Bernd Parusel Abschottungs- und Anwerbungsstrategien
VS RESEARCH
Bernd Parusel
Abschottungsund Anwerbungsstrategie...
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Bernd Parusel Abschottungs- und Anwerbungsstrategien
VS RESEARCH
Bernd Parusel
Abschottungsund Anwerbungsstrategien EU-Institutionen und Arbeitsmigration
Mit einem Geleitwort von Prof. Klaus J. Bade
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Universität Osnabrück, 2009
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Verena Metzger | Anita Wilke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17316-0
Geleitwort
Die weltweite Entwicklung von Wirtschaft, Bevölkerung und Wanderung steht im Zeichen tief greifender Veränderungen. Im Zentrum stehen strukturelle demoökonomische Rangspannungen: einerseits globale ökonomische Entwicklungsspannungen und andererseits Spannungen zwischen demographischer Alterung und Schrumpfung in hoch entwickelten Regionen und einem explosiven Wachstum von demographisch jungen Bevölkerungen in wirtschaftlich minder entwickelten Räumen. Abgesehen von Flucht- bzw. Zwangswanderungen und von Karriere- oder Wohlstandswanderungen, sind diese Zusammenhänge heute die wichtigsten materiellen Bestimmungsfaktoren des internationalen Wanderungsgeschehens. Dieses Szenario dürfte sich in den kommenden Jahrzehnten erheblich verschärfen. Demographischer Hintergrund ist eine innerhalb eines halben Jahrhunderts möglicherweise bis auf das Doppelte angewachsene, demographisch jüngere Weltbevölkerung und eine im Vergleich umso mehr geschrumpfte und demographisch ältere europäische Bevölkerung. Im weltweiten Migrationsgeschehen stehen vor diesem Hintergrund gewaltige demo-ökonomische und humanitäre Aufgaben an; denn die langfristigen Folgen von Bevölkerungswachstum, Weltwirtschaftskrise, Umweltzerstörung und Klimawandel dürften in den besonders betroffenen Regionen Massenwanderungen in Gang setzen. Das gilt also nicht nur für die bisherigen Ausgangsräume des globalen Migrationsgeschehens. Die fortschreitende, durch den Klimawandel noch forcierte Zerstörung der Lebensgrundlagen von vielen Millionen Menschen dürfte Dimensionen von Umweltflucht und Neuansiedlung zur Folge haben, die weit über das hinaus gehen, was wir heute als Weltflüchtlingsproblem kennen. Je früher und vorbehaltloser wir uns diesen globalen demo-ökonomischen und humanitären Herausforderungen stellen, desto angemessener können unsere Antworten sein – wenn wir denn pro-aktiv antworten und uns nicht nur realitätsblind, angstvoll und abwehrbereit verstecken wollen in einem europäischen Bunker mit schrumpfender und demographisch vergreisender Bevölkerung. Diese Massenwanderungen dürften nicht nur, wie bisher zumeist, die umliegenden Regionen der Ausgangsräume tangieren. Sie könnten verstärkt auch Europa erreichen, sofern sie nicht durch Massenumsiedlungen in andere Großregionen aufgefangen werden können. Mit multinationalen und bilateralen administrativen Blockaden und quasimilitärischen Grenzsperren zu Wasser und zu Lande allein wird der Zuwanderungsdruck auf Europa nicht aufzufangen sein. Zielführender sind auf
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Geleitwort
EU-Ebene schon konzipierte, aber erst ansatzweise umgesetzte entwicklungsorientierte Förderungsprogramme in den Ausgangsräumen der Migration. Aber auch das wird nicht mehr genügen; denn Förderungsprogramme nützen nichts mehr in Ausgangsräumen, die zu Wüsten werden oder unter Wasser stehen. Unumstritten ist heute ein langfristig zunehmender, schwer kalkulierbarer Migrationsdruck auf hoch entwickelte Regionen, zu denen auch Europa zählt. Umstritten ist dabei, inwieweit die Tatsache, dass Europa bislang erst zu einem überschaubaren Anteil Zielregion von Zuwanderung aus Drittländern geworden ist, eine Folge der Abwehr unerwünschter Zuwanderungen an und vor den europäischen Grenzen ist. Unbestreitbar sind die nicht intendierten Folgen dieser Abwehrmaßnahmen – von irregulären bzw. illegalen Inlandsaufenthalten bis zur wachsenden Selbstgefährdung von Migranten beim Versuch, die europäischen Kontrollsysteme zu Land und zu Wasser zu umgehen. Es gibt zu diesem in der Realität komplexen und in den darauf gerichteten Projektionen diffusen Problemfeld auf den verschiedensten Ebenen in Europa dramatische Menetekel, philanthropische Appelle und konkurrierende Gestaltungsvorschläge. Auf europäischer Ebene gibt es zwar einen in den Grundzügen wachsenden Konsens der Einsicht in die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Verständnisses von Migrations-, Integrations- und Asylpolitik als Querschnittsaufgaben unter besonderer Berücksichtigung der im Zentrum dieser Arbeit gestellten Frage nach der Steuerung von Arbeitsmigrationen. Der fortschreitende Konsens in Fragen von Migrationssteuerung, Integrationsförderung und Asylstandardisierung bildet sich aber in der Entscheidungspraxis zumeist noch vorwiegend ab in eher mosaikartigen Einzelkonsensen auf dem – der zumeist nötigen Einstimmigkeit halber – oft kleinsten gemeinsamen Nenner; abgesehen einmal von vorwiegend sicherheitspolitischen Komponenten, bei denen eine größere Übereinstimmung leichter erreichbar scheint. Hinderlich auf europäischer Ebene sind dabei nicht nur inhaltliche Dissense und nationale Souveränitätsvorbehalte, sondern auch die hier immer wieder angesprochene europäische Konsensarchitektur, in der sich die tragenden Spannungsbögen auf nachgerade allen Ebenen überschneiden. Das gilt einerseits auf der europäischen Ebene institutionell bzw. horizontal, weil hier verschiedene, bislang kaum in strukturierten Entscheidungsprozessen koordinierte Ressorts mit verschiedenen Kompetenzen und Verfahrensformen einzubeziehen sind – von Justiz und Innerem über Außen- und Entwicklungspolitik bis hin zu Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, aber auch Sozial- und Bildungspolitik. Es gilt andererseits vertikal für die Kompetenz- und Souveränitätsspannungen zwischen dieser – ihrerseits intern institutionell und horizontal unter Spannung stehenden – supranationalen Ebene und den unterschiedlich betroffenen nationalen Ebenen mit ihrem gerade in Fragen von Arbeitswanderung bekannten Sacro Egoismo. Es gilt inhaltlich aber auch im Blick auf eine Vielzahl von auf und zwischen den Ebenen konkurrierenden Interessen und im Blick auf eine prekäre Spannung
Geleitwort
7
zwischen defensiver Erkenntnisverweigerung und pragmatischer Realitätsakzeptanz, zwischen politisch kurzatmigem Aktionismus mit appellativen Postulaten und dem pragmatischen Bemühen um kontinuierliche Fortschritte. Es kann und darf hier insbesondere nicht länger darum gehen, Wirtschaftswanderungen aus Drittstaaten nach Möglichkeit nur abzuwehren. Es geht darum, sie im gemeinsamen Interesse im Rahmen des überhaupt Möglichen konzeptorientiert zu steuern. Auf der einen Seite wird heute eine Verschränkung der Konzepte von „circular migration“ und „Mobilitätspartnerschaften“ für Zuwanderer aus Drittstaaten diskutiert, bei denen (z. B. wegen unzureichender beruflicher Qualifikation) nicht an dauerhafte Niederlassung gedacht wird und die deshalb mit Visa für befristete Arbeitsaufenthalte ausgestattet werden sollen, was mancherlei Probleme und Fragen aufwirft. Auf der anderen Seite fehlt es nach wie vor für qualifizierte Zuwanderungen aus Drittstaaten auf europäischer Ebene an einem supranationalen Steuerungskonzept, für das die ‚Blue Card‘ ein erster Schritt sein kann. Es müßte zugleich nationalen Belangen Gestaltungsspielräume einräumen, z. B. über eine Koordination von nationalen Engpassdiagnosen über eine europäische Agentur. Es ist keine Frage, dass ein am Binnenmarkt orientierter europäischer Arbeitsmarkt für die Wirtschaftswanderungen und für das Steuerungsmanagement bei weitem hilfreicher wäre, ebenso wie ein europäischer Asylstatus für Schutz suchende Flüchtlinge einerseits und für das Asylmanagement andererseits. Aber solange solche Überlegungen bestenfalls Zukunftsvisionen sind, darf nicht gewartet werden mit der Implantation von tatsächlich umsetzbaren Systemen zur ohnehin immer nur begrenzt möglichen Steuerung – auch wenn diese Systeme dereinst vielleicht als antiquierte Surrogate erscheinen werden in einer Zukunft, deren Vergangenheit unsere Gegenwart heute ist. Der Weg dahin ist noch weit, wenn er denn überhaupt dorthin führt. Die vielen argumentativen Widersprüche und Kreisverkehre in den zu gestaltenden Zusammenhängen, insbesondere die Interessenskollisionen im Vorfeld von Entscheidungen zu Fragen der Arbeitsmigration, haben in der Forschungs- wie in der Politikdiskussion immer wieder zu neuen, Überblick stiftenden Orientierungsversuchen geführt. Die Studie von Bernd Parusel bietet hier eine neue, hilfreiche Bestandsaufnahme. Sie ist ein weiterer Beitrag zur Förderung der Einsicht, dass man auf europäischer Ebene nur vorankommen kann, wenn die Bereitschaft wächst, mit Fehlern und Fehleinschätzungen aufzuräumen, damit man politisch nicht immer wieder in die gleichen Fallen läuft. Prof. Dr. Klaus J. Bade
Vorwort
Die vorliegende Arbeit markiert den vorläufigen Endpunkt einer mehrjährigen Beschäftigung mit Asyl-, Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik in verschiedenen europäischen Staaten und insbesondere mit den Tendenzen der Harmonisierung und Vergemeinschaftung in diesem Politikfeld auf EU-Ebene. Sie ist der Versuch, die Interessen der EU-Institutionen hinsichtlich der Steuerung von internationalen Wanderungsbewegungen zu ergründen, darzustellen und zu erklären. Zu verdanken habe ich die Dissertation Herrn Prof. Dr. Klaus J. Bade, den ich Ende 2003 mit der Frage angeschrieben habe, ob ich bei ihm in Osnabrück, am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, promovieren könne, und der mir viel Interesse und Engagement entgegenbrachte. Zu danken habe ich vor allem aber auch Herrn Prof. Dr. Jochen Oltmer, der die Arbeit federführend betreut hat, der mir bei der Strukturierung von anfangs noch diffusen Ideen geholfen hat und jederzeit ansprechbar war, trotz der zu überbrückenden räumlichen Distanz zwischen dem ländlichen Mittelschweden, wo ich von 2003 bis 2008 meinen Lebensmittelpunkt hatte, und der Universität Osnabrück. Daneben möchte ich auch Frau Prof. Dr. Andrea Lenschow danken, die ein ergänzendes drittes Gutachten zu dieser Arbeit geschrieben und mich konstruktiv auf Verbesserungsmöglichkeiten hingewiesen hat. Wichtig für diese Arbeit waren auch Begegnungen mit anderen Forschern bei verschiedenen Workshops und Konferenzen. Besonderer persönlicher Dank gilt Frau Dr. Alexandra Wallau, die mich immer ermutigt und angespornt hat, auch und vor allem dann, wenn die Arbeit an der Dissertation eher eine Belastung als eine positive Herausforderung zu werden drohte. Meinen Eltern Rainer und Ursula Parusel danke ich dafür, dass ich mich immer auf sie verlassen konnte, wenn ich Zuspruch brauchte. Schließlich gilt mein Dank den Lehrern und Schülern des Falu Frigymnasiums in Falun (Schweden), die mir während des Promotionsprozesses eine abwechslungsreiche und inspirierende Nebentätigkeit ermöglicht und so entscheidend dazu beigetragen haben, dass ich am Schreibtisch nicht vereinsamte. Bernd Parusel
Inhaltsverzeichnis
1
2
Einleitung ..................................................................................................................... ....... 15 1.1
Eine gemeinsame Politik zur Steuerung der Arbeitsmigration in die EU?................................ 15
1.2
Forschungsstand ..................................................................................................................................... 20 1.2.1 Die zwei Dimensionen der Migrationspolitik der EU ....................................................... 20 1.2.2 Voraussetzungen für eine europäische Migrationspolitik.................................................. 21 1.2.3 Etappen und Tragweite der Europäisierung der Migrationspolitik................................. 23 1.2.4 Hindernisse und Blockaden ..................................................................................................... 25 1.2.5 Erklärungen für die Herausbildung einer gemeinsamen Migrationspolitik................... 26 1.2.6 Interessen der europäischen Organe...................................................................................... 28 1.2.7 Interessenkonstellationen hinsichtlich der Arbeitsmigration............................................ 29 1.2.8 Weiterer Forschungsbedarf ...................................................................................................... 33
1.3
Fragestellung............................................................................................................................................ 35
1.4
Aufbau der Arbeit .................................................................................................................................. 37
1.5
Methoden und Material......................................................................................................................... 38
Interessen in einer europäisierten Migrationspolitik ............................................................ 43 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5
Europäisierung und Migrationspolitik............................................................................................... 44 Der Begriff „Europäisierung“.................................................................................................. 44 Gründe für Europäisierung ...................................................................................................... 45 Interessen im Europäisierungsprozess .................................................................................. 49 Erklärungen für die Schaffung einer gemeinsamen EU-Migrationspolitik ................... 50 Die Institutionalisierung und Vertiefung der Migrationspolitik der EU........................ 53
2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5
Der Wettstreit politischer Interessen in der EU.............................................................................. 56 Die Entstehung und Prägung von Interessen in der EU .................................................. 56 Die Durchsetzung von Interessen ..........................................................................................61 Das politische System der EU und der Wettstreit von Interessen.................................. 62 Eigenschaften der EU-Organe bei der Interessenvertretung ........................................... 66 Organisierte Interessenvertretung und „Lobbies“.............................................................. 69
2.3.1 2.3.2 2.3.3
Interessen in der Migrationspolitik..................................................................................................... 71 Kontrolle, Abwehr unerwünschter Migranten und Sicherheitsinteressen..................... 71 Ökonomische, arbeitsmarktpolitische und demografische Interessen........................... 73 Migration und Entwicklung ..................................................................................................... 74
2.2
2.3
12 3
Inhaltsverzeichnis Interessen bis zum Vertrag von Amsterdam und dem Gipfel in Tampere ............................ 77 3.1 3.2
Die Anfänge einer europäischen Migrationspolitik ........................................................................ 77 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Die Asyl- und Migrationspolitik von Maastricht bis Amsterdam................................................ 82 Der Vertrag von Maastricht ..................................................................................................... 82 Die Londoner Beschlüsse zur Asylpolitik............................................................................. 84 Die Harmonisierung der Asylsysteme der Mitgliedstaaten ............................................... 86 Die Reformen im Vertrag von Amsterdam.......................................................................... 88
3.3.1 3.3.2 3.3.3
Interessenkonstellationen nach dem Vertrag von Amsterdam.................................................... 91 Das Wiener Strategiepapier ...................................................................................................... 91 Ein „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“.................................................. 92 Die „Leitlinien“ der deutschen Bundesregierung................................................................ 94
3.3
3.4 4
Der EU-Sondergipfel von Tampere................................................................................................... 95
Die Umsetzung des Vertrags: Asyl und „illegale“ Einwanderung ........................................ 97 4.1
4.2
5
4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6
Interessen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik ................................................................................. 97 Gemeinsame Normen für Asylverfahren.............................................................................. 98 Definition des Flüchtlingsbegriffs und des „subsidiären Schutzes“ .............................102 Vorübergehender Schutz ........................................................................................................ 106 Mindestnormen für die Aufnahme von Asylsuchenden..................................................108 Der Europäische Flüchtlingsfonds.......................................................................................111 Dublin II – Die Zuständigkeit für Asylanträge.................................................................. 112
4.2.1 4.2.2
Interessen im Bereich der „illegalen“ Einwanderung................................................................... 117 Das gemeinsame Vorgehen gegen „illegale“ Einwanderung.......................................... 117 Rückkehrpolitik und Abschiebungen...................................................................................120
Die Umsetzung des Amsterdamer Vertrags: „legale“ Migration .........................................125 5.1
Das Recht auf Familienzusammenführung ....................................................................................125
5.2
Langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige ............................................................130
5.3
Studenten, Schüler und Auszubildende aus Drittstaaten.............................................................134
5.4
Forscher aus Drittstaaten....................................................................................................................136
5.5
Arbeitsmigration ................................................................................................................................... 138
5.6
Zwischenfazit ........................................................................................................................................ 143
Inhaltsverzeichnis 6
Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration....................................................147 6.1
Interessen der Kommission ............................................................................................................... 147
6.2
Interessen des Europäischen Parlaments........................................................................................148
6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.3.6 6.3.7
7
8
13
Interessen der Mitgliedstaaten........................................................................................................... 153 Deutschland ...............................................................................................................................157 Schweden.................................................................................................................................... 163 Italien........................................................................................................................................... 170 Polen............................................................................................................................................ 174 Großbritannien..........................................................................................................................177 Griechenland .............................................................................................................................181 Weitere Staaten und Zusammenschau................................................................................. 185
6.4
Die weitere Entwicklung der Interessen der Kommission .........................................................189
6.5
Die weitere Entwicklung der Interessen im Rat............................................................................ 191
Arbeitsmigration, Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration ................................195 7.1
Der „Strategische Plan für legale Zuwanderung“ ......................................................................... 195
7.2
Reaktionen auf den Strategischen Plan............................................................................................201 7.2.1 Mitgliedstaaten...........................................................................................................................201 7.2.2 Europäisches Parlament.......................................................................................................... 205
7.3
Richtlinienvorschlag für die Zuwanderung hochqualifizierter Migranten...............................210
7.4
Rahmenrichtlinie über die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen .................................... 213
7.5
Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration ...................................................................... 215
7.6
Legale Migration und der Reformvertrag von Lissabon..............................................................223
7.7
Der Europäische Pakt zu Einwanderung und Asyl ...................................................................... 226
Diskussion und Schlussbetrachtung....................................................................................231 8.1
EU-Institutionen und Arbeitsmigration..........................................................................................231
8.2
Der Wettstreit der Interessen unter den EU-Akteuren ...............................................................234 8.2.1 Europäischer Rat, Ministerrat und Mitgliedstaaten ..........................................................234 8.2.2 Kommission...............................................................................................................................237 8.2.3 Europäisches Parlament.......................................................................................................... 240 8.2.4 Das Zusammenspiel der drei Akteure ................................................................................. 243
8.3
Ausblick: Braindrain und Entmenschlichung ................................................................................ 248
Literaturverzeichnis ........................................................................................................... ...... 253
1
Einleitung
1.1 Eine gemeinsame Politik zur Steuerung der Arbeitsmigration in die EU? Mit einem „Grünbuch über ein EU-Konzept zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration“1 unternahm die EU-Kommission im Januar 2005 den zweiten Vorstoß zur Schaffung einer gemeinsamen EU-Politik zur Zuwanderung von Arbeitskräften aus Drittstaaten in die EU. Bereits im 1999 in Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam war von den Mitgliedstaaten der EU das Ziel festgeschrieben worden, nicht nur eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik zu entwickeln und gemeinsame Maßnahmen zur Abwehr illegaler Migrationsbewegungen durchzuführen, sondern auch andere Formen der Einwanderung aus Drittstaaten in die EU gemeinsam zu regeln. Hintergrund dieser Zielformulierung war die Einsicht, dass sich Migrationsbewegungen in einem Raum ohne Binnengrenzen nur auf dem Wege der zwischen- und überstaatlichen Zusammenarbeit sinnvoll und wirksam steuern lassen. Zu diesem Gesamtansatz zählt auch die Frage, wer unter welchen Bedingungen in die EU einreisen darf, um in einem EU-Staat zu arbeiten.2 Trotz des grundsätzlich von allen Mitgliedstaaten geteilten Ziels stieß die konkrete Umsetzung der Versuche der EUKommission, eine „umfassende“, auch Arbeitsmigration beinhaltende, Migrationspolitik auf den Weg zu bringen, jedoch auf große Schwierigkeiten. Zwischen 1999 und 2004, dem Zeitraum, den der Amsterdamer Vertrag für eine „erste Runde“ der Harmonisierung der Migrationspolitik in der EU vorsah, wurden zwar unter anderem eine lange zwischen Mitgliedstaaten, Kommission und Europäischem Parlament umkämpfte Richtlinie über die Bedingungen für Familienzusammenführung sowie EU-Regeln über die Einreise von Forschern und Wissenschaftlern, Schülern, Studenten und Auszubildenden vereinbart. Auch in der Asylund Flüchtlingspolitik und bei der Abwehr der „illegalen Einwanderung“, dem damaligen Schwerpunkt der europäischen Migrationspolitik, gab es mit der VerabKOM(2004) 811 endgültig. In Artikel 63 des Vertrags vom Amsterdam heißt es zur Migrationspolitik unter anderem: „Der Rat beschließt (...) innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam (...) einwanderungspolitische Maßnahmen in folgenden Bereichen: Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen sowie Normen für die Verfahren zur Erteilung von Visa für einen langfristigen Aufenthalt und Aufenthaltstiteln, einschließlich solcher zur Familienzusammenführung (...).“ Arbeitsmigration wird hier nicht ausdrücklich erwähnt, ist jedoch als eine Form des langfristigen Aufenthalts zu betrachten.
1 2
16
1 Einleitung
schiedung mehrerer Richtlinien deutliche Fortschritte. Der vom Amsterdamer Vertrag vorgesehene und vom Europäischen Parlament unterstützte Versuch der Kommission, alle Arten von Zuwanderung aus Drittländern auf europäischer Ebene mittels bindender Richtlinien oder Verordnungen zu regeln3, ließ sich jedoch nicht durchsetzen. Die größten Vorbehalte hatten die im Ministerrat versammelten Innen- und Justizminister der Mitgliedstaaten im Bereich der Arbeitsmigration aus Drittstaaten. Über einen Richtlinienentwurf dazu aus dem Jahr 20014, der ein Grundgerüst für gemeinsame Regeln und Verfahren für die Zuwanderung von Arbeitskräften aus Drittstaaten geschaffen hätte, kamen die Innen- und Justizminister zu keiner Einigung. 2006 sah sich die Kommission gezwungen, den Vorschlag zurückzuziehen. Das „Grünbuch“ von 2005, mit dem die Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament, Sozialpartner, Experten, Drittstaaten, nationale Parlamente, Nichtregierungsorganisationen und interessierte Einzelpersonen aufgerufen wurden, ihre jeweiligen Vorstellungen zur Arbeitsmigration aus Drittstaaten in die Diskussion über eine gemeinsame europäische Politik einzubringen, markierte einen neuen Anlauf. Die Kommission beabsichtigte, die Interessenlage unter den beteiligten Akteuren neu auszuloten, Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und auf dieser Basis einen neuen Versuch zu unternehmen, die Frage der Arbeitsmigration aus Drittstaaten zu „europäisieren“ und eine gemeinsame EU-Politik zu entwickeln. Die auf das Grünbuch folgenden Konsultationen im Lauf des Jahres 2005, die von der Kommission sowohl über Schriftwechsel als auch über eine mündliche Anhörung geführt wurden, stießen bei den Adressaten auf Resonanz und verliefen nach Auffassung der Kommission erfolgreich. Sie sammelte daraufhin die verschiedenen Vorschläge, versuchte, aus den teilweise sehr unterschiedlichen Interessen Kompromisse und gemeinsame Linien herauszuarbeiten und legte ein knappes Jahr nach der Veröffentlichung des Grünbuchs einen „Strategischen Plan zur legalen Zuwanderung“5 vor. Auf Basis der Stellungnahmen der Mitgliedstaaten und der anderen Institutionen und Interessengruppen, die sich zum Grünbuch geäußert hatten, enthielt dieses Papier konkrete Vorschläge für eine künftige gemeinsame Politik zur Regelung der Arbeitsmigration. Dazu gehörten der Vorschlag einer „horizontalen Rahmenrichtlinie“ für die Harmonisierung und Vereinfachung der Einwanderungsverfahren und der Aufenthaltsbestimmungen für alle Drittstaatsangehörigen, die zum Zweck der Aufnahme einer Arbeit in die EU kommen, sowie mehreSo forderte das Europäische Parlament im Januar 2004 eine „wirksame Politik für legale Zuwanderung“, hinsichtlich der Arbeitsmigration beispielsweise für die Bereiche der Land- und Forstwirtschaft, der Gastronomie und des Bauwesens. Vgl. Europäisches Parlament, P5_TA(2004) 0029. 4 KOM(2001) 386 endgültig. Dieser Richtlinienvorschlag blieb seitens des Rates der EU unbeantwortet. Das Parlament äußerte sich am 12. Februar 2003 zu dem Vorschlag und stimmte ihm – mit Änderungswünschen – zu. Die Kommission zog ihn nach einer mehrjährigen Blockade durch den Rat am 17. März 2006 zurück. 5 KOM(2005) 669 endgültig. 3
1.1 Eine gemeinsame Politik zur Steuerung der Arbeitsmigration in die EU?
17
re „sektorale“ Richtlinien mit besonderen Kriterien und Regeln für die Zuwanderung von Arbeitskräften mit bestimmten Profilen - etwa „Hochqualifizierte“, Angestellte multinationaler Unternehmen, die in die Mitgliedstaaten der EU versetzt werden, oder Saisonarbeitskräfte. Beobachter stellten sich nun die Frage, ob der mit dem Grünbuch in Gang gesetzte Prozess der Schaffung einer gemeinsamen EUPolitik im Bereich der Arbeitsmigration erfolgreicher verlaufen würde, als die Debatte über den Richtlinienentwurf aus dem Jahr 2001.6 Inzwischen sind erneut einige Jahre vergangen, doch im ersten Halbjahr 2009, als die vorliegende Arbeit fertig gestellt wurde, sind die Vorschläge der Kommission – abgesehen von der Richtlinie zu hochqualifizierten Zuwanderern – zur Steuerung der Arbeitsmigration noch nicht umgesetzt. Erschwert wird die Entscheidungsfindung unter anderem dadurch, dass sich die Interessen der nationalen Regierungen und die nationalstaatlichen Migrationspolitiken in der EU noch immer stark unterscheiden. Zwar haben sich alle EU-Staaten bei den Konsultationen über das Grünbuch in Brüssel zu den Vorschlägen der Kommission geäußert, mehrere von ihnen ließen jedoch nur ein geringes oder gar kein Interesse an einer gemeinsamen Politik im Bereich Arbeitsmigration erkennen. Erschwerend kommt hinzu, dass Entscheidungen in diesem Bereich im Ministerrat der EU bis zum Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon einstimmig erfolgen müssen. Zudem gehören seit der Erweiterung der EU um zehn neue Mitgliedstaaten im Mai 2005, sowie um Rumänien und Bulgarien im Januar 2007, nunmehr Länder der Union an, deren nationale Migrationsdebatten weniger von Einwanderungsfragen, als vielmehr vom Problem der Abwanderung von Arbeitskräften Richtung Westen geprägt sind. Auch wenden sich manche Mitgliedstaaten dagegen, dass die EU überhaupt mit „neuen“ Themen jeglicher Art befasst wird. In mehreren Staaten wird diskutiert, die Kompetenzen der Gemeinschaft zu begrenzen.7 Die Steuerung von Migration aus Ländern außerhalb der EU gehört in diesem Kontext nicht unbedingt zum Kern „traditioneller“ europäischer Politik, sondern wird in vielen Mitgliedstaaten als eine Frage nationaler Souveränität betrachtet und insofern als nationalstaatliche Aufgabe verstanden.8 Mit der Arbeitsmigration aus Drittstaaten einen Politikbereich neu in die EUZusammenarbeit aufzunehmen, der bisher kaum auf EU-Ebene behandelt wurde, stünde den verstärkt vorgebrachten Forderungen nach einer Begrenzung der Gemeinschaftskompetenzen entgegen. Hinzu kommt, dass die Mitgliedstaaten die Frage, welche Berufsgruppen auf ihren Arbeitsmärkten fehlen, welche Migranten also vorrangige Zielgruppe einer gemeinsamen Politik für Arbeitsmigration sein sollten, sehr unterschiedlich beantworten. Während manche Länder einen Bedarf an ungelernten oder niedrig qualifizierten Arbeitnehmern feststellen, wollen andere Siehe Carrera 2007; Bertozzi 2007. Vgl. beispielsweise: Bundesrat, Drucksache Nr. 1081/01 vom 20. Dezember 2001; EU:s makt måste rullas tillbaka, in: Expressen, 14. April 2007; Majone 2006, S. 607-626. 8 Vgl. Lavenex 2001. 6 7
18
1 Einleitung
hochqualifizierte Wissenschaftler, Ärzte oder Computerfachleute anziehen. Es gibt somit Gründe, die Aussichten auf eine gemeinsame EU-Politik zur Arbeitsmigration aus Drittstaaten skeptisch zu beurteilen. Die Gründe, die dafür sprechen, dass es zu einer Europäisierung der Politik für Arbeitsmigration kommen wird, sind jedoch ebenfalls von Gewicht. Zunächst fällt auf, dass Arbeitsmigration aus Drittstaaten der einzige Bereich der Migrationspolitik ist, in dem es noch keine gemeinsamen EU-Regeln gibt. In allen anderen Bereichen, von der Asyl- und Flüchtlingspolitik über die Familienzusammenführung bis hin zur Bekämpfung der „illegalen“ Einwanderung und der gemeinsamen Visumpolitik ist eine erste Phase der Harmonisierung bereits erfolgt, obwohl die Interessen der Mitgliedstaaten auch in diesen Bereichen ursprünglich sehr unterschiedlich waren. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit teilen alle Mitgliedstaaten das mittlerweile gemeinsame und unter den EU-Akteuren „institutionalisierte“ Interesse, „Migrationsdruck“ zu reduzieren, die EU gegen unerwünschte Einwanderungsbewegungen abzuschotten und den Zugang zum Asylrecht so zu beschränken, dass es weniger in Anspruch genommen werden kann, als noch in den Achtzigerund frühen Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Die Tatsache, dass sich alle Mitgliedstaaten und eine Vielzahl von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Wissenschaftlern zu den Vorschlägen für die „Verwaltung“ der Arbeitsmigration im Grünbuch der Kommission äußerten, und dass manche von ihnen sehr konkrete Interessen formulierten, deutet ebenfalls darauf hin, dass die Chancen, zu gemeinsamen europäischen Regelungen zu kommen, im Vergleich zum Zeitraum 1999 bis 2004 größer geworden sind. Zahlreiche EU-Länder haben in den Jahren vor der Fertigstellung dieser Arbeit auf nationaler Ebene Bestimmungen über die Zulassung bestimmter Gruppen von Arbeitsmigranten in Kraft gesetzt oder arbeiten an solchen Vorschriften und sind mindestens an einem Erfahrungsaustausch mit anderen Mitgliedstaaten interessiert. Beispiele hierfür, etwa Deutschland, Großbritannien, Schweden oder Italien, werden in dieser Arbeit näher beschrieben. Auch wird an späterer Stelle erwähnt, dass der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder, seit 2005 auf verschiedenen Gipfeltreffen immer wieder die Notwendigkeit einer gemeinsamen Politik in diesem Bereich konstatiert haben. Auch der im Oktober 2008 von den Staats- und Regierungschefs verabschiedete „Europäische Pakt zu Einwanderung und Asyl“ enthält ein Kapitel über „legale Migration“, in dem u.a. als Ziel festgeschrieben wurde, „eine Politik der Arbeitsimmigration, die allen Arbeitsmarkterfordernissen der Mitgliedstaaten Rechnung trägt (...) zu verwirklichen“.9 Manche Beobachter gehen davon aus, dass unter den Mitgliedstaaten nicht erst in der Zukunft ein Wettbewerb um die Anwerbung Rat der Europäischen Union, Europäischer Pakt zu Einwanderung und Asyl, Dok.-Nr. 13440/08, Brüssel, 24. September 2008, S. 5.
9
1.1 Eine gemeinsame Politik zur Steuerung der Arbeitsmigration in die EU?
19
hochqualifizierter Arbeitskräfte aus Drittstaaten entstehen wird, wie von der Kommission prognostiziert, sondern dass schon jetzt eine Konkurrenzsituation herrscht, die sich nur mit Hilfe einer gemeinsamen EU-Politik regulieren lässt.10 Die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten unterschiedliche Interessen haben, muss demzufolge auf längere Sicht nicht automatisch bedeuten, dass es nicht möglich sein wird, Kompromisse zu finden. Im Jahr 2009, dem Jahr der Fertigstellung dieser Dissertation, sind die Asylund Flüchtlingspolitik und die Bekämpfung der „illegalen“ Einwanderung noch immer häufig diskutierte Themen. Die dazu vorliegenden EU-Regeln haben überwiegend restriktiven Charakter und zielen auf die Abwehr und Verhinderung von Einwanderungsbewegungen ab. Im Gegensatz zu früheren Jahren wird von den politischen Akteuren jedoch intensiver diskutiert, inwiefern Europa angesichts demografischer und ökonomischer Entwicklungen, Mangelsituationen auf dem Arbeitsmarkt oder Sorgen um die Wettbewerbsfähigkeit auf Einwanderung angewiesen sein könnte. Insbesondere die Kommission, aber auch das Parlament, weisen schon lange auf solche Zusammenhänge hin und fordern eine „aktivere“ Migrationspolitik. In vielen Mitgliedstaaten hat sich die öffentliche Debatte lange fast ausschließlich zwischen den zwei Polen „Abschottung“ (verstärkte Sicherung der Grenzen gegen illegale Einwanderung, höhere Hürden für die Aufnahme von Asylsuchenden und Flüchtlingen) auf der einen Seite, sowie „Menschenrechte“ (Wahrung der Menschenrechte der illegalen Einwanderer, Gewährung von Schutz für Flüchtlinge) auf der anderen Seite bewegt. Inzwischen hat sich die Diskussion aber verschoben, und es wird verstärkt darüber diskutiert, welche Einwanderer – entsprechend ihrer Qualifikation – „gebraucht“ werden, und welche nicht.11 Eine „gut gesteuerte“ Migration wird somit zu einem Wirtschaftsfaktor und zu einer Frage der Standortsicherung, und es wird darüber beraten, wie und welche Migranten von den EU-Staaten angeworben werden sollten und welche aufenthaltsrechtlichen Regelungen dann für sie gelten sollten. In der neueren politik- und sozialwissenschaftlichen Literatur werden vor diesem Hintergrund bereits Parallelen zur „Gastarbeiterpolitik“ der Fünfziger- und Sechzigerjahre in Mitteleuropa gezogen.12 Die vorliegende Arbeit hat ihren Ausgangspunkt in der Beobachtung, dass die Debatte über das Für und Wider einer geförderten legalen Arbeitsmigration längst nicht mehr nur in den einzelnen Mitgliedstaaten geführt wird, sondern auch innerhalb und zwischen den EU-Institutionen. Die wesentliche Frage scheint heute we10 Diese Ansicht vertrat beispielsweise Prof. Ryszard Cholewinsky von der International Organization for Migration (IOM) in einem Vortrag bei der „Odysseus Summer School, European Union Law and Policy on Immigration and Asylum“ am 5. Juli 2007 in Brüssel. 11 In der französischen Migrationsdebatte wurde der Begriff der „immigration choisie“ geprägt, in der britischen der Ausdruck „Managed Migration“. Beide Begriffe implizieren, dass nur bestimmte Einwanderer, nicht alle, einreisen sollen. Vgl. Fekete 2006. 12 Siehe Castles 2007; Guild 2007.
20
1 Einleitung
niger, ob es eine gemeinsame EU-Politik zur Regelung der Arbeitsmigration aus Drittstaaten geben wird, sondern eher, mit welchem Tempo und in welchem Umfang die Europäisierung voranschreitet. Vor diesem Hintergrund versucht die vorliegende Dissertation, die europäische Dimension des Themas gründlicher zu beleuchten, die Interessen der EU-Akteure herauszuarbeiten und so ein besseres Verständnis der Bedingungen für eine gemeinsame Migrationspolitik in der EU zu ermöglichen. 1.2 Forschungsstand Bevor die Perspektive und die Fragestellungen dieser Arbeit umrissen werden, wird in den folgenden Abschnitten zunächst der Stand der sozialwissenschaftlichen Forschung hinsichtlich der Entwicklung der gemeinsamen Migrationspolitik der EU zusammengefasst. Insbesondere geht es hierbei darum, wesentliche Richtungen der Forschung aufzuzeigen und Leistungen sowie Defizite deutlich zu machen. 1.2.1
Die zwei Dimensionen der Migrationspolitik der EU
Die Migrationspolitik der Europäischen Union betrifft zum einen die Wanderung von Staatsbürgern von EU-Staaten innerhalb der EU. Sieht man von den befristeten Ausnahmeregelungen ab, die von den meisten „alten“ Mitgliedstaaten nach den Erweiterungsrunden von 2004 und 2007 gegen Staatsangehörige der „neuen“ Mitgliedsländer in Kraft gesetzt wurden, so können sich EU-Bürger frei von einem EU-Land in ein anderes bewegen. Sie können ohne besondere Genehmigung eine Arbeit aufnehmen und sich niederlassen. Solche oft temporären Wanderungsbewegungen zwischen den Mitgliedstaaten sind heute alltägliche, selbstverständliche und politisch erwünschte Vorgänge. Es wird weniger von „Migration“, „Einwanderung“ bzw. „Auswanderung“ gesprochen, sondern von „Mobilität“ oder von EU-Bürgern, die ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU in Anspruch nehmen.13 Diese interne Dimension der Migrationspolitik der EU ist Teil des Europäischen Binnenmarktes, in dem vier „Grundfreiheiten“ gegeben sein sollen: Freizügigkeit für Waren, Arbeitnehmer, Dienstleistungen und Kapital. Diese Freizügigkeitsprinzipien waren bereits Bestandteile des EWG-Vertrags von 1957.14 Zum anderen, und dies ist die zweite Dimension, beschäftigt sich die EU seit den Achtzigerjahren zunehmend auch mit der Einwanderung von Drittstaatsangehörigen in die Mitgliedstaaten, also von Asylbewerbern, Flüchtlingen, „illegalen“ Siehe Niessen 2002; Turman 2004. Zur Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen im EG-Binnenmarkt siehe Dicke 2002; Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt 2004, S. 69. 13 14
1.2 Forschungsstand
21
oder „undokumentierten“ Einwanderern, Familienangehörigen von in der EU ansässigen Drittstaatsangehörigen sowie von Arbeitsmigranten.15 Diese Dimension der europäischen Migrationspolitik, und dabei vor allem die Entwicklung gemeinsamer Strategien für die Regelung der Einwanderung von Arbeitsmigranten, ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Seit die EU-Staaten begannen, hinsichtlich der Migration von Drittstaatsangehörigen zu kooperieren, wurde in den Politik- und Sozialwissenschaften eine Reihe interessanter Fragen dazu aufgeworfen. Was sind die Voraussetzungen für eine gemeinsame Migrationspolitik in der EU? Wie kommt es, dass die EU-Staaten überhaupt in diesem Politikbereich zusammenarbeiten und gemeinsame Strategien anstreben, inzwischen auch hinsichtlich einer Steuerung der Arbeitsmigration aus Drittländern? Was sind die Interessen der Akteure und die Ziele der gemeinsamen Politik? Welche Hindernisse und Probleme gibt es beim Europäisierungsprozess? Welche Tragweite und welche Auswirkungen hat die gemeinsame Politik? Oder auch: Welche EU-Institution spielt die entscheidende Rolle im Wettstreit unterschiedlicher Interessen und bei der Festlegung gemeinsamer Regeln? 1.2.2
Voraussetzungen für eine europäische Migrationspolitik
Während der frühen Phasen der Zusammenarbeit der EU-Staaten in Migrationsfragen, etwa bis Mitte der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts, bestand ein wesentlicher Forschungsschwerpunkt darin, die Voraussetzungen für eine Europäisierung der Migrationspolitik zu untersuchen. Es wurde gefragt, ob es überhaupt gelingen kann, die europäischen Staaten auf eine gemeinsame Politik festzulegen. Manche Autoren legten schon früh nahe, dass die EU, die damalige EG, als zusammenhängender Migrationsraum betrachtet werden könne, in dem eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zur Regulierung der Migrationsströme zu erwarten, ja unumgänglich sei. Für diese Sichtweise spricht, dass es zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten Ähnlichkeiten und Interdependenzen sowie Ansätze einer gemeinsamen „Migrationserfahrung“ gibt.16 Dazu gehört, dass sich mehrere EU-Länder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Auswanderungs- in Einwanderungsländer verwandelt haben und im Rahmen der EG enge ökonomische und politische Verbindungen knüpften. Zudem verbindet die Mitgliedstaaten die geographische Nähe. Ein weiterer Überschneidungpunkt besteht in der Tatsache, dass es in allen EG- bzw. EU-Ländern Vorbehalte gegen als „hoch“ empfundene Einwanderungsraten gegeben hat, und dass Massenmedien und Politiker dies dramatisiert und
15 16
Zu den zwei „Dimensionen“ der Einwanderungspolitik der EU siehe Geddes 2002. Siehe Santel 1995; Zlotnik 1992; Massey et al. 1998.
22
1 Einleitung
skandalisiert haben.17 In den späten Achtziger- und den frühen Neunzigerjahren war insbesondere die Zahl der Asylbewerber und Flüchtlinge in vielen EU-Staaten stark angewachsen. Dies wurde als „globales Problem, das nach internationaler Harmonisierung und Regelung verlangt“ erkannt, und Innen- und Justizpolitiker versuchten, auch auf europäischer Ebene Abwehrmechanismen zu entwickeln.18 Gleichzeitig wurde in der Literatur aber auch häufig auf Unterschiede zwischen den beteiligten Staaten verwiesen, die auf Schwierigkeiten bei der Schaffung einer gemeinsamen Migrationspolitik hindeuteten und eine vorsichtigere Beurteilung der Erfolgsaussichten einer gemeinsamen Politik nahe legten. BaldwinEdwards argumentierte 1991, in der damaligen EG gebe es vier unterschiedliche regionale Systeme, in denen mit Einwanderung jeweils unterschiedlich umgegangen werde. So unterschieden sich beispielsweise die Migrationspolitiken der südeuropäischen Länder von denen der mitteleuropäischen Staaten.19 Tatsächlich sind alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union, auch die 2004 und 2007 beigetretenen Länder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, heute zwar Zielgebiete von Einwanderungsbewegungen, jedoch unterscheiden sich die Migrationsströme je nach Land sowohl in ihrer Art als auch im Umfang. Manche Länder in West- und Nordeuropa warben in den fünfziger, sechziger und frühen Siebzigerjahren aktiv Migranten als Arbeitskräfte an. Andere Länder verzeichneten so genannte „post-koloniale“ Wanderungsbewegungen, also die Übersiedlung von Menschen aus ehemaligen Kolonien in die frühere Kolonialmacht. Während manche EU-Staaten, darunter Deutschland, Schweden und Großbritannien, in den Neunzigerjahren in beträchtlichem Umfang Asylbewerber und Flüchtlinge aufnahmen, wurden die südeuropäischen Länder vorrangig zu Zielgebieten „illegaler“ oder „nicht dokumentierter“ Einwanderung.20 Wieder andere Länder der EU verzeichneten aufgrund ihrer geographischen Lage lange keine nennenswerten Flüchtlingsströme, so etwa Irland oder Finnland. Aufgrund solcher Unterschiede wurden in den einzelnen Staaten immer auch unterschiedliche Strategien für den Umgang mit Migration diskutiert und umgesetzt.21 Neben einer unterschiedlichen Migrationserfahrung können auch unterschiedliche Staatsformen und unterschiedliche Ausprägungen des Wohlfahrtsstaats in den EU-Ländern als eine Ursache dafür betrachtet werden, dass nationale Migrationspolitiken in Europa voneinander abweichen.22
17 Siehe beispielsweise Carrera/Formisano 2005, S. 2f; Bade 2001; Heisler/Layton-Henry 1993, S. 153; Rifkin 2004, S. 270-272. 18 Vgl. Wöhlcke 2001, S. 32. 19 Baldwin-Edwards 1991, S. 199-211. 20 Für einen vergleichenden, historischen Überblick über das Migrationsgeschehen in Europa siehe Bade 2000. Siehe auch Münz 1997. Die Migrationspolitik in europäischen Ländern vergleicht Thränhardt 1997. 21 Siehe dazu Bade 2001. 22 Geddes, Koch, Kraft und Lavenex differenzieren zwischen Wohlfahrtsregimen südeuropäischen, liberalen, konservativen und sozialdemokratischen Typs. Diese verschiedenen Ausprägungen bilden
1.2 Forschungsstand
23
Ein weiteres in der Literatur häufig genanntes Argument, das gegen den Erfolg einer allzu weit reichenden „Europäisierung“ der Migrationspolitik spricht, bezieht sich darauf, dass die Steuerung von Einwanderungsbewegungen als eine Frage nationaler Souveränität betrachtet werden kann, und dass souveräne Staaten nicht dazu neigen, Zuständigkeiten abzugeben und Machtverluste in Kauf zu nehmen.23 Eine gemeinsame Migrationspolitik kann zwar ebenso wie Zusammenarbeit in anderen Politikbereichen neue Handlungs- und Regelungsmöglichkeiten eröffnen. Gleichzeitig kann sie den Einfluss der einzelnen nationalen Regierungen auf die Steuerung von Wanderungsbewegungen jedoch auch beschränken. Geddes schreibt dazu: „The ceding of policy responses to the EU could hinder the ability of EU member states to pursue their preferred response.“24 Für die Stichhaltigkeit dieses Arguments spricht zum Beispiel, dass Großbritannien, Irland und Dänemark spezielle Protokolle in den EU-Verträgen ausgehandelt haben, die ihnen ermöglichen, sich an Maßnahmen der gemeinsamen Innen- und Justizpolitik der EU, wozu auch die Migrationspolitik zählt, nicht zu beteiligen.25 Die nationale Selbständigkeit wird in diesen Fällen offensichtlich als wichtiger erachtet, als die möglichen Vorteile einer staatenübergreifenden Zusammenarbeit. Auch in den anderen Staaten der EU hat es Vorbehalte gegen eine Europäische Integration gegeben, aufgrund derer die „nationale Identität“ und Souveränität der Mitgliedstaaten erodiert.26 1.2.3
Etappen und Tragweite der Europäisierung der Migrationspolitik
Zum Teil hat sich die soeben vereinfacht dargestellte Debatte über die Möglichkeit bzw. Unwägbarkeit einer gemeinsamen europäischen Migrationspolitik aus heutiger Sicht erübrigt; die Theorie wurde von der tatsächlichen Entwicklung eingeholt. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit ist der Europäisierungsprozess bereits so weit fortgeschritten, dass die Argumente der „Skeptiker“, die eine enge Zusammenarbeit der EU-Staaten hinsichtlich der Steuerung von Migrationsbewegungen vorsichtig beurteilt haben, auf den ersten Blick nicht mehr greifen. Nach Andrew Geddes lässt sich der Europäisierungsprozess in vier Phasen einteilen.27 In einer ersten Phase, zwischen den Römischen Verträgen von 1957 und der „Einheitlichen Europäischen Akte“ von 1986, betraf die Wanderungspolitik zunächst nur Migration innerhalb der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, also die jeweils unterschiedliche Kontexte, in dem Akteure ihre Interessen definieren und migrationspolitische Strategien beeinflussen; siehe Geddes et al. 2004, S. 236-240. 23 Vgl. Lavenex 2001; Tomei 1997. Zum Souveränitätsgedanken und dessen Implikationen für die Einwanderungspolitik siehe auch Brubaker 1992. 24 Geddes 2003, S. 126. 25 Vgl. Balzacq/Carrera 2005, S. 2; Juss 2005. 26 Heisler/Layton-Henry 1993, S. 165. 27 Siehe Geddes 2003, S. 126-142.
24
1 Einleitung
„erste Dimension“ der Wanderungspolitik in der damaligen EG. Zwischen 1986 und dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht 1993 (zweite Phase) wurden vor dem Hintergrund des Endes der Anwerbung von „Gastarbeitern“ in mehreren Mitgliedstaaten und dem Anwachsen anderer Wanderungsformen, vor allem durch Flüchtlinge und Asylsuchende, auch Migrationsbewegungen aus Drittstaaten Gegenstand staatenübergreifender Zusammenarbeit. Die EU-Staaten kooperierten informell und auf Regierungsebene, weitgehend abgeschirmt von der Öffentlichkeit, und die EU-Institutionen Kommission und Parlament waren an der Verabschiedung gemeinsamer Maßnahmen und der Koordinierung der nationalen Politiken noch nicht beteiligt. Europäische Beschlüsse hatten damals auch noch keinen für die Mitgliedstaaten verbindlichen Charakter. Mit dem 1993 in Kraft getretenen Maastrichter Vertrag (Phase drei) wurde die Politik formalisiert, und die Entwicklung gemeinsamer migrationspolitischer Maßnahmen und Strategien wurde in den EU-Vertrag aufgenommen. Vor dem Hintergrund der Zunahme der Einwanderung von Asylsuchenden und Flüchtlingen beschäftigten sich die Mitgliedstaaten vor allem mit einer Reduzierung dieser Migrationsströme. Obwohl Kommission und Parlament mit dem Maastrichter Vertrag bestimmte Kompetenzen in der gemeinsamen Migrationspolitik bekamen, kooperierten die Mitgliedstaaten immer noch weitgehend auf Regierungsebene. Der 1999 in Kraft getretene Amsterdamer Vertrag (Phase vier) hat schließlich Teile der Migrationspolitik „vergemeinschaftet“: Die Mitgliedstaaten verpflichteten sich, bis 2004 zu mehreren Aspekten internationaler Migration, beispielsweise der Aufnahme von Asylsuchenden, den Rechten von Drittstaatsangehörigen in der EU oder der Familienzusammenführung, gemeinsame Regelungen zu verabschieden. Nach 2004 sollte die Zusammenarbeit in eine neue Runde gehen; die migrationspolitische Zusammenarbeit sollte weiter vertieft werden, etwa über die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems, die zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit allerdings noch aussteht. Der Amsterdamer Vertrag sieht auch vor, dass die Kommission nach 2004 ein exklusives Initiativrecht bekommt, und dass das Parlament über das „Mitentscheidungsverfahren“ stärker in die Beschlussfassung einbezogen wird. 28 Der im Dezember 2007 unterzeichnete Vertrag von Lissabon („Reformvertrag“) wird nun eine neue, fünfte Phase einleiten. Der Vertragstext sieht unter anderem vor, dass über alle Fragen der gemeinsamen Migrationspolitik – also auch über die „legale“ Migration einschließlich der Arbeitsmigration aus Drittstaaten – im Rahmen des „ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens“ entschieden wird.29 Dies
28 Zur Bedeutung des Amsterdamer Vertrags für die gemeinsame Migrationspolitik der EU siehe Niessen 2002; auch Apap 2004, S. 175-190. 29 Artikel 77 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon, siehe Rat der Europäischen Union, Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Euro-
1.2 Forschungsstand
25
würde die Dominanz der Mitgliedstaaten bei der Beschlussfassung relativieren und die Rolle des Europäischen Parlaments aufwerten.30 Dieser Prozess der schrittweisen Stärkung und Institutionalisierung der Migrationspolitik auf EU-Ebene zeigt, dass es möglich ist, dass verschiedene Staaten trotz unterschiedlicher Migrationsgeschichte und abweichender nationaler Strategien zur Steuerung von Migration sowie trotz des prinzipiell vorhandenen Souveränitätsanspruchs der Nationalstaaten eine gemeinsame Politik entwickeln und nationale Zuständigkeiten aufgeben oder auf eine neue Entscheidungsebene, die europäische Ebene, übertragen. 1.2.4
Hindernisse und Blockaden
Relevant ist der Hinweis auf nationale Unterschiede und Souveränitätsansprüche auch heute noch. Wer die Entwicklung der Migrationspolitik der EU genauer verfolgt, stellt fest, dass der Europäisierungsprozess zwar – wie beschrieben – vorangekommen ist, insbesondere seit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags und den Beschlüssen des EU-Sondergipfels von Tampere 1999, dass er jedoch immer wieder auch von Hindernissen und Blockaden gekennzeichnet ist. Dafür spricht die Tatsache, dass sich die Mitgliedstaaten, wie im ersten Abschnitt dieser Einleitung beschrieben, nicht über einen Vorschlag der EU-Kommission über die Schaffung gemeinsamer Regeln für die Zuwanderung von Arbeitskräften einigen konnten. Ein weiteres Indiz ist der Vorwurf von Wissenschaftlern und Nichtregierungsorganisationen, die gemeinsame Politik bleibe hinter den Erwartungen zurück und orientiere sich oft nur am „kleinsten gemeinsamen Nenner“ der Mitgliedstaaten, anstatt eine umfassende europäische Migrationspolitik zu entwerfen.31 Wenn Souveränitätsansprüche und nationale Unterschiede den Europäisierungsprozess nicht verhindern, so scheinen sie ihn also immerhin zu bremsen. Givens und Luedtke etwa wiesen 2004 in einer Studie darauf hin, dass unterschiedliche nationale Strategien und Interessen der Mitgliedstaaten dazu führen können, dass Fortschritte ausbleiben. Darüber hinaus argumentierten sie, dass Länder, in denen Einwanderung stark (negativ) thematisiert ist, dazu tendieren, eine gemeinsame Politik in der EU zu verhindern und an nationalen Zuständigkeiten festzuhalten.32 Den Wählern soll vermittelt werden, dass die nationale Politik in der Lage ist, Antworten auf Probleme zu finden und „nationale Interessen“ zu schützen.
päische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Dok.-Nr. 6655/08, Brüssel, 15. April 2008, S. 99. 30 Vgl. Kietz/Parkes 2008, S. 54. 31 Jahn et al. 2006; UNHCR 2003. 32 Givens/Luedtke 2004, S. 145-165. Siehe auch Bendel 2005.
26 1.2.5
1 Einleitung
Erklärungen für die Herausbildung einer gemeinsamen Migrationspolitik
Ein weiterer Schwerpunkt der wissenschaftlichen Forschung besteht in der Suche nach Erklärungen dafür, dass sich die EU-Staaten trotz der beschriebenen Disparitäten das Ziel gesetzt haben, eine gemeinsame Migrationspolitik zu entwickeln. Maurer und Parkes haben beispielsweise argumentiert, dass die nationalen Regierungen in der EU in den Neunzigerjahren versuchten, vor dem Hintergrund steigender Asylbewerberzahlen und zunehmender illegaler Einwanderung eine restriktive, am Leitgedanken der Sicherheit orientierte Migrationspolitik durchzusetzen. Ihre Handlungsspielräume auf nationaler Ebene waren jedoch begrenzt, da Grund- und Menschenrechte, Interessengegensätze zwischen verschiedenen Ministerien hinsichtlich der Wanderungsbewegungen und andere legal-normative sowie politischadministrative Hindernisse der Durchsetzung der Abwehr- und Sicherheitsagenda im Wege standen; Politiken, mit denen die Einwanderung von Arbeitskräften, Flüchtlingen und Asylbewerbern begrenzt werden sollte, schienen sich nicht beliebig verschärfen zu lassen. Vor diesem Hintergrund sahen Innenpolitiker eine migrationspolitische Zusammenarbeit im EU-Rahmen als Möglichkeit, einen Teil nationaler Begrenzungen und Hindernisse zu umgehen; sie wichen auf neue europäische Strukturen aus, wo die Beschränkungen ihrer Handlungsfreiheit weniger stark waren. Zudem wurde erwartet, dass eine Kooperation mit den EU-Partnern Mittel und Wege eröffnen würde, die nicht zur Verfügung stehen, wenn sie jeweils im Alleingang handeln.33 Maurer und Parkes liefern hier eine mögliche Erklärung dafür, dass die europäischen Staaten begannen, in Migrationsfragen zusammenzuarbeiten und diese Kooperation schrittweise weiter auszubauen. Daneben gibt es jedoch eine Vielzahl weiterer, sich ergänzender, sich teilweise aber auch widersprechender Erklärungen. Prominent sind in der Literatur funktionalistische und neo-funktionalistische Theorien über regionale Integrationsprozesse wie die EU. Ihnen zufolge kann die Migrationspolitik als ein „Spill-over-Effekt“, als zwingende Konsequenz aus anderen Bereichen der EU-Zusammenarbeit, betrachtet werden, etwa der Schaffung der Freizügigkeit für Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der EU. Freizügigkeit und die Schaffung eines Raums ohne Binnengrenzen können bedeuten, dass die Fähigkeit der einzelnen Staaten, Migrationsbewegungen über ihre nationalen Grenzen hinweg zu steuern und zu kontrollieren, abnimmt und durch die Entwicklung einer staatenübergreifenden, europäischen Politik kompensiert werden muss, etwa über die Schaffung und Sicherung einer gemeinsamen Außengrenze.34 Eine gemeinsame Migrationspolitik kann in einem zusammenwachsenden Europa aus einer funktionalen Sicht auch deshalb wichtig erscheinen, weil einwande33 34
Siehe Maurer/Parkes 2006. Vgl. Uçarer 2002, S. 127f.
1.2 Forschungsstand
27
rungspolitische Entscheidungen in einem Land auf Grund der schwindenden Binnengrenzen bewirken können, dass Migrationsströme in ein anderes Land umgelenkt werden. Verabschiedet ein Land restriktive Asylgesetze, kann dies beispielsweise Asylsuchende dazu bewegen, lieber woanders Asyl zu beantragen. Geddes hat darauf hingewiesen, dass auch die Freizügigkeit der EU-Bürger innerhalb der EU funktionale Folgewirkungen auf Migrationsströme aus Drittstaaten haben kann. Als während des Wirtschaftswunders Bauarbeiter von Portugal nach Deutschland wanderten, um dort zu arbeiten, entstand in Portugal ein Mangel an Bauarbeitern. Die Lücke wurde von Einwanderern aus ehemaligen portugiesischen Kolonien in Afrika, also aus Drittländern, gefüllt. Im Migrationsgeschehen in der EU gibt es Geddes zufolge also Kettenwirkungen und Interdependenzen, welche die Mitgliedstaaten untereinander, aber auch mit Drittstaaten, mit Herkunftsländern von Migranten, verbinden.35 Maurer und Parkes sowie andere Autoren haben jedoch deutlich gemacht, dass die europäische Zusammenarbeit im Migrationsbereich neben funktionalen Interdependenzen und Kettenwirkungen auch auf bewusste gemeinsame Zielsetzungen und Interessen der Akteure zurückgeführt werden kann. Den nationalen Regierungen, die bei der Entwicklung der europäischen Migrationspolitik eine Schlüsselrolle spielen, geht es darum, mit der gemeinsamen Politik bestimmte Ziele zu erreichen. Nach Maurer und Parkes wollen sie, wie schon erwähnt, nationale Beschränkungen ihrer Handlungsfreiheit umgehen. Geddes argumentiert mit dem Begriff „Escape to Europe“ ebenfalls in diese Richtung: Eine Europäische Politik bietet Lösungen, die im nationalen Rahmen schwer oder gar nicht erreichbar sind.36 Guiraudon hat zu dieser Diskussion mit ihrer These des „Venue shopping“ beigetragen. Ihr zufolge suchen sich politische Akteure für die Verwirklichung eines Interesses den Ort der Entscheidungsfindung heraus, an dem sie meinen, ihre Interessen am besten und leichtesten durchsetzen zu können – in diesem Fall die EU-Ebene. Diesen Modellen zufolge ist die europäische Zusammenarbeit in der Migrationspolitik als Anzeichen dafür zu sehen, dass die nationale Politik den Akteuren zur Lösung des „Migrationsproblems“ nicht mehr ausreichend erschien.37 Die sich abzeichnende gemeinsame Migrationspolitik erlaubt es den Regierungen, ihre Interessen auf einer neuen Ebene und mit anderen Mitteln als den im nationalen Rahmen zu Verfügung stehenden Instrumenten und Verfahren zu vertreten und durchzusetzen.38
Vgl. Geddes 2002, S. 202. Geddes 2003, S. 128. 37 Vgl. Guiraudon 2001, S. 31-64. 38 Vgl. Guiraudon et al. 2001. 35 36
28 1.2.6
1 Einleitung
Interessen der europäischen Organe
Während Guiraudon, Geddes, Maurer und Parkes und weitere Autoren einige grundsätzliche Erklärungen für die Europäisierung der Migrationspolitik geliefert haben, besteht ein anderer Schwerpunkt der sozialwissenschaftlichen Forschung darin, die von den Akteuren in der Europäischen Migrationspolitik vertretenen Interessen im Detail zu untersuchen. Welche Interessen sind es genau, die von den Mitgliedstaaten und dem Ministerrat, der EU-Kommission und dem Europäischen Parlament vertreten werden? Wie manifestieren sie sich in den bisherigen Ergebnissen der Zusammenarbeit im Migrationsbereich? Welche Interessen sind speziell mit dem Versuch verbunden, eine gemeinsame Politik zur Steuerung der Arbeitsmigration in die EU zu schaffen? Ein wichtiges Ziel der migrationspolitischen Zusammenarbeit in der EU war und ist, wie bereits erwähnt, den Wegfall der Binnengrenzen und den damit verbundenen Verlust von nationalen Kontrollmöglichkeiten zu kompensieren. Dies deutet darauf hin, dass die gemeinsame Migrationspolitik mit restriktiven Vorzeichen begann und darauf abzielte, Kontrolle wiederherzustellen. Zahlreiche Autoren haben diese Vermutung in Analysen von bereits erfolgten Schritten der Harmonisierung bzw. Vergemeinschaftung bestätigt. Bendel stellt fest, dass in der EU bis 2006 „vor allem solche Instrumente den Ministerrat passierten, die, überwiegend restriktiv orientiert, die Kontrolle und Begrenzung von Zuwanderung zum Ziel hatten“.39 Bade schreibt 2001, statt eines „europäischen Migrationskonzepts“ gebe es bislang nur eine „negative Koalition der Abwehr gegen unerwünschte Zuwanderungen“.40 Diese Urteile, denen zufolge die EU-Migrationspolitik restriktiv und vor allem am Ziel der Abwehr von Migranten orientiert ist, sind in der politik- und sozialwissenschaftlichen Forschung heute mehr als ausreichend belegt. Als Ursache dafür, dass europäische Zusammenarbeit eine „Festung Europa“ geschaffen hat, kann neben dem Wegfall der Binnengrenzen gesehen werden, dass die Asyl- und Flüchtlingspolitik und die Migrationspolitik insgesamt in den Achtziger- und Neunzigerjahren als eine Frage der „Sicherheit“ behandelt wurden. Huysmans sprach in diesem Zusammenhang bereits 1995 von einer Tendenz der „securitisation of migration“. Gemeint ist, dass die Migrationspolitik in der EU vor allem auf mögliche destabilisierende Wirkungen von Wanderungsbewegungen Bezug nimmt und Einwanderer als eine Herausforderung für den sozialen Zusammenhalt der aufnehmenden Gesellschaften, die innere Sicherheit und den Wohlfahrtsstaat behandelt. Im Ergebnis wird die Migrationspolitik zu Sicherheitspolitik, und Fragen bezüglich Asyl und Einwanderung werden vor allem unter dem Sicherheitsaspekt betrachtet und bewertet.41 Diese „Securitisation“-These wurde in der Literatur breit aufgegriffen und Bendel 2006. Bade 2001, S. 46. 41 Vgl. Huysmans 1995; Huysmans 2000; Schierup et al. 2006; Jahn et al. 2006, S. 4. 39 40
1.2 Forschungsstand
29
prägte die weitere Forschung über die europäische Migrationspolitik, insbesondere hinsichtlich der EU-Strategien zur Bekämpfung der „illegalen“ Einwanderung und der gemeinsamen Asylpolitik.42 Für das Verständnis der europäischen Migrationspolitik spielt neben der ausgeprägten Sicherheitsdimension aber auch die Sicht auf Migranten als Träger von Menschenrechten eine Rolle. Verschiedene Wissenschaftler haben argumentiert, dass die Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik der EU in einem Spannungsfeld zwischen Menschenrechten wie dem Recht auf Asyl auf der einen, und Sicherheitsaspekten auf der anderen Seite stattfinde.43 So wird in der Literatur beschrieben, dass die Zurückdrängung der Einwanderung, vor allem der „illegalen“ Einwanderung, in Verhandlungen über Maßnahmen der Migrationspolitik größeres Gewicht habe als Bekenntnisse, das Asylrecht zu wahren, Flüchtlingen wirksamen Schutz zu bieten und Migranten als Träger von unveräußerlichen Menschenrechten zu sehen und zu behandeln. Lavenex, Lahav, Messina und andere Autoren haben in dieser Hinsicht zwischen den einzelnen EU-Akteuren unterschieden: Während seitens der Regierungen der Mitgliedstaaten und im Rat der Sicherheitsaspekt dominiere, nähmen die Kommission und vor allem das Europäische Parlament im Wettstreit der Interessen stärker Bezug auf Menschenrechte und wiesen deutlicher auf die Notwendigkeit hin, auch bei der Planung und Durchführung restriktiver Politiken, etwa der Zurückweisung „illegaler“ Einwanderer and den Grenzen oder bei Abschiebungen, die Würde der betroffenen Menschen zu achten, menschenrechtliche Prinzipien zu gewährleisten und Zugang zu Asylverfahren zu ermöglichen.44 Gegenüber dem Rat hatten und haben die Interessen von Kommission und Parlament jedoch aufgrund der Entscheidungsprozesse und der lange eher schwachen institutionellen Rolle dieser zwei Akteure wenig Durchschlagskraft. 1.2.7
Interessenkonstellationen hinsichtlich der Arbeitsmigration
Nun stellt sich die Frage, inwieweit die Verortung der Europäischen Migrationspolitik, in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Menschenrechten, so zutreffend dieses „Koordinatensystem“ hinsichtlich vieler Teilbereiche der gemeinsamen Politik sein mag, auch auf die Versuche anwendbar ist, eine gemeinsame Politik für Vgl. Abiri 2000; Lavenex 2001; Bigo 2001; Koslowski 2001, S. 99-130. Vgl. Abiri 2000; Lavenex 2001; Cholewinsky 2004, S. 159-192. 44 Vgl. Lavenex 2001, S. 138f. Einer Studie von Lahav und Messina zufolge sprachen sich 1993 nur 25 Prozent der Abgeordneten des Europäischen Parlaments für eine restriktivere Einwanderungspolitik in der EU aus, während 75 Prozent am Status Quo festhalten wollten oder eine weniger restriktive Politik befürworteten. Eine Wiederholung der Untersuchung 2004 ergab lediglich geringfügige Veränderungen. Die Autoren der Studien schlussfolgern unter anderem: „(...) immigration issues do not seem to be linked to security and foreign policy in the minds of European Parliamentarians”, siehe Lahav/Messina 2005, S. 851-875, S. 859-861 und 871. 42 43
30
1 Einleitung
legale Migration und die Steuerung der Arbeitsmigration aus Drittstaaten zu schaffen. Die meisten der bisher erwähnten politik- und sozialwissenschaftlichen Arbeiten beziehen ihre Ergebnisse und Theorien auf „ältere“ Bereiche der EUMigrationspolitik, also vor allem auf die Flüchtlingspolitik, gemeinsame Maßnahmen im Asylbereich und den Kampf gegen die „illegale“ Einwanderung. Guiraudon hat indes schon 2001 angedeutet, dass der hinsichtlich der Interessen der Akteure bestehende Bezugsrahmen aus Sicherheit und Menschenrechten seine Gültigkeit – zumindest teilweise – verlieren könnte, wenn es darum geht, die Interessen der Akteure hinsichtlich einer europäischen Politik zur Steuerung der „legalen Migration“, also beispielsweise der Arbeitsmigration aus Drittstaaten, zu analysieren. Auf den Arbeitmärkten der europäischen Staaten treten Guiraudon zufolge Engpässe auf, die aus Sicht der Akteure eine nicht nur auf Abschottung ausgerichtete Migrationspolitik, sondern auch eine Öffnung gegenüber „nützlicher“ Einwanderung, erforderlich machen. Zu erwarten wäre demnach, dass im Migrationsdiskurs in der EU neue Interessen artikuliert werden. Sie können laut Guiraudon Bezug nehmen auf den wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen Europa und anderen Teilen der Welt, auf die Alterung der Bevölkerung und auf weitere Entwicklungen: „Notably, renewed growth in Europe and new labour shortages have allowed the emergence of new policy frames (global economic competition and demographic decline) and increased business lobbying at the EU-level for a positive immigration policy.“45
In wissenschaftlichen Betrachtungen der Migrationspolitik einzelner EU-Staaten wurde diese Annahme bereits bestätigt. Es wurde nachgewiesen, dass Debatten über die Notwendigkeit der Begrenzung der Zuwanderung und der Abwehr unerwünschter Wanderungsbewegungen in den letzten Jahren um Debatten über die Anwerbung „nützlicher“ Arbeitskräfte ergänzt wurden, und dass mehrere nationale Regierungen in Europa Programme für eine arbeitsmarktorientierte Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten entwickelt haben.46 Der EU-Kommission zufolge waren im Herbst 2007 in zehn der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union „Sonderregelungen für die Zulassung von hochqualifizierten Arbeitnehmern“ in Kraft.47 Die Interessen, die von den Akteuren in dieser Hinsicht ins Feld geführt werden, unterscheiden sich markant von jenen, die in den Diskussionen der Neunzigerjahre über „Asylmissbrauch“, „Scheinasylanten“ oder „Wirtschaftsflüchtlinge“ artikuliert wurden. Es geht nun unter anderem um demografische Aspekte, ökonomische Überlegungen, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in Europa, die Aufrechterhaltung des „Wohlfahrtsstaats“ und andere mehr. In Deutschland haben Politiker ein „Werben um die besten Köpfe“ und die Einwanderung von „Ausländern, die uns Guiraudon et al. 2001, S. 107. Beispiele sind Deutschland, Schweden, Großbritannien und die Niederlande; vgl. Bade 2007, S. 57; Carrera 2007, S. 8-12. 47 Vgl. KOM(2007) 637 endgültig. 45 46
1.2 Forschungsstand
31
nützen“ propagiert. Das Dogma, dem zufolge Deutschland kein Einwanderungsland sei, wurde verworfen.48 Großbritannien bemüht sich ebenfalls, hochqualifizierte Zuwanderer anzulocken.49 Ein Papier des Innenministeriums in London mit dem Titel „Making Migration work for Britain“ macht deutlich, dass Einwanderung dann ermöglicht werden soll, wenn sie im Interesse des Landes ist, aber verhindert, wenn sie den nationalen Interessen nicht dient.50 Im Interesse des Landes sind demnach vor allem hochqualifizierte Arbeitskräfte. Mit ähnlichen Prämissen wurde die Einwanderungsgesetzgebung in Frankreich reformiert. 2006 verabschiedete das Parlament ein neues Einwanderungsgesetz, das unter anderem einen neuen Aufenthaltstitel für hochqualifizierte Migranten vorsieht und die Einreise für Arbeitnehmer aus Drittstaaten erleichtert, wenn Arbeitskräftemangel besteht. Bekannt wurden die neuen Bestimmungen unter dem Begriff „immigration choisie“, „gewählte Einwanderung“.51 In den genannten Beispielen treten Sicherheitsinteressen und menschenrechtliche Überlegungen in den Hintergrund oder werden sogar überhaupt nicht mehr genannt. Stattdessen dominieren Überlegungen hinsichtlich der „Nützlichkeit“ der Migranten für die aufnehmenden Gesellschaften. Eine weitere, noch relativ neue Richtung bei der Entwicklung der Interessen bezieht sich auf die Zusammenhänge zwischen Migration und Entwicklung in den Herkunftsländern der Migranten. Diesbezüglich wurde in den Sozialwissenschaften einerseits das Problem der Abwanderung von Fachkräften aus Entwicklungsländern in Industriestaaten (Braindrain), andererseits politische Initiativen zur Förderung der möglichen positiven Auswirkungen von Migration auf die Herkunftsländer untersucht und problematisiert. Dazu gehört etwa, dass Migranten Geld an Angehörige in den Heimatregionen überweisen („remittances“) oder bei einer Rückwanderung mit in der EU gewonnenen Erfahrungen, Qualifikationen und Netzwerken ihrer Herkunftsregion Entwicklungsschübe geben können.52 Während solche Veränderungen der Interessen in den nationalen Migrationspolitiken der Mitgliedstaaten, also unterschiedliche Formen der Hinwendung zu einer Öffnung der Migrationspolitik zugunsten von als „nützlich“ empfundenen Einwanderern, relativ gut dokumentiert und analysiert erscheinen, sind die Entwicklungen auf EU-Ebene hin zu einer gemeinsamen Strategie für Arbeitsmigration bislang weniger gut erforscht. Analysen der Interessen der Akteure beziehen sich zumeist auf einzelne Vorschläge der EU-Kommission oder auf Stellungnahmen von Politikern aus den Mitgliedstaaten. Im Oktober 2007 legte die Kommission beispielsweise einen Vorschlag für eine Richtlinie vor, der darauf abzielt, den Mitglied48 Interview mit dem bayerischen Innenminister Günther Beckstein, in: Focus, 10. Juni 2000; Vgl. auch Bundesministerium des Innern 2001, S. 26; Nuscheler 2004, S. 164f; Reißlandt 2006, S. 135-162. 49 Vgl. Baringhorst 2006. 50 Vgl. The Secretary of State for the Home Department 2005. 51 Vgl. Engler 2007; van Eeckhout 2006. 52 Vgl. Thränhardt 2005, S. 3-11; de Haas 2006; Castles 2007.
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1 Einleitung
staaten die Anwerbung hochqualifizierter Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten zu erleichtern und den betroffenen Personen einen EU-weit einheitlichen Katalog an Rechten („Blue Card“) zur Verfügung zu stellen.53 Der Vorschlag wurde in modifizierter Form 2009 vom Rat angenommen.54 Hinsichtlich dieses Vorschlags und früherer Vorstöße der Kommission zur Frage der Arbeitsmigration haben Beobachter unter anderem gefragt, warum die Kommission 2001 darauf setzte, alle Formen der Arbeitsmigration mit Hilfe gemeinsamer, europäischer Rechtsinstrumente zu steuern, nunmehr aber lediglich zu einer einzelnen Kategorie von Arbeitssuchenden aus Drittstaaten, den „Hochqualifizierten“, einen Einzelvorschlag erarbeitet hat. Nach Guild und Carrera ist der Strategiewandel darauf zurückzuführen, dass ein von der Kommission 2005 durchgeführter Konsultationsprozess ergab, dass die Mitgliedstaaten die Einwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte eher begrüßen würden, als die von Drittstaatsangehörigen mit niedrigerem Bildungsniveau. Die einwanderungspolitischen Vorgaben des Amsterdamer Vertrags und des EUSondergipfels von Tampere 1999 könnten in fragmentierter Form leichter umzusetzen sein, als ein Instrument für die Regulierung aller Arten von Arbeitsmigration.55 Ein weiterer Vorstoß, der in der politik- und sozialwissenschaftlichen Forschung kommentiert wurde, ist die von der EU-Kommission vorgeschlagene Förderung „zirkulärer Migration“.56 Bei diesem Vorschlag geht es neben der Förderung von „nützlicher“ Einwanderung in die EU-Staaten auch darum, Migration als ein Instrument der Entwicklungshilfe zu nutzen. Angenendt weist darauf hin, dass der Vorschlag zur Förderung „zirkulärer Migration“ auf eine gemeinsame Initiative der Innenminister Deutschlands und Frankreichs zurückgeht. Während die Innenminister damit vor allem eine bessere Steuerung und Begrenzung von Migration erreichen wollten, lege die Kommission den Schwerpunkt jedoch auf eine entwicklungsorientierte Förderung internationaler Mobilität.57 Castles hat, wie in Abschnitt 1.1 bereits erwähnt wurde, die sich abzeichnende Hinwendung einiger EU-Staaten und der Europäischen Kommission zu einer nützlichkeitsorientierten Arbeitszuwanderung und einer Förderung der „zirkulären Migration“ mit der Anwerbung von Gastarbeitern in den Fünfziger-, Sechziger- und frühen Siebzigerjahre verglichen und ist dabei zu der Schlussfolgerung gekommen, dass die neueren Konzepte im Bereich der Arbeitsmigration zwar signifikant von denen der Vergangenheit abweichen, unter anderem dadurch, dass die europäischen Staaten vor allem hochqualifizierte Migranten anwerben wollen. Gleichzeitig befürchtet er jedoch, dass Fehler der Vergangenheit wiederholt werden, und dass die
KOM(2007) 637 endgültig; vgl. auch Guild 2007. Richtlinie 2009/50/EG des Rates vom 25. Mai 2009, S. 17-29. 55 Vgl. Guild 2007; Carrera 2007. 56 KOM(2007) 248 endgültig. 57 Vgl. Angenendt 2007. 53 54
1.2 Forschungsstand
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gegenwärtigen Anwerbungsstrategien nicht intendierte oder sogar negative Folgen für sowohl die Herkunfts- als auch die Zielländer mit sich bringen: „Exploitation of migrant workers and the absence of secure residence status and basic rights for many new residents undermine the rule of law and the welfare state in liberal-democratic societies. Moreover, there is no reason to think that receiving countries will be any more successful in preventing unplanned settlement of ostensibly temporary migrants than in the past. Whether the new members of society come as undocumented workers or legal guestworkers, they are likely to experience processes of discrimination and social exclusion. This may well have similar outcomes to past experience in terms of divided societies and social conflict.“58
Als zentrales Problem nennt Castles: „The EU and its Member States seem still to be trying to import labor but not people – just as the Western European countries did 40 years ago.“59 Follmar-Otto zufolge greift es jedoch zu kurz, die Vorschläge der EUKommission als Wiederholung eines verfehlten Ansatzes abzutun. Zunächst müsse man die „in den letzten Jahren zunehmende Realität von temporärer, zirkulärer und pendelnder Migration“ zur Kenntnis nehmen. Die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Rechtsrahmens für diese Formen der Wanderung sei sinnvoll, wenn menschenrechtliche Rahmenbedingungen eingehalten würden. Follmar-Otto gibt jedoch auch zu bedenken, dass die Menschenrechte in den Dokumenten der EU bislang „keine angemessene Beachtung gefunden“ haben.60 1.2.8
Weiterer Forschungsbedarf
In den vorstehenden Abschnitten konnten nicht alle Teilgebiete der wissenschaftlichen Forschung über die Migrationspolitik der EU berücksichtigt werden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden nur einige besonders wesentlichste Ergebnisse und Tendenzen beschrieben. Deutlich wurde jedoch Folgendes: Die Grundvoraussetzungen für eine gemeinsame Europäische Migrationspolitik, ihre tatsächliche Entwicklung sowie ihre heutige Tragweite sind in den Politik- und Sozialwissenschaften ausführlich analysiert und erklärt worden. Dabei wurde nachgewiesen, dass es sowohl stichhaltige Gründe gibt, die für den Erfolg des „Europäisierungsprozesses“ sprechen, als auch Gründe, die eine skeptische Beurteilung nahe legen. Erklärt wurde auch, warum die Fortschritte der gemeinsamen Politik mitunter hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind. Zudem ist klar geworden, dass die bisherige Entwicklung das Interesse der EU-Mitgliedstaaten abbildet, Migration steuern und vor allem begrenzen zu können, und warum dies der Fall ist. Castles 2006, S. 760f. Castles 2006, S. 760. 60 Vollmar-Otto 2007, S. 5 und 13. 58 59
34
1 Einleitung
Dass die Forschung zu diesen Fragen weit fortgeschritten ist, gilt jedoch vor allem für die Asylpolitik, die Flüchtlingspolitik und für den Umgang mit „illegaler“ Einwanderung. Hinsichtlich eines noch neuen Felds der EU-Migrationspolitik, der Steuerung der Arbeitsmigration aus Drittstaaten, liegen zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit fast nur punktuelle Analysen vor, die einzelne Vorschläge der EU-Kommission oder Entwicklungen in ausgewählten EU-Mitgliedstaaten beleuchten, die Dynamik und Besonderheit des EU-Systems und seine Auswirkungen auf den Interessenwettbewerb unter den EU-Akteuren und auf die Ausgestaltung der gemeinsamen Politik aber nicht immer ausreichend berücksichtigen. Während bei Interessen hinsichtlich der Asylpolitik und der „illegalen“ Einwanderung eine Entwicklung aufgezeigt werden konnte, die mit der intergouvernementalen Zusammenarbeit zur Begrenzung von Migrationsströmen begann und zwischen 1999 und 2004 zur Vereinbarung verbindlicher europäischer Rechtsinstrumente führte, wurden die Interessen, die hinsichtlich der Arbeitsmigration artikuliert werden, bislang meistens isoliert von früheren Phasen der Zusammenarbeit betrachtet. Zusammenhänge, Überschneidungen und Widersprüche in den Interessen der EU-Akteure hinsichtlich der unterschiedlichen Teilaspekte der Migrationspolitik sollten deshalb näher erforscht werden. Da die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten beabsichtigen, alle Arten von Migration im Rahmen eines „umfassenden Migrationskonzepts“ zu regeln, und da verschiedene Arten von Wanderung miteinander verwoben sein können, sollte gefragt werden, inwieweit es auch bei Interessen der Akteure Interdependenzen gibt. Es erscheint also sinnvoll, die neueren Diskussionen um Arbeitsbeziehungsweise Wirtschaftsmigration einmal bewusst auf dem Kontinuum der europäischen Migrationspolitik anzusiedeln und so den Versuch zu machen, bestimmte Dynamiken hinsichtlich des Interessenwettstreits zu erkunden. Weiteren Forschungsbedarf gibt es auch hinsichtlich der Interaktion der EUOrgane Rat, Mitgliedstaaten, Kommission und Parlament im Wettstreit der Interessen über die Ausgestaltung der gemeinsamen Migrationspolitik im Allgemeinen und der Politiken zur Steuerung der Arbeitsmigration im Besonderen. Bis zum Amsterdamer Vertrag stand außer Frage, dass von den im Rat vertretenen Mitgliedstaaten die größte Gestaltungsmacht bei der Realisierung einer gemeinsamen Migrationspolitik ausging. Die im Vertrag vorgesehenen und mittlerweile in Kraft getretenen Reformen der Entscheidungsstrukturen lassen nun vielleicht keine radikale Änderung der Machtverhältnisse erwarten, aber der Einfluss des Europäischen Parlaments wurde erweitert, der Zwang zu einstimmigen Beschlüssen im Rat teilweise aufgehoben, und auch die Kommission hat an Gestaltungsmacht gewonnen und Instrumentarien zur Geltendmachung ihrer Ansprüche auf die Ausformung der gemeinsamen Politik entwickelt.61 Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die Rolle
61
Vgl. Niessen 2002, S. 209f.; de Hert 2004, S. 77ff.
1.3 Fragestellung
35
des Parlaments weiter gestärkt und die Dominanz der Mitgliedstaaten reduziert.62 In diesem Kontext wäre zu fragen, wie veränderte Machtkonstellationen den Wettstreit und das Zusammenspiel der Interessen hinsichtlich der Migrationspolitik prägen können, wie die Akteure jeweils aufeinander Bezug nehmen, und ob sich dies auch auf die Strategien zur Steuerung der Arbeitsmigration auswirken kann. 1.3 Fragestellung Vor dem Hintergrund der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Politik zur Steuerung der Arbeitsmigration und des beschriebenen Forschungsstands und Forschungsbedarfs zu diesem Thema ist das Ziel der vorliegenden Dissertation, die Interessen der EU-Organe bei der Entwicklung einer gemeinsamen Migrationspolitik näher zu ergründen. Der Ansatz ist dabei deskriptiv, analytisch und erklärend; er basiert auf einer historisch-institutionalistischen Sichtweise, die einen Brückenschlag zwischen unterschiedlichen Erklärungsansätzen zur Europäisierung der Migrationspolitik ermöglichen und die an Institutionen gebundene Prozesshaftigkeit der Vertretung von Interessen hervorheben soll. Wie bereits beschrieben wurde, werden in der EU nationale Migrationspolitiken in zunehmendem Maße auf überstaatlicher Ebene koordiniert, harmonisiert und „vergemeinschaftet“, und es zeichnet sich ab, dass es in der Zukunft auch zu gemeinsamen Maßnahmen zur Steuerung der Arbeitsmigration aus Drittstaaten kommen wird. Dies wirft die Frage auf, von welchen Interessen sich die nunmehr so wichtig gewordenen politischen Organe der EU, also die EU-Kommission, der Ministerrat und die Mitgliedstaaten sowie das Europäisches Parlament, bei der Entwicklung der gemeinsamen Migrationspolitik leiten lassen, wie diese Interessen entstehen können, wovon sie beeinflusst werden und sich deshalb gegebenenfalls verändern. Angesichts sich verändernder Machtkonstellationen im politischen System der EU stellt sich auch die Frage, von welchen Interessen die größte Gestaltungsmacht ausgeht und welche Konsequenzen dies hat. Diese sind die zentralen Fragen, denen in dieser Arbeit nachgegangen werden soll. Den Schwerpunkt der Untersuchung bildet Arbeitsmigration aus Drittstaaten. Während im Bereich der „illegalen Migration“ sowie in der Asyl- und Flüchtlingspolitik in der EU bislang Interessen dominierten, die sich vor allem auf die Abwehr unerwünschter Zuwanderung, auf ein Streben nach „innerer Sicherheit“ und auf die Verhinderung von „Asylmissbrauch“ konzentrierten, ist das Spektrum der Interessen im Bereich der Arbeitsmigration breiter: In diesem Kontext werden von den Akteuren auch demografische Überlegungen, ökonomische Bedarfsszenarien, die Situation auf den Arbeitsmärkten in der EU oder auch „Wettbewerbsfähigkeit“ ins 62
Vgl. Kietz/Parkes 2008, S. 54.
36
1 Einleitung
Feld geführt. Auch tritt das Interesse, Zuwanderung prinzipiell abzuwehren, in den Hintergrund gegenüber der Unterscheidung zwischen „nützlichen“ und weniger „nützlichen“ Migranten. Die Frage nach den Interessen hinsichtlich der Arbeitsmigration, hier verstanden als ein Teilbereich der Migrationspolitik insgesamt, ist daher von besonderer Bedeutung. Die Frage kann indes, auch wenn sich Arbeitsmigration von anderen Formen internationaler Wanderungsbewegungen unterscheidet, nicht völlig losgelöst vom generellen migrationspolitischen Kontext betrachtet werden. Zwischen „illegaler“ und „legaler“ Migration oder auch Arbeitszuwanderung und Familiennachzug gibt es vielfältige Berührungspunkte. Außerdem sollen alle Arten internationaler Migration in der EU im Rahmen eines „umfassenden Gesamtkonzepts“ geregelt werden.63 Daher wird in dieser Arbeit auch die Entwicklung der Interessen hinsichtlich anderer Bereiche der Migrationspolitik, wenn auch nachrangig, mit beleuchtet. Ziel ist nicht, eine Bestandsaufnahme der Interessen zu einem bestimmten Zeitpunkt zu liefern. Vielmehr soll eine historische Entwicklung erkennbar werden, die im ersten Halbjahr 2009, zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit, endet, aber bis zu einem bestimmten Grade auch darüber hinaus abgeschätzt werden kann. Die Betrachtung eines historischen Verlaufs soll zeigen, dass die europäische Zusammenarbeit im Bereich der Arbeitsmigration neuer ist, als die Beschäftigung der EU-Organe mit Fragen der Asylpolitik und der „illegalen Migration“, dass aber darauf geschlossen werden kann, dass sich migrationspolitische Interessen verändern oder diversifizieren können, in diesem Fall von Abschottungsstrategien gegenüber „illegalen Migranten“, Asylsuchenden und Flüchtlingen hin zu Anwerbungskonzepten für als nützlich betrachtete Arbeitnehmer aus Drittstaaten. Interessen werden also nicht als konstant, sondern als wandelbar betrachtet. Sie werden dabei von verschiedenen Faktoren und Einflüssen geprägt, etwa von Debatten und Entwicklungen in den Mitgliedstaaten, neuen Fakten, Normen oder sich verändernden Machtkonstellationen und Rollenverteilungen unter den Organen im politischen System der EU. Um diese Faktoren und Einflüsse analysieren zu können, wird die Frage nach den Interessen der Akteure mit der Annahme verknüpft, dass sich unter den Bedingungen der „Europäisierung“ vormals nationalstaatlicher Politiken nicht nur der Ort ändert, an dem Interessen miteinander wetteifern, sondern dass der „Wettstreit der Interessen“ in der EU besonderen Umständen und Gesetzmäßigkeiten unterliegt. „Europäisierung“ bedeutet nicht, dass die Nationalstaaten und Debatten in ihrem Innern keine Bedeutung mehr haben, sondern nur, dass ihre Relevanz durch die Beteiligung „neuer“ Akteure wie Kommission und Europäisches Parlament relativiert und verändert werden kann, und dass die verschiedenen Interessen auch 63 Vgl. Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 14. und 15. Dezember 2006, S. 6; KOM(2006) 735 endgültig, S. 2.
1.4 Aufbau der Arbeit
37
von spezifischen, die EU kennzeichnenden Institutionen und politischen Praktiken geprägt werden können. Dazu zählen europäische „Institutionen“ wie Verträge, Gipfeltreffen, Konsultationsprozesse oder Verhandlungsstrukturen, oder auch Einflüsse aus anderen Teilbereichen der EU-Politik. Die Perspektive dieser Arbeit ist historisch, weil versucht wird, die Entwicklung der Interessen der Akteure auf dem historischen Kontinuum der EUMigrationspolitik anzusiedeln, d.h. die neueren Auseinandersetzungen über eine gemeinsame Politik im Feld der Arbeitsmigration als abhängig von früheren Phasen der Europäisierung der Migrationspolitik zu betrachten. Institutionalistisch ist die Herangehensweise deshalb, weil die gemeinsame Migrationspolitik nicht als das Ergebnis einer Zusammenarbeit von Staaten bzw. Regierungen gesehen wird, sondern als eine Politik, in der neben staatlichen bzw. Regierungsinteressen auch Gemeinschaftsinstitutionen, institutionalisierte Praktiken und Ziele sowie interinstitutionelle Arrangements die Politikergebnisse prägen. Mit dem Versuch, die Interessen der Akteure genau herauszuarbeiten und im Hinblick auf ihr Zustandekommen, ihre Prägung und Entwicklung zu erklären, soll diese Arbeit letztlich zu einem besseren Verständnis der Bedingungen für Migrationspolitik in der Europäischen Union beitragen und die Gestaltungsmacht und Funktionsweise der EU-Akteure Kommission, Rat, Mitgliedstaaten und Europäisches Parlament im Bereich der Migrationspolitik verdeutlichen. Es geht somit auch darum, den Charakter europäischer Politik in einem bestimmten Teilbereich des Zuständigkeitsspektrums der europäischen Institutionen zu erforschen. 1.4 Aufbau der Arbeit In Abschnitt 1.5 werden zunächst die zur Bearbeitung der Fragestellung gewählten Methoden vorgestellt, die historisch-institutionalistische Perspektive verdeutlicht, und die für eine eingehende Untersuchung der Interessen erforderliche Materialbasis erläutert und kommentiert. Auch die Zitierweise hinsichtlich des Materials wird in dieser Sektion erklärt. In Kapitel 2 („Interessen in einer europäisierten Migrationspolitik“) werden daraufhin zentrale Begriffe und für die Untersuchung der Interessen der EUAkteure relevante Erklärungsansätze über den Prozess der „Europäisierung“ vorgestellt und diskutiert. Dazu gehören auch einige in unterschiedlichen Theorien über die Europäische Integration verwurzelte Modelle, die den Prozess der „Europäisierung“ und seine Implikationen für die Entwicklung, Prägung und Wandlung von Interessen verdeutlichen. Besonderes Augenmerk gilt in diesem Kapitel dem historischen Institutionalismus als Theorie und Arbeitsmethode, die es erlaubt, den Prozesscharakter der Europäischen Integration und die Bedeutung endogenisierter Präferenzbildungsprozesse hervorzuheben. Auch wird in diesem Kapitel verdeut-
38
1 Einleitung
licht, was unter „Interessen“ überhaupt verstanden wird, und inwiefern sie auf Konzepte wie „Sicherheit“ oder „Menschenrechte“ oder auf demografische, ökonomische und entwicklungspolitische Fragen verweisen. Im chronologisch gegliederten Hauptteil (Kapitel 3 bis 7) werden auf Basis wichtiger Schritte im Prozess der Entwicklung einer gemeinsamen Migrationspolitik die Interessen der EU-Institutionen sowie Veränderungen dieser Interessen beschrieben und analysiert. Die Verträge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997), der EU-Gipfel von Tampere (1999), das so genannte „Haager Programm“ (2004), das als eine Aktualisierung der Tampere-Beschlüsse gesehen werden kann, sowie das „Grünbuch“ der EU-Kommission zur Arbeitsmigration und der darauf folgende „Strategische Plan“ für Zuwanderung (beide 2005) markieren in dieser Darstellung wesentliche Einschnitte oder „Schlaglichter“, die Aufschluss über Wandlungen und Anpassungen der Interessen der Akteure geben. Im abschließenden Kapitel 8 werden die Interessen der Akteure und ihre Entwicklung unter Rückgriff auf die eingangs vorgestellte theoretische Perspektive des historischen Institutionalismus zusammengefasst und diskutiert. Abschnitt 8.2 bietet auf der Grundlage der Wandlung der Interessen in der europäischen Migrationspolitik einen kritischen Ausblick auf zu erwartende Entwicklungen. Thematisiert wird hier vor allem die Braindrain-Problematik und die „Dehumanisierung“ von Migranten. 1.5 Methoden und Material Politische Institutionen unterliegen jeweils bestimmten Zwängen und Anreizen, die sich aus ihrer jeweiligen Rolle im politischen System ergeben. Diese Zwänge und Anreize generieren bestimmte bevorzugte Arten der Problemlösung und beeinflussen die artikulierten Interessen. Die Rollenverteilung im politischen System legt insofern bestimmte Verhaltensmuster nahe. Dies gilt auch für die EU. Der Prozess der Europäischen Integration wurde ursprünglich von den Mitgliedstaaten gesteuert. Heute sind an Entscheidungen und am Prozess der Einigung über politische Sachfragen jedoch nicht mehr nur die Regierungen der Mitgliedstaaten beteiligt, sondern auch die Gemeinschaftsorgane Europäischer Rat, Ministerrat, Kommission und Parlament. Um Legislativentscheidungen verabschieden zu können, müssen sie miteinander verhandeln und ihre unterschiedlichen Interessen miteinander abstimmen.64 Um nun in dieser Arbeit untersuchen zu können, inwiefern in der gemeinsamen Migrationspolitik der EU neben Abwehr- und Abschottungsinteressen seit 64 Ausführlichere Bemerkungen über die dieser Arbeit zu Grunde liegenden Sichtweise auf den Interessenwettstreit unter den EU-Organen folgen in Kapitel 2 („Interessen in einer europäischen Migrationspolitik“).
