ANNE GOLON
1 Band 6
Anne Golon
Angélique
und Joffrey
Roman
DEUTSCHER BÜCHERBUND
STUTTGART
Aus dem Französis...
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ANNE GOLON
1 Band 6
Anne Golon
Angélique
und Joffrey
Roman
DEUTSCHER BÜCHERBUND
STUTTGART
Aus dem Französischen übertragen von
Hans Nicklisch
Titel des Originals
»Angélique et le Nouveau Monde«
Book-FreewareZ ©2004
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(Reader 6.0: Dokument - Dateianhang)
© 1967 by Opera Mundi, Paris
Jeder Nachdruck, jede Übersetzung oder Bearbeitung, gleich welcher
Form, auch teilweise, ist in allen Ländern untersagt
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe besitzt der Lothar Blanvalet
Verlag in Berlin
Lizenzausgabe nur für die Mitglieder des Deutschen Bücherbundes
mit Genehmigung des Verlags
Gesamtherstellung R. Kiesel, Salzburg
– 1880/4 –
Erster Teil
Die ersten Tage
Erstes Kapitel
»Also bin ich bei ihm!« Unablässig umflatterte dieser Gedanke Angélique. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, ob es eine Über legung ihres Verstandes war – denn sie fühlte sich in diesem Augenblick völlig unfähig, Überlegungen anzustellen – oder etwas, was sie äußerlich bedräng te, ähnlich dem summenden Flug der Mücken und Fliegen. Es kam, verschwand, kehrte beharrlich wie der und flatterte von neuem davon. »Also bin ich bei ihm …!« Ganz davon in Anspruch genommen, ihr Pferd sicher auf dem steilen Pfad zu halten, schenkte Angélique der Bedeutung des quälenden Summens keine Aufmerksamkeit. »Ich bin bei ihm! … Ich bin bei ihm!« Es wiederholte sich in zwei Klangfarben. Einer zweifelnden und einer bestätigenden. Einer er schreckten und einer jubilierenden. Und es beglei tete wie ein Leitmotiv leise den müden Schritt ihres Tiers. Die junge Frau, die an diesem amerikanischen Herbsttag unter dem Baldachin purpurnen Ahorn laubwerks dahinritt, trug einen breitkrempigen, mit einer Feder umwundenen Männerfilzhut, in dessen Schatten ihre Augen klar wie das Wasser einer Quelle wirkten. Um ihr Haar vor dem Staub des Weges zu bewahren, hatte sie es in eine leinene Kappe gezwängt. 5
Sie hatte darauf verzichtet, im Amazonensitz zu rei ten, und ihre langen Röcke enthüllten die in hohen Reiterstiefeln steckenden Beine bis zu den Knien. Ihr Sohn Cantor hatte ihr die Stiefel bereitwillig geliehen. Ihre Finger umkrampften, weiß um die Knöchel, das in ihren feuchten Händen wie schwammig geworde ne Leder der Zügel, um den Kopf des Tiers bergauf wärts zu halten und so zu verhindern, daß es sich der zur Linken steil abfallenden Kluft zuwandte, deren dunkle Tiefe es zugleich anzuziehen und in Panik zu versetzen schien. War es der Abgrund oder das seinen Durst peinigende Rauschen des Sturzbachs, was es so unruhig machte? Es war ein ausdauerndes und schönes Tier, das je doch seit Beginn der Reise durch die Aufgabe, zu der man es zwang, völlig außer Fassung geraten schien. Wenn man sich’s recht überlegte, hatte es auch Grund dazu, denn nichts war weniger für den edlen Lauf eines Pferdes geeignet als diese unter den Bäumen kaum sichtbaren Pfade, die sich über Berg und Tal schlängelten, sich in Sumpf und verbrannter Heide verloren, an Flüssen endeten, durch die man lange Stunden waten mußte, wenn der Wald zu undurch dringlich war, Höhen erklommen und in Abgründe tauchten mit der Kühnheit aller Fußpfade, auf denen der Mensch die kürzeste Verbindung sucht, ohne sich um die kostbaren Gelenke eines Pferdes kümmern zu müssen. Der Pfad, dem sie jetzt folgten, war mit trockenem, von der Sonnenglut fast rosig gebleichtem Gras be 6
wachsen. Das Pferd glitt jeden Augenblick aus, da sei ne ungeduldigen Hufe keinen Halt fanden. Angélique hielt es mit fester Hand, beruhigte es durch den blo ßen achtsamen Druck ihrer Schenkel und zwang es voran. Sie kannte es jetzt, und wenn es auch ständige Bemühungen forderte, fürchtete sie doch nicht mehr, daß es sich ihren Weisungen widersetzen konnte. Es würde tun, was sie ihm befahl; daß sie am Abend er schöpft und steif im Lager anlangte, war eine andere Sache. Sie kamen vorwärts, erreichten die Höhe. Die schattenerfüllte Schlucht, überschäumt vom Gelb und Rot der Bäume über dem Wassersturz, blieb hin ter ihnen, verschwand zwischen zwei abschließenden Felsmauern, und vor ihnen lag eine Art Plateau, über das ein leiser Windhauch strich, der den Duft von Harz mit sich trug. Angélique atmete tief. Ein Nadelholzwald zog sich in einiger Entfernung dahin, Fichten, blaue Zedern, verfilzte Rottannen, eine düstere Armee, verschwimmendes Smaragdgrün und bläuliches Grau, bestickt mit nadligen Rosetten und Girlanden. Der Boden war wieder felsig geworden, zerrissen von bloßliegendem hartem Schiefergestein, auf dem die Hufe des Pferdes klirrten. Der hartnäckige, kleine Gedanke kehrte wieder, umflatterte sie im erfrischenden Hauch der leichten Brise. »Also ist es wahr – ich bin bei ihm!« 7
Angélique ließ die Zügel locker und milderte den Druck ihrer Knie gegen die Flanken des Tiers. Sie hielt an und hörte wie beim Erwachen aus ei nem Traum noch den Widerhall. Sie erschrak, hob den Kopf, und ihr Blick suchte am anderen Ende der Karawane eine Gestalt. »Er«, das war dort vorne, an der Spitze der Karawane, der Graf Joffrey de Peyrac, großer Reisender vor dem Herrn, Abenteurer zweier Welten, der Mann mit dem dramatischen Geschick, der Glanz und Elend gekannt hatte und nun, ein düsterer Reiter, Tag für Tag mit ebenso unerschütterlicher wie hochmütiger Selbstverständlichkeit seine Schar hinter sich herzog. »Niemals kommen wir da durch«, hatte sich Angé lique oftmals vor einem Hindernis gesagt. »Es wäre Wahnwitz, wenn Joffrey …« Und schon hatten sie es in Angriff genommen, waren sie einer nach dem andern, Reiter nach Spurenleser, Träger nach Reiter, im Unterholz ver schwunden, im Tunnel eines Felsspalts, wateten sie durch die Strömung des Flusses, über das schwan kende Niemandsland eines Sumpfes, tauchten sie ins Unbekannte eines Hügelgewirrs, über das der Abend seine ersten Schatten warf. Jedesmal schien es weder möglich noch vorhersehbar gewesen zu sein, und doch gelang es. Joffrey de Peyrac kündigte solche Überraschungen niemals an. Er bot sie, als verstün den sie sich von selbst. Angélique fragte sich noch im mer, ob er wirklich wußte, wohin er ritt, oder ob sie nur der Zufall schließlich doch zum sicheren Hafen 8
führte. Hundertmal hatten sie sich verirren, hätten sie umkommen müssen. Aber Tatsache war, daß nie mand umkam. Und seit drei Wochen hatten sich die Angehörigen der kleinen Karawane, die in der zweiten Oktoberhälfte von Gouldsboro aufgebrochen war, in ihr Schicksal gefügt: braungebrannt, die Augen blank vom gleißenden Licht, vom Blau des durch das vielfar bige Kaleidoskop des Laubwerks erspähten Himmels, in ihrer Kleidung die Gerüche der Holzfeuer und des Herbstes, des Harzes und der Himbeeren. In der ungewöhnlichen Wärme dieses Spätherbstes verflog der Dunst der Seen in den ersten Morgenstunden, enthüllte glitzernde, klare Wasserflächen und ließ im Unterholz eine Trockenheit zurück, deren Knacken weithin hallte. Des Abends brach die Kühle auf eine jähe, fast unerwartete Art herein und ließ schon die Kälte des Winters ahnen, aber es gab noch viele grüne, kaum sich gelb verfärbende Bäume. Wie durch ein Wunder tauchte dann der Lagerplatz auf, ein wenig abgelegen, um den Stechmücken zu entgehen. Feuer lohten auf. Geschickt schlugen die Indianer im Unterholz lange Stangen, und in weniger als einer Stunde erhoben sich auf der Lichtung spitze »Tipis«, gedeckt mit zu sammengenähter Birkenborke oder großen Stücken Ulmenrinde, die wie die Ziegel eines Dachs über einandergelegt wurden. Bei den ersten Malen hatte sich Angélique gefragt, wie man die Rindenstücke in so kurzer Zeit von den Bäumen lösen konnte. Später bemerkte sie, daß Joffrey Leute vorausschick 9
te, die den Pfad freizuschlagen oder zuweilen auch erst anzulegen und das Lager vorzubereiten hatten. Manchmal erwartete auch niemand die Karawane bei ihrer Ankunft, aber dann trieb der eine oder andere mit der Findigkeit eines nach Knochen stöbernden Hundes in einem Waldwinkel große Moosstücke auf, oder sie rollten Steine vom Eingang einer Höhle und entdeckten einen versteckten Stapel Ulmenrinde, für Reisende dort aufgehäuft, und gelegentlich auch ei nen vergrabenen Maisvorrat. Es war sicherlich primitiv, aber es genügte. Für die drei weißen Frauen, Angélique, Madame Jonas, ihre Nichte Elvire, und die drei Kinder, die sie begleiteten, wurde ein Drillichzelt errichtet. Der Boden war mit Tannenzweigen und Bärenfellen ausgelegt, die auch zum Zudecken dienten. Angenehme Wärme herrsch te in diesem Unterschlupf, und man schlief dort gut, sofern man nicht an Federbetten und Daunenkissen gewöhnt war, was auf Angélique und ihre Tochter nicht zutraf, die in ihrem abenteuerlichen Dasein weit unbequemere Unterkünfte kennengelernt hatten. Das unverändert schöne Wetter erleichterte die Reise. Wenigstens brauchten sie nicht ihre vom Regen durchnäßte Kleidung zu trocknen. Jagd und Fischfang lieferten jeden Abend kräftige Nahrung, die den üblichen Zwieback und den aus Gouldsboro mitgebrachten Speck ergänzte. Doch je mehr die Tage und schließlich Wochen verstrichen, desto fühlbarer wurde die Erschöpfung aller Beteiligten. Angélique spürte sie besonders an 10
diesem Morgen, während die Hufe ihres Pferdes über den steinigen Boden klirrten. Die grauen Stämme der Fichten schienen das Geräusch zu verstärken, das die Stille, in der sie sich bewegten, noch unterstrich. Seit einigen Tagen schon war Cantors Gitarre verstummt, und die Scherze und Bemerkungen, mit denen sich Maupertuis und Perrot die Zeit vertrieben, waren nicht mehr zu hören. Man ritt und marschierte, aber man sprach nicht mehr. War es Müdigkeit oder die instinktive List bedrohter Wesen, die sich so unauffäl lig wie nur möglich zu bewegen suchen? In der Früh hatte Honorine hinter Angélique aufsitzen wollen. Es war das erstemal seit ihrem Aufbruch. Bis dahin hatte sie ihre Gesellschaft nacheinander allen Reitern aufgenötigt, die keineswegs böse darüber waren, denn sie erwies sich als recht unterhaltsam. Sogar auf den mit Fett eingeschmierten Schultern einiger Indianer, mit denen sie sehr interessante Gespräche geführt zu haben vorgab, hatte sie sich tragen lassen. Heute wollte sie nun zu ihrer Mutter. Angélique spürte, daß sie, an ihren Rücken gepreßt, eingeschla fen war. Bei schwierigen Wegstücken lief das Kind Gefahr herunterzugleiten. Doch Honorine war zu Pferde aufgezogen, war während endloser Ritte durch die Wälder des Poitou vom Schritt der Tiere gewiegt worden, und instinktiv klammerte sie sich im Schlaf fester um die Taille ihrer Mutter. Der Pfad verlor sich in einem Streifen grauen, mit Fichtennadeln vermischten Sandes, der die Geräusche der Hufe erstickte. Das Knirschen der Sättel, das lei 11
se Schnauben der Pferde, die sich gegen die Mücken wehrten, verschmolzen mit dem Hauch des Windes. Er strich durch die Fichten mit einem tiefen Raunen, das ans Meer erinnerte. Die Bäume waren sehr groß. Ihre kerzengeraden lichtgrauen Stämme ragten ge waltig auf, breiteten ihr horizontales Geäst mit archi tektonischer Strenge aus. Sie schienen wie von Men schenhand gepflanzt. Unwillkürlich dachte man an Kathedralen, an die großen Parks der Ile de France. Aber es war nur ein Park der wilden Natur, ge formt durch den Zufall der Winde und des Bodens. Die Pferde atmeten die duftende Kühle. Ihre Sinne verrieten ihnen das Ungewöhnliche dieser ersten Begegnung mit den Giganten einer unerforschten Welt, aber als zivilisierte Kreaturen edlen englischen und irischen Bluts überwanden sie ihre Angst. Ein Zapfen kollerte von Zweig zu Zweig, eine jener läng lichen, schuppigen Früchte, geöffnet wie Seerosen und mit weißlichem Harz bereift. Bei dem Geräusch fuhr Angélique zusammen. Ihr Pferd strauchelte. Honorine erwachte. »Es ist nichts, mein Liebling«, sagte ihre Mutter. Sie hatte mit leiser Stimme gesprochen. Dort oben hockten Eichhörnchen und folgten ihnen mit den Blicken. Seit fast einer Stunde führte der Weg eben zwi schen den grauen Säulen der Fichten dahin. Das Terrain begann allmählich abzufallen, Tannen mischten sich unter die Fichten, tiefer am Hang zeig ten sich wieder Birken, Espen mit noch fast grünem 12
Laub, schon verfärbte Ulmen, knorrige Eichen, und schließlich empfing sie die Symphonie des Ahorns, einer Baumart, der Angélique in solchem Überfluß noch nie begegnet war. Sie war es, die dem Herbst seine schönsten Tönungen verlieh: von der Farbe des Honigs über Scharlachrot bis zum goldenen Braun. Kurz bevor die Karawane in purpurblättriges Unterholz tauchte, öffnete sich zur Linken ein weiter, von dunklen Bergen begrenzter Horizont. Es waren die ersten, die sie sah; denn obwohl es ihr vorkam, als seien sie in den letzten beiden Wochen unablässig auf und ab geklettert, hatten die Reisenden bisher nur ein durch Erosion abgeflachtes, von tief eingefressenen Klüften durchzogenes Hügelland durchquert. Die Berge wirkten nicht sehr hoch, schienen sich aber endlos hinzuziehen in einem sanften, blaue und graue Töne mischenden Wellenspiel, weit in der Ferne mit einem ihm ähnlichen wolkigen Gewoge verschmelzend, das sich in den Himmel türmte. Zu ihren Füßen breitete sich, rötlich unter zarten Nebelschleiern, ein Tag. Es war riesig, still und heiter. Und zum Sterben menschenleer. Dieses Panorama, das ihr unversehens das Maß der Welt vermittelte, in der sie sich befand, ergriff und be drückte Angélique. Es war die nach vielen Illusionen erfolgte Enthüllung der wirklichen Dimensionen ei ner kaum zu bewältigenden Aufgabe. Sie fragte sich, ob sie je woanders gelebt, ob sie sich je in einer Menge befunden hatte, unter anderen Frauen, bei Hofe, in Versailles, ob es möglich war, daß es in der Welt von 13
Menschen wimmelnde, lärmerfüllte Städte gab, von Grenzen eng umschlossene Völker, überquellende, unruhige Nationen. Es schien ihr unvorstellbar. Sie erlebte die ersten Tage der Welt, den Triumph der stummen Materie: Wasser, Erde, Fels, Sümpfe und Wolken, Blätter und Himmel. Über alles andere hatte sich für sie das Schweigen gesenkt. Der zusammenrauschende Vorhang hatte die ge räuschvolle Komödie der Vergangenheit beendet, in der sie das funkelnde, einsame Dasein einer schönen, umworbenen und bedrohten jungen Frau geführt hatte. Es war wie ein roter Theatervorhang, der ge fallen war und hinter dem sie nun von weit her das Gelächter und die Spötteleien der Zuschauer hörte. Ein Zittern überlief sie, sie richtete sich mit einem Gefühl von Übelkeit im Sattel auf. »Ich wäre fast eingeschlafen. Wie dumm! Ich hätte mir die Rippen brechen und Honorine mitreißen können …« »Fühlst du dich wohl, Honorine, mein Liebstes?« »Ja, Mama.« Sie ritten durch ein Wäldchen von Ahornbäumen, das der Herbst von den Gipfeln bis zum Boden in Scharlach getaucht hatte, denn die abgefallenen Blätter bildeten schon einen dicken Teppich. Nur mit Mühe unterschied man im Laubwerk die schwarzen Stämme und die Äste, die diese ganze Pracht trugen. Das durch die Kronen rieselnde Sonnenlicht weckte in ihnen die Glut von Schmiedefeuern, das festliche Leuchten von Kirchenfenstern. Drei freche schwarz weiße Elstern hüpften lärmend von Ast zu Ast. 14
»Ah, die sind’s nur! Ich glaubte schon, Madame de Montespan zu hören.« Angélique lachte leise. Madame de Montespan, ihre Rivalin in Versailles, war fern, und die Erinnerung an sie hatte in der Tat etwas von einem pittoresken Alptraum. Sie enthielt ebensowenig Substanz wie die leere Schale einer Frucht, die man zwischen zwei Fingern zerdrückte. Der Hof, die Liebe Ludwigs XIV. für sie, Angélique … Der Vorhang hatte sich darüber gesenkt. All das lag hinter ihr. Das war es, was sie empfand. Und vor ihr dehnte sich die Wildnis, war dieser wiedergefundene Mann. Ein neuer Anfang in jeder Hinsicht. Sie hatte einst ähnliches empfunden, als sie mit Colin Paturel durch die Einöden des Maghreb geflo hen war. Ein Abstreifen ihres ganzen Wesens, einen Bruch mit sich selbst. Aber es war nicht das gleiche, denn damals war sie aus der Wildnis geflüchtet, und Colin Paturel hatte nur ihren Weg gekreuzt. Während heute die Wildnis, die durchquert werden mußte, nie enden würde und sie an den Mann gebunden war, den sie liebte. – Sie war bei ihm. Und dieser flatternde, unablässig wiederkehrende Gedanke erfüllte sie plötzlich mit gegensätzlichen Empfindungen, einem Gefühl tiefen Friedens, unaus sprechlichen Glücks, aber auch eisigen Schreckens, jäh wie ein unerwartet sich öffnender Abgrund zu ihren Füßen, so daß sie wie von fiebrigen Schauern geschüttelt wurde. Der Schrecken rührte von jenem Wort »gebunden« her und von der Vorstellung der 15
Wildnis, die von nun an nie enden würde. Prüfend betrachtete sie ihre Hände, die die Zügel des Pferdes hielten. Sie waren fein gegliedert und lang, und so mancher Mann hatte sie geküßt, ohne die Kraft zu ahnen, die sich in ihnen verbarg. Es war diese durch viele Jahre geübte Kraft, die ihr heute erlaubte, mit gewichtigen Waffen umzugehen, Teig zu kneten, Wäsche zu wringen und ein scheues Pferd zu bestei gen. Es waren makellose Hände, ohne Ringe, ohne den kleinsten Schmuck. Ihre Hände! Angélique hatte Vertrauen in ihre Hände, sie wa ren ihre besten Verbündeten. Doch in allem ande ren fühlte sie sich zuweilen müde. Eine kindliche Schwäche. Herz und Geist verwirrt, überempfindlich die Gefühle, die Tränen dicht beim Gelächter, bestürzt durch ein Wort, beglückt durchs nächste, unsicher, ratlos, dazu die namen- und ziellose Bedrücktheit, die in ihr aufstieg und sie überwältigte, wie die hochge türmten Wolken dort hinten nach und nach das reine Blau des Himmels schluckten. Alles war zu schnell gegangen. Jetzt ging alles zu langsam. Zu rasch, zu jäh aufschießend die Freude jenes Morgens, an dem er vor allen anderen ihre Hand genommen und gesagt hatte: »Ich stelle Ihnen mei ne Frau vor, die Gräfin de Peyrac.« Zu schmerzhaft blendend wie die Entladung eines Blitzes die jenes Augenblicks, in dem sie ihre Söhne lebendig vor sich sah. 16
Zu heftig, zu überwältigend die Freude der Nächte, in denen ihr wiedererwachter Körper von neuem die dunkle Glut des Verlangens empfand. Sie fühlte sich wie in einen Strudel gerissen, ver gewaltigt. Das rotglühende Eisen der Freude, des Glücks durchdrang sie, ohne daß sie sich noch ganz aus jenem anderen, unter Schmerzen geborenen Ich zu lösen vermochte, der vom Brandmal des Königs gezeichneten Frau, der Rebellin, in deren Haut sie zuweilen zurückzuschlüpfen schien. In solchen Augenblicken traf sie die Wirklichkeit wie eine Kugel und versetzte sie in einen Zustand des Schocks und der Betäubung. »Aber es ist ja wahr! Er ist da. Ich bin bei ihm.« Freude und Angst vermisch ten sich. Sie war einer Ohnmacht nahe. Solchen Momenten glühend-eisigen Bewußtwer dens zog Angélique die schläfrige Gedankenlosigkeit vor, die das langsame, mühselige Reiten begünstigte. Genaugenommen gab es keine gefährlichen Passagen auf dieser Reise, aber alles war ungewöhnlich. Die Aufmerksamkeit blieb wach. Nur das Denken schlummerte, als weigerte es sich, sich mit irgend etwas außerhalb des schmalen Pfades zu befassen, außerhalb seiner Windungen und Unebenheiten, sei ner Zeichen und Gerüche, sich mit Fernerliegendem zu beschäftigen als seinen greifbaren Merkmalen, Steinen, Blättern, Gras, und dem, was ihn unmittel bar säumte. »Und doch habe ich immer zuviel Phantasie ge habt«, sagte sich Angélique. »Ich träumte … Ich lebte 17
in meinen Träumen, es gefiel mir in ihnen so gut, daß ich Mühe hatte, wieder in die so verschiedene und oft enttäuschende Wirklichkeit zurückzufinden. Wenn ich damit anfange, mir vorzustellen, daß hinter die sem endlosen Heer von Bäumen eine ebenso endlose, feindselige Wildnis auf uns wartet, werde ich mich zu früh verbrauchen. Besser ist es zu warten, bis ich weiß, was dieses Land wirklich bedeutet, und nicht zu den ken. Oh, dieses Rot!« murmelte sie. »Kann man sol che Pracht erträumen? Kann man sie nur im Traum sehen?« fragte sie sich, plötzlich schwärmend und wie über sich hinausgehoben durch ein impulsives Gefühl der Bewunderung, mit trunkenen Augen sich am Geriesel der Farben weidend, denen Licht und Schatten unzählige Nuancen verliehen. Rot, Safrangelb und Rosa hoben sich vor dem bron zefarbenen Hintergrund des mit duftenden schwar zen Brombeeren durchsetzten Unterholzes ab. Angé lique glaubte, an einem nahen Baumstamm etwas sich bewegen zu sehen, und entdeckte zwei kletternde schwarze Bärchen, mit allen vier Tatzen in die Rinde verkrallt, die dem Pferd ihre neugierigen, zugleich vorwitzigen und treuherzigen Gesichter zuwandten. Sie mußte Honorine wecken, um sie ihr zu zeigen, so drollig waren sie. Doch dann überlegte sie, daß die Bärenmutter vielleicht in der Nähe war, und überzeugte sich, daß die Pistolen, die Joffrey ihr gegeben hatte, sich in der Satteltasche befanden. Ziemlich weit hinter ihr erschien das Pferd Meister 18
Jonas’ unter einem zweifachen hochroten Spitzbogen. Der Uhrmacher aus La Rochelle hockte mit rundem Rücken im Sattel, wie unter der Last des feurig lo henden Laubs gebeugt. Auch er schien im Reiten zu dösen. Angélique beobachtete ihn besorgt. Wenn die Bärenmutter sich im Gesträuch dort hinten rührte, würde das Pferd vermutlich erschrecken. Aber es passierte nichts. Meister Jonas und sein Gaul zogen an den höchst interessierten kleinen Bären vorbei, die mit ihren munteren Äuglein lange das apokalyp tische Tier verfolgten, dessen Rückenauswuchs, von einer Art schwarzem Kegel gekrönt – die Bären wuß ten nicht, daß der Kegel ein Hut war –, ein sonores Schnarchen von sich gab. Meister Jonas und seine Frau hatten den Grafen Peyrac gebeten, sich seiner Expedition anschließen zu dürfen, statt in Gouldsboro zu bleiben. Zusammen mit ihrer Nichte Elvire, der Witwe des Bäckers, und ihren beiden kleinen Kindern bildeten sie das hugenottische Kontingent der Karawane und damit Angéliques persönliche Beziehungen. Die anderen, unter ihnen Italiener, Deutsche, Engländer oder auch Schotten, kannte sie nur wenig und konnte sie kaum voneinander unterscheiden. Sie machte sich dieses für sie ganz ungewöhnlichen Kontaktmangels wegen Vorwürfe. Im allgemeinen kam sie ihresgleichen mit einer gewissen Neugier entgegen, die sehr rasch zu Bekanntschaften führte. Aber das waren die »Leute« Peyracs, nicht die ihren, und so verharrten beide Seiten noch in abwartender Haltung. 19
Nur Nicolas Perrot, der kanadische Waldläufer, hob sich von ihnen ab, unentbehrlicher und nütz licher denn je und immer im rechten Moment zur Stelle, um ihr einen Dienst zu erweisen. Er ging mit Vorliebe zu Fuß, im unermüdlichen, lautlosen Schritt der Indianer, das Gewehr mit dem Kolben nach oben geschultert. Oft marschierte er voraus, um, wo es not tat, den Pfad zu säubern und das Lager des Abends vorzubereiten. Angélique war der Meinung, daß dieser in sich ruhende und doch auch mysteriöse Bursche ihr all das zugänglich machen könnte, was sie erschreckte, aber zweifellos wäre er über ihre Gedanken sehr erstaunt gewesen, denn alles, was ihn umgab, war ihm vertraut: Ein Baum war ein Baum, ob er nun rot war oder nicht, ein Fluß war ein Fluß, ein Indianer ein Indianer, und wichtig war nur, so schnell wie möglich herauszufinden, ob es sich um einen Freund oder einen Feind handelte. Ein Freund war ein Freund, ein Feind war ein Feind, ein Skalp war ein Skalp, eine Rast um eine mit Tabak gestopf te Friedenspfeife war die vorzüglichste, ein Pfeil ins Herz die unerfreulichste Sache der Welt. In dieser Hinsicht war er einfach; sein Geheimnis wuchs ihm nur aus seiner Kenntnis von seltsamen und ungewöhnlichen Dingen zu. Er war sich dessen nicht bewußt. Sie bedauerte, daß er nicht in der Nähe war. Sie hätte ihn gern nach den Namen der Pflanzen längs des Weges gefragt. Manche waren ihr bekannt, andere nicht. Sie hätte ihn gefragt, wie man Pferde in einem 20
Land ernähren wollte, in dem es keine Wiesen gab und das Unterholz aus Gestrüpp, totem Laub und abgebrochenen, trockenen Ästen bestand, ohne eine Spur von Gras. Sie ahnte, daß diese Frage ihm zu schaffen machte. Er hatte ihr schon des langen und breiten erklärt, daß man diese Gebiete nur auf den Flüssen durchqueren könne und daß die kleinen in dianischen Kanus aus Birkenrinde, die man sich vor Stromschnellen auf die Schultern lade und ein Stück weiter wieder ins ruhige Wasser setze, die einzigen Transportmittel seien. Kopfschüttelnd hatte er hinzu gefügt: »Aber mit Pferden und Frauen natürlich …!« Der Wald endete in purpurnen Sonnenuntergangs farben zwischen Felswänden, die mehr und mehr zusammenrückten und schließlich eine Art Treppe bildeten. Wasser rann ihnen über die Stufen entge gen, aber diesmal war die Höhe nicht allzu schwer zu erklettern. Bevor sie ihren Weg fortsetzte, wandte Angélique sich um und warf einen Blick auf die Schlucht zu rück, aus der sich die Angehörigen der Karawane, einer nach dem andern, teils zu Pferd, teils zu Fuß, wie aus einem Schacht heraufarbeiteten. Sie bemerk te ihren schwerfälligen Schritt. Alle, selbst die jungen, schienen von Müdigkeit und der drückenden Wärme mitgenommen. Hinter ihr auf dem Pferd schlummerte Honorine noch immer. Dort, wo die Kleine sich an sie drückte, empfand Angélique ein Gefühl heißer Feuchtigkeit. Schon die leiseste Berührung war in dieser für die 21
Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze fast unerträglich. Der Schweiß rann ihr den Rücken hinunter und verklebte ihr Hemd mit der Haut. Trotz der breiten Krempe ihres Hutes schmerzte sie der Nacken. Einer der Männer der Karawane trottete mit ei nem vagen Gruß an ihr vorbei. Er hatte nicht einmal den Kopf gehoben, und seine schleifenden Schritte hinterließen kleine Wölkchen aufwehenden Staubs. Angélique warf noch einen Blick zurück. Cantor war nicht zu sehen, und leise Unruhe um ihren jüngeren Sohn stieg in ihr auf. Einer nach dem andern zogen die Männer an ihr vorüber, unter ihre Lasten gebeugt. Einige sprachen englisch untereinander. Im Vorbeigehen blickten sie kurz auf, grüßten zuweilen die am Wegrand haltende junge Frau, blieben jedoch nicht stehen. Im Verlauf der letzten Wochen hatte Angélique durch Beobachtung dieser vom Grafen Peyrac für die Expedition ins Hinterland des amerikanischen Kontinents ausgewählten Männer nur erfahren, daß sie wenig gesprächig, verschlossen, außerordentlich ausdauernd und ihrem Herrn absolut ergeben waren. Es waren rauhe Burschen, und es bedurfte keiner hellseherischen Fähigkeiten, um zu erraten, daß jeder für sich ein Geheimnis zu verbergen hatte. Diese Art Männer war Angélique nicht unbekannt. Sie wußte auch, daß ihr Vertrauen nicht leicht zu gewinnen war. Später würde sie sich mit ihnen beschäftigen. Ihre jetzige Aufgabe, ein widerspenstiges Pferd zu lenken, 22
über ihre kleine Tochter und die hugenottischen Freunde zu wachen, die sie begleiteten, forderte alle ihre Kräfte. Obwohl sie an lange Ritte über Berg und Tal ge wöhnt war, machte sie sich zuweilen Sorgen. Sie erin nerte sich des zweifelnden Ausdrucks ihres Mannes, als sie ihn gebeten hatte, sie mitzunehmen, und sie begann ihn zu verstehen. Das Abenteuer, das sie in der Wildnis der Provinz Maine erwartete, in der der Graf Peyrac Gold- und Silberminen ausbeuten woll te, dieses Abenteuer, begriff sie nun, würde voller un vorhersehbarer, unbekannter Schwierigkeiten sein, wie schon dieser Pfad bewies, dem sie seit so vielen Tagen folgten. Auch Indianer passierten sie nun, Männer und Frauen, die in der überhitzten Luft einen Geruch zurückließen, der an die Ausdünstungen wilder Tiere erinnerte. Am Ufer des Flusses Penobscot waren sie zur Karawane gestoßen. Sie gehörten einem kleinen Stamm abenakischer Rasse an, den Metallaks, und befanden sich auf dem Rückweg von der Küste, wo sie Tauschhandel betrieben hatten, zu ihren üblichen Jagdgründen in der Umgebung des Umbagogsees. Aus Furcht vor möglichen Begegnungen mit kriege rischen Trupps der Irokesen, ihrem grausamen Erb feind, hatten sie sich unter den Schutz des Grafen Peyrac gestellt. Endlich tauchte Meister Jonas, der Uhrmacher, auf, hielt neben ihr an und zog den Hut vom Kopf. Sorgfältig klopfte er den Staub vom Filz, wischte sich 23
sodann die Stirn und danach die Brille. »Uff! Der Hang war ein hartes Stück! Wenn man bedenkt, daß wir zwanzig von der Sorte am Tag zu bewältigen haben …« »Ist es für Eure Frau nicht zu schwierig?« »Ich habe einen Mann gebeten, ihr beim Anstieg zu helfen. Ein falscher Schritt, und ich müßte fürchten, daß sich meine arme Frau da unten in den Katarakten alle Knochen bricht. – Ah, da sind sie!« Die brave Rochelleserin war sichtbar geworden. Der junge Bretone Yann Le Couénnec, ein recht ge fälliger Matrose der Gouldsboro, führte ihr Pferd. Ma dame Jonas war puterrot, zeigte jedoch gute Laune. Bisher hatten sie die Risiken ihres Entschlusses, den Grafen zu begleiten, tapfer auf sich genommen, und Madame Jonas, eine dicke, freundliche Frau in den Fünfzigern, hatte sich als tüchtige Reiterin erwie sen. »Das entschädigt mich für meine enge Kammer hinter dem Laden in La Rochelle«, sagte sie und er klärte Angélique, daß sie als Tochter eines Großbauern eine recht ländliche Jugend verbracht habe. »Habt Ihr Cantor gesehen?« fragte Angélique. »Ja. Er hilft Elvire, die nur eine mäßige Reiterin ist. Die arme Kleine! Ich frage mich wirklich, was sie auf die Idee gebracht hat, uns mit ihren Söhnen in dieses Abenteuer zu folgen, statt in Gouldsboro zu bleiben. Aber sie ist natürlich unsere Nichte, und außer uns hat sie keine Familie mehr.« Cantor erschien am Ausgang der Schlucht, und 24
Angélique beobachtete mit einem Gefühl des Stolzes, wie er mit fester Hand das Pferd führte, an dessen Hals sich eine junge Frau klammerte. Elvires Blässe verriet noch den ausgestandenen Schrecken, und sie bekannte, daß ihr vor allem das Getöse des stürzenden Wassers Angst eingejagt habe. Jetzt würde sie keiner Hilfe mehr bedürfen. Sie be dankte sich liebenswürdig bei Cantor und erkundigte sich, ob man ihren älteren Sohn Barthélémy gesehen habe. Angélique beruhigte sie. Florimond hatte den Achtjährigen, der ihn ohnehin auf Schritt und Tritt begleitete, vor sich in den Sattel genommen. Die Gruppe der Rochelleser brach wieder auf, und Cantor folgte ihnen kopfschüttelnd mit dem Blick, während sie sich entfernten. »Ich frage mich, was dieses arme Mädchen anfan gen würde, wenn ich nicht zur Hand wäre«, bemerkte er mit mitleidiger Verachtung. »Sich bei einer solchen Expedition mit Frauen und Kindern zu belasten ist pure Narrheit. Das betrifft natürlich nicht Euch, Mutter … Ihr seid die Frau meines Vaters, es ist nor mal, daß Ihr uns begleitet. Aber Ihr müßt zugeben, daß es eine andere Sache ist, mit einer Karawane durch ein unbekanntes Land zu ziehen, als in den Salons von Versailles zu tanzen.« »Ich geb’s zu, Cantor, ich geb’s zu«, versicherte Angélique und verbarg angesichts der überzeugten Miene des Jungen ein Lächeln. »Und ich bewundere deine Ausdauer, denn du gehst mit einer schweren Last zu Fuß, während wir, die Frauen und Kinder, zu 25
Pferd sind.« »Bah! Nur Gewohnheit! Wir sind ja keine Schwäch linge.« »Macht dich diese drückende Wärme nicht trotz dem müde?« Er reckte die Schultern und verwahrte sich dage gen, auch nur eine Spur von Müdigkeit zu empfin den. Sie erriet, daß er ein wenig schwindelte. Selbst die abgebrühtesten Männer der Karawane beklagten sich zuweilen über die Länge und Härte der Etappen. Sie stellte fest, daß er magerer geworden war und daß dunkle Ringe um seine klaren grünen Augen lagen, die in Farbe und Schnitt den ihren glichen. Wieder einmal fragte sie sich, was Joffrey mit diesem fast un menschlichen Tempo beabsichtigte. Wollte er sie prü fen, erfahren, was er von jedem einzelnen erwarten konnte? Sich selbst beweisen, daß Frauen und Kinder seine Pläne nicht behinderten? Oder drängte sie ein geheimer Grund, einem Ziel entgegenzuhasten, das für Angélique noch unbestimmt war? »Und Ihr, Mutter, wie fühlt Ihr Euch? Macht das Pferd Euch noch immer zu schaffen?« fragte Cantor, indem er seine ausgedörrten Lippen zu einem Lächeln zwang. Seine robuste Gestalt war schon die eines jun gen Mannes, aber unter der Schicht von Staub und Schweiß bewahrten seine rosigen Wangen noch die Anmut der Kindheit. Dieser bartlosen, frischen Wan gen wegen erkannte Angélique in ihm den pausbäk kigen kleinen Pagen, der in Versailles einst vor der 26
Königin gesungen hatte, und es verlangte sie danach, ihm über das gelockte Haar zu streichen und diesen wundersam wiederauferstandenen, endlich wieder gefundenen Sohn zärtlich an sich zu ziehen … Doch sie hütete sich vor einer solchen Geste, denn das Jünglingsalter ist schamhaft im Ausdruck seiner Gefühle, und nach mehreren Jahren der Trennung war das Herz dieses Sohnes ihr unbekannt. Sie hoffte auf den Tag, an dem die Karawane endlich unter ei nem Dach zur Ruhe kommen würde, das man nicht mehr verlassen mußte, daß die lastende Müdigkeit schwände und sie die Ihren um sich versammeln und im Frieden alltäglichen Lebens von neuem kennen lernen könnte. Es schien ihr, als ob diese Expedition sie von ihr entfernte. Jeder hatte sich mit seinen eigenen Schwie rigkeiten herumzuschlagen, verfolgt von der Sorge, womöglich zu denen zu gehören, die das Vorwärts kommen behinderten. Sie erwiderte Cantor, daß alles in Ordnung sei. Wallis scheine allmählich vernünftig zu werden und gehorche ihr jetzt. »Es war zu hart«, meinte Cantor. »Florimond und ich sahen gleich, daß dieses Tier schwer zu nehmen sein würde, und wir waren besorgt, als Ihr es bekamt. Mehr als einmal glaubten wir, Euch in eine Schlucht stürzen zu sehen, oder daß es Euch nicht gelingen könnte, es über ein schwieriges Wegstück zu brin gen.« »Und seid ihr, meine Söhne, nun der Ansicht, daß 27
ich mich bewährt habe?« »Hm … ja, gewiß!« sagte Cantor mit einer Herab lassung, hinter der sich Überraschung verbarg. »Ihr seid eine sehr gute Reiterin«, erkannte er nachdrück lich an. »Ich danke dir. Du machst mir Mut, meinen Weg fortzusetzen, denn heute morgen war ich schon nahe daran aufzugeben. Es ist so warm.« »Wollt Ihr einen Schluck Wasser trinken?« schlug er eifrig vor. »Ich habe meine Kürbisflasche am Fuß des Wasserfalls gefüllt. Es Ist noch frisch.« »Nein, danke. Aber ich werde Honorine ein wenig geben.« »Das verlohnt nicht der Mühe. Sie schläft«, sagte der Junge schnell und zog die Kürbisflasche zurück, die er ihr hatte reichen wollen. Er verkorkte sie und befestigte sie von neuem an seinem Gürtel. »Ich geh’ nach vorn. Nach diesem Wald steht uns vermutlich wieder ein schwieriger Felshang bevor, und ich muß der armen Madame Elvire helfen.« Er ging mit großen Schritten davon. Auch Angélique machte sich wieder auf den Weg. Sie folgte Cantor mit den Augen und dachte, daß er schön sei, daß er sich ihr gegenüber reizend und auf merksam zeige und daß sie sicher keine Mühe haben werde, ihn sich wiederzuerobern, aber sie hatte auch schon seit einiger Zeit begriffen, daß er Honorine nicht liebte. Sie seufzte und senkte ein wenig den Kopf. 28
Würde sie eines Tages den Mut finden, ihren Söh nen von Honorine zu erzählen? Und was konnte sie ihnen sagen? … Es war nur natürlich, daß die bei den großen Jungen sich fragten, was es mit dieser Halbschwester auf sich habe, die ihre Mutter aus der Alten Welt mitgebracht hatte! Welcher Liebhaber ihrer Mutter war wohl der Vater der Kleinen? So etwa mußten sie denken. Wie moch ten sie im innersten Bereich ihrer Herzen auf ihre Erklärungen reagieren? Wie würden sie die Haltung ihres Vaters aufnehmen, der verzieh und das Kind zu sich nahm? Honorine war das Symbol all dessen, was man gern vergessen hätte: der grausamen Vergangenheit, der Trennung und ihrer unvermeidlichen Verirrungen … »Hätte ich sie in Gouldsboro lassen müssen?« frag te sich Angélique. Abigaël wäre sicher bereit gewesen, sich ihrer anzunehmen, und hätte liebevoll für sie gesorgt. »Nein, unmöglich! Ich weiß, daß du fern von mir gestorben wärst, mein armes, kleines Bastardkind«, sagte sie sich mit einem Blick über die Schulter auf das runde Köpfchen, das sich so vertrauensvoll an sie schmiegte. »Und könnte ich dich vergessen und in Frieden leben, nachdem ich dich zum zweitenmal aus meinem Dasein vertrieben hätte? Armes kleines, durch Gewalttat und Greuel in die Welt gezwungenes Geschöpf!« Nein, sie hätte es nicht fertiggebracht. Warum hatte Honorine an diesem Morgen mit 29
störrischer Beharrlichkeit zu ihr gewollt? War es nicht ein Zeichen? … Wenn irgend etwas das Kind ängstig te, verlangte es nach Angélique. Bisher hatte es sich immer fröhlich und sehr ge sellig gezeigt. Aber vor welcher Art Gefahr wollte es sich heute schützen? Einem noch schwierigeren Wegstück? Gewitter? Sturm? Einer Begegnung mit Irokesen? Während der ganzen Reise waren die Indianer, Freund oder Feind, so gut wie unsichtbar geblieben. Perrot und Maupertuis erklärten, die Stämme seien zum Pelzhandel an die Ozeanküste gezogen, wo Schif fe sie erwarteten, die Branntwein, allerlei Eisenwa ren und billigen Schmuck geladen hätten. Vermut lich war das der Grund, weshalb sie mit Ausnahme der Metallaks, die die Karawane begleiteten, niemand zu Gesicht bekommen hatten, weder Irokesen noch Abenakis. Und diese Abwesenheit des Menschen, die sie bisher geschützt zu haben schien, lastete heute schwer auf ihren müden Herzen. Zur Rechten erschienen dank eines niedergebrann ten Waldstücks wieder die Berge. Das Feuer, das die Bäume vernichtet hatte, erlaubte dem Blick, in die Ferne zu schweifen. Hoffnungsvoll sah Angélique hinüber. Sie wußte, daß sich am Fuß der Appalachen das Fort Katarunk befinden mußte, das dem Grafen Peyrac gehörte und das Ziel ihrer Reise war. Sie würden dort überwintern und erst im Frühling zu den entlegeneren Minen auf brechen. Die Stute trottete quer über das rußfarbene 30
Plateau. Ein starker Geruch nach verbranntem Holz und Harz schlug ihr wie Weihrauch entgegen. In der knisternden Trockenheit des indianischen Sommers waren solche Brände an der Tagesordnung. Ein einziger von einem Lagerfeuer verirrter Funke genügte, um eine Armee verheerender Flammen in Bewegung zu setzen, die den Wald mit der Gefräßig keit eines blutgierigen Drachens verschlang, verstörte Tiere vor sich her jagte und erst an den Ufern der Bäche in einem höllischen Zischen zum Stillstand kam. Noch lange danach schwebte in der klaren Luft ein Ruch nach Rauch, der der Atemhauch der riesi gen Waldgebiete selbst zu sein schien. Hier mußte sich das Unheil erst vor kurzem ab gespielt haben. Die Hufe der Pferde wirbelten laue Asche auf. Streifende Zweige ließen im Vorbeireiten schwarze Spuren zurück, die Baumstümpfe und noch stehenden Stämme waren verkohlt und von der Glut gespalten. Zwischen ihren stachligen Spitzen glitzerte das rosa- und malvenfarbene Tal mit all seinen Seen. Sie gelangten zu einem von ihnen und ritten an sei nem Ufer entlang bis zu einer Furt. Vorsichtig über querten die Pferde einen Damm aus runden Kieseln. Auf der anderen Seite führte der Weg in der Kühle unter den vom Brande unberührten Bäumen wieder steil bergauf. Noch war es nicht der Anstieg zum Gebirge, sondern zu einer in der Mitte des Tals auf ragenden Höhe, dem Rest eines Felswalls zwischen den Seen, die einstmals Flüsse gewesen sein mußten oder auch ein einziges Süßwassermeer. Nachdem 31
sie den mit dunklen Fichten und Zedern bestande nen Hang bewältigt hatten, schlängelte sich der Pfad wieder abwärts, und alsbald erschien, umrahmt vom grellgelben Laub eines Wäldchens junger Birken, ein neuer See. Unter dem perlfarbenen Himmel funkelte die Was serfläche im direkten Mittagslicht. Das goldene und blutrote Laubwerk des Hügels gegenüber spiegelte sich in ihren Tiefen. Im Gegensatz zu den moosigen, von Wasserpflanzen durchwucherten Seen, die sie bisher angetroffen hatten, war dieser so klar, daß man den grauen Sand auf seinem Grund sehen konnte. »Ich möchte in diesem Wasser waten!« rief Hono rine. Anzeichen einer bevorstehenden Rast ließen sich erkennen. Weiter vorn, hinter den Weiden, waren Rufe und das Geschnaube der Pferde zu hören. Einer der Waldläufer, die vorausgeschickt worden waren, erschien und schwenkte die Arme, um die, die sich noch auf dem Abhang befanden, zu unterrichten, daß sie mit einer kurzen Marschpause rechnen könnten. Für die, die ihn möglicherweise nicht sahen, stieß er einen gutturalen Schrei aus, auf den die Indianer der Nachhut weit oben unter den Bäumen antworteten. Angélique ließ sich aus dem Sattel gleiten und hob Honorine herunter. Die Kleine zog sofort Schuhe und Strümpfe aus, raffte ihre Röcke und lief ins flache Wasser. »Es ist sehr kalt!« rief sie vergnügt. Das Pferd hatte getrunken und begann nun, das 32
spärliche, aber noch grüne Gras des schmalen Ufer streifens abzuweiden. Angélique streichelte den Hals des Tiers, dessen Fell im intensiven Licht die gleichen prunkenden Tönungen aufwies wie der Wald. »Laß dir Zeit«, murmelte sie. »Schau, es gibt genug zu fressen. Und eines Tages werden wir auch zu den weiten Prärien gelangen, auf denen du galoppieren kannst. Bald werden wir am Ziel sein.« Grasend bewegte das Pferd die Ohren, und fast schien es, als höbe sich seine Brust unter stummen Seufzern. Denn die Pferde lieben den Wald nicht. Angélique erinnerte sich der Revolte des Poitou und der langen Ritte mit ihren Anhängern durch die ab gelegensten Winkel druidischer Forsten. Weder die Vorahnung der Gefahr noch der lauernde Feind hat ten die Tiere damals beunruhigt, sondern die beson dere Stille der Wälder, dieses aus tausend winzigen und bedrohlichen Geräuschen gewobene Schweigen, dieses Spiel von Licht und Schatten zwischen den Bäumen, das gespenstische Visionen schafft, aber gläubische Vorstellungen begünstigt und den wahren Bedrohungen die der Geister und Dämonen hinzu fügt. Die großen Wälder des amerikanischen Nordens waren vielleicht weniger düster und erschreckend als die, in denen sich Angéliques Kindheit abgespielt hat te. Die zahlreichen Seen hellten sie mit ihren blauen Wasserflächen auf. Selbst die Winternebel schienen die kristallene, vor Trockenheit vibrierende Atmosphäre nicht verjagen zu können, die sie mit einer Klarheit 33
ohne Mysterium erfüllte. Dies hier war kein Ge spensterwald. Angélique stand am Ufer des Sees. Sie ließ Wallis’ Zügel nicht los, denn die Stute war schon einmal während des Grasens ausgerissen und hatte sich ins Gestrüpp gestürzt, als wollte sie einen magischen Kreis durchbrechen. Sie hätte sich an abgebrochenen Ästen verletzen, sich in Schlammlöchern die Beine brechen können, und es hatte der ganzen Geschicklichkeit der mit so dichtem Unterholz vertrauten Indianer be durft, ihre Spur wiederzufinden. Das Blut pochte in den Schläfen der jungen Frau, und vor allem ihr Nacken schmerzte sie. Der schril le Gesang der Grillen war betäubend. Da die Stute ruhig schien, wagte sie es, das Ende des Zügels um ein Bäumchen zu schlingen, und näherte sich dem Uferrand, um mit der hohlen Hand ein wenig Wasser zu schöpfen und es an ihre Lippen zu führen. Ein Ausruf hinter ihr ließ sie innehalten. Der große Sagamore Mopountook, der Häuptling der Metallaks, machte ihr ein Zeichen, nicht zu trinken. Durch al lerlei Gesten gab er ihr zu verstehen, daß sich weiter oben am Hang eine Quelle befinde, deren Wasser besser sei als dieses. Seine Krieger hätten dort an gehalten, um sich zu erfrischen. Er lud sie ein, sich dorthin zu begeben. Angélique wies auf ihr Pferd und machte ihm klar, daß sie sich nicht entfernen könne. Er begriff und bedeutete ihr mit gebieterischer Hand zu warten. Bald darauf kehrte er zurück, von einer Indianerin begleitet, die in einem hölzernen Napf 34
Wasser aus der kostbaren Quelle trug. Betrüblich war nur, daß der Napf zuvor Maismus und vielleicht auch noch manches andere enthalten hatte und das Wasser, da er allenfalls notdürftig gesäubert worden war, nicht gerade sehr appetitlich aussah. Angélique zwang sich trotzdem, ihn an die Lippen zu heben und ein paar Schluck davon zu trinken. Sie hatte schon Gelegenheit gehabt festzustellen, daß die Indianer sehr empfindlich waren. Der Häuptling beobachtete sie, während sie trank, offenbar in Erwartung ihres enthusiastischen Lobs über das köst liche Wasser, das er ihr hatte bringen lassen. Blaue und schwarze Zeichen waren auf seine muskulöse Brust tätowiert, über die mehrere Stränge aufgereih ter Bärenzähne fielen. Er war ein Häuptling, ein Sagamore. Man sah es an den Adlerfedern und dem buschigen Waschbären schwanz, die den Haarknoten auf seinem Hinterkopf schmückten. Das ganze Ufer entlang sprangen die Männer, die Erfrischung genießend, ins aufspritzende Wasser, und ihre fröhlichen Rufe hallten herüber. Florimond er schien, um seine Mutter zu begrüßen, wie er das bei jeder Rast tat. Er unterdrückte seine Lachlust, als er sich der delikaten Situation bewußt wurde, in der sie sich befand, und griff sofort taktvoll ein: »Oh, Mutter, ich habe scheußlichen Durst. Könntet Ihr mir nicht ein wenig von dem herrlichen Wasser geben, das Ihr da trinkt?« Was für ein guter Junge er war! 35
Angélique reichte ihm erleichtert den Napf, of fenbar zu Mopountooks Mißvergnügen, denn der Häuptling ließ einen zornigen Ausruf hören. Zur folgenden Diskussion wurde Nicolas Perrot als Dol metscher und diplomatischer Vermittler hinzuge zogen. »Wenn ich recht verstehe«, sagte Florimond, »ist ein Grünschnabel wie ich nicht würdig, sich aus derselben Quelle zu erfrischen wie seine ehrenwerte Mutter.« »So ungefähr stimmt’s.« »Verbirgt sich nicht vielmehr so etwas wie Verach tung für die Frauen im Verhalten unseres großen Häuptlings?« fragte Angélique. »Nein. Ich würde eher sagen: das Gegenteil. Indem er Euch das beste Wasser zum Trinken bringen ließ, das er finden konnte, wollte der Sagamore in Euch die Frau und Mutter ehren. Die Frauen werden bei den Indianern sehr geachtet …« »Wirklich?« fragte Angélique überrascht und mu sterte die Indianerin, die sich mit demütig gesenktem Blick hinter dem Häuptling hielt. »Es ist in der Tat nicht ganz leicht zu begreifen, Madame. Man muß dazu im Heiligen Tal der Irokesen gewesen sein«, antwortete der Waldläufer. Er reichte dem Indianer den Napf mit einem Schwall von Worten zurück, der diesen endlich zu befriedigen schien. »Was würdet Ihr jetzt zu einem Sprung ins kühle Wasser sagen, mein Junge?« »Hurra!« rief Florimond. 36
Sie verschwanden hinter den Weiden und Erlen, die ihre Zweige über das Wasser neigten, und gleich dar auf sah sie ihre Köpfe über der gleißenden Oberfläche des Sees. Sie hätte viel darum gegeben, es ihnen nach tun zu können. »Ich will auch baden«, sagte Honorine und schickte sich an, aus ihrem Kleidchen zu schlüpfen. Madame Jonas und ihre Nichte tauchten mit El vires kleinen Söhnen Thomas und Barthélémy auf. Man kam überein, die drei Kinder nach Herzenslust im flachen Wasser plätschern zu lassen. Nackt hüpften sie in der Nähe des Ufers herum und bespritzten sich kreischend. Große Stelzvögel flatterten entrüstet aus dem Buschwerk auf und flogen mit rauschendem Flügel schlag davon. Auf Ästen hockende Enten, deren Köpfe feuerrote und violette Federbüsche zierten, gaben ihrem Mißvergnügen zeternd Ausdruck. Angélique seufzte vor Neid, während sie über den See blickte. Opfer der Pflicht, blieb sie bei ihrem Pferd. So fand sie Joffrey de Peyrac, als er auf dem schma len Uferstreifen erschien.
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Zweites Kapitel
Er hielt noch den Sextanten in der Hand, mit dem er eben ihre Position bestimmt hatte. Nun reichte er ihn dem Matrosen aus Bordeaux, Octave Malaprade, der ihn mit einem ledernen Schreibzeug und einer Rolle Pergament begleitete. Der Mann trat zu einem Felsen, um das Instrument und die Karten in das tragbare Schreibschränkchen einzuordnen, das seiner Obhut anvertraut war. Angélique sah ihrem Mann entgegen. Seine hohe Gestalt nahm im grellen Licht, das die Reflexe des Wassers noch intensiver machten, eine fast brutale Körperlichkeit an. Inmitten der im Flirren der Luft sich auflösenden Umgebung war er allein wirklich. Er schien jedes Hemmnis rücksichtslos beiseite zu sto ßen, während er sie durchschritt. Die Gleichgültigkeit dieser Landschaft, die Angélique ängstigte, ja selbst ihre dumpfe, latente Feindschaft bekümmerten ihn nicht. Sie hörte den Kies unter seinen ledernen Stiefeln knirschen, unter seinem langsamen, schweren Schritt. »Er hinkt noch ein wenig«, sagte sich Angélique. »Auf der ewig schwankenden Gouldsboro merkte man’s weniger, aber hier, auf festem Boden, ist es nicht zu übersehen.« »Welcher Gedanke läßt Eure Augen plötzlich auf blitzen?« fragte Joffrey de Peyrac. »Ich stellte fest, daß Ihr noch hinkt.« 38
»Und das macht Euch Vergnügen?« »Ja!« »Ihr Frauen seid wirklich eine Sippschaft mit unvor hersehbaren Reaktionen! Alle meine Bemühungen, Euch einen repräsentablen Ehemann zurückzuerstat ten, führen also nur dazu, Euer Bedauern zu wecken? Oder vielleicht gar Euren Verdacht? Ihr seid nicht weit davon entfernt, eine Vertauschung der Person zu fürchten. Man erzählt viele angenehm-gruselige Geschichtchen dieser Art während der langen Abende in den französischen Provinzen … Ah, die Rolle des Wiederauferstandenen ist nicht immer leicht zu spie len. Ich werde mich schließlich noch nach meinem kurzen Bein zurücksehnen.« »So habe ich Euch einst geliebt.« »Und heute seid Ihr nicht mehr sicher, mich ohne es zu lieben?« Er lächelte spöttisch, und ohne ihre Antwort abzu warten, grüßte er Mopountook. Er begegnete dem indianischen Häuptling stets mit äußerster Förmlichkeit. Er hatte seinen mit Federn geschmückten Filzhut abgenommen, und sein dich tes Haar glänzte metallisch in der Sonne. Stählerne Reflexe spielten über das Gelock des Gaskogners, dessen intensives Schwarz an den Schläfen durch einen silbrigen Schimmer aufgehellt wurde. Sein meridionales Erbe, aus spanischen und sarazenischen Elementen gemischt, verlieh ihm in der Sonne einen Teint, der ebenso dunkel war wie der seines indiani schen Gesprächspartners. Auf seinen Wangen war die 39
blassere Spur der Maske zu sehen, die er zuweilen trug. Buschige Brauen beschatteten die wundervollen Augen. Aber das Profil blieb abrupt und beunruhi gend mit der schwungvollen Linie der provozierend sinnlich wirkenden Lippen. Sie waren stark, üppig, seidig, wirkten jedoch neben dem gebräunten Leder der Haut kaum gerötet. Sie bebten, strafften sich, öffneten sich über dem Glanz der Zähne. Sie führten ihr eigenes Leben in diesem außerordentlichen Gesicht, in dem jeder Zug dazu bestimmt schien, der Persönlichkeit eines Edelmanns Ausdruck zu geben. Die mächtige, von Intelligenz geprägte Stirn, die fein gezeichneten, Noblesse der Herkunft verratenden Brauenbögen, die geistvollen dunklen Augen. Die Nase und das kühne vorsprin gende Kinn gehörten einem Eroberer, einem Mann der Berge, der es gewohnt war, den Kopf zu heben und die Adler zu beobachten. Und zwischen beiden dieser Mund, leicht maurisch, gebieterisch, fordernd, selbst wenn er schwieg und unbewegt blieb, ein irdi scher Mund, ein Zeichen materiellen Wesens unter vergeistigten Zügen und gerade deshalb von zweideu tiger, beunruhigender Kraft. Solche Münder hatten die antiken Bildhauer ihren Götterbildern gegeben, ohne zu ahnen, daß sie mit ihren Meißeln den ganzen Lebenshunger und die Genußfreude der frühen mit telmeerischen Zivilisationen übersetzten. Während sie diesen so lebendigen, sensiblen Mund in dem zuweilen strengen, einschüchternden Antlitz betrachtete, empfand Angélique plötzlich das 40
Verlangen, ihn auf ihren Lippen zu spüren. Wie in diesem Augenblick zum Beispiel, in dem er mit Gesten und einigen indianischen Wörtern dem Häuptling der Metallaks antwortete. Dann wandte er sich um und sah in die Ferne, zum anderen Ufer hinüber, als suche er irgendein Geheimnis der unbe kannten Landschaft zu ergründen. Für einen Moment blieb er abwesend, vielleicht besorgt infolge der eben gewechselten Worte. Er überlegte, und sein Mund bebte. Angélique, die ihn beobachtete, spürte, wie sich der Rhythmus ihres Herzens beschleunigte. Sie verlangte nach diesen Lippen, ihrer zärtlichen und endlich fordernden Be rührung. Sie verschlang ihn mit den Augen. Die Wärme des Ritts hatte ihm die Stirn gefeuch tet, und ein paar Schweißtropfen rannen an seinen Schläfen herunter und folgten, ohne daß er es merk te, den Furchen seiner Narben. Angélique hätte nur zu gern dieses gezeichnete Antlitz zart getrocknet. Sie wagte es nicht. Es wäre eine jener spontanen Gesten gewesen, die sie sich, von einer Art Angst zurückgehalten, untersagte. Er hatte lange ohne eine Frau an seiner Seite gelebt, ohne Hemmnisse. Er war an Ungebundenheit der Lust, an die Freiheit der Gefühle gewöhnt. Würden ihm die täglichen Aufmerksamkeiten einer Ehefrau nicht lästig fallen? Hier spürte sie die Unabhängigkeit dieses Mannes noch mehr als auf seinem Schiff. Sie umgab ihn wie ein kühler Hauch. Ein Mann, der mehrere Leben ge führt hatte. 41
Ein Mann, dessen kompliziertes Wesen sich unter einem Anschein von Einfachheit verbarg. Und im Labyrinth dieses überlegenen Geistes sollte sie ihren Platz finden. Im scharfen Licht sah sie die Zeichen seiner Jahre, sah sie, daß er ein Mann auf der Höhe seines Lebens war, im Vollbesitz seiner Kraft, seiner Fähigkeiten und seiner Erfahrung. Er war vollendet, fest gefügt, eine Persönlichkeit ohne Unsicherheiten, geschmie det durch Abenteuer, Krieg, Tod und Leidenschaft. Wenn er so reglos stand, war kaum zu merken, daß er atmete. Es erschreckte sie ein wenig, daß seine Brust sich unter dem schwarzsamtenen Wams nicht hob. Sie erinnerte sich nicht, bei ihm schon früher diese Eigentümlichkeit bemerkt zu haben, die man bei großen Raubkatzen findet, bevor sie aus lauernder Ruhe zum Sprung ansetzen. Aber damals war sie nicht auf die Idee gekommen, ihn zu beobachten und Einzelheiten zu registrieren, abgesehen von jener Narbe, vor der sie sich so geängstigt hatte. Deshalb hatte sie auch seine Züge so rasch nach seinem Verschwinden vergessen. Wie töricht sie damals ge wesen war! Das Leben hatte sie inzwischen gelehrt, in Gesichtern zu lesen, Physiognomien zu erforschen, im flüchtigen Mienenspiel die heimlichen Gedanken zu erkennen. Wenn man in Situationen gerät, in de nen das eigene Leben vom Urteil anderer abhängt, sind das Dinge, die man wohl oder übel lernt … Heute beobachtete sie ihn mit einer seltsamen Gier. Er zwang sich ihr gegen ihren Willen auf. Seine 42
Bewegungen, die Nuancen seiner Stimme, die ihr all mählich vertrauter zu werden begann, beunruhigten und entzückten sie, ohne daß sie sich dessen erwehren noch erklären konnte, warum. Vielleicht gab es auch gar nichts zu erklären. Es war Teil der maßlosen und ganz natürlichen Anziehungskraft, die einen Körper zu jenem anderen drängt, der ihm vorbestimmt ist. Ihr Herz schlug schneller, wenn er sich ihr näher te, seine Aufmerksamkeiten beglückten sie, Furcht erfüllte sie, sobald er sich entfernte. Vor allem war sie noch nicht daran gewöhnt, ihn nicht mehr zu verlie ren, nicht mehr auf ihn zu warten. »Wie ich dich liebe, dich, den ich fürchte!« Reglos betrachtete sie ihn. Nachdem er mit dem Häuptling gesprochen hatte, hob er das Fernrohr ans Auge und musterte die Umgebung. Dann schob er das Instrument zusammen, reichte es Malaprade zu rück und trat von neuem zu Angélique. Mit unnachahmlicher Courtoisie, die so seltsam mit der rauhen Härte seiner Kondottierepersönlich keit kontrastierte, nahm er ihre Hände in die seinen, drehte die Handflächen nach oben, hob sie an seine Lippen und küßte sie leicht, eine flüchtige Geste, die ein komplicenhafter Blick seiner warmen, unver sehens von Sanftheit erfüllten Augen begleitete. Er sagte: »Diese schönen Hände scheinen mir weniger wund als gestern. Sollte Eure Stute sich folgsamer zeigen?« »Ihr habt recht. Sie wird zahm. Ich spür’s an mei nen Handgelenken. Sie schmerzen nicht mehr vom 43
ständigen Zügeln.« »Ich vertraute sie Euch an, weil ich Eure Kraft kannte. Ihr allein konntet mit ihr fertig werden. Ich habe inzwischen den Hengst gebändigt. Er ist von der gleichen Rasse wie sie. Unter den anderen sind noch zwei weitere Engländer. Der Rest kommt aus Mexiko.« »Ist dies ein Land für Pferde?« fragte sie, ihre Beun ruhigung verratend. »Es wird es werden! Dort, wo der Mensch leben muß, muß es auch Pferde geben. Ein bewährtes Prin zip der Zivilisation. Haben die Hunnen nicht ihre Pferde mitgeführt? Hat Alexander der Große nicht Indien zu Pferd erobert? Und die Araber Afrikas? Und die Irokesen Amerikas?« Mopountook hatte sich entfernt. Er kehrte mit Wasser zurück und ließ Honorine trinken, noch im mer aus demselben zweifelhaften Napf. Die Kleine stieß sich nicht daran und lachte und scherzte mit dem Indianer, als ob sie sich verstünden. Sie hüpfte in den See, und der stolze Metallak nahm es nicht übel, daß sie ihn bespritzte. Am Uferrand kauernd, um auf gleicher Höhe mit dem Kind zu sein, palaverte er leb haft auf es ein. Joffrey de Peyrac hatte eine der Pistolen aus dem Gürtel gezogen und lud sie. Seine Hände bewegten sich mit der Präzision und Schnelligkeit, die lange Gewohnheit verleiht. »Sind Eure Waffen auch geladen?« »Ja. Ich habe sie heute morgen geprüft und das 44
feucht gewordene Zündpulver ersetzt.« »Gut. In diesen Gebieten ist es besser, die Waffen schußbereit zu halten.« »Warum? Die Gegend kam mir völlig verlassen vor, und die wilden Tiere flüchten eher, als uns anzugrei fen.« »Es gibt nicht nur wilde Tiere. Und die Einsamkeit der Wälder ist trügerisch.« Er ging zu etwas anderem über. »Keins der zehn Pferde, die wir von der Küste mit gebracht haben, ist gestorben. Schon das ist ein Sieg, und wir können uns glücklich schätzen, die Reise bisher so gut überstanden zu haben. Sie auf dem Landweg zu unternehmen, statt den Flüssen zu fol gen, ist niemals zuvor gewagt worden.« »Ich weiß. Nicolas Perrot hat’s mir gesagt. Aber mir war schon vorher klar, daß die Pferde nicht dazu da waren, uns zu tragen, sondern wir die Aufgabe hatten, sie ohne Verlust ans Ziel zu bringen. Ebenso, daß die Indianer nicht uns eskortierten, sondern wir sie.« »Richtig. Die Metallaks fürchteten, Irokesen zu begegnen, deren Kriegstrupps während des Sommers unablässig die Wälder durchstreifen. Sie stellten sich unter den Schutz unserer Musketen und erklärten sich dafür nicht ohne Seufzen bereit, einen Teil un seres Gepäcks zu tragen. Übrigens sind es die Frauen, die es tragen. Amerika ist nicht Afrika, meine Süße, Afrika, das Ihr kennt und das von Sklaven wimmelt. Der Weiße steht hier allein, sein eigener Herr, aber auch sein eigener Diener.« 45
»Immerhin gibt es schwarze Sklaven in den engli schen Kolonien des Südens.« »Aber nicht im Norden. Das ist auch der Grund, warum ich den Norden wählte … und weil es dort Silber- und Goldminen gibt«, fügte er hinzu, als erin nerte er sich plötzlich der wirklichen Gründe seiner Wahl. »Die Sklaverei hat ihr Gutes … vor allem für die Herren.« »Ich bin untröstlich, meine Teure, Euch aus Mangel an häuslichen Hilfskräften nicht den Komfort bieten zu können, der Euch zukäme. Aber der Indianer ist nun mal alles andere als ein Diener. Zwänge man ihn zur Arbeit, würde er sterben.« »Auf den Komfort kommt es nicht an.« Sie wagte es, sich ihm zu nähern, berührte seinen Ärmel und legte für einen Moment ihre Wange an seine Schulter. Sie scheute sich davor, ihm vor seinen Leuten allzuviel Zärtlichkeit zu bezeigen. »Ich möchte Euch bald ein wenig für mich haben. Wenn ich fern von Euch schlafen muß, ist mir’s, als verlöre ich Euch von neuem. Wann werden wir in Katarunk sein?« »Vielleicht bald … vielleicht nie!« »Fürchtet Ihr etwas?« fragte sie rasch. »Nichts, Liebste. Ein altes Mißtrauen. Bevor das Tor der Palisade sich nicht hinter uns schließt und mein Banner von der Mastspitze flattert, um anzuzei gen, daß ich mich auf meinem Besitz befinde, werde ich mich nicht am Ziel glauben. Liebste, je länger 46
ich Euch betrachte, desto schöner finde ich Euch. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie verwirrend Ihr seid, wenn Eure Augen glänzen wie jetzt, wenn ein wenig Müdigkeit Eure Lider beschwert, wenn Ihr erhitzt seid und Euch zusammennehmt, um Eure Erschöpfung nicht merken zu lassen … Ich bete Euch an.« »Oh, ich bin wirklich erschöpft, und heiß ist mir auch!« rief Angélique. »Und glaubt mir, nicht nur um Euch zu verführen würde ich mein Leben geben, auch um wie die andern baden zu können.« »Daran soll’s nicht fehlen.« Er winkte Nicolas Perrot heran, der aus dem Wasser gekommen war und sich wieder angekleidet hatte. »Mein guter Freund, kann ich Euch zum Tugend wächter dieser Damen ernennen? Ich habe nicht weit von hier eine kleine, von Weiden umgebene Bucht entdeckt, wo sie ungestört plätschern können. Ich bitte Euch nur, Euch als Wache am Anfang des zu ihr führenden Wegs zu postieren und Indiskrete oder Tölpel abzuwehren, die sich in diese Richtung begeben. Stellt auch einen Posten auf die Spitze des Felsvorsprungs, um neugierige Schwimmer fernzu halten. Wir verlängern die Rast um eine Stunde.«
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Drittes Kapitel
Mit einer Freude ohnegleichen entdeckte Angélique die ruhige, abgelegene kleine Bucht. Ihre beiden Be gleiterinnen zögerten. Einfach so, ganz nackt, unter freiem Himmel zu baden – nein, wirklich, sie würden es nie wagen! Vergebens versicherte ihnen Angélique, daß sie vor allen Blicken geschützt wären und zudem von verläßlichen Posten bewacht würden. Immerhin rangen sie sich dazu durch, ihre Schuhe und Strümpfe auszuziehen und ihre Hauben abzulegen und sich auf diese Weise ein wenig zu erfrischen. Angélique beließ sie dabei und entfernte sich ein wenig. Hinter einer Baumgruppe begann sie ihre Kleidung abzulegen, während sie frohlockend ihre Blicke über die glat te, von der Sonne vergoldete Oberfläche des Sees schweifen ließ. Als sie sich entkleidet hatte, stieg sie vorsichtig ins flache, rasch tiefer werdende Wasser. Es war in der Tat sehr kalt und benahm ihr den Atem. Doch nach weni gen Sekunden spürte sie seine wohltuende Wirkung. Als es ihr um die Schultern spülte, ließ sie sich mit einem Seufzer der Erleichterung rückwärts gleiten. Das Wasser kühlte ihren schmerzenden Nacken. Sie schloß die Augen. Die Kälte stieg bis zu den Wurzeln des Haars. Sie spürte, daß ihre Kräfte wieder erwach ten. Mit leisen Bewegungen der Hände hielt sie sich an der Oberfläche. Sie konnte ein wenig schwimmen. 48
Früher war sie während des Pariser Sommers in die Bäder der Seine unterhalb der Kais gegangen. Auch in Marly hatte sie mit dem Hof in der Seine gebadet. Aber die Seine war fern. Angélique öffnete die Augen. Eine Welt der Frische, der Schönheit, des Lichts und der Schatten erschien ihr, und diese Welt gehörte ihr. Sie drehte sich ein we nig um sich selbst und begann langsam zu schwim men. Ihr Haar trieb wie blonde Algen hinter ihr her. Sie entfernte sich vom Ufer. Jenseits eines Felsvorsprungs entdeckte sie eine zweite, größere Bucht, die das andere Ende des Sees zu bilden schien. Im Hintergrund, am Rande des schmalen Ufer streifens, breitete ein riesiger roter Ahorn seine kno tigen Wurzeln im Sande aus, von malvenfarbigen Astern umgeben. Über ihm krönten die Steilküste graue, runde Felsen auf der feurigen Glut von Sumachsträuchern, die den Hang hinaufwuchsen. Und noch höher die diesmal gelben Kronen weite rer Ahorne gleich einer in der Sonne schimmernden Festung aus purem Gold. Zur Rechten, wo das Seebecken sich verbreiter te, spiegelten sich kleine, flache, mit dichtblättrigen Erlen, leuchtenden Vogelbeerbäumen und schwarzen Tannen bewachsene Inseln im milchig gleißenden Wasser. Auf dem ziemlich niedrig gegenüberlie genden Ufer schließlich erhob sich eine schillernde Armee von Nadel- und Laubbäumen: scharlachro te Kirschen neben blauen Zedern, das Violett der 49
Buchen zwischen dem smaragdenen Grün hoher, bu schiger Kiefern. Flammende Büsche zogen sich längs der Böschungen hin. Nahe dem Ufer durchbrachen abgeschliffene Felsen die zuweilen lichte, zuweilen tiefblaue Oberfläche des Sees. Angélique erreichte einen von ihnen, zog sich triefend auf den granitenen Sockel und betrachtete die Wildnis um sich herum. Langsam, träge, wie aus einem Zauberschlaf er wachend, richtete sie sich auf und bot ihren weißen, vom Licht übergoldeten Körper den warmen Strahlen der Sonne. Mit beiden Händen drückte sie das Wasser aus ihrem Haar, hob es über sich in einer Geste der Verehrung, der magischen Beschwörung. Den Kopf halb zurückgeworfen, die Augen im seraphischen Blau des Himmels, berauschte sie sich an den Worten, die ihr spontan über die Lippen kamen. »Dank, o Schöpfer, für diesen Augenblick … Dank für das Rot des Ahorns, für den Ruch des Hirsches im Unterholz, für den Duft der Himbeeren … Dank für die Stille und das eisige Wasser … Dank dafür, daß ich lebe und mich des Lebens freuen kann … Dank, Dank, o Schöpfer, daß ich verliebt bin … Dank für meinen Körper, den du noch immer schön und jung erhältst!« Sie ließ die geöffneten Hände sinken, während ihre Augen sich mit den Wundern dieses Tages füllten. »Ruhm dir, Neue Welt! … Neue Welt!« Unversehens glitt sie mit der geschmeidigen Be wegung einer Sirene ins Wasser. Ihrer Ekstase entris sen, fühlte sie, daß ihr Herz wie rasend schlug. Das 50
Gesicht zu dem goldenen Laubwall über den grauen Felsen erhoben, mühte sie sich, das Geheimnis zu durchdringen. »Was ist dort oben? Ich habe ein Geräusch gehört. Irgend etwas Schwarzes bewegte sich dort … Wer Ist da? Wer hat mich gesehen?« Intensiv spähte sie hinauf. Nichts rührte sich, abge sehen vom leisen Rauschen und Wiegen der Zweige, wenn die Brise über sie hinstrich. Aber diese schein bare Ruhe konnte das Gefühl der Angst nicht zer streuen, das sie plötzlich überfallen hatte. »Dort – eben noch! Ein Blick! Ja, ein Blick traf mich in die Seele.« Sie zitterte heftig. Ein tiefes Unbehagen befiel sie, und sie glaubte, kraftlos im klaren Wasser versinken zu müssen. Es glückte ihr, bis zum Ufer zu schwimmen. Mit Hilfe der Sträucher, an deren Zweige sie sich klammerte, erreichte sie die Bucht, in der sie ihre Kleider gelassen hatte. Sie zog sich auf den Sand und blieb lange halb ausgestreckt liegen, um wieder zu Atem zu kommen. Sie begriff nicht recht, was ihr geschehen war, aber sie zitterte an allen Gliedern. Hatte sie ein ungewöhnliches Geräusch gehört? Hatte sie gesehen oder zu sehen geglaubt, daß sich irgend etwas im Laubwerk bewegte, als sie dort nackt auf dem Felssockel gestanden und die blanke Oberfläche des Sees ihr weißes Bild zurückgeworfen hatte? In jedem Fall konnte es nicht der Blick eines menschlichen Wesens gewesen sein. Etwas Überna 51
türliches hatte sie angerührt. Die Angehörigen der Karawane sammelten sich dort hinten auf dem rechten Ufer des Sees. Sie hörte ihr Gelächter und ihre Rufe. Alles andere war men schenleer. Geschichten, die Perrot und Maupertuis zuweilen abends am Lagerfeuer erzählten, kehrten ihr ins Ge dächtnis zurück, Geschichten von seltsamen Dingen, die in den großen Wäldern der Neuen Welt passier ten, in denen Missionare, Reisende, Händler häufig den Anhauch des Grauens und der Behexung zu spü ren vermeinten. Das lauernde wilde Ungeheuer, die grausame Seele der heidnischen Völker, die immer neue Gestalt an nahm, um den Fremden desto sicherer in ihre Fallen zu locken … Sie sagte sich, daß ihr Unbehagen von der Wirkung des eisigen Wassers auf ihre überhitzte Haut herrühren konnte. Aber sie wußte auch, daß sich ir gend etwas Unerklärliches ereignet und sie mitten ins Herz getroffen hatte. Im gleichen Augenblick, in dem die Liebe zu diesem Land sie zu erobern begann, war eine gegensätzliche Kraft dazwischengetreten und hatte sie in die Finsternis zurückgestoßen. Entferne dich, rief sie ihr zu, du hast hier kein Lebensrecht, kein Bürgerrecht … Das war die geheimnisvolle Bot schaft, die sie empfangen hatte. Reglos lag sie auf dem Strand. Plötzlich richtete sie sich halb auf und spähte von neuem zu einem Punkt des Waldes dort drüben hin über. Nichts rührte sich. Der Wald schwieg. 52
Sie erhob sich und kleidete sich hastig an. Sie fühl te sich besser, aber die Unruhe, die Angst blieben. Dieses Land stieß sie zurück, dieses Land war ihr Feind. Sie glaubte, weder die Eigenschaften zu besit zen, ihm die Stirn bieten zu können, noch die, das Dasein zu bewältigen, das sie an der Seite eines unbe kannten Gatten erwartete.
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Viertes Kapitel
Sie kehrte zu dem Uferstreifen zurück, wo der jun ge Bretone Yann ihre Stute bewachte. Die Reiter saßen schon im Sattel, und der Zug begann sich zu formieren. Obwohl schon halb angezogen, patschte Honorine noch immer im Wasser herum. Sie hielt etwas in der Hand, was ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: einen weißen Hermelinbalg, so prächtig präpariert, daß man ihn für ein lebendiges Exemplar der kleinen, geschmeidigen Tierchen hätte halten können. »Mopountook hat’s mir gegeben.« Sie kam ans Ufer und fügte hinzu: »Wir haben getauscht. Er hat mir dieses kleine Tier geschenkt, und ich hab’ ihm dafür meinen Diamanten gegeben.« »Den Diamanten, den dir dein Vater in Gouldsboro geschenkt hat?« »Ja! Mopountook wollte ihn gern haben. Er wird ihn oben auf sein Haar tun, wenn er tanzt. Er wird sehr schön sein, du wirst sehen!« In dem Zustand, in dem sich Angélique befand, brachte sie die Erklärung ihrer Tochter an den Rand einer Nervenkrise. Sie wußte nicht, wie sie sich ver halten sollte. Zwar hatte Joffrey damals erklärt, der Diamant sei weniger wert als ein Maisfladen, aber immerhin … Und er hatte ihn ihr am gleichen Abend gegeben, an dem er gesagt hatte: »Ich bin dein Vater.« 54
Die Kleine war manchmal wirklich aufreibend. Sie beherrschte sich mühsam, hob ihre Tochter ohne weitere Umstände aufs Pferd, schwang sich selbst in den Sattel und nahm die Zügel, um Wallis vom See und seinem grünen Ufer auf den steinigen Pfad unter dem flammenden Dach der Bäume zu rückzulenken. Eine ganze Weile ritt sie dahin, ohne sich des Wegs bewußt zu werden. Der schmaler werdende See ver lief in ein enges Tal, und als sie sich seinem Zugang näherten, wurde im Einschnitt zwischen himbeerro ten Felswänden die dunkelbraune Kuppe eines fernen Berges sichtbar. Anfangs dem Lauf des kristallklaren, über Geröllbänke schäumenden Flusses folgend, mußten sie sich nach und nach an der Flanke des Steilhangs hocharbeiten. Der Fluß wurde wilder, und überall trat nun der Fels zutage. Ein noch erdiger Pfad führte bergan, über den sich Baumwurzeln gleich Stufen zogen. Ein Maultier hät te sich hier zu Hause gefühlt, aber die aristokratische Wallis begann unruhig zu werden. Bei einer Biegung tauchten schneeige Wasserfälle auf, und ihr Getöse füllte die Ohren. Das Wasser stürzte über drei steile Stufen schwarzen Gesteins und explodierte im tief eingefressenen Flußbett. Die Bäume drängten sich bis dicht an den Absturz, verdeckten ihn fast. Man ahnte ihn als einen Schlund, auf dem unter unaufhörlichem Grollen Wolken rauchig-irisierenden Dampfs aufstie gen, die die Blätter der Ulmen und Eschen feuchteten und wie tausend Lanzenspitzen metallisch aufglänzen 55
ließen. Der Himmel war unsichtbar, der Dämmer wie in einer Höhle, und dennoch glitt Licht überall hindurch, traf blendend die Augen, durchdrang das Unterholz, funkelte hier und dort im Dickicht auf, komplizierte durch ein trügerisches Helldunkel das unentwirrbare Geflecht der Bäume, zwischen denen sich der Pfad hindurchwand. Die vor ihr gehenden Indianer waren Angéliques Blickfeld entschwunden. Das Getöse des Wasserfalls isolierte sie von den spär lichen Geräuschen, die ihr die Nähe der Karawane verrieten, auch wenn sie keinen der andern sah: dem Rascheln trockenen Laubs, dem dumpfen Aufschlag der Pferdehufe, kurzen Rufen, vom Winde heran gewehten Fetzen eines Gesprächs. Das alles andere übertönende Dröhnen des Wassers schien sie in ein von dichtem Laub umgrenztes, von ungewissen Drohungen erfülltes Universum einzuschließen, in dem sie völlig allein war. Es war wie in einem bösen Traum, in dem sie sich durch undurchdringliche, von Drachen, versunkenen Göttern, Ungeheuern be wachte Wälder bewegte. Nicht einmal der Hufschlag ihres Pferdes drang an ihr Ohr. Das Getöse wurde betäubend. Smaragdenes Licht überrieselte die Blätter, und Angélique spürte auf ih ren Lippen den feuchten Atem des Abgrunds. Vor ihr löste sich ein mächtiger, runder Block und legte sich lautlos gleitend, was seinen Sturz noch gespenstischer machte, quer über ihren Weg. Dort schien er im magisch-meergrünen Dämmer zum Leben zu erwachen. Er schwoll an, blähte sich zu ei 56
ner riesigen grauen Blase, brach überall auf wie eine scheußliche Frucht, platzte in einem langsam-zähen Dehnen pflanzenartigen Erblühens, und so, bewegt und mineralisch zugleich, schob er einen reptilien haften, grausamen Kopf träge wiegend gegen sie vor. Erschreckt bäumte Angéliques Pferd sich auf. Sie hörte nicht sein schrilles Wiehern, spürte es nur in den Erschütterungen des wie ein Bogen gespannten Tierkörpers. Sie schrie, aber ihr Schrei verlor sich. Auch Honorine mußte schreien, doch kein Laut drang zu ihr. Hochaufgerichtet schlug das Pferd mit den Vorderhufen aus und wich zurück. Nur wenige Schritte, und es mußte abrutschen, die Reiterin und das Kind durch sein Gewicht mit sich ziehen, und sie würden alle drei, verstrickt in Bügel, Sattelzeug und Zügel, in den schwindelnden Abgrund stürzen. Mit übermenschlicher Anstrengung warf Angé lique sich gegen den Hals des Pferdes, zog sich halb auf seinen Nacken, um es zu zwingen, wenigstens auf alle vier Hufe zurückzufallen. Aber sie waren deshalb nicht gerettet, denn Wallis wich noch immer gegen den Rand des Abgrunds aus. Angélique wußte, daß es nur eine riesige Erdschild kröte war, die ihr den Weg versperrte. Aber wie sollte sie es der verstörten Stute erklären? Das weiße Wirbeln des Wasserfalls schien ihr immer näher zu kommen, tanzender, von irgendeinem mythischen Ungeheuer ausgespiener Schaum, aber ihr wurde nicht klar, daß von der Entfesselung dieser sprühend-stiebenden Materie das Getöse herrührte, das sie betäubte. Für 57
einen Moment tauchte ihr entsetzter Blick in bluti ges Rot: Laub eines über ihr sich wölbenden Zweigs. Schon glaubte sie, den sich überschlagenden Sturz in die Tiefe der Schlucht zu hören, den rauschenden Sog des Abgrunds zu spüren … Ein schnellender Zweig peitschte ihre Stirn und riß sie aus ihrer Benommenheit. Der felsige Boden bröckelte unter Wallis’ Hufen ab, nur wenige Zoll vom Absturz entfernt, aber noch war sie für den Tod nicht bereit. Der Gedanke an Honorine, die sich an sie klammerte, gab ihr neue Kraft. Es schien ihr, als hätten sich Gefühl und Verstand in ihre Hände geflüchtet. Sie wußte, was zu tun war. Sie lockerte die Zügel, entließ das über die plötzlich gewonnene Freiheit verdutzte Pferd aus ihrem Zwang. Dann spornte sie es bis aufs Blut. Es machte einen Satz nach vorn, gewann rettenden Raum. Mit fester Hand ge lang es ihr, es auf den Pfad zurückzuführen. Zitternd blieb es stehen. Die unmittelbare Gefahr des Sturzes war gebannt, aber die riesige Schildkröte versperrte noch immer den Weg. »Eine Schildkröte! Es ist nur eine Schildkröte!« schrie Angélique, als ob das Tier sie verstehen müßte. Sie hörte nicht einmal den Laut ihrer eigenen Stimme. Der Schmerz in ihren durch die Anstrengung verkrampften Handgelenken und Schenkeln begann sich bemerkbar zu machen. Niemand würde ihr also helfen, die Stute zu halten oder wenigstens dieses Schreckgespenst vom Weg zu verjagen. Indianer umstanden sie in einem unbeweglichen 58
Halbkreis. Sie hätte sie für Statuen halten können, wäre nicht das düstere Funkeln ihrer leicht geschlitz ten Augen gewesen. Sie hatten sie mit einer Gleich gültigkeit gegen den Tod ankämpfen sehen, die selbst bei so rätselhaften Wesen ungewöhnlich war. Fast glaubte sie, Verblüffung und Erschrecken aus ihrer Haltung herauszulesen. Aber sie wurden nicht völlig wirklich für sie, von ihr getrennt durch die fast stoffli che Dichte des Getöses, die aus ihnen eine Art tauber und stummer Phantome machte. Doch ihr starker Geruch nach lauem Fett und Aas stieg ihr in die Nase. Man hatte ihn für den Geruch der Schildkröte oder des Waldes oder des Abgrunds halten können. Honorine war noch hinter ihr! Angélique wandte sich zu ihrer Tochter um und schrie ihr zu, daß sie absteigen solle. Endlich begriff das Kind. Erleichtert sah sie es ins trockene Laub rollen, sich schleunigst aufrappeln und zum nächsten Indianer laufen. Nun war es an ihr, vom Pferd zu springen. Es gelang nicht ohne Mühe. Wallis versuchte, ihr zu entkommen, quer durchs Gestrüpp zu brechen. Sie bäumte sich wieder, und nur um ein Haar vermied Angélique einen Schlag mit dem Huf. Im nächsten Augenblick hatte sie sich vor ihrem Kopf postiert, hielt sie mit einer Hand fest am Zügel und schlug ihr mit der Reitpeitsche über die Nüstern. So gelang es ihr, das Pferd nach und nach unter die Bäume zu zie hen. Vor allem lag ihr daran, es von dem Anlaß seines 59
Erschreckens zu entfernen. Endlich schien Wallis sich zu beruhigen. Sie gab es auf, gegen ihre Reiterin zu rebellieren, ließ sich zitternd und schaumbedeckt an einen Baum binden und senkte plötzlich den feinen Kopf in einer Geste des Aufgebens, des Verzichts. Angélique hätte es ihr gern nachgemacht. Sie sah sich zerzaust, verschwitzt, abstoßend schmutzig. Aber zuvor mußte sie diesem höllischen Lärmen entgehen … Sie kehrte zum Pfad zurück und näherte sich der Schildkröte. Die Indianer rührten sich nicht. Sie schie nen wie für die Ewigkeit erstarrt. Der Rückenschild des Tiers war so groß wie die Platte eines mittleren Tisches. Die beschuppten Reptilienpfoten hatten den Umfang einer Männerhand. Angéliques Zorn war stärker als ihr Abscheu vor diesem vorsintflutlichen Monstrum, das bei ihrer Annäherung Kopf und Beine auf widerliche Weise einzuziehen begann. Sich gegen den Panzer stemmend, stieß sie es aus dem Weg. Es geriet ins Rutschen, rollte, sich überschlagend, den Steilhang hinab und verschwand endlich im hoch aufspritzen den Wasser des Flusses. Angélique setzte sich, reinigte sich die Hände ober flächlich mit trockenen Blättern und holte danach ihr Pferd. Bis zur Höhe der Steigung, bis die Schlucht hinter ihr lag, in der sie und Honorine fast den Tod gefunden hatten, führte sie es am Zügel. Sie war in ein mit roten Heidelbeersträuchern und kleinen Blautannen bewachsenes Hochtal gelangt. Wie durch 60
Zauberei verstummte das Grollen des Wasserfalls, aufgeschluckt durch die Tiefe der Kluft. Die Grillen, die Vögel, der Wind waren wieder zu hören. Vor den Reisenden dehnte sich das verlassene Tal mit sei nen Tümpeln und Seen zwischen den Berghängen. Zur Rechten schlängelte sich ein Flüßchen über graue und rosige Kiesel, begleitet von flammenden Büschen. Auch die Indianer schienen wieder gesprä chig geworden zu sein und begannen untereinander mit vogelartigem Geplapper zu diskutieren. Honorines Schluchzen drang zu Angéliques Ohr. Die junge Frau schwang sie müde aufs Pferd. Sie hätte alles gegeben, um sich in den Heidelbeeren ausstrecken und schlafen zu können, und wär’s auch nur für einen kurzen Moment. Aber Wallis wäre im stande, diesen Moment zu nutzen und sich endgültig davonzumachen. »Komm«, sagte sie zu Honorine. Sie hob sie vor sich in den Sattel, putzte ihr die Nase, trocknete ihr die vom Weinen geschwollenen Augen und drück te sie an sich. Sie fühlte sich wie betäubt. Plötzlich gewahrte sie wenige Schritte vor sich den Grafen de Peyrac zu Pferd, ihre Söhne und die Mehrzahl der Männer, die die Spitze der Karawane gebildet hatten. Sie mußten zurückgeritten sein. »Was ist hier geschehen?« Nichts sei geschehen, erwiderte Angélique, bleich wie der Tod. Der zurückschnellende Zweig hatte eine rote Spur quer über ihre Stirn hinterlassen. In ihrer beschmutzten Kleidung, das heulende Kind im Arm, 61
auf einem Pferd mit blutig gerissenem Maul mußte sie einem Mann, der es nicht gewohnt war, bei seinen Expeditionen mit Familie belastet zu sein, ein mehr als ärgerliches Schauspiel bieten. »Man hat mir von einer Begegnung mit Irokesen berichtet«, beharrte Joffrey de Peyrac. Angélique schüttelte den Kopf. Zum Glück ver trieb der Wind den Übelkeit erregenden Gestank der Wilden, die sich jetzt in weitschweifigen Erklärungen ergingen. Florimond und Cantor mischten sich ein, soweit es ihre dürftigen Kenntnisse des indianischen Dialekts erlaubten. »Mopountook bleibt dabei. Er sagt, daß es hierher um Irokesen gebe.« Das Knacken mehrerer Musketenhähne war zu vernehmen. Die bloße Nennung dieses Feindes hatte die spanischen Soldaten veranlaßt, ihre Waffen schuß bereit zu machen. Argwöhnisch um sich spähend, verteilten sie sich um die Gruppe. Angélique vermochte nur mit Mühe, Worte zu fin den. »Es war nur eine Schildkröte … eine Schildkröte quer über den Weg.« Sie berichtete kurz den Zwischenfall. Der Graf de Peyrac runzelte die Stirn und warf der Stute einen dü steren Blick zu, daß Angélique sich schuldig fühlte. Honorines Schluchzer verdoppelten sich. »Arme Schildkröte!« plärrte sie. »Sie war so dumm und so ungeschickt. Und du hast sie in den Abgrund gestoßen. Du bist böse.« 62
Nicht viel hätte gefehlt, und auch Angélique wäre in Tränen ausgebrochen. Und das um so mehr, als sie in diesem Augenblick bemerkte, daß Honorines Füße nackt waren. Sie mußte ihre Strümpfe und Schuhe am Ufer des Sees vergessen haben, in dem sie gebadet hatte. Es war eine Katastrophe. Wo sollte sie in dieser Wildnis andere Strümpfe und Kinderschuhe finden? Es war der Tropfen, der den Krug zum Überlaufen brachte. Wäre sie nicht gezwungen gewesen, mit bei den Händen ihre Tochter und ihr Pferd zu halten, hätte sie ihr Taschentuch hervorgezogen, um ihren Kummer in ihm zu verbergen. Sie mußte ihren Kopf abwenden, um ihre allzu glänzenden Augen Joffreys Blick zu entziehen. Die Indianer stürzten sich jetzt in eine fast hyste risch anmutende Pantomime, um sich den Weißen verständlich zu machen, die ihnen in allen möglichen Sprachen Europas Fragen stellten und zu begreifen versuchten, was eigentlich passiert sei. Die Spanier forderten, gegen den Feind geführt zu werden. Der Graf richtete sich ein wenig im Sattel auf und gebot Ruhe. Der Ton, dessen er sich bediente, wirkte sofort. Die Indianer unterwarfen sich. Wenn die Züge Peyracs einen gewissen Ausdruck annahmen, war es besser, ihm zu gehorchen. »Er wäre imstande, einen Menschen auf der Stelle zu töten«, dachte Angélique schaudernd. Joffrey de Peyrac strich beruhigend über Honorines Kopf. »Schildkröten können schwimmen«, sagte er freundlich. »Die, die Euch erschreckt hat, ist längst 63
aus dem Wasser geklettert und spaziert bestimmt schon am Flußufer entlang, um Fliegen zu fangen.« Das Kind schien wie durch einen Zauber getröstet. Dann ließ sich der Graf aus dem Sattel gleiten und näherte sich dem Sagamore, um ihn anzuhören. Ebenso groß wie der Indianer, lauschte er aufmerk sam dessen Erklärungen. Die Ankunft Nicolas Perrots räumte schließlich mit den letzten Mißverständnissen auf. Joffrey de Peyrac lächelte, schwang sich wieder in den Sattel und gesellte sich zu Angélique. »Wir haben es einmal mehr mit einer Ausdeutung ihrer abergläubischen Vorstellungswelt zu tun«, sag te er. »Die Schildkröte ist für sie das Symbol des Irokesen. Die Begegnung mit ihr bewerten sie als böses Vorzeichen, als fast gewisse Ankündigung, daß ihre schlimmsten Feinde sich in der Nähe herumtrei ben. Deshalb ihre Bestürzung beim Anblick dieses harmlosen und in dieser Gegend ziemlich häufig vor kommenden Tiers.« »Sie sagen auch«, fiel Perrot ein, »das Zeichen des Irokesen habe sich der weißen Frau in den Weg ge stellt, um ihren Tod zu bewirken, aber sie habe sich nicht entmutigen lassen und ihm die Stirn geboten. Von nun an, Madame, glauben die Metallaks, daß keins der fünf irokesischen Völker gegen Euch trium phieren kann.« »Ich nehme es als gutes Vorzeichen an«, murmelte sie, sich ebenfalls zu einem Lächeln zwingend. Joffrey nickte ihr zu. »Ihr werdet neben mir rei 64
ten. Der Weg, den wir einschlagen, ist breit genug. Er wird auch von den Indianern benutzt und folgt über Hunderte von Meilen der Kammlinie der Appalachen. Verlaßt mich nicht mehr, Liebste.« Die ruhige Stimme ihres Mannes tat ihr wohl, und es beruhigte sie, in seiner Nähe zu sein. Dennoch war etwas in seiner Haltung, was sie einschüchterte, und sie fragte sich, ob er ihr etwa wegen des Zwischenfalls zürnte, der zu einer Tragödie hätte werden können, und sein Mißvergnügen nur mit gewohnter Selbst beherrschung unterdrückte. Am Ende eines großen blaßgrünen Sees, der sei ne schimmernde, in vielen Buchten ausladende Fläche zwischen Felsvorsprüngen dehnte, die ma gere Tannen gleich Regimentern von Lanzenreitern besetzt hielten, entdeckten sie zu ihren Füßen ein weiteres, ziemlich tiefes und schmales Tal. Der Hang gegenüber wirkte aus der Entfernung wie ein riesiges Beet rötlicher, roter und orangener Kronen, bläulich und malvenfarben gemustert durch Bäume, die schon ihre Blätter verloren hatten, dazwischen vereinzelte Inseln eines überraschenden Grüns. Irgend etwas an diesem blühenden Hang, dieser mit Stickereien und Brokaten geschmückten Kuppel, erregte Peyracs Aufmerksamkeit und veranlaßte ihn, seine Leute am Waldsaum halten zu lassen. Eine felsige Lichtung er laubte, die Umgebung zu mustern, bevor man von neuem in die Deckung des Waldes tauchte. Er verlangte nach seinem Fernrohr. Der aus dem Tal heraufwehende hauchzarte Dunst 65
dämpfte die Farben. Sie schienen sich aufzulösen, zu verschmelzen. Der Himmel, nun von Wolken über zogen, stieg zur Begegnung mit dem irdischen Nebel herab. »In wenigen Augenblicken werden wir vermutlich nichts mehr sehen«, sagte der Graf. Rasch reichte er sein Fernrohr Angélique. »Schaut hinüber und sagt mir, was Ihr zu erkennen glaubt.« Zunächst war sie überrascht durch das verblüf fende Bild, das sich ihr im Kreis des Glases bot. Ans Auge herangezogen, vergrößert, schienen die Bäume von einem kecken, auf Genauigkeit bedachten Pinsel übereinandergezeichnet zu sein. Die schwarz-weißen Stämme trugen mit majestätischer Feierlichkeit die buntglühenden Massen des Laubwerks. In den Tiefen der ausgesparten Schatten gewahrte sie zu ihrem Erstaunen menschliche Umrisse. Nein, sie täuschte sich nicht, obgleich das Schillern der Federbüsche, die sie schmückten, von fern mit der Färbung des herbstlichen Waldes verschmolz. »Was seht Ihr?« »Ich sehe Wilde – zwei oder drei, nein, mehr! Es sind ziemlich viele.« »Erkennt Ihr die Haartracht?« »Sie sind rasiert bis auf ein Büschel in der Mitte, in dem die Federn stecken.« Sie ließ das Fernrohr sinken. »Joffrey, die Cayugas trugen solche Büschel …« »Ihr habt recht!« 66
Langsam schob er das Instrument zusammen. »Sollte es möglich sein, daß Eure Begegnung mit der Schildkröte doch etwas zu bedeuten hätte? Haltet mich nicht für leichtgläubig, aber trotzdem möchte ich fast wetten, daß es sich dort drüben um einen Trupp Irokesen handelt.« Nach und nach hatte sich die kleine Karawane ver sammelt, und selbst die Indianer der Eskorte mischten sich unter die Weißen und blickten mit dem gleichen zornigen Überdruß zu dem farbenstrotzenden Hang hinüber, wo die unsichtbare Gefahr lauerte. »Was für ein Pech!« sagte Malaprade. »Wir sind fast vor den Toren Katarunks. Bald hätten wir den braven O’Connell begrüßen und uns aller Wohltaten der Zivilisation erfreuen können. Ich hatte mir schon vorgenommen, Monsieur de Peyrac, Euch zur Feier der Ankunft Geflügelklößchen auf Kohl zu servieren, aber nun werden sie uns vielleicht zu Klößchen ver arbeiten.« »Bah!« sagte Florimond. »Laßt Euch nicht ins Bocks horn jagen. Die Irokesen profitieren von dem Ruf, den sie im Norden genießen. Dort reißt man schon aus, bevor sie sich überhaupt blicken lassen. Aber ich habe welche in Neuengland gesehen, wo man sie Mohawks nennt. Sie kamen mir nicht schlimmer vor als die Mohikaner. Bei New York haben sie sogar den Engländern gegen König Philipp geholfen. Es wird darauf ankommen, wofür die dort drüben uns halten: für Franzosen oder Engländer. Auf alle Fälle sind die Metallaks, die uns begleiten, nicht bei ihnen beliebt. 67
Alles, was zur Rasse der Algonkins gehört, dient ih nen zur Sklaverei oder zum Rösten. Die Metallaks wissen es recht gut. Seht nur, was sie treiben.« Wirklich bereiteten sie sich unter dem Befehl ihres Sagamore zum Kampfe vor. Die Lasten wurden abgestellt, die Frauen und Kinder verschwanden wie von den Tiefen des roten Waldes aufgesogen. Die Männer bemalten sich in aller Eile mit roter, schwarzer und weißer Farbe, aber das Rot überwog. Die Bogenträger prüften die Spannkraft der Sehnen und die Befiederung der Pfeile, die ihrer Zielgenauigkeit diente. Am linken Arm eines jeden hing eine mächtige Streitkeule, die Rechte tastete nach dem Skalpmesser und schob es zwischen die Zähne. Mehrere Kundschafter glitten wie Schlangen ins gelb-rote Gebüsch, in dem sie, selbst aus der Nähe und obwohl sie sich bewegten, nicht mehr zu unter scheiden waren. Der Häuptling und die Hauptmacht der Krieger bildeten, eng angelehnt an die Weißen, eine dichte Abwehrfront. Auf ihren Gesichtern malte sich eine wilde Freude. Man hätte glauben können, daß die Aussicht auf eine Schlacht für sie das höchste der Gefühle darstellte. Die Europäer, abgesehen vielleicht von den jungen wie Florimond, teilten ihren Enthusiasmus keines wegs. Ihre durch die Marschtage einer langen Reise tiefgebräunten Gesichter drückten Müdigkeit und Verdruß aus. Wenn es stimmte, daß sie nur wenige 68
Wegstunden von der Sicherheit einer Palisade und der vermutlich recht rustikalen, aber dennoch hoch willkommenen Bequemlichkeit des Forts trennten, war es wirklich ärgerlich, durch einen Hinterhalt in letzter Minute aufgehalten zu werden und womög lich Tote und Verletzte zu riskieren. Angélique warf Joffrey einen Blick zu, seine Befehle erwartend. »Warten wir«, sagte er. »Sobald die Kundschafter zurückkehren, werden wir Genaueres wissen. Wenn die Irokesen die Absicht haben sollten, uns anzugrei fen, werden wir uns verteidigen. Wenn sie weiterzie hen, werden wir dasselbe tun. Ich habe Mopountook sagen lassen, daß ich ihn nicht unterstützen werde, wenn er von sich aus den Angriff eröffnet, ohne daß Feindseligkeiten der anderen Seite vorausgegangen sind.« Sie warteten mit kampfbereiten Waffen. Schließlich tauchten die Späher mit enttäuschten Mienen wieder auf. Nicht nur, daß die Irokesen kei nerlei Verlangen gezeigt hatten, die Karawane anzu greifen – sie schienen sie nicht einmal bemerkt zu haben, denn sie waren buchstäblich verschwunden. Keine Spur von ihnen war entdeckt worden. Die Metallaks wandten Angélique ihre grotesk bemalten Gesichter zu und nickten mit den Köpfen. Die weiße Frau hatte den Irokesen in die Flucht ge trieben.
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Fünftes Kapitel
»Es gibt den Wolf, es gibt das Reh, es gibt den Bären, den Fuchs und die Spinne, aber über allen ist die Schildkröte.« So drückte sich Nicolas Perrot an diesem Abend im Lager aus. Die Kälte begann aus den Schluchten zu steigen, und man hatte sich um die Feuer versam melt. Safranfarbener Dunst vergoldete die Umgebung. In der Ferne dehnte sich weich das Gebirge, schmieg te sich an die Erde wie ein bezwungenes Tier, und zu seinen Füßen schlängelte sich ein silbriges Band, zärtliches, sanftes Gewässer, ein Fluß … Joffrey de Peyrac hatte ihn ihnen gezeigt, als sie zum Lagerplatz gelangt waren. »Dort unten … der Kennebec.« Wie die Hebräer angesichts des verheißenen Lan des hatten sich Peyracs Leute jeder auf seine Weise gefreut. Die einen sich sammelnd und betend wie die Jonasse, um dem Herrn für die Erreichung des Ziels ihrer mühseligen Reise zu danken. Die andern, indem sie sich gegenseitig freundschaftliche Rippenstöße versetzten oder ihre Mützen in die Luft warfen … Sie beglückwünschten sich um so mehr, sich bald im Schutz einer guten, soliden Palisade zu befinden, als das flüchtige Auftauchen der Irokesen und mehr noch der seltsame Zwischenfall mit der Schildkröte sie alle mit vagen Befürchtungen erfüllt hatten. 70
Die Mücken summten. Angélique saß in der Nähe des Feuers und drückte unter ihrem Mantel aus dik kem Wollstoff die schlummernde Honorine an sich. Zuweilen wandten sich ihre Augen dem gleißenden Band des Kennebec unten in der Ebene zu. Dort war auch Katarunk, der Hafen! »Der Wolf für die Mohawks, das Reh für die Onondagas, der Fuchs für die Oneiuten, der Bär für die Cayugas und die Spinne für die Senekas, für alle Irokesenvölker der Fünf Nationen aber die Schild kröte, Zeichen der Gemeinsamkeit und des sie alle beherrschenden Geistes.« Wenn Nicolas Perrot nachdachte, runzelte sich die ledrige, tief gebräunte Haut seiner Stirn, und seine Pelzkappe geriet in Bewegung. »Die hiesigen Stämme, Abenakis, Etscheminen oder Surikesen, sind an ein nomadisierendes Leben gewöhnt. Sie leben ohne Ordnung, ohne feste Wohn stätten … Die Irokesen sind von höherer Art. Ein großes Volk der Ackerbauer …« »Man möchte meinen, daß Ihr sie liebt«, warf Angélique ein. Der Waldläufer fuhr auf. »Gott bewahre! Es sind Dämonen, das schlimmste Gelichter, das die Erde je getragen hat. Es gibt keinen böseren Feind für einen Kanadier als den Irokesen … Aber es ist wahr, daß ich bei ihnen gelebt habe«, be gann er nach einem Moment der Überlegung von neuem. »Das vergißt man nicht. Wer je das Leben der Irokesen geteilt hat, wird mich verstehen. Ich habe 71
sogar das Heilige Tal gesehen, wo die drei von den Fünf Nationen verehrten Götter regieren.« »Drei Götter?« »Ja. Der Mais, der Kürbis und die Bohne«, sagte Perrot, ohne zu lächeln. Honorine schlief noch immer. Mit aller Vorsicht, um sie nicht zu wecken, erhob sich Angélique und ging zu dem Drillichzelt hinüber, das abends für die Frauen und Kinder aufgeschlagen wurde. Nachdem sie ihre Tochter sorgsam in eine Pelzdecke gehüllt hatte, trat sie wieder hinaus, um Madame Jonas zu helfen, die sich mit Octave Malaprade am Kochfeuer betätigte. Im Schein der untergehenden Sonne leuchteten die Appalachen in purpurnen Tönen. Die Linien der Berge verliefen sanft, aber stolz in die Ferne. Der Wind strich über die vorgeschobene Felskuppe, auf der das Lager errichtet worden war, weil die Brise die Mückenschwärme vertrieb und man von dort aus die Umgebung besser überwachen konnte. Florimond und Cantor waren damit beschäftigt, in der Asche in Blätter gewickelte Fische zu braten, die sie mit der Hand in Vertiefungen des Flußbetts gefangen hatten. Elchviertel brieten an einem Spieß, und in einem eisernen Kessel schmorte als besonde rer Leckerbissen die Zunge zusammen mit Kräutern und Gemüsen. Ein anderer Topf, der gekochten Mais enthielt, war schon vom Feuer gezogen worden, und Madame Jonas begann bereits mit der Verteilung. Wie immer entrüstete es sie ein wenig zu sehen, 72
mit welcher Ungeniertheit sich diese schmutzigen Indianer unter die Weißen mischten und ihr als erste ihre unsauberen Näpfe unter die Nase hielten. Sie mischten sich in alles, berührten alles, brachten mit gleichmütiger Unverschämtheit alles durchein ander: Waren sie nicht hier zu Hause, und waren die se Weißen nicht eigentlich ihre Schützlinge? Die arme Frau kniff die Lippen zusammen und warf dem Grafen de Peyrac, wie sie hoffte, beredte Blicke zu. Sie vermochte nicht zu begreifen, wie ein so kultivierter Mensch dieses übelriechende Gewimmel ertragen konnte, und Angélique stellte sich zuweilen die gleiche Frage. Kaltes blaues Licht breitete sich nun über die Land schaft. Die Wachen patrouillierten am Waldsaum ent lang. Allein das schimmernde Band des Kennebec blieb unten im Tal noch lange sichtbar. Ein an Aufregungen reicher Tag ging zu Ende. Was würde der nächste bringen? Angéliques Blick glitt über die Lichtung. Sie suchte ihren Gatten und bemerkte ihn ein wenig abseits, in den Anblick des Horizonts versunken. Er war allein. Seine Haltung verriet die tiefe Konzentration seiner Gedanken. Angélique war es schon häufig aufgefallen daß nie mand ihn in seinen Meditationen zu stören wagte, wenn er sich so zurückzog. Ein eigenartiger Respekt umgab ihn, dem diese so verschiedenen und in der Mehrzahl verschlossenen und mißtrauischen Männer ihr Schicksal anvertraut hatten. Die meisten hatten nicht ohne Eifersucht und Un 73
ruhe Angélique im Dasein dessen auftauchen sehen, den sie verehrten. »Ha, die Frauen! Jedermann weiß, was so was sogar aus einem richtigen Mann machen kann«, sagte Clovis, der Auvergnat, und kniff die kleinen Mongolenau gen zusammen. »Einen Schlappschwanz können sie aus ihm machen.« »Nicht aus dem da«, protestierte Yann Le Couénnec, der Bretone. Und einen bewundernden Blick zu der schlanken Gestalt der jungen Frau hinüberwerfend: »Und nicht die da!« »Du bist ein Dummkopf!« erwiderte der Auvergnat mit einem Schulterzucken. Die hängenden Enden seines schwarzen Schnauzbarts zeichneten einen bit teren Zug um seine Lippen. Angélique erriet ohne Mühe den Inhalt ihrer Rede reien. Sie war selbst Anführerin einer Bande gewesen, und diese Männer waren eben nicht »ihre« Männer. Eine Existenz voller Gefahren und gemeinsamer Siege hatte sie um den Grafen de Peyrac vereint. Kostbare, unzerstörbare persönliche Bindungen, die sie in ihrer männlichen Schamhaftigkeit nie preisge ben würden, fesselten sie an den, in dem die Erfah rung sie ihren Herrn und ihre einzige Hoffnung zu sehen gelehrt hatte. Gemeinsam mit ihm hatten sie gegen die Sarazenen oder die Christen gekämpft, die karibischen Inseln erforscht, Stürmen getrotzt. Mit ihm hatten sie die Beute geteilt. Von ihm ermuntert, hatten sie geschlemmt, hatten sie sich ins große Leben 74
gestürzt … am Ziel ihrer Fahrten, in den Häfen. Wein war in Strömen geflossen, Frauen waren bestellt wor den, und ihr großzügiger Herr verteilte Gold mit vol len Händen. In dieser Vergangenheit, die sie nicht mit ihm ge teilt hatte, versuchte Angélique zuweilen, sich das Leben ihres Mannes vorzustellen. Doch inmitten seiner wissenschaftlichen Instrumente erschien er ihr am häufigsten. Sie sah ihn in seiner schwankenden Kabine über ei nen Globus, eine Karte gebeugt oder auf einer mauri schen Terrasse unter dem Himmel Kandias, wo er die Sterne durch ein unschätzbar teures astronomisches Fernrohr beobachtete. Aber in dieser Vergangenheit kam des Abends immer der Augenblick, in dem ein Diener erschien und eine verschleierte weibliche Gestalt hereinführte; auf den karibischen Inseln war es gewiß eine schöne Spanierin oder eine braune oder schwarze Mestizin gewesen. Seine Arbeit verlassend, hatte er diese Frau mit seiner unvergleichlichen Liebenswürdigkeit empfan gen, hatte sich schmeichelnd und scherzend um sie bemüht, um sie sich zu erobern und so die Lust der Sinne zu finden, die ihm zu schenken sie gekommen war. Ein Mann für sich! Das war er. Ein gereifter Mann, im vollen Besitz seiner Kraft und seiner Fähigkeiten, der sich selbst genügte. Neben diesem Mann forderte Angélique heute ihren Platz. Aber wenn er sich so in die Stille seiner Gedan 75
ken zurückzog, wagte sie nicht, sich ihm zu nähern. Die Nacht war hereingebrochen. Am Feuer prä ludierte Cantor auf seiner Gitarre eine toskanische Kantilene. Seine schon volle und sichere Stimme, in der nur zuweilen noch die samtenen Inflexionen der Jünglingszeit schwangen, war verführerisch. Wenn er sang, wirkte er glücklich. Doch über die Gefühle und Gedanken ihrer Jungen würde Angélique sich erst klarwerden können, wenn sie ihr Vertrauen gewon nen hatte … wenn sie in Katarunk angelangt wären. Die Sorge um ihr Pferd beunruhigte sie von neu em, und statt sich zur Gruppe am Feuer zu gesellen, stieg sie zum Ufer des Flusses hinab, wo man die Pferde hatte weiden lassen. Wallis war fort! Ihre zerrissene Leine hing noch an dem Baum, an dem man sie festgebunden hatte. Eine Ahnung sagte Angélique, daß das Tier nicht weit sein konnte. Nachdem sie noch einmal hinauf gestiegen war, um Zaumzeug zu holen, ging sie leise rufend am Ufer des Flusses entlang. Ein verschleierter Mond hob sich über die Wipfel der schwarzen Tannen. Ein Waldkäuzchen heulte. Siebenschläfer ließen im Dickicht ihre zärtlichen Rufe hören. Der fast trockene Fluß murmelte schläf rig zwischen den Felsen. Zweige knackten. Angélique wandte sich in diese Richtung. Im diffusen Mondlicht bemerkte sie die Stute, die auf einer kleinen Lichtung weidete, aber als sie dorthin gelangte, hatte sich das flüchtige Tier schon wieder 76
entfernt. Als es Angélique endlich gelang, sie am Hang ei nes Hügels zu erwischen, stellte sie fest, daß sie die Lagerfeuer aus den Augen verloren hatte. Das war nicht schlimm. Sie würde zum Fluß hinuntergehen und ihm stromabwärts folgen. Nachdem sie Wallis das Zaumzeug angelegt hatte, hielt sie für einen Moment den Atem an, um die Richtung herauszufinden, aus der das Murmeln des Wassers kam. Allein im Dunkel dieser Nacht, verspürte sie keiner lei Furcht. Der fremde Wald hüllte sie in seinen Duft. Wieder genoß sie das flüchtige, aber intensive Gefühl, lebendig zu sein, voller Kraft und Jugend an der Schwelle eines neuen Lebens zu stehen, das sie selbst in allen Stücken würde aufbauen müssen. Das große, unbekannte Land, das sie unter so vielen Gefahren er reicht hatten, würde ihr als Bundesgenosse zur Seite stehen. Und das gleiche Gefühl der Liebe für diese unzivilisierte Erde, das sie während des Bades im durchsichtig-schillernden Wasser jenes Sees empfun den hatte, weitete nun ihr Herz. In diesem Augenblick glaubte sie, einer Halluzination zu erliegen. Vermischt mit den fernen Rufen eines Tiers, dem Rascheln des Windes, dem dumpfen Grollen der Wasserfälle in den Tiefen der Wälder vermeinte sie, die ernsten Töne eines Kirchengesangs zu hören …
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Sechstes Kapitel
»Ave Maria stella gratia Mater alma …« Die Worte eines Chorals schwebten durch die Nacht. Angélique starrte zu den Wipfeln der Bäume hinauf, als erwartete sie, zwischen ihren Zweigen den Himmel sich öffnen und einen Engelschor erschei nen zu sehen. Ein Frösteln glitt über ihren Nacken. Vorsichtig wandte sie sich um. Hinter ihr stieg ein rauchig-rötlicher Schein über die Hügelkuppe und warf zuckende Lichter über die dunklen Baumkronen. Wallis fest am Zügel führend, näherte sich Angé lique so lautlos wie möglich dem Rand des steilen Abhangs. Von dort unten kam der Gesang. Es fehl te nicht viel, und sie hätte sich in die Zeiten des Forstes von Nieul zurückversetzt gefühlt, in den die Hugenotten geflüchtet waren, um ungestört von ih ren Verfolgern beten und psalmodieren zu können. Sie schob sich noch näher an den Steilhang heran, beugte sich vor und gewahrte ein seltsames, kaum vorstellbares Schauspiel. Zwischen Hang und Fluß loderten zwei große Feuer, deren Flammen mit ihrem unruhig flackernden Schein die Felsen röteten. Ein Mönch in schwar zer Kutte stand mit segnend erhobenen Armen vor einer Gruppe kniender Männer. Sie konnte ihre Gesichter sehen, während der Mönch ihr den Rücken zuwandte. Ein paar waren 78
in Leder und Pelzwerk gekleidet, andere trugen blaue, mit vergoldeten Litzen besetzte Uniformen, und Angélique bemerkte sogar zwei Edelleute mit Spitzenkragen und -manschetten. Nach der letzten Strophe verstummte der Gesang, und die tiefe, leidenschaftliche Stimme des Priesters erhob sich allein. »Königin des Himmels …« »Bittet für uns«, erwiderte die Versammlung in ei nem gemeinsamen Murmeln. Angélique fuhr zurück. Es waren Franzosen! … »Eiche Davids …« »Bittet für uns!« »Bundeslade …« »Bittet für uns!« »Zuflucht der Sünder! Trösterin der Heimgesuch ten …« »Bittet für uns! Bittet für uns!« antwortete der Chor jeder Anrufung. Kniend, die Köpfe fromm gesenkt, ließen die Waldläufer, Soldaten und Herren Rosen kränze durch ihre Finger gleiten. Franzosen! Angéliques Herz schlug wie rasend. Sie hätte das, was sie sah und hörte, für die wirre Vision eines Alptraums halten können, in dem sie die Schrecken ihres aufrührerischen Krieges im Poitou von neuem erlebte, wenn ihr nicht hinter den Franzo sen die kupferroten Gestalten halbnackter Indianer aufgefallen wären. Einige hatten sich dem Gebet und Gesang angeschlossen, während die andern am zwei ten Feuer hockten und mit ihren Fingern Reste der 79
eben beendeten Mahlzeit aus einem Holznapf kratz ten. Der Geruch der Suppe hing noch in der Luft, und ein Kessel von mittlerer Größe war beiseite gescho ben worden, nachdem man seinen Inhalt verteilt hatte. Ein großer, fettglänzender Teufel mit struppigem Haar, der sich bisher über die Glut gebeugt hatte, richtete sich auf und zog eine Axt aus den Flam men, deren Metall durch die Dunkelheit glühte. Die Waffe vorsichtig tragend, entfernte sich der Wilde ei nige Schritte aus dem Kreis, und erst jetzt gewahrte Angélique halb im Schatten einen an einen Baum stamm gefesselten nackten Indianer. Ohne Eile und als ob es die natürlichste Sache der Welt wäre, preßte der Mann mit der Axt die glühende Schneide gegen den Schenkel des Gefangenen. Kein Schrei erhob sich. Nur ein unerträglicher Gestank nach versengtem Fleisch stieg wenig später Angélique in die Nase. In ihrem Entsetzen machte sie eine unwillkürliche Bewegung, und unter den Hufen der aufgeschreck ten Stute knackten Zweige. Aus Furcht, entdeckt zu werden, sprang sie rittlings aufs Pferd. Der Wilde, der die Axt in die Glut zurückgelegt hat te, hob den Kopf und wies zum Rand des Steilhangs hinauf. Die andern waren aufgesprungen und sahen dun kel vor dem mondhellen Himmel die Silhouette einer Reiterin, einer Frau mit wehendem Haar. Ein Schreckensschrei entrang sich ihnen: »Die Dämonin! Die Dämonin Akadiens!« 80
Siebentes Kapitel
»Was haben sie gerufen? Die Dämonin Akadiens?« »Ja. So hab’ ich’s verstanden.« »Großer Gott! Hoffentlich haben sie Euch nicht für ›sie‹ gehalten!« rief Nicolas Perrot und bekreuzigte sich. Maupertuis tat desgleichen. »Ich weiß nicht, für wen sie mich gehalten haben. Auf jeden Fall haben sie mich wie die Wilden verfolgt. Einer von ihnen, eine Art Riese, hätte mich um ein Haar erwischt, als ich Wallis in den Fluß trieb.« »Habt Ihr ihn getötet?« fragte Peyrac schnell. »Nein. Ich schoß durch seinen Hut, und er fiel rücklings ins Wasser. Es sind Franzosen, wie ich Euch schon sagte, die im Tal auf der andern Seite dieses selben Berges lagern, auf dem wir unsere Zelte aufge schlagen haben.« »Wenn Ihr erlaubt, Monsieur de Peyrac, werden wir Kanadier, Maupertuis, sein Sohn Pierre-Joseph und ich, sie aufsuchen. Es müßte wahrhaftig mit dem Teufel zugehen, wenn wir unter diesen Leuten aus Québec nicht ein paar gute Freunde und Bekannte fänden, mit denen wir offen reden können.« »Vergiß nicht, Perrot, daß wir von der Regierung in Québec zum Tode verurteilt und von Seiner Gnaden, dem Bischof, exkommuniziert worden sind«, warf Maupertuis ein. »Papperlapapp! Das sind Dummheiten! Wenn man am Sankt Lorenz geboren ist, hat man unter Freunden 81
nichts zu fürchten.« Das Lager stand unter Waffen, seitdem es von Angélique bei ihrer Rückkehr alarmiert worden war. Die Soldaten und die übrigen männlichen Mitglieder der Expedition hatten, die Musketen in den Fäusten, ihre Posten bezogen. Als die drei Kanadier im Gänsemarsch im Unter holz am Rande der Lichtung verschwunden waren, wandte sich Angélique zu Peyrac. Sie hatte Mühe, ein Zittern zu unterdrücken, und ihre Stimme klang ein wenig aggressiv. »Ihr habt mir nicht gesagt, daß wir dort, wohin wir uns begeben, möglicherweise Franzosen begegnen könnten.« »Man begegnet immer möglicherweise Franzosen, wenn man durch Nordamerika reist. Ich habe Euch schon erklärt, daß sie wenig zahlreich, aber überaus rührig sind und ebenso reiselustig und neugierig wie die Indianer. Es war unvermeidlich, daß wir ihre Aufmerksamkeit erregen würden … Kommt näher ans Feuer, Liebste. Ihr müßt erstarrt sein. Diese böse Begegnung hat Euch aufgeregt. Wieder einmal die Schuld Eurer unerträglichen Stute.« Angélique bot ihre Hände der Wärme der Flammen. Gewiß war sie erstarrt, und das bis zum Grund ihres Herzens. Fragen drängten sich auf ihre Lippen. Sie wollte, daß er sie beruhigte und ihr zugleich ohne Ausflüchte das ganze Ausmaß der Gefahr enthüllte. »Das war es, was Ihr gefürchtet habt, nicht wahr? 82
Der Grund, weshalb Ihr uns zur Eile triebt? Ihr saht einen Einfall der Franzosen in das Gebiet voraus, in dem Ihr Euch niederlassen wollt und schon feste Stützpunkte habt?« »Ja. Der Baron de Saint-Castine in Pentagouët, mein nächster Nachbar in Gouldsboro, der den französi schen Stützpunkt in Akadien hält und mit dem ich seit langem in guten Beziehungen stehe, suchte mich auf, um mich zu warnen. Katholische Missionare, die den Abenakis in Maine den Katechismus lehren, seien über mein Auftauchen an den Quellen des Kennebec keineswegs entzückt und hätten die Regierung in Québec um Entsendung einer Expedition gegen mich ersucht.« »Aber mit welchem Recht können die Franzosen Eure Anwesenheit in dieser Gegend übelnehmen?« »Sie betrachten sie als ihr Eigentum und nennen sie Akadien.« »Und wem gehört diese Wildnis wirklich?« »Dem Wagemutigsten. Es ist Niemandsland. Der von Frankreich unterzeichnete Vertrag von Breda be läßt sie den Engländern, aber sie fürchten den Wald und wagen es nicht, die Küste zu verlassen, um die Artikel des Vertrags geltend zu machen.« »Und wenn diese Franzosen aus dem Norden eines Tages entdecken, wer Ihr seid, wer ich bin?« »Das wird nicht gleich morgen geschehen. Und bis dahin werde ich stärker sein als diese arme, vom König von Frankreich aufgegebene Kolonie … Nein, fürchtet nichts. Die Hand Ludwigs XIV. kann uns 83
hier nicht erreichen. Und wenn er es doch noch ein mal wagen sollte, können wir uns wehren. Amerika ist groß, und wir sind frei … Beruhigt Euch. Wärmt Euch, mein Liebling.« »Was bedeuten die Worte, die sie hinter mir herrie fen? ›Die Dämonin Akadiens‹?« »Sie müssen Euch wohl für eine Erscheinung ge halten haben. Von Castine und Perrot erfuhr ich, daß die Offenbarungen einer Nonne aus Québec in ganz Neufrankreich Bestürzung hervorgerufen hätten. Im Traum sei ihr ein weiblicher Dämon erschienen, der der Kirche die Seelen aller Indianer entrissen habe, der getauften wie der ungetauften. Daher ihr Argwohn und ihre Beunruhigung. Und vielleicht ist da auch der Anlaß ihrer Expedition hierher zu suchen. Man sagt, die Dämonin ritte auf einem mythischen Tier, einem Einhorn.« »Ah, ich verstehe!« rief Angélique mit einem ner vösen Lachen. »Sie sahen mich: eine Frau, ein Pferd – etwas völlig Undenkbares hier, und es entsprach der Vision des Traums.« Peyrac schien verstimmt. »Es ist dumm … aber es könnte ernste Folgen für uns haben. Diese Leute sind fanatisch.« »Sie können uns doch nicht angreifen, ohne daß wir ihnen durch feindseliges Verhalten Grund dazu bieten.« »Warten wir’s ab. Die Zukunft wird uns über ihre Absichten aufklären. Heute morgen hat Perrot seinen Indianer Mazok zum Kundschaften ausgeschickt. 84
Nach seiner Rückkehr wird er uns informieren, wer in diesem Gebiet herumstreift: Franzosen, Irokesen, vielleicht auch die mit den Franzosen verbündeten Abenakis, Algonkins oder Huronen, die sie gewöhn lich auf ihren Expeditionen begleiten … Je mehr ich’s mir überlege«, fügte er nachdenklich hinzu, »könnten die Wilden, die wir heute beobachteten, Huronen aus dem Gefolge der Franzosen gewesen sein. Obwohl Feinde der Irokesen, gehören sie zur selben Rasse und haben auch manche ihrer Gebräuche bewahrt, unter anderem die Sitte, sich mit einem einzigen Haarbüschel auf dem Hinterkopf zu schmücken. Aber wir wissen auch, daß sich ein irokesischer Kriegstrupp in der Gegend herumtreibt, und die Franzosen sind vielleicht nur seinetwegen hier.« Er unterbrach sich und fuhr lächelnd fort: »Seht Ihr, das ist Amerika. Menschenleere Wildnis, die sich plötzlich belebt und von allen möglichen Feinden wimmelt.« Fackeln glühten im Unterholz und näherten sich dem Lager. Das Knacken von Musketenhähnen war zu vernehmen, und der Geruch angezündeter Lunten wehte herüber. Doch es waren nur die drei Kanadier, die unver richteterdinge zurückkehrten. Sie hatten am Flußufer wohl die Spuren des französischen Lagers sowie den an einen Baum gefesselten, halb gerösteten irokesi schen Gefangenen gefunden, aber weder Franzosen noch Huronen. Vergeblich hatten sie sie gerufen: »Heda, wo seid ihr, Vettern vom Sankt Lorenz! Wo seid ihr, Brüder!« 85
Niemand hatte geantwortet. Was den gefangenen Irokesen betraf, den sie los gebunden hatten, war er trotz seines Zustandes beweglich genug gewesen, einen unbeobachteten Augenblick zu nutzen und sich mit einem Sprung ins dunkle Dickicht davonzumachen. Von nun an waren sie nur noch von einem Ge wimmel von Phantomen verschiedenster Art um geben – Franzosen, Algonkins, Huronen, Abenakis, Irokesen –, und der geheimnisvolle Wald murmelte weiter im Hauch des Windes, und nichts störte die Stille der Nacht außer dem fernen Rauschen des Wassers und dem Ruf des brünstigen Elchs. Joffrey de Peyrac ließ einen Teil seiner Männer un ter Waffen und ordnete regelmäßige Streifengänge an; sie würden sich nicht überraschen lassen. Er riet Angélique, sich in dem den Frauen und Kindern vorbehaltenen Zelt zur Ruhe zu legen. Er begleitete sie dorthin, und im tiefen Dunkel fern dem Feuer nahm er sie in seine Arme und wollte ihre Lippen küssen. Doch sie war zu nervös, zu unruhig, um seine Zärtlichkeit erwidern zu können. In Augenblicken wie diesem verdroß es sie, daß er sich während der Reise auch des Nachts von ihr trennte. Die Disziplin der Karawane und das erst kürzlich erfolgte Eindringen der Frauen in diese Welt der Männer forderten es. Zögernd sah Angélique es ein. Sie erinnerte sich, daß Colin Paturel, der Anführer der christlichen Gefangenen, mit denen sie von 86
Miquenez zur Küste geflohen war, sich ähnlich ver halten hatte. »Diese Frau gehört niemand«, hatte er gesagt. »Keine Liebeleien, bevor wir nicht gesund und sicher auf christlichem Boden sind.« Das gleiche Prinzip lag der Strenge zugrunde, mit der Joffrey de Peyrac Frauen und Kinder unter einem Dach zusammenhielt, während die Männer immer zu dritt in ihren Rindenhütten abseits schliefen. In dem Gefühl, sich denen zu schulden, die er in seine Obhut genommen hatte, beanspruchte er für sich selbst keine Sonderrechte. Er machte sich das Gesetz der alten, primitiven Stämme zu eigen, nach dem sich der Krieger am Vorabend des Kampfes oder angesichts irgendwelcher Gefahren von der Frau zu entfernen hat, um Verstand und Kraft intakt zu hal ten. Doch Angélique hatte nicht teil an dieser Kraft. Sie sagte sich zuweilen, daß sie schwach sei, und sie brauchte seine Stütze. Ihr Geist kam nur unvollkom men zur Ruhe, wenn sie ihm fern war. Sie fürchtete, ihn wieder zu verlieren. Das Wunder ihres Sich-fin dens hatte sich erst vor so kurzer Zeit vollzogen. Sie wußte, daß Joffreys Selbstbeherrschung, seine scheinbare Kälte eine glühende Sinnlichkeit ver bargen, die sich ihr gegenüber nicht verleugnete. Doch es gab Augenblicke, in denen sie fürchtete, für ihn nur ein Objekt seiner Lust zu sein, das ihn gewiß bezauberte, das er aber an seinem eigentlichen Leben, seinen Freuden, seinen Ambitionen und Sor gen nicht teilnehmen ließ. Sie hatte im Verlauf der 87
Wochen bemerkt, daß sie an einen Mann gebunden war, den sie im Grunde kaum kannte, dem sie jedoch Unterordnung und Ergebenheit schuldete und an dessen eisernem Willen sie sich oft stoßen würde, denn er war hart, verschwiegen, bestimmt und zwei fellos listiger noch als früher. Man ahnte nie, was er gerade vorbereitete. Sie schlief schlecht, da sie in jedem Augenblick Schüsse zu hören erwartete und zumindest auf eine geräuschvolle Invasion der Franzosen gefaßt war. Im Morgengrauen glitt sie aus dem Zelt, von mur melnden Stimmen angezogen. Der Indianer Mazok war zurückgekehrt. Joffrey und Perrot unterhielten sich mit ihm am Rande der Lichtung. Angélique näherte sich ihnen, und man berichtete ihr die Neuigkeit, die der Indianer mitgebracht hatte: Seit zwei Tagen hielt eine kleine Abteilung Franzosen, von verbündeten Algonkins und Huronen begleitet, das Fort Katarunk besetzt … Frühzeitig brachen sie auf. Es war noch kalt. Ein iri sierender Nebel hüllte die Umgebung ein und ließ auf drei Schritt Entfernung nichts erkennen. Wasser perlte auf den schweren Draperien des Laubwerks und tropfte von den Zweigen zu Boden. Einer hinter dem andern verließen sie, die Pferde am Zügel führend, die Lichtung und drangen ins feuchte Dickicht ein. Befehle wurden murmelnd weitergegeben, und die frierenden Kinder wurden er 88
mahnt, ihr Husten zu unterdrücken. Der Tau regnete auf sie herab. Eine Atmosphäre des Geheimnisses umgab ihren gedämpften Marsch. Nach und nach wurde der Nebel ein wenig lichter, und als die Sonne erschien, eine verschwimmende fahlgelbe Scheibe, dauerte es nur wenige Minuten, bis seine Schwaden sich gänzlich zerstreuten und die frisch gewaschene, in all ihren prunkenden Farben leuchtende Landschaft enthüllten. Danach überquerten sie offenes, leicht abfallendes Gelände, und die Anweisung lief um, so schnell wie möglich die Deckung des ein wenig tiefer gelegenen Eichenwäldchens zu erreichen. Dort angelangt, wur de Befehl gegeben, sich neu zu gruppieren und Rast zu machen. Unter dem tiefvioletten, fast schwarzen Laubdach der großen, stämmigen Eichen nahm die Wärme allmählich zu. Eicheln kollerten lautlos auf den mit trockenem Moos bedeckten Boden. Man hatte die Pferde zusammengetrieben und an ein paar niedri ge Äste gebunden. Nach wie vor wurde das strikte Schweigegebot befolgt. Die vier spanischen Soldaten begannen ins Tal hin abzusteigen. Sie bewegten sich ziemlich schwerfällig und geräuschvoll, während Mopountooks Indianer längst lautlos wie Gespenster hinabgeglitten waren und sich unten hinter Bäumen postiert hatten, mit de nen sie zu verschmelzen schienen. Die Spanier sahen der bevorstehenden Gelegenheit, ein wenig französi sche oder feindliche indianische Haut durchlöchern 89
zu können, in hochgestimmter Erwartung entgegen. Hinter vertrocknetem Gebüsch versteckt, pflanzten sie ihre Gabelstöcke in den Kies des Flußbetts und legten die Läufe ihrer mit Lunten ausgerüsteten Ha kenbüchsen in die Gabelungen. Es waren Waffen, die dreimal weiter schossen als Musketen, wenn auch weniger genau. Angélique fragte sich, wie sie sich verhalten soll te, da ganz offensichtlich ein Kampf bevorzustehen schien, als der Graf de Peyrac zu ihr trat. »Madame, ich bedarf Eurer Talente. Ihr seid der beste Schütze meiner Kompanie und werdet uns un entbehrlich sein.« Er ermahnte Honorine, brav bei der Familie Jonas und den anderen Kindern zu bleiben, und befahl zwei Männern, sie und die Pferde zu bewachen. Dann führte er Angélique zum äußersten Rand der ins Tal vorspringenden Felskanzel. Es war ein aus gezeichneter Beobachtungsposten, der einen weiten Blick über den sich unten zwischen seinen Ufern dahinschlängelnden Fluß bot. Er war breit und führ te für diese Jahreszeit erstaunlich viel Wasser. Eine Furt überquerte ihn, aber oberhalb wie unterhalb des felsigen Steigs, den man ohne große Mühe und fast trockenen Fußes passieren konnte, schien er tief und voller Strudel, die das Chaos seines Bettes verrieten. Es war eine der stufenartig zum See hinunterführen den Schwellen; eine zweite ließ sich zwischen bun tem Laub in der Ferne durch ihr quer über den Fluß verlaufendes Glitzern ausmachen. 90
»Die Furt von Sakoos«, sagte Nicolas Perrot leise. Die Furt wurde in der Mitte der Strömung durch eine kleine, sandige, mit Gehölz bestandene Insel un terbrochen. Der Graf machte Angélique auf sie aufmerksam, nachdem er ihr auf dem gegenüberliegenden Ufer den dunklen Einschnitt im Unterholz gezeigt hatte, durch den Reisende, die den Waldpfad benutzten, den Strand betreten mußten. »In nicht allzu langer Zeit werden Männer dort auftauchen und die Furt überschreiten, und höchst wahrscheinlich werden es unsere Franzosen von gestern abend und ihre Indianer sein. Ihr werdet sie erkennen, da Ihr sie schon gesehen habt. Sobald sie die kleine Insel erreicht haben, nicht früher, werdet Ihr schießen, um zu verhindern, daß sie auch den zweiten Teil der Furt hinter sich bringen.« »Die Insel ist für einen guten Schuß zu weit ent fernt«, sagte Angélique stirnrunzelnd. »Das haben mir schon die Schützen erzählt, die ich vor Euch für diese Aufgabe ausgewählt hatte, aber wir können uns nicht woanders postieren. Eine Schlucht trennt uns von einem besseren Platz gegenüber der Insel, und wir haben nicht mehr die Zeit, sie zu über winden – es würde mehrere Stunden fordern. Wir müssen also von hier aus schießen und die Spitze des Zuges zum Halten bringen, damit niemand das Fort alarmieren kann. Zum Halten bringen, ohne jemand zu treffen, das versteht sich von selbst. Ich will kein Blutvergießen.« 91
»Ihr verlangt ein wahres Kunststück von mir.« »Ich weiß, meine Liebe. Selbst Florimond, der ge schickt mit dem Gewehr umzugehen weiß, hat abge lehnt.« Der Junge stand neben ihnen. Seine Mutter und seinen Vater mit zweifelnden Blicken musternd, fühl te er sich einerseits versucht, seine Kunst zu bewei sen, war aber andererseits ehrlich genug, an sich zu zweifeln. »Wenn sie erst auf der Insel sind, ist es kaum mehr möglich, Vater«, rief er. »Eher schon in dem Augenblick, in dem sie die Furt betreten.« »Dann wird noch ein Teil des Trupps im Wald sein, und ich möchte, daß niemand sich davonma chen kann. Stromaufwärts sind ein paar Schützen am Ufer postiert, um mögliche Flüchtlinge abzufangen, aber wenn es zu viele sind, wird es zu einer wahren Schlacht ausarten, und es werden immer noch einer oder zwei entkommen. Nein, ich brauche alle oder so gut wie alle außerhalb des Waldes, in der Furt oder auf der Insel, bevor geschossen wird. Unsere Spanier un ten versperren ihnen von dieser Seite jeden Ausweg, so daß sie völlig umzingelt sein werden.« »Aber die Spitze des Trupps aufzuhalten, wenn sie schon in der Mitte des Flusses ist, zumal auf sol che Entfernung und ohne jemand zu verletzen, das scheint mir ein wahres Glücksspiel zu sein«, wandte Angélique ein. »Wollt Ihr den Einsatz wagen, Madame?« Sie hatte den Schauplatz aufmerksam gemustert. 92
Ihr Blick kehrte zu ihm zurück. »Und Ihr selbst, Joffrey? Seid Ihr nicht ein ausge zeichneter Schütze?« »Bei dieser Entfernung ziehe ich Eure Augen den meinen vor.« »Wenn es so ist …« Sie zögerte. Was er da von ihr forderte, war außer ordentlich schwierig. Aber sie war glücklich über das Vertrauen, das er ihr durch diesen Auftrag bewies, und auch darüber, daß sie endlich würde handeln können. Ihre Söhne und die in der Nähe postierten Männer warfen ihr verdutzte Blicke zu, erstaunt über die Maßnahme des Grafen, und sie war nicht unzu frieden, ihnen beweisen zu können, daß sie von Krieg und Waffen nicht weniger verstand als sie, vielleicht sogar mehr. Und als Joffrey wiederholte: »Nun, wollt Ihr den Einsatz wagen?« erwiderte sie: »Ich werd’s versuchen. Welche Waffe gebt Ihr mir?« Einer der Männer reichte ihr eine Muskete, die er eben geladen hatte, aber sie wies sie zurück. »Ich will eine Waffe, die ich selbst gestopft habe.« Man gab ihr Joffreys eigenes Gewehr, das Yann Le Couénnec trug und pflegte. Es war ein Steinschloß gewehr, das zwei Schüsse abgeben konnte, ohne neu geladen werden zu müssen. Der mit Perlmutt einge legte Kolben war aus Nußholz, das heißt leicht und stabil zugleich, und lag vertrauenerweckend an ihrer Schulter, als sie die Waffe probeweise anlegte. Sie prüf 93
te das Pulver, die Kugeln, reinigte den Zwillingslauf, stopfte einmal, ließ die Kugeln hineingleiten, stopfte von neuem. Neugierige Blicke folgten jeder ihrer Bewegungen. Als das Zündpulver in der Pfanne war, lehnte sie sich gegen die Felsbrüstung der Kanzel. Eine leise Erregung, die sie nur zu gut kannte, stieg in ihr auf. Der Geruch des Krieges! Dort unten im Licht sah sie die Spitze der Insel, die glitzernde Anschwemmung der Kiesel, wo die zweite Hälfte der Furt begann. Ihr Herz schlug schneller. Vorher war es immer so gewesen. Wenn der entscheidende Augenblick kam, fühlte sie sich seltsam ruhig, leer, wie versteinert. Sie richtete sich auf. »Zwei geladene Gewehre müssen bereitgehalten und mir gereicht werden, falls die ersten Schüsse nicht genügen, sie aufzuhalten.« Dann wartete sie. Weniger als eine Stunde später klang der Schrei der Nachtschwalbe aus dem Wald herauf, vertraut wie der der Turteltauben, so daß niemand ihn beachtete. Doch Nicolas Perrot schien diesem Ruf besonde re Bedeutung zuzumessen, denn er beugte sich zu Angélique hinunter und murmelte: »Das ist Mazoks Signal.« Drüben trat ein Indianer, ein Hurone, als erster auf den Strand hinaus; nach ihm ein Waldläufer, den Angélique am Abend zuvor am Flußufer bemerkt hatte. Sodann ein Offizier, von mehreren Indianern 94
und einem Franzosen gefolgt, einem Jüngling mit blonden Locken, der unter einem Gehänge verschie dener Waffen, einer Axt, einem Hirschfänger, einem Pulverhorn, den blauen Uniformrock der Offiziere des Königs trug. Sein Spitzenhalstuch war zerknit tert und verwegen geschlungen, den zerbeulten Hut schmückten weiße und schwarze Adlerfedern, die nichts mit dem vorschriftsmäßigen Federbesatz zu tun hatten, aber die Stickereien auf den Ärmelumschlägen und um die Knopflöcher gehörten zum üblichen Bild der Uniformen. Seine Beine steckten in ledernen Gamaschen und Mokassins. Er sprang fröhlich ins flache Wasser des Ufers, be spritzte sich das Gesicht und tummelte sich in einer Garbe aufsprühenden Gischtes. Der Offizier – es war der Koloß, dessen Hut Angélique am Vorabend durchschossen hatte – rief ihn zur Ordnung: »Ruhe, Maudreuil! Ihr macht ebensoviel Radau wie ein angreifender Elch.« »He!« erwiderte der andere munter. »Wir sind kaum eine halbe Meile von Katarunk entfernt. Fürchtet Ihr noch immer, teuflischen Geistern zu begegnen wie gestern abend?« Die Stimmen klangen klar und deutlich herauf, zurückgeworfen von den Hängen des Tals. »Ich weiß nicht, was ich fürchte«, antwortete der Leutnant, »aber dieser Ort gefällt mir nicht. Ich habe ihn immer für eine Mördergrube gehalten.« Er hob den Blick zur Höhe des Hanges, und seine Augen schienen das Geheimnis des Laubwerks durch 95
dringen zu wollen, das der Wind sanft bewegte. »Wittert Ihr den Irokesen?« fragte der blonde Jüng ling lachend. »Ihr entwickelt für ihn einen besonders feinen Geruchssinn.« »Nein. Aber ich wittere etwas anderes … ich weiß nicht, was. Beeilen wir uns. Je schneller wir auf die andere Seite kommen, desto besser. Vorwärts also! Ich gehe als erster. Ihr werdet die Nachhut bilden, l’Aubignière«, wandte er sich an den Waldläufer. Er machte sich daran, die Furt zu überschreiten, in dem er geschmeidig von einem Felsen zum nächsten sprang. Oben, unter den Bäumen, die sie verbargen, be rührte Nicolas Perrot mit den Fingerspitzen Angé liques Schulter. »Seid gnädig, bringt sie nicht um«, raunte er. »Der da, der Riese, ist der Leutnant de Pont-Briand, mein bester Freund. Der andere ist Drei-Finger-l’Aubig nière, und der Jüngste ist der kleine Baron de Mau dreuil, das Lieblingskind Kanadas.« Durch ein Flattern der Lider gab Angélique zu verstehen, daß sie begriffen hatte. Nun schön, sie würde so kostbare Feinde schonen, aber alle diese Vorstellungen waren keineswegs dazu angetan, ihre Aufgabe zu erleichtern. Der Koloß, den Nicolas als Leutnant de PontBriand bezeichnet hatte, war auf der Insel angelangt. Von neuem blieb er stehen, die Fäuste auf den Hüften, und musterte mit dem Argwohn eines Hundes die Umgebung. Und wahrhaftig, er schien zu wittern. 96
Er trug keinen Hut. Sein langes dunkelbraunes Haar sträubte sich um seinen Kopf zu einer im Sonnenlicht flimmernden rötlichen Aureole. Offenbar hatte er nichts Verdächtiges bemerkt, denn er zuckte mit den Schultern und begann die Insel zu überqueren, von Huronen gefolgt, die schon über die Furt zu ihm ge stoßen waren. Angélique konzentrierte sich, überprüfte in aller Schnelligkeit die Lage der Waffe an ihrer Schulter. Mit dem Lauf begann sie der Gestalt Pont-Briands zu folgen, die sich dem diesseitigen Inselufer näher te. Der jenseits des Flusses zurückgebliebene Wald läufer l’Aubignière trieb die aus dem Wald tretenden Wilden zur Eile an. Pont-Briand hatte den Saum der kleinen Insel erreicht. Er drehte sich um und beobachtete seine Leute, die noch dabei waren, die Furt zu passieren. Ohne es zu ahnen, spielte er das Spiel derer, die ihn von der Höhe des Hanges aus belagerten. Bald würde sein ganzer Trupp auf der Insel versammelt sein, und genau das war es, was Joffrey de Peyrac sich wünsch te. Endlich wandte sich der Leutnant dem zweiten Teil der Furt zu. Der Augenblick war gekommen. Angéliques Blick galt nur noch einem Punkt: dem ersten flachen Stein der Furt, den der Fuß des Mannes betreten mußte. Ihr Finger betätigte den Abzug. Eine Kante des 97
Steins dort unten spritzte in Splittern auf, während das Tal sich mit dem jähen Dröhnen des Schusses füllte. Der französische Offizier war zurückgesprungen. »In Deckung!« schrie er, während sich die auf der Insel versammelten Indianer und Franzosen schon flach zu Boden warfen und in den Schutz einiger ma gerer Sträucher krochen. Doch statt es ihnen nachzutun, betrat der Leutnant selbst von neuem die Furt. Angélique schoß. Er hatte etwa die Hälfte schon hinter sich. Wieder zer splitterte ein Stein vor seinen Füßen. Er verlor das Gleichgewicht, versuchte sich vergeblich zu halten und stürzte ins Wasser. Angélique fiel ein, daß es das zweite Bad war, das sie ihm innerhalb zweier Tage verschaffte, denn bei ihrer Verfolgung gestern abend war er ebenfalls in den Fluß gefallen. Sie war über zeugt, ihn nicht getroffen zu haben. »Das andere Gewehr«, sagte sie kurz. Der Kopf des Leutnants erschien im schimmernden Wasser. Er kämpfte gegen die Strömung an und näherte sich noch mehr. Angélique legte an, zielte und schoß. Die Kugel wurde beim Aufschlag auf die Oberfläche abgelenkt. Der Aufschlag lag ihm so nahe, daß Spritzer ihn getroffen haben mußten. »Bringt ihn nicht um«, bat Nicolas Perrot ge dämpft. »Zum Teufel!« dachte Angélique gereizt. Sah er denn nicht, daß der Mann sich nicht zurückhalten ließ? Wie sollte sie diesen Narren daran hindern, das 98
Ufer zu erreichen, ohne ihn zu töten? Sie schoß erneut. Diesmal schien der Franzose zu begreifen. Zweifach bedroht von der reißenden Strömung und von Kugeln, die nur um ein paar Zoll an seinen Ohren vorbeipfiffen, gab’s kein Zögern mehr. Er schwamm zur Insel zurück, zog sich auf den Strand und kroch nun seinerseits in die Deckung ei nes dürren Gebüschs. Angélique konnte ein wenig aufatmen, ohne des halb die Furt aus den Augen zu lassen. Aber niemand schien Lust zu haben, sich an der Tollkühnheit des Offiziers ein Beispiel zu nehmen. Es war höchst un wahrscheinlich, daß sich fürs erste jemand der so gut verteidigten Furt nähern würde. Sie entspannte sich, richtete sich ein wenig auf. Schweiß sickerte ihr an den Schläfen herab. Mecha nisch wischte sie sich mit der pulvergeschwärzten Hand die Stirn, nahm die frisch geladene Waffe, die ihr einer ihrer Söhne verblüfft reichte, und ging von neuem in Anschlag. Gerade zur rechten Zeit, denn wieder versuchte der Leutnant sein Glück, raste wie ein Teufel über den Strand … Eine Kugel bohrte sich vor ihm in den aufsprü henden Sand. Prompt kehrte er in die Deckung des Gebüschs zurück. Inzwischen hatte sich die über raschende Attacke auf alle Fronten ausgedehnt. Die Huronen, die sich bei Angéliques erstem Schuß in der Mitte der Furt auf dem Weg zur Insel befanden, waren bei ihrem Versuch, in den Schutz des Waldes 99
zurückzuflüchten, auch vom jenseitigen Ufer mit Schüssen empfangen worden. L’Aubignière warf sich hinter einen Baum und feuerte in die Richtung, in der er die Schützen vermutete. Überzeugt, von beiden Seiten beschossen zu wer den, hatten sich die Huronen weder vor noch zurück gewagt. Nur einer von ihnen war kühn in den wir belnden Fluß gesprungen. Als er jedoch ein Stück weiter unten das Ufer erreichte, hatte ihn ein Schuß der Spanier getroffen und am Bein verwundet. Einem zweiten war es geglückt, ins Dickicht zu ent wischen, aber er schien auf einen der von Peyrac dort postierten Männer gestoßen zu sein, denn man hörte Kampfgeräusche und gleich darauf einen Wutschrei. Dann hatte sich wieder tiefe Stille ausgebreitet, in der allein das schrille Zirpen der Grillen und das Rauschen des dahinschießenden Wassers zu verneh men waren. Schwaden beißenden Pulverdampfes trieben über den Fluß … Angélique preßte die Zähne aufeinander. Sie hatte vergessen, wo sie sich befand. Es schien ihr, als lie ge sie von neuem am Rande irgendeiner Schlucht der Vendée auf der Lauer, im Herzen der Wälder des Poitou, als sähe sie vor dem Lauf ihrer Waffe die Soldaten des Königs fallen. In ihr schwoll der alte Schrei ihres Herzens, der ihr so oft über die Lippen gekommen war: Töte! Töte! … Sie begann zu zittern. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. »Es ist zu Ende«, sagte die ruhige Stimme Peyracs. 100
Sie wandte sich verstört zu ihm um, die rauchende Waffe noch in der Hand. Sie starrte ihn an, als kenne sie ihn nicht. Er half ihr, sich aufzurichten, und wisch te ihr sanft mit einem Taschentuch die Pulverspuren von der Stirn. Ein Lächeln lag im Grunde seiner Augen und et was anderes, Undefinierbares, in dem Mitleid und Bewunderung miteinander stritten, während er die ses schöne Frauenantlitz betrachtete, das der Schweiß des Krieges beschmutzte. »Bravo, mein Schatz«, sagte er gedämpft. Warum sagte er »Bravo«? Wofür lobte er sie? Für den eben errungenen Erfolg? Oder für ihren einstigen Kampf? Ihren wahnwitzigen, verzweifelten Kampf gegen den König von Frankreich? Für all das, was sich hinter ihrer erstaunlichen Fertigkeit im Umgang mit tödlichen Waffen verbarg? Respektvoll küßte er ihre vom Pulverdampf leicht geschwärzte Hand. Ihre Söhne und die Männer rundum starrten sie an. Plötzlich dröhnten Abschüsse aus dem Tal herauf, und ganz in ihrer Nähe spritzten Splitter von einem Felsen. An der Bewegung des Laubwerks hatte PontBriand die Anwesenheit des Gegners erkannt. »Ah, nun ist’s aber genug!« rief Perrot laut. »Hören wir mit diesem Spielchen endlich auf! Vetter PontBriand, gib Ruhe, oder ich fordere dich zum Ring kampf und werde dich auf die Schultern legen wie an jenem berüchtigten Saint-Médard-Tag, an den du 101
dich erinnern wirst!« Die Stentorstimme des Kanadiers hallte zwischen den Talhängen. Schweigen trat ein, dann drang die Antwort von der Insel herauf: »Wer bist du, der da spricht?« »Nicolas Perrot aus Ville-Marie auf der Insel von Montréal.« »Wer begleitet dich?« »Freunde! Franzosen!« »Wer sind sie?« Perrot drehte sich zu dem Grafen um und sah ihn fragend an. Peyrac antwortete ihm mit einem zustim menden Nicken. Darauf legte der Kanadier beide Hände wie zu ei nem Sprachrohr um seinen Mund: »Hört, gute Leute vom Sankt Lorenz, hört, wen ich euch anzukündigen habe: den Grafen de Peyrac de Morens d’Irristru, Herrn von Gouldsboro, Katarunk und anderen Orten, und die Leute seines Gefolges.« Angélique erschauerte, als sie diesen seit so vielen Jahren der Schande und der Vergessenheit des Grabes ausgelieferten Namen weit über das Tal hin hallen hörte. Joffrey de Peyrac de Morens d’Irristru! … Stand es geschrieben, daß das alte gaskognische Geschlecht so weit von seiner Heimat entfernt wiederaufleben und zu neuen Ehren kommen sollte? War es nicht ein Wagnis voller Gefahren? Sie wandte sich zu ihrem Gatten, aber sein Gesicht verriet ihr nichts. Auf der äußersten Spitze der Kanzel 102
stehend, durch die Zweige einer Fichte verborgen, die er als Stütze benutzte, beobachtete er nach wie vor aufmerksam den Schauplatz des Scharmützels, offenbar völlig unberührt von dem Wortwechsel. Der Pulverdampf zerstreute sich nur langsam. Der träge ziehende Dunst dämpfte jeden Laut, beein trächtigte die Sicht, und die Vorsicht gebot beiden Parteien, auf der Hut zu bleiben. Joffrey hielt noch immer die geladene Pistole in der Hand. Endlich richtete sich jemand hinter den Sträuchern auf der Insel auf. Es war der große Pont-Briand. »Komm waffenlos herunter, Nicolas Perrot, wenn du’s wirklich bist und nicht dein Geist!« »Ich komme.« Der Kanadier übergab sein Gewehr einem der Männer und rutschte den steilen Abhang hinab. Als er in seiner Lederbekleidung, die Pelzmütze auf dem Kopf, unten auf dem Strand zum Vorschein kam, wurde er mit freudigen Ausrufen empfangen. Franzosen und Huronen sprangen über die Steine der Furt, umdrängten ihn stürmisch, und lebhaftes Stimmengewirr drang, mit Gelächter vermischt, her auf. »Bruder! Du bist es wirklich! Und wir dachten schon, du seist tot!« »Wir glaubten, du seist für immer verschwunden!« »Zu den Irokesen zurückgekehrt!« »Hättest vor, bei den Wilden bis zum Ende deiner Tage zu leben!« »So wär’s um ein Haar gekommen«, erwiderte 103
Nicolas Perrot. »Es war meine Absicht, zu den Iro kesen zurückzugehen, als ich Québec vor drei Jahren verließ. Aber dann bin ich Monsieur de Peyrac bege gnet und hab’ meine Pläne geändert.« Auch die Huronen freuten sich, ihn wiederzu sehen. Nur ein paar von ihnen zeigten mürrische Mienen und forderten den Blutpreis, denn einer der Ihren, Anahstaha, war verletzt worden. Perrot sagte ihnen in huronischer Sprache: »Mein Bruder Anahstaha hätte nicht versuchen sol len, mir wie eine Natter durch die Finger zu flitzen, als unsere Musketen ihm Halt geboten. Möge derjenige, der die Sprache des Pulvers nicht versteht, sich nicht einmischen, wenn Krieg geführt wird … Kommt, Ihr Herren, ich bitte Euch«, schloß er, sich an die fran zösischen Offiziere wendend, während die Huronen, durch die männliche Stimme bezwungen, die sie nur allzugut kannten, sich zu einem Palaver niedersetzten und schließlich beschlossen, die Weißen die Sache unter sich ausmachen zu lassen.
