Elizabeth Hay
Wo der Regen fällt
Ein kantiger Stein, ein Grashalm oder ein Regentropfen auf heißem Sand interessieren ...
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Elizabeth Hay
Wo der Regen fällt
Ein kantiger Stein, ein Grashalm oder ein Regentropfen auf heißem Sand interessieren Norma Joyce Hardy viel mehr als Schule und Hausarbeit. Das Mädchen wächst in den dreißiger Jahren in der einsamen Prärie Saskatchewans auf, zusammen mit ihrer älteren Schwester Lucinda und ihrem mürrischen Vater. Sie verlebt eine eher ereignislose Kindheit, über der der tragische Tod ihrer Mutter und ihres Zwillingsbruders schwebt. Im Gegensatz zu Lucinda verweigert sich die eher schwierige Norma Joyce den Anforderungen des Alltags und zieht sich in ihre eigene Welt zurück. Das ändert sich schlagartig, als Maurice Dove, ein Student aus Ottawa, auf ihrer abgelegenen Farm Quartier bezieht, um seine Wetterstudien zu machen. Die Achtjährige verliebt sich unsterblich in den charmanten Maurice, der ihre Leidenschaft für die Natur teilt und sie ernst nimmt. Allerdings weiß sie sehr wohl, dass sie gegen die Konkurrenz ihrer sehr viel hübscheren Schwester antreten muss. Was anfangs nach kindlicher Schwärmerei aussieht, wird schließlich zur gefährlichen Obsession.
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Elizabeth Hay
Wo der Regen fällt Roman
Aus dem Englischen von Barbara Christ
Hoffmann und Campe
2004
1. Auflage, 2001 Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel »A Student of Weather« im Verlag McClelland & Stewart, Toronto Copyright © 2000 by Elizabeth Hay Für die deutschsprachige Ausgabe Copyright © 2001 by Hoffmann und Campe, Hamburg Schutzumschlaggestaltung: Büro Hamburg/Stefanie Oberbeck Illustration: Olympia/nonstock/Premium Satz: Utesch GmbH, Hamburg Druck und Bindung: GGP Media, Pößneck Printed in Germany ISBN 3-455-02568-4
Für Rhoda Barrett und Ben Fried
I
»Wenn es aber zwei Schwestern sind, ist eine hässlicher und schwerfälliger als die andere, eine ist weniger gescheit, eine ist leichter zu haben. Auch wenn sich wie so oft alle guten Eigenschaften in einer Schwester vereinigen, wird sie nicht glücklich werden, denn die andere wird ihre Erfolge wie ein Schatten neidisch belauern.« Lydia Davis, Break It Down
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In manchen Nächten geht sie noch immer alle Einzelheiten durch, sie fängt beim Wetter an und macht weiter mit dem Blutstropfen auf dem alten Laken – ihre flüchtige Hoffnung auf einen Mann mit geraden weißen Zähnen und roten Lippen – und dann seine Ankunft. Seine Stimme draußen, ihre Hand auf der münzgroßen Erfrierung an seiner Wange, der Apfel, den er ihr schenkte. Alle sagten, es sei Ostwetter, der Schnee war so tief und glatt, dass sie immer an das Weihnachtslied denken musste, und sie fragte ihren Vater und ihre Schwester, wer der heilige Stephanus gewesen sei, aber wie gewöhnlich wussten sie es nicht. Der fehlende Wind, eine gewisse Milde in der Luft, eine gewisse Tiefe: Das Wetter sank herab, anstatt waagerecht einzufallen. Die Leute sagten, dass es so in Ontario schneite, und sie dachte, weil ich nicht nach Ontario kann, ist Ontario zu mir gekommen. Alles war still, bis auf den schrecklichen Löffel in dem schrecklichen Topf. Lucinda, die unten Porridge machte. Es war früh, und das Geräusch drang ganz leicht nach oben zu dem kleinen, dunklen Kind, das sie damals war und an das sie sich erinnert. Sie hörte, wie ihr Vater nach unten ging, sie hörte, wie er mit Lucinda sprach, sie hörte, wie der Löffel von neuem mit diesem unglückseligen, kreisförmigen Kratzen begann, gegen das sie nur ein Mittel kannte. Und ihr dünner weißer Arm kroch über die Bettkante. Licht fiel ins Zimmer. Es kam durch das Ostfenster mit den vier Scheiben, das um den Rahmen herum mit Leintuchstreifen abgedichtet war, wie jedes Fenster im Haus, alle waren sie bandagiert gegen das Wetter. Es hob die Kommode hervor, den 6
Stuhl mit der geraden Lehne, das Doppelbett, in dem eine Hälfte leer war und die andere belegt, aber nicht ganz, weil sie so klein war, und die Farbe des Lichts wandelte sich von Braun zu einem gemaserten Weiß wie auf einer Leinwand, bevor der Film beginnt. In diesem Licht rührten sich ihre kleinen Finger. Sie holte ihre Holzkiste unter dem Bett hervor, aus der Kiste ein kleines Päckchen in braunem Wachspapier, aus dem Päckchen einen Kanten Früchtekuchen, der so feucht und schwer war, dass er ein Häufchen goldener Krümel hinterließ, als sie behutsam ein Stück vom Papier nahm. Bald wird sie nach unten gehen und mit beinahe geschlossenen Lippen Guten Morgen Lucinda sagen, damit ihre Schwester ihren Atem nicht riecht, aber in der Zwischenzeit stellt sie sich vor, wie sie davonrennt, in den mit Äpfeln übersäten Osten, so, wie Claudette Colbert pfeilschnell auf Clark Gable zurennt. Neunzehnhundertachtunddreißig, und der Schnee hat den Staub abgelöst. Es hat Zeiten gegeben, wo so viel Staub so gleichmäßig fiel, dass ihr Kopf auf dem Kissenbezug ein weißes Oval hinterließ, wenn sie sich morgens aus dem Bett erhob. Städte sind ausgetrocknet, bis auf ihre Namen: Swift Current – Rascher Fluss, Gull Lake – Möwensee, Maple Creek – Ahornbach, Willow Bend – Weidenbiegung. Hotelhandtücher sind so dünn, dass die Nase des Reisenden sie durchlöchert. Hier findet man beinahe jedes Extrem. Die kältesten Winter und die heißesten Sommer, die längsten Tage und die kürzesten, den fettesten Boden und den magersten, den größten Blick auf den schlichtesten Himmel, den wenigsten Regen, den meisten Wind, das beste Licht und den schlimmsten Staub in dieser besten und schlimmsten aller Welten. Kopf oder Zahl. Die weite Ebene des südwestlichen Saskatchewan erstreckt sich ewig nach 7
Osten hin, und nach Westen, aber nicht so weit, bis sie dann ansteigt im kalten, trockenen Scotland. Es ist eine Landschaft, über die man mit dem Finger fahren kann, eine scheinbar flache Oberfläche, die aber nicht flach ist, sondern nur beinahe eben, und das beinahe macht ihre Schönheit aus, und das eben gibt sie dem wildesten Wetter preis. Frost im Juni, Tornados im Juli, Hagelstürme im August und Dürre das ganze Jahr. Es ist ein bisschen wie Weihnachten. Was ist wohl heute in deinem Wetter-Strumpf? Wie schön! Eine Blattwespenplage. Kinder wuchsen auf, die nie einen Apfel kosteten und für die Ontario der Himmel war. Beim Frühstück lässt Lucinda ein Messer fallen. Sofort schaut ihr Vater verärgert auf und beruhigt sich wieder, als er sieht, wer die Schuldige ist. Norma Joyce bemerkt das natürlich. Aber es genügt ihr nicht, es zu bemerken. Sie muss sagen: »Diesmal war ich es nicht«, in einem höchst entschiedenen Ton. Ein Kind, das die Fäuste immer geballt hat. Es muss allen zeigen, dass ihm nichts entgeht. Es muss dafür sorgen, dass alle sich unwohl fühlen. Sie ist acht Jahre alt. Die Frühpubertät sucht sie heim, erste Körperhaare erscheinen, sie ist wetterfühlig wie ein Fisch. Abends liegt sie im Bett und schmettert »Good King Wenceslas«, bis Lucinda unten an die Treppe tritt und PST sagt. Dann hört man nur noch das Geräusch des Pedals, das sich unter Lucindas Pantoffelfuß auf und ab bewegt. Lucinda näht, und an Norma Joyce zeigen sich dunkle Haare. Morgens schaut sie sich an und hat das Gefühl, von links genäht zu sein, und ein ungeschicktes Kind oder ein böswilliger Erwachsener hat die Fäden hängen lassen. Sie spielt mit den Haarbüscheln unter ihren Armen. 8
Sie hatten gerade »Rapunzel« gelesen. Lucinda hockte auf der Bettkante, Norma Joyce lehnte sich zurück und verschränkte die bloßen Arme hinter dem Kopf, denn es war Sommer, und Lucinda hielt mitten im Wort inne und beugte sich vor, um zu schauen. Berührte den Schatten in der Achselhöhle ihrer Schwester (Haut so weich wie Talkumpuder), und Norma Joyce' eigene Finger fühlten ebenfalls nach. Acht Jahre alt und noch alle Milchzähne. Nicht die richtige Zeit. Ein Kind macht in hastiger Voreiligkeit einen Sprung – die Unerbittlichkeit des Sommers, der Verlust der leichten Frühlingsluft. Sie war Laubwerk am falschen Ort, wirres Unkraut, das auf jemandes Rücken wächst. Jetzt ist Nachmittag, und alle sind im Haus. Sie sitzt am Küchentisch, versunken in The Flopsie Bunnies, Ernest füllt den Kessel (Vom Tee Überschwemmt sollte auf seinem Grabstein stehen), Lucinda sitzt im Schaukelstuhl und stopft Socken auf einem Holzei. Sie greift in ihren Lumpensack und zieht ein Stück von einem alten Laken hervor. »Norma Joyce? Hier. Mach einen Saum.« Da sind sie, die beiden, und sitzen in dieser stillen Zeit vor seiner Ankunft in der Küche. Die schöne, lammfromme Lucinda stört und glaubt, dass sie das Recht hat zu stören, denn alles, was sie sieht, ist ein winziges Buch in den Händen eines winzigen, unproportionierten Kindes, dessen Stirn noch die von Elisabeth I. in den Schatten stellt, dessen Ohrläppchen man für Kissen halten könnte, dessen schlaffe Augenlider eine ganze Armee einschläfern könnten. Alles, was sie sieht, ist ein Kind, das niemals hilft. »Ich hasse Nähen«, kommt als klare, leidenschaftliche Antwort, die vielleicht nicht vorsätzlich Anstoß erregen soll, die 9
aber anstößig ist. »Sag nicht hassen an einem Sonntag«, und Lucinda reicht ihr eine Nadel mit Faden. »Oh, Norma«, leise, »um Himmels willen«, und wieder lässt sie ihre Socke sinken. Beide Schwestern sehen zu, wie sich der dicke Blutstropfen auf dem armen alten Laken ausbreitet. Er bildet einen kleinen roten Vogel auf weißem Hintergrund. Der Himmel senkt sich. Große Schneeflocken. Dann Wind. Der erste Schneesturm des Jahres macht dem friedlichen Wetter ein Ende. Zwölf Stunden lang fliegt waagerecht Schnee wie Mehl. Um fünf Uhr gibt es Kartoffelsuppe, Butterbrote, Milch aus Gläsern, Brotpudding: eine weiße Mahlzeit in weißem Wetter, nach der Lucinda die Laterne nimmt und zum Holzschuppen geht, aber nicht, ohne sich vorher umzudrehen und mit ihrer Schullehrerinnenstimme zu sprechen. »Du rührst dich nicht, bis dein Pudding alle ist. Norma Joyce? Hörst du?« Ernest hat sich in den Schaukelstuhl gesetzt und seine Pfeife hervorgeholt. Von dort wird keine Hilfe kommen, und wann hätte Norma Joyce ihren Vater jemals um Hilfe gebeten? So ist es abends und morgens für sie, die faulige Weichheit des milchgetränkten Brots nach der schleimigen Klumpigkeit des Hafermehlporridge. Sie schiebt den Pudding in den Mund und würgt. Oh, dieses Grauen. Und dann die Erlösung, wie es das Glück manchmal will. Sie hört Stimmen. Lucindas Stimme und die eines Mannes. Sie streift ihren Mantel über, ihre Fäustlinge, und geht hinaus. Ihre Schwester ist auf der Veranda, sie drückt Holz an ihre Brust (alte Zaunpfähle, beiseite geschafft und zu Anfeuerholz gespalten) und hält mit der freien Hand die Laterne hoch, so 10
dass der hochgewachsene Fremde gut zu sehen ist. Er kommt direkt aus Wind und Schnee, betrachtet interessiert die schöne Lucinda und hat eine münzgroße Erfrierung auf der Wange. Für einen Augenblick schauen die beiden Schwestern in sein erleichtertes und lächelndes Gesicht herab, dann steigt er die Treppe hinauf, um sie zu begrüßen. Kurz bevor er oben ist, bückt er sich, um den Schnee von seiner Hose zu klopfen. In diesem Moment macht Norma Joyce einen Schritt. Sie streift ihren Fäustling ab und legt ihre warme Hand auf seine Wange. »Die meisten Leute«, sagt er und betrachtet das seltsame kleine Mädchen, »würden einfach sagen, he, du hast da eine Erfrierung.« Drinnen wischt er sich den schmelzenden Schnee aus Haar und Genick, dann nimmt er einen Ontario-Apfel aus seinem Rucksack. Er poliert ihn an seinem Flanellhemd, legt ihn auf den Küchentisch und sagt, es tue ihm nur Leid, nicht mehr zu haben. Er heißt Maurice Dove. Sie wird sich an den harten weißen Penny erinnern. Er fühlt sich an wie erstarrtes Wachs und wird in der warmen Küche rosa wie ein Radiergummi. Sie wird sich erinnern, wie sie ihn ein zweites Mal berührt, als er geschwollen ist und heiß, kurz bevor sie mit beträchtlicher Befriedigung sagt, dass von nun an zuerst diese Stelle erfrieren wird. »Sie wird immer erfrieren«, sagt sie. Er will wissen, ob alle kleinen Mädchen so blutrünstig sind. Sie hat keine Antwort darauf. Sie hat nur den Triumph, ihn überrascht zu haben, so dass er sie bemerken musste. Zwei Schwestern fielen in denselben Brunnen, und der Brunnen war Maurice Dove. Er blieb zwei Wochen; er kam im selben 11