1.5 Methoden und Material
39
dem Amsterdamer Vertrag und dem EU-Gipfel von Tampere verstärkt auch das Interesse eine Rolle spielt, als „nützlich“ betrachtete Migranten anzuwerben, und um die Interessen der EU-Akteure im Bereich der Arbeitsmigration herausarbeiten und erklären zu können, muss geprüft werden, wie sich die EU-Akteure Rat bzw. Mitgliedstaaten, Kommission und Europäisches Parlament zu diesen Fragen äußern, welche Bezüge dabei hergestellt, und wie Entscheidungen beziehungsweise Kompromisse gefunden werden. In Betracht zu ziehen sind dabei auch die Rollen der jeweiligen Institutionen im politischen System sowie die Zwänge und Anreize, denen sie unterliegen. Der Wettstreit über das Erreichen bestimmter Politikergebnisse und die Durchsetzung von Interessen erfolgt in der EU einerseits in mündlichen Verhandlungen, etwa in Parlamentsdebatten, auf Konferenzen, in Konsultationen oder bei Tagungen der Staats- und Regierungschefs der EU oder der Fachminister aus den Mitgliedstaaten im Ministerrat. Andererseits äußern sich die Organe auch schriftlich: Die Staats- und Regierungschefs geben ihre Beschlüsse in den so genannten „Schlussfolgerungen des Vorsitzes“ wider, die unmittelbar nach jedem EU-Gipfel veröffentlicht werden.65 Einzelne Mitgliedstaaten können Positionspapiere an die EU-Kommission, das Parlament und andere Mitgliedstaaten richten. Der Ministerrat veröffentlicht schriftliche Protokolle seiner Tagungen, die oft ebenfalls als „Schlussfolgerungen“ bezeichnet werden, sowie endgültige Rechtsakte wie etwa Richtlinien, Verordnungen und Entscheidungen.66 Die Kommission veröffentlicht eine Vielzahl unterschiedlicher schriftlicher Dokumente. So genannte „Mitteilungen“ informieren über geplante Gesetzesinitiativen der Kommission und deren Hintergründe oder werten die in einem bestimmten Politikbereich erzielten Fortschritte aus. Sie bilden selbst keine Grundlage für von Parlament und Rat zu verabschiedende Rechtsakte. „Grünbücher“ sollen Debatten über einen Teilbereich der künftigen Politik anstoßen und einen Konsultationsprozess einleiten. Konkret auf legislative Beschlüsse abzielende Dokumente sind beispielsweise Vorschläge für eine Richtlinie bzw. für eine Verordnung oder Entscheidung.67 Mit ihnen macht die Kommission von ihrem Initiativrecht Gebrauch. Sie müssen im Ministerrat und im Parlament diskutiert werden, und je nach Entscheidungsverfahren haben diese zwei Akteure die Möglichkeit, Änderungen zu verlangen oder den Vorschlag in EU-Recht zu überführen. Das Parlament als dritter und letzter maßgeblicher Akteur verabschiedet im Plenum „Entschließungen“, die entweder als „legislative Entschließungen“ Bezug auf einen Vorschlag der Kommission nehmen und Änderungen verlangen können, oder aus eigener Initiative des Parlaments verabschiedet werden und sich in diesem Fall allgemein an die anderen Akteure richten, ohne dass damit ein konkreter VorVgl. Haratsch et al. 2006, S. 40. Haratsch et al., S. 132-138. 67 Vgl. Tömmel 2006, S. 63. 65 66
40
1 Einleitung
schlag abgelehnt oder angenommen wird. Daneben veröffentlicht das Parlament verschiedene Vorstufen von Entschließungen. Für die Öffentlichkeit zugänglich sind etwa die „Berichte“ einzelner Abgeordneter, die mit der Bearbeitung eines Themas beauftragt wurden und die Behandlung dieses Themas in den parlamentarischen Ausschüssen sowie im Plenum begleiten. Publiziert werden auch Abschriften der Plenardebatten, Protokolle über den Ablauf der Sitzungen, Arbeitsdokumente, Änderungsanträge zu Entschließungen und eine Vielzahl anderer, nicht klassifizierter Papiere.68 Ein Großteil der Verhandlungen zwischen den Akteuren in der EU findet also in schriftlicher Form statt, über Policy-Dokumente, die meistens in alle Amtssprachen der EU übersetzt werden. Da es kaum möglich ist, als Außenstehender den mündlichen Verhandlungsprozessen, etwa in Arbeitsgruppen des Rates, die hinter verschlossenen Türen stattfinden, im Detail zu folgen, sollen die schriftlichen Verfahren die Materialgrundlage des Hauptteils dieser Arbeit bilden. Die verschiedenen von den Akteuren herausgegebenen Dokumente geben auf unterschiedliche Weise Auskunft über deren Interessen. Von Bedeutung sind innerhalb dieser Texte vor allem die Einleitungs- und Begründungsteile sowie Präambeln, also die Abschnitte, in denen die Beweggründe für das Ergreifen einer bestimmten politischen Maßnahme und die Ziele, die mit der Maßnahme verfolgt werden, dargelegt werden. Solche Textabschnitte, die in der Regel eine Reihe von Verweisen und Referenzen enthalten, ermöglichen Aufschlüsse darüber, aufgrund welcher Interessen bestimmte Maßnahmen vorgeschlagen werden. Manchmal sind Aufschlüsse über die Interessen aber auch anhand der vorgeschlagenen Maßnahmen selbst erkennbar. (So spricht beispielsweise die Schaffung der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX im Jahr 2005 dafür, dass die Akteure ein Interesse daran haben, illegale Einwanderung effektiver zu bekämpfen.) Rechtsakte der Europäischen Organe, etwa Richtlinien oder Verordnungen des Rates, werden im – auch online zur Verfügung stehenden – Amtsblatt der Europäischen Union (früher: „Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften“) veröffentlicht. Die darin abgedruckten Versionen solcher Dokumente sind die Basis für die Anwendung bzw. Umsetzung der Rechtsakte in den Mitgliedstaaten. Daher werden verbindliche Rechtsakte in dieser Arbeit in der Regel aus ihrer im Amtsblatt veröffentlichten Version zitiert. Genannt werden dabei der Titel des jeweiligen Rechtsakts, sowie die Nummer und das Datum der entsprechenden Ausgabe des Amtsblatts und die Seitenangaben. Der jeweilige Autor oder Urheber ist meist im Titel des Rechtsakts angegeben (z.B. „Verordnung des Rates“). Einen Rechtsakt vorbereitende Dokumente oder „soft law“, also nicht verbindliche Akte wie beispielsweise Richtlinienvorschläge der Kommission, Entschließungen des Parlaments oder Schlussfolgerungen des Europäischen Rats (der 68
Vgl. Tömmel 2006, S. 69-73 und 125.
1.5 Methoden und Material
41
Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EU) werden in der Regel dagegen nicht aus dem Amtsblatt, sondern nach ihrer Originalfundstelle zitiert. Die Papiere der Kommission sind in verschiedenen online verfügbaren Datenbanken (z.B. „Prelex“) verfügbar, Arbeiten des Europäischen Parlaments auf dessen Internetseite www.europarl.europa.eu und Schlussfolgerungen des Europäischen Rates auf den Internetseiten der jeweiligen Ratspräsidentschaft oder der Seite www.europa.eu. In solchen Datenbanken erscheinen Dokumente oft schon vor ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt. Außerdem werden nicht alle Dokumente im Amtsblatt publiziert. Soweit vorhanden wird bei Zitaten aus Papieren der EU-Organe der Autor angegeben (z.B. „Kommission der Europäischen Gemeinschaften“), der Titel des Dokuments, seine interne Nummer sowie eine Seitenzahl. Seitenzahlen und gibt es jedoch nicht in allen Originaldokumenten und werden deswegen auch nicht immer genannt. Soweit jeweils vorhanden, wird bei allen Dokumenten die deutschsprachige Version zitiert. Stellenweise wird die Analyse von Verlautbarungen der einzelnen Akteure um die Untersuchung einer etwas breiteren Materialbasis ergänzt. Dies gilt vor allem dann, wenn aus den offiziellen Dokumenten die dahinter liegenden Interessen nicht eindeutig abgeleitet werden können, oder wenn ergänzendes Material einen besseren oder zusätzlichen Einblick ermöglicht. In Frage kommen etwa Reden oder Schriften einzelner Personen (etwa eines Abgeordneten des Europäischen Parlaments), Stellungnahmen von Interessengruppen, wissenschaftliche Texte über eine bestimmte Frage oder Presseberichte, in denen die beteiligten Akteure möglicherweise expliziter als in den offiziellen Dokumenten über ihre Interessen Auskunft geben. Durch eine solche Ergänzung der Materialbasis kann auch das Problem berücksichtigt werden, dass die offiziellen Dokumente der EU-Akteure vor allem das wiedergeben, was dem Publikum beziehungsweise den anderen Akteuren vermittelt werden soll, und nicht immer die eigentlichen Interessen des jeweiligen Akteurs. Aus diesem Grund wird beispielsweise in dem Abschnitt, in dem die Stellungnahmen der Mitgliedstaaten zum Grünbuch der EU-Kommission über Wirtschaftsmigration untersucht werden, der Versuch gemacht, die jeweilige nationale Einwanderungs- und Asylpolitik und die einheimische Debatte über Migration mit einzubeziehen, so dass die Interessen hinterfragt und besser erklärt werden. Auch kann so erreicht werden, dass die Interessen der Organe nicht losgelöst vom Kontext ihrer jeweiligen Rollen im EU-Institutionengefüge betrachtet werden. Zusätzliches Material wie Sekundärliteratur, Reden oder Presseberichte, das neben den Primärquellen herangezogen wird, wird jedoch in keinem Fall in seiner Gesamtheit ausgewertet werden. Vielmehr geht es darum, ausgehend vom hauptsächlichen Untersuchungsmaterial, den Primärquellen, bei zusätzlichem Analyse- und Interpretationsbedarf weiteres, darauf bezogenes Material zu sichten. Wichtig ist bei der Analyse, dass einzelne vorgeschlagene Maßnahmen nicht losgelöst vom Gesamtkontext betrachtet werden. Vielmehr soll eine Art „process
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1 Einleitung
tracing“ praktiziert werden. Es geht also darum, die Entwicklung bestimmter politischer Ideen von einem bestimmten Zeitpunkt an über verschiedene Stufen hinweg zu begleiten und so Veränderungen bei der Interessenlage der Akteure zu erkennen und zu erklären. Besonders deutlich wird diese Herangehensweise bei der Betrachtung des Grünbuchs der Kommission zur Wirtschaftsmigration. Es knüpft an einen früheren, aber politisch gescheiterten Vorschlag der Kommission zum gleichen Thema an. Nach Konsultationen zum Grünbuch wurden darin zum Ausdruck gebrachte Interessen im Rahmen eines „Strategischen Plans“ zur legalen Migration weiterentwickelt. Dieser wiederum mündete in die Vorlage mehrerer konkreter Richtlinienentwürfe zu einzelnen Teilaspekten der Arbeitsmigration, beispielsweise zu hochqualifizierten Arbeitsmigranten. In einigen Fällen wird es auf dem Wege dieser Art des Process-Tracing jedoch nur schwer oder gar nicht möglich sein, herauszufinden, welche Auseinandersetzungen über unterschiedliche Interessen innerhalb eines Organs, etwa der Kommission oder des Rats, stattgefunden haben, bevor bestimmte Interessen vertreten wurden. Dies liegt daran, dass weder die Sitzungen der Kommission, die ihre Legislativvorschläge nicht im Namen einzelner Kommissare, sondern als Kollektiv herausgibt, noch die Tagungen des Rates der Öffentlichkeit zugänglich sind. Außerdem gibt es in Brüssel häufige informelle Treffen zwischen Kommissionsmitarbeitern, Beamten des Rats und Parlamentsabgeordneten, die nicht dokumentiert und bekannt gemacht werden. Am ehesten im Fall des Europäischen Parlament ist es möglich, das Zustandekommen der einzelnen Interessenkonstellationen dahinter nachzuvollziehen, da in diesem Fall auch „Vorstufen“ von Beschlüssen öffentlich einsichtig sind, etwa Stellungnahmen von vorbereitenden Ausschüssen oder Redebeiträge einzelner Abgeordneter im Plenum. Sofern unklar war, warum sich eine bestimmte von der Kommission vorgeschlagene Maßnahme nicht durchsetzen ließ, weil die Gründe dafür in den öffentlich zugänglichen Dokumenten nicht ersichtlich sind, wurde versucht, von Gesprächspartnern in der EU-Kommission nähere Auskünfte zu bekommen. Die Kommissionsbeamten erarbeiten nicht nur Vorschläge für EU-Rechtsakte, sondern begleiten auch deren Behandlung in den anderen Organen und sind oft bei Sitzungen der Ausschüsse des Parlaments sowie bei für die Allgemeinheit nicht zugänglichen Sitzungen des Rates anwesend. Hilfreich für ein besseres Verständnis der Interessen der Organe war in diesem Zusammenhang auch die in manchen Quellenangaben erwähnte „Summer School“ im Juli 2007 an der Freien Universität Brüssel über aktuelle Entwicklungen im EUAsyl- und Migrationsrecht, bei der unter anderem Vertreter der EU-Kommission für Fragen ansprechbar waren.
2 Interessen in einer europäisierten Migrationspolitik
Die dieser Arbeit zu Grunde liegende Frage nach den Interessen der EU-Akteure Kommission, Parlament sowie Mitgliedstaaten und Rat und nach dem Wandel dieser Interessen setzt voraus, dass zunächst geklärt wird, warum und inwiefern Arbeitsmigration überhaupt ein Thema von europaweiter Bedeutung wurde, und warum die EU mit Migrationspolitik, einem Politikfeld, das aus der Sicht vieler Autoren eng mit nationalstaatlicher Souveränität verknüpft ist, befasst ist. Es geht also darum, den in Einleitung und Forschungsstand bereits erwähnten Prozess der „Europäisierung“ zu verstehen, die Tatsache und die Gründe dafür, dass zwischenbzw. überstaatliche Institutionen entstehen und die Lösung politischer Probleme, darunter das Ziel, in der EU eine gemeinsame Politik zur Steuerung der Arbeitsmigration zu schaffen, von der nationalstaatlichen Ebene an Gemeinschaftsorgane delegiert wird (Kapitel 2.1). Zweitens muss klargestellt werden, was in dieser Arbeit unter „Interessen“ verstanden wird und warum ihre Analyse den Schwerpunkt dieser Arbeit bildet. Es wird gefragt, wie Interessen allgemein zustande kommen, und welche besonderen Bedingungen für den Wettstreit verschiedener Interessen in der EU gelten, einem politischen System, das sich unter anderem durch seine „Mehrstufigkeit“ von nationalstaatlichen politischen Systemen unterscheidet und über eine eigene Dynamik der Interessenvermittlung verfügt (Kapitel 2.2). Drittens soll vor dem Einstieg in die eigentliche Untersuchung aufgezeigt werden, welche Interessen im Zusammenhang mit der politischen Behandlung unterschiedlicher Migrationsphänomene eine Rolle spielen und welche allgemeinen Tendenzen bei der Entwicklung und Wandlung von „Abschottungs- und Anwerbungsinteressen“ im Verlauf der Europäischen Integration und der schrittweisen Überführung von Migrationsfragen in den Kompetenzbereich der EU bisher erkennbar sind (Kapitel 2.3).
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2 Interessen in einer europäisierten Migrationspolitik
2.1 Europäisierung und Migrationspolitik 2.1.1
Der Begriff „Europäisierung“
Die Europäische Integration ist nicht nur eine Geschichte von mehrmaligen Erweiterungen des ursprünglichen Kreises von sechs Mitgliedstaaten und der Schaffung und stufenweisen Stärkung gemeinsamer politischer Institutionen, sondern auch ein Prozess der inhaltlichen Erweiterung und Vertiefung. Die Zahl der EU-Mitglieder ist im Laufe der Integrationsgeschichte auf heute 27 Mitgliedstaaten angewachsen. Gleichzeitig wurden den Organen der Gemeinschaft über Vertragsreformen und institutionelle Veränderungen immer mehr Politikbereiche unterstellt. Viele früher ausschließlich nationale Kompetenzen wurden – über die Kernbereiche der europäischen Zusammenarbeit hinaus – im Lauf des Integrationsprozesses von den Mitgliedstaaten an die EU delegiert.69 Dabei werden auch immer wieder neue politische Ziele vereinbart, und mit unterschiedlichen Interessen streiten die „alten“ nationalen Akteure (Regierungen, Parlamente und Behörden der Mitgliedstaaten) mit „neuen“ Akteuren (Ministerrat, EU-Kommission und Europäisches Parlament) um den geeigneten Weg, sie zu verwirklichen. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Europäisierung“ von Politik. Darunter kann verstanden werden, dass sich in der Europäischen Union quasistaatliche Strukturen herausbilden, und dass die so entstandenen Organe der Gemeinschaft Kompetenzen bekommen, die früher den Nationalstaaten vorbehalten waren. Cowles, Caporaso und Risse definieren „Europäisierung“ als: „(…) emergence and development at the European level of distinct structures of governance, that is, of political, legal and social institutions associated with political problem solving that formalize interactions among the actors, and of policy networks specializing in the creation of authoritative European rules. Europeanization involves the evolution of new layers of politics that interact with older ones.“70
Unter „Europäisierung“ kann demnach verstanden werden, dass sich neue, die einzelnen Nationalstaaten übergreifende politische Strukturen herausbilden, die mit schon vorhandenen nationalstaatlichen Machtstrukturen interagieren und diese zum Teil beeinflussen oder zur Implementierung von Gesetzen veranlassen können. Man spricht auch von der Entstehung eines politischen „Mehrebenensystems“ in der EU. In diesem interagieren mehrere Ebenen politischer Akteure und beeinflussen sich gegenseitig. Regierungshandeln in diesem „Mehrebenensystem“, englisch „Multi-Level Governance“, kann eine überstaatliche (europäische), eine national69 70
Vgl. Bieling/Lerch 2006, S. 9. Green Cowles et al. 2001, S. 3.
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staatliche (mitgliedstaatliche) und manchmal auch substaatliche, regionale und kommunale Ebenen umfassen.71 Der Begriff „Europäisierung“ kann Verwirrung stiften, weil er in der politikwissenschaftlichen Literatur nicht nur als Prozess, sondern auch zur Beschreibung einer Forschungsdisziplin verwendet wird. „Europäisierungsforschung“ beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie sich die Europäische Integration auf nationale Politik und die politische Verfasstheit der Mitgliedstaaten auswirkt. „Europäisierung“ beschreibt in diesem Zusammenhang also weniger, dass nationale Zuständigkeiten auf die EU-Ebene übertragen werden und dort neue Akteure, Netzwerke und Strukturen entstehen, sondern eher die Rückwirkungen der Europäischen Integration auf die nationale Ebene.72 In dieser Arbeit wird der Begriff „Europäisierung“ dagegen auf ein einzelnes Politikfeld angewandt, das gegenwärtig „europäisiert“ wird, nämlich die Migrationspolitik, und, als ein Teil davon, auf die Entwicklung von gemeinschaftlichen europäischen Steuerungsversuchen hinsichtlich der Arbeitsmigration aus Drittstaaten. Zunehmend ist neben den nationalen Regierungen auch die EU mit Versuchen befasst, Migrationsbewegungen zu steuern und zu regulieren; Migrationspolitik ist ein Politikbereich, in dem sich die nationalen Regierungen in der EU und europäische Institutionen Verantwortung und Zuständigkeit teilen.73 Konkret bedeutete dies zunächst, dass nationalstaatliche Politiken auf europäischer Ebene koordiniert und harmonisiert wurden. Darüber hinaus werden inzwischen aber auch Regeln gesetzt, die für die Politik der Mitgliedstaaten verbindliche Konsequenzen haben.74 2.1.2
Gründe für Europäisierung
Warum dies geschieht, warum also zwischen- oder überstaatliche Organe und Institutionen entstehen und Politikbereiche „europäisiert“ werden, nicht nur die Migrationspolitik, ist in der politikwissenschaftlichen Literatur mit verschiedenen, teilweise konkurrierenden Modellen erklärt worden. Auf den Funktionalismus und den Neo-Funktionalismus zurückgehende Theorieansätze gehen davon aus, dass Staaten zwischenstaatliche Institutionen schaffen, um „Transaktionskosten“ in der internationalen Zusammenarbeit zu senken.75 Auf bestimmte Aufgaben spezialisierte Institutionen erleichtern oder „verbilligen“ demzufolge internationale Kooperation, indem sie ein Forum für Verhandlungen bereitstellen, die Einhaltung zwischenstaatlicher Vereinbarungen zwischen den beteiligten Staaten überwachen und gegebeJachtenfuchs/Kohler-Koch 1996; Knodt/Große Hüttmann 2006, S. 223. Vgl. Auel 2006, S. 295-297. 73 Vgl. Lahav/Messina 2005. 74 Vgl. Geddes 2003, S. 28. 75 Vgl. Messina 2007, S. 156; Green Cowles et. alt. 2001, S. 14. 71 72
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nenfalls die Nicht-Einhaltung sanktionieren. Anthony Messina führt im Hinblick auf die Migrationspolitik der EU vor Augen, dass sich das Ziel der Senkung von Transaktionskosten auch ganz konkret manifestieren kann: Die Mitgliedstaaten der EU können ihm zufolge beispielsweise Kosten einsparen, in dem sie bei der Kontrolle der Außengrenzen gegen illegale Einwanderung kooperieren, etwa durch die Schaffung eines gemeinsamen Grenzkontrollwesens.76 Staatenübergreifende Organisationen und Vereinbarungen können aber auch deshalb entstehen, weil mit ihrer Hilfe politische Probleme gelöst werden sollen, die zu komplex oder zu umstritten sind, als dass sie auf nationaler Ebene zufrieden stellend geregelt werden könnten. Vor allem gilt dies für internationale Organisationen, die sich mit politischer oder ökonomischer Konfliktlösung zwischen mehreren Staaten befassen, etwa die Vereinten Nationen oder die Welthandelsorganisation WTO. Der EU kann in diesem Kontext eine besondere Bedeutung beigemessen werden, da die Zusammenarbeit der Staaten hier eine besonders große Bandbreite unterschiedlicher Politikfelder abdeckt und nicht nur auf die Lösung von Problemen zwischen Staaten, sondern auch jeweils in ihrem Innern, ausgerichtet ist. Über die Migrationspolitik der EU, dem Thema dieser Arbeit, ließe sich in diesem Zusammenhang sagen, dass Migration von den beteiligten Akteuren als ein Problem verstanden wird, das eine europaweite Dimension hat, und dem daher auf nationaler Ebene allein nicht mehr adäquat begegnet werden kann. Geddes spricht in diesem Zusammenhang von „losing control“. Die nationalen Regierungen wenden sich beim Versuch, Migration besser zu steuern und zu kontrollieren, an Europa, um aufgrund von Globalisierungs- und Integrationsprozessen inadäquat oder ineffizient gewordene nationale Kontrollmöglichkeiten auf einer neuen Ebene wiederherzustellen.77 Der Wegfall der Binnengrenzen innerhalb der EU wird so beispielsweise durch den Aufbau eines europäischen Regimes zur Verstärkung der gemeinsamen Außengrenzen kompensiert. Internationale Organisationen können nationalen Regierungen aber auch dabei helfen, politische Ziele in ihrem Innern durchzusetzen, indem sie diesen Zielen zusätzliches Gewicht und zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen.78 So kann eine nationale Regierung eine unpopuläre Maßnahme möglicherweise leichter durchsetzen, wenn diese nicht nur von ihr selbst, sondern auch von einer übergeordneten Instanz propagiert wird. Dies ist in vielen Bereichen europäischer Politik erkennbar, etwa im Bereich der Währungspolitik oder der Preisstabilität. Wenn die Europäische Zentralbank beispielsweise von einem Mitgliedstaat politische Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung fordert, kann dies Forderungen einer nationalen Regierung Vgl. Messina 2007, S. 156. Vgl. Geddes 2003, S. 127. Neben Globalisierungsprozessen kann man auch die schiere „Dimension der modernen transnationalen Migration“ als eine Ursache dafür sehen, dass die einzelstaatliche Asyl-, Ausländer- und Einwanderungspolitik nicht mehr ausreichend erscheint; vgl. Wöhlcke 2001, S. 32. 78 Vgl. Pollack 1997, S. 103f. 76 77
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nach solchen – womöglich für die Wähler unbequemen – Maßnahmen zusätzliches Gewicht geben. Ebenso können Versuche einer Regierung, eine Veränderung in der Migrationspolitik des Landes durchzusetzen, beispielsweise das Vorgehen gegen illegale Einwanderung zu intensivieren, dadurch erleichtert werden, dass auch von der EU-Ebene entsprechende Schritte verlangt werden.79 Während manche Modelle und Theorien also nachvollziehbar erklären können, warum nationale Regierungen in internationalen Organisationen mit anderen Regierungen zusammenarbeiten und dabei zwischen- bzw. überstaatliche Einrichtungen geschaffen werden, wurde in der politikwissenschaftlichen Literatur auch darauf hingewiesen, dass die Institutionen der EU den Mitgliedstaaten nicht nur Einsparungen und effizienteres Regieren ermöglicht haben, sondern dabei auch selbst zu politischen Akteuren geworden sind – was den Prozess der Europäisierung weiter verstärkt: „European institutions can shape interests and define paths of political influence. (...) They become partially autonomous political actors, create options for societal actors in their choice of allies and arenas, and induce changes in domestic policies and institutions.“80
Diese Sichtweise von Wayne Sandholtz wurde in so genannten „Principal-AgentModellen“ weiterentwickelt. Sie weisen darauf hin, dass zwischenstaatliche Organisationen, wenn sie einmal bestehen und erfolgreich operieren, dazu neigen, ein Eigenleben zu entwickeln und ihre Kompetenzen auszuweiten. Dies kann dazu beitragen, dass Integrationsprozesse, in diesem Fall der „Europäisierungsprozess“, beschleunigt und vertieft werden. Da die von den Staaten geschaffenen Organisationen („Agents“) in der Regel sich selbst als geeignete Foren für die Lösung bestimmter Probleme sehen und sich in diesem Zusammenhang für kompetent halten, streben sie nach mehr Macht. Manchmal lösen sich die Agents, also die supranationalen Organe, dabei von den Interessen der „Principals“, also den Nationalstaaten, von denen sie ursprünglich ins Leben gerufen wurden, und entwickeln eigene Interessen. Man spricht dann von „agency losses“.81 Dies kann so weit gehen, dass die „Agenten“ versuchen, sich „Wissensvorsprünge“ zu verschaffen, mit denen sie die Principals dann unter Handlungsdruck setzen und ihre eigenen Interessen voranbringen können. Unter „Wissensvorsprüngen“ kann verstanden werden, dass etwa die EU-Kommission versucht, sich Wissen zu verschaffen, über das die Mitgliedstaaten nicht verfügen, oder dass sie versucht, Interessengegensätze unter den Mitgliedstaaten zu antizipieren, um sie anschließend wirksamer beeinflussen zu können.82 Vgl. Pollack 1997; Maas 2008, S. 31. Sandholtz 1996, S. 405. 81 Pollack 1997, S. 108. 82 Vgl. Pollack 1997, S. 115. 79 80
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Jenseits der Theorie ist in der EU feststellbar, dass sowohl die Kommission als auch das Parlament nach größerem Einfluss gegenüber den im Rat vertretenen Mitgliedstaaten streben und mehr Zuständigkeiten im Lauf der Geschichte der Europäischen Integration tatsächlich auch schrittweise erreicht haben. Die Kommission beruft sich in diesem Kontext darauf, über „europäische“ Expertise zu verfügen und, anders als der Ministerrat, unabhängig von nationalen Partikularinteressen operieren zu können.83 Das Parlament rechtfertigt seinen Machtanspruch damit, dass es als einziges EU-Organ direkt von den Völkern gewählt wird. Wie sich derartige „agency losses“ konkret im politischen System der EU manifestieren können, wird weiter unten weiterverfolgt. Von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Europäisierungsprozesses und seines Fortschreitens ist unterdessen aber auch, dass nach neofunktionalistischer Lesart erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Staaten in einem Politikfeld Zusammenarbeit in einem anderen, verwandten Politikfeld begünstigen oder sogar zwingend nötig machen kann. Dies führt – ebenso wie die genannten anderen Faktoren – zu einer Vertiefung und Intensivierung des Integrationsprozesses. Hierbei spielen so genannte Spill-over-Effekte eine wesentliche Rolle.84 Dieses Konzept geht von Interdependenzen zwischen verschiedenen Politikbereichen aus, die prinzipiell auch getrennt voneinander betrachtet und behandelt werden könnten, aber überlappen. Die frühen Phasen der Migrationspolitik der EU können als ein Beispiel hierfür gesehen werden. Der Wegfall der Grenzkontrollen zwischen den Staaten der EU, die Realisierung von Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit zwischen den Mitgliedstaaten im Rahmen der „Einheitlichen Europäischen Akte“ von 1986 und die Schaffung eines gemeinsamen, grenzenlosen Binnenmarkts musste nach neofunktionalistischem Verständnis früher oder später dazu führen, dass heute auch auf EU-Ebene darüber entschieden wird, unter welchen Voraussetzungen Drittstaatsangehörige in die EU einreisen dürfen. Schließlich sind in einem Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen potentiell alle Mitgliedstaaten von der Entscheidung eines Staates, einen Drittstaatsangehörigen einreisen zu lassen, betroffen. Auf einen solchen Zusammenhang zwischen Binnenmarkt und Migrationspolitik verweist etwa die EU-Kommission, wenn sie Vorschläge für gemeinsame Regelungen für Arbeitsmigration unterbreitet. Sie geht davon aus, dass in der EU durch den Vgl. Kohler Koch 1996, S. 200-203. Diese Theorie und Weiterentwicklungen davon stammen ursprünglich von David Mitrany, der der Frage nachging, wie über Kooperation zwischen Staaten in einem bestimmten Politikfeld eine dauerhafte Zusammenarbeit entstehen kann, die letztlich stabilen Frieden zwischen einst verfeindeten Staaten ermöglicht; siehe Mitrany 1943; siehe auch Cram et al. 1999, S. 3-19. Als wichtigster Vertreter der neofunktionalistischen Theorie über die Europäische Integration gilt heute der Politologe Ernst Haas, der sich in zahlreichen Büchern und Aufsätzen mit Spill-over-Effekten befasst hat. Eine oft in der Literatur wiedergegebene Definition von Haas’ Konzept lautet: „’Spill-over’ refers to a situation in which a given action, related to a specific goal can be assured only by taking further actions, which in turn create a further condition and a need for more action, and so forth“, zitiert nach Wolf 2006, S. 72. 83 84
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Bedeutungsverlust der Binnengrenzen ein gemeinsamer Migrationsraum entstanden ist, in dem nur noch eine gemeinsame, staatenübergreifende Politik eine wirksame Steuerung der Migrationsbewegungen sicherstellen kann.85 Diese neofunktionalistische Sichtweise wird in zahlreichen politik- und sozialwissenschaftlichen Analysen der Europäisierung der Migrationspolitik wiedergegeben. So schreibt Märker 2001: „Obgleich bei der Gründung der heutigen EU zuwanderungspolitische Fragen überhaupt keine Rolle spielten, zog der fortlaufende europäische Integrationsprozess nahezu automatisch tief greifende Konsequenzen für die nationale Zuwanderungspolitik nach sich. Aufgrund dieses integrationspolitischen Erfordernisses steht die europäische Kooperation in Zuwanderungsfragen seit spätestens Mitte der Siebzigerjahre fortwährend auf der europäischen Agenda.“86
Die Erklärung, die Märker hier für die Entwicklung einer EU-Migrationspolitik sieht, ist in der Wissenschaft jedoch nicht unumstritten. Kritiker würden einwenden, dass die gemeinsame Migrationspolitik nicht ausschließlich als eine automatische Konsequenz des fortlaufenden Integrationsprozesses gesehen werden kann, sondern seitens der Regierungen der Mitgliedstaaten aufgrund spezifischer nationaler Interessen auch bewusst betrieben wurde. 2.1.3
Interessen im Europäisierungsprozess
Für die vorliegende Arbeit sind funktionalistische und neo-funktionalistische Überlegungen nicht nur deshalb von Bedeutung, weil sie helfen, den Europäisierungsprozess und die Ursachen bzw. Beweggründe dafür zu verstehen. Es wird zwar angenommen, dass Europäisierung zunächst bedeutet, dass in Europa gemeinsame Institutionen geschaffen, ausgebaut und gestärkt werden, und dass sich diese – unter anderem auf Grund von Spill-over-Effekten – mit immer wieder neuen Politikbereichen befassen, seit den Neunzigerjahren verstärkt auch mit Migrationsfragen. Darüber hinaus können die Interessen, die von den nationalstaatlichen Akteuren und den europäischen Institutionen in einem Politikfeld vertreten werden, aber auch auf ein anderes übertragen werden, also auch in einem anderen Bereich der Europäischen Zusammenarbeit eine Rolle spielen. So werden im Wettstreit der Interessen über die Ausgestaltung einer gemeinsamen Politik zum Umgang mit Drittstaatsangehörigen mitunter ökonomische und arbeitsmarktpolitische Argumente vertreten, die bereits in anderen EU-Politikfeldern eine Rolle gespielt haben. Beispielsweise wird in Richtlinienvorschlägen oder anderen Papieren der EUKommission zum Thema Arbeitsmigration oft auf die so genannte „LissabonAgenda“ aus dem Jahr 2000 Bezug genommen. Die Staats- und Regierungschefs der 85 86
Vgl. KOM(2006) 402 endgültig, S. 2f. Märker 2001, S. 8.
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EU hatten damals das Ziel verabredet, die EU zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen.87 Das Interesse der EUStaaten, Europa als zusammenhängenden Wirtschaftsraum zu stärken, wurde schon früher in Bezug auf EU-Bürger artikuliert, die das Recht haben sollten, sich frei in der EU zu bewegen. Nun prägt dieses Ziel auch die Interessen, die in einem noch neuen Bereich der EU-Zusammenarbeit, der Schaffung einer gemeinsamen Migrationspolitik für Drittstaatsangehörige, formuliert werden. Auch hinsichtlich der Interessen könnte man also von Spill-over-Effekten sprechen – in diesem Fall nicht von funktionalen, sondern eher von politischen oder ideologischen Spill-overEffekten.88 Interessen können daneben auch „von außen her“, als exogene Faktoren, den Wettstreit der EU-Organe um die Ausgestaltung der gemeinsamen Politik beeinflussen. Neben der Interaktion von Interessen unter den EU-Institutionen spielen auch Interessen, die von den einzelnen Nationalstaaten vertreten oder von Debatten im Innern der Mitgliedstaaten geprägt werden, für den Europäisierungsprozess eine wichtige Rolle.89 Wenn etwa ein oder mehrere Staaten einen steigenden Zustrom von Asylsuchenden und „illegalen“ Einwanderern verzeichnen, können sie sich an die EU-Organe und andere Mitgliedstaaten wenden, um Hilfe bei Grenzsicherungsmaßnahmen oder Rückführungen zu bekommen. 2.1.4
Erklärungen für die Schaffung einer gemeinsamen EU-Migrationspolitik
Die Tatsache, dass die EU-Organe Kompetenzen im Bereich der Migrationspolitik bekamen, der Umgang mit Migration also „europäisiert“ wird, lässt sich damit erklären, dass die EU-Mitgliedstaaten mit einer Zusammenarbeit in der Migrationspolitik die Erwartung verknüpften, Probleme wie „illegale“ Einwanderung oder Sekundärmigration innerhalb der EU besser mit Hilfe einer gemeinsamen Politik lösen zu können, als jeweils im Alleingang. Zudem hat auch die Fortentwicklung der Europäischen Integration selbst, etwa die Schaffung eines gemeinsamen Marktes ohne Binnengrenzen und der damit verbundene Kontrollverlust hinsichtlich von Wanderungsbewegungen, dazu beigetragen, dass es als nötig erachtet wurde, Migrationsfragen gemeinsam zu regeln. Andrew Geddes nennt neben der schon erwähnten „losing control“Hypothese noch einen weiteren Grund für die Europäisierung der Migrationspoli-
Europäischer Rat (Lissabon), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 23. und 24. März 2000, S. 2. Vgl. Wolf 2006, S. 73. 89 Vgl. Geddes 2003, S. 128: „To get a full picture of the shift to Europe and the implications of this shift, we have to consider the policy preferences of member states as a basis for their action and the attempts to accommodate these preferences at European level (...).“ 87 88
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tik, den er „Escape to Europe“ nennt.90 Damit ist gemeint, dass nationalstaatliche Akteure Migrationsprobleme auf EU-Ebene lösen wollen, um innerstaatliche Konflikte und rechtliche oder politische Hindernisse, die auf nationaler Ebene bestehen, zu umgehen: „EU co-operation and integration have allowed member states to avoid domestic legal and political constraints to attain their domestic policy objectives. (...) From this perspective, the development of EU immigration and asylum co-operation and integration is a reassertion of control capacity (...).“91
Eine „Externalisierung“ von politischen Kompetenzen, also eine Übertragung von Rechtsetzungskompetenzen an die überstaatliche EU-Ebene, soll es den Mitgliedstaaten demnach ermöglichen, ihre innenpolitischen Interessen hinsichtlich Migration mit anderen als den nationalstaatlichen Mitteln leichter durchzusetzen. Ein Beispiel dafür, wie sich dies konkret äußern kann, liefert James Hollifield anhand der Schengener Abkommen, mit denen eine stärkere Sicherung der Außengrenzen der EU bewerkstelligt wurde, und anhand des Dubliner Asylübereinkommens, das die Zuständigkeit der EU-Staaten für die Prüfung von Asylanträgen regelt: „The Schengen and Dublin agreements (…) seek to create buffer states, shifting many of the burdens and dilemmas of control outside the jurisdiction of the liberal state.“92
Die Kompetenz der Nationalstaaten, Migration zu steuern, wird also nicht etwa aufgegeben, sondern an eine andere Ebene delegiert, in diesem Fall externalisiert; ein tatsächlicher oder befürchteter Kontrollverlust der nationalen Regierungen über Migrationsströme wird mit Hilfe europäischer Maßnahmen wiederhergestellt. Guiraudon hat ebenfalls gezeigt, dass die Delegation nationalstaatlicher Kompetenzen zum Umgang mit Migrationsbewegungen an eine andere Ebene auch ein Mittel für Innen- und Justizministerien in den EU-Staaten sein kann, mit dem auf nationaler Ebene bestehende Hindernisse, die einer Durchsetzung ihrer Interessen entgegenstehen, überwunden werden können: „Law and order officials responsible for migration control gain from operating in international venues as they face fewer judicial constraints and less opposition from other ministries than at the national level.“93
Auch solche Vorteile, die europäische Lösungen nationalen Exekutiven bieten, könnte man als „Escape to Europe“ bezeichnen. Es geht dabei darum, die Besonderheiten der Konstruktion des EU-Systems auszunutzen, um auf nationaler Ebene Geddes 2003, S. 127f. Geddes 2003, S. 127. 92 Hollifield 2004, S. 211. 93 Guiraudon et al. 2001, S. 5. 90 91
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bestehende Beschränkungen der Handlungsfreiheit der Regierungen zu umgehen. Einen Beleg für ihre These sieht Guiraudon in der Tatsache, dass dem Europäischen Gerichtshof im Bereich der Innen- und Justizpolitik, zu der auch die Migrationspolitik zählt, zunächst nur geringe Befugnisse erteilt wurden. In mehreren europäischen Ländern waren in den Achtzigerjahren unternommene Versuche, Einwanderungsbewegungen zu stoppen, von nationalen Gerichten angefochten worden.94 Deshalb versuchten nationale Innen- und Justizbeamte, politische Entscheidungen auf die EU-Ebene zu verlagern, wobei es die zuständigen Minister anfangs gezielt vermieden, dort mit einem starken EU-Gerichtshof oder einer Beteiligung des Europäischen Parlaments am Entscheidungsprozess neue Begrenzungen ihrer Handlungsspielräume zu schaffen. Guiraudon folgert daraus, dass sich politische Akteure zur Durchsetzung ihrer Interessen den Ort aussuchen, der die Verwirklichung am reibungslosesten zu ermöglichen verspricht („Venue-shopping“).95 Diese Interpretation der Europäisierung der Migrationspolitik würde auch eine Erklärung dafür liefern, warum die gemeinsame Politik der EU ausgewiesen restriktive Züge aufweist und sich an Sicherheitsinteressen orientiert. Andreas Maurer und Roderick Parkes schreiben dazu: „(...) policy-making venues originally erected to deal with transborder security and crime issues have been used to deal with questions of asylum; actors have legitimised the move by shifting the policy-image of asylum in order to highlight its security implications.“96
Dass Asyl- und Migrationsfragen als Sicherheitsfragen behandelt werden, kann demnach darauf zurückgeführt werden, dass der Umgang mit Migrationsbewegungen institutionell in einem Umfeld angesiedelt wurde, das ursprünglich der Kriminalitätsbekämpfung diente. Um dies zu rechtfertigen, wurde der Sicherheitsaspekt von Migration besonders deutlich herausgestellt. Diese beschriebenen Thesen und Interpretationen liefern jeweils plausible und sich ergänzende Erklärungen dafür, warum sich die EU-Organe seit den Neunzigerjahren – parallel zum Abbau der Binnengrenzen zwischen den EU-Staaten – mit Fragen der Asylpolitik und des Flüchtlingsschutzes beschäftigen, sowie mit „illegaler Migration“. Es wird auch deutlich, warum die Politik restriktiv ist und deshalb von „securitisation of migration“ gesprochen wurde. 97 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kamen zu diesen Aspekten der Migrationspolitik jedoch weitere migrationspolitische Fragen hinzu, darunter die Rückführung „illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger“, gemeinsame Maßnahmen der Verbesserung der Kontrollen und der Überwachung an den Außengrenzen der EU, gemeinsame Regeln für Familienzusammenführung und die Arbeitsmigration aus Drittstaaten. In diesem Zusammenhang sind Ebenda. Guiraudon 2001, S. 45ff. 96 Maurer/Parkes 2007, S. 93f. 97 Vgl. Huysmans 2000. 94 95
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bisher vor allem funktionale Zusammenhänge deutlich geworden: Verschiedentlich haben die Kommission, das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten argumentiert, die EU sei heute ein zusammengewachsener Migrationsraum, der eine gemeinsame Migrationspolitik erfordere. Aus der gemeinschaftlichen Regelung eines Teilaspekts von Migration muss aus Sicht der meisten Akteure die Regelung eines anderen folgen. Hinzu kommt, dass die Europäisierung einen Erfahrungsaustausch ermöglichen kann und es den Mitgliedstaaten erleichtert, voneinander zu lernen. Eine gemeinschaftliche Migrationspolitik kann es aus der Sicht der Akteure längerfristig auch ermöglichen, Wanderungsströme (oder zumindest die damit verbundenen Lasten und Kosten) gleichmäßiger auf die einzelnen Mitgliedstaaten zu verteilen. 2.1.5
Die Institutionalisierung und Vertiefung der Migrationspolitik der EU
Die Asyl- und Flüchtlingspolitik, Fragen der Grenzsicherung und des gemeinsamen Vorgehens gegen „illegale“ Einwanderung sowie weitere Bereiche der Migrationspolitik sind im Lauf der Entwicklung der Europäischen Integration schrittweise in den EU-Verträgen sowie im „Sekundärrecht“ der EU (Richtlinien, Verordnungen, Entscheidungen, usw.) verankert worden, und es wurden Vereinbarungen darüber getroffen, welche EU-Organe in welchem Umfang Kompetenzen zur Durchführung der gemeinsamen Politik erhalten sollten. Nachzeichnen lässt sich der Europäisierungsprozess in groben Zügen wie folgt. Die Zusammenarbeit begann um die Mitte der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts auf der so genannten „intergouvernementalen“ Ebene. Die Regierungen der Mitgliedsländer kooperierten in Fragen der Migrationspolitik anfangs informell und zwischenstaatlich; die EU-Gemeinschaftsorgane Kommission und Parlament waren zunächst entweder gar nicht oder nur beratend an der Ausgestaltung der Politik beteiligt. Auch waren die Beschlüsse im Rahmen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit für die Mitgliedstaaten rechtlich nicht bindend; sie gaben eher Orientierungshilfen und dienten später als Ausgangspunkte für verbindliche Regelungen.98 Die intergouvernementale Form der Zusammenarbeit hatte für die Mitgliedstaaten aber den Vorteil, dass eine „Einmischung“ anderer Akteure weitgehend vermieden werden konnte. Der 1992 unterzeichnete Vertrag von Maastricht überführte Teile der Migrationspolitik in den institutionellen Rahmen der Gemeinschaft. Mit diesem Schritt sollte die Zusammenarbeit vertieft werden und als „Gemeinschaftsaufgabe“ größere Legitimität bekommen. Die Beteiligung der Kommission und des Parlaments war gegenüber der Macht der Mitgliedstaaten indes noch immer schwach. Erst mit dem 98
Vgl. Angenendt 2002, S. 547f.; Geddes 2003, S. 133f.
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Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam im Jahr 1999 bekam die gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik juristisch bindende Qualität. Seither kann die EU auf dem auch in anderen Bereichen der europäischen Politik üblichen Verhandlungsund Gesetzgebungsweg (Initiativrecht der Kommission, Konsultation des Parlaments, endgültige Verabschiedung gesetzlicher Maßnahmen durch den Rat) verbindliche Beschlüsse zu Asyl, Flüchtlingspolitik und Einwanderung fassen.99 Der Amsterdamer Vertrag sah zudem vor, nach einem fünfjährigen Übergangszeitraum auf die meisten Bereiche der Migrationspolitik das Verfahren der „Mitentscheidung“ anzuwenden. Dies impliziert, dass das Europäische Parlament seit Ablauf dieses Zeitraums nicht mehr nur konsultiert wird, sondern an den meisten Entscheidungen aktiv mitwirkt, und dass der Rat bestimmte Beschlüsse nicht mehr einstimmig fassen muss, sondern eine so genannte „qualifizierte Mehrheit“ der Mitgliedstaaten für das Zustandekommen eines Beschlusses ausreicht. Mit diesen institutionellen Reformen sollten sich Maßnahmen der Asyl- und Migrationspolitik fortan besser durchsetzen lassen. Bestimmte Teilbereiche der Migrationspolitik, so beispielsweise Fragen der legalen Migration aus Drittstaaten, darunter Arbeitsmigration, waren jedoch noch länger, bis zum Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags, vom „Mitentscheidungsverfahren“ ausgenommen. Diesbezügliche Beschlüsse mussten im Rat also weiterhin einstimmig gefasst werden; das Parlament wurde lediglich konsultiert. Dies deutet darauf hin, dass es den Mitgliedstaaten nicht leicht fällt, in diesem Feld nationalstaatliche Kompetenzen an die EU zu delegieren.100 Parallel zur in Etappen erfolgten institutionellen Verankerung der Migrationspolitik im EU-Recht hat sich unterdessen auch die Ausrichtung der Politik verändert: Auf eine Phase der „Harmonisierung“, also erste Schritte der Anpassung unterschiedlicher nationaler Regeln, folgt seit 2005 eine Phase der so genannten „Vergemeinschaftung“. Der Begriff impliziert eine Vertiefung der Zusammenarbeit und bezeichnet, dass in mehreren Teilbereichen der gemeinsamen Migrationspolitik, beispielsweise der Asylpolitik, nicht mehr nur an gemeinsamen Mindestnormen, sondern am Aufbau von in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen gültigen Regeln gearbeitet wird, beispielsweise an einer „gemeinsamen europäischen Asylregelung“. Die von Land zu Land unterschiedlichen Prozesse, die zur Anerkennung eines Migranten als Flüchtling führen können, werden nicht nur aneinander angepasst, sondern es sollen auch ein „gemeinsames Asylverfahren“ und ein „einheitlicher Status“ für Asylberechtigte entwickelt werden, die von allen Mitgliedstaaten implementiert und angewandt werden. 101
Vgl. Angenendt 2002, S. 549. Vgl. Carrera 2007, S. 4. 101 Dieser Begriff ist unter anderem im „Haager Programm“, das die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten im November 2004 in Brüssel verabschiedeten, als Ziel festgeschrieben. Siehe: Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 4. und 5. November 2004, S. 14. 99
100
2.1 Europäisierung und Migrationspolitik
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Gleichzeitig wurde auch das Spektrum der Teilaspekte von Migration, mit denen sich die EU-Akteure befassen, verbreitert. Neben Asyl- und Flüchtlingsfragen, illegaler Migration und Grenzschutz beschäftigen sie sich heute auch mit der Rückkehr „illegaler“ Migranten, gemeinsamen Regelungen zur Familienzusammenführung sowie der Arbeitsmigration aus Drittstaaten. Flucht und Asyl auf der einen, sowie Arbeitssuche auf der anderen Seite, sind zwar unterschiedliche Arten von Migration, weil sich die Beweggründe der Menschen, in die EU-Staaten einzuwandern, unterscheiden. Ein Überschneidungspunkt besteht jedoch darin, dass zahlreiche EU-Staaten seit den „Anwerbestopps“ der frühen Siebzigerjahre keine oder nur noch wenige Arbeitsmigranten aufnehmen, was dazu führte, dass Arbeitssuchende aus Drittstaaten zum Teil als „Notlösung“ auf den Weg der Asylantragstellung zurückgriffen, ohne im eigentlichen Sinne Flüchtlinge oder politisch Verfolgte zu sein. Man spricht von diesem Phänomen auch als „mixed migration“.102 In welchem Ausmaß das Asylrecht von Arbeitsmigranten in Anspruch genommen wurde, oder wird, ist quantitativ nicht genau messbar. Debatten über den angeblichen „Missbrauch“ des Asylrechts durch „Wirtschaftsflüchtlinge“, „Sozialschmarotzer“ oder Arbeitsmigranten gab und gibt es aber in vielen EU-Staaten.103 Auch wenn deren Stichhaltigkeit letztlich nicht exakt verifiziert werden kann, ist klar, dass verschiedene Arten grenzüberschreitender Migration nicht völlig losgelöst voneinander betrachtet werden können. Versucht man in der EU, Asyl- und Flüchtlingspolitik gemeinsam zu regeln, liegt es also nahe, sich auch mit anderen Migrationsformen zu befassen. Die Zusammenarbeit in einem Bereich greift so auf einen anderen über (spill-over). Die Europäische Kommission, das Parlament und in zunehmendem Maße auch die Regierungen der Mitgliedstaaten haben sich wiederholt dafür ausgesprochen, zu einem „umfassenden Migrationskonzept“, also zu einer Politik, die sich mit allen Migrationsphänomenen befasst, zu gelangen – und zwar deswegen, weil diese Phänomene sowieso miteinander zusammenhingen und Europa insgesamt beträfen. 104 Dieser funktionale Zusammenhang kann jedoch bei weitem nicht vollständig erklären, warum sich die EU heute mit Fragen der Arbeitsmigration befasst. Weitere mögliche Erklärungen sind, dass die demografische Entwicklung in vielen EULändern zu Debatten darüber geführt hat, ob sich die Alterung der Gesellschaft durch Aufnahme von Arbeitsmigranten bremsen lassen könnte, und ob Arbeitnehmer aus Drittstaaten mit bestimmten Qualifikationen einen Beitrag zur wirtschaftlichen Weiterentwicklung leisten könnten.105 Mehrere Regierungen in der EU haben solche Debatten aufgegriffen, Politiken für eine Anwerbung von Arbeitsmigranten Angenendt/Parkes 2007, S. 1. Vgl. exemplarisch Butterwegge 2006, S. 78. 104 Vgl. Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 14. und 15. Dezember 2006, S. 6; KOM(2006) 735 endgültig, S. 2. 105 Vgl. Geddes 2003, S. 4 und 6; Castles/Miller 2003, S. 282; Rifkin 2004, S. 272-277. 102 103
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2 Interessen in einer europäisierten Migrationspolitik
entwickelt und dies auch in EU-Gremien thematisiert. Eine wichtige Rolle spielen, wie dieses Beispiel zeigt, also auch die politisch-gesellschaftlichen Interessen der beteiligten Akteure, in diesem Fall der Mitgliedstaaten. Diese wiederum können von Entwicklungen, Ideologien und Debatten in ihrem Innern beeinflusst werden. Die im nationalen Kontext artikulierten Interessen können sich auf die EU richten, wenn angenommen wird, dass eine „europäische Behandlung“ des Problems eine Lösung erleichtert. Damit ein Politikbereich letztlich gemeinsam in der EU geregelt werden kann, bedarf es nicht nur des Interesses eines Mitgliedstaats, sondern einer weitgehenden Konvergenz der Interessen mehrerer oder aller Mitgliedstaaten und der anderen EU-Organe. Haben sie kein Interesse daran, Migrationspolitik gemeinsam zu regeln, versprechen sie sich davon etwa mehr Nachteile als Vorteile, wird es zur Vergemeinschaftung auch nicht kommen – oder nur in dem Maße, in dem es funktionale Zusammenhänge tatsächlich zwingend erfordern. 2.2 Der Wettstreit politischer Interessen in der EU 2.2.1
Die Entstehung und Prägung von Interessen in der EU
In der EU interagieren, wie bereits erwähnt, die Mitgliedstaaten mit übergeordneten, europäischen Institutionen, um politische Probleme zu lösen. Dieser Vorgang wird von Interessen gesteuert, da politische Probleme in der Regel unterschiedlich interpretiert und auf verschiedene Weise gelöst werden können, und da unterschiedliche Akteure divergierende Interpretationen anstellen und unterschiedliche Lösungsvorschläge bevorzugen. Politikwissenschaftliche Forschung weist darauf hin, dass verschiedene Aspekte das Zustandekommen und die Entwicklung der politischen Interessen der EU-Organe beeinflussen können, etwa Interessen der Regierungen der Mitgliedstaaten, gesellschaftliche Auseinandersetzungen im Innern der Staaten, präexistente „europäische“ Normen, Werte, „institutionalisierte Ideen“ oder „politische Kultur“, oder auch die Besonderheiten der politischen Konstruktion der Europäischen Union selbst, in der die Organe Kommission, Rat und Parlament spezifischen Logiken aus Anreizen, Zwängen, Funktionen und Rollen im politischen System unterliegen.106 Mit unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und Erkenntnisinteressen wird seit vielen Jahren untersucht, welche dieser Momente sich besonders stark auswirken. Während „intergouvernementalistische“ Ansätze davon ausgehen, dass es vor allem die Interessen der nationalen Regierungen sind, die den Europäisie106
Vgl. Stone Sweet et al. 2001, S. 1-28.
2.2 Der Wettstreit politischer Interessen in der EU
57
rungsprozess prägen, betonen institutionalistische die wichtige Rolle von Ideen, gemeinsamen Normen, politischen Entscheidungsstrukturen und -verfahren, die sich im Zuge der Integration unter den EU-Akteuren herausgebildet haben, sich weiter entwickeln und manchmal verstärken. Wieder andere argumentieren, auch gesellschaftliche Prozesse und Machtkämpfe innerhalb von Nationalstaaten (domestic politics) hätten in hohem Grad Auswirkungen auf die auf europäischer Ebene von den verschiedenen Akteuren vertretenen Interessen.107 Im Bereich der Migrationspolitik lässt sich feststellen, dass sowohl die Regierungen der Mitgliedstaaten als auch die Kommission und das Europäische Parlament bei politischen Vorschlägen tatsächlich immer wieder auf nationale Debatten Bezug nehmen. So hat das Parlament beispielsweise dazu aufgerufen, emotional geführte Debatten über Einwanderung in bestimmten Mitgliedstaaten zu beruhigen und sachlicher zu argumentieren. Dies kann als Beleg für die große Relevanz nationaler Debatten in Entscheidungsprozessen der EU gesehen werden. Mit diesen unterschiedlichen theoretischen Ansätzen im Hintergrund soll untersucht werden, welche Interessen es sind, von denen die Festlegung politischer Ziele beim Umgang mit Arbeitsmigration beeinflusst wird, und wie diese zustande kommen und vermittelt werden – eher durch gemeinsame Normen und Institutionen, Interessen nationaler Regierungen oder aufgrund von Debatten innerhalb der Mitgliedstaaten. Es wird auch gefragt, warum und inwiefern sich die Interessen der Akteure unterscheiden. Dabei soll es jedoch nicht darum gehen, die verschiedenen Theorien im Detail zu testen oder ihre Stichhaltigkeit zu quantifizieren. Dass diese Ansätze hier vorgestellt wurden, soll lediglich verdeutlichen, wie Interessenkonstellationen zwischen den Akteuren zustande kommen können und wie Interessen entstehen. Es wird davon ausgegangen, dass keiner dieser Ansätze die Ausprägung der Interessen der Organe erschöpfend erklärt und dabei die anderen Ansätze vollständig widerlegt. Stattdessen wird ein Brückenschlag in Form einer historisch-institutionalistischen Betrachtungsweise versucht. Anders als die schon genannten Theorieansätze, beispielsweise Neo-Funktionalismus oder Intergouvernementalismus hat der historische Institutionalismus seine Wurzeln nicht in der Erforschung der internationalen Beziehungen zwischen Staaten, sondern in der vergleichenden Politikwissenschaft und der komparativen System- und Regierungslehre. Er beschränkt sich gleichzeitig nicht auf die Betrachtung (formaler) Staatsorganisation, sondern nimmt die Bedeutung von Institutionen im politischen und gesellschaftlichen Leben in den Blick.108 Der Begriff der ‚Institution’ umfasst dabei neben formalen Institutionen (beispielsweise den Organen der EU) auch informelle Institutionen wie Routineverfahren und gesellschaftliche Praktiken. Institutionen haben auch eine normative 107 108
Vgl. Cram et al. 1999, S. 3-19; Bieling 2006. Morisse-Schilbach 2006.
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2 Interessen in einer europäisierten Migrationspolitik
Natur, da sie die Identitäten und Interessen (Präferenzen) von politischen Entscheidungsträgern prägen.109 Der historische Institutionalismus hat sich aus einer Synthese und Weiterentwicklung zweier anderer ‚Institutionalismen’ ergeben, namentlich einer soziologischen und einer ökonomisch-rationalistischen Variante des Institutionalismus. Die ökonomisch-rationalistische Variante betrachtet die Entstehung, die Form und den Wandel von Institutionen als das Resultat individueller Entscheidungen. Individuelle Akteure bilden nach diesem Verständnis Institutionen, weil diese bestimmte Funktionen erfüllen, die für die Umsetzung von Handlungsplänen und das Erreichen von Zielen erforderlich sind. Nach der soziologischen Lesart wird das Verhältnis von Institutionen und Akteuren dagegen als integrativ gesehen: Handlungen von Akteuren werden von Institutionen bestimmt oder geprägt. Die prägende Wirkung von Institutionen auf Akteursinteressen beruht nicht nur auf Nutzenkalkül, sondern auch auf der bewussten oder unbewussten Befolgung von Normen. Jede Entscheidung eines Akteurs ist daher in einen institutionellen Rahmen eingebettet. Strategien, Präferenzen und Interessen sind also nicht das Ergebnis eines punktuellen Entscheidungsprozesses, sondern das Produkt eines aus Traditionen, Sitten und Gebräuchen geprägten institutionellen Umfelds. Der historische Institutionalismus verbindet diese beiden Perspektiven, indem er die Zeitdimension oder auch die historische Prozesshaftigkeit des Verhältnisses zwischen Institutionen und Akteuren betont. Auch beim historischen Institutionalismus besteht jedoch noch eine ökonomisch-rationalistische und eine soziologische Denkrichtung fort. Arbeiten, die der ersteren Denkrichtung zugeordnet werden können, untersuchen Prozesse zumeist in kurzen Zeitspannen, in denen Institutionen eine strukturierende Wirkung im politischen Spiel der Kräfte zukommt. Institutionen bilden ein Muster aus Zwängen und Anreizen, die bestimmte Problemlösungsstrategien und Entscheidungsregeln generieren und vorhersehbare Verhaltensmuster produzieren. Oft wird hierbei von ‚Pfadabhängigkeit’ ausgegangen. Den politischen Akteuren fällt es nach diesem Verständnis schwer, sich von den einmal entwickelten Regeln und Mustern zu lösen und gegebenenfalls einen „neuen Pfad“ einzuschlagen. Innerhalb der soziologischen Denkrichtung des historischen Institutionalismus wird Institutionen ein noch tieferer Einfluss auf die Akteure und ihre Präferenzen zugesprochen. Hier werden Veränderungen über einen längeren Zeitraum hinweg betrachtet, und Institutionen werden nicht nur als regulierend oder verhaltenssteuernd gesehen, sondern haben eine konstitutive Wirkung auf die Akteursinteressen. Die Methode ist tendenziell induktiv; es wird also versucht, aus einer Reihe von Einzelfallbetrachtungen generalisierbare Ergebnisse zu gewinnen.110
109 110
Morisse-Schilbach 2006, S. 271; vgl. auch March/Olsen 1989, S. 16ff. Vgl. Morisse-Schilbach 2006, S. 273f.
2.2 Der Wettstreit politischer Interessen in der EU
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Die Analyse bezieht sich in historisch-institutionalistischen Arbeiten daher häufig auf ein ‚Meso-Level’: Es wird weder versucht, die EU als Ganzes zu erklären, noch beschränkt sich die Anaylse auf einen einzelnen Beschluss der Organe oder auf nur einen Akteur. Vielmehr bezieht sich die Untersuchung auf ein bestimmtes Politikfeld oder auf eine bestimmte Phase des Europäisierungsprozesses.111 Eines der wesentlichen Ziele der Arbeit „The governance of the Single European Market“ von Armstrong und Bulmer ist in diesem Kontext, durch die Untersuchung der Rolle von Institutionen im Prozess der Europäischen Integration einen Beitrag zur Analyse der EU zu leisten. Armstrong und Bulmer argumentieren, dass die Politikergebnisse in der EU nicht nur als rationale Ergebnisse eines Wettstreits unterschiedlicher Interessen gesehen werden sollten, sondern dass die Institutionen der EU und institutionelle Arrangements überhaupt erst den Rahmen dafür vorgeben, wie sich Interessen artikulieren können. Dies geschehe über Elemente wie Verträge, Entscheidungsverfahren, Normen, Werte und Identitäten der Organe, rechtliche Rahmenbedingungen und Rechtsprechung durch den Europäischen Gerichtshof, ‚soft law’ oder auch bürokratische Kulturen.112 Der vorliegenden Arbeit liegt eine ähnliche Sichtweise zu Grunde. Es geht nicht darum, die Großtheorien der Europäischen Integration zu testen, sondern darum, die Interessen der einzelnen Organe hinsichtlich der Steuerung von Migration, insbesondere der Arbeitsmigration, zu untersuchen und auf dieser Grundlage Schlussfolgerungen über die Funktionsweise des politischen Systems der EU in diesem Politikbereich ziehen zu können. Die Interessen der Organe können dabei manchmal aus den von ihnen vorgelegten Dokumenten hervorgehen, etwa aus Arbeitsaufträgen der Europäischen Staats- und Regierungschefs an die Kommission, Strategiepapieren der Kommission, Entschließungen des Parlaments oder Initiativen der Mitgliedstaaten oder der turnusmäßigen Ratspräsidentschaft. Manchmal müssen sie auch erschlossen oder „abgeleitet“ werden, etwa anhand von Verweisen oder Bezügen, die eine offizielle Stellungnahme oder Verlautbarung enthält. Häufige Bezüge in Dokumenten der EU-Akteure sind beispielsweise: Bereits vorhandene Rechtsgrundlagen oder Beschlüsse, beispielsweise Bestimmungen der EU-Verträge; globale Rechtsdokumente, beispielsweise die Genfer Flüchtlingskonvention; Hinweise auf Menschenrechte; Hinweise auf empirische Daten oder eine Interpretation solcher Daten, beispielsweise „Zunahme der Flüchtlingsströme“, „Alterung der Gesellschaft“ oder „Mangel an Arbeitskräften“ in bestimmten Sektoren eines nationalen Arbeitsmarkts; 111 112
Vgl. beispielsweise Armstrong/Bulmer 2002. Vgl. Armstrong/Bulmer 1998, S. 7f.
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2 Interessen in einer europäisierten Migrationspolitik
Vorschläge, Forderungen oder Aufträge anderer Akteure, beispielsweise der jeweils aktuellen EU-Ratspräsidentschaft, eines Verbands oder einer internationalen Organisation wie dem UNHCR; Verweise auf tatsächliche oder vermeintliche „Erwartungen der Bürger“ oder Ergebnisse von in Auftrag gegebenen Studien; „Gelernte Lektionen“ aus präexistenten Bereichen der europäischen Zusammenarbeit.
Diese und weitere Referenzen verweisen auf Normen, Wissensvorräte oder Forderungen von Nationalstaaten oder anderen Akteuren, die von den EU-Organen in mehr oder weniger starkem Umfang aufgegriffen werden, wenn politische Ziele vorgeschlagen werden. Wie stark solche Bezüge jeweils von den unterschiedlichen Akteuren genannt, betont und gewichtet werden, beziehungsweise welche davon überhaupt berücksichtigt werden, kann verdeutlichen, welche Interessen sie in Verhandlungen über migrationspolitische Ziele verfolgen: So hat das Parlament häufig ein Interesse daran artikuliert, dass sich die gemeinsame Asylpolitik der EU an den Menschenrechten orientieren solle, und dass die Menschenrechte der Asylbewerber und Flüchtlinge gewahrt werden müssten. Um dieses Interesse zu verdeutlichen, verweist das Parlament auf Menschenrechtsdokumente wie die Genfer Flüchtlingskonvention oder die Europäische Menschenrechtscharta. Die Kommission kann dagegen ein Interesse daran haben, gemäß ihrer Rolle als „Motor (...) einer europäischen Asyl- und Migrationspolitik“113 Bestimmungen der EU-Verträge in geltendes Recht zu transformieren und dem Europäisierungsprozess Vorschub zu leisten. In diesem Fall verweist die Kommission auf Bestimmungen in den Verträgen, Forderungen der Staats- und Regierungschefs oder einen möglichen Mehrwert für die Mitgliedstaaten durch die Schaffung einer gemeinsamen Politik in einem bestimmten Politikbereich. Der Rat, der die Mitgliedstaaten vertritt, kann ein Interesse daran haben, Erwartungen der Bürger in den Mitgliedstaaten zufrieden zu stellen, sie mit restriktiven Maßnahmen vor nicht erwünschter Einwanderung zu „schützen“, oder auch mit Hilfe der Zulassung von Arbeitsmigranten mit bestimmten beruflichen Profilen Engpässe auf den nationalen Arbeitsmärkten zu beseitigen. In diesem Kontext kann der Rat zur Begründung einer Forderung oder Maßnahme etwa auf Risiken angeblich unkontrollierter Migrationsströme verweisen bzw. auf einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Die Bandbreite der Interessen ist, wie dieser exemplarische Blick auf mögliche Verweise in offiziellen Dokumenten zeigt, sehr groß – sie können institutionelle Fragen berühren, etwa die Fortentwicklung des Europäischen Integrationsprozesses, Normen, wie etwa die Menschenrechte, oder sich auf Inhalte
113
Angenendt 2002, S. 552.
2.2 Der Wettstreit politischer Interessen in der EU
61
beziehen, also auf die Ausformung der Politik und die Ziele, die erreicht werden sollen. Darüber hinaus werden die Interessen eines Akteurs auch von seiner spezifischen Rolle im politischen System der EU geprägt.114 So soll der Rat definitionsgemäß die Interessen der EU-Mitgliedstaaten vertreten und eine einzelne Ratsdelegation die Interessen ihrer jeweiligen Regierung. Dagegen soll sich die Kommission als Initiativorgan im Dienste der ganzen EU und als „Hüterin der Verträge“115 an einem gemeinsamen, staatenübergreifenden „europäischen Interesse“ orientieren. Die Mitglieder des Europäischen Parlaments sollen den Willen der Bevölkerungen widerspiegeln, die sie gewählt haben.116 Die Auswirkung der den Akteuren zugedachten Rollen und Funktionen im politischen System der EU sind nicht immer deutlich anhand der vertretenen Interessen erkennbar, können sich jedoch auf das Zustandekommen der Interessen auswirken. Im Fall des Parlaments herrscht zusätzlich die Besonderheit, dass es sich als Anwalt der Grund- und Menschenrechte in der Europäischen Union und darüber hinaus versteht und, wie Kohler-Koch formuliert, als „Sachwalter des öffentlichen Gewissens Europas“117 auftritt. Lahav und Messina haben das Parlament als „representative of a ‚people’s social Europe’“118 bezeichnet. 2.2.2
Die Durchsetzung von Interessen
Die drei für diese Arbeit wichtigen EU-Organe sind einerseits als Adressaten von Interessen zu sehen, da sie verbindliche Entscheidungen treffen können und deshalb von anderen Akteuren (Interessengruppen, Lobbys) angesprochen werden. Andererseits treten sie auch selbst als Interessenvertreter auf, da sie Interessen formulieren, die sie in Verhandlungen untereinander abwägen und manchmal verändern, um letztlich gemeinsame Ziele festzulegen oder eine konkrete gemeinsame Maßnahme zu verabschieden.119 Nach Kohler-Koch lässt sich über die Vertretung von Interessen allgemein sagen, dass Interessenvertretung bei den Adressaten desto mehr Durchschlagskraft 114 Maurer/ Parkes formulieren: „Actors’ capacity to actively steer a policy-image also depends in part upon their institutional position. For example, rival actors must refer to dominant actors’ arguments in order to justify their own policy-making preferences“; Maurer/Parkes 2007, S. 99. 115 Wessels 2002, S. 336. 116 Vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 1996, S. 25. 117 Kohler-Koch 1996, S. 205. 118 Lahav/Messina 2005, S. 852. 119 Die EU hat eigentlich fünf Organe. Neben Kommission, Parlament und Rat zählen dazu auch der Europäische Gerichtshof und der Rechnungshof. Diese beiden Organe spielen jedoch im Wettstreit der Interessen über eine künftige gemeinsame Migrationspolitik keine wesentliche Rolle. Auch die beratenden Organe, der Ausschuss der Regionen und der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, werden zwar an späterer Stelle erwähnt, spielen jedoch eine untergeordnete Rolle.
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2 Interessen in einer europäisierten Migrationspolitik
hat, je mehr der folgenden Eigenschaften seitens der Interessengruppen gegeben sind: Die Interessen müssen innerhalb einer Gruppe möglichst weit übereinstimmen und harmonieren, sie müssen dringlich, abgegrenzt und überschaubar sein. Besonders dominante Anliegen sollten erkennbar werden, sie müssen eindeutig identifizierbar und für ihre Verwirklichung von den Akteuren abhängig sein, an die sie sich richten, im Fall des Untersuchungsgegenstands dieser Arbeit also von europäischer Politik.120 Umgekehrt ließe sich sagen, dass sich Interessen dann nur schwer durchsetzen lassen, wenn sie vielgestaltig oder verschwommen, langfristig ausgerichtet und nicht hierarchisch gegliedert sind, sowie wenn sie sich nicht an bestimmte Adressaten wenden, oder aber an Adressaten, die keinen nennenswerten Einfluss auf die Durchsetzung der Interessen ausüben. Auf diese wichtigen Kriterien wird in Kapitel 6, in dem die Interessen der EU-Mitgliedstaaten hinsichtlich des Grünbuchs der Kommission über „Wirtschaftsmigration“ untersucht werden, erneut eingegangen. Während also seitens der Interessenvertretung bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen, spielen auch die Adressaten und deren Funktionsweise eine wesentliche Rolle. Die Entwicklung und Vertiefung der Europäischen Union hat dazu geführt, dass sich gesellschaftliche Interessengruppen, etwa Industrieverbände oder die Arbeitsmarktpartner, nicht mehr nur an die Regierung ihrer jeweiligen Nationalstaaten richten, wenn sie ein bestimmtes Interesse durchsetzen wollen, sondern zunehmend auch an die europäischen Institutionen Rat, Kommission und Parlament, die ihrerseits in Verhandlungen untereinander über die Ausgestaltung der gemeinsamen Politik Interessen vertreten.121 Die Verfasstheit und politische Rolle dieser drei Organe hat sich im Lauf der Geschichte der Europäischen Union stark verändert, was sich wiederum auf ihr jeweiliges Gewicht im Wettstreit der Interessen ausgewirkt hat. 2.2.3
Das politische System der EU und der Wettstreit von Interessen
Als Adressaten und Vertreter von Interessen unterscheiden sich die EU-Organe in vielerlei Hinsicht von nationalen politischen Akteuren: Die EU ist ein „dynamisches System, dessen Verfassungsstruktur sich im Laufe der Zeit erheblich wandelt“122 , und zwar häufiger und grundlegender, als dies in den einzelnen Mitgliedstaaten der Fall ist. Sowohl die Entscheidungsinstitutionen, als auch deren politische Rollenverteilung und die Politikfelder, mit denen sie sich beschäftigen, verändern sich – etwa durch Erweiterung oder Veränderung der grundlegenden Verträge, oder aufgrund des Eigeninteresses der Akteure, die – wie das schon erwähnte Principal-AgentVgl. Kohler-Koch 1996, S. 194. Vgl. Kohler Koch 1996, S. 197f.; Sandholtz 1996, S. 421f. 122 Kohler-Koch 1996, S. 197. 120 121
2.2 Der Wettstreit politischer Interessen in der EU
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Modell nahe legt – ihre Rolle innerhalb des Systems stärken wollen. Zudem gelten je nachdem, welche politischen Fragen behandelt werden, unterschiedliche Entscheidungsprozeduren.123 Es wurde bereits beschrieben, dass das Parlament in manchen Bereichen der Migrationspolitik lediglich das Recht hat, angehört (konsultiert) zu werden, während es in anderen Bereichen über das Verfahren der „Mitentscheidung“ am Gesetzgebungsprozess beteiligt ist. Wallace stellt hierzu fest: „Sowohl aufgrund der Wirkungen formaler Regeln in den Verträgen als auch durch die Erfahrungen der Praxis schloß der Integrationsprozess immer auch ein stetiges Ausprobieren von Institutionen und institutionellen Beziehungen mit ein. Diese Kombination von Faktoren umfasst sowohl eine Dynamik als auch eine gewisse Veränderbarkeit, die institutionelle Anpassung erst erlaubt und die Beteiligten geradezu angespornt hat, die Belastbarkeit ihrer Institutionen zu testen.“124
Das EU-System verfügt weder über eine klare Gewaltenteilung noch sind die Kompetenzen zwischen der europäischen und der mitgliedstaatlichen Ebene klar abgegrenzt. Die Gemeinschaftsinstitutionen stehen aufgrund der Dynamik und Veränderlichkeit in Konkurrenz zueinander.125 Dies führt dazu, dass in der europäischen Politik nicht immer vorab klar ist, welche Institution im Wettstreit um die Durchsetzung eines bestimmten Interesses „siegt“, also ob beispielsweise der Rat die größere Gestaltungsmacht besitzt, ob die Kommission mit legislativen Initiativen den Wettstreit um die politischen Ziele am deutlichsten prägt, oder ob mittlerweile auch das Parlament eine wichtige Rolle einnimmt. Dies hat auch Auswirkungen auf die Herausbildung, Artikulation und den Wettstreit der Interessen. Maurer und Parkes etwa stellen fest: „(...) institutional change can alter the way that dominant actors draw up the policy-image“.126 Pollack zufolge liegt die Unsicherheit darüber, welcher EU-Akteur die größte Gestaltungsmacht besitzt und insofern den Wettstreit der Interessen besonders stark prägt, neben den unterschiedlichen Entscheidungsstrukturen und der Dynamik des EU-Institutionengefüges auch an einem generellen Problem der Delegation von nationalstaatlichen Kompetenzen an über- bzw. zwischenstaatliche „Agents“: Wie im Abschnitt über die Triebfedern des Europäisierungsprozesses bereits angesprochen wurde, werden Agenten von nationalen Regierungen (Pollack nennt sie „Principals“) ins Leben gerufen, um Transaktionskosten zu sparen oder Ziele zu erreichen, die durch nationalstaatliche Politik nicht realisierbar sind. Wenn es die Agenten aber erst einmal gibt, tendieren sie dazu, ein „Eigenleben“ zu entwickeln: Sie können ihre eigenen Interessen entwickeln und vertreten und richten sich dann nur noch in dem Maße nach Vorgaben der Principals, wie es diese – beispielsweise Kohler-Koch 1996, S. 210. Wallace 1996, S. 143. 125 Vgl. Wallace 1996, S. 143f. 126 Maurer/Parkes 2007, S. 99. 123 124
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2 Interessen in einer europäisierten Migrationspolitik
über Sanktionsmöglichkeiten – absolut erfordern. Pollack spricht in diesem Zusammenhang von „agency costs“ und „agency losses“.127 Damit ist gemeint, dass Agenten den Principals zwar helfen, bestimmte Ziele zu erreichen, dass die Delegation aber immer auch mit Macht- bzw. Kontrollverlusten einhergehen kann. Pollack erklärt dieses Phänomen so: „There is almost always some conflict between the interests of those who delegate authority (principals) and the agents to whom they delegate it. (...) „In any principal-agent relationship, the agent is likely to have more information about itself than others have, making control or even evaluation by the principal difficult.“128
Auf die EU angewandt lässt sich aus dieser Vorstellung beispielsweise folgern, dass die Kommission den Nationalstaaten zwar hilft, bestimmte Politiken umzusetzen, die sie jeweils für sich im nationalen Rahmen nicht erreichen könnten. Der Preis dafür ist jedoch, dass die Kommission eine gewisse Selbstständigkeit entwickelt hat und manchmal Interessen vertritt, die den Interessen bestimmter Mitgliedstaaten entgegenstehen. Helen Wallace bestätigt diese These indirekt: „Die Kommission war stets bestrebt, mehr politische Glaubwürdigkeit und einen größeren politischen Einflussraum zu gewinnen. Sie entwickelte sich zu einem komplexen Organ und errichtete eine Vielzahl von direkten Beziehungen vor allem zu den Adressaten ihrer Politik, zu Experten und zu Gesprächspartnern in den Mitgliedstaaten (...) Um die Kommission herum bildeten sich Wissensgemeinschaften, die neue politische Ideen erzeugten.“129
Beispiele für die Loslösung der Kommissionsinteressen von den Interessen der Mitgliedstaaten sind die weiter unten in dieser Arbeit beschriebenen Verhandlungen über eine gemeinsame Richtlinie zur Familienzusammenführung oder über den ersten Kommissionsvorschlag für gemeinsame Regeln für Arbeitsmigration 2001 aus Drittstaaten. Es wurde deutlich, dass die Interessen der Kommission hinsichtlich des Grades der Harmonisierung, also der Frage, wie stark die Richtlinie ins nationale Recht der Mitgliedstaaten eingreifen sollte, wesentlich weiter gingen, als die Mitgliedstaaten zu akzeptieren bereit waren. Da sich das Harmonisierungs- und Europäisierungsinteresse der Kommission im Rat nicht durchsetzen ließ, musste sie ihren ursprünglichen Richtlinienvorschlag mehrfach ändern und abschwächen. Der Rat erwies sich in diesem Fall als „Rückversicherung“ für die Staaten130 , mit der sie ihre nationalstaatlichen Interessen gegenüber der integrationseuphorischeren Kommission wahren konnten. Der Rat und seine Rolle im politischen System der EU stellt somit den Versuch dar, die Kommission „einer dauerhaften und detaillier-
Pollack 1997, S. 108-110; siehe auch Hix 2005, S. 29. Pollack 1997, S. 108. 129 Wallace 1996, S. 148f. 130 Wallace 1996, S. 147. 127 128
2.2 Der Wettstreit politischer Interessen in der EU
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ten Überwachung (durch die Mitgliedstaaten) zu unterwerfen“131 und „agency losses“ zu begrenzen. Ein wesentlicher Einflussfaktor der Kommission ist jedoch, dass sie durch ihre Kompetenz, legislative Maßnahmen vorzuschlagen, die Macht des „agenda setting“ besitzt. Sie ist zwar an Weisungen der Mitgliedstaaten gebunden, die bei Gipfeltreffen die grundsätzliche Ausrichtung der gemeinsamen Politik bestimmen, hat jedoch die Möglichkeit, die Tagesordnung der anderen EU-Organe über die Vorlage von politischen Vorschlägen, die Organisation von Konsultationen oder die Anhörung von Experten zeitlich und inhaltlich zu steuern. Besonders wirksam wird dieser Machtfaktor, wenn die Kommission dem Rat Maßnahmen vorschlägt, die dieser leichter annehmen als ablehnen kann. So kann sie politische Entscheidungen auch dann beeinflussen, wenn die eigentliche Entscheidungsmacht nicht bei ihr selbst liegt.132 Pollack hat darauf hingewiesen, dass die Kommission größeren Einfluss besitzt, wenn der Rat Mehrheitsentscheidungen trifft, als wenn Einstimmigkeit gefordert ist. Bei Verfahren, in denen Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit gefällt werden, kann sie die unterschiedlichen Haltungen und Präferenzen der nationalen Delegationen im Rat antizipieren, Uneinigkeiten ausnutzen und versuchen, ihre Vorschläge so zu gestalten, dass sie sich leichter durchsetzen lassen. Das Einstimmigkeitsprinzip, das unter anderem für Fragen der Arbeitsmigration nach wie vor gilt, während es im Bereich der Asyl- und Flüchtlingspolitik durch Mehrheitsentscheidungen ersetzt wurde, ermöglicht der Kommission weniger Spielräume. Es erlaubt dem Rat insofern eine stärkere Kontrolle über mögliche „Eigeninteressen“ der Kommission.133 Daneben vermag die Kommission aber auch, die gemeinsame Politik zu strukturieren, in dem sie beispielsweise aus einer allgemein formulierten Forderung der EU-Staats- und Regierungschefs (zum Beispiel der Forderung, ein „umfassendes Migrationskonzept“ zu entwickeln) mehrere Legislativvorschläge entwickelt (zum Beispiel hinsichtlich der Bekämpfung der illegalen Einwanderung, einer gemeinsamen Politik für die Rückführung abgelehnter Asylsuchender oder der Schaffung gemeinsamer Regeln für Arbeitsmigration aus Drittstaaten in die EU). Diese Vorschläge (etwa Entwürfe für Richtlinien oder Verordnungen) werden dann den anderen Akteuren zur Kompromissfindung und Entscheidung vorgelegt. Je nachdem, wie gut es der Kommission gelingt, Gesetzesvorhaben an die Machtstrukturen im Rat und an die Präferenzen der Staaten und des Parlaments anzupassen, kann sie die Annahme gemeinsamer Maßnahmen und damit den Europäisierungsprozess beschleunigen oder bremsen. Neben der Kommission ist auch das Europäische Parlament nach einer anfangs eher dekorativen Funktion zu einem immer eigenständigeren Akteur geworWallace 1996, S. 152. Vgl. Pollack 1997, S. 121. 133 Vgl. Pollack 1997, S. 106. 131 132
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den, der versucht, sich von den Principals (den Staaten) zu lösen, mehr Einfluss zu bekommen und eigene Interessen durchzusetzen. Er schaltet sich zunehmend direkt in den institutionellen Prozess ein. In der Migrationspolitik hat das Parlament ähnlich wie die Kommission mehrfach Vergemeinschaftungsschritte gefordert, die den Mitgliedstaaten zu weit gingen, oder – etwa in der Asyl- oder der Rückkehrpolitik – menschenrechtliche Garantien gefordert, die dem Sicherheits- und Abwehrinteresse mancher Mitgliedstaaten entgegenstanden. Mit der Einführung des Mitentscheidungsverfahrens durch den Maastrichter Vertrag hat das Parlament auch Möglichkeiten bekommen, sowohl die Tagesordnung als auch die politischen Entscheidungen zu beeinflussen, da es in diesem Verfahren nicht mehr nur konsultiert wird, sondern berechtigt ist, Legislativvorschläge abzuändern.134 Die Frage, ob in einem bestimmten Politikbereich das Mitentscheidungsverfahren angewandt wird, oder ob das Parlament lediglich konsultiert wird, kann sich also sehr stark auf den Wettstreit der Interessen auswirken. Der gestiegene Einfluss der Kommission und des Parlaments bestätigt klar die Auffassung von Sandholz, der zufolge die überstaatlichen Organe der EU nicht nur ein Forum für Verhandlungen unter den Mitgliedstaaten sind und eine Infrastruktur für Kompromisse darstellen, sondern eigenständige Akteure („players“) werden, „partially autonomous political actors“.135 In der politikwissenschaftlichen Literatur wird von Kommission und Parlament aufgrund ihrer gestiegenen Gestaltungsmacht auch als „policy entrepreneurs“ gesprochen.136 2.2.4
Eigenschaften der EU-Organe bei der Interessenvertretung
Der politikwissenschaftlichen Literatur ist zu entnehmen, dass sich die Kommission im Wettstreit der Interessen zwischen den einzelnen EU-Organen in der Regel antiideologisch verhält und sich in ihrem Werben für ein politisches Ziel, wie KohlerKoch meint, auf die „Kraft des Sacharguments“137 verlässt. In der Tat wird auch in dieser Arbeit festgestellt, dass die Kommission zur Begründung politischer Vorschläge häufig auf Ergebnisse von Studien, Erfahrungen aus früheren Phasen der europäischen Integration oder aus anderen Politikfeldern verweist oder auf Beschlüsse des Rates und Forderungen der Mitgliedstaaten Bezug nimmt. Auch hat sie manchmal bewusst eine Kompromissposition zwischen Sicherheits- und AbwehrinVgl. Pollack 1997, S. 124; Kohler-Koch et al. 2004, S. 128ff. Sandholtz 1996, S. 405. 136 Vgl. Faber 2005, S. 219. 137 Kohler-Koch 1996, S. 205: „Das Routinegeschehen in Brüssel ist nach landläufiger Auffassung technokratische Politik. Davon ist das Selbstverständnis der Akteure und die allgemeine Auffassung darüber, in welcher Art und Weise die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Auffassungen zu führen ist, geprägt. Legitimes Instrument zur Durchsetzung eigener Positionen ist die sachlich geführte Kontroverse; im Idealfall soll nur die Kraft des Sacharguments gelten.“ 134 135
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teressen der Staaten und Forderungen nach menschenrechtlichen Garantien des Parlaments eingenommen. Ihrer Definition nach soll sich die Kommission an einem gemeinsamen europäischen Interesse orientieren, also vorschlagen, was im Interesse aller (oder möglichst vieler) Mitgliedstaaten liegt.138 Diese spezifische Rolle legt ein meist sachliches, zielorientiertes Auftreten nahe und unterscheidet die Kommission vom Rat beziehungsweise von den Mitgliedstaaten. Diese können auch ohne Hinweise auf Studien, wissenschaftliche Begründungen oder frühere Beschlüsse Interessen vertreten, etwa auf Basis eines „nationalen Interesses“. Durch eine bewusst technokratische Herangehensweise versucht die Kommission aber auch, ihren Interessen gegenüber denen der nationalen Regierungen größere Legitimität zu verleihen. Regierungen sind stärker als die Kommission von ihrer Popularität abhängig, da sie sich den Bürgern gegenüber bei Wahlen verantworten müssen. Einschränkend muss jedoch hinzugefügt werden, dass auch die Kommission hinsichtlich von Interessen nicht in einem „luftleeren Raum“ agiert. Neben reinem Sachwissen orientiert sie sich auch an institutionalisierten Interessen, etwa dem EUCredo des freien Marktes und des freien Wettbewerbs oder der bereits institutionalisierten Sichtweise, dass illegale Formen der Einwanderung zu bekämpfen seien. Technokratisch und anti-ideologisch agiert die Kommission also nur innerhalb einer bestehenden und gefestigten Ideologie. Zudem können auch in der Kommission politische Färbungen eine Rolle spielen. Die einzelnen Generaldirektionen innerhalb der Kommission, im Migrationsbereich die „Generaldirektion Justiz, Freiheit und Sicherheit“, sind zwar jeweils relativ autonom, werden jedoch von politisch benannten Kommissaren geleitet.139 Beschlüsse fasst die Kommission als Kollektiv. Eine Zeit lang wurden die Kommission und das Europäische Parlament als Verbündete betrachtet; das Parlament wurde wie die Kommission als Repräsentant eines „europäischen Gemeinschaftsinteresses“ gesehen, dem daran liegt, seine Rolle gegenüber der des Rates, der die unterschiedlichen Interessen der heute 27 Mitgliedstaaten widerspiegelt, zu stärken. Diese Partnerschaft muss inzwischen aber in Frage gestellt werden. Die Kommission setzt seit Jahren stark darauf, sich ein eigenes, die Nationalstaaten übergreifendes Netzwerk von Experten und Interessengruppen zu schaffen, das ihr eine stärkere Legitimationsbasis gegenüber dem Rat ermöglichen soll. Sie leistete immer wieder finanzielle und organisatorische Hilfe zum Aufbau europäischer Verbandszusammenschlüsse und „Think Tanks“, die oft einen privilegierten Zugang zu Kommissionsvertretern haben.140 Im Bereich der Migrationspolitik verfügt die Kommission heute über Zugang zu teilweise formalisierte, teilweise informelle Netzwerke von Experten aus den Mitgliedstaaten, etwa
Vgl. Kohler-Koch 1996, S. 202 Vgl. Wessels 2002, S. 338. 140 Etwa das „Centre for European Policy Studies“ (CEPS) oder das „European Policy Centre“ (EPC) in Brüssel; vgl. Wessels/Schäfer 2007. 138 139
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„Eurasil“ oder das Europäische Migrationsnetzwerk (EMN).141 Der Rückgriff auf europäische Interessengruppen hilft der Brüsseler Behörde so, ihre „europäischen Interessen“ gegenüber dem Rat zu verteidigen. Auch wenn das Parlament immer wieder versucht hat, sich ähnlich wie die Kommission als Motor der Integration ins Spiel zu bringen, und wenn beide Organe von daher als verbündet wahrgenommen wurden, hat sich zwischen Parlament und Kommission in den vergangenen Jahren auch eine Rivalität ergeben. Während die Kommission von nicht direkt gewählten Beamten und ernannten Kommissaren geführt wird, sieht sich das Parlament aufgrund seiner direkten Wahl als das eigentliche politische Repräsentationsorgan der Völker oder „des Volkes“ der EU, pocht deswegen schon lange auf verstärkte Kompetenzen und hat diese im Rahmen der letzten Verträge auch schrittweise erreicht.142 So wurde die Kommission aus ihrer alten Position als Vermittlerin zwischen den Organen schrittweise verdrängt. Bei Dissens zwischen Rat und Parlament in Fragen, in denen das „Mitentscheidungsverfahren“ greift, wird heute in vielen Politikbereichen direkt in einem Vermittlungsausschuss der beiden Organe verhandelt – die Kommission wird dabei kaum mehr benötigt.143 Zudem hat das Parlament versucht, mit der Benennung von „Berichterstattern“ aus den Reihen der Abgeordneten, die sich intensiv in bestimmte Materien einarbeiten und dabei jeweils auf eigene parlamentarische Mitarbeiter und Experten in den parteipolitischen Fraktio141 Eurasil („European Union Network of Asylum Practitioners“) ist ein Netzwerk für Behördenmitarbeiter und andere Praktiker im Bereich Asyl- und Flüchtlingspolitik. Es wurde von der Kommission ins Leben gerufen und besteht seit 2003. Zu den sechs bis achtmal pro Jahr stattfindenden Sitzungen in Brüssel werden Vertreter der 27 EU-Mitgliedstaaten sowie Norwegens, Islands und der Schweiz eingeladen. Zusätzlich nehmen mitunter auch Vertreter des UNHCR, von IOM oder anderen internationalen Organisationen teil. Eurasil intensiviert den Erfahrungsaustausch unter den Praktikern durch thematische Workshops zu bestimmten Herkunftsländern von Asylbewerbern oder bestimmten Gruppen, etwa traumatisierten Flüchtlingen oder unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden. Hauptziel ist es dabei, größere Konvergenz in der Asylpraxis der Mitgliedstaaten zu erreichen. Daneben ermöglicht es Eurasil der EU-Kommission aber auch, Einblicke in die praktischen Probleme im Bereich Asyl in den Migliedstaaten zu bekommen. Das Europäische Migrationsnetzwerk (EMN) dient ebenfalls dem Ziel eines besseren Informationsaustauschs zwischen Kommission und EU-Mitgliedstaaten sowie unter den Mitgliedstaaten. Im Rahmen des EMN erarbeiten Mitarbeiter so genannter „nationaler EMN-Kontaktpunkte“ in den Mitgliedstaaten regelmäßige Berichte sowie fachspezifische Studien zu verschiedenen Themen im Bereich Migration, Asyl und Integration. Die Studien und Berichte werden von allen Kontaktpunkten anhand einer einheitlichen Gliederung erstellt, so dass eine maximale Vergleichbarkeit der Ergebnisse erreicht werden kann. Die Kommission nutzt die Arbeiten des EMN unter anderem zur Vorbereitung von Rechtsakten. Zur Bedeutung des EMN siehe beispielsweise Boswell 2008. 142 Obwohl das Parlament als Repräsentationsorgan der Völker gilt, hat es Wallace zufolge selten spezifisch „nationale Interessen“ vertreten; vgl. Wallace 1996, S. 158. Hix und Noury haben in einer Analyse des Abstimmungsverhaltens der Abgeordneten bei Abstimmungen über migrationspolitische Vorschlage herausgefunden, dass die Parlamentarier eher anhand ideologischen Überzeugungen (links/rechts) votieren, als anhand ökonomischer oder politischer Präferenzen der Nationalstaaten, aus denen sie kommen. Vgl. Hix/Noury 2007. 143 Vgl. Tömmel 2006, S. 71 und 91f.
