Hrsg. im Auftrag des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes von Hans Heinrich Muchow. Ravensburg: Otto Maier. Zinnecker, J. (1997). M. Muchow & H. H. Muchow, Der Lebensraum des Großstadtkindes. Neuausgabe mit bibliographischem Kalender und Bibliographie Martha Muchow. Weinheim: [uventa,
Anmerkungen Erweiterte und aktualisierte Fassung von: Miller, R. (1999). Martha Muchow. In H. E. Lück & R. Miller (Hrsg.), Illustrierte Geschichte der Psychologie, 2. Auflg. (S. 191-193). Weinheim: Beltz - Psychologie Verlags Union.
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Charlotte Bühler: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem
NJeder hat es erlebt,. dass er im Leben eine
,Bestimmung' sucht dass er das .Richtige' tun will, dass er ,Erfüllung' finden will" (Bühler, 1933, S.5).
Biographie Um 1934 gehörte Charlotte Bühler zu den bedeutendsten österreichischen Wissenschaftlerinnen. Allerdings war sie keine waschechte Österreicherin, sondern eine, wenn man so will, "jüdisch-protestantische" Preußin. Denn geboren wurde sie in Berlin-Charlottenburg am 20. Dezember 1893 als erstes Kind des Königlichen Regierungsbaumeisters Hermann Malachowski und seiner Frau Rose. Zusammen mit ihrem. fünf Jahre jüngeren Bruder Walter genoss sie eine großbürgerlich.e Schulbildung. Das Lernen fiel der intelligenten Schülerin zwar relativ leicht, doch häufige Querelen mit den Lehrern dämpfren ihren Lerneifer gehörig. Umso eifriger widmete sich Charlotte ihren vielen außer-schulischen Interessen. Schon im frühen Kindesalter hatte sie leidenschaftlich gern gemalt und gedichtet. Später faszinierten sie dann Theater und Konzerte und vor allem Lektüre. Brennend interessierte sie sich auch für religiöse und metaphysische Fragen, etwa für solche nach der Existenz Gottes oder der Stellung des Menschen im Universum. Keine befriedigenden Antworten findend. konsultierte sie ihre Freundin Karoline von Falkenhayn (die spätere Frau des bekannten Daseinsanalytikers Victor von Gebsattel) und. den evangelischen Militärseeisorger Georg Goens, dessen Konfirmandenunterricht sie in der Alten Garnisonkirch.e besuchte. Enttäuscht über deren S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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irrationale Erklärungsversuche grübelte sie unverdrossen weiter und kam etwa rö-jährig zu dem Schluss, "daß möglicherweise der menschliche Verstand nicht genügend befähigt war, metaphysische Probleme wirklich zu lösen" (Bühler, 1972, S.10).
Diese bemerkenswerte Einsicht, gepaart mit einem großen Interesse für die Handlungsmotive literarischer Dramengestalten, motivierten vermutlich Charlottes frühe Hinwendung zur Psychologie. Denn schon bald studierte sie psychologische Fachliteratur und ersann kleine denkpsychologische Experimente, die sie mit ihren ahnungslosen Freunden und Verwandten veranstaltete. Ihre Lehrer hatte die Abiturientin in dem Glauben gelassen, dass sie Geschichte und Theologie studieren würde. Gegen den Widerstand des konsternierten Vaters änderte sie ihre Absicht und wählte stattdessen Philosophie und Psychologie. Während des ersten Semesters an der Freiburger Universität im Sommer 1913 korrigierte sie dann noch einmal ihre Studienpläne und besuchte statt der Psychologie-Veranstaltungen bei [onas Cohn die philosophischen Vorlesungen des Neukantianers Heinrich Rickert sowie einige botanische, medizinische und germanistische Seminare. Zum Wintersemester 1913/14 inskribierte sie an der Friedrich-Wilhelms-Universität im heimatlichen Berlin für Medizin und fand auch wieder zur Psychologie zurück, die in jener Zeit von Carl Stumpf gelehrt wurde. Nach einem kurzen Intermezzo in Kiel studierte Charlotte erneut bei Stumpf in Berlin, vermutlich deshalb, weil sie ihren Mentor für die geplante Dissertation über das Thema "Psychologische Denkprozesse" gewinnen wollte. Dieser unterbreitete ihr jedoch seinerseits den Vorschlag, sich zunächst einmal mit einem Beitrag über I1GefühlsempfindungenU an dem ausgeschriebenen Preis der Berliner Akademie der Wissenschaften zu beteiligen. Überdies stellte er ihr eine Assistentensteile in Aussicht. Anstatt nun auf diese verlockenden Angebote einzugehen, beharrte sie auf ihren Forschungsplänen und ließ sich von Stumpf an die Münchner Ludwig-Maximilians-Universität empfehlen. Tatsächlich erwies sich der dortige Psychologie-Professor Oswald Külpe als ein sympathischer und brillanter Doktorvater. Indes währte das herzliche Lehrer-Schüler-Verhältnis nur kurze Zeit. Bereits zum Jahreswechsel 1915/16, den Charlotte bei ihren Eltern in Berlin verbrachte, erreichte sie die telegrafische Nachricht vom plötzlichen Tode Oswald Külpes. Niederge-
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schlagen eilte sie nach München zurück, um an den Begräbnisfeierlichkeiten teilzunehmen. Und dort, am Grabe des verehrten Professors, begegnete sie zum ersten Mal Karl Bühler, ihn freilich nur flüchtig wahrnehmend. Der Extraordinarius für Psychologie und Stabsarzt bei den Ingolstädter Pionieren hingegen, schien schon zu diesem Zeitpunkt ein Auge auf die attraktive Studentin geworfen zu haben. Denn wenige Tage später bot er ihr seine professionelle Hilfe an, indem er behauptete, dass die theoretische Grundlegung ihrer empirischen Studie viel zu schwer für sie sei. Dankend lehnte sie das nicht ganz uneigennützige Angebot ab. Zwei Wochen verstrichen. Dann bat er Charlotte, sie nach Hause begleiten zu dürfen. Und obschon die Umworbene durchaus realisierte, dass er bereits Professor, sie noch Studentin war und sie altersmäßig 15 Jahre auseinander lagen, gab sie ihm doch das Jawort. Bald darauf, mitten in den Wirren des 1. Weltkrieges, am 4. April 1916, ließ sich das ungleiche Paar in der Berliner Alten Garnisonkirche trauen. Nach einer kurzen Hochzeitsreise kehrten Karl und Charlotte Bühler nach München zurück und bezogen dort eine hübsche Wohnung in Schwabing. Angeblich habe Charlotte Bühler die Doppelrolle der studierenden Frau und Mutter problemlos bewältigen können: "In den Jahren, da ich Frau und Mutter wurde, reifte ich gleichzeitig als Wissenschaftlerin. Zum erstenmal kam mir die klare Erkenntnis, was ich leisten konnte und was ich aus meinem Leben machen wollte. Mir schien es nicht als Problem, wie ich die beiden Seiten meines Lebens vereinen sollte, im Gegenteil, die eine war die notwendige Ergänzung der anderen" (Ammers-Küller, 1935, S. 289).
Ermöglicht wurde ihr dieses schwierige Rollenarrangement freilich nur mittels zusätzlicher Hilfskräfte (Amme, Gouvernante und Haushaltshilfe), die sie gleich nach der Geburt ihrer Tochter, Ingeborg - am 23. Februar 1917 engagierte. Auf diese Weise Zeit raubender familiärer Pflichten entledigt, beendete sie im Herbst 1917 ihre Inauguraldissertation über lIGedankenund Satzbildung" und promovierte am 14. Dezember 1917bei Erich Becher und Clemens Baeumker mit summa cum laude. Weil Karl Bühler die Leitung des Münchener Psychologischen Instituts an seine älteren Kollegen Becher und Baeumker hatte abtreten müssen, akzeptierte er zum 1. Oktober 1918einen Ruf der Technischen Hochschule Dresden. Von diesem Ruf profitierte auch seine Frau, der sich in Dresden die günstige Gelegenheit bot, bei dem Kunst- und Literaturwissenschaftler Oskar Walzel zu habilitieren. Trotz erneuter Schwangerschaft steuerte sie
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auf dieses hochgesteckte Ziel zu und habilitierte etwa ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes Rolf am 2. Juni 1919 über das grenzpsychologische Thema "Entdeckung und Erfindung in Literatur und Kunst", Schon wenige Wochen nach der Verleihung der Venia Legendi wurde Dr. Charlotte Bühler als Privatdozentin - übrigens als erste Frau im Freistaat Sachsen für Ästhetik und Pädagogische Psychologie an der TH-Dresden nominiert. Während sich die Privatdozentin in ihrem Metier relativ wohl zu fühlen schien, beklagte sich der Ordinarius zunehmend über die geringen Entfaltungsmöglichkeiten an der Technischen Hochschule. Als Karl Bühler im April 1922 vom österreichischen Unterrichtsministerium zu Berufungsverhandlungen nach Wien eingeladen wurde, erklärte er sich daher sofort bereit, das Ordinariat für Philosophie und experimentelle Psychologie in Verbindung mit einer nebenamtlichen Lehrtätigkeit am Pädagogischen Institut anzunehmen. Allerdings machte er zur Bedingung, dass ihm eine ordentliche Assistentensteile für seine Frau und eine wissenschaftliche Hilfskraft zur Verfügung gestellt würde. Offenbar konnte man sich nicht sobald einigen, da der Dienstvertrag erst am 9. Oktober 1922 zustande kam. Auch die Umhabilitierung Charlotte Bühlers zog sich bis zum Februar des folgenden Jahres hin, sodass sie erst zum Sommersemester 1923 am regulären Vorlesungsbetrieb des neugegründeten Wiener Psychologischen Instituts teilnehmen konnte. Von Anfang an bestand zwischen dem Leiter des Wiener Instituts und seiner Assistentin ein partnerschaftliches Arbeitsverhältnis bei unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten. Während sich Karl Bühler vornehmlich für allgemeinpsychologische Phänomene interessierte, konzentrierte sich Charlotte Bühler auf entwicklungspsychologische Probleme. Insbesondere untersuchte sie die frühe Kindheit, das Jugendalter und später den gesamten menschlichen Lebenslauf. Um dieses umfangreiche Forschungspensum bewältigen zu können, bedurfte es natürlich eines großen Mitarbeiterstabes, der aber aus finanziellen Gründen nicht zur Verfügung stand. Eine Lösung dieses Problems fand sich schon bald in Amerika. Großzügigerweise hatte ihr nämlich das "Laura Spelman Rockefeiler Memorial" ein Stipendium für einen Studienaufenthalt von Oktober 1924 bis Juli 1925 in den USA gewährt, der sie auch mit führenden Vertretern der Rockefeiler Foundation in Kontakt brachte, mit dem überraschenden Ergebnis, dass dem Wiener Institut insgesamt 4°.000 $ Fördergelder zugesagt wurden. Mittels dieser kräftigen Finanzspritze konnten nun genügend Mitarbeiter angeworben werden, die unter Bühlers tüchtiger Leitung im Laufe der nächsten Jahre eine rege psychologische Forschungstätigkeit entfalteten.
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Als Publikationen, Vorträge und Gastprofessuren die IIWiener Arbeiten" zunehmend populärer machten, strömten immer mehr Interessenten aus dem In- und Ausland an das Institut. 1937 soll sich die gesamte Schüler- und Mitarbeiterschar aus 18 Nationen rekrutiert haben. Allerdings schien es nur wenigen vergönnt gewesen zu sein, die oberen Chargen des Instituts zu erreichen. So verglich z. B. Hedda Bolgar das Wiener Institut mit einer "absolute(n) Monarchie mit Karl und Charlotte Bühler auf ihrem Thron sitzend, umringt von Else und Egon (Brunswik), Paul Lazarsfeld, Käthe Wolf und Hildegard Hetzer als die höchsten Ränge einnehmenden Höflinge. Der Rest von uns gehörte zu einem niedrigeren Rang .. /' (zit. n. Paier, 1996,S. 17).
Besonders das so genannte IIMittwochs-KolloquiumU umwehte ein Hauch von Exklusivität, an dem nur Assistenten, Dissertanten und geladene Gäste aus anderen Fakultäten teilnehmen durften. Mögen Bühlers bisweilen auch elitäres Gehabe an den Tag gelegt haben, so degradierten sie doch ihre Mitarbeiter keineswegs zu bloßen Erfüllungsgehilfen ihrer Interessen. Vielmehr förderten sie auch selbständig durchgeführte Untersuchungen. Wer es aber gewagt hätte, psychoanalytisches Gedankengut in seine Studien einzubringen, der wäre freilich in Ungnade gefallen. Denn Sigmund Freuds Lehre war damals am Institut verpönt. Aber auch Freud und seine Schüler ignorierten das IIfeindliche Lager", sodass von der viel beschworenen IIscientific community" in Wien keine Rede sein konnte. Die Ignoranz der Freudianer gegenüber der akademischen Psychologie kam auch darin zum Ausdruck, dass an dem 1929 vom Bühler-Institut organisierten 11.Kongress für experimentelle Psychologie in Wien, Paul Schilder als einziger Psychoanalytiker teilnahm. Abgesehen von diesen schulischen Diskrepanzen, gestaltete sich jedoch der IIWiener Kongreß" zu einem historischen Ereignis, da die IIGesellschaft für experimentelle Psychologie" - um der psychologischen Methodenvielfalt Rechnung zu tragen - eine Namensänderung in IIDeutsche Gesellschaft für Psychologie" beschloss und Karl Bühler zu ihrem neuen Präsidenten wählte. Doch auch für seine Frau hielt das Kongressjahr eine angenehme Überraschung parat. Mit einer Verzögerung von zwei Jahren wurde ihr nämlich am 11. Mai 1929 der lang ersehnte Titel eines Extraordinarius verliehen. Die folgenden Jahre stand das Psychologische Institut noch in voller wissenschaftlicher Blüte und überstand auch das Ende der parlamentarischen Demokratie im März 1933 relativ unbeschadet. Erst der zunehmende
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Spektakel der Austrofaschisten und die stark reduzierten Fördermittel der Rockefeiler Foundation stellten eine ernsthafte Bedrohung des Forschungsbetriebes dar. Als dann am 12. März 1938 die deutschen Truppen in Österreich einmarschierten, bedeutete dies auch für das Wiener Institut das Ende. Seine Räume wurden von der Gestapo durchsucht und Karl Bühler aus fadenscheinigen Gründen verhaftet. Charlotte Bühler blieb das Schicksal ihres Mannes glücklicherweise erspart, da sie sich zu diesem Zeitpunkt gerade in dem von ihr gegründeten Londoner "Parent's Association Institute" aufhielt und in dieser Situation nach Wien natürlich nicht zurückkehrte. Vielmehr setzte sie von Norwegen aus, wohin sie anschließend zu Vorträgen eingeladen war, alle diplomatischen Hebel in Bewegung, um ihre Familie aus Österreich herauszuholen. Das gelang mittels eines so genannten Quislings, mit Unterstützung des norwegischen Generalkonsuls Ellef Ringnes a. D. Im norwegischen Exil scheint Charlotte Bühler relativ leicht Fuß gefasst zu haben. Nachdem sie am 2. April 1938 von der großen norwegischen Pädagogin Anna Sethne herzlich empfangen worden war, lud man sie bald darauf zu Gastvorlesungen an die Osloer Universität ein. Zudem vermittelten ihr einflussreiche Fürsprecher eine Psychologie-Professur an der Lehrerakademie in Trondheim. Ein dankbarer Mäzen finanzierte ihr in Oslo eine Erziehungsberatungsstelle nebst Sekretärin und Wohnung. Und 1940 sollte sie sogar auf Helga Engs psychologischen Lehrstuhl an die Osloer Universität berufen werden. Unter diesen günstigen Exilbedingungen wäre sie gern in Norwegen geblieben, wenn nicht ihr Mann ständig mit seinem Schicksal gehadert hätte. Gedemütigt durch die unwürdige Inhaftierung, den Entzug der Lehrbefugnis u. a. m., fehlte es ihm jedoch an dem notwendigen Elan zu einem kreativen Neuanfang. Insofern konnte er sich glücklich schätzen, als ihm am St. Scholastica College in Duluth eine Dozentur angeboten wurde. Während er Mitte Januar 1939 sein norwegisches gegen ein amerikanisches Exil vertauschte, blieb Ch. Bühler noch im Lande, bis sich die Anzeichen mehrten, dass auch Norwegen von den Nazis erobert werden würde. Um einer Gefangennahme zu entgehen, flüchtete ihre Tochter Ingeborg nach Schweden und Charlotte Bühler in die USA. Obschon infolge der europäischen Emigrationswellen immer weniger Lehrstühle vakant waren, erhielt sie im Herbst 1940 eine Anstellung am St. Catherine College von St. Paul in Minnesota, dem Schwesterninstitut des männlich geprägten St. Thomas Colleges, an das inzwischen ihr Mann übergewechselt war. In St. Paul bewohnten sie zusammen mit dem Sohn Rolf ein kleines Haus und führten nach langer Zeit wieder einmal ein richtiges Familienleben. Eigentlich hätten Bühlers jetzt erleichtert aufatmen
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können. Doch es fehlte ihnen an wissenschaftlicher Arbeit. Bessere Bedingungen erhofften sie sich daher von einer Gastprofessur an der Clark University in Worcester, Massachusetts, zumal man dort Karl Bühler einen Lehrstuhl für Psychologie in Aussicht stellte. Leider stellte sich bald heraus, dass beide vom Regen in die Traufe gekommen waren, denn auch an der Clark University bekamen sie keinen Forschungsauftrag, sodass Karl Bühler nichts anderes übrig blieb, als 1942 an das St. Thomas College zurückzukehren (vgl. Birren, 1971, S. 24). Gern hätte auch Charlotte Bühler ihre frühere Lehrtätigkeit am St. Catherine College wieder aufgenommen. Ihres aggressiven und imposanten Auftretens wegen fand sie jedoch die Collegetüren für immer verschlossen. Stattdessen bekam sie eine Anstellung am General Hospital in Minneapolis als Klinische Psychologin. Bisher waren Lehre und Forschung sowie Entwicklungsdiagnostik bei verhaltensauffälligen Kindern ihre Domäne gewesen. Nun erwuchs ihr die schwierige Aufgabe, eine erwachsene Klientel mit psychiatrischen Störungsbildern diagnostizieren zu müssen. Gleichzeitig reifte bei ihr die Einsicht, dass sie in Amerika ohne eine gründliche psychoanalytische Schulung weder auf einen grünen Zweig noch zu einem vertieften Verständnis des menschlichen Lebenslaufes gelangen könne. Zwar entwickelte sie sich nicht zu einer überzeugten Psychoanalytikerin, doch bewirkten diese neuen Erkenntnisse immerhin eine deutliche Veränderung ihrer theoretischen Konzeption. Hatte sie vorher eine empirisch orientierte Entwicklungspsychologie vertreten, so fügte sie nun ihrem Ansatz noch tiefenpsychologische Elemente hinzu. Heraus kam eine Art "BühlerischeMotivationspsychologie'; welche später in die "Humanistische Psychologie einmündete. Doch bis dahin sollten noch einige Jahre vergehen. Vorerst bereiteten sich Bühlers erneut auf einen Ortswechsel vor. Um ihrem Sohn Rolf möglichst nahe zu sein, der inzwischen sein Studium als Raumfahrtingenieur beendet, eine Assistentensteile am California Institute of Technology in Pasadena bekommen und eine Kalifornierin geheiratet hatte, brachen sie ihre Zelte in Minneapolis ab und zogen 1945 ebenfalls nach Kalifornien. Nach vielen Absagen erhielten sie in Los Angeles TeilzeitBeschäftigungen an der Medical School of University of South California, sie als Klinische Psychologin, er als Psychiater. Während ihr Mann 1950 an das Cedars of Lebanon Hospital überwechselte, blieb sie an der Medical School noch bis 1953. Der Aufbau einer psychotherapeutischen Praxis in Hollywood ließ bald wieder einen Umzug als notwendig erscheinen. Anfangs diagnostizierte Charlotte Bühler nur verhaltensauffällige Kinder. Ein nie versiegtes Inter11
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esse, die gesamte menschliche Entwicklung verstehen zu wollen, führte jedoch immer öfter und dann ausschließlich zur Behandlung von erwachsenen Patienten. Deren Lebensläufe zu eruieren und ihre Wertmaßstäbe und Potenzialitäten zu erkennen, versprachen ihr tiefere Einblicke in die menschliche Existenz als das Studium nur einzelner Lebensabschnitte. Um das Innerste ihrer Patienten nach außen zu kehren, erschienen ihr Tiefenexploration und psychodiagnostische Tests geeigneter zu sein als die zu Wiener Zeiten häufig propagierte "systematische Verhaltensbeobachtung", Als gefragte Psychotherapeutin begann sich Charlotte Bühler allmählich mit ihrem Emigrantenschicksal auszusöhnen. Dank guter Verdienstmöglichkeiten war der gewohnte Lebensstandard bald wieder erreicht, und inspiriert durch die kritische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und ihre therapeutische Tätigkeit meldete sie sich auch wieder vermehrt in der psychologischen Fachwelt zu Wort. Karl Bühler hingegen ging es nach wie vor nicht gut, und ohne seine fürsorgliche Frau wäre es ihm sicherlich noch schlechter ergangen. Krank an Leib und Seele fehlte es ihm an der notwendigen Antriebskraft. Trotzdem erreichte er ein relativ hohes Alter von 84 Jahren. Er starb am 24. Oktober 1963. Um das Alleinsein besser ertragen zu können, stürzte sich Charlotte Bühler mehr den je in ihre therapeutische und schriftstellerische Arbeit. Hinzu kamen vielfältige Aufgaben und Verpflichtungen in der von ihr 1962 mitbegründeten "Association for Humanistic Psychology'; die sie fast völlig absorbierten. Zusammen mit Abraham Maslow, und anderen amerikanischen Kollegen popularisierte sie diese neue psychologische Richtung auf humanistisch-existenzieller Grundlage, bis sie sich in den USA als "dritte Kraftu - neben Psychoanalyse und Behaviorismus - etabliert hatte.. Im November 1970erhielt Charlotte Bühlers Leben voller Schaffenskraft einen kräftigen gesundheitlichen Dämpfer, denn. Darmgeschwüre verhinderten die weitere Einnahme cortisonhaitiger Medikamente gegen ihre degenerative Arthrose, was drei Hüftoperationen und ein eingeschränktes Leben im Rollstuhl zur Folge hatte. Der besseren Pflegemöglichkeiten wegen remigrierte sie nach Deutschland und bezog im Stuttgarter "Wohnstift Augustinum" ein kleines Appartement. Trotz chronischer Beschwerden begab sie sich hier wieder an die Arbeit, indem sie sich eine psychotherapeutische Praxis einrichtete, vielerorts Vorträge über humanistische Psychologie hielt und für diverse amerikanische Fachjournale Artikel schrieb. Einen letzten Höhepunkt ihres facettenreichen Lebens erlebte sie anlässlich des 3. Internationalen Kongresses für Humanistische Psychologie im September 1973 in Montreal, zu dem sie als Hauptreferentin geladen worden war.
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"More than thousand people, who gave me a standing ovation. That was something", schrieb sie anschließend an ihren amerikanischen Kollegen [ohn Levy. Nach einer Reihe von Schlaganfällen starb sie am 3. Februar 1974. Rezension: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem (1933) Charlotte Bühler hinterließ ein umfangreiches CEuvre von über 200 Büchern und Aufsätzen. Am bekanntesten davon dürfte "Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem" (1933) geworden sein. Für dieses Buchprojekt sammelte sie zusammen mit etwa 45 Mitarbeitern 200 Biographien bedeutender Persönlichkeiten aus der Literatur und 50 Anamnesen aus einem Wiener Seniorenheim. Bezug nehmend auf Karl Bühlers "DreiAspekte-Lehre" sortierte sie das biographische Material nach Verhaltens-, Erlebnis- und Werkdaten. Anhand dieser psychologischen Daten konzipierte sie dann eine fünfphasige Lebenslaufkurve und bezog sie auf das biologische Grundscherna: generatives (0-25. Lj.), stabiles (25.-45. Lj.) und regressives Wachstum (45.-70. Lj.), inklusive zweier Übergangsphasen zwischen dem 15.-25. und 45.-55. Lebensjahr. Die statistische Auswertung der miteinander korrelierten Kurven erbrachte folgende Ergebnisse: "Es gibt erstens eine der biologischen parallele Expansions- und Restriktionskurve auch im sozialen Leben des Individuums. In Beruf, Familienleben, Freundeskreis usw. gibt es zunächst Ausbreitung, Zuwachs, Unternehmenslust, Aufstieg; dann eine gewisse Stabilitätsperiode und nach ihrer Einschränkung, Verlust Zurückziehen, Abstieg. Es gibt zweitens irgendwelche Faktoren, die eine exakte Korrelation der beiden Kurven verhindern, womöglich überhaupt eine entgegengesetzte oder ganz andere Tendenz andeuten" (Bühler, 1933, S. 22).
Auf der Suche nach solchen determinierenden Faktoren entdeckte Charlotte Bühler den Einfluss der Erfahrung und des Geistes, die eine abnehmende Leistungsfähigkeit zu kompensieren vermögen. Allerdings machte noch eine weitere Variable ihren Einfluss geltend, die "Bestimmungl~ die sich jedes Individuum im Rahmen seiner eigenen Wertewelt gibt. Denn menschliches Leben erschöpft sich Bühler zufolge nicht im bloßen "Daseinl~ sondern indiziert immer auch ein "Für-etwas-da-Seinu • Indem sich der Mensch aber für irgendeine Sache aufgabenmäßig betätigt, löst er sich in gewisser
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Weise von seiner biologischen Abwärtskurve und expandiert bis ans Ende seines Lebens. Eine Bestimmung im Leben finden hängt eng mit dem Gelingen des Lebens zusammen. Wenn aber das Leben gelingen soll, so müssen drei Bedingungen erfüllt sein: Ansprüche und Gegebenheiten müssen miteinander harmonieren, Bedürfnis- und Aufgabentendenzen müssen sich im Gleichgewicht befinden und der Wechsel von der bedürfnis- zur aufgabenmäßigen Betätigung muss richtig vollzogen sein. Andernfalls besteht die Gefahr der objektiven Einseitigkeit und subjektiven Unzufriedenheit. Der gelungene Lebenslauf ist nicht identisch mit der Normalstruktur des Lebenslaufes. Vielmehr handelt es sich bei der Normalstruktur um eine statistische Konstruktion, die dazu dient, die individuelle Biographie an normal menschlichen Maßstäben messen zu können. Demnach verläuft ein Lebensweg dann "normalu , wenn sich alle fünf Lebensphasen über eine Zeitspanne von mindestens 70 Jahren erstrecken, die Kulmination in die 3. Lebensperiode (45.-55. Lj) fällt und biologische und biographische Daten innerhalb einer gewissen Spannbreite miteinander korrespondieren. 1959 publizierte Charlotte Bühler eine völlig überarbeitete Neuauflage ihres epochalen Werkes, in welchem sie die determinierenden Motivations- und Zieltendenzen des menschlichen Lebens deutlicher als 1933 in den Vordergrund ihrer Betrachtungen rückte. Nunmehr erachtete sie nicht mehr so sehr die biologischen Aufbau- und Abbauprozesse als wesentlich für die Phänomenologie des Lebenslaufes, sondern seine werthaitigen Grundtendenzen: Bedürfnisbefriedigung, adaptive Selbstbeschränkung, schöpferische Expansion und Aufrechterhaltung der inneren Ordnung. Auch die früher postulierte Parallelität des psycho-physischen Entwicklungsgeschehens wurde infolge der intervenierenden Motivationsprozesse weniger stringent gesehen. Hingegen hielt sie nach wie vor an der Einteilung des Lebenslaufes in fünf Phasen fest. Noch einmal zehn Jahre später erschien ein zusammen mit Fred Massarik herausgegebener Sammelband über "Lebenslauf und Lebensziele" (1969) bei Gustav Fischer in Stuttgart, den man sicherlich als Krönung ihres Lebenswerkes betrachten kann. Denn mit diesem Werk gelang ihr eine multiperspektivische Betrachtungsweise der überaus komplexen Lebenslaufthematik.
Rezeption Angeblich habe das Buch "Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem" (1933) in Deutschland wenig Beachtung gefunden (vgl. Hetzer,
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1982, S. 212). Dem widersprechen jedoch 36 Rezensionen in deutschsprachigen Zeitschriften, 46 sind es insgesamt. Zudem beurteilen die Rezensenten das Buch überwiegend positiv. Insbesondere würdigen sie Bühlers Studie als einen wichtigen Beitrag zur Psychologie und als einen neuartigen Versuch, den menschlichen Lebenslauf als Ganzes strukturell zu erfassen und darzustellen. Allerdings übte man auch mehrfach Kritik. Erich Stern etwa weist in seiner sehr ausführlichen Besprechung des Werkes darauf hin, dass sich die Lebenslaufstudie hauptsächlich auf Anamnesen hervorragender Persönlichkeiten stützen würde. Darin aber liegt seiner Ansicht nach flimmer die Gefahr, daß mehr eine Psychologie des genialen als des Durchschnittsmenschen ... gegeben ist" (1933, S. 206).
Andere Rezensenten wiederum bemängeln die ungenügende Berücksichtigung des historischen, soziologischen und kulturellen Kontextes sowie die schicksalhaften Einflüsse, denen ein Individuum ausgeliefert ist. Und Paul Schilder versucht gar an die Grundfesten des Konzeptes von der "Normalstruktur" des Lebenslaufes zu rütteln, da seiner Ansicht nach der "normale menschliche Lebenslauf nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist (vgl. 1933, S. 571). Noch Jahrzehnte später würdigten die Psychologen Charlotte Bühlers longitudinale Lebenslaufstudie als innovativ und die disziplinäre Forschung befruchtend. So schreibt zum Beispiel Hans Thomae in seinem Nachruf für die Grand Old Lady der Entwicklungspsychologie: ll
"Hier wurde zum ersten Mal in fundierter Weise die These vertreten, daß menschliche Entwicklung ein Problem der gesamten Lebensspanne sei. Die Bemühungen um eine ,life-span-developmental psychology' gehen letzten Endes auf diese Arbeit zurück" (1974, S. 149).
Diejenigen, welche sich um eine "Lebenslaufpsychologie bemühten, entfernten sich freilich von der originären Konzeption und entwickelten eigene Methoden zur Erforschung des menschlichen Lebenslaufes. Robert Havighurst etwa favorisierte soziologisch fundierte Verfahren, während Pressey & Kuhlen und Thomae ihre Lebenslaufdaten verhaltensstatistisch ermittelten. Erik H. Erikson wiederum gründete sein Phasenmodell der seelischen Entwicklung auf psychoanalytisches und ich-psychologisches Gedankengut. Beim gegenwärtigen Stand der Lebenslaufforschung bedeuten diese unterschiedlichen Ansätze keinen Nachteil. Für die Zukunft ll
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allerdings wären integrative und interdisziplinäre Forschungsstrategien wünschenswert, mit dem Ziel, ein multiplexes Bild des psychologischen Lebenslaufes zu entwickeln. Ausgewählte Bibliographie Bühler, Charlotte. (1922). Das Seelenleben des Jugendlichen. Jena: G. Fischer. (1928). Kindheit und Jugend. Leipzig: S. HirzeL (1933). Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem.. Leipzig: S. Hirzel. Zweite neubearbeitete Aufl. (1959). Göttingen: Hogrefe. (1962). Psychologie im Leben unserer Zeit (1962). München: Droemer-Knaur. (1969). (mit Massarik, F.).Lebenslauf und Lebensziele (1969). Stuttgart: G. Fischer.
Literatur Ammers-Küller, van J. (1935). Charlotte Bühler. In Bedeutende Frauen der Gegenwart (5. 269300). Bremen: Schünemann. Birren, J. (1971). Four Interviews of a Biography of Charlotte Bühler (1967--68). Unveröffentlichte Manuskripte. Bühler, Ch. (1.933). Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem. Leipzig: S. HirzeL Bühler, Ch. (1972). Charlotte Bühler. In L.]. Pongratz, W. Traxel & E. G. Wehner (Hrsg.), Psychologie in Selbstdarstellungen (5. 9-42). Bern: Huber. Bühring, G. (2007). Charlotte Bühler oder Der Lebenslauf als psychologisches Problem. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Paier, D. (Hrsg.). (1996). Else Frenkel-Brunswik. Studien zur autoritären Persönlichkeit. Ausgewählte Schriften. Graz-Wien: Nausner & Nausner. Hetzer, H. (1982). Kinder- und jugendpsychologische Forschung im Wiener Psychologischen Institut 1922 bis 1938. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 14, 175-224. Schilder, P. (1.933). Charlotte Bühler: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem. Imago, 19, 567- 573. Stern, E. (1.933). Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem. (Bemerkungen zu dem Besuch von Charlotte Bühler-Wien). Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und Psychisch-Gerichtliche Medizin, 100,193-213. Thomae, H. (1974). Nachruf für Charlotte Bühler. Psychologische Rundschau, 25,149-15°.
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Bärbel Inhelder: Die andere Seite der genetischen Psychologie
,.In Hinbück auf unsere biologiBd1e und epistemologi.scbe Perspektive ist jeder Mensch ein Subjekt der Erfindungen und EntdedcungenN (Inhelder, 198'7).
Biographie Bärbel Inhelder wurde am 15. April 191) in St Gal1en/Schweiz geboren. Siewar das einzige Kind von Alfred Inhelder (1870-1958), Professor für Biologie. Geologie
und Geographie des sankt-gallischen Lehrerseminars in Rorechach und EIsa Inhelder; geborene Spannagel, aus Berlin stammend. In ihrer Autobiographie beschreibt Bärbel Inhelder ihre Mutter als "temperamentvoll, sogar brillant in guten Perioden, die, leider, mit Depressionen regelmässig abwechselten" (Inhelder, '199U, S. 98>. In diesen guten Perioden schrieb sie Verse und Theaterstücke für ihre Tochter und deren Freunde. Aber die häufigen depressiven Momente der Mutter, die aus in der Jugend erlebten schmerzhaften Ereignissen stammten, erlaubten ihr kein richtiges soziales Leben zu führen, ausser in dem engen Kreis der Familie. Der Vater - die imposante Figur der Familie - war ein Mann seiner Zeit, nicht nur vom Aussehen, sondern auch von seinen Ideen über Erziehung. Obwohl er sich für die Parität von Jungen und. Mädchen in der Schule einsetzte, unterstützte er den Zugang von Mädchen in der Hochschule aus Prinzip nicht. Da er selbst als Lehrer tätig war, hielt er es für selbstverständlich, dass seine Tochter am Lehrerseminar studieren sollte, dessen Absolvieren zur Schullehrbefugnis führte. Für ihn war es sehr wichtig, dass seine Tochter eine Qualifizierung erwerben würde, die zu einer finanziellen Unabhängigkeit führte. Sein Leben lang hielt er an dieser Ansidtt fest, gegen die S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Inhelder lange ankämpfen musste, um ihre Wahl eines längeren Studiums und einer Arbeit im Rahmen der Universität durchzusetzen. Nach der Elementar- und Sekundarschule, die Bärbel Inhelder in Rorschach besucht hat, immatrikuliert sie sich am Lehrerseminar Rorschach, wo ihr Vater lehrte. Im Frühling 1932 erhält sie ihr Lehrerdiplom. Auf diese Weise, kaum 19 Jahre alt, kann sie ein aktives Leben beginnen und ihren Lebensunterhalt verdienen, wie es sich ihr Vater wünschte. Aber ihr neugieriger und unabhängiger Charakter drängte sie, ihr Studium weiterzuführen. Nach einer 3-monatigen Weiterbildung in französischen Sprache auf der Höheren Töchterschule in Morges (in des Nähe von Genf) beteiligt sie sich am Sommerkursus, der von 18.-23. Juli 1932 in Genf stattfindet. Die Sommerkurse wurden seit 1924 vom Institut Jean-Jacques-Rousseau organisiert, dort hatten sich außer den Studenten des Instituts, Lehrer und Pädagogen aus aller Welt versammelt. Sie haben auf die internationale Erziehungsbewegung hingewiesen, die in dieser Zeit im Institut herrschte. In diesem Rahmen trifft Inhelder die Hauptvertreter des Instituts: Edouard Claparede, Pierre Bovet und [ean Piaget. Diese erste Begegnung mit den Meistern des Instituts regt sie an, ihr Studium weiterzuführen. Im Oktober 1932 immatrikuliert sie sich am Institut und wohnt in Genf, "versuchsweise für ein [ahr", Mit Ausnahme einer 5-jährigen Abwesenheit wird sie danach ihr ganzes Leben und ihre wissenschaftliche Karriere in Genf verbringen. Da die Institution relativ klein war, sind die neuen Studenten vom Anfang an in die zu dieser Zeit laufenden Forschungen integriert. So beteiligt sich Inhelder schon ab dem ersten Jahr an den Forschungen, die von Piaget durchgeführt werden und die sich um die Bereiche physikalische Begriffe, Raum, Zahl und Zeit zentrieren. In dieser Zeit freundet sie sich auch mit den zwei wichtigsten Mitarbeiterinnen von Piaget an: Alina Szeminska' und Edith Meyer". Der Beginn der Zusammenarbeit mit Piaget ist im Sommersemester 1933: "An meinem zwanzigsten Geburtstag überredete mich Piaget ein kleines Experiment, welches später eine sehr grosse Bedeutung bekam und zu vielen anderen Studien führte, zu verwirklichen: vor dem Kind ein kleines Stück Zucker aufzulösen, und versuchen herauszufinden, was das Kind über den Prozess der Auflösung und die verschiedene Stadien der Substanz denkt" (Inhelder, 1992, S. 101).
Die Befunde dieses Experimentes werden zwei Jahre später in ihrer ersten wissenschaftlichen Veröffentlichung erscheinen (Inhelder, 1936).