Jahr noch zwei Mal zurück. Drei Mal tauchten sie in seine gutaussehende Gegenwart ein. Abends saß er mit einem ausgeblichenen roten Umhang über den Schultern am Küchentisch und schrieb in sein Notizbuch oder las, und die anderen setzten sich nach und nach dazu. Norma Joyce kam zuerst, mit Beatrix Potter oder Hurlbut's Story of the Bible, dann kam Ernest aus der Scheune zurück, dann Lucinda von oben, wo sie Laken zusammengelegt hatte. Das Haus war wärmer mit ihm; zusätzliche Lichtquellen ließen die Küche blinken: die zweite Petroleumlampe neben dem Spülbecken, die hellere Aladin-Lampe auf dem Tisch, der weiße Kragen um Lucindas Hals und die Schildpattkämme in ihrem Haar, der zusätzliche Löffel neben der glasierten braunen Teekanne und der Ring an Maurice' Hand, die über die linierten weißen Seiten glitt. »Ist das ein Diamant?«, fragte das kleine Mädchen, und er lächelte. »Dir entgeht wohl nichts, was?« Er streckte eine Hand aus, die sie wiedersehen wird, wenn sie in einem Film Marlon Brando sieht, eine eckige Hand mit langen, spitz zulaufenden Fingern, eine Hand, die ins Freie gehört und die auch für drinnen taugt. Er kam herein und roch nach Draußen und nach Reise, und da ist sie und streckt die Hand aus, um den goldenen Ring zu berühren, in den ein winziger Diamantstern eingelassen ist. Sein Mittelfinger hat Schwielen und Tintenflecke, die Fingernägel sind abgestoßen – aber ein Diamantring. Bestimmt ist er reich. Sie prägt sich jeden Zentimeter an ihm ein. Jeden Zentimeter des schlaffen, dicken braunen Haars, der blauen Augen und des milchigen Halsausschnitts, der schlanken Hüften und der Füße in Pantoffeln, der langen, flachen, geschickten Finger. Ob er Papiere durchblättert oder etwas aus seinem Rucksack zieht – er 12
hält seine Finger so, wie ein Pianist es nicht sollte. Morgens steht er vor allen anderen auf, »um Sommer zu machen«, wie er sagt, indem er den Küchenherd mit Kohlen versorgt und in der Handmühle an der Wand Kaffee mahlt. Von seinem kleinen persönlichen Vorrat macht er genug für alle, und er schenkt sich selbst eine halbe Tasse ein, an der er lange und genüsslich riecht. Norma Joyce sagt: »Das ist so, als würdest du an Blumen riechen.« Dies war seine größte Gabe: Bei ihm entspannte man sich so, dass man zu reden begann. Er konnte einen Stein zum Leben und Gespräch erwecken. Und wenn man nicht aus Stein war, wenn man im Gegenteil empfänglich war, war man Wachs in seinen Händen. »Erzähl mir ein Geheimnis«, sagte er zu Norma Joyce. Sie waren allein in der Küche. Er hatte ihr eine kleine Tasse Kaffee eingeschenkt, eine demitasse, wie er sagte, und großzügig Zucker hinzugegeben. Sie saß auf ihrem Stuhl, auf dem, der hinter dem Tisch und dicht an der Wand stand, so dass es nicht einfach war, aufzustehen und zu helfen. Sie sagte: »Ich habe ein besonderes Zimmer.« Er hörte ihr zu. Er wartete. »Niemand außer mir geht da hinein.« »Hier?«, fragte er. »Oder weit weg?« »Ich zeig es dir. Wenn du willst.« Es war das Zimmer, das vom vorderen Flur abging, das Arbeitszimmer, das ihre Bücher liebende Mutter früher an den Abenden benutzte; damals saß sie bequem am Schreibtisch und korrigierte die Hausaufgaben der zwei oder drei Schüler, denen sie Nachhilfe in Englisch oder Chemie oder Mathe gab. Ein stilles Zimmer in Blau und Grau. Das Fenster ging nach Osten. 13
Die Vorhänge daran waren aus verblasstem blauem Chintz; die Wände waren mit einem Muster aus blauen und grauen Streifen mit weißen Linien dazwischen tapeziert; der Schreibtisch ihrer Mutter, links vom Fenster, war wohl genutzt, aber aufgeräumt. Von der Tür aus betrachtete Norma Joyce die Neigung ihres Rückens und den Winkel, in dem sie den Kopf bei der Arbeit hielt, und sie wusste, dass ihre Mutter sich schließlich umdrehen und lächeln und die Arme ausstrecken würde. Sie roch nach Tinte und nach Evening of Paris, diese hübsche Frau, die sich jeden Sonntag Parfüm hinter die Ohren tupfte, und hinter die von Norma Joyce auch. Für den Rest der Woche schnupperten sie aneinander, um zu sehen, bei wem es länger haftete. (Bei Norma Joyce, denn ihre Haut hielt Düfte so, wie sie Feuchtigkeit hielt.) Florida May hieß ihre Mutter. Florida May führte sie immer an der Hand hinauf in das Zimmer, das sie im Obergeschoss mit Lucinda teilte. In der Mitte des Flurs konnte man auf einer Leiter durch eine Falltür weiter hinauf zum fensterlosen Dachboden steigen, wo sich die dünnen, schwarzen, mehrfach gekrümmten Rohre vom Herd in der Küche und vom NautilusOfen im Wohnzimmer vereinten und durch das Dach in den Präriehimmel brachen. Norma Joyce fing mit einer kleinen blauen Schüssel an. Das geschah in dem Sommer, als ihre Mutter gestorben war. Sie fand sie an der Scheunenwand, wohin der Wind sie geweht hatte, und stellte sie auf den Fußboden neben den Schreibtisch ihrer Mutter (Eine Schullehrerin, sagte Maurice zu Lucinda. Daher also Ihr Name), bis sie sich mit Staub gefüllt hatte. Dann stellte sie sie auf den Tisch in der Ecke und ordnete darum herum die herrenlosen Dinge an, die sie auf ihren Streifzügen gefunden hatte: ein kleiner Schuh; ein Babyschnuller; Holzstückchen, 14
Glas, Metall, Geschirr; kleine Schädel und Knochen; glatte Steine; Knöpfe; Stücke von Garn und Seil. Staub fiel aus allen Richtungen, und mit der Zeit wurde aus der Ecke eine Staubskulptur, ein Artenschrein. Für eine Weile wohnte eine Spinne still wie ein kleiner grauer Handschuh in einer Ecke dieses Wetterzimmers. »Es macht mir nichts aus«, sagte sie, als Maurice den kleinen Schuh nahm, »solange du ihn wieder auf genau denselben Platz stellst.« War etwas nur minimal verschoben, teilte sie das Gefühl, das der Gegenstand für die Störung empfand. Ihr Gefüge hatte eine Genauigkeit, die jeder Dieb verstehen würde. Ihr Ordnungssinn war das Gegenteil von Lucindas. Für Lucinda war Ordnung Auslöschung, für Norma Joyce war sie Anhäufung. Jeder Gegenstand hatte auf einem Regal oder einem Tisch, oder in einer Fußbodenecke sein Zuhause und seine Biografie in ihrem geheimen Notizbuch. Jedes Stück Garn, jeder bunte Knopf, jedes zerbrochene Porzellanstück war genau bestimmt: was es war, wo sie es gefunden hatte und wann. Ein glatter schwarzer Stein, den sie im Sommer 1937 neben dem Brunnen der Haydens gefunden hatte, war ihr liebster. Sie zeigte ihn Maurice, dessen Interesse zu vollkommener Zufriedenheit ausfiel, dann legte sie ihn in seinen Umriss zurück und wünschte sich, dasselbe jeden Abend mit ihrem Kopf tun zu können; aber immer war Lucinda am Werk und schüttelte Kissen, glättete Laken und entfernte überall im Haus den Staub, nur hier nicht. Dieses Zimmer betrat Lucinda nie. Durch eine unausgesprochene Übereinkunft war es Norma Joyce überlassen, so, wie man ein Stückchen Obst oder Zucker für eine Wespe beiseite stellt. »Du bist die geborene Studentin«, sagte er zu Norma Joyce, 15
und das war das erste Kompliment, das sie seit dem Tod ihrer Mutter bekam. Er war auch Student, man hatte ihn aus Ottawa geschickt, um das Wetter zu studieren. In Willow Bend sagten die Leute, Das
ist mal wieder typisch Ottawa, schicken die uns einen Jungen. Aber sie konnten seinem Charme nicht widerstehen, also erfuhr er gleich von vielen Dingen, einschließlich der Hardy-Farm. Die Leute sagten, Sie sind gekommen, um etwas über das Wetter
herauszufinden, also sagen Sie uns, warum Ernest Hardy den ganzen Regen bekommt. Sie war ein Feuchtigkeitsmagnet, diese Farm östlich von Willow Bend, ein Flecken Tau in einem trockenen Feld, ein kleiner Hügel, der Regen und Schnee anzog, wenn nirgendwo sonst etwas fiel. Hatte Zeus nicht einmal die Gestalt eines goldenen Schauers angenommen? Vielleicht fing Lucindas Schönheit den Regen ein. Oder vielleicht – dieser Gedanke kam ihm später – war die kleine, dunkle, unberechenbare Schwester die Quelle allen Wetters. Es war der Morgen nach seiner Ankunft. Der 7. Januar 1938, das Jahr mit einem besonderen Ereignis im Januar und einem weiteren im März. Aus alter Gewohnheit deckte Lucinda den Tisch mit Tassen und Schüsseln, die auf dem Kopf standen, damit kein Staub hineinfiel. Norma Joyce machte sich an ihr Porridge, und Maurice sagte zu ihrer ungeheuren Enttäuschung, ja, er würde noch eine Schüssel nehmen, danke, Lucinda. Und also fragte sie angriffslustig: »Wer war der heilige Stephanus?« Er wandte sich mit den Augen, die nichts verrieten, dem kleinen Mädchen zu. Blaue Augen und Fragen aus heiterem blauem Himmel.
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»Der heilige Stephanus? Man hat ihn zu Tode gesteinigt. Er war der erste christliche Märtyrer. Und weißt du, wer die Mäntel der Männer gehalten hat, die ihn steinigten?« Sie schüttelte den Kopf. »Der heilige Paulus. Das war, als er noch Saulus von Tarsus war, bevor er das Licht sah.« »Wieso weißt du das?« »Weil ich am Tag des heiligen Stephanus geboren bin. Maurice Stephen Dove, zu Ihren Diensten«, und er lächelte in Lucindas Richtung. »Ich bin am 29. März 1929 geboren«, sagte Norma Joyce. »Das werde ich mir merken«, und sie glaubte ihm, was ihr erster Fehler war. »Jetzt heißt es aber, dass er Migräne hatte.« »Migräne?« Lucinda sah rasch auf. »Das Licht, das ihn blendete. Kopfschmerzen.« »Ich weiß«, sagte sie. »Meinst du das Licht auf der Straße nach Damaskus?«, fragte Norma Joyce, obwohl sie ganz genau wusste, dass er das meinte. Vielleicht wusste sie nichts über die Heiligen, aber das mit der Straße nach Damaskus wusste jeder. »Jawoll«, sagte er und schluckte sein Porridge herunter. »Als er diesen Brief dabeihatte, den er nicht überbrachte.« »Welchen Brief?« »Norma.« »Welchen Brief?« »Norma Joyce. Lass unseren Gast in Ruhe essen.« Und dann, als sie die Kaffeekanne über seine Tasse hob: »Meine Schwester sagt manchmal tagelang kein Wort, und dann 17
fragt sie einen ganz plötzlich zu Tode.« »Das macht mir nichts aus«, sagte er. Aber seine Worte waren nicht so tröstlich, wie sie hätten sein können, denn er war so sehr damit beschäftigt, Lucinda zu betrachten. Er war nach unten gekommen und hatte sich gefragt, ob das Tageslicht einen Makel enthüllen würde, aber nein, je mehr Tageslicht, desto besser. Herrliches rotgoldenes Haar, schlanke Schultern, gemessene Schnelligkeit, eine offenbar gelassene Kraft, die beinahe chinesisch wirkte, und keinerlei Eitelkeit, während sie Kaffee einschenkte, Porridge servierte, mit dem Haar ihrer Schwester das tat, was bei ihrem eigenen Haar halb so lange dauerte: einen Zopf flechten, den sie zwei Mal um den Kopf schlang. Ihre wunden, aufgesprungenen Hände behandelte sie wie ein Kind, das ihre Geduld auf die Probe stellen will. Gründlich, schnell, sachlich, und der Deckel saß wieder auf dem Glas mit dunkelgelber Vaseline. Mit ihm ging sie nicht anders um. Sie sah nur kurz hin, dann wandte sie sich ab von seinem Rosenknospenmund, seiner schlaksigen Schlankheit und dem warmen Geruch. Zog sich zurück, um alles in Ordnung zu bringen. Und so verpasste sie das morgendliche Gespräch, in dem Norma Joyce so viel Überraschendes erfuhr. Er kannte ihren Onkel in Ottawa. Er wusste genau, wo Onkel Dennis wohnte, weil seine Straße parallel zu Onkel Dennis' Straße verlief. Er zeichnete ein paar Linien in sein Notizbuch, Carlyle oberhalb von Fulton und Woodbine als gepunkteter Fahrweg rechts und den Kanal als gekrümmte Linie links. »Er kennt Onkel Dennis!«, erzählte ihr Norma Joyce. Als Maurice im Begriff war, abzureisen, zeigte Lucinda sich interessiert. So war es immer bei ihr: jeden Knoten vorsichtig lösen, das Packpapier bügeln, alles aufheben für eine spätere 18