2.2 Der Wettstreit politischer Interessen in der EU
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nen zurückgreifen können, einen gewissen Mangel an technischem Spezialwissen gegenüber der Kommission und ihren auf bestimmte Sachgebiete spezialisierten Beamten aufzuholen.144 Inzwischen ist das Parlament sogar an der Ernennung der EU-Kommissare beteiligt und stellt damit unter Beweis, nicht länger nur die Rolle eines „demokratischen Alibis“ der EU spielen zu wollen. Es vertritt selbstbewusster seine Interessen, als früher. Das in vielen Bereichen der EU-Politik zum Einsatz kommende „Mitentscheidungsverfahren“, dem zufolge sowohl der Ministerrat als auch das Parlament einem Legislativvorschlag zustimmen müssen, damit er zu geltendem Recht wird, hat dazu geführt, dass das EU-System mittlerweile den politischen Macht- und Entscheidungsstrukturen in manchen Mitgliedstaaten ähnelt. Die Kommission hätte dieser Vorstellung zufolge die Funktion einer Regierung, und das Parlament und der Ministerrat entsprächen zusammen einem Parlament mit zwei Kammern, die beide an der Verabschiedung von Gesetzen beteiligt sind. 2.2.5
Organisierte Interessenvertretung und „Lobbies“
Die Interessenvertretung, oder der „Lobbyismus“ gesellschaftlicher Gruppen gegenüber den politischen Institutionen der EU, um die es in dieser Arbeit nur am Rande geht, ist in einigen Politikfeldern, etwa Binnenmarkt, Industriepolitik oder Landwirtschaft, sehr stark ausgeprägt. Interessengruppen agieren hier zielgerichtet auf die jeweils entscheidenden Akteure hin und verwenden unterschiedliche Strategien, um sie zu beeinflussen und ihre Belange durchzusetzen.145 Lobbyismus kommt zwar in allen Politikfeldern der EU vor und hat oft entscheidende Auswirkungen auf das Zustandekommen von Beschlüssen.146 Im Feld der Migrationspolitik gibt es bislang jedoch weniger Druck seitens organisierter, nicht-staatlicher Interessen, als in anderen Politikfeldern.147 Dies liegt zum einen daran, dass Markt- und Wirtschaftsfragen schon sehr früh Kernbestandteile europäischer Politik waren, Interessengruppen also jahrelang Zeit hatten, ihre Strategien auf die neuen Akteure hin anzupassen, während andere Felder erst später hinzukamen, so dass sich mögliche Interessengruppen erst noch auf die europäischen Adressaten hin formieren müssen.148 Zum anderen liegt die weitgehende Abwesenheit von Lobbies in der Migrationspolitik (auch auf nationaler Ebene) auch daran, dass die Zielgruppen dieser Politik, also die Migranten, die in die EU einreisen wollen, kaum Möglichkeiten haben, hinsichtlich ihrer Einreise gemeinsame Interessen zu formulieren und gelVgl. Kohler-Koch 1996, S. 200f. Vgl. von Alemann 2000, S. 142-145; Koeppl 2001; Michalowitz 2007. 146 Vgl. Koeppl 2001, S. 69. 147 Vgl. Maas 2008, S. 34f. 148 Vgl. Kohler-Koch 1996, S. 197f. 144 145
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2 Interessen in einer europäisierten Migrationspolitik
tend zu machen. Gelingt ihnen die Immigration in die EU und die Niederlassung in einem Mitgliedstaat, so können sprachliche, ökonomische und eine Vielzahl anderer Barrieren einer Interessenvertretung entgegenstehen. Eine organisierte Interessenvertretung, wie etwa seitens von Industrie-, Verbraucher- oder landwirtschaftlichen Verbänden, ist deshalb im Bereich der Migrationspolitik bisher kaum zu beobachten. Hinzu kommt, dass außer moralischen Druckmitteln, etwa öffentlichkeitswirksamen Hinweisen auf Menschenrechtsverstöße bei der Behandlung von Asylbewerbern, wenig Druckmittel und Sanktionsmöglichkeiten vorhanden sind. Wenn es eine Interessenvertretung im Bereich der Migrationspolitik gibt, so erfolgt sie also stellvertretend, beispielsweise seitens Menschenrechtsverbänden, internationalen Organisationen oder nationalen Nichtregierungsorganisationen, etwa dem UNHCR, dem Europäischen Flüchtlingsrat, Amnesty International, Statewatch, PRO ASYL, Kirchen oder Wohlfahrtsverbänden. Obwohl damit wesentliche Unterschiede zur Interessenvertretung in anderen Politikbereichen der Europäischen Union zu Tage treten, insofern als die EUOrgane in der Migrationspolitik Interessen vertreten, die weit weniger als in anderen Politikfeldern von den Zielgruppen der gemeinsamen Politik an sie herangetragen werden, ist dennoch klar, dass auch in der Migrationspolitik Interessen eine wesentliche Rolle spielen. Es sind sogar äußerst viele und vielgestaltige Interessen erkennbar. Wirtschafts- und Industrieverbände oder auch einzelne Branchen können ein Interesse daran haben, Zugriff auf ausländische Arbeitskräfte zu bekommen und dieses Bedürfnis nationalen Regierungen oder den europäischen Institutionen gegenüber vortragen149 ; Staaten selbst können ein Interesse an Einwanderung haben, beispielsweise um eine Alterung ihrer Bevölkerung durch neue Zuwanderung auszugleichen; sie können umgekehrt ein Interesse daran haben, Einwanderung zu begrenzen, etwa weil es in der Bevölkerung Vorbehalte dagegen gibt oder nicht ausreichend Arbeitsplätze für Neuzuwanderer zur Verfügung stehen; die Bevölkerung eines Staates kann – meist diffus – ein Interesse an einem Einwanderungsstopp haben, weil „Überfremdung“ oder ein Verlust der einheimischen Kultur befürchtet wird; Menschenrechtler können Interesse daran formulieren, Menschen, die auf der Suche nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen ihr Herkunftsland verlassen, eine Einreise nach Europa zu ermöglichen.
149
Vgl. Geddes et al. 2004.
2.3 Interessen in der Migrationspolitik
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2.3 Interessen in der Migrationspolitik 2.3.1
Kontrolle, Abwehr unerwünschter Migranten und Sicherheitsinteressen
Den gemeinsamen, europäischen Maßnahmen im Bereich der Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie der „illegalen Migration“, auf die sich die Akteure in den Neunzigerjahren und in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts bereits einigten, von gemeinsamen „Mindestnormen“ für die Anerkennung von Asylsuchenden über den Abschluss gemeinsamer Rückführungsabkommen mit Drittstaaten bis hin zu einer intensiveren Sicherung der Außengrenzen, wird von Menschenrechtsorganisationen, aber auch in der Wissenschaft, häufig eine „repressive Schlagseite“150 vorgeworfen. Auch wurde die EU als „Festung Europa“151 beschrieben: Es wird argumentiert, die gemeinsamen Maßnahmen richteten sich ausschließlich auf die Abwehr unerwünschter Migranten, höhlten das Menschenrecht auf Asyl aus und beschädigten internationale Normen des Flüchtlingsschutzes. Regina Römhild hat das Problem wie folgt umschrieben: „Wer heute vor Armut Verfolgung und Krieg flieht, findet kaum noch einen legalen Weg nach Europa. Dafür haben die drastischen Einschränkungen des Asylrechts und die ‚Harmonisierung’ der nationalen Grenzpolitiken in den Mitglied- und Anrainerstaaten der EU gesorgt. Was bleibt, sind riskante, inoffizielle Wege, die die Prekarität eines ‚illegalen’ Lebens jenseits der Grenze in Kauf nehmen. (...) tatsächlich ist der Tod eine tägliche Realität an Europas Grenzen.“152
In den Augen der für die „Festung Europa“ verantwortlichen europäischen Akteure bilden die gemeinsamen Maßnahmen dagegen das legitime Ziel der EU ab, Migrationsbewegungen zu steuern, zu kontrollieren und den Zahlen nach in überschaubarem Rahmen zu halten, wobei international verbriefte Rechte, etwa das in der Genfer Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge verankerte Schutz- und Non-refoulement-Gebot153 respektiert werden sollen. Politik- und Sozialwissenschaftler, die sich mit der gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik beschäftigen, verorten die Politik der Gemeinschaft mitunter in einem Spannungsfeld zwischen dem Streben der EU-Mitgliedstaaten nach innerer Sicherheit und Migrationskontrolle einerseits, sowie menschenrechtlichen ErwäDieser Begriff ist einer Presseerklärung der Organisation PRO ASYL über eine Tagung der Innenund Justizminister in Brüssel vom 30. Mai 2001 entnommen. 151 Der Begriff „Festung Europa“ oder „Fortress Europe“ taucht in zahlreichen Publikationen auf, siehe beispielsweise: Nuscheler 2002, S. 109 und 114; Geddes 2000 im Titel. 152 Römhild 2007, S. 621. 153 Als Non-refoulement-Gebot wird das Prinzip bezeichnet, nach dem ein Staat unter keinen Umständen einen Flüchtling in ein Land zurückweise darf, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht sein würde. Es ist in Artikel 33 des Genfer „Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ (Genfer Konvention) von 1951 enthalten. 150
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2 Interessen in einer europäisierten Migrationspolitik
gungen andererseits, und kamen zu dem Schluss, dass Sicherheits- und Souveränitätsinteressen gegenüber dem Interesse der bestmöglichen Wahrung von Menschenrechten überwiegen. Flüchtlinge und Migranten werden in der gemeinsamen Politik eher als „Sicherheitsrisiken“ denn als „Träger von Rechten“ behandelt. Manche Beobachter haben aufgeschlüsselt, dass sich die Mitgliedstaaten (und der Rat) vor allem an Sicherheit und Kontrolle orientieren, während das Parlament eher die „Menschenrechtsseite“ vertritt, und die Kommission irgendwo zwischen den beiden Polen des Spannungsfeldes Sicherheit – Menschenrechte steht und aus dieser Position heraus versucht, die gemeinsame Politik zu prägen.154 Der Begriff „Sicherheit“ wird in diesem Kontext mitunter nicht nur im engen Sinne, also in Bezug auf Kriminalität oder Grenzschutz, verstanden, sondern so erweitert, dass damit auch Stabilität auf dem Arbeitsmarkt, ein „Sicherheitsgefühl“ der Bürger, ein Schutz der Sozialversicherungssysteme vor starker Inanspruchnahme oder „Missbrauch“ gemeint sein kann. Manche Wissenschaftler haben den Sicherheitsbegriff mit der etwas abstrakteren Vorstellung von staatlicher Souveränität und Territorialität verknüpft. Sie argumentieren, dass Staaten ein Interesse daran haben, souverän agieren zu können, wozu auch gehört, Kontrolle darüber ausüben zu können, wer ihre Grenzen überschreiten darf und wer nicht. Ein Staat, der Migrationsbewegungen nicht kontrollieren kann, wäre nach dieser Auffassung nicht souverän.155 Auch diese Vorstellung von „Souveränität“ lässt sich als Teil des Sicherheitskonzepts verstehen, denn die Frage, wie gut eine Grenze gegen illegale Migrationsströme gesichert ist, kann nicht nur die Souveränität, sondern auch die Sicherheit berühren. Grenzsicherung zu einer gemeinsamen europäischen Frage zu machen, ist somit als Versuch zu verstehen, staatliche Souveränität und Sicherheit aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen.156 Bis zur Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts stand in der Tat im Vordergrund der EU-Zusammenarbeit, den „Wanderungsdruck“ zu reduzieren, die Asylsysteme der Mitgliedstaaten durch gemeinsame Mindestregeln gegen ÜberBeanspruchung und Missbrauch zu schützen und illegale Einwanderung zurückzudrängen. Das Recht auf Asyl und der Schutz von Flüchtlingen sollten dabei gewahrt bleiben, was sich aus Sicht von Menschenrechtsorganisationen wie PRO ASYL jedoch nicht bewahrheitet hat. Wie sich diese Interessen, die zum Teil auf Sicherheit und Abwehr Bezug nehmen, zum Teil auf menschenrechtliche Garantien, in der 154 Lavenex spricht z.B. von einem „securitarian frame“, in dem sich die Interessen der Mitgliedstaaten bewegen, auf der einen Seite, sowie einem stärker auf die Menschenrechte der Asylsuchenden und Flüchtlinge Bezug nehmenden „idealist frame“ des Europäischen Parlaments und der Kommission auf der anderen Seite; vgl. Lavenex 2001, S. 138f. Abiri verwendet ebenfalls den Begriff „securitisation of migration“ und verortet die Behandlung des Problems grenzüberschreitender Migration am Beispiels Schwedens in einem Spannungsfeld zwischen „human rights“ und „security“; vgl. Abiri 2000. 155 Vgl. Lavenex, S. 9. 156 Vgl. Geddes 2003, S. 127.
2.3 Interessen in der Migrationspolitik
73
gemeinsamen Politik der EU-Akteure manifestieren, wird in den ersten Kapiteln des Hauptteils dieser Arbeit überblicksartig dargestellt. Versuche der EU-Kommission, etwa im Juli 2001, neben restriktiven Maßnahmen auch gemeinsame Regeln für legale Migration zu schaffen, also bestimmte Formen von Einwanderung gezielt zu ermöglichen157 , scheiterten aufgrund der Dominanz von Sicherheits- und Kontrollinteressen im Rat, obwohl es aufgrund des EU-Vertrags von Amsterdam eine rechtliche Basis dafür gab und das Parlament, wie in der Einleitung erwähnt, die „Notwendigkeit“ einer gemeinsamen Einwanderungspolitik betonte. 2.3.2
Ökonomische, arbeitsmarktpolitische und demografische Interessen
Etwa seit 2005 zeichnet sich ab, dass der Widerstand der Staaten gegen eine nicht nur auf Abwehr gerichtete Zuwanderungspolitik abnimmt, und dass die Chancen, zumindest bestimmte Aspekte der legalen Migration, darunter die Steuerung der Arbeitsmigration aus Drittstaaten, europäisch zu regeln, steigen. Mit dem „Grünbuch“ der EU-Kommission über „Wirtschaftsmigration“ vom Frühjahr 2005 wurde ein Diskussionsprozess in Gang gesetzt, der den Grundstein für eine gemeinsame Migrationspolitik legen könnte, die sich nicht länger nur mit dem Streben nach „Innerer Sicherheit“ einerseits, sowie mit dem Interesse, Menschenrechte zu berücksichtigen, andererseits, erklären lässt.158 Vielmehr zeichnet sich ab, dass von den verschiedenen Akteuren nun eine Vielzahl weiterer Interessen ins Feld geführt werden. Diese beziehen sich neben engeren oder weiteren Vorstellungen von „Sicherheit“ auch auf die demografische Entwicklung in Europa, auf wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Überlegungen, auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen, auf den Arbeitsmarkt in der EU oder auch auf die Zukunft der Sozialsysteme. Migration wird in der EU – anders als noch in den Neunzigerjahren und bis Anfang dieses Jahrhunderts – nicht mehr nur vor allem als Bedrohung angesehen, sondern – bei „effizienter Verwaltung“ der Migrationsströme – auch als eine Art positiv zu nutzender Standortfaktor und eine Frage der Wirtschaftspolitik. Sie kann beispielsweise einen Beitrag dazu leisten, das Älterwerden der Gesellschaften in Europa zu bremsen. Auch berichten Arbeitgeber über Probleme, auf den jeweiligen einheimischen Arbeitsmärkten in der EU qualifiziertes Personal zu finden und befürworten daher Möglichkeiten, Arbeitskräfte auch im nicht-europäischen Ausland rekrutieren zu können. Einer von der Personaldienstleistungsfirma Manpower durchgeführten Befragung von Unternehmern in 26 Ländern zufolge verzeichnen zwischen 12 und 23 Prozent der Arbeitgeber in der EU einen Mangel an
157 158
KOM(2001) 386 endgültig. Vgl. Guiraudon et al. 2001, S. 107.
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2 Interessen in einer europäisierten Migrationspolitik
qualifiziertem Personal. Der von Manpower festgestellte „Mangel an Talenten“ betrifft dabei je nach Land unterschiedliche Wirtschaftssektoren.159 Auch in einer Schrift des Development Centre der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wird aufgrund arbeitsmarktpolitischer Überlegungen und zur Förderung des Wirtschaftswachstums die Notwendigkeit von Einwanderung betont: „Europe will, on current trends, come to rely ever more on immigrants to balance supply and demand in labour markets, and more generally to fuel economic growth, as spelled out in the European Union’s Lisbon Agenda.160
Während es angesichts der Interessenlage der EU-Akteure, die in den folgenden Kapiteln untersucht wird, wenig wahrscheinlich erscheint, dass an der Abschottung der EU gegenüber unerwünschter Migration (der von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Drittstaatsangehörigen mit nicht nachgefragten Qualifikationen) in naher Zukunft grundsätzliche Veränderungen vorgenommen werden, zeichnet sich mittlerweile ab, dass in der Festung Europa ein paar Fenster geöffnet werden könnten – für Migranten, die Europa zu brauchen meint. Die Interessen, die darauf hindeuten, bilden den Schwerpunkt der hinteren Kapitel des Hauptteils dieser Arbeit. 2.3.3
Migration und Entwicklung
Ein neben ökonomischen, arbeitsmarktpolitischen und demografischen Interessen ebenfalls vergleichsweise neues Interesse, das in den letzten Jahren zunehmend mit internationaler Migration verbunden wird, bezieht sich auf Zusammenhänge zwischen Migration und den Entwicklungschancen von Ländern der Dritten Welt. Die soeben bereits erwähnte Studie der OECD sieht Migration nicht nur als positiv für die Arbeitsmärkte und die Wirtschaft in Europa, sondern auch für die Länder, aus denen Europas Einwanderer kommen:
159 Auf die Frage „Would your organization have hired more permanent professional staff over the past 6 months if it could have found more candidates with the right skills?“ antworteten 12 Prozent der Arbeitgeber in Frankreich mit „yes“, in den Niederlanden 13 Prozent, in Belgien 15, in Deutschland und Schweden 16, in Irland 17, in Italien 18 und in Österreich, Großbritannien und Spanien 23 Prozent. In Deutschland betrifft der beklagte Mangel an qualifiziertem Personal hauptsächlich Arbeitgeber in der Bauwirtschaft, der verarbeitenden Industrie und im Bereich Transport, Lagerung und „Communication“. In Frankreich sind vor allem die Bereiche „Mining and Quarrying“ sowie „Finance, Insurance, Real Estate & Business Services“ betroffen, und in Schweden die Sektoren „Mining and Quarrying“, „Restaurants and Hotels“ sowie „Manufacturing“ und „Construction“; vgl. Manpower Professional 2006. (Die Befragungen wurden im August 2006 durchgeführt.) 160 Dayton-Johnson et al. 2007, S. 11.
2.3 Interessen in der Migrationspolitik
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„International migration to Europe likewise has the potential to promote economic development in the migrants’ countries of origin, thereby serving European countries’ development cooperation objectives as well.“161
Ähnlich äußern sich die Staats- und Regierungschefs der EU in einem Papier vom Juli 2006: „The European Union is paying increased attention to the interrelationship between migration and development and considers migration both an integral part of the development agenda and the development aspects an important element in migration policies. (...) migration, when managed effectively, can have a substantial positive impact both for the country of destination and for the country of origin.“162
Diese Formulierung weist darauf hin, dass die politischen Akteure Migrationspolitik auch als Entwicklungspolitik und Teil der Nord-Süd-Beziehungen der EU begreifen. Dabei wird in Betracht gezogen, dass Geldüberweisungen von Einwanderern in Europa an Familienangehörige in ihren Herkunftsländern für diese Länder eine wichtige Devisenquelle sein können.163 Auch wird diskutiert, „temporäre“ oder „zirkuläre“ Migration zu fördern, die es ermöglichen kann, dass Entwicklungsländer von den Erfahrungen und Qualifikationen profitieren, die sich Auswanderer in Europa erwerben.164 Zudem könnten transnationale Unternehmernetzwerke entstehen, die sowohl den Volkswirtschaften im Norden als auch denen im Süden nutzen können. Forscher meinen, dass im Idealfall eine „Win-win-win-Situation“ kreiert werden könnte: Europa profitiert von der Arbeitskraft der einwandernden Arbeitsmigranten, die Entwicklungsländer von den Rücküberweisungen der Wanderer und von den Qualifikationen und Netzwerken, die sie sich erwerben, und schließlich die Migranten selbst von der Möglichkeit, zwischen zwei oder mehreren Ländern mobil zu sein.165 Da die EU-Akteure auch argumentieren, im Rahmen einer effektiven Bekämpfung der „illegalen Einwanderung“ sei es nötig, die Lebensbedingungen in den Ausgangsräumen von Migranten zu verbessern, etwa durch Entwicklungszusammenarbeit 166 , könnte die neue Hinwendung zu Migrationspolitik als Entwicklungspolitik dazu führen, dass versucht wird, legale Migration letztlich zur Vermeidung illegaler Migration zu nutzen. Gegen eine enge Kopplung von Migration an Entwicklung gibt es unterdessen auch verschiedene Einwände, unter anderem hinsichtlich der BraindrainEbenda. Council of the European Union, Preparation of the United Nations’ High Level Dialogue on International Migration and Development, (New York, 14-15 September 2006) - EU Position. Vgl. auch Ziai 2007. 163 Vgl. Thränhardt 2005, S. 6f.; Ziai 2007, S. 611; de Haas 2006, S. 2; Castles 2007; Vertovec 2007, S. 2. 164 Vgl. KOM(2007) 248 endgültig. 165 Vgl. Vertovec 2007, S. 7. 166 Vgl. Europäischer Rat (Tampere), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 15. und 16. Oktober 1999. 161 162
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2 Interessen in einer europäisierten Migrationspolitik
Problematik. Hierauf wird weiter unten, im Abschnitt über „Mobilitätspartnerschaften“ und „zirkuläre Migration“ sowie im „Ausblick“ am Ende dieser Arbeit, zurückgekommen.
3 Interessen bis zum Vertrag von Amsterdam und dem Gipfel in Tampere
Die folgenden Kapitel sollen einen Überblick über die Interessenlagen der EUAkteure während der ersten Stufen der gemeinsamen europäischen Migrationspolitik und bis ungefähr Januar 2005 geben, als mit dem bereits erwähnten „Grünbuch“ der EU-Kommission zur Wirtschaftsmigration eine neue Phase, ein neuer Versuch zur Entwicklung einer europäischen Politik zur Regelung der Arbeitsmigration aus Drittstaaten, eingeläutet wurde. Diese Kapitel behandeln anfangs größtenteils Fragen der Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie der „illegalen Migration“. Versuche, gemeinsame Ziele und Strategien zum Umgang mit diesen Aspekten der internationalen, grenzüberschreitenden Migration zu entwickeln, standen bis etwa 2005 im Vordergrund der EUMigrationspolitik. Wie zu zeigen ist, kommen immer wieder aber auch in diesen frühen Stufen bereits Interessen hinsichtlich einer Regelung von Migration im Allgemeinen, sowie von Arbeitsmigration im Besonderen, ins Spiel. Es ist wichtig, die Entwicklung dieser Interessen in ihren wesentlichsten Zügen nachzuzeichnen, da der normative Rahmen, in dem später intensiv über eine gemeinsame Politik für Arbeitsmigration verhandelt wird, mit diesen „frühen Stufen“ zusammenhängt und darauf aufbaut. Die nachfolgende Darstellung soll somit auf die spätere Entwicklung einer gemeinsamen Politik zur Arbeitsmigration, wie sie die EU-Kommission im Januar 2005 ankündigte, hinführen. 3.1 Die Anfänge einer europäischen Migrationspolitik Von Anfang der Geschichte der Europäischen Integration an bildeten Migrationsfragen einen wichtigen Gegenstand der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der damaligen Europäischen Gemeinschaften (EG), auch wenn anfangs weniger von „Migration“, als vielmehr vom „freien Personenverkehr“ innerhalb der EG gesprochen wurde, der zusammen mit der Freizügigkeit für Waren, Kapital und Dienstleistungen eines der Grundprinzipien des späteren Binnenmarkts bildete. Es ging also vornehmlich um die „interne Dimension“ der Migrationspolitik der EU. Der freie Personenverkehr bezog sich anfangs nur auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Staatsbürger der Mitgliedstaaten waren, sowie seit den Siebziger-
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3 Interessen bis zum Vertrag von Amsterdam und dem Gipfel in Tampere
jahren auch auf nicht erwerbstätige EG-Bürger.167 Drittstaatsangehörige, die ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat genießen, wurden erst später berücksichtigt. Im Rahmen des freien Personenverkehrs sollten die Betroffenen das Recht erhalten, sich über die Grenzen hinweg in andere Mitgliedstaaten zu bewegen, dort zu arbeiten und sich niederzulassen. Die Realisierung dieses Ziels wurde als eine wesentliche Voraussetzung für die Europäische Einigung und die wirtschaftliche Entwicklung in Europa angesehen.168 Auch heute noch ist die Frage, in welchem Umfang „alte“ Mitgliedstaaten bei Erweiterungen den Bürgern „neuer“ Mitgliedstaaten Freizügigkeit einräumen, ein „Gradmesser“ für den Fortschritt des Europäischen Zusammenwachsens. Nach der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedstaaten in die EU am ersten Mai 2004 räumten zunächst nur Schweden, das Vereinigte Königreich und Irland Staatsangehörigen der neuen Mitgliedsländer volle Bewegungsfreiheit ein.169 Andere „alte“ Mitgliedstaaten, darunter Spanien und Finnland, folgten 2006 nach; wieder andere, darunter die Bundesrepublik Deutschland und Österreich, erklärten dagegen, die maximale Länge der „Übergangszeit“, in der Restriktionen zulässig sind, voll ausschöpfen zu wollen. Die von den Mitgliedstaaten bei der Frage, ob volle Freizügigkeit gewährt wird, oder nicht, ins Felde geführten Interessen beziehen sich vor allem auf ökonomische Fragen und den Arbeitsmarkt. Während mitunter argumentiert wird, die Realisierung von Freizügigkeit gegenüber Bürgern der neuen Staaten könne Arbeitskräftemangel in bestimmten Wirtschaftssektoren mildern, befürchten andere, dass Bürger aus neuen Mitgliedstaaten mit niedrigeren Löhnen mit einheimischen Arbeitskräften konkurrieren könnten und es so zu Verdrängungseffekten auf dem Arbeitsmarkt kommen könne. Auch der Begriff des „sozialen Tourismus“ (socialwelfare tourism) wurde in diesem Zusammenhang geprägt.170 Damit ist gemeint, dass sich Bürger aus neuen EU-Mitgliedsländern in dem EU-Land niederlassen könnten, wo den Menschen die großzügigsten wohlfahrtsstaatlichen Leistungen zur Verfügung stehen.171 Die Übergangsregeln, mit denen dies verhindert werden soll, sind jedoch problematisch, da sie gegen Gleichbehandlungs- und Nichtdiskriminierungsgrundsätze verstoßen und die Bürger der neu hinzugekommenen Mitgliedstaaten zu „QuasiOutsidern“ oder EU-Bürgern zweiter Klasse machen.172 Ein politisch umstrittenes Vgl. Angenendt 2002, S. 546f. Aus einer heutigen Sicht ist die Migrationspolitik der EU ambivalent, da sie „interne Migration“ fördert, Migration aus Drittstaaten aber begrenzt; vgl. Bommes/Geddes 2004, S. 292. 169 Vgl. Carrera 2005, S. 706-709. Ähnliches gilt für den Beitritt Rumäniens und Bulgariens 2007. 170 Carrera 2005, S. 709. 171 Beispielsweise hatte der schwedische Ministerpräsident Göran Persson im Frühjahr 2004 angesichts des bevorstehenden Beitritts von zehn Ländern zur EU vor „sozialem Tourismus“ gewarnt. Letztlich verhängte Schweden indes als eines von nur drei EU-Ländern keine Restriktionen gegen die Freizügigkeit von Staatsangehörigen neuer Mitgliedstaaten; vgl. Parusel 2004. 172 Vgl. Carrera 2005, S. 708. 167 168
3.1 Die Anfänge einer europäischen Migrationspolitik
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Thema war die Freizügigkeit indes auch früher schon, etwa anlässlich der Beitritte Griechenlands, Portugals, Spaniens und Großbritanniens. Auch damals wurden von den anderen Ländern Übergangsfristen vereinbart. Ängste vor „Masseneinwanderungen“ erwiesen sich jedoch jedes Mal als übertrieben.173 Anders als EU-interne Wanderungsbewegungen gelangten Fragen der Zuwanderung von Drittstaatsagehörigen erst Mitte der Siebzigerjahre auf die europäische Tagesordnung. In dieser Zeit erließen Aufnahmeländer von Wirtschaftsmigranten („Gastarbeitern“) in Mittel- und Nordeuropa, beispielsweise Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder auch Schweden, verschiedene Formen von „Anwerbestopps“, um die zuvor aus ökonomischen und arbeitsmarktpolitischen Gründen aktiv geförderte Einwanderung von Migranten aus der Türkei, Südeuropa oder auch Nordafrika zu begrenzen.174 Damit zusammenhängende Probleme wurden auch auf Gemeinschaftsebene thematisiert. Der Ministerrat der EG verabschiedete 1976 ein „Aktionsprogramm zugunsten der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen“, das vor allem eine Verbesserung der sozialen Lage und der arbeitsrechtlichen Gleichstellung von Arbeitnehmern aus Drittstaaten mit EU-Bürgern anmahnte. Darin wurde aber auch schon eine „Abstimmung der Wanderungspolitik gegenüber Drittstaaten“ und eine Unterstützung der Wanderarbeiter bei ihrer Rückkehr und Wiedereingliederung in ihren Herkunftsländern gefordert.175 Erstmals wurden damals also gemeinsame Schritte der EU hinsichtlich von Arbeitsmigration aus Drittstaaten diskutiert. Sie wurden jedoch nicht genauer ausgearbeitet und blieben zunächst auf Gemeinschaftsebene ohne konkrete, juristisch bindende Folgen. Neu war damals aber auch, dass die Mitgliedstaaten ein gemeinsames Interesse daran bekundeten, die „illegale Einwanderung von Arbeitnehmern, die Staatsangehörige dritter Staaten sind“ intensiver zu bekämpfen und Sanktionen gegen illegale Beschäftigung zu verhängen.176 Im Februar 1986 wurde in der EG die Einheitliche Europäische Akte unterzeichnet. Sie sah die Vollendung des EG-Binnenmarktes und die Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen bis Ende 1992 vor.177 Damit gelangte auch der freie Personenverkehr innerhalb der Gemeinschaft wieder auf die Tagesordnung. Im Jahr davor, 1985, hatte der Rat in einem Dokument mit dem Titel „Leitlinien für eine Wanderungspolitik der Gemeinschaft“ seine frühere Forderung nach einer „Ab-
Vgl. Angenendt 2002, S. 547. Die Bundesrepublik Deutschland stoppte die Anwerbung von „Gastarbeitern“ 1973. Danach sank die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen, während die ausländische Wohnbevölkerung weiter zunahm, vor allem weil viele Gastarbeiter blieben, zu Einwanderern wurden und ihre Familien aus den Herkunftsländern nachzogen; vgl. Bade/Oltmer 2007, S. 160f. 175 Rat der Europäischen Gemeinschaften, Entschließung des Rates vom 9. Februar 1976 über ein Aktionsprogramm zugunsten der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen. 176 Ebenda. 177 Vgl. Geddes 2003, S. 132. 173 174
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3 Interessen bis zum Vertrag von Amsterdam und dem Gipfel in Tampere
stimmung der Wanderungspolitik“ wieder aufgegriffen.178 Vor dem Hintergrund der bevorstehenden Freizügigkeit in der Gemeinschaft wurde nun erstmals angeregt, Niederlassung, Aufenthalt und den Zugang von Drittstaatsangehörigen zu den nationalen Arbeitsmärkten der EG-Staaten gemeinsam zu regeln. Von der Kommission wurde auch eine Harmonisierung der Asylpolitik vorgeschlagen.179 In einem weiteren Dokument aus dem Jahr 1988 schreibt sie, dass die „berufliche und soziale Eingliederung der Ausländer“ in der EG Probleme aufwerfe. Auch spricht sie von Ausländern in der EG als einem „demografisch wichtigen Faktor“.180 Schon Ende der 1980er Jahre lässt die Kommission also ein Interesse an einer gemeinsamen europäischen Politik erkennen, die Integration fördern soll und den demografischen Aspekt von Migration berücksichtigt – wenn auch zunächst unklar bleibt, in welcher Form. Der Vorstoß der Kommission stieß jedoch bei mehreren Mitgliedstaaten auf Ablehnung. Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Großbritannien argumentierten, die Union überschreite ihre Kompetenzen, wenn sie den Umgang mit Nicht-EG-Bürgern auf Gemeinschaftsebene regeln wolle. Die Mitgliedstaaten befürworteten zwar eine Zusammenarbeit in der Zuwanderungspolitik, zogen es aber vor, sich lediglich auf zwischenstaatlicher, „intergouvernementaler“ Ebene zu koordinieren, die supranationalen Organe der Europäischen Gemeinschaften also noch nicht zu beteiligen. Migrationspolitik wurde als eine Frage nationalstaatlicher Souveränität angesehen, in der die Mitgliedstaaten noch keine Kompetenzen an übernationale „Agents“ wie die Kommission delegieren wollten. Außerdem sollte die europäische Zusammenarbeit helfen, auf nationaler Ebene vorhandene Begrenzungen ihrer Handlungsfreiheit zu umgehen und nicht – etwa durch Beteiligung neuer Akteure – neue Hindernisse und Begrenzungen zu schaffen.181 Im Jahr 1986 riefen die Mitgliedstaaten eine „Ad-hoc-Gruppe Einwanderung“ ins Leben, ein informelles, intergouvernementales Forum, dem es insbesondere um die Entwicklung von Gegen- oder Kompensationsmaßnahmen zur durch den Wegfall der Binnengrenzen geförderten Freizügigkeit ging, also beispielsweise um eine striktere Kontrolle der Außengrenzen und eine Harmonisierung der Visaerteilung an Drittstaatsangehörige. Auch die Entwicklung gemeinsamer Maßnahmen gegen den „Missbrauch“ von Asylregelungen war Teil der Zusammenarbeit.182 1988 wurde eine weitere Gruppe eingerichtet, aus der das 1989 vom Rat verabschiedete „PalmaProgramm“ hervorging. Es sah vor, die Asylpolitik der Mitgliedstaaten einander 178 Rat der Europäischen Gemeinschaften, Entschließung des Rates vom 16. Juli 1985 über Leitlinien für eine Wanderungspolitik der Gemeinschaft. 179 Vgl. Lavenex, S.84; de Jong 1997, S. 173f. 180 Vgl. dazu Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Entscheidung der Kommission vom 8. Juni 1988 zur Einführung eines Mitteilungs- und Abstimmungsverfahrens über die Wanderungspolitik gegenüber Drittländern, S. 35f. 181 Vgl. Guiraudon et al. 2001 S. 5. 182 Vgl. Lavenex 2001, S. 87; de Jong 1997, S. 173; Eigmüller 2007, S. 60.
3.1 Die Anfänge einer europäischen Migrationspolitik
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anzunähern.183 Während die Zusammenarbeit zu allgemeinen Migrationsfragen (etwa Arbeitsmigration aus Drittstaaten) also stockte, liefen die ersten Versuche an, restriktive Maßnahmen gegen verschiedene unerwünschte Formen der Einwanderung aus Drittstaaten zu verabschieden. Nahezu parallel zur Arbeit der Ad-hoc-Gruppe begann die „SchengenKooperation“. Sie geht auf eine Initiative des damaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl und des französischen Präsidenten François Mitterrand aus dem Jahr 1984 zurück. Kohl und Mitterrand beabsichtigten, die Grenzkontrollen zwischen ihren beiden Ländern abzuschaffen. Dem Projekt traten wenig später auch die Benelux-Staaten bei. Im Juli 1985 wurde das erste Schengener Übereinkommen geschlossen. Das zweite, das so genannte „Schengener Durchführungsübereinkommen“, folgte 1990. Grundprinzip der beiden Verträge ist der Abbau der Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten – einhergehend mit einer besseren Sicherung der gemeinsamen Außengrenzen zur Abwehr unerwünschter Einwanderung sowie zum Schutz vor Schmuggel, Drogenhandel und grenzüberschreitender Kriminalität.184 Im Rahmen dieser Zusammenarbeitsstrukturen wurden später auch asyl- und flüchtlingspolitische Fragen behandelt. So stellten die Schengen-Mitgliedstaaten im Oktober 1988 fest, von signifikanten Einwanderungswellen betroffen zu sein. Um diese Migrationsströme zu „bekämpfen“, wurde beschlossen, die Kontrollen an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten zu verschärfen, die Passagiere von Fährschiffen intensiver zu kontrollieren, illegal eingereisten Personen Fingerabdrücke abzunehmen und diese untereinander zu vergleichen, Rückkehrmaßnahmen in Bezug auf illegale Einwanderer voranzutreiben und Beförderungsunternehmen, die illegalen Migranten bei der Einreise in den Schengen-Raum behilflich sind, zu bestrafen („carrier-sanctions”).185 Die Schengener Abkommen sind hinsichtlich der Migrationsbewegungen aus Drittstaaten also vor allem als Instrumente der Grenzsicherung und der Abwehr zu betrachten, oder – nach den Worten von Geddes – als „reassertion of control capacity“.186 Mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 wurden die Schengener Abkommen in die EU-Verträge aufgenommen. Im Dezember 2007 traten mit der Ausnahme Zyperns alle 2004 neu in die EU aufgenommenen Mitgliedstaaten dem Schengener Abkommen bei. Über die EU hinaus sind auch Norwegen und Island Schengen-Mitglieder, die Schweiz will sich ebenfalls anschließen. Auch der Beitritt Zyperns, Rumäniens und Bulgariens ist vorgesehen. Eine restriktive Ausrichtung der gemeinsamen Politik lässt sich auch anhand des Dubliner Asylübereinkommens (DÜB) festhalten. Es wurde im Jahr 1990 – und Vgl. Eigmüller 2007, S. 60. Vgl. Angenendt 2002, S. 467f.; siehe auch Lavenex 2001, S. 87f. 185 Vgl. Council of the European Union (General Secretariat), The Schengen acquis integrated into the European Union, S. 254f. 186 Geddes 2003, S. 127. 183 184
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damit zu einer Zeit, in der sich die Zahl der Asylgesuche in vielen Mitgliedstaaten erstmals signifikant zu steigern begann – zwischen den EG-Staaten geschlossen, um die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Prüfung von Asylanträgen zu regeln. Ein Asylgesuch soll nur in einem Staat der Gemeinschaft vorgebracht und geprüft werden dürfen, Mehrfachanträge in verschiedenen Staaten nicht mehr möglich sein. Von Ausnahmen abgesehen soll derjenige Mitgliedstaat, dessen Gebiet ein Asylsuchender bei seiner Einreise in die EU als erstes betritt, die exklusive Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags erhalten. Das Dubliner Übereinkommen, das 1997 in Kraft trat, stellt somit ein Instrument der Eindämmung der Sekundärmigration von Flüchtlingen und Asylsuchenden innerhalb der Länder der Gemeinschaft und ein System der Teilung der Verantwortung für den Flüchtlingsschutz dar. Es bildet eine der wichtigsten der bereits rechtsgültigen und völkerrechtlich bindenden Maßnahmen der gemeinsamen europäischen Asylpolitik.187 Die Mehrheit der EG-Staaten hielt auch nach der Einigung über das Dubliner Übereinkommen eine weitere Zusammenarbeit im Asylbereich für notwendig. Wegen der steigenden Anzahl von Asylanträgen in fast allen Ländern der EU wurden die Themen „Asylmissbrauch“ und „illegale Einwanderung“ zu den vordringlichsten innerhalb der europäischen Migrationspolitik. Im Juni 1991 beschloss der Europäische Rat von Luxemburg auf Initiative der Bundesrepublik Deutschland, dass bis Ende 1993 deutliche Schritte zur Harmonisierung in den Bereichen Asyl-, Einwanderungs- und Ausländerpolitik erfolgen müssten.188 3.2 Die Asyl- und Migrationspolitik von Maastricht bis Amsterdam 3.2.1
Der Vertrag von Maastricht
Mit dem Vertrag von Maastricht von 1992 wurden die ersten Ansätze einer gemeinsamen europäischen Migrations- und Asylpolitik von der bisher größtenteils informellen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und ihrer Innen- und Justizminister in den institutionellen Rahmen der Europäischen Gemeinschaft eingeführt. Dies deutet darauf hin, dass die Mitgliedstaaten stärker zusammenarbeiten und gemeinsame Strategien im Bereich der Migrationspolitik als gemeinschaftliche Aufgabe in den EU-Institutionen verankern wollten.189 In Anlehnung an einen Vorschlag der Luxemburgischen Ratspräsidentschaft entstand dabei das Bild von einer Europäischen Union als griechischer Tempel, der auf mehreren Säulen errichtet ist. Die erste Säule bildet der traditionelle, vergemeinschaftete Besitzstand (acquis communautaire) der Vgl. de Jong 1997, S. 174; Angenendt 2002, S. 548; Gusy/Arnold 2002, S. 538. European Council (Luxemburg), Presidency Conclusions, 28. und 29. Juni 1991, Anhang B1. 189 Vgl. Geddes 2003, S. 134f. 187 188
3.2 Die Asyl- und Migrationspolitik von Maastricht bis Amsterdam
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EU-Politik. Dazu zählen unter anderem Maßnahmen, die den gemeinsamen Binnenmarkt betreffen, etwa die Personenfreizügigkeit im Innern der EU. Die beiden anderen Säulen repräsentieren die zwei im intergouvernementalen Rahmen zu regelnden Politikbereiche der Außen- und Sicherheitspolitik (zweite Säule) sowie der Innen- und Justizpolitik (dritte Säule).190 In dieser dritten Säule, der Innen- und Justizpolitik, wurde die Asyl- und Einwanderungspolitik angesiedelt – zusammen mit Fragen der Grenzsicherung, des Kampfes gegen Drogenhandel und Kriminalität, der Rechtskooperation in Strafund Zivilangelegenheiten, sowie der Zoll- und Polizeikooperation. Weite Teile der Politik der dritten Säule waren als Kompensation für den Wegfall der Binnengrenzen und der damit zunehmenden grenzüberschreitenden Mobilität von Gütern und Personen gedacht – einer Mobilität, die als eine mögliche Quelle von Unsicherheit betrachtet wurde. Der größte Teil der Asyl- und Einwanderungsfragen wurde somit im Maastrichter Vertrag – wie sich schon im Bereich der SchengenZusammenarbeit abgezeichnet hatte – institutionell in einem Sicherheitskontext verortet und folglich normativ in einer Linie mit Kriminalitätsbekämpfung und Polizeikooperation behandelt.191 Geddes hält dazu fest: „(...) co-operation was largely colonised by those with a security-centred understanding of migration and migrants and a determination to restrict those forms of migration defined as unwanted.“ 192
Diese grundlegende Einteilung sollte, wie an späterer Stelle noch gezeigt werden wird, bis ins nächste Jahrhundert bestehen bleiben. Nur in kleinen Schritten sollte es gelingen, Migrationsfragen auch außerhalb reiner Sicherheitspolitik, etwa im Rahmen sozialer, ökonomischer oder demografischer Interessen, zu behandeln. Die zweite, außenpolitisch orientierte Säule des europäischen „Tempels“ behandelt in Bezug auf Migration die Beziehungen zwischen der Union und den Herkunfts- oder Transitländern von Flüchtlingen, etwa bei Rückführungen abgelehnter Asylsuchender. In die erste, wirklich vergemeinschaftete Säule, wurde nur die Visumpolitik integriert. Für die Bestimmung der Staaten, deren Angehörige für die Einreise in die EU ein Visum benötigten, sowie für die EU-weit einheitliche Ausgestaltung der Sichtvermerke in Pässen, sollten nunmehr allein die EU-Organe, und nicht mehr die Nationalstaaten, verantwortlich sein.193 Im Amtsblatt der EU werden seither regelmäßig Listen über Staaten, deren Bürger für die Einreise in die EU ein Visum benötigen, aufgeführt. Insgesamt betrachtet blieb die Struktur der Zusammenarbeit im Migrationsund Asylbereich nach dem Maastrichter Vertrag mit nur wenigen Ausnahmen in der Vgl. Guizzi 2000, S. 14f; Wessels 2002, S. 330f. Vgl. Lavenex 2001, S. 107f. 192 Geddes 2003, S. 134. 193 Vgl. Ebenda; Angenendt 2002, S. 548; de Jong 1997, S. 175. 190 191
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vorherigen, intergouvernementalen Form. Dies ist zum Teil den Regierungen Großbritanniens, Irlands, Dänemarks und Griechenlands geschuldet, die in den Verhandlungen über den Maastrichter Vertrag forderten, am Status quo festzuhalten und sich einer „Vergemeinschaftung“ der Asyl- und Migrationspolitik zu widersetzen.194 Der Kompromiss, die Schaffung eines dritten Pfeilers ins Vertragswerk, stellte trotzdem aber gesetzgeberische Verbindungen mit den EU-Organen her: Die Kommission erhielt in Bezug auf Migrationspolitik ein Ko-Initiativrecht (neben den Mitgliedstaaten), und das Europäische Parlament sollte informiert und zu grundsätzlichen Fragen konsultiert werden. Die eigentliche Macht aber lag weiterhin beim Rat und damit bei den Regierungen der Mitgliedstaaten. Sie hatten das Recht, unter dem Prinzip der Einstimmigkeit Entscheidungen zu fällen, „gemeinsame Standpunkte“ einzunehmen oder Konventionen zu erarbeiten. In der Praxis stellte sich in den Jahren nach dem Inkrafttreten des Vertrags heraus, dass die Kommission de facto kaum in die Arbeiten einbezogen wurde, und dass sich das Parlament übergangen fühlte und sich über eine Verletzung von auf nationaler Ebene üblichen parlamentarischen Rechten beklagte.195 Dennoch gab Maastricht der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik entscheidende Anstöße. Noch bevor der Vertrag in Kraft trat, gaben die zuständigen Fachminister eine Serie von Resolutionen und Empfehlungen zu asylrelevanten Themen heraus. Meistens ging es dabei um die Implementierung von Bestimmungen des Dubliner Asylübereinkommens und um Maßnahmen zur Verringerung von „Asylmissbrauch“. Darüber hinaus wurden Systeme des Informationsaustauschs über Migrationsbewegungen ins Leben gerufen, und es entstand die Idee, eine EUweite Datenbank zur Erfassung und Speicherung der Fingerabdrücke von Asylsuchenden aufzubauen.196 3.2.2
Die Londoner Beschlüsse zur Asylpolitik
Im Dezember 1992 verabschiedeten die für Einwanderungsfragen zuständigen Minister der EG-Mitgliedstaaten bei einem Treffen in London einige wichtige Beschlüsse zur gemeinsamen Asylpolitik, die damit erneut zum vorherrschenden Thema innerhalb des Gesamtspektrums der Migrationsfragen wurde. Den zu dieser Zeit im Ministerrat herrschenden Interessenhintergrund illustriert eine gemeinsame Erklärung, in der von „unkontrollierter Einwanderung“ in die EU die Rede ist, sowie davon, dass diese eine „Gefahr“ bedeute und „destabilisierende Auswirkungen“ auf die Aufnahmestaaten habe.197 1992 verzeichnete die Bundesrepublik Vgl. Geddes 2003, S. 134. Vgl. Lavenex 2001, S. 109. 196 Vgl. Lavenex 2001, S. 111; Eigmüller 2007, S. 56. 197 Zitiert nach Lavenex 2001, S. 112. 194 195
3.2 Die Asyl- und Migrationspolitik von Maastricht bis Amsterdam
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Deutschland über 438.000 Asylanträge, einen Rekordwert.198 Auch in anderen EUStaaten erreichte die Asylantragstellung in den Jahren 1992 und 1993 Höchstwerte. Auf der Tagung von London wurden vor diesem Hintergrund Vorschläge zur Verringerung des Zuzugs in die EU verabschiedet. Einen davon bildete die erstmalige Definition von „offensichtlich unbegründeten Asylanträgen“. Demnach kann, wenn der Antrag eines Asylbewerbers substanzlos und unbegründet erscheint, seitens der Behörden eine vereinfachte und beschleunigte Prüfungsprozedur in Gang gesetzt werden, die zu einer schnelleren Ablehnung führen soll.199 Daneben wurde die Regel der „sicheren Drittstaaten“ aufgestellt, welche später auch einen Kernbestandteil der Änderung des deutschen Grundrechts auf Asyl bildete. Danach können von den EU-Ländern Staaten bestimmt werden, in denen keine politische Verfolgung herrscht, und die, weil sie die Genfer Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 unterzeichnet haben, dazu verpflichtet sind, Asylverfahren durchzuführen.200 Zu „sicheren Drittstaaten“ wurden später vor allem die direkten Nachbarländer der EU-Staaten erklärt. Wer über einen solchen Staat in ein EU-Land einreist, hat keinen Anspruch auf Asyl. Heute hat die Definition sicherer Drittstaaten ihre damalige wichtige Bedeutung teilweise eingebüßt. Fast alle dieser Staaten sind heute EU-Mitgliedstaaten, insofern besteht dort per definitionem keine politische Verfolgung. Weiter schlug der Rat von London vor, auch eine Liste „sicherer Herkunftsländer“ zu bestimmen. Asylanträge von Personen, die aus solchen Ländern stammen, können schneller abgelehnt werden, weil dort a priori kein Risiko politischer Verfolgung angenommen wird. Zuletzt wurden auf der Londoner Tagung Empfehlungen zu Abschiebungen und in Bezug auf die Aushandlung von so genannten „Rückübernahmeabkommen“ mit „sicheren Drittstaaten“ und Herkunftsländern von Flüchtlingen beschlossen.201 Rückübernahmeabkommen waren aus EU-Sicht deshalb abzuschließen, weil Staaten nach dem geltenden Völkerrecht lediglich verpflichtet sind, eigene Staatsbürger auf ihrem Territorium aufzunehmen. Wenn die „sicheren Drittländer“ also gezwungen werden sollen, darüber hinaus auch Flüchtlinge aus anderen Nationen „zurückzunehmen“, weil diese über ihr Gebiet in die EU eingereist sind, so sind hierfür bilaterale Verträge nötig.202 Solche Verträge schreiben für den betroffenen Drittstaat lediglich die Pflicht der Rückübernahme fest – ob das in der EU nicht zur Prüfung
Vgl. Bade/Oltmer 2007, S. 161. Vgl. Ebenda; siehe auch Wolter 1999, S. 41f. 200 Vgl. Pirouet 2001, S. 134-137; Wolter 1999, S. 42f. 201 Vgl. Lavenex 2001, S. 115f. 202 Vgl. Glatzel 1997, S. 108. 198 199
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zugelassene Asylgesuch eines Flüchtlings im Rückübernahmestaat tatsächlich ordnungsgemäß untersucht wird, wird seitens der EU nicht systematisch verifiziert.203 Die Idee hinter den Londoner Beschlüssen insgesamt war, einen Ring sicherer Herkunfts- und Transitländer um die Europäische Union herum zu ziehen und die Mitgliedstaaten von Asylgesuchen und illegalen Einwanderungsbewegungen zu entlasten. Wichtig ist zwar, dass die Beschlüsse von London keine rechtlich bindende Qualität besaßen. Es handelte sich lediglich um „gemeinsame Standpunkte“, was den Schluss zulässt, dass die Mitgliedsländer nicht bereit waren, ihre nationalstaatlichen Souveränitätsansprüche aufzugeben.204 Dennoch ist die Bedeutung der Beschlüsse nicht zu unterschätzen. Sie legten die künftige Richtung der gemeinsamen Asylpolitik fest und zeugen vom gemeinsamen Ziel der damaligen Regierungen in Europa, den Zugang zu Asylverfahren in der Union so weit wie möglich zu begrenzen. Dadurch, dass dem Asyl- und Flüchtlingsrecht eine „destabilisierende Wirkung“ zugesprochen wurde, erreichte das Streben nach innerer Sicherheit Vorrang vor der Verwirklichung einer an den Menschenrechten orientierten Flüchtlingspolitik und vor einer Sicht auf Flüchtlinge als Träger von Rechten. Virginie Guiraudon hat daran erinnert, dass Frankreich, Deutschland und die Niederlande 1993 ihre jeweilige Ausländergesetzgebung änderten und dabei die in London vereinbarten Grundsätze der „offensichtlich unbegründeten Asylanträge“ und der „sicheren Drittstaaten“ in ihr nationales Recht einführten. Obwohl die Londoner Beschlüsse nicht bindend waren, hatten sie also eine prägende Wirkung auf die Politik in den Mitgliedstaaten. Dies kann als Beleg für Guiraudons Venue-shopping-Modell gesehen werden.205 3.2.3
Die Harmonisierung der Asylsysteme der Mitgliedstaaten
Im Vergleich zur vergleichsweise schnellen Einigung über die restriktiven Ziele von London gestaltete sich die für die Folgezeit geplante Harmonisierung der unterschiedlichen nationalen Asylsysteme, etwa die Festlegung auf gemeinsame Normen für die Aufnahme von Flüchtlingen und die Durchführung von Asylverfahren, als zäh und schwierig. Es wurde deutlich, dass die Staaten zwar daran interessiert waren, gemeinsame Maßnahmen gegen den Zuzug von Asylsuchenden zu ergreifen, es jedoch nicht als vordringlich betrachteten, daneben auch gemeinsame Rechtsnor203 Auf Initiative Deutschlands war von den Mitgliedstaaten des Schengener Abkommens ein erstes PilotRückübernahmeabkommen im Jahr 1991 mit Polen abgeschlossen worden. Es diente als Vorlage und Beispiel für später folgende, weitere Abkommen dieser Art und wird weiter unten ausführlicher besprochen; vgl. Lavenex 2001, S. 114. 204 Zur Rechtsnatur der Londoner Beschlüsse und anderer Maßnahmen im „dritten Pfeiler“ der EUPolitik vgl. Wolter 1999, S. 45. 205 Vgl. Guiraudon et al. 2001, S. 5.
3.2 Die Asyl- und Migrationspolitik von Maastricht bis Amsterdam
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men zugunsten von Flüchtlingen und Asylsuchenden zu setzen. Während die Mitgliedsländer begannen, jeweils für sich innenpolitische Maßnahmen im Sinne der Londoner Beschlüsse zu ergreifen, erlahmte der Prozess der Entwicklung eines gemeinsamen Asylsystems. In nur wenigen Teilbereichen des Aktionsplans von 1991 gab es Fortschritte: Im Juni 1995 einigten sich die Fachminister der Mitgliedstaaten auf eine Entschließung über Mindeststandards für Asylverfahren. Diese sehen die Einhaltung bestimmter Rechte eines Flüchtlings während der Prüfung seines Asylgesuchs vor, regeln eventuelle Rechtsbehelfsmöglichkeiten gegen negative Bescheide und definieren besondere Normen für unbegleitete minderjährige Asylsuchende und verfolgte Frauen. Die Entschließung erhielt – wie die Beschlüsse von London – keinen verbindlichen Charakter. 206 Eine weitere vom Maastrichter Vertrag vorgeschriebene Maßnahme bildete eine Einigung darüber, was ein Asylbewerber oder Flüchtling überhaupt ist, also eine gemeinsame Definition des Flüchtlingsbegriffs. Grund für dieses Vorhaben war die Einsicht, dass unter den Staaten verschiedene Auffassungen und Praktiken herrschten, die dazu führen konnten, dass einem Flüchtling in einem bestimmten Land Asyl gewährt werden würde, in einem anderen dagegen nicht. Dies wurde zwar mehrere Jahre zuvor bereits von den Akteuren erkannt und als Problem identifiziert, aber erst im Sommer 1994 wurde die Frage der Anerkennung von der damaligen deutschen Ratspräsidentschaft auf die Tagesordnung der europäischen Innenund Justizminister gesetzt. Angesichts der Tatsache, dass es sich dabei um eine sehr grundsätzliche Frage handelte, gestalteten sich die Verhandlungen kontrovers. Erst zwei Jahre später, im März 1996, erzielten die Minister einen „gemeinsamen Standpunkt“.207 Darin wird der Begriff der „Verfolgung“ anhand des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge definiert, es werden verschiedene Arten der staatlichen und nicht-staatlichen Verfolgung erläutert und Bedingungen für die Gewährung des Flüchtlingsstatus festgelegt. Im selben Zeitraum berieten die Innenminister über die Aufnahme von Flüchtlingen aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Man entwickelte das Konzept einer vorübergehenden Aufnahme („temporary protection“) bestimmter Gruppen von Flüchtlingen, in diesem Fall der Jugoslawien- und Kosovo-Flüchtlinge. Sie sollten künftig aus den traditionellen Asylsystemen der Mitgliedstaaten herausgenommen werden, also nicht mehr in den Genuss eines dauerhaften, auf dem Asylrecht basierenden Flüchtlingsstatus kommen, sondern stattdessen ein anhand politischer Einschätzungen definiertes und jederzeit widerrufbares Aufenthaltsrecht als „de-facto-Flüchtlinge“ erhalten. Die Initiative hierzu brachten Deutschland und Österreich ein, die gleichzeitig darauf drängten, in Bezug auf die Jugoslawien206 207
Vgl. Gusy/Arnold 2002, S. 539f; Wolter 1999, S. 43f. Vgl. Wolter 1999, S. 44f.
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Flüchtlinge zu einem System der „Lastenteilung“ unter den Mitgliedstaaten zu gelangen. Beide Länder sahen sich im Vergleich zu den EU-Partnern überproportionalen Zuzugsraten von Flüchtlingen aus dem Balkanraum ausgesetzt.208 Auch bei einem weiteren Projekt, der Eurodac-Kartei, die eine computergestützte Erfassung der Fingerabdrücke von Asylsuchenden zur effektiveren Einhaltung der Bestimmungen des Dubliner Übereinkommens vorsieht, vergingen Jahre zwischen Konzeption und endgültiger Umsetzung. Die Idee wurde bereits im Jahr 1991 geboren, eine entsprechende politische Einigung jedoch erst Ende 2000 erzielt.209 Im Einsatz ist Eurodac seit 2003. 3.2.4
Die Reformen im Vertrag von Amsterdam
Mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997, der am 1. Mai 1999 in Kraft trat, haben die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten den institutionellen Rahmen der gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie die Kooperation zwischen den EU-Organen erneut gestärkt und eine Weiterentwicklung der bisherigen Harmonisierungspolitik hin zu einer Vergemeinschaftung, etwa einem gemeinsamen Asylsystem für die ganze EU, eingeläutet. Während die Einbeziehung der Asylpolitik in den „dritten Pfeiler“ des Vertrags von Maastricht 1992 vor allem ein Resultat des in fast allen EU-Staaten wachsenden Interesses der Öffentlichkeit an Migrationsfragen und insbesondere an der Abwehr von unerwünschten Migrationsbewegungen war, bildeten die Reformen im Vertrag von Amsterdam den Willen ab, entstandene Blockaden zu lösen und institutionelle und Verfahrensprobleme zu beheben. Zuwanderungspolitik ist seit dem Amsterdamer Vertrag nicht mehr nur eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse, sondern ein „grundlegendes Zukunftsprojekt der voranschreitenden europäischen Integration.“210 Die EU-Kommission, das Parlament und sogar der Rat selbst hatten die bisherige Funktionsweise der intergouvernementalen Beratungs- und Entscheidungsprozeduren, die zu zähen Verhandlungen aber nur wenigen greifbaren und verbindlichen Ergebnissen geführt hatten, als ineffektiv kritisiert.211 Als Schwachpunkt der Prozeduren war vor allem die Tatsache ausgemacht worden, dass auf mehreren Ebenen einstimmige Beschlüsse gefasst werden mussten, bevor eine Maßnahme in Kraft gesetzt werden konnte. Diese Schwierigkeit sollte durch eine Einbeziehung der Innen- und Justizpolitik, zu der auch die Migrations-, Asyl- und Flüchtlingspolitik gehört, in die erste Säule, also in den Kernbe-
Vgl. Lavenex 2001, S. 120. Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 des Rates vom 11. Dezember 2000. 210 Märker 2001, S. 3. 211 Vgl. Lavenex 2001, S. 126; Angenendt 2002, S. 548. 208 209
3.2 Die Asyl- und Migrationspolitik von Maastricht bis Amsterdam
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reich des EU-Systems, behoben werden.212 Asylrelevante Politikbereiche wurden in Titel IV, Artikel 61-69 des EG-Vertrags einbezogen, der unter der Überschrift „Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr“ firmierte. Damit wurde gleichzeitig klar gemacht, dass neben den Migrationsaspekten, mit denen sich die EU schon vorher befasst hatte, nun auch eine gemeinsame Einwanderungspolitik entwickelt werden sollte, die unter anderem auch Familiennachzug und Einwanderung zu Arbeitszwecken umfassen würde. Umschrieben wird die gemeinsame Innen- und Justizpolitik seit dem Amsterdamer Vertrag auch mit dem Bild des schrittweisen Aufbaus eines „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“.213 Dieser Raum sollte unter anderem durch die Ausarbeitung von gemeinsamen Standards hinsichtlich der Freizügigkeit im Binnenraum, des Überschreitens der Außengrenzen der Union, der vereinheitlichten Vergabe von Einreisevisa, von asylpolitischen Mindeststandards und hinsichtlich des Umgangs mit so genannten „illegalen“ Migranten ausgestaltet werden. Innerhalb von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags, also bis zum 1. Mai 2004, sollten einige wichtige Details der gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik rechtlich bindend geregelt sein. Diese umfassten beispielsweise die Festlegung eines an das Dubliner Übereinkommen angelehnten Verfahrens zur Bestimmung des EUStaates, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, die Definition von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedstaaten, Mindestnormen für Asylverfahren, also u.a. die Prüfung von Asylanträgen, sowie Mindestnormen für die Anerkennung von Flüchtlingen und die Zuerteilung des Flüchtlingsstatus. Daneben sollen, so der Amsterdamer Vertrag, weitere Maßnahmen in Bezug auf „Flüchtlinge und Vertriebene“ und auf Visumfragen ergriffen werden, sowie andere, nicht näher beschriebene „einwanderungspolitische Maßnahmen“.214 Ebenfalls bis Mai 2004 sollte die Europäische Kommission für asylpolitische Maßnahmen – so wie für andere Bereiche der EU-Politik – das alleinige Initiativrecht erhalten, das sie bis dahin noch mit den Mitgliedstaaten teilen würde. Zu diesem Zweck wurde innerhalb der Kommission die neue Generaldirektion „Justiz und Inneres“ geschaffen, die später in „Generaldirektion Freiheit, Sicherheit und Recht“ umbenannt wurde. Die Direktion war zunächst klein und auf Expertise von außen, sowohl von regierungsabhängigen, als auch von nicht-regierungsabhängigen Institutionen, angewiesen.215 Während der Übergangsfrist, also bis zur Verwirklichung des alleinigen Kommissionsinitiativrechts 2004, wurde dem Amsterdamer Vertrag zufolge das intergouvernementale Element, also die Vorherrschaft der Innen- und Justizminister Vgl. Lavenex 2001, S. 126f; Gusy/Arnold 2002, S. 531; Angenendt 2002, S. 548f. Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV). 214 Vgl. Artikel 61, 62 und 63 des Amsterdamer Vertrags. 215 Boswell spricht deshalb von einem „lack of analytical capacity“ in der Kommission; vgl. Boswell 2002, S. 22. 212 213
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bzw. des Rates beibehalten. Damit ist gemeint, dass der Rat auf Vorschlag der Kommission oder auf Initiative eines Mitgliedstaates, sowie nach Konsultation des Europäischen Parlaments einstimmig Beschlüsse fasst.216 Die Kommission wurde angehalten, sich bei ihren Initiativen inhaltlich am Standpunkt desjenigen Mitgliedstaats zu orientieren, der das geringste Integrations- bzw. Rechtsniveau fordert. Damit sollte angesichts des Einstimmigkeitsprinzips im Rat eine schnellere Entscheidungsfindung ermöglicht werden. Gleichzeitig wurde damit allerdings auch die Tendenz, sich auf dem kleinen gemeinsamen Nenner zu einigen, bewusst perpetuiert.217 Das Parlament bekam zunächst nur das Recht, angehört zu werden. Jedoch wurde vereinbart, dass der Rat fünf Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags beschließen soll, in der Migrationspolitik fortan das Mitentscheidungsverfahren anzuwenden. Hinsichtlich der Asylpolitik und einiger anderer Aspekte der Migrationspolitik wird das Mitentscheidungsverfahren seit 2005 tatsächlich praktiziert. Im Bereich der legalen Migration, darunter auch der Arbeitsmigration, hatte das Parlament jedoch weiterhin nur eine beratende Funktion, und der Rat musste einstimmig entscheiden. Deutschland setzte im November 2004 durch, hinsichtlich der legalen Migration weiterhin an einer starken intergouvernementalen Komponente festzuhalten.218 Erst der 2007 unterzeichnete Vertrag von Lissabon sieht vor, auch auf diesen Bereich der Migrationspolitik das Mitentscheidungsverfahren anzuwenden.219 Im Rahmen einer neuen Flexibilität gestattete der Amsterdamer Vertrag einzelnen EU-Staaten, durch so genannte opt-outs bestimmte Schritte der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik nicht umzusetzen. Namentlich Großbritannien, Irland und Dänemark haben über Protokolle das Recht bekommen, bei jeder einzelnen Maßnahme zu wählen, ob sie diese implementieren oder außen vor bleiben wollen.220 Eine weitere wichtige Neuerung im Vertrag von Amsterdam bedeutete die Tatsache, dass asylrelevante EU-Entscheidungen seither verbindliche Qualität haben können. Weniger politisch inspirierte „gemeinsame Standpunkte“ und „Entschließungen“, als vielmehr juristisch bindende „Richtlinien“, „Verordnungen“ und „Entscheidungen“ werden seither getroffen. Zuletzt ist zu erwähnen, dass der Amsterdamer Vertrag auch die Überführung des „Schengen-Besitzstandes“ in die EU beinhaltete. Die Schengener Abkommen wurden dem EUV über ein Zusatzproto216 Vgl. Europäische Kommission (Generaldirektion Justiz und Inneres), Einwanderung und Asyl – eine Zuständigkeit der Gemeinschaft, Internetseite http://www.europa.eu.int; siehe auch Lavenex 2001, S. 129 und Angenendt 2002, S. 549. 217 Vgl. Lavenex 2001, S. 130. 218 Vgl. Maurer/Parkes 2007, S. 107f. 219 Vgl. Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, Entwurf eines Vertrags zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Brüssel, 2007. 220 Vgl. Levy 1999, S. 43.
3.3 Interessenkonstellationen nach dem Vertrag von Amsterdam
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koll beigefügt. Alle Staaten, die der EU später beigetreten sind, waren deshalb verpflichtet, auch die Schengen-Bestimmungen umzusetzen.221 3.3 Interessenkonstellationen nach dem Vertrag von Amsterdam Wie soeben aufgezeigt wurde, überführte der Vertrag von Amsterdam die meisten asyl- und migrationsrelevanten Politikbereiche in die erste Säule der EU und legte die innerhalb der folgenden fünf Jahre im Asylbereich zu ergreifenden Maßnahmen fest. In den nächsten Abschnitten soll nun beschrieben werden, inwieweit es in der Folgezeit zu einer Umsetzung dieser Maßnahmen kam, und wie sich der in der Asylpolitik der EU immer deutlicher zu Tage tretende Widerspruch zwischen der menschenrechtlichen Dimension von Flucht und Asyl und dem Interesse der Schaffung größtmöglicher „innerer Sicherheit“ mittels Zuwanderungsbegrenzung und Abschottung weiter entwickelte. 3.3.1
Das Wiener Strategiepapier
Bereits einige Monate vor dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags wurde in den Institutionen der EU und in den Ministerien der Mitgliedstaaten eine intensive Diskussion um die zukünftige Ausrichtung der gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik geführt. Im Juli 1998 legte Österreich im Rahmen seiner EURatspräsidentschaft ein „Strategiepapier“ zur Migrations- und Asylpolitik der EU vor.222 Die darin artikulierte Problemwahrnehmung und die vorgeschlagenen Maßnahmen überraschten und zogen eine Reihe politischer Auseinandersetzungen nach sich. Die österreichische Regierung urteilte in ihrem Papier, die EU sehe sich einer Zuwanderung in noch nicht da gewesener Dimension ausgesetzt. Ursache für Migrationsbewegungen bildeten nunmehr weniger Kriege oder politische Verfolgung, sondern vielmehr die Armut in den Entwicklungsländern. Während früher Unterdrückung von Menschen durch autoritäre Regime (etwa in der kommunistischen Welt oder in Entwicklungsländern) die Hauptursache für Flüchtlingsströme gewesen sei, so seien jetzt und in der Zukunft interethnische Verfolgungstatbestände sowie Vertreibung durch nichtstaatliche Gewaltapparate die wichtigsten Faktoren für Flüchtlingsmigration nach Europa.223
221 Vgl. Geddes 2003, S. 137; Council of the European Union (General Secretariat), The Schengen acquis integrated into the European Union, 1999. 222 Council of the European Union, Strategy Paper on Immigration and Asylum Policy, from the Austrian Presidency to the K4 Committee, 1998. 223 Vgl. Ebenda.
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3 Interessen bis zum Vertrag von Amsterdam und dem Gipfel in Tampere
Aus dieser Analyse schlussfolgerte die Wiener Regierung, die Genfer Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 verliere ihre Anwendbarkeit. Sie schlug vor, diese im Rahmen der Ausgestaltung des gemeinsamen EUAsylsystems zu „ergänzen, zu ändern, oder abzulösen“224 und stattdessen einen neuen Aufnahmemechanismus zu entwickeln. Wien sah in diesem Kontext ein weniger rechtlich, als vielmehr politisch orientiertes Migrationskonzept vor. Außerdem wurde vorgeschlagen, ein europäisches Migrationsregime nach einem Modell konzentrischer Kreise zu errichten. Die EU-Staaten bilden diesem Modell zufolge den inneren, ersten Kreis. Die Nachbarstaaten bilden einen zweiten Kreis, der schrittweise in das europäische Asyl- und Migrationssystem einbezogen werden soll. Einen dritten Kreis, der beispielsweise die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die Türkei und Nordafrika umfasst, hilft der EU, Transitmigration zu kontrollieren und Schleusernetzwerke zu bekämpfen. Einen vierten Kreis bilden schließlich der Mittlere Osten, China und Schwarzafrika. Hier geht es aus EU-Sicht darum, die so genannten Push-Faktoren für Migration zu beseitigen. Die EU hat der österreichischen Vorstellung zufolge zu jedem der vier Kreise spezifische migrationspolitische Strategien zu definieren.225 Nicht nur bei Nichtregierungsorganisationen, sondern auch innerhalb der EUInstitutionen rief das Wiener Papier, die Infragestellung der Genfer Konvention, des wichtigsten internationalen Menschenrechtsdokuments über den Schutz von Flüchtlingen und politisch Verfolgten, sowie das Abschottungsmodell aus konzentrischen Kreisen Verwunderung bis Entrüstung hervor.226 Trotz der zum Teil heftigen Kritik an einer möglichen Aufweichung des Flüchtlingsschutzes machte sich der Rat der Innen- und Justizminister eine überarbeitete Fassung des Strategiepapiers als Diskussionsgrundlage zu eigen und beschloss, die darin enthaltenen Vorschläge einem EU-Gipfel zu Migrationsfragen im Oktober 1999 in Tampere (Finnland) vorzulegen. 3.3.2
Ein „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“
Ebenfalls während der österreichischen Präsidentschaft, im Dezember 1998, konkretisierte der Rat die Maßnahmen, die der Amsterdamer Vertrag für die Asylpolitik vorsah, in einem Aktionsplan zum Aufbau eines „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“.227 Das Dokument listet die im Asylbereich zu bewerkstelligenden Vergemeinschaftungsschritte detailliert auf, versucht aber auch, die Leitvorstellungen von Freiheit, Sicherheit und Recht näher zu beschreiben. Die drei Begriffe Zitiert nach Roth/Holzberger 1999, S. 3f. Vgl. Thouez 2000, S. 9; Kopp 1999, S. 45; Lindstrom 2003. S. 8. 226 Vgl. Kopp 1999, S. 45. 227 Aktionsplan des Rates und der Kommission, 23. Januar 1999, S. 1-15. 224 225
3.3 Interessenkonstellationen nach dem Vertrag von Amsterdam
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hingen eng zusammen, so der Rat, und es müsse ein ausgewogenes Verhältnis zwischen ihnen gefunden werden. Freiheit bedeute neben dem klassischen EU-Ziel der Freiheit des Personenverkehrs „auch die Möglichkeit, in einem Rechtsraum zu leben, sowie die Gewissheit, daß die Behörden [...] alles in ihrer individuellen und kollektiven Macht stehende tun, um gegen diejenigen vorzugehen, die diese Freiheit nicht anerkennen oder sie mißbrauchen.“ Ergänzt werden müsse die Freiheit durch die „gesamte Palette der Grundrechte“ sowie durch den Schutz vor „jeglicher Form von Diskriminierung.“228 Ein „Raum der Sicherheit“, so stellt der Rat weiter fest, sei insofern erforderlich, weil die Freiheit nur dann in vollem Umfang genossen werden kann, wenn sich die „Menschen völlig sicher fühlen“. Die EU solle daher sowohl den „Bürgern mehr Sicherheit bieten“, als auch die „Interessen der Union, einschließlich ihrer finanziellen Interessen“, besser verteidigen können. Ziel sei in diesem Kontext die gemeinsame Bekämpfung der organisierten und nicht organisierten Kriminalität, des Terrorismus, des Menschenhandels, der Straftaten gegenüber Kindern, des illegalen Drogen- und Waffenhandels, der Bestechung und der Bestechlichkeit sowie des Betrugs.229 Über den „Raum des Rechts“ hielt der Rat fest: „Es [das Recht] erleichtert das alltägliche Leben der Menschen und gewährleistet, daß jene, welche die Freiheit und Sicherheit des einzelnen und der Gesellschaft gefährden, zur Rechenschaft gezogen werden.“ 230
Verwirklicht werden müsse der Raum des Rechts unter anderem durch justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und in Strafsachen. Im Kontext des beschriebenen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts rangiert auch die Asyl- und Flüchtlingspolitik der Gemeinschaft. So soll etwa der freie Personenverkehr in Verbindung mit „geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen der Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität“ gewährleistet werden. Diese Politiken und Ziele werden also als interdependent betrachtet. Im Interesse einer möglichst großen öffentlichen Sicherheit sollen alle Elemente des Aktionsplans „zeitlich und inhaltlich ineinander greifen“.231 Die im Aktionsplan enthaltene Beschreibung der künftigen gemeinsamen Innen- und Justizpolitik der Union hat für den Asyl- und Migrationsbereich große Bedeutung. Die wichtigste Botschaft des Aktionsplans ist, dass das Asyl- und Flüchtlingsrecht, wie schon zu Beginn der Neunzigerjahre, erneut in den politischen Kontext der Sicherheitspolitik und der Kriminalitätsbekämpfung gerückt wird bzw. Aktionsplan des Rates und der Kommission, 23. Januar 1999, S. 3. Ebenda. 230 Aktionsplan des Rates und der Kommission, 23. Januar 1999, S. 4. 231 Aktionsplan des Rates und der Kommission, 23. Januar 1999, S. 7. 228 229
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3 Interessen bis zum Vertrag von Amsterdam und dem Gipfel in Tampere
dort verbleibt. Asylpolitik wird mit Sicherheitspolitik und dem Sicherheitsempfinden der EU-Bürger verzahnt; Migration – vor allem „illegale“ – erscheint vornehmlich als Bedrohung.232 Fragen der legalen Einreise von Migranten in die EU, der Integration oder der Arbeitsmigration werden im Aktionsplan nicht erwähnt. 3.3.3
Die „Leitlinien“ der deutschen Bundesregierung
Da die Inhalte des Aktionsplans hinsichtlich der Asyl- und Migrationspolitik vielen Mitgliedstaaten noch zu wenig praktisch greifbar erschienen233 , wurde der EU-weite Diskussionsprozess über den Kurs der gemeinsamen Flüchtlings- und Migrationspolitik auch nach der Verabschiedung des Aktionsplans weitergeführt. Im ersten Halbjahr des Jahres 1999 hatte nach Österreich die Bundesrepublik Deutschland die europäische Ratspräsidentschaft inne. Sie legte gegen Ende dieses Zeitraums über den damaligen Bundesinnenminister Otto Schily „Leitlinien für eine europäische Migrations- und Asylstrategie“234 vor, die bestimmte Elemente des Wiener Strategiepapiers weiterentwickelten. Schily fordert darin zwar keine Ablösung der Genfer Konvention, setzt sich jedoch dafür ein, daneben „weitere komplementäre Schutzmöglichkeiten bereitzustellen.“235 Neben dem Asylrecht im eigentlichen Sinne solle, so das Papier, ein auf eine „Massenfluchtbewegung zugeschnittenes Schutzsystem des vorübergehenden Schutzes“ etabliert werden. Ziel der deutschen Regierung war bei diesem Vorschlag, nicht mehr allen Flüchtlingen ein Asylverfahren zu gewähren, sondern bestimmte Gruppen (etwa Bürgerkriegsflüchtlinge aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens) aus dem Asylsystem auszunehmen und ihnen eine nicht juristisch, sondern per politischen Beschluss zu gewährende Aufenthaltsmöglichkeit zu verleihen. Ein solches System hätte für die EU-Staaten den „Vorteil“, dass ein daraus resultierendes Aufenthaltsrecht jederzeit wieder zurückgenommen werden könnte. Wenn eine „Massenflucht“ aus einem bestimmten Land in die EU einsetzt, etwa weil dort ein Bürgerkrieg stattfindet, so kann den betreffenden Flüchtlingen ein Aufenthaltsrecht im Rahmen der „vorübergehenden Aufnahme“ gegeben werden; wenn die Staaten zu der Einschätzung kommen, dass sich die Situation im Herkunftsland der Flüchtlinge verbessert, so kann das Aufenthaltsrecht wieder gekündigt werden – im Gegensatz zum Asyl bzw. zur Anerkennung als Flüchtling, welche einen langfristigen Aufenthalt ermöglicht, der nicht durch einen politischen Beschluss wieder aufgehoben werden kann. Die Initiative Schilys, die in einer weniger konkreten Form bereits im Vertrag von Amsterdam genannt wird und auch im Vgl. Thouez 2000, S. 3; Lindstrom 2003, S. 6-9. Vgl. Angenendt 2002, S. 550. 234 Rat der Europäischen Union, Leitlinien für eine europäische Migrations- und Asylstrategie, Dok.-Nr. 9547/99, Brüssel, 23. Juni 1999. 235 Rat der Europäischen Union, 23. Juni 1999, S. 8. 232 233
3.4 Der EU-Sondergipfel von Tampere
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Aktionsplan von 1998 auftaucht, mündete einige Jahre später – wie weiter unten gezeigt wird – in eine rechtskräftige EU-Richtlinie. 3.4 Der EU-Sondergipfel von Tampere An die deutsche EU-Ratspräsidentschaft schloss sich in der zweiten Jahreshälfte 1999 der finnische Vorsitz an. In der Stadt Tampere wurde Mitte Oktober ein Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs sowie der Außenminister der EU abgehalten. Die Ergebnisse des Gipfels markieren das vorläufige Ende des Diskussionsprozesses über die Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik, der mit dem österreichischen Strategiepapier begonnen hatte und mit dem Aktionsplan des Rates sowie den migrationspolitischen Leitlinien aus Berlin weitergeführt worden war. Der Gipfel von Tampere betonte nochmals ausdrücklich die Notwendigkeit einer gemeinsamen Politik im Migrationsbereich und setzte sich vor allem für eine „umfassende Strategie“ ein, die nicht nur Asyl- und Flüchtlingsfragen sowie „illegale“ Einwanderung, sondern Migration insgesamt berücksichtigen müsse. Diese Strategie müsse auch in die außen- und entwicklungspolitischen Aktivitäten der EU einfließen. Armutsbekämpfung, eine Verbesserung der Lebensumstände in den Herkunftsländern von Migranten, Konfliktverhütung, Demokratisierung und Menschenrechtsschutz müssten vorrangige Ziele der gemeinsamen Politik sein, um den „Migrationsdruck“ auf die EU zu verringern, hielt der Gipfel fest.236 Mit einem „uneingeschränkten und allumfassenden“ Bekenntnis zur Genfer Flüchtlingskonvention als Grundlage der gemeinsamen Asylpolitik237 zog der Rat in Tampere einen Schlussstrich unter die Debatten, die das Wiener Strategiepapier mit seiner Forderung nach „Ergänzung oder Ablösung“ der Konvention ausgelöst hatte. In den nächsten Jahren solle, so der Ratsgipfel, ein wirklich gemeinsames, auf der Genfer Konvention basierendes Asylverfahren für die gesamte EU entwickelt werden. Vorgesehen ist demnach auch die Einführung eines für alle anerkannten Flüchtlinge EU-weit einheitlichen Aufenthaltsstatus.238 Darüber hinaus beschlossen die Staats- und Regierungschefs, verlässliche Verfahren für die Bestimmung des für einen Asylantrag zuständigen EU-Staates, gemeinsame Standards für die Durchführung von Asylverfahren, für die Aufnahme von Asylsuchenden, für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und für die Gewährung „subsidiären Schutzes“, also für die vorübergehende Aufnahme von Flüchtlingen, zu vereinbaren. Der Gipfel von Tampere forderte die Kommission auf, zu jeder dieser Maßnahmen, die bereits vom Amsterdamer Vertrag und dem
Vgl. Europäischer Rat 15. und 16. Oktober 1999; vgl. auch Angenendt 2002, S. 551. Europäischer Rat 15. und 16. Oktober 1999. 238 Ebenda. 236 237
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3 Interessen bis zum Vertrag von Amsterdam und dem Gipfel in Tampere
Aktionsplan von 1998 skizziert worden waren, präzise Vorschläge zu erarbeiten, auf deren Grundlage der Innenministerrat dann Entscheidungen treffen würde.239 In einem zweiten Paket von Beschlüssen forderten die Staats- und Regierungschefs, den Umgang mit Drittstaatsangehörigen allgemein, also nicht nur mit Flüchtlingen und Asylsuchenden, in der EU verbindlich zu regeln. Allen Drittstaatsangehörigen sollten langfristig vergleichbare Rechte wie EU-Bürgern zuerkannt werden, hielt der Gipfel fest – etwa hinsichtlich Wohnsitznahme, Zugang zum Bildungswesen und in Bezug auf das Recht, einer selbstständigen oder unselbstständigen Arbeit nachzugehen. Die Kommission erhielt den Auftrag, sich auch mit Arbeitsmigration aus Drittstaaten zu befassen. Flankierend sei eine effektive Politik der Nichtdiskriminierung und der Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nötig.240 Im Rahmen eines dritten Pakets äußerte sich der Tampere-Gipfel in allgemeiner Form zu Migrationsbewegungen. Die Tatsache, dass die EU ein Raum der Freiheit sei, entfalte eine „Sogwirkung“ auf viele Menschen anderswo auf der Welt, die nicht in den Genuss der Freiheit kämen. Die Union dürfe es diesen Menschen, sofern sie berechtigte Gründe hätten, nicht verweigern, in die EU einzureisen. Jedoch müssten die Wanderungsbewegungen in die EU besser gesteuert werden – unter anderem müsse die „illegale“ Einwanderung bekämpft werden, und man müsse gemeinsam gegen Schleuser vorgehen, etwa durch eine Verbesserung der Grenzkontrollen und eine Zusammenarbeit der nationalstaatlichen Grenzschutzbehörden. Außerdem sei die freiwillige Rückkehr von Migranten in ihre Herkunftsländer zu fördern und die Rückkehrpolitik durch den Abschluss von Rückübernahmeverträgen mit Drittländern zu intensivieren. Die EU-Beitrittskandidatenländer wurden von den Regierungschefs dazu aufgefordert, an der Steuerung von Wanderungsbewegungen mitzuwirken, etwa durch Übernahme und Implementierung des Schengen-Besitzstands. 241 Der Ratsgipfel von Tampere wird in den folgenden Jahren im EUZusammenhang als „Meilenstein“ für die Entwicklung der gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik gewertet und bildet einen der Texte, auf die bei späteren asyl- und flüchtlingspolitischen Vorschlägen, aber auch in späteren Vorschlägen der Kommission zu den verschiedenen Arten legaler Migration, auch der Arbeitsmigration, immer wieder Bezug genommen wird.
Ebenda. Vgl. Ebenda. 241 Vgl. Ebenda. 239 240
4 Die Umsetzung des Vertrags: Asyl und „illegale“ Einwanderung
Die Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags und die Beschlüsse des Gipfels von Tampere bilden bis zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit die wesentlichsten politisch-normativen Grundlagen der Migrationspolitik der EU. Auf beide Dokumente wird, wie weiter unten gezeigt wird, seitens der EU-Akteure immer wieder Bezug genommen, wenn gemeinsame Maßnahmen vorgeschlagen und diskutiert werden. Die folgenden Abschnitte sollen verdeutlichen, inwieweit die Beschlüsse von den EU-Organen in der Folgezeit in die Realität umgesetzt und welche Interessen in diesem Zusammenhang vertreten wurden. Zur besseren Übersichtlichkeit wird dieses Kapitel in vier Unterkapitel eingeteilt. Sie betreffen die „Asyl- und Flüchtlingspolitik“ (4.1), Maßnahmen und Interessen im Bereich der „illegalen Einwanderung“ und der Rückführung illegaler Migranten (4.2), sowie Maßnahmen im Bereich der „legalen Migration“, darunter Familienzusammenführung und Arbeitsmigration (4.3). Danach werden die Ergebnisse in einem Zwischenfazit (4.4) zusammengefasst und kommentiert. Hier wird auch auf das „Haager Programm“ eingegangen, das Nachfolgedokument der TampereSchlussfolgerungen. 4.1 Interessen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik Als die wichtigsten bereits verabschiedeten und teilweise rechtskräftigen Elemente der gemeinsamen Migrationspolitik im Bereich Asyl und Flüchtlinge gelten eine Richtlinie über die Harmonisierung der Asylverfahren („Asylverfahrensrichtlinie“), eine Richtlinie über die Kriterien für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen als Flüchtlinge („Asyl-Qualifikationsrichtlinie“), eine Richtlinie über die soziale Versorgung und die Aufnahme von Asylsuchenden („Richtlinie über Aufnahmebedingungen“), die Aktualisierung des Dubliner Asylübereinkommens über die Frage, welcher Mitgliedstaat für die Aufnahme und Prüfung eines Asylantrags zuständig ist („Dublin II“) sowie die Einigung der EU-Organe über einen „Europäischen Flüchtlingsfonds“ für die Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Aufnahme von Asylbewerbern. Manchmal wird zum „Kern“ der ersten verbindlichen Rechtsakte der EU-Organe zur Migrationspolitik auch die Richtlinie über „vorübergehenden
98
4 Die Umsetzung des Vertrags: Asyl und „illegale“ Einwanderung
Schutz“ („Temporary Protection Directive“) gerechnet, die in den nachfolgenden Abschnitten ebenfalls erwähnt wird. 4.1.1
Gemeinsame Normen für Asylverfahren
Einer der ersten Vorschläge bezüglich der Asylpolitik, die die Kommission dem Rat und dem Parlament vorlegte, war im März 1999 das Arbeitsdokument „Gemeinsame Normen für Asylverfahren“242 . Das Papier sollte eine „Debatte über die Asylverfahren“ im Rat und im Europäischen Parlament anstoßen und letztlich zur Verabschiedung einer Richtlinie führen, mit der die Verfahren zur Zuerkennung (und Aberkennung) der „Flüchtlingseigenschaft“ in den Mitgliedstaaten aneinander angepasst würden. Das Europäische Parlament bezog im Juni 2000 zu dem Arbeitsdokument Stellung. In einer Entschließung wird konstatiert, das Asylrecht in den EU-Staaten sei von einer „Reihe von Ungleichgewichten und Unterschieden in der Behandlung von Asylbewerbern, insbesondere im Zusammenhang mit den Bedingungen für ihre Aufnahme und den Kriterien für die Anerkennung ihres Status als Flüchtlinge gekennzeichnet“243 . Diese gelte es zu harmonisieren. Das Parlament setzt sich dafür ein, in der Migrationspolitik der EU zwischen Asylbewerbern (die im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention als Flüchtlinge anerkannt werden wollen), Zuwanderern „aus wirtschaftlichen und anderen Gründen“, und der „vorübergehenden Aufnahme von Flüchtlingen aus Krisenregionen“ zu unterscheiden. Für die erste Gruppe, also Asylbewerber, sei ein System zu entwickeln, das unter anderem folgende Elemente beinhalten soll: Ein Recht auf persönliche Anhörung des Asylbewerbers, das Recht, auf dem Gebiet des Aufnahmelandes zu bleiben, bis endgültig über den Asylantrag entschieden ist, sowie ein Recht auf Berufung gegen negative Entscheidungen. Seitens der Behörden sei eine „unparteiische und objektive Prüfung“ der Anträge durchzuführen. Asylbewerbern müsse außerdem Rechtsberatung ermöglicht werden. Besondere Regelungen seien für Personen mit speziellen Bedürfnissen, etwa Folteropfer, Minderjährige oder Behinderte zu ergreifen. Daneben fordert das Parlament eine „Beschleunigung der administrativen und gerichtlichen Tätigkeiten“, also schnellere Anerkennungsverfahren, bei denen jedoch die „Würde der Asylbewerber“ gewahrt bleiben müsse.244 Das Parlament machte in seiner Entschließung somit eine Reihe von menschenrechtlichen und sozialen Interessen geltend. Andererseits werden aber auch Elemente einer restriktiven Flüchtlingspolitik bejaht. So wird betont, es sei „eine Vielzahl von Versuchen der unrechtmäßigen Inanspruchnahme des Asylrechts SEK(1999) 271. Europäisches Parlament, Dok.-Nr. A5-0123/2000, S. 2. 244 Europäisches Parlament, Dok.-Nr. A5-0123/2000, S. 2-4. 242 243
4.1 Interessen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik
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festzustellen, die darauf abzielen, Zugang zu den Ländern zum Zweck der Einwanderung zu erhalten.“245 Daher müsse die Europäische Union unter anderem mit wichtigen Herkunftsländern von Flüchtlingen Verträge abschließen, in denen sich die Drittländer dazu verpflichten, abgewiesene Asylbewerber wieder aufzunehmen. Auch die Konzepte „sicheres Drittland“ und „sicheres Herkunftsland“, die von den EU-Staaten 1992 in London erstmals definiert worden waren, begrüßte das Parlament. Daneben äußerten sich auch die Regierungen von 13 Mitgliedstaaten zu den Vorschlägen der Kommission, und der UNHCR, der Europäische Flüchtlingsrat ECRE, Amnesty International und Save the Children wurden zu den Inhalten des Arbeitsdokuments angehört. Drei weitere Nichtregierungsorganisationen nahmen schriftlich Stellung. Im September 2000 legte die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat dann einen detaillierten, auf den Ergebnissen der Konsultationen basierenden Richtlinienvorschlag vor. Dessen Hauptziel ist es, ein „einfaches und zügiges Asylverfahren“ zu schaffen, das eine „rasche und korrekte Bearbeitung der Asylfälle“ ermögliche.246 Gemeint ist von der Kommission kein Gemeinschaftsinstrument, also nicht die Schaffung eines gemeinsamen „EU-Asylverfahrens“, das in allen Mitgliedstaaten auf die gleiche Weise gelten würde. Es soll auch nicht zwingend vorgeschrieben werden, dass die Mitgliedstaaten das vom Gipfel in London 1992 angenommene Konzept der „sicheren Drittstaaten“ anwenden müssen. Jedoch will die Kommission erreichen, dass die Mitgliedstaaten ihre nationalen Asylverfahren einander anpassen und gemäß gemeinsamen „Mindestnormen“ gestalten. Auch sollen sie sich, wenn sie in ihrer nationalen Asylpraxis Konzepte wie das der „sicheren Drittstaaten“ anwenden, an bereits vorliegenden gemeinsamen Definitionen orientieren. Der Richtlinienvorschlag beschränkt sich auf Fälle, in denen Drittstaatsangehörige an den Außengrenzen eines Mitgliedstaats oder innerhalb des Staates einen Asylantrag stellen.247 Asylbewerber sollen, so die Kommission, in allen EU-Staaten ein ähnliches Verfahren vorfinden, so dass „Verfahrensgerechtigkeit“ erreicht wird. Damit ist gemeint, dass Anreize wegfallen sollen, innerhalb der EU mehrere Asylanträge zu stellen, weil die Bestimmungen, die die EU-Staaten der Prüfung von Asylanträgen zu Grunde legen, unterschiedlich sind. Die Mitgliedstaaten sollen in der ersten Phase der Prüfung von Asylanträgen einheitliche Fristen einhalten und den Asylbewerbern ermöglichen, gegen negative Entscheidungen einen Rechtsbehelf einzulegen. Hinsichtlich des Rechtswegs hält die Kommission ein „dreistufiges Verfahren“ für angemessen: Eine den „FlüchtEbenda. KOM(2000) 578 endgültig, S. 3. 247 In anderen Verfahren in den Mitgliedstaaten, etwa zur Zulassung von Flüchtlingen über Kontingente oder im Rahmen von „subsidiärem Schutz“ (siehe Kapitel 4.1.2), müssen die Mindestnormen nicht berücksichtigt werden. 245 246
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4 Die Umsetzung des Vertrags: Asyl und „illegale“ Einwanderung
lingsstatus bestimmende Behörde“, eine administrative oder gerichtliche Beschwerdeinstanz sowie ein „Rechtsmittelgericht“.248 In weiteren Abschnitten des Vorschlags werden zahlreiche Forderungen aufgegriffen, die das Parlament in seiner Entschließung gestellt hatte. Der Richtlinienvorschlag enthält außerdem eine Reihe von Vorschriften darüber, wann ein Asylgesuch als „offensichtlich unbegründet“ gewertet werden darf. In solchen Fällen müssen von Asylbewerbern eingelegte Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung haben, und die Mitgliedstaaten können Abschiebungen durchführen, ohne dass zuvor über das eingelegte Rechtsmittel entschieden sein muss. Dies macht deutlich, dass sich das Interesse der Kommission sowohl an dem Ziel orientiert, die Asylverfahren in den Mitgliedstaaten zu harmonisieren und dabei bestimmte Rechte von Asylsuchenden zu gewährleisten, als auch die in vielen Mitgliedstaaten geführten Debatten über „Asylmissbrauch“ und die Notwendigkeit, den Zugang zum Asylrecht zu begrenzen, zu berücksichtigen. Der Richtlinienvorschlag wurde erst fünf Jahre nach seiner ursprünglichen Vorlage vom Rat in Form einer rechtsverbindlichen Richtlinie verabschiedet.249 In der Zwischenzeit hatte das Europäische Parlament auf eine weiter reichende Definition der Verfolgungen oder Bedrohungen, die einen Anspruch auf Asyl begründen, gedrängt sowie Verbesserungen beim Recht der Asylbewerber auf Information und auf persönliche Anhörung gefordert. Das Parlament verlangte auch, dass Rechtsmittel eine aufschiebende Wirkung haben müssen und forderte, die Kriterien für die Einstufung eines Transitlandes als „sicheren Drittstaat“ und die Wertung von Asylanträgen als „offensichtlich unbegründet“ enger zu definieren.250 Das Parlament machte damit, insgesamt gesehen, an den Menschenrechten der Flüchtlinge orientierte Interessen geltend, stellte das Konzept sicherer Drittstaaten und offensichtlich unbegründeter Anträge jedoch nicht grundsätzlich in Frage. Aufgrund der Änderungswünsche des Parlaments und Uneinigkeit unter den Mitgliedstaaten im Rat der Innenminister (unter anderem über die Frage der Rechtsmittel und ihre möglicherweise aufschiebende Wirkung) legte die Kommission im Juni 2002 einen überarbeiteten Richtlinienentwurf vor, zu dem Rat und Parlament erneut Stellung bezogen. Auf die Inhalte der Beratungen dazu kann nicht eingegangen werden, da dies zu weit vom eigentlichen Thema dieser Arbeit wegführen würde. Stattdessen soll kurz der Inhalt des im Dezember 2005 im Rat vereinbarten Kompromisses wiedergegeben werden, sowie die Interessen, die der Rat in diesem Zusammenhang vertritt. Auffällig ist, dass die Richtlinie darauf ausgerichtet ist, Asylbewerbern ein „gerechtes und wirksames Asylverfahren“251 zu gewähren. In der Präambel wird auf die Genfer Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und auf die Charta der KOM(2000) 578 endgültig, S. 5f. Richtlinie 2005/85/EG des Rates. 250 Europäisches Parlament, Dok.-Nr. A5-0291/2001. 251 Richtlinie 2005/85/EG des Rates, S. 13. 248 249
4.1 Interessen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik
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Grundrechte der Europäischen Union verwiesen, was dafür spricht, dass die Mitgliedstaaten das Recht auf Asyl als ein Menschen- bzw. Grundrecht anerkennen. Ein Interesse, schutzbedürftigen Personen Asyl zu gewähren, ist auch in anderen Abschnitten der Richtlinie erkennbar. Unter anderem ist festgehalten, dass „so rasch wie möglich“ über Anträge entschieden werden soll, dass Entscheidungen über Asylanträge „auf der Grundlage von Tatsachen“ ergehen, und dass diejenigen, von denen die Entscheidungen getroffen werden, „angemessene Kenntnisse in Asyl- und Flüchtlingsangelegenheiten“ haben. Auch enthält die Richtlinie „spezifische Verfahrensgarantien“ für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, und sie schreibt vor, dass es zwischen den Behörden und den Antragstellern eine „echte Kommunikation“ geben muss und dass sichergestellt werden sollte, dass die Asylsuchenden ihr Verfahren über „sämtliche Instanzen“ betreiben können. Vorgeschrieben ist auch das Recht von Asylbewerbern „auf einen wirksamen Rechtsbehelf“. Die Frage, wann dieser Rechtsbehelf eine aufschiebende Wirkung haben muss, also gegen Abschiebung schützt, ist jedoch nicht im Detail geregelt und bleibt den Mitgliedstaaten überlassen. Andererseits werden auch Abwehr- und Sicherheitsinteressen deutlich. Die Richtlinie legt im Abschnitt „Prüfungsverfahren“ detailliert fest, unter welchen Voraussetzungen die Mitgliedstaaten ein Asylverfahren vorrangig oder beschleunigt durchführen können, nämlich unter anderem dann, wenn ein Antragsteller aus einem „sicheren Herkunftsstaat“ oder über einen „sicheren Drittstaat“ eingereist ist, Ausweisdokumente vernichtet hat oder diese den Behörden vorenthält, falsche Angaben zur Person gemacht hat oder „versäumt hat, den Antrag zu einem früheren Zeitpunkt zu stellen, obwohl er Gelegenheit dazu gehabt hätte.“252 Die 1992 in London verabschiedeten Beschlüsse über „sichere Herkunfts- und Drittstaaten“ werden in der Richtlinie konkretisiert und es wird festgelegt, dass der Rat in Zusammenarbeit mit der Kommission und dem Europäischen Parlament eine gemeinsame Liste der Drittstaaten erstellt, „die von den Mitgliedstaaten als sichere Herkunftsstaaten (...) zu betrachten“ sind. Auch enthält das Dokument in Kapitel IV Vorschriften über Möglichkeiten, die „Flüchtlingseigenschaft“ wieder abzuerkennen. In vielen Teilen sind die Verfahrensvorschriften für die Mitgliedstaaten Kannund Soll-Bestimmungen. Eine von der Kommission angekündigte Untersuchung darüber, inwieweit die Mitgliedstaaten ihre nationale Praxis hinsichtlich der Asylverfahren geändert haben, um der Richtlinie nachzukommen, und wie sie die Kannund Soll-Bestimmungen auslegen, liegt zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit noch nicht vor. Bekannt ist jedoch, dass Schweden 2006 seine nationale Asylverfahrenspraxis dahingehend änderte, dass nun nicht mehr eine weisungsgebundene, staatliche Behörde, sondern neu eingerichtete „Migrationsgerichte“ („mi252
Richtlinie 2005/85/EG des Rates, S. 24.