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Am Ende dieses ersten "Versuchsjahres hat Inhelder eine endgültige Entscheidung getroffen: sie möchte ihr Studium zu Ende führen und ein Diplom anstreben. 1936wird sie als unbezahlte Assistentin von Piaget eingestellt, was ihren Vater nicht erfreut hat. Er versteht diese Einstellung als eine Art Ausbeutung und versucht beharrlich seine Tochter zu beeinflussen, Genf zu verlassen. 1937lässt sich Inhelder deshalb in Sankt Gallen nieder, wo sie die erste "Kantonale Fürsorgesteile für Anormale" des Kantons St. Gallen gründet (Inhelder, 1940). Doch die Zusammenarbeit und die Kontakte mit Genf brechen trotzdem nicht ab. Inhelder hat sich zu einer Doktorarbeit verpflichtet, deren Thema in engem Zusammenhang mit der Theorie Piagets steht. Während sie aktiv, oft unter sehr schlechten Bedingungen (Tryphon, 1998) in der FürsorgesteIle arbeitet, verfasst sie ihre Doktorarbeit, die sie 1943 unter dem Titel j.Le diagnostic du raisonnement chez les debiles mentaux" (Die Diagnose der Denkprozesse bei Geistigbehinderten) "verteidigen wird (Inhelder, 1943). Im gleichen Jahr kehrt sie nach Genf zurück und wird als "Chef de travaux" eingestellt. Ihre Anwesenheit in Genf ist unentbehrlich. Während des Krieges hatte sich die wissenschaftliche Tätigkeit in Genf stark reduziert. Szeminska und Meyer, Piagets wichtigste Mitarbeiterinnen, hatten beide Genf verlassen und eine Menge Experimente hinerlassen, einige davon unvollendet. Piaget ist in dieser Zeit dabei, seine genetische Erkenntnistheorie (epistemologie) zu verfassen und benötigte experimentelle Befunde, um seine Theorie zu begründen. Inhelders erste Aufgabe, gleich nach ihrer Rückkehr nach Genf, besteht darin, alle diese Experimente zu vervollständigen, und viele andere neu zu planen, was sie mühelos verwirklicht. Ausser ihrer Lehre, besucht sie Genfer Schulen und befragt mit der Hilfe von StudentInnen und Assistenten/innen hunderte von Kindern in verschiedenen Experimenten, bei denen sie die "revidierte klinische Methode" anwendete, die sie sich während des Studiums in Genf angeeignet hat. Zeitgleich zu diesen Studien, die verschiedenen Bereiche (Raum, Geometrie, Zufall usw.) betreffen, jedoch erst später veröffentlicht werden (Piaget & Inhelder, 1948; 1951; Piaget, Inhelder & Szeminska, 1948), interessiert sich Inhelder zunehmend für die funktionellen Aspekte der Intelligenz: U
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"Ich hatte diese Forschung mit zwei Sorgen angefangen. Ich wollte die Rolle des Objektes im Verhalten des Subjektes (und) den Einfluss der Umgebung besser verstehen. Und ich hoffte auch, die generellen Gesetze einer experimentellen Methode hervorzuheben. (...) Ich wollte
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Anastasia Tryphon mehr wissen über die Methoden des Subjektes, träumte aber auch noch in einer unbefangenen Weisel die wissenschaftliche Methode zu beschreiben" (Gillieron & Coll, 1981).
Aber trotz eines 6-monatigen Stipendiums der Stiftung Pro-Helvetia, durch das sie von ihrer Lehre entlastet wird und das ihr erlaubt, diese Forschung auszuarbeiten, wird kein Buch über die experimentelle Methode erscheinen. Die Resultate werden statt dessen in dem gemeinsamen Buch von Inhelder und Piaget - liDe la logique de Yenfant a la logique de l'adolescent" (Von der Logik des Kindes zur Logik des Heranwachsenden, 1977) erscheinen (Bond, 2001). In diesem Buch wird die Theorie über die formalen Operationen, die das jugendliche Denken definieren, vorgestellt. Zu bemerken ist, dass von mehreren Büchern, die Inhelder und Piaget zusammen verfasst haben, dieses das einzige ist, bei dem ihr Name als erste Verfasserin steht. Ab den dreißiger Jahren, in dem Maße, wie sich parallel zu ihrer Etablierung ihr internationaler Ruf herstellt, werden ihre Aktivitäten immer vielseitiger. Im Juni 1950 wird sie von der Universität Saarbrücken angefragt, die Lehre in der experimentellen Psychologie und die Leitung des vor kurzem eröffneten Psychologieinstituts anzunehmen. Trotz der interessanten Herausforderung und des Prestiges dieser Stelle lehnt sie dieses Angebot ab, ebenso, wie sie auch später Berufungen anderer Universitäten ablehnen wird, um der Schule, die sie mit aufgebaut hat, treu zu bleiben. Jedoch wird sie 1951 einen Lehrauftrag für ein Jahr an der philosophischen Fakultät Zürich annehmen. Mitte der fünfziger Jahren nimmt Inhelder an der Arbeitsgruppe über die psycho-biologische Entwicklung des Kindes, die von der OMS (Organisation Mondiale de la Sante) in Genf organisiert wird, teil. Diese Sitzungen, die über 4 Jahre hinweg stattfinden, führen zur Veröffentlichung von 4 Bänden unter dem Titel j.Discussions in Child Development" (Tanner & Inhelder, 1956a, 1956b, 1958, 1960). Im Sommer 1954unternimmt Inhelder eine Reise durch die Vereinigten Staaten, um die bekanntesten Psychologielaboratorien zu besuchen. Der Bericht, der aus dieser Reise resultiert, legt den Nachdruck auf die longitudinalen Studien und kündigt Arbeiten an, die sie später selbst auf diesem Gebiet unternehmen wird. 1959wird sie von der Cornell Universität/USA als Ilvisiting professor" eingeladen, lehnt diesesAngebot aber ebenfalls ab. In den sechziger Jahren beginnen sich die Interessen von Piaget und Inhelder allmählich zu unterscheiden (Voneche, 2001). Nach dem Erscheinen der Bücher IIÜber das innere Bild beim Kind" (Piaget & Inhelder, 1966)und
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das Gedächtnis (Piaget & Inhelder, 1968)und teils in Anbetracht der häufigen Interaktionen mit den amerikanischen Kollegen, vor allem mit [eröme Bruner, nimmt sie die Studien mit ihren funktionalistischen Interessen erneut auf. Mit einem neuen Team untemimmt sie Forschungsarbeiten zum Lernen von kognitiven Strukturen (Inhelder, Sinclair & Bovet, 1974). Ein anderes Gebiet, das Inhelder im selben Zeitabschnitt untersucht, ist das der interkulturellen Forschung. Ab den siebziger Jahren, nachdem sie Piagets Stelle an der Universität übernommen hat widmet sie sich fast ausschließlich Studien zum originär psychologischen Subjekt und distanziert sich damit weiter vom Plagersehen erkenntnistheoretischen Subjekt. Ihre letzten Forschungen über die Entdeckungsstrategien beim Kind veranlassen sie dazu, den engen strukturalistischen Rahmen der Piaget'schen Theorie zu überschreiten, um sich auf das Funktionieren eines psychologischen Subjektes in Problemlösungsituationen zu konzentrieren (Inhelder, 1992 b), Ab 1983 setzt sie, obwohl sie pensioniert ist, ihre wissenschaftliche Tätigkeit im Rahmen des 1974 von ihr gegründeten "Archives [ean Plaget" fort. Sie beaufsichtigt dort die Veröffentlichungen der posthumen Werke von Piaget und organisiert Konferenzen, deren Tradition bis heute andauert. Bärbel Inhelders Beiträge im Bereich der Psychologie sind sehr zahlreich. Davon zeugen auch die zahlreichen wissenschaftlichen Preise und Ehrendoktor-Würden, die sie von Universitäten aus aller Welt erhalten hat. Bärbel Inhelder starb 1997im Alter von 84 Jahren in der Nähe von Genf. Rezension: "Gedächtnis und Intelligenz beim Kind" (1978) Die Gedächtnisexperimente sind in den 60er Jahren unternommen worden und folgen der Veröffentlichung der Wahmehmungsforschungen ("Les mecanismes perceptifs" - Piaget, 1961 und "L'image mentale", Piaget, 1966). Wie Montangero & Naville (1997) es behaupten, sind die 60er Jahre eine Zwischenperiode im Werk Piagets. Nachdem er die fundamentalen Kategorien der Erkenntnis, wie Zeit, Raum usw. studiert hat, wandte er sich der Wahrnehmung und dem Gedächtnis zu. Die Experimente, die im Buch "Gedächtnis und Intelligenz" (Piaget & Inhelder, 1968 ) enthalten sind, sind in den 60er Jahren von Bärbel Inhelder und Hermine Sinclair durchgeführt worden. Der hier besprochene Artikel stellt eine Zusammenfassung dieser Experimente dar.
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Die Autorin bezieht direkt zu Beginn Stellung gegen die Behavioristen und formuliert das Interesse der Gedächtnisforschung an den Tranformationsmechanismen. Die Anfangshypothese ist die, dass diese Mechanismen in engem Zusammenhang mit den Kodierungs- und Enkodierungsprozessen stehen. Die Frage wird folgendermaßen gestellt: wenn die Spur des Gedächtniskodes sich mit der Zeit nicht ändert, dann muss das Gedächtnisbild so bleiben wie es kodiert wurde oder sich sogar mit der Zeit verschlechtern. Wenn sich aber die Kodierungsstruktur im Zusammenhang mit der Entwicklung transformiert, müßte man Änderungen in der Ebene der Gedächtnisbilder finden. Zusätzlich wird eine weitere Frage gestellt: sind die Transformationsmechanismen von spezifischen Gedächtnisgesetzen abhängig oder von den Transformationen der kognitiven Strukturen, die selbst von der Entwicklung abhängen? Die Autorin erwähnt die von Piaget etablierte Unterscheidung zwischen figurativen und operatorisehen Aspekten der Denkprozesse. Die ersteren (Wahrnehmung, Vorstellung usw.) beziehen sich auf die "Vorstellung von Zuständen, ohne Beziehung zu den Transformationen, die solche Resultate hervorrufen", Die operatorisehen Aspekte (Handlungen und Operationen) beziehen sich auf die Transformationen der Realität. Es folgt, dass die Handlungsschemata von den Operationen abhängen. Eine weitere Unterscheidung wird vorgenommen, nämlich die zwischen "Schemau und "sheme u , wobei ein "sheme u auf die Struktur der Handlungen und Operationen verweist, während ein "Schemau ein "vereinfachtes, vorgestelltes Abbild vom Ergebnis einer bestimmten Handlung" ist. Zusammengefasst lautet die hier gestellte Frage wie folgt: ist es möglich, dass die Gedächtnisbilder ohne Mitwirkung der Schemata erhalten bleiben? Um diese Frage zu beantworten, werden mehrere Experimente durchgeführt, deren Methodik sehr einfach ist. Dem Kind werden verschiedene Konfigurationen gezeigt, und es wird gebeten, diese sorgfältig anzuschauen, um sie später wiederzugeben. Die Wiedergabe findet in verschiedenen Zeitabständen statt: sofort nach der Vorführung oder knapp eine Stunde danach, nach einer Woche oder zuletzt nach ein paar Monaten (6oder 8 Monate). Wenn in diesem Zeitabstand der Gedächtniskode gleich bleibt, muss das Gedächtnisbild, d. h., das, was das Kind wiedergibt, auch gleich bleiben, oder, sich im schlimmsten Fall verschlechtern. Wenn aber der Gedächtniskode vom operatorisehen Niveau des Kindes abhängt, dann erwartet man, dass sich das angegebene Gedächtnisbild verbessert, d. h., dass es reicher und besser strukturiert wird.
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Diese einfache Versuchsdurchführung wird mit verschiedenen Materialien vorgenommen. Die Autorin stellt die Befunde von fünf der insgesamt 20 Experimenten vor, die im Buch beschrieben werden: Gedächtnis einer Reihenstruktur, des horizontalen Flüssigkeitsniveaus, metrische und räumliche Entsprechungen, Kausalität und räumliche Konfigurationen. Es sollen hier beispielhaft nur die Ergebnisse des Reihenstruktur-Experiments erwähnt werden. Eine Woche nach der Experimentdurchführung gaben die Kinder nicht das Modell, das sie beobachtet hatten, wieder (d. h. 10 Stöckchen, die nach der Größe geordnet waren) sondern ein Modell, das mit ihren operatorisehen Schemata übereinstimmte. Die jüngsten Kinder (3-4 Jahre) malten eine Serie von nebeneinandergelegten Stöckchen, deren jeweilige Länge leicht variierte. In der nächsten Altersgruppe zeichneten die Kinder entweder verschiedene Serien von gleich-langen Stäbchen oder Serien von Stäbchen verschiedener Länge. Nur die älteren Kinder (6-7 Jahre) konnten eine mehr oder wenige korrekte Serie von 8 bis 12 Stäbchen zeichnen, die der Größe nach aufgereiht waren. Ein besonders eindrucksvolles Ergebnis ist nach 6 Monaten aufgetreten: 74% der befragten Kinder zeigten Fortschritte bei der Wiedergabe. Die Ergebnisse der anderen Experimente gehen in die gleiche Richtung, nämlich dass die Gedächtnisbilder der Kinder mehr von der Art, in der sie das Modell interpretiert hatten, abhingen, d. h. daß die Bilder mehr im Zusammenhang mit ihrem operatorisehen Niveau standen, als mit dem, was sie gesehen hatten, d. h. mit den objektiven Daten. Auf der Basis dieser Ergebnisse kommt die Autorin zu folgenden Schlussfolgerungen: Der Gedächtniskode ist keinesfalls festgelegt und unveränderbar. Er wird mit der allgemeinen Entwicklung strukturiert. Das bedeutet, dass das Gedächtnis nicht als eigenständige Fähigkeit betrachtet werden kann. Die Gedächtnisentwicklung hängt vom Funktionieren der Gesamtintelligenz, d. h. von den operatorisehen Strukturen des Kindes ab, deren Bedeutung nicht nur im logischen Verhalten sondern auch in weiteren Gebieten bewiesen wurde. Zuletzt zieht die Autorin einen Vergleich zwischen dem Gedächtnis in der Entwicklung des Kindes und dem biologischem Gedächtnis und schliesst mit einem eventuellen Zusammenhang zwischen dem menschlichen Gedächtnis und elementaren Formen von Erkenntnis bei Tieren und Pflanzen ab.
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Bewertung der Schrift in ihrer Zeit und aus heutiger Sicht Es gibt mehrere Aspekte, die Bewertung dieser Schrift vorzunehmen. Obwohl sie verschieden sind, stehen sie in engem Zusammenhang. Man kann auf die Replizierungen der Experimente, die Übersetzungen und auch auf die Berichte über diese Schrift verweisen. Was den ersten Punkt betrifft, wurden die Befunde in den USA von verschiedenen Forschern repliziert. Die erste Replizierung wurde von Altemeyer, Fulton und Berney unternommen und erschien bereits 1969 in "Child Development", Wenn man die Zeitfrist zwischen der Einsendung eines Manuskriptes und seinem Erscheinen berücksichtigt, kann man schließen, dass dieses Experiment spätestens 1968 unternommen worden sein muss, d. h. in demselben Jahr, in dem das Buch über "Gedächtnis und Intelligenz" auf Französisch erschien ist, was seltsam ist. In der Tat haben sich die Autoren dieses Artikels aufgrund einer Konferenz, die von Piaget im September 1967an der Universität von Minnesota abgehalten wurde, entschlossen, die von Piaget referierten Befunde zu prüfen, indem sie Kinder zu dem Material des Reihenexperiments befragten. Obwohl die Ergebnisse dieser Studie nicht so eindrucksvoll sind wie diejenigen von Piaget und Inhelder, heben sie ebenfalls eine Weiterentwicklung in den Antworten der nach 6 Monaten befragten Kindern hervor. Nachdem das Buch auf Englisch übersetzt wurde, ist eine neue Serie von Replizierungen mit der Reihenstruktur und der Horizontalität des Flüssigkeitsniveaus von Lynn Liben unternommen worden (Liben, 1974, 1975). Die Befunde dieser Forschung zeigen einige, aber keine systematischen Fortschritte bei den befragten Kindern, was die Autorin dazu führt, die Analyse von Piaget und Inhelder in Frage zu stellen und die beobachteten Fortschritte durch die Wiederholung des Experiments zu erklären. Nach einigen anderen Versuchen, in denen sich die Methoden immer weiter von der ursprünglichen Methode entfernten (siehe Liben, 1977; Flammer & Reber, 1993 für eine Zusammenfassung), wird die von der Genfer Schule geleitete Gedächtnisforschung aufgegeben. Eine neue Serie von Forschungsarbeiten im Bereich des Gedächtnisses wird Mitte der achtziger Jahre von der Neo-Piaget'schen Schule unternommen, die sich besonders auf die Analyse der verschiedenen Arten von Gedächtnis (Langzeit- und Kurzzeit-Gedächtnis, wie auch Arbeitsgedächtnis) und auf ihren Einfluss in der Entwicklung konzentrieren (de Ribaupierre & Hitch, 1994). Was den zweiten Punkt betrifft, ist es interessant festzustellen, dass die ersten Übersetzungen 1972 auf Spanisch und Japanisch erschienen. Die englische Übersetzung folgte 1973 und die Deutsche 1974. Der Zeitabstand
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von 6 Jahren zwischen der Originalveröffentlichung und der deutschen Übersetzung scheint, verglichen mit anderen Arbeiten von Inhelder und Piaget, ziemlich kurz, deren Übersetzung ins Deutsche sehr verzögert stattfand und, was manche Texte betrifft, bis heute noch aussteht. Tatsächlich, obwohl der Durchschnitt der Jahre, die die Originalveröffentlichungen von ihren deutschen Übersetzungen trennen, ca. 18 ist, gibt es grosse Unterschiede, die von einem Jahr bis 52 Jahre variieren (siehe Bibliographie [ean Piaget, Archives [ean Piaget, 1989). Die Tatsache, dass das Gedächtnisbuch derart schnell übersetzt worden ist, kann als Zeichen eines grossen Interesses der deutschen Wissenschaft an dieser Arbeit betrachtet werden, was nicht erstaunlich ist, wenn man sich die deutsche Tradition im Bereich der Gedächtnisforschung in Erinnerung ruft (Ebbinghaus, Köhler, Koffka u. a), Wenn man aber den dritten Aspekt untersucht, die Bewertungen, die in den deutschen Fachzeitschriften erschienen sind, stellt man fest, dass diese nicht vorgenommen worden sind. Die Durchsicht der wichtigsten deutschsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriften der siebziger und achtziger Jahre (Psychologische Rundschau, Psychologische Forschung, Psychologische Beiträge, Zeitschrift für Entwicklungspsychologie, Pädagogische Forschung) zeigt, dass nicht ein einziger Bericht über "Gedächtnis und Intelligenz" erschienen ist, obwohl dort Berichte über andere Gebiete der Genfer Forschung zu finden sind. Meines Erachtens nach kann diese Lücke der weiter oben erwähnten Verzögerung der deutschen Übersetzung zugeschrieben werden. Um die Befunde, die in "Gedächtnis und Intelligenz" hervorgebracht worden sind, einordnen zu können, ist es notwendig, den theoretischen Rahmen, in dem die Experimente erfolgten, d. h. Piagets und Inhelders frühere Arbeiten zu überblicken. Diese Bücher sind aber erst zum selben Zeitpunkt, d. h. Mitte der siebziger Jahre in Deutsch zugänglich geworden (1975 beginnt der Klett-Verlag die Gesammelten Werke von Piaget und Inhelder in zehn Bänden zu veröffentlichen). Dies kann, meiner Ansicht nach, nicht nur den Mangel von Rezensionen über "Gedächtnis und Intelligenz" sondern auch den Mangel an Diskussion und Replizierungen der Experimente von deutschsprachigen Forschern erklären. Somit bleibt diese Arbeit im deutschsprachigen Bereich also noch zu entdecken, wozu auch dieser Artikel hoffentlich beitragen wird.
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Ausgewählte Bibliographie Inhelder, B. (1936).Observations sur le principe de conservation dans la physique de l'enfant (Anmerkungen über das Prinzip der Erhaltung in der Physik des Kindes). Cahiers de Pedagogie experimentale et de Psychologie de l'enfant, No 9, 1-16. Inhelder, B. (1943). Le diagnostic du raisonnement chez les debiles mentaux. (Die Diagnose der Denkprozesse bei Geistigbehinderten) Neuchätel & Paris: Delachaux et Niestle, Inhelder, B. (1992a). Autobiographie. In F. Parot & M. Richelle, Psychologues de langue francaise (pp. 97-133). Paris: PUF. Deutsche Übersetzung: Inhelder, B.Autobiographie, in: S. Volkmarin-Raue (Hrsg.) (1997).Mit [ean Piaget arbeiten: Bärbel Inhelder, S. 25-125, Münster: Lit- Verlag. Inhelder, B. (1992b).Le cheminement des decouvertes de I'enfant. (Der Weg der Entdeckungen beim Kind) Neuchätel: Paris. Delachaux et Niestle, Inhelder, B. & Piaget, J. (1955). De la logique de I'enfant a la logique de I'adolescent, Paris: Presses universitaires de France. (Deutsche Übersetzung: Von der Logik des Kindes zur Logik des Heranwachsenden, alten, Freiburg: Walter, 1977). Inhelder, B., Sinclair, H., & Bovet, M. (1974). Aprentissage et structures de la conaissance. (Lernen und Erkenntnisstrukturen), Paris: Presses universitaires de France. Inhelder, B. (1978). Gedächtnis und Intelligenz. In: B. Inhelder & H. Chipman (Hrsg.), Von der Kinderwelt zur Erkenntnis der Welt, S. 146-170, Wiesbaden: Akademische Verlagsgesellschaft. Inhelder, B. (1987). Des structures aux processus. (Von den Strukturen zu den Prozessen) In J. Piaget, P.Mounoud, & J. P.Bronckart (Eds.), Psychologie. Encyclopedie de la pleiade (654-679). Paris: Gallimard. Piaget, J. & Inhelder, B. (1941). Le developpement des quantites chez l~~nfant: conservation et atomisme. Neuchätel, Paris: Delachaux et Niestle. (Deutsche Ubersetzung. Die Entwicklung der physikalischen Mengenbegriffe beim Kinde: Erhaltung und Atomismus. Stuttgart: E. Klett, 1969). Piaget, J. & Inhelder, B. (1948). La representation de l'espace chez l'enfant. Paris: Presses universitaires de France. (Deutsche Ubersetzung. Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde. Stuttgart: E. Klett, 1971). Piaget, J. & Inhelder, B. (1968).Memoire et intelligence. Paris: Presses universitaires de France. (Deutsche Übersetzung. Gedächtnis und Intelligenz. alten, Freiburg: Walter, 1974).
Literatur: Altemeyer, R., Fulton, D. & Bemey, D. (1969).Long term memory improvement: confirmation of a findingby Piaget. Child Development, 40,845-857. Bibliographie [ean Piaget. (1989).Geneve: Archives [ean Piaget. Bond, T. (2001).Building a theory of formal operational thinking: Inhelder's psychology meets Piaget's epistemology. In A. Tryphon, & J. Veneehe (Eds.), Working with Piaget. Essays in Honour of Bärbel Inhelder (65-84). Sussex: Psychology Press. De Ribaupierre, A., & Hitch, J. (1994).The development of working memory. Hove: Lawrence Erlbaum. Flammer, A., & Reber, R. (1993). Kein Gedächtnis ohne Intelligenz? Archives de Psychologie, 61, 229-236. Cillieron, C. & Coll, C. (1981).Intervista con Bärbel Inhelder. Estudios de psicologia, No 7, 4-13. Liben, L. (1974). Operative understanding ofhorizontality and its relation to long term memory. Child Development, 45, 416-424.
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Liben, L. (1975). Longterm memory for pictures related to seriation, horizontality and verticality concepts. Developmental Psychology, 11, 6, 795-806. Liben, L. (1977). Memory in the context of cognitive development. The Piagetian approach. In R. V. Keil & J. V. Hagen (Eds.), Perspectives on the development of memory and cognition (pp. 291-331). Hillsdale, N. J.: Erlbaum. Montangero, J. & Maurice-Naville, D. (1997). Piaget or the advance of knowledge. Mahwah, NJ: Erlbaum. Piaget, J. (192 3). Le langage et la pensee chez l'enfant. Neuchätel; Paris. Delachaux et Niestle. (Deutsche Übersetzung: Sprechen und Denken des Kindes. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann, 1972). Piaget, J. (1924). Le jugement..et le raisonnement chez l'enfant. Neuchätel; Paris. Delachaux et Niestle, (Deutsche Ubersetzung: Urteil und Denkprozess des Kindes. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann, 1972). .. Piaget, J. (1926). La representation du monde chez l'enfant. Paris. F. Alcan. (Deutsche Ubersetzung: Das Weltbild des Kindes. Stuttgart: Klett-Cotta, 1978). .. Piaget, J. (1932). Le jugement moral chez l'enfant. Paris. F.Alcan. (Deutsche Ubersetzung: Das moralische Urteil beim Kinde. Zürich: Rascher 1954). Piaget, J. (1936). La naissance de l'intelligence chez l'enfant. Neuchätel; Paris. Delachaux et Niestle. (Deutsche Übersetzung: Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. Stuttgart: Klett, 1969). Piaget, J. (1937). L~ construction du reel chez l'enfant. Neuchätel: Paris. Delachaux et Niestle, (Deutsche Ubersetzung: Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde. Stuttgart: Klett, 1974). Tryphon, A., Parrat-Dayan, S. & Volkmann-Raue, S. (1997). Die Rezeption des Werkes Piagets in der deutschsprachigen Psychologie der Jahre 1920-1930. Münster: Lit Verlag. Tryphon, A. (1998). Bärbel Inhelder et le service psychopedagogique du Canton de Saint-GaU. Archives de Psychologie, VoL 66, No 258-259, 189-200. Volkmann-Raue, S. (2000). [ean Piaget und Bärbel Inhelder: La psychologie de l'enfant (1966), in: H. E. Lück, R. Miller, G. Sewz-Vosshenrich (Hrsg.), Klassiker des Psychologie, S. 223228, Stuttgart: Kohlhammer Verlag. Voneche, J. (2001). Inhelder's contributions to psychology. In A. Tryphon & J. Veneehe (Eds.), Working with Piaget. Essays in Honour of Bärbel Inhelder (pp. 1-12). Sussex: Psychology Press.
Anmerkungen: 1
Alina Szeminska (1.9°7-1.986) Im Jahre 1907 in Warschau geboren, beginnt Alina Szeminska ihr Psychologiestudium an der Universität von Berlin mit Lewin, Wertheimer und Köhler. Im Oktober 1928 immatrikuliert sie sich am Institut [ean-Iacques-Rousseau, wo sie ein Diplom erhält. 1933 ist sie als freiwillige Assistentin von Piaget angestellt, und forscht auf dem Gebiet von Zahlen und Ceometrie.rqje, gleich am Anfang des zweiten Weltkrieges, kehrt Szeminska nach Warschau zurück, engagiert sich im Widerstand und wird nach Auschwitz deportiert. Nach der Befreiung gründet sie eine Institution, die sich um verlassene Kinder kümmert und beginnt gleichzeitig im Warschauer Institut für Lehrerausbildung zu lehren. Im Jahre 1946 wird sie zur Delegierten des polnischen Ministeriums beim Bureau International d'Education (in Genf) ernannt und nimmt den Kontakt mit Piaget und Inhelder erneut auf. Im Jahre 1956 wird sie an der Universität von Warschau zur Professorin ernannt und im Jahre 1979 erhält sie die Ehrendoktorwürde der Universität Genf.
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Anastasia Tryphon Edith Meyer (1.9°4-1.984) Deutscher Herkunft, studiert Edith Meyer in Leipzig, wo sie Gestalt- und Ganzheitspsychologie studiert. 1932 erhält sie ihren Doktor mit dem Titel: uOrdnen und Ordnung bei drei- bis sechsjährigen Kindern". Ihr Doktorvater ist Felix Krueger. Sie immatrikuliert sich am Institut [ean-jacques-Rousseau im Sommersemester 1934. Ein Jahr später ist sie ebenfalls als freiwillige Assistentin angestellt und forscht für Piaget im Gebiet von Raum- und Zeitbegriffen bei Kindern. Da sie, wie Szeminska, jüdischer Herkunft ist, verlässt sie noch vor dem Zweiten Weltkrieg Genf und siedelt in die USA über, wo sie ihre Karriere im Laboratorium von Arnold Gesell weiterführt.
Sozialpsychologie und Angewandte Psychologie
Helmut E. Lück
Tamara Dembo: Auf der Suche nach Konzepten für ein besseres Leben
..Tamara Dembo hat nidd: viel geschrieben.Aber alles was sie geschrieben hat,. sind Kla98iker" (de Rfveee, 1994, S. 3~
Biographie' Berlin war zwischen den zwei Weltkriegen eine kulturell so lebendige Hauptstadt Europas, dass manche sagen, in dieser Zeit habe BerUn sogar Paris als Kulturmetropole abgelöst. Schon im J.9. Jahrhundert hatte Berlin eine starke Zuwanderung erlebt. Unter anderem entstand ein großes jüdisches Ghetto. Bemerkenswert für die zwanzigerJahre in BerUn war auch eine stattliche zahl von eingewanderten Russen mit eigenen Zeitungen und eigenem Kulturleben. Einige bedeutende russische Psychologen.. wie Luria, Uznadze und andere lebten zeitweise in Berlin, Berlin war in jedem Fall Anziehungspunkt auch für solche jungen Menschen. die aus wohlhabenden osteuropäischen Ländern kamen und nun in Berlin studierten, wobei Studienfach und beruflich verwertbares Examen oft weniger wichtig waren als breite Bildung und das vertiefte Interesse an deutscher Kultur. Der Weg der Studierenden aus Osteuropa in die Psychologie verlief oft so wie bei Bluma Zeigarnik, die Veranstaltungen zur deutschen Sprache und Literatur harte und dann fast zufällig in psychologischen Vorlesungen landete, die ja uneingeschränkt zur philosophischen Fakultät gehörten. Der Weg von Tamara. Dembo war etwas anders: Sie war litauische Staatsangehörige und wurde - wie sie selbst schrieb - am 15. Mai J.902 als TochS. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_14, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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ter des jüdischen Kaufmanns Wulf Dembo und dessen Frau Sophie, gebe Woltschina, in Baku (Aserbeidschan, UDSSR) geboren (Wertsch, 1993, und andere Autoren nennen als Geburtsdatum den 28.5.02, was sich aus der Differenz des damals in Russland noch gültigen Julianische Kalenders zum Gregorianischen Kalender erklären lässt). Als junges Mädchen litt Tamara Dembo an einem Herzfehler. Sie durfte daher nicht die Schule besuchen, musste viel im Bett liegen und wurde zu Hause unterrichtet, bestand jedoch 1920alle Prüfungen an einem Jungengymnasium in Baku. Einen Teil ihrer Jugend verbrachte Tamara Dembo in Petrograd (bis 1914 und heute wieder St. Petersburg) wo sie das dortige Mädchengymnasium besuchte. Nach ihrem Schulabschluss begann Tamara Dembo in Petrograd eine Ausbildung in der Elektromechanischen Abteilung des Politechnischen Instituts, allerdings zog die Familie wenige Monate später, im März 1921, nach Deutschland. Die neunzehnjährige Tamara Dembo hatte zu Beginn ihres Studiums in Berlin noch nicht die volle Studienberechtigung (sog. kleine Matrikel). Als sie 1923 die Ergänzungsprüfung für die preußische Oberrealschule abgelegt hatte, konnte sie normal studieren. Sie hörte Lehrveranstaltungen in Physik, Mathematik und Nationalökonomie an der Friedrich-WilhelmsUniversität. Tamara Dembo hatte Ingenieurin werden wollen. Nach ihren eigenen späteren Aussagen hatte sie schon in Russland beschlossen, etwas dafür zu tun, dass Maschinen brauchbarer für Menschen, statt dass Menschen brauchbarer für Maschinen werden (Marrow, 1977, S. 34). Sie hatte Taylor gelesen und war an Psychotechnik interessiert. So wandte sie sich nach ihrem Studium der Naturwissenschaften der Psychologie, Philosophie und Kunstgeschichte zu und hörte Vorlesungen von Max Dessoir, Wolfgang Köhler, Carl Stumpf, Max Wertheimer und anderen. Auf Anregung ihrer Studienfreundinnen Bluma Zeigarnik und Maria Ovsiankina ging Tamara Dembo in Lehrveranstaltungen von Kurt Lewin (Marrow, 1977, S. 34). Diese Veranstaltungen sollten für ihr Leben entscheidend werden. In seiner Berliner Zeit hatte Lewin einige psychotechnische Untersuchungen durchgeführt und sich mit Fragen der Personalauslese und Arbeitsplatzgestaltung befasst. Gemeinsam mit Hans Rupp (1880-1954), der ab 1907 Assistent und ab 1919 Titular-Professor in Berlin war und dessen Veranstaltungen Tamara Dembo ebenfalls besuchte, führte Lewin psychotechnische Untersuchungen an Industriearbeitern durch. LTber ihren Lehrer Lewin sagte Dembo später:
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"Für Lewin machte Psychologie das ganze Leben aus. Auch wir betrachteten sie nicht als Beruf, sondern als Lebensweise - und zwar eine Lebensweise, die nach genauen Antworten verlangte, denn Lewin hätte niemals eine Antwort akzeptiert, die gerade so hingehen mochte. So hatte er immer genug Zeit, über unsere Arbeiten zu sprechen, und unsere Antworten wurden durch die Diskussion verfeinert" (Marrow, 1977, 5. 34)·
Dembos Ziel war nun die Promotion. (Ein Diplom in Psychologie gab es noch nicht.) Hierzu musste sie 1928 eine Ergänzungsprüfung in Latein ablegen. In den Jahren 1925 bis 1928 führte Tamara Dembo für ihre Dissertation "Der Ärger als dynamisches Problem" eingehende Untersuchungen durch. Mit dieser Arbeit wurde inhaltlich und methodisch Neuland beschritten (s. u.). In der langen Reihe der von Lewin in Berlin betreuten und veröffentlichten Dissertationen nimmt die Arbeit von Dembo eine zentrale Stellung ein (s. u), Am 25. Juli 1930 verteidigte Tamara Dembo ihre Dissertation in Berlin. Ihre Arbeit wurde - wie bei den Lewin-Schülerinnen und -Schülern dieser Zeit üblich - sowohl als Dissertation in Buchform mit anhängendem kurzen Lebenslauf und in gleichem Schriftbild in der Zeitschrift "Psychologische Forschung" in der Aufsatzreihe "Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie" abgedruckt. Diese Aufsatzreihe gab Kurt Lewin heraus. Die "Psychologische Forschung" war 1922 von Wolfgang Köhler und anderen begründet worden und hatte sich schnell zur führenden Zeitschrift der Berliner Gestaltpsychologie entwickelt. Zwischen der Beendigung der Versuche für die Dissertation und der Disputation lagen weitere zwei Jahre. So viel Zeit benötigte Tamara Dembo sicher nicht für die Auswertung und Darstellung der Untersuchungsreihen. Erst durch eine Arbeit von Rene van der Veer (2000) ist bekannt geworden, dass Tamara Dembo in dieser Zeit Kontakt zu einem führenden Tierpsychologen jener Zeit, Frederik J.J. Buytendijk (1887-1974) hatte und von Januar bis Dezember 1929 am Physiologischen Institut der Niederländischen Universität Groningen als dessen Assistentin arbeitete, wo sie feldtheoretische Prinzipien auf Tierstudien anwandte und an der Ausbildung von Studierenden beteiligt war. Nur eine Publikation unter ihrem Namen über das zielgerichtete Verhalten von Ratten ist aus dieser Zeit hervorgegangen (Dembo, 1930), doch führte Tamara Dembo in Groningen weitere Tieruntersuchungen durch. Eine wurde von Buytendijk unter Nennung der Leistungen von Dembo veröffentlicht (Buytendijk, 1931). Eine weitere Untersuchung über
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Problemlöseverhalten von Vögeln blieb unveröffentlicht (van der Veer, 2000). In diesen Arbeiten erwies sich Dembo als gute Beobachterin und erreichte eine Verbindung zwischen gestalt- bzw. feldtheoretischen Konzepten und tierpsychologischen Fragestellungen. Dembo besprach ihre Manuskripte eingehend mit Lewin, der viele Verbesserungsvorschläge machte. Von Berlin aus stand Dembo mit Buytendijk in schriftlichem Kontakt. In mehreren Briefen entschuldigte sie sich freundlich und humorvoll für die Verzögerungen an der Abfassung des Manuskriptes. Am 27. Juli 1930 schrieb Tamara Dembo an Buytendijk: "Sehr geehrter Herr Professor, vor ein paar Tagen habe ich die Prüfung bestanden und fühle, dass eine grosse Last mir von den Schultern gefallen ist. Ich kann Examina nicht ausstehen und hoffe nie mehr im Leben sie bestehen zu müssen. Aber schließlich Ende gut - Alles gut. - Das Schöne ist, dass ich nach dem Examen sofort sehr viel zu tun habe. In 6 Wochen gehe ich zu Professor Koffka nach Northampton herüber und muss bis dahin noch meine Arbeit in Druck geben, mein Englisch "restaurieren", einiges in Berlin anschauen und alles zur Abreise vorbereiten."
Eine USA-Reise war in jener Zeit ein mutiger Schritt für eine alleinstehende Frau wie Tamara Dembo. Ihre Schiffsreise führte sie über London und Liverpool nach New York. Bei Kurt Koffka war sie nicht die einzige russische Emigrantin. Ebenfalls aus Deutschland angereist war Genia Hanfmann. Sie hatte bei Wilhelm Peters in Jena studiert. Tamara Dembo und Genia Hanfmann sollten in den nächsten Jahren in mehreren Projekten zusammen arbeiten. Ein dritter Emigrant, den Koffka für Northampton anwarb, kam fast gleichzeitig mit Dembo und Hanfmann an: Am 22. August 1930 bestieg Fritz Heider in Cuxhaven ein Schiff, das ihn nach New York brachte, um auf direktem Weg nach Northampton zu fahren. Heider sollte die nächsten 17 Jahre dort arbeiten (Heider, 1984, S. 91). Er hatte u. a. in Graz und in Berlin studiert, kannte Dembo aus Berlin (Heider, 1984, S. 113) und erinnerte sich später an die Berliner Zeit: "Ich lernte Lewins Studenten kennen, darunter drei russische Mädchen: Tamara Dembo, Bluma Zeigarnik und Maria Ovsiankina. Mit ihnen führte ich bald lange Gespräche, vor allem mit Tamara, deren
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Interessen wie die meinen auf persönliche Beziehungen und Emotionen gerichtet waren" (Heider, 1984, s. 74).