Verwendung, einschließlich ihrer eigenen Erwartung. Besser als jeder Besitz schien ihr die Erwartung zu gefallen, verschnürt mit Pflicht. Die goldene Lucinda. Sie stand vor der Dämmerung auf, entzündete eine Lampe und reinigte die Glaszylinder der anderen vier, bevor sie an die Arbeit ging, in ihrem Voranschreiten unermüdlich wie die Heinzelmännchen, die sich plagen, während alles schläft. Das Wetter machte ihre Aufgabe herkulisch, denn es füllte jeden Winkel mit Staub und brachte das Wasser zum Verschwinden, aber sie stellte sich der Herausforderung, denn sie war fast so groß wie Maurice und mit jenen Prärieaugen gesegnet, die ein Fleckchen auf jede Entfernung erkennen. Ihr entging nichts. Wände, Regale, Decke, Fußboden, der glänzende schwarze Ofen, die Schullandkarte von Kanada über der Tretnähmaschine, der Tisch, auf dem kein Wachstuch lag, weil sie dessen Anblick nicht ertragen konnte, der schwarze Walnuss-Schaukelstuhl und der Sessel, die einst im Empfangszimmer von Onkel Dennis, dem Zahnarzt, gestanden hatten, der recht zurückgezogen und prachtvoll in der Nähe des Kanals wohnte, wie er sagte, und sie alle stellten sich das unaufhörlich fließende Wasser vor. In der Küchenecke stand eine neue Errungenschaft von Ernest (und Norma Joyce wird so etwas eines Tages in winzigen Wohnungen in Manhattan wiedersehen), aus der Zeit, in der er noch großzügig dachte: eine Badewanne, die von Eaton's aus Winnipeg in einer Kiste geschickt worden war, innen weiß emailliert, außen dunkelgrün gestrichen, mit vier nach außen gedrehten Füßen. Ein Rohr, das an den Abfluss angeschlossen war, führte durch den Fußboden nach draußen in den Hof; eine eingepasste hölzerne Abdeckung diente als Regal für Eimer und Milchkannen. Jeden Samstag machte Lucinda Badewasser heiß und wunderte sich über die 19
weiche olivfarbene Haut ihrer Schwester. Wo kam es nur her, dieses unversehrte Kind, dessen Haut nie aufsprang, dessen Haar sich nie verknotete, dessen Zähne nie schmerzten? Ihr eigener Atem roch nach Nelken, ein altes Mittel, eine Nelke gegen den schmerzenden Zahn zu drücken wie einen tröstlichen Gedanken, und für einen Moment hörte sie mit dem Staubwischen auf und sank auf einen Stuhl. Die Leute sagten, sie sei ein Wunder, niemand könne sie berühren, niemand Hand an sie legen: die schönste Frau in Südwest-Saskatchewan und die beste Haushälterin. Der Gedanke war ein Traum, an den sie sich plötzlich erinnerte. Sie war in einem großen Zimmer mit zwei hohen Fenstern; sie ging zum ersten Fenster und sah in einen blühenden Garten hinaus, sie ging zum nächsten Fenster, und derselbe Garten war unter Schnee begraben. Sogar jetzt, während sie sich hin und her wiegte, war der Traum so klar, dass sie weiter überlegte, wie merkwürdig es war, vom einen Fenster aus den Sommer und vom anderen aus den Winter zu sehen. »Worüber denkst du nach?«, fragte Norma Joyce; es überraschte sie, dass ihre Schwester saß und in Gedanken war. »Ich hatte letzte Nacht so einen merkwürdigen Traum«, und dann beschrieb sie ihn. »Luce? Ich hatte denselben Traum!« Ein Zufall, der sie einander hätte näher bringen können, aber das tat er nicht. Lucinda ärgerte sich, aber sie hätte nicht sagen können, warum – sie wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie in Konkurrenz zu ihrer Schwester stand. Ein Fehler, den ältere Schwestern gerne machen. Sie streichelte die Lehnen des Schaukelstuhls, fuhr mit den Fingern über die Rillen an beiden Seiten und beschwor andere Bilder herauf, die jetzt Wachbilder waren. Sie dachte an all die Leute, die voller Sorge diese Lehnen 20
umklammert hatten, bevor sie das zahnärztliche Kabinett ihres Onkels betraten. Sie hätte die gute Fee aus einem alten Märchen sein können, umrahmt von dem schwarzen Walnussstuhl, gedankenverloren, mit der vergessenen Näharbeit im Schoß. Erinnerst du dich an den Ebenholzrahmen um das schneeweiße Leinen, auf das der Blutstropfen so verräterisch fällt? Die Wände des Wohnzimmers sind mit einer geblümten Tapete bedeckt, die Lucinda eines nervösen Sommers weiß übertüncht hat. Durch das Weiß sieht man das blasse Blau von etwas, das einmal Rosen waren, wie Haare dicht unter der Haut. Lucinda berührt die Wand, wie sie alles berührt – um den Staub zu ermessen –, dann stützt sie eine Hand in die Hüfte und reibt ihre Fingerspitzen am Daumen wie ein Hund, der sich am Ohr kratzt. Sie kennt die Freude, die ein nasser Lappen auf einem klebrigen Tisch bereitet, ein Schwamm auf einer Tafel, ein heißes Eisen auf einer knittrigen Fläche. Die Freude an Ordnung, Routine, Arbeit. Endlose gestrickte Reihen, endloses Staubwischen, endlose Eimer Wasser formen ihre Tage und machen sie ruhig, ihre Kraft ist ein Zauberkrug, der niemals leer wird, bis man ihn zerschmettert. Sie war fünfzehn, als die Kopfschmerzen kamen, und der Verlauf änderte sich nie, so wenig wie die Überraschung. Ein Wohlgefühl lullte sie ein, narrte sie, öffnete die Tore weit für die Horden glänzender Zickzacklinien, die auf ihre Augen zugaloppierten. Der Schmerz war immer eine Überraschung. Ernest rührte Eier. Norma Joyce deckte den Tisch, ohne dass 21
man sie darum bitten musste. Lucinda lag im Bett und wandte das Gesicht vom Fenster ab, vor das sie eine dunkle Decke gehängt hatte. Nach vierundzwanzig wachen Stunden voller Übelkeit fiel sie in einen tiefen Schlaf, dann erwachte sie erfrischt und gereinigt wie eine Furie. Tizianhaar, sagt Maurice zu Lucinda. Das Kompliment lässt sie zum Lexikon greifen, wo sie Titicaca findet, Tissue, Ticino; sie ist zu schüchtern, um nach der Schreibweise zu fragen. Als sie Jahre später zufällig einen Dozenten in der National Art Gallery Tizian sagen hört, folgt sie ihm bis zum Ende seiner Führung, dann schreibt er den Namen für sie auf. In der Bibliothek betrachtet sie besonders lang eine Abbildung der Venus von Urbino, der Kontrast zwischen der warmen Nacktheit der Frau und der schweren Kleidung des Dieners begeistert sie, und ihr fällt wieder ein, dass sie Sommer und Winter aus verschiedenen Fenstern desselben Traumzimmers sah. Wie jeder gute Gast ist Maurice voller Geschichten. Er erzählt ihnen von Cole Porters Sturz im Jahr zuvor und vom Kondolenzschreiben seiner Mutter, die nämlich früher einmal als Statistin im Shubert Theatre am Broadway gearbeitet hat. Er sagt: »Ihr seht, meine Liebe zur Statistik ist angeboren.« Er erzählt Geschichten von warmem Wetter und beschreibt seinen ersten Orkan, den er als Junge in Florida erlebte: Bäume ohne Blätter und Rinde, Regen wie eine milchig grüne Wand und danach in zerschlagenen Ästen tropische Vögel, die von weit her aus der Karibik herübergeweht worden waren. Er erzählt von damals, als die Seminolen-Indianer in den Norden und Westen der Everglades wanderten, weil sie bemerkt hatten, dass die Riedgräser außerhalb der Jahreszeit blühten, zumal auch Kaninchen und Ratten in dieselbe Richtung wanderten 22
und die Vögel zu singen aufhörten und auch dorthin flogen; eine Woche später wurde alles von einer Wasserwand überflutet. Er erzählt von ganzen Zivilisationen, die im Wetter untergingen, von einer Stadt in der Nähe von Euphrat und Tigris, die unter Schwemmsand begraben und nach Tausenden von Jahren entdeckt wurde, von mumifizierten Körpern, an denen noch Seidenfetzen hingen, die aus asiatischem Sand auftauchten, und die der wehende Sand bald wieder bedeckte. Deswegen bin ich hier, sagt er. Wetterkatastrophen sind mein Gebiet, und das hier ist die Katastrophe, die am nächsten liegt. Tatsächlich? Plötzlich sieht Norma Joyce sich selbst als Star eines großen Unglücksfalls. Sie würde neben Bing Crosbys Diät und Lana Turners Beinen in der Zeitung stehen. Nicht jeder findet Maurice' Schwung so anziehend. Ernest sieht ihn an und denkt jung. Er denkt Student. Er denkt Armleuchter
aus dem Osten. Ernest Rupert Hardy. Ruhig, stämmig, kompakt, höflich zu Fremden, schlecht gelaunt zu Hause. Er hat die gleiche helle Haut und das helle Haar wie Lucinda und die gleiche unvergängliche Liebe zur Arbeit – Er liebte die Arbeit, wird man von ihm sagen – und das gleiche ungebärdige Herz wie Norma Joyce. Er kann kein Zimmer betreten, ohne seine Anwesenheit spürbar zu machen, ein Mann, der zu verletzt und zu ehrgeizig ist, um großmütig in den Hintergrund zu treten, ein Mann, der Glück hat, der aber missgünstig ist, denn dass er Glück hat, raubt ihm etwas von dem Mitleid, das er zu verdienen glaubt. Immer braucht er eine Tasse Tee, eine respektvolle Geste, die Anerkennung seiner Wichtigkeit, dieser maßlose Mann, der aus 23
dem Fenster starrt wie General Eeyore, wenn er sein Fleckchen Wetter mustert. Düster, einsam, selbstmitleidig und stur. Florida May Lamb legte gerade Blumen auf das Grab ihrer Mutter, als Ernest Hardy sie zum ersten Mal sah. Er hätte den Wink verstehen sollen. Das war 1919, im Jahr der Spanischen Grippe, als man die Bretter von den Veranden reißen musste um den Bedarf an Särgen zu decken. Er war nach Westen gekommen, um Land zu kaufen und sich etwas aufzubauen, und weil er etwas Gutes erkannte, wenn er es sah, heiratete er Florida May noch im selben Jahr, und er liebte sie sicher, wenn auch nicht so sehr, wie er seinen großen Bruder Dennis liebte. Onkel Dennis war zwölf Jahre älter als Ernest und Junggeselle, wohlhabend, mit welligem Haar, peinlich genau; er kam 1925 zu Besuch und verliebte sich auf den ersten Blick, denn es gab keinerlei Durcheinander, nur einen riesigen Himmel und erhebende Prärie, die so weit und offen war, dass der Zahnarzt Ah! sagte. Er versprach, in fünf Jahren zu ihnen zu kommen, wenn Ernest ein großes Stück Land für zukünftige Obstgärten brachliegen lassen würde. Wir werden die Ersten sein, sagte er, die zeigen, dass es zu schaffen ist. Und so kam es, dass die Farm der Hardys auch einen beträchtlichen Teil jungfräulicher Prärie umfasste, und das gab der Sache ein ganz anderes Gesicht. Vier Jahre später kam die Wirtschaftskrise von 1929. Statt seiner selbst schickte Onkel Dennis Möbel, Fässer mit Äpfeln, pfundweise Früchtekuchen; und dann, in einem verhängnisvollen Winter, eine kleine Schachtel mit getrocknetem Rehfleisch. Staub zu Staub, brummelte Ernest gern, wenn er aus dem Fenster starrte. Und murmelte Franzose, wenn Maurice Dove die Frechheit besaß, abends lieber Kaffee als Tee zu trinken. 24
Maurice macht sich nichts daraus. Er sagt sich, dass man sein muss wie ein Korken auf dem Wasser, man darf sich von schwierigen Leuten nicht herunterziehen lassen. Ein Elan, den er von seiner Mutter geerbt hat, der Statistin, deren Eltern Quebec verlassen hatten, als sie drei war, wegen der Baumwollfabriken in Massachusetts. Sie war das älteste von neun Kindern, und ein weiteres war unterwegs, als sie ausbrach und sich im Alter von siebzehn Jahren auf den Weg nach New York City machte. Dort traf sie den schüchternen Walter Dove, der für die Textilfirma seines Vaters in Montreal arbeitete und von Zeit zu Zeit geschäftlich nach New York kam. Er wohnte immer im Ritz-Carlton, aß im Speisesaal und bestellte jeden Abend Fisch und Chips zum Essen, gefolgt von einer Schale Vanilleeis. Eines Abends sah er während einer Vorstellung von The Student Prince, wie Annette Tremblay über ihr grünes Chiffonkleid stolperte, und ihm gingen die Augen auf. Walter führte eine Braut heim, deren Hass auf den Winter ihm die Ausrede gab, die er brauchte. Mach's gut, l'hiver. Au revoir, ihr Trottel. Und sie gingen nach Florida, wo Maurice ein Jahr später am Rand der Everglades geboren wurde. Als Junge verbrachte er seine Tage damit, Vögel zu beobachten, ihre Eier zu stehlen, Pflanzen zu untersuchen. Mit neun war er so empört darüber, dass seine Mutter die Namen des Unkrauts in ihrem Garten nicht kannte, dass er ein Buch mit dem Titel Dove Botany für sie machte. Mit zehn las er The Voyage of the Beagle, die Geschichte von Darwins Reise um die Welt. Als er elf war, starb sein Großvater, und mit zwölf wohnte er in Ottawa, um nah, aber nicht zu nah bei seiner alten Großmutter in Montreal zu sein. Inzwischen hatte ein Nerzmantel Annette mit dem Winterwetter versöhnt. 25
Sie sagte zu ihrem Sohn: »Ottawa ist ein Glücksort, denn dort treffen drei Flüsse zusammen, und du bist ein Glücksjunge, weil du zu einer Familie von dreien gehörst. Lass dich nie«, sagte sie, »niemals durch eine große Familie binden. Es ist mein Ernst. Keine Kinder, bevor du fünfzig bist.« Das hat er nicht vor. Was er in Gedanken hört, ist nicht das Getrappel kleiner Füße. Schon eher Applaus für Maurice Dove und ein großes Publikum, das sich erhoben hat. Er kann ein Lächeln nicht unterdrücken. Er lächelt über die Dummheit und über das Vergnügen daran. Seine Stimme wird Norma Joyce wieder hören, wenn sie in einem Film Gene Kelly sieht. Eine seltsame, helle, rauchige Stimme, die aufregend ist, wie Lagen von Seidenpapier um ein Geschenk aufregend sind. Ihre eigene Stimme ist tief. »Ein Whisky-Tenor«, neckt er sie. Sie starrt ihn unverwandt an und grinst dann so viel sagend, dass er ihr sonderbarstes Merkmal entdeckt: Ihr Zahnfleisch hat die Farbe von Coca-Cola. Die Wirkung ist erstaunlich. Ihr Gesicht hellt sich auf, während ihr Zahnfleisch dunkler wird, wie das von Jock, seinem alten Hund.