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4 Die Umsetzung des Vertrags: Asyl und „illegale“ Einwanderung
grationsdomstolar“) dafür zuständig sind, Rechtsmittel von Asylbewerbern gegen ablehnende Entscheidungen der ersten Prüfungsinstanz zu bearbeiten.253 Die EURichtlinie legt in Artikel 39 fest, dass Asylsuchende gegen erstinstanzliche Entscheidungen „das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht oder Tribunal“ haben.254 In Deutschland stimmt der Inhalt der Verfahrensrichtlinie laut Bundesinnenministerium im Wesentlichen mit der deutschen Rechtslage überein, so dass kein grundlegender Änderungsbedarf entstanden ist.255 Für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist jedoch die Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten weniger relevant als die Feststellung, dass sie die Konzepte „sicherer Herkunftsstaat“ und „sicheres Drittland“ vom so genannten „soft law“ (EU-Beschlüsse ohne juristisch bindende Wirkung) in verbindliches Recht verwandelt hat. Damit wird erneut deutlich erkennbar, dass die Mitgliedstaaten ein starkes Interesse an Steuerung und Kontrolle von Migrationsbewegungen und der Verhinderung von „Asylmissbrauch“ haben. 4.1.2
Definition des Flüchtlingsbegriffs und des „subsidiären Schutzes“
Neben gemeinsamen Bestimmungen über Asylverfahren gehört zu einem Europäischen Asylsystem auch eine gemeinsame Definition des Begriffs „Flüchtling“, also ein einheitliches Verständnis davon, welche Personen Flüchtlingsschutz in der EU bekommen sollen, und davon, ob es neben dem Recht auf Asyl weitere Möglichkeiten des Schutzes geben sollte. Aus diesem Grund legte die EU-Kommission im September 2001 einen Richtlinienvorschlag über die „Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen (...) als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen“, vor.256 Die Richtlinie, die vom Rat nach Konsultation des Europäischen Parlaments Ende April 2004 verabschiedet wurde, nimmt auf die Beschlüsse des EU-Gipfels in Tampere Bezug und definiert den Begriff „Flüchtling“ nach Maßgabe der Genfer Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge. Diese Definition müssen die EU-Mitgliedstaaten spätestens ab 10. Oktober 2006 ihrer nationalen Anerkennungspraxis zu Grunde legen. Weil eine ausführliche Beschreibung und Analyse der Richtlinie und ihres Zustandekommens zu weit vom eigentlichen Thema dieser Arbeit wegführen würde, wird im Folgenden lediglich auf einige Elemente eingegangen, die für das Verständnis der Entwicklung der Interessen der EU-Akteure in der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik besonders wichtig sind. 253 Vgl. Migrationsdomstolar ersätter Utlänningsnämnden, Pressemitteilung des Schwedischen Reichstags (Sveriges Riksdag), Stockholm, 22. August 2005. 254 Richtlinie 2005/85/EG des Rates, S. 24 255 Vgl. Maaßen 2006, S. 167. 256 KOM(2001) 510 endgültig.
4.1 Interessen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik
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Die Frage, ob die EU ihrer Politik einen auf der Genfer Konvention beruhenden Flüchtlingsbegriff zu Grunde legen sollte, oder ob die Konvention durch andere Schutzkonzepte und einen anderen Flüchtlingsbegriff ersetzt werden müsse, war unter den Mitgliedstaaten im Diskussionsprozess vor dem Gipfel von Tampere umstritten. Eine Ursache dafür ist, dass die Definition des Begriffs „Flüchtling“ in der Genfer Konvention ursprünglich auf „Ereignisse, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten sind“257 Bezug nahm, also unter anderem auf den Zweiten Weltkrieg und die Flucht von Juden vor Verfolgung und Vernichtung durch Nazideutschland.258 Dies wurde beispielsweise in Deutschland so interpretiert, dass der Begriff „Verfolgung“, der den Flüchtlingsstatus begründet, von staatlichen Akteuren ausgehen muss.259 Auch Österreich argumentierte im Vorfeld des Gipfels von Tampere, die Definition der Genfer Flüchtlingskonvention sei überholt, da die meisten Asylbewerber heute keine staatliche Verfolgung mehr gelten machten, sondern fast ausschließlich nicht-staatliche Verfolgungstatbestände. Die auf Vorschlag der Kommission zu Stande gekommene Richtlinie des Rates hält nun ausdrücklich fest, dass sich das gemeinsame Europäische Asylsystem „auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (...), ergänzt durch das New Yorker Protokoll vom 31. Januar 1967 (...) stützt (...)“. Die Genfer Konvention und das Protokoll stellen, so der Rat, „einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar.“ In der Richtlinie wird der Flüchtlingsbegriff, gleich lautend mit dem Text der Genfer Konvention, so definiert: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck (...) ‚Flüchtling’ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will (...)“ 260
Das Problem, dass „Verfolgung“ in diesem Kontext in manchen Mitgliedstaaten mit „staatlicher Verfolgung“ gleichgesetzt wird, wurde in der Richtlinie des Rates dadurch gelöst, dass es neben der Anerkennung eines Asylbewerbers als Flüchtling Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28 Juli 1951, Artikel 1 A (2). Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde später durch ein Protokoll ergänzt, wobei zeitliche und geographische Beschränkungen aufgehoben wurden. 259 Burkhardt (1998) hält fest, dass in der Genfer Flüchtlingskonvention nicht die Rede davon sei, „dass eine Verfolgung nur vom Staat ausgehen muss.“ In Deutschland habe sich eine Rechtssprechung durchgesetzt, die „die Schutzwirkung der Genfer Flüchtlingskonvention in unzulässiger Weise verengt.“ 260 Richtlinie 2004/83/EG des Rates, hier S. 14. 257 258
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im Sinne der Genfer Konvention auch möglich wird, Drittstaatsangehörigen im Rahmen „subsidiären Schutzes“ ein Aufenthaltsrecht in einem EU-Mitgliedstaat zu verleihen. Voraussetzung für diese Art der Gewährung von Schutz, die von manchen Mitgliedstaaten zuvor nicht angewandt wurde, ist die begründete Furcht eines Drittstaatsangehörigen vor „ernsthaftem Schaden“ in seinem Herkunftsland. Dieser muss nicht unbedingt von staatlichen Stellen ausgehen. Als „ernsthafter Schaden“ gilt im Sinne der Richtlinie unter anderem die „Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe“, Folter oder auch eine andere „ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson“.261 Zu beachten ist jedoch, dass der Schutz, den die Anerkennung eines Asylbewerbers als Flüchtling verleiht, stärker ist, als der subsidiäre Schutz. Der Flüchtlingsstatus wird der Richtlinie zufolge in der Regel unbefristet verliehen, während subsidiärer Schutz zumeist zeitlich befristet wird. Er kann unter anderem dann aufhören, wenn „die Umstände, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes geführt haben, nicht mehr bestehen“.262 In anderen Abschnitten nennt die Richtlinie unter anderem Vorschriften über die Prüfung von Ereignissen und Umständen, die Asylbewerber während des Asylverfahrens geltend machen, über Verfolgungsgründe, die zur Anerkennung als Flüchtling führen können und über Möglichkeiten, den Flüchtlingsstatus zu widerrufen, etwa in Fällen, in denen Asylbewerber in ihren Herkunftsländern schwere Straftaten begangen haben. In vielen Teilen bleiben den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Bestimmungen in nationales Recht weite Ermessensspielräume. Auch muss erwähnt werden, dass die Richtlinie zwar ein Grundgerüst aus verbindlichen Normen schafft, es den Mitgliedstaaten aber ausdrücklich gestattet, „günstigere Normen zur Entscheidung der Frage, wer als Flüchtling (...) gilt“ beizubehalten, sofern solche Normen existieren und prinzipiell mit der Richtlinie vereinbar sind. Fragt man nach den Interessen der Akteure, so wird deutlich, dass die Richtlinie auf Menschenrechtsdokumente Bezug nimmt und insofern vom Interesse der EU-Organe zeugt, das Recht auf Asyl grundsätzlich zu gewährleisten und verfolgte Personen zu schützen. Da kein Mitgliedstaat dazu gezwungen wird, eine restriktivere Anerkennungspraxis bei der Prüfung von Asylgesuchen anzunehmen, kann sie, für sich genommen, nicht als ein Instrument der Abschottung der EU gegenüber Flüchtlingsströmen betrachtet werden. Angesichts der fortdauernden Unterschiede in der Anerkennungspraxis der Mitgliedstaaten kann man jedoch schlussfolgern, dass die Richtlinie den Mitgliedstaaten zu große Ermessensspielräume einräumt. Dafür spricht 2006 und 2007 beispielsweise der unterschiedliche Umgang der EUStaaten mit Flüchtlingen aus dem Irak. Während manche Staaten die meisten irakischen Asylsuchenden als Flüchtlinge anerkennen oder subsidiären Schutz gewähren, 261 262
Zu weiteren Definitionen „ernsthaften Schadens“ siehe: Richtlinie 2004/83/EG des Rates, S. 19. Ebenda.
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lehnen andere Mitgliedstaaten Asylgesuche von Irakern fast immer ab und praktizieren Rückführungen in als „sicher“ betrachtete Landesteile.263 Die Anerkennungsraten unterscheiden sich massiv zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten, was Zweifel daran aufkommen lässt, ob die Asyl-Qualifikationsrichtlinie auch nur ein Mindestmaß an Vereinheitlichung des Flüchtlingsbegriffs geschaffen hat.264 Der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen UNHCR veröffentlichte im November 2007 eine Studie über die Umsetzung der Richtlinie in den fünf EU-Staaten Deutschland, Frankreich, Slowakei, Griechenland und Schweden. UNHCR stellte dabei fest, dass die Richtlinie in Deutschland und Frankreich dazu geführt hat, dass die Verfolgungsgründe, die zu einer Asylgewährung führen können, erweitert wurden. Beide Länder berücksichtigten nun auch bestimmte Formen nicht-staatlicher Verfolgung, was der UNHCR positiv wertet.265 In Deutschland wurden Kernelemente der Richtlinie mit dem Zuwanderungsgesetz in deutsches Recht übernommen. Dazu gehört vor allem die Berücksichtigung nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung im Rahmen der Anerkennung von Flüchtlingen.266 Auch wird vom UNHCR konstatiert, dass die unterschiedlichen nationalen Asylsysteme in der EU und die Rechtsprechung in Teilen einander angenähert wurden. Gleichzeitig wird aber auch bemängelt, dass mehrere Details der Richtlinie weiterhin unterschiedliche Auslegungen zulassen.267 Es gebe zudem Anzeichen dafür, dass das Ziel, schutzbedürftigen Personen effektiv internationalen Schutz zur Verfügung zu stellen, nicht er263 Der Europäische Flüchtlingsrat ECRE hält dazu fest: „Throughout Europe, the treatment of Iraqis seeking international protection continues to vary considerably. A few European countries have increased the protection afforded to Iraqi nationals, some have withdrawn protection from Iraqi refugees, whilst others are simply not granting any status to Iraqis.“ Vgl. European Council on Refugees and Exiles 2007. 264 Während Griechenland und die Slowakei 0 Prozent der irakischen Flüchtlinge, die 2006 in diesen Ländern einen Asylantrag stellten, eine Form des Schutzes gewährten, lag die Quote in Dänemark bei zwei Prozent, in Deutschland bei 11, in Frankreich bei 23, in Finnland bei 63 und in Schweden sogar bei 90 Prozent; vgl. Sperl 2007, S. 18. 265 Die Studie konstatiert u.a.: „In France and Germany, the Directive has enlarged the grounds for granting protection and thereby reinforced the protection system. This is illustrated by the increase in decisions by the authorities in Germany granting refugee status to Somalis.“ UNHCR 2007, S. 9. 266 Vgl. Maaßen 2006, S. 166. 267 Unter anderem wird die Frage, inwieweit Flüchtlingen in ihrem eigenen Land „inländische Fluchtalternativen“ zur Verfügung stehen und Ansprüche auf Asyl bzw. Schutz in der EU deshalb verneint werden können, unterschiedlich beantwortet. Nach deutscher und slowakischer Asylpraxis haben beispielsweise tschetschenische Flüchtlinge Fluchtalternativen innerhalb der russischen Förderation, während Frankreich für Tschetschenen keine solchen Fluchtalternativen sieht. Besonders wichtig erscheint, dass die von UNHCR untersuchten EU-Staaten die Begriffe „Flüchtling“ und „subsidiärer Schutz“ höchst unterschiedlich auslegen. Flüchtlingen aus dem Irak wurden in Deutschland im Untersuchungszeitraum zu 16,3 Prozent als Flüchtlinge anerkannt. „Subsidiären Schutz“ bekamen 1,1 Prozent der irakischen Flüchtlinge. In Schweden dagegen bekamen 73,2 Prozent subsidiären Schutz, und nur 1,7 Prozent wurden als Flüchtlinge anerkannt. UNHCR folgert: „It must be a matter of deep concern to the European Union that the practice with regard to one group varies so greatly across just the five Member States studied.“ Vgl. UNHCR 2007, S. 13.
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reicht werde. Als einen Hauptgrund dafür sieht der UNHCR die Tendenz der Mitgliedsstaaten, sowohl den Flüchtlingsbegriff als auch den „subsidiären Schutz“ so restriktiv wie möglich auszulegen. Wenn hinsichtlich der Europäischen Asyl- und Migrationspolitik eine „repressive Schlagseite“ oder eine einseitige Orientierung an Abwehr- und Abschottungsinteressen konstatiert wird, so hat sich eine solche Kritik jedoch nicht in erster Linie auf die Asyl-Qualifikationsrichtlinie zu beziehen, sondern vorwiegend auf die Asylpraxis in den Mitgliedstaaten und auf andere Rechtsinstrumente und Politiken, etwa auf das System zur Verteilung der Zuständigkeit für Asylanträge zwischen den Mitgliedstaaten („Dublin II“) oder das Vorgehen gegen „illegale Einwanderung“. Sie erschweren die Einreise von Flüchtlingen und schutzbedürftigen Personen in die EU und beschränken den Zugang zu Asylverfahren, so dass die AsylQualifikationsrichtlinie in vielen Fällen gar nicht erst greifen kann. 4.1.3
Vorübergehender Schutz
Im Mai 2000 unterbreitete die Kommission einen Vorschlag für eine „Richtlinie über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen“. Der Vorschlag behandelt auch die „Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen [...] verbunden sind“.268 Bereits Mitte und Ende der Neunzigerjahre hatte dieses Thema angesichts des Flüchtlingszustroms aus dem ehemaligen Jugoslawien auf der Tagesordnung der europäischen Politik gestanden. Die Mitgliedstaaten suchten damals nach Möglichkeiten, in Fällen plötzlich auftretender „Massenfluchtsituationen“ den Flüchtlingen vorübergehende Schutzmöglichkeiten bereitzustellen, sie aber davon abzuhalten, Asyl zu beantragen. Diesbezügliche Entschließungen des Rates aus den Jahren 1995 und 1996 waren jedoch nur in wenigen Mitgliedstaaten zur Anwendung gelangt und wurden auch im April 1999, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Kosovo, nicht EU-weit umgesetzt. Die Kommission unternahm 2000 daher einen neuen Anlauf, eine zufrieden stellende Lösung zu finden. Unter „vorübergehendem Schutz“ („Temporary Protection“) ist der Kommission zufolge ein „außergewöhnlicher Mechanismus“ zu verstehen, mit dem Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, außerhalb des regulären Systems der Prüfung von Asylanträgen Schutz gewährt wird. Eine Notwendigkeit für diesen Mechanismus begründet die Kommission mit dem „Druck“, unter den die einzelstaatlichen Asylsysteme angesichts eines massiven Zustroms geraten könnten, und der eine „Überlastung der für Asylfragen zuständigen Stellen im Verwaltungs268
KOM(2000) 0303 endgültig.
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und/oder Justizbereich“ mit sich bringen könne. Der vorgeschlagene vorübergehende Schutzmechanismus soll ein „reibungsloses Funktionieren des Systems“ sicherstellen und dafür Sorge tragen, dass Flüchtlinge, die um Asyl im Sinne der Genfer Konvention nachsuchen, nicht durch eine Überlastung der Behörden aufgrund eines „Massenzustroms von Vertriebenen“ in Mitleidenschaft gezogen werden.269 In der Praxis wirft das Konzept des vorübergehenden Schutzes das Problem auf, dass die Mitgliedstaaten ein starkes Interesse daran haben, den Zugang zum Asylrecht einzuschränken, und dass der vorübergehende Schutz als ein Instrument hierfür dienen könnte. Die Kommission räumt diesbezüglich ein, dass das Konzept des vorübergehenden Schutzes „hin und wieder“ auf Kritik stoße, „da befürchtet wird, dass einige Mitgliedstaaten es als Instrument mißbrauchen könnten, um ihre Verpflichtungen aus der Genfer Konvention zu umgehen bzw. ganz zu ignorieren.“ Diese Gefahr bestehe durchaus und dürfe „nicht unterschätzt werden.“270 Um einen Missbrauch des Konzepts durch die Mitgliedstaaten auszuschließen, schlägt die Kommission vor, dass „die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Konvention durch den vorübergehenden Schutz nicht berührt wird“ und „die internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nicht geändert oder umgangen werden“. Vertriebene, die sich im Rahmen des vorübergehenden Schutzes in den EU-Staaten aufhalten, sollen deshalb jederzeit einen Asylantrag stellen können.271 Der Rat nahm die Richtlinie unter geringfügigen Änderungen am 20. Juli 2001 an. Die Tatsache, dass es sich bei dem vorübergehenden Schutz nicht um ein individuelles Recht der Schutzsuchenden handelt, sondern um einen von den Staaten ad hoc politisch verfügten, und ebenso jederzeit widerrufbaren, Akt, belegt die in der Richtlinie enthaltene Vereinbarung, dass das Vorliegen eines „Massenzustroms“ auf Vorschlag der Kommission vom Rat festgestellt wird, worauf der vorübergehende Schutzmechanismus in Gang gesetzt wird. Beendet wird der vorübergehende Schutz für die jeweilige Personengruppe ebenfalls „jederzeit aufgrund eines Beschlusses des Rates“. Dieser muss vor dem Widerrufsbeschluss lediglich feststellen, „dass die Lage im Herkunftsland eine sichere, dauerhafte Rückkehr der Personen, denen der vorübergehende Schutz gewährt wurde, unter Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Verpflichtung der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Nichtzurückweisung zuläßt.“272 Der Rat übernahm den Vorschlag der Kommission, im Rahmen des „vorübergehenden Schutzes“ aufgenommenen Personen zu ermöglichen, Asyl zu beantragen. In Kapitel IV der Richtlinie ist festgehalten, „dass Personen, die vorübergehenden Schutz genießen, jederzeit einen Asylantrag stellen können“, und dass solKOM(2000) 0303 endgültig, S. 3f. KOM(2000) 0303 endgültig, S. 4. 271 KOM(2000) 0303 endgültig, S. 8. 272 Richtlinie 2001/55/EG des Rates, hier S. 15. 269 270
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che Asylanträge auch dann noch bearbeitet werden müssen, wenn der vorübergehende Schutz wieder beendet wurde.273 Die Verhandlungen über die Temporary-Protection-Richtlinie sind deshalb für diese Arbeit interessant, weil die Kommission in ihrem Richtlinienvorschlag die Befürchtung zum Ausdruck brachte, dass die Mitgliedstaaten dieses Instrument der Flüchtlingspolitik anwenden könnten, um schutzbedürftige Personen vom Asylrecht auszuschließen. Das Interesse der Kommission war jedoch darauf gerichtet, den Mitgliedstaaten eine schnelle Reaktion auf „Massenfluchtsituationen“ zu ermöglichen, gleichzeitig aber das Asylrecht nicht zu untergraben. Das Europäische Parlament, auf das in diesem Kontext aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht eingegangen werden konnte, machte ebenfalls dieses Interesse geltend. Das endgültige Ergebnis der Verhandlungen belegt, dass die Mitgliedstaaten in diesem Fall Interessen des Parlaments und der Kommission übernahmen bzw. keine Möglichkeit hatten, diese zu umgehen. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass Temporary Protection auch als Instrument der Abwehr von Flüchtlingen benutzt werden kann und die Mitgliedstaaten trotz einer anders lautenden Vorschrift in der verabschiedeten Richtlinie versuchen könnten, in der Praxis das Asylrecht zu umgehen. Sie könnten beispielsweise Personen, die den Status des „vorübergehenden Schutzes“ genießen, sozial besser stellen und ihnen weiter gehende Rechte hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt gewähren als Asylbewerbern, und somit Anreize schaffen, keinen Asylantrag zu stellen. Die Entwicklung nach der Verabschiedung der Richtlinie deutet indes nicht darauf hin, dass der vorübergehende Schutz überhaupt zur Anwendung kommt. 4.1.4
Mindestnormen für die Aufnahme von Asylsuchenden
Im April 2001 legte die Europäische Kommission einen Vorschlag für die Schaffung gemeinsamer Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten vor.274 Das Dokument betrifft mit der Aufnahme von Asylsuchenden zusammenhängende materielle Umstände wie etwa soziale und medizinische Versorgung, Informationsrechte oder auch das Recht zu arbeiten. Außerdem sieht es eine Harmonisierung der Aufnahmebedingungen von Asylbewerbern auf einem Niveau vor, das – so die Kommission – den betreffenden Personen „im Normalfall ein menschenwürdiges Leben“ ermöglicht. Daneben soll sichergestellt werden, dass „Asylbewerbern in allen Mitgliedstaaten vergleichbare Lebensbedingungen geboten werden, da sie gemäß dem Dubliner Übereinkommen nicht berechtigt sind, den 273 274
Richtlinie 2001/55/EG des Rates, S. 17. KOM(2001) 181 endgültig.
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Mitgliedstaat auszuwählen, der ihren Antrag prüfen soll.“ Unter der Annahme, dass Asylbewerber bewusst in dasjenige Land wandern, das ihnen die besten sozialen Bedingungen bietet, besteht ein Hauptziel des Vorschlags also darin, die „Sekundärmigration“ von Asylbewerbern zwischen den verschiedenen EU-Staaten, einzudämmen. Dies soll über eine Harmonisierung der Leistungen der einzelnen Staaten an Asylbewerber erfolgen, also über die Schaffung überall ähnlicher materieller Umstände.275 Ein ähnliches Interesse hat die Kommission auch hinsichtlich der Richtlinie über Asylverfahren bereits zum Ausdruck gebracht. Im Detail schlägt die Kommission nun eine Reihe von Bedingungen vor, die in allen Mitgliedstaaten in jeder Phase eines Asylverfahrens gegeben sein müssen. Diese betreffen die Informationsrechte, die Asylbewerber besitzen, die Ausstellung von Aufenthaltsdokumenten, Bestimmungen über zu gewährende Leistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs, über Kleidung, medizinische Versorgung, Unterkunft und Verpflegung, sowie Fragen des Zugangs zum Arbeitsmarkt und zu Bildungseinrichtungen. Das System, das die Kommission vorschlägt, soll indes so flexibel sein, dass den Mitgliedstaaten auch nach Inkrafttreten der EU-Richtlinie noch Ermessensspielräume bleiben. Die Diskussion des Richtlinienentwurfs im Rat führte im April 2002 zu einer vorläufigen Einigung der Innen- und Justizminister der EU. Sie sieht vor, dass Asylbewerber Informationen darüber erhalten müssen, welche Organisationen oder Personen hinsichtlich ihres Verfahrens Rechtsbeistand gewähren können. Sie haben außerdem das Recht, eine Bescheinigung zu erhalten, auf der ihr Name und ihr Status als Asylbewerber vermerkt sind. Die Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden soll grundsätzlich gewahrt bleiben – jedoch können die einzelstaatlichen Behörden den aufgenommenen Personen Wohnorte zuweisen und verfügen, dass diese nur mit besonderer Genehmigung verlassen werden dürfen.276 Die Staaten können eine Frist von höchstens einem Jahr festlegen, innerhalb derer Asylsuchenden der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt bleibt. Ergeht innerhalb eines Jahres keine Entscheidung über den Asylantrag, so ist eine Arbeitserlaubnis zu erteilen. Der Vorrang von Staats- und EU-Bürgern, offene Stellen anzunehmen, darf unterdessen bestehen bleiben. Kindern von Asylsuchenden ist „in ähnlicher Weise“ wie den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats Zugang zum Schulwesen zu verschaffen. Es muss indes nicht eine öffentliche Schule besucht werden; der Unterricht kann auch in Aufnahmezentren erfolgen. Für die sozialen Aufnahmekriterien gilt, dass die Versorgung der Asylbewerber ihre Gesundheit gewährleisten und ihren Lebensunterhalt decken muss. Die Versorgung muss nicht in bar, sondern kann auch über Sachleistungen oder Gutscheine erfolgen. Zudem sollen die Asylbewerber die „erforderliche medizinische Versor275 276
KOM(2001) 181 endgültig, S. 3f. In der Bundesrepublik Deutschland wird diese Praxis „Residenzpflicht“ genannt.
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gung erhalten, die zumindest die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten umfasst“. Personen „mit besonderen Bedürfnissen“ sollen weiter reichende Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen können. Im Januar 2003 wurden diese Vereinbarungen vom Rat in Form einer verbindlichen Richtlinie („Reception Conditions Directive“) verabschiedet.277 Sie musste von den Mitgliedstaaten bis Februar 2005 in nationales Recht umgesetzt werden. Zentrales Interesse der Mitgliedstaaten war, eine weitestgehende Vereinheitlichung der Aufnahmebedingungen in der EU zu erreichen, um Anreize für Sekundärmigration von Asylbewerbern innerhalb der EU zu mindern.278 Der damalige deutsche Bundesinnenminister Otto Schily würdigte den vom Rat erzielten Kompromiss als „wichtigen Schritt, um ‚Asylshopping’ entgegenzuwirken“.279 Das Europäische Parlament hatte in seiner Stellungnahme zum ursprünglichen Kommissionsvorschlag menschenrechtliche Interessen geltend gemacht und die EU-Staaten aufgefordert, die geltenden Normen zu „erhöhen und nicht (zu) senken.“280 Auch Nichtegierungsorganisationen kritisierten im Lauf der Verhandlungen zwischen den Organen, die Richtlinie setze zu niedrige Standards. So mahnte der UNHCR, die Mitgliedstaaten dürften Asylsuchende nicht zu Abschreckungszwecken „verelenden“ lassen.281 Eine von der Universität Brüssel koordinierte Untersuchung darüber, inwieweit die Richtlinie in den Mitgliedstaaten zu einer Erhöhung oder Absenkung der Leistungen und Rechte von Asylbewerbern geführt hat, kommt rund zwei Jahre nach dem Ende der Frist für die Umsetzung der Bestimmungen in nationales Recht jedoch zu dem Ergebnis, dass sich Befürchtungen, die Richtlinie würde zu niedrigeren Standards in den Mitgliedstaaten führen, kaum bewahrheitet haben. In neun EU-Staaten habe die Reception Conditions Directive keine oder geringe Anpassungen der nationalen Praktiken nach sich gezogen, und in zehn weiteren Staaten sei es zu einer Verbesserung der Lage der Asylbewerber gekommen, insbesondere hinsichtlich ihres Zugangs zum Arbeitsmarkt. Verbesserungen seien vor allem in den „neuen“ Mitgliedstaaten festzustellen, die der EU im Mai 2004 beigetreten waren.282 Dem deutschen Innenministerium zufolge hat Deutschland die von der Richtlinie Richtlinie 2003/9/EG des Rates. Richtlinie 2003/9/EG des Rates, S. 18. 279 Vgl.: EU-Standards für Asylbewerber – Der Ministerrat erzielt Einigung über Aufnahmekriterien, in: Neue Zürcher Zeitung, 26. April 2002; Einheitliche Mindestnormen für Asylbewerber geplant, in: Frankfurter Rundschau, 26. April 2004. 280 Europäisches Parlament, Dok.-Nr. P5_TA(2002) 0202. 281 UNHCR, EU’s harmonized treatment of asylum seekers welcomed (Presseerklärung), Genf, 26. April 2002. 282 Die Ergebnisse der Untersuchung sind zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit noch nicht veröffentlicht. Einblicke gewährte Prof. Philippe de Bruycker (Université Libre de Bruxelles) in einem Vortrag über Reception Conditions of Asylum seekers bei der Odysseus Summer School, European Union Law and Policy on Immigration and Asylum am 11. Juli 2007 in Brüssel. 277 278
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verlangten Aufnahmebedingungen bereits vor Inkrafttreten des Dokuments erfüllt.283 4.1.5
Der Europäische Flüchtlingsfonds
Seit dem Jahr 2000 existiert in der EU eine einheitliche Haushaltslinie zur Finanzierung von Maßnahmen und Projekten im Bereich der Flüchtlingspolitik in den Mitgliedstaaten. Zuvor hatte es drei verschiedene Haushaltstitel mit den drei Verwendungszwecken „Aufnahme von Flüchtlingen“, „Integration“ sowie „freiwillige Rückkehr“ gegeben. Ende 1999 schlug die Kommission eine Vereinigung der drei Posten auf nur einen vor, der dann „Europäischer Flüchtlingsfonds“ heißen sollte. Als Ziel des Fonds beabsichtigte die Kommission, denjenigen Mitgliedstaaten, die vergleichsweise viele Flüchtlinge und Asylsuchende aufnehmen, künftig „kompensierende“ Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, um so zu einer „gerechteren Lastenverteilung“ zu gelangen. Im Speziellen sollten aus den Fondsmitteln über eine Laufzeit von fünf Jahren (1. Januar 2000 bis 31. Dezember 2004) beispielsweise Aufnahmekapazitäten finanziert, freiwillige Repatriierungsmaßnahmen unterstützt und Integrationsprogramme für anerkannte Flüchtlinge gefördert werden. Für das Jahr 2000 wurde eine Mittelausstattung von 26 Millionen Euro für strukturelle, langfristige Maßnahmen, sowie von 10 Millionen Euro für Sofortprogramme vorgesehen.284 Das Europäische Parlament stimmte dem Kommissionsvorschlag im April 2000 im Wesentlichen zu, kritisierte aber die aus seiner Sicht zu geringe finanzielle Ausstattung des Fonds. Außerdem mahnte es eine Konzentration der Mittel auf langfristige Programme statt auf Sofortmaßnahmen an. Wie die Kommission und der Rat erkannte auch das Parlament das Ziel der „Lastenteilung“ an. Ziel des Fonds müsse eine „ausgewogene Verteilung der Belastungen“ sein. Ab Mai 2000 befasste sich der Rat der Innenminister der Gemeinschaft mit dem Flüchtlingsfonds. Die Bundesrepublik Deutschland erklärte sich zunächst nicht damit einverstanden, dass der Fonds nichts daran ändere, dass einige Staaten mehr, andere weniger Flüchtlinge aufnähmen. Innenminister Otto Schily erklärte damals, ein „nur finanzieller Ausgleich für überproportional hohe Anteile“ sei „nicht ausreichend“. Die Bundesrepublik hatte sich bereits während ihrer EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 für eine Aufteilung nicht nur der Kosten der Flücht-
Vgl. Maaßen 2006, S. 167. 65 Prozent der Mittel sollten nach Maßgabe der Durchschnittszahl der in den drei Vorjahren registrierten Personen, die um internationalen Schutz ersucht haben, verteilt werden. 35 Prozent sollten nach der Anzahl der Personen, die in einem Mitgliedstaat tatsächlich als Flüchtlinge anerkannt wurden, ausgegeben werden; vgl. KOM(1999) 686 endgültig. 283 284
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lingsaufnahme, sondern auch der Flüchtlingsströme selbst – nach Quoten – eingesetzt.285 Im September 2000 kam es jedoch zu einer Einigung286 , anlässlich derer der Rat die Notwendigkeit der „Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ unterstrich. Der Fonds solle zu einer „ausgewogenen Verteilung der Belastungen“ beitragen, die „mit der Aufnahme von Flüchtlingen und vertriebenen Personen und den Folgen aus dieser Aufnahme verbunden sind.“287 Für den Fonds wurden für eine Laufzeit von fünf Jahren insgesamt 216 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Aus dieser Gesamtsumme erhielt jeder Mitgliedstaat einen jährlichen Pauschalbetrag. Die restlichen Mittel wurden entsprechend dem von der Kommission vorgeschlagenen Raster vor allem auf diejenigen Staaten verteilt, die viele Flüchtlinge aufnahmen. Zielgruppen waren anerkannte Asylberechtigte, Asylsuchende, aber auch Personen, die „vorübergehenden Schutz“ genossen. Ausgezahlt wurden die Mittel zur Unterstützung der Integration von Personen, die ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht bekamen, aber auch für Aufnahmesysteme und für an Freiwilligkeit orientierte Rückkehrprogramme. Im Dezember 2004 entschied der Rat, den Flüchtlingsfonds zu verlängern, also für den Zeitraum 2005 bis 2010 neu einzurichten.288 4.1.6
Dublin II – Die Zuständigkeit für Asylanträge
Das Asylübereinkommen von Dublin aus dem Jahr 1990 war der erste juristisch verbindliche Versuch, die Verantwortung für die Aufnahme von Asylbewerbern und die Prüfung ihrer Asylgesuche unter den Mitgliedstaaten zu teilen. Es schuf Regeln, die bestimmen, welcher Mitgliedstaat im Fall von Mehrfachanträgen oder des Aufenthalts eines Asylbewerbers in mehreren Mitgliedstaaten für die Bearbeitung seines Antrags zuständig ist (in der Regel der Mitgliedstaat, den der Asylbewerber als erstes betritt). In der Praxis ist seitdem ein so genanntes „DublinVerfahren“ dem eigentlichen Asylverfahren vorgeschaltet: Zunächst wird von den zuständigen nationalen Behörden überprüft, ob nicht ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist. Erst danach wird der Asylantrag gegebenenfalls inhaltlich geprüft.289
Vgl. Presseagentur epd, 29. Mai 2000. Entscheidung des Rates vom 28. September 2000 über die Errichtung eines Europäischen Flüchtlingsfonds. 287 Entscheidung des Rates vom 28. September 2000, S. 12. 288 Entscheidung des Rates vom 2. Dezember 2004 über die Errichtung des Europäischen Flüchtlingsfonds für den Zeitraum 2005 – 2010. 289 Vgl. Angenendt 2002, S. 548; Gusy/Arnold 2002, S. 538f. 285 286
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Nach Ansicht der am Abkommen teilnehmenden Staaten funktionierte das „Dublin-System“ jedoch nicht zufrieden stellend. Manche Mitgliedstaaten betrachteten das Übereinkommen als unfair, da es Länder wie Spanien oder Italien, über die vergleichsweise viele Asylsuchende in die EU einreisen, dazu zwang, Asylanträge zu prüfen, auch wenn die betreffenden Personen möglicherweise in ein anderes EU-Land einreisen wollten. Andere Länder bemängelten, dass Dublin ihnen zu wenige Möglichkeiten gebe, Verantwortung an andere EU-Länder weiterzureichen. In der Praxis erwies es sich zum Beispiel oft als unmöglich, zu belegen, dass ein Asylbewerber, der beispielsweise in Deutschland Asyl beantragte, über ein anderes Land, etwa Italien, in die EU eingereist war.290 Ein weiterer Kritikpunkt war, dass die Verfahren zur Prüfung, welcher Mitgliedstaat im Einzelfall zuständig war, zu langsam waren. Beim EU-Gipfel von Tampere wurde daher beschlossen, das Dublin-System zu reformieren. Die Kommission legte daraufhin im März 2000 ein Arbeitsdokument über eine mögliche Reform des Abkommens vor und konsultierte die Mitgliedstaaten und einschlägige Nichtregierungsorganisationen. Im Juli 2001 unterbreitete sie einen detaillierten Entwurf für eine Verordnung des Rates. Dessen Ziel ist es, gemäß den Beschlüssen von Tampere ein neues Rechtsinstrument über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, zu entwickeln. Ziel des Vorschlags ist eine „klare und praktikable Formel“ als Vorstufe eines „gerechten und wirksamen Asylverfahrens“.291 Die Kommission nennt als Ziele des Vorschlags, sicherzustellen, dass „jeder Asylbewerber effektiv Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft“ bekommt, dass „Asylmissbrauch“ durch „Mehrfachanträge“ in mehreren Mitgliedstaaten verhindert wird, dass Defizite des Dubliner Übereinkommens beseitigt werden, dass eine „möglichst zügige Bestimmung des zuständigen Staates“ ermöglicht wird und die „Effizienz des Systems“ erhöht wird. Außerdem vertritt die Kommission die Auffassung, dass das bisherige Dublin-System an die Weiterentwicklung der Europäischen Union in einen Raum ohne Binnengrenzen angepasst werden müsse.292 In ihrem Verordnungsvorschlag schreibt die Kommission, dass sich die Asylsysteme und Praktiken in den Mitgliedstaaten stark unterschieden und diese Unterschiede auch nach Inkrafttreten der gemeinsamen EU-Richtlinien im Asylbereich in abgeschwächter Form weiter bestehen dürften. Dies könne Asylbewerber bei der Wahl des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Antrag stellen, beeinflussen. Um eine allzu 290 Diese Aussagen beruhen auf dem Vortrag „Distribution of refugees“ von Dr. Vigdis Vevstad vom Institute for Social Research in Oslo bei der Odysseus Summer School, European Union Law and Policy on Immigration and Asylum am 11. Juli 2007 in Brüssel. 291 KOM(2001) 447 endgültig, S. 3. 292 KOM(2001) 447 endgültig, S. 3f.
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ungleiche Verteilung der Flüchtlingsströme zwischen den Mitgliedstaaten der EU zu verhindern, betrachtet die Kommission es daher als notwendig, ein System zu entwickeln, das auf dem Grundsatz beruht, dass „derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, der am stärksten an der Einreise des Asylbewerbers ins Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder seinem Aufenthalt in diesem Gebiet beteiligt war (...)“.293 Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn ein Mitgliedstaat einem Asylbewerber ein Visum oder einen Aufenthaltstitel ausgestellt hat, oder bewusst oder unbewusst ermöglicht hat, dass sich ein Asylbewerber illegal auf seinem Gebiet aufhält. Dem neuen Vorschlag liegt das Konzept zu Grunde, dass in einem Raum, in dem freier Personenverkehr herrscht, „jeder Mitgliedstaat gegenüber den anderen Mitgliedstaaten für seine Handlungen im Bereich der Einreise und des Aufenthalts von Drittstaatsangehörigen verantwortlich ist (...).“294 Das neue System soll nach Auffassung der Kommission außerdem Kriterien enthalten, die „die Einheit der Familie“ schützen sollen, indem derjenige Mitgliedstaat für zuständig erklärt wird, in dem bereits ein Familienangehöriger des neu eingereisten Asylbewerbers lebt. Außerdem soll gewährleistet werden, dass „aus dem Unvermögen eines Mitgliedstaats, die illegale Einwanderung zu bekämpfen, Konsequenzen gezogen werden“. Wenn ein Mitgliedstaat bewusst oder unbewusst toleriert hat, dass sich ein Drittstaatsangehöriger „mindestens sechs Monate lang“ illegal auf seinem Gebiet aufgehalten hat, soll es nicht mehr möglich sein, einen anderen Mitgliedstaat als zuständig für die Prüfung des Asylantrags zu erklären, auch wenn die betreffende Person ursprünglich über einen anderen Mitgliedstaat eingereist ist. Die Mitgliedstaaten teilten die Interessen der Kommission hinsichtlich der so genannten „Dublin II“-Verordnung. Auch in der endgültigen, im Februar 2003 vom Rat verabschiedeten Verordnung, ist explizit das Interesse erwähnt, die „Einheit der Familie“ zu wahren. Auch die Kommissionsformulierung, nach der jeder Mitgliedstaat den anderen gegenüber verantwortlich sei, wird vom Rat bestätigt. Die Schaffung eines Raums ohne Binnengrenzen und der freie Personenverkehr erforderten bei der „Festsetzung der Gemeinschaftspolitiken zu den Einreise- und Aufenthaltsbedingungen“ für Drittstaatsangehörigen die „Erreichung eines Gleichgewichts der Zuständigkeitskriterien im Geiste der Solidarität“, heißt es in der Präambel der Verordnung. 295 Das neue Dublin II-System sieht vor, dass die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Prüfung eines Asylantrags über eine feste Rangfolge von Kriterien festgelegt wird. Wichtigstes Kriterium ist, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unabhängig davon, in welchem Mitgliedstaat sie um Asyl nachsuchen, in denjenigen Mitgliedstaat überstellt werden, in dem bereits ein Familienangehöriger lebt, sofern dies im Interesse des Minderjährigen liegt. Dem zweiten Kriterium zufolge soll auch KOM(2001) 447 endgültig, S. 5. KOM(2001) 447 endgültig, S. 6. 295 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates, S. 1f. 293 294
4.1 Interessen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik
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für erwachsene Familienangehörige derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig sein, in dem bereits Angehörige leben, sofern die beteiligten Personen dies wünschen. Weitere Kriterien sehen vor, dass Asylbewerber, die bereits ein Aufenthaltsrecht besitzen, ein von einem anderen Mitgliedstaat ausgestelltes Visum haben, oder sich illegal in einem Mitgliedstaat aufgehalten haben, in diesen Staat überstellt werden. Das letzte Kriterium sieht vor, dass in Fällen, in denen die anderen Kriterien nicht angewandt werden können, derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist, in dem der Antrag als erstes gestellt wurde.296 Die Verordnung lässt jedoch auch Ausnahmen zu: Artikel 3 enthält eine so genannte „Souveränitätsklausel“. Sie besagt, dass ein Mitgliedstaat auch dann (freiwillig) die Prüfung eines Asylantrags übernehmen kann, wenn er die Zuständigkeit aufgrund der genannten Kriterien eigentlich an einen anderen weitergeben könnte. Eine „humanitäre Klausel“ in Kapitel IV der Vorordnung legt zudem fest, dass ein Mitgliedstaat auch aus „humanitären Gründen“, die sich aus dem „familiären oder kulturellen Kontext“ des Einzelfalls ergeben können, von einer Überstellung des Asylbewerbers in einen anderen Mitgliedstaat absehen kann.297 Die „humanitäre Klausel“ und die „Souveränitätsklausel“ deuten darauf hin, dass Kommission und Mitgliedstaaten bei der Ausarbeitung der Dublin IIVerordnung ein Interesse daran hatten, den Mitgliedstaaten trotz der gewünschten Teilung der Zuständigkeiten und des Ziels, ein gemeinsames Asylsystem zu schaffen, weiterhin Ermessensspielräume zu ermöglichen. Auch haben sie deutlich gemacht, dass in der Asyl- und Flüchtlingspolitik Menschenrechte, etwa das Asylrecht und das Recht auf Familienleben, gewährleistet werden sollen. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Interessen der beiden Akteure hinsichtlich der Dublin II-Verordnung hauptsächlich am Ziel der Abschottung der EU gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden orientieren. Dies wird belegt durch die Tatsache, dass die Kommission ausdrücklich darauf setzt, illegale Einwanderung zu bekämpfen und die Sekundärmigration von Asylbewerbern einzudämmen, also „Mehrfachanträge“ zu verhindern. In den Debatten über die Reform des Dublin-Systems wurde auch der Begriff „Asylshopping“ geprägt. Damit ist gemeint, dass Asylsuchende in mehreren Mitgliedstaaten Anträge stellen können, um letztlich in demjenigen EU-Land zu bleiben, das ihnen die günstigsten Bedingungen bietet. Ein Hauptziel der neuen Verordnung ist es, dies zu verhindern.298 Die Regelung, nach der Asylanträge von Personen, die illegal in einen bestimmten Mitgliedstaat eingereist sind oder sich dort aufgehalten haben, von diesem Mitgliedstaat geprüft werden müssen, gibt den EUStaaten klare Anreize, ihre Grenzen besser zu kontrollieren, illegale Einwanderer an Verordnung (EG) Nr. 343/2003, S. 4-6. Verordnung (EG) Nr. 343/2003, S. 3 bzw. 5f. 298 Vgl. van Selm 2005, S. 20f. 296 297
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4 Die Umsetzung des Vertrags: Asyl und „illegale“ Einwanderung
der Einreise zu hindern bzw. ausfindig zu machen und ihren Aufenthalt zu beenden. Dies gilt umso mehr, als Asylverfahren mit Kosten verbunden sind. Ein Bericht der Kommission vom Juni 2007 gibt Aufschluss darüber, dass Mitgliedstaaten, denen es aufgrund ihrer langen Seegrenzen schwer fällt, illegale Einwanderung zu unterbinden, vom Dublin II-System dafür „bestraft“ werden. Die Bundesrepublik Deutschland konnte im Jahr 2005 insgesamt 2.748 Personen aufgrund der Verordnung in andere Mitgliedstaaten überstellen und bekam ihrerseits 2.716 Asylbewerber aus anderen Dublin-Staaten zugewiesen. Die Zahl der Zugänge und der Abgänge hielt im Falle Deutschlands also ein Gleichgewicht. Italien hat dem Bericht zufolge jedoch 419 Zugänge verzeichnet, aber nur 47 Abgänge, Spanien 315 Zugänge und 52 Abgänge und Griechenland 350 Zugänge, aber nur sechs Abgänge.299 Die Mittelmeerländer haben aufgrund von Dublin II also deutlich mehr Asylbewerber aufgenommen, als sie in andere Mitgliedstaaten „weitergeben“ konnten. Großbritannien, Luxemburg, die Tschechische Republik und die Niederlande gehören dagegen zu den Ländern, die mehr Asylbewerber in andere Länder überstellen konnten, als sie selbst entgegennahmen.300 Daraus ist zu schließen, dass das Dublin-System den Mittelmeerländern eine strikteres Vorgehen gegen illegale Einwanderung nahe legt und insofern ein restriktives Instrument ist, das den Willen der EU-Staaten widerspiegelt, sich gegen unerwünschte Migrationsbewegungen abzusichern. 301 Erleichtert wird die Ermittlung des Staats, in dem sich ein Asylbewerber aufgehalten hat, bevor er in einen anderen EU-Staat gekommen ist, durch die EurodacVerordnung vom Dezember 2000. Sie ermöglicht den Behörden der Mitgliedstaaten, die Fingerabdrücke aller illegal eingereisten Drittstaatsangehörigen und aller Asylbewerber zu erfassen und untereinander zu Identifizierungszwecken und zum Aufdecken von „Asylshopping“ auszutauschen.302 Das Eurodac-System wird im folgenden Abschnitt über die EU-Politik im Bereich „illegale Einwanderung“ etwas näher beschrieben.
Quelle aller in diesem Abschnitt genannten Zahlen: KOM(2007) 299 endgültig, S. 13. Im Fall Großbritanniens ist dies besonders deutlich: 2005 wurden 366 Zugänge verzeichnet, aber 1.824 Abgänge; siehe: Ebenda. 301 Vgl. Balzacq/Carrera 2005, S. 43-46. 302 Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 des Rates; vgl. auch Balzacq/Carrera 2005, S. 43-46. 299 300
4.2 Interessen im Bereich der „illegalen“ Einwanderung
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4.2 Interessen im Bereich der „illegalen“ Einwanderung 4.2.1
Das gemeinsame Vorgehen gegen „illegale“ Einwanderung
Besonders deutlich werden Zuwanderungsbegrenzungs- und Sicherheitsinteressen in der europäischen Migrationspolitik, betrachtet man das Vorgehen der Union und ihrer Mitgliedstaaten gegen „illegale“ Einwanderung. Sowohl vor, als auch nach dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages wurden von den EU-Organen zu diesem Thema zahlreiche Policydokumente herausgegeben und Maßnahmen verabschiedet. In dieser Arbeit können, da das Vorgehen gegen „illegale Einwanderung“ nicht im Vordergrund der Arbeit steht, nur einige wesentliche Teile davon besprochen werden. Dies ist nötig, um die Interessen von Kommission, Parlament und Rat bzw. Mitgliedstaaten deutlich zu machen. Vorab anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass die Einwanderung von Flüchtlingen, die in der EU Zuflucht suchen, Asylsuchenden und Personen, die aus anderen Gründen in die EU kommen wollen, heute zum Großteil „illegal“ erfolgt.303 Alle EU-Staaten und einige Länder, die direkt an die EU angrenzen, sind entweder so genannte „sichere Drittstaaten“ oder „sichere Herkunftsländer“. Ein Asylsuchender, der auf dem Landweg beispielsweise nach Deutschland einreist und dort seinen Antrag stellt, kann in das Transitland zurückgewiesen oder abgeschoben werden. Es muss den betroffenen Personen also daran liegen, ihren Einreiseweg zu verschleiern. Tun sie dies, so gelten sie jedoch als „illegale Einwanderer“. Eine weitere Maßnahme, die ein Ausweichen von Flüchtlingen auf illegale Wege befördert hat, ist die gemeinsame Visumpolitik der EU. Zu einer legalen Einreise in die Union wird aus den meisten Ländern der Welt ein Visum benötigt, und im Amtsblatt der Europäischen Union ist eine Liste der visumpflichtigen Länder veröffentlicht, die im Bedarfsfall aktualisiert wird. Flüchtlingen und vielen Migranten ist es kaum möglich, auf legalem Wege Visa zu erhalten. Sie weichen daher oft auf die Dienste von Fluchthelfern oder Schleppern aus und überschreiten die EUAußengrenzen ohne gültige Reisedokumente. Die Visumpolitik und die Drittstaatenregelung bilden zusammen also ein System, das, wie Thomas Groß einmal formuliert hat, „einen fast perfekten ‚Schutz‘ gegen die legale Einreise von Flüchtlingen“304 garantiert.
303 Prof. Cristina Gortazar sagte im Vortrag Regularisation of Illegal Immigrants bei der Odysseus Summer School, European Union Law and Policy on Immigration and Asylum am 6. Juli 2007 in Brüssel, rund 90 Prozent aller Einwanderer kämen gegenwärtig „illegal“ in die EU. Dieser Prozentanteil kann, da „illegale“ Einwanderung nicht genau messbar ist, nicht durch genaue Zahlen verifiziert werden. Der von Prof. Gortazar genannte Prozentsatz gibt jedoch ein Indiz für das Ausmaß des Problems. 304 Groß 2001, S. 103.
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4 Die Umsetzung des Vertrags: Asyl und „illegale“ Einwanderung
Das gemeinsame Vorgehen gegen Schleuser, die „illegale Einwanderung“ ermöglichen, aber auch gegen die Personen, die ihre Dienste in Anspruch nehmen, war schon vor dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags ein wesentlicher Bestandteil der EU-Migrationspolitik. Im „Aktionsplan zum Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ vom Dezember 1998 wurde der „Bekämpfung der illegalen Einwanderung“ eine „besondere Priorität“ zugesprochen.305 Mit Eurodac – vereinbart im Dezember 2000 – verfügt die Union über eine Kartei, in der die Fingerabdrücke aller Personen, die beim Versuch der illegalen Einreise aufgegriffen werden, enthalten sind. Eurodac ist eines der wichtigsten gemeinsamen Instrumente zur Verhinderung illegaler Einwanderung von Flüchtlingen.306 Das Europäische Parlament hat sich – ähnlich wie der Rat – mehrfach dafür ausgesprochen, illegale Einwanderung zu bekämpfen, so beispielsweise im Juli 2000 vor dem Hintergrund einer Flüchtlingstragödie, dem Fund von 58 Leichen illegaler Einwanderer in einem Lastwagen in Dover (England). Das Parlament äußerte sich „besorgt über die neue Welle der illegalen Einwanderung“ und forderte „kohärente und effiziente Kontrollen“ an den Außengrenzen der Union, um die „illegale Einwanderung zu unterbinden“. Die Kommission legte nach den asylpolitischen Reformen im Amsterdamer Vertrag im November 2001 eine „Mitteilung“ über „eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der illegalen Einwanderung“ vor.307 Darin schlägt sie vor, zur Verhinderung illegaler Migration vorbeugende Maßnahmen zu treffen. Zunächst müssten die Gründe für illegale Einwanderung näher untersucht werden, und die Mitgliedstaaten sollten „Möglichkeiten ausfindig machen, die raschen Zugang zum Schutz bieten, damit Flüchtlinge nicht auf illegale Einwanderung bzw. auf Schleuser angewiesen sind.“308 Daneben wird eine Vielzahl restriktiver Maßnahmen gegen illegale Einreise angekündigt, beispielsweise eine strafrechtliche Sanktionierung von Schleppern, die Bekämpfung illegaler Beschäftigung, die Haftung von Beförderungsunternehmen (carrier sanctions), die illegalen Einwanderern zur Einreise verhelfen, eine Verschärfung der Visumpolitik sowie die Durchführung von „Informationskampagnen“ in den Herkunftsländern von Flüchtlingen, die dazu dienen sollen, ausreisewillige Menschen „für die mit der illegalen Einwanderung zusammenhängenden Probleme und Risiken“ zu sensibilisieren.309 Daneben strebt die Kommission auch eine „Kontrolle der Außengrenzen auf höchstem Standard“ und langfristig einen gemeinsamen europäischen Grenzschutz in Verbindung mit einer europäischen Grenz-
Aktionsplan des Rates und der Kommission, 23. Januar 1999, S. 3. Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 des Rates; Vgl. auch Gusy/Arnold 2002, S. 539. 307 KOM(2001) 672 endgültig. 308 KOM(2001) 672 endgültig, S. 8 und 10. 309 KOM(2001) 672 endgültig, S. 18. 305 306
4.2 Interessen im Bereich der „illegalen“ Einwanderung
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schutzschule an.310 Ein bereits eingerichtetes EU-„Frühwarnsystem“ über illegale Wanderungsbewegungen und „Schleuserkriminalität“ soll verbessert werden. Im Februar 2002 verabschiedete der Rat seinerseits einen „Vorschlag für einen Gesamtplan zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung und des Menschenhandels“.311 Ebenso wie die Kommission fordert der Rat darin die Mitgliedstaaten auf, Möglichkeiten zu prüfen, wie verhindert werden kann, dass Flüchtlinge auf illegale Einwanderung oder auf Schleusung angewiesen sind. Anders als die Kommission, die in dieser Hinsicht noch anregte, Flüchtlinge eventuell in die Lage zu versetzen, bereits vom Ausland aus einen Asylantrag zu stellen, um ihnen angesichts des Verbots der illegalen Einreise einen legalen Weg zu ermöglichen312 , stellt der Rat keine Überlegungen dieser Art an. Jedoch greift er die von der Kommission präsentierten restriktiven Maßnahmen auf und präzisiert und verschärft diese. Illegale Immigration wird vom Rat hier ausschließlich als Sicherheitsproblem beurteilt, das die Kontrollmöglichkeiten der EU-Staaten unterläuft. Dass sich diese Interessenlage nicht nur im Rat der Innenminister durchgesetzt hat, sondern auch auf der Ebene der europäischen Staats- und Regierungschefs, zeigte der Europäische Rat von Sevilla im Juni 2002. Für die EU und ihre Mitgliedstaaten sei es von „entscheidender Bedeutung, dass die Migrationsströme [...] unter Kontrolle gehalten werden“, heißt es in den Schlussfolgerungen des Gipfels. Die Bekämpfung der illegalen Einwanderung habe weiterhin „oberste Priorität“.313 Die Staats- und Regierungschefs erklärten ihren Willen, verstärkt auch Drittstaaten in das Vorgehen gegen illegale Einwanderung einzubinden. Ländern, die bei der Grenzkontrolle und bei der Rückübernahme illegaler Flüchtlinge mit der EU kooperieren, wurden gute wirtschaftliche Beziehungen zugesichert. Kooperationsunwilligen Staaten wollten mehrere Regierungschefs im Vorfeld des Gipfels mit Sanktionen oder der Aussetzung von Entwicklungshilfeleistungen drohen. Diese Erwägung Spaniens, unterstützt von Deutschland, Großbritannien und Italien, setzte sich jedoch gegenüber Frankreich, Schweden und Belgien, die sich gegen Sanktionen ausgesprochen hatten, nicht als offizielle Linie durch.314 Allerdings wird in den Schlussfolgerungen erwähnt, dass eine „unzureichende Zusammenarbeit seitens eines Landes“ einer Intensivierung der Beziehungen zwischen dem betreffenden Land und der Union „abträglich sein“ könnte.315 Daneben begrüßte der Europäische Rat den Kommissionsvorschlag zur Schaffung eines gemeinsamen EU-
KOM(2001) 672 endgültig, S. 19. Rat der Europäischen Union, Vorschlag für einen Gesamtplan zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung und des Menschenhandels in der Europäischen Union, 2002. 312 KOM(2001) 672 endgültig, S. 8. 313 Europäischer Rat (Sevilla), Schlußfolgerungen des Vorsitzes, 21. und 22. Juni 2002. 314 Vgl. Boswell 2003, S. 106. 315 Europäischer Rat (Sevilla), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 21. und 22. Juni 2002. 310 311
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4 Die Umsetzung des Vertrags: Asyl und „illegale“ Einwanderung
Grenzschutzes.316 Das Interesse, die Bekämpfung der „illegalen Einwanderung“ fortzuführen und zu intensivieren, wurde auch nach dem Gipfeltreffen von Sevilla immer wieder von den Staats- und Regierungschefs der EU erneuert. Im Oktober 2004 verabschiedete der Rat eine Verordnung, mit der eine neue EU-Agentur für die „operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Europäischen Union“ geschaffen wurde.317 Zu den Aufgaben der später „FRONTEX“ genannten Einrichtung gehört, die Mitgliedstaaten bei der Überwachung der Grenzen zu unterstützen, unter anderem durch „Koordinierung der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Schutzes der Außengrenzen“. In Situationen, die „eine verstärkte technische und operative Unterstützung (...) erfordern“, etwa wenn illegale Einwanderer versuchen, per Boot oder Schiff die Kanarischen Inseln, Malta oder andere EU-Gebiete im Mittelmeer zu erreichen, können die betroffenen Mitgliedstaaten die Hilfe von FRONTEX anfordern. Die Agentur kann dann im Auftrag eines Mitgliedstaats beispielsweise Schiffe und Boote aufhalten, mit denen illegale Einwanderer versuchen, die EU zu erreichen, und die aufgegriffenen Personen entweder zurück an ihren Abreiseort oder an Land bringen. Rechtlich verantwortlich für derartige Maßnahmen ist dann nicht FRONTEX selbst, sondern der Mitgliedstaat, in dessen Auftrag der jeweilige Einsatz stattfindet. Auch gehört zu den Aufgaben der Agentur, Mitgliedstaaten bei Rückführungs- und Abschiebungsaktionen zu unterstützen, „Risikoanalysen“ durchzuführen (beispielsweise über wesentliche Routen illegaler Einwanderer), Grenzkontrollbeamte auszubilden und zu trainieren und die technische Ausrüstung für Grenzüberwachung und -kontrolle weiterzuentwickeln.318 4.2.2
Rückkehrpolitik und Abschiebungen
Zu einer europäischen Asyl- und Migrationspolitik, die sich am Interesse orientiert, Zuwanderung zu begrenzen, gehören nicht nur Fragen der Einreise und des Aufenthalts von Asylsuchenden in den Mitgliedstaaten, sondern auch Probleme rund um die Wiederausreise „illegaler“ Personen in ihr Herkunftsland oder einen Drittstaat, der zu ihrer Aufnahme verpflichtet ist oder die Aufnahme anbietet. Dies umfasst die freiwillige Rückkehr von Migranten ebenso wie die Rückkehr unter Zwang, die vor allem dann eintritt, wenn sich eine Person illegal in einem Mitgliedstaat 316 Vgl. Bald gemeinsame Grenzkontrollen in der EU, in: Neue Zürcher Zeitung, 24. Juni 2002; Zuckerbrot statt Peitsche – EU setzt auf Kooperation gegen illegale Einwanderung, in: Süddeutsche Zeitung, 24. Juni 2002; EU will Zuwanderung rasch regeln, in: Frankfurter Rundschau, 22. Juni 2002. 317 Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 des Rates. 318 Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 des Rates, S. 1-11. Vgl. außerdem den Vortrag External Borders Control von Henrik Nielsen, Mitarbeiter der EU-Kommission in der Generaldirektion Justiz, Freiheit und Sicherheit bei der Odysseus Summer School, European Union Law and Policy on Immigration and Asylum am 6. Juli 2007 in Brüssel.
4.2 Interessen im Bereich der „illegalen“ Einwanderung
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aufhält, sei es durch unerlaubte Einreise, Ablehnung des Asylantrags oder „Overstaying“, und nicht zur freiwilligen Ausreise bereit ist. Im bereits erwähnten „Aktionsplan“ für den Aufbau eines „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ des Rates und der Kommission von 1998 firmiert daher unter im Einwanderungsbereich zu ergreifenden Maßnahmen auch die „Konzipierung einer kohärenten EURückübernahme und Rückkehrpolitik“.319 Zuvor bereits, in den Neunzigerjahren, hatten die Mitgliedstaaten einzelstaatlich, aber auch im Rahmen des Schengener Abkommens, so genannte „Rückübernahmeabkommen“ mit Nachbarländern und wichtigen Herkunftsstaaten von Flüchtlingen ausgehandelt.320 Die Bundesrepublik Deutschland etwa unterzeichnete im Lauf der Neunzigerjahre mit sämtlichen östlichen Nachbarstaaten und weiteren Nicht-EU-Staaten derartige Verträge.321 Ähnliches gilt für die anderen EU-Staaten. Schon im Jahr 1997 waren rund 70 Rückübernahmeabkommen zwischen EUStaaten und anderen Ländern des europäischen Kontinents in Kraft.322 Daneben existieren im EU-Raum auch multilaterale Rückübernahmevereinbarungen. Bereits im Jahr 1991, also schon bevor die Bundesrepublik ein bilaterales Rückübernahmeabkommen mit Polen schloss, haben die Vertragsstaaten des Schengener Abkommens eine solche Vereinbarung mit Warschau erzielt. Kernpunkt des Vertrags ist die Rücknahme von Drittstaatsangehörigen bei illegaler Einreise oder rechtswidrigem Aufenthalt im Schengen-Raum. Der Rat der EU widmete sich im Jahr 1994 erstmals dem Thema der Rückkehrpolitik und forderte die Mitgliedstaaten auf, ein Netz bilateraler Rückübernahmeabkommen zu schließen, um Rückführungen und Abschiebungen zu erleichtern. Im Dezember 1994 wurde eine entsprechende Empfehlung verabschiedet und ein „Musterentwurf“ eines bilateralen Rückübernahmeabkommens zwischen einem Mitgliedstaat der EG und einem Drittstaat herausgegeben.323 Gegen Ende der Neunzigerjahre begann die EU, Klauseln zur Rückübernahme „illegal aufhältiger Personen“ darüber hinaus in Assoziierungs-, Kooperations- und Handelsverträge mit Ländern auch außerhalb des europäischen Kontinents einzuAktionsplan des Rates und der Kommission, 23. Januar 1999, S. 8. Zu beachten ist dabei, dass die Rückführung von Personen in ihre Heimatländer grundsätzlich auch ohne Rückübernahmeabkommen möglich ist. Das allgemeine Völkerrecht verpflichtet Staaten, ihre eigenen Staatsbürger bei sich aufzunehmen. In der Praxis sind die EU-Staaten bei Rückführungen jedoch immer wieder auf das Problem gestoßen, dass Herkunftsländer von zurückzuführenden Migranten deren Staatsangehörigkeit abstreiten oder „aufwendige Verwaltungsverfahren“ zur Klärung der Identität der Migranten verlangen. Abkommen erleichtern in der Regel die Rückführungen und vereinfachen die notwendigen Formalitäten; vgl. Glatzel 1997, S. 108 und 111; KOM(2002) 175 endgültig, S. 11. 321 Im Jahr 1992 mit Rumänien, 1993 mit Polen, 1994 mit Kroatien, Bulgarien und der Tschechischen Republik, 1996 mit der Bundesrepublik Jugoslawien sowie mit Bosnien-Herzegowina; vgl. Glatzel 1997, S. 107. 322 Vgl. Glatzel 1997, S. 108. 323 Empfehlung des Rates vom 30. November 1994 betreffend den Musterentwurf eines bilateralen Rückübernahmeabkommens zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat, 1996. 319 320
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4 Die Umsetzung des Vertrags: Asyl und „illegale“ Einwanderung
bauen. So wurde das früher unter dem Namen „Lomé“, jetzt unter „Cotonou“ bekannte Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und den Staaten der AKPGruppe (Afrika, Karibik, Pazifik) auf Druck der europäischen Seite mit einer Klausel ausgestattet, mit der die Partnerstaaten sich verpflichten, bei Rückführungen und Abschiebungen zu kooperieren. Darin ist festgehalten, „dass die AKP-Staaten ihren Staatsangehörigen, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates der Europäischen Union aufhalten, die Rückkehr gestatten und sie auf Ersuchen dieses Mitgliedstaats ohne weiteres zurücknehmen. Die Mitgliedstaaten und die AKP-Staaten versehen ihre Staatsangehörigen mit für diese Zwecke geeigneten Ausweispapieren.“324 Die Vertragsparteien kommen ferner überein, „bilaterale Abkommen über die spezifischen Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Rückkehr und Rückübernahme ihrer Staatsangehörigen zu schließen. Diese Abkommen enthalten auch Vereinbarungen über die Rückübernahme Staatsangehöriger von Drittländern und Staatenloser“.325 Auch die unter dem Stichwort „Barcelona-Prozess“ geläufigen Beziehungen der EU zu den Ländern des südlichen Mittelmeerraums beinhalten eine Zusammenarbeit bei der Rückkehr von Migranten. Aus vielen der teilnehmenden Staaten, vor allem Algerien und Marokko, gab es in der Vergangenheit signifikante Wanderungsbewegungen in die EU.326 Darüber hinaus sind die Maghreb-Staaten auch wichtige Transitländer. Der EU liegt daran, die betreffenden Länder dazu zu verpflichten, ihre unerlaubt eingereisten Staatsbürger wieder zurückzunehmen. Als die EU-Kommission im Jahr 1999 einen Vorschlag zur Reform der Beziehungen zu den Mittelmeeranrainerstaaten unterbreitete, schlug sie auch die Verabschiedung eines Passus zur Migrationspolitik vor. Danach verlangt die EU von ihnen eine „Zusammenarbeit und technische Unterstützung“, um die Kooperation „in den Bereichen Migration und Kampf gegen die illegale Migration einschließlich der Rückführung von illegalen Personen und Menschenhandel zu stärken.“327 Dieser Passus, ebenso wie die Rückführungsklausel im Cotonou-Abkommen, stellen laut Kommission zwar keine Rückübernahmeabkommen „im engen Sinne“ dar, sollen jedoch im weiteren Verlauf „die Vertragsparteien verpflichten, eigene Staatsangehörige, Drittstaatsangehörige und Staatenlose wieder zuzulassen.“328 Auf Druck der EU und insbesondere der südlichen Mitgliedstaaten haben die Maghreb-Staaten in den letzten Jahren den Kampf gegen illegale Wanderungsbewegungen und Transitmigration aus Schwarzafrika verstärkt. Dafür stellte die EU 324 Partnerschaftsabkommen zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Staaten in Afrika, im Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits, unterzeichnet in Cotonou am 23. Juni 2000, S. 11. 325 Ebenda. 326 Vgl. Angenendt 2002, S. 545. 327 KOM(1999) 494 endgültig, S. 15. 328 KOM(2002) 175 endgültig, S. 26.
4.2 Interessen im Bereich der „illegalen“ Einwanderung
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Finanzhilfen und technische Hilfen (beispielsweise Polizeiausbildung) zur Verfügung. Spanien und Marokko führen seit 2004 gemeinsame Küstenschutzpatrouillen vor den Kanarischen Inseln und in der Straße von Gibraltar durch.329 Dass Europa Nordafrika in die Bekämpfung der unerwünschten Migration einbezieht, ist in den betroffenen Ländern jedoch nicht unumstritten. Sowohl Politiker als auch Vertreter von Nichtregierungsorganisationen wehren sich dagegen, eine „Gendarmenrolle im Dienste der EU“ zu übernehmen. Häufig wurde argumentiert, der Sicherheits- und polizeiliche Ansatz der Europäer könne das Migrationsproblem nicht lösen. Auch gibt es Stimmen, die angesichts der demografischen Entwicklung in den EU-Staaten fragen, warum die EU Einwanderung überhaupt so vehement bekämpft.330 Die Praxis der Rückübernahmeabkommen wird seit den späten Neunzigerjahren beträchtlich ausgeweitet. Heute ist die EU-Kommission damit befasst, Rückübernahmebestimmungen standardmäßig in die Kooperation mit Drittstaaten einfließen zu lassen und stellvertretend für die Mitgliedstaaten entsprechende Verträge auszuhandeln. Im Kontext des Widerspruchs zwischen der sicherheits- und der menschenrechtsorientierten Dimension der Asylpolitik ist somit festzustellen, dass die Politik der Bekämpfung der illegalen Einwanderung darauf abzielt, möglichst wenige Flüchtlinge überhaupt in die Möglichkeit der Asylantragstellung zu versetzen, während die Rückkehrpolitik versucht, bereits anwesende Personen mit illegalem Status leichter wieder zur Ausreise zu bringen. Einschränkend muss zwar hinzugefügt werden, dass die EU-Kommission dazu aufgefordert hat, der „freiwilligen Rückkehr“ gegenüber Rückführung unter Zwang „Vorrang einzuräumen“ und Abschiebungen nur als „letztes Mittel“ anzuwenden. Auch beinhaltet die im Dezember 2000 verabschiedete Europäische Grundrechtecharta ein Verbot von „Kollektivausweisungen“.331 Doch selbst wenn man dies als Kritik am Gedanken der Rückkehr unter Zwang wertet, bleibt festzuhalten, dass die Rückkehrpolitik – einschließlich Abschiebungen – in der EU weiter intensiviert wird. Die im zweiten Halbjahr 2002 amtierende dänische EU-Ratspräsidentschaft regte an, bei Abschiebungsmaßnahmen stärker EU-weit zu kooperieren, beispielsweise über die Schaffung eines neu zu errichtenden EU-Fonds für Maßnahmen der Rückkehrpolitik, oder über die Durchführung gemeinsamer Charterflüge, über die mehrere Mitgliedstaaten gleichzeitig illegale Flüchtlinge in ein bestimmtes Land abschieben könnten.332 Diese zwei Vorschläge wurden inzwischen in Kraft gesetzt. Am 23. Mai 2007 beschlossen das Europäische Parlament und der Rat die Einrichtung eines „Europäischen Rückkehrfonds“. Dieser hat unter anderem zum Ziel, „die Anstrengungen der Mitgliedstaaten zur Verbesserung des Rückkehrmanagements in all seinen AsVgl. Eigmüller 2007, S. 96. Vgl. Mattes 2006; vgl. auch Eigmüller 2007, S. 96. 331 Vgl.: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2000, S. 12. 332 Ministry of Refugee Immigration and Integration Affairs 2002, S. 5. 329 330
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4 Die Umsetzung des Vertrags: Asyl und „illegale“ Einwanderung
pekten“ zu unterstützen. Mit Mitteln des Fonds sollen sowohl freiwillige als auch erzwungene Rückkehrmaßnahmen bezahlt bzw. bezuschusst werden, sowie verschiedene Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die auf eine verstärkte Zusammenarbeit untereinander oder mit Drittländern abzielen. Die Laufzeit des Fonds beträgt sechs Jahre (2008 bis 2013). Für diesen Zeitraum sind Mittel in Höhe von insgesamt 676 Millionen Euro vorgesehen.333 Die Möglichkeit, dass mehrere Mitgliedstaaten gemeinsame Abschiebungsflüge durchführen, regelt eine Entscheidung des Rates vom 29. April 2004.334 2006 wurde bei zwei multilateralen Konferenzen in Rabat und Tripolis zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Afrikanischen Union vereinbart, in Migrationsfragen stärker zu kooperieren. In einem in Rabat verabschiedeten Aktionsplan erklären die beteiligten Länder ihre Absicht, aus der internationalen Migration einen positiven Faktor für Entwicklung und die Reduzierung der Armut zu machen.335 Zum einen sollen Kooperationsprogramme für eine „Verwaltung der legalen Migration“ vereinbart werden, die unter anderem die Aufnahme und Integration der Migranten aus afrikanischen Ländern in der EU erleichtern und Überweisungen von Ausgewanderten in ihre Heimatländer vereinfachen und verbilligen sollen. Zum anderen geht es den Staaten nach wie vor darum, die Rückkehr von Migranten nach Afrika zu erleichtern. Auch eine Zusammenarbeit im Kampf gegen die illegale Einwanderung in die EU ist vorgesehen, die wiederum eine logistische und finanzielle Kooperation bei der freiwilligen Rückkehr von Migranten nach Afrika beinhaltet, sowie der Abschluss von Rückübernahmeabkommen zwischen den beteiligten afrikanischen und europäischen Ländern. Eine von der EU-Kommission im September 2005 vorgeschlagene Richtlinie, mit der die „Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger“336 harmonisiert werden sollen, wurde im Dezember 2008 vom Ministerrat und dem Europäischen Parlament unterzeichnet.337 Sie ist die erste bedeutende Richtlinie im Bereich Migration, die auf dem Weg des Mitentscheidungsverfahren verabschiedet wurde. Sie ist bis 24. Oktober 2010 in nationales Recht umzusetzen. Kernbestandteile der Richtlinie sind Vorschriften für Abschiebungsanordnungen, die Durchführung von Abschiebungen sowie Abschiebungshaft.
333 Entscheidung Nr. 575/2007/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Mai 2007 zur Errichtung des Europäischen Rückkehrfonds für den Zeitraum 2008 bis 2013 innerhalb des Generellen Programms ‚Solidarität und Steuerung der Migrationsströme’, 2007, S. 45-65. 334 Entscheidung 2004/573/EG des Rates vom 29. April 2004 betreffend die Organisation von Sammelflügen zur Rückführung von Drittstaatsangehörigen, die individuellen Rückführungsmaßnahmen unterliegen, aus dem Hoheitsgebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten, 2004, S. 28-35. 335 Vgl. Euro-African Ministerial Conference on Migration and Development, Action Plan, 2006. 336 KOM(2005) 391 endgültig. 337 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates.
5 Die Umsetzung des Amsterdamer Vertrags: „legale“ Migration
Seit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags stehen neben asyl- und flüchtlingspolitischen Maßnahmen sowie Vorhaben zur Begrenzung der „illegalen“ Migration auch verschiedene EU-Konzepte zum Umgang mit „legaler Einwanderung“ auf der Tagesordnung der europäischen Organe und der EU-Mitgliedstaaten. Dazu gehören das Recht von in der EU lebenden Ausländern, Familienangehörige zu sich nachzuziehen, sowie Konzepte zur Einwanderung und Niederlassung bestimmter Kategorien von Arbeitnehmern aus Drittstaaten und von Schülern, Studenten oder Wissenschaftlern. Einige der von der Kommission in diesem Zusammenhang vorgelegten Mitteilungen und Richtlinienentwürfen deuten an, dass zur bisherigen Politik der Abschottung gegenüber „unerwünschter“ Einwanderung nach und nach Elemente einer Ermöglichung oder gar Förderung „erwünschter“ Migration hinzukommen. In einem Richtlinienvorschlag vom März 2004 beschreibt die Kommission ihre Interessenlage wie folgt: „Die Kommission hat sich (...) deutlich für eine kontrollierte Öffnung der Kanäle für die legale Einwanderung anhand bestimmter Parameter und Kriterien ausgesprochen. Einer dieser Parameter ist der Bedarf der Mitgliedstaaten.“ 338
Diese Formulierung zeigt, dass die Kommission eine Notwendigkeit für bestimmte Arten der Einwanderung erkennt und diese in „kontrolliertem“ Rahmen europaweit ermöglichen will. Als ein Kriterium dient dabei der Bedarf der EU-Staaten an Arbeitskräften aus Drittstaaten. Eine arbeitsmarktpolitisch, ökonomisch und mitunter auch demografisch begründete Notwendigkeit von Arbeitszuwanderung ist in zahlreichen Dokumenten enthalten. 5.1 Das Recht auf Familienzusammenführung Von 1999 an beschäftigten sich die EU-Organe intensiv mit einem Bereich der Migrationspolitik, der sich zum Teil mit der Asyl- und Flüchtlingspolitik und der „illegalen Migration“ überschneidet, die bisher im Vordergrund der gemeinsamen 338
KOM(2004) 178 endgültig, S. 5.
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5 Die Umsetzung des Amsterdamer Vertrags: „legale“ Migration
Politik standen, zum Teil aber auch mit anderen Arten von Migration, und somit eine Art Querschnittsaufgabe darstellt: Das Recht von in der EU ansässigen Drittstaatsangehörigen, Familienmitglieder aus den Herkunftsländern in die EU nachkommen zu lassen. In mehreren Mitgliedstaaten der EU ist der Familiennachzug seit den Anwerbestopps der frühen Siebzigerjahre die wichtigste Quelle von Einwanderung neben dem Zuzug von Flüchtlingen und Asylsuchenden.339 Zwar war der Familiennachzug bzw. die Familienzusammenführung schon in früheren Jahren ein Diskussionsthema im Rat, jedoch ging es dabei zumeist um EUBürger und deren Freizügigkeit im Binnenmarkt, oder es wurden nicht verbindliche Entschließungen im Rat angenommen, mit denen die Mitgliedstaaten angeregt wurden, ihre jeweiligen nationalen Rechtslagen einander anzupassen. Der Rat ging dabei davon aus, dass Entscheidungen eines Staates über Zuwanderungsfragen in einem gemeinsamen Binnenmarkt, in dem Freizügigkeit herrscht, immer auch die anderen Staaten betreffen und insofern eine Gemeinschaftsaufgabe darstellen. Rund ein halbes Jahr nach dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags legte die EU-Kommission einen ersten Richtlinienentwurf für eine gemeinsame EURegelung über die Bedingungen, unter denen in der EU ansässige Drittstaatsangehörige Familienmitglieder aus den Herkunftsländern zu sich holen dürfen, vor. 340 Zur Begründung ihres Vorschlags verwies die Kommission auf die Bestimmungen des Amsterdamer Vertrages, auf die Beschlüsse von Tampere sowie auf den Aktionsplan zum Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Über diese institutionellen Bezüge hinaus stellte sie auch eigene Überlegungen zum Recht auf Familiennachzug an. Diese gingen über Weisungen des Rates beziehungsweise der Mitgliedstaaten hinaus und machten deutlich, dass die Kommission als eigenständiger Akteur mit eigenen Interessen in die Diskussion über eine gemeinsame Migrationspolitik eingreifen wollte. Viele der in diesem ersten Kommissionsdokument zur Familienzusammenführung genannten Interessen sind auch für die spätere Entwicklung einer gemeinsamen Politik zur Arbeitsmigration von Bedeutung. So wird die Festlegung der wesentlichen Grundsätze einer gemeinsamen Einwanderungspolitik als eine „wichtige Aufgabe, der sie gebührende Aufmerksamkeit schenken werde, verstanden. An diese Aussage schließt sich ein Bekenntnis zu einer aktiven Einwanderungspolitik an. Nach Ansicht der Kommission war das Konzept eines „Einwanderungsstopps, von dem in der europäischen Einwanderungsdebatte der letzten Jahre immer wieder die Rede war, zu keinem Zeitpunkt realistisch oder zweckmäßig.“ 339 Dem International Centre for Migrations Policy Development (ICMPD) zufolge kam Anfang der Neunzigerjahre rund ein Vierteil aller Migranten aufgrund von Familienzusammenführung nach Westeuropa; vgl. ICMPD 1994, S. 44. Laut Hailbronner sind Migranten, die über Familiennachzug einwandern, für Deutschland und Österreich eine “quantitative bedeutende, wenn nicht die bedeutendste Zuwanderungsgruppe”; vgl. Hailbronner 2004, S. 6; vgl. auch Franz 2006, S. 45. 340 KOM(1999) 638 endgültig.
5.1 Das Recht auf Familienzusammenführung
127
„Aus verschiedenen Gründen wurde keine Einwanderungspolitik in dieser Form betrieben. So sollte beispielsweise die Einwanderung im Rahmen der Familienzusammenführung auf kurze und mittlere Sicht nicht behindert werden; zudem bestand in mehreren Mitgliedstaaten ein Mangel an Arbeitskräften. Schließlich wollten die Mitgliedstaaten gegenüber der Außenwelt Offenheit signalisieren und ihre besonderen Beziehungen zu bestimmten Drittstaaten weiterhin pflegen. Längerfristige Überlegungen, wie die demographische Entwicklung in Richtung einer Überalterung der Bevölkerung und deren Auswirkungen auf die Sozialschutzsysteme und die Rentenfinanzierung, spielten ebenfalls eine Rolle.“341
Während die Kommission in diesem Abschnitt den potenziellen Nutzen von Einwanderung darlegt und andeutet, eine Abkehr vom „Zuwanderungsstopp“ könne aus demografischen, arbeitsmarktpolitischen oder wirtschaftlichen Überlegungen heraus im Interesse der EU liegen, schränkt sie ihre Argumente pro Einwanderung weiter unten im Text wieder ein: Angesichts der „derzeitigen Beschäftigungslage“ könne die EU „Einreise und Aufenthalt nicht so großzügig wie in den fünfziger und sechziger Jahren“ regeln. Andererseits sollten Einreise- und Aufenthaltsregeln aber auch „nicht allein durch die Arbeitslosenquote bestimmt werden.“ In einigen Wirtschaftssektoren, so die Kommission weiter, „könnten beispielsweise Arbeitskräfte mit bestimmten Qualifikationen fehlen“. Die europäische Einwanderungspolitik sollte „den wirtschaftlichen oder sozialen, kulturell oder historisch bedingten Faktoren der Einwanderung sowohl bei den Aufnahmeländern als auch bei den Herkunftsländern Rechnung tragen.“342 Diese Überlegungen der Kommission, die Betonung möglicher positiver Effekte von Migration für die Bevölkerungsentwicklung, den Arbeitsmarkt und – indirekt – für die Ökonomie der EU-Staaten, sind nicht speziell auf eine mögliche gemeinsame Regelung der Familienzusammenführung zugeschnitten, sondern auf die Migrationspolitik allgemein. Ähnliche Argumente wird die Kommission, wie an späterer Stelle dieser Arbeit dargelegt wird, auch 2005 in der Diskussion über eine gemeinsame Politik zur Arbeitskraftmigration ins Feld führen. Daneben bezieht sich die Kommission in ihrem Richtlinienentwurf auch auf eine Reihe internationaler Menschenrechtsdokumente, die den Schutz der Familie garantieren, welche als die „natürliche Kernzelle der Gesellschaft“ betrachtet wird. Die Kommission hat also ein klares Interesse daran, eine künftige Regelung zur Familienzusammenführung internationalen Rechtsstandards anzupassen. Das Recht auf Familienzusammenführung geht aus dem Menschenrecht des Schutzes des Familienlebens hervor, das unter anderem in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) enthalten ist.343 Schließlich wird auch der Nutzen der Familienzusammenführung für die Integration von Migranten angesprochen. Diese Art der Zuwanderung bilde „eine KOM(1999) 638 endgültig, S. 2 f. KOM(1999) 638 endgültig, S. 3. 343 Vgl. Franz 2006, S. 46. 341 342
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5 Die Umsetzung des Amsterdamer Vertrags: „legale“ Migration
wichtige Voraussetzung für die Integration der rechtmäßig in einem Mitgliedstaat ansässigen Drittstaatsangehörigen“. Die Anwesenheit der Familienmitglieder ermögliche ein „normales Familienleben“ und somit eine „größere Stabilität und bessere Verwurzelung der Menschen“.344 Um zu einer gemeinsamen EU-Regelung der Familienzusammenführung zu kommen, schlägt die Kommission eine Art Synthese der bisherigen Rechtslage in den Mitgliedstaaten vor. Sie analysiert, dass alle Mitgliedstaaten über nationale Regelungen zur Familienzusammenführung verfügen. In einigen Ländern, etwa Deutschland, Portugal oder Italien, sei der Schutz der Familie in der jeweiligen Verfassung verankert. Daraus werde ein unter bestimmten Umständen zu gewährender Rechtsanspruch auf Familiennachzug abgeleitet. Andere Länder regelten den Familiennachzug nach Ermessen. Lediglich ein Land, Österreich, entscheide nach einer Quotenregelung über Einreiseanträge. Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestünden auch hinsichtlich der Auflagen bzw. Bedingungen, an die der Familiennachzug geknüpft wird, beispielsweise „Achtung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“, Vorhandensein „angemessenen Wohnraums“ und „ausreichender finanzieller Mittel“ oder auch Wartezeiten. In diesen Punkten wichen die innerstaatlichen Rechtsvorschriften deutlich voneinander ab.345 Unterschiede bestünden darüber hinaus auch in Bezug auf die Angehörigen, denen der Nachzug gestattet ist, das Alter der nachzugsberechtigten Kinder sowie die Frage, ob auch unverheirateten Paaren die Zusammenführung gestattet wird. Als ein weiteres Ziel ihres Vorschlags nennt die Kommission: „Erstens soll die Rechtssicherheit von Drittstaatsangehörigen gewährleistet werden, damit diese – unabhängig davon, welcher Mitgliedstaat ihnen den Aufenthalt gestattet – weitgehend einheitliche Bedingungen für die Familienzusammenführung vorfinden. Zweitens soll nach Möglichkeit vermieden werden, dass sich Drittstaatsangehörige bei der Wahl des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Wohnsitz nehmen möchten, ausschließlich davon beeinflussen lassen, welches Land ihnen die günstigsten Bedingungen bieten könnte.“346
Neben arbeitsmarktpolitischen, demografischen, ökonomischen und an den Menschenrechten orientierten Interessen lässt sich die Kommission also von einem klaren Interesse an weitgehender Vergemeinschaftung leiten. Sie zeigt auch ein Interesse daran, dass sich Migrationsströme aus Drittstaaten möglichst gleichmäßig auf die EU-Staaten verteilen oder zumindest nicht durch unterschiedliche nationale Regeln zur Familienzusammenführung verzerrt werden. Zwischen den drei Hauptakteuren Kommission, Parlament und Rat bzw. Innenministern waren die Bedingungen, die Migranten erfüllen müssen, um als Familienangehörige in die EU kommen zu können, fast vier Jahre lang umstritten. In Ebenda. KOM(1999) 638 endgültig, S. 6. 346 KOM(1999) 638 endgültig, S. 10. 344 345
5.1 Das Recht auf Familienzusammenführung
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dieser Zeit wurde klar, dass sich eine vollständige Vergemeinschaftung des Rechts auf Familienzusammenführung nicht durchsetzen lassen würde. Die Kommission legte mehrere Richtlinienentwürfe vor, das Parlament äußerte sich mehrmals dazu, der Rat erzielte jedoch bis September 2003 keine Einigung. Kommission und Parlament hatten jedes Mal im Sinne der Migranten großzügigere Bestimmungen vorgeschlagen, als die Minister einzuräumen bereit waren. Das Ergebnis war schließlich eine Richtlinie, die lediglich Mindeststandards vorsieht, welche von den Mitgliedstaaten leicht erfüllt werden können, bzw. zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Richtlinie bereits erfüllt waren – eine Einigung „auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner“, die sich weniger durch allgemein gültige Regeln, sondern eher durch eine Vielzahl von Kann-Bestimmungen auszeichnet. In der schließlich verabschiedeten Richtlinie explizit genannte Interessen des Rates sind, Migranten, die sich „rechtmäßig im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten“, eine „gerechte Behandlung“ zu bieten, ihnen im Rahmen einer „energischere(n) Integrationspolitik“ Rechte und Pflichten zuzuerkennen, die mit denen der Unionsbürger vergleichbar sein sollen, und ihnen unter bestimmten Bedingungen ein Familienleben zu ermöglichen. Regeln der Familienzusammenführung sollten zu „soziokultureller Stabilität“ beitragen, die wiederum die Integration von Drittstaatsangehörigen in den Mitgliedstaaten erleichtere. „Dadurch wird auch der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefördert, der als grundlegendes Ziel der Gemeinschaft im Vertrag aufgeführt wird.“347 Der Rat schließt sich hier der Überlegung der Kommission an, der zufolge ein gemeinsames Rechtsinstrument zur Familienzusammenführung zu einer Vertiefung der europäischen Integration beitragen kann. Auch auf Menschenrechtsdokumente wird verwiesen, und der Rat betrachtet Familienzusammenführung als nützlich für die Integration von Migranten sowie für die soziale und ökonomische Entwicklung in Europa. Das Recht auf Familienzusammenführung soll vor diesem Interessenhintergrund vor allem für die Mitglieder der Kernfamilie, also Ehegatten und minderjährige Kinder, gelten. Den einzelnen Mitgliedstaaten steht aber frei, die Möglichkeit der Familienzusammenführung auf weitere Verwandte in gerader aufsteigender Linie, volljährige unverheiratete Kinder, nicht eheliche Lebenspartner sowie – im Fall von Mehrehen – auf die minderjährigen Kinder weiterer Ehegatten auszudehnen. Kinder über 12 Jahren können von den Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen jedoch ausgenommen werden, so dass die gemeinsame Richtlinie keinen Mitgliedstaat dazu zwingt, den Nachzug von Kindern über 12 zu ihren Eltern in der EU zu gestatten. Die Voraussetzungen, die Antragsteller erfüllen müssen, bleiben ebenfalls weitgehend innerstaatlichen Gesetzen in den Mitgliedstaaten überlassen; die gemeinsamen europäischen Regeln beschränken sich auf Kann-, Darf- und Soll347
Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003, hier S. 12.