Tamara Dembo war offenbar eine begehrte Gesprächspartnerin und wurde zudem von Zeitzeugen als intelligent und bescheiden beschrieben (van der Veer, 2000). Schon im Spätsommer 1931 war Tamara Dembo wieder zu einem dreimonatigern Aufenthalt in Berlin. Wenige Stunden vor ihrer Abreise in die USA schreibt Tamara Dembo an Buytendijk: "Diesen Winter haben ich hauptsächlich Wahrnehmungspsychologie und ein paar sozialpsychologische Versuche gemacht, jetzt habe ich wieder die Affektpsychologie im Auge", Mit der erwähnten "Wahrnehmungspsychologie sind vermutlich Untersuchungen gemeint, die Dembo und Hanfmann (1933) in der "Psychologischen Forschung" in englischer Sprache veröffentlichten. Hierbei ging es um die Wahrnehmung von Flächen und Körpern und das intuitive Halbieren und Verdoppeln dieser Flächen und Körper. Im ersten Teil der Arbeit wurde durch Versuche an Kindern und Erwachsenen gezeigt, dass bei der Aufforderung, eine doppelt so große Fläche wie die vorgegebene auszuwählen, überdurchschnittlich oft eine mehr als doppelt so große Fläche ausgewählt wird. In Teil zwei der Arbeit gingen die Wissenschaftlerinnen der Frage nach, wie diese Größenurteile entstehen. Zu diesem Zweck wurden Kinder verschiedenen Alters beim Lösen der Aufgaben beobachtet und befragt. Im Juni 1932 schreibt Tamara Dembo an Buytendijk: "Ich werde gemeinsam mit Frl, Hanfmann, die auch die letzten Jahre bei Prof. Koffka Assistentin war, an psychologischen Untersuchungen an Irren in dem State Hospital (Worcester, Mass.) beschäftigt sein," Eine der Arbeiten von Dembo und Hanfmann aus dieser Zeit der Zusammenarbeit behandelt Typen von psychiatrischen Patienten. Tamara Dembo verfolgt Anfang der dreißiger Jahre Pläne, nach Europa zurück zu kehren und korrespondiert deswegen mit Buytendijk in den Niederlanden und Luria in der UDSSR. In einem Brief vom Juni 1932 an Buytendijk berichtet Sie über Visumschwierigkeiten, die ihr eine "richtige Anstellung hier an einem College unmöglich machen" und die sie dazu zwingen, nach Europa zurückzukehren. Diese Rückkehr nach Europa ließ sich nicht verwirklichen. Bald wurden durch Faschismus und Judenverfolgung der Nazis solche Pläne auch sinnlos. Bis 1934 arbeitete Tamara Dembo am Worcester State Hospital, danach bis 1943, also fast ein ganzes Jahrzehnt, zusammen mit Lewin, der 1933 ebenfalls emigriert war, in Cornell und Iowa. In dieser Zeit entstanden U
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die bis heute immer wieder zitierten Arbeiten von Dembo über Frustration und Regression. Tamara Dembos wissenschaftliche Orientierung und treue Gefolgschaft zu Lewin lässt sich gut an ihrer Zugehörigkeit zum Kreis der "Topology Meetingr-Teilnehmer ablesen. Dies war ein offener Kreis von Personen, zu denen Kollegen und Schüler von Lewin zählten und der sich einmal im Jahr für ein paar Tage traf, um verschiedene Fragen der Psychologie, oft eben unter feldtheoretischen Gesichtspunkten im Sinn Lewins - zu diskutieren. Obwohl es nie eine Formalisierung dieser Gruppe als Gesellschaft, Verein oder Institution gab und obwohl Lewin nie eine Schulenbildung betrieb, traf sich diese Gruppe regelmäßig von 1933 bis 1964, also mehr als 30 Jahre lang und noch viele Jahre nach Lewins Tod im Jahr 1947 (vgl. Lück, 1989). Aus den noch erhaltenen Anwesenheitslisten lässt sich ersehen, dass Tamara Dembo an vielen Treffen teilnahm, gelegentlich auch selbst referierte. Nach einer kurzen Zeit am Mount Holyoke College geht Tamara Dembo an die Stanford University an der Westküste, wo sie sich dem Thema verschreibt, das sie den Rest ihres Lebens beschäftigen sollte: der Rehabilitationspsychologie. 1948-195° lehrt Tamara Dembo, wie auch viele andere europäische Emigranten, an der New School in New York,ab 1951 an der Harvard University. Dann schließlich holt Heinz Wemer sie 1952 an die Clark University. Wemer war Assistent von William Stern in Hamburg gewesen und wie dieser auch Zwangsem igrant. An der Clark University bleibt Dembo viele Jahrzehnte bis zum Ende ihrer Laufbahn. Erst 1962, also im Alter von 61 oder 62 Jahren, wird sie dort "Full Professor" und erhält damit eine Daueranstellung (vgl. de Rivera, 1999). Kollegen haben Tamara Dembo als Hochschullehrerin beschrieben, die engagiert für Behinderte und Benachteiligte eintrat, die sich in Angelegenheiten der Evaluation akademischer Lehre und in Prüfungsangelegenheiten engagierte und die schon früh ihre Bedenken gegen Tierversuche vorbrachte (de Lima, 1999, S. 55). Was Tamara Dembo als "Rehabilitationspsychologie lehrte, ist im Kontext ihrer Bemühungen um Integration zu verstehen. Zum einen nutzte sie ihre feldtheoretischen Grundlagen, zum anderen interessierte sich Tamara Dembo für Emotionen. Beides sind Themen, die schon in ihrer Dissertation verknüpft sind. Mit beiden Themen wich Dembo von dem ab, was in jener Zeit in der Behindertenpsychologie üblich war, nämlich mit psychodiagnostischen Methoden Art und Ausmaß der Defizite zu ermitteln und die getesteten Behinderten dann passenden Arbeitsplätzen zuzuweisen. U
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Die Welt des Behinderten kann nach Dembo im Anschluss an Lewin und Werner feldtheoretisch gesehen werden: Nicht der Rollstuhlfahrer ist behindert, sondern er wird durch Treppenstufen in seiner Bewegung behindert. Analysen von rückständigen Behinderteneinrichtungen ließen Tamara Dembo an die Situation ihrer Versuchspersonen in ihren ÄrgerExperimenten in Berlin denken. Unfähig, Lösungen oder Auswege zu finden, reagieren Personen mit Ärger, Ersatzhandlungen und Apathie. Soziopsychologisch erklärbare Emotionen waren der zweite Zugang von Tamara Dembo zur Problematik der Behinderung. Oft ging es um die emotionalen Beziehungen zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten. In einer großen Zahl von Seminararbeiten befassten sich ihre Studierenden mit "Hilfe geben - Hilfe empfangen" und ähnlichen Themen. "Assetmindedness" ist ein Begriff, den Tamara Dembo zur Charakterisierung der Situation der Behinderten verwendete: Auch Behinderte haben ihre Kompetenzen und sie beachten besonders die ihnen verbliebenen Stärken und nicht die Behinderungen, durch die sie sich von ihrem früheren Selbst unterscheiden. Wertsch (1993, S. 3) hat vermutet, dass Tamara Dembos eigene Behinderung in ihrer Kindheit zu dieser Sicht beigetragen hat. Man kann in Dembos Konzept der Asset-mindedness durchaus eine Ähnlichkeit zu Alfred Adlers Konzept der Kompensation sehen. Auch Adler nahm an, dass eine gegebene Organminderwertigkeit zu verstärktem Streben nach Ausgleich, ggf in anderen Leistungsbereichen, führen kann. 1966 besucht Tamara Dembo den Internationalen Kongress für Psychologie in Moskau. Dieser Kongress gibt ihr nach 36 Jahren Gelegenheit zu einem Wiedersehen mit ihrer früheren Studienfreundin Bluma Zejgarnik, 1972 geht Tamara Dembo in Ruhestand und lebt - nach wie vor alleinstehend - in einem Appartement auf dem Universitätscampus. 1987 erhält sie die Ehrendoktorwürde ihrer Universität. Tamara Dembo stirbt am 17. Oktober 1993, also im Alter von 91 Jahren. Ihre letzte wissenschaftliche Arbeit befasste sich mit Gedanken zu qualitativen Determinanten in der Psychologie (Dembo, 1993). Außer gelegentlichen Erinnerungen an die Berliner Zeit (Dembo, 1986) hat sie keine umfassenden Lebenserinnerungen veröffentlicht. IITamara wollte nie über sich selbst reden. Sie wollte immer über das Leben reden und über die Konzepte, die wir brauchen, um ein besseres Leben zu führen" (de Rivera, 1994, S. 3)·
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Der Ärger als dynamisches Problem Tamara Dembo untersuchte für ihre Dissertation 27 Personen in bis zu 4 Sitzungen, wobei die Versuchspersonen naiv blieben, d. h. sie "wußten nicht, was für ein Problem der Untersuchung zugrunde lag". Die Versuchspersonen kamen "nur selten auf den Gedanken, daß der Ärger als solcher untersucht werde" (5. 10). Verwendet wurden zwei Versuchs anordnungen: "Ringewerfen und "Blumenversuch Beim Ringewerfen sollten die Versuchspersonen 10 Holzringe mit 15 cm Durchmesser über zwei entfernt stehende Weinflaschen werfen, wobei die Versuchspersonen so lange üben sollten, bis sie ,,10 Ringe nacheinander daraufbekommen" (5.10) konnten. Nur selten trafen die Versuchspersonen überhaupt, noch seltener zweimal hintereinander. So war diese Aufgabe für alle Versuchspersonen unlösbar, obwohl sie zuerst nicht als unlösbar erschien. Dies galt auch für die zweite Aufgabe. Beim "Blumenversuch war auf den Boden des Versuchsraums ein Quadrat gezeichnet. Die Versuchsperson sollte nun eine Blume ergreifen, die außerhalb des Quadrats in einer Vase auf einem Bock stand. Sie sollte jedoch mit den Füßen im Quadrat bleiben. Durch Vorbeugen war die Blume aber nicht erreichbar. Es gab nun zwei Lösungsmöglichkeiten: Die Versuchsperson konnte einen Stuhl zwischen sich und dem Bock aufstellen und sich darauf abstützen. Oder sie konnte niederknien, dabei die Füße im Quadrat behalten und die Blume mit der Hand erreichen. Hatte eine Person eine Lösung gefunden, sollte sie die zweite Lösung finden, was auch meist gut gelang. Dann wurde sie aufgefordert, eine dritte Lösung zu finden, wozu ihr wiederum keine Hilfen gegeben wurden. Eine dritte Lösung gab es jedoch nicht. Wenig bekannt ist, dass Tamara Dembo noch eine dritte Versuchsreihe durchführte, die jedoch nicht Eingang in die Dissertationsschrift fand (van der Veer, 2000; van der Veer & Lück, 2002). In dieser Reihe betraten die Vpn den Raum, erhielten jedoch keinerlei Instruktionen vom VI,der nur Notizen machte. Die Vpn blieben meist wartend stehen, brachen aber von sich aus den Versuch lange Zeit nicht ab. Dieses "Warte-Experiment ähnelt Versuchen, die erst Jahrzehnte später in den USA im Kontext der Gehorsamkeitsforschung und der Sozialpsychologie psychologischen Experimentierens durchgeführt wurden. Warum das Warte-Experiment keinen Eingang in die Dissertation fand, ist bis heute unbekannt. In allen Versuchen wurden die Versuchspersonen "frustriert wie man dies heute nennen würde. Untersucht wurde nun von Dembo das Verhalten ll
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der Versuchspersonen. Hierzu wurden ausführliche Protokolle angefertigt. Dass die ausgelösten Affekte bei den mehrstündigen Versuchen erheblich waren, beschrieb Dembo so: "Die Vp. trampelt mit den Füßen, schreit. (...) Eine andere lief aus dem Versuchszimmer heraus und weinte. Eine dritte (...) fuhr ihm (dem Versuchsleiter. H. L.) in die Haare. (...) Manche Vpn. nahmen dem VI. den Versuch ernsthaft übel, obschon sie von vornherein wußten, daß es sich um einen Versuch handelte, und konnten erst durch Versöhnungsaktionen besänftigt werden" (5. 16).
Man beachte, dass eine Innenbarriere das angestrebte Ziel absperrt, zudem eine Außenbarriere den Bewegungsraum. Die Versuchsperson befindet sich also in einem oftmals pendelnden" Zustand aus Zielbemühungen, Anstoßen an Barrieren, Abgestoßenwerden usw. In dieser Situation treten auf der Irrealitätsebene Lösungsphantasien auf (Blumenversuch: "Schwimmen! Das Zimmer voll Wasser lassen!" S. 134), die die Versuchspersonen nur kurze Zeit zufrieden stellen. Anekdotisch ist erwähnenswert, dass eine der Versuchspersonen einer der bedeutendsten russischen Psychologen jener Zeit war: Alexander Romanowitsch Luria, den Dembo später als lIinteressiert, aber als eine etwas schwierige Versuchsperson" beschrieb (Rosa & Wertsch, 1993, S. 6). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Lurias Blumenversuch in der Arbeit von Dembo mit IIVp. ist Dozent" (S. 86 ff.) vermerkt wird. Dieser Versuchsperson fällt zur Beschreibung der Versuchssituation ein russisches Sprichwort ein: liDern Auge nah, dem Zahne fern!" (S. 87). In Lewins Programm der Arbeiten zur Handlungs- und Affektpsychologie hatte Dembo ihre Arbeit früh begonnen. Als die Arbeit im Juli 1930 zum Druck eingereicht wurde, hatte Lewin inzwischen eine nennenswerte Theorieentwicklung vollzogen. So werden die Ergebnisse von Dembo nicht mehr allein im Kontext der Willens- und Affektpsychologie interpretiert, sondern nun im Kontext einer ausgearbeiteten Feldtheorie. Mit Lewin sieht Dembo Barrieren im Versuchsfeld der Personen, sie beobachtet, dass die Versuchspersonen sich auf Phantasieebenen flüchten ("Irrealitätsebene und sie erkennt das sog. "Aus-dem-Felde-gehen'~ wenn Versuchspersonen aufgeben, sich vom Versuch uninteressiert abwenden usw. Die Arbeit nimmt Bezug auf Lewins kurz zuvor erschienene Arbeit über die psychologische Situation bei Lohn und Strafe (1931), in der diese feld theoretischen Konzepte entwickelt wurden, wenngleich Lewin eine 11
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umfassende Feldtheorie erst nach seiner Zwangsemigration in die USA erarbeitete (vgl. Lück, 2001). Dembo stand der Aufstellung eines allgemeinen Gesetzes über den Ärgerverlauf skeptisch gegenüber; zu verschieden waren die affektiven Zustände und Handlungsverläufe ihrer Versuchspersonen; gleichwohl gelang die feldtheoretische Interpretation. Bewertung der Schrift "Der Ärger als dynamisches Problem" in ihrer Zeit und aus heutiger Sicht Als Tamara Dembo ihre Dissertation eingereicht hatte, bewertete ihr .Doktorvater" sie so: "Die vorliegende Arbeit bedeutet ein erstes Eindringen des Experiments in ein sehr umfassendes und bedeutsames Problemgebiet. Dembo hat es verstanden, unter der Fülle der Einzelfakten die dynamisch entscheidenden Fragen aufzusuchen. Der Fortschritt der Methode ist sehr wesentlich. Die Arbeit ist lebendig geschrieben und zeigt im Begrifflichen eine grosse Schärfe. Ich schlage das Prädikat ,valde laudabile' vor" (Lewin, 1930,zitiert nach Sprung, 1992,S. 156).
Experimentaltechnisch ist die Arbeit von Dembo interessant, weil sie sich im Übergangsbereich von jenen Studien befindet, in denen wenige, kompetente Personen mit Fähigkeiten zur Introspektion teilnahmen (wie in der Schule Wundts, der Würzburger Schule und in der frühen Gestaltpsychologie) zu jenen Arbeiten, in denen "naiveu Versuchspersonen in meist etwas größerer Zahl verwendet wurden. Brauns (1992) weist der Arbeit von Dembo aus mehreren Gründen eine Schlüsselstellung zu. "Erstmalig gilt die Berücksichtigung von Topologie und Feldkräften als unerlässlich - ohne Preisgabe des Systemmodells. Dieses öffnet sich gleichsam der systematischen Berücksichtigung von Umweltfaktoren. (...) Wenn die Erreichung eines Zieles einer handlungsmäßigen Vornahme ausbleibt bzw. stark erschwert wird, akkumuliert Spannung sukzessive und teilt sich anderen inneren Teilsystemen mit (...) Wobei im vorliegenden Fall Austauschbeziehungen zum Umfeld hinzukommen" (Brauns, 1992,S. 99 f.).
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Brauns weist weiter darauf hin, dass Dembo die Kämpfe zwischen Versuchsperson und Versuchsleiter besonders beschreibt und interpretiert. "Es bietet sich an, hier (...) vielleicht sogar den Anfangspunkt der späteren sozialpsychologischen Ausrichtung Lewins zu sehen" (5.100). Noch eine wichtige Verbindung ist zu sehen: Das verzweifelte Bemühen der Versuchspersonen um Erfolg würden heutige Motivationspsychologen ohne Zweifel im Zusammenhang mit der Leistungsmotivation der Versuchspersonen betrachten. Doch dieses Konzept gab es zur Zeit der Dissertation von Dembo nicht. Aber die Untersuchung über den Ärger gab Anstoß zur Leistungsmotivationsforschung, nämlich zur Dissertation von Ferdinand Hoppe (1931) über das Anspruchsniveau. Diese Arbeit wurde nach der Untersuchung von Dembo durchgeführt, aber vor ihr veröffentlicht - ablesbar an entsprechenden Hinweisen in beiden Arbeiten. Ein zentraler Befund von Hoppe war, dass Versuchspersonen nach erfolgreichen Handlungen ihr Anspruchsniveau systematisch steigerten und nach Misserfolgen meist senkten. Ein paar Jahre nach der Emigration von Dembo und Lewin war ein Buch einer behavioristischen Forschergruppe der Yale University erschienen: "Frustration and Aggression" (Dollard, Doob, Miller, Mowrer & Sears, 1939). Die in diesem Buch vorgetragene Hypothese war so simpel wie manches, was der Behaviorismus hervorbrachte: Frustration liefere den Anreiz zur Aggression und Aggression sei immer das Resultat vorausgegangener Frustration. Die Autorengruppe bezog sich auf die frühe Psychoanalyse Freuds und machte eine Reihe plausibler Zusatzannahmen. Umfassende eigene Forschungsergebnisse präsentierten die Forscher nicht. Obwohl Dembos Arbeit thematisch genau in den Kontext der Frustrations-Aggressions-Hypothese passte, wurde sie nicht zitiert. Vermutlich war sie der YaleGruppe unbekannt. (Schließlich sollte es noch bis 1976dauern, bis Dembos Arbeit ins Englische übersetzt wurde.) Dies alles war Grund genug, das Thema Ärger wieder aufzugreifen. Hatte Dembo bei ihren Berliner Versuchspersonen manchmal bemerken können, dass diese "klein wurden und eine fast embryonale Haltung einnahmen, so war dieser Rückschritt als Regression offensichtlich. Barker, Dembo und Lewin (1943) nahmen nun an, dass Frustration nicht nur zur Aggression führt, sondern auch zur Regression führen kann. Dies war eine spannende Hypothese. Zum einen wegen ihrer Provokation gegenüber der Yale-Gruppe, zum andern, weil hier in ungewöhnlicher Weise das psychoanalytische Konzept der Regression zum Inhalt experimenteller Untersuchungen im Kontext der Feldtheorie gemacht wurde. Kleine Kinder ll
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wurden in den Versuchen mit attraktivem Spielzeug zusammengebracht, dann wurden sie von dem Spielzeug getrennt, das sie aber noch durch ein Gitter sehen konnten. Mit eigens entwickelten Messverfahren, mit denen das Verhalten der Kinder durch Beobachter auf Skalen beurteilt wurde, konnte die Hypothese bestätigt werden. So hat die Dissertation Dembos Bezüge zu vielen Themen. Manche, aber keineswegs alle dieser Themen hat Tamara Dembo selbst weiter verfolgt. Ob es ihr lieb war oder nicht: Zeit ihres Lebens blieb in der Fachwelt ihr Name mit dem Begriff des Ärgers verbunden. Ausgewählte Bibliographie Barker, R.; Dembo, T. & Lewin, K. (1941). Frustration and regression an experiment with young children. University of lowa Studies in Child Welfare, 18 (1). Dembo, T. (1930)' Zielgerichtetes Verhalten der Ratten in einer freien Situation. Archives Neerlandaises de Physiologie de I'Homme et des Animaux, 15, 402-412. Dembo, T. (1931). Der Arger als dynamisches Problem. Psychologische Forschung, 15, 1-144. (Im gleichen Jahr unter gleichem Titel im Verlag Springer, Berlin, auch separat als Buch erschienen.) Englische Ubersetzung: (1976). The dynamies of anger (H. Korsch, Trans.). In J. de Rivera (Ed.), Field theory as human science: Contributions of Lewin's Berlin Group (pp 32.4-422). New York: Gardner Press. Dembo, T. (1986).Approach as adescription of the nature of scientific activity: Some reflections and suggestions. In E. Strivers & S. Wheelan (Eds.) The Lewin legacy: Field theory in current practice (pp. 3-11). Berlin: Springer-Verlag. Dembo, T. (1993). Thoughts on qualitative determinants in psychology. Journal of Russian and East European Psychology, 31 (6), 15--70. Dembo, T.; Leviton, G. L. & Wright, B. A. (1975). Adjustment to misfortune: A problem of social-psychology rehabilitation. Rehabilitation Psychology, 22 (1), 1-100. Lewin, K.; Dembo, T.; Festinger, L. & Sears, P. (1944). Level of aspiration. In J. Mc\Z Hunt (Ed.), Personality and Behavior Disorders. VoL I (pp. 333-378). New York: Ronald.
Literatur Brauns, H.-P. (1992). Lewins Berliner Experimentalprogramm. In W. Schönpflug (Hrsg.), Kurt Lewin - Person, Werk, Umfeld. Historische Rekonstruktionen und aktuelle Wertungen aus Anlass seines hundertsten Geburtstags (5. 87-108). Frankfurt: Peter Lang. Buytendijk, F. J. J. (1931). Eine Methode zur Beobachtung von Ratten in aufgabenfreien Situationen (Nach Versuchen von Tamara Dembo). Archives Neerlandaises de Physiologie de l'Homme et des Animaux, 16,574-596. de Lima, S. (1999). Mort Wiener remembers Tarnara Dembo: Interpretations and recollections. From Past to Future, 2, 55-59. de Rivera, J. (1994). Tarnara Dembo (19°2-1993). Saft Newsletter. 11 (2),3. de Rivera, J. (1995). Tarnara Dembo (1902-1993). American Psychologist, 5°,386. de Rivera, J. (1999). Tamara Dembo's socio-emotional relationships. From Past to Future, 2, 43-54·
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Anmerkungen *
Herrn Kollegen Rene van der Veer, Rijksuniversiteit Leiden, danke ich für wertvolle Hinweise auf Quellen zur Biographie von Tamara Dembo und für kritische Kommentare zu diesem Beitrag. Historische Dokumente zu Biographie und Werk von Tamara Dembo verdanke ich ferner folgenden Institutionen und Personen: Archives for the History of American Psychology, Akron OH; Katholiek Documentatie Centrum Nijmegen; University Archives, Clark University, Worcester, MA., Dr. Helga Sprung, Berlin.
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Anitra Karsten: Psychische Sättigung
,.zum Vorurteil: n Von meiner gestaltpsyd1.oiogisehen Schulung her wurde mir ... klar: Eine einzelne Eigen9Chaft die ich an einem Menschen sehe, erhält ihre Färbung durch das gesamte Wahrnehmungsfeld,. das im habe" (Karsten, 1979, S. 99).
Biographie Anitra Karsten wurde 19'J2 in Abo (Turku), Finnland, in eine für Kunst, Musik und Wissenschaft offene Familie geboren und erlebte eine durch Geborgenheit, Akzeptanz und Liberalität geprägte Kindheit und Jugend. Dies und das Wei_ ist ihrer Selbstdarstellung (1979) zu entnehmen. Nach demAbitur 1922 in Finnland reiste sie nach Berlin zum Studium. In den beiden ersten Semestern absolvierte sie anscheinend eine Art ,Studium Generale' mit Schwerpunkten in der Philologie. Zugleich besuchte sie - wie offensichtlich viele Studierende - Veranstaltungen der Gestalttheoretiker, nämlich Wolfgang Köhler, Max Wertheimer und Kurt Lewin. Die von diesen Hochschullehrern vertretene Psychologie faszinierte sie ...sowohl durch die wissenschaftliche Schärfe, den Ideenreichtum und die Art die Probleme anzugreifen. als auch durch die Brillanz, mit der sie vorgetragen wurde" (Karsten. 1979< S. 82).
Sie blieb dann - nach ihren eigenen Worten - bei der Psychologie als dem Fach, das ihrer theoretischen Anlage und ihren Neigungen entsprach. Im Berliner Institut herrschte ein reges, anregendes Porschunge- und Diskussionsklima mit vielen informellen Anteilen. Dank Köhlers wissenschaftlichen Publikationen (und auch Kontakten mit anderen WissenS. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_15, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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schaftlern wie Einstein, Max Planck) hatte die Psychologie an Ansehen und Eigenständigkeit gewonnen und ihren spekulativen und auch etwas obskuren Charakter verloren. Köhler hatte den Lehrstuhl inne, Lewin und Wertheimer waren Dozenten. In diese Zeit fallen auch die Anfänge der Experimente unter Anleitung Lewins zur Handlungs- und Affektpsychologie, die später in der Zeitschrift "Psychologischen Forschung" sukzessive veröffentlicht wurden. Es waren allesamt Dissertationen einer Reihe junger Wissenschaftlerinnen aus verschiedenen Ländern, die Lewin um sich versammelt hatten und auch informell eine Gruppe bildeten, die sie .Quasselstrippe' nannten. Anitra Karsten begann 1923 im Rahmen dieses Forschungsprogramms ihre Untersuchungen zur "psychischen Sättigung", 1924 kehrte sie nach Abo (Finnland) zurück, studierte Soziologie, Literaturgeschichte und Wirtschaftswissenschaften, führte aber zugleich ihre experimentellen Untersuchungen zur psychischen Sättigung weiter. 1926 ging sie wieder nach Berlin, vollendete ihre Dissertation und promovierte 1927 - im Einverständnis mit Lewin und Köhler - in Gießen bei Kurt Koffka. Für diese frühe Zeit in Berlin ist noch anmerkenswert, dass sie an den Filmprojekten von Kurt Lewin über das Verhalten von Kindern beteiligt war. Sie assistierte bei der Planung und begleitete das Aufnahmeteam bei der Suche nach geeigneten Sujets und Situationen. Nach der Promotion nahm sie 1927eine Tätigkeit als Werbepsychologin in Aussig (Tschechoslowakei) auf und war ab 1929freiberufliche Beraterin für Wirtschaftspsychologie und Marktforschung in Berlin. 1936 erhielt sie an der neu gegründeten "Höheren Reichswerbefachschule" die wohl erste Dozentur für Werbepsychologie in Deutschland, die sie bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und ihrer Rückkehr nach Finnland innehatte. In Finnland war sie dann ab 1940 Kulturreferentin im Informationsministerium in Helsinki, wo sie finnische Literatur ins Deutsche übersetzte und die Gründung der Zeitschrift "Nordlicht veranlasste, deren Schriftleiterin sie mehrere Jahre lang war. 1949bis 1950 war sie Gastforscherin am Institute for Social Research an der University of Michigan in Ann Arbor und erlebte ein erfreuliches, anregendes Arbeitsklima. Dieser Aufenthalt führte zu einer Reihe von Kontakten mit ihr bekannten Wissenschaftlern, die aufgrund der Nazi-Herrschaft Deutschland verlassen hatten, z. B.auch Wolfgang und Lilli Köhler (Karsten, 1979, S. 97)· 1951 habilitierte sie sich für Psychologie an der Handelshochschule Helsinki und war dort bis 1960 Dozentin für Psychologie, lehrte gleichzeitig U
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Sozialpsychologie an der Universität Helsinki. Ab 1948 war sie am Aufbau der Gerontologie sowohl im nationalen wie auch internationalen Rahmen beteiligt. 1960 kehrte sie nach Deutschland zurück, wohl insbesondere, weil in ihrem Heimatland kein weiterer Aufbau bzw. Ausbau der Psychologie zu erwarten war. Sie nahm Gastdozenturen in Erlangen und Nürnberg wahr, kam dann an die Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main, wo sie mehrere Projekte zur Alternsforschung betreute und bis zu ihrem Tod im Jahr 1988 Lehr- und Forschungsaufträge für Gerontologie und Altenhilfe wahrnahm. Spätere Forschungsschwerpunkte
Zwar ist die unten zu besprechende Dissertation über psychische Sättigung ohne Zweifel ihr wichtigstes Werk, die Wissenschaftlerin und Hochschullehrerin Anitra Karsten wäre aber nicht hinreichend charakterisiert, würde man sie auf dieses Thema beschränken. Wie bereits aus der Biographie abzulesen ist, gab es nach Studium und Promotion in Deutschland verschiedene Lebensabschnitte, die auch durch unterschiedliche Arbeitsschwerpunkte gekennzeichnet waren. Diese hatten stets Bezug zu den gestalttheoretischen Grundlagen und zum Konzept des Lebensraums sensu Kurt Lewin. Die Veränderungen der Arbeitsschwerpunkte folgen einer inneren Logik. Motivation
Der Arbeitsschwerpunkt "Motivation ergab sieh als Fortführung der Lewin'schen Handlungs- und Affektpsychologie. In einem Beitrag zum von Meili und Rohracher herausgegebenen "Lehrbuch der experimentellen Psychologie" befasste sie sich mit "Motivation und affektivem Geschehen" (Karsten, 1972). Darin ist der damalige Forschungsstand differenziert und vollständig dargestellt. Folgt man den konventionellen Lehrbüchern, ist man erstaunt, wie wenig sich in 30 Jahren theoretisch neu entwickelt hat, auch dass das Thema eine breitere psychologische Basis hat (z. B.psychische Sättigung, Frustration ete.) als es der heutigen Diskussion nach erscheint. Interessant ist hier, dass Karsten einige Annahmen zu den Quasi-Bedürfll
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nissen als Willensphänomene bezeichnet. Demnach sorgt das für eine Vornahme äquivalente Quasibedürfnis dafür, die Vornahmehandlung durchzuführen, bis das System entspannt ist. Die Motivationspsychologie hat Willensphänomene erst in den Jahren 1985 wieder entdeckt, nachdem sie von Ach bereits um die vorige Jahrhundertwende behandelt wurden, wobei die Verzögerung sogar mehrfach der Lewirrsehen Theorienbildung zu den Quasibedürfnissen angelastet wurde. Heckhausen (1987) spricht von Homogenisierung, und zwar im Sinne einer Gleichsetzung der natürlichen Bedürfnisse mit den Quasibedürfnissen. Dabei wird aber zu stark auf den Aufsatz von Lewin (1926) über Vorsatz, Wille und Bedürfnis Bezug genommen und nicht auf die späteren Arbeiten von Zejgarnik (1927) oder auch Karsten (1928). Es lohnt zudem auch heute in der Diskussion einen Hinweis von Karsten zu beherzigen, nämlich dass Bemühungen die personalen Konstrukte wie Motive, Triebe etc. zu differenzieren und zu klassifizieren, aus einer ganzheitlichen Sicht sehr unbefriedigend sein müssen, weil sie sich im Gesamtfeld vollziehen und demnach durch dessen jeweilige Konstellation bestimmte Modifikationen erfahren und ihren besonderen Charakter erhalten (Karsten, 1972, S. 282).
Vorurteil In der Selbstdarstellung berichtet sie, dass sie ihren Forschungsaufenthalt in Michigan wohl selbst mit Vorurteilen gegen US-Amerikaner und den us-amerikanischen Wissenschaftsbetrieb angetreten hat. Die daraus erwachsenen Erwartungen bestätigten sich nicht, im Gegenteil berichtet sie von ausgesprochen positiven Erfahrungen. Wenn also die Beschäftigung mit Vorurteilen (auch) eine biografische Wurzel hat, so war sie durch Schriften von Lewin auch bereits gebahnt. Ihre theoretische Orientierung bei der Behandlung von Vorurteilen würde man heute als I1social cognition" mit allerdings gestalttheoretischer Begründung bezeichnen. "Von meiner gestaltpsychologischen Schulung her wurde mir dieses Problem besonders klar: Eine einzelne Eigenschaft, die ich an einem Menschen sehe, erhält ihre Färbung durch das gesamte Wahrnehmungsfeld, das ich habe. Das Lachen und Singen der schwarzen Köchin wird anders gedeutet, als das der weißen Hausfrau, wenn die
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eine von vorne herein als faul, die andere aber als fleißig gilt" (Karsten, 19791 S. 99)·
Es entstanden mehrere Publikationen zur Vorurteilsproblematik, wobei die ausführlichste ein in den Psychologischen Beiträgen abgedrucktes Sammelreferat ist (Karsten, 1953). Hier ist dann die - auch angelsächsische - Literatur zusammengefasst. Es wird darin die dynamische Sicht des Vorurteils betont: das ist einmal die Bildung und Entstehung von Vorurteilen, zum anderen die Beobachtung, dass "das einmal gebildete Auffassungsfeld (perceptional field) die Auffassung neuer Tatsachen und Erfahrungen beeinflusst" (Karsten, 1953, S. 151). Hier stellt sie auch Überlegungen über den Abbau von Vorurteilen dar. Es ist nicht möglich, Vorurteile nach und nach und durch Argumente zu verändern, etwa indem man ihre Unhaltbarkeit durch einzelne Argumente aufzuzeigen sucht. Jedes neue Argument kann dann beim Vorurteilsbehafteten ins vorhandene Schema eingefügt werden. Aussichtsreich ist vielmehr, dass sich Bedingungen im Gesamtfeld ändern, und zwar sowohl personinterne als auch externe. Zu letzteren sind Veränderungen in der überindividuellen Kultur zu zählen, denn die in der Gesellschaft vorherrschende Einstellungen werden in der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen übernommen. Interne Bedingungen können sich dagegen durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe aufgrund der Konvergenz- und Konformitätstendenz ergeben. Der Anschluss des Individuums an eine neue Gruppe führt zu Umstrukturierungen des individuellen Auffassungsfelds. In der Gruppenzugehörigkeit liegen aber oft auch die Ursachen für die Entstehung von Vorurteilen.
Alternsforschung Die Zentrierung auf die Vorurteilsproblematik kommt auch im gerontologischen Forschungsschwerpunkt zum Ausdruck. Hier folgt Anitra Karsten ebenso konsequent einer feldtheoretischen Orientierung. Der Lebensraum älterer Menschen kann in die besonders l1altersempfindliehen" Bereiche Arbeit, psychophysische Gesundheit, sozioökonomischer Status und Sozialkontakte aufgeteilt werden. Der Lebensraum kann sich im hohen Alter, abhängig von internen und externen Bedingungen, einengen oder auch anreichern.
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In der Untersuchung über die Situation älterer Personen auf dem Lande (Karsten & Bauer, 1966) bildete sich ein Variablencluster heraus, das mit "sozialer Deprivation" umschrieben werden konnte und durch Verluste und Einschränkungen in Bezug auf Gesundheit, Status, Arbeit und soziale Kontakte gekennzeichnet war. Die Verengung eines Lebensraumsegmentes kann der Untersuchung nach zur Anreicherung eines anderen führen. Personen können auch mit ihrer Situation ausdrücklich zufrieden sein, sich sicher fühlen, offen für Veränderungen sein und sich neuen Situationen gut anpassen. Rezension: Die Untersuchungen zur "Psychischen Sättigung" Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass sich in freien Situationen, die nicht durch Aufgaben festgelegt sind, ein natürlicher Wechsel von Aktivitäten ergibt. Auch bei Kindern, die sich selbst überlassen sind, bleibt es nicht bei einer Tätigkeit, sondern sie gehen nach einiger Zeit zu anderen Tätigkeiten über. Hierzu eine Beobachtung, die für die Fragestellung ausschlaggebend war: "Fräulein cand. phil. Goldberg hat längere Zeit hindurch solche Geschehnisse an Kindern teils in freier Beobachtung, teils in experimentellen Anordnungen untersucht. Als Beispiel sei erwähnt, dass ein 3jähriger Junge bei dem beliebten Spiele des Auf- und Zumachens einer Tür Bzmal mit Begeisterung die Tür auf und zu machte, dass die nächsten beiden Wiederholungen ein plötzliches Nachlassen des Vergnügens an diesem Spiel erkennen ließen, und dass das Kind dann auch durch Zureden nicht zum Weiterspielen zu veranlassen war" (Karsten, 1928., S. 144).