Night and Day, denkt er und geht zum Klavier. Im Wohnzimmer steht an der Wand das Masonand-Risch, das Florida Mays Eltern aus Ontario mitgebracht haben. Er spielt Cole Porter, während die Schwestern rechts und links neben ihm stehen: Norma Joyce, so dreist, so direkt in ihrer Bewunderung, dass niemand sie ernst nimmt, und Lucinda, die sich zurückhält – sie hat ja auch die Schönheit auf ihrer Seite. Maurice zieht das kleine Messingbarometer aus der Tasche, das seine Mutter ihm schenkte, als er zwölf wurde. Er erzählt seiner 26
winzigen Zuhörerin mit den riesigen Ohrläppchen, dass das Barometer fällt und dass wir dann schläfrig sind und mehr träumen, dass das Wasser in den Brunnen steigt, die Mücken öfter stechen, die Fische seltener beißen. Manche Leute sind Barometer, sagt er. Manche Leute sind wetterfühlig; die meisten Kinder sind es. »Ich bin so«, sagt Norma Joyce. »Wie?«, fragt Lucinda. »Ich weiß, was passieren wird. Ich weiß, dass jemand gleich etwas sagen wird, und dann sagt er es. Oder ich glaube, dass in einem Buch etwas passieren wird, und dann passiert es.« »Du meinst, du siehst die Bilder vor dir.« »Das meine ich nicht.« Lucinda lacht, und die große Behauptung verliert sich in der kleinen Welt des Beleidigens und Beleidigtwerdens. Aber Norma Joyce weiß, was sie weiß. Ein Barometer sagt das Wetter, zwölf Stunden bevor es da ist, voraus, und das tut sie auch. Sie weiß viele Dinge. »Ich rieche Salatgurken, wenn keine da sind«, sagt sie. »Ich rieche sie, und ich weiß, dass es anderes Wetter gibt.« »Manchmal«, fügt sie entschieden hinzu, »habe ich vor einem Sturm meinen Bruder gesehen.« Die Nadel ruht in Lucindas Hand, Ernests Teetasse hält in ihrem stetigen Aufstieg inne, und Maurice wartet auf eine Erklärung, die er erst bei seinem zweiten Besuch bekommt. Der tiefe Schnee in diesem Winter 1938 gab ihr das Gefühl, in jemand anderes Kindheit zu sein: Hänsel und Gretel kommen zum Lebkuchenhaus, Maurice Dove kommt aus Wind und Schnee. Sie erinnert sich, wie schnell er alle für sich einnahm und dabei von einem Menschen etwas über den anderen erfuhr: 27
von Lucinda, dass Ernests Glück sowohl zu groß als auch zu klein war und dass er darüber nicht reden wollte. »Er hat nie genug, aber etwas hat er immer, die Ernte, Futter für sein Vieh, während fast alle anderen gar nichts haben. Sie finden, dass wir Glück haben, weil unsere Sommerbrache zwölf Scheffel Weizen bringt, und bei ihnen wächst nur Salzkraut. Aber das Geld reicht nicht einmal für die Frachtkosten.« Glück, das Pech war – wie ihr Glück mit Maurice, denkt sie jetzt. Draußen war die Prärie, ihre einfachen Linien verschoben sich auf eine Weise, die Menschen über Nacht ergrauen lassen konnte, aber ihre Farm war anders. Ihre Farm war eine Oase, mit ihrem Hügel, der den Regen anzog, ihren Ländereien, die nie einen Pflug gesehen hatten, ihrer kleinen, verlässlichen Weizenernte, ihrem Garten, mit dem Lucinda kämpfte, ihrem tiefen Brunnen, der nie versiegte. Im Sommer war die Linie zwischen Grün und Braun beinahe magisch, so klar war sie. Jenseits des Grüns lag das Königreich des Staubs, das sie durchwanderte, ein kleines Mädchen unter einer dunklen Wolke. Die Nachbarn fragten ihren Vater, wie er es mache, was ist dein Geheimnis? Und konnten den Neid nicht verbergen, der schlimmer war als schlechtes Wetter, dieses Wetter in ihren Augen. Manchmal wirft er einen bösen Blick auf seine kleine Tochter, bevor er die Nachbarn nach ihren Frauen und Söhnen fragt und sie so an seine eigenen Tragödien erinnert. Das Glück wandelt sich, sagt er dann, genau wie das Wetter, ohne Sinn und Verstand. Und so hieß er die Wissenschaftler willkommen, die von den Versuchsfarmen in Ottawa, Swift Current und Medicine Hat kamen. Sollen sie sich ihre Meriten holen, dachte er. Sollen sie sich ins Zeug legen. 28
»Er ist gereizt wegen seines Rufs«, sagte Lucinda. »Schmeicheln Sie ihm nicht mit seinen Erfolgen, und kritisieren Sie ihn nicht. Sorgen Sie dafür, dass er sich wohl fühlt, dann spricht er mit Ihnen.« Maurice war geschickt in solchen Dingen. (Norma Joyce ist es nicht. Sogar jetzt, wo sie zurückgekommen ist und zeigen will, dass sie zumindest zu einem letzten Akt der Treue fähig ist, kann sie nicht so auf ihren Vater eingehen, wie Lucinda und Maurice es immer konnten.) Sie aßen gerade zu Abend. Maurice griff nach der Teekanne und sagte so natürlich und respektvoll, als hätte er Ernest sein ganzes Leben lang gekannt: »Ernie, lassen Sie mich einschenken.« Es war das Ernie. Sein Bruder nannte ihn Ernie, und Florida May hatte das auch getan. Norma Joyce war fünf, als ihre Schwester die Decken vom Bett ihrer Mutter zurückschlug und das untere Laken glatt strich, bevor ihr Vater die blaugesichtige Frau in dem ausgeblichenen rosafarbenen Morgenrock niederlegte. Sie deckten sie zu. Sie hantierten mit diesen Decken herum. Dann versuchte ihr Vater, die Augen ihrer Mutter zu schließen, aber sie schlossen sich nicht. Lucinda nahm Norma Joyce mit nach unten. Sie machte Tee. Sie gab zwei Löffel Zucker anstatt dem üblichen einen hinein und streichelte ihren Kopf, wie man den eines Hundes streichelt und Trost spendet und nimmt, während man in Gedanken abwesend ist. Lucinda war vierzehn. Es war 1934. An diesem Abend schlug Mrs. Hayden vor, Pennys auf die Augenlider ihrer Mutter zu legen. Mrs. Hayden war Engländerin. In England 29
legte man Sovereign-Münzen auf die Augen toter Souveräne. Man zieht sich dort auch um, die Frauen tun das, jeden Nachmittag um vier Uhr. Obwohl Mrs. Hayden ein Kind durch Lungenentzündung und eines durch Diphterie verloren hatte, obwohl sie seit über drei Jahren unter den Staubverwehungen ihren Rhabarber nicht finden konnte, griff sie noch immer jeden Nachmittag in ihren Schrank, um entweder das blaue oder das violette Kleid von einem stabilen hölzernen Bügel zu nehmen. Das war, als hätte sie einen Briefkasten, der an jedem einzelnen Tag einen Brief erzeugt. Norma Joyce sah die Pennys, als sie heimlich in das Schlafzimmer zurückschlich. Die Augen ihrer Mutter sahen dekorativ und friedlich aus. Aus der Nähe konnte sie sehen, dass der rechte Penny Kopf zeigte und der linke Zahl (1930, umringt von einem geschlossenen Ahornkranz), so dass ein Auge nach Ontario blickte und das andere in England war. Ein Auge sah Ahornbäume, während das andere den König sah. Sie stahl sich ein zweites Mal hinein, um ihrer hungrigen Mutter das Stück Brot in die Hand zu drücken, das sie beim Abendessen aufgehoben hatte. Aber die Hand war zu steif, zu kalt. Sie ließ das Brot in die Tasche des Morgenrocks gleiten. Ihre Mutter war an einem Stück getrocknetem Rehfleisch erstickt, das sie sich mitten in der Nacht heimlich genommen hatte. Nun wird man beobachten, ob Norma Joyce heimlich etwas nimmt, und man wird schimpfen, wenn sie ihr Essen hinunterschlingt. Sie wird sich fühlen wie eine Heimlichtuerin. Auch wenn es keinen Grund gibt, auch wenn niemand sonst zu Hause ist, wird sie sich fühlen wie eine Heimlichtuerin. Wenn sie allein im Haus ist und das Gefühl hat, dass das Verbotene ihr offen steht, fasst sie Dinge an, öffnet Schubladen, isst. Eine Hand voll Rosinen. Kuchenscheibchen, 30
Fleischstückchen, kunstvoll abgeschnitten, damit es der Aufmerksamkeit ihrer Schwester entgeht. Eine Kanne Tee, auf einmal ausgetrunken. Was sie liebt, ist der stille Zugang zu allem. Sie geht in das Zimmer ihres Vaters und probiert die Kleider ihrer Mutter an, die noch immer auf der rechten Seite im Schrank hängen. Sie legt sich auf das Bett. Sie lächelt. Wenn sie lächelt, fühlen ihre Hände sich leichter an. Sie heben sich wie kleine Wolken. Das tut auch der Krampf in ihrer Brust. Er verschwindet, und viele interessante Gedanken gehen ihr durch den Kopf. Ein winziges Mädchen, das mit wenig Gesellschaft zufrieden ist. In dem Frühling, als sie drei wurde, nahm ihre Mutter ein wundervolles kleines Buch aus dem Regal. Sie hob Norma Joyce auf ihren Schoß, und gemeinsam ließen sie ihre Blicke auf den zarten Bildern von Rasen und Kopfsalat ruhen. Rasen, buchstabierte ihre Mutter und strich mit dem Zeigefinger über die hellgrüne Fläche. Draußen trieb der Schnee waagerecht am Fenster vorbei, und das tat er seit Tagen. Die Bilder machten sie heil. Ihre Augen waren kaputt gewesen, und jetzt waren sie wieder heil. Zwei Jahre später, kurz nach dem Tod ihrer Mutter, bemerkte sie etwas Neues. Nicht nur das einzelne Wort, sondern auch ganze Sätze ergaben einen Sinn; sie konnte das Buch von Anfang bis Ende lesen. Sie verriet nichts. Jedes Mal, wenn ihr Vater oder Lucinda in ihre Richtung sah, was nicht oft vorkam, starrte sie nachdrücklich auf Mrs. Flopsy Bunny, die über einen Rasen lief, der links von einer Steinmauer begrenzt war und geradeaus von einer weiteren niedrigen Mauer, hinter der ein in cremigem Gelb und blassem Grau gemaltes Farmhaus lag. Sie ging zur Tür und dann hinein. In dem langen Flur war es schummrig und still. Es roch nach Butter. Der Flur führte zu einem mit Teppichen ausgelegten Wohnzimmer, dann eine 31
Stufe hinunter in eine große Küche, wo auf dem Tisch ein Teller heißer Butterbrötchen abkühlte, neben einem Topf mit der dicken Sahne, die eine immer hungrige Mutter ihr einst in liebevoller Ausführlichkeit beschrieben hatte. Keine einzige Schüssel mit Porridge in Sicht. Drei weitere Jahre vergingen, und Lucinda sagte zu Maurice: »Sie liest nicht. Sie redet kaum mit uns. Wir haben keine Ahnung, was aus ihr werden soll.« »Sie redet mit mir.« »Mit Ihnen redet jeder.« Sie lächelten einander an. Lucinda freute sich, jemanden zu haben, den sie bewundern konnte, und Maurice freute sich, weil er bewundert wurde. »Sie will nicht zur Schule gehen. Ich sage ihr immer, dass sie gehen soll, aber sie will es nicht einsehen.« Dieses Letzte sagte sie mit der Genugtuung einer Lehrerin, die ein Kind zu den Schlechtesten zählt: Das ist ein hoffnungsloser Fall. Lucinda hatte diese Art. Tüchtig und schnell in ihrem Urteil; sie freute sich am Scheitern so sehr wie am Erfolg. Norma Joyce hörte mit. Sie hatte sich im Wohnzimmer auf dem Sofa zusammengerollt, um besser zu hören. (Sie mochte nur jeweils eine Sache, einen Geschmack, eine Struktur, ein Merkmal: eine von der äußeren Erscheinung unverfälschte Stimme; das Radio gefiel ihr schon immer besser als das Fernsehen, das Kino war allerdings etwas anderes.) Sie hörte Maurice sagen: »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin sicher, sie hat ihre Siebensachen beisammen.« Meine Siebensachen, Wetterzimmer.