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5 Die Umsetzung des Amsterdamer Vertrags: „legale“ Migration
Bestimmungen. So kann von Antragstellern verlangt werden, dass sie über Wohnraum in einer bestimmten Größe verfügen, eine Krankenversicherung besitzen, über ausreichende Einkünfte zur Deckung des eigenen Lebensunterhalts und dem der nachzuziehenden Angehörigen verfügen, oder bestimmten Integrationsanforderungen des jeweiligen Mitgliedstaats nachkommen. Insgesamt betrachtet ist die Richtlinie zur Familienzusammenführung, weil sie den einzelnen Staaten in fast allen Details große Spielräume lässt, noch keine Maßnahme der Vergemeinschaftung der Migrationspolitik in der EU, auch wenn sie, wie Franz feststellt, ein „eindeutiges Recht auf Familiennachzug“ verleiht, das wiederum ein „Recht auf Einreise und Aufenthalt ergibt“.348 Sie trägt eher zu einer Harmonisierung bei und belegt das gemeinsame Ziel der EU-Organe, nach und nach alle Bereiche der Migration EU-weit zu regeln. Dass der Rat ein wesentlich geringeres Niveau der Vergemeinschaftung akzeptierte, als die Kommission ursprünglich vorgeschlagen hatte, dass Überlegungen menschenrechtlicher, sozialer und ökonomischer Art knapper ausfallen als in der Vorlage der Kommission, und dass Verweise auf den Arbeitsmarkt, das Konzept des Zuwanderungsstopps und auf die demografische Entwicklung fehlen, lassen den Schluss zu, dass sich die Interessen im Rat vor allem darauf richteten, die jeweils in den Mitgliedstaaten geltenden Regelungen nicht zu stark verändern zu müssen. Es bestand zudem eher ein gemeinsames Interesse an einer Begrenzung bzw. Einschränkung von Migration, als ein Interesse an einem Ausgleich negativer demografischer Entwicklungen, an der Behebung von Engpässen auf dem Arbeitsmarkt oder an der bestmöglichen Verwirklichung eines Menschenrechts. In Deutschland machte die Richtlinie zur Familienzusammenführung nur geringfügige Gesetzesänderungen nötig. Sie wurden mit dem 2005 in Kraft getretenen „Zuwanderungsgesetz“ umgesetzt.349 5.2 Langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige Einen weiteren Schwerpunkt der Arbeit der EU-Organe im Bereich der legalen Migration bildete von 2001 an der Versuch, die Rechte von Migranten aus Drittstaaten, die seit mehreren Jahren in einem EU-Staat leben, zu harmonisieren und einen EU-weit einheitlichen Aufenthaltsstatus zu schaffen, den Status der so genannten „langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen“. Gleichzeitig sollten die Bedingungen festgelegt werden, unter denen diese Gruppe in den EU-Binnenmarkt einbezogen werden könnte, inwieweit es also Einwanderern mit langfristigem Aufenthaltsrecht ermöglicht werden sollte, ebenso wie EU-Bürger ihren Wohnsitz 348 349
Franz 2006, S. 68. Vgl. Maaßen 2006, S. 163.
5.2 Langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige
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innerhalb der EU frei zu wählen. Dieses Ziel ergibt sich aus dem Amsterdamer Vertrag, der in Artikel 63 die Vereinbarung entsprechender Regeln vorsieht. Die Umsetzung der vertraglichen Bestimmung erschien zunächst unproblematisch. Der Rat hatte bereits 1996 Maßnahmen für eine bessere Integration von Staatsangehörigen dritter Länder, die sich auf Dauer in den EU-Staaten befinden, gefordert. Außerdem verfügten mehrere EU-Staaten in ihrem nationalen Recht bereits über Regelungen über einen privilegierten Zugang dieser Gruppe zum Arbeitsmarkt, über Gleichbehandlung bei der Gewährung sozialer Rechte und zu ihrem Schutz vor Ausweisung.350 In einem Richtlinienentwurf vom März 2001 schlägt die Kommission nun vor, EU-weit festzulegen, dass Migranten aus Drittländern, die seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig in einem EU-Land leben, den Status von „langfristig Aufenthaltsberechtigten“ beantragen können und im Fall der Gewährung ein so genanntes „Aufenthaltsrecht EU“ bekommen. Voraussetzungen dafür sollen laut Kommission sein, dass die Antragsteller selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen und über „feste Einkünfte“ in Höhe des Betrags verfügen, „unterhalb dessen im betreffenden Mitgliedstaat Sozialhilfe gewährt werden kann. Zudem müsse eine Krankenversicherung vorliegen, und der Antragsteller dürfe keine „Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit“ darstellen.351 Der Status eines „langfristig Aufenthaltsberechtigten“ soll der Kommission zufolge zehn Jahre gelten und anschließend verlängert werden können. Auch soll er den betroffenen Migranten ähnliche Rechte garantieren, wie sie für EU-Bürger und die Staatsbürger des jeweils zuständigen Mitgliedstaats gelten. Dazu gehören etwa der gleichberechtigte Zugang zum Arbeitsmarkt, ein Recht auf Bildung und Berufsbildung, die Anerkennung von Diplomen und Prüfungszeugnissen, sozialer Schutz einschließlich Sozialhilfe und einige andere gesellschaftliche Rechte. Die Frage des Wahlrechts, also der Möglichkeit, an kommunalen oder Europawahlen teilzunehmen, soll von EU-Regelungen nicht berücksichtigt werden; ebenso soll es den Mitgliedstaaten überlassen bleiben, zu bestimmen, wann und unter welchen Bedingungen Drittstaatsangehörige Staatsbürger des jeweiligen Landes werden können. Zusätzlich zu den Rechten der langfristig Aufenthaltsberechtigten im Land ihres Wohnsitzes soll der neue Status den betreffenden Migranten aber das Recht einräumen, ihren Wohnsitz in ein anderes EU-Land zu verlegen und damit an der Freizügigkeit im Binnenmarkt teilzunehmen. Zur Begründung ihres Vorschlags verweist die Kommission unter anderem auf den EU-Sondergipfel von Tampere 1999, bei dem sich die Staats- und Regierungschefs für eine „energischere Integrationspolitik“ ausgesprochen und beschlossen hatten, langfristig ansässigen Drittstaatsangehörigen eine „Reihe einheitlicher Rech350 351
Vgl. Hailbronner 2004, S. 22. KOM(2001) 127 endgültig, S. 38.
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5 Die Umsetzung des Amsterdamer Vertrags: „legale“ Migration
te“ zu gewähren, die „sich so nah wie möglich an diejenigen der EU-Bürger anlehnen.“ Die Kommission übernimmt dieses Bekenntnis zu einer auf einer „gerechten Behandlung“ basierenden „effektiven Integration von Drittstaatsangehörigen“.352 Zudem verweist sie auf ein älteres Kommissionspapier, die „Mitteilung über eine Migrationspolitik der Gemeinschaft“ aus dem Jahr 2000, in dem von der Notwendigkeit die Rede ist, dass sich die EU-Staaten zu „wirklich aufnahmebereiten Gesellschaften“ entwickeln und anerkennen, „dass Integration ein zweiseitiger Prozess ist, der sowohl von den Einwanderern als auch von der Aufnahmegesellschaft Anpassung verlangt.“353 Die Kommission stellt fest, dass legal in einem EU-Staat lebende Drittstaatsangehörige bislang nicht das Recht haben, sich über eine Höchstdauer von drei Monaten hinaus in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten. Dies wertet sie als „Diskriminierung gegenüber Unionsbürgern, die aufgrund des Vertrags und des geltenden Gemeinschaftsrechts Freizügigkeit genießen“.354 In dem Richtlinienvorschlag wird somit deutlich, dass sich das Interesse der Kommission auf Gleichbehandlung und Integration bezieht. Zusätzlich ist sie jedoch der Auffassung, dass die bisherige Rechtslage den „wachsenden Flexibilitätsanforderungen eines im ständigen Wandel begriffenen Arbeitsmarktes“ widerspreche. Die mit dem Richtlinienvorschlag beabsichtigte, weitgehende Gleichstellung von langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen mit EU-Bürgern könne auch zu einem „besseren Einsatz der vorhandenen Arbeitskräfte in den einzelnen Mitgliedstaaten beitragen.“355 Auch arbeitsmarktpolitische Überlegungen prägen hier also die Interessen der Kommission. Das Europäische Parlament gab der Kommissionsvorlage im Februar 2002 mit nur geringfügigen Änderungswünschen grünes Licht. Die Abgeordneten präzisierten lediglich, dass die Dauer des Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zwar das Hauptkriterium für die Erlangung des Status des langfristig Aufenthaltsberechtigten sein müsse, dass die Mitgliedstaaten daneben aber auch „Integrationsfortschritte in Form des Erwerbs einer Sprache des jeweiligen Mitgliedstaates“ berücksichtigen müssten356 . Das Parlament sprach sich damit indirekt dafür aus, dass das EU-Aufenthaltsrecht verweigert werden kann, wenn ein Drittstaatsangehöriger zu geringe „Integrationsfortschritte“ macht. Daneben formulierte das Parlament auch ein Sicherheitsinteresse. Es scheine „geboten, Personen, die sich an terroristischen Handlungen (...) beteiligen, den besonderen Status des langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen verweigern zu können bzw. sie vom besonderen Ausweisungsschutz, den dieser Status gewährt,
KOM(2001) 127 endgültig, S. 3. KOM(2000) 757 endgültig, S. 19. 354 KOM(2001) 127 endgültig, S. 10. 355 Ebenda. 356 Europäisches Parlament, P5_TA (2002) 0030. 352 353
5.2 Langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige
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auszunehmen.“357 Weitere Änderungsanträge des Parlaments sind technischer Natur. Die für die Parlamentsentschließung zuständige Berichterstatterin Baroness Sarah Ludford, eine Abgeordnete der Liberaldemokraten aus Großbritannien, betonte in ihrer Begründung der Entschließung, das Parlament habe „immer wieder eine Verbesserung der Stellung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in der Europäischen Union aufhalten, gefordert“ und stehe dem Kommissionsvorschlag insofern positiv gegenüber. Eine „gerechte Behandlung“ und „aktive Integration“ von Drittstaatsangehörigen „mit begleitenden Maßnahmen zur Verhinderung ihrer Diskriminierung“ sei auch als „Beitrag zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der EU“ zu sehen.358 Die Berichterstatterin unterstrich so das schon früher zu beobachtende Interesse des Parlaments, Migranten als Träger von Rechten zu betrachten und für erfolgreiche Integration zu sorgen. Der Rat nahm den Richtlinienvorschlag der Kommission mehr als zweieinhalb Jahre später, im November 2003, mit einigen prägnanten Änderungen an.359 Dass die Annahme so lange dauerte, ist auf unterschiedliche Interessen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Einbeziehung von Flüchtlingen in die Richtlinie zurückzuführen sowie auf einen ideologischen Gegensatz zwischen Frankreich auf der einen, und Deutschland und Österreich auf der anderen Seite: Die französische Regierung hatte in den Verhandlungen vertreten, dass Integration am besten durch eine Gleichstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen mit EU-Bürgern zu erreichen sei. Deutschland und Österreich wollten von den Antragstellern dagegen spezifische „Integrationsleistungen“ verlangen.360 Aus dem endgültigen Text geht – ähnlich wie im Kommissionsvorschlag – hervor, dass die Richtlinie ein „echtes Instrument zur Integration“ darstellen soll. Auch wird das Interesse verfolgt, mit der Vereinheitlichung der Aufenthaltstitel zur Verwirklichung des Binnenmarks als „Raum, in dem Freizügigkeit für jedermann gewährleistet ist“, beizutragen. Der Inhalt der Richtlinie könne einen „wesentlichen Mobilitätsfaktor darstellen, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt der Union“361 , so der Rat. Die Frage der Einbeziehung von Flüchtlingen in die Richtlinie wurde vertagt, und der Streit über obligatorische „Integrationsleistungen“ dadurch beigelegt,
Ebenda. Europäisches Parlament, A5-0436/2001, S. 34. 359 In der letztlich vom Rat angenommenen Richtlinie, die in den Mitgliedstaaten seit Januar 2006 in nationales Recht umgesetzt sein muss, wurde die Dauer des Aufenthaltsrechts für „langfristig Aufenthaltsberechtigte“ auf fünf Jahre (mit Verlängerungsmöglichkeit) festgelegt. Die Kommission hatte zehn Jahre vorgeschlagen. Außerdem wurden von der Kommission ursprünglich vorgeschlagene, „großzügigere“ Bedingungen für Flüchtlinge und in der EU geborene Kinder von Drittstaatsangehörigen aus dem Richtlinientext entfernt; vgl. Richtlinie 2003/109/EG des Rates. 360 Vgl. Hailbronner 2004, S. 24. 361 Richtlinie 2003/109/EG des Rates, S. 45. 357 358
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dass die entsprechende Klausel als Kann-Bestimmung formuliert wurde und somit nationalen Vorschriften überlassen bleibt.362 In Deutschland mussten aufgrund der Richtlinie unter anderem ein neuer Aufenthaltstitel („Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG“) eingeführt und neue Regelungen hinsichtlich der Mobilität von in anderen EU-Mitgliedstaaten ansässigen Daueraufenthaltsberechtigten geschaffen werden.363 5.3 Studenten, Schüler und Auszubildende aus Drittstaaten Auf Vorschlag der Kommission nahm der Rat im Dezember 2004 eine Richtlinie über die Einreise von Studenten, Praktikanten, Schülern und Auszubildenden aus Drittstaaten in die EU an.364 Die Kommission hatte im Oktober 2002 vorgeschlagen, für diese Personengruppe ein EU-weit gültiges Regelwerk zu schaffen. Die Einreise von Drittstaatsangehörigen zur Aufnahme eines Studiums, einer Berufsausbildung oder eines Freiwilligendienstes ließe sich angesichts des Europäischen Binnenmarkts im Gemeinschaftsrahmen besser regeln, als auf nationaler Ebene, argumentierte sie. Es sei ein wichtiges Ziel der EU, dass die Mitgliedstaaten im Bildungsbereich „weltweit Maßstäbe setzen“ und „Wissen stärker (...) teilen“. Die Förderung der Mobilität von Studenten und Auszubildenden könne auch zur „Verbreitung der Werte der Menschenrechte, der Demokratie und der Menschenrechte“ beitragen, denen die EU verpflichtet sei. Die Aufnahme von Studenten aus anderen Ländern könne zudem positive Auswirkungen auf die Dynamik der europäischen Bildungssysteme haben, da die Bildungseinrichtungen dadurch angeregt würden, „qualitativ hochwertige Programme“ zu entwickeln. Es sei daher angebracht, die „Zulassung dieser Personen“ in der EU zu erleichtern.365 Die Kommission ging davon aus, dass die Mitgliedstaaten und das Parlament ähnliche Interessen hätten und es insofern nicht zu Kontroversen kommen würde. Im Vergleich zu anderen Arten der Migration herrsche für die Einreise von Studenten, Schülern und Auszubildenden die Besonderheit, dass der Aufenthalt nur für einen bestimmten Zeitraum erfolge und unabhängig von der Arbeitsmarktlage in den Aufnahmestaaten sei. Eine Erleichterung der Mobilität dieser Personengruppe sei sowohl für die Aufnahme- als auch für die Herkunftsländer vorteilhaft und somit nicht umstritten. Gleichzeitig stellte die Kommission aber auch fest, dass viele Mitgliedstaaten Studenten aus Drittstaaten die Möglichkeit einräumen, nach dem Ende ihrer Ausbildung „zumindest für einen zuerst beschränkten Zeitraum als Arbeitnehmer zu Richtlinie 2003/109/EG des Rates, S. 47; Vgl. Hailbronner 2004, S. 24. Vgl. Maaßen 2006, S. 164. 364 Richtlinie 2004/114/EG des Rates. 365 KOM (2002) 548 endgültig. 362 363
5.3 Studenten, Schüler und Auszubildende aus Drittstaaten
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bleiben, um einen möglicherweise auf ihrem Arbeitsmarkt bestehenden Mangel an qualifizierten Arbeitskräften auszugleichen“. An späterer Stelle in dieser Arbeit wird erwähnt, dass beispielsweise Schweden diese Möglichkeit schaffen will. Trotz der Annahme, Regeln für Studenten und Auszubildende seien von der Arbeitsmarktlage unabhängig, räumt die Kommission also ein, dass die Einreise von Studenten eine Bedeutung im Rahmen der Arbeitsmigration und damit eine wirtschaftliche Bedeutung haben kann – sowohl für die aufnehmenden EU-Staaten als auch für die Herkunftsländer der betroffenen Migranten. Die Förderung der Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Aufnahme eines Studiums erfordere daher „ergänzende Maßnahmen“ zur Verhinderung des „bereits in noch nie dagewesener Größe auftretenden Problems des ‚Brain Drain’, der Abwanderung von qualifizierten Personen vom Süden in den Norden“. Die Überlegungen der Kommission zu diesem Problem spielten im Lauf der Verhandlungen über die Richtlinie jedoch keine weitere Rolle, und auch in der vom Rat im Dezember 2004 verabschiedeten Richtlinie wird das Thema nicht angesprochen. Dort wird lediglich festgestellt, dass die Zuwanderung von Studenten, Schülern und Auszubildenden „sowohl für die betreffenden Personen als auch für ihren Herkunfts- und den Aufnahmestaat eine Bereicherung“ darstelle.366 In den Text der Richtlinie übernommen wurde dagegen das Interesse der Kommission, dass die EU in der Bildungspolitik weltweit Maßstäbe setzen solle, sowie die Einschätzung, dass es sich bei der Aufnahme ausländischer Studenten, Schüler und Auszubildender um ein zeitlich begrenztes Migrationsphänomen handle, das vom Arbeitsmarkt unabhängig sei.367 Die wichtigsten Vorschriften der Richtlinie beziehen sich unter anderem auf die Bedingungen für die Einreise von Studenten, Schülern, Auszubildenden und Praktikanten, darunter das Vorhandensein eines gültigen Reisedokuments und einer Krankenversicherung. Zudem wird verlangt, dass interessierte Personen schon vor ihrer Einreise in die EU von einer europäischen Bildungseinrichtung zugelassen werden, dass Sprachkenntnisse verlangt werden können, dass von den Antragstellern keine „Bedrohung für die öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ ausgehen darf, und dass von den Ausbildungsstätten möglicherweise verlangte Gebühren bezahlt werden müssen. Mit Blick auf die Bedeutung von Studenten und Auszubildenden für den Arbeitsmarkt wird in der Richtlinie auch festgelegt, dass Studenten „außerhalb ihrer Studienzeiten“ berechtigt sein sollen, eine „Anstellung anzunehmen“ oder gemäß dem nationalem Recht des jeweiligen EU-Landes einer „selbstständigen Erwerbstätigkeit“ nachgehen dürfen. Dabei könne die „Lage auf dem Arbeitsmarkt des betreffenden Mitgliedstaats berücksichtigt“ werden.368 Die Frage, ob Studenten auch nach dem Ende ihrer Ausbildung in der EU bleiben dürRichtlinie 2004/114/EG des Rates, S. 12. Ebenda. 368 Richtlinie 2004/114/EG des Rates, S. 13-14. 366 367
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fen, wird nicht behandelt. Die Mitgliedstaaten müssen die Richtlinie bis 2007 in nationales Recht umsetzen. 5.4 Forscher aus Drittstaaten Mit Anklängen an ihre bereits im Zusammenhang mit Studenten und Auszubildenden formulierten Interessen legte die Kommission im März 2004 mehrere Einzelvorschläge über den Umgang mit Forschern und Wissenschaftlern aus Drittstaaten vor. Darin heißt es im Begründungsteil, Forscher stellten „eine eigene Kategorie hochqualifizierter Einwanderer dar, an denen die Europäische Union einen besonders großen Bedarf hat und damit auch den höchsten Vorteil aus ihrer Aufnahme erzielt.“369 Die Kommission beabsichtigt daher, die Einreise von Forschern und Wissenschaftlern in die EU zu erleichtern und zu vereinfachen. Das beabsichtigte System sieht – grob zusammengefasst – vor, dass die für Einreise und Einwanderung von Drittstaatsangehörigen zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten die Befugnis, interessierten Forschern einen Aufenthalt in der EU zu ermöglichen, zum Großteil an Forschungseinrichtungen (Universitäten, Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen, Labors etc.) übertragen. Nach Maßgabe dieser Einrichtungen erteilen die nationalstaatlichen Behörden Einreise- und Aufenthaltsrechte, behalten aber die Möglichkeit, eine Aufenthaltserlaubnis nicht zu verlängern und – ganz allgemein – zu kontrollieren, ob die Institute die ihnen übertragene Aufgabe „pflichtbewusst“ wahrnehmen. Der Begriff „Forscher“ wird, um einen möglichst breiten Personenkreis abzudecken, relativ vage formuliert. So hält es die Kommission nicht für nötig, dass Drittstaatsangehörige, die als Forscher in die EU kommen wollen, schon in ihrem Herkunftsland den Beruf des Forschers ausgeübt haben. Auf diese Weise kommen also auch Universitätsabsolventen unabhängig von ihrem tatsächlich ausgeübten Beruf in Frage.370 Den Bedarf der Europäischen Union an Forschern beziffert die Kommission auf rund 700.000 Personen bis 2010, wobei einheimische Forscher bereits inbegriffen sind. Die Notwendigkeit der Erleichterung der Einwanderung von Forschern und Wissenschaftlern aus Drittstaaten wird nicht mit integrationspolitischen Zielen begründet, sondern ausschließlich mit gesellschaftlichen und ökonomischen Überlegungen. Auch die in anderen Vorschlägen zur Migrationspolitik enthaltenen Sicherheitsinteressen fehlen. Die EU habe beim Europäischen Rat von Lissabon im KOM (2004) 178 endgültig, S. 5. Der Rat definiert „Forscher“ aus Drittstaaten in der endgültigen Richtlinie als „einen Drittstaatsangehörigen, der über einen geeigneten Hochschulabschluss, der den Zugang zu Doktoratsprogrammen ermöglicht, verfügt und der von einer Forschungseinrichtung ausgewählt wird, um ein Forschungsprojekt, für das normalerweise der genannte Abschluss erforderlich ist, durchzuführen“. Richtlinie 2005/71/EG des Rates, S. 17. 369 370
5.4 Forscher aus Drittstaaten
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März 2000 die Bedeutung des „Europäischen Forschungsraums“ unterstrichen, der als Schlüssel zum Ziel angesehen wird, die EU zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen, so die Kommission. Einer der wesentlichen Schritte zur Umsetzung dieses „Europäischen Forschungsraums“ sei die „Erleichterung der Mobilität von Forschern“, nicht nur innerhalb der EU, sondern auch aus Drittstaaten. Der Ministerrat übernahm in der abschließenden Richtlinie vom Oktober 2005 diese Interessen der Kommission. Auch hier heißt es, der Europäische Forschungsraum und das Ziel, drei Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Wissenschaft aufzuwenden, seien Kernstücke des Lissabon-Programms. Um diese Ziele zu erreichen, müsse die EU ihre Programme für Forscher aus Drittstaaten öffnen. Die EU müsse „für Forscher aus aller Welt attraktiver“ gemacht werden. Um die Attraktivität zu steigern, empfiehlt der Rat, Forschern aus Drittstaaten die Mitnahme ihrer Familie zu ermöglichen. Dies soll entsprechend den nationalen Regeln des aufnehmenden Mitgliedslands erfolgen. Die Richtlinie sieht auch vor, dass zugelassene Forscher aus Drittstaaten innerhalb der EU frei umziehen dürfen, unter anderem um sich an grenzüberschreitenden Projekten beteiligen zu können.371 Die Richtlinie trat im Oktober 2007 in Kraft. Sie gehört zu denjenigen Rechtsinstrumenten im Bereich der EU-Migrationspolitik, in denen der Rat am deutlichsten zugunsten von Einwanderung Stellung bezog – wenn auch nur für die sehr überschaubare Gruppe der Forscher und Wissenschaftler. Um die Richtlinie umzusetzen, wurde in Deutschland im Rahmen einer Novelle des Zuwanderungsrechts ein neuer Aufenthaltstitel für „Forscher“ geschaffen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist für die Zulassung von Forschungseinrichtungen verantwortlich, die dann in eigener Regie Forscher aus Drittstaaten anwerben und anstellen dürfen. Ein „Beirat für Forschungsmigration“ soll das Bundesamt bei der Zulassung bzw. Zertifizierung privater und öffentlicher Forschungseinrichtungen unterstützen.372 Bundesforschungsministerin Annette Schavan sagte anlässlich der Umsetzung der EU-Richtlinie, Deutschland werde nun für ausländische Forscher attraktiver: „Das neue Verfahren wird den bürokratischen Aufwand des einzelnen Forschers für eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung in Deutschland und in der Europäischen Union erheblich mindern. Deutschland und Europa werden dadurch deutlich an Attraktivität für ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gewinnen.“373
Ebenda. Vgl. Maaßen 2006, S. 165f.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2007. 373 Bundesministerium für Bildung und Forschung, Schavan: „Deutschland wird für ausländische Forscher attraktiver“, Pressemitteilung Nr. 061/2007, Berlin, 28. März 2007. 371 372
138
5 Die Umsetzung des Amsterdamer Vertrags: „legale“ Migration
5.5 Arbeitsmigration Im November 2000 bereits hatte die EU-Kommission eine „Mitteilung über eine Migrationspolitik der Gemeinschaft“ vorgelegt, in der sie sich hauptsächlich mit der Frage der Arbeitsmigration aus Drittstaaten in die EU beschäftigte und argumentierte, die EU-Staaten bräuchten aus wirtschaftlichen und demografischen Gründen eine aktive Einwanderungspolitik.374 Sie machte damit klar, dass sie es für angebracht hielt, in der EU über die bisherigen Maßnahmen der Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie der Maßnahmen in Bezug auf illegale Einwanderung hinauszugehen und nach Möglichkeiten zu suchen, alle Arten von Migrationsbewegungen mit Hilfe von europäischen Regeln zu steuern und die gemeinsame Politik zum Teil, insbesondere hinsichtlich der Arbeitmigration, an ökonomischen und demografischen Interessen der Mitgliedstaaten auszurichten. Folgende Überlegungen der Kommission erscheinen besonders bedeutsam: „Wie die Analyse des wirtschaftlichen und demografischen Kontextes der Union und der Herkunftsländer zeigt, nimmt das Bewusstsein dafür zu, dass die auf Einwanderungsstopp angelegten Maßnahmen der vergangenen 30 Jahre der heutigen Lage nicht mehr entsprechen. Zum einen sind in den letzten Jahren zahlreiche Drittstaatsangehörige in die Union gekommen, der Einwanderungsdruck steigt weiter und wird verstärkt von illegaler Einwanderung, Menschenschmuggel und Menschenhandel begleitet. Zum anderen haben mehrere Mitgliedstaaten angesichts des fortgesetzten Mangels an qualifizierten und unqualifizierten Arbeitskräften damit begonnen, Drittstaatsangehörige von Ländern außerhalb der Union anzuwerben. Vor diesem Hintergrund müssen wir entscheiden, ob wir daran festhalten wollen, dass die Union dem Einwanderungsdruck widerstehen muss, oder ob wir bereit sind zu akzeptieren, dass die Einwanderung nicht aufzuhalten ist und angemessen geregelt werden sollte; Letzteres erfordert Zusammenarbeit mit dem Ziel, die positiven Wirkungen der Einwanderung für die Union, für die Migranten und für die Herkunftsländer zu maximieren. Angesichts dieser neuen Gegebenheiten hält es die Kommission für zweckmäßig, Arbeitsmigranten Möglichkeiten der legalen Einwanderung in die Union zu eröffnen.“375
Die Kommission sieht mögliche EU-Maßnahmen zur Steuerung der Arbeitsmigration hier sowohl als Antwort auf die weltweiten Migrationsbewegungen und auf den „Migrationsdruck“, dem die EU-Länder ausgesetzt sind, als auch als Möglichkeit, Probleme auf den Arbeitsmärkten in der EU und die Herausforderung alternder Gesellschaften zu bewältigen. Sie schlägt deshalb konkret vor, die Lage in den Herkunftsländern von Migranten und die wirtschaftlichen und demografischen Entwicklungen in der EU gemeinsam zu bewerten und auf dieser Grundlage „Bedingungen für die Aufnahme und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen klar festzulegen.“ Sie fordert ausdrücklich eine „aktive Migrationspolitik“, die von der Prämisse ausgeht, „dass der Migrationsdruck anhalten wird und eine geordnete Einwanderung sowohl für die EU als auch für die Migranten und ihre Herkunftsländer 374 375
KOM(2000) 757 endgültig. KOM(2000) 757 endgültig, S. 3.
5.5 Arbeitsmigration
139
von Vorteil sein kann.“ In einigen Mitgliedstaaten würden bereits „Kanäle für die Migration aus wirtschaftlichen Gründen geöffnet, um den dringenden Bedarf an qualifizierten wie unqualifizierten Arbeitskräften zu decken.“376 Bei der künftigen gemeinsamen Politik solle es darum gehen, die „Bedürfnisse des Marktes, insbesondere an hochqualifizierten Spezialisten, weniger qualifizierten oder unqualifizierten Kräften oder Saisonarbeitern“ zu berücksichtigen. Eine Überschneidung mit der Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU sieht die Kommission nur insofern, als die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der gewünschten Anzahl von Einwanderern im Auge behalten sollen, dass sie unabhängig von Arbeitsmigranten auch Flüchtlinge aufnehmen. Deren Fähigkeiten sollten auf den Arbeitsmärkten besser genutzt werden.377 In einem mehrseitigen Anhang an die genannte Mitteilung geht die Kommission auf spezifische demografische, ökonomische und arbeitsmarktpolitische Entwicklungen in den EU-Staaten ein und setzt diese in einen Zusammenhang mit der Migrationspolitik. So werden etwa eine „Verlangsamung des Bevölkerungswachstums und ein deutlicher Anstieg des Durchschnittsalters der Bevölkerung“ festgestellt. Die Nettozuwanderung in die EU sei bereits zum wichtigsten Faktor des schwachen noch verbliebenen Bevölkerungswachstums geworden. Eine verstärkte legale Einwanderung könne zwar nicht langfristig als wirksames Mittel zum Ausgleich demografischer Veränderungen betrachtet werden, jedoch kurzfristig sinnvoll sein und darüber hinaus andere Maßnahmen wie etwa eine familienfreundlichere Politik ergänzen. Zudem könne Einwanderung im Rahmen einer „Gesamtstrategie zur Wachstumsförderung“ und zur Verringerung der Arbeitslosigkeit kurz- und mittelfristig dazu beitragen, den Mangel an Arbeitskräften in bestimmten Wirtschaftssektoren zu beheben. Eine Mangelsituation gebe es in den EU-Staaten sowohl für hochqualifiziertes Personal, als auch in Bereichen wie Landwirtschaft oder Fremdenverkehr, wo „traditionell niedrig qualifizierte Arbeitskräfte“ benötigt würden. Die Kommission drängt mit diesen Überlegungen darauf, die EUMigrationspolitik aus dem Interessenmuster Sicherheit versus Menschenrechte herauszulösen und auf einer breiteren Basis zu diskutieren, wobei sie demografische, ökonomische und arbeitsmarktpolitische Interessen nachdrücklich betont. Vor dem Hintergrund der Mitteilung vom November 2000 entwickelte die Kommission in den Monaten darauf einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates „über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer unselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit“, also eine konkrete Maßnahme für den Beginn einer europäischen Politik zur Steuerung der Arbeitsmigration aus Drittstaaten.378 Das Papier wurde im Juli 2001 an die anderen EU-Akteure zur Stellungnahme weitergeleitet. Die darin genannten BeKOM(2000) 757 endgültig, S. 13. KOM(2000) 757 endgültig, S. 15. 378 KOM(2001) 386 endgültig. 376 377
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5 Die Umsetzung des Amsterdamer Vertrags: „legale“ Migration
gründungen und Interessen bauen sehr stark auf die bereits in der Mitteilung vom November 2000 genannten Überlegungen zur Notwendigkeit einer aktiven Migrationspolitik auf. Übergeordnetes Ziel der Maßnahme ist die „Bereitstellung eines flexiblen Rahmens, der es allen interessierten Parteien einschließlich der Mitgliedstaaten ermöglicht, flexibel auf wirtschaftliche und demografische Entwicklungen zu reagieren“. Den EU-Mitgliedstaaten soll unter anderem ermöglicht werden, Arbeitsmigranten aus Drittstaaten anzuwerben, wenn Arbeitgeber bestimmte freie Stellen nicht mit einheimischen Arbeitskräften oder Staatsbürgern anderer EUStaaten besetzen können.379 Auch soll es möglich werden, Einwanderung in größerem Umfang (also nicht zwangsläufig an spezifische freie Stellen gekoppelt) zuzulassen, wenn es auf dem Arbeitsmarkt einen generellen Mangel gibt.380 Während die einzelnen Länder nach wie vor selbständig festlegen sollen, in welchem quantitativen Umfang Arbeitsmigration stattfinden soll, sollen gemeinsame europäische Bedingungen und vereinfachte Verfahren entwickelt werden, bis hin zu einer EU-weit einheitlichen, kombinierten Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Darüber hinaus werden bestimmte Rechte (Arbeitsbedingungen, Zugang zu Berufsbildung, Anerkennung von Diplomen, soziale Absicherung, u.s.w.) der Arbeitsmigranten je nach Kategorie (Hochqualifizierte, Saisonarbeiter, innerbetrieblich versetzte Arbeitnehmer in multinationalen Konzernen, u.s.w.) definiert. Vom Europäischen Parlament wurde der Kommissionsvorschlag rund eineinhalb Jahre später mit kleineren Änderungen, Ergänzungen und Präzisierungen gebilligt.381 Zuvor hatten auch die zwei beratenden Organe Ausschuss der Regionen und Wirtschafts- und Sozialausschuss positiv Stellung bezogen.382 Dagegen führten die 379 In diesem Fall soll eine „Einzelbeurteilung“ erfolgen: Wenn ein Arbeitgeber eine spezifische Stelle nicht innerhalb einer bestimmten Frist besetzen kann, soll er Arbeitskräfte aus dem Nicht-EU-Ausland anwerben können; vgl. KOM(2001) 386 endgültig, S. 15. 380 Diese Bestimmung nennt die Kommission „horizontale Beurteilung“: Gemeint ist, dass die Mitgliedstaaten auf einen Arbeitskräftemangel in einem bestimmten Sektor durch Anwerbung aus dem Ausland reagieren können, ohne für jede einzelne Stelle eine konkrete Arbeitsmarktprüfung durchführen zu müssen. Dazu zählen etwa Green Card-Programme. 381 Das Parlament sah unter eine Reihe von gegenüber dem Kommissionsvorschlag günstigeren Bedingungen für die Arbeitsmigranten vor, etwa hinsichtlich des Rechts der Migranten, ihre Ehegatten oder Partner nachzuziehen; Europäisches Parlament, P5_TA(2003) 0050. 382 Der Ausschuss der Regionen billigte den Vorschlag am 13. März 2002 als einen flexiblen rechtlichen Rahmen, der es allen Beteiligten, insbesondere den Mitgliedstaaten ermöglichen werde, unverzüglich auf wirtschaftliche und demografische Veränderungen zu reagieren und dabei den Erfordernissen der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften gerecht zu werden; vgl. Ausschuss der Regionen, AdR/2001/386/REV.1. Auch der Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßte den Vorschlag grundsätzlich, mahnte jedoch eine noch weiter reichende Öffnung der EU gegenüber Arbeitsmigranten aus Drittstaaten an. Unter anderem schlug er vor, Arbeitsuchenden aus Drittstaaten, die keine konkrete Stelle angeboten bekommen haben, eine auf sechs Monate befristete Einreise- und Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, um in der EU eine Stelle zu suchen. Voraussetzung dafür soll sein, dass sich die betreffenden Personen während dieser Zeit selbst versorgen können und über eine Krankenversicherung verfügen. Mit diesem Vorschlag soll dem Problem Rechnung getragen werden, dass zwar Großunternehmen
5.5 Arbeitsmigration
141
Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten im Rat zu keinem Ergebnis, und der Vorschlag scheiterte schließlich. In einer Studie des Brüsseler Centre for European Policy Studies werden drei Hauptgründe für die Zögerlichkeit und Uneinigkeit des Rates genannt: Erstens sei die Behandlung von Migrationsfragen im EU-Zusammenhang stets ein besonders „empfindliches“ Thema, da es die Frage der Souveränität der Mitgliedstaaten berühre, und da den Justiz- und Innenminister der Mitgliedstaaten daran liege, Kontrolle über den Zuzug von Drittstaatsangehörigen zu behalten. Zweitens habe es bei den Verhandlungen über den Kommissionsvorschlag im Rat Uneinigkeit über die von der Kommission zum Zweck der Vereinfachung der Zuwanderungsverfahren geforderte Kombination von Aufenthaltsberechtigung („residence permit“) und Arbeitserlaubnis („work permit“) gegeben. Drittens habe der Kommissionsvorschlag nicht die zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten in hohem Maße unterschiedlichen rechtlichen und administrativen Regelungen hinsichtlich der Migration aus Drittstaaten berücksichtigt. Die Uneinigkeit im Rat mache insofern deutlich, dass es schwer sei, die unterschiedlichen „national philosophies and legal systems framing the field of migration“ zusammenzuführen.383 Ergänzend zu diesem Erklärungsversuch für das Scheitern des Kommissionsvorschlags muss darauf hingewiesen werden, dass Dänemark, Großbritannien und Irland zum Zeitpunkt des Beginns der Verhandlungen über den Kommissionsentwurf bereits klargestellt hatten, dass sie sich an einer gemeinsamen EUEinwanderungspolitik nicht beteiligen würden. Auch unter den anderen Mitgliedstaaten gab es, wie ein Kommissionsbeamter in einer persönlichen Hintergrundinformation näher erläuterte, große Vorbehalte dagegen, nationale Kompetenzen in der Frage der Arbeitsmigration an die EU zu übertragen.384 Dem Kommissionsmitarbeiter zufolge spielten die Interessen der deutschen Regierung eine Schlüsselrolle. Sie sprach sich damals strikt dagegen aus, Drittstaatsangehörigen EU-weit ein wie auch immer geartetes Recht zu geben, zum Zweck der Erwerbstätigkeit in die EU einzuwandern. Die Bundesregierung vertrat den Standpunkt, freie Stellen müssten Bewerber direkt aus dem Ausland anwerben können, kleinere Betriebe oder Einzelpersonen aber vor der Anstellung ein persönliches Kennenlernen fordern; vgl. Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss, WSA/2002/28. 383 Carrera/Formisano 2005, S. 2f. 384 Da weder aus öffentlichen Dokumenten des Rates noch aus der Presse zu erfahren war, warum es zum Vorschlag der Kommission über Arbeitsmigration keine Einigung unter den Mitgliedstaaten gab, und da Erklärungen im zitierten Papier des Centre for European Policy Studies nicht ausreichend erschienen, bat der Verfasser einen Mitarbeiter der Generaldirektion Justiz und Inneres in der EUKommission um nähere Informationen über die Behandlung des Kommissionsvorschlags zur Arbeitsmigration unter den Mitgliedstaaten bzw. im Rat der EU. Die Kommission begleitet auch die nicht öffentliche Behandlung ihrer Legislativvorschläge im Rat und erschien daher am besten für Auskünfte geeignet. Die in den folgenden Absätzen enthaltenen Informationen entstammen einem Dokument, das dieser Kommissionsmitarbeiter dem Autor als „personal background information“ im Februar 2007 per E-Mail übersandte.
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5 Die Umsetzung des Amsterdamer Vertrags: „legale“ Migration
zunächst verschiedenen anderen Kategorien von Arbeitskräften offen stehen, etwa einheimischen Arbeitslosen, EU-Bürgern oder Drittstaatsangehörigen, die sich bereits legal in der EU aufhielten. Einen anderen Standpunkt zu vertreten, sich also für Arbeitskraftmigration aus Drittstaaten auszusprechen, sei für die deutschen Vertreter im Rat nicht möglich gewesen, weil ihre jeweiligen Parteien die Opposition der Wählerschaft gegen eine solche Politik fürchteten, berichtet der Mitarbeiter der EU-Kommission. Deutschland begab sich aus diesen Gründen in Fundamentalopposition zum Vorschlag der Kommission: Die Bundesregierung bestritt, dass die EU-Organe dem Amsterdamer Vertrag zufolge überhaupt rechtliche Zuständigkeiten für die Schaffung gemeinsamer Regeln zur Steuerung der Arbeitsmigration aus Drittstaaten hatten. In dieser Haltung wurde die deutsche Delegation von Österreich, Griechenland und Italien unterstützt, während Finnland und Schweden den Kommissionsvorschlag grundsätzlich befürworteten.385 Mehrere Ratsdelegationen wiesen in den Verhandlungen auch darauf hin, dass sich der Bedarf ihrer jeweiligen Länder an Arbeitskräften in wesentlichen Punkten unterscheide. So bräuchten Spanien und Portugal Saisonarbeitskräfte für die Landwirtschaft, während Deutschland und Frankreich „highly skilled workers“ anwerben müssten. Angesichts der Tatsache, dass der Amsterdamer Vertrag die Migrations-, Asylund Flüchtlingspolitik zwar von der „intergouvernementalen Säule“ der EU-Politik in die „vergemeinschaftete“ erste Säule überführte, dass Beschlüsse in diesem Politikbereich im Rat aber einstimmig gefasst werden mussten, erschien eine Einigung angesichts der weit auseinander liegenden Interessen der Mitgliedstaaten bereits kurz nach Vorlage des Kommissionsvorschlags aussichtslos.386 Aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips und der Aussicht, dass eine Einigung über die Frage der Arbeitsmigration aus Drittstaaten unmöglich sein würde, gelangte der Kommissionsvorschlag gar nicht erst zur formalen Abstimmung. Er wurde nur einmal in einem vorbereitenden, aus nationalen Beamten und Diplomaten zusammengesetzten Gremium des Rates besprochen und daraufhin auf Eis gelegt.387 Im März 2006 zog die Kommission den Vorschlag im Rahmen einer größer angelegten Überprüfung von Legislativvorschlägen, über die mehrere Jahre lang keine Einigung erzielt worden war oder die sich erübrigt hatten, zurück.
385 Wie an späterer Stelle gezeigt werden wird, entwickelt Schweden auf nationaler Ebene Vorschriften für Arbeitsmigration aus Drittstaaten, die in weiten Teilen den Vorschlägen der Kommission ähneln. 386 Bei Einstimmigkeit hat jeder einzelne Mitgliedstaat die Möglichkeit, einen Beschluss zu blockieren. De facto bedeutet dies, dass derjenige Mitgliedstaat, der das geringste Maß an gemeinschaftlichen Regeln anstrebt, anderen, „progressiveren“ Mitgliedstaaten seine Interessen aufzwingt. 387 Vgl. Carrera/Formisano 2005, S. 2f.
5.6 Zwischenfazit
143
5.6 Zwischenfazit Kapitel 4 und 5 haben gezeigt, dass in den späten Achtziger- und den Neunzigerjahren Fragen der Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie der Verhinderung illegaler Einwanderung im Vordergrund der Europäischen Migrationspolitik standen, aber dass sich die Organe der EU von 1999 an auch mit Fragen der legalen Migration aus Drittstaaten beschäftigten. Richtungsweisend für diese Tendenzen waren vor allem die Beschlüsse des Gipfels von Tampere. Die migrationspolitischen Interessen, die sich vorher fast ausschließlich zwischen den Koordinaten „Sicherheit“ und „Menschenrechte“ verorten ließen, wurden nach und nach diversifiziert und ergänzt durch ökonomische, arbeitsmarktpolitische, im weitesten Sinne soziale sowie demografische Interessen. Gleichzeitig hatte die Debatte zwischen Tampere 1999 und dem Jahr 2004 noch enge Grenzen. Rechtsverbindliche Richtlinien und Verordnungen wurden vor allem in den Bereichen Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie hinsichtlich der Bekämpfung der illegalen Einwanderung und der Rückführung illegaler Migranten verabschiedet, während es im Bereich „legale Migration“ nur begrenzt Fortschritte gab. Die Kommission hatte bereits in ihrer „Mitteilung über eine Migrationspolitik der Gemeinschaft“ vom November 2000, in der sie eine aktive Einwanderungspolitik und eine Öffnung der EU gegenüber Arbeitssuchenden aus Drittstaaten vorgeschlagen hatte, indirekt eingeräumt, dass eine enge Zusammenarbeit der EU-Staaten in diesem Bereich nur schwer zu erreichen sein werde. Sie sprach hinsichtlich der weltweiten Migrationsströme und des sich abzeichnenden Bedarfs der Mitgliedstaaten an Arbeitsmigranten von „veränderten Umständen“, dem „Auftreten unterschiedlicher politischer Standpunkte und verschiedener Reaktionen“ sowie von einer „wachsenden Besorgnis der Bevölkerung“.388 An die politischen Akteure richtete sie daher folgende Mahnung: „Der Wechsel zu einer bewussten Migrationspolitik erfordert politische Führungsstärke und ein eindeutiges Bekenntnis zur Förderung pluralistischer Gesellschaften sowie die Verurteilung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Es wird auf die Vorzüge der Einwanderung und der kulturellen Vielfalt hinzuweisen sein; bei Stellungnahmen zu Migrations- und asylpolitischen Fragen wäre ein Sprachgebrauch zu vermeiden, der rassistischen Tendenzen Auftrieb geben oder die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen verschärfen könnte. Die Verantwortlichen müssen öffentlich ihre Unterstützung für Maßnahmen zur Förderung der Integration von neuen Migranten und ihren Familienangehörigen bekunden und für die Anerkennung und Akzeptanz von kulturellen Unterschieden innerhalb eines klar abgesteckten Rahmens von Rechten und Pflichten werben.“389
Die Tatsache, dass in einem Zeitraum von fünf Jahren keine Einigung der Mitgliedstaaten zu den Vorschlägen der Kommission über Arbeitsmigration von 2001 mög388 389
KOM(2000) 757 endgültig, S. 6 KOM(2000) 757, S. 21.
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5 Die Umsetzung des Amsterdamer Vertrags: „legale“ Migration
lich war und der „Wechsel zu einer bewussten Migrationspolitik“ somit offensichtlich ausblieb, deutet darauf hin, dass die Kommissionsvorschläge für einen Teil der Mitgliedstaaten zu fortschrittlich waren, dass ein anderer Teil keine Notwendigkeit für eine gemeinsame Politik auf EU-Ebene sah, und dass, wie die Tagesordnungen des für Migrationsfragen zuständigen Rates der Innen- und Justizminister der Mitgliedstaten während dieser fünf Jahre zeigen, Maßnahmen der Bekämpfung illegaler Migrationsströme, der Grenzsicherung und der Rückführung abgelehnter Asylsuchender und illegaler Migranten und damit verbundene Sicherheitsinteressen für viele Mitgliedstaaten eine wichtigere Rolle spielten, als Fragen der Arbeitsmigration und damit zusammenhängende ökonomische, demografische und arbeitsmarktpolitische Nützlichkeitsinteressen. Obwohl die Regierungen in offiziellen Verlautbarungen, beispielsweise im Protokoll des EU-Gipfels von Thessaloniki 2003390 , die Wichtigkeit einer gemeinsamen Politik für Arbeitsmigration betonten, leisteten sie auf ministerieller Ebene, also im Rat der EU, Widerstand gegen jeden größeren Fortschritt in diesem Politikbereich.391 In manchen Ländern, darunter Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Belgien, wurden zwischen 1999 und 2005 zwar nationale Gesetze für eine erleichterte Anwerbung von hochqualifizierten Arbeitskräften aus Nicht-EU-Staaten verabschiedet.392 Die Zusammenarbeit mit den EUPartnern und eine Harmonisierung der unterschiedlichen Politiken für Arbeitsmigration suchten auch diese Länder jedoch nicht mit Nachdruck. Trotz des Widerstands der Nationalstaaten hielten die Kommission und das Europäische Parlament auch nach dem Scheiterns des Richtlinienvorschlags von 2001 daran fest, gemäß der Vorgabe des EU-Gipfels von Tampere die Frage der 390 In Thessaloniki sprachen sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten im Juni 2003 unter anderem dafür aus, „Kanäle für die legale Zuwanderung im Rahmen bestimmter Vorgaben zu sondieren.“ Die Gipfel äußerte sich auch zu Integrationsfragen und forderte, die EU solle „in möglichst wirksamer Weise einen Beitrag im Zusammenhang mit den neuen demografischen und wirtschaftlichen Herausforderungen leisten, denen die EU nun gegenübersteht“. Dafür sei es unter anderem nötig, im Bereich der Integrationspolitik einen Erfahrungs- und Informationsaustausch zwischen den EU-Ländern zu initiieren und einschlägige Maßnahmen zu koordinieren. Die Kommission wurde beauftragt, einen jährlichen Bericht über Migration und Integration in Europa vorzulegen; vgl.: Europäischer Rat (Thessaloniki), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 19. und 20. Juni 2003. 391 Carrera hält fest: „While the establishment of a harmonised framework on labour immigration has been constantly re-emphasised at the official level as a priority for the EU, the member states have practised a fierce strategy of resistance in relation to any signs of ‚communitarisation’ or ‚liberalisation’ in the field at the transnational level.“ Carrera 2007, S. 1. 392 Das Ausländerrecht in den Niederlanden wurde 1999 um einen Passus ergänzt, der für bestimmte Berufsgruppen ein schnelleres und vereinfachtes Verfahren für die Erlangung des Aufenthaltsrechts vorsieht. Deutschland führte 2000 die so genannte Green Card für Spezialisten der Informationstechnologie ein. Über das deutsche „Zuwanderungsgesetz“ wurde von 2001 an verhandelt. In Kraft getreten ist das Gesetz 2005. Belgien gab hochqualifizierten Arbeitskräften 1999 eine Vorzugsbehandlung bei der Verlängerung ihrer Aufenthaltstitel gegenüber anderen Kategorien von Einwanderern, und in Österreich traten im Januar 2006 verbesserte Bedingungen für Arbeitskräfte mit nachgefragten Qualifikationen, so genannte „Schlüsselkräfte“, in Kraft; vgl. Carrera 2007, S. 10-12.
5.6 Zwischenfazit
145
Arbeitsmigration gemeinschaftlich zu regeln. Die Kommission publizierte 2005 ein „Grünbuch über ein EU-Konzept zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration“393 , trat damit erneut als Fürsprecherin einer tieferen Zusammenarbeit in diesem Bereich in Europa auf, und wurde vom Europäischen Parlament in dieser Rolle unterstützt. Ein neues Mandat dafür, sich weiter mit Fragen der Arbeitsmigration zu befassen, wurde der Kommission durch das im November 2004 vom Europäischen Rat beschlossene „Haager Programm“ erteilt. Dieses Papier ist als eine Art Nachfolgedokument zu den Beschlüssen von Tampere 1999 zu sehen. Es aktualisiert diese und gibt die politischen Ziele im Bereich der gemeinsamen Innen- und Justizpolitik der EU für die nächsten Jahre vor. Obwohl die Mitgliedstaaten konkreten Maßnahmen der Kommission Steine in den Weg gelegt hatten, heißt es im „Haager Programm“, legale Zuwanderung werde „eine wichtige Rolle beim Ausbau der wissensbestimmten Wirtschaft in Europa und bei der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung spielen und dadurch einen Beitrag zur Durchführung der Lissabonner Strategie leisten.“ Es wird zwar unterstrichen, dass die „Festlegung der Anzahl zuzulassender Arbeitszuwanderer in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten“ falle, jedoch ergeht an die Kommission der Auftrag, „unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Beratungen über das Grünbuch zur Arbeitszuwanderung, der besten Verfahrensweisen in den Mitgliedstaaten und ihrer Relevanz im Hinblick auf die Durchführung der Strategie von Lissabon“ vor Ende 2005 einen „strategischen Plan zur legalen Zuwanderung vorzulegen“. Dieser Plan solle auch Zulassungsverfahren umfassen, die es ermöglichen, „umgehend auf eine sich ändernde Nachfrage nach Wanderarbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt zu reagieren.“394 In den nachfolgenden Abschnitten soll nun untersucht werden, welche Interessen auf Seiten der EU-Organe und der Mitgliedstaaten in der Phase ab 2005 deutlich wurden. Während in Kapitel 4 Fragen der Asyl- und Flüchtlingspolitik, der illegalen Einwanderung und der Rückkehrpolitik viel Raum einnahmen, werden in den Kapiteln 6 und 7 schwerpunktmäßig die Interessen der Akteure im Bereich der Arbeitsmigration untersucht. Dies liegt daran, dass es in der Asyl- und Flüchtlingspolitik in den Jahren 2005 bis 2008 deutlich weniger Veränderungen gab und weniger maßgebliche Rechtsakte verabschiedet wurden, als zwischen 1999 und 2004. Die Asyl- und Flüchtlingspolitik soll zwar im Hinblick auf ein „Europäisches Asylsystem“ weiterentwickelt werden, jedoch sind viele der bereits verabschiedeten Richtlinien und Verordnungen erst 2006 und 2007 in den Mitgliedstaaten in nationales Recht transformiert worden. Bevor es zu einem „Europäischen Asylsystem“ kommt, sollen die praktischen Auswirkungen der bereits existierenden Rechtsdokumente in den Mitgliedstaaten analysiert werden. 393 394
KOM(2004) 811 endgültig. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 4. und 5. November 2004, S. 15.
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5 Die Umsetzung des Amsterdamer Vertrags: „legale“ Migration
Die nun folgenden Kapitel werden auch deshalb fast ausschließlich auf Arbeitsmigration Bezug nehmen, weil dieser Aspekt der internationalen Migration in der EU in den Jahren 2005 bis 2008 wichtiger wurde und mehr Aufmerksamkeit seitens der EU-Akteure bekam, als noch 1999 bis 2005. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist es nötig, die in diesem Kontext von den EU-Akteuren vertretenen Interessen genau zu analysieren. Den Ausgangspunkt bilden die Verhandlungen unter den Akteuren über das im Januar 2005 erschienene „Grünbuch (...) zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration“ der EU-Kommission.
6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
Als die EU-Kommission, wie im „Haager Programm“ bereits vorweggenommen worden war, die Frage der Arbeitsmigration aus Drittstaaten im Januar 2005 mit einem „Grünbuch über ein EU-Konzept zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration“395 erneut aufgriff, wählte sie eine andere Verfahrensweise als 2001 mit ihrem Entwurf einer Richtlinie zur Arbeitsmigration. Richtlinienentwürfe enthalten bereits einen vorläufigen „Gesetzestext“ mit genauen Vorschlägen und nummerierten Paragraphen. Den Mitgliedstaaten war dies im Fall der Arbeitsmigration zu konkret und machte, wie erwähnt, eine Einigung unmöglich. Grünbücher enthalten dagegen keine konkreten Maßnahmen, sondern skizzieren lediglich mögliche künftige Legislativvorschläge, zeigen unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten auf und liefern Argumente und Begründungen für unterschiedliche Ansätze. Grünbücher sollen eine Debatte anstoßen, anstatt die Adressaten mit einem konkreten Legislativdokument zu konfrontieren. Das Ziel des Grünbuchs zur „Wirtschaftsmigration“, einem Begriff, der synonym mit dem der „Arbeitsmigration“ verwendet wird, ist jedoch, ebenso wie schon 2001, dass in der EU gemeinsamen Regelungen über die Steuerung von Arbeitsmigration aus Drittstaaten vereinbart werden. Wie der nachfolgende Abschnitt zeigen wird, haben sich die Interessen der Kommission seit 2001 nicht grundlegend verändert. Sie werden lediglich deutlicher formuliert, detaillierter beschrieben und an veränderte Rahmenbedingungen angepasst. 6.1 Interessen der Kommission Ein Großteil der im Text des Grünbuchs enthaltenen Interessen der Kommission sind zunächst institutioneller Art. Der Kommission geht es darum, einen Fortschritt bei der Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags zu erzielen, in diesem Fall von Artikel 63, der die Entwicklung einer gemeinsamen Migrationspolitik vorsieht. Weiterhin will sie dem Beschluss des Europäischen Rates von Thessaloniki im Juli 2003 Folge leisten, dem zufolge „legale Wege für die Einwanderung 395
KOM(2004) 811 endgültig.
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6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
von Drittstaatsangehörigen in die Union“ sondiert werden sollen.396 Zusätzlich wird auch auf den Entwurf des damals diskutierten EU-Verfassungsvertrags Bezug genommen, in dem es ebenfalls hieß, die Union solle eine gemeinsame Einwanderungspolitik entwickeln.397 Mit diesen drei Bezügen macht die Kommission deutlich, dass es ihr mit dem Unterbreiten von Vorschlägen zur Wirtschaftsmigration darum geht, ihre vertragliche Funktion zu erfüllen, dem europäischen Integrationsprozess Vorschub zu leisten und Arbeitsaufträgen der Staats- und Regierungschefs nachzukommen. Daneben sind dem Text des Grünbuchs auch Interessen zu entnehmen, denen Normen und politische Überzeugungen zu Grunde liegen. So soll die Schaffung gemeinsamer Regeln für die Wirtschaftsmigration nach Auffassung der Kommission dazu beitragen, den Wohlstand in der EU zu sichern, die wirtschaftlichen Folgen des Bevölkerungsrückgangs und der Überalterung der Gesellschaft zu lindern, sowie die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen und das Funktionieren des Binnenmarkts zu verbessern.398 Die Kommission verknüpft die Frage der Wirtschaftsmigration an dieser Stelle mit dem Ziel der EU, einen gut funktionierenden, gemeinsamen Binnenmarkt zu schaffen, die ökonomische Potenz der Union in der Welt zu stärken und die in fast allen Ländern der EU erkennbaren demografischen Herausforderungen zu bewältigen. Das schon besprochene Bild der „Festung Europa“ ist hinsichtlich der Interessen der Kommission also nur begrenzt anwendbar. Eher sind die Interessen in diesem Kontext von einem Leitbild der EU als „Markteuropa“ geprägt. Daneben sieht die Kommission in der Schaffung eines gemeinsamen Systems für die Steuerung der Wirtschaftsmigration auch einen Beitrag zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung – ein weiteres, häufig vorkommendes Interesse der EUAkteure in der gemeinsamen Migrationspolitik, das jedoch nicht immer mit der Wirtschaftsmigration verbunden wird, sondern eher im Zusammenhang mit Regelungen zu Asyl, Flüchtlingsschutz und der Sicherung der gemeinsamen Außengrenzen auftaucht. Die Kommission meint mit diesem Verweis, dass illegale Einwanderungsströme abnehmen könnten, wenn die EU-Staaten Kanäle für legale Einwanderung, etwa zu Arbeitszwecken, öffnen. 6.2 Interessen des Europäischen Parlaments Das Europäische Parlament nahm im Juni 2005 in einer Initiativentschließung über die „Zusammenhänge zwischen legaler und illegaler Migration und Integration der
Europäischer Rat (Thessaloniki), , Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 19. und 20. Juni 2003. Vgl. Vertrag für eine Verfassung für Europa 2004, S. S. 113 und 116. 398 KOM(2004) 811 endgültig, S. 3 f. 396 397
6.2 Interessen des Europäischen Parlaments
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Migranten“399 indirekt Stellung zu einigen im Grünbuch der Kommission enthaltenen Vorschlägen. Es stellt fest, dass es bislang in der EU keine „echte europäische Migrationspolitik in organisierter und koordinierter Form“ gebe, dass die EU als ein „Raum ohne Binnengrenzen“ jedoch einen „gemeinsamen, kohärenten und effizienten Ansatz im Bereich der Sicherung der Außengrenzen verfolgen und eine gemeinsame Politik in den Bereichen Visa, Asyl und Einwanderung konzipieren“ müsse.400 Wie schon in früheren Jahren treten die Abgeordneten damit als Fürsprecher einer umfassenden Vergemeinschaftung der Migrationspolitik in Europa auf. Dieses aus der Initiativentschließung hervorgehende Interesse stimmt überein mit den Ergebnissen einer 1993 und 2004 durchgeführten Studie von Lahav und Messina. Sie fanden im Rahmen von Befragungen von Mitgliedern des Europäischen Parlaments unter anderem heraus, dass 1993 eine große Mehrheit der Abgeordneten (70 Prozent) Einwanderung als eine „sehr wichtige“ Frage betrachtete. 2004 war dieser Anteil mit 85 Prozent noch größer geworden. Die Rate derer, die der Meinung waren, dass die EU-Staaten eine „gemeinsame Einwanderungspolitik“ entwickeln sollten, war 2004 mit 90 Prozent ebenso hoch wie noch 1993.401 Wichtig erscheint im Zusammenhang mit dem Grünbuch, dass die Abgeordneten die „Notwendigkeit einer legalen und geregelten Wirtschaftsmigration für ein Europa“ betonen, in dem „die Abnahme der Erwerbsbevölkerung zu einem Rückgang der Zahl der Erwerbsfähigen um 20 Millionen zwischen 2005 und 2030 führen“ werde, wie „in mehreren Studien betont“ würde.402 Ähnlich wie die Kommission geht also auch das Parlament davon aus, dass Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen angesichts der negativen demografischen Entwicklung in den EU-Staaten erforderlich ist. Die Abgeordneten nehmen dabei Bezug auf wissenschaftliche Studien und begründen ihr Interesse an einer gemeinsamen Regelung der Wirtschaftsimmigration sowohl mit der Tatsache, dass die EU schon lange darauf hinarbeite, zu einer gemeinsamen Politik auf diesem Gebiet zu gelangen, als auch mit dem Hinweis auf ein wissenschaftlich begründetes Erfordernis. Des Weiteren mahnt das Parlament hinsichtlich der Einwanderungspolitik der EU insgesamt einen „globalen Ansatz“ an. Die gemeinsame Politik dürfe sich nicht nur an den arbeitsmarktpolitischen Erfordernissen in den verschiedenen Mitgliedstaaten orientieren, sondern müsse auch „politische Maßnahmen zur Aufnahme und zur Integration“ sowie die „Festlegung eines sicheren Status und der bürgerlichen, sozialen und politischen Rechte für alle Migranten in der gesamten Europäischen Union“ beinhalten403 . Die Steuerung der Arbeitsmigration soll nach dem Willen der Parlamentarier so ausgestaltet werden, dass es möglich wird, „den EinEuropäisches Parlament, P6_TA(2005) 0235. Ebenda. 401 Vgl. Lahav/Messina 2005, S. 859-864. 402 Europäisches Parlament, P6_TA(2005) 0235. 403 Ebenda. 399 400
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6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
wanderer auf das Land hin zu lenken, das an seinem beruflichen Profil interessiert ist“, und das über „Aufnahmekapazitäten“ verfügt.404 Die EU müsse ihre Migrationspolitik jedoch „nicht nur unter dem Aspekt ihres wirtschaftlichen Interesses sehen“, sondern auch die Gründe berücksichtigen, die Migranten dazu bewegen, ihre Heimatländer zu verlassen. Insgesamt wird in der zitierten Entschließung das Interesse des Parlaments deutlich, alle Arten von Migration in Richtung EU im Rahmen eines übergreifenden Systems zu regeln, das eine möglichst effiziente Lenkung, Steuerung und Kontrolle aller Migrationsbewegungen ermöglicht. Weitere Bezüge, die das Parlament hinsichtlich der Schaffung eines Systems der Wirtschaftsmigration in die EU erwähnt, sind „wirtschaftliche, demografische und kulturelle Aspekte“ von Migration sowie der mögliche Beitrag der legalen Migration zur „Stärkung des wissensbasierten Wirtschaftsraums in Europa“, zur „Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung“ und zur Realisierung der „Ziele von Lissabon für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit“.405 Ähnlich wie im Fall der Kommission verweisen die Interessen des Parlaments also auf die EU als ein „Markteuropa“, das es weiter zu stärken gilt. Gleichzeitig zeigen die Abgeordneten jedoch auch ein Interesse daran, Einwanderung nicht ausschließlich anhand von Nützlichkeitsüberlegungen zu beurteilen und zu steuern, sondern interessieren sich auch für die Integration der Migranten, die, wenn sie gelinge, für alle Beteiligten von Vorteil sei, sowie für die Beweggründe von Einwanderern, ihre Herkunftsregionen zu verlassen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass das Parlament sowohl positive Effekte einer gemeinsamen Regelung der Wirtschaftsmigration für die Aufnahmeländer erwartet, vor allem in ökonomischer, sozialer und demografischer Hinsicht, als auch ein menschenrechtliches und soziales Interesse an der Lage der Migranten zum Ausdruck bringt, und daran, wie die aufnehmenden Gesellschaften auf Einwanderung und Einwanderer reagieren. Es geht somit insgesamt nicht nur um die Nützlichkeit und die Verwertbarkeit von Einwanderern, sondern auch um deren Rechte und Bedürfnisse. Das Interessenspektrum des Parlaments erscheint damit breit gefächert und vielseitig, was auch in der Plenardebatte zu der genannten Entschließung deutlich wurde. Der vom Parlament benannte Berichterstatter, der französische Konservative Patrick Gaubert, erklärte, die Europäische Union sei in der Einwanderungsfrage gespalten. Gaubert begründet die Notwenigkeit einer gemeinsamen EU-Politik mit den Worten: „Zwar hat jeder Mitgliedstaat das Recht, selbst zu entscheiden, wie viele Einwanderer er aufzunehmen gedenkt, aber Europa hat keine Binnengrenzen mehr, mit der Folge, dass jede nationale Maßnahme nicht unerhebliche unmittelbare Auswirkungen auf die anderen Mitgliedstaaten hat. Deshalb ist es unabdingbar, dass sich die Mitgliedstaaten nunmehr auf
404 405
Ebenda. Ebenda.
6.2 Interessen des Europäischen Parlaments
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europäischer Ebene gemeinsam organisieren. Die Lösung einer Vielzahl der Probleme, denen sie begegnen, muss europäisch und national zugleich sein.“406
Der Abgeordnete gibt auch zu bedenken, dass Einwanderung in vielen Mitgliedstaaten ein umstrittenes Thema sei, das in Wahlkämpfen von manchen politischen Parteien missbraucht werde: „Bestimmte politische Parteien nutzen Wahlperioden systematisch, um negative Parallelen zwischen Unsicherheit, Terrorismus und Einwanderung zu ziehen, und sie schüren bei unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Angst vor Einwanderern und Ausländern. Dies ist selbstverständlich inakzeptabel.“
Der Berichterstatter spricht sich für eine „verantwortungsbewusste Politik“ aus: Von entscheidender Wichtigkeit sei erstens, objektive, transparente und regelmäßige Informationen über die Einwanderungspolitik bereitzustellen, und zweitens, in der Bevölkerung Aufklärungskampagnen durchzuführen, damit Einwanderer nicht mehr pauschal als Kriminelle angesehen würden: „In meinem Bericht wollte ich einen verantwortlichen, ausgewogenen und ganzheitlichen Ansatz verfolgen. Verantwortlich deswegen, weil diese Themen mit mehr Verantwortungsbewusstsein behandelt werden müssen: Wir sollten nicht vergessen, dass wir es mit Frauen und Männern zu tun haben und nicht mit Waren! Mir ging es auch um einen ausgewogenen Ansatz: Grundlage der Politik der Mitgliedstaaten dürfen nicht entweder ausschließlich Sicherheitserwägungen oder eine gänzlich liberale Gesinnung sein. Nationale Differenzen müssen deshalb überwunden und die Debatte muss versachlicht werden, um eine menschliche und wirksame europäische Einwanderungspolitik zu entwickeln.“407
Deutlich wird hier, dass sich der Abgeordnete für eine EU-Einwanderungspolitik ausspricht, die sich nicht nur an ökonomischen Interessen und Sicherheitsüberlegungen orientiert, sondern auch an den Menschenrechten. Er fordert, die in den Mitgliedstaaten emotional geführte Zuwanderungsdebatte zu ent-dramatisieren und die Bevölkerung über positive Aspekte von Immigration aufzuklären. Ein wesentliches Interesse Gauberts im Bereich der Migrationspolitik wird auch in folgendem Satz deutlich: „Die Einwanderung ist nach meinem Dafürhalten für die Herkunftsländer, für die Aufnahmeländer und für die Einwanderer selbst etwas Positives, sofern sie kontrolliert erfolgt und gemeinsam gesteuert wird. Das ist der Grundsatz einer kontrollierten, gemeinsam gesteuerten Einwanderung, bei der jeder gewinnt.“408
Ähnliche Interessen sind auch in einer weiteren Stellungnahme des Parlaments zum Thema „Einwanderung, Integration und Beschäftigung“ vom 15. Januar 2004 zu Europäisches Parlament, Plenardebatten, 7. Juni 2005. Ebenda. 408 Ebenda. 406 407
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6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
erkennen. Auch in diesem Dokument sprechen sich die Parlamentarier für die Schaffung eines Systems der „gesteuerten Einwanderung von Arbeitskräften in die Mitgliedstaaten“ und für eine „verbesserte und vollständige Integration neu hinzukommender und bereits ansässiger Einwanderer“ aus. Auf diese Weise könne „das wirtschaftliche Potential der Einwanderer realisiert“, der „soziale Zusammenhalt und die Respektierung der Vielfalt gefördert“ und ein „Beitrag zu dem Ziel des Europäischen Rates von Lissabon geleistet“ werden, den „dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu schaffen“.409 Auch in diesem Dokument äußert das Parlament also Interesse an einer Einwanderung, die in ökonomischer, sozialer und demografischer Hinsicht positive Auswirkungen auf die Entwicklung der EU hätte. Gleichzeitig gibt es erneut zu bedenken, dass Nützlichkeitsüberlegungen nicht das einzige Kriterium für eine Förderung der Wirtschaftsmigration in die EU sein dürften. So fordern die Abgeordneten, den Volkswirtschaften der Herkunftsländer von Migranten nicht durch ein gezieltes „Herauspicken“ bestimmter qualifizierter Arbeitnehmer oder Unternehmer zu schaden. Statt Braindrain sei ein System der „brain circulation“ zu schaffen, so dass Wirtschaftsmigration in die EU und zurück in die Herkunftsräume der Migranten auch in den entsendenden Ländern positive Entwicklungen in Gang setzen kann.410 Des Weiteren zielt das Parlament darauf ab, die Wirtschaftsmigration auch im Sinne der Arbeit suchenden Migranten zu gestalten. Es sei „immer zu bedenken (...), dass die Zuwanderer nicht als ‚Wegwerf-Arbeitnehmer’ betrachtet werden dürfen, die nach Gebrauch abgeschoben werden“. Vielmehr müssten den Migranten „vergleichbare Rechte und Pflichten wie EU-Bürgern“ zuerkannt werden.411 Daneben, auch das geht deutlich aus der Entschließung des Parlaments hervor, betrachten die Parlamentarier eine gemeinsame Regelung der Wirtschaftsmigration und eine „gut gesteuerte Migrationspolitik“ auch als eine Voraussetzung dafür, das Problem der „illegalen“ Einwanderung lösen zu können. Diese könne nur dann wirklich zurückgehen, so das Parlament sinngemäß, wenn legale Möglichkeiten der Einwanderung bereitstünden: „Ohne mehr legitime Möglichkeiten zur Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen kann Missbrauch und der Druck auf die Asylpolitik und alle Migrationsformen nur zunehmen.“ Eine Regelung der Wirtschaftsmigration sei insofern ein notwendiges „Gegengewicht zu Reformen des Asylsystems und Maßnahmen gegen illegale Einwanderung.“412
Europäisches Parlament, P5_TA(2004) 0028. Dieses Interesse wird auch in einer Mitteilung der Kommission über „Mobilitätspartnerschaften“ und „zirkuläre Migration“ 2007 aufgegriffen. 411 Europäisches Parlament, P5_TA(2004) 0028. 412 Ebenda. 409 410
6.3 Interessen der Mitgliedstaaten
153
6.3 Interessen der Mitgliedstaaten Im Lauf des ersten Halbjahres 2005 bezogen fast alle Mitgliedstaaten der EU seitens ihrer Regierungen Stellung zum Grünbuch der EU-Kommission.413 In den eingereichten Positionspapieren aus den Mitgliedstaaten wird die Vorlage des Grünbuchs der Kommission begrüßt, aber es wird auch deutlich, dass ein gemeinsames EUVorgehen zur Regelung der Arbeitsmigration von vielen Regierungen nur in einem Maße befürwortet wird, das ihnen nicht die Möglichkeit nimmt, jeweils selbständig auf nationaler Ebene festzulegen, anhand welcher Kriterien und in welchem Umfang Arbeitszuwanderung im Bedarfsfall zuzulassen ist. So hält etwa die deutsche Bundesregierung in ihrer Stellungnahme fest, ein möglicher künftiger EURechtsrahmen zur Wirtschaftsmigration müsse „den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnen, weiterhin flexibel zu reagieren und die Bedürfnisse und Eigenheiten des jeweiligen nationalen Arbeitsmarktes zu berücksichtigen.“414 Auch Schweden schreibt: „Decisions on economic migration continue to be primarily a national matter in the EU. This means that any future European regulation must be flexible and leave room for each member state to decide on it.“415
Der damalige französische Außenminister Philippe Douste-Blazy erklärte im Dezember 2006 ebenfalls, die Mitgliedstaaten der EU müssten auch künftig vollständige Kontrolle über ihre Einwanderungspolitik haben, damit sie die Bedürfnisse ihres jeweiligen Arbeitsmarkts und ihre Aufnahmefähigkeit berücksichtigen könnten.416 Ähnliche Formulierungen, die alle – wenn auch in unterschiedlichem Maße – die Notwendigkeit der Beibehaltung nationaler Kompetenzen und Spielräume betonen, sind auch den schriftlichen Beiträgen der anderen Mitgliedstaaten und mündlichen Stellungnahmen vieler Politiker zu entnehmen. Während somit schnell sichtbar wird, dass die Regierungen ein eher niedriges Niveau der Vergemeinschaftung der EU-Migrationspolitik anstreben, anstatt den gemeinsamen EU-Organen die Steuerung der Migrationsströme vollständig anzuvertrauen, lässt eine genauere Studie der einzelnen Stellungnahmen erkennen, dass fast alle Regierungen Arbeitsmigration grundsätzlich positiv beurteilen, aber auch sehr unterschiedliche Erwartungen damit verknüpfen und divergierende Interessen formulieren. 413 Die Stellungnahmen der Mitgliedstaaten und anderer Akteure zum Grünbuch der Kommission sind auf der Internetseite der Kommission http://www.eu.int/comm/justice_home/news/consulting_public /economic_migration/news_contributions_economic_migration_en.html in der jeweiligen Originalfassung und zum Teil in englischer Übersetzung veröffentlicht. 414 Bundesregierung, Stellungnahme der Bundesregierung zum Grünbuch über ein EU-Konzept zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration, S. 4. 415 Regeringskansliet 2004, S. 1. 416 Vgl. Dalem 2007, S. 166f.
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6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
In den folgenden Abschnitten sollen die Positionen einiger Mitgliedstaaten zum Grünbuch genauer aufgeschlüsselt werden, damit die Interessenkonstellationen im Rat besser verständlich werden. Es werden in diesen Abschnitten vor allem Beispiele für Interessen genannt, die voneinander abweichen, aber jeweils wesentliche Strömungen repräsentieren. Folgende Untersuchungsfragen sollen bei der Analyse im Vordergrund stehen:
Inwieweit formulieren die Mitgliedstaaten Interessen hinsichtlich der demografischen Notwendigkeit von Arbeitsmigration aus Drittstaaten? Inwieweit vertreten sie ökonomische und auf den Arbeitsmarkt bezogene Interessen? Welchen Gruppen von Arbeitsmigranten soll aus Sicht der Mitgliedstaaten Zuwanderung ermöglicht werden? Welches Niveau der Vergemeinschaftung auf EU-Ebene wird angestrebt? Wird ein allgemeiner, die verschiedenen Gruppen von Migranten umfassender Rechtsrahmen angestrebt, oder aber ein sektoraler Ansatz, der lediglich die Migration bestimmter Gruppen regelt?
Die Auswahl der im Folgenden als Fallbeispiele analysierten Staaten basiert auf der Einschätzung, dass die Bundesrepublik Deutschland in die Analyse eingehen sollte, da sie der bevölkerungsstärkste Mitgliedstaat der EU ist, und einer der einflussreichsten. Deutschland war, wie bereits erwähnt, maßgeblich dafür verantwortlich, dass der Richtlinienvorschlag der Kommission zur Arbeitsmigration aus dem Jahr 2001 scheiterte. 2004 wurden jedoch auf nationaler Ebene mit dem „Zuwanderungsesetz“ Möglichkeiten für Hochqualifizierte und Selbständige geschaffen, nach Deutschland einzuwandern und eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Seitdem ist die Bundesrepublik nicht mehr nur ein „informelles“ sondern auch ein „formelles Zuwanderungsland“.417 Schweden ist als ein „nordischer Sozialstaat“ interessant, der dem Europäisierungsprozess im Vergleich zu anderen Ländern eher skeptisch gegenübersteht und auch abgesehen von Migrationsfragen in vielen Politikbereichen an nationalen Zuständigkeiten und Sonderregelungen festhält. In der nationalen Migrationspolitik des nordischen Landes wird gleichzeitig eine eher liberale Linie verfolgt.418 Nach sechs Jahrzehnten als Einwanderungsland verfügt Schweden heute über einen der größten Ausländeranteile in der EU.419 Die Regierung plant, wie später gezeigt werden wird, die Zuwanderung von Arbeitsmigranten aus Nicht-EU-Staaten zu erleich-
Bade/Oltmer 2007, S. 169. Vgl. Parusel 2005; Parusel 2006; Kjeldstadli 2007, S. 66. 419 Vgl. Schierup et al. 2006, S. 195. 417 418
6.3 Interessen der Mitgliedstaaten
155
tern. Probleme bestehen unterdessen hinsichtlich der Chancengleichheit von Schweden und Einwanderern auf dem Arbeitsmarkt.420 Italien und Griechenland werden als Beispiele für südeuropäische Länder aufgeführt, die bis in die Siebzigerjahre hinein als Auswanderungsländer bekannt waren. Italien war in den Fünfziger- und Sechzigerjahren und darüber hinaus ein Entsendeland; erst seit 1973 wird mehr Ein- als Auswanderung gemessen. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wurde Italien Zielland für Flüchtlingsströme aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa, insbesondere Albanien, zunehmend aber auch für undokumentierte Einwanderer aus Nord- und Schwarzafrika. Der unerwarteten Zuwanderungswelle begegnetem die italienischen Regierungen mit neuen restriktiven Einwanderungsgesetzen, aber auch mit Legalisierungsmaßnahmen. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass die Wirtschaft Arbeitskräfte aus dem Ausland benötigt.421 In Teilen ähnlich ist die Lage in Griechenland, das erst vor zwei Jahrzehnten ein Einwanderungsland geworden ist und seither – größtenteils unfreiwillig – hunderttausende Flüchtlinge und „illegale“ Arbeitsmigranten aufgenommen hat.422 Griechenland unterscheidet sich von anderen südeuropäischen EU-Ländern durch einen weitaus höheren Ausländeranteil und einen besonders hohen Prozentsatz „illegaler“ Einwanderer.423 Daneben ist es auch als ein „Tor nach Europa“ und Transitland für Migranten, die aus dem östlichen Mittelmeerraum, dem Nahen Osten und aus Asien über Griechenland in andere EU-Länder weiterwandern wollen, als Länderbeispiel relevant.424 Ein Rechtsrahmen für den Umgang mit Migrationsströmen wurde erst spät, in den Neunzigerjahren, schrittweise entwickelt. Polen ist vor allem als ein noch neuer EU-Mitgliedstaat von Bedeutung. Hier haben der EU-Beitritt und die Abschottungspolitik der „alten“ EU-Länder für Gesetzesänderungen, eine neue Visumpolitik und eine verstärkte Sicherung der Ostgrenze des Landes gegen „illegale“ Einwanderung gesorgt. In der neuzeitlichen Geschichte sind weit mehr Menschen aus Polen ab- als zugewandert, und auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts verlassen wieder viele Polen ihr Land, um vorübergehend oder dauerhaft in anderen EU-Ländern, vor allem Deutschland, Frankreich und Großbritannien, zu arbeiten. Nach Polen wandern unterdessen Arbeitsmigranten aus der Ukraine und anderen Gebieten Osteuropas.425 Seit etwa 2002 wird auch in Polen über die Notwendigkeit einer gesteuerten Zuwanderung diskutiert, bislang jedoch ohne handfeste Ergebnisse.426 Wie auch in anderen „neuen“ EU-Ländern, etwa Tschechien, Lettland, Litauen oder Rumänien, ist die Frage der Abwanderung Vgl. Schierup et al. 2006, S. 224-227. Vgl. Bertagna/Maccari-Clayton 2007, S. 216-218; Baldwin-Edwards 2002, S. 34f. 422 Vgl. Kasimis/Kassimi 2004. 423 Vgl. Baldwin-Edwards 2002, S. 29. 424 Vgl. Baldwin-Edwards 2002, S. 29-31. 425 Praszalowicz 2007. 426 Vgl. Iglicka et al. 2005, S. 9. 420 421
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6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
der eigenen Staatsbürger Richtung Westen auf der politischen Agenda und in der öffentlichen Debatte dringlicher, als Konzepte für eine Regulierung von Zuwanderungsbewegungen.427 Großbritannien ist eines von wenigen EU-Ländern, die schon lange Wirtschaftszuwanderung ermöglichen und sich als Einwanderungsländer begreifen. Zwischen 1948 und den Sechzigerjahren ermöglichte der „British Nationality Act“ Staatsbürgern von Commonwealth-Staaten freien Zugang nach Großbritannien. Hinzu kamen gezielte, von der Nachfrage der Industrie nach Arbeitskräften gesteuerte Anwerbeaktionen.428 Im Jahr 2000 kündigte das Innenministerium an, den Zuzug von Hochqualifizierten zu erleichtern, und zwischen 2007 und 2009 soll ein an die Situation auf dem Arbeitsmarkt angepasstes Punktesystem für die Auswahl qualifizierter Migranten eingeführt werden.429 Großbritannien ist auch deshalb interessant, weil es der EU-Zusammenarbeit im Bereich Inneres und Justiz skeptisch gegenübersteht, an den Bestimmungen des Schengener Abkommens nicht teilnimmt und hinsichtlich Artikel IV des Amsterdamer Vertrags, der die gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitik regelt, ein „opt-out“ geltend gemacht hat.430 Zu beachten ist bei den nun folgenden Länderbeispielen, dass nicht alle Staaten Antworten auf sämtliche von der Kommission im Grünbuch aufgeworfenen Fragen geben und in ihren Stellungnahmen sehr unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte setzen. Auch der Umfang der Papiere ist sehr unterschiedlich und reicht von einer halben Seite bis hin zu zwanzig und mehr Seiten. Die genannten Untersuchungsfragen sind also nicht auf alle Staaten auf die gleiche Weise anwendbar. Neben den Stellungnahmen zum Grünbuch der EU-Kommission soll der folgende Überblick auch Hinweise auf die jeweiligen nationalen Debatten über Migrationspolitik und insbesondere die Arbeitsmigration enthalten. Dies soll dazu beitragen, die Reaktion der jeweiligen Staaten auf das Grünbuch besser verständlich zu machen. Auch soll diese Vorgehensweise Aufschlüsse darüber ermöglichen, ob die Stellungnahmen zum Grünbuch inhaltlich mit den jeweiligen nationalen Migrationspolitiken und den Debatten darüber zusammenhängen oder sich davon abheben. So soll deutlich werden, inwiefern und wie stark sich nationale Debatten („domestic politics“) auf Europäische Politik auswirken können.
Vgl. Braun/Kratochvil 2007, S. 163f., 173f., 176-179. Vgl. Lunn 2007, S. 78f. 429 Vgl. Panayi 2001, S. 84; The Secretary of State for the Home Department 2005; Castles 2006, S. 753. 430 Die britische Regierung hat jedoch die Option, bei jeder einzelnen Maßnahme im Bereich der EUMigrationspolitik zu entscheiden, ob diese auch für Großbritannien gelten soll, oder nicht. De facto haben sich Großbritannien und Irland bislang an allen Elementen der Migrationspolitik in den Bereichen Asyl, Flüchtlinge und illegale Einwanderung beteiligt, während sie in den Bereichen Visumpolitik, Grenzsicherung und legale Migration (darunter auch Arbeitsmigration) außen vor geblieben sind; vgl. Juss 2005; Geddes 2003, S. 137. 427 428
6.3 Interessen der Mitgliedstaaten
6.3.1
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Deutschland
Die deutsche Bundesregierung erkennt in ihrer Antwort auf das Grünbuch die Notwendigkeit von Einwanderung aufgrund demografischer Überlegungen zwar grundsätzlich an, wendet sich aber gegen die „pauschale Annahme, wonach der Bedarf der Arbeitsmärkte in der Europäischen Union im Hinblick auf die demografische Entwicklung nur durch eine kontinuierliche Einwanderung gedeckt werden könne, oder wonach die Sicherung des Wohlstands nur durch eine kontinuierliche Einwanderung möglich sei“431 . Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die Steuerung der Migrationbewegungen nur einen Bestandteil einer Vielzahl von Möglichkeiten darstellt, der „zunehmenden Alterung der Gesellschaft“ zu begegnen. Als Gegenargument für eine Förderung der Einwanderung aus demografischen Gründen wird unter anderem auf mögliche „Integrationsprobleme“ hingewiesen.432 Die Bundesregierung bringt zum Ausdruck, dass eine Erleichterung der Wirtschaftsmigration zwar einen wesentlichen Beitrag zum Ausgleich des gesellschaftlichen Alterungsprozesses leisten könne, aber aufgrund von Defiziten bei der Integration von Einwanderern und einer begrenzten Aufnahme- oder Integrationskapazität der Bundesrepublik dennoch nur begrenzt in Frage komme. Die wirtschaftliche Notwendigkeit von Arbeitskrafteinwanderung aus Drittländern wird ebenfalls grundsätzlich anerkannt. So stimmt Deutschland der Überlegung der Kommission zu, nach der „die Europäische Union im Wettbewerb um die qualifiziertesten Fachkräfte nicht hinter andere vergleichbare Wirtschaftsräume (USA, Japan, China) zurückfallen darf.“433 Jedoch müssten die Mitgliedstaaten weiterhin über die Möglichkeit verfügen, die „Bedürfnisse und Eigenheiten“ ihrer jeweiligen nationalen Arbeitsmärkte zu berücksichtigen. Aus deutscher Sicht und unter Berücksichtigung des deutschen Arbeitsmarkts sollte die Zulassung von unterschiedlichen Kategorien von Arbeitsmigranten zwar innerhalb eines umfassenden, horizontalen Rahmens geregelt werden. Innerhalb dieses Rahmens geht es jedoch darum, „insbesondere die Gruppe der höher qualifizierten Migrantinnen und Migranten“ anzusprechen. Darüber hinaus sollte die künftige Einwanderungspolitik aus deutscher Sicht in der Lage sein, in Situationen, „in denen sich regional oder sektoral die Notwendigkeit ergibt, kurzfristigen Bedarf mit Arbeitskräften aus Drittstaaten“ zu befriedigen.434
431 Bundesregierung, Stellungnahme der Bundesregierung zum Grünbuch über ein EU-Konzept zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration, S. 3. 432 Ebenda. 433 Bundesregierung, Stellungnahme der Bundesregierung zum Grünbuch über ein EU-Konzept zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration, S. 5. 434 Bundesregierung, Stellungnahme der Bundesregierung zum Grünbuch über ein EU-Konzept zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration, S. 6.
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6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
Die Bundesregierung lässt außerdem erkennen, dass sie allenfalls ein niedriges Niveau der Vergemeinschaftung der Migrationspolitik auf EU-Ebene anstrebt: „Solange nicht in allen Bereichen ein einheitlicher europäischer Arbeitsmarkt besteht oder bestehen wird, sollten die Verfahren zur Zulassung zum Arbeitsmarkt (...) den Mitgliedstaaten überlassen bleiben.“435
Mit dieser Formulierung drückt die Bundesregierung aus, dass sie ein niedriges Niveau der Vergemeinschaftung der Migrationspolitik auf EU-Ebene anstrebt. Sie begrüßt es, dass sich die Gemeinschaft auf die Suche nach gemeinsamen Systemen macht, lässt jedoch offen, welche Maßnahmen dabei aus ihrer Sicht überhaupt denkbar sind. Sie spricht sich zudem dafür aus, Regelungen, nach der Staatsangehörige der EU-Staaten auf den Arbeitsmärkten aller Mitgliedstaaten eine Vorrangstellung bei der Vergabe freier Stellen gegenüber Drittstaatsangehörigen genießen, beizubehalten. Zu möglichen gemeinschaftlichen Regeln für die Zulassung von Wirtschaftsmigration schlägt Deutschland eine Reihe von Kriterien vor. So ist die Bundesregierung der Meinung, Arbeitsmigranten aus Drittstaaten könne die Einwanderung in die EU erleichtert werden, wenn sie nachweisen können, vorher schon einmal in der EU gelebt und gearbeitet und dabei „Integrationserfolge“ erzielt zu haben. Sie spricht sich weiter dafür aus, die Zulassung von Drittstaatsangehörigen in aller Regel an die Existenz einer konkreten freien Stelle zu knüpfen, die nicht mit einem inländischen Arbeitssuchenden oder einem EU-Ausländer besetzt werden kann. Insgesamt müsse vor einer Zulassung bestimmter Einwanderungsbewegungen stets die „wirtschaftliche Notwendigkeit“ des Zuzugs geprüft werden.436 Insgesamt ergibt sich aus der deutschen Stellungnahme zum Grünbuch, dass die Bundesrepublik hinsichtlich der möglichen gemeinsamen Migrationspolitik der EU einen vorsichtigen Ansatz verfolgt. Demografische und wirtschaftliche Gründe für die Ermöglichung von Einwanderung werden zugegeben, jedoch gleichzeitig eingeschränkt. Es wird erkennbar, dass der nationale Zusammenhalt der Gesellschaft, das Ziel, die Bevölkerung nicht mit größeren Zuwanderungsbewegungen aus dem europäischen Ausland zu konfrontieren, im Vergleich zu den Gründen pro Arbeitsmigration vorrangig bleibt. Mit verschiedenen Regeln soll sichergestellt werden, dass Migranten aus Drittstaaten den eigenen Staatsbürgern und Bürgern anderer EU-Staaten keine Arbeitsplätze streitig machen können. Über die Kompetenz, zu entscheiden, in welchem Umfang und anhand welcher Kriterien Einwanderung nach Deutschland zulässig sein soll, will Deutschland weiterhin ausschließlich selbst verfügen. Es wird offen gelassen, worin genau die Rolle der EU bei der künftigen Regelung von Einwanderung aus Drittstaaten bestehen soll. Anzunehmen ist, dass Ebenda. Bundesregierung, Stellungnahme der Bundesregierung zum Grünbuch über ein EU-Konzept zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration, S. 12. 435 436
6.3 Interessen der Mitgliedstaaten
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für die Bundesregierung lediglich eine Lage vorstellbar ist, in der die EU den Mitgliedstaaten bei einer ihren jeweiligen Bedürfnissen entsprechenden Migrationspolitik behilflich sein kann, etwa über europäische Datenbanken, eine Vereinheitlichung von Aufenthaltstiteln oder über die Bereitstellung von Informationsressourcen für potentielle Migranten. Die Einschätzung der EU-Kommission, nach der die Zulassung von Wirtschaftsmigration dazu beitragen kann, illegale Formen der Migration zu reduzieren, wird von der Bundesregierung nicht akzeptiert. Aus ihrer Sicht handelt es sich bei Menschen, die gegebenenfalls als Arbeitsmigranten in die EU kommen sollten, vor allem um „hochqualifizierte“ Migranten, und nicht um Personen, die auch auf illegale Einreisewege zurückgreifen könnten.437 Die von der Bundesregierung anlässlich des Grünbuchs vorgetragenen Interessen zur Arbeitsmigration stehen in einem engen Zusammenhang mit migrationspolitischen Interessen, die in Debatten und Gesetzesreformen zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch auf nationaler Ebene häufig vorkamen. Seit dem Ende der Anwerbung ausländischer „Gastarbeiter“ 1973 war – abgesehen von EU-Bürgern – Einwanderung zu Arbeitszwecken in Deutschland jahrzehntelang nicht mehr vorgesehen.438 Die Bundesrepublik verfügt über eine lange Geschichte einwanderungsfeindlicher Rhetorik von Politikern der großen Parteien. Trotz der umfangreichen Wanderungsbewegungen im Zusammenhang mit der Anwerbung von Arbeitskräften aus Italien, Griechenland oder der Türkei, und obwohl viele dieser Menschen in Deutschland blieben und nicht, wie die Politik erwartet hatte, wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehrten, war die politische Elite nicht bereit, einzuräumen, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden war und von dieser Tatsache nicht nur in ökonomischer Hinsicht profitiert hatte. Stattdessen sprachen Spitzenpolitiker vom Überschreiten der „Belastungsgrenze“ durch Zuwanderung oder von der Notwendigkeit, die Zahl der Ausländer zu halbieren.439 Cyrus und Vogel sprechen in diesem Zusammenhang von einer „anti-immigration political culture“.440 Nachdem die Arbeitsmigration aus Drittstaaten in den Siebzigerjahren gestoppt wurde, fanden Einwanderungsbewegungen vor allem über das Recht auf Familienzusammenführung und über das einst im internationalen Vergleich großzügige deutsche Asylrecht statt. In den späten Achtziger- und beginnenden Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts wurden auch diese Arten von Migration aber eingeschränkt. Zum einen wurde das Nachzugsalter von Kindern gesenkt, 1990 ein restriktiveres „Ausländergesetz“ beschlossen und 1993 der so genannte „Asylkompromiss“ vereinbart.441 Die letztgenannte „Reform“, eine Änderung des Grundge437 Bundesregierung, Stellungnahme der Bundesregierung zum Grünbuch über ein EU-Konzept zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration, S. 3. 438 Vgl. Bade/Oltmer 2007, S. 160. 439 Vgl. Bommes 2001, S. 49. 440 Cyrus/Vogel 2005, S. 1. 441 Vgl. Bade/Oltmer 2007, S. 164.