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Achtes Kapitel
Die drei Männer, die hinter Perrot den Hang hin aufkletterten, waren trotz des ihnen widerfahrenen Mißgeschicks nicht ohne Neugier. Der Name des Grafen de Peyrac hatte im nördlichen Amerika schon einen gewissen Ruf erlangt. Wenige hatten ihn ge sehen, aber von den Küsten von Massachusetts und Neuschottland bis zu den Grenzen Kanadas sprach man viel von dieser rätselhaften Persönlichkeit. Zudem fühlten sich die Franzosen in einer schlechten Lage, da sie die Niederlassung des Grafen am Kennebec militärisch besetzt hatten, und ohne die Gegenwart ihres Freundes Perrot hätten sie ihr weiteres Schicksal in düsteren Farben gesehen. Schon während des Anstiegs bemerkten sie hinter Buschwerk versteckte Männer, wahre Flibustiertypen verschiedenster Rassen, die sie mit wenig freundli chen Blicken verfolgten. Auf der Höhe angelangt, blieben sie plötzlich ste hen, von einem mit Verblüffung gemischten Gefühl der Furcht gepackt. In dem durch das Spiel der windbewegten Blätter von unzähligen Lichtfünkchen belebten Halbdunkel gewahrten sie, reglos gleich einer Statue, einen Reiter in schwarzer Maske auf einem ebenholzfarbenen Hengst. Hinter ihm zeichneten sich die Gestalten anderer Reiter und einiger Frauen ab. »Ich grüße Euch, Messieurs«, sagte der maskierte 105
Reiter mit dumpfer Stimme. »Tretet näher, wenn es beliebt.« Trotz ihres sonstigen Schneids gelang es ihnen nur mit Mühe, sich zu fassen. Sie grüßten indessen, und da der hochgewachsene Leutnant unfähig schien, auch nur ein Wort her vorzubringen, ließ sich der Waldläufer Romain de l’Aubignière, Drei-Finger-l’Aubignière genannt, für ihn vernehmen. Er stellte sich vor und fügte hinzu: »Wir stehen Euch zu einer Unterredung zur Ver fügung, Monsieur, obgleich Euer Verfahren, die De batte zu eröffnen, uns ein wenig – nun, sagen wir, explosiv vorkommen will.« »Haltet Ihr das Eure für weniger explosiv? Ich er fuhr, daß Ihr Euch im Recht glaubtet, das Fort zu be setzen, das mir am Ufer des Kennebec gehört.« L’Aubignière und Maudreuil wandten sich zu Pont-Briand. Der Leutnant fuhr sich mit der Hand über die Stirn und kehrte zur Erde zurück. »Monseigneur«, sagte er, spontan diese ehrerbieti ge Anrede gebrauchend, worüber er sich später nicht wenig verwunderte, »Monseigneur, es trifft zu, daß wir von der Regierung Neufrankreichs beauftragt wurden, uns zu den Quellen des Kennebec zu bege ben, um Informationen über Euer Gebaren und Eure Absichten einzuholen. Wir nahmen an, daß Ihr den Wasserweg benutzen würdet, und erwarteten Euch am Fluß, in der Hoffnung, in ersten Gesprächen eine Basis zur Verständigung finden zu können.« 106
Die Anzeichen eines Lächelns spielten um Peyracs Maske. Der Leutnant hatte gesagt: »Wir erwarteten Euch am Fluß.« Daß sie zu Pferd, auf dem Landweg, gekommen waren, überraschte sie. »Und wie habt Ihr meinen Iren behandelt?« »Ah, Ihr meint sicher den dicken krebsroten, komi schen Engländer!« rief der kleine Baron de Maudreuil. »Er hat uns nicht wenig zu schaffen gemacht. Allein seinetwegen hätte man glauben können, eine ganze Garnison läge im Fort. Die Huronen wollten ihn skalpieren, aber unser Oberst verhinderte es, und nun befindet er sich im Keller, hübsch verschnürt wie eine Wurst.« »Gott sei gelobt!« sagte Peyrac. »Ich hätte Euch den Tod eines meiner Leute nicht verziehen, und der Fall hätte durch die Waffen bereinigt werden müssen. Wie ist der Name Eures Obersten?« »Graf de Loménie-Chambord.« »Ich habe von ihm gehört. Er ist ein großer Soldat und ein ehrlicher Mann.« »Sind wir Eure Gefangenen, Monsieur?« »Wenn Ihr dafür garantieren könnt, daß uns kein Verrat in Katarunk erwartet und Eure Expedition kein anderes Ziel verfolgt, als die Möglichkeit einer Verständigung mit mir zu suchen, werde ich nur zu glücklich sein, Euch als Freunde statt als Geiseln zu behandeln, wie es mir auch mein Ratgeber, Euer Landsmann Monsieur Perrot, empfiehlt.« Der Leutnant senkte den Kopf und schien zu über legen. 107
»Ich glaube, dafür bürgen zu können, Monsieur«, sagte er endlich. »Euer Auftauchen hier mag gewisse Leute beunruhigt haben, die darin einen Übergriff der Engländer auf unser Territorium sehen wollten, aber ich weiß, daß andere, und besonders der Gouverneur, Monsieur Frontenac, mit Interesse die Möglichkeit einer Allianz mit Euch erwägen, das heißt mit ei nem Landsmann, dem es zweifellos am Herzen liegt, Neufrankreich nicht zu schaden.« »Wenn es so ist, bin ich gern bereit, mich mit Monsieur de Loménie zu unterhalten, um unnütze Feindseligkeiten zu vermeiden. Monsieur de l’Aubig nière, wollt Ihr es auf Euch nehmen, voranzugehen und Eurem Oberst meine sowie die Ankunft der Gräfin de Peyrac, meiner Gattin, anzuzeigen?« Seinem auffordernden Wink folgend, trieb Angélique die Stute aus dem Schatten und lenkte sie an Joffreys Seite. Sie war nicht in der Stimmung, ih nen nach dem Schreck, den sie ihr am Abend zuvor verursacht hatten, besonders liebenswürdig entge genzukommen, aber der Ausdruck, der sich bei ihrem Anblick auf allen drei Gesichtern zeigte, heiterte sie auf. In einem gemeinsamen Impuls wichen sie einen Schritt zurück, und ihre Lippen formten das seltsame Wort, das sich erraten ließ, ohne daß sie es ausspra chen: »Die Dämonin! … Die Dämonin Akadiens!« »Madame, ich stelle Euch diese Herren aus Kanada vor … Messieurs, die Gräfin de Peyrac, meine Frau.« Ironisch beobachtete er die verschiedenen Empfin 108
dungen, die sich in ihren Gesichtern spiegelten. »Die Gräfin hat mir von dem Zwischenfall gestern abend berichtet. Ich vermute, der Schreck war gegen seitig. Die Erscheinung einer weißen Frau auf einem Pferd ist in diesen Gebieten in der Tat überraschend, aber wie Ihr seht, handelt es sich keineswegs um eine Vision.« »Seid Ihr ganz sicher?« rief Pont-Briand mit unver kennbar französischer Galanterie. »In ihrer Schönheit und Anmut läßt uns Madame de Peyrac noch immer an unseren Augen zweifeln, als wären wir wirklich Opfer einer Vision.« Angélique konnte ein Lächeln über die liebens würdige Richtigstellung nicht unterdrücken. »Seid für Eure Höflichkeit bedankt, Leutnant. Ich bedauere, daß es Eurer ersten Begegnung mit mir ein wenig an Eleganz gefehlt hat. Ich glaube, ich schulde Euch einen Hut.« »Um ein Haar wär’s ein Kopf gewesen, Madame. Aber was tut’s! Ich wäre gern von so schöner Hand gestorben.« Und Gaspard de Pont-Briand beugte das Knie und verneigte sich mit der Eleganz eines Höflings. Angélique faszinierte ihn sichtlich. Die Karawane hatte ihren Marsch ohne die bisher ge wohnte Ordnung wiederaufgenommen. Zuvor hatte der Baron de Maudreuil noch den Häuptling der Huronen, Odessonik, vorgestellt, prächtig anzusehen im Schmuck seiner Ketten aus 109
Bärenzähnen und der Federn, die aus dem Haarbusch auf seinem Hinterkopf ragten. Wenn man die Indianer nicht gewohnt war, konnte man sie miteinander ver wechseln, doch Angélique war überzeugt, in ihm den Krieger zu erkennen, der sich gestern abend so nach drücklich mit dem irokesischen Gefangenen beschäf tigt hatte. Die Huronen drängten sich freundschaft lich und neugierig um sie; jeder wollte die neuen Weißen sehen. Die Federbüsche auf ihren fast völlig rasierten Schädeln führten eine lebhafte Sarabande um die Berittenen auf. »Sie machen mir Angst«, seufzte Madame Jonas. »Sie sehen den Irokesen wirklich allzu ähnlich. Alles ein und dasselbe Gelichter.« Die Protestanten hielten sich verängstigt zusam men. Mehr noch als Angélique vielleicht empfanden sie die ganze Tragik dieser Begegnung mit katholi schen französischen Soldaten, dieser Sippschaft, vor der sie unter tausend Gefahren aus La Rochelle ge flohen waren. Sie schwiegen und suchten die Blicke der beiden Offiziere sowenig wie möglich auf sich zu ziehen. Deren Interesse, zunächst von dem maskierten Gesicht Peyracs in höchstem Maße angezogen, wand te sich nun mehr und mehr Angélique zu. Trotz der Erschöpfung, die ihre Züge selbst im Schatten ihres breitkrempigen Hutes verrieten, fragte sich PontBriand, ob er nicht das schönste Gesicht der Welt vor sich habe. Dämonin oder nicht, ihre Augen strahlten in einem seltsamen Licht, und er wandte die seinen 110
schleunigst ab, als sie ihrem Blick begegneten. Der emotionelle Schock, den er verspürt hatte, als er ihrer hoch zu Roß ansichtig geworden war, ei nes Geschöpfs aus Fleisch und Blut, keiner Vision, schnürte ihm noch immer die Kehle zu, und die im merhin recht heikle Situation, in der er sich zwischen Peyrac und Loménie befand, war ihm völlig gleich gültig. Mit jedem Schritt wurde ihm klarer, daß diese aus den Wäldern aufgetauchte Frau die schönste war, die er je gesehen hatte. Der Leutnant de Pont-Briand war ein muskelbe packter Koloß, dem nur der Adel seiner Vorfahren eine gewisse Allüre zu verleihen vermochte. Zum Soldaten geboren und zudem durch seine Stellung als jüngster Sohn der Familie in die militärische Lauf bahn gezwungen, war er mit einer lauten Stimme und dröhnendem Gelächter gesegnet. Er war ein Haudegen von hohen Graden, ein unermüdlicher Schütze, ein bewährter Soldat von vielfach erprobter Ausdauer, aber obgleich er mit einigen dreißig Jahren im besten Alter stand, schien er sich die Mentalität eines Jünglings bewahrt zu haben. Was auch erklärte, daß er sich noch immer in einem für einen Mann von adeliger Herkunft relativ subalternen Rang befand, denn wenn er unter dem Befehl eines erfahrenen Vorgesetzten wahre Wunder vollbrachte, verführte ihn sein impulsiver Charakter nur allzuoft zu waghal sigen und gefährlichen Unternehmungen. Letzthin war er jedoch zum Kommandanten des Forts SaintFrançois, eines der wichtigsten französischen Außen 111
posten, ernannt worden, und seine Beliebtheit bei den Wilden dieser Gegend war groß. Trotz seiner Kraft und seiner Korpulenz bewegte er sich im Wald so lautlos wie ein Indianer. Der Aufmerksamkeit, die er ihr entgegenbrach te, bewußt, fühlte sich Angélique leicht gereizt. In diesem sanguinischen Menschen mit seinen seltsam katzenhaften Bewegungen verbarg sich etwas, was ihr Mißtrauen weckte. Zuweilen bedauerte sie, daß sie ihn nicht gleich heute morgen zu einem guten, offe nen Gefecht gestellt hatte. Joffrey wollte verhandeln, aber ihr Instinkt und ihre Erinnerungen verwarfen die Versöhnung mit den Franzosen. Der feuerfarbene Bergrücken senkte sich ganz allmählich, und plötzlich blitzte unten im weit sich öffnenden Tal ein blauer Wasserspiegel auf. In weniger als einer Stunde gelangten sie zum Fluß … Von nahem zeigte sich der Kennebec in einem tie fen, stählernen Blau, und unwillkürlich hob man die Augen zum blassen Himmel, um zu erkunden, was sich da eigentlich in seinem Wasser spiegelte. Die am Horizont aufgehäuften Wolken hatten sich in Nebel aufgelöst, der Nebel hatte den Dunst der Flüsse aufgesogen, war in der zunehmenden Wärme aufgestiegen und verschleierte nun den flachsblüten farbenen Himmel. Man konnte nicht sagen, ob der Wind die Schleier von neuem zu schweren Wolken zusammentreiben würde. Doch am Horizont zeigte sich im fasrigen Blaugrau 112
eine klarblaue Öffnung, durch die die Sonne ihre brennenden Strahlen schoß. Mit tiefer Freude roch Angélique den Rauch der Feuer einer Siedlung. Und unversehens gewahrte sie das Fort. Ihr Gesicht strahlte auf, und sie hob sich leicht im Sattel. Es war ein wenig abseits über dem Flußufer inmit ten eines gerodeten Terrains errichtet, von dem die dicken Pfähle seiner Palisade stammten. Diese bildete ein Rechteck, über das nur die mit Schindeln gedeck ten Dächer zweier Wohngebäude herausragten, deren Kamine friedlich rauchten. Das Gelände drumherum war zwar übergrünt, wirkte aber recht chaotisch. Weder ließ es an die Symmetrie eines Gartens den ken noch an die üppige Gepflegtheit einer Wiese, was seine Erklärung in der Entdeckung fand, daß die Stümpfe der gefällten Bäume nicht beseitigt worden waren und die spärlichen Anpflanzungen rund um den hölzernen Schutzwall sich zwischen Stubben und knotigen Wurzeln zu behaupten hatten. Immerhin waren es die ersten Anpflanzungen, de nen Angélique seit mehreren Wochen des Marsches durch die Wälder begegnete, und ihre trockenen Lippen formten ein Lächeln. Der Ort gefiel ihr. Sie würde glücklich sein, dort endlich ein Heim zu fin den. Pont-Briand beobachtete sie. Er ließ sie nicht aus den Augen, aber sie merkte es nicht. Sie war völlig durch den Anblick des Forts in Anspruch genommen, 113
über dem im Gegenlicht der Sonne ein goldener, aus Rauch und aufgewirbeltem Staub vermischter Dunst zu schweben schien. Es war nur eine weltferne Siedlung ohne feste Umrisse, lächerlich klein im Herzen des grenzenlo sen Waldes, aber auf jemand, der seit Wochen, abge sehen von einigen elenden Wigwams und in Buchten vergessenen Rindenkanus keine Spur menschlicher Nähe gesehen hatte, wirkte ihr Anblick wie die Erfüllung allen Verlangens nach einer weniger primi tiven Welt. Unmittelbar vor ihr verbreiterte sich der Fluß zu einer Art friedlichem See, über den Kanus mit der Leichtigkeit von Libellen glitten, einige zu der nahen kleinen Insel hinüber, andere an den Ufern entlang, wieder andere zu der am südlichen Ende des halb mondförmigen Strandes dicht nebeneinander veran kerten Flottille gleichartiger Boote. Von den Männern, die diese Kanus ruderten, war aus dieser Höhe ebensowenig zu erkennen wie von denen, die sich an den Ufern bewegen mußten, aber man empfand beim ersten Blick auf diesen entlegenen Winkel einen Eindruck von Bewegung, ähnlich dem, der dem Wanderer schon aus einiger Entfernung ver rät, ob ein Ameisenhaufen bewohnt ist oder nicht. Auf dem grauen Sandstreifen, vor dem die Boote la gen, entdeckte Angélique zahlreiche Tipis aus Rinde, indianische Hütten in konisch zugespitzter Form, von denen in weißlichen, trägen Schleifen Rauch auf kräuselte, denn der Ort mußte seiner windgeschütz 114
ten Lage wegen gewählt worden sein. Unten schien ein langgezogener Schrei die Ankunft der Karawane anzuzeigen, und gleich dar auf setzte sich ein wimmelnder Zug von Indianern mit schrillen Rufen über das gerodete Gelände in Bewegung dem Berghang zu, auf dem sie hielten. Die von l’Aubignière überbrachte Kunde, daß sich unbekannte Weiße auf Pferden näherten, mußte sich herumgesprochen haben. Peyrac hatte gleichfalls das Fort und den Strand aufmerksam beobachtet. »Monsieur de Maudreuil!« »Monsieur?« »Ist es nicht eine weiße Flagge, die ich am Haupt mast wehen sehe?« »Allerdings, Monsieur. Das Lilienbanner des Kö nigs von Frankreich.« Peyrac hob die Hand zum Hut, nahm ihn ab und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm in einem respekt vollen Gruß, der für die, die ihn gut kannten, mehr als nur eine Spur von Übertreibung enthielt. »Ich neige mich vor der Majestät dessen, dem Ihr dient, Baron, und fühle mich durch seinen Besuch in Eurer Person geehrt.« »Und in der meiner Vorgesetzten«, fügte der einge schüchterte Maudreuil hastig hinzu. »Ich freue mich im voraus …« Peyrac setzte den Hut wieder auf. Soviel Hoch mut lag in seiner Haltung, daß selbst seine Liebens würdigkeit gefährlich schien. »Wenn der Herr auf seinen Besitz zurückkehrt, 115
fordert indessen der Brauch, daß sein Banner an der Spitze des Mastes weht. Könntet Ihr hinunterlaufen und das Nötige veranlassen, Baron, denn ich fürchte, daß sich niemand darum kümmern wird! O’Connell weiß, wo meine Flagge zu finden ist.« »Gewiß, Monseigneur«, sagte der junge Kanadier und hastete den steinigen Pfad hinunter. Auf dem unteren Teil des Hangs passierte er Gruppen aufsteigender Indianer, verschwand für Minuten im Unterholz, dann sah man ihn dem Fort zulaufen. Kurz darauf öffnete sich das Haupttor der Palisade, während am Mast die blaue Flagge mit dem Silbertaler hochstieg. »Das Wappen des Rescator«, sagte Peyrac gedämpft. »Vielleicht ist sein Ruhm ein wenig dunkel, wenn nicht gar zweifelhaft, aber die Zeit ist noch nicht ge kommen, es kampflos sinken zu lassen, nicht wahr, Madame?« Angélique wußte nichts zu antworten. Einmal mehr verwirrte sie das Verhalten ihres Mannes. Sie wurde das unbehagliche Gefühl nicht los, daß die Franzosen nicht ganz aufrichtig waren, wenn sie behaupteten, sie seien ohne feindliche Absichten nach Katarunk gekommen. Die militäri sche Besetzung einer Siedlung war keine Freundsch aftsdemonstration. Aber die Situation hatte sich ver kehrt. Peyrac war unversehens aufgetaucht, hatte sie überrascht. Und als Freunde begleiteten ihn Perrot und Maupertuis, alte Kanadier von bestem Ruf. Nichtsdestoweniger bewegten sie sich sozusagen 116
auf einem Pulverfaß, und nicht ohne Schrecken ge wahrte sie den Schwarm mit den Franzosen verbün deter indianischer Krieger, die mit wildem Geschrei den Hang heraufkamen. Vorläufig wenigstens schie nen es noch Ausrufe der Freude und des Willkom mens zu sein. Ungerührt fuhr Peyrac fort, mit seinem Fernrohr den Hafen und den Vorplatz zu beobachten. Direkt vor ihm waren die beiden Flügel des Palisa dentors weit geöffnet worden. Soldaten hatten sich zu beiden Seiten wie zur Parade aufgebaut, und ein Stück davor stand ein Offizier in großer Uniform, of fenbar jener Loménie-Chambord, von dem man ihm gesprochen hatte. Nachdenklich schob er das Fernrohr zusammen. Er wußte, daß es der letzte Moment war, in dem ihm noch die Möglichkeit blieb, auf die Attacke der Waffen mit Waffen zu antworten. Danach würde er in der Höhle des Löwen sein, von wendigen, wan kelmütigen Leuten umgeben, die sich von einem Moment zum andern in wütende Feinde verwandeln konnten. Alles hing von der Loyalität des Obersten ab, von seinem Einfluß auf seine Männer, kurz, von der Weisheit dessen, mit dem es Peyrac zu tun haben würde – und der den König von Frankreich repräsen tierte. Er sah noch einmal hinunter. Im Kreis des Fern rohrs zeichnete sich die vornehme Gestalt eines Man nes ab, der, die Hände auf dem Rücken zusammen 117
gelegt, ohne Nervosität die Ankunft des Eigentümers von Katarunk zu erwarten schien, die Maudreuil ihm angekündigt hatte. »Vorwärts!« befahl Peyrac. Er ersuchte die Reiter und Reiterinnen, sich hinter ihm zu gruppieren. Die Spanier in ihren Kürassen sollten mit ihren Waffen voranmarschieren, dahinter Florimond und Cantor als Bannerträger und schließ lich seine Leute, jeder mit seiner Muskete und der vorsorglich angezündeten Lunte in der Hand. Die Indianer hatten sie inzwischen erreicht und umdrängten sie neugierig von allen Seiten. Nicolas Perrot erging sich in allen ihm bekannten Sprachen, um sie zu begrüßen und gleichzeitig um ein wenig Ruhe zu bitten, denn die durch den plötzlichen Trubel, das wirbelnde Durcheinander von Federbüschen und grell bemalten Gesichtern, von Bogen und geschwun genen Tomahawks nervös gemachten Pferde wieher ten und versuchten auszubrechen. Endlich formierte sich der Zug, und bald darauf betraten Wallis’ zierli che Hufe den grauen Sand des Flußufers. Peyrac hatte Angélique gebeten, an seiner Seite zu bleiben. Sie war Honorines nackter Füße wegen verärgert und hätte auch gern ihr Haar ein wenig geordnet, hatte aber vollauf damit zu tun, die Stute im Paradeschritt zu halten. Nach der Einsamkeit der menschenleeren Wildnis fand das Tier die aufgeregte braune Menge erschreckend, die nicht nur sehen, sondern auch berühren wollte. Perrot, die Waldläufer und die Häuptlinge der 118
verschiedenen versammelten Stämme schrien sich vergeblich heiser, um wenigstens die Zudringlichsten wegzuscheuchen. Es blieb nicht aus, daß Wallis sich bäumte und ihre Hufe recht unzart einige eingefet tete Köpfe trafen. Danach galoppierte sie zum Fluß. Angélique gelang es, sie zu zügeln und zitternd, aber folgsam und prachtvoll vor den erstaunt aufgeris senen Augen der in Freudengeheul ausbrechenden indianischen Zuschauer zurückzulenken. Von die sem Zwischenfall jedoch abgesehen, der als auserle sene Einlage gewertet wurde, verlief die Ankunft des Grafen de Peyrac und seiner Gefolgschaft in Katarunk in der gewünschten protokollarischen Form. Er hielt unbeweglich vor dem geöffneten Holztor, seine Frau neben, seine Begleiter hinter sich, während zwei junge kanadische Tamboure in blauer Uniform ihm entgegenmarschierten und ihre Trommeln er dröhnen ließen. Ihnen folgten sechs Soldaten und Sergeanten, die sich in zwei Reihen einander ge genüber zu einem zwar kleinen, aber trotz hastiger Improvisation tadellosen Ehrenspalier formierten. Der Oberst trat vor. Er trug den blauen Rock der Offiziere des Regiments Carignan-Salière mit golde nen Litzen und gemsfarbenen Ärmel- und Kragen aufschlägen. Er war ein Mann um die Vierzig, von stattlichem Aussehen, gestiefelt, den Degen zur Seite, von einer weißen Schärpe gehalten, eine Besonderheit, die das Bemühen verriet, selbst während einer militärischen Expedition nicht von einer gewissen Disziplin des 119
Äußeren abzugehen. Sein kurzer, ein wenig altmo disch wirkender Spitzbart paßte zur Vornehmheit des feingezeichneten Gesichts, dessen gesunde Bräune die ruhigen, durchdringenden grauen Augen hell er scheinen ließ. Was Angélique sofort an ihm auffiel, war die von ihm wie ein diffuses inneres Licht ausstrahlende Sanftmut. Er trug keine Perücke, aber sein Haar war gepflegt. Er grüßte, die Hand am Knauf des Degens, und stellte sich vor. »Graf de Loménie-Chambord, Kommandant der Expedition zum Méganticsee.« »Ein großer Name!« sagte Peyrac und neigte den Kopf. »Darf ich annehmen, Monsieur de Loménie, daß die Lage meiner bescheidenen Niederlassung Euch lediglich erlaubt hat, hier in aller Ruhe zu biwa kieren, oder muß ich in Eurer Anwesenheit eine Art Besitznahme meines Territoriums sehen?« »Besitznahme? Wo denkt Ihr hin?« rief der Oberst aus. »Wir wissen, Ihr seid Franzose, Monsieur de Pey rac, wenn auch ohne Vollmacht unseres Herrn, des Königs, und wir in Québec werden uns hüten, Eure Anwesenheit hier als schädlich für die Interessen Neufrankreichs anzusehen. Im Gegenteil! Jedenfalls nicht, bevor Ihr uns Anlaß dazu gebt.« »So verstehe ich’s auch von meiner Seite, und ich bin glücklich, von vornherein jede Zweideutigkeit vermieden zu sehen. Ich werde den Interessen Neu frankreichs weder durch meine Tätigkeit noch durch 120
meine Anwesenheit an den Ufern des Kennebec schaden, solange den meinen nicht geschadet wird. Diese Verpflichtung könnt Ihr so, wie ich sie Euch biete, Eurem Gouverneur überbringen.« Loménie verneigte sich erneut, ohne zu antworten. Trotz vielfach abgestufter Erfahrungen, was heikle Situationen anbelangte, mit denen seine Laufbahn ihn nicht eben knauserig versorgt hatte, kam ihm die, die er jetzt durchlebte, als die erstaunlichste vor. Gewiß, man erzählte sich in Kanada so aller lei über diesen abenteuerlichen Franzosen mit der dunklen Vergangenheit, diesen Edelmetallsucher, Schießpulverfabrikanten und Freund der Engländer obendrein, der sich vor mehr als einem Jahr unterstan den hatte, in dem riesigen, noch kaum erforschten, unausgebeuteten Gebiet des französischen Akadiens ein paar Pfähle auf seinen Namen einzurammen. Aber die Begegnung selbst übertraf an Pikantem alles, was selbst die kühnste Neugier hoffen konnte. Er mußte in Québec von dieser verblüffenden Geschichte berichten, die man im übrigen nicht aus den Augen lassen durfte. Von der Ankunft von Euro päern, die aus dem Süden zu Pferd, nicht auf dem Wasserwege, in Gebiete vorgestoßen waren, in denen sich das Wiehern eines solchen Tiers noch nie hatte hören lassen. Unter ihnen Frauen und Kinder. An ih rer Spitze ein maskierter Reiter mit rauher, langsamer Sprache, der es schon mit den ersten Worten gewagt hatte, Stellung zu beziehen, als Herr zu sprechen. Als ob nicht zweihundert bewaffnete, mit den Franzosen 121
verbündete Wilde ihn und seine sehr kleine Eskorte von allen Seiten umdrängt hätten, bereit, auf das lei seste Zeichen zu reagieren. Der Graf de Loménie liebte den Mut, die Größe … Als er den Kopf hob, war in seinem Blick ein Ausdruck, in dem sich Achtung mit einem Gefühl spontaner Herzlichkeit mischte, das ihn plötzlich überflutet hatte. »Das ist vielleicht Liebe auf den ersten Blick, wenn man diesen Ausdruck auf die Freundschaft anwenden kann«, dachte er. Diese Worte schrieb er Jahre später an den R. P. Daniel de Maubeuge in einem vom September 1682 datierten und unvollendet gebliebenen Brief. Er be schwor auf diesen Seiten seine erste Begegnung mit dem Grafen de Peyrac, und trotz der inzwischen ver strichenen Zeit erfüllte ihn jede Einzelheit noch mit melancholischer Bewunderung. »An diesem Abend«, schrieb er weiter, »am Ufer eines wilden Flusses in jener Wildnis, die wir vergeb lich dem zivilisatorischen und christlichen Gedanken zu erobern versuchten, wußte ich, daß ich einem der außerordentlichsten Männer unserer Zeit begegnet war. Er hielt vor mir, zu Pferd, und ich weiß nicht, ob Ihr zu ermessen vermögt, was dieses ›zu Pferd‹ bedeu tet, wenn Ihr niemals diese verfluchte und majestäti sche Landschaft des oberen Kennebec betreten habt. Er hielt vor mir, umgeben von seiner Frau, Kindern, jungen Männern, sie alle äußersten Härten unter worfen, Frauen, die ihren Mut nicht kannten, artigen Kindern, kühnen, leidenschaftlichen Jünglingen. Er 122
schien nicht zu wissen, daß er etwas Besonderes voll bracht hatte, oder wenn er es wußte, machte er kein Aufhebens davon. Es kam mir vor, als lebte dieser Mann sein Leben auf den Gipfeln mit der gleichen Selbstverständlichkeit, die man den täglichen Dingen zuwendet, und ich begann, ihn zu beneiden. All dies erhellte sich mir wie im Schein eines Blitzes, wäh rend ich versuchte, das Geheimnis seiner schwarzen Maske zu durchdringen.« Noch immer bearbeiteten die Tamboure ihre Trommeln, und das gedämpfte dumpfe Gedröhn schien das Nahen eines Dramas anzukündigen. Loménie näherte sich dem Pferd und sah zu dem maskierten Reiter auf. Seine Einfachheit hatte be wirkt, daß seine Umgebung ihn liebte. Sein ruhiger, offener Blick verriet, daß ihm List und Furcht fremd waren. »Monsieur«, sagte er ohne Umschweife, »ich glau be, daß wir niemals vieler Worte bedürfen werden, um uns zu verstehen. Ich glaube auch, daß wir uns in Freundschaft begegnen werden. Wollt Ihr uns ein Unterpfand dafür geben?« Peyrac betrachtete ihn aufmerksam. »Vielleicht. Ein Unterpfand welcher Art?« »Ein Freund hat es nicht nötig, den Freunden seine Züge zu verbergen. Zeigt uns Euer Gesicht.« Peyrac zögerte kurz, dann hob er mit einem halben Lächeln die Hände zum Nacken, um die Bänder der Maske zu lösen. Er nahm sie ab, schob sie in sein Wams. 123
Loménies Aufforderung hatte die Neugier der Franzosen angestachelt. Nun betrachteten sie schwei gend dieses von vielen Kämpfen gezeichnete Kondot tieregesicht. Sie konnten in ihm die Gewißheit lesen, daß sie einen Gegner von Rang vor sich hatten. »Ich danke Euch«, sagte Loménie ernst. Mit einem kaum merklichen Anflug von Humor fügte er dann hinzu: »Jetzt, da ich Euch sehe, bin ich überzeugt, daß wir besser daran taten, uns mit Euch zu verständigen … daß wir das Richtige taten.« Ein Blickwechsel noch, dann brachen sie in Ge lächter aus. »Monsieur de Loménie-Chambord, Ihr seid mir sehr sympathisch«, sagte Peyrac. Er sprang aus dem Sattel, warf die Zügel des Pferdes einem seiner Leute zu, zog den Handschuh aus, und die beiden Edelmänner schüttelten sich kräftig die Hände. »Ich nehme es als gute Vorbedeutung, daß unsere Beziehungen sich zu unser beider Vorteil entwickeln werden«, fuhr Peyrac fort. »Habt Ihr hier in Katarunk die notwendigen Erfrischungen gefunden, um Euch nach Eurem Marsch zu erholen?« »Mehr als genug, denn Euer Fort gehört zweifellos zu den am reichlichsten mit allem versehenen, die sich finden lassen. Ich gestehe, daß meine Offiziere und ich selbst schamlos über Eure Vorräte an edlen Weinen hergefallen sind. Es versteht sich von selbst, daß wir Euch entschädigen werden, wenn auch nicht 124
durch Weine ähnlicher Qualität, die zu beschaffen uns schwerfiele, so doch wenigstens durch die Vor teile, die unsere Anwesenheit Euch im Falle einer Bedrohung durch den Irokesen bieten könnte. Man sagt, daß er in der Gegend herumstreift.« »Wir haben gestern einen Gefangenen gemacht, ei nen Mohawk, aber er ist uns wieder entwischt«, warf der Leutnant de Pont-Briand ein. »Wir sind im Süden selbst auf einen Trupp Cayugas gestoßen«, bemerkte Peyrac. »Diese verräterische Rasse schleicht sich überall ein«, seufzte der Graf de Loménie. Dabei fiel sein Blick auf Nicolas Perrot, und es zeigte sich, daß dieser Blick, der Angélique so vol ler Sanftmut erschienen war, auch sehr streng sein konnte. Der, mit dem er die rechte Hand des Grafen de Peyrac bedachte, hätte jeden anderen als den unbe kümmerten Kanadier nach dem nächstbesten Mause loch suchen lassen. »Seid Ihr es, Nicolas, oder irre ich mich?« fragte Loménie kühl. »Natürlich bin ich’s, mein Herr Ritter«, antwor tete Perrot mit einem breiten Lächeln auf seinem vergnügten Gesicht, »und mächtig zufrieden, Euch wiederzusehen.« In einer spontanen Bewegung beugte er das Knie vor dem Offizier, nahm die Hand, die ihm nicht ge reicht wurde, und küßte sie. »Ich habe nie die wackeren Gefechte vergessen, in die Ihr uns einst gegen den Irokesen geführt habt, 125
Monsieur. So manches Mal dachte ich an Euch wäh rend meiner Reisen.« »Ihr hättet besser daran getan, an Eure Frau und an Euer Kind zu denken, die Ihr in Kanada zurückgelas sen habt, ohne ihnen im Verlauf dreier Jahre auch nur die geringste Nachricht zu geben.« Der unerwartete Rüffel bestürzte den armen Perrot, und er erhob sich mit der Miene eines gescholtenen Kindes. Die französischen Soldaten waren aus ihren Reihen getreten und beeilten sich, die Pferde der Damen zu halten. Von lebhaftem Hüteschwenken begrüßt, konnten sie endlich den Fuß auf die Erde setzen, und die Gruppe wandte sich nun dem Eingang des Forts zu. Von nahem erwies es sich, daß es weniger ein Bollwerk zur Verteidigung eines strategisch wich tigen Punktes als eine dem Tauschhandel dienende Niederlassung war. Seine Palisade war kaum mehr als mannshoch, und vier kleine, tragbare Kanonen in den dem Fluß zugewandten Ecken bildeten seine ganze Artillerie. Das Innere der Umwallung machte mit seinem Gewimmel von Menschen und Gegenständen aller Art ein wenig den Eindruck einer Hammelweide. Jeder Schritt voran war ein kleines Abenteuer. Als er stes bemerkte Angélique die Kadaver zweier schwar zer Bären, ausgeweidet und aufgehängt wie monströ se grellrote Wassermelonen, die Indianer geschickt zu zerstückeln begannen. 126
»Seht, wir greifen Eure Wildbretreserven nicht an«, sagte Monsieur de Loménie. »Die Jagd war heute gut, und unsere Wilden haben prompt beschlossen, ein Festmahl zu veranstalten. Zwei andere Tiere kochen bereits in diesen Kesseln. Zusammen mit einem hüb schen Bukett Trappen und Puter wird es die ganze Gesellschaft stärken, auch morgen.« »Könnt Ihr mir sagen, ob das kleinere Wohnhaus betretbar ist?« fragte Peyrac. »Ich möchte dort mei ne Frau und meine Tochter unterbringen sowie die Damen und Kinder, die sie begleiten, damit sie ein wenig zur Ruhe kommen.« »Ich hatte mich mit meinen Offizieren dort ein quartiert, aber es wird inzwischen für Euch bereit sein. Wenn Ihr Euch noch ein paar Momente gedul den wollt … Maudreuil, lauft hinüber und inspiziert das kleine Wohngebäude.« Der junge Baron de Maudreuil stürzte wieder einmal im Laufschritt davon, während Peyrac dem Oberst eröffnete, daß sich Mopountook, der große Sagamore der Metallaks, in seiner Begleitung befinde. Loménie kannte ihn dem Ruf nach, war ihm jedoch noch nicht begegnet. Er begrüßte ihn geläufig in der Sprache der Abenakis. Staub wirbelte unter den Füßen der sich geschäf tig drängenden Menge auf, mischte sich mit dem Rauch verschiedener Feuer, und dem kaum spür baren Wind gelang es nicht, die Schwaden zu zer streuen. Angélique sah sehnsüchtig dem Augenblick entgegen, in dem sie endlich der stickigen Luft und 127
dem Gelärme entrinnen würde. Der ganze Hof war noch zu überqueren. Sie kamen nur mühsam voran zwischen umherliegenden Gefäßen aller Art, bluti gen Gedärmen, Aschenhaufen, Glutresten, Fäßchen, Köchern, Tierfellen, Federn, Musketen und Pulver hörnern. Angélique trat versehentlich in eine bläuli che, fette Masse, die, wie es schien, den Indianern zur Bemalung des Gesichts diente. Honorine fiel um ein Haar in einen Kochkessel. Elvire glitt auf glitschigen Eingeweiden aus, und ihre beiden Jungen wurden von Wilden herzlich eingeladen, von rohem Bärenhirn zu kosten, einer Speise, die Männern vorbehalten war. All das brachte sie schließlich zur Schwelle des für sie reservierten Hauses. Eben trat der Baron de Maudreuil heraus, während ein Indianer unbestimm ter Rasse noch den Boden mit einem Laubbesen feg te. Der junge Offizier hatte in der kurzen Zeit gute Arbeit geleistet. Der Raum, den sie betraten, war klein, aber säuberlich aufgeräumt, und nur ein leiser Geruch nach Tabak und Leder schwebte noch unter der Balkendecke. In den großen Kamin hatte man ein Bündel Wacholderreisig und Birkenstücke geworfen, bereit zum Anzünden, wenn die Kühle des Abends spürbar würde.
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Neuntes Kapitel
Angélique atmete erleichtert auf, als die Tür sich hin ter ihnen schloß. Sie ließ sich auf einen Holzschemel sinken, der in ihrer Nähe stand. Die Möblierung war recht ärmlich. Madame Jonas setzte sich auf einen zweiten Schemel. »Seid Ihr nicht zu müde?« fragte Angélique mit leidig. Die brave Frau war immerhin schon über die Fünfzig hinaus. »Meiner Treu, während der Reise ist es nicht all zu schlecht gegangen, aber diese Horde, bei deren Geschrei man glauben möchte, daß einem der Kopf zerspringt … In diesem Land sieht man einmal zu wenige und dann wieder zu viele Leute. Wie fühlst du dich, Elvire?« »Ich habe Angst«, murmelte die junge Witwe. »All diese Männer werden uns umbringen.« Meister Jonas hatte ein Stück des statt einer Schei be im Fensterrahmen befestigten Leders gelöst und spähte durch den Spalt nach draußen. Auch sein ern stes, gutmütiges Gesicht verriet Furcht. Angélique brachte ihre eigenen Befürchtungen zum Schweigen, um sie nach Möglichkeit zu beru higen. »Macht Euch keine Sorgen. Hier seid Ihr unter dem Schutz meines Gatten. Die französischen Soldaten haben hier nicht dieselbe Macht wie im Königreich Frankreich.« 129
»Das hindert nicht, daß diese Herren uns recht merkwürdig betrachteten. Sie müssen entdeckt ha ben, daß wir Hugenotten sind.« »Sie haben auch bemerkt, daß es unter uns Spanier und sogar Engländer gibt, Leute, die für sie noch schlimmere Feinde sind als Ihr. Aber hier sind wir weit von Frankreich entfernt, wie ich schon sagte.« »Das ist wahr«, gab der Uhrmacher zu. Er beobach tete die Indianer in der Nähe des Hauses. »Man möchte meinen, man hätte es mit Masken zu tun, wie sie während der Fastnachtszeit herumlaufen. Manche haben sich die Nasen blau bemalt, Augen, Brauen und Wangen schwarz und alles übrige rot. Was für eine Maskerade!« Die kleinen Jungen liefen zum Fenster, um eben falls hinauszusehen. Angélique zog ihren rechten Schuh aus und kratzte mit einem Messer den Rest des bläulichen Zeugs von der Sohle, das dort festgeklebt war. »Mit was für Zutaten mögen sie wohl solche Pasten fabrizieren? Die Farbe ist zäh. Man könnte sich mit ihr hübsch die Lider schminken, wenn man zum Ball geht.« Dann zog sie den Strumpf aus, um eine Wunde am Knöchel zu inspizieren, die ihr seit ein paar Tagen zu schaffen machte. Die Tür wurde heftig aufgestoßen, und der Leut nant de Pont-Briand erschien auf der Schwelle, sicht lich verlegen, weil ihm einfiel, daß er zu klopfen ver gessen hatte. »Verzeiht«, stotterte er, »ich … ich bringe Kerzen.« 130
Unwillkürlich hefteten sich seine Augen auf Angé liques nacktes Bein und den auf dem Kaminstein ruhenden Fuß. Sie streifte den Rock herunter und warf ihm einen hochmütigen Blick zu. »Tretet ein, Leutnant, und seid bedankt für Eure Gefälligkeit.« Zwei Männer, die das Gepäck trugen, begleiteten den Leutnant. Während sie die Säcke und Truhen aus undurchlässigem Leder in einem Winkel nie dersetzten, stellte er persönlich Kerzen in zinnernen Handleuchtern, einen Krug Bier und mehrere Becher auf den Tisch, unablässig dabei plaudernd, um seinen Schnitzer in Vergessenheit geraten zu lassen. »Erfrischt Euch, Mesdames. Ich kann mir gut vor stellen, daß Euer Ritt lang und mühselig gewesen sein muß. Meine Kameraden und ich sind voller Bewunderung für Euren Mut. Sagt mir ohne Zögern, was ich sonst noch für Euch tun kann. Ich werde alles bringen lassen, was Ihr braucht. Monsieur de Loménie-Chambord hat Monsieur de Maudreuil und mich beauftragt, uns zu Euren Diensten zu hal ten, während er den Herrn Grafen de Peyrac emp fängt. Vor allem würde ich Euch raten, heute abend die Nase nicht mehr als unbedingt nötig hinauszu stecken. Unsere Wilden haben die Absicht, ein Fest zu feiern. Sie könnten aufdringlich werden. Morgen wird die Mehrzahl von ihnen aufbrechen, und Ihr werdet bessere Gelegenheit finden, die Örtlichkeiten kennenzulernen. Vor allen Dingen: Laßt keinen her 131
ein, und achtet auf Euer Eigentum. Das gilt weniger für die Abenakis oder andere Algonkins, aber unter ihnen sind viele Huronen, und ein in Kanada weit verbreitetes Sprichwort lautet: ›Wer Hurone sagt, sagt Kujon.‹« Während er sprach, warf er zuweilen kühne Blicke zu Angélique hinüber. Sie hörte ihm kaum zu und wartete nur ungeduldig darauf, daß er endlich gehen würde. Sie war müde und fühlte sich wie zerschlagen. Bei aller ländlichen Einfachheit wäre ihr Katarunk über die Maßen lieb gewesen, wenn sie nur als die alleinigen Herren des Forts hätten einziehen können. Aber wie die Dinge trotz lebhaftester Freundschaftsb eteuerungen nun einmal lagen, fehlte es der Situation an der rechten Annehmlichkeit. Sie waren noch nicht bei sich zu Hause, und sie sah schon, wie sich alles Weitere entwickeln würde. Joffrey würde von seinen Zwangsgästen mit Beschlag belegt werden und im übrigen gezwungen sein, sie zu überwachen. Zu al lem Anfang würde sie ihn während des Abends nicht sehen. Sie konnte noch von Glück sagen, wenn er nicht morgen mit ihnen eine Erkundungspatrouille Gott weiß wohin unternahm und sie in dieser durch die Gegenwart unverschämter Indianer verpesteten Kloake zurückließ, deren Sprache sie nicht einmal kannte. Mit einer brüsken, mechanischen Bewegung nahm sie ihren Hut ab, der ihr in die Stirn drück te, warf den Kopf zurück und strich, die ersten Anzeichen einer Migräne spürend, mit geschlossenen Augen über ihre Schläfen. 132
Pont-Briand verstummte, und seine Kehle zog sich zusammen. Sie war entschieden schön, atemberau bend schön! Angélique warf ihm einen Blick zu, fand ihn reich lich töricht aussehend und unterdrückte ein Achsel zucken. »Seid noch einmal für Eure guten Dienste bedankt, Monsieur«, sagte sie ziemlich kühl. »Ihr könnt uns vertrauen. Meine Begleiterinnen und ich haben weder den Wunsch, uns unter die Wilden zu mischen, noch unser weniges Hab und Gut ihrer Begehrlichkeit preiszugeben. Meine Tochter hat schon ihre Schuhe verloren. Ich weiß nicht, wo ich mir wieder ein Paar dieser Größe verschaffen kann.« Pont-Briand erklärte stotternd, daß er sich darum kümmern wolle. Er würde eine Indianerin bitten, Moskassins für das Kind zu nähen. Morgen schon würde die Kleine sie tragen können. Rückwärts ge hend, erreichte er die Tür, raffte noch ein paar mili tärische Ausrüstungsgegenstände zusammen, die auf einer Bank liegengeblieben waren, und fand sich jen seits der Schwelle wieder, erregt und beflügelt, als hät te er drei Gläschen kanadischen Roggenbranntweins getrunken. »Teufel!« murmelte er zwischen den Zähnen. »Was hat das zu bedeuten? Sollte sich in diesem Satansland irgend etwas ereignen?« Das Gefühl der Liebe stieg in ihm auf und ließ ihn erbeben. Es erinnerte an die Erregung der Jagd oder des Krieges. Und er wußte nicht, warum. Aber der 133
Geschmack des Daseins selbst schien ihm verändert. Während er den Hof überquerte, hob er das Gesicht zum Himmel und stieß einen rauhen Schrei aus, in dem sich eine wilde, verrückte Freude Bahn brach. »Warum stößt du deinen Siegesschrei aus?« fragten die nächststehenden Indianer. Er rempelte sie an in einer Imitation ihres Kriegs tanzes ums Feuer mit geschwungenen Tomahawks und Pfeilen. Die Indianer lachten und verfielen ih rerseits in angedeutete Tanzschritte und schrille, gel lende Schreie, die Wolken hätten zerreißen können. »Gott, was für ein Heidenlärm!« seufzte Angélique. Ein Schauer lief ihr über den Rücken hinunter. Sie nahm Honorine in die Arme und preßte sie heftig an sich. Die Gefahr gewaltsamen Todes lauerte über all! Sie verseuchte selbst die Luft, die man atmete. Sie verspürte ihren Geschmack auf der Zunge. Wie sollte man sich’s erklären? Das eben war Amerika – Todesgefahr überall, aber man hatte das Recht, zu leben und sich zu verteidigen. »Madame«, rief Elvire, »schaut her. Hier sind noch zwei weitere Zimmer mit Betten, nein, drei, und je des hat einen Kamin. Wir werden uns sehr gut ein richten können.« Die sehr kleinen Räume waren rings um den zen tralen Kamin wie um einen Pfeiler angeordnet, was jedem einzelnen zu einer eigenen Herdstelle verhalf. Der Kamin selbst war ohne besondere Kunstfertigkeit offenbar aus Flußsteinen errichtet worden, die man durch Mörtel aus Sand, Kalk und Kies verbunden 134
hatte. Im rechten Zimmer fand sich ein Bett von gu ter, fast eleganter Machart mit einem Baldachin und Vorhängen aus imitiertem Brokat, die von Kordeln zu sammengehalten wurden. Ein ähnliches, wenn auch einfacheres, aber gleichfalls mit Bettvorhängen verse hen, befand sich im Zimmer zur Linken. Der hintere Raum enthielt mehrere aus ungeschälten Knüppel holzpfosten zusammengezimmerte Lagerstätten, die mit einer Unterlage aus Moos versehen, ansonsten aber wie die anderen mit Leinen- und Pelzdecken recht behaglich ausstaffiert waren. Elvire entschloß sich, dort mit den drei Kindern zu schlafen. Das Ehepaar Jonas wählte das linke und Angélique das rechte Zimmer. Übrigens war ihre Truhe be reits hineingeschafft worden. Irgend etwas an der Ausstattung dieses kleinen, ländlichen, mehr an eine Holzfällerbude als an eine bäuerliche Kammer ge mahnenden Raums mit seinen Wänden aus kaum behauenen runden Stämmen verriet Angélique, daß es die Unterkunft war, die Joffrey während seines Aufenthalts in Katarunk im vergangenen Jahr bewohnt hatte. Als sie einen Vorhang zurückzog, entdeckte sie auf den Borden eines mit einfachsten Mitteln verfer tigten Bücherbretts eine Anzahl in Leder gebundene Bände mit lateinischen, griechischen oder arabischen Titeln. Er mußte die andern Zimmer zur Unterbringung seiner Söhne und seines nächsten Vertrauten vor gesehen haben. In ihren Augen war es nur ein Provisorium, ein Etappenquartier in einem Dasein 135
unter Männern, aber an Einzelheiten erkannte sie sei ne Hand, seinen Geschmack für Komfort, für Anmut in der Gestaltung seiner Umwelt, den er schon immer bewiesen hatte. Der Leuchter auf dem massiven Tisch in der Ecke bestand aus fein bearbeiteter Bronze. Die Zartheit seiner Arabesken verlieh Trost und Kraft, ob gleich seine Schönheit in dieser Hütte in den Tiefen der Wälder fremd und ziemlich unnütz schien. Unglücklicherweise hatte sich niemand die Mühe genommen, ihn von den Talgschichten zu befreien, die während der letzten Abende, Kerze um Kerze, an ihm heruntergeronnen waren. Den Herdstein schmückten hübsch geschmiedete Feuerböcke, aber Aschenreste und halb verbrannte, rußige Holzstücke bedeckten den Boden. Überall Spuren militärischer Unordnung. Als erstes mußte sie sich einen Besen verschaffen. Laub- und Reisigbesen lehnten in den Ecken. Die Frauen machten sich ans Säubern, von dem Bedürfnis gepackt, ihr neues Reich von all diesen unerfreulichen soldatischen Überbleibseln zu befreien. Allmählich begannen sie sich in dem kleinen Haus mit seinen vier Feuerstellen, auf denen die Reisigbündel fröhlich knisterten, recht wohl zu füh len. Es verlangte sie danach, in ihm ihr Nest zu bau en, ihm ihr Zeichen aufzuprägen mit ihren eigenen Vorstellungen von Ordnung und Sauberkeit, um sich in ihm zu Hause fühlen zu können, nicht mehr wie Herumtreiber und Vagabunden, die sie während der letzten Wochen gewesen waren. 136
Hinter der verschlossenen, fest verriegelten Tür er wachten ihre Lebensgeister mehr und mehr. Meister Jonas war vor seinem Kamin damit beschäftigt, seine Strümpfe und Schuhe zu trocknen, die seit der letz ten Sumpfdurchquerung feucht geblieben waren. Elvire zog die drei Kinder aus und steckte sie in einen Kübel. Angélique hatte ausgefegt und machte sich nun auf die Suche nach Laken, die man über die Moosfüllung der Betten breiten konnte. Als sie in ihrem Zimmer eine Truhe öffnete, fand sie, auf der Innenseite des Deckels angebracht, einen großen Spiegel. Auch er verriet Joffreys Hand. Eine lächelnde Überraschung, das Zwinkern eines Komplicen. »Oh, ich bete ihn an«, dachte sie. Vor der Truhe kniend, betrachtete sie sich, genoß den Augenblick der Ruhe. Das Möbel enthielt keine Laken, nur Männerkleidung. Nachdem sie sie gemu stert hatte, erhob sie sich und klappte den Deckel zu. Der vor dem Spiegel verbrachte Moment hatte ihr Lust gemacht, ihr Kleid zu wechseln und sich ein wenig eleganter herzurichten. Sie öffnete ihr eigenes Gepäck, suchte zuerst nach einem frischen Hemd für Honorine. Zum Glück waren die Kinder müde und setzten dem Versuch, sie in der hinteren Kammer zu Bett zu bringen, in der der Lärm des Hofs nur ge dämpft zu hören war, keinen Widerstand entgegen. Im angebauten Schuppen hatte Madame Jonas einen großen Kessel aufgetrieben, den man in den Kamin hängen konnte. Es fehlte nur noch Wasser. 137
Aber keine der drei Frauen fühlte sich mutig genug, sich auf dem Weg zum Brunnen dem Pöbel draußen auszusetzen. Schließlich opferte sich Meister Jonas. Er kehrte mit einem Schwarm Indianer zurück, die ihm tausend Fragen stellten und sich auf der Schwelle drängten, um die weißen Frauen zu sehen. Keiner dachte übrigens daran, ihm seine Last tragen zu helfen. Sie fanden es offensichtlich skandalös, daß der alte Mann sich zu diesem Frondienst hergegeben hatte, während seine Frauen nichts taten. Es fehlte nicht viel, und das Häuschen wäre von Scharen wenig angenehm duftender, entrüsteter Indianer überflutet worden. »Ich habe niemals eine frechere Gesellschaft erlebt als diese Wilden«, keuchte der Uhrmacher, nachdem die Tür endlich wieder verbarrikadiert war. »Von dem Augenblick an, in dem sie einen zur Zielscheibe ihrer Scherze erwählt haben, gehört man ihnen.« Um ihm einen zweiten Gang zu ersparen, be schlossen die Damen, das Wasser, mit dem sie sich waschen wollten, gerecht unter sich zu verteilen. Der Kessel wurde über das lustig prasselnde Feuer gehängt. Gleich darauf klopfte es leicht an der Tür. Nicolas Perrot erschien mit einem großen Weizen brot, gedörrtem Fleisch und einem Körbchen voller Brombeeren und Himbeeren. Der Anblick der Nahrungsmittel heiterte die Anwesenden auf; die Kinder erhielten eine Handvoll Beeren und schliefen ein, nachdem sie die letzte ge schluckt hatten. 138
»Was ist das übrigens für eine Geschichte, daß Ihr verheiratet seid und ein Kind habt, Nicolas?« fragte Angélique. »Ihr habt uns niemals davon erzählt.« »Ich wußte es nicht«, erwiderte der Kanadier errö tend. »Wie? Ihr wußtet nicht, daß Ihr verheiratet seid?« »Nein, ich wollte sagen, ich wußte nicht, daß ich ein Kind habe. Ich bin gleich danach aufgebrochen.« »Wonach?« »Nach der Hochzeit natürlich. Ich war dazu ge zwungen, versteht Ihr? Wenn ich nicht geheiratet hät te, hätte man mir eine saftige Geldstrafe aufgebrummt, und damals war ich nicht gerade reich. Außerdem wollten sie mich wegen unerlaubten Handels mit den Wilden verurteilen und sogar exkommunizieren, weil ich ihnen Branntwein geliefert hatte. Also zog ich’s vor zu heiraten. Es war einfacher.« »Wenn man so gegen Euch vorging, müßt Ihr dem armen jungen Mädchen doch etwas getan haben«, sagte Madame Jonas. »Aber nein, nichts. Ich kannte sie nicht einmal.« »Wirklich?« »Sie war ein Mädchen des Königs und eben mit dem letzten Schiff angekommen. Ich glaube sogar, daß sie ehrlich und nett war.« »Ihr seid dessen nicht sicher?« »Ich hatte keine Zeit, mich zu überzeugen.« »Erklärt Euch genauer, Nicolas«, sagte Angélique. »Eure Geschichtchen scheinen uns reichlich wirr.« »Dabei ist es ganz einfach. Der König von Frank 139
reich will, daß man etwas zur Bevölkerung seiner Kolonie tut. Er schickt uns von Zeit zu Zeit ein Schiff voller Demoisellen, und die Junggesellen des Orts ha ben innerhalb von vierzehn Tagen zu heiraten, wenn sie nicht Strafe zahlen oder gar hinter Gitter kommen wollen. Schön, da man’s nun einmal muß, hab’ ich’s getan. Aber hinterher adieu, mein Schatz, und zurück zu den Wilden!« »Hat Euch denn Eure Frau so mißfallen?« fragte Elvire. »Wie soll ich das wissen? Ich sagte Euch doch, wir hatten keine Zeit, Bekanntschaft zu schließen.« »Aber immerhin genug«, bemerkte Angélique, »um Familienvater zu werden.« »Teufel, es war ja nicht zu umgehen! Wenn sie sich beschwert hätte, daß die Ehe nicht vollzogen worden sei, wäre wieder eine Geldstrafe fällig gewesen.« »Ihr habt Euch also am Morgen nach Eurer Hoch zeitsnacht aus dem Staub gemacht, ohne noch einmal den Kopf zu wenden? Habt Ihr während der letzten drei Jahre denn niemals Gewissensbisse verspürt?« fragte Angélique mit gespielter Strenge. »Meiner Treu, nein!« gestand der Kanadier seuf zend. »Aber ich geb’s zu, daß ich mich nicht so recht wohl in meiner Haut fühle, seitdem mich Monsieur de Loménie vorhin auf so eine gewisse Art angese hen hat. Dieser Mensch ist das verehrungswürdigste Wesen, das ich kenne. Schade, daß er und ich nicht von derselben Sorte sind«, schloß der Mann vom Sankt Lorenz mit einer Grimasse. 140
Trotz ihres kärglichen Wasseranteils wusch sich Angé lique mit Vergnügen vor dem Feuer in ihrem Zimmer. Sie hatte zwei Kleider mitgenommen, deren Eleganz in diesen wilden Gegenden ziemlich überflüssig sein mochte, aber sie hatte sich gedacht, daß man es verstehen müsse, sich selbst Freuden zu schaffen, wenn schon niemand da war, der einen bewunder te. Immerhin gab es Joffrey, ihre beiden Söhne und Honorine. Warum sollte sie ihnen nicht von Zeit zu Zeit den Anblick einer eleganten Frau bieten, wie sie in den fernen Städten existierten, in denen Karossen durch die Straßen fuhren und hinter jedem Fenster Blicke lauerten und Lippen raunten: »Habt Ihr schon die neue Toilette von Madame X gesehen?« Sie schlüpfte also in ihr silbergraues Kleid, dessen Ärmel und Schulterpartie silberne Tressen schmück ten. Ein Kragen und Aufschläge aus feinem Leinen und zarter silbriger Spitze vollendeten seinen Schick. Sie schüttelte ihr Haar und bürstete es lange mit den Bürsten aus dem entzückenden Reisenecessaire, das Joffrey ihr vor dem Aufbruch aus Gouldsboro ge schenkt hatte. Es tröstete sie, diese Luxusgegenstände aus Schildpatt und Gold zur Hand zu haben. Noch vor dem Aufbruch hatte Angélique ihre Freundin Abigaël Berne gebeten, ihr das lange Haar ein wenig zu schneiden. Nun fiel es ihr über den Nacken bis auf die Schultern, ihr Gesicht mit seiner schimmernden Fülle umrahmend. Seine weichen, seidigen Wellen endeten in duftig schäumenden Locken, und Fransen hingen ihr in die 141
von der Sonne gebräunte Stirn. Es lag etwas wie Koketterie, wie Herausforderung in der Art, wie Angélique sich mit ihrem Haar zu schmücken liebte. Denn in das flirrende Gold seiner ursprünglichen Färbung mischten sich schon, ob wohl sie erst siebenunddreißig war, einzelne vorzei tige weiße Fäden. Doch es bekümmerte sie nicht, da sie nur zu gut wußte, daß diese silbrigen Akzente der strahlenden Jugend ihres Gesichts einen besonderen Zauber hinzufügten. Um ein kleines Perlendiadem in ihrem Haar zu be festigen, beugte sie sich über den Spiegel der Truhe. In diesem Augenblick erschien ein Schatten vor ihrem Fenster, und jemand kratzte leise an dem gelb lichen Pergament, mit dem es bespannt war.
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Zehntes Kapitel
Nach kurzem Zögern schob Angélique den hölzer nen Riegel zurück und öffnete einen Flügel des klei nen, ziemlich grob gezimmerten Fensters. Draußen stand ein Mann, dessen gebückte Haltung und nach allen Seiten flitzende Blicke seine Besorgnis verrieten, hier gesehen zu werden. Sie erkannte den jungen Yann, den Bretonen, der zur Mannschaft der Gouldsboro gehört und den Joffrey seiner Ausdauer und seiner Fähigkeiten als Tischler wegen nach Katarunk mitgenommen hatte. »Frau Gräfin …!« »Ja?« Er lächelte ein wenig verlegen, als handele es sich um einen Scherz. Plötzlich platzte er jedoch heraus: »Monseigneur will Eure Wallis töten. Er sagt, das Tier sei bösartig, und er habe schon gestern beschlos sen, sich seiner zu entledigen.« Im nächsten Moment war er verschwunden. Angé lique hatte kaum recht gehört, geschweige denn be griffen, wovon er sprach. Sie bog sich über die Brü stung. »Yann!« Er war fort! Das Fenster ging auf die Rückseite des Hauses zur nahen Palisade hinaus, die hier als eine Art Kleiderkammer und Stützwand für ein ganzes Arsenal verschiedener Waffen diente. Unter einem schmalen Schutzdach hingen Pelzmäntel, Lederjoppen und 143
Uniformen neben Musketen, Hakenbüchsen, Bogen und Köchern. Nicht wenige Wilde trieben sich dort herum, und als Angélique bemerkte, daß ihr Ruf ihre unerwünschte Neugier erregte, beeilte sie sich, das Fenster wieder zu schließen. Ans Fensterkreuz gelehnt, dachte sie nach. Die Warnung des kleinen Bretonen drang ihr allmählich ins Bewußtsein und führte dort zu blitzartigen Verheerungen. Ihre Augen flammten. Zorn stieg mit solcher Heftigkeit in ihr auf, daß sie fast daran erstickte. Sie suchte ihren Umhang und stieß sich dabei an den Möbeln, denn das Tageslicht war im Schwinden, und das Halbdunkel wurde dichter … Wallis töten, ihre Stute, die sie um den Preis so vie ler Mühen ans Ziel gebracht hatte! Durch solche Gesten geben Männer den Frauen zu verstehen, daß sie nicht existieren, daß sie nicht zählen! Ein Gefühl, das ein normales menschliches Wesen, selbst des schwachen Geschlechts, nicht ohne Empörung erfahren kann. Ohne sie zu unterrichten, hatte Joffrey also Wallis töten wollen? All die Mühe, die sie sich gegeben hat te, um sie zu beruhigen, zu dressieren, an dieses un zivilisierte Land zu gewöhnen, das mit jedem Schritt in diesem übersensiblen Tier Schrecken und unüber windliche Abneigung zu wecken schien, wäre dann vergebens gewesen. Es gab Gerüche, die die Stute – wie auch Angélique – nicht ertragen konnte, den der Wilden zum Beispiel oder den des Unterholzes der endlosen, von keines Menschen Hand gezähm 144
ten Wälder. Sie litt an Unwägbarkeiten, die man ihr aufzwang: der Grenzenlosigkeit, der latenten Feindseligkeit einer in sich verschlossenen Natur, und es schien ihr förmlich physischen Schmerz zu berei ten, ihre schmalen Hufe auf diesen nie bearbeiteten Boden setzen zu müssen. Wie oft hatte Angélique den burgundischen Schmied der Expedition gebeten, ihre Eisen zu prüfen! Aber er hatte nie etwas bemerkt. In Wallis’ Geist spielte sich das Drama ab. Dennoch hat te ihre Herrin gesiegt – oder jedenfalls fast … Im Begriff, ins andere Zimmer zu stürmen, hielt sie sich zurück. Sie mußte die Heftigkeit ihrer Impulse ein wenig dämpfen, um dem jungen Bretonen nicht zu schaden. Es bewies nicht wenig Mut, sie zu un terrichten, ohne dazu beauftragt zu sein. Die Ent scheidungen Joffrey de Peyracs wurden selten ange zweifelt. Disziplinlosigkeit und selbst Fehler kamen unter seinem Kommando teuer zu stehen. Yann Le Couénnec hatte vermutlich lange mit sich gekämpft. Neben seinen aus gröberem Holz geschnitzten Kumpanen wirkte er irgendwie kultivierter. Während des Marsches war er oft bei ihr aufgetaucht, um ihr seine Hilfe anzubieten, das Pferd an einem Steilhang zu führen oder abends abzureiben, und sie waren gute Freunde geworden. Heute abend nun hatte er sie gewarnt, und Angélique nahm sich vor, sich bei der Auseinandersetzung mit ihrem Gatten zu beherr schen und den Bretonen nicht zu erwähnen. Sie nahm sich die Zeit, sich in ihren mit Wolfsfell gefütterten Mantel aus amarantrotem Taft zu hüllen, 145
den einzuweihen sie bisher noch keine Gelegenheit gefunden hatte. Madame Jonas hob bei ihrem Anblick die Arme zur Decke. »Wollt Ihr zum Ball, Dame Angélique?« »Nein, nur den Herren im anderen Haus einen Besuch abstatten. Ich habe dringend mit meinem Mann zu reden.« »Ihr geht nicht«, protestierte Meister Jonas. »Alle diese Indianer … Eine Frau kann sich nicht allein un ter diese Barbaren wagen!« »Ich brauche nur den Hof zu überqueren«, erwi derte Angélique und öffnete die Tür. Kreischendes Stimmendurcheinander schlug ihr entgegen.
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Elftes Kapitel
Die Nacht war noch nicht völlig hereingebrochen. Ein diffuses goldenes Licht lag über dem Hof, ein farbiger Nebel aus aufgewirbeltem Staub, Dunst und dem Rauch der Feuer. Aus mächtigen schwarzen Kesseln stieg in Schwa den der fade, süßliche Geruch von gekochtem Mais. Soldaten verteilten das Ragout mit großen hölzernen Schöpflöffeln an die herandrängenden Wilden, die ihnen Näpfe aus Rinde oder Holz oder auch nur ihre aneinandergelegten hohlen Hände entgegenstreck ten, um ihre dampfenden Portionen in Empfang zu nehmen. Angélique gelangte zur Tür der Unterkunft. Ohne den Posten zu fragen, der eben dabei war, mit ein paar Indianern Tabakblätter gegen Fischotterfelle zu tauschen, betrat sie den Raum, in dem sie Joffrey zu finden hoffte. Die an den Wänden angebrachten Öllampen waren schon angezündet, aber ihr gelb licher, zitternder Schein drang nur schwach durch den dichten Tabaksqualm. Mit Hilfe des durch die Tür einfallenden Lichts vermochte sie zu erkennen, daß der ziemlich große Saal, zu dem zwei Stufen hinabführten, fast in seiner ganzen Länge von ei ner Tafel aus massivem Holz eingenommen wurde, auf der allerlei dampfende Gefäße, Zinnbecher, ein paar Flaschen aus dunklem Glas und ein bauchiger Tonkrug standen. Das betäubende Stimmengewirr 147
wurde von Zeit zu Zeit von einer Salve dröhnenden Gelächters übertönt. Im Zentrum der Tafel entdeckte sie den Sagamore Mopountook, der sich eben die Hände an seinen lan gen Zöpfen abwischte, und in seiner Nähe den mit dem goldbetreßten Hut des Leutnants de Fallières ge schmückten Huronen Odessonik. Angélique glaubte, mitten in ein indianisches Lager geraten zu sein, aber die Häuptlinge waren dem Brauch entsprechend nur an die Tafel der Weißen geladen, und es waren die Weißen, die sich an diesem Abend zusammengefun den hatten, um eine Begegnung von Landsleuten zu feiern, die, aus verschiedenen Richtungen zu diesem so gut wie unbekannten Punkt des Kontinents gesto ßen, insgeheim gehofft hatten, die anderen unschäd lich machen oder ihnen zumindest aus dem Wege ge hen zu können. Unter dem Deckmantel scheinbarer Herzlichkeit belauerte man einander. Die Spannung, der Zusammenstoß gegensätzlicher Absichten blieben im Dunkel. Der Graf de Loménie-Chambord mochte aufrichtig sein, wenn er versicherte, sich des friedli chen Treffens mit dem Grafen de Peyrac glücklich zu schätzen, aber schon Don José Alvarez, den finster zwischen einem Franzosen und einem Indianer hok kenden spanischen Hauptmann Peyracs, verstimmte die Gegenwart dieser Eindringlinge an einem Ort, der durch päpstliche Beschlüsse seit 1506 und für alle Ewigkeit den Untertanen Ihrer Sehr Katholischen Majestäten, des Königs und der Königin von Spanien, zugesprochen worden war. 148
Nur wenige waren frei von derlei Affekten. Der alte Eloi Macollet zum Beispiel, der zwei Monde zuvor der allzu besorgten Pflege seiner Schwiegertochter im Dorf Levis bei Québec entronnen und mit der festen Absicht, fürderhin jedwede Begegnung mit seinesgleichen zu meiden, in die Wildnis gepaddelt war, beklagte nur die Tatsache, daß Amerika keinen Reiz mehr für Leute bot, die Einsamkeit liebten. Es war ein absolut »vergeudetes« Land. Die mit zwei Truthahnfedern geschmückte rote Wollmütze bis zu den buschigen Brauen in die Stirn gezogen, brütete der Alte trübe über seinem Mißgeschick, aber nach dem dritten Gläschen Branntwein hatten seine Augen wieder munter zu glitzern begonnen, und er sagte sich, daß ihn hier wenigstens seine Schwiegertochter nicht suchen würde, ganz abgesehen davon, daß es auch seine Annehmlichkeiten hatte, mit alten Freunden bei einem nur Männern vorbehaltenen napeopounano, einem Bärenmahl, zusammenzusitzen, nachdem, wie der Brauch es forderte, Tabakrauch in die Nüstern des Bären geblasen und ein Stück vom Fleisch sowie ein Löffel voll Fett ins Feuer expediert worden war. Pont-Briand, der den Bären erlegt hatte, hatte sich das Halsstück vorbehalten und die Keule, eine wahre Köstlichkeit, unter seine Freunde verteilt. Es war Herbst, die Jahreszeit, in der die von den Samen der Kornblumen sich nährenden Bären besonders schmackhaft sind. An diesem Punkt seiner Überlegungen wäre der Alte fast an einem Knöchelchen erstickt. Fluchend 149
spuckte er es aus. Durch den Qualm hatte er plötzlich seine Schwiegertochter zu sehen geglaubt. Nein, es war nicht Sidonie, aber eine andere Frau, die dort auf der Schwelle stand und in den Saal hin einblickte. Eine Frau bei einem napeopounano! Was für ein Frevel! Eine Frau in der schlimmsten Wildnis südlich der Chaudière, wohin man sich vom Sankt Lorenz nur ungern hinunterwagt und wohin man niemals hin aufgelangt, wenn man von der Ozeanküste Akadiens stammt. Wohin man sich nie verirren würde, wenn es dort nicht von Zeit zu Zeit ein paar Ketzer zu skalpie ren gäbe. Der Alte stieß einen unartikulierten Schrei aus und suchte sich mit wilden Armbewegungen die Sicht freizuwedeln. Sein Nachbar Maupertuis drückte ihn auf den Sitz zurück. »Halt dich ruhig, Großvater!« Der Sagamore hob die Hand, wies auf die Frau und sprach feierliche Worte. Er erzählte eine dunkle Geschichte von Schildkröten und Irokesen und sagte, daß diese Frau die Schildkröte besiegt und daher das Recht habe, unter den Kriegern Platz zu nehmen. Es war also kein napeopounano, kein Männermahl mehr, sondern ein mokouchano, und es verlohnte nicht der Mühe, so weit Reißaus zu nehmen, wenn man dann doch einem Unterrock begegnete, und im übrigen waren diese Metallaks vom Umbagogsee die blödesten aller Algonkins – Jäger gewiß, da oben war schließlich ein wahres Wildparadies, aber die dümm sten Indianer, die es gab, denn man konnte ihnen 150
nicht das kleinste Kreuzeszeichen beibringen. »Schweig schon, alter Knacker!« fuhr Maupertuis ihn an und zog ihm dabei die Mütze über die Augen. »Schämst du dich nicht, eine Dame zu beleidigen?« Maupertuis’ Bart zitterte vor Entrüstung und Erregung. Er fand Angéliques Erscheinung hin ter den bläulichen Schleiern des Tabaksqualms mit ihrem blonden Haar, über dem der letzte goldene Schimmer des Tageslichts lag, höchst eindrucksvoll. Er erkannte sie kaum wieder, und doch war er mit ihr aus Gouldsboro gekommen. Aber so, wie sie dort stand, mit gelöstem Haar, in den weiten Mantel von der Farbe der Morgenröte gehüllt, war sie nicht mehr die gleiche. Sie schien wie aus einem Rahmen zu steigen, aus einem jener Bilder, wie man sie beim Herrn Gou verneur in Québec zu sehen bekam, mit dem auf die Schultern fallenden Haar und der weißen Hand auf dem rauhen Holz, von der ein schmaler Spitzenbesatz herabgeglitten war. Sie kam ihm zart und zerbrech lich vor, ganz unähnlich der ausdauernden Reiterin der vergangenen Wochen. Der Waldläufer wollte ihr zu Hilfe eilen, ver strickte sich aber in den Beinen seines Schemels und polterte kopfüber auf den gestampften Boden. Sich die schmerzende Nase reibend, beschuldigte er den verräterischen Branntwein O’Connells. Der Ire muß te ihn mit gärender Gerste und gekochten Wurzeln versetzt haben. Zwischen Lachlust und Erschrecken schwankend, 151
sagte sich Angélique, daß sie alles in allem selbst damals in der Taverne zur Roten Maske nie eine so erstaunliche Ansammlung von Männern vor sich ge habt hatte. Und ihr eigener war keineswegs der harm loseste unter ihnen … Er hatte ihren Eintritt noch nicht bemerkt. Ganz am Ende der Tafel sitzend, rauchte er seine lange hol ländische Pfeife und unterhielt sich mit Monsieur de Loménie. Wenn er lachte, blitzten die das Mundstück der Pfeife haltenden Zähne auf. Sein düsteres, schrof fes Profil hob sich scharf vor den tanzenden Flammen des Kamins ab. Irgend etwas an diesem Anblick erinnerte Angélique unwiderstehlich an vergangene Bilder: War es damals nicht genauso gewesen, in seinem Palais in Toulouse, wenn er inmitten seiner Gäste an der Spitze der Tafel saß, hinter sich die Flammen des mächtigen, wap pengeschmückten Kamins, die ihr heiteres Licht auf Brokate, Kristalle, Spitzen warfen …? Hier hätte man von einer Parodie auf jene glück lichen Zeiten sprechen können. Alles schien zusam menzuwirken, um Angélique das volle Ausmaß der ihnen, ihm und ihr, im Laufe der Jahre widerfahrenen Erniedrigung vor Augen zu führen. Es waren nicht mehr elegante Herren und anmutige Damen, die an seiner Tafel saßen, sondern Leute unterschiedlicher Herkunft: Waldläufer, Wilde, Soldaten, und selbst bei den Offizieren spürte man die vergröbernde Wirkung einer harten, gefährdeten, einzig den Erfordernissen des Krieges und der Jagd zugewandten Existenz. 152
Selbst die Vornehmheit des Grafen de Loménie löste sich in diesem Konzentrat allzu männlicher Elemente: Tabak, Leder, Wild, Alkohol, Schießpulver. Man gewahrte plötzlich seine gebräunte Haut, das Raubtiergebiß, den träumerischen, fast etwas starren Blick des Tabakrauchers. Und man gewahrte, daß auch Joffrey de Peyrac sich dieser rauhen Umwelt angepaßt hatte. Das Meer, die Stürme, die Seeräuberei, die un aufhörlichen Kämpfe, die tagtäglichen Auseinander setzungen mit Degen oder Pistole in der Faust, um Menschen zu beherrschen, Ziele zu erreichen, eine extreme Natur zu besiegen – Wüste, Ozean oder die Wildnis der Wälder –, hatten in ihm die abenteuerli che Seite bestärkt, die zuweilen schon damals hinter den eleganten Umgangsformen des Grandseigneurs und den gemessenen Gesten des Gelehrten zum Vorschein gekommen war. Durch Notwendigkeit, aber auch aus Neigung zum Kondottiere geworden, hatte er sich ein Dasein unter Männern geformt. Angélique wich einen Schritt zurück. Aber schon war Pont-Briand zu ihr getreten. Mit mehr Glück als Maupertuis gelang es ihm, sich auf den Beinen zu halten. Er war übrigens nicht betrun ken. Er hatte sich nur zwei gute Becher Branntwein einverleibt, um sich ein bißchen in Schwung zu brin gen. »Madame, meine Verehrung …« Er reichte ihr die Hand, half ihr, die beiden Stufen hinunterzusteigen, und führte sie, um einen Sitz für 153
sie aufzutreiben, zum Zentrum der Tafel. Sie zögerte, widerstand ihm sogar ein wenig. »Ich fürchte, Monsieur, die indianischen Häuptlinge werden an meiner Gegenwart Anstoß nehmen. Man sagt, daß sie Frauen nicht gern bei ihren Festmählern sehen.« »Seid unbesorgt, Madame«, erwiderte er. »Der Sagamore hat eben erklärt, daß Ihr würdig seid, un ter den Kriegern zu sitzen, da Ihr das Zeichen des Irokesen besiegt habt. Schenkt uns also ohne Skrupel die Freude Eurer Gegenwart.« Mit kräftigen Bewegungen machte er für sie Platz und setzte sich selbst zu ihrer Linken. Sie hätte ei nen Schemel neben Joffrey vorgezogen, aber es war nun zu schwierig, sich dem kategorischen Leutnant und seinen Freunden zu entziehen. Ihr Nachbar zur Rechten verneigte sich und versuchte, ihre Hand zu küssen, doch ein Schluckauf hinderte ihn daran, den er nur mit Mühe unterdrückte. Er entschuldigte sich mit einem Lächeln. »Ich stelle mich vor: Romain de l’Aubignière! Ihr müßt mich schon gesehen haben. Verzeiht mir, daß ich nicht ganz nüchtern bin. Wenn Ihr nur ein wenig früher gekommen wärt … Aber seid versichert, daß ich noch klar genug bin, Euch nicht doppelt zu sehen und womöglich auf den kränkenden Gedanken zu kommen, es könnte noch eine zweite ebenso schöne Frau wie Euch auf dieser Erde geben. Ich sehe, und das genügt. Ihr seid nicht zu zweit, Ihr seid einzig.« Angéliques Lächeln schwand, als ihr Blick auf die 154
Hände des jungen Mannes fiel. An der linken fehl ten Daumen und Mittelfinger, an der rechten der Ringfinger. Bei den restlichen wirkten die Spitzen wie geschwollen, und einige wiesen statt der Nägel nur hornig gewordene, geschwärzte Haut auf. »Achtet nicht darauf, schöne Dame«, sagte l’Aubig nière fröhlich. »Kleine Erinnerungen an die Freund schaft der Irokesen, nicht mehr. Es ist nicht schön, ich geb’s zu, aber es hindert mich nicht, mit meinem Gewehr zu hantieren.« »Haben die Irokesen Euch gefoltert?« »Sie haben mich erwischt, als ich sechzehn war. Es war im Herbst, und ich hatte mich aufgemacht, im Sumpf Enten zu schießen. Deswegen nennt man mich jetzt auch Drei-Finger-l’Aubignière.« Und da sie noch immer mitleidig auf die schreckli chen Hände blickte: »Sie fingen damit an, mir mit scharfen Muschel rändern drei Finger abzuschneiden. Den Daumen da, der mir verblieben ist, haben sie in einem Kalumet versengt. Bei den andern haben sie mir mit den Zähnen die Nägel ausgerissen und ein paar hinterher noch angekokelt.« »Und Ihr habt widerstanden?« Es war Florimonds Stimme. Er reckte seinen strup pigen Kopf über den Suppennapf. Seine Augen glänz ten vor Erregung. »Ohne den leisesten Schrei, mein Junge! Glaubst du, ich hätte diesen Wölfen die Freude gemacht, Gri massen zu schneiden und mich zu winden? Außerdem 155
hätte ich mich damit zum Tode verurteilt, noch dazu durch die Hand der Frauen. Welche Schmach! Als sie sahen, daß ich wie ein Krieger standhielt, adoptierten sie mich, und ich blieb mehr als ein Jahr bei ihnen.« »Ihr sprecht irokesisch?« »Besser vielleicht als Swanissit, der große Häuptling der Senekas, selbst.« Mit einem Rundblick, der jenseits der Dinge etwas zu sehen schien, fügte er plötzlich hinzu: »Ihn suche ich hier.« Er hatte schwarze Augen in einem gebräunten Gesicht. Das kastanienfarbene, ziemlich gelockte Haar fiel ihm auf die nach indianischer Art geschnit tene Lederjoppe. Um den Kopf trug er ein mit win zigen Perlen besticktes Stirnband, in dem hinten zwei Federn steckten. Zweifellos war es dieses Band über den Locken, das seinem Gesicht trotz seiner Bärennatur und seiner Größe etwas Weibisches, fast Kindisches verlieh. »Wenn Ihr Swanissit sucht, mein Junge, dürft Ihr nicht vor ihm fliehen, wie es beinah den Anschein hat, denn letzten Monat war er mit einem Teil seines Stammes im Norden am Mistassinsee«, warf der Graf de Loménie vom Ende der Tafel ein. »Wir wissen es von zwei Wilden aus den Bergen, die ihnen glücklich entkommen sind, als sie sich ihrem Lager näherten!« »Und ich versichere Euch, daß er hier ist!« rief l’Aubignière mit einem Faustschlag auf den Tisch. »Er hat sich mit Uttakeh, dem Häuptling der Mohawks, vereinigt. Gestern abend erwischten wir einen Iro 156
kesen. Er hat gesprochen. Wo Uttakeh ist, findet Ihr auch Swanissit. Skalpiert diese beiden, und die fünf irokesischen Stämme sind vernichtet.« »Du willst deine drei Finger rächen«, sagte Mau pertuis lachend. »Ich will meine Schwester und mei nen Schwager rächen und auch die Eltern meines Nachbarn Maudreuil hier. Seit sechs Jahren spüren wir diesem alten Fuchs Swanissit nach, um ihn ein wenig zu frisieren.« Er wandte sich an den neben ihm sitzenden kleinen Baron: »Hab Geduld, Eliacien. Eines Tages wird dir Swa nissits Skalp gehören und mir der Skalp Uttakehs … Als ich bei den Irokesen war«, fuhr er fort, »war Uttakeh mein Bruder. Er ist der schlaueste, tückisch ste und rachsüchtigste Bursche, den ich kenne. Er hat etwas von einem Zauberer und ist eng mit dem Geist der Träume verbunden. Ich liebe und ich hasse ihn. Sagen wir’s so: Ich schätze ihn seines Wertes wegen, aber ich werde ihn töten, weil er das böseste Biest ist, dem ein Franzose über den Weg laufen kann.« »Werdet Ihr dieser Dame endlich etwas zu essen geben, Vetter?« unterbrach ihn Eloi Macollet bissig. »Schon gut, Großvater, regt Euch nicht auf. Ma dame, ich bin ein wenig durcheinander. Pont-Briand, könnt Ihr nicht auch mal etwas tun?« »Aber ja! Ich suche in diesem stinkenden Ragout schon nach einem Stück, das der Gabel einer hüb schen Frau würdig wäre … Wie wär’s mit dieser Bärentatze?« 157
Sie zogen die gewaltige Schüssel näher heran, in der in bernsteinfarbenem Fett gallertartige und dunk le Fleischstücke schwammen. Unbesorgt, sich zu ver brennen, tauchte l’Aubignière seine verstümmelten Finger hinein und löste geschickt die schärfen Krallen aus dem Fleisch. Das Kochen hatte sie ein wenig auf geweicht, aber sie verursachten noch ein leises, klap perndes Geräusch, als sie auf die Tischplatte fielen. »Unser Freund Mopountook wird sich daraus ei nen höchst eleganten Halsschmuck zaubern. Seht, Madame, ein Stück, dem Ihr Euch widmen könnt, ohne fürchten zu müssen, daß Euch eine der Vertei digungswaffen Maskwas, des Herrn der Bären, in der Kehle steckenbleibt!« Angélique beäugte argwöhnisch das Stück Bären fleisch, das ihre Nachbarn so liebenswürdig auf ihren Teller befördert und mit fettiger Sauce übergossen hatten. Sie war gekommen, um mit Joffrey über die Stute zu sprechen, und fand sich unversehens als Teilnehmerin an einem sozusagen offiziellen Gastmahl wieder. Ratlos warf sie einen Blick zu ih rem Gatten ganz am Ende der langen Tafel hinüber, aber der rauchigen Luft und der Lebhaftigkeit ih rer Tischgenossen wegen gelang es ihr nicht, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und doch spürte sie, daß er sie zuweilen fixierte. Ergeben beschloß sie, sich höflich zu zeigen, um die beschwipsten Franzosen, zwischen denen sie saß und die an ihrer Ablehnung hätten Anstoß nehmen können, zufriedenzustellen. Mit ihrem Appetit war es zwar 158
nicht weit her, aber sie hatte in ihrem Leben schon schwierigere Dinge verrichten müssen, als Bärenfleisch zu essen, und so führte sie einen Bissen zum Mund. »Trinkt!« sagte Pont-Briand. »Man muß trinken, um all dieses Fett vertragen zu können.« Angélique fügte sich. Die Schärfe des Branntweins benahm ihr fast den Atem. Zum Glück hatte sie am Hofe des Königs trinken gelernt, so daß sie Haltung zu bewahren vermochte. »Ich begreife allmählich, warum die Indianer Eu ren Alkohol Feuerwasser nennen«, sagte sie unter dem Gelächter der anderen, die sie entzückt zu ihrer Standfestigkeit beglückwünschten. In diesem Augenblick bemerkte sie den Koch Octave Malaprade, der mit einer Platte gebratenen Geflügels im Hintergrund des Saals erschien. Ihre Freunde Jonas fielen ihr ein, und sie erhob sich halb, um ihn zu bitten, etwas davon zum kleinen Wohnhaus hinüberzutragen. Doch Pont-Briand hielt sie mit sol cher Kraft zurück, daß ihr das Handgelenk weh tat. »Entfernt Euch nicht«, murmelte er gepreßt. »Ich könnte es nicht ertragen.« Am Ende der Tafel gewahrte Loménie die zornige Bewegung Peyracs, der den Vorgang beobachtet hatte. Er legte sich ins Mittel. »Erlaubt mir, Graf«, sagte er leise, »Madame de Peyrac zu befreien und auf den Ehrenplatz zu gelei ten. Seid beruhigt, ich nehme sie unter meine Obhut. Vermeiden wir Zwischenfälle. Sie sind betrunken.« Angélique sah plötzlich den französischen Oberst 159
neben ihrem Schemel. Er verneigte sich. »Es wird mir eine Ehre sein, Madame, Euch zu dem Platz zu führen, der Euch von Rechts wegen als Herrin dieses Ortes zukommt.« Mit einem kurzen, gebieterischen Blick brachte er Pont-Briands Widerspruch zum Schweigen, nahm Angéliques Arm und führte sie galant zum entge gengesetzten Ende der Tafel, das frei geblieben war. Dort ließ er sie Platz nehmen und setzte sich zu ihrer Rechten. Sie war nun noch weiter von ihrem Gatten entfernt, aber sie sah ihn über die ganze Länge der Tafel hinweg, und es war ganz wie einst in Toulouse. Der Oberst beeilte sich, ihr gebratenen Puter mit ge schmortem Gemüse servieren zu lassen. »Das wird dem Geschmack einer vor kurzem erst aus Frankreich gekommenen jungen Frau besser ent sprechen.« Sie protestierte. Die Bärentatze sei ihr nicht gar so schlimm erschienen. Sicher werde sie sich bald für derlei Nahrung erwärmen. »Zwingen wir die Natur nicht unnütz«, sagte Loménie. »Ihr werdet sehen, daß wir im Herbst viel Federwild haben, an das unsere europäischen Gau men gewöhnt sind. Warum sollen wir davon nicht profitieren?« Er wandte sich an Malaprade. »Madame de Peyrac wünscht, daß ihre Freunde im kleinen Wohnhaus ein reichliches Souper erhalten. Habt die Freundlichkeit, Euch dessen anzunehmen.« Und er empfahl dem Koch, der Mahlzeit eine gute Flasche Wein beizufügen. 160
So betrunken der Leutnant de Pont-Briand auch sein mochte, die Intervention seines Obersten hatte ge nügt, ihn zu ernüchtern. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist«, mur melte er l’Aubignière kläglich zu. »Du bist verrückt«, sagte der Waldläufer besorgt. »Verrückt oder verzaubert. Nimm dich in acht! Die Dämonin Akadiens ist vielleicht kein Märchen. Diese Frau ist wirklich zu schön! Und wenn sie’s nun wäre? Erinnerst du dich der Worte Pater d’Orgevals?« An der Seite des Obersten de Loménie-Chambord begann Angélique, sich allmählich zu entspannen. Ihr Gatte saß ihr gegenüber wie damals. Sie gewahr te ihn am Ende der Tafel wie in einem Ungewissen, verschwommenen Lichtkreis, und wie in jenen Tagen, als er sie zu lieben begonnen hatte, fühlte sie seinen aufmerksamen Blick auf sich ruhen. Es ver mittelte ihr ein rauschhaftes Gefühl, den Wunsch, zu glänzen und an dem, was sie umgab, teilzuhaben. Sie war glücklich. Der Alkohol verwirrte ihr schon ein wenig die Gedanken. Sie vergaß, warum sie gekom men war. Der ritterliche Charme des Obersten wirkte auf sie. Die Sympathie, die er ihr vom ersten Moment an eingeflößt hatte, wandelte sich in ein Gefühl des Vertrauens. Die Schlichtheit seiner Manieren, seiner klaren, präzisen Gesten war mit einer leisen Grazie gekoppelt, aus der Angélique mit ihrer stets wachen Beobach tungsgabe die lange Gewöhnung an Unterhaltungen 161
mit Frauen herauslas. Unterhaltungen nicht im üb lichen Sinne der Galanterie, sondern in dem weit selteneren, mit Frauen in einer Sprache sprechen zu können, die ihnen vertraut ist, die sie, ohne sie ver führen zu wollen, aufmuntert und bestätigt. Er reizte ihre Neugier, weil sie in ihm etwas Ungewöhnliches zu spüren glaubte. Sie hörte ihn von den Landschaften des Nordens sprechen, von den drei französischen Städten am Ufer des Sankt Lorenz, den zahlreichen Stämmen, die dort herumwimmelten, und als sie ihn nach den Huronen fragte, bestätigte er ihr, daß sie in der Tat irokesischen Ursprungs waren. Sie hatten sich in schon fernen Zeiten irgendwelcher dunklen Streitigkeiten wegen von ihren Brüdern aus dem Heiligen Tal getrennt und betrachteten sich nun als deren Erbfeinde von alters her. Huronen waren es gewesen, von denen der erste französische Forscher Jacques Cartier den Namen »Irokesen« erfahren hatte, jenes Wort, das »grausame Vipern« bedeutete. Man kam immer wieder auf die Irokesen zu spre chen. Angéliques unmittelbare Nachbarn waren hochbefriedigt, sich in ein Gespräch mischen zu können, dessen Thema sie aus eigener Erfahrung kannten und das auch den Gegenstand ihrer Neugier und Bewunderung zu interessieren schien. Ihre da menhafte Art hatte sie ihr alle unterworfen. Selbst hier spürte jeder, daß diese Frau am Tisch des Königs gesessen hatte. Sie zweifelten nicht, daß sie bei Hof von vielen Männern verehrt worden war, ja sie ahn 162
ten, daß Fürsten sie umschmeichelt hatten … Sie beobachteten jede ihrer Bewegungen, die Art, wie sie ihre biegsamen, schlanken Hände faltete, ihr Kinn auf sie stützte, wie sie ihren Gesprächspartner kühn ins Auge faßte oder im Zuhören verschwiegen ihre langen Wimpern senkte, zerstreut von irgend etwas naschte, ihren Becher heranzog und in einem Zug leerte, ganz ohne sich zu zieren, und plötzlich in Gelächter ausbrach, ein unwiderstehliches Gelächter, das einem bis in die Eingeweide ging. Es war ein seltsames Paradies, das sich an die sem Abend für die in Katarunk versammelte bizarre Menschheit öffnete. Mit dieser Frau an ihrer Tafel war es der Himmel auf Erden, der Frühling mitten im Winter, war es die zu ihnen herabgestiegene Schönheit, zu ihnen, rohen Klötzen, die sie waren mit ihrem Leder- und Fettgeruch, war es das Sonnenlicht, das die Schwaden des Tabaksqualms durchdrang, ein Frauenlächeln wie Balsam auf ihren verharschten Herzen. Sie fühlten sich als Helden, stark an Seele, flink an Geist, und die Worte kamen ihnen wie von selbst, mit denen sie die Landschaften beschrieben, die sie durchstreift hatten, oder ihre Ansichten verfochten. Romain de l’Aubignière sprach vom Heiligen Tal der Irokesen, vom rosigen Licht über den Hängen, auf denen sich die Langhäuser aus Rinde mit ihren gerundeten Dächern aneinanderreihen, vom Duft des grünen Mais … »Nur wenige kehren lebend aus diesem Tal zurück. Nur wenige kehren mit allen ih 163
ren Fingern zurück …« »Ich«, sagte Perrot und wies seine Hände vor. »Dich halten sie für einen Zauberer. Man muß mit dem Teufel im Bunde stehen, mein Freund, um so ungeschoren davonzukommen.« »Ist es nicht merkwürdig, daß schon das Wort ›Franzose‹ genügt, die Irokesen in höllische Wut zu versetzen, und ist das nicht der Beweis, daß der Geist des Bösen in ihnen besonders mächtig ist?« bemerkte einer der Waldläufer, Aubertin genannt. »Sie scheinen in den Franzosen vor allem die Macht der Religion zu fürchten, die sie in diese Wildnis tragen. Denkt nur daran, wie sie unsere Missionare behandelt haben! Nicht einmal im Winter können wir uns rühmen, vor ihren Angriffen sicher zu sein. Haben sie nicht mitten im Februar die Güter Maudreuils und l’Aubignières überfallen, Eure Eltern und Diener skalpiert, die Häuser in Brand gesteckt? Die Verwundeten sind vor Kälte gestorben.« »Ja, so war es«, bestätigte Eliacien de Maudreuil. Seine Augen begannen in einem dunklen Feuer zu glänzen. Der Schmerz lag in ihnen wie geschmolze nes Blei. »Swanissit war es mit seinen Senekas. Seit damals hat er nicht mehr aufgehört, Schrecken um sich zu verbreiten.« Mopountook hob die Hand und stand auf, um zu sprechen. Man lauschte ihm schweigend. Die anwesenden Weißen hatten von den Wilden gelernt, einander nicht ins Wort zu fallen und dem 164
gerade Redenden mit Respekt zuzuhören. Jeder hier schien die Rede des Häuptlings der Metallaks zu verstehen. Um Angéliques Neugier zu befriedigen, beugte sich Loménie zu ihr und übersetzte ihr mur melnd die Ansprache des Sagamore. »Der Irokese umschleicht uns. Er streift umher wie ein hungriger Kojote. Er will die Vernichtung der Kinder der Morgenröte. Wir sind ihm an den Grenzen unserer Jagdgründe begegnet. Er verkünde te uns den Krieg. Aber die weiße Frau hat sich nicht vor ihm gefürchtet. Sie hat ihn in den Fluß gestürzt, und nun hat der Irokese seine Kraft verloren. Er weiß es. Er wird um Frieden bitten.« »Gott erhöre dich«, murmelte Perrot. »Wieder diese Geschichte mit der Schildkröte«, sag te Angélique zu Loménie. »Ich gebe zu, anfangs hatte ich Angst. Aber ich war weit davon entfernt, in die sem Zwischenfall einen so mystischen Sinn zu sehen. Ist das wirklich so wichtig?« Sie trank einen Schluck Branntwein und schmeck te im Grunde des Glases einen Duft nach Äpfeln. Loménie beobachtete sie lächelnd. »Ich glaube, Ihr bekommt allmählich Boden unter die Füße«, sagte er. »Ihr seid in dem Stadium, in dem die üblichen Schreckensnachrichten nicht stärker auf Euch wirken als nachbarliche Klatschgeschichten. Ihr werdet sehen, man gewöhnt sich rasch.« »Vielleicht dank diesem feurigen Getränk und, nicht zu vergessen, der Unterstützung durch Eure Liebenswürdigkeit«, erklärte sie, ihm einen herzli 165
chen Blick zuwerfend. »Ihr wißt so gut mit Frauen umzugehen … Oh, mißversteht mich nicht! Ihr habt eine bei einem Soldaten seltene Art, ihnen Vertrauen einzuflößen, sie zu beruhigen, ihnen den Eindruck zu vermitteln, daß sie existieren. Wo habt Ihr die Talente erworben, Monsieur de Loménie?« »Nun«, erwiderte der Graf ruhig, »vermutlich während der Jahre, die ich im Dienst Monsieur de Maisonneuves verbrachte!« Und er erzählte, wie er nach Kanada gekommen war, als dieser couragierte Edelmann Ville-Marie auf der Insel von Montréal begründete. Pärchen waren aus Frankreich aufgetaucht oder Mädchen des Königs, die man herüberschickte, um sie mit den Kolonisten zu verheiraten. Er, Loménie, sei beauftragt gewesen, sie am Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms zu empfangen und in ihrer neuen, oft genug schwierigen und ent täuschenden Existenz zu ermutigen. »Wir waren damals unaufhörlichen Attacken der Irokesen ausgesetzt, und kein Mensch konnte si cher sein, nicht sein Haar samt Kopfhaut zu verlie ren, sobald er über die Schwelle seines Hauses trat. Während die Kolonisten die Ernte einbrachten, hat ten sie immer ihr Gewehr zur Hand. Die Mädchen des Königs, die man uns schickte, waren meistens hübsch, freundlich und von guten Sitten, aber wenig erfahren in Dingen des Haushalts und der Arbeit auf den Feldern. Mademoiselle Bourgoys und ich hatten sie in diesen Dingen zu belehren.« »Wer war diese Demoiselle Bourgoys?« 166
»Ein frommes Mädchen, das aus Frankreich ge kommen war, um die Kinder der Kolonisten zu un terrichten.« »Allein?« »Zunächst allein und unter dem Schutz Monsieurs de Maisonneuves. Unser Gouverneur hielt es damals nicht für möglich, Nonnen zu einem so weit vorge schobenen Posten zu bringen. Wir lebten meistens alle im Fort zusammen. Mademoiselle Bourgoys pflegte die Verwundeten, wusch die Wäsche, lehrte den Frauen das Stricken und tat ihr möglichstes, klei ne Streitigkeiten zu schlichten.« »Ich würde diese Frau gern kennenlernen«, sagte Angélique. »Ist sie noch in Kanada?« »Gewiß! Im Lauf der Jahre fand sie eine Reihe von Helferinnen, die sie bei ihrer Aufgabe unterstützten, und jetzt steht sie einer kleinen Kongregation vor, die in Ville-Marie und den entfernteren Dörfern um Québec und Trois-Rivières mehr als hundert Kinder unterrichtet. Als Montréal durch eigene Kraft leben konnte und Monsieur de Maisonneuve nach Frankreich zurückbeordert wurde, trat ich wieder in den Dienst Monsieur de Castel-Morgeats, des Militärgouverneurs von Neufrankreich. Aber ich habe die Zeit nie vergessen, in der ich mich als Küchenmeister verkleidete, um eben gelandeten klei nen Französinnen Rezepte beizubringen, die ihnen helfen sollten, ihre Eheherren am häuslichen Herd zu halten.« Angélique lachte. Die Vorstellung des mit einer 167
blauen Schürze umgürteten Offiziers, der die Köpfe irgendwelcher Dorftrinen oder Waisenmädchen, de ren sich die Verwaltung der Waisenhäuser großzügig entledigte, indem sie sie zum Heiraten übers Meer schickte, mit rudimentären Begriffen von Familien verköstigung vollstopfte, war wirklich zu komisch. »Es muß wundervoll gewesen sein, in Eurer Ge sellschaft zu leben und von Euch empfangen zu werden. Waren alle diese Frauen nicht närrisch nach Euch?« »Nein, ich glaube nicht«, sagte Loménie. »Ihr erstaunt mich. Ihr seid so charmant …« Loménie wurde sich lächelnd bewußt, daß sie ein wenig beschwipst zu werden begann. »Es gab wirklich keine Leidenschaftsdramen?« frag te sie. »Ganz gewiß nicht, Madame. Seht Ihr, wir waren eine sehr fromme, sittenstrenge Gemeinschaft. Wäre es nicht so gewesen, hätten wir diesen Vorposten der Christenheit nicht halten können. Ich selbst bin ein Ordensmann, ich gehöre zum Orden der Malteserritter.« Angélique öffnete verblüfft den Mund. »Oh, was für eine Närrin ich bin!« Dann rief sie begeistert: »Ein Malteserritter! Welches Glück! Ich liebe die Malteserritter! Sie versuchten mir zu helfen, als ich im Batistan von Kandia als Sklavin verkauft wurde. Sie taten ihr Bestes … die Angebote waren zu hoch, aber ich werde es ihnen nie vergessen … Wenn ich 168
bedenke, was für Dummheiten ich Euch gesagt habe! Oh, ich bin wirklich unmöglich!« Sie bog ihren entzückenden Hals zurück und brach in Gelächter aus … Alle, Loménie eingeschlossen, sahen sie wie be zaubert an. Ihre Zähne glänzten im rauchigen Halb dunkel auf, ihre Augen waren wie Sterne. Ihr Lachen brachte ihnen mit verwirrender Direktheit ihre femi nine Gegenwart nahe. Peyracs Kiefermuskeln traten hervor. Er hatte sie, ihrem Zauber erliegend, mit Leidenschaft beobach tet, aber nun spürte er, daß Zorn gegen sie in ihm aufstieg. Er verübelte ihr die von ihr ausstrahlende Verführung, ihre Blicke, ihr unbändiges Gelächter und ihr von Koketterie nicht ganz freies Verhalten gegenüber Loménie. Der Mann gefiel ihr, das war nicht zu übersehen! Und außerdem hatte sie zuviel getrunken. Bei Gott, sie war schön! Und dieses Gelächter weckte Beglückung selbst in verstockten Herzen. Nein, man konnte ihr nicht übelnehmen, daß sie so schön war und aller Blicke auf sich zog. Sie war geschaffen, um zu betören … Aber in dieser Nacht würde er sie daran erinnern, daß sie nur ihm allein gehörte …! Clovis, der Auvergnate, ein finsterer Gnom mit ei ner Wollmütze, tauchte plötzlich neben Peyrac auf. Er trug eine Muskete unter dem Arm. »Ich geh’ jetzt los, die Stute erschießen, Herr Graf«, flüsterte er. 169
Peyrac warf noch einen Blick zu Angélique hin über. Sie war zwar recht ausgelassen, aber dafür konnte man Loménie vertrauen. »Gut, ich begleite dich«, sagte er und stand auf.
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Zwölftes Kapitel
Angélique fuhr so heftig auf, daß der überraschte Lo ménie die Hand ausstreckte, als wollte er sie zurück halten. »Es ist nichts«, stammelte sie, »nur …« Sie hatte bemerkt, daß Joffreys Platz leer war. Rasch sprang sie auf. »Entschuldigt mich. Ich muß gehen …« »Schon, Madame? Wir sind untröstlich. Könnt Ihr nicht noch ein wenig bleiben?« »Nein, nein, ich habe Monsieur de Peyrac zwei Worte zu sagen, und ich sehe, daß er nicht mehr hier ist.« »Erlaubt mir wenigstens, Euch zu begleiten.« »Nein, ich bitte Euch. Bleibt nur bei Euren Freun den. Ich kann sehr gut …« Doch Loménie verhielt sich wie jeder galante Mann in Gesellschaft einer liebenswürdigen Frau, die ihm ein wenig unter Alkoholeinfluß zu stehen scheint. Ohne weitere Umstände geleitete er sie zur Schwelle, öffnete ihr die Tür und verließ sie erst, als er sich überzeugt hatte, daß die frische Luft ihr guttat und daß sie nur noch zwei Schritte von ihrer Behausung trennten. Sobald er gegangen war, lief Angélique quer über den Hof. Die Abendschatten erfüllten ihn, vermischt mit träge ziehenden Schwaden dichten Rauchs, und in dem kalten, dunstigen Blau blühten die Blumen 171
der Feuer rötlich unter den Kesseln. Über dem Fort aber war der Himmel noch licht und klar wie eine gewaltige goldene Kuppel. Angélique bahnte sich rücksichtslos ihren Weg zum Palisadentor. Sie gewahrte Joffrey und neben ihm die zwergenhafte Gestalt des auvergnatischen Schmieds mit seiner Muskete. Sie gingen zu den Wiesen am Fluß hinunter. Sie lief ihnen nach. Es war nicht leicht, sich zwi schen den von Kletterbohnen überwucherten Baum stümpfen hindurchzuwinden. Angélique stolperte und stürzte hart auf die Knie. Sie fluchte wie ein Holzknecht. Aber der Sturz er nüchterte sie ein wenig. Wieder auf den Beinen, setzte sie ihre Füße mit größerer Vorsicht. Sie zitterte vor Ungeduld. Sie fürchtete, zu spät zu kommen … Schon sah sie die dunklen Umrisse der Pferde, die das auf dem ausgetrockneten Schlammboden spärlich wachsende Gras abweideten. Endlich hatte sie sich den beiden Männern bis auf Rufweite genähert. »Joffrey! Joffrey!« Der Graf wandte sich um. Atemlos legte sie das letzte Stück zurück. »Ihr wollt Wallis töten?« »Ja … Wer hat es Euch gesagt?« Angélique ließ seine Frage unbeantwortet. Sie war außer sich. Die Helligkeit des Himmels tat ihren Augen weh. Sie konnte Joffreys Gesichtsausdruck im 172
Gegenlicht nicht erkennen, und ihr war, als hasse sie diese dunkle Gestalt, die wie ein Fels vor Ihr aufrag te. »Ihr habt nicht das Recht dazu!« rief sie. »Ich habe dieses Tier mit unendlichen Mühen bis hierher ge bracht, und nun wollt Ihr all das mit einem Streich zunichte machen.« »Meine Teure, ich bin erstaunt zu hören, daß Ihr sie verteidigt. Die Stute hat sich als ein bösartiges und nicht zu zähmendes Tier erwiesen. Durch ihre Panik vor der Schildkröte gestern hätte sie um ein Haar Euren Tod und den Eurer Tochter verursacht. Und ihre Flucht am Abend hat Euch zu einer Suche genö tigt, die böse hätte ausgehen können.« »Was tut das schon! Ich allein kann darüber urtei len. Es geht Euch nichts an …« Ihr Atem ging noch immer stoßweise, und ihre Stimme bebte. »Ihr habt sie mir anvertraut, damit ich mit ihr fer tig würde, und ich bin mit ihr fertig geworden. Nur das Getöse des Wasserfalls hat sie gehindert, meine Stimme zu hören. Und der unerträgliche Gestank dieser Indianer hat sie gereizt. Auch ich kann ihn nicht vertragen. Ich verstehe Wallis. Nicht sie ist schuld, sondern das Land. Und Ihr wollt sie töten, ohne mich zu verständigen! Ah, ich könnte mich nie mit dem Mann verstehen, der Ihr offenbar geworden seid! Ich hätte besser daran getan …« Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, sie wand te sich um und lief so schnell sie konnte davon. Am 173
Rande eines kleinen Baches, in dem sich der helle Himmel spiegelte, blieb sie endlich außer Atem ste hen. Instinktiv war sie dem Licht entgegengelaufen, dorthin, wo Ebene und Hügel noch den letzten Schein der untergegangenen Sonne empfingen. Sie hatte der Nacht und dem Gelärm des Lagers den Rücken ge kehrt, und in der Stille, die sie nun umgab, schien ihr das Geräusch ihres eigenen Atems überlaut. Es war, als sei die ganze grandiose, schweigsame Landschaft plötzlich erstarrt, um den Atemzügen einer einsamen Frau zu lauschen. »Sicher bin ich völlig betrunken«, sagte sie sich. »Man wird mich nicht noch einmal dabei erwischen, daß ich diesen miserablen kanadischen Alkohol trin ke! … Was habe ich nur Monsieur de Loménie alles erzählt? Daß man mich als Sklavin im Batistan von Kandia verkauft hat? Entsetzlich! … Und Joffrey? Wie konnte ich nur in diesem Ton mit ihm sprechen? Noch dazu vor einem seiner Leute, vor Clovis, dem Schlimmsten von allen! … Joffrey wird mir nie ver zeihen. Aber warum ist er auch so … so …« Das Wort entzog sich ihr. Sie sog tief die kühle Luft ein, und das Klopfen ihres Herzens begann sich zu beruhigen. Ihr weiter amarantroter Mantel blähte sich unter dem Ansturm des Windes. Am Horizont verschmolzen kleine, längliche perl graue Wolken mit der Kammlinie der Appalachen. Gegen Westen verschwammen die Berge nach und nach in einem safranfarbenen Nebel. Die Ebene 174
zu ihren Füßen wurde dunkel, aber es war eine lichtgesättigte Dunkelheit von schnell verblassen der Transparenz, getupft von zahllosen Seen reinen Goldes. Unter diesem von der anbrechenden Nacht gespannten Schleier ahnte Angélique die wahre Natur dieser den Bäumen und Gewässern in unaufhörlicher und dennoch steriler Erneuerung überlassenen Erde, und das bedächtige Wogen der sich ins Unendliche erstreckenden Berge erfüllte sie mit dem Verlangen, dumpf aufzustöhnen wie vor etwas Unheimlichem, gewaltig Drohendem. Nirgendwo kräuselte Rauch und verriet eine menschliche Gegenwart. Die Wild nis! Die tote Erde! Überwältigt sank sie auf die Knie. Am Bachrand wachsendes Blattwerk strömte einen zarten, ein wenig herben Duft aus, den sie erkann te. Sie griff hinein, rieb die Pflanze zwischen ihren Handflächen. »Minze! Wilde Minze …« Plötzlich tauchte sie ihr Gesicht zwischen ihre Hände, berauschte sich an diesem endlich vertrau ten Aroma, das ihr die Wälder ihrer Kindheit ins Gedächtnis rief. Sie badete mit einer Art hysterischer Schwärmerei in diesem Duft und seufzte, während sie sich mit den duftenden Händen über Wangen und Schläfen strich. Sie warf den Kopf zurück. Der Wind packte ihr Haar und strich raschelnd durch das herbstlich trok kene Laub des Waldes. Die Erde wurde dunkler. Der Himmel war blaßgelb. Zitternd funkelte dort oben 175
ein weißer Stern. Angélique sah sich langsam um. Sie spürte auf ih ren Lippen den Geschmack des Windes. Doch als ihr Blick den nur wenige Schritte entfern ten Saum des Waldes streifte, wandte sie rasch den Kopf. Während sie zu den fernen Bergen hinüber starrte, fragte sie sich, ob sie eben geträumt hatte. Was hatte sie zwischen den reglosen Stämmen glitzern sehen? Augen? Noch einmal glitt ihr Blick in dieselbe Richtung, und jedesmal kehrte sie zur Betrachtung der dunk len Ebene zurück, in der die Seen noch immer wie goldene, hier und da von einer Insel gefleckte Lachen schimmerten. Beim drittenmal endlich wandte sie sich nicht ab. Kein Zweifel. Da war jemand, ein zum Menschen gewordener Baum, eine Säule lebendigen Fleisches zwischen Stämmen aus Holz, doch von der gleichen dunklen, verschwiegenen Färbung. Ein Indianer stand dort, der sie beobachtete, so innig mit dem Halbdunkel des Waldes verschmolzen und so völlig reglos, daß ihn nichts von den Bäumen ringsum unterschied. Er stand zwischen ihnen wie unter seinesgleichen. Er lebte das gleiche vegetative Leben mit seinem verborgenen, im Humus gebore nen Pulsieren, Gefangener seiner Wurzeln und wie sie geheimer, stummer Zeuge des Waldes der Zeiten. Ein Baum mit lebendigen Augen. Zwei Achatschlitze in einer glatten Rinde. Das schweflige Licht, das 176
durch die Zweige filterte, streifte seine Schultern, glitt an seinen Armen und Hüften herab und verriet seine kraftvolle Muskulatur. Ein Halsschmuck aus weißleuchtenden Bären zähnen lag um den langen, kräftigen Hals, zu dessen beiden Seiten Ohrgehänge in Gestalt scharlachroter Kugeln hingen. Das Gesicht war rund mit flachen Wangen über einem breiten, brutalen Mund. Von der Stirnmitte verlief ein Haarschweif zur Höhe des ra sierten Schädels, wo er sich zu einem mit Adlerfedern und Skunksschwänzen verflochtenen Schopf entfal tete. Er trug sein Haar wie ein Hurone. Aber er war kein Hurone! Dessen war Angélique sicher. Es war eine eisige Gewißheit, die sie den kaum sechs Schritt entfernten Indianer mit einer Neugier mustern ließ, wie man sie einem gefährlichen Tier entgegenbringt. Gleichzeitig aber weigerte sich etwas in ihr, ihn als eine menschliche Realität hinzunehmen, denn er rührte sich nicht. Seine Unbeweglichkeit glich der eines Felsens. Selbst seine glänzenden Augen wirkten leblos durch ihre Starre. Plötzlich war sie überzeugt, daß er nicht existierte, daß sie sich täuschte. Dann jedoch trieb der Wind seinen Geruch zu ihr, den Raubtiergeruch des mit ranzigem Bärenfett gesalbten Indianers, und dieser Geruch war wirklich. Entsetzt sprang sie auf die Füße. Der Indianer rührte sich noch immer nicht. 177
Schritt für Schritt zog sie sich zurück, und erst als sie ihn nicht mehr zu erkennen vermochte, denn die Dämmerung war dichter geworden, drehte sie sich um und hetzte wie gejagt zum Fort hinunter, von der Angst verfolgt, im nächsten Moment einen Pfeil zwi schen den Schulterblättern zu spüren … Erstaunt, noch am Leben zu sein, fand sie sich im lärmenden Getriebe des indianischen Lagers wieder. Fast hätte sie gerufen: »Nehmt euch in acht vor den Irokesen!«, aber sie unterließ es. Sie war sich nicht mehr ganz sicher, was sie dort oben überhaupt ge sehen hatte … und dennoch war es kein Hurone gewesen! Die Huronen lebten schon allzu lange im Schatten der Franzosen, folgten ihren Spuren, nahmen an ihren Kriegen teil, kampierten an den Rändern ihrer Städte, nährten sich von dem, was sie übrigließen, beteten zu ihrem Gott. Wie Schakale tra ten sie immer in Scharen auf. Sie streiften nicht allein und ungezähmt durch die Wälder wie Wölfe. Sie sah sie dort tanzen mit geschwungenen Rasseln, hüpfenden Federbüschen, und während sie zwischen ihnen hindurchging, versuchten schmutzige Hände ihren Mantel zu streicheln. Sie trat durchs Tor, überquerte den Hof und konn te nach kurzem die Tür des kleinen Wohngebäudes hinter sich schließen. Die Begegnung am Wald, ihr Lauf durch die von Schatten bevölkerte, vom Wind und von unbestimm ten Geräuschen durchwehte Stille hatten etwas von 178
der Zusammenhanglosigkeit eines Alptraums ge habt. Angélique fühlte sich wie eine Träumende, die sich bewußt ist, gewisse Geschehnisse durchlebt zu haben, aber vergessen hat, wer sie ist und was sie sucht. Sie erinnerte sich, daß sie wie von unerträg lichen Drohungen verfolgt durch die Dämmerung geflohen war. Beim Pflücken der wilden Minze hatte sie Frieden zu finden geglaubt. Dann hatte sie einen Baum betrachtet und entdeckt, daß es kein Baum, sondern ein Indianer war, und als sie den Indianer ins Auge faßte, hatte sie in ihm kein menschliches Wesen, sondern das Bild des Hasses erkannt, und jetzt wußte sie wirklich nicht mehr, ob sie all das gesehen hatte. Das Feuer im Kamin war am Erlöschen. Niemand war da. Der Eindruck der Unwirklichkeit hielt an, und während eines kurzen Moments war Angélique sich nicht recht klar, was sie hier eigentlich zu finden gehofft hatte. Ein seltsames Geräusch, das anschwoll, wieder verstummte und beharrlich von neuem an hob, brachte sie zu sich. Sie erschauerte. Es gelang ihr nicht, die Bedeutung dieses Geräusches zu erfassen, das in regelmäßigen Abständen die lastende Stille unterbrach. Endlich begriff sie. Es war nur Meister Jonas, der in der benachbarten Kammer schnarchte. Über ihre Begriffsstutzigkeit lächelnd, atmete Angélique auf. Ihre Freunde hatten von der nach lan gen Reisewochen wohlverdienten ländlichen Behag lichkeit profitiert und waren zu Bett gegangen. Alles schlief fest, Honorine zweifellos inbegriffen. Auf dem Tisch verriet ein Stapel abgewaschener Teller die Ord 179
nungsliebe protestantischer Hausfrauen. Der Bottich, der zum Abwaschen gedient hatte, trocknete in einer Ecke. Die Wasserlachen auf dem Boden waren sorg fältig aufgewischt, und der große Holztisch war von den Resten der Mahlzeit gesäubert worden. In einem Handleuchter wartete eine Kerze auf sie, daneben ein Feuerzeug mit Zunderstift. Die junge Frau zündete die Kerze an und betrat mit dem Leuch ter in der Hand ihr Zimmer. Auch dieser Raum, den sie vor einigen Stunden verlassen hatte, war leer, aber irgend jemand, vielleicht Elvire, hatte ihre Reisekleidung und die Stiefel zum Reinigen heraus geholt, die Vorhänge des Bettes zurückgezogen und eine Ecke des Leintuchs zur Vorbereitung einer ge ruhsamen Nacht aufgeschlagen. Angélique widmete der stillen jungen Frau freundschaftlichen Dank und kniete vor dem Kamin nieder, um das Feuer wieder zubeleben. Mechanisch zerbrachen ihre schlanken, zu allen Dingen geschickten Finger kleine Zweige, schoben Scheite zusammen und warfen, die langen Dornen vermeidend, ein Bündel Wacholder auf die Glut, des sen Duft die Kammer erfüllen sollte. Das aufflackernde Feuer knisterte munter. Angélique dachte an die Gestalt, die sie zwischen den Bäumen am Bach bemerkt hatte … An die Franzosen, die aus dem Norden gekommen waren, um sie zu belauern, vielleicht gar zu töten … An ihre beiden Söhne in ihrer rätselhaften Jugend. Sie dach te an Honorine … Würde es zwischen ihrer Tochter 180
und ihr nicht immer etwas nicht Bewältigtes, nicht zu Überwindendes geben? Sie dachte auch an Joffrey und wünschte sich, daß er zu ihr käme, und dann wieder, daß er sie allein ließe. Die Angst ließ nicht von ihr ab. Sie wußte nicht ge nau, wovor sie sich fürchtete. Sie streckte ihre Hände den Flammen entgegen. Das Feuer loderte prasselnd auf. Angélique klam merte sich an bekannte Dinge, die sich ihr nicht ins Ungewisse entzogen: das Feuer, die wilde Minze … Eine Tür wurde aufgestoßen, und als sie Joffrey auf der Schwelle der Kammer gewahrte, dachte sie, von einem Gefühl der Freude und des Hungers überwäl tigt, das ihr das Blut schneller durch die Adern trieb: »Er ist zurückgekommen … Er wird mich nicht ver lassen … Er weiß, daß ich ihn brauche … Er braucht mich … Wie gut, daß unsere Körper einander verste hen!«
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Dreizehntes Kapitel
Beim Betreten des Hauses hatte Joffrey de Peyrac gefürchtet, sie nicht vorzufinden. Sie war ihm am Flußufer so unvermutet davongelaufen. Er war ihr nicht gefolgt, um sie in ihrer ungebärdigen Stimmung nicht noch mehr zu reizen. Überdies hatte er auch den Wachtdienst für die Nacht organisieren müssen. Posten waren aufzustel len, die die französischen Posten überwachen sollten. Für jede Gruppe der Franzosen oder Indianer war einer seiner Leute bestimmt. Während der Nacht stunden würde Cantor für die Soldaten auf seiner Gitarre zupfen und ihnen Liedchen aus der Heimat vorsingen. »Lerche, hübsche Lerche … Lerche, ich werde dich rupfen …« Die Frage war, wer wen rupfen würde! Florimond hatte ihn in den ersten Morgenstunden abzulösen, und wenn sich die Soldaten endlich zum Schlafen entschlossen, sollte er es ihnen nachtun – mit einem Auge. So lautete die Order. Octave Malaprade hatte den Offizieren seine Dienste anzubieten. Sobald sie ihre Lager aufsuchten, trat Yann Le Couénnec an seine Stelle, bereit, bei der leisesten Bewegung der Herren die Ohren zu spit zen. Während der ganzen Nacht würden Perrot, Mau pertuis und dessen Sohn bei den Algonkins, Huro 182
nen und Abenakis von Wigwam zu Wigwam gehen, mit den Häuptlingen rauchen und über alte Erinne rungen plaudern. Schließlich war man ja unter guten Freunden, nicht wahr? Aber es war besser, sie keinen Moment aus dem Blick zu verlieren. Endlich hatte der Graf de Peyrac Zeit gefunden, zum Wohnhaus zu gehen, und plötzlich hatte er sich gefragt: »Und wenn sie nicht dort ist?« So viele Tage, so viele Jahre hatte er ohne sie gelebt, und ihre Abwesenheit war wie eine schmerzhafte Wunde gewesen. Die kurze Spanne ihres Beisammenseins hatte den Schmerz schwinden lassen. Nun kehrte er wieder … Er zweifelte. Sie ist nicht mehr da. Sie ist wieder ein Schatten geworden, Erinnerung, bittere, quälende Erinnerung, wenn er sie sich in den Armen eines anderen vorstellt oder tot, irgendwo verscharrt im Sand der marokkanischen Wüste … Bestürzt überflog er den ersten leeren Raum. Dann entdeckte er einen dünnen Lichtstreif unter der Tür zur Linken und hörte ein Feuer prasseln. Mit einem Sprung war er an der Tür, stieß sie auf – und sah sie. Sie war da, kniete vor dem Kamin. Das golden schim mernde Haar fiel ihr auf die Schultern, und ihre gro ßen Augen, ihre unvergeßlichen Augen waren ihm zugewandt. Leise schloß er die Tür und drehte den großen, pri mitiv geschmiedeten Schlüssel im Schloß. Dann näherte er sich ihr langsam und lehnte sich gegen den Rauchfang des Kamins. 183
»Nichts kann uns trennen«, dachten beide in die sem Augenblick. »Allzusehr verlangen wir danach, beieinander zu sein, uns zu lieben.« Sie sagte sich, daß sie alles in Kauf nehmen würde, um der Freude willen, ihn bei sich zu wissen. Er sag te sich, daß er ihr alles verzeihen würde, nur um das Recht zu haben, sie in seine Arme zu schließen, ihre Lippen zu küssen, ihren vollen, biegsamen Körper zu streicheln … Ihr Blick glitt an ihm hoch, und sie gewahrte ein schwaches Lächeln um seinen Mund. »Ich glaube, der Alkohol hat mir heute abend den Verstand verwirrt«, sagte sie gedämpft. »Verzeiht mir die Worte, die meine Gedanken weit hinter sich lie ßen … Ihr habt Wallis nicht getötet, nicht wahr?« »Nein. Es tut mir leid, Euch solchen Kummer ver ursacht zu haben. Trotzdem bleibt es dabei, daß die ses Tier gefährlich ist und daß ich ihm die Gefahren nachtrage, in die es Euch gebracht hat. Aber ich gebe zu, daß es falsch war, Euch nicht über meine Ab sichten zu unterrichten, ein Fehler, unwürdig eines Mannes, der sich einstmals als Meister der Kunst des Liebens ausgab. Wollt Ihr mir gleichfalls verzeihen, Madame? Es ist zu lange her, daß ich die Frauen so zu sehen vermag wie in den Zeiten von Toulouse. Das Mittelmeer ist in dieser Hinsicht eine miserable Schule. Der Umgang mit verweichlichten, dummen Odalisken verleitet kaum dazu, in den Frauen den kende Wesen zu sehen. Spielzeuge, Objekte der Lust oder Sklavinnen – in jedem Fall neigt man dazu, sie 184
zu verachten … Verratet mir, wohin Ihr vorhin gelau fen seid, als Ihr mich so plötzlich verließt.« »Auf die Hügel gegen Westen. Ich habe einen Bach entdeckt, neben dem wilde Minze wächst …« »Seid vorsichtig! Es ist sehr unklug, sich so weit vom Lager zu entfernen. Gefahren lauern überall, und ich bin keines Menschen sicher. Versprecht mir, es nicht wiederzutun, Liebste.« Von neuem kroch Angst in Angélique empor. »Ich fürchte mich«, murmelte sie. Und all ihren Mut zusammennehmend, sah sie ihn an und fuhr fort: »Ich fürchte mich. Ihr seid enttäuscht, nicht wahr? Ich sagte Euch, daß ich mich niemals fürchten würde, daß Ihr mich mitnehmen könntet und daß ich stark sei und Euch helfen würde. Und nun …« Sie preßte die Fingernägel in ihre Handflächen. »Nichts geht so, wie ich’s mir gedacht hatte. Ich weiß nicht, ob ich die Dinge falsch angepackt habe oder ob … alles stößt mich ab. Ich frage mich, was wir in dieser furchtbaren und gefährlichen Einsamkeit suchen, in der wir von Feinden umgeben sind. Mir scheint, daß diese riesigen Entfernungen uns nur trennen können, daß es kein Leben für uns ist und daß ich die Eigenschaften, die ich brauchte, um es zu bestehen, nicht mehr habe oder niemals hatte.« Sie wiederholte: »Ich enttäuschte Euch, nicht wahr?« Sie wollte, daß er es gleich sagte, daß er sie anklagte, daß er seine wahre Meinung über sie preisgab. 185
Aber er blieb schweigsam, und sie beobachtete den zuckenden Feuerschein auf seinem narbigen, hart gewordenen Gesicht, dessen Ausdruck ihr nichts ver riet. »Nein, Ihr enttäuscht mich nicht, mein Liebling«, sagte er endlich. »Im Gegenteil, ich freue mich, daß Ihr Euch weder blind stellt noch ahnungslos in den Tag hineinlebt. Wovor fürchtet Ihr Euch?« »Ich weiß es nicht«, murmelte sie mit einer hilflo sen Geste. Denn es gab da zu vieles. Aber konnte sie ihm ge stehen, daß das, was sie erzittern ließ, vage, ungreif bare Dinge waren, ein Blick etwa, der sie oben am Waldrand getroffen hatte? Hätte sie ihm von dem Indianer berichten sollen? Sie schüttelte den Kopf … »Schade«, sagte er. »Wie soll ich Euch helfen, wenn Ihr nicht sagen könnt, was es ist!« Aus einer Tasche seines eng anliegenden Rocks zog er ein zur Zigarre gerolltes Tabakblatt. Zuweilen ver schmähte er die Pfeife. Es freute sie, ihn wie früher in Toulouse rauchen zu sehen, und sie beeilte sich, ihm ein glühendes Zweigstückchen zu reichen. Langsam ließ er den Rauch zwischen seinen Lippen entweichen. »Vor allem habe ich davor Angst«, begann sie zö gernd von neuem, »daß ich mich verrennen und daß ich unfähig sein könnte, mich weder an dieses Land noch an die Leute, die es bewohnen, zu gewöhnen … nicht einmal an Euch«, fügte sie mit einem Lächeln 186
hinzu, das ihr Geständnis milderte. »Eine Frau ist zu weilen recht hinderlich, nicht wahr, mein Gebieter?« Und sie verband mit ihrem Lächeln das stumme Be kenntnis des Gefühls, das sie erfüllte. Er nickte bestätigend. »Gewiß. Eine Frau, die man nicht ansehen kann, ohne die Lust zu verspüren, sie zu umarmen, kann hinderlich sein.« »Das war es nicht, was ich sagen wollte.« »Aber ich.« Auf und ab gehend, hüllte er sich in Wolken blauen Rauchs. »Es ist wahr, mein Schatz, Ihr bringt mich recht durcheinander. Ich sollte einen kühlen Kopf behalten, und trotzdem verwirrt Ihr mich, sobald Ihr Euch nur nähert. Ich habe unentwegt Gelüste, mich mit Euch zurückzuziehen, Euch in meine Arme zu nehmen, zu küssen, Euch nur zu mir sprechen zu hören, Euch zu betrachten … Es fehlte nicht viel, und alles, was ich sonst zu tun habe, käme mir neben der Beschäftigung mit Euch höchst überflüssig vor. Wenn Ihr sprecht, jagt Ihr mir Schauer über den Rücken, und Euer Lachen verschlägt mir die Stimme. Ich vergesse, wo ich bin …« Es war ihm immerhin geglückt, sie zum Lachen zu bringen. Ein wenig Rot kehrte in ihre Wangen zu rück. »Ich glaube Euch nicht. Ihr redet närrisches Zeug.« »Närrisches Zeug vielleicht, aber es ist so. Ich leug ne nichts. Und ich bin noch nicht einmal am Ende. 187
Gewiß ist eine Frau hinderlich, die kein Mann ohne Entzücken ansehen kann und die es selbst in der ent legensten Wildnis noch fertigbringt, mir Feinde zu schaffen. In Toulouse war ich der Herr, war ich be kannt, geachtet, gefürchtet. Kaum jemand hätte es ge wagt, sich als Rivale aufzuspielen. Hier ist es anders, hier muß ich den Leuten erst beibringen, daß ich kein gefälliger Ehemann bin. Ich sehe Duelle voraus, Hinterhalte, blutige Lektionen. Aber was tut’s! Ich würde all die Plagen, die mir Eure Gegenwart aufer legt, nicht gegen die oft bittere Geruhsamkeit meines einsamen Lebens tauschen.« Er lehnte sich wieder gegen die Kamineinfassung. Sie sah zu ihm auf, die Hände auf den Knien gefaltet, und konnte ihre Augen nicht aus dem düsteren Blick lösen, der sie bewunderte. »Eure Reife beeindruckt mich sehr«, fuhr Peyrac zärtlich fort. »Ihr wart ein kleines Mädchen, als ich Euch nahm. Euer Gehirn wie Euer Körper waren jungfräulich. Wie viele andere haben ihre Spuren inzwischen hinterlassen! Ihr seid nicht das Ergebnis meiner Liebe, wie ich’s mir erträumt hatte. Ein Traum, der übrigens ein wenig utopisch war, selbst wenn wir zusammengeblieben wären. Die Jahre sind verstrichen. Heute seid Ihr Ihr, eine Frau in der vollen Bedeutung des Worts. Eine Frau mit ihren Geheimnissen. Eine Frau, die die Gewohnheit ver loren hat, sich in einem andern zu spiegeln, um sich zu erkennen. Eine Frau, die nur sich selbst gehört, die sich selbst geschaffen hat. Das ist es, was mich zuwei 188
len von Euch entfernt.« »Aber … ich gehöre Euch«, murmelte sie zaghaft. »Nein … Noch nicht ganz. Aber es wird kom men.« Er hob sie auf, legte einen Arm um ihre Schultern und führte sie vor eine Karte, die er an den unbehau enen Stämmen der Wand befestigt hatte. Sein Finger wies auf verschiedene Punkte. »Hier … im Norden und Osten: Neufrankreich. Im Süden: Neuengland. Im Westen: die Irokesen. Und hier, in der Mitte: ich mit einer Handvoll Männer. Versteht Ihr? Es bleibt mir nur ein Weg: Bündnisse zu schließen. Mit Neuengland ist es erreicht. Mit Neufrankreich wird die von der Vorsehung ver mittelte Begegnung mit dem Oberst de LoménieChambord möglicherweise dazu führen. Was die Irokesen betrifft, habe ich ihnen vor einem Jahr, vor meinem Aufbruch nach Europa, Bevollmächtigte und Geschenke geschickt. Der Angriff der Cayugas sagt mir nichts Gutes über ihre Aufnahme, aber … warten wir’s ab. Jede Kriegserklärung, jede bewaff nete Auseinandersetzung wäre für mich in diesem Augenblick eine Katastrophe. Wir müssen Zeit ge winnen, um unsere Fäden ziehen zu können. Wenn wir lebend aus den Fallen herauskommen, die uns umlauern, garantiere ich, daß wir eines Tages stärker als sie alle sein werden … Und jetzt kommt, mein Liebstes, es ist Zeit, an ernsthafte Dinge zu denken.« Er drehte sie lachend zu sich herum, drückte sie gegen seine Brust und begann, sacht ihre Schultern, 189
ihren gebeugten Nacken, ihre vollen Formen zu streicheln, die ihre Korsage unter den Armen ein we nig spannten. »Der Irokese wird diese Nacht nicht kommen, meine Süße, und der Franzose wird schlafen. Er hat getrunken, gesungen, tüchtig geschmaust. Das Massaker ist auf morgen verschoben … Eine Nacht ist ein ganzes Leben!« Er hob zart ihr Kinn und küßte unermüdlich die ihm gebotenen Lippen. Dann barg er den schönen, stolzen Kopf an seiner Schulter und preßte sie von neuem an sich. »Wir sind neue Menschen, Liebste. Auch die Welt, die uns beobachtet, ist neu. In unseren Palästen, im Zentrum unseres Reichtums, bildeten wir uns einst mals ein, frei zu sein. Dabei wurde alles, was wir taten, von tausend grausamen, mitleidlosen Augen gutgeheißen, den Augen einer engherzigen, eifer süchtigen, selbst an allen Ecken und Enden gefessel ten Gesellschaft. Ich habe den Beweis geliefert, daß es nicht leicht war, sich von den andern in der Alten Welt zu unterscheiden. Hier ist es anders …« Ganz leise, die Lippen in ihrem Haar vergraben, fügte er hinzu: »Selbst wenn wir sterben müßten, morgen schon, unter Qualen, geschähe es gemeinsam und nicht für sterile und dumme Zwänge.« Sie spürte seine Hand durch den Stoff des Kleides auf ihrer Hüfte, fühlte sie aufwärts gleiten zu ihrer entblößten Brust. Ja, er hatte recht. Nichts war mehr 190
wichtig. Selbst wenn sie morgen sterben müßten, selbst unter Qualen … Sie gehörte ihm, war seiner männlichen Kraft unterworfen. Er hatte ihr Kleid ge öffnet, schob das Oberteil des Hemds über die Arme herunter. »Laßt mich nur machen, meine Schönste. Man muß frei atmen können, wenn die Angst vor Franzosen oder Irokesen das Herz bedrückt. Fühlt Ihr Euch nicht besser so? … Laßt mich also. Es ist lange her, seitdem ich das Vergnügen hatte, solche kompli zierten europäischen Verschlüsse aufzuknüpfen. Im Orient machen es einem die Frauen leichter.« »Ah, sprecht mir nicht mehr von Euren Odalis ken!« »Dabei könnt Ihr beim Vergleich mit ihnen nur gewinnen.« »Möglich. Aber ich verabscheue sie.« »Ich liebe es, wenn Ihr eifersüchtig seid«, murmelte er, während er sie zum Bett drängte. Und wie sie vor kurzem durchfuhr nun ihn der Gedanke: »Wie gut, daß unsere Körper sich verste hen!«
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Vierzehntes Kapitel
Im abgeschlossenen Dunkel des Lagers, auf dem ihre gesättigten Körper ruhen, hat sie einen Traum. Der Irokese, den sie an diesem Abend gewahrte, trat aus dem Wald und fixierte sie mit grausamen Augen. Der Tag hatte die Dämmerung vertrieben, und die Sonne verwandelte seine eingefettete Brust in einen Küraß aus lebendigem Gold. Sein Gesicht war in Licht getaucht, und der vom Wind gesträubte, federge schmückte Schopf erinnerte an den Federbusch eines seltsamen Vogels. Er erhob sich über ihr und schwang einen Tomahawk, um ihr den Schädel zu spalten. Er schlug wie rasend zu, aber sie spürte nichts. Plötzlich sah sie in ihrer Hand den Dolch, den ihr die Polackin, ihre Freundin vom Hof der Wunder, gegeben hatte, damals, als sie unter Bettlern und Dieben lebte. »Ich weiß ihn zu gebrauchen«, erinnerte sie sich. Und nun stößt sie zu, und der Irokese verschwindet wie eine verfliegende Wolke. Sie hat sich so heftig bewegt, daß der neben ihr lie gende Mann erwacht ist. »Was ist dir, Liebste?« »Ich habe ihn getötet«, murmelte sie. Und sie versinkt wieder in ihren Schlaf. Er schlägt das Feuerzeug, zündet die auf einem Brettchen über dem Bett bereitstehende Kerze an. Um sich vor der Kälte der Nacht zu schützen, ha ben sie die Vorhänge des Alkovens zugezogen. 192
In der tiefen Finsternis der Nacht, in der sich über dem verlorenen kleinen Fort ein eisiger Nebelschleier bildet und den nahenden Winter verkündet, sind sie allein, und es ist, als seien sie allein auf der Welt. Joffrey hat sich auf einen Ellbogen aufgestützt und zieht den Leuchter ein wenig heran, um seine schlummernde Frau zu betrachten. Sie scheint wieder friedlich zu schlafen. Ihre aus gestreckte Hand ist zurückgesunken. Die Lippen, die eben noch murmelten: »Ich habe ihn getötet«, sind im leichten Atem halb geöffnet. In der Mulde des Polsters aus Moos und trockenem Gras gewinnt ihr Körper eine neue Fülle. Neben ihm ausgestreckt in ihrer bezaubernden Nacktheit, hat sie üppigere Lenden, schwerere Brüste, eine marmorne Schönheit, die ihre lebhaften Bewegungen tagsüber nicht ahnen lassen. Eine Göttin mit schwellenden Rundungen, so schläft sie an seiner Seite, und ihr glattes Gesicht bewahrt ihre Geheimnisse. Nichts in ihm verrät mehr die Offenbarungen des Mienenspiels, das die Oberfläche blitzartig aufrühren und für eine Sekunde die verschwiegene Seele Angéliques enthüllen kann. Unerwartete, überraschende Gefühle: Haß, zum Beispiel, wie in dem Augenblick, in dem sie sich mit der noch rauchenden Muskete in der Hand aufrich tete und wie eine Beschwörung zwischen zusammen gepreßten Zähnen hervorstieß: »Töte! Töte!« Und, heute abend, Verführung, als sie mit den Männern gelacht hatte. Stumm und scheinbar von ihr gelöst, hat er während des Festmahls nur mühsam sei 193
ne Eifersucht beherrscht, erfüllt von dem Verlangen, alles von ihr zu wissen, denn er hat nie das Licht der Wahrheit gescheut. Untugend des Gelehrten …! Wäre es nicht besser, ein wenig blind zu sein, wenn die Liebe mit ihrem alles umfassenden Anspruch im Spiele ist? Was kann er sich mehr wünschen als das, was er bereits besitzt? Nichts. Er hat alles. Die Gefahr, den Kampf, die Eroberung und das Gelingen und jede Nacht diesen üppig-sinnlichen Frauenkörper für sich allein. Ist das nicht das Glück? Was aber hat sie? Wer ist sie? Welche Unschuld oder welche Listen verbirgt dieses Äußere, in dem sich der ganze Zauber des Weiblichen vereint zu haben scheint? Welche offenen Wunden verheimlicht die sanfte Gelöstheit dieses Gesichts? Peyracs Hand berührt die Wange, berührt das zarte Fleisch. Wenn er mit seiner Zärtlichkeit auch ihren unruhigen Geist erreichen könnte, würden die Spuren der Verletzungen, die er argwöhnt, schwin den. Er würde sie heilen. Aber sie liefert sich ihm kaum aus, und wenn sie schläft, entfernt sie sich noch mehr. Eine Fremde ist sie für ihn, verletzlich und lei denschaftlich, geformt im Strudel eines zerbrochenen Lebens. Er beginnt die Wahrhaftigkeit ihrer Beteuerungen zu begreifen: »Fern von Euch habe ich nicht gelebt, nur überlebt …« Abenteuer, um ihren Hunger zu un terdrücken, sich zu verteidigen gegen das Gefühl des Alleinseins … 194
Trotz vieler Bewerbungen um sie und so mancher Gelegenheit, bei der ihr Herz mit ihr durchging, ha ben die langen Zeitspannen der Enthaltsamkeit, die das Dasein als Ehefrau ohne Gatten ihr auferlegte, sie zu einer Frau mit einem oftmals enttäuschten, um seine Erfüllung gebrachten Körper gemacht. Die wilde Abneigung, die sie während dieser letzten Jahre vor der physischen Seite der Liebe empfand, hat sie unbewußt geprägt. Alles ist neu zu beginnen, neu zu wagen. Aber er ist der Liebhaber, den sie braucht. Neben ihm liegt sie nun, eine Frau, die mancherlei Erfahrungen hinter sich hat und dennoch seltsam jungfräulich wirkt, eine unbezwingliche Amazone, die zu besiegen nur um so süßer ist … Zärtlich, fast mit Andacht, küßt er ihre weiche Schulter, und da sie ein wenig zusammenzuckt, rückt er von ihr ab und vergräbt sein Gesicht in ihrem aus gebreiteten, nach Wind und Wald duftenden Haar. Sie bewahrt den Duft der von ihr durchmessenen Gegenden an sich, und dank der Anpassungsfähigkeit, die man bei vielen Frauen findet, scheint sie schon von anderer Art wie der La Rochelles. Die Sonne hat ihren Teint übergoldet, und ihre Bewegungen sind von einer ursprünglichen, matt gelösten Anmut. Schon hüllt das wilde Land sie in seine Geheimnisse. Was wird sich zwischen ihr und diesem Land er eignen? Wahre Frauen können nicht außerhalb der Dinge bleiben. Sie dringen in sie ein, hüllen sich in sie, ma 195
chen sie sich zu eigen. Ihn hat weder das Mittelmeer noch der Ozean noch die Karibische See berührt. Er wird durch Nordamerika ziehen und ihm sein Siegel aufprägen, aber Amerika wird ihn nicht zeichnen. Oder doch kaum … Während sie? … Was wird zwischen Angélique und der Neuen Welt geschehen? Schlaf, meine geheimnisvolle Geliebte! Schlaf! Ich verlasse dich nicht. Ich bleibe bei dir, um dich zu ver teidigen … Draußen stößt ein Nachtvogel mehrmals seinen sam tenen, unheimlichen Schrei aus. Hunde antworten ihm, und von den Rindenwigwams dringen aufge schreckte Indianerstimmen herüber. Endlich sinkt wieder die Stille herab. Joffrey hat sich halb aufgerichtet. Seine Waffen sind bereit: Eine geladene Pistole liegt auf dem Tisch, eine Muskete lehnt am Fuß des Bettes. Dann streckt er sich von neuem aus, umfängt vor sichtig seine schlafende Frau und zieht sie an sein Herz. Eine Nacht ist ein ganzes Leben! In der eisigen Nacht, in der sich der maßlos ver größerte Mond in eine verschwommene Sonne aus Silber verwandelt, oben auf dem Hügel, im Dunkel des Waldes, lauern die Irokesen, beobachten das Fort, und ihre Katzenaugen glitzern zwischen den Zweigen. 196
Fünfzehntes Kapitel
Der Tag brach an. Ein blauer Himmel breitete sich über das Fort, in den der aus den Rindenhütten sich kräuselnde Rauch weiße Arabesken zeichnete. Angélique erwachte glücklich, ihre Ängste waren verflogen. Neben ihr bewahrte das Polster noch den Eindruck eines geliebten Körpers und erinnerte sie an die Momente des Vergessens, des intensiven Lebens, die er ihr geschenkt hatte. Es war wie ein wundervol ler Traum, und ihre Hand glitt über den leeren Platz an ihrer Seite, um sich der Wirklichkeit zu versichern. Dann fiel ihr ein, daß sie sich um das Haus kümmern und ein gutes Frühstück vorbereiten müsse. Angélique hatte ein unstetes Leben hinter sich. Seit Toulouse war sie so viel herumgejagt worden, daß es ihr zur Gewohnheit geworden war, sich über all zu Hause zu fühlen. Wenige Dinge genügten ihr, das Klima der Intimität zu schaffen, das sie brauch te: ein gutes Feuer, Wärme, ein paar Gegenstände, die sie in einem Bündel mit sich herumschleppen konnte, ein paar bequeme Kleidungsstücke und das Schatzkästchen für Honorine. Sie hatte all die einan der folgenden Behausungen geliebt, aber an keine ihr Herz gehängt. Die kleine Pförtnerloge in der Rue des Francs-Bourgeois, die ihr und ihren beiden kleinen Söhnen ein Heim gewesen war, hinterließ ihr schö nere Erinnerungen als das Hôtel du Beau-Treillis, in dem sie so prächtige Empfänge gegeben hatte. Ihr 197
Appartement in Versailles konnte es an glücklichen Erinnerungen nicht mit dem Kamin in La Rochelle aufnehmen, auf dessen Glut sie gelegentlich abends mit der alten Rebecca Krabben zu kochen und hin terher auszukratzen pflegte, ganz zu schweigen vom Stall der Abtei von Nieul, in dem sie und ihr Kind im überirdischen Frieden kirchlicher Gesänge einge schlafen waren. Doch seitdem sie Joffrey und ihre Söhne wieder gefunden hatte, war die Sehnsucht in ihr wach ge worden, endlich ein Haus für sich zu haben, in dem sie sie umsorgen konnte. Der natürliche Drang, der die Frauen dazu treibt, unermüdlich Nester zu bau en, war noch in ihr lebendig. So ging sie an diesem Morgen mit allen möglichen Plänen um, die sie zu verwirklichen beschloß, ohne erst auf den Aufbruch der Franzosen zu warten. Nebenan im Gemeinschaftsraum fand sie die beiden Jonasse, die durch die Ritzen der Fensterbespannung auf den Hof hinausspähten. »Wir sind ein wenig beunruhigt, Dame Angélique«, sagte Madame Jonas mit gedämpfter Stimme, wobei sie sich argwöhnisch umsah, als erwarte sie jeden Augenblick, den Leibhaftigen aus dem Fußboden aufsteigen zu sehen. »Es scheint, daß ein Missionar gekommen ist, um die Messe für die französischen Soldaten zu lesen … ein Jesuit.« Beim letzten Wort riß sie die Augen so weit auf, daß Angélique Mühe hatte, ein Lächeln zu unterdrücken. Im Leben dieser einfachen Leute hatte sich eine 198
Tragödie abgespielt. Eines Morgens, ein paar Jahre zuvor, waren ihre beiden sieben- und achtjährigen Jungen zur Schule gegangen und niemals zurückge kehrt. Man hatte in Erfahrung gebracht, daß die pro testantischen Kinder einer katholischen Prozession begegnet und unvorsichtigerweise stehengeblieben waren, um neugierig die gestickten Meßgewänder und die goldene Monstranz zu betrachten. Gute Seelen hatten darin den Wunsch nach einem Glaubenswan del gesehen und sie schleunigst zu den Jesuiten ge bracht. Ein Karren mit hugenottischen Kindern, die man der Obhut ihrer Eltern entzogen hatte, war ge rade dabeigewesen, die Stadt zu verlassen. Die beiden Kerlchen hatten dazusteigen müssen. Jeder Versuch, sie wiederzufinden oder auch nur zu erfahren, wohin es sie verschlagen hatte, war vergeblich geblieben. Von daher war ihr Erschrecken heute zu verstehen. Angélique selbst hatte zwar das gefährdete Dasein der Hugenotten geteilt, deren Verfolgung von Tag zu Tag schlimmere Formen angenommen hatte, aber sie war katholisch, war im Kloster erzogen worden, und einer ihrer Brüder, Raymond, gehörte der Gesellschaft Jesu an. »Erregt Euch nicht unnütz«, beschwichtigte sie. »Wir sind nicht mehr in La Rochelle. Ich werde her umhören, was es gibt, aber ich bin schon jetzt über zeugt, daß es mit diesem braven Missionar nichts Gefährliches auf sich hat.« Im Hof entdeckte sie einen wohl unerwarteten, aber an sich kaum beunruhigenden Gegenstand. Es 199
war ein tragbarer Altar aus geschnitztem und ver goldetem Holz. Hochgewachsene, mit Medaillen behängte Indianer waren eben dabei, ihn in einem Holzrahmen zu befestigen, den zwei Sklaven auf ihren Schultern trugen. Ihr Anführer war in das Fell eines schwarzen Bären gehüllt und mit einer Lanze bewaffnet. Zwei unter der Oberlippe vorstehende Zähne verliehen seinem Profil den Ausdruck eines mokanten Eichhörnchens. Angélique hielt es für richtig, ihn im Vorbeigehen zu grüßen, aber er ließ ihren Gruß unbeachtet. Ein paar Augenblicke später verschwanden sie bereits durch das Palisadentor. Nach ihrem Aufbruch schien der Hof so gut wie verlassen. Vom Festmahl des Vorabends waren nur wenige Spuren zurückgeblieben: Aschenhaufen und halbverbrannte, erkaltete Holzstücke an den Feuer stellen, Fleischreste, die ein gelber Hund mißmutig beschnupperte und schließlich ohne sonderlichen Appetit verschlang, und ein paar Knochen. Sämtliche Gefäße hatte man weggeschafft. Die rote Wollmütze bis zu den Augenbrauen in die Stirn gezogen, hockte der alte Eloi Macollet in der Sonne auf einer an der Wand des größeren Wohn hauses angebrachten Bank und rauchte. Er warf ihr einen schrägen, flüchtigen Blick zu und schien ihren Gruß ebenfalls nicht zu hören. In einem Winkel neben dem Vorratsschuppen fand sie Honorine und die kleinen Jungen Elvires damit beschäftigt, die Übungen des jüngeren der beiden 200
Tamboure zu bestaunen. Das ziemlich kümmerlich aussehende Bürschchen, nicht älter als zwölf oder dreizehn Jahre, verschwand buchstäblich unter sei nem Dreispitz und dem blauen Militärmantel. Seine mageren Handgelenke waren jedoch mit einer er staunlichen Gelenkigkeit und Kraft begabt. Wenn er sich in fulminanten Läufen erging, ließ sich das wirbelnde Auf und Ab der Stöcke nicht mehr unter scheiden. »Er hat uns versprochen, es uns beizubringen«, sag te Honorine aufgeregt. Obgleich die Trommel höher war als ihre kleine Person, zweifelte sie keinen Moment daran, es bald zu vollendeter Meisterschaft zu bringen. Sich umwendend, gewahrte Angélique den Borde lesen Octave Malaprade. »Madame«, sagte er, »wir sind keine Wilden und können uns nicht ewig von Bärenfett ernähren. Ich muß einen Speisezettel aus gutchristlichen Lebens mitteln zusammenstellen. Könnt Ihr mir dabei hel fen?« Er war Koch auf der Gouldsboro gewesen und gab sich in seinem Benehmen weniger wie ein Kneipenkoch als wie der Küchenverwalter eines adeligen Hauses. Die Bordelesen sind von Natur aus Feinschmecker. Der singende Tonfall des Medoc, der seinen Worten den Akzent des Südens verlieh, rief Erinnerungen an Steinpilze mit Sahne wach, an saftige Rippenstücke in der berühmten Sauce aus rotem Wein und Schalotten, wie man sie in den Tavernen Bordeaux’ bekommt. 201
In diesem barbarischen Land war man weit davon entfernt, mit solchen Meisterwerken aufwarten zu können, aber mit der Phantasie des Künstlers sah Malaprade bereits die Möglichkeiten, die ihm die lo kalen Erzeugnisse boten. Gemeinsam mit Angélique betrat er den Vorrats schuppen. Den kleinen Keller habe er schon inspi ziert, erklärte er. Er enthalte nur Fässer mit Wein und Bier und eine Anzahl Flaschen mit Branntwein. Angélique wäre höchst überrascht gewesen, hätte sie gewußt, daß sich, während sie die Vorräte mu sterte, zwei so völlig verschiedene Männer wie der Malteserritter Loménie-Chambord und sein Leut nant, Monsieur de Pont-Briand, nicht nur in Ge danken eingehend mit ihr beschäftigten. Der letztere kehrte eben mit Romain de l’Aubig nière und dem zweiten Leutnant de Fallières vom Vorplatz zurück, wo die Messe gelesen worden war. Er bemerkte Angélique, als sie gerade in der Tür des Vorratsschuppens verschwand, und blieb unvermit telt stehen. »Diese Frau! O diese Frau!« L’Aubignière seufzte gereizt. »Bist du sie noch im mer nicht los? … Ich hoffte, du würdest aufhören, den Narren zu spielen, sobald du deinen Rausch aus geschlafen hättest!« »Laß mich in Ruh’! Davon verstehst du nichts. Du bist nicht mal imstande zu sehen, daß man einer Frau wie der da nur einmal im Leben begegnet. Sie ist schön, ja, aber es ist noch mehr an ihr. Soll ich dir’s 202
sagen? … Man spürt, daß sie’s gern hat, aufs Kreuz gelegt zu werden, und daß sie’s gut im Bett versteht.« »Und das hast du auf den ersten Blick gemerkt?« fragte der Waldläufer ironisch. »Hast du’s nötig, dich in eine Weiße zu vergaffen? Im Fort Saint-François, wo du wie ein Fürst regierst, hast du die Tochter des Häuptlings Faronho und so viele Indianerflittchen, wie du nur willst!« »Ich mag die Indianerinnen«, sagte der kleine Fal lières. »Komisch, sie haben am Körper keine Haare. Sie sind überall glatt wie Kinder.« »Nun, ich hab’ eben Lust auf Haare. Sie fühlen sich so weich an …« »Halt’s Maul, Wüstling! Du verlierst den Ver stand.« »Ich hab’ genug von Indianerinnen. Ich will weiße Haut! Eine Frau, die mich an die Mädchen meiner Jugend in Paris erinnert. Ah, wie war das gut damals, wie haben wir gelacht!« »Geh doch in dein Paris zurück! Was hindert dich?« L’Aubignière und Fallières brachen in Gelächter aus. Sie wußten nur zu gut, warum Pont-Briand seine Verpflichtung für das Kolonialregiment von Mal zu Mal erneuert hatte und nicht nach Frankreich zu rückgekehrt war. Er litt an der Seekrankheit, und sei ne erste Überfahrt war so scheußlich verlaufen, daß er geschworen hatte, nie mehr den Fuß auf ein Schiff zu setzen. »Ich hab’s nicht nötig, nach Paris zurückzukehren, 203
wenn ich hier finde, was ich brauche«, knurrte er und maß seine Kameraden mit einem herausfordernden Blick. Die beiden waren wieder ernst geworden, und der Waldläufer legte eine Hand auf seinen Arm. »Hör zu, Pont-Briand, ich seh’ dich nicht gern in dieser Geschichte. Du vergißt den Grafen de Peyrac. Castine hat mir erzählt, daß auch er im Ruf steht, es gut im Bett zu verstehen. Gut genug jedenfalls, um eine Frau so zufriedenzustellen, daß sie keine Verwendung für andere hat. Du brauchst nur zu se hen, wie verzückt sie ihn anstarrt. Glaub mir, du hast wenig Chancen bei ihr. Und er … er legt Wert auf seine schöne Dirne.« »Dirne! … Es ist doch seine Frau«, protestierte der junge Fallières, schockiert durch die Dreistigkeit, mit der diese beiden Flegel von einem weiblichen Wesen sprachen, dem er für sein Teil auf den ersten Blick einen Platz unter den ebenso faszinierenden wie un erreichbaren großen Damen zugewiesen hatte. »Seine Frau! Das sagen sie! Aber sie tragen nicht einmal Ringe!« Pont-Briand gehörte zu den Menschen, die es fer tigbringen, von realen Gegebenheiten völlig abzuse hen, um die Tatsachen ihren Wünschen anzupassen und sich ein gutes Gewissen zu verschaffen. Er über zeugte sich so mehr und mehr, daß Angélique frei sei. Vielleicht war sie eine jener schönen Verurteilten des gemeinen Rechts, die das Königreich, um sich ihrer zu entledigen, in die Kolonien abschob und die man auf den Karibischen Inseln auflesen konnte. Wenn 204
Peyrac sie sich zugelegt hatte, warum nicht er? Als seine Freunde sich entfernten, lehnte er sich rauchend gegen die Palisade und ließ die Tür zum Vorratsschuppen, durch die sie verschwunden war, nicht aus den Augen. Auf der anderen Seite des Hofs saß der Graf de Loménie-Chambord vor einem aufgestellten Faß, das ihm als Schreibtisch diente, und las den Brief des hochwürdigen Paters d’Orgeval. Denn nicht der Leiter der Mission von Akadien hatte an diesem Morgen die Messe in Katarunk zelebriert, sondern einer seiner Gehilfen, der Pater Lespinas. Und die ser hatte dem Grafen eine Botschaft seines Superiors überbracht. Die Sonne schien warm von einem zartblau en Himmel, und doch sollten sich an diesem Tage scheinbar nebensächliche Geschehnisse aneinan derreihen und ein vages Gefühl des Unbehagens und der Angst heraufbeschwören, wie die leichten Dunstschleier eines Sommertages sich nach und nach zu schweren Gewitterwolken zusammenbrauen. Der Oberst las: »Mein sehr lieber Freund, ich empfinde es als großen Verlust, Euch nicht begegnen zu können. Schon auf dem Wege, zu Euch zu stoßen, erschütterte mich ein unerwartetes – ich möchte fast sagen: übernatürliches – Ereignis und verursachte mir ein so heftiges Fieber, daß ich mei ne Reise unterbrechen mußte und, mit Mühe in das 205
kleine Dorf Mobedean zurückgekehrt, mein Lager noch immer nicht verlassen kann. Trotzdem werde ich die Kraft finden müssen, Euch zu schreiben. In dem Dorf, in dem ich mich aufhalte, haben sich außer unseren getreuen Abenakis auch die von den Quellen des Connecticut gekommenen Patsuikets mit ihrem Häuptling versammelt. Sie warten nur auf ein Zeichen von Euch, um sich mit Euren Truppen zu vereinen und Euch bei der Erfüllung Eurer heili gen Aufgabe zu unterstützen, nicht nur die in dieser Gegend umherstreifenden Irokesen, sondern auch die unerwünschten Fremden zu vernichten, die sich dort festgesetzt haben. Es hieße unsere Aktion durch einen doppelten Sieg beschließen, und heute, da wir das Fest des großen Erzengels Raphael feiern, konnte ich nicht umhin, an Euch zu denken, als ich die Worte des Graduales las: ›Raphael, der Engel des Herrn, packte den Dämon und legte ihn in Ketten.‹ So bedarf die durch die Gnade unterstützte Kraft nicht zahlloser Listen und Kämpfe, um zu ihrem Ziel zu gelangen …« Loménie fiel es nicht schwer, die Symbole des ihm seit seiner Kindheit vertrauten Jesuiten in Klarschrift zu übertragen. Peyrac an den Quellen des Kennebec, das war »der feige, ketzerische Engländer, der in sei nem Gefolge ins Herz unseres Landes vordringt«. »Bald wird er in Ketten liegen und dank Eurer Be mühungen zur Ohnmacht verurteilt sein …« Der Malteserritter zupfte besorgt an seinem Bart. Zweifellos lag da ein Mißverständnis vor … Es sah nicht so aus, als ob der hochwürdige Jesuitenpater 206
auch nur einen Augenblick die Verhaftung des Grafen de Peyrac und der Seinen in Zweifel zog; eine Verständigung schien ihm außerhalb jeder Möglich keit zu liegen. Warum war er dann nicht selbst nach Katarunk gekommen, nachdem er zwei Tage zuvor PontBriand, Maudreuil und l’Aubignière getroffen hatte? Rechtfertigte der Anblick, den sie im Dunkel der Nacht für eine satanische Erscheinung gehalten hat ten – eine Frau auf einem Pferd, die Dämonin auf ih rem mythischen Einhorn –, seine plötzliche Flucht? Er, der Pater Sébastien d’Orgeval, war es gewesen, der im letzten Frühjahr Unterstützung gegen die Fremden angefordert hatte, die offenbar die Absicht hatten, sich in Akadien niederzulassen … Loménie war nahe daran, aufzubrechen und den Jesuiten in seinem Dorf weiter flußabwärts zu besuchen. Noch an diesem Abend würde er dort sein, und übermor gen konnte er zurückkehren. Aber er besann sich. Er spürte, daß er weder seine Leute noch die verbün deten Indianer verlassen durfte. Die Situation war labil, konnte jeden Moment explodieren, und seine Gegenwart war unerläßlich, um es erst gar nicht dazu kommen zu lassen. »Ich erwarte mit Ungeduld Eure Nachrichten«, schrieb der Pater noch. »Wenn Ihr wüßtet, wie tröst lich es mir ist, mein lieber Freund, mein lieber Bruder, Euch mir nah zu wissen …« Hier wurde unter der bewußt kalten und herri schen Feder des Jesuiten die Sensibilität spürbar, die 207
seinen Charme und die Beglückung derer ausmach te, denen er seine Freundschaft schenkte. Loménie gehörte zu diesen Auserwählten. Ihre Freundschaft datierte noch aus dem Kollegium. Sie wurzelte in der Gemeinsamkeit zweier Kinder unter den düsteren Gewölben der Kreuzgänge, in der Trübseligkeit kal ter Morgendämmerungen, erfüllt von Tinten- und Weihrauchgerüchen, vom Gemurmel der Messen und des Unterrichts. Der schweigsame und sensible d’Orgeval hatte die Strenge des Internats kaum ertra gen. Der stille, sanfte, glücklicher veranlagte Loménie unterstützte ihn und verscheuchte die Schatten, die auf dieser kindlichen Seele lasteten und sie ohne die Freundschaft der beiden vielleicht zerbrochen hätten. So manches Kind starb an Sehnsucht und Enttäu schung in den Krankensälen der Kollegien. Während der Jünglingszeit hatten sich ihre Rollen vertauscht. Sébastien d’Orgeval entwickelte sich prächtig, glühte in einem düsteren Feuer, ertrug alle Kasteiungen und Härten ihrer Erziehung mit einer Ausdauer ohnegleichen und zog den ebenso robu sten, aber weniger leidenschaftlichen Loménie auf dem Pfade der Heiligkeit mit sich voran. Durch ihre theologischen Studien getrennt, hat ten sich die Freunde Jahre später in Kanada wieder getroffen. Loménie-Chambord, der als erster in die Kolonie gelangte, stand dem Entschluß des Jesuiten, ihm zu folgen, nicht fern. Seine Briefe hatten in d’Orgeval, der damals als Professor für Philosophie und Mathematik am Kollegium von Annecy lehrte, 208
eine glühende Berufung zur Bekehrung der Indianer geweckt. In den zehn Jahren seines Aufenthalts in Neu frankreich hatte Pater d’Orgeval wahre Wunder ge wirkt. Er kannte jeden Winkel, alle Stämme, sprach alle Sprachen und hatte alles durchgemacht, selbst das Martyrium. Loménie schien es, als habe seine eigene Tätigkeit im Vergleich zu der seines Freundes kaum Verdienstliches aufzuweisen. Er fühlte sich unterle gen und warf sich zuweilen vor, seiner Neigung für den Umgang mit Waffen eine religiöse Berufung ge opfert zu haben, die, wie er meinte, ausschließlicher hätte sein müssen. Daher berührte es ihn tief, wenn er in ihrer Korrespondenz ein Wort, einen Satz entdeck te, die ihn diesem Freund nahebrachte, dessen außer ordentliche Seele ihm mit der Zeit Verehrung einge flößt hatte. Vor seinem provisorischen Schreibtisch sitzend, sah er im gleichen Moment das Profil mit der hohen, von einem dichten Schwall kastanienbraunen Haars überschatteten Stirn vor sich. D’Orgeval hatte eine mächtige Stirn, die seine überlegene Intelligenz verriet. »Mit einer solchen Stirn kann dieses Kind nicht lange leben«, pflegten die Professoren im Kollegium zu scherzen. »Seine Gedanken werden es umbringen.« Unter buschigen Brauen blaue, erstaunlich klare, sehr tief liegende Augen, edel geformte Züge, denen auch die von den Irokesen eingeschlagene Nase kei nen Abbruch tat, ein üppiger, voller Mund in einem Christusbart, das war das Porträt des Mannes, der mit 209
heiterer Ruhe erdrückende Aufgaben bewältigte. Loménie sah die Feder vor sich, die trotz des Fie bers schnell über die als Pergamentersatz dienende Birkenrinde glitt. Die Hand, die diese Feder hielt, war durch schreckliche Verbrennungen entstellt; die Finger waren teils zu kurz wie die von Leprakranken, teils vom Feuer geschwärzt, teils fehlten ihnen die Nägel. Die Standhaftigkeit, mit der er die Folter er trug, hatte die Irokesen so beeindruckt, daß sie ihn am Leben ließen. Kaum geheilt, war Pater d’Orgeval ge flohen und unter tausend Gefahren nach Neuholland gelangt, von wo ihn ein Schiff nach Europa gebracht hatte. Trotz seiner Verstümmelungen hatte ihm der Papst die Erlaubnis erteilt, die heilige Messe zu ze lebrieren, und in Versailles wie in der Kathedrale von Notre-Dame zu Paris hatte der große Jesuit vor Scharen von tief bewegten Gläubigen gepredigt. Man erzählte sich, daß zehn Frauen dabei in Ohnmacht gefallen seien. Nach Kanada zurückgekehrt, hatte man ihn in die ihrer Abgelegenheit und Gefährdung durch die Nachbarschaft englischer Besitzungen wegen fast schon aufgegebene Provinz Akadien geschickt. Wenn man sich’s recht überlegte, hatte man für diese schwierige Mission keinen fähigeren und besser vor bereiteten Mann finden können. Durch die Tatsache, daß Pater d’Orgeval seine Instruktionen vom König persönlich erhalten hatte, kam seiner Anwesenheit an den Ufern des Kennebec und Penobscot, den wich tigsten Wasserstraßen dieses schwer zugänglichen 210
Gebiets, auch politische Bedeutung zu. »Ohne Euch, ohne Eure Hilfe käme mir die Auf gabe schwer vor. Ich verberge Euch nicht, daß mich seit Wochen eine schreckliche Vorahnung quält …«, fuhr der Brief des Jesuiten fort. Auch er, Loménie, fühlte sich von Ahnungen be drängt. Das trockene, ungewöhnlich warme Wetter vor dem eisigen Hintergrund des Winters hatte da mit zu tun. Denn zuweilen sprühten Funken über die Haarspitzen und huschten bei der geringsten Bewegung über die Kleidung wie lästiges Ungeziefer. Es gibt in gewissen Jahreszeiten Momente, in denen es scheint, als könne von einer Sekunde zur ande ren alles in Flammen aufgehen. Gegen Ende des Winters oder gegen Ende des Sommers fühlt man sich von bösartigen Geistern umgeben. Es ist die Zeit der Sonnenflecken, die Jahreszeit der blutigen oder kleinlichen Dramen. In den Städten tötet der betro gene Ehemann seinen Rivalen, und in der Tiefe der Wälder bringen eines Biber- oder Otterfells wegen alte Freunde einander um. Der Gouverneur von Québec macht dem Bischof Vorstellungen, weil er ihn am Tag des heiligen Ludwig nicht mit Weihrauch hat beräuchern lassen, obwohl es nicht nur sein Namenstag, sondern auch der des Königs von Frankreich ist, den er repräsen tiert. Der Kaufmann leert eine Kiste mit Flaschen teuren Branntweins aus dem Fenster auf den Kopf eines Matrosen aus, der ihn nicht bezahlt hat. Kleine indianische Seminaristen klettern über die Mauern 211
und kehren in die Wälder zurück, Nonnen in ihrer Klausur werden von tausend Leidenschaften geplagt, während der Teufel, mit den Fensterläden klappernd, nächtlich umgeht, die Frömmsten an den Füßen zieht und vor ihren entsetzten Blicken Visionen splitter nackter Frauen mit glitzernden Augen erstehen läßt, die auf apokalyptischen Einhörnern reiten … Der Graf de Loménie-Chambord dachte an einen Satz aus der prophetischen Ankündigung der Dämo nin von Akadien: »Eine sehr schöne, nackte Frau tauchte, auf einem Einhorn reitend, aus den Wassern auf …« Eine sehr schöne Frau … Und er stellte fest, daß er die ganze Zeit über nicht aufgehört hatte, an Angélique de Peyrac zu denken. Es war, als sei ihr Antlitz, ihre Gegenwart wie eine Art Wasserzeichen in den Brief, den er las, verwoben, und intuitiv glaubte er zu wissen, daß auch Pater d’Orgeval sie beim Schreiben unablässig vor sich ge sehen hatte, ohne ihr je begegnet zu sein. Der missio nierende Märtyrer brauchte den Augenschein nicht, um zu wissen. Der Graf schob rasch die Hand in die Tasche seines Militärrocks. Er spürte die Kügelchen eines Rosenkranzes, und die Berührung tat ihm wohl: Der Friede kehrte wieder in ihn zurück. Er würde sich nicht verwirren lassen. Über das Faß gebeugt, setzte er die Antwort an den Jesuiten auf: »… Für den Augenblick scheint mir eine weltliche, keine religiöse Politik angebracht … Es handelt sich 212
um folgendes … Der Krieg ist keine wünschens werte Lösung, wenn man den Frieden unter den Völkern herzustellen sucht, und es will mir vernünf tiger vorkommen im Interesse Kanadas wie in dem des Königs … Monsieur de Peyrac hat uns bereits Beweise seiner Freundschaft gegeben, indem er die französischen Posten an der akadischen Küste für den Winter mit Proviant versorgte … Überdies fielen ihm l’Aubignière, Pont-Briand und Maudreuil in die Hände, und wir waren genötigt, mit ihm zu verhan deln und ihm unser Wort zu geben. Ihr könnt versi chert sein, daß wir sonst nur nach blutigen Kämpfen zum Ziel gekommen wären, deren Notwendigkeit mir nicht zwingend erschien … Ich habe Vertrauen in die Loyalität dieses Mannes …« Nachdem er geendet hatte, bestreute er die noch frische Tinte mit Sand. Seine Ordonnanz blies auf die Lunte, um das Ende eines Stäbchens aus rotem Wachs zu schmelzen, mit dem der Graf die zusammengefal tete Botschaft versiegelte. In das noch weiche Wachs drückte er das Wappen seines Rings. Völlig durch seine Beschäftigung absorbiert und an das kindische Treiben der Indianer gewöhnt, achtete er nicht auf ihr lebhaftes Hin und Her.