dachte
32
sie,
sind
in
meinem
In ihrem Wetterzimmer, auf dem Schreibtisch, stand eine Fotografie in einem ovalen Rahmen. »Deine Mutter?«, fragte Maurice, nahm sie und betrachtete eingehend die Frau, die, abgesehen von der hohen, breiten Stirn, mit Norma Joyce keine Ähnlichkeit hatte. »Wie war sie?« »Sie war groß. Sie war größer als mein Vater und hat jeden Tag einen Brief geschrieben.« »Ich bin stolz, wenn ich einen Brief im Jahr schreibe.« »Sie hat Post geliebt«, und sie nahm die Fotografie und polierte sie mit ihrem Taschentuch. »Sie hat gesagt, ein Brief am Tag ist besser als ein Apfel am Tag, und sie hat Äpfel geliebt. Da, wo sie aufgewachsen ist, hat es alle Sorten Äpfel gegeben. Hat sie mir erzählt.« »Das muss in Ontario gewesen sein.« »Bei Barrie«, bestätigte Norma Joyce und sah ihn an, um zu sehen, ob er wusste, wo das war. Er nickte, und sie erzählte weiter. »Sie hatten Snows«, erläuterte sie. »Spys. McIntosh Reds. Pippins. Strawberrys. Talliman Sweets. Golden Russets. Es gab auch eine Cider-Presse. Immer, wenn man wollte, konnte man eine Kurbel drehen, und der Cider lief durch eine Tülle in einen Eimer. Einmal hat sie so viel getrunken, dass man sie fest schlafend im Saftkessel hinten im Obstgarten gefunden hat. Ein anderes Mal ist sie im Spargelfeld eingeschlafen. Welche sind deine Lieblingsäpfel?« »Russets, glaube ich. Oder Spys.« »Du musst dich entscheiden.« »Hast du dich entschieden?« »Ich habe noch nie einen Russet probiert.« »Ich bringe dir einen mit. Wenn ich das nächste Mal komme.«
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Als er sah, wie zärtlich und besitzergreifend sie die Fotografie ihrer Mutter abstaubte, fiel ihm ein, wie ihre warme Hand an dem Abend, als er ankam, seine Wange berührt hatte. Er hatte über ihre Hässlichkeit gestaunt, ein Wort, das er zu Unscheinbarkeit mäßigte, als sie am nächsten Morgen in seiner Schlafzimmertür stand und ihn forschend und ausgiebig betrachtete; beim Frühstück fand er sie nur noch seltsam und inzwischen interessant. Ihre kleine Hand, die sie ausstreckte, um ihn für sich in Anspruch zu nehmen. Man hört von dergleichen Frauen, sie beschließen innerhalb von Sekunden, dass sie den Mann heiraten werden, den sie gerade kennen gelernt haben. Man könnte meinen, dass Frechheit mehr gilt als Schönheit, und Hartnäckigkeit sogar noch mehr. Sie geht durch sein Zimmer, und niemand wird etwas merken – sie achtet darauf, wo die Dinge liegen, damit sie sie genau dorthin zurücklegen kann. Der Rucksack ist auf dem Stuhl nach links gekippt, die Lasche ist geschlossen, aber nicht verschnürt. Das kleine Notizbuch in der rechten Tasche, verkehrt herum und mit dem Rücken zum Fenster. Die Handschrift so klein und ordentlich wie die ihrer Mutter. Ein Sternchen neben einem Café in Swift Current. Exzellente Krapfen. Und so entdeckt er, dass sie durchaus lesen kann. Sie schaut von ihrem Porridge auf und fragt ihn, was ein Krapfer ist. »Krapfen«, sagt er, »wie Zapfen. Warum?« »Wollte ich nur wissen.« »Eine Art Pfannkuchen. Lang und gedreht statt rund. Irgendwann kaufe ich dir einen.« Zu Lucinda sagt er, sie solle sich keine Sorgen machen: Ihre 34
Schwester weiß womöglich sehr viel mehr, als Sie denken. So offensichtlich. Sie glaubt tatsächlich, dass sie ihm durch diese verstohlene Aufdringlichkeit näher kommt. Sie zitiert sogar eine Redensart, die er sich aufgeschrieben hat – »Erst, wenn man an sich selbst glaubt, wird man etwas erreichen« –, als wäre sie selbst darauf gekommen. Wir haben eine besondere Bindung. Wir denken gleich. Sie sieht, dass schön unterstrichen neben Lucindas Name steht, und sie vermerkt ihren eigenen am Rand; dann radiert sie ihn notdürftig aus. Im Rucksack findet sie drei Paar graue Wollsocken, drei Garnituren Unterwäsche, zwei Unterhemden, ein zweites Flanellhemd, ein zweites Paar Wollhosen, ein ledernes Rasieretui, das einen Rasierer mit Sheffield-Klinge und schwarzem Griff enthält, den Streichriemen, die YardleyRasierschale und den Dachshaarpinsel, außerdem eine dunkelbraune Haarbürste, eine weiße Zahnbürste, eine Tube Squibb's-Zahnpasta und eine Nagelschere. Jeden Morgen verfolgt sie die glatte Spur, die sein Rasierer hinterlässt, wenn Maurice sich an der Küchenspüle rasiert; sie ist bezaubert von einem Ritual, das immer damit schließt, dass er sein Handtuch glatt über den Halter hängt und ihr Kaffee nachschenkt, »glatter Gleichstand«. Ihre Wachsamkeit ist so eindringlich, dass sie nicht faul sein kann, egal, was Lucinda und Ernest sagen, zu eindringlich, zu beinahe hingebungsvoll, zu erfüllt. Sie beobachtet Lucinda, um zu sehen, was Maurice sieht, und sie fühlt sich bestätigt. Lucinda ist immer noch Lucinda. Schau nur, wie sie Kekse macht. Her mit dem viereckigen Wachstuch, dem Nudelholz, der Schüssel, dem zusätzlichen Mehl. Hoch die Ärmel und Platz gemacht auf dem Küchentisch. Kein Krümel, 35
der entkommen will, hat eine Chance. Kein Mehlfleckchen, kein flüchtiges Teigklümpchen wird diesen fanatischen Fingern jemals entgehen. Am Ende wird jedes Gerät so sauber gekratzt, wird jeder Zentimeter hart arbeitender Hände so flink gerieben, Handfläche an Handfläche, dass ihre erstaunliche Schwester nicht einmal abwaschen muss. Ist das eine verliebte Frau? Lucinda schneidet Brot in vollkommen gleich dicke Scheiben, fegt die Krümel vom Tisch in ein Gefäß, schrubbt Kartoffeln in einem Eimer, bewahrt das Wasser auf, um es wieder zu verwenden, wenn der Schmutz sich am Boden abgesetzt hat. Sitzt nie da ohne eine Näharbeit in der Hand. Beklagt sich nie. Ist so gerne drinnen, wie Norma Joyce draußen ist: Das Vordringen des kleinen Mädchens in die Außenwelt ist nicht weniger verzwickt als Lucindas feine Stiche. Wie ein alter Hund hat sie ihren Weg, und vertrauensvoll folgt sie ihm; sie sieht nach dem Kamm mit den abgebrochenen Zinken in einer Dose am Fuß eines Zaunpfahls, nach dem eselsohrigen Neuen Testament unter einem großen Stein, nach der alten braunen Flasche unter einer Felsenbirne, die keine Früchte mehr trägt. Und wie ein Hund markiert sie ihre Schätze, befestigt lose Wollstückchen am Draht eines Zauns im Winter oder an einem belaubten Erbsenstrauch im Sommer, begräbt, was der grimmige Wind freigelegt hat, und ist besessen von einem Grad an Tücke, den sie selbst nicht versteht. Sie gibt vor, nicht nähen zu können, und macht dann Jahre später ein vollkommenes Kleidungsstück, um darin fortzulaufen. Indem sie Dinge verbirgt und sich dann offenbart, um erwischt zu werden, verleiht sie allem, was sie tut, eine gewisse Dramatik. Eine gewisse Dramatik und eine gewisse Unschuld. Lucinda zwingt sie, zwei Paar Strümpfe und lange wollene Unterhosen zu tragen, die sie mit noch mehr Berechtigung als 36
die meisten anderen Kinder hasst, denn sie spürt die Kälte nicht und wird nie krank. Als sie eines Tages nicht gehorcht, hinterlässt sie auf dem Weg ins Bett den deutlich sichtbaren Beweis für ihre Rebellion: einen weichen Kleiderhaufen auf dem Schlafzimmerfußboden. Jeder konnte die Sommerunterwäsche zwischen den Winterstrümpfen sehen. Und Lucinda sah. Sie berichtete das Vergehen ihrem Vater, der sich auf die übliche Art darum kümmerte. Beleidigungen, gefolgt von Verletzungen. Er wartete, bis Maurice das Haus verließ. Dann: »Wie lautet dein zweiter Vorname?«, fragte er, während er in die Zeitung sah. »Kathleen.« Es war beinahe ein Flüstern. »Bist du sicher?« Er sah auf. »Bist du sicher, dass du nicht Heimlichtuerin heißt?« Keine Antwort. »Komm her.« Auf den ersten Schlag folgte der unwillkürliche Pinkelschwall, danach die Demütigung, den Fußboden putzen und ihre Kleider waschen zu müssen. (Eines Tages wird sie jedes Stück Geschirr im Haus abwaschen müssen, aber das kommt später und hat einen anderen Grund.) Es stimmt, dass Norma Joyce heimlich tut. Aber sie sagt sich, dass sie nicht ganz schlecht sein kann, wenn sie das, was sie verbirgt, so offen zeigt. Sommer im Winter – und darum betteln, erwischt zu werden, darum bitten, bestraft zu werden. Das dachte Lucinda. Das hätte jeder gedacht, außer Norma Joyce, die an der Tugend festhielt, ihre Spuren nicht zu verbergen. Lucinda brachte den Biskuitkuchen vom letzten Tag aus der Reichweite ihrer 37
Schwester. »Ein Stück für jemanden, der den ganzen Früchtekuchen gegessen hat? Ich glaube kaum.« Das geschah an dem Tag, als Maurice' erster Besuch dem Ende zuging. Es war der 20. Januar. Das Abendessen war vorbei, es fiel Schnee, Ernest zündete seine Pfeife an. »Ich habe nicht den ganzen Früchtekuchen gegessen.« »Du hast den gegessen, der noch übrig war.« »Nein.« »Nein?« »Nicht den ganzen, der übrig war.« »Du meinst, du hast immer noch welchen versteckt?« Lucindas Sinn für Gerechtigkeit, was das Essen anging, gehörte in die Epoche der Weltwirtschaftskrise. Wenn man Früchtekuchen stahl, bekam man nichts vom Biskuitkuchen ab: ganz einfach. Das sagte sie tugendsam zu sich selbst. Und laut: »Du musst lernen, dass es falsch ist, zu stehlen.« »Ich habe nicht gestohlen.«
»Du hast gestohlen.« »Du hast keine Beweise.« »Ich habe Beweise. Ich sehe es in deinen Augen.« Norma Joyce aß weiterhin ein winziges Klümpchen vor dem Frühstück (am Morgen liebte sie Süßigkeiten mehr als zu jeder anderen Tageszeit), aber sie nahm ein Blatt aus Maurice' Buch und reinigte ihre Zähne, wenn sie nach unten ging. Der Gipfel der Extravaganz, zu bürsten, bevor man etwas aß und danach. Nicht dass sie eine Zahnbürste gehabt hätte. Sie benutzte ihren Finger und ein Glas Salzwasser. »Magst du Porridge wirklich?«, hatte sie ihn eines Morgens 38
gefragt, als er mit seiner zweiten Schüssel fertig war. Er sah in das kleine, ernste Gesicht, das ihn zwingen wollte, Nein zu sagen, aber er konnte kaum sagen, dass er Lucindas Porridge nicht mochte. Stattdessen sagte er, er habe seine Mutter nach der Geburt seiner kleinen Schwester gefragt, warum sie das Baby abwechselnd an die eine und an die andere Brust lege, und seine Mutter habe ihm erklärt, aus einer Brust komme Milch und aus der anderen Porridge. Ernest war in der Scheune, als er diesen Witz erzählte, und Lucinda lachte tatsächlich laut. »Sie haben eine Schwester?«, fragte sie. »Ich hatte eine Schwester. Sie starb, als sie noch ein Baby war.« »Wie mein Bruder«, sagte Lucinda und hielt inne, eine halb abgetrocknete Schüssel in der Hand. Aber Norma Joyce ließ sich nicht beirren. »Was magst du
nicht?«, beharrte sie. »Welches Essen kannst du nicht ausstehen?« »Nach Möhren bin ich nicht gerade verrückt«, sagte er. »Und es macht mir nichts aus, wenn ich nie wieder einen Kürbis sehe. Welches Essen kannst du nicht ausstehen? Und was isst du besonders gern?« »Meine Schwester isst besonders gern Früchtekuchen«, sagte Lucinda knapp. Maurice sah Lucinda an, aber dann zwinkerte er ihr zu. Lieber Maurice. Wie sie ihn liebte. Er war dreiundzwanzig, fühlte sich offenbar wohl in seiner Haut und sichtlich wohl in der Küche, wo seine schlanken, tüchtigen Hände jederzeit zupackten, wenn es etwas zu tun gab. Dass er sich so großzügig zur Hausarbeit herabließ, machte ihn bei Frauen beliebt und gab ihnen ein Gefühl der Sicherheit. Es täuschte sogar ihn selbst. Er fand es zum Beispiel nicht 39
ungehörig, dass er eine abgelegte Freundin ein letztes Mal ausgeführt hatte, um zu sehen, wie ihre Hände zitterten. Das geschah während seines zweiten Jahres am McGill; er hatte sich beim Rasieren geschnitten, er war beinahe durch das Physikexamen gefallen, eine junge Frau aus dem dritten Jahr hatte ihn vor den Kopf gestoßen, und er fing sich wieder, indem er die High-School-Freundin ausfindig machte, die er gleich nach seinem Abschluss fallen gelassen hatte. Sie war auch nach Montreal gezogen und hatte eine Stelle in einer Apotheke angenommen. Er rief sie an. Sie kamen überein, sich am folgenden Tag in ihrer Frühstückspause zu treffen; sie wollten in dem Café gegenüber der Apotheke Kaffee trinken. Er kam zu früh. Aus seiner Nische am Fenster sah er zu, wie sie aus der Tür trat, an der Ampel wartete und dann über die verschneite Straße ging. Sie trug denselben Wintermantel, den sie auf der High-School getragen hatte, hellgrauer Tweed mit einem abgetragenen schwarzen Samtkragen, und dieselbe schwarze Wollmütze. Sie glitt errötend in seine Nische, dann hob sie ihre Tasse an, und ihre Hände zitterten so sehr, dass sie den Kaffee verschüttete. Später beschrieb er sie einem Freund und lachte selbstzufrieden und prahlerisch. Er rief sie nicht wieder an. Und hier ist Lucinda mit ihrer kleinen Schwester. Er hilft ihnen ohne die geringste Selbstgefälligkeit im Haus, ein hübscher junger Mann, mit seinen schönen Händen und seiner umsichtigen, lässigen Art. Eines Abends stellt er fest, dass Norma Joyce sich an seine Schulter schmiegt. Er hat Gray's New Manual of Botany gelesen, und er zeigt ihr die kleinen Abbildungen von blühenden Gräsern. Seine Lieblingspflanzen, sagt er, weil sie jedes Wetter 40
überleben. »Dieses Wetter nicht.« »Doch. Dieses Wetter auch. Nur den Pflug, den können sie nicht überleben.« Seine langen Finger fahren von oben nach unten über Papier, das so fein ist wie das der Bibel – Gramincae für Gräser, Kulm für Halm, Infloreszenz für eine Blütendolde –, während er erklärt, dass Gräser die einfachsten, notwendigsten Pflanzen auf der Welt sind. Fast alle Getreide seien Gräser, auch Zuckerrohr und Reis und Bambus. Trotzdem seien diese Pflanzen am schwierigsten zu identifizieren. Man müsse auf die kleinsten Einzelheiten achten; man müsse geduldig sein wie Hiob. Schlanke Quecke, großes Bartgras, kleines Bartgras, Süßgras, Haferschmiele, Rispengras, Haarhirse, Moskitogras, Trespe, Echte Hirse, Rutenhirse, Indische Hühnerhirse, Schwingel, Mondraute, Elefantengras, Borstenschmiele, spießblättriges, nadelblättriges, schwimmblättriges Gras, Zitronengras, Tränengras, gemeines Straußgras, rotes Straußgras, SumpfStraußgras. Er zeichnet sie in ihrer Festigkeit, Leichtigkeit, Biegsamkeit nach. Die Stiele, oder Kulme, sind gewöhnlich hohl mit einer Reihe stabiler Verbindungen, von denen jeweils ein Blatt abzweigt. Der untere Teil des Blatts ist eine gespaltene Scheide, die fest um den Stiel gewickelt ist, damit es im Wind nicht abreißt, und der Stiel selbst entschlüpft dem Griff des Windes leicht. Die Unterseiten der Blätter haben sehr wenig Poren; bei trockenem Wetter rollen sie sich auf wie wasserfeste Rohre, um jeden kostbaren Tropfen Wasserdampf zu bewahren. Sie sind so schön konstruiert, sagt er, wie Claudette Colberts schnittige Beine. Mit schlanken Spitzen, weich, leicht und locker, unachtsam zur Blütezeit, puberulus. »Was ist das?« »Entstammt derselben Wurzel wie Pubertät. Mit feinen 41
Härchen oder Flaum bedeckt.« Das weiche Haar der Welt. Und hier verlief seine gemessene Handschrift gleichmäßig wie Gras über die Seite. Zittergras, Knäuelgras, Liebesgras. Von griechisch eragrostis für Eros, Gott der Liebe, und agrostis, ein Gras. »Weil sie oft auch das Verdorren überstehen«, stand prophetisch im Buch, »waren Spezies aus der alten Welt lange als Liebesgras bekannt.« »Hast du diesen Film gesehen?«, fragt sie. Maurice lächelt. Das mag er an ihr, die Art, wie ihre Gedanken vom einen zum anderen springen, in diesem Fall zurück zu den schnittigen Beinen.