Man kann hier folgern, dass das Kind von dieser einen Tätigkeit genug hatte und deswegen zu einer neuen überging. Dieses "Genug-Habenu ist das Thema der bedeutsamsten Schrift von Anitra Karsten, ihrer unter Kurt Lewins Betreuung angefertigten Dissertation zum Thema "Psychische Sättigung", Eine Tätigkeit mit einem positiven Aufforderungscharakter macht vielleicht eine Weile Spaß und wird deswegen durchgeführt. Es kann aber sein, dass sie den positiven Aufforderungscharakter verliert und sich ein neutraler oder gar negativer einstellt. Dann hat die Person keine Lust mehr, damit
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fortzufahren. Von einem bestimmten Punkt an wird man von Sättigung, genauer: von psychischer Sättigung, ausgehen können. Wird die Person dann durch sich selber oder durch andere veranlasst, die Tätigkeit weiterzuführen, wird sich sogar Übersättigung einstellen können. Ein Zustand, den man nicht nur im Spiel bei Kindern, sondern auch in Beruf und Alltag von Erwachsenen, insbesondere bei monotonen, sich wiederholenden Aktivitäten unterstellen kann. Ziel der Arbeit ist, die charakteristischen Phänomene und Prozesse der psychischen Sättigung zu beschreiben, aber auch kausaldynamisch zu untersuchen, d. h. ihre Determinanten zu identifizieren, wobei sie sich der zentralen Annahmen der Lewin'schen Feldtheorie bedient. Die Untersuchungen waren empirisch-experimentell und bezogen eine Reihe verschiedener Tätigkeiten mit ein. Die Versuchspersonen (künftig mit "Vpnu oder in der Einzahl mit IIVpu abgekürzt) bekamen eine Aufgabe gestellt, die einige Zeit in Anspruch nahm. Wie lange sie dabei bleiben wollten, war in ihr Belieben gestellt. Dabei wurde folgende Instruktion sinngemäß gegeben: "Machen Sie die Arbeit so lange sie Lust haben. Wenn Sie sie nicht länger machen wollen, können Sie aufhören" (Karsten, 1928, S. 148).
Als Aufgaben wurden insbesondere verwandt: Fortlaufende Handlungen: Stricheln: Kleine vertikale Striche sollen reihenweise aufgezeichnet werden, entweder in Form von Einzelstrichen oder in Form bestimmter Gruppierungen (z. B. eine DreierGruppe sollte sich jeweils mit einer Fünfer-Gruppe abwechseln); eine Einsteck-Aufgabe: Kleine IIFingerhütchenu sind in ein mit Löchern versehenes Brett zu stecken. Endhandlungen: Gedichte Lesen: Kurze Gedichte (von Heine, Goethe, Schiller ete.) sind laut vorzulesen oder auswendig aufzusagen; Zeichnen: Figuren sind nachzuzeichnen, vorgegebene Muster fortzusetzen, Gegenstände abzuzeichnen. Die "Strichelu - und "GedichteU-Aufgaben hatten offensichtlich für die Auswertungen die größte Bedeutung. Dies gilt auch für die von uns referierten Erkenntnisse. Versuehsteehniseh wurde also so verfahren, dass der/die VI das Abbrechen der Tätigkeit der Vp ausdrücklich freistellte, dass sie aber einen
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gewissen schwachen Druck gegen zu frühes Abbrechen ausübte. Für die experimentellen Anordnungen war dann charakteristisch, dass nach Sättigung einer Aufgabe eine zweite ähnliche oder andersartige gestellt wurde, die ihrerseits bis zur Sättigung durchzuführen war. Die Versuche dauerten in der Regel zwei Stunden. Zusammen wurden 50 Vpn herangezogen. Die Datengewinnung schloss alle Verfahren ein: Zeitnahmen, Verhaltensbeobachtungen während des Versuchs, Explorationen am Ende des Versuchs, Analyse des Handlungsergebnisses. Ausdrücklich betont die Autorin, dass die Selbstbeobachtungen stets auch im Rahmen des Gesamtverhaltens (z. B. freundliche oder feindliche Reaktion auf Situation oder den/die VI) gewertet wurden.
Charakteristische Phänomene und Prozesse Das auffallendste (und wohl auch durchgängige) Phänomen bei praktisch allen untersuchten Aufgaben ist das Variieren. Bei der Strichelaufgabe etwa: "Die Striche werden in verschiedener Lage und Größe gezeichnet, Gruppenbildungen, Tempoänderungen treten auf..." (S. 156). Weiter wurde beobachtet, dass die Aufgabe gelegentlich .nebenbei' durchgeführt wird. Die Vp pfeift oder singt, und die eigentliche Tätigkeit bietet lediglich die Taktschläge dazu. Ein weiteres Phänomen ist der Gestaltzerfall, der sich in Form von starken Variationen der Ausführung, in einer qualitativ schlechteren Ausführung und auch in der Häufung von Fehlern zeigt. Einzelne Teile (etwa Zeilen oder andere Muster) werden unordentlich ausgeführt und zerfallen in kleine selbständige Stücke. Der Gestaltzerfall zeigt sich aber auch im Sinnloswerden der gesamten Aufgabe. Beim Gedichte-Lesen wird nur noch mechanisch .drauflosgelesen, die Inhalte scheinen keine Bedeutung mehr zu haben. Eine detailliertere Analyse offenbart einige weitere Phänomene, die im Dienste des Variierens zu interpretieren sind: Es treten verschiedene Aufgliederungen der Handlung auf, figural kann es sich dabei um bestimmte Gruppierungen beim Zeichnen, um das Einrahmen von Zeilen oder Seiten handeln. Sie betreffen aber auch die Sinnzusammenhänge: Es kann ein Umschlagen des Sinnes der Tätigkeit erfolgen, etwa etwas Geheimnisvolles im Versuch zu vermuten, oder die Tätigkeit zu beschleunigen, mit dem Ziel eine Rekordleistung zu vollbringen, oder die Aufgabe als Intelligenzprü-
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fung aufzufassen. Der Tätigkeit einen anderen Sinn zu verleihen, verzögert die Sättigung. Die Phase der Sättigung ist dann zunächst durch Unruhehinweise und schließlich durch starken Affekt gekennzeichnet. Die Affektausbrüche können sich gegen die VI oder gegen das Material richten. Um wiederum eine Beobachtung aus den Strichel-Versuchen zu berichten: Die letzten Striche werden so heftig gezogen, dass das Papier einreißt.
Kausaldynamische Betrachtung (a) Feldtheoretische Erklärungen Die Situation, in der sich die Vpn im Verlaufe der Sättigungsversuche befinden, ist dadurch gekennzeichnet, dass sie zwei einander entgesetzten Feldkräften ausgesetzt sind. Das ist die durch Instruktion und die eigene Bereitschaft motivierte Durchführung einer Aufgabe, der im weiteren Verlauf eine Tendenz, von der Aufgabe weg, entgegensteht. In der Sprache der Feldtheorie entsteht eine Tendenz, ,aus dem Felde zu gehen; der aber aufgrund der Feldbedingungen nicht ohne weiteres entsprochen werden kann. Das Variieren ist Ergebnis dieser Kräftekonstellation. Es ist die - schwache - Form des .Aus-dem-Felde-Cehens; die die Restriktionen der Aufgabe gerade noch erlauben. Auch der Versuch, die Aufgabe als Nebenhandlung durchzuführen (Pfeifen und Singen, mit der VI ein Gespräch anfangen, mit den Gedanken woanders sein) kann im Dienste dieser Tendenz interpretiert werden. Die Vp bleibt bei der Aufgabe, diese bekommt aber eine andere Bedeutung. (b) Bereiche Zwar ist das Erleben und Verhalten der Person im Zustand der Sättigung als Ganzheit tangiert, die Sättigung betrifft aber meist nur einen bestimmten Bereich innerhalb des seelischen Systems. Dieser Bereich kann mehr oder weniger eng sein: ,Stricheln von vier Strichen hintereinander' oder ,Stricheln überhaupt' oder ,Zeichnen überhaupt', Dies hängt von der Art der Tätigkeit und der Zahl der Wiederholungen ab. Insbesondere können Nachbarbereiche betroffen sein, die gar nicht ausgeführt wurden. In diesem Fall spricht Karsten von Mitsättigung. Die empirischen Belege dafür stammen
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aus den experimentellen Hauptversuchen, in denen nach Sättigung einer Tätigkeit eine weitere bis zur Sättigung zu vollziehen war. Dabei zeigten sich folgende Gesetzmäßigkeiten: "Ein größerer realer Bereich bedarf zur Sättigung einer größeren Wiederholungszahl als ein kleinerer. (Dabei ist das Größersein zunächst nur im topologischen Sinne, also in Anwendung auf dieselbe Vp. zu verstehen.) Anders ausgedrückt: ein Teilbereich wird leichter gesättigt als der umfassende Bereich... Je größer die Sättigungsmenge ist, die bis zur Vollsättigung des einzelnen Teilbereiches aufgewendet wird, um so ausgedehnter ist auch der mitgesättigte Bereich... Die insgesamt aufzuwendende Sättigungsmenge für einen bestimmten Bereich ist relativ unabhängig davon, ob während des Sättigungsprozesses viel oder wenig variiert wird" (Karsten, 1928, S. 250).
Die letzte Feststellung bedeutet auch, dass die Variationen der Tätigkeiten keine Erholung gegenüber dem Sättigungsprozess darstellen. (c) Willenszielveränderungen - Bedeutungswandel Karsten hatte auch Arbeitslose als Vpn, die für ihren Zeitaufwand entschädigt wurden, herangezogen. Interessanterweise stellten sich bei diesen keine Sättigungsphänomene ein. Dies war auch bei einigen anderen Vpn unter bestimmten Bedingungen zu beobachten, etwa wenn sie die Aufgaben uminterpretierten und in einem Fall mit der Absicht herangingen, einmal festzustellen, wie lange man solche Tätigkeiten überhaupt auszuführen in der Lage ist. Das sind Hinweise darauf, dass motivationale Bedingungen - wie man heute sagen würde - für die Entstehung von Sättigung entscheidend sind. Karsten spricht von Willenszielen und deren Veränderungen, wodurch die Handlung eine andere Bedeutung bekommen kann und ihre Wiederholung nicht zu Sättigung führt. Sie macht dann unter den gegebenen Bedingungen - so wie sie ist - auch Sinn. Im Einklang mit dieser Folgerung ist auch die Beobachtung, die Aufgabe als Nebenhandlung auszuführen. Dies lässt sich gut als eine Bewegung von eher ich-zentralen nach ich-peripheren Bereichen interpretieren. Hier
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liegt nun eine andere Strategie der Willenszielverschiebung zugrunde. Der Tätigkeit wird ihre Bedeutung genommen. Zusammengefasst bedeutet dies, dass sich die Sättigung einer Handlung aufheben oder verhindern lässt, wenn man sie in eine andere Ganzheit einbettet. Das heißt auch, dass "Wiederholung als solche nicht die hinreichende Bedingung für Sättigung ist" (Karsten, 1928, S. 192). Bewertung der Dissertation aus heutiger Sicht Psychische Sättigung als Thema wäre heute insbesondere in der Motivations- und Volitionspsychologie zu verankern. Allerdings fehlen genauere Erörterungen in allen neueren Standardeinführungen. Psychische Sättigung ist durch eine Aversion gegen eine bestimmte Tätigkeit zu charakterisieren, würde also zu den "negativen Motivationserscheinungen zählen. Hier sehen wir den Grund für die Vernachlässigung in der motivationspsychologischen Diskussion. Die unter dem Oberbegriff Demotivation zusammenzufassenden Motivationsphänomene werden dort praktisch nicht berücksichtigt. Die meisten Ansätze gehen von einer Motivationsdimension aus, die von geringer nach starker Ausprägung reicht. Einen Gegenpol, der Aversion (und ausgesprochene Unlust) ausdrückt, vermisst man dabei. Dennoch wird man in Schule, Beruf und Alltag von Zuständen ausgehen können, die darin bestehen, dass eine ursprünglich vorliegende Motivation durch personale oder situative Bedingungen zurückgenommen oder gar in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Auch in der neueren Volitionspsychologie spielt psychische Sättigung keine Rolle. Diese Teildisziplin ist aus der Motivationspsychologie hervorgegangen und hebt sich durch die Erkenntnis von ihr ab, dass wir häufig Handlungen vollziehen, für die wir nicht oder nicht mehr motiviert sind. Auch dass sich schon initiierten Handlungen Einschränkungen und Hindernisse - wie situative Bedingungen oder konkurrierende Intentionen entgegen stellen können, die dann besondere Regulationen erforderlich machen (vgl. Heckhausen, 1989; Kuhl, 1985). Auf diesem Hintergrund wäre die Auseinandersetzung mit psychischer Sättigung und die Versuche der Person, sie zu vermeiden bzw. zu kompensieren ein Volitionsproblem. Dies wurde unserer Meinung nach so aber noch nicht gesehen. Möglicherweise wäre mit neuen Erkenntnissen zu rechnen, wenn man diese Fragen in der Forschung gezielt angehen würde. U
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In einem anderen Themenbereich spielt psychische Sättigung dagegen eine ausdrückliche Rolle, und zwar in der Forschung zur "Fehlbeanspruchung'; die heute meist der Stressthematik zugeordnet wird. Nach Hacker und Richter (1984, auch Richter und Hacker, 1998) sind Personen stets situativen Bedingungen ("Belastungen" im neutralen Sinn) ausgesetzt, die zu Reaktionen des psychophysischen Organismus führen ("Beanspruchungen"). Bei bestimmten Bedingungen, z. T. bei Intensivierung der Reize, kann es dann zu Fehlbeanspruchungen kommen. Zu diesen rechnen Hacker u. Richter (1984) psychische Ermüdung, Monotonie, Stress und auch psychische Sättigung. Es ist äußerst verdienstvoll, dass die Autoren (fast als einzige) bei den Fehlbeanspruchungen diese Differenzierungen vornehmen und nicht alle diese Formen als Stress verstehen. "Psychische Sättigung bezeichnet einen ärgerlich-unruhigen, unlustbetonten Spannungszustand, also einen Zustand des Wachseins mit affektiver Steigerung der psychischen Aktivität. Kennzeichnend ist eine mit Widerwillen erlebte Sinnlosigkeit, die aus Widersprüchen zwischen den zu erfüllenden Anforderungen und persönlichen Wertvorstellungen entstehen kann. Sättigung kann keineswegs nur bei objektiv einförmigen Tätigkeiten entstehen, sondern auch bei abwechslungsreich erscheinenden Anforderungen, wenn der Sinnbezug verloren geht" (Richter & Hacker, 19981 S. 69).
Demnach finden hier die Ergebnisse der klassischen Untersuchung von Karsten angemessene Berücksichtigung. Ausgewählte Bibliographie Karsten, A. (1928). Psychische Sättigung. Psychologische Forschung, 10, 142-254. Karsten, A. (1951). How to change prejudices. Acta Psychologica Fennica 1, 47-58. Karsten, A. (1953). Das Vorurteil. Psychologische Beiträge, 1,149-161. Karsten, A. (1959). Adjustment to old age in industry. Vita Humana, 2, 87-101. Karsten, A. (1961). Social integration of the aged in Finnland. Vita Humana, 4,143-147. Karsten, A. (1961). Altsein und Pensionierung. Soziale Welt 3, 229-236. Karsten, A. (1963). Kurt Lewin (1895-1947) - Ein Pionier der politischen Psychologie. Politische Psychologie I, 17-18. Karsten, A. (1965). Probleme der Alternsforschung. Psychologische Rundschau, I, 1-27. Karsten, A. & Bauer, A. (1966). Einstellungen älterer Landbewohner der BRDzum Zusammenwohnen und Zusammenleben mit ihren Kindern. In H. Thomae & U. Lehr (Hrsg.), Altem. (5. 434-438). Frankfurt/Main.
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Karsten, A. (1971). Der ältere Mensch als Verbraucher. In: Gesellschaft für Konsumforschung (Hrsg.), Altenrnarkt, Teil C (5.143-2.47). Nümberg. Karsten, A. (1972). Motivation und affektives Geschehen. In: R. Meili & H. Rohracher (Hrsg.), Lehrbuch der experimentellen Psychologie (5.281-326). Bem: Huber. Karsten, A. (1972). Enrichment and deprivation in old age. In: F. J. Mönks, W. Hartrup, & Wit, J. de (Eds.), Determinants of behavioral development (5.641-643). New York: Academic Press. Karsten, A. (1979). Anitra Karsten. In: L. J. Pongratz, W. Traxel & T. Wehner (Hrsg.), Psychologie in Selbstdarstellungen (5. 77-108). Bem: Huber.
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Ioachim Lompscher
Bljuma Vol'fovna Zejgamik: Einheit des Psychischen
"Die [psychische] KmnkheIt wirkt nicht unmittelbar. sondern vermittelt über die im VerlllUf der sozialen Entwicklung des Menschen. angeeignete Tätigkeit, zerstöreritdt euf die Persönlichkeit" (Zejgamik, 1976).
Der Name Zejgarnik (in der Regel Zeigarnik geschrieben) ruft bei den meisten Psychologen sofort die Erinnerung an den Zeigarnik-Effekt auf - die Feststellung nämlich, dass unerledigte Handlungen besser eingeprägt werden als erledigte (Zeigarnik, 1927). Diese Untersuchung, die bei Kurt Lewin an der Berliner Universität durchgeführt und als Dissertation bestätigt wurde, erhielt vom Gutachter Wolfgang Köhler u. a. folgende Einschätzung: ,.IdJ. könnte an der ganzen Arbeit höchstens aussetzen" dass der Ent-
wurf spezie11erdynamischer Vorstellungen zur Deutung der Ergebnisse hier und da viel1eicbl: eine etwas schnell arbeitende Phantasie verrät Doch die kann ja kaum schaden, werm sie produktiv wirkt und ihre Erzeugnisse fast ausnahmslos sofort strenger experimenteller Prüfung unterworfen werden wie hier. Die Untersudrung von Frau Z. steht aber jedenfalls weit über dem, was man sich sonst unter einer Dissertation vorstellt; ihre weitere Auswirkung ist noch nicht zu übersehen. Ich halte sie für eine der besten psychologischen Arbeiten. die überhaupt seit einer Reihe von Jahren gemacht wurden [...[" (zit. nach Sprung, 1992- S. 1,56). S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_16, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Sie selbst erinnerte sich, dass am Tag nach der Verteidigung Kurt Lewin sie anrief und ihr sagte: "Wissen Sie überhaupt, was Sie angerichtet haben? Sie haben eine wissenschaftliche Entdeckung gemacht!" (zit. nach Nikolajeva & Poljakov, 1997, S. 3 01).
Und tatsächlich, diese Arbeit hat zahlreiche andere Untersuchungen - bis in die jüngste Zeit - nach sich gezogen, die die ursprünglichen Ergebnisse präzisiert, erweitert, auch relativiert haben. Ob Zejgarnik nach dieser Arbeit noch etwas in der Wissenschaft geleistet hat und wenn ja, was, ist den meisten deutschen Lesern kaum bekannt abgesehen vielleicht von der Kenntnis der mit ihr geführten und veröffentlichten Interviews (Golab, 1984; Jaroschewskij, 1989, vgl. auch Sprung, 1992, sowie [eup, 2005). Von ihren späteren Arbeiten ist m. W. nur ein Buch über Denkstörungen bei psychiatrischen Krankheitsbildern sowie ein Artikel über Ergebnisse und Perspektiven der Pathopsychologie in deutscher Übersetzung erschienen (Zeigarnik, 1961 und 1980). Wie passen diese Titel zu ihrer ersten Arbeit? Wer war Zejgarnik überhaupt? Biographie
Bljuma Vol'fovna Zejgarnik - der Name weist auf ihre russisch-jüdische Herkunft hin - wurde am 9.11.1900 in Puenaj (Litauen) geboren und verstarb am 24.2.1988 in Moskau. In ihrem Lebenslauf, den sie 1927 vor der Eröffnung ihrer Promotion geschrieben hat und der sich im Archiv der Humboldt-Universität befindet (für die Überlassung einer Kopie danke ich H. und L. Sprung), schrieb sie u. a.: "Bis zu meinem 15. Lebensjahr erhielt ich Privatunterricht, um später (1916) in das russische Gymnasium Reimann-Dalmatoff zu Minsk einzutreten, das ich 1918 nach bestandener Abschlussprüfung verließ. [...] Von 1920-1922 hörte ich Vorlesungen an der Fakultät der humanitären Wissenschaften der litauischen höheren Kurse (jetzt Universität) zu Kowno. Im S. S. 1922 wurde ich als Gasthörerin der philosophischen Fakultät der Berliner Universität aufgenommen. [...] Anfang S. S. 1925 bestand ich eine Ergänzungsprüfung in der deutschen Sprache, in der
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lateinischen Sprache, Geschichte und Geographie und wurde im Mai 1925groß immatrikuliert."
Sie war mit ihrem Gatten, der an die sowjetische Handelsvertretung versetzt worden war, nach Berlin gekommen, wo sie 1924 Kurt Lewin kennen lernte. Im Bestreben, Psychologie zu studieren, hatte sie zunächst ein Germanistikstudium begonnen (Belletristik als Zugang zu psychologischen Problemen!), aber schnell festgestellt, dass Mittelhochdeutsch u. a. sie kaum zur Psychologie bringen würden. Sie besuchte Vorlesungen zur Philosophie, Psychologie, Geschichte und Physik, war von Albert Einstein beeindruckt, geriet in Wertheimers Vorlesungen, dem sie in jugendlicher Naivität, wie sie selbst später berichtete, sagte, dass die Gestaltpsychologie ihr sehr gefalle, worauf Wertheimer ihr antwortete: "Mir auch", So kam sie ans Institut für Psychologie, wo sie Lewins Studentin und später Mitarbeiterin wurde. Zu dieser Forschungsgruppe gehörten mehrere Frauen, was zu jener Zeit durchaus noch nicht selbstverständlich war. Drei weitere Russinnen (Maria Ovsjankina, Gita Birenbaum, Tamara Dembo) gehörten dazu (vgl. den Beitrag über Tamara Dembo in diesem Band). Interessanterweise hatte auch L. S. Vygotskij, mit dem sie später zusammenarbeitete, mehrere Mitarbeiterinnen. 1931 war die Arbeit ihres Gatten in Berlin beendet, und sie gingen zurück nach Russland. "Buchstäblich am nächsten Tag", wie sie sich ausdrückte, begann Zejgarnik ihre Arbeit in engem Kontakt mit Vygotskij, und zwar in der Psychoneurologischen Klinik des Instituts für experimentelle Medizin in Moskau, deren Leitung sie nach Vygotskijs Tod übernahm. Vygotskij hatte - neben zahlreichen anderen Aufgaben - gerade ein Medizinstudium (einschließlich entsprechender Praktika) begonnen, um Probleme des Aufbaus psychischer Funktionen mit Prozessen ihres Zerfalls fundierter in Beziehung setzen zu können (vgl. Vygodskaja & Lifanova, 2000, S. 100 ff.). Zejgarnik hatte bereits in Berlin mehrfach Vorlesungen Kurt Goldsteins und seine Klinik besucht, erste Erfahrungen in der Psychiatrie gesammelt. Im Laufe der Jahre entwickelte sie sich zu einer der anerkanntesten und produktivsten Wissenschaftlerinnen der sowjetischen Pathopsychologie (Iarosevskij, 1988, Nikolajeva & Poljakov, 1997, Stepanov, 2001, u. a.), Eine ihrer ersten Untersuchungen auf dem neuen Gebiet hatte sie übrigens mit einer ihrer Kommilitoninnen aus der Berliner Zeit durchgeführt (Zejgarnik & Birenbaum, 1935). Während des Krieges arbeitete sie in einem neurochirurgischen Krankenhaus im Ural an der Wiederherstellung psychischer Funktionen Schwer-
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verletzter, wie dies auch Lurija, Leont'ev, Zaporozec, Cellerstejn u. a. taten - wesentliche Voraussetzungen der Entwicklung der Neuropsychologie und Pathopsychologie als eigenständiger Teildisziplinen der psychologischen Wissenschaft (Zejgamik & Rubinstejn, 1985). Nach dem Krieg leitete sie ein von ihr gegründetes Laboratorium der experimentellen Pathopsychologie am Institut für Psychiatrie des Ministeriums für Gesundheitswesen in Moskau und wurde 1967 auf einen Lehrstuhl für Pathopsychologie an die Psychologische Fakultät der Lomonossov-Universität berufen, wo sie - beliebt und hoch verehrt von Kollegen und Studenten - bis ans Ende ihres langen Lebens gearbeitet hat. Sie hat zahlreiche Nachwuchswissenschaftler ausgebildet und die Entwicklung der klinischen Psychologie in der Sowjetunion wesentlich geprägt. Anlässlich ihres 100. Geburtstags richtete ihre Universität eine große internationale Konferenz aus (Tchostov, 2001). Die Stalinschen Repressalien hatten auch sie hart getroffen: 1938 wurde ihr Ehemann verhaftet (und später umgebracht) - sie musste sich mit einem kleinen Jungen, dem bald nach der Verhaftung ihres Mannes ein zweiter folgte, allein durchs Leben schlagen. Unterstützung fand sie besonders bei Aleksandr R. Lurija und Susanna J. Rubinstejn, denen sie in der Arbeit und im persönlichen Leben immer eng verbunden blieb. In den Nachkriegsjahren, als eine Kampagne gegen jüdische Ärzte inszeniert wurde, konnte nur durch Unterstützung ihrer Kollegen in Psychologie und Psychiatrie ihre Entlassung verhindert werden. iJber diese schweren Zeiten hat Zejgarnik nie gern gesprochen. Aber es ist sicher nicht zufällig, dass unter den Eigenschaften, die Kollegen und Studenten an ihr besonders hervorhoben, an erster Stelle Willensstärke, Verständnis für die Menschen und Weisheit genannt wurden (vgl. zur Persönlichkeit von Zejgarnik die Erinnerungen von A. V. Zeigarnik, 2007). Die Dissertation Unter den Doktorarbeiten der Lewin-Schüler und Schülerinnen ist die von Zejgarnik (1927) sicher die bekannteste, wohl wegen des nach ihr benannten Zejgarnik-Effekts. Zur Entstehung dieser Untersuchungen erinnerte sich Zejgarnik in einem Interview: "Wir saßen zusammen mit Lewin in einem Cafe und haben uns unterhalten. Es hieß Schwedisches Cafe- ein ganz gemütliches Zimmerchen. Da saßen ein Mädchen und ein junger Mann, die etwas bestellten.
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Danach sind die beiden weggegangen. Lewin ist von seinem Platz aufgestanden und hat den Kellner gefragt, was die beiden bestellt hatten. Der Kellner antwortete unsicher: ,Ich glaube das, ... vielleicht auch das ...'. Ich habe mich gefragt, warum der Kellner so unsicher war. Nach dem Gesetz der Assoziation - Lewin hatte damals noch mit der Würzburger Schule zu kämpfen - sind Assoziationen der Motor des menschlichen Handelns, Da hätte sich der Kellner merken müssen, was die beiden bestellt hatten, weil Assoziationen eine Kette bilden. Der Kellner hatte es aber wahrscheinlich deswegen nicht behalten, weil er das Bedürfnis dazu nicht mehr hatte. Die beiden Gäste hatten bezahlt und waren gegangen; für den Kellner war die Sache damit erledigt. Und so hat's angefangen" (Golab, 1984, S. 107).
Die Untersuchungen von Bluma Zejgarnik wurden 1924 bis 1926 an 164 Kindern und Erwachsenen durchgeführt. Die Personen der ersten Versuchsreihe mussten 22 verschiedene Aufgaben "möglichst gut und schnell" erledigen (Zeigarnik, 1927, S. 4), so z. B. ihr Monogramm mit Variationen zeichnen, ein ihnen bekanntes Gedicht aufschreiben, ein Puzzle zusammensetzen, Perlen aufziehen, von 55 bis 17 rückwärts zählen usw. Die Hälfte dieser Aufgaben ließ Zejgarnik jeweils zu Ende führen, bei der anderen Hälfte - also etwa bei jeder zweiten Aufgabe - unterbrach sie ihre Versuchspersonen, wenn diese besonders intensiv arbeiteten. Dann legte sie eine neue Aufgabe mit der Anweisung vor: "Jetzt machen Sie bitte dies!" Im Anschluss an die Versuchsreihe wurde geprüft, an welche Aufgaben sich die Vpn noch erinnerten. "Wären die erledigten und unerledigten Aufgaben gedächtnismäßig gleichgestellt, so müßte, da beide Arten von Aufgaben gleich häufig vorkommen, der Quotient aus den behaltenen unerledigten (BU) und den behaltenen erledigten Aufgaben (BE) gleich 1 sein" (Zeigarnik, 192p S. 8).Die unerledigten Handlungen wurden jedoch fast doppelt so gut behalten wie die erledigten. Der Quotient aus den behaltenen unerledigten und den behaltenen erledigten Aufgaben - heute Zejgarnik-Quotient genannt - betrug 1,9. Kontrollversuche mit anderen Stichproben und anderen Aufgaben bestätigten das Ergebnis. Der Grund für das bessere Erinnern unterbrochener Handlungen hing offensichtlich mit dem Wunsch zusammen, die Aufgabe wieder aufzunehmen, um sie zu erledigen. Dabei war dieser Wunsch kein triebartiges Bedürfnis, sondern durch den Versuchsleiter veranlasst - ein Quasibedürfnis. Dies entspricht der Auffassung von Lewin,
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der den Begriff des Quasibedürfnisses in diesem Sinne eines induzierten Bedürfnisses verwendete. Der Bezug der Befunde zur Psychoanalyse liegt in zweifacher Hinsicht nahe, denn man könnte einerseits vermuten, dass unvollendete Handlungen als unangenehm verdrängt (und daher schlechter behalten) werden. Dann stünden Zejgarniks Befunde in gewissem Gegensatz zu Freud. Andererseits hatte Freud auch angenommen, dass sich Trauminhalte auf unerledigte Handlungen des Vortages oder der letzten Zeit beziehen und im Traum zur Lösung, zum Abschluss gelangen. Hiernach könnte man vermuten, dass die bessere Erinnerung unerledigter Handlungen nach Zejgarnik mit dem Wunschdenken der Erledigung zusammenhängt. Lewin selbst hat die Ähnlichkeit zwischen dem Zejgarnik-Effekt und diesen psychoanalytischen Annahmen durchaus gesehen und gesagt, es bestätige sich durch den Zejgarnik-Effekt eine Grundannahme der Freudschen Theorien. Nach heutigem Forschungsstand ist der Zejgarnik-Effekt umstritten. Zwar findet man viele Lehrbücher, in denen der Zejgarnik-Effekt als gut abgesichertes Ergebnis der experimentellen Psychologie dargestellt wird. Dagegen vertreten andere Autoren die Auffassung, der Zejgarnik-Effekt sei kaum reproduzierbar. Selbst wenn dies so wäre, dann wird dadurch die Forschungsleistung der jungen Doktorandin in Berlin nicht gemindert. Das weitere wissenschaftliche Werk In einem der Interviews bezeichnete Zejgarnik es als Glück in ihrem Leben, gute Lehrer gehabt zu haben: "Ich habe mit Lewin zusammengearbeitet, danach habe ich mit Wygotski gearbeitet, mit Rubinstein, ein wenig mit Goldstein, mit Leontiew" (Golab, 1984, S. 108).
Diese Wissenschaftler haben Zejgarniks Weg und Wirken in der Psychologie wesentlich bestimmt. Die Pathopsychologie war für sie immer eine wichtige Teildisziplin der Psychologie, und sie hat die Spezifik dieses Gegenstands und die entsprechende Methodologie und Praxis immer wieder gegen eine Vereinnahmung durch die Psychiatrie (bei gleichzeitiger intensiver Kooperation mit deren Vertretern) verteidigt (z. B. Zejgarnik & Rubinstejn, 1970, Zejgarnik, Rubinstein & Longinova, 1974). Lewins Orientierung auf die ganzheitliche Persönlichkeit und ihre Motivation wurde
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zu einem Leitfaden ihrer Arbeit in der klinischen Psychologie. So wies sie selbst im Interview mit [arosevskij (1988 bzw. 1989) darauf hin, dass sie mit Vygotskij als Erste z. B. von affektiver Demenz gesprochen hätten, als allgemein nur Störungen einzelner Prozesse betrachtet wurden. Mehrere ihrer Werke waren der Persönlichkeitsproblematik gewidmet, sodass es kein Zufall ist, dass Ginzburg (1998) ausgewählte Arbeiten Zejgarniks unter den Titel j.Psychologie der Persönlichkeit: Norm und Pathologie" stellte. Lewins Persönlichkeitstheorie, die sie - trotz kritischer Einschätzung der gestaltpsychologischen Grundlagen und der Vernachlässigung gesellschaftlicher Entwicklungsbedingungen - sehr schätzte, war Gegenstand eines speziellen Büchleins (Zejgarnik, 1981; vgl. auch Boshowitsch, 1970, S. 76 ff.). Die Wechselbeziehungen von Intellekt und Affekt - ein Problem, das Vygotskij in seiner letzten Schaffensperiode stark beschäftigte - wurden von ihr immer wieder aufgegriffen und bearbeitet. Ihr Zugang zu pathopsychischen Phänomenen und ihrer Erklärung war wesentlich durch Vygotskijs kulturhistorische Konzeption und Leont'evs Tätigkeitstheorie geprägt: Psychische Störungen sind Störungen der Tätigkeit; psychische Krankheiten wirken auf die Persönlichkeit, vermittelt durch ihre Tätigkeit, die sich unter gesellschaftlichen Bedingungen herausgebildet hat; pathologische Veränderungen der Persönlichkeit vollziehen sich in der realen Tätigkeit, durch Umgestaltung der realen Wechselbeziehungen des Subjekts. Zum tätigkeitstheoretischen Ansatz gehörte für sie auch, die Pathopsychologie als Einheit von Theorie und Experiment, von Theorie und Praxis zu verstehen und zu betreiben: Forschung, Diagnostik, Begutachtung, Therapie und Beratung psychisch Kranker, um geeignete Arbeit für sie zu finden, sowie Ausbildung von Studenten und wissenschaftlichem Nachwuchs waren Inhalt ihrer Tätigkeit. Die Titel ihrer wichtigsten Bücher kennzeichnen die Schwerpunkte ihrer theoretischen, experimentellen und klinischen Arbeit: .Denkstörungen bei psychisch Kranken" (dt. 1961), "Pathologie des Denkens" (1962, engl. 1965), "Einführung in die Pathopsychologie" (1969, engl. 1972), "Persönlichkeit und Pathologie der Tätigkeit" (1971), "Pathopsychologie (1976), "Persönlichkeitstheorien in der ausländischen Psychologie" (1982). Auf ausgewählte Aspekte ihres wissenschaftlichen Werks soll im Weiteren eingegangen werden. U
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Störungen psychischer Prozesse Ihre Pathopsychologie (1976), die ihre vorangegangenen Werke dieser Thematik zusammenfasste und weiterführte und auf ihrem Vorlesungszyklus an der Moskauer Universität basierte, umfasste - neben einer Einleitung und einem historischen LTberblick - Kapitel zu Störungen des Bewusstseins, der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, des Denkens, der Persönlichkeit, der kognitiven Leistungsfähigkeit sowie zur Bedeutung der pathopsychologischen Forschung für die allgemeine Psychologie. Ich gehe zunächst auf das Kapitel über Denkstörungen etwas genauer ein - die Thematik hat sie über Jahrzehnte intensiv beschäftigt, es ist auch das umfangreichste Kapitel dieses Buches. Auf die Persönlichkeitsproblematik und die Bedeutung für die allgemeine Psychologie komme ich weiter unten zurück. Das Kapitel beginnt mit einem knappen Exkurs über die Entwicklung der Denkpsychologie und ihre Einflüsse auf die Psychiatrie. Denken wird dann im Kontext der von der sowjetischen Psychologie entwickelten Konzeption als besondere Form der menschlichen Tätigkeit gekennzeichnet, die persönlich motiviert ist, sich auf ein System von Begriffen stützt, auf die Lösung von Aufgaben gerichtet und einem Ziel untergeordnet ist und die Bedingungen berücksichtigt, unter denen die Aufgabe steht. Die Verfasserin verweist auf Vygotskijs Auffassung, wonach psychische Funktionen oder Prozesse in der gemeinsamen Tätigkeit und im sozialen Verkehr der Menschen entstehen und Handlungen, die zunächst zwischen Menschen verteilt sind, zu Mitteln der Regulation des eigenen Verhaltens werden. Dabei spiele die Interiorisation ursprünglich äußerer Handlungen eine grundlegende Rolle, wie sie z. B. von Gal'perin systematisch untersucht wurde (der übrigens seine Theorie der etappenweisen Ausbildung geistiger Handlungen u. a. auf pathopsychologische Untersuchungen gründete, s. z. B.Zejgarnik & Gal'perin, 1948). Um der Vielfalt psychischer Störungen bei den unterschiedlichsten Erkrankungen, Hirntraumata und dgl. gerecht werden zu können, werden folgende Parameter zu Grunde gelegt: Störungen der operationalen Seite des Denkens, seiner Dynamik und seiner motivationalen Komponente. Mit Bezug insbesondere auf Rubinstejn und Vygotskij werden unter operationalem Aspekt Analyse, Synthese und als deren Ergebnis Verallgemeinerung hervorgehoben (übrigens eine Sicht, die sich bereits bei einem der Wegbereiter einer wissenschaftlichen Psychologie in Russland, Seöenov, 1878, findet). Denkstörungen bei unterschiedlichen Erkrankungen werden als Senkung des Verallgemeinerungsniveaus und als Verzerrung des Verallgemeinerungsprozesses dargestellt. Unter Verwendung unterschiedlicher
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Untersuchungsmethoden (Klassifikation, Exklusion, Vergleich, Erklärung von Sprichwörtern und Zuordnung von Sätzen zu Sprichwörtern, Nutzung von Piktogrammen, Problemlösen) werden Phänomene dieser Störungen konkret beschrieben und unter dem operationalen Aspekt erklärt. Niedriges Verallgemeinerungsniveau wird u. a. auf Mängel der Analyse und Abstraktion bei der Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem, auf Schwierigkeiten der Erfassung von Beziehungen und des Verständnisses für Übertragungen und Konventionen u. a. zurückgeführt, was in dieser oder jener Form damit zu tun hat, dass die internen Denkmittel (Begriffe und Operationen) nicht adäquat genutzt werden können. Von Verzerrung des Verallgemeinerungsprozesses wird - im Unterschied zur Senkung des Verallgemeinerungsniveaus - gesprochen, wenn Kranke (z. B. bei Schizophrenie) beliebige Zusammenhänge ohne Bezug zur Realität und konkreten Erfahrungen bilden, ihre Urteile nicht auf den objektiven Inhalt von Gegenständen, Erscheinungen, Situationen gerichtet sind, sondern zufällige Aspekte und Merkmale miteinander in Beziehung setzen. Unter Störungen der Dynamik werden Phänomene beschrieben, bei denen der Verlauf einer zusammenhängenden Denktätigkeit gestört ist. Das gilt für Inkonsequenz des Urteilens, wenn verallgemeinerte und konkretsituative Aussagen (z. B. beim Ordnen von Bilderkärtchen) oder logische und zufällige Begründungen wechseln, wenn beim Klassifizieren zwar ein allgemeines Merkmal zu Grunde gelegt, dann aber mehrere inhaltlich gleiche Parallelgruppen gebildet werden ete. Als Labilität des Denkens bezeichnet die Verfasserin Phänomene chaotischer Denkverläufe (z. B. bei manisch-depressiver Psychose), bei denen beliebige Vorstellungen, emotionale Zustände oder sprachliche Äußerungen Anderer sofort aufgegriffen oder beliebige im Wahrnehmungsfeld liegende Dinge benannt werden, wodurch der Denkprozess ständig Richtung und Inhalt ändert. Bei Trägheit des Denkens treten Phänomene geringer Flexibilität und Beweglichkeit bei der Bewältigung intellektueller Anforderungen auf. Die Lösung von Aufgaben erfolgt, wenn überhaupt, zähflüssig und umständlich, weil z. B. alle - auch unwesentliche - Merkmale beachtet und einbezogen werden, Schwierigkeiten bestehen, ein Wort mit gegensätzlicher Bedeutung zu finden usw. Mit Bezug auf Vygotskijs u. a. Aussagen, dass Gedanken nicht schlechthin aus anderen Gedanken entstehen, sondern aus den Bedürfnissen, Interessen und Emotionen des Menschen, und Leont'evs Unterscheidung zwischen Bedeutung und subjektivem Sinn analysiert Zejgarnik Denkstörungen, deren Grundlagen motivationaler Art sind - die natürlich auch
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hinter den bisher besprochenen Denkstörungen stehen können. Unmittelbare motivationale Wirkungen zeigen sich z. B. bei Kranken, die Anforderungen intellektuell korrekt bewältigen können, auch nicht leicht dabei ermüden, aber häufig zwischen Merkmalen der Dinge selbst und ihren persönlichen Einstellungen, Wünschen, Erinnerungen und Erfahrungen, etwa beim Klassifizieren oder Definieren von Begriffen, hin- und herwechseln (Wechsel der Denkebenen) oder die "räsonieren'~ d. h. viel und z. T. an der Sache vorbei, oft auch mit inadäquatem Pathos reden, wofür eine übersteigerte Affektivität verantwortlich gemacht wird. Schließlich wird ein vierter Parameter eingeführt: die verminderte Kritikfähigkeit, die sich in diesem Kapitel auf Denkanforderungen bezieht, aber darüber hinaus geht. Es handelt sich dabei um sekundäre Denkstörungen - die Bewältigung intellektueller Anforderungen als solcher ist möglich, wird aber dadurch gestört, dass die Kranken ihre Denkprozesse nicht unter Kontrolle halten können (Vygotskij sprach von Beherrschung - zusammen mit Bewusstheit ein Wesensmerkmal der sogenannten höheren psychischen Funktionen) und deshalb z. B. gedankenlos mit Gegenständen manipulieren, statt eine Aufgabe zielorientiert in Angriff zu nehmen, oder kritiklos ihren Fehlern gegenüber stehen. Bei den Untersuchungen zeigte sich ein enger Zusammenhang solcher Störungen mit denen der Motivation und Sinnbildung. Es sind weniger Störungen der Denkprozesse (Analoges gilt für andere kognitive Prozesse), als Störungen der Persönlichkeit, ihres Bewusstseins insgesamt (s. u.), Die Analyse der Störungen einzelner psychischer Prozesse erweist sich - besonders bei praktischen Anforderungen, z. B. bei der Begutachtung - oftmals als unzureichend.