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6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
setzartikels, dem zufolge politisch Verfolgte Asyl genießen, führte zu einem drastischen Rückgang der Anerkennung von Asylbewerbern in Deutschland und machte es bedeutend schwerer für Flüchtlinge, überhaupt in die Bundesrepublik zu gelangen. Weitere Gesetze, etwa das „Asylbewerberleistungsgesetz“, zielten auf eine „Anormalisierung der Lebensführung von Asylbewerbern“ ab, um potentielle Einwanderer abzuschrecken.442 Gleichzeitig versuchten die deutschen Bundesregierungen, EU-weite Regelungen zu Asyl und Migration im Sinne von auf nationaler Ebene geplanten Gesetzesänderungen zu prägen. Unter anderem die restriktiven Beschlüsse des EU-Ministertreffens von London 1992 belegen, dass dies auch gelungen ist. Damals wurde, wie an früherer Stelle bereits erwähnt, unter anderem die in Deutschland geplante Regelung über „sichere Drittstaaten“ auf EU-Ebene verankert. Auch die Übereinkommen von Schengen und Dublin bilden einen Rahmen, innerhalb dessen deutsche Verschärfungen überhaupt erst greifen konnten.443 Im Lauf der ersten Amtszeit der rot-grünen Bundesregierung aus SPD und Bündnis 90 / Die Grünen von 1998 bis 2002 wurde jedoch ein Prozess eingeleitet, den Michael Bommes als Anzeichen für eine „Normalisierung der Migrationserfahrung“444 in der Bundesrepublik wertet. Erstmals räumten hochrangige Politiker ein, Deutschland sei ein „Einwanderungsland“. Die Bundesregierung brachte eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts auf den Weg, die eine teilweise Abkehr vom bislang geltenden ius sanguinis-Prinzip bedeutete. Auch wurde es im Jahr 2000 unter dem Begriff „Green Card“ Unternehmen erlaubt, Spezialisten im Bereich Informationstechnologie aus dem nicht-europäischen Ausland nach Deutschland anzuwerben.445 Die Green Card wurde zu einem Symbol für einen Umschwung in der deutschen Migrationspolitik, der eine neue Offenheit und eine „deutliche Liberalisierung“ gegenüber nützlicher Zuwanderung suggerierte.446 2002 folgte eine Regelung, nach der alte Menschen in ihren Privathaushalten ausländische Pflegekräfte beschäftigen dürfen.447 Auch die Anstrengungen im Integrationsbereich wurden von 2005 an verstärkt, etwa mit der Einführung von „Integrationskursen“ 2005 und einem „Integrationsgipfel“ 2006 mit Beteiligung nationaler zivilgesellschaftlicher Akteure in diesem Bereich.448 In diesem noch neuartigen Klima setzte die Bundesregierung 2000 auch eine mit Politikern, Wissenschaftlern und Vertretern der Wirtschaft sowie von Verbänden besetzte „Unabhängige Kommission Zuwanderung“ ein, die Vorschläge für eine künftige Migrationspolitik ausarbeiten sollte. Die Ergebnisse der Kommission, Bommes 2001, S. 58. Vgl. Bommes 2001, S. 57. 444 Bommes 2001, S. 49. 445 Vgl. Kolb 2005. 446 Vgl. Ette 2003, S. 50. 447 Cyrus/Vogel 2005, S. 3. 448 OECD 2007, S. 248. 442 443
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darunter die Einführung eines Punktesystems mit Zulassungskriterien für Arbeitsmigranten nach kanadischem Vorbild, gingen den verantwortlichen Politikern jedoch zu weit und wurden bei weitem nicht alle umgesetzt. Auch das von dem 2003 berufenen „Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration“ vorgelegte Konzept, Arbeitsmigration nach Deutschland mit Hilfe einer „Engpassdiagnose“ am Arbeitsmarkt zu steuern und jährlich maximal 25.000 Drittstaatsangehörige nach Deutschland einwandern zu lassen, scheiterte.449 Dennoch setzte sich bei den politischen Entscheidungsträgern die Einschätzung durch, dass Migration eine normale Folge des Globalisierungsprozesses geworden war und nicht mehr generell verhindert, sondern zum Nutzen Deutschlands geregelt werden müsse. Die Debatte verschob sich infolgedessen von den Gegenpolen Einwanderung versus Einwanderungsverhinderung zu den Polen „nützliche“ versus „unnütze Einwanderer“. Symptomatisch für diese neue Linie in der deutschen Migrationspolitik sind zwei schon länger zurückliegende Aussagen des früheren bayerischen Innenministers Günther Beckstein. „Wir brauchen weniger Ausländer, die uns ausnützen, und mehr, die uns nützen“, sagte er im Juni 2000 im Magazin „Focus“. 2001 präzisierte er in der „Süddeutschen Zeitung“: „Wir wollen nicht mehr Zuwanderung, die unser Sozialsystem belastet, sondern wir wollen stattdessen den Wettbewerb um die besten Köpfe“. Was Beckstein damals zugespitzt formulierte, und was für aufgeregte Debatten sorgte, sollte sich nach und nach zu einem deutlich erkennbaren Interesse der deutschen Bundesregierung in der Migrationspolitik entwickeln: Während Maßnahmen gegen den Zuzug von Asylbewerbern, Flüchtlingen und so genannten „illegalen Einwanderern“ sowie der Ausbau des Grenzschutzes in Zusammenarbeit mit den EU-Institutionen intensiviert wurden, öffnete man Kanäle für Drittstaatsangehörige, denen aufgrund ihrer Berufsausbildung oder ihrer finanziellen Mittel ein ökonomischer oder arbeitsmarktpolitischer Nutzen zugeschrieben werden konnte. Dies geschah vor allem mit dem nach langen Verhandlungen, einer vom Bundesverfassungsgericht für ungültig erklärten Abstimmung im Bundesrat und erneuten Verhandlungen im Januar 2005 in Kraft getretenen „Zuwanderungsgesetz“. Dem Gesetzgeber zufolge dient es „der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland“ und „ermöglicht Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen“ des Landes.450 Als besonders nützlich verstandene Drittstaatsangehörige, etwa Wissenschaftler, Lehrpersonal und Forscher sowie hochqualifizierte Fachkräfte verschiedener weiterer Berufsgruppen und Selbständige sollen nun in die Bundesrepublik einwandern dürfen, sofern sie Vgl. Bade 2007, S. 56-58; Bade/Oltmer 2007, S. 168; Cyrus/Vogel 2005, S. 5. Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004, Kapitel 1, Paragraph 1, Absatz 1. 449 450
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ein konkretes Arbeitsplatzangebot haben, einer individuellen „Arbeitsmarktprüfung“451 standhalten und – in manchen Fällen – bestimmte Einkommensgrenzen überschreiten. Die Kraft ökonomischer Interessen in der deutschen Einwanderungspolitik ist kein neues Faktum. Solche Überlegungen standen bereits hinter den Anwerbeverträgen der Fünfziger-, Sechziger- und beginnenden Siebzigerjahre. Vor dem Hintergrund aber, dass die deutsche Debatte über Migration in den Achtziger- und Neunzigerjahren weniger um ökonomische Fragen als vielmehr vor allem um Asylbewerber und Flüchtlinge sowie um den angeblichen Missbrauch des Asylrechts kreiste und dabei sicherheitspolitische Interessen auf menschenrechtliche Interessen prallten, ist die Hinwendung zu arbeitsmarktpolitischen und ökonomischen Interessen als steuernder Faktor dennoch als eine neue Phase bundesdeutscher Migrationspolitik zu verstehen. Wie schon in früheren Jahren engagiert sich die Bundesrepublik mit diesen Interessen auch auf europäischer Ebene. Wie gezeigt wurde, drängt sie dabei jedoch darauf, nationale Entscheidungsspielräume in der Wanderungspolitik aufrecht zu erhalten und den EU-Partnerländern und –Institutionen nicht zu erlauben, mit überstaatlichen Vorschriften in die deutsche Migrationspolitik einzugreifen. Noch immer sind Einwanderungsfragen in Deutschland also ein sensibles Thema. Forderungen von Experten, Industrie und Wirtschaftsverbänden nach einer noch aktiveren Einwanderungspolitik, als sie das „Zuwanderungsgesetz“ vorsieht, beeinflussen die Interessen der deutschen Spitzenpolitiker weniger stark als die Gefahr, sich von der Wählerschaft vorwerfen lassen zu müssen, durch allzu großzügige Einwanderungsregeln den Sozialstaat, Arbeitsplätze oder die Sicherheit zu gefährden. Dies hat unter anderem zur Folge, dass demografische Argumente für eine aktivere und großzügigere Einwanderungspolitik nach den Worten der „Unabhängigen Kommission Zuwanderung“ zufolge „nicht in voller Schärfe wahrgenommen“ werden, obwohl erste Anzeichen für einen demografischen Wandel bereits zu erkennen seien: „Der seit Jahren anhaltende Trend zur Zunahme des Durchschnittsalters der Erwerbsbevölkerung wird sich mit zunehmender Geschwindigkeit fortsetzen. Die Zahl junger Menschen nimmt weiter ab. (...) Der mögliche Beitrag der Zuwanderung zur Begrenzung der Folge des demografischen Wandels ist umstritten, doch ist zumindest offensichtlich, dass diese Strukturbrüche mit einer gezielten Anwerbung von jungen, qualifizierten Arbeitsmigranten abgemildert werden könnten.“452
Dieser Sichtweise hat sich die Bundesregierung verschlossen. Gleichzeitig ist zu beachten, dass die Zahl der nach Deutschland kommenden Migranten zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit in allen Kategorien rückläufig ist. 2005 hat sich die Zahl der deutschstämmigen „Aussiedler“ aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion im Vergleich zu 2003 halbiert. Die Zahl der über Famili451 452
Zuwanderungsgesetz, Paragraph 39, Absatz 2. Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration, Migration und Integration 2004, S. 5.
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ennachzug nach Deutschland einreisenden Migranten war mit rund 53.000 Menschen im Jahr 2005 rund 40 Prozent niedriger als 2002. Die Anzahl jüdischer Einund Rückwanderer halbierte sich zwischen 2004 und 2005. Die Zahl der Asylbewerber sank im gleichen Zeitraum um 20 Prozent auf rund 29.000 im Jahr 2005 und 21.000 im Jahr 2006.453 Darüber hinaus nahm auch die Zahl der Saisonarbeiter ab. Seit 2006 gibt es in der Bundesrepublik eine Regelung, nach der zehn Prozent aller Saisonarbeiter auf dem einheimischen Arbeitsmarkt rekrutiert werden sollen.454 6.3.2
Schweden
Die Interessen der schwedischen Regierung455 hinsichtlich des Grünbuchs der EUKommission ähneln in weiten Teilen den deutschen. Auch Schweden begrüßt die Initiative, gemeinsame Regeln für die Steuerung der Wirtschaftsmigration in die EU zu diskutieren und schlägt eine „verantwortungsbewusste und aktivere Einwanderungspolitik“ vor. Gleichzeitig wird jedoch betont, Entscheidungen über die Zulassung von Arbeitskrafteinwanderung müssten auch in Zukunft eine Angelegenheit der einzelnen Nationalstaaten bleiben: „Decisions on economic migration continue to be primarily a national matter in the EU. This means that any future EU regulation must be flexible and leave room for each Member State to decide on it.“456
Schweden geht davon aus, dass demografische Entwicklungen die Verfügbarkeit von Arbeitskräften in der EU verändern werden, und dass eine geordnete Einwanderung aus Drittstaaten notwendig werde und den europäischen Arbeitsmärkten sowie der europäischen Wirtschaft neue Vitalität bringen könnte. Insgesamt erwartet die schwedische Regierung von einer geordneten Migration positive Auswirkungen auf die Entwicklung der Gesellschaft. Wirtschaftsmigration soll aus schwedischer Sicht sowohl im Lichte „demografischer Herausforderungen“ betrachtet werden, als auch in Bezug auf die so genannte „Lissabon-Agenda“, also auf das Ziel, die EU zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Die Regierung führt weiter aus: „Demographic developments in the EU will make it necessary for third country nationals to have more opportunities to work in the EU for shorter or longer periods.“457
UNHCR 2007, S. 10. Zu diesem Absatz: OECD 2007, S. 248. 455 Regeringskansliet 2004, S. 1. 456 Ebenda. 457 Ebenda. 453 454
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Über die Frage, welchen Gruppen von Einwanderern, also höher oder niedriger qualifizierten Arbeitskräften Schweden die Einwanderung erleichtern möchte, finden sich in der Regierungsstellungnahme keine Angaben. Hingegen wird deutlich, welches Niveau der Vergemeinschaftung aus schwedischer Sicht angestrebt werden sollte. Es wird für die europäische Ebene ein genereller, horizontaler Rechtsrahmen („comprehensive legal framework“) für Wirtschaftsmigration vorgeschlagen, ein Rahmen, der ein eher geringes Niveau von Harmonisierung einzelstaatlicher Regelungen mit sich bringen würde, und den die Mitgliedstaaten dann mit einzelstaatlichen Vorschriften zur Steuerung der Wirtschaftsmigration ausgestalten könnten. Anders als die Bundesrepublik und einige andere Staaten betont die schwedische Stellungnahme jedoch sehr deutlich, dass Arbeitsmigranten aus Drittstaaten auf dem EU-Arbeitsmarkt die gleichen Rechte und Pflichten haben sollten, wie die eigenen Staatsangehörigen des entsprechenden Landes oder EU-Bürger. Schweden spricht sich zudem vor dem Hintergrund seines auf kollektiven Entscheidungen basierenden Sozialsystems dafür aus, ein System zu entwickeln, dass die Sozial- bzw. Arbeitsmarktpartner an Entscheidungen über Arbeitsmigration beteiligt. Außerdem soll die Politik so gestaltet werden, dass sie eine ungleiche Repräsentation von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt nicht verschärft. Schweden regt an, die gegenwärtigen Diskussionen über Arbeitskräftemigration um eine GenderPerspektive zu ergänzen. Außerdem wird vorgeschlagen, bei gemeinsamen Regeln für Wirtschaftsmigration auch andere, damit zusammenhängende Migrationsfragen zu berücksichtigen – beispielsweise die Frage, ob und in welchem Umfang Arbeitsmigranten ihre Familien in die EU nachziehen dürfen. Die Frage des Familiennachzugs wird als „major human rights issue“ verstanden. 458 Die Regierung legt darüber hinaus dar, dass die Frage, ob ein Einwanderer nach Schweden ziehen darf, gegenwärtig an das Vorliegen eines konkreten Arbeitsplatzangebots gekoppelt ist. Von dieser Regel ist man bereit abzuweichen. Jedoch soll für die Zulassung von Wirtschaftsmigration auch künftig entscheidend sein, ob auf dem Arbeitsmarkt eine Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitskräften besteht: „Need should be the fundamental consideration and needs should be asserted in a flexible manner that permits taking regional and sectoral characteristics into account. This assessment should be conducted at the national level and it is important that there be a consultation process to support the needs assessment.“459
Aus der schwedischen Stellungnahme wird insgesamt deutlich, dass die Regierung Arbeitskräftemigration grundsätzlich bejaht und auch europäische Mindestregelungen dazu anstrebt. Sie betont die Abhängigkeit der zu ermöglichenden Wirtschaftsmigration von den Bedürfnissen der jeweiligen Arbeitsmärkte der Mitgliedstaaten 458 459
Regeringskansliet 2004, S. 2. Regeringskansliet 2004, S. 8.
6.3 Interessen der Mitgliedstaaten
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und strebt insofern lediglich einen europäischen Rahmenbeschluss an, während es als wichtig erachtet wird, genauere Regelungen und konkrete Entscheidungen ausschließlich auf nationaler Ebene zu treffen. Wie in Deutschland, so ist Arbeitsmigration auch in Schweden seit den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts ein wichtiges und brisantes innenpolitisches Thema. Die aus der Stellungnahme zum Grünbuch zu entnehmenden Interessen korrespondieren mit auf nationaler Ebene stattfindenden Debatten. Anfang 2004 setzte die schwedische Regierung unter Premierminister Göran Persson eine parlamentarische Kommission ein, die den Auftrag hatte, die bestehenden schwedischen Regelwerke für Arbeitsmigration zu untersuchen und Vorschläge auszuarbeiten, wie Möglichkeiten für Drittstaatsangehörige, zu Arbeitszwecken nach Schweden zu kommen, ausgeweitet werden könnten. Im Oktober 2006 präsentierte das Gremium einen Bericht, in dem unter anderem vorgeschlagen wird, dass Arbeitgeber, die Stellen zu besetzen haben, sich zunächst an schwedische Bewerber und EU-Bürger wenden. Wenn nach einer gewissen Frist kein geeigneter Kandidat gefunden ist, kann auch ein Bewerber aus einem Nicht-EU-Land angeworben werden. Er erhält dann ein Aufenthaltsrecht für 24 Monate, das bei Bedarf um weitere 24 Monate verlängert werden kann. Danach würde eine unbefristete Arbeitserlaubnis erteilt. Um potentiellen Migranten den Umzug in nach Schweden schmackhaft zu machen, sollen sie auch ihre Familie mitbringen dürfen.460 Allgemein heißt es zu den Zielen des Vorschlags: „Der hauptsächliche Zweck einer ausgeweiteten Arbeitskräfteimmigration ist, dass sie dem eventuellen Arbeitskräftemangel, der in Teilen des schwedischen Arbeitsmarkts auftreten kann, entgegenwirkt. Ein positiver Nebeneffekt von Arbeitskräfteeinwanderung ist, dass sie eine Verjüngung der alternden schwedischen Gesellschaft mit sich bringen würde.“461
Der Vorschlag macht deutlich, dass das schwedische Expertengremium – ohne dass dies explizit im Vorschlagspapier erwähnt wäre – die demografischen und arbeitsmarktpolitischen Interessen der EU-Kommission teilt. Gleichzeitig stellte die Regierung in ihrer Reaktion auf das Grünbuch aber klar, dass nationale Handlungsspielräume in der Frage der Arbeitsmigration unbedingt beibehalten werden sollen, und dass Schweden gemeinsamen EU-Regeln skeptisch gegenüber steht. Ähnlich wie die deutsche Bundesregierung befürchtet Stockholm einen Verlust nationaler Gestaltungsmöglichkeiten durch Europäisierung. Die Mitte-Rechts-Parteien, die nach den schwedischen Parlamentswahlen vom September 2006 eine Koalitionsregierung bildeten, stehen Arbeitsmigration aus Drittstaaten ebenso wie die sozialdemokratische Vorgängerregierung, von der das Expertengremium eingesetzt worden war, positiv gegenüber. Arbeitsminister Sven 460 461
Kommittén för arbetskraftinvandring 2006. Kommittén för arbetskraftinvandring 2006, S. 30. Übersetzt durch B.P.
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Otto Littorin erklärte im Oktober 2006 gegenüber der Presse, Ängste vor einer Masseneinwanderung seien übertrieben. Die meisten Arbeitssuchenden in Drittländern stießen auf natürliche Sprach- und Ausbildungsbarrieren, die sie daran hinderten, Jobs in weiter Ferne zu suchen. Seine Regierung setze vor allem darauf, „Spezialistenkompetenz“ anzuwerben, die auf dem einheimischen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehe.462 Mit diesen Kommentaren wandte sich Littorin einerseits an einwanderungsskeptische Haltungen in der Bevölkerung, andererseits auch an die Gewerkschaften, die Vorbehalte gegen eine allzu aktive Einwanderungspolitik haben. Der Gewerkschaftsdachverband „Landsorganisationen“ (LO) hatte sich kritisch zum Vorschlag des Expertengremiums geäußert. „Eine absolute Bedingung von uns ist, dass für ausländische Arbeitnehmer die gleichen Bedingungen gelten müssen wie für alle anderen“, hatte Verbandsvorsitzende Wanja Lundby-Wedin erklärt.463 Der Kommentar der LO-Chefin nimmt darauf Bezug, dass ausländische Unternehmen, etwa im Bau- und Handwerkssektor, auf den schwedischen Markt drängen und mitunter versuchen, die dortigen Branchentarifverträge zu umgehen. Den oft ebenfalls aus dem Ausland „mitgenommenen“ Arbeitskräften werden zum Teil deutliche schlechtere Löhne bezahlt, als dies in Schweden sonst üblich ist. Gewerkschafter befürchten deshalb einen Verdrängungswettbewerb, der das schwedische Tarifvertragsmodell aushebeln und die Auftragslage einheimischer Anbieter verschlechtern könnte.464 Arbeitsmigration ist in Schweden jedoch, ebenso wie in Deutschland, kein neues Phänomen. Seit 1954 haben Staatsbürger der nordischen Nachbarländer aufgrund der Kooperation im „Nordischen Rat“ und im „Nordischen Ministerrat“ freien Zugang zu Niederlassung und Beschäftigung in Schweden, und bis 1970 waren diese Nachbarländer die Hauptherkunftsländer von Einwanderern. Vor allem Finnen kamen als Industriearbeiter nach Schweden. Eine nennenswerte Anwerbung von Arbeitskräften aus Ländern außerhalb des Nordens, etwa Griechenland, Jugoslawien und der Türkei, begann in den sechziger Jahren. Ihren quantitativen Höhe-
Littorin välkomnar arbetskraftinvandring, in: Dagens Nyheter 24.10.2006. Vgl. auch Parusel 2006. Ebenda. 464 Ein Musterbeispiel für dieses Problem ist der so genannte „Vaxholm-Fall“. 2004 gewann die lettische Baufirma Laval einen von der Gemeinde Vaxholm bei Stockholm ausgeschriebenen Auftrag für den Neubau einer Schule. Nachdem die Arbeiten begonnen hatten, blockierte jedoch die schwedische Bauarbeitergewerkschaft Byggnads die Baustelle. Sie hatte festgestellt, dass die lettischen Arbeiter untertariflich bezahlt wurden und wollte die Baufirma dazu zwingen, einen schwedischen Tarifvertrag zu unterschreiben. Letztlich zog sich die Firma unverrichteter Dinge wieder aus Schweden zurück und meldete Konkurs an. Sie reichte jedoch Klage vor dem Europäischen Gerichtshof ein. Die schwedischen Medien berichteten seit 2004 über zahlreiche ähnliche Fälle. Zumeist ging es jedoch um Unternehmen und Arbeitnehmer aus EU-Staaten. Nicht-EU-Staaten dürfen noch nicht frei an öffentlichen Ausschreibungen teilnehmen. Zum „Fall Vaxholm“ vgl. Parusel 2005, S. 401. 462 463
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punkt erreichten diese Wanderungsbewegungen 1969 und 1970. 1972 wurde die Anwerbungspolitik im Zuge einer ökonomischen Krise weitgehend eingestellt.465 Die schwedischen Gewerkschaften hatten schon damals durchgesetzt, dass für ausländische Arbeiter die gleichen sozialen Bedingungen gelten müssten, wie für schwedische Staatsbürger. Sie verfügen demnach über die gleichen sozialen Rechte, etwa im Bereich der Arbeitslosenversicherung. Anders als in Deutschland wurde die Arbeitsmigration aus dem Ausland von Anfang an als permanent akzeptiert und von liberalen Staatsangehörigkeitsregeln begleitet. Schweden verfolgte eine „Einwanderungspolitik“, keine „Gastarbeiterpolitik“. Nach dem Anwerbestopp von 1972 gab es hauptsächlich vier Formen der Migration nach Schweden. Weiterhin kamen Staatsbürger der Nordischen Länder aufgrund der Freizügigkeitsregeln. Seit dem schwedischen EU-Beitritt 1995 wurde diese Freiheit auch auf die Bürger der EU-Partnerländer ausgedehnt. Daneben wanderten, als eine zweite Kategorie, weiterhin auch Arbeitsmigranten aus NichtEU-Staaten ein, wenn auch in wesentlich geringerem Umfang als zuvor. Ihre Aufnahme war an die Lage auf dem Arbeitsmarkt geknüpft, sowie an das Vorhandensein von Wohnraum und sozialen Eingliederungshilfen. Um das Problem des Mangels an günstigen Wohnungen zu lösen, wurde Mitte der Siebzigerjahre das so genannte „Millionenprogramm“ gestartet, der Bau von Sozialwohnungen in großem Stil rund um die großen Städte des Landes. Heute gelten diese Siedlungen als „Problemvororte“, in denen viele Einwanderer und andere einkommensschwache Gruppen leben. Diese Vororte kennzeichnet hohe Arbeitslosigkeit, ein niedriges Durchschnittseinkommen, ein vergleichsweise niedriges Bildungsniveau und ein starker Grad der Abhängigkeit der Menschen von staatlichen Sozialleistungen.466 Die dritte Kategorie bildeten Migranten, die im Rahmen der Familienzusammenführung nach Schweden kamen, und viertens wuchs langsam auch die Anzahl von Asylbewerbern und Flüchtlingen aus afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern an.467 Um letztere Kategorie drehten sich die meisten migrationspolitischen Debatten im Schweden der Achtziger- und Neunzigerjahre. In den frühen Achtzigerjahren hatte Schweden jährlich rund 5000 Flüchtlinge aufgenommen. 1988 hatte sich diese Zahl verdreifacht und stieg danach weiter an. Der quantitative Höhepunkt bei der Zuwanderung von Asylsuchenden und Flüchtlingen wurde 1992 erreicht, als vor dem Hintergrund des Krieges im ehemaligen Jugoslawien 84.000 Asylbewerber in Schweden registriert wurden. Ende der Achtzigerjahre und Anfang der Neunziger protestierten mehrere schwedische Kommunen gegen die wachsende Zahl von Asylbewerbern, und eine ausländerfeindliche Partei, „Neue Demokratie“ (Ny Demokrati), wurde gegründet und zog in den Reichstag ein. Die schwedische Regierung reagierte darauf mit einer restriktiveren Visumvergabe sowie Vgl. Kjeldstadli 2007. S. 64; Geddes 2003, S. 107-112. Vgl. Schierup et al. 2006, S. 210f. 467 Vgl. Kjeldstadli 2007. S. 65. 465 466
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einer stärker auf Abschottung ausgerichteten Asyl- und Flüchtlingspolitik. 1989 erklärte sie im Zusammenhang mit einer Gesetzesvorlage, Schweden habe nicht mehr die Ressourcen, neue Einwanderer aufzunehmen.468 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lag die Zahl der jährlich nach Schweden einreisenden Asylbewerber und Flüchtlinge deutlich unter dem Niveau der Neunzigerjahre, und die öffentliche Debatte um die Aufnahme von Migranten hat sich beruhigt. Die Anerkennungspraxis der Migrationsbehörde Migrationsverket ist heute strenger als in den Neunzigerjahren, und die Anerkennungsquoten bei Asylanträgen sind gesunken. Sie liegen jedoch noch immer über den Quoten in vielen anderen Ländern der EU, wie zuletzt die Anerkennungspraxis bei Flüchtlingen aus dem Irak gezeigt hat.469 Im Jahr 2006 wurde nach umfangreichen Kampagnen von kirchlichen Gruppen, Menschenrechtsorganisationen sowie einzelnen Politikern verschiedener politischer Parteien eine Legalisierung von Flüchtlingen beschlossen, die seit mehreren Jahren ohne Aufenthaltsrecht in Schweden lebten. 2007 rechnete die schwedische Migrationsbehörde damit, mehr Asylsuchende und Flüchtlinge aufzunehmen als in den Vorjahren, vor allem Flüchtlinge aus dem Irak. 2002 waren rund 33.000 Asylanträge gestellt worden, 2006 nur noch 24.320 – was jedoch mehr war, als im gleichen Jahr in Deutschland, dessen Bevölkerung achtmal größer ist.470 Die schwedische Stellungnahme zum Grünbuch der EU-Kommission, die Schlussfolgerungen des Expertengremiums zur Arbeitsmigration sowie die positiven Reaktionen der Politik darauf lassen vermuten, dass auch Möglichkeiten der Arbeitsmigration aus Nicht-EU-Ländern nach Schweden wieder größer werden. Im Sommer 2007 präzisierte und änderte die Regierung den Bericht des Expertengremiums vom Oktober 2006 und präsentierte einen Gesetzentwurf mit dem Titel „Ein effektives und flexibles System für Arbeitskräfteeinwanderung“.471 Er übernimmt die bereits in dem Bericht des Expertengremiums 2006 vorgeschlagene Möglichkeit für Arbeitgeber, freie Stellen mit Arbeitssuchenden aus Drittstaaten zu besetzen, wenn keine schwedischen Arbeitssuchenden oder EU-Bürger verfügbar sind. Außerdem sollen Drittstaatsangehörige bei schwedischen Botschaften und Konsulaten ein drei Monate lang gültiges „Visum für Arbeitssuchende“ beantragen dürfen. Darüber hinaus sollen Studenten aus Drittstaaten, die nach ihrem Studienabschluss in Schweden bleiben wollen, nicht mehr gezwungen sein, zunächst auszureisen und vom Ausland aus eine Aufenthaltsgenehmigung zu Arbeitszwecken zu beantragen. Besonders interessant ist der in dem Gesetzentwurf enthaltene Vorschlag, dem zufolge Asylsuchende, deren Asylanträge abgelehnt wurden, die jedoch
468 Vgl. zu diesem und den vorhergehenden Absätzen: Geddes 2003, S. 107-112; Abiri 2000, S. 31f; Ring 2001, S. 75. 469 Vgl. Sperl 2007, S. 18. 470 Vgl. UNHCR 2007, S. 10. 471 Regeringskansliet 2007, Übersetzung durch B.P.
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während der Prüfung ihrer Anträge mindestens sechs Monate lang in Schweden gearbeitet haben, einen Aufenthaltsstatus als Arbeitnehmer beantragen können: „Wer nach Schweden gekommen ist und Asyl beantragt hat und dem es gelungen ist, während der Prüfung zu arbeiten hat begonnen, sich in Schweden zu etablieren. (...) Dass jemand in einer solchen Situation gezwungen werden soll, Schweden zu verlassen (...) kann in bestimmten Fällen wenig angemessen erscheinen (...)“.472
Hier wird eine Verknüpfung zwischen Asyl und Arbeitsmigration herstellt, zwei Arten von internationaler Migration, die in der EU fast immer getrennt voneinander behandelt werden und hinsichtlich derer die politischen Akteure sehr unterschiedliche Interessen vertreten. Die Reform der Regeln zum Zuzug von Arbeitskräften aus Drittstaaten wurde 2008 verabschiedet und trat im Dezember 2008 in Kraft. Die wichtigste Besonderheit des neuen Systems ist, dass die Arbeitszuwanderung nunmehr fast ausschließlich von einer entsprechenden Nachfrage der schwedischen Arbeitgeber abhängt, Steuerungsmöglichkeiten staatlicher Stellen stark begrenzt sind und alle Qualifikationsniveaus berücksichtigt werden können. Eine „Arbeitsmarktprüfung“, also eine von der Arbeitsmarktbehörde durchgeführte Untersuchung, ob die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte wirtschaftlich erforderlich ist, findet nicht mehr statt. Wenn ein Arbeitgeber eine Stelle zu besetzen hat, aber keinen geeigneten Kandidaten innerhalb Schwedens findet, ist er zunächst verpflichtet, die Stelle über die Arbeitsmarktbehörde Arbetsförmedlingen öffentlich auszuschreiben. Diese sorgt auch für die Veröffentlichung der Anzeige im EU-Arbeitskräfteportal EURES. Wenn sich niemand meldet, darf der Arbeitgeber den neuen Regeln zufolge einen Bewerber aus jedem beliebigen Land der Welt anwerben. Gegenüber der Migrationsbehörde ist lediglich nachzuweisen, dass die Stelle tatsächlich mindestens zehn Tage lang EU-weit ausgeschrieben war. So wird dem Prinzip des Vorrangs für einheimische Arbeitssuchende und EU-Bürger Genüge getan. Die Migrationsbehörde Migrationsverket genehmigt daraufhin die Anwerbung eines Drittstaatsangehörigen, wobei die fachlich zuständige Gewerkschaft die Gelegenheit bekommt, zu den Anstellungsbedingungen Stellung zu beziehen. Die Bedingungen haben sich an den geltenden Tarifverträgen zu orientieren, aber die Gewerkschaften haben nicht die Möglichkeit, bei Verstößen gegen die Tarifbedingungen die Einstellung eines ausländischen Kandidaten zu verhindern. Die neuen Regeln unterscheiden nicht hinsichtlich des Ausbildungsstands der Antragsteller. Auch Arbeitskräfte mit niedrigen oder gar keinen Bildungsabschlüssen können einwandern, wenn die Arbeitgeber entsprechende freie Stellen haben. Auch bekommen alle Wirtschaftsmigranten Zugang zu den gleichen sozialen Rechten wie die übrige Bevölkerung des Landes. Die Arbeitsmigranten dürfen vom 472
Regeringskansliet 2007, S. 29, Übersetzung durch B.P.
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ersten Tag an auch ihre Ehegatten mitbringen, die dann ebenfalls freien Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen. Entsprechend der Vorschläge des 2004 eingesetzten Expertengremiums sieht die neue Regelung auch vor, dass abgelehnte Asylsuchende vor der erzwungenen Ausreise innerhalb einer bestimmten Frist eine Arbeit in Schweden suchen und bei Erfolg einen Antrag auf Zulassung als Arbeitsmigranten stellen können. Zwischen Januar und Mai 2009 gingen bei Migrationsverket 7.560 Anträge auf eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis ein, die auf Grundlage der neuen Regeln gestellt wurden. Bis einschließlich April waren Indien, China und die Ukraine die Hauptherkunftsländer der ausländischen Bewerber. Die wichtigsten Berufsgruppen waren Computerspezialisten, Gastronomiepersonal und Ingenieure. 532 Anträge stammten von abgelehnten Asylbewerbern. 6.3.3
Italien
Die italienische Regierung spricht sich in ihrer recht kurz gehaltenen Stellungnahme zum Grünbuch für EU-Regeln aus, die – ähnlich wie Schweden und Deutschland gestützt auf einen „horizontalen“ Ansatz – einige „Mindestbedingungen“ für die Zulassung von Wirtschaftsmigranten vorsehen sollen, so etwa die Existenz eines freien Arbeitsplatzes oder Grundkenntnisse der Sprache und Kultur des aufnehmenden Landes.473 Das italienische Papier enthält zudem relativ konkrete Überlegungen für eine künftige EU-weite Regelung der Arbeitsmigration, etwa Vorschläge für Präferenzregeln für EU-Bürger im Vergleich zu Drittstaatsangehörigen oder die Erwägung, potentielle Arbeitsmigranten bereits in deren Herkunftsländern mit italienischer Sprache und Kultur vertraut zu machen, um ihnen später die Eingliederung zu erleichtern. Demografische Nützlichkeitserwägungen sind im italienischen Papier nicht enthalten, jedoch geht die Regierung davon aus, dass Arbeitseinwanderung in bestimmte Wirtschaftssektoren erforderlich bzw. in der Zukunft sein wird. Es wird befürwortet, an der Regelung festzuhalten, dass EU-Bürger und eigene Staatangehörige eine Vorrangstellung bei der Arbeitsvermittlung und der Vergabe von Arbeitsplätzen genießen sollten. Auf pragmatische Weise werden für bestimmte Fälle jedoch Ausnahmen von derlei Vorbedingungen und Präferenzregeln bejaht. In Wirtschaftssektoren oder geographischen Regionen Italiens, in denen ein breiter und anhaltender Mangel an Arbeitskräften aus dem eigenen Staat oder anderen EUStaaten evident ist, sollen aus italienischer Sicht Präferenzregelungen wegfallen können, um größere Flexibilität und Effizienz zu erreichen. Dies würde bedeuten, 473 Die Zitate dieses Abschnitts entstammen dem Schriftstück Il Libro Verde sull’approccio UE alla gestione dell’immigrazione per motivi di lavoro, o.O., o.J.
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dass Einwanderer in diese Regionen kommen können, ohne zuvor eine freie Stelle nachweisen zu müssen. Generell ist Italien dafür, den Mitgliedstaaten „breite Spielräume“ für die Zulassung von Arbeitsmigration einzuräumen. Die Regierung nennt als Beispiele für Bereiche des Arbeitsmarkts, in denen Einwanderer benötigt werden, Haushaltshilfen in Privathaushalten und Pflegekräfte. Italien äußert sich dazu bereit, Migranten aus Drittstaaten weitgehende Rechte und Freiheiten einzuräumen, sofern ihnen einmal die Einreise und Arbeitsaufnahme in einem bestimmten Sektor gestattet wurde. So soll es nach Ablauf eines befristeten Arbeitsvertrags und möglicher Verlängerung des Anstellungsverhältnisses nicht erforderlich sein, erneut zu prüfen, ob inzwischen auch italienische Staatsangehörige oder EU-Bürger für die entsprechende Stelle zu Verfügung stehen. Auch soll es nach italienischer Auffassung gestattet sein, nach genehmigter Einwanderung und Arbeitsaufnahme den Arbeitsplatz oder Arbeitgeber zu wechseln. Eine europäische Regelung, mit der diese Bewegungsfreiheit und Flexibilität der Arbeitsmigranten auf dem Arbeitsmarkt eingeschränkt werden könnte, wird nicht als notwendig erachtet. Zulassen will Italien auch die Weiterwanderung von Drittstaatsangehörigen in andere EU-Staaten. Italien, das bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ein Auswanderungsland war und erst seit 1973 einen positiven Wanderungssaldo aufweist, unter anderem aufgrund von Rückwanderung im Ausland arbeitender Italiener, ist erst seit den frühen Achtzigerjahren von Einwanderungsbewegungen in nennenswertem Umfang betroffen.474 Sie ereigneten sich unvorhergesehen und unreguliert und wurden von der Politik daher als Notstände betrachtet, denen man mit „Notstandsgesetzen“ entgegentrat. Weite Teile der Bevölkerung nahmen das neue Phänomen der Zuwanderung als Bedrohung wahr, und rechtsextreme Parteien bekamen Zulauf. Gleichzeitig wurde Arbeitsmigration von großen Teilen der Bevölkerung aber schon frühzeitig gesellschaftlich akzeptiert und von den politischen Parteien als notwendig für Wirtschaftswachstum eingeschätzt. 1986 wurde erstmals ein Einwanderungsgesetz verabschiedet, das bestimmte Formen von Arbeitsmigration nach Italien gestattete und eine Regularisierung bereits anwesender, illegaler Einwanderer vorsah. Auch alle späteren Reformen der Einwanderungsgesetzgebung waren mit Regularisierungsaktionen verbunden.475 Ein Anwachsen der Migrationsströme nach Italien in den späten Achtzigerjahren führte 1990 zu einem weiteren Einwanderungsgesetz, dem so genannten „Martelli-Gesetz“. Es sah erstmals vor, jedes Jahr Quoten für die Anzahl aufzunehmender Arbeitsmigranten festzulegen und definierte die Rechte und Pflichten ausländischer Arbeitnehmer in Italien, etwa ihr Recht auf Familiennachzug. Mitte der Neunzigerjahre wurde die Quotenregelung erstmals angewandt, und 1998 die Ein474 475
Vgl. Santel 2001, S. 105; Bertagna/Maccari-Clayton 2007, S. 216f. Chaloff 2005, S. 1.
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wanderungsgesetzgebung erneut reformiert. Seither ruht die Migrationspolitik Italiens auf drei Grundprinzipien, dem Kampf gegen illegale Einwanderung, einer geordneten und regulierbaren Arbeitsmigration und der Integration bereits anwesender Migranten. Die Anzahl der erwünschten Wirtschaftsmigranten wird jährlich in Form einer nach Zielregionen und Nationalität der Einwanderer aufgeschlüsselten Quote festgelegt. Einwanderer, die sich dafür qualifizieren wollen, müssen jedoch entweder ein konkretes Arbeitsplatzangebot vorweisen können oder von einem Italiener „eingeladen“ worden sein. Die meisten „Quoteneinwanderer“ werden im wohlhabenden Norden des Landes benötigt.476 Während die öffentliche Debatte in Italien immer noch von dem stereotypen Bild des illegalen und hilflosen „Bootflüchtlings“ gekennzeichnet ist, und von der Vorstellung einer bedrohlichen und unkontrollierbaren Massenankunft von Afrikanern an den Küsten Siziliens, Kalabriens und Apuliens, ruft die italienische Wirtschaft regelmäßig nach zusätzlichen Einwanderern: „Immigrant workers generally take jobs that Italians are unwilling to take, occupying a complementary role in sectors where it is difficult to recruit Italians.“477
Den größten Bedarf hat Italien in diesem Zusammenhang in saisonabhängigen Wirtschaftszweigen, etwa der Landwirtschaft oder dem Tourismus, Hotels und Gaststätten. Seit den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts werden auch im Bausektor, in der Metallindustrie, im Transportwesen sowie in Teilen des Dienstleistungssektors, beispielsweise im Einzelhandel, im Reinigungsgewerbe und in der Altenpflege, ausländische Arbeitskräfte benötigt.478 Die italienische Wirtschaft fragt vor allem Arbeitseinwanderer mit niedriger oder gar keiner Qualifikation nach und ist in der Regel bereit, diese nach ihrer Ankunft in Italien auszubilden. Die einzige Berufsgruppe mit höherem Ausbildungsgrad, die von Italien angeworben wurde, sind Pflegekräfte und Krankenschwestern. Generell sind die von der Regierung veröffentlichten Einwanderungsquoten meist hinter den von der italienischen Industrie- und Handelskammer ebenfalls jährlich errechneten Bedarfseinschätzungen zurückgeblieben.479 Um die Quoten besser an den tatsächlichen Arbeitskräftebedarf der Industrie, der Landwirtschaft und des Dienstleistungsgewerbes anzupassen, wurden sie zwischen 2005 und 2006 von 99.500 auf 170.000 Drittstaatsangehörige fast verdoppelt. Die Zahl der Zulassungen für Hausangestellte und häusliche Pflegekräfte wurde von 15.000 auf 45.000 476 Laut Santel belief sich die Quote des Jahres 2000 auf insgesamt 63.000 Einwanderer. Die mehrfach durchgeführten Regularisierungen illegaler Einwanderer hatten jeweils einen deutlich größeren Umfang. 1998 und 1999 stellten 250.000 Menschen einen Antrag auf Legalisierung ihres Aufenthalts. Mehr als die Hälfte davon, rund 135.000 erhielten ein Aufenthaltsrecht; vgl. Santel, S. 112f; Chaloff 2005, S. 1. 477 Chaloff 2005, S. 2. 478 Vgl. Bertagna/Maccari-Clayton 2007, S. 218; Baldwin-Edwards 2002, S. 34. 479 Vgl. OECD 2007, S. 256.
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erhöht, erstmals wurde eine Quote für Fischereiarbeiter eingeführt, und ausländischen Studenten und Auszubildenden wurde die Möglichkeit eingeräumt, ihre zweckgebundenen Aufenthaltstitel in Arbeitserlaubnisse umzuwandeln und in Italien zu bleiben. Für die insgesamt 170.000 zur Verfügung stehenden Zulassungen des Jahres 2006 bewarben sich rund 490.000 Menschen. 480 Die Zahlen zeigen deutlich, dass Italien heute ein Einwanderungsland ist und versucht, dieser Tatsache mit einem flexiblen System Rechnung zu tragen. Neben der legalen Wirtschaft besteht aber auch seitens Privathaushalten und der Schattenwirtschaft eine Nachfrage nach Einwanderern. In vielen Haushalten arbeiten Frauen aus den Philippinen als Köchinnen, Putzfrauen oder kümmern sich um alte Menschen. In vielen Fällen wurden sie zunächst illegal beschäftigt, bekamen dann aber im Rahmen einer Regularisierung ein Aufenthaltsrecht. Die Schattenwirtschaft und eine Grauzone zwischen legalen und illegalen Betrieben bieten vielen Migranten Beschäftigungsmöglichkeiten im Kleinhandel, auf Plantagen, in der Fischerei, in Restaurants und in der Bekleidungs-, Gerberei- und Schuhindustrie. Obwohl Italien seit mehreren Jahren einen Geburtenrückgang und damit eine sinkende Einwohnerzahl erlebt, spielen demografische Interessen in der Migrationsdebatte bislang allenfalls eine untergeordnete Rolle und werden auch in der Stellungnahme der Regierung zum EU-Grünbuch nicht erwähnt. Es wird davon ausgegangen, dass auch Migranten altern und Pensionen beziehen und insofern keine Lösung des demografischen Problems darstellen. Die wesentlichen Interessen Italiens im Bereich der Arbeitsmigration sind damit arbeitsmarktpolitische Interessen und ökonomische Nützlichkeitserwägungen. Der italienische Ausländeranteil von rund 4,1 Prozent der Gesamtbevölkerung liegt immer noch deutlich unter dem anderer EU-Mitgliedstaaten. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass sowohl legale als auch „illegale“ Migrationsbewegungen nach Italien anhalten werden und der Ausländeranteil steigen wird.481 Italien hat sich in den letzten Jahren mehrfach vehement für eine gemeinsame Migrationspolitik auf EU-Ebene ausgesprochen. Einwanderung wird nicht primär als ein Thema von nationaler Bedeutung gesehen, sondern als eine europäische Frage, die mit Hilfe einer gemeinsamen europäischen Politik gelöst werden sollte: „A common European policy is considered the only effective tool to maximize the benefits and to minimize the negative effects that come with immigration. Dealing successfully with immigration, in fact, requires far more effective and comprehensive means than those available to a single state.“482
Vgl. Ebenda. Vgl. Bertagna/Maccari-Clayton 2007, S. 218. 482 Briani 2007, S. 172. 480 481
174 6.3.4
6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
Polen
Polen weicht markant von den in ihrer Mehrzahl ausführlichen und detaillierten Stellungnahmen anderer Mitgliedstaaten zum Kommissionsgrünbuch ab. In einem lediglich eine halbe Seite umfassenden „Non-Paper concerning the Green Book“483 wird festgestellt, dass das Land keine aktive Einwanderungspolitik betreibe und eine solche auch nicht anstrebe. Die Regierung fordert, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben sollten, ihre nationalen Einwanderungspolitiken entsprechend der Bedürfnisse ihrer jeweiligen Arbeitsmärkte festzulegen. Eine „vollständige Vergemeinschaftung“ der Migrationspolitik auf horizontaler Basis mit gemeinsamen Grundregeln für alle Staaten lehnt die polnische Regierung ab. Allenfalls sektorspezifische Regelungen für die Zuwanderung von Migranten mit bestimmten Schlüsselqualifikationen, namentlich Wissenschaftler, Studenten oder andere Spezialisten („scientists, students, specialists“) sind für Warschau vorstellbar. Unter Anspielung auf die so genannten „Übergangsregeln“, mit denen fast alle EU-Mitgliedstaaten die Freizügigkeit von Arbeitskräften aus den neuen EU-Staaten, die im Mai 2004 der Union beitraten, eingeschränkt haben, macht die polnische Regierung deutlich, dass für sie Gemeinschaftsregeln für Immigration aus Drittstaaten erst dann in Frage kommen, wenn die Restriktionen für polnische Arbeitssuchende in anderen Mitgliedstaaten vollständig aufgehoben werden: „The need to liberalizing the immigration policy toward third country nationals will be considered only after the limitations for the access to the labour markets in the ‚old MS’ will be lifted. Full introduction of the principle of free movement of people for new member states nationals is a priority for Poland.“
Die ablehnende Reaktion Polens auf das Grünbuch der Kommission wird vor dem Hintergrund der jüngeren Migrationsgeschichte und -politik des Landes besser verständlich. Polen war in den Neunzigerjahren und bis ins 21. Jahrhundert hinein eher ein Auswanderungs- als ein Einwanderungsland. Immigrationsfragen spielten in der öffentlichen Debatte lange nur eine geringe Rolle. Dass sich in Polen in den Neunzigern und danach trotzdem schrittweise eine Migrationspolitik entwickelte, liegt größtenteils an Anforderungen durch den EU-Beitrittsprozess. Die polnische Politik war gezwungen, zahlreiche gesetzliche Maßnahmen und Reformen zu verabschieden, auf deren Einführung die späteren EU-Partner drängten. Vor allem in den Bereichen Asyl, Flüchtlingspolitik, Grenzsicherung und „illegale Einwanderung“ ist die rechtliche Lage und Politik seit den späten Neunzigerjahren von den Abschottungs- und Sicherheitsinteressen der EU und insbesondere Deutschlands geprägt.484 Deutschland sah Polen als wichtiges Transitland für illegale Flüchtlinge, die eigent483 Die diesem Abschnitt zu Grunde liegenden Informationen und Zitate entstammen dem Schriftstück Republic of Poland, Non-paper concerning the Green Book COM (2004) 811 final, o.O., o.J. 484 Iglicka et al. 2005, S. 2.
6.3 Interessen der Mitgliedstaaten
175
lich die Bundesrepublik als Zielland hatten. Polen sollte dazu beitragen, unerwünschte Migrationsströme von Deutschland fernzuhalten. Bis 1997 galt in Polen ein Ausländergesetz aus dem Jahr 1963, und eine Integrationspolitik gab es allenfalls in Ansätzen. Der Ausländeranteil lag 2002 bei lediglich 0,13 Prozent.485 Auf Drängen der späteren EU-Partner wurden im Lauf der Neunzigerjahre trotzdem die Kontrollen an den Grenzübergängen in Richtung Osten intensiviert, Rückübernahmeabkommen für über Polen in die EU einreisende „illegale Migranten“ mit den EU-Staaten abgeschlossen und ein rudimentäres Asylrecht eingeführt. 1997 wurde ein Gesetz verabschiedet, dass den Umgang mit Zuwanderern regelt und nach EU-Vorbild unter anderem erleichterte Abschiebungen illegaler Migranten und Sanktionen für Schlepper und Transportunternehmen, die Migranten zur illegalen Einreise verhelfen, vorsieht. 2001 und 2003 wurde das Gesetz reformiert, wobei unter anderem auch die aus Deutschland bekannten Regelungen, „offensichtlich unbegründete“ Asylanträge beschleunigt zu prüfen und „sichere Herkunftsstaaten“ zu definieren, implementiert wurden.486 Ein wichtiges Ziel der gesetzlichen Maßnahmen war somit die Verhinderung illegaler Einreisen aus den östlichen Nachbarstaaten, vor allem aus der Ukraine, Russland und Weißrussland. Das Interesse der polnischen Regierungen im Bereich der Migrationspolitik lässt sich somit vor allem als Sicherheitsinteresse beschreiben. Es entwickelte sich jedoch nicht aus Debatten über Einwanderung auf nationaler Ebene, sondern wurde von Diskussionen in der EU, der beginnenden EU-Migrationspolitik und den polnischen Vorbereitungen auf den Beitritt induziert. Iglicka et al. geben zu bedenken, dass die Sicherheitsagenda der polnischen Regierung hinsichtlich Migrationsfragen punktuell durch internationale Menschenrechtsorganisationen angefochten wurde. In den Neunzigerjahren wurden etwa der UNHCR und die Helsinki-Stiftung für Menschenrechte in Polen aktiv. Sie setzten sich unter anderem für die Schaffung gerechter Asylverfahren ein. Eine „Ausbalancierung“ der Migrationsdebatten und der Wanderungspolitik im Sinne einer größeren Durchschlagskraft für menschenrechtlich geprägte Interessen trat jedoch nicht ein.487 Schwierig und von intensiven Debatten begleitet wurde unterdessen die Umsetzung der Forderung der EU, Polen müsse für Staatsbürger seiner östlichen Nachbarländer, also Russlands, Weißrusslands und der Ukraine, die Visumpflicht einführen. Sowohl für die polnischen Grenzregionen, als auch für die zahlreichen Grenzpendler und fliegenden Händler aus den Nachbarländern befürchteten Politiker negative sozioökonomische Auswirkungen. Polen hatte ursprünglich einwanderungsrechtlich nicht zwischen EU-Bürgern und „Drittstaatsangehörigen“ unterschieden, und viele Polen empfanden eine moralische Pflicht gegenüber den NachVgl. Alscher 2005. Ebenda. 487 Vgl. Iglicka et al. 2005, S. 1f. 485 486
176
6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
barn im Osten und sahen deren Reisefreiheit als Teil eines notwendigen Freiheitsund Demokratisierungsprozesses. Grenzhändler und -pendler per Visumzwang abzuwehren, wurde daher von vielen zwar abgelehnt, 2003 letztlich aber doch von der EU erzwungen.488 Seit der Einführung der Visumpflicht ist die Zahl der Grenzpendler rückläufig.489 In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts wurden Migrationsfragen auch darüber hinaus stärker debattiert. Unter anderem wurde die steigende Arbeitslosigkeit in Polen in einen Zusammenhang mit der zunehmenden illegalen Einwanderung gesetzt. Das Innenministerium gelangte zu der Auffassung, dass illegale Migrationsströme nicht nur an den Grenzen, sondern auch im Landesinnern bekämpft werden müssten und erweiterte die Befugnisse der Grenzschutzbehörden entsprechend. In Polen gibt es eine informelle Ökonomie, in der Einwanderer ohne Papiere Arbeit finden können, etwa in den Bereichen Kinderbetreuung, Altenpflege, im Bausektor oder in der Landwirtschaft. Um Ausländern, die bereits enge Verbindungen zur polnischen Gesellschaft entwickelt hatten, sich aber illegal in Polen aufhielten, die Möglichkeit eines sicheren Aufenthaltsstatus zu geben, wurde in den Jahren 2003 bis 2004 eine Regularisierungsaktion durchgeführt. Profitieren sollten davon vor allem Familien aus Armenien, die schon lange ohne dauerhaften Aufenthaltsstatus in Polen gelebt und gearbeitet hatten. Letztlich bekamen jedoch nur rund 3.500 Menschen auf diese Weise einen legalen Aufenthaltstitel. 46 Prozent davon waren Armenier, 38 Prozent Vietnamesen. 2004 wurden weitere 2.400 Aufenthaltsberechtigungen vergeben.490 Mögliche positive Auswirkungen von Einwanderung auf die polnische Ökonomie werden erst seit den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts diskutiert. Eine von der Ausländerbehörde 2002 eingesetzte Expertenkommission gelangte zu dem Schluss, dass Migranten mit bestimmten Qualifikationen oder mit dem Ziel, in Polen zu investieren, eine positive Rolle spielen könnten. In der Warschauer Sozialund Wirtschaftspolitik spielten Einwanderungsfragen zu diesem Zeitpunkt indes noch keine Rolle. Auch mögliche positive Auswirkungen von Einwanderung auf die Bevölkerungsentwicklung und die Altersstruktur der Gesellschaft sind eine Frage, die allenfalls in Expertenkreisen diskutiert wird und kaum konkrete politische Folgen gezeigt hat. „Poland, although (…) aiming at acting as an active creator of principles of EU immigration policy, has not clearly defined its own (internal) immigration policy.“491 Eher brisant ist aus Sicht der Regierung die Tatsache, dass hunderttausende Polen seit dem EU-Beitritt nach West- und Nordeuropa abgewandert sind, um auf diese Weise der Arbeitslosigkeit im eigenen Land zu entgehen oder in ihren erlernVgl. Iglicka et al. 2005, S. 15. Vgl. Praszalowicz 2007, S. 269. 490 Vgl. Iglicka et al. 2005, S. 15. 491 Blaszczyk et al. 2007, S. 176f. 488 489
6.3 Interessen der Mitgliedstaaten
177
ten Berufen besser zu verdienen als im Heimatland. Vor diesem Hintergrund verwundert der Ruf Polens nach einer Aufhebung der „Übergangsregeln“ der alten EU-Staaten gegen Staatsangehörige der neuen Mitgliedstaaten zunächst, da diese Regeln dem Braindrain eigentlich entgegenwirken dürften. Die polnische Regierung betrachtet die Übergangsregeln jedoch vor allem als eine ungerechtfertigte Benachteiligung und Ungleichbehandlung der polnischen Staatsbürger. Dass Warschau, wie in der Stellungnahme zum Kommissionsgrünbuch zum Ausdruck gekommen ist, eine gemeinsame EU-Politik für Arbeitsmigration aus Drittstaaten ablehnt, verwundert kaum. Noch immer begreift sich das Land kaum als Einwanderungsland. 2005 wurden lediglich 38.500 Aufenthaltsberechtigungen an Ausländer vergeben, ein Großteil davon an Bürger anderer EU-Staaten. Die Zahl der Asylanträge in Polen betrug 2004 rund 8.000 und 2005 etwa 6.800. 2006 setzte sich der Rückgang mit 4.220 registrierten Anträgen weiter fort.492 Die Nähe zu Russland, der Ukraine und Belarus sowie die Bereitschaft und die Anziehungskraft, die Polen als EU-Land auf Bürger dieser Staaten ausüben könnte, legt zudem nahe, dass Polen im Fall eines ernsthaften Arbeitskräftemangels relativ einfach Arbeitssuchende aus diesen Ländern anwerben könnte, auch ohne dafür EU-Regeln zu benötigen. Seit September 2006 ist es etwa polnischen Landwirten erlaubt, Saisonarbeitskräfte aus der Ukraine, Weißrussland und Russland ohne Arbeitserlaubnis anzuwerben und zu beschäftigen. Der aufgrund der Wirtschaftsentwicklung Polens in den letzten Jahren entstandene Bedarf an sowohl ungelernten wie auch hochqualifizierten Arbeitskräften wird schon heute also zum Teil mit Zuwanderern aus dem Osten gedeckt, zum Teil auch durch polnische Staatsbürger, die nach vorübergehenden Auslandsaufenthalten wieder zurückwandern. Praszalowicz geht davon aus, dass die Zuwanderung nach Polen in den nächsten Jahren deutlich ansteigen wird, weil immer mehr Arbeitsplätze für polnische Arbeitssuchende nicht mehr attraktiv sind. Auch die niedrige Geburtenrate und damit ein demografisches Argument könnte sich auf zukünftige migrationspolitische Debatten auswirken.493 6.3.5
Großbritannien
Die britische Regierung stützt in ihrer Stellungnahme494 zum Grünbuch das Interesse Polens, Wirtschaftsmigration von Drittstaatsangehörigen in die EU erst dann gemeinsam zu regeln, wenn die Einschränkungen der Freizügigkeit, die außer Großbritannien, Irland und Schweden alle „alten“ EU-Staaten gegen Staatsangehörige der neuen Mitglieder in Kraft gesetzt hatten, aufgehoben werden: Vgl. OECD 2007, S. 274; UNHCR 2007, S. 10. Vgl. Praszalowicz 2007, S. 270. 494 Originaltitel der britischen Stellungnahme: European Commission’s Green Paper on an EU approach to managing economic migration, the response of the United Kingdom, o.O., o.J. 492 493
178
6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration „A concern would bet that any Community rules could be seen as asking new Member States to consider the need for third country nationals to work in Member States when they themselves do not have the right to work throughout the EEA. (...) The United Kingdom is keen to see the Commission encouraging other Member States to open their labour markets to new Member States nationals.“ 495
Daneben verfolgt Großbritannien in seiner Stellungnahme eine ausgesprochen vorsichtige und auf dem Prinzip nationalstaatlicher Eigenständigkeit basierende Herangehensweise an die von der Kommission vorgelegten Fragen. Es wird betont, dass Großbritannien zwar ein großes Interesse daran habe, die ökonomisch und arbeitsmarktpolitisch nützlichen Aspekte der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte auszunutzen, dass ein gemeinsames europäisches Regelwerk jedoch keinesfalls die nationalstaatlichen Gestaltungsspielräume des Königreichs beeinträchtigen dürfe. Aus Sicht der britischen Regierung steht zum Zeitpunkt ihrer Stellungnahme noch nicht fest, ob überhaupt Bedarf für eine gemeinsame Gesetzgebung in der EU besteht. Die Regierung erklärt zudem, bei eventuellen gemeinsamen Regelungen, deren Nutzen für Großbritannien nicht klar erkennbar ist, zunächst außen vor zu bleiben (opt-out), beziehungsweise gemeinsame Regeln nur dann anzuwenden (optin), wenn sie sich reibungslos in die britische Migrationsstrategie einfügen lassen.496 Von der Möglichkeit, Teile der EU-Migrationspolitik nicht umzusetzen, hatte die britische Regierung schon früher vielfach Gebrauch gemacht.497 Die Regierung verweist in ihrer Stellungnahme auf ein Papier zur nationalen Migrationsstrategie des Landes mit dem Titel „Controlling our borders: Making migration work for Britain“. Das Dokument nennt die wesentlichen Interessen Großbritanniens hinsichtlich der Steuerung von Migrationsströmen in der Zukunft.498 Der Kern der Strategie besteht darin, Immigrationsbewegungen dann zuzulassen, wenn sie im Interesse Großbritanniens sind, sie jedoch zu verhindern, wenn kein Interesse befriedigt wird.499 Migration sei für die britische Wirtschaft von essentieller Bedeutung, insbesondere die Einwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften, etwa Ärzten, Ingenieuren, Finanzexperten, Kranken- und Pflegepersonal sowie Lehrern, heißt es in dem Papier.500 In geringeren Zahlen und unter strikteren aufenthaltsrechtlichen Regelungen soll auch Zuwanderung von Migranten mit geringerem Bildungs- und Qualifikationsstandard ermöglicht werden. Die Interessen der britischen Regierung sind dabei ökonomischer Natur. Einwanderung wird als ein Mittel anerkannt, Engpässe auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen und neue Arbeitsplätze zu schaffen: Ebenda. Ebenda. 497 Vgl. Geddes 2003, S. 137; Juss 2005. 498 The Secretary of State for the Home Department 2005. 499 Vgl. Secretary of State for the Home Department 2005, S. 5. 500 The Secretary of State for the Home Department 2005, S. 7-8. 495 496
6.3 Interessen der Mitgliedstaaten
179
Migrants have brought dynamism to the economy, the most successful of them have created many jobs for others. (...) Skilled migrants bring new skills, ideas and attitudes to the UK, and help meet skill and labour shortages, easing inflationary pressures and increasing productivity.“501
Hinsichtlich Schottlands, jedoch nicht für Großbritannien insgesamt, wird auch von einer demografischen Notwendigkeit für Migration ausgegangen: „In Scotland, managed migration is already recognised as one way to address the population and demographic changes there.“502 Großbritannien versteht sich als Einwanderungsland, auch wenn die Zuwanderungsgeschichte phasenweise zu gesellschaftlichen Spannungen, heftigen Debatten und manchmal gewaltsamen Ausschreitungen in Industriestädten mit hohem Migrantenanteil geführt hat.503 Im Unterschied zu den meisten anderen EU-Ländern setzte die Regierung in London 2004 keine Übergangsregeln gegen die freie Niederlassung von Bürgern der neuen EU-Staaten in Mittel- und Osteuropa in Kraft. Zwischen Mai 2004, dem Zeitpunkt des EU-Beitritts dieser Länder, und Juni 2006, wurden daraufhin 427.000 neue Arbeitskräfte aus diesen Ländern in Großbritannien registriert. 2005 bekamen zudem auch 17.600 hochqualifizierte Drittstaatsangehörige ein Aufenthalts- und Arbeitsrecht nach dem so genannten Highly Skilled Migrant Programme (HSMP). Diese Zahl war mehr als doppelt so hoch wie noch 2004. Zudem wurden 2004 und 2005 weitere 86.000 bzw. 89.500 Arbeitskräfte aus Drittstaaten zugelassen, die nicht über das HSMP oder aus EU-Staaten nach Großbritannien kamen. Die Zahl der Asylbewerber und Flüchtlinge ging im gleichen Zeitraum um 25 Prozent auf rund 30.000 Anträge 2005 zurück, 2006 wurden knapp 28.000 Anträge gezählt.504 Dies ist ein Zeichen dafür, dass die britische Migrationspolitik stärker als früher an ökonomischen Interessen ausgerichtet wird, und sich die Einwanderungsströme entsprechend verändern. Seit Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts arbeitet die LabourRegierung in London an einer Reform der Einwanderungsgesetzgebung mit dem Hauptziel, die bisherige Vielzahl unterschiedlicher Möglichkeiten, nach Großbritannien einzuwandern, zusammenzufassen, zu vereinfachen und überschaubarer zu gestalten, sowie Einwanderungsströme noch stärker am erwarteten Nutzen für die britische Ökonomie und den Arbeitsmarkt zu orientieren. Das bisherige, zweistufige Verfahren für Ausländer, zunächst eine Arbeitserlaubnis zu beantragen und dann eine Einreiseerlaubnis, soll in ein „Single-step“-Verfahren umgewandelt werden. Mit einem Punktesystem, das im Zeitraum 2007 bis 2009 schrittweise eingeführt werden soll, sollen künftige Migrationsbewegungen so effektiv wie möglich auf die Sektoren der britischen Wirtschaft gelenkt werden, in denen Einwanderer benötigt werden. Als erstes soll das Punktesystem für die bisher vom HSMP abgedeckten hochqualiThe Secretary of State for the Home Department 2005, S. 14. The Secretary of State for the Home Department 2005, S. 13. 503 Vgl. Lunn 2007, S. 81f. 504 Vgl. OECD 2007, S. 290; UNHCR 2007, S. 10. 501 502
180
6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
fizierten Drittstaatsangehörigen in Kraft treten. Punkte werden dabei für akademische Qualifikationen, Einkommen und Alter vergeben, sowie Bonuspunkte an Personen, die früher schon einmal in Großbritannien gearbeitet oder studiert haben. Hochqualifizierte sollen auch ohne die Vorbedingung einer konkreten freien Stelle nach Großbritannien einwandern dürfen.505 In einem zweiten Schritt sollen auch Arbeitsmigranten aus Drittstaaten, die nicht in die Gruppe der Hochqualifizierten fallen, aber über eine nachgefragte Ausbildung verfügen, anhand des Punktesystems einwandern dürfen. Sie müssen jedoch ein konkretes Arbeitsplatzangebot in Großbritannien nachweisen können. Unternehmen, die über eine entsprechende Stelle verfügen, müssen zunächst prüfen, ob die Stelle mit einem einheimischen Arbeitsuchenden oder einem EU-Bürger besetzt werden kann. Ist dies nicht der Fall, können sie einem Drittstaatsangehörigen ein „Certificate of Sponsorship“ ausstellen. Dieser muss dann anhand des Punktesystems selbst evaluieren, ob er nach Großbritannien einwandern darf und kann dann gegebenenfalls eine Einreiseerlaubnis beantragen.506 Die Nachfrage britischer Unternehmen nach niedrig oder gar nicht qualifizierten Arbeitskräften soll nach dem Willen der Londoner Regierung vor allem mit Arbeitssuchenden aus EU-Ländern gesättigt werden. Die künftige Einwanderungsgesetzgebung sieht jedoch vor, dass notfalls auch anhand von Quoten auf eine zeitlich befristete Einwanderung niedrig oder unqualifizierter Arbeitssuchender aus Drittstaaten zurückgegriffen werden kann.507 Die britische Politik für Arbeitsmigration ist somit deutlich an ökonomischen Interessen orientiert, und das Land gibt sich offen für Einwanderer, von denen hoher Nutzen erwartet wird, aber geschlossen für Menschen, deren Verwertbarkeit fraglich erscheint. Im Regierungsdokument „Controlling our borders: Making migration work for Britain“ werden Einwanderer ohne Umschweife als ideal bezeichnet, wenn sie viel arbeiten, also maximalen ökonomischen Nutzen bringen, die Sozialsysteme des Landes so wenig wie möglich beanspruchen, und sich so gut wie möglich integrieren: „Long term settlement must be carefully controlled and provide long term economic benefit. Permanent migrants must be as economically active as possible; put as little burden on the state as possible; and be as socially integrated as possible.” 508
Die in „Controlling our borders: Making migration work for Britain“ festgehaltenen Leitsätze dienen der britischen Regierung auch als Richtschnur für ihre Haltung gegenüber eventuellen EU-Regelungen zur Migrationspolitik. Mögliche EUBeschlüsse werden im Vergleich zu den in dem Papier verankerten Leitsätzen beurVgl. The Secretary of State for the Home Department 2005, S. 16. Vgl. OECD 2007, S. 290. 507 Vgl. Ebenda. 508 The Secretary of State for the Home Department 2005, S. 21. 505 506
6.3 Interessen der Mitgliedstaaten
181
teilt und nur dann berücksichtigt, wenn Kompatibilität besteht. Insgesamt befürwortet Großbritannien eine EU-Migrationspolitik, die den einzelnen Mitgliedstaaten eine volle Flexibilität einräumt, Migration anhand ihrer jeweiligen nationalen Arbeitsmarktbedürfnisse zu gestalten. Ein sektoraler Ansatz „focusing on specific groups of migrants could allow for greater flexibility“509 wird gegenüber einem horizontalen, also der Schaffung gemeinsamer EU-Regeln für alle Migrationsarten und Kategorien von Migranten, eindeutig bevorzugt. Während der ehemalige Innenminister Charles Clarke mehrfach zu erkennen gegeben hat, dass Großbritannien sein „opt-out“ hinsichtlich einer gemeinsamen Migrationspolitik in der EU aufgeben könnte, hat sein Nachfolger John Reid in dieser Hinsicht eher wieder gebremst. Cruz hält dazu fest: „Britain sees many obstacles in articulating immigration policy at the EU level, not least because of fundamental historical, political and legal differences between the member states. Since Britain is outside the Schengen area, it is much easier for the UK to maintain its own immigration policy (...). However, the government holds the view that an EU-common wide asylum policy does make sense.“510
6.3.6
Griechenland
Im Lichte des „demographic ageing in Europe“ und den wirtschafts- und wettbewerbspolitischen Zielen von Lissabon beurteilt die Regierung Griechenlands die Frage der Arbeitsmigration als „enormously important“ und das Ziel, gemeinsame europäische Regelungen dafür zu schaffen, als positiv.511 Griechenland bevorzugt, wie in der Stellungnahme der griechischen Regierung zum Grünbuch der Kommission zum Ausdruck kommt, einen flexiblen, horizontalen Ansatz auf EU-Ebene, mit dem Mindestkriterien für die Einreise und den Aufenthalt von sowohl Arbeitssuchenden als auch Selbständigen festgelegt werden sollen, und den die einzelnen Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Strukturen ihrer nationalen Arbeitsmärkte und Volkswirtschaften ausgestalten können. Der allgemeine, horizontale Rechtsrahmen kann nach Meinung Griechenlands im weiteren Verlauf der gemeinsamen Migrationspolitik um spezielle Einwanderungsregeln für besondere Berufsgruppen erweitert werden. Aus griechischer Sicht müssen bei der Verabschiedung gemeinsamer Regeln jedoch einige Vorüberlegungen berücksichtigt werden. So müsse eine europäische Gesetzgebung zur Arbeitskräftemigration aus Drittstaaten von einer Politik zur Vgl. Britische Stellungnahme, S. 6. Cruz 2007, S. 185. 511 Die diesem Abschnitt zu Grunde liegenden Informationen und Zitate stammen aus der Stellungnahme Griechenlands mit dem Titel: Hellenic Republic, Ministry of Foreign Affairs, Comments of the Greek Delegation on the Green Paper on an EU approach to managing economic migration, o.O., o.J. 509 510
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6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
Verbesserung der Mobilität der EU-Bürger zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten flankiert werden, damit zunächst die Vorteile des gemeinsamen Binnenmarkts voll ausgeschöpft werden können. Außerdem wird es als wichtig beurteilt, die unterschiedlichen Niveaus der Arbeitslosigkeit in den EU-Staaten und unter bereits in der EU lebenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, bevor eine neue Politik zur Einwanderung von Drittstaatsangehörigen implementiert wird. Griechenland mahnt außerdem an, ökonomische und demografische Überlegungen im Vergleich zu möglichen politischen, sozialen und kulturellen Konsequenzen von Wirtschaftsmigration nicht überzubewerten. Die Regierung in Athen betont in dieser Hinsicht, dass Modelle zur Arbeitskräfteeinwanderung, die in anderen Industriestaaten, etwa in den USA oder Kanada, funktionierten, nicht automatisch auch für die EU anwendbar seien, wo zum Teil abweichende soziale und arbeitsbezogene Sichtweisen herrschten. Die Regierung in Athen spricht sich dafür als, an Präferenzregeln für EUStaatsbürger und bereits legal in der EU ansässige Staatsbürger dritter Länder festzuhalten, dabei aber den bürokratischen Aufwand so weit wie möglich zu begrenzen. Die Zulassung von Arbeitsmigranten sollte zudem generell an die Existenz spezifischer freier Stellen gekoppelt sein, wobei Ausnahmen von dieser Regel für bestimmte Berufsgruppen vorstellbar sind. So ist es für Griechenland denkbar, gemäß lokaler oder regionaler Arbeitsmarkterfordernisse oder einer speziellen Nachfrage nach Arbeitskräften seitens bestimmter Unternehmen abweichende Regelungen festzulegen. In diesem Aspekt ähnelt die griechische Position der italienischen. Außerdem erachtet es die Regierung als wünschenswert, hinsichtlich der Wirtschaftsmigration und der Gefahr des Braindrain mit Staaten, die hoch ausgebildete Arbeitskräfte an die EU „verlieren“, enger zu kooperieren. Unter anderem wird davon ausgegangen, dass Überweisungen von in der EU arbeitenden Migranten an ihre Familien im Herkunftsland eine wichtige Art der Kompensation – insbesondere für Entwicklungsländer – bedeuten können, und dass entsprechende Überweisungswege daher erleichtert und besser abgesichert werden müssten. Griechenland drängt jedoch nicht darauf, dass Wirtschaftsmigranten aus Drittstaaten, die in der EU Aufnahme finden, entsprechend einem Modell von „zirkulärer Migration“ nach einem bestimmten Zeitraum wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren müssen. Dass die griechische Regierung, wie erwähnt, vor politischen, sozialen und kulturellen Konsequenzen einer erleichterten Arbeitsmigration aus Drittstaaten in die EU warnt, ist vor dem Hintergrund der migrationspolitischen Situation des Landes verständlich. Griechenland hat zwar bereits im frühen 20. Jahrhundert und davor immer wieder phasenweise Einwanderer aufgenommen – sowohl in den Zwanzigerjahren, als auch nach dem Zweiten Weltkrieg und in den Sechzigern. In den Siebzigerjahren kamen auf Basis bilateraler Abkommen Immigranten aus arabischen Län-
6.3 Interessen der Mitgliedstaaten
183
dern nach Griechenland, und in den Achtzigern aus den Staaten des Ostblocks.512 Insgesamt gesehen war Griechenland jedoch eher ein Auswanderungsland, das signifikant zu den Strömen von Arbeitswanderung nach Mittel- und Nordeuropa, aber auch in die USA, nach Kanada und Australien beitrug. Kasimis und Kassimi zufolge nahm Deutschland zwischen 1955 und 1973 über 600.000 griechische Arbeitskräfte entgegen. In den darauf folgenden zehn Jahren kehrte rund die Hälfte der Griechen, die nach dem Zweiten Weltkrieg abgewandert waren, wieder nach Griechenland zurück.513 In den Neunzigerjahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben die Einwanderungsbewegungen abrupt und stark zugenommen. So kamen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks mehrere Hunderttausend Arbeitsmigranten aus dem benachbarten Albanien nach Griechenland. Schätzungen zufolge leben heute zwischen 700.000 und 800.000 Albaner in Griechenland.514 Entgegen dem Trend in anderen EU-Ländern nahm auch die Zuwanderung von Asylsuchenden und Flüchtlingen im Lauf der Neunzigerjahre und danach stark zu. Große Gruppen von Asylbewerbern waren 2005 Georgier (1.900 Asylanträge) und Pakistaner (1.150 Anträge). Insgesamt registrierte Griechenland 2004 rund 4.500 Asylanträge, 2005 rund 9.000 und 2006 über 12.000.515 Die Zahl der in Griechenland lebenden Ausländer insgesamt hat sich zwischen 1990 und 2005 vervierfacht. Der Ausländeranteil im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung ist in Griechenland mehr als doppelt so hoch wie in den anderen südeuropäischen EU-Ländern Spanien, Portugal und Italien.516 Die einheimische Debatte über Migration haben diese Entwicklung und der Eindruck, dass die Politik dem „Einwanderungsproblem“ hilflos gegenübersteht, negativ geprägt.517 In der Öffentlichkeit ist die Sichtweise, Griechenland könne keine weiteren Einwanderer aufnehmen, weit verbreitet.518 Aufgrund eines schwachen und instabilen Rechtsrahmens zum Umgang mit Flüchtlingen und Einwanderern ist Illegalität unter Migranten in Griechenland weit verbreitet. 519 Selten wurden ernsthafte Versuche unternommen, Migration zu steuern: „The Greek government has been unprepared to receive the large numbers of immigrants of the last decade, and has hesitated to introduce the necessary legal and institutional changes for the regularization and integration of this population.“520
Vgl. Avramopoulou et al. 2005, S. 1. Vgl. Kasimis/Kassimi 2004. 514 Vgl. Sundhausen 2007, S. 308. 515 Vgl. UNHCR 2007, S. 10. 516 Vgl. Baldwin-Edwards 2002, S. 29. 517 Vgl. Avrampopoulou et al. 2005, S. 2f. 518 Vgl. Frangakis 2007, S. 170. 519 Vgl. Avrampopoulou et al. 2005, S. 1. 520 Kasimis/Kassimi 2004. 512 513
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6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
Stattdessen wurde die Migrations- und Integrationspolitik pragmatisch und reaktiv an die tatsächlichen Einwanderungsbewegungen angepasst. Zwischen 1995 und 2005 wurden drei Regularisierungsinitiativen durchgeführt. Die letzte, 2005, richtete sich an zwei Gruppen von Migranten: Zum einen an so genannte „Overstayers“, zum anderen an illegale Einwanderer, die nie im Besitz eines Aufenthaltsrechts waren. Die zweite Gruppe musste, um Papiere zu bekommen, nachweisen, schon vor dem 1. Januar 2005 im Land gewesen und mindestens 150 Tage lang abhängig angestellt gewesen zu sein. 142.000 Menschen beantragten daraufhin Regularisierung. Weil dies deutlich weniger waren, als die Regierung erwartet hatte, wurden die Bedingungen Anfang 2007 auf pragmatische Weise gelockert. Antragstellern, denen es nicht möglich war, die erforderliche Anzahl von Tagen in abhängiger Beschäftigung nachzuweisen, wurde gestattet, einen Teil der Arbeitstage durch Bareinzahlungen in das Sozialversicherungssystem zu ersetzen. Für manche Berufe wurde auch die Anzahl der geforderten Arbeitstage herabgesetzt. Außerdem können sich seit 2007 auch Drittstaatsangehörige, die an griechischen Schulen oder Universitäten lernen oder studieren, für die Regularisierung qualifizieren.521 Avramopoulou et. alt. zufolge verfügt Griechenland seit 2001 über ein Gesetz, das Einwanderung aus Drittstaaten zu Arbeitszwecken regelt. Es sieht, ähnlich wie in Italien, unter anderem Einwanderungsquoten auf der Basis von Statistiken über freie Stellen vor. Aufgrund komplizierter bürokratischer Vorschriften wurde das Gesetz jedoch kaum angewandt. „Employers have not used legal channels of entry because they are too complex“.522 2004 wurde angekündigt, das zweistufige Antragsverfahren für potentielle Arbeitseinwanderer (Aufenthaltsrecht und Arbeitserlaubnis) ähnlich wie in Großbritannien zu einem einzigen Antragsverfahren zusammenzufassen, um die bürokratischen Prozesse zu beschleunigen und zu vereinfachen. Bisher verfügen die legalen und illegalen Einwanderer in Griechenland über ein geringes Qualifikationsniveau, und die bestehenden Gesetze nennen keine auf der Basis von gesellschaftlichen oder ökonomischen Nutzenerwägungen definierte Gruppen, die in der Einwanderungspolitik künftig bevorzugt behandelt werden sollten. In einem 2004 verabschiedeten „National Action Plan for Employment“ wird erwähnt, dass Einwanderer häufig in der Schattenwirtschaft arbeiten und daher in offiziellen Statistiken nicht ausreichend berücksichtigt sind. Überlegungen, ob temporäre oder permanente Arbeitsmigration auf der Basis bestimmter Qualifikationen eine aktuelle oder zukünftige Ressource für die griechische Wirtschaft sein könnte, finden sich in dem Papier nicht.523 Vor dem Hintergrund der Entwicklung bis 2005 gibt es inzwischen jedoch Anzeichen dafür, dass sich in Griechenland eine Debatte über verschiedene Formen der Einwanderung entwickelt, in der auch positive Sichtweisen auf Migration und Vgl. Avrampopoulou et al. 2005, S. 6-8; Kasimis/Kassimi 2004. Vgl. Avrampopoulou et al. 2005, S. 7. 523 Vgl. Avrampopoulou et al. 2005, S. 8. 521 522
6.3 Interessen der Mitgliedstaaten
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deren möglichen ökonomischen Nutzen erkennbar werden könnten. Kasimis und Kassimi geben zu bedenken, dass legale und illegale Migranten signifikant zum griechischen Wirtschaftswachstum beigetragen haben: “Immigrants have contributed significantly to the improved performance of the Greek economy over the past few years, and they have boosted Greece's successful participation in the EU's economic and monetary union. Their structural role in the workforce of the construction and agricultural sectors has been widely acknowledged.”524
Während Griechenland im Bereich der „illegalen“ Migration sowie in der Asyl- und Flüchtlingspolitik zunehmend restriktive Maßnahmen und Abschreckungsstrategien einführt hat, die von internationalen Beobachtern als menschenrechtswidrig gebrandmarkt wurden525 , gibt es andererseits also eine Tendenz hin zu mehr Rationalität in der Migrationsdebatte. Insofern, und vor dem Hintergrund der oft ineffektiv gebliebenen nationalen Gesetze zur Steuerung von Migration, ist auch die Sicht auf eine gemeinsame EU-Politik zum Umgang mit den verschiedenen Migrationsformen vergleichsweise positiv. 6.3.7
Weitere Staaten und Zusammenschau
Auch die Interessen der übrigen EU-Staaten ausführlich zu analysieren, würde zu Wiederholungen führen und wenig grundsätzlich Neues zu Tage fördern. Stattdessen soll nun ein zusammenfassender Überblick gegeben werden, in den die bereits analysierten Staaten ebenso wie noch nicht erwähnte einbezogen werden. Alle Stellungnahmen zum Grünbuch der Kommission betonen in unterschiedlich entschiedener Form und in verschiedenen Graden die Notwendigkeit, hinsichtlich der Arbeitsmigration an nationalstaatlichen Gestaltungsspielräumen festzuhalten. Es wird – so ergibt die Zusammenschau – eher eine Harmonisierung nationalstaatlicher Vorschriften angestrebt, als eine Vergemeinschaftung der Politik. Einige Länder lassen gegenüber möglichen EU-Regeln grundsätzliche Skepsis erkennen und betrachten gemeinsame Vorschriften zur Wirtschaftsmigration als nicht wünschenswert oder zumindest nicht als vorrangiges Ziel. Dazu gehören vor allem Polen, die Slowakei, Irland und Großbritannien, aber auch Frankreich. Während Großbritannien und Irland an bewährten nationalstaatlichen Praktiken festhalten wollen und EU-Regeln als eher störend empfänden, erkennen Polen und die Slowakei grundsätzlich (noch) keine Notwendigkeit für Arbeitsmigration aus Drittstaaten an und fordern die EU-Partner auf, zunächst die Mobilität innerhalb der EU zu verbessern und Übergangsregeln, mit denen Staatsbürger der „neuen“ EUKasimis/Kassimi 2004. Vgl. UNHCR 2008; PRO ASYL, Petition an den Deutschen Bundestag, Abschiebungen von Flüchtlingen nach Griechenland aussetzen, Frankfurt am Main, 21. Februar 2008. 524 525
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6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
Mitgliedstaaten von den Arbeitsmärkten der „alten“ Länder ausgeschlossen werden, abzuschaffen. Die französische Regierung weist darauf hin, dass die demografische Lage, die Situation auf dem Arbeitsmarkt und die schon vorhandenen, zum Teil historisch bedingten Einwanderungsströme in der EU von Land zu Land stark unterschiedlich seien. Aus diesem Grund beurteilt sie die Möglichkeit einer gemeinsamen Politik skeptisch und verweist auf die Vorzüge von so weit wie möglich dezentralisierten Einwanderungsverfahren.526 Eine Reihe weiterer Staaten beurteilt eine gemeinsame Beschäftigung mit Migrationsfragen auf EU-Ebene grundsätzlich positiv, unterstreicht jedoch die Notwendigkeit, die Handlungsfähigkeit und die Gestaltungsspielräume der einzelnen Mitgliedstaaten auf nationalstaatlicher Ebene nicht einzuschränken. Von einer Kooperation im EU-Rahmen werden lediglich gewisse Vorteile erwartet, etwa der Effekt, über gemeinsame Regelungen ausschließen zu können, dass unter den einzelnen EU-Staaten ein schädlicher Wettbewerb um die Anwerbung von Saisonarbeitskräften oder den am höchsten ausgebildeten Migranten entsteht. Zu dieser Gruppe gehören die meisten Mitgliedstaaten, etwa die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Belgien, Finnland, Litauen, Slowenien, Zypern, Dänemark und Schweden. Eine kleine Gruppe von Staaten, die europäische Regelungen sehr deutlich befürwortet, selbst wenn auch diese Gruppe nationalstaatliche Kompetenzen nicht vollständig aufgeben möchte, bilden Italien, Griechenland und Malta. Insgesamt ergibt sich aus dieser Konstellation, dass eine Mehrheit der EU-Staaten die Schaffung gemeinsamer Regelungen über Arbeitsmigration aus Drittstaaten vorsichtig als wünschenswert einschätzt, gleichzeitig aber darauf drängt, weiterhin auf nationaler Ebene bestimmen zu können, welche und wie viele Migranten einwandern dürfen. Unterschiedlich beantworten die Staaten auch die Frage, wie die gemeinsame Politik der EU ausgestaltet sein sollte. Die meisten bevorzugen einen „horizontalen“ Ansatz, erstreben also eine Art europäischen Rechtsrahmen mit Mindestvorschriften zur Arbeitsmigration, beispielsweise hinsichtlich eines EU-weit einheitlichen Aufenthaltsstatus oder über die Frage, inwiefern Arbeitsmigranten aus Drittstaaten das Recht haben sollten, innerhalb der Union weiterzuwandern und sich in anderen Mitgliedstaaten niederzulassen. „Horizontale“ Regelungen wären in allen Ländern (gegebenenfalls mit Ausnahme derer, für die in der gemeinsamen Migrationspolitik opt-outs bestehen) gültig und auf alle Gruppen von Arbeitskräften aus Drittstaaten flexibel anwendbar. Innerhalb dieses Rahmens und auf Basis der gemeinsamen Bestimmungen können die einzelnen Länder dann detaillierte nationale Vorschriften, etwa Punktesysteme oder Quotenregelungen, erlassen. Eine solche Herangehensweise befürworten explizit Belgien, Deutschland, Griechenland, Estland, Zypern, Finnland und Slowenien. Keine genaueren Angaben zur möglichen 526 Vgl. Contribution française au débat lancé par le Libre Vert de la Commission sur une approche communautaire de la gestion de la migration économique, o.O., 11. Oktober 2005, S. 2-5.
6.3 Interessen der Mitgliedstaaten
187
Herangehensweise machen Dänemark, Schweden, Irland und Italien. Einen sektoralen Ansatz, also statt eines globalen Rahmens EU-Regelungen zu bestimmten Einwanderergruppen, etwa Saisonarbeitern oder hochqualifizierten Akademikern, wünschen – wenn überhaupt europäische Regeln – Großbritannien, die Slowakei, Polen, Litauen, Malta und unter bestimmten Umständen auch Frankreich. Möglich ist – dies wird in den meisten Stellungnahmen jedoch nicht explizit genannt – dass sich einige Länder eine horizontale Rahmenvereinbarung mit zusätzlichen sektoralen Politiken für bestimmte Kategorien von Migranten vorstellen können. Allein Österreich spricht explizit von der Möglichkeit eines Mischsystems.527 Slowenien kann sich neben einem Rahmenabkommen ein „fast-track“-Verfahren für Einwanderergruppen vorstellen, deren Qualifikation in der EU ad hoc benötigt wird.528 Die Überlegung der EU-Kommission, nach der die Ermöglichung und Steuerung von Arbeitsmigration aus Drittstaaten aufgrund ökonomischer Interessen und hinsichtlich der Entwicklung der Arbeitsmärkte in der EU erforderlich ist, wird von fast allen Mitgliedstaaten geteilt. Oft geht dies zwar nur indirekt aus den Papieren der Regierungen hervor. Aus Informationen darüber, welchen Gruppen von Migranten aus Sicht der Mitgliedstaaten Zuzug gestattet werden sollte, kann jedoch gefolgert werden, dass ein wirtschaftliches Interesse an bestimmten Profilen besteht. Besonders deutlich zugunsten einer aktiven Politik für Arbeitsmigration äußern sich die Regierungen Großbritanniens und Irlands, wobei gerade diese beiden Länder gemeinsamen Regeln skeptisch gegenüberstehen. Beide Länder verfügen bereits im nationalen Rahmen über eine funktionierende Politik zur Anwerbung von benötigten Arbeitskräften und halten eine europäische Strategie nicht für zwingend erforderlich. Zu den wenigen Ländern, die ökonomische Interessen überhaupt nicht erkennen lassen, gehören Polen und die Slowakei, also zwei Staaten, die bisher eher Herkunftsländer von Arbeitsmigranten waren, als Anwerbestaaten, und die zum Zeitpunkt ihrer Stellungnahme zum Grünbuch vergleichsweise hohe Arbeitslosigkeitsraten aufweisen. Ende 2006 hatten diese beiden Länder die zwei höchsten Arbeitslosenquoten in der EU.529 Der demografische Aspekt von Migration wird in einem Großteil der Stellungnahmen zwar nachvollzogen oder wenigstens angesprochen, jedoch schränken die meisten Staaten ein, demografische Interessen dürften nur dann gelten, wenn die Lage auf dem Arbeitsmarkt Zuwanderung erlaube. Dazu gehören Deutschland, Österreich, Belgien und Dänemark. Das Argument der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments, das – vereinfacht wiedergegeben – darin besteht, Einwanderung habe unter anderem den Zweck, die Alterung der Gesellschaft aufzuhal527 Stellungnahme der Republik Österreich zum Grünbuch der Kommission über ein EU-Konzept zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration, o.O., o.J., S. 5. 528 Stellungnahme Sloweniens (ohne Titel), S. 5. 529 Vgl. Eurostat, Dezember 2006, Arbeitslosenquote der Eurozone auf 7,5 Prozent gesunken, EuroIndikatoren Pressemitteilung, Nr. 15/2007, 31. Januar 2007.
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6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
ten oder zu bremsen, wird von diesen Staaten nicht geteilt. Ihre Position lässt sich so deuten, dass die Integrations- und Arbeitsmarktproblematik dort mindestens ebenso großes Gewicht hat, wie das Problem der Überalterung. Aus einigen Stellungnahmen (beispielsweise Irland, Finnland, Slowenien, Litauen) sind gar keine Aussagen zu möglichen demografischen Interessen zu entnehmen. Frankreich weist darauf hin, dass es im europäischen Vergleich über eine hohe Geburtenrate verfüge, und dass die positive französische Bevölkerungsentwicklung nur zu einem sehr geringen Teil von Einwanderung abhänge. Demografische Interessen spielen für die französische Regierung hinsichtlich der Steuerung von Migration insofern allenfalls eine untergeordnete Rolle. Die französische Stellungnahme betont hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung in anderen europäischen Ländern die Notwendigkeit familien- und kinderfreundlicher Politiken.530 Einige Papiere der nationalen Regierungen enthalten Informationen zu bestimmten Gruppen von Migranten, denen Einwanderung ermöglicht werden sollte. Für die meisten Staaten, etwa Deutschland, Österreich, Großbritannien, Frankreich, Estland, Malta oder die Slowakei, sind dies „highly skilled migrants“ bzw. „cadres dirigeants et de haut niveau“, also hochqualifizierte Arbeitnehmer, die mit ihrem spezifischen Ausbildungs- und Erfahrungsschatz auf den jeweiligen Arbeitsmärkten benötigt werden, beispielsweise Computerfachleute, Ärzte, Forscher, Wissenschaftler, Lehrer oder Mitglieder der „business community“, also Unternehmer oder Manager. Andere Staaten, wenn auch nur eine Minderheit, erstreben stattdessen Regelungen für geringer qualifizierte Arbeitskräfte aus Drittstaaten, etwa für Saisonarbeitskräfte für die Landwirtschaft (Österreich, Litauen, Slowenien) oder Angestellte in Privathaushalten (Italien).531 Diese meisten Stellungnahmen beinhalten keine genauen Informationen darüber, auf welche Gruppen von Migranten sich europäische Regelungen konzentrieren sollten. Manche können sich Regelungen zu sowohl hoch- als auch niedrig qualifizierten Drittstaatsangehörigen vorstellen. Betrachtet man diese Interessenkonstellation nun vor dem Hintergrund der im Theorieteil beschriebenen genannten Bedingungen, die gegeben sein sollten, wenn eine Gruppe ihre Interessen wirksam durchzusetzen will, so sind – nimmt man die offiziellen Reaktionen auf das Grünbuch zur Grundlage – in der Gruppe der Nationalstaaten weder das Gebot der Übereinstimmung oder Harmonie der Interessen gegeben, noch das der Dringlichkeit, noch das der klaren Überschaubarkeit und Abgrenzung der Interessenlage.532 Vielmehr erscheinen die Mitgliedstaaten gegenüber den Diskussionsvorschlägen der Kommission und den vergleichsweise progressiven Vorschlägen des Parlaments, das eine umfassende Europäisierung der Migrationspolitik anstrebt, vorsichtig und zurückhaltend. Einige teilen noch nicht Vgl. Stellungnahme Frankreichs, S. 4f. Zu den unterschiedlichen Präferenzen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der jeweils benötigten Arbeitsmigranten siehe Carrera 2007, S. 14. 532 Vgl. Kohler-Koch 1996, S. 194. 530 531
6.4 Die weitere Entwicklung der Interessen der Kommission
189
einmal die Forderung einer Mehrheit, auch nur mit einem schwachen Grad der Harmonisierung der Migrationspolitik voranzuschreiten. Dringlichkeit ist aus keiner Stellungnahme direkt zu entnehmen. Zudem weichen die einzelnen Staaten auch hinsichtlich der Zielgruppen voneinander ab. Eine Mehrheit setzt vor allem auf hochqualifizierte, manche aber zeigen eher Interesse an niedriger qualifizierten Arbeitnehmern und Saisonarbeitern. Die Reaktionen auf das Grünbuch führen damit eindrücklich vor Augen, wie die Mitgliedstaaten aufgrund unterschiedlicher Migrationserfahrungen und unterschiedlicher nationaler Strategien zur Steuerung von Migration divergierende Interessen artikulieren. Die Möglichkeit einer Harmonisierung oder Vergemeinschaftung der nationalen Politiken zur Steuerung der Arbeitsmigration wäre demnach skeptisch zu beurteilen. Auffällig ist jedoch, dass in den meisten Papieren der Mitgliedstaaten ökonomische Interessen deutlich hervortreten und in dem ansonsten heterogenen Interessenspektrum im Bereich der Arbeitsmigration eine gemeinsame Tendenz darstellen. Diese Tendenz besteht darin, potentielle Migranten anhand wirtschaftlicher Gegebenheiten als nützlich bzw. weniger nützlich einzuordnen, wobei die Nützlichen den ökonomischen Interessen des jeweiligen Staats dienen sollen und die Aufgabe bekommen sollen, Arbeitsmarktengpässe zu beheben.533 Interessen hinsichtlich Gleichstellung, Nichtdiskriminierung und Integration, eine Sicht auf Einwanderer als Träger von Rechten, die Braindrain-Problematik oder die Frage, ob es Zusammenhänge zwischen erwünschter Arbeitsmigration einerseits und „illegalen“ Wanderungsbewegungen oder dem Zuzug von Flüchtlingen und Asylsuchenden andererseits geben kann, werden von den Staaten zum Teil zwar angesprochen, haben gegenüber den ökonomischen Interessen aber keine Priorität. 6.4 Die weitere Entwicklung der Interessen der Kommission Noch während die Kommission die Regierungen der Mitgliedstaaten und andere interessierte Parteien zu den Vorschlägen des Grünbuchs über Wirtschaftsmigration konsultierte und deren Stellungnahmen auswertete, wurden Diskussionen über die Weiterentwicklung und künftige Ausgestaltung der Migrationspolitik der EU – nicht nur hinsichtlich der Wirtschafts- bzw. Arbeitsmigration – fortgesetzt. Nach einem informellen Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs im Oktober 2005 unter britischer Ratspräsidentschaft legte die Kommission Ende November 2005 eine 533 Carrera stellt fest, dass ökonomische Nützlichkeitsinteressen auch die Politik für Arbeitsmigration innerhalb von EU-Staaten prägen. „Among the shared tendencies, we can see the influence and expansion of a utilitarian, selective and economically–oriented approach. This tendency is mainly characterised by a profit-oriented doctrine of selection, which favours the economic interests of the state and provides special employment schemes with a facilitated administrative system for entry and residence only fort he kind of labour force categorised as ‚highly skilled’ ‚profitable’ or ‚talented’. Carrera 2007, S. 2.