»It Happened one Night? Ich habe ihn zwei Mal gesehen.« »Hat er dir gefallen?« »Sicher. Hast du ihn gesehen?« »Meine Mutter ist mit mir hingegangen. Zu meinem fünften Geburtstag.« Es war Florida Mays letztes, vollkommenstes Geschenk gewesen, dieser Ausflug zum Eagle Theatre in Swift Current; danach lag Norma Joyce wochenlang auf ihrem Kissen wach und durchlebte den Film Szene für Szene noch einmal. Im Sommer, sagt Maurice, wolle er in der unbestellten Prärie Gräser sammeln, um zu beweisen, wie gut sie die Dürre überstanden hätten. Darwin habe zweiundachtzig Pflanzen aus einem Schlammklumpen vom Bein eines Rebhuhns gezogen, sagt er, und er habe so etwas Ähnliches vor. »Du wohnst bei uns.« »Tatsächlich?« Und er sieht sie an mit diesem amüsierten Funkeln, das Eros, der Gott der Liebe, einigen wenigen verliehen hat.
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An Gräser hat sie ihre eigenen Erinnerungen. Fünf Jahre war sie alt, lag flach auf dem Rücken im hohen Gras hinter der Scheune, die Junisonne brannte von einem wolkenlosen Himmel herab, und eine neue Art der Warme durchpulste sie in Wellen. Sie lag eine Weile einfach so da, roch das heiße Gras und spürte, wie das Wogen zweier Temperaturen, der inneren und der äußeren, auf eine Weise zusammenwirkten, die sexuell war, schon mit fünf Jahren wusste sie das, besonders mit fünf. Ja, sollte sie Jahre später sagen, ich habe meinen sexuellen Höhepunkt mit fünf erreicht. Jetzt folgen ihre Finger den seinen, zeichnen diese schönen Gräser nach und benennen sie. Er spürt ihren Atem an seinem Hals, weil sie so nahe bei ihm steht, und als er im Mai zurückkehrt, kennt sie noch jeden Namen jeder Pflanze. Eine vollkommene Studentin.
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Wehender Staub, bei dem man an Talkumpuder denkt, aber so grobkörnig, dass er Blut zog. Aufgeplatzte Fingerspitzen, Wangen voller Risse, Fersen, die zu empfindlich waren, um darauf zu gehen. So mancher erwachsene Mann musste morgens ein Kind bitten, seine Knöpfe zuzumachen. Gegen all das gefeit war Norma Joyce, mit olivfarbener Haut, die wie eine unerschöpfliche Quelle war. Sie lag mit ihren großen, eigelbweichen Ohrläppchen auf ihrem Kissen und zählte die Blutstropfen auf dem leeren Kissen neben ihr. Das kommt davon, wenn man Porridge macht, dachte sie. Lucinda war schon unten und rührte mit diesem schrecklichen Löffel. Es war beinahe Ende März. Die schlimmsten Sturmmonate standen bevor, April und Mai, in denen der Staub den Lack von den Autos blies, sich auf das Essen legte, während man aß, in den Mund gelangte, während man schlief, das Vieh auf den Feldern erstickte und die Rufe von Kindern dämpfte, die sich verlaufen hatten. So viel Staub wurde so weit fortgeweht, dass er die Schiffe mitten auf dem Atlantik erreichte. Manchmal half sie nach. Sie stellte sich mit einem Klumpen Erde auf ihrer Handfläche hin und sah zu, wie der Wind daran pickte, bis er verschwunden war. Mach's gut, sagte sie. Arrivederci, Darling. Drinnen gab es trockene Gerüche und nasse Gerüche. Sie analysierte sie, während sie im Bett lag und wartete, ob Aussicht auf etwas anderes als Porridge bestand. Die trockenen Gerüche von abblätternder Farbe, von Holz, das sich spaltet, von Haut, die sich schält, bis sie gänzlich verschwunden ist, und die nassen Gerüche von warmem Hühnerfett, das in Knöchel und Füße gerieben wird, von mit Zitrone und Glyzerin getränkten Baumwollhandschuhen, von durchdringendem Nachturin in 44
dem Topf unter dem Bett ihres Vaters. Maurice roch wie eine Dollarnote. Weich vom Reisen, schwer, beruhigend. Sie hatte keine Mühe, sich an sein Gesicht zu erinnern, und sie zögerte nicht, seinen Namen auszusprechen. Hast du Maurice geschrieben?, fragte sie ihre Schwester. Wann kommt er zurück? Wie hieß seine Schwester? Hat er es gesagt? Hat Maurice es gesagt? Wen findest du hübscher? Maurice oder Joel McCrea? Lucinda? Wer ist hübscher? Maurice oder Clark Gable? Wer ist reicher? Lucinda, wer ist reicher? Maurice oder Onkel Dennis? »Maurice hat so getan, als wäre er reich«, sagte Lucinda und dachte an die abgearbeiteten Hände, trotz des Rings. »Nein«, sagte Norma Joyce, nachdem sie einen Moment nachgedacht hatte, »er hat so getan, als wäre er es nicht.« Das Draußen kam herein wie ein ungebetener Gast. Wie der schmutzige Mr. Jackson, der in Mrs. Tittlemouse' Salon »mit tiefer Stimme hustet und dick und fett im Schaukelstuhl sitzt«. Nur Lucinda von den Weißen Ärmeln wurde spielend damit fertig. Sie ruhte grundsätzlich jeden Nachmittag von zwei bis drei, manchmal las sie ein Buch, manchmal nicht. Im Moment las sie Maria Chapdelaine, sie kannte die Art, wie das Wetter für die nahende Tragödie den Grundstein legt, nur zu gut – trockenes Sonnenwetter, das zum Heumachen so ideal ist, dass es einem wie ein Segen vorkommt, das sich dann aber zu lange hält. Eine halbe Stunde las sie, eine halbe Stunde schloss sie die Augen, dann stand sie auf. Angeregt von Mrs. Hayden, legte sie ihren langen braunen Rock ab und zog ein Kleid an, das sie geschickt aus einem Kleid ihrer Mutter genäht hatte und das sie durch einen Pullover und dicke Strümpfe ergänzte oder durch keines von beidem, je nach Wetter. Es war ein Zeichen von Reichtum – ein sicheres Zeichen –, für jede Jahreszeit Kleider zu 45
haben. Es war ein sicheres Zeichen für Armut, keine Kleider zu haben außer denen, die man sich teilte. Sie alle kannten Schwestern, die abwechselnd zur Schule gingen, weil sie sich ein Kleid teilten, und ledige Brüder, die abwechselnd die Kirche besuchten, weil sie sich einen Mantel teilten. Ausbessern und flicken, bis das Kleidungsstück schwer wurde, weil so wenig von ihm übrig war. So wenig man auch hatte, man konnte noch weniger haben. Das war die Lektion der Dreißigerjahre. Es gab unendliche Möglichkeiten, beinahe nichts zu haben. Arbeit war die Antwort. Lucinda sagte das laut, und Norma Joyce tat so, als hörte sie es nicht. Sie ging zur Tür hinaus, weg vom Kochen, Fegen, Waschen, Ausbessern, Wasserschleppen, Aufbrauchen, Sparen. Um neun Uhr abends hörte Lucinda allmählich auf, und dann kam Norma Joyce zurück, denn es war Zeit für das abendliche Ritual mit dem geschmolzenen Fett. Lucinda löffelte in eine Pfanne auf dem Ofen einen Klumpen Hühnerfett von der Farbe unreifer Zitronen. Wenn es geschmolzen war, zog sie ihre Schuhe und Strümpfe aus und rieb das flüssige Fett in ihre Füße, Beine, Unterarme und Ellbogen. Norma Joyce bekam diesen Anblick von oben und unten niemals satt: der Unterarm glänzend und feucht, der Oberarm immer noch schuppig weiß und in Erwartung seiner Verwandlung. Ihre Schwester widmete ihren Ellbogen besondere Aufmerksamkeit, denn sie hatte von Mrs. Hayden gehört, dass die Zahl der Falten am Ellbogen einer Frau ihr Alter verlässlich bewies. Lucinda hob die Lotion, die sie aus Zitronensaft und Glyzerin machte, für ihre Hände auf. Sie war klebrig und so süßsauer, dass Norma Joyce einen Schluck nahm, wann immer sie konnte. Lucinda zog die ehemals weißen Baumwollhandschuhe an, die ihrer Mutter gehört hatten. Sie schob ihr Haar unter ein übergroßes Taschentuch, das sie an den Ecken zu einer weichen Haube geknotet hatte, und ging zu Bett. 46
Früh an einem Morgen Ende März beobachtete Norma Joyce, wie Indianer mit unfehlbarer Genauigkeit abgeknallt wurden. Alle Indianer waren Frauen. Sie traten aus ihren Zelten in die stille Nacht, wo sie tadellose Zielscheiben abgaben, denn sie waren mit Knoblauchzehen geschmückt, die in der Dunkelheit leuchteten. Überraschenderweise gab es kein Blut und keinen Schmerz und keine Angst. Nur diese Knoblauchhalsketten, die in der Dunkelheit leuchteten, und die Frauen, die zu Boden fielen, eine nach der anderen. Norma Joyce wachte auf und ging zum Fenster. Auf der Leine unten leuchteten Laken im Licht des Vollmonds. Er muss voll gewesen sein, denn er war so hell. Sie schloss die Augen. Mach,
dass Maurice kommt. Mach, dass er mit ganz vielen Geschenken kommt. Sie schlug die Augen auf, und etwas ließ sich unten auf der Wäscheleine nieder. Ihre Schuhe standen neben dem Bett. Sie trug sie nach unten in die Küche, zog sie an, nahm ihren Mantel vom Haken an der Wand und ging hinaus. Eine leichte Brise. Dieser Salatgurkengeruch in der kalten Luft. Ein paar Steine am Fuß der Treppe. Sie war gut im Schneeballwerfen, gut im Steinewerfen. Drei Vögel flatterten davon, aber zwei stürzten ab und fielen einem hungrigen Mädchen in die Hände. Sie trug sie verkehrt herum ins Haus wie kopflastige Blumensträuße, und im hellen Licht der Aladin-Lampe mit der großen Glaskugel zeichnete sie sie. Lucinda kam herunter. »Gut gemacht«, und klopfte ihr auf den Rücken. Dann ging sie nach draußen, um die Laken von der Leine zu nehmen, und als sie zurückkam, hörte Norma Joyce auf, um ihr zu helfen. Zusammenlegen war die einzige häusliche Aufgabe, die ihr gefiel. Als sie fertig waren, machte Lucinda, Wunder über 47
Wunder, Kekse für das Geburtstagsfrühstück. Für das Abendessen war gesorgt: Präriehühner, mit freundlicher Unterstützung von Norma Joyce. Es war der 29. März. Norma Joyce wurde neun. »Lucinda?«, fragte sie. »Wo kommen eigentlich die Träume her?« »Wer weiß? Ich kann es dir nicht sagen.« Sie unterbrach die Arbeit nicht. Die Laken und Handtücher lagen jetzt ordentlich gestapelt an der Tischkante und rochen frisch. »Lucinda?« Lucinda bückte sich und hob etwas auf, das neben dem Herd lag. »Lucinda?« »Was denn?« »Was hast du letzte Nacht geträumt?« Lucinda hielt einen Augenblick inne. »Von einem gelben Haus«, sagte sie. »Es bestand fast ausschließlich aus Veranda, und es hatte eine nagelneue Küche.« »Ich habe von Indianern geträumt, die niedergeschossen werden.« »Mein Traum gefällt mir besser.« Sie schüttelte das Handtuch, das sie vom Boden aufgehoben hatte. »Deiner klingt schrecklich.« »Er war nicht schrecklich. Aber ich möchte wissen, ob es ein gutes Zeichen ist oder ein schlechtes Zeichen.« Eine halbe Stunde später kam Ernest herunter. Ohne ein Wort zu sagen, ging er in die Scheune, um die Kühe zu versorgen. Er kam zurück, trank seine erste Tasse Tee, dann seine zweite. Danach räusperte er sich und sagte, es rieche nach Regen. »Das 48
weiß ich«, sagte Norma Joyce. Das weiß sie. Jeden Morgen sitzt er einem Mädchen gegenüber, das dem, was er in sich selbst sehen will, nicht entspricht, und einem Selbst, das dem, was er sehen will, auch nicht entspricht, und obwohl er enttäuscht ist, dass er in Ernest Hardy ist, ist er von ihr noch viel enttäuschter, weil sie nicht so ist wie er. Eine Niete in fast allem, was sie tut, während er die unmöglichsten Reparaturen improvisieren kann; doch er kann auch scheitern, seine Farm als Versuchsprojekt ist so weit vom erträumten Erfolg entfernt wie seine zweite Tochter von der ersten. »Wenn du lesen kannst, kannst du kochen, wenn du lesen kannst, kannst du nähen«, hat er zu ihr gesagt. »Aber du kannst natürlich nicht lesen, oder?« Sie flüchtet sich in das Alleinsein. Sie liest heimlich, sie zeichnet, sie sammelt; sie wartet darauf, dass etwas anderes geschieht als: Beweg dich. Hilf deiner Schwester. VERSUCH es,
um deiner toten Mutter willen. Etwas anderes als die tüchtige Lucinda, die zu fragen wagt: »Möchtest du den Tisch decken?« Oder: »Möchtest du abwaschen?« Nein, sie möchte den Tisch nicht decken. Sie möchte nicht abwaschen. Sie würde es tun, aber sie möchte es nicht tun. Einmal etwas anderes als gezwungen werden – sich nicht nützlich machen, sie glaubt, dass sie sich durchaus nützlich macht –, sondern sagen können, dass sie es möchte. »Das weiß ich«, und Ernest schlägt ihr beinahe das Notizbuch weg. Was ihn am meisten ärgert, ist, dass sie alles weiß und nichts zu Ende bringt. Immer bleibt ein Schluck Milch übrig in ihrem Glas, ein Stück Fleisch auf ihrem Teller, ein Eckchen Brot. »Iss dein Frühstück auf«, sagt er zwei Mal zu ihr, bis sie weiterisst mit einem geflüsterten »Tut mir Leid«. Er glaubt, dass das »Tut mir 49