Störungen derkognitiven Leistungsfähigkeit Hier handelt es sich um komplexere pathologische Veränderungen, obwohl sie wie Störungen einzelner Prozesse in Erscheinung treten. Insbesondere bei Hirngefäßerkrankungen wurden eigentümliche Schwankungen der kognitiven Leistungsfähigkeit festgestellt. Einerseits sind die Kranken in der Lage, einfachere oder auch kompliziertere kognitive Anforderungen zu bewältigen - die entsprechenden kognitiven Prozesse funktionieren also mehr oder weniger normaL Andererseits treten bei der Realisierung solcher Anforderungen - elementarer oder komplexer - bestimmte Störungen auf: Beim Suchen und Benennen von Zahlen auf einem Zahlenfeld z. B. ergeben sich bei relativ normalem Verlauf plötzlich Stockungen - der
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Kranke schaut auf eine Zahl, sieht sie nicht und sucht sie lange; bei einer Anforderung der optisch-motorischen Koordination wird die gleichmäßige Kurve durch Verlangsamungen und inadäquat heftige Verstärkungen der geforderten Bewegung unterbrochen; Metaphern können richtig interpretiert oder Klassifikationsaufgaben auf dem erforderlichen Niveau gelöst werden, aber zwischendurch gibt es "Durchhänger (neben allgemeine Kriterien der Klassenbildung treten situative, die Klassenbildung wird durch Wiederholungen unterbrochen, Gedankengänge werden nicht zu Ende geführt etc.). In manchen Fällen genügte ein kleiner Fehler oder eine unvorsichtige Bemerkung des Versuchsleiters, um starke affektive Reaktionen hervorzurufen und den Handlungsverlauf zu desorganisieren. Solche Schwankungen traten besonders und verstärkt auf, wenn die Anforderungsbewältigung einen längeren Zeitraum und entsprechend anhaltende Konzentration auf Ziel und Bedingungen erforderte. Die Ursache liegt nach Zejgarniks Auffassung in der schnellen bzw. leichten Erschöpfung auf der neurodynamischen Ebene, die zu qualitativen Veränderungen der kognitiven Leistungsfähigkeit führt und nicht identisch mit normalen Ermüdungsprozessen ist. Daraus ergeben sich spezifische Anforderungen an therapeutische Maßnahmen im Zusammenhang z. B. mit beruflicher Rehabilitation. U
Störungen der Persönlichkeit Psychische Prozesse werden als unterschiedliche Formen menschlicher Tätigkeit im Kontext der Persönlichkeit als Ganzem gesehen, was Persönlichkeits- und Bewusstseinsstörungen als ganzheitliche Phänomene natürlich nicht ausschließt. Störungen der Persönlichkeit ihrerseits werden vor allem unter folgenden Aspekten analysiert: Vermitteltheit und Motivhierarchie, Sinnbildung und Kontrollfähigkeit des Verhaltens. Diese Aspekte ergeben sich aus der Tätigkeitstheorie Leont'evs, für den die Herausbildung und Nutzung psychischer Mittel, die Motivation und persönliche Sinnbildung sowie die bewusste Beherrschung des eigenen Verhaltens wesentliche Merkmale der und Erklärungszugänge zur menschlichen Tätigkeit darstellen. So werden Persönlichkeitsdeformationen z. B.bei Alkoholismus und mentaler Anorexie - gestützt auf eine Kombination von klinischer Beobachtung und Anamnese mit psychologischen Experimenten - auf tiefgehende Veränderungen in der Motivstruktur und -hierarchie zurückgeführt, wobei die Krankheiten in ihrer Genese analysiert werden Die ursprünglich füh-
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renden Bedürfnisse und Interessen treten zurück, pathologische Bedürfnisse werden zu dominierenden, das Verhalten kann zunehmend nicht mehr bewusst gesteuert werden, das Anspruchsniveau verändert sich, die Motivstruktur wird flach und einseitig, was u. a. auch zu starken Veränderungen der sozialen Beziehungen führt. Während kognitive Anforderungen im Prinzip bewältigt werden können, zeigen sich bei Anforderungssteigerung unter anderem unkritische Haltung eigenen Fehlern gegenüber, wenig ausgeprägtes Erfolgs-Misserfolgs-Erleben. Störungen der Sinnbildungsprozesse, dargestellt am Beispiel von Schizophrenen, bestehen vor allem darin, dass Motive ihre Triebkraft und sinnbildende Funktion für die Tätigkeit verlieren und zu nur "gewussten Motiven werden. Bei der Anforderung, aus einer größeren Anzahl von Aufgaben drei auszuwählen, die in relativ kurzer Zeit gelöst werden könnten, wiesen die Kranken kaum Orientierungsprozesse auf und wählten die Aufgaben nicht unter dem Aspekt der Instruktion aus, obwohl diese ihnen bekannt war. Das Wissen "Ich muss in 7 Minuten fertig werden" wirkte nicht sinnbildend und handlungsleitend, die Reduktion der Motive führte zu einer Verarmung der Tätigkeit, die ihrerseits die Entstehung neuer Motive verhinderte. Obwohl die Kranken solche Instruktionen nicht nur reproduzieren, sondern auch begründen und entsprechendes Vorgehen erläutern konnten, waren sie nicht in der Lage, sie in adäquates Handeln umzusetzen. Dabei zeigten sich sowohl paradoxe Stabilisierungen als auch Verengungen bestimmter Sinnbildungen - Handlungen wurden zu unsinnigen Konsequenzen gesteigert oder verloren ihre ursprüngliche subjektive Bedeutsamkeit, Auch pathologische Veränderungen der Tätigkeit von Epileptikern - etwa der Zerfall komplexer Handlungen und das Verharren der Kranken bei einzelnen, unbedeutenden Teiloperationen - werden auf Veränderungen in den Sinnbildungsprozessen im Krankheitsverlauf zurückgeführt. Menschliche Tätigkeit zeichnet sich wesentlich durch bewusste, willentliche Beherrschung und Selbstregulation aus. Geht diese bewusste Kontrolle über das eigene Verhalten - z. B.bei schweren Hirnläsionen, insbesondere im Frontkortex - verloren, zerfällt die Tätigkeit. Am Beispiel verschiedener Krankheitsgeschichten und Untersuchungen werden die Auswirkungen solcher pathologischen Veränderungen analysiert. Unkritische Haltung zum eigenen Verhalten, etwa zu Fehlern beim Aufgabenlösen, sorg- und gedankenloses Handeln mit entsprechenden Folgen, Abhängigkeit von äußeren Eindrücken, Konzentrationsschwäche und Situationsabhängigkeit des HandeIns, aber auch Perseveration bei einmal begonnenen Handlungen - diese und andere Phänomene weisen darauf hin, dass die Tätigkeit U
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für diese Kranken ihren persönlichen Sinn verloren hat, dass Motivation und Selbstregulation schwer beeinträchtigt sind, was bis zum Zerfall der gesamten Tätigkeitsstruktur führen kann. Solche Persönlichkeits- und Tätigkeitsstörungen wirken ihrerseits auf Verlauf und Charakter einzelner psychischer Prozesse, die ja eben nicht als isolierte Funktionen angesehen werden, zurück. Dies ist ein wichtiger Gegenstand des Buches "Persönlichkeit und Pathologie der Tätigkeit" (1971), in dem die Verfasserin über ihre Untersuchungsergebnisse zu Besonderheiten der Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Denkprozesse etwa bei verschiedenen Ausprägungsgraden von Schizophrenie u. a. berichtet. Die Persönlichkeitsproblematik nahm darüber hinaus eine wesentliche Stellung in Zejgarniks theoretischer Arbeit ein. Davon zeugen ihre Bücher über Lewins Persönlichkeitstheorie (1981) und über Persönlichkeitstheorien in der ausländischen Psychologie (1982). In diesem ihrem letzten Buch hat sie sich ausführlich mit den Auffassungen der Psychoanalyse und der Neopsychoanalyse, der humanistischen und der existentialistischen Psychologie auseinandergesetzt. Versuch einer Wertung Obwohl selbst nie auf dem Gebiet der klinischen Psychologie tätig, will ich versuchen, das wissenschaftliche Werk von Bljuma Vol'fovna Zejgarnik zu werten. Sie war eine führende Vertreterin der Pathopsychologie in der UdSSRund hat sich auf diesem Gebiet bleibende Verdienste in theoretischer und empirischer sowie praktischer Hinsicht erworben. Dabei hat sie ihre Arbeit immer in größeren Kontexten gesehen - sowohl was die Psychologie als Ganzes betrifft als auch ihren Bezug zur gesellschaftlichen Praxis, zum Leben der Menschen. Theoretisch vor allem Vygotskij, Leont'ev und Lurija verpflichtet, hat sie nicht nur ihre "Lehrzeit in Berlin nicht verleugnet, sondern ihr Wissen der ganzen, eben auch der westlichen Psychologie genutzt und produktiv gemacht (was zu ihren Lebenszeiten durchaus nicht einfach war!). In umgekehrter Richtung scheint durchaus noch Arbeit erforderlich und nutzbringend zu sein. Zejgarnik hat wesentliche Beiträge zur Entwicklung der Pathopsychologie geleistet, die sie aber immer als Beiträge zur Entwicklung der Psychologie als Ganzes gesehen hat. Pathologische Veränderungen des Psychischen hat sie mit dem normalen Verlauf psychischer Prozesse und Entwicklung in Beziehung gesetzt, aus der Allgemeinen Psychologie hat sie wichtige Anregungen für die Analyse und Interpretall
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tion der Pathologie gewonnen und zugleich die Bedeutung pathopsychologiseher Erkenntnisse für die allgemeine Theoriebildung betont. Das gilt z. B. für die Beziehungen von Biologischem, Sozialem und Psychischem, für die Zusammenhänge zwischen Tätigkeit, Persönlichkeit und psychischen Prozessen, für die Wechselbeziehungen von Kognition und Motivation - ohne platten Analogien oder Entgegensetzungen von Pathologie und Norm das Wort zu reden. In diesem Zusammenhang scheint mir auch ihr Bemühen um ein kausalgenetisches Herangehen an den jeweiligen Untersuchungsgegenstand, die Analyse der Genese und Bedingungen einer psychischen Erkrankung, um die Verbindung von klinischer Beobachtung, Anamnese und experimentell-psychologischen Methoden bedeutsam. Zahlreiche von ihr durchgeführte bzw. betreute Untersuchungen legen davon Zeugnis ab. Schließlich ist ihr Engagement für die praktische Umsetzung bzw. Nutzung der Forschungsergebnisse in solchen Bereichen wie Begutachtung, Therapie, Rehabilitation, Wiedereingliederung in Arbeitsprozesse und Unterstützung dabei, aber auch Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses für Forschung, Lehre und Praxis zu nennen. Es bleibt zu hoffen, dass das Werk Bljuma Vol'fovna Zejgarniks in Zukunft stärker erschlossen und international genutzt wird.
Ausgewählte Bibliographie Zeigamik, B. (1927). Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen. Psychologische Forschung 9,1-85. Zeigamik, B.W. (1961). Denkstörungen bei psychiatrischen Krankheitsbildern. Berlin: Akademie-Verlag (Original 1959, Moskau). Zejgamik, B.V. (1962). Patologija myslenija (Pathologie des Denkens). Moskau: Universitätsverlag. Zejgamik, B. V. (1969). Vvedenie v patopsichologiju (Einführung in die Pathopsychologie). Moskau: Universitätsverlag. Zejgarnik, B. V. (1971). Liönost' i patologija dejatel'nosti (Persönlichkeit und Pathologie der Tätigkeit). Moskau: Universitätsverlag. Zejgamik, B.V. (1976). Patopsichologija (Pathopsychologie). Moskau: Universitätsverlag. Zeigarnik, B. W. (1980). Ergebnisse und Perspektiven der Pathopsychologie. Zeitschrift für Psychologie 188, 365-367. Zejgarnik, B. V. (1981). Teorija limosti Kurta Levina (Kurt Lewins Persönlichkeitstheorie). Moskau: Universitätsverlag. Zejgarnik, B. V. (1982). Teorii limosti v zarubeznoj psichologii (Persönlichkeitstheorien in der ausländischen Psychologie). Moskau: Universitätsverlag.
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Franziska Baumgarten-Tramer: Für die Wissenschaftlichkeit praktischer Psychologie'
Ich war immer im Glauben. durdi meine Hinweise auf bestehende Zustände der Fakultät zu dienen,. statt dessen wurde mir jeder derselben Hinweise sehr verübelt Als ich ver Jahren wieder einmal eine Eingabe an die Fakultät richtete,. eiklärte mir daraufhin eines ihrer Mitglieder, ich möchte mein GeS'Udt zurückziehen. da es ein Misstrauensvotum dem. Ordinarius gegenüber bedeute. Auf meine Entgegnung.. bei 9Old1er Auffassung sei keine Reform,. kein Fortscluitt möglich. wurde mir ein Ultimatum gestellt "Entweder ziehen Sie Ihr Gesuch zuriick.. oder sie werden bei uns nie Professoru. :rm zog mein GeS'Udt nicht zurück. Nach 20 Jahren meiner Ermahnungen in dieser Richtung beginnt sich die psydtologische Gegellschafl: erst damit zu befassen••," (Nadtlas8 IIlaJ·
M'"
Und. in der Tat wurde Franziska Bawngarten weder ordentliche noch außer.ordentliche Professorin - könnte man ergänzen. Das Zitat stammt aus einem Brief, den Baumgarten am 2. Juli :1952 an Hermann Gauss, den damaligen Dekan der Philosophischen Fakultät I der Universität Dem, schrieb. In der strittigen Eingabe ging es um die Erweiterung des Psychologieunterrichts und die Etablierung einer wissenschaftlich fundierten Ausbildung für praktische PsychologInnen an der Universität Bern. Dieses Anliegen erforderte über viele Jahre einen Einsatz in zwei Richtungen: Einerseits kämpfte die deutschsprachige Psychologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielerorts um ihre Eigenständigkeit als wissenschaftliche Disziplin neben der Philosophie (vgl. z. B. Lück, 1991; Rüegsegger, 1986). Andererseits gab es innerhalb der Psychotechnik, der Vorläuferin S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_17, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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der heutigen Arbeitspsychologie, heftige Kontroversen um methodische Mindeststandards und die Notwendigkeit einer universitären Ausbildung für angewandte Psychologie (vgl. z. B.[aeger & Staeuble, 1983; Rüegsegger, 1986). So versuchte also Baumgarten die einen davon zu überzeugen, dass man zur verantwortungsvollen Anwendung von Berufseignungstests ein psychologisches Hochschulstudium brauche, die anderen davon, dass angewandte Psychologie eine Wissenschaft mit eigenständiger Daseinsberechtigung an der Universität sei. Innerhalb Europas befand sich Baumgarten mit diesen Ansichten durchaus in prominenter Gesellschaft; in der Schweiz stieß sie dagegen an vielen Stellen auf Widerstand - sowohl von universitärer Seite als auch von Seiten privatwirtschaftlicher psychotechnischer Institute. Nun geht es im vorliegenden Artikel nicht um die Geschichte der angewandten Psychologie, sondern um eine Wissenschaftlerin, die heute den meisten PsychologInnen unbekannt ist. Dies, obwohl sie über 40 Monografien, weit über 100 Artikel in Fachzeitschriften und Tagungsbänden veröffentlichte und viele ihrer Werke mehrere Auflagen erlebten oder in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Wie lässt sich diese beachtliche Publikationsliste vereinbaren mit der fehlenden Anerkennung an der Universität? Warum war ihr unermüdliches Eintreten für eine praktische Psychologie auf wissenschaftlicher Basis kein Erfolgsfaktor für ihre Karriere? Biographie
Franziska Baumgarten wird am 26.11.1883 als Tochter eines jüdischen Textilfabrikanten und dessen Frau in Lodz/Polen geboren. Die Informationen über den familiären Hintergrund sind relativ spärlich. Die siebenköpfige Familie scheint recht wohlhabend gewesen zu sein und Baumgarten selbst rechnet sie zur "Intelligenziau • Neben ihrer Muttersprache polnisch sprechen alle Familienmitglieder auch deutsch und russisch. Nach den ersten Schuljahren in einer Privatschule wechselt Franziska Baumgarten zu einem staatlichen (russischen) Mädchengymnasium. Dort kommt sie mit verschiedenen sozialen Schichten und Volksgruppen (orthodoxe Russen, katholische Polen, evangelische Deutsche, Juden) in Kontakt. Nach mehreren gescheiterten Aufständen haben sich sowohl nationalistische wie sozialistische Untergrundorganisationen in Polen entwickelt. Verbotene politischrevolutionäre Literatur gelangt auch in die Hände Baumgartens und ihre Begeisterung ist unbeschreiblich:
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"Ich lebte nur mehr mit den umstürzlerischen Ideen der Weltverbesserungs-Programme. Ganz besonders nahmen mich alle Aufrufe, Aufsätze und Artikel gefangen, die mit scharfer Kritik über die Gesellschaft und die Literatur herfielen, und ich beschloss nun, Journalistin zu werden, um die politischen Zustände und die sozialen Einrichtungen zu verbessern" (Baumgarten, 1975, dt. Manuskript, 1957).
Sozialgeschichtlich interessant ist die Verquickung von Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, Diskriminierung als jüdischer Minderheit, russischer Unterdrückung, polnischem Nationalismus und sozialistischen Reformideen. Baumgarten ist während ihrer Kindheit und Jugend Teil dieser äußerst widersprüchlichen gesellschaftspolitischen Tendenzen. Dank des familiären Umfeldes kann sie ihren Bildungshunger stillen und einen kritischen Geist entwickeln. Ihre Sensibilität für die Diskriminierung von Minderheiten und ihr Freiheitsdrang werden wesentlich von diesen Erfahrungen geprägt. 1905 immatrikuliert sie sich als Gasthörerin an der Universität Krakau und belegt Vorlesungen in Literatur, Philosophie und Psychologie. Nach einem Jahr wechselt Baumgarten für zwei Semester nach Paris an die Sorbonne. Nach einem weiteren Semester in Krakau entschließt sie sich, ihr Studium mit einer Promotion abzuschließen. Da dies für sie als Frau dort nicht möglich ist, geht sie 1908 nach Zürich. Nach vier Semestern promoviert sie bei Gustav Störring (1860-1946) mit "magna cum Iaude" in Philosophie (1910/11). Das Sommersemester 1910 verbringt Baumgarten als postgraduierte Gasthörerin in Bonn und besucht Oswald Külpes experimentalpsychologische Veranstaltungen, in denen sie lernt, "was wissenschaftliche Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit ist" (Nachlass I/a2 ) . So wird die Experimentalpsychologie zum festen Bestandteil ihres methodischen Repertoires. Zum Wintersemester 1910/11 geht sie dann nach Berlin und findet durch die Begegnung mit Hugo Münsterberg endgültig ihren Weg in die Arbeitspsychologie. Nach einigen Jahren in ihrer Heimatstadt Lodz gelangt sie 1914 im Zusammenhang mit dem Beginn des 1. Weltkriegs erneut nach Berlin. "Die Zeit des 1. Weltkrieges war eine Fermentzeit für die angewandte Psychologie. In jedem kriegsführenden Lande gab es das gleiche Problem: wie auf welche Weise ... erringt man den Sieg über die Feindesmacht.... In Berlin schwirrte es von solchen Problemen und Versuchen und so sah ich mich recht bald nicht nur mit Lipmann, sondern mit zwei Hauptbegründern der Psychotechnik in Deutschland Moede &
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Edelgard Daub Piorkowski in eifriger Zusammenarbeit.... Was ich unterstreichen [will, ist] dass man mir von allen Seiten Arbeit anbot, dass ich in einen Strom eingegliedert war. Komm und leiste! Alle Türen standen offen" (Nachlass I/a).
Es ist Baumgartens innovativste und erfolgreichste wissenschaftliche Phase. Sie kann sich in der männlich dominierten Wissenschaftlergemeinschaft etablieren und gleichzeitig eine autonome Position darin beanspruchen. Ihre Veröffentlichungen erscheinen überwiegend in hoch angesehenen Fachzeitschriften und sie gehört seit der Gründung zum Vorstand der Internationalen psychotechnischen Vereinigung (heute: International Association of Applied Psychology, IAAP). Außerdem hält sie Patente auf drei psychotechnische Apparate. Die angewandte Psychologie steckt noch in den Kinderschuhen. Einerseits ist die Methodik noch nicht ausgereift, andererseits ist das inhaltliche Spektrum, das abgedeckt werden soll, immens. Genau diese Konstellation kommt Baumgartens persönlicher Art sehr entgegen. Sie kann ihre zahlreichen Ideen zur praktischen Psychologie einbringen, auf die Wichtigkeit einer exakten Methodik dringen und gleichzeitig die theoretischen und praktischen Defizite der neuen Wissenschaft aufdecken. Baumgarten ist voll in die Aufbauphase und Blütezeit der Psychotechnik eingebunden, ihre beruflichen Kontakte sind hervorragend. Dennoch verzichtet sie trotz attraktiver Angebote bewusst auf eine dauerhafte Position, da sie eine Abneigung gegen jede Kontrolle und jede vorgeschriebene Tätigkeit habe. Mit vielen Personen, die Baumgarten in jenen Jahren kennen gelernt hat, wird sie noch lange, zum Teil freundschaftlichen Kontakt pflegen (z.B.Karl und Charlotte Bühler, William und Clara Stern, Walter Blumenfeld, [ean Maurice Lahy, Edouard Claparede). 1924verlässt Franziska Baumgarten das weltoffene Berlin der Weimarer Republik und zieht in die eher bodenständige Schweiz nach Solothurn, um - inzwischen 40 Jahre alt - den Kinderpsychiater Moritz Tramer zu heiraten. Die beiden kennen sich vermutlich seit der Studienzeit Baumgartens in Zürich. Moritz Tramer gilt als einer der Pioniere der europäischen Kinderpsychiatrie. Er wurde 1882 in Zawada im damals österreichischen Teil Schlesiens (heute Tschechische Republik) geboren und stammte aus einer jüdischen Kaufmanns- und Landwirtsfamilie. 1901 emigrierte er in die Schweiz und studierte Mathematik und Medizin; 1917 habilitierte er sich für Psychiatrie. Von 1924bis 1945 war Tramer Direktor kantonaler Heil- und Pflegeanstalten. Die Universität Bern verlieh ihm 1953 nach langem Zögern und verschie-
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denen Vorstößen von Freunden den Titel eines Honorarprofessors. Er starb 1963 im Alter von 81 Jahren.
Die Ehe scheint weniger durch Leidenschaft als durch gegenseitige Hochachtung geprägt. Die Eheleute respektieren und unterstützen sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit und publizieren ab und an gemeinsam. Für Baumgarten bietet diese Ehe neben materieller auch emotionale Sicherheit - ohne ihre Unabhängigkeit in Frage zu stellen. Der Umzug in die Schweiz stellt für Baumgarten einen gravierenden Einschnitt dar, insbesondere die Trennung von der Wissenschaftlergemeinschaft, in die sie in Berlin integriert war. In der Schweiz hat sie weder eine Stelle, noch steht ihr ein wissenschaftlicher Apparat zur Verfügung. Unerwartet wird sie von C. Sganzini, Ordinarius für Philosophie an der Universität Bern, 1924 ermuntert, sich bei ihm zu habilitieren. Allerdings wird ihr Gesuch dann von der Fakultät abgelehnt mit der Begründung, dass für Psychotechnik und Arbeitswissenschaft als Lehrfach kein Bedürfnis vorliege. Baumgarten wird also Opfer der mangelnden Anerkennung der angewandten Psychologie als akademisches Fach. In den nächsten vier Jahren beendet Baumgarten einige Forschungsarbeiten, publiziert vier weitere Bücher und rund 20 FachartikeL Das internationale Kontaktnetz, das sie in Berlin aufgebaut hat, bewährt sich offenbar und ist noch tragfähig. Auch die Internationale psychotechnische Vereinigung (mit ihrem Initiator Claparede in Genf) trägt dazu bei, dass Baumgarten trotz der für sie ungünstigen Umstände nicht den Anschluss an die Wissenschaftlergemeinschaft verliert. In der Schweiz fällt Baumgarten vor allem durch ihren Einsatz für ein standespolitisches Anliegen auf: Sie setzt sich für eine wissenschaftlich fundierte, auf einer umfassenden akademischen Ausbildung beruhenden Anwendung der Psychotechnik ein. Sie trägt damit eine Diskussion, die in Deutschland schon seit einigen Jahren geführt wird, in die Schweizer Öffentlichkeit und handelt sich dabei auf Grund ihrer öffentlich geäußerten Kritik unnötig tiefe Feindschaften ein. Baumgarten steht mit ihrer Meinung keinesfalls alleine da, aber sie benimmt sich sehr "unschweizerischu und undiplomatisch, verletzt die ungeschriebenen Spielregeln. Da die öffentlichen Berufsberatungsstellen des Kantons Bern, die zu dieser Zeit wesentliche Abnehmer psychotechnischer Eignungsuntersuchungen sind, die enge Anbindung der Psychotechnik an die Wissenschaft favorisieren, beantragt Sganzini 1928 schließlich den Ausbau des psychologischen Instituts hin zur experimentellen und angewandten Psychologie und schlägt Baumgarten als Leiterin vor. Auf seine Aufforderung hin stellt sie daher erneut ein Habilitationsgesuch. Als Habilitationsschrift reicht sie "Die Berufs-
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eignungsprüfungen. Theorie und Praxis", München 1928, ein. Schließlich erhält sie 1929 die Venia für das Lehrgebiet ",Psychotechnik (Psychologie der Berufseignung und der Arbeitsverfahren)", Damit ist Baumgarten die zweite Frau, die sich an der phiL-hist. Fakultät der Universität Bern habilitiert. Im Wintersemester 1929/30 hält sie ihre erste Vorlesung ("Einführung in die Psychotechnik") und bis 1954 bietet sie kontinuierlich zwei bis drei Veranstaltungen pro Semester an. Parallel zur Habilitation Baumgartens laufen die Vorbereitungen für ein psychotechnisches Institut an der Universität zunächst weiter. Letztendlich wird es jedoch nie zur Gründung kommen. Fehlende Durchsetzungsfähigkeit Sganzinis gegenüber der Fakultät, Ungeduld und Kompromisslosigkeit seitens Baumgartens, der Einfluss des privatwirtschaftlichen psychotechnischen Instituts Zürich, viele Faktoren mögen daran mitgewirkt haben. Baumgarten bringt Unruhe an die Berner Universität: sie vertritt ein neues Fach, möchte eine Reform der Psychologieausbildung, ist eine (verheiratete!) Frau, strebt nach Unabhängigkeit. Gerade die Eigenschaften, die Baumgarten dazu prädestinieren würden, einen neuen Wissenschaftszweig an der Universität zu etablieren, verhindern, dass sie überhaupt einen Platz innerhalb der Universitätshierarchie findet. International genießt sie dagegen hohes Ansehen. Sie gilt als Kennerin der internationalen Entwicklungen und hat ein sicheres Gespür für die aktuellsten Forschungsfragen und die Schwachstellen der Psychotechnik. Ihre wissenschaftliche Entwicklung stagniert allerdings wegen der unzureichenden experimentellen und psychotechnischen Ausstattung an der Universität Bern. Trotz des Versuchs der Nichtbeachtung seitens der Fakultät hat Baumgarten außerhalb der Universität Fürsprecher, die sich wiederholt dafür einsetzen, dass ihr zumindest der Ehrentitel einer Honorarprofessorin verliehen wird, den sie schließlich 1954 erhält. Der Schwerpunkt dieses Artikels liegt auf der akademischen Laufbahn Baumgartens. Dabei wurde die einschneidende Bedeutung von Nationalsozialismus und Judenverfolgung außer Acht gelassen. Die Zeit ist geprägt vom persönlichen Einsatz Baumgartens zur Rettung von Verwandten (46 Verwandte werden in Gaskammern sterben), jüdischen Bekannten und KollegInnen. Daneben veröffentlicht sie - teilweise unter Pseudonym - Artikel in der Schweizer Presse, z. B. zum Thema Demokratie und Charakter. 1948 erscheint der sehr mutige Artikel Die deutschen Psychologen und die Zeitereignisse von ihr. Eine ausführliche Würdigung findet sich bei Geuter (1980).1960 ist die Initiative Baumgartens ausschlaggebend dafür, dass sich Friedrich San-
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der aufgrund internationaler Proteste aus dem Organisationskomitee des 16. Internationalen Psychologen-Kongresses zurückzieht und als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychologie zurücktritt. Auch die 1961 veröffentlichten Prinzipiellen Regeln eines internationalen ethischen Kodex für Psychologen entspringen den Erfahrungen des Nationalsozialismus. Baumgartens Schaffensdrang lässt bis zu ihrem Tod mit 86 Jahren (1970) nicht nach. Aber sie ist einsam und schätzt den Wert ihres Wirkens für die Psychologie als Wissenschaft selbstkritisch als sehr gering ein. Rezension: Die Berufseignungsprüfungen. Theorie und Praxis. Baumgartens 700 Seiten umfassende Monografie kann als erste systematische, deutschsprachige Darstellung des Gesamtgebietes der Berufseignungsprüfungen im internationalen Rahmen bezeichnet werden. Die zweite Auflage erscheint 1943 (Bern: Francke) und das Buch wird ins Französische, Polnische, Russische und Spanische übersetzt. Im Theorieteil, der etwa ein Drittel des Buches beansprucht, werden relevante Fachtermini definiert und die Berufseignungsprüfungen in das Gesamtgebiet der Wirtschaftspsychologie eingeordnet. Es folgt eine Erörterung wichtiger psychologischer Grundbegriffe wie z. B.differentielle Psychologie, psychophysische Eigenschaften und Fähigkeiten, Charaktereigenschaften, Berufsneigungen. Anschließend werden die Methoden der Berufs- bzw. Arbeitsplatzanalyse beschrieben und kritisch bewertet. Im letzten Kapitel des allgemeinen Teils werden die Verfahren zur Personalauslese unter methodischem Aspekt beschrieben. Den größten Raum nimmt dabei die ausführliche Erklärung der Testmethode als wissenschaftlichem Verfahren ein. Theoretischer Hintergrund, Testarten, symptomatischer und diagnostischer Wert eines Tests (Validität und Reliabilität in heutigem Sprachgebrauch), Differenzierungsvermögen, Bewertungsmöglichkeiten, statistische Begriffe, graphische Darstellung, Fehlerquellen u. a. werden behandelt. Baumgartens Ausführungen geben die noch heute gültigen Grundlagen der psychologischen Personalauswahl wieder. Der umfangreiche, zweite spezielle Teil der Berufseignungsprüfungen bringt eine übersichtliche und anschauliche Darstellung der international entwickelten psychotechnischen Eignungsprüfungen in verschiedenen Berufsfeldern. Aufnahme in das Buch finden die Berufseignungsprüfungen, die ein neues Problem aufgreifen, neue methodische Ansätze einführen
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oder in anderer Hinsicht eine wesentliche Entwicklung darstellen; die aktuelle Verbreitung einer Prüfung ist kein Kriterium. Besondere Beachtung verdienen die Schlussbetrachtungen. Baumgarten stellt fest: "Die Psychotechnik befindet sich" trotz der vielseitigen Anwendung "noch in einem Stadium des Wegesuchens. Über keine einzige psychotechnische Frage besitzen wir feststehende, nicht umzustoßende Erkenntnis" (5. 639). Dies ist nach ihrer Meinung u. a. eine Folge der Übernahme der Methoden aus der experimentellen Psychologie, deren Schwerpunkt auf der Sinnesphysiologie lag; das habe zur Vernachlässigung der anderen psychischen Funktionen geführt. Es werde versäumt, den ganzen Menschen mit all seinen Gefühlen, Tendenzen und Neigungen zu erfassen. Faktoren wie z. B. Übung, Anpassungsfähigkeit, Ermüdbarkeit, Wirkungen des Alters, des Temperaments, der Umwelt seien kaum wissenschaftlich untersucht. Das Argument, wegen des hohen Grades der Arbeitsteilung in der Industrie müssten nur einzelne, besonders geforderte Eigenschaften untersucht werden, lässt sie nicht gelten, da "auch der arbeitende Mensch mehr ist als die Summe seiner einzelnen Eigenschaften" (5. 642) und eine "jahrelang ausgeübte Tätigkeit in irgendeiner Weise das .Ich' hineinzieht" (5. 643). Anschließend geht Baumgarten ausführlich auf die soziale Seite der Berufseignungsprüfungen ein. Die verbreitete Begeisterung für die Prüfungen rühre im Wesentlichen aus der Hoffnung auf den in den ersten Jahren propagierten Ausgleich der sozialen Ungerechtigkeit. Einstellungen sollten allein den Fähigkeiten entsprechend erfolgen, Schichtzugehörigkeit oder Protektion z. B. keine Rolle mehr spielen. Nach fast 15jährigem Bestehen der Prüfungen müsse man feststellen, "daß sie diese Mission nicht erfüllten, daß sie einen Betriebswert, aber keinen Kulturwert darstellen" (5. 650). Misstrauen und Unwillen der Arbeiter seien dadurch geweckt worden, dass sich einerseits die höheren Posten keiner Eignungsprüfung unterziehen müssten und andererseits an jeden Anwärter Maximalforderungen gestellt würden. Für den Unternehmer sei es zwar vordergründig wünschenswert, nur die Allerbesten einzustellen, aber sozial sei dies nicht vertretbar. Vielmehr müssten die optimal Geeigneten gefunden werden; das seien diejenigen, die für die angestrebte Arbeit gerade noch gut genug seien. Das Prinzip der Bestauslese führe zur Unterforderung der Betroffenen, Diskriminierung der weniger Guten und stelle volkswirtschaftlich eine Vergeudung von Arbeitskraft dar. Die Prognose für die Berufseignungsprüfungen hängt nach Meinung Baumgartens eng mit der technischen Entwicklung zusammen. Durch die Automatisierung verschwänden zum Teil Tätigkeiten, für die mit viel Auf-
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wand Eignungsprüfungen aufgestellt worden seien. Andererseits erhöhe sich die Chance, Prüfungen für die sog. höheren Berufe zu entwickeln, da sie nicht einem so großen Wechsel unterlägen. Die Prüfungen seien zwar schwieriger, weil in diesen Tätigkeiten der "ganze Mensch" mehr zur Geltung komme, aber die Wirkungen einer solchen Auslese seien vom sozialen Standpunkt aus wertvoller und einflussreicher. Zum Abschluss ihres Buches stellt Baumgarten fest, die Berufseignungsprüfungen könnten sich zumindest eines unvergänglichen Verdienstes rühmen, nämlich "daß sie im Zeitalter der Maschinen auf den Faktor ,Mensch' in dem Wirtschaftsleben die Aufmerksamkeit gelenkt haben" (S. 659).