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Sechzehntes Kapitel
In Begleitung Octave Malaprades setzte Angélique ihre Inspektion fort und musterte die von den Deckenbalken herabhängenden gedörrten Fleisch stücke. Sogar ein paar Schinken gab es da, die nicht nach Wild aussahen. »Der Ire, dem der Herr Graf während seiner letz ten Reise das Fort anvertraute«, erklärte Malaprade, »hat mir gesagt, er habe ein paar aus Europa mitge brachte Schweine aufgezogen. Vier oder fünf davon treiben sich noch im Wald herum und müssen vor dem ersten Schneefall eingefangen werden. Wir wer den sie noch einige Zeit mit Abfällen mästen und zu Weihnachten schlachten. Dann können wir mit fünf hundert Ellen Wurst, dreihundert Pfund frisch gesal zenem Fleisch, zehn schönen Schinken und hundert Ellen Blut- und Leberwurst rechnen, genug, um uns ohne Scherereien über den Winter zu bringen, selbst wenn die Jagd nichts mehr bringen sollte …« »Das hängt vor allem von der Anzahl der Leute ab, die wir beköstigen müssen, Monsieur Octave. Wenn wir eine ganze Garnison zu unterhalten haben wie im Augenblick …« Der Bordelese zog eine Grimasse: »Das liegt keineswegs in der Absicht des Herrn Grafen. Er hat mich heute morgen darüber infor miert. Seiner Voraussicht nach werden uns diese Herren aus Kanada samt ihren Wilden morgen beim 214
ersten Tagesgrauen verlassen.« »O’Connell ist doch dieser dicke, rothaarige Mensch, nicht wahr? Er ist niemals da, und wenn man ihn einmal bemerkt, wirkt er ein wenig verstört.« »Die Rührigkeit der kanadischen Herren verstört ihn und vor allem der Besuch des hochwürdigen Jesuitenpaters heute früh. Er hat sich den mit ihren Kanus zur Mission zurückkehrenden Abenakis ange schlossen, um dort zu beichten und den Segen des großen Missionars zu empfangen. Ich bin selbst gut katholisch, Madame, aber heute schien es mir dring licher zu erfahren, wo wir mit unseren Lebensmitteln stehen. Der Winter rückt näher, und es ist kein Scherz, in diesen Breiten zu überwintern, wenn man nicht tüchtig vorgesorgt hat.« »Habt Ihr Euch schon in diesem Land aufgehal ten?« »Ja. Vergangenes Jahr bin ich mit dem Herrn Gra fen hier herumgezogen.« So mit ihrem Zufallsmajordomus plaudernd, ver gewisserte sich Angélique der Qualität und Menge der eingelagerten Nahrungsmittel. Es gab ganze Körbe getrockneter Beeren, sogar gedörrte Champignons, gewiß nur ein Zusatz, der sich aber als wichtig er weisen würde, wenn gegen Ende des Winters die strapazierten Körper des ewigen Salzfleisches und des Eingemachten müde wären. Sie erinnerte sich der Theorie des vielgereisten alten Savary, der gesagt hat te, daß während langer Schiffsfahrten weniger Leute an Skorbut stürben, wenn man jeden Tag mangels fri 215
scher Früchte eine Handvoll getrockneter verzehrte. »Wir werden sie später in Wasser quellen lassen und Torten oder Pasteten mit ihnen garnieren. Oh, ich weiß, was mir fehlte, Octave: weißes Mehl, um Kuchen oder wenigstens einen guten Laib Brot zu kneten. Wir haben seit Tagen keins mehr bekom men.« »Ich glaube, dort stehen ein paar Säcke«, sagte der Bordelese. Angélique freute sich über den Fund, doch Malaprade runzelte die Stirn, während er den Inhalt der Säcke prüfte. »Viel mehr als zwanzig Pfund weißes Mehl werden es kaum sein. Der Rest ist Roggen- und Gerstenmehl. Und außerdem handelt sich’s um von den Bostonern gekaufte Ware. Minderwertiges Korn und schlecht ge mahlen. Der reine Staub … wahrhaftig, die Engländer verstehen nichts davon.« »Wir werden uns trotzdem einen Kanten Brot heu te abend leisten.« Malaprade füllte die zur Verwirklichung des lu xuriösen Vorhabens benötigte Mehlqualität in eine Kalebasse ab. Nach und nach wuchs seine auf Birken rinde geschriebene Vorratsliste. Er notierte drei Käse räder, Fässer mit Sauerkohl, Öltönnchen und Tiegel mit Fett, getrocknete Erbsen, Bohnen und, wohlge ordnet auf niedrigen Gestellen, eine stattliche Anzahl Gurken und Kürbisse. »Sie müssen rasch gegessen werden«, bemerkte Angélique. »Diese Gemüse, die in Amerika ver 216
schwenderisch zu gedeihen scheinen, verderben im Nu.« »Ihr irrt Euch, Madame. Die Gurken trocknen hier, ohne ihren Geschmack zu verlieren, und man kann sie bis tief in die schlechte Jahreszeit hinein ver wenden, wenn ich auch sagen muß, daß sie ziemlich langweilig schmecken und dem Magen nicht gerade leicht sind.« Durch das Ergebnis der Inspektion befriedigt, fühlte sich Angélique nützlicher vor einer Zukunft, die schon weniger unbekannt schien als zuvor. Leider übernahm es schon der nächste Augenblick, sie an die Realitäten ihrer neuen Existenz zu erinnern. Aus dem Schuppen tretend, stießen sie unversehens auf eine stattliche Schar Indianer, die sich schweigend dort versammelt hatte. Nur mit Mühe gelang es ih nen, über die Schwelle zu treten. In der Annahme, daß ein Plünderungsversuch beabsichtigt sei, schloß Malaprade hastig hinter sich die Tür und schob die Riegel vor. »Wenn es ihnen gelingt hineinzukommen, wird uns nicht mehr viel bleiben! Was ist nur in die Burschen gefahren?« Seine Versuche, mit Hilfe seiner spärlichen Sprach kenntnisse Klarheit zu schaffen, blieben ergebnislos. In diesem Moment drängte sich der Leutnant de Pont-Briand rücksichtslos durch die Menge, pack te Angéliques Arm und schob zwischen sie und die stinkende Woge der Indianer den Schutzwall seiner beachtlichen Schulterbreite. 217
»Ängstigt Euch nicht, Madame. Ich habe bemerkt, daß Ihr in Schwierigkeiten seid. Was ist geschehen?« »Wie soll ich das wissen? Ich verstehe nicht, was sie wollen!« Die Indianer wandten sich an den Leutnant. Sie schrien alle zugleich und schienen sich in einem aus Angst und Verzückung gemischten Zustand zu befin den. »Die Legende Eurer Begegnung mit der Schildkröte, dem Zeichen des Irokesen, ist während der Nacht von einem Wigwam zum andern gewandert. Sie wol len von Euch hören, ob der Irokese wirklich besiegt ist und ob Ihr ihn gefesselt habt … Für sie, müßt Ihr wissen, sind Symbol und Traum wichtiger als das Leben selbst … Aber fürchtet nichts. Ich werde Euch von ihrer Neugier befreien.« Er sprach lange und nachdrücklich auf die Indianer ein, die sich schließlich, lebhaft untereinander pala vernd, entfernten. Pont-Briand war beglückt über die Gelegenheit, sich Angélique nähern und sie wie schützend an sich ziehen zu können. Erregt sog er den Duft ihrer Haut ein. Doch sie ließ sich nicht täuschen und löste ihren Arm aus seinem Griff. »Ich hätte Euch gern eine Frage gestellt, Madame.« »Nur zu. Warum nicht?« »Wart Ihr wirklich der teuflische Schütze, der mich gestern in eine so üble Lage brachte? Man hat es mir gesagt, aber ich kann’s nicht glauben.« »Trotzdem trifft es zu. Und glaubt mir, daß ich es 218
noch nie mit einem solchen Dickschädel zu tun hat te. Ich fürchtete schon, Euch wenigstens einen Arm brechen zu müssen, um Euch aufzuhalten, denn ich hatte Befehl, Euch daran zu hindern, das andere Ufer zu erreichen.« Mit einem beziehungsvollen Blick fügte sie hinzu: »Mir scheint, Leutnant, Ihr braucht ziemlich lange, um zu begreifen, was man Euch zu verstehen geben möchte.« Er merkte, daß sie sein Werben zudringlich und de plaziert fand, aber er konnte sich nicht entschließen, sie zu verlassen. Da er ihr immerhin aus einer uner freulichen Situation herausgeholfen hatte, unterhielt sie sich noch einige Augenblicke mit ihm und ließ ihn dann mit einem Kopfnicken und einem zurückhal tenden Lächeln stehen. Verwirrt und wie ein Betrunkener taumelnd blieb er zurück. Die Luft flimmerte vor seinen Augen, und im Flimmern sah er den tanzenden Widerschein ihres Lächelns. In den letzten beiden Tagen hatte sich die Welt für ihn total verändert. Ihr Geschmack, ja selbst ihre Farben waren anders geworden. Warum hatte Loménie nur den Kampf mit Peyrac vermieden? Er, Pont-Briand, hätte als erster Hand an diese Frau ge legt und damit das Recht erworben, sie als Gefangene nach Québec zu bringen – um sie zu bekehren. Warum sollte nicht auch er dem Himmel eine verirrte Seele zuführen dürfen? Und so wäre sie in sein Haus gelangt. Mittels welcher Hexerei hatte der große schwarze Teufel mit der Maske sie alle umgarnt, so daß sie ihm 219
sanft und folgsam wie Lämmer nachgelaufen waren? »Nimm dich in acht, Bruder, hüte dich vor Zauberkünsten!« sagte er sich. »Und was täte es schließlich, wenn sie die Dämonin von Akadien wäre und wenn sie aus der Hölle käme! Ich hätte nichts dagegen, mit ihr dahin zurückzugehen!«
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Siebzehntes Kapitel
Trotz scheinbarer Ruhe verstrich der Tag langsam, und man blieb gespannt. »Was wird nur aus uns werden?« seufzte Madame Jonas, den Tränen nahe. Der Besuch des Jesuiten hatte ihren Mut untergraben. »Laß die Kinder herein kommen, Elvire. Sie werden sie umbringen.« Im Laufe der letzten Tage hatte Angélique die Leute Peyracs besonders achten gelernt. Die Disziplin der Männer war bewundernswert gewesen, und durch ihre unerschütterliche Ruhe hatten sie bewiesen, daß sie ihrem Führer vertrauten. Dabei gab es unter ihnen Engländer, Spanier, den Galeeren entlaufene Franzosen, die alle damit rechnen mußten, von de nen, die sie in Katarunk empfingen, als Feinde be handelt zu werden. Trotzdem waren sie erhobenen Hauptes dem Grafen de Peyrac ins Fort gefolgt, und die Franzosen hatten nicht protestiert. Man hatte so gar gemeinsam tüchtig geschmaust, gelacht und ge sungen. Aber man belauerte einander unablässig. Peyrac suchte Monsieur de Loménie zu einer Unterhaltung auf, dann begrüßte er die Häuptlinge der Algonkins und Huronen und ließ ihnen Tabak und Perlen bringen. Man saß zusammen und erzählte einander Geschichten. »Wenn sie nur abzögen! Mein Gott, warum sche ren sie sich nicht endlich zum Teufel!« sagte sich 221
Angélique. Bis dahin mußte man bei diesem Spiel mittun, überall seine Augen haben und weder Furcht noch Ungeduld zeigen. Sie tat ihr möglichstes, um ihrem Tun einen alltäg lichen Anstrich zu geben, und richtete sich ostenta tiv in ihren Möbeln ein. Aber es war schwierig. Die Situation machte jedermann reizbar. Sie war zum Brunnen gegangen und zog eben den schweren, von Eisenreifen zusammengehaltenen höl zernen Wassereimer herauf, als sie Cantor entdeckte. Sie rief ihn an: »Willst du mir helfen, mein Junge?« Er antwortete ihr arrogant: »Wofür haltet Ihr mich? Das ist Frauenarbeit!« Angélique spürte, daß sie blaß wurde, packte im pulsiv den Eimer und schüttete dessen Inhalt über den Jungen aus. »Das wird die Vorstellungen eines großen Kriegers deiner Sorte, der sich für zu erhaben hält, seiner Mutter beim Tragen zu helfen, hoffentlich ein biß chen auffrischen.« Die Lippen zornig zusammengepreßt, befestigte sie den leeren Eimer wieder an der Kette und ließ ihn geräuschvoll in den Brunnen hinab. Cantor war von Kopf bis Fuß durchnäßt, und seine Augen sprühten Blitze, die Angélique ebenso sprühend erwiderte. Dieser Austausch von gleichermaßen grünen wie wütenden Blicken schien den alten Eloi Macollet, der die Szene beobachtet hatte, höchlichst zu amüsieren. 222
Er näherte sich mit einem zahnlosen Grinsen. »Bravo! So muß man die Jugend dressieren!« Ein paar indianische Gaffer hatten sich dazugesellt, wollten sich vor Lachen über den triefenden Jüngling ausschütten und starrten Angélique aus nächster Nähe kreischend ins Gesicht, als sei sie das komisch ste Tier der gesamten Schöpfung. Sie bedrängten sie so, daß sie den Eimer fast in den Brunnen hätte fallen lassen. »Zurück! Zurück!« rief Macollet und schob sie mit kräftigen Stößen und ein paar energischen Worten beiseite. »Ich helfe Euch, schöne Dame. Ich schätze Frauen mit Charakter. Ah, diese Jugend von heute! … Man muß ihr auf die Sprünge helfen, stimmt’s? Hat von nichts einen Schimmer. Ich werde Euch Euren Eimer tragen. Ist keine Schande, einer Frau Eures Ranges ein bißchen unter die Arme zu greifen. Dabei hab’ ich mehr Pulverdampf gerochen als dieser kleine Dummkopf da.« »Gerade Euch steht es an, den Galanten zu spielen!« schrie Cantor, dessen Stimme vor Wut umschlug. »Euch, der nicht einmal vor Damen seine Mütze vom Schädel zieht, nicht einmal während der Messe. Ich hab’ Euch heute morgen wohl gesehen, als der Pater den Gottesdienst zelebrierte.« »Meine Mütze ist meine Mütze«, erwiderte der Alte gemächlich. »Wenn’s weiter nichts ist, will ich dir gerne das Vergnügen machen, sie abzunehmen, mein Junge.« Der Streit hatte l’Aubignière und Perrot angelockt, 223
die sich nun auf den Alten stürzten und seine Arme festzuhalten suchten. »Untersteh dich!« rief der Waldläufer. »Schaut nicht hin, Madame! Er hat den häßlichsten Schädel von ganz Neufrankreich.« »Er ist in seiner Jugend skalpiert worden«, erklärte Perrot. »Vor Montréal«, ergänzte Macollet. »Es ist selten, daß man sich von einer solchen Geschichte erholt. Er ja! Mutter Marguerite Bourgoys hat ihm das Leben gerettet. Aber das Resultat ist nicht gerade hübsch anzusehen. Besser, er behält seine Mütze auf. Halt dich ruhig, Eloi.« »Erst muß ich diesem kleinen Tölpel da eins drauf geben …« Cantor entfloh, um seinen Verdruß zu verbergen und seine Kleidung zu wechseln. Der Tag verging langsam in glühendem Licht, und noch langsamer schickten sich ein paar Huronen und Algonkins zum Aufbruch an. Man hatte ihnen erklärt, daß es keinen Krieg geben würde, und ihre Enttäuschung mit Geschenken beschwichtigt. Von fern verfolgte Peyrac ihre Bewegungen, und jedesmal, wenn sich ein Kanu vom Ufer löste und flußaufwärts paddelte, empfand er ein Gefühl der Erleichterung. Sein aufmerksamer Blick glitt von der schwarzen Barriere der Tannen im Norden zu den weichen Windungen des Flusses hinüber, der sich gleich einer goldenen Schlange in südöstlicher 224
Richtung durch das Reich der Bäume wand. Für den Moment war das Gespenst des Krieges verscheucht, und das Dasein der Menschen dieser Wildnis konn te in den gewohnten Rhythmus zurückfallen: Jagd, Fischfang, Schlaf … Ein dünner, fröhlicher Ruf erhob sich in der klaren Abendluft, und Joffrey de Peyrac wandte sich ihm zu. Es war die kleine Honorine, die mit Barthélémy und Thomas, ihren üblichen Spielgenossen, zu Wege war. Peyrac beobachtete sie einen Moment. Sie wirkte glücklich mit ihren roten, staubigen Wangen, dieser Miene gesunden, fast trunkenen Überschwangs der Kinder, die man ganze Tage lang sich selbst überläßt. Sein Herz bebte vor Zärtlichkeit. Er brachte dem Bastardkind eine besondere Zuneigung entgegen. Es war ihm, als müsse er diesem in seine Obhut gerate nen kleinen Geschöpf, das bei seinem Eintritt in die Welt nichts mitbekommen hatte, nicht einmal die Liebe seiner Mutter, alles geben. Honorine genoß es sichtlich, in Katarunk von einer Familie umge ben zu sein, die sie als die ihre ansah, und in einer Gemeinschaft, in der man sie nicht nur duldete wie einst in La Rochelle, wo ihre Mutter Dienstmagd ge wesen war. Hier nahm sie nun den ersten Platz ein, den allerersten, so hatte sie es sich in ihrem Köpfchen mit der gewölbten Stirn zurechtgelegt, denn schließ lich war sie die Tochter des Grafen de Peyrac, dessen, den man respektvoll Monseigneur nannte, der über Leben und Tod, über Frieden und Krieg entschied. Als Tochter eines so hochgestellten Mannes mußte sie 225
zwangsläufig die wichtigste Person nach ihm sein, und der Stolz auf diesen Rang kam in ihrer Lebensfreude, in diesen Schreien einer berauschten Schwalbe zum Ausdruck. Alles war gut. Er lächelte. Ja, sie war seine wahre Tochter. Sie hatte ihn frei gewählt und würde niemals daran zweifeln.
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Zweiter Teil
Das grosse Opfer
Achtzehntes Kapitel
Der dunstige Abend war gekommen mit seinem Gefolge rotflackernder Feuer und gelblicher Lichter, die die blaue Kälte der Dunkelheit durchdrangen. Im kleinen Wohnhaus erhob sich ein schriller, hysterischer Schrei. Angélique war eben dabei, die Teller für das Abendbrot der Kinder auf den Tisch zu stellen. Der Schrei war aus dem Zimmer zur Linken ge kommen, ihrem eigenen Zimmer, das Elvire kurz zuvor betreten hatte, um das Bett für die Nacht vor zubereiten. »Da haben wir’s! Das Massaker beginnt!« dachte Angélique. Die Hand auf dem Kolben der Pistole, die sie nie verließ, sprang sie zur Tür. In der Mitte des Raums bemerkte sie einen Indianer, der ein Handgelenk der vor Entsetzen halb ohnmächtigen Elvire umklammerte. Er war noch häßlicher und erschreckender als der andere, den sie gestern oben am Waldrand entdeckt hatte. Sein klum piges, durch Pockennarben entstelltes Gesicht war zu dem wie Oberkörper und Beine mit Ruß beschmiert. Dank eines fest um die Skalpsträhne gewundenen schmutzigen roten Lappens ragte sie so struppig von seinem Schädel auf, daß er an ein Stachelschwein er innerte. Sein Gestank erfüllte das Zimmer. Sie dachte: »Ein Irokese!« 228
Eben preßte er die andere Hand auf Elvires Mund, die sich vergeblich sträubte und dann endgültig in Ohnmacht sank. Angélique hob langsam und zögernd ihre Waffe. Der Indianer ließ ein paar gedämpfte Worte hören, die sie nicht verstand, aber sein Mienenspiel verriet ihr, daß er sie beschwor zu schweigen. »Rührt Euch nicht«, sagte sie zu den Jonassen, die hinter ihr in der Tür aufgetaucht waren. Da er sah, daß sie nicht daran dachten, Lärm zu schlagen, fuhr er mit der Hand in seinen schmutzigen Schurz und zog einen kleinen Gegenstand hervor, den er Angélique entgegenstreckte. Offenbar in der Einsicht, daß er den gewonnenen Waffenstillstand nur gefährden würde, wenn er sich ihr näherte, machte er ihr ein Zeichen, zu ihm zu kommen. Vorsichtig kam sie heran. Der Gegenstand, den er ihr reichte, war ein Ring, in dessen rotem Karneol sie das eingeschnittene Wappen des Rescators entdeckte … das Wappen ihres Mannes. Ein Satz, den er am Abend zuvor gesagt hatte, kehr te ihr ins Gedächtnis zurück: »Unter den Irokesen sind einige Häuptlinge, die mir gewogen sind …« Sie forschte in den schrägen Augen des Wilden. »Tekonderoga, Tekonderoga«, wiederholte er mit seiner rauhen, eintönigen Stimme. »Peyrac?« Er nickte nachdrücklich. »Nicolas Perrot?« fragte sie weiter. Ein neues be 229
stätigendes Nicken, während sich ein befriedigter Ausdruck über das schreckliche Gesicht breitete. »Ich werde ihm diesen Ring bringen.« Der Indianer packte ihren Arm und wiederholte mehrfach mit drohender Miene ein Wort. Sie begriff, daß er ihr Schweigen forderte. Die beiden Jonasse klammerten sich an sie. »Laßt uns nicht mit diesem Teufel allein!« »Nun, dann geht Ihr, Monsieur Jonas. Sagt meinem Gatten, daß … jemand ihn erwartet. Wenn er diesen Ring sieht, wird er wissen, um wen es sich handelt. Und sprecht mit niemand darüber. Mir scheint, daß dieser Wilde uns größte Diskretion empfiehlt.« »Es ist ein Irokese! Ich weiß, daß es ein Irokese ist!« stammelte Madame Jonas, neben ihrer ohnmächtigen Nichte auf die Knie sinkend. Der Indianer hielt noch immer Angéliques Hand gelenk umspannt. Als Peyrac und der kanadische Waldläufer in der Tür erschienen, ließ er sie los und empfing die beiden mit einem rauhen Wortschwall. »Tahutaget!« rief Nicolas Perrot und, nachdem er den Wilden herzlich begrüßt hatte: »Es ist Tahutaget, der Unterhäuptling der Onondagas.« »Dann ist es also kein Irokese?« erkundigte sich Madame Jonas hoffnungsvoll. »Und ob’s einer ist! Sogar einer der Schlimmsten. Einer der großen Männer der Fünf Nationen … Ah, der brave, alte Tahutaget! Welch Vergnügen, ihn wie derzusehen! Aber wie ist er hereingekommen?« 230
»Durch den Kamin«, ließ sich die schwache Stimme der wieder zu Bewußtsein erwachten Elvire verneh men. »Ich war eben dabei, das Bett zu richten, als er sich geräuschlos wie der Leibhaftige in die Flammen hinunterließ.« »Teufel, ja! Ich kann’s mir vorstellen!« Peyrac betrachtete befriedigt den Irokesen. »Er hat mir den Ring gebracht, den ich ihm anver traut hatte. Mit ihm sollte sich ihr Bote zu erkennen geben, sobald ihre Ratsversammlung einwilligte, mit mir zu verhandeln.« »Demnach scheint es soweit zu sein«, meinte Perrot, »aber der Zeitpunkt der Begegnung ist schlecht ge wählt. Wenn die Huronen, Algonkins, Abenakis und all die Franzosen, die sich draußen herumtreiben, je auf die Idee kommen sollten, daß sich hier ein Irokese verbirgt, noch dazu Tahutaget, gebe ich nicht mehr viel für seinen Skalp.« Er wandte sich an die Jonasse. »Zieht Euch in den Nebenraum zurück, und küm mert Euch um Eure Mahlzeit. Falls jemand kommt, sagt nichts und vergeßt, daß Ihr diesen Mann gesehen habt.« »Das wird nicht so leicht sein«, murmelte Elvire, die sich mühsam wieder erhob. Angélique hatte eine Portion Ragout geholt, und Peyrac bot sie dem Irokesen samt einer Strähne Tabak als Zeichen der Gastfreundschaft an, aber Tahutaget lehnte beides mit heftigen Gebärden ab. »Er sagt, daß er weder essen noch rauchen will, be 231
vor er unsere Entschlüsse nicht dem Großen Rat der Fünf Nationen überbracht hat.« Der Indianer hockte sich vor dem Kamin nieder und begann zu sprechen, offenbar gleichgültig gegen die ihm aus seiner Situation erwachsenden Gefahren, während Perrot, der seinem Beispiel gefolgt war, ge duldig lauschte und gleichmütig Wort für Wort über setzte. Peyrac hatte auf einem Schemel zwischen ih nen Platz genommen, und Angélique saß im Schatten auf dem Rand des Bettes. »Vor zehn Monaten hast du, Tekonderoga, den wir den Mann des Donners nennen, weil es scheint, daß du Berge zertrümmern kannst, uns Geschenke und zwei Wampumhalsbänder geschickt. Niemand ist entgangen, daß diese Muscheln von unschätzba rem Wert waren, wie man sie nur zwischen großen Nationen beim Abschluß wichtiger Verträge aus tauscht. Deshalb hat sich Swanissit über den weißen Mann erkundigt, der das Bündnis mit den Völkern des Langen Hauses so hoch veranschlagt, daß er bereit ist, einen gewaltigen Preis dafür zu zahlen. Du hattest mir deinen Ring gegeben, und ich sprach für dich. ›Sind die anderen Geschenke nicht auch zu bedenken?‹ sagte ich ihm. Pulver, Kugeln, Stücke roten Tuchs, das weder Sonne noch Regen zu bleichen vermag, unter den Fingern tönende Kessel aus einem schwarzen und festen Metall, zu schade für unsere tägliche Nahrung und darum für unsere Toten bestimmt, Beile und Messer mit blanken Schneiden, in denen man sich spiegeln kann, eine Handvoll so 232
seltener Muscheln, daß ich nicht weiß, auf welchen Wampum wir sie nähen sollen, und endlich ein Gewehr ohne Lunte, das seinen Funken in seinen Eingeweiden verbirgt, dessen Kolben mit Perlmutt verziert ist und das Swanissit seitdem immer bei sich trägt, ohne daß es ihn je verraten hätte. Weiter versprachst du uns ein magisches Pulver zur reicheren Befruchtung unserer Pflanzungen, und du ludest uns ein, hierher nach Katarunk zu kommen, um ein Bündnis zu schließen. Swanissit zog all dies in Betracht und rief den Rat der Mütter und auch den der Alten zusammen und sagte ihnen, daß er es für notwendig halte, sich mit ei nem Weißen zu verstehen, der weder den Engländern noch den Franzosen, noch den Schwarzen Kutten ge horche und überdies großzügig und freigebig sei. Denn Swanissit ist alt, wie auch ich alt bin, und wir beide wissen, daß die Völker der Fünf Nationen nicht mehr das sind, was sie einst waren. Die un aufhörlichen Kriege haben uns geschwächt, und der Pelzhandel, der uns allzusehr beschäftigt, bewirkt, daß wir unsere Felder vernachlässigen und viele während des Winters Hungers sterben. Die Jugend möchte immer auf dem Kriegspfad sein, um ihre Toten zu rächen und Beleidigungen zu vergelten, doch Swanissit sagt: ›Genug der Toten, sonst wird das irokesische Volk aufhören, groß und gefürchtet zu sein. Dank diesem mächtigen Weißen sehen wir eine Möglichkeit, Atem schöpfen zu können, denn eines Tages wird er stärker als die Franzosen in Kanada sein, 233
und das friedliche Bündnis der Völker wird ihm ge lingen, so wie es in unserer Saga von Hiawatha heißt.‹ Das ist es, was Swanissit sagte, und ein großer Teil der Nation hat ihn verstanden. Wir sind also gekommen, Mann des Donners, aber was fanden wir in Katarunk? Unsere Feinde, die uns erwarteten, um uns zu vernichten!« Nicolas Perrot ließ sich durch seine Entrüstung nicht beeindrucken. Der Besuch Katarunks war nicht das einzige Ziel ihres Unternehmens gewesen. »Seid ihr auf eurem Wege nach Katarunk nicht ein wenig weiter ostwärts vorgestoßen?« fragte er katzen freundlich. »Gewiß. Wir hatten eine kleine Rechnung mit den Irokesen vom Saint-Jean-Fluß zu begleichen.« »Habt ihr da unten nicht auch ein paar Dörfer ver brannt und die Einwohner massakriert?« »Bah! Nur ein paar von diesen roten Iltissen, die die Franzosen so bewundern, die aber nicht mal ei nen Maiskolben oder eine Sonnenblume pflanzen können.« »Gut! Sagen wir also, auf dem Rückweg von eurem Kriegszug zum Saint-Jean habt ihr beschlossen, nach Katarunk zu kommen, um dem Mann des Donners zu begegnen …« »Und was fanden wir?« wiederholte Tahutaget verzweifelt und zornig. »Hast du diese Falle für uns vorbereitet, Tekonderoga? Alle unsere schlimmsten Feinde sind versammelt! Ich spreche nicht nur von diesen Verrätern von Huronen und Algonkins, die da 234
von träumen, für unsere Skalpe in Québec einen gu ten Preis zu erhalten. Ich spreche auch von Loménie, dem Oberst, dem, der seinem wahnwitzigen Gott versprochen hat, uns vor seinem Tod zu vernichten, und von Pont-Briand, dem Weißen, den man nicht kommen hört, obwohl er schwer wie ein Büffel der Ebenen ist, und den anderen, die sie begleiten. Ah, wie konnte ich den Anblick dieser Verräter ertragen! Drei-Fingers, der bei den Onondagas mein Bruder war, und Maudreuils, den Swanissit als seinen Sohn ansah. Sie sind hier, sie sprechen von Rache und ha ben doch selbst heimtückisch gehandelt! Hat DreiFinger nicht zwei unserer Brüder getötet, als er aus unserem Dorf floh, nachdem wir mehr als ein Jahr denselben Kessel miteinander geteilt hatten? Und Maudreuil, der als kleines Kind zu Swanissit kam? Er war schön, geschickt bei der Jagd, und unsere Herzen waren von Trauer erfüllt, als wir ihn gegen zwei Häuptlinge austauschen mußten, die die Franzosen gefangen hatten. Auch er erinnert sich weder der von unseren Händen empfangenen Wohltaten noch der Wärme unserer Hütte, aber er ruft in alle Winde, daß er seine Familie rächen wolle, seinen Vater, seine Mutter, seine Schwestern, die Swanissit getötet habe. Doch das ist nicht wahr. Swanissit hat niemals eine Frau oder ein Kind skalpiert, und Maudreuil weiß es besser als jeder andere. Erst die Weißen haben uns beigebracht, Frauen und Kinder zu töten, und was können wir, die Alten, dafür, wenn unsere jungen Krieger ihrem Beispiel folgen? 235
Wie oft habe ich selbst, als ich nach Québec ging, die Franzosen sagen hören: ›Arglistig wie ein Irokese …‹! Aber wer ist arglistiger? Wir oder die, die wie Maudreuil oder Drei-Finger die Gesetze der Adop tion verrieten? Und die Schwarze Kutte EtkonHontsi, die sich mit ihren Katecheten und ihrem Altar aus vergoldetem Holz in Modebean aufhält? Warum ist sie gekommen? Um zu hexen? Und Piksarett, der Häuptling der Patsuikets, einer unserer schlimmsten Feinde, der an die dreißig Skalpe unserer Brüder an der Tür seines Wigwams befestigt hat? Was sucht er hier?« »Die Abenakis haben mit den Engländern und dem Weißen Tekonderoga Frieden geschlossen«, sagte Perrot. »Aber nicht Piksarett. Piksarett ist kein Abenaki wie die anderen. Für den Skalp eines Engländers oder Irokesen würde er jeden Frieden stören. Er hört nur auf die Stimme der Schwarzen Kutte, die verkündet, daß die Taufe gut für die Abenakis sei und der Gott der Weißen ihnen den Sieg schenken werde … Die Schwarze Kutte hat Macht über ihn, und die Schwarze Kutte will die Vernichtung der Irokesen.« »Die Schwarze Kutte kommandiert nicht die Armee. Nur der Oberst de Loménie beschließt den Kampf, und auch der Oberst will den Frieden mit Tekonderoga.« »Wird es ihm gelingen, seine Abenaki-Freunde zurückzuhalten? Seit mehreren Tagen spüren sie uns nach. Wir leben in Löchern und wagen es nicht, uns 236
deinem durch die Gegenwart dieser Schakale und Wölfe verpesteten Fort zu nähern. Hast du diese Falle für uns vorbereitet, Tekonderoga?« wiederholte er in feierlich-anklagendem Ton. Auf dem Umweg über Perrot erklärte ihm Peyrac, daß er selbst durch das Erscheinen der Franzosen überrascht worden sei und daß er sich gegenwärtig bemühe, sie ohne Schaden zum Abmarsch zu bewe gen. Allen Befürchtungen entgegen schien der Bevoll mächtigte der Irokesen sein Wort nicht anzuzwei feln, verriet jedoch weiterhin Besorgnis. Er hatte die Wahrheit bereits geahnt, doch die Situation wurde dadurch keineswegs besser. »Auf dem anderen Ufer werden wir ihnen leich ter entkommen, aber wir können den Fluß nicht überqueren. Allzu viele Feinde streifen zwischen Katarunk und Modebean umher.« Er versank für einen Moment in Grübeleien und fuhr dann fort: »Wenn du wirklich mächtig bist, Tekonderoga, ver sprich uns freien Übergang über den Kennebec … schütze uns gegen diese Kojoten.« »Ich glaube, Oberst de Loménies Einverständnis damit erhalten zu können«, sagte Peyrac. »Geduldet euch bis übermorgen. Die Verbündeten der Franzosen machen sich bereit, in den Norden zurückzukehren. Viele werden schon aufgebrochen sein, wenn ihr als Friedensdelegation vor Katarunk erscheint.« Tahutaget dachte nach, dann hob er den Kopf. »Ich denke, so wird es gehen«, stimmte er zu. 237
»Falls unsere Friedensvorschläge zurückgewiesen werden und wir den Fluß nicht überschreiten kön nen, werden wir wenigstens eine geringere Zahl von Feinden gegen uns haben … Nun bleibt mir noch das Schwerste zu tun. Uttakeh, den Häuptling der Mo hawks, zu überzeugen, daß es notwendig ist, Frieden mit dir zu schließen. Du weißt, daß alle Häuptlinge unserer Fünf Nationen einem solchen Beschluß zu stimmen müssen. Doch Uttakeh will nichts hören. Er sagt, von den Weißen sei nur Verrat zu erwarten, es gebe keine Ausnahme unter Ihnen. Er ist für den Krieg und nur für den Krieg. Er will sich mit seinen Kriegern auf die Patsuikets werfen, während wir hier angreifen.« »Du weißt, Tahutaget, daß es Wahnsinn wäre, und Swanissit weiß es auch. Kann er Uttakeh nicht über zeugen?« »Kennst du Uttakeh nicht?« fragte der andere dü ster. »Sein Schädel ist noch härter als Granit. Und zudem hat er Swanissit etwas Furchtbares gesagt. Er hat gesagt, er habe im Traum erfahren, daß du, Tekonderoga, Mann des Donners, die Ursache seines, Swanissits, Todes sein würdest.« »Ich?« rief Peyrac und erhob sich halb in einem zornigen Ausbruch bester indianischer Tradition. »Will dieser elende Mohawkhäuptling, den ich nie gesehen habe, mich des Verrats anklagen?« »›Wie könnte er die Ursache meines Todes sein, da er sich mit mir verbünden will?‹ hat Swanissit Uttakeh geantwortet. Aber wir sind beunruhigt, da 238
wir wissen, daß Uttakeh in Freundschaft mit dem Geist der Träume lebt. Wir wissen jedoch auch, daß er ein großer Lügner ist, denn er behauptet, die Algonkins hätten im Lager davon erzählt, daß dei ne Frau bei den stürzenden Wassern von Noxie das Zeichen des Irokesen besiegt habe, ein Beweis dafür, daß du unseren Untergang planst.« Die kleinen rötlichen Augen des alten Tahutaget glitten von Peyrac zu der abseits im Halbdunkel sitzenden Angélique. Man spürte, daß er Worte der Hoffnung hören wollte, daß aber die schwerwiegen den Behauptungen Uttakehs sein Vertrauen zu dem Weißen, dessen wärmster Verteidiger er im Rat gewe sen war, allzusehr erschüttert hatten. »Wünscht der Irokese den Tod meiner Gattin?« fragte Peyrac. »Habt ihr, Swanissit, du selbst und die andern, beschlossen, plötzlich vor ihr aufzutauchen, um das erschreckte Reittier zu veranlassen, sie und ihr Kind in den Abgrund zu stürzen? Keineswegs, nicht wahr? Und doch hat die Schildkröte es getan. Nun, ebenso wie ich dich und die Deinen für das Tun der Schildkröte nicht verantwortlich mache, dürft ihr meiner Frau, die sie aus ihrem Weg geräumt hat, um ihr Leben zu retten, nicht die Absicht unterschieben, sie habe den Fünf Nationen schaden wollen. Du weißt wie ich, daß die Schildkröte ein launenhaftes und zerstreutes Tier ist und daß der in ihr schlum mernde Geist eurer Vorväter sie nicht immer in ihren Handlungen leitet.« Die spitzfindige Erklärung schien Tahutaget zu 239
gefallen, der sie mehrmals durch die Windungen sei nes indianischen Gehirns passieren ließ und sodann durch ein kurzes Kopfnicken billigte. »Ich habe immer gedacht, daß dieser Uttakeh ein wenig töricht ist. Sein Haß verwirrt ihn. Doch Swanissit ist ein Weiser. Er will die Zukunft der Fünf Nationen retten und ist der Meinung, daß du ihm dabei helfen könntest.« »Ich werde ihm dabei helfen«, erklärte Peyrac, in dem er seine Hand auf die des Wilden legte. »Kehre in den Wald zurück und sage Swanissit, er möge mir weiterhin Vertrauen schenken. Ich werde versuchen, den Abzug der Indianer zu beschleunigen und von den französischen Offizieren Waffenstillstand für euch zu erlangen, der euren Kriegern erlaubt, den Fluß zu passieren. In zwei Tagen werden wir euch wissen lassen, ob die Franzosen einverstanden sind und eure Ältesten sich ohne Gefahr vor Katarunk zeigen können.« Der Irokese erhob sich, und nachdem er mittels Holzkohle die Rußbemalung verstärkt hatte, die ihm gestattete, sich ungesehen durch die Nacht zu bewe gen, schob er mit einem Mokassin die Glut im Kamin beiseite und zog sich geschmeidig in den Rauchfang hinauf. Eine Weile verharrten sie noch reglos und warteten auf die Schreie, die ihnen verraten hätten, daß sich die Wilden an die Verfolgung des entdeckten Feindes machten. Doch alles blieb still …
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»Merkwürdig«, sagte Nicolas Perrot, indem er sich den struppigen Schopf unter der Pelzmütze kratzte. »Eine verrückte Geschichte! Mich würde es nicht wundern, wenn sich aus all dem schon in kurzem ein teuflisches Durcheinander ergäbe.« »Ich glaubte, Uttakeh sei von den Franzosen nach einem Festmahl, zu dem er geladen war, entführt, nach Frankreich geschafft und dort zu den Galeeren verurteilt worden!« »Stimmt, aber er ist zurückgekehrt. Monsieur de Frontenac hat seine Freilassung und die Erlaubnis zur Heimkehr erwirkt.« »Was für eine Dummheit!« rief Peyrac. »Offenbar wird man höheren Orts nie begreifen, daß ein Irrtum kostspieliger sein kann als ein Verbrechen. Wenn man sich schon dazu hinreißen läßt, einen Gast, den man an seiner Tafel empfing, zu entführen und auf die Galeeren zu schicken, soll man das Verbrechen auch vollenden und ihn sterben lassen. Wie konnten sie so naiv sein, nicht vorauszusehen, daß er, kaum wieder im Lande, sofort ihr schlimmster Feind werden wür de? Wie soll er je vergessen, wie man ihn behandelt hat?« »Wer ist dieser Uttakeh?« fragte Angélique. »Ein großer irokesischer Häuptling der Mohawk nation«, erklärte Perrot. »Sein Schicksal war schon vorher ungewöhnlich. Als kleines Kind hatte ihn Monsieur d’Arreboust adoptiert und ließ ihn auf seine Kosten im Seminar von Québec erziehen. Im Gegensatz zu den meisten anderen jungen Indianern 241
betrieb er seine Studien mit Ernst. Er spricht noch heute ein sehr korrektes Französisch, was bei den Indianern selten ist. Aber als Jüngling verschwand er, und schließlich erfuhr man, daß er unter seines gleichen einer der leidenschaftlichsten Verbreiter des Hasses gegen die Franzosen geworden war. Er selbst hat mehrere unserer Missionare mit unglaublicher Grausamkeit gefoltert. Ein Raubtier könnte nicht grausamer sein als er.« Angélique dachte an das Götzengesicht mit dem scharlachroten Ohrgehänge, das sie am Waldsaum bemerkt hatte, an den kalten, haßvollen Glanz der schmalen Augen. »Wie ist er?« murmelte sie. »Ich meine, wie sieht er aus?« Aber sie hörten sie nicht …
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Neunzehntes Kapitel
Der Mohawkhäuptling Uttakeh gleitet mit lautlosen Schritten durch den von Sonnenlicht erfüllten Wald. Ihn hindert weder das Gestrüpp noch die Wurzeln, noch das Geflecht der Zweige. Den buschigen Wall, den der Wald vor allen Lebendigen aufrichtet, durch quert er, wie ein Gespenst eine Mauer durchquert. Nichts hemmt den schnellen, gleichmäßigen Rhyth mus seiner harten Waden, deren Haut er einst aufge schlitzt und deren Fett er beseitigt hat, damit allein die unermüdlichen Muskeln sich in ihnen regen und entfalten sollten. Er watet durch Bäche, folgt den Ufern der Seen, er klettert steile Abhänge, spürt über zerklüftete Kämme mit höckrigen, vom Regen freigewaschenen Felsen und verkrüppelten Fichten, steigt wieder in den dich ten Schatten des Laubwerks hinab, in dem noch die purpurnen und goldenen Farben des Spätherbstes glühen. Er denkt an seine Brüder, die Häuptlinge der Fünf Nationen, die er dort unten zurückgelassen hat, zusammengekauert wie furchtsame Kaninchen, während sie den Worten des aus Katarunk zurückge kehrten Tahutaget lauschten. Nein, niemals wird er ihr Vorhaben billigen, Frieden mit einem Weißen zu schließen, denn er läßt sich nicht zum Narren hal ten. Das liegt hinter ihm. Aber er hat sie vergeblich gewarnt. Sie haben sich über ihn lustig gemacht, und 243
dennoch hat er, Uttakeh, sie im Traum mit bluten den Wunden gesehen. Sie haben über ihn gespottet, als er sie mahnend daran erinnerte, daß die Frau Tekonderogas das Zeichen des Irokesen aus ihrem Weg geräumt habe. Und doch hat er, Uttakeh, sie in der Abenddämmerung beobachtet, die kniende wei ße Frau, die dem Gott der Erde huldigte. Nein, sie betete nicht, wie die Weißen beten, die ihre Inbrunst in sich verschließen. Sie betete, indem sie Blätter der Minze zwischen ihren Händen rieb, dann die Hände zum Himmel erhob, dann langsam mit ihnen über ihr Gesicht strich, während sie die Lider senkte, und ihr Antlitz war vom Schein der sinkenden Sonne er hellt gewesen. Seitdem er sie gesehen hat, verspürt er Furcht, fühlt er sich bedrückt. Nun überquert er mit schnellen Schritten eine kahle, von den Flammen eines Brandes freigelegte Fläche, und sein Blick irrt über die Wildnis der Wäl der, Berge, die aneinandergereihten Seen und sich schlängelnden Flüsse, die die düstere und grandiose Landschaft des oberen Kennebec bilden. Hat diese Gegend je solchen Zustrom erlebt wie in diesen Tagen, in denen der Mann des Donners mit seinen Pferden, Frauen und Kriegern erschienen ist, um die mit ihren roten Verbündeten aus dem Norden gekommenen Kanadier zu treffen, während von Süden her Patsuikets und Etscheminen, die einen wie die andern Feinde der Irokesen, den blauschwarzen Kennebec heraufpaddeln, an der Spitze ihrer Flottille die Schwarze Kutte mit dem Feuerblick, der Jesuit 244
Etkon-Hontsi? In welcher Absicht können sie sich zusammengefunden haben, wenn nicht in der, den Irokesen Schach zu bieten! Uttakeh taucht von neuem ins Dunkel des Waldes. Er denkt an die weiße Frau, die auf ihrem Wege der Schildkröte begegnet ist und sich nicht abgewendet hat. Und als er den Blick zur Sonne hebt, die glühende Pfeile in den kühlen Schatten zwischen den Stämmen schießt, überkommen ihn eine Art Schwindel und ein Schmerz in den Tiefen des Magens, die vielleicht nur mit den Mühsalen des Hungers, des Marsches und des Krieges zu tun haben, die seit drei Monaten sein Dasein bestimmen, vielleicht aber auch mit der Erinnerung an das, was er empfand, als er, hin ter Bäumen verborgen, das fremde, beunruhigen de Wesen im Schmucke seines flammenfarbenen Mantels sich nähern sah. Ein verabscheuenswertes Gefühl, in dem er Angst zu erkennen glaubte, Angst vor dem, was ungewöhnlich ist und was man nicht versteht. Der Hunger läßt ihn schweben, verleiht seinem Blick hellsichtige Schärfe. Sein Geist löst sich von seinem Körper und flattert vor ihm her wie ein trun kener Vogel. Seine Seele ächzt im Banne der ewigen Versuchung, die die Weißen einflößen, der ewigen Verführung, die den Indianer diesen Verrätern und Henkern zu Füßen wirft in der nie erlöschenden Hoffnung, daß es diesmal Er sei, der Vorfahr mit dem weißen Gesicht, Träger der Fackel des Ruhms, an 245
gekündigt von allen indianischen Priestern und den ältesten Legenden des Vogelkults. Weißt du nicht schon lange, daß er es nicht ist, daß er es niemals ist? Allenfalls der falsche Messias, wie die Schwarze Kutte sagen würde. Der Vorfahr mit dem weißen Gesicht existiert nicht, wird nicht mehr kommen. Welche Schwäche also wirft dich, Swanissit, vor die Füße einer Illusion, um dort Größe, Kraft, Schutz zu suchen und nichts als Gift zu erhalten? Haben euch noch nicht genug Musketenschüsse getroffen, Indianer? Hat man euch noch nicht genug mit Feuerwasser getränkt, das euch verzehrt, wie das Feuer den Wald verzehrt? Doch Swanissit, dieser Weise und Held, hofft noch gegen jede Wahrscheinlichkeit, gegen jede Erfahrung. Er hofft auf den Mann des Donners. Um der Versuchung der Weißen zu entgehen, muß man sie alle töten, in ihrer Seele treffen. Aber sie ha ben keine Seelen! Ihre Seele ist ein Biberfell … Die Sonne beginnt allmählich zu sinken. Der Irokese, der sich aufgemacht hat, um das Fort der Weißen zu belauern, macht halt und wittert um sich. Plötzlich verschwindet er hinter einem Stamm, denn er gewahrt zwei Abenakis. Es sind Patsuikets, die von den Quellen des Connecticut kommen, Männer mit langen Nasen, kurzem Kinn und vorspringenden Zähnen wie die der Kaninchen. Ihre Haut hat die Farbe roten Lehms. Sie flechten ihr Haar, und ihre Skalpsträhne ist so schlecht geknotet, daß man nicht 246
weiß, wo man anpacken soll, um ihnen den Schopf zu nehmen. Der hinter dem Baum versteckte Irokese sieht sie mit Verachtung nur wenige Schritte entfernt an sich vorüberziehen. Die langen, gekrümmten Nasen halb wegs am Boden, folgen sie einer Spur. Diese Spur wird sie zu der Stelle führen, wo vor kurzem die fünf irokesischen Häuptlinge berieten. Zwar hat er sich die Mühe genommen, sie strecken weise zu verwischen, aber die Abenakis werden sie zweifellos wiederfinden, denn ihr Spürsinn übertrifft sogar den der Kojoten, sicher ihrer langen Nasen we gen. Sie werden zum Beratungsplatz gelangen, und dort werden sie die Witterung des Feindes aufneh men. Einem flüchtigen Schatten gleich, schiebt sich der Irokese, von einem Stamm zum andern gleitend, an sie heran, und als er sie eingeholt hat, spaltet er ihre Köpfe so präzise und schnell, daß die beiden Rothäute zu Boden stürzen, ohne auch nur einen Seufzer von sich zu geben. Unbekümmert um die Leichen und sogar um die Skalpe setzt der Irokese seinen Weg fort. Als er in die Nähe des Forts gelangt, gießt die sin kende Sonne dunstig-rötliches Licht über die freie Fläche am Flußufer, die die Männer dem Wald ent rissen haben. Das Wiehern der Pferde ist zu vernehmen, und die ser Laut ist so ungewöhnlich und eindrucksvoll, daß es den Wilden durchschauert. Er verharrt lange wie 247
in Trance und lauscht den vielfältigen Geräuschen. Ohne ihn je gesehen zu haben, haßt er diesen plötz lich aufgetauchten Weißen, der ihnen nun auch Unterstützung, eine Hoffnung, ein vielleicht rettendes neues Abenteuer zu versprechen scheint. Und doch weiß er, daß all das nur Täuschung ist … Wie soll man die Seele des Weißen erreichen, wenn man ihn nicht mit den Waffen vernichten kann, bevor er sie einmal mehr betrogen hat? Auf die Gefahr hin, von einem Abenaki oder Hu ronen entdeckt oder wie ein gemeines Wild von ei nem der Hunde, die unten am Flußufer kläffen, auf gestöbert zu werden, bleibt der Irokese wie fasziniert auf seinem Posten. An diesem Ort hat er die im Duft der Pflanzen kniende weiße Frau gesehen. »Urenda! Urenda« murmelt er. Er ruft den höch sten Geist, der sich mit allem Geschaffenen vermengt und ihm seine Kraft zuführt. Er hört die Quelle raunen, und die Wärme weckt den lauen Duft der Minze. Und sein Entschluß ist gefaßt: »Morgen kehre ich hierher zurück. Ich werde die weiße Frau rufen. Und wenn sie kommt, werde ich sie töten.«
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Zwanzigstes Kapitel
Der Auszug der verbündeten Indianer war zum Still stand gekommen. Durch die Stimmen der Trommeln war eine Botschaft zu ihnen gelangt. Man hatte im Wald zwei Patsuikets mit gespaltenen Schädeln ge funden. Zweifellos die Tat der Irokesen. Nicolas Perrot wandte seine ganze Beredsamkeit auf, um den Huronen und Algonkins auseinander zusetzen, daß die Angelegenheiten der Patsuikets sie nichts angingen. Es seien nicht einmal Abenakis wie die andern, erklärte er ihnen. Ihr Name bedeute: die, die sich eingeschmuggelt haben. Es seien Fremde, die vom anderen Ufer des Connecticut gekommen wären und sich unter die Kinder des Landes der Morgenröte gemischt hätten, um ihre Jagd- und Fischgründe zu plündern. Sollten sie sich doch mit den Irokesen herumstrei ten, sagte er ihnen. In Anbetracht von deren geringer Zahl sei es ohnehin nicht der Mühe wert, daß die kühnen Krieger des Nordens Jagd auf sie machten. Es beweise genug, daß sich die Irokesen selbst zur Zeit verkröchen und es nicht wagten, die in Katarunk versammelten mächtigen Stämme anzugreifen. Es verlohne sich wirklich nicht, wegen ein paar sich in den Haaren liegender Irokesen und Patsuikets das von Onontio, dem Gouverneur Kanadas, vergrabene Kriegsbeil wieder auszugraben. 249
Während er mit wahrem Feuereifer auf sie ein sprach, plagten den armen Perrot Gewissensbisse den Patsuikets gegenüber, die nicht nur die besten Krieger, sondern auch den katholischen Missionaren besonders ergeben waren. Peyrac hatte indessen Loménie mitgeteilt, daß sich die Irokesen im Wald aufhielten und den Kennebec unbehindert zu überschreiten wünschten. Die Auffindung der beiden toten Patsuikets stellte alles wieder in Frage. Doch Peyrac blieb bei seiner Auffassung. »Die Patsuikets mögen weiter flußabwärts mit den Irokesen kämpfen, wenn sie ihre Toten rächen wol len. Was mich betrifft, will ich nicht, daß Katarunk in irgendeiner Weise in ihre Streitigkeiten verwickelt wird, weder meine Leute noch die, die sich heute hier befinden. Die beklagenswerte Angewohnheit der Franzosen, sich an den ständigen Auseinander setzungen der Stämme zu beteiligen, führt nur zum Ruin der Kolonisation«, sagte er zu dem noch zögernden Loménie. Der Oberst stimmte zu. Er begnügte sich damit, für den Fall, daß Pater d’Orgeval Hilfe brauchte, eine kleine Abteilung Etscheminen nach Süden zu schicken. Planvoll spielte man die zwischen den Patsuikets und den übrigen Abenakis bestehende Abneigung aus, und am späten Nachmittag entspannte sich die Lage. Mit Geschenken beladen, zogen es die indiani schen Häuptlinge vor, in ihre Dörfer zurückzukeh ren und Patsuikets und Irokesen ihrem Schicksal zu 250
überlassen. Nur der Baron de Maudreuil war mit der Ent wicklung der Dinge nicht einverstanden. Er wollte sich dem Feind entgegenwerfen. »Und was geschieht, wenn Pater d’Orgeval mit sei nen Katechismusschülern angegriffen wird?« fragte er leidenschaftlich. »Falls wir sie unbehindert den Fluß passieren las sen, haben sich die Irokesen verpflichtet, keine der Stämme, denen sie auf ihrem Heimweg begegnen, Schaden zuzufügen«, sagte Peyrac. »Zum Beweis dessen haben sie schon zwei Patsui kets getötet!« Peyrac mußte sich eingestehen, daß er sich die se Gewalttat nach dem Gespräch mit Tahutaget am Abend zuvor nicht erklären konnte. »Ihr werdet mich sie kennen lehren«, spottete Maudreuil. »Im Hirnkasten eines Irokesen kann’s nur Betrug und Verrat geben.« Loménie rief ihn zur Ordnung. Die Kanadier ver gäßen allzu leicht, daß ihr königlicher Gouverneur Friedensverträge mit den Fünf Nationen geschlossen habe. »Für diese Sorte gelten keine Verträge«, erwiderte der andere. Er starrte sie mit seinen blauen Augen herausfordernd an und fuhr fort: »Nur Krieg! Krieg ohne Gnade! Es kann keine andere Lösung zwischen Franzosen und Irokesen geben.« Trotz allem ging der Abzug der indianischen Armee ohne Störung weiter, und als der Abend hereinbrach, 251
kehrten die Frauen und Kinder, die sich der bevorste henden Kämpfe wegen im Wald versteckt hatten, zu rück und hängten friedlich ihre Kessel über das auflo dernde Feuer, um die Abendmahlzeit herzurichten. Um diese Zeit etwa wurde Madame de Peyrac ver mißt. Man suchte sie überall. Streifen suchten die Umgebung der Wohnhäuser ab und umschritten den Palisadenwall. Man rief nach ihr auf dem Vorfeld und am Ufer des Flusses. Ein lastendes Gefühl des Unheils bemächtigte sich aller. Angélique war verschwunden.
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Einundzwanzigstes Kapitel
Es hatte sie auf eine seltsame Art befallen, während sie sich allein im kleinen Wohnhaus aufhielt: ein Unbehagen, das ihre Seele beschwerte. Und plötzlich hatte sie Lust verspürt, zu jenem Hügel hinter dem Fort zu laufen, um dort Minze zu pflücken. Sie mußte mehrfach den immer wiederkehrenden Gedanken verjagen, und schließlich fühlte sie sich ein wenig besser. Unbeschäftigt, unfähig, sich irgendeiner Tätigkeit zu widmen, lehnte sie am Fenster und blickte durch die kleinen Pergamentvierecke, obgleich sie draußen im Hof nur hin und her eilende Schatten wahrzuneh men vermochte. Sie dachte über die Launen und den Charakter ihres jüngeren Sohnes Cantor nach, der ihr schmoll te, seitdem sie einen Eimer Wasser über ihn aus geschüttet hatte. Es war ihr niemals leichtgefallen, seine Gedanken zu erraten, selbst als er noch ein lockenköpfiger Cherub gewesen war. Jetzt, da er sich zu einem robusten Jüngling gemausert hatte, begabt mit jener gesunden, ein wenig rustikalen Schönheit, deren sie sich noch von einigen ihrer Brüder de Sancé her erinnerte, war es noch schwieriger geworden, sein Vertrauen zu gewinnen. Mechanisch trommelten Angéliques Finger gegen das Pergament des Fensters. Sie beschwor Cantors 253
Blick: Mädchenaugen und dazu der Körper eines jun gen Athleten. »Was gibt’s, mein Junge? Was gibt’s, jun ger Mann?« fragte sie in halblautem Selbstgespräch. »Haben wir uns schon nichts mehr zu sagen? Haben wir schon nichts mehr miteinander zu schaffen, ob wohl wir immer noch Mutter und Sohn sind?« Es war ein Echo auf die Frage, die sie sich oft stell te, seitdem sie in Gouldsboro ihre beiden Söhne wie dergefunden hatte, eine Frage, auf die sie noch keine Antwort wußte. »Wozu kann die Mutter zweier großer Jungen von fünfzehn und siebzehn Jahren, die sich seit langem daran gewöhnt haben, ohne sie auszukommen, noch nützlich sein?« Ein kräftiger Schlag dröhnte gegen die Tür, und in ihrem Rahmen zeigte sich leicht und lächelnd der dunkelhaarige Florimond. Angélique, die erschrocken die Hand aufs Herz gepreßt hatte, fragte ihn, ob er sich nicht mehr daran erinnere, daß er einst der gesit tetste Page von Versailles gewesen sei, und ob er sich unbedingt so militärischer Formen befleißigen müs se, wenn er sich zu Damen begebe? Immerhin könne er ihr durch größere Mäßigung unnütze Aufregungen ersparen. Der Faustschlag gegen die Tür gebühre der Soldateska und kündige im allgemeinen für niemand Erfreuliches an. Florimond gab unbeschwert zu, daß seine Reisen und besonders sein Schiffsjungendasein an Bord eines Handelsseglers die guten Salon- und Hofmanieren, die ihm sein Prazeptor, der Abbé, mühsam einge 254
trichtert habe, rasch getilgt hatten. Es sei nicht dessen Schuld; sein Temperament sei schon immer mit ihm durchgegangen. Und wenn die Manieren, die er in Neuengland angetroffen habe, auch hochnäsiger seien als die auf den Schiffen, fehle es ihnen doch an Anmut. Aber wenigstens kompliziere man sich das Leben nicht mit lächerlichen Kniebeugen und Kratzfüßen. Endlich, argumentierte er gewitzt, verbiete schon die Dicke der Türen eines simplen Forts mitten in der Wildnis, mit dem Nagel des kleinen Fingers kratzend um Einlaß zu bitten wie ein nach den Grundsätzen bester Lebensart erzogenes Gänschen der guten Gesellschaft, weil man sonst drauf gefaßt sein müsse, nicht gehört zu werden und ewig draußen zu blei ben. Angélique lachte und räumte ein, daß er nicht ganz unrecht habe. Sie betrachtete ihn mit Vergnügen, während er auf und ab ging, und sagte sich, daß er wirklich ein prächtiger Junge sei, und dabei hatte er ihr infolge seiner zarten Gesundheit nicht wenige Scherereien gemacht, als er klein gewesen war. Nach dem Vorbild Romain de l’Aubignières und des Barons de Maudreuil trug er ein perlenbesetztes Stirnband über seinem langen Haar, aus dem Federn ragten. Es stand ihm ausgezeichnet. Auch er war schön, schön wie Joffrey gewesen wäre, wenn ihn nicht ein Säbelhieb in seiner Kindheit entstellt hätte. Seiner Größe nach war er nun fast ein Mann, aber 255
ein Kind noch durch sein Lächeln. Er sagte, daß er gekommen sei, um über Cantor zu sprechen. Sein Bruder sei ein Dickschädel, gab er zu, aber ein mutiger, anständiger Kerl, und im Augenblick »habe er Schwierigkeiten« … Er ließ sich nicht weiter dar über aus. Seine brüderliche und zugleich kindliche Fürsorg lichkeit bewegte Angélique. Sie versicherte ihm, daß sie Cantor nicht böse sei, daß sie aber eine Verständi gungsbasis finden müßten. Sie plauderten freundschaftlich weiter, und Flori mond erzählte ihr von Plänen, die ihm am Herzen lagen. Er sprach davon, daß er von den Erkundungs zügen seines Vaters Ins Innere des Kontinents profitie ren und mit einer Expedition noch weiter westwärts vorstoßen wolle, um den Wasserweg nach China zu entdecken, den man schon so lange suche. Er habe seine eigenen Ideen in dieser Hinsicht, habe aber mit seinem Bruder noch nicht darüber ge sprochen. Es sei ohnehin besser, bis zum Frühling zu warten. Der Abend sank. Angélique unterhielt sich mit ihrem Sohn, während sie begann, die Lampen vor zubereiten und Kerzen in die Handleuchter zu stecken. Und plötzlich überfiel sie die Erinnerung an den Traum von dem Irokesen, der seinen Tomahawk über ihr geschwungen hatte, mit so bru taler Eindringlichkeit, daß sie ohnmächtig zu werden glaubte. 256
Florimond bemerkte ihre Blässe, unterbrach sich und fragte, was sie habe. Sie gestand, daß sie sich nicht wohl fühle. Sie habe das Gefühl zu ersticken. Sie müsse ein wenig frische Abendluft atmen. Sie werde auf dem Hügel nahe der Quelle Minze pflücken, denn wenn es erst einmal friere, seien die zarten Blätter nicht mehr für Medizinen zu gebrauchen. Angélique sprach wie in einem Traum. Die Notwendigkeit des Pflückens schien ihr plötzlich unumgänglich, und sie wunderte sich, es vergessen und erst zu so später Stunde daran gedacht zu haben. Sie warf sich einen wollenen Umhang über die Schultern und nahm einen Korb. Auf der Schwelle schien es ihr, als habe sie noch etwas vergessen, und sie sah lange Florimond an, der sich unbekümmert um ihren unerwarteten Aufbruch Bier einschenkte. »Würdest du mir deinen Dolch leihen, Florimond?« »Gern, Mutter«, sagte er. Es schien ihn nicht zu verwundern. Er reichte ihn ihr, einen sorglich gepflegten Hirsch fänger, wie er einem Jungen von siebzehn Jahren zu kommt, der sich für einen erfahrenen Jäger und aus gekochten Waldläufer hält. Die Klinge war beidseitig geschliffen und scharf wie ein Rasiermesser. Der polierte, mit Einkerbungen für die Finger versehene Griff lag gut in der Hand. »Ich gebe ihn dir gleich zurück«, sagte Angélique. Dann verließ sie rasch den Raum. 257
Als man sich ein wenig später auf die Suche nach ihr machte, spielte Florimond in der Küche auf seiner Schnabelflöte und überwachte Monsieur Malaprade, der eben dabei war, einen Kuchen zu backen, wie ihn der Junge seit seiner Kindheit nicht mehr zu kosten bekommen hatte. Zu den Zutaten gehörten Weizenmehl, Zucker und Vanille. Ein wenig Elchfett ersetzte die Butter, ein Nahrungsmittel, das man in diesen Gebieten nicht kannte. Befragt, erzählte Florimond, daß seine Mutter zur Quelle auf dem Hügel gegangen sei, um Minze zu pflücken, und daß sie sich seinen Hirschfänger aus geliehen habe. Er war über die heftige Reaktion seines Vaters er staunt, der ihm einen furchtbaren Blick zuwarf. »Schnell!« sagte Joffrey zu Perrot. »Wir müssen so fort hinauf. Ich weiß, daß sie in Gefahr ist.«
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Zweiundzwanzigstes Kapitel
Angélique war zwischen Stapeln gefällter Bäume den Hügel hinaufgestiegen. Sie ließ das gerodete Stück hinter sich und folgte weiter dem grasigen Hang. Endlich bemerkte sie die Quelle. Und es war wie in ihrem Traum. Auch jetzt lag die Kuppe des Hügels im Schein der untergehenden Sonne. Und sie wuß te, daß wie beim erstenmal ein noch Unsichtbarer sie belauerte. Insekten summten im Unterholz. Das Bächlein murmelte. Alles war ruhig. Und dennoch war der Irokese da. Sie wußte auch, daß es zur Flucht zu spät war und daß sich der Traum erfüllen mußte. Die nervöse Spannung, die sie hierhergetrieben hatte, wich von ihr, und eine Kraft, die ihr vertraut war, stieg in ihr auf. So war es immer in den Momen ten vor jedem Kampf gewesen, besonders dann, wenn sie, den Dolch in der Hand, ihre Kinder hatte ver teidigen müssen. Ein innerer Friede breitete sich in ihr aus und erfüllte sie so, daß sie sich später dieser Augenblicke als der beglückendsten ihres Lebens er innerte. Sie griff nach Florimonds Waffe und verbarg sie in den Falten ihres Rocks, während sie sich der Quelle näherte, an deren Rand sie niederkniete. Und der Unsichtbare, der sah, daß sie ihm den Rücken zukehrte und offenbar ohne Verdacht war, wartete nicht, bis sie sich ihm wieder zuwenden wür 259
de, sondern setzte lautlos zum Sprung an. Sie gewahrte ihn, einen schwarzen Schatten vor der sinkenden Sonne, mit geschwungenem Toma hawk, der Haarbusch wie eine flirrende Feder krone, so daß er ihr wie ein seltsamer, riesiger Raubvogel schien, der auf seine Beute herabstieß. Sie warf sich zur Seite. Er strauchelte, verfehlte sein Ziel, und da sie gleichzeitig seinen Knöchel packte, stürzte er schwer ins Gras am Rande des Baches. Der Tomahawk entglitt ihm, und im nächsten Moment spürte er die scharfe Spitze des Dolchs an seiner Kehle. All das hatte sich mit außerordentlicher Schnelligkeit und fast ohne jedes Geräusch abgespielt. Doch als sie den Faden dieses Lebens durchschnei den wollte, zögerte Angélique. Sie lag mit ihrem ganzen Gewicht über dem Indianer. Die schwarzen, glänzenden Augen zwischen den schräg geschlitzten Lidern drückten unsagbare Verblüffung aus. Der Irokese vermochte nicht zu begreifen, wie ein so starker, erfahrener Krieger wie er sich unversehens der Gnade einer Frau, noch dazu einer weißen, ausge liefert finden konnte. Seine Verstörtheit löste sich erst durch den allmählich sich formenden Gedanken, daß diese Frau nicht wirklich war, sondern ein Geschöpf höherer, zweifellos göttlicher Wesensart. Er atmete auf. Er konnte also seine Niederlage eingestehen. Es war keine Schande mehr. Seine Stimme erhob sich rauh und dumpf: »Frau, gib mir mein Leben!« 260
Im Augenblick ihres Zögerns hätte er versuchen können, sich gegen sie zu wehren, aber er hatte es nicht getan. Er schien sich zu fügen. »Wenn ich dir dein Leben gebe, wirst du das meine nehmen«, murmelte sie. Ihre sanfte, melodische Stimme durchdrang den Geist des Wilden. Ein Gefühl fast mystischen Jubels überwältigte ihn. »Nein«, erwiderte er mit Nachdruck. »Ich schwöre es beim Großen Geist. Dein Leben ist geheiligt, wenn du Fleisch geworden bist. Von nun an kann nichts dich treffen.« Jetzt erst wurde ihr bewußt, daß auch er franzö sisch gesprochen hatte. »Bist du nicht Uttakeh, der Häuptling der Mo hawks?« »Ich bin es.« Sie gab ihn frei. Der Irokese rollte sich langsam auf die Seite, ohne sie aus dem Blick zu lassen, dann rich tete auch er sich mit den geschmeidigen Bewegungen einer Katze auf. Er suchte nicht nach dem Tomahawk im Gras. Reglos sah er sie an. »Und du bist die Frau Tekonderogas?« Und da sie nicht zu verstehen schien: »Des Donners? Dessen, der die Berge spalten kann und dem das Fort Katarunk gehört?« Sie neigte bestätigend den Kopf. »Dann führ mich zu ihm«, sagte er. Die, die eilig den Hang hinaufliefen, um Angélique zu helfen, sahen zwei Gestalten auf sich zukommen, 261
schattenhaft zuerst, denn die Nacht breitete sich nun auch über den Hügel. Sie erkannten die junge Frau, aber sehr schnell mischte sich in ihre Erleichterung ein Gefühl des Argwohns gegen den, der sie begleitete. Sie blieben wachsam. Und bei vielen meldeten sich unbestimmte Furcht und Zaghaftigkeit, wie sie die empfunden ha ben mußten, die einst die heilige Martha der Legende vom Berge hatten herabkommen sehen, hinter sich in Ketten das Ungeheuer, den endlich unschädlich gemachten Drachen. Denn es war deutlich zu spüren, daß der, der ihr folgte, nicht von gewöhnlicher Art war. Die erschrek kende Glut des besiegten Ungeheuers schien ihn zu beseelen, der feurige Atem des blutgierigen Drachen seine tätowierte Brust zu heben. Einige der Männer Peyracs, kriegserfahrene Leute, wichen zurück, und die Metallaks, die sich zu ihnen gesellt hatten, drehten sich auf den Hacken um und liefen so schnell sie konnten den Hang hinab, um sich für den unausbleiblichen Kampf zu rüsten. »Es ist Uttakeh, der Häuptling der Mohawks«, sag te Angélique. »Er ist allein, und er will verhandeln. Ich habe ihm freies Geleit versprochen.« Schweigend starrten sie den unerbittlichen Mohawkhäuptling an. Uttakeh wollte verhandeln? … Es schien undenkbar. Doch die, die ihm schon begegnet waren, erkann ten seine gedrungene, kraftvolle Gestalt, witterten seine beherrschte Leidenschaftlichkeit, die einen Ein 262
druck bezwingender Kraft hinterließ. Er war es wirklich. Der junge Baron de Maudreuil rief ihm einige iro kesische Worte zu. Der Indianer antwortete ihm kurz. Maudreuil fuhr auf: »Er sagt, Swanissit sei hier … Ich wußte es. Ich bin seiner Spur gefolgt. Der Geruch dieses Fuchses trügt nicht. Endlich haben wir sie, diese Indianer, diese Barbaren!« »Schweig!« rief Nicolas Perrot. »Du vergißt, daß man einen Abgesandten nicht beleidigt.« »Er ein Abgesandter? … Mit ihm tritt der schlimm ste Feind Gottes in unser Lager. Ich würde keinem Wort aus seinem Munde glauben.« Der Irokese blieb gelassen. In gutturalem Franzö sisch fragte er: »Wo ist Tekonderoga, der Mann des Donners?« Er wandte sich zu Peyrac. »Bist du es? Ja! Ich erkenne dich. Ich, Uttakeh, grüße dich. Swanissit, der Seneka, Oberhaupt der Fünf Nationen, will den Frieden mit dir. Ich komme in seinem Namen, um ein Bündnis mit dir zu erlangen und um deine Vermittlung bei den Franzosen zu bitten, uns den Kennebec überque ren zu lassen.« Der Graf de Peyrac hob die Hand zum Hut, dessen schwarze und rote Federn der Nachtwind bewegte. Er nahm ihn ab und neigte sich tief vor dem Wilden als Zeichen der Achtung und des Willkommens. »Ich wußte«, erzählte Uttakeh später, »daß die Weißen diese Art Gruß dem König vorbehalten. 263
Und dennoch grüßte dieser weiße Mann mich so, und mein Herz brannte, als habe sich das Feuer der Freundschaft in ihm entzündet …« Einige Stunden darauf verließ Uttakeh wieder das Fort, um Swanissit Vorschläge zu überbringen. Wenn man die Irokesen bei der Überquerung des Flusses nicht behinderte, hätten ihre Häuptlinge sich zu ver pflichten, keinen der Abenaki- oder Algonkinstämme zu belästigen, die ihnen auf ihrem langen Rückweg begegnen würden. »Warum kümmert ihr Franzosen euch um diese ro ten Füchse?« hatte der Mohawk verächtlich gefragt. Maudreuil beharrte auf seiner Meinung, und selbst die Leutnants Pont-Briand und Fallières unterstütz ten ihn, als er protestierte: »Ihr werdet sehen, sie übernehmen Verpflichtungen und respektieren keine.« Auch die verbliebenen verbündeten Häuptlinge zeigten sich unzufrieden. »Wir sind des Krieges we gen gekommen«, sagte der Hurone, »und jetzt, da der Feind da ist, spricht man nur von Verträgen! Was wird unser Volk sagen, wenn es uns ohne einen einzigen Skalp zurückkehren sieht?« Loménie hielt stand. Es sei besser, den Irokesen das Versprechen abzuringen, auf ihrem Heimweg keinen Schaden anzurichten, als durch einen leichten Sieg die blutigen Feindseligkeiten neu zu beleben, deren Be endigung Monsieur de Frontenac so am Herzen liege. »Vergeßt nicht, daß das Kriegsbeil zwischen Kanada 264
und den Fünf Nationen begraben wurde«, wiederhol te der Oberst. »Wir vergessen es nicht«, antwortete der Irokese. »Wir haben seit langem keine Franzosen angegriffen.« »Aber die uns befreundeten Stämme.« »Wir haben das Kriegsbeil nur mit den Franzosen begraben«, wich der gerissene Indianer aus. »Warum mischen sich die Franzosen in diese Dinge?« Zu Beginn des Palavers hatte sich Angélique zu rückziehen wollen, war aber durch die zornige Stim me des Mohawkhäuptlings zurückgehalten worden. »Sie soll bleiben!« Niemand konnte sagen, welchen Gefühlen er ge horchte, wenn er die Anwesenheit der weißen Frau im Rat der Männer forderte. Ein Mysterium um gab sie und ihn. Man fragte sich, was dort oben auf dem Hügel geschehen sein mochte. Und nicht ohne Bangen streiften heimliche Blicke Angélique. Ihr selbst schien es, als komplizierten sich die Dinge, und es wäre ihr lieber gewesen, sich nur um Küche und Haus kümmern zu müssen. Die Migräne pochte in ihren Schläfen, und sie fuhr sich mit abwesender Miene über die Stirn. Es war ihr völlig schleierhaft, auf welche Weise sie Joffrey erklären sollte, wie es zu ihrer Begegnung mit dem Mohawkhäuptling gekom men war. Als Uttakeh sich in Richtung des Waldes entfernt hatte, lauschte sie noch einen Moment auf den erregten Widerstreit der Meinungen, dann begab sie sich in ihr Zimmer, legte sich zu Bett und versank augenblicks in tiefen Schlaf. 265
Als sie am folgenden Morgen erwachte, fühlte sie sich gut. Sie gewahrte, daß Joffrey neben ihr geschlafen hat te, aber er war schon nicht mehr da. Sie hatte weder von seinem Kommen noch von seinem Gehen etwas gemerkt. Sie war sich noch immer nicht klar darüber, was sie ihm sagen würde, und beschloß nacheinander, ihm nichts zu sagen, und dann, ihn zu bitten, ihr mit seiner Erfahrung zu helfen, den Sinn hinter all diesen beunruhigenden und verwirrenden Ereignissen zu erkennen. Warum war ihr zum Beispiel der Mohawk, nachdem er sie hatte töten wollen, mit so plötzlicher Bündnisbereitschaft gefolgt? Sobald sie fertig war, trat sie auf den Hof hinaus und lief zu der kleinen Eckbastion hinüber, die es erlaubte, die Umgebung im Schutz der Palisade zu beobachten. Das Tor des Forts war noch geschlossen, aber als Rauchsignale auf den benachbarten Hügeln die Annäherung der Irokesen anzeigten, wurde es ge öffnet, und von Soldaten und bewaffneten Männern Peyracs gefolgt, betraten der Graf und LoménieChambord den gerodeten Vorplatz. Die restlichen indianischen Verbündeten sam melten sich, mit Bogen und Tomahawks bewaffnet, schweigend in der Nähe des Walls. Auch das Ehepaar Jonas und die Kinder waren neben Angélique auf der kleinen Plattform erschienen. Neugierig spähten sie über die Spitzen der grob zugehauenen Pfähle. Endlich tauchten hinter einer Weidengruppe nahe 266
dem Fluß die Irokesen auf: sechs halbnackte Gestalten, die, scheinbar ohne von den zahlreichen Bewaffneten Notiz zu nehmen, sich langsam am steinigen Ufer entlang näherten und schließlich angesichts des Forts in einer Reihe stehenblieben. Es waren die irokesischen Häuptlinge. Neben Uttakeh, den Angélique an seinen zinno berroten Ohrgehängen sofort erkannte, stand ein alter Mann, aus dessen grauem Haarschopf Adler federn ragten. Sein magerer Körper schien nur aus Sehnen und Muskeln zu bestehen, die sich unter der gelblichen Lederhaut deutlich abzeichneten. Der verächtlich-hochmütige Ausdruck seines langen, von tiefen Falten gefurchten Gesichts flößte Furcht ein. Tätowierungen bedeckten Brust und Arme. Es mußte Swanissit sein, Häuptling der Senekas und Oberhaupt aller irokesischen Stämme. Am Rande des Wassers ließen sie sich bis auf Uttakeh nieder, der langsam den schwach geneigten Abhang zum Fort der Weißen hinaufzusteigen be gann. Vor Peyrac und Loménie blieb er stehen und hob mit beiden Armen eine Art Schärpe mit Fransen, dicht bestickt mit kleinen Perlen in geometrischen Mustern, dunkelviolett auf weißem Grund. Nachdem er sie ihnen gezeigt hatte, breitete er sie auf dem Boden aus, zog dann eine mit zwei schwarzen Federn geflügelte Pfeife aus rotem Stein aus seinem Gürtel und legte sie neben die Schärpe. Danach trat er zwei Schritte zurück, kreuzte die Arme über der Brust, hob seinen Blick ein wenig über die Köpfe der 267
Versammelten und verharrte reglos wie eine Statue. Alle Welt schien sich inzwischen beruhigt zu haben, selbst die Abenakis und Huronen, ja sogar Maudreuil, mit dessen Erzengellocken der Wind spielte. Nicolas Perrot übernahm seine Rolle als Dolmet scher zwischen den Weißen und den Irokesen. Er führte das Palaver nach dem geheiligten Ritual: lange, feierliche Sätze, große Gesten zum Himmel, zur Erde, zu dem oder jenem, geduldige Wiederholung der Fragen und Antworten, Die sub tile Durchtriebenheit, mit der der Irokese seinen Gesprächspartner zu verwirren suchte, überraschte Angélique. Doch Perrot ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er kannte alle Stämme der Seen und ihre Dialekte, er hatte bei ihren ewigen Kriegszügen hun dertmal als »Mittler« gedient und war außerdem ein Jahr lang Gefangener der Oneiuten gewesen. Keine Nuance der Rede des Irokesen entging ihm. Einmal verlor der Mohawkhäuptling seinen Gleichmut und ließ sich zu einer zornigen Bemerkung hinreißen, die der Kanadier mit herzhaftem Gelächter quittierte. »Er sagt, wenn er gewußt hätte, daß er’s mit mir zu tun kriegen würde, wäre er gleich mit dem Tomahawk gekommen.« Schließlich begab sich Uttakeh wieder zum Flußufer hinunter, und die Europäer kehrten ins Fort zurück, um zu beraten. Die hochstehende Sonne schoß glühende Strahlen herab, und der Augenblick war gekommen, sich ein wenig zu erfrischen. 268
Angélique bemerkte die besorgten Mienen der Offiziere. Sie ging ihnen entgegen, um sie zu be grüßen. »Seid Ihr mit dem Verlauf der Verhandlung zufrieden?« fragte sie Loménie. »Wird der Kampf ver mieden werden können, wie Monsieur de Peyrac es wünscht?« »Was gibt’s schon zu sagen? Es ist immer diesel be Geschichte mit diesen Irokesen«, bemerkte der Oberst. »Selbst wenn sie zehnfach unterlegen sind, glauben sie dem Gegner eine große Gnade zu erwei sen, wenn sie ihn um Frieden bitten. In ihren Augen genügt das völlig, jede Nachsicht unsererseits zu rechtfertigen. Im gegenwärtigen Fall wollen sie sich nicht einmal verpflichten, andere Stämme unbehelligt zu lassen. Wenn wir uns unter diesen Bedingungen zurückziehen, wird es wie eine Niederlage aussehen, deren sie sich höhnisch rühmen werden.« »Werfen wir uns auf sie, und machen wir ein Ende mit ihnen!« rief Maudreuil feurig. Pont-Briand blieb stumm. Er betrachtete Angélique und konnte seinen Blick nicht von diesem reinen, vollkommenen Profil lösen. Auch Peyrac schwieg. Er schien in Gedanken ver sunken, die sein Gesicht nicht verriet. An ihn wandte sich Loménie-Chambord: »Und Ihr, Monsieur? Fürchtet Ihr keine Falle ih rerseits? Nehmen wir an, ihr Wunsch, ein Bündnis mit uns zu schließen, sei nur ein Vorwand. Sobald wir abziehen, fallen sie über Euer Fort her und plündern es. Was wird aus Euch und den Euren?« 269
»Ich gehe dieses Risiko ein.« »Wir wissen nicht einmal, wie viele es sind … Vermutlich zu wenig, um es jetzt mit uns aufnehmen zu können, aber stark genug für Euch allein.« »Sorgt Euch nicht um mein Schicksal«, erwiderte Peyrac mit einem leisen ironischen Lächeln. »Ange nommen, ich setze auf die schlechte Karte, wenn ich mit der Loyalität der Irokesen mir gegenüber rechne. Nun, das dürfte so manchen schon im voraus freuen, der vor kurzem noch meinen Untergang wollte. Fürs erste ist das Problem jedoch ein anderes. Werdet Ihr, falls die Feindseligkeiten zwischen Neufrankreich und den Fünf Nationen wiederaufleben sollten und die Gewaltlösung sich als notwendig erweist, die Verantwortung dafür übernehmen?« »Seht, wer dort kommt!« rief Fallières. Im Rahmen der Tür des größeren Wohngebäudes, in das sie sich zurückgezogen hatten, erschien der Mohawkhäuptling, ein ungewöhnlicher Vorgang, da es gegen das Protokoll verstieß, den Abschluß der Beratungen nicht abzuwarten. »Hast du vergessen, uns etwas Wichtiges mitzutei len?« fragte Perrot. »Du hast es erraten. Mein Bruder Swanissit hat mich beauftragt, dir folgendes zu sagen. Nicht weit entfernt, im Wald, befindet sich bei meinen Kriegern ein Kind eurer Rasse. Es ist der Sohn deiner Schwester, dein Neffe«, sagte er, zu Romain l’Aubignière gewandt. »Der große Häuptling der Senekas ist bereit, euch das Kind zurückzugeben, wenn die Franzosen und ihre 270
Verbündeten einwilligen, uns zum Tal der Mohawks ziehen zu lassen, ohne uns Schaden zuzufügen.« Die Überraschung war allgemein. »Der kleine Marcelin, mein Neffe!« rief l’Aubig nière. »Er hat das Massaker also überstanden!« »Dieser Dreckskerl hat gespürt, daß die Sache nicht nach Wunsch geht«, knurrte Maudreuil. »Sie spielen ihre letzte Karte aus.« L’Aubignière beachtete ihn nicht. »Tut alles«, bat er Loménie, »um den Kleinen zu ret ten und diesen Elenden zu entreißen, die ihn im Haß gegen Gott und seine Vorfahren erziehen!« Der Oberst neigte ernst den Kopf. »Wir müssen wohl zustimmen«, sagte er mit einem Blick auf Peyrac. Und sich zu dem Irokesen wendend: »Es sei. Gebt das Kind zurück, und ihr könnt unbe hindert den Kennebec überschreiten.« Bis der Abgesandte verschwunden war, hielt der jun ge Baron de Maudreuil noch an sich, dann ließ die Wut sich nicht mehr bändigen. »Nein, es ist unmöglich! Diese Schurken dürfen nicht ungestraft davonkommen! Niemand soll sagen, daß Swanissit in meiner Nähe gewesen ist, ohne mir seinen Skalp zu lassen!« »Bedeutet dir das Leben meines Neffen und die Rettung seiner Seele so wenig?« brüllte l’Aubignière, ihn am Kragen packend. »Swanissit hat nicht deine Familie skalpiert! Er ist 271
hier, und er wird für das bezahlen müssen, was er mir angetan hat!« »Beruhigt Euch«, sagte Loménie, indem er die bei den trennte. Mit einem wilden Blick stürzte Eliacien de Mau dreuil zu seinem Schlafplatz, um sein Bündel zusam menzupacken. Angélique bewunderte den Oberst, der sich im Gegensatz zu den jungen Leuten trotz seines lan gen Aufenthalts in Kanada Selbstbeherrschung und Anmut der Umgangsformen bewahrt hatte. In der richtigen Einsicht, daß es zum Besten aller sei, Maudreuil aus der Gegend zu entfernen, setzte Loménie seinem Aufbruch kein Hindernis entgegen. Er ließ ihn noch einmal rufen, hielt ihm eine kurze Strafpredigt und entschied sich, seinen unüberlegten Entschluß in eine offizielle Mission zu verwandeln. Er beauftragte ihn, zuerst dem Pater d’Orgeval eine Botschaft zu überbringen, und übergab ihm sodann einen Brief für den Baron de Saint-Castine, den Kommandeur des Forts Pentagouët an der Mündung des Penobscot. Die lange und mühselige Reise, die er vor sich hatte, würde den heißblütigen Kanadier be ruhigen. »Die Niederlassung von Pentagouët ist nicht weit entfernt von der Küste von Gouldsboro, wo Monsieur de Peyrac eine Schar hugenottischer Franzosen ange siedelt hat. Er wird Euch für sie Instruktionen mit geben. Wenn Ihr bei Eurer Ankunft dort ein Schiff vorfindet, das noch vor dem Eis Québec erreichen zu 272
können glaubt, geht an Bord. Sonst überwintert bei Castine in Pentagouët. Ein letzter Befehl: Nehmt kei ne Huronen mit Euch. Ihr werdet euch nur gegensei tig zu Racheplänen aufreizen. Mein Freund Utaneh wird Euer Begleiter sein.«
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Dreiundzwanzigstes Kapitel
Die Übergabe des kleinen Marcelin fand am frühen Nachmittag des folgenden Tages statt. Diesmal kamen die Irokesen in Kanus, die sie gegen die Strömung herauf paddelten. Sie mußten sie irgendwelchen Flußanwohnern gestohlen haben. Sie landeten am steinigen Ufer und stiegen langsam zum Fort hinauf. Wie am Vortag erwarteten sie die Weißen vor dem Tor. Auch die Huronen, Algonkins und Abenakis hatten sich in schweigenden Gruppen versammelt. Angélique hielt sich mit Honorine, Madame Jonas und Elvire im Hintergrund. Die Möglichkeit eines Krieges schien zwar gebannt, aber selbst friedlich gestimmte Irokesen verbreiteten Schrecken und lie ßen es nicht geraten erscheinen, ihnen allzu nahe zu kommen. Es waren nur etwa zehn, die sich mit verächtli cher Ungeniertheit näherten. Swanissit und Uttakeh führten sie an, zwischen sich einen nur mit kur zem Lederschurz und Mokassins bekleideten klei nen Jungen von etwa sieben bis acht Jahren. Seine Ähnlichkeit mit l’Aubignière war unverkennbar und verriet ihre Verwandtschaft. Bei seinem Anblick verspürte Angélique eine Auf wallung von Mitleid und Furcht, und unwillkürlich drückte sie Honorine an sich. Elvire warf einen Blick zu ihren beiden Jungen hinüber, die ein paar Schritte entfernt artig im Gras saßen. Beide Mütter dachten 274
das gleiche. Würde das Schicksal eines Tages ihre ei genen Kinder halbnackt den Indianern in die Hände liefern? Den Beweis, daß derlei Dinge geschehen konnten, hatten sie vor sich. Die Parteien ließen sich zu beiden Seiten des auf dem Boden ausgebreiteten Wampums nieder. Die Verhandlungen gingen nicht ohne Reibung vonstat ten. »Warum habt ihr euer Kalumet nicht mitgebracht?« fragte Nicolas Perrot. »Seid ihr gekommen, um von vornherein jede Friedensmöglichkeit zu verwerfen?« »Wir sind gekommen, um im Austausch gegen das Kind freien Übergang über den Kennebec zu erlangen. Unser Kalumet werden wir später mit Tekonderoga, dem Mann des Donners, rauchen, wenn ihr abgezo gen seid und wir sicher sein können, daß er uns nicht an euch Franzosen und die Schakale, die euch beglei ten, verraten hat«, antwortete Swanissit unverblümt. »Warum hast du ein so kleines Kind auf einen Kriegszug mitgenommen?« mischte sich nun l’Aubig nière ein. In den Augen des Seneka glänzte es listig auf. »Ich liebe es, und es hat nur mich auf der Welt. Es wollte mich nicht verlassen.« »Sag lieber, daß du’s bei der Hand haben wolltest, falls die Dinge eine böse Wendung für dich nehmen würden und du für deine Verbrechen gegen uns und die uns befreundeten Stämme zahlen müßtest …« Florimond betätigte sich als Kavalier und ging zwischen den Gruppen hin und her, um die Damen 275
über den jeweiligen Stand der Dinge zu unterrich ten. Endlich konnte er ihnen mitteilen, daß auch die Franzosen um des kleinen Jungen willen mit einer allgemeinen Amnestie einverstanden seien. Im nächsten Moment jedoch ergab sich ein Hin dernis, das alles wieder in Frage stellte. Swanissit und Uttakeh hatten das Kind zu seinem Onkel geführt, aber statt dessen Hand zu nehmen, umklammerte es ver zweifelt die mageren Schenkel des Senekahäuptlings. Tränen liefen ihm über das schmutzige Gesichtchen, während es flehend irokesische Worte ausstieß. Die indianischen Krieger gerieten offensichtlich in Verwirrung. Ganz gegen ihren sonstigen Gleichmut drängten sie sich um den Kleinen und schienen ihn mit Ermahnungen und Beschwörungen zu überhäu fen. »Was ist da geschehen?« fragte Angélique beunru higt den alten Macollet, der im Schatten der Palisade seine Pfeife rauchte und die Vorgänge mit ironischer Miene beobachtete. »Der Bengel will nicht zu seinem Onkel. Er wei gert sich, die Wilden zu verlassen.« Mit einem fa talistischen Schulterzucken fügte er hinzu: »Nun, schließlich war’s ja zu erwarten.« Noch immer übertönte das Geschrei des Kindes das allgemeine Stimmengewirr. Mit ihrem schrillen, abgehackten Geplapper und dem aufgeregten Gewoge ihrer Federbüsche ähnel ten die Irokesen einem Grüppchen delirierender Papageien. 276
Ohne sich um seine Würde zu sorgen, kniete sich Uttakeh neben das Kind, um besser mit ihm reden zu können, aber nun klammerte sich der Kleine auch an ihn, umschlang seinen Hals, die andere Hand in Swanissits Lendenschurz verkrampft. »Machen wir ein Ende«, sagte Loménie ärgerlich. »L’Aubignière, nehmt Euren Neffen, wenn’s sein muß, mit Gewalt, und schafft ihn ins Fort. Wenn er noch länger so schreit, kann die Situation gefährlich werden.« Der Kanadier näherte sich den Irokesen, um sich des Streitobjekts energisch zu bemächtigen, aber er hatte kaum die Hand ausgestreckt, als sich die wilden Krieger auch schon drohend gegen ihn wandten. »Rühr ihn nicht an!« »Es geht schief, möchte man sagen«, murmelte Eloi Macollet. »Aber es war ja zu erwarten. Wahrhaftig! … Sie sagen, sie wüßten, daß die Franzosen mit ihren Kindern wie Tiere umgingen, aber diesem da dürfe man in ihrer Gegenwart kein Haar krümmen. Wir sollten Geduld haben, sagen sie. Da können wir uns auf was gefaßt machen. Wenn der Bengel ebenso hals starrig wie sein Onkel ist, sind wir morgen auch nicht weiter. Alle l’Aubignières sind Dickschädel.« Angélique wagte sich ein paar Schritte nach vorn und trat zu ihrem Gatten. »Was haltet Ihr von diesem Zwischenfall?« flüsterte sie ihm zu. »Daß er schlecht ausgehen kann.« »Was werden wir tun?« 277
»Für den Augenblick nichts. Uns in Geduld fassen. Das empfehlen uns jedenfalls die Herren Irokesen.« Er blieb ruhig, hielt sich bewußt den Verhandlungen fern, die ihn noch nicht direkt betrafen. Wie er begriff auch Angélique, daß es vor allem darauf ankam, nicht die Nerven zu verlieren. Doch das Fieber stieg. Krebsrot im Gesicht, plärrte das Kind aus vollem Halse. Es hatte die Augen zugekniffen, als weigere es sich, das ihm drohende furchtbare Schicksal zur Kenntnis zu nehmen: die Wilden verlassen und zu diesen bleichgesichtigen Ungeheuern zurückkehren zu müssen. Unablässig liefen ihm Tränen über die Wangen. Angélique verspürte Mitleid angesichts dieser kindlichen Verzweiflung. Man mußte irgend et was tun … Sie lief ins Fort und betrat atemlos den Vorratsschuppen. Tastend fand sie, wonach sie suchte: einen Zuckerhut, von dem sie rasch ein paar Brocken abbrach. Dann griff sie in einen Kasten mit getrock neten Pflaumen, nahm eine Handvoll heraus und hastete zum Schauplatz des Dramas zurück. Loménie hatte seine Leutnants beiseite genom men. »Lassen wir sie mit diesem unerträglichen Bürschchen abziehen. Danach gehen wir gegen sie vor, zwingen sie auf die Knie und holen ihn uns wie der.« »Und wenn sie ihn töten, um sich zu rächen?« frag te Fallières. »Kaum anzunehmen. Sie hängen zu sehr an ihm.« 278
Peyrac mischte sich ein. »Bedenkt, daß der Abbruch der Verhandlungen in diesem Stadium die Scherereien, die wir vermeiden wollten, noch verschlimmern würde. Ich bitte Euch, ruhig zu bleiben und Geduld zu zeigen.« Angélique hockte sich neben Honorine. »Siehst du den armen, kleinen Jungen da, der so schrecklich weint? Er hat Angst vor all den großen Männern, die er nicht kennt. Gib ihm ein Stück Zucker und diese Pflaumen, und danach nimmst du ihn bei der Hand und bringst ihn zu mir.« Kein Appell an Honorines gutes Herz blieb vergeb lich. Ohne jede Angst steuerte das kleine Mädchen geradewegs auf die Irokesen zu und lächelte sie ver traulich an. In ihrem plissierten Kleid und der Schürze aus grünem Leinen sah sie wie ein Püppchen aus. Die grüne Haube, aus der sich kupferfarbene Locken stahlen, leuchtete in der Sonne. Die Füße steckten in perlenbestickten Mokassins. Eine Indianerin hatte sie ihr im Auftrag des Leutnants Pont-Briand gebracht. Mit einer spontanen Geste hielt sie dem Jungen die Geschenke entgegen. Swanissit und Uttakeh gingen auf das Spiel sofort ein und rühmten ihrem Schützling die Wunderdinge, die Honorine ihm anbot. Neugierig geruhte er, die Augen zu öffnen. Er schniefte und schluckte krampfhaft, während er die Gaben betrachtete. Kannte er weißen Zucker? Jedenfalls griff er zuerst nach den Pflaumen, die ihm vertrauter sein mußten, aber sein Blick blieb auf das Stück weißer Materie geheftet, das eßbar sein 279
sollte. Kurz entschlossen nahm Honorine den klei nen Wilden bei der Hand und führte ihn Schritt für Schritt zu Angélique. Alle Anwesenden hielten den Atem an. Die we nigen Meter, die die Kinder zu durchmessen hatten, entschieden über Frieden oder Krieg. Angélique hatte sich ins Gras gekniet und sah ihm entgegen, jede Bewegung vermeidend, die ihn er schrecken konnte. Als er vor ihr stand, sagte sie sanft: »Es ist Zucker. Koste mit der Zunge. Du wirst se hen.« Er verstand sie nicht, aber der Klang ihrer Stimme schien ihm zu gefallen. Er hob seine großen blauen Augen zu ihr und vergaß seine Furcht. Erinnerte ihn das Gesicht der weißen Frau mit dem von einer Haube gebändigten hellen Haar an das der jungen Französin, die seine Mutter gewesen und in einer höllischen Nacht skalpiert worden war? Sie sprach weiter beruhigend auf ihn ein. Der alte Macollet kam ihr zu Hilfe. Seine barsche, polternde Stimme sänftigend, wiederholte er auf irokesisch Angéliques Worte: »Es ist Zucker. Koste …« Das Kind entschloß sich, an dem Zuckerstück zu lecken, dann biß es knirschend hinein. Ein Lächeln strahlte in dem kleinen, verschmierten Gesichtchen auf, und plötzlich brach das Kerlchen in helles Gelächter aus. Die Erleichterung war allgemein. Die Irokesen entspannten sich. Man trat herzu und bildete einen 280
Kreis um Angélique und die Kinder. Angélique hatte noch die beiden Jungen Elvires heranrufen lassen. »Habt ihr nicht irgendwas in euren Taschen, was ihn interessieren könnte?« Sie hatte es richtig getroffen. Die Taschen jedes Jungen zwischen sieben bis zehn Jahren, der sich re spektiert, bergen ungeahnte Schätze. Barthélémy fand in der seinen zwei Achatmurmeln, Reste einer noch auf dem Pflaster von La Rochelle gespielten letzten Partie. Mehr brauchte es nicht, um den Kleinen end gültig zu faszinieren. Mit ihrer Hilfe lockten ihn Angélique und die Kinder ohne Mühe in den Hof und schließlich ins Haus. Angélique hatte gefürchtet, daß er sich wieder in Geschrei flüchten könnte, sobald die Tür sich hinter ihm schließen würde, aber nachdem er seinen Blick über die Wände ringsum hatte gleiten lassen und über das erste, kaum merkliche Erschrecken hinweg war, schien er sich zu fügen und hockte sich gänzlich unerwartet auf den Kaminstein vor das flammende Feuer. Sie war überzeugt, daß die neue Umgebung ihm frühere Freuden vor einem ähnlichen Kamin ins Gedächtnis zurückgerufen hatte. Er war dem Einfluß des Schon-Gesehenen erlegen. Er knabberte seinen Zucker und sah Barthélémy zu, der vor ihm seine Murmeln über den Boden rollen ließ. Von Zeit zu Zeit sagte er ein irokesisches Wort. Um ihn völlig heimisch zu machen, schickte Angélique nach dem 281
alten Kanadier »mit der roten Mütze«. Als er endlich erschien, setzte sie ihn mit einem Glas Treberschnaps gleichfalls vor den Kamin. »Seid nett, Monsieur Macollet, und betätigt Euch als Dolmetscher zwischen uns und diesem kleinen Barbaren. Ich fürchte, er wird ungeduldig, wenn er merkt, daß wir ihn nicht verstehen.« Außerdem gab sie jedem Kind ein Stück des kost baren Zuckers, um sie für ihre Hilfe zu belohnen. »Ohne euch, Kinder, hätten wir gewiß viel Ärger bekommen. Ihr seid sehr nützliche Mittler gewesen.« Das war auch die Ansicht des Obersten de Loménie, der kurz darauf an die Tür klopfte, um Madame de Peyrac persönlich zu danken. Er berichtete, daß sich die Irokesen, über das Schicksal ihres Schützlings beruhigt, friedlich zu rückgezogen hätten. »Wir schulden Euch tausendfach Dank, Madame. Ohne Euch und Eure liebenswürdigen Kinder befän den wir uns in einer Sackgasse. Wir Militärs vergessen allzuoft, daß es Situationen gibt, die allein der Takt einer Frau zu lösen vermag. Wir hätten uns womög lich alle um dieses Würmchens willen umgebracht, während Ihr nur mit Eurem Lächeln …« Zu den Kleinen gewandt, erklärte er unvorsichti gerweise: »Ich möchte euch gern belohnen. Was wünscht ihr euch?« Berauscht durch ihren Erfolg und lange Wochen in frischer Luft, zeigte sich die Jugend nicht schüchtern. 282
Barthélémy rief sofort: »Ich will Tabak und Pfeife!« »Und ich will einen Louisdor«, meldete sich der kleine Thomas, der offensichtlich noch über einen Rest von Wertbegriffen der Alten Welt verfügte. »Und ich will ein Messer zum Skalpieren … und außerdem möcht’ ich gern nach Québec«, sagte Honorine. Der Graf schien einigermaßen überrascht über die Vielfalt dieser Wünsche. »Ein Messer zum Skalpieren für eine Demoiselle? Wen wollt Ihr denn skalpieren?« Honorine zögerte. Angélique saß wie auf glühenden Kohlen. Glücklicherweise ließ es die Kleine bei der Erklärung bewenden, daß sie es noch nicht wisse und es sich überlegen wolle. »Und du, mein Junge, was willst du mit einer Pfeife?« »Natürlich rauchen!« Loménie lachte herzlich. Er gab Thomas ein Gold stück und versprach Barthélémy, daß er seine Pfeife kriegen würde, wenn auch nur, um Seifenblasen stei gen zu lassen. »Was Euch betrifft, Demoiselle Honorine, werde ich mit dem Messer noch warten, bis Ihr über Eure Feinde entschieden habt. Aber ich kann Euch schon jetzt von Seiten des Herrn Gouverneurs Frontenac die herzlichste Einladung in seine gute Stadt Québec übermitteln.« 283
Vierundzwanzigstes Kapitel
Angélique war sich bewußt, was eine solche Umstel lung der Lebensverhältnisse für ein kleines Kind be deuten mußte, und verzichtete deshalb darauf, ihren neuen Zögling gleich in ein Bad zu stecken. »Aber er riecht so schrecklich!« protestierten Ma dame Jonas und Elvire. »Und seht Euch nur sein Haar an … es steckt sicher voller Ungeziefer.« »Möglich. Aber wir könnten ihn erschrecken, wenn wir ihn gleich heute in einen Zuber tauchen. Gedulden wir uns. Morgen werden wir’s vorsichtig versuchen.« Aber die Dinge arrangierten sich schließlich von selbst. Als er die anderen Kinder munter im war men Wasser des großen Zubers plätschern sah, kam er schüchtern näher und hatte nichts dagegen, sich zu ihnen zu gesellen. Man konnte ihn jedoch nur vom gröbsten Schmutz befreien. Das Gemisch aus Bärenfett und Staub bildete auf seiner Haut eine Art Harzschicht. Angélique gelang es sogar, ihn einen Tee schlucken zu lassen, in den sie ein paar Tropfen eines Gebräus aus Mohn geträufelt hatte, den sie in der ziemlich kümmerlichen Apotheke des Forts entdeckte. Der Ire O’Connell konnte nicht oft krank gewesen sein, und wenn ihn zufällig doch einmal dieses Mißgeschick befiel, bekämpfte er es zweifellos mit Branntwein. Sie dachte an die in La Rochelle zurückgelassenen 284
Säckchen mit getrockneten Kräutern, an die Salben, Sirupe und Elixiere, die sie nach den von der Hexe Melusine und dem Apotheker Savary erhaltenen Rezepten für die Familie Berne gebraut hatte. All das wäre ihr hier sehr nützlich gewesen, aber die Jahreszeit war schon zu weit vorgeschritten, um die notwendigsten Kräuter noch sammeln zu kön nen, vorausgesetzt, daß man sie in der Neuen Welt überhaupt fand … Immerhin ließ sich selbst in diesen Spätherbsttagen noch ein Vorrat an gewissen Rinden und Wurzelstöcken zusammentragen. Gleich morgen wollte sie daran denken. Gegen Abend erkundigte sich Romain de l’Aubig nière nach dem Ergehen seines Neffen. In eine Decke gewickelt, war der Kleine eben da bei, friedlich auf einem provisorisch in einen Winkel gelegten Strohsack zu entschlummern, denn gegen ein Bett hatte er sich gesträubt. Der Waldläufer betrachtete ihn melancholisch. »Ich weiß, wie’s ihm zumute ist«, murmelte er, den Kopf schüttelnd. »Ich bin auch Gefangener der Irokesen gewesen, drüben im Tal der Mohawks. Wie könnte man je diese Zeit und dieses Tal vergessen!« »Sind die Irokesen nun Eure Freunde oder Eure Feinde?« fuhr Angélique ihn gereizt an. »Ist das Leben bei ihnen ein Segen oder eine Hölle? Entscheidet Euch ein für allemal!« Er schien überrascht. Wie Perrot fand er keiner lei Widerspruch zwischen seinem sehnsüchtigen Bedauern und hitzigeren Gefühlen. 285
»Sicher bin ich bei den Irokesen glücklich gewe sen«, räumte er ein, »aber deswegen vergesse ich doch nicht, daß sie meine ganze Familie und Maudreuils Leute massakriert haben. Ich weiß, daß es meine Pflicht ist, sie zu skalpieren, und ich werd’s auch tun. Ich erkenne an, daß wir uns heute mit ihnen geei nigt haben – das war der Preis für das Leben meines Neffen –, aber Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß wir’s eines Tages wieder miteinander zu tun kriegen werden.« Mit gedämpfter Stimme fragte sie: »Was werdet Ihr mit dem Kleinen tun?« »Ich gebe ihn zu den Jesuiten. Sie haben in Québec ein Seminar für Waisenkinder und die jungen Indianer, die sie zu Priestern erziehen wollen.« Angéliques Blick glitt zu dem eingeschlafenen Kind. Mit seinem drolligen, schmuddligen Gesichtchen und seiner kummervollen Miene kam es ihr recht unschuldig und hilflos vor. Was konnten diesem Kind der Wälder die Mauern des Seminars in Québec be deuten? Sie mußten ihm wie Gefängnismauern vor kommen. Sie hob den Kopf, um dem jungen Wald läufer ihre Zweifel mitzuteilen. War es der Mühe wert, ihm um einen so hohen Preis zur Freiheit verholfen zu haben, wenn man es dann doch nur wieder einschloß? Ihre Absicht war es gewesen, den Heiden eine Seele zu entreißen. Eine noble Absicht, aber sie fragte sich, ob die Sorge um Wohlbefinden und Glück des Kindes überhaupt in ihren Gedankengängen aufgetaucht war. 286
Als sie den Mund öffnete, stellte sie fest, daß sich der Kanadier davongemacht hatte. Diese Leute kamen und gingen wie die Schatten. In der benachbarten Kammer schliefen die anderen Kinder unter Elvires Aufsicht. Monsieur und Madame Jonas schienen in ihrem Zimmer Möbelstücke umzustellen. Eloi Macollet war fortgegangen, um sich Tabak zu holen. Angélique saß allein am Lager des Kindes im vor deren Raum. Es bewegte sich unruhig, stöhnte leise, suchte nach etwas, was es nicht fand. Um es zu be schwichtigen, strich Angélique über sein struppiges, schmutziges Haar. Dann legte sie sorgsam die Decke zurück, die von seinen mageren, nackten Schultern geglitten war. Es war still im Raum bis auf das leise Knistern des Feuers.
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Fünfundzwanzigstes Kapitel
»Werden sie endlich abziehen? Ziehen sie alle ab? Wann werden wir allein sein im Schweigen der Wildnis?« murmelte Angélique, wenn die Gunst der Stunde ihnen einen kurzen Augenblick ungestörten Beieinanderseins schenkte. Dann ließ sie ihre Stirn gegen seine Schulter sinken, schmiegte sich an ihn, stärkte sich gierig an seiner Kraft, denn sie spürte, daß er ruhig und ohne Furcht war. Furcht hatte er in sei nem Dasein nie oder fast nie gekannt, selbst nicht in den Qualen der Folterung und in den Augenblicken, in denen der Tod ihm nahe schien. Angesichts der Gefahr sammelte er seine Kräfte, um gegen sie anzu gehen oder ihre Prüfungen zu ertragen. Er verhehlte sich nie die Schwierigkeiten einer Situation, und tat sein möglichstes, sich vor ihnen zu schützen, aber was nur der Zukunft oder dem Bereich der Vorstellungen angehörte, beeinflußte ihn nicht. Die Tatsache allein, greifbar und gegenwärtig, war ihm wichtig. Angélique entdeckte in diesen Tagen der Auseinandersetzungen die Geheimnisse einer männ lichen Mentalität, die ihrer femininen Sensibilität kaum begreiflich war. Diese Entdeckung machte aus ihm fast einen Fremden für sie, aber einen Fremden, der sie beru higte. Er war wirklich absolut ruhig im Zentrum des Sturms, während sie fühlte, daß ihre Nerven nicht länger standhalten würden, wenn dieses Gewimmel, 288
diese offen zutage tretenden Spannungen, der wie von einem kapriziösen Wind bewirkte jähe Wechsel von Hoffnung und Katastrophenstimmung noch ei nen oder zwei Tage länger anhalten sollten. Seitdem sie Uttakeh, den Mohawkhäuptling, vom Hügel ins Fort geführt hatte, war irgend etwas im Benehmen der anderen ihr gegenüber anders gewor den. Sie fühlte sich nun ins Innere des Kreises aufge nommen und von Existenzen und Dramen betroffen, die ihr früher unbekannt geblieben wären. Sie begriff, daß sie unmerklich Teil der Neuen Welt zu werden und sich ihre Streitigkeiten und Leiden schaften anzueignen begann. »Sie werden abziehen«, wiederholte Joffrey in so überzeugtem Ton, daß die Sache schon abgemacht schien. »Sie werden alle abziehen, und wir bleiben allein in Katarunk.« Und wieder lösten sich Kanus vom Ufer und pad delten den Fluß hinunter. Schließlich kam der Tag, an dem der Graf de Loménie-Chambord selbst als letzter in das letzte Boot der französischen Expeditionsflottille stieg. Die Dinge waren anders gekommen, wie zu erwarten ge wesen war, als man sich nach Katarunk aufgemacht hatte, aber der Malteserritter bedauerte es nicht. Er betrachtete das Paar am Ufer, und es erschien ihm wie das Symbol von etwas, was er selbst nicht hatte erfahren können, dem er jedoch immer hatte begegnen wollen. Weiter entfernt grasten die Pferde auf den Weiden. 289
Das schrille Gezirp der Grillen erfüllte die Luft. »Ich lasse Euch allein«, sagte der Graf de LoménieChambord. »Ich danke Euch dafür.« »Und wenn es Euch nicht gelingt, die Irokesen von Euren guten Absichten zu überzeugen? Wenn es ihnen nach Eurem Skalp und Euren Reichtümern gelüsten sollte?« »Inch Allah!« Loménie lächelte, denn auch er hatte das Mittelmeer kennengelernt. »Allah Asbarek!« erwiderte er. »Gott ist groß!« An der Windung des Flusses winkte er noch lange mit seinem Hut.
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Sechsundzwanzigstes Kapitel
Mit der ersehnten Einsamkeit würde endlich ihr eige nes Abenteuer beginnen. Sie waren allein, gehörten zu keiner Nation, reprä sentierten keinen König. Wenn die Irokesen kämen, um ein Bündnis zu erlangen, würden sie mit Joffrey de Peyrac wie mit einem Monarchen verhandeln, der in seinem eigenen Namen sprach. Ohne noch recht daran glauben zu können, be trachteten sie das endlich nur ihnen gehörende Fort. Und am Abend feierten sie fröhlich »im Familien kreis« ihren Sieg und die bewahrte Unabhängigkeit. Die zu Joffrey de Peyrac erhobenen Becher ehrten die Geschicklichkeit des Chefs, der sie einmal mehr aus einer »bösen Klemme« herausmanövriert hatte. In dieser Nacht erfuhr Angélique in den Armen dessen, der sie alle trug und ihr Vertrauen nicht enttäuschte, neue Verzückungen. Seine drängenden Lippen eroberten sich die ihren, als wollte er nun, da die Gefahr vorüber war, den Sieg über das Schicksal genießen … Zum Empfang der Delegation der Irokesen klei dete sich Joffrey in sein mit silbernen Blumen und Jettperlen besticktes Wams aus rotem Samt. Silberne Sporen klirrten an seinen Stiefeln aus schwarzem Leder. Die Hand auf dem silbernen Knauf seines Degens, wartete er vor dem Fort. Die Spanier in ihren Kürassen und schimmernden 291
Helmen mit nachenförmig aufgebogenen Rändern hielten sich, reglos auf ihre Hellebarden gestützt, zu seiner Linken, während sich rechts von ihm sechs der Matrosen in Habt-acht-Stellung aufgebaut hatten. Sie trugen eine Art grellbunter Uniform: halb gelbe, halb scharlachrote Röcke, scharlachrote Hosen und Stiefel aus fahlrotem Leder, eine Bekleidung, die er von einem Schneider in Sevilla als Livree für sein Hauspersonal hatte anfertigen lassen. Die Gelegenheiten waren selten, bei denen er seinen Leuten Order gab, dieses Paradekostüm anzulegen. Die Gebiete unter spanischer Herrschaft ausge nommen, war die Neue Welt der Prachtentfaltung der Alten wenig geneigt. Für gewöhnlich landete man auf den Knien und mit seinem Hemd als einzigem Reichtum an den Küsten des Nordens und fand sich durch die Umstände gezwungen, noch lange unter härtesten Verhältnissen zu leben. Peyrac jedoch hatte auf seinen Schiffen so manches aus Europa herübergebracht und konnte so seinem Auftreten in der Neuen Welt den ihm angemessen erscheinenden Anstrich geben. Obwohl die Lasten der Träger für den beschwerlichen Marsch von Gouldsboro nach Katarunk notwendigerweise redu ziert werden mußten, hatte er es für richtig gehalten, die Uniformen für seine Leute mitzunehmen. Die Irokesen bewunderten auch den unerwar teten Prunk dieses Empfangs. Es waren fünf an der Zahl – Swanissit, Uttakeh, Annisera, Ganatuha und Onasategan –, die mit nacktem Oberkörper 292
und leerem Magen in ihren im Winde flatternden Lendenschurzen zum Fort hinaufschritten. Onasategan war der Häuptling der Onondagas, Ganatuha einer der tapfersten Würdenträger der Oneiuten, und Annisera konnte als Sprecher der Cayugas gelten, denn er war ein Blutsbruder ihres Häuptlings, obwohl er zum Stamm der Senekas ge hörte. Während sie von der Höhe der Plattform aus ihre Annäherung beobachtete, fragte sich Angélique, welche Gefühle sich hinter den arroganten Mienen dieser maßgeblichsten Vertreter der Fünf Nationen verbergen mochten, die gekommen waren, um sich mit dem Mann des Donners zu verbünden. Und sie wurde sich unbestimmt bewußt, daß das Schicksal der Irokesen auf eine subtile Art mit ihrer eigenen Existenz verflochten war. War es deshalb, weil sie das Leben Uttakehs in ihrer Hand gehalten hatte oder wegen dieser Geschichte mit der Schildkröte, die zwischen ihr und ihnen schwebte …? Am Morgen noch hatte sie mit Honorine die schönsten unter den zum Tauschhandel bestimmten Glasperlen ausgesucht. »Sie sind für den alten Swanissit, wenn er uns besu chen kommt. Er ist ein sehr achtbarer Mann.« »Ich mag ihn auch«, erklärte Honorine. »Er war so nett mit dem kleinen Jungen. Warum haben die Franzosen den Kleinen mitgenommen? Er hätte uns beibringen können, wie man mit dem Bogen schießt.« 293
Auch Angélique hätte das Kerlchen gern bei sich behalten, aber die Frage hatte sich nicht einmal ge stellt. Auf halbem Wege den Abhang hinauf fanden die Irokesen die Geschenke, die Peyrac für sie hatte be reitlegen lassen, sowie ein Wampumhalsband von großem Wert, das einer seiner Truhen entstammte. Als Swanissit die Botschaft der weißen und nacht blauen Muscheln entziffert hatte, nickte er zufrieden und erklärte den andern, daß dieses Halsband noch vor kurzem Teil des Schatzes der Mohikaner gewesen sei. Daß es sich im Besitz Tekonderogas befinde, beweise den Wert seiner Bündnisse und welche Bedeutung die großen Stämme des Südens ihm beimäßen. Aber daß er es ihnen nun überreichte, ließ ihre Herzen hö her schlagen. Schon der Gedanke, daß sie es zu den Ihren würden mitnehmen können, machte sie fieb rig. Swanissit sah sich schon in die Dörfer der Langen Häuser zurückkehren, das kostbare Wampum flach in beiden Händen, und bei der Vorstellung überlief ihn ein Schauer froher Ungeduld. Sie legten ihre Waffen ab – Bogen und Köcher und die Muskete mit dem perlmuttverzierten Kolben, Swanissits Prunkstück –, und das Kalumet aus rotem Stein legten sie dazu. Es gab nur dieses eine, grob und armselig, und sein Stein war kalt, denn es war seit lan gen Monden nicht mehr gestopft worden … Sie legten es dazu, und sie seufzten, da sie unter den Geschenken des Weißen, ganz nahe, auf gegerbten Fellen säuberlich aufgereiht, braune Tabaksträhnen 294
sahen, Tabak vom besten, aus Virginien, dessen köst licher Duft ihre Nüstern umschmeichelte. Wie angenehm wäre es, sich jetzt um ein Feuer kauern zu können, im Hochgefühl der ausgetausch ten Versprechungen, und zu rauchen! Aber man durfte der Versuchung nicht nachgeben, durfte die althergebrachten, komplizierten Regeln, nach denen so wichtige Verhandlungen zu verlau fen hatten, bei denen das Schicksal des Irokesischen Bundes auf dem Spiel stand, nicht außer acht lassen. Angélique hatte Joffrey diesmal gebeten, der Zere monie nicht beiwohnen zu müssen. Obwohl sie, wenn auch nicht ganz freiwillig, bei der Vorgeschichte dieser Zusammenkunft mitgewirkt hatte, hielt sie ihre Anwesenheit nicht für notwendig. Sie sagte, Perrot habe ihr erklärt, daß die Frauen und vor allem die Mütter in der irokesischen Gesellschaft zwar das Recht hätten, ihre Meinung zu äußern, daß sie sie vor dem Rat der Männer aber nur durch Vermittlung eines Beauftragten zu Gehör brächten, der im allge meinen unter den jungen Leuten ausgewählt würde. Zudem litt sie seit dem Morgen an einer schreckli chen Migräne und fühlte sich nicht in der Lage, sich stundenlang dem schrillen Geschnatter der Indianer, ihrem Gestank, Gerülpse und Geschniefe auszuset zen. Wenn die Häuptlinge nicht ausdrücklich ihre Anwesenheit forderten, meinte Joffrey, stehe es ihr frei fernzubleiben. Im Grunde hatte sie nur Angst da vor, wieder mit Uttakeh, dem Mohawk, zusammen zutreffen. Lieber hätte sie noch Swanissit begrüßt, 295
und um sich für ihre Abwesenheit zu entschuldigen, ließ sie ihm durch Perrot die Handvoll venezianischer Glasperlen überreichen, die sie für ihn ausgesucht hatte. Als sie sah, daß die Begrüßungszeremonie been det war und die Verhandlungen begannen, zog sie sich ein wenig fröstelnd in ihre Behausung zurück und verbrachte den Nachmittag in Gesellschaft ihrer Freunde und der Kinder … Aus Gewissenhaftigkeit, Selbstachtung und weil er hungrig war und die vom Hof des Forts herüber wehenden appetitlichen Düfte ihn folterten und in Versuchung führten, seine langen oratorischen Perioden in aller Eile abzuhaspeln, hatte der alte Swanissit seinen Diskurs über die Grenzen der menschlichen Geduld hinaus ausgedehnt. Doch die des Grafen de Peyrac schien endlos. Swanissit hatte gründlich klargemacht, daß sie heute nur zu fünft hier erschienen seien, weil er Tahutaget an der Spitze seiner Krieger zurückgelassen habe, derer, die sich noch im Wald befänden, wie auch der anderen, die sich weiter flußabwärts schon dar anmachten, den Kennebec zu überqueren. Sie seien zahlreich, sehr zahlreich, tausend vielleicht, jedenfalls viel mehr, als die nun abgezogenen Franzosen geahnt hätten. Wenn er, Swanissit, erkennen sollte, daß der Mann des Donners nur versucht habe, ihn einzuschläfern, daß seine Versprechungen trügerisch seien, daß er 296
den Irokesen nur schwächen wolle, indem er ihn das Kriegsbeil begraben lasse, um sodann den Franzosen zu helfen, die Fünf Nationen wirksamer zu täuschen, könne er ihm nur raten, sich in acht zu nehmen und sofort seine Waffen zu laden, denn in diesem Fall würden die Irokesen, bevor sie zu ihren Jagdgründen zurückkehrten, sich ein Vergnügen daraus machen, einige dieser kühnen und betrügerischen Weißen zu rösten. Es seien prächtige Skalpe bei ihnen zu holen. »Den deinen und die deiner Söhne, Tekonderoga. Und auch den deiner Frau. Aber nicht ich wäre es, der ihn sich von deiner Frau holte«, erläuterte der alte Häuptling, als sähe er die Situation schon vor sich, »denn – ich muß es wiederholen, damit du es ein für allemal begreifst – der alten Tradition unserer Völker entsprechend habe ich nie eine Frau oder ein Kind getötet oder skalpiert.« Mit einem mißbilligenden Blick auf die anderen Häuptlinge neben ihm fuhr er fort: »Von der neuen Kriegergeneration könnte ich nicht das gleiche sagen. Sie hat von den Weißen gelernt, diejenigen nicht zu respektieren, die das Leben geben und die Zukunft sichern. An den Türen ihrer Wigwams hängt Frauenhaar. Puh! Die Männer meines Volkes wer den bald so gemein und niederträchtig sein wie ihr Weißen. Aber ich muß sie trotzdem verteidigen und ihre Zukunft vorbereiten.« Peyrac ließ die Drohungen und Kommentare ruhig über sich ergehen. Er wußte das Mißtrauen Swanissits zu beschwichtigen, das sich in diesen voreiligen bitte 297
ren Äußerungen niederschlug. Allerdings dauerte es seine Zeit, und sie hätten sich vermutlich noch bei Einbruch der Dämmerung dort befunden, wenn sich das Wetter nicht plötzlich verschlechtert hätte. Der bis dahin lebhafte Wind ließ nach, dicker Nebel stieg mit erstaunlicher Schnelligkeit vom Fluß und von den Seen auf, und bald ragten nur noch die Wipfel der Tannen und die Kuppen der Hügel aus dem wo genden Meer grauen Dunstes. Man raffte also schleunigst die Geschenke zusam men und zog sich ins Fort zurück. Im Kamin des gro ßen Saals wurde ein prasselndes Feuer entfacht, fettes Fleisch, duftender Mais und säuerliche Beeren wurden aufgetischt, und bald war eine gewaltige Schlemmerei im Gange. Man berauschte sich am Tabak, an blauem Rauch und durchsichtigem Alkohol. Der Zutritt zu diesem Paradies wurde all denen ver wehrt, deren Mägen sich nicht der Aufnahmefähigkeit und Widerstandskraft rühmen konnten, die sich nur durch langjährige Übung bei Indianerbanketten und Freibeuterorgien erwerben lassen. Auch Florimond und Cantor waren zum kleinen Wohnhaus hinüber geschickt worden, wo sie an der Mahlzeit der Kinder, Frauen und Männer, die entweder auf Mäßigkeit Wert legten oder eine empfindliche Leber hatten, teil nehmen sollten. Angélique amüsierte sich über ihre kleinlauten Mienen. Der Bretone Yann hatte sich zu ihnen gesellt und gestand offen, daß ihm an dem ewigen gekochten Bärenfleisch nichts liege und daß ihm die ungeheuer 298
lichen Saufereien der Indianer den Magen umdreh ten. Auch der Malteser Enrico Enzi bat für diesen Abend um Gastfreundschaft. Er war der Mann mit der empfindlichen Leber. Er hatte diese Schwäche zeit seines Lebens als Schande empfunden, aber da er im Ruf stand, geschickt mit dem Messer hantieren zu können, wagte es niemand mehr, sich über ihn lustig zu machen, wenn er, noch gelber im Gesicht als sonst, ein Glas Wein oder Schnaps zurückwies. Die Damen taten das Ihre, daß der Abend in ihrer Gesellschaft heiter verlief. Man sang und begleitete sich auf Gitarre und Querpfeife. Es gab Krapfen und mit Anis parfümierte Zuckerbonbons, die die Kinder auf dem Kaminstein verfertigt hatten. Meister Jonas erzählte eine Werwolfgeschichte aus der Provinz Saintonge. Von Zeit zu Zeit ver lor er den Faden, weniger aus Vergeßlichkeit – im Gegenteil, er erinnerte sich ihrer nur zu gut – als des Umstands wegen, daß er sie zum letztenmal seinen beiden Söhnen erzählt hatte, kurz bevor sie eines schönen Morgens von den Jesuiten La Rochelles auf Nimmerwiedersehen entführt worden waren. Tapfer gelangte er bis zum Ende und fand sich für seine schmerzliche Bemühung durch das Interesse aller Zuhörer entschädigt. Florimond und Cantor waren nicht die einzigen, die ihn um eine weitere Geschichte baten. Schließlich ging man zur Ruhe. Angélique riet den beiden Jungen, zum Schlafen dazubleiben, denn auf 299
dem Dachboden des anderen Hauses, wo sich ihr Lager befand, würde sie das Gelärme der Festivität nicht zur Ruhe kommen lassen. Gähnend wickelten sie sich in Decken und streckten sich auf dem Boden vor dem Kaminfeuer aus. Der Nebel verhalf unmerklich zum Schlaf. Sanft und wattig lastete er auf der Landschaft, un durchdringlich, gesättigt mit einer dumpfen Stille und doch erfüllt von verschwommenen, wirren Geräuschen. Auf den Plattformen an den vier Ecken des Forts rissen die Posten vergeblich Augen und Ohren auf, um die Bedeutung des Tröpfelns, Raschelns und Plätscherns zu erraten, das undeutlich, Seufzern gleich, zu ihnen herüberdrang, gedämpfte Echos, die die gleitenden Nebelmauern einander zuwarfen. Auf der Flußseite gab es Frösche; Nachtschwalben und Schleiereulen auf der Seite des Waldes. Das Fehlen der Metallaks, die ihr Lager verlassen hatten, machte die Nacht noch undurchdringlicher. Sonst waren selbst im Nebel noch die Feuer ihrer Herdstellen sichtbar gewesen, und der Wind hatte den Geruch brennenden Holzes und das Geplärr ih rer Babys herübergetrieben. Aber an diesem Abend: nichts. Das Fort Katarunk schlummerte im Grunde der Nacht wie ein Wrack in der Tiefe des Ozeans.
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Siebenundzwanzigstes Kapitel
Nebel umweht das Fort von außen, Nebel erfüllt es innen. Eisiger Nebel jenseits der Mauern, warmer Nebel unter den dicken Balken der Decke. Grauer Nebel, flimmernd vom flüchtigen Glitzern des Frostes, in der Nacht und im Innern der blaue Nebel des Tabakqualms. Draußen der Nebel der endlosen Weite mit dem faden, kalten Grabgeruch, über die dunkle Erde streifend wie ein bedrohliches Tier, das sich in die Unterschlupfe der Menschen einschleichen will, und im Saal des Forts der duftende Nebel der Pfeifen, die man mit vollem Bauch und leerem Hirn bis zum Überdruß raucht. Swanissit ist glücklich. Der alte Seneka hat sich den Wanst so vollgeschlagen, daß bis zum Platzen nicht mehr viel fehlen kann. Dafür hat er wenig getrun ken, denn er fürchtet die entfesselnden Kräfte des Feuerwassers. Auch das Bier und den angebotenen Wein hat er zurückgewiesen. Er zieht das köstlich erdig schmeckende Wasser aus dem tiefen Brunnen vor, und mit ihm hat er die stattlichen Mengen von Fleisch und gekochtem Mais hinuntergespült. Dieses Übermaß an Nahrung und Tabak nach langer Fastenzeit und den Mühsalen des Kriegszugs wirken auf ihn wie aufreizende Getränke, und er ist darum nicht weniger betrunken als die andern. Er träumt 301
von dem Wampumhalsband, das er auf seinen beiden Händen vor den Rat der Mütter und der Alten tragen wird. Er träumt von den empfangenen Geschenken, den ausgetauschten Versprechungen. Vom Land der großen Jagden, das den tapferen Krieger auf der ande ren Seite des Lebens erwartet. Es gibt Abende festlichen Prassens, an denen das Herz sich mit Genugtuung füllt. Obgleich er noch auf dieser Welt weilt, kann er sich vorstellen, daß die Freude, die die Geister belohnt, von gleicher Art ist wie die, die er an diesem Abend empfindet. Nichts fehlt ihm. Ja, plötzlich sieht er sogar – o Überraschung! – den Baron de Maudreuil vor sich, ein anderes Adoptivkind von ihm, dessen Zähne in einem wilden Gelächter aufblitzen, während er sei nen Dolch schwenkt …
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Achtundzwanzigstes Kapitel
Gegen Ende der Nacht, doch bevor sich noch ihr Dunkel lichtete, wieherten die Pferde. Ein Schrei drang von draußen herein: »Die Bären!« Joffrey richtete sich auf und hastete zur Tür. Trotz seiner oft erprobten Zähigkeit fühlte er sich nicht ganz sicher auf den Beinen, als er so vorsichtig wie möglich über die kreuz und quer auf dem Boden lie genden Körper von Trunkenen hinwegstieg. Von allen Manifestationen der Gastfreundschaft stellt keine höhere Anforderungen als der festliche Abschluß eines wichtigen Vertrages mit Indianern, besonders Irokesen. Ihre Ausdauer im Reden, Essen und Trinken ist derart erstaunlich, daß man daran ver zweifeln möchte, sie je ein Ende finden zu sehen. Zum Glück war seine Geduld ihnen mehr als ge wachsen, und er konnte sich wenigstens rühmen, in dieser Nacht beträchtliche Fortschritte in der irokesi schen Sprache gemacht zu haben. Die Kälte benahm ihm den Atem. Er wunderte sich, nirgends das Geräusch von Schritten zu hören, während er den Hof in Richtung zum Palisadentor überquerte. Kein Lichtschein war mehr zu sehen. Noch einmal hörte er jemand schreien, einen rau hen, seltsamen Schrei, und erkannte die Stimme des Spaniers Pedro Majorque, eines der Posten. Im selben Augenblick traf ein heftiger Schlag sei 303
ne Schulter und ließ ihn taumeln. Zweifellos hatte der Schlag seinem Kopf gegolten, aber unbewußte Verteidigungsreflexe hatten sich ausgewirkt. Im letz ten Moment war er seitwärts ausgewichen. Weitere Schläge folgten. Im dichten Nebel packte er glitschi ge Glieder, zwang sie in jene tödlichen Griffe, deren Geheimnis er in orientalischen Häfen erlernt hatte, und hörte Knochen knacken. Doch seine unsichtba ren Feinde schienen mit einem unaufhörlich sich er neuernden Leben begabt wie die Hydra mit den hun dert Köpfen. Wieder ein Schlag – diesmal mit einem Beil –, der nur die Kopfhaut über der Schläfe streifte, da es ihm erneut gelungen war auszuweichen. Blut floß, und ein salziger Geschmack kam ihm auf die Lippen. Er riß sich los. Mit einem Sprung gelang es ihm, sich aus dem Schlangenknoten zu lösen, der ihn ge fangenhielt. In einer seltsamen Stille, die er nicht begriff, lief er geradeaus. Seine Augen gewöhnten sich an das dichte Dunkel, aber er wußte, daß er in der Finsternis nicht so gut sehen konnte wie die Indianer. Trotzdem unterschied er eine schattenhafte Gestalt, die auf ihn zukam. Diesmal schlug er als erster mit dem massi ven Silberkolben seiner Pistole zu. Die Gestalt sank in sich zusammen, blieb zurück, doch aus der Nacht lösten sich andere Schatten, schienen ihn umzingeln zu wollen. Seine Verwundung schwächte ihn. Um ihnen zu entwischen, rannte er den Abhang 304
zum Fluß hinunter. Als er den abfallenden Uferrand unter seinen Füßen spürte, warf er sich ins Wasser. Die schwarze, eisige Zuflucht schien ihm vertraut, er ließ sich tragen, kaum atmend, in einem Zustand betäubter Gedankenlosigkeit, und eine Zeitlang schien es ihm, als durchlebe er noch einmal seine Flucht in den Wassern der Seine fünfzehn Jahre zuvor, als er mehr tot als lebendig aus dem Kahn geglitten war, in den ihn die Musketiere des Königs geworfen hatten. Er stieß gegen etwas, klammerte sich an Zweige, seine Füße fanden zwischen Wurzeln Halt … Ein rosiger, kalter Schein traf schmerzhaft seine Augen. Für einen Moment schien es ihm, als habe man eine Feuerwerksrakete in seine Richtung abge schossen. Dann erkannte er jedoch, daß es das Licht der Morgenröte war, der Strahlenglanz der aufgehen den Sonne. Goldene Leuchtergehänge und blitzende Diamanten umgaben ihn. Der schwarze Vorhang der Nacht hatte sich über glitzernder Weiße gehoben, und er begriff, daß er das Bewußtsein verloren haben mußte, nachdem er sich aufs Ufer gezogen hatte. Sofort dachte er: »Sie! … Angélique! … Im Fort! … Was ist geschehen? … Sie ist in Gefahr! … Sie und die Kinder!« Die Vorstellung machte ihn hellwach, und trotz des Bluts, das er verloren hatte, fühlte er sich, angestachelt von der jäh in ihm aufsteigenden Wut, voller Kraft. Wie immer vor Beginn eines Kampfes beherrschte ihn jene Ausschließlichkeit, die ihn taub und blind für alles machte, was nicht zu diesem Kampf und der 305
Gefahr gehörte, die er zu bestehen hatte. Selbst der Gedanke an Angélique schwand aus seinem Gehirn. Er war nur noch ein Geschöpf, das sich mit all seinen instinktiven und erworbenen Fähigkeiten verteidigt, und so mancher Feind hatte schon zu seinem Nachteil erfahren müssen, wie un bezwinglich er, selbst allein, in diesem Zustand sein konnte. Langsam richtete er sich auf und sah sich um. Er befand sich im Schutz einer Weide, deren tiefhängendes Blattwerk, golden unter dem Schnee, wie kostba res Gehänge funkelte. Der überall liegende Schnee erklärte die blenden de Weiße, das Schweigen, das plötzliche Ersticken aller Geräusche. Er war heimlich im Dunkel der Nacht, vermischt mit dem Nebel gefallen. Die ersten Strahlen der Sonne hatten genügt, die Dunstschleier zu vertreiben. Die letzten Reste verwehten in der glit zernden Klarheit der Landschaft. Joffrey bemerkte, daß er sich weit vom Fort entfernt hatte, dessen Palisadenwall er zur Rechten auf der Höhe des Abhangs gewahrte. Dünne Rauchfahnen stiegen träge aus den beiden Schornsteinen und zeichneten weiße Ornamente in den morgendlichen Himmel. Vorsichtig verließ er seine Deckung, die Pistole am Lauf in der Faust, bereit zuzuschlagen. Mit scharfem Blick durchforschte er die Umgebung, ohne einen Menschen zu entdecken. Ein Stück weiter oben kreuzte er eine im frischen Schnee sichtbar geblie 306
bene Spur von Schritten, die in gleicher Höhe weiter den Hang entlang verlief. Je mehr er sich dann dem Fort näherte, desto mehr häuften sich die Spuren, teilten sich nach rechts und links. Offenbar hatte man das Fort vor dem Angriff umzingelt. Angriff? Nein. Sie mußten ohne Schwierigkeiten eingedrungen sein, denn man hatte ihn noch im Hof überfallen. Als er endlich den unter der dünnen Schneedecke erkennbaren Pfad betrat, der vom Ufer zum Palisa dentor hinaufführte, gewahrte er vor sich eine liegen de Gestalt. Mißtrauisch näherte er sich und drehte den Körper um. Es war ein Indianer, aus dessen klaffender Schä delwunde Blut und Gehirnmasse ausgetreten wa ren. Zweifellos der, den er in der Nacht mit seinem Pistolenkolben erschlagen hatte. Er blieb noch einen Moment stehen, um ihn sich genauer anzusehen, obwohl er ungedeckt war und jedwedem Feind ein weithin erkennbares Ziel bot. Aber schon auf den ersten Blick entdeckte er, daß er fürs erste nichts zu fürchten hatte. Der Indianer gehörte zu denen, die bei Nacht kommen und sich vor der Dämmerung zurückzie hen. Denen, die sich nicht fürchten, in der Finsternis zu sterben, da ihre Seelen sich dem uralten Fluch ent ziehen. Den einzigen, die es wagen … Sie gehörten alle zu derselben Art, und als er sich über den Toten beugte, erhielt Joffrey die Bestätigung. Ein Gegenstand funkelte am Hals des Indianers. Er 307
griff danach und zerriß mit einem kurzen Ruck das Band des Amuletts. Nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte, schob er es in sein Wams. Dann stieg er langsam weiter nach Katarunk hin auf.
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Neunundzwanzigstes Kapitel
Angélique hatte lange gebraucht, um einzuschlafen. Die Migräne quälte sie, und ihre Augen schmerzten. Ein paar Spielleute der Abenakis, die Perrot dazu bewogen hatte, die irokesischen Häuptlinge durch ein wenig Musik zu ehren, schüttelten drüben im Saal ihre Schildkrötenklappern, schlugen auf ihre Trommeln, bliesen ihre sechslöchrigen Eichenflöten. Angélique stellte sich die Häuptlinge und die Weißen beim Festmahl vor, wie sie einander hölzerne Näpfe mit Mais unter einer Schicht von Bärenfett und Sonnenblumenkernen, Schüsseln mit gekoch tem Fleisch und vor allem Becher mit Branntwein zureichten. Von Zeit zu Zeit übertönte rauhes Gelärme die schrillen, bohrenden Töne der Musik, und Angélique erschauerte. Joffrey fehlte ihr, und sie hatte Angst. »Wie schön wär’s, wenn ich dich bei mir hätte«, dachte sie kindlich. »Ich brauch’ dich so …« Dann hatte sich allmählich alles verwischt, und sie war in tiefe Stille, eine Grabesstille, gesunken. Als sie erwachte, herrschte noch immer die gleiche Stille. Das Tageslicht erinnerte sie an den gedämpften Schein einer Alabasterlampe. An ihrem Lager gewahrte sie den Mohawk Uttakeh. Er war nackt und bleich wie der Tod, glich einer Statue aus gelblich verfärbtem Marmor. Er neigte den Kopf, sah sie an, und plötzlich bemerkte sie hellrotes 309
Blut, das ihm von der Schulter oder Brust rann – es war nicht genau auszumachen. Wie in einem Hauch murmelte er: »Frau, gib mir mein Leben!« Mit einem Sprung war sie aus dem Bett – und die geisterhafte Gestalt des Mohawk verschwand. Nie mand war im Zimmer. »Ich werde närrisch«, sagte sie sich. »Fange ich schon an, Visionen zu haben wie all die Leute hier?« Verstört fuhr sie sich mit der Hand übers Gesicht. Ihr Herz schlug erregt. Sie lauschte gespannt. Was bedeutete diese zähe Stille? Irgend etwas mußte ge schehen sein! Rasch kleidete sie sich an. In ihrer Eile warf sie sich den erstbesten Mantel über, den Mantel aus amaran trotem Taft, den sie am ersten Abend getragen hatte, um sich zum Bankett zu begeben. Sie ahnte nicht, daß dieser nicht vorbedachte Umstand ihr helfen würde, ein Leben zu retten … Im benachbarten Raum lagen ihre Söhne noch im gleichsam mineralischen Schlaf der Jugend; nachdem sie ihr Ohr an die Tür der Jonasse und an die der Kinder gepreßt und den leisen Atemhauch der noch Schlafenden wahrgenommen hatte, begann sie ruhi ger zu werden. Doch die sie umgebende Stille schien ihr nach wie vor ungewöhnlich. Geräuschlos entriegelte sie die Eingangstür, und der Glanz des bleichen Lichts, dessen Schein auf den kleinen, undurchsichtigen Pergamentvierecken der 310
Fensterbespannung ihr schon beim Erwachen aufge fallen war, traf sie voll ins Gesicht. Zugleich drang ei sige Luft auf sie ein, während ihre geblendeten Augen blinzelten und sie einen Ausruf unterdrückte. Der Schnee! … Schnee war über Nacht gefallen. Die hölzernen Gebäude wirkten schwärzer, verschlossener unter den makellos weißen Schrägen der Dächer. Irisierende Nebelschleier trieben über die Palisade, die die Grenze einer schemenhaften Landschaft bildete. Niemand ließ sich sehen, doch der weiße Teppich des Hofs war von zahlreichen Spuren durchzogen. Angélique sah das weit geöffnete Tor und dahinter im Schnee etwas Dunkles wie einen ausgestreckten Körper. Sie fragte sich noch, ob sie sich dieses Etwas aus der Nähe ansehen solle, als sich eine dichtere Nebelwolke hinter ihr über das Dach schob wie eine Walze grauen Dunstes, das Sonnenlicht erstickte und sie unverse hens in eine sichtlose, taube Welt versetzte. Irgendwo ließ sich ein schriller, seltsamer Schrei vernehmen. Sie sah nichts mehr. Vorsichtig schritt sie voran, bis sie die Palisade erreichte, an der entlang sie sich zum Tor tastete. Doch als sie draußen war, wußte sie nicht mehr, in welcher Richtung sie die im Schnee liegende Gestalt zu sehen geglaubt hatte. Sie rief. Ihre Stimme klang matt und trug nicht weit. Fast ebenso schnell, wie er sie eingehüllt hatte, be gann der Nebel sich wieder zu lichten, sich in dünne, 311
von winzigen, glitzernden Wassertröpfchen rieselnde Schleier zu verwandeln. Zur Rechten zeichnete sich etwas Hochaufragendes, Rotes ab. Es war der einsa me Ahorn in der Nähe des Zugangs zum Fort. Dem Schnee gelang es nicht, sein prunkendes Laubkleid zu verdecken. Mit Weiß gesäumt, leuchtete das Rot nur noch heller, und über den Dunst triumphierend, spielte das Sonnenlicht durch das purpurne Laubwerk wie durch die Rubinscheiben eines Kirchenfensters. Der Nebel wich langsam bis zum Fluß zurück, und aus ihm trat eine Gestalt und kam den Abhang herauf. Es war der kleine Baron Eliacien de Maudreuil, schön und strahlend an diesem Morgen wie der Erzengel Michael selbst. Sein blondes Haar schimmerte unter dem india nischen Kopfputz aus Federn und Perlen. Funken sprangen aus der blanken, langen Klinge des Dolchs in seiner Hand. Ein paradiesischer Traum füllte seine klaren Augen. Was er durch die wehenden Nebelschleier unter dem roten Ahorn mit den leuchtenden Kirchenfenster reflexen sah, war eine von einer lichten Aureole um gebene Erscheinung von übernatürlicher Schönheit, war ein Antlitz von der reinen Weiße der Lilien. Sie erwartete ihn, sie sah ihm entgegen, ruhig und ernst, in die Falten eines Mantels von roter Farbe ge hüllt. Von seiner Erregung überwältigt, beugte er das Knie. »O Heilige Jungfrau«, murmelte er mit erschöpfter Stimme, »o Mutter Gottes, gesegnet sei dieser Tag! 312
Ich wußte, daß es mir vergönnt sein würde, dich in der Stunde meines Sieges zu sehen.« Vor ihm sternte sich der Schnee mit roten Blumen. Blut! Blut, das Tropfen für Tropfen fiel! Und in der erhobenen Faust schwang er etwas Schwarzes, Feuchtes, rötlich Überronnenes. »Das ist das Haar des bösen Geistes, der Balg, den ich dir versprochen habe, o Heilige Jungfrau! … Es ist der Skalp Swanissits.« Wieder glitt eine Nebelwolke über sie, hüllte sie beide in ihren kalten Schatten und entzog den Knienden Angéliques Blick. Sie hörte ihn noch wie wahnwitzig schreien: »Swanissit ist tot! Ruhm sei Gott im höchsten der Himmel!« Tastend wich sie zurück, suchte nach einem Halt. Mit ausgebreiteten Armen bewegte sie sich im Ungewissen, fand endlich das Tor und überquerte den Hof in Richtung auf das größere Gebäude, in dem das Festmahl stattgefunden hatte. Plötzlich gewahrte sie vor sich gleich einem schwarzen Loch die gähnende Öffnung der Tür. Vom Wind bewegt, knirschte der schwere hölzerne Türflügel in seinen ledernen Angeln. Entsetzliche Angst stieg in ihr auf und trieb sie zur Schwelle. Nur vier Männer saßen noch an der Tafel. Sie sah es mit dem ersten Blick: Joffrey war nicht unter ihnen. Es waren die vier irokesischen Häuptlinge Swanissit, 313
Annisera, Onasategan und Ganatuha. Über den Tisch gesunken, schienen sie ihren Rausch auszuschlafen. Ein fader Geruch schlug Angélique aus dem Saal entgegen, in den sich der Nebel eingeschlichen hatte. Das Feuer war erloschen. Schaudernd vernahm sie ein unheimliches Geräusch; es klang wie spärlich fal lender Regen, wie das Tropfen zähflüssigen Wassers in einer dunklen Höhle. Was tat es schon, daß die Kälte durch die offene Tür eindrang und das Feuer erloschen war! … Die dort saßen, brauchten keine Wärme mehr, denn ihre Köpfe mit den freigelegten Schädeldecken ruhten in einem Meer von Blut. Und das Geräusch, das Angélique hörte, war das Tropfen dieses vom Tisch auf den Boden rinnenden Blutes. Ihr wurde übel, und selbst die Sorge um das Schicksal ihres Gatten wurde überspült von dem Grauen, der entsetzlichen Gemeinheit dieses An blicks. Die irokesischen Häuptlinge waren an der Tafel ihres Gastgebers, unter dem Dach Joffrey de Peyracs, skalpiert worden. Ein Schatten rührte sich hinter ihr. Sie wandte sich um, fuhr mit der Hand zum Kolben ihrer Waffe. Sie sah Nicolas Perrot, der sich den Schädel unter seiner Mütze rieb und an ihr vorbei in den Saal späh te. Seine Lippen murmelten Flüche, die laut auszu sprechen ihm die Kraft fehlte. »Wißt Ihr, wer das getan hat?« fragte Angélique 314
rauh. Er zuckte stumm mit der Schulter. »Wo ist mein Mann?« »Wir suchen ihn.« »Was ist geschehen?« »Heut nacht waren wir alle ziemlich beschwipst«, sagte Perrot. »Als ich mal in den Hof rausging, hab’ ich eins über den Schädel bekommen. Ich bin erst vor kurzem wach geworden.« »Wer hat Euch niedergeschlagen?« »Ich hab’ keinen Dunst … Aber ich möchte schwören, daß es der Sagamore Piksarett mit seinen Patsuikets gewesen ist.« »Und Maudreuil! Ich habe ihn eben vor dem Fort gesehen.« Perrots Blick glitt vage über die Irokesen. »Einer fehlt«, sagte er. Er zählte die Toten. »Ja, es fehlt einer … Uttakeh! Er muß ihnen ent wischt sein.« »Wie konnten sie ins Fort eindringen und Euch überfallen?« »Man hat sie reingelassen. Die Posten dachten, die Franzosen kämen zurück.« »Und er? Mein Gott, wo kann er nur sein? Ich wer de meine Söhne rufen.« Von neuem überquerte Angélique den Hof, den die grauen Schwaden des Nebels in eine Einöde verwan delten. Bei jedem Schritt konnte sie auf einen Feind stoßen. 315
Das Vorratsmagazin erschien im treibenden Dunst. Sie blieb stehen, stützte sich gegen die Wand und riß die Pistole hoch, da sie ein Rascheln zu hören glaub te. Gleich darauf war das Geräusch von neuem zu vernehmen, etwas glitt stäubend über die Schindeln des Daches, dann stürzte ein Körper schwer vor ihr in den Schnee. Es war Uttakeh. Da er sich nicht rührte, beugte sie sich über ihn. Er war wachsbleich und atmete kaum. Seine erstarrten Hände schienen ihren Halt am Dachfirst verloren zu haben, an den er sich, seit Stunden verwundet, geklammert haben mußte. Die Lider des Irokesen öffneten sich, ließen den matten dunklen Glanz seiner Augen sehen. Seine Lippen bewegten sich. Sie verstand seine geflüsterten Worte nicht, aber sie erriet ihren Sinn. Es waren die gleichen, die er schon einmal oben an der Quelle zu ihr gesagt und die er im Traum wiederholt hatte: »Frau, gib mir mein Leben!« Sie packte ihn unter den Achseln und schleifte ihn durch den Schnee. Er war schwer. Mehr als einmal rutschten ihre Hände an seiner eingefetteten Haut ab. Aus der Tasche ihres Kleides zog sie den Schlüssel zum Schuppen, schloß auf, stieß den Türflügel mit dem Ellbogen zurück, schleppte den Verwundeten ins Innere, ließ ihn in einem Winkel vorsichtig zu Boden sinken und warf ein paar alte Säcke über ihn, 316
um ihn zu verstecken. Dann ging sie hinaus und verschloß wieder die Tür. Hinter ihr war jemand aus dem Nebel aufgetaucht und beobachtete sie. Sie wandte sich um und fuhr erschrocken zu sammen. Ein Indianer stand vor ihr: jener hochge wachsene Häuptling, den sie eines Morgens beim Abtransport des Altars aus vergoldetem Holz bemerkt hatte. Er war von wahrhaft riesiger Gestalt, aber sehr mager. In den üppigen, ölig glänzenden Schopf war ein Rosenkranz aus großen Holzperlen geflochten, und die straffen Flechten wurden zu beiden Seiten des Gesichts in Taschen aus den Pfoten eines roten Fuchses aufgefangen. Mehrere Medaillenketten, an denen kleine Kreuze befestigt waren, hingen ihm tief auf die tätowierte Brust hinunter. Er betrachtete Angélique mit schräg gehaltenem Kopf, die Augen spöttisch zusammengekniffen. Langsam kam er auf sie zu. Sein stummes Lachen entblößte seine weißen, spit zen Nagerzähne, die ihm das Aussehen eines durch triebenen Eichhörnchens verliehen. Sie hätte nicht sagen können, warum, aber sie emp fand keine Furcht. »Bist du der Sagamore Piksarett?« fragte sie. Wie alle Abenakis, die häufig mit Franzosen zu tun hatten, mußte er ein wenig deren Sprache verstehen, wenn er sie nicht überhaupt beherrschte. Er nickte bestätigend. 317
Sie schob sich zwischen ihn und die Tür des Schuppens, fest entschlossen, ihm den Eintritt zu verwehren. Sie wollte ihn nicht töten, wollte ihn nur ablenken, verhindern, daß er den Verwundeten ent deckte, wollte einen Handel mit ihm abschließen. Sie ließ den weiten roten Mantel von ihren Schultern gleiten. »Nimm diesen Mantel … Er ist für dich, für deine Toten.« Der Mantel hatte die Bewunderung der Indianer erregt. Sie sprachen von ihm weit den Kennebec hinunter. Sie träumten von ihm in ihrer steten Be sessenheit, ein Leichentuch aufzutreiben, würdig, die Gebeine ihrer Ahnen aufzunehmen. War nicht so mancher katholische Priester zum Märtyrer ge worden, weil er sich geweigert hatte, ihnen ein Meßgewand zu schenken? Diese Geste war das einzige Mittel gewesen, Piksaretts Aufmerksamkeit abzulenken. Verzückt starrte er das ihm angebotene Kleidungsstück an, das wie ein vom Himmel selbst herabgefallenes Stück Morgenröte schillerte. Ungestüm riß er es an sich, breitete es auseinander, legte es sich um, dann rollte er es zusammen und preßte es an sein Herz. Sein Blick glitt zu der verschlossenen Tür, dann zu Angélique und kehrte zum Mantel zurück. In diesem Moment brach endlich die Sonne strah lend durch den Dunst, und im Nu war die Sicht zu den Häusern und der Palisade dahinter frei. Vom anderen Ende des Hofs gewahrte Perrot den 318
vor Angélique stehenden Piksarett und stürzte rache durstig auf ihn zu. Doch der Abenaki entfloh, den Mantel fest un ter dem Arm, wie ein riesiges Eichhörnchen über die rückwärtige Palisade und verschwand, während gleichzeitig Joffrey de Peyrac das offene Tor des Forts erreichte und den Hof betrat. Angélique lief ihm ent gegen und warf sich in seine Arme, erschrocken über seine Verletzung, aber ansonsten närrisch vor Freude, ihn wohlbehalten vor sich zu sehen. »Gott sei gelobt! Ihr lebt!« murmelte sie, sich an ihn schmiegend. »Ihr seid verletzt?« »Es ist nichts. Und die Kinder? Die Jungen?« »Sie sind gesund. Ich glaube, niemand ist tot … von den Unsrigen.« Joffreys Blick heftete sich bereits auf die offene Tür des Saals, vor der sich einige Männer drängten, und er näherte sich, wie Angélique nicht lange zuvor von der Vorahnung der Tragödie erfüllt, die ihn erwartete. Von der Schwelle aus betrachtete er die in der Haltung des Schlafs oder der Trunkenheit erstarrten wächsernen Gestalten. Dann funkelte wilder Zorn in seinen schwarzen Augen auf. Zwischen zusammen gepreßten Zähnen stieß er hervor: »Verflucht sei der, dem wir dies verdanken!« Er ballte die Fäuste, und der Ausdruck seines blut beschmierten, von nassem Haar umrahmten Gesichts erschreckte sie. »Bestimmt sind’s die Patsuikets gewesen«, sagte Perrot. 319
»Ich weiß … Ich weiß, wer uns im Schutz der Nacht verraten hat. Ich habe ihr Zeichen gesehen.« Aus seinem durchnäßten Wams zog er den Gegen stand, den er vom Hals des toten Indianers gerissen hatte, und ließ ihn auf seiner Handfläche blitzen: ein kleines goldenes Kreuz. »Das Kreuz«, sagte er bitter. »Gibt es einen Ort auf dieser Welt, wo ich ein Werk in Angriff nehmen kann, ohne daß man mir das Kreuz zwischen die Beine wirft, um mich zu Fall zu bringen?« »Lästert nicht, Monsieur, ich beschwöre Euch!« rief Perrot erblassend. »Was kümmern mich Lästerungen! Es sind die Taten, die zählen!« Er musterte sie mit düsterem Blick. Unterdrückter Zorn bebte in seiner Stimme. Die gotteslästerlichen Worte, die ihm auf der Zunge brannten, würde kei ner von denen, die ihn umstanden, würden nicht einmal seine Brüder, seine Gefährten verstehen. Nur sie! Denn sie hatte mit ihm gelitten, wie er – und aus den gleichen Gründen. Er legte einen Arm um ihre Schulter, zog sie leidenschaftlich an sich und betrach tete mit verzweifelter Intensität ihr schönes, blasses Antlitz mit den klaren Augen. Gemeinsam mit ihm war sie von den Gläubigen und Gerechten aus ihrer Welt verstoßen worden; weil sie ihn liebte, hatte sie, noch nicht fünfundzwanzig Jahre alt, der Fluch getroffen, und nun wurde ihm blitzartig klar, daß sie, im Schicksal mit ihm verbun den, sein Doppelgänger geworden war. 320
»Das muß ein Streich der Patsuikets gewesen sein«, wiederholte Maupertuis, um irgend etwas zu sagen. »Sie können keinen Irokesen sehen, ohne ihm mit den Zähnen an die Gurgel zu gehen. Als sie sahen, daß die da ihnen durch die Lappen gehen würden …« »Sie waren es. Nur ein fanatisch christlicher Indianer wird einen Kampf bei Nacht riskieren. Fanatisch und fanatisiert. Von dieser Sorte sind nur die Patsuikets. Gläubig genug, um nicht dem Aberglauben ihrer Rasse zu erliegen, der besagt, daß ein in der Nacht getöteter Krieger ewig durch die Finsternis irren muß. Und hypnotisiert genug durch den Mann in der schwarzen Kutte, um seiner mystischen Kraft zu vertrauen, wenn er ihnen für den Tod eines Irokesen oder Engländers das Paradies verspricht.« »Sprecht Ihr vom Pater d’Orgeval?« riefen Perrot und Maupertuis. »Aber das ist unmöglich! Er ist ein Heiliger!« »Ein Heiliger, der für seinen Gott kämpft. Ich bin schon seit langem über ihn unterrichtet. Der Papst und der König von Frankreich haben ihn nach Akadien geschickt, mit dem einzigen Ziel, die Abenakis in den Heiligen Krieg gegen die englischen Ketzer und alle die zu treiben, die als Feinde der Katholiken und Franzosen angesehen werden können. Er war es, der in Québec um Unterstützung bat und unser Fort besetzen ließ. Als er sah, daß ich mit dem Grafen de Loménie friedlich verhandelte, glaubte er sich im Stich gelassen und holte zu einem endgültigen, nicht mehr rückgängig zu machenden Schlag aus … Es ist 321
nicht das erstemal, daß er aus eigenem Entschluß die Patsuikets in den Kampf schickt. Und nun«, fuhr Peyrac mit rauher, wie geborstener Stimme fort, »nun klebt durch seine Schuld –«, und er betrachtete das glitzernde goldene Kreuz in seiner Hand, »– durch seine Schuld das Blut des Verrats an meinen Händen. Erinnert Euch der Worte Tahutagets, Perrot, als er als Abgesandter zu uns kam. Er zweifelte. Uttakeh hatte ihnen gesagt, daß ein Bündnis mit den Weißen nicht möglich sei. Aber sie hofften dennoch auf einen Weißen, der sie nicht verraten würde. Was kann ich ihnen jetzt antworten? Mein Haus ist durch ein unsühnbares Verbrechen beschmutzt worden!« Seine Stimme bebte. Und doch schien es Angélique, die er noch immer an sich drückte, als ob dieser letz te Satz die dunkle Ausweglosigkeit, in der sich seine Gedanken bewegten, jäh erhellt und ihm vielleicht gar eine Lösung gewiesen habe. Er beruhigte sich, fand zu seiner gewohnten Selbstbeherrschung zurück. Mit gedämpfter Stimme wiederholte er: »Mein Haus ist beschmutzt worden.« Sein Blick war starr und nachdenklich. »Uttakeh ist entkommen«, sagte Perrot. »Um so schlimmer! Er wird zu seinen Kriegern zurückkehren, und in zwei Tagen, wenn nicht schon morgen, werden sie hiersein. Wir werden sie bis zum letzten Mann niedermachen oder selbst sterben müs sen … Wo sind die Männer, die heute nacht Wache hatten?« 322
Jacques Vignot und zwei Spanier traten vor. Der Pariser berichtete, daß gegen zwei Uhr mor gens, kurz vor seiner Ablösung, eine französische Stimme außerhalb der Palisade die Öffnung des Tors für Monsieur de Loménie-Chambord gefordert habe, der angeblich zurückgekommen sei. Da man sich von den Franzosen im besten Einvernehmen getrennt habe, hätten die Posten keinen Anlaß gesehen, ihnen den Eintritt zu verweigern. Die Nacht sei neblig und pechschwarz gewesen. Kaum hätten sie jedoch die Torflügel aufgestoßen, als sie auch schon niederge schlagen und gefesselt worden seien. Es war also nicht der Colonel de Loménie gewe sen, sondern der Baron de Maudreuil an der Spitze einer kleinen Abteilung Abenakis vom Stamm der Patsuikets. Und zweifellos hatten sie es nur auf die Skalpe der irokesischen Häuptlinge abgesehen, denn bei dem blitzschnellen nächtlichen Handstreich war wie auf Befehl keiner der Leute Peyracs getötet oder ernstlich verletzt worden. Was Peyrac selbst betraf, schienen die Patsuikets weder mit seinem erbitterten Widerstand noch mit seiner außerordentlichen Kraft gerechnet zu haben. Während er sich noch im Hof gegen seine Angreifer wehrte, hatten Don José Alvarez, Maupertuis, Macollet, Malaprade und alle die, die noch nicht auf dem Boden schnarchten oder auf den trügerischen Lockruf »Die Bären!« ins Freie getaumelt und dort überwältigt worden waren, im rauchigen Saal plötz lich den Baron de Maudreuil und den Sagamore 323
Piksarett auftauchen sehen. »Ich hab’ sofort kapiert, was sie wollten«, erklärte der alte Macollet, »aber was konnt’ ich schon tun? Ich hab’s nicht mal zuwege gebracht, meinen Hintern von der Bank zu heben. Und selbst wenn ich’s ge konnt hätte … Es war immerhin eine heikle Situation. Der kleine Maudreuil ist ein frommes Herrchen mit viel Geld, und ich bin ein alter Heide und ein Habenichts dazu. Und schließlich hatte das Kerlchen ja recht, sich Swanissits Skalp zu holen, der all seine Leute massakriert hat … Als Swanissit ihn sah, hat er auch gleich gewußt, woher der Wind weht, aber er konnte sich nicht mehr rühren, so genudelt war er … Annisera und Ganatuha ging’s nicht viel anders, und Onasategan hat nichts gesehen, denn er schnarchte schon. Nur Uttakeh hat sich wie ein Satan gewehrt, bevor er durchs Fenster raus ist. Das Kreuz hat er mit den Fäusten gebrochen … Guckt’s Euch nur an.« Joffrey strich sich über die Stirn. Er fühlte die Verletzung, die wieder zu schmerzen begann. Es war das erste Blut, das er für die Eroberung der Neuen Welt vergossen hatte. Diese Wunde verdankte er Etkon-Hontsi, der Schwarzen Kutte. Es würde nicht die letzte sein. Der Befehl, die Europäer zu schonen, hielt nur den Anschein aufrecht. Das Urteil war trotzdem über sie gesprochen. Welches primitive Volk, welches Volk überhaupt, konnte die Schmach dieser verräterischen Mordtat hinnehmen, ohne Rache dafür zu fordern? Katarunk war von nun an der ewigen Ahndung der 324
Fünf Nationen ausgeliefert. Trotz Loménies und seiner Bemühungen, trotz aller Vernunft, Weisheit und Geduld, die sie beide als loyale Männer aufgewandt hatten, um das Gespenst eines überflüssigen Krieges fernzuhalten, richtete es sich nun vor ihnen auf, unsinnig, dumm und unver meidbar.
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Dreissigstes Kapitel
Angélique glitt durch den Türspalt in den Vorrats schuppen und lehnte sich innen lauschend gegen die wieder geschlossene Tür. War der verwundete Irokese noch am Leben? War er tot? Würde er sich auf sie werfen? Alles war mög lich. Sie wartete. Nichts rührte sich im Dunkel des Raums. Sie ließ sich auf die Knie sinken und kroch tastend zu der Stelle, wo sie ihn verlassen hatte. Die alten Säcke, unter denen er lag, schienen unverändert. Als vor kurzem festgestellt worden war, daß sich der Häuptling der Mohawks nicht unter den Toten befand, hatte sie es vorgezogen, noch nichts zu sagen. Bevor sie Joffrey mitteilte, daß sie eine Geisel besa ßen, mußte sie sich überzeugen, daß Uttakeh lebte. Sie schob eine Hand unter die Säcke und traf auf die Härte eines starren Körpers. Er war noch da. Er hatte sich nicht gerührt, lag noch in derselben Haltung wie zuvor, das Gesicht auf der gestampften Erde des Bodens. Doch Angélique stellte fest, daß das Fleisch lau und geschmeidig war. Mit einem Seufzer der Erleichterung machte sie sich ans Werk. Sie hatte einen Lichtstumpf mitgebracht, den sie auf eine Kiste stellte und anzündete. Ein Beutel enthielt eine kleine Kürbisflasche mit Branntwein, 326
einige Salben und ein wenig Scharpie, Dinge, die sie in der Apotheke gefunden hatte. Aus dem Brunnen hatte sie frisches Wasser geschöpft und in eine zweite Kürbisflasche gefüllt. Sie räumte die staubigen Säcke beiseite, legte den völlig reglosen Körper frei, drehte ihn flach auf den Rücken und zog den Lichtstumpf näher heran. Ihr geübter Blick prüfte die Haltung der Hände, die Färbung der Lippen, die Höhlen um die geschlosse nen Lider, das Aussehen der Nasenflügel. Ein Moment genügte. »Er wird leben«, sagte sie sich. Sie hatte sich im Laufe ihres Daseins über viele Verletzte gebeugt, in Marokko wie während ihrer Feldzüge im Poitou. Im schwachen, zuckenden Schein der Kerze machte sie sich nun an eine genaue re Musterung, um die Wunde zu entdecken, der der Irokese diesen todesähnlichen Schlaf verdankte. Wenn sie ihre Hand auf einen Kranken oder Verwundeten legte, war es ihr immer, als ob die ser menschliche Körper durchscheinend würde. Unsichtbare Anzeichen enthüllten sich ihr, die ihr das bloße Betasten nicht verriet. Aufs äußerste konzen triert, ließ sie ihre suchenden Finger sanft über das tä towierte Fleisch gleiten. So leicht war die Berührung, daß sein Unterbewußtsein sie nicht registriert haben konnte. Dennoch öffnete der Mohawk die Augen. Er sah das Profil der weißen Frau und ihr gelöstes Haar, das sich im Licht weich und locker entfaltete. Er sah ihre gesenkten Lider, den ernsten Schwung ihrer 327
Lippen, der ihr einen Ausdruck völliger Versunkenheit verlieh. Und er empfand aufs stärkste das streifende Tasten ihrer Hände und den warmen, magnetischen Strom, der von diesen schlanken Fingern mit den wie Muscheln perlmuttglänzenden Nägeln belebend aus strahlte. Plötzlich hielt sie inne und stieß scharf die Luft aus. Sie hatte den blutigen Lendenschurz beiseite gescho ben und dabei die fast bis in die Leistengegend rei chende Oberschenkelwunde entdeckt. Ein Lanzen stoß, der den Bauch hatte treffen sollen und sein Ziel verfehlt hatte. Durch ein fest um den Schenkel geknotetes Band war die Blutung aufgehalten worden. Uttakeh hatte es sich nach seiner Flucht aus dem Saal selbst angelegt, um zu verhindern, daß man, sobald es heller würde, seiner Blutspur folgen könnte. Ein wirksames, aber gefährliches Mittel, denn die Umgebung der Wunde und das Bein selbst waren schon häßlich geschwollen, Vorstufe einer tödlichen Embolie. Angélique griff wieder zum Lichtstumpf und beugte sich mit noch größerer Aufmerksamkeit über die Wunde. Dann machte sie sich daran, vorsichtig das Band zu lockern. Das Blut hätte stoßweise her ausschießen müssen, aber es floß nur spärlich und nur wenige Augenblicke. Es war ihr unbegreiflich. In diesem wie erstarrten Körper mußte sich bereits ein unerklärlicher Heilungsprozeß vollzogen haben. Dank welchem Wunder, welchen dunkelgeheimnis vollen Kräften? … Sie hob den Blick zu dem Gesicht 328
des Verletzten und erbebte, als sie bemerkte, daß er sie unverwandt ansah. Seltsame Kräfte! Zweifellos. Hatte sie nicht schon am eigenen Leibe erfahren, daß Uttakeh mehr als jeder andere über solche Kräfte verfügte? Sie hatte lange darüber gegrübelt, welchem Zwang sie vor Tagen zu der Quelle gefolgt war, wo er sie erwartete, um sie zu töten. Sie wußte jetzt, daß er sie durch Hexerei dorthin gelockt hatte. Sicher war er imstande, das Fließen seines Blutes aufzuhalten und den Tod mittels eines zugleich er worbenen und übernatürlichen Wissens, über das er verfügte, zum Rückzug zu zwingen. Argwöhnisch musterte sie ihn. Sein Tiergeruch bedrängte sie, und wie schon mehrmals in seiner Gegenwart hatte sie den Eindruck, es nicht mit einem ausschließlich menschlichen Wesen zu tun zu haben, eher mit einer Art Tier, unbekannten Welten ent sprungen, und sie wunderte sich fast, an dem nackt und hilflos vor ihr Liegenden wie bei allen anderen Hände, Füße mit Zehen, sich wölbende Rippen, ei nen Nabel, ein männliches Glied zu sehen. Sie begann das Blut abzutupfen, reinigte die Wunde mit klarem Wasser und legte eine heilende Salbe auf, die die Schwellung beseitigen würde. Bei der kräftigen Konstitution Uttakehs würde diese tödliche Wunde in kurzem zweifellos nur noch eine Erinnerung sein. Von solcher Art sind die Irokesen. Er wußte, daß sie es wußte. Er wußte auch, daß er sie erreichen konnte, aber er hatte gelernt, daß sie die Kraft besaß, seine Absichten zu durchkreuzen. 329
Er hatte sie zur Quelle »gerufen«, aber sie war mit einem Dolch gekommen. Sie besaß die Kraft, weil der Geist der Träume sicherlich auch ihr Freund war. Eine wenn nicht gegensätzliche, so doch von der sei nen unterschiedene Stärke lebte in der von fernen Kontinenten gekommenen fremden Frau; er hatte ihre Schwingungen gespürt, als sie ihre Hände auf ihn gelegt hatte. Mit jedem Blick, den sie wechselten, tauschten Angélique und der Mohawk ihre Gedanken aus. Sie wollte sich überreden, daß er bewußtlos war, daß er sie trotz des durch die Wimpern filternden Funkelns nicht sah. Sie klagte ihn an, ein inkarnierter Geist zu sein, gefährlich, besessen, diabolisch, und er richtete stumm die gleichen Beschuldigungen gegen sie. Und das, was sie bei jedem Blick voneinander über ihre ge heimen Kräfte, ihre Fähigkeiten, ihre Natur erfuhren, machte diese Blicke von Mal zu Mal zorniger, aber auch verstehender. Es war ein magisches Duell, aber ein Duell zweier einander Ebenbürtiger, die, ohne es zu ahnen, über die Schwelle eines unglaublichen Abenteuers traten … Mit gerunzelter Stirn schlang Angélique den letzten Knoten des Verbandes, warf dem Verwundeten einen letzten wütenden Blick zu und erhob sich. Sie suchte eine Weile und zog dann aus einem Warenballen drei Decken. Mit Mühe gelang es ihr, eine der Decken unter den schweren Körper zu schieben, ohne ihn allzusehr zu bewegen. Mit der anderen deckte sie ihn vom Kinn 330
bis zu den Füßen zu, und die dritte rollte sie zusam men und schob sie unter den Kopf. Befriedigt betrachtete sie ihn. Endlich sah er wirk lich wie ein Verletzter aus, wie ein gefügiger Patient. Nun fand sie auch den Mut, die Hand unter seinen Nacken zu schieben, in das harzverschmierte, feder buschartig gesträubte Haar, während sie die Kalebasse mit Wasser seinen Lippen näherte. In die starren Züge des Mohawks kam Leben. Er trank gierig wie ein Kind. Ein tiefer Seufzer hob seine Brust. Als sie den Kopf auf das improvisierte Kissen zu rücksinken ließ, waren die Lider des Indianers ge schlossen. Sie hielt ihn für tot, doch dann bemerkte sie, daß er schlief.