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6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament vor, in der sie schreibt, sich verpflichtet zu haben, „sich mit allen Aspekten der Migration zu befassen.“534 Sie betont die Notwendigkeit eines „kohärenten, globalen und ausgewogenen“ Ansatzes zur Steuerung von Migrationsbewegungen. Eckpunkte dieses Ansatzes sind eine Verstärkung der „operativen Zusammenarbeit“ zwischen den Mitgliedstaaten der EU sowie der Kooperation mit den Herkunftsländern von Migranten (insbesondere Ländern in Afrika, im Mittelmeerraum und Nachbarländern der EU) mit dem Ziel, die Ursachen „unfreiwilliger Migration“, also von Flüchtlingsbewegungen, zu bekämpfen, „illegale“ Einwanderung zu stoppen, sowie Migration insgesamt besser zu steuern. Die Kommission geht dabei von der Prämisse aus, dass Migration, wenn sie „gut gesteuert“ wird, „sowohl für die EU als auch für die Herkunftsländer von Nutzen sein“ kann.535 Die Steuerung von Migrationsströmen soll zum einen über restriktive Maßnahmen erfolgen (genannt werden etwa eine intensivere Überwachung des Mittelmeers, Rückübernahmeverpflichtungen für Herkunfts- und Transitländer und der Einsatz von „Krisenreaktionsteams“, die den Mitgliedstaaten in Fällen eines Massenzustroms von Migranten „technische und operative Unterstützung auf dem Gebiet der Grenzkontrolle gewähren können“536 ), zum anderen aber auch mit Hilfe stimulierender Maßnahmen. Dazu zählt etwa eine „Prüfung der Optionen für eine befristete oder zirkuläre Migration“, die Bereitstellung von Informationen über die „Möglichkeiten und Verfahren der legalen Migration in die Mitgliedstaaten (...) und etwaige Methoden zur Sensibilisierung der Herkunftsländer für diese Möglichkeiten und Verfahren“, oder auch die Ausarbeitung von Projekten, durch die eine „dauerhafte oder befristete legale Migration von Studenten, Forschern und Arbeitern gefördert werden kann“. Kern der Mitteilung der Kommission ist also erneut das Interesse, Migrationsbewegungen lenken und kontrollieren zu können. Während „illegale“, also unerwünschte Migration bekämpft werden soll, nicht nur über restriktive Maßnahmen, sondern auch über eine Hinwendung zu den nicht näher beschriebenen Ursachen „unfreiwilliger Migration“, sollen Möglichkeiten legaler Wanderung geschaffen werden, die sowohl den EU-Staaten, als auch den Herkunftsländern von Migranten Vorteile bringen sollen. Vorteile für die entsendenden Länder sieht die Kommission unter anderem darin, dass Migranten, die in der EU leben und arbeiten, Geld an Angehörige in den Herkunftsländern überweisen. Für die EU dagegen könne eine gute gesteuerte Migration folgenden Nutzen haben: „Die Einwanderung sollte als Quelle kultureller und sozialer Bereicherung anerkannt werden, da sie insbesondere zu Unternehmertum, Vielfalt und Innovation beiträgt; allerdings sind auch ihre KOM(2005) 621 endgültig, S. 2. KOM(2005) 621 endgültig, S. 3. 536 KOM(2005) 621 endgültig, S. 5f. 534 535
6.5 Die weitere Entwicklung der Interessen im Rat
191
wirtschaftlichen Auswirkungen auf Beschäftigung und Wachstum von Bedeutung, denn sie vergrößert das Arbeitskräfteangebot und hilft bei der Beseitigung von Engpässen. Überdies wirkt sich die Einwanderung in der Regel insgesamt positiv auf die Nachfrage nach Waren und somit auch auf die Arbeitskräftenachfrage aus.“537
Die Kommission nennt hier also ökonomische und arbeitsmarktpolitische Argumente für die Schaffung von Möglichkeiten legaler Einwanderung in die EU. Daneben werden auch kulturelle und soziale Aspekte genannt, sowie Vielfalt und Innovation, was jedoch nicht weiter konkretisiert wird. Deutlich wird in diesem Dokument eine Hinwendung der Kommission zu Migration als ein auch für die Entwicklung in den Herkunftsländern positives Phänomen. 6.5 Die weitere Entwicklung der Interessen im Rat Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten befassten sich im Dezember 2005 bei einem Gipfeltreffen in Brüssel mit Migrationsfragen, vor allem hinsichtlich neuer Initiativen zur Bekämpfung illegaler Einwanderung, einer zu intensivierenden Partnerschaft mit Drittländern (vor allem in Afrika und im Mittelmeerraum) und legaler Migration. In einem Abschnitt mit dem Titel „Gesamtansatz zur Migrationsfrage“ betonen die Staats- und Regierungschefs in den Schlussfolgerungen des Gipfeltreffens mit ähnlichem Vokabular wie in dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen Kommissionspapier „die Notwendigkeit, einen ausgewogenen und kohärenten Gesamtansatz zu verfolgen, der Maßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung umfasst und in Zusammenarbeit mit den Drittländern die Vorteile der legalen Migration nutzbar macht.“538 In einem Anhang zu den Schlussfolgerungen legt der Rat die Ziele für die europäische Migrationspolitik wie folgt dar: „Der Europäische Rat stimmt darin überein, dass kurzfristig dringend weit reichende konkrete Maßnahmen getroffen werden müssen, die Bestandteil der aktuellen Bemühungen sind, dafür zu sorgen, dass Migration allen betroffenen Ländern zum Vorteil gereicht. Es muss etwas unternommen werden, um die illegalen Migrationsströme und die Zahl der Todesfälle zu verringern, die sichere Rückkehr illegaler Einwanderer zu gewährleisten, bessere dauerhafte Lösungen für Flüchtlinge zu finden und Kapazitäten für eine bessere Steuerung der Migration – auch durch Maximierung der Vorteile der legalen Migration für alle Partner – aufzubauen, wobei die Menschenrechte und das individuelle Recht auf Asyl uneingeschränkt zu wahren sind.“539
KOM(2005) 621 endgültig, S. 2. Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 15. und 16. Dezember 2005, S. 2. 539 Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 15. und 16. Dezember 2005, S. 9. 537 538
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6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
Die Mitgliedstaaten deuten hier die Möglichkeit für die EU an, Wege legaler Einwanderung zu öffnen, wovon sowohl die Ziel- als auch die Herkunftsländer profitieren sollen. Die den Schlussfolgerungen der Staats- und Regierungschefs zu Grunde liegenden Interessen werden nicht ausdrücklich erwähnt. Es lässt sich jedoch feststellen, dass die Deklaration der Staats- und Regierungschefs mit ihrer eindeutigen Forderung, die „Vorteile der legalen Migration“ zu nutzen und die Zahl der Todesfälle aufgrund „illegaler“ Einwanderung zu verringern, von den in den Vorjahren im Ministerrat erkennbaren Interessen abweicht. Diesen Formulierungen scheint nun die Einsicht zu Grunde zu liegen, dass die Migrationssituation im Mittelmeerraum, wo beinahe täglich Migranten bei der „illegalen“ Überfahrt von Nordafrika nach Italien, Spanien oder Griechenland ums Leben kommen, von den Staats- und Regierungschefs als inakzeptabel betrachtet wird.540 Was die „illegale“ Einwanderung angeht, fordern die Staats- und Regierungschefs die Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (FRONTEX) dazu auf, „Grenzschutzmaßnahmen im Mittelmeerraum durchzuführen“, einen „Risikoanalysebericht über Afrika vorzulegen“ und eine Machbarkeitsstudie über eine „intensivere Überwachung der südlichen Seegrenzen der EU“ sowie ein „Küstenpatrouillennetz“ auf den Weg zu bringen. Zudem sollen regionale Netze von „Verbindungsbeamten für Einwanderungsfragen“ unter Beteiligung von Drittstaaten aufgebaut werden, und es sollen „Krisenreaktionsteams aus nationalen Experten“ gebildet werden, die „bei einem Massenzustrom von Migranten unverzüglich technische und operative Unterstützung gewähren“ können.541 Der Europäische Rat bekundet hier ein eindeutiges Interesse an einer fortschreitenden und intensivierten Bekämpfung unerwünschter Migrationsströme. Fraglich ist indes, ob mit den vorgeschlagenen Maßnahmen das von den Staats- und Regierungschefs erkannte Problem der Todesfälle an den EU-Außengrenzen gelöst werden kann. Spijkerboer hat in einer Studie über die „menschlichen Kosten“ der EUGrenzsicherungspolitik festgestellt, dass die bisher in der EU umgesetzten Kontrollmechanismen die Zahl der Opfer erhöht und nicht gesenkt haben: „There are strong reasons to believe that increased controls have led to the loss of more lives, and given this, it is foreseeable that further tightening of the external borders, as envisaged by the Member States and the EU, will intensify this trend.“542
540 Über die Zahl der Todesfälle bei Versuchen, illegal in die EU einzureisen, liegen höchst unterschiedliche und widersprüchliche Statistiken vor. Der niederländischen Nichtregierungsorganisation United zufolge gab es zwischen 1993 und Mai 2006 über 7.000 „documented deaths“ an den Außengrenzen der EU, wobei die höchste Zahl 2003 gemessen wurde. Vgl. zu dieser und weiteren Statistiken sowie methodischen Schwierigkeiten bei der Ermittlung zuverlässiger Daten Spijkerboer 2007, S. 134-136. Siehe auch Eigmüller 2007, S. 163. 541 Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 15. und 16. Dezember 2005, S. 10. 542 Spijkerboer 2007, S. 127.
6.5 Die weitere Entwicklung der Interessen im Rat
193
Über die Beschlüsse des zitierten Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs hält Spijkerboer deshalb fest: „The policy outlines do not address how they will protect migrants from the risks that they face.“543 In einem Abschnitt über „Dialog und Zusammenarbeit mit Afrika“ fordern die Staats- und Regierungschefs auch, mit „wichtigen afrikanischen Staaten südlich der Sahara“ einen Dialog über eine „breite Palette von Themen“, darunter den „Aufbau von Institutionen und Kapazitäten sowie der wirksamen Eingliederung von legalen Migranten bis hin zu Rückkehrmaßnahmen“ zu vertiefen. In Tansania soll ein erstes „regionales Schutzprogramm“ ausgearbeitet und durchgeführt werden. Darunter ist ein EU-Projekt zum Schutz von Flüchtlingen vor Ort in Ostafrika zu verstehen, dessen Details zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit noch nicht näher bekannt sind. Außerdem sollen in afrikanischen Ländern Informationskampagnen für potentielle Migranten durchgeführt werden, „um die mit der illegalen Migration verbundenen Risiken hervorzuheben und mögliche legale Wege der Migration bewusst zu machen.“ Mit diesem letzten Punkt nehmen die Staats- und Regierungschefs indirekt Bezug darauf, dass die EU dabei ist, eine gemeinsame Politik für Arbeitsmigration zu entwickeln, in Folge derer auch Arbeitssuchende aus Afrika in die EU-Mitgliedstaaten einwandern könnten. Darauf wird – wenn auch nicht ausdrücklich – auch verwiesen, wenn der Europäische Rat fordert, Möglichkeiten zu sondieren, „die Auswirkungen von Kompetenzverlusten in sensiblen Sektoren abzuschwächen.“ Hier wird das Problem des Braindrain angesprochen. In Bezug auf die Nachbarländer der EU im Mittelmeerraum erklärt der Europäische Rat, dass die Frage untersucht werden soll, wie „Informationen über legale Migration und Arbeitsmarktchancen am besten ausgetauscht werden können“.544 Insgesamt ergibt sich bei der Analyse der Tagung des Rates vom Dezember 2005 das Bild, dass Arbeitsmigration aus Drittstaaten im Vergleich zu Verlautbarungen in früheren Jahren ein wesentlich wichtigeres Thema geworden ist. Abwehrinteressen treten in den Schlussfolgerungen über „illegale“ Einwanderung und in den Formulierungen über den Dialog mit afrikanischen Ländern weiterhin sehr deutlich zu Tage, werden jedoch um andere Interessen („Vorteile der legalen Migration“) ergänzt. Dass die Braindrain-Problematik angesprochen wird, lässt erkennen, dass die Staats- und Regierungschefs Migration auch als eine Frage der Entwicklungspolitik und der Nord-Süd-Beziehungen verstehen wollen. Indes ist auch sichtbar, dass die geforderten Maßnahmen hinsichtlich einer weiteren Intensivierung der Migrationskontrolle, der Abwehr unerwünschter Migrationsströme und einer Verstärkung des Grenzschutzes wesentlich konkreter und greifbarer sind, als die Vorschläge hinsichtlich einer Förderung der Arbeitsmigration zur „Maximierung der
543 544
Spijkerboer 2007, S. 132. Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 15. und 16. Dezember 2005, S. 11f.
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6 Das Grünbuch zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration
Vorteile der legalen Migration für alle Partner“ und hinsichtlich der BraindrainProblematik.
7 Arbeitsmigration, Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration
7.1 Der „Strategische Plan für legale Zuwanderung“ Aufbauend auf das „Grünbuch“ vom Januar 2005, die Stellungnahmen der Mitgliedstaaten dazu und den Auftrag der Staats- und Regierungschefs vom gleichen Jahr, einen „Gesamtansatz zur Migrationsfrage“ zu entwickeln, legte die Kommission im Dezember 2005 einen „Strategischen Plan zur legalen Zuwanderung“ vor. Er beschreibt in Form eines „Fahrplans“ künftige Initiativen der EU hinsichtlich gemeinsamer Regeln für Arbeitsmigration.545 Die Kommission stellt darin zunächst fest, dass aus den Stellungnahmen der Mitgliedstaaten zum Grünbuch vom Januar 2005 hervorgehe, dass „eine gemeinsame EU-Strategie für die Wirtschaftsmigration generell befürwortet wird, wenn auch die Auffassungen hinsichtlich der zu verfolgenden Ansätze und der erwarteten Endergebnisse weit auseinander gehen.“546 Diese Analyse der Kommission stimmt weitgehend mit dem Befund in Kapitel 6 dieser Arbeit überein, obwohl Zweifel daran geboten sind, dass eine gemeinsame Strategie tatsächlich von allen Mitgliedstaaten gewollt wird. Einmal mehr unterstreicht die Kommission aber ihr Interesse, Zuwanderung in die EU angesichts der in den letzten Jahren angewachsenen internationalen Migrationsströme und eines erwarteten weiteren Anstiegs effizient zu verwalten. Den Bedarf für gemeinsame EU-Regeln begründet sie damit, dass die Mitgliedstaaten zwar auch in Zukunft eigenständig darüber entscheiden sollen, wie viele Arbeitsmigranten aus Nicht-EU-Staaten sie aufnehmen wollen, dass nationale Entscheidungen darüber aufgrund der Freizügigkeit innerhalb der EU aber stets auch andere Mitgliedstaaten und deren Arbeitsmärkte beträfen.547 In einer Ergänzung zum „Strategischen Plan“ führt die Kommission zur genaueren Erklärung dieses funktionalistischen Arguments aus, dass eine besonders restriktive Migrationspolitik in einem Mitgliedstaat dazu führen könne, dass Migrationsbewegungen in einen KOM(2005) 669 endgültig. KOM(2005) 669 endgültig, S. 3. 547 Dieses Argument der Kommission verweist auf mögliche funktionale Zusammenhänge: Der Bedarf nach einer gemeinsamen Migrationspolitik kann als ein Spill-over-Effekt der schon vor Jahren gewonnenen Freizügigkeit im EU-Binnenmarkt betrachtet werden. Nicht nur per se, sondern auch aufgrund einer bereits existierenden Zusammenarbeit, werden gemeinsame Regeln zur Arbeitsmigration also für notwendig erachtet. 545 546
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7 Arbeitsmigration, Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration
anderen, weniger restriktiven, Mitgliedstaat „umgeleitet“ werden.548 Auch könnte eine Regularisierungsmaßnahme in einem Staat Migranten anziehen, die dann in ein anderes EU-Land weiterwandern. Außerdem gibt die Kommission zu bedenken, dass in der EU bereits eine Richtlinie in Kraft ist, die beinhaltet, dass ein Drittstaatsangehöriger, der in einem Staat den Status eines „langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen“ bekommen hat, nach EU-Recht die Möglichkeit hat, legal in einen anderen Mitgliedstaat weiterzuwandern und dort das gleiche Aufenthaltsrecht zu bekommen.549 In Bezug auf die Zulassung von Arbeitsmigration in der Zukunft empfiehlt die Kommission, am Prinzip des Vorrangs für EU-Bürger bei der Vergabe freier Stellen festzuhalten. Zudem greift sie in ihrem „Strategischen Plan“ zahlreiche von den Mitgliedstaaten in deren Reaktionen zum Grünbuch festgehaltene Überlegungen und Interessen auf. So fordert sie, bei der gemeinsamen Migrationspolitik „geschlechterspezifische Fragen“ und den „Schutz von Gruppen in besonders schwierigen Situationen“ zu berücksichtigen. Darauf waren während des Konsultationsverfahrens zum Grünbuch insbesondere die schwedische Regierung und das Europäische Parlament eingegangen. Außerdem stellt die Kommission fest, bei der Zulassung von Arbeitsmigration müsse auch an die Integration der Migranten gedacht werden. Zudem müssten künftige Regelungen einhergehen mit Maßnahmen zur Bekämpfung der „illegalen“ Einwanderung, der Schwarzarbeit und des Menschenhandels.550 Neben ihrem Interesse, eine umfassende Migrationspolitik in der EU zu schaffen und dabei unerwünschte Begleiterscheinungen von Migrationsströmen (etwa Menschenhandel, Schwarzarbeit, Integrationsdefizite, Ausbeutung) zurückzudrängen, nimmt die Kommission wie schon in früheren Papieren zum Thema vor allem Bezug auf wirtschaftliche und demografische Entwicklungen. Ingesamt erkennt die Kommission auf den Arbeitsmärkten der Mitgliedstaaten ein „Bedarfsszenario“, also Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitskräften aus dem Ausland: „In einigen Mitgliedstaaten besteht in bestimmten Wirtschaftssektoren bereits ein erhebliches Defizit an Arbeitskräften und Fertigkeiten, das von den nationalen Arbeitsmärkten nicht ausgeglichen werden kann. Dieses Phänomen betrifft die gesamte Bandbreite der Qualifikationen – vom ungelernten Arbeiter bis hin zur akademischen Spitzenkraft.“551
548 Dass dieses Argument glaubhaft ist, belegt das Beispiel, dass sich in Südschweden viele dänische Staatsbürger niedergelassen haben, die in ihrem eigenen Land aufgrund restriktiver Regeln über Familiennachzug nicht die Möglichkeit haben, ausländische Ehepartner zu sich nachziehen zu lassen und zu heiraten; vgl. Parusel, Nachbarschaftsstreit am Öresund, Dänische Rechte attackieren Schweden, in: Neues Deutschland, 31. Januar 2007. 549 Vgl. SEC(2005) 1680. 550 KOM(2005) 669 endgültig, S. 4. 551 Ebenda.
7.1 Der „Strategische Plan für legale Zuwanderung“
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Darüber hinaus erklärt die Kommission mit Hinweis auf eine Studie, dass die Bevölkerungszahlen in der EU nur noch dank Nettomigration zunähmen, und dass dies bis 2025 weiter der Fall sein dürfte. Für die Zeit danach wird prognostiziert, dass die Zahl der Todesfälle auch durch Einwanderung nicht mehr ausgeglichen werden kann. Durch die Alterung der Gesellschaften in Europa werde die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter von 2011 an zurückgehen, und die Erwerbstätigkeitsquote werde von 67,2 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2004 auf 56,7 Prozent im Jahr 2050 fallen. Einige Mitgliedstaaten, beispielsweise Deutschland, Ungarn, Italien und Lettland, verzeichneten schon heute einen Rückgang der Erwerbsbevölkerung, so die Kommission. In anderen Ländern, beispielsweise Irland, sei dies erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erwarten. Vor diesem Hintergrund erklärt die Kommission: „Zuwanderung allein bietet keine langfristige Lösung für das Problem sinkender Geburtenraten und einer alternden Bevölkerung, ist jedoch ein verfügbares Instrument im Rahmen einer breit gefächerten politischen Antwort. Angesichts der geringen Beschäftigungsquote und der hohen Arbeitslosenquote in vielen EU-Ländern müssen im Hinblick auf die Verwirklichung der Ziele der Neuen Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung, insbesondere der beschäftigungspolitischen Leitlinien, Maßnahmen Vorrang haben, die mehr EU-Bürger und rechtmäßig aufhältige Migranten in Arbeit bringen. Kurz- bzw. mittelfristig kann die Zuwanderung von Arbeitskräften – im Rahmen des umfassenden Maßnahmenpakets der Lissabon-Strategie zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der EU-Wirtschaft – positiv dazu beitragen, den Folgen dieser demografischen Entwicklung entgegenzuwirken, und wird von elementarer Bedeutung für die Deckung des gegenwärtigen und künftigen Arbeitsmarktbedarfs sein und daher wirtschaftliche Nachhaltigkeit und Wirtschaftswachstum gewährleisten.“552
In diesem Abschnitt macht die Kommission also erneut demografische, wettbewerbspolitische und ökonomische Überlegungen gegründete Interessen an einer gemeinsamen Politik zur Arbeitsmigration deutlich. Der demografische Ansatzpunkt wird präzisiert, ist jedoch vorsichtiger formuliert, als in früheren Stellungnahmen, was unter anderem auf die Kritik der Bundesrepublik Deutschland, Frankreichs und einer Reihe weiterer Mitgliedstaaten zurückgeführt werden kann. Sie hatten in ihren Stellungnahmen zum Grünbuch betont, dass mit der demografischen Entwicklung allein keine Notwendigkeit für Einwanderung begründet werden könne, sondern dass vielmehr die Lage auf dem Arbeitsmarkt das entscheidende Kriterium für oder gegen die Zulassung von Arbeitsmigration aus Nicht-EUStaaten darstelle.553 Die französische Regierung hatte geschrieben, dass Einwanderung nur eine geringe Bedeutung für die Bevölkerungsentwicklung in Frankreich habe, da das Land über eine vergleichsweise hohe Geburtenrate verfüge.554 KOM(2005) 669 endgültig, S. 5 Vgl. Bundesregierung, Stellungnahme der Bundesregierung zum Grünbuch über ein EU-Konzept zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration, S. 3. 554 Vgl. Stellungnahme Frankreichs zum Grünbuch, S. 4f. 552 553
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7 Arbeitsmigration, Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration
Aus den Stellungnahmen der Mitgliedstaaten und anderer Akteure zum Grünbuch leitet die Kommission schließlich den konkreten Auftrag ab, eine Reihe legislativer Maßnahmen zur Arbeitsmigration auszuarbeiten. Zunächst wird jedoch festgehalten, dass das öffentliche Konsultationsverfahren zu den Vorschlägen im Grünbuch erbracht habe, dass eine „horizontale“ Herangehensweise, also die Schaffung von gemeinsamen EU-Vorschriften über die Einwanderung von Arbeitskräften aller beruflicher Profile und aller Qualifikationsniveaus, zwar sinnvoll sei, dass die Mitgliedstaaten eine solche Herangehensweise jedoch nicht in ausreichendem Maße unterstützt hätten. Stattdessen sei in den Konsultationen die Notwendigkeit eines flexiblen Rahmens ausgedrückt worden, der den unterschiedlichen Bedürfnissen der jeweiligen nationalen Arbeitsmärkte Rechnung tragen solle. Vor diesem Hintergrund schlägt die Kommission nun vor, ein Mischsystem aus einer horizontalen (generellen) und vier sektorspezifischen (auf bestimmte Gruppen von Einwanderern zugeschnittene) Richtlinien für die Arbeitsmigration aus Drittstaaten zu schaffen: „Mit diesem Maßnahmenpaket sollen unbürokratische und flexible Instrumente entwickelt werden, die einerseits allen Arbeitsmigranten faire, auf bestimmten Rechten basierende Möglichkeiten bieten und andererseits attraktive Bedingungen für spezifische Gruppen von Zuwanderern, die in der EU benötigt werden, festlegen.“555
Die „horizontale“ Richtlinie soll nicht regeln, unter welchen Bedingungen und in welchem quantitativen Umfang die EU-Staaten Arbeitskräfte aus Drittstaaten anwerben können, sondern sich auf Vorschriften darüber beschränken, welche Rechte angeworbene Drittstaatsangehörige haben, wenn sie von einem Mitgliedstaat als Arbeitsmigranten zugelassen wurden und bereits in die EU eingereist sind. Worin diese Rechte genau bestehen sollen, lässt die Kommission im „Strategischen Plan“ zunächst noch offen. Denkbar wären vor dem Hintergrund der 2003 vereinbarten Richtlinie über „langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige“ unter anderem Bestimmungen darüber, dass Arbeitsmigranten nach ihrer Einreise und Niederlassung in einem EU-Staat nach Ablauf einer bestimmten Frist auch das Recht bekommen, ihren Wohnsitz ohne besondere Erlaubnis in ein anderes EU-Land zu verlegen.556 Daneben könnten auch Regeln über die Anerkennung von in Drittstaaten erworbenen Qualifikationen und Abschlüssen Teil der Richtlinie sein, so die Kommission. Damit soll vermieden werden, dass Arbeitsmigranten Tätigkeiten ausüben, für die sie überqualifiziert sind: „In diesem Zusammenhang sollte auch die Frage der Anerkennung von Diplomen und sonstigen Qualifikationen behandelt werden, damit verhindert wird, dass Zuwanderer eine Tätigkeit ausüben, 555 556
KOM(2005) 669 endgültig, S. 5. Vgl. Richtlinie 2003/109/EG des Rates.
7.1 Der „Strategische Plan für legale Zuwanderung“
199
für die sie überqualifiziert sind, was sich hinsichtlich des Einkommens und der Anerkennung der Befähigungen sowohl für die Zuwanderer selbst, als auch für die Wohnsitz- und Herkunftsländer nachteilig auswirkt.“557
Außerdem könnten ein in der gesamten EU einheitliches Antragsformular und Antragsverfahren, eine kombinierte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und ein einheitliches Ausweispapier für Migranten aus Drittstaaten geschaffen werden. Damit soll aus Sicht der Kommission der Einwanderungsprozess für die Immigranten ebenso wie für ihre Arbeitgeber vereinfacht werden.558 Welche Arbeitsmigranten und wie viele einwandern dürfen, und unter welchen Bedingungen, soll nicht auf EU-Ebene geregelt werden, sondern den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleiben. Die Kommission spricht sich indes dafür aus, am Grundsatz der Gemeinschaftspräferenz festzuhalten, demzufolge freie Stellen zunächst an Arbeitssuchende aus dem eigenen Land, Bürger anderer EU-Staaten und bereits legal niedergelassene Drittstaatsangehörige vergeben werden müssen.559 In den Reaktionen der Staaten auf das Grünbuch zur Wirtschaftsmigration hatten sich fast alle Staaten ausdrücklich zu diesem Prinzip bekannt. Aus den Reaktionen auf das Grünbuch entnimmt die Kommission auch vier Bereiche, in denen sie übereinstimmende Interessen der Staaten560 erkennt, und schlägt vor, neben der übergeordneten Rahmenrichtlinie auch die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von vier bestimmten Gruppen von Arbeitsmigranten durch vier spezielle, „sektorale“ Richtlinien näher zu regeln. Alle vier geplanten Vorschriften haben als Ausgangspunkt, dass die Zulassung von Arbeitsmigranten aus Drittstaaten in den Mitgliedstaaten an das Vorhandensein eines Arbeitsvertrags gebunden sein soll, und daran, dass vor der Einwanderung die ökonomische Notwendigkeit dafür geprüft werden soll („economic needs test“) oder eine „Arbeitsmarktprüfung“ stattfindet. Damit soll sichergestellt werden, dass eine freie Stelle nicht mit einem Drittstaatsangehörigen besetzt wird, wenn gleichzeitig qualifizierte einheimische Bewerber, Kandidaten aus anderen EU-Staaten oder Drittstaatsangehörige, die bereits legal in der EU ansässig sind, zur Verfügung stehen. Ausnahmen von der „Gemeinschaftspräferenz“ sollen möglich sein, falls ein Mitgliedstaat einen akuten und vorübergehenden Mangel an Arbeitskräften in einem bestimmten Wirtschaftssektor, Berufszweig oder in einer bestimmten Region feststellt. Daneben will die Kommission aber auch erreichen, dass bei der Zulassung bzw. Anwerbung von Arbeitsmigranten darauf geachtet wird, dass den Herkunftsländern kein ökonomischer bzw. sozialer Schaden durch Abwanderung (Braindrain) entsteht. Beispielsweise dürfe angesichts des Mangels an Ärzten und medizinischem KOM(2005) 669 endgültig, S. 6. Ebenda. 559 Die so genannte „Gemeinschaftspräferenz“ regelt eine Verordnung aus dem Jahr 1968; vgl. Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates. 560 KOM(2005) 669 endgültig, S. 6. 557 558
200
7 Arbeitsmigration, Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration
Personal in vielen Staaten Afrikas keine weitere Abwanderung dieser Berufsgruppe nach Europa gezielt gefördert werden.561 Eine der vier speziellen Richtlinien soll sich mit der Einwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte befassen. Eine überwiegende Mehrheit der EUMitgliedstaaten brauche diese Gruppe von Arbeitsmigranten, argumentiert die Kommission. Sie zitiert eine Studie, nach der die meisten Migranten mit Spitzenqualifikationen heute in die USA und nach Kanada wandern, während nach Europa hauptsächlich Migranten mit mittlerem und niedrigem Bildungsniveau kommen. Um dieses Missverhältnis zu ändern, schlägt die Kommission die Einführung besonders vorteilhafter Bedingungen für Hochqualifizierte vor: „Um diese Situation zu verbessern, könnte ein spezielles gemeinsames Verfahren für die rasche Auswahl und Zulassung hochqualifizierter Zuwanderer konzipiert werden; außerdem könnten attraktive Bedingungen für solche potenziellen Zuwanderer geschaffen und diese damit ermutigt werden, sich für Europa zu entscheiden. In diesem Zusammenhang wird noch näher geprüft werden, ob die Mobilität innerhalb der EU einbezogen werden soll oder eine ehrgeizigere Vorschlagsoption vorzuziehen ist, nämlich eine EU-Arbeitsgenehmigung (‚Green Card’ der EU), die von einem Mitgliedstaat ausgestellt wird, aber unionsweit gültig ist, wobei die Regeln über den Zugang zu den nationalen Arbeitsmärkten umfassend berücksichtigt werden.“562
Eine zweite Richtlinie soll sich mit der Einreise niedrig qualifizierter Saisonarbeiter befassen, die manche Mitgliedstaaten in den Bereichen Landwirtschaft, Bauwirtschaft, Industrie oder auch Tourismus benötigen. Unter anderem Frankreich hatte in seiner Stellungnahme zum Grünbuch darauf hingewiesen, hinsichtlich dieser Kategorie von Migranten müssten sich die EU-Länder absprechen bzw. zusammenarbeiten, um mögliche „Wettbewerbsverzerrungen“ zu vermeiden.563 Die Kommission schreibt nun: „Der entsprechende Vorschlag soll gewährleisten, dass den Mitgliedstaaten die benötigten Arbeitskräfte zur Verfügung stehen und dass gleichzeitig die Rechtsstellung der betreffenden Zuwanderer gesichert ist und ihnen eine regelmäßige Arbeit in Aussicht gestellt wird, womit eine besonders ungeschützte Kategorie von Arbeitern geschützt und auch ein Beitrag zur Entwicklung der Herkunftsländer geleistet wird.“
Auch in Fällen hoher Arbeitslosigkeit in den EU-Staaten seien gemeinsame Regeln für Saisonarbeitskräfte aus Drittstaaten sinnvoll, argumentiert die Kommission. Diese Gruppe käme nur selten in Konkurrenz zu einheimischen Arbeitskräften, da nur wenige EU-Bürger bereit seien, befristete Saisonarbeitsverhältnisse anzunehmen.564 KOM(2005) 669 endgültig, S. 7. Ebenda. 563 Vgl. Stellungnahme Frankreichs zum Grünbuch, S. 6. 564 Ebenda. 561 562
7.2 Reaktionen auf den Strategischen Plan
201
Eine dritte Richtlinie soll sich mit so genannten „innerbetrieblich versetzten Arbeitnehmern“ befassen, also mit Arbeitskräften in Drittstaaten, die von ihrem Arbeitgeber an Zweigstellen des gleichen Arbeitgebers in der EU versetzt werden. Hier geht es vor allem darum, den transnationalen Einsatz von Arbeitskräften innerhalb größerer Konzerne zu vereinfachen. 565 Eine vierte Richtlinie hat schließlich „bezahlte Auszubildende“ im Blick. Für diese Gruppe von Migranten gebe es bislang gar keine gemeinsamen Regeln in der EU, so die Kommission. Es gelte hier also, eine rechtliche Lücke zu schließen. Regeln für einen befristeten Aufenthalt von Praktikanten und Auszubildenden in Europa könnten positive Auswirkungen sowohl auf die entsendenden als auch auf die Gastländer entfalten, indem eine „brain circulation“ in Gang gesetzt werde. Es sei hinsichtlich dieser Gruppe jedoch auch wichtig, Vorkehrungen gegen Missbrauch zu treffen. Praktikanten dürften nicht als unterbezahlte Aushilfsarbeitskräfte ausgenutzt werden.566 7.2 Reaktionen auf den Strategischen Plan In den folgenden zwei Abschnitten soll untersucht werden, wie die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament Stellung zum „Strategischen Plan“ bezogen haben und welche Interessen in ihren Reaktionen artikuliert wurden. 7.2.1
Mitgliedstaaten
Aus dem Kreis der EU-Mitgliedstaaten bezog zunächst nur der deutsche Bundesrat konkret Stellung zum „Strategischen Plan“ der Kommission.567 Sein Beschluss verdeutlicht, dass es auf nationaler Ebene in der EU noch immer gewichtigen Widerstand gegen gemeinschaftliche europäische Steuerungsversuche im Bereich der Arbeitsmigration aus Drittstaaten gibt. Deshalb sollen einige Passagen des Beschlusses hier zitiert und besprochen werden. Der Bundesrat bestreitet zunächst, dass die Europäische Union überhaupt berechtigt ist, den Zugang von Drittstaatsangehörigen zu den Arbeitsmärkten der Mitgliedstaaten zu regeln. Dies sei keine „Gemeinschaftskompetenz“. Außerdem wird daran erinnert, dass die Festlegung der Anzahl zuzulassender Arbeitsmigranten in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle. Der Bundesrat widerspricht der Auffassung der Kommission, wonach die Wirtschaft in der EU auf zusätzliche Arbeits-
KOM(2005) 669 endgültig, S. 8. Ebenda. 567 Bundesrat, Drucksache 5/06 (Beschluss). 565 566
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7 Arbeitsmigration, Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration
kräfte angewiesen sei und Arbeitsmigration zur Bewältigung demografischer Probleme beitragen könne. „Der Bundesrat weist mit Nachdruck darauf hin, dass angesichts der Arbeitsmarktlage in weiten Teilen der EU und der bei der Integration von Migranten bestehenden Probleme eine generelle Forcierung der Zuwanderung aus Drittstaaten nicht im Interesse der Mitgliedstaaten liegt. Vielmehr muss es auf lange Sicht Ziel sein, das innereuropäische Arbeitskräftepotential unter Einbeziehung der sich in den Mitgliedstaaten legal aufhaltenden Migranten auszuschöpfen. (...) Im Hinblick auf die Arbeitsmarktsituation in weiten Teilen der EU vermag der Bundesrat der Einsschätzung der Kommission nicht zu folgen, dass ‚die gegenwärtige Lage und Aussichten auf den EU-Arbeitsmärkten weitgehend einem Bedarfsszenario entsprechen’.“568
An dieser Stelle wird auch auf die Arbeitslosigkeit in Deutschland hingewiesen, die seit Mitte der 70er Jahre „beständig neue Höhen“ erreiche und im Januar 2006 über fünf Millionen Menschen betreffe. Weiterhin streitet der Bundesrat ab, dass Zuwanderung aufgrund demografischer Entwicklungen wichtig sei: „Die Auffassung der Kommission, die Zuwanderung weiterer drittstaatsangehöriger Ausländer werde von elementarer Bedeutung für die Deckung des gegenwärtigen und künftigen Arbeitskräftebedarfs sein und daher wirtschaftliche Nachhaltigkeit und Wirtschaftswachstum gewährleisten, ist spekulativ. (...) Der Bundesrat sieht in der Zuwanderung im Hinblick auf die erforderliche Aufnahmefähigkeit der aufnehmenden Gesellschaft sowie auf die häufig relativ rasche Anpassung der Zuwandererpopulation an die demografischen Verhaltensweisen der Aufnahmepopulation auch kein nachhaltiges Instrument im Rahmen einer Lösung demografischer Probleme.“569
Während der Bundesrat Regelungen zur Anwerbung von Saisonarbeitnehmern aus Drittstaaten eine Absage erteilt, äußert er sich positiv zum Plan der Kommission, EU-Richtlinien über innerbetrieblich versetzte Arbeitnehmer und zur Zulassung hochqualifizierter Arbeitnehmer auszuarbeiten: „Ebenso wie die Kommission hält es der Bundesrat für notwendig, den Zugang von Hochqualifizierten und Spitzenkräften zum deutschen und europäischen Arbeitsmarkt im nationalen wie im europäischen Interesse flexibel und unbürokratisch zu ermöglichen.“570
Eine „gezielte Zuwanderung von Hochqualifizierten“ könne „einen wichtigen Beitrag beim Ausbau der wissensbasierten Wirtschaft in Europa und bei der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung“ spielen und dadurch einen Beitrag zur Durchführung der Lissabonner Strategie leisten. „Zur Vermeidung von Missbrauchsmöglichkeiten“ müssten die Voraussetzungen für die Zulassung jedoch „auf wirkliche Spitzenkräfte begrenzt werden.“ Eine „Öffnungsklausel“ für weitere Kategorien von Bundesrat, Drucksache 5/06 (Beschluss), S. 1f. Bundesrat, Drucksache 5/06 (Beschluss), S. 2. 570 Bundesrat, Drucksache 5/06 (Beschluss), S. 6. 568 569
7.2 Reaktionen auf den Strategischen Plan
203
Arbeitnehmern dürfe es nicht geben. Ebenso wird eine EU-weite „Green Card“ im Sinne einer Arbeitsgenehmigung für die ganze EU nicht befürwortet, da sie den Anforderungen regionaler Arbeitsmärkte nicht gerecht werde.571 In den anderen EU-Mitgliedstaaten wurde der „Strategische Plan“ der Kommission nicht offiziell seitens der Regierungen, der Parlamente oder anderer staatlicher Körperschaften kommentiert. Die meisten von ihnen hatten bereits zum Grünbuch der Kommission aus 2005 Stellung bezogen und betrachten den Strategischen Plan lediglich als eine Fortführung der Grünbuch-Initiative. Der Rat der Innen- und Justizminister der EU nahm den „Strategischen Plan“ auf einer Sitzung im Juli 2006 offiziell zur Kenntnis, führte jedoch keine ausführliche Diskussionen über dessen Inhalt. Die Staats- und Regierungschefs der EU thematisierten Migrationsfragen, darunter auch Arbeitsmigration, im Dezember 2006 anlässlich einer Tagung des Europäischen Rats in Brüssel. Unter der Überschrift „Eine umfassende europäische Migrationspolitik“ urteilt der Rat in den Schlussfolgerungen des Gipfels: „Zum Nutzen aller die mit der Migration verbundenen Probleme zu lösen und die Chancen, die sie bietet, wahrzunehmen, ist eine der Hauptprioritäten der EU zu Beginn des 21. Jahrhunderts.“ 572
In diesem Zusammenhang fordert der Europäische Rat unter anderem eine „Stärkung und Vertiefung der internationalen Zusammenarbeit und des Dialogs mit den Herkunfts- und Transitdrittländern“. Dazu sollen, so der Rat konkret, unter anderem „länderspezifische Kooperationsplattformen für Migration und Entwicklung“ eingerichtet werden, um „das betreffende Partnerland, die Mitgliedstaaten der EU und die Kommission sowie einschlägige internationale Organisationen im Interesse eines kohärenteren Migrationsmanagements zusammenzubringen.“573 Hier stellt der Rat erneut einen Zusammenhang zwischen Migrationssteuerung und Förderung der Entwicklung in Ländern der Dritten Welt her. Im Juli 2006 hatte er bereits in einem Positionspapier anlässlich des „High Level Dialogue on International Migration and Development“ der Vereinten Nationen vermerkt, dass die EU den Zusammenhängen zwischen Migration und Entwicklung verstärkte Aufmerksamkeit zukommen lasse. Eine effizient gesteuerte Migration könne sowohl für die Ziel- als auch für die Herkunftsländer von Migranten positive Wirkungen entfalten.574 Dieses Bekenntnis wurde nun, beim Gipfel in Brüssel ein halbes Jahr später, konkretisiert. Daneben fordert der Rat eine „Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung der illegalen Zuwanderung“, eine weitere Ebenda. Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 14. und 15. Dezember 2006, S. 6. 573 Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 14. und 15. Dezember 2006, S. 7f. 574 Council of the European Union, 11740/06. 571 572
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7 Arbeitsmigration, Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration
„Verbesserung des Schutzes der Außengrenzen der Europäischen Union“, die Verwirklichung des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ bis Ende 2010 sowie eine „Förderung der Integration und des interkulturellen Dialogs sowie der Bekämpfung jeder Form von Diskriminierung auf Ebene der Mitgliedstaaten und der EU“.575 In Bezug auf „legale Migration“ verlangen die Staats- und Regierungschefs die Entwicklung einer „gut durchdachten Migrationspolitik unter uneingeschränkter Wahrung der nationalen Zuständigkeiten. Diese soll den Mitgliedstaaten dabei helfen, den bestehenden und künftigen Bedarf an Arbeitskräften zu decken und zugleich einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung aller Länder zu leisten.“576 Im gleichen Dokument heißt es zudem: „Unter Beachtung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten (...) ist zu prüfen, wie sich legale Migrationsmöglichkeiten in die Politik der Union im Bereich der Außenbeziehungen eingliedern lassen, um hier zu einer ausgewogenen Partnerschaft mit Drittländern zu gelangen, die auf bestimmte Arbeitsmarktbedürfnisse von EU-Mitgliedstaaten abgestimmt ist.“577
Insgesamt machen die „Schlussfolgerungen des Vorsitzes“ vom Dezember 2006 deutlich, dass sich die Staats- und Regierungschefs über mehrere Seiten mit der Verhinderung ungewollter Migrationsströme beschäftigen und beispielsweise eine Intensivierung der „Rückkehr und Rückübernahme“ sowie einen verbesserten Schutz der Land- und Seegrenzen fordern. Legale Migration und ihr potentieller Nutzen werden lediglich in den zwei oben zitierten Absätzen erwähnt. Dies deutet darauf hin, dass die Abwehr unerwünschter Migration seitens der Mitgliedstaaten nach wie vor politische Priorität gegenüber möglichen EU-Konzepten zur Ermöglichung von Arbeitsmigration genießt. Die Ratstagung vom Dezember 2006 kann daher zum Teil als Fortbestehen schon länger sichtbarer Interessen der Mitgliedstaaten gewertet werden. Gleichzeitig muss aber gesehen werden, dass Hinweise auf mögliche positive Effekte legaler Migration, etwa der Hinweis auf einen „Bedarf an Arbeitskräften“ und einen Beitrag der Migranten zur „nachhaltigen Entwicklung“ in früheren Ratsdokumenten zu Migrationsfragen noch fehlten. Insofern kann hier eine Veränderung oder Erweiterung der Interessen der Mitgliedstaaten in Bezug auf Migration festgestellt werden. Die Schlussfolgerungen des Gipfeltreffens lassen sich somit als Rückendeckung für den „Strategischen Plan“ der Kommission auffassen. Dass die Frage der Arbeitsmigration in der EU an Bedeutung gewonnen hat, zeigt auch eine Formulierung im „Arbeitsprogramm“ der deutschen Bundesregierung für die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007: „Der Vorsitz wird die mit der Mitteilung der Kommission über einen Strategischen Plan zur legalen Zuwanderung angestoßene Diskussion zu gemeinschaftlichen Regelungen im Bereich Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 14. und 15. Dezember 2006, S. 9-12. Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 14. und 15. Dezember 2006, S. 11. 577 Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 14. und 15. Dezember 2006, S. 9. 575 576
7.2 Reaktionen auf den Strategischen Plan
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legale Migration fortsetzen. Der geplanten Richtlinie für hochqualifizierte Arbeitnehmer kommt in diesem Zusammenhang große Bedeutung zu. Generell gilt es bei Überlegungen zur Schaffung europäischer Regelungen in diesem Bereich, die unterschiedlichen Arbeitsmarktsituationen der einzelnen Mitgliedstaaten zu berücksichtigen und ein großes Maß an Flexibilität für nationale Regelungen vorzusehen.“578
Die Bundesregierung macht hier deutlich, dass sie hinsichtlich der Arbeitsmigration an nationalen Kompetenzen festhalten will, aber ein Interesse an der Zuwanderung hochqualifizierter Arbeitnehmer hat. Anders als im Fall des Bundesrats wird die Zuständigkeit der EU für Arbeitsmigration an dieser Stelle nicht verneint. 7.2.2
Europäisches Parlament
Das Europäische Parlament, das schon in den Vorjahren eine positive Haltung zur Weiterentwicklung der EU-Migrationspolitik eingenommen hatte und besonders hinsichtlich der Arbeitsmigration aus Drittstaaten einen dem der Kommission ähnlichen Ansatz vertrat, benannte im Herbst 2006 die italienische Abgeordnete Lilli Gruber als Berichterstatterin für den „Strategischen Plan“ der EU-Kommission und das Thema „legale Migration“. Frau Gruber legte im Januar 2007 zunächst ein „Arbeitsdokument über den Strategischen Plan zur legalen Zuwanderung“579 vor, in dem sie unter anderem die bisherigen Fortschritte in der Migrationspolitik analysierte und kommentierte sowie Vorschläge für künftige Regelungen unterbreitete. Die darin zum Ausdruck gebrachten Interessen können zwar nicht als Interesse des Parlaments insgesamt gewertet werden, sind jedoch deshalb von Bedeutung, weil die vom Parlament ernannten Berichterstatter in den Verhandlungen über politische Maßnahmen großes Gewicht haben. 580 Die Abgeordnete betrachtet die Entwicklung einer europäischen Politik zur Steuerung der legalen Zuwanderung, also auch der Arbeitsmigration, als „wesentlichen Schwerpunkt einer gemeinsamen Migrationspolitik“ und begrüßt den strategischen Plan der Kommission als „ersten Schritt zur Festlegung einer gemeinsamen Politik für legale Zuwanderung“. Gleichzeitig bedauert sie, dass die Kommission den ursprünglich geplanten „horizontalen Ansatz“ aufgegeben habe und stattdessen auf Sonderregelungen für bestimmte Kategorien von Migranten setze. Ein horizontaler Ansatz hätte es ermöglicht, „gemeinsame Mindestvorschriften für alle Mitgliedstaaten und alle Gruppen von Migranten festzulegen.“ Die Schaffung einer wirklich gemeinsamen EU-Politik zur Arbeitsmigration sei „sehr wichtig, um zu 578 Bundesregierung, ‚Europa gelingt gemeinsam’ - Präsidentschaftsprogramm 1. Januar – 30. Juni 2007, S. 19. Siehe: http://www.eu2007.de 579 Europäisches Parlament, PE 384.270v01-00, 2007. 580 Vgl. Kohler-Koch 1996, S. 200.
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vermeiden, dass allzu unterschiedliche politische Strategien der einzelnen europäischen Staaten die Ziele der Migrationsströme beeinflussen.“581 Die aus ihrer Sicht mangelnden Fortschritte bei der Festlegung einer gemeinsamen Migrationspolitik in der EU analysiert Gruber wie folgt: „Wahltaktische Überlegungen der Regierungen der einzelnen Staaten, der Stellenwert dieser Themen in den Medien, wechselseitige Befürchtungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Nachlässigkeit der jeweils anderen, die Angst vor dem Verlust staatlicher Souveränität, politische Entscheidungen und kulturelle Unterschiede sind nur einige der Gründe, die bisher verhindert haben, dass Europa sich eine echte Politik für eine legale Zuwanderung gibt.“582
In Ermangelung einer gemeinsamen Zuwanderungspolitik hätten die Mitgliedstaaten im Bereich der Arbeitsmigration auf nationaler Ebene „völlig verschiedene Maßnahmen“ getroffen, so die Abgeordnete, „von eher restriktiven bis hin zu liberaleren Strategien, von Quotenpolitiken bis hin zu Regularisierungen im Nachhinein“. Diese Beobachtung von Frau Gruber stimmt größtenteils mit der in Kapitel 6 dieser Arbeit vorgenommenen Analyse der Stellungnahmen der Mitgliedstaaten zum Grünbuch der Kommission und der verschiedenen nationalen Migrationspolitiken überein. Hinzuzufügen wäre noch, dass Arbeitsmigration aus Drittstaaten in manchen Ländern gar kein Thema ist bzw. negativ beurteilt wird. Frau Gruber benennt in ihrem Bericht zwei „Paradoxa“ der Migrationspolitik in der EU, die ihrer Meinung nach nur durch eine gemeinsame Politik zur Steuerung der legalen Einwanderung und der Arbeitsmigration gelöst werden können: „Das erste (Paradoxon) betrifft die Freizügigkeit innerhalb des Schengen-Raums. Die Abschaffung der Binnengrenzen erleichtert die Bewegungsfreiheit illegaler Einwanderer innerhalb des einheitlichen Raums, was de facto die vorschriftswidrige Einreise auch in Länder ermöglicht, die restriktivere Rechtsvorschriften erlassen haben. Es liegt also auf der Hand, dass es neben einer integrierten Überwachung der gemeinsamen Außengrenzen der Europäischen Union auch einer einheitlichen Politik der Zulassung zur Zuwanderung bedarf.“583
Ähnlich der EU-Kommission vertritt die Abgeordnete hier die Auffassung, dass die Abschaffung der Binnengrenzen in der EU eine gemeinsame Migrationspolitik erfordert. Das zweite „Paradoxon“ sieht sie in der Haltung der Mitgliedstaaten: „Einerseits lehnen sie (die Mitgliedstaaten) es ab, die Zulassungsmodalitäten und die Steuerung der Migrationsströme als europäischen Zuständigkeitsbereich zu betrachten; andererseits haben sie jedoch vielfach verlangt, die Europäische Union solle die von einigen nationalen Regierungen getroffenen Regularisierungsmaßnahmen verurteilen.“584
Europäisches Parlament, PE 384.270v01-00, 2007, S. 5. Europäisches Parlament, PE 384.270v01-00, 2007, S. 2. 583 Ebenda. 584 Ebenda. 581 582
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207
Hier spielt Frau Gruber darauf an, dass beispielsweise eine Regularisierungsmaßnahme für illegale Einwanderer in Spanien 2005 von anderen Mitgliedstaaten vehement kritisiert wurde. Die Innenminister Deutschlands und der Niederlande hatten erklärt, die spanische Initiative könne Konsequenzen für andere Mitgliedstaaten haben, da die von der Regularisierung begünstigten Einwanderer in andere EULänder weiterwandern könnten.585 Während diese Mitgliedstaaten in dieser Frage also indirekt einräumten, dass einwanderungspolitische Maßnahmen in einem EULand Konsequenzen für die anderen haben können, haben manche, etwa Deutschland, in den Diskussionen über gemeinsame Regelungen zur Steuerung der Arbeitsmigration bestritten, dass die EU-Akteure Kompetenzen in diesem Politikbereich haben. 586 Außerdem kritisiert Frau Gruber die öffentliche Debatte über Migrationsfragen, die ihrer Meinung nach von Missverständnissen geprägt ist: „Es fehlt auch noch eine geeignete Strategie für die europaweite Kommunikation, die eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, die Bürger korrekt über die Notwendigkeit einer gemeinsamen Politik der Zulassung zur Zuwanderung und der Einbeziehung der Europäischen Union zu unterrichten. So glaubt einer Eurobarometer-Umfrage zufolge beispielsweise fast jeder zweite Unionsbürger, die Einwanderer nutzten die Sozialleistungen. Richtig ist hingegen, dass die Einwanderung wesentlich dazu beitragen kann, die Herausforderung der Aufrechterhaltung des europäischen Sozialmodells angesichts der Alterung der Bevölkerung zu bewältigen. Schon seit einem Jahrzehnt haben die angestrebten Wachstumsziele der Lissabonner Agenda und demografische Erwägungen die Europäische Kommission dazu veranlasst, die Zuwanderung als Ressource für die Nachhaltigkeit der Sozialsysteme und als Chance für den europäischen Arbeitsmarkt zu betrachten. Die Bedeutung der Migration im letztgenannten Bereich erweist sich an der ständigen Forderung der Unternehmen und der Arbeitgeber nach einer Erhöhung der innerstaatlich erlassenen Quoten.“587
Die Berichterstatterin spricht sich hier klar für eine umfassende EUMigrationspolitik aus, die auch Arbeitsmigration beinhalten soll. Hindernisse sieht sie vor allem in der Haltung der Regierungen der Mitgliedstaaten, die sich ihrer Meinung nach von wahltaktischen Überlegungen leiten lassen und zu wenig dafür tun, die Bevölkerung von den Vorteilen von Einwanderung zu überzeugen. Damit knüpft Gruber an die Überlegungen des Abgeordneten Gaubert an, der im Juni 2005 anlässlich einer Entschließung des Parlaments zur Migrationspolitik ebenfalls „Verantwortungsbewusstsein“ angemahnt hatte und gefordert hatte, die Bevölkerung in den Mitgliedstaaten ausgewogener über Einwanderung und Einwanderer aufzuklären.588 Gruber stellt außerdem fest, dass sich der Rat von 2001 bis 2006 fast ausschließlich mit der Bekämpfung der „illegalen“ Einwanderung und des MenschenVgl. Carrera/Apap 2007; Kleiner 2005, S. 735; siehe auch Sorroza Blanco/Torreblanca 2007, S. 182. Vgl. Bundesrat, Drucksache 5/06 (Beschluss), S. 1. 587 PE 384.270v01-00, S. 2. 588 Europäisches Parlament 7. Juni 2005. 585 586
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handels befasst und eine „positive Zuwanderungspolitik“ vernachlässigt habe. Erst beim Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs im Dezember 2006 in Brüssel sei „auch dank des ständigen Drucks seitens des Europäischen Parlaments“ wieder über die „Öffnung legaler Kanäle“ für Zuwanderung gesprochen worden.589 Grubers Interessen hinsichtlich der Ausgestaltung einer europäischen Migrationspolitik werden in folgendem Absatz deutlich: „Eine gemeinsame Politik bedeutet keine wahllose Öffnung für eine unkontrollierte Einwanderung; vielmehr ist sie die notwendige Antwort auf ein strukturelles Phänomen von weltweiter Bedeutung, das auf innerstaatlicher Ebene nicht mehr wirksam bewältigt werden kann. Die Öffnung legaler Zuwanderungskanäle in Europa stellt ferner ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung des Menschenhandels, der organisierten Kriminalität und der Schwarzarbeit dar. Überdies kann die Zuwanderung unsere Gesellschaften kulturell, sozial und politisch bereichern.“590
Ähnlich wie die Kommission vertritt auch Frau Gruber hier die Auffassung, dass legale und „illegale“ Migration zusammenhängen, und dass eine Öffnung der EU gegenüber legalen Zuwanderern helfen könnte, das Problem der „illegalen“ Einwanderung zu lösen. Die Interessenlage des Europäischen Parlaments hinsichtlich der Arbeitsmigration und der Migrationspolitik allgemein verdeutlicht neben den persönlichen Stellungnahmen der Abgeordneten Gruber auch eine Entschließung des Plenums vom Juni 2007 über die „Außendimension des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Das Parlament fordert darin den Rat auf, eine „gemeinsame Migrationspolitik der Europäischen Union“ anzunehmen, die „geeignete Maßnahmen zur Bewältigung der mit der legalen wie der illegalen Einwanderung verbundenen Herausforderungen“ mit einschließe. Das Parlament erinnert daran, dass die Schaffung einer solchen gemeinsamen Politik schon lange beschlossen sei, und fordert „die Umsetzung der vor acht Jahren auf der Tagung des Europäischen Rates von Tampere angenommenen und vom informellen Europäischen Rat von Lahti bestätigten Schlussfolgerungen, des Haager Programms und der Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom Dezember 2006 in Bezug auf die Notwendigkeit, die im Jahre 2005 angenommene umfassende Strategie im Bereich der Einwanderung anzuwenden.“591 Die Parlamentarier geben außerdem erneut zu bedenken, dass Zuwanderung ihrer Meinung nach „erhebliche Vorteile bringen“ könne. Um die Entscheidungsprozesse im Bereich der legalen Zuwanderung (und der Integration, einem Politikbereich, in dem es bislang kaum EU-Maßnahmen gibt) zu beschleunigen, fordert es, „das Mitentscheidungsverfahren und Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit“ einzuführen. Eine solche Reform der Entscheidungsprozesse würde auch die Rolle des Europäisches Parlament, PE 384.270v01-00, 2007, S. 3. Ebenda. 591 Europäisches Parlament, P6_TA(2007) 0284. 589 590
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Parlaments stärken; es würde nicht mehr nur angehört, sondern könnte Einfluss auf die Inhalte der Beschlüsse nehmen. Bisher wird das Parlament in Fragen der legalen Migration lediglich konsultiert, und Entscheidungen im Rat setzen Einstimmigkeit voraus. Im September 2007 bezog das Parlament in einer weiteren Entschließung Stellung zum „Strategischen Plan“ der Kommission von 2005.592 Die in dieser Entschließung enthalten Erwägungen und Interessen sind deutlich von den bereits zitierten Interessen der Abgeordneten Gruber geprägt, ermöglichen aber auch ein paar zusätzliche Einblicke. Das Parlament räumt ein, dass nach den geltenden EUVerträgen die Mitgliedstaaten für die Festlegung der Zahl der Wirtschaftsmigranten verantwortlich seien, dass dennoch aber auf EU-Ebene ein „umfassender und kohärenter Ansatz für die Zuwanderung“ erforderlich sei, da eine Änderung der Zuwanderungspolitik in einem Mitgliedstaat die Migrationsströme und die Entwicklung in den anderen Mitgliedstaaten beeinflusse.593 Damit schließt sich das Parlament der funktionalistischen Argumentationsweise der Kommission an, drängt die Mitgliedstaaten aber auch dazu, sich auf gemeinsame Regelungen zu einigen. Sowohl aufgrund des „demografischen Wandels“ als auch im Hinblick auf die „derzeitige und künftige Lage auf den Arbeitsmärkten“ sei eine gut gesteuerte legale Zuwanderung erforderlich, erklärt das Parlament.594 Auch das Argument der Kommission, demzufolge es Zusammenhänge zwischen illegaler und legaler Migration gibt, wird vom Parlament aufgegriffen. Die illegale Einwanderung könne nicht bekämpft werden, wenn nicht gleichzeitig „Instrumente und Möglichkeiten für die legale Zuwanderung“ geschaffen würden. Die beiden Phänomene seien „eng miteinander verwoben“.595 Der von der Kommission geplante, zum Zeitpunkt der parlamentarischen Entschließung aber noch nicht tatsächlich vorgelegte Richtlinienentwurf für die Zuwanderung von Hochqualifizierten wird vom Parlament sehr deutlich begrüßt: Es unterstützt „jede Maßnahme zur Steigerung der Attraktivität der Union für hochqualifizierte Arbeitskräfte, um den Bedarf des Arbeitsmarktes der Europäischen Union zu decken, damit der Wohlstand Europas gewährleistet und die Lissabonner Ziele verwirklicht werden“. Neben Regeln für Hochqualifizierte drängen die Abgeordneten aber auch darauf, „Einreise und Aufenthaltsbedingungen für weitere ausgewählte Gruppen von Wirtschaftsmigranten, einschließlich nicht oder gering qualifizierter Arbeitnehmer, festzulegen.“596 Wie die Berichterstatterin bereits vorweggenommen hatte, bezieht das Parlament in dieser Entschließung Stellung zugunsten gemeinsamer EU-Regeln für die
Europäisches Parlament, P6_TA(2007) 0414. Vgl. Europäisches Parlament, P6_TA(2007) 0414, Erwägungsgründe C und D. 594 Europäisches Parlament, P6_TA(2007) 0414, Erwägungsgrund E. 595 Europäisches Parlament, P6_TA(2007) 0414, Artikel 1. 596 Europäisches Parlament, P6_TA(2007) 0414, Artikel 28 und 8. 592 593
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Steuerung der Arbeitsmigration aus Drittstaaten. Insgesamt gesehen teilen die Abgeordneten die Interessen und die Herangehensweise der Kommission. 7.3 Richtlinienvorschlag für die Zuwanderung hochqualifizierter Migranten In ihrem „Strategischen Plan“ hatte die Kommission angekündigt, bis 2009 sowohl einen konkreten Vorschlag für die erwähnte Rahmenrichtlinie, als auch Detailvorschläge für die vier geplanten „sektoralen“ Politiken zur Steuerung der Einwanderung von Drittstaatsangehörigen vorzulegen.597 Den Anfang machte sie bereits im Oktober 2007 mit einem Richtlinienvorschlag für die Zuwanderung von hochqualifizierten Arbeitnehmern.598 Die Tatsache, dass sie unter den vier im „Strategischen Plan“ genannten „sektoralen“ Richtlinien als erstes die Richtlinie über Hochqualifizierte konkretisierte, deutet sowohl darauf hin, dass sie eine Regelung über diese Migrantengruppe für am dringlichsten hält, als auch dass sie damit rechnet, zu dieser Frage am leichtesten eine Einigung unter den Mitgliedstaaten erreichen zu können.599 Die Kommission übernahm mit einem konsequenten Arbeitsprogramm, das mit dem Grünbuch 2005 begann, mit dem „Strategischen Plan“ weitergeführt wurde und weniger als zwei Jahre später zur Vorlage der ersten konkreten Richtlinienvorschläge zur Gestaltung der Arbeitsmigration führte, erneut eine sehr aktive Rolle im Wechselspiel der EU-Organe. Sie setzt darauf, den Europäischen Integrationsprozess voranzutreiben und Lücken in der bisherigen Migrationspolitik der EU zu schließen.600 Die im Richtlinienentwurf über Hochqualifizierte genannten Interessen der Kommission müssen an dieser Stelle nicht im Detail dargelegt werden, da sie in weiten Teilen aus bereits analysierten Dokumenten bekannt und diesen sehr ähnlich sind. Genannt seien nur einige besonders wesentliche Punkte und insbesondere der beabsichtigte Inhalt der Richtlinie, der für ein Verständnis der Interessenlage der Kommission wichtig ist. Der Vorschlag zielt darauf ab, der EU „mehr Mittel an die Hand zu geben, um hochqualifizierte Arbeitnehmer aus Drittstaaten anzuwerben und – sofern dies notwendig ist – längerfristig zu beschäftigen.“ Dadurch soll der mögliche Beitrag der legalen Zuwanderung „zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft in Ergänzung zu anderen EU-Maßnahmen, die die EU mit Blick auf die Ziele der Strategie von Lissabon einführt“, ausgeschöpft werden können.
KOM(2005) 669 endgültig, S. 11. KOM(2007) 637 endgültig. 599 Vgl. Guild 2007, S. 1. 600 Vgl. Carrera 2007, S. 1 597 598
7.3 Richtlinienvorschlag für die Zuwanderung hochqualifizierter Migranten
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„Angestrebt wird im Einzelnen, rasch und effizient auf den fluktuierenden Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften aus Drittländern reagieren und gegenwärtige sowie künftige Qualifikationsengpässe ausgleichen zu können. Auf EU-Ebene sollen gleiche Voraussetzungen geschaffen werden, um die Zulassung dieser Gruppe von Arbeitnehmern zu erleichtern und zu vereinheitlichen und auf dem Arbeitsmarkt der Union ihren wirkungsvollen Einsatz und erneuten Einsatz an anderer Stelle zu unterstützen.“601
Die Kommission gibt wie schon im „Strategischen Plan“ zu bedenken, dass die EU von hochqualifizierten Migranten bislang nicht als ausreichend attraktive Zielregion eingestuft werde: „Beispielsweise hat die Union die meisten Arbeitnehmer ohne oder mit einer mittleren Qualifikation aus den Maghreb-Staaten aufgenommen (87 %), während 54 % der hochqualifizierten Zuwanderer aus den gleichen Ländern ihren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten und Kanada gewählt haben. Im Vergleich zu diesen Ländern wird die Attraktivität der EU dadurch beeinträchtigt, dass derzeit hochqualifizierte Zuwanderer mit 27 verschiedenen Zulassungssystemen konfrontiert sind und nicht die Möglichkeit haben, sich zu Arbeitszwecken problemlos von einem in ein anderes Land zu begeben. Schwerfällige Verfahren können bewirken, dass sich diese Arbeitnehmer für Nicht-EU-Länder entscheiden, die ihnen günstigere Einreise- und Aufenthaltsbedingungen bieten.“602
Daher soll nun auf der Grundlage einer gemeinsamen, europäischen Begriffsbestimmung und gemeinsamer Kriterien ein „beschleunigtes Verfahren für die Zulassung von hochqualifizierten Arbeitnehmern aus Drittstaaten“ eingeführt werden. Genaue Bestimmungen über Arbeitsverträge, notwendige berufliche Qualifikationen und ein etwaiges Mindestgehalt als Voraussetzung für die Einreiseerlaubnis sollen auf einzelstaatlicher Ebene festgelegt werden. Die Richtlinie soll jedoch vorschreiben, dass potentielle Migranten einen „höheren Bildungsabschluss“ oder eine mindestens dreijährige Berufserfahrung nachweisen müssen. Sie müssen zudem über einen Arbeitsvertrag oder ein „verbindliches Arbeitsplatzangebot“ verfügen. Ihre Einreise und ihr Aufenthalt werden so an eine konkrete Stelle gekoppelt. Außerdem müssen die Mitgliedstaaten nach Auffassung der Kommission ein Mindestgehalt definieren. Damit soll verhindert werden, dass nationale Regierungen einen Satz festlegen, der so niedrig wäre, „dass einheimische oder andere hochqualifizierte Fachkräfte aus der EU diese Stelle nicht annehmen würden, obwohl sie ihren Qualifikationen entspricht.“603 Außerdem soll diese Vorschrift gewährleisten, dass die als KOM(2007) 637 endgültig, S. 2. KOM(2007) 637 endgültig, S. 3. 603 KOM(2007) 637 endgültig, S. 10. Ein weiterer Grund dafür, dass die Kommission ein Mindesteinkommen festlegen will, dürfte darin bestehen, dass mehrere Mitgliedstaaten in ihren nationalen Vorschriften über die Anwerbung von Drittstaatsangehörigen bereits entsprechende Regelungen vorsehen. Die Höhe des jeweils verlangten jährlichen Mindest-Bruttoeinkommens liegt laut Sergio Carrera zwischen 27.000 Euro in Österreich und 84.600 Euro in Deutschland. Belgien verlangt rund 33.000 Euro Jahresverdienst, Frankreich 60.000 und die Niederlande je nach Alter des Migranten zwischen 33.363 und 46.945 Euro. Vgl. Carrera 2007, S. 13f. 601 602
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7 Arbeitsmigration, Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration
Hochqualifizierte angeworbenen Migranten genug verdienen, um nicht auf staatliche Sozialleistungen angewiesen zu sein, und um gegebenenfalls eine Rückkehr in ihr Herkunftsland finanzieren zu können. Ausnahmen von den geplanten Regelungen über Mindestgehälter sollen für junge Fachkräfte unter 30 Jahren möglich sein.604 Zugelassene Drittstaatsangehörige sollen unabhängig davon, in welches EULand sie einwandern, einen automatisch mit einer Arbeitserlaubnis verbundenen, einheitlichen Aufenthaltsstatus bekommen, die so genannte „EU Blue Card“. Dieser Titel soll ihnen im Vergleich zu anderen, nicht hochqualifizierten Einwanderern, günstigere Bedingungen für den Familiennachzug bieten. In den ersten zwei Jahren des Aufenthalts in einem EU-Staat wird ausschließlich Zugang zum Arbeitsmarkt eben dieses Staates gewährt. Danach sollen die Arbeitsmigranten ihren Wohnsitz frei in ein anderes EU-Land verlegen können, was ebenfalls als ein Lockmittel gedacht ist.605 Die Kommission legt Wert darauf, dass ihr Vorschlag kein einklagbares Recht für Drittstaatsangehörige auf Einreise und Niederlassung in einem EU-Staat etabliert. Die Mitgliedstaaten dürfen beispielsweise strengere Kriterien als die im Richtlinienvorschlag genannten definieren, können Quotenregelungen einführen und vor Entscheidungen über die Zulassung von hochqualifizierten Arbeitsmigranten Arbeitsmarktprüfungen durchführen. Verboten soll es allerdings sein, die Bestimmungen der EU-Richtlinie mit günstigeren bzw. großzügigeren Bedingungen zu untergraben. Damit soll verhindert werden, dass sich die Mitgliedstaaten bei der Anwerbung von Hochqualifizierten Konkurrenz machen oder das Ziel der Richtlinie, hochqualifizierte Drittstaatsangehörige anzuwerben, unzulässig ausdehnen, um mit ihrer Hilfe auch unqualifizierte oder gering qualifizierte Migranten einreisen zu lassen.606 Weiterhin soll die beabsichtigte Gemeinschaftsregelung zur Arbeitsmigration, so die Kommission, neben den wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen der Mitgliedstaaten auch im Einklang mit der Entwicklungspolitik der Union stehen, deren Schwerpunkt auf der Beseitigung der Armut und dem Erreichen der Millennium-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen liege: “Es wird anerkannt, dass die Maßnahme unterschiedliche Auswirkungen auf die verschiedenen Länder außerhalb der Union haben kann. Die negativen Auswirkungen sollen dabei so gering wie Vgl. Ebenda. Vgl. KOM(2007) 637 endgültig, S. 7. Der Begriff „Blue Card“ suggeriert bewusst eine Ähnlichkeit zur US-amerikanischen Green Card. Elspeth Guild hält jedoch fest, dass sich das von der Kommission konzipierte System markant vom amerikanischen unterscheidet. Vor allem gibt die europäische Blue Card keinen freien Zugang zum Arbeitsmarkt der EU, sondern ist an eine konkrete Stelle gebunden. Sollte ein angeworbener Hochqualifizierter seine Stelle verlieren, hat er drei Monate lang Zeit, sich eine neue zu suchen, ansonsten droht der Verlust der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis; vgl. Guild 2007, S. 4. 606 Vgl. KOM(2007) 637 endgültig, S. 10. 604 605
7.4 Rahmenrichtlinie über die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen
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möglich gehalten und die positiven Folgen der Migration hochqualifizierter Arbeitskräfte für Entwicklungsländer, die in manchen Bereichen bereits einen Mangel an Humanressourcen verzeichnen, ausgebaut werden. Diese Maßnahme muss im breiteren Kontext der Entwicklungsund Migrationspolitik der Union einschließlich ihrer operativen Maßnahmen, Finanzierungen und bereits geltenden oder geplanten Vereinbarungen gesehen werden.”607
Entwicklungsländer sollen durch die Förderung der Migration von Hochqualifizierten nicht daran gehindert werden, „grundlegende soziale Versorgungsleistungen“ erbringen zu können, so die Kommission weiter.608 Damit nimmt sie indirekt Bezug auf die Wanderung von Ärzten und Pflegepersonal aus Ländern der Dritten Welt nach Europa, die massive negative Auswirkungen auf die Wirtschaft und die soziale Lage in den entsendenden Staaten haben kann.609 Konkret wird vorgeschlagen, im Rahmen der geplanten Regelungen zur Anwerbung von Hochqualifizierten „zirkuläre Migration“ zu erleichtern. Die in die EU eingereisten Hochqualifizierten sollen sich über längere Zeiträume hinweg in einem anderen, Nicht-EU-Land aufhalten können, ohne dass ihnen dadurch aufenthaltsrechtliche Nachteile entstehen oder eine Wiedereinreise in die EU erschwert würde.610 Der Rat der Justiz- und Innenminister der EU erörterte den Richtlinienentwurf auf einer Sitzung im September 2008 und nahm ihn im Mai 2009 an.611 Mit der Richtlinie wird auch die so genannte „Blue Card“ in der EU eingeführt. Allerdings besteht für die einzelnen Mitgliedstaaten keine Verpflichtung, tatsächlich Arbeitsmigranten im Sinne der Richtlinie aufzunehmen, ihnen eine Blue Card zu erteilen und ihnen die in der Richtlinie vorgesehenen Rechte zu gewähren. 7.4 Rahmenrichtlinie über die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen Zeitgleich zur Vorlage des Richtlinienentwurfs für Hochqualifizierte präsentierte die Kommission im Oktober 2007 die ebenfalls im Strategischen Plan angekündigte Rahmenrichtlinie, mit der „ein allgemeiner Rahmen für einen fairen und auf Rechten basierenden Ansatz in Bezug auf die Arbeitsmigration errichtet werden“ soll. Allen Arbeitnehmern aus Drittstaaten, die sich rechtmäßig in der EU aufhalten und die nicht bereits unter den Anwendungsbereich der Richtlinie über „langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige“612 fallen, soll ein „gemeinsames Bündel von Rechten“ zuerkannt werden. Auch soll in den EU-Staaten ein „einheitliches Antragsverfahren für die Erteilung einer kombinierten Aufenthalts- und ArbeitserKOM(2007) 637 endgültig, S. 4f. KOM(2007) 637, S. 2. 609 Vgl. Blanchet/Keith 2006. 610 Vgl. KOM(2007) 637 endgültig, S. 30f. 611 Richtlinie 2009/50/EG des Rates. 612 Richtlinie 2003/109/EG des Rates. 607 608
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7 Arbeitsmigration, Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration
laubnis eingeführt werden.613 Die Antragsverfahren sollen somit sowohl vereinfacht als auch vereinheitlicht werden. So werden nach Auffassung der Kommission „wertvolle Synergien“ freigesetzt, und die Mitgliedstaaten könnten die „Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen zum Zwecke der Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet besser steuern und kontrollieren.“614 Den betroffenen Drittstaatsangehörigen soll auch eine Reihe „beschäftigungsbezogener Rechte“ zuerkannt werden. Sie betreffen Arbeitsentgeld, Zugang zu Berufsbildung, Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen und Diplomen, Zugang zu sozialen Sicherheitsleistungen sowie Wohnraum.615 Ziel dieser Bestimmungen ist es, eine weitgehende „Gleichbehandlung“ mit EU-Bürgern sicherzustellen. Zur Begründung schreibt die Kommission: “Mit der Zuerkennung beschäftigungsbezogener Rechte (in Bezug auf die Arbeitsbedingungen einschließlich Arbeitsentgelt, Zugang zu Berufsbildung und Kernleistungen der sozialen Sicherheit), die denen eigener Staatsangehöriger vergleichbar sind, wird anerkannt, dass Arbeitnehmer aus Drittstaaten durch ihre Arbeit und die von ihnen entrichteten Steuern einen Beitrag zur europäischen Wirtschaft leisten. Dies kann auch helfen, den unfairen Wettbewerb einzudämmen, der aus dieser Rechtslücke entsteht, und so EU-Bürger vor Billigarbeit und Migranten vor Ausbeutung schützen.”616
Mit der vorgeschlagenen Richtlinie will die Kommission also einen generellen Rahmen für die Einwanderung und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen schaffen, innerhalb dessen – aufbauend auf den „Strategischen Plan“ – Sonderregelungen für unterschiedliche Kategorien von Arbeitsmigranten vereinbart werden können. Deutlich wird in dem Kommissionsvorschlag vor allem, dass Arbeitsmigration aus Drittstaaten aufgrund wirtschaftlicher und arbeitsmarktpolitischer Interessen gefördert werden soll, dabei aber mögliche negative Nebeneffekte ausgeschlossen werden sollen, etwa „Lohndumping“, Verdrängungsprozesse oder Ausbeutung von Wanderarbeitnehmern. Derartige mit Einwanderung assoziierte Probleme haben die Migrationsdebatten in vielen Mitgliedstaaten geprägt und sind zum Teil auch in den Stellungnahmen der Regierungen zum Grünbuch der Kommission enthalten. So hatte beispielsweise Griechenland gemahnt, die unterschiedlichen Niveaus der Arbeitslosigkeit in den EU-Staaten und unter bereits in der EU lebenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, bevor Entscheidungen über die Einwanderung von Drittstaatsangehörigen getroffen würden. Außerdem dürften, so die griechische Regierung 2005, ökonomische und demografische Überlegungen im Vergleich zu politischen, sozialen und kulturellen Konsequenzen von Wirtschaftsmigration nicht überbewertet werden.617 In Schweden forderte der Gewerkschaftsdachverband KOM(2007) 638 endgültig, S. 2. Ebenda. 615 KOM(2007) 638 endgültig, S. 3 und 11f. 616 KOM(2007) 638 endgültig, S. 3. 617 Vgl. Hellenic Republic, Ministry of Foreign Affairs. 613 614
7.5 Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration
215
Landsorganisationen hinsichtlich geplanter neuer Regelungen über Arbeitsmigration, für ausländische Arbeitnehmer müssten arbeitsrechtlich die gleichen Bedingungen gelten, wie für einheimische.618 Die in der Rahmenrichtlinie genannten Ziele und Bedingungen bedeuten indes nicht, dass alle Drittstaatsangehörigen über die exakt gleichen Rechte als Arbeitnehmer in der EU verfügen sollen, sondern bilden lediglich eine gemeinsame Grundlage. Wie bereist erwähnt sollen Hochqualifizierten als Lockmittel teilweise günstigere Bedingungen geboten werden, etwa Hinsichtlich des Familiennachzugs und der Weiterreise in andere EU-Staaten. Die Kommission differenziert also durchaus zwischen verschiedenen Kategorien von Arbeitsmigranten, je nach deren Qualifikation, und fragmentiert die geplante europäische Politik zur Steuerung der Arbeitsmigration entsprechend.619 Im Rat der Innen- und Justizminister der EU wurde der Richtlinienvorschlag mehrfach diskutiert, wobei unter den Vertretern der Mitgliedstaaten Uneinigkeit hinsichtlich des Geltungsbereichs der Richtlinie bestand. Eine Annahme durch den Rat stand im Frühjahr 2009 noch aus. 7.5 Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration Im Dezember 2005 hatten die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel erklärt, in Migrationsfragen eine engere „Partnerschaft“ mit den Herkunftsländern, vor allem in Afrika und im Mittelmeerraum, anzustreben.620 Ein Jahr später hatte der Europäische Rat gefordert, so genannte „länderspezifische Kooperationsplattformen für Migration und Entwicklung“ einzurichten.621 Auch die Kommission hatte 2005 in einer Mitteilung an die anderen Akteure eine engere Kooperation mit Drittstaaten gefordert, um Migrationsbewegungen sowohl zum Nutzen der EU als auch der Herkunftsländer von Migranten besser steuern zu können. Damals hatte sie auch vorgeschlagen, „zirkuläre Migration“ zu ermöglichen. 622 Das Parlament hatte sich ähnlich geäußert und gefordert, brain circulation zu fördern.623 Im Mai 2007 konkretisierte die Kommission diese Überlegungen in einer Mitteilung an den Rat, das Europäische Parlament, den Ausschuss der Regionen sowie den Wirtschafts- und Sozialausschuss.624 In diesem Dokument befasst sie sich mit „Mobilitätspartnerschaften“, die interessierte EU-Mitgliedstaaten mit einem oder Vgl. Parusel 2006. Vgl. Carrera 2007, S. 8. 620 Vgl. Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 15. und 16. Dezember 2005, S. 2. 621 Vgl. Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 14. und 15. Dezember 2006, S. 7f. 622 KOM(2005) 621 endgültig, S. 6. 623 Vgl. Europäisches Parlament, P5_TA(2004) 0028. 624 KOM(2007) 248 endgültig. 618 619
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7 Arbeitsmigration, Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration
mehreren Herkunftsländern abschließen könnten, sowie mit der Förderung von Möglichkeiten für Arbeitssuchende aus Drittstaaten, während eines befristeten Zeitraums mehrfach in einem EU-Staat zu arbeiten und zwischen den einzelnen Aufenthalten jeweils in ihr Herkunftsland zurückzukehren („zirkuläre Migration“). Als Ziel der zwei Konzepte bezeichnet die Kommission die „wirksame Steuerung legaler Wanderungen zwischen der EU und Drittstaaten, die zu erheblichen Anstrengungen zur Bekämpfung der illegalen Migration bereit sind“. Den EUStaaten soll ermöglicht werden, „ihren Arbeitsmarkterfordernissen gerecht zu werden“, während die Herkunftsländer in die Lage versetzt werden, von „positive(n) entwicklungspolitische(n) Wirkungen der Migration“ zu profitieren, wobei auch ihre Bedürfnisse „in Bezug auf den Wissenstransfer“ berücksichtigt und die „negativen Wirkungen des Braindrain“ reduziert werden sollen.625 Der Kern des ersten Konzepts, der „Mobilitätspartnerschaften“, besteht darin, dass eine Gruppe interessierter EU-Mitgliedstaaten mit einem bestimmten Drittland ein Abkommen schließt, das für beide Vertragsparteien Vorteile und Verpflichtungen enthält. Derartige Abkommen sollen stets auf die „Spezifitäten des Drittlands“ sowie die migrationspolitischen Interessen der EU-Vertragsparteien zugeschnitten sein. Der jeweilige Drittstaat könnte sich der Mitteilung der Kommission zufolge etwa dazu verpflichten, eigene Staatsbürger, die sich „illegal“ in der EU aufhalten, zurückzunehmen und bei ihrer Identifizierung zu kooperieren, darüber hinaus auch Drittstaatsangehörige aus anderen Ländern oder staatenlose Personen aufzunehmen, gezielte Informationskampagnen zur Verhinderung „illegaler“ Wanderung in die EU durchzuführen, seine Grenzkontrollen zu verbessern und zu diesem Zweck mit EU-Mitgliedstaaten oder der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX zusammenzuarbeiten und das „Schleuserunwesen“ und den Menschenhandel zu bekämpfen. Auch könnten sich interessierte Drittstaaten bereit erklären, menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu schaffen und „im allgemeineren Sinne“ die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen im eigenen Land zu verbessern, damit Anreize für irreguläre Migration in die EU verringert werden.626 Die EU-Vertragsparteien könnten sich, so die Kommission, im Gegenzug darauf festlegen, die Möglichkeiten von Staatsbürgern des jeweiligen Drittlands zu verbessern, legal in die EU zu wandern und dort zu arbeiten: „Die Mobilitätspartnerschaft könnte ein von mehreren Mitgliedstaaten auf freiwilliger Basis zusammengestelltes Angebot umfassen, das den betreffenden Drittstaatsangehörigen den Zugang zu ihren Arbeitsmärkten erleichtert.“627
KOM(2007) 248 endgültig, S. 2. KOM(2007) 248 endgültig, S. 4f. 627 KOM(2007) 248 endgültig, S. 6. 625 626
7.5 Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration
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Solche „nationalen Angebote“ von EU-Staaten an Arbeitssuchende aus einem Drittstaat könnten beispielsweise über „Beschäftigungsquoten“ erfolgen, die den Staatsbürgern des betreffenden Drittlands vorbehalten werden und sie damit gegenüber Arbeitsmigranten aus anderen Ländern bevorzugt. Außerdem könnten die EU-Länder den in eine Mobilitätspartnerschaft involvierten Drittstaaten Informationen zum Arbeitskräftebedarf der EU-Staaten bereit stellen, oder auch Studenten, Forschern, jungen Fachkräften oder Aktiven in Jugendorganisationen Auslandsaufenthalte in der EU ermöglichen. Möglich wäre es außerdem, mit EU-Mitteln „Programme zur Erleichterung der wirtschaftlichen und sozialen Eingliederung der rückkehrenden Migranten“ zu fördern oder Geldüberweisungen von Migranten aus der EU in das Drittland zu erleichtern. Um im Rahmen der Mobilitätspartnerschaften das in vielen Drittstaaten aufgetretene Problem der Abwanderung von Spitzenkräften ins Ausland (Braindrain) einzudämmen, könnten sich die EU-Staaten dazu bereit erklären, Migranten, die in „sensiblen Berufen tätig sind“, von der Vorzugsbehandlung auszunehmen, damit sie von Auswanderung absehen. Zuletzt nennt die Kommission hinsichtlich der Gegenleistungen der EU-Staaten auch die Möglichkeit, die Erteilung von Kurzzeit-Visa an die Bürger des jeweiligen Drittstaats zu verbessern und zu erleichtern.628 Das zweite Konzept, die Förderung „zirkulärer Migration“, könnte in die „Mobilitätspartnerschaften“ integriert werden, soll jedoch auch auf Migranten aus anderen, nicht von Mobilitätsabkommen betroffenen Staaten, anwendbar sein. Es sieht vor, dass Drittstaatsangehörigen die Möglichkeit gegeben wird, für einen befristeten Zeitraum zum Arbeiten, Studieren, zu einer Ausbildung oder auch einer Kombination aus diesen Aufenthaltszwecken legal in die EU einzureisen und sich dort aufzuhalten. Danach sollen sie in ihr Herkunftsland zurückreisen und ihr Studium oder ihre Arbeit möglichst dort fortsetzen. Verstärkt werden könnte eine solche „zirkuläre Migration“ dadurch, dass zurückgekehrten Migranten angeboten wird, leichter erneut zum Arbeiten in denjenigen EU-Mitgliedstaat zu kommen, in dem sie sich schon einmal legal aufgehalten haben. Die Kommission nennt zu diesem Zweck die Möglichkeit „vereinfachter Zulassungsverfahren“.629 Das Konzept erinnert an das weiter oben erwähnte, in Großbritannien entworfene Punktesystem für die Einwanderung von Arbeitsmigranten. Im Rahmen dieses Systems wurde unter anderem vorgeschlagen, dass zusätzliche Punkte vergeben werden, wenn ein Arbeitsmigrant zu einem früheren Zeitpunkt schon einmal legal in Großbritannien anwesend war. 630 Das Interesse der Kommission hinsichtlich der „zirkulären Migration“ ist, eine „glaubwürdige Alternative zur illegalen Zuwanderung“ anzubieten. Sie ist der Meinung, dass „illegale“ Einwanderung zurückgedrängt werden kann, wenn sie entKOM(2007) 248 endgültig, S. 7f. KOM(2007) 248 endgültig, S. 10. 630 Vgl. The Secretary of State for the Home Department 2005, S. 16. 628 629
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schlossen bekämpft wird, gleichzeitig aber auch Möglichkeiten legaler Migration in die EU angeboten werden. Außerdem spielen erneut arbeitsmarktpolitische und ökonomische Interessen eine wichtige Rolle: „Die zirkuläre Migration wird zunehmend als wichtige Wanderungsform anerkannt, die, gut gesteuert, Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften weltweit in Übereinstimmung bringen und dadurch zu einer effizienteren Verteilung der verfügbaren Ressourcen und zum Wirtschaftswachstum beitragen kann.“ 631
Als besonders wichtig erachtet es die Kommission, dass zirkuläre Migration in der Praxis nicht dazu führt, dass Drittstaatsangehörige dauerhaft in der EU ansässig werden. Deshalb sollen „Bona-fide-Migranten“, also Personen, die nach Ablauf des vorgesehenen Aufenthalts in der EU tatsächlich freiwillig in ihr Herkunftsland zurückkehren, belohnt werden, indem ihnen „fortdauernde Mobilität“ zugesagt wird, also Möglichkeiten, später noch einmal in die EU zu kommen. Um die Notwendigkeit einer „tatsächlichen Rückkehr“ zu untermauern, sollen Herkunftsländer Rückübernahmeabkommen mit der EU abschließen.632 Auch im Kommissionsvorschlag über die Einwanderung von hochqualifizierten Arbeitsmigranten vom Oktober 2007 sind Bestimmungen enthalten, die „zirkuläre Migration“ erleichtern sollen.633 Zudem betont die Kommission, dass das Konzept der „zirkulären Migration“ auch zur Lösung des Braindrain-Problems beitragen könnte. Zahlreiche Entwicklungsländer litten unter der Abwanderung von spezifischen Kategorien von Migranten, heißt es in der Mitteilung, und die Abwanderung könne „katastrophale Auswirkungen“ auf die Fähigkeit bestimmter Länder haben, ihre Bevölkerungen mit grundlegenden Diensten zu versorgen. Andererseits bestehe die Braindrain-Gefahr aber nicht in allen Ländern und müsse daher gegen die möglichen positiven Auswirkungen der Auswanderung für die Entwicklung in den Herkunftsländern abgewogen werden. Die EU-Staaten sollten sich daher verpflichten, keine Arbeitskräfte aus Berufsgruppen, die besonders oft auswandern, eigentlich aber in ihren Herkunftsländern dringend benötigt werden, anzuwerben. Die Realisierung des Konzepts der zirkulären Migration könne, so die Kommission, einen Betrag dazu leisten, Verfahren zu schaffen, die den Fachkräften ermöglichen, ihr „Arbeitsleben zwischen zwei Ländern zu gestalten“. Eine enge Partnerschaft mit Drittländern sei von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass die zirkuläre Migration für beide Seiten fruchtbar sei.634 Insgesamt vermittelt der Vorschlag über Mobilitätspartnerschaften und „zirkuläre Migration“ ein sehr deutliches Bild von den Interessen der Kommission. AufKOM(2007) 248 endgültig, S. 9. KOM(2007) 248 endgültig, S. 12f. 633 Vgl. KOM(2007) 637 endgültig, S. 30f. 634 KOM(2007) 248 endgültig, S. 13f. 631 632
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bauend auf das schon früher mehrfach zum Ausdruck gebrachte Interesse, „illegale“ Einwanderung zu unterbinden, gleichzeitig aber zum wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Nutzen der EU-Staaten legale Möglichkeiten der Einwanderung in die EU zu schaffen, spricht sich die Kommission für Migrationsbewegungen aus, die von den EU-Mitgliedstaaten gesteuert und kontrolliert werden können. Deutlicher und konkreter als früher wird nun aber ein Interesse daran formuliert, auch die Herkunftsländer an den Steuerungsbestrebungen zu beteiligen und im Sinne entwicklungspolitischer Zusammenarbeit von den Vorteilen einer „gut gesteuerten“ Migration profitieren zu lassen. Erstmals werden handfeste Ideen vorgestellt, wie sich das Problem des Braindrain möglicherweise eindämmen lassen könnte. Das Parlament unterstützte die Vorschläge der Kommission in seiner Entschließung über den „Strategischen Plan zur legalen Zuwanderung“. Darin stimmte es dem Interesse der Kommission zu, die für die Herkunftsländer von Migranten „nachteiligen Folgen der Abwanderung qualifizierter Arbeitnehmer“ zu vermeiden und stattdessen „Wissenszirkulation“ zu fördern.635 Auch Skepsis wird jedoch zum Ausdruck gebracht. So verlangen die Abgeordneten von der Kommission, den „Zusammenhang zwischen Zirkularität und Integration zu erklären“. Auch weisen sie darauf hin, dass zur Verbesserung der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der EU stabile „Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen“ nötig seien.636 Das Parlament lässt hier also Zweifel daran erkennen, dass sich temporär in der EU aufhaltende Migranten integrieren können bzw. fragt, inwieweit Integration in solchen Fällen überhaupt erwünscht ist. Außerdem wird bezweifelt, ob zirkuläre Migration für Arbeitgeber und Unternehmen erstrebenswert ist. Insgesamt gesehen ist die Haltung des Parlaments den Kommissionsvorschlägen gegenüber jedoch positiv. Es gibt indes weitere Gründe, den Kommissionsvorschlag kritisch zu beurteilen. Die Mitteilung vermittelt neben der deutlich erkennbaren Erwartung positiver ökonomischer Auswirkungen der zirkulären Migration auch, dass den betroffenen Migranten die Funktion eines Spielballs zwischen unterschiedlichen Interessen der EU-Staaten und der Herkunftsländer zugewiesen wird. Manche von ihnen sollen über „Beschäftigungsquoten“ in die EU kommen dürfen, während andere, nämlich diejenigen, die sich „illegal“ in der EU aufhalten, mittels Rückübernahmeverpflichtungen zur Heimreise gedrängt werden. Das Hauptkriterium, das dabei angeführt wird, ist ökonomische Verwertbarkeit. Dass zirkuläre Migration zu einer „effizienteren Verteilung der (...) Ressourcen und zum Wirtschaftswachstum“637 beitragen soll, verdeutlicht, dass Migration von der Kommission zum Zeitpunkt der Vorlage der Mitteilung weniger als Sicherheits- oder menschenrechtliches Problem gesehen wird, sondern als ein ökonomisches Phänomen, das im Zuge eines globalen Wett-
Europäisches Parlament, P6_TA(2007) 0414, Artikel 22. Europäisches Parlament, P6_TA(2007) 0414, Artikel 23 und 24. 637 KOM(2007) 248 endgültig, S. 9. 635 636
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bewerbs um Ressourcen, in diesem Fall um „Humanressourcen“, von staatlichen Instanzen im Rahmen einer Standortpolitik ausgebeutet werden darf. Angenendt hält in einer Analyse des Vorschlags fest, Kommission und Parlament ginge es um eine „entwicklungsorientierte Förderung internationaler Mobilität“. Die Innenminister Deutschlands und Frankreichs, die sich in einem gemeinsamen Papier über einen europäischen „Pakt zur Kontrolle der Zuwanderung“ im Oktober 2006 ebenfalls für zirkuläre Migration ausgesprochen hatten, zielten dagegen vor allem auf eine „Steuerung und Begrenzung von Migration“ und auf eine „Reduzierung der illegalen Zuwanderung durch befristete Migrationsprogramme“ ab.638 Angenendts Gegenüberstellung macht einen möglichen Interessengegensatz erkennbar: Während die Kommission Migration sowohl zum Wohle der europäischen Staaten als auch der Herkunftsländer von Arbeitsmigranten fördern will, verstehen die Innenminister das Konzept der zirkulären Migration eher als ein Instrument der Abschottung Europas gegenüber unerwünschter Einwanderung. Kritiker des Konzepts, etwa die Nichtregierungsorganisation PRO ASYL, hatten den Ministern anlässlich des „Pakts zur Kontrolle der Zuwanderung“ vorgeworfen, eine Neuauflage der Gastarbeiterpolitik der Sechzigerjahre zu betreiben. Die Erwartung, dass die eingewanderten Arbeitskräfte nach Ablauf ihres Vertrags wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden, hätte sich jedoch schon damals als illusorisch erwiesen. Hinter den Vorschlägen stehe zudem eine „instrumentelle Sichtweise, die Migranten in erster Linie als Arbeitskräfte sieht, aber nicht als Menschen mit Hoffnungen, Plänen und vor allem Rechten.“639 Auch Angenendt bezweifelt, dass sich temporäre Migrationsprogramme mit einer Laufzeit von drei bis fünf Jahren, wie sie in der EU zur Debatte stehen, so organisieren lassen, dass die Arbeitsmigranten tatsächlich nach Ablauf der Frist wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren.640 Vertovec hat darauf hingewiesen, dass politische Akteure wie die EUKommission auf das Konzept der „zirkulären Migration“ vor allem deshalb aufmerksam geworden sind, weil sie in den letzten Jahren erkannt haben, dass die von Migranten geknüpften transnationalen Kontakte und Netzwerke das weltweite Migrationsgeschehen prägen können: „Through the course of their movement, migrants utilize, extend and establish social connections spanning places of origin and places abroad. By means of such connections or networks, migrants learn and inform each other about where to go, how to get jobs, find places to live, and so on; they also maintain families, economic activities, political interests and cultural practices through such transnational ties. While such networks have practically always functioned among migrants, Angenendt 2007, S. 2. Vgl. PRO ASYL 2007, S. 6f; siehe auch Castles 2006. Dass es sich bei der zirkulären Migration um ein „Gastarbeiter-Programm“ handele, meint auch die österreichische Bundesarbeitskammer, vgl. Bundesarbeitskammer Österreich 2007, S. 4. 640 Vgl. Angenendt 2007, S. 3 638 639
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modern technological advances and reduced costs surrounding transportation and communication have allowed for the intensification of transnational connections, practices and mobility.”641
Vertovec erinnert auch daran, dass Migrationsströme zwischen Industrie- und Entwicklungsländern häufig selbst dann zirkulärer Natur sind, wenn die Politik dies nicht explizit intendiert: „A considerable proportion of migrants are not ‚first movers’; many have made multiple trips within their home country and abroad (...) in order to work.“642 Zirkuläre Migration wäre insofern als ein natürliches Phänomen zu sehen. Dass politische Entscheidungsträger auf die Idee gekommen sind, sich dies zu Nutze zu machen, um den Arbeitskräftebedarf der Zielländer und die Entwicklungsinteressen der Herkunftsländer gleichermaßen befriedigen zu können, wurde Vertovec zufolge auch durch die Einsicht ermöglicht, dass Rücküberweisungen von Migranten in ihre Herkunftsländer eine bedeutende ökonomische Ressource darstellen.643 Vertovec urteilt schließlich, dass eine Förderung zirkulärer Migration tatsächlich sowohl für die entsendenden Staaten, als auch für die Zielländer und darüber hinaus für die Migranten selbst ein Gewinn bedeuten könnte. Gleichzeitig warnt er jedoch vor möglichen negativen Effekten: So könne es passieren, dass Arbeitsmigranten in Abhängigkeit und ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen „eingeschlossen“ werden, dass eine ständige Verfügbarkeit temporärer Migranten andere, neue Migranten von den Arbeitsmärkten der Zielländer ausschließt, dass Abschiebungsmaßnahmen intensiviert werden, wenn temporäre Migranten nicht freiwillig in ihr Herkunftsland zurückkehren, dass die Integrationspolitik vernachlässigt wird, weil Migration als temporäres Phänomen missverstanden wird, oder auch dass temporäre Programme zu einer stärkeren sozialen Exklusion von Arbeitsmigranten in den Zielländern führen.644 Die EU-Kommission lässt in ihrem Konzeptpapier zwar nicht erkennen, dass sie solche Verwerfungen und Probleme in Kauf zu nehmen bereit ist. Jedoch deutet die Tatsache, dass ökonomische Interessen gegenüber anderen möglichen Interessen dominieren, auch nicht darauf hin, dass Warnungen und Einwände wie die von PRO ASYL, Angenendt oder Vertovec ernst genommen werden. Mehr noch als für die Kommission gilt dies für die Mitgliedstaaten, deren Interessen noch weit stärker an Profiterwartungen orientiert sind, und die zirkuläre Migrationskonzepte auch oder sogar vor allem als ein mögliches Mittel der Abschottung der EU gegenüber unerwünschten Migranten verstehen. Im Dezember 2007 forderte der Rat die Kommission formell auf, in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten in einen Dialog mit Kap Verde und der Republik Vertovec 2007, S. 2. Vertovec 2007, S. 5; Siehe auch Constant/Zimmermann 2004. 643 Vgl. Ebenda. 644 Vertovec 2007, S. 6f. 641 642
222
7 Arbeitsmigration, Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration
Moldau zu treten, um mit diesen Staaten „Pilot-Mobilitätspartnerschaften“ auszuhandeln. Mit weiteren Staaten sollen nach Ansicht des Rates Vorabgespräche stattfinden. Nach Auffassung des Rates sollen die künftigen Partnerschaften „umfassend, auf die jeweiligen Bedürfnisse abgestimmt und ausgewogen“ sein und Elemente von beiderseitigem Interesse beinhalten, etwa legale Migration, die Bekämpfung der „illegalen“ Migration sowie Wechselwirkungen von Migration und Entwicklung einschließlich zirkulärer Migration.645 Diese Schlussfolgerungen des Rates wurden – anders als bei anderen migrationsrelevanten Maßnahmen – nicht allein vom Rat der Innen- und Justizminister aufgestellt, sondern von diesem nur gebilligt und dann vom Rat „Allgemeine Angelegenheiten“, in dem die Außenminister der Mitgliedstaaten vertreten sind, angenommen. Somit wurde in diesem Zusammenhang auch eine institutionelle Verbreiterung der Beschäftigung mit Migrationsfragen in der EU deutlich. Rund ein halbes Jahr nach diesem Beschluss, im Juni 2008, verkündete die Kommission die Unterzeichnung von Mobilitätspartnerschaften mit der Republik Moldau und Kap Verde. An der Partnerschaft mit Moldau sind 15 Mitgliedstaaten beteiligt,646 an derjenigen mit Kap Verde vier.647 Die im Rahmen der Partnerschaften vorgesehenen Initiativen beziehen sich vor allem auf einen verbesserten Rahmen für den Personenverkehr und die legale Migration. Nach Angaben der EUKommission trägt die die Partnerschaft sowohl den Erwartungen von Kap Verde Rechnung, insbesondere, was erleichterte Reisebedingungen der kapverdischen Staatsangehörigen bei Kurzaufenthalten in der EU anbelangt, als auch den Erwartungen der Europäischen Union im Hinblick auf die illegale Einwanderung und die Rückübernahme. Im Rahmen der Partnerschaft sind die Einrichtung einer gemeinsamen Antragstelle für Visa für Kurzaufenthalte, die Verbesserung des Rahmens für den Personenverkehr und die legale Migration sowie der Ausbau der kapverdischen Kapazitäten für die Migrationssteuerung geplant, was insbesondere durch die Schaffung eines Zentrums für Informations-, Integrations- und Schutzmaßnahmen für Migranten und Rückkehrer geschehen soll. Ferner ist vorgesehen, wirksamere Migrationsverfahren für Arbeitnehmer einzuführen und sowohl in Kap Verde als auch im Ausland Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Die Partnerschaft erstreckt sich außerdem auf Initiativen, mit denen die Migration für Entwicklungszwecke genutzt wird, indem u.a. der Beitrag der im Ausland lebenden Staatsangehörigen der Republik Kap Verde für die Entwicklung ihres Herkunftslandes durch die Förderung des Transfers von Geldmitteln und Know645 Council of the European Union, Council Conclusions on mobility partnerships and circular migration in the framework of the global approach to migration, 2839 General Affairs Council meeting, Brüssel, 10. Dezember 2007. 646 Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Litauen, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn und Zypern. 647 Spanien, Frankreich, Luxemburg und Portugal.