Bewertung der "Berufseignungsprüfungen" in ihrer Zeit und aus heutiger Sicht Eine Bewertung der Berufseignungsprüfungen zum Zeitpunkt des Erscheinens ergibt sich zum einen aus der Anerkennung als Habilitationsschrift, zum anderen aus Rezensionen. Stellvertretend für die Mehrzahl der positiven Wertungen werden hier wesentliche Passagen aus der Rezension von E. Feuchtwanger (1929) zitiert: ,,[Die] systematische Verarbeitung des Materials von Methoden für die Berufseignung ... die allgemeinen theoretischen Grundlegungen psychologischer und soziologischer Art in ihren Formen, Grenzen und Schwierigkeiten ... [sind] mit dieser kritischen Schärfe unter Heranziehung der früheren und der zeitgenössischen Literatur bisher noch nicht geschehen.... Von Wichtigkeit und in vielen Punkten neu ist der erste, allgemeine Teil. Hier werden die Fundamente der Berufseignungsprüfung dargestellt.... Sehr klar und mit systematischer Strenge werden die verschiedenen methodischen Angriffsweisen für die Berufserforschung ... dargestellt.... Die Beherrschung des Schrifttums, die große Erfahrung, die scharfe kritische Durcharbeitung und die klare Darlegung macht gerade diese Abschnitte wertvoll,"
Allgemein werden vor allem zwei Punkte hervorgehoben: erste systematische, sorgfältig recherchierte, internationale Übersicht über die Berufseignungsprüfungen und fundierte, kritische Wertung des Forschungs- und Entwicklungsstandes. Negative Voten erhält das Buch in erster Linie von denjenigen, die ihre eigenen Arbeiten nicht genügend erwähnt oder zu
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kritisch beurteilt finden. Das sind genau diejenigen, die nach Baumgartens Auffassung wissenschaftlichen Gütekriterien nicht standhalten. Der zweite Teil des Buches mit der Beschreibung der damals aktuellen Berufseignungsprüfungen hat heute vor allem historischen Wert. Interessierte können z. B. zurückverfolgen, wo die Ursprünge mancher heute auf Computer verfügbarer Tests liegen. Der Hauptwert des Buches liegt aus heutiger Sicht in den Schlussbetrachtungen, die bemerkenswerte, teils unbequeme und für die damalige Zeit mutige Überlegungen enthalten. "SozialistischeUGedanken und ein Eintreten für die Arbeiterschaft dürften in den bürgerlichen Kreisen der Schweiz auf heftige Ablehnung gestoßen sein. Baumgarten selbst hielt diese - in diesem Punkt naiv-idealistisch - eher für objektive, ihrem Gerechtigkeitsempfinden entsprechende Gedankengänge und Handlungen. Rüegsegger (1986, S. 177) hebt hervor, dass Baumgarten als eine der ganz wenigen Personen endlich die Frage stellte, wessen Interessen die Psychotechnik vertrete. Sie analysierte treffend die Zusammenhänge zwischen dem Stand der Psychotechnik auf der einen und Gesellschaftspolitik und Wirtschaft auf der anderen Seite. Auch heute würde der Arbeits- und Wirtschaftspsychologie eine verstärkte Auseinandersetzung mit dieser Problematik gut zu Gesichte stehen. Zwischen der Bedeutung des Faktors I1HumankapitalU für die moderne Wirtschaft und der aktuellen Arbeitsmarktsituation entstehen zwangsläufig Diskrepanzen, die benannt und diskursiv behandelt werden sollten. Im Prinzip war die Prognose Baumgartens für die Berufseignungsprüfungen zutreffend. Fortschreitende Automatisierung und Technisierung haben zu erheblichen Veränderungen in vielen Berufs-/Tätigkeitsbildern geführt. Die Management-Diagnostik mit Potenzialanalysen, Personalentwicklungsplanung und Assessment hat heute einen festen Platz in der Führungskräfteauswahl und -schulung. Die Hoffnung, Berufseignungsuntersuchungen könnten wesentlich zum Ausgleich sozialer Ungerechtigkeit beitragen, hat sich allerdings kaum erfüllt. Auch gegenwärtig dominiert eine relativ große Abhängigkeit der ArbeitspsychologInnen von betrieblichen Normensystemen und personalpolitischen Strategien der Unternehmen. Mit bemerkenswerter Treffsicherheit benannte Baumgarten weitere grundsätzliche fachpsychologische Probleme, die heute noch nicht gelöst sind. So wird beispielsweise in der Persönlichkeitspsychologie der Einfluss der Arbeitstätigkeit auf die Person nur sehr zögerlich thematisiert. Auch die
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Frage des Zusammenspiels zwischen speziellen und allgemeinen Faktoren ist noch nicht endgültig entschieden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Baumgartens Bedeutung für die heutige Psychologie nicht in einer Weiterentwicklung theoretischer Aspekte liegt, sondern in ihrer Fähigkeit, die kritischen Punkte zu benennen, die Zusammenführung von akademischer und praktischer Psychologie zu fordern und mit neuen Ideen zu befruchten. Baumgarten war eine Grenzgängerin zwischen der Welt der Wissenschaft und der Welt der Praxis.
Ausgewählte Bibliographie Franziska Baumgartens wissenschaftliches und publizistisches Wirken war ausgesprochen reichhaltig. Sie beschäftigte sich nicht nur mit Themen aus den Gebieten der Arbeits- und Betriebspsychologie sowie der Eignungsdiagnostik, sondern auch mit charakterologischen Fragen, psychologischer Beratung, politischer Psychologie und der Erziehung zu ethischmoralischem Verhalten. Besonders die beiden letzten Bereiche verdienten eine ausführlichere Würdigung. Daub (1996) enthält eine umfangreiche Bibliografie mit rund 450 Titeln. Baumgarten, F. (1928). Die Berufseignungsprüfungen. Theorie und Praxis. München: Oldenbourg. Baumgarten, F. (1931). Soziale Seiten der Psychotechnik. Jena: Fischer. Baumgarten, F. (1933). Die Charaktereigenschaften (Beiträge zur Charakter- und Persönlichkeitsforschung, Heft 1, hrsg. von F. Baumgarten). Bem: Francke. Baumgarten, F. (1935). Die Testmethode. In E. Abderhalden (Hrsg.), Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden (Abt. VI Methoden der experimentellen Psychologie, Teil C II, 2 Methoden der angewandten Psychologie, Bd. 3, S. 1°57-11°3). Berlin: Urban & Schwarzenberg. Baumgarten, F. & Tramer, M. (1941). Testmaterial zur Prüfung von Berufseignung: Charakter, Intelligenz, Handfertigkeit. Zürich: Rascher. Baumgarten, F. (1944). Demokratie und Charakter (Beiträge zur Charakter- und Persönlichkeitsforschung, Heft 4, hrsg. von F. Baumgarten). Zürich: Rascher. Baumgarten, F. (1948). German psychologists and recent events. Journal of Abnormal and Social Psychology, 43, 452-465. Baumgarten, F. (1954a). Die Regulierungskräfte im Seelenleben. München: Lehnen (DalpTaschenbücher). Baumgarten-Tramer, F. (1954b). Allgemeine Einführung in die evokativen Tests. In E. Stern (Hrsg.), Die Tests in der klinischen Psychologie (Handbuch der klinischen Psychologie, Bd. 1,1. Halbbd., S. 396-399)' Zürich: Rascher. Baumgarten-Tramer, F. (1954c). Uber den Psychologie-Unterricht an den Schweizer Hochschulen. Schweizerische Hoch.schulzeitung, 27, 27-29. Baumgarten-Tramer, F. (1955).Die Berufsberatung alsVorläuferin der Persönlichkeitsforschung. In E. Stern (Hrsg.), Die Tests in der klinischen Psychologie (Handbuch der klinischen Psychologie, Bd. 1,2. Halbbd., S. 757-804). Zürich: Rascher. Baumgarten, F. (1961). Prinzipielle Regeln eines internationalen ethischen Kodex für Psychologen. Schweizer Erziehungs-Rundschau, 33, 245-248.
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Baumgarten, F. (1975).Contributions to the history of psychology, XXllI.11. Autobiographical Notes: Prof. Dr. Franziska Baumgarten. Perceptual and Motor Skills, 41, 487-490. Posthum. Deutsches Manuskript 1957.
Literatur Daub, E. (1996). Franziska Baumgarten: Eine Frau zwischen akademischer und praktischer Psychologie. (Beiträge zur Geschichte der Psychologie, Bd.12, hrsg. von H. E. Lück). Frankfurt a. M.: Lang. Feuchtwanger, E. (1929). Rezension "Die Berufseignungsprüfungen. Theorie und Praxis". Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform, 20, 563-564. Geuter, U. (1980). Institutionelle und professionelle Schranken der Nachkriegsauseinandersetzungen über die Psychologie im Nationalsozialismus. Psychologie und Gesellschaftskritik, 4, 5-39· Jaeger, S. & Staeuble, I. (1983). Die Psychotechnik und ihre gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen. In F. Stoll (Hrsg.), Arbeit und Beruf, Bd. 1 (S. 49-91). Weinheim: Beltz. Lück, H. E. (1991). Geschichte der Psychologie: Strömungen, Schulen, Entwicklungen. Stuttgart: Kohlhammer. Nachlass Franziska Baumgarten-Tramer: Schweizerisches Literaturarchiv Bern. Rüegsegger, R. (1986). Die Geschichte der Angewandten Psychologie 1900-1940.Ein internationaler Vergleich am Beispiel der Entwicklung in Zürich. Bem: Huber.
Anmerkung: Dieser Artikel beruht auf Daub (1996). Weitere Details zur Biografie und zur Quellenlage können dort nachgesehen werden.
He/ga Sprung
Else Frenkel-Brunswik: Wanderin zwischen der Psychologie, der Psychoanalyse und dem Logischen Empirismus
"EIBe Frenkel-Brunswik was a person intens:ively loved by thcse who knew her" (Gardner Mw'phy).
Einleitung" Else Frenkel-Brunewik gehört zur ersten Generation von Prauen, die im deutschsprachigen Raum im 20. Jahrhundert eine akademische Karriere beginnen konnten, da ihnen der Zugang zu den Universitäten gesetzlich eröffnet: worden war. Nach ihrer Emigration im Jahre 1938 in die USA, konnte sie diese erfolgreich fortsetzen. In Wien fand sie im psychologischen Institut die produktiven Arbeilsgruppen von Karl BühIer (1879-196) und = 1 _ Bühl", (1B93-1974) vor und lernte dort auch ihren Partner Egon Brunswik (19Or1955) kennen, der ihre weitere Karriere unterstützte. Insofern erleichterte ihr vor allem das "Teammodell" und das ,,Mitarbeiterinnenmodell" den Einstieg in die wissenschaftliche Welt (Sprung und Sprung, 1995). In BerHn gab es in dieser Zeit parallele Entwicklungen in der Einbeziehung von Frauen in die akademische Psychologie. Dies geschah vor allem im AIbeitskreis um Kurt Lewin (t.ß90-1947) an der Berliner Universität, der viele Schülerinn.en umfasste (Sprung, 1<J92).
S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_18, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Leben, Werk und Wirken Else Frenkel wurde am 18. August 1908 als zweites von drei Kindern (Mädchen) in einer jüdischen Familie in Lemberg (heute: Lwow) in Galizien (heute: Ukraine) geboren. Lemberg - das "kleine Wien", wie es in der Spätzeit der Habsburger Monarchie genannt wurde - war eine multikulturelle Stadt mit einer starken jüdischen Gemeinde und das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Galiziens, des nordöstlichen Kronlandes der Donaumonarchie. Ihr Vater war der Bankangestellte und spätere Bankier Abraham Frenkel. Er war am 3. September 1879 als Sohn eines Warenhausbesitzers in Lemberg geboren worden. Ihre Mutter Helene, geborene Gelernter, kam aus Brzezany in Mähren, wo sie am 24. Mai 1879 geboren worden war. Die zunehmenden Pogrome gegenüber den Juden - vor allem im benachbarten Russland - veranlassten die Familie noch vor Beginn des I. Weltkrieges nach Vöslau bei Wien umzuziehen. Dort besuchte Else Frenkel von 1914 bis 1918 die Volksschule. Nach dem I. Weltkrieg - an dem der Vater als k. u. k. Leutnant teilgenommen hatte - zog die Familie nach Wien. In Wien besuchte Else Frenkel von 1918 bis 1926 das Schwarzwaldsche Realgymnasium, eine "Reformschule/~ im 1. Wiener Bezirk, wo sie im Juni 1926 die Matura ablegte. Im Herbst 1926 begann sie mit dem Studium der Physik und Mathematik, wechselte aber ein Jahr später zur Psychologie und Philosophie. Zu den Schwerpunkten ihres Interesses in der Psychologie gehörten die Entwicklungspsychologie und die Lebenslaufforschung, wie sie von Charlotte Bühler vertreten wurde. Philosophie hörte sie bei den Philosophen des Wiener Kreises um Moritz Schlick (1882-1936). Bei Schlick hörte sie "Logik" und Erkenntnistheorie" sowie bei Rudolf Carnap (1891-197°) "Theoretische Philosophie Darüber hinaus hörte sie Vorlesungen über Anthropologie, so z. B. über "Die Rassen und Völker Europas" bei [osef Weninger, über "Systematische Anthropologie" sowie über "Wirtschaft der Naturvölker" bei Wilhelm Koppers und über "Philosophische Anthropologie" bei Rudolf Allers. Als Studentin galt sie als eine der besten und engagiertesten. Zur lebensbestimmenden Bekanntschaft in dieser Zeit gehörten die Begegnungen mit Egon Brunswik , der zunächst Karl Bühlers wissenschaftliche Hilfskraft und ab 1929 sein Assistent war. Zu den Pflichten Brunswiks, der als steif, penibel und korrekt geschildert wird, gehörte es, Karl Bühler in seinen Vorlesungen zu assistieren. Egon Brunswik entstammte dem niederen österreichisch-ungarischen Adel und wurde am 18. März 1903 in Budapest geboren. Er machte 1921 an der elitären Theresianischen Aka11.
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demie in Wien seine Matura. In Wien studierte er anschließend zunächst an der Technischen Hochschule, wechselte aber 1923 an die Universität, an der er Mathematik, Physik, Pädagogik, Philosophie und Psychologie studierte. 1927 promovierte er mit einer psychologischen Arbeit. 1934 habilitierte er sich bei Karl Bühler. Seit 1937 wirkte er als Mitarbeiter von Edward C. Tolman (1886-1959) an der Universität Berkeley (USA), an der er 1947 zum Professor ernannt wurde. Er arbeitete vor allem auf den Gebieten der Wahrnehmung, des Gedächtnisses und des Denkens. In den USA versuchte er den Behaviorismus weiterzuentwickeln, indem er ihn mit Vorstellungen über die Zielstrebigkeit des Lernens und Handeins verband ("Purpositivismus Während eines Aufenthalts Egon Brunswiks als Gastdozent in Ankara (Türkei) vertrat Else Frenkel ihn auf Vorschlag Karl Bühlers als wissenschaftliche Hilfskraft vom 1. April 1931 bis Ende 1932. Auch während der Beurlaubung Brunswiks zu einem Studienaufenthalt vom Oktober 1935 bis September 1936 im Psychologischen Laboratorium der Universität Berkeley (USA) bei Edward C. Tolman vertrat sie ihn in Wien in dieser Funktion. Eine anschauliche Charakterisierung der sozialen und geistigen Situation im Psychologischen Institut in Wien gibt Paier (1996). Danach gehörte Else Frenkel als eine der jüngsten zu dem Kreis um Karl und Charlotte Bühler, die bei den "Mittwochskolloquien wie Egon Brunswik den Bühlers am nächsten sitzen durften. Teilnehmer an diesen Kolloquien waren neben den engsten Mitarbeitern, Doktoranden, Studenten höherer Semester und ausländischen Studenten auch Wissenschaftler anderer Disziplinen, so vor allem Mediziner. Diesen Kolloquien folgten häufig gemeinsame Abendessen in einem Restaurant und teilweise auch noch der Besuch von Tanzveranstaltungen. Seit dieser Zeit pflegte Else Frenkel offenbar auch engere Kontakte zu Egon Brunswik. Mit 22 Jahren, im Jahre 1930, promoviert Else Frenkel bei Karl Bühler mit einer Arbeit über die Assoziationspsychologie. In der daraus hervorgehenden Publikation bedankt sie sich im Jahre 1931 bei ihrem Betreuer mit den Worten: "Meine Arbeiten sind als ein Versuch einer Ausführung seiner Gedankengänge anzusehen. Außer der Problemstellung zu dieser Arbeit verdanke ich Herrn Prof. Bühler zahlreiche Anregungen, ständige Interessenahme und persönliche Ermutigung" (Frenkel, 1931, S. 195-196). Den Hintergrund dieser Thematik bildete die Tatsache, dass Karl Bühler in seinem Werk über die "Krise der Psychologie" (Bühler, 1927) eine grundsätzliche Stellungnahme zu dominanten Richtungen der Psychologie seiner Zeit publiziert hatte. Die Dissertation von Else Frenkel erschien 1931 unter U
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dem Titel: "Atomismus und Mechanismus in der Assoziationspsychologie" (Frenkel, 1931). Im Anschluss an die Promotion erhält Else Frenkel die Möglichkeit, im Forschungsprojekt von Charlotte Bühler zur Lebenslaufthematik mitzuarbeiten. Auf dem 12. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Hamburg im Jahre 1931 hält sie darüber einen Vortrag, der den Titel trägt "Lebenslauf, Leistung und Erfolg" (Frenkel, 1932). In den folgenden Jahren widmet sich Else Frenkel der Lebenslaufforschung unter den Aspekten von Wunsch und Pflicht im Lebenslauf. Resultat dieser Forschungen ist das mit Edith Weisskopf zusammen publizierte Buch "Wunsch und Pflicht im Aufbau des menschlichen Lebens", das 1937 erschien (Frenkel und Weisskopf, 1937). Hauptergebnis der empirischen Studie war, dass im Laufe des Lebens eine Verschiebung der Wünsche zu Pflichten und Aufgaben hin erfolgt. Dies betrifft insbesondere die Verschiebung der Dominanz von Wünschen in Bezug auf die eigene Person in den frühen Phasen des Lebenslaufes zur Dominanz von Pflichten und Aufgaben in Bezug auf die Familie und das Werk in späten Phasen des Lebenslaufes. Während der dreißiger Jahre in Wien beschäftigte sich Else Frenkel intensiv mit der Psychoanalyse. Dazu trug auch die eigene Psychoanalyse bei dem Kunsthistoriker Ernst Kris bei. Darüber hinaus pflegte sie weiter die Kontakte zu den Philosophen des Wiener Kreises um Moritz Schlick. Wie ihr späterer Partner Egon Brunswik stand sie den methodologischen Vorstellungen der logischen Empiristen nahe, die in Wien Vorstellungen zu einer Einheitswissenschaft entwickelten. Nach ihrer Übersiedelung in die USA bauten beide diese Kontakte noch aus, zumal auch viele Vertreter des Wiener Kreises nach der Besetzung Österreichs in die USA emigriert waren, wie beispielsweise Rudolf Carnap und Otto Neurath (1882-1945). Nach der militärischen Besetzung Österreichs am 12. März 1938 durch deutsche Truppen wurde Else Frenkel als Jüdin sowie ihre Familie Repressalien ausgesetzt. Ihr gelang aber bald die Flucht in die USA. Dort heiratete sie im Alter von 29 Jahren am 9. Juni 1938, dem Tage ihrer Ankunft in New York, Egon Brunswik. Damit war sowohl ihr Lebensunterhalt in den USA gesichert als auch ihre Einwanderung erleichtert, da ihr Mann bereits seit längerem in den USA arbeitete. Ihre Familie, die nach Palästina ausgewandert war, hatte allerdings lange Zeit Vorbehalte gegenüber dieser Ehe mit einem Nicht juden. 1939 wurde Else Frenkel-Brunswik Mitarbeiterin am "Institut of Child Welfare u der Universität Berkeley. In dieser Funktion arbeitete sie zunächst als "Researcher" in zwei Langzeitstudien mit. Dabei handelte es sich zum einen um die "Adolescent Growth Study", die von
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Harold E. [ones, und um die "Child Guidance Study", die von [ean Walker McFarlane geleitet wurde. Auf der Basis dieser Untersuchungen veröffentlichte sie 1942 die Monografie "Motivation and Behavior", In der Folgezeit wirkte sie erfolgreich in verschiedensten Forschungsprojekten mit, die sie teilweise auch leitete. Am bekanntesten ist ihre Mitwirkung an der Studie über "The Authoritarian Personality" geworden (Adorno et al., 1950). In den USA zeigte sie sich sehr offen bei der Rezeption der neueren Entwicklungen der Psychologie, die sie vorfand, so z. B. auf den Gebieten der Persönlichkeitstheorie, der Sozialpsychologie und des Behaviorismus. Darüber hinaus zeigte sie auch in den USA wieder ihre interdisziplinäre Orientierung. Dementsprechend baute sie Kontakte zu Psychoanalytikern und insbesondere zu Philosophen auf, so z. B. zu den Vertretern der Frankfurter Schule wie Max Horkheimer (1895-1973) und Theodor W. Adorno (19°3-1969), die nach der Machtergreifung Hitlers aus Deutschland in die USA emigriert waren. Darüber hinaus pflegte sie Kontakte zu den Anthropologen Robert Redfield und Alfred Kroeber sowie zu dem Soziologen Herbert Blumer. Wiederholt erhält sie Forschungsstipendien, so z. B. 1942 ein "Fellowshipu des "Social Science Research Council", 1954-1955 eines des "Center for Advanced Studies in the Behavioral Sciences" in Stanford und 1956 ein "Fulbright Fellowship" für einen Studienaufenthalt an der Universität in Oslo. In diesem Sinne ist dem Herausgeber ihrer "Studien zur autoritären Persönlichkeit Ausgewählte Schriften" Dietmar Paier zuzustimmen, wenn er davon spricht, dass die Emigration bei Else Frenkel-Brunswik einen Innovationsschub ausgelöst hat (Paier, 1996). Dabei ist inhaltlich zu berücksichtigen, dass die traumatischen Erfahrungen der Emigration und die politischen Entwicklungen in Europa sie in besonderer Weise für die Forschungsthemen sensibilisiert haben, denen sie sich in dieser Zeit zuwandte. Dazu zählt besonders ihre Mitarbeit an der Studie über die Autoritäre Persönlichkeit und ihre Publikationen zu den Vorurteilen. Die später berühmt gewordene Studie "The Authoritarian Personality" von Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel Levinson und R. Nevitt Sanford, die 1950 in New York erschien, hatte als Projekt zur Antisemitismusforschung begonnen. Sie wurde später im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung über den Faschismus in Deutschland dahingehend ausgeweitet, Beiträge zur Aufklärung faschistoider Individualentwicklungen des Menschen zu leisten. Vor allem aus der Mitarbeit an dieser Studie resultiert bis heute Else Frenkel-Brunswiks wissenschaftlicher Bekanntheitsgrad. In diesem Zusammenhang konstruierten die Autoren der Studie eine Skala zur Erfassung faschistoider, d. h. autoritärer Ein-
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stellurigen. Diese sogenannte F-Skala (F = Faschismus) enthielt folgende Dimensionen: Autoritäre Unterordnung, Aggression, Aberglauben, Konventionalismus, Destruktivität und Zynismus. Zur Datengewinnung führte Else Frenkel-Brunswik innerhalb der Studie strukturierte Interviews durch. Methodisch war diese neue Untersuchung sorgfältiger angelegt als die Wiener Studie über Wunsch und Pflicht im Lebenslauf, was beispielsweise die Zusammenstellung der Dimensionen der Interviewfragen und die Auswahl der Stichprobe der befragten Personen anbelangt. So wurden z. B. von ihr 2 Extremgruppen von Personen ausgewählt, die mit Hilfe der Resultate eines Fragebogen zum Ethnozentrismus zusammengestellt worden waren. Weiterhin wurden beispielsweise die Bewertungsmodalitäten der Antworten detailliert festgelegt sowie die Reliabilität der Bewertungen der Interviewantworten durch einen zweiten Auswerter abgesichert. Aus den Ergebnissen der Interviews wurde auf folgende Persönlichkeitseigenschaften geschlossen: Verdrängung vs. Bewusstheit, Externalisation vs. Internalisation, Konventionalismus vs. Echtheit (Genuineness), Macht vs. Zuneigung (Love-Orientation), Rigidität vs. Flexibilität. Spätere Nachuntersuchungen und vor allem persönlichkeitspsychologische Forschungen haben ergeben, dass die für diese Studie entwickelte Faschismus - bzw. Autoritarismus Skala keine Persönlichkeitseigenschaft beschreibt, dass sie aber gut geeignet ist, rechtsextreme Einstellungen zu erfassen (Oesterreich, 1996). Heute geht man davon aus, dass der aus der Psychoanalyse kommende Ansatz einer autoritären Persönlichkeit als Persönlichkeitskonstrukt nicht verifiziert werden konnte, sondern dass die aus den damaligen empirischen Erhebungen gefolgerte "autoritäre Persönlichkeit" als anthropologisch eigene Kategorie, eine Übergeneralisierung darstellte. Wohl kann man heute im Sinne Kurt Lewins von einem autoritären Führungsstil, nicht aber von einer autoritären Persönlichkeit sprechen. Oesterreich hat daher vorgeschlagen, statt von autoritärer Persönlichkeit besser von autoritären Reaktionen zu sprechen (Oesterreich, 1996). Allerdings erwies sich das in der Studie über die Autoritäre Persönlichkeit (The Authoritarian Personality) von Else Frenkel-Brunswik bereits verwandte Konzept der Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit (Intolerance of ambiguity) als heuristisch wertvoll. In einer empirischen Untersuchung an Kindern baute sie das Konzept der Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit (Intolerance of ambiguity) später zu einem eigenen Paradigma aus. Es ist heute als Paradigma mit dem Namen von Else Frenkel-Brunswik unmittelbar verbunden. Den Ausgangspunkt dieses Paradigmas bildete Else Frenkel-Brunswiks Beschäftigung mit der Psychoanalyse und deren Auffassung bezüglich der Ambivalenz (Paier, 1996). In
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der Psychoanalyse wird darunter die gleichzeitige Anwesenheit einander entgegengesetzter Strebungen, Haltungen und Gefühle verstanden, so z. B. die der gleichzeitigen Liebe und des Hasses zu ein- und demselben Objekt. In einer 1949 publizierten Untersuchung über IIIntolerance of ambiguity" (Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit) untersuchte Else Frenkel-Brunswik das Persönlichkeitskonstrukt IIIntolerance of ambiguity" als Persönlichkeitsmerkmal im Gedächtnis und in der Wahrnehmung (Frenkel-Brunswik, 1949). Aus einer Gruppe von 1500 Schulkindern im Alter von 11bis 16Jahren wurden 120 Kinder ausgewählt, die zu 2 Extremgruppen gehörten, die eine mit einer hohen und die andere mit einer geringen Neigung zu Vorurteilen. Als Selektionskriterien dienten die Ergebnisse von Interviews mit den Kindern, mit deren Eltern sowie die Ergebnisse von Projektiven Verfahren. Der Versuch bestand im Folgenden: 1. Den Kinder wurde eine Geschichte erzählt, in der ein neuer Schüler in eine Klasse kommt. Es ist ein schwarzes Kind bzw. ein jüdisches Kind. Im Anschluss daran mussten die Kinder die Geschichte nacherzählen. 2. Den Kindern wurde eine Bildfolge vorgelegt, in der sich ein Hund von Bild zu Bild immer mehr in eine Katze verwandelt. Die Ergebnisse des Gedächtnisversuches (Nacherzählen der Geschichte) waren: Kinder mit vielen Vorurteilen ordnen beim Nacherzählen der Geschichte dem neuen Schüler mehr unerwünschte Eigenschaften zu und äußern mehr Aggressionen gegen ihn. Kinder mit wenig Vorurteilen erzählen die Geschichte realistischer nach und geben mehr individuelle Unterschiede zwischen den Kindern an. Die Autorin schlussfolgert daraus, dass Vorurteile dabei helfen, die Unbestimmtheit zu vermindern. Die Ergebnisse des Bildfolgeversuches waren: Kinder mit vielen Vorurteilen halten länger am ursprünglichen Objekt der Bildfolge (Hund) fest und reagieren langsamer auf die sich verändernden Bildvorlagen. Else Frenkel-Brunswik interpretiert die Ergebnisse in folgender Weise: Eigenschaften wie Übertreibung, schnelle Generalisierung sowie Intoleranz gegenüber Ambivalenzen haben eine höhere diagnostische Valenz für die Diagnostik der Persönlichkeit als Eigenschaften wie das Geschlecht oder die Aggression. In den Schlussfolgerungen betont sie, dass einerseits enge Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit, Feindseligkeit, Machtorientierung, Externalisation und Rigidität bestehen. Andererseits bestehen enge Zusammenhänge zwischen Liebe, Akzeptanz von Triebimpulsen und Flexibilität. Der Kampf zwischen diesen beiden Tendenzen bildet für sie die Basis der Zivilisation (Frenkel-Brunswik, 1954). Diese Auffassung könnte als Prämisse über dem Lebenswerk von Else Frenkel-Brunswik stehen. Nach Paier (1996) hat das Konzept der Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit
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unter allen ihren Arbeiten die größte Rezeption erfahren. Er geht sogar soweit, es als "Frenkel-Brunswik-Theoremu zu bezeichnen. Seine Bedeutung besteht auch darin, dass es eine Erklärung für die Funktion von Vorurteilen gibt, denn Vorurteile erzeugen Sicherheit. Das Paradigma der Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit wurde wiederholt als Methodik in der sozialpsychologischen und in der klinisch-psychologischen Forschung eingesetzt, so z. B. bei der Erforschung der Schizophrenie oder der Depression (Paier, 1996). 1997 wurde es als Ambiguitätstoleranz von [ack Reis zu einem Persönlichkeitskonstrukt weiterentwickelt (Reis, 1997a). Zu seiner Abschätzung wurde von ihm ein Inventar zur Messung der Ambiguitätstoleranz konstruiert (Reis, 1997b). Nach Reis umfasst die "Ambiguitätstoleranzu die Dimensionen des Problemlöseverhaltens, des Umgangs mit sozialen Konflikten, des Elternbildes, der Akzeptanz von Rollenstereotypien sowie der Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen. Zu den lebenslangen Beschäftigungen Else Frenkel-Brunswiks gehörte weiterhin die kritische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse. In der Emigration pflegte sie mit einer Reihe ebenfalls emigrierter Psychoanalytiker Kontakte, so z. B. mit Siegfried Bernfeld, Bernhard Berliner und Ernst Kris. In ihrer Arbeit "Perspektiven der psychoanalytischen Theorie" aus dem Jahre 1957(deutsch 1959) setzt sie sich auch wissenschaftstheoretisch mit der Psychoanalyse auseinander. In dieser Arbeit geht es ihr besonders um deren Bezug zur Persönlichkeitspsychologie. Nach Paier ist für Else Frenkel-Brunswik die Persönlichkeit ein Schnittpunkt psychoanalytischer, psychologischer, soziologischer und kultureller Faktoren (Paier, 1996). In diesem Sinne versuchte sie, Elemente der Psychoanalyse in die empirische Persönlichkeitsforschung zu integrieren, so z. B.das Unbewusste als latente Variable. So schreibt sie in diesem Zusammenhang: "VomStandpunkt der Logik der Naturwissenschaft aus betrachtet, sind unbewußte Tendenzen ein spezieller Fall von latenten oder ,dispositionellen' Momenten. Man kann sie vergleichen mit physikalischen Merkmalen wie Magnetismus, vorausgesetzt wir schreiben sie nicht einem ,Geist' im metaphysischen Sinne zu" (Frenkel-Brunswik, 1959, S.139)·
Dem Freudschen Triebkonzept stand sie kritischer gegenüber. Es war ihr als Motivation zu eng gefasst. Nach ihrer Meinung ist die Motivation multivariater bestimmt. Sie schreibt dazu bereits 1940: "Das begriffliche Rüstzeug der Psychoanalyse reicht nicht aus, um das rationale und soziale Verhal-
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ten vollständig zu erklären" (Frenkel-Brunswik 1940 zitiert nach FrenkelBrunswik 1959, S. 142). "Zur Freudschen Theorie insgesamt äußert sie sich wie folgt: "Indessen hätte sein System gewinnen können, wenn er es etwas besser durchformt und besonders etwas systematischer zwischen ihren Grundannahmen und ihren Ableitungen unterschieden hätte" (Frenkel-Brunswik, 1959, S. 146).
Abschließend übt sie Kritik an ihren Metaphern, wenn sie schreibt: "Während wir im psychoanalytischen System viel mehr Elemente einer echten wissenschaftlichen Theorie feststellen konnten, als gewöhnlich bemerkt werden, bleibt es doch wahr, daß die Psychoanalyse viele Metaphern, Analogien und Konfusionen zwischen Begriffen und Tatsachen enthält, von denen man sie endlich befreien muß" (FrenkelBrunswik, 1959, S. 151).
Vergleichbare Kritiken hatte bereits Karen Horney (1885-1952) in den zoer Jahren des 20.Jahrhunderts geäußert, die jedoch relativ wenig zur Kenntnis genommen wurden. Die Auseinandersetzungen Else Frenkel-Brunswiks mit der Psychoanalyse können als ein Beispiel für gründliche und produktive Theoriekritik eingeschätzt werden. Wahrscheinlich wäre sie ohne ihre soliden Kenntnisse des logischen Empirismus dazu in dieser Form nicht im Stande gewesen. In ihrer letzten Lebensphase hat sich Else Frenkel-Brunswik intensiv mit dem Problem der Werte und ihrer Bedeutung in den Wissenschaften beschäftigt. Leider ist sie nicht mehr dazu gekommen, ein Buch mit dem norwegischen Philosophen Arne Naess über diese Thematik zu schreiben. Nur eine kleine Publikation liegt von ihr dazu vor. Am 31.März 1958 verstarb sie in Berkeley in Kalifornien (USA) im Alter von 50 Jahren. Ihre letzte Lebensphase nach dem Suizid ihres Partners Egon Brunswik im Jahre 1955, der an Depressionen litt, ist durch Unruhe, unstete und unsystematische Arbeit an verschiedenen Forschungsprojekten gekennzeichnet. Dazu gehören vor allem die "Old Age Study", die sie am "Institute of Industrial Relations" der Universität von Berkeley durchführte. In diesem Projekt, das sie seit dem Jahre 1953 leitete, beschäftigte sie sich mit dem Problem des Alterns in der Industriegesellschaft. Außerdem arbeitete sie an der "Oakland Growth Study" und plante ein Projekt über
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Werte, das sowohl theoretisch als auch empirisch angelegt werden sollte. Man kann nur Vermutungen anstellen, welches Bündel an Ursachen für ihren frühen Tod verantwortlich ist. Nach Angaben von Paier (1996) ist sie mit einem Bild von Egon Brunswik in der Hand und mit einem Röhrchen von Schlaftabletten neben sich gefunden worden. Eine Ursache könnte die chronische Überforderung gewesen sein, die sie in einen Verzweifelungszustand gebracht hat. Eine weitere könnte ihre Krankheit gewesen sein, denn seit den Wiener Jahren litt sie an rheumatischen Schüben und an einer Herzkrankheit. Auch permanente Ängste um eine bezahlte wissenschaftliche Arbeitsstelle - nach Paier hatte sie allerdings kurz vor ihrem Lebensende eine halbe ProfessorensteIle in Aussicht - sowie Heimweh nach Europa dürften weitere Gründe gewesen sein. Nicht zuletzt die Einsamkeit nach dem Selbstmord des Partners könnten zu ihrem frühen Ende geführt haben. Vielleicht hatte sie mit dem Verlust des Partners auch eine notwendige Bedingung ihrer wissenschaftlichen Kreativität verloren. Leider ist nicht überliefert, welche Art der Kommunikation auf wissenschaftlichen Gebiet mit ihm bestanden hatte. Es ist aber davon auszugehen, dass es ein permanenter anregender wissenschaftlicher Dialog war. Allerdings haben sie sich nur gelegentlich in ihren wissenschaftlichen Publikationen aufeinander bezogen und wenn, dann mehr terminologisch.