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Einunddreissigstes Kapitel
Angélique mußte bis zum Abend auf einen geeig neten Augenblick warten. Joffrey hielt sich während eines Teils des Tages außerhalb des Forts auf, und während der übrigen Zeit zog er sich mit Perrot und Maupertuis zu endlosen Beratungen zurück. Die bei den Waldläufer, die sich anfangs zurückhaltend gezeigt hatten, schienen mehr und mehr bei der Sache und für die Pläne, die er ihnen darlegte, eingenommen. Etwas beunruhigte Angélique allerdings: Sie hatte nicht den Eindruck, daß er viel Zeit an die Vorbereitungen zur Verteidigung des Forts verschwendete. Es war sonnenklar, daß man sich darauf gefaßt ma chen mußte, die Irokesen von einem Tag zum andern, wenn nicht gar von einer Stunde zur andern, unten am Fluß erscheinen zu sehen. Doch die Tore blieben geöffnet, und Joffreys Leute gingen ohne Eile ihren Verrichtungen nach. Wohl wurden einige Befehle gegeben, und einige der Männer machten sich daran, sie auszuführen. Man grub Löcher in den Abhang außerhalb des Forts und unten am Flußufer, aber mit Befestigungen hatte das kaum etwas zu tun … Angélique fand Florimond in einer Ecke des Hofs damit beschäftigt, Röhren aus starker Pappe mit al lerlei Pulvern vollzustopfen, offensichtlich Schwefel, Chlorat und Kupferoxyd. »Was machst du da?« »Knallkapseln.« 332
»Hast du nichts Besseres zu tun, als dich mit Knall kapseln zu beschäftigen?« »Mein Vater hat mir den Auftrag gegeben.« »Wozu?« »Ich weiß nicht. Eine Idee von ihm.« Angélique sah sich um. Der Schnee war in den letzten Stunden geschmolzen, Erde und Laubwerk schimmerten vor Nässe, und die Strahlen der Sonne wirkten dadurch noch leuchtender. »Weißt du, was dein Vater vorhat, Florimond? Das Tor bleibt offen, und dabei können die Irokesen uns jeden Augenblick überfallen.« »Mein Vater hat Kundschafter ausgeschickt, die uns über ihre Bewegungen unterrichten.« »Was will er tun?« »Ich weiß es wirklich nicht. Aber beunruhigt Euch nicht, Mutter. Unsere Lage ist ernst, ich weiß es, aber unser Vater findet immer einen Ausweg.« Das war wieder die magische Formel, mit der sie alle schnell bei der Hand waren. »Unser Vater, unser Hauptmann findet immer einen Ausweg …« Wenn sie auf Joffrey de Peyracs Gesicht einen be stimmten Ausdruck sahen, wußten seine Leute, seine Söhne, daß es nichts mehr zu fragen gab, daß man ihm nur zu gehorchen brauchte. Nun, sie, Angélique, hatte die Erkenntnis teuer ge nug bezahlt, daß selbst er nicht immer Auswege fand. Sie hatte zu ihrem Leidwesen erfahren müssen, daß das Dasein vor allem aus dem Glück der Menschen gestellten Fallen besteht, in die man nur allzuoft hin 333
eintappt. Im tiefsten Innern konnte sie die Erinnerung an jenes einzige Mal, wo Joffrey einen Feind oder zumindest dessen Bereitschaft, schnell und tödlich zuzuschlagen, offenbar unterschätzt hatte, weder vergessen noch verzeihen. Gewiß, der Feind war da mals der sehr verschwiegene, überaus höfliche, sehr mächtige König von Frankreich, Louis Dieudonné der Vierzehnte, gewesen. Es traf auch zu, daß der Graf Joffrey de Toulouse die gebotene Vorsicht nur ihretwegen außer acht gelassen hatte, daß er, statt auf der Stelle zu fliehen, eine letzte Nacht bei ihr, seiner Frau Angélique, hatte verbringen wollen. Ludwig XIV. hatte schnell wie der Blitz zugeschlagen, und ihrer beider Leben war zerbrochen gewesen. Noch heute gab es Momente, in denen sie nur auf ihre eigene Kraft zu vertrauen vermochte, und leider hatte sie oft erfahren müssen, daß auch diese Kraft Niederlagen ausgesetzt war. In der Gefahr neigte sie zunächst dazu, am Schicksal zu zweifeln, während Joffrey optimistisch versicher te, daß sich immer eine Möglichkeit fände, sich selbst der schlimmsten Situation zu entziehen. Sie beneidete ihn darum, und manchmal mißgönn te sie es ihm sogar ein wenig. Er war ruhig. Dennoch sollte er diese Ruhe am selben Tage zum zweitenmal verlieren, als sie ihm, endlich mit ihm allein, berichtete, daß der Mohawkhäuptling Uttakeh lebe, daß sie ihn gerettet und gepflegt habe, und daß er keineswegs schon dabei sei, seine Brüder zur Rache aufzurufen, sondern sich vorläufig noch in 334
ihren Händen befinde. »Warum habt Ihr mir das nicht schon früher ge sagt?« brauste er auf. »Die Nachricht wäre wichtig genug gewesen, wie mir scheint! Sie kann meine Pläne außerordentlich beeinflussen. Mehr noch: Sie garantiert mir fast ihr Gelingen.« »Um was für Pläne handelt sich’s?« »Das ist meine Sache.« »Wollt Ihr das Fort verteidigen? Müssen wir kämp fen?« »Ja … Vielleicht. Im äußersten Falle. Wir sind gut bewaffnet und könnten gewinnen. Aber ihre Vernichtung würde auch unser Scheitern an den Quellen des Kennebec bedeuten. Wir wären gezwun gen, das Fort früher oder später aufzugeben, denn die Irokesen würden nicht aufhören, uns zu beunruhi gen. Ich ziehe es vor, etwas anderes zu versuchen.« »Was?« »Ich kann noch nicht darüber sprechen.« »Natürlich, ich bin zu dumm dazu, Euch zu be greifen!« fuhr Angélique auf. »Ihr vergeßt, daß auch ich Feldzüge geführt habe! Aber Ihr schickt mich zu meinen Töpfen zurück. Ihr sagt mir nie etwas. Es ist wirklich nicht zu ertragen!« »Und Ihr?« rief Peyrac. »Seid Ihr so verschwende risch mit Erklärungen über das, was Ihr treibt, oder über Eure Gefühle? Habt Ihr mir etwa verraten, auf Grund welcher Vorfälle, welcher Unüberlegtheiten Eurerseits Ihr vor kurzem Uttakeh zu uns bringen konntet, als führtet Ihr ihn an der Leine spazieren, 335
ihn, den schlimmsten Feind der Weißen? Wollt Ihr behaupten, daß nichts Merkwürdiges daran sei, daß es keine Erklärung erfordere? … Ihr geht, Ihr kommt, Ihr riskiert Euer Leben nach Eurem Belieben, Ihr bringt die erstaunlichsten und verrücktesten Dinge zuwege! Und das soll mich, Euren Gatten, nichts an gehen? Heute erst verschweigt Ihr stundenlang, daß Ihr den Irokesen gerettet habt, als ob ich ein Fremder wäre, den man nicht anzureden wagt … Und all die Franzosen, die Euch neulich abend anstarrten und die Ihr mit so vollendeter Kunstfertigkeit faszinier tet? Glaubt Ihr, das sei nach meinem Geschmack? … Glaubt Ihr, es sei einfach, Euch zur Frau zu haben?!« Einander gegenüberstehend, funkelten sie sich zornig an. Plötzlich glitt ein Beben über ihre Züge, und sie brachen gemeinsam in Gelächter aus. »Mein Schatz«, murmelte Peyrac, sie an sich ziehend, »o mein Schatz, verzeiht mir meine Heftigkeit. Ich liebe Euch zu sehr, das ist das Schlimme. Ich fürchte, Ihr könntet mir entgleiten, und eine Unvorsichtigkeit könnte Euch das Leben kosten. Gesteht nur: Wenn Ihr mich verschlossen findet, zahlt Ihr’s mir immer hin mit gleicher Münze heim … Aber ich spür’s mit jedem Tag, daß Ihr mir kostbarer werdet. Heute mor gen noch! Wenn Ihr nicht dagewesen wärt, dicht bei mir, wäre ich vor Bitterkeit erstickt. Und ich las in Euren Augen, daß Ihr mitfühltet, was ich empfand. Habt Ihr mich vielleicht gar inspiriert? … Wir sind uns nahe, meine Liebste, mehr als wir’s denken. Wir ähneln uns fast. Trotzdem werde ich nicht sprechen 336
… noch nicht, kleine Dame! Ich muß Euch noch um Geduld bitten. Es ist ein kühner Wurf, den ich da wage, und der Spieler muß mit sich selbst allein sein. Übrigens habe ich zur Unterstützung zwei solide Ratgeber, Perrot und Maupertuis. Sie sind mit meiner Absicht einverstanden.« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und versenkte seinen Blick in den ihren. »Wollt Ihr mir nicht Vertrauen schenken, Liebste?« Was konnte sie vor diesem zärtlich-überredenden Blick anderes tun, als die Lider zum Zeichen ihrer Zustimmung senken und sich unterwerfen? Uttakeh schlug die Augen auf. Gegen die Helligkeit der offenen Tür sah er die beiden Gestalten an sei nem Lager. Einen Mann und eine Frau, dicht anein andergeschmiegt. Seiner Ohnmacht bewußt, schloß er die Augen wieder, denn er wußte schon, daß sein Haß an diesem Wall zerbrechen würde. »Ich grüße dich, Uttakeh«, sagte Peyrac ruhig. »Ich bringe dir eine Nachricht. Fasse Mut, mein Bruder! Swanissit, Onasategan, Annisera und Ganatuha sind in dieser Nacht gestorben, feige erschlagen von den Tomahawks der Patsuikets.« »Ich weiß. Ich habe es gesehen.« »Ich erinnere mich der Worte, die Swanissit mir sagte, Uttakeh. Du bist sein Erbe. Ich grüße in dir also das Oberhaupt der Fünf Nationen.« Der Indianer schwieg eine ganze Weile, bevor er mit dumpfer Stimme antwortete: 337
»Du hast uns in dein Fort gerufen, du hast uns ins Innere deiner Palisade treten lassen, und hinter ihren Pfosten erwartete uns der Verrat!« »Wer hat den Schlag geführt? Sag’s mir! Du hast es gesehen!« »Der Baron de Maudreuil und seine verfluch ten Verbündeten, die Patsuikets, die Kinder der Schwarzen Kutte.« »Du weißt also, daß nicht ich es war. Du weißt also, daß die, die in mein Fort eindrangen, um zu töten, auch mich verrieten! Versuche deshalb nicht, meine Stirn vor Scham erröten zu lassen, denn sie ist schon rot von meinem Blut, das die gleichen Patsuikets vergossen haben. Sieh her!« Und er wies auf seinen Kopfverband. Uttakeh schien zu zögern, dann stützte er sich auf einem Ellbogen auf. »Was gehen mich die Streitigkeiten der Weißen an!« sagte er verächtlich. »Die einen sind wie die anderen. Ich sehe in ihnen nur einen einzigen Feind.« »Du redest bewußt Dummheiten, Uttakeh, oder das Fieber verwirrt dir die Sinne. Es würde mir nie einfallen, einen Irokesen für den Verrat eines Huronen verantwortlich zu machen, und doch sind Huronen und Irokesen von gleicher Rasse, wie ich selbst zur Rasse der Franzosen gehöre.« Er ließ dem Indianer Zeit, den Vergleich zu beden ken, dann fuhr er überredend fort: »Denk über meine Worte nach, und bevor du dich erklärst, besinn dich auf das Schicksal deines Volkes.« 338
»Unsere Krieger werden bald erfahren, was gesche hen ist«, sagte Uttakeh. »Bald werden sie hiersein.« Er sank wieder auf sein Lager zurück. »Du kannst mich töten, Tekonderoga, aber niemals wirst du die Fünf Nationen hindern, ihre Toten zu rächen.« »Und wer sagt dir, daß ich sie daran hindern will?« fragte Peyrac ruhig. Er hob die Stimme: »Ja, Völker des Langen Hauses, kommt alle nach Katarunk! Kommt, um eure Toten zu rächen!« Und er entfernte sich mit Angélique und ließ den Mohawkhäuptling verdutzt und unruhig zurück. Die Luft war so trocken und klar, daß sie den Widerhall der blutigen Schlacht, die sich Patsuikets und Irokesen flußabwärts nahe Mobedean lieferten, bis nach Katarunk zu tragen schien. Später erfuhr man, daß alle beteiligten Patsuiket krieger gefallen waren. Einigen wenigen gelang es zu flüchten. Piksarett blieb als letzter zurück. Pater d’Orgeval wurde durch einen Pfeil in der Flanke verletzt. Piksarett lud ihn sich auf den Rücken und verschwand mit ihm eiligst im Unterholz. Trotz der sofort eingeleiteten Verfolgung gelang es ihm, den Irokesen zu entwischen. Er trug den Missionar bis zum Penobscot, wo sich auf der Insel Nowumbega eine französische Niederlassung befand. Maudreuils Geschick blieb lange Zeit im dunkeln. Die siegreichen Irokesen hatten das Dorf in Brand gesteckt und zwei Abenakis, die ihnen in die Hände 339
gefallen waren, bei lebendigem Leibe geröstet. Am folgenden Tage brachen sie nach Katarunk auf, wo ihre Häuptlinge einen schimpflichen Tod gefun den hatten.
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Zweiunddreissigstes Kapitel
Angélique war kniend damit beschäftigt, im Gemein schaftsraum des kleinen Wohnhauses den Mohawk zu verbinden, als sich draußen ein undefinierbares, zugleich schrilles und grollendes Geräusch erhob, bis zur Unerträglichkeit anschwoll und plötzlich mit einem Schlag verstummte. Sie warf einen Blick zum offenen Fenster und suchte nach Anzeichen für ein Gewitter oder einen aufkommenden Sturm, doch der Himmel war blau. Indessen hatte sich Uttakeh mit funkelnden Augen aufgerichtet. Nun begriff sie, und ein Schauer lief ihr über den Rücken hinunter. Was sie gehört hatte, war der Kriegsruf der Irokesen gewesen. Aber von neuem herrschte tiefe Stille. Kein Muske tenschuß antwortete dem vielstimmigen, schrecken erregenden Schrei. Angélique beendete den Verband des Wilden. Sorg fältig ordnete sie die verschiedenen Medikamente und tat sie samt der Scharpie in den vorbereiteten Beutel. Die ohne sonstige Erklärungen erteilte Order laute te, kleines Gepäck bereitzuhalten, um jeder denk baren Eventualität gewachsen zu sein. Außer den Medikamenten enthielt der Beutel ein Kleid, Wäsche zum Wechseln, ihr Toilettennecessaire aus Schildpatt und Gold und Honorines Schatzkästchen. Manchmal glaubte sie zu ahnen, auf welche Weise 341
Joffrey ihrer aller Leben und zugleich seinen Einfluß auf die Indianer zu erhalten hoffte. Doch dann schüt telte sie den Kopf, denn es schien ihr unmöglich, die ses Ziel ohne blutige Kämpfe zu erreichen. Sie überzeugte sich, daß sie ihre Pistole bei sich hatte. Alle mußten bewaffnet sein. Madame Jonas trug eine Muskete wie ein Kind in ihren Armen. Sie waren nach dem Schrei aus ihren Kammern gekom men und hatten sich mit den Kindern um Angélique geschart, deren Ruhe sie ermutigte. Während sie mit ihrem Gepäck und ihren Waffen warteten, betrachte ten sie den Irokesen auf seinem Lager zu ihren Füßen wie ein giftiges Tier. Wenn man sie rief, würden sie den Hof überqueren und das Fort verlassen müssen, ohne ihre Angst zu verraten. Mehr wurde nicht von ihnen verlangt. Sie hatten keine Vorstellung, wie sich die Dinge entwik keln würden. Maupertuis und sein Sohn traten ein, packten den Mohawk unter den Achseln, stellten ihn auf die Füße und stützten ihn, damit er sich aufrecht halten konn te. Auch Peyrac erschien, prächtig in Rot gekleidet. »Deine Brüder sind da«, sagte er. Gemächlich streifte er sich die mit Silber verzierten Stulpenhandschuhe aus schwarzem Leder über. Er lä chelte fast. »Sie sind gekommen. Nicolas Perrot beobachtet sie von der Höhe des Hügels, und sie beobachten ihn. Sie wissen nicht recht, ob sie ihn mit ihren Pfeilen 342
durchbohren sollen. Sie warten, daß du kommst und es ihnen sagst.« »Was für eine Rolle willst du mich spielen lassen, Tekonderoga?« fragte der Indianer aufbrausend. »Du weißt, daß ich meinen Mund nur öffnen werde, um meine Brüder zur Rache aufzurufen.« »Gegen wen?« »In deinem Fort, unter deinem Dach ist der Verrat geschehen.« »Ich weiß. Ich werde die Schmach tilgen. Das ist meine Angelegenheit. Aber du? … Du hast die weiße Frau Katarunks, meine Frau, um dein Leben gebeten, und sie hat es dir gewährt. Daran magst du ermessen, daß wir den Untergang der Irokesen nicht wollen. Aber da ist noch mehr … Erinnere dich, Uttakeh, wofür Swanissit gestorben ist! Er hat alles aufs Spiel gesetzt, um zu mir zu kommen, sich mit mir zu verbünden. Heute bist du das Oberhaupt der Fünf Nationen. Wohin willst du sie führen? Zum Frieden oder zur Vernichtung?« Er beherrschte den Indianer mit seinem hohen Wuchs, und so tief er sich vor kurzem vor ihm ver neigt hatte, sosehr bemühte er sich jetzt, ihn unter seinen Willen zu zwingen. Diese widerspenstige Seele zu erreichen und ihr Vertrauen zu erringen, war kaum vorstellbar, aber ihrer aller Leben hing an dieser winzigen Hoffnung. »Zur Vernichtung!« rief Uttakeh rauh. »Ja! Aber du wirst vor uns sterben.« »Sei es. Sterben wir also alle«, sagte Peyrac philo 343
sophisch. Er wandte sich an den alten Kanadier mit der roten Wollmütze, der mit ihm eingetreten war. »Monsieur Macollet, Ihr wißt, was Ihr zu tun habt. Ich vertraue Euch diese Damen und ihre Kinder an. Plaziert Euch so, daß Ihr Perrot nicht aus der Sicht verliert. Wenn er Euch das vereinbarte Zeichen gibt, wißt Ihr, daß Ihr Eure Schützlinge sofort in den Schutz der Palisade zu führen und Euch zum Kampf vorzubereiten habt.« »Ich pass’ schon auf«, sagte der Alte. Peyracs Blick glitt wieder zu dem irokesischen Häuptling zwischen Maupertuis und dessen Sohn. Seine Trumpfkarte! Dank Angélique … »Gebt ihm einen Schluck Rum, damit er sich auf recht halten kann«, sagte er. »Und nun kommt.« Und während er mit großen Schritten den Hof überquerte, riß er sich rasch den Verband von der Stirn. Der Schorf hatte sich mit dem Leinen gelöst, und die Wunde begann von neuem zäh sickernd zu bluten. Yann Le Couénnec erwartete ihn, den schwarzen Hengst am Zügel. Mit einem Sprung schwang sich Peyrac in den Sattel und trieb das Pferd zum offenen Tor. Bei seinem Erscheinen stieg der Kriegsruf der Irokesen zum zweitenmal auf, und Angéliques Herz schnürte sich vor Angst zusammen. Aber auch dies mal folgte dem kriegerischen Geheul kein einziger Musketenschuß. »Gehen wir!« sagte Macollet. »Wenn man schon 344
Komödie spielt, muß man sie zu Ende spielen, Mes dames. Nichts hält eine gereizte Bestie bei ihrem Angriff besser auf als irgendwas, was sie verblüfft und was sie nicht kapiert. Unter den Barbaren da unten gibt’s nicht wenige, die niemals Pferde gesehen ha ben! … Und falls Ihr Euch ein wenig ängstlich füh len solltet, vergeßt nicht, Mesdames, daß Ihr einen dienstbereiten Kavalier, der’s mit mir aufnehmen könnte, noch nie gehabt habt und nach mir auch nie haben werdet …« Mit solcherlei Redereien brachte er es fertig, daß sie fast lachend das Tor des Forts erreichten. Und dort stand wirklich Nicolas Perrot, die Hände auf dem Rücken, und blickte ruhig zum Fluß hinun ter, von dessen Ufern dumpfer Lärm aufstieg. Als Angélique der Richtung seines Blicks folgte, spürte sie, daß ihr das Blut aus den Wangen wich. Zu beiden Seiten des Flusses drängten sich auf den Uferstreifen federgeschmückte Wilde. Mit Kriegern bemannte Kanus bedeckten die vom Wind leicht auf gerauhte Oberfläche, und noch immer trafen weitere Kanus ein. Unter der dunstigen Glocke des durch ihre Lan dung aufgewirbelten Staubs bildeten sie eine un ruhig wogende Masse, über der die Schneiden ge schwungener Tomahawks blitzten, umsponnen von einem Gehege drohend erhobener Bogen. Trotz ihrer Erregung hielten sie sich verhältnismäßig ruhig. Alle starrten sie zum Fort herauf. Sie beobachteten Nicolas Perrot, der so oft ins Heilige Tal gekommen 345
und die fünf Seen der Fünf Nationen befahren hat te, fast einer ihresgleichen, wie es ihnen schien. Sie beobachteten Uttakeh, der nun zwischen seinen bei den Helfern neben ihm stand, und begriffen nichts mehr. Hatte man ihnen nicht gesagt, daß alle ihre Häuptlinge in Katarunk umgebracht worden seien? Und der Anblick des Grafen de Peyrac auf diesem schwarzen, seltsamen Tier erfüllte sie sichtlich mit abergläubischem Entsetzen. Immer mehr drängten sich dort unten zusammen, doch sie verhielten sich fürs erste abwartend. Peyrac schwang sich vom Pferd und gesellte sich ebenfalls zu Perrot und Uttakeh. Der Wind blähte seinen Mantel, kräuselte sein Spitzenjabot und spielte mit den an den Schultern seines Wamses befestigten Bändern. Angélique drückte Honorines kleine Hand. »Was wird nun geschehen?« fragte sie Macollet ge dämpft. »Nun, für den Augenblick glotzt man sich an. Man nimmt Maß. Sie haben nicht erwartet, Uttakeh le bendig vorzufinden. Und dann haben die Burschen da Angst vor Palisaden und offenem Gelände. Wenn sie die Weißen noch dazu draußen im Freien zu ihrem Empfang versammelt sehen, verstehen sie überhaupt nichts mehr … Wahrscheinlich fragen sie sich, was sie tun sollen. Seht, da drüben fangen schon ein paar zu tanzen an, um sich Mut zu machen. Sie machen’s wie die Katze, die die Maus erschrecken will. Bloß weiß man noch nicht recht, wer hier die Katze und wer die 346
Maus ist. Man weiß überhaupt nichts. Achtung! Jetzt lassen sie wieder ihr Kriegsgeheul los. Bleibt ruhig! Zeigt keine Furcht!« Von neuem stieg der unmenschliche Schrei aus rauhen Kehlen auf. Madame Jonas, Elvire und die Kinder drängten sich dichter an Angélique. Diesmal erfolgten als Antwort zwei heftige Explo sionen, die eine in der Nähe des Flusses, nicht weit von den ersten Reihen der Irokesen entfernt, die an dere auf dem Hügel hinter dem Fort. Mächtige Felsbrocken flogen in die Luft und stürz ten mit vom Echo vervielfachten Getöse wieder zu Boden. Von Panik ergriffen, stoben die Irokesen nach allen Seiten auseinander. Eine Anzahl flüchtete sich in die Deckung der Weiden, andere kletterten eiligst in ihre Boote zurück. Die Mutigsten sammelten sich, zogen hastig Pfeile aus ihren Köchern und legten sie auf die Sehnen ihrer Bogen. Uttakeh war bleich geworden. »Was ist das?« fragte er. »Deine Brüder haben mich mit einem Schrei be grüßt«, erwiderte Peyrac. »Das ist meine Antwort. Hast du vergessen, daß ich der Mann des Donners bin?« Ironisch fügte er hinzu: »Was fürchtest du, Uttakeh? Was fürchten sie alle? Sollten euch ein paar fallende Steine in Schrecken setzen?« Der Mohawkhäuptling ließ ihn nicht aus dem Blick. 347
»Was willst du von mir?« »Ich will mit dir und den Deinen über den Blutpreis verhandeln.« »Was könnte schon der Preis für das Blut unserer Häuptlinge sein?« »Verhandeln wir, und du wirst es wissen.« Uttakeh wandte sich an seine Krieger und begann, sie mit Schmähungen zu überhäufen. Da seine Stimme zu geschwächt war, um weit tragen zu können, legte Perrot seine Hände wie zu einem Sprachrohr um den Mund und schrie ihnen im Auftrag ihres Häuptlings handfeste Beschimpfungen zu: »Hunde, Schakale! Kehrt zurück! Zeigt euch! Fürchtet ihr euch vor fallenden Steinen? Die Ältesten mögen vortreten. Wir werden über den Blutpreis ver handeln!« Schließlich beruhigten sich die Krieger, und die Stammesältesten näherten sich, an ihrer Spitze der alte Tahutaget. Doch hinter ihnen wälzten sich die andern wie eine Flutwelle den Hang herauf, ein Meer flatternder Federbüsche, brauner Leiber, Hunderte schwarzfunkelnder Augen, die einen magischen Kreis um das Fort und seine Bewohner zogen. »Viel Platz zum Ausweichen bleibt uns nicht«, sag te Macollet. »Um so schlimmer! Machen wir’s uns gemütlich, Mesdames. Hier haben wir ein hübsches Plätzchen. Wenn Perrot mir das Zeichen gibt, heißt das, daß die Geschichte schiefgeht. Dann wird’s höchste Zeit, sich hinter die Palisade zu verkriechen und mit dem Geknalle loszulegen.« 348
»Es sind sehr viele«, murmelte Angélique. »Pah! Nicht mehr als ein paar hundert. Und schlecht bewaffnet und abgerackert dazu. Man sieht’s drei Meilen gegen den Wind, daß sie einen Kriegszug hinter sich haben. Mit unserm kleinen Arsenal sollten wir schon mit ihnen zu Rande kommen.« »Mein Mann wünscht die Dinge freundschaftlich zu regeln.« »Warum nicht? Bevor man in diesem Land nicht mausetot ist, Madame, kann man nie sagen, daß die Situation verzweifelt ist. Diesmal darf man allerdings nicht vergessen, daß vier ihrer Oberhäuptlinge um gebracht worden sind. Immerhin kann man’s probie ren.« Und er winkte zu einem nicht weit entfernt sit zenden Irokesen hinüber und schrie ihm etwas zu, während er seine rote Wollmütze anhob. »Ich hab’ ihm gesagt, es sei nicht der Mühe wert, mich skalpieren zu wollen. Es wär’ schon vor ihm einer dagewesen! Hahaha!« »Wie findet Ihr nur den Mut zu lachen?« seufzte Madame Jonas mit einem bewundernden Blick. »Alles Gewohnheit. Man muß immer lachen, sogar noch am Marterpfahl.« Indessen hatten Uttakeh, Perrot, Maupertuis und Peyrac den Ältesten gegenüber Platz genommen. Peyracs Leute hatten sich scheinbar zwanglos und unbekümmert hinter ihm gruppiert, aber Angélique, die sie heimlich beobachtete, stellte fest, daß jedem von ihnen eine bestimmte Rolle zugeteilt war, die 349
sie keinen Augenblick außer acht ließen. Zuweilen verschwand der eine oder andere im Fort und kehrte nach kürzerer oder längerer Zeit scheinbar gemäch lich wieder zurück, und dieses wie zufällige Hin und Her vollzog sich mit einer so perfekten Disziplin, daß Angélique begriff, wie sorgfältig Joffrey die Männer für seine Expedition ausgesucht haben mußte. Jeder mochte seine Fehler und Verschrobenheiten haben, aber im Falle der Gefahr erwiesen sie sich als glän zend eingespielte, mutige Helfer ihres Herrn. Von ihrem Platz aus konnte Angélique ohne Mühe den Einzelheiten der Verhandlung folgen. Sie hörte die Stimmen, vor allem die Perrots, der unermüdlich als Mittelsmann zwischen den Parteien wirkte und die französischen Sätze wie auch die langen, gewun denen Perioden der Irokesen übersetzte, ohne auch nur ein Wort auszulassen, selbst wenn es sich nur um Beschimpfungen und Drohungen gegen Peyrac han delte. Dieser hatte den Kriegern zunächst eröffnet, daß er am Abend zuvor mit Swanissit, ihrem weisen Oberhaupt seit mehr als zwanzig Jahren, einen ge genseitigen Frieden beschlossen habe – Wampum halsbänder bezeugten es –, der sich auf alle Weißen in seinen Diensten sowie auf seine Verbündeten er streckte. Im Austausch habe er sich verpflichtet, niemals die Waffen gegen die Irokesen zu erheben, selbst dann nicht, wenn er von seinen französischen Landsleuten 350
in Québec oder von den Abenakis und den Algonkins, mit denen gleichfalls Friedensverträge unterzeichnet worden seien, dazu aufgefordert werde. Er habe außerdem das dem alten Häuptling beson ders am Herzen liegende Versprechen gegeben, den Völkern des Langen Hauses keinen Branntwein zu liefern und sie auch nicht zum Handel mit Biberfellen zu verleiten, um sie weder von der Hirsch- und Elenjagd noch von der Aussaat fernzuhalten. Wie ein Vater habe der alte Seneka bis zum letzten Atemhauch versucht, sein Volk vor den beiden gro ßen Versuchungen zu bewahren, die seine schnel le Vernichtung durch Entartung und Hungertod herbeiführen mußten: dem Feuerwasser und dem Handel. Denn durch geschäftstüchtige Weiße zur Jagd auf den Biber und immer nur auf den Biber ge drängt, ließen die Irokesen ihre Pflanzungen und die sonstigen Jagden im Stich und gingen während der langen, rauhen Wintermonate häufig in großer Zahl zugrunde, weil sie nicht genügend Vorräte hätten an häufen können. Die dritte Versuchung, die stärkste für das iro kesische Volk, sei der Krieg, wie Swanissit ihm er klärt habe. Und auch in dieser Hinsicht habe der alte Häuptling sein möglichstes getan, die tödliche Gefahr von den Seinen abzuwenden, indem er ihnen die Verpflichtung auferlegte, wenigstens mit einem Weißen, dem Mann des Donners und seinem Stamm, in Frieden zu leben. Zur Besiegelung dieser Verpflichtungen und um 351
sie denen, die geneigt sein konnten, sie in den kom menden Jahren zu vergessen, wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, habe er, der Graf de Peyrac, zugesi chert, jedes Jahr jedem der fünf Häuptlinge der Fünf Nationen ein Steinschloßgewehr mit langem Lauf zum Geschenk zu machen, dazu zwei Tönnchen Pulver, zwei Tönnchen mit Bleikugeln für die Jagd, fünf Netze aus englischer Faser zum Fischen, zehn Decken aus scharlachfarbenem englischem Tuch, fünf Joppen, je nach Wahl aus rotem oder blauem Tuch, das sich weder im Regen noch in der Sonne verfärbe, zweihundertfünfzig Messer, zweihundert Beile, fünf Baumsägen und fünf Fässer mit Salpeter, dem Wunderpulver, das den Mais wachsen lasse. Wollten sie für das irokesische Volk so vorteilhafte Abmachungen widerrufen, bevor sie sie nicht wenig stens für ein Jahr in die Praxis umgesetzt hatten? Tahutaget rief etwas, und Perrot wiederholte es. »Du bist es, Weißer, der seine Abmachungen wi derrufen hat, bevor wir nur anfangen konnten, sie zu verwirklichen. Denn deine Geschenke haben wir nicht gesehen, aber wir sahen dafür den Angriff, den verräterischen Tod. Den Krieg zwischen dir und uns hast du entfacht, kaum daß beschlossen war, ihn zu vermeiden.« Peyrac blieb ruhig. Er ließ Perrot antworten, daß Tahutaget sich täusche. Die Geschenke, die Swanissit und die anderen Abgesandten bei Abschluß des Vertrages erhalten hätten, würden sie gleich sehen. Aber zuvor ersuche er Uttakeh, seinen Brüdern 352
von dem Überfall zu berichten und unter welchen Umständen die irokesischen Häuptlinge gestorben wären. Der Mohawk kam seinem Wunsch nur ungern nach. Zweimal mußten Perrot und Maupertuis eingrei fen, um seinen Bericht zu ergänzen. Das erstemal zwangen sie Uttakeh zu dem Eingeständnis, daß er mit eigenen Augen gesehen habe, wie zumindest einer der Leute Peyracs von den Angreifern tödlich getroffen worden sei, und daß Maudreuil und die Patsuikets nur durch List hatten ins Fort eindringen können. Das zweitemal mußte er zugeben, daß die weiße Frau, die Frau Tekonderogas, ihn vor Piksarett gerettet habe, der ihm habe den Rest geben wollen. Nun schob Peyrac sein Haar zur Seite, ließ die Wunde sehen und erinnerte daran, daß er sie dem Tomahawk eines Abenaki verdankte. Es war ein zähes, erschöpfendes Wortduell, ein Kampf, den er, von seinen Dolmetschern unterstützt, letzten Endes allein zu führen hatte. Für die Wilden war die Sache längst entschieden. Er mußte sterben. Sie waren gekommen, um ihren Rachedurst zu stil len, und wollten sich nicht durch schöne Reden um die Befriedigung bringen lassen, hundertfach Vergeltung zu fordern. Angélique spürte die wachsende Spannung und hielt besorgt nach ihren Söhnen Ausschau, die sie in der Gruppe hinter Joffrey entdeckte. Auch Uttakehs Zustand beunruhigte sie. Wie konnte der 353
Schwerverletzte eine so lange, bewegte Sitzung über stehen? »Macht Euch keine Sorgen um den«, sagte Eloi Macollet, dem sie ihre Bedenken anvertraute. »Ich kenn’ die Sorte. Burschen wie der haben ein paar Leben in Reserve, und sobald der nur palavern kann, fühlt er sich wie ein Fisch im Wasser.« »Könnt Ihr ihm nicht trotzdem etwas zu trin ken bringen?« beharrte Angélique. »Wenn er wäh rend der Verhandlungen stürbe, würde das unsere Angelegenheiten kaum fördern.« Der Kanadier gab nach und reichte dem Mohawk eine Kalebasse mit Wasser. Die aufmerksame Geste schien ihn zu befriedigen. Das Gemurmel unter den Indianern ließ nach, als Peyrac sich nun zu einer langen Rede erhob. Er unterbrach sich häufig, um Perrot Gelegenheit zu geben, mit seiner Übersetzung nachzukommen und seine Worte mit der nötigen Feierlichkeit auch den Entferntesten zu Gehör zu bringen. »Hört jetzt auf mich! Ich weiß, daß die heiligen Gesetze der Rache euch verbieten, Nahrung zu euch zu nehmen, bevor eure Toten gerächt sind. Ihr habt die Patsuikets bei Mobedean angegriffen, und ihr habt sie getötet und in alle Winde zerstreut. Sie waren die Schuldigen, und ihr könntet eure Pflicht gegenüber euren getöteten Häuptlingen als erfüllt ansehen. Aber ich kenne auch die Haßgefühle, die sich in euren Herzen gegen mich regen. Trotzdem fühle ich mich mit Swanissit verbunden. Selbst über den Tod hinaus 354
werde ich ihn als Freund ansehen. Wie ihr seht, stehe ich vor euch ohne Furcht, weil ich Swanissit nicht be leidigen will, indem ich seinen Söhnen wie Feinden entgegentrete, bevor sie nicht selbst ihre Feindschaft erkennen lassen. So habe ich einen Empfang vorbe reitet, wie man ihn befreundeten Kriegern schuldet. Hier liegt in drei Haufen, was euch bestimmt ist. Dort drüben die Nahrungsmittel! Ihr werdet sie nicht berühren, bevor eure Herzen nicht zur Ruhe kommen und ihr nicht fühlt, daß die Forderungen eurer Ehre erfüllt sind. Dann werdet ihr euch sätti gen. Zwanzig Kruken mit Mais, vier erlegte Elentiere, zwei Bären, ferner Kürbisse und getrocknete Beeren zum Würzen. Dies alles, um den Körpern durch lange Feldzüge ermüdeter Krieger neue Kraft einzuflößen, damit sie sich nicht der Schwäche blinden Zorns er geben, sondern an die Zukunft ihrer Rasse denken.« Jemand sprang auf und protestierte gereizt, doch seine Nebenmänner brachten ihn zum Schweigen. Es war deutlich zu spüren, daß sie erst wissen wollten, was der zweite Haufen für Geschenke enthielt. »Beile und englische Messer, um euch zu verteidi gen, zwei Tönnchen mit Pulver und zwei mit Kugeln, drei Luntenmusketen und ein Steinschloßgewehr.« »Auch Swanissit hast du ein Gewehr geschenkt!« brüllte einer. »Niemand wird es ihm stehlen. Es wird ihn in sein Grab begleiten, damit er im Land der Großen Jagden sein Wild erlegen kann … Von dem dritten Haufen könnt ihr sofort nehmen. Tut nicht so verächtlich, 355
Krieger der Fünf Nationen! Es ist Tabak aus Virginien, und es ist nichts Entehrendes dabei, zu rauchen, be vor ihr über Frieden oder Krieg entscheidet, denn der Tabak wird euch helfen, mit Weisheit zu handeln.« Uttakeh und Tahutaget berieten sich, dann stimm ten sie zu. Die Versuchung für die erschöpften Iro kesen war zu groß. Perrot und Maupertuis verteilten Tabaksträhnen und ein paar Kalumets, die von Hand zu Hand gehen sollten, und die Indianer begannen gierig zu rau chen. Der wohltuende Zauber des verführerischen Krauts besänftigte ihre Herzen, und Schmerz und Gereiztheit versanken in einer kurzen Lethargie. So verstrich etwa eine Stunde in schläfriger Stille, zuweilen unterbrochen von den Schreien der Trap pen und Wildenten weiter unten am Fluß. Am ver blassenden Himmel begann sich die Sonne dem Horizont zuzusenken, und Angélique sah wieder zu ihrem Gatten hinüber. Von ganzer Seele wünschte sie, ihm nahe zu sein, ihn mit ihrer Zärtlichkeit, ihrer leidenschaftlichen Hingabe umgeben zu können. Seit Stunden kämpfte er, trug er ihrer aller Schicksal auf seinen Schultern. Wann würde ihm endlich der Sieg zufallen? … Tahutaget erhob sich plötzlich und stieß in hefti gem Ton einige Sätze hervor. »Folgendes erklärt Tahutaget im Namen der Fünf Nationen«, wiederholte Perrot. »Mann des Donners, glaubst du etwa, unsere geliebten Häuptlinge durch Geschenke wieder zum Leben erwecken zu können? 356
Wir haben sie zwar erhalten, aber sie empfingen nur Schande und Tod!« Eine Bewegung hatte bei diesen Worten die Reihen der Wilden erfaßt. Einmal mehr bot Peyrac ihnen die Stirn. Er schien seine Kräfte zu sammeln und sprach mit einer überzeugenden Leidenschaft, die auf Perrot übersprang, dessen Stimme sich, abwechselnd mit der Peyracs, fest und stark erhob: »Darin irrt ihr euch, irokesische Krieger! Eure Häuptlinge haben nicht nur Tod und Schande an diesem Ort empfangen! Erfahrt nun, daß keiner eurer Häuptlinge, seitdem das Heilige Tal die irokesischen Nationen aufnahm, mit so vielen Reichtümern, Geschenken und Ehren in sein Grab hinabstieg wie diese … Ihr denkt in euren Herzen: ›Sie sind fern von ihren Dörfern gestorben, und wir können ihre Körper weder in Stoffe und Pelzwerk hüllen noch ihnen Kessel und Waffen für das Land der Großen Jagden mitgeben.‹ Sorgt euch nicht! Seht!« Auf einen feierlichen Wink teilte sich die waffen starrende Reihe der Spanier, die kurz vor dem Fort zur Linken Aufstellung genommen hatte, und ent hüllte, was Peyrac bis dahin den Irokesen hatte ver bergen wollen. Der Augenblick war gekommen. Am Fuße des mächtigen roten Ahorns saßen Swanissit, Onasategan, Annisera und Ganatuha, die Beine gekreuzt, ihre Waffen in den Armen, mit erho benen Häuptern und geschlossenen Augen. Prachtvoller Federschmuck verbarg die schmach 357
vollen Spuren der Skalpierung, und die geschickten Hände Perrots und Maupertuis’ hatten die kalte, bleiche Haut der starren Gesichter mit dem Ocker und Zinnoberrot der Festbemalung geschmückt. Dann hatten sie die Körper in prunkende Mäntel aus Pelzwerk oder mit Gold durchwirkter Seide gehüllt, die aus den mitgeführten Truhen Peyracs stammten, und hinter ihnen hatten sie stützende Pfähle einge rammt, die den Toten erlaubten, sich aufrecht sitzend ihren Kriegern zu zeigen. Bei ihrem Anblick stieg ein dumpfes Stöhnen aus den Reihen der Irokesen auf. Fern von ihrem Tal, auf feindlichem Boden, sahen sie ihre toten Häuptlinge geschmückt und geehrt über alles hinaus, was sie selbst ihnen hätten bieten können. Sie erhoben sich und drängten vorwärts. »Sprecht zu ihnen«, murmelte Peyrac und legte eine Hand auf Perrots Schulter. »Schnell! Sagt ihnen irgend etwas! Zeigt ihnen die Geschenke der Toten!« Mit der den Indianern vertrauten festen und ruhigen Stimme begann der Kanadier alsbald die Geschenke zu rühmen, wie ein Jahrmarktsausschreier seine Waren anpreist. Er fesselte ihre Aufmerksamkeit, lenkte ihre Ge danken von der entsetzlichen Realität vor ihren Augen ab, zerstreute ihren Schmerz mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers. Er zeigte ihnen die vier silber nen Bogen und die dazugehörigen Pfeile in den mit zahllosen Perlen bestickten ledernen Köchern, die scharlachfarbenen Decken, die Tabakrollen, die zu 358
sammengenähten Hermelinfelle, die Felle der weißen Bären, Luchse und Wölfe, die in die Gräber gebreitet würden, um die Toten daraufzulegen. Er zählte ihnen die Krüge voll Mais und Reis, Fett und Fleisch auf, einen von jeder Art für jeden Toten, die Wegzehrung für die lange Reise zum Paradies der Großen Jagden. Er hob mit beiden Händen, so daß alle es sehen konn ten, das berühmte Halsband der Treue der Abenakis, eine unvergleichliche Kostbarkeit, alt und ehrwürdig, das, blau auf weißem Grund, die aufgehende Sonne und eine Prozession von Fischen und Seehunden zeigte, die sich die Hand oder – wenn man so wollte – die Flosse gaben. Swanissit würde es dem Großen Geist als Sühne für den Verrat der Abenakis überrei chen können, dem er zum Opfer gefallen war. Schließlich wagte er es, sie auf Einzelheiten der prächtigen Kleidung Swanissits aufmerksam zu ma chen. Ganz aus Silber- und Goldfäden gewebt, sei sie nach der Prophezeiung Hiawathas, des großen Begründers der Irokesischen Liga, die Kleidung des sen, der sein Werk eines Tages vollenden werde, in dem er die Irokesen aus ihren unaufhörlichen Kriegen heraushalte und in einen fruchtbaren Frieden führe. Die Krieger drängten heran, um die herrlichen Geschenke der Toten betasten zu können. Sie stießen einander und reizten sich gegenseitig auf. Sie waren gefährlich nahe. Und wenn die meisten auch ehrliche Bewunderung verrieten, schien bei anderen doch nackte Begehr lichkeit durch. Sie warfen verstohlene Blicke zum 359
Fort hinauf und diskutierten untereinander. Angélique spürte die Veränderung der Atmosphäre. Ein Wendepunkt war erreicht. Die Partie war entwe der verloren oder gewonnen. Sie bemerkte, daß die am weitesten rückwärts ste henden Männer Peyracs sich unauffällig zu entfernen begannen. Schon zuvor hatten andere die dichter werdende Dämmerung genutzt, um die Pferde zum Wald zu führen, und nun näherte sich ihr Yann und wies sie flüsternd an, sich mit den Kindern und den anderen Frauen zurückzuziehen und zum Flußufer hinunterzugehen, ohne ihre Absicht allzu offenkun dig zu machen. Die Spanier würden ihren heimlichen Rückzug decken. Angélique wandte sich an die Jonasse: »Ich vertraue Euch Honorine an. Tut, was Yann Euch sagt. Ich werde Euch bald folgen.« Um nichts in der Welt hätte sie ihren Platz verlas sen, bevor sie nicht sah, daß sich Joffrey außerhalb jeder Gefahr befand. Die bläulichen Schleier der Dämmerung färbten sich tiefer, aber noch immer warf die im Dunst ver sinkende, schemenhafte Sonne kupferne Lichter über die Szene. Sie näherte sich der von herandrängenden Irokesen umgebenen Gruppe, die aus Uttakeh, Joffrey, Perrot, Maupertuis, Macollet und einigen Männern der Gouldsboro bestand, die als Leibwächter ihres Herrn zurückgeblieben waren. Aber nicht Joffrey war es, den ihr Blick suchte, son 360
dern Uttakeh. Sie fixierte ihn mit solcher Intensität, daß der Mohawk nach einer Weile leicht den Kopf wandte und seine ausdruckslosen Augen denen der jungen weißen Frau begegneten. »Ich habe dir auf dem Hügel nahe der Quelle dein Leben gegeben«, riefen sie ihm zu. »Ich habe dich ver letzt vor Piksarett gerettet, den es nach deinem Skalp verlangte. Rette dafür jetzt ihn! Du kannst es! Ich be schwöre dich!« Es war zugleich ein Befehl und eine Bitte, was aus ihren geweiteten, klaren Augen auf ihn übersprang, und der Hauch eines undefinierbaren Gefühls glitt über das gelbe Gesicht des Indianers. Eine Schar Krieger hatte sich Peyrac genähert und sprach in unverschämtem Ton zu ihm. »Und das Feuerwasser? Das kostbare Gebräu der Weißen, wo ist es? Wir sehen, daß ihr es unseren Häuptlingen verweigert habt!« Der, der sich zum Sprecher der andern aufgewor fen hatte, lachte höhnisch und schlenkerte lässig sei nen Tomahawk in der braunen Hand. »Branntwein und Rum sind im Innern des Forts zusammengetragen«, antwortete der Graf. »Sie sind dem Großen Geist bestimmt und nicht für euch.« Der andere stieß einen spöttischen Ruf aus und sprach im Ton wütenden Triumphs. Perrot unter drückte eine Grimasse und übersetzte unerschütter lich: »Er erklärt: Wir werden sie uns nehmen, ohne dich um Erlaubnis zu bitten, Tekonderoga, dich, den 361
Verbündeten der Verräter, die unsere Häuptlinge ge mordet haben.« Peyrac trat auf den Wilden zu, bis er ihn fast be rührte, und starrte ihm hart in die Augen. »Wie nennst du dich, du, der es wagt, dem Großen Geist streitig zu machen, was ihm gehört?« Der Indianer sprang zurück und schwang seinen Tomahawk. Peyrac wich dem Schlag mit einer schnel len Bewegung aus, riß seine Pistole heraus, packte sie am Lauf und schmetterte den Kolben gegen die Schläfe des Gegners. Der Mann taumelte und brach zwischen seinen Gefährten zusammen. Angéliques Aufschrei verlor sich im aufbrausenden Geheul der Irokesen. Doch ein anderer Schrei über tönte den Tumult. Uttakeh hatte ihn ausgestoßen. Mit erhobenem Arm warf er sich vor Peyrac und schützte ihn mit seinem Körper. Die Ruhe kehrte zu rück, die Waffen senkten sich. Uttakeh winkte einen jungen Krieger heran, der ihm helfen sollte, sich auf recht zu halten. Dann wandte er sich an Peyrac. »Ich will deinen Tod nicht, Tekonderoga«, sagte er gedämpft und in französischer Sprache. »Der Geist der Gerechtigkeit will, daß ich dir das Leben gewähre, denn wenn auch die Rache eins der Gesetze unserer Völker ist, geht das der Dankbarkeit ihm doch vor, und ich wäre ein Verräter, wenn ich vergäße, daß dei ne Frau Kawa, der Fixstern, zweimal mein Leben ge rettet hat … ja, zweimal. Aber werden meine Krieger bereit sein, dich am Leben zu lassen und sich kampf los zurückzuziehen? Ich kann es nicht garantieren, 362
aber ich will versuchen, sie zu überzeugen. Du wirst mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß ich es tat, wenn ich scheitere …« In den extremsten Augenblicken gehen einem zuweilen fernliegende, zum Ernst der Situation nicht recht passende Gedanken durch den Kopf. Wie Angélique sich später erinnerte, hatte ihr in diesem Moment den stärksten Eindruck gemacht, daß sich der Mohawk nach Art der Kanadier, vor allem der Herren, mit denen er es in seiner Jugend zu tun ge habt hatte, eines ungewohnt gepflegten Französischs bediente; war nichts überraschender gewesen, als von Barbarenlippen eine so gewählte Sprache zu hören. »Unser Herz vermag Schimpflichkeiten nicht so schnell zu vergessen«, fuhr er fort. »Die Forderung, euch zu schonen, wird mein Amt beflecken.« »Ich verlange nicht, daß ihr vergessen sollt«, sagte Peyrac. Angélique konnte nicht mehr. Sie wußte nun, daß auch Uttakehs Eingreifen nichts mehr retten würde. Nur ein Gedanke beherrschte sie noch: Warum zogen sie sich nicht ins Fort zurück, schlossen das Balkentor hinter sich und griffen zu den Musketen? Es war genug! Sie konnte es nicht mehr ertragen, Joffrey jeden Augenblick der Gefahr ausgesetzt zu sehen, sein Leben zu verlieren … Aber trotz seiner Müdigkeit und der Spannung des hinter ihm liegenden Tages schien er es keineswegs eilig zu haben, seinen Platz zu räumen. »Ich will nicht, daß ihr vergeßt«, wiederholte er 363
lauter. »Und ich werde sogar dazu beitragen, daß ihr nie vergeßt, was in Katarank geschehen ist. Ihr seid alle dabei, euch zu fragen: ›Wer wird, wenn wir diese Weißen schonen, die Schmach tilgen, die wir Irokesen an diesem Ort erfahren mußten?‹ Und ich antworte euch: ich!« Er sah über die dunkle Masse der Krieger und dehnte die Schultern. »Übersetzt, Perrot, ich bitte Euch … Ihr glaubt alle, daß das Palaver zu Ende ist. Noch nicht! Es beginnt erst. Ihr habt noch nichts gesehen, nichts begriffen. Drum hört mir zu! Ich will, daß sich meine Worte und meine Taten wie Pfeile in eure Herzen bohren, denn nur dann werdet ihr euch ohne Bitternis entfer nen können. Es ist nicht wahr, meine Brüder, daß das Herz des weißen Mannes und das Herz des Indianers nicht die gleichen Gefühle verspüren können. Denn wie das eure ist auch mein Herz von Entsetzen er füllt, wenn ich dieses Fort betrachte. Wie ihr muß ich daran denken, daß dieser Ort Schauplatz des feigsten Überfalls, des widerlichsten Verrates war, den ich in meinem schon langen Leben sah. Wie ihr glaube ich, daß die Orte des Verrats für immer unauslöschlich gezeichnet sind und daß ihr Anblick die Erinnerung wachhält, selbst wenn gerechte Männer sie zu tilgen suchen. Werden die, die in künftigen Zeiten dieses Fort betreten, nicht jedesmal sagen: ›Hier wurde Swanissit skalpiert, unter dem Dach des weißen Mannes Tekonderoga, der ihn empfing‹? … Nein! … Nein! Ich kann’s nicht ertragen!« rief Peyrac mit einer 364
zornigen Heftigkeit, die sie beeindruckte und die in diesem Augenblick – Angélique fühlte es – nicht ge spielt war. »Nein, ich kann es nicht ertragen! Eher soll alles verschwinden … soll alles verschwinden!« Perrot wiederholte langsam und mit fast über schwenglichem Pathos seine Worte: »Eher soll alles verschwinden … soll alles verschwinden!« Und in der Nacht ahnte man all die Augen, die auf die beiden Gestalten gerichtet waren, die des Waldläufers und die des Grafen in seinem roten Wams, beide vom letzten, ungewissen Schein des Sonnenuntergangs aus dem Dunkel gehoben. »Ich weiß«, begann der Graf von neuem, »daß es einige unter euch gibt, die da denken: ›In diesem Fort befinden sich schöne Waren.‹ Sie möchten gleichzei tig ihre Habsucht und ihr Verlangen nach Rache be friedigen. Diese Schakale mögen aufhören, zu knur ren und zu schnüffeln, und sich mit eingekniffenem Schwanz entfernen. Denn ich sage euch, daß von nun an den Manen eurer Toten alles gehört, was dieses Fort birgt. Nur so werden sie befriedigt sein! Ihr habt eure Geschenke erhalten. Sie sind wert voll. Und wenn ihr sie auf eure Rücken ladet, werdet ihr merken, daß sie auch gewichtig sind. Aber eben sowenig wie ich habt ihr noch das Recht, von dem zu nehmen, was sich im Fort befindet. Es gehört euren toten Häuptlingen, alles bis auf den Wein und das Feuerwasser, die Swanissit nicht hätte haben wollen und die dem Großen Geist vorbehalten sind, der sie durch seine Macht allein von ihren schädlichen 365
Kräften reinigen kann. Und nun geht auseinander! Uttakeh, befiehl dei nen Kriegern, bis zum Fluß zurückzuweichen, um zu vermeiden, daß sie verletzt oder getötet werden. Ich werde den Donner erdröhnen lassen!« Verdutzte Stille folgte seinen Worten. Dann begann die Masse der Wilden langsam zum Fuß des Abhangs, zum Ufer des Flusses zurückzufluten. Neugier mischte sich in ihre abergläubische Furcht. Worauf wollte dieser Weiße mit der flinken Zunge hinaus, der behauptete, ihre Toten besser rächen zu können, als ihre Waffen es vermochten? Peyrac erteilte den Männern, die bei ihm geblieben waren, noch einige Befehle. Als sie sich entfernten, bemerkte er Angélique. schlang einen Arm um ihre Taille und zog sie mit sich fort. »Kommt schnell! Ihr dürft hier nicht bleiben … Maupertuis, überzeugt Euch, daß sich niemand mehr im Innern des Forts befindet, bevor Ihr es verlaßt!« Am Fluß, von dem die ersten nächtlichen Nebel aufzusteigen begannen, mischten sie sich unter die Irokesen. Angélique spürte, daß Joffrey sie noch einmal fest an sich preßte, dann ließ er sie los und nahm aus einem Ledertäschchen an seinem Gürtel ein Luntenfeuerzeug. Die Indianer drängten sich um sie wie Kinder, die etwas Aufregendes zu erleben hof fen. Alle wollten sie Peyrac sehen und wissen, was er machte. 366
Angélique suchte in ihrer näheren Umgebung Honorine, die Jonasse und ihre Söhne zu entdecken. Es war schon zu dunkel, um noch etwas erkennen zu können, aber Maupertuis trat zu ihr und berich tete, daß sie sich unter dem Schutz der bewaffneten Spanier ein Stückchen weiter flußaufwärts in einem kleinen Wäldchen versammelt hatten. Nun kam auch Yann Le Couénnec den Abhang her unter und rollte bei jedem Schritt eine Luntenschnur aus Hanf hinter sich ab. Oben waren nur noch eini ge Männer Peyracs zurückgeblieben, die, durch die Dunkelheit vor argwöhnischen Blicken geschützt, hastig die Leichen der Häuptlinge in die schon vor bereitete Grube legten, die Geschenke achtlos hinter herwarfen und das Grab mit raschen Spatenstichen zuschaufelten. Als sie eben ihre Arbeit beendet hatten, erhob sich der dumpfe, rauhe Ton eines Jagdhorns. Schnell rafften sie ihr Werkzeug zusammen und liefen zu dem Wäldchen hinunter, wo die Frauen und Kinder warteten. Zum zweitenmal erscholl der Ruf des Horns. Peyrac betätigte sein Feuerzeug, bückte sich und zündete das Ende der Hanfschnur an, die der Bretone bis zu ihm geführt hatte. Das Flämmchen züngelte auf, wand sich wie eine flüchtige, goldfunkelnde Schlange zwischen Baumstümpfen, Grasbüscheln und Steinen den Abhang hinauf und entzog sich in Richtung des Tors den Blicken. 367
Für ein paar Sekunden herrschte atemloses Schwei gen, dann erhellte plötzlich eine riesige Explosion den dunklen Himmel. Gleichzeitig schlugen mäch tige Flammen empor, die der Wind noch anfachte. Das Holz der Wohnhäuser, der Schuppen und der Palisade war zuvor mit Öl und Rum getränkt und reichlich mit Salpeter bestreut worden. Nun schien es die Flammen förmlich anzusaugen. Von einem Augenblick zum andern ging das Fort in einer lodernden, brausenden, alles verzehrenden Feuersbrunst auf. Die Zuschauer mußten vor dem glühenden Atem des Brandes bis unmittelbar an den Rand des Flusses zurückweichen. Von dem rotflackernden Schein aus der Nacht ge rissen, verrieten all die erhobenen Gesichter das selt same Gemisch einander widersprechender Gefühle – Bewunderung und Entsetzen, Bedrückung und Jubel –, das die Manifestationen entfesselter Naturkräfte in ihrer Pracht und unbezähmbaren Gewalttätigkeit dem Menschen einflößen. Nach einer ganzen Weile erhob sich aus der erstarr ten Menge eine Stimme, die des alten Tahutaget. Er stellte eine Frage. »Er möchte wissen«, sagte Uttakeh, »ob du Biber felle in deinem Fort gelagert hattest.« »Ja! Ja! Dreißig Bündel!« kreischte der Ire O’Con nell, sich die Haare raufend. »Für mindestens zehn tausend Livres Biberfelle lagen im Speicher! Ah, wenn ich nur gewußt hätte, Monsieur de Peyrac, was Ihr vorhattet! Wenn ich’s nur gewußt hätte! … Meine 368
Biber! Meine Biber!« So viel Verzweiflung schwang in seiner Stimme, so viel Komik lag in seinem Jammer, daß die Irokesen in Gelächter ausbrachen. Da war endlich einmal ein Weißer, der sein Herz sprechen ließ! Ein Weißer wie seinesgleichen. Ein echter Sohn dieser Rasse von Händlern. Man fühlte sich auf vertrautem Gelände … »Und wie steht’s mit dieser Haut?« fragte Peyrac, indem er in die dicken, vor Kummer bebenden Bak ken des Iren kniff. »Wie hoch schätzt du sie ein? Zehntausend Livres? Zwanzigtausend? Und diesen Skalp, den man dir gelassen hat?« fuhr er fort, ins rote Haar des armen Burschen greifend. »Wie bewertest du den? Mit dreißigtausend?« Die Krieger lachten aus vollem Halse. Sie hiel ten sich die Seiten, wiesen mit den Fingern auf den Iren und ahmten, grotesk übertreibend, dessen Mimik und Bewegungen nach. Ihre erschreckenden Heiterkeitsausbrüche waren wie ein Echo auf das Knattern der Flammen. »Lachst du mit uns, Swanissit?« rief plötzlich Uttakeh, das Gesicht zum lodernden Scheiterhaufen des Forts erhoben. »Lachst du mit deinen Kriegern? Bist du versöhnt durch die Reichtümer und die Geschenke, die sie dir ließen?« Wie als Beantwortung seiner Frage schoß plötzlich eine weißblaue Garbe aus der roten Flammenkrone, stieg steil hinauf in den schwarzen Himmel und rie selte nach einigen musketenschußartigen Explosionen in einem silbrigen Regen wieder herab. 369
Kaum hatten sich Überraschung und Schrecken gelegt, als eine rote Schlange zischend durchs Dunkel fuhr und dröhnend in Sterne zerbarst. Die Sterne wiederum zerplatzten am Ende ihrer kurzen Bahn in Girlanden aus Rubinen, die sich langsam auflösten, gleichsam zerflossen und wie Blut über das düster aufgespannte Dach der Nacht rannen. Nicht wenige Indianer sanken in die Knie, andere, die erschrocken zurückgewichen waren, stürzten in den Fluß. Panikartige Verwirrung bemächtigte sich aller, aber selbst die, die im kalten Kennebec plät scherten, konnten ihre Augen nicht von dem zaubri schen Schauspiel lösen. Die Garben und leuchtenden Spuren schossen nun aus allen Richtungen mit einem Geknatter empor, das selbst das Brausen der Flammen und das Krachen der einstürzenden Dächer übertönte. Verschwenderische Farbenpracht drängte in zuckenden Entladungen die Nacht zurück: Grün, Rot, Gold, aufblühende Blumen, Lianen, strahlende Kuppeln. Lange Serpen tinen zogen sprühend ihre vielfach verwobene Bahn, formten bizarre Tiergestalten, die im gleichen Augen blick vergingen, in dem sie sich zum Sprung anzu schicken schienen … In einem flüchtigen Augenblick der Stille hörte sie die Freudenschreie der Kinder, und Florimonds stolzgesättigte Stimme – schließlich hatte er die Feuer werkskörper vorbereitet – drang zu ihr herüber: »Nun, was haltet Ihr von meinen Talenten? In Versailles ist es auch nicht schöner.« 370
Es gab nichts mehr zu fürchten. Die wilden Irokesen waren fasziniert wie die Kinder. Verzauberung erfüll te ihre Herzen. Der Rausch dieser Visionen ließ sie gleich Träumen die Wirklichkeit ihrer Körper und die Gründe vergessen, deretwegen sie sich hier am Ufer des Kennebec befanden. Eine riesige smaragdene Raupe sank wogend auf sie herab. Ein feuriger Schmetterling entschwebte in die Finsternis, ein gewaltiger glühender Kürbis zer barst … Als die letzten Raketen ihren vielfarbig glitzernden Regen in die Nacht versprühten, war das Fort Katarunk verschwunden. Palisade und Gebäude wa ren inmitten von Funkengarben zusammengestürzt, und der Platz, wo es sich noch vor kurzem erhoben hatte, glühte leer in dunklem, allmählich verlöschendem Rot.
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Dreiunddreissigstes Kapitel
Der Mond ging in diesem Augenblick auf, ein später Mond der Nachtmitte, und sein kühler, friedlicher Schein mischte sich mit den huschenden Lichtern der letzten Glut und tauchte den Schauplatz in über raschende Helligkeit. Die Krieger warteten. Zwischen Helligkeit und Dunkel erwachten sie aus einem unglaublichen Traum. Das leise Plätschern des Flusses zu ihren Füßen klang in der Stille lauter als sonst. Langsam kam Uttakeh wieder zu sich. Sein zwi schen den schrägen Lidern verborgener Blick heftete sich auf das vor ihm stehende Paar, auf den wei ßen Mann und die weiße Frau, die von ihm, dem Mohawk, das Urteil über Leben und Tod erwarteten. Und plötzlich schwoll sein Herz wie so oft schon in einem Ansturm poetischer Beschwörungen, und er wandte sich stumm an den Mann vor ihm, der ihn überwunden hatte. »Bist du der Vorfahr, der, von dem Vogel ange kündigt, zu uns zurückkehren soll in Gestalt eines Mannes mit weißer Haut? … Ich weiß es nicht … Ich weiß noch nicht, wer du wirklich bist, aber niemals werde ich vergessen, was ich in Katarunk gesehen habe. Niemals werde ich’s vergessen …« Laut sagte er zu Nicolas Perrot: »Sprich du. Wiederhole für meine Krieger, was ich dir sagen werde … Ich weiß nicht, wer du bist, 372
Tekonderoga, aber niemals werde ich vergessen, was ich in Katarunk sah.« Perrot wiederholte, und die Krieger antworteten durch einen einstimmigen Schrei, der durch das nächtliche Tal widerhallte: »Niemals werden wir vergessen …« »Ich habe auch gesehen, daß du kein Franzose wie die andern bist, Tekonderoga«, fuhr Uttakeh in sich festigendem Ton französisch fort. »Ich sehe, daß du weder zu deinen Brüdern in Québec noch zum König von Frankreich gehörst. Du bist wirklich allein und sprichst nur in deinem Namen … Was wirst du nun tun? Du besitzt nicht viel mehr als deine Pferde und die Kleidung, die du trägst. Der Wald und die Nacht sind um dich, und die Kälte des Winters ist nahe.« »Was kümmert’s mich, da meine Ehre gerettet und der Blutpreis bezahlt ist!« »Wirst du zum Meer zurückkehren?« »Nein. Die Jahreszeit ist zu vorgeschritten, und die Gefahren einer solchen Reise wären zu groß. Ich werde ins Gebirge gehen, zu einigen meiner Leute, die dort eine Hütte errichtet haben. Kann ich ihnen bestätigen, daß du uns dein Bündnis bewahrst?« »Ja, du kannst es. Sobald der Rat der Mütter und der Alten meiner Entscheidung zustimmt, werde ich dir ein Muschelhalsband schicken. Glaubst du wirk lich, Tekonderoga, über alle deine Feinde triumphie ren zu können?« »Das Ergebnis des Kampfes liegt in den Händen des Großen Geistes. Aber ich bin entschlossen, zu 373
kämpfen und zu triumphieren.« »Dein Mut und deine List sind groß, und ich wünsche dir deinen Sieg. Doch nimm dich in acht, Tekonderoga, denn deine Feinde sind zahlreich, und den gefährlichsten können deine Musketen nicht niederstrecken: Etkon-Hontsi, die Schwarze Kutte. Er spricht für seinen Gott und seinen König. Er ist unbezwinglich. So manches Mal haben wir versucht, ihn zu töten, aber er ist immer davongekommen. Er kann nicht sterben, verstehst du? Und er wird dich unaufhörlich verfolgen, denn du bist von der anderen Seite seines Lebens. Du gehörst zur irdischen Welt, während er zur Welt der unsichtbaren Geister gehört, und die Erde ist ihm unerträglich. Ich fürchte für dich, da du nun mein Freund bist. Ich weiß, daß er deinen Untergang will. Hüte dich, Tekonderoga! Du, der du nichts mehr hast, besitzt einen Schatz, und diesen letzten Schatz möchte er dir entreißen, vor allem ihn.« Er wies auf Angélique. »Sein Haß liegt schon auf ihr. Er möchte dich von ihr trennen. Wirst du dich und sie gegen seine Macht verteidigen können?« Uttakeh schien plötzlich außerordentlich besorgt. Und es war vielleicht in diesem Augenblick, daß sich Angéliques Herz der Liebe zu den Indianern öffne te. Furcht und Abscheu waren vergangen. Sie sah sie nun, halbnackt, naiv, nur mit Pfeilen bewaffnet vor mörderischen Musketen und der mystischen Macht der Jesuiten, der sie nur simple Zaubereien entgegen 374
zusetzen hatten. Mitleid und Achtung erfüllten sie. Die abgehackte Stimme des Irokesen, die ihr nach so vielen Worten des Hasses nun Ratschläge erteilte, enthüllte ihr die menschliche Seite dieser grausamen Rasse. Mit der leidenschaftlichen Sprunghaftigkeit primi tiver Wesen sorgten sie sich unversehens um die, die sie erst wenige Stunden zuvor hatten massakrieren wollen, und da sie nun ihre Freunde waren, lag ihnen ihr Schicksal mehr als das eigene am Herzen. Peyrac näherte sich Uttakeh und sagte vertraulich: »Ich werde dir etwas verraten, was du verstehen kannst. Meine speziellen Geister fürchten weder die Hexereien des roten noch des weißen Mannes. Und Etkon-Hontsi bleibt trotz all seiner Macht ein weißer Mann … wie ich.« »Das ist wahr«, konstatierte der Mohawk, plötz lich beruhigt. »Du bist ein Weißer, du kannst seine Gedanken lesen, während sich unsere Köpfe zuweilen verirren. Gut! Ich verstehe. Du wirst seine Pläne ver eiteln, wie du uns überlistet hast, als wir deinen Tod wollten. Es ist richtig so! Bleibe stark, Tekonderoga. Wir brauchen deine Kraft. Und nun geh, wohin es dir beliebt. Wohin ihr auch ziehen werdet, du und die Deinen – wenn ihr einem Krieger der Fünf Nationen begegnet, wird er den Gesang des Friedens für euch singen. Ich habe gesprochen! Leb wohl!«
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Vierunddreissigstes Kapitel
Der Nachtwind strich über die Asche, alles war dun kel und still. Der Mond war in fernen Nebelschleiern verschwunden, nur ein diffuses Licht war geblieben, das die dunklen Konturen des Waldes und der Berge erkennen ließ. Peyrac schritt langsam am Ufer entlang. Er war allein, und von Zeit zu Zeit blieb er stehen, um nach denklich zur Höhe des Abhangs hinaufzusehen, wo noch vor kurzem das Fort Katarunk gestanden hatte. Nicht weit von ihm entfernt beobachtete Angélique seine schattenhafte Gestalt, sah sie reglos verharren und von neuem ihren grübelnden Weg verfolgen. Auch sie war, unwiderstehlich angezogen, hierher zurückgekehrt. In der Höhle, in die Peyrac am Vortag Decken und einige Nahrungsmittel hatte schaffen lassen, waren die Kinder am Feuer eingeschlafen. Am Ende ihrer Kräfte, waren die meisten Erwachsenen ihrem Beispiel gefolgt. Angélique hatte sich entfernt. Sie war behutsam durch die Nacht gegangen, und zum erstenmal hatte sie keine Angst mehr verspürt. Die bösen Geister schienen geflohen zu sein. Der Sturmwind einer Tragödie hatte sie zerstreut und ins Weite entführt. Von nun an bewegte sie sich in einem freundlichen Wald, und alle an ihr Ohr dringenden Geräusche nahmen eine neue Bedeutung an, waren das Echo einer unter den Zweigen wieder zum Leben erwa 376
chenden Welt, der kleinen Welt der Tiere, die sich auf den Winter vorbereitete, eilig ihre letzten Geschäfte besorgte, ihre letzten Lieder sang – nicht mehr. Die letzten Düfte des Mooses, das letzte Kratzen der Eichhörnchen, die ihre Haselnüsse verscharrten, und fern, jenseits der Schluchten, wie ein melancholisches Waldhorn der Ruf eines Elchs. Angélique hatte aufgehört, sich zu fürchten. Durch seine Tat hatte Joffrey sie von aller Angst befreit. Eine verrückte Tat, aber die einzige, die ihm geblie ben war: Katarunk verbrennen! Und er war der einzi ge, der es wagen und ausführen konnte. Der Gedanke mußte ihm gekommen sein, als er gesagt hatte: »Mein Haus ist durch ein unsühnbares Verbrechen be schmutzt!« Damals schon hatte er gewußt, was er tun mußte, und er war ruhig geworden. Jetzt würde nichts Böses mehr geschehen, das seinen Ursprung in der Erde Amerikas hätte. Das Brandopfer war dargebracht. Anfangs war Angélique sich nicht sicher gewesen, dann aber hatte sich die Bedeutung des Ereignisses ihr klar offenbart. Und sie schritt leichten Herzens unter den Bäumen dahin, denn sie spürte, daß die Riten vollzogen waren, und das befriedigte ihre vom Christentum geprägte Seele. Nicht nur für die Erhaltung ihrer Leben war es gut, daß dieses Opfer gebracht worden war, auch für ihr Glück. Und unversehens fielen ihr die Worte ein, die sie so oft mechanisch bei der Messe gemurmelt hatte: 377
»Hanc igitur oblationem …« »Das ist die Gabe, die wir Dir darreichen, o Herr, wir, Deine Diener, und mit uns unser gan zes Geschlecht. Nimm sie, o Herr, mit Wohlwollen entgegen. Schließe nun die Tage unseres Lebens in Deinen Frieden ein …« Die Erde Amerikas würde ihnen nicht mehr feind lich sein. Joffreys Opfer hatte ihr verschlossenes Herz gerührt. Die Irokesen würden niemals verges sen. Aber darüber hinaus erwog Angélique die totale Entäußerung, in der er und sie sich befanden, und aus ihrem Herzen stieg das ruhig-frohe Gebet: »Schließe nun in Deinen Frieden, o Herr, die Tage unseres Lebens …« Alles war verbrannt. Was konnte man ihnen noch nehmen? Es blieb ihnen nur ein wundersamer, heimlicher Schatz: ihre Liebe. Zweifellos hatte das Schicksal es so gewollt, als es sie einander finden ließ; sie sollten ihren Preis kennenlernen, um sie nicht zu unterschätzen. Sie sollten sie erkennen können, ohne sie mit anderen Werten zu verwechseln. Reine Liebe eines Mannes zu einer Frau und einer Frau zu einem Mann, zwei Flammen zu einer vereint, brennend in der Einsamkeit, in der eisigen Wildnis, zwei heiße Herzen in der Nacht der Welt wie in den frühesten Zeiten … Sie spähte wieder zu Joffreys Schatten hinüber, der längs des Ufers dahinschritt. Der Ort bewahrte noch den Geruch des Brandes und trotz der Kälte auch den der Menge, die sich so lange hier gedrängt hatte, und 378
nun war alles so ruhig, daß Angélique sich von einem Wohlgefühl überwältigt fand. Dann ging sie zu ihm, ohne Eile, gewiß, ihn zu finden. Als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, blieb sie von neuem stehen. Er bemerkte sie, den Umriß einer Frauengestalt mit dem lichteren Tupfen des Gesichts, und nach dem er sie einen Moment beobachtet hatte, trat er zu ihr. Seine Hände berührten ihre Schultern, und sie näherte sich ihm wie einer Quelle der Wärme, legte ihre Handflächen auf seine Brust, während er seinen Mantel um sie schloß, sie mit seinen Armen umfing und sie an sich preßte, bis sie wie zu einem Körper verschmolzen waren, ohne Wunsch, nur von dem animalischen Verlangen erfüllt, einander nah zu sein, des anderen Gegenwart zu spüren. Joffrey hätte sprechen müssen, aber er schwieg. Was hätte er sagen können, dachte er, ohne scheuß lich banal zu werden? »Habt Ihr Euch geängstigt? Seid Ihr mir böse, daß ich dieses Haus verbrannte, das Ihr schon als das Eure ansaht? Daß ich Euch nun zahllosen Schwierigkeiten aussetzen muß?« Banalitäten, die er jeder anderen Frau gesagt hätte, aber zu dieser so zu sprechen wäre einer Beleidigung gleichgekommen. Sie war längst darüber hinaus, viel weiter, als er es sich vorgestellt hatte. So rieb er nur seine Wange an ihrer weichen, wie um sich von der Gegenwart dieses lebendigen, warmen Wesens zu überzeugen, das er in seinen Armen hielt und das 379
seine Frau war. Und auch sie hatte sprechen und ihm die Worte sagen wollen, die ihr Herz erfüllten: »Wie habe ich Euch heute bewundert, Liebster! Ihr habt uns alle durch Euren Mut gerettet! Ihr seid wunderbar gewe sen …« Aber all diese Worte waren ärmlich und drückten nichts von dem aus, was sie sagen wollte. Es drängte sie nur, ihm ihre Entdeckung zu verraten, daß das Opfer vollzogen war, daß es die Götter befriedigt hat te. Doch das wußte er genausogut wie sie. Sie schwiegen also und umschlangen sich schwei gend fester und fester. Und zuweilen warf sie den Kopf zurück, um seine Augen zu suchen, die wie zwei Sterne über ihr funkelten, und sie erriet, daß er lächelte.
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Fünfunddreissigstes Kapitel
Wasser eine riesige silbrige Einöde bildet. Aus den Fluten recken sich, knochenweiß, abgestorbene Bäu me wie groteske Kandelaber gegen den perlfarbenen Himmel. Schwirrende Mückenschleier vernebeln die im Ungewissen verlaufenden Ufer. Die Grenzen zwischen Erde und Wasser sind auf heimtückische Weise beweglich. Hier und da werfen mit schwarzen, spinnrockenartigen Tannen bestandene Inseln ihr Spiegelbild auf die unergründlich glitzernde Fläche. Das ist das Gebiet des Méganticsees. Als die französischen Soldaten ein paar Tage nach ihrem Aufbruch von Katarunk dorthin gelangten, schien ihnen der Herbst viel weiter vorgeschritten als auf dem jenseitigen Abhang des Gebirges. Das trok kene Moos hatte die Farbe alten Goldes, und von den spärlichen Bäumen fielen die Blätter. In der eisigen Luft, die man atmete, und in der rüden Trostlosigkeit der Landschaft war bereits die Atmosphäre Kanadas zu spüren. Die Militärs wie die sie begleitenden Huronen und Algonkins waren einer Meinung, daß man sich auf dieser Seite schon fast »wie zu Hause« fühlte. Man brauchte nur die Kanus zu Wasser zu lassen, den See zu überqueren, und schon hatte man den Chaudière genannten braven Fluß vor sich, auf dem man gemütlich zum Sankt Lorenz hinuntergleiten würde. Die Einmündung lag Québec gerade gegen 381
über. Sie würden die Augen zu der auf ihrem Felsen stolz thronenden Stadt erheben, und sie würde ihren Gruß mit allen Glocken ihrer zahlreichen Kampanile erwi dern. Schluß mit der Wildnis und den Wilden, mit fa dem Maisbrot und gekochtem Hund. Calvados, Rum und Branntwein winkten, dick mit Butter bestriche nes Weizenbrot, saftiges Rindfleisch und Schinken mit Kohl, Käse, roter Wein und die freundlichen Mädchen, denen man bei Janine Gonfarel in der un teren Stadt begegnete … Am Mégantic strahlte die Sonne aus fahlem Him mel, warf das Wasser metallische Reflexe zurück, rag ten tote Bäume, strich der Atem des Winters über das Land. Flink glitten die Rindenkanus über die Oberfläche des Sees und suchten nach der Einfahrt in die Chaudière, denn man mußte schon aus der Gegend sein, um sie im Gewirr der Inseln und der zahllosen Buchten und Kanäle zu finden. Der Graf de Loménie blieb am Ufer, um die Einschiffung seiner Truppe zu überwachen. Fallières, l’Aubignière, sein Neffe und ein Teil der Indianer hatten längst abgelegt. Andere tauchten eben auf dem Trägerpfad auf, die Kanus über ihren Köpfen tragend. Plötzlich erschien ein Indianer, der sich an der Kolonne vorbei nach vorn gedrängt hatte, vor dem Offizier und grüßte ihn kurz mit erhobenem Arm. 382
Loménie-Chambord erkannte ihn: Es war Mazok, der für gewöhnlich Nicolas Perrot auf allen Wegen begleitete. Er stieß einige Sätze in gebrochenem Französisch hervor. Von Pont-Briand unterstützt, entwirrte der Oberst seine Botschaft: In Katarunk seien die irokesischen Häuptlinge von Maudreuil und den Patsuikets skal piert worden. Die Irokesen rückten gegen Katarunk vor, um Rache zu fordern. Der Graf de Peyrac und seine Familie seien verloren. »Kehren wir um! Sofort!« rief Pont-Briand. »Es sind zu wenige, um diesen Horden widerstehen zu können.« Loménie äußerte nichts dazu, gab aber denen, die sich noch bei ihm befanden, Befehl zum Rückmarsch. Ein guter Teil der Huronen und Algonkins erklärte sich bereit, die Soldaten zu begleiten. Wenn man sich mit den Irokesen anlegen wollte, fanden sich immer Freiwillige genug. Als sie nach Tagen das Gebiet des Kennebec er reichten, hofften sie, Schüsse zu hören, die ihnen verraten hätten, daß die Verteidiger des Forts sich noch wehrten. Doch kein Laut unterbrach die Stille, das Land schien tot. Kurz vor der Flußbiegung, hinter der Katarunk in Sicht kommen mußte, ließ Loménie die kleine Flottille landen. Die Kanus wurden aufs Ufer zwi schen die Weiden gezogen, und jedermann berei tete geräuschlos seine Waffe vor. Der Oberst und Pont-Briand erkletterten den felsigen Steilhang, um 383
unbemerkt die Umgebung beobachten zu können. Die Luft war klar, und dennoch schien es ihnen, als schmecke sie nach kaltem Rauch. Nach dem ersten Blick von der Höhe begriffen sie: Katarunk existierte nicht mehr. Eine brandige, schwärzliche Fläche breitete sich dort, wo einst das Fort gestanden hatte. Keine Spur menschlichen Lebens war zu erkennen. Pont-Briand stieß einen dumpfen Schrei aus. Ver zweifelt schlug er die Stirn gegen den Stamm eines Baums. »Sie ist tot!« brüllte er. »Seht Ihr, sie war keine Dä monin! Sie war nur eine Frau! … Eine schöne und schwache Frau! … Eine anbetungswürdige Frau! … O mein Gott, warum muß ich noch auf dieser Erde bleiben?« »Schweigt! Ihr faselt!« sagte Loménie und schüttel te ihn bei den Schultern. Aber auch er empfand bitte re Trauer. Er sah wieder den Reiter mit der schwarzen Maske vor sich, inmitten seiner Leute, wie damals vor Katarunk. Und neben ihm die schöne Frau … Schmerz und brennendes Bedauern quälten ihn. Dann kehrte die kühle Überlegung zurück. Er dach te, daß es die Hand Pater d’Orgevals gewesen sein müsse, die alles gelenkt hatte. War es nicht Gott, der diesen Priester leitete? Als Loménie vor einem Monat an der Spitze seiner Leute von Québec herabgekom men war, hatte er von dem Jesuiten eine Anweisung erhalten. »Beseitigt sie um jeden Preis! Vernichtet sie, wenn 384
nötig. Die Situation wird um so klarer sein.« Verführt durch die Fremden, hatte er die Anweisung in den Wind geschlagen. Nun hatte der Himmel für ihn entschieden. »Auftrag erfüllt«, dachte er, und Bitternis schlich in sein Herz. Es fiel ihnen schwer, sich vom Anblick des Ortes loszureißen. Schließlich befahl der Oberst, sich auf den Rückweg nach Norden zu machen. Als der letzte Franzose verschwunden war, trat Mazok aus dem Wald. Sein langes schwarzes Haar flatterte im Wind. Vorsichtig folgte er dem Ufer, stieg, keine Einzelheit des Bodens außer acht lassend, den Abhang zur Brandstätte hinauf, umstrich die brandige Fläche, musterte die nächste Umgebung und kehrte zum Fluß zurück. Der Boden verriet ihm die Einzelheiten eines er staunlichen Abenteuers. Endlich hob er den Kopf, schien in den Wind zu wittern, dann schlug er mit entschlossenem Schritt die Richtung nach Nordwesten, ins Herz des Gebirges ein.
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Dritter Teil
Wapasson
Sechsunddreissigstes Kapitel
Der Sturm wütete. Der mit Schnee untermischte Regen peitschte die Gesichter, verlieh den durchnäß ten Mänteln Bleigewicht. Die kleine Karawane mar schierte unter den Bäumen, die Füße im Schlamm des Wegs. Diejenigen, die die beiden Kanus trugen, mit denen sie sich den Fluß heraufgequält hatten, waren wenigstens vor dem Regen geschützt. Dafür verfin gen sie sich unablässig in den Zweigen des Dickichts, und zwei mit Handbeilen bewaffnete Männer muß ten sie begleiten. Angélique hob den Kopf und gewahrte im grünen Licht des Waldes die weiße Säule eines Wasserfalls. Die weißen, grollenden Katarakte mit ihren schäu menden Fluten, ihren glitzernden Behängen stür zenden Wassers sind die Wächter der amerikanischen Wildnis. Überall, wo sie auftauchen, bedeutet ihr Tosen: »Hier führt der Weg nicht weiter!« Dieser schien höher und abweisender als alle ande ren, und wie ihre Leidensgenossen sah sie entmutigt hinauf, bis eine unvermutete Dusche des vom Wind geschüttelten, triefenden Laubwerks sie zwang, den Kopf einzuziehen. Plötzlich war Joffrey neben ihr. Er drängte sie in den dürftigen Schutz eines Felsvorsprungs und wies zur Höhe des Wasserfalls. »Dort oben liegt Wapassou«, sagte er. »Und wenn wir niemand vorfinden?« rief einer 387
der Männer, das Getöse übertönend. »Vielleicht sind die Franzosen auch da vorbeigekommen! Oder die Irokesen! Vielleicht sind unsere Freunde tot, und die Hütte ist verbrannt!« »Nein«, erwiderte Joffrey, »Wapassou liegt zu ge schützt. Um es zu finden, müßte man erst wissen, was man dort sucht, und vorderhand weiß es noch niemand.« »O’Connell sagt, er hätte sie seit zwei Monaten nicht mehr gesehen!« warf ein anderer ein. »Sie sind nicht tot«, beharrte Peyrac. »Warum?« »Weil das Schicksal uns das nicht antun kann.« Er nahm die kleine Honorine aus Angéliques Armen, empfahl allen für das bevorstehende Wegstück äußerste Vorsicht und begann, den abschüssigen, glit schigen Hang neben dem Wasserfall hinaufzuklet tern. Ein paar Männer waren damit beauftragt, die beiden Pferde zu führen, die sie behalten hatten. Angélique hätte sich gern der Stute angenommen, aber sie konn te nicht mehr, und es genügte ihr schon, sich selbst vorwärts zu bringen. Was war eigentlich mit ihren Begleiterinnen und den Kindern? Sie drehte sich um. Ein paar Schritte unter ihr gewahrte sie Malaprade, der Elvire mehr zu tragen als zu stützen schien. Der immer gutwillige, ruhige Monsieur Jonas schob und stieß seine völlig außer Atem geratene Frau mühsam Meter für Meter die Steigung hinauf. Sein vom Regen überronnenes Gesicht glich dem eines eben aus den 388
Fluten aufgetauchten Tritonen. Florimond und Cantor hatten jeder einen der beiden kleinen Jungen auf den Rücken genommen. Mit in die Stirn geklatschten Haaren und unter ihre Lasten gebeugt wie die Verdammten in Dantes Hölle, kämpften sie sich langsam aufwärts. Wäre es Nacht gewesen, hätte ihnen die Dunkelheit wenigstens den Anblick des tosenden Wasserfalls dicht neben ihnen entzogen. Aber in der schmutzigen Helligkeit, die sie umgab, gewann sein schäumendes Weiß die Aggressivität eines Raubtiers, das seine Krallen nach ihnen ausstreckte. Es war drei Tage her, seitdem die Karawane das zer störte Katarunk verlassen hatte. Nur zwei Pferde führte sie mit. Die übrigen sollten Maupertuis und sein Sohn Pierre-Joseph südwärts nach Gouldsboro bringen. Jeder von denen, die sich entschlossen hatten, Peyrac weiter ins Innere zu begleiten, wußte, daß Wapassou von einer Niederlassung nicht viel mehr als den Namen besaß. Er hatte ihnen noch vor dem Aufbruch erklärt, daß es sich um eine recht notdürf tige Unterkunft handele, ohne Palisade, eine Art Höhle, die von den vier im vergangenen Jahr dort zurückgelassenen Bergleuten sicherlich nur dürftig eingerichtet worden sei, da sie in Katarunk hätten überwintern sollen. Er hoffe indessen, daß sie genü gend Zeit haben würden, den Ort vor Einbruch der großen Kälte noch wohnlich zu machen. 389
Am ersten Tag waren sie am Ufer den Kanus ge folgt, in die ein Teil des Gepäcks und die über dieses neuerliche Abenteuer entzückten Kinder verladen worden waren. Am zweiten ließen sie den seiner zahllosen Stromschnellen wegen nicht mehr schiff baren Kennebec hinter sich, schwenkten ostwärts ab und zogen an einem Nebenflüßchen entlang, das sich blau und friedlich durch eine wahre Parklandschaft von Wiesen, Weiden und Ulmen schlängelte. Sie be gegneten keiner Menschenseele. Aus unerfindlichen Gründen galt das Flüßchen als heilig. Sie hofften, am Nachmittag des dritten Tages ihr Ziel zu erreichen, aber nach einer Nacht, in der der Wind unablässig am Zweiggeflecht ihrer Schutz dächer gerüttelt hatte, gerieten sie in einen eisigen Regensturm, der nicht mehr aufhören wollte. Angélique fiel auf die Knie. Ihr Fuß hatte sich in einer über den Boden kriechenden Wurzel verfangen. Sie glaubte, nicht mehr die Kraft zum Aufrichten zu ha ben und den Weg zur Höhe auf allen vieren fortsetzen zu müssen. Mit Mühe hob sie den Kopf und hätte fast einen Schrei der Erleichterung ausgestoßen. Der düstere Schacht vor ihr öffnete sich endlich, und sie gewahr te ein Stück fahlhellen Himmels, über das zerfetzte Wolken glitten. Joffrey hatte bereits die Höhe erreicht und sah zu ihr herunter. Er trug ihr Kind in seinen Armen, ihr eigenes Kind, und selbst in ihren kühnsten Träumen 390
hätte sie sich das nicht vorstellen können. »O Liebster, du warst es, den ich in meinen Träumen sah … Du führst uns in den Sturm, immer weiter, immer wei ter! Du bist wie Kain, der mit den Seinen dem Fluch zu entkommen sucht. Und doch hast du nichts Böses getan … Warum? … Warum?« Er hatte gesehen, daß sie gestürzt war, und sein Blick befahl ihr, sich mit letzter Anstrengung aufzuraffen und zu ihm zu kommen. Dazu fand sie die Kraft. Es war wie in ihren Traumgesichten: Sie kroch, richtete sich schwankend auf, zog sich von einem Ast zum andern, und endlich stand sie neben ihm. Im klaffenden Spalt seines Mantels sah sie Hono rines munter blitzende Äuglein. An die Brust ihres am Ende der Welt entdeckten Vaters geschmiegt, spähte das Kind in die trübe, stürmische Welt, vor der er es bewahrte, und war glücklich. Da das Brausen des Windes und des Wassers jede Verständigung mit Worten unmöglich machte, wies Joffrey sie durch eine Kopfbewegung auf etwas hin, was sich zur Linken auf der anderen Seite des in die Tiefe stürzenden Flusses erhob: ein Brettergerüst mit einem Rad, dessen Schaufeln wie große schwarze Flügel wirkten. Dieses Zeichen menschlicher Arbeit verlieh ihnen allen wieder Mut und Hoffnung. Aber sie waren deswegen noch nicht am Ende ihrer Leiden angelangt. Diese Mühle war nur ein Vorposten. Ein wenig weiter wich der Wald zurück, und ein weites Tal tat sich auf. Sie entdeckten die düstere, 391
trostlose, von sanften Bergen umgebene Fläche eines großen Sees, auf die der Regen herniederprasselte. An den wie mit feuchtem Ruß geschwärzten runden Kuppen hingen Wolken, die der Wind zerfaserte und rasch davontrieb. Joffrey führte seine Leute über einen schmalen Steg zum linken Ufer des Sees. Dort schlug er einen deutlich ausgetretenen Pfad ein, den die Regenfluten jedoch grundlos gemacht hatten. Manche waren so müde, daß sie bei jedem Schritt ausglitten und im zähen Schlamm landeten. Ein einziger Gedanke trieb sie voran: Bald würden sie unter einem schützenden Dach um ein warmes Feuer sitzen. Doch das Ende des Sees wurde erreicht, ohne daß irgendwo ein Licht auftauchte. Sie durchquerten eine enge Felsschlucht, die den ersten See mit einem zweiten, kleineren verband. Er lag zwischen hohen Steilufern, die unter ihren Füßen abbröckelten, wenn sie zu nahe an den Rand gerieten. Ein weiterer Engpaß war zu durchschreiten, hinter dem ein drit ter, wiederum sehr großer See sichtbar wurde, und in diesem Augenblick war es, daß sie im Wind den schwachen, beizenden Rauch eines Holzfeuers wahr zunehmen meinten. »Ich rieche Rauch!« schrie der kleine Barthélémy mit zitternder Stimme. »Ich rieche Rauch!« Er klapperte mit den Zähnen und schlotterte so stark, daß er gefallen wäre, wenn Florimond ihn nicht gehalten hätte. Joffrey ließ das erste der Kanus zu Wasser bringen 392
und die Frauen und Kinder in ihm Platz nehmen. Er selbst stieg mit Honorine als letzter ein. Das Boot nahm Kurs auf eine mit Tannen und Lärchen bewach sene felsige Halbinsel, die sich in wehenden schiefer farbenen Nebelschleiern abzeichnete. Sie landeten an einer sumpfigen Wiese und stiegen einen sanften Abhang zum äußersten Ende der Halbinsel hinauf. Der Rauchgeruch wurde intensiver. Er schien aus der Erde aufzusteigen und sich mit dem Nebel zu mischen. Ein Loch mit Stufen aus Knüppelholz öffnete sich vor ihnen, und in dieses Loch, in diesen Fuchsbau, stiegen sie hinab und öffneten unten eine Tür … Der Geruch kochenden Fetts, heißen Rums und Tabaks, das Licht der Lampen und die gute, herz hafte Wärme eines lodernden Feuers hüllten sie ein wie plötzlich aus schwarzem Gewölk brechender Sonnenschein. Und neben dem Feuer, überhuscht von seinen Reflexen, hockte ein riesiger Neger und sah ihnen überrascht entgegen. Er war in Pelzwerk und Leder gekleidet. Goldene Ringe glitzerten an seinen Ohren. Sein wolliges Haar war weiß wie Schnee. Und mit einem Aufschrei er kannte Angélique dieses schwarze Gesicht aus längst versunkener Vergangenheit: »Kouassi-Ba!«
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Siebenunddreissigstes Kapitel
Da war er also wieder, der gute, der getreue, der zu al lem geschickte Kouassi-Ba, der kraftstrotzende Sklave, der, angetan mit einem bestickten Atlasgewand, einst mit seinem Säbel das Tor des Palastes in Toulouse be wacht hatte. Der Graf de Peyrac hatte ihn noch jung von Berbern gekauft und als Gehilfen an seinen wis senschaftlichen Arbeiten teilhaben lassen. Kouassi-Ba war ihm in den Gerichtssaal gefolgt, war seinetwegen lebenslänglich auf die Galeeren geschickt worden, hat te mit ihm den Ausbruch aus dem Bagno gewagt und war an seiner Seite im Mittelmeer verschwunden … Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht, Joffrey nach dem Verbleib des treuen Dieners zu fra gen? Wohl, weil sie noch nicht wagte, über Dinge zu sprechen, die nach dem Scheiterhaufen geschehen waren. Und die Wiederauferstehungen nahmen kein Ende. Der große Neger erkannte sie nicht sofort. Er wun derte sich, daß die zerzauste, durchnäßte Frau auf ihn zustürzte, seine großen schwarzen Hände in ihren schmalen, eisig-erstarrten drückte und ein über das andere Mal rief: »Kouassi-Ba! O mein guter KouassiBa!« während Regentropfen wie Tränen über ihre Wangen rannen. Doch angesichts der hellen, unvergeßlichen Augen kehrte die Erinnerung wieder. Sein Blick glitt zu dem Grafen de Peyrac hinüber, und als er begriff, daß sich 394
das Wunder erfüllt hatte, um das er seit so vielen Jahren betete, überwältigte ihn eine Freude, der er in dem engen Raum, in dem sich immer mehr Neu ankömmlinge drängten, kaum Ausdruck zu geben wußte. Endlich sank er auf die Knie, küßte Angéliques Hände und wiederholte wie eine Litanei: »O Médème! O Médème! Du! Du bist bei uns! Du, das Glück meines Herrn!« Vier Bergleute hatten in diesem rauchigen Fuchs bau gelebt: ein Italiener, der ernste, gründliche Luigi Porguani, Quidua, der spanisch-indianische Mischling aus Peru, ein stummer Engländer, Lyman White, dem die puritanischen Bostoner wegen Gotteslästerung die Zunge ausgerissen hatten, und Kouassi-Ba. Alle, auch der Italiener, hatten etwas an sich, was sie von den gewöhnlichen Sterblichen unterschied, etwas, was wie nach Schwefel und Pulver roch, und bei ih rem Anblick wurde in Angélique wieder jener erste Eindruck lebendig, den sie einst beim Besuch von Joffreys Bergwerk in Salsigne empfunden hatte. Es waren Wesen aus einem anderen Stoff, verbündet mit den verborgenen Kräften der Erde, und ihrer aller Meister war der, der eben eingetreten war und den sie eifrig und ergeben grüßten, der Graf de Peyrac, der Gelehrte aus Toulouse. Durch seine Anwesenheit würde alles hier seine rechte Bedeutung erhalten. Die Höhle füllte sich immer mehr mit erschöpf ten, durchnäßten Menschen. Man konnte sich kaum mehr bewegen. Angélique schien es zunächst am 395
dringlichsten, Honorine und die beiden Jungen aus ihrer feuchten Kleidung zu schälen. »Trockenes Leinenzeug, Kouassi-Ba«, sagte sie. »Decken. Schnell, hilf mir die Kinder abreiben! … Wickle sie gut ein.« Und wie früher schon folgte er jeder ihrer Anwei sungen aufs Wort. Sie spähte in den über dem Feuer aufgehängten Kessel, fand eine dampfende, dünne Brühe und füll te Näpfe. Gesättigt, trockengerieben und mit Fellen zugedeckt, schliefen die Kinder bald auf ihren Gurt betten ein. Der Koch Malaprade berührte Angéliques Schul ter. »Madame, kümmert Euch ein wenig um die Kleine da. Ihr geht’s nicht gut.« »Welche Kleine?« »Die dort.« Er wies auf Elvire, die zusammengesunken auf einem Schemel hockte und von einer Nervenkrise befallen schien. »Ich kann nicht mehr … ich kann nicht mehr«, flüsterte sie. Angélique schüttelte die junge Frau und zwang ein paar Schlucke heißen Grogs über ihre Lippen. Folgsam ließ es Elvire mit sich geschehen, aber das monotone Stammeln begann von neuem: »Ich will sterben … Ich kann nicht mehr. Warum bin ich nicht auf dem Schiff gestorben, mit meinem Mann …?« 396
»Beruhigt Euch, meine Liebe«, sagte Angélique, sie umarmend. »Trinkt noch ein wenig. Ihr seid sehr tap fer gewesen. Jetzt sind wir gerettet. Hier ist es warm, wir haben ein Dach über dem Kopf, und Kouassi-Ba ist bei uns. Seht Ihr nicht, was für ein guter Kerl er ist? Malaprade, zieht ihr die Schuhe aus. Sie muß aus ihrer nassen Kleidung heraus … Bringt mir noch eine Decke!« Das tätige Gedränge um sie herum mündete nach und nach in geordnete Bahnen. Ein Duft nach Rum verbreitete sich, und die eben noch jammernden, vor Kälte schnatternden Stimmen klangen lauter und sicherer. Durch die Ritzen eines Verschlags quoll Dampf. Man hatte dort ein Schwitzbad auf indiani sche Art improvisiert, indem man glühheiße Steine in einen Kübel mit Wasser warf. Die vier Bergleute schleppten alles heran, was sie an Kleidungsstücken zum Wechseln besaßen, schürten das Feuer, verlän gerten die Suppe und warfen ihr letztes Stück Speck hinein. Elvire beruhigte sich allmählich. Schließlich trug Malaprade sie zu den Kindern hinüber und bettete sie neben Barthélémy, wo sie sofort in tiefen Schlaf versank, während er ihr noch immer tröstende Worte zumurmelte. Angélique unterbrach ihn. »Nun seid Ihr dran, mein Freund.« Der Koch war nicht von allzu kräftiger Konstitution und konnte sich in seinen durchweichten Kleidern eine Krankheit zuziehen. Aus einer von Hand zu Hand ge henden Flasche goß sie ihm ein Glas Branntwein ein, 397
veranlaßte ihn, sich seines kurzen, militärähnlichen Rocks zu entledigen, und ging sogar soweit, ihn trotz seiner verlegenen Proteste trockenzureiben, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß auch Florimond und Cantor aus ihrem feuchten Zeug geschlüpft waren. Die vor dem Feuer aufgehängten Joppen und Kittel dampften, die schlammigen Schuhe hatte man in ei nem Winkel aufgehäuft. Morgen würde man schon sehen, was man mit ihnen anfing; fürs erste war der Platz am Kamin zu beschränkt, um auch sie zum Trocknen nebeneinander aufzureihen. »Die Handelswaren haben wir bisher kaum ange brochen«, sagte Porguani. »Uns bleiben noch genü gend Decken und Raum.« »Mehr brauchen wir heute abend auch nicht«, er widerte Peyrac. Der Italiener verteilte Decken aus grellrotem Wollstoff, und binnen kurzem verwandelte sich die ganze Gesellschaft in eine Versammlung feierlich dra pierter Indianer, die sich im Licht der Bärenfettlampen nach und nach entspannten und ihre Lebensgeister wiederfanden. Der Rum trug kräftig dazu bei, die Stimmung zu heben. Bald dröhnte das erste Gelächter unter der niedrigen Decke, man begann sich auf die Schultern zu klopfen und zu erzählen, was sich seit gestern und seit Monaten ereignet hatte, und trotz des Lärms schliefen die Kinder wie die Engel. Angélique sah sich befriedigt um. Im Sturm waren sie die elendsten Kreaturen der Welt gewesen, und doch – sie würde sich immer daran erinnern – war der 398
Funke des Menschlichen in ihnen lebendig geblieben. Kaum dem Unwetter entronnen, hatten sie als erstes den Schwächeren geholfen. Sie hatte Malaprade Elvire trösten und Yann den beiden Jonassen ein Glas mit Branntwein reichen sehen, bevor er selbst trank. Clovis hatte Yann seinen Napf mit Suppe gereicht, und Perrot war Florimond und Cantor erst von der Seite gewichen, als sie sich auf sein Zureden hin aus gezogen hatten, statt weiter vor dem Feuer mit den Zähnen zu klappern. Und Joffrey hatte gewartet, bis jeder warm und trocken war, bevor auch er sein triefendes Wams ablegte. Sie begegnete seinem Blick, und er kam zu ihr und drückte sie herrisch an sich. »Ihr solltet endlich an Euch denken, mein Schatz.« In seiner Stimme schwang Zärtlichkeit. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß sie am ganzen Körper schlotterte und bebte, als sei sie von Epilepsie befallen. Er nötigte ihr einen Schluck mit kochendem Wasser verdünnten und mit schwarzem Zucker ge süßten Rum auf, der einen Ochsen hätte aus dem Gleichgewicht bringen können. »Gesegnet sei der, der den Rum erfand«, sagte Angélique. »Wer war’s? Ich weiß es nicht, aber man müßte ihm ein Denkmal errichten.« Von diesem Moment an verschwammen ihre Erinnerungen. Im Gedächtnis behielt sie nur das vage Bild des Verschlags, in dem erhitzte Steine das Wasser eines Bottichs zum Brodeln brachten, die wohltuende Wirkung des heißen Dampfs auf ihren erstarrten 399
Körper, die geschickten, sorglichen Hände, die ihr behilflich gewesen waren, sich in Decken zu hüllen, die starken Arme, die sie wie ein Kind aufgehoben, getragen und schließlich irgendwo auf weichem Pelzwerk niedergelegt hatten, sein Gesicht und die beredten, dunklen Augen, wie sie ihr früher oft in ihren Träumen erschienen waren, nur daß die Vision diesmal nicht verging … Und sie hörte die Worte, die er murmelnd zu ihr sagte, während er um sie beschäf tigt war, Worte sanft wie Zärtlichkeiten, als wären sie allein auf der Welt … An diesem Abend war es ohne Bedeutung. Sie waren alle wie Tiere, die sich vor den feindlichen Elementen, vor der Rabenmutter Natur zu Tode erschöpft in einen Unterschlupf gerettet hat ten … Angélique erwachte ausgeruht mitten in der Nacht und hörte mit tiefer Befriedigung draußen das Prasseln des Regens und das Heulen des Windes. Schatten spielten über die geschwärzten Balken des niedrigen Plafonds. Sie lag zwischen anderen in Decken gewickelten Gestalten auf der Erde, und sonores Schnarchen erhob sich aus allen vier Ecken des Raums. Aber trotzdem war sie sicher, hinter ei ner Bretterwand ein Schwein grunzen zu hören. Ein Schwein! Was für ein Wunder! In dieser Höhle hau ste ein Schwein, das man zu Weihnachten schlachten würde! Und Decken und Rum gab es auch. Was brauchte man mehr! Sie hob ein wenig den Kopf, der ihr zugleich schwer und leicht erschien, und sah all die im Schlaf anein 400
andergedrängten Menschen und, vor dem Kamin zusammengekauert, Kouassi-Ba, der gleich einem schützenden Gott das Feuer unterhielt und über sie wachte. Die Hitze war erstickend, fast unerträglich, doch Angélique genoß sie wie Nahrung nach langer Hun gerszeit, als ob sie nicht genug davon kriegen konnte. Warme, beglückende Freude brannte in ihr wie eine stetige Flamme. Zweifellos hatte der feurige Rum der Inseln damit zu tun, aber warum auch nicht? Gesegnet sei der, der den Rum erfand! … Sie mußte an den Hof der Wunder denken, an die brüderliche Gemeinschaft der Ausgestoßenen und Verdammten … Aber natürlich gab es da keinen Vergleich, denn alles hier war verschönt durch die Gegenwart dessen, den sie liebte, und nicht Elend und Verkommenheit hatten sie mit ihren Gefährten zusammengeführt, sondern die Gemeinsamkeit eines geheimen, grandiosen Werks, das nur sie bewälti gen und durchführen konnten. Es war ein Beginn, kein Ende. Zum Glück wußte niemand davon, und die bösen Geister, die auf der Suche nach ihnen im Sturmwind über die Halbinsel brausten, würden sie in ihrer Höhle nicht finden. Lange würde man sie für tot halten. Gott sei gelobt! … Es war gut, daß Katarunk verschwunden war. Zwischen Schlaf und Wachen dämmernd, durchlebte Angélique noch einmal Ausschnitte aus der jüng sten Vergangenheit, und mehr als die am Flußufer sich drängenden Irokesen mit ihrem Kriegsgeheul 401
und ihren flatternden Federbüschen erschreckte sie nachträglich die Erinnerung an die erste nächtli che Begegnung mit den vor dem Jesuiten knienden Franzosen, während daneben die ihnen verbündeten Indianer einen Gefangenen lebendig geröstet hatten. Im Kontrast zu diesem schauerlichen Bild schien ihr die Stille, die Wärme, die Gemütlichkeit dieser versteckten Höhle einen besonderen, unvergeßlichen Reiz zu besitzen. Sie würde Wapassou lieben lernen. Katarunk war zur Tragödie bestimmt gewesen. Gut, daß die Flam men ihr Werk erfüllt hatten. Dort hatten sie böse Träume gequält. Hier würde sie ruhig schlafen können … Um nach Wapassou zu gelangen, muß te man mehrere Engpässe durchschreiten, die wie Riegel den Talkessel inmitten der Berge schützten, wo seit Jahrtausenden im Felsen selbst Gold und Silber ruhten. Eine Abzweigung des indianischen Appalachenpfades führte zwar in der Nähe vorbei, aber die Indianer, die sie zuweilen benutzten, dachten nicht daran, hier haltzumachen, sondern zogen eilig weiter, abergläubisch beeindruckt durch die schroffen Steilwände und einen Eindruck wilder Einsamkeit, der von den düsteren Bergen ausging. Wer würde es vor allem im Winter wagen, die hohe Schwelle der schneeigen Katarakte zu ersteigen, die das Tal be wachten, durch das sich die Kette der drei Seen zog? Unter ihren geschlossenen Lidern zogen Bilder vorüber, die sie immer wieder ekstatisch beweg ten und Tränen an ihren Wimpern aufglitzern lie 402
ßen: Joffrey vor dem Hintergrund des stürmischen Himmels, in seinen Armen Honorine; Florimond und Cantor, mühsam unter der Last der Kinder den Hang erkletternd; Yann, der dem vor Kälte erstarrten alten Uhrmacher ein Glas Branntwein reichte, und Malaprade, der Elvires eisige Füße rieb, um sie zu er wärmen … Und nun? Mein Gott, wie heiß es war! … Angélique streckte einen Arm unter der Pelzdecke hervor und richtete sich halb auf. Joffrey schlief neben ihr. Blitzartig erinnerte sie sich. Er war es, der sie am Abend in Decken gehüllt, sie hier gebettet und sich dann neben ihr als letzter ausgestreckt hatte, um neue Kraft zu schöpfen. Er schlief ruhig und tief. Er hatte einmal mehr über Krieg, Tod und die entfesselten Elemente triumphiert und ruhte nun aus, um sich einem neuen Tag zu stel len. Sie betrachtete ihn mit leidenschaftlicher Zärtlich keit. Der mineralische Geruch, den sie an der Kleidung der vier Bergleute, an ihren ausgestreckten, rauhen, von Pulverexplosionen und splitterndem Stein ge zeichneten Händen wahrgenommen hatte, durch tränkte hier alles, und dieser besondere Geruch war der gleiche, der ihn auch früher wie mit einem sub tilen, persönlichen Mysterium umgeben hatte. Sie wußte nicht alles von ihm. Sie hatte ihn erst nach und nach für sich entdeckt: den Grafen de Peyrac, der Toulouse durch die Pracht seiner Lebensführung blendete, und den andern, der sein Schiff durch 403
Stürme führte, der Königen und Sultanen trotzte … Ja, alles das war es, aber neben dem Krieger und Edelmann existierte noch ein Drittes, fast Verheim lichtes, weil niemand es zu seiner Zeit verstehen konnte. Das war der Geologe, der Vertreter der er sten der Wissenschaften, die die Geburtswehen der Schöpfung durch die Erforschung unterirdischer, un sichtbarer Geheimnisse enthüllt … Hier in Wapassou stieß er wieder in die Eingeweide der Erde vor, war er in sein Königreich zurückgekehrt. Allein an der Art, wie er schlief, sah sie schon, daß er hier mehr zu Hause war als in Katarunk. Und weil er so fest schlief, so grenzenlos fern seiner Umgebung war, so grenzenlos fern selbst ihr, wagte sie es, mütterlich zart über seine narbige Wange zu streicheln.
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Achtunddreissigstes Kapitel
Die beiden Zimmerleute verließen ihre Grube nicht mehr. Der eine oben über den Stamm gebeugt, der zu Brettern verarbeitet werden sollte, der andere un ten im Loch, handhabten sie die riesige Säge mit den Bewegungen von Automaten. Ein paar von den andern Männern fällten Bäume und befreiten sie von ihren Ästen. Pappeln für die Zwischenwände, schwarze Eiche für die äußere Ver schalung und die Bollwerke, Tanne für die Wasser rinnen, die Möbel, die Dachschindeln. Die Notwen digkeit zwang zur Vergrößerung und Aufstockung. Zuerst erweiterte man den Hauptraum um das Doppelte seiner Länge und fügte ein großes Zimmer für das Ehepaar Jonas, Elvire und die Kinder hinzu. Dann wurde ein des felsigen Untergrunds wegen leicht über dem Niveau des Hauptraums gelege ner kleiner Verschlag von Werkzeugen und Fässern leergeräumt und in eine Kammer für den Grafen de Peyrac und seine Frau verwandelt. Man brach ein Fenster in den Fels und baute aus Bruchsteinen einen Kamin, der mit dem im großen Raum verbunden wurde. Ein Speicher wurde über das Ganze gesetzt, der einerseits die Vorräte aufnehmen und andererseits die Wohnräume darunter gegen die unmittelbare Einwirkung der Kälte schützen sollte. Außerdem ließ Peyrac für die Getränke einen Keller in den Fels 405
sprengen und einen Schuppen als Unterkunft für die Pferde errichten. Das Tal hallte wider vom Dröhnen der Äxte gegen die Stämme, von Hammerschlägen, vom eintönigen, knirschenden Singsang der Säge und vom Poltern der Bretter und Balken, die man aufein anderstapelte. Schließlich kam der Augenblick, in dem man sich wieder zum Kampieren im Freien entschließen muß te, während das neue Dach errichtet wurde. Zum Glück hatte sich das Wetter wieder aufge klart. Die von den kanadischen Auguren vorausgesagte Aufheiterung war eingetroffen. Die Novembertage verstrichen in einer plötzlichen, wundersamen Trockenheit, einer köstlichen lauen Wärme. Nur die Nächte waren kalt, und zuweilen glitzerte des Morgens Rauhreif auf den Bergen. Schon am ersten Morgen hatte Angélique festge stellt, daß ihr Eindruck zutraf. Wapassou – der Name bedeutete »Silbersee« – war ein versteckter, abgele gener Ort, dessen Zugang schwierig genug war, um Neugierige vor dem Betreten zögern zu lassen. So war es zunächst das Dringlichste, die Überwinterung vor zubereiten. Abgesehen von Mais und dem Schwein, das man während des Sommers gemästet hatte, waren die Vorräte fast erschöpft, und die vier Bergleute hat ten sich schon zum Abstieg nach Katarunk vorberei tet, als die Karawane eingetroffen war. Katarunk exi stierte nicht mehr, und etwa dreißig Menschen, von den beiden Pferden abgesehen, mußten die nächsten 406
Monate am Silbersee überstehen. Man mußte bauen, jagen, fischen, Holz- und Nahrungsmittelvorräte zu sammentragen. Der Winter würde alles stehlen. Angélique stritt sich mit den Vögeln um die letzten roten Früchte der Eberesche und die schwarzen des Holunders. Mit ih nen würde sie Fieber, Bronchitis und rheumatische Schmerzen bekämpfen. Sie schickte Elvire und die Kinder zum Pflücken von allem, was sich noch an Eßbarem an Büschen, im Wald oder auf der Heide finden ließ: verschiedene Beerenarten, Heidelbeeren, Preiselbeeren, kleine, verkümmerte wilde Äpfel oder Birnen. Es schien wenig, wenn man die vielen Mägen in Betracht zog, die gesättigt werden wollten, aber der Wert der kümmerlichen Ernte war groß, denn eine kleine Dosis dieser getrockneten Früchte würde viel leicht schon genügen, sie gegen Ende des Winters vor dem Skorbut zu bewahren. Skorbut war die Krankheit der Seeleute, aber sie trat auch während der langen Überwinterungen in noch kaum bekannten Gebieten auf. Darum nannten ihn die Seeleute die Krankheit der Erde. Savary hatte Angélique während ihrer lan gen Reisen auf See gelehrt, der kleinsten Fruchtschale Wert beizumessen. Nun, hier gab es nichts derglei chen, und es würde lange dauern, bis wieder welche reiften. Doch die getrockneten Beeren würden heil sam sein. Danach sammelten die Kinder an feucht gebliebe nen Stellen Champignons, Haselnüsse, Eicheln für 407
das Schwein. Als die Maurer sich daranmachten, den zentralen Kamin auf vier Herdstellen zu erweitern und an der Rückwand des Hauptraums einen zwei ten zu errichten, beauftragte man die Kleinen, in der Moräne oberhalb des Sees geeignete Steinbrocken aufzulesen. Und als sich Scharen von Zugvögeln auf den Uferböschungen niederzulassen begannen, mußten sie das für die Pferde benötigte Gras gegen sie ver teidigen. Den ganzen Tag patschten sie mit großem Geschrei am Uferrand herum, um die Vögel zu ver scheuchen, und zwischendurch wühlten sie im Sand nach »pemacs«, einer Art in Trauben wachsender Süßkartoffel, die die Wildenten besonders schätzten. Madame Jonas hatte es übernommen, für die Küche zu sorgen. Jeden Tag kochte sie in ihren Kesseln Mais, Kürbispüree, Fleisch und Fische. Mit einer mächtigen hölzernen Schöpfkelle bewaffnet, rührte sie in drei über provisorischen Feuerstellen aufgehängten großen Töpfen. Um alle Welt pünktlich zu den Mahlzeiten um sich versammeln zu können, bat sie ihren Mann, ihr aus einem alten Pulverhorn eine Signaltrompete zu fabrizieren. Während der übrigen Zeit sah man sie unent wegt auf den Beinen, um den Zimmerleuten, den Holzfällern im Wald und den Arbeitern im Haus Branntwein oder Bier zu bringen. Ihre geröteten Wangen glänzten. Sie lachte und erklärte jedem, der es hören wollte, daß es schon immer ihr Traum gewe sen sei, die Kantinenwirtin zu spielen. 408
Der größte Teil des Fleisches und der Fische, die die Mannschaft der Jäger und Fischer heranschlepp te, zu der auch Florimond und Cantor gehörten, war zum Räuchern bestimmt. Man hatte Weidengeflechte aufgebaut, unter denen unablässig mit trockenen, duftenden Kräutern genährte Feuer brannten. Von Kouassi-Ba und Eloi Macollet unterstützt, hatte Angélique diese Aufgabe in die Hand genom men. Die Ärmel bis über die Ellbogen aufgekrempelt, verbrachte sie ihre Tage kniend im Gras zwischen Blutlachen und fortgeworfenen Eingeweiden aller Arten von Wild und schnitt die zuvor von dem alten Macollet fachkundig zerlegten und von den Knochen gelösten Fleischstücke in sehr dünne Scheiben. Kouassi-Ba legte die Scheiben auf die Geflechte über den Feuern. Die Bergwerksarbeit war wegen der Dringlichkeit der sonstigen Aufgaben fürs erste aufgesteckt worden, und der alte Neger wich keinen Augenblick von Angéliques Seite. Wie früher erzählte er ihr allerlei, beschwor die Vergangenheit, berichtete von seinen Abenteuern mit dem Grafen de Peyrac im Mittelmeer und im Sudan, von jenem Teil des Lebens ihres Gatten, den sie sich nur vorstellen konnte. »Er war nicht glücklich ohne dich, Médème«, sag te der alte Neger. »Die Arbeit, ja, das Schürfen, das Gold, die Reisen, die Geschäfte mit den Sultanen, die Wüste, alles das befriedigte seinen Geist. Aber mit den Frauen war’s zu Ende …« »Hm … ich glaube dir nicht.« »Doch! Doch! Glaub mir, Médème! Die Frauen 409
waren nur für den Körper. Aber fürs Herz … da war’s aus.« Sie hörte ihm zu, ihrem Freund Kouassi-Ba, wäh rend sie mit der erfahrenen Hand der Wirtin der »Roten Maske« zurechtschnitt, tranchierte, gelegent lich sogar die Knochen aus einem Schenkel oder einem Schulterstück löste oder Rippen mit einem präzisen Schlag des Hackmessers brach. Macollet beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Er hätte sie nur zu gern kritisiert, aber es gab einfach nichts zu sagen. »Nichts. Man möchte meinen, Ihr hättet Euer gan zes Leben in einem Wigwam verbracht.« Die Augen vom Rauch gereizt, die Hände vom Blut gerötet, ließ sich Angélique nicht von ihrer Arbeit ab halten. Jeder Stoß gut geräucherter Scheiben, der in einem der Körbe aus Rinde oder geflochtenem Gras aufeinandergestapelt wurde, war eine gewonnene Mahlzeit, jeder gefüllte Korb bedeutete einen Tag ge sicherten Weiterlebens … Erlegte Damhirsche, Wapitis, Rehe wurden über die Wiesen herangeschleift, und die geschliffenen Messer machten sich prompt ans Werk. Sogar ein Bär war dabei, den Florimond getötet hatte, indem er auf seinen Rücken sprang, ihm den Dolch in den Nacken stieß und sodann mit einem zweiten, weiter vorn angesetzten Stoß die Kopf schlagader durchschnitt. »Ich hab’ niemals davon gehört, daß ein Bär auf sol che Art erlegt worden wäre«, sagte Perrot. »Florimond 410
macht es eben nie wie die andern.« Es hatte den Jungen nur ein zerrissenes Wams und eine durch einen Tatzenschlag verursachte Schmarre auf der Brust gekostet. Auf diese noch glatte junge Brust legte Angélique eine erfrischende Kompresse, während Florimond ihr seine Heldentat in allen Einzelheiten schilderte und dabei einen gebratenen Truthahnflügel ver schlang. Sie betrachtete ihn mit Stolz und erinnerte sich verwundert, wie zart er als kleines Kerlchen ge wesen war. Das Bärenfett wurde für die Lampen geschmolzen und das Fell gegerbt, um es in eine zusätzliche Decke für den Winter zu verwandeln. Obwohl reichlich verspätet, nahte der Winter jetzt mit großen Schritten. Oft fuhr ein überraschend von irgendwoher kommender rauher Windstoß brausend über die Wipfel der Bäume, zerzauste sie und verweh te ihre letzten verfärbten Blätter. Anfangs purpurn, dann matt rosig, dann malvenfarben, war der Wald nun grau geworden. Die mit Kiefern und Tannen bestandenen runden Bergkuppen schienen wie mit dunkleren, braunvioletten Käppchen bedeckt, die den wellenförmigen Charakter der Appalachen noch un terstrichen. Der Atem des Waldes hatte den überhitz ten Wildtier- und Brombeerengeruch verloren. Die Pelztiere, Bären, Füchse und Murmeltiere, begannen sich in ihre Höhlen zurückzuziehen; es blieb ein Duft nach Champignons und Moos, nach toten Blättern 411
und Rinde, der schon an den Winter gemahnte. Mit jedem Abend ließen sich größere Schwärme von Zugvögeln, Enten und Gänse vor allem, auf den Seen und Teichen nieder. Zuweilen verdunkelten sie förmlich den Himmel. Sie zeigten sich von einer lärmenden Panik befallen wie Leute, die sich unter wegs verspätet haben und nun versuchen, die verlo rene Zeit wieder einzuholen. Man konnte sie nicht mehr von den Wiesen verjagen. Eines Tages mußte Angélique Honorine mit einem Knüppel gegen die Angriffe einer großen weiß-schwarz-grauen Meer gans verteidigen. Während sie das Tier am Hals zu Madame Jonas trug, die die nächste Mahlzeit damit bestreiten sollte, dach te sie an die wohltuenden Wirkungen des Gänsefetts auf die Winterkrankheiten, an die Umschläge für die Bronchien, die Salben für Verbrennungen und na türlich auch an die köstlichen Geflügelmahlzeiten, bei denen sie sich vom Pemmikan erholen könnten. Konnte man sich nicht wenigstens eines kleinen Teils des im Überfluß herumwimmelnden Wasserwilds bemächtigen? Wie ließ es sich frisch halten? … Sie überlegte. Bärenfett war reichlich vorhanden. Nach und nach reifte in ihr die Idee, jedes Tier in eine Fettschicht einzubetten, wie man in der Charente oder im Périgord Gänse einweckt. Joffrey fand den Plan durchführbar und bestätig te, daß das Fett das Geflügelfleisch vor unliebsamen, durch Berührung mit der Luft hervorgerufenen Veränderungen schützen würde. Als zusätzliche 412
Vorsichtsmaßnahme riet er, es zuvor leicht zu räu chern. Als Behälter wurden Harnblasen weiblicher Elentiere und Bären vorbereitet, die die Jäger ihrer Aufnahmefähigkeit wegen für solche Zwecke aufbe wahrten, und man errichtete zur Beschleunigung des Verfahrens eine Räucherhütte, in der Wacholderreisig aufgehäuft wurde. An jedem Abend zog nun eine mit Knütteln be waffnete Schar zum See hinunter, und die drei Frauen rupften und rupften, bis ihre Finger wund waren, nahmen die Tiere aus, schnitten ihnen Hälse und Pfoten ab. Die Kinder liefen mit den so vorbereiteten Vögeln zur Hütte und legten sie auf die Geflechte. Am nächsten Morgen wurden sie herausgenommen, in den kostbaren Harnblasen oder, wenn diese fehl ten, in Behältern aus Rinde, Holz oder Flechtwerk untergebracht und mit erhitztem Fett übergossen. Wenn überhaupt keine Behälter vorhanden waren, ging man soweit, sie in Säcke aus Hirschkuhfellen einzunähen. Infolge des unablässigen Schleppens von Wachol derzweigen waren die Finger der Kinder mit Rissen und Stichen bedeckt. Angélique wagte kaum noch, ihre Hände anzusehen. Geschwärzt, geschunden, verletzt, boten sie einen abscheulichen Anblick. Der zäh über dem Tal lagernde Geruch des Räu cherns und des heißen Fetts vermischte sich mit dem des frisch geschnittenen Holzes, und der Wind trieb ihn weit über die Ufer der Seen. Menschen arbeiteten dort … Die wenigen Indianer, 413
die noch über den Appalachenpfad zogen, witterten die ungewöhnlichen Gerüche und näherten sich dem Ort der Niederlassung. Es waren einsame Wanderer, einzelne Familien auf der Suche nach einem Teich, an dem sie auch während des Winters nach Bibern jagen konnten. Sie folgten dem Bergkamm über dem See, und bevor sie auf der anderen Seite verschwanden, spähten sie neugierig zwischen den schwärzlichen Draperien des Nadelholzwaldes zum Lager am Silbersee hinunter, das, halb verhüllt von den blauen Rauchschwaden der Räucherhütte, von klingenden Axtschlägen wi derhallte. Wollten die Weißen bleiben, wenn der Winter käme, fragten sie sich. Es waren ihrer zu viele. Sie wa ren verrückt! Sie würden sterben! Zudem hatten sie seltsame Tiere bei sich, die auf den Uferböschungen weideten. Weder Elche noch Büffel. Auch sie brauch ten Nahrung. Woher sollte sie im Winter kommen? Böser Ahnungen voll, zogen die Indianer eiligst weiter. Was sie hier gesehen hatten, kündete nichts Gutes … Endlich hatte jedermann das Gefühl, daß die Lebens mittelvorräte für den Winter reichen könnten. Nahm man den Glücksfall eines vorzeitigen Frühlings und die Hoffnung auf ein paar gute Stücke, die sich in den im Schnee aufgestellten Fallen fangen würden, hin zu, durfte man schon darauf vertrauen, die nächsten Monate unbeschadet zu überstehen. Eloi Macollet nickte befriedigt. 414
»Es sieht fast so aus, als ob wir uns nicht gegenseitig verspeisen müßten.« »Was erzählt Ihr da Entsetzliches?!« »Nun, es ist immerhin schon passiert, meine gute Dame.« Es klang nicht unbedingt nach Scherz. Angélique fühlte sich von einer plötzlichen Angst ergriffen. Sie schwankte zwischen einem euphori schen Zustand, den sie der stillen Schönheit dieses entlegenen Ortes verdankte, und einer natürlichen Furcht vor der Prüfung, die sie erwartete und für die sie sich noch immer zu wenig gerüstet fühlte. Würden diese Männer und die wenigen Frauen, zusammenge drängt auf engstem Raum, mit kaum ausreichenden Vorräten an Lebensmitteln, ohne Arzneien, in völli ger, bedrückender Isolierung, würden vor allem die Kinder, diese zarten, zerbrechlichen Wesen, den har ten Winter überstehen?
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Neununddreissigstes Kapitel
Joffrey hatte nichts gesagt, als er bemerkte, daß Angélique die harte Arbeit des Räucherns selbst in die Hand nahm. Sie vermutete, daß er sie heimlich beobachtete, und wollte sich der Aufgabe unbedingt gewachsen zeigen. »Bildet er sich etwa ein, ich sei zu nichts gut und würde mit verschränkten Armen danebenstehen?« Sie mußten ein Jahr gewinnen – das hatte er doch gesagt! Und sie half ihm dabei, half ihm, über das Schicksal zu triumphieren. Der Gedanke, für ihn zu arbeiten und auf diese Weise ihre früheren Sünden wiedergutzumachen, ließ ihre Augen glänzen, und die schlimmsten Arbeiten schienen ihr leicht. Es gibt Dinge, die allein die Zeit beweisen kann. Die Treue einer Liebe zum Beispiel. Sie würde es zuwege bringen, die Mauer des Mißtrauens niederzureißen, die Joffrey zuweilen zwischen ihnen errichtete. Sie würde ihm beweisen, daß er ihr alles bedeutete, daß sie nicht daran dachte, seine Freiheit einzuschränken, daß sie ihn nicht von den Aufgaben und Zielen, die er sich gesetzt hatte, abbringen wollte. Die Furcht, daß er eines Tages bedauern könnte, sie mitgenommen oder überhaupt gar wiederge funden zu haben, trieb ihr kalten Schweiß auf die Stirn. Es war die Zeit, in der die Zwangsläufigkeiten des Kampierens im Freien sie von neuem trennten. 416
Wie in den Wochen des Marsches drängten sich die Männer nach indianischer Art unter notdürftigen Rindendächern wärmesuchend aneinander, während für die Frauen und Kinder ein geräumiger Wigwam mit einem flink zusammengebastelten kleinen Kamin am einen Ende errichtet worden war. Der Unter schlupf hielt genügend warm, aber Angélique begann wieder zu träumen, daß sie von neuem allein sei und verzweifelt ihre verlorene Liebe suche oder daß er sie mit jenem unerbittlichen Blick von sich weise, den sie von der Gouldsboro her kannte. So schuftete sie wie eine Sklavin, und sobald ihr eine Viertelstunde Zeit blieb, lief sie mit den Kindern in den Wald, um Reisig zu sammeln. Es fehlte an trockenem Kleinholz, und sie wußte aus Erfahrung, daß an einem Wintermorgen nichts schlimmer ist, als kein Feuer anzünden zu können. Die Kuppen der höchsten Berge waren nun weiß überpudert, und der Atem des Windes war trocken und eisig. Aber das feurige Kleid der Lärchen tupfte die Landschaft noch mit seinem Leuchten. Fuchsrot und rosig, fedrige Flammen, anmutig-schlanke Garben, wiegten sie sich vor einem zinnfarbenen Himmel. Ihre flaumigen Nadeln flogen davon, und der Boden um ihre Stämme bedeckte sich mit einem ockergetönten, sandweichen Teppich. Angélique und die Kinder gingen lautlos über ihn dahin. Holz sammeln war schon immer eine Beschäfti gung gewesen, die Angélique gefallen hatte. Als sie 417
noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte die Tante Pulchérie im väterlichen Schloß oft gesagt, es sei die einzige Arbeit, die sie ohne Widerspruch überneh me. Sie konnte in Windeseile gewaltige Reisigbündel aufhäufen und nach Hause schleppen, ohne müde zu werden. Als Peyracs Leute sie zum erstenmal gleich einem wandelnden Wald zurückkehren sahen, wie eine alte Frau unter ihre Last gebeugt, die kleine Schar Kinder hinter sich, sperrten sie Mund und Nase auf und wußten nicht, was sie sagen sollten. Alle Arbeiten, die sie in Angriff nahm, erledigte sie mit so kundiger Tüchtigkeit, daß keiner von ih nen Einwände wagte. Aber sie redeten untereinander über sie, ohne sich eine rechte Meinung bilden zu können. Sie war eine Frau, die in ihrem Leben hart gearbeitet hatte, das sah man, die alles getan hatte und vor nichts zurückscheute, doch andererseits war sie auch eine große Dame, daran gewöhnt, bedient zu werden, Befehle zu erteilen, sich eine gute Zeit zu machen – man hatte es beim Festmahl in Katarunk feststellen können –, nur liebte sie es nicht, daß man die Notwendigkeiten durcheinanderbrachte. Und wenn einer der Männer in dieser Zeit drängendster Arbeiten zur Vorbereitung der Überwinterung in Wapassou sich erbot, ihr zu helfen, konnte es gesche hen, daß sie ihn ziemlich unverblümt abwies. »Laßt nur, mein Junge, Ihr habt Dringenderes zu tun. Wenn ich Euch brauche, werde ich Euch rufen.« Auch Joffrey beobachtete sie. Er hatte gesehen, wie sie sich mit gleichsam berufsmäßiger Kompetenz an 418
den Räucherfeuern betätigte, wie sie Damhirsche oder Wapitis aus ihren Decken löste, Knochen brach, Vögel ausnahm, rupfte, in stinkendes Fett versenkte und rußige Kessel vom Feuer nahm, all das mit einer wahrhaft erstaunlichen Geschicklichkeit ihrer klei nen, schmalen, rassigen Hände – und der Energie eines Lastenträgers. Mit einer Mischung aus Staunen und Achtung fand er sie überraschend kraftvoll, fähig, mit tausend Dingen vertraut, auf die sie ihre Erziehung und vor allem das luxuriöse Dasein, das sie an seiner Seite in Toulouse geführt hatte, nicht vorbereitet haben konn ten. Und in der zornigen Aufwallung, die ihn zuweilen um ein Haar dazu brachte, ihr das Schlächtermesser zu entreißen, mit dem sie so geschickt umzugehen wußte, oder den schweren Kessel, den sie mit ei nem einzigen Hüftschwung vom Haken hob, oder die Reisiglast, unter die sie sich beugte, spürte er die ganze Heftigkeit eines bösen bohrenden Schmerzes, den ihm die Erinnerung an die Jahre der Trennung verursachte. Denn das war die andere Frau, »die Unbekannte«, die, die ohne ihn zu leben gelernt hatte, auf die er da stieß, und er nahm es ihr fast übel, daß sie so stark, so ohne Fehl war und daß sie fern von ihm so viel gelernt hatte. Er erinnerte sich der Worte, die sie ihm eines Tages auf der Gouldsboro zugeschleudert hatte: »Und wie hättet Ihr gewünscht, mich wiederzufin den? Boshaft, dumm, unnütz? Eine Frau, die nichts 419
von dem Leben gelernt hatte, das sie bewältigen muß te?« Ja, er hatte wahrhaftig nicht mit dem wirklichen Wert ihrer Persönlichkeit gerechnet, mit dem, wozu sie sich entwickeln würde, wenn man sie sich selbst überließ. Und er gestand sich ein, daß er dieser ei nen wegen noch viel über die Frauen zu lernen hät te. Bewunderung und Eifersucht stritten in seinem Herzen. Angélique entging diese Schwäche in ihm nicht. Da sie sensibel und gewitzt war, begriff sie deren Ursache und verspürte fast Vergnügen dabei, denn er war so stark, so überlegen, daß sie es irgendwie beruhigte, ihn doch ein wenig verwundbar zu wissen. Darum warf sie ihm im Vorübergehen zuweilen einen Blick zu, in dem er sanfte Ironie, Zärtlichkeit, aber auch et was Undeutbares gewahrte, das ihm weh tat. »Sorgt Euch nicht«, sagte sie und schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich mag diese Arbeiten, und außerdem … habe ich schlimmere Sklavereien kennengelernt als die, Euch zuliebe trockenes Holz zu sammeln.« Und ihm schien es, als senke sich eine scharfe Klinge in sein Herz. Wie war es möglich, daß sie als einzige ihn leiden lassen konnte, ihn, den so Beherrschten, und das nur dadurch, daß sie sie selbst war? Beim besten Willen konnte er ihr nichts vorwerfen. In ihrer Haltung fand sich weder falsche Demut noch Herausforderung. Aber was sie besaß, hatte sie fern von ihm erworben, und eben das machte ihn rasend und erfüllte ihn mit einem brennenden Verlangen 420
nach Revanche. Mehr als je war er entschlossen, für sie alle Schwierigkeiten zu überwinden, und so glühend war sein Wille, das Schicksal zu bezwingen, daß er ihn den Seinen mitteilte, zusammen mit der Gewißheit, allem überlegen zu sein. In Wapassou herrschte die wimmelnde Geschäftig keit eines Ameisenhaufens. Er selbst beschäftigte sich mit allem, dirigierte die Zimmerleute und Maurer, beriet die Gerber und Tischler, und gar nicht selten griff er sogar zur langstieligen Axt der Holzfäller, um mit wenigen, präzisen Schlägen einen Baum zu fällen, wie um sich selbst der rebellischen Natur entgegen zuwerfen und sie im Zweikampf zu besiegen. Ohne daß sie miteinander sprachen, trug so auch diese Zeit der Arbeit dazu bei, sie einander zu ver binden: weil sie vieles vom andern erfuhren, weil sie sich nicht bekannten, weil sie manches vom andern ahnten. Peyrac witterte Angéliques Besorgnisse. Er hatte bemerkt, daß ein Übermaß an Müdigkeit ihre Zweifel weckte und dazu führte, daß sie alles schwarz sah. In solchen Augenblicken suchte sie die Vision Kains im Sturm heim. Wenn es nun zutraf, daß Gott gegen sie war! frag te sie sich. Wenn sie wirklich verdammt waren? Von vornherein verdammt, ganz gleich, wohin sie gingen, sie oder er? Wozu dann noch kämpfen? … Auch die Erinnerung an den haßvollen Blick eines ins Dickicht am Rande eines Sees sich duckenden Wesens lebte wieder auf. Wie ein vergifteter Pfeil hatte er sie an je 421
nem Tag getroffen, als sie badete … Diese Erinnerung ließ sie nicht los. Es konnte ihr geschehen, daß sie bei der Rückkehr aus dem Wald zwischen den letzten Bäumen stehenblieb, um die Umgebung lange und bohrend zu mustern. Bizarre Gerüste erhoben sich am Fuß der beiden Hügel zur Linken, aufgerichtete Bohlen und Räder, die sich wie Folterinstrumente, wie Gebilde eines Alptraums vor den gebeizten Hängen abzeichneten, in denen dunkle Löcher gähnten. Den Gipfel des einen krönte ein kleiner Wald, aus dem zu jeder Tages- und Nachtzeit wie aus einem Weihrauchfaß langgezoge ne, dünne Rauchfahnen aufstiegen. Angélique wußte, daß es die kuppelförmigen, mit Lehm abgedichteten Meiler waren, in denen die Bergleute aus Holunderund Birkenscheiten die für ihre Arbeiten notwendige Holzkohle gewannen. Das Wohnhaus, in das sie sich alle wie in eine Arche einschließen würden, wuchs am Ende der Halbinsel aus der Erde. Man sah schon sein Dach aus weißen Schindeln und die drei Schornsteine aus Bruchstein. Noch eine andere Sorge verfolgte Angélique. Trotz der guten Eigenschaften, die sie an ihnen allmählich schätzen gelernt hatte, blieben Peyracs Gefolgsleute rauhe, wenig umgängliche und alles in allem ziem lich beunruhigende Burschen. Was würde bei dem Durcheinander auf engstem Raum, den Gegensätzen der Charaktere, den Entbehrungen und dem Mangel an Frauen geschehen, wenn sie der Winter erst aufs Haus beschränkte? Mußte all das nicht zwangsläufig 422
eine unerträgliche Atmosphäre schaffen? Sie erinnerte sich, daß ihre bäuerlichen Anhänger während ihrer Kriegszüge im Poitou die gehaßt hat ten, die sie für ihre Liebhaber hielten: La Morinière oder der Baron du Croissec. Hier war die Situation ähnlich. Die Abneigung, die sie der Frau ihres Anführers entgegenbrachten, würde sich vielleicht in ein anderes Gefühl des Grolls verwandeln. Angélique wußte genau, daß Joffreys Reserviertheit ihr gegenüber, sobald andere anwesend waren, nur den Zweck verfolgte, keine Eifersucht bei diesen einsamen Männern zu wecken. Auch Madame Jonas machte sich darüber Gedanken und sorgte sich vor allem um Elvire, die als junge Frau ohne männlichen Schutz besonders gefährdet sein würde. Bisher hatten sich die Männer ihr gegenüber höflich verhalten, aber würde es dabei bleiben, wenn sie alle im Haus eingesperrt wären und unter Langeweile litten. Eines Abends nahm Joffrey Angéliques Arm und führte sie zum Ufer des Sees. Die sinkende Sonne schüttete ihre funkelnden Rubine über das ruhige Wasser, und die trockene Kälte war angenehm. »Ihr habt Sorgen, meine Schöne? Ich seh’s Euch an. Verratet mir, was Euch drückt.« Ein wenig verwirrt gestand sie ihm die Befürch tungen, die sie zuweilen bedrängten. Würden, so be gann sie, das Pech, das Verhängnis nicht stärker sein als ihr Mut? 423
Hunger, Kälte, Arbeit? Nein, das war es nicht, was sie fürchtete. Das Leben, das sie einst in Monteloup den ganzen Winter hindurch geführt hatten, unter schied sich kaum von dem, was sie hier erwartete. Die gleiche Isolierung, die gleiche Arbeit, und die ständige Bedrohung durch vagierende Banditen wie hier durch Indianer und Franzosen hatten das gleiche Klima von Unsicherheit und Wachsamkeit geschaffen. Nein, darum ging es nicht … Sie liebte Wapas sou … Er verstand, was sie nicht sagen wollte. »Ihr fürchtet Euch vor dem Fluch, der mich ver folgt? Aber es gibt keinen Fluch, meine Liebe. Es gibt nie einen Fluch. Es hat nur Uneinigkeit zwischen Menschen, die sich auf den Pfaden der Ignoranz ver spätet haben, und mir gegeben, dem Gott unbekannte Wege erhellt hat. Selbst wenn ich es mit Verfolgung bezahlen müßte, würde ich nicht bedauern, daß Er mir diese Gnade erwies. Was könnte dem Schöpfer daran mißfallen, daß ich hierherkam, um den Wert dieses Landes zu steigern? Nein. Seid also nicht aber gläubisch und mißtrauisch gegen Gott. Darin allein läge das Übel.« Er zog das kleine goldene Kreuz aus seinem Wams, das er vom Hals des toten Abenakis gerissen hatte. »Schaut Euch das an … Was seht Ihr?« »Ein Kreuz«, sagte sie. »Mir fällt auf, daß es aus Gold ist … Weil ich viele solcher kleinen Schmuckstücke bei den Eingeborenen sah, Kreuze und andere Symbole, entschloß ich mich, 424
das Land zu erforschen. Die einzige Erklärung, die man mir dafür gab, daß nämlich gelegentlich an der Küste rastende Matrosen aus Saint-Malo sie den Uferbewohnern geschenkt hätten, befriedigte mich nicht. Unsere Bretonen sind nicht so großzügig. Ein Kreuz aus Kupfer hätte als Geschenk genügt. Also mußten sie an Ort und Stelle hergestellt worden sein, was bewies, daß es Gold und Silber in diesen Gegenden gab, in denen die an die Schätze der Inkas und Azteken gewöhnten gierigen Spanier nichts ge funden hatten. Sehr wenig sichtbares Gold wie etwa die Klümpchen, die man aus den Bächen wäscht, aber vielleicht viel unsichtbares Gold. Die Kreuze hatten recht. Ich habe es gefunden. Das Kreuz hat mich ge führt, wie Ihr seht. Wapassou ist die reichste dieser Minen, aber ich habe weitere überall in Maine. Da ich nun weiß, daß die Regierung Kanadas ein Auge auf mich hat, muß ich mich beeilen, die Früchte meines Suchens zu ernten … Ich hätte Euch gern mit mehr Bequemlichkeit in Katarunk einquartiert, indessen haben wir durch unseren Umzug hierher Zeit gewonnen. Wir müssen nur den Winter hinter uns bringen, und das wird hart sein. Hier ist unser einziger Feind die Natur. Aber aus ihr wird mir auch Macht zuwachsen. Früher hatte ich Vermögen ohne Macht. Um das Recht zum Leben zu haben, muß ich mir sie noch erwerben. In der Neuen Welt werde ich leichter dazu kommen als in der Alten.« Während er, fest seinen Arm um sie legend, lang sam am Ufer entlangschritt, fuhr er fort: 425
»Wir sind hier alle Galgenvögel, und deshalb wer den wir überleben. Ich habe meine Leute ausgewählt, weil ich wußte, daß sie den Wert der Geduld ken nen, Gefängnis, Galeere, Gefangenschaft, niedrigste Verkommenheit in Gemeinschaft mit dem schlimm sten Bodensatz der Menschheit, das ist die wahre Schule der Geduld. Endlose Schneetage mit oftmals leerem Magen? Sie alle können sie aushalten. Sie ha ben mehr ausgehalten als das … Kälte, Hunger, enges Aufeinanderkleben? Was bedeutet das schon für sie? Sie haben Schlimmeres erlebt … Ihr fürchtet viel leicht, daß die Kinder es nicht aushalten? Aber wenn man das Notwendige für sie reserviert und sie sich von Liebe umgeben fühlen, werden sie nicht leiden. Kinder haben außerordentliche Widerstandskraft, wenn ihr Herz erfüllt ist. Ich vertraue auch Euren Freunden Jonas. Auch sie kennen die Geduld. Sie haben jahrelang auf die Rückkehr ihrer Söhne gewartet. Eines Tages begriffen sie, daß sie sie nicht wiedersehen würden. Und sie haben es überlebt. Elvire? Ich willigte ein, sie mitzu nehmen, weil sie mich darum anflehte. Ich weiß, wa rum. Sie konnte ihre Gefährten aus La Rochelle nicht mehr ertragen, die den Tod ihres Mannes verschuldet hatten, weil sie ihn in eine Rebellion hineinzogen, die ich brechen mußte, wobei er umkam. Sie wird sich besser bei uns als in Gouldsboro erholen. Übrigens glaube ich, daß ein ähnliches Gefühl Madame und Monsieur Jonas bewogen hat, die Küste zu verlassen und uns zu begleiten. Ich habe ihren Wunsch gern er 426
füllt. Ich erhoffte für Euch Gefährten, mit denen Ihr über Eure Sorgen reden könnt. Und Elvires Kinder sollten Spielkameraden für Honorine abgeben, damit sie sich weniger einsam fühlt, da ich Euch nun für mich beschlagnahme.« »Ich danke Euch, daß Ihr an all das gedacht habt, aber mir wird allmählich klar, daß die Kinder und mehr noch die Frauen für Euch zur Quelle von aller lei Hemmnissen und Schwierigkeiten werden müs sen.« »Es könnte im Gegenteil eine Quelle von mancher lei Vorteilen und Annehmlichkeiten sein«, erwiderte Joffrey heiter. »Die Gegenwart von Frauen übt auf den männlichen Geist einen höchst bekömmlichen Einfluß aus. Bei euch, Mesdames, liegt es, es uns zu beweisen.« »Ihr fürchtet also nichts?« »Ich liebe das Wagnis.« »Aber glaubt Ihr nicht, daß diese Männer ohne Frauen auf die Dauer neidisch auf Euch werden, den ich begleite, oder lüstern auf Elvire, die jung und hübsch ist, und daß es deswegen zu Konflikten und Streitigkeiten unter ihnen kommen könnte? Elvire graut es schon jetzt bei dem Gedanken an die Galanterien, denen sie ausgesetzt sein wird, so bald wir erst alle für lange Monate in dieser kleinen Niederlassung eingeschlossen sein werden.« »Hat sie sich schon über jemand zu beklagen ge habt?« »Ich glaube nicht.« 427
»Dann bestellt ihr von mir, daß sie nichts zu fürch ten braucht. Meine Männer sind gewarnt. Hängen ist die geringste der Strafen, die sie riskieren, falls sie es gegenüber einer der Frauen hier an Respekt fehlen lassen sollten.« »Das würdet Ihr tun?« rief Angélique und warf ihm einen entsetzten Blick zu. »Gewiß! Habe ich auf dem Schiff gezögert, den Mauren Abdullah zu hängen, der Bertille Mercelot vergewaltigen wollte? Und dennoch ist er mir ein treuer Diener gewesen, dessen Ergebenheit ich heute oft genug vermisse. Doch die Disziplin geht allem an deren vor. Meine Leute wissen es. Wir sind hier noch immer auf einem Schiff, meine Teure. Auch unter wegs waren wir noch auf einem Schiff. Was besagen will, daß ich allein Herr an Bord bleibe. Mit allen Rechten. Dem über Leben und Tod meiner Männer, dem zu belohnen oder zu bestrafen und schließlich auch dem, mein Leben nach meinem Belieben zu gestalten und als Gattin sogar die schönste Frau der Welt zu haben.« Er umarmte sie lachend. »Fürchtet nichts, meine kleine Mutter Oberin! Die Frauen machen sich zuweilen falsche Vorstellungen von der wirklichen Natur des Mannes. Ihr habt zu lange unter lasterhaften Müßiggängern mit ver trockneten Herzen, unter Impotenten gelebt, die in ständigen sexuellen Abenteuern ein Heilmittel für ihre Unfähigkeit suchen, oder unter Tieren, die nur die Befriedigung ihrer Instinkte im Kopf haben. Die 428
Leute des Meers sind von anderem Schlag. Wenn sie Frauen nicht entbehren könnten, würden sie nicht an Bord gehen. Statt Leidenschaft und Wollust reizt sie das Abenteuer, die Fata Morgana des Glücks, der Entdeckung, träumen sie von den vielfältigen Möglichkeiten, sie zu erreichen … Manchen, müßt Ihr wissen, kann eine geliebte Aufgabe Sinne und Herz ausfüllen. Die Frau ist nur ein überschüssiges Mehr, gewiß recht angenehm, aber nicht bestim mend für ihre Existenz. Und vergeßt auch nicht, was uns bindet, meine Liebe. Wir sind alle dem Galgen entsprungen, selbst die von den Jesuiten und dem König von Frankreich zur Schande verurteilten Hugenotten … Was die andern betrifft? Nun, jedem sein Geheimnis … Auch im Gefängnis lernt man, die Frauen zu entbehren. Die Liebe zur Freiheit ersetzt zuweilen alle anderen Lieben. Es ist eine viel stärkere, viel glühendere Leidenschaft, als man glaubt … Sie erfüllt das ganze Wesen … Sie adelt immer …« Angélique hörte ihm zu, gerührt, daß dieser Mann, dem der Spott so leicht über die Lippen ging, so ernsthaft zu ihr sprach, um ihr Herz und ihren Geist gegen die kommende Prüfung zu festigen, und daß er ihr einen neuen Aspekt seines Lebens zeigte, der die Frucht seiner Leiden und Grübeleien war. Die Nacht hüllte sie nun ein, hart und klar, wenn auch mondlos. Am westlichen Himmel verharrte ein schwaches Leuchten. Das Firmament schien mit Sternen übersät. So winzig dort oben, tupften sie ins erschauernde Wasser des Sees zitternde Reflexe, die 429
wie Perlenketten wirkten. Angélique schüttelte demütig den Kopf. »Auch ich bin gefangen gewesen«, murmelte sie, »aber mir scheint, daß ich keinen Schimmer von Geduld gelernt habe, wie Ihr sagt. Im Gegenteil, ich bebe unaufhörlich – ich ertrage keinen Zwang mehr. Und was Eure Liebe betrifft, die ich entbehren soll …« Joffrey brach in Gelächter aus. »Ihr! Ihr unterscheidet Euch von allen, meine Liebste! Ihr seid von anderer Art. Eine lebendige Quelle, die kraftvoll entspringt, um die Erde zu er frischen und zu entzücken … Geduld, meine Quelle, eines Tages werdet Ihr durch ruhige Täler plätschern und sie mit Eurem Charme und Eurer Schönheit be zaubern … Geduld, ich werde Euren Übermut bän digen, ich werde eifersüchtig über Euch wachen, aus Angst, daß Ihr Euch verirrt … Ich fange an, Euch ken nenzulernen. Man darf Euch nicht lange allein lassen. Wegen dieser wenigen Tage der Trennung schon, des fern von mir Schlafens, phantasiert Ihr bereits. Aber das Dach des Hauses ist vollendet, und ich habe die Tischler gedrängt, ein großes und schönes Bett für unser beider Ruhe zusammenzuzimmern. Bald wer de ich Euch wieder in meine Arme nehmen, und alles wird bessergehen, nicht wahr?«
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Vierzigstes Kapitel
Dieses Bett! Angélique betrachtete es fast mit Angst, als sie am ersten Abend mit Joffrey den höhlenartigen Raum mit der niedrigen Decke betrat, der von nun an ihre Schlafkammer sein sollte. Das Bett schien ihn ganz auszufüllen. Es war riesig und solide aus grob zugehauenen dunklen Nußholzbrettern gezimmert und bot trotz seiner derben Machart einen wahrhaft königlichen Anblick. Mit Pelzwerk bedeckt, war es das Lager eines Wikingerfürsten. Das noch frische Holz strömte einen herben, aro matischen Duft aus. Es bewahrte in seinen dunklen Flächen noch die Spuren der Zurichtung durch Säge und Beil. Vor diesem Möbel, das noch die Poesie und der würzige Ruch des Waldes umgab, diesem Bett, das von wohltuender Ruhe und Liebesnächten sprach, fühlte sich Angélique verwirrt und aus der Fassung gebracht … Eine neue Phase ihres Lebens öffnete sich vor ihr. Die, von der sie so oft geträumt hatte. Doch in dem Augenblick, in dem sie sie betreten sollte, wich sie zurück, zur Flucht bereit wie eine scheue Hirschkuh. Dieses Dasein, das nun begann, würde sie Tag für Tag, Nacht für Nacht an der Seite ihres Gatten verbringen müssen, weil sie seine Frau war – und sie war es nicht mehr gewohnt. Sie hat te selten in der Liebe Ruhepunkte gefunden, und selbst in der letzten Zeit, in den knapp drei Monaten, 431
seitdem er sie auf der Gouldsboro von neuem erobert hatte, war ihre bewegte, rastlose Existenz kaum dazu geeignet gewesen, ihnen mehr als flüchtige Momente der Liebe zu bieten. Damals in Toulouse hatten sie zwar zuweilen Seite an Seite geschlafen, aber nichtsdestoweniger hatten sie ihre getrennten Appartements gehabt, in denen sie je nach Stimmung allein sein oder den andern emp fangen konnten. Hier würde es nur diese kleine Kammer geben, dieses Lager aus Moos und Flechten, eine einzige Zuflucht für beide, in der ihre Körper sich nebenein ander ausstrecken würden, vereint in der Liebe oder im Schlaf, Abend für Abend, Nacht für Nacht. Für alle beide war es neu! Angélique wurde sich bewußt, daß sie zum er stenmal ein wirkliches Eheleben führen würde, und Joffrey, der sich vor dem Feuer gemächlich das Wams auszog und sie dabei aus den Augenwinkeln lächelnd beobachtete, konnte ihre Bedrängnis von ihrem Gesicht ablesen. Er, der Pirat der Meere, der Grandseigneur und Herr über orientalische Paläste, der noch unsteter war als sie und seine Vergnügungen nach den Zufällen sei ner Launen und Reichtümer wählte, er hatte gewollt, daß es so sei: allein mit ihr in dieser einen Kammer, in diesem einen Bett. Es war das eifersüchtige Verlangen nach ihrer Gegenwart, der Wunsch, sich seiner Beute zu versichern, ihr keinen Ausweg mehr zu lassen, der ihn trieb. 432
Als erfahrener Mann, der sich viel mit der mensch lichen Natur beschäftigt hatte, war er sich mehr als Angélique der Zerbrechlichkeit dessen bewußt, was sie verband: eine vor langem geschlossene Ehe, ein Gefühl, das sich von Erinnerungen nährte, und zwi schen ihnen ein umfassender Abgrund fast eines gan zen, getrennt voneinander gelebten Daseins. War die körperliche Anziehungskraft nicht al les in allem die sicherste Bindung, die sie aus der Katastrophe von einst in die Gegenwart hinüberge rettet hatten? Auf diese Aschenglut mußte er blasen, und ungeduldig hatte er auf den Moment gewartet, in dem sie ihm ganz gehören würde und er diesen Besitz und die damit verbundenen Rechte durch ihr Zusammenwohnen vor aller Augen dokumentieren konnte. Wenn er sie wiedergewinnen wollte, mußte er sie bei sich halten, so eng wie möglich mit ihm verbunden. Aber er ahnte ein wenig die komplexen Gefühle, die Angélique bewegten. Er trat zu ihr und zitierte ihr die Verse Homers: »›Warum dieses Mißtrauen, Weib? … Sicher ha ben die Götter es nicht gewollt, daß wir zusammen die Tage der Jugend kennenlernten, doch nicht, daß wir nicht über die Schwelle des Alters träten … Wir können uns noch kennenlernen … Glaubst du, ich wüßte um das Geheimnis des Bettes nicht, das ich mit meinen Händen baute? Nur wir teilen es, du und ich, die wir in ihm zusammen schliefen …‹ So sprach Odysseus, als er die weißarmige Penelope nach einer langen Reise wiederfand.« 433
Joffrey beugte sich über Angélique. Der Schein der Flammen spielte über die gebräunte Haut seines nackten Oberkörpers. Er umschlang sie kraftvoll, und während seine Lippen zärtlich ihre störrische Stirn streiften, mur melte er ihr ganz leise beruhigende Worte zu wie in den ersten Zeiten ihrer Liebe …
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Einundvierzigstes Kapitel
Für die Dauer des Spätherbstes schien die rauhe ame rikanische Erde einen Pakt mit den kühnen Bewoh nern Wapassous geschlossen zu haben. Sie, die alles geopfert hatten, sollten einen rettenden Aufschub erhalten. Als der Winter kam, waren sie bereit. Der Schnee begann zu fallen. Er fiel ohne Unterbrechung während mehrerer Tage. Die Welt versank hinter dicken weißen Vor hängen. Bäume, Erde und Himmel verschwanden. Es gab nur noch eine Wirklichkeit: den lautlosen Schnee, sein träges, sintflutartiges Fallen, das kein Windhauch störte. Schicht um Schicht bedeckte er die schlummernde Erde. Die gefürchtete Zeit begann, in der für die im Haus Eingeschlossenen Wärme und Nahrung zu Richt punkten ihres Daseins werden sollten. Peyrac fügte einen, wie ihm schien, für Aufrecht erhaltung ihrer Existenz nicht weniger unerläßlichen Punkt hinzu: die Arbeit. Vom Hauptsaal führte ein gedeckter Gang zu den Werkstätten. Niemand würde unbeschäftigt sein, niemand würde Zeit haben, sich durch die weiße Umklammerung des Winters bedrängt zu fühlen: Es würde nur allzuviel Arbeit für jeden geben. Für die Frauen war es einfach. Nahrung und Wärme, das war ihre Parole. Man hatte ihnen ihre Pflichten nicht aufnötigen müssen; sie hatten sie 435
ohne viel Federlesens untereinander verteilt. Auch das war eine der Fähigkeiten Angéliques. Sie arbeitete ebenso hart wie die andern, ohne sich den Anschein zu geben, als nähme sie die Dinge in die Hand. Niemand fiel es auf, daß die Anregungen letzten Endes von ihr ausgingen. Obwohl den Tatsachen nach Herrin, nahm sie weder den Titel noch deren Vorrechte in Anspruch. Instinktiv wußte sie, daß die Stunde kommen würde. Was sich von selbst verstand, war das alles andere aus schließende Bemühen um das Wohlergehen der ihr anvertrauten Menschen. Und Joffrey fuhr fort, sie zu beobachten. Nahrung und Wärme, das Feuer im Kamin und die Küche. Und dann die Ordnung. Ohne Ordnung und Sauberkeit würde das Leben in diesem übervölker ten Fuchsbau bald unerträglich werden. Am frühen Morgen traten die Heidekrautbesen in Aktion. Zuvor hatte man die Glut unter der Asche angeblasen, Reisig und Scheite über die Feuerböcke gelegt, Kessel zum Kochen über die Herde gehängt. Die dem Winter abgewonnene Zeit hatte erhebliche Vergrößerungen möglich gemacht. Unmittelbar hin ter dem Eingang befand sich ein der Aufbewahrung schneebedeckter Kleidungsstücke und Stiefel be stimmter kleiner Raum. Man hängte sie dort zum Abtropfen auf und brachte sie erst später zum Trock nen in den großen Saal. Der Eckkamin im Hintergrund mit nur einer Feuerstelle nahe der Trennwand, hinter der sich die 436
Strohsäcke der Männer nebeneinander aufreihten, war besonders für diesen unbedingt notwendigen Trockenprozeß vorgesehen, bei dem sich allerlei unerfreuliche Dämpfe und Düfte ergaben. Deshalb versammelte man sich auch lieber um den mäch tigen Zentralkamin, über dessen Flammen Suppen und Ragouts brodelten. Er war nach dem Muster des Kamins in Katarunk errichtet worden, dessen Bequemlichkeit Angélique schätzen gelernt hatte. Auch dieser hatte vier Feuerstellen, zwei für den großen Saal, die andern beiden für die Kammer Angé liques und den weit größeren, durch eine Bretterwand unterteilten Raum, in dem das Ehepaar Jonas und, unter Elvires Aufsicht, die Kinder schliefen. Vom Saal gelangte man in Angéliques und Joffreys Kammer über vier Stufen und eine in halber Höhe an der felsigen Wand entlanglaufende Estrade, auf der Angélique die Näpfe, Kästen und Körbe aufstellte, die sie ständig für Küche und Mahlzeiten brauchte. Die dicke Eichentür ließ sich nur schwer in ihren Lederangeln drehen. Beim Eintreten mußte man den Kopf einziehen. Die Decke war niedrig ge blieben. Nur ein einziges, sehr kleines Fenster mit Pergamentvierecken statt Scheiben ließ trübes Licht herein. Ansonsten waren die Wände aus behauener schwarzer Eiche, Balken dicht neben Balken gefügt, so daß sich ein massiver, geschlossener Eindruck er gab. Die Feuerstelle befand sich in der Seitenwand. Daneben führte eine Tür in ein für Dampfbäder hergerichtetes Kabuff, in dem Angélique erholsam 437
ste Momente der Entspannung erlebte und ihre Leidenschaft für warmes Wasser befriedigen konnte. Am Hof der Wunder hatte man sie ihr häufig vorge worfen, ohne daß sie deswegen von ihr geheilt wor den wäre. Angélique liebte diese halb in den Felsen einge lassene, halb von den das Schindeldach streifenden Tannenzweigen beschattete Höhle sofort. Hinter dem großen Saal gab es noch eine Art Keller unter dem Fels, der als Speicher und Vorratskammer diente. Man braute dort Bier, fabrizierte Seife und be sorgte die Wäsche. Das Schwein, Liebling des Hauses, grunzte dort und empfing die Besuche derer, die ihm die Reste der Mahlzeiten brachten und darüber wach ten, daß es fett blieb. Und dann war da der gedeckte Gang, der zu dem mysteriösen Ort der Werk- und Schürfstätten führte. Längs dieses Ganges verliefen Bleirohre, die das von den Schmelzöfen der Mine erwärmte Wasser zum großen Saal beförderten – eine kostbare Annehmlichkeit für die Hausfrauen. Zuweilen rief Angélique: »Schaut doch einmal nach, ob Eloi Macollet noch lebt!« Denn der alte Kanadier hatte sich um keinen Preis mit den andern ins Haus verkriechen wollen, sondern hauste wie ein alter Bär draußen im Hof in einem mit eigenen Händen errichteten und mit einer kleinen Feuerstelle versehenen Rindenwigwam. Erst durch seine Weigerung, das allgemeine Dasein zu teilen, war ihnen so recht klargeworden, daß der alte Waldläufer 438
nicht zu ihnen gehörte, daß er, vom Mont Katahdin durch ein Gewirr von Wasserwegen zum Kennebec gelangt, eines Abends in Katarunk haltgemacht hatte, wo eben die kanadische Expeditionstruppe kampierte und Peyrac eingetroffen war. Warum war er bei ih nen geblieben? Niemand außer ihm hätte es zu sagen vermocht, und der Alte hatte einen Grund, den er so schnell nicht preiszugeben gedachte. Genaugenom men war es Angéliques wegen. Macollet neigte von seinem Wesen her zur Opposition. Nun hatten ihm seine Landsleute in Québec erzählt, daß diese Frau so gut wie sicher die Dämonin Akadiens sei, und er erinnerte sich, daß seine Schwiegertochter in Levis an diese Dämonin glaubte, die Unheil über Akadien bringen sollte. Mußte es ihr nicht schlankweg die Haare zu Berge treiben, wenn sie erführe, daß er ei nen ganzen Winter lang bei der angeblichen Dämonin verbracht hatte? Außerdem hatte er weidlich darüber nachgedacht. Sein ganzes Leben lang war er durch die Wälder Amerikas gestreift und kannte sich gründlich aus, was Dämonen und Dämoninnen anbelangte. Nun, diese jedenfalls, von der man es behauptete, war keine. Er hätte seine Hand dafür ins Feuer gelegt. Sie war einfach anders als die anderen Frauen, schön und liebenswürdig, verstand zu lachen, tüchtig zu schmausen und bei Gelegenheit sogar ein bißchen betrunken zu sein. Er hatte sie beim Festmahl in Katarunk gleichzeitig so ungezwungen fröhlich und damenhaft gesehen, daß er die Erinnerung daran mit denen an die erfreulichsten Momente seines Lebens 439
bewahrte. Es war keine Schande, einer solchen Frau zu dienen, sagte er sich. Ganz abgesehen davon, daß diese Leute ihn brauchten, wenn sie mit heiler Haut davonkommen wollten. Sie hatten zu viele Feinde – also blieb Macollet bei ihnen. Sein starrköpfiges Bestehen auf dem Kampieren im Freien bereitete Angélique große Sorgen. Eines Tages würde man nicht bis zu seiner Hütte durchdringen können, und wenn er umkam, würde man nichts da von erfahren. Ihr zu Gefallen machten sich ein paar der Getreuesten zweimal täglich zu dem Alten auf, um nach seinem Befinden zu sehen und ihm warme Suppe zu bringen. Halb erstickt und hustend kehr ten sie aus dem verräucherten Wigwam zurück, in dem Macollet vor seinem Feuer hockte, friedlich sein Kalumet rauchte und seine Freiheit genoß.
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Zweiundvierzigstes Kapitel
Der Schnee fiel noch immer. »Ein wahres Glück, daß er uns nicht schon acht Tage früher erwischt hat«, sagte man. »Ein Glück? Ein Wunder, willst du sagen!« Die Katholiken hielten sich ans Wunder, die ande ren waren mehr fürs Glück. Beide Parteien sahen darin jedoch ein Zeichen des Himmels und führten es immer wieder als sicheren Beweis dafür an, daß sie das Abenteuer gut überste hen würden. »Jedenfalls ist es nicht immer und bei allen so gut abgegangen!« Abends am Feuer wurden frühere Fälle aufge wärmt. Nicht wenige Kolonisten hat’s gegeben, die bei der Überwinterung an den Küsten Amerikas umgekom men sind. Mehr noch durch Hunger und Krankheit als von den Wilden massakriert. Die Hälfte der Pilger von Plymouth unter anderen im ersten Winter nach ihrer Ausschiffung von der Mayflower in Neuengland im Jahr 1620. Die Mayflower ankerte vor der Küste, aber was konnte das Schiff schon tun, das wie ein Schwamm von salziger Feuchtigkeit durchtränkt war und ebensowenig frische Nahrung besaß wie sie, als zuzusehen, wie sie starben, und ihnen von den fernen Ufern Europas zu künden? Und von den Franzosen Monsieur de Monts’ und Monsieur Champlains – die 441
einen auf der Insel im Sainte-Croix-Fluß, die andern nicht weit von Gouldsboro entfernt – ist 1606 auch die Hälfte gestorben. Die Hälfte des ausgeschifften Kontingents, das ist die klassische Ziffer in allen Hungergeschichten. Manchmal mehr, niemals we niger … Man musterte einander verstohlen, während man sich fragte, wer von ihnen wohl im Frühjahr noch dasein würde. Und die Überwinterung Jacques Cartiers im Jahr 1535 im Saint-Charles-Fluß unterhalb Québecs? Zwei Segler. Man sieht sie förmlich, diese verlorenen Schiffe mit ihren Matrosen und ihren Kapitänen, de ren lange Bärte über die gefältelten Rundkragen frü herer Zeiten hängen. Sie haben sich zu weit auf dem Sankt Lorenz vorgewagt und, als der Winter kam, in dem kleinen Nebenfluß Zuflucht gesucht. Am Steilufer verankert, verwandeln sie sich in Festungen aus Eis, und in ihnen sterben die Männer einer nach dem anderen mit blutendem Zahnfleisch. Der wil de Häuptling von Stadacomé bringt ihnen einen Rindenabsud, und als sie ihn trinken, gesunden sie, und der Rest ist gerettet. Und die Demoiselle? Die Geschichte von der Demoiselle? … Sie war die Nichte des Sieur de Roberval, der 1590 nach Kanada kam. Ihr eifersüch tiger Onkel ließ sie mit ihrem Liebhaber, Raoul de Ferland, auf einer Insel im Sankt-Lorenz-Golf zu rück. Sie starben dort … von Wahnvorstellungen befallen. 442
Und die Geschichte der Gründung Jamestowns, wo sie sich gegenseitig verspeisten, und viele andere? Man findet kein Ende mehr, wenn man einmal an fängt, die Hungergeschichten Amerikas zu erzählen. Während sie ihnen lauschte, überdachte Angélique alles, was sie tun konnte, um die Gespenster des Hungers und des Skorbuts den Ihren fernzuhalten. Sie spürte ihr uraltes Grauen vor der »Krankheit der Erde«. Allzu viele Schiffbrüche und Überwinterungen in trostlosen, unbekannten Gegenden hatten zu ihrer Legende beigetragen. Jahrhundertelang grub man sich mit gesalzenem Speck und Zwieback sein eige nes Grab. Man wußte nicht, was von der feindseligen Vegetation, die einen umgab, eßbar war, und man hat te nichts gepflanzt. Hatte keine Zeit dazu gehabt! Und schließlich war es auch nicht Sache der Seeleute zu pflanzen. Die unbewegliche Erde schlummert stiefmütterlich unerbittlich und gleich gültig unter ihrem weißen Leichentuch ein, zieht sich zurück, verhärtet sich, stirbt. Sie geht davon, läßt sie zurück. Nichts regt sich mehr: kein Vogel, kein Tier, kein Blatt. Nur Steine, Holz, Schnee, nichts, was sich essen ließe. Und nach und nach schleicht sich die Krankheit der Erde in ihre Adern, nagt an ihrem Leben, entmutigt die Seele. Selbst die Luft, die man atmet, wird durch den eisigen Frost zum Feind: Man hustet, dann stirbt man … Und nun war die Reihe an den Leuten Peyracs, mit all dem fertig zu werden! 443
Die Niederlassung von Wapassou tief in der Wildnis, mehr als hundert Meilen von jedem bewohnten Ort entfernt, war purer Wahnwitz! Frauen unter diesen Männern, das war Tollkühnheit! Mehr als dreißig Menschen während der langen Zeit des totalen Todes der Natur ringsum am Leben zu erhalten würde nichtendende Mühsal fordern. Ihren Geist vor den Wahngebilden zu bewahren, die Abgeschlossenheit und die lautlose Drohung der grenzenlosen Weite vorgaukeln, das war so gut wie unmöglich! Aber wer Wüste sagt, sagt Oase. Wer von der großen, grausamen Weite spricht, sagt Zuflucht und Behaglichkeit. Wer Krankheit sagt, sagt Pflege und Genesung. Wer Furcht und Erschöpfung sagt, sagt Trost und Ruhe. Wer Einsamkeit sagt, sagt fürsorgliche Aufnahme. So hatte Angélique beschlossen, für alle, die unter ihrer Obhut waren, das Gegenteil von dem zu sein, was sie bedrohte. Sie wollte, daß die Männer, wenn sie abends von der Arbeit kamen, einen gedeckten Tisch und den großen Saal schon von appetitlichen Düften erfüllt vorfänden. Die Reihe der Näpfe auf dem langen Mitteltisch war das Versprechen, daß ihr Magen Befriedigung finden würde. Stets wartete ein Topf mit heißem Grog auf dem Kaminstein, um ihnen das Warten zu erleichtern. Sie ließen ihre durchfeuch teten Kleidungsstücke im Vorraum zurück, setzten sich vor den Kamin und wechselten ein paar Worte 444
mit den Damen, während sie die Vorbereitung der Mahlzeit verfolgten. Die härteste Entbehrung verdankten sie dem Tabak. Seine Rarität verlieh den wenigen Zügen, die man sich abends kurz vor oder nach der Mahlzeit gestatten konnte, besondere Bedeutung, und das Verlieren oder Zerbrechen einer Pfeife kam einem wahren Drama gleich. Angélique ließ neben dem Eingang eine Art Ständer anbringen, in dem jeder nach Gebrauch sein kostba res Stück deponierte und am nächsten Abend nach der Arbeit gleich einer Belohnung wiederfand. Es gab alle möglichen Sorten unter ihnen: kurze Stänker, langstielige Holländer, hölzerne, tönerne und sogar einige aus Stein. Eloi Macollet rauchte ein von zwei vergilbten alten Federn flankiertes Kamulet, das ihm die Maskutins vom Illinoissee geschenkt hatten, als er in seiner Jugend als erster Weißer zu ihnen gekom men war. Tagsüber arbeiteten die Männer in der Mine oder schippten draußen Schnee. Abends fanden sie sich im großen Saal zusammen, der Schlafsaal, Küche und Refektorium in einem geworden war. Die Lager bestanden aus Schilf und Tannenzweigen, über die Decken und Felle gebreitet waren. Für die Frauen und Kinder, die in der größeren Kammer schliefen, hatte man Betten gezimmert. Die schlan ken Stämme, aus denen sie bestanden, trugen noch ihre Rinde.