Leid« für ihn bestimmt ist. Es ist für die hungrige Mutter bestimmt, die neben ihrer Schulter schwebt. »Die Haut meiner Mutter hat sich angefühlt wie Lotion«, wird Norma Joyce zu Maurice sagen, wenn er das nächste Mal kommt. »Sie hat Fonds Gesichtscreme benutzt. Sie hat darauf geschworen.« Dann, einen Moment später: »Glaubst du, dass alle ertrinken werden?« Sie sitzen im Wohnzimmer und betrachten das Gemälde mit den zwei Schiffen, die im Begriff sind, auf einem stürmischen Meer zu kollidieren. »Ich glaube, davon kannst du ausgehen. Seeleute können niemals schwimmen. Seeleute und Farmer.« »Ich wünschte, ich könnte schwimmen.« »Ich bringe es dir bei, wenn du in den Osten kommst.« »Komme ich dahin? Glaubst du das wirklich?« »Du kommst ganz bestimmt eines Tages.« »Wann?« Er lacht. »Das weiß ich allerdings nicht.« »Schätz mal.« »Fünf Jahre?« »Und du bringst mir das Schwimmen bei?« »Ich mache noch mehr. Ich zeige dir alles. Ich zeige dir das Château Laurier und den Kanal und den Bibermützenaufmarsch am Parliament Hill. Wir fahren Kanu auf dem Ottawa River. Wir machen zusammen die ganze Runde. Das macht sicher Spaß.« Aber fürs Erste ist sie allein, ein Geburtstagskind, das sich im Sessel neben dem Klavier unter der blaugrünen Wolldecke mit Hurlbut's Bibelgeschichten auf dem Schoß zusammengerollt 50
und das Bild vom heimlichtuerischen Jakob mit seiner heimlichtuerischen Mutter im Hintergrund aufgeschlagen hat. Ihr Vater und ihre Schwester sind in der Küche. »Sie müsste zur Schule gehen«, hört sie ihren Vater sagen. »Es wird Zeit, dass sie lesen lernt.« Das Auflodern eines Streichholzes, das Kratzen eines Glaszylinders, der in die metallene Fassung gesetzt wird. Ein Geräusch wie die Schenkel eines Grashüpfers, wenn man gerade die Bibel gelesen hat. Ihre Schwester sagt: »Was sie im Haushalt macht, passt in einen Fingerhut.« »Sie müsste zur Schule gehen.« »Müsste sie. Sie müsste ein paar Freundinnen finden. Sie hat nie eine Freundin gehabt. Ich frage mich, ob sie jemals eine haben wird.« Jakob trägt um seinen hellgelben Kittel einen roten Gürtel und ein weißes Schaffell über Schultern und Arme. Er kniet vor Isaak. Er lässt den Kopf und die Arme im Schoß seines Vaters ruhen. Isaak – dünne alte Arme über dem Kopf seines Sohns ausgebreitet – hat einen weißen Bart und ein sehr, sehr altes Gesicht. Hinten in der Ecke lächelt die schlaue Rebekka wie eine Hexe. Sie liest: Esau war ein Mann der Wälder und jagte sehr gern; und er war rau und voller Haare. Jakob war still und nachdenklich, er blieb zu Hause, wohnte in einem Zelt und versorgte die Herden seines Vaters. Isaak liebte Esau mehr als Jakob, weil Esau seinem Vater brachte, was er beim Jagen getötet hatte; aber Rebekka mochte Jakob, weil sie sah, dass er weise war und umsichtig bei seiner Arbeit. Jakob war still und im Bund mit seiner Mutter, die ihn 51
verstand. Die blaugrüne Wolldecke war das Werk ihrer Mutter. Florida May machte sie in dem Jahr, als sie starb; sie legte sie immer gern zur Seite und nahm ihre kleinste Tochter auf den Schoß. An Norma Joyce' fünftem Geburtstag waren sie in der Küche und sahen zu, wie es am frühen Nachmittag dunkel wurde. Sie hörten, wie die Gerätschaften draußen im Wind stöhnten und knarrten. Die Lampen brannten, die Butter war abgedeckt. Hundert verschiedene Winde in der Prärie, hatte ihre Mutter der Besucherin aus England erzählt. Es ist nur still, wenn sich ein Sturm ankündigt. Dann sieht man eine leichte Bewegung im Gras oder Staubteufel auf dem Feldweg. Eine Sammlerin, die Frau aus England, eine Botanikerin, die behauptete, es gebe zweitausend Wildblumen in der Prärie. Sie seien so reich, so verschieden, so vieles habe einen leichten Duft. Was sie im Unterschied zu anderen sehe, sagte sie, seien die Blumen zwischen den Gräsern. Es wurde ganz still. Sie streichelte die weichen Wangen ihrer Mutter und dachte an einen weißen Kuchen mit weißer Glasur auf einem weißen Tischtuch. Ein weißer Geburtstag. Und ein Film. Vor allem wollte sie einen Film sehen. Ihre Mutter hätte draußen sein und Ernest und Lucinda und dem Lohnarbeiter helfen sollen, aber stattdessen blieb sie da, wiegte ihr Geburtstagskind und dachte an die Indianerkarawanen, die, wie die alte Mrs. Beck geschildert hatte, vor fünfzig Jahren durch das südliche Saskatchewan gezogen waren. Jetzt waren wieder Vertriebene in langen Reihen unterwegs, aber sie hatten keine bemalten Gesichter und keine Federn im Haar. Nein, sie bildeten keine Farbenreihe wie ein langer, verzweifelter Garten. Es waren nur versprengte Farmer, die nach Norden zogen, um bei den Bäumen zu sein, nach Westen, um bei den Obstgärten 52
zu sein, oder nach Osten, um wieder in Ontario zu sein. Florida May trug ihrer kleinen Tochter zuliebe ihre rosafarbenen Satinpantoffeln, »aber nur, weil du Geburtstag hast, sie sind nämlich nicht besonders bequem, weißt du«, und sie drückte ihre Füße in die flachen, mit winzigen Blumen bestickten Pantoffeln, die erschienen und wieder verschwanden, während sie sich hin und her wiegten. Das Allerschönste auf der Welt; »aber ja, Norrie«, sie erinnert sich deutlich, wie ihre Mutter das sagte, »du darfst sie ganz bestimmt haben, wenn du groß bist«. Die Küchentür flog hinter den anderen zu, und dann schlug der Sturm wie ein fester Körper gegen das Haus. Er dauerte eine Stunde. Danach konnte man den Staub kauen. Man konnte ihn zwischen den Zähnen spüren. Er war in der Zahnbürste, wenn man eine Zahnbürste hatte. Ihre Mutter sagte: »Die Indianer wären sicher froh, wenn sie sehen würden, was aus uns geworden ist. Wir sehen bestimmt fürchterlich aus.« Und vermittelte ihrer winzigen Tochter so die Einsicht, dass Geschichte bedeutet, zu warten, bis man an der Reihe ist, zu warten, was dabei herausspringt; ein Gedanke, der sich nur bestätigte, als Lucinda die Satinpantoffeln für sich selbst in Anspruch nahm. Norma Joyce ist neun Jahre und einen Tag alt. Sie verkündet ihre Absicht beim Frühstück, und ohne den Kopf zu heben, weiß sie, dass ihr Vater und ihre Schwester erleichterte Blicke tauschen. Lucinda sagt: »Du brauchst eine Extraportion Porridge für den Schulweg.« 53
»Nein. Ich brauch keine Extraportion Porridge.« Eine Woche später: »Das kommt davon, wenn man nicht ordentlich frühstückt.« Aber Lucinda kümmert sich um sie und liest ihr sogar mitten in der Nacht vor, wenn das Fieber sie wachhält. Was Maria Chapdelaine für eine traurige Geschichte ist. Für Lucinda ist sie geradezu friedlich in ihrer Traurigkeit – es ist nichts zu machen. Aber für Norma Joyce ist die Geschichte unerträglich. »Wird sie jemals glücklich sein?«, fragt sie ihre Schwester. »Wird Maria jemals wieder glücklich sein?« »Ich glaube nicht«, sagte Lucinda. »Nicht so glücklich, wie sie war, bevor François starb, wenn du das meinst.« »Ich wünschte, sie könnte glücklich sein.« Und ein paar Minuten später: »Aber was kann sie glücklich machen? Es gibt nichts, was sie glücklich machen kann.« »Es gibt die Kirche«, sagt Lucinda. »Es gibt das Land. Sie wird Kinder haben. Sie wird so schwer arbeiten müssen, dass sie keine Zeit zum Nachdenken hat.« »Es ist nur ein Buch«, fügt Lucinda hinzu. »Vergiss das nicht. Es ist nur ein Buch.« Und dann: »Norma Joyce! Hör auf zu kratzen!« Dreiunddreißig Jahre später hat Norma Joyce noch immer die Pockennarbe von diesem bestimmten Kratzen. Sie sitzt genau zwischen ihren beiden dunklen Augenbrauen. Sie geht wieder zur Schule. Drei Wochen vergehen, und Lucinda fragt Ernest, ob er es für Absicht halte. Norma Joyce ist mit Läusen nach Hause gekommen. 54
Und so verbindet sie den Frühling 1938 mit dem Gefühl von Lucindas Fingern auf ihrer Kopfhaut, mit dem steifen Genick vom Beugen des Kopfes, mit der unerträglichen Geduld, mit der ihre Schwester jedes einzelne Haar prüft, bis Norma Joyce schließlich ihren Kopf befreit und sich nicht mehr fügen will. (Eines Tages wird sie genauso dasitzen, mit langem Haar, das über ihr Gesicht fällt, während sie es im blühenden Sonnenschein trocknet, sie schläft beinahe und ist sich deshalb nur undeutlich des summenden Geräuschs bewusst, das langsam lauter wird und dann – das ist bedrohlich – schwerer. Ein geräuschvoller Hut lässt sich auf ihrem Kopf nieder und bleibt dort sitzen, schrecklich, wie er naschhaft tiefer eindringt in ihr Haar. Ihre Schreie holen Lucinda herbei, die sagt Oh, Gott, und deshalb weiß sie genau, wie schwierig ihre Lage ist.) Aber jetzt kommt etwas anderes dazwischen. Lucindas Augen sind kaputt. Sie sind für jede Art von Feinarbeit zu gereizt und zu wund. Sie geht mit Anne of Green Gables zu Bett und weint, bis es ihren Augen besser geht. Norma Joyce bleibt allein, um sich zu kratzen und zu kritzeln. Sie füllt die Seitenränder ihres Arbeitshefts mit dichten und komplizierten Mustern. »In dein Schulheft?«, protestiert Lucinda, als sie wieder herunterkommt. »Schau«, und Norma Joyce deutet auf die Buchstaben des Alphabets in ihren Blätterwirbeln. An diesem Abend sagt Lucinda zu Ernest: »Wenigstens beschäftigt sie sich«; sie ist erleichtert, dass überhaupt etwas im übergroßen Schädel ihrer Schwester vor sich geht. Eine Abfolge aus Intimität und Isolation, wie eine Russische Puppe: das Zeichnen, ihre Schwester, das Zimmer, die Welt, das Zimmer, ihre Schwester, das Zeichnen. 55
Norma Joyce hat eine Freundin gefunden. Ginny Gallot wohnt eine Meile entfernt von der Schule in Willow Bend. Norma Joyce wohnt drei Meilen entfernt, in derselben Richtung. Sie gehen zusammen nach Hause und kehren bei Ginny ein, wo Mrs. Gallot den ersten Band des Larousse du XXe siècle auf dem Küchenregal stehen hat. Riesig und für Kinder zu schwer, also nimmt Mrs. Gallot das Buch herunter und zeigt ihnen den Bogen aus großen goldenen Buchstaben, in dunkelgrünes Leder geprägt, den Rand aus goldenen Blättern und Blumen, in der Mitte die Gruppe dreier goldener Figuren, die eine Muschel hochhalten, aus der Ströme goldenen Wassers fließen. »Mein Erbe«, sagt Mrs. Gallot mit einem Lachen, das beinahe ohne Bitterkeit ist. Die anderen fünf Bände gingen an die anderen fünf Kinder. Sie bekam A bis Carl, weil sie Amélie hieß. Innendrin? Innendrin gibt es glatte Seiten mit feinem schwarzem Druck und hin und wieder eine herrliche Seite in Farbe. Diese farbigen Seiten kennt Ginny auswendig. Zuerst die Meeresalgen in wunderbaren, spitzenartigen Formen, grün, bronze, violett und rot. Dann die Seite mit den Akrobaten, die gleichermaßen überraschende Formen bilden: Drei Brüder in Gelb balancieren Kopf an Kopf, ein Mann in Weiß steht auf einem weißen Pferd und hält eine Frau in einem weißen Kleid in die Höhe, ein Geiger im Frack spielt oben auf einer Leiter, die er zwischen seinen eleganten Knien aufrecht hält, und alle Gruppen sind auf der Seite angeordnet wie Vögel auf einem Teppich, jede in ihrem eigenen schwarzen Rahmen. (Als Mädchen, in Quebec, sagt Mrs. Gallott, hätten sie und ihre Brüder sich immer von Baum zu Baum geschwungen, um das ganze Haus herum, ohne einmal den Boden zu berühren. So viele Bäume gab es dort 56
nämlich! So gelenkig waren wir nämlich!) Dann das Allerwunderbarste: belaubte Bäume auf zwei gegenüberliegenden Seiten, daneben Beschreibungen der Stämme, Blüten, Blätter und Früchte. Norma Joyce' erster Wald, und gleich ein französischer Park mit Beschreibungen von Bäumen! Sie sagt: »So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen. Nicht mal bei Beatrix Potter.« Die Bäume sind so ruhig, so gar nicht windzerzaust, so majestätisch und klar. »Sind das Aquarelle?«, fragt sie und weiß, dass das nicht sein kann. »Kupferstiche«, sagt Mrs. Gallot. »Kupferstiche.« »Man schneidet das Bild in eine Metallplatte, und dann gibt man Tinte auf die Platte und presst sie auf Papier. Solche Bäume sieht man in Kanada nicht«, sagt Mrs. Gallot, »nicht einmal ich kenne sie.« »Ich wünschte, meine Mutter könnte sie sehen.« Daraufhin reicht Mrs. Gallot dem mutterlosen Kind noch eine Ingwerwaffel, und Norma Joyce verliert ihren allerersten Milchzahn. Es ist ein oberer Schneidezahn. »Wünsch dir was«, sagt Ginny. »Wünsch dir was.« »Hier.« Mrs. Gallot schiebt ihr ein Tellerchen hin, damit sie ihren Zahn darauf legen kann. »Zu schade. Ich hatte gehofft, dass du zum Essen bleibst.« »Ich bleibe zum Essen.« Und sie gehen in den dunklen Keller, wo Dutzende winterweiße Kohlköpfe wie auf einer Perlenschnur zwischen den Deckenbalken hängen. Mrs. Gallot raspelt den Kohl, gibt Zwiebeln und selbst gemachte Mayonnaise dazu, und Norma 57