Resümee Else Frenkel-Brunswiks Start in eine wissenschaftlichen Entwicklung erfolgte in den zoer Jahren des 20. Jahrhunderts. Er erfolgte in Wien, in einem hoch kreativen wissenschaftlichen Zentrum der Psychologie und der positivistischen Wissenschaftsphilosophie jener Zeit. Ihre wissenschaftliche Karriere begann in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts innerhalb der Lebenslaufforschung. Es war zugleich die Zeit, in der sie begann, sich intensiv mit der Psychoanalyse auseinander zu setzen. Als Jüdin ereilte sie 1938 das Schicksal, vor Adolf Hitlers Regime und seinen brutalen Verfolgungen fliehen zu müssen. Als Jüdin haben ihr nach der Emigration in die USA die Zeitumstände offenbar einen größeren Teil ihrer Forschungsthemen diktiert. Nach dem Studium vieler ihrer in den USA entstandenen Arbeiten kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, dass Else Frenkel-Brunswik versuchte, mit den Mitteln der Psychologie, der Psychoanalyse und der Philosophie wissenschaftliche Antworten auf das ihr zugefügte Unrecht und auf das vorurteilsbestimmte Verhalten vieler ihrer ehemaligen Landsleute
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in Europa zu geben. Ihre Arbeiten - ob in Österreich oder in den USA entstanden - beeindrucken nicht nur thematisch sondern auch durch ihre interdisziplinäre Denkweise. Ihre Beiträge zur Persänlichkeitspsychologie, Sozialpsychologie und zur Psychoanalyse sind noch heute anregend und mit Gewinn zu lesen. Ihr Paradigma "Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit" ist in der Psychodiagnostik von Neurosen bis heute relevant und in der Einstellungs- und Vorurteilsforschung von aktueller Bedeutung. Leider hat sich ihr Leben zu früh vollendet, dennoch hat sie 33 Publikationen hinterlassen (Heiman & Grant, 1974). Ausgewählte Bibliographie Frenkel, Else (1931).Atomismus und Mechanismus in der Assoziationspsychologie. Zeitschrift für Psychologie, 123, 193-258. Frenkel, Else & Weisskopf, Edith (1937). Wunsch und Pflicht im Aufbau des menschlichen Lebens. In Charlotte Bühler & Else Frenkel (Hrsg.), Psychologische Forschungen über den Lebenslauf, 1. Wien: Gerold. Frenkel-Brunswik, Else (1942).Motivation and Behavior. Genetic Psychology Monographs, 26, 121-265. Frenkel-Brunswik, Else (1949).Intolerance of Ambiguity as an Emotional and Perceptual Personality Variable. Journal of Personality, 18, 108-143. Frenkel-Brunswik, Else (1954).Intolerance of Ambiguity as an Emotional and Perceptual Personality Variable. In H. Brand (Ed.), The Study of Personality - A Book of Readings. (pp. 509-538). New York: Wiley. Frenkel-Brunswik, Else (1959). Perspektiven der psychoanalytischen Theorie. In H. von Bracken & H. P. David (Hrsg.), Perspektiven der Persönlichkeitstheorie, S. 138-152. Bem: Huber. (Englisch 1957). Adorno, T.W., Frenkel-Brunswik, Else, Levinson, D. J. & Sanford, R. N. (1950).The Authoritarian Personality, New York: Norton.
Literatur Bühler, Charlotte (1933). Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem. Leipzig: HirzeL Bühler, K. (1927).Die Krise der Psychologie, Jena: Fischer. Heiman, Nanette & Grant, [oan (1974).Else Frenkel-Brunswik: Selected Papers. In Psychological Issues VllI, 3, Monograph 31. New York: International Universities Press. Oesterreich, D. (1996). Flucht in die Sicherheit - Zur Theorie des Autoritarismus und der autoritären Reaktion. Opladen: Leske & Budrich. Paier, D. (Hrsg.). (1996).Else Frenkel-Brunswik - Studien zur autoritären Persönlichkeit. Graz: Nausner & Nausner. Reis, J. (1997a).Ambiguitätstoleranz - Beiträge zur Entwicklung eines Persönlichkeitskonstruktes.Heidelberg:Asange~
Reis, J. (1997b), Inventar zur Messung der Ambiguitätstoleranz (IMA). Heidelberg: Asanger.
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Smith, M. B. (1980). Frenkel-Brunswik, Else. In Barbara Sicherman & Carol Hurt Green (Eds.), N otable Arnerican Wornen. The Modem Period - A Biographical Dictionary (pp. 250252). Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press. Sprung, Helga & Sprung, L. (1996). Frauen in der Geschichte der Psychologie - Integrationsforrnen in die Psychologie und Vortragsaktivitäten auf deutschen Psychologiekongressen 19°4-1978. In H. Gundlach (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte der Psychologie und der Psychotechnik. (S. 205-222). Passauer Schriften zur Psychologiegeschichte 11München: Profil. Sprung, H. (1992). Kurt Lewin und seine Berliner Schülerinnen. In W. Schönpflug (Hrsg.). Kurt Lewin - Person, Werk, Umfeld. (S. 149-160). Frankfurt/Main: Lang. Stevens, G. & S. Gardner, Sheldon (1982).The Wornen of Psychology. Two Volumes, Cambridge, MA: Schenkman.
Anmerkung *
Frau Marta Fischier, geb. Frenkel, (Tel-Aviv, Israel), danke ich sehr herzlich für die Überlassung des Bildes von Else Frenkel-Brunswirk.
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Marie Jahoda: Die Utopie einer gerechteren Welt
..,Meine gesamte Arbeit (hat) ihren Ausgang eher bei den wirldichen Problemen des Lebens (...~ Ich glaube. dass es das Idealziel einer guten
Sozialpsyrlwlogie ist (...). das Zusammenspiel zwischen individuellen FlIktoren und dem sozialen Kontext wirklich ernst zu nehmen (...). Die Aufgabe der Human- und Sozialwissenschaften (ist es), das nicht Sidl.tbare sichtbar zu machen" zit in: Fleck,. 1998, s. 279).
aahoda.
Am 2.5.2001 erschien ein Nachruf in der Wiener Zeitung: "Ich habe die Welt nicht verändert". "Die wtener Sozialforscherin Marie Jahoda war eine der großen alten Damen der Sozialdemokratie. Bekannt geworden ist die am 26. Jänner 1907 in Wien geborene Wissenschaftlerin vor allem durch einen Klassiker der Sozialforschung, die 1933 verfasste Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal". Die österreichische SozialwissenschaftJ.erin ist am .29- April im Alter von 94 Jahren in Sussex (Großbritannien) gestorben (...). Der Sozialdemokratie blieb sie aber auch in ihrer zweiten Heimat Gro8britannien bis zu ihrem Tod treu: ,Ich habe das Glück gehabt zu einer Hoch-Zeit der
österrekhischen Sozialdemokratie aufzuwachsen. WIr haben Ilhrsicnen gehabt, aber sie waren großartige Illusionen, die einen Wertbegriff vermittelt haben. Diese Werte sind mir heute noch so eigen wie damals'."
Die vorangestellten Zitate charakterisieren Marie Jahoda in ihren Besonderheiten als Sozialpsychologin zum einen durch die Lebensnähe der Forschung, die das Individuum immer im Kontext der äußeren und inneren S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_19, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Einflüsse sieht, und zum anderen durch ihr gesellschaftspolitisches Engagement, das getragen wird von der Utopie einer gerechteren Welt. Eine kurze Darstellung ihrer Biographie und die Rezension eines ihrer wichtigen Werke "Die Arbeitlosen von Marienthall' (Jahoda, Marie, Lazarsfeld, P. & Zeisel, H., 1975) werden das noch einmal belegen. Die sozialpsychologische Perspektive Marie [ahodas soll bei der Darstellung ihrer Biographie selbst beim Wort genommen werden. Zu fragen ist zunächst, welche Einflüsse von außen waren es insbesondere oder, wie [ahoda es selbst formuliert, welcher Teil ihrer Identität erscheint früh erworben, "auferlegt von der Kultur, in die wir hineingeboren sind und die wir miteinander teilen. Wie die Muttersprache erwerben wir diesen Teil unserer Identität unvermeidlich und absichtslos" (Iahoda, 1991,S. 283).
Biographie
Marie [ahoda wurde am 26.1.1907 in Wien als drittes Kind von Carl und Betty [ahoda geboren. Die Eltern gehörten einer assimilierten jüdischen Bürgerfamilie an. Carl [ahoda betrieb ein Geschäft für technische Apparate, Betty [ahoda war Hausfrau. Marie wurde in eine lebendige Familienkultur hineingeboren. Ihr Großvater - der Vater ihres Vaters - war Drucker und als junger Mann aus Böhmen nach Wien gekommen, ein lebenslustiger Mann - so stellte ihn sich Marie stets vor, ohne ihn persönlich kennen gelernt zu haben - ein agnostischer Jude, liberal und mit viel Familiensinn, den er seinen fünf Söhnen offensichtlich weiter gegeben hat, denn Marie schildert den Zusammenhalt zu den Familien ihrer Onkel so, dass der Eindruck von einer Großfamilie entsteht, lebendig, lebensfroh, künstlerisch interessiert und begabt, politisch aufgeschlossen für gesellschaftskritische Strömungen. Die beiden älteren Brüder des Vaters hatten studiert, Onkel Emil war der Onkel Doktor, vergöttert von seinen Patienten und von seinen Nichten. Er führte ein sehr freizügiges Leben, ganz offen und setzte sich über kleine bürgerliche Maßstäbe hinweg, spielte mit Freud im Kaffeehaus Tarock und stand - sehr ungewöhnlich für einen Mediziner damals - der Psychoanalyse aufgeschlossen gegenüber. Der zweite Bruder des Vaters studierte Chemie und wurde Direktor einer Chemiefabrik. Er war ein begabter Musiker und Pianist. Bei den nahezu wöchentlichen Familientreffen und Familienfeiern am Sonntag
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wurde Hausmusik gemacht, gelesen, vorgetragen, gut gekocht, gegessen und gespielt. Auch die Politik spielte in den Familien eine große Rolle. In der Familie der Großmutter gab es einen Bruder, der mit achtzehn Jahren an der Revolution 1848 teilnahm und fliehen konnte, als sie gescheitert war, in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde und später in London Professor für Deutsch wurde. Ihre Mutter schilderte Marie als Feministin, die ein waches Bewusstsein für die unterdrückten Rechte der Frau besessen habe. Sie sei es auch gewesen, die darauf bestanden habe, dass ihre beiden Töchter - Rosi und Marie - die gleiche Ausbildung bekamen wie die beiden Söhne. Die Geschichte des Lebens ihrer Mutter sei bitter gewesen, wie diese es immer wieder erzählt habe. Mit wachem Verstand und zähem Überlebenswillen ausgestattet, so schilderte Marie [ahoda ihre Mutter, eine starke Frau, die ihren vier Kindern Geborgenheit, Anregung, Kraft und Überlebenswillen mitgab. Marie sei Vaters Tochter gewesen. Der geliebte und bewunderte Vater habe sie nach seiner ersten Liebe in Konstantinopel genannt, wo er in seiner Exportfirma gearbeitet hatte und fließendes Französisch und eine große Liebe zur Literatur mit nach Wien zurück brachte. Maries Elternhaus erscheint durch diese wenigen Angaben bereits deutlich geworden, ein Boden für die Entfaltung vielfältiger Interessen, gesellschaftspolitischer Interessen ebenso wie literarischer und musikalischer. Dazu ein Klima aus herzlicher Anteilnahme und ein unbedingtes Füreinander-Einstehen. Für die Familie Marie [ahodas sind eine klassisch-bildungsbürgerliche Ausrichtung und politische Einstellungen charakteristisch, die mit der Utopie für eine bessere und gerechtere Gesellschaft einhergingen. Wien wurde nach Ende des 1. Weltkrieges ein selbständiges Bundesland und in dem "Roten Wien" konnte sich eine Form der Sozialdemokratie, der Austromarxismus, entfalten, der Maries politische Heimat darstellte, aus der sie Grundüberzeugungen bezog, die sie ihr gesamtes Leben hinweg begleiteten und die ihre sozialwissenschaftliehen Arbeiten von Anfang an grundlegend bestimmten. "Von 1918 bis 1933, während der Ersten Österreichischen Republik, war diese Partei, glaube ich, ein einmaliges soziales, politisches und kulturelles Phänomen des zwanzigsten Jahrhunderts." (Iahoda, 1997, s. 35).
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Das Wien des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts war aber auch eine Hochburg psychologischen Denkens. Neben der Psychoanalyse Sigmund Freuds hatte die Individualpsychologie des früheren Freud-Schülers Alfred Adler, dessen Anhängerschaft unter den Sozialdemokraten besonders groß war, Einfluss auf das geistige und gesellschaftspolitische Leben in Wien. Vor Beginn ihres Psychologiestudiums beteiligte sich Marie [ahoda an individualpsychologischen Diskussionsrunden, in denen sowohl ihr Interesse an Psychologie sowie ihre gesellschaftskritischen Grundüberzeugungen angesprochen wurden. Das folgende Zitat dokumentiert nicht nur die Bedeutung der Ideen des demokratischen Sozialismus für Marie [ahoda, sondern gleichfalls auch ihre selbstkritisch reflektierende Haltung, die in ihren lIRekonstruktionenU (Jahoda,1997) immer wieder beeindruckt, oft verbunden mit einer humorvollen Grundeinsteilung sich selbst und anderen gegenüber. "Die soziale und kulturelle Oase, die die sozialdemokratische Partei in Wien geschaffen hatte, war eine einzigartige Errungenschaft. Aber sie machte einen auch blind für die Welt draußen. Ich erinnere mich, daß mir die Generation meiner Eltern leid tat, die den Sieg des demokratischen Sozialismus mit mir als Erziehungsministerin vielleicht nicht mehr erleben würden. Ich dachte, wir hätten die Antworten auf das ganze wirtschaftliche Elend von damals und bald auch die Macht, ihre Richtigkeit zu beweisen. Was für eine Illusion! Für mich eine schöpferische Illusion, ein ethisches Glaubenssystem, das für mich Vergleichbares leistete wie für manche andere echte Religiosität: Vertrauen auf eine bessere Zukunft und Trost in den persönlichen Verwicklungen. Die Generation meiner Enkel, umso viel abgeklärter als ich damals, hat die schwerere Aufgabe, dem Leben ohne diese Illusion gegenübertreten zu müssen" (Iahoda, 1997, S. 36).
Marie besuchte das Realgymnasium, eine Privatschule, in die sie im Großen und Ganzen gerne ging. Ihr zumeist guter Stand in der Schule endete jedoch abrupt am 1. Mai 1926mit ihrer Rede zur Schulreform auf einer von der sozialdemokratischen Partei veranstalteten großen Feier, auf der sich viele tausend Menschen versammelten. "Ich sprach mit Leidenschaft gegen das bestehende elitäre System und für eine freie, staatlich finanzierte höhere Schule für alle bis zum Alter von achtzehn Jahren. Ein paar Tage später wurde ich zum Direktor
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meiner Schule gerufen, der mich beschimpfte und eine Verräterin nannte, illoyal gegenüber meiner Schule (...). Das Ergebnis war, dass mein Maturazeugnis mit einem "Gut" in Betragen beginnt" (Iahoda, 1997, S. 35)·
Der von Paul Lazarsfeld gegründete Verein Sozialistischer Mittelschüler wurde für Marie [ahoda in ihrer Schulzeit sehr wichtig, denn schon bald wurde sie zur Vorsitzenden gewählt, leitete die monatlichen Treffen, zu denen ein- bis zweihundert Mitglieder kamen, lud führende Sozialisten als Redner ein und formte ihr Organisationsgeschick und ihre Führungsqualitäten aus, die sie dann hier auch unter Beweis stellte ebenso wie 1926 bei der Leitung der Sommerkolonien für Wiener Kinder, die unter dem Einfluss von Siegfried Bernfeld ins Leben gerufen worden waren. Marie und ihre ältere Schwester Rosi waren 1920 selbst als Kinder in einer solchen Sommerkolonie, die damals schon von Paul Lazarsfeld betreut wurde. Hier begegneten sich Marie [ahoda und Paul Lazarsfeld das erste Mal. Marie [ahoda fällt schon früh auf als eine starke Persönlichkeit, die sich einmischt und Partei ergreift, aufmüpfig, wach und kritisch ihrer Umwelt und sich selbst gegenüber, so wird sie ein Leben lang von anderen beschrieben werden. Die Vitalität, Lebendigkeit und wache Neugier Marie [ahodas, dazu ein hohes Anregungspotential in ihrer (Groß-) Familie, verbunden mit einem Klima aus Anteilnahme und Herzlichkeit sowie eine große Aufgeschlossenheit für neue, fortschrittliche Zeiteinflüsse aus Politik und Kultur, insbesondere für die Einflüsse des Austromarxismus, dem sie schon früh als Schülerin auch außerhalb ihres Elternhauses begegnete, gingen in Marie [ahodas Sozialisation - der "andauernden Wechselwirkung zwischen Einflüssen von innen und von außen" - eine innige Legierung ein, die zur emotionalen und kognitiven Grundlage ihres Lebens wurde, bei der das "Prinzip Hoffnung" eine tragende Rolle spielte und einen Teilihrer Identität auszumachen schien, "unvermeidlich und absichtslos erworben", Nach der Matura begann Marie [ahoda 1926 neben einer zweijährigen Ausbildung zur Volksschullehrerin mit dem Studium der Psychologie an der Universität Wien bei Charlotte und Karl Bühler und bald darauf, 1927, heiratete sie Paul Lazarsfeld, der zwar seinen Lebensunterhalt als Gymnasialprofessor für Mathematik verdiente, aber dessen intellektueller Schwerpunkt in seiner Arbeit am Bühler-Institut lag, wo er schlecht bezahlter Assistent war.
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Das Ehepaar Bühler - aus der Geschichte der Psychologie nicht hinweg zu denken - konnte gegensätzlicher nicht sein. Er etwas steif, korrekt, doch sehr freundlich und warmherzig, und sie "brillant, extrovertiert, sehr schön, sehr eitel, sehr dominierend" (Iahoda, 1997, S. 44). Karl Bühler war einer der bedeutendsten Psychologen seiner Zeit und arbeitete von 1922 bis 1938 an der Universität Wien, wo er das Psychologische Institut gründete. Seine Forschungen über die Sprache und insbesondere während seiner Zeit in Würzburg über das Denken brachten die experimentelle Richtung der Psychologie voran. Charlotte Bühler wandte bereits statistische Methoden auf komplexe entwicklungspsychologische Methoden an, wobei insbesondere ihre Forschungen zum Verlauf menschlicher Biographien seit der Wiener Zeit im Mittelpunkt ihrer Arbeiten standen. Doch ist der Name Charlotte Bühlers darüber hinaus bei der Konstituierung der Humanistischen Psychologie in den USA als einer dritten Kraft neben Behaviorismus und Psychoanalyse nicht hinweg zu denken. Sie wurde im Gegensatz zu ihrem Mann in den USA sehr erfolgreich und ließ sich - angesehen und wohlhabend - in Kalifornien nieder. 1932 promovierte Marie [ahoda bei Charlotte Bühler über Anamnesenim Versorgungshaus. Ein Beitrag zur Lebenspsychologie. [ahoda bemerkte dazu später: "Sie veröffentlichte ein Gutteil meiner Dissertation in einem ihrer Bücher, mit einer kleinen Fußnote, in der sie einräumte, daß ich irgend etwas damit zu tun hatte" (Iahoda, 1997, S. 44).
In ihrer Dissertation griff [ahoda den biographischen Forschungsschwerpunkt Charlotte Bühlers zwar auf, erweiterte ihn jedoch in Richtung auf die unteren sozialen Schichten und beschäftigte sich mit Biographien von Obdachlosen und Marginalisierten. Bis zu ihrer Promotion war Marie [ahodas Leben äußerst ereignisreich sowohl beruflich als auch privat. Ihre Ehe neigte von Beginn an zu Turbulenzen, wozu auch Pauls permanente Seitensprünge beigetragen haben dürften. Da beide beschlossen, dass es so nicht weiter gehen könne, begab sich Paul in Psychotherapie und Marie legte von 1928 bis 1929 einen fast einjährigen Studienaufenthalt in Paris ein. Zurück in Wien wurde Marie [ahoda schwanger, 1930 wurde Lotte geboren. Doch schon bald war sie alleinerziehende Mutter, unterstützt von
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ihrer Mutter und Schwester, so dass sie ihren vielfältigen beruflichen und politischen Tätigkeiten, die miteinander in hohem Maße verknüpft und gleichzeitig aufeinander bezogen waren, nachgehen konnte. Dennoch quälte Marie [ahoda über Jahrzehnte hinweg immer wieder das schlechte Gewissen, als Mutter zu versagen, nicht gut genug für Lotte gesorgt zu haben, die sich jedoch trotz allem so gut entwickelte, dass ihr späterer Ehemann meinte, dieses gehe gerade auf das Fehlen der ständigen Anwesenheit ihrer Mutter zurück, wie Marie [ahoda mit dem für sie charakteristischen Humor anfügte (jahoda, 1997, S.52). Lotte, die zwar zehn kostbare Seiten des Entwurfs der Dissertation ihrer Mutter verspeiste, war dann als zweijährige Tochter von bewundernswerter Bravheit mit ihrer Großmutter bei der öffentlichen Promotion ihrer Mutter anwesend und wurde schließlich selbst Professorin für Psychologie in den USA. Ihr Name ist Lotte Bailyn. Marie [ahoda nahm die Erfahrungen vieler Frauen der ihr nachfolgenden Generationen bereits vorweg, wie sie lebenslang die sehr divergierenden Anforderungen - insbesondere ihre Rolle als Mutter und ihre vielfältigen beruflichen und politischen Anliegen - miteinander vereinbarte. Sie zeigte ein hohes Maß an Selbstreflexion und vielleicht dadurch bedingt auch eine große Aufgeschlossenheit dafür, bei seelischen Belastungen und Krisen, die bei diesen fordernden Arrangements ihrer Lebenssituation nicht ausbleiben konnten, psychotherapeutische Unterstützung zu suchen. Von 1932 bis 1933 suchte sie vierzehn Monate lang bei dem Psychoanalytiker Paul Hartmann einen besseren Zugang zu ihren Gefühlen, was ihr von Kindheit an immer große Probleme bereitet habe, wie sie in ihren Rekonstruktionen (1997, S. 25) schrieb. So erscheint Marie [ahodas Lebenslauf als ein sehr moderner, ihrer Zeit in vielem vorauseilend und doch von ihrer Zeit geprägt und auch bedroht, wie beispielsweise vom Wüten des Faschismus in Europa. Dass Marie [ahoda den Faschismus als Jüdin und linke Untergrundkämpferin überlebte, verdankt sie einem durchaus paradox erscheinenden Glück im Unglück. Marie [ahoda wurde im Rahmen ihrer Untergrundarbeit in der sich zunehmend verschlechternden politischen Situation in Österreich und im Rahmen ihrer Arbeit in der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle, die von Paul Lazarsfeld gegründet und deren Direktorin sie 1933 wurde, im November 1936an ihrem Arbeitsplatz verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Sie wurde beschuldigt, die Forschungsstelle als Poststelle für die illegalen Revolutionären Sozialisten genutzt zu haben. In der Tat, soweit
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es Tochter Lotte und die Ganztagsarbeit in der Forschungsstelle damals erlaubten, widmete sich Marie [ahoda der Untergrundarbeit, der sie unerschrocken und keine Risiken scheuend nachging gegen den in Österreich und speziell in Wien um sich greifenden Faschismus. In ihrer unsentimentalen Art beschrieb sie ihren neunmonatigen Gefängnisaufenthalt, bei dem sie permanenten nächtlichen Kreuzverhören ausgesetzt war. Sie verlangte sich eine große seelische Stärke ab und formulierte, wie privilegiert sie "dank einer Familie, die zu mir hielt, und dank der Bildung, der Kultur und der Werte, die ich erworben hatte, im Vergleich zu den meisten anderen Insassen war. Während ich in Einzelhaft saß, konnte ich mich zerstreuen, indem ich mich an alle Gedichte erinnerte, die ich je auswendig gelernt hatte, und wenn meine Chopin-Pfeiferei nicht besser wurde, dann jedenfalls nicht aus Mangel an Übung Gahoda, 1997., 5.61). lJ
Sie wurde 1937 aufgrund internationaler Fürsprache aus der Haft entlassen und des Landes verwiesen unter Aberkennung der österreichischen Staatsbürgerschaft. Als sie die plötzliche Entscheidung treffen musste, im Gefängnis zu unterschreiben, das Land umgehend zu verlassen, konnte sie damals noch nicht wissen, dass ihr die Aberkennung der Staatsbürgerschaft das Leben retten sollte.
Die Marienthal-Studie Die erste große Arbeit Marie [ahodas, die sie gemeinsam mit Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel verfasste, war die in dem österreichischen Industriedorf nahe Wiens durchgeführte Untersuchung nDie Arbeitslosen von Marienthal" (1933/1975). Marie [ahoda begann mit dieser Untersuchung noch bevor sie 1932 ihren Doktor machte und damit ihr Psychologiestudium abschloss. Gleichzeitig arbeitete sie als Aushilfslehrerin an mehreren Wiener Volksschulen. Die Jahre 1932 bis 1934 bezeichnete sie selbst als ihre persönlich, beruflich und politisch entscheidenden Jahre. nDie Arbeitslosen von Marienthal", die erste große Untersuchung zu dem bis heute vordringlichen Problem der Arbeitslosigkeit, zählt zu den Klassikern der modernen sozialwissenschaftliehen Empirie, methodisch und inhaltlich von geradezu beispielhafter Bedeutung.
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"Auf dem Gebiet der Arbeitslosenforschung ist "Marienthal" zu einer der am häufigsten zitierten" aber methodisch kaum je wiederholten Untersuchung geworden" (Iahoda, 1991" S. 122 ).
Arbeitslosigkeit stellte auch in den Jahren der ersten österreichischen Republik (1918-1938) eines der größten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Belastungen dar. Zwischen 1923 und 1929 schwankte die Arbeitslosenrate zwischen 8,3 und 11 % - vergleichbar mit den aktuellen Daten für die BRD. Mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise stieg sie dann rapide an und erreichte ihren Höhepunkt 1933 mit 26 %. Trotz Krise und Armut blieb Wien unter sozialdemokratischer Verwaltung ein kulturelles Zentrum für Wissenschaft, Philosophie, Kunst, Musik und Sozialpolitik. Otto Bauer, Führer der sozialdemokratischen Partei Österreichs, gab die Anregung für die Marienthal-Studie, die von der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle durchgeführt wurde. Die Kontakte zu dem Industriedorf Marienthal und seiner Bevölkerung wurden sehr erleichtert dadurch, dass nicht nur Lazarsfeld, [ahoda und Zeisel der Sozialdemokratischen Partei angehörten, sondern ebenso die Mehrheit der Einwohner Marienthals. Unbezahlte Arbeit engagierter Mitarbeiter besserte das knappe Budget für die Untersuchung auf. Marienthallebte von der Spinnereifabrik, die 1830 ihren Anfang hatte und in den Ort bis zu ihrer Schließung 1929 einen gewissen Wohlstand gebracht hat. Die sehr sorgfältige Untersuchung der mit Arbeitslosigkeit einhergehenden psychosozialen Folgen für die Familien und speziell für die gesamte Dorfgemeinschaft ist getragen von einer Grundhaltung, die sich stringent um die für eine empirische Untersuchung notwendige Objektivität bemüht und gleichzeitig gekennzeichnet ist von Anteilnahme an den Folgen der Arbeitslosigkeit, die nicht selbst von den Familien zu verantworten sind. ,,,Wir haben als Wissenschaftler den Boden Marienthals betreten: wir haben ihn verlassen mit dem einen Wunsch, dass die tragische Chance solchen Experiments bald von unserer Zeit genommen werde" (jahoda et al., 1975, S. 112).
Das Vorgehen in der Marienthal-Studie wird von Zeisel (Iahoda et al., S. 113 f.) als eine Methode der Soziographie dargestellt, die in der Untersuchung Friedrich Engels "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" (Leip-
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zig 1845) eine berühmte Vorgängerin aufweisen könne, deren Besonderheit nicht in der Originalität der damals neuartigen Erhebungsmethoden (wie eigene Beobachtungen, Zeitungsberichte usw.) zu sehen sei, sondern das Besondere sei gewesen, wie Engels die Daten verarbeitet habe. "Denn hier wird das erste mal der Versuch unternommen, die einzelnen Merkmale nach einer soziologischen Problemstellung zu ordnen, im vorliegenden Fall nach der des Klassenkampfs. Darin liegt die Eigenart dieses Werks., dessen politische Wirkung ungewöhnlich groß war" (jahoda et al., 1975., S. 117).
Für die in der Marienthal-Studie angewandte Methodik der Soziographie wurden insbesondere die am Bühler-Institut (Wien um 1930) entwickelten Methoden bedeutungsvoll. Diese biographischen und statistischen Zugänge wurden ebenso wie die von Charlotte Bühler angewandte Technik der teilnehmenden Beobachtung in die Marienthal-Studie mit einbezogen. Methodenpluralität kennzeichnet die als Feldstudie geplante und durchgeführte Untersuchung mit der Zielsetzung, die Arbeitslosigkeit von allen Seiten zu erfassen, was sowohl subjektive als auch objektive Faktoren mit einschließt, die miteinander verbunden und aufeinander bezogen werden sollten, um "komplexe Erlebnisweisen empirisch zu erfassen" (jahoda et al., S.14)· ,.,Die Arbeit begann weder mit einer Theorie noch mit einem Methodenplan, sondern mit einer Liste von offenen Fragen, die allen Feldarbeiten in Marienthal als Richtschnur dienen sollten. Diese Fragen bezogen sich auf die Haltung der Bevölkerung und die sozialen Folgen der Arbeitslosigkeit für das gesamte Dorf" (Iahoda, 1991., S. 120).
Zur Gewinnung von objektiven und subjektiven Daten wurden vielfältige einfallsreiche quantitative und qualitative Erhebungsmethoden entworfen. So wurde beispielsweise der Verlust der Zukunftsperspektive - ein für die Studie sehr wichtiges Ergebnis - u. a. anhand der Weihnachtswünsche der Kinder nachgewiesen. Messungen der Gehgeschwindigkeit der Dorfbewohner, der Frauen und Männer, wurden als Beleg für ihr verändertes Zeitempfinden interpretiert. Basis und tragend für die Felduntersuchung war eine Perspektive, die eine ganzheitliche Erfassung der Lebenswelt Marienthals - das Dorf als Gemeinschaft war der Untersuchungsgegenstand - intendierte, wobei speziell
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die Methode der teilnehmenden Beobachtung angewendet wurde, mittlerweile eine sehr bedeutende Methode der Ethnographie. Hausbesuche von 100Familien standen auf dem Programm. Die Gespräche und Beobachtungen wurden genauestens protokolliert, so dass über die vielen mitgeteilten Details und Gesprächsauszüge ausführliche Lebensbeschreibungen und realistische Veranschaulichungen der Lebenswelten der besuchten 100 Familien entstehen sowie auch die lIHaltungenU deutlich werden, mit denen die Familien der Arbeitslosigkeit begegneten. Das Konzept der I1HaltungU wurde als psychologische Kategorie definiert, die, wie angenommen wurde, schon vor der Arbeitslosigkeit in den unterschiedlichen Lebensstilen zum Ausdruck gekommen sei. Es wurden anhand der Beschreibungen, wie sie für die Familien aufgrund der Vielzahl von Daten zusammengefasst wurden, vier Haltungstypen benannt: ungebrochen, resigniert, verzweifelt, apathisch. Jede der 100 Familien wurde einem dieser vier Haltungstypen zugeordnet. Die resignierte Haltung überwog mit 48 %. Die übrigen Haltungen verteilten sich so: ungebrochen mit 16 %; verzweifelt mit 11 %; apathisch mit2S%· Das allgemeine Forschungsergebnis bestand in dem Nachweis, dass Arbeitslosigkeit zu einer resignierten Haltung des Individuums und seiner Familie führt und das Gemeinschaftsleben eines ganzen Dorfes zum Erliegen bringt (Iahoda, 1938, in Fleck, 1994, S. 262). Dabei war eines der interessantesten Ergebnisse, dass sich die persönlichen Beziehungen als am widerstandsfähigsten gegen Veränderungen durch die Arbeitslosigkeit erwiesen. "Die Ansprüche an das Leben werden immer weiter zurückgeschraubt; der Kreis der Dinge und Einrichtungen, an denen noch Anteil genommen wird, schränkt sich immer mehr ein; die Energie, die noch bleibt, wird auf die Aufrechterhaltung des immer kleiner werdenden Lebensraumes konzentriert. Als charakteristische Zeichen für diese Reduktion fanden wir einen deutlichen Zerfall des Zeitbewußtseins, das seinen Sinn als Ordnungsschema im Tagesverlauf verliert; nur die menschlichen Beziehungen scheinen im wesentlichen noch intakt" (Iahoda et a1., 1975, S. 101).
Das gesamte Material der erhobenen Daten und Protokolle wog 30 kg. Um die Gefahr, im Detail zu ersticken, zu bannen, wurden I1Leitformelnu (Lazarsfeld) formuliert und nur jene Beobachtungen aus der Fülle der Pro-
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tokolle fanden Eingang in den Endbericht der Studie, die eine Leitformel illustrierten. Der Titel des ersten inhaltlichen Kapitels "Die müde Gemeinschaft" ist beispielsweise eine solche Leitformel, die hilft, aus dem Reichtum des Materials qualitative und quantitative Illustrationen auszuwählen. Die "Schrumpfung der psychologischen Umwelt" spielt als Leitformel in der Marienthal-Studie eine Schlüsselrolle. Bei den Leitformeln handelt es sich um über die konkreten Daten hinaus gehende sehr komplexe Konstruktionen, die als "integrale Interpretationen" ein "Zwischending zwischen einer Analogie und dem, was man heute ein Modell nennt" (jahoda et al., 1975, S. 17-18), darstellen. Die Studie gibt eine umfassende Beschreibung der psychosozialen Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit für die betroffenen Familien und für die gesamte Dorfgemeinschaft in Marienthal, auch wenn viele Fragen offen geblieben sind. Ob und wie die Studie zu verallgemeinern ist, können nur weitere Untersuchungen zu den psychosozialen Folgen von Arbeitslosigkeit in größeren sozialen Gemeinschaften aufweisen. Ein wichtiges praktisches Ergebnis der Studie lag darin, dass die Öffentlichkeit auf Marienthai aufmerksam wurde und neue Unterstützungs- und Arbeitsprogramme eingerichtet wurden, so dass sich schließlich die wirtschaftliche Situation des Dorfes besserte (Iahoda, 1938, in Fleck, 1994, S. 265). Die Marienthal-Studie erscheint über ihren gesellschaftspolitischen Anspruch hinaus einzigartig sowohl in der Vielfalt der methodischen Zugänge, die eine Kombination kreativ eingesetzter qualitativer und quantitativer Methoden umfasst, als auch in der Offenheit der theoretischen Zugänge, die schließlich in Form von "Leitformelnu die Wechselwirkungsprozesse zwischen inneren, subjektiven und äußeren, objektiven Einflüssen zu fassen und zu beschreiben versuchen. Wenn auch in kritischer Beurteilung durch [ahoda selbst dieses Forschungsziel nicht endgültig eingelöst worden sei, so wurde doch ein Weg der empirischen Sozialforschung aufgewiesen, der immer noch von großer Aktualität ist, insbesondere in der qualitativen Sozialforschung. Fortsetzung der Biographie
Nachdem [ahoda 1937 nach England emigriert war, hatte sie die Gelegenheit, unterstützt durch ein Stipendium der SocietyJor the Protection oJScience and Learning, die Marienthaler Erfahrungen in einer Studie über ein Selbsthilfeprojekt arbeitsloser Bergarbeiter in Süd-Wales anzuwenden. (Iahoda, 1938,
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unveröff. Manuskript, 198p in D. Fryer & P.Ullah (Hrsg.). 1989, in Christian Fleck (Hrsg.), S. 7-72). 1945 traf Marie [ahoda in New York ein und fand ihre erste Anstellung bei Max Horkheimer, mit dem sie bereits seit den 30er Jahren in Kontakt stand und gemeinsam mit ihm und Lazarsfeld an der Studie "Autorität und Familie" (lahoda-Lazarsfeld, M., 1936) gearbeitet hatte. 1948war [ahoda aus der Zusammenarbeit mit Horkheimer ausgeschieden. Dominierende Forschungsthemen wurden für [ahoda zunächst in der Zusammenarbeit mit Horkheimer und dann auch in den folgenden Jahren: Vorurteile, Gruppenkonflikte und Antisemitismus. Ihre gemeinsam mit Ackerman verfasste Teilstudie "Studies in Prejudices" des American ]ewish Committee fand große Beachtung (Ackerman, Nathan & Jahoda, Marie, 1948, in Fleck, 1994). Darin versuchte Marie Jahoda in Zusammenarbeit mit New Yorker Psychoanalytikern die Frage zu klären, welche dynamische Basis antisemitische Einstellungen haben. 1949 wechselte Marie [ahoda an die New York University, wo sie mit 42 Jahren Professorin für Sozialpsychologie wurde, anfangs als Associate Professor, später dann als Full Professor am Departement oJPeudu:logy und am Center Research Jor Human Relations, wo sie bis 1958 tätig war. Sie ging wieder nach Großbritannien zurück, wurde 1958 Professorin am Brunel College oJAdvanced Technology, das alsbald zur Universität umgewandelt wurde, und heiratete Austen Albu, einen Parlamentsabgeordneten der Labour Partei. 1965 wechselte sie an die University oJSussex, wo sie eine Gründungsprofessur für Sozialpsychologie bis zu ihrer Emeritierung 1973 inne hatte. Sie war die einzige Frau unter 45 Professoren und wurde als erste Professorin in der Geschichte der britischen Sozialwissenschaften mit dem Aufbau einer sozialpsychologischen Abteilung betraut. Marie [ahoda bekam viele Auszeichnungen, u. a. 1981 den Kurt Lewin Preis der SocietyJor the Psychological Study oJSocial Issues. In der Bundesrepublik wurde sie Namensgeberin der Internationalen GastproJessur für FrauenJorschung an der Ruhr-Universität Bochum (1994). Resümee
Marie Jahoda ist eine herausragende Psychologin des vergangenen Jahrhunderts, nicht nur weil sie als erste Frau eine Professur für Sozialpsychologie und sogar eine Gründungsprofessur inne hatte. Sie wollte durch Forschung gesellschaftliche Veränderungen anstoßen und griff brisante aktuelle The-
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men des sozialen Lebens auf, des "Lebens, wie es wirklich gelebt wird", Sie wählte den durchaus schillernden Begriff "nichtreduktionistische Sozialpsychologie" (1989, in Fleck, 1994, S. 295-305), um das zentrale Anliegen deutlich zu benennen, das vor allem darin liegen soll, lIder andauernden Wechselwirkung zwischen Einflüssen von innen und von außen gleichermaßen und gleichzeitig gerecht zu werden... (jahoda, 1991, S. 121).