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Die Umstände, unter denen all diese Menschen die schwere Prüfung des Winters zu bestehen hat ten, zwangen Angélique, sich nach dem Sinn ihrer Gegenwart unter ihnen zu fragen, nach dem, was sie ihnen zutragen konnte. An unmerklichen Kleinigkeiten stellte sie fest, daß sie, ohne es vielleicht zu wissen oder es sich einzuge stehen, erfreut waren, sie vorzufinden, wenn sie von der Arbeit zurückkehrten und sich im großen Saal versammelten. Und nach und nach verzichtete sie darauf, die Abende in friedlichem Geplauder bei den Jonassen zu verbringen. Sie blieb bei den Männern. Sie setzte sich auf die kleine Estrade, putzte eine Wurzel, sortierte Kräuter, ordnete kleine Rinden töpfchen, in denen sie Salben aufbewahrte. Sie war da, ein wenig zurückgezogen, ein wenig erhöht auf ihrem Estradenplatz, ein wenig abwesend und dennoch bei ihnen. Sie mischte sich nicht in ihre Gespräche, aber es verging kein Abend, an dem sie nicht von ihnen hineingezogen wurde. »Frau Gräfin, was haltet Ihr, die Ihr soviel Verständnis habt, von dem, was Clovis da behaup tet?« »Um was handelt sich’s, meine Freunde?« »Nun, dieser Dummkopf will uns weismachen …« Man unterbreitete ihr das Dilemma, sammelte sich um sie, setzte sich familiär auf die Holzstufen. Während sie über alles und nichts mit ihnen plauder te, lernte sie sie allmählich besser kennen. Wenn in ei nem Winkel des Saals ein Streit ausbrach, brauchte sie 446
nur den Kopf zu heben und einen Blick hinüberzu werfen, und schon senkten sich wieder die Stimmen. Sie ermunterte auch Madame Jonas und Elvire, in den großen Saal zu kommen. Sie verstand es, ihnen begreiflich zu machen, wie sehr ihre Gegenwart der Moral der Männer nützte. Madame Jonas behandelte einen wie den ande ren wie kleine Jungen, so daß sie sich fast schon ein wenig verlassen fühlten, wenn sie nicht da war. Sie mochten ihr rundes, wohlwollendes Gesicht und ihr behagliches Lachen. Sie lachte über alles, was sie vor brachten, mit der Bewunderung einer Mutter für ihre zahlreiche Nachkommenschaft. Es feuerte sie an und erheiterte sie, ohne daß sie sich deswegen versucht gefühlt hätten, die Grenzen des Anstands oder der guten Laune zu überschreiten. Natürlich mußte die schüchterne, sanfte Elvire häufig als Ziel ihrer brüderlichen Neckereien her halten. Man scherzte über ihre gesenkten Augen und ihre erschrockene Miene, wenn irgendwo Stimmen laut wurden und ein Streit sich erhob, aber ihre fixe, freundliche Art, überall zuzugreifen, wo es not tat, flößte Respekt ein. Als Bäckersfrau in La Rochelle hatte auch sie mit allen möglichen Leuten umzu gehen gelernt, und so verstand man sich schließlich recht gut. Nach der abendlichen Mahlzeit richteten sich die Frauen also vor dem Eckkamin ein, während die Männer den großen in der Mitte bevorzugten. Die Kinder mischten sich mal unter diese, mal unter jene Gruppe, verlangten eine Geschichte zu hören, 447
lauschten mit großen Augen, bestaunten alles, was man ihnen erzählte, und trugen dazu bei, die fami liäre Atmosphäre zu schaffen, in der die Herzen der Männer Ruhe finden. Die Kinder waren glücklich in Wapassou. Sie hatten alles, was sie dazu brauchten: Wärme, Zerstreuung, die mütterlichen Knie, an die sie sich bei jeder Gelegenheit schmiegten, und Freunde in Hülle und Fülle, die sie verwöhnten, ihnen Spielzeug schnitzten und wundersame oder erschreckliche Geschichten erzählten. Und wenn sie sah, wie die drei kleinen Däumlinge ihre immer ein wenig schmuddeligen Gesichtchen vertrauensvoll zu der hohen, schützenden Gestalt Joffreys erhoben, der auf sie herunterlächelte, sagte sich Angélique: »Das Glück! Das ist das Glück!« Auch das Leben ihrer Söhne konnte sie in dieser neuen Intimität verfolgen, und sie entdeckte, daß sie erstaunlich unterrichtet waren und in ihrem Vater einen auf allen Gebieten beschlagenen, strengen Magister hatten. Den jungen Herren blieb keine Zeit, Maulaffen feilzuhalten und Streiche zu ma chen. Sie arbeiteten in der Mine, im Laboratorium, bedeckten Pergamente mit endlosen Berechnungen und zeichneten Karten. Florimond besaß die glei che Charakterveranlagung wie sein Vater: ganz auf sich selbst gestellt und begierig nach Wissen und Abenteuern. Cantor war anders, schwierig zu ver stehen, obgleich er jeder Belehrung, die ihm zuteil wurde, ebenso offen schien wie sein älterer Bruder. 448
Fast immer zusammen, diskutierten die beiden stun denlang in englischer Sprache und riefen schließ lich Angélique oder ihren Vater um Entscheidung an. Meist ging es um religiöse Fragen, die man in Harvard behandelt hatte und in denen sie verschiede ner Meinung waren, oder um gewagte philosophische Diskussionen. Oft hörte Angélique auch das Wort »Mississippi« wiederkehren – Florimond träumte von der Durchfahrt zum Chinesischen Meer, nach der die Seeleute seit der Entdeckung Amerikas suchten, und glaubte, daß der kürzlich von einem kanadischen Geographen und dem Jesuitenpater Marquette ent deckte große Fluß möglicherweise dorthin führte. Joffrey war nicht davon überzeugt, was Florimond reichlich zu schaffen machte.
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Dreiundvierzigstes Kapitel
Mit jedem Tag freute sich Angélique mehr über die Anwesenheit des Ehepaares Jonas. Das waren Leute, die sich nicht von den Reizen indianischen Lebens verführen lassen würden. Die Schmutzigkeit der Wilden hatte der braven hugenottischen Hausfrau Schauder über den Rücken gejagt. Sie gehörte einer Religion an, die ihren Töchtern früh beibringt, daß ihre Bereitschaft für den Schöpfer sich in einer blitz sauberen, sorgsam gebügelten Haube, einem peinlich ordentlich gemachten Bett und einem gut gedeckten Tisch manifestiert und daß Nachlässigkeit Sünde be deutet. Monsieur Jonas erwies sich gleichfalls als wert voll. Seine Gutmütigkeit, sein liebenswerter Charakter trugen zur Aufrechterhaltung des inne ren Gleichgewichts der kleinen Gemeinschaft nicht wenig bei. Er hatte eine Art, sich zurechtzusetzen und nachdrücklich »Hm! Hm!« zu murmeln, wenn ihm ein Gesprächsthema nicht gefiel, die auch den Kühnsten in seine Schranken verwies. Sonntags pflegte er die Protestanten um sich zu versammeln – außer seiner Familie waren es die drei Engländer – und ihnen aus der Bibel vorzulesen, auf französisch zwar, aber mit so feierlich getragener Stimme, daß selbst die Engländer, heimgesucht von dem diesem puritanischsten aller Kulte notwendigen Zustand religiöser Betäubung, ihm geduldig zuhör 450
ten. Nach und nach nahmen auch die Katholiken die Gewohnheit an, sich um diese sonntägliche Stunde um den Lesenden zusammenzufinden. Schließlich ist es dieselbe Bibel für alle, sagten sie sich, und es gibt schöne Geschichten in diesem Buch. Auch die Bergleute schätzten Monsieur Jonas, der als Verfertiger kleiner, komplizierter Instrumente, die sie für ihre Arbeit brauchten, nicht seinesgleichen hatte. Er hatte aus La Rochelle seine Uhrmacherlupe mitgebracht. Alle Welt war untröstlich, als der brave Mann Anfang Dezember an einer Schwellung des Zahnfleisches litt, die ihn zwang, das Bett zu hüten. Nachdem Angélique vergeblich Aufgüsse von Heilkräutern und Umschläge angewandt hatte, entschloß sie sich, zu nachhaltigeren Mitteln zu greifen. »Ich muß Euch den Zahnstumpf ausreißen, Mon sieur Jonas, wenn Euer Blut nicht vergiftet werden soll.« Nach ihren Anweisungen bastelte er selbst die Instrumente für sein Martyrium: eine kleine Zange und einen gegabelten Hebel von gleicher Größe. Angélique hatte noch nie eine solche Operation durchgeführt, aber sie hatte dem Großen Mathieu auf dem Pont-Neuf in Paris ein paarmal assistiert. Trotz seines Orchesters und seiner Jahrmarktsprahlereien war der volkstümliche Scharlatan ein geschickter Mann gewesen und hatte kranke Zähne mit einem besonderen Dreh gezogen. Er behauptete, daß eine 451
vor dem Eingriff in Branntwein getauchte Zange wohltuenden Einfluß haben könne und daß auch Wunden seltener eiterten, wenn man auf diese Weise verfuhr oder die Zange ins Feuer hielt. Um keine Vorsicht außer acht zu lassen, machte sie beides. Sie tauchte die Instrumente in Alkohol und hielt sie da nach in die Flammen. Der Auvergnate Clovis hielt den Kopf des Patien ten. Er half dem armen Uhrmacher häufig bei seiner Arbeit, und sie hatte ihn deshalb dazu angefordert, ganz abgesehen von seiner herkulischen Kraft. Nachdem Angélique das Zahnfleisch mit einem sehr konzentrierten Gewürznelkenabsud eingerieben hatte, um es unempfindlicher zu machen, setzte sie kühn Zange und Hebel an. Der Zahn kam ohne all zuviel Schmerzen. Meister Jonas konnte es nicht fassen. »Ihr habt wahrhaftig eine leichte Hand!« Ungläubig musterte er Angéliques scheinbar so zerbrechliche, schlanke Handgelenke, die dennoch stark genug waren, schwere Waffen zu halten, stör rische Pferde zu bändigen und gewichtige Lasten zu heben. Sie selbst fand sie ein wenig zu mager. Später, wenn sie erst Québec oder die Städte Neuenglands besuchen könnten, würde sie sich Armbänder kau fen. »Jetzt seid Ihr an der Reihe, Meister Clovis«, sagte sie und hielt dem Schmied die Zange vor die Nase. Bleich und höchst beeindruckt durch die Opera tion, der er eben beigewohnt hatte, machte sich der 452
Auvergnate eiligst davon. Von nun an wurde es allen zur Gewohnheit, sich um die Mittagsstunde von ihr verbinden oder be handeln zu lassen. Auf einem neben dem Eckkamin angebrachten schmalen Brett hielt Angélique alle da für notwendigen Dinge parat. Für ihre Arzneitränke und Mixturen hatte sie einen kleinen Kessel aufge trieben. Aus Yann Le Couénnecs geschickten Hän den stammte eine leichte Truhe aus Pappelholz, in der sie ihre Medikamente aufbewahrte. Man mußte für Unfälle und Fieberzustände, durch die sich tückischere Krankheiten ankündigten, gerü stet sein. Angélique war fest entschlossen, das Übel gleich bei der Wurzel zu packen. Zwar besaß sie das Nötigste, um einem simplen Katarrh entgegen zuwirken oder eine Wunde oder Verbrennung zu behandeln, aber wenn es sich um durch Erkältung verursachte Lungenverschleimung oder einen dank Vernachlässigung einer Schnittwunde vereiterten Arm handelte, würden sich die Hilfsmittel ihrer Apotheke als ungenügend erweisen. Infolgedessen sah man sich schon beim kleinsten Hustenanfall zu Tannenknospen und Wärmstein an den Füßen verur teilt, und es gab keine Wunde, die sie nicht sofort mit klarem Wasser reinigte und danach mit Branntwein desinfizierte. Der kleinste Kratzer wurde für sie zum Anlaß aufmerksamer Überwachung. Besonders argwöhnisch war sie den Zimperlingen und den »Harten« gegenüber. Denen, die ihre Wunden zu vertuschen suchten, um den Heimsuchungen der 453
Behandlung zu entgehen, und denen, die sich mit ih ren unsauberen Messern behalfen, um einen Splitter aus dem Fleisch zu bohren oder ein Nagelgeschwür aufzustechen. Sie erfuhren nur zu bald, daß ihren Augen nichts entging. »Meister Clovis, Euch ist vorhin ein Hammer auf den Fuß gefallen.« »Wer hat Euch das erzählt?« »Ich sehe, daß Ihr hinkt.« »Das ist nicht wahr. Und außerdem tut mir nichts weh.« »Möglich, aber zeigt mir Euren Fuß.« »Nie im Leben.« »Zeigt ihn mir, ich bitte Euch.« Ein bestimmter, kategorischer Ton stand ihr zu Gebote, dem sich auch der größte Dickschädel nicht entziehen konnte. Brummend zog der Schmied den Schuh aus: Ein bläulich angeschwollener Fuß mit zerquetschtem gro ßem Zeh kam zum Vorschein. Auf Angéliques Geheiß mußte er ihn in einen Absud aus Kastanienrinde tun ken, dann umwickelte sie den Fuß mit Birkenrinde und zwang den vergeblich protestierenden Auver gnaten, das kranke Bein auf einen Schemel zu legen, um ihm Erleichterung zu verschaffen. Man brachte ihr schnell den mit Angst untermisch ten Respekt entgegen, den man für die empfindet, die einem Leiden ersparen – oder gelegentlich auch ver ursachen können. Wenn man sich unter ihren Händen 454
befand, war es besser, sich zu fügen. Sie ließ sich we der erweichen noch von ihrem Vorhaben abbringen; es war vernünftiger, gleich klein beizugeben. Allmählich schwand so das anfängliche Mißtrauen gegen sie. Von einer so schönen Frau hatte man an nehmen müssen, daß es da »Geschichten geben« würde, aber die Dinge hatten eine völlig andere Wendung genommen, ohne daß man recht begriff, wieso. Sie behandelte alle Männer gleich, und wenn sie einem mit flinker Klinge einen Abszeß aufschnitt oder einen mit etwas Undefinierbarem getränkten Scharpiebausch in die Gurgel schob, fühlte man sich unwillkürlich wie ein kleiner Junge. Niemand hatte noch Lust, den Gecken zu spielen. Wenn sich der Graf de Peyrac nicht mit dem einen oder anderen seiner Vertrauten in seine Kammer zu rückzog, um dort ungestört durch das Stimmengewirr im großen Saal mit ihnen zu diskutieren, setzte er sich ans äußerste Ende des langen Tisches und brei tete Landkarten aus, über die sich auch Florimond, Cantor, Porguani und Kouassi-Ba beugten. Fragen und Antworten flogen von einer Gruppe zur andern. »Keiner von euch wird sterben«, sagte Peyrac. »Und wer sich’s trotzdem einfallen läßt, möge sich hüten! Er bekommt’s mit mir zu tun.« Die Männer brauchten einige Zeit, bevor sie über den Scherz lächeln konnten. Sie nahmen ihn sehr ernst. Die bloße Vorstellung, daß ihr Hauptmann in der anderen Welt Rechenschaft von ihnen fordern 455
könnte, würde gewiß manche daran hindern, ins Gras zu beißen. Zwischen Peyrac und seinen Leuten bestand eine undefinierbare Komplicenschaft, gab es unzerstör bare Bindungen, die im Wissen um das Geheimnis des andern wurzelten. Angélique war überzeugt, daß Joffrey das Leben und die Gedanken jedes einzelnen kannte. Sie waren durch vertrauliche Mitteilungen und Geständnisse an ihn gefesselt, die er niemals ver langt und dennoch als einziger erhalten hatte. Keine Engherzigkeit, keine »Frauengeschichten« würden diese Bindung je brechen können. Die Werkstatt, die Mine, das Laboratorium wa ren die Zentren des Lebens der Männer. Allerlei Geräusche und seltsame Gerüche drangen herüber, zuweilen auch Rauchschwaden … »Besser, man weiß nicht, was sie dort anstiften«, bemerkte Madame Jonas beeindruckt. Angélique war anderer Meinung: Sie suchte nach Vorwänden, um hin und wieder hinüberzugehen. Entweder brauchte sie einen Mörser, um Wurzeln zu zerdrücken, oder ein wenig Schwefel für eine Salbe ihrer Komposition. In einem ganz ähnlichen Dekor, zwischen Schmelzöfen, zerstampftem Gestein und knirschen den Mühlen, war sie allmählich in das Wesen des Mannes eingedrungen, den sie geheiratet hatte und lieben sollte. Sie drückte sich lautlos in einen Winkel und sah sich mit leidenschaftlichem Interesse um. Es war 456
die Kehrseite des Daseins der Männer, ihre eigene Welt, in der Kouassi-Ba wie einst glühende Kohlen in den Händen hielt. Clovis, der auvergnatische Gnom, schmückte sich im düsterroten, flackernden Schein der Flammen mit der schaurigen Erhabenheit höllischer Geister, und wenn der bleiche, stumme Engländer mit der Bewegung eines Offizianten schil lerndes Blei in die Sandform goß, wirkte er weniger erbärmlich und schien Mithandelnder in irgendei nem feierlichen antiken Drama zu sein. Aus allen Himmelsrichtungen gekommen, bil deten sie und die anderen eine wunderliche, durch das Vertrauen zu ihrem erwählten Anführer vereinte Gruppe. Sie hatte schon gespürt, daß bei manchen von ihnen eine Art Frauenhaß bestand. Andere wie Clovis fürchteten, ihres grobschlächtigen Benehmens wegen von ihnen verachtet zu werden, und statt sich um ein wenig gefälligere Formen zu bemühen, über trieben sie es noch. »Schließlich haben wir uns nicht ans Ende der Welt verkrochen, um uns auch hier noch der Marquisen wegen zu genieren!« In allen diesen Männern verbarg sich etwas Schreckliches. »Aber auch in mir«, sagte sich Angélique eines Morgens. »Unaussprechlich schändliche Dinge! Eine Vergangenheit, die mich ängstigt … Auch ich habe getötet! Auch ich bin geflohen …« Sie sah sich mit dem blutigen Dolch in der Hand über den grausigen Leichnam des großen Coesre ge beugt, des Königs der Gauner. Sie sah sich mit nackten, 457
kotigen Füßen, begleitet von Dieben, in den Straßen von Paris. Sie sah sich im Bett des Wachhauptmanns im Châtelet wie eine Prostituierte … Es war der Morgen, an dem der Zimmermann Jacques Vignot zu ihr gekommen war, um eine Handverletzung be handeln zu lassen. Der Mann, ein Pariser mit scharfer Zunge, fluchte mörderisch. Offenbar legte er es dar auf an, ihre Entrüstung zu wecken. Plötzlich gereizt, hatte sie ihn mit einem genau gezielten, den geheimsten Ausdrucksformen des Gassenjargons entlehnten Wort jäh zum Schweigen gebracht. Der Mund blieb ihm offenstehen. Es schien ihm, als könne er weder seinen Augen noch seinen Ohren trauen. Eine solche Redensart von so schönen, respektgebietenden Lippen zu hören … Was ihm, Tischler aus Paris und Seeräuber von Berufung, seit Jahren nicht mehr passiert war, passierte ihm nun: Er errötete. Und sie erblaßte all der Erinnerungen we gen, die sich in diesem Moment in ihr Bewußtsein drängten. So wechselten sie, sie bleich, er bis über die Ohren gerötet, den Blick der Gaunerzunft wie ein Erkennungszeichen. Dann erwischte Angélique wieder die Zügel. »Ihr seht, mein Junge«, sagte sie sehr ruhig, »wenn Ihr bei Eurer Sprache bleibt, werden wir alle anfan gen, Rotwelsch zu reden … Erinnert Euch von nun an, daß Ihr hier bei Monsieur de Peyrac und nicht beim großen Coesre in Dienst steht.« »Ja, Frau Gräfin«, erwiderte er demütig. Er nahm sich von Stund an in acht. Zuweilen ver 458
folgte er Angélique mit einem verdutzten Blick, be sann sich jedoch sehr schnell eines Besseren. Nein, es verlohnte nicht der Mühe, tiefer in dieses Rätsel ein zudringen. Sie war die Frau des Hauptmanns. Frau oder Geliebte, was tat’s? Wenn sie etwas zu vergessen hatte, war’s ihr gutes Recht. Wie auch das seine! Man hat nicht immer Lust, jemandem zu begegnen, der einen durch seine Redeweise oder sein Benehmen an die Vergangenheit erinnert … Zuweilen nannte sie ihn Monsieur Vignot, was ihm das Gefühl vermit telte, jemand zu sein. In diesen Augenblicken wurde ihm bewußt, daß er einmal ein ehrlicher Mensch gewesen war, und wenn er sich eines Tages zu einer Diebesbande gesellt hatte, dann nur, weil er Frau und Kinder vor dem Hunger hatte bewahren wollen. Es hatte sie nicht gehindert, ihn trotzdem auf die Galeeren zu schicken … Angélique sprach nicht mit Joffrey über die Schwie rigkeiten, die sich zwischen ihr und den Aufmuckern unter seinen Leuten ergaben. Es war ihre Sache, mit ihnen fertig zu werden. Aber wenn sie des Abends vor dem Schlafengehen in ihrer Kammer plauderten, geschah es immer häu figer, daß sie ihn nach seinen Männern fragte. Und nach und nach enthüllten sich ihr die Umrisse eines jeden, erfuhr sie von ihrem Leben, ihrer Kindheit. Auch sie zeigten sich ihr gegenüber offenherziger und vertrauten ihr dies oder jenes an, wenn sie bei ihr auf den Stufen der Estrade saßen. Was Männer anbelangte, hatte sie ein besonde 459
res, sicheres Gefühl. Dank ihrer Erfahrung wuß te sie, daß es zwischen einem Fürsten und einem Bauernlümmel keine allzu großen Unterschiede gab. Sie hatte die Einsamkeit eines Königs mit sanfter Hand zu mildern vermocht, hatte sich die Zuneigung alter Griesgrame wie Meister Bourgeauds und Savarys erobert und selbst gefährliche Banditen wie einen Philippe du Plessis kirre gemacht. Es war ihr hundertmal lieber, mit dem dumpfen Groll ei nes Clovis oder der Reizbarkeit des peruanischen Bergmanns als mit den heimtückischen, raffinier ten Verbrechern des Hofs von Versailles zu tun zu haben. Hier war alles klar, klar und einfach wie der Wald, das Fleisch, die Kälte oder die Maissuppe. Das Leben selbst, jeder menschliche Kontakt hatte einen urwüchsigen, belebenden Beigeschmack. Wenn sich irgendwo ein Zusammenstoß vorbereitete, schwelte er nicht lange im Unterirdischen. Angélique wachte darüber. Es war ihre Aufgabe, den Wunden Luft zu schaffen. Insgeheim amüsierte sie sich damit, sie in drei Kategorien einzuteilen: die »Unschuldigen«, die »Außenseiter« und die »Gefährlichen«.
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Vierundvierzigstes Kapitel
Die Unschuldigen nannte sie die, die freimütig und guten Willens waren. Besonders liebte sie den jungen Yann Le Couénnec und behandelte ihn wie einen Sohn. Er war fleißig und hilfsbereit und fand immer Zeit, für die Damen allerlei Kleinigkeiten aus Holz zu verfertigen, die ihnen die Arbeit erleichter ten: Wäscheklopfer, Bretter zum Waschen oder für Feingebäck oder zum Schneiden des Fleisches mit einer tiefen Rinne, in der das Blut ablaufen konnte, oder auch kleine Vierecke aus hartem Hickoryholz, auf denen man die Maismehlkuchen ans Feuer schob. Seitdem ihn der Winter aufs Haus beschränk te, schnitzte er Näpfe und Krüge und vergaß nie, sie mit kleinen Ornamenten, Girlanden oder Blümchen zu schmücken. Er schnitzelte auch an seltsam ver drehten Wurzeln herum, gab ihnen das Aussehen von Drachen und brachte Florimond und Cantor bei, mit dem Hohlmeißel umzugehen und selbst hübsche Dinge zustande zu bringen. Der Graf de Peyrac hatte ihn einst von Berbern ge kauft, die ihn als Sklaven auf einer ihrer Galeeren ver wandten. Als er zusammen mit dem marokkanischen Kapitän, der ihn nach Salé brachte, den Ruderraum besuchte, war ihm der Jüngling mit dem keltischen Blick sofort aufgefallen. Er spürte, daß er dem Tode nahe war, und hatte einen guten Preis für ihn bezahlt, trotz der unterwürfigen Proteste des arabischen Reïs’, 461
der erklärte, dem Vertrauten des großen Sultans von Marokko ohnehin nichts abschlagen zu können. Er hatte ihn pflegen lassen und wäre ihm auch behilf lich gewesen, wieder nach Frankreich zu gelangen, wenn ihn der junge Bretone nicht angefleht hätte, ihn in seinem Dienst zu behalten. Er träumte, sagte er, schon lange davon, nach Amerika auszuwandern und dort als Kolonist zu leben. Aus den tiefen Wäldern von Huelgoat im Armori kanischen Massiv stammend, hatte er das Metier des Zimmermanns wie auch die des Holzfällers, Köhlers und Holzschuhmachers erlernt. Er war mehr ein Mann des Waldes als des Meeres, und wenn er sich trotzdem eingeschifft hatte, dann deshalb, weil das Meer der natürliche Fluchtweg für einen Bretonen war, für den es keine Möglichkeit mehr gab, im Land zu bleiben. Der Grundherr hatte seinen Vater we gen Wilddieberei aufhängen lassen. Es war nur ein Hase gewesen, den der arme Teufel mit der Schlinge gefangen hatte, um seinen Kleinen die übliche Buchweizengrütze wenigstens zum Weihnachtsfest zu ersparen, aber das alte Gesetz der Leibeigenschaft hatte ihn nicht geschont. Er war aufgeknüpft wor den. Kaum erwachsen, hatte Yann den für die Verur teilung des Vaters verantwortlichen Waldhüter umge bracht. Er war dem Mann eines Abends unversehens an einer Wegbiegung unter dem grünen Gewölbe der Eichen und Kastanien begegnet, hatte ihn mit sei ner Axt niedergeschlagen und den Leichnam in eine 462
Schlucht geworfen, auf deren Grund ein Wildbach rauschte. Dann hatte er das Land verlassen. Er vergaß diese Geschichte oft, und wenn er sich ihrer erinner te, dann nur, um sich zu beglückwünschen, daß er es getan hatte. Heute war er kein Leibeigener mehr. Er war älter, als es sein munteres Jungengesicht vermu ten ließ. Er mußte etwa um die Dreißig sein. Gleichfalls unschuldig, also ein aufrechter, siche rer Freund in Angéliques Augen, war der Malteser Enrico Enzi. Er hatte etwas von einem Türken, einem Griechen und Venezianer, aber auch physiognomische Merkmale der westeuropäischen Völkermischung, die man in der Levante als Franken bezeichnet, und dazu den semitischen Grundzug, den die Bevölkerung Maltas ihrem phönizischen Ursprung verdankt. Von mittlerer, eher kleiner Gestalt, war er schön, fast bartlos, dunkelhäutig mit einem leichten olivgrünen Stich und kraftvoll-geschmeidig wie ein Raubfisch. Der Graf hatte ihn in Malta angeworben, als er kaum älter als fünfzehn gewesen war und neben der Jagd auf Korallen Brandkörper an den Flanken der Galeeren des Großtürken angebracht hatte. Der halbnackte Waisenjunge war ein leidenschaftlicher Verteidiger der Christenheit, dessen außerordent liche Geschicklichkeit und erstaunliche Fähigkeit, Zeitspannen unter Wasser zu bleiben, die von den er fahrensten maltesischen Tauchern als Rekord angese hen wurden, die Malteserritter nach Kräften ausnutz ten. Für sich allein hatte er dem Halbmond und der 463
Hohen Pforte mehr Schaden zugefügt als so mancher hochgerühmte Ordensangehörige. Und was erhielt er dafür? Die Gewißheit, ins Paradies zu kommen. Er empfand auch Vergnügen an diesen wahnwitzi gen Expeditionen in die grünen und kalten Tiefen des Meeres. Die Wut der beturbanten Muselmänner und die Bewunderung der anderen Taucher, seiner vom Salzwasser zerfressenen Brüder, reichten aus, ihn zu friedenzustellen. Doch wenn diese Existenz auch die Erbmasse des Kreuzritters in ihm befriedigte, dem er seine hellen Augen verdankte, wurde die andere Seite seines Wesens, die semitische und venezianische, all mählich der Sache doch überdrüssig. Wohin würde dieses elende Leben führen? Wann würde er reich? Wann würde er unter den Fluten einen Schatz ent decken, den er für sich behalten könnte? … Auch für ihn kam der maskierte Pirat, den man gerecht und unbesiegbar nannte, der Rescator, zur rechten Zeit. Eines Morgens fiel sein funkelnder Blick auf das im Schatten einer Mauer auf dem Kai von La Valetta sitzende Kind. »Bist du Enrico, der am weitesten, tiefsten und längsten schwimmt? Willst du zu mir an Bord kom men und zu meiner Tauchermannschaft gehören?« fragte der Rescator. Der Junge schüttelte störrisch den Kopf. »Ich will Malta und meine Freunde nicht verlas sen.« »Aber Malta wird dich verlassen, mein Kleiner. Es wird dich verlassen, wenn du krank und ihm nicht 464
mehr nützlich sein wirst. Ich werde dich nie verlas sen, wenn du mir gut gedient hast.« Der Junge richtete sich langsam auf. Er war klein und mager. Man hätte ihn allenfalls für dreizehn ge halten. Er hob den Kopf und musterte den Mann vor ihm. »Ich kenne Euch. Ihr seid der Rescator. Die, die Euch dienen, bereuen es nicht, ich weiß.« »So ist es. Heute bin ich nur deinetwegen gekom men, denn ich brauche dich.« Die Augen des jungen Maltesers weiteten sich in seinem ausgemergelten dunklen Gesicht. »Das ist nicht möglich. Niemals hat man mir das gesagt. Niemand hat mich je gebraucht.« Dann schrie er zornig: »Wenn ich zu Euch komme, dann nur unter der Bedingung, daß ich Euch jederzeit verlassen kann, wo Ihr auch seid, und Ihr müßt mir genug geben, daß ich nach Malta zurückkehren kann.« »Einverstanden. Ich nehme deine Bedingung an, denn ich brauche dich«, wiederholte Peyrac. »Ich kann nicht jemandes Sklave sein. Nur die Gefahr lockt mich.« »Du wirst mehr als genug davon haben.« »Ich bin gut katholisch. Werdet Ihr mich gegen die Galeeren des Glaubens kämpfen lassen?« »Nur wenn die Malteserritter mich angreifen, aber dazu besteht kein Anlaß, da ich Verträge mit ihnen abgeschlossen habe.« »Das ist gut!« 465
Enrico hatte ihn auf der Stelle und mit dem lei nenen Schurz um seine Hüften als einziger Habe aufs Schiff begleitet. In diesen zehn Jahren auf den Schiffen des Grafen de Peyrac war eine große Wandlung mit ihm vorgegangen. Zuzüglich zu sei nen Talenten als Minenleger und Schiffssaboteur hatte er sich eine unvergleichliche Fertigkeit im Messerschleudern und Schießen angeeignet, was ihn zu einem wertvollen Kämpfer beim Entern machte, einem flinken, gnadenlosen Dämon, der alles um sich herum niedermetzelte. Er hatte niemals nach Malta zurückkehren wollen. Als Joffrey de Peyrac das Mittelmeer verließ, hatte er Enrico ins Karibische Meer mitgenommen, und dank der von Enzi geführten Mannschaft maltesi scher Taucher war es ihm gelungen, die Schätze der von französischen Flibustieren versenkten spanischen Galeonen zu heben. Der junge Malteser war nun reich. Der Graf hatte ihm drei der schönsten der in den Wracks gefunde nen goldenen Vasen geschenkt, und außerdem bezog er regelmäßig sein Salär als Mannschaftsangehöriger und war mit einem Anteil an der gesamten Beute beteiligt. So war Peyrac überrascht gewesen, als sich der Fischmensch, der sich in den zehn Jahren seines Dienstes nicht weiter als hundert Schritt von der Küste hatte entfernen wollen, freiwillig dazu meldete, ihn ins Landesinnere zu begleiten. »Der Wald, die Berge und die Sümpfe werden dir nicht gefallen, Enrico. Du bist ein Sohn des Mittel 466
meers. Du wirst durch die Kälte leiden.« »Die Kälte«, sagte Enrico verächtlich, »wer kennt sie besser als ich? Wer niemals so tief wie ich im Ozean getaucht ist, weiß nicht, was Todeskälte bedeutet. Es gibt niemand, Monseigneur, der mehr an Kälte ge wöhnt ist als ich.« »Du wirst kaum noch Gelegenheit haben zu tau chen. Das Gold, das ich suchen werde, findet sich diesmal in der Erde, nicht im Meer.« »Was kümmert’s mich, wenn ich meinen Teil davon kriege!« erklärte er mit der freimütigen Dreistigkeit, zu der er sich als alter und geschätzter Freund seines Herrn zuweilen berechtigt fühlte. »Und außerdem«, fügte er lachend hinzu, »gibt’s da Seen, viele Seen, wie man mir gesagt hat. Ich könnte auch da tauchen und nach Fischen für Euch jagen.« Er trat näher heran und sagte gedämpft in maltesi schem Dialekt, den Peyrac verstand: »Es ist gut, daß ich dich begleite, dich, meinen Herrn und meinen Vater, denn wer wird dich vor den Gefahren warnen, die dir drohen, wenn ich nicht mit komme? Ich, der ich mit der Sirene und dem Albatros gekreuzt bin, sehe den unsichtbaren Pfeil, der in den Wäldern auf dich lauert. Wenn ich zu beten verstün de, würde ich am Ufer bleiben und für dich beten. Da es aber schlecht damit bestellt ist, weil ich mehr an den Teufel als an die Madonna glaube, kann ich nur eins für dich tun: dir folgen. Mein Messer wird immer locker genug sitzen, um dich zu verteidigen.« Peyrac lächelte, während er den zweifellos älter ge 467
wordenen, aber immer noch feurigen, kleinen brau nen Mann betrachtete, der ihn mit zurückgebogenem Kopf fixierte wie zehn Jahre zuvor auf dem sonnigen Kai von La Valetta. Er antwortete in der gleichen Mundart: »So sei es also. Komm, ich brauche dich.« Dennoch war er es gewesen, der sich von der ersten Begegnung auf der Gouldsboro an Angélique gegenüber am mißtrauischsten erwies und sie, Beschwörungen murmelnd, mit düsteren Blicken verfolgte. Er litt auch am stärksten unter Eifersucht, da er fürchtete, daß die Leidenschaft seines Herrn für diese Frau das strahlende Bild verdunkeln könnte, das er sich von ihm machte. Er hatte es bisher immer erlebt, daß der Einfluß der Frau die Männer korrumpierte, nur den Grafen hatte er sich keiner unterwerfen sehen. Mit dieser wurde alles anders. Beunruhigt beobachtete er sie, stets bereit, ihr alles, was sie sagte oder tat, zu verübeln. Auch um sie zu überwachen, hatte er in die Wälder mitkommen wollen. Und um die kleine Honorine zu beschützen, die ihm der Sizilianer, sein bei der Meuterei auf der Gouldsboro gefallener Freund, durch ein Zeichen ans Herz gelegt hatte. Angélique war während des langen Marsches dar auf gekommen, als sich Enrico bei jeder Etappe mit der Miene eines Märtyrers einstellte, der ein heim liches Gelübde erfüllt, um ihr und Honorine zu helfen, Wasser zu bringen und die vielerlei Launen des kleinen Mädchens zu befriedigen. Anfangs er staunt, da sie wußte, daß er sie nicht mochte, hatte 468
sie schließlich begriffen, und ihre Neigung für ihn war erwacht. Er seinerseits stellte fest, daß die beun ruhigende junge Frau den Hafen von La Valetta recht gut kannte, daß der Großmeister des Malteserordens sie empfangen hatte, daß sie sogar bis nach Kandia gekommen war und sich auch sonst nicht wenig im Mittelmeer herumgetrieben haben mußte. Er lern te den Zauber, den sie auf seinen Herrn auszuüben schien, besser verstehen und beugte sich vor dem, was sie aneinander band. Angélique wachte über seine zarte Gesundheit. Die Kälte verstärkte den grünlichen Stich seiner Haut. Die Trockenheit der Luft reizte seine an die Feuchtigkeit des Meerklimas gewöhnten Nasenschleimhäute. Er hustete häufig und blutete aus der Nase. Dieser in die Wälder geratene bewegliche Fisch mensch, der mit seinen fünfundzwanzig Jahren, seinen gebräunten, zerfurchten Zügen und dem undeutbaren Ausdruck seiner großen Augen älter schien, als er war, gehörte zweifellos zu den ge schicktesten und fleißigsten Mitgliedern der Bande. Wie jeder Seemann im Umgang mit Knoten und Tauen erfahren, flocht er Körbe, knüpfte Netze und warf sich unter der Anleitung Eloi Macollets auf die Verfertigung von Schneereifen. Es war dies seine abendliche Beschäftigung in Gemeinschaft mit dem Zimmermann Jacques Vignot und dem stummen Engländer. Jeder brauchte ein Paar zum Wechseln. Als ihnen die Schnur ausging, benutzten sie nach indiani schem Vorbild Tierdärme. Peyrac überließ Enrico in 469
der Werkstatt auch die chemischen Vorbereitungen. Schon als Kind hatten solcherlei Manipulationen den Malteser immer angezogen. La Valetta wurde häufig von arabischen Gelehrten aufgesucht, und die verlausten Bengels zogen sich an den hölzernen Fenstergittern hoch, um sie zwischen Retorten und Kolben in den Laboratorien zu beobachten, in de nen sie ihre unter Knall und Blitz explodierenden Gemische vorbereiteten. Enrico hatte mit dem Grafen zusammen mehrere Formeln für griechisches Feuer ausgearbeitet, von dessen Herstellungsgeheimnissen damals einiges bei ihm haftengeblieben war. Auch mit der Suche nach Rauchentwicklern zur Verschleierung von Artillerieabschüssen oder nach tränenreizenden Mitteln beschäftigte er sich in Wapassou. Seiner Meinung nach konnte es der von ihnen verwende te Schwefel nicht mit dem von der Insel Vulcano im Tyrrhenischen Meer aufnehmen. Obwohl ihre Experimente zu endlosen Hustenanfällen führten, ließen sie nicht von ihnen ab. Der, für den Angélique am meisten die Härten des Winters fürchtete, war der gute alte Kouassi-Ba. Er war der heidnische Gott der Kupellierung des Goldes, wenn er sein dunkles Gesicht über den Tiegel aus Knochenasche neigte, in dem das geschmolzene Metall schillerte. Er war erfüllt von den Geheimnis sen der Erde, sein Daseinszweck bestand in dieser magischen Arbeit, die ihn geprägt hatte, seitdem er als Kind zum erstenmal in die tiefen Schächte der 470
Goldsucher des Sudans hinabgestiegen war, sich mit Rücken und Fußsohlen an den Wänden abstützend. In seiner Heimat brachte man das Gold dem Teufel dar. Seine Hingabe an die Tiefen der Erde und das Gold verband sich eng mit der Ergebenheit, die er seinem Herrn entgegenbrachte. Ihm helfen, ihn retten, ihm dienen und über seine Söhne wachen – auch das ge hörte in seinen Augen zur Arbeit des Goldes. Er war ernst, kraftvoll, gemessen, kindlich und weise. Sein Wissen von den Metallen und ihrer Gewinnung war groß. Er hatte alles in Peyracs Schule gelernt und das Gelernte intuitiv mit seiner Erfahrung ver schmolzen. In Palermo und Salé hatten die berühm ten Doktoren und arabischen Gelehrten respektvoll zugehört, wenn er, der schwarze Sklave, von diesen Dingen zu ihnen sprach. Obwohl um Jahre jünger als der Graf, war sein krauses Haar völlig weiß, und tiefe Furchen durchzogen sein Gesicht, denn die Söhne Chams altern schneller als ihre weißen Brüder. Seine Gegenwart war für Angélique ein wahrer Trost. Wenn er sich am Kamin niederließ, spürte sie, daß ein guter und weiser Mann, ein außerge wöhnlicher Mensch sich zu ihnen gesellt hatte und den Leidenschaften der Zivilisierten ein Element ursprünglicher, antiker Einfachheit zutrug. Die Gegensätzlichkeiten besänftigten sich, wie das Wasser des Ozeans, sobald es die Barre hinter sich hat, in den Lagunen unter dem weichen Wiegen der Palmen zur Ruhe kommt. 471
Auch für den immer fleißigen, bescheidenen und verschwiegenen Piemontesen Porguani, den stum men Engländer Lyman White, von dem man so recht nichts wußte, außer daß man auf ihn zählen konnte, und Octave Malaprade, den bordelesischen Koch, empfand Angélique eine von keinerlei Mißtrauen getrübte Freundschaft. Zwischen ihr und dem letz teren bestand sogar eine gleichsam professionelle Komplicenschaft. Wenn sie von Küchendingen oder Gastwirtsproblemen plauderten, verstanden sie sich aufs erste Wort. Sie hatte einst die Taverne zur Roten Maske und die Schokoladenstube am Faubourg SaintHonore geführt und konnte aus Erfahrung sprechen. Und sie zweifelte keinen Augenblick, in diesem Schiffskoch in abgetragenem Rock, den sie auf der Gouldsboro zwischen den vom Sturm umgestülpten oder von überschlagenden Wellen mit Salzwasser gefüllten Töpfen tapfer seines Amtes hatte walten se hen, einen echten Haushofmeister vom Range eines Vatel oder Audiger vor sich zu haben. Wie kam es, daß sie sich ihn, wenn er den Maisbrei rührte oder mit flinkem Messer Wild zerlegte, nicht in der hohen weißen Mütze des Kochs vorstellte, son dern in der gepuderten Perücke, im langschößigen, von Goldtressen strotzenden Rock eines Offiziers der königlichen Küche, der mit hochgeschobenen Ärmeln im Trubel eines Hoffestes seine Pflichten erfüllte? Sobald er nicht mehr zur Axt hatte greifen müs sen, um beim Bau ihres Refugiums zu helfen, hatte 472
er seinen angestammten Platz zwischen Töpfen und Tiegeln wieder eingenommen. Er überließ Madame Jonas und Elvire den größten Teil der Vorbereitungen, kostete aber selbst die simpelste Suppe und nahm das Würzen mit fast religiöser Hingabe vor. Manchmal packte ihn der Größenwahn. Er sprach von prächtigen Menüs, verkündete, daß er eine Kaper nsoße à la Royale, Krebssuppe à la Sauterne, leckeres Schokoladengebäck auf den Tisch bringen werde. Man drängte sich um ihn und hörte ihm zu. Angélique tat es ihm nach. Sie erinnerte sich an Rezepte für Hammelfüße à la Lyonnaise und köstliche Sorbets. Es waren die Märchen aus Tausendundeiner Nacht für die langen Abende.
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Fünfundvierzigstes Kapitel
Die »Außenseiter« waren die Spanier und Engländer. Sie setzten sich an denselben Tisch wie die anderen, teilten mit ihnen die gleiche Arbeit und die gleichen Gefahren, bewiesen den gleichen Mut und die glei che Geduld und blieben dennoch Fremde. Man hätte meinen können, daß sie gerade erst angekommen seien und bald wieder aufbrechen würden, daß sie sich nur vorübergehend in Wapassou aufhielten und wahrhaftig nichts mit den Leuten gemein hätten, un ter denen doch Tag für Tag ihr Leben verlief. Die fünf spanischen Soldaten waren aus demsel ben Holz geschnitzt wie ihr Hauptmann Don José Alvarez: düster, arrogant, wortkarg. Man konnte ih nen weder vorwerfen, daß sie sich schwierig zeigten, noch daß sie Streitigkeiten verursachten. Sie führten jeden Befehl aus und jede Arbeit, zu der sie komman diert wurden. Sie kümmerten sich gewissenhaft um ihre Waffen und die, für die sie Verantwortung trugen, und arbeiteten fleißig und geschickt in der Schmiede wie im Bergwerk. Einer wie der andere waren sie aus gezeichnete Schützen, Krieger des Dschungels und des Meeres. Sie hatten zu jenen Truppen gehört, die Seine Sehr Katholische Majestät von Spanien auf die mit Gold befrachteten Galeonen geschickt hatte, um ihre Verteidigung gegen die Piraten zu sichern. Sie hatten alle an den wagemutigen Expeditionen in die feuchtheißen, von Schlangen wimmelnden Wälder 474
und zu den Gipfeln der Anden teilgenommen, die so hoch waren, daß man, aus Nase und Ohren blutend, auf allen vieren hinaufkriechen mußte. Sie waren alle den Indianern in die Hände gefallen und ihnen mit Narben, unheilbaren Verstümmelungen und einem soliden Haß gegen die Rothäute wieder entwischt. Die Soldaten sprachen nur untereinander und wand ten sich nur an ihren unmittelbaren Vorgesetzten: Don Alvarez. Dieser wiederum sprach nur mit dem Grafen de Peyrac. Selbst in der Wärme einer vom Winter umzingelten Gemeinschaft behielten sie die Isolierung von Landsknechten auf fremdem Boden bei. Angélique wußte nicht, welche Umstände zu ih rer Verpflichtung durch den Grafen de Peyrac geführt hatten. Sich um Clovis’ Gesundheit zu kümmern war schwierig genug, doch bei den Spaniern stieß sie auf noch größere Hindernisse. Zuweilen beobachtete sie, daß Don Alvarez stark hinkte und daß Juan Carillo vor Schmerzen erblaßte, die ihm sein rebellischer Magen zu verursachen schien, aber sie sah weder eine Möglichkeit, den langen spanischen Offizier mit dem abwesenden, verächtlichen Blick zum Ausziehen seines Schuhs zu veranlassen, noch den scheuen, schweigsamen Carillo nach dem Zustand seiner Verdauung zu fragen. Es war völlig undenkbar! Sie beschränkte sich also darauf, Carillo Aufgüsse von Minze und Wermut bringen zu lassen. Octave Malaprade entledigte sich dieser Aufgabe und über zeugte sich, daß sie auch getrunken wurden. Der 475
Koch, der nicht rauchte, schenkte dem jungen Söldner seinen Tabak. Im Austausch wechselte dieser zuweilen mit ihm ein paar Worte über das Wetter, ein beachtli cher Beweis seiner Bereitschaft zur Geselligkeit. Was Don José Alvarez betraf, hatte sie noch nicht den richtigen Dreh gefunden, um ihn dazu zu brin gen, ihr die Behandlung seiner rheumatischen Anfälle durch Umschläge mit Flachsbrei zu gestatten. Die Pest sollte diese hochmütigen, maurisch erzogenen Herren holen! Sie verachteten die Frau, wollten sie hinter Gitter sperren und fanden sich allenfalls dazu bereit, ihr eine gewisse Bedeutung fürs Beten und Kinderkriegen zuzugestehen. Don Alvarez war ein würdiger Untertan Philipps IV., der durch den Brand eines Kohlenofens, den man der Etikette wegen nicht hatte löschen können, den Tod gefunden hatte. Eine mumifizierte, brutale, düster-mystische Zivi lisation, aus der dennoch jene großartigen Konqui stadoren hervorgegangen waren, die – von Balboas Überquerung des Isthmus von Panama im Jahre 1513 bis zu Orellanas 1547 erfolgter Erforschung des Amazonas von seiner Quelle in den Anden bis zur Mündung in den Atlantischen Ozean – in weni ger als fünfzig Jahren den größten Teil eines riesigen Kontinents erobert und drei glänzende indianische Zivilisationen, die der Azteken, Mayas und Inkas, un ter ihr Joch gebeugt hatten. Zuweilen unterhielt sich Peyrac mit ihnen in spa nischer Sprache. »Dank eurer Mitwirkung«, sagte er, »wird Spanien 476
an der Eroberung Nordamerikas beteiligt sein. Eure Brüder verloren den Mut, als sie in den Dörfern der Algonkins und Abenakis keine Gegenstände aus Gold fanden. Man hat es nicht nötig zu plündern, wenn man wie ihr zu den Iberern, einer uralten Rasse von Bergleuten, gehört. Weil ihr mir gefolgt seid, werdet ihr allein an die Taten eurer Vorfahren anknüpfen, die Silber, Kupfer und das verborgene Gold aus der Erde förderten.« Bei solchen Worten leuchteten die Glutaugen der Spanier auf. Sie schienen glücklich. Zu den »Gefährlichen« zählte Angélique vier: O’Con nell, Vignot, den spanisch-peruanischen Bergmann Quidua und Clovis, den auvergnatischen Schmied. Um den Pariser Jacques Vignot machte sie sich keine Sorgen. Mit dem Mund immer vorneweg, ewig durstig, aber nachgiebig und im Grunde sensibel, erwies er sich als hilfsbereit und kameradschaftlich, sobald man seine Eitelkeit befriedigte, indem man von Zeit zu Zeit auf ihn einging. Je länger sie ihn kannte, desto mehr vertraute sie ihm. Es war gut, ihn zum Verbündeten zu haben, denn durch seine Spöttelei, seine schlagfertigen Antworten oder seine Forderungen konnte er die Stimmung aller beeinflus sen. O’Connell war nur durch seinen heftigen Charakter und seinen Verfolgungswahn gefährlich. Verfolgt war er, das ließ er sich nicht nehmen. Verfolgt durch die Engländer, weil er katholisch war, und durch die 477
Franzosen, weil er englisch sprach. Er war es, der am wenigsten begriffen hatte, warum das Fort Katarunk mit all seinen Reichtümern hatte in Flammen aufge hen müssen. Man hätte sich auch auf andere Weise aus der Klemme ziehen können, beharrte er, ohne Katarunk zu verbrennen. Er kam nicht darüber hin weg und nahm es aller Welt übel. Angélique wußte nicht, wie sie ihn nehmen sollte. Sein mürrisches Gesicht, sein bedrohliches Brummeln, seine ewige Unzufriedenheit lasteten ihr auf der Seele, zumal sie seinen Kummer begriff. Eines Tages würde sie Joffrey fragen, was eigentlich ein Ire sei. Er würde ihr vielleicht helfen, den schwierigen Weg zu einem besseren Einvernehmen mit diesem Sohn der grünen Erin zu finden. Der spanisch-peruanische Bergmann störte nie mand, solange man ihn ignorierte, ohne ihn deswe gen völlig zu vergessen. Er hatte es Angélique tödlich verübelt, daß sie ihn bei ihrer Ankunft für einen Indianer gehalten hatte. Er wäre nicht weniger grim mig gewesen, hätte sie einen Spanier in ihm gesehen. Er litt vor allem darunter, daß er als Mestize galt. Sein Inneres war in Permanenz ein Turnierplatz, auf dem sich zwei unerbittliche Feinde in verbissenem Duell gegenüberstanden: der Indio von den Hängen der Anden und der Spanier aus Kastilien, Söldner Pizarros, Feinde, die sich nur für kurze Zeit versöhn ten, um mit gleicher Verachtung auf den Mischling hinabzublicken, der er war und der mit seiner Anwesenheit nur die edle Erde der Inkas beschmutz 478
te. Der Graf de Peyrac hatte ihm begreiflich zu ma chen gewußt, daß die Berufung zur Bergwerksarbeit in beiden Rassen, zu denen er gehörte, gleich stark vorhanden sei, und daß er als Mischblut, das die Gaben beider in sich vereine, dazu bestimmt sei, sich zum bedeutendsten Spezialisten der peruanischen Minen zu entwickeln. Die Voraussagung erwies sich als richtig. Wenn er sich über seine Arbeit beugte, zog Frieden in ihn ein. Man brauchte ihn in der Mine nur in Ruhe zu lassen, vermied es des Abends, das Wort an ihn zu richten, und behandelte ihn ansonsten mit der ihm zukommenden Achtung. Der Gefährlichste blieb also Clovis mit seinem Hang zur Gewalttätigkeit, seinem argwöhnischen Wesen und ungehemmten Egoismus. Angélique spürte, daß er niemand mochte. Er gehörte zu denen, die die Hand beißen, die sie genährt oder gerettet hat. Manchmal fragte sie sich, ob Joffrey wirklich gut bera ten gewesen war, als er diesen zweifelhaften, unleidli chen Burschen als Freiwilligen für die Expedition an genommen hatte. Gewiß, er war ein guter Schmied, geschickt in allem, was Schlosserei und die Kunst des Waffenschmiedens anbelangte. Ein wahrer Diener des Vulkan, schwärzlich, stämmig, verschwitzt, ständig von Bartstoppeln verunziert, als habe er sich Ruß auf Kinn und Wangen geschmiert. Er beschlug die Pferde besser als jeder andere. Doch selbst eine so wichtige Fertigkeit konnte nun, da der Marsch fürs erste be endet war, nicht über seine Grobheit und Streitlust hinwegtrösten. Er verabscheute die Frauen und war 479
der einzige, der unanständige Anspielungen machte, um die prüden Ohren Madame Jonas’ und Elvires zu schockieren. Angélique gegenüber benahm er sich zu weilen mit seltener Unverschämtheit. Infolgedessen führte sie einen ebenso erbitterten heimlichen Krieg gegen ihn wie er gegen sie. In einem Punkt waren sich beide jedoch einig: Das Echo dieser Auseinandersetzungen durfte nicht bis zu Peyrac gelangen. Sie wollte ihren Gatten nicht behelligen, er fürchtete – den Strang. In den drei Jahren, seitdem er Monsieur de Peyrac diente, hat te er Zeit genug gehabt zu lernen, daß der Graf in solchen Dingen keinen Spaß verstand, und das biß chen Vernunft, das er besaß, riet ihm, sich in seiner Gegenwart zurückzuhalten. Die anderen warfen ihm seine Hinterhältigkeit vor. Er wäre sich entehrt vorge kommen, wenn er auch nur die kleinste Anstrengung gemacht hätte, sich mit ihnen oder überhaupt mit irgend jemandem zu verstehen. Eines Abends hatte ihm Angélique ein durchlö chertes Kleidungsstück in die Hand gedrückt. »Hier habt Ihr Nadel und Wolle, Meister Clovis. Flickt mir das rasch.« Der Schmied protestierte, nicht ohne sich zuvor durch einen verstohlenen Blick versichert zu haben, daß der Graf sich nicht in der Nähe befand. »Euch kommt solche Arbeit zu, Frau.« »Nein. Seeleute können alle mit der Nadel umge hen. Das gehört zu ihrem Beruf.« »Warum gerade ich? Ich hab’ Euch schon das Zeug 480
von anderen flicken sehen.« »Möglich, aber Ihr habt es nötig, Buße zu tun.« Das Argument wirkte. Das Kleidungsstück in der einen, die Nadel in der anderen Hand, starrte er sie einen Moment an, dann machte er sich schweigend an die Arbeit. Sein Schemelnachbar Jacques Vignot hörte ihn mehrmals murmeln: »Buße tun! Buße tun! Na schön! … Ist ja ganz was Neues!« Er verwandte oft Redensarten, deren Sinn für Angélique und die anderen ein Geheimnis blieb. »Ah, na so was!« sagte er, seinen schwarzen Schädel schüttelnd. »Das war’s nicht wert, meine Ketten nach Sainte-Foy-de-Conques zu schleppen, um bei so was zu landen.« Eines andern Tages hörte Angélique im Hof das Gelärm eines heftigen Streits und trat hinaus, als der Auvergnate eben wütend ein Holzscheit über dem Kopf eines Indianers schwang. Da er einen Moment zögerte, um seinen Schlag besser anbringen zu kön nen, fand Angélique gerade noch Zeit, ihre Pistole zu ziehen und zu schießen. Das Scheit flog splitternd aus seiner Hand und der Schmied stürzte rücklings auf den vereisten Boden. Angélique warf sich da zwischen, um den Indianer, der schon seinen Dolch gezogen hatte, daran zu hindern, seinen Gegner zu skalpieren. Da er ihn am Boden liegen sah, ließ er sich beruhigen. Der Knall des Schusses lockte alle Welt in den Hof. Diesmal war es unmöglich, den Zwischenfall zu ver heimlichen. Der Graf erschien mit raschen Schritten 481
und musterte die Hauptbeteiligten. »Was ist passiert?« fragte er den Schmied, der sich bleich wie ein Toter auf die Füße rappelte. »Sie … sie hat versucht, mich umzubringen«, stam melte er und wies auf Angélique. »Drei Zoll näher, und sie hätte mein Hirn erwischt!« »Ewig schade!« meinte Angélique lachend. »Ich hab’ dich nicht umzubringen versucht, du Narr. Ich wollte dir nur eine Dummheit ersparen, die dir das Leben hätte kosten können. Oder denkst du, du wärst dem Dolch des Indianers entgangen, wenn du ihn geschlagen hättest? Ich hab’ auf dein Holzscheit ge schossen, nicht auf dich. Ein Scheit ist so gut wie das andere. Glaub mir, wenn ich dich wirklich hätte töten wollen, wärst du jetzt schon tot.« Doch Clovis schüttelte den Kopf. Sein pockennar biges Gesicht war unter den Bartstoppeln fahl wie Talg. Er hatte wirklich große Angst gehabt und war nach wie vor der Meinung, daß Angélique seinen Tod gewollt hatte und daß er es nur dem Zufall verdankte, noch am Leben zu sein. Seit langem war er überzeugt, daß so etwas kommen mußte, daß diese schreckliche Frau ihn umbringen würde: mit ihrer Lanzette, ihrem Operationsmesser oder auch durch irgendwelche Hexereien. Aber mit der Pistole – das war der Gipfel! »Gar nichts glaub’ ich«, knurrte er. »Ihr hättet nicht so genau zielen können. Frauen verstehen nicht zu zielen.« »Dummkopf!« fuhr ihn der Graf zornig an. »Willst du’s noch mal probieren? Du wirst sehen, daß du 482
nicht mehr auf dieser Welt wärst, wenn die Frau Gräfin dich hätte treffen wollen. Heb das Scheit auf, halt’s über deinen Kopf, und du wirst feststellen, daß alles, was man dir von den Schüssen an der Furt von Sakoos erzählt hat, stimmt. Nimm das Scheit!« Der Schmied weigerte sich energisch, doch Yann erklärte sich bereit, ihn zu vertreten. Er war in Angéliques Nähe gewesen, als sie Pont-Briand in der Furt aufgehalten hatte. Er hob das Scheit, und Angélique, die zum Eingang des Hauses zurückge kehrt war, schoß es ihm splitternd aus der Hand. Der Beifall nahm kein Ende. Man bat sie um wei tere Beweise ihrer Geschicklichkeit. Sogar Don José Alvarez erwachte aus seinem Traum und wollte se hen, ob sie auch mit einer Luntenschloßmuskete und schließlich mit einem Steinschloßgewehr umzugehen verstand. Sie hob ohne Mühe die schweren Waffen, und sie bewunderten ihre Kraft und waren stolz dar auf, sie in ihrer Mitte zu wissen.
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Sechsundvierzigstes Kapitel
Wie sieht es in den Städten weiter oben im Norden aus, wenn es schon in Wapassou so kalt ist? Drei Städte, drei in der unendlichen Weite verlorene Nester am Ufer des Sankt Lorenz. Die Schiffe keh ren erst im Frühjahr zurück. Der Panzer des Eises hat sich um sie geschlossen, sie sind Gefangene der wei ßen Steppen, Gefangene der Stille, des grenzenlosen, menschenleeren Raums. Montréal auf seiner Insel am Fuß seines kleinen, er loschenen Vulkans, Trois-Rivières, gefangen im Netz der Kanäle seines gefrorenen Deltas, und die Königin von allen, Québec auf seinem Fels. Drei Städte unter den Diademen der weißen, lang sich hinziehenden, friedlichen Rauchfahnen ihrer Schornsteine. Möge das Feuer in ihren Kaminen prasseln, um sie vorm Tode zu bewahren! Die Wärme der Feuer ist so stark, daß man den Tod und die Stille und die Verlorenheit vergißt. Es wimmelt in diesen Städten, man schwatzt, schmiedet Komplotte, intrigiert, streitet den ganzen Winter lang, mit mehr oder weniger geschliffenen Worten in den Salons, mit Schemelbeinen in den Kneipen, offen, heimlich, herzhaft unter Freunden, unter Vettern, Kanadier unter sich. Man betet dort auch viel, man beichtet gewaltig, man meditiert und träumt, den Blick zu den weißen Laurentidenbergen gewandt oder zum grauen Horizont der Wälder im Süden. 484
Man träumt von Aufbruch. Meerwärts und nach Europa oder gen Westen, wo es Pelzwerk gibt und Wilde. Hierhin oder dorthin, es ist egal, wenn man nur aufbricht. Wann wird die Zeit des Aufbruchs wie derkehren? … Man liebt sich dort auch, heimlich, im verborge nen, mit Gewissensbissen selbst unter Eheleuten des immer wachen Auges der Jesuiten wegen, das ihre Gewissen beunruhigt. Man trinkt dort viel. Es ist das einzige Vergnügen. Branntwein, vor allem Branntwein … Apfelschnaps, Pflaumenschnaps oder Kornschnaps, duftend und klar, die man im eigenen Brennkolben destilliert hat. Durch die winterlichen Straßen ziehen die Gerüche der Trester, der Holzfeuer, der Specksuppen und der geräucherten Aale. Die Wintertage sind durchtränkt vom Weihrauch duft der Messen und Vespern und vom Pergamentruch der in Leder gebundenen Bücher aus Europa, die man am Kamin immer von neuem durchblättert und liest. Die Winternächte knirschen und knacken im Frost. Man möchte meinen, daß die mit Eisblumen bedeck ten Scheiben bersten … In diesen Städten verbreitet sich mit Blitzesschnelle die Neuigkeit: Die Fremden von Katarunk, die man von den Irokesen niedergemetzelt glaubte, sind am Leben. Die schöne Frau aus den Wäldern, die auf einem Pferd an den Quellen des Kennebec erschien – sie lebt. 485
Die Dämonin lebt! Triumph und Entsetzen! Es jubilieren die, die an die höllischen Mächte glauben. Bildet ihr euch ein, Gevattern, daß sich der Satan die Mühe nimmt, einen seiner Handlanger auf die Erde zu schicken, um ihn sodann von ein paar Irokesen in Rauch und Asche verwandeln zu lassen? Was für ein Unfug! Der Satan ist mächtig! Er hat noch nicht genug Unheil in Akadien angerichtet, als daß man schon seinen Sieg oder seine Niederlage prophe zeien könnte. Und der Beweis ist, daß die Dämonin noch immer lebt, obwohl Katarunk verbrannt ist. Loménie wiederholt: »Ich habe selbst die Asche von Katarunk gesehen …« Aber der, der die außerordentliche Neuigkeit ge bracht hat, bleibt dabei. Er versichert: »Die Fremden leben in den Bergen, an einem Ort, der Wapassou genannt wird.« Und wer könnte an ihm, der die Nachricht brach te, zweifeln? Er sieht alles auf weite Entfernung. Er ist ein Heiliger. Er hat gesehen, daß die Fremden den Irokesen entkamen, ohne kämpfen zu müssen, und das allein beweist schon ihre Verwandtschaft mit Satan. Wenn es nicht Gott ist, der sie wundersam ge rettet hat, kann es nur der Teufel gewesen sein. Gott aber kann Menschen nicht geholfen haben, die das Kreuz nicht aufpflanzen, die Irrlehren prakti zieren und sich nicht den Sakramenten nähern. Also ist es der Teufel! 486
Es geht über Loménies Verstand. Die Dämonin habe ihn durch ihren Charme ver zaubert, flüstert man sich zu. Wie Pont-Briand, der trübsinnig und verstört durch die Straßen Québecs irrte und von einer Frau sprach, schön wie der Tag, der er in den Tiefen der Wälder begegnet sei … sie im Sattel eines Pferdes. Als ob derlei überhaupt möglich sei! Es hat niemals weiße Frauen in den Wäldern gegeben. Die, die sie ein Pferd besteigen sahen, haben sich getäuscht. Es muß ein Einhorn gewesen sein … Einige von denen, die sich in der Schlucht befanden, als die Gestalt im Mondlicht zum erstenmal erschien, behaupten, sie hätten das spitze Horn gesehen … Man überhäuft sie mit Fragen, man bestürmt sie, sich genau zu er innern, man drängt sich um die Teilnehmer an der Expedition Monsieur de Loménies im vergangenen Herbst, die dem schwarzen, maskierten Mann und der Frau begegnet sind, die man noch nicht laut »die Dämonin« zu nennen wagt, von der man aber schon als der Dame vom Silbersee spricht. Und was wird jetzt geschehen? Der hochwürdigste Bischof hat Prozessionen und Fastentage angeordnet. Er hat die zu Visionen neigende Nonne Madeleine in ihrem Kloster be sucht, dann hat er sich zu Monsieur de Frontenac, dem Gouverneur Kanadas, begeben, um dort mit Monsieur de Loménie, Monsieur d’Arreboust, dem frommen Syndikus der Stadt Québec, und verschie denen Persönlichkeiten, darunter auch mehrere 487
Jesuiten, zusammenzutreffen. Lange funkeln die Kerzen hinter den Fenstern des Schlosses auf dem Fels … Der Sankt Lorenz breitet sich unter dem Mond wie eine riesige weiße Ebene. Joffrey de Peyrac horchte auf, da Angéliques Worte seine Neugier weckten. »Eines Tages hatte ich ein Festmahl von dreißig Ge decken vorzubereiten … Als ich zu den Hallen ging, um ein paar Fäßchen guten Weins auszuwählen …« Kein Zweifel, die Damen verstanden sich bestens mit Octave Malaprade.
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Siebenundvierzigstes Kapitel
Etwa eine Meile von Wapassou entfernt hatte sich eine kleine indianische Familie an einem Teich nie dergelassen, um dort Biber zu jagen. Man sah ihre Angehörigen oft in der Gegend umherstreifen. Die Auseinandersetzung des Auvergnaten mit ei nem von ihnen hatte sich um dessen Schwester ge dreht, ein ziemlich hübsches braunes Mädchen mit langen Zöpfen, das beim Lachen den Glanz seiner weißen Zähne zeigte und keinesfalls schamhaft ver heimlichte, was es von den »Normannen« erwartete, denen man nachsagte, daß sie für die Lustbarkeiten der Liebe viel übrig hatten. Es gab noch eine andere, dem Anschein nach scheuere, die sich jedoch verlieb ten Rendezvous ebenfalls geneigt erwies. Übrigens war es erstaunlich zu sehen, wie wenig die Männer von dieser doch recht entgegenkommenden Nachbarschaft Gebrauch machten. Der junge Yann, Jacques Vignot und einer der Engländer waren die einzigen, die sie nutzten, und das auch nur selten. Es zeigte sich sogar, daß der Streit des Auvergnaten mit dem Indianer nichts mit dem Austausch von Galanterien zu tun hatte, sondern mit der betrüb lichen Tatsache, daß der Tabak und ein Messer des Schmieds verschwunden gewesen waren, nachdem sich die Kleine ein Weilchen im Hof herumgetrieben hatte. Angélique erinnerte sich, daß Joffrey ihr früher 489
einmal erklärt hatte, Seeleute seien enthaltsam. Selbst durchaus imstande, lange ohne Frau zu leben, wenn es nötig war, hatte er sich Männer ausgesucht, von denen er Gleiches erwarten durfte. Sie waren ihm ge folgt, weil er ihnen Gold versprochen hatte. Der Reiz des Abenteuers und die Aussicht auf Gelingen genüg ten fürs erste. Die Frau war Teil der Beute. Die Partie war noch nicht gewonnen. Später würde man schon sehen! Ein instinktives Mißtrauen gegen gefühlsmä ßige Bindungen, die einen auf den Weg der Sklaverei führten, half ihnen, ihre Triebe zu beherrschen. Angélique dachte auch an Nicolas Perrot, der vor drei Jahren Frau und Kinder verlassen hatte, um durch die Wälder und, als sich die Gelegenheit bot, über die Meere zu streifen. Kurz vor dem ersten Schneefall war er wieder nach Süden aufgebrochen, um zu versuchen, eine von ei nem Holländer geführte kleine Handelsniederlassung an der Mündung des Kennebec zu erreichen und von dort unbedingt notwendige Waren wie Salz, Zucker, Mehl und ein wenig Öl heranzuschaffen … Schließlich entpuppte sich – wer hätte es geglaubt? – der alte Macollet als eifrigster Besucher der beiden hübschen Indianermädchen. Bei jedem Wetter war er zwischen seinem verräucherten Wigwam und dem der Indianer unterwegs. Ein toller Bursche, dieser Macollet! Er saß auch gern am Feuer eines Indianers und plauderte mit ihm. Das Oberhaupt dieser Familie war ein wenig Medi zinmann. Er brachte Angélique Wurzeln, Kräuter und 490
Harz. Nach Überwindung des ersten Schrecks, als er eines schönen Morgens unversehens und natürlich lautlos hinter ihr in der Tür des großen Saals erschie nen war, den Arm zum Zeichen des Friedens erho ben, waren sie gute Freunde geworden. Sie konnte sich schon ein wenig in seiner Mundart mit ihm unterhalten, worauf sie nicht wenig stolz war, da man ihr gesagt hatte, daß die Sprachen der Eingeborenen schwer zu erlernen seien. Die Missio nare, die sich in Frankreich darüber verbreiteten, behaupteten, daß man Jahre dazu brauche, und die Waldläufer schienen nicht viel davon zu halten, wenn sich die Neuankömmlinge in dieser Hinsicht bemüh ten. Man müsse aus dem Lande sein, erklärten sie. Joffrey de Peyrac hatte sich jedoch sehr schnell mit den verschiedenen Idiomen vertraut gemacht und setzte Angélique auseinander, daß die Schwierigkeiten nur scheinbar seien. Denen, die sich beklagten, fehle es nur an der nötigen Einfühlungsgabe. Dank seiner Ratschläge waren ihre Fortschritte überraschend. Sie würde zwar noch lange herum stümpern und zur Erheiterung der Indianer beitra gen, die sich bei jedem ihrer Fehler vor Lachen aus schütten wollten, aber mit ihrem alten Sachem vom Biberwigwam, der sie entweder aus Gleichgültigkeit oder Altersweisheit wenigstens nicht auf ihren Irrtümern festnagelte, kam sie ganz gut zurecht, so daß sie sich ihm gegenüber zu großen Diskursen hinreißen ließ, die Peyrac höchlichst amüsierten, wenn er sie im Gespräch mit dem befiederten roten 491
Medizinmann ertappte. Ihre Lebhaftigkeit, ihr Lebenshunger und ihr Mut entzückten ihn immer wieder. Und nun war er es, der ihr häufig mit den Blicken folgte. Anfangs hatte er gedacht: »Alles wird von ihr ab hängen.« Wapassou würde die Stunde der Wahrheit bringen. Und es hatte ihn verblüfft zu sehen, wie es ihr gelungen war, diese knurrigen Vagabunden um sich zu sammeln, die nun einer wie der andere bereit schienen, ihr einen besonderen Platz in ihren Herzen einzuräumen: als Mutter, Schwester, Freundin, Souveränin. Eines Abends bat Joffrey Angélique, Elvire zu einer persönlichen Unterhaltung zu rufen und dabeizublei ben, wenn er sie in ihrer kleinen Kammer empfinge. Mangels eines Ortes, an den man sich vor neugieri gen Ohren zurückziehen konnte, wenn es ein priva tes Gespräch zu führen galt, war diese Kammer zum »Kabinett des Kapitäns auf dem Oberdeck« avanciert, und daß ein paar Stufen hinaufführten, vervollstän digte die Illusion. Das Mobiliar war um einen mit Pelzwerk be deckten rustikalen Sessel erweitert worden, in dem der Graf Platz nahm. Der herbeizitierte Mann blieb stehen, den Kopf dicht unter der Decke, falls er nicht von kleiner Statur war. War die Aussprache freund schaftlich, forderte Peyrac ihn auf, sich vor ihn auf den Kaminstein zu setzen, und rief nach einer Pinte Bier und zwei Bechern. 492
Häufig zog er sich so in den Abendstunden mit diesem oder jenem zurück. Die Männer schätzten diese Gespräche fern der Allgemeinheit. Man konnte sich mit dem Hauptmann ungestört auseinanderset zen, konnte sich offenherzig beklagen und erhielt Weisungen, die einem, wenn es not tat, den Kopf zurechtsetzten. Vor Aufregung zitternd, kletterte also die arme Elvire die Stufen hinauf, die zum »Oberdeck« führ ten. Angéliques Anwesenheit beruhigte sie ein wenig, aber sie machte sich Sorgen, da sie gewissenhaft war und sich ständig bei einem Fehler ertappt fühlte. Als die schwere Tür hinter ihr zufiel, war von dem Stimmengewirr aus dem großen Saal nichts mehr zu vernehmen. Man hörte in dem kleinen, geschlosse nen Raum nur noch das Knistern des Feuers und von draußen das raschelnde Streifen der Tannenzweige, die der Wind gegen das Dach drückte. Der Graf setzte sich. Die junge Frau blieb stehen, und Angélique, die hinter ihr stand, sah, daß sich ihre schmalen Schultern verkrampften, daß ihr fei ner Nacken sich beugte. Die Bedauernswerte wußte nicht, wie sie sich unter dem dunklen Blick verhalten sollte, der sie von oben bis unten musterte, während ein nachsichtiges Lächeln um die Lippen des Grafen spielte. Er verstand es, seinen Augen einen Ausdruck auf merksamer Herzlichkeit zu verleihen, der jede Frau anrühren mußte. 493
»Elvire, mein schönes Kind«, sagte er sanft, »hört mir mit der größten Ruhe zu.« »Habe ich einen Fehler begangen, Monseigneur?« stammelte sie, während ihre Finger sich in die Lein wand ihrer Schürze krampften. »Beruhigt Euch. Ich kann mich zu Euch und Eurer Liebenswürdigkeit nur beglückwünschen. Aber Ihr seid deshalb nicht weniger für etwas verantwortlich, was unter den gegebenen Umständen zur Gefahr werden kann.« »Ich? … O Monseigneur!« »Ja, Ihr, trotz Eurer Diskretion und Eurer Beschei denheit, die nicht hindern, daß Ihr schöne, zärtliche Augen und rosige Wangen habt.« Mehr und mehr aus der Fassung gebracht, starrte ihn Elvire verständnislos an. »Ich habe bemerkt, daß einer meiner Männer Euch den Hof macht. Sagt mir aufrichtig, ob diese Aufmerksamkeiten Euch belästigen, ob Ihr sie nicht wünscht oder ob er seinen Gefühlen für Euren Ge schmack zu weitgehend Ausdruck verliehen hat.« Und da sie stumm blieb: »Hier im Fort gibt es nur drei Frauen, und Ihr seid die einzige, die keinen Gatten hat. Die strengsten Anweisungen wurden in bezug auf Euch gegeben. Ich muß wissen, ob sie respektiert worden sind. Antwortet also! Haltet Ihr die Huldigungen, die Euch seit einiger Zeit dargebracht werden, für aufdring lich? Ihr wißt, von welchem Mann ich spreche, nicht wahr?« 494
Diesmal senkte sie errötend den Kopf und nickte bejahend. »Octave Malaprade«, sagte er. Er ließ ihr Zeit, sich die Persönlichkeit des Kochs vorzustellen, sein freundliches Wesen und sein nach giebiges Lächeln. Dann zog er aus einer der Taschen seines Wamses eine der wenigen Zigarren, die ihm noch blieben, beugte sich zum Feuer, entzündete sie an einem Span und lehnte sich zurück. Nachdem er ein Wölkchen duftenden Rauchs über seine Lippen hatte kräuseln lassen, begann er sanft von neuem. »Falls er die Anweisungen übertreten hat, wird er gehängt.« Elvire stieß einen Schrei aus und schlug die Hände vors Gesicht. »Gehängt? … O Monseigneur! Oh, der arme Junge! Doch nicht dafür! Nicht meinetwegen. Ich verdiene es nicht …« »Die Frau ist hier Königin. Wußtet Ihr das nicht, mein schönes Kind?« Er musterte sie von neuem mit seinem unnach ahmlichen Lächeln, das die Winkel seines schönen Mundes hob und ihm jenen zugleich spöttischen und zärtlichen Ausdruck verlieh, den Angélique so gut kannte. »Wußtet Ihr nicht, daß die Frauen Königinnen sind?« beharrte er. »Nein, Monseigneur. Ich wußte es nicht«, erwider te sie naiv. 495
Sie zitterte an allen Gliedern, aber die Angst, die sie um Malaprade empfunden hatte, gab ihr die Kraft, ihre Gedanken zu sammeln und den zu verteidigen, den sie bedroht fühlte. »Monseigneur … Ich schwöre Euch, niemals hat er sich zu etwas Unpassendem hinreißen lassen, dessen ich mich zu schämen hätte. Ich spürte nur, daß … daß er …« »Ihr liebt ihn?« Es war kaum eine Frage. Verstört wich sie seinem Blick aus. »Nein, ich … ich weiß es nicht.« »Ihr habt Euren Gatten vor drei Monaten auf der Gouldsboro verloren.« Sie starrte ihn stumpf an. »Meinen Mann?« »Liebtet Ihr ihn?« Er quälte sie, ließ nicht locker, las in ihr, sein durchbohrender Blick zwang ihre kindlichen Augen, ihn anzusehen. »Liebtet Ihr Euren Gatten?« »Ja … gewiß. Das heißt … ich … ich weiß es nicht mehr.« Er wandte sich ab und rauchte schweigend. Sie rührte sich nicht, zitterte nicht mehr, starrte ihn mit hängenden Armen an. Nach einer Weile fuhr er fort: »Malaprade hat mich vor kurzem aufgesucht, um mit mir zu sprechen. Er liebt Euch. In der Annahme, daß seine Gefühle mir nicht verborgen geblieben 496
sein könnten, kam er mir zuvor und zog mich ins Vertrauen. Er hat mich beauftragt, Euch folgendes von ihm und seiner Vergangenheit zu berichten: Vor fünf Jahren hat er in Bordeaux, wo er ein renommier tes Hotel führte, seine Frau und deren Liebhaber ge tötet, nachdem er sie zusammen überrascht hatte. Da er nicht wußte, wie er sich sonst den Folgen seiner Tat entziehen und den Beweis seines Verbrechens vor den unausbleiblichen Nachforschungen verbergen könnte, zerstückelte er die beiden Leichen und ver brannte einen Teil. Den Rest gelang es ihm auf einen Abfallplatz zu schaffen.« Angélique unterdrückte einen Ausruf und biß sich auf die Lippen. Elvire taumelte wie vom Blitz getrof fen. Peyrac fuhr fort zu rauchen, während er sie neugie rig beobachtete. »Danach wartete er einige Zeit«, fügte er hinzu, »und floh nach Spanien. Dort erschien er bei mir an Bord, und ich nahm ihn in meinen Dienst.« Schweigen breitete sich aus, das kein Ende nahm. Plötzlich straffte sich die junge Rochelleserin und schien irgend etwas über ihren Köpfen ins Auge zu fassen. »Herr Graf«, sagte sie endlich mit festerer, klarer Stimme, einer Stimme, die man nicht an ihr kann te. »Herr Graf mögen entschuldigen, wenn ich Ihm nicht sehr gefühlvoll vorkomme. Aber ich kann nur sagen, was ich denke, und ich denke, daß dieser Mann nur in einem Anfall eifersüchtigen Zorns getötet hat, 497
unüberlegt und überwältigt, und daß er danach allein und verlassen vor dem Entsetzlichen war und nicht wußte, wie er sich aus dieser Lage herausziehen soll te. Er hat getan, was er tun konnte, um sein Leben zu retten. Dieses Furchtbare in seinem Leben ist ein Unglück, ein Unfall, eine Schwäche, die unversehens über einen kommt.« Sie atmete tief. »Aber diese Schwäche wird mich nicht hindern, ihn zu lieben«, sagte sie mit Nachdruck. »Was Ihr mir eben erzählt habt, hat mir meine Gefühle offenbart. Eure Fragen haben mir geholfen, klar in mir zu se hen. Ja, ich habe meinen verstorbenen Mann geliebt … denn ich hab’ ihn ja geheiratet … damals. Aber das hatte niemals Ähnlichkeit mit dem, was ich heute empfinde. Man kann mir sagen, was man will – für mich ist er trotz allem gut, aufrichtig und zartfühlend. Ich kenne ihn jetzt genug, um zu wissen, daß er un glücklich ist.« Sie schwieg, dann fügte sie träumerisch hinzu: »Er half mir auf dem Weg durch den Sturm, an dem Abend, an dem wir in Wapassou ankamen. Ich werde es nie vergessen …« Peyrac warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »Gut, gut«, sagte er. »Ich wollte eine solche Antwort von Euch hören. Eure Seele ist stark, kleine Elvire, Euer Herz ist nobel. Euer klarer Geist läßt sich nicht durch eine Gefühlsduselei täuschen, die in diesem Fall nicht am Platze wäre. Es trifft zu, daß Malaprade verläßlich, mutig und fähig ist. Dieser … Unfall, 498
wie Ihr sagt, hat ihn fürs Leben gezeichnet. Er hat ihn gereift und seinem bisher trotz aller beruflichen Anerkennung ziemlich banalen Dasein eine neue Dimension verliehen. Nachdem er alles verloren hatte, hätte ein Wrack aus ihm werden können. Er hat überlebt und versucht, die zerrissenen Fäden seiner Existenz wieder zu knüpfen. Manche werden behaupten, daß der Gerechtigkeit nicht Genüge ge schehen ist, und ich gebe zu, daß es äußerlich der Fall sein mag, aber auch nur äußerlich. Die Sühne ergibt sich von selbst, tagtäglich durch die Erinnerung. Ich habe ihm nie ins Gewissen geredet, sondern ihn zu ermuntern versucht, das zu werden, was Ihr nun in ihm erkennt: ein guter, zartfühlender, aber auch en ergischer und weitblickender Mann, was er, soweit es die beiden letzten Eigenschaften betrifft, vor seiner Tragödie nicht war. Er wird Euch sehr lieben.« Die junge Frau hatte die Hände gefaltet. Sie sog seine Worte begierig ein. »Hört mir noch einen Moment zu«, fuhr er fort. »Ich werde Euch und ihn so ausstatten, daß Euch der Beginn Eurer gemeinsamen Existenz leichtfal len wird. Malaprade hat Anrecht auf einen nicht kleinen Teil des Reichtums, den wir aus dieser Mine hier fördern werden. Darüber hinaus werde ich ihm als persönliches Geschenk so viel geben, daß er ei nen Gasthof oder ein Speiselokal eröffnen kann, in Neuengland oder auch in Neuspanien, wo immer er möchte. Und wir werden über die Erziehung Eurer beiden ältesten Söhne wachen und sie später gut un 499
terbringen …« »O Monseigneur!« rief sie. »Wie soll ich Euch dan ken!« Sie glitt vor ihm auf die Knie, das Gesicht glitzernd von Tränen. »Wie er sie zu nehmen weiß!« dachte Angélique. »Er könnte jede Frau der Welt zu seinen Füßen ha ben. So verliebt diese auch in einen anderen ist, sie wäre bereit, sich ihm in Verehrung und Dankbarkeit zu geben. Das Recht des Fürsten …« Peyrac beugte sich über die zusammengesunkene Gestalt. »Ihr braucht nicht zu weinen, kleine Freundin. Ihr habt mutig ungerechtfertigte Prüfungen durchlitten. Und was den Mann betrifft, den Ihr liebt, weiß ich, daß er gebüßt hat. Es ist nur gerecht zu versuchen, all das wiedergutzumachen. Das Leben ist gütig, gütiger als die Menschen. Es stellt auf die Probe, aber es be lohnt auch.« »Ja, o ja, Monseigneur, ich verstehe … Ich verstehe, was Ihr sagen wollt.« Sie sprach mit kindlicher, von Schluchzern unter brochener Stimme. »In La Rochelle war ich nur eine gewöhnliche Frau … Ich dachte an nichts. Ich merke erst heute, daß ich damals gar nicht lebte … Durch Euch habe ich ge lernt, Monseigneur, und jetzt bin ich eine andere. Was habe ich alles begriffen, seitdem … seitdem ich bei Euch lebe!« murmelte sie schüchtern. »Wir werden Euch und Wapassou nicht verlassen. Niemals! Wir 500
bleiben hier, er und ich, um Euch zu dienen …« Er unterbrach sie mit einer nachsichtigen Geste. »Heute abend ist es zu spät zum Pläneschmieden. Ihr müßt Euch ausruhen. Der Schock ist hart gewe sen. Trocknet Eure Augen. Er braucht nicht zu mer ken, daß Ihr geweint habt, sonst wird er glauben, Ihr wolltet nichts mit ihm zu tun haben, und sich eine Kugel in den Kopf schießen, bevor ich ihn beruhi gen kann. Diese Bordelesen sind impulsiv. Ich rate Euch jedoch, ihm Eure Antwort nicht vor morgen zu geben. Zieht Euch in Eure Kammer zurück. Es ist besser, es der Nacht zu überlassen, Euren Entschluß zur Reife zu bringen. Auch für ihn wird eine Nacht des Zweifelns und Grübelns nicht zuviel sein. Er wird den Wert seines Gefühls höher einschätzen. Ich werde ihm nur mitteilen, daß Ihr um eine Frist zum Überlegen gebeten habt.« Sie hörte ihm aufmerksam zu. »Sodann werde ich euch beide bitten«, fuhr er fort, »in guter Freundschaft weiterzuleben wie zuvor. Wir gehen dem Höhepunkt des Winters entgegen. Das ist nicht die rechte Zeit für Liebesgeschichten. Wir ha ben schwierige Monate vor uns, die wir alle lebend und in guter moralischer Verfassung überstehen wol len. Ihr versteht mich?« Ernst neigte sie den Kopf. »Wenn der Frühling kommt, werden wir nach Gouldsboro zurückkehren, und dort wird der Pastor Eure Ehe schließen … oder der Priester, je nachdem, worauf ihr euch einigt.« 501
»Wahrhaftig! Ich bin ja Hugenottin, und er ist Papist!« rief sie betroffen aus. »Wenn Euch das jetzt erst einfällt, dürfte der Graben zwischen euch leicht einzuebnen sein. Friede! Friede auf Erden allen Menschen guten Willens … ein Wort, das uns alle betrifft. Gute Nacht.« Angélique begleitete die junge Frau bis zur Schwel le ihrer Kammer und umarmte sie, bevor sie sich trennten. Die Mehrzahl der Männer hatte sich bereits hinter den großen Vorhang aus zusammengenähten Fellen zurückgezogen, der ihre zweistöckigen Schlafstätten verbarg. Als sie durch den Saal zurückging, hörte sie ein paar Näpfe dumpf zu Boden poltern und stellte fest, daß sie den nervösen Händen des armen Malaprade entglitten waren. Der Koch war bleich und sah sie an wie ein verwundeter Spaniel. Mitleidig näherte sie sich ihm und flüsterte ihm zu: »Sie liebt Euch.«
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Achtundvierzigstes Kapitel
Am folgenden Tage suchte Elvire selbst Malaprade auf, und da es schönes Wetter war, gingen sie zum Ufer des Sees hinunter, wo man sie lange miteinan der promenieren sah. Als sie zurückkehrten, strahlten sie und hielten sich bei der Hand. Man bereitete ihnen ein kleines Verlobungsfest, das in einer Atmosphäre heiterer Höflichkeit verlief. Falls Malaprade von seinen Kameraden die bei solchen Gelegenheiten üblichen Scherzchen hinzunehmen hatte, dann jedenfalls außerhalb der Hörweite weibli cher Ohren. Er war wie verwandelt, und jedermann freute sich ihres Glücks. Trotzdem vermochte Angélique Joffreys Enthül lungen über den Hotelkoch lange nicht zu vergessen. Sie hatten sie zweifellos stärker durcheinanderge bracht als Elvire. Vielleicht, weil sie weniger unschul dig war. Ihre eigenen schmutzigen Erfahrungen drängten in ihr Bewußtsein zurück. Abends vor dem Feuer in der kleinen Kammer konnte sie es nicht verhindern, an sie zu denken. Zwei vom Messer eines Kochs zerstückelte Lie bende … Angst, kalter Schweiß auf der Stirn, die Ein samkeit des gejagten Tiers … Angélique grübelte. Grobe Bauernmesser, die in die Gurgeln Schlafen 503
der stießen … Der Kopf des Mannes, an dem sie sich hatte rächen wollen, von einer Bauernfaust an den Haaren hochgehalten … Das rinnende Blut, in dem sie mit Wollust ihre weißen Finger gewaschen hätte … Diesen Haß, dieses jähe Aufbäumen des zugleich unerbittlichen und erschreckten Tiers, diesen Sturz in den Abgrund des Unmenschlichen, hatte sie dem Prior der Abtei von Nieul gebeichtet, und er hatte sie absolviert. Aber wie konnte man die tief eingefres senen Spuren, die schmerzenden Erinnerungen an solche Momente verwischen? Das feine Profil übers Feuer geneigt, überliefen sie noch immer Schauder, befiel sie eine vage Übelkeit. Sie begriff Malaprade. Vor allem das Danach: das na menlose Entsetzen, den das ganze Wesen durchschüt telnden Sturm, das Grauen vor sich selbst. Sie warf Holz ins Feuer, um ihre bebenden Finger zu beschäftigen. Sie dachte, daß Elvire sehr mutig ge wesen sei. Sie besaß den Mut der reinen Seelen, derer, die »nicht wissen«. »Es ist nicht leicht, diese kleinen Hugenottinnen zum Reden zu bringen«, sagte sich Peyrac in Gedanken an Elvire. »Aber bei ihnen kommt man schneller zum Ziel als bei dieser da.« Und er beobachtete die vor dem Kamin kniende, so abwesende, trotz der Nähe ihm so ferne Angélique, daß sie nicht einmal seinen Blick spürte. Von »seinen Leuten«, den »Seinen« überhaupt, war sie die, die sich ihm am wenigsten öffnete. Soviel Unbekanntes war in ihr, das man nicht verletzen 504
durfte. Man mußte warten, bis sie von selbst kam, um Trost und Hilfe zu suchen. »Sie ist Frau. Die Frau ist nicht für die Hölle geschaf fen, was man auch darüber denken mag. Sie bewahrt lange die Scham über ihre Feigheiten, ihre Ängste, ihre Gemeinheiten … Sie ist nicht fürs Dunkel und die Unordnung geschaffen, sondern für das Licht und die Harmonie … Leide nicht so fern von mir, kleine Seele, ich kenne deine Schwäche. Es ist die Wunde des Lebens. Sie zu empfangen ist keine Schande. Es ist das Schicksal des Menschen. Wichtig ist nur zu wissen, wie man gesundet. Einst hatten die Frauen, die Kinder, der Bauer, der Handwerker, der gemeine Mann, hatten all die Schwachen einen Verteidiger. Es war der Ritter. Es war die Aufgabe des Ritters, sich für die Welt der Armen zu schlagen, die Rache auf sich zu nehmen, den Blutpreis für die zu zahlen, de ren Handgelenk und Seelenstärke nicht stark genug waren. Es gehörte zur Aufgabe des Ritters, den zu beschützen, der nicht für den Kampf, das Verbrechen, das Blutvergießen, das Unglück geboren war. Das war seine Rolle. Heute haben sich die Zeiten verändert. Es gibt kein Rittertum mehr. Jeder kämpft, so gut er kann. Die Frauen wehren sich mit Krallen und Zähnen, und der gemeine Mann – nun, er macht’s wie Malaprade, er erliegt der Furcht, der Panik. Der Mann der Masse ist für eine geruhsame Existenz bestimmt. Die unerwartete harte Konfrontation mit dem Leben, der Leidenschaft, dem Bösen läßt ihn den Kopf verlieren. Er ist nicht vorbereitet, er hat nie 505
geglaubt, daß ihm derlei passieren könne. In seiner Angst ist ein Mensch dieser Art zu allem fähig, zum Schlimmsten, zum Unausdenkbaren. Das einzige, was ihm wirklich bewußt wird, ist die Einsamkeit des Sünders. Ich kann mir diesen ehren werten, in seiner Stadt geachteten Mann recht gut vorstellen, wie er die noch warmen Körper seiner Frau und des anderen zerstückelt, und ich gestehe, daß diese Vorstellung mir mehr Mitleid als Entsetzen einflößt. Armer Bursche! Wo ist dein Verteidiger? Wo ist der, der dir dein Recht verschafft? Wäre der gewissenhafte, unbescholtene Handwer ker Malaprade als Edelmann geboren, hätte er die, die ihn verhöhnten, nicht ermordet, hätte er seiner blinden, wahnwitzigen Wut nicht nachgegeben. Er hätte seine Frau für den Rest ihres Lebens in ein Kloster einschließen lassen, sich mit ihrem Geliebten bei hellichtem Tag duelliert und ihn getötet, ohne Gefängnis oder Strick zu riskieren, denn dem Ritter war Straflosigkeit bei Tötung seines Gegners im of fenen Zweikampf zugesichert. Doch das Rittertum war tot, verschieden am Mißbrauch seiner Vorteile und Privilegien durch die Ritter selbst, und Kardinal Richelieu hatte ihm durch Verbot des Zweikampfs den Rest gegeben. Für was für eine Welt muß ich heute meine Söhne erziehen? Eine Welt, in der List und Geduld unbe stritten die wichtigsten Waffen sind. Aber auch wenn sie in den zweiten Rang verwiesen wird, bleibt die 506
Kraft dennoch unentbehrlich.« So in sein stummes Selbstgespräch versunken, rückte Peyrac ihr so fern, daß nun Angélique es war, der es auffiel und die den Blick zu ihm hob. Sie be trachtete den Mann, der dort saß und den tanzenden Flammen sein zerfurchtes Gesicht zuwandte. Wind, Sonne und Meer hatten seine Haut gleichsam in eine Maske aus Leder verwandelt, in der nur Augen und Lippen lebendig schienen. Sie näherte sich ihm und drückte ihre Stirn gegen seine Knie. »Wie bringt Ihr es nur fertig, immer der gleiche zu bleiben, niemals Furcht zu haben?« fragte sie. »Man könnte glauben, daß Ihr, was auch geschieht, nicht im stande seid, verächtliche Feigheit, Abscheu vor Euch selbst zu empfinden. Selbst vor dem Scheiterhaufen nicht, selbst nicht in der Folter … Wie macht Ihr es? Seid Ihr schon in Eurer Kindheit ein Mann gewe sen?« Da vertraute er ihr die Gedanken an, die ihm durch den Kopf gegangen waren: daß sie eine Zeit ohne Ehre und ohne Würde bestehen müßten, in der dem Menschen nichts übrigbleibe, als sich zu verstellen, sich hinter dem Anschein der Fügsamkeit unter die herrschenden Mächte zu verbergen oder allein auf sich gestellt zu kämpfen, soweit die eigenen Kräfte reichten. Man dürfe sich über die Niederlagen nicht wundern. Es sei schon viel, am Leben zu bleiben. Und was seine Kindheit, von der sie gesprochen habe, be treffe, erinnere er sich, schon sehr früh das volle Maß des Schreckens erfahren zu haben, denn er sei noch 507
nicht drei Jahre alt gewesen, als katholische Soldaten ihm mit einem Säbelhieb die Wange gespalten und ihn aus einem Fenster des brennenden Schlosses ge stürzt hätten. Damals, in der ersten Unschuld der Kindheit, habe er den mythischen Schock des Bösen verspürt, habe er alle Ängste in einer einzigen durchlitten. Er habe überlebt und sei ein Mann geworden, was besagen wolle, daß er seitdem bereit sei, allem und jedem die Stirn zu bieten. »Da bist du, Schrecken! Da bist du, Tod! Da bist du, scheußliches Antlitz der Angst der Menschen! Du kannst mich überwältigen, aber hoffe nicht mehr, mir Gefühle zu entlocken!« Er sagte ihr noch, daß sie sich der schwachen Stunden nicht zu schämen brauche, die sie während ihrer furchtbaren Prüfungen durchgemacht habe, denn sie sei Frau, und in der Feigheit der Männer, die gegen ihre Pflichten als Führer und Beschützer verstoßen hätten, finde sich der Ursprung des Übels, an dem sie leide. »Es ist ein alter Konflikt: die Versuchung für den Mann, brutale Kraft, weltliche Macht zu gebrau chen, um das, was ihm trotzt, zu brechen und die Belehrungen des Geistes durch Zwang zu unterdrük ken.« Sei er nicht selbst, obwohl ein Mann, diesem Verfahren zum Opfer gefallen? Denn der Wille des einzelnen könne gegen eine allzu mächtige Koalition nicht immer siegen. Es gebe eine Zeit für alles, so auch für die unwiderstehlich ansteigende schmutzige 508
Flut … »Unser Jahrhundert hat sich über die christliche Lehre hinweggesetzt und sich dafür einem wütenden Verlangen nach Herrschaft ergeben … Herrschaft um jeden Preis, wohin man auch blickt: die Könige, die Nationen, die Kirche … Wer nicht vernichtet wer den will, hat nur den einen Ausweg, gleichfalls nach Herrschaft zu streben. Doch unter dieser Lawine schwerer Steine muß der Geist dennoch bestehen und sich seinen Weg bahnen …« Er streichelte nachdenklich ihre glatte Stirn. Und mit geschlossenen Augen in seine Wärme und Kraft geschmiegt, erinnerte sie sich der Worte des klei nen arabischen Arztes, der Joffreys Freund gewesen war und ihr gesagt hatte, er, Joffrey, sei der größte Gelehrte seiner Zeit, und man werde ihn darum im mer verfolgen, »denn diese Zeit verweigert in der Tat die Belehrung des Geistes«.
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Neunundvierzigstes Kapitel
Wenn sie sich nebeneinander ausstreckten, liebte es Joffrey, in der stillen Kammer, in der nur noch die Seufzer ihrer Liebe und das Knistern der Flammen zu vernehmen waren, den Schein des Feuers langsam erlöschen zu sehen. Er liebte es, wenn über die gelösten, nackten Glieder seiner Frau rötliche und goldwarme Lichter huschten. Und wenn es sehr kalt war und seine Hand unter dem Pelzwerk nach den Geheimnissen dieses Körpers suchen mußte, blieb ihm noch der Schimmer, der von der gelösten Fülle blonden Haars ausging wie von phosphoreszierenden Algen und bei jeder sanf ten, träumerischen Bewegung ihres schönen Kopfes aufsprühte. Angélique war die einzige Frau, von der er sich auch in Gedanken nicht zu lösen vermochte. Selbst auf dem Höhepunkt der Lust blieb sie ihm gegen wärtig. Er wunderte sich darüber, denn er hatte viele Frauen umarmt und sie nicht selten vernach lässigt, wenn nur sein maskuliner Egoismus, mehr auf den körperlichen Genuß bedacht, den er ihrer Geschicklichkeit verdankte, als auf die Befriedigung ihrer Gefühle, auf seine Rechnung kam. Sie danach durch liebenswürdige Beteuerungen zu täuschen fiel ihm nicht schwer. Bei Angélique konnte er nicht vergessen, daß sie es 510
war, die er umschlang, daß sie es war, die zu bändigen, zu entzücken, zu berauschen in seiner Macht stand, daß es ihr Körper war, den er seinem Willen gefügig machte, daß es ihre hochmütigen Lippen waren, die sich besiegt unter den seinen öffneten. Sie blieb ihm unaufhörlich und höchst intensiv nahe. Es war vielleicht eine Gewohnheit aus den ersten Zeiten ihrer Liebe. Sie war so jung und scheu gewe sen, daß er, um sie zu zähmen, jede ihrer Reaktionen aufmerksam hatte beobachten müssen. Aber der Zauber erwies sich nun als beständig. Es war, als sei Angéliques Sinnlichkeit immer an ir gend etwas Verborgenes, Spirituelles in ihr gebunden, das selbst noch die schamlosesten Anwandlungen ih res schönen Leibes durchdrang. Und er fragte sich schließlich skeptisch und über rascht, ob sie nicht gar dabeisei, ihm das berauschen de Gefühl der Jugend zurückzugeben, das der reife Mensch im Verlauf des Prozesses der Gewöhnung an die Vergnügungen des Fleisches verliert. Eine gewis se Angst, Zweifel, Rücksichtnahme auf den andern und als Folge jene paradiesische Seite der Wollust, erfüllt von dem Bewußtsein, zu zweit zu sein und gemeinsam eine unwiderstehliche und gleichsam magische Vereinigung zu durchleben. Momente der Entrückung, der Trunkenheit, gemeinsames SichErgeben, rückhaltlose Hingabe und in der endlichen Erfüllung etwas wie ein Geschmack nach Tod und ewigem Leben … 511
Sie allein vermochte ihm das zu spenden, und er war entzückt über ihre Fähigkeit, die subtilen Mecha nismen der Lust des Mannes zu erahnen. Keine Bewegung, die sie nicht auszuführen – oder zu un terlassen – wußte, wenn es nötig war. Selbst wenn sie, blind und taub für alles, in den bodenlosen Abgrund tauchte, gehorchten ihr nach wie vor ihre Hände, ihr Körper, ihre Lippen, gaben frei oder boten sich an, geleitet durch das mysteriöse Wissen, das Eva ihren Töchtern vermacht hat. Sie blieb ihm gegenwärtig, weil er, wenn er ihren Körper besaß, niemals sicher war, ob er sie ganz besaß, ob sie ihm nicht wieder entwischen würde. Er wußte, daß sie die sehr jungen Frauen eigene Gelehrigkeit nicht mehr besaß. Sie hatte sie an den Dornen ihres Weges gelassen und durch eine luzide Unabhängigkeit, durch das Bewußtsein ihres Selbst ersetzt. In der Liebe hatte sie ihre guten und schlechten Tage. Die, an denen ihm schon das Strahlen ihres Lächelns ihre Geneigtheit verriet, und die anderen, an denen er, ohne daß sich in ihrem Verhalten etwas ge ändert zu haben schien, in ihr etwas wie Ablehnung, wie Abwesenheit witterte. Er definierte es als eine Schwankung der Anziehungskraft in den sie bewe genden Gefühlen. Dann machte er sich, sobald der Abend anbrach, das Vergnügen herauszufinden, durch welche Manöver er diese diffizile Stimmung umgehen, wie er sie wieder erwärmen und die schlummernde Flamme anblasen 512
konnte. Häufiger respektierte er diesen weiblichen Rück zug, dieses irrationale Bedürfnis, sich von dem Mann zu lösen, sich zu entfernen, hinter dem sich meist physische Müdigkeit verbirgt, zuweilen aber auch Gehorsam gegenüber ungreifbaren Befehlen, die Annäherung von Störungen wie eines Unwetters, eines Sturms oder ein moralisches Unbehagen oder eine nahe Gefahr, alles Dinge, die von Seiten dessen, der die Botschaft vernimmt, einen Zustand erhöhter Alarmbereitschaft fordern. Er ließ sie sich entspannen, ließ sie schlafen. Der Schlummer zerstreute die Trugbilder, und im Laufe der Nacht veränderte sich irgend etwas in ihr oder außer ihr, er wußte es nicht, und sie erwachte als eine andere. Dann war sie es, die sich ihm näherte. Die Dämmerung, der Halbschlaf der ungewissen Stunden, die dem Tag vorangehen, gab Angélique Kühnheiten ein, die sie, ganz wach, nicht gefunden hätte. Sie war heiterer, weniger unruhig. Eine betörende Sirene, glitt sie neben ihn, und im ersten schwachen Schein des Tages gewahrte er ganz nah den Glanz ihrer meertiefen Augen und den Schimmer ihrer Zähne, die ein Lächeln enthüllte. Er spürte den warmen Regen ihres seidigen Haars und das hauchleichte Geschenk ihrer anbetungswür digen Lippen in zahllosen Küssen. Mit dem uralten Wissen orientalischer Sklavinnen, die ihrem Herrn und Meister jede Mühe ersparen, führte sie ihn zum Verlangen, ohne daß er sich weh 513
ren konnte. »Habt Ihr im Harem Moulay Ismaels diese Wis senschaft erworben, Madame? Wollt Ihr mich die Odalisken vergessen lassen, die mir früher gefällig waren?« »Ja … Ich weiß, wie sie’s anstellen. Mein Sultan möge mir vertrauen.« Sie küßte heiß seine Lippen, seine Augen, und er überließ sich den Wonnen, die sie ihm schenkte. »Was für eine brave, kleine Gefährtin der Liebe Ihr abgebt, Mutter Oberin«, murmelte er noch. Er liebkoste ihre geschmeidigen Lenden, hielt sie in seiner Umarmung gefangen, und als sie wie vom Blitz getroffen quer über ihn sank, wurde er nicht müde, die rücklings ausgestreckte schöne Gestalt zu betrachten. Ungewisses Licht filterte zwischen den halbgeschlossenen Lidern hindurch. Aus dem leicht geöffneten Mund stiegen kaum hörbar keuchende Atemzüge. Es war wie ein sanfter Tod. Sie starb fern von ihm, an einem unbekannten Ort, und selbst diese Ferne war noch eine Huldigung für ihn. Er freute sich, wenn er sie in solchem Maße über wältigt sah. Die Frau, die aus diesem Winter, aus der Härte des Daseins im Fort mit seinen unter Frost und Dunkelheit begrabenen, aber für sie ganz von ihrer neuen Vertrautheit erfüllten Nächten erstehen wür de, die Frau, die diese Pilgerfahrt zu den Grenzen des Lebens mit all ihren Gefahren formen mußte, würde dennoch eine von ihm geformte Frau sein. 514
Ein Tag würde kommen, an dem die letzten Spuren der schmerzlichen Vergangenheit restlos getilgt wä ren … Es war noch nicht so lange her, daß sie sich ihm während eines sturmdurchtobten Abends auf der Gouldsboro bebend ausgeliefert hatte. Das, wovor sie sich seit der Nacht von Plessis fürch tete, hatte stattgefunden, ohne daß etwas Schreckli ches geschehen war. Da war nur dieses Gefühl von Traum gewesen, von Unendlichkeit, das sie im tiefen Wiegen des Schiffes überkam und das ihr Flügel ver lieh, die Flügel eines neuen Glücks. Hier war es die nächtliche Tiefe des Waldes und des Winters, die Unbewegtheit des nach Harz und Moos duftenden ländlichen Bettes. Wieder ein Traum, von lastender Stille, kaum ge stört durch die fernen Laute der Kojoten oder Wölfe. Ein außerhalb der Zeit gelebter Moment. Eine sanfte Reise. Die Verwirklichung des Wunschbildes von einem geborgenen Ort, wo man in der Wärme der Liebe schlief. Er hatte ihr nicht den Palast, das Haus geben kön nen, von dem er träumte. Aber da war das Bett. Das Bett! Die Nacht! … Damals in Toulouse hatten sie nachts nur selten zu sammen geschlafen. Sie hatten die Tage zum Lieben, die köstlichen Siesten. Hier jedoch taten sie es den Bedürftigen, den ar men Teufeln nach: Es gab nur die Nacht. 515
Es atmete sich gut neben seiner ruhigen Kraft. Zuweilen erwachte sie und betrachtete den Schla fenden. Sie beneidete ihn um seine männliche Un empfindlichkeit, die ihn so ruhig sein ließ, während die Frauen die Trugbilder ihrer Einbildungskraft in ihrem Fleisch verspüren. Die letzten Flämmchen waren erloschen, die pur purne Glut im Kamin fand an den Deckenbalken kei nen Widerhall mehr. Es war tiefe Dunkelheit, erfüllt vom Parfüm der Asche. Sie sah nichts, aber mit einem Gefühl stiller Freude vernahm sie neben sich das regelmäßige Geräusch seines Atems. Alle ihre Sehnsüchte, all ihr zielloses Umherirren endeten bei ihm. Und er war ihr Gatte, er würde sie nie mehr verlassen! Sie streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, zu erkunden, gerührt durch die sehnige Härte dieser kantigen Formen. Da zog er sie im Schlaf mit in stinktiver Bewegung an seine kraftvolle, von Narben gezeichnete Brust. Narben fanden sich überall an sei nem Körper. So viele Male war sein Leben bedroht gewesen, so oft hatte man ihn gefoltert! Von den furchtbaren Stunden waren nur diese Spuren geblieben, die ihn nichts mehr angingen. Viele waren völlig verschwun den. »Ihr sagtet eines Tages, jedes dieser Zeichen trüge den Namen einer anderen Sache, für die Ihr Euer Blut habt vergießen müssen.« 516
»Richtiger wäre zu sagen, daß es die Namenszüge meiner ebenso zahlreichen wie vielartigen Feinde sind. Die schlimmsten? Die des Henkers des Königs von Frankreich. Die schönsten? Die der Duelle und Kämpfe im Mittelmeer. Man geht dort gut mit dem Säbel um, und der Säbel ist eine Waffe, die große, klare Wunden schlägt. Das Loch da in der Seite? Ein Pistolenschuß in der Karibischen See, spanisch oder französisch, ich weiß es nicht mehr. Die letzte hier auf der Stirn, die Ihr mit Euren schönen Händen so zart gepflegt habt: der Tomahawk eines von Neufrankreich bewaffneten Abenakis. Vielleicht die erste einer langen Reihe.« »Schweigt! Ihr macht mir Angst.« »Nun zeigt Ihr mir Eure heroischen Male, meine Schöne, meine Kriegerin.« Doch Angélique zog das Laken und alles Pelzwerk über sich, um sich zu verbergen. »Niemals! Die Narben der Männer sind Zeichen des Ruhms. Sie erhöhen ihr Prestige und berich ten von ihren Taten. Die der Frauen sind Irrtümer, Ungeschicklichkeiten, Male des Lebens, Beweise da für, daß sie sich in etwas eingemischt haben, was sie nichts anging, Spuren des Versagens …« »Zeigt sie mir.« »Nein. Es gibt nur die eingebrannte Lilie.« Eines Abends glückte es ihm, den zarten Knöchel Angéliques zu erwischen und dem Licht zuzudrehen, weil er die violett verfärbte Narbe betrachten wollte, die sie von ihrer Flucht aus Marokko zurückbehalten 517
hatte. Sie mußte erzählen. Es war in der Wüste gesche hen. Eine Schlange hatte sie gebissen. Colin Paturel hatte die winzige Wunde mit einem Messer erweitert und ausgebrannt. Sie war dabei in Ohnmacht ge fallen. Und dann? … Nun, Colin hatte sie tagelang auf seinem Rücken weitergeschleppt. Nur sie beide waren übriggeblieben. Die andern Gefährten waren unterwegs gestorben. Von Colin Paturel sprach sie nur sehr zurückhal tend. Als ob Joffrey hätte etwas ahnen können! Und doch hatte sie zuweilen den Eindruck, daß er mehr davon wisse, als ihr lieb war. Er preßte sie an sich und beobachtete sie auf eine gewisse Art, die sie ein wenig aus der Fassung brachte. Doch wenn auch die Erinnerung an ihre Odyssee in Marokko trotz aller Mühsal durch den Zauber der schlichten Liebe des Normannen für sie von einer Aureole der Schönheit umgeben blieb, begriff sie nicht mehr, wie sie sich ihm hatte hingeben können. Alles, was sie an Sinnenfreuden in den Armen ihrer Liebhaber von einst erfahren hatte, kam ihr, wenn sie daran zurückdachte, unwichtig vor. Es war angenehm gewesen, das war alles. Doch im Licht der neuen Entdeckungen schienen ihr diese Erlebnisse unvoll ständig. Sie wußte nicht mehr, welcher Macht das Wieder erwachen ihrer Lust zuzuschreiben war, wenn sie in seinen Armen lag. Sie entdeckte sich jedesmal wie eine Unbekannte, unablässig Enthüllungen preisge 518
geben, die sie erstaunten und berauschten. Wenn sie dann nach kurzem Schlaf wieder zu sich zurückfand, warf sie sich manchmal vor, allzu sinn lich zu sein. Die calvinistische Mentalität, deren Einfluß sie bei den Protestanten La Rochelles ausgesetzt gewesen war, meldete sich wieder und trieb ihr heiß das Blut in die Wangen. Er sah ihr aus den Augenwinkeln zu, wie sie sich mit Strenge ankleidete und die weiße Leinenhaube so fest über das straff verflochtene schöne Haar zog, daß auch nicht die kleinste Strähne darunter hervorsah, offenbar in dem ein wenig verspäteten Bestreben, die allzu freizügigen nächtlichen Verlustierungen unge schehen zu machen. Sie hatte keine Ahnung, daß diese Befreiung ihres Seins, dieses Aufblühen ihrer Sinne nur allzu normal waren, daß das Stadium der Reife auch das Stadium der Lust für die Frauen ist. Dem ein wenig unge schliffenen Verlangen der Jugend nach den Spielen der Liebe folgen die Raffinessen der Entdeckungen. Wenige wissen oder begreifen es. Das Erwachen Dornröschens bedarf keines Jahr hunderts, aber einige Jahre braucht es doch. Es kommt der Zeitpunkt, an dem der unwissende Körper zur geweihten Stätte geworden ist. Von nun an können sich die ewigen Riten in all ihrem Zauber vollziehen. Und der Blick verrät es. Es gibt nicht viele Männer, die sich darin täu schen. 519
Es ist das Alter, in dem die Frau oft den Höhepunkt ihrer Schönheit erreicht. Denn während die Erfah rungen des Lebens ihre Persönlichkeit, ihr inneres Wesen bereichern, scheint das Phänomen der Voll kommenheit auch ihre äußere Gestalt bis in ihre Gesten, ihre Stimme, ihren Gang zu verwandeln. Sie ist endlich sie selbst, vollendet, im vollen Besitz all ihrer Gaben, des Charmes, der Schönheit, der Weiblichkeit, des Herzens, der Intuition. Und auch der Jugend … Unwiderstehliche Verbindung, die, vorausgesetzt, daß sie sich die Werte zu bewahren weiß, aus denen sie sich zusammensetzt, aus der Frau dieses Alters das gefährlichste Geschöpf der Liebe macht, das man sich nur erträumen kann. So sah sie der Leutnant de Pont-Briand, als ihm an einem klaren, eisigen Morgen Angélique am Rande des Sees erschien, den er nach einem verrückten Marsch von vielen Tagen erreichte.
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Fünfzigstes Kapitel
Der See war gefroren. Der Schnee bedeckte ihn völlig. Es war eine glatte, unberührte Ebene. Der Leutnant de Pont-Briand überquerte sie mit seinem barbarischen Schritt, der den Samt des prachtvollen weißen Teppichs zerstörte, indem er ihn mit den run den Spuren seiner Schneereifen zeichnete. Er kam nur schwer und mühselig voran, die Augen vor sich ins Weite gerichtet. Er hatte Angélique bemerkt: Sie! Sie war es! … Sie lebte also wirklich. Er hatte so oft davon geträumt, sie wiederzusehen. Nun wurde es wahr. Angélique stand auf dem Pfad am Rande des Sees, sah ihm entgegen und glaubte ihren Augen nicht trau en zu dürfen, die diese fremde Gestalt gewahrten. Die bläuliche Frische des Wintermorgens lag noch über dem Talkessel mit seinen Wäldern und steilen Hängen, in dem sich das Fort verbarg. Der Himmel: weder golden noch silbrig, noch rosig, noch blau, sondern wie farbloses, durchsich tiges Wasser. Nur dort, wo die Hänge sich zu den Wasserfällen senkten, Streifen lilafarbenen Gewölks. An den Berggipfeln im Westen zeigten sich plötzlich Spuren blassen Rots, Widerschein der Sonne, die ge genüber aufgehen würde, aber noch hinter der Mauer der schwarzen Tannen verhielt. Eine zweite, in Pelzwerk gehüllte Gestalt tauchte nun aus dem kalten Schatten am äußersten Ende des 521
Sees. »Wer sind sie?« fragte sich Angélique. »Franzosen? Mein Gott! Gibt’s noch mehr davon?« Der kanadische Leutnant überquerte den See wie in einem Zustand der Hypnose. Seinem durch zwei Wochen erschöpfenden Marsches betäubten Geist schien es wie ein untrügliches Zeichen des Gelingens, daß gerade sie die erste war, der er bei der Annäherung an den Schlupfwinkel des Grafen de Peyrac begegne te. Als ob sie ihn erwartet hätte! Als ob sie unabläs sig gehofft hätte, ihn in ihrer von brutalen Burschen bevölkerten Einsamkeit wieder erscheinen zu sehen. Das war es, was er sich einbildete. Während er sich ihr näherte, wurde ihm jäh eine Erleuchtung zuteil: »Schließlich ist sie nur eine Frau. Sicher eine Enttäuschung … wie die andern auch. Warum also dieser Irrsinn?« Doch schon im nächsten Moment überkam ihn wieder die Verblendung, nun hundertfach verstärkt durch die Wirklichkeit des Anblicks, der sich seinen Augen bot. Jubel stieg in ihm auf und verdrängte Erschöpfung und Zweifel. »Ja, es war der Mühe wert. Hundertfach war’s der Mühe wert …« Angélique starrte ihn sprachlos an. Es schien ihr un möglich, daß diese tote, gefrorene Landschaft Reisen den Durchlaß gewährt haben könnte. Schwankend war er vor ihr stehengeblieben. Er war so lange und so schnell marschiert, daß die plötz 522
liche Reglosigkeit ihn betäubte, und er hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. Die Aureole des Sonnenlichts zitterte um die Wipfel der Bäume, einzelne Strahlen schossen schon leuchtend über das Tal. Gleich würde sie aufgehen. Und da war sie und entzündete ringsum im Schnee zahllose glitzernde Funken. »Soviel Schönheit«, dachte Pont-Briand, »soviel Schönheit! O mein Gott!« Er hatte also nicht geträumt. Sie war ebenso schön wie das Bild, das seine Erinnerungen von ihr bewahrt hatten. Ein Strahlen schien von ihr auszugehen, noch leuchtender als das funkelnde Licht des Morgens. Im Schatten der dicken Kapuze, die ihren Kopf umhüllte, glänzten ihre roten Lippen wie ein kost bares Schmuckstück, und ihre Wangen glühten in der frischen Farbe der Heckenrosen. Es war wie frühlingshaftes Aufblühen, diese beiden Nuancen zarten und kräftigen Rots, die ihrer Haut Leben ein hauchten und diesem Antlitz mit den harmonischen, fast hieratischen Zügen einer Madonna jugendliche Frische verliehen. Eine Strähne fahlen Golds streifte ihre Stirn. Der wassergrüne, ernste einschüchternde Blick musterte ihn, durchforschte und beurteilte ihn und schien gleichzeitig über ihn hinwegzusehen. Ein hundertjähriger Blick, der Blick der Feen mit fünf Menschenaltern und einem Körper von unvergäng licher Jugend. Ein Geschöpf, das alles weiß, alles kennt, alle Macht 523
besitzt und alle Gaben der Verführung. Zauberin, Göttin, Fee … Ja, das war die Frau. Oder vielleicht die Dämo nin! … Er hatte zu dem davon gesprochen, der ihn in sei nem Fort Sainte-Anne am Saint-François-Fluß aufge sucht und zu diesem Narrenstreich ermuntert hatte. »Wenn sie so schön ist, wie Ihr sagt, kann es nur eine Falle des Bösen sein …« Er betrachtete sie. Angéliques von der Sonne gebleichte Brauen run zelten sich leicht. Es war, als zöge der Schatten einer Wolke über die grüne Klarheit ihrer Augen und weck te in ihnen unversehens dunkle Tiefen. Sie zögerte bei seinem Anblick. In der eisigen Kälte ließ der Hauch ihres Atems im Sonnenlicht eine kost bare, flüchtige Aureole um sie entstehen. Nach den ersten Augenblicken des Entzückens verspürte Pont-Briand ein Gefühl der Angst, dessen er sich in seinem Schwächezustand nicht erwehren konnte. Mit brüsker, heiserer Stimme stieß er hervor: »Ich grüße Euch, Madame. Erkennt Ihr mich nicht?« »Gewiß! Ihr seid der Leutnant de Pont-Briand.« Er zitterte, denn der Klang ihrer Stimme, Echo sei ner Erinnerung, bewegte ihn. »Woher kommt Ihr nur?« fragte sie. »Von dort oben«, erwiderte er mit einer nordwärts weisenden Geste. »Zwei Wochen Sturm oder unab lässig fallender Schnee. Ein wahres Wunder, daß mein 524
Hurone und ich nicht von ihm verschüttet wurden.« Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie gegen alle Gesetze der Gastfreundschaft verstieß, zu denen die Rauheit des Landes nötigt. Wenn der Reisende, der lange Tage durch die weiße Wildnis marschiert ist, ohne einen anderen Laut als den des Windes oder seiner eigenen Stimme zu hören, endlich an den gesegneten Ort gelangt, über dem sich das rettende Zeichen einer Rauchfahne erhebt, will es das Gesetz, daß man ihn aufnimmt, wärmt und stärkt, denn er ist der stummen Feindseligkeit der Natur entwischt und hat zu den Menschen zurückgefunden. »Ihr müßt erschöpft sein!« rief sie. »Kommt schnell zum Fort. Könnt Ihr noch bis dahin laufen?« »Nach so vielen Meilen werde ich auch noch diese wenigen Klafter hinter mich bringen. Die Rettung ist nahe. Was sage ich? Sie ist da! Denn schon Euer Anblick gibt mir alle meine Kräfte zurück.« Und er zwang sich zu einem Lachen. Die Posten kamen ihnen mit schußbereiten Muske ten entgegen. Nachdem die beiden Spanier durch allerlei Zeichen den französischen Leutnant befragt hatten, ob er allein sei, ging einer von ihnen der größeren Sicherheit wegen weiter, den Spuren des Ankömmlings folgend. Auch der Hurone stieß nun humpelnd zu ihnen. »Er ist von einer Klippe gefallen«, erklärte PontBriand. »Ich habe ihn zwei Tage lang tragen müssen.« Angélique ging voran. Auf dem hartgetretenen Pfad brauchte sie keine Schneereifen. 525
Das Fort war jetzt von Sonnenlicht überflutet. Der Klang der Stimmen, das Klopfen der Hämmer, das Gelärm aus der Werkstatt hallten weit in der klaren Luft. Die Kinder spielten kreischend rund um das Holzbassin. Gefrorene Wasserpfützen dienten ihnen als Rutschbahnen. Ein paar von den Männern liefen eilig herzu, um die Ankömmlinge näher in Augenschein zu nehmen. »Franzosen! …« Es fehlte nicht viel, und sie wären zu den Waffen gestürzt. »Sie sind allein«, beschwichtigte Angélique und schickte einen von ihnen, den Grafen de Peyrac zu holen. Pont-Briand löste die Schneereifen von seinen Stiefeln und lehnte sie außen gegen die Mauer. Seine Muskete rutschte ihm in den Schnee, und er hatte nicht mehr die Kraft, sie aufzuheben. Hinter Angélique stieg er schwerfällig die Stufen hinab, die zum Vorraum und zum Gemeinschaftssaal des kleinen Forts führten. Nur zwei Fenster erhellten ihn. Man hatte sie geöffnet, und die Sonne fiel herein, doch das von Tabakduft und dem nahrhaften Ruch warmer Suppe erfüllte Halbdunkel verschaffte ihm den Eindruck, ins Paradies zu treten. Er sank auf eine Bank am Tisch. Der Indianer schlich wie ein kranker Hund bis zum Kamin und kauerte sich gegen den steinernen Sockel. Die Fell kleidung beider war starr von Frost. Angélique fachte die Glut beider Feuerstellen an. In die der einen legte sie zum Erhitzen grünliche 526
Gesteinsbrocken, die fürs Dampfbad gebraucht wur den. In den Kesseln brodelte es bereits. »Ihr habt Glück. Heute ist gesalzener Speck im Topf, dazu Erbsen und Zwiebeln. Wir feiern den er sten Sonnentag nach dem Sturm.« Sie beugte sich vor, um den Deckel vom Kessel zu nehmen, und bei dieser Bewegung erahnte er unter den Falten des kurzen Mantels ihre runden Hüften. Ein Schwindel benahm ihm für einen Moment die Sinne. Es war also wahr! Sie lebte! Sie war hier! Er hatte nicht vergeblich geträumt! … Angélique füllte einen Napf und reichte ihn ihm zusammen mit einem Becher Branntwein. Dann kam der Hurone an die Reihe. »Wir können Euch keine großen Genüsse bieten. Unsere Vorräte sind in Katarunk verbrannt. Ihr habt sicherlich davon erfah ren.« »Ja. Ich habe die verkohlten Reste gesehen.« Er lauschte ihrer harmonischen Stimme, vergaß zu essen, verschlang sie mit den Augen. »Dieser Bursche benimmt sich noch närrischer als das erste Mal«, sagte sie sich ergeben. Laut forderte sie ihn auf: »Eßt nur.« Er gehorchte und begann langsam und mit Appetit zu essen. Er fühlte sich glücklich. Von der Tür aus wurde er argwöhnisch beobachtet. Der Spanier hielt es noch immer für nötig, ihn zu überwachen. Pont-Briand merkte nichts davon, hörte nichts, 527
sah nur Angélique. Er hatte sich diesen Augenblick schwer genug verdient. »Das Fort ist verbrannt, aber Ihr habt es fertigge bracht, mit heiler Haut davonzukommen«, sagte er. »Wie seid Ihr den Irokesen entwischt? Als man in Québec davon erfuhr, war alle Welt wie vom Donner gerührt.« »Man ist wohl kaum sehr erfreut darüber gewesen, nicht wahr? Unser Todesurteil war ja unterschrieben … trotz Monsieur de Loménie.« Sie forderte ihn mit verdunkelten Augen heraus … »Wie schön sie ist!« sagte er sich. Angélique hatte ihren Umhang über einen Schemel geworfen und ein Sträußchen kleiner schwärzlicher Buchszweige daraufgelegt, die sie an diesem Morgen am Waldsaum unten am See gebrochen hatte. Pont-Briand bewunderte ihre schlanke Gestalt und ihre trotz der derben Kleidung unvergleichliche Erscheinung. »Sie ist eine Königin!« dachte er. »In den Salons in Québec sähe man nur sie. Was hat sie in diesen Wäldern zu suchen? Man müßte sie hier her ausreißen …« Ihr Anblick entfachte ein Feuer in ihm. Selbst in dem Zustand der Erschöpfung, in dem er sich befand, weckte sie seine Lüsternheit. Wie damals, als er sie zum erstenmal unter den Bäumen gewahrte, empfand er etwas wie einen jähen Schock, eine mit Furcht vermischte Anziehung, etwas absolut Neues. Noch halbtot, wie er war, konnte er sein Verlangen nach ihr nicht unterdrücken. 528
Nach und nach durchdrang ihn die Wärme des Raums. Während die schmackhafte Nahrung seinen schmerzenden Magen füllte, überließ er sich müde der süßen, gebieterischen Spannung seines Körpers, versuchte nicht einmal, sie zu kontrollieren, empfing sie vielmehr wie ein Unterpfand des Lebens und der Wiedergeburt nach den tödlichen Stunden, die er hinter sich hatte. Diese Frau hatte unleugbar erotische Macht über ihn. Es war der Mühe wert, gekommen zu sein und bei diesem Unternehmen um Haaresbreite seine Haut gelassen zu haben! Vielleicht war sie eine Dämonin? Aber was tat’s? »Wer wollte wohl Euren Untergang?« protestierte er, während er sich bemühte, seine aufgesprungenen Lippen in ein betörendes Lächeln zu zwingen. »Nicht einmal ich, den Ihr bei unserer ersten Begegnung so liebenswürdig bepfeffert habt.« Die Erinnerung an seine Sprünge auf den Steinen der Furt und den Sturz ins Wasser brachte Angélique zum Lachen, und dieses frische, spontane Gelächter überwältigte Pont-Briand völlig. Als sie sich näher te, um ihm seinen Napf abzunehmen, packte er ihr Handgelenk. »Ich bete Euch an«, murmelte er mit dumpfer Stimme. Sie hörte auf zu lachen und löste sich von ihm, in dem sie ihm einen ärgerlichen Blick zuwarf. In diesem Augenblick trat Peyrac in den Saal. »Da seid Ihr also, Monsieur de Pont-Briand«, sagte 529
er in einem Ton, der keinerlei Überraschung verriet. Es klang, als habe er ihn erwartet. Der Leutnant richtete sich nicht ohne Mühe auf. »Bleibt nur sitzen. Die Kräfte fehlen Euch. Ihr kommt vom Sankt Lorenz? Es braucht ungewöhnli chen Mut, um sich in dieser Jahreszeit in die Wildnis des Hinterlands zu wagen. Aber Ihr seid ja Kana dier.« Pont-Briand suchte tastend in der Tasche seiner Joppe nach seiner Pfeife. Der Graf reichte ihm Tabak. Der Hurone hatte bereits mit halbgeschlossenen Augen sein Kalumet gestopft. Angélique brachte jedem einen glühenden Span. Einige Züge schienen den Leutnant wiederzubele ben, und er machte sich daran, die Schwierigkeiten zu beschreiben, denen er auf seinem Wege begegnet war. Die Schneestürme hatten sie mehrmals in die Irre geführt. »Und was zwang Euch zu dieser Reise, allein und im Winter?« fragte der Graf. »Habt Ihr eine Mission zu erfüllen?« Pont-Briand schien ihn nicht zu hören. Dann fuhr er zusammen, als erwache er aus einem Traum. Der Blick, den er Peyrac zuwandte, ließ kein Verstehen erkennen. »Was meintet Ihr?« »Das, was ich sagte. Hat Euch der Zufall zu uns geführt?« »Gewiß nicht.« »Ihr hattet also die Absicht, unsere Niederlassung 530
hier zu erreichen? Uns hier zu treffen?« »Ja.« »Und zu welchem Zweck?« Von neuem fuhr Pont-Briand zusammen, und sein Blick schien zum erstenmal den zu sehen, mit dem er sprach, und zu begreifen, wer es war. Er antwortete nicht. »Ich glaube, er ist zum Umfallen müde«, meinte Angélique gedämpft. »Wenn er sich erst ausgeruht hat, wird er uns schon sagen, weshalb er gekommen ist.« Doch Peyrac gab nicht nach. »Warum also? Hat man Euch beauftragt, uns eine Botschaft zu überbringen? Was könnte sonst der Grund für eine so gefährliche Reise sein?« Pont-Briands Blick glitt ziellos durch den Saal. Mehrmals strich er sich mit der Hand über die Stirn. Dann gab er eine seltsame Antwort: »Weil ich es mußte, Monsieur. Weil ich es mußte.«
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Einundfünfzigstes Kapitel
Der Abend kam – allzu schnell sank die Dunkelheit herab. Der Leutnant de Pont-Briand fühlte sich, als sei sein Bewußtsein gespalten. Seine Gesprächigkeit war zurückgekehrt, und er unterhielt die Tafelrunde mit seinen Berichten und den Neuigkeiten, die er aus Neufrankreich mitbrachte. Sein Teint hatte seine üblichen frischen Farben wiedererlangt. Er erzählte von Québec, wo er kürzlich gewesen war, von einem Ball, den man dort gegeben, einem Theaterstück, das man im Jesuitenkollegium aufgeführt hatte. Angélique hörte ihm mit halbgeöffneten Lippen interessiert zu, denn er war ein guter Plauderer, und was er vor ihr heraufbeschwor, die Städte, die drei Städte des Nordens, Québec, Trois-Rivières und Montréal, reizte ihre Neugier. Verschiedentlich lachte sie hell auf, angeregt durch die Komik seiner Schilderungen, und Pont-Briand konnte nicht umhin, ihr jedesmal einen Blick zu zuwerfen, dessen Glut er zu verbergen suchte. Er erinnerte sich nicht, dieses kehlige Lachen schon von ihr gehört zu haben, das ihm ein Prickeln bis in die Haarwurzeln trieb. Immerhin war ihm klar, daß er vorsichtig sein mußte. Der Graf de Peyrac hatte ihn nicht wieder nach dem Grund seiner Reise ge fragt, den zu erklären ihm auch schwergefallen wäre. So plauderte ein Teil seines Selbst fröhlich mit der 532
Gesellschaft, während der andere die Schrecken der letzten Monate qualvoll noch einmal durchlebte, in denen er sie zunächst für tot gehalten hatte und das Dasein ihm so trostlos erschienen war, daß ihm sogar der Geschmack am Tabak verging. Niemals waren ihm die Tage so endlos lang vor gekommen. Er sah sich auf dem Wall seines Forts, den Blick zum Horizont gerichtet, als ob dort eine weibliche Gestalt auftauchen könnte, oder in die Betrachtung des Flusses versunken, dessen Eispanzer das Murmeln der Wellen zum Schweigen gebracht hatte. Er hatte brutal das indianische Mädchen ver jagt, mit dem er seit zwei Jahren lebte, und da es die Tochter eines örtlichen Häuptlings war, hatte er Unannehmlichkeiten deswegen gehabt. Es war ihm egal. Und dann, plötzlich, war die Nachricht einge troffen, man wußte nicht wie, daß die Fremden von Katarunk keineswegs unter den Dolchen der Irokesen den Tod gefunden hätten. Sie seien in die Berge ge flohen … Und die Frauen? Ja, die Frauen auch! … Es könnten nur Schützlinge des Teufels sein, wenn sie einem solchen Überfall entkommen wären … Danach war für Pont-Briand alles noch unerträgli cher geworden. Er hatte sein altes Leben wiederauf nehmen, wieder wie früher werden wollen. Er hatte es mit anderen indianischen Frauen versucht, jungen, herausfordernden. Er hatte sie alle zurückgeschickt. Er verabscheute ihre fettige, glänzende Haut. Er träumte 533
von lichter, frischer Haut mit zartem, pikantem Duft, einem Duft, der bei jeder Bewegung auffliegt, in die Nüstern steigt und berauscht. Selbst ein Detail, das ihm anfangs bei den klei nen Indianerinnen sehr gefallen hatte – das Fehlen jeder Körperbehaarung –, widerstrebte ihm heute wie eine Anomalie. Er träumte von einem seidigen Vlies, das sich vom Weiß einer zarten Haut abhob. Vorausgesetzt, daß sie sich nicht die Haare auszupf te, wie es die großen Damen tun. Aber konnte sie in dieser Wildnis, in die ihr fürchterlicher Gatte sie ver schleppt hatte, große Dame bleiben? Noch nie hatte eine weiße Frau in den Wäldern gelebt. Es war das erstemal, und es war verrückt. Unmoralisch. Man sprach in ganz Québec und längs des Flusses bis nach Montréal davon. Monsieur de Loménie hatte vergeblich daran er innert, daß sich Mademoiselle Mance, die Monsieur de Maisonneuve und seine Leute zur Insel von Montréal begleitete, wo sie Ville-Marie gründeten, in einer ähnlichen, ja womöglich noch bedenkliche ren Situation als Madame de Peyrac befunden hatte. Man hörte nicht auf ihn. Allenfalls wurde ihm entge gengehalten, daß Monsieur de Maisonneuve die un sichtbaren Scharen der Engel und Heiligen und zwei dafür um so sichtbarere Feldprediger bei sich gehabt und höchstpersönlich das Kreuz auf dem Mont Royal aufgepflanzt habe, während diese Peyracs sich von gottlosen, unzüchtigen und ketzerischen Männern 534
begleiten ließen, unter denen sie sich zweifellos ihre Liebhaber auswählte. Und im übrigen habe kein Mitglied der unter dem besonderen und speziellen Schutz der Heiligen Jungfrau und dem dreifachen der Heiligen Familie stehenden Gesellschaft der Frauen Montréals je die Ufer des Flusses verlassen … Pont-Briand wußte, was man sich erzählte. Gelegentlich einer Reise, die er nach Québec hatte unternehmen müssen, war er vor den Areopag des Großen Rats zitiert und von Monseigneur Lorval, den Jesuiten und später unter vier Augen auch von Gouverneur Frontenac befragt worden. Er wieder holte allen, daß diese Frau die schönste der Welt sei, daß sie – er könne es nun einmal nicht verheimlichen – sein Herz entzückt habe. Seine immer dithyram bischeren Beschreibungen schufen eine Atmosphäre der Hysterie um die unbekannte Frau. Auf den Gassen starrte man ihm mit einer Mischung aus Neid und Grauen nach. »Seht nur, in was für einen Zustand sie ihn gebracht hat! … Mein Gott! Ist es möglich? … Und das nur mit einem Blick!« Seine Besessenheit wollte nicht schwinden. Er träumte. Er träumte von ihr. Zuweilen war es der Klang ihrer Stimme, an den er sich erinnerte, zuwei len die vollkommene Rundung des Knies, auf die sein Blick gefallen war, als er ohne anzuklopfen das kleine Wohnhaus in Katarunk betreten hatte. Er stellte sich dieses glatte marmorweiße Knie vor, er sah sich, wie er es streichelte, um mit sanftem Nachdruck prachtvolle Beine zu öffnen … und dreh 535
te sich stöhnend auf seinem Lager. Und nun war er in Wapassou, zwei Schritt von ihr entfernt, und verspürte noch schärfer dieses aus Begierde und Furcht gemischte Gefühl, das ihn so lange verfolgt hatte. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er hatte an die sem Abend viel und schwungvoll gesprochen, aber sein Glas war leer, und man füllte es nicht mehr. Die Männer begannen sich zum Schlafen zurückzuzie hen … In seinem Fort Sainte-Anne hatte er einen Besuch er halten, und erst danach hatte er sich dazu entschlos sen, sich auf den Weg zu ihr zu machen. Zuvor hatte er nicht daran gedacht. Der Marsch wäre zu Anfang des schon hart einsetzenden Winters eine Unklugheit gewesen, und außerdem hatte er seine Pflichten wahrzunehmen. Doch der, der gekommen war, hatte alle seine Skrupel beseitigt, einschließlich der Sorge, es allein und so gut wie waffenlos mit einer Schar ver dächtiger Leute aufnehmen zu müssen. An diesem Abend, an dem er allein an der langen Tafel zurückgeblieben war, hatte er deutlich empfun den, unter Feinden, Fremden zu sein. Weder war ein gemeinsames Gebet gesprochen worden, noch gab es hier, wie er mit einem raschen Rundblick feststell te, ein Kruzifix. Und auch draußen hatte man kein Kreuz errichtet. Englische und spanische Laute waren an sein Ohr gedrungen. Der Pater hatte recht! Es wa ren Ungläubige und Gottlose, wenn nicht gefährliche 536
Ketzer. Sein Blick schweifte noch einmal durch den Raum. Sie war nicht mehr da. Sie hatte sich zurückgezo gen. Hinter jener verschlossenen Tür dort drüben würde sie an der Seite des Narbigen schlafen, sich ihm vielleicht gar hingeben. Pont-Briand durchlitt tausend Tode. Was er da unternommen hatte, war Wahnwitz. Sie war von anderer Wesenheit, ihm un zugänglich … Und dann erinnerte er sich wieder der ermuti genden Stimme: »Diese Frau einem unmoralischen Dasein zu entreißen ist ein frommes Werk und wird Eurem Seelenheil angerechnet werden. Nur Ihr könnt es zuwege bringen.« Er hatte damals brüsk gefragt: »Und wenn sie wirklich eine Dämonin wäre?« »Meine Gebete werden Euch schützen.« Der, der gekommen war, trug eine schwarze Kutte, und auf seiner Brust hing ein Kruzifix aus Holz und Kupfer. Über dem Bildnis des Gekreuzigten glühten eingelassene Rubine. Der Mann hielt sich ein wenig gebeugt, denn er litt noch an einer Verletzung, die ihm Irokesen kürzlich bei einem Überfall in der Nähe Katarunks beigebracht hatten. Er hatte dunkelblaue Augen von großer Schönheit, tief eingebettet unter buschigen Brauen, und einen gekräuselten goldbrau nen Bart, der einen freundlichen, sanften Mund ver barg. Oft verglich man sein Gesicht mit dem Christi. Er war mittelgroß und kräftig. Pont-Briand mochte ihn nicht. Er hatte Angst vor ihm wie vor all diesen 537
Jesuiten, die zu intelligent sind und einen am lieb sten um das bißchen Spaß bringen möchten, das das Dasein bietet. Seine durch irokesische Torturen verstümmel ten Hände flößten dem Leutnant Widerwillen ein, obgleich er seinen Waldläuferfreunden gegenüber, l’Aubignière zum Beispiel, denen die gleiche Folter zuteil geworden war, nie ein ähnliches Gefühl ver spürt hatte. Er wunderte sich über den Besuch Pater d’Orgevals, von dem er argwöhnisch annahm, daß er ihn seiner Unbildung wegen verachtete. Aber der Jesuit hatte überaus freundschaftlich mit ihm gesprochen. Er wisse, hatte er gesagt, daß Pont-Briand bis über die Ohren in die fremde Frau verliebt sei, die er am obe ren Kennebec getroffen habe. Es schien ihn keineswegs zu schockieren, im Gegenteil! Gott habe dieses Gefühl einem ehrli chen, christlichen und obendrein noch französischen Mann vielleicht eingeflößt, um den Gefahren zu be gegnen, die Akadien und Neufrankreich durch die widerrechtliche Anwesenheit des Grafen de Peyrac, Renegaten und Verräters im Dienste der Engländer, drohten. »Ihr wißt also, wer er ist, Pater? Woher er kommt?« »Ich werde es bald erfahren. Ich habe meine Boten in alle Himmelsrichtungen geschickt, sogar nach Europa.« »Seid Ihr es gewesen, Pater, der Maudreuil ermu tigt hat, die irokesischen Häuptlinge in Katarunk zu 538
skalpieren?« »Maudreuil hatte ein Gelübde zu erfüllen. Er ist ein reines Kind. Zur Belohnung für seinen Sieg ist ihm die Jungfrau erschienen.« »Wie hat Peyrac diesen Teufeln entwischen kön nen?« »Durch seine höllischen Künste. Es gibt keine an dere Erklärung. Ihr seht selbst, daß er vernichtet wer den muß, wenn seine Gegenwart unser Land nicht anstecken soll. Und Ihr könnt uns dabei helfen.« Er fuhr fort: »Ich bezweifle sehr, daß diese Frau, die er für die seine ausgibt, es vor Gott wirklich ist. Er wird die Unglückliche verführt und vom rechten Wege abge bracht haben.« Wenn er besiegt ist, wird die Frau Euch gehören … Pater d’Orgeval hatte diese letzten Worte gewiß nicht gesprochen, aber Pont-Briand hatte sie während des ganzen Gesprächs aus dem, was er sagte, heraus zuhören geglaubt. »Und wenn sie wirklich eine Dämonin ist?« »Meine Gebete werden Euch schützen.« Die ruhige Gewißheit des Jesuiten hatte den Offizier schließlich überzeugt. Nachdem er das Kom mando über das Fort seinem Sergeanten übergeben hatte, war er, nur von einem Huronen begleitet, in südöstlicher Richtung aufgebrochen. In Wirklichkeit hatte er niemals befürchtet, daß sie eine Dämonin sein könnte; nur wenn ihn ein klarer Moment die ganze blinde Gewalt dieser Leidenschaft 539
erkennen ließ, streifte ihn zuweilen ein haarsträuben der Verdacht, die Angst vor zauberischen Kräften. Doch da er sich bei dieser Mission ganz auf den Schutz der himmlischen Mächte verlassen durfte, hatte er hin und wieder mit dem Gedanken ge spielt, daß es eigentlich recht pikant sein müsse, eine Dämonin zu umarmen. Er warf sich auf das Lager, das man ihm vorbehalten hatte, aber es dauerte lange, bis er einschlief. Die einschmeichelnde Stimme des Paters d’Orgeval drang auch jetzt ermutigend in seinen Halbschlaf: »Glaubt mir, Ihr werdet von ihr wie ein Retter empfangen werden. Ein Gerücht will wissen, daß der, der sich als ihr Gatte bezeichnet, ein ausschweifendes Leben führt und immer geführt hat. Er hat einige Familien eines kleinen indianischen Stammes in die Gegend von Wapassou kommen lassen, um einge borene Frauen zu seiner Verfügung zu haben, und obwohl er eine weiße Frau bei sich hat, von der man sagt, daß sie sehr verführerisch sei, sucht er sie häufig auf und verdirbt sie. Es scheint, daß dieser Freibeuter nie einem anderen Gesetz als dem seiner Lust gefolgt ist. Die Unglücklichen, die sich ihm verbinden, sind zu beklagen …« Pater d’Orgeval wußte immer alles, erfuhr es sehr rasch und war trotz der weiten Entfernungen über jedermann bestens im Bilde. Hinweise, sein Ahnungsvermögen und die Anwendung psycholo gischer Kenntnisse spielten dabei die entscheidenden 540
Rollen. Sein Blick durchdrang die Geheimnisse des Gewissens. Mehr als einmal hatte er jemand auf der Straße angehalten und ihm gesagt: »Beichtet schnell! Ihr habt eben die Sünde des Fleisches begangen!« Wenn man ihn in Québec wußte, boten die von ihren Geliebten zum häuslichen Herd strebenden Herrn geradezu indianische Listen auf, um nicht an irgendeiner Straßenecke auf ihn zu stoßen. Zudem behauptete man, er sei ein Schützling des Papstes und des Königs von Frankreich, und selbst Pater de Maubeuge, der Superior der Jesuiten von Québec, müsse sich zuweilen seinen Entscheidungen beugen. Was hatte der mit einem solchen Passierschein ausgerüstete Pont-Briand schon für seine Seele, sei ne Karriere und den Erfolg seiner amourösen Pläne zu fürchten? Er hatte Gott und die Kirche auf seiner Seite. Erschöpft, aber entschlossen zu triumphieren, schlief er endlich ein.
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Zweiundfünfzigstes Kapitel
Vom See zurückgekehrt, trat Angélique in den gro ßen Saal. Sie musterte noch einmal die Blätter, die sie beim Pflücken allerlei Kratzer an den Fingern ge kostet hatten, von dem schmerzhaften Biß der Kälte ganz abgesehen. Es handelte sich wirklich um Blätter der Bärentraube, einer kleinen, buschartig wachsen den, überwinternden Pflanze, deren äußerlich wie Erdbeeren wirkende Früchte höchst wertvoll waren. Aber auch das Blatt besaß die gleichen wohltuenden, harntreibenden Eigenschaften. Mit ihrer Hilfe hoffte Angélique, mit Sam Holtons Harngrieß fertig werden zu können. Ausgerechnet der prüde und schüchterne Holton mußte sich diese peinvollen Beschwerden zuziehen! Die braunen Hetären des Biberwigwams hatten nichts damit zu tun, denn er befleißigte sich eines besonnenen Lebenswandels, und niemand hat te ihn je zur anderen Seite des Berges hinüberschlei chen sehen. Aber er verwechselte seine Krankheit mit denen, die die Pfeile der Venus verursachen, und die besorgte Angélique sah zwar, daß er litt, vermochte ihn aber nicht dazu zu bringen, ihr zu gestehen, wo und an was … Schließlich hatte sich Peyrac einmischen müssen. Unter vier Augen in die Zange genommen, hatte der puritanische Engländer gestanden, aber nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Er sah in seinem Leiden die Bestrafung für irgendeine Jugendsünde. 542
Angélique mußte ihn behandeln, ohne daß er merkte, daß sie Bescheid wußte. Glücklicherweise hatte sie an die Bärentraubensträucher gedacht, die sie neben dem Pfad am See bemerkt zu haben glaubte. Sie hatte gestern schon einen kleinen Vorrat mitgebracht und war heute noch einmal gegangen, um tüchtig zu pflücken. Sie nahm ihren kleinen Topf, goß Wasser hinein und hängte ihn über die Glut. Um diese Nachmittagsstunde befand sie sich allein im großen Saal, dessen Tür nach draußen offenge blieben war, denn die Sonne schien warm. Peyrac und fünf oder sechs der Männer waren zum vordersten der drei Seen aufgebrochen, um sich zu überzeugen, ob die chilenische Mühle oberhalb der Wasserfälle nicht durch den Druck der Eismassen ge litten hatte. Sie konnten vor Abend nicht zurück sein. Die anderen arbeiteten in der Mine oder vermaßen das felsige Ufer. Eloi Macollet bastelte an irgend etwas im Stall. Monsieur Jonas hatte den Grafen begleitet. Madame Jonas, Elvire und die Kinder waren zu erst Angélique behilflich gewesen, die Blätter für den Absud zu sammeln, der den Harngrieß des ar men Engländers auflösen sollte, dann aber hatten die Kleinen gefordert, den Ausflug bis zu einem mit ver harschtem Schnee bedeckten Abhang auszudehnen, den sie auf steifen Fellen als Schlittenersatz hinabrut schen wollten. 543
Madame Jonas und Elvire begleiteten sie, während Angélique zurückkehrte, da sie den Aufguß möglichst schnell zubereiten mußte. Die Blätter waren nicht unter den besten Bedingun gen gepflückt worden, aber was half ’s! Man mußte zusehen, das Beste daraus zu machen. Sie würde Maisgrannen und Queckenwurzeln dazutun. Sie warf die gesäuberten Blätter ins kochende Was ser. Dann zerkleinerte sie Queckenwurzeln, ließ sie in einem anderen Behälter weichen, schüttete das erste Wasser aus, wartete bis zum neuerlichen Aufkochen und zerstampfte schließlich die Fasern in ihrem guß eisernen Mörser. Als sich die Flüssigkeit bei nochma ligem Kochen auf die Hälfte reduziert hatte, goß sie sie in den Bärentraubentopf und fügte Maisgrannen hinzu. Der Absud nahm ein nicht eben einladendes schwärzliches Aussehen an. Sie konnte nur hoffen, daß er wirkte. Sie war sich der Dosierungen nicht ganz sicher und mußte sich auf ihre Intuition und die spärlichen Erinnerungen an das verlassen, was sie von Savary und der Hexe Melusine gelernt hatte. Wie schade, daß ihr Rezeptbuch in La Rochelle zurückge blieben war! … Als sie sich wieder aufrichtete, prallte sie buch stäblich gegen den Leutnant de Pont-Briand, der un mittelbar hinter ihr stand. Er war hereingekommen, ohne daß sie ihn gehört hatte. »Oh, Ihr seid’s!« rief sie aus. »Ihr seid wahrhaftig schlimmer als ein Indianer. Schlimmer als der alte Häuptling vom Biberwigwam, dem ich jedesmal, 544
wenn er auftaucht, auf die Füße trete. Ich werde mich nie an die in diesem Lande übliche Mode gewöhnen, lautlos irgendwo hereinzuschneien.« »Selbst die Indianer geben zu, daß ich mich wie sie bewegen kann. Eine seltene Fähigkeit bei einem Weißen.« »Ihr täuscht Eure Umgebung«, erwiderte Angélique mit einem nicht gerade freundlichen Blick. »Man sollte sich nicht auf den Anschein verlas sen …« Pont-Briand hatte sie nicht überrumpeln wollen. Sein geräuschloser Gang war ihm zur zweiten Natur geworden, seltsam genug bei einem solchen Koloß mit so ungeschickten Bewegungen. Dafür hatte er recht gut kalkuliert, daß sie im großen Saal allein sein mußte und jetzt der geeignetste Moment gekommen war, wenn er überhaupt mit ihr sprechen wollte. Von der Schwelle aus hatte er sie beobachtet, wäh rend sie mit konzentrierter Miene, die ihrem vollen, sanften Mund einen Ausdruck von Strenge verlieh, mit ihren Kräutern hantierte und in den Töpfen rührte. Es war das ein neues Gesicht bei ihr, und bei die sem Anblick im Schein der flackernden Flammen, inmitten dieses Arsenals von Tiegeln und dunklen, stark duftenden Flüssigkeiten, beschlich ihn unverse hens ein leises Bangen. Mit wild klopfendem Herzen hatte er sich ihr ge nähert.
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»Wünscht Ihr etwas?« fragte Angélique, während sie ihre Utensilien ordnete. »Ja, Ihr wißt es …« »Erklärt Euch.« »Es kann Euch nicht verborgen geblieben sein, Madame, daß Ihr mir eine Leidenschaft eingeflößt habt, die mich verzehrt.« Er keuchte vor Erregung. »Euretwegen bin ich gekommen …« Und er ver suchte, ihr seine Gefühle zu erklären. Wie ihm zum erstenmal eine der Liebe wahrhaft würdige Frau er schienen sei … »Ja, der Liebe! Gereinigt von jeder Roheit …« Gerührt über sich selbst, wiederholte er das überraschende Wort »Liebe«. »Ihr seid töricht«, sagte sie nachsichtig. »Ja, gewiß! Ihr seid es! Glaubt mir … Und was kümmert’s mich schließlich!« fuhr sie ungeduldig fort. »Habt Ihr daran gedacht, Monsieur, daß ich nicht geschaffen und in die Welt gesetzt worden bin, um Eure militärischen Sehnsüchte zu befriedigen, wenn Euch zufällig die Lust packt, sentimental zu werden? Ich habe einen Gatten, Kinder, und Ihr müßt begreifen, daß Ihr in meinem Leben keinen anderen Platz als den eines Gastes einnehmen könnt, den man mit Sympathie empfängt … Sympathie, die Ihr verlieren werdet, wenn Ihr weiterhin dummes Zeug schwatzt.« Sie wandte ihm den Rücken, um ihm klarzuma chen, daß sie den Vorfall als abgeschlossen betrachte. Sie schätzte diesen unter Offizieren ziemlich häufigen Männertyp nicht: die Kolosse auf töner nen Füßen. Ihre Qualitäten waren im ausschließlich 546
männlichen Bereich des Krieges zu suchen, aber in Gesellschaft von Frauen war ihre Ungeschicklichkeit nur mit ihrer aufgeblasenen Selbstgefälligkeit zu ver gleichen. Überzeugt, unwiderstehlich zu sein, waren sie der Meinung, daß ihnen von Rechts wegen jede Frau gehöre, die die Ehre hatte, ihnen zu gefallen, und begriffen nicht, wenn die Betreffenden weit da von entfernt waren, diese Auffassung zu teilen. Pont-Briand verstieß nicht gegen die Regel. Er gab nicht nach, und die Dringlichkeit des Verlangens, das ihn in ihrer Nähe besonders quälte, ließ ihn deutli cher werden, als er vielleicht gewollt hatte. Er sagte ihr, daß er sie brauche. Sie sei nicht wie die ande ren. Er habe unablässig von ihr geträumt: von ihrer Schönheit, ihrem Lachen … es sei wie ein Licht in der Nacht gewesen. Sie könne ihn nicht zurückstoßen, es sei undenkbar. Morgen werde er vielleicht sterben … aber bevor er von den Irokesen gefoltert werde, sol le sie ihm wenigstens die Freude ihrer weißen Haut gewähren. Er habe so lange keine weiße Haut mehr gekostet. Die Indianerinnen seien ohne Seele. Sie rö chen … Ah, eine weiße Frau …! »Und da erwartet Ihr nun von mir, daß ich Euch ein wenig weiße Haut kosten lasse?« fragte Angélique, die ihr Lachen nicht verbeißen konnte, so linkisch und naiv kam er ihr vor. »Ich weiß nicht recht, ob ich mich geschmeichelt fühlen soll.« Ihr Spott ließ Pont-Briand erröten. »Ich habe das nicht sagen wollen …« »Ihr fallt mir auf die Nerven, Monsieur.« 547
Pont-Briand wirkte wie ein gescholtenes Kind. Er hatte sie für sanft gehalten, und nun kehrte sie scharfe Stacheln heraus. Er begriff nichts mehr. Verzichten konnte er nicht. Er hatte niemals seine Sinnlichkeit zu beherrschen gewußt, und das über wältigende Bedürfnis, das er in diesem Augenblick empfand, diese Frau in seine Arme zu zwingen und zu besitzen, verblendete ihn. Über Angéliques Schulter gewahrte er eine halboffene Tür und das Fußende ei nes breiten Bettes. Der Hunger, der ihn trieb, und die Vorstellung, daß eine so günstige Gelegenheit nie wiederkehren könn te, ließ ihn jedes Maß verlieren. »Hört, meine Liebe, wir sind allein. Kommt mit mir in diese Kammer. Ich werde Euch nicht lan ge aufhalten, ich verspreche es Euch. Aber danach werdet Ihr sehen! Ihr werdet verstehen, daß wir uns lieben müssen. Ihr seid die einzige Frau auf der Welt, für die ich je so gefühlt habe. Ihr müßt mir gehö ren.« Angélique, die ihren Mantel aufgenommen hatte, um zu gehen und dadurch der albernen Szene ein für allemal ein Ende zu machen, starrte ihn sprachlos an, als habe er den Verstand verloren. Es blieb ihr keine Zeit, ihm energisch zu sagen, was sie von seinen reichlich unverschämten Wünschen dachte, denn er umschlang sie mit seinen Armen und preßte seine Lippen auf die ihren. Anfangs vermoch te sie sich nicht zu wehren, da seine Erregung seine ohnehin nicht geringen Kräfte noch verdoppelte. Er 548
drängte sich ihrem Mund auf, zwang sie, die Lippen zu öffnen, und diese vergewaltigende Berührung, die die Erinnerung an etwas heraufbeschwor, was sie tief in ihrer Vergangenheit begraben glaubte, ekelte sie zum Erbrechen und reizte sie zu jäher, mörderischer Wut. Mit einer Hüftbewegung gelang es ihr, sich halb aus seiner Umschlingung zu lösen. Blitzschnell griff sie hinter sich nach dem Schürhaken neben dem Kamin, schwang ihn und ließ ihn mit voller Wucht auf den Kopf des Leutnants niedersausen. Pont-Briands Schädel dröhnte, er hörte die Engel im Himmel singen, taumelte und sank plötzlich weich in eine sternenfunkelnde Dunkelheit … Als er wieder zu sich kam, lag er ausgestreckt auf einer Bank. Sein Schädel schmerzte, aber er wurde sich so fort der Weichheit des Kissens bewußt, auf dem sein Kopf ruhte. Es waren Angéliques Knie. Er öffnete die Augen und sah in ihr besorgt über ihn geneigtes Gesicht. Sie säuberte tupfend die Platzwunde seiner Kopfhaut und hatte ihn deshalb auf ihr Knie gebettet. Er spürte den Duft ihres Fleisches durch das Leinen ihrer Kleidung. Er war ihren Brüsten ganz nahe und hätte sich nur zu gern diesem warmen, weichen Leib zugedreht und sich wie ein Kind an ihn geschmiegt, aber er bezwang sich. Er hatte heute schon genug Dummheiten gemacht. Er schloß die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus. 549
»Nun?« fragte sie. »Wie fühlt Ihr Euch?« »Ziemlich übel. Ihr habt einen kräftigen Schlag.« »Ihr seid nicht der erste Trunkenbold, dem ich die Leviten eingebleut habe.« »Ich war nicht betrunken.« »Aber ja.« »Dann hat mich eben Eure hinreißende Schönheit berauscht.« »Fangt nicht wieder an zu delirieren, mein armer Freund.« Angélique verspürte leise Gewissensbisse, weil sie ihn so hart behandelt hatte. Eine Ohrfeige hätte ge nügt … Aber es war stärker als sie gewesen. »Wie könnt Ihr nur so närrisch sein, Euch in mich zu vergaffen?« fragte sie vorwurfsvoll. »Ein bißchen Überlegung hätte Euch warnen müssen. Habt Ihr nicht daran gedacht, daß mein Gatte Euer Verhalten übelnehmen könnte?« »Euer Gatte? Pah! Man sagt, er sei nicht Euer Gatte.« »Er ist es. Ich schwöre auf die Häupter meiner bei den Söhne.« »Dann hasse ich ihn noch mehr. Es ist nicht ge recht, daß er allein das Recht hat, Euch zu lieben.« »Das Gesetz der Ausschließlichkeit hat unsere Heilige Mutter, die Kirche, selbst erlassen.« »Ein unbilliges und ungerechtes Gesetz.« »Sprecht mit dem Papst darüber.«
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Schmollend und unglücklich, fühlte sich PontBriand völlig ernüchtert. Um ein Haar hätte sie ihn umgebracht! Aber zugleich wurde ihm in einer aus Bewunderung für sie und Mitleid über sich ge mischten Stimmung von neuem bewußt, was für ein wahrhaft außergewöhnliches Geschöpf sie doch war, und er hätte nur zu gern ihre Zänkerei verlängert, um länger ihrem Körper nahe zu sein und seinen warmen Duft zu atmen. Doch Angélique erhob sich. Sie half ihm, sich auf zurichten und sich bequem hinzusetzen. Er schwankte, und während er begriff, daß alles für immer zu Ende war, fühlte er sich müde und traurig. »Monsieur de Pont-Briand?« »Ja, mein schönes Lieb?« Er hob die Augen zu ihr. Sie betrachtete ihn mit mütterlichem Ernst. »Trinkt Ihr nicht zuviel? Kaut Ihr nicht diese in dianischen Kräuter, denen man eine betäubende Wirkung nachsagt?« »Warum fragt Ihr mich das?« »Weil Ihr nicht in Eurem normalen Zustand seid.« Er lachte höhnisch auf. »Wie kann man in seinem normalen Zustand sein, wenn man das schönste Geschöpf der Welt vor sich sieht, das einem noch dazu eben fast den Schädel ge spalten hat?« »Nein, ich hatte es schon vorher bemerkt … als Ihr kamt.« Sie starrte ihn verwirrt an. Pont-Briand war eine 551
jener personifizierten Naturkräfte, in denen sich Naivität, Stolz und grenzenlose Nachsicht für ihre eigenen Leidenschaften mischen. Diese Sorte Männer war schwachen Geistes und leicht durch Ideen, die ihre Fassungskraft überstei gen, oder einen stärkeren Willen als den ihren zu hypnotisieren. War er hypnotisiert? … Ein Verdacht stieg in ihr auf, den sie nicht näher zu bestimmen vermochte. »Was ist los?« beharrte sie geduldig. »Sagt’s mir.« »Aber Ihr wißt es«, seufzte er. »Ich bin verliebt in Euch.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein! Nicht genug, um so törichte Dinge zu tun. Was habt Ihr sonst noch?« Er antwortete nicht, hob nur zwei Finger mit lei dender Geste an seine Schläfe. Plötzlich war ihm, als müsse er heulen. Er begann zu begreifen, was ihm geschehen war. Gewiß, das Verlangen nach ihr quälte ihn, seitdem er ihr begegnet war, aber seit wann war es unerträg lich geworden? Etwa seit dem Besuch des Jesuiten? Seitdem die Stimme unablässig auf ihn einhämmerte: »Geh … geh … die Frau wird dir gehören«? Der blaue, wie ein Saphir glitzernde Blick verließ ihn nicht. Er begann zu verstehen. Bei der Mission, mit der man ihn betraut hatte, war er nur Instrument. Er sollte die Frau, die er liebte, und durch sie auch Peyrac vernich ten, indem er sie erniedrigte. Nun war er gescheitert und sah sich um alles ge 552
bracht. Ein armer Narr. Ein armer, verurteilter Narr. In jedem Fall verurteilt. Selbst wenn es ihm ge lungen wäre. Vor allem, wenn es ihm gelungen wäre. Man hatte ihn in den Tod geschickt … In einem plötzlichen Aufblitzen wurde ihm klar, daß er nicht mehr viele Stunden zu leben hatte. »Ich werde aufbrechen«, murmelte er, sich unsi cher erhebend. Schwankend trottete er zu dem Lager, auf dem er geschlafen hatte, griff nach den Handschuhen, seiner Joppe, der Pelzmütze, zog sich an und kehrte mit sei nem Rucksack zurück. »Laßt mich Proviant hineintun«, sagte Angélique, beeindruckt von der Vorstellung, daß er es, nur von dem Huronen begleitet, für lange Wochen wieder mit der feindlichen, eisig erstarrten Natur zu tun haben würde. Er sah ihr zu, gleichgültig und von bitteren Gedan ken erfüllt. Wohin er auch blickte, überall stieß er auf Schlappen. Im harten, grellen Licht dieser plötzlichen Erkenntnis erinnerte er sich an allerlei Zwischenfälle, und er entdeckte, daß er in Wirklichkeit niemals ein Frauenheld gewesen war, wie er es sich bisher einge bildet hatte. Es hatte immer mit Szenen geendet, in denen man ihm klarmachte, daß er lästig war und daß man genug von ihm hatte. Während ein Joffrey de Peyrac zum Beispiel niemals lästig fiel! … Von neuem brodelte Zorn in ihm auf. Auf der Schwelle angelangt, wollte er sich an all diesen Frauen in einer einzigen rächen und die ver 553
letzen, die ihn verwundet hatte. Er wandte sich um. »Ihr liebt Euren Gatten?« fragte er. »Ja, gewiß«, murmelte sie überrascht. Er stieß ein spöttisches Gelächter aus. »Um so schlimmer für Euch. Denn es hindert ihn nicht im mindesten, Euch mit Indianerinnen zu be trügen. Drüben im Wald gibt’s zwei, die er hat kom men lassen, um sich mit ihnen zu vergnügen, wenn er von Euren Umarmungen genug hat. Wie töricht Ihr seid, Euch nicht auch einmal ein Späßchen zu gönnen, statt Eure Schönheit für diesen Wüstling zu bewahren, der Euch zum Narren hält. Ihr wißt nichts davon, aber ganz Kanada weiß Bescheid. Und die Männer hier lachen darüber und machen sich über Euch lustig.« Wie durch ein unmerkliches Zeichen gerufen, er schien der Hurone an seiner Seite und begann ihm zu folgen.