7.6 Legale Migration und der Reformvertrag von Lissabon
223
how gefördert und die zirkuläre Migration oder die Rückkehr der Migranten unterstützt wird, um die Auswirkungen der Abwanderung von hochqualifizierten Personen einzudämmen. Ein weiteres Ziel der Partnerschaft ist die Bekämpfung der illegalen Einwanderung und des Menschenhandels sowie die Stärkung des Grenzschutzes und der Dokumentensicherheit. Dies geschieht vor allem durch den Ausbau der kapverdischen Kapazitäten im Bereich der Sicherheit im Seeverkehr, der Beherrschung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und der Ausbildung im Bereich der Dokumentenprüfung. Den Grenzkontrollinitiativen dürfte der Abschluss einer Arbeitsvereinbarung zwischen der Republik Kap Verde und der Frontex-Agentur zugute kommen. Ein anderer Gegenstand der Zusammenarbeit wird die Einführung eines den internationalen Normen entsprechenden Asylsystems in Kap Verde sein. 7.6 Legale Migration und der Reformvertrag von Lissabon Nach dem Willen der Staats- und Regierungschefs der EU, der Kommission und des Europäischen Parlaments sollte der Prozess der Europäischen Integration zu Beginn des neuen Jahrhunderts mit einem „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ überarbeitet, weiter vertieft und auf eine neue rechtliche Grundlage gestellt werden. Dieser Vertrag wurde im Oktober 2004 in Rom feierlich unterzeichnet. Der Ratifizierungsprozess wurde jedoch durch Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden aufgehalten, bei denen die Gegner des Verfassungsvertrags gegenüber den Befürwortern überwogen. Nach einer „Reflexionspause“ beschlossen die Staats- und Regierungschefs, den Verfassungsvertrag auf Eis zu legen und stattdessen eine neue Regierungskonferenz einzuberufen, mit dem Ziel, die EU-Verträge zu reformieren, dabei aber unter anderem auf den Verfassungsbegriff zu verzichten. Das Ergebnis, der im Dezember 2007 unterzeichnete „Vertrag von Lissabon“, wurde von einer Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten zeitnah ratifiziert. Ein Referendum in Irland und einzelne weitere Widerstände verzögerten jedoch das Inkrafttreten, welches letztlich erst Ende 2009 erfolgte. Der Lissabonner Vertrag, auch „Reformvertrag“ genannt, löst die „Säulenstruktur“ der Politikbereiche der EU, wie sie der Maastrichter Vertrag einführte, auf. Die verschiedenen Politiken der EU bilden künftig vielmehr einen einheitlichen Korpus, wobei die „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) und die „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (GSVP) nach wie vor einen Sonderstatus haben.648 Formal besteht der Lissabonner Vertrag aus zwei Verträgen, dem „Vertrag über die Europäische Union“ (EUV) und dem „Vertrag über die 648
Vgl. Maurer 2008.
224
7 Arbeitsmigration, Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration
Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV). Während der EUV die Grundsätze, Werte und die Grundzüge der institutionellen Struktur der Union beschreibt, enthält der AEUV unter anderem Bestimmungen und Zielsetzungen für das Handeln der EU-Organe in jedem einzelnen Politikbereich. Die Ziele hinsichtlich der Migrationspolitik sind in Titel V des AEUV enthalten, unter der Überschrift „Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Hier ist festgehalten, dass die EU eine „gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen“ entwickelt, die „sich auf die Solidarität der Mitgliedstaaten gründet und gegenüber Drittstaatsangehörigen angemessen ist“.649 In Artikel 78 ist vorgeschrieben, dass das Europäische Parlament und der Rat „Maßnahmen in Bezug auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem“ erlassen. Die Ziele gemeinsamen Einwanderungspolitik werden in Artikel 79 wie folgt formuliert: „Die Union entwickelt eine gemeinsame Einwanderungspolitik, die in allen Phasen eine wirksame Steuerung der Migrationsströme, eine angemessene Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, sowie die Verhütung und verstärkte Bekämpfung von illegaler Einwanderung und Menschenhandel gewährleisten soll.“
Zu dieser gemeinsamen Einwanderungspolitik gehören auch „Einreise- und Aufenthaltsvoraussetzungen sowie Normen für die Erteilung von Visa und Aufenthaltstiteln für einen langfristigen Aufenthalt, einschließlich solcher zur Familienzusammenführung“.650 Diese Formulierung, die der im Amsterdamer Vertrag ähnelt, ermöglicht auch die Entwicklung einer gemeinsamen EU-Politik zur Steuerung der Arbeitsmigration aus Drittstaaten. Der Vertrag hält jedoch erstmals ausdrücklich fest, dass eine solche Politik nicht so weit gehen darf, dass die EU über den quantitativen Umfang von Arbeitszuwanderung in die Mitgliedstaaten entscheidet: “Dieser Artikel berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten, festzulegen, wie viele Drittstaatsangehörige aus Drittländern in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen, um dort als Arbeitnehmer oder Selbstständige Arbeit zu suchen.” 651
Die Bestimmungen des Lissabonner Vertrags stärken hinsichtlich der Arbeitsmigration die Rolle der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments gegenüber der des Rates bzw. der Mitgliedstaaten. Bei Entscheidungen, die den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betreffen, wird nach Inkrafttreten des Vertrags nicht mehr Einstimmigkeit im Rat verlangt sein. Auch für „legale Migration“, zu der auch die Arbeitsmigration gehört, gilt dann das „ordentliche Gesetzgebungs-
Artikel 67 (2) AEUV. Artikel 79 (2) AEUV. 651 Artikel 79 (5) AEUV. 649 650
7.6 Legale Migration und der Reformvertrag von Lissabon
225
verfahren“652 , also Beschlussfassung nach dem Mehrheitsprinzip im Rat und über das Mitentscheidungsverfahren mit dem Europäischen Parlament. Für die Einwanderungspolitik bedeutet dies, dass die bisher bestehende Möglichkeit, dass ein einzelner Staat Forschritte blockiert, wegfällt, und dass das Europäische Parlament nicht mehr nur konsultiert wird, sondern Änderungen verlangen und eine Maßnahme notfalls ablehnen kann. Der bislang zersplitterte Rechtsrahmen mit Übergangsfristen und je nach Politikbereich unterschiedlichen Kompetenzen der Organe wird somit vereinheitlicht, und die „supranationale“ Dimension der EU gegenüber der intergouvernementalen Komponente gestärkt. Für die Mitgliedstaaten bedeutet dies, dass sie weiter an staatlicher Souveränität aufgeben, dafür aber effizientere Entscheidungsstrukturen erwarten können, was Reformen der Migrationspolitik beschleunigen und die verschiedenen Einzelmaßnahmen innerhalb der Migrationspolitik kohärenter machen könnte.653 Die Migrationspolitik gehört zu den Politikbereichen, in denen in der EU „geteilte Zuständigkeit“ herrscht. Damit ist gemeint, dass sowohl die einzelnen Staaten, als auch die EU hinsichtlich der Migrationspolitik gesetzgeberisch tätig werden können. Die Mitgliedstaaten nehmen ihre Zuständigkeit aber nur dann wahr, wenn die Union nicht tätig wird.654 Neu ist auch, dass die EU Kompetenzen hinsichtlich der Förderung der Integration von Migranten bekommt. Der Vertrag hält jedoch fest, dass es dabei nicht darum geht, nationalstaatliche Integrationspolitiken zu harmonisieren.655 Eher dürfte eine gemeinsame Politik in diesem Bereich darauf hinauslaufen, dass Integrationsanstrengungen in den Mitgliedstaaten von der EU unterstützt werden und die Regierungen Erfahrungen austauschen. Zudem wird innerhalb des Rates ein ständiger Ausschuss geschaffen, der helfen soll, die „operative Zusammenarbeit“ der Mitgliedstaaten, etwa beim Schutz der Außengrenzen und dem Einsatz der Agentur FRONTEX, besser zu koordinieren.656 Dänemark, Großbritannien und Irland haben weiterhin die Möglichkeit, sich an der gemeinsamen Migrationspolitik der EU nicht zu beteiligen („opt-out“).657 Beibehalten wird im „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ auch die bisherige Praxis, dass der Europäische Rat (die Staats- und Regierungschefs) fünfjährige Arbeitsprogramme mit Zielen und Strategien für die Weiterentwicklung der Artikel 294 AEUV. Vgl. Kietz/Parkes 2008, S. 52-54. 654 Neben „geteilter Zuständigkeit“ gibt es auch Politikfelder, in denen die EU „ausschließliche Zuständigkeit“ hat, zum Beispiel im Bereich Zölle, Wettbewerbsregeln und Währungspolitik. Hier haben die Mitgliedstaaten keine nationalen Kompetenzen mehr. Auch gibt es Bereiche, in denen die meisten Kompetenzen noch bei den Mitgliedstaaten liegen und die EU nur unterstützend, koordinierend oder ergänzend tätig wird, z.B. Kulturpolitik, Gesundheit, Tourismus, Bildung oder Jugend; vgl. Becker 2008, S. 1213. 655 Vgl. Artikel 79 (4) AEUV. 656 Vgl. Artikel 71 AEUV. 657 Vgl. Maurer 2008, S. 57. 652 653
226
7 Arbeitsmigration, Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration
gemeinsamen Politik beschließt.658 Solche Programme waren bisher die Schlussfolgerungen des Ratsgipfels von Tampere (siehe Kapitel 3 dieser Arbeit) und das „Haager Programm“ (erwähnt in Kapitel 5), welches 2009 unter schwedischer Ratspräsidentschaft von einem „Stockholmer Programm“ abgelöst wurde. Dass diese Praxis nun in den Vertrag aufgenommen wurde, bedeutet, dass die Mitgliedstaaten auch in Zukunft grundlegende Weichen stellen und allgemeine Ziele der gemeinsamen Politik vorgeben wollen, bevor die Kommission detaillierte Gesetzesinitiativen ausarbeitet und Verhandlungen im Parlament und im Rat beginnen.659 7.7 Der Europäische Pakt zu Einwanderung und Asyl Zum Abschluss dieses Kapitels und zu den Betrachtungen in dieser Arbeit über die Interessen der EU-Institutionen im Bereich Arbeitsmigration soll auf den „Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl“660 eingegangen werden, den die Staats- und Regierungschefs im Oktober 2008 unter französischer Ratspräsidentschaft annahmen. Der Pakt enthält eine Reihe allgemeiner Leitlinien für die künftige Entwicklung der europäischen Einwanderungs- und Asylpolitik. Das Dokument ist juristisch nicht bindend, soll jedoch auf eine engere Abstimmung der Mitgliedstaaten zu Migrations- und Asylthemen hinwirken. In der gemeinsamen Abschiedserklärung des Gipfels in Brüssel wurde formuliert, der Pakt bilde nunmehr „für die Union und ihre Mitgliedstaaten den Sockel für eine gemeinsame Einwanderungs- und Asylpolitik im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten und der Zusammenarbeit mit den Drittstaaten. Diese gemeinsame Politik muss auf einer optimalen Steuerung der Migrationsströme beruhen, was im Interesse nicht nur der Aufnahmeländer, sondern auch der Herkunftsländer und der Migranten selbst ist.“661 Einwanderung wird im Pakt als „eine Realität“ bezeichnet, ein Szenario der „Null-Einwanderung“ dagegen als „unrealistisch und gefährlich“. Einwanderung könne „entscheidend zum wirtschaftlichen Wachstum der Europäischen Union und derjenigen Mitgliedstaaten beitragen, die aufgrund ihrer Arbeitsmarktlage oder ihrer demografischen Situation Migranten brauchen“, heißt es weiter. Zugleich wird betont, die Union
658 „Der Europäische Rat legt die strategischen Leitlinien für die gesetzgeberische und operative Programmplanung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts fest“, Artikel 68 AEUV. 659 Maurer hält in einer Analyse des Lissabonner Vertrags fest, dass der Europäische Rat, also die Staatsund Regierungschefs der EU, insgesamt aufgewertet wurden und künftig die Funktion eines EU-Organs haben. Das bisherige „institutionelle Dreieck“ aus Rat, Kommission und Parlament“ werde durch den Vertrag zu einem „Vieleck“; vgl. Maurer 2008, S. 17. 660 Rat der Europäischen Union, Dok.-Nr. 13440/08. 661 Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 15. und 16. Oktober 2008.
7.7 Der Europäische Pakt zu Einwanderung und Asyl
227
verfüge „nicht über genügend Mittel, um alle Migranten, die sich hier ein besseres Leben erhoffen, würdig aufzunehmen“.662 Im Detail benennt der Pakt fünf Kerngebiete der künftigen Zusammenarbeit im Bereich Einwanderung und Asyl, namentlich die Gestaltung der legalen Einwanderung, die Bekämpfung der illegalen Einwanderung, die Stärkung der Wirksamkeit der Grenzkontrollen, die Schaffung eines „Europas des Asyls“ sowie den Aufbau einer „umfassenden Partnerschaft mit den Herkunfts- und Transitländern“ mit dem Ziel, „Synergien zwischen Migration und Entwicklung“ zu stärken. Hinsichtlich des ersten Punkts wird betont, es sei die Sache jedes Mitgliedstaats, über die für legale Migraten geltenden Voraussetzungen für die Einreise in sein Hoheitsgebiet zu entscheiden und gegebenenfalls deren Anzahl festzusetzen. Die Mitgliedstaaten werden aufgerufen, in Abhängigkeit der Arbeitsmarkterfordernisse eine Politik der „bewusst gewählten“ und unter Berücksichtigung möglicher Auswirkungen auf die anderen Mitgliedstaaten abgestimmten Einwanderung zu verfolgen. Angemahnt wird hier auch eine „faire Behandlung der Migranten“ und eine „harmonische Integration“. Die Attraktivität der EU für hochqualifizierte Arbeitnehmer müsse erhöht werden, und temporäre und zirkuläre Migration sei zu fördern. Zuwanderung aus familiären Gründen sei „besser zu regeln“. Zum zweiten Punkt, der Bekämpfung der illegalen Einwanderung, wird im Pakt gefordert, eine stringentere Rückkehrpolitik zu entwickeln, wobei einer freiwilligen Rückkehr der Vorzug zu geben sei. Aus humanitären oder wirtschaftlichen Gründen durchgeführte Legalisierungen „illegaler“ Einwanderer sollten einzelfallabhängig und nicht allgemein erfolgen. Hinsichtlich des dritten Kerngebiets der Zusammenarbeit soll eine wirksamere Kontrolle an den Land-, See- und Luftaußengrenzen hergestellt werden. Genannt wird hier auch die Rolle der Grenzschutzagentur Frontex und die Praxis der Visumerteilung. Ein- und Ausreisen in die EU müssten elektronisch erfasst werden. Bezüglich des „Europas des Asyls“ halten die Staats- und Regierungschefs fest, dass ein gemeinsames europäisches Asylsystem einschließlich eines einheitlichen Asylverfahrens eingeführt werden sollte. Es sollte in diesem Zusammenhang ein „höheres Schutzniveau“ angestrebt werden. Um den Austausch von asylbezogenen Informationen, Analysen und Erfahrungen zu erleichtern, soll ein europäisches „Unterstützungsbüro“ für Asylfragen eingerichtet werden. Vor dem Hintergrund, dass einige Mitgliedstaaten mehr Asylbewerber aufnehmen als andere, wird angeregt, auf einer „freiwilligen und koordinierten Basis eine bessere Umverteilung der Personen, die auf internationalen Schutz Anspruch haben“ zu fördern. Im Hinblick auf die „Partnerschaft mit den Herkunfts- und den Transitländern“ wird gefordert, auf Gemeinschaftseben oder bilateral Abkommen zu schließen, die – angepasst an die Arbeitsmarktlage in den Mitgliedstaaten – Möglichkeiten 662
Rat der Europäischen Union, Dok.-Nr. 13440/08, S. 2.
228
7 Arbeitsmigration, Mobilitätspartnerschaften und zirkuläre Migration
der legalen Migration eröffnen, die illegale Einwanderung bekämpfen und zur Entwicklung in den Herkunfts- und Transitländern beitragen sollen. Auch Formen der temporären und der zirkulären Migration sollten gefördert werden.663 Mit den genannten inhaltlichen Schwerpunkten ist der Pakt im Wesentlichen eine Fortführung der bisherigen Einwanderungspolitik auf EU-Ebene und enthält kaum neue Interessen oder Zielsetzungen. Wirklich neue Handlungsanweisungen ergeben sich nicht, auch wenn den EU-Mitgliedstaaten und der Kommission in den kommenden Jahren neue Berichtspflichten entstehen. Einmal pro Jahr soll der Europäische Rat eine Zwischenbilanz hinsichtlich der Umsetzung der im Pakt genannten Ziele ziehen. Zu diesem Zweck erstellt die Kommission einen jährlichen Bericht, der wiederum auf Zulieferungen der einzelnen Mitgliedstaaten beruht. Diese Zulieferungen werden von den zuständigen nationalen Ministerien und den nationalen Kontaktstellen des Europäischen Migrationsnetzwerks (EMN) geleistet. Mit dem geplanten „Unterstützungsbüro“ für Asylfragen („European Asylum Support Office“) entsteht zudem eine neue EU-Agentur, was eine Weiterentwicklung der institutionellen Struktur im Bereich Asyl bedeutet. Das Unterstützungsbüro soll vor allem zu einer einheitlicheren Entscheidungspraxis der Mitgliedstaaten bei Asylanträgen beitragen. Kritisch angemerkt wurde von Beobachtern, dass der Pakt die Rolle der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des gemeinsamen migrations- und asylpolitischen Ansatzes stark betont und somit die Gemeinschaftskompetenz schwächen könnte. Es sei beispielsweise die alleinige Kompetenz jedes Mitgliedstaats, die Einreise von Drittstaatsangehörigen zu Arbeitszwecken zu regeln, hält der Pakt fest. Der Vorschlag der Kommission zur Einführung gemeinsamer Kriterien in Verbindung mit einer Europäischen „Blue Card“ wird nicht erwähnt. Auch werden die Mitgliedstaaten indirekt ermahnt, striktere Begrenzungen des Familiennachzugsrechts einzuführen, wobei ignoriert wird, dass es bereits eine gültige EU-Richtlinie in diesem Bereich gibt und es den Mitgliedstaaten gar nicht mehr möglich ist, das Nachzugsrecht beliebig einzuschränken. Das Centre for European Policy Studies benannte daher „Intergouvernementalismus“ und „Nationalismus“ als zentrale Merkmale des gemeinsamen Dokuments. Es betone für die gemeinsame EU-Migrationspolitik ein auf Konkurrenz unter den Mitgliedstaaten basierendes Zusammenarbeitsmodell anstatt einer Stärkung der institutionalisierten „Gemeinschaftsmethode“. Der Aufbau einer wirklich gemeinsamen Politik werde erschwert, anstatt erleichtert. 664 Aus dieser Sicht betrachtet kann der Pakt als Versuch der französischen Regierung verstanden werden, ihre nationale migrationspolitischen Interessen, etwa die Vorstellung einer selektiven Einwanderung, auf europäischer Ebene zu verankern. Die EU-Ebene soll nationalen Präferenzen größere Legitimität und Durchsetzungs663 664
Rat der Europäischen Union, Dok.-Nr. 13440/08, S. 5-13. Carrera/Guild 2008, S. 4f.
7.7 Der Europäische Pakt zu Einwanderung und Asyl
229
fähigkeit verleihen. Andererseits kann die Tatsache, dass der Pakt einer Reihe von bereits zuvor auf EU-Ebene formulierten Interessen erneut Ausdruck verleiht, auch dazu beitragen, dass die Institutionalisierung bestimmter Ziele, etwa der Steuerung der legalen Einwanderung auf der Basis der Arbeitsmarktbedürfnisse der Mitgliedstaaten, verstärkt wird. Durch die von den Staats- und Regierungschefs vereinbarten jährlichen Berichts- und Bilanzierungspflichten wird die gemeinsame Migrationspolitik in diesem Gremium vertieft.
8 Diskussion und Schlussbetrachtung
8.1 EU-Institutionen und Arbeitsmigration Die vorliegende Arbeit hatte zum Ziel, die Interessen der EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten im Bereich der Migrationspolitik und bei der Entwicklung einer gemeinsamen Strategie für Arbeitsmigration aus Drittstaaten in die EU zu ergründen, Veränderungen und Weiterentwicklungen dieser Interessen zu erklären, wesentliche Zusammenhänge aufzuzeigen und zu untersuchen, welche der EUInstitutionen im Wettstreit der Interessen über eine gemeinsame Migrationspolitik die größte Gestaltungsmacht besitzt. Es wurden eine historisch-institutionalistische Perspektive und ein chronologischer Aufbau der Analyse gewählt. Die Untersuchung wichtiger Dokumente aus den EU-Organen Rat, Kommission und Parlament, sowie ein Blick auf Stellungnahmen der Mitgliedstaaten zu migrationspolitischen Vorschlägen der Kommission und auf Diskussionen auf nationaler Ebene in einzelnen Mitgliedstaaten haben deutlich gemacht, dass manche Interessen im Lauf der Neunzigerjahre und im 21. Jahrhundert (bis Frühjahr 2008) relativ konstant geblieben sind und institutionalisiert wurden. Das Ziel etwa, unerwünschte Migrationsbewegungen von der EU fernzuhalten und das zusammengewachsene Europa nach außen abzuschotten, zeichnete sich bereits in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts ab, hat sich danach weiter verstärkt und lebt 2008, dem Jahr der Fertigstellung dieser Arbeit, immer noch weiter. Auch wenn manchmal argumentiert wird, die EU brauche angesichts ihrer Bevölkerungsentwicklung große Zahlen von Einwanderern, deutet nichts darauf hin, dass Abwehrinteressen in absehbarer Zeit verworfen, die Außengrenzen der EU geöffnet und Visumvorschriften für Staatsangehörige von Ländern der so genannten „dritten Welt“ gelockert oder abgeschafft werden könnten. Zu restriktiven Maßnahmen, gerichtet auf die Abwehr von unerwünschten Wanderungsbewegungen in einem möglichst frühen Stadium und möglichst weit von der EU entfernt, haben sich alle Mitgliedstaaten verpflichtet. Manche, darunter die Bundesrepublik Deutschland, zeigen besonders starkes Interesse an solchen Maßnahmen und drängen nach wie vor auf eine Weiterführung und Intensivierung der Abschottungspolitik. Andere, etwa Polen und andere noch „neue“ Mitgliedsländer der EU, vertreten das Sicherheits- und Abschottungsinteresse weniger aufgrund nationaler Entwicklungen und Debatten, sondern haben es von den EU-Partnern übernommen. Hinsichtlich des Sicherheits-, Abwehr und Abschottungsinteressen besteht somit Konvergenz sowohl unter den Mitgliedstaaten,
232
8 Diskussion und Schlussbetrachtung
als auch unter den EU-Organen. Diese Stabilität und Verstärkung dieser Interessen spricht für die von manchen Politikwissenschaftlern behauptete wichtige Rolle von „Institutionen“, hier verstanden als Normen oder Ziele, im Prozess der Europäischen Integration. Gleichwohl sind im Zeitraum zwischen 1997, dem Jahr der Unterzeichnung des Vertrags von Amsterdam, und Frühjahr 2008, dem Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit, auch Veränderungen der Interessen erkennbar geworden. Das Spektrum der Interessen hat sich diversifiziert, und nicht allen Diskussionen und Legislativvorschlägen der letzten Jahre liegt ausschließlich das Ziel der Abwehr von Migrationsbewegungen und der Abschottung der EU zugrunde. In Debatten über Migrationspolitik auf EU-Ebene, aber auch im Innern von Mitgliedstaaten, werden ungefähr seit 2000 immer häufiger Interessen formuliert, die eher an die Jahre erinnern, in denen west- und mitteleuropäische Staaten aktiv Arbeitsmigranten aus Südeuropa und dem Mittelmeerraum anwarben, als an die Neunzigerjahre, in denen Sorgen um „Massenfluchtbewegungen“ und „Asylmissbrauch“ die Debatte beherrschten. Das Argument, Migration könne positive Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte haben, liest man in neueren Papieren aller EU-Organe häufig. Dass die Wirtschaft in der EU auf hochqualifizierte Migranten mit bestimmten „Schlüsselqualifikationen“ angewiesen sei, ist eine Überlegung, die sich mäanderförmig durch zahlreiche neuere Policy-Dokumente der Institutionen hindurchzieht.665 Ein „Wettbewerb um die besten Köpfe“ stehe bevor.666 Auch wird auf die alternde Gesellschaft verwiesen oder auf den Rückgang der Geburtenzahlen in vielen EU-Staaten, und es wird argumentiert, Einwanderung könnte diese Probleme zumindest vorübergehend lindern.667 Solche Interessen haben gegenwärtig zwar erst ansatzweise zu greifbaren gemeinsamen Strategien der EU-Staaten geführt oder die bestehende Migrationspolitik der EU nennenswert geprägt, sind aber dabei, sich mehr Gehör zu verschaffen und könnten sich langfristig ebenso, wie es in der Asylpolitik bereits der Fall ist, institutionalisieren und verfestigen. Um die fortbestehenden Abwehrinteressen einerseits und die ökonomischen, arbeitsmarktpolitischen oder demografischen Nützlichkeitsinteressen andererseits miteinander vereinbaren zu können, haben die EU-Akteure in vielen EUDokumenten der letzten Jahre, etwa in den nach Ratsgipfeltreffen niedergeschriebenen „Schlussfolgerungen des Vorsitzes“, neue Formulierungen für ihre Interessen im Bereich der Migrationspolitik verwendet. So ist dort von einer „Verwaltung der Migrationsströme“668 die Rede, von einem „ausgewogenen“, „umfassenden“ oder
665 Vgl. den Abschnitt über Polens Stellungnahme zum Grünbuch der EU-Kommission über Wirtschaftsmigration. 666 Vgl. den Abschnitt über Deutschlands Stellungnahme und KOM(2004) 178 endgültig, S. 46. 667 Vgl. KOM(2005) 669 endgültig, S. 5. 668 Vgl. beispielsweise KOM(2004) 811 endgültig, S. 1.
8.1 EU-Institutionen und Arbeitsmigration
233
„globalen Ansatz“669 oder von „wirksamem Migrationsmanagement“.670 2006 erklärten die Staats- und Regierungschefs, eine der „Hauptprioritäten“ der EU sei es, „die mit der Migration verbundenen Probleme zu lösen und die Chancen, die sie bietet, wahrzunehmen“.671 Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft beschrieb ein Ziel der europäischen Migrationspolitik auf ihrer Internetseite im ersten Halbjahr 2007 als „Nutzbarmachung der Vorteile legaler Migration“.672 Derlei Formulierungen weichen von Aussagen früherer Jahre ab, als Migration fast ausschließlich als Sicherheitsproblem beschrieben und als Bedrohung dargestellt wurde. Die Interessen im Bereich der Migrationspolitik sind also vielschichtiger geworden. Nach der Dominanz von Abschottungs- und Sicherheitsinteressen in den Neunzigerjahren wird Migration nun, im beginnenden 21. Jahrhundert, in einem deutlich breiteren Kontext gesehen. Dabei wird zunehmend zwischen nützlichen und unerwünschten Migranten differenziert, auch wenn die Adjektive „nützlich“ oder „unnütz“ in offiziellen Policy-Dokumenten eher selten vorkommen. Schwierig für die EU ist jedoch die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten die Frage, welche Migranten „nützlich“ sind, unterschiedlich beantworten. Südeuropäische Länder setzen auf Arbeitsmigranten mit eher niedrigem Qualifikationsniveau. Sie sollen Arbeiten verrichten, die einheimische Arbeitskräfte scheuen. Diese Interessenlage könnte in naher Zukunft auch auf Polen und andere „neue“ EU-Mitgliedstaaten zutreffen, deren Staatsbürger in großer Zahl in anderen EU-Ländern arbeiten. Deutschland, Großbritannien, Frankreich und andere EU-Länder sind dagegen vor allem an Hochqualifizierten interessiert. Einmal mehr stellt sich also die Frage, ob es gelingen kann, aus unterschiedlichen nationalen Interessen ein gemeinsames EUKonzept für die Regelung einer wichtigen Migrationsfrage zu entwickeln. Die eingangs erwähnten Überlegungen von Baldwin-Edwards aus dem Jahr 1991, denen zufolge es in der damaligen EG unterschiedliche Migrationssysteme gibt, was wiederum darauf hindeutet, dass die Suche nach gemeinsamen Strategien schwierig sein kann, sind also nach wie vor von Belang.673 Insgesamt deutet die Entwicklung der Interessen trotz dieser Unterschiede aber darauf hin, dass der einst umstrittene Satz des ehemaligen bayerischen Innenministers Günther Beckstein aus dem Jahr 2000, Deutschland brauche weniger Ausländer, „die uns ausnützen“ und mehr, „die uns nützen“, mittlerweile zu einer Art Leitbild, einem Grundinteresse in der europäischen Migrationspolitik des 21. Jahrhunderts wird. Migration wird in diesem Kontext zu einer Frage der Wirtschaftspolitik, der Arbeitsmarktpolitik und der Standortsicherung. 669 KOM(2006) 735 endgültig, S. 8; Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 14. und 15. Dezember 2006, S. 7; Europäisches Parlament, P6_TA(2007) 0414, Erwägungsgrund D. 670 Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 14. und 15, S. 8. 671 Europäischer Rat (Brüssel), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 14. und 15. Dezember 2006, S. 6. 672 http://www.eu2007.de, Startseite / EU-Politikbereiche / Justiz und Inneres / Inneres. 673 Vgl. Baldwin-Edwards 1991.
234
8 Diskussion und Schlussbetrachtung
In den nachfolgenden Abschnitten dieses Schlusskapitels soll zusammenfassend diskutiert werden, wie sich die EU-Institutionen zur Migrationspolitik verhalten haben, wie es zu den genannten Entwicklungen hinsichtlich der Interessen in der Migrationspolitik kam und welche Schlüsse daraus zu ziehen sind. Der abschließende Abschnitt dieser Arbeit bietet einen kritischen Ausblick auf die Entwicklung der Migrationspolitik in der EU. 8.2 Der Wettstreit der Interessen unter den EU-Akteuren 8.2.1
Europäischer Rat, Ministerrat und Mitgliedstaaten
Am Wettstreit über die Durchsetzung von Interessen hinsichtlich der gemeinsamen Migrationspolitik der EU sind die Mitgliedstaaten dreifach beteiligt und haben insofern besonders großes Gewicht. Erstens können sich die Regierungen der Mitgliedstaaten direkt an die anderen EU-Organe wenden, etwa eine geplante Maßnahme kritisieren oder Vorschläge unterbreiten. Diese Beteiligungsmöglichkeit der Staaten wurde in der vorliegenden Arbeit unter anderem bei der Analyse der Reaktionen der Mitgliedsländer auf das Grünbuch der EU-Kommission zur Arbeitsmigration 2005 erwähnt. Zweitens treffen sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten bei Gipfeltreffen des Europäischen Rates, wo sie meist allgemein gehaltene Richtlinien und Ziele für die Entwicklung der gemeinsamen Politik in der EU vorgeben. Die jeweiligen nationalen Interessen werden bei diesen Gipfeln über Verhandlungen und Kompromisse in ein gemeinsames Interesse „gegossen“, das anschließend in den vor der jeweiligen Ratspräsidentschaft niedergeschriebenen „Schlussfolgerungen“ verankert wird. Diese Schlussfolgerungen dienen der EU-Kommission bei der Ausarbeitung von Strategiepapieren und konkreten Legislativvorschlägen als Handlungsanweisung. Beispiele hierfür wurden in dieser Arbeit beschrieben. Drittens vertreten die Mitgliedstaaten Interessen im Bereich der Migrationspolitik über ihre Innen- und Justizminister im Ministerrat der EU. Hier prallen ebenfalls Interessen aufeinander, und hier geht es darum, von der EU-Kommission vorgeschlagene und – je nach Sachgebiet – vom Parlament verabschiedete oder kommentierte Legislativmaßnahmen zu verabschieden, sie zu verändern oder zu verwerfen. Es ist deutlich geworden, dass die Staaten auf diesen drei Ebenen unterschiedlich agieren und nicht immer die gleichen Interessen vertreten. Was die Regierungschefs beim „Europäischen Rat“ formulieren, deckt sich nicht unbedingt mit den Interessen, mit denen sich die Mitgliedstaaten direkt an die anderen EU-Organe wenden und kann sogar in direktem Widerspruch zu den Haltungen und zum Abstimmungsverhalten der Fachminister im Ministerrat stehen. So hatten sich die Regierungschefs beispielsweise schon früh, beim EU-Gipfel von Tampere 1999, auf
8.2 Der Wettstreit der Interessen unter den EU-Akteuren
235
das gemeinsame Interesse festgelegt, alle Arten von Zuwanderung, inklusive Arbeitsmigration, in der EU gemeinsam zu regeln. Damit entwarfen sie eine Zukunftsvision für eine der europäischen Wirtschaft zuträgliche und an Bedarfssituationen auf den Arbeitsmärkten angepasste Migrationspolitik. Nichtsdestotrotz waren es auch die Regierungen der Mitgliedstaaten, die Fortschritte bei der Entwicklung einer solchen Politik bewusst verhinderten, beispielsweise in den Jahren 2001 bis 2003, als ein Richtlinienvorschlag der EU-Kommission über Arbeitsmigration blockiert wurde. Die Regierungen ließen damals erkennen, dass es keinen dringenden Bedarf für eine gemeinsame EU-Politik gebe, und dass die nationale Souveränität hinsichtlich der Regelung von Arbeitseinwanderung aus Drittstaaten nicht aufgegeben oder auch nur relativiert werden sollte. Es wurden keine ernsthaften Versuche unternommen, sich auf einen Kompromiss zu einigen. Allen voran Deutschland begab sich in Opposition zu den 1999 von den Staats- und Regierungschefs vereinbarten und anschließend von der Kommission konkretisierten Zielen. Daraus ist zu folgern, dass es den Staaten zwar gelingt, bei Ratsgipfeln wohlfeile Erklärungen über allgemein formulierte Ziele für die gemeinsame Migrationspolitik abzugeben, dass der Wettstreit verschiedener Interessen aber erst dann wirklich beginnt, wenn es um die konkrete Ausgestaltung dieser Ziele, etwa in Form einer verbindlichen Richtlinie, geht. Es ergibt sich auch, dass es theoretisch von Seiten der Mitgliedstaaten ein Interesse an gemeinsamer Politik im Bereich der legalen Migration und der Arbeitsmigration gibt, dass bei konkreten Schritten jedoch Interessengegensätze auftreten können, die Einigungen verzögern, erschweren und sogar unmöglich machen. Die Formulierung von Interessen seitens der Staats- und Regierungschefs und die Interessenvertretung seitens der Innen- und Justizminister erweisen sich im Bereich der Migrationspolitik somit als ein Wechselspiel zwischen der Formulierung von Visionen einer proaktiven Migrationspolitik für die Zukunft einerseits und der Verhinderung der Umsetzung entsprechender Maßnahmen seitens des Ministerrats andererseits. Während es im Bereich der Flüchtlings- und Asylpolitik sowie beim Vorgehen gegen „illegale Einwanderung“ im Lauf der Neunzigerjahre und danach leichter geworden ist, gemeinsame Interessen zu formulieren und auf dieser Grundlage europäische Maßnahmen in Kraft zu setzen, die bereits eine Harmonisierung und teilweise auch eine „Vergemeinschaftung“ der vormals nur nationalen Politiken ermöglicht haben, erweisen sich Einigungsprozesse im Bereich der legalen Zuwanderung und insbesondere der Arbeitsmigration aus Drittstaaten bislang als schwierig. Dies liegt daran, dass die Ziele und Interessen der Mitgliedstaaten im Bereich der Arbeitsmigration unterschiedlich und noch nicht auf EU-Ebene in Form gemeinsamer Ziele institutionalisiert sind. Rückgreifend auf die im Kapitel über „Interessen in einer europäisierten Migrationspolitik“ genannten Überlegungen zu den Voraussetzungen für Fortschritte beim EU-Integrationsprozess lässt sich sagen, dass zum einen die Voraussetzung, der zufolge Interessen weitgehend übereinstim-
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8 Diskussion und Schlussbetrachtung
men müssen, nicht erfüllt ist. Zum anderen sind die erwarteten Vorteile einer europäischen Zusammenarbeit in Fragen der Migration aus Sicht der Mitgliedstaaten offensichtlich noch geringer, als die in Folge eines möglichen Verlustes nationaler Gestaltungsmöglichkeiten und einer Übertragung von Zuständigkeiten auf die EU befürchteten Nachteile. Trotz dieser Probleme ist aber wenigstens ein Grundstock an gemeinsamen EU-Regeln zur Gestaltung der Arbeitsmigration aus Drittstaaten für die Zukunft zu erwarten. Wie in dieser Arbeit nachgewiesen wurde, haben die Staats- und Regierungschefs mehrfach ihren Willen betont, solche Regeln auszuarbeiten und in Kraft zu setzen. Dass ein mehrfach ausgesprochenes Ziel vollkommen zurückgenommen wird, ist unwahrscheinlich. Bisherige Erfahrungen mit dem europäischen Integrationsprozess zeigen vielmehr, dass einmal schriftlich fixierte Ziele in der Regel umgesetzt werden – wenn dies mitunter auch sehr lange dauert. Die Formulierung eines Ziels bei Ratsgipfeln ist oft der erste Schritt zur Institutionalisierung eines Ziels auf EU-Ebene. „Schlussfolgerungen“ bieten sowohl der Kommission als auch dem Parlament einen wichtigen Referenzpunkt. Sie können sich bei der Begründung von Gesetzesvorlagen darauf berufen, im Sinne der Staats- und Regierungschefs zu handeln, was ihren Interessen gegenüber dem Rat mehr Gewicht verleiht. Außerdem fällt auf, dass die Antworten der Regierungen auf die im Grünbuch der Kommission über Wirtschaftsmigration aufgeworfenen Fragen deutlich machen, dass alle Staaten eine Position dazu haben, und dass Einwanderung und Arbeitsmigration in allen Mitgliedstaaten wichtige Themen sind. Noch werden diese zwar jeweils unterschiedlich debattiert und behandelt, doch war dies früher auch im Bereich der Asyl- und Flüchtlingspolitik der Fall, bei der es in den späten Neunzigerjahren zu ersten Harmonisierungsschritten gekommen ist später auch ein gemeinsamer europäischer Rechtsrahmen ausgearbeitet wurde. Die Einschätzung der Kommission, dass früher oder später alle EU-Staaten Engpässe und Mangelsituationen auf dem Arbeitsmarkt erleben dürften und eine negative – oder wenigstens nicht ausreichend positive – Bevölkerungsentwicklung verzeichnen und daher an Arbeitskräften aus Drittstaaten interessiert sein dürften, könnte sich bewahrheiten. Als offen erscheint insofern weniger die Frage, ob es in Europa wirklich zu gemeinsamen EU-Regeln über die Arbeitsmigration kommt, sondern eher, in welchem Umfang die Staaten Kompetenzen auf die EU-Ebene verlagern werden und wie schnell dies erfolgen wird. Zurückgreifend auf die in den vorderen Teilen dieser Arbeit beschriebenen Theorien über die Europäische Integration lässt sich folgern, dass die intergouvernementale Komponente in der EU nach wie vor stark ist, und dass auch Debatten innerhalb der Mitgliedstaaten massive Auswirkungen auf die europäische Politik haben können. Gleichzeitig spricht die Geschichte der gemeinsamen Migrationspolitik in der EU dafür, dass sich sowohl funktionale Zusammenhänge als auch institutionalisierte Ziele langfristig durchsetzen.
8.2 Der Wettstreit der Interessen unter den EU-Akteuren
8.2.2
237
Kommission
Nachdem 2001 ein Richtlinienvorschlag der EU-Kommission über die Arbeitsmigration schon in einer sehr frühen Phase der Verhandlungen von den Mitgliedstaaten verhindert wurde, wählte sie 2005 mit der Vorstellung eines „Grünbuchs“ zu diesem Thema eine grundsätzlich andere Herangehensweise. Anstatt die Mitgliedstaaten vor einen bereits ausgearbeiteten Vorschlag zu stellen, beschrieb sie lediglich verschiedene mögliche Regelungen und Szenarien, trug Fakten über Migrationsbewegungen, unterschiedliche migrationspolitische Strategien auf nationaler Ebene und über die Entwicklung der Arbeitsmärkte und die Bevölkerungsentwicklung in Europa zusammen und forderte die Regierungen der Mitgliedstaaten und andere Interessengruppen auf, dazu Stellung zu beziehen. Ohne Zwang erreichte sie mit dieser Vorgehensweise, dass alle Mitgliedstaaten ihre Interessen offen legten und deutlich machten, inwieweit sie sich gemeinsame EU-Regeln vorstellen konnten. Dabei wurden sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten erkennbar. Auf der Basis der Reaktionen auf das Grünbuch entwarf die Kommission dann einen „strategischen Plan für legale Zuwanderung“, in dem sie die weitere Vorgehensweise beschrieb und argumentierte, der strategische Plan sei ein Kompromiss und eine Synthese aus den Interessen aller beteiligten Akteure. Diese Strategie der Kommission deutet auf zweierlei Tatbestände hin. Erstens machte sie klar, dass sie sich als Motor des europäischen Integrationsprozesses und als „Hüterin der Verträge“ versteht. Die Brüsseler Behörde ließ sich durch das „Nein“ der Mitgliedstaaten zu ihrem Vorschlag von 2001 nicht von dem Interesse abbringen, eine gemeinsame Politik für Arbeitsmigration für die gesamte EU zu entwickeln und damit den Europäisierungsprozess weiterzuführen. Ein Mandat hatte sie hierfür sowohl durch den Vertrag von Amsterdam, als auch durch die Beschlüsse des EU-Gipfels von Tampere, das „Haager Programm“ und spätere Ratsgipfel, auf denen die Staats- und Regierungschefs gemeinsame Schritte gefordert hatten. Das Grünbuch spiegelt somit den Willen der Kommission wieder, sich nicht von institutionalisierten Zielen abbringen zu lassen. Zweitens erwarb sich die Kommission mit Hilfe des Konsultationsprozesses zu den Vorschlägen im Grünbuch einen Wissensvorsprung gegenüber den Mitgliedstaaten und somit einen Machtzuwachs. Der Richtlinienvorschlag von 2001 wurde ausgearbeitet, ohne die genauen Interessen der Mitgliedstaaten zu kennen, und dem Scheitern der Verhandlungen darüber stand die Kommission hilflos gegenüber. Dadurch, dass das Grünbuch weniger konkret blieb und lediglich einen Diskussionsprozess anstoßen sollte, lockte sie die Mitgliedstaaten aus der Reserve. Da sich fast alle zum Grünbuch äußerten, kannte sie nunmehr ihre Interessen und konnte diese bei folgenden Legislativvorschlägen berücksichtigen. Vor den entscheidenden Verhandlungen bereits über mögliche „Knackpunkte“ und zu erwartende Interes-
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8 Diskussion und Schlussbetrachtung
sengegensätze Bescheid zu wissen, ermöglicht es, frühzeitig darauf einzugehen und Initiativen entsprechend anzupassen. In der politikwissenschaftlichen Literatur wurde verschiedentlich argumentiert, die Kommission könne Gestaltungsmacht vor allem über Wissensvorsprünge gegenüber den anderen EU-Institutionen und über die Möglichkeit, die „Agenda“ zu setzen und politische Vorhaben zu strukturieren, ausüben, während die eigentliche Macht, eine Politik umzusetzen oder zu verhindern, beim Rat liege.674 Der „Grünbuch-Prozess“ macht deutlich, dass die Kommission dies nunmehr – bewusst oder unbewusst – berücksichtigt. Bei der Frage der Gestaltung der Arbeitsmigration hat die Kommission sowohl Beharrlichkeit als auch Flexibilität bewiesen. Dass sie die einzelnen Aspekte der Arbeitsmigration in vier „sektorale“ Richtlinien fragmentierte und erwartet, zumindest einige davon in dieser Form leichter durchsetzen zu können, als in Form einer „horizontalen“, allgemeinen Richtlinie über alle Arten der Arbeitswanderung, deutet darauf hin, dass sie in dieser Frage die Interessen der Mitgliedstaaten im Rat antizipiert hat und ihre Politik gezielt entsprechend strukturiert hat. Dass sie als erste der geplanten Maßnahmen zur Steuerung Arbeitsmigration die Richtlinie über Hochqualifizierte konkretisierte, suggeriert, dass sie hinsichtlich dieser Migrantengruppe eine Einigung der Mitgliedstaaten für am wahrscheinlichsten und am leichtesten durchsetzbar hielt. Dass diese Richtlinie inzwischen vom Rat angenommen wurde, bestätigt die Strategie der Kommission und könnte auch die Durchsetzung weiterer „sektoraler“ Richtlinien erleichtern. In Bezug auf die inhaltlichen Interessen der Kommission in der Migrationspolitik lässt sich sagen, dass es sowohl Ähnlichkeiten, als auch Unterschiede zu den von den Mitgliedstaaten und vom Rat vertretenen Interessen gibt. Zunächst wird in den Papieren der Kommission deutlich, dass sie stark an Bestimmungen der EUVerträge, an Schlussfolgerungen von Ratsgipfeln und an schon zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegte Legislativvorschläge und andere EU-Dokumente anknüpft. Damit wird vermittelt, es bestehe Kontinuität in der EU-Politik, und neue Vorschläge bauten auf bereits bestehende auf. Gleichzeitig entzieht sich die Kommission auf diese Weise dem Verdacht, sie verhalte sich ideologisch und vertrete eigene Interessen, die nicht von anderen Akteuren gedeckt würden. Die Kommission begründet ihre Vorlagen ausführlich, während der Rat weitgehend auf Begründungen verzichtet. Besonders häufig wird in Kommissionsdokumenten auch auf Zahlenmaterial, Statistiken, Studien und Stellungnahmen von Wissenschaftlern verwiesen. So finden sich etwa im „Grünbuch“ von 2005 und im „Strategischen Plan“ von 2006 zahlreiche Verweise auf die demografische Entwicklung in den EU-Staaten, auf die Lage auf den Arbeitsmärkten oder den gegenwärtigen und künftigen Personalbedarf der Wirtschaft. Mit derlei Verweisen will die Kommission ebenfalls deutlich machen, 674
Vgl. Pollack 1997, S. 115; Wallace 1996, S. 148f., Maurer/Parkes 2007, S. 100.
8.2 Der Wettstreit der Interessen unter den EU-Akteuren
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sich neutral und sachlich zu verhalten. Zusätzliche Legitimität und Glaubwürdigkeit verleiht sie ihren Positionen auch durch breite Konsultationsprozesse wie etwa beim Grünbuch über Wirtschaftsmigration 2005 oder im Rahmen von früheren Vorschlägen im Bereich der Asylpolitik. Zudem hat sie sich über Netzwerke des Informationsaustauschs, etwa das Europäische Migrationsnetzwerk (EMN) oder Eurasil, direkte Zugänge zu in den Mitgliedstaaten verfügbaren Informationen und die dort vertretenen Interessen gesichert, die sie in Verhandlungsprozessen und bei legislativen Initiativen gezielt einsetzen kann. Dies darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sachargumente, Verweise auf Statistiken und Studien nicht per se antiideologisch sind oder bedeuten, dass kein Interesse vertreten wird. Vielmehr stützen die von der Kommission gewählten Wissensverweise ihr Interesse an einer Fortführung und Vertiefung der EUZusammenarbeit zu Migrationsfragen und an der Schaffung einer gemeinsamen Politik für Arbeitsimmigration aus Drittstaaten. Ihr Ziel ist es, den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, alle Arten von Wanderungsbewegungen in die EU im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit steuern und kontrollieren zu können. Im Bereich der Zuwanderung von „illegalen Migranten“ besteht das Hauptinteresse darin, diese so weit wie möglich zu verhindern. Was Asylbewerber und Flüchtlinge angeht, so hat sich die Kommission ebenfalls für eine restriktive Politik ausgesprochen, die es erlaubt, Wanderungsbewegungen zu begrenzen. Im Unterschied zum Rat wurden in asyl- und flüchtlingspolitischen Vorschlägen jedoch auch deutlich Interessen daran zum Ausdruck gebracht, dass die gemeinsame Politik nicht gegen Menschenrechte verstößt und die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention geachtet werden. Dies konnte die Kommission zu einem bestimmten Grad auch gegenüber den Mitgliedstaaten durchsetzen. Unter anderem wurde Deutschland dazu bewegt, im Asylrecht auch nicht-staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgungsgründe anzuerkennen. Die Interessenlage der Kommission ist somit ausgewogener, als die des Rates. Die legale Arbeitsmigration ist aus dem Kontext der Abwehr und des Sicherheitsdenkens einerseits und der Wahrung der Menschenrechte andererseits jedoch weitgehend herausgehoben. Sie wird eher als Teil einer gemeinsamen europäischen Wirtschafts-, Bevölkerungs- und Sozialpolitik gesehen. Dies belegen die zahlreichen Verweise auf die „Lissabon-Agenda“, auf den Personalbedarf der Wirtschaft, auf die Alterung der Bevölkerung, die „Wissensgesellschaft“ oder die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme in den Mitgliedstaaten. Zwar macht die Kommission an verschiedenen Stellen deutlich, dass ihr im Kontext der Arbeitsmigration auch an einer gelingenden Integration von Migranten in den aufnehmenden Gesellschaften gelegen ist, und dass sie – etwa durch Förderung „zirkulärer“ oder „temporärer“ Migration – erreichen will, dass auch die Herkunftsländer von Arbeitsmigranten von der EU-Politik profitieren. Der einzige Zusammenhang zwischen legaler Arbeitsmigration und unkontrollierten, illegalen Migrationsströmen wird jedoch hergestellt, wenn
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8 Diskussion und Schlussbetrachtung
die Kommission etwa im „Grünbuch“ argumentiert, die Zulassung von Arbeitsmigration könne zu einem Rückgang illegaler Einwanderungsbewegungen führen und den Einwanderungsdruck durch Flüchtlinge und Asylsuchende reduzieren. Eine Politik, die einseitig auf die Verhinderung illegaler Migrationsströme setzt, während gleichzeitig klar ist, dass die EU-Staaten Arbeitsmigranten aus Drittstaaten benötigen, ist aus Sicht der Kommission nicht glaubwürdig. 8.2.3
Europäisches Parlament
Die Interessen des Europäischen Parlaments im Bereich der Migrationspolitik im Allgemeinen und hinsichtlich der Arbeitsmigration im Besonderen wurden in dieser Arbeit etwas weniger ausführlich und gründlich analysiert, als die des Rates bzw. der Mitgliedstaaten und der Kommission. Dies liegt zum Teil daran, dass das Parlament trotz seiner im Lauf der Jahre gewachsenen Bedeutung und seiner stärker gewordenen Kompetenzen im Vergleich zu den anderen Akteuren nach wie vor über eine geringere Gestaltungsmacht verfügt. Untersucht man die Interessen der EUAkteure in einem bestimmten Politikfeld, ist die Kommission deshalb besonders wichtig, weil sie mit ihrem Initiativrecht Legislativvorschläge ausarbeitet und den Prozess der Meinungsbildung, Verhandlung und Entscheidung ständig begleitet, steuert und mitprägt. Der Rat ist, sozusagen „am anderen Ende“ des Legislativprozesses, deshalb wichtig, weil er die Mitgliedstaaten vertritt, an die sich die Vorschläge letztlich richten und die die Vorschläge umsetzen müssen. Zudem hat der Ministerrat im Bereich der legalen Einwanderungspolitik das „letzte Wort“ im Entscheidungsprozess, und aufgrund der bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon fortbestehenden Einstimmigkeitsregelung kann ein Mitgliedsstaat allein eine Einigung verhindern. Das Parlament setzt in der Phase zwischen Initiative (Kommission bzw. Staats- und Regierungschefs) und Entscheidung (Rat) ein. In manchen Bereichen der Migrationspolitik, beispielsweise in der Asylpolitik, ist seit 2005 die Mitarbeit und Zustimmung des Parlaments zu Gesetzesvorlagen zwingend nötig, in anderen wurde es bis Ende 2009 dagegen nur angehört (im Bereich der „legalen“ Migration). Bei keiner der in dieser Arbeit analysierten Richtlinien und Verordnungen, abgesehen von der im Dezember 2008 verabschiedeten „Rückkehrrichtlinie“675 , ist eine Entschließung des Parlaments bisher der entscheidende Endpunkt des Gesetzgebungsverfahrens gewesen. Auf die Interessen des Parlaments wurde aber auch deshalb etwas weniger ausführlich eingegangen, weil sich seine Interessen im Bereich der Migrationspolitik zwar deutlich von denen des Rates bzw. der Mitgliedstaaten unterscheiden, nicht 675
Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates.
8.2 Der Wettstreit der Interessen unter den EU-Akteuren
241
aber von denen der Kommission. In dieser Arbeit wurden mehrfach Beispiele dafür gefunden, dass sich das Parlament in Sachen Arbeitsmigration ebenso wie die Kommission für gemeinsame EU-Regeln ausgesprochen und damit eine Vertiefung des Integrationsprozesses bejaht hat. Ebenso wie die Kommission will das Parlament erreichen, dass Migrationsbewegungen in die EU besser gesteuert und kontrolliert werden, dass illegale Einwanderung gebremst und möglichst verhindert wird, und dass die Einwanderung von Drittstaatsangehörigen, die der Wirtschaft und der gesellschaftlichen Entwicklung nutzt, durch europäische Regeln ermöglicht und gefördert wird. Daneben bieten Dokumente des Parlaments, wie anhand von Beispielen belegt wurde, auch häufige Verweise auf Menschenrechte, Integration, die Behandlung von Migrationsfragen in den Medien und im Sprachgebrauch von Politikern sowie auf die Bedeutung von Migrationsströmen für Herkunfts- und Drittländer. Solche Verweise und damit zusammenhängende Interessen wurden vom Parlament manchmal deutlicher benannt, offener ausgesprochen und ausführlicher behandelt, als von der Kommission. In der Frage der Arbeitsmigration wurde beispielsweise dazu aufgerufen, Migranten nicht nur als ökonomische Einheiten und anhand von Nützlichkeitsüberlegungen zu behandeln.676 Auch haben die Parlamentarier immer wieder betont, wie wichtig es sei, das Thema Immigration in der öffentlichen Debatte in den Mitgliedstaaten zu entdramatisieren, nicht populistisch zu vereinfachen und Immigranten nicht einseitig als Sicherheitsrisiken darzustellen.677 In dieser Hinsicht wenden sich die Abgeordneten nicht nur an die anderen politischen Akteure, sondern auch direkt an die Bevölkerung bzw. die Wähler in den EUStaaten, von denen sie ihr demokratisches Mandat bekommen haben. Dennoch unterscheiden sich die Interessen des Parlaments nicht grundsätzlich von denen der Kommission. Mehrfach hat das Parlament deren Vorschläge positiv beurteilt, lediglich geringfügige Änderungen angemahnt und die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen, den geplanten Maßnahmen zuzustimmen und sie rasch umzusetzen. Dies war unter anderem beim Richtlinienvorschlag über Arbeitsmigration der Kommission von 2001 der Fall, als das Parlament dem Vorschlag mit geringfügigen Änderungen grünes Licht gab, der Rat aber zu keiner Einigung kam. Wichtig ist indes, dass das Parlament im Willensbildungs- und Gesetzgebungsprozess freier agieren kann, als die Kommission und der Ministerrat. Oft haben die Abgeordneten aus eigener Initiative Entschließungen zu aktuellen politischen Fragen verabschiedet. Diese Beteiligungsform, die keine juristisch bindende Wirkung hat aber zur Meinungsbildung beitragen kann, wurde insbesondere in Bezug auf Migrationsfragen häufig genutzt. So hat das Parlament im Bereich der Migrationspolitik zu einer besonderen Berücksichtigung von Frauen aufgerufen. Es hat das langsame Entscheidungstempo hinsichtlich der Arbeitsmigration oder auch der 676 677
Vgl. Europäisches Parlament, P5_TA(2004) 0029. Vgl. Europäisches Parlament, P6_TA(2007) 0414.
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8 Diskussion und Schlussbetrachtung
Familienzusammenführung kritisiert oder die Abschaffung des Einstimmigkeitserfordernisses im Ministerrat bei migrationspolitischen Themen gefordert. Der Rat und die Kommission werden vom Parlament kritisch überwacht, was wichtig ist – selbst wenn das Parlament im Ernstfall kaum Einflussmöglichkeiten hat. Eine große Bedeutung haben im Parlament, und vor allem bei Initiativentschließungen, einzelne Abgeordnete, die Sachthemen als „Berichterstatter“ bearbeiten. Sie beraten mit der Kommission, Ratsvertretern oder auch Interessengruppen außerhalb des EU-Systems im engen Sinne und formulieren dann Stellungnahmen zu Kommissionsvorschlägen oder aus eigener Initiative. Mit den in diesen Stellungnahmen („Berichten“) enthaltenen Begründungen können die Berichterstatter andere Abgeordnete und Fraktionen sowohl informieren als auch beeinflussen. Schließlich stehen die Papiere in den zuständigen parlamentarischen Ausschüssen und später im Plenum zur Abstimmung. Dabei können sie zwar durch Änderungsanträge anderer Abgeordneter oder Fraktionen verändert, aufgeweicht oder ganz verhindert werden. Es ist jedoch erkennbar, dass ein Grundstock der ursprünglichen Zielrichtung in der Regel erhalten bleibt. Unter anderem die Gegenüberstellung der Interessen der Abgeordneten Gruber mit der Parlamentsresolution über den „Strategischen Plan“ der Kommission hat dies deutlich belegt. Aufgrund des „Berichterstattersystems“ können die nach außen vertretenen Interessen des Parlaments je nachdem, welches Land oder welche Fraktion der Berichterstatter repräsentiert, von Stellungnahme zu Stellungnahme unterschiedlich sein. Mitunter kann sich so eine gewisse Widersprüchlichkeit ergeben. Jedoch wurde in dieser Arbeit auch gezeigt, vergleicht man etwa die Entschließung des Parlaments zum Grünbuch der Kommission mit der Entschließung zum „Strategischen Plan“, dass auch das Parlament, ähnlich wie die Kommission und die verschiedenen Ratsgipfel, bei Kernfragen Kontinuität wahrt und seine Interessen nur langsam verändert. Während der ersten Phase zwischenstaatlicher Zusammenarbeit in Migrationsfragen hatte das Parlament in seinen Entschließungen zur Asyl- und Flüchtlingspolitik, zur „illegalen“ Einwanderung und zur legalen Migration vehement darauf gedrängt, dass bei gemeinsamen Maßnahmen die Menschenrechte berücksichtigt werden und Integration gefördert wird. Auf Fragen der Grenzsicherung wurde damals oft überhaupt nicht eingegangen.678 Dieser „idealist frame“679 wurde zwar im Lauf der späten Neunzigerjahre aufgeweicht, als das Parlament begann, das Interesse, „illegale“ Einwanderung zu bekämpfen, die EU-Außengrenzen besser zu sichern und Einwanderer ohne Aufenthaltsstatus in ihre Herkunftsländer „zurückzuführen“, stärker zu betonen. Noch immer aber ist der menschenrechtliche Bezugsrahmen vorhanden und hat in den meisten Entschließungen mehr Nachdruck, als in Papieren der Kommission und Schlussfolgerungen des Rates. 678 679
Vgl. Lavenex 2001, S. 101. Lavenex 2001, S. 138.
8.2 Der Wettstreit der Interessen unter den EU-Akteuren
243
Ebenso ist das zentrale Interesse des Parlaments, Migrationsbewegungen in der EU steuern und kontrollieren zu können, ein umfassendes Steuerungskonzept zu entwickeln und in diesem Zusammenhang „illegale“ Einwanderung zu bekämpfen, legale Arbeitsmigration aber zu ermöglichen, in nahezu allen Entschließungen des Parlaments zum Thema Migrationspolitik seit 2005 erhalten geblieben – unabhängig davon, wer jeweils als Berichterstatter fungierte. Das Parlament hat sich somit als eine verlässliche und stabile Institution in Stellung gebracht, die in Migrationsfragen sowohl über Expertise verfügt, als auch eigene Interessen vertritt. Es ist davon überzeugt, dass seine noch immer mangelhafte Einbindung in den Gesetzgebungsprozess im Migrationsbereich seiner eigentlichen Bedeutung hinterherhinkt, und dass seine Kompetenzen erweitert werden müssen. Mit dem Reformvertrag von Lissabon, der das Mitentscheidungsverfahren auf alle Aspekte der Migrationspolitik ausdehnt, ist das Parlament diesem Ziel einen großen Schritt näher gekommen. 8.2.4
Das Zusammenspiel der drei Akteure
Die formale Beteiligung der drei zentralen EU-Akteure Rat bzw. Mitgliedstaaten, Kommission und Parlament am Zustandekommen einer gemeinsamen Migrationspolitik in der EU wurde bereits beschrieben: Der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs der EU, vereinbart bei Gipfeltreffen generelle Ziele oder Leitlinien für die gemeinsame Politik. Die Kommission leitet auf dieser Basis Konsultationsprozesse oder konkrete Gesetzesinitiativen ein, gibt manchmal ergänzende Studien in Auftrag und leitet schließlich im Detail ausgearbeitete Vorschläge weiter an das Parlament und den Ministerrat. Seit 2005 ist das Parlament an Entscheidungen über die meisten Teilbereiche der Migrationspolitik beteiligt, wenn auch nicht hinsichtlich der legalen Migration, wo es bis Ende 2009 nur angehört wurde. Alle drei Akteure haben somit zwar veränderbare, aber eindeutige Funktionen im Gesetzgebungsverfahren und die Möglichkeit, in dessen Verlauf eigene Interessen zu artikulieren. In der politik- und sozialwissenschaftlichen Forschung über die Europäische Integration wird vielfach die Frage gestellt, welche Instanz oder welche Prozesse die größte Gestaltungsmacht besitzen, und wessen Interessen sich letztlich durchsetzen. Diese Frage wurde im Theorieteil erwähnt und erläutert. Auch diese Arbeit sollte untersuchen, wie die Interessen der Akteure im EU-System interagieren, sich verändern und aufeinander abgestimmt werden. Zum einen ist bei der Untersuchung der Interessen der Akteure in der Migrationspolitik deutlich geworden, dass Institutionen (im Sinne von Traditionen, regelmäßigen Prozessen und politischen Aktionsformen), Wissen und Normen eine wichtige Rolle spielen. Es wurde zum Beispiel gezeigt, dass ein einmal gefasster
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8 Diskussion und Schlussbetrachtung
Beschluss, etwa die Forderung des EU-Gipfels von Tampere 1999, eine „umfassende“ Migrationspolitik für die EU zu entwickeln, lange vorhält und im Beispielfall auch acht Jahre später trotz großer Schwierigkeiten und Interessensgegensätzen bei seiner Umsetzung noch nicht widerrufen worden ist. Im Gegenteil – Kommission und Parlament haben sich diesen Beschluss zu Eigen gemacht und drängen auf seine rasche Umsetzung. Auch mehrere spätere Gipfel der Staats- und Regierungschefs haben ausdrücklich bestätigt, dass der Beschluss von Tampere weiterhin gilt. Die Bedeutung und das Fortbestehen von einmal vereinbarten und schriftlich fixierten Zielen für die Verhandlungsprozesse im System der EU ist auch in Details der Migrationspolitik klar erkennbar, etwa was die „Bekämpfung der illegalen Einwanderung“ angeht, die „Partnerschaft mit den Herkunftsländern“ oder die Schaffung einer „effizienten Rückkehrpolitik“. Man kann solche Ziele als „Institutionen“ sehen; diese können sowohl im EU-System insgesamt, als auch innerhalb von einzelnen Akteuren, sehr stabil sein und Pfadabhängigkeiten erzeugen. Das Ziel etwa, illegale Einwanderung zu bekämpfen, wird von allen Akteuren anerkannt und bildet eine wichtige Richtschnur bei Verhandlungen über asyl- und flüchtlingspolitische sowie migrationspolitische Maßnahmen. Ein Abweichen von solchen Pfaden wird immer schwieriger, je stärker ein Ziel institutionalisiert wird. Innerhalb der drei Instanzen gibt es jedoch auch jeweils eigene institutionalisierte Ziele und Verhaltensweisen. In dieser Arbeit wurde etwa gezeigt, dass das Parlament in der Migrationspolitik häufig auf Menschenrechte verweist, und dass die Kommission besonders stark auf vertragliche Vereinbarungen, Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs sowie auf von ihr selbst in Auftrag gegebene Studien, Statistiken, Prognosen oder zu Rate gezogene wissenschaftliche Einrichtungen oder Nichtregierungsorganisationen Bezug nimmt. Für den Rat wurde nachgewiesen, dass hinsichtlich der Migrationspolitik Sicherheits- und Abwehrüberlegungen die wichtigste Rolle spielen. Dies ist ein Grund dafür, dass es dem Rat offensichtlich schwer fällt, die von Kommission und Parlament geforderte „Öffnung von Kanälen für legale Zuwanderung“ zu akzeptieren. Hier kommt zum Ausdruck, dass die Vertretung von Interessen durch die verschiedenen Organe von unterschiedlichen Rollen und Funktionen im politischen System der EU abhängt. Gleichzeitig wurde aber auch gezeigt, dass es letztlich nicht europäische Institutionen sind, die den Ausschlag für den Erfolg oder das Scheitern der Schaffung einer gemeinsamen Politik geben. Zwar kann die Kommission Verhandlungsprozesse in der EU initiieren, strukturieren und steuern, und das Parlament kann versuchen, über Entschließungen oder mit dem Einsatz einzelner Berichterstatter den Wettstreit der Interessen zu beeinflussen. Letztlich sind es aber die Minister der Mitgliedstaaten, die auch heute noch im Rat den Erfolg oder Misserfolg einer Maßnahme in der Hand haben. Die Regel der Einstimmigkeit bei Ratsentscheidungen im Bereich der legalen Migration ermöglicht es, dass ein Land allein einen Vorschlag kippen kann. Hat die Bundesrepublik Deutschland etwa kein Interesse an gemein-
8.2 Der Wettstreit der Interessen unter den EU-Akteuren
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samen EU-Regeln für Arbeitsmigranten aus Drittstaaten und ist sie bereit, dies gegenüber den anderen Ländern geltend zu machen, so werden gemeinsame Regeln auch nicht zu Stande kommen. Anders ist die Lage allenfalls dann, wenn ein einzelner Vorschlag mit einem Gesamtpaket aus mehreren Maßnahmen verknüpft wird und das Interesse der Staaten, das Gesamtpaket zu erhalten, größer ist als das Interesse, eine bestimmte Einzelmaßnahme zu verhindern. Solche Dynamiken wurden anhand des in dieser Arbeit ausführlich analysierten Richtlinienvorschlags der EUKommission zur Arbeitsmigration von 2001 deutlich. Für den Bereich Migrationspolitik bleibt also festzuhalten, dass Institutionen zwar eine wichtige Rolle spielen, dass letztlich aber auch andere Perspektiven, etwa die intergouvernementalistische Sichtweise, nach der die eigentliche Interessenmacht bei den Mitgliedstaaten liegt, zur Erklärung des Interessenwettstreits herangezogen werden sollten. An der starken Rolle der Mitgliedstaaten dürfte sich erst dann grundsätzlich etwas ändern, wenn die Regel der Einstimmigkeit im Rat gekippt wird und ein Staat, der gegenüber den anderen Staaten konträre Interessen verfolgt, überstimmt werden kann. Dieser Staat wäre dann gezwungen, sich Verbündete zu suchen und für sein Interesse zu werben, etwa unter den anderen Mitgliedstaaten oder im Europäischen Parlament. Wenn mit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags das Mehrheitsprinzip im Feld der legalen Migration durchgesetzt wird, steigt auch der Einfluss der Kommission, die dann gezielt versuchen kann, die Haltungen von Mitgliedstaaten zu antizipieren und verschiedene Interessen gegeneinander auszuspielen, gegebenenfalls mit Unterstützung durch das Parlament, das oft ähnliche Interessen vertritt. Warum sich die Nationalstaaten im Vergleich zu Kommission und Parlament zögerlicher, ja oft bremsend verhalten, kann auch mit Hilfe von Rückgriffen auf die innenpolitische Lage in den Mitgliedstaaten näher erklärt werden. Im Kapitel über die Reaktion der Mitgliedstaaten auf das Grünbuch der EU-Kommission wurde etwa analysiert, dass die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene höchst unterschiedliche Migrationspolitiken in Kraft gesetzt haben. Das Spektrum reicht von einer elaborierten, seit mehreren Jahren praktizierten und an arbeitsmarktpolitischen Interessen und ökonomischen Nützlichkeitsüberlegungen ausgerichteten Anwerbepolitik in Großbritannien über eine zaghafte und streng überwachte Öffnung des Arbeitsmarkts für Drittstaatsangehörige in Deutschland, eine chaotisch wirkende, reaktive Migrationspolitik in Italien oder auch Griechenland bis hin zu einer erst langsam beginnenden, von außen induzierten Politik in Polen, wo Immigration zu Arbeitszwecken wesentlich geringer ausgeprägt ist, als Auswanderung. Solche unterschiedlichen nationalen Gegebenheiten sind eine wesentliche Ursache dafür, dass auch die Interessen dieser Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine mögliche Europäisierung der Migrationspolitik markant divergieren. Wie sich die Innen- und Justizminister dieser Länder im Rat zum Europäisierungsprozess stellen, hängt eher von den einheimischen Debatten und Interessenkonflikten in der Migrationspolitik ab, als von Forderungen des Parlaments und Vorschlägen der Kommission. Aus den
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Reaktionen auf das Grünbuch der Kommission ist klar herauszulesen, dass die Regierungen ihren Interessen vor allem ihre jeweiligen nationalen Migrationspolitiken, ihre nationalen Arbeitsmärkte und die Erfordernisse der einheimischen Wirtschaft zu Grunde legen, und nicht etwa die durchaus nachvollziehbaren und relevanten Prognosen der EU-Kommission über die Bevölkerungsentwicklung und das „Bedarfsszenario auf den Arbeitsmärkten“ in der EU insgesamt. Auch die Stellungnahme des Bundesrats zum „Strategischen Plan“ der Kommission spricht sehr deutlich für die wichtige Rolle einheimischer Debatten und Machtkämpfe. Bundesdeutsche Politiker wollen sich nicht dem Vorwurf aussetzen, die deutschen Interessen in der Migrationspolitik zugunsten von EU-Regeln aufzugeben. Darüber hinaus haben auch die Verweise der EU-Kommission und des Parlaments auf die weggefallenen Binnengrenzen und die Freizügigkeit im EU-Binnenmarkt, die in der EU einen gemeinsamen Migrationsraum geschaffen haben, bei den Regierungen bislang wenig Durchschlagskraft. Sie verhalten sich in dieser Frage gespalten. Einerseits beharren sie hinsichtlich der Arbeitsmigration auf nationalen Steuerungskompetenzen, andererseits kritisieren in der Migrationspolitik mangelhafte Kooperation und fehlende gegenseitige Rücksicht. Dies wurde 2005 besonders deutlich, als Deutschland und die Niederlande die spanische Regierung für die Regularisierung irregulärer Migranten kritisierten.680 Mit anderen Worten: Die Staaten wollen zwar zusammenarbeiten, orientieren sich letztlich aber am jeweiligen nationalen Interesse, nicht an einem europäischen. Eingangs wurde auch erwähnt, dass funktionale Zusammenhänge ein wesentlicher Motor für die Europäische Integration sein können, und dass in der Geschichte der EU eine gemeinsame Politik in einem Bereich manchmal zwingend zur Europäisierung eines weiteren Politikbereichs geführt hat. Was die Arbeitsmigration angeht, scheinen funktionale Zwänge jedoch eher gering zu sein. Die Kommission argumentiert zwar zu Recht, dass in einem Raum ohne Binnengrenzen die Migrationspolitik eines Staates Auswirkungen auf einen anderen Staat haben kann, und dass insofern gemeinsame Regeln nötig seien. Auch ist ihr Argument nachvollziehbar, dass die bereits erfolgte Schaffung des EU-einheitlichen Aufenthaltstitels für „langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige“ und das damit zusammenhängende Recht von Ausländern, innerhalb der EU weiterzuwandern, unter den Mitgliedstaaten einen gewissen Grad von migrationspolitischer Interdependenz erzeugt. Diese beiden Tatsachen haben bis zur Fertigstellung dieser Arbeit jedoch noch nicht dazu geführt, dass eine gemeinsame Politik zur Regelung der Arbeitsmigration tatsächlich zwingend notwendig geworden wäre. Den Mitgliedstaaten ist es immer noch möglich, dem funktionalen Zusammenhang zwischen wegfallenden Grenzen und der Schaffung einer gemeinsamen Politik zum Umgang mit Drittstaatsangehörigen zum Zweck der Arbeitsaufnahme auszuweichen und stattdessen 680
Vgl. Carrera/Apap 2007; Kleiner 2005.
8.2 Der Wettstreit der Interessen unter den EU-Akteuren
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vor allem ihre nationalen Interessen zu berücksichtigen. Die zu erwartenden Vorteile einer gemeinsamen Politik (z.B. vereinheitlichte Aufenthaltstitel, einheitliche Rechte der Migranten, bessere Überwachung der Migrationsströme, Minimierung der Konkurrenz der Mitgliedstaaten bei der Anwerbung der „besten Köpfe“) sind aus Sicht der Mitgliedstaaten immer noch geringer als die befürchteten Nachteile (Verlust nationaler Souveränität, geringere nationale Kontrollmöglichkeiten, Unklarheit über die Entwicklung der einheimischen Debatte über Migration, Anwachsen der Einwanderungsströme). Während die gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik und die Bekämpfung der „illegalen“ Einwanderung in der EU immer klarere Vorteile für die Mitgliedstaaten hat (einfacheres Aushandeln von Rückübernahmeabkommen, gegenseitige Hilfe beim Grenzschutz, vereinheitlichte Visumpolitik, Ansätze zu einer „Lastenteilung“ bei der Aufnahme von Asylbewerbern durch das Dubliner Asylübereinkommen), erscheinen die von einer gemeinsamen Politik für Arbeitsmigration zu erwartenden Vorteile undeutlicher und schwerer einzuschätzen. Gerade für Länder, die Arbeitseinwanderung aus Drittstaaten aus ihrer eigenen Sicht erfolgreich geregelt haben, etwa für Großbritannien, ist nicht klar, inwieweit eine Harmonisierung oder Vergemeinschaftung dieser Politik in Europa Vorteile bringen sollte. Sie erwarten von einer gemeinsamen europäischen Politik eher zunehmende als abnehmende „Transaktionskosten“, eher mehr als weniger Bürokratie, und eher weniger als mehr Flexibilität bei der Anwerbung erwünschter Arbeitsmigranten. Dies könnte sich ändern, wenn die von der Kommission prognostizierte Abnahme der Erwerbsbevölkerung in der EU näher rückt und greifbarer erscheint, wenn die sich bereits abzeichnenden Probleme der Wirtschaft, qualifiziertes Personal zu finden, noch drängender werden, und wenn es immer schwerer wird, die sozialen Sicherheitssysteme angesichts der Alterung der Bevölkerung zu finanzieren. Wenn die EU-Staaten beim Eintritt eines solchen Szenarios beginnen, sich gegenseitig im „Wettbewerb um die besten Köpfe“ Konkurrenz zu machen, sich bei der Anwerbung von Saisonarbeitskräften oder Industriearbeitern mit günstigen Bedingungen und Lockmitteln zu überbieten, oder wenn beispielsweise Deutschland Schwierigkeiten bekommt, von der Wirtschaft nachgefragtes Personal anzuwerben, da potentielle Migranten lieber nach England oder Irland ziehen, dürfte eine gemeinsame Politik für Arbeitsmigration in Europa dringlicher werden. Insofern dürfte der Erfolg einer gemeinsamen Migrationspolitik in Europa vor allem auch davon abhängen, wann sich die ökonomischen und arbeitsmarkt- sowie wettbewerbspolitischen Interessen der Mitgliedstaaten im Migrationsbereich auf EUEbene besser durchsetzen lassen, als im nationalen Rahmen, und wann ihnen eine Europäisierung mehr Vorteile als Nachteile zu bringen verspricht.
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8 Diskussion und Schlussbetrachtung
8.3 Ausblick: Braindrain und Entmenschlichung In ihrem jährlich erscheinenden „International Migration Outlook“ schreibt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Juni 2007, die Einwanderung in die OECD-Länder nehme zu, und zwar aufgrund eines Arbeitskräftebedarfs in den Zielländern.681 Die meisten Migranten kämen zwar, wie in den Vorjahren, im Rahmen des Familiennachzugs in die OECDLänder. Die „humanitäre Migration“ – damit sind Asylbewerber und Flüchtlinge gemeint – nehme jedoch ab, während die Zahl der Arbeitsmigranten beständig steige. In einer die Veröffentlichung des „Outlook“ begleitenden Presseerklärung stellt OECD-Generalsekretär Angel Gurría fest: „Migration is part of the solution for labour shortages and population ageing in OECD countries.“682 Was sich, wie in dieser Arbeit besprochen wurde, in der Politik der EUOrgane abzeichnet, nämlich dass unerwünschte Migration verhindert werden soll, erwünschte aber ermöglicht, hat demnach also bereits begonnen, sich in den tatsächlich messbaren Migrationsströmen widerzuspiegeln. Gleichzeitig beschreibt das Zitat des OECD-Generalsekretärs ein in Europa immer weiter verbreitetes Interesse im Zusammenhang mit Migration, nämlich die Probleme des Arbeitskräftemangels und der alternden Bevölkerung zu lösen. Die OECD hat zwar mehr Mitgliedstaaten als die EU, jedoch treffen die Aussagen über die OECD-Länder im Allgemeinen auch auf die EU im Besonderen zu. Wenn die im „International Migration Outlook“ beschriebene Tendenz weiter anhält und es der EU gelingt, die unterschiedlichen, sich aber vielfach überschneidenden Interessen der Akteure in eine gemeinsame Strategie für Arbeitsmigration umzusetzen, könnten sich die Wanderungsbewegungen weiter entlang der von der OECD beschriebenen Tendenz entwickeln. Gleichzeitig geht die Epoche des „Anwerbestopps“ in vielen EU-Staaten, darunter Deutschland, zu Ende. Die Kanäle für unerwünschte Migration (Asylbewerber, Flüchtlinge, illegale Wirtschaftsmigranten) sind – auch mit Hilfe europäischer Maßnahmen – weitgehend geschlossen worden; neue Wege für „nützliche“ Arbeitsmigration werden im Rahmen dauerhafter, temporärer oder auch zirkulärer Migrationsprogramme frei gemacht. Diese Entwicklung ist vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit analysierten Interessen nachvollziehbar und wirkt rational. Jedoch wirft sie auch eine Reihe von Problemen auf. Auf zwei davon soll in diesem abschließenden Ausblick etwas näher eingegangen werden: Das Problem des Braindrain, und das des Rollenwandels von Migranten, die aufgrund der geänderten Lage weniger als Individuen und Träger von Rechten behandelt werden, sondern zunehmend als ökonomische Einheiten
681 International migration to OECD countries continues to grow in response to labour needs, Presseerklärung zum Erscheinen des International Migration Outlook 2007, Paris, 25. Juni 2007. 682 Ebenda.
8.3 Ausblick: Braindrain und Entmenschlichung
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mit einem messbaren Nutzwert, denen die Aufgabe zukommt, den „Standort Europa“ zu sichern. Den Begriff Braindrain erwähnen die EU-Kommission und das Parlament in zahlreichen offiziellen Dokumenten und bezeichnen es in diesem Zusammenhang als wichtig, in einen partnerschaftlichen Dialog mit den Herkunftsländern von Migranten zu treten – sowohl zur Verhinderung „illegaler“ Migration, als auch um Arbeitsmigration zum Wohl der aufnehmenden wie auch der entsendenden Länder zu gestalten. Bislang haben solche Bekenntnisse jedoch kaum konkrete Folgen gezeigt. Zwar ist erkennbar, dass die Herkunftsländer immer stärker in die Verhinderung von unerwünschten Migrationsbewegungen in die EU eingebunden werden.683 Wie sie aber von temporärer oder permanenter Arbeitsmigration in die EU profitieren sollen, ist abgesehen von der Tatsache, dass Überweisungen („remittances“) von Arbeitsmigranten nach Hause für viele Entwicklungsländer eine wichtige Einnahmequelle sind, noch weitgehend unklar.684 Eher mehren sich die Anzeichen, dass Braindrain, also die Abwanderung von Fachkräften aus Entwicklungs- in Industrieländer, für Teile der Dritten Welt ein massives Problem ist. Einem Bericht in „Le monde diplomatique“ zufolge migrieren jedes Jahr rund 20 000 medizinische Fachkräfte aus Afrika nach Europa und Nordamerika; in Frankreich arbeiten bereits mehr Ärzte aus Benin, als in Benin selbst. Ghana habe seit 1999 rund 50 Millionen Euro umsonst investiert, weil dort ausgebildete medizinische Fachkräfte direkt nach dem Ende ihrer Ausbildung das Land verließen.685 Die 2003 im Rahmen der Vereinten Nationen ins Leben gerufene „Global Commission on International Migration“ (GCIM) stellt in einem Bericht fest, dass seit 2000 rund 16 000 Krankenschwestern aus Afrika nach Großbritannien ausgewandert sind. Von 600 Ärzten, die in Sambia ausgebildet wurden, praktizierten nur noch 60 im eigenen Land. Es gebe auch Schätzungen, nach denen in der britischen Stadt Manchester allein mehr Ärzte aus Malawi arbeiten, als in Malawi selbst. CGIM fasst das Problem so zusammen: „For many countries (...) the departure of essential workers with professional skills can have an adverse impact on society and the economy and represents a serious loss to states that have made major investments in the education and training of such personnel. In many countries in subSaharan Africa, for example, the departure of essential workers has seriously impeded the delivery of health services to local populations, especially those living in remote rural areas. If this trend continues unabated it is likely to undermine the progress that has to be made in achieving the health-related objectives of the Millennium Development goals.“686
Als die EU-Kommission im Oktober 2007 einen Richtlinienvorschlag für die Zuwanderung hochqualifizierter Arbeitsmigranten vorlegte, erklärte die GesundheitsSiehe den Abschnitt über Rückkehrpolitik und Abschiebungen. Zum Umfang und zur Bedeutung der Rücküberweisungen in die Herkuftsländer siehe u.a. Vertovec 2007, S. 2. 685 Blanchet/Keith 2006; siehe auch Chikanda 2007. 686 United Nations 2005, S. 24. 683 684
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8 Diskussion und Schlussbetrachtung
ministerin Südafrikas, viele Entwicklungsländer litten unter der Abwanderung von „health workers“: „We cannot afford schemes that seek to cream the very limited health skills we still have in developing countries.“687 Die Schattenseite der zunehmenden Anwerbung hochqualifizierter Arbeitskräfte in der EU ist also ein handfestes entwicklungspolitisches Problem. Der erste konkrete Vorschlag, diesem Problem entgegenzutreten, ist der in Kapitel 7 dieser Arbeit besprochene Vorschlag der EU-Kommission über „Mobilitätspartnerschaften“ und „zirkuläre Migration“ vom Mai 2007. Wie sich die Mitgliedstaaten der EU dazu stellen, und ob daraus tatsächlich Lösungen des Braindrain-Problems entwickelt werden können, ist zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit jedoch noch völlig offen. Die bisher vorliegende Forschung legt nahe, dass zirkuläre Migration unter bestimmten Voraussetzungen tatsächlich zum Wohle aller Beteiligten gestaltet werden kann. Dennoch stellt sich die Frage, ob es moralisch vertretbar ist, dass die Anwerbungsbemühungen der EU vor allem Hochqualifizierte im Blick haben, die die Entwicklungsländer selber brauchen, während Geringqualifizierte als unerwünscht abgewiesen werden. Hinsichtlich des zweiten Problems sind Lösungsansätze noch weiter entfernt. In dieser Arbeit wurde gezeigt, dass Migrationsbewegungen aus Drittstaaten von den EU-Akteuren lange vor allem als Sicherheitsproblem betrachtet wurden, und dass der Schwerpunkt gemeinsamer migrationspolitischer Maßnahmen darin bestand, den Zugang zum Asylrecht einzuschränken und unerwünschte „Wirtschaftsflüchtlinge“ vom Territorium der EU-Staaten fernzuhalten. Zum Teil wurden aber auch auf Menschenrechte verweisende Interessen artikuliert, was unter anderem eine gemeinsame Definition des Begriffs „Flüchtling“ und EU-Vorschriften über Asyl- und Anerkennungsverfahren ermöglichte. Heute hat sich die Migrationspolitik zum Teil aus diesen Interessenmuster herausgelöst, und eine „gut gesteuerte“ Migration wird auch als Standortsicherungspolitik verstanden, wobei sich ökonomische, arbeitsmarkt- und wettbewerbspolitische sowie demografische Interessen zunehmende Geltung verschaffen. Nun könnte man einerseits begrüßen, dass das Ziel der „Abschottung“ der EU gegenüber Migrationsströmen relativiert wird, und die EU gegenüber Migrationsbewegungen offener erscheint, als noch vor wenigen Jahren. Zu beachten ist jedoch, dass eine Migrationspolitik, die dem Interesse der Standortsicherung dienen soll, eine Sicht auf Migranten als Individuen mit Rechten und Bedürfnissen nicht unbedingt fördert. Es geht in der Migrationspolitik der EU heute darum, Migranten anzuwerben, um ihre Qualifikationen optimal auszunutzen – nicht um Menschenrechte. Zudem zeichnet sich ab, dass Arbeitsmigranten je nach Qualifikation unterschiedliche Rechte bekommen und insofern unterschiedlich behandelt werden.688 687 688
Kubosova 2007. Vgl. Carrera 2007, S. 2 und 15.
8.3 Ausblick: Braindrain und Entmenschlichung
251
Die von der gemeinsamen Politik Betroffenen werden so instrumentalisiert und entmenschlicht. Möglich ist es jedoch, dass die neue Migrationspolitik der EU zwar nicht von der Herangehensweise der politischen Akteure und von ihren Interessen her, aber doch immerhin im Ergebnis aus einer menschenrechtlichen Sicht vertretbarer ist, als die alte. Geht man davon aus, dass wenigstens ein Teil der in der EU diskutierten Konzepte und Strategien umgesetzt wird, seien es die „Mobilitätspartnerschaften“, die Förderung der „zirkulären Migration“ oder eine Politik für Arbeitsmigration aus Drittstaaten, von der nicht nur hochqualifizierte Personen profitieren, und wenn sich die Erwartung der Kommission bestätigt, nach der in Folge einer solchen Politik die illegale Einwanderung zurückgehen wird, dann könnte die EU dazu beitragen, einen von politischen Entscheidungsträgern und in der Öffentlichkeit oft ausgeblendeten Skandal zu lindern: Den Skandal, dass es im Migrationsgeschehen rund um die EU heute zum Alltag gehört, dass Menschen, die in Erwartung einer besseren Zukunft nach Europa wandern, auf dem Weg dorthin ums Leben kommen.
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