Joyce nimmt sich drei Mal nach. Mrs. Gallot drängt sie, mehr zu nehmen, aber »nur wenn du magst«, denn sie ist eine Frau, die ihre Kinder so viel oder wenig essen lässt, wie sie wollen; nicht, dass sie zu nachgiebig wäre, keineswegs. Sie will zum Beispiel wissen, was Norma Joyce werden möchte, wenn sie erwachsen ist. Die gute Ginny hat noch keine besonderen Pläne, und darüber macht sich ihre Mutter Gedanken. Norma Joyce sagt, dass sie Malerin werden will, und das gefällt Mrs. Gallot. »Wie deine Mutter«, sagt sie. »Und wie ich. Ich wollte auch Malerin werden.« »Wirklich?« Norma Joyce nimmt ihr Notizbuch aus ihrer Schultasche und zeigt Mrs. Gallot ihr Blätteralphabet und die toten Vögel. »Stell dir das vor, Ginny. Eine Malerin.« Und sie schaut erst ihre Tochter an, dann Norma Joyce. »Schauen Sie sich meine Bilder an?«, fragt Norma Joyce. »Ja, Madame.« Mrs. Gallot schaut sie lange an, und dann sagt sie: »Es tut mir Leid« und schüttelt den Kopf. »Es tut mir Leid, Norma Joyce. Aber ich kann daran nichts Besonderes finden.« Woraufhin sie ein breites Grinsen mit dunklem Zahnfleisch (abzüglich eines Zahns) zurückbekommt. »Hier«, sagt Mrs. Gallot. »Ich weiß, was wir machen.« Sie nimmt den Zahn vom Tellerchen, und sie gehen hinaus, Mrs. Gallot, Ginny und Norma Joyce, hinaus in den warmen Sonnenschein und hinüber zur grauen Scheune mit dem rostigen Hahn auf dem Dach. Dann schauen die beiden Mädchen zu, wie Mrs. Gallot Norma Joyce' Zahn mit ihrem starken rechten Arm hoch hinauf auf das Scheunendach wirft. »Der Himmel ist die Grenze«, sagt Mrs. Gallot. »Daran glaube 58
ich immer noch.«
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Es zieht Maurice zurück zu diesem seltsamen Haushalt mit dem Vater und den zwei Töchtern, die eine schön und fleißig, die andere dunkel und bewusst unnütz, und er steigt die Verandatreppe hinauf und betritt die sauberste Küche, die er seit seiner Abreise aus Ontario gesehen hat. Geschrubbter Fußboden, glänzendes Geschirr, an der Wand eine Landkarte wie eine sanft verblühende Rose und draußen ein plötzlicher Schneesturm. Er kommt so rasch auf, dass Lucinda sich auf dem Nachhauseweg von einem Nachmittagsgottesdienst, den ein Wanderprediger im Schulhaus gehalten hat, von einem Nachbarn mitnehmen lässt, sie kommt herein und schüttelt den Schnee von ihrem Hut. Sie schaut auf und sieht Maurice am Küchentisch, daneben Norma Joyce mit einem breiten Grinsen. Der 24. Mai, und er ist zum zweiten Mal gekommen. Ein Mann, der niemals ohne Geschenke kommt. Eine Kiste Zigarren für Ernest, ein kleines Glas Pond's Gesichtscreme für Lucinda, ein Aquarellkasten für Norma Joyce. »Sie sind eine Augenweide«, sagt er zu Lucinda, und der kleinen dunklen Schwester macht es beinahe gar nichts aus, weil sie so froh ist, ihn zurückzuhaben. »Sie auch, Maurice Dove.« »Sie waren in der Kirche.« Ja, sie war in der Kirche. Weil es so gut tut. Sie hat keine interessante Predigt mehr gehört, seit dieser dünne junge Prediger aus Toronto auf seinem Pferd gekommen ist. Wie hieß er noch? Der, der in seiner Freizeit Shakespeare las. Dad? Weißt du das noch? »Der Junge von der Universität. Ja.« »Wie hieß er noch?« 60
Ernest schüttelt den Kopf, er erinnert sich an den Jungen, aber nicht an den Namen. Wie merkwürdig der junge Mann ausgesehen hat, er trug seinen Kopf schief, als hätte sein ganzer Verstand das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagert. Und diese harsche, durchdringende, östliche Stimme. »Nicht Toronto. New Brunswick.« Aber für jemandem aus dem Westen war es dasselbe. Das war alles der Osten. »Er war interessant«, sagt Lucinda. »Ich fand ihn interessant. Er hat die Geschichte vom verlorenen Sohn erzählt, aber er stand auf der Seite des älteren Sohns.« »Der, der zu Hause geblieben ist«, sagt Maurice. »Ja. Er wollte wissen, welche Lehre wir daraus ziehen sollen.« »Ich habe eigentlich nie über ihn nachgedacht. Ich habe mich immer mit dem verlorenen Sohn identifiziert.« »Und ich mit dem älteren Sohn.« Der plötzliche Schneefall hat aufgehört, und alles liegt in neuem Licht, drinnen und draußen. Ernest schickt Norma Joyce in den Schuppen nach Anfeuerholz; er selbst geht in die Scheune. Maurice und Lucinda sind allein. »Hatten Sie viel zu tun?«, fragt er sie. »Sie haben immer viel zu tun. Aber erzählen Sie. Was haben Sie so getrieben, Lucinda?« »Ich habe die Paulusbriefe gelesen«, antwortet sie mit einem spitzen Lächeln, »in Ermangelung anderer Post.« »Das tut mir Leid. Das nächste Mal. Ich verspreche es.« An diesem Abend zieht er seinen verbeulten Aquarellkasten hervor und macht sich am Küchentisch an die Arbeit. Norma Joyce schaut zu. Sie könnte eine Indianerin sein, so reglos ist sie. Sie könnte Robinson Crusoe sein, der den Umriss eines Schiffs erspäht. 61
Sie klappt ihren eigenen nagelneuen, mit schwarzem Japanlack überzogenen Metallkasten auf. Der Scharnierdeckel fällt nach vorn und wird zur Mischpalette für sechzehn Farbsteine, eine Tube Elfenbeinschwarz, eine Tube Chinaweiß. Diese Farben gehören ihr allein und wie sollte sie nicht mit Maurice verbunden bleiben, trotz allem, was passieren wird? Sie arbeiten eine halbe Stunde Seite an Seite, bis Lucinda sie mit Kakao stört, der so heiß ist, dass Norma Joyce sich die Zunge verbrennt. »Wie kann etwas elfenbeinschwarz sein?« Sie ist wütend. Ihre verbrannte Zunge macht sie wütend. »Was?« »Elfenbeinschwarz.« Sie zeigt auf die Tube. »Elfenbeinschwarz.« »Ein Oxymoron«, sagt er. »Ein Wort, das du lernen würdest, wenn du zur Schule gingest.« »Tu ich doch. Ich gehe jetzt hin. Sag's ihm, Lucinda.« »Sie geht jetzt zur Schule.« »Kaum zu glauben.« »Doch«, sagt sie entschieden, »ich gehe jeden Tag«, und sie bemerkt das Funkeln in seinen Augen nicht. »Das ist ein Begriff, der sich selbst widerspricht«, erklärt Maurice. »Wie: schwacher Tyrann. Oder: Jumbo-Garnele. Oder: süßer Kummer.« »Oder: gutes Misslingen«, sagt Ernest. Das Erste, was er seit einer Stunde sagt. Er hat in seinem Sessel geschmollt, weil er sich ausgeschlossen fühlte und sich gleichzeitig ärgerte, dass er sich ausgeschlossen fühlte, und jetzt kann er sich nicht beherrschen und muss seiner Laune freien Lauf lassen. »Das ist perfekt«, sagt Lucinda, »das ist bis jetzt das Beste«, und damit 62
tut sie, was sie täglich tut: Sie staubt das riesige, verletzte Ego ihres Vaters ab, sie versorgt es, führt es auf und ab, tätschelt es, summt ihm etwas vor. Sie macht dieser Riesenrübe von einem Ego Mut, damit er niemals erwachsen wird, dieser Mann, sondern im Türrahmen steht und seine Launen absondert, bis alles denselben Rübengeruch hat, denselben Rübengeschmack. Die Zeit wird kommen, und Norma Joyce wird in Ottawa im Türrahmen stehen und ihrer Tyrannenlaune Luft machen – ihren Sohn herumkommandieren, seine Art, sich anzuziehen, bemäkeln –, und Lucinda wird sagen: »Du bist genau wie er. Du siehst es nicht, aber es ist so.« Am Morgen ist der Schnee fort. Maurice geht mit beiden Schwestern zum Bachbett in der Schlucht, und dort machen sie ein Picknick mit Lucindas Mittagessen, das aus kaltem Tee, hart gekochten Eiern und frisch gebuttertem Brot besteht. Am Nachmittag kommt Wind auf, aber als es dunkel geworden ist, legt er sich wieder. Dann hängt Lucinda die Wäsche auf die Leine. Überall im Südwesten Saskatchewans tun andere Frauen dasselbe. In der Morgendämmerung holen sie die Wäsche herein. Norma Joyce schlendert mit Papier und Bleistift und einem hart gekochten Ei davon, und deshalb hört sie nicht, wie Maurice Lucinda fragt: »Aber Sie müssen doch etwas im Kopf haben, oder? Eine Vorstellung von etwas Besserem?« »Sie und Norma Joyce. Die Fragen nehmen kein Ende.« Aber sie lächelt. »Nicht? Sie sind doch nicht zufrieden, so, wie es ist?« »Natürlich nicht.« »Was ist denn Ihre Vision vom Glück?« 63
»Meine Vision vom Glück.« Und weil er sich nicht entschuldigt und nichts erklärt, bekommt er eine Antwort. Sie blickt in die Ferne, zu dem achteckigen Wasserturm einige Meilen entfernt, und sieht ein Haus an einem See. Es hat einen großen Garten mit Rosen und Apfelbäumen und einem Rasen. Sie sieht sich selbst auf dem Rasen und daneben Maurice. Sie sagt: »Ein Haus am Wasser. Ein Obstgarten voller Apfelbäume.« »Ihr Vater hat mir von Apfelbäumen erzählt.« »Er und Onkel Dennis wollten Apfelbäume pflanzen. Da drüben.« Sie dreht sich um und weist unbestimmt auf den sanften Südhang. Lucinda ist schön. Sie glaubt, sie habe alle Zeit der Welt. Sie glaubt, sie könne nur den einen Fehler machen, zu ungeduldig zu wirken. »Apfelbäume würden Sie glücklich machen?« »Apfelbäume würden mich glücklich machen.« »Nur Apfelbäume? Ist das alles?« Was sie nur näher zu dem führen soll, was sie will, aber sie versteht es als Kritik und antwortet nicht. Am nächsten Tag steht der kleine Mickey Gallot auf dem Fahrweg und ist erstaunt – vom Donner gerührt –, weil sein Hemd an seinen Schultern klebt. Er rennt die Treppe hinauf und zupft daran herum und schreit: »Mom! Schau!« Mrs. Gallot, die gerade bügelt, legt ihre warme Hand auf die feuchten Schultern ihres Sohnes. Dann folgt sie ihm in den sanft fallenden Regen hinaus. Hinter ihnen auf der Veranda fahren zwei junge Hunde erschreckt zurück und werden auf der Stelle 64
getauft. Finicky und Poop. Zwei Meilen entfernt an derselben Straße sagt Lucinda zu Maurice: »Sie haben den Regen mitgebracht.« »Ich dachte, ich hätte den Schnee mitgebracht.« »Das auch.« Sie lächelt so langsam, so erfüllt, dass es zu viel des Guten ist. Sie sind auf der Veranda, die nach Osten geht, und er lässt seine Hand in die ihre gleiten. »Wir aus dem Osten sind immer an allem schuld.« Dann beginnt er leise zu rezitieren:
Ob wir nun schauen, ob wir nun lauschen, Das Leben, es glitzert, wir hören es rauschen; Die Blätter sind grün jetzt, das ist uns genug, Ganz gleich, dass kaum Frucht die Vergangenheit trug. »Was ist das?«, fragt sie. »James Russell Lowell. ›What Is So Rare as a Day in June‹.« Lucinda ist beeindruckt. »Ein Mann, der sich Verse merkt«, sagt sie. Dann macht sich hinter ihnen eine Stimme bemerkbar.
Der Regen fällt auf Feld und Wald Und alles ringsumher. Es regnet auf mein Regendach Und auf das Schiff im Meer. Maurice lacht und packt Norma Joyce' Hand. »Gut gemacht«, 65
sagt er. »Kennst du das?« »Robert Louis Stevenson«, antwortet er zu ihrer Zufriedenheit und zu seiner. Jetzt halten sich die drei an den Händen und sehen zu, wie der Regen fällt und wie das Gras vor ihren Augen grün wird. »Wir sollten ein Fest geben«, sagt Lucinda. »Wir sollten feiern. Nächsten Samstag. Sind Sie dann noch hier? Ich mache meinen Biskuitkuchen.« »Machen Sie zwei«, sagt Maurice. Der Regen zieht alle an die offenen Türen. Es ist, als sehe man einen Film, die Art, wie die Welt farbig wird und ihr Ausdruck sich ändert. Alle schlafen besser. Sie stehen später als üblich auf, sie träumen mehr, sie schlafen an seltsamen Orten ein. Am hellen Nachmittag findet Lucinda ihre Schwester tief schlafend auf Maurice' Bett und stört sie nicht. Sie achtet den Schlaf, wie sie alle Formen des Privaten achtet; es würde ihr zum Beispiel nie in den Sinn kommen, ein Gespräch zu belauschen oder jemandes Post zu öffnen. Norma Joyce schläft weiter und träumt ihre seltsamen Träume. Sie schaut aus dem Fenster, als ein hohes Glashaus nach vorne kippt wie eine Frau, die lang hinschlägt, sie schiebt eine Decke zurück, die mit langen Stacheln besetzt ist, wie Haare unter einem Vergrößerungsglas, sie träumt drei Wasserträume nacheinander. Im ersten Traum geht sie auf dem Wasser, während am Ufer eine Sängerin über die beiden breiten Planken klagt, die ihr im Weg sind; als Nächstes überquert sie auf einer verbotenen Brücke einen breiten Fluss; dann gießt sie 66
drei sehr trockene Blumen, die in einer Reihe wachsen. Sie gießt auf die erste Pflanze so viel Wasser, dass sie umkippt, gießt weniger auf die beiden anderen, und es bekommt ihnen gut. Dies ist kein Garten, sondern ein Wald mit vielen Lichtungen und seltsamen Bepflanzungen, wie diese drei offensichtlich wilden Blumen, die in einer Reihe wachsen. Ein schattiger Wald, eine Gießkanne in ihren Händen. Sie schlägt die Augen auf, und ihr Bruder ist am Fuß des Bettes. Er war erst zwei, noch nicht ganz sicher auf den Beinen und viel zu neugierig an diesem Herbstmontag vor sieben Jahren. Es war Waschtag, und Wasser wurde oben in dem Kupferboiler auf dem Ofen und in dem Kessel neben dem Ofen heiß gemacht. Florida May schickte die Zwillinge zum Spielen nach draußen auf die Veranda; sie hörte sie vor sich hin plappern, während sie Eimer mit siedendem Wasser zur Wasch- und Wringmaschine in der Küchenecke trug. Dann kam ein Hilfeschrei – Lucindas Stimme –, und sie setzte den Kübel ab und eilte nach draußen. Die Zeitung erwähnte die »Farmküche«, in der der Unfall geschah, und die schweren Verbrennungen, die das Kind erlitt. In der Zeitung stand, er müsse rückwärts an den Kübel gestoßen sein, wodurch sich das siedende Wasser über seinen Rücken und seine Beine ergoss. Das war an einem Montag. Er starb am Donnerstag im Krankenhaus von Willow Bend. Ernest zimmerte den kleinen Sarg. Florida May wachte die ganze Nacht und nähte aus ihrem Satinhochzeitskleid eine wattierte Bespannung für dessen Boden und Seiten. Das Mädchen, das kein Zwilling mehr war, kletterte zu ihrer