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Dreiundfünfzigstes Kapitel
»Er ist fort«, verkündete Angélique, als die anderen zurückkehrten. Und sie wandte den Blick. Peyrac näherte sich ihr. Wie immer, wenn er sie nach einer etwas längeren Abwesenheit wiedersah, nahm er ihre Hand und streifte mit den Lippen über die Fingerspitzen. Doch diesmal entzog sie sich dieser verstohlenen Huldigung. »Fort?« rief Malaprade entrüstet. »Bei sinkender Nacht und trotz des drohenden Sturms? Und ohne sich von einer Menschenseele zu verabschieden? Was ist in diesen Faselkopf gefahren? Wahrhaftig, diese Kanadier sind samt und sonders verrückt!« Angélique stürzte sich in ihre abendlichen Pflichten. Sie rief Florimond und bat ihn leise, Sam Holton den Becher mit dem Heiltrank zu bringen. Sie hatte noch Melisse und ein wenig Zucker hinzugefügt, um die Medizin annehmbar zu machen. Um den Argwohn des Engländers zu zerstreuen, mußte Florimond sei ne ganze Beredsamkeit aufbieten und ihm erzählen, was ihm gerade durch den Kopf ging. Dann half sie Madame Jonas, die Näpfe auf der Tafel aufzureihen, und schließlich hängte sie die feuchten Kittel und Joppen vor dem zweiten Kamin zum Trocknen auf. Sie erledigte alles, was es zu tun gab, sorgfältig und mit scheinbarer Ruhe und ließ nichts von dem, was sie innerlich bewegte, nach außen dringen. 555
Die Stunden, die seit Pont-Briands Aufbruch ver strichen waren, hatten tiefgehende Spuren in ihr hin terlassen. Sie dachte nicht mehr an die Behauptungen des Leutnants, aber das Gift des Pfeils, den er beim Gehen von der Türschwelle aus auf sie abgeschossen, hatte nach und nach seine Wirkung getan. Anfangs war sie über Pont-Briands Erklärung, Joffrey betrüge sie mit den Indianerinnen des Biberwigwams, mit einem Achselzucken hinweggegangen. Dann aber, ganz plötzlich, schien ihr das tägliche Dasein einen anderen Aspekt zu gewinnen, und sie fragte sich, während ihr das Blut heiß in die Wangen stieg, ob die Geschichte nicht doch ganz plausibel klinge. Der Gedanke war ihr nie gekommen, daß er sich mit den Mädchen vergnügen könne, obgleich er dem alten Häuptling häufig Besuche abstattete und sie die bei den schon mehr als einmal kokett um Joffrey hatte herumscharwenzeln sehen. Sie lockten ihn, und er antwortete munter in ihrer Sprache, nahm sie beim Kinn und schenkte ihnen Perlen wie verzogenen Kindern, die man gerne loswerden will … Verbarg sich hinter diesem unschuldigen Tändeln nicht eine verdächtige Vertrautheit, deren Bedeutung ihr bisher nur entgangen war? Der ihr eigene Anflug von Naivität war nicht ge rade dazu angetan, sie solche verborgenen Intrigen entdecken zu lassen, und bei dieser Art Mißgeschick waren ohnehin die unmittelbar Betroffenen immer die, die zuletzt davon erfuhren. 556
Als Pont-Briand sich entfernt hatte, war sie mit der Absicht in den Vorratsraum gegangen, aus den Tausch waren Perlen herauszusuchen, um ein Halsband für Honorine zu verfertigen, das sie ihr zu Weihnachten schenken wollte. Aber ihre Hände zitterten, ihre Arbeit kam nicht recht vom Fleck, und immer wieder zuckte sie mit den Schultern, wie um sich eines lästigen Gedankens zu erwehren. Trotzdem machte der Gedanke seinen Weg. Sie verspürte von neuem das Gefühl der Fremdheit, das sie immer befiel, wenn sie an all das Unbekannte dachte, das Joffrey für sie barg. Seine Unabhängigkeit war immer ein wesentliches Element seiner Natur gewesen. Mußte er darauf verzichten, weil er wieder mit einer Frau zusammenlebte, die er fünfzehn Jahre lang hatte entbehren können? Schließlich war er der Herr, der »einzige Herr an Bord«, wie er ihr einmal erklärt hatte. Er war immer frei und über Skrupel erhaben gewe sen. Er fürchtete weder die Sünde noch die Hölle. Er handelte nur nach eigenen Gesetzen … Und plötzlich stieg ein brennender Schmerz in ihr auf, so daß sie sich erhob, ihre Arbeit liegenließ und zum Wald lief, wie um zu fliehen. Der Schnee ließ sie nicht weit kommen. Sie konnte nicht einmal lange unter den Bäumen dahingehen, um ihre quälende Unruhe loszuwerden. Sie war eine Gefangene. Also war sie zurückgekehrt und hatte sich zur Vernunft ermahnt. 557
»So ist das Leben«, sagte sie sich, mechanisch und gedankenlos die enttäuschte Redensart der armen Mädchen wiederholend, die über ihre Courage hin ausgegangen sind und einsehen, daß sie nicht die Stärkeren sein werden. »So ist das Leben, verstehst du?« hatte ihr früher die Polackin, ihre Freundin am Hof der Wunder, zehnmal am Tage gesagt. »Die Männer sind eben nun mal so.« Die Männer hatten von der Liebe einen anderen Begriff als die Frauen. Die Liebe der Frauen ist voller Illusionen, Träume, maßloser sentimentaler Erwar tungen. Was hatte sie sich eingebildet? Daß über ihre Um armungen hinaus Bande wieder geknüpft worden waren, die nur zwischen ihm und ihr existieren konnten, daß dieses Fest der Sinne das Ergebnis des Auswahlprozesses ihrer beider Körper bedeutete, die Unmöglichkeit, sich ihm zu entziehen, sich davon zu lösen, Symbol des höheren Zusammenklangs ihrer Herzen und ihres Geistes. Das hieß an ein unmögliches Wunder glauben. Solcher Zusammenklang ist so selten. Und was ih nen einstmals geschenkt worden war, konnte nicht wieder aufleben, denn einer wie der andere hatten sie sich gewandelt. Aber konnte sie ihn für das Scheitern einer Gemeinsamkeit verantwortlich machen, die er zweifellos nicht gesucht hatte? Und war es nicht unvernünftig, Techtelmechtel mit Indianerinnen als Treulosigkeit zu bezeichnen? Sie mußte ihm ihre tiefe Enttäuschung verbergen. 558
Von einer eifersüchtigen, auf ihren Rechten bestehen den Ehefrau würde er nur zu bald genug haben. Aber für sie war das Licht erloschen, und sie fragte sich, wie sie die kommenden Tage bestehen sollte. Die durchdachtesten Vernunftschlüsse waren jedoch nur Strohhalme angesichts gewisser präzi ser Visionen, die sie heimsuchten. Er scherzte mit den Indianerinnen, streichelte ihre kleinen, straffen Brüste, fand Vergnügen daran, ihre geschmeidigen, den primitiven Geruch wilder Tiere ausströmenden Körper zu besitzen, und diese Vorstellungen lie ßen Angélique erzittern und verletzten sie in ihrem Fleisch und in ihrem Stolz. Das ist es, was die Männer nie begreifen: den Stolz einer Frau. Die Wunde schmerzte sie, aber auch die Schande. Es läßt sich nicht erklären. Es ist so! Sie sind sich dessen nicht bewußt … Die Kinder waren zwitschernd und kichernd zu rückgekommen, sichtlich durch den Spaziergang und ihre Spiele aufgemuntert. Sie erzählten von ih ren Abenteuern. Sie waren schnell wie der Blitz den Abhang hinuntergerutscht, sie hatten die Spuren eines weißen Hasen gesehen, Madame Jonas war in eine Schneewehe gefallen, und man hatte sie kaum wieder herausziehen können. Alle waren mehr oder weniger durchnäßt. Man mußte ihnen Schuhe und Kleider ausziehen, die Mäntel zum Trocknen aufhängen, den kleinen Schwarm in Decken wickeln und mit Näpfen voll warmer Bouillon vor den Kamin setzen. Honorines Bäckchen waren rot wie Appiusäpfel. 559
Sie konnte vor Aufregung kaum still sitzen. »Ich bin am schnellsten gerutscht, Mama! Hör doch, Mama!« »Aber ich höre ja«, murmelte Angélique zerstreut. Ihre Gedanken waren wieder zu Pont-Briand zu rückgekehrt. Irgend etwas an ihm erinnerte sie an den rothaarigen Kinderschreck, der ihr Wächter im Schloß Plessis-Bellière gewesen war, als der König sie dort gefangenhielt. Wie hieß er noch? … Der Name fiel ihr nicht ein. Auch er war von Verlangen nach ihr besessen gewesen und in der Art, wie er seine Liebesglut merken ließ, kaum feinfühliger als PontBriand. Abends pflegte er an ihre Tür zu klopfen, wie er sie überhaupt auf hunderterlei Weise belästigt hatte. Sie war immer überzeugt gewesen, daß er es war, der Honorine in der Nacht der Vergewaltigung gezeugt hatte. Und Pont-Briand ähnelte ihm. Die bloße Erinnerung daran schnürte ihr vor Ekel die Kehle zu. Die Männer waren mit einem Riesenappetit wie deraufgetaucht. Eine tüchtige Portion getrocknetes Fleisch und Maisfladen wurde jedem von ihnen auf getischt. Angélique verbrannte sich die Finger, als sie die Fladen auf der Asche wendete. »Wie ungeschickt ich bin!« rief sie aus, und ihre Augen glänzten vor Tränen, die sie nicht zurückhal ten konnte.
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Abgesehen davon gelang es ihr, während des ganzen Abends ihren Beschäftigungen nachzugehen ohne sich ihren Zustand anmerken zu lassen. Nacheinander zündete sie die Lampen an, eine Tätigkeit, die sie liebte. Der Schein der Fettlämpchen war rötlich und schwach; sein sanftes Leuchten erfüllte den Raum wie mit einem Geheimnis. Unwillkürlich dämpf ten sich die Stimmen. Nichtsdestoweniger träumte Angélique von Kerzen, die ein helleres und besseres Licht versprachen. »Ihr müßt uns Kerzenformen machen«, sagte sie zum Schmied. »Man könnte Bienenwachs hineingie ßen, obwohl es hier im Wald selten sein dürfte.« »Ich weiß, daß der Missionar, der am Kennebec war, Pater d’Orgeval, grüne Kerzen mit einem pflanz lichen Wachs fabriziert hat«, warf Eloi Macollet ein. »Er preßte das Zeug aus einer Beere, die ihm die Indianer brachten.« »Oh, das interessiert mich sehr!« Sie plauderte ein Weilchen mit dem alten Steppen läufer, dann brachte sie Honorine zu Bett, der schon die Augen zufielen. Sie half beim Abräumen des Tisches und empfand schließlich leise Befriedigung bei dem Gedanken, so gut durchgehalten zu haben. Hatte sie Joffrey getäuscht? Zuweilen fühlte sie seinen forschenden Blick auf sich gerichtet, aber er konnte nicht ahnen, was in ihr vorging, und sie würde ihm nichts sagen … Nein. Nichts! Sie war fest dazu entschlossen. Doch in dem Augenblick, in dem sie sich anschick 561
ten, ihre gemeinsame Kammer aufzusuchen, befiel sie eine wahre Panik. An diesem Abend bedauerte sie, nicht ein großes Schloß zu bewohnen, dessen Weiträumigkeit ihr erlaubt hätte, sich unter dem Vorwand einer Migräne in ihre Gemächer zurückzu ziehen und so seine Nähe und seine Umarmung zu meiden. In der Kammer kniete sie sich vor den Kamin und fachte mit fiebrigen Gesten das Feuer an. Dunkelheit wäre ihr viel lieber gewesen, so daß Joffrey ihr Gesicht nicht hätte sehen können. Den ganzen Abend über hatte sie mühsam eine unerträgliche Komödie gespielt. Nun waren alle ihre schönen Vernunftgründe davongeflogen … Im Bett drängte sie sich ganz an den Rand und tat, ihm den Rücken zuwendend, als ob sie schliefe. Doch an diesem Abend respektierte er ihre Müdig keit nicht, wie sie gehofft hatte. Sie fühlte seine Hand auf ihrer nackten Schulter, und da sie durch ungewöhnliches Verhalten keinen Verdacht erregen wollte, drehte sie sich zu ihm um und zwang sich, ihre Arme um seinen Hals zu legen. Warum brauchte sie ihn nur so? Sie hatte ihn nie mals vergessen können, und ihre Liebe zu ihm war mit allen Fasern ihres Seins verwoben. Was sollte aus ihr werden, wenn sie nicht verzichten konnte? Sie mußte um jeden Preis verhüten, daß er etwas ahnte. »Zerstreut, schöne Freundin?« Über sie gebeugt, hatte er seine Zärtlichkeiten un 562
terbrochen, während er fragte. Sie verwünschte sich, daß sie ihn nicht hatte hinters Licht führen können. »Zerstreut, nicht wahr?« Sie spürte, daß er sie belauerte, und verlor den Kopf. Er würde sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Beharrlich fuhr er fort: »Was gibt’s? Ihr wart heute abend nicht Ihr selbst. Was ist los? Sagt’s mir …« Sie platzte mit allem heraus. »Ist es wahr, daß Ihr zu den Indianerinnen geht? Daß sie Eure Geliebten sind?« Er antwortete nicht sofort. »Wer hat Euch solche Albernheiten in den Kopf gesetzt?« fragte er endlich. »Dieser Pont-Briand, nicht wahr? Er muß sich für einen guten Freund von Euch halten, wenn er es wagt, Euch solche Dinge mitzutei len. Glaubt Ihr, ich hätte die Gefühle nicht bemerkt, die Ihr ihm einflößt? … Er hat Euch den Hof ge macht, nicht wahr? Habt Ihr ihn erhört?« Seine Finger umspannten hart ihren Arm. Er tat ihr weh. »Habt Ihr ihn ermutigt? Habt Ihr mit ihm koket tiert?« »Ich kokettiert mit diesem Flegel!« rief Angélique entrüstet. »Ich wäre gern häßlich wie die sieben Todsünden, wenn mich das von Männern dieser Sorte befreien würde! … Bildet Ihr Euch ein, es sei immer Schuld der Frau, wenn irgend so ein Tölpel auf die Idee verfällt, ihr Avancen zu machen? Und Ihr? … Ihr wußtet, daß Pont-Briand mir Liebeserklärungen 563
machen würde, und seid eben deswegen verschwun den, um zu sehen, wie ich mich verhalten und ob ich mich nicht dem erstbesten an den Hals werfen wür de, wie ich’s in Eurer Vorstellung zweifellos während der fünfzehn Jahre getan habe, in denen ich allein war, immer allein, so sehr allein. Oh, ich verabscheue Euch! Ihr habt kein Vertrauen zu mir!« »Und Ihr keins zu mir, wie mir scheint. Was haben die Indianerinnen damit zu schaffen?« Angéliques Zorn hatte nachgelassen. »Oh, sicher hat er’s nur gesagt, um mich zu verlet zen, um sich für meine Abweisung zu rächen.« »Hat er versucht, Euch in die Arme zu nehmen? Euch zu küssen?« Die Schatten des Raums entzogen ihr Joffreys Ge sicht, aber es ließ sich ahnen, daß es nicht sehr beruhi gend aussehen konnte. Sie bagatellisierte die Dinge. »Er war beharrlich, und ich habe ihn ein wenig … nun, grob behandelt. Dann begriff er und brach auf.« Joffreys Atem kam in heftigen Stößen. Er war jetzt davon überzeugt, daß dieser PontBriand versucht hatte, sie zu küssen. Mit der Brutalität eines Landsknechts hatte er seine Lippen auf die ihren gepreßt. Und er selbst war nicht ganz ohne Verantwortlichkeit in dieser Geschichte. Wenn er sich auch nicht absicht lich entfernt hatte, wie Angélique behauptete, hatte er vielleicht doch unbewußt mit der durch die Ankunft Pont-Briands geschaffenen Situation gespielt. Die Ereignisse abrollen lassen, um eine Erfahrung zu 564
kontrollieren. Aber man spielt nicht mit dem Herzen und der Sensibilität einer Frau wie mit Retorten, Destillierkolben und toten Mineralien. Es traf zu, daß er manchmal insgeheim an ihr zweifelte. Er bezahlte es jetzt. »Ist es wahr?« murmelte sie mit klagender Stimme, die er nicht an ihr kannte. »Ist es wahr, daß Ihr zu den Indianerinnen geht?« »Nein, mein Schatz«, erwiderte er ernsthaft. »Was sollte ich mit Indianerinnen anfangen, da ich Euch habe?« Sie stieß einen kurzen Seufzer aus und schien sich zu entspannen. Joffrey fragte sich, wie Pont-Briand zu dieser Verleumdung gekommen sein mochte. Sprach man in Kanada von ihnen? Wer sprach von ihnen …? Er neigte sich zu Angélique, um sie an sich zu ziehen. Aber obwohl sie sich über seine angebliche Treulosigkeit beruhigt fand, blieb ihre Stimmung ihm gegenüber zurückhaltend. Sie versuchte, sich wieder in die Hand zu be kommen, doch so leicht ließen sich die Eindrücke dieses Tages nicht abschütteln. Sie hatte allzu viele Hoffnungen aufgegeben, und vor allem wa ren Erinnerungen wiederaufgetaucht, abstoßende Gesichter. Das jenes Montadour zum Beispiel der Pont-Briand ähnelte … Plötzlich erinnerte sie sich an den Namen des rothaarigen Kinderschrecks … Montadour … Montadour … Und als ihr Gatte sie in seine Arme schließen woll te, verkrampfte sie sich völlig. 565
Joffrey verspürte den brennenden Wunsch, PontBriand und mit ihm die ganze militärische und männ liche Rasse umzubringen. Was sich ereignet hatte, war nur ein unwichtiges Scharmützel gewesen, das eine erfahrene Frau seiner Meinung nach ohne Schaden hätte bestehen müssen. Aber der Vorfall mußte bei ihr kaum vernarbte Wunden von neuem aufgerissen haben. Er wurde sich bitter des nachtragenden Grolls bewußt, den er in ihr geweckt hatte. Es war einer der kurzen Momente, in denen sich Mann und Frau mit all ihren zur Abwehr mobilisierten Kräften in einer Art leidenschaftli chem, unwiderruflichem Haß gegenüberstehen, sie vor der Unterwerfung zurückscheuend, er mit dem Verlangen, sie zu besiegen und von neuem zu erobern, weil Angélique sich noch weiter von ihm entfernen würde in die geheimnisvollen, unzugäng lichen Bereiche ihres Wesens, wenn sie nicht noch an diesem Abend zueinander fänden. Er spürte, daß ihre schmalen Hände sich krampfhaft gegen seine Brust preßten, um ihn zurückzustoßen, und er umfing sie nur desto fester, unfähig, sie freizugeben, sich von ihr zu lösen. Denn wenn Angéliques Geist auch fern von ihm unbekannten Wegen folgte, war ihr Körper doch gegenwärtig, ganz nah seinen Lippen, und Joffrey erlag der Anziehungskraft ihrer Schönheit, auch wenn dieses Fleisch sich unter seinen Küssen schaudernd zusammenzog und dieses Zurückweichen ihn reizte und gleichzeitig seinen Hunger weckte. Die Begierde, die zu allen Zeiten den Mann zur 566
Eroberung der Frau getrieben hat, ist zuweilen eine störende Kraft. Sie drängte in seinen Lenden und trieb ihn zu Anwandlungen von Gewalttätigkeit, die er nur mühsam unterdrückte. Dazu gesellte sich der Gedanke an alle die, die sie berührt und besessen hatten. Er, der Vielerfahrene, kannte eins der Geheimnisse ihrer Verführungskraft, das die, die es genossen hatten, im biblischen Sinne mit einer unheilbaren Sehnsucht schlug. Es bestand darin, daß sie dort, wo es darauf ankam, wunderbar gebaut war. Vollkommene Organe am richtigen Ort, die, wie der Meister der Liebeskunst schreibt, »die Gabe des zweifachen Genusses« besaßen. Ein Altar der Venus, dessen geheime Kunstfertigkeiten sie in stinktiv zu nutzen verstand. Er hatte es in den ersten Zeiten ihrer Liebe entdeckt. »Kleine Dirne, die nichts von sich weiß«, hatte er amüsiert gedacht, überrascht, in diesem jungfräulichen Körper Vollkommenheiten zu entdecken, denen er selbst bei den glänzendsten Kurtisanen nicht immer begegnet war. Nun, diesem prachtvollen, für den Mann und sein Verlangen geschaffenen Körper Angéliques waren Anziehungskraft und instinktives Wissen ungeschmä lert erhalten geblieben, und fünfzehn Jahre später er fuhr Joffrey durch ihn von neuem die gleichen berau schenden Wonnen. In jener Nacht auf dem Ozean hatte er gewußt, daß er wiederum ihr Sklave sein würde, wie früher, wie die anderen, denn ihrer müde zu werden oder sie zu vergessen war unmöglich. 567
Doch wenn der Körper unversehrt war, mußte das Übel woanders sitzen. Und Peyrac verfluch te das Leben, das sie wund gerieben hatte, und die Rückstände vergangenen Leids, die sich zuweilen wie eine unübersteigbare Mauer zwischen ihnen aufrich teten. Alle diese Gedanken gingen ihm blitzartig durch den Kopf, während er in einem unwiderstehlichen Verlangen nach ihrem Besitz sie an sich zu ziehen und sich zu unterwerfen suchte. Niemals zuvor hat te er so eifersüchtig, so leidenschaftlich gespürt, daß sie sein war, daß er um keinen Preis der Welt auf sie verzichten, sie anderen, sich selbst, ihren Gedanken, ihren Erinnerungen überlassen konnte. Er mußte sie fast mit Gewalt nehmen. Doch als er in sie drang, milderten sich sein Zorn und seine Heftigkeit. Nicht zur Befriedigung seiner Begierde allein hatte er an diesem Abend seine ehe lichen Rechte ein wenig unsanft geltend gemacht. Er mußte sie mit sich nach Kythera entführen, denn wenn sie zurückkehrten, würden die bösen Schatten verschwunden sein. Es gibt kein besseres Mittel ge gen Verstimmungen, Zweifel und Kummer als eine geglückte Reise zu zweit zur Insel der Liebe. Er verstand zu warten. Keine egoistische Hast, kein Einschiffen im Sturm. Ein Schamane, dem er an Ostindien während einer seiner ersten Fahrten nach diesem Land, in dem man die Liebe in den Tempeln lehrt, begegnet war, hatte ihm die beiden wichtigsten Tugenden des 568
vollkommenen Liebhabers genannt, Geduld und Selbstbeherrschung, denn die Frauen öffnen sich nur langsam der Lust. Für den verliebten Mann geht das nicht immer ohne gewisse Opfer ab, aber ist das wun dervolle Erwachen eines unbeteiligten Leibes nicht Belohnung genug? Als er fühlte, daß sie sich ein wenig entspannte, daß die abwehrende Verkrampfung ihrer Muskeln nachließ, begann er sie sacht zu reizen. Er hatte ihre schönen Beine um sich gelegt, um sie sich mehr aus zuliefern, sie ganz in seine Hand zu geben. Gegen sei ne Brust spürte er das harte, unregelmäßige Pochen ihres Herzens, den Herzschlag eines in die Enge getriebenen kleinen Tiers. Verlockt von der Frische ihrer Lippen, streifte er sie mit leichten, besänftigenden Küssen. Und trotz des übermächtig werdenden Triebs, den er bis ins Mark empfand und der ihm Schauer über den Rücken jagte, gab er sich nicht nach. Niemals, niemals würde er einwilligen, sie auf ihrem Weg allein zu lassen. Sie war seine Frau, sein Kind, ein Teil seines Fleischs. Und Angélique, in der Qual ihres Herzens, in dem Zorn, unkontrollierbare, rachsüchtige Gefühle und vage Hoffnungen miteinander stritten, begann ihn wahrzunehmen, über sie geneigt mit aufmerk sam-neugierigem Blick. Dieser mit dem ihren ver schmolzene Körper war wie ein mildernder Balsam, dessen Wirkung in ihre Glieder und bis in die Tiefen ihres Seins ausstrahlte, und versucht, sich diesem 569
Wohlbefinden hinzugeben, brachte sie die erregten Stimmen ihres Innern zum Schweigen, die sie daran hinderten, es zu genießen. Aber kaum hatte sie es er reicht, als sich die mißtönenden Stimmen schon von neuem erhoben und die köstliche Empfindung wich. Und sie wandte ihren Kopf ungeduldig hin und her. Da entfernte er sich von ihr, und es war, als habe man ihr alles genommen, als sei ihr nur eine mar ternde Leere geblieben. Sie drängte ihm ungestüm nach, und seine Rückkehr zu ihr gewährte ihr solche Linderung, daß sie ihn umschlang, um ihn festzuhal ten. »Laß mich nicht«, stöhnte sie. »Laß mich nicht … Versprich mir’s!« Es bezauberte ihn, ihre aufflammende Begierde zu spüren. »Ich lass’ dich nicht …« »Sei geduldig … ich bitte dich … sei geduldig!« »Ich bin ja bei dir … Es ist so schön bei dir, mein Kleines, daß ich mich mein ganzes Leben lang nicht von der Stelle rühren werde. Schweig jetzt! Denk an nichts!« Aber wieder entfernte er sich von ihr, schien ihre Erwartung noch steigern zu wollen, indem er sie mit verfänglichen Zärtlichkeiten bedachte, die sie quä lend unbefriedigt ließen und ihr Schauer über die sich sträubende Haut jagten, deren letzte auslaufende Wellen sie bis in die Haarwurzeln und Fingerspitzen spürte. 570
Joffrey ließ nicht nach, denn er liebte sie mehr als sein Leben und empfand in jedem Augenblick die Kraft und Leidenschaft, die sie in ihm weckte, und die Nähe des endlichen Triumphs im Widerstreit von Wollust und Rebellion, der sich in ihrem Körper ab spielte. Das flüchtige Beben, das ihre samtene Haut überlief, das leise Flattern der Lider, das schnellere Keuchen des Atems und schließlich das Aufblitzen ihrer kleinen weißen Zähne zwischen den sich ent spannenden Lippen – all das waren Zeichen, daß sie nicht mehr allein war, daß er sie einmal mehr vom eisigen Abgrund fort zu den leuchtenden Ufern entführt hatte. Und er lachte auf, als er sah, daß sie jäh den Handrücken auf ihren Mund preßte, um ein Aufstöhnen zu ersticken. Den Frauen sind rührende Verschämtheiten eigen. Noch auf dem Höhepunkt ih rer Verzückung alarmiert sie das geringste Geräusch, ein Rascheln, ein Knistern … Die tiefsitzende Angst, überrascht zu werden, ihre Auslieferung zu verraten. Ja, seltsame, ungreifbare, schwierige Geschöpfe, aber welch berauschende Freude, sie zu erobern, sich selbst zu entreißen und sie vergehend zu verbotenen Küsten gelangen zu lassen! Diese hier ließ ihn unbe schreibliche Empfindungen kennenlernen, denn sie schenkte ihm hundertfach zurück, was er ihr geben konnte. Und Angélique, schon bereit, um Gnade zu bitten, und dennoch keine Gnade wünschend, fand sich mit ihm endlich in der tiefen, mächtigen Bewegung der Liebe zusammen, die sie den Gipfeln ihres gemeinsamen Glücks entgegenführte. Er schon 571
te sie nicht mehr, denn sie fühlten sich nun beide eins in dem leidenschaftlichen Verlangen, die Zauberinsel zu erreichen. Mitgerissen von der stürmischen, un widerstehlichen Woge, trieben sie den Ufern entge gen und strandeten, ineinander verschlungen, auf dem goldenen Sand, er aggressiv in der Spannung des letzten Ansturms, sie erschlafft, hingegeben einer köstlichen, taumelnden Erlösung ohne Ende … Und sie wunderten sich, als sie die Augen öffneten, daß sie weder goldenen Sand noch das Blau des Meeres gewahrten … Kythera, Heimat der Liebenden! Unter allen Himmeln kann man sie finden! Peyrac stützte sich auf einem Ellbogen hoch, wäh rend sie noch abwesend schien, einen träumerischen Ausdruck auf dem Gesicht, und der schwächer wer dende Schein des Feuers unter ihren halbgeschlosse nen Lidern matten Widerhall fand. Er sah sie mechanisch den Handrücken lecken, in den sie vor kurzem gebissen hatte, und diese animali sche Geste bewegte ihn von neuem. Der Mann möchte aus der Frau eine Sünderin oder einen Engel machen. Mit der Sünderin will er sich vergnügen, der Engel soll ihn mit unwandelba rer Ergebenheit lieben. Doch die ewige Frau vereitelt seine Pläne, denn für sie gibt es weder Sünde noch Heiligkeit. Sie ist Eva! Er wand ihr langes Haar um seinen Hals und leg te seine Hand auf ihren warmen Leib. Diese Nacht würde vielleicht eine neue Frucht tragen … 572
Wenn er unvorsichtig gewesen war, würde er es sich nicht vorwerfen. Man konnte nicht immer vorsichtig sein, wenn es sich darum handelte, etwas Wesentliches zwischen zwei Herzen zu retten, und sie selbst hatte es im entscheidenden Moment auf so verwirrende Art gefordert. »Und was ist nun mit diesen Indianerinnen?« frag te er halblaut. Sie schrak auf, lachte leise und wandte ihm mit ei ner folgsamen, sanften Bewegung ihr Gesicht zu. »Wie konnte ich nur auf einen solchen Gedanken kommen? Ich weiß es nicht mehr.« »Kleine Närrin, kann man Euch so leicht zum be sten halten, wenn es um Dinge des Herzens geht? Ihr habt Euch sogar deswegen gequält! … Seid Ihr denn Eurer Macht über mich so wenig sicher? Wahrhaftig, was sollte ich schon mit Indianerinnen anfangen? … Ich bestreite nicht, daß diese kleinen, übel duften den Nattern bei Gelegenheit ihre Annehmlichkeiten haben können, aber wie sollten sie mich verlocken, der ich Euch habe? … Haltet Ihr mich vielleicht für Gott Pan oder einen seiner spaltfüßigen Akoluthen? Wo und wann sollte ich denn Zeit finden, jemand anders als Euch zu lieben? … Gott, wie töricht sind die Frauen!« Die Dämmerung war noch fern, als Peyrac sich ge räuschlos erhob. Er kleidete sich an, griff nach seinem Degen, zündete eine Blendlaterne an, glitt aus der Kammer, durchquerte den großen Saal und betrat den 573
Verschlag, in dem der Italiener Porguani schlief. Nach einem rasch und leise geführten Gespräch kehrte er in den Saal zurück und schob den Fellvorhang beisei te, hinter dem seine Gefährten schliefen. Nachdem er den gefunden hatte, den er suchte, weckte er ihn durch ein leichtes Schütteln. Florimond öffnete ein Auge und sah im Licht der Laterne das Gesicht seines Vaters, der ihm freundschaftlich zulächelte. »Steh auf, Sohn«, sagte der Graf, »und begleite mich. Ich will dir beibringen, was eine Ehrenschuld bedeutet.«
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Vierundfünfzigstes Kapitel
Angélique dehnte sich lange, überrascht, daß der Tag so plötzlich dem Abend gefolgt war. Sie hatte in ei nem Zug durchgeschlafen. Noch leicht benommen, fühlte sie sich von einer undefinierbaren Heiterkeit erfüllt. Sie erinnerte sich. Zuerst war da Zweifel gewe sen, Angst, hatte sie sich mit schwarzen Gedanken herumgeschlagen, und dann war in Joffreys Armen alles Düstere spurlos vergangen. Er hatte sie in ihrem Elend nicht allein gelassen, hatte sie gezwungen, sich zu ihm zu flüchten, und es war wunderbar gewesen … Ihre Hand schmerzte sie. Erstaunt betrachtete sie sie, sah die bläulichen Druckstellen von Zähnen, und wieder erinnerte sie sich. Sie hatte die Hand auf den Mund gepreßt, um ihre Liebesseufzer zu ersticken. Wohlig reckte sie sich in der Wärme unter den Pelzdecken und streichelte lächelnd den leeren Platz an ihrer Seite, wo Joffrey geruht hatte. So begleiten purpurgoldene Nächte das Leben der Paare, und diese Nächte beeinflussen es insgeheim oftmals intensiver als die lärmenden Ereignisse des Tages. Als sich Angélique später als gewöhnlich und von Ge wissensbissen geplagt im großen Saal zu Madame Jonas und Elvire gesellte, um an ihre Haushaltspflichten zu gehen, erfuhr sie aus ihrer Unterhaltung, daß Joffrey 575
am frühen Morgen und von Florimond begleitet das Fort verlassen hatte. Sie hatten ihre Schneereifen und Proviant für eine längere Abwesenheit mitgenom men. »Hat er gesagt, in welche Richtung sie sich wenden würden?« fragte Angélique überrascht, weil er ihr gegenüber von einem solchen Entschluß nichts hatte verlauten lassen. Madame Jonas schüttelte den Kopf, aber trotz ihres Leugnens hatte Angélique den Eindruck, daß die gute Frau zumindest das Ziel dieser offenbar von einer Minute zur anderen beschlossenen Expedition ahn te. Jedenfalls wandte sie den Kopf ab und warf ihrer Nichte verständnisinnige Blicke zu. Darauf suchte Angélique Signor Porguani auf. Der Italiener wußte nicht viel mehr als die anderen. Monsieur de Peyrac sei in aller Herrgottsfrühe zu ihm gekommen und habe ihm mitgeteilt, daß er trotz der strengen Kälte für einige Tage abwesend sein würde. »Mehr hat er Euch nicht gesagt?« rief Angélique beunruhigt. »Nein. Er hat mich nur gebeten, ihm meinen De gen zu leihen.« Sie spürte, daß ihr das Blut aus den Wangen wich. Einen Moment lang starrte sie den Italiener an, dann entfernte sie sich, ohne weitere Fragen zu stellen. Jeder begab sich an seine Arbeit, und der Tag ver strich wie alle anderen Tage dieses friedlichen, harten Winters. Niemand sprach vom Aufbruch Monsieur de Peyracs. 576
Fünfundfünfzigstes Kapitel
Die Verfolgung, die der Graf de Peyrac und sein Sohn unternommen hatten, forderte von ihnen doppelten Kraftaufwand, denn Pont-Briand hatte nicht nur einen halben Tag Vorsprung vor ihnen, sondern be mühte sich ebenfalls, so schnell wie möglich voran zukommen. Sie begannen, auch einen Teil der Nacht zu mar schieren, In einer Kälte, die zuweilen die Härte von Metall annahm und ihnen den Atem abschnürte. Sie biwakierten, wenn der Mond sich zum Untergehen anschickte, wärmten sich, schliefen ein paar Stunden und brachen bei Sonnenaufgang wieder auf. Zum Glück war die Spur deutlich erkennbar, blieben der Schnee hart und das Wetter beständig. Die Sterne zeigten sich ihnen in besonders klarer, glitzernder Pracht, und mit Hilfe seines Sextanten wagte es der Graf zweimal, von der Spur ihrer Vorgänger abzuweichen und Abkürzungswege ein zuschlagen, durch die sie mehrere Stunden ge wannen. Er besaß über dieses Gebiet sehr genaue Aufzeichnungen, die er selbst oder seine Leute im vorigen Jahr gemacht hatten, kannte die nach seinen Angaben gefertigten Karten auswendig und hatte bei Indianern und Waldläufern zusätzlich Erkundigungen über Wege, Bodenbeschaffenheit und im Winter wie zur Zeit der Schneeschmelze passierbare Übergänge eingeholt. Die Genauigkeit dieser kartographischen 577
Studie, zu der Florimond, der mit Feder, Pinsel und Zirkel gut umzugehen wußte, viel beigetragen hat te, erklärte die scheinbare Unvorsichtigkeit, mit der die beiden trotz ihres kurzen Aufenthalts im Lande an ein Unternehmen herangegangen waren, das um diese Jahreszeit nur als Wahnwitz bezeichnet werden konnte. Das zugleich bewegte und monotone Antlitz der Landschaft unter der trügerisch uniformen Schminke von Schnee und Eis, ihre zahlreichen Fallen und ra ren entgegenkommenden Seiten, all das war ohne Fehl in sein und seines Sohnes Gedächtnis eingra viert. Trotzdem fühlte sich Florimond nicht ganz wohl in seiner Haut, als der Graf beschloß, die im Mondlicht deutlich sichtbare, hindernislos über eine weite Ebene verlaufende Spur zu verlassen und, um einen langen Umweg zu vermeiden, den Weg über eine Art Hochplateau zu wählen, das sich mauer gleich in diese Ebene vorschob. Das Plateau war von tiefen, unter dick verschneiten Bäumen verborgenen Schrunden durchzogen, in die man bei der geringsten Unvorsichtigkeit stürzen konnte. Als aber die letzten felsigen Ausläufer im Morgengrauen hinter ihnen la gen und sie auf das Biwak des kanadischen Leutnants stießen, dessen warme Glutreste seinen noch nicht lange zurückliegenden Aufbruch verrieten, schob Florimond seine Pelzmütze aus der Stirn und stieß einen bewundernden Pfiff aus. »Ich geb’s zu, Vater – manchmal wurde mir angst und bange, weil ich fürchtete, daß wir uns verirrt ha 578
ben könnten!« »Warum denn? Hast du nicht selbst die Möglichkeit dieser Abkürzung festgestellt? Zweifle nie an Zahlen oder an den Sternen, mein Sohn. Es sind die einzigen Dinge, die niemals trügen.« Nach kurzer Rast machten sie sich von neuem auf den Weg. Sie sprachen wenig, bewahrten ihre Kräfte für die fast übermenschliche Anstrengung des langen Marsches. Die mit Kordeln bespannten Schneereifen behinderten sie bei jedem Schritt, da sie nicht immer ausreichten, sie an der Oberfläche des weichen oder pudrigen Schnees zu halten. Kaum hatten sie sie mühsam herausgezogen, sanken sie unter ihrer Last von neuem ein. Florimond erklärte brummend, daß man für das Gehen im Schnee unbedingt etwas Neues erfinden müsse. Der Anblick, den ihm sein unbeirr bar und unermüdlich vorausschreitender Vater bot, mußte der Vorstellung sehr nahekommen, die dem Leutnant de Pont-Briand im selben Augenblick in Gedanken an den Grafen vorschwebte. Ein düste rer, unerbittlicher Rächer, der sich ohne die leiseste Spur von Erschöpfung seinen Weg bahnte und den Eindruck vermittelte, als habe die ungezähmte Natur in ihm ihren Herrn erkannt, weiche vor ihm zurück und werfe sich ihm zu Füßen. Dieser Wald, der von fern undurchdringlich erschienen war – schon hatten sie ihn hinter sich gelassen; diese Ebene, eben noch scheinbar unerreichbar – schon hatten sie sie über quert und erreichten ihre Begrenzung. 579
Florimonds Muskeln schmerzten ihn. Er, der sich jung und stark glaubte, stellte fest, daß er schwächli che Arme hatte, wenn er zehnmal hintereinander in zwanzig Minuten den notwendigen Kraftaufwand aufbringen mußte, um sich an den Zweigen einer Tanne aus einer Schneeverwehung zu ziehen. Schuld daran war, daß er in Harvard soviel Zeit damit vertrö delt hatte, Hebräisch und Latein zu lernen. Wie sollte man da nicht aus dem Training kommen und die Fähigkeit verlieren, sich in einem Eisland zu bewe gen? Es hatte auch damit etwas zu tun, daß sein Vater sich wie eine Maschine zur Vertilgung des Raums be nahm, und wenn Florimond in seiner jugendlichen Arroganz jemals an der Ausdauer eines Mannes wie Peyrac gezweifelt hatte, erfuhr er sie nun höchst pein lich am eigenen Leibe. »Er schleppt mich in den Tod«, dachte er unruhig. »Wenn das so weitergeht, werde ich über kurz oder lang aufgeben müssen.« Er überschlug, wie lange ihm seine Selbstachtung noch die Beibehaltung dieses Tempos versprach, ohne daß ihm seine Erschöpfung einen Streich spie len würde, gestand sich mehrmals einen letzten, dann einen allerletzten Aufschub zu und triumphierte, als Peyracs Befehl »Machen wir für einen Augenblick halt!« ihn eine halbe Minute vor dem endgültigen Aufgeben erreichte. Er konnte sich sogar den Luxus gestatten, mit ungezwungener, wenn auch ein wenig atemloser Stimme zu sagen: »Ist es wirklich nötig, Vater? Wenn Ihr es wünscht, 580
kann ich … ganz gut … noch ein bißchen … weiter.« Peyrac schüttelte den Kopf und sammelte, nach in nen konzentriert, schweigend Kräfte, und Florimond bemühte sich, es ihm nachzutun. Um die Wahrheit zu sagen, hatte der Graf wäh rend des Marsches keinen Gedanken an die damit verbundene körperliche Leistung verschwendet. Von seiner schon bei vielen Gelegenheiten bewiesenen Widerstandskraft unterstützt, war es der unbezähm bare Wille, seinen Rivalen einzuholen, der ihn auch die härtesten Etappen spielend bewältigen ließ. Gleich dem, den er verfolgte, war auch ihm Angéliques Bild immer gegenwärtig. Es feuerte ihn an, entzündete in seinem Herzen eine Flamme, die ihn sogar gegen die Kälte unempfindlich zu machen schien. Und die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, beschäftigten ihn so ausschließlich, daß ihm kaum bewußt wurde, wo er sich gerade befand. Angéliques Antlitz leuchtete in ihm, und er betrach tete es und entdeckte unaufhörlich neue Reize. Kaum hatte er sie verlassen, fühlte er sie mehr als je sich zur Seite. Kaum war der gedämpfte Widerhall ihrer wollüstigen Wonnen verklungen, und schon weck te die bloße Beschwörung ihres im Schlaf gelösten Körpers, wie er ihn beim Verlassen in der frostigen Morgendämmerung zuletzt gesehen hatte, in sei nen Gliedern neue Begierden. Auch das gehörte zur Macht Angéliques: die Sinne eines verliebten Mannes besänftigen und bezaubern zu können, ohne sie je zu sättigen, so daß das Verlangen, sie zu betrachten, zu 581
berühren und wieder in die Arme zu schließen, von neuem erwachte. Sie war jedesmal neu, trog nie die Erwartungen, enttäuschte niemals. Und immer war es wie eine Entdeckung, die beglückte und verzau berte. Je leichter es ihm gemacht wurde, sich ihr in den Nächten zu widmen, desto weniger konnte er auf dieses Vergnügen verzichten. Je näher er ihr kam im täglichen Dasein des Forts, das ihm Gelegenheit bot, sie ohne Schminke, ohne Verstellung leben zu sehen, desto mehr wirkte ihre Verführung, festigte sich ihre Macht über ihn. Und er wunderte sich darüber, denn er hatte erwartet, daß sie ihn enttäuschen würde. Mußte man nicht angesichts einer solchen Macht mißtrauisch ihr Geheimnis zu ergründen suchen? … Welche geheimen Künste, welche in der Wiege emp fangenen Feengaben, welche durch Zauberei erwor benen Fähigkeiten verbarg dieses schöne, lebensvolle Antlitz? Er argumentierte wahrhaftig wie die Männer seiner Zeit, die sich so gern dem Wunderglauben überlie ßen, um ein Rätsel zu lösen, das sie sich sonst nicht zu erklären vermochten. Vom ersten Augenblick an, in dem sie den Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt hatte, waren alle mög lichen Dinge in eine neue Größenordnung geraten. Und die Kanadier sahen in ihr schon die Inkarnation der dämonischen Erscheinung, die sie erschreckte: der Frau, die sich über Akadien erhob, um seinen Untergang herbeizuführen … Obwohl er sich dagegen wehrte, war Peyrac ver 582
sucht, in der Angélique, die er nach fünfzehn Jahren der Trennung wiedergefunden hatte, überraschende Kräfte zu vermuten. Wenn schon er selbst sich so weit verstieg, war es nicht weiter verwunderlich, daß eine mit so außer ordentlichen Eigenschaften begabte Frau in diesem kargen, ungezähmten Land, in dem die primitiven und naturhaften Spannungen mit größerer Schärfe empfunden werden, seit ihrem Erscheinen als beun ruhigendes, schnell verdächtigtes Wesen die Geister faszinieren und schließlich Mythos und Legende werden mußte. Übliches Phänomen in einem Land der Luftspie gelungen, in dem unglaubliche Erscheinungen an der Tagesordnung waren: knisternde Funken, die über Körper und Kleidung sprühten und schmerzhafte Schläge verursachten, ohne daß sich ihr Ursprung erkennen ließ, farbig wogende Schleier, die sich als unerklärliches Feuerwerk am Himmel entfalteten, stundenlang in der Finsternis schwebende Sonnen, die sich plötzlich mit wahnwitziger Geschwindigkeit im Dunkel des Firmaments auflösten … Die Kanadier sahen in diesen Erscheinungen flammende Kanus, die die Seelen ihrer Toten, der Waldläufer und von den Irokesen gemarterten Missionare, in die andere Welt entführten; die puritanischen Engländer hielten sie für Anzeichen der Nähe eines Planeten, der ihnen die schreckliche Bestrafung ihrer Sünden ankündigte, worauf sie zu fasten und zu beten begannen … Auf einem so brutalen, rauhen Kontinent, auf dem 583
man jede Wahrheit schonungslos empfing, war es nur natürlich und unvermeidlich, daß Angéliques Strahlkraft eine leidenschaftliche, unwiderstehliche Bewegung auslöste. Es war natürlich, sagte er sich, daß man von Neuengland bis nach Québec und von den großen Seen des Westens bis zu den Inseln des Sankt-Lorenz-Golfs im Osten von ihr sprach, sobald sie ihren hübschen Fuß aufs Ufer gesetzt hatte. Und wie er die Gründe für diese impulsive Reaktion be griff, erkannte er auch die sich aus ihr ergebenden Gefahren. Zu den Schwierigkeiten seiner Unternehmungen in der Neuen Welt würde sich nun ein sehr spezieller Konflikt gesellen, in dessen Mittelpunkt Angélique stand. Schon vorher war ihm mit der Hellsichtigkeit des Liebenden klargeworden, daß das Erscheinen des Leutnants de Pont-Briand in Wapassou das Ergebnis eines wenn auch vielleicht noch unformulierten Komplotts sein mußte, neben dem die verliebte Tollkühnheit eines einzelnen bedeutungslos war. Der seine Chance riskierende Pont-Briand war nur ein Vorwand, die Vorhut von irgend etwas Stärkerem, Bedrohlicherem, das durch den Angriff auf die pri vateste Sphäre seiner Frau ihn selbst vernichtend zu treffen suchte … Er selbst hatte sie den Pfeilen ausgesetzt, als er sie auf den Platz an seiner Seite stellte. In dem Augenblick, in dem er ihre Hand genommen und den Versammelten am Ufer von Gouldsboro gesagt hatte: 584
»Meine Frau, die Gräfin Peyrac!«, war sie aus dem Schatten herausgetreten, in dessen Schutz sie mit den Listen eines gejagten kleinen Tiers unbemerkt zu existieren versucht hatte. Er hatte sie von neuem den Blicken preisgegeben, und es konnten nur Blicke der Liebe oder des Hasses sein, denn sie ließ niemand gleichgültig. Peyrac ertappte sich dabei, daß er die weiße Reglosig keit, die eisige, unmenschliche Natur um sich herum musterte, als sammelten sich dort schon seine Gegner mit noch verhüllten, aber unerbittlichen Gesichtern. Und weiter Schritt für Schritt voransetzend, fiel er in die Falle des Feindes, tat er, was man von ihm erwar tete. Aber nichts konnte ihn zurückhalten, denn alle diese Drohungen zielten auf eine Frau, die die seine war durch unverjährbare Rechte, eine Frau, deren Schwäche nur er kannte, eine Frau in der ganzen Verletzlichkeit ihres Geschlechts, die er entschlossen und unbeirrbar verteidigen mußte … »Vater! Vater!« »Was gibt’s?« »Nichts«, murmelte Florimond, stumpf vor Er schöpfung. Vor dem stählernen, harten Blick, den der Graf ihm zuwandte, fand der arme Junge nicht den Mut einzugestehen, daß seine Füße wie aus Blei waren. Sein Vater war der einzige Mensch, der ihn zuweilen aus der Fassung brachte, und zugleich konnte er nicht 585
anders als ihn bewundern, wie er dort vor dem wol kigen, vom Sonnenuntergang übergoldeten Himmel stand, riesig wirkend, mit silbrigen Schläfen und dem von Narben gezeichneten Gesicht, der Mann, den jenseits der Meere zu suchen er einst aufgebrochen war und der ihn nie enttäuscht hatte. Gleichgültig gegen die Schwierigkeiten des Mar sches, setzte sich der Graf wieder in Bewegung. Er überwand sie dank der Reflexe seines in tau send Strapazen gestählten Körpers, während seine Gedanken in einem endlosen inneren Monolog wie der um jenes »man« zu kreisen begannen, den unbe kannten Feind, von dem der Angriff auf sie und ihn zu erwarten war. Noch wußte er nichts. Handelte es sich um eine Verschwörung mit materiellem oder geistigem Hintergrund, um die Verteidigung einer Idee, eines Mythos oder um schmutzige Interessen, um eine Massenbewegung oder die Rache eines einzelnen, der all die anderen symbolisierte? Sicher war nur, daß Angéliques Anwesenheit, die ihnen beiden zum Kraftquell geworden war, auch die negativen, zerstörerischen Kräfte auf sie aufmerksam gemacht hatte, jene Kräfte, die oft neutral und träge bleiben, aber durch eine maßlose Herausforderung plötzlich in ihrer ganzen Grausamkeit geweckt wer den können. War Angélique für sich allein in ihrer Schönheit und Lebensfülle nicht schon eine solche Herausforderung? Und um ihretwillen, das wußte er, wollte man seinen 586
Untergang, seine Vernichtung … Er mußte anhalten, und Florimond nutzte die Gelegenheit, um Atem zu schöpfen und sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. In seine Gedanken verloren, prüfte Peyrac, was ihm nun ganz klargeworden war. Mit dem ersten Schritt in die Neue Welt hatte Angélique einen mächtigen Feind gegen sich aufgebracht. »Gut«, murmelte er zwischen den Zähnen. »Wir wer den sehen.« Die Worte kamen ihm nicht über die Lippen, die sich, erstarrt vor Kälte, kaum bewegten.
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Sechsundfünfzigstes Kapitel
Auch an diesem Abend stießen sie auf ein von PontBriand noch vor kurzem benutztes Biwak. Unter dem dichten Dach der Zweige einer Fichte, geschützt durch Wälle zusammengewehten Schnees, bewahrte der kaum feuchte, übermooste und mit Fichtennadeln bedeckte Boden noch die schwärzlichen Spuren eines Feuers. Drumherum lagen Zweige, zu einem dik ken Teppich ausgebreitet. Andere waren zusätzlich zwischen die des »Dachs« geschoben worden und bildeten ein fast hermetisch abschließendes Geflecht, durch das der Rauch des Feuers, das sie entzünde ten, kaum abziehen konnte. Peyrac vergrößerte mit seinem Dolch die vorhandene Öffnung, während sich Florimond hustend und mit tränenden Augen zusammenkauerte. Ihm fehlte noch die Abhärtung der Indianer, deren Augen ohne Schaden die beizende Wirkung des Rauchs vertragen, der sie im Sommer vor Stechmücken schützt. Schon nach kurzem lo derten die Flammen klar und hoch. Es war nicht zu befürchten, daß die außen mit Schnee bedeckten Zweige Feuer fangen würden. Nur rund um die Abzugsöffnung bräunten sich die Nadeln. Zuweilen prasselten einige auf, wenn die Flammenspitzen ihnen zu nahe kamen, und verbreiteten einen ange nehm balsamischen Duft. Es war gerade Platz genug für zwei zum Sitzen, die Füße dem Feuer zugewandt, oder sich gemütlich auszustrecken. Rasch machte 588
sich wohltuende Wärme breit, und Florimond hör te auf, mit den Zähnen zu klappern, vor sich hin zu brummeln und sich die Nase zu wischen. Das Wiedererwachen der Blutzirkulation in seinen er starrten Gliedern peinigte ihn, aber er bemühte sich, nicht das Gesicht zu verziehen, denn das war wirk licher Schmerz, und es wäre eines frischgebackenen Waldläufers, der vielleicht eines Tages die Tortur der Irokesen aushalten mußte, unwürdig gewesen, dar über zu jammern. Der Graf hatte einen kleinen guß eisernen Topf mit Schnee über das Feuer gehängt. Das Wasser kam schnell zum Sieden. Nachdem er ein paar Hagebutten hineingetan hatte, fügte er einen guten Schuß Rum hinzu, den er noch von den Karibischen Inseln her dem Branntwein vorzog, sowie einige Stücke Kandiszucker. Schon der Duft des heißen Gebräus genügte, Florimond neu zu beleben, und als er getrunken hatte, fühlte er sich geradezu eupho risch. Schweigend verschlangen Vater und Sohn ihre Maisfladen mit – o Wonne! – dicken Speckscheiben und geräuchertem Fleisch. Als Nachtisch folgten jene getrockneten und gesäuerten Beeren, die Angélique zuweilen mit ebensoviel Feierlichkeit verteilte, als handelte es sich um Goldklumpen. Von Zeit zu Zeit fiel ein dicker Wassertropfen mit mattem Geräusch auf ihre derbe Kleidung. Sie rühr ten von über ihnen zwischen den Fichtennadeln fest gebackenen Eisstückchen her, die in der Wärme der Flammen langsam schmolzen. Es war von größter Wichtigkeit, genug Holz im 589
Innern ihres Unterschlupfs zu haben, um das Feuer während der Nacht unterhalten zu können. Die reichlich um den Stamm herumliegenden trocke nen Zapfen konnten sie dafür nicht gebrauchen, da sie höllisch knackten, nach allen Seiten Funken verspritzten und zu rasch verbrannten. Mit ein paar Axthieben brachte Florimond von den unteren Ästen der nächststehenden Bäume ein dickes Reisigbündel zusammen. Das Holz war feucht und zischte, aber die Wärme blieb konstant, und der Rauch war erträglich. Florimond sagte sich, daß er damals im Hôtel du Beautreillis, als er von seinem Vater geträumt hatte, während der alte Pascalou verworrene Geschichten über ihn erzählte, diesem Vater näher gewesen war als jetzt, da er ihn lebendig vor sich sah. Und den noch war ihre Begegnung ein paar Jahre zuvor einem Traum sehr ähnlich gewesen. Er hatte in Neuengland einen Seemann, Grandseigneur und Gelehrten ge funden, der bereit war, ihm sein Wissen weiterzu geben, und danach verlangte er mehr als nach vä terlicher Zärtlichkeit. Wenn die Jesuiten, bei denen er eine Zeitlang in der Nähe von Paris zur Schule gegangen war, die phantasievollen Erfindungen des Sire Florimond wieder einmal mehr als kühl aufge nommen hatten, tröstete er sich, indem er sich sagte: »Mein Vater ist viel gelehrter als all diese … diese Dummköpfe«, und es war wahr. Wenn er jetzt gele gentlich wie gelähmt und stumm vor Verwirrung vor ihm stand, er, Florimond, der mit König Ludwig XIV. selbst familiär geplaudert und so eminente Lehrer 590
von oben herab behandelt hatte, dann deshalb, weil ihn die ungewöhnliche Persönlichkeit dieses Vaters in Bann schlug, dessen Wissen, umfassende Erfahrung und außerordentliche physische Ausdauer ihm mit jedem Tag deutlicher wurden. Peyrac spürte, daß sein Sohn in ihm weniger einen Vater als einen Meister und Lehrer sah. Als Florimond sich auf die Suche nach ihm gemacht hatte, war er noch nicht dreizehn gewesen. Er hatte eben begonnen, sich nach einem Magister zu sehnen, dem er vertrauensvoll folgen konnte, und da er bei denen, die ihn umgaben, nur Sophisterei und Feigheit, Ausflüchte, Unwissenheit und Aberglauben entdeckte, war er ihnen davonge laufen. Wenn er sich Florimond zuwandte, hatte der Graf den Eindruck, in einen Spiegel zu sehen, der ihm das Bild seiner eigenen Jugend zurückwarf. Er fand in ihm den erstaunlichen Egoismus der in die Wissenschaften und das Abenteuer Verliebten, der sie für alles unempfindlich macht, was nicht der uner sättlichen Befriedigung ihrer Leidenschaft dient. Pfui über alle irdischen Neigungen! … Er erinnerte sich, wie er selbst mit fünfzehn Jahren aufgebrochen war, hinkend und seiner Häßlichkeit wie seines humpelnden Ganges wegen mit Spott überschüttet, um sich rund um die Erde zu schlagen. Hatte er sich damals auch nur einen Moment um die Mutter gekümmert, die er zurückließ und die ihn davongehen sah, ihn, den einzigen Sohn, den sie dem Tode entrissen hat te? 591
Florimond war von seiner Art. Er besaß die glei che Achtlosigkeit Gefühlsdingen gegenüber, die ihm erlauben würde, die sich selbst gestellten Ziele zu erreichen, ohne sich ablenken zu lassen. Man hätte ihn nur tödlich treffen können, wenn man ihm das Wissen verweigerte, nach dem er gierte. Er forderte weit mehr die Befriedigung des Geistes als die des Herzens. In Überlegungen über den Charakter seines Sohns versunken, dachte Peyrac, daß Florimond, wenn er, zum Mann geworden, sich endgültig von den Seinen trennte, Gefühllosigkeit und selbst Härte an den Tag legen könnte. Und das um so arroganter, als er nicht das väterliche Handikap eines verunstalteten Gesichts und verkrüppelten Beins zu überwinden hätte. Seine Schönheit würde ihm die Dinge sehr erleichtern … »Vater«, sagte Florimond halblaut, »weißt du, daß du viel stärker bist als ich? Wie kommt es, daß du so ausdauernd bist?« »Durch ein langes Leben, mein Sohn, in dem ich selten Zeit gefunden habe, meine Muskeln rosten zu lassen.« »Da eben drückt mich der Schuh!« rief Florimond. »Wie soll ich mich in Boston aufs Marschieren vor bereiten, wenn ich den ganzen Tag über hebräischen Büchern sitze?« »Reut dich das Wissen, das du in diesen paar Monaten im Internat erworben hast?« »Um die Wahrheit zu sagen … nein. Ich konnte den Exodus im Urtext lesen und habe beim Studium 592
Platos große Fortschritte im Griechischen gemacht.« »Prächtig. In dem Internat, das sich euch unter meiner Leitung auftut, werdet ihr Gelegenheit ha ben, eure Körper wie euren Geist zu stählen. Beklagst du dich, daß die Übung heute zu sanft gewesen ist?« fragte Peyrac. »Gott behüte, nein!« rief Florimond, der sich von Kopf bis Fuß wie gerädert fühlte. An seinen Rucksack gelehnt, streckte sich der Graf auf der anderen Seite des Feuers aus. Der Wald umgab sie mit seinem eisigen Schweigen, das tausend winzi ge, unerklärliche Geräusche belebten. »Du bist stärker als ich, Vater«, wiederholte Flori mond. Die letzten Tage waren eine Lektion für seine leicht befriedigte Eitelkeit gewesen. »Nicht in allem, mein Junge. Dein Herz ist klar und ruhig. Deine Gleichgültigkeit Gefühlen gegen über schützt dich wie ein Panzer, und das erlaubt dir, Dinge zu unternehmen, die ich nicht mehr bewälti gen kann, denn mein Herz ist gefesselt.« »Willst du sagen, daß Liebe schwächt?« fragte Flori mond. »Nein, aber für andere Leben als das deine ver antwortlich sein schränkt die Freiheit ein – oder das, was wir im Frühling unseres Lebens Freiheit nennen. Die Liebe bereichert wie jede neue Erfahrung, aber es heißt in der Bibel: ›Sein Wissen erweitern heißt sein Leid erweitern.‹ Verlange nicht ungeduldig danach, al les zu besitzen, Florimond. Aber verzichte auf nichts, 593
was dir das Dasein bieten kann, aus Furcht, dadurch zu leiden. Narrheit ist, alles auf einmal besitzen zu wollen. Eine Kraft durch eine andere ersetzen, das ist das Spiel des Lebens. Die Jugend mag frei sein, gewiß, aber der Erwachsene ist fähig zu lieben, und das ist ein wunderbares Gefühl.« »Glaubst du, daß ich’s kennenlernen werde?« »Was?« »Die Liebe, von der du sprichst.« »Man muß sie sich verdienen, mein Junge, und sie macht sich bezahlt.« »Das scheint mir auch so … Sie läßt sogar andere für sich zahlen«, sagte Florimond und rieb sich die schmerzenden Schienbeine. Der Graf brach in herzhaftes Gelächter aus. An deutungen genügten, um sich mit Florimond zu verstehen. Auch der Junge lachte und warf ihm einen komplicenhaften Blick zu. »Du bist fröhlicher, Vater, seitdem du unsere Mutter zu uns gebracht hast.« »Auch du bist fröhlicher, mein Sohn.« Sie schwiegen und ließen ihre Gedanken schwei fen, durch die Angéliques Gesicht glitt und die mehr und mehr um den Mann zu kreisen begannen, den sie verfolgten und der wie ein Wolf bei ihnen einge drungen war, um sie zu beleidigen. »Weißt du, Vater, an wen mich dieser Leutnant de Pont-Briand erinnert?« fragte Florimond plötzlich. »Er ist zwar raffinierter und weniger vulgär, aber trotzdem von derselben Art wie dieser scheußliche 594
Kapitän Montadour.« »Wer war dieser Kapitän Montadour?« »Ein gemeiner Schweinehund, der auf Befehl des Königs mit seinen Söldnern unser Schloß bewachte und schon mit seinen Blicken meine Mutter belei digte. Wie oft war mir danach, ihm den Wanst auf zuschlitzen! Aber ich war nur ein Kind und konnte sie nicht verteidigen. Es waren ihrer zu viele, und sie waren zu stark. Der König selbst hatte sie geschickt, um meine Mutter zur Kapitulation zu zwingen …« Er verstummte und zog den schweren, mit Wolfspelz gefütterten Rock um sich zusammen, der ihm als Decke diente. Da sein Schweigen anhielt, glaubte Peyrac, er sei eingeschlafen, aber überra schend hob der Junge von neuem an: »Du sagst, mein Herz sei noch verschlossen und fühllos, Vater, aber da täuschst du dich.« »Wirklich? … Solltest du verliebt sein?« »Nicht in dem Sinn, wie du es verstehst. Aber in meinem Herzen ist eine Wunde, die mir oft keine Ruhe läßt, und seit einiger Zeit quält mich ein furcht barer Haß. Ich hasse die Männer, die meinen kleinen Bruder Charles-Henri getötet haben. Ihn liebte ich.« Er stützte sich auf einem Ellbogen auf, und im zuk kenden Schein der Flammen glänzten seine Augen fiebrig. »Ich habe mich wirklich getäuscht«, dachte der Graf. »Sein Herz lebt.« Florimond fuhr fort: 595
»Er war mein Stiefbruder, der Sohn, den meine Mutter vom Marschall du Plessis-Bellière bekam.« »Ich weiß.« »Er war ein reizendes Kind, und ich bin überzeugt, daß es Montadour war, der ihn mit eigener Hand um gebracht hat, um sich für die Zurückweisung durch meine Mutter zu rächen. Ein Mann, ähnlich diesem Pont-Briand, der noch vor ein paar Tagen bei uns her umstolzierte, höchst zufrieden mit seinem Aussehen und seinem jovialen Lächeln. Genau die gleiche Aufgeblasenheit! … Und wenn ich an Montadour denke, fange ich an, alle diese lüsternen und prah lerischen Franzosen mit ihrem selbstgefälligen Lächeln zu hassen. Dabei bin ich ja selbst Franzose. Manchmal bin ich meiner Mutter böse, daß sie mich hinderte, meinen Bruder vor mich aufs Pferd zu set zen und mitzunehmen. Vielleicht wäre er am Leben geblieben. Natürlich war er noch sehr klein. Hätte ich ihn vor allem bewahren können? Wenn ich an diese Dinge zurückdenke, sehe ich, daß ich eben doch nur ein Kind war … Damals hab’ ich’s nicht geglaubt, aber ich war nur ein Kind, hilflos … trotz meines Degens. Und meine Mutter war noch hilfloser. Ich konnte nichts tun, um sie zu verteidigen und vor der Gemeinheit ihrer Peiniger zu schützen. Ich hatte nur eine Möglichkeit: dich zu suchen. Jetzt habe ich dich gefunden, und wir sind stark. Aber es ist zu spät. Sie haben Zeit gehabt, ihr feiges, niederträchtiges Werk zu tun. Nichts wird den kleinen Charles-Henri wie der zum Leben erwecken.« 596
»Doch, eines Tages wird er für dich ein wenig auf erstehen.« »Was willst du damit sagen?« »An dem Tag, an dem du selbst einen Sohn haben wirst.« Florimond starrte seinen Vater überrascht an, dann seufzte er auf. »Das ist wahr! Du hast recht. Ich danke dir, Vater.« Sichtlich erschöpft, schloß er die Augen. Er hatte in kurzen, zögernd formulierten Sätzen gesprochen, als entdecke er nach und nach Dinge, denen er bis her nicht hatte ins Gesicht sehen wollen. Und auch für den Grafen hatte sich eine Ecke des Schleiers vor dem unbekannten, harten Dasein gehoben, das Angélique fern von ihm geführt hatte. Sie sprach niemals von dem Kind Charles-Henri, vielleicht aus Takt ihm gegenüber, vielleicht auch aus Furcht. Aber blutete deshalb ihr mütterliches Herz weniger als das Florimonds? Schande, Schmerz und Ohnmacht brannten im Herzen des Jungen, und Joffrey spürte, daß sie auch den Zorn gegen den frechen Beleidiger miteinander teilten, der ihn vorantrieb, seitdem er das Fort verlas sen und sich an die Verfolgung Pont-Briands gemacht hatte. Um ihm die unerträgliche Last der Vergangenheit zu erleichtern, in der sie beide, das Kind und der Mann, Verrat, Demütigung und Niederlage kennen gelernt hatten, und ihn aus grübelnder Bitternis zur Aktion zu lenken, neigte er sich zu seinem Sohn. 597
»Man kann dem harten Gesetz der Prüfungen und Niederlagen nicht immer entgehen, mein Junge«, sagte er ihm. »Aber das Rad dreht sich. Jetzt – du hast es selbst gesagt – sind wir beide stark und vereint. Die Zeit der Rache ist für uns gekommen. Endlich kön nen wir auf Beleidigungen antworten, die Schwachen verteidigen, Schläge, die wir empfingen, zurückgeben. Wenn wir morgen diesen Menschen töten, rächen wir Charles-Henri, rächen wir deine Mutter. Indem wir ihn töten, töten wir Montadour …«
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Siebenundfünfzigstes Kapitel
Die Begegnung fand nicht weit vom Méganticsee entfernt statt. In diesen Wintertagen, in denen eine dichte, flache Dunstschicht die unter ihrer Eisdecke schlummernden Gewässer verrät, wird jeder menschliche Laut alsbald von der unendlichen Gleichgültigkeit der weißen Weite verschluckt. Die aus dem gefrorenen Wasser ragenden toten Bäume sind wie Säulen aus purem Kristall, deren starre, gläserne Äste in der von diffusem Licht erfüllten Luft glitzern und funkeln. Diese Eisriesen bevölkern allein das Königreich der Seen, Flüsse, Kanäle und Sümpfe, die der Schnee un ter einem trügerischen Teppich aus makellosem Samt verbirgt. Im Sommer und Herbst stürmen aus diesem Reich der Gewässer die kanadischen Edelleute und ihre Indianer von neuem südwärts, um in Neu england Skalpe zu ernten und ihre Seelen wie ihre Handelsgeschäfte durch das vergossene Blut der Ketzer zu retten. Der bräunliche Wasserweg der Chaudière hat sie ohne Schwierigkeiten bis hierher geführt. Bevor sie weiterziehen, machen sie halt und beten, sammeln sich um riesige Lagerfeuer und sin gen mit ihren Feldgeistlichen fromme Hymnen. Als daher der Leutnant de Pont-Briand von der Höhe eines Felsens vor sich das ihm so vertraute Gebiet des Mégantic in seiner fahlen, glitzernden 599
Trostlosigkeit entdeckte, lockerte sich der Schraub stock um sein Herz, und er atmete freier. Kanada war nun nahe. So manche Erinnerung verband ihn mit dieser Landschaft, und es war noch nicht lange her, als sie von jener unheilvollen Expedition zum Fort Katarunk zurückgekehrt waren. Ja, unheilvoll, wiederholte er für sich mit Nach druck, denn dank der Begegnung mit den Leuten von Katarunk hatte er seinen Seelenfrieden verloren. Doch um keinen Preis der Welt hätte er diese Begegnung missen mögen. Das Gefühl, das er seit dem für eine einzigartige Frau empfand, hatte sein Leben so bereichert, daß die Vorstellung, nun auf sie verzichten zu müssen, ihn quälend bedrückte. Nicht mehr von ihr träumen, sie nicht mehr mit anderen vergleichen zu können, um ihren Glanz desto strah lender zu empfinden! Es war Narrheit, unerklärliche Narrheit, aber sie hatte ihn bereichert – er wieder holte sich dieses Wort –, und ohne sie würde das Dasein jeden Reiz verlieren. Er hatte sie während der letzten Monate allzusehr in sein Leben hineingezo gen. Ich komme zurück, dachte er verzweifelt. Nein, ich könnte nicht verzichten … niemals! Ich brauche sie … ich kann nicht sterben, ohne sie besessen zu haben! Warum hat sie meinen Weg gekreuzt, wenn sie mir nicht bestimmt gewesen ist? Und er dachte wieder daran, daß ihr Fleisch den zarten, köstlichen Duft reifer Früchte ausströmte. Unablässig rief er sich Einzelheiten ihrer Begegnung ins Gedächtnis zurück, weniger den Moment, in dem er sich ihrer 600
Lippen bemächtigt hatte, weil er sich seiner schämte, als den andern, in dem er wieder zum Bewußtsein gekommen war, den Kopf auf ihren Knien, nahe der mütterlichen Fülle ihrer Brüste. Mehr als ihre helfenden Gesten brachte ihn nachträglich noch die mitleidige Besorgtheit durcheinander, mit der sie ihn behandelt hatte. Er sah von neuem ihren veränderten Blick, sanft und eindringlich, und in ihm eine Nachsicht, deren er sich unwürdig fühlte, die ihm aber wohlgetan hat te, und er hörte ihre bezaubernde Stimme: »Was ist mit Euch? Ihr seid nicht in Eurem norma len Zustand, Monsieur de Pont-Briand.« Er wußte, daß es zutraf. Es war ihm im gleichen Moment bewußt geworden, in dem ihre wunder schönen Augen ihn angesehen, in ihn hineingeblickt hatten. Er war das Opfer eines schrecklichen Willens, der ihm wie an der Haut zu kleben schien, der ihn lenkte und gegen den er sich allein nicht zu wehren vermochte. Im übrigen war das vorherbestimmte Unheil eingetreten. Er hatte zwar seine Rolle gespielt, aber er hatte sein Ziel verfehlt, und nun würde er von allen abgewiesen und verlassen werden. Taumelnd war er aufgebrochen, durch den Schlag auf den Kopf für einen Moment von seiner Besessenheit befreit, aber die Wirkung war sehr schnell verflogen, und von seinen üblichen Zwangs vorstellungen begleitet, hatte er seinen Weg fortge setzt. Was er von ihr mitnahm, war weniger ein Bild als 601
ein Eindruck, etwas wie der leichte Schritt einer Elfe an seiner Seite, eine kaum noch erotisch erregende, mehr freundschaftliche, ätherische Gegenwart, und zuweilen sprach er leise mit ihr. »Ihr, Madame, Ihr hättet mich vielleicht vor dem retten können, der mich lenkt und unter seinen Willen zwingt. Ihr hättet mir vielleicht helfen kön nen, mich ihm zu widersetzen … Aber nein, das ist unmöglich! Er ist stärker als Ihr … Er besitzt den Geist der Macht. Wir vermögen nichts gegen ihn. Er ist der Stärkste von allen.« Manchmal glaubte er, zwischen dem bläulichen Geäst der Bäume den Faltenschwung ihres Kleides zu sehen, aber es war immer nur eine verschwom mene, umrißlose Gestalt. Der Blick jedoch, den er auf sich gerichtet fühlte, gehörte nicht der Frau, die er liebte. Es war ein unerbittlicher, männlicher Blick, wenn auch sanft, blau und lächelnd. Die Stimme, die er vernahm, klang warm und überredend: »Die Frau wird Euch gehören …« Pont-Briand brach in ein bitteres Gelächter aus, das der froststarre Wald verschluckte, und der Hurone, der ihm folgte, warf ihm aus schwarzen Augen einen schrägen Blick zu. Der Leutnant sprach mit sich selbst, ein höhnisches Lächeln um die Lippen: »Nein, die Frau wird niemals mir gehören, Pater … und Ihr wußtet es schon, bevor Ihr mich auf den Weg schicktet, Ihr, der Ihr alles wißt … Aber der Versuch war der Mühe wert, nicht wahr, Pater? Und zudem wäre es auch das sicherste Mittel gewesen, den zu 602
verwunden, den Ihr vernichten wollt! Das sicherste Mittel, Peyrac ins Herz zu treffen …« Er wandte sich an den blauen Blick: »Warum Ihr, Pater? Und warum ich?« Unablässig vor sich hin murmelnd, schritt er vor an, in schwerfälligem Rhythmus einen Fuß vor den andern setzend. Noch etwas anderes ließ ihn während dieses wahn witzigen Marsches nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder sagte er sich, daß Peyrac ihn nicht verfolgen, daß er es nicht wagen würde, in dieser Jahreszeit durch ein Gebiet zu streifen, das man sehr genau ken nen mußte, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Aber irgend etwas redete ihm ein, daß der Graf de Peyrac auch dazu imstande sei, und er sah ihn, eine große schwarze Gestalt, die, magisch den Elementen ver bunden, auch dort rasch vorankam, wo der gewöhnli che Mensch zu kämpfen hat oder gar von vornherein verloren ist. Wie hatte er so unüberlegt, so tollkühn sein kön nen, es mit einem solchen Mann aufzunehmen? Er mußte den Verstand verloren haben! Und nun hatte er die Grenzen Maines erreicht und sah das trostlose Gebiet des Mégantic vor sich. Noch eine lange Woche würde er brauchen, um zu seinem Fort zu gelangen, um bei seinen Leuten Sicherheit zu finden. Aber die Erleichterung darüber, diese Etappe hinter sich gebracht zu haben, schloß unausgesprochen die Erkenntnis ein, daß alles Land hinter ihm südlich der Appalachen bereits dem ge 603
hörte, der einmal erklärt hatte: »Ich werde aus Maine mein Königreich machen.« Das in die Tiefen der schwarzen Felsen gegrabene Fort Wapassou war wie ein Kriegsschiff, das im Herzen der unermeßlichen Wälder Anker geworfen hatte. Und der Anker hielt. Es würde nicht leicht sein, es von dort zu vertreiben. Und der, der es befehligte, war nicht aus Zufall dort. Er wußte, was er tat und was er wollte. Es war so unbestreitbar wahr, daß Pont-Briand sich während all der Tage von dem Gefühl nicht hatte lösen kön nen, erst am Mégantic vor Peyrac in Sicherheit zu sein, als sei er dort jenseits der Grenzen von dessen Machtbereich. Nun war er angelangt. An einen im Wintertod erstarrten Baum gelehnt, stieß er einen Seufzer aus, in dem sich Hoffnung und Verzweiflung mischten. Noch ein paar Schritte, und er würde in den schim mernden Nebel der Ebene tauchen, sich zwischen den weißen Schatten verlieren, sich verbergen, sich jedem Blick entziehen, und Peyrac könnte ihn nicht mehr erreichen. Am Sankt Lorenz würde er auf die hölzernen Palisaden eines Forts stoßen, dann auf rings um spitze Kirchtürme sich drängende Dörfer, auf ein aus festem Stein errichtetes Bauernhaus, in das er eintreten könnte, um vor dem Kamin eine gewaltige Portion gesalzenen Schweinefleisches zu verspeisen und mit heißem Treberschnaps hinunterzuspülen. Dort in Kanada würde er völlig in Sicherheit sein. Aber er hätte das Kostbarste von sich verloren: sei nen an den starren Zweigen der toten Bäume längs 604
der weißen Wegspur hängengebliebenen, zerfetzten Traum … Er schüttelte sich zornig, wühlte den Schnee rings um sich auf wie ein in eine Schneewehe eingebro chener Elch, der sich nicht mehr befreien kann. Er klammerte sich an die prosaische Vision eines mit Erbsensuppe und gesalzenem Speck gefüllten Napfs auf seinen Knien vor den prasselnden Flammen eines Kamins. Aber selbst das hatte nach den vor kurzem erahnten Glückseligkeiten einen gallebitte ren Beigeschmack. Denn auch in Wapassou hatte er sich vor den Kamin gesetzt, vor eine warme, nahr hafte Suppe, einen Becher mit Branntwein in der Faust, doch damals war sie dabeigewesen, nur wenige Schritte von ihm entfernt, vom Flammenschein über leuchtet, mit ihren kräftigen, wie golden schimmernden Armen. Er hatte in ihrem Anblick geschwelgt, und allein durch ihre Gegenwart war dem Feuer mehr Glanz, der Nahrung mehr Reiz verliehen wor den, und er hatte einen Augenblick vollkommenen Glücks durchlebt. Langsam stieg er den eisigen, kahlen Hügel hinab. Jeder Schritt riß ihn ein wenig mehr aus unmöglichen Hoffnungen, und da er weder die Kraft zum Verzicht besaß noch die, ihre Konsequenzen auf sich zu neh men, schien es ihm, als sei er der Unglücklichste aller Menschen. Auf der Sohle des zum Seeufer sich öffnenden Tals angelangt, berührte ihn der Indianer am Arm und wies den Hang zur Linken hinauf. Er 605
sah, daß sich dort oben dunkle Gestalten bewegten, und die plötzliche Belebtheit der eben noch in eisiger Lähmung erstarrten Landschaft ließ ihn erbeben. So lange hatte sich nichts um ihn gerührt. Nun war die weiße Stille gestört, und sofort witterte er Gefahr. »Bären?« murmelte er. Doch schon im nächsten Moment zuckte er mit den Schultern und nannte sich einen Dummkopf. Die Bären schliefen im Winter, und Tieren, die keinen Winterschlaf hielten, war er während des Marsches nicht begegnet. Zu gewissen Zeiten der kalten Monate machen sich Wölfe, Füchse und Elentiere so rar, daß es scheint, als seien sie für immer verschwunden, um dem Winter allein das Feld zu überlassen. »Indianer?« Aber was täten Indianer in dieser Gegend, um diese Jahreszeit? Auch sie verkriechen sich in ihre Rindenhütten, zehren von ihren Vorräten. Noch war der Augenblick nicht gekommen, in dem der Hunger sie auf die Fährtensuche treiben würde, zur Jagd auf den brünstigen Hirsch, um durch den Fang eines der seltenen, abgemagerten Tiere ihr miserables Leben zu retten. »Also sind es Menschen«, sagte Pont-Briand laut. Weiße … Waldläufer! Und plötzlich schloß er die Augen und blieb reglos stehen, während er in seinem Innern den dumpfen Schlag des Schicksals vernahm. Er wußte, wer dort kam. Ein tiefer Seufzer drang ihm über die Lippen und umgab ihn mit einer Aureole weißlichen Hauchs, die 606
sich in der kalten Luft langsam auflöste, als verließe ihn schon seine Seele. Ein Schauer der Furcht schüttelte ihn von Kopf bis Fuß. Dann faßte er sich. So weit war es noch nicht mit ihm gekommen, einem Krieger, der nur Schlachten und Tote auf seinem Wege kannte! Er richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und sah dem Grafen de Peyrac und seinem Sohn gefaßt und mit einem undeutbaren Lächeln um die Lippen entgegen.
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Achtundfünfzigstes Kapitel
Es war weniger die Gestalt Peyracs als die des Jüng lings hinter ihm, auf die sich Pont-Briands Blick rich tete. Er hatte ihn in Wapassou kaum bemerkt. Nun stellte er fest, daß der Junge das genaue Ebenbild des Mannes war, der ihn gezeugt hatte, nur daß in seinen Zügen, seinem Ausdruck vor allem, vielleicht auch in seinem Lächeln irgend etwas lag, was unwidersteh lich das Antlitz Angéliques heraufbeschwor. Und angesichts dieses klaren Beweises, daß die Frau, um die seine Träume kreisten, einem anderen gehörte, daß sie mit diesem anderen und diesem Jüngling durch Bande verknüpft war, deren Stärke er nie mals ahnen würde, erkannte er das ganze Ausmaß seiner Einsamkeit. Der Junge hatte noch nicht die Größe seines Vaters erreicht, verriet jedoch in seinen Bewegungen schon eine verborgene, unbekümmerte Kraft, die Mißtrauen weckte, und in den Linien seines glatten Gesichts mit den frischen roten Lippen, die aus der Einrahmung der Pelzmütze glänzten, einen präzisen, überlegten Willen, der sich von Gefühlen kaum lenken lassen würde. Sie kamen beide, um ihn zu töten. Und sie würden ihn töten. Pont-Briand dachte an den Sohn, den er niemals haben würde, den es vielleicht schon gab, aber er hatte sich nie um seine möglichen Vaterschaften ge 608
kümmert. Mürrische Eifersucht erwachte in ihm und half ihm, den Mann zu hassen, der sich dort näherte und Rechenschaft von ihm fordern würde und der alles besaß, was ihm verweigert war. Eine Frau, einen Sohn. Er war nahe daran, seine Muskete anzulegen und die beiden niederzuschießen. Doch dann verach tete er sich des eines Edelmannes reichlich unwür digen Gedankens wegen. Zudem war er überzeugt, daß der Graf, der ihn im Auge behielt, schneller zum Schuß kommen würde als er. Von seiner Fertigkeit im Schießen hatte man durch Berichte von Seeleuten, die sich auf Erzählungen von Piraten stützten, bis nach Kanada gehört, vielleicht auch durch die Piraten selbst, die an den Ufern des Sankt Lorenz von ihren Kämpfen schwadronierten und dabei mehrfach sei nen Namen als den eines ihrer gefürchtetsten Gegner erwähnt hatten. Warum war dieser Peyrac nicht auf dem Meer geblieben! dachte Pont-Briand, der sein ganzes Ver mögen dafür gegeben hätte, es mit diesem Gegner nicht aufnehmen zu müssen. Die Persönlichkeit des Grafen hatte ihn vom ersten Tage an mit Unbehagen erfüllt. Er war Monsieur de Loménie böse gewesen, weil er so schnell mit dem beunruhigenden Fremden sympathisiert hatte. Hatte er vorausgeahnt, daß er von dessen Hand sterben würde? Wenn Pont-Briand sich nur bemüht hätte, in sich selbst klar zu sehen, wäre ihm bewußt geworden, daß er vor allem darunter litt, sich diesem Mann so völlig unterlegen zu wissen. Sie beobachteten sich schweigend, nur durch we 609
nige Schritte getrennt regungslos einander gegen überstehend. Pont-Briand bezeigte keinerlei Über raschung, stellte keine Frage. Er hätte es verächtlich gefunden, in diesem Augenblick Komödie zu spie len. »Ihr wißt, warum ich hier bin, Monsieur?« fragte Peyrac. Und, da der Leutnant stumm blieb: »Ihr habt versucht, mir meine Frau zu stehlen, und ich komme, um Genugtuung von Euch zu fordern. Ich bin der Beleidigte. Die Wahl der Waffe steht mir zu.« »Welche Waffe?« »Der Degen. Ihr seid Edelmann …« »Ich trage keinen Degen.« »Da habt Ihr einen.« Er warf ihm den Degen zu, den er sich von Porguani geliehen hatte, und zog den seinen aus der Scheide. »Das Terrain scheint mir für unseren Zweck wenig geeignet«, fuhr er nach einem kurzen Rundblick fort. »Der Schnee ist hier weich und tief. Wenn wir unse re Schneereifen abschnallen, werden wir einsinken. Gehen wir also zum Seeufer hinunter, wo der Boden stärker gefroren ist. Während des Kampfes wird mein Sohn darauf achten, daß der Indianer, der Euch be gleitet, mich nicht heimtückisch angreift, um Euch zu helfen. Warnt ihn deshalb, denn bei der geringsten verdächtigen Bewegung wird mein Sohn ihn ohne Mitleid töten.« Am Ufer des Sees fanden sie eine vereiste, körnige 610
Schneekruste vor, die unter ihren Stiefeln knirschte. Dem Beispiel des Grafen folgend, legte Pont-Briand Rucksack, Muskete, Pulverhorn und Pistolen ab, lö ste den schweren Koppelriemen, entledigte sich sei nes pelzgefütterten Rocks und der ärmellosen leder nen Weste, die er über dem leinenen Hemd trug, und zog schließlich auch dieses letzte Kleidungsstück aus. Die Kälte biß in seine nackte Haut. Der Graf hatte es ihm nachgetan. Pont-Briand nahm ihm gegenüber Aufstellung. Er betrachtete die in die Nebelschleier des Hori zonts hinabtauchende Sonne, eine rosige, verschwom mene, riesige Sonne, die über das monotone Weiß der Landschaft fahle Lichter warf, die an Morgenröte erinnerten. Bläuliche, schmale Schatten, die während des Tages unsichtbar gewesen waren, liefen von den Wurzeln der Bäume aus flink wie Reptilien über den Schnee. Der Abend sank. Pont-Briands Blick war verzehrend. Die Szene, die er durchlebte, schien ihm unwirklich. Es verlangte ihn danach, sich davonzumachen. Stimmte es, daß er sterben sollte? … Wut stieg in ihm auf und weckte sein Selbstvertrauen. Er wußte, daß er mit dem Degen nicht viel taugte, aber der Schnee würde wenigstens sein Komplice sein. Peyrac war es nicht gewohnt, im Schnee zu kämpfen. Der Mégantic würde seinen Kanadier aus Neufrankreich nicht im Stich lassen. Er richtete sich auf, dehnte die Schultern. Spöttisch sagte er: »Wahrhaftig, in Eurer Familie ist man nicht gerade 611
umgänglich! Madame de Peyrac hat mir schon eins mit dem Feuerhaken versetzt.« »Mit dem Feuerhaken?« Peyrac schien entzückt. »Ah, das sieht ihr ähnlich.« »Lacht nur!« rief Pont-Briand erbittert. »Eines Tages wird Euch schon das Lachen vergehen, denn er wird Euch von ihr trennen. Ich bürge dafür.« »›Er‹? Von wem sprecht Ihr?« Der Graf hob den Degen und runzelte die Stirn. »Ihr wißt es ebensogut wie ich.« »Trotzdem … Ich würde gern einen Namen von Euch hören. Heraus mit der Sprache!« Der Leutnant warf einen raschen Blick über die versteinerte Landschaft, als ob unsichtbare Geister ihn hören könnten. »Nein«, keuchte er, »nein, ich werde nichts sagen. Er ist mächtig. Er könnte mich treffen.« »Vorläufig bin ich es, der Euch treffen wird, und das sicher.« »Was kümmert’s mich! Ich werde nichts sagen, ich werde ihn nicht verraten. Ich will nicht, daß er mich verläßt.« Etwas wie ein Schluchzen stieg in seiner Kehle auf. »Ich will, daß er für mich betet, wenn ich im Fegefeuer sein werde!« Von neuem überkam ihn Verzweiflung. Er sah sich allein, nackt und erstarrt in dieser Landschaft, nach deren Bild er sich die ungewissen Bereiche vorstellte, durch die seine Seele bald irren würde. 612
»Er hat mich angestiftet!« rief er. »Ohne ihn hät te ich niemals diese Dummheit begangen, wäre ich niemals mit gesenktem Kopf in Euren Degen ge rannt! Aber er wird trotzdem triumphieren. Er ist der Stärkere … Seine Waffen sind nicht von dieser Welt … Er wird Euch vernichten … Er wird Euch von der Frau trennen, die Ihr liebt. Er kann die Liebe nicht er tragen … Er wird Euch von ihr trennen … Ihr werdet schon sehen!« Nach und nach war seine Stimme schwächer, rau her geworden, während seine aufgerissenen Augen in einem starren Licht glänzten. Sehr leise wiederholte er mehrmals mit packender Eindringlichkeit: »Ihr werdet sehen! … Ihr werdet sehen!« Dann küßte er die Medaillen, die er um den Hals trug, und hob den Degen zum Kampf.
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Neunundfünfzigstes Kapitel
Joffreys und Florimonds Abwesenheit dauerte noch immer an. Angéliques Besorgnis hatte sich zu unkon trollierbarer Angst gesteigert. Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben, aber die nervöse Gespanntheit ihrer Züge verriet sie. Ihre Nächte waren ohne Schlaf. Wenn sie dennoch gelegentlich einschlummerte, fuhr sie als bald jäh wieder auf und lauschte auf die vielfältigen Geräusche draußen, in denen sie das knirschende Nahen eines Schrittes, das Murmeln von Stimmen zu erkennen hoffte. Doch das Pfeifen des Windes kündigte nur die zunehmende Gewalt eines Sturmes an, dessen Schneewirbel ihren Gatten und ihren älte sten Sohn in die Irre führen und für immer begraben würden. Tagsüber konnte sie dem Zwang nicht wi derstehen, zwanzigmal auf die Türschwelle zu treten, um nach ihnen Ausschau zu halten, oder gar zum See hinunterzugehen und lange dem Uferpfad zu folgen, immer auf das Wunder hoffend, die beiden Gestalten in der Ferne aus dem Wald auftauchen zu sehen. Schließlich war sie am Ende ihrer Kräfte angelangt. Ihre Nerven hielten nicht mehr stand. Es war am Abend eines Tages, an dem ein violet ter Himmel über der Natur gelastet und nach und nach alles Licht aufgesogen hatte. Um drei Uhr war es dunkel wie in der Nacht. Ein stürmischer Wind erhob sich und trieb den Schnee in wirbelnden wei ßen Wolkenfetzen vor sich her. Zwei der Männer, die 614
sich noch einmal in den Hof hinausgewagt hatten, um ein Werkzeug zu holen oder ein Tor zu schließen, waren vom Sturm zu Boden geworfen worden und hatten unverrichteterdinge zurückkriechen müssen. Trotz der fest geschlossenen Türen und Fensterluken waren das rasende Kreischen der Winternacht, die wütenden Manifestationen der offensichtlich zum Untergang der Welt entschlossenen Elemente deut lich zu hören, und das Bewußtsein der Schwäche des Menschen schlich sich in ihre Herzen. Man brachte die Kinder zu guter Stunde ins Bett und servierte das Abendessen früher als sonst. Die Männer aßen schweigend, bedrückt und un ruhig. Angélique spürte, daß ihre Widerstandskraft schwand. Ziellos im Saal auf und ab gehend, rang sie die Hände, preßte sie auf den Mund, um ihre Klagen zu unterdrücken, verschränkte die Arme krampfhaft vor der Brust, unablässig murmelnd: »Mein Gott! … Mein Gott!« Es dauerte eine Weile, bis ihr Verhalten ihnen auffiel, bis ihnen ihre Erregung und schließ lich ihre Verzweiflung bewußt wurde. Zuerst mit Erstaunen, dann erschrocken und mitfühlend. Sie hatte ihnen das Gefühl ihrer Überlegenheit so fest eingeprägt, hatte so gut die Rolle der Schloßherrin ge spielt, von der sie Beistand, Rat und selbst Vorwürfe erwarten durften, daß es sie aus der Fassung brachte, sie unversehens schwach und ängstlich zu sehen. »Mutter! Liebste Mutter!« murmelte Cantor. Er stieß seinen Schemel zurück und lief zu ihr, um sie 615
zu umarmen. Im nächsten Moment sprangen alle auf, um drängten sie und überhäuften sie mit bärbeißigen Protesten. »Warum quält Ihr Euch, Frau Gräfin?« »Was soll ihnen schließlich schon passieren?« »Es ist wahrhaft unvernünftig, sich um so wenig so aufzuregen!« »Die beiden sind nicht so leicht unterzukriegen, glaubt mir. Schließlich sind’s erfahrene Waldläufer.« »Ich hab’ den Herrn Grafen schon vor ganz ande ren Schwierigkeiten gesehen.« »Selbst bei solchem Sturm hat man in einem guten Rindenunterschlupf nichts zu fürchten.« »Wenn mich nicht alles täuscht, gibt’s ein Algon kindorf an der Strecke.« Sie ließen sich nicht darüber aus, um welche »Strecke« es sich handelte. Man hatte von Anfang an gewußt, daß der Graf nach Norden aufgebrochen war, um den Mann zu verfolgen, der ihn beleidigt hatte. Das war das Gesetz! … Und es gab viele unter ihnen, denen das Benehmen des Leutnants de Pont-Briand Lust gemacht hatte, selbst mit ihm handgreiflich zu werden … Angélique spürte jedoch, daß keiner dieser rauhen Burschen an ihr oder der Art und Weise zwei felte, mit der sie die Werbung des Franzosen aufge nommen hatte. In ihrer kleinen Gemeinschaft konnte man nichts voreinander verbergen. Wenn die Szene mit Pont-Briand auch keinen Zeugen gehabt hatte, ahnte doch jeder das Wesentliche. Der Leutnant hatte 616
ihr Erklärungen gemacht und war von ihr auf seinen Platz verwiesen worden, und als der Graf davon er fahren hatte, war er aufgebrochen, um ihn zu töten. All das war ganz in der Ordnung. Aber nun war da diese verängstigte Frau, die die Hände rang und ihren Blick vom einen zum anderen gleiten ließ, als ob sie von ihnen Trost erwarte. Und sie fühlten sich bedrückt und auf eine nicht zu definierende Weise von dem niederträchtigen Verhalten dieses Kanadiers betroffen, der etwas gewagt hatte, was sie selbst sich nicht einmal in Gedanken er laubten. »Er mußte hinter ihm her, Madame«, sagte Jacques Vignot. »Aber Ihr werdet sehen, er kommt zurück.« Er kommt zurück! Er kommt zurück! … Sie wie derholten es wie eine segenbringende Beschwörung. Angélique empfand die ihr entgegenströmende Wärme, und plötzlich schluchzte sie an der Schulter des alten Macollet, der sich gerade an diesem Abend unter ihnen befand. War er nicht immer da, wenn man ihn brauchte, wie ein alter Baum, dessen Verwurzelung allen Stürmen widerstand? Er drückte sie fest an sich und murmelte: »Nun … nun … weint nur ruhig. Weinen tut gut.« Die anderen waren wie niedergeschmettert. Seltsamerweise war es der auvergnatische Schmied, der sich bisher mit wütender Miene abseits gehalten hatte und nun die einzigen Worte fand, die sie trösten konnten: »Was habt Ihr zu fürchten? Florimond ist bei 617
ihm!« Angélique hob den Kopf und sah ihn voller Hoff nung an. »Es ist wahr! Ihr habt recht, Clovis! Florimond ist bei ihm! Und Florimond verirrt sich nie, nicht wahr?« »Nie. Unter uns sagen wir sogar, daß der Junge einen Kompaß verschluckt haben muß, als er noch klein war.« Sie atmeten erleichtert auf, als sie ein blasses Lächeln in ihren feuchten Augen aufglänzen sahen, und drängten sich von neuem mit einfachen, herzli chen Worten um sie. Der feierlich-steife Don Alvarez zeigte ihr sogar sei nen Rosenkranz aus schwarzem Buchs und gab ihr zu verstehen, daß er täglich inbrünstig für die Rückkehr des Grafen de Peyrac und seines Sohnes bete. Soviel aufrichtige, offenherzige Freundschaft ließ wieder Angéliques Tränen fließen, sosehr sie sich auch um Fassung bemühte. Madame Jonas nahm sie bei den Schultern: »Kommt mit mir, mein Engel. Ihr könnt nicht mehr. Ihr müßt Euch ausruhen, sonst werdet Ihr es sein, die wie ein Gespenst aussieht, wenn sie in kur zem munter und fidel zurückkehren.« Angélique hatte sich vorher nie klargemacht, wie gütig Madame Jonas sein konnte. Die brave Frau brachte sie in ihre Kammer, half ihr, sich auszuziehen und zu Bett zu gehen, nachdem sie zuvor zwei ange 618
wärmte Steine zwischen die Laken geschoben hatte, und schließlich erschien sie, unaufhörlich plaudernd, mit einem beruhigenden Aufguß. Allmählich begann sich Angélique wohler zu füh len. Es hatte sie erleichtert, ihre Ängste mit anderen teilen zu können, und Madame Jonas ließ ihr keine Zeit, sich von neuem in trübe Gedanken zu verboh ren. »Man kann sich nicht vorstellen, wie ausdauernd Männer sind, meine Liebe … Wir Frauen machen nur zu gern aus einer Maus einen Elefanten. Bei Kälte, Schnee und tüchtigen Märschen fühlen sie sich erst richtig zu Hause, vorausgesetzt, daß es nicht allzu lange dauert. Die Männer haben harte Haut, heißes Blut und ein kaltes Gehirn. Habt Ihr jemals gesehen, daß der Herr Graf auch nur das kleinste Zeichen von Müdigkeit oder Angst gezeigt hätte? … Ich nicht!« »Ich weiß«, sagte Angélique, die mit Behagen den Duft des Aufgusses einsog und in kleinen Schlucken zu trinken begann. »Aber er kann sich trotzdem verir ren, bei diesem Blizzard schon gar.« »Verirren? Das würde mich bei den beiden wun dern! War der Herr Rescator nicht der beste Pilot auf allen Ozeanen? Wir könnten verschiedenes davon erzählen, nicht wahr? Zwischen der Wildnis und dem Meer ist der Unterschied nicht gar zu groß, und für den, der am Firmament zu lesen weiß, sind noch immer die Sterne da. Monsieur Porguani hat mir er zählt, daß der Herr Graf seinen Sextanten mitgenom men hat.« 619
»Wahrhaftig?« fragte Angélique, durch die Neuigkeit sichtlich ermutigt. Doch schon meldeten sich neue Bedenken. »Was hilft das bei Nacht und diesem infernalischen Schnee, der die Spuren verwischt und die Sterne ver birgt!« »Sie werden sich in irgendein Loch verkrochen haben, in eine Indianerhütte vielleicht, um das Ende des Sturms abzuwarten. Bei Tag finden sie sich be stimmt zurecht. Der Herr Graf ist nicht umsonst ein Gelehrter, und Florimond verirrt sich nie.« »Ja, das ist wahr. Florimond ist dabei«, erwiderte Angélique mit einem schwachen Lächeln. Sie schloß die Augen. Madame Jonas nahm ihr den Becher aus den Händen, klopfte die Kissen zurecht und flocht ihr das Haar, um es ihr bequemer zu machen. »Wie soll ich Euch danken?« murmelte die junge Frau, die schon das Nahen des Schlafs verspürte. »Es ist nur gerecht, daß wir mal Euch zur Abwechs lung ein wenig pflegen, mein armer Engel, Euch, die Ihr uns alle sonst auf Euren Armen tragt«, antwortete die brave Rochelleserin bewegt. Angélique entdeckte an diesem Abend, welchen Platz sie sich in den Herzen der Leute von Wapassou erobert hatte. Zum Dank für alles, was sie ihnen an Mut, Hilfe, Geduld, guter Laune und Heiterkeit ge geben hatte, nahmen sie sich nun ihrer an. Sie gehörte zu ihnen. »Die Männer sagen, falls der Herr Graf morgen 620
nicht zurückkäme, würden sie eine Expedition orga nisieren, um ihm entgegenzugehen«, fügte Madame Jonas noch hinzu. »Man weiß ja nicht mal, welche Richtung er einge schlagen hat.« »Natürlich weiß man’s. Er ist nach Norden mar schiert, um diesen Taugenichts von Pont-Briand zu verfolgen …« Angélique öffnete wieder die Augen und starrte für einen Moment in das runde rote Gesicht der guten Frau. Dann schlug sie bedrückt beide Hände vors Gesicht. »Es ist meine Schuld«, klagte sie. »Was habe ich nur dem Himmel getan, daß ein vernünftiger Mensch sich für berechtigt hält, meinen Mann unter seinem eigenen Dach zu beleidigen? Seid ehrlich, Madame Jonas! Sagt mir, ob es in meinem Benehmen irgend etwas gibt, was den Leutnant de Pont-Briand auch nur im geringsten dazu ermutigen konnte, mir re spektlos zu begegnen?« »Nein, und nun fangt nicht auch noch an, Euch an die Brust zu schlagen und ›Mea culpa!‹ zu rufen! … Ich kenne Euch gut, Kind, ich habe Euch in La Rochelle und auf dem Schiff beobachtet, mit oder ohne Gatten. Dort und überall hat es immer Männer gegeben, die Euch für sittsam hielten, und andere, die es nicht ta ten. Es ist nicht Eure Schuld, daß Ihr so schön seid! Nur führt es eben zu Mißverständnissen.« »Ah, mein Mann wird sich nie ändern!« rief Angé lique. »Was kümmern ihn meine Sorgen? Er folgt 621
seinen Impulsen, seinem Ehrbegriff und geht davon, ohne mir etwas zu sagen, und wenn er …« »Ihr würdet ihn nicht so lieben, wenn er anders wäre. Mit einem gesetzteren Mann würdet Ihr ru higer sein, gewiß, aber nicht so verliebt, glaubt mir. Euer Teil ist schön! … Wenn man Euch wählen ließe, würdet Ihr nichts anderes haben wollen, davon bin ich überzeugt, und ihm geht’s genauso, so unbequem es zuweilen auch sein mag, Euch zur Frau zu haben … Na also, jetzt ist es mir sogar gelungen, Euch zum Lachen zu bringen. Man zieht nun einmal Neid auf sich, wenn man einen Schatz besitzt. Ihr dürft Euch nicht wundern, wenn man versucht, das, was Euch gehört, zu zerstören. Ihr müßt Mut genug haben, um es zu verteidigen wie alles andere auch. Und nun ge nug geschwatzt. Ich werde heute nacht bei Euch blei ben. Wenn Ihr aufwacht und nicht wieder einschlafen könnt, werden wir einfach ein Weilchen plaudern.« Vor dem Einschlafen lauschten sie auf das Pfeifen des Windes, das Knacken der Balken, das knirschende Brechen stürzender Bäume, das jähe Aufheulen, das ebenso plötzlich verstummte, wie erstickt unter dem stiebenden Schnee, dessen weiße Wälle sie um sich wachsen fühlten. »Morgen werden wir unter ihm begraben sein«, sagte Madame Jonas. Endlich sanken sie in Schlaf, er wachten wieder, plauderten halblaut ein wenig von La Rochelle, den Leuten der Gouldsboro und den kleinen Dingen, deren Erledigung ihnen dringend geboten schien. 622
»Ich werde Clovis bitten müssen, uns ein zweites Bügeleisen zu machen«, erklärte Madame Jonas. »Es läßt sich nur so schlecht mit ihm reden.« »Aber er ist der einzige, der es fertigbringt, so ein Eisen zugleich schwer und leicht zu machen. Man braucht niemals auf die Glut zu blasen.« Der Morgen kam geräuschlos. Eine erschöpfte Welt wagte nicht zum Leben zu erwachen. Das Tageslicht sickerte grau in die Räume des Forts, denn der Schnee versperrte die Sicht durch die kleinen Quadrate der Fensterscheiben. Doch sobald sie die Tür nicht ohne Mühe geöffnet hatten, erschien ihnen ein glorioser Wintertag aus Perlmutt und Gold. Die Natur strahl te im Glanz einer fast überirdischen jungfräulichen Schönheit, so rein waren das Weiß des Schnees, die seidige Bläue des Himmels, das Goldblond der Sonne, so vollkommen die Formen der ringsum wie halb verzehrte hohe Kerzen aufragenden Bäume – und hier und da Kuppeln sich beugender Zweige, als senkten sie sich unter der Frühlingslast schwerer, samtener Blüten. »Faßt sie nicht an, es ist zu schön!« rief Honorine, die alsbald auf den weißen Teppich stürzte, um sich entzückt in seiner glitzernden Weichheit zu wälzen. Die Männer bewaffneten sich mit Schaufeln, um den Eingang freizulegen. Auf der Seite, von der der Wind am stärksten geweht hatte, reichte der Schnee bis zum Dach hinauf. Sie mühten sich inmitten auf stäubender kristallinischer Wolken, eines eisigen, un greifbaren Dunstes, kämpften sich wacker durch die 623
flirrende Überflutung. Sensibler für die irisierende Schönheit der Land schaft als für die tödlichen Gefahren, die sie barg, schien es Angélique, als könne es an einem solchen Tag weder Trauer noch Verzweiflung geben. Sie wür den zurückkehren! … Heiter und ruhig machte sie sich an ihre Arbeit, sorgsam darauf bedacht, ihrer Phantasie nicht die Zügel schießen zu lassen. Um die Mitte des Vormittags lockte sie ein Schrei nach draußen. Jemand wies zum jenseitigen Berghang hinüber, von dem sich eine mächtige Schneewächte gelöst hatte und stiebend abwärts glitt. »Eine Lawine …« »Aber wer hat die Lawine verursacht? Wer?« brüllte Jacques Vignot. »Schaut genau hin, Madame! Sie sind’s!« Auf der nun vom Schnee befreiten schwärzlichen Steilwand waren zwei menschliche Gestalten zu er kennen, die langsam von Fels zu Fels abwärts kletter ten und sich dabei an die Zweige des in den Spalten wuchernden Strauchwerks klammerten. »Sie sind’s!« Die Männer schrien »Hurra!« und warfen ihre Pelzmützen in die Luft. Eine ungestüme Bewegung entstand, ihre Freude trieb sie den Ankömmlingen entgegen, aber ohne Schneereifen kamen sie nicht voran. Sie mußten auf ihre Absicht verzichten, und die Zeit, die verstrich, bis die beiden, nun dem Fort schon sehr nah, wieder in ihrem Blickfeld auftauch 624
ten, schien ihnen endlos. Angélique benahm sich inzwischen, als hätte sie den Verstand verloren. Sie lief zurück, erschien von neuem, kehrte nach wenigen Schritten wieder um, ging ziellos im Saal hin und her. Endlich besann sie sich, weswegen sie gekommen war, nahm die Brannt weinflasche, die unter Verschluß in einer Truhe auf bewahrt wurde, und stürzte hinaus. Unmittelbar vor der Tür stieß sie auf Joffrey. Sein Blick senkte sich in den ihren. Ein halbes Lächeln lag auf seinem unrasierten Gesicht, das ihr abgezehrter vorkam, fast wie eine grinsende Maske mit den fahlen Runen seiner Narben und den brennenden dunklen Augen, die sich fiebrig glänzend auf sie richteten. An diesem Tag galt sein Blick nur ihr. Er betrachtete sie, gleichgültig für alles, was ihn umgab, betrachtete sie, als sei sie das einzige lebende Wesen auf der Welt. Und sie, für die er wie die Sonne aufging, ohne die sie nicht leben konnte, sah nur ihn. Vignot mußte ihr die Flasche aus der Hand nehmen. »Trinkt, Herr Graf«, sagte er, indem er einen Becher bis zum Rand füllte und ihn seinem Herrn reichte. »Gute Idee«, erwiderte Peyrac. Er leerte den Becher, ohne abzusetzen, ging mit schon weniger steifem und humpelndem Schritt zum Kamin und setzte sich auf einen Schemel. Da lief Angélique zu ihm und kniete vor ihm nie der. Richtiger wäre es zu sagen, daß sie vor ihm auf die Knie fiel, so sehr überkam sie das Glück in diesem 625
Augenblick gleich einer seltsamen Schwäche. Sie hat te ihm seine Stiefel ausziehen wollen, doch als ihre Hände unter dem froststarren Stoff der Kniehose seine harten, sehnigen Beine fühlten, überwältigte sie die Schwäche von neuem. Sie wußte nicht, ob es Freude, Liebe oder die entsetzliche Furcht bei dem Gedanken war, daß er ihr eines Tages wirklich ge nommen werden konnte, sie wußte nur, daß sie, wie von einer jähen Offenbarung betroffen, ganz in ihm aufging und nur noch in ihm, mit ihm existierte. Sie umschlang seine Knie und betrachtete ihn mit ihren großen, leuchtenden Augen, aus denen lautlos Tränen quollen, als könnte sie des Gesichts dieses Mannes nicht müde werden, das sie seit dem Tage verfolgte, an dem sie es zum erstenmal gesehen hatte. Und auch er neigte sich vor und umring sie mit seinem Blick. Er währte nur kurz – ein Austausch zweier Blicke –, aber lange genug, daß die Zeugen der Szene einen unvergeßlichen Eindruck mit sich nahmen. Dabei hätte keiner von ihnen zu sagen vermocht, was sie in diesem Augenblick am stärksten berührt hatte: die Anbetung, die die Haltung der Knienden verriet, oder die unverhüllte Leidenschaft, die das sonst so verschlossene, gebieterische Gesicht des Grafen von innen erhellte, dessen, in dem sie seit langem einen menschlichen Schwächen unzugänglichen, gleichsam unverletzlichen Mann zu sehen gewohnt waren. Ein Gefühl der Befriedigung und eine vage Sehn sucht erfüllte ihre Herzen. Plötzliche Scham ließ sie 626
die Augen senken. Alle, wie sie da standen mit ihren traurigen Erin nerungen, ihren Träumen und Enttäuschungen, hat ten in diesem Moment wie im Schein eines aus Wol ken niederfahrenden Blitzes, der ihnen zwei einander zugewandte Wesen enthüllte, das Antlitz der Liebe selbst zu sehen geglaubt … Peyrac legte leicht seine Hände auf Angéliques Schul tern, um sie zu sich selbst zurückzubringen, und wandte sich zu den reglos stehenden Männern. »Ich grüße euch, meine Freunde«, sagte er mit sei ner rauhen Stimme, der die Erschöpfung anzumer ken war. »Ich bin glücklich, euch wiederzusehen.« »Auch wir sind’s, Herr Graf«, antworteten sie wie ein Chor von Schulbuben. Sie waren noch wie verloren an ihre Vision, und die Zeit, die verstrichen war, zählte doppelt. Von neuem breitete sich Schweigen aus. Elvire wischte eine Träne von ihrer Wange und drückte die Hand Malaprades, der neben ihr stand. »Und ich? Und ich?« ließ sich Florimonds Stimme aus dem Hintergrund vernehmen. »Ich bin halbtot, und niemand kümmert sich um mich.« Sie drehten sich um und brachen in Gelächter aus. Mit Schnee bedeckt, Eisfransen an der Mütze, war Florimond neben der Tür gestrandet. Der Graf warf seinem Sohn einen Blick liebevollen Verstehens zu. »Helft ihm. Er ist am Ende seiner Kräfte.« 627
»Man wird mich nicht noch mal dabei erwischen, dich zu begleiten«, brummte Florimond. »Nicht noch mal …« Er war tatsächlich buchstäblich erfroren und kaum mehr fähig, sich zu rühren. Cantor und Jacques Vignot schleppten ihn auf sein Lager und schälten ihn aus seiner Kleidung. Angélique beugte sich über ihn. »Armer, kleiner Bursche«, mur melte sie, während sie ihn umarmte. Sie rieb ihn von Kopf bis Fuß mit Branntwein ab, dann setzte sie sich zu ihm aufs Bett und massierte mit ihren schönen Händen seine verhärteten Waden. Glücklich wie ein Kind schlief er schließlich ein, während Madame Jonas es sich zur Pflicht machte, für die ganze Gesellschaft Grog vorzubereiten.
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Sechzigstes Kapitel
»Ihr habt Ihn also getötet?« fragte Angélique, als sie sich später allein mit ihrem Gatten in ihrer Kammer befand. »Ihr habt ihn umgebracht, nicht wahr? Ihr habt Euer Leben für eine solche Narrheit riskiert? Nur weil jemand mir den Hof gemacht hat! … Sagt mir, ob Ihr das für vernünftig haltet, Monsieur de Peyrac!« Der Graf hatte sich aufs Bett geworfen und streckte mit Wonne seine müden Glieder aus. Mit ironischem Blick begegnete er Angéliques Groll. »Pont-Briand war einer von denen da oben im Norden«, nahm sie den Faden wieder auf. »Wie wer den sie in Kanada reagieren, wenn sie es erfahren? Sie werden sich zu rächen suchen, die Abmachungen mit uns aufkündigen …« »Die Abmachungen sind längst aufgekündigt«, er widerte Peyrac. »Die Tinte war kaum trocken, als sie uns schon zum Tode verurteilten und die Patsuikets auf den Hals schickten.« Er richtete sich halb auf und packte sie sanft bei den Haaren, um sie zu zwingen, ihn anzusehen. »Hört gut zu, mein Herz. Es gibt in mir etwas, was nicht daran denkt zu sterben. Es ist mein brennendes Verlangen nach Euch, und es ist nur natürlich, daß ich Euch allein und ganz für mich haben will. Nennt es Eifersucht, wenn’s Euch beliebt, was tut’s! Keiner von uns beiden hat das Alter erreicht, in dem die Wünsche 629
des Fleisches beschwichtigt sind, weit entfernt davon, und ich werde Euch niemals allein Euren Trieben und denen der Versucher überlassen.« »Habt Ihr gefürchtet, daß ich mich von einem sol chen Individuum verführen ließe?« »Nein, nicht einmal das. Aber ich sehe voraus, daß es eines Tages Kühnere als ihn geben könnte. Die Schwäche der einen ist die gute Ratgeberin der ande ren. Ihr müßt wissen, daß die Verteidigung der Ehre in diesen wilden Gegenden eine Frage von Leben und Tod ist … Nun, Ihr seid mein Leben! … Ich werde deshalb alle töten, die Euch mir entführen möchten … Das wär’s! Ich mußte Euch das sagen.« Und da sie sich über ihn neigte, zog er sie jäh an sich und küßte ungestüm ihren Mund mit seinen trockenen, vom Frost gesprungenen Lippen. Florimond vertraute sich Cantor an. »Ich dachte, mit mir wär’s aus. Unser Vater ist eben so ausdauernd wie eine Rothaut oder ein Kanadier.« »Wie hat er gekämpft? Mit Degen oder Pistole?« »Degen. Es war großartig. Vater kennt alle Finten und einen Ausfallstoß, bei dem man, auf mein Wort, ein wahrer Akrobat sein muß, wenn er glücken soll. Der andere hat sich gut verteidigt. Er war mittelmä ßig, aber schnell und mächtig hartnäckig.« »Ist er … tot?« »Sicher ist er tot. Einen Stoß wie den, von dem ich sprach, übersteht so leicht keiner. Genau in die Schläfe!« 630
Florimond warf sich mit blitzenden Augen auf sein Lager zurück. »Ah, der Degen! Die wahre Waffe des Edelmanns. In diesem Kuhbauernland hier weiß man nicht mehr, was ein Degen ist. Man schlägt sich mit Keulen und Äxten wie die Indianer oder mit der Muskete wie ein Söldner. Man muß ihnen den Degen wieder in Erinnerung bringen. Er ist der Dolch der noblen Seelen! … Ah, wie schön wär’s, eines Tages zum Hahnrei gemacht zu werden und sich hinterher ein anständiges Duell leisten zu können!«
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Einundsechzigstes Kapitel
Von seiner Erschöpfung wieder erholt, stieg Flori mond eines Tages heimlich zum Speicher hinauf und suchte sich einen dickbäuchigen sonnenfarbe nen Kürbis aus. Mit seinem zu diesem Zweck extra scharf geschliffenen Messer schnitt er Augen hinein, eine Nase und einen breiten, in einer heiteren Kurve geschwungenen Mund. Nachdem er ihn oben mit einer Öffnung versehen und das Fruchtfleisch herausgekratzt hatte, brachte er im Innern eine Kerze an. Dann versteckte er sein Werk in einem Winkel. Und Weihnachten war bald da. Ein Fest sollte gefeiert werden, aber erst am Drei königstag. Nach der frommen Andacht der Weihnachtstage wollte es der Brauch, daß die Ankunft der weisen Könige mit Jubel und üppiger Schlemmerei gefeiert wurde, nachdem der Glückliche gekrönt worden war, der einen Abend lang über alle anderen herrschte; und daß man gleich ihnen einander Geschenke brachte. Die Aussicht auf diesen Tag ließ sie an Erfindungs gabe miteinander wetteifern. Elvire ging zum Waldsaum, um mit roten Beeren geschmückte Stechpalmenzweige zu holen. Es war keine leichte Arbeit, sich durch das dichte Gesträuch zu zwängen und genügend Zweige zu schneiden. Malaprade begleitete sie und half ihr dabei. Er half ihr 632
auch, sie in drei großen gußeisernen Mörsern zu ord nen, die sie sich zu diesem Zweck aus der Werkstatt liehen. Der Anblick war von schönster Wirkung, und als sie zurücktraten, um das Ergebnis im ganzen zu begutachten, den Glanz des gelackten Blattwerks mit seinen leuchtend roten Perlen in den an beiden Enden der langen Tafel aufgestellten schweren dunk len Vasen bewundernd, sahen sie einander an und lächelten sich zu, durchdrungen von einer ruhigen, sanften Freude. Alle Freude, aller Frieden der wahren Weihnachts tage schienen sie zu umgeben, und sie hielten sich schüchtern bei den Händen. Im übrigen hatte sich seit der Rückkehr des Grafen aus dem Norden etwas geändert, genauer gesagt, seit dem sie Angélique vor ihm hatten knien und ihn mit einem Blick umfangen sehen, den sie nie vergessen würden. »Wenn man so lieben konnte, wär’s schon der Mühe wert, zu heiraten … Ja, dann wär’s schon der Mühe wert«, hatte ein wenig später der alte Macollet gesagt und dazu mit dem Kopf genickt. Und alle um ihn herum hatten ebenfalls genickt und an ihren lan gen Pfeifen gezogen. Sie hatten entdeckt, daß es so etwas wie eine große Liebe geben konnte. Natürlich nicht für sie, die Unglücksraben und Pechvögel. Sie würden derlei nie erleben. Aber es gab sie … Verschönte auch ihr Leben, ließ sie träumen … Und sie fühlten, daß sie nicht mehr nur von einem 633
Hauptmann abhingen, sondern von der beruhigen den Autorität eines Paars. Das kindliche Verlangen nach Sicherheit, das viele dieser rauhen Burschen von einer elenden Kindheit her bewahrten, fand sich durch diesen Umstand endlich erfüllt. So war die Atmosphäre von vornherein weihnacht lich gestimmt. Es gab keine Mühsal, keine Arbeit, die nicht heiter bewältigt und als leicht empfunden wurde. Schon der geringste Anlaß genügte, sie zum Lachen zu bringen. Sie erwischten sich dabei, daß sie kleine Melodien vor sich hin pfiffen oder trällerten. Der ewige Maisbrei mit geräuchertem Fleisch ging noch mal so leicht herunter, wenn man ihn bei fröhli chen Mahlzeiten mit allerlei Scherzchen und munte ren Gesprächen würzte. Sie fühlten sich unter guten Freunden, guten Kameraden, verstanden sich, ließen sich’s wohl sein in der eng gedrängten Tischrunde. Sie sollten nur kommen, die mit ihnen anbinden wollten! … In größter Heimlichkeit wurden festliche Manier vorbereitet. Köstliche Düfte begannen die Nasen zu um schmeicheln. Jedem Herrn die ihm zustehenden Ehren erwei send, würden zuerst die tausend Leckereien des end lich geschlachteten Schweins auf die Tafel kommen. Der Tag seiner Opferung war mit fast antiker Feierlichkeit begangen worden und hatte zu Medita tionen über die Bedeutung der prosaischen Operation 634
des »Abstechens« in alten Zeiten verlockt. Begünstigtes Tier eines Gottes, der sich den Menschen gegenüber hatte freundlich erweisen wollen, Tier, dem man nicht genügend Gerechtigkeit widerfahren läßt, denn alles an ihm ist nahrhaft und lieblich. Um sich zu belohnen, hatte man sofort die Füße, den Kopf und die auf verschiedenerlei Weise zuberei teten und gewürzten Kaldaunen verspeist, die delika testen Stücke jedoch dem festlichen Abend vorbehal ten. Darüber war auch Nicolas Perrot aus dem Süden zurückgekehrt, und sein gutes, vertrautes Gesicht war für sich schon ein unschätzbares Geschenk. Er er zählte von dem kleinen Handelsposten am Kennebec, wo er seine Einkäufe gemacht hatte. Er liege auf einer Insel inmitten des Flusses, der grau wie eine Schlange geworden sei und dicke Eisschollen führe. Nur ein schweigsamer, unbeugsamer Holländer lebe dort mit seinen beiden englischen Gehilfen. Er brachte Zucker, Salz, Weizenmehl, Sonnenblu men- und Robbenöl, getrocknete Pflaumen, Erbsen, Decken, drei Rollen Leinen und Wollstoff für Klei dungsstücke mit. Alles auf einem Schlitten verladen, den er gemeinsam mit seinem Indianer gezogen oder geschoben hatte. Angélique verschloß die kostbaren Nahrungsmittel in einer Truhe, die Joffrey ihr für solche Zwecke hatte anfertigen und mit Schloß und Schlüssel versehen lassen. Sie stand in ihrer Kammer. Zuweilen erhob sie sich sogar des Nachts, um sich zu überzeugen, ob auch alles an Ort und Stelle sei. 635
Madame Jonas hätte gern einen Schinken in Teig gekocht. Man diskutierte lange, ob man einen kleinen Teil des von Angélique unter Verschluß gehaltenen Weizenmehls dafür freigeben oder besser alles für den traditionellen Dreikönigskuchen verwenden solle. Schließlich entschied man sich für den Kuchen, in dem man die Bohne verstecken würde, die im Moment der rituellen Verlosung den König des Abends kürte. Der rosige, mit Wacholderbeeren par fümierte Schinken hatte sich eben selbst zu genügen. Angélique machte sich selbst mit hochgekrempel ten Ärmeln an die Herstellung des Kuchenteigs, dem sie ein wenig Salz, Bierhefe und Schweinefett hinzu fügte. Seit ihrer Kindheit hatte sie nicht mehr mit soviel Freude und Vergnügen an den Vorbereitungen eines Festes teilgenommen. Der Teig, eine wohlbekannte und vertraute Ma terie seit den Tagen der »Roten Maske«, fügte sich willig ihren knetenden Fingern. Die Schatten des Schmutzpoeten, Meister Bourgeauds, Flipots und Linots umschwebten sie. Hier würde sie nichts Böses erreichen. Sie war ge borgen … vor allem, tief im Wald. Sie hielt inne, um lächelnd auf die tiefe Stille der Schneelandschaft zu lauschen. Und es war die Ver wirklichung eines sehr alten Traums, den sie oft geträumt hatte: Backwerk vorzubereiten, während Kinder die Nasen zu ihr hoben. Die Kinder ließen sie nicht aus den Augen. Jedesmal 636
wenn die von Angéliques kraftvollen Händen geführ te dicke hölzerne Walze die blasse, flache Scheibe, von der ein feiner, lauer und berauschender Duft aufstieg, weiter und dünner über den Tisch dehnte, schrien sie: »Bravo!« Sobald das Walzen für einen Moment eingestellt wurde, quoll der Teig in der erstickenden Wärme neben dem Kaminfeuer ein wenig auf und nahm sanfte, köstliche Formen an. Angélique ließ es gern zu, daß die Kinder ihr bei der Vorbereitung halfen. Es war Honorine, die mit herausgestreckter Zunge Rauten und Quadrate auf die weiche Teigfläche zeichnete, und Barthélémy, der sie mit Sonnenblumenöl bestrich, denn Angélique hatte festgestellt, daß mit dem Öl aus den schwarzen Samen der großen Blume beim Backen eine schöne goldene Glasur zu erzielen war, mindestens eben so appetitlich wie die, die man durch das übliche Bepinseln mit Eigelb erhielt, und Eier fehlten ihr ohnehin. Zum Schluß stopfte Thomas mit unschul digem Finger die Bohne hinein. Wiederum von ihrer ganzen kindlichen Eskorte begleitet, zu der sich ohne falsche Scham auch Florimond und Cantor gesell ten, schob Angélique den Kuchen in die zu diesem Zweck ausgesparte Höhlung zwischen den beiden Herdstellen des großen Kamins. Dieser Ofen war der beste, den sie je benutzt hatte. Man konnte in ihm prächtige Aufläufe überbacken, ohne fürchten zu müssen, daß sie verbrannten. Die Kinder wurden damit beauftragt, die Feuer zu unterhalten, während sie entzückt die lieblichen Gerüche einsogen, die 637
alsbald durch die Ritzen zwischen der steinernen Ummauerung und der Eisentür drangen. Als jedoch der Moment kam, das Erzeugnis ihrer gemeinsamen Mühen aus dem Ofen zu nehmen, verjagte sie ihre Helferschar: Die Überraschung des Dreikönigsabends sollte ihnen ungeteilt erhalten blei ben. Vor Vergnügen und Ungeduld kreischend, flüchte ten sie in den Felsenkeller, wo an diesem Tage Jacques Vignot damit beschäftigt war, Bier zu brauen. »Wir dürfen den Kuchen nicht sehen, Jacques! Du ahnst nicht, wie schön er sein wird! Er ist groß und gelb wie eine Sonne …« Ja, er wurde groß und schimmernd wie eine Sonne mit Glanztönen gebräunten Goldes, die das aufgegan gene Mosaik der Quadrate unterstrichen. Ein wahres Meisterwerk! Angélique baute es auf dem Gipfel einer Pyramide auf, die aus einem mit Stechpalmen geschmückten Bratrost auf Beinen und drei prachtvoll grüngold, feuerrot und zitronengelb gefärbten Koloquinten bestand. Dieser Tafelaufsatz in der Mitte des Tisches konnte es an Eleganz und Reichtum vielleicht nicht mit de nen aufnehmen, die Madame du Plessis-Bellière einst zwischen glitzernden Gedecken errichtet hatte, wenn sie im Hôtel du Beautreillis empfing, aber er hatte auch so Majestät. Die Tafel selbst wurde bis zum Fußboden hinunter 638
weiß gedeckt. Vier Laken aus dem Bestand des Forts wurden für diesen Zweck benutzt und so gut gebü gelt, daß die Brüche der Falten nicht mehr zu sehen waren. Während der Stunden unmittelbar vor dem festli chen Abend wurde alle Welt in die Werkstatt, auf den Speicher oder in den Stall verbannt. Eloi Macollet lud die Kinder in seinen Wigwam ein, wo sie, wie er glaubte, mehr Geduld aufbrin gen würden als anderswo. Es erhöhte auch sichtlich ihr Vergnügen, denn Macollets Schlupfwinkel war ein geheimnisvoller Ort, den sie nie hatten betreten dürfen, weshalb sie nur um so mehr darauf brannten, sich endlich nach Herzenslust in ihm umsehen zu können. Als sie später in der Nacht durch den Klang des Hifthorns und das blecherne Geräusch der von Florimond und Cantor geschwungenen Kuhglocken gerufen wurden, stürzten die Kinder vom Silbersee rutschend und fallend über den verharschten Schnee und blieben auf der Schwelle geblendet stehen, ge blendet und überrascht wie um diese Stunde so viele Kinder der Erde. »Oh! …« Der große Saal schimmerte von tausend Lichtern, und die Tafel in der Mitte schien überladen mit einer Fülle von Schätzen und Juwelen. Und man wuß te nicht, was nun eigentlich den Vorrang hatte: die Freude der Augen oder die Wonne der schnuppernden Nasen, in die die köstlichen Düfte gebratener 639
Würste und süßen Backwerks stiegen. Sie blieben auf der Schwelle, die drei kleinen Däumlinge vom Silbersee, mit Augen, die in ihren von der Kälte geröteten Frätzchen wie Sterne glänz ten. Honorine war nicht mehr das mit geheimer Schande beladene kleine Mädchen, und die prote stantischen Jungen vergaßen die unverständlichen Tragödien, die sie ihrer Heimat entrissen und sie zu Waisen gemacht hatten. Richtige Weihnachtskinder, durchlebten sie einen Augenblick reinsten Glücks. Man mußte sie bei der Hand nehmen, um sie aus ihrer seligen Erstarrung zu lösen. Zu beiden Seiten des monumental-bizarren Auf satzes, der den Dreikönigskuchen trug, waren auf der Tafel zwei Vögel mit all ihren Federn aufgestellt. Malaprade, der Schöpfer dieses Meisterwerks, hatte sie aus Teig und Stücken geräucherten Wildfleisches nachgeformt, und ihr Gefieder war von allen mögli chen Exemplaren des geflügelten Völkchens zusam mengeborgt. Aber die Wirkung war erstaunlich. Rote und blaue Federn, mit grünen, weißen und schwarzen vermischt, gesträubte Krönchen auf den Köpfen, zu Fächern ausgebreitete Schwänze schufen zwei Vögel einer mythischen Rasse, die um so ein drucksvoller war, als niemand sie kannte. Die echten Schnäbel, in Goldpulver getaucht, glit zerten arrogant. Die Augen bestanden aus winzigen Gagatstücken. 640
Octave Malaprade nickte mit einem befriedigten Lächeln. Er konnte sich nicht erinnern, jemals ein so geglücktes künstliches Wild auf den Tisch gebracht zu haben, als er noch in Bordeaux seines Amtes gewaltet hatte. Die fürstlichen Vögel thronten auf zwei Platten von tiefem Rot, die ihrer Pracht noch einiges zutrugen. Vom selben, in allen Tönungen verglühenden Feuers schillernden Rot waren die für jeden Teilneh mer des Festmahls aufgestellten großen Teller. Dieses zum erstenmal gebrauchte Fayenceservice kam aus der Höhle der Bergleute. Es war das Geschenk der Diener Vulkans. Einige hatten es in Ton modelliert; die Formel der Glasur mit Bleioxyd war Peyrac zu verdanken. Andere hatten die Muster entworfen und ausge führt, und schließlich waren sie im Kupellierungsofen gebrannt worden, den der Atem Kouassi-Bas und des Auvergnaten Clovis in Gang gehalten hatte. Nun leuchteten die Teller auf dem weißen Tischtuch, jeder begleitet von einem bescheideneren Napf aus weißem Holz für das Brot und einer kleinen Zinnschale für Haselnüsse, Bonbons und getrocknete Früchte. Und von Florimond stammten zwei große Suppen schüsseln mit Henkeln, die in Wolfsköpfe ausliefen. Madame Manigault hätte ihr Palissygeschirr nicht mehr vermißt. So gab es kein leeres Plätzchen auf der ganzen lan gen Tafel, an deren beiden Enden noch je eine Platte 641
mit Blut- und Leberwurst dampfte, Becher und son stige Behälter für die Getränke hatte man auf einem Anrichtetischchen unterbringen müssen. Auf hölzer nen Gestellen ruhten ein Fäßchen mit Bordeauxwein, das Nicolas Perrot mitgebracht hatte, und zwei weite re mit Branntwein und Rum. Ein niedrigerer Tisch trug einen ganzen Berg von Geschenken, die der König des Abends in kurzem verteilen würde. Und vom Deckenbalken herunterhängend, lachte der von Florimond mit Augen, Nase und Mund ver sehene Kürbis, in dessen Innerm die Kerze brannte, sein breites, leuchtendes Lachen. Er stellte ihn den Kindern vor: »Miß Pumpkin!«
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Zweiundsechzigstes Kapitel
Der kleine Barthélémy war es, der die Bohne fand. Er wählte Honorine zu seiner Königin. Florimonds Hand, die die Kuchenstücke unter dem weißen Leinen hervorgeholt hatte, war dem Zufall vielleicht behilflich gewesen. Doch wozu der Verdacht? Selten ein Spielverderber, hatte der Zufall den Wünschen aller entsprochen und die Jugend be günstigt. Angélique freute sich für Barthélémy. Er war ein reizendes Kerlchen. Die Strähne, die ihm beharrlich über die Augen fiel, ließ ihn immer ein wenig schie len. Krebsrot vor Freude, empfing er aus den Händen des Grafen die kostbare Silberkrone und drückte die zweite höchstselbst auf Honorines Haar, die sich ei nen Augenblick lang zu fragen schien, ob sie sich die ses Zeichens einer lästigen Würde nicht kurzerhand entledigen sollte. Doch schließlich überwogen Stolz und Befriedigung. Man erhöhte ihre Schemel, und Seite an Seite herrschten sie über die festliche Runde. Die Silber kronen glitzerten über ihren kindlichen Gesichtern. Honorines Haar fiel ihr wie ein kupferfarbenes, gleichfalls wie kostbares Metall wirkendes Cape über die schmalen Schultern, und mit ihrer königlichen Haltung, dem stolz erhobenen Köpfchen auf dem zarten, runden weißen Hals war sie schön. 643
Sie war so glücklich und durchdrungen von der Erhabenheit ihrer Stellung, daß sie es unter ihrer Würde gefunden hätte, ihrer Mutter einen Blick zu zuwerfen. Aber sie wußte, daß ihre Mutter sie ansah. Und die Freude schuf ihr eine Art Aureole, wäh rend Komplimente, Gelächter und Scherze sie wie Weihrauch umschwebten. Jedesmal wenn sie ihren Becher zum Munde führ te, rief alle Welt: »Die Königin trinkt! Die Königin trinkt!« und Angélique konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß all das, was sie früher gelitten hatte, angesichts dieses Kinderglücks bedeutungslos war. Jedermann hatte sich für den Abend in Gala gewor fen, einige, wie Monsieur Jonas, Porguani und Don Alvarez waren zu aller Erstaunen sogar im Schmucke eleganter Perücken erschienen, deren Herkunft uner findlich schien. Peyrac war in dem düsterroten Gewand aufge taucht, das er am Tage der entscheidenden Begeg nung mit den Irokesen auf dem Hügel von Katarunk getragen hatte. Dieses Galahabit wie auch der Spitzenkragen und die Ärmelmanschetten waren das einzige, was er am eigenen Leibe aus dem großen Brand gerettet hatte. Er hielt es, säuberlich gefaltet, in einer Truhe verschlossen und trug für gewöhnlich geliehene Kleidungsstücke, das meiste von Porguani, dessen Figur ungefähr der seinen entsprach. An eine raffinierte und sehr persönliche Eleganz gewöhnt, die er bei allen Gelegenheiten entfaltet hatte, schien es 644
ihn keineswegs zu genieren, sich nun in Leder und derbes Wollzeug kleiden zu müssen. An diesem Abend jedoch wurde er in Angéliques Augen auch äußerlich wieder zu dem, der er einst ge wesen war: ein düster strahlender Prinz, der aus dem Reich der Toten zurückkehrte. Angélique hatte einen Spitzenkragen über ihr Kleid gelegt und das Haar, ihren schönsten Schmuck, ge schickt frisiert. Mit ein paar Federn und einer von Madame Jonas geliehenen Brosche hätte sie sich selbst in Versailles präsentieren können. Die Damen hatten im übrigen ihre modischen Besitztümer untereinander ausgetauscht. Madame Jonas war mit einem hübschen Schulter tuch aus rotem und grünem Satin und Ohrringen ausstaffiert, die ihrer Nichte gehörten und die diese ihrer Trauer wegen nicht anlegen wollte. Elvire trug eine perlgraue Robe Angéliques, deren Hilfe sie auch ihre entzückende Frisur verdankte. Den hohen schwarzen Hut des Uhrmachers zier te eine von einem unbenutzten Schuh abgetrennte silberne Schnalle; die Schnalle des anderen Schuhs diente Elvire als Brosche. Und so ging’s fort bis zu Eloi Macollet, den niemand erkannt hatte, als er in Gestalt eines freundlichen, ge puderten alten Herrn in der weißen Lockenpracht ei ner Perücke erschienen war, die unter einem runden, goldbetreßten Castorhut bester Qualität hervorquoll. Dazu ein Spitzenjabot, eine geblümte Weste und ein tabakfarbener Rock … 645
»Wir haben ihm geholfen, sich anzuziehen«, verrie ten die Kinder. Man konnte sich kaum vorstellen, daß der Wigwam des alten Händlers solche Schätze barg. Eloi hatte unter bewundernden Rufen und stürmi schem Beifall Platz genommen, schlürfte mit halb geschlossenen Augen seinen Wein und dachte daran, was wohl dieses Weibsbild von Schwiegertochter sagen würde, wenn sie ihn so in Gala festlich tafeln sähe. Ein jeder war um so zufriedener mit sich, als es unter diesen Verhältnissen wirklichen Scharfsinns bedurft hatte, um seine Person halbwegs zivilisiert herzurichten. Und man mußte zugeben, daß je mand, der zu dieser Stunde plötzlich aus Schnee und Nacht aufgetaucht und über die Schwelle getreten wäre, angesichts dieser Tafelrunde in der Tiefe der Wälder verdutzt innegehalten hätte. Geblendet durch die Lichtflut und die so unerwartete, an diesem Ort fast wunderliche Eleganz, betäubt durch Gelächter, Musik und Gesang, hätte er sich für das Opfer einer jener Visionen der Legenden und Märchen gehalten, die beim ersten Morgengrauen spurlos und für im mer verschwinden. Als Söhne des Hausherrn nahmen sich Florimond und Cantor der Bedienung an, unterstützt von Yann, der nach seiner Flucht aus der Bretagne eine Zeitlang als Kammerdiener bei einem Marineoffizier in Dienst gestanden hatte. »Vergessen wir nicht, daß ich einmal Page an der 646
Tafel des Königs von Frankreich gewesen bin«, sag te Florimond, indem er die Platten auf der flachen Handfläche schwenkte. Sein abenteuerliches Leben hatte ihn die in einer harten Lehrzeit erworbenen Künste nicht vergessen lassen. Geschickt die Gänse und den Schinken tranchierend, äffte er Monsieur Duchesne und die Offiziere der Küche des Königs nach. Man sprach vom großen Ludwig und von Versailles und seiner Pracht, was die anwesenden französischen Kanadier bezauberte und die Engländer und Spanier höchlichst beeindruckte. Cantor füllte die Gläser. Zuerst mit Wein, dann mit Branntwein und Rum, zur besseren Verdauung all der fetten, nahrhaften Köstlichkeiten. Nach den mageren Tagen der letzten Wochen war dies ein wahres Fest. An die Zukunft brauchte man nicht zu denken. Und plötzlich ließ sich Sam Holton vernehmen. Er beschwor die Zeit herauf, in der er als kleiner Junge an der Bai von Sacoo in Neuengland gelebt hatte, in einer Hütte aus Brettern, durch deren Fugen der Wind blies. Aus Gerstenbrei und Kabeljau be stand die tägliche Nahrung. Aber zu Weihnachten schlachtete man das Schwein, und die Mutter rückte mit ihrem Blaubeervorrat heraus. Man brach zum »Versammlungshaus« auf, zur vier Meilen entfernten Kirche, die Männer mit ihren Musketen rund um die Frauen und Kinder verteilt. Traf man Nachbarn, schlossen sie sich an. Choräle singend, marschier te man durch den verschneiten Wald. Als sie eines Morgens vom Gottesdienst zurückkehrten, fielen 647
Abenakis über sie her und massakrierten alle bis auf Sam, der, damals zehn Jahre alt, unbeobachtet in den Wipfel einer Tanne geflüchtet war. Danach war er zähneklappernd bis nach Springfield gelangt. Und seitdem hatte er keine Weihnachtsfeste mehr erlebt, die des Erinnerns wert gewesen wären, ausgenommen das, das er heute in Wapassou verleb te. So erzählte Sam Holton in einem sehr korrekten, ja zuweilen sogar poetischen Französisch. Es war sein Dreikönigsgeschenk für die Tafelrunde, die ihm trotz des tragischen Schlusses seines Berichts in hingerisse nem Schweigen lauschte. Man hatte den Eindruck, einem jener Wunder beigewohnt zu haben, an denen die Zeit der Geburt Christi so fruchtbar ist. Nachdem man dem Erzähler herzlich gedankt hat te, wurde mit der Verteilung der Geschenke begon nen, und auch da gab es wieder reichlich Anlaß zum Staunen. Wer hatte nur das Kinderspielzeug aus Holz ge schnitzt? … Eine Mühle für Thomas, ein Brumm kreisel für Barthélémy und für Honorine eine Puppe mit knallroten Bäckchen; der aus Maisstroh gebastel te Körper steckte in einem hübsch mit kleinen roten Knoten bestickten Seidenkleid. Angélique hatte Elvire über diesem Kleidchen sitzen sehen. Wo hatte sie nur die Seide und den Atlas aufgetrieben? Angélique lächelte ihr zu wie auch den übrigen be teiligten Künstlern, die mit ebenso bemerkenswerter 648
wie anonymer Geschicklichkeit Schnitzmesser und Hohlmeißel gehandhabt hatten: Yann, Cantor und dem alten Eloi. Auf Angéliques Anraten und mit Florimonds Hilfe hatten sie aus verschiedenfarbigem Holz auch Schachfiguren und ein Schachbrett sowie ein Dame brett samt Steinen und einen Würfelbecher aus Rinde für die Tricktrackspieler geschnitzt. Für die langen Winterabende war die Unterhaltung somit gesichert. Aber es gab noch viele andere unerwartete Dinge, die ein magischer Ring herbeigezaubert zu haben schien. Von Elvire, Yann oder Jacques Vignot flüsternd beraten, riefen der kleine König und seine Königin stolz die Namen, während Florimond herumflitzte, um die Geschenke denen zu übergeben, für die sie bestimmt waren. Angélique bekam zwei Paar fein genähte Hand schuhe zum Schutze ihrer Hände bei der Arbeit. In einer kleinen silbernen Dose fand sie eine neapolita nische Kamee, das Profil einer Göttin in reinem Weiß auf dem rosaroten Untergrund einer Muschel. Sie warf Cantor einen Blick zu, da sie wußte, daß diese Kamee ihm seit seiner Kindheit im Mittelmeer als Talisman diente. Für sie hatte er sich von ihr getrennt. »Ich hab’ die kleine Silberdose geschmiedet. Auch die Königskronen«, sagte Florimond, eifersüchtig auf den gerührten Blick, der seinem jüngeren Bruder ge golten hatte. Trotz seiner Länge erhielt auch er seinen Teil der Küsse. 649
Honorine betrachtete ihre Puppe mit zweifelnder Miene. Sie hatte den Spielen ihres Geschlechts nie besonderen Geschmack abgewonnen, und Angélique fürchtete einen Skandal, der die Schöpfer dieses mit soviel Liebe verfertigten Geschenks schwer enttäuscht hätte. Doch nach einigen Momenten der Überlegung nahm die Kleine ihre Puppe sorglich in den Arm, ein gerührtes Lächeln flog um den Tisch, und Angélique stieß einen erleichterten Seufzer aus. Mit der anderen Hand zählte Honorine die zahl reichen Schätze, die sich bald zu den schon in ihrer aus La Rochelle mitgebrachten geliebten Schachtel versammelten gesellen würden. Die Perlenkolliers, von ihrer Mutter auf Faden gezogen, entzückten sie. Sie legte sie sich um die Arme, um den Hals und schmückte ihre Krone mit ihnen. In einer silbernen Bonbonniere fand sie noch Plätzchen, die Angélique aus Nußpaste und eifersüchtig gehütetem Honig her gestellt hatte. Unter den Geschenken befanden sich viele Dinge aus Silber, von geschickten Händen in der Verschwiegenheit der Werkstatt geschmiedet, aus dem Material, das sie selbst aus der Erde gewonnen hatten. Es war der unterirdische Reichtum Wapassous, der nun glitzernd aus dem Dunkel hervorzuquellen begann … Nachdem sie sich nach Herzenslust an allem er freut hatten, erinnerten sie den Grafen an die beiden »Überraschungen«, die ihnen versprochen worden waren. 650
Die erste, gestand er, sei wohl nur von den ehe maligen Mittelmeerleuten nach ihrem vollen Wert zu schätzen. Es handle sich um ein kleines Säckchen mit Kaffeepulver. Jubel erhob sich, vermischt mit den Protesten der Gegner des dunklen Gebräus. Wie könne man sich, murrten die in diesem Fall ausnahmsweise einmal einträchtigen Engländer und Kanadier, nur nach die sem bitteren Absud die Lippen lecken! Man müsse dazu mindestens ebenso barbarischer Herkunft sein wie die Türken zum Beispiel. Die Anhänger des göttlichen Getränks hingegen drängten sich um den Grafen, um nur nichts von der Zeremonie seiner Vorbereitung zu versäumen. Während Kouassi-Ba auf einem kupfernen Tablett das von Angélique längst verloren geglaubte, aus man cherlei Katastrophen gerettete Service heranschlepp te, ließ der Graf an die anderen Strähnen goldgelben Virginiatabaks verteilen. Florimond reichte die Pfeifen und Kalumets her um und sorgte auch für glimmende Holzstückchen zum Anzünden. Den Kaffee mochte er nicht. Er ziehe Schokolade vor, erklärte er mit einem verständnisvollen Zwinkern zu Angélique. Angélique jedoch hatte vor Freude in die Hände geklatscht. Ihre Vorliebe für Kaffee war vielleicht kindisch, aber es war ein Faktum, daß seit Joffreys Ankündigung ihre Augen glänzten und ihr Gesichts ausdruck ungeduldige Erwartung verriet. 651
Mit Cantor, Enrico Enzi, Porguani, den Spaniern und Peruanern bildete sie ein ganz hübsches Grüpp chen rund um den Grafen. »Erinnerst du dich des alten Türken in Kandia, bei dem es den besten Kaffee der Welt gab?« fragte Peyrac Enzi. Angélique sog das vielversprechende Aroma ein, und wie jedesmal tauchte von neuem in den ver schwimmenden Spiralen des bläulichen Dampfes der Batistan von Kandia auf, der Wirbel der Karne valsgestalten – Turbane und lange, faltige Gewänder –, erlebte sie die Eindrücke wieder, die sich ihr tief eingeprägt hatten: Entsetzen zuerst, Scham, dann berauschende Erleichterung an der Seite des Mannes mit der Maske, der sie eben gekauft hatte … Sie schlürfte den glühendheißen Kaffee. Ja, Mon seigneur Rescator, Ihr seid es gewesen! … Warum habe ich’s nicht geahnt? Und sie verfluchte das ironi sche Schicksal, das ihr einen solchen Streich gespielt hatte. »Du warst mir böse, daß ich dich nicht erkannte, nicht wahr?« flüsterte sie, sich zu ihm neigend. Und Seite an Seite, dicht beieinander am Ende der langen Tafel, verloren im Herzen der Wildnis der Neuen Welt, betrachteten sie sich mit Zärtlichkeit und dachten, daß alles so gut sei, wie es war.
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Dreiundsechzigstes Kapitel
»Einige von uns wissen, was sich jetzt ereignen wird«, sagte der Graf, indem er sich erhob. »Für die andern wird es eine wirkliche Überraschung geben. Für alle aber, so hoffe ich, wird es die gleiche Freude sein, denn ihr habt es alle verdient.« Porguani und Clovis waren in die Werkstatt ver schwunden. Als sie wieder erschienen, langsam sich aus dem Dunkel des Ganges lösend, schleppten sie eine hölzerne Trage zwischen sich, deren Gewich tigkeit ihre Muskeln spannte. Die Last auf der Trage schimmerte sanft. Sie näherten sich, und allmählich war eine Art Block zu erkennen, von dem ein myste riöser, geheimer und kalter Glanz ausging. Vorsichtig setzten sie die Trage auf dem äußersten Ende der Tafel vor dem Grafen nieder. Es war Gold. Der Block auf der Trage bestand aus zahlreichen aufeinandergestapelten Goldbarren. Der Graf nahm einen von ihnen und hob ihn ins Licht der Kerzen und Lampen. »Das ist die Frucht unserer Arbeit«, sagte er. »Während dieser letzten Winterwochen haben wir uns intensiv mit der Kupellierung des während des Sommers geförderten Erzes beschäftigt. Jeder dieser Barren puren Goldes wiegt drei Pfund oder siebzehn hundert Unzen. Es ist die erste Rate, die ich jedem von euch an diesem Dreikönigsabend überreiche. Das 653
Ergebnis hat unsere Erwartungen übertroffen. Macht euch klar, daß der Wert unserer Goldproduktion sich auf hundertfünfzigtausend Livres beläuft, mehr, als das ganze Jahresbudget Kanadas beträgt, und bedenkt, daß die Medici, die reichste Familie der Welt im vo rigen Jahrhundert, nur ganze hundert Pfund Gold in ihren Truhen besaßen. Wir haben in weniger als zwei Jahren um die Hälfte mehr aus der Erde gewonnen. Wir sind reicher als die Medici. Wenn wir im näch sten Jahr unser Fort vergrößert, besser bewaffnet und ausreichend in Verteidigungszustand versetzt, wenn wir über den Kennebec Söldner, Kanonen und Lebensmittel herangeführt haben, werden wir uns in Frieden unserer Arbeit widmen und die Produktion noch steigern können. Dem Kontrakt entsprechend, den wir unterzeich net haben, wird ein Viertel dieser Produktion regel mäßig unter euch, meine ersten Gefährten, verteilt, was jedem von euch erlauben wird, sich ein eigenes Vermögen zu bilden. Der Rest wird der Verbesserung und Erweiterung unserer Niederlassungen, der Löh nung der Söldner, dem Bau und der Bewaffnung unserer Schiffe und ähnlichen Dingen dienen. So durch die Kraft des Goldes und des als wichtiges Nebenprodukt anfallenden Silbers aneinandergebun den, werden wir mächtig werden. Wir werden unsere Flotte vergrößern, um Handel treiben zu können, und Gouldsboro wird einer ih rer Heimathäfen sein. Wir werden Niederlassungen längs des Kennebec und Penobscot errichten. 654
Wir werden auch andere Minen eröffnen, und wer bereit ist, die Schwierigkeiten des Anfangs in Kauf zu nehmen und sie produktiv zu machen, kann Eigentümer einer von ihnen werden … Maine, das Land der Wälder und Flüsse, Land der offenen Ufer zum Ozean, Wildnis, um die sich zahlreiche Nationen ohne Nutzen gestritten haben, Maine, das Land des unsichtbaren Goldes und Silbers, wird unser Königreich sein, weil wir als einzige das Geheimnis des Reichtums entdeckten. Bedauert ihr, euch mir angeschlossen zu haben?« »Nein! Nein, Monseigneur!« riefen einzelne heise re Stimmen. Aber die Mehrzahl brachte keinen Laut über die Lippen. Kouassi-Ba ging hinter ihnen entlang und legte mit seiner schwarzen Hand, der Hand eines Weisen aus dem Morgenlande, vor jedem einen Goldbarren auf den Tisch. Sie wagten kaum, ihn zu berühren. Ihr durch Alkohol- und Tabakdämpfe leicht ge trübter Blick heftete sich auf das schimmernde Metall und konnte sich nicht mehr von ihm lösen. Wie die Wahrsager in ihren kristallenen Kugeln gewahrten sie im Glanz des Goldes die Vision ihrer geheim sten Träume, ihrer längst verschütteten Ambitionen. Und Angélique wurde von Furcht ergriffen. Gold korrumpiert. Schon einmal war es die Ursache der Vernichtung ihres Glücks gewesen. Würden diese Männer angesichts des schimmernden Reichtums 655
nicht den Kopf verlieren? Sie sah zu ihrem Gatten auf. Er war wie ein Magier, der kühl die menschlichen Leidenschaften beobachtet, nachdem er sie hervorge rufen hat. Würden sie ihn enttäuschen, die er in langer täg licher Arbeit nach seinem Bilde geformt hatte, wür den sie jenen irrationalen Mythen erliegen, die die Menschheit seit ihren fernsten Ursprüngen zu be herrschen scheinen? Die Freude dieser vergangenen Stunden wich wachsender Beklemmung. »Gold! Immer das Gold!« murmelte sie. »Ich habe Angst! Seinetwegen hat man Euch einst verdammt!« Er warf ihr einen Blick zu. »Man darf sich vor dem Gold und seiner Macht nicht fürchten«, sagte er. »Es gibt in der Schöpfung nichts, was den Menschen erniedrigen könnte, wenn er selbst es nicht will. Aber der Mensch sieht sich als reinen Geist, ähnlich Gott; wenn er sein materielles Wesen erkennt, gibt er der Materie die Schuld da für. Er will seine irdische Natur nicht eingestehen. Darum verflucht oder vergöttert er abwechselnd al les, was ihn am meisten an der Schöpfung fasziniert: das Gold, die Frau, die Wissenschaft, den Reichtum, während er doch danach streben sollte, sie sich zu versöhnen. In jeder Materie wohnt der Geist für den, der den Geist liebt.« Jacques Vignot, der Zimmermann, drehte den Barren mit zweifelnder Miene zwischen seinen Fin gern. »Fürs erste verlang’ ich nichts mehr, als hier zu 656
sein. Eine gute Arbeit mit ein bißchen Hoffnung am Schluß, keine Schnüffler von der Polizei, die mir auf den Fersen sitzen … Trotzdem hat’s auch sein Gutes, so was mal in der Hand zu halten. Ich hab’ nie son derlich viel davon gesehen.« »Es wird Euch weniger beeindrucken, wenn Ihr’s in Boston seht, in klingende, vollwichtige Taler ver wandelt. Dann werdet Ihr schon wissen, was Ihr da mit anfangen könnt«, bemerkte Peyrac. »Ein Beutel voller Taler?« Der Zimmermann starr te ihn verblüfft an. »Nicht nur einer. Zwei, drei … Was Ihr da in der Hand haltet, ist gut tausend Livres wert.« »Jungs, das wird ein Schmausen geben! Von den Schnapsrunden gar nicht zu reden!« schrie Vignot und schlug seinem Nachbar schallend auf die Schulter. Alle Welt begann gleichzeitig zu reden und in ei ner erregten Atmosphäre, die die Stimmen schrill klingen ließ, Pläne zu schmieden und komplizierte Berechnungen anzustellen. Madame Jonas erhob sich, um die Teller abzuräu men. Sie fand es unpassend, so schönes Gold mit den Überbleibseln einer Mahlzeit zu vermengen, so gut sie auch gewesen sein mochte. Sie und ihr Mann hatten jeder einen Goldbarren erhalten, Elvire einen für sich und einen für ihre bei den kleinen Jungen. Der alte Eloi schwenkte seinen Anteil. »Ihr habt Euch geirrt, Herr Graf. Ich gehöre nicht zu Euren Leuten. Ich bin einfach gekommen und bin 657
geblieben. Ihr schuldet mir nichts.« »Du bist der Arbeitsmann der elften Stunde, al ter Freibeuter«, erwiderte Peyrac. »Kennst du dein Evangelium? … Ja? Nun, denk darüber nach und nimm, was man dir gibt. Du wirst dir ein neues Kanu und Handelsware für zwei Jahre leisten und alles Pelzwerk des Westens dafür eintauschen. Deine Konkurrenten werden vor Neid erblassen.« Der alte Kanadier riß selig die Augen auf, brach in ein meckerndes Gelächter aus und begann laut davon zu träumen, wie er die Stämme an den Flüssen tiefer im Lande heimsuchen würde. Und dann sahen sie sich mit verwirrten Mienen an, und nachdem sie ein Weilchen unter sich beratschlagt hatten, sagten sie: »Was sollen wir mit all diesem Gold anfangen, Herr Graf? Behaltet’s bei Euch, bis wir in die Städte zu rückkehren, Ihr, der Ihr keine Angst vor dem Gold habt, denn es ist zuviel für uns, und wenn wir’s unter unsere Kopfkissen legten, würde es uns am Schlafen hindern.« »Gut«, erklärte Peyrac lachend, »aber seht’s Euch heute abend nur recht gut an. Es ist euer Werk und ein Geschenk Gottes, der die Erde geschaffen hat.«
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Vierundsechzigstes Kapitel
In diesem Augenblick war es, daß Angélique einen Ruf zu hören glaubte. Über das Gelärm der Singenden, der Gitarren akkorde und die ein wenig ächzenden Klänge der von Madame Jonas betätigten Leier hinweg rief eine Stimme. »Zu Hilfe! Zu Hilfe!« Aber es war natürlich unmöglich, und sie begriff sofort, daß sie die Stimme in ihrem Innern gehört ha ben mußte. Doch im nächsten Augenblick dröhnten Schläge gegen die Tür. Angélique sprang auf. »Was habt Ihr?« fragte Joffrey erstaunt und hielt sie an der Hand zurück. »Jemand hat an die Tür geklopft!« »Geklopft? … Ihr träumt, mein Schatz.« Die Sänger hielten inne und wandten sich ihnen zu. »Was ist passiert?« »Jemand hat geklopft.« »Geklopft!« lachte Perrot mit einer bei ihm un gewohnten Dreistigkeit, für die sein reichlicher Alkoholkonsum verantwortlich sein mochte. »Wer sollte schon in einer solchen Nacht an unsere Tür klopfen? Wenn’s keine Gespenster waren, können’s nur Franzosen aus Kanada gewesen sein, die einzigen, die sich bei solchem Wetter im Freien herumzutrei 659
ben wagen.« Niemand antwortete ihm. Ein Schweigen breitete sich aus, indem sie einander mit leeren Augen ansa hen. Gespenster! Sie spürten plötzlich ihre Einsamkeit, spürten, daß sie im tiefen Winterschnee wie auf dem Grunde einer Felskluft begraben waren. Die eisige Umklammerung schloß sie unerbittlich ein, und nun, da das Feuer ein wenig herunterge brannt war, wurden sie sich der tödlichen Kälte be wußt, die sich durch die kleinste Ritze einschlich, und sie hörten das unablässige gedämpfte Pfeifen des Nordwinds, der draußen über den verharschten Schnee strich und ihnen wie eine Stimme aus einer anderen Welt erschien. Sie wußten, daß es in dieser Jahreszeit niemand wagen würde, sich auf den Weg zu ihnen zu machen. Wer konnte in einer solchen eisigen Sturmnacht schon klopfen? Gespenster! Angélique glaubte von neuem ein Klopfen zu ver nehmen. »Hört ihr nichts?« murmelte sie. Aber das Geräusch schien ihr schon weniger deut lich, und als sie die ungläubigen Mienen der Männer in ihrer Umgebung sah, fragte sie sich, ob sie nicht einer Täuschung erlag. »Vielleicht ein vom Wind gelöster Zweig, der manchmal gegen die Türfüllung schlägt«, fuhr sie 660
fort. »Dann würden wir es auch hören.« Joffrey erhob sich und ging zur Tür. »Nimm dich in acht, Vater!« rief Florimond und stürzte ihm nach. Er war es, der als erster die Tür erreichte, sie öffnete und dann im Dunkel des Vorraums die zweite aufriß, die, vom Schnee halb blockiert, ins Freie führte. Mit einem Wirbel pudrigen Schnees drang pfei fend die Kälte ein. Florimond riß seine Pistole hoch und warf sich zur Seite. Die Zurückgebliebenen sahen im Türrahmen nur eine vage, silbrig phosphoreszierende Helligkeit, durch die, vom Wind gejagt, stiebende Schneefahnen glitten. »Es ist niemand da«, sagte Florimond. »Und es ist scheußlich kalt«, fügte er hinzu, indem er den Türflügel wieder zustieß. Er kehrte mit Joffrey in den Saal zurück und schloß zu aller Erleichterung auch die zweite Tür. Es war besser, sich in dieser Höhle im Warmen zu wissen, als daran zu denken, was sich draußen begab. Der Schwall eisiger Luft war wie eine tödliche Woge eingedrungen und hatte die dichten Tabakwolken über der Tafelrunde auseinandergeblasen. Nur noch vereinzelte zähe Schwaden schwammen träge unter den Deckenbalken. Die Flämmchen der Lampen und Kerzen hatten sich dem brutalen Ansturm gebeugt, und einige wa ren erloschen, von denen nun übelriechender Rauch 661
aufkräuselte. »Mir scheint, die guten Weine haben Euch ein we nig den Verstand verwirrt«, sagte Peyrac. Und seine Stimme verscheuchte das Unbehagen. Nur Angélique konnte sich aus ihrer Stimmung nicht lösen. »Und wenn jemand im Schnee draußen stirbt? Fern oder nah, ich weiß es nicht«, dachte sie. Und sie sah sich angstvoll um. Doch die ihrem Herzen nahestehenden Menschen waren alle da, in Sicherheit, in ihrer Obhut. Joffrey nahm sie um die Taille, als wollte er sie be ruhigen. Mit einer stummen Frage neigte er sich zu ihr. Sie machte sich los. Schließlich würde man noch behaupten, sie habe sich allzusehr dem guten Essen und den »wärmen den« Getränken gewidmet und deshalb »Stimmen« gehört. Aber der Zwischenfall bezeichnete das Ende der Fest lichkeit. Die Kinder schliefen schon halb. Man trug sie mit all ihrem Spielzeug in ihre Betten und stellte davor auf einem Schemel Miß Pumpkin auf, die mit ihrem ein wenig makabren, rötlich leuchtenden Lächeln ihren Schlaf überwachen sollte. Noch lange rissen Barthélémy, Thomas und Honorine krampfhaft die immer wieder zufallenden Augen auf, um zu sehen, ob die Augen und das Lächeln Miß Pumpkins als er ste erloschen. Endlich schliefen sie im sanft durchscheinenden 662
Licht des magischen Kürbisses ein. Im großen Saal wurde aufgeräumt, und plötzlich spürten die Männer ihre Müdigkeit und verlangten danach, sich wie Tiere auf ihren Lagern zusammen zurollen. Angélique suchte nach einem Vorwand, um einen Blick nach draußen zu werfen. Sie hätte nicht ruhig schlafen können, verfolgt von der Idee, daß nur weni ge Schritte vom Fort entfernt jemand in Schnee und Kälte stürbe. Sie erklärte, daß sie den Pferden vier Stück Zucker bringen würde. Auch sie verdienten es, am Dreikö nigsabend ein wenig gefeiert zu werden. Niemand achtete auf sie. Um so besser! So legte sie unter dem Rock ihre ledernen Wickelgamaschen an, schlüpfte in ihre Pelzstiefel und warf sich einen mit Wolfsfell gefütter ten Mantel über die Schultern. Zusammen mit einem Paar dicker Handschuhe würde diese Ausstaffierung für einen kurzen Streifzug durch die Winternacht genügen. Vor der zweiten Tür stieß sie auf den ebenfalls bis über die Ohren vermummten Eloi Macollet, der eben eine Blendlaterne anzündete. »Kehrt Ihr in Euer Wigwam zurück?« fragte sie ihn. »Nein, ich begleite Euch, Madame, da Ihr nun mal darauf versessen seid, Euch draußen ein wenig um zusehen.«
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Fünfundsechzigstes Kapitel
Das Licht der Laterne war überflüssig. Sobald sie den schmalen Durchlaß zwischen Schneemauern hinter sich hatten, der von der Schwelle zum Hof hinaufführte, tauchten sie in die silbrige Helligkeit des Mondlichts. Rußschwarze Wolken zogen über den Himmel und verschleierten von Zeit zu Zeit das strahlen de Gestirn. Bei einbrechender Nacht hatte es noch geschneit, und eine dünne, pulvrige Schneeschicht knirschte unter ihren Sohlen. Mit gesenkten Köpfen, um die Gesichter gegen den Eishauch des Windes zu schützen, stolperten sie zum Stall hinüber, und erst im Schutz der festgefüg ten Balkenwand warf Angélique einen Blick über die Umgebung, um das Geheimnis der Schatten dieser ungewohnt lichten Nacht zu durchdringen. Man sah ziemlich weit, bis zum anderen Ende des ersten Sees. Der vom Wind immer wieder aufgewehte schneeige Staub schien die Landschaft wie in glitzernden Dunst zu hüllen, der ihre Konturen verwischte. Unter die sem wirbelnden Diamantstaub verdiente der See, auf dessen glatter, vereister Fläche das Mondlicht sanft reflektierte, mehr denn je den Namen Silbersee. Angéliques Augen begannen zu tränen. Die Feuch tigkeit gefror an ihren Wimpern, während sie ver geblich versuchte, irgend etwas zu erkennen – was, 664
wußte sie nicht. Plötzlich erhob sich ein weißes Phantom drüben am anderen Ende des Sees, das die Arme bewegte, sich einmal um sich selbst zu drehen schien und in ei ner aufwirbelnden Schneefahne wieder verschwand. Die junge Frau und der Alte starrten vom äußer sten Ende der Halbinsel verblüfft hinüber. »Habt Ihr’s diesmal gesehen? Habt Ihr’s gesehen, Eloi?« rief Angélique. Der alte Waldläufer schüttelte den Kopf. »Es sind Gespenster«, stammelte er. »Perrot hat recht. Nur Gespenster sind um diese Zeit unter wegs.« »Ihr redet Unsinn! Es müssen Menschen sein …« Sie beugte sich ganz nah zu ihm, um sich im Heulen des Windes verständlich zu machen. »… Menschen, lebendige Wesen, die vielleicht sterben.« Hastig kehrten sie zum Fort zurück. Ihr Bericht brachte alle in Aufregung. Niemand wußte recht, was er davon halten sollte. Die meisten hatten sich schon halb ausgekleidet und suchten nun nach ihren Stiefeln, Hosen oder Joppen, um sich wieder anzu ziehen. Angélique versuchte sie von der Wirklichkeit des sen, was sie am jenseitigen Ende des Sees gesehen hatte, zu überzeugen. Doch der alte Macollet wieder holte dickköpfig: »Es waren Geister, ich sag’s Euch. Schließlich weiß man, daß es so was gibt. Ich hab’ selbst schon welche 665
gesehen.« »Ich auch! Ich auch!« bestätigten verschiedene Stimmen. »Und der Ruf, den ich hörte?« beharrte Angélique. »Und das Klopfen an der Tür?« »Gerade deswegen, Madame. Wenn sie lebendig wären, die Ihr da drüben am See gesehen habt, wie könntet Ihr sie aus dieser Entfernung hier im Saal hören?« »Das paßt genau zu Gespenstern, sich nachts her umzutreiben, zu klopfen und Leute während der Weihnachtszeit zu erschrecken«, erklärte Monsieur Jonas, schulmeisterlich den Finger hebend. »Da hilft nur, Fenster und Türen zu verriegeln und zu beten.« Angélique fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Was sollte sie glauben? Was denken? … Das, was sie gehört hatte, mochte eine Halluzination gewesen sein, aber ihren Augen konnte sie trauen. »Könnten es nicht vom Wind bewegte Schneege bilde gewesen sein?« fragte Peyrac. Doch in diesem Punkt waren Angélique und Macollet einer Meinung. »Nein! Ausgeschlossen. Es war … etwas anderes.« Peyrac beobachtete aufmerksam seine Frau. Ihr abwesender Blick verriet ihm, daß sie sich mit Fragen beschäftigte, die, kaum formuliert, sie nur selbst be antworten konnte. Je näher er sie kennenlernte, desto mehr erspürte er ihre Sensibilität für Phänomene, die, wenn sie auch zur stofflichen Physik gehörten, nichts destoweniger unerklärlich blieben. Für seinen Teil 666
glaubte er gern an die Möglichkeit der Übertragung von Botschaften auf unsichtbaren Wellen, denn wäh rend seiner Reisen war er Zeuge so mancher erstaun licher Geschehnisse gewesen. Er kaute nachdenklich auf den Lippen. Auch Perrot teilte seine Zweifel. Er musterte Angélique mit dem gleichen ratlosen, forschenden Blick wie der Graf, und plötzlich richtete er sich auf. »Wir müssen hinüber«, entschied er. Und mit ei nem fragenden Heben des Kinns: »Das wollt Ihr doch, Madame? … Nun, wenn’s so ist, gehen wir also.« »Einverstanden«, erklärte Peyrac. »Schließlich ris kieren wir nur einen nicht eben angenehmen Spa ziergang, und Ihr habt wenigstens ein ruhiges Ge wissen, mein Schatz.« Von Perrot, zwei Spaniern, Jacques Vignot, Florimond und Cantor gefolgt, stiegen Angélique und Joffrey mit Laternen bewaffnet zum See hinunter. Eloi Macollet trottete murrend hinter ihnen her, vorsichtshalber seinen Rosenkranz in einer der Taschen seiner Joppe umklammernd. Von Zeit zu Zeit verschwand der Mond hinter den Wolken. Der Schnee war so hart, daß man sich ohne Schneereifen fortbewegen konnte. Die kleine Gruppe folgte dem rechten Ufer des Sees. Der Weg hatte seine Schwierigkeiten, und jeder schwieg. Nur das Knirschen der Stiefel und Mokas sins auf dem Schnee war zu hören und das keuchen 667
de Atmen der Männer, das in der eisigen Luft lauter klang als sonst. Am äußersten Ende des Sees angelangt, machten sie halt. »Hier war es«, murmelte Angélique, um sich blik kend. Alles war so ruhig, so feierlich ruhig, daß sie ihr Angstgefühl von vorhin nicht mehr verstand. Selbst der Wind hatte ein wenig nachgelassen. Im Sommer grollte hier der von einem See in den ande ren stürzende Katarakt, doch in dieser Winternacht war das Schweigen vollkommen, wie versteinert. Ein paar Schritte weiter, und sie hätten die mitten im schäumenden Fall zu kristallenen Orgelpfeifen erstarrten Eiskaskaden gesehen. »Suchen wir«, sagte Peyrac. Sie zerstreuten sich und ließen den runden gelbli chen Schein ihrer Laternen über den Boden gleiten. Doch abgesehen von ihren eigenen Spuren war der Schneeteppich unversehrt. Vor Kälte erstarrt, war Angélique schon nahe dar an, sich Vorwürfe zu machen. Wenn morgen beim Erwachen die Weindünste verflogen wären, würde sie über ihre Torheit lachen und sich im übrigen darauf gefaßt machen müssen, sich eine Weile die Frotzeleien ihrer Umgebung anzuhören. Doch plötzlich packte sie wieder das unruhige, halsstarrige Verlangen, ir gend etwas zu finden, was es auch sei, und sie begann von neuem, taumelnd und in Schneelöcher stolpernd, zwischen Bäumen und Sträuchern zu suchen. 668
Ein wenig später sammelten sie sich und beschlos sen, zum Fort zurückzukehren. Aber noch immer war es, als hielte eine unsichtbare Hand Angélique zurück und zwänge sie, die anderen vorausgehen zu lassen. Sie bedauerte, daß Perrots Indianer, der ein Spür vermögen wie ein Jagdhund besaß, nicht mit ihnen gekommen war, aber er fürchtete sich zu sehr vor den Geistern der Nacht, und selbst sein Herr hatte ihn nicht umstimmen können. Ein letztes Mal glitt Angéliques Blick vom Seeufer zum Waldsaum hinüber. In diesem Moment brach der Mond in seiner ganzen Pracht durch die Wolken, und ein silberner Lichtstrahl fiel durch die kahlen Kronen und streifte eine unregelmäßige weiße Erhöhung. Fast hätte sie einen Schrei ausgestoßen. Die Buckel und Flächen der Erhöhung durch Schatten und Aufhellungen neu modellierend, gab das diffuse Licht wie in einer flüchtigen Vision die Umrisse ausgestreckter menschlicher Gestalten preis. Sie hatte es gesehen: unter dem sanft gewölbten wei ßen Leichentuch die Rundungen eines Kopfes, die Linien von Schultern, Hüften und Beinen. Und war das dort nicht ein ausgestreckter Arm? … Sie lief mit wild klopfendem Herzen hinüber. Der Ort war wieder in Halbdunkel zurückgesunken. Der Schnee bedeckte nur Felsen und niedriges Gesträuch. Trotzdem warf sie sich auf die Knie und begann wie rasend zu scharren. Sie fand etwas, sie wußte nicht, was, aber es waren weder Blätter noch Erdklumpen, weder … was war da, was ihr der Schnee noch ver 669
barg? … Sie riß ihren Handschuh herunter, um es besser betasten zu können: Es war Stoff! … Ein Arm! Schwer … leblos erstarrt. Mit aller Kraft zerrend, legte sie eine Schulter frei, den Oberkörper … Der Schnee glitt zu beiden Seiten herab, denn die Schneedecke war nur leicht, gerade dick genug, um den Körper des vor Erschöpfung ge stürzten Mannes zu verbergen. Sie hob die Laterne und leuchtete den Boden um sich ab. Da waren noch andere. Sie sah sie jetzt deutlich. Wie war es möglich, daß sie sie vorhin nicht gefun den hatten? Sie machte sich wieder an die Arbeit, zog den er sten Körper unter den Bäumen hervor, indem sie sich mit ihren bloßen, schmerzenden Fingern in die steif gefrorene Kleidung krallte. In ihrer Erregung hatte sie so hastig geatmet, daß ihr die Kehle brannte. Sie besaß nicht mehr die Kraft zu rufen. Glücklicherweise hörte sie Joffreys Stimme, der ihr Fehlen bemerkt hatte und zurückgekommen war. »Wo seid Ihr?« »Hier!« antwortete sie. »Kommt schnell! Sie sind hier!« »Teufel!« rief er aus. Er sah sie aus dem Schatten unter den Bäumen treten, halb unter die Last einer leblosen, dunklen Gestalt gebeugt. 670
Sechsundsechzigstes Kapitel
Es waren acht, die sie aus dem Schnee zogen, un kenntlich in ihren tief in die Stirn gezogenen ge frorenen Kapuzen und Decken. Leblos, aber noch geschmeidig. »Sie leben. Sie müssen vor weniger als einer Stunde hier zusammengebrochen sein. Der Wind hat sie mit Schnee bedeckt.« »Wer sind sie?« fragte Vignot. »Wer soll’s schon sein«, antwortete Macollet. »Du hast gehört, was Perrot gesagt hat. Wenn’s keine Gespenster sind, bringen’s nur Franzosen aus Kanada fertig, um diese Jahreszeit in der Wildnis spazieren zugehen.« Nur einer von ihnen war steif und starr wie ein Baumstamm: der, den Vignot trug. »Der Bursche ist so schwer wie ein toter Esel«, knurrte der Pariser, während er sich auf dem glatten Schnee auf den Beinen zu halten suchte. »Du schleppst todsicher eine Leiche, mein Sohn. Kein Zweifel. Der Tod persönlich hockt auf deinem Rücken.« Der auf seinem Gesicht erstarrende Schweiß war wie eine klebrige Maske. Obwohl alles andere als gläubig, mußte der Zimmermann an den sein Kreuz tragenden Jesus denken. Schließlich war’s die Dreikönigsnacht. Keine Nacht wie die anderen.