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Der Nexus aus subjektiven, inneren und objektiven, äußeren Faktoren, die im menschlichen Leben eine unauflösbare Verschränkung eingehen und in hohem Maße dem zeitlichen Wandel unterworfen sind, soll in das Licht einer nicht verkürzenden Betrachtung und Analyse gehoben werden, um das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, das "nicht Sichtbare sichtbar zu machen", Anliegen könne es daher auch nicht sein, zeitlose, allgemein gültige Theorien zu formulieren, sondern vielmehr nur Erklärungen hervorzubringen, die "eher in Bodennähe operieren" (Iahoda, 1989, in Fleck, 1994, S. 304).
Ausgewählte Bibliographie Jahoda, M. (1932). Anamnesen im Versorgungshaus - Ein Beitrag zur Lebenspsychologie, Universität Wien: unveröff. phiL Dissertation. [ahoda-Lazarsfeld.M. (1936).Autorität und Erziehung in der Familie, Schule und Jugendbewegung in Osterreich, in Institut für Sozialforschung (Hrsg), Studien über Autorität und Familie. Bd.2 (706---]25). Paris: Libriaire Alean. [ahoda, M. ; Lazarsfeld, P. F.;Zeisel, H. (1975).Die Arbeitslosen von MarienthaL Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauemder Arbeitslosigkeit. Mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie. Frankfurt/M: edition suhrkamp. (Die erste Auflage erschien 1933 im Verlag S. Hirzel, Leipzig). [ahoda, M. (1991).Marie [ahoda, Paul F. Lazarsfeld, & Hans Zeisel: "Die Arbeitslosen von Marienthal". In Flick,U.; v. Kardoff, E.;Keupp, H.; v. Rosenstiel, L.; Wolff,S. (Hrsg.), Handbuch Qualitative Sozialforschung. (5.119-122). München: Psychologie Verlags Union. [ahoda, M. (1994). Sozialpsychologie der Politik und Kultur. Ausgewählte Schriften herausgegeben und eingeleitet von Christiart Fleck. Graz: Nausner & Nausner. [ahoda, M. (1997). Rekonstruktionen. In Engler, 5. & Hasenjürgen, B. (Hrsg.), "Ich habe die Welt nicht verändert". Lebenserinnerungen einer Pionierin der Sozialforschung (S. 9-100). Frankfurt/M: Campus.
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Literatur Ackerman, N. & [ahoda, M. (1948). The dynamic basis of anti-semitic attitudes. The Psychoanalytic Quarterly, 17, 2.40-260. Engler, S. & Hasenjürgen, B. (Hrsg.). Marie Jahoda "Ich habe die Welt nicht verändert". Lebenserinnerungen einer Pionierung der Sozialforschung. Frankfurt/M: Campus. Fleck, C. (Hrsg.). (1989). Politische Emigration und sozialwissenschaftlicher Wissenstransfer. Am Beispiel Marie [ahodas. Arbeitslose bei der Arbeit.. Die Nachfolgestudie zu "Marienthal" aus dem Jahr 1938.In Ludwig-Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft (Hrsg.), Studien zur Historischen Sozialwissenschaft (Bd.r r, 5.7-72). Frankfurt: Campus. Fleck, C. (Hrsg.). (1994).[ahoda, M. Sozialpsychologie der Politik und Kultur. Ausgewählte Schriften. Graz: Nausner & Nausner. Fleck, eh. (1998). Marie [ahoda (geb. 1907). Lebensnähe der Forschung und Anwendung in der wirklichen Welt. In C. Honnegger, & Th. Wobbe, (Hrsg.), Frauen in der Soziologie. Neun Porträts ( 5.258-285). München: Beck. Flick, U.; Kardoff, v. E.; Keupp, H.; Rosenstiel, v. L.; Wolff, S. (Hrsg.), (1991).Handbuch Qualitative Sozialforschung. München: Psychologie Verlags Union. [ahoda, M. (1938).Some ideason social and psychological research. The Sociological Review, 30, (1),(63-80);(1994). Uberlegungenzu "Marienthal", in Fleck, eh. (Hrsg.). (S.261-274). [ahoda, M. (1938). Unemployed men at work: a socio-psychological study of subsistance production experiment in the Eastern Valley of Monmouthshire, London: unveröff. Manuskript; (1987).Unemployed men at work. In: D. Fryer & P Ullah (Hrsg.), Unemployed people - Social and psychological perspectives, Milton Keynes: Open University Press, 1-73; (1989),Arbeitslose bei der Arbeit - Die Nachfolgestudie zu "Marienthal" aus dem Jahre 1938,Bd.l1 der von Ch. Fleck hsgg. Studien zur Historischen Sozialwissenschaft, Frankfurt a. M., New York: Campus. [ahoda, M. (1989). Why a non-reductionist social psychology is almost too difficult to be tackled but too fascinating to be left alone. British Journal of Social Psychology, 28, 71-78. Deutsch: Nichtreduktionistische Sozialpsychologie - ein fast aussichtsloses Unternehmen, zu faszinierend, um es unversucht zu lassen. In Fleck, C. (Hrsg.). (1994).Marie [ahoda. Sozialpsychologie der Politik und Kultur. Ausgewählte Schriften (S.295-305). Graz: Nausner & Nausner. [ahoda, M. (1994).Die dynamische Basis antisemitischer Einstellungen, in eh. Fleck (Hrsg.), Marie Jahoda. Sozialpsychologie der Politik und Kultur. Ausgewählte Schriften (5. 22.4240). Graz: Nausner & Nausner. Wacker, A. (1998). Marie [ahoda und die Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle - zur Idee einer nicht-reduktionistischen Sozialpsychologie. In Psychologie und Geschichte, 8, (1-2),5.112-149.
Charlotte E. Haver
Bildung und Identität bei Töchtern aus jüdischem Haus
"In tausend Spiegel schaut erstaunt die Erde ..." (Rose Ausländer, 1998,S. 82)
Sieben Töchter hat Tewje, der Milchmann - und meist wenig Geld, aber er kennt die Bibel und den Wert der Bildung. Die ganze Woche arbeitet er schwer, am Sabbat jedoch - erzählt er - sei er "König ll :
"Da schaue ich in ein jüdisches Buch hinein, ... lese ein wenig im Targum, in den Psalmen..." (Alejchem, 1995,S. 11).
Einen ungebildeten Juden hasse er "wie Schweinefleisch" (S. 91). Deshalb lässt er auch seine Töchter gegen tägliches Essen von einem Gymnasiasten unterrichten und auf seine schöne Tochter Hodel ist er besonders stolz, da sie "obendrein auch einen scharfen Verstand (hat); sie schreibt und liest jiddisch und russisch und verschlingt Bücher wie Knödel" (Alejchem, 1995,S. 84)·
Tewjes Einstellung ist durchaus im Einklang mit dem Talmud, der denjenigen preist, der Bildung hochschätzt. "Immerdar verkaufe ein Mensch alles, was er hat und heirate die Tochter eines Gelehrten ..." (Pesachim 49a).
Das Ideal der Bildung wird hier vor Reichtum und Sicherheit gestellt. Scholem Alejchems seit dem Musical "Anatewka weltberühmter Roman "Tewje der Milchmann" erschien 1894. Er spielt in Russland in einer Zeit eines - wie in Deutschland - ab 1880 wieder einsetzenden Antisemitismus, immer wieder organisierter Pogrome sowie vielfältiger Restriktionen auch im Bildungsbereich. So gab es an den Universitäten einen Numerus clausus ll
S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0_20, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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für jüdische Studenten (1883 unter Nikolaus 111.) und ein Verbot des Frauenstudiums. Tewje, inmitten dieser Welt lebend, hält dennoch humorvoll und hellwach am jüdischen Bildungsideal fest, das in hohem Maße auch Mädchen und Frauen einbezog und dessen Schwerpunkt auf der Lesefähigkeit und Lesebegeisterung lag. Etwas später (1906) veröffentlichte in Berlin der jüdische Autor Georg Hermann seinen Bestsellerroman "Jettchen Gebert", der im Berlin der Biedermeierzeit spielt. Für die Juden in Preussen waren damals - nach der Aufbruchstimmung der Jahrhundertwende 1800 - die Hoffnungen auf eine (nicht nur) juristische Gleichstellung schon wieder gesunken. Dennoch identifizierten sich die gebildeten Juden ganz besonders mit der (christlichen) deutschen Kultur, vor allem mit der Literatur und der Musik der deutschen Klassik. Im Roman charakterisiert der Autor seine aus wohlhabender jüdischer Kaufmannsfamilie stammende Heldin, die schöne Henriette (Jettchen), nicht nur durch ihre fürstliche Erscheinung, sondern auch durch ihre Liebe zu Büchern. Für den Sommeraufenthalt 1839 in Charlottenburg packt ein Onkel für sie ein: den Rheinischen Musenalmanach, Thackeray und Balzac, Eichendorff und Börne und Mörikes "Laß, 0 Welt, 0 laß mich sein! ..." (Hermann, 1986, S. 140). Die Liebe zum Buch und ganz besonders zur deutschen Literatur und dazu die Sprachkenntnisse jüdischer Frauen werden nicht nur in Romanen beschrieben, sondern auch in der autobiographischen Literatur bezeugt. Das vorliegende Buch ("Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts") stellt Leben und Werk von 18 Frauen vor, von denen 13 (also mehr als zwei Drittel) jüdischer Herkunft sind. Es liegt nahe, zum Abschluss wenigstens kurz nach Erklärungen zu suchen, obwohl bei der Auswahl der Psychologinnen nur auf deren "Bedeutung'~nicht auf deren Herkunft geachtet wurde. Das in den genannten Romanen beschriebene bildungsfreundliche Umfeld der jüdischen Buchreligion ist zunächst ein Grund, weshalb Töchter aus jüdischen Familien so früh und überproportional Zugang zu wissenschaftlichen Berufen fanden. Das "verstehende Lesen" als "Kernfähigkeit" und als Grundvoraussetzung zum Studium' war bei Frauen im Judentum weiter verbreitet als in jeweils vergleichbaren christlichen Familien". Im politisch noch lange zersplitterten 19. Jahrhundert waren gerade die jüdischen Salons wie die von Rahel Varnhagen, Henriette Herz, Dorothea Mendelssohn (-Schlegel), Fanny Arnstein oder EIsa Bernstein weit ausstrahlende Zentren deutscher Kultur in einem gleichsam privaten, inoffiziellen Netzwerk. In der Zeit der (versuchten) Assimilation bemühten sich vor allem jüdische
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Eltern, ohnehin gekennzeichnet durch bewußte und liebevolle Erziehung als Folge der religiösen Grundlagen und des Minderheitenstatus, um eine umfassende Bildung auch der Töchter. Sebastian Hensel, der 1830 geborene Sohn von Fanny und Neffe von Felix Mendelssohn-Bartholdy, der im Atelier des Vaters und im Musikzimmer der auch selbst komponierenden Mutter aufwuchs, schrieb: ".. .ich halte es für durchaus nicht gleichgültig, ob das Kinderauge sich an den Anblick des Struwelpeters oder der Raphael'schen Loggien gewöhnt, ob das Kinderohr Leierkastengassenhauer oder Bach'sche Fugen sich einprägt" (Hensel, 1904, S. 14).
Sobald die sozialen und rechtlichen Möglichkeiten dazu bestanden, lösten sich die jüdischen Mädchen aus der privaten Welt und lernten und studierten - seit dem Ende des 19. Jahrhunderts - an öffentlichen Schulen", 1911 schon stammten in Deutschland 12 % der Abiturientinnen aus jüdischen Familien - bei einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 0,95 %4. Der überproportionale Anteil an der Verstädterung und Verbürgerlichung der Gesellschaft, der ausgeprägte Aufstiegswille und die gesetzlichen wie vor allem mentalen Barrieren, die den Juden den Eintritt bzw. Aufstieg in viele Berufe unmöglich machten (Militär, Beamtenschaft, Universitätslaufbahn, Landwirtschaft ete.) führten dazu, dass z. B. 1907 ea. 50 % der jüdischen Berufstätigen selbständig waren. Die meisten jüdischen Mädchen wuchsen in der oberen und mittleren Mittelklasse auf - auch die Väter der hier vorgestellten Frauen gehörten dazu. An den Universitäten studierten 8 % jüdische Studenten und 14 off> jüdische Studentinnen - die Anzahl der getauften Juden ist dabei nicht mitgerechnet. Die Medizin gehörte zu den wenigen möglichen und daher verbreiteten Berufen. Auch Helene Deutsch, Marie Langer und Sabina Spielrein waren Ärztinnen. Die Frage, warum so viele Frauen sich der Psychologie zuwandten, ist schwerer zu beantworten", Abgesehen von den Berufsmöglichkeiten kann auch die religiös bestimmte jüdische Familienstruktur und das daraus erwachsende Interesse am Menschen und seiner seelischen Verfaßtheit eine Rolle gespielt haben. Die meisten der hier genannten Psychologinnen stammten (wie ja auch Freud, Alfred Adler u. a.) z. B. aus dem Habsburgerreich bzw. aus Russland, wo die jüdischen Traditionen auch bei assimilierten Familien noch sehr lebendig waren. Die jüdische Herkunft von herausragenden Frauen, wie auch der dreizehn hier vorgestellten Psychologinnen, sollte man bei aller Konzentration
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auf ihr Werk nicht außer Acht lassen. Zwar hatten vor allem Töchter aus wohlhabenden jüdischen Familien nach der Loslösung von der strengen jüdischen Orthodoxie oft ungeahnte Freiheiten gegenüber ihren an religiöse, soziale und kulturelle Traditionen gebundenen christlichen Altersgenossinnen und sie konnten oft den 2. oder 3. Schritt wagen, wenn diese noch vor dem ersten Schritt zögerten. Sie kämpften für Emanzipation, Demokratie, Freiheit und Gleichheit im öffentlichen wie im privaten und zwischenmenschlichen Bereich. Aber es blieb doch dabei, auch im 20. Jahrhundert, wie Jeanette Wohl 1821 an Ludwig Börne schrieb: "Sie haben recht, das Judentum folgt und verfolgt einen überall hin" (Mentzel, 1907, S. 18).
Dabei hatte sie doch, wie sie 1831 ebenfalls an Börne schrieb, nur einen Wunsch, eine "Schwärmereiu von Kindheit an: " ... wenn nur alle Menschen gleich sein ..., alle Güter und alle Arbeit gleich verteilt werden könnten! ..." (Mentzel, 1907, S. 259 und S. 331).
Wie so viele deutschsprachige Juden verehrte auch sie Schiller und sehnte sich mit ihnen nach I1Gedankenfreiheitu. Literatur: Alejchem, Sch. (1995). Tewje der Milchmann. Leipzig: Verlag: Reclam. Ausländer, R. (1998). Die Spiegel. In: Wir ziehen mit den dunklen Flüssen. Frankfurt/Main: Fischer-Verlag. Hensel, S. (1904). Ein Lebensbild aus Deutschlands Lehrjahren. Berlin: Verlag: B. Behrs. Hermann, G. (1986). Jettchen Gebert. Berlin. Verlag: Kupfergraben. Kaznelson, S. (Hrsg.). (1959). Juden im deutschen Kulturbereich. Berlin: Jüdischer Verlag. Lowenstein, St. M. u. a. (Hrsg.).(2000)Umstrittene Integration 1871-1918, Bd. m. M. A. Meyer & M. Brenner (Hrsg.). Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. München: Beck-Verlag. Mentzel, E. (Rrsg.). (1907). Briefe der Frau Jeanette Strauß-Wohl an Böme. Berlin: Verlag: F. Fontane und Co. Nipperdey, Th. (1991). Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. I, München: Beck-Verlag. Volkov, S. (1994). Die Juden in Deutschland. München: Verlag Oldenbourg.
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Anmerkungen: 1
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3 4 5
Vgl. z. B. zur "PISA-Studie Wolfgang Frühwald, Dicke große Zeigefinger, in: Süddeutsche Zeitung v. 24'/25.2.2002. Der Autor nennt außerdem das gute Schreiben und die Verfügung über einen umgrenzten, lebensbegleitenden Textbestand. Es ist folgerichtig, daß gerade um 1900 (bis 1933/1938) der Erfolg und die Leistung der deutschen Literatur (vor allem in Wien und Berlin), des Theaters, des Pressewesens, der Verlage überproportional jüdischen Autoren zuzuschreiben ist. In manchen preußischen Provinzen gingen jüdische Mädchen 15mal so oft auf höhere Schulen als andere Mädchen, in Frankfurt/Main machten jüdische Mädchen 24 % der Schülerinnen der weiterführenden Schulen aus. Vgl. Shulamit Volkov, 1994,S. 58. Vgl. (auch bei den folgenden Zahlen) Thomas Nipperdey, 1991,S. 396-413. Natürlich waren v. a. jüdische Männer in der Psychologie tätig und hier interessanterweise besonders in der Gestaltpsychologie. "Gestalt psychology was particularly affected by the fact that most of its founders were [ewish" (Encyclopaedia [udaica, vol. 13, Jerusalem 1971). Vgl. auch Siegmund Kaznelson. H
Register
Sachregister Abwehrmechanismen 76, 78-82 Affektpsychologie 181, 183, 187 Aggression 189 Alltagsgespräche mit Kindern 131-135, 137 f. Alternsforschung 195, 197 Aneignung 148 Angewandte Psychologie 224-227 Angst 124f. Anspruchsniveau 189 Antisemitismus 263 Arbeitslosigkeit 254-258 Arbeitspsychologie 224 f., 232 Ärger 181, 185 f., 188 ff. Art-Psyche 50 Asset-mindedness 185 Assimilation 264 Assoziationspsychologie 237 f. .Aus-dem-Felde-Gehen' 201 Autoerotismus 22 Autoritäre Persönlichkeit 239 f. Behinderte 184 f. Beobachtung 102, 104 ff., 109 Berggasse 72, 75 ff. Berufseignungsprüfung 224, 227, 229-232 Bildung 263 ff. Bildungsideal 263 f. British Psycho-Analytical Society 75f. Bürgerkrieg, spanischer 88
Burlingham-Rosenfeld Schule 75 controversial discussions 74 Destruktion 49-53 Dilemma 61 ff., 69 Dividuum 50 Emanzipation 266 Emotion 183 ff. Empirische Sozialforschung 247, 254 f., 258 Entwicklungspsychologie 137, 173 Entwicklungstagebücher 109, 114 Erklären und Verstehen 136 Erotische Feminität 32 Feldtheorie 181 f., 184, 187 ff. Frustration 184, 189 Gedächtnis 169-173 Genitaltrauma 30, 34 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 130 Gestaltzerfall 200 Hampstead Child Therapy Course 77 Hampstead War Nurseries 76 Handlungspsychologie 181, 187 Humanistische Psychologie 159 f.
S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
270 Ich-Psyche 50 Ich-Psychologie 82 f. Idealbildung 24 Identität 264 Internationale Association of Applied Psychology 226 Internationale Psychoanalytische Vereinigung 76 Internationale psychotechnische Vereinigung 226 f. Intoleranz gegen Mehrdeutigkeit 240 ff., 245 [ackson Nursery 75 f. Kastrationskomplex, weiblicher 35 Kinderanalyse 54, 73 ff., 79 ff., 119 ff., 123 Kinderpsychoanalyse 72 f., 75 Kinderpsychologie 130 f., 133-136, 143, 149 Kindersprache 107, 109, 111 f., 134 Kindheit 105, 107 f. Kulturpsychologie 133, 137 Lateinamerika 89 f. Lebenslaufforschung 163, 236, 238, 244 Lebensraum 145-149 Leistungsmotivation 189 Lesefähigkeit 264 Lesen 264 Logischer Empirismus 238, 243 Männlichkeitskomplex 32 f. Masochismus 32 f., 35 Merkwelt 146 Mittwochs-Kolloquium 157 Motivation 195, 202 f.
Sachregister Motivationspsychologie 159 Mütterlichkeit 31-36 Narzissmus 22-25 Neurose 58-69 Nicaragua 93 f. Nichtreduktionistische Sozialpsychologie 260 Objekt böses 124 gutes 124 inneres 122, 124 Teil- 122, 124 Objektbesetzung 22 ff. Objektwechsel 33, 36 Ödipuskonflikt 124 f. Pädagogik 130-137 Passivität 32-36 Pathopsychologie 208 ff., 212 ff., 219f. Personalismus 145 Persönlichkeit 207, 210, 212 ff., 217, 219f. Persönlichkeitsstörungen 216 f., 219 Position depressive 123 ff. paranoid-schizoide 123 ff. Psychiatrie 183 Psychische Sättigung 194 f., 198,-204 Psychoanalyse 41 f., 44--48, 52-55, 85,88-95,97,238-245 Psychotechnik 223-230,232 Reihenstruktur-Experimente 171 Rockefeiler Foundation 156, 158
Namensregister Schweiz 224, 226 f., 232 Selbstbezeichnung 111 f. Sozialpsychologie 132, 137 Spieltechnik 122 f. Spracherwerb 110 f. Störungen der kognitiven Leistungsfähigkeit 216, 218 der Tätigkeit 213, 219 psychischer Prozesse 213-216 speziell des Denkens 208, 213-216 Streifraum 146 Sublimierung 23 f. Tagebuch 102, 105-108, 111, 114 Test 229, 232 Teufelskreis 61, 65, 67 Todestrieb 53, 121, 123 ff. Über-Ich 122, 124 f. Übertragung 122 Unbewußte 122 Vorurteil 193, 196, 197 Weibliches Gesetz 31 Weiblichkeit 86, 94-97 Weiblichkeitsentwicklung 125 Wertsetzung 23 ff. Wiener Kreis 236 ff. Wiener Psychoanalytische Vereinigung 72 f., 75 f. Wiener Psychologisches Institut 156 ff. Wirkwelt 146 Wirtschaftspsychologie 229, 232
271 Yad Vashem 49 Zeigarnik-Effekt 207, 210, 212
Namensregister Abraham, Karl 57, 119 f., 123 Adler, Alfred 20 Adomo, Theodor W. 239 Aichhom, August 72 Alejchem, Scholem 263 Alexander, Franz 58 Andreas, Fred Charles 18 ff. Andreas-Salome, Lou 15-25, 72, 81 Ausländer, Rose 263 Barker, R. 189 Baeumker, Clemens 155 Bauleo, Armando 92 Baumgarten-Tramer, Franziska 223-233 Becher, Erich 155 Bermann, Sylvia 93 Bernfeld, Siegfried 72 Bleuler, Eugen 40 f., 44 Blumenfeld, Walter 226 Bolgar, Hedda 157 Böme, Ludwig 264, 266 Brauns, H.-P. 188, 189 Brunswik, Egon 157, 235-238, 243f. Bühler, Charlotte 143, 153-164, 226, 235-238, 251 f., 256 Bühler, Karl 155-161, 226, 235 ff., 251 f. Burlingham, Dorothy 75 f. Buytendijk, Frederik J. J. 181 ff.
272 Camap, Rudolf 236, 238 Chomsky, Noam 110 f. Claparede, Edouard 45, 47 Cohn, [onas 154 de Lima, S. 184 Dembo, Tamara 179-190 de Rivera, J. 179, 184 f. Deutsch, Helene 27-36, 76 Dollard, J. L. 189 Doob, L. 189 Eng, Helga 158 Erikson, Erik H. 163 Falkenhayn, Karoline von 153 Fenichel, Otto 58, 76, 81 f. Ferenczi, Sander 25.119 Frenkel-Brunswik, Else 157, 235-245 Freud, Anna 20, 71-83, 85, 117, 121 f. Freud, Sigmund 20-25, 27 f., 30, 33 ff., 40-46, 51 ff., 58 f., 65, 68, 71-76, 78-82, 117, 119 ff., 124 ff., 157, 212 Fröbel, Friedrich 143 Fromm, Erich 58 f.
Cal'perin, Pjotr J. 214 Garma, Angel 88 f. Gauss, Hermann 223 Gebsattel, Victor von 20, 153 Gillot, Henrik 16-19 Goens, Georg 153 Goldstein, Kurt 209,212 Hacker, W. 204 Havighurst, Robert 163
Namensregister Heckhausen, Heinz 196,203 Heider, Fritz 182 f. Hensel, Sebastian 265 Hermann, Georg 264 Hetzer, Hildegard 157 Hoppe, Ferdinand 189 Horkheimer, Max 239, 259 Homey, Karen 35, 57-69, 243 Inhelder, Bärbel 165-173 [ackson, Edith 75 Jahoda, Marie 247-260 [ones, Emest 120 Jung, Carl Gustav 39-44, 49, 51 f. Karsten, Anitra 193-204 Katz, David 129-133, 136 f. Katz, Rosa 129-138 Klein, Melanie 45, 73 f., 79, 85, 89, 94 f., 117-126 Köhler, Wolfgang 207 Kuhl, J. 203 Külpe, Oswald 154 Lampl de Groot, Jeanne 88 Langer, Marie 85-97 Lazarsfeld, Paul 157, 248, 251, 253 ff., 257, 259 Leont'ev, Aleksej N. 210, 212 f., 215, 217, 219 Levy, John 161 Lewin, Kurt 180- 185, 187 ff., 193-196, 198 f., 207-213, 219, 235,240 Lück, Helmut E. 184, 186, 188 Lurija, Aleksandr R. 210, 219 Malachowski, Hermann 153
Namensregister Marrow, A. J. 180 f. Maslow, Abraham 160 Massarik, Fred 162 Mendelssohn-Bartholdy, Fanny 265 Meumann, Ernst 101 Meyer, Edith 166 f., 176 Meysenburg, Malwida von 17 f. Miller, N. E. 189 Montessori, Maria 143 Mowrer, O. H. 189 Muchow, Martha 141-150 Müller Georg Elias 130 Nelson, Leonard 130, 137, 139 Nietzsche, Friedrich 17 f., 22 Perls, Fritz 58, 61, 65 Piaget, Jean 45 ff., 55, 143, 166--170, 172 f., 175 f. Rank, Otto 76 Ree, Paul 17 ff. Reich, Wilhelm 58 Richter, P. 204 Rickert, Heinrich 154 Rilke, Rainer Maria 15, 19-22, 24 Ringnes, Ellef 158 Riviere, [oan 120 Rodrigue, Emilio 91 Rosa,A. 187 Rothschild, Berthold 92 Rubinstejn, Sergej L. 214 Rubinstejn, Susanna J. 210,212 Rupp, Hans 180 Sander, Friedrich 228 Schilder, Paul 157, 163 Schlick, Moritz 236, 238
273 Schwarzwald, Eugenie 86 Sears, R. 189 Sethne,Anna 158 Spielrein, Sabina 39-54 Sprung, Helga 188, 191 Sterba, Richard 88 Stern, Clara 101-114, 135, 226 Stern, Erich 163 Stern, William 101 f., 104-107, 109 ff., 113 f., 134 f., 141-145, 148 f., 226 Stierlin, Helm 68 Strachey, Alix 120 Stumpf, Carl 154 Szeminska, Alina 166 f., 175 f. Thomae, Hans 163 Thompson, Clara 59 Tolman, Edward C. 237 Tramer, Moritz 226 Uexküll, Jakob von 145 f. van der Veer, Rene 181 ff., 186, 191 Vygotskij, Lev S. 209, 213-216, 219 WalzeI, Oskar 155 Wertheimer, Max 209 Wertsch, J. V. 180, 185, 187 Wohl, Jeanette 266 Wolf, Käthe 157 Zejgarnik, Bljuma Vol'fovna 207-220
Kurzporträts der Autorinnen und Autoren
Brigitte Bauer, Dr., Psychologische Psychotherapeutin, 1993 bis zu ihrer Emeritierung 2009 Professorin für Psychologie, insbesondere Sozialpsychologie, an der Fachhochschule Münster im Fachbereich Sozialwesen. Gerhard Bauer, Dr., Akademischer Oberrat, lehrte an der Universität Dortmund im Fach Psychologie Pädagogische Psychologie und befasste sich mit Fragen des Transfers zwischen Psychologie und Didaktik, er verstarb 2008. Elfriede Billmann-Mahecha, Studium der Psychologie und Philosophie an der Universität Erlangen-Nürnberg, Professorin für Psychologie im Institut für Pädagogische Psychologie der Leibniz Universität Hannover. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Methoden der Psychologie, moralische Entwicklung, ästhetische Entwicklung . Brigitte Boothe, Prof. Dr. phil, Psychoanalytikerin (DPG, DGPT), Psychotherapeutin (FSP), Studium der Philosophie, Germanistik, Romanistik, Psychologie. Inhaberin des Lehrstuhls für Klinische Psychologie I an der Universität Zürich. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Erzähl- und Traumanalyse, Psychoanalyse der Geschlechterdifferenz, Wunsch und Kommunikation in der Psychoanalyse. Gerald Bühring wurde 1944 in Tulbing bei Wien geboren. 1956 Flucht aus der DDR. Lehre als Zentralheizungsbauer in Wolfsburg und Studium an der Berliner Ingenieurakademie für Bauwesen. Zweitstudium am Psychologischen Institut der Technischen Universität in Berlin. Abschluss als Diplompsychologe. Danach als Heimpsychologe in Gifhorn, freiberuflich als Psychotherapeut und bis 2009 in einer Berliner Beratungsstelle für Kinder- und Jugendpsychiatrie beschäftigt. Promotion 1996 über das Thema IIWilliam Stern oder Streben nach Einheit". Edelgard Daub, Dr. phil., Dipl, Psych., gebe 1955. Studium der Psychologie in Trier und Bonn (Diplom 1980). 1996 Promotion an der RWTH Aachen (Psychologie, Pädagogik, Arbeitswissenschaft) Seit 1985 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der staatlichen Forschungsförderung, Bereiche Humanisierung des Arbeitslebens, Gesundheitsforschung, Genderforschung; seit 2009 Abteilungsleiterin für die Bereiche Bildungsforschung, Chancengleichheit/Genderforschung und Integration. S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Kurzporträts der Autorinnen und Autoren
Christina Deimel (*1975); pädagogisches Studium Geschichte und Sport an der Universität Dortmund; Wissenschaftliche Hilfskraft in der 1/Dortmunder Arbeitsstelle für Plaget-Forschung", Lehrerin in Nürnberg. Werner Deutsch, Prof. Dr. (rer. nat.), Leiter der Abteilung Entwicklungspsychologie der TU Braunschweig. Forschungsschwerpunkte: Sprachpsychologie, Zwillingsforschung, Geschichte der Psychologie, Autismus. Verstorben im Oktober 2010. Dipl.-Psych. Ingeborg Fulde, Psychoanalytikerin (DPV). Studium der Germanistik, Philosophie und Psychologie in Freiburg im Breisgau. Nach dem Studium psychotherapeutische Tätigkeit in der Psychosomatischen Klinik Kinzigtal in Gengenbach. Psychoanalytische Ausbildung in Freiburg. Seit 1995 in freier Praxis tätig. Dozentin für die Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten und zum Erwerb des Zusatztitels 1/PsychotherapieJJ an der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik der Universität Freiburg. Lehranalytikerin (DGPT) im Rahmen der Ausbildung von Diplom-Psychologen in analytischer Psychotherapie. Lilli Gast, Prof. Dr. phil. habil. Ist Professorin und Vizepräsidentin an der International Psychoanalytic University Berlin (IPU) und vertritt dort den Studienbereich 1/Theoretische Psychoanalyse, psychoanalytische Subjekt- und Kulturtheorie", Zugleich außerplanmäßige Professorin am Institut für Sozialpsychologie der Leibniz Universität Hannover. Wissenschaftliche Schwerpunkte in Forschung, Lehre und Veröffentlichungen: Psychoanalytische (Erkenntnis-, Subjekt- und Geschlechter-) Theorie und Metapsychologie sowie Ideen- und Theoriegeschichte der Psychoanalyse. Charlotte E. Haver, geb. in München. Privatdozentin und Lehrbeauftragte am Historischen Institut der Universität Dortmund. Promotion in Geographie in Münster, Habilitation in Dortmund (Geschichte der Frühen Neuzeit). Forschungsschwerpunkte: Migrationsgeschichte, Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Jüdische Kulturgeschichte, Kulturgeschichte des Haushalts. Veröffentlichungen zur jüdischen Kulturgeschichte, u. a. 1/Denalten Traum vom alten Deutschland träumen"? Identitäten im 19. Jahrhundert am Beispiel von Töchtern aus jüdischem Haus. In: P. Conrady (Hrsg.) (2004, S. 29-44) Faschismus in Texten und Medien: Gestern Heute - Morgen? Oberhausen. [oachim Lompscher, Studium der Psychologie und Pädagogik in Moskau, Promotion in Leningrad, Habilitation in Leipzig. Professor für pädagogische Psychologie an der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR, tätig vor allem auf
Kurzporträts der Autorinnen und Autoren
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dem Gebiet der Psychologie der Lerntätigkeit. Nach der Wende arbeitslos, dann Professor für psychologische Didaktik an der Universität Potsdam. Seit 1997 im Ruhestand, verstorben 2003. Etwa 200 Publikationen. Helmut E. Lück, emeritierter Univ.-Prof. für Psychologie an der FernUniversität. Studium in Köln. Autor und Herausgeber von zahlreichen Arbeiten zur Psychologiegeschichte und Sozialpsychologie. Neuere Veröffentlichungen: nlliustrierte Geschichte der Psychologie" (zus. mit R. Miller, 4. Aufl. 2006)1 IIKlassiker der Psychologie" (zus. mit R. Miller und G. Sewz-Vosshenrich, 2000)1 nGeschichte der Psychologie" (4. Aufl. 2009 )1 nPsychologie sozialer Beziehungen" (zus. mit H. Heidbrink und H. Schmidtmann, 2009). Hellmuth Metz-Cöckel, (Prof. Dr.)1 i. R.1 lehrte Allgemeine Psychologie, Sozialpsychologie und Methodik an der Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte sind Motivationspsychologie und Einstellungsforschung. Seine theoretische Orientierung ergibt sich aus seiner gestaltpsychologischen Ausbildung bei Edwin Rausch (Frankfurt am Main). Rudolf Miller, Dr. phil., außerplanmäßiger Professor (i. R.) für Sozialpsychologie an der FernUniversität in Hagen, Institut für Psychologie. Studium der Wirtschaftsund Sozialwissenschaften sowie Psychologie in Tübingen, Köln und Duisburg. Nach Berufstätigkeit im Personalwesen. Leiter eines Modellversuchs zur Studienreform an der GH-Universität Duisburg. Seit 1979 an der FernUniversität. Lehraufträge an den Universitäten Duisburg, Köln und Wuppertal. Elke Mühlleitner, Dr. phil., MSSc1 Psychologin und Sozialwissenschaftlerin, Forschung, Lehre und Publikationen in der Wissenschaftsgeschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie. 2008 erschien ihre Biographie über Otto Fenichel im Zsolnay Verlag. Dr. rer. nat. Helga Sprung. 1939 geboren. Studium der Psychologie in Berlin und Jena. 1962 Diplom in Psychologie. 1971 Promotion. 1962-1977 Forschungen auf dem Gebiet der experimentellen Klinischen Psychophysiologie. 1992-1996 Lehrtätigkeit auf dem Gebiet der Geschichte der Psychologie. Weitere Arbeitsgebiete: Methodenlehre, Psychodiagnostik, Psychopharmakologie, Psychologiegeschichte, Frauen in der Geschichte der Psychologie. Status: Im Ruhestand.
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Kurzporträts der Autorinnen und Autoren
Anastasia Tryphon, Diplom-Psychologin, Studienfachberaterin der Fakultät für Psychologie der Universität Genf. Veröffentlichungen zur Entwicklungspsychologie und zur Psychologiegeschichte. Sibylle Volkmann-Raue, Dr., Priv.-Doz., i. R., war bis 2009 an der Universität Dortmund im Fach Psychologie tätig, Schwerpunkt: Entwicklungspsychologie. Leiterin der IIDortmunder Arbeitsstelle für Piaget-Forschung". Veröffentlichungen zur Aggressionsforschung, zur Entwicklungspsychologie (insbes. zu [ean Piaget und Bärbel Inhelder) und zur Psychologiegeschichte.
Abbildungsnachweis
Lou Andreas-Salome: Aus dem Nachlass von Lou Andreas-Salome, entnommen aus: Lou Andreas-Salome: Lebensrückblick. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1986. Helene Deutsch: Privatbesitz Paul Roazen aus: Lisa Appignanesi & [ohn Forrester: Die Frauen Sigmund Freuds. List Verlag, München 1992. Sabina Spiel rein: Aldo Carotenuto (Hrsg.): Sabina Spielrein I; Tagebuch einer heimlichen Symmetrie. Kore Verlag Traute Hensch, Freiburg 1986. Karen Horney: Foto von Fredy Crevenna aus: Paris, Bernhard J.: Karen Horney. A Psychoanalyst's Search for Self-Understanding. Yale University Press, New Haven und London 1994. Anna Freud: Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien. Marie Langer: Ute Schendel, Basel, Schweiz. Clara Stern: Privatbesitz. Melanie Klein: Foto von Douglas Glass. Weleome Centre Medieal Photographie Library, London. Rosa Katz: Privatbesitz Gregor Katz, Stockholm. Martha Muchow: Martha Muchow & Hans Heinrich Muchow: Der Lebensraum des Großstadtkindes. Hrsg. von B. Schonig & J. Zinnecker. päd extra, Bensheim 1978. Charlotte Bühler: Privatbesitz, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Herrn Professor Achim Eschbach. Bärbel Inhelder: Archives [ean Piaget, Genf. S. Volkmann-Raue, H. E. Lück (Hrsg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, DOI 10.1007/978-3-531-93064-0, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Abbildungsnachweis
Tamara Dembo: Bildarchiv Clark University, Massachusetts, USA. Anitra Karsten: Ludwig Pongratz (Hrsg.): Psychologie in Selbstdarstellungen. Verlag Hans Huber, Bern 1979. Bljuma Zejgarnik: Privatbesitz Andrey Zeigarnik, 1921. Franziska Baumgarten: Schweizerisches Literaturarchiv, Bundesamt für Kultur, Bern. Else Frenkel-Brunswik: Privatbesitz: Marta Fischier, geb. Frenkel (TelAviv, Israel). Marie [ahoda: Marie [ahoda: Sozialpsychologie der Politik und Kultur. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Christian Fleck. Nausner & Nausner, Graz/ Wien 1995.