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Die im Fort Zurückgebliebenen sahen den Anköm mlingen entsetzt entgegen. Gerettete wie Retter bo ten den gleichen gespenstischen Anblick: mit Schnee bedeckt, Brauen und Kinn von einer glitzernden Eisschicht überzogen. Halb erstarrte Nachtgeister mit brennenden Augen, die bei einigen noch die Düsternisse des Jenseits zu sehen schienen. Jacques Vignot lud seinen Leichnam kurzerhand zwischen Bechern und ein paar liegengebliebenen Goldbarren auf der langen Tafel ab. Der arme Bur sche war am Ende seiner Kräfte. Er keuchte wie ein Seehund und schüttelte seine blaugefrorenen Finger. Die anderen wurden auf den Boden gelegt oder, so weit sie schon Lebenszeichen von sich gaben, auf Bänke gesetzt. Was von ihnen zu sehen war, erlaubte den Schluß, daß es sich um drei Indianer und fünf Europäer handelte, Franzosen zweifellos, wie Nicolas Perrot vorausgesagt hatte. Eisstückchen lösten sich schmelzend aus ihren Bärten und fielen mit dem leisen Geräusch split ternden Glases zu Boden. Man brachte ihnen Becher mit Branntwein und flößte ihnen die belebende Flüssigkeit ein. Sie schluckten, und ihr Atem wurde rauher und tiefer. Der gefährliche Erschöpfungsschlaf in der Kälte der Nacht unter dem Schnee war eben noch zur rechten Zeit unterbrochen worden. Dennoch war einer von ihnen tot. Der auf dem Tisch. Perrot näherte sich ihm, zog die Kapuze herunter, die das Gesicht des Toten verbarg, und stieß einen er 672
stickten Schrei aus. »Mein Gott! Heilige Jungfrau!« Er bekreuzigte sich. Auch die andern traten hinzu, erkannten den Toten und wichen erblassend zurück. Entsetzen und aber gläubische Angst schlichen in ihre Herzen. Denn der, dessen zu steinerner Unbeweglichkeit erstarrtes Gesicht sie eben betrachtet hatten, war seit langem schon tot, sie wußten es, seit drei Wochen wenig stens, war an den Ufern des Méganticsees im Norden gestorben. Es war der Leutnant de Pont-Briand! … Sie wandten sich dem Grafen zu, der zum Tisch getreten war und mit gerunzelter Stirn, aber ohne die leiseste Gefühlsäußerung das Gesicht mit den ge schlossenen Augen und dem wie Marmor über den Knochen liegenden Fleisch betrachtete. Mit einem Finger schob er die Kapuze völlig zu rück und entdeckte einen schwärzlichen Einstich in die Schläfe. Die Wunde hatte der Kälte wegen kaum geblutet. Er nickte. Ja, der Mann vor ihm war derselbe, den er mit seiner Degenspitze getötet hatte. Die Augen, von ihm selbst geschlossen, wie es einem loyalen Gegner zukam, hatten sich nicht wieder ge öffnet. Der Tote war ganz einfach ein Toter, konserviert durch den Frost in den Zweigen des Baums, auf denen der Hurone ihn geborgen hatte. Die übli che Bestattung während des Winters außerhalb der 673
Reichweite der Füchse und Wölfe, bis der Boden wieder so weich war, daß man ein Grab ausheben konnte. »Der Tote«, flüsterte Madame Jonas, sich zu Angélique hinunterbeugend, die dabei war, das Feuer zu schüren und die Reste des Festmahls zu wärmen. »Was ist mit ihm?« »Es ist Monsieur de Pont-Briand.« Angélique fuhr zusammen und richtete sich auf. Von ihrem Platz aus konnte sie den ganzen Saal übersehen, das seltsame Schauspiel der rund um den Tisch wie erstarrten Gestalten, die einen zwi schen Goldbarren und noch nicht abgeräumten Überbleibseln des Festmahls liegenden steinernen Körper betrachteten. »Ja, der Leutnant de Pont-Briand«, sagte mit Nach druck eine fremde Stimme. Einer der Unbekannten hatte sich mühsam aufge richtet und hob sein bleiches, von totaler Erschöpfung gezeichnetes Gesicht, in dem die starren Augen brannten. »Ja, Pont-Briand, den Ihr ermordet habt und in des sen Namen wir gekommen sind, um Gerechtigkeit zu fordern, Monsieur de Peyrac.« Joffrey musterte ihn ruhig. »Woher kennt Ihr mich, Monsieur?« »Ich bin der Graf de Loménie-Chambord«, sagte die Stimme. »Erkennt Ihr mich nicht? Ich bin Euch in Katarunk begegnet.« 674
Nicolas Perrot, der sich noch im Süden aufgehal ten hatte, als der Leutnant im Fort aufgetaucht war, starrte die beiden verständnislos an. »Nein, das ist nicht möglich!« rief er und packte impulsiv den Arm des Grafen, eine Geste, die er nicht gewagt hätte, wäre er in seiner Erregung für solche Bedenken nicht blind gewesen. »Ihr habt diesen Mann getötet? … Er war doch mein Freund! Mein Bruder! … Und Ihr habt ihn getötet! … Nein, es ist nicht wahr!« »Doch, es ist wahr«, sagte einer der anderen Ge retteten mit kraftloser Stimme. »Das ist der Herr, dem Ihr dient, Nicolas! Er wird niemals zögern, ei nen Eurer Landsleute umzubringen, wenn es ihm so gefällt!« Bis dahin fast gleichgültig inmitten seiner verwirr ten, angstvollen Leute, schien Peyrac plötzlich von einer kalten Erregung gepackt, die sich noch steiger te, als er dem verzweifelt auf ihn gerichteten Blick Perrots begegnete. »Ja, ich habe ihn getötet«, sagte er dumpf und rauh. »Aber Nicolas Perrot ist mein Freund. Versucht nicht, ihn von mir zu trennen.« Die dunklen Augen glühten zornig auf. »Heuchler! Erbärmliche Heuchler! Ihr wißt, wa rum ich ihn getötet habe. Warum tut Ihr denn so entrüstet? Warum klagt Ihr mich eines Verbrechens an, während ich nur meine verhöhnte Ehre gerächt habe?! … Habt Ihr nicht das Blut von Edelleuten in Euren Adern? Oder wollt Ihr nichts davon wissen, daß 675
dieser Mann meine Frau begehrte? Er kam hierher, um sie zu verführen, sie mir zu nehmen! Er kam, um sie mir zu stehlen und unter meinem eigenen Dach zu beleidigen! Hätte ich diesen Verrat hinnehmen sollen? Hättet Ihr erwartet, daß ich sein Verhalten ungestraft ließe? Wenn er wahnwitzig genug war, den Versuch zu wagen, mußte er seinen Wahnwitz bezahlen! Das ist das Gesetz! Wir haben uns in offe nem, allen Regeln entsprechendem Duell geschlagen. Er ist gefallen. Und ich sage Euch, daß jeder, der es wagen sollte, meine Frau zu begehren, dem gleichen Schicksal entgegengehen wird, zu welcher Rasse oder Nation er auch gehört.« Er verstummte in einem lastenden Schweigen. Die Blicke aller glitten von ihm, prächtig in seinem pur purnen Kostüm, zu der, die im unruhig flackernden Schein der Flammen ein wenig erhöht auf den zur Estrade führenden Stufen stand und ihnen in der Aureole ihres schimmernden Haars von unvergleich licher Schönheit schien … Die Franzosen, die sie noch nicht kannten, zitter ten wie unter einem Schock. Sie war wahrhaftig so schön, wie man von ihr behauptet hatte, die Dame vom Silbersee! Und ihr Anblick bändigte ihre wirren, aufsässigen Gedanken. Wie benommen standen sie vor ihr. Dann fuhr sich einer von ihnen schwerfällig mit der Hand über die Stirn. »Mein Gott!« murmelte er. »Was für ein Narr!« Und, zu Loménie gewandt: »Ihr hattet recht …« Jeder war darüber im Bilde, daß Pont-Briand in die 676
fremde Frau in der Tiefe der Wälder verliebt gewesen war. Er hatte sich wie ein Halbverrückter benom men. Nicolas Perrot senkte den Kopf. »Wenn es so gewesen ist, mußtet Ihr es tun, Monseigneur. Ihr mußtet es … Ich bitte Euch um Verzeihung für meinen Freund.« Er nahm die Pelzmütze ab und verharrte gebeugt vor dem Toten. Konnte man sich eine furchtbarere, maßlosere Gesellschaft vorstellen als diese Kanadier, fragte sich Peyrac. Er sah sie mit dem steifgefrorenen Leichnam des Freundes, den es zu rächen galt, durch die er barmungslose, leichentuchfarbene Landschaft des Winters stapfen … »Zu welchem Zweck seid Ihr noch zu mir ge kommen, Ihr Herren aus Neufrankreich«, fuhr er mit bitterer Stimme fort. »Ihr wolltet, daß Katarunk verbrannt würde? … Nun, es ist verbrannt. Ihr habt Euer Ziel erreicht. Ihr wolltet, daß mein Name in Nordamerika ausgelöscht würde, daß ich dem ewigen Haß der Irokesen zum Opfer fiele oder wenigstens an Eurer Seite an dem Kampf teilnähme, den Ihr gegen sie führt? In diesem Punkt sind Eure Pläne geschei tert.« »Ich habe niemals die Versprechungen widerrufen, die ich Euch in Katarunk machte, Monsieur!« prote stierte Loménie. »Wenn Ihr’s nicht getan habt, dann Eure Brüder. Maudreuil und vor allem der Jesuit, der sich am 677
Kennebec aufhielt und die Vereinbarungen nicht hinnehmen wollte, die Ihr mit mir, dem Fremden, geschlossen hattet. Er war es, der Maudreuil und die Patsuikets zu ihrem Überfall anstiftete, und nur um den Anschein zu wahren, hielt sich die Regierung Neufrankreichs aus diesem Verbrechen heraus.« »Ihr irrt Euch. Unser Wunsch, uns mit Euch zu verbünden, war aufrichtig, und als Beweis dafür möge Euch die Tatsache dienen, daß Monsieur de Frontenac, sobald er erfuhr, daß Ihr lebtet, mich trotz der rauhen Jahreszeit mit einer Botschaft und neuen Vorschlägen zu Euch schickte.« »Wollt Ihr damit sagen, daß Eure Absichten mir gegenüber beim Verlassen Québecs nicht feindselig waren?« »Eben das! Ihr könnt es auch daran ermessen, daß wir, wie Ihr seht, nicht eben zahlreich sind.« Der Graf musterte die vier erschöpften Männer und die drei Wilden, die sich trotz der Mühe, die man sich mit ihnen gab, nicht erholen zu können schie nen. »Was ist Euch geschehen?« »Das ist nicht so leicht zu erklären. Wir sind an sol che winterlichen Expeditionen gewöhnt. Alles ging gut bis zum Mégantic. Dort fanden wir die Spuren Eures Duells und die Leiche dieses Unglücklichen. Von da an heftete sich mit dem Leichnam, den wir trugen, ein unheilvolles Geschick an unsere Fersen. Es sah fast so aus, als hätten wir gegen einen Fluch anzukämpfen, je mehr wir uns näherten …« 678
»Über Wapassou liegt ein Tabu.« »Unsere Wilden wußten es. Sie hatten Angst. Sie schienen schwächer zu werden, und auch wir spürten, daß wir mit jedem Tag ein wenig an Kraft verloren. Die Kräftigsten mußten die anderen tragen. Wenn wir umgekehrt wären, wäre der Tod uns sicher gewesen. Schließlich hatten wir nur noch eine Hoffnung: trotz allem noch Euer Fort zu erreichen. Doch nach der Anstrengung, die uns die Überwindung der Katarakte kostete, brachen wir vor Erschöpfung zusammen, und … Wie kommt es, daß Ihr uns noch rechtzeitig fandet?« Er erhielt keine Antwort. Noch immer war die Stimmung im Saal bedrückt und verstört, und wenn die Leute von Wapassou sich erinnerten, was sie dazu veranlaßt hatte, aus ihrem Loch zu kriechen, um den Verirrten Hilfe zu bringen, lief ihnen ein kalter Schauer über den Rücken. »Wie konntet Ihr uns finden?« wiederholte einer der Franzosen mit einer Spur von Argwohn im Blick. »Es ist die Dreikönigsnacht«, erwiderte Peyrac mit einem spöttischen Lächeln. Und er fixierte den Mann mit einem rätselhaften Blick. »Die Dinge gehen nicht immer so, wie wir wollen«, fuhr er fort. »Ich will gern glauben, daß Ihr Québec mit der Absicht verließet, mich in – sagen wir – voller Neutralität aufzusuchen. Unterwegs hat der Anblick Eures toten Freundes Euch kriegerisch gestimmt und zur Rache aufgerufen. Aber der Winter ist ein schlimmerer Feind als ich, und alles in allem seid Ihr nun ganz zufrieden, mich gefunden zu haben, 679
der Euch vor ihm schützen kann. Offenbar ist es uns bestimmt, uns jedesmal im Zeichen einer gewissen Doppeldeutigkeit zu begegnen. Muß ich nun in Euch Eurer Rachepläne wegen Feinde und Geiseln oder auf Grund Eurer früheren Absichten Gäste sehen?« Die Franzosen wechselten untereinander fragende Blicke, und einer von ihnen, ein stämmig gebauter Mann, dessen Züge und Haltung Vornehmheit ver rieten, nahm das Wort: »Ich stelle mich vor. Ich bin der Herzog d’Arre boust, Erster Syndikus der Stadt Québec, und ich kann Euch die Worte Monsieur de Loménies be stätigen, daß wir von Monsieur de Frontenac, Gou verneur Neufrankreichs, beauftragt wurden, uns Euch in friedlicher Absicht zu nähern. Es lag ihm am Herzen, Euch ein Projekt nahezubringen, das … Aber vielleicht sprechen wir besser später darüber«, schloß er unvermittelt, indem er seine tauben Finger rieb, in die das Blut allmählich zurückkehrte und die ihn grausam schmerzen mußten. Er warf einen Blick auf den Leichnam des kanadischen Offiziers, der, vom Frost stark mitgenommen, zwischen den schimmernden Goldbarren auf schauerliche Weise die Eitelkeit aller irdischen Güter zu symbolisieren schien. »In Anbetracht der Umstände, die Euch veranlaß ten, diesen Mann zu töten«, fuhr er fort, »können wir wohl als sicher annehmen, daß es sich Eurerseits da bei um keinen feindseligen Akt gegen Neufrankreich gehandelt hat, obwohl wir uns nicht enthalten kön nen, soviel Brutalität zu bedauern. Monsieur de 680
Loménie und ich selbst haben lange Zeit in den klei nen Gemeinschaften der ersten Kolonialzeit gelebt und wissen, daß es einer strengen Disziplin bedarf, um den Dämon der Unzucht zu unterdrücken, aber wir kennen auch die Möglichkeit des Gebets …« »Ich stehe keinem Kloster vor«, sagte Peyrac. »Ich kenne nur Pulver und Strick … und den Degen für Edelleute.« »In Euch ist keine Heiligkeit.« »Nein! Gott bewahre mich davor!« Sie strafften sich, als seien sie bereit, zu den Waffen zu greifen, Die leidenschaftliche und paradoxe Ironie der Antwort skandalisierte sie. Auch er entsprach ge nau dem Bild, das man von ihm entworfen hatte: dem schwarzen Dämon neben der Dämonin, der ihnen mit seinem funkelnden Blick und seinem narbigen Gesicht trotzte. Die Spannung wuchs an, bis sie unerträglich schien. Da kam Angélique die Stufen herab und näherte sich ihnen. »Kommt und setzt Euch zum Feuer, Messieurs«, sagte sie mit ihrer harmonischen, ruhigen Stimme. »Ihr seid erschöpft …« Und als sie sah, daß der Graf de Loménie taumelte, legte sie einen Arm um ihn, um ihn zu stützen. »Was sollen wir mit dem Kadaver anfangen?« flüsterte Jacques Vignot Peyrac ins Ohr. Der Herr von Wapassou gab durch ein Zeichen zu verstehen, daß man ihn hinaus in die eisige Dunkel 681
heit tragen sollte. Es gab keine andere Lösung. Es war der Platz für die Toten.
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Vierter Teil
Die Drohung
Siebenundsechzigstes Kapitel
Waren es der zu kurze, ungenügende Schlaf, die Nachwirkungen der aufregenden Ereignisse der ver gangenen Nacht oder die noch immer bedrängend wachsende Kälte, die die Natur erbarmungslos un ter ihre Marmorfaust zwang? Jedenfalls fühlte sich Angélique nach dem Erwachen zu keiner Bewegung fähig. Eine Reifschicht dämpfte das ohnehin dürfti ge Licht noch mehr, das durch die mit Fischhaut bespannten Quadrate des schmalen Fensters fiel. Immerhin genügte es, um die schon vorgerückte Stunde anzuzeigen. Gewöhnlich standen sie noch bei tiefer Dunkelheit auf. An diesem Morgen schien sich jedoch niemand zu rühren. Angélique sagte sich, daß es höchste Zeit sei, das Feuer im Kamin anzuzünden, aber immer wieder sank sie in eine Benommenheit zurück, aus der sie sich nicht zu befreien vermochte. Schon ein paar Wochen zuvor, am Morgen nach einer gewissen Liebesnacht, hatte sie flüchtig daran gedacht, daß sie vielleicht schwanger sein könnte, und nun tauchte dieser Gedanke von neuem auf und riß sie aus ihrer Schläfrigkeit. Sie schwankte in ihren Gefühlen zwischen Niedergeschlagenheit und der vagen Befriedigung, mit der die meisten Frauen dem Erscheinen eines neuen Lebens in ihrer Existenz ent gegensehen. 684
Doch dann schüttelte sie den Kopf. Nein! Es war nicht »das«. Es war etwas anderes. Etwas wie eine be klemmende Ahnung lag über dem Fort, und es war das erstemal, daß sie seit ihrer Ankunft in Wapassou etwas Derartiges empfand. Plötzlich erinnerte sie sich. Fremde waren unter ihrem Dach. Sie bedauerte nicht, sie gerettet zu haben, aber mit ihnen war etwas Bedrohliches ins Haus gekommen. Sie erhob sich geräuschlos, um Joffrey nicht zu wek ken, der wie immer friedlich neben ihr schlief. Sobald sie den wollenen Unterrock und ihr Barchentkleid über die Wäsche gezogen und in eine pelzgefütterte Lederjoppe und danach noch in ihren Mantel ge schlüpft war, fühlte sie sich besser. Jede Woche fügte man seinem »Zaumzeug« ein weiteres Stück hinzu. Madame Jonas behauptete, wenn der Winter zu Ende ginge, würden sie alle drei in ihren übereinandergezogenen Kleidungsstücken wie rollende Kugeln aussehen. Ihrer Gewohnheit entsprechend, schnallte Angé lique auch den ledernen Gürtel um, an dem rechts das Halfter mit ihrer Pistole und links Dolch und Messer in ihren Scheiden hingen. Nun war sie bereit, es mit der Welt aufzunehmen und allem zu entspre chen, was sie von ihr fordern würde. Meistens drehte sie ihr Haar zu einem Knoten zu sammen und zwängte es unter eine enge Haube mit an den Schläfen leicht aufgebogenen Rändern, wie sie 685
die großbürgerlichen Damen La Rochelles trugen. Diese Kopfbedeckung hob das reine Oval ih res Gesichts hervor, verlieh ihren Zügen etwas Hieratisches, Strenges. Ein von einer weißen Haube umrahmtes Gesicht ist freigelegt, nackt. Es vermag nichts zu verbergen. In den Frauenporträts früherer Zeiten, die ihre Modelle mit glatten Schläfen und Stirnen unter eng umschließenden Spitzenhauben darstellen, fasziniert den Betrachter oft eine an Kühn heit grenzende Offenheit. Angélique gehörte zu den wenigen Frauen, die einen so nüchternen Kopfputz ohne Nachteil tragen konnten. Sie fühlte sich wohler, wenn sie das Haar vor Staub und dem rußigen Rauch der Feuer geschützt wußte. Zuweilen stülpte sie noch einen Musketierfilz von der Farbe dunkler Kastanien mit lila Feder über die weiße Haube. Da der Wind die Feder häufig abriß, hatte sie sie durch ein Band aus geripptem schwarzem Taft ersetzt, dem sie durch eine vorn angebrachte sil berne Schnalle eine heitere Note verlieh. Die Krempe des Huts war zwar breit, aber noch eben schmal ge nug, daß sie, wenn es schneite, die große, gefütterte Kapuze ihres Mantels über ihn ziehen konnte. Um im Haus ihre Füße warm zu halten, schlüpfte sie in nach Indianerart genähte wildlederne Über schuhe, und draußen trug sie bis zu den Knien rei chende lederne Gamaschen und hohe Stiefel. All das war nicht eben übermäßig elegant, ent sprach aber den Notwendigkeiten. Wenn erst der Frühling kam, war es noch immer Zeit genug, seine 686
Erscheinung in einem Spiegel zu überprüfen. Im üb rigen gaben die Festtage Gelegenheit zu beweisen, daß man die Gebote der Mode nicht völlig vergessen hatte. Als Angélique leise die Tür öffnete, um ihre Kam mer zu verlassen, stand sie unversehens Eloi Macollet gegenüber, der eben hatte klopfen wollen. Sein wie aus knorrigem Holz scharfkantig geschnitztes Gesicht mit dem schwarzen Spalt seines zahnlosen Mundes, den wie Leuchtkäferchen glimmenden kleinen Augen und der wieder tief über den skalpierten Schädel gezo genen knallroten Mütze war ganz und gar nicht dazu angetan, auf einen nervös gewordenen Menschen im Halbdunkel beruhigend zu wirken. Angélique fuhr zusammen. Es war ungewöhnlich, ihm zu so früher Stunde im Fort zu begegnen. Sie öffnete schon den Mund, um ihn zu begrüßen, aber er legte den Zeigefinger auf seine Lippen, for derte sie mit einer stummen Bewegung auf, ihm zu folgen, und ging mit der Grazie eines Gnoms vor ihr her zum Eingang zurück. Im Hintergrund des Saals waren einige der Männer dabei, sich gähnend von ihrem Lager zu erheben. Das Feuer im Kamin war noch nicht angezündet. Angélique zog ihren Mantel um sich zusam men, um sich gegen die Kälte des in saphirfarbene Durchsichtigkeit getauchten Morgens zu rüsten. »Was gibt’s, Macollet?« Er gab ihr erneut durch ein Zeichen zu verste hen, daß sie schweigen solle, und stieg, noch immer mit gebeugten Knien, als ginge er auf Eiern, den 687
freigeschippten Weg zum Hof hinauf. Der Schnee quietschte seltsam unter ihren Schritten. Es war das einzige Geräusch. Im Osten breitete sich ein rosiggol dener Lichtstreifen aus, und nach und nach tauchte die versteinerte Welt aus den nachtblauen Schatten. Rauchgeruch drang ihr in die Nase, der Geruch des Lebens, der die Gegenwart des in sein Fort oder seine Hütte geflüchteten Menschen verrät. Der Rauch kräuselte zäh und dick aus den Ritzen zwi schen den Rindenstücken und aus dem Abzugsloch von Macollets Wigwam. Angélique mußte fast niederknien, um hinter dem Alten her hineinzukriechen. Im rauchigen Dämmer licht war nicht viel zu erkennen. Das kümmerlich flackernde Feuer genügte nicht, um den ziemlich gro ßen, aber mit einer Ansammlung wunderlicher Dinge vollgestopften Unterschlupf zu erhellen. Deutlich er kannte sie nur die drei neben der Herdstelle liegenden Wilden, deren Reglosigkeit ihr sofort seltsam schien. »Seht Ihr?« brummelte der Alte. »Was soll ich sehen?« fragte Angélique und begann zu husten, da der Rauch ihre Kehle reizte. »Geduldet Euch. Es wird gleich heller.« Er suchte in einem Winkel nach trockenem Reisig und beugte sich über den Herd. Angélique musterte angstvoll die unter ihren Dek ken ausgestreckten Indianer. »Was haben sie? Sind sie tot?« »Nein. Schlimmer!« Endlich prasselten die Flammen auf. 688
Macollet packte ohne Umstände die Skalplocke eines der Huronen und zog seinen Kopf in den Licht schein des Feuers. Der Wilde ließ es widerstandslos mit sich gesche hen. Er schien bewußtlos. Glühender Atem kam über seine vom Fieber aufgesprungenen, fast violetten Lippen. Sein Teint war sehr dunkel, kupfrig rot, und zudem mit purpurnen Flecken getupft. »Fleckfieber!« sagte Eloi Macollet. Das ganze uralte Grauen, das diese schreckliche Krankheit umgab, schwang in der brüchigen Stimme des Alten mit, ließ seine unter buschigen Brauen ver steckten Augen jäh aufleuchten. Das »Fleckfieber« … die furchtbaren Pocken. Angélique spürte, daß ihr ein Schauer über den Rücken rann. Kein Laut kam über ihre Lippen. Sie wandte dem Alten ihre aufgerissenen Augen zu, und schweigend starrten sie einander an. Endlich raunte Macollet: »Deshalb sind sie auch heute nacht im Schnee zusammengebrochen. Sie hatten sie schon, die rote Krankheit!« »Was wird nun geschehen?« hauchte sie. »Sie werden sterben. Die Indianer leisten dieser Schweinerei keinen Widerstand … Und was uns betrifft … nun, wir sterben auch. Nicht alle, natür lich. Man kann’s überstehen, aber man behält ein durchlöchertes Gesicht zurück, wie eine Gießform für Kugeln.« Er ließ den Kopf des Indianers fallen, der aufstöhnte und in seine Reglosigkeit zurücksank. 689
Angélique lief taumelnd zum Fort hinüber. Sie mußte Joffrey finden, mußte nachdenken können, wenn die Panik sie nicht überwältigen sollte. Als sie den Saal betrat, zündete Cantor eben die Feuer an, und Yann Le Couénnec half ihm, indem er Asche und Reisigreste vor den Kaminen zusammen fegte. Sie begrüßten sie munter, und als sie sie betrachtete, stieg die niederschmetternde, grauenhafte Wahrheit vor ihr auf. Sie alle würden sterben! Nur einer würde überleben: Clovis, der Auvergnate. Er hatte die Pocken schon gehabt und sie glücklich überstanden. Er würde sie einen nach dem andern verscharren … Was hieß verscharren? Er würde Eisblöcke zum Schutz über sie häufen und mit dem Begraben war ten, bis der Frühling kam. Und vielleicht würde er darüber wahnsinnig werden! … Ihre Kammer erschien ihr wie ein letzter Zufluchtsort und der Schlafende vor ihr im Bett mit seiner gesun den Kraft wie der letzte Schutzwall vor dem Tode. Noch ein paar Minuten zuvor hatte es nur Glück um sie herum gegeben, ein ländliches, verstecktes, ganz und gar ungewöhnliches Glück, aber trotz allem Glück, weil sie das kostbarste aller Güter besaßen: das Leben, das triumphierende Leben. Nun hatte sich der Tod wie ein Nebel unter sie geschlichen, wie dicht über den Boden ziehender 690
Rauch, und es wäre vergeblich, Türen und Fenster gegen ihn zu verschließen. Er dränge dennoch ein. Sie rief gedämpft: »Joffrey! Joffrey!« Aus Angst, ihn schon anstecken zu können, wagte sie nicht, ihn zu berühren. Trotzdem hoffte sie, als er die dunklen, lebendigen Augen aufschlug und sie anlächelte, in einem Anflug närrischen Vertrauens, daß er sie auch vor dieser Gefahr bewahren könne. »Was gibt’s, mein Engel?« »Die Huronen Monsieur de Loménies haben die Pocken …« Sie bewunderte ihn, weil er nicht erschrak, weil er sich ohne Hast und schweigend erhob. Aber es gab auch nichts zu sagen. Er wußte, daß sie nicht die Frau war, sich über eine gefährliche Situation hinwegzu täuschen oder sich an billige Trostworte zu klam mern. Während sie ihm seine Kleidungsstücke reichte, spürte sie, daß er nachdachte. Endlich sagte er: »Die Pocken? Das wundert mich. Es müßte sich um eine aus Québec eingeschleppte Epidemie han deln. Diese Art Krankheit tritt aber immer mit der Ankunft der Schiffe auf … im Frühling. Wenn seit dem Herbst, das heißt, seitdem das Eis den Sankt Lorenz blockiert, in Québec kein Fall registriert wor den ist, können es nicht die Pocken sein.« Die Schlußfolgerung schien ihr überzeugend. Sie begann leichter zu atmen, und ihre Wangen färbten 691
sich wieder. Bevor sie hinaustraten, legte er ihr mit einem fe sten, schnellen Druck die Hand auf die Schulter und murmelte: »Mut!«
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Achtundsechzigstes Kapitel
Im Wigwam beugte sich Joffrey lange über die kran ken Huronen. Ihre Gesichter glühten, und als er ihre Lider hob, stellte er fest, daß ihre Augen blutunterlau fen waren. Ihr Atem ging pfeifend, und sie hatten das Bewußtsein verloren. »Was haltet Ihr davon, Macollet?« fragte Joffrey. »Man kann noch nichts Rechtes sagen, wie? Es sind die Symptome der Pocken, ich bestreite es nicht, aber die charakteristischen Pusteln sind an ihren Körpern noch nicht zu sehen. Nur rote Flecken.« Der Kanadier schüttelte zweifelnd den Kopf. Man mußte eben warten. Mehr ließ sich vorderhand nicht tun. Sie besprachen leise die sofort zu treffenden Vor sichtsmaßnahmen. Macollet erklärte sich bereit, für die Huronen zu sorgen. Seiner Erfahrung nach war Alkohol ein ausgezeichneter Schutz gegen alle mög lichen Epidemien und Infektionen. Er würde mit einem Fäßchen Branntwein schon gut zurechtkom men. Mit einem philosophischen Nicken erkannte der Alte an, daß selbst die schlimmsten Situationen ihre Annehmlichkeiten hatten. Er würde sich tüchtig ei nen hinter die Binde gießen, sich den Mund ausspü len und außerdem die Hände, die die Wilden berühr ten, häufig mit dem Zeug abreiben. In der Nähe seines Wigwams würde man ein 693
kleines Schwitzhäuschen errichten, und jedesmal wenn er das Fort betreten wollte, würde er dort die Kleidung wechseln. »Macht Euch nur keine Sorgen um mich«, erklärte er gleichmütig. »Ich war bei den Huronen während der großen Epidemie, die sie im Jahr 62 dezimiert hat. In jedem Dorf, durch das ich kam, fand ich nur Leichen. Ich bin mitten durch ihr Gebiet gezogen, ohne daß es mir was ausgemacht hätte. Denen da werd’ ich Kräuterbrühe zu trinken geben und das Feuer unterhalten. Wir werden ja sehen, wozu es führt.« »Ich bringe Euch Vorräte und Kräuter für die Auf güsse her«, sagte Angélique. Ihr Schritt war auf dem Rückweg fester. Sie mußte vor allem ihre Ruhe bewahren … Der Tag war ange brochen, rosig, kalt und heiter. Als sie diesmal den Saal betrat, fand sie sich unverse hens dem echtesten Jesuiten gegenüber, der sich im Umkreis von hundert Meilen vorstellen ließ. Es war ein Geistlicher von mittlerer Größe, ziemlich rundlich, mit heiteren Augen, kahler Stirn und üppi gem Bart. Ein Ausdruck freundlicher Gutmütigkeit lag über seinem derben Gesicht. Sein schwarzer Priesterrock bestand aus gutem, festem Drogett. Er trug einen Gürtel aus schwarzem Leder, an dem ein paar kleine Gegenstände, Messer, Säckel und derglei chen, hingen, und auf der Brust ein ziemlich großes schwarzes, an den vier Enden mit Kupfer eingefaßtes, 694
von einer seidenen Schnur gehaltenes Kreuz. Der ein wenig starke Hals quoll aus einem harten, mit einem schmalen Umschlag aus weißem Leinen versehenen Kragen. »Erlaubt mir, mich Euch vorzustellen«, bemerk te er. »Ich bin Pater Massérat von der Gesellschaft Jesu.« Sein Anblick in einem solchen Augenblick hatte Angélique im ersten Moment an eine Erscheinung glauben lassen. Sie wich mehrere Schritte zurück und mußte sich gegen die Wand stützen. »Aber wo kommt Ihr her?« stammelte sie. »Aus jenem Bett, Madame«, erwiderte er mit einer Geste zum Hintergrund des Raums, »in das Ihr selbst mich gestern abend so pfleglich gelegt habt.« Sie begriff nun, daß er zu den Geretteten gehör te, die in dieser Nacht mit knapper Mühe dem Tode entronnen waren. War er nicht überhaupt der erste gewesen, den sie entdeckt und aus dem Schnee ge zerrt hatte? Der froststarre Kapuzenmantel hatte ihr die Soutane verborgen. »Ja, der war ich«, sagte er, ihre Gedanken erratend. »Ihr habt mich auf Eurem Rücken getragen, Madame. Ich spürte es, aber ich war zu sehr durch die Kälte ge lähmt, um mich Euch gleich vorzustellen und mich zu bedanken.« Die Augen fuhren fort zu lächeln, beobachteten sie jedoch mit scharf registrierender Aufmerksamkeit, und hinter ihrer Heiterkeit war die schlaue und gewitzte Zurückhaltung des Bauern zu spüren. 695
Angélique fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Wie soll ich mich entschuldigen, Pater? Wie hät te ich auf den Gedanken kommen sollen, daß sich ein Jesuit unter unseren Gästen befindet! … Und ich stehe unter dem Eindruck einer schrecklichen Neuigkeit.« Sie näherte sich ihm und murmelte: »Wir fürchten, daß Eure Huronen von den Pocken befallen sind.« Das gutmütige Gesicht des Paters Massérat erblaß te. »Teufel!« stieß er hervor. Ein solcher Ausruf in seinem Mund verriet besser als alles andere seine Erregung. »Wo sind sie?« »Im Wigwam des alten Macollet.« Und, als er ei lends hinauswollte: »Wartet! Es ist zu kalt draußen, um so zu gehen!« Sie griff nach dem weiten schwarzen Mantel, den er auf eine Ecke des Tisches gelegt hatte, und warf ihm das schwere Kleidungsstück selbst über die Schultern. Unter anderen Umständen hätte sie vermutlich nicht so gehandelt, zum Beispiel, wenn ihr dieser achtbare Jesuit in irgendeinem Salon vorgestellt wor den wäre. Aber in ihrer Unruhe übertrieb sie ihre Gesten und fühlte sich noch mehr als sonst für die Gesundheit jedes einzelnen, auch die des Jesuiten, verantwortlich. Sie reichte ihm seinen Hut. Er ent 696
fernte sich mit großen Schritten. Angélique verspürte das dringende Bedürfnis, ir gend etwas Warmes zu trinken, um sich wieder besser in die Hand zu bekommen. Sie trat zum Kamin, goß sich ein wenig heißes Wasser in einen Becher und griff nach der Flasche mit dem Apfelschnaps auf dem Tisch. Ein paar von den Männern schlürften eine Suppe, die sie sich selbst gewärmt hatten. Andere tunkten Stücke kalter Maisfladen in ihren Branntwein. So stark war ihre Disziplin, daß keiner von ih nen daran gedacht hatte, sich ein Stück Speck oder Schinken abzuschneiden, denn die Verteilung dieser gehaltvollen Nahrung wurde allmorgendlich von Madame Jonas auf Anweisung des für die Lebens mittel verantwortlichen Octave Malaprade vorge nommen, und Madame Jonas hatte sich bisher nicht blicken lassen. »Habt ihr Madame Jonas noch nicht gesehen?« fragte sie Angélique. Sie schüttelten die Köpfe. Die Anwesenheit der Fremden, die am Tischende Platz genommen hatten, schüchterte sie ein. Es waren zwei. Der, der sich als Herzog d’Arreboust vorgestellt hatte, ein kräftiger, breitschultriger Mann mit ergrau enden Schläfen und den Allüren eines Edelmannes – er hatte sich sogar die Zeit genommen, sich zu rasieren –, und ein langer junger Mann mit strenger Miene. Von ihren Gedanken absorbiert, nahm Angélique sie 697
nicht einmal wahr. Sie sorgte sich um das Ausbleiben von Madame Jonas, die sonst immer als erste aufstand und mit ihr zusammen die Feuer in Gang brachte und die Kessel über die Flammen hängte. Auch Elvire und Monsieur Jonas hatten sich noch nicht gezeigt. War die Krankheit schon im Fort ausge brochen? Und die Kinder? … Bevor sie nach ihnen sah, wollte sie erst die von Joffrey empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen anwen den. Sie betrat also ihre Kammer, schlüpfte aus ihrer Oberkleidung, die sie zusammen mit dem Kleid vom Vorabend der eisigen Luft aussetzte, wechselte die Haube, rieb die Hände mit Branntwein ab und spülte sich den Mund aus. Dann kehrte sie in den Saal zurück und kratz te mit klopfendem Herzen an der Kammertür der Jonasse. Zu ihrer Erleichterung hörte sie antwortende Stimmen. Die Kinder waren aufgestanden und angezogen und amüsierten sich in einem Winkel, aber die drei Rochelleser saßen jeder steif auf einem Schemel und wandten ihr bleiche, ängstliche Gesichter zu. »Wißt Ihr’s schon?« murmelten sie. »Leider!« »Was wird aus uns werden?« »Wie kommt es eigentlich, daß Ihr schon unterrich tet seid?« fragte Angélique. »Oh, wir haben es schon beinah sofort bemerkt, als Ihr sie gestern abend zurückbrachtet.« »Dann hättet Ihr es gleich sagen sollen.« 698
»Wozu? Man kann ja doch nichts dagegen tun.« »Wir hätten sofort die notwendigen Vorkehrungen getroffen.« »Vorkehrungen?« »Aber … wovon sprecht Ihr eigentlich?« rief Angé lique. »Von den Jesuiten, natürlich!« »Ich war mir gestern abend noch nicht ganz sicher, ob es ein Jesuit war«, erklärte Madame Jonas. »Irgend etwas an diesem Mann mit dem Bart flößte mir kein Vertrauen ein, obwohl er ebenso erfroren war wie die andern. Aber als ich heute morgen die Nase in den Saal steckte und ihn sah, rabenschwarz von Kopf bis Fuß mit seinem dunklen Rock, seinem Kragen und seinem Kreuz, glaubte ich, in Ohnmacht zu fallen. Mich schaudert’s noch immer.« »Dabei haben wir es mit Schlimmerem zu tun als einem Jesuitenpater«, sagte Angélique bedrückt. Sie erklärte ihnen die Situation. Die Isolierung sei das beste Verteidigungsmittel ge gen die Ansteckung. Bis auf weiteres sollten die Jonasse mit den Kindern in ihrem durch eine Zwischenwand unterteilten Zimmer bleiben. Man würde ihnen Nahrungsmittel bringen, die sie sich selbst zuberei ten konnten. Wenn sie an die frische Luft wollten, brauchten sie nur durch ihr zur Rückseite des Hauses hinausgehendes Fenster zu steigen. Der Schnee war dort fest und reichte fast bis ans Sims heran. Auf diese Weise würde man sie vielleicht vor der schrecklichen Geißel bewahren können. 699
In den Saal zurückkehrend, gewahrte Angélique eine Gruppe, die sich um eins der Betten im Hintergrund drängte, wo sich die Lager der Männer befanden. Sie näherte sich und erkannte auf dem Kopfkissen das gerötete Gesicht des Grafen de Loménie, der schon bewußtlos geworden war.
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Neunundsechzigstes Kapitel
Einer der Huronen starb noch am Abend dieses Tages, von Pater Massérat gebührend mit den letzten Tröstungen der Kirche versehen. »Wenigstens haben wir priesterlichen Beistand zur Hand«, bemerkte Perrot, »eine Annehmlichkeit, de ren sich die, die während des Winters in der Wildnis sterben, sonst nur selten erfreuen können.« Man hatte den Grafen de Loménie auf den Speicher transportiert, den der Schornsteinschaft leicht an wärmte. Zusätzlich wurde ein Kohlenofen aufgestellt, und die Klappe nach unten blieb offen. Der Möglichkeit eines Brandes wegen – die große Angst jeder Überwinterung – mußte ständig jemand am Lager des Kranken bleiben. Die Überwachung er wies sich auch deshalb als nötig, weil er sehr unruhig war und aufzustehen versuchte. Man mußte ihm zu trinken geben, die Schläfen durch Umschläge küh len und immer wieder die Decken zurechtziehen. Angélique ließ sich durch Clovis, den Auvergnaten, helfen. Er zeigte keine sonderliche Veranlagung für die Rolle des Krankenpflegers, aber er war der einzi ge, der die Pocken schon gehabt hatte und sich dem Kranken ungestraft nähern konnte. Angélique zog sich die Lederhandschuhe über, die man ihr am Abend zuvor geschenkt hatte, wenn sie an der Reihe war, den armen Loménie zu pflegen. Sie war nicht ganz davon überzeugt, daß diese Maßnahme 701
genügte. Zur Vorsicht ließ sie die Handschuhe am Lager des Kranken und streifte sie wieder über, wenn sie zurückkehrte. Den Rest des Tages verbrachte sie damit, gewaltige Wassermengen zu kochen und alles hineinzuwerfen, was medizinisch wirksame Wurzeln oder Blätter be saß. Zudem hatte sie auch die Pflichten zu erfüllen, die sonst von Madame Jonas und Elvire wahrgenom men wurden. Als Joffrey es bemerkte, stellte er ihr zwei seiner Männer zur Verfügung. Er hatte seine Augen überall. Er arbeitete wie gewöhnlich in der Werkstatt, er schien aber mehrere Male am Lager des Grafen de Loménie und im Wigwam Eloi Macollets, der sich philosophisch mit seinen Kranken durchschlug, in dem er eine Pfeife nach der andern rauchte und einen Becher nach dem andern leerte. Als Joffrey von seiner letzten Abendvisite zurück kehrte, begleitete ihn der Jesuitenpater. Er teilte mit, daß der erste Hurone gestorben sei. Das Abendessen war bereit. Sie setzten sich zu Tisch, aber so manchem war die Kehle wie zuge schnürt. Niemand hatte daran gedacht, den weihnachtli chen Stechpalmenschmuck zu entfernen. Das fröh liche Dreikönigsfest schien ihnen, obwohl erst so kurze Zeit verstrichen war, weit in die Ferne entrückt. Falls sie mit heiler Haut davonkämen, würden sie sich dieser Tage und vor allem des einen, der nun zu Ende ging, noch lange erinnern. 702
Jeder suchte auf den Gesichtern der andern die Anzeichen eines Todesurteils auf kürzere oder län gere Sicht zu erspähen. In erster Linie wurden die Fremden gemustert, der Jesuitenpater, der Herzog, der lange junge Mann, der die Zähne nur zum Essen auseinanderbekam, und die beiden andern, und es be ruhigte allgemein, sie bei so gutem Appetit zu sehen, denn in der logischen Ordnung der Dinge hätten sie als erste von den Pocken befallen werden müssen. Man diskutierte des langen und breiten über das in den Ländern der Levante übliche Verfahren, sich gegen die Krankheit zu schützen, indem man eine künstlich mit der geschärften Spitze eines Dolchs oder einem Rasiermesser hervorgerufene Wunde an den noch feuchten Pusteln eines geheilten Pockenkranken rieb. Manche dieser Geheilten machten sogar ein Geschäft daraus, hielten einige ihrer Pusteln über Jahre hinaus offen und zogen von Stadt zu Stadt, immer bereit, Kranken gegen gutes Geld die rettende Berührung zu gestatten. Doch hier ließ sich nicht auf diese Weise verfahren. Die Pusteln des einzigen Pockenkranken, der sich in Reichweite befand, des Auvergnaten Clovis, waren seit langem trocken, und der Hurone war gestorben, bevor sich die charakteristischen Pusteln überhaupt gezeigt hatten … Die anheimelnden Tischgespräche nahmen Angé lique, die sich ohnehin zu jedem Löffel zwingen mußte, auch noch den letzten Rest von Appetit. Wie an solchen Tagen nicht anders zu erwar 703
ten, gaben sich die von der Aufsicht der durch ihre Befürchtungen in Anspruch genommenen Erwachse nen befreiten Kinder den Instinkten ihres Alters und somit allerlei unvorhersehbaren Streichen hin. Plötzlich drang ein gellender Schrei aus der Kammer der Jonasse, und Angélique, die als erste hineinstürz te, fand sich der schluchzenden Elvire und dem vor Schreck verstummten Ehepaar Jonas gegenüber. Sie wiesen auf irgend etwas in einer Ecke oder vielmehr auf jemand, den sie nicht sofort erkannte. Es war Honorine. Die seltene Gelegenheit nutzend, die ihnen zu unbe obachteter Freiheit verhalf, hatte Honorine beschlos sen, sich eine Frisur nach irokesischer Art zu machen, und den kleinen Thomas überredet, ihr bei diesem Unternehmen zu helfen. Es war übrigens keine leichte Arbeit gewesen, trotz abwechselnder und gleichzeitiger Betätigung mit Schere und Rasiermesser, und die beiden Kinder hatten eine gute Stunde gebraucht, bis Honorines schwere Haarpracht um sie herum verstreut auf dem Boden lag. Nur auf der Höhe des Hinterkopfs war als stolze Krönung die Skalplocke geblieben. Als die durch ihre bemerkenswerte Artigkeit schließlich doch beunruhigte Elvire sie entdeckte, prüften sie eben das Resultat ihrer Bemühungen, über eine Harnischplatte gebeugt, die ihnen als Spiegel diente. Das Geschrei der jungen Frau, die entsetzten Rufe 704
der Jonasse und Angéliques plötzliches Erscheinen ließen sie in ihrem Winkel erstarren, ganz klein und mit weit aufgerissenen Äuglein. Sie waren verstört, aber keineswegs überzeugt, etwas Dummes angerich tet zu haben. »Wir sind ja noch nicht fertig«, erklärte Thomas. »Ich wollte gerade die Federn reinstecken.« Angélique sank auf einen Schemel und überließ sich hemmungslosem Gelächter. Honorines rundes Köpfchen mit dem roten, ge sträubten Kamm war auch wirklich zu drollig. In ihrem Lachen schwang eine gute Portion Nervosität, aber was sollte sie sonst schon machen? Es gibt Tage, an denen es die Dämonen besonders darauf abgesehen zu haben scheinen, die Menschen zu quä len. Läßt er sich von ihrem hämischen Spielchen einfangen, beherrschen sie ihn und treiben ihn zum Wahnwitz. Sie versuchte, Elvire, die ihre mütterliche Reaktion sichtlich entrüstete, zu erklären, daß man es heute mit viel zu ernsten Ereignissen zu tun habe, als daß man einer belanglosen und letzten Endes reparab len Kinderdummheit soviel Wichtigkeit beimessen dürfe. Es sei hingegen ein wahres Wunder, daß sich Honorine weder einen Schnitt noch eine Schramme dabei zugezogen habe. Vielleicht zeige sich darin gar die Begabung des kleinen Thomas für den Beruf des Barbiers … Monsieur und Madame Jonas schlugen nachhalti 705
ge Strafmaßnahmen vor: Man sollte ihnen Brot und Käse entziehen. Aber auch da legte sich Angélique ins Mittel. Nicht heute und vor allem keine Entziehung von Brot und Käse. Dafür erklärte sie den beiden Sündern streng, daß sie sich eines schweren Ungehorsams schuldig ge macht hätten, als sie, ohne um Erlaubnis zu bitten, mit Schere und Rasiermesser umgegangen wären. Jedem eine schallende Ohrfeige zu verabreichen, wie sie es am liebsten getan hätte, unterließ sie aus Angst vor immerhin möglicher Ansteckung. Die kleinen Teufel hatten sich entschieden den richtigen Tag aus gesucht. Anschließend wurden die zwei im verdunkelten Zimmer ins Bett gesteckt. Es war die einzige Strafe, die sie spürten, und sie würde ihnen nur guttun. Im großen Saal erzählte Angélique von Honorines Tat. Sie erntete mit ihrem Bericht einen gewalti gen Lacherfolg, der die Atmosphäre entspannte. Jeder fühlte, daß diese Art, dem bösen Geschick ein Schnippchen zu schlagen, die unheilbringenden Geister vielleicht vertreiben würde. Honorine hatte durch ihr Verhalten unüberhörbar proklamiert, daß sie sich um die Pocken nicht kümmerte. Sie hatte viel Wichtigeres zu tun. Ein weiterer tröstlicher Faktor war die Entdeckung von Brot und Käse im Gepäck der Kanadier. Drei der Männer waren noch einmal zum äußer sten Ende des Sees zurückgekehrt, um den Rest ihrer Ausrüstung aus Schnee und Eis zu bergen. Unter den 706
üblichen Nahrungsmitteln, wie gedörrtes Fleisch, gesalzener Speck, Maismehl, Tabak und Branntwein hatte sich die Hälfte eines großen Radkäses und ein ganzes Weizenbrot befunden, beides hart wie Stein. Aber es genügte, das Brot in den Ofen zu schieben und den Käse nah ans Feuer zu legen, um beidem seine ursprünglichen Eigenschaften zurückzugeben. Das Brot war weich, der Käse zart, und sein Duft er freute jeden. Die Kanadier bestanden darauf, diese in Québec leicht erhältlichen, in der Wildnis aber raren Köst lichkeiten unter ihren Gastgebern aufzuteilen. Jemand äußerte den Verdacht, die Krankheit kön ne durch diese Nahrungsmittel vielleicht übertragen werden. Doch der Appetit auf die Raritäten war stär ker. Angélique zögerte. Aber was half ’s? Sie ritzte ein Kreuz in die Brot- und Käsestücke, um die bösen Geister zu verscheuchen, und schickte den beiden bestraften Kindern ihren Teil. Die Tränen würden ihnen danach weniger bitter schmecken.
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Siebzigstes Kapitel
Die Männer des Forts Wapassou hatten die Ankün digung der auf ihnen lastenden Drohung kaltblütig hingenommen. In gar nicht wenigen Fällen enthielt ihr Fatalismus echte christliche Gefühle der Ergebung in den Willen Gottes. Angélique war diese Art von Ergebung fremd. Sie liebte das Leben mit um so ungestümerer Leiden schaft, als sie es erst seit kurzem in seiner ganzen Herrlichkeit zu kennen glaubte. Und sie wollte nicht, daß weder Honorine noch ihre Söhne in der Blüte ihrer Jahre um diese köstliche Frucht gebracht würden. Der Tod von Kindern oder jungen Menschen war ein Verbrechen, für das sie sich verantwortlich fühlen würde. Aber es gab Momente, in denen man bereit sein mußte, sein Leben für sich selbst und die Seinen zu opfern, in denen man von einer Sekunde zur andern auf den Schlag des Beils gefaßt sein und sich ohne nutzlosen Widerstand dem Schicksal ausliefern muß te, das das Schicksal aller war … »So wandert man mit dem Leben und dem Tod als Begleitern. Beide haben ihre Wichtigkeit. Man darf sich vor dem Tod nicht fürchten …« Wer hatte ihr diese Worte gesagt? Colin Paturel, der König der Sklaven von Miquenez, ein Normanne, ein einfacher Seemann, von gleicher Art wie die, die jetzt um sie waren, versammelt auf fremder Erde, 708
Gefangene des Winters. Alle diese Männer waren mehr als einmal dem Tod entwischt. Nicht nur dem der Kämpfe, in die ihr abenteuerlicher Geist sie getrieben hatte, auch dem der Epidemien und Krankheiten. Die meisten hatten wenigstens eine Epidemie, wenn nicht zwei, unversehn überwunden: die Pest im Orient, das gelbe Fieber in den afrikanischen Häfen, die Pocken dazu und immer und überall Skorbut, Brand, Fieber; und andere waren fast an Hunger, Durst oder Folterungen gestorben … Alle diese Katastrophen hatten sie sorglos überlebt, jedesmal mehr von ihrer Unverletzlichkeit überzeugt. Es war wie bei jeder Schlacht. Zog man ein gutes Los, kam man davon. Wenn nicht: Adieu! Es ist soweit. Als Joffrey sich entschloß, einen Teil der Nacht bei dem kranken Loménie zu wachen, bis der Schmied zur Ablösung kam, zitterte Angélique nicht um ihn. Sie spürte, daß die Krankheit gegen ihn machtlos war. Die ruhige Sicherheit des Sieges würde sich letzten Endes als bestes Gegenmittel erweisen. Am achten Tag starb auch der letzte der Huronen, vom Fieber verzehrt, der ganze Körper von roten Flecken übersät, aber noch immer ohne eine Spur von Pusteln. Im Morgengrauen des folgenden Tages kam Angé lique, um Clovis, den Auvergnaten, an Loménies Lager abzulösen, und fand ihn halb bewußtlos, müh sam atmend, mit glühend gerötetem Gesicht und in 709
viel schlechterem Zustand vor als den Kranken, den er bewachte. Sie starrte ihn einen Augenblick an, dann sank sie in die Knie und rief: »Gott sei gelobt!« Der Auvergnate nahm ihr diesen Ausruf lange bit ter übel. Man konnte ihm erzählen, was man wollte. Er ließ nicht ab zu behaupten, daß die Frau Gräfin sich gefreut habe, ihn krank zu sehen! Sie sei ihm nicht einmal beigesprungen. Sie habe »Gott sei ge lobt!« gesagt und ihn kurzerhand sitzenlassen, um schleunigst wieder hinunterzuklettern und aller Welt zu verkünden: »Freut euch! Clovis ist krank!« Er habe es genau und mit eigenen Ohren gehört. Und sie sei dem erstbesten, dem sie begegnete, vor Freude an den Hals gesprungen, in diesem Fall Nicolas Perrot. Niemand vermochte dem Auvergnaten begreif lich zu machen, daß die Frau Gräfin sich nur deshalb gefreut hatte, weil die Tatsache, daß ein einstiger Pockenkranker sich angesteckt hatte, der beste Beweis dafür war, daß es sich bei dieser Erkrankung nicht um die Pocken handeln konnte! … Es war eine Art bösartiger Masern, und viele zogen sie sich zu. Doch war sie weit weniger gefährlich als die schreckliche Geißel. Die Huronen waren allerdings gestorben, aber sie starben, wie die Kanadier bestätigten, aus weit gerin geren Anlässen. Seitdem sie sich den Weißen verbun den hatten, war ihre Lebenskraft geschwunden. Ihre Schutzgeister schienen sie verlassen zu haben, und 710
viele gingen sogar so weit, die Taufe als Ursache ihres Niedergangs und des Aussterbens ihrer Rasse zu be zeichnen. Während mehrerer Wochen nahm die Krankheit alle Kräfte der Bewohner Wapassous in Anspruch. Leidenschaften, Verstimmungen, Pläne mußten fürs erste schweigen. Sie wurden für später beiseite gelegt. Zuerst mußte man heraus aus dem roten Tunnel, in dessen Schatten der Feind, der Tod, lauerte. Ihn mußte man Fuß an Fuß bekämpfen, mußte das Fieber zurückdrängen, mit Schwächemomenten und Rückfällen fertig zu werden suchen, dem Kranken helfen, die Krise zu überwinden, ihn in die Arme nehmen und ihm durch seine Nähe Trost, Kraft und ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln, bis man sicher sein konnte, daß er überleben würde. Angélique legte dann die Hand auf seine Stirn und Schläfen, aus denen sich wie ein abziehendes Gewitter das glühende Pulsieren des Fiebers entfernte, deckte ihn beru higt zu, damit er sich nicht erkälten konnte, und ging zum Lager eines anderen. Der Anblick eines in diesem Kampf triumphie renden Kranken verlieh ihr neue Kräfte, und sie empfand Sympathie und Achtung für ihn, wie sie ein guter Streiter beanspruchen kann. Auch Dankbarkeit. Wieder einer, der nicht nachgegeben, der sie nicht im Stich gelassen hatte mit ihren armseligen, lächerli chen Waffen. »Wehrt Euch! Gebt Euch nicht auf!« sagte sie ihm. 711
»Ich kann nicht alles machen. Ihr müßt mir helfen.« Und danach blieb zwischen ihr und ihnen das verbindende Gefühl einer gemeinsamen Kampfer fahrung. Während einer Krankheit neigen die Männer dazu, sich nachzugeben und ihr freies Spiel zu lassen. Sie ist ein Feind, dem sie leicht erliegen, weil sie ihnen widerlich ist und sie ihr nicht ins Gesicht sehen wol len. Angélique rüttelte sie auf, zwang sie, die Kraft des Gegners abzuschätzen und das Ihre zu tun, um mit ihm fertig zu werden. »Morgen wird’s Euch sehr schlecht gehen«, erklär te sie ihnen. »Ruft mich nicht alle fünf Minuten, denn ich kann mich nicht mit allen zugleich beschäftigen, zumal es ein paar Stunden anhalten dürfte. Ich werde eine Kruke mit Kräutertee und einen Becher neben Euer Lager stellen. Ihr habt nichts weiter zu tun, als zu trinken, aber tut es auch. Wenn man vor jemand steht, der einem ans Leder will, greift man nach sei nem Messer. Man wartet nicht, bis es ein anderer für einen tut …« Es sah so aus, als ob sie sie sich selbst überließe, doch sie spürten ständig ihre Gegenwart. Sie ging vorbei, warf nur einen kurzen Blick herüber, aber ihr Lächeln sagte »Bravo! Ihr enttäuscht mich nicht!« und stärkte sie in ihrer Erschöpfung, ihrem Delirium, ihrem wachsenden Verlangen, sich aufzugeben. Und dann konnte sie sich wieder, wenn es nötig war, an ihr Lager setzen und dort stundenlang geduldig und mit nie nachlassender Zuversicht verweilen. 712
Anfangs hatten sich die drei Frauen in den Nachtwachen abgelöst. Dann übernahm Joffrey häu fig die schlimmsten Stunden im Morgengrauen, aber er stellte fest, daß Angéliques Anwesenheit selbst et was von einem Heilmittel hatte. Er hätte ihr gern die übermenschliche Anstrengung erspart, die Spuren auf ihren Zügen hinterließ und dunkle Ringe um ihre Augen legte. Am stärksten empfand sie den Mangel an Schlaf, und doch schien es ihr, als ob sie, wenn sie eine ganze Nacht hindurch ihre Kranken nicht sähe, sie beim Erwachen am nächsten Morgen tot oder sterbend vorfinden würde. So zwang sie sich, wenig stens einmal des Nachts eine Runde zu machen, von einem zum andern zu gehen, sich über jeden zu nei gen. Sie zog die Decken zurecht, legte die Hand auf ihre heißen Stirnen, half ihnen, ein paar Schlucke zu trinken, murmelte tröstende Worte. In der Benommenheit ihres Zustands vernah men sie ihre Stimme, genossen ihren Wohllaut, sanft wie Balsam, wie eine Zärtlichkeit, einzig für sie bestimmt, und wenn sie sich noch tiefer über sie beugte und mit ihrem Schatten den diffusen Schein des Feuers oder der Laterne verdunkelte, nahmen sie mit ihren abgestumpften und zugleich fiebrig über empfindlichen Sinnen ihren Frauenduft wahr und im Ausschnitt ihrer Korsage den matten Schimmer ihrer vollen Brust, flüchtiges, von aller Sinnlichkeit freies, sehnsüchtiges Genießen einer warmen, müt terlichen Gegenwart, die ihnen wieder die ferne, köstliche, nie vergessene Geborgenheit der Kindheit 713
nahebrachte. Eines Abends schien es Loménie-Chambord, daß er sterben müsse. An seinem inneren Auge glitt sein ganzes vergangenes Leben vorbei. Er befand sich in einer anderen Welt, auf der anderen Seite der Pforte, die aufzustoßen er niemals gewagt hatte, deren Schwelle die Gerechten nie überschreiten. Er gehörte zu den Verdammten. Durch die Öffnung der Falltür drangen Stimmen herauf, Gerüche der Mahlzeit, ein wirrer, gedämpfter Lärm, und diese vertrauten Geräusche erhielten eine Dichte, eine neue Bedeutung, sprachen eine neue Sprache. Er ent deckte in ihnen einen außerordentlichen Reiz, den des Lebens, des Lebens, das er nie gekostet, das er nur mit den Fingerspitzen berührt hatte. Nicht einmal das. Er hatte es nur wie mit Handschuhen berührt. Und jetzt, da er sterben sollte, nahm er es mit seinem ganzen Wesen gleichsam sinnlich wahr, wenn auch unbestimmt und verschwommen. Und er, der sein Dasein in der Erwartung seines Todestages und der endlichen Begegnung mit Gott verbracht hatte, er be dauerte nun, diese irdische, mühselige Welt verlassen zu müssen, und Tränen liefen ihm über die Wangen. Er glaubte zu ersticken. Er fühlte sich einsam. Und so begann er, auf den Besuch Madame de Peyracs zu lauern, die stets wie ein rettender Engel in der Düsternis des Speichers erschien. Als sie kam, hatte sie mit dem ersten Blick seine Angst begriffen und ihn mit ruhigen, ernsten Worten beruhigt: »Ihr fühlt Euch schlecht, weil Ihr einer Krise entgegengeht … 714
Die Heilung wird unmittelbar danach einsetzen … Ihr werdet auch diese bösen Stunden überstehen … Seid zuversichtlich. Wenn Ihr in Gefahr wärt, würde ich es wissen … Ich habe viel Erfahrung mit Kranken und Verwundeten … Ihr seid nicht in Gefahr.« Er hatte ihr geglaubt, und schon atmete er leichter. Sie wickelte ihn in eine Decke, half ihm aufzustehen und führte ihn zu einem Sitz, auf dem sie ihn Platz nehmen ließ, sorglich gegen die Wand gelehnt, damit er nicht fallen konnte. Er spürte noch den Druck ih res festen Arms, der ihn in seiner Schwäche gestützt hatte. »Haltet Euch ruhig. Rührt Euch nicht.« Dann wechselte sie die von Schweiß feuchten Laken, schüttelte den durch das Gewicht des fieb rigen Körpers zerdrückten Strohsack auf, lüftete die Decken, alles mit ruhigen, präzisen, unendlich harmonischen Bewegungen, die zu beobachten er nicht müde wurde. Sie half ihm, sich wieder auszu strecken, und die Frische des Linnens tat ihm wohl. Schließlich setzte sie sich an sein Lager, und während er sich der Benommenheit des Fiebers überließ, legte sie ihre Hand auf seine feuchte Stirn, ihre Hand wie ein Talisman, ein kostbares Geschenk, eine unfehlba re Kraft, die den Trugbildern den Weg verlegte, ihre Hand wie eine Gewißheit, ein Versprechen, ein still brennendes Licht, wie ein Herz, das über ihn wachte … Er schlief ein wie ein Kind und erwachte schwach, aber von Fieber frei und gesund.
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Es gab eine Zeit, gegen Ende Januar, in der sich mehr als die Hälfte der Männer im Bett befand. Auch Joffrey wurde von der Krankheit gepackt, aber er war früher als die andern wieder auf den Beinen. Mehrere Tage hindurch versetzte ihn die Intensität des Fiebers in einen Zustand halber Bewußtlosigkeit. Angélique pflegte ihn und wunderte sich darüber, daß sie sich nicht mehr um ihn sorgte. Selbst in den schlimmsten Stunden ging eine Kraft von ihm aus, die ihr unüberwindlich schien. Der Krankheit gelang es nicht, ihn zu erniedrigen und zum Gegenstand des Mitleids zu machen. Es war schon immer so gewesen. Selbst damals, als er im Büßerhemd, den Strick um den Hals, in der Erbärmlichkeit seines gefolterten Körpers auf dem Vorplatz von Notre-Dame gestanden hatte, war er ihr nicht weniger stark als die andern erschienen. Nicht mit ihm, sondern mit der gehässigen, törichten Menge und dem hysterischen, halb närrischen Mönch an sei ner Seite hätte man Mitleid haben können … Was er besaß, konnte ihm nichts und niemand nehmen. Unter den Geretteten der Dreikönigsnacht war Pater Massérat der einzige, den die rote Krankheit ver schonte, und er erwies sich als unbezahlbarer Helfer für Angélique. Unermüdlich, von nie nachlassender Freundlichkeit, nahm er gutmütig die abstoßendsten Pflichten auf sich und ersparte ihr so die schwersten Strapazen, denn unablässig leblose Männer zu heben, von denen einige, wie Jacques Vignot, der Schmied und die Engländer, zu den athletischsten Exemplaren 716
der Menschheit gehörten, erschöpfte auf die Dauer ihre Kräfte. Der Jesuitenpater dagegen packte mühe los seinen jeweiligen Kunden, drehte die Strohsäcke um, spannte die Laken, und wenn er den Kranken wieder unter den Decken hatte, flößte er ihm mit der Geduld einer Amme löffelweise seine Suppe ein. Wie viele seiner Brüder, hatte er während der Epidemien die Wilden gepflegt und war, manchmal der einzige Gesunde im ganzen Dorf, von einer Hütte zur an dern gepilgert. Er berichtete mit Humor, daß es je desmal ein schlechtes Ende genommen habe, denn die Indianer beschuldigten ihn wie Kinder, daß er sie Hungers sterben lassen wolle, indem er ihnen nur die Brühe gebe und Gemüse und Fleisch für sich behalte, und da er wohl und rundlich aussah, sei es nicht weit zum nächsten Schritt gewesen, ihn für ihr Unglück verantwortlich zu machen. Zeiten der Not seien den Medizinmännern günstig, und diese hatten ihren Schäflein nur allzu rasch begreiflich gemacht, daß die Götter zornig seien, weil sich die Schwarze Kutte als angesehener Gast in ihren Dörfern befinde. Deshalb habe er sich, um dem Tod zu entgehen, schleunigst in die Wälder flüchten müssen, sobald seine Kranken einigermaßen wieder zu Kräften gekommen seien. Der Pater wußte immer eine Geschichte, um seine Patienten zu zerstreuen. Er amüsierte die Kinder und leistete ihnen Gesellschaft, spielte mit ihnen während ihrer Genesung, ohne an den drei Hugenotten Anstoß zu nehmen, die sich in einen Winkel der Kammer verkrochen und sich in Erwartung des Schlimmsten 717
nicht zu rühren wagten. Wenn die Sorge um die Kranken ihm ein wenig Muße ließ, umgürtete er seine kurze, untersetzte Ge stalt mit einer Schürze aus gummiertem Leinen und begab sich in den Keller, um Bier zu brauen, Seife zu fabrizieren oder sich gar energisch der großen Wäsche zu widmen. Als Angélique verwirrt zu protestieren versuchte, setzte er ihr passiven Widerstand reinster jesuitischer Prägung entgegen. Wie sollte man nach solchen Erfahrungen Feinde bleiben? Man saß zusammen im selben Boot, und der peitschende Sturm, der sie während dieser Monate mit seiner grausamen Feindseligkeit um schloß, machte aus all diesen Männern und Frauen Schicksalsgefährten im gemeinsamen Abwehrkampf gegen den Winter. So gingen sie schließlich ohne Leidenschaft oder vorgefaßte Animosität an die Fragen heran, die seit der Dreikönigsnacht unbeantwortet geblieben waren. Kaum von seiner Krankheit genesen, ließ Monsieur de Loménie Peyrac wissen, daß er in der Tat von Monsieur de Frontenac beauftragt worden sei, ihn zu bitten, die Expedition zu finanzieren, die den Verlauf des Mississippi erforschen sollte, von dem man als sicher annahm, daß er ins Chinesische Meer mündete. Der Gouverneur wollte einen Mann seines Vertrauens, Monsieur Robert Cavelier de la Salle, damit betrauen, eben den jungen, kühlen, strengge sichtigen Mann, der sie zum Fort Wapassou begleitet 718
hatte. Diesem waren die Goldbarren, zwischen denen der tote Pont-Briand am ersten Abend gelegen hatte, nicht entgangen. Danach war er krank wie ein Hund gewesen, aber kaum erholt, hatte er Loménie und d’Arreboust gedrängt, die Verhandlungen mit dem Herrn von Wapassou aufzunehmen. »Ihr seid also wirklich so reich, wie man sich er zählt?« fragte der Malteserritter den Grafen. »Ich bin es, und durch die Aufgabe, die zu erfüllen ich hierhergekommen bin, werde ich noch reicher werden.« Florimonds Aufregung wuchs ins Ungemessene, denn die Erforschung des Mississippi und die Entdeckung des Chinesischen Meers war seine ge heime Marotte. Er behauptete, sich schon als kleiner Junge mit solchen Plänen getragen zu haben. Als vor züglicher Kartograph, der er war, geriet er vor den noch leeren Stellen der Pergamente, die er selbst zeichnete und über denen er sich zahllosen Spekulationen und Berechnungen hingab, ins Träumen. Seitdem er von den Absichten Monsieur de la Salles wußte, wich er ihm nicht mehr von den Fersen. Der Forscher war ein nüchterner Mann, der wesentlich jünger aussah, als er war, und in seinem Dasein schon auf vielerlei Gebieten Erfahrungen gesammelt hatte. Von fast jünglingshafter Empfindlichkeit, verlangte er, bald Monsieur de la Salle, bald schlicht Cavelier genannt zu werden, wenn ihm gerade einfiel, daß Kanada eigentlich von einfachen Menschen geschaf fen und erobert werden müßte. 719
Erst kürzlich geadelt, litt er darunter, daß Angélique diese Tatsache in Zweifel ziehen könnte, woran sie keinen Augenblick dachte, und zeigte ihr die vom Kö nig unterzeichnete Bestallung. »Unserem geschätzten und geliebten Robert Cavelier de la Salle für den guten und löblichen Bericht über seine in unserem Interesse durchgeführten Aktionen in Kanada …« Ein auf Sand laufender Windhund unter einem achtzackigen goldenen Stern war das symbolische Wappen des neuen Adligen. Außerdem besaß er ein nicht unbeträchtliches Wissen, außerordentlichen Mut und die Hartnäckigkeit eines Visionärs. Überzeugt, eines Tages der Entdecker der berühmten Passage nach China zu sein, Traum all der Wagemutigen, die sich im vergangenen Jahrhundert westwärts über das Meer der Finsternisse auf den Weg gemacht hatten, erfüllte es ihn mit nagender Ungeduld, sein Ziel noch nicht erreicht zu haben … und nicht schon als gefei erter Held zurückgekehrt zu sein. Florimond verstand ihn. »Ich bin sicher«, sagte er, »daß dieser mächtige Fluß, den die Indianer den Vater des Wassers nennen, uns geradewegs nach China führt, ohne daß wir auch nur einmal die Kanus verlassen müßten. Glaubt Ihr nicht auch, Vater?« Nein, Peyrac glaubte es keineswegs und beantwor tete den Enthusiasmus seines Sohns mit einer zwei felnden Miene, die den Jungen quälte, aber deswegen noch lange nicht entmutigte. Angélique war Florimonds wegen untröstlich. 720
Als bewundernde Mutter und durch seinen jungen haften Eifer gerührt, hätte sie ihm nur zu gern das Chinesische Meer auf einer silbernen Platte darge reicht, aber das Vertrauen, das sie andererseits in das wissenschaftliche Genie ihres Gatten setzte, ließ kei ne Hoffnung zu. Allerdings gestand Joffrey ein, daß seine Zweifel nicht auf präzisen Gegebenheiten beruhten. »In Wahrheit«, sagte Florimond, »ist Euer Skepti zismus nicht durch Berechnungen gestützt.« »Stimmt! Beim gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse wäre es auch schwierig, sie aufzustellen.« »Dann wär’s das beste, hinzugehen und sich zu überzeugen.« »Zweifellos …« »Ich denke, es wäre gut, Florimond diese fanatischen, verrückten und genialen Leute bei ihrer Expedition be gleiten zu lassen«, sagte er eines Abends zu Angélique. »In ständiger Berührung mit ihnen wird er den Wert gegensätzlicher Eigenschaften begreifen lernen: die Fähigkeit zu organisatorischen Maßnahmen zum Beispiel, und daß solide wissenschaftliche Bildung zuweilen Genie ersetzen kann. Andererseits wird er seinen Forschertraum in Gesellschaft von Männern verwirklichen, die sich durch nichts abschrecken lassen und sich niemals so erfinderisch zeigen wie in schwierigen oder gar verzweifelten Situationen. Das ist die den Franzosen eigene Gabe. Florimond läßt in dieser Hinsicht nichts zu wünschen übrig, vorausge 721
setzt, daß er sich in aller Freiheit entwickeln kann, ohne daß die nüchterne, vorsichtige Mentalität der Angelsachsen seinen Unternehmungsgeist vorzeitig erstickt. Im übrigen würde es meine Stellung in Nordame rika festigen, wenn ihr Unternehmen glückt. Wenn sie scheitern, werde ich mich wenigstens darauf be rufen können, daß ich die Expedition finanziert und es Monsieur de Frontenac erspart habe, öffentliche Gelder dafür einzusetzen. Aus simpler Dankbarkeit – und er ist ein ehrlicher Mann, zudem ein Gaskogner – wird er den Mut haben, meine Position an den Grenzen seiner Kolonie zu schützen. Wenn ich dieses Gold auf Nimmerwiedersehen vorschieße, wird es mir zumindest moralische Zinsen tragen, und für unseren ältesten Sohn wird es eine unbezahlbare Schulung sein, ganz abgese hen von den Plänen, Notizen und Auskünften über die Bodenverhältnisse der durchquerten Gegenden, die er mir mitbringen wird. Trotz einer gewissen Kompetenz wäre Cavelier nicht dazu in der Lage. Florimond ist in diesem Punkt weiter als er …«
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Einundsiebzigstes Kapitel
Als Florimond von dem Entschluß seines Vaters er fuhr, fand er in die Spontaneität der Kindheit zurück, indem er sich auf ihn stürzte, ihn umarmte, dann nie derkniete und ihm die Hand küßte. Der Sturm, der während zweier Monate fast ununterbrochen tobte und nur gelegentlich durch reichliche Schneefälle abgelöst wurde, verhinderte jeden Aufbruch zu einem größeren Unternehmen. Mit dem Versprechen von Peyracs Unterstützung ausgerüstet, gedachte Cavelier de la Salle nicht mehr nach Québec zurückzukehren, sondern unmittelbar westwärts über den Champlainsee nach Montréal zu marschieren. Er besaß in der Nähe Ville-Maries eine Herrschaft mit einem bescheidenen Herrensitz, den die Bewohner der Umgebung »China« getauft hatten, so unablässig klangen ihnen die Ohren von den Plänen seines Besitzers. Dort würde er seine Expedition vorbereiten, Handelsware, Waffen und Kanus kau fen. Der Aufbruch war sofort nach Beendigung der Vorbereitungen geplant, zunächst über die großen Seen nach Cataraconi, der ersten Etappe. Peyrac wür de seinem Sohn eine bestimmte Anzahl Goldbarren und einen Kreditbrief für einen gewissen Lemoyne, Kaufmann in Ville-Marie de Montréal, mitgeben, der ihnen den Gegenwert an Ware liefern sollte. »Was?« rief Cavelier aus. »Ihr könnt mir nicht er zählen, daß dieser alte Bandit imstande ist, pures 723
Gold zu münzen.« »Er bringt noch ganz andere Dinge fertig«, sagte der Herzog d’Arreboust. »Glaubt Ihr, er wäre so reich, wenn er nicht mit den Engländern in Orange han delte? Kanadas Papier kann es mit dem Gold dieses Herrn nicht aufnehmen. Seht einmal her!« Er zog ein Goldstück aus seiner Westentasche und warf es auf den Tisch. »Das ist eine gültige Münze, die ein englischer Ge fangener bei sich trug, den Abenakis uns im Herbst in Montréal verkauft haben. Lest, was da rund um das Bildnis Jakobs II. geschrieben steht: König von England, Herzog der Normandie, der Bretagne und … König von Frankreich! Ihr lest ganz richtig: König von Frankreich. Als ob wir ihnen Aquitanien, Marne und Anjou mit Hilfe des heiligen Mädchens Jehane d’Arc nicht schon vor weit mehr als zweihundert Jahren wieder abgenommen hätten …! Aber nein, sie versteifen sich eigensinnig darauf. Sie nennen eine der neuen Provinzen, die sie zu kolonisieren vorgeben, Maine, weil die Königin von England einst Souveränin dieser französischen Provinz gewesen ist. Mit so beleidigendem Gold läßt sich ein Lemoyne bezahlen.« »Ärgert Euch nicht, Herzog«, erwiderte Peyrac lä chelnd. »Solange sich die Engländer ihrer Souveränität über Frankreich nur mit dem Münzstempel ver sichern, ist nichts Ernstliches zu befürchten. Und sucht erst gar nicht zu erfahren, was die großen Biedermänner Kanadas, die Lemoyne oder Le Ber, 724
treiben, wenn sie in die Wälder verschwinden, denn sie sind die Säulen Eurer Kolonie, nicht nur die ersten, die ihren Fuß auf diesen Boden setzten, sondern die Kühnsten, die Stärksten und auch … die Reichsten.« Pater Massérat nahm die kurze Bruyerepfeife, die er gern rauchte, aus dem Mund. »Diese Leute sind sehr fromm und der Kirche ergeben. Man sagt, daß eine Tochter der Le Bers Nonne werden wird.« »Ihre Sünden seien ihnen also vergeben!« rief Peyrac. »Und was die Waren anbelangt, könnt Ihr ih nen vertrauen, Monsieur de la Salle.« Angélique streckte die Hand nach dem Goldstück aus. »Schenkt Ihr’s mir?« Arreboust nickte. »Gern, Madame, wenn ich Euch damit gefällig sein kann … Wozu wollt Ihr es?« »Als Talisman vielleicht.« Sie ließ es auf ihrer Handfläche hüpfen. Es war eine gewöhnliche Münze, vom Gewicht eines Louisdors etwa. Aber für sie bargen die unvollkommene Rundung, die in altem Englisch gehaltene Inschrift einen eigentümlichen Zauber. Vieles war in dieser Münze enthalten: Gold, England, Frankreich, ererb te Feindschaften, die sich bis in die Tiefe der Wälder der ganzen Welt auswirkten, und sie stellte sich die Bestürzung des armen puritanischen Engländers vor, der, seinem Strand von Casoo und seinen Kabeljauen entrissen und von befiederten Indianern verschleppt, sich plötzlich bei den abscheulichen papistischen Pelzhändlern am Sankt Lorenz wiederfand. 725
»Er begriff überhaupt nicht, weshalb wir zornig waren«, erklärte Arreboust weiter. »Wir hielten ihm die bei ihm gefundene Münze unter die Nase … König von Frankreich! ›O yes‹, sagte er. Warum nicht? Er hatte es nie anders auf seinem heimischen Geld gelesen … Übrigens war es Madame Le Ber, die die sen Mann gekauft hat, um einen Diener aus ihm zu machen. Sie hofft, ihn bald zu bekehren.« »Da seht Ihr’s!« sagte Pater Massérat beglückt. In dieser Atmosphäre der Pläne und Erzählungen verliefen die Abende wieder in der Stimmung freundschaftlicher Gemeinsamkeit. Man achtete darauf, daß die Kranken nicht durch lautes Sprechen und Gelächter gestört wurden, und man freute sich, wenn sich ein Rekonvaleszent wieder zu ihrem Kreis gesellte. Angélique nahm Honorine auf die Knie und wiegte sie in Schlaf oder säuberte ein paar Wurzeln, war aber immer ganz Ohr. Man mußte es diesen Kanadiern zugestehen, daß sie es verstanden, ihr Auditorium mitzureißen, an Vergangenheit und Zukunft teilha ben und mit zwei oder drei Anekdötchen eine ganze Welt erstehen zu lassen. An diesem Abend nun plauderten sie über die Lemoynes und Le Bers, bei hartherzigen Pächtern in Dienst stehende arme Handwerker oder Landarbeiter, die, der ewigen Knechtschaft müde, mit den ersten Schiffen herübergekommen waren. Man hatte jedem eine Hacke, eine Sichel und eine Muskete in die Hand 726
gedrückt. Sie heirateten Mädchen des Königs. Sie hatten vier, fünf, zehn, zwölf Kinder. Alle waren sie unerschrocken, kraftvoll und störrisch. Sehr schnell hatten sie Hacke und Sichel aufgegeben und waren trotz der Ermahnungen Monsieur de Maisonneuves zum Pelzhandel mit den Indianern ausgezogen, immer kühner, immer weiter nach Westen. Sie ent deckten die großen Seen, die Wasserfälle, die Quellen unbekannter Flüsse, immer neue Stämme. Auch sie behaupteten, daß es kein Chinesisches Meer gäbe, daß der Kontinent kein Ende nähme, und sie stritten sich mit diesem Narren Cavelier de la Salle über ei nem Schoppen guten Apfelweins. Apfelwein aus den Äpfeln ihrer normannischen Apfelbäume, die dank der endlosen Mühen der Frauen nun auch auf ihren kanadischen Wiesen wuchsen. Sie brachten Vermögen zurück, ganze Berge von prachtvollem, weichem Pelzwerk, über das sie ihre durch die Folterungen der Irokesen verstümmelten Finger gleiten ließen. Jetzt waren ihre Söhne soweit, sie auf den Wasserwegen des Hochlands zu begleiten. Ihre Töch ter schmückten sich mit Spitzen und rauschendem Atlas wie die wohlhabenden Bürgerinnen von Paris. Sie machten der Kirche Geschenke … Dann begann Monsieur de Loménie, sich der ersten Zeiten Montréals zu erinnern, als die Irokesen noch des Nachts in die Gärten eindrangen und sich im Blattwerk des Senfs versteckten, um die Stimmen der Weißen zu hören. Jedem, der sich zu nächtlicher 727
Stunde draußen herumtrieb, drohte sicheres Unheil, denn in Ville-Marie de Montréal gab es weder Wälle noch schützende Palisaden. Dem Stadtgründer schwebte vor, daß die Indianer ohne Schwierigkeiten wie Brüder zu ihnen kommen sollten. Sie ließen es sich nicht zweimal sagen. Und wie oft hatten die in ihre Gebete versunkenen frommen Helferinnen Mademoiselle Bourgoys’ beim Aufblicken nicht un versehens das an die Scheiben gepreßte scheußliche Gesicht eines Irokesen gesehen, der sie unverwandt anstarrte …! Der Pater berichtete von seinen ersten Missions aufgaben, Macollet von seinen ersten Reisen, Cavelier vom Mississippi und der Herzog d’Arreboust von den Anfängen Québecs. Und so nachhaltig war die Überzeugungskraft ih rer Stimmen, begleitet vom Prasseln der Feuer, vom unablässigen Orgeln des Sturms jenseits der Mauern oder vom Grabesschweigen, das in wehenden Vorhän gen fallender Schnee über die Natur breitet, so groß war die Mannigfaltigkeit dieser Erinnerungen, die gleich Bildern vor ihr erstanden, daß Angélique nicht müde wurde, ihnen zu lauschen. »Von zwölf Jesuiten, die ich bei den Irokesen sah, sind zehn als Märtyrer gestorben«, sagte Macollet stolz. »Glaubt mir, die Reihe ist noch nicht zu Ende.« Pater Massérat beschwor die violette Felsküste der georgischen Bucht, widerhallend vom blechernen Klang eines Glöckchens, eine zwischen Wiese und Wald versteckte Mission, hier und da verstreute höl 728
zerne Forts, alle mit dem gleichen Geruch nach Rauch, gesalzenem Fleisch, Pelzwerk und Branntwein. Es war die Kehrseite des Bildes, das Angélique am Hof oder in Paris gesehen hatte. In den Salons be geisterte man sich für die Berichte der Jesuiten und das Heil Kanadas. Man legte Ringe oder Ohrgehänge in die schrecklich verstümmelten Hände eines Märtyrers, der nach unglaublichen Abenteuern zu Schiff aus jener anderen Welt zurückgekehrt war. Viele der großen Damen betätigten sich als Förderinnen frommer Stiftungen in der Ferne. Manche waren so gar nach Amerika gekommen, um selbst Hand anzu legen, so Madame de Guermont, Madame d’Aurole und die berühmte Madame de la Pagerie, die das Ursulinerinnenkloster von Québec begründet hatte. Angélique hatte eine Art, den jeweiligen Erzähler aufmerksam zu betrachten, daß dieser bald nur noch für sie sprach. Es war ihr anzusehen, daß sie all diesen Berichten mit leidenschaftlichem Interesse folgte. Eine völlig fremde Welt tat sich vor ihr auf. Versailles mit seinen armseligen Intrigen, das Königreich mit seinem Elend und seinen Verfolgungen schienen ihr weit entfernt, die Last der Vergangenheit bedrückte sie viel weniger angesichts dieser neuen Lebensformen und der Begeisterung dieser Menschen bei der Eroberung einer neuen Welt. Freiheit! Aus Angéliques Augen erfuhren sie, daß sie »aus erwählt und zu Großem bestimmt« waren, daß sie zu einer anderen Art gehörten, begnadet mit dem Geschenk der Freiheit, ohne es zu ahnen. Und wenn 729
sie sie fragte oder nach der Schilderung einer der tra gikomischen Episoden, von denen jedes Epos wim melte, in Gelächter ausbrach, starrten Arreboust und Loménie sie an, einen schwärmerischen Ausdruck auf ihren strengen Gesichtern. »Ah, wenn man sie in Québec sähe«, dachten sie, »neben diesen mürrischen Frauen, die unablässig über ihr Schicksal jammern … die ganze Stadt läge ihr zu Füßen! Mein Gott, wohin gleiten meine Gedanken ab!« Und plötzlich begegneten sie dem ironischen Blick Pater Massérats. Doch selbst der Jesuit konnte nicht ahnen, daß Angélique, die in ihnen mögliche Feinde wittert, nicht zögerte, ihre Verführungsgabe einzusetzen. Wie wären sie da nicht von vornherein verloren gewesen? Es gibt gewisse Gesten, gewisse Blicke, ein gewis ses Lächeln, die, für andere kaum wahrnehmbar, zu keinerlei Konsequenzen führen, sich aber durch ihre Einverständnis schaffende Unbefangenheit der Freundschaft eines Mannes versichern. Angélique hatte oft genug bewiesen, daß sie in stinktiv diese Kunst beherrschte. Peyrac bemerkte es, doch er sagte nichts. Angéliques Geschicklichkeit, ihre feminine List und alles andere, was sie so völlig weiblich machte, entzückten ihn wie die Betrachtung eines Kunstwerks, einer tota len Vollkommenheit. Und zuweilen amüsierte es ihn sogar, denn es entging ihm nicht, daß sich die Niederlage der französischen Edelleute und selbst 730
des Jesuiten, der sich für so stark hielt, mit jedem Tag deutlicher abzeichnete. Manchmal jedoch knirschte er mit den Zähnen. Das Spiel schien ihm gefährlich, und er war sen sibel genug, herauszuspüren, daß Loménie seiner Frau wirkliche Sympathie einflößte. Zwischen den beiden konnte sich eines Tages ein wenig mehr als Freundschaft entwickeln. Aber er ließ ihr freie Hand in dem Bewußtsein, daß selbst der verliebteste Gatte in Angéliques Haltung keinen Anlaß zu eifersüchti gen Verstimmungen hätte finden können und daß zudem der Versuch, eine so warmherzige, spontane und verführerische Natur einzuengen, unnütz und geradezu verbrecherisch gewesen wäre. Sie hatte über Versailles, über Fürsten geherrscht, und sie hatte sich den zwingenden und unwiderstehlichen Charme de rer bewahrt, die dazu geschaffen sind, über den ande ren zu stehen, denn die Gabe der Verführung verleiht auch eine Art königlicher Macht.
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Zweiundsiebzigstes Kapitel
Schon in den ersten Tagen hatte Angélique als Gast geberin, die ihre Pflichten kennt, Pater Massérat ei nen Verschlag gezeigt, in dem er seine tägliche Messe lesen konnte. Der Jesuit hatte sich bedankt, obwohl, wie er ihr erklärte, die Ordensregel des heiligen Ignatius die Angehörigen der Gesellschaft von der Verpflichtung entbinde, jeden Tag das Meßopfer zu zelebrieren. Sie konnten sich auf zwei wöchentliche Gebetsstunden beschränken, selbst ohne Hinzuziehung anderer. Das einzige, was sie nicht verweigern durften, war die Letzte Ölung im Falle der Todesgefahr eines Nächsten. Was ihre eigenen Pflichten gegen Gott betraf, muß te die Kommunion der Messe durch die Kommunion durch den Geist ersetzt werden. Soldaten der Vorhut der Armee Christi, besaßen sie die Freiheit derer, die die Wege bahnen, die Freiheit, ihre Handlungen selbst zu bestimmen, und strenge Regeln durften sie in ihren Bewegungen nicht behindern. Nichtsdestoweniger zeigte er sich glücklich, in Wapassou das Meßopfer zelebrieren zu können, Quelle der Tröstung für den in der Vereinsamung lebenden Missionar. Er hatte seine Reisekapelle bei sich, einen mit schwarzem Leder bezogenen bescheidenen Holzkoffer, der einen Kelch, einen Hostienteller, Meßkännchen, einen sil bernen Hostienbehälter, verschiedenes Leinenzeug, 732
ein Meßbuch und ein Evangelium enthielt, das Ganze ein Geschenk der wohltätigen Herzogin d’Aiguillon. Nur eins erfreute den Jesuiten nicht: daß er bei seinem Gottesdienst Zuhörer hatte. Im tätigen Leben der kleinen Gemeinschaft erwies er sich als überaus gefällig, aber er hatte nicht viel Sinn für den liturgi schen Dienst an der Gemeinde. Er war der Indianer wegen nach Amerika gekommen. Die Weißen inter essierten ihn nicht. Als hochgebildeten Menschen und von der in je der seiner Meditationen neu und tiefer entdeckten Herrlichkeit Gottes faszinierten Theologen reizte ihn zudem die aufdringliche Frömmigkeit der Einfachen und Unwissenden, die es wagten, das Wort an ihren Schöpfer zu richten. Fast bedauerte er, daß Gott selbst ihnen das Recht dazu verliehen hatte. Wie viele seiner Brüder zog er die Einsamkeit vor, das Zwiegespräch mit dem göttlichen Mysterium. Er runzelte die Stirn, wenn er auf seinen Spuren dunkle Gestalten lautlos in den dürftigen Lichtschein der zu beiden Seiten des improvisierten Altars aufgestellten Kerzen treten sah: den einen oder anderen der spanischen Soldaten, den jungen Bretonen Yann Le Couénnec oder gar Perrot, der seine breite Schulter gegen den Türrahmen lehnte, die Arme über der Brust verschränkt, und an dachtsvoll den struppigen Schädel neigte. Man durfte nicht vergessen, daß der heilige Ignatius Spanier gewesen war! … Pater Massérat mahnte sich zur Geduld gegenüber den Landsleuten des Begründers seines Ordens. Dann assistierte ihm der 733
junge Bretone mit Frömmigkeit bei der Messe, und er teilte an die im Halbdunkel Zusammengedrängten das Brot des Lebens aus, die kleine weiße Hostie. Sie gingen zu diesem versteckten Winkel des Hauses, zu diesem von Schatten erfüllten Dämmer licht, in dem sich die rituellen Gesten undeutlich ab zeichneten und Kelch und Hostienteller leise anein anderklirrten, wie zu einer Quelle, deren Murmeln man im Wald vernimmt. Pater Massérat dachte daran, daß es ein paar Schritte weiter Ketzer gab, die kein Kruzifix sehen konnten, ohne in Krämpfe zu verfallen, und die sich zur selben Zeit ihren sträflichen Gebeten hingaben. In der Küche begannen die Frauen, Holz zu zerklei nern und Feuer zu schlagen. Man hörte das Prasseln der Flammen, die Geräusche, die beim Einfüllen des Wassers und Aufhängen der Kessel entstanden. Aus dem Saal war das laute Gähnen erwachender Männer zu vernehmen. Zuweilen auch eine Kinderstimme, hell und dünn wie eine blecherne Schelle, schrill an steigend, bis sie auf dem höchsten Ton unversehens abbrach, vermutlich weil jemand mahnend »Pst!« gesagt hatte. Und näher, in der Werkstatt, die polternden Geräusche der Werkzeuge, das Fauchen eines Blase balgs, den man in Tätigkeit setzte, und das Gemurmel ernster, bedächtiger Stimmen, die auch dort Frage und Antwort irgendeines Ritus in sibyllinischen Worten wechselten. Ein riesiger, freundlicher und einschüchternder 734
Neger, so gelehrt, daß es einen immer von neuem verwirrte, ein Mestize mit dem Kopf eines Fanatikers, ein Mann vom Mittelmeer, der ihm ähnelte und die Tiefen des Meeres kannte, ein bleicher Stummer, ein brutaler Auvergnate, junge Männer, schön wie Erzengel … Man hörte das Sieben von Erde und Gesteins brocken, nahm die Gerüche von Glut, Eisen und Schwefel wahr. Pater Massérat sagte sich, daß er einen sehr in teressanten Bericht zu machen hatte, sobald er nach Québec zurückkehren würde.
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Dreiundsiebzigstes Kapitel
Angélique unternahm es, die Waffen zu reinigen, sie zu prüfen, sich ihres Funktionierens zu versichern und sie in all ihrem Glanz erstrahlen zu lassen. Es war eine Aufgabe, deren sie sich mit so viel Sorgfalt, Gründlichkeit und eines ergrauten Veteranen würdi ger Sachkenntnis entledigte, daß selbst der auf seine vertraute Waffe eifersüchtigste Waldläufer sie ihr ohne Besorgnis anvertraute. Man hatte sich daran ge wöhnt, sie wie einen berufsmäßigen Büchsenmacher um eine »Durchsicht« zu bitten, und selbst Clovis vertraute ihr seine alte Wilddiebsspindelarmbrust an, von der er sich sonst nie trennte. Die Herren d’Arreboust, de Loménie, de la Salle und Pater Massérat entdeckten sie eines schönen Morgens inmitten eines ganzen Arsenals, so völlig absorbiert, daß sie sie sogar zu begrüßen vergaß. Neugierig betrachteten sie die zarten, ziemlich klei nen Frauenhände, die auf einem schweren Kolben la gen oder mit gestrecktem Finger der Linie eines Laufs folgten, dieses über eine nach Pulver, kaltem Fett und verbranntem Metall stinkende Zündpfanne geneigte Profil, dessen Ausdruck die gleiche Hingabe wie die einer Mutter für ihr Neugeborenes zeigte. Angélique bedauerte, daß Honorine diesmal nicht bei ihr war wie sonst immer bei solchen Gelegenheiten, aber die Kleine war noch krank. Das Fieber begann sie eben zu verlassen. Gewöhnlich kam sie angelaufen 736
und setzte sich neben ihre Mutter. Ihre kleinen Finger bewegten sich mit der gleichen Geschicklichkeit wie die ihren und waren im Umgang mit Waffen vertraut. Schließlich war sie zwischen Waffen aufgewachsen. Auf Angéliques Tisch lagen alle möglichen Häk chen, Ahlen, Feilen, gab es Wachs und verfeinertes Öl, das sie selbst filtrierte, Werkzeug samt Zubehör, mit dem nur sie umgehen konnte. Die Herren aus Québec sahen ihr zu, während sie kratzte, schabte, polierte, prüfte, die Stirn runzelte und vor sich hin murmelte. Sie begriffen nicht. Endlich hob sie den Kopf, bemerkte sie und lächelte ihnen zerstreut zu. »Guten Morgen. Habt Ihr gefrühstückt? Wie fühlt Ihr Euch? Habt Ihr je eine so schöne Waffe gese hen wie dieses Gewehr aus Sachsen, Monsieur de Loménie?« Florimond trat ein, grüßte die Anwesenden und sagte: »Meine Mutter ist der beste Schütze aller Kolonien Amerikas. Soll sie’s Euch beweisen?« Nach mehreren Sturmtagen hatte das Wetter aufgeklart, und die kleine Gruppe begab sich zum Schießplatz nahe der Steilküste. Florimond trug zwei Musketen mit Steinschlössern, eine mit einem Luntenschloß und zwei Pistolen. Er wollte, daß seine Mutter alle ihre Talente zeigte, und da sie die Waffen zu überprüfen wünschte, erfüllte sie ihm bereitwillig seine Bitte. Sie hatte das Gewicht jeder Muskete im Gefühl, wußte, wie sie sie gegen die Schulter pressen mußte, erriet im voraus die Gewalt des Rückstoßes. 737
»Die da kann eine Frau nicht heben«, erklärte Monsieur d’Arreboust, als er sah, daß sie sich der sächsischen Muskete bemächtigte. Sie hob sie trotzdem scheinbar mühelos, zielte mit geneigtem Kopf, den rechten Fuß vorgestellt, und sagte dann, daß die Waffe in der Tat schwer sei und sie sie daher auf die zu Übungszwecken errichtete Brustwehr stützen werde. Sie kniete halb nieder, in einer Haltung, die die Konzentriertheit ihres gan zen Körpers verriet. Nichts von nervöser Anspan nung, eher eine tiefe Ruhe, die, ähnlich dem Schlaf, den Schlag des Herzens verlangsamt und den Atem lautlos macht. Und im scharfen Winterlicht, im sprühenden Glitzern des Frostes um sie her schien sich ihre von der Kälte gerötete Wange, über die der Wimpernschatten eines halbgeschlossenen Lides fiel, wie in einer Geste der Hingabe zu neigen. Der Schuß dröhnte. Weißer Rauch schlängelte sich von der Laufmün dung auf. Die hundert Schritt weiter in den Schnee gesteckte Feder war verschwunden. »He? Was sagt Ihr dazu?« rief Florimond. Verblüfft drückten sie ihre Bewunderung aus. »Das hättet Ihr nicht erwartet!« triumphierte der junge Mann. Angélique lachte nur. Sie liebte das Gefühl der Macht, das sie durch die ins Weite wirkende Kraft der fügsamen Waffe empfand. Es war etwas, was ihr verliehen worden zu sein schien. Eine Gabe! Vielleicht wäre sie sich nie dessen bewußt geworden, wenn die Umstände ihr nicht Waffen in 738
die Hände gezwungen hätten. Während ihrer Ritte durch die Wälder von Nieul hatte sie ihre angeborene Neigung für diese grausamen Gegenstände aus Stahl und Holz entdeckt. Sie vergaß, daß sie dazu bestimmt waren zu töten, daß sie töteten. Sie vergaß Leben und Tod, die sich am Ende der Bahn ihrer Geschosse befanden. Und obwohl es seltsam schien, dachte sie zuweilen, daß sie ohne die Aufmerksamkeit, mit der sie sich dieser Kunst gewidmet hatte, ohne die Ruhe und Konzentration, die sie von ihr forderte, und ohne die Beharrlichkeit, mit der sie danach gestrebt hatte, ein guter Schütze zu werden, in all ihrem Unglück in Gefahr gewesen wäre, wahnsinnig zu werden. Die Waffen hatten sie gegen alles verteidigt. Die Waffen sind heilige und gute Dinge. In einer Welt ohne Glauben und Gewissen können sich die Schwachen nur mit Waffen helfen. Sie liebte sie. Sie plauderte noch ein wenig mit den Herren darüber und fragte sich, welche Gefühle sie bewe gen mochten und dem schönen Gesicht LoménieChambords einen fast schmerzlichen Ausdruck verliehen. Endlich verließ sie sie, begleitet von ihrem Sohn, der die Gewehre trug. Loménie und Arreboust sahen ihr schweigend nach. Pater Massérat wandte die Augen ab und zog sein Gebetbuch aus seiner Soutane. Cavelier fixier te sie alle drei, während er seine vor Kälte erstarrten Hände rieb, die durch Handschuhe zu schützen er vergessen hatte. Er ließ ein kleines, spöttisches Gelächter hören. 739
»Nun, eins ist jedenfalls sicher. Diese Frau schießt wie eine Hexe … Vielleicht wie eine Dämonin.« Er schob die Hände in die Taschen seiner Joppe und entfernte sich mit affektierter, hochmütiger Gleichgültigkeit. Er war nicht weit davon entfernt, sich an der Verwir rung dieser erbaulichen Persönlichkeiten zu erfreuen. Besser als jeder andere konnte er ermessen, welchen theologischen und mystischen Zweifelsqualen er sie auslieferte. Gewissensfragen waren ihm vertraut. Er war selbst zehn Jahre Jesuit gewesen. »Nun ja«, erklärte Monsieur d’Arreboust, »das wär’s, warum wir hergekommen sind. Dämonin oder nicht Dämonin? Gefährlicher Geist oder das Gegenteil? Diese Frage zu beantworten ist unsere Aufgabe. Den Grafen de Peyrac zu bitten, die Expedition zum Mississippi zu unterstützen, war nur ein Vorwand! … Wir kennen Eure Ansicht darüber, Loménie. Es geht darum, sie durch andere Meinungen zu erhärten. Ich bin ausgewählt worden, außerdem Pater Massérat. Um die Wahrheit zu sagen, mein lieber Loménie, war ich überzeugt, daß Ihr Euch hättet in die Irre führen und überlisten lassen. Und nun … ja, was sollen wir tun?« Der Herzog räusperte sich. Sein Blick glitt zum trügerisch sanften flachsblütenblauen Himmel hin auf, zu den halb im Schnee versunkenen hölzernen Wänden des Forts, zu den steilen Hängen der Küste, über die weiße Weite des Sees. 740
Da Pater Massérat ihm nicht zuzuhören schien, wandte er sich nur an den Malteserritter. »Zu diesem Punkt mußten wir ja kommen. Wir sind hier erschienen, wir haben gesehen … Wir ha ben gesehen«, wiederholte er gedämpft, als spräche er mit sich selbst. »Was denkt Pater Massérat von der Gesellschaft Jesu darüber? … Pater Massérat tut so, als verstände er nicht. Und wißt Ihr, warum, mein lie ber Chevalier? … Weil der Fall über seinen Horizont geht! Ja, er hat sich schon seine Meinung zurecht gelegt. Während wir uns von einem trügerischen Wohlbefinden einlullen ließen, hat er schon seine Bilanz gezogen. Er hat aufgehört, sich die Frage zu stellen, die uns alle heute rasend macht und die uns närrisch vorkommen will: Wer ist sie? … Wer ist sie? Dämonin? Verführerin? Zauberin? Eine Harmlose? Eine Feindin? … Er ist ganz ruhig. Seine dialektische Kunst hat ihm wenigstens zu einem gedient: schwarz auf weiß zu erkennen, daß der Fall seinen Horizont übersteigt und daß er auf keinen Fall – Gott bewahre, auf gar keinen Fall die Unklugheit begehen darf, sich in all das einzumischen. Deshalb vertieft er sich in sein Brevier! … Verratet mir, Pater Massérat, ob ich mich in einem Irrtum befinde, wenn ich mich so aus drücke.« Die Stimme Monsieur d’Arrebousts, die sich nach und nach immer bissiger erhoben hatte, schwang noch einige Sekundenbruchteile in der kristallini schen Luft, bevor ihr ironischer Nachklang verhallte. Der Jesuit löste den Blick von den Zeilen, richtete ihn 741
erstaunt auf seine beiden Freunde und deutete ein lie benswürdiges Lächeln an. Man würde nie erfahren, ob Arrebousts Ausfall zu treffend war oder ob Pater Massérat in seiner Attacke nur einen harmlosen Scherz sah oder vielleicht wirk lich nichts gehört hatte, denn er war von träumeri scher Natur. Er vertiefte sich wieder in sein Gebetbuch und ent fernte sich mit ruhigem Schritt, indem er stumm die Lippen bewegte. Der Herzog hob die Arme in einer Geste der Ohnmacht gen Himmel. »Da haben wir die Jesuiten«, sagte er. »Im Vergleich zu ihnen war Pontius Pilatus ein braver Chorknabe.« »Dabei käme es gerade Pater Massérat zu, diese Frage anzuschneiden«, bemerkte Loménie. »Gewiß, ich bin ebenfalls Ordensmann, aber ich verfüge weder über die Eigenschaften noch die Schulung, die man von Jesuiten fordert. Und wenn man sie fordert, dann eben zu dem Zweck, im Lichte des Heiligen Geistes Situationen zu beurteilen, die die Erkenntnismöglichkeiten des schlichten Laien über steigen. Schließlich ist Pater Massérat deswegen hier hergekommen.« »Er wird nichts sagen, und Ihr wißt das recht gut«, meinte der andere skeptisch. »Er hat schon einen gu ten Grund gefunden, um das Recht des Schweigens für sich in Anspruch zu nehmen. Er wird ihn wie alles andere für sich behalten.« »Ist das nicht gerade ein Beweis dafür, daß wir 742
von diesen Leuten nichts zu fürchten haben? Wenn Pater Massérat glaubte, daß sie verdächtig wären, daß sie eine Gefahr für die Seelen der Kolonie und die Sicherheit der Missionen darstellten, würde er spre chen und sich den Vereinbarungen widersetzen, die wir schließen wollen.« »Vielleicht habt Ihr recht. Vielleicht fürchtet er aber auch, sich gegen uns nicht durchsetzen zu können, die er schon dem Einfluß unserer Gastgeberin erlegen glaubt. Vielleicht wartet er, bis wir wieder in Québec sind, um das Feuerschiff in die Luft gehen zu lassen, das wir gutgläubig in den Hafen gelotst haben, um zu erklären, daß diese Geschichte nach Schwefel und Verdammnis riecht und diese Verbrecher bis zum letz ten Mann ausgerottet werden müssen, wenn die ka tholische Sache in Kanada nicht Schaden nehmen soll. Dann wären wir wahrhaft lächerlich, wenn nicht gar schuldig. Die Jesuiten würden sich als Retter aufspie len: Pater d’Orgeval, der Erzengel Sankt Michael …« »Woran kann man wirklich erkennen, ob eine Frau, die sich nicht gerade verrückt aufführt, eine Hexe oder Dämonin ist?« fragte Loménie bekümmert. »Sie ist sehr schön, und zwar von einer Schönheit, die schon deshalb verdächtig wirken könnte, weil sie un gewöhnlich ist. Aber ist Schönheit je gewöhnlich?« »Hexen weinen nicht«, versicherte Monsieur d’Ar reboust. »Habt Ihr sie jemals weinen sehen?« »Nein«, erwiderte der Malteserritter, wider Willen durch das heraufbeschworene Bild bewegt, »doch die Gelegenheit könnte mir natürlich entgangen sein.« 743
»Man sagt auch, daß Hexen an der Oberfläche blei ben, wenn man sie ins Wasser wirft. Aber es dürfte uns einigermaßen schwerfallen, Madame de Peyrac auf solche Weise auf die Probe zu stellen.« Er sah mit einem beunruhigenden Lächeln um sich. »Das Wasser fehlt. Alles ist gefroren«, murmelte er. Loménie starrte ihn verdutzt an. Er hatte noch nie Anzeichen eines so schwarzen Humors bei ihm be merkt. Monsieur d’Arreboust bat, ihn zu entschuldigen. Die Härte des Klimas und die Sorgen nähmen ihn mit. Er wolle vom schönen Wetter profitieren, um sich ein wenig an der frischen Luft zu ergehen. Loménie erklärte, daß er sich zurückziehen werde, um zu beten und Gott um Erleuchtung anzuflehen. Der Herzog entfernte sich in Richtung des Sees. Er schritt vorsichtig aus, denn der Hof bot dem Spaziergänger nur ein Netz vereister, mit Schaufel und Hacke ausgehobener Gräben, ebenso kompli ziert ineinander verflochten wie die Windungen eines Maulwurfsbaus, die entweder zum gefrorenen Brunnen, zu Macollets Wigwam, zur Werkstatt, zum Stall, zum Schieß- und Spielplatz oder nirgendwohin, das heißt zum unzugänglichen Walde, führten. Nach mehrfachem Straucheln glückte es dem Ersten Syndikus der Stadt Québec, zum Seeufer zu gelangen. Wenn der Schnee hart genug war, konnte man an ihm entlangwandern. Ein schmaler Pfad war ausgetreten worden, und bei schönem Wetter konnte 744
man Gestalten sich in der Sonne langsamen Schritts auf ihm ergehen und wieder umkehren sehen, sobald sie auf die verschlossenen Pforten der Schneewehen am anderen Ende gestoßen waren. Als der Herzog das äußerste Ende des Sees erreicht hatte, verharr te er nachdenklich angesichts des Ortes, wo er um ein Haar den Tod gefunden hatte. Er erinnerte sich der resignierenden Schwäche, die er empfand, als er sich, am Ende seiner Kräfte, in den Schnee hatte sinken lassen, der Kälte und der Nacht, die gleich ei ner Steinplatte schwer auf seiner Brust lasteten, und an den einzigen Gedanken dieser Minuten: daß es schnell vorüber sein möge! Die letzte Empfindung war etwas wie ein Brennen auf den Wangen gewe sen, als er sich klar darüber wurde, daß Schnee auf sein Gesicht fiel und daß seine schon zu einer eisigen Maske erstarrten Züge nie mehr in einer lebendigen Regung erbeben würden. Er konnte sich die tödliche Betäubung, der sie zum Opfer gefallen waren, ebensowenig erklären wie ihre Rettung, ihre Auferstehung. All das blieb Geheimnis des Ortes selbst, eines verbotenen, verfluchten Orts. Und Peyrac hatte die Kühnheit besessen, sich dort niederzulassen. Wenn man sich Wapassou näherte, betrat man einen Bereich voller unbekannter, tückisch-subtiler Fallen. Er konnte nichts erklären und war doch zu diesem Zweck hergeschickt worden. Zumindest hatte er die Pflicht, sich umzusehen. Er erinnerte sich, daß ihm der Enthusiasmus, 745
mit dem der Graf de Loménie von den Leuten von Katarunk gesprochen hatte, höchst ungewöhn lich und kaum im Einklang mit dessen maßvollem Charakter erschienen war. Loménie sprach mit gro ßer Achtung von diesen Abenteurern, die er hatte ver nichten oder doch wenigstens vertreiben sollen und deren Freundschaft erobert zu haben er sich beglück wünschte. Er hatte sich über die Nachricht gefreut, daß sie am Leben waren, obwohl sonst jedermann in ihrer Vernichtung durch die Irokesen eine aus gezeichnete Lösung sah, und wenn er von Madame de Peyrac auch nicht in den gleichen überspannten Tönen sprach wie der Leutnant de Pont-Briand, hat te man doch mehrfach feststellen können, daß er in seiner Gegenwart kein beleidigendes Wort über sie zuließ. Frontenac hatte sich bereitwillig auf die Seite des Malteserritters geschlagen, aber Frontenac war ein Hitzkopf. Er liebte das Ungewöhnliche und das schöne Geschlecht, verabscheute die Jesuiten, und seine Ernennung zum Gouverneur Kanadas war eher der Beweis einer Ungnade als eine Ehrung gewesen. Ludwig XIV. verzieh ihm nicht, daß er die Unvorsichtigkeit begangen hatte, Madame de Montespan den Hof zu machen. Bei der Verwaltung des Landes hatte er sich je doch als guter Politiker erwiesen. Er war Peyrac, den man ihm als Feind Neufrankreichs bezeichnete, auf Anhieb mit Vertrauen entgegengekommen, weil er gleich ihm einen gaskognischen Namen trug und 746
im übrigen Erkundigungen über ihn eingezogen hatte. Der Graf de Peyrac galt als reich. Die Idee kam ihm, ein greifbares Pfand seiner freundschaftlichen Gefühle für die Kolonie von ihm zu fordern, und er hatte Loménie und den ehrgeizigen Cavelier zu ihm geschickt … Er selbst und Pater Massérat waren ihnen mit dem speziellen Auftrag des Bischofs beigeordnet wor den, Loménie heimlich zu überwachen, nach dem Wahrheitsgehalt des auf den Eindringlingen lasten den Verdachts zu forschen und sich vor allem eine Meinung über die dämonischen Eigenschaften der Frau zu bilden, die sie begleitete und von der man seit kurzem so viel sprach. Und nun waren sie da, in diesem Räubernest Wapassou, und nichts war so gekommen, wie man erwartet hatte. »Hexerei! Hexerei!« pfiff der leichte Wind, der trotz der relativen Milde des Tages wie eine scharfe Klinge in die Haut schnitt. Er, François d’Arreboust, ein gesetzter, frommer Mann von gesittetem, bescheidenem Lebenswandel, war aus seinem Todesschlaf erwacht und hatte auf eine ganz neue Art zu leben begonnen, ohne sich über jeden Schritt Rechenschaft abzulegen, was ihm in seinem ganzen Dasein bisher kaum widerfahren war. Er hatte seelenruhig gegessen, getrunken, ge raucht, man hatte geplaudert, hatte Erinnerungen und Träume ausgetauscht, und er war aufgeblüht 747
im Leuchten eines grünen Blicks, der die Umwelt verwandelte. – »Habt Ihr denn keine Angst gehabt, Monsieur d’Arreboust, als die Wilden Euch skalpie ren wollten? Habt Ihr nicht das Gefühl gehabt, daß nun alles zu Ende sei?« »Nein«, sagte er, sich straffend. »Wenn man sich an schickt, vor Gott zu treten, scheint alles einfach.« Er hatte bis zu diesem Tage nie gewußt, daß er ein heroischer Mensch war. Ebensowenig wie die ande ren. Er war ein bescheidener Mann. Aber es tat ihm wohl zu entdecken, daß er eine unerschrockene Seele und ein tapferes Herz besaß und daß er die Bewunderung einer Frau verdiente. Er hatte vergessen, völlig vergessen, daß sie es war, die man in Québec verdächtigte, die Dämonin Akadiens zu sein, sie, dieselbe Frau, mit der er so un beschwert und heiter plauderte. Bis zu diesem Morgen! … Als er ihrer inmitten all dieser Waffen ansichtig ge worden war, hatte er einen Schock verspürt. Vermögen Waffen die Vorstellung der Gefahr zu wecken? Die durch den unerwarteten Anblick die ser mit Waffen hantierenden, Waffen mit beunru higender Geschicklichkeit handhabenden schönen Frau ausgelöste Furcht verband sich mit all den im Herzen des Mannes heimlich wuchernden Ängsten: der Angst vor dem Weib, vor der Verführerin, der Zauberin … Er hatte sich der im Flüsterton kursie renden Gerüchte erinnert, der Meinung des Paters 748
d’Orgeval. Loménie-Chambord hatte den gleichen Schock empfunden, dessen war er sicher. Vielleicht auch Pater Massérat. Aber bei ihm konnte man allen falls vermuten … Monsieur d’Arreboust erschauerte, während er sich das Ende des Kragens seines Mantels über den Mund zog. »Das also ist uns ohne unser Wissen geschehen«, sagte er sich. »Es ist geschehen, ich spür’s. Ich fühle mich nicht wohl, und das Gebet flieht mich. Seit einer Stunde kann ich’s nicht verhindern, an sie zu denken, an Frauen zu denken, an die Liebe … an meine Frau!« Er sah seine Frau, sah sie, die so Vollkommene, Schamhafte, in anstößigen, unzüchtigen Stellungen, die einzunehmen ihr nie eingefallen war, selbst nicht in den ersten Zeiten ihrer Ehe, als er sie noch aus Achtung und Pflichtgefühl in aller Hast beehrt hat te, stets bedrückt ob der Befriedigungen, die er in diesem beschämenden Akt fand. Auch die lüsterne Bemerkung eines seiner Freunde fiel ihm ein, eines leichtfertigen Burschen, der ihm bei einem Ball zu geflüstert hatte, Madame d’Arreboust, seine Frau, habe charmante, kleine Brüste. Er könne sich mit ihr unmöglich langweilen. Er liebte solche Bemerkungen ganz und gar nicht. Liebe und Ehe lenkten ihn von seiner Berufung zur Frömmigkeit ab. Wenn die Studien der Gesellschaft Jesu nicht so schwierig und langwierig gewesen wä ren, hätte er diesen Weg gewählt. Nach dem Verzicht auf das geistliche Leben hatte er geheiratet, um seinen 749
Eltern gefällig zu sein. Als sie jedoch starben, entfiel auch endgültig die Notwendigkeit, ihnen in Gestalt eines Enkels einen Erben zu liefern. Warum auch die leere Eitelkeit, einen Namen verewigen zu wollen? Viel besser war es, sein Vermögen Gott zu weihen. Nun, es traf sich, daß seine Frau seine Anschauungen teilte. Auch sie hatte Nonne werden wollen; sie ver standen sich also sehr gut. Beide träumten sie davon, sich Gott in einem großen und schwierigen Werk zu weihen. Kanada hatte ihrer Erwartung und ihren Vorstellungen von Aufopferung entsprochen … Monsieur d’Arreboust stieß einen Seufzer aus. Endlich begannen die schuldhaften Visionen zu schwinden. Es gelang ihm, sich seine Frau in anderer Gestalt als der einer unzüchtigen Kurtisane vorzustel len. Er sah sie vor sich, wie sie ihm am vertrautesten war, betend im Dämmerlicht einer Kapelle oder ei nes Andachtsraums, mit gebeugtem Haupt, ein ganz klein wenig seitwärts geneigt wie heute morgen das Antlitz Madame de Peyracs über dem Kolben der Muskete. Diese winzige Geste hatte ihn immer be rührt, und ohne es zu wissen, verband er sie mit dem hingebenden Neigen eines Frauenkopfes gegen eine männliche Schulter. Sie stimmte ihn zärtlich. Madame d’Arreboust war sehr klein und reichte ihm kaum bis zur Schulter. In den ersten Tagen nach ihrer Hochzeit hatte er sie, um eheliche Vertrautheit be müht, »Kleine« genannt und sehr bald festgestellt, daß es ihr mißfiel. In der Tat war sie ihrer Mentalität nach 750
alles andere als eine »kleine« und zerbrechliche Frau. Sie war kühn, aktiv, bewundernswert gesund und mit einer Art Unerbittlichkeit ausgestattet, die sich im Lauf der Jahre noch verstärkt hatte. Wie schade! Sie hätte eine charmante und heite re Frau sein können, aber ihre Gedanken kreisten stets nur um Vollkommenheit. Sie verleugnete ih ren Körper, bestand nur aus Gehirn und mystischen Verzückungen. »Dieses Bedauern, dieses Sehnen, diese Unsicher heit empfinde ich dieser Frau vom Silbersee wegen. Eines glücklichen Frauenlachens wegen, eines Blickes wegen, mit dem sie einen Mann betrachtet, einen ein zigen, der Bewegung wegen, mit der dieser Mann den Arm um sie legt, und der Tür wegen, die sich abends hinter den beiden schließt … Der Zugehörigkeit die ser Frau zu diesem Manne wegen, den sie liebt, muß ich leiden. Denn meine Frau gehört mir nicht mehr. Ich bin kaum mehr für sie als ihr Beichtvater, Pater d’Orgeval. Im Grunde nicht mehr als ein Verwalter, der sich der Zahlen und Geschäfte annimmt. Wenn wir uns einmal im Jahr nach der Ankunft der ersten Schiffe sehen, die die Post aus Frankreich bringen, sprechen wir über den Stand unseres Vermögens und die frommen Werke, denen wir die eingegangenen Pachtgelder zuführen werden. Meine Frau schuldet mir nichts, nicht einmal ein wenig Fürsorglichkeit. Sie schuldet sich nur Gott. Sie ist eine heilige Seele. Sie baut die Gemeinschaft 751
Montréals auf … Sie hat kleine, charmante Brüste … Sie sind noch sehr schön … Mein Gott, warum muß ich nur daran denken? Was habe ich an diesem verfluchten Ort zu suchen? Was werde ich denen in Québec berichten? Wenn wir je zurückkehren … Wird uns dieser grin sende Bursche denn aufbrechen lassen? Schließlich sind wir seine Gefangenen. Es könnte sein … Aber was bewegt sich dort drüben auf dem See? … Man möchte meinen …« Monsieur d’Arreboust legte eine Hand schützend über seine Augen.
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Vierundsiebzigstes Kapitel
Zwei, immer zu zweit marschieren die Reisenden im Winter. Der Tod würde sich an den Schritt des Einzelgängers heften. Immer zu zweit, ein Franzose und ein Indianer. Nur Franzosen kommen auf die verrückte Idee, es mit den Fallstricken der Kälte, des Schnees, der Stürme, der von jedem menschlichen Leben verlasse nen Weite aufzunehmen. Und der Indianer folgt ihm, weil der Weiße dank seiner Redefertigkeit die Macht besitzt, die Dämonen des Schnees mit ihren gespen stischen Eisgesichtern zu vertreiben, die im kahlen Gezweig der Bäume pfeifen. Einander ähnlich in ihren pelzgefütterten, leder befransten Kapuzenmänteln und mit dem gleichen schwerfälligen, durch Schneereifen behinderten Schritt, näherten sich der Franzose und der Indianer quer über den See. Sie warfen nur kurze Schatten, denn es war um die Mittagszeit. Als sie nicht mehr weit entfernt waren, glaubte François d’Arreboust ein ihm vertrautes Gesicht zu erkennen, doch bevor er den Mann einordnen und sich seines Namens erin nern konnte, befiel ihn ein unangenehmes Gefühl. Etwas in ihm sträubte sich gegen den Eindringling. Mit Argwohn, fast mit Feindseligkeit sah er ihm ent gegen. Er hatte Lust, ihm zuzurufen: »Was wollt Ihr hier? Warum wollt Ihr den Frieden dieses Ortes stö ren, wo man glücklich ist? Schert Euch fort!« 753
Auch vom Fort aus hatte man die Ankömmlinge bemerkt, und Florimond und Yann Le Couénnec ka men mit ihren Musketen zum Ufer herunter. Der sich nähernde Mann hielt den steif erhobenen Kopf ein wenig nach hinten gedrückt wie jemand, der soviel Licht wie nur möglich unter halbgeschlos senen Lidern einzufangen sucht. Als er nur noch wenige Meter entfernt war, begriff Arreboust. Der Wanderer war blind, die Reflexion des Schnees hatte ihm die Augen verbrannt, eine der schrecklichsten Erkrankungen solcher winterlicher Märsche. Weißlicher, lepröser Schorf säumte seine roten, ge schwollenen Lider. Es war ein abscheulicher Anblick. Er rief: »Ist dort jemand? Ich spüre Euch, aber ich kann Euch nicht recht sehen …« Der Indianer an seiner Seite hielt sein Gewehr und betrachtete die auf ihn gerichteten Waffen mit düste rer Miene. »Wer seid Ihr? Woher kommt Ihr?« fragte Arre boust. »Ich bin Pacifique Jusserand aus Sorel, aber ich komme von Norridgewood am Kennebec und habe einen Brief für den Oberst de Loménie-Chambord bei mir …« Er fügte hinzu: »Ihr werdet doch nicht auf mich schießen? Ich habe nichts Böses getan. Ich bin Franzose wie ihr, die ihr französisch sprecht.« Die Nennung des Namens hatte Arrebousts Unge 754
wißheit beseitigt. Sein Unbehagen wuchs. Er kannte den Mann; er war ihm oft in Québec begegnet. Er wandte sich an Florimond: »Dieser Mann steht im Dienst Pater d’Orgevals und seiner Mission.« »Mir scheint, dieser Diener ist schon nach Katarunk gekommen«, warf der junge Mann, die Nase rümp fend, ein. »Schießt nicht auf mich«, wiederholte der Bote, dessen Gesicht den wechselnden Stimmen gefolgt war. »Ich bin kein Feind. Ich bin nur Träger einer Botschaft für den Grafen de Loménie.« »Und warum fürchtet Ihr, auf Euren bloßen Anblick hin erschossen zu werden?« fragte Florimond. »Solltet Ihr Euch Missetaten gegen den Herrn und Besitzer dieses Forts, den Grafen de Peyrac, vorzuwerfen ha ben?« Der Mann schwieg, sichtlich verwirrt. Er wollte auf die Gestalten zugehen, die er schattenhaft zu ge wahren schien, stolperte aber gegen die Böschung des Ufers. Arreboust nahm seinen Arm, um ihn auf den Pfad zum Fort zu führen. Der Graf de Loménie-Chambord drehte die Botschaft zwischen seinen Fingern. Dieser dicke, gefaltete und durch ein dunkles Wachssiegel mit dem Wappen Sebastién d’Orgevals geschlossene Brief würde ihm tiefe Wunden schlagen, das wußte er. Er suchte Zeit zu gewinnen, öffnete ihn nicht sofort, sondern be fragte den Boten, den Monsieur d’Arreboust auf gefordert hatte, sich auf eine Bank zu setzen. Er ge 755
hörte zu den »Dienenden«, Männern oder frommen jungen Leuten, die sich freiwillig verpflichteten, den Missionaren ein oder mehrere Jahre zu dienen, um »Ablässe« zu erlangen. Pacifique Jusserand befand sich seit vier Jahren im Dienst Pater d’Orgevals. »Wie konnte der Pater von meiner Anwesenheit in Fort Wapassou erfahren?« forschte der Malteserritter. Der Mann wandte ihm sein verschwollenes, lei denschaftliches Gesicht zu und antwortete stolz: »Der Pater weiß alles. Die Engel flüstern es ihm zu.« Angélique reinigte die Verbrennungswunden an seinen Lidern und bedeckte sie mit kühlenden Kom pressen. Dann setzte sie einen Teller Suppe und einen Becher Branntwein vor ihn hin. Jusserand aß mit ver bundenen Augen, durch seine Haltung Verachtung und Ablehnung ausdrückend. Vom ersten Augenblick an hatte Angélique ihn beunruhigend und sonderbar gefunden. Auf ihre Fragen hatte er ihr nur einsilbig Antwort gegeben. Nur wenn von seinem Herrn, dem Pater d’Orgeval, gesprochen wurde, ging er aus sich heraus. Es war eine Eigentümlichkeit, von der sie erst später er fuhr, daß sich der Jesuit, ein Geistlicher von be merkenswert guter Erziehung, wie absichtlich mit ungehobelten, leidenschaftlichen Menschen umgab, in die er die allen Blicken verheimlichte düstere, quälerische Seite seiner Natur zu projizieren schien. So waren es unter anderen Pater de Guérande und Pater Maraicher, die neben ihm eine entscheidende 756
Rolle in seinem erbitterten Kampf um die Erhaltung Akadiens und des großen Gebiets von Maine für die katholische Kirche und den König von Frankreich spielten. Übrigens starben diese Geistlichen wie auch Pacifique Jusserand als Konsequenz dieses Kampfes eines gewaltsamen Todes. Und später mochte man sich fragen, ob »er«, der alles wußte, nicht auch schon vor allen anderen »ge sehen« hatte, was sich ankündigte, als er an LoménieChambord schrieb, um ihn zu warnen. »Mein lieber Freund«, lautete die Botschaft, »ich habe erfahren, daß Ihr in Wapassou angelangt seid, wohin sich Peyrac und seine Bande nach dem Desaster von Katarunk flüchteten. Ich hoffe, das mutige Wagnis, Euch trotz des Winters dorthin zu begeben, wird nicht fruchtlos bleiben. Dennoch will ich Euch schreiben, um Euch zu beschwören, diesmal in Euren Entscheidungen keine Schwäche zu zeigen. Ich zittere, daß Ihr wieder ich weiß nicht welcher subtilen Dialektik, welchem falschen Anschein von Tugend erliegen könntet, den diese Abenteurer Euch vorzugaukeln verstanden, um sich desto besser bei uns einzunisten und unser Werk zu zerstören. Als ich Euch in Québec sah, spracht Ihr von der Loyalität des Monsieur de Peyrac, von seinen Freundschaftsb eteuerungen. Seitdem hat er Pont-Briand, einen der Unseren, getötet und ist noch ein wenig tiefer ins Territorium Neufrankreichs vorgedrungen. Ihr sagtet, Ihr sähet in ihm einen Mann von gro 757
ßem Wert, der nur daran interessiert sei, ein wildes Land nutzbar zu machen. Aber, frage ich Euch nun, zu Nutzen welchen Königs? Zum Ruhme welcher Religion? … Zudem schien die Gegenwart einer Frau an jenem Ort Euch nicht in der Weise zu beeindrucken, wie ich es mir gewünscht hätte. Ihr wolltet in ihnen nur ein Paar wie alle anderen sehen, ein mustergültigeres sogar noch als andere, und Ihr rühmtet die Qualität eines Gefühls, das Ihr zwischen ihnen bemerkt zu haben glaubt und das sie in unzerstörbarer Liebe vereint. Nun, sei es so. Lassen wir es gelten und sprechen wir von diesem Gefühl. Sprechen wir von dieser schlauen, wirksamen Verführung, die darin besteht, das Übel mit dem Schein des Guten zu schmücken, und der Ihr in Eurer ein wenig naiven Offenherzigkeit erlegen zu sein scheint. Ihr habt mir gesagt und immer wieder gesagt, Ihr bewundert an diesem Mann, daß er frei sei, wahrhaft frei. Aber hat man nicht erklärt, daß der Satanismus im Problem der Freiheit enthalten sei? Nach dem heiligen Thomas hat Satan sich vermes sen, Gott sein zu wollen. Doch Satan wollte seine Ehre und sein Glück nur sich selbst verdanken. Das ist sein untrügliches, unübersehbares Zeichen. Ich weiß nicht, ob Ihr klar zu sehen vermögt, daß ein Gefühl der Liebe wie dieses, das Ihr zwischen zwei Menschen zu finden glaubt, die sich so weit von Gott getrennt 758
haben, daß sie die Feinde ihrer Religion unterstützen, eine Beleidigung Gottes ist. Zwischen Kreatur und Kreatur kann es keine Anbetung geben, nur von der Kreatur zu Gott. Verdorbene Liebe ist keine Liebe mehr. Und eben hier ergibt sich die ernsteste und schrecklichste Gefahr unter all denen, die ich zu er kennen glaube, seitdem diese Leute an unseren Gren zen – was sage ich, in unserem französischen Akadien selbst erschienen sind. Denn durch ein trügerisches Vorbild führen sie schlichte Seelen in die Irre und lassen sie nach Glückseligkeiten trachten, die nicht von dieser Welt sind und deren der Mensch nur in Gott und im Tode teilhaftig werden kann. Und eine schreckliche Angst steigt in mir auf. Wenn gerade in diesem Zauber, dieser Zärtlichkeit, die Euch anrühren, die Dämonin ihre tückischsten Fallen verborgen hielte? Wenn gerade im Wissen dieses Mannes, das Euch bezwingt, das Böse sein verlockendstes Antlitz zeigte? Alle Theologen sind sich darüber einig, daß Gott dem Bösen seine Macht über das Wissen, über das Fleisch, über die Frau und über den Reichtum überlassen hat. Deshalb verweigert die Kirche in ihrer Weisheit der Frau Macht und Einfluß, denn eine Gesellschaft, die ihr solche Rechte zubillig te, lieferte sich zugleich der Herrschaft all dessen aus, was die Frau repräsentiert, das heißt des Fleisches. Von da aus wäre der Sturz nahe, der Rückfall ins blindeste Heidentum. 759
Das Fleisch und die Abgötterei, das sind die Gefah ren, die auf den lauern, der sich durch die Anmut des anderen Geschlechts verführen läßt, wie groß auch die moralischen und körperlichen Vorzüge der Betreffenden sein mögen. Ich unterstreiche es. Wieviel Lüsternheit mag sich in Eurer Bewunderung für Madame de Peyrac verbergen? Hat Pont-Briand nicht Kopf und Leben verloren? Ich muß Euch also daran erinnern, daß Ihr Euch durch Klammern an irdische Glückseligkeit von dem einen und einzigen Ziel abwendet, dem wir unser persönliches Heil im Einklang mit dem Heil aller geweiht haben, und die Entfaltung unserer Seele verzögert, die, um zu Gott zu gelangen, sich vom Fleisch befreien muß. Lest noch einmal den Brief des heiligen Paulus an die Galater, das fünfte Kapitel. Es wird Euch man cherlei Stoff für Eure Meditationen geben. ›Wandelt im Geist, meine Brüder, so werdet Ihr die Lüste des Fleisches nicht vollbringen. Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist … Offenbar sind aber die Werke des Fleisches, als da sind: Ehebruch, Hurerei, Unreinheit, Unzucht, Abgöt terei, Feindschaft, Hader, Neid, Zorn, Zank, Zwie tracht, Haß, Mord, Saufen, Fressen und dergleichen … Welche aber Christo angehören, die kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden …‹ Was könnte ich den Worten des großen Apostels noch hinzufügen? Ich werde also schließen, indem ich Euch, mein lieber Bruder, beschwöre, ja, ich beschwöre Euch, 760
uns von der Gefahr zu befreien, die der Graf de Peyrac für uns, für Kanada, für die uns anvertrauten Seelen bedeutet. Er ist gewiß weder der erste Abenteurer, noch sind es die ersten Ketzer, die an unseren Küsten landen, aber ein Vorgefühl warnt mich, daß ich durch ihn, durch sie den Zusammenbruch unseres Werks in Akadien erleben werde, meine Niederlage und mei nen Tod, wenn ihm nicht sofort die Möglichkeit ge nommen wird, uns zu schaden. Ich sehe es, ich spüre es …« »O mein Gott, was geschieht mit mir?« rief der arme Loménie und preßte seinen Kopf zwischen beiden Händen. Sein Herz brach. Der Zwiespalt, in den ihn Pater d’Orgeval versetzte, marterte ihn. Er bedeckte den Brief mit einer Hand, wie um sich dem Anblick der Worte zu entziehen, die ihn peinig ten. Er stellte sich keine Frage, überlegte nicht, ob man noch wählen, ob man nicht eine andere Lösung für eine Situation finden könne, die ihm längst ent glitten war. Doch was er mit Entsetzen sah, war der Abgrund, der sich zwischen ihm und seinem besten Freund zu öffnen begann, und Panik ergriff ihn bei dem Gedanken, ihn künftig nicht mehr an seiner Seite vorzufinden, immer gegenwärtig, stark, schwärme risch von seiner Berufung erfüllt. »Verlaß mich nicht, mein Freund. Versuche, mich 761
zu verstehen, mein Bruder, mein Vater«, flehte er. Und von Gewissensbissen geplagt, weil er sich nicht sofort an Gott gewandt hatte: »O mein Gott, trenne mich nicht von meinem Freund! Erleuchte unsere Seelen, damit wir einander besser begreifen, damit uns der Schmerz erspart bleibt, uns wie Fremde betrachten zu müssen … O Gott, leite uns zu Deiner Wahrheit!« Aber so einfach war das nicht. Er würde leiden müssen. Er hob den Blick und sah Angélique vor sich, nur wenige Schritte entfernt. »Da ist sie«, sagte er sich, »die Frau, die Pater d’Orgeval um jeden Preis vernichten möchte.« Sie nahm einen Becher, beugte sich zum Kessel, um ein wenig Wasser aus ihm zu schöpfen. Dann richtete sie sich wieder auf, warf einen Blick zu ihm herüber, gewahrte den Ausdruck seines Gesichts und trat zu ihm. »Seid Ihr traurig, Monsieur de Loménie?« Der weiche Klang ihrer gedämpften Stimme ließ ihn erbeben, und eine schwere Woge schwoll in ihm auf, bereit, sich in einem kindlichen Schluchzen zu brechen. »Ja … ich bin traurig … sehr traurig.« Er betrachtete sie, aus der Fassung gebracht, ver führt, schon von ihr besiegt, während die strenge Stimme in seinem Innern ihn geißelte: »Es ist nicht die Zeit, uns der Frau und allem, was sie repräsentiert, das heißt dem Fleisch, auszuliefern …« »Dem Fleisch? … Ja, vielleicht«, dachte er, »aber auch dem Herzen … der Güte, der Zärtlichkeit, die 762
im Herzen der Frauen blühen und ohne die die Welt nur ein Ort grausamen Kampfes wäre.« Er sah sie vor sich, wie sie ihn in ihren Armen ge halten hatte, als er krank gewesen war. Angélique war für den Charme des Grafen de Lo ménie-Chambord empfänglicher, als sie es sich selbst eingestand. Es war Zartheit in ihm und großer Mut, und seine Erscheinung war ganz nach dem Bilde seines Charakters geformt. Nichts an ihm war trüge risch. Sein kraftvolles, durch die Erfahrungen vieler kriegerischer Unternehmungen geprägtes Äußeres und sein grauer, ernsthafter Blick verrieten ein ritterli ches Herz, das auch bei näherem Kennenlernen nicht enttäuschen würde. Gelegentliche Unschlüssigkeiten in seinem Verhalten rührten niemals von Feigheit her, sondern von seiner peniblen Gewissenhaftigkeit, seinem Bemühen um Loyalität Freunden oder denen gegenüber, die er zu verteidigen oder denen er zu die nen hatte. Er gehörte zu den Männern, die Frauen in ihren Träumen gern gegen die Unternehmungen boshaf ter Rivalinnen oder allzu diktatorisch Exklusivität beanspruchender Freunde schützen, von denen ihr Mitgefühl und ihre Treue mißbraucht wird. Das eben tat dieser Pater d’Orgeval, sie war davon überzeugt. Angesichts des weißen Briefes mit der hochmütigen Schrift hätte sie Loménie gern gesagt: »Lest das nicht, ich bitte Euch. Rührt es nicht an …« Aber damit wäre sie in den gehüteten Bereich einer 763
lebenslangen Freundschaft eingedrungen, und dazu fühlte sie sich noch nicht berechtigt. Der Malteserritter erhob sich schwerfällig, wie nie dergedrückt von einer unerträglichen Last, und ging mit gesenktem Kopf davon.
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Fünfundsiebzigstes Kapitel
Der Gedanke an Pater d’Orgeval – seine Gegenwart, hätte er sagen können – verließ ihn den ganzen Tag nicht. Er begleitete ihn wie ein Schatten, der ihn unablässig flüsternd beschwor. Als die Nacht jedoch hereinsank, verwandelte sich die Stimme mehr und mehr, klang flehend, fast kindlich: »Verlaß mich nicht … Verrate mich nicht in meinem Kampf …« Es war die Stimme Sébastien d’Orgevals in seiner Jugend, in der Jesuitenschule, wo sie Freundschaft geschlossen hatten. Der Graf de Loménie-Chambord war inzwischen zweiundvierzig, ein Mann, dem es nicht an Erfah rung fehlte. Er konnte sich daher nicht völlig über die Impulse hinwegtäuschen, die seinen Freund d’Orge val zu diesem ebenso heimlichen wie erbitterten Kampf gegen Peyrac und seine Leute trieben. Es gab da Erinnerungen, die seine Unversöhnlichkeit erklären konnten. Er, Loménie, hatte nie die grausa me Kälte einer Kindheit als Waise kennengelernt. Er hatte eine liebenswürdige, zwar recht weltlich gesellige, aber aufmerksame Mutter gehabt, deren Teilnahme am Schicksal des kleinen Jesuitenzöglings wie des späteren Malteserritters immer lebendig ge blieben war. Sie schrieb ihm oft und schickte ihm während seiner Kindheit überraschende Geschenke, die ihn manchmal genierten, zuweilen aber auch ent zückten: einen Strauß erster Frühlingsblumen, einen 765
venezianischen Dolch, mit Gemmen geschmückt, ein Schildpattmedaillon, das eine Strähne ihres Haars enthielt, Süßigkeiten und zu seinem vierzehnten Geburtstag eine ganze Musketiersequipierung samt einem Vollblutpferd … Die Jesuitenväter hatten das alles nicht sehr ernsthaft gefunden. Aber so waren nun einmal Mütter! … Auch zwei Schwestern gab es, von denen eine Nonne geworden war, fröhliche, ausgelassene, tem peramentvolle Mädchen. Als seine Mutter vor zehn Jahren gestorben war, hatte Loménie sie wie eine Freundin beweint. Er hielt die Beziehungen zu sei nen Schwestern aufrecht, die ihn sehr liebten und seine ganze Zuneigung besaßen. An diesem Abend in Wapassou, im Verschlag des Italieners Porguani, las er den Brief des Jesuiten noch einmal aufmerksam durch, und als er endlich einschlief, war er wie durchtränkt von dem unausge sprochenen bitteren Ekel, den er hinter den Worten der Botschaft spürte und dessen verborgene Quelle nur er kannte. Träumte er, oder erlebte er im dämmernden Halb schlaf wieder jene Nacht, die er in seiner Kindheit neben seinem Freund verbracht hatte? Sébastien war ihr Opfer gewesen. Er selbst hatte mit geballten Fäusten und in die Stirn verwuschelten Locken fest geschlafen, während im nahen Dunkel wie in einem klebrigen Alptraum, dessen Wirklichkeit er später zu leugnen versuchte, Sébastien mit der Frau kämpfte. 766
Es war eine Nacht, in der man die Zöglinge früh zum Schlafen geschickt hatte, da ein Bischof und sein Gefolge unerwartet eingetroffen waren. Sie hat ten sich ins Stroh verkrochen. Sébastien lag ganz am Ende der Scheune; er mischte sich nicht gern unter die anderen. Und plötzlich hatte er im Dunkeln eine Frau, schön wie die Nacht, gesehen, die ihn mit einem vieldeutigen Lächeln betrachtete, und dieses Lächeln brannte wie Feuer und jagte ihm Schauer über die Haut. »Vade retro, Satanas!« hauchten die Lippen des Jüng lings, aber er fühlte, daß sie ihm kaum gehorchten, und tastete unter seiner Kleidung nach dem eisernen Glöckchen mit dem eingravierten Bildnis des heili gen Ignatius, das die Macht besaß, durch sein Geläute teuflische Erscheinungen zu vertreiben. Doch die Erscheinung selbst lachte wie ein silbernes Glöckchen. Sie flüsterte: »Fürchte nichts, mein Cherub!« Ihre Hand berührte seinen Körper, bewegte sich, ohne daß er den Bewegungen zu wehren vermochte, und eine unbekannte, fleischliche Kraft, deren Heftigkeit ihn überwältigte, hatte ihn in ihren Strudel gerissen. Er hatte die schamlosen Zärtlichkeiten geduldet, hat te alles hingenommen und ihre Erwartungen erfüllt, hatte sich ihr in einer Art entsetzter Raserei ausgelie fert … Als Sébastien erwachte, schüttelte er seinen Nach barn, den kleinen Loménie. »Du hast es gesehen, nicht wahr? Du hast es gese hen?« 767
Der Kleine erinnerte sich an nichts Genaues. Er war ein unschuldiges, gesundes Kind, das wie ein Engel schlief. Trotzdem war es ihm, als habe er eine Frau gesehen, Geräusche gehört, Düfte und verwirrende Bewegungen wahrgenommen. Es hatte sich in seinen friedlichen Schlummer eingeschlichen. So groß war die Verstörtheit und Verzweiflung des Älteren, daß er alles seinem Freund erzählte, der nicht viel davon begriff. Aber was Loménie nie vergessen hatte, war der von Blitzen der Verzweiflung und Wut durch zuckte blaue Blick dessen, den er bewunderte, war das Beben des vergewaltigten Jünglingskörpers, den die unwiderstehlichen Kräfte der Unzucht unterjocht hatten. Bis zum Morgengrauen hatte er versucht, ihn mit schwachen, kindlichen Worten zu trösten: »Mach dir nichts draus … Wir werden es dem Pater Superior sagen … Es ist nicht deine Schuld. Es ist die Schuld der Frau.« Sie hatten nichts gesagt … Das heißt, es war ihnen nicht gelungen, sich verständlich zu machen. Gleich nach den ersten Worten hatte man sie unterbrochen: »Beruhigt Euch, meine Kinder, es war keine Er scheinung, die Euch heimgesucht hat, sondern eine große Wohltäterin unserer Werke. Sie bestreitet die Kosten des Unterhalts bedürftiger Schüler, zu denen auch Ihr gehört, d’Orgeval, und genießt das Vorrecht, ihre Schützlinge zu jeder Zeit besuchen zu können: Privilegiae mulieres sapientes. Eine sehr alte Bestimmung, die auch andere christliche und der Erziehung gewid mete Gemeinschaften übernommen haben. Es be 768
weist, daß wir weder bei Tag noch bei Nacht etwas zu verbergen haben …« »Aber …« Sie waren bestürzt. Wurden die Väter hintergangen? Oder hatten sie, die Jünglinge, nur geträumt? Schließlich vergaßen sie es. Sie hatten ihren noch zerbrechlichen Seelen Schweigen auferlegt. Später hatte der Pater d’Orgeval, einstiger Mit schüler des Grafen de Loménie, eine außerordent liche Karriere gemacht. Würde er in der Vollkraft seiner Jahre, in der Gelassenheit seines priesterlichen Daseins, im Gleichgewicht eines Körpers, der durch Kasteiungen gegen Kälte, Hunger und Folterungen unempfindlich geworden war, nicht über solche Er innerungen oder verschwommene Träume lächeln? Zwei-, dreimal fuhr Loménie aus unruhigem Schlafe auf und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Er hörte die Nacht von Wapassou und be ruhigte sich. Von neuem tauchte er in beunruhigte Betäubung und sah die Dämonin mit dem Antlitz der nächtlichen Verführerin, wie er sie sich nach den Beschreibungen seines Freundes vorgestellt hatte, mit sich windenden Schlangen im gelockten Haar und unter den Lidern hervorsprühender feuriger Glut. Sie ritt auf einem Einhorn und verwüstete die verschnei ten Landschaften Akadiens. Gegen Ende der Nacht gewahrte er eine leichte Veränderung dieser Vision: Er sah goldenes Haar und smaragdfarbene Augen … Seitdem Pater d’Orgeval die Priesterweihen emp 769
fangen hatte und nach fünfzehn Jahren des Noviziats in die Welt zurückgekehrt war, hatte sein Scharfblick immer recht behalten. Scharfblick in bezug auf Seelen, Ereignisse, Situa tionen. Sogar Prophezeiungen und Warnungen hatte er gleichsam nebenbei ausgesprochen, die nichts zu rechtfertigen schien und deren höchst unwahrschein liche Verwirklichung man wenig später erlebte … Aus allen Beichten, die er das Glück gehabt hatte vor dem großen Jesuiten ablegen zu können, war der Malteserritter geläutert, mit größerem Wissen über sich selbst und seines Weges sicherer hervorgegangen. Und er begriff, daß man sich vor seinem Beichtstuhl schlug, daß man in der kleinen, eisigen Kapelle der alten Mission am Saint-Charles-Fluß, wo er abstieg, wenn er nach Québec kam, stundenlang anstand. Nichts berechtigte dazu, heute an ihm zu zwei feln. Loménie war ein vernünftiger, zum Beobachten ge neigter Mann, der die im Dasein kolonialer Gemein schaften erworbenen Erfahrungen zu nutzen wußte. Er war oftmals Zeuge der Geduld, der Beharrlichkeit, der geradezu unwahrscheinlichen Listen gewesen, deren gewisse Frauen fähig sind. Es war nicht immer leicht, sie aufzuspüren. Er beschloß, vorsichtiger und strenger zu sein und nach eingehender Beratung mit Monsieur d’Arreboust den Versuch zu wagen, die diabolische Seite Angéliques zu demaskieren – falls es sie gab.
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Sechsundsiebzigstes Kapitel
Die Nacht brach herein. Eine Nacht, die sechs Tage anhielt. Schnee und Wind verbündeten sich, um das Fort mit ihren Wirbeln zu umzingeln, und nicht die kleinste Spur von Helligkeit drang durch die schnee verklebten Fenster. An manchen Tagen war es nicht möglich, die Tür zu öffnen. Zuweilen blies der Wind den Rauch ins Innere der Kamine zurück, und man war nahe am Ersticken, da keine Möglichkeit bestand zu lüften. Dennoch hielt sich das Fort wacker, die Höhle von Wapassou blieb ein sicherer Zufluchtsort, trotz der schweren Stöße, die von Zeit zu Zeit das Dach erbeben ließen. Die fest miteinander verbunde nen, viereckig behauenen Balken aus schwarzer Eiche gaben nicht nach. Es war im Laufe dieser langen Nacht, daß eins der Pferde, der schwarze Hengst, von Wölfen verschleppt wurde. Peyrac faßte daraufhin den Entschluß, das verblie bene Tier, die Stute Wallis, zu töten. Der Stall war zerstört, weder gab es ein schützendes Dach noch Nahrung für das Pferd, und die Menschen hunger ten. Er machte sich Vorwürfe, in der Hoffnung auf ein unmögliches Wunder so lange damit gewartet zu haben. Er wußte, daß die Fleischvorräte ihrem Ende zugingen, und selbst wenn man jeden Tag hätte jagen können, war es wenig wahrscheinlich, daß das Wild 771
für die Bedürfnisse so vieler Menschen ausgereicht hätte. Und nun beschränkte der Verlust des schwar zen Hengstes die Überlebenschancen noch mehr. Angélique sagte nichts. Die Notwendigkeiten verschoben die Wertbegriffe. Sie hatten alle für diese Pferde gekämpft. Sie ins Hinterland zu bringen hatte in ihren Augen einen symbolischen Sinn bekommen, und sie zu retten, sie dort zu erhalten, schien ihnen von höchster Wichtig keit. Jetzt handelte es sich jedoch darum, das Leben der Menschen zu retten. Nicht die Anwesenheit von Pferden am oberen Kennebec stand auf dem Spiel, sondern die Peyracs und der Seinen. Man schwieg. Jede unverdiente Niederlage enthält Bitterkeit. Ihr Unternehmen war nicht bis ins Letzte geglückt. Aber Angélique wiederholte sich, daß man nicht er warten dürfe, alles gelingen zu sehen, und daß man nicht ans Ziel gelangen könne, ohne unterwegs Opfer zu bringen. Ihre Bitterkeit wich einer euphorischen Stimmung bei dem Gedanken an die Möglichkeit, ihren Kranken und Rekonvaleszenten eine nahrhafte, kräftigende Brühe bieten zu können, und während mehrerer Tage erfüllten sie der Überfluß an frischem Fleisch und die appetitanregenden Bratendüfte mit einer ein wenig nervösen Heiterkeit, die ihnen half, Kräfte zu sammeln und sich zu gedulden. Niemals hätte Angélique sich vorstellen können, daß sie eines Tages Pferdefleisch essen würde. Für 772
Leute von Adel gab es zwischen diesem Tier und dem fürs Schlachthaus bestimmten Vieh – Ochsen, Hammel, Kälber – nicht die geringste Verbindung. Es war von frühester Kindheit an der Freund, der Gefährte der Jagden, Reisen und Kriege. Zu norma len Zeiten wäre sie über die Zumutung, sein Fleisch zu essen, nicht weniger entsetzt gewesen als über die Aufforderung, sich dem Kannibalismus zuzuwen den. Man konnte die Herkunftsunterschiede der um die Tafel Versammelten an ihren jeweiligen Reaktionen feststellen. Die Kanadier, die Engländer, die Seeleute und selbst die Jungen wie Florimond und Cantor zuckten nicht mit der Wimper. Sie bedauerten allen falls, daß man sich soviel Mühe gegeben hatte, die Pferde hierherzubringen, und daß man nun das letzte hatte töten müssen. Aber später würde man andere heranschaffen. Man würde eben von vorn beginnen. Sie spürten nicht den inneren Widerstand des Edelmanns, der sein Pferd als wesentlichen Teil seines Selbst empfand. Das Rittertum vergangener Zeiten war wahrhaftig tot. Eine neue Rasse wuchs heran. Doch all das ging Angélique erst viel später durch den Kopf. Jetzt war sie für solche Abschweifungen viel zu müde. Sie sah nur, daß Honorine wieder Farbe in die Wangen bekam, daß alle Welt wieder auflebte, und begann zu begreifen, warum die Indianer die Nahrung vergötterten und ihren Festmählern den Charakter religiöser Zeremonien verliehen.
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Siebenundsiebzigstes Kapitel
Angélique betrachtete den Goldbarren in ihrer Hand. Er gehörte ihr. Joffrey hatte ihn ihr übergeben, wie er es bei all »seinen Männern« getan hatte. Jetzt wollte sie einen Plan in die Tat umsetzen, der ihr seit einiger Zeit am Herzen lag. Sie hatte allen Heiligen des Paradieses ein Bündel Kerzen versprochen, wenn die ihr Anvertrauten die Pocken gesund überständen, und beabsichtigte nun, den Goldbarren der Kirche von Saint-Anne-deBeaupré zu schenken, von der die Kanadier häufig sprachen. Sie war von schiffbrüchigen bretonischen Seeleuten zum Dank für ihre Rettung am Ufer des Sankt Lorenz errichtet worden, und man erzählte sich von zahlreichen Wundern, die sich dort ereignet hätten. Als sie an diesem Nachmittag den großen Saal be trat, schien Angélique der Moment günstig, da sie nur Monsieur d’Arreboust und den Oberst de Loménie gewahrte, die, in ihre Gebetbücher vertieft, am Tisch saßen. Sie näherte sich ihnen, übergab ihnen den Barren und teilte ihnen ihre Absicht mit. Sie wünsche, daß dieses Gold von den Pfarrherrn der Gemeinde und des Wallfahrtsorts nach ihrem Gutdünken verwendet werde, sei es für den Ankauf von Meßgewändern und priesterlichen Ornaten, für die Ausgestaltung der Gottesdienste oder für den Bau eines Weges, die Errichtung eines Kreuzes oder eines 774
geschnitzten und vergoldeten Hochaltars. Sie erbitte dafür nur, daß ihr Name auf eine weiße Marmorplatte eingraviert werde, um neben vielen anderen Exvotos an den Mauern der Kirche ihre Dankbarkeit dafür zu bezeugen, daß der Himmel sie vor der schrecklichen Krankheit bewahrt habe. Die beiden Edelmänner sprangen auf und starrten erschrocken auf das Gold, das matt auf dem Tisch vor ihnen schimmerte. »Unmöglich«, stammelte der Herzog. »Man würde in Québec dieses Gold nicht annehmen, schon gar nicht, wenn man wüßte, woher es kommt und wer es geschenkt hat.« »Was wollt Ihr damit sagen?« »Seine Gnaden der Bischof zöge es gewiß vor, die Kirche zu verbrennen.« »Aber warum?« »Dieses Gold ist verflucht.« »Ich begreife Euch nicht«, sagte Angélique. »Ihr habt nicht soviel Umstände gemacht, als Ihr das Gold annahmt, das mein Gatte Euch für die Expedition zum Mississippi zur Verfügung stellte. Wenn ich mich nicht irre, seid Ihr sogar extra hergekommen, um es zu erbitten.« »Das ist nicht dasselbe.« »Warum nicht?« »Von Eurer Hand! … Denkt doch! … Man würde uns steinigen.« Sie betrachtete sie stumm. Sie nahm nicht an, daß sie plötzlich närrisch geworden seien. Es war schlim 775
mer. »Madame«, sagte Loménie mit gesenktem Blick, »es tut mir unendlich leid. Ich muß mich einer un erfreulichen Aufgabe entledigen. Ich habe Euch mitzuteilen, daß sich um Eure Person ein Gerücht gebildet hat, das nicht wenige unserer Mitbürger in Québec und ganz Kanada aufs äußerste beunruhigt. Im Zusammentreffen gewisser Dinge glaubt man die Bestätigung dafür zu erkennen …« Er fand Angéliques Augen auf sich gerichtet, was sein Geständnis keineswegs erleichterte. Sie ahnte schon halb, was er sagen wollte, aber es schien ihr so absurd, daß sie es vorzog, ihn sich allein und ohne Hilfe durch seine Erklärungen hindurch winden zu lassen. Auf jeden Fall spürte sie, daß ihr vor Ärger schon die Finger zu kribbeln begannen. Natürlich erhob sie keinen Anspruch auf über schäumende Dankbarkeit, aber immerhin … Übertrieben sie nicht ein bißchen, diese hochachtba ren Frömmler? Sie hatte sie gepflegt. Sie bediente sie zu allen Stunden des Tages. Sie war müde, sie war erschöpft. Selbst in diesem Moment schmerzten sie die Muskeln ihres Rückens und ihrer Arme, da sie vor kurzem den hartgefrorenen Schnee des zur Eisbahn umgewandelten Zugangs zum Fort mit der Picke aufgehackt hatte. Monsieur Jonas war am Morgen ausgerutscht und hatte sich eine böse Verstauchung zugezogen. Um weitere Unfälle ähnlicher Art zu verhindern, hatte Angélique zwei Stunden pausen 776
los gearbeitet und danach noch den Weg mit Asche bestreut. Und ausgerechnet diesen Moment wählten sie, um ihr beleidigende Albernheiten ins Gesicht zu schleudern und sie diabolischer Fähigkeiten zu be schuldigen. Als Arreboust bemerkte, daß Loménie mit seinen Erklärungen nicht zurechtkam, warf er ein: »Man verdächtigt Euch, die leibhaftige Dämonin Akadiens zu sein. Habt Ihr von dieser Prophezeiung gehört?« »Ja. Ich glaube, es handelt sich um die Vision einer Eurer Nonnen, derzufolge ein weiblicher Dämon es darauf abgesehen haben soll, die Seelen Akadiens vom rechten Wege abzubringen. Solche Dinge passie ren«, fügte Angélique mit einem schwachen Lächeln hinzu. »Ihr findet also, daß ich alle notwendigen Eigenschaften für diese Rolle besitze?« »Leider vermögen wir über eine so tragische Verbindung von Umständen nicht zu scherzen, Madame«, seufzte Loménie. »Das Schicksal hat es ge wollt, daß Monsieur de Peyrac sich zur gleichen Zeit in Akadien niederließ, als diese Weissagung eben die Geister beunruhigte. Zudem erfuhr man in Kanada, daß er eine Frau bei sich hatte, deren Beschreibung mit der von der Prophetin gegebenen übereinzu stimmen schien, und der Verdacht hat sich auf Euch gerichtet.« Angélique fühlte Besorgnis in sich aufsteigen. Die erste Reaktion der beiden Edelleute auf ihr Schenkungsangebot hatte sie auf unerfreuliche Dinge 777
gefaßt gemacht. Nicht zu Unrecht, wie es sich nun zeigte. Sie hatte von der Vision sprechen hören. Perrot hatte auf sie angespielt … Sie ahnte, daß man versucht sein könnte, Beziehungen herzustellen. Aber sie er wartete nicht, daß es ernst werden würde. Nun sah sie, was auf sie zukam. Das Tier setzte sich in Marsch. Sie hörte seinen schweren Schritt … Die Inquisition! Das Ungeheuer, das sie in Amerika erwartete, war also nicht die ungezähmte Natur, sondern noch im mer derselbe und womöglich noch bösartigere Feind wie in der Alten Welt. Sie wußte, daß die Inquisition in den spanischen Gebieten das gigantischste Autodafé der Geschichte veranstaltet hatte. Die Indianer waren zu Tausenden verbrannt, weil sie den Dienern der Kirche nicht hatten dienen wollen. Drüben in Frankreich hatte man sie verfolgt, weil sie jung, schön, begehrt, mutig und anders als die an deren war. Hier würde man ihr einen Namen entge genschleudern: die Dämonin – wie man einst Joffrey das Wort »Hexenmeister« zugerufen hatte. In Amerika ist alles unverhüllter. Die Leidenschaften äußern sich offenkundiger und wütender. Sie mußte lernen, es mit dem Mythos aufzunehmen, sich gegen ihn zu verteidigen, ihn zu besiegen. Es war ihr, als habe sich schon ein böser Geist in ihre Behausung eingeschlichen. Aber selbst bösen Geistern mußte man ins Gesicht sehen. »Erklärt Euch, Monsieur de Loménie«, sagte sie mit leicht gepreßter Stimme. »Ich kann nicht anneh 778
men, daß es in Québec angesehene Persönlichkeiten gibt, die diese Geschichte für glaubwürdig halten, die ernstlich überzeugt sind, daß ich die … Inkarnation dieser prophezeiten Dämonin sein könnte!« »Unglücklicherweise klagt Euch alles an!« rief Loménie mit einer Geste der Verzweiflung. »Ihr seid am gleichen Ort gelandet, den man als Schauplatz der Vision hat bestimmen können. Man hat Euch durch die gleichen Gegenden reiten sehen, von denen die Nonne sagt, daß sie durch die Dämonin bedroht sei en. Und Ihr seid … sehr schön, Madame. Alle, die Euch sahen, haben es bezeugt. Deshalb war es die Pflicht des Bischofs, sich genauer zu informieren.« »Trotzdem wollt Ihr doch wohl nicht sagen, daß die kirchlichen Autoritäten solchem Klatsch und vor allem seiner Auslegung Wichtigkeit beimessen?« rief Angélique. »Doch, Madame! Die Berichte des Paters d’Orgeval und des Ordensbruders Marc vom Saint-Jean-Fluß konnten von Monseigneur nicht leichtgenommen werden. Zudem bezeugt der Klostergeistliche der Ursulinerinnen von Québec, Monsieur de Jorras, gei stige Gesundheit und Ausgeglichenheit der Schwester Madeleine, deren Beichtvater er seit langen Jahren ist. Pater de Maubeuge, Superior der Jesuiten, ist gleich falls geneigt, in Eurer Ankunft das unwiderlegbare Vorzeichen des angekündigten Unheils zu sehen …« Angéliques Augen weiteten sich entsetzt. »Aber warum?« rief sie. »Warum sind alle diese Priester gegen mich?« 779
Peyrac war durch den Gang von der Werkstatt her gekommen und blieb stehen, als er ihren Schrei ver nahm. Er klang ihm wie ein symbolischer Schrei, der Schrei der mit Füßen getretenen Frau. Mit Füßen ge treten, zurückgestoßen seit so vielen Jahrhunderten. »Warum? Warum sind diese Priester gegen mich?« Er blieb reglos im Dunkel des Ganges stehen. Es war an ihr, sich zu verteidigen. Nach so vielen Jahrhunderten der Zurückweisung der Frau durch eine weiberfeindliche Kirche war es an der Zeit, daß dieser Schrei ausgestoßen wurde. Und es war richtig, daß ihn die schönste, die weib lichste Frau ausstieß, die die Erde je getragen hatte. Von seinem versteckten Beobachtungsposten aus betrachtete er sie mit Stolz und tiefer Zärtlichkeit. So schön war sie in ihrer Entrüstung, die ihr das Blut in die Wangen trieb und ihre grünen Augen auffunkeln ließ! Nur der Herzog d’Arreboust bemerkte Peyracs Anwesenheit. Er glaubte den warmen Glanz dieses Angélique gewidmeten Lächelns zu sehen, und bitte re Eifersucht quälte ihn. »Dieser Peyrac besitzt einen Schatz, und er weiß es«, sagte er sich. »Er weiß es … Mir hat meine Frau niemals gehört …« Galle kam ihm auf die Lippen, Gift füllte sein Herz, und es drängte ihn, seinen ganzen Abscheu in heftigen, anklägerischen Worten auszuspucken, um diese triumphierende Liebe zu vernichten. Zugleich 780
aber wurde er sich bewußt, daß alles, was er sagen konnte, aus einer verpesteten Quelle tief in seinem Innern kommen würde. Er schwieg. Loménie fuhr mutig und gewissenhaft fort. Er zog aus seinem Wams ein Papier, das er mit einer wahren Leidensmiene entfaltete. »Ich habe hier das genaue Protokoll der Weissagung, Madame. Gewisse Landschaftsbeschre ibungen sind beunruhigend. Kürzlich erkannte der Rekollektenbruder Marc, Hauskaplan Monsieur de Vauvenarts, in einer von ihnen ohne jeden Zweifel die Örtlichkeit, wo Ihr selbst, Madame, und Monsieur de Peyrac im vergangenen Herbst gelandet seid.« Angélique entriß ihm kurzerhand das Papier und machte sich ans Lesen. Die von Visionen heimgesuchte Nonne beschrieb zuerst den Ort, an den sie im Traum versetzt worden war.
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Achtundsiebzigstes Kapitel
»… Ich befand mich am Ufer des Meers. Die Bäume wuchsen bis zum Strand hinunter. Über dem Sand lag ein rosiger Widerschein. Zur Linken eine aus Holz errichtete Niederlassung mit einer hohen Palisade und einem Wehrturm, auf dem ein Banner wehte … Überall in der Bucht Inseln in großer Zahl wie schlummernde Ungeheuer … Im Hintergrund des Strandes, unter dem Steilhang, Häuser aus lich tem Holz … In der Bucht zwei ankernde Schiffe … Auf der anderen Seite dieses Strandes, etwa ein oder zwei Meilen entfernt, ein zweiter Weiler mit rose numsponnenen Hütten … Ich hörte das Kreischen der Möwen und Kormorane …« Angéliques Herz begann unruhig zu schlagen. Später würde sie sich ihre Erregung vorwerfen, denn ohne sie wären ihr bei der Lektüre des Dokuments zweifellos Einzelheiten aufgefallen, die ihr erlaubt hätten, die gegen sie gerichtete Anklage auf der Stelle zu widerlegen. Eines Tages würde sie sich dieses Textes erinnern. Sie würde alles begreifen. Aber es würde fast zu spät sein … Jetzt war sie vor allem durch die Ähnlichkeit der geschilderten Landschaft mit der von Goulds boro betroffen, und ohnmächtiger Zorn stieg in ihr auf. »… Plötzlich hob sich eine Frau von sehr großer Schönheit aus den Wassern, und ich wußte, daß es 782
ein weiblicher Dämon war. Sie verharrte schwebend über der Oberfläche, in der ihr Körper sich spiegel te, und ihr Anblick war mir unerträglich, denn es war eine Frau, und ich sah in ihr das Symbol meiner Sündhaftigkeit … Dann näherte sich in schnellem Galopp aus der Tiefe des Horizonts ein Wesen, in dem ich zuerst einen Dämon zu erkennen glaubte, bis ich bemerkte, daß es ein Einhorn war, dessen Horn im Schein der sinkenden Sonne kristallen glänzte. Die Dämonin schwang sich auf das Tier und hob sich in die Lüfte. Ich sah Akadien wie aus der Höhe des Himmelszelts als eine ungeheure Ebene. Ich wußte, daß es Akadien war. Die Dämonin durchmaß es mit geflügeltem Huf und setzte es in Brand … Ich erinnere mich, daß ich während der ganzen Dauer dieser Vision in einem Winkel des Bildes einen schwarzen, Grimassen schneidenden Dämon zu gewahren glaubte, der über die glitzernde, dämonische Kreatur zu wachen schien, und zuweilen befiel mich die furchtbare Angst, daß es Luzifer selbst sein könnte … Ich war dort, verzweifelt, denn ich sah das Unheil über dem teuren Land, das wir unter unseren Schutz genommen haben. Doch unversehens schien sich al les zu beruhigen. Eine andere Frau erschien am Himmel. Ich wüßte nicht zu sagen, ob es die Heilige Jungfrau selbst oder eine der Schutzheiligen unserer Gemeinden war. Vor ihrer Erscheinung wich die Dämonin entsetzt zurück, und ich sah, daß eine Art zottiges Untier 783
aus dem Unterholz brach, sich auf sie warf und sie in Stücke riß, während sich ein junger Erzengel mit funkelndem Schwert zu den Wolken erhob …« Angélique faltete das Blatt zusammen. Sie ließ sich Zeit, wartete, bis Furcht und Gereiztheit in ihr abklangen. Es war nicht viel mehr als ein Sammelsurium von Nichtigkeiten, Hirngespinsten einer ins Kloster gesperrten Nonne. Und doch gab es ernsthafte Menschen, die solchem Unfug Kredit einräumten! Dennoch verbarg sich irgend etwas in diesem Bericht, was sie fürchten ließ, er könne trotz allem ein winziges Stückchen Wahrheit enthalten. So blieb sie, statt lebhaft zu protestieren, fürs erste zumindest nachdenklich gestimmt. »Wenn es zutrifft«, murmelte sie endlich, »daß eine Übereinstimmung des beschriebenen Ortes mit der Umgebung von Gouldsboro besteht, mag es sein, daß sich die Priester von der Ankunft einer Frau und mehrerer Pferde – meiner Ankunft also! – gerade an diesem Küstenstück haben verwirren lassen. Aber wie soll ich mich dagegen verteidigen? Der Symbolismus der Bilder verbirgt so viele verschiedene Realitäten. Die Übereinstimmungen scheinen mir nicht sehr überzeugend. Eure Visionärin spricht sich zum Beispiel nicht darüber aus, ob die Dämonin braun oder blond war. Merkwürdig, wenn man bedenkt, wie genau sie die Landschaft beschreibt.« »Allerdings. Aber Schwester Madeleine hat uns 784
selbst im einzelnen dargelegt, daß die Erscheinung sich im Gegenlicht aus dem Wasser hob und daß sie darum ihre Züge nicht sehen konnte.« »Nun, das nenne ich bequem«, sagte Angélique. »Und wie konnte sie behaupten, daß die Frau schön gewesen sei, wenn sie ihr Gesicht nicht zu erkennen vermochte?« »Sie sprach vor allem von der Schönheit ihres Körpers. Sie hat es deutlich durchblicken lassen. Der Körper dieser Frau schien ihr von einer so erstaunli chen Schönheit, daß das heilige Mädchen selbst da von betroffen und verwirrt war.« »Ich will Euch gern glauben, aber auch das scheint mir eine ungenügende Basis für die Ehre zu sein, mich für die Verkörperung der Dämonin zu halten. Niemand kann behaupten, mich gesehen zu haben, während ich nackt aus dem Wasser stieg …« Sie unterbrach sich jäh, und plötzlich wich das Blut aus ihren Wangen. Die Erinnerung an den kleinen blauen See, in dem sie während des Marsches nach Katarunk gebadet hatte, kehrte ihr ins Gedächtnis zu rück, verbunden mit jenem Augenblick, in dem Angst sie überkam, weil sie unter dem Eindruck stand, von irgend jemand zwischen den Bäumen beobachtet zu werden. Es war also wahr! Jemand hatte sie gesehen! Außer sich starrte sie Loménie und Arreboust an und er kannte an ihren Mienen, daß sie an dasselbe dachten wie sie! Sie wußten … Jemand hatte sie gesehen und darüber gesprochen … 785
Sie packte Loménies Handgelenk und preßte es, als wollte sie es zerbrechen. »Wer hat mich gesehen? Wer hat mich gesehen, als ich im See badete?« Ihre Augen sprühten Blitze. Der arme Malteserritter senkte den Blick. »Ich kann es Euch nicht sagen, Madame! Aber es trifft zu, daß Ihr beobachtet worden seid. Es hat die allgemeine Furcht dieser Vision wegen noch vergrö ßert.« Angélique verspürte etwas wie Panik. Sie hatte also nicht geträumt, als sie trotz der Verlassenheit des Ortes am See von einem seltsamen Unbehagen befal len worden war. »Wer hat mich gesehen?« wiederholte sie mit zu sammengepreßten Zähnen. Er schüttelte den Kopf, entschlossen, nicht zu ant worten. Sie gab ihn frei. Was tat’s? Sie hatte lange Zeit geglaubt, einem falschen Eindruck erlegen oder allen falls von einem Irokesen belauscht worden zu sein, vielleicht von Uttakeh selbst, aber nun stellte sich’s heraus, daß es einer von den französischen Kanadiern gewesen sein mußte, die sich in den Wäldern herum trieben, ein Soldat, Offizier oder Waldläufer! Und die Legende hatte sich materialisiert. Alles fügte sich ineinander. Sie war bemerkt worden, »nackt aus dem Wasser steigend«. Verflucht! Zorn überwältigte sie von neuem, und ihre Faust dröhnte auf den Tisch. »Der Teufel soll Euch holen!« stieß sie wütend hervor. »Euch, Euren König, Eure Nonnen und 786
Eure Priester! Ist denn kein Land entlegen genug, daß man in ihm Schutz vor solchen Dummheiten finden könnte? Müßt Ihr überall sein, um unter dem Vorwand, Seelen zu retten oder dem König zu die nen, Unheil zu stiften? Müßt Ihr überall auftauchen, um ehrliche Leute daran zu hindern, in Frieden zu leben? In Frieden zu baden? Fünfzigtausend Seen! Es gibt fünfzigtausend in diesem Land, und ich könnte an einem Hundstag in keinem einzigen plätschern, ohne daß einer von Euch dort herumschliche und ein harmloses Bad in eine apokalyptische Erscheinung verwandelte! Weil sich irgendein Flegel von himmlischen Visio nen heimgesucht glaubt, tanzt Ihr nach seiner Pfeife und beglückwünscht Euch, vor Gefahren gewarnt zu sein, die Neufrankreich bedrohen, weil eine Frau in einem See badet … Und wer hat mich geführt, als mir die Idee kam, Euch im Schnee zu suchen, wo Ihr gestorben wärt? Wenn es mein Herr und Meister, der Teufel, gewesen sein sollte, muß er Euch wohl in Freundschaft verbunden sein, denn es waren Eure Leben, die ich rettete. Wir haben Euch gepflegt, ha ben unsere letzten Nahrungsmittel mit Euch geteilt, mußten unser letztes Pferd töten. Und zum Dank dafür, daß Ihr durch Eure Huronen die ›Pest‹ bei uns eingeschleppt, daß Ihr unsere Gastfreundschaft genossen und Unterstützung für die Expedition Monsieur de la Salles erhalten habt, fragt Ihr Euch allen Ernstes, ob Ihr wohl unter Satansgelichter gefal len seid und in mir die angekündigte Dämonin sehen 787
müßtet … Wie lange wollt Ihr noch Kinder bleiben?« fügte sie voller Verachtung für sie hinzu, in die sich ein gut Teil Mitleid mischte. Dann fuhr sie fort: »Der Herren wegen, die Euch regieren, habt Ihr Euch heu te als feige, dumm und undankbar erwiesen. Ich will Euch nicht mehr sehen … Geht!« Sie wiederholte mit festerer, eisiger Stimme: »Geht! Verlaßt mein Haus!« Die beiden Edelleute wandten sich um und gingen mit gesenkten Köpfen zur Tür.
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Neunundsiebzigstes Kapitel
Eine bleiche, hellviolette Dämmerung von schnei dender Kälte erwartete sie draußen. Ziellos stolperten und rutschten sie über den vereisten Boden und blie ben am Rand des Sees stehen, die Augen zum bleifar benen Horizont gewandt, an dem sich alles Licht zu sammeln schien. Es wurde ihnen das für Männer ihres Alters und Schlages außergewöhnliche Abenteuer zuteil, sich in dieser Abendstunde, in der der unermüdliche Nord wind über den Schnee pfiff, verlassen wie Waisen kinder zu fühlen. Es ging ihnen allmählich auf, daß das Dasein wahr haft unerträglich für sie werden würde, wenn sie die Freundschaft Madame de Peyracs verlören. »Das haben wir nicht verdient«, murmelte Loménie bedrückt. »Nein … Aber von ihr aus gesehen, ja … Ich be greife ihren Zorn. Ich könnte mich ohrfeigen, daß ich mich zum Fürsprecher solchen Unfugs machen ließ, der diese anbetungswürdige junge Frau verletzen mußte, von der wir nur Wohltaten empfangen haben. Sie hat recht, Loménie! Wir sind Schweinehunde! Durch die Schuld der Jesuiten. Sie haben uns den Verstand mit ihren Albernheiten vollgestopft! Wir sind keine Männer mehr.« »Alle Wetter!« rief Loménie verdutzt. »Ich glaubte Euch diesen Herren von der Gesellschaft Jesu sehr 789
ergeben! Hielt Euch fast für einen der Ihren! … Seid Ihr und Eure Frau nicht ein rühmenswertes Beispiel für …« »Die Jesuiten haben mir meine Frau genommen«, unterbrach ihn der Herzog. »Ich wußte nicht, daß sie mir gehörte. Sie nutzten es, um sie mir zu nehmen. Ich existiere sozusagen nicht mehr. Sie haben einen Eunuchen im Dienst der Kirche aus mir gemacht – ein wahrlich vortrefflicher Zustand, denn die Ehe, selbst die christliche, ist in ihren Augen schuldhaft. Die Dame vom Silbersee war es, die mir endlich die Augen geöffnet hat. Sie ist so schön, so weiblich … Ich liebe ihr Feuer, die Wärme ihrer Gegenwart. Eine Frau, die man in seine Arme nehmen kann …« Er hustete, denn er hatte sehr laut gesprochen, und die eisige Luft reizte seine Kehle. »Versteht mich, Ihr, der Ihr mein Freund seid, denn niemand wird verstehen, wenn ich erst in Québec diesen Pflasterstein in den Froschtümpel werfe. Die Dame vom Silbersee gehört nur Peyrac. Sie ist dazu geschaffen, von einem Mann in die Arme genommen zu werden … Das ist es, was ich sagen will. Sie ist ge schaffen für die Arme dieses Mannes. Und das ist gut so! Sehr gut!« »Ihr deliriert, mein Freund. Ihr seid nicht mehr Ihr selbst.« »Vielleicht … Vielleicht bin ich auch dabei, es wie der zu werden. Denn was haben wir, die wir einst feurig, fröhlich und – warum nicht? – auch ein klein wenig unzüchtig waren, die wir auf Gott und das 790
Leben vertrauten, nicht alles unter einem Plunder von Zwangsläufigkeiten und mit der Wahrheit unver einbaren Forderungen hinter uns versinken sehen? Peyrac dagegen hat sich nie verleugnet. Er blieb un veränderlich wie ein Fels inmitten eines Lebens, das ihm Schändlichkeiten zufügte. Ich beneide Peyrac, und das nicht nur, weil er der Mann dieser Frau ist. Weil er sich nie verleugnet hat«, wiederholte Arreboust dickköpfig, »auch nicht angesichts des Todes!« Wie ein Fechter stieß er den Zeigefinger gegen Loménie vor, dem die Zähne vor Kälte klapperten. »Glaubt Ihr noch immer, daß sie die Dämonin ist?« fragte er. »Nein, ich habe es nie geglaubt. Erinnert Euch, daß ich in Québec solchem Geschwätz stets widersprach und daß alle Welt mich attackierte und behauptete, ich müsse verzaubert sein. Ihr übrigens als erster …« »Ja, es ist wahr. Verzeiht mir. Ich habe es jetzt begriffen. Herr des Himmels, ich sterbe vor Kälte! Kehren wir schnell zurück, und entschuldigen wir uns bei dieser charmanten Frau, die wir so schwer beleidigt haben.«
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Achtzigstes Kapitel
»Fürchtet Ihr, daß ich Euch nichts mehr zu essen ge ben könnte?« fragte Angélique, als sie die beiden zer knirscht hinter sich auftauchen sah. »Zurückgestoßen in die Hölle, wo Heulen und Zähneklappern herrscht«, zitierte der Graf de Lomé nie. »Und eine Kälte zum Steinespalten«, fügte er mit einem jämmerlichen Lächeln hinzu. Allein geblieben, hatte sich Angélique allmählich be ruhigt. Anfangs verletzt und beunruhigt, hatte ihr Sinn für Humor die Oberhand gewonnen, und bei dem Gedanken an den Streich, den ihre Ankunft in Amerika den abergläubischen, von ihrer Vision beses senen Kanadiern gespielt hatte, erwischte sie sich bei einem Lächeln. Die Verlegenheit der Sendboten des Bischofs war so etwas wie eine kleine Rache gewesen. Der arme Loménie hatte wie auf glühenden Kohlen gestanden. Was Arreboust betraf, war es ihr noch nicht gelungen herauszufinden, was ihn so verbissen machte. Der Ärger, mit einer vermutlichen Dienerin Luzifers verhandeln zu müssen, oder sein Mißfallen an der ihm aufgezwungenen Rolle des Inquisitors? Sie neigte mehr zu letzterem. Schließlich hatten sie im Lauf der letzten Wochen einander schätzengelernt. So fühlte sie sich zu Nachsicht gestimmt, als sie verle gen und reumütig vor ihr standen. Der Malteserritter erklärte ihr, daß er ihre Erregung 792
begreife und sie bitte, ihnen ihr Ungeschick zu ver geben. Sie müsse sie mißverstanden haben. Der Ge danke liege ihnen fern, sie des Umgangs mit den höl lischen Legionen zu verdächtigen. Es sei lediglich ihre Absicht gewesen, sie vor einer vorhandenen Situation, vor einer Gefahr zu warnen. Ihre Landsleute ergingen sich auf Irrwegen. Sie würden es ihnen begreiflich machen, sobald sie nach Québec zurückkehrten. Angélique reichte ihnen die Hand zum Kuß und verzieh ihnen. »Sie ist eine wahrhaft große Dame«, erklärte Arreboust später. »Ich möchte schwören, daß sie in allen Salons von Paris und selbst bei Hof empfangen worden ist, allein der Art nach, wie sie die Hand reicht.« Im Laufe der bewegten Unterhaltung mit den bei den Edelleuten hatte Angélique nichts von Joffreys Anwesenheit bemerkt. Er hatte sich geräuschlos zurückgezogen. Nun wartete er darauf, daß sie über den Zwischenfall mit ihm sprechen würde, aber sie schwieg. Nach längerer Überlegung schien es ihr, als sei die Angelegenheit einer Wiederaufwärmung nicht wert. Noch nicht! Vielleicht später, wenn sie einen Umfang annehmen sollte, der ihnen mög licherweise Schaden verursachen konnte. Zudem fürchtete sie Joffreys Reaktionen, da es sich in er ster Linie um sie handelte. Andererseits hatte ihr die Auseinandersetzung mit den Kanadiern zwei sichere Verbündete zugeführt. Zwei einflußreiche Persönlichkeiten Kanadas waren genötigt gewesen, 793
sich für sie auszusprechen. Auch Pater Massérat schien ihr nicht feindlich ge genüberzustehen. Was Cavelier de la Salle betraf, hat te er sein Geld. Es war ihm gleich, ob es von einem Dämon oder von der Vorsehung stammte. Man konn te sich nur wundern, daß dieser nüchterne, materia listische, völlig von seinen eigenen Angelegenheiten absorbierte Mann zehn Jahre lang an der Idee einer religiösen Berufung hatte festhalten können. Solange Angélique sich im Fort und unter den Ihren wußte, hatte sie keine Angst. Die Situation war völlig anders als die, mit der Joffrey es zu tun gehabt hatte, als er der Hexerei angeklagt und von den Spitzeln des Königs und der Inquisition bis in sein eigenes Palais verfolgt worden war. Frei! Sie begann die Realität dieses Wortes tiefer zu begreifen, wenn ihr Blick über die verschnei ten, jungfräulichen Berge glitt. Ein Land, das weder Fürsten noch Vasallen kannte und sich um die Rechte des Königs von Frankreich oder seines Kollegen von England wenig kümmerte. Es war zu riesig für die wenigen Menschen, die es sich anzueignen versuchten. Im Fort verspürte Angélique noch eindringlicher, daß ihr Schicksal al lein von Joffrey abhing, und daß er die Macht besaß und die Kraft haben würde, sie gegen alle und jeden zu verteidigen. Er sicherte ihr zu, daß im Frühling we nigstens zwanzig bis dreißig Söldner nach Wapassou in Marsch gesetzt würden, was ihnen eine ständige Garnison beließ, die selbst die der wichtigsten fran 794
zösischen Niederlassungen zwei- bis dreifach an Zahl übertraf. Diese Leute würden ein Fort errichten, dessen Pläne schon jetzt wahre Wunderdinge verspra chen. Angélique liebte es, sich mit Joffrey und ihren Söhnen über diese Pläne zu beugen. Sie beschäftigte sich mit der Behaglichkeit der Hausbewohner, rich tete abgetrennte Räumlichkeiten für die Ehepaare ein, einen allgemeinen Speisesaal und einen zweiten Saal anschließend an ein Magazin, den die Indianer betreten und in dem sie nach Herzenslust rülpsen und spucken könnten. Dazu einen Garten, einen Küchengarten, Ställe … Eine Wetterberuhigung im März schien günstig für den Aufbruch der verschiedenen Gruppen. Wenn sie noch länger warteten, riskierten sie, in den weichen Schnee des Winterendes zu geraten, der zuweilen noch reichlicher fiel, aber schwer, naß und verräte risch war. Nicolas Perrot machte sich südwärts auf den Weg, um Pacifique Jusserand, dessen Augen ihm noch nicht erlaubten, allein zu gehen, zur Mission von Norridgewood zurückzugeleiten. Der Indianer, der den »Dienenden« begleitet hatte, wurde Arreboust, Loménie und Pater Massérat für den Rückmarsch nach Québec beigegeben. Schließlich kam die Gruppe an die Reihe, die den längsten Weg vor sich hatte: in westlicher Richtung über den Champlainsee nach Montréal. Sie bestand aus Cavelier de la Salle, Florimond, Yann Le Couénnec 795
und einem jungen Indianer des benachbarten kleinen Stammes, der darum gebeten hatte, mitgenommen zu werden. Die Teilung der Lebensmittel stellte die kleine Gemeinschaft vor schwierige Probleme. Gesal zenes Fleisch, Rauchfleisch, Maismehl, Branntwein … Wenn man allen das Notwendige für mehrere Marschwochen mitgab, blieb für die Zurückblei benden so gut wie nichts übrig. Also vertraute man auf die Vorsehung, die ihnen schon Wild in den Weg schicken würde. Am Tage des Aufbruchs stand Angélique mit ei nem Becher und einer Kruke mit Branntwein in den Händen auf der Schwelle des Hauses. Jeder mußte zum Abschied einen Steigbügelschluck trinken, ob wohl es kein Pferd zu besteigen gab. Die Schneereifen hatten sie auf dem Rücken befestigt. Der noch harte Schnee würde es zumindest fürs erste erübrigen, sich ihrer zu bedienen. Die trockene Kälte hielt, wenn auch leicht gemil dert, noch immer an, und falls es während der näch sten sechs Tage so blieb, waren die Reisenden außer Gefahr … Als Florimond seine Mutter umarmte, verriet er keinerlei Bewegung, nicht einmal jugendliche Freude über den so lange erwarteten Aufbruch. Er war ruhig. Ein letztes Mal prüfte er mit seinem Vater die Instrumente und Karten, die er mitnahm, wech selte noch einige Worte mit ihm. Neben Cavelier de la Salle und selbst dem Bretonen schien er der Älteste. Warum, wußte niemand so recht zu sagen, 796
aber jeder spürte, daß sich die anderen in schwierigen Situationen nach und nach daran gewöhnen würden, das entscheidende Wort von ihm zu erwarten. War es das edle Blut, das sich durchzusetzen begann? Schließlich wandte Florimond seinen schwarzen Blick der Ferne zu, mit der er es nun aufnehmen würde, und während er zum Seeufer hinunterstieg, spürte Angélique das heiße Schlagen ihres Herzens. Aber es war eine Regung der Bewunderung und Freude. Auch der Befriedigung. Ein neuer Joffrey de Peyrac schritt davon, quer durch die Welt … Kurz vor Aufbruch der verschiedenen Gruppen hat ten Octave Malaprade und Elvire die Anwesenheit Pater Massérats genutzt und geheiratet. Anfangs hatte sich der Jesuit unzweideutig geweigert, der Vereinigung eines guten Katholiken mit einer noto rischen Protestantin zuzustimmen. Dann war er mit Malaprade zu einem Gespräch unter vier Augen zu sammengetroffen, bei dem er ihn daran erinnerte, daß die Ehe ein Sakrament sei, das sich die Eheleute ge genseitig spenden konnten, und daß die Mitwirkung eines Priesters in keiner Weise vorgeschrieben sei, abgesehen von seiner Unterschrift als Zeuge in den Registern einer Nation. Wenn er recht verstanden habe, sei es Monsieur de Peyrac, der hier sozusagen als Standesbeamter ihrer Nation fungiere. Was den göttlichen Segen betreffe, hindere die Eheleute, die solcherart ihr Gelöbnis zu 797
krönen wünschten, nichts daran, ihn wie alle anderen Mitglieder einer Versammlung von Gläubigen gele gentlich ihrer Teilnahme an irgendeinem Gottesdienst zu empfangen. Malaprade war nicht engherzig. Er erklärte, er habe verstanden, und ging davon, ohne auf seiner ursprünglichen Absicht zu beharren. Doch seltsa merweise drängte sich am folgenden Morgen fast die gesamte Bevölkerung des Forts ordentlich gekleidet in dem Verschlag, in dem Pater Massérat die Messe zelebrierte, und als der Priester sich umwandte, um das Zeichen des Kreuzes über seiner Gemeinde zu schlagen, konnte er im Hintergrund Seite an Seite zwei demütige Gestalten erkennen, deren Hände an diesem Tage je ein goldener Ring zierte. So wurden Octave Malaprade und Elvire vor Gott und den Menschen einander angetraut. Man richtete ihnen im Speicher eine Kammer ein. Als die Sendboten Monsieur de Frontenacs nach Québec zurückkehrten, wo man sie seit langem im Schnee umgekommen oder vom Grafen de Peyrac er mordet wähnte, wurden sie wie Wiederauferstandene empfangen. Man hatte den Eindruck, daß sie wenigstens aus der Hölle kämen, und umgab sie mit erschauerndem Respekt. Der ernste Herzog d’Arreboust verwirrte sie alsbald durch ein joviales Benehmen, das man nicht an ihm kannte, und Erklärungen, die sie in äußerstes Erstaunen setzten. 798
»Das Übel ist geschehen«, sagte er. »Ich bin verliebt. Ich bin verliebt in die Dame vom Silbersee.« Der Graf de Loménie-Chambord hielt an seiner früheren Auffassung fest. Trotz der Enthüllungen der Visionärin, trotz des Todes Pont-Briands, der alle Welt aus der Fassung brachte, fuhr er fort, in den Fremden von Wapassou Freunde zu sehen. Er verbrachte einen ganzen Tag mit dem Gou verneur hinter verriegelten Türen im Schloß SaintLouis und zog sich danach in eine stille Klause bei den Jesuiten zurück. Wenn man vom Tode Pont-Briands sprach, erklärte der Herzog: »Er hat ihn verdient.« Er äußerte sich weitschweifig über seine Abenteuer und seinen Aufenthalt bei den »gefährlichen Ketzern«, beschrieb die fast schon legendär gewordenen Gestalten, die hohe Statur und das Wissen Peyracs, die Bergleute, die in ihren geschwärzten Händen Goldbarren hielten, und ihre Schönheit. Sobald er bei diesem Punkt anlangte, strömten ihm die Worte unerschöpflich zu. »Ich bin in sie verliebt«, wiederholte Arreboust mit kindischer Beharrlichkeit. Gerüchte über seine liederlichen Äußerungen ge langten bis nach Montréal, und seine Frau, der der Verdruß zu einem Gesinnungswandel verhalf, schrieb ihm: »Man trägt mir ärgerliche Berichte über Euch zu … Ich, die ich Euch liebe …« 799
Er antwortete ihr: »Nein, Ihr liebt mich nicht, Madame, und auch ich liebe Euch nicht …« Niemals hatten um diese Jahreszeit so viele mit Schneereifen ausgerüstete Boten die sechzig Meilen durchmessen müssen, die die beiden Städte trenn ten. Niemals war das Wort »Liebe« in Québec wie in Montréal und Trois-Rivières, das es auf seinem Wege streifte und wo man schon gar nichts davon verstand, so oft ausgesprochen worden, und niemals hatte man so ausgiebig diskutiert, um die Bedeutung dieses we sentlichen Gefühls zu definieren. Monsieur d’Arreboust gestand selbst ein, daß in ihm etwas in Unordnung geraten sei, aber niemand war bereit, ihm zu folgen, wenn er behauptete, daß es sich bei dieser Unordnung um etwas Gutes handle. Er zeigte sich recht befriedigt über seine skandalösen Erklärungen und brachte den entzückten Frontenac zum Lachen. Der Gouverneur hatte gewünscht, daß die mit dem Grafen de Peyrac angeknüpften Verhandlungen fortgeführt würden, und der Herzog und er gratulierten einander vor einem brennenden Baumstamm im hohen Saal des Schlosses zu dem erzielten Erfolg und plauderten über den Zauber schöner Frauen und über die Freuden und Leiden der Liebe, denn Frontenac hatte in Frankreich eine charmante, flatterhafte und vergeßliche Frau zurück gelassen, die er sehr vermißte. Leidenschaftliche Diskussionen, glühende Träume 800
reien, grandiose Projekte hielten die Herzen lebendig, erwärmten die Geister und halfen den Kanadiern an diesem Winterende zu überleben. Denn die Zeit des Hungers, der Entkräftung durch die Kälte war ge kommen, selbst in den Städten. Man fürchtete, nicht bis zur Ankunft der ersten Schiffe aus Frankreich ausharren zu können. Man wußte, daß in den trost losen Weiten der Tod wie ein schneidender Blizzard umging. Die Garnisonen der entlegenen Forts begru ben ihre Skorbutkranken. Inmitten von Stämmen, die ihre Vorräte verzehrt hatten, nagten Missionare an ihren Hirschledergürteln. Von Hungersnot getrieben, brachen ganze Dörfer zu unbekannten Zielen auf und starben auf den weißen Pfaden. In anderen warteten die Bewohner, fröstelnd in ihre roten und blauen Tauschhandelsdecken gehüllt, neben verglimmenden Feuern auf das Ende … Als Anfang April von neuem tagelang schwerer, eisiger Schnee fiel, verbreitete der Militärgouverneur, Oberst de Castel-Morgeat, einer der erbittertsten Feinde der Leute von Wapassou, überall in Québec mit spöttischem Lächeln, daß es sich nunmehr erüb rige, deren Vorzüge oder Nachteile noch länger zu diskutieren, da sie mit ihren Frauen, ihren Kindern und Pferden zweifellos in ihrer Waldeinsamkeit um gekommen seien.
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Einundachtzigstes Kapitel
Von Tag zu Tag empfand Angélique ihre Erschöpfung stärker. Morgens fing es an. Kaum hatte sie erwartungsvoll die Augen geöffnet, verspürte sie auch schon die blei erne Schwere ihres Körpers, die zu überwinden ihr die Kraft fehlte. Dabei hatte sie nirgends Schmerzen. Es war etwas in ihrem Innern. Sie war nicht schwan ger, das wußte sie nun; irgend etwas in ihr war ge brochen, was sie nicht mehr zusammenzufügen ver mochte. »Ich bin erschöpft«, sagte sie erstaunt. Es half auch nichts, einfach liegenzubleiben, im Gegenteil. Sie wurde nur noch schwerer, apathischer, ein Stück Holz mit wachem Geist, das danach verlangte zu han deln, sich aber trotzdem ebensowenig rührte wie ein Scheit. Florimond fehlte ihr. Er war so heiter, immer gut gelaunt und mit derselben Abneigung gegen Selbst bemitleidung gesegnet wie sein Vater. Wenn er es einmal tat, dann mit Humor, wie an dem Tag, an dem er gerufen hatte: »Und ich? Und ich?«, weil sich nie mand um ihn kümmerte, obwohl er vor Erschöpfung zusammengebrochen war. Selbst dann spielte er den Possenreißer und brachte die anderen zum Lachen. Er war sehr französisch in seinem Temperament, geladen mit jener selbst im Vorzimmer des Königs heimischen populären Begabung, einer Situation das Beste abzugewinnen und desto mehr über sie zu 802
scherzen, je peinlicher und unbequemer sie ist. Sie war seinetwegen nicht besorgt. Sie wäre es vielleicht gewesen, wie alle Mütter, hätte sie noch Kraft genug zum Nachdenken besessen. Aber sie war so müde, daß sie diese Sorge beiseite ließ. Viel dringlicher war die um die Nahrungsmittelreserven, die sich jeden Tag verringerten. Der fade Maisbrei wollte nicht mehr schmecken. Es fehlte wieder völlig an Salz. Das Fleisch war so hart, daß man endlos auf ihm herum kauen mußte. »Ich bin erschöpft«, wiederholte sich Angélique. Und zuweilen sagte sie es mit lauter Stimme, wie um sich durch ein Geständnis zu trösten, das sie sonst niemand zu machen wagte. Mit Anstrengung erhob sie sich von ihrem Lager. Jede Bewegung fiel ihr schwer, aber wenn sie sich nach gründlichem Waschen angezogen, ihre Haube gerich tet hatte und die Halfter mit ihrer Lieblingspistole an ihrer Hüfte spürte, fühlte sie sich schon besser. Ihre Müdigkeit war fast völlig verschwunden. Doch war sie so nervös, bevor sie nicht irgend etwas zu sich ge nommen hatte, daß sie es nach Möglichkeit vermied, mit jemand zu sprechen, aus Angst, das harmlos be gonnene Gespräch könnte in Vorwürfe oder noch Schlimmeres ausarten. Es war ihr zwei- oder drei mal passiert, einmal mit Honorine, die danach den ganzen Tag geheult hatte, ein andermal mit Cantor, der seitdem schmollte, und einmal mit Clovis, der auf den Boden gespuckt und sie dadurch so gereizt hatte, daß sie sich um ein Haar wie eine Megäre mit 803
diesem Holzkopf gerauft hätte. Später hatten sie sich wieder versöhnt. Man mußte eben zugeben, daß der Körper verletzlich und der Geist ohne die rechte kör perliche Unterstützung fehlbar war. Sie lebte ständig in Unfrieden mit sich selbst, als hätte sie sich ein Versagen vorzuwerfen. Eines Abends sprach sie mit Joffrey darüber, während sie, neben ihm ausgestreckt, ihren Kopf an seine Schulter sinken ließ. »Es ist einfach der Hunger, mein Kleines«, sagte er, zärtlich ihren mageren, schmerzenden Bauch streichelnd. »Sobald Ihr wieder nach Herzenslust schmausen könnt, wird Euch das Dasein wieder in seinen freundlichsten Farben erscheinen.« »Aber Ihr beklagt Euch nie! Eure Laune ist immer gleich … Wie macht Ihr das?« »Ich bin ein alter, im Feuer gehärteter Knochen.« Und er preßte sie lange an sich, wie um ihr die männliche Kraft seines unbezähmbaren Körpers mitzuteilen. Sie schlang ihre Beine um die seinen, umfing ihn mit ihren Armen und schlief, die Stirn an seine harte Brust gedrückt, ein. »Ich fühle«, sagte sie ihm eines Tages, »daß die Frau wirklich aus der Seite des Mannes entsprungen ist, wie das Kind aus der Frau entspringt.« Oft litt sie an unerträglichen Kopfschmerzen, und am folgenden Tage fiel der Schnee in dichten Schleiern. Dieses Schnees wegen, der nicht mehr gefror, kehr te Nicolas Perrot erst Ende März zurück. Trotz der Schneereifen war er mit seinem Indianer mehrere 804
Male in Schneewehen versunken und fast verschüttet worden. In der Mission von Norridgewood hatte er nur einen Vertreter Pater d’Orgevals vorgefunden, Pater de Guérande, und ihm Pacifique Jusserand übergeben. Eigentlich hatte er noch weiter südwärts bis zum Handelsmagazin des Holländers vorstoßen wollen, aber angesichts des schrecklichen Wetters, das den Marsch verlängert hätte, und der Ungewißheiten des Frühlings, der Wege und Flüsse unpassierbar ma chen würde, sobald erst einmal Tauwetter einsetzte, war er sofort wieder nach Wapassou aufgebrochen. Er schlug eine große Jagd vor. Ein Teil der Männer soll te ihn nach Westen begleiten, bis zum Umbagogsee im Gebiet Mopountooks. Es war die Zeit, in der die Wilden scharenweise zu jagen begannen, aufge scheucht durch den Hunger und die Notwendigkeit, Pelzwerk für den Tauschhandel zu beschaffen. Die brünstigen Hirsche, die die froststarren Wälder schon mit ihrem Röhren erfüllten, waren eine leichte, wenn auch nur mäßig lohnende Beute, da der Winter und die Kämpfe mit ihren Rivalen sie mitgenommen hat ten. Man konnte auf Herden von Hirschkühen stoßen, man würde den schlafenden Bären in seiner schon im Herbst entdeckten Höhle töten und natürlich alle Biber mit Knüppeln erschlagen, die die Jahreszeit schon hier und da aus ihren Schlupfwinkeln lockte. Die mit Pulver- und Bleireserven ausgestatteten wei ßen Jäger würden den Indianern hochwillkommen sein. Um den größten Teil der Nahrungsmittel dem Fort zu belassen, beschloß Perrot, pro Mann nur ein 805
wenig Talg, Mehl, Mais und zerstoßenes, mit Kräutern gewürztes Trockenfleisch mitzunehmen, eben genug, um während des Marsches zweimal täglich auf india nische Art essen zu können: aus der hohlen Hand, in der man ein wenig von allem mit Wasser versetzte und zu einem Brei vermengte. Er rechnete mit sechs Marschtagen. »Und wenn Ihr durch Sturm oder Tauwetter aufge halten werdet?« fragte Angélique, der diese Proviant mengen ungenügend schienen. »Wir werden jagen! Die Vögel rühren sich schon im Unterholz … Schneehühner, Brachvögel, zuwei len sogar Labradorgänse. Hasen gibt’s auch … Macht Euch um uns keine Sorgen, Madame. Auf diese Art haben wir zu Zeiten Monsieur de Tracys Krieg ge führt. Hundertzwanzig Meilen mitten im Winter bis zu den irokesischen Dörfern im Mohawktal. Unglücklicherweise steckten wir in der Aufregung die Speicher der Irokesen in Brand, ohne daran zu denken, daß wir selber keinen Proviant für den Rückmarsch hatten.« »Und was geschah?« »Viele sind draufgegangen«, erwiderte Perrot philo sophisch. Ausstaffiert mit seiner Pulverbirne, über der Brust sich kreuzenden Patronenstreifen, seinem Hirsch fänger in einer mit Perlen und Stachelschweinborsten bestickten Scheide, mit Branntweinkürbis, Axt, Keule, Feuerzeug und seiner Pfeife, mit Beuteln für Kiesel steine und Tabak, seinem lederbefransten Kapuzen 806
mantel und seinem fünffach gerollten vielfarbigen Gürtel, machte er sich wieder auf den Weg, uner müdlicher Wanderer durch die Wälder, schritt er mit dem schwerfälligen Sohlengängerschritt seiner Schneereifen an der Spitze seiner kleinen Schar da von. Seinen Proviantsack vergaß er auf dem Tisch, und Angélique mußte hinauslaufen, um ihm nachzuru fen. Sie waren schon weit drüben auf der anderen Seite des Sees und gaben ihr durch Zeichen zu verstehen, daß es nichts ausmachte. Gott befohlen! Sie tauchten ins Unterholz, ins wattige, arglos wir kende Universum schwer mit Schnee befrachteter Bäume, die sich gleich salbungsvollen Pyramiden, feierlichen Kerzen, bleichen Gespenstern um sie erhoben, und ihre Passage hinterließ noch lange ein glitzerndes Kielwasser aufstäubender Schneekristalle. Von Frauen und Kindern abgesehen, blieb nur eine kleine Anzahl von Männern im Fort zurück, und selbst für diesen Rest erwiesen sich die Nahrungsmittel als nicht ausreichend. Clovis hatte die Jäger begleiten sollen, aber am Vorabend des Aufbruchs wurde er von einer schwe ren Bleisalzvergiftung befallen. Kouassi-Ba bemerkte noch rechtzeitig, daß die Zunge des Schmieds ge schwollen war, der sich zudem über einen unerklär lichen zuckrigen Geschmack wunderte. Als er den kleinen Verschlag betrat, in dem der Auvergnat seine 807
metallurgischen Verrichtungen vorzunehmen pflegte, stellte der Schwarze fest, daß der zweifellos frösteli ger gewordene Clovis alle Ritzen und Öffnungen verstopft hatte, die die Kälte, aber auch frische Luft eindringen ließen, ohne zu überlegen, daß die schäd lichen Dämpfe des Kupellierungsprozesses auf diese Weise nicht abziehen konnten. Kouassi-Ba benach richtigte sofort den Grafen de Peyrac, und man gab dem Kranken einen beruhigenden Aufguß zu trin ken, um die Schmerzen der furchtbaren Koliken zu mildern, die ihn zu quälen begannen. Aber das einzige Medikament, mit dem sie diese Art von Vergiftung nachhaltig hätten bekämpfen können, fehlte: Milch. Seitdem sie in Amerika angelangt wa ren, hatten sie keinen Tropfen mehr gesehen und schon gar nicht getrunken. Im Grunde sogar seit ihrer Flucht aus La Rochelle, wenn man die wenigen Löffel voll Ziegenmilch nicht rechnete, die auf der Gouldsboro für die Kinder reserviert gewesen waren. In Ermangelung von Milch empfahlen die Bergleute die zerstampften, rohen Innereien des Kaninchens, vor allem Leber und Herz, als wirkungsvolle Mittel. Doch woher nehmen? Cantor, den sein Vater mit der Aufsicht über die Fallen betraut hatte, um ihn über die Schmach hinwegzutrösten, daß er sich den Jägern nicht hatte anschließen dürfen, kam von einem seiner Rundgänge mit zwei weißen Hasen zurück. Angélique war so glücklich darüber, daß sie zu begreifen begann, warum die französischen Kanadier überall in diesem Lande Wunder sahen. 808
Sobald er die vom Grafen de Peyrac selbst zube reitete Mixtur geschluckt hatte, fühlte der Schmied sich besser, und man wußte ihn außer Gefahr. Aber er mußte lange Tage sein Lager hüten, fröstelnd unter seinen Decken trotz der erhitzten Steine, die man un ter das Laken schob, um ihn zu wärmen. Angélique hatte nicht mehr die Kraft, für ihn zu sorgen. »Zum Glück handelt sich’s um Euch, Clovis. Ihr seid störrisch genug, um Euch allein zu verteidigen, denn ich kann’s nicht mehr.« Doch Clovis weigerte sich jammernd, sich von Madame Jonas oder Elvire pflegen zu lassen. »Ich will, daß sie’s tut, sie«, protestierte er. »Mit euch andern ist es nicht dasselbe. Sie hat irgendwas an den Händen, was heilt …« Infolgedessen sah Angélique sich gezwungen, sich zuweilen an sein Lager zu setzen und ein wenig mit ihm zu plaudern, um zu verhindern, daß er sich durch trübseliges Grübeln schwächte. »Was werdet Ihr mit dem Gold anfangen, das Ihr bei Monsieur de Peyrac verdient?« fragte sie ihn eines Tages. Seine Antwort war so erstaunlich, daß sie zunächst annahm, er phantasiere. »Wenn ich genug Gold zusammenhabe, werd’ ich’s im Meeresgrund verscharren, in einer kleinen Bucht des Mont Desert bei Gouldsboro, und dann werd’ ich nach Neugranada in Südamerika gehen. Da soll’s Smaragde groß wie Kohlenstücke geben. Ich 809
werd’ schon welche finden. Und danach geht’s nach Ostindien. Man hat mir erzählt, daß man da nach Rubinen, Saphiren und Diamanten graben kann, und wenn’s nötig ist, reiß’ ich sie aus den Augen der Götzenbilder in den Tempeln. Wenn ich alles habe, was ich an Edelsteinen brauche, hol’ ich mir mein Gold und schmiede ein Gewand für die kleine Foy in Conques. Eine Krone auch und mit Edelsteinen be setzte Pantoffeln, schöner als alles, was sie schon für sie gemacht haben.« Angélique erkundigte sich verblüfft, wer diese Foy in Conques wohl sei. Eine alte Liebe? Eine verstorbe ne Verlobte? Clovis warf ihr einen ebenso grimmigen wie entrüsteten Blick zu. »Wie? Ihr kennt Sainte-Foy-de-Conques nicht, Madame? Es ist das größte Heiligtum der Welt! Habt Ihr nie davon sprechen hören?« Angélique gestand ihren unverzeihlichen Mangel an Gedächtnis ein, der auf ihre Erschöpfung zurück zuführen sein müsse. Natürlich habe sie von dem Heiligtum von Conques-en-Rouergue in den Bergen der Auvergne gehört. In einer befestigten Kirche, in einem Reliquienschrein aus purem Gold, bewahrte man dort einen Zahn und ein paar Haare der kleinen Märtyrerin aus dem dritten Jahrhundert auf, die im Rufe stand, viele Wunder zu wirken, speziell zugun sten von Gefangenen, denen sie bei ihren Ausbrüchen half. »Dreimal hab’ ich ihr schon meine Ketten ge bracht«, erklärte Clovis stolz. »Die dicksten Ketten, 810
die man sich vorstellen kann. Die aus dem Gefängnis von Aurignac, die aus dem Turm von Mancousset und die aus dem Drecksverlies des Bischofs von Riom.« »Seid Ihr wirklich ausgebrochen?« fragten die Kin der, die sich genähert hatten. »Na ja … klar. Und ohne viel Umstände, dank der kleinen Heiligen, die mir beistand.« Als Angélique durch andere Pflichten abgerufen wurde, übernahm Honorine die Wache bei dem Kranken und nahm dessen mächtige schwärzliche Tatze in ihre kleinen Hände, wie sie es bei ihrer Mut ter gesehen hatte. Angélique war schon im Laufe des Winters aufgefal len, daß die Kleine ihre Zuneigung gerade den unzu gänglichsten unter ihren Gefährten zuwandte. Jacques Vignot und Clovis waren ihre besonderen Lieblinge. Sie machte unablässig Anbiederungsversuche und be dachte sie mit so vielen kleinen Aufmerksamkeiten, daß sie schließlich kapitulierten. »Warum gefall’ ich dir denn so?« hatte der Zimmer mann gefragt. »Weil du so laut schreist und so schlimme Worte sagst!« Honorine wurde dünn und blaß; ihr kränkliches Aussehen wurde mit jedem Tag offenbarer. Das Haar schien ihr nicht mehr wachsen zu wollen, und Angélique sah sie bereits kahlköpfig fürs Leben. Zwanzigmal am Tag warf sie dem Kind einen be unruhigten Blick zu. Sie bemerkte, daß die Kleine 811
oft ihre Lippen wie in einer Grimasse über dem ge schwollenen Zahnfleisch hochzog, und sie zitterte bei dem Gedanken, daß die schreckliche Krankheit der Überwinterungen sich eingestellt haben könnte: der Skorbut, die Krankheit der Erde. Wie Joffrey wußte sie, daß nur Gemüse oder neue Früchte die Krankheit verhindern konnten, aber noch immer bedeckte Schnee den Boden.
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Zweiundachtzigstes Kapitel
Joffrey erahnte die tiefe Müdigkeit seiner Frau. Sie war weniger fröhlich, sprach kaum, setzte sich nur noch für Wesentliches ein, wandte an Kraft nur auf, was sie zum täglichen Leben, zur Erhaltung ihrer eige nen Gesundheit und der der andern, ihr Anvertrauten brauchte. Die Sorge um ihre Tochter, um ihren Sohn, der zu husten begonnen hatte, um die Kranken und die, deren Widerstandskraft gefährdet schien, schließ lich um ihn selbst füllte sie völlig aus und nagte an ihr. Wenn er sich abends neben ihr ausstreckte, weckte die Wehrlosigkeit dieses bezaubernden Körpers sein Verlangen, und er wußte, daß sie ihm nachgeben wür de, wenn er sie umwarb, aber er spürte in ihr eine Abwesenheit, aus der sie nicht herauszufinden ver mochte. Abwesenheit und Anwesenheit zugleich. Gewissenhafte Anwesenheit bei allem, was es zu verteidigen galt. Abwesenheit dort, wo etwas nicht zum Überleben beitrug. Und er bewunderte die in stinktive Unterwerfung der Kreatur Frau unter die natürlichen und irdischen Gesetze. In dieser Frau, die blaß und müde neben ihm ruhte, zugleich ab wesend und beunruhigt, apathisch und wachsam, erkannte er das gegenwärtige Unbehagen der Erde, der ganzen Natur, die ihre letzten Kräfte einsetzte, um die Schwelle des Winterendes zu überschreiten, die sie auch sammelte, um dem wütenden Ansturm des Frühlings gewachsen zu sein. Es war die Zeit des 813
Todes vor der Wiedergeburt. Bäume starben, Tiere starben, vom langen Kampf erschöpft, Menschen starben, die Hände leer vom letzten Mais, nur wenige Tage von neuer Hoffnung entfernt. Während im Wald die unbezähmbaren Knospen schon aus den starren Zweigen brachen, hauchten die Geschöpfe ihren letz ten Seufzer aus. Ohne sich dessen bewußt zu sein, befand sich Angélique im Gleichklang mit diesem Endkampf der Natur … Er beugte sich mit einer Art von Respekt über sie, streichelte ihr weich fallendes Haar und flüsterte ihr tröstende Worte zu. Zusammen berechneten sie, wann die Jäger mit frischem Wild zurückkommen könnten, verteilten in Gedanken zum soundsovielten Mal die Rationen, beschlossen, die des Schmieds zu erhöhen, der sich nur langsam erholte. Und sollten sie Eloi Macollet gewähren lassen, der davon sprach, das Eis der Teiche aufzuschlagen, um Biber oder irgend sonst was zu fischen? Er konnte sich verirren, trotz seiner Abhärtung krank werden, denn er war sehr alt … Oft nahm Angélique Honorine auf ihre Knie, blieb am Kamin und sah den tanzenden Flammen zu. Das sonst so lebhafte Kind suchte Zuflucht bei ihr. Es schmiegte sich in die Wärme der sie umschlie ßenden mütterlichen Arme, an die Brust, die es ge nährt hatte. Zuweilen erzählte ihm Angélique eine Geschichte oder sang ihm ein Liedchen vor. Aber sie konnten auch lange Zeit schweigen, und auch das waren angenehme Stunden, Stunden eines vegetati ven Sichzurückziehens, deren Vertrautheit sie beide 814
genossen. Angélique fühlte sich nicht mehr schuldig, machte sich keine Vorwürfe mehr. Die Situation be rechtigte sie zu einer Untätigkeit, die ihr zu anderen Zeiten nicht natürlich gewesen wäre. Und dann war ja Joffrey neben ihr, Joffrey, dem Hunger und Kälte nichts anhaben konnten und der sie allein durch seine Gegenwart am Leben erhielt. Dennoch war mit ihm eine Veränderung vorge gangen, die sie im Augenblick nicht wahrnahm und deren sie sich erst später mit Rührung erinnern sollte. Er, der Herr, hatte sich in einen Dienenden verwan delt. Er widmete sich den schwachen und bedrohten Wesen, für die er die Verantwortung trug. Weil er wußte, daß er viel, das heißt das Überleben, von ih nen verlangte, suchte er es ihnen zu erleichtern. So half er Madame Jonas, die schweren Kessel in den Kamin zu hängen und die Wassereimer zu tragen, erneuerte er die Verbände der Verletzten oder pfleg te die Kranken, um Angélique wenigstens einen Teil dieser stets wiederkehrenden Pflichten zu ersparen. Er verscheuchte Cantors schlechte Laune durch ein paar freundschaftliche Scherze, beendete durch einen heilsam-herzlichen Schlag auf die Schulter wegen ir gendwelcher Nichtigkeiten aufflackernde Streitereien und zerstreute die Kinder, indem er ihnen in der Schmiede oder im Laboratorium, wo nur noch lang sam gearbeitet wurde, kleine Zauberkunststückchen vorführte, die sie entzückten. Mit Cantor oder Lyman White inspizierte er die Fallen, und eines Tages sah ihn Angélique nach sei 815
ner Rückkehr selbst das Tier, eine Moschusratte, mit lässiger Geschicklichkeit abziehen. Mit ein paar ruhigen Worten brachte er es fertig, Elvire vor einer Depression zu bewahren, die sie mit Gewissensbissen erfüllte und an ihrer neuen Liebe zweifeln ließ. Malaprades Abwesenheit quälte sie, und unablässig verfolgte sie der Gedanke, daß der Allmächtige ihr den zweiten Mann wieder nehmen könnte, da sie sich über den Tod des ersten so schnell getröstet hatte. »Grübelt nicht, solange Ihr Hunger habt«, sagte ihr Peyrac, »und vermengt nicht den großen, majestäti schen Gedanken an Gott mit den Trugbildern, die Ihr Euren Magenkrämpfen verdankt. Der Hunger ist ein schlechter Ratgeber. Er greift die Selbstachtung an und erniedrigt. Er legt egoistische Kräfte frei und führt in eine verächtliche Einsamkeit. Bleibt darum stark. Euer Gatte wird zurückkehren, und Ihr werdet mit ihm zusammen essen.« Alle betätigten sich in diesen Tagen wie Automaten, langsam, aber mit Sorgfalt. Wenn das unbedingt Notwendige getan war, riet Peyrac, sich ins Bett zu legen und zu schlafen. »Wer schläft, ißt«, sei ein altes Sprichwort. Auch dann sah man ihn noch erhitzte Steine unter die Decken derer schieben, die an die se Vorsorge nicht gedacht hatten. Er erhob sich des Nachts, um das Feuer zu überwachen und in Gang zu halten. Eines Tages sagte er zu Angélique: »Nehmen wir doch die Kleine zu uns ins Bett, um ihr zu helfen, sich ihre Wärme zu erhalten.« 816
Er hatte bemerkt, daß Angélique jeden Abend stär kere Abneigung dagegen empfand, Honorine allein in ihrem kleinen Bett gegen die schwarze Feindseligkeit der Nacht kämpfen zu lassen. Die Temperatur sank so tief, daß die geschwächten Körper sich nur lang sam wieder erwärmten. Im Morgengrauen schlotter te man unter den Decken vor Kälte. Zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter war Honorine so glücklich, daß die Farbe in ihre Wangen zurückkehrte. Während der Wind draußen heulte, schlief sie zwischen ihnen wie ein kleines, zufriedenes Tier. Wenn das Wetter schön war, zwangen sich die Bewohner Wapassous, ein paar Schritte in die näch ste Umgebung zu wagen, kehrten aber meistens sehr rasch in die Geborgenheit des Forts zurück. Es dauer te lange, bis sie wieder warm wurden. Honorine hatte danach immer weiße, eisige Hände. Angélique ließ sie sie in warmes Wasser tauchen und tat es ihr nach. Mehr als früher begannen sie das Holz zu schätzen, das immer getreue, unermüdlich im Kamin knisternde Holz, und mehr als je wachte Peyrac darüber, daß kein Brand entstehen konnte. Da infolge körperlicher Schwäche die Aufmerksamkeit der anderen nach ließ, verdoppelte er die seine, machte jeden Abend einen Rundgang durch die Räume und trat mit ei ner Laterne hinaus, um sich zu überzeugen, daß sich nichts Brennbares in der Nähe der Schornsteine befand und kein Funke das Schindeldach bedrohen konnte. Vor allem, als der Schnee zu schmelzen be gann … 817
Plötzlich wurde es sehr warm. Die mit Feuchtigkeit gesättigte Atmosphäre erinnerte an die Luft der Ge wächshäuser. Die erschöpften Körper bedeckten sich mit Schweiß, und man verbrachte seine Zeit damit, sich aus den pelzgefütterten Kleidungsstücken zu schälen, Türen und Fenster aufzureißen und die Feuer in den Kaminen zu löschen, um sie abends schleunigst wieder anzuzünden, wenn die glühende Sonne am Horizont versank und die Welt von neuem in frostige Finsternis tauchte. Während des Tages schmolz der Schnee, schmolz mit unterirdischem, unaufhörlichem Rieseln. Er sah aus wie mit Wasser durchtränkte Watte. In schweren Packen klatschte er von den Bäumen. In zwei Tagen wurde der makellos weiße Wald grau, dann schwarz, mit zahllosen Girlanden glitzernder Tropfen behängt. Aber es brauchte mehr Zeit, die hier und da ums Haus zusammengewehten Schneeberge abzutragen und den Boden von der dicken Eisschicht zu befrei en, die sich nach und nach gebildet hatte. Nachts ver lieh ihr der Frost wieder Marmorhärte. Die Eiszapfen am Dachrand lösten sich und zersplitterten mit dem Geräusch brechenden Glases. Das einzige unmittelbare Resultat dieser Rückkehr der Wärme war das Verderben der letzten, in gefro renem Zustand aufbewahrten Fleischvorräte. Als ihr der Gedanke kam, daß der plötzliche Tempe raturumschwung ihnen möglicherweise geschadet haben könnte, kletterte Angélique sofort die zum 818
Vorratsspeicher führende Leiter hinauf. Ein Übelkeit erregender Gestank schlug ihr entgegen und bestätig te, daß ihre Befürchtungen begründet waren. Selbst der letzte Schinken und das letzte Stück Speck schie nen gelitten zu haben, und zudem war allerlei kleines Getier – Mäuse, Ratten, Eichhörnchen –, das man tot oder durch Winterschlaf an jeder Aktivität verhindert geglaubt hatte, aus allen Winkeln aufgetaucht, nagte überall, wo es etwas erwischen konnte, und machte vollends ungenießbar, was sich vielleicht noch hat te verwenden lassen. Viel zu niedergeschlagen, um schon den ganzen Umfang des Unheils zu fassen, sortierten Angélique und ihre beiden Helfer KouassiBa und Madame Jonas aus, was ihnen noch halbwegs brauchbar schien. Die spärliche Ernte wurde ausgie big gekocht und der verdächtige Geruch der Suppe vornehm übergangen, um dieses letzte Überbleibsel der Wintervorräte mit aller gebotenen Ehrfürchtigkeit würdigen zu können. Angélique verzieh sich nicht, das Fleisch auf dem Speicher vergessen zu haben. »Ich hätte daran denken müssen«, wiederholte sie. »Es wäre so einfach gewesen, das bißchen, was uns blieb, im Keller zwischen dicke Eisstücke zu legen.« »Ich hätte auch dran denken müssen«, tröstete Peyrac mit einem Lächeln. »Ihr seht, mein Schatz, daß die Entbehrungen sogar mich um den Verstand bringen können.« »Aber Ihr wart ja nicht da! Ihr seid am frühen Morgen aufgebrochen, um den noch harten Schnee 819
zu nutzen und die Fallen zu inspizieren. Nein, ich bin schuld.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Der Kopf tut mir so weh. Bedeutet das gar, daß es wieder schneien wird?« Sie sahen zum blaugoldenen Himmel auf, und ein Beben überlief sie, als sie im klaren Licht einen kreisenden Krähenschwarm gewahrten. Die dunklen Vögel kündigten den Schnee ebenso sicher an wie die Migräne. Der Frühling erfuhr einen Rückschlag. Von neuem fiel Schnee, und Tage folgten, an denen dichte weiße Nebelwände sie einschlossen oder der graue Himmel sich schwer auf den Wald herabsenkte. Der Schnee war kleinflockig und hart, und man hörte ihn, vom Wind getrieben, gegen das Holz der Wände und die Bespannung der Fenster knistern. Die Lebensmittel im Fort reichten nur noch für zwei Tage. Morgens empfing jeder seine Ration, und Angélique war glücklich, nicht den geringsten Appetit zu verspüren. Sie schob ihren Napf in die Nähe der Glut. Eine gewonnene Mahlzeit für Honorine. Mit hängenden Armen stand sie vor dem Kamin und starrte träumerisch in die Flammen. Ihre Gedanken folgten einander zusammenhanglos, aber jeder für sich war klar. Sie empfand keine Verzweiflung, nicht einmal Besorgnis. Sie würden nicht sterben, sie wür den überleben, dessen war sie sicher! … Sie mußten warten, durften sich nicht aufgeben. Irgend etwas 820
würde geschehen. Der Frühling war nahe. Eines Tages würde er dasein, und die Tiere würden sich wieder im smaragdenen Unterholz und an den blumenbe deckten Ufern der Flüsse zeigen. Und die Flüsse würden wieder zu fließen beginnen, die kleinen ro ten Kanus der Indianer und die mit Waren beladenen der Händler würden von neuem den Wasserläufen folgen, die das Leben mit sich führten wie das Blut in den Adern. Man mußte nur warten, und wenn sie sich nicht rührte wie in dieser Minute, würde sie die Kälte und die eisige Leere in sich kaum spüren. Sie wußte nicht, worauf sie so wartete, aber es war schon unterwegs und viel näher, als man glaubte. Es näherte sich und, wahrhaftig, sie fühlte es um sich, es war da. Sie straffte sich, lauschte: Es ist jemand draußen! Nur das Pfeifen des Windes ums Fort war zu hö ren, und dennoch, wußte sie, war sie sich ihres Wis sens sicher. Es ist jemand draußen! … Sie hüllte sich in ihren Mantel und schritt taumelnd zur Tür. Man bemerkte nicht, daß sie hinausging. Draußen peitschte der Schnee ihr Gesicht mit tausend winzigen Nadeln. Obgleich der Vormittag weit vorgeschritten war, herrschte Dämmerlicht. Der Wind hatte die Eiswände rechts und links der Tür mit schneeigem Plüsch bedeckt, darüber wogten die grau en Schleier des Nebels. Angélique hob die Augen. Über ihr ragten menschliche Gestalten, die sie, vor gebeugt, beobachteten. Es waren Indianer. Schnee gestöber und Nebel verwischten ihre Konturen, 821
machten sie unwirklich. Trotzdem erkannte sie sie so fort an ihren Federbüschen: Irokesen. Und erst dann bemerkte sie das Erstaunlichste und Erschreckendste: Bis auf einen winzigen Lendenschurz waren sie nackt.
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Dreiundachtzigstes Kapitel
Sie waren nackt. Sie beugten sich im eisigen Wind zu ihr herunter und schienen neugierig die weiße Frau zu mustern, die eben in diesem Eisloch aufge taucht war. Sie froren nicht. Ihre schwarzen Augen glänzten ruhig und glitten zu Madame Jonas ab, die neben Angélique erschien. Ohne mit Erkundigungen und Fragen unnütz Zeit zu verlieren, forderte sie die Ankömmlinge mit energischer Geste zum Eintreten auf. »Kommt schon, ihr jungen Leute, und beeilt euch. Unsereins erfriert schon, wenn er euch nur ansieht. Was für eine Idee, bei solchem Wetter splitternackt spazierenzugehen!« Sie verstanden ihre Mimik sofort. Mit schallendem Gelächter sprangen sie in den Graben, grüßten die beiden Frauen mit erhobener offener Hand und betraten im Gänsemarsch das Fort. Es waren sechs, und der, der sie anführte, war Tahutaget, der häßliche, pockennarbige Häuptling der Onondagas. Verächtlich streiften ihre Blicke über die jämmerlichen, bis an die Ohren in ihre Kleidungs stücke und Decken eingemummelten Gestalten, die sie mit aufgerissenen Augen anstarrten. Ihre unemp findlichen, mit Fett gesalbten Körper leuchteten wie gelber, polierter Marmor. Vor Peyrac angelangt, überreichte ihm Tahutaget mit beiden Händen ein Wampumhalsband aus meh 823
reren Lederschnüren, auf denen Muscheln zu einem symbolischen Muster aufgereiht waren. »Uttakeh schickt mich, der große Häuptling der Fünf Nationen. Dieses Halsband enthält sein Wort. Er sagt, daß er sich deiner und der Reichtümer erin nere, die du den Seelen der großen Häuptlinge gabst. Dieses Halsband soll dir gehören, damit du sein Freund bleibst. Uttakeh erwartet dich.« Peyrac verstand die irokesische Sprache gut genug, um auch selbst danken zu können. Dann wandte sich der Irokese zu Angélique und übergab auch ihr ein Wampumhalsband. Ungewiß, ob das Zeremoniell die Einbeziehung einer Frau in die Förmlichkeiten der Bündnisse erlaubte, zögerte sie, es anzunehmen, aber Tahutaget bestand darauf. »Nimm es, Kawa«, sagte er. »Dieses Halsband enthält das Wort der Frauen unseres Stammes. Der Rat der Mütter ist im Augenblick des roten Mondes zusammengekommen und hat gesagt: ›Der Mann, der das All hört, der Mann des Donners, ist mit seinem Stamm in Gefahr, denn er hat unseren toten Häuptlingen bis zum letzten Rest seine Vorräte gegeben, um die Schande zu tilgen. Was nützt uns das Bündnis mit ihm und der Preis, den wir dafür zahlten, wenn er stirbt? Wenn er stirbt, wird er die Reichtümer seines Geistes und seines Herzens mit sich nehmen, und wir werden einen Freund unseres Volkes verlieren. Wenn seine Kinder sterben, wird seine Frau uns verfluchen. Wenn seine Frau stirbt, wird er uns verfluchen, denn er wird sich erinnern, 824
daß seine Frau Uttakehs Leben gerettet hat und daß Uttakeh sie dafür hat umkommen lassen. Nein, weder er noch seine Frau noch seine Kinder dürfen sterben. Wir werden jede eine Handvoll von unseren Vorräten geben, um das Leben Kawas, der weißen Frau, zu erhalten, die das Leben unseres Helden, unseres Häuptlings Uttakeh, erhalten hat. Ohne ihn wären wir Waisen. Ohne sie wären wir alle verwaist. Unsere Kinder werden sich im Winter ein wenig öf ter beklagen, daß sie Hunger haben. Aber was tut’s! Der Hunger ist eine Krankheit, die von selbst heilt, wenn der Frühling kommt, aber der Verlust eines Freundes ist eine Krankheit, die niemals heilt. Nimm es in deine Hände, Frau. Dieses Halsband enthält das Geschenk unserer Stämme für Kawa, die Frau und Mutter, die, als sie Uttakeh in ihre Arme nahm, um sein von Verrat bedrohtes Leben zu bewahren, zu gleich die Fünf Nationen in ihre Arme schloß.‹« Tahutaget wies auf Einzelheiten des Halsbands. »Siehst du, das sind die im Rat sitzenden Frauen, und das bist du, und das sind die Hände voll Bohnen, die sie dir schicken, damit ihr euch sättigen könnt.« Darauf machte er ein Zeichen, einer seiner Gefolgsleute öffnete die Tür, und sechs weitere nack te Indianer, die draußen gewartet hatten – die draußen gewartet hatten! –, traten mit schweren Ledersäcken ein. Tahutaget löste die Schnüre eines der Säcke und ließ die Bohnen auf die Tischplatte rieseln, eine Frucht, die in der Alten Welt allmählich heimisch geworden war, seitdem die ersten Reisenden sie im vergange 825
nen Jahrhundert aus Südamerika mitgebracht hatten. Bohnen, ein gewaltiger Berg Bohnen, wie sie sie schöner nie gesehen hatten. Sie waren an den Ufern der sechs großen irokesi schen Seen, auf den sonnigen Hängen des Mohawktals gereift, und in ihre bunte Pracht mischten sich noch die aufgeplatzten gold- und honigfarbenen Schoten. Da gab es die weißgeäderten, rosaroten, die vor al lem an den Ufern des Cajugasees gedeihen, die fast runden, schwarzglänzenden mit violetten Reflexen der Mohawks aus der Umgebung von Orange, an dere, länglichere, rosa und glatt, die wie von einem Wildbach geschliffene Kiesel wirkten, oder elegant gekrümmte, purpurgefleckte oder solche von reinem Weiß. Glänzend wie gelackt, verströmten sie einen frischen Gemüseduft, als hätten sie sich über das Dunkel des Winters ein wenig von der reinen Luft der Hügel im Augenblick der Ernte bewahrt. Die Kinder drängten sich bis zum Tischrand vor, tauchten ihre Hände in den Bohnenberg und kreischten vor Freude auf, wenn ihnen die Bohnen durch die Finger glitschten. Angéliques Blick glitt von dem Berg zum Wampumhalsband und hob sich zu den gleichmütigen Gesichtern der barbarischen Gestalten, die hundert Meilen eisiger Einsamkeit durchquert hatten, um ihnen auf ihren Schlitten das Geschenk der Fünf Nationen zu bringen. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Ihre Bewegtheit war so groß, daß ihr Tränen in die Augen stiegen, mehr noch über das Unerwartete, Unerklärliche dieser Aktion 826
als vor Freude und Erleichterung über die Rettung, die sie bedeutete. »Die irokesische Nation sei bedankt«, erklärte Peyrac ernst, und seine Stimme schien ihnen unge wohnt leise und heiser, als überlasse er sich endlich seiner Erschöpfung. »Auf diesen gleichen Platz, auf den du dein Geschenk legtest, Tahutaget, werde auch ich Geschenke legen, die du für deine Brüder mit nehmen sollst. Aber so kostbar sie auch sein mögen, sie werden niemals deinem gleichkommen. Denn du hast uns in diesen Ledersäcken unser Leben gebracht, und jede dieser Bohnen«, sagte er, »ist ein Schlag un serer Herzen, den wir dir schulden.« »Soll ich den Kessel übers Feuer hängen?« mischte sich Madame Jonas ein. »So sei es! Holt den Kessel!« stimmte Tahutaget zu, der nicht nur über ein feines Ohr, sondern auch über einige Kenntnisse der französischen Sprache zu ver fügen schien. Alsbald drängten sich nackte lederfarbene Irokesen und bleichgesichtige, bis an die Nasenspitzen einge mummelte Europäer, Männer, Frauen und Kinder, um den großen Kessel aus schwarzem Gußeisen. Angélique hielt ihn, während Madame Jonas ihn mit Wasser füllte und Tahutaget andächtig ein abgemesse nes Quantum Bohnen hineinschüttete. Peyrac selbst tat ein letztes Stück Bärenfett hinzu, und Eloi Macollet schlug vor, ein wenig Pottasche darunterzumischen, um schnelleres Weichwerden zu bewirken. Mangels Salzes oder kleiner Waldfrüchte 827
wurden allerlei duftende Blätter hinzugefügt, wäh rend die Kinder Scheite und Reisig unter dem rußi gen Boden des am Kaminhaken hängenden Kessels zusammentrugen. Das Feuer loderte so heftig auf, daß die Suppe bald zu brodeln begann, und schon nährten sich die erwartungsvoll auf dem Kaminstein sitzenden Kinder von ihrem duftenden Dampf. Die Indianer nahmen den virginischen Tabak an und stopften ihre Kalumets, die sie aus ihren Gürteln zogen, doch das Feuerwasser wiesen sie verächtlich zurück. »Glaubst du, wir könnten dem Dämon des Winters so Trotz bieten, wie du es uns tun sahst«, fragte Tahu taget Peyrac, »wenn wir dieses Gift tränken, das die Weißen mitbrachten, um uns unsere Seelen zu steh len?« »Welches ist die Kraft, wer ist der Gott, der euch er laubt, dem Winter standzuhalten, ohne euch zu ver hüllen, wie wir Weißen es tun müssen?« erkundigte sich der Graf. »Es ist kein Gott. Es ist Oranda«, erwiderte der Indianer ernst. »Oranda ist überall, im Korn des Maiskolbens, das dich nährt, in der Luft, die du at mest, und in der Unendlichkeit des Himmels.« »Meint Ihr wirklich, daß sie so aus dem Land der Irokesen gekommen sind?« flüsterte Angélique Macollet zu, während er ihr half, die Näpfe und Holzschalen zu sammeln, in denen das Festmahl auf getischt werden sollte. »Wo denkt Ihr hin!« raunte der Alte mit einem 828
Schulterzucken zurück. »Selbst ihre Härte und ihre verflixten Hexereien haben ihre Grenzen. Aber sie sind verteufelte Komödianten und verstehen sich drauf, ihre kleinen Effekte vorzubereiten. Ihre Klei dung und der Proviant liegen hier irgendwo in der Nähe versteckt, und nachdem sie ihre speziellen Atemübungen gemacht hatten, stellten sie sich in ih rer sparsamen Aufmachung vor, um uns zu verblüf fen. Ihr müßt zugeben, daß die Überraschung nicht übel gelungen ist. Ich hab’ sie mal im Winter zwei Tage und zwei Nächte so aushalten sehen …« Die große Holzkelle in die bräunliche Suppe tauchend, die ein wenig nach Kastanien, aber auch nach etwas anderem, Zarterem, ganz und gar Ungewöhnlichem duftete, fühlte sich Angélique von der gleichsam mystischen Freude einer Priesterin durchdrungen. Einen nach dem anderen füllte sie die ihr zugereich ten Näpfe, während Tahutagets Worte noch in ihren Ohren klangen. »Es ist für dich, Frau, die du die Fünf Nationen in deinen Armen hieltest, als du Uttakeh umfingst …« Sie sind lyrisch und abergläubisch, diese Irokesen, aber sie wagen es, Dinge zu sagen, denen wir Weißen niemals offen ins Gesicht sehen würden … Sie wagen es, Dinge zu tun, auf die wir Christen nicht einmal kämen … Ihre schwärmerische Versunkenheit ließ sie ihre Schwäche nicht mehr spüren. Sie füllte eine Portion Bohnen in einen kleinen Topf, trug ihn rasch in ihre 829
Kammer und schob ihn dicht an die Glut im Kamin, Das Muschelhalsband, Geschenk des Rats der Mütter, legte sie sorgfältig auf einen Schemel, dann kehrte sie zu den anderen zurück. Sie aß nicht mit ihnen. Sie achtete nur darauf, daß Honorine ihren Teller auslöf felte, und brachte sie danach zu Bett, satt und träge von dieser neuen Nahrung, die das Kind endlich sei nen Hunger hatte vergessen lassen. Zärtlich betrach tete sie es, während es in erholsamen Schlaf sank. Seine Trümpfe bewußt ausspielend, hatte Tahutaget nach Beendigung der Mahlzeit aus einem Beutel eine Handvoll Reis zum Vorschein gebracht, sehr feine, längliche Körnchen und so durchsichtig, daß man sie für eine mineralische Substanz hätte halten können. »Dergleichen findet sich im Wasser im Land des tauben Hafers drüben am Oberen See«, sagte Eloi Macollet. »Man erntet das Zeug, aber es gibt nie ge nug, um mehr als ein paar Leute davon zu ernähren.« »Aber genug, um sie zu retten«, bemerkte Tahutaget. Seiner Miene war zu entnehmen, daß er den alten Kanadier für einen Ignoranten hielt. Es sei keine Nahrung, erklärte er Peyrac, son dern Medizin. Man müsse diese Körner auf einer großen Platte ausbreiten, sie mit Wasser anfeuchten und warm halten. Sobald die winzige grüne Spitze des Keims erscheine, brauche der Weiße nur einen Mundvoll davon zu essen, um von der Krankheit geheilt zu sein, die seine Rasse so häufig heimsuche. Und der Indianer klopfte mit seinem schmutzigen Finger gegen seine prachtvollen weißen Zähne, die 830
nie Skorbut zu spüren bekommen hatten. »Wenn ich recht verstehe, soll dieser Reis uns vor Skorbut schützen«, bemerkte Peyrac. »Bei Gott, ja! Es liegt auf der Hand. Der Keim, so winzig er auch sein mag, ist dennoch die neue Vegetation, die uns vor den Nährstoffmängeln des Winters bewahrt. Aber genügt es wirklich, so wenig davon zu essen?« Er vertraute jedoch der Erfahrung des Irokesen und machte sich gemeinsam mit ihm daran, so mit dem Reis zu verfahren, wie dieser ihm geraten hatte. »Danken wir Gott«, schloß Madame Jonas, indem sie die Näpfe zusammenstellte. Monsieur Jonas erhob sich, um sein Gebetbuch zu holen.
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Vierundachtzigstes Kapitel
Als sie alle Welt gesättigt sah, glitt Angélique in ihre Kammer. Das Heulen des Windes draußen erschien ihr schon weniger unerbittlich. Der kleine Raum war ganz vom Duft der Suppe erfüllt, die neben der Glut leise vor sich hin gebrodelt hatte. Sie schürte das Feuer ein wenig, um besser sehen zu können, setzte sich und breitete das Wampumhalsband über ihre Knie. Langsam glitten ihre Finger über die seidige Härte der in langer, geduldiger Arbeit zusammen gefügten Muscheln. Anfangs hatte sie den Wert der Wampumhalsbänder nicht begriffen. Staunend hatte sie den Austausch dieser auf Lederschnüre gezogenen Muscheln und Perlen beobachtet, die Kriege beende ten, Frieden schufen und für die Wilden einen Schatz repräsentierten, der ihnen wertvoller war als einst den Medici ihre hundert Pfund Gold. Der Stamm, der zahlreiche Muschelhalsbänder besaß, war reich. Er verarmte, wenn er sie durch eine Niederlage verlor. In diesen von den Fluten umhergeworfenen, vom Sand abgeschliffenen, durch die bewunderns werte Alchimie der Natur zart getönten kalkhal tigen Schalen, diesen mysteriösen, von einem das Geheimnis seiner Kunst eifersüchtig wahrenden Handwerker zerkleinerten und durchbohrten, von Frauenfingern geordneten und endlich von Häupt lingshänden mit religiöser Ehrfurcht getragenen Scherben sah Angélique nun den höchsten Ausdruck 832
der roten Rasse Amerikas. Ihr übertragbares Herz, denn sie kannte keine Schrift. Diese Streifen aus Leder und eingeflochtenen Muscheln waren die zur Erhaltung bestimmten Dokumente ihrer Geschichte. Angélique betrachtete das Muster und zählte die fünf sitzenden Frauen zu beiden Seiten der hieratischen Form, die sie selbst darstellen sollte. Die Bohnen, die die Botschaft ankündigte, waren gleich düster blauen Sternen überall auf dem weißen Mosaik des Untergrunds verstreut. Das Halsband war von zwei Reihen violetter Perlen gesäumt und auf beiden Seiten mit regelmäßigen Lederfransen verziert: ein vollkommenes Kunstwerk. Eines Tages würde man sie um dieses Zeugnis der Achtung der Irokesen beneiden. Sie wurde nicht müde, es wieder und wieder durch ihre Hände glei ten zu lassen, und erst als ihre Begeisterung ein wenig abgeklungen war, kehrten ihre Gedanken zu irdische ren Dingen zurück. Sie goß die dampfende Suppe in einen Napf und begann langsam zu essen, indem sie das Gefäß mit halbgeschlossenen Augen an sich drückte und vom Tal der Mohawks träumte, über das drei Götter herrschten, der Mais, der Kürbis und die Bohne, und wohin auch sie gelangen würde … Rosiges Licht liegt über dem Tal, und ein Geruch nach Rauch durchzieht es, der vielen Dörfer mit ihren Langhäusern wegen, die sich dort finden. Sie sieht sie auf den Höhen der Hügel, diese so seltsa men Häuser, von denen ihr Perrot erzählte, in denen 833
zehn bis fünfzehn Familien hausen, sieht sie aufge reiht mit ihren gerundeten Dächern, über denen von vielen Herdstellen bläulicher Rauch aufkräuselt, mit ihren Mauern, die der dunkelgoldene Segen der zum Trocknen aufgehängten Maiskolben verdeckt. In den Rauchgeruch mischt sich auch ein Duft nach Land, aufwehend von den vielen Feldern auf den Hängen der Hügel, umschlossen von lichterem, weniger düsterem Wald als dem des Nordens. Ohne es je gesehen zu haben, erahnt sie den Unterschied zwischen dem fruchtbaren Tal der Irokesen und dem von Erosion zerschundenen, von Schlünden und Klüften wie von Fallen durchzogenen, wilden Land der Abenakis, die nichts kultivieren … Joffrey trat ein und sah sie allein vor dem Kamin sitzen, bedächtig essend, das Wampumhalsband auf den Knien, mit geschlossenen Augen. »Ihr habt Hunger, mein Lieb!« Er betrachtete sie zärtlich und dachte, daß sie kei ner anderen Frau ähnelte und daß alles, was sie tat, von ihrem Zauber geprägt war. Selbst ihm würde sie nichts über die Natur der Freude verraten, die in ih ren Augen leuchtete. Sie lebte wieder. Fern, jenseits der eisigen Einöden, hatten fremde Wesen, Wilde, sie erkannt, und nun existierte sie für diese primitiven Herzen. »Was bedeutet Kawa, der Name, den sie mir ga ben?« fragte sie. »Hervorragende Frau, Frau über anderen Frauen! Fixstern!« murmelte er. 834
Fünfter Teil
Der Frühling
Fünfundachtzigstes Kapitel
»Mutter! Die erste Blume!« Cantors Stimme stieg in den frischen, klaren Abend. Angélique hörte sie durch das offene Fenster ihrer Kammer, wo sie im Kamin die Asche des erlo schenen Feuers zusammenfegte. Sie fuhr auf. »Was sagst du da?« Cantor sah lächelnd zu ihr hoch. »Die erste Blume! Da, unter den Fenstern!« Angélique stürzte hinaus, rief nach den Kindern. »Honorine! Thomas! Barthélémy! Kommt schnell! Seht sie euch an … die erste Blume!« Es war ein weißer Krokus, der da aus der schlam migen Erde gesprossen war. Seine durchscheinenden Blütenblätter ließen den goldenen Schimmer des eng umschlossenen Stempels ahnen. »O mein Gott! Welches Wunder!« flüsterte Angé lique, während sie auf den feuchten Boden nieder kniete. So blieben sie, angesichts des Wunders in Entzük kung versunken. Die Blume hatte unmittelbar am Rande der Schneegrenze die Erde durchstoßen. Von diesem Tage an entdeckten sie immer mehr. Als sie den wäßrigen Schnee fortschaufelten, fanden sie bläßliche, schon zum Blühen bereite Stengel, die sich am nächsten Tag in der Sonne kräftig grün färb ten, während die Kelche allmählich eine malvenfar 836
bene oder weiße Tönung annahmen. Es war Ende April. Das Tauen machte unter der warmen Sonne schnelle Fortschritte. Schon bevor der Schnee un ter den Bäumen verschwunden war, stießen sie in den Wald vor, machten Einschnitte in die Rinde des Ahorns und sammelten den aus den Wunden trop fenden süßen Saft. Später ließ Macollet ihn in einem Kessel kochen und erhielt eine Art flüssigen Honigs, nach dem die Kinder sich die Lippen leckten. Viele, vor allem junge Bäume trugen die Spuren der Zähne hungriger Tiere. Manche waren durch den Frost geborsten oder unter ihrer Schneelast gebrochen. Aber schon wurden die im Herbst gebildeten raupen förmigen Kätzchen der Haselnußsträucher länger, schaukelten im Wind und verstreuten ihren Pollen, der den grauen Schnee unter ihnen gelblich färbte. Die Birken, am Vortag noch elfenbeinerne, ausge zehrte Skelette, hüllten sich in den Fransenschmuck ihrer malvenfarbenen oder grauen Behänge, und die wie feierliche Fächer ausgebreiteten Ulmen warfen hauchzarte smaragdene Schleier über ihre Kronen. Die Jäger waren mit dem geräucherten Fleisch zweier Hirsche, der Hälfte eines Elchs und dem ge füllten Eingeweide eines Bären zurückgekehrt, letz teres ein königliches Geschenk Mopountooks, der seinen baldigen Besuch angekündigt hatte. Das Eis des Sees hatte sich zunächst in einen riesi gen trüben Spiegel verwandelt, sich dann mit Wasser bedeckt und teilte sich nun in träge schwimmende, 837
durchscheinende Inseln. Die Bewohner Wapassous waren eifrig damit be schäftigt, ihre Kräfte wiederherzustellen und die wäh rend des Winters entstandenen Schäden zu reparieren. Vieles hatte durch Sturm und Kälte gelitten, Zäunen und Dächern drohte Ruin, und mit jedem Tag ent hüllte der schmelzende Schnee neue Gefährdungen. Immer wieder hoben die Männer während der Arbeit ihre ausgezehrten, bleichen Gesichter zur Sonne, zwinkerten mit kranken Augen und ließen das Licht wie einen Jungbrunnen über ihre Haut rieseln. Die Kinder verharrten zuweilen reglos in der funkelnden Wärme wie frierende Küken. Anfangs faßte sich Angélique in Geduld. Morgen würde sie ihre geschundenen, aufge sprungenen Hände pflegen, morgen würde sie ihr Gesicht im Wasser des ersten Regens baden, würde sie mit Madame Jonas zusammen die unvermeidli chen Reinigungsarbeiten in Angriff nehmen. Aber heute wollte sie noch mit Honorine auf den Knien in einem stillen Winkel sitzen wie in den Zeiten der Erschöpfung und des Hungers. Sie würde darauf warten, daß ihre Kräfte zurückkehrten, wie auch der Saft nun in die Bäume stieg. Die hinter ihr lie genden Anstrengungen verdienten eine Spanne der Rekonvaleszenz. Sie hatte immer allzuviel von sich gefordert, und die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß sie die Tage nach dem Sieg oft ziemlich teuer zu stehen kamen. Einmal hatte sie sich in Paris um ein Haar das Leben genommen, obwohl ihr Ziel schon um 838
Haaresbreite erreicht war … Ihrer Schwäche bewußt, ließ sie sich gehen, tat nur das Nötigste ohne Hast und verschob die drängenden Aufgaben auf den nächsten Tag. Vor allem mußte sie zu den Hügeln, den Bächen und zu den Ufern des Sees, um die Pflanzen, die Sträucher, die Wurzeln zu suchen, mit denen sie die Fächer ihres Apothekenkastens füllen wollte. Sie würde sich nicht eine einzige entgehen lassen! Nicht den kleinsten Felsspalt würde sie übersehen. Selbst den ihr unbekannten Gewächsen würde sie ihr Geheimnis entreißen. Sie nahm sich vor, niemals wieder in einen so har ten Winter zu gehen, ohne bessere Mittel zur Pflege der Kranken zur Verfügung zu haben als gekochtes Wasser und Gänse- oder Bärenfett. Die Speicher würden herrlich duften. Mit Schildchen in lebhaften Farben versehene Töpfe und Tiegel würden reihen weise die Wandbretter füllen. Nach Fort Wapassou sollte man aus zwanzig Meilen in der Runde kom men, um sich heilen zu lassen. Als sie sich endlich auf die Pflanzensuche machen konnte, nahm Angélique nur Honorine mit. Seit Beginn des Frühlings hatte die Kleine aufgehört, ein Kind wie die andern zu sein, nur konzentriert auf Wärme, Nahrung und gelegentliche Streiche, und war wieder zur Gefährtin ihrer Mutter geworden. Ausdauernd marschierte sie hinter ihr her und legte oft die doppelte Strecke zurück, da sie hierhin und 839
dorthin lief, um etwas Interessantes aufzuspüren. Um sie im unübersichtlichen Wald nicht zu verlieren, hängte ihr Angélique eine kleine Glocke ans Hand gelenk, so daß das fröhliche Geläute stets ihren jewei ligen Standort verriet. »Belastet Euch nicht mit dem Kind, Madame. Laßt es bei uns«, sagte Elvire häufig, um ihr gefällig zu sein. Doch Angélique schüttelte den Kopf. Honorine belastete sie nicht. Sie wäre nicht gern allein zur Entdeckung der blühenden Natur ausgezogen. Die Schätze des Frühlings mußten miteinander geteilt werden. Oft kam es dann vor, daß sie sich vor einer eben entdeckten Blume plaudernd niederkauerten, bis das Weiterrücken des Sonnenflecks sie zum Aufstehen zwang, denn die über den Schnee streichende Luft war im Schatten noch kühl. Der Wald war licht und heiter. Graue, übergoldete, malvenfarbene und grüne Kätzchen schmückten ihn. Wenn sie höher stiegen, fanden sie zwischen den schwarzen Tannen die mit zartem Grün betupften Lärchen. Die Landschaft war ganz nach Angéliques Ge schmack. Zuweilen fühlte sie sich so glücklich, daß sie Honorine in ihre Arme nahm, sie hingerissen an sich drückte, mit ihr tanzte, und die einsamen Hänge warfen noch lange das Echo des kindlichen Gelächters zurück. Die Bären erwachten. Eines Tages fand Honorine in einer flachen Mulde eine kleine, drollige schwarze Kugel, die sich alsbald 840
geneigt zeigte, mit ihr zu spielen. Angélique hörte das Knurren der Bärenmutter und das Knacken der Zweige, die bei ihrem raschen Anmarsch unter ihrem Gewicht zerbrachen, und hatte eben noch Zeit hin zuzustürzen. Sie erlegte das Tier, das sich auf seinen Hinterläufen aufgerichtet hatte, durch eine wohlge zielte Kugel in den aufgerissenen roten Rachen. Honorine war über diese Hinrichtung, die das süße Bärchen mutterlos machte, untröstlich. »Sie hat ihr Kleines verteidigt, wie ich dich ver teidigen mußte«, sagte ihr Angélique. »Sie hatte ihre Krallen und ihre Kraft und ich meine Pistole.« Das zum Fort zurückgeschaffte Bärchen wurde mit Ahornsirup und Maisbrei ernährt. Es war alt genug, um die mütterliche Milch entbehren zu können. Für Honorine wurde es zum schönsten Spielzeug der Schöpfung. Sie liebte es mit einer Leidenschaft, die alle anderen verdrängte. Man mußte ihr ins Gewissen reden, damit sie ihren Spielgefährten Barthélémy und Thomas überhaupt erlaubte, sich ihm zu nähern. Das Bärchen, Lancelot genannt nach einem der Helden der Geschichten, die Angélique den Kindern erzählt hatte, wurde zur Ursache eines ernstlichen Streits zwischen Cantor und Honorine. In den ersten schönen Tagen war auch Cantor mit einem ganz bestimmten Ziel zu den Hügeln aufge brochen. Er suchte nach einem Tier, das er haßte, weil es während des Winters die wenigen Hasen oder Kaninchen in den Fallen zerrissen und so seine Hoff nung zunichte gemacht hatte, den Seinen endlich 841
ein wenig frisches Fleisch bringen zu können. Der Urheber dieser Missetaten, der schuftige Pirat des Waldes – man kennt ihn gut –, ist der Vielfraß. In der Fauna des Waldes nimmt er eine Sonderstellung ein. Grausam wie das Hermelin oder das Wiesel, zu deren Familie er gehört, ist er nicht größer als ein Biber. Cantor fand seinen geschworenen Feind, ein Weib chen, tötete es, brachte jedoch den Sprößling zurück, ein kleines, struppiges Knäuel von der Größe eines Kätzchens, das schon aggressiv die scharfen Zähnchen bleckte. »Du hast unrecht, dir dieses Tierchen aufzuhalsen, mein Junge«, sagte Eloi Macollet mit einem mißbilli genden Blick auf den Fund. »Das besteht rundum nur aus Tücke und Hinterlist. Das schlimmste von allen Tieren des Waldes. Die Indianer sagen, daß sich die Teufel in ihnen verstecken, und meiden jedes Tal, von dem sie wissen, daß ein Vielfraß da sein Loch gegra ben hat. Sie werden nicht mehr herkommen.« »Um so besser! Dann werden wir hier mehr Ruhe haben«, meinte Cantor und behielt das Tier. Er nannte es mit seinem englischen Namen: Wol verine. Wolverine brauchte nicht lange, um den ar men Lancelot mit seinen Zähnen einzuschüchtern. An dem Tage, an dem es ihm gelang, den Bären zu beißen, verfiel Honorine in einen Wutanfall, der das ganze Fort in Aufregung versetzte. Sie suchte nach ei nem Knüppel, einem Messer, einer Axt, nach irgend etwas, um den Vielfraß umzubringen. Cantor, der seinen Liebling in Sicherheit gebracht hatte, mokierte 842
sich über den Grimm des kleinen Persönchens. »Ich weiß jetzt, wen ich skalpieren will«, erklärte Honorine. »Cantor!« Der Junge lachte nur um so mehr und nannte sie im Davonschlendern »Fräulein Biber«. Es war der Spitzname, den er ihr gegeben hatte, denn er behaup tete, sie hätte kleine Biberaugen. »Er sagt Fräulein Biber zu mir«, schluchzte Hono rine, völlig niedergeschmettert durch diese Bezeich nung, die sie als schlimme Beleidigung empfand. Angélique machte ihr klar, daß die Biber sehr sympa thische Tierchen seien, daß sie sich deshalb nicht zu ärgern brauche, und nahm sie und Lancelot zu einem Teich jenseits des Hügels mit, wo eine Schar der flei ßigen Nager eben dabei war, kleine Bäume zu fällen und sich Wohnstätten zu bauen. »Sieh, wie hübsch die Biber sind, und du bist eben so hübsch wie sie.« Honorine machte es Spaß, den kleinen Kerlen beim Tauchen und geschmeidigen Schwimmen zu zusehen, und heiterte sich allmählich wieder auf. Aber der Zwist zwischen ihr und ihrem Halbbruder war deswegen noch längst nicht beigelegt. Es bedurf te nur einer Kleinigkeit, um ihn wieder aufleben zu lassen, und in diesem Fall war es der alte Mann vom Berg. Im Westen erhob sich über den Hängen, die das Tal von Wapassou umschlossen, ein gezackter Felsgrat, der das Profil eines alten Indianers oder viel mehr eines piratenhaften alten Mannes nachzeichne te. Vor allem wenn die sinkende Sonne den Fels mit 843
kupfernen Lichtern modellierte, war der Eindruck zwingend, und alle Welt bewunderte das Naturspiel. Morgens wirkte der alte Mann mürrisch, der Abend verlieh ihm einen spöttischen Zug. Nur der kleinen Honorine gelang es nicht, ihn auszumachen. Sie riß die Augen auf, suchte nach den Punkten, die man ihr bezeichnete, aber wenn sie er klärte, daß sie ihn sähe, klang es wenig überzeugend und sollte wohl nur Neckereien auf ihre Kosten ver meiden. Cantor konnte es natürlich nicht lassen, sie damit zu hänseln. Er behauptete, sie sei nicht einmal ein Biber, sondern ein Maulwurf, und Honorine be trachtete düsteren Blicks den Berg und suchte zwi schen den Bäumen und Felszacken das Bilderrätsel, dessen Lösung ihr verschlossen blieb. Es war, als sei sie von den andern, die »sahen«, ausgeschlossen. An diesem Morgen reizte Cantor sie wieder einmal so lange, bis sie sich schließlich mit erhobenen Fäusten auf ihn stürzte und ihr Geschrei Peyrac selbst auf den Plan rief. »Was geht hier vor?« »Er ist wieder eklig zu mir«, jammerte Honorine, »und ich hab’ nicht mal eine Waffe, um mich zu ver teidigen.« Der Graf lächelte, kniete neben dem Kind nieder und strich ihm über die feuchte Wange. Wenn es zu heulen aufhörte, versprach er, würde er ihm eine kleine Pistole machen, mit der es Bleikugeln schießen und dessen silbernen Kolben es als Keule benutzen 844
könnte. Er nahm es bei der Hand, und sie entfernten sich einträchtig zur Werkstatt. Angélique wandte sich zu Cantor, der die Szene mit verdrossener Miene ver folgt hatte. »Laß sie doch mit dem alten Mann vom Berg in Ruhe. Wenn sie ihn nicht sieht, was tut’s? Du demü tigst sie ohne Grund.« »Sie ist dumm und faul.« »Nein. Sie ist noch nicht vier Jahre alt. Wann wirst du endlich vernünftig werden, Cantor? Du bist dumm, weil du mit einem Kind dieses Alters Streit anfängst.« »Alle Welt verwöhnt und beweihräuchert sie«, sagte Cantor bockig. Während er sich zum Gehen anschickte, murmelte er vor sich hin: »Sollen die anderen nur ruhig Sklaven dieses Bastards sein. Ich jedenfalls nicht!« Es traf sie wie ein Schock. Sie war die einzige, die seine Worte gehört hatte. Für sie waren sie bestimmt gewesen. Wie gelähmt von einem jähen Schmerz, verharrte sie, wo sie stand. Dann begab sie sich in ihre Kammer und schloß sich ein. Wäre sie ihrer ersten Reaktion gefolgt, hätte sie ihn geohrfeigt, geschüttelt wie einen Pflaumenbaum und … ja, sie wäre imstande gewesen, ihn mit dem Kolben ihrer Pistole niederzu schlagen. Sie war fassungslos über die Arroganz und Taktlosigkeit dieses Bengels, den man liebte, umsorg te, der einen Vater hatte, der ihn geduldig unterrich tete, der Freunde, ja fast ergebene Diener besaß, denn 845
er war der Sohn des Herrn und verstand es, seinen Platz zu behaupten, und der sich trotz allem erlaubte, vor ihr das gekränkte Kind zu spielen. Er war während der Wintermonate ihre heimliche Sorge gewesen, denn trotz der guten Momente, in denen sie mit ihren Söhnen plauderte, lachte oder ein Liedchen sang, das Cantor auf seiner Gitarre begleitete, der Momente, in denen auch er ihr ein fröhlicher, guter Kamerad gewesen war, hatte sie in ihm ständig eine zurückhaltende Kühle und schließ lich sogar eine geheime Feindseligkeit gespürt. Weit entfernt, die Dinge ins rechte Lot zu bringen, schien die Zeit sie noch mehr vergiftet zu haben, zumal Cantors Gefühle verborgen, unausgesprochen blie ben und sie nicht wußte, ob er ihr noch immer groll te, weil sie so lange von ihnen getrennt gelebt hatte, was kindisch gewesen wäre, oder ob er sie wegen ihres freizügigen Lebens fern von seinem Vater mit eifersüchtiger Unduldsamkeit verurteilte. Zweifellos war von beidem etwas dabei, und Angélique hatte die Schwierigkeit gescheut, ihren Söhnen zu erklären, daß fünfzehnjährige »Witwenschaft« immerhin eini ge Entschuldigungen für die Freiheiten lieferte, die sie sich genommen hatte und die ihr meistens vom Leben aufgezwungen worden waren. Die Vorstellung, daß Jugend reifen müsse, um ge wisse Dinge begreifen zu können, hatte ihr zu dem Vorwand verholfen, Schweigen zu bewahren. Nun konnte sie sich der Einsicht nicht mehr verschließen, daß sie damals nur den bequemsten Weg gewählt hatte. 846
Angélique wußte genau, daß die Jugend alles zu be greifen vermag, wenn man es ihr nur erklärt. Sie war es, die sich für diese Aufgabe nicht reif genug gefühlt hatte. Sie hatte nicht den Mut aufgebracht, an die schreck liche Vergangenheit zu rühren, schon gar nicht vor ihnen. Sie hatte auch Angst vor ihren Reaktionen, Angst vor allem vor ihren eigenen gehabt. Denn sie wußte recht gut, daß die Jugend das Beste von allem besitzt: ein sicheres Urteil, ein heißes Herz, unendli chen Gerechtigkeitssinn. Sie hatte sie als Kinder an gesehen und nicht als junge Leute von fünfzehn und siebzehn Jahren, die sie waren. Sie hatte ihnen kein Vertrauen geschenkt, und nun beantwortete Cantor dieses Mißtrauen mit der Abwehr eines verletzten Herzens, das keine Genugtuung empfangen hat. Bei Florimond war es viel einfacher. Er nahm hin. Er war von leichterem, gelösterem Wesen als sein Bruder. Zwischen dem Vorzimmer des Königs und den Laderäumen der Schiffe hatte er so viel gesehen. Es kam ihm nur darauf an, sein Ziel zu erreichen, ohne dabei zu Schaden zu kommen. Sie hätte schwö ren mögen, daß er in den Dingen der Liebe schon eine gewisse Erfahrung besaß. Sein jüngerer, weniger geschmeidiger, vom Tempe rament her weniger glücklicher Bruder nahm alles ernster. Und Angélique fragte sich, ob es besser ge wesen wäre, an sein Verständnis zu appellieren, oder ob ihn ihre Offenheit nicht noch heftiger gegen sie eingenommen hatte. 847
Sie fragte es sich und kam zu keiner Antwort. Sie ging in ihrer Kammer auf und ab, nannte ihn bei sich einen kleinen, undankbaren, herzlosen Dummkopf, fühlte sich verlockt, ihm zuzurufen, daß er sich fort scheren solle, daß sie ihn nicht mehr zu sehen wün sche! Es sei nicht der Mühe wert gewesen, daß Gott ihnen erlaubt habe, sich wiederzufinden! … Dann beruhigte sie sich, plötzlich erfüllt von dem Gefühl, daß er schließlich noch ein Kind sei, ihr Kind, und daß es deshalb ihre Aufgabe sei, zu ihm zu gehen und den Versuch zu machen, den Knoten von Verstimmungen und Widersetzlichkeiten zu lösen, der ihm und ihr das Leben so schwer machte … Aber war es nicht doch besser, wenn er sie verließe? Er verabscheute Honorine. Die Wiederbegegnung mit seiner Mutter war zu spät für ihn gekommen. Es gab Dinge, die sich nicht einholen ließen. Er hätte Florimond begleiten können – übrigens hatte er auch darum gebeten –, aber sein Vater hatte ihm geantwortet: »Du bist noch nicht soweit …« Angélique warf sich vor, von ihrem Gatten keine Erklärungen zu diesem Verdikt gefordert zu haben, denn dann hätte sie mit Cantor darüber sprechen und das mürrische Schmollen zerstreuen können, in das er sich verschloß. Es gab Dinge, die sich nicht einholen ließen, ge wiß, aber man konnte sich wieder zusammenfinden, konnte es wenigstens versuchen … Jetzt war Cantor störrisch, in sich verkapselt, und sie wußte nicht recht, wo sie ihn anpacken sollte, so sehr spürte sie, daß er 848
sie als Feindin empfangen würde. Dennoch mußte etwas geschehen! Er würde es noch zuwege bringen, Honorine bösartig zu machen, ein noch nicht vierjähriges Kind, an dessen schmach volle Geburt im Schlupfwinkel der Hexe des druidi schen Waldes der kommende Sommer wieder erin nern würde. Nur Angélique wußte davon; sie hatte es bisher niemand zu sagen gewagt. Sie setzte sich auf ihr Bett. Cantors Entfernung schien ihr unvermeidlich. Sollte man ihn mit einem Auftrag nach Gouldsboro schicken? Vielleicht. Reisen gefiel ihm. Doch plötzlich stieg die Angst in ihr auf, daß er ihr und Honorine dieses Exil nie verzeihen würde und daß sie ihren Sohn dadurch für immer verlieren könnte. Sie wußte wirklich nicht, wie sie sich entscheiden sollte, und da sie ihren Verstand in diesem Fall überfordert fand, vertraute sie sich dem Zufall an. Aus einer Tasche ihres Gürtels nahm sie das eng lische Goldstück, das sie als Talisman aufbewahrte. Kopf oder Schrift! Wenn sich der Kopf des Königs zeigte, würde sie Joffrey von Cantors Unverschämtheit berichten und ihm die Notwendigkeit nahelegen, den Jungen fortzuschicken. Lag die Seite mit der be leidigenden Inschrift »König von Frankreich« oben, würde sie sich unverzüglich auf die Suche nach dem jugendlichen Aufrührer machen und ihm alles sa gen. Sie warf die Münze in die Luft … Es war Schrift!
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Cantor, der in der Schmiede arbeitete, sah seine Mut ter kommen, und da er ein schlechtes Gewissen hatte, stand er sofort auf. »Komm mit mir in den Wald«, sagte sie. Ihr Ton erlaubte keinen Widerspruch. Er folgte ihr beunruhigt. Sie schien zu allem entschlossen. Es war ein klarer, aber noch recht frischer, fast kalter Frühlingstag, denn es hatte in der vorherge gangenen Nacht stark geregnet. Unter der noch spär lichen Grasdecke wirkte die wasserdurchtränkte Erde fast violett. Der Wind selbst war frisch und lau, das Unterholz blau und golden. Die Knospen des Ahorns erinnerten an die noch geschlossenen Kelche rosiger Tulpen. Angélique schritt rasch aus. Sie kannte jeden Pfad, jede Furche, und obwohl sie kein Ziel vor Augen hatte und mit den Gedanken woanders war, verirrte sie sich nicht. Cantor hatte Mühe, ihr zu folgen, und kam sich im Vergleich zu ihr schwerfällig vor. Zuweilen sagte Angélique: »Sieh an! In dieser Schlucht gibt’s Seidelbast. Wir müssen im Herbst wiederkommen. Wo Seidelbast wächst, gibt’s auch Champignons.« Oder: »Der weiße Lorbeer wird bald blühen … Wonach riecht’s hier? Ah, Baldrian!« Wie sie so mit leichtem Schritt dahinging, wachen Blicks, das Antlitz ein wenig erhoben, mit witternden Nasenflügeln den leisesten Duft einatmend, schien sie ihm wie eine Fee, vor der sich die Zweige willig teilten … 850
Sie erreichten die Höhe, wo der rauhe Boden zur anderen Seite hin abfiel und der Wind murmelnd zwischen den Stämmen dahinstrich. Die Kiefern prunkten mit goldgelb und goldgrünen Knospen, die Tannen mit kirschroten, die Lärchen mit lilafarbenen. Balsamischer Duft hing wie Weihrauch in den Gassen zwischen den Bäumen. Angélique blieb am äußersten Ende des kleinen Plateaus stehen. Unter ihr sah sie den ostwärts sich schlängelnden Fluß. Sie drehte sich zu Cantor um. »Du liebst sie nicht«, sagte sie. »Aber ein Kind, wo her es auch kommen mag, ganz gleich, wer sein Vater, wer seine Mutter ist, bleibt immer ein Kind, und ein schwaches Wesen zu verfolgen ist immer Feigheit. Wenn das Blut deiner ritterlichen Vorfahren es dich nicht gelehrt haben sollte, muß ich’s dir eben heute sagen.« Er war ein wenig außer Atem. Ihre Worte berühr ten ihn, aber er konnte nicht antworten. Sie nahm ihren Marsch wieder auf, den Hang hin unter, und bog in einen Pfad ein, der auf halber Höhe dem Lauf des Flusses folgte und sich allmählich tal wärts senkte. »Als du geboren wurdest«, fuhr sie fort, »war dein Vater eben auf der Place de Grève verbrannt worden, das heißt: nicht er, ein anderer für ihn, aber ich wuß te es nicht, ich hielt ihn für tot … Als ich mit dir in den Temple zurückkehrte, war es Maria Lichtmeß, und ich erinnere mich, daß Paris nach den heißen 851
Zitronenkrapfen duftete, die Waisenkinder an diesem Tag in den Straßen verkaufen. Im Hof des Temple hörte ich das Weinen eines Kindes, dann sah ich Florimond, den Gassenbuben verfolgten. Sie war fen mit Steinen und Schnee nach ihm und riefen: ›Kleiner Hexenmeister! He, kleiner Hexenmeister! Zeig uns deine Hörner!‹« Cantor blieb stehen. Das Blut stieg ihm ins Gesicht, er ballte die Fäuste. »Warum war ich nicht da?« rief er zornig. »Warum war ich nicht da?« »Aber du warst ja da«, sagte Angélique lachend. »Nur warst du noch ein Baby, kaum ein paar Tage alt.« Sie sah ihn an, immer noch lachend, als ob sie sich über ihn lustig machte. »Heute ballst du deine Fäuste, Cantor, aber damals war deine Faust nicht größer als eine Nuß!« Jetzt lachte sie, weil sie die kleine rosige, zum Himmel gereckte Babyfaust vor sich sah. Doch ihr Gelächter hallte seltsam bitter durch den Wald, und er starrte sie verdutzt an, während ein unbestimmter Kummer in ihm aufzuquellen begann. Das Gelächter verstummte, sie schien wieder ernst. »Bist du zufrieden, am Leben zu sein, Cantor?« »Ja«, stammelte er. »Es ist nicht leicht gewesen, dir dein Leben zu er halten. Ich werde es dir eines Tages erzählen, wenn du willst. Sicher hast du niemals daran gedacht, nicht wahr? Du hast dich niemals gefragt: Wie kommt es, 852
daß ich am Leben bin, ich, der Sohn eines Hexen meisters, zum Tode verurteilt, bevor ich überhaupt gelebt hatte? Du hast dir keine Erinnerung daran be wahrt. Was kümmert’s dich also? Du bist da, du lebst. Du brauchst dich nicht danach zu fragen, was deine Mutter damals alles tun mußte, um diesen Schatz für dich zu retten, den du heute in deiner Brust trägst: dein Leben!« Es war fast ein Schlag, mit dem ihre zarte und doch kräftige Faust seine Brust an der Stelle des Herzens be rührte. Und er wich verstört zurück, die den ihren so ähnlichen grünlichklaren Augen mit einem Ausdruck auf sie gerichtet, als sähe er sie zum erstenmal. Wieder setzte sich Angélique den Pfad entlang in Bewegung. In das Murmeln der vom Wind bewegten Bäume mischte sich nun das Rauschen des Flusses. Die Blattgehänge der Erlen, Pappeln und Weiden unten am Ufer bewegten sich leise in der Brise, und man sah, daß der Frühling hier zeitiger eingesetzt ha ben mußte, denn auch das Gras der Uferwiesen war höher und kräftiger. Angélique bemerkte, daß sie ihrem Sohn nicht mehr zürnte. Der ratlose Blick des Jungen verriet ihr, daß er sich über derlei Dinge nie Gedanken gemacht hatte. Natürlich, er war noch ein Kind! Es war unrecht gewesen, nicht schon früher we nigstens über die Erinnerungen, die ihn betrafen, mit ihm zu sprechen. Es hätte ihm dazu verholfen, nachsichtiger und duldsamer zu werden. Kinder lieben es, wenn man ihnen von Zeiten erzählt, von 853
denen sie nichts mehr wissen. Solche Berichte füllen die ängstigende Leere ihres Gedächtnisses. Sie lieben es, wenn man sie in dieser Welt primitiver und oft zusammenhangloser Empfindungen, die aus ihren Erinnerungen besteht, leitet. Aus Mangel an Führung hatte Cantor nach dem Anschein urteilen müssen. Älter geworden, hatte er unter Eifersucht gelitten, der ungetreuen Mutter wegen, die von dem Piedestal herabgestiegen war, auf das er sie in der Naivität sei ner Kindheit gestellt hatte. Das Schwerste blieb noch zu tun: auszusprechen, was ausgesprochen werden mußte. Und Angéliques Gedanken kehrten wieder zu Honorine zurück, die sie vor ungerechter Behandlung schützen mußte. Sie waren bei den Wiesen am Ufer des Flusses an gelangt, und erneut wandte sie sich ihm zu. »Ich habe dir schon gesagt, daß man unschuldige Wesen niemals verfolgen darf. Ich sag’s dir noch ein mal. Mich kannst du hassen, wenn du willst. Nicht sie. Sie hat nicht verlangt zu leben. Aber auch in diesem Punkt hättest du kein Recht, über mich zu urteilen. Wenn man nicht weiß, was geschehen ist, darf man den Groll nicht in sein Herz einlassen. Es ist auch dumm!« Sie starrte ihn an, und er sah die Augen seiner Mutter im Sturm der Gefühle nach und nach meer grün werden, sah in ihnen etwas wie Abscheu und Haß auffunkeln, die er gegen sich gerichtet glaubte, so daß er erschrak. »Du bist ein Kind«, fuhr sie fort. »Aber bald wirst 854
du ein Mann sein … Ein Mann«, wiederholte sie in träumerischem Ton. »Du wirst in Kriegen kämpfen, mein Sohn, hart und grausam bis zum Ende. Und du wirst mit dem Recht des Siegers in Städte eindrin gen, und du wirst deinen Sieg feiern, dich betrinken und Frauen nehmen. Wirst du dich danach um deine Opfer sorgen? … Nein! So ist nun mal der Krieg, nicht wahr! Wirst du dich fragen, ob sie vor Scham gestorben sind? Ob sie sich in den Brunnen gestürzt haben? Nein! Denn so ist der Krieg! Wozu auch so viele Geschichten darum machen! ›Wenn der Fähnrich reitet, verlieren die Mädchen ihre Ehre …‹ Mehr als einmal hat mir die alte Rebecca das gesagt. Verrat mir, was eine Frau deiner Meinung nach tun sollte, die ein Kind des Kriegs in ihrem Schoß trägt! Was kann sie tun? Es töten? … Sich selbst umbringen? … Es gibt auch Frauen, zuweilen, die dieses Kind zur Welt brin gen, es aufziehen, es lieben und ihm ein glückliches Leben schaffen wollen, weil es ein Kind ist. Verstehst du? Verstehst du?« Sie starrte ihn an und wiederholte noch einmal: »Verstehst du?« Dann glitt ihr Blick in das sanfte, raunende Tal zu rück. »Um so schlimmer«, dachte sie, »wenn er nicht versteht, wenn er hart wie Stein ist. Um so schlimmer für ihn. Mag er doch gehen! Mag er ein Mann ohne Herz werden, ein Vieh, ein Haudegen! Mag er doch gehen! Ich habe alles getan, was ich konnte!« Sie wartete, wagte es wieder, ihn anzusehen, und 855
gewahrte, daß seine Lippen zitterten. »Wenn es so ist«, murmelte er heiser, »wenn es wirklich so ist … Oh, Mutter, verzeih mir! Verzeih mir! Ich wußte nicht …« Sie hatte diese Reaktion nicht erwartet und preßte seinen Kopf gegen ihre Brust, strich ihm zärtlich über das Haar und wiederholte mechanisch: »Beruhige dich! Es ist ja nichts! … Beruhige dich, mein Kleiner.« Es war, als sei er noch ein Kind, und sie erinnerte sich an sein dünnes, flaumiges Haar von damals, das nun so kräftig und dicht geworden war. »Beruhige dich, ich bitte dich«, flüsterte sie. »Die Vergangenheit soll uns nicht mehr leiden lassen. Wir sind davongekommen, Cantor. Wir sind zusammen, wir alle, die wir füreinander bestimmt waren und die das Schicksal getrennt hatte. Nichts anderes zählt für mich! … Weine nicht mehr.« Nach und nach beruhigte er sich. Ihre ruhige Stimme, ihre sanfte, feste Hand verscheuchten al les Tragische, verwehrten ihm Gewissensbisse. Sie wiederholte ihm, daß das Geschenk des Lebens al lein wichtig sei, daß sie sich unter den Ihren wie im Paradies fühle und daß sie die Freude, ihren Cantor wiedergefunden zu haben, den sie schon für tot gehalten und beweint hatte, reichlich für die paar Stacheln seines schwierigen Charakters entschädige … Schon lächelte er ein wenig, schniefte, wagte je doch noch nicht, den Kopf zu heben. Und sie drückte ihn an ihr Herz, durchdrungen von dem Gefühl, daß 856
er ihr Sohn sei, ihr verbunden durch das Mysterium des gleichen Bluts, ein Band, dem keines gleichkam. Er löste sich von ihr, doch bevor er sich aufrichtete, sah er sie plötzlich mit einem Ernst an, der ihn verän derte, älter machte. »Verzeih mir«, wiederholte er. Und ihr Gefühl sagte ihr, daß es der Mann in ihm war, der sie im Namen aller anderen Männer um Vergebung bat. Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. »Ja, ich verzeihe dir«, murmelte sie, »ich verzeihe dir.« Als er sich dann straffte, begann sie zu lachen. »Ist es nicht albern? Du bist einen halben Kopf grö ßer als ich.« Während sie sich noch mühten, ihre Fassung wiederzugewinnen, glaubte Angélique, Geräusche zu hören, Schluchzen, dazwischen eine jammernde Stimme. »Hörst du es auch?« fragte sie ihren Sohn. Er hatte aufmerksam den Kopf gehoben. Er nickte und zog sie, instinktiv vorsichtig, hinter eine kleine Baumgruppe. Stimmen, Tränen in diesem menschenleeren Gebiet? … Nicolas Perrot hätte be hauptet, es könnten nur im Fegefeuer schmachtende Seelen sein oder aber … »Pst!« machte Cantor. Ein Indianer erschien an der Biegung des Flusses, groß, mit lehmfarbener Haut, das Gesicht durch rote und weiße Kriegsbemalung entstellt, eine Muskete 857
im Arm. Hinter ihm ein zweiter Indianer, dann eine weiße Frau in zerfetzter Kleidung, mit gelöstem Haar, der in kurzem Abstand eine weitere Frau mit einem etwa zweijährigen Kind in den Armen folgte. Es war das Schluchzen dieses Kindes, das sie gehört hatten. Die Mutter schien am Ende ihrer Kräfte. Sie bewegte sich wie eine Schlafwandlerin. Danach wie derum zwei Indianer, von denen einer einen fünf- bis sechsjährigen Jungen, der andere ein kaum älteres, offenbar schlafendes Mädchen trug; weiter zwei wei ße Männer in Lumpen, die sich gegenseitig vorwärts halfen, ein mit Bündeln und allerlei Krimskrams wie ein Esel beladenes Kind von zwölf Jahren und zum Abschluß ein feierlich schreitender Indianer mit einer Kriegsaxt in der Hand, der diese seltsame Herde vor sich herzutreiben schien. Plötzlich brach die junge Frau mit dem Kind in die Knie. Der Indianer mit der Muskete lief zurück und versetzte ihr mit dem Kolben einen brutalen Stoß zwischen die Schulterblätter. Das Kind begann schrill zu kreischen. In einem jähen Wutanfall packte der Indianer das Kleine am Bein, schwenkte es einen Moment mit ausgestrecktem Arm und schleuderte es in den Fluß. Angélique stieß einen Schrei aus. »Cantor! Schnell!« Der Junge lief mit großen Schritten über die Wiese und warf sich vor den verdutzten Augen des Trupps ins Wasser. Angélique trat hinter den Bäumen hervor, eine Hand auf dem Kolben ihrer Pistole. Sie wuß 858
te, daß bei den Abenakis oder Irokesen der kleinste Zwischenfall schnell in blutiges Gemetzel umschla gen konnte. Aber sie wußte auch, daß es sich mit ih nen auskommen ließ, wenn man es nur diplomatisch anfing und ein wenig Glück dabei hatte. »Ich grüße dich«, sagte sie zu dem feierlichen Indianer mit der Axt, den sie für den Häuptling hielt. »Bist du nicht Scacho, der große Sachem der Etsche minen?« An der Art seines Halsschmucks aus Bären zähnen und den zinnoberroten Stachelschweinbor sten in seinem Schopf glaubte sie zu erkennen, zu welchem Stamm er gehörte. Er erwiderte: »Nein. Aber ich bin ein Verwandter von ihm – Quandequina.« »Gott sei gelobt«, dachte Angélique. Sie hatte fast richtig geraten. Cantor war inzwischen aus dem Fluß geklettert, das halb erstickte, hustende Kind im Arm. Der Schreck füllte noch seine blauen Augen und machte es stumm. Seine Mutter riß es mit einer wilden Gebärde an sich und drückte es angstvoll an ihre Brust. »Es sind Engländer«, sagte Cantor, während er sich das Hemd vom Leib zog, um es auszuwringen. »Dieser Abenakitrupp muß sie im Süden gefangen haben.« Die Etscheminen hatten eilig ihre Gefangenen umstellt. Argwöhnisch warteten sie auf ein Wort ih res Häuptlings, das über den weiteren Verlauf dieser Begegnung entscheiden würde. Die Tatsache, daß die unerwartet aus dem Wald aufgetauchte weiße Frau 859
ihre Sprache benutzte, schien ihn günstig zu beein drucken. »Du drückst dich also mit unseren Worten aus, Frau?« fragte er, als traute er seinen Ohren nicht. »Ich versuche es. Darf eine Frau nicht die Sprache der wahren Männer sprechen?« Diesen Beinamen verliehen sich gern die Abenakis, »Kinder der Morgenröte« oder auch »Wahre Männer«, zum Unterschied von all den anderen einschließlich der Algonkins und Irokesen, die nur Bastardhunde waren. Der Häuptling vernahm die feine Würdigung der Qualitäten seines Volkes mit sichtlichem Wohl gefallen. Sein Zorn schien fürs erste verflogen. In diesem Moment berührte einer der Engländer, der, offenbar verletzt, von seinem Leidensgefährten ins Gras gelegt worden war, den Saum von Angéliques Rock. »You … French?« »Yes«, erwiderte Cantor. »We are French.« Sofort drängten sich die Unglücklichen um sie, warfen sich ihnen zu Füßen und flehten: »Prey, purchase us! Prey do purchase us!« Bleich, schmutzig, Gesichter und Arme von Dor nen und peitschenden Zweigen zerschunden, klam merten sie sich an sie. Die Indianer musterten sie verächtlich. Über die lamentierenden Stimmen hinweg suchte Angélique den Häuptling zu überreden, ihnen zum Fort zu folgen, wo tapfere Krieger wie sie Ruhe, Tabak und sagamité, in Maisbrei gekochtes Fleisch, finden 860
würden, aber er schüttelte den Kopf. Er habe es eilig, erklärte er, in sein am Sankt Lorenz gelegenes Dorf zurückzukehren und von dort aus die Gefangenen nach Montréal zu bringen, um sie für einen guten Preis zu verkaufen. Seien die Weißen des Forts nicht überhaupt Freunde der Engländer? Die Schwarze Kutte habe es so gesagt! Unversehens wurde ihre Haltung drohend. Angé lique suchte Rückendeckung an einem Baumstamm und sah, daß Cantor das gleiche tat. Ein Schlag mit dem Tomahawk von hinten war schnell versetzt … Trotz des unauffälligen Stellungswechsels, bei dem ihr die Traube der gefangenen Engländer beharrlich folgte, ließ Angélique, von Cantor unterstützt, mit ih ren teils französisch, teils in der Mundart der Abenakis vorgebrachten Überredungsversuchen nicht nach. Sie sprach von Piksarett und dem alten Massasswa, mit denen der Mann des Donners Bündnisse geschlossen habe. Von neuem schienen die Indianer interessiert. »Ist es wahr, daß der Mann des Donners die Berge hüpfen läßt?« fragten sie. »Ist es wahr, daß die Irokesen vor ihm geflohen sind?« Ja, erwiderte Angélique, der Mann des Donners lasse die Berge hüpfen. Nein, die Irokesen seien nicht geflohen. Sie hätten ein Bündnis mit dem Mann des Donners geschlossen, denn er habe einen Blutpreis gezahlt, wie er in dieser Höhe noch nie entrichtet worden sei … Ob es wahr sei, erkundigten sich die Abenakis, daß sich unter den Geschenken an die 861
Irokesen Perlen, rot wie Blut, gelb wie Gold und durchsichtig wie der Saft der Bäume, befunden hät ten, Perlen, die anderen Händlern unbekannt seien? Ja, es sei wahr. Wenn sie zweifelten, sollten sie nur zum Fort mitkommen. Dort könnten sie sie sehen … Sanfter Regen begann auf die Blätter zu rieseln. Ein dünner Schrei erhob sich; es klang wie das Miauen einer Katze … Angesichts der verdutzten Mienen Angéliques und Cantors brachen die Indianer in Gelächter aus. Endlich war es ihnen gelungen, die Weißen zu verblüffen. Einer von ihnen zog aus ei ner Art Beutel, den er an einem über die Schulter geschlungenen Strick trug, ein kleines rotes, nacktes Wesen. Er hob es an den Füßen hoch, worauf es mit der ganzen Energie eines mit seiner Lage höchst un zufriedenen Neugeborenen zu plärren begann. Eine der Frauen wandte sich weinend an Cantor, von dem sie wußte, daß er englisch verstand. »Sie sagt, es sei ihr Kind, vor sechs Tagen im Wald geboren.« »Großer Gott!« murmelte Angélique. »Wir müssen die Indianer unbedingt dazu bringen, mit uns zum Fort zu kommen, damit wir uns ein bißchen um die Armen kümmern können.« Mit allerlei Versprechungen von Perlen, Tabak, Munition für die Muskete und farbenprächtigen Decken gelang es ihr endlich, den Häuptling umzu stimmen. Auf dem Weg zum Fort stützte Cantor den verletz ten Weißen, während der andere ihm ihre traurige 862
Odyssee erzählte. Sie alle, Einwohner des kleinen Weilers Biddeford in der Nähe des Sébagosees, »Grenzleute«, wie die Siedler an der Küste sie nannten, waren eines frühen Morgens in ihrem außerhalb der Palisade gelegenen Haus von den Abenakis überrascht worden. Die Wilden hatten sie zusammengetrieben, die Kinder aus den Betten gerissen, was die Tatsache erklärte, daß die Kleinen barfuß und nur mit Hemden bekleidet waren, in aller Eile alles, was sie brauchen konnten, zusammengerafft und sich mit ihren Gefangenen wieder in den Wald verzogen. Der Überfall, fügte der Mann hinzu, sei so schnell und lautlos durchgeführt worden, daß man im Dorf sicher nichts davon gehört habe. Gesehen auch nichts, denn der Nebel sei kaum zehn Schritte weit zu durchdringen gewesen. Im Wald hatte für die Unglücklichen der furchtbare Marsch begonnen. In dem Bestreben, sich so schnell wie möglich vom Ort ihrer Untat zu entfernen, hatten die Wilden sie unablässig vorwärtsgetrieben. Einer der beiden Männer, Williams, der nur einen Schuh an den Füßen hatte – er war von den Angreifern überrascht worden, als er sich eben den zweiten Strumpf anzie hen wollte –, gab seine Strümpfe seiner hochschwan geren Frau, die auf bloßen Sohlen lief. Ein Indianer beobachtete es, erkannte den Zustand der Frau, und da er einsah, daß sie den Marsch auf Strümpfen nicht durchhalten konnte, überließ er ihr ein Paar Sandalen aus Elchleder. Williams trat sich einen Dorn in den nackten Fuß … Am folgenden Tag waren sie ans Ufer 863
des Androscoggin gelangt. Die Wilden hatten zum Übersetzen zwei Flöße gebaut, und da die englischen Niederlassungen nun weit hinter ihnen lagen, hatten sie sich bereit gefunden, das Tempo ein wenig zu ver langsamen. Williams’ Fuß hatte sich entzündet; man mußte ihn stützen … Dann hatte Missis Williams die Wehen bekommen … Der Mann, der sich Daugherty nannte, erging sich in einer endlosen, klagenden Litanei, sichtlich beglückt, endlich ein Ohr gefunden zu haben, das ihm bereitwillig zuhörte, während der Regen allmählich zunahm und den Lehm des Pfades in knöcheltiefen, glitschigen Brei verwandelte. Peyrac übersah die Lage sofort und empfing die Indianer mit Ehrerbietung. Angélique konnte sich den Gefangenen widmen. Nachdem Missis Williams sich gewaschen hatte, wurde sie verbunden und fürs erste in das angewärmte Bett Madame Jonas’ gesteckt. Die andere Frau, deren Kind in den Fluß geworfen worden war, saß schlotternd auf einer Bank im Saal. Als Angélique sie in ihre Kammer führen wollte, um sie aus ihrer durchnäßten Kleidung zu schälen, wi dersetzte sich der Häuptling. Bei den Abenakis galt der, der als erster die Hand auf einen Gefangenen legte, als dessen Herr und Eigentümer, dem bedin gungslos gehorcht werden mußte. Die junge Frau und ihr Söhnchen gehörten also Quandequina, der sich schon jetzt als ein nicht gerade angenehmer Herr erwies. »Der Sachem ist böse wie eine Giftkröte«, vertraute 864
Angélique Perrot an, den sie beiseite gezogen hatte. »Ihr seid Kanadier und könnt ihn sicher eher überre den, mich dieses arme Wesen pflegen zu lassen.« Zu ihrer Entrüstung schien den Waldläufer das Schicksal dieser Leute und besonders das der Frauen ziemlich gleichgültig zu lassen. Obwohl ein braver Bursche, war er in erster Linie doch Kanadier, und ketzerische Engländer gehörten nicht gerade zu der Sorte Menschen, die ihm am Herzen lag. Da er aber in ihren Augen Enttäuschung und Erschrecken las, wollte er sich reinwaschen. »Glaubt nur nicht, Madame, daß diese Frauen so zu beklagen seien. Vielleicht werden die Indianer sie wie Leibeigene behandeln, aber für ihre Ehre habt Ihr nichts zu fürchten. Die Indianer mißbrauchen nie ihre weiblichen Gefangenen, wie es in Europa üblich ist. Sie sind überzeugt, daß eine wider ihren Willen genommene Frau Unheil auf ihren Wigwam zieht. Außerdem glaube ich, sie ekeln sich ein wenig vor weißen Frauen. Wenn diese Engländerinnen und ihre Kinder sich nicht widerspenstig zeigen, werden sie bestimmt nicht leiden. Und wenn sie dann das Glück haben, von einer ehrbaren Montréaler Familie gekauft zu werden, wird man sie auch noch taufen und damit ihre Seelen retten.« Er erinnerte sie auch daran, daß die Kanadier viel von den Irokesen auszustehen hätten, die eben falls Weiße entführten, aber nur, um sie grausam zu foltern, was die mit den Franzosen verbündeten Abenakis niemals täten. 865
Nach dieser kleinen Richtigstellung begab er sich alsbald zu Quandequina und überredete ihn, seine Gefangene pflegen zu lassen. Welcher Nutzen außer ein paar Lumpen und armseligen Kasserollen blie be ihm schon von seiner Expedition, wenn ihm die Gefangene unterwegs stürbe, nachdem er sie zahllose Meilen mitgeschleppt hatte? Von der euphorischen Wirkung virginischen Ta baks beschwingt, ließ der Sachem schließlich mit sich reden. Die junge Frau war eine Schwester Missis Williams’ und während einer kurzen Reise ihres Mannes mit ihrem kleinen Jungen bei ihrem Schwager auf Besuch gewesen, als die Indianer sie überfallen hatten. Was würde ihr armer Mann wohl sagen, wenn er sein Heim leer fand? Tränen liefen ihr unablässig über die blas sen Wangen, und erst als ihr – nach einem Dampfbad und nachdem sie in trockene Wäsche und Kleidung geschlüpft war – der Kleine in die Arme gelegt wur de, heiterte sie sich ein wenig auf, küßte Angéliques Hände und bat sie erneut, sie doch zu kaufen. Danach kam Williams an die Reihe. Auf den ersten Blick war es Angélique klar, daß der entzündete und stark geschwollene Fuß nur durch einen chirurgi schen Eingriff vor Brand bewahrt werden konnte. Die Indianer sahen ihr bewundernd zu, wie sie ohne zu zögern mit dem blitzenden kleinen Messer han tierte, das Monsieur Jonas ihr für solche Zwecke ge schmiedet hatte. Schließlich wurde auch das Neugeborene versorgt 866
und an die Brust seiner Mutter gelegt, die zum Glück ein wenig Milch hatte. Sie alle fühlten sich wie im Paradies, aber morgen würde ihr Leidensweg wieder beginnen. Angélique empörte sich bei dem Gedanken, die weißen Frauen in den Händen der Wilden lassen zu müssen, und sprach mit Joffrey über die Möglichkeit, sie ihrem traurigen Geschick zu entreißen. Der Graf de Peyrac hatte den Abenakis schon angeboten, alle Gefangenen zurückzukaufen, aber sie hatten sich als unzugänglich erwiesen. Sie nahmen gern die Geschenke an, da sie ja schließlich eingewilligt hatten, ihren Marsch im Fort zu unterbrechen, und wenn man noch eine Handvoll Perlen, sechs Messer und für jeden eine Decke hinzufügte, würden sie sich so gar bereit finden, noch einen weiteren Tag zu bleiben, um den Gefangenen Gelegenheit zu geben, sich noch mehr zu erholen. Aber der gloriose Einmarsch in ihr Dorf mit den in grellen Farben bemalten Gefangenen inmitten gellenden Jubelgeschreis war ihnen doch zu wichtig, als daß sie darauf hätten verzichten können. Von einer so gefährlichen Expedition kehrte man nicht mit leeren Händen zurück. Außerdem hatten sie in Montréal kanadische Freunde, die sie dazu beglückwünschen würden, zur Rettung von Seelen für das Paradies der Franzosen beigetragen zu haben. Und die ihnen gute Preise zahlen würden. Die Franzosen waren überaus großzügig, wenn es darum ging, Seelen für ihren Glauben zu gewinnen. 867
Sicherlich brauchten sie alle unsichtbaren Mächte auf ihrer Seite, weil sie so wenig zahlreich waren. Und alles in allem ergaben die »Unsichtbaren« schon ei nen ganz schönen Haufen: die Heiligen, die Engel, die Seelen ihrer Toten, die bekehrten Seelen … Deshalb würden die Franzosen Kanadas trotz ihrer kleinen Zahl auch über die Irokesen und Engländer triumphieren. Quandequina konnte sie nicht verra ten, indem er sie dieser Seelen beraubte, auf die sie so zählten. Konnte Peyrac garantieren, daß er die Yenngli von der Schwarzen Kutte taufen ließe? … Nein. Wozu also die nutzlosen Diskussionen? Als die Nacht hereinbrach, begann Angélique Ver ständnis, wenn nicht gar Nachsicht für die spanischen Eroberer zu empfinden, die ein gut Teil der roten Völker auf riesigen Scheiterhaufen verbrannt hatten. Es mußte selbst für ein so radikales Verfahren gele gentlich Entschuldigungen gegeben haben. Sie hätte gern zur Waffe gegriffen, aber obwohl es auch Joffrey mißfiel, die Weißen in den Händen der Wilden zu lassen, konnte er ihretwegen keine kriege rischen Verwicklungen mit Neufrankreich und den Abenakivölkern riskieren. Schließlich beugte sie sich niedergeschlagen seinen Gründen. Sie hatte offensichtlich noch manches über Amerika zu lernen. Den Vormittag des folgenden Tages verbrachte Angélique am Lager des kleinen englischen Mädchens. Selbst bei aufmerksamster Pflege war es nicht sicher, 868
ob sie gerettet werden konnte. Missis Williams mach te sich keine Illusionen über den Zustand ihrer älte sten, Rose Ann genannten Tochter. Tränen traten ihr in die Augen, während sie an die naßkalten Nächte im Walde dachte, denen die kleine Kranke ausgesetzt sein würde, sobald sie wieder aufbrachen. »My daughter will die«, murmelte sie. Am Nachmittag stieß Angélique auf den Indianer, dem die kleine Rose Ann gehörte. Er hockte auf dem Kaminstein und rauchte seine Pfeife. Sie setzte sich ihm gegenüber. »Hast du jemals die Berge hüpfen sehen?« fragte sie ihn. »Hast du je gesehen, wie die grüne Raupe vom Himmel herabstieg und Sterne gleich Regentropfen fielen?« Der Mann schien interessiert. Es verriet sich zwar nur in einem winzigen Flackern zwischen halbge schlossenen Lidern, aber Angélique hatte gelernt, solche Anzeichen zu deuten, und ließ sich durch sein hölzernes Gesicht nicht entmutigen. »Die Irokesen haben’s gesehen. Sie bargen ihre Gesichter am Boden.« Der Wilde, der Squanto hieß, nahm die Pfeife aus dem Mund und beugte sich vor. »Wenn auch du es sähest, du allein«, fuhr Angélique fort, »und den Deinen davon erzählen könntest, brauchtest du keine Gefangene, um Glückwünsche zu erhalten und alle Blicke auf dich zu ziehen. Im Gegenteil! … Glaub mir! Ein solches Schauspiel wäre 869
es wert, uns deine Gefangene zu verkaufen, die ohne hin sterben wird, wie du weißt. Also?« Ihre versucherischen, listigen Worte führten zwi schen Squanto und seinen Brüdern zu einem Streit, der um ein Haar zu einer Prügelei ausgeartet wäre. Die anderen waren eifersüchtig, weil nur Squanto dem magischen Vorgang beiwohnen sollte, woll ten sich aber andererseits nicht von ihren eigenen Gefangenen trennen. Peyrac gelang es endlich, sie zu beruhigen, indem er sagte, wenn ihnen der Anblick auch versagt bliebe, könnten sie das Wunder immer hin hören und später den Kanadiern davon berich ten, die sich sicherlich dafür interessierten, was in Wapassou vorginge. In der Dämmerung wurde Squanto also zur an deren Seite des Berges geführt. Er konnte sehen, wie der Hang sich mit furchtbarem Getöse spaltete und seine Eingeweide ausspie. Und als die Nacht kam, überwältigten ihn die vier trotz der Feuchtigkeit hoch in die Finsternis zischenden Raketen vollends. Mit einem Ausdruck auf seinem Gesicht, als sei er der vom Sinai herabsteigende Moses, kehrte er zu seinen Brüdern zurück. »Ja, ich habe die Sterne vom Himmel fallen se hen!« Im Morgengrauen des nächsten Tages umarm te Missis Williams ihr bewußtloses, aber gerettetes Kind, das sie zweifellos nie wiedersehen würde. Sie hinterließ Angélique nähere Angaben über die Niederlassung Brunswick Falls am Androscoggin, wo 870
die Großeltern des Kindes wohnten. Vielleicht konn te man es eines Tages dorthin bringen. Dann drückte sie es an die Brust und folgte mutig ihren Wächtern. Angélique sah dem kleinen Trupp nach, der sich im leise rieselnden Regen entfernte. Nebelschleier hin gen über der grauen Fläche des Sees, und die Wipfel der Bäume verschwammen in tiefhängenden, schwe ren Wolken. Schließlich verschwanden die im Gänsemarsch hintereinandergehenden Gestalten in der grünlichen Masse des Waldes wie in einem trüben, schwammig flüssigen Element.
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Sechsundachtzigstes Kapitel
Je mehr die Jahreszeit vorrückte, desto häufiger tauch ten Indianer auf, um Tauschhandel zu treiben. Sie tra ten ohne Umstände ein, warfen ihre Pelzbündel auf den Tisch und lümmelten sich mit ihren Kalumets und schlammigen Mokassins ungeniert auf den Bet ten. Sie verlangten Branntwein und brachten mit ihrer Gewohnheit, alles anzufassen, Madame Jonas förmlich zur Verzweiflung. Das Pelzfieber ergriff selbst die Gleichgültigsten. Peyrac erklärte, er wolle diesen Handel nicht, dessen Gewinne schnell ins Gegenteil umschlagen könnten. Zwei Dinge hielten die Franzosen Neufrankreichs besonders heilig: das Kreuz und das Bibermonopol, und er fand es höchst überflüssig, sich die Feindschaft der Regierung in Québec durch ein Geschäft zuzu ziehen, das er nicht nötig hatte. Aber es war schwie rig, sich völlig vom Tauschhandel freizuhalten. Es war gleichzeitig die Krankheit des Landes und die des Frühlings und schüttelte die Leute wie ein regelmäßig wiederkehrendes Fieber. Wie sollte man sich auch der Faszination dieses rei chen, üppigen Pelzwerks erwehren, der Makellosigkeit der Hermeline, des nächtlich dunklen Glanzes der Fischotter, der grauen, malvenfarbenen oder bläu lichen Lieblichkeit der Nerze und Silberfüchse, des dunkel gebräunten Goldes der Biber oder der Felle der schwarzen Bären, der Wölfe, der rötlichen Wiesel, 872
der gestreiften Skunks? Kanadische Waldläufer erschienen, unter ihnen Romain de l’Aubignière, beladen mit Pelzwerk, das sie im Oberland jenseits des Sankt Lorenz gesammelt hatten. Sie wagten diese Reise hinter dem Rücken ih rer Landsleute, um Peyrac zu bitten, ihre Felle in den englischen oder holländischen Städten zu verkaufen, was ihnen als Hochverrat ausgelegt worden wäre, wenn sie es selbst getan hätten. Aber sie wußten, daß sie auf diese Weise das Doppelte verdienen würden und daß man bei den Engländern Tauschwaren fand, die um die Hälfte billiger und von besserer Qualität als die in Kanada erhältlichen waren. Der Graf erklärte sich zu solcherlei Vermittlungs diensten bereit, wenn sie ihn dafür freundschaftlich unterstützen würden, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergebe. Nach l’Aubignières Besuch war Eloi Macollet nicht mehr zu halten. Berauscht vom Anblick und von den Gerüchen der Felle, war er wie ein altes Schlachtroß, das den Klang der Querpfeifen und Trommeln hört. Er setzte sein kleines Kanu instand, hob es über den Kopf und machte sich auf die Suche nach einem Wasserlauf, der ihn zunächst zum Saint-FrançoisFluß bringen sollte. Angélique und die Kinder gaben ihm das Geleit, solange sie konnten, und winkten ihm nach, als er, munter und wohlgelaunt, durch die Strudel und Wirbel eines Wildbachs davonschoß. Rose Ann, das englische Mädchen, war inzwischen genesen. Sie war ein hoch aufgeschossenes, zartes, 873
blasses Ding, das Honorines Überschwang zu er schrecken schien. Honorine nannte sie mit protegie render Miene »die Kleine«, obwohl Rose Ann doppelt so alt war wie sie. Schließlich fanden sie sich im Spiel mit der wundervollen Puppe vom Dreikönigstag und verbrachten endlose Stunden damit, merkwürdige Speisen für die Prinzessin zuzubereiten, die sich Lancelot hinterher einverleibte. Angélique fiel es auf, daß Cantor Honorine nicht mehr reizte und sich zuweilen nett zu ihr zeigte. Er war jetzt den ganzen Tag und manchmal sogar nachts unterwegs, immer gefolgt von dem kleinen Vielfraß. Sein Vater ließ ihn gewähren. Er brachte seltsame Geschichten von seinen nächtlichen Ausflügen zurück und versprach Honorine, sie einmal zur Beobachtung der Wölfin und ihrer Jungen im Mondlicht mitzu nehmen. Er war gesprächiger geworden; es fiel ihm leichter, seine Gedanken mitzuteilen. »Ich mag die Wölfe«, sagte er. »Es sind intelligente Viecher. Der Hund ist blutdürstig, der Wolf nicht. Er verteidigt sich. Der Hund verläßt sich auf seinen Herrn. Der Wolf nicht. Er weiß, daß er allein ist, daß er keinen Freund hat …« In den ersten Junitagen verbreitete sich das Gerücht, daß bewaffnete Männer in Kanus den Kennebec her aufkämen. Man hatte seit einiger Zeit allzu friedlich dahingelebt. Zuweilen amüsierten sie sich über die Vorstellungen, die sie sich bei Einbruch des Winters gemacht hatten. Sie waren überzeugt gewesen, daß 874
sich monatelang niemand zeigen würde. Wer wagte es schon, die tödliche Einöde zu durchqueren? Doch die Franzosen Kanadas wagten alles. Das hatte der Winter sie gelehrt. An Besuchern war kein Mangel gewesen. Und nun, da sie wieder bei Kräften waren und ge nug Pulver und in der Werkstatt hergestellte Kugeln hatten, verlangten sie nach nichts Besserem, als wei tere zu empfangen. Gewisse Einzelheiten, die die mit der Nachricht erschienenen Indianer lieferten, ließen jedoch bald vermuten, daß es sich um die von Curt Ritz, dem Vertrauensmann Peyracs in Neuengland, angeworbe nen Söldner handelte. Die Aufregung wechselte ihren Anlaß. Nicolas Per rot wurde ihnen als Kurier entgegengesandt, während man die Arbeiten zum Ausbau von Unterkünften für dieses neue Kontingent nach Kräften vorantrieb. Ein paar Tage später erschien Perrots Indianer plötzlich auf dem Uferweg. »Sie kommen! … Sie kommen!« Man ließ alles stehen und liegen und stürzte ihnen längs der Ufer entgegen. Als sie eben das Ende des dritten Sees erreichten, tauchte der erste Mann auf der Höhe des steilen Abhangs neben dem brausen den Wasserfall auf: in blitzendem Küraß, vierschrötig, bärtig, mit hellen Augen unter buschigen Brauen, das vollkommene Abbild des Söldners der europäischen Schlachtfelder, der mit schwerem Schritt den Boden der Neuen Welt betritt. Sie umdrängten ihn und be 875
grüßten ihn bewegt. Er antwortete deutsch. Die anderen kamen, von Perrot geführt. Es wa ren etwa dreißig: Engländer, Schweden, Deutsche, Franzosen und Schweizer. Peyrac hatte sofort bemerkt, daß sich Ritz nicht unter ihnen befand. Dafür präsentierte sich des sen Leutnant und getreuer Freund Marcel Autine, ein Edelmann aus einem französisch sprechenden Schweizer Kanton. Er begrüßte den Grafen de Peyrac und übergab ihm ein umfängliches Schreiben, in dem, wie er sagte, die Abwesenheit des Kommandanten der Truppe erklärt sei. Er selbst habe stellvertretend die Führung übernommen und sei glücklich, gut ange langt zu sein. Im übrigen sei eine Segelbarke mit ih nen den Fluß heraufgekommen. Andere würden fol gen. Proviant hatten die Männer bereits mitgebracht, zudem trüge jeder ein Tönnchen Branntwein oder Wein, die für die Ankunftsfestlichkeiten vorgesehen seien. Auf Peyracs Frage, ob Ritz krank oder verletzt sei, erwiderte er ausweichend, die Erklärung sei in dem übergebenen Brief enthalten, und wenn Mon seigneur es wünsche, stehe er ihm für eine spätere Unterhaltung darüber gern zur Verfügung. Der Graf fügte sich. Es war besser, die Freude die ser ersten Stunden der Begegnung nicht zu trüben. In Wapassou erwarteten auf Böcken aufgebaute lange Tafeln die Ankömmlinge. Angélique ging von einem zum anderen, bediente sie oder setzte sich neben sie, 876
um ihnen Fragen zu stellen und ein paar Worte mit ihnen zu plaudern. Ihr Herz jubilierte. »Wir haben gewonnen! Wir haben gewonnen!« Und mit den Alten von Wapassou tauschte sie komplizenhafte, lächelnde Blicke, und wenn sie bei ihnen vorbeikam, drückte sie ihnen fest die Hand. Um ihnen zu danken, hätte sie sie am liebsten alle umarmt, selbst Clovis. Sie erinnerte sich an das, was Joffrey ihr gesagt hat te, bevor der Winter sie alle im Fort einschloß. Was er ihr begreiflich gemacht hatte, indem er sie mit seinem düster flammenden Blick fixierte: daß ihr Schicksal vom Wert jedes einzelnen abhinge. Der Winter war vergangen. Und sie waren alle zur Stelle! Jeder der Bewohner Wapassous hatte seinen Wert bewiesen, selbst die Kinder, selbst die Frauen! Sie wa ren sich selbst und dem treu geblieben, der es ihnen zur Pflicht gemacht hatte zu überleben. Und nun war der Sieg errungen, der Triumph voll ständig. Denn in dieser Neuen Welt, in der sich die Mehrzahl der kleinen Forts allenfalls einer Besatzung von fünf bis sechs Soldaten rühmen konnte, bedeute ten dreißig Söldner eine Macht. Wer würde es wagen können, künftig das Fort am Silbersee anzugreifen? Morgen schon würden sich die Ankömmlinge an die Arbeit machen, Bäume fäl len und unüberwindliche Wälle errichten. Joffreys Freiheit und Unabhängigkeit waren endlich gesi 877
chert! Und als der Mond sich hob, begann das Fest von neuem. Auch die Indianer bekamen ihren Teil. Man schlemmte und trank, man sang und tanzte zu den Klängen von Cantors Gitarre und der feurigen Violine eines der Neuen, eines Iren. Und die Trommeln und Schildkrötenrasseln der Wilden skandierten die Rhythmen der Farandolen, der Bourrées und der Tarantella, die der mit Messern jonglierende Enrico Enzi tanzte. Die drei Frauen Wapassous konnten sich über Mangel an Kavalieren nicht beklagen. Angélique und Elvire versuchten sich an diesem Abend in allen Tanzschritten der Provinzen Frankreichs, und selbst Madame Jonas mußte ihren heimischen Rigodon vor führen. Von den Berghängen hallte das ungewöhnli che Echo des Gelächters, der gemeinsam gesungenen Kehrreime, der Musik und des stürmischen Beifalls zurück, und hoch am Firmament zog der Mond lang sam seine Bahn über die drei Seen. Kurz nach Mitternacht kehrte Angélique ins Fort zu rück. Joffrey hatte sie rufen lassen. Sie fand ihn in ih rer Kammer vor einem verzierten Ledersack, der mit dem Gepäck der Truppe gekommen war und, wie es sich beim öffnen erwies, eine schöne Robe aus hell blauem Satin mit einer Halskrause aus Silberfiligran enthielt. Zusammen mit einem Kostüm aus grü nem Samt für ihn war sie auf seine Anweisung aus Gouldsboro mitgebracht worden. 878
Angélique schlüpfte fast ängstlich in diese Pracht. Als sie beide auf der Schwelle des Forts erschie nen, erhob sich von den versammelten Weißen und Indianern gewaltiger, weithin über das Tal schallender Beifall, in dem außer Stolz, Befriedigung und Jubel über das gemeinsam Vollbrachte auch die Liebe vieler Herzen für dieses Paar mitschwang, dessen Lächeln sie nun für alles entschädigte. Im Mondlicht wirkte Angéliques Kleid wie Silber und ihr gelöstes Haar wie fahles Gold. »Teufel!« rief einer der Franzosen, der sich mit Vignot angefreundet hatte. »Das ist wahrhaftig eine Prinzessin! Wenn ich geahnt hätte, daß ihr so was hier habt …« »Sie ist keine Prinzessin«, erwiderte der Zimmer mann mit einem verächtlichen Blick. »Sie ist eine Königin!« Er wandte die Augen zu Angélique, die vor ihnen vorbeischritt, die Hand auf Peyracs Faust gelegt. »Unsere Königin«, murmelte er. »Die Königin vom Silbersee.«
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Siebenundachtzigstes Kapitel
In dieser Nacht genoß sie in Joffreys Armen die Liebe in einer unbekümmerten, fröhlichen Gelöstheit, die sie, wie es ihr schien, seit ihrer Jugend nicht mehr empfunden hatte. Er erriet aus dem weichen Glanz ihres Lächelns, daß sie sich von den Spannungen be freit fühlte, die allzu lange die Unbefangenheit ihrer Reaktionen gedämpft hatten. Ihre Liebe hatte sich erneuert. In den Baumkronen begannen die Vögel zu zwit schern. Fahles Licht sickerte in die Dunkelheit. Am Seeufer brannten noch einige Feuer, um die die letzten Nachtschwärmer saßen und ihre Kalumets rauchten. Die Geräusche des Waldes und des Wassers drangen durch das kleine Fenster. Dieses ländliche Bett hatte ihre Verzückungen miterlebt. Es war die Barke, die sie zum anderen Ufer des Winters geführt hatte. In ihm hatte sie ihm so nahe geschlafen, daß sie zuweilen den Hauch seines Atems auf ihrer Wange spürte, daß der Duft seiner Haut sie bis in ihre Träume verfolgte, daß sie des Morgens mit einer winzigen Drehung des Kopfes seinen Lippen nahe genug kam, um sie mit den ihren streifen zu können. Unmerkliche Gesten, Wärme, Zärtlichkeit. Durch diesen Schlaf der Liebenden war sie genesen. Heute hatten sie den Faden der Ariadne wieder gefunden und das fünfzehn Jahre zuvor durch die 880
Flammen der Inquisition und die Verfemung durch den König von Frankreich unterbrochene Zwiege spräch neu begonnen. Am folgenden Tag las Peyrac den Brief. Maître Berne hatte ihn geschrieben. Der Rochelleser Kaufmann berichtete, wie die Kolonie Gouldsboro den Winter überstanden hatte. Im großen ganzen sei alles gut gegangen, aber kürzlich hätten sich durch einen Seeräuber Schwierigkeiten ergeben, der unter dem Namen Goldbart bekannt sei und die Bucht der Franzosen unsicher mache. Von den einen wie den andern verfolgt, habe er sich auf die Gouldsboroinseln geflüchtet, und er sei es auch gewesen, der – nur der Teufel wisse, warum – den besagten Curt Ritz ent führt habe, nachdem dieser mit seinen Männern im Hafen gelandet sei. Trotz dieses ärgerlichen Zwischenfalls hätten Manigault und er die mit einem der kleinen Schiffe des Grafen aus Neuengland eingetroffenen Söldner ermutigt, wie vorgesehen zum oberen Kennebec auf zubrechen, da Monsieur de Peyrac möglicherweise diese Verstärkung brauche. Doch es sei ihrer beider Wunsch, Monsieur de Peyrac baldmöglichst bei ihnen zu sehen, um die Angelegenheit mit dem Piraten und verschiedene andere regeln zu können. Als Postskript hatte Berne hinzugefügt, daß seine Frau Abigaël sich wohlbefinde, aber im kommenden Sommer ein Kind erwarte und sich sehr wünsche, Madame de Peyrac in ihrer schweren Stunde an ih 881
rer Seite zu wissen, da sie dieses Ereignis ein wenig erschrecke. Wenn Madame de Peyrac ihren Gatten bei seiner Inspektion Gouldsboros begleiten könne, würden sich alle überaus glücklich schätzen … Der Graf grübelte lange über dem Brief. Er fragte sich, was die Entführung des Deutschen Ritz be deuten mochte. Obwohl Überfälle durch Piraten an der Küste nicht eben selten waren, schien ihm diese Entführung irgendwie ungewöhnlich. Er fragte Autine über die Umstände aus, unter denen sie sich abgespielt hatte. Es blieb merkwürdig. Ritz war eines Abends ein Stück am Strand entlanggegangen, dann hatten Indianer beobachtet, daß Matrosen Goldbarts über ihn hergefallen waren, ihn niedergeschlagen und sich mit ihm in ihrer Schaluppe davongemacht hatten. Peyrac gab bekannt, daß er nach Gouldsboro auf brechen werde. Das geregelte, vertraute Leben in Wapassou geriet plötzlich durcheinander. Peyrac schien nicht die Absicht zu haben, Angélique zurück zulassen, und Angélique wiederum sah keine rechte Möglichkeit, sich gerade jetzt für wenigstens zwei Monate zu entfernen. Sie wäre gern beim Bau des neuen Forts dabeigewesen. Und war es nicht unvor sichtig, die eben erst eingetroffenen Söldner schon nach so kurzer Zeit allein zu lassen? Außerdem mußte sie all die auf dem Fluß und dann auf den Rücken der Männer herangeschafften Lebensmittel ordnen und richtig lagern. Und all die Kräuter und Früchte, die sie für ihre Arzneien und 882
zum Einmachen zu pflücken hatte! Andererseits verlockte sie auch der Gedanke, Gouldsboro und ihre Freunde wiederzusehen … mit Abigaël zu sprechen, Sevérine und Launer zu umarmen … und den kleinen Charles-Henri. Und, natürlich, über das Meer zu blicken und Austern und Hummer zu essen … »Ich hätte Euch nie zurückgelassen, mein Schatz«, sagte Peyrac. »Ich kann ohne Euch nicht mehr le ben.« »Und Wapassou?« Wapassou sei in ausgezeichneten Händen, erwiderte er. Die Alten würden sich der Neuen annehmen, Platz für sie schaffen und ihnen die nötige »Schiffsdisziplin« eintrichtern. Er setzte volles Vertrauen in den guten Einfluß der beiden Ehepaare Jonas und Malaprade wie auch in Marcel Autine, der sich übrigens außer in seiner Muttersprache auch in Deutsch, Italienisch, Spanisch und Englisch auszudrücken verstehe. Seine Autorität werde er dem Italiener Porguani übertra gen, dessen Loyalität, Fleiß und Energie er seit lan gem schätze … Für Angélique war dieser Junggeselle mit den schönen, melancholisch-dunklen Augen ein Rätsel, aber sie wußte, daß er das Vertrauen ihres Gatten nicht enttäuschen würde. Die größten Dickschädel sollten sie auf die Reise begleiten: Vignot, Clovis, O’Connell und natürlich auch Cantor. Dagegen gelang es Peyrac, Angélique da von abzubringen, Honorine mitzunehmen. Trotz der scheinbaren Gleichgültigkeit, mit der Berne von dem 883
Piraten schrieb, der sich in der Bucht der Franzosen herumtrieb, konnten sich in Gouldsboro gefährliche Situationen ergeben. Peyrac dachte keineswegs daran, sich den Mann entführen zu lassen, den er bei seiner ersten Fahrt nach Amerika in New York engagiert hatte und der ihm seitdem zuverlässig diente. Wapassou schien ihm dagegen jetzt vor Überra schungen sicher. Die Palisade würde bald errichtet sein, und die gut bewaffnete Besatzung konnte es in ihrem Schutz mit jedem kanadischen oder indiani schen Angreifer aufnehmen. Anscheinend ließ sich bei dieser Sippschaft nie voraussehen, welche Mücke sie gerade stechen würde. Vorderhand war aber nirgends ein Konflikt anlaß zu entdecken. In Québec beschäftigte sich der Gouverneur mit der durch Peyracs großzügige Unterstützung möglich gewordenen Expedition Caveliers. Die Irokesen hatten ihre freundschaftlichen Gefühle bewiesen, und die Abenakis waren für die nächste Zeit von ihren Tauschhandelsgeschäften in Anspruch genommen. Angélique ängstigte sich ein wenig und war auch enttäuscht, ihre Tochter zurücklassen zu müssen. Es war das erstemal, daß sie sich von ihr trennte. Zum Glück nahm Honorine die Entscheidung ihres Vaters gut auf. Das Bärchen Lancelot und die vieler lei Veränderungen, die sich durch die Ankunft der Söldner ergaben, füllten sie völlig aus. Mit der klei nen Rose Ann, die sie mitnehmen und auf dem Wege, 884
wenn möglich, ihrer englischen Familie zuführen wollten, würde sie zwar eine Spielgefährtin verlieren, aber immerhin blieben ihr Barthélémy und Thomas, und die Malaprades erklärten sich von Herzen bereit, während der Abwesenheit ihrer Eltern über sie zu wachen.
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Achtundachtzigstes Kapitel
Der Abend sank über Wapassou herein, ein neuer Abend im Frieden der überschwenglichen Natur. Die triumphierende Flut des Laubwerks und des Grases überschwemmte die Erde. Ihr grüner Widerschein färbte selbst die Oberfläche des Sees. Joffrey legte seinen Arm um Angéliques Taille und zog sie mit sich. Sie durchquerten das indiani sche Lager und stiegen dann am linken Seeufer zum Kiefernwald hinauf. Sobald sie die Kammlinie hinter sich hatten, umgab sie tiefe Stille, nur vom ruhigen Atem des Windes belebt, der leise die Blätter bewegte. Rasch schritten sie über den mit Moos bewachsenen felsigen Boden und schlugen ohne zu überlegen einen ihnen vertrauten Pfad ein, der sie zu einem Felsvorsprung über der Ebene führte, von dem aus sich ein weiter Blick in die gebirgige Ferne bot. Die Farben der Landschaft hatten sich wieder verändert. Buschiges blaues Pelzwerk überzog die Höhen, an den Hängen unterbrochen von Tupfen zarten Grüns, Lichtungen oder grasige Ufer irgendeines talwärts fließenden Bachs. Der Wald legte seine smaragdene Sommerpracht an. Trockener, staubartiger Dunst verwischte die Konturen und erweckte den Eindruck, als sei die Landschaft von schwerer Feuchtigkeit erfüllt. Doch überall fanden die Strahlen der Sonne funkelnden Widerhall in den zahlreichen Seen. 886
Sie blieben stehen. Zum letztenmal waren sie an diesem Abend hier hergekommen. Morgen machte die Karawane sich auf den Weg. Sie würden bis zum Kennebec marschieren und von dort aus mit Barken und Kanus flußabwärts dem Meer entgegengleiten. Vor dem Aufbruch hatten sie noch einmal im sin kenden Abend das Land betrachten wollen, das ihnen gegeben worden war. »Ich bin hier glücklich gewesen«, sagte Angélique. Und sie billigte in ihrem Herzen das zarte Wort Glück. Denn bedeuteten gemeinsam bestandene Ge fahren, miteinander geteilte Prüfungen nicht eben falls Glück? Ein mysteriöses Ferment kann sich plötzlich in den rohen Teig des Lebens mischen, und unverse hens ist es da, ungreifbar, verläßt uns nicht mehr: das Glück! … Sie atmete tief die balsamische Luft. »Meine kleine Geliebte! Meine Gefährtin«, sagte er sich, indem er sie mit den Augen verschlang. »Du hast mein Dasein geteilt, und ich habe dich nicht schwach werden sehen … Keine Engherzigkeit ist in dir … Du übernahmst deine Aufgabe und ludest sie auf deine Schultern …« Sie waren glücklich. Der Winter lag hinter ihnen, die trennenden Barrieren zwischen ihnen waren be seitigt. »Ich muß ein Jahr gewinnen«, hatte Peyrac gesagt. 887
Und schon konnten sie feststellen, daß die Bösar tigkeit ihrer Feinde nachließ. Nur einer war ihnen geblieben. Während ihre Gedanken um die gleichen Dinge kreisten, verharrte ihr Blick auf den fernen Wäldern, die sich mählich in ein dunkles Meer verwandelten. »Ich habe Angst vor diesem Priester«, sagte Angé lique gedämpft. »Ich kann mich nicht hindern, an die Gabe seiner Hellsicht, an die Allgegenwart seines Geistes zu glauben. Aus der Tiefe seines Waldes sieht er alles, erahnt er alles. Er hat sofort gewußt, daß wir das Gegenteil von allem sind, was er selbst ist.« Joffrey nickte. »Ja. Ich strebe nach Gold und Reichtum, er nach dem Kreuz und dem Opfer. Ich bin auf der Seite der Gottlosen, Ketzer und Rebellen, und er ist auf der der Gerechten und Fügsamen. Und das Schlimmste: Ich bete Euch an, ich verehre Euch, bezaubernde Frau an meiner Seite, mein Leben, meine Freude, mein Fleisch! Und das ist das Schlimmste für ihn … Ich liebe Euch, ewige Versucherin, Mutter allen Übels! Ich bin auf der Seite der Schöpfung, und er ist auf der des Schöpfers. Jetzt erkenne ich, daß zwischen ihm und uns keine Versöhnung mehr möglich ist. Es heißt: er oder wir! Er hat sich zur Verteidigung der Indianischen Christenheit erhoben. Er wird kämpfen bis zum Tod! Und ich begreife ihn. Für ihn geht’s darum, das zu verteidigen, was sein Dasein ausmacht, den Sinn seines Lebens. Er kann keine Zugeständnisse machen. Nun schön. Auch ich werde 888
kämpfen … Genug der Feigheit, Adam! Akzeptiere die Welt, die du verdienst! Ich werde mich für die Gottlosen und die Ketzer schlagen, für das Gold und für die Schöpfung … und für die Frau, die mir als Gefährtin gegeben wurde.« Und als er diese Worte aussprach, durchfuhr ihn ein Gedanke mit so brennender Schärfe, daß er fast etwas wie physischen Schmerz empfand. »Und wenn es das wäre?« dachte er. »Wenn das der Dolch wäre, mit dem er mich treffen will? Die Frau, die mir als Gefährtin gegeben wurde …« Die keuchende, dumpfe Stimme Pont-Briands klang in seinen Ohren: »Er wird Euch trennen, Ihr werdet sehen! Ihr wer det sehen! Er haßt die Liebe!« In diesem Moment fürchtete Joffrey de Peyrac, der Mann der Vernunft, des cartesianischen Experimen tierens, die unsichtbare, tückische Magie, die das Herz Angéliques von ihm abwenden könnte. Wenn dieses Herz aufhören würde, ihn zu lieben, würde auch sei ne Kraft und sein Leben wie Blut verströmen. »Es ist seltsam«, dachte er. »Als ich im Herbst hier herkam, kannte ich keine Angst. Ich wußte nicht, ob sie mich im alltäglichen Beisammensein enttäuschen oder ob wir uns einander nähern würden, aber ich fürchtete die Prüfung nicht. Heute ist es eine andere Sache.« Heute lernte er die Angst kennen. Er betrachtete sie, während er sich vorzustellen versuchte, was er empfände, wenn eines Tages diese klaren, schönen 889
Augen beim Anblick eines fremden Mannes zärtlich aufleuchten würden … Er verspürte dabei solchen Schmerz, daß Angélique das Zittern, das ihn befiel, bemerkte und ihn erstaunt ansah. In diesem Moment erhob sich von dem hohen schwarzen Hang hinter ihnen ein anmutiges, harmo nisches Heulen. Es war ein Ruf, der in verschweigenden Tremolos anschwoll, von neuem einsetzte und in eine langgezogene, monotone Klage mündete, die kein Ende zu nehmen schien. »Horcht!« sagte Angélique. »Der Chor der jungen Wölfe!« Sie sah sie vor sich, wie Cantor sie beschrieben hatte: die sechs Wolfsjungen zu beiden Seiten des großen Wolfs, die runden Schnauzen mit den rosigen Nüstern hochgestreckt in kindlichem Bemühen, ih ren Vater nachzuahmen, der sein tragisches Profil steil zum Mond erhob. »Man möchte meinen, der Wald singt«, murmelte Angélique. »Ich weiß nicht, ob ich recht habe, aber ich glaube, daß ich wie Cantor bin. Auch ich liebe die Wolfe.« Er starrte sie an, sensibel für jede Nuance ihrer Stimme bei jedem Wort, das sie sprach. »Seltsam«, wiederholte er für sich. »Früher liebte ich sie närrisch, und dennoch konnte ich lange Jahre fern von ihr leben, konnte mein Dasein genießen, so gar mit anderen Frauen die Lust … Aber jetzt könnte ich’s nicht mehr. Man könnte sie nicht von mir tren nen, ohne mir zugleich Fetzen meines Fleisches aus 890
dem Leib zu reißen … Ohne sie ertrüge ich jetzt das Leben nicht mehr. Und wie ist das geschehen? … Ich weiß es nicht einmal.« Bei dem Gedanken, daß man versuchen könnte, sie ihm auf eine subtilere Art, als der Tod es war, zu rauben, ballte er die Fäuste, denn wenn sie ihn verriet, wenn sie von dem Piedestal herabstürzte, auf das er sie, Geschöpf der Schönheit und des Lichts, erhoben hatte, würde er mit ihr stürzen, zutiefst getroffen in seiner lebendigen Kraft, trunken vor Zorn und Rachedurst, so daß er jedes andere menschliche Tun und alle Weisheit vergäße. Die Pfeile, die ihn durch sie treffen würden, wären alle vergiftet. Die Stirn runzelnd, preßte er ihre Hand, während sie sich von der sehnsüchtigen Poesie des Rufs der Wölfe verzaubern ließ. Dann wandte sich Peyracs Blick von ihr ab und richtete sich auf den dunklen Waldozean in der Ferne, als suchten seine Augen dort einen verborgenen Feind zu entdecken. In diesem Moment geschah es. Ein Lichtschein zit terte über den nördlichen Horizont, hob sich, heller werdend, über die Bäume und Berge, sammelte sich zu einem riesigen, leuchtenden Oval, in dem sich eine von Schleiern verhüllte Gestalt abzuzeichnen schien. Dann röteten sich die Schleier, wurden grün, überlagerten sich zu einer röhrenförmigen Spirale, die sich in einem Feuerwerk strahlender Blitze auf zulösen begann. »Was ist das?« rief Angélique gebannt. »Ein Polarlicht«, antwortete Peyrac. 891
Er erklärte ihr, daß dieses Phänomen noch unbe kannten Ursprungs um diese Jahreszeit und in diesen Breiten häufig sei. Angélique schüttelte ihre Bestür zung ab und atmete auf. »Ich hatte Angst. Ich glaubte einen Augenblick, daß auch wir Zeugen und Opfer einer himmlischen Erscheinung würden. Es hätte mich … nun ja, ich fürchte, es hätte mich sehr in Verlegenheit gesetzt!« Sie lachten beide. Der Graf de Peyrac neigte sich zu ihr und zog die losen Enden ihres Mantels um sie zusammen, denn aus den Schluchten schien plötzlich ein eisiger Hauch zu steigen. Er hüllte sie sorgsam ein, dann nahm er ihr kühles Gesicht zwischen seine Hände und küßte unersättlich ihren Mund. Rasch verfliegender Licht schein glitt hin und wieder über sie hinweg, während das grüne und rötliche Sprühen allmählich im Dunkel des Firmaments erlosch. Schweigend blieben sie beieinander, durchdrun gen von dem unbeschreiblichen Gefühl, zwei zu sein, zu zweit – als Gefährten und Liebende – dem Leben gegenüberzustehen, so erfüllt von dem Wert des Geschenks, das sie mit dieser Liebe empfangen hatten, daß sie verstanden, warum man sie beneidete. Zuweilen befiel sie flüchtig etwas wie Angst. Dann zog Peyrac Angélique dichter zu sich heran. Während sie nordwärts blickten, dachten beide an einen einsamen Mann, der sich auf einem Lager von Zweigen zu kurzer Ruhe ausgestreckt hatte. Um Mitternacht würde er sich erheben und in einer 892
armseligen Hütte mit festgestampftem Boden vor ei nem Altar niederknien, auf dem ein rotes Lämpchen brannte. Zur Rechten des Altars lehnte ein Banner, auf dem vier rote Herzen, eins in jeder Ecke, und ein Schwert abgebildet waren. Hinter dem Altar, über dem Kreuz, hing die Muskete des Heiligen Krieges. Das Kreuz war aus Holz. Joffrey de Peyrac war nun ruhig. Er empfand sogar etwas wie Neugier. Welche Formen würde der un erbittliche, hartnäckige Kampf annehmen, der sich zwischen ihm und ihnen entsponnen hatte, ohne daß sie einander je begegnet waren? Er, Peyrac, hatte alle Arten des Kampfes kennenge lernt, und dennoch konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das, was auf sie zukommen würde, mit den Maßstäben des Üblichen nicht zu messen war. Eine Hoffnung blieb. In jeder Gegensätzlichkeit existierte ein Punkt der Gemeinsamkeit, der Begeg nung, eine Möglichkeit, zueinanderzufinden … Die Werte, die auf beiden Seiten auf dem Spiele standen, waren hoch genug, um solche Gnade zu rechtfertigen. »Wie Gott will«, murmelte er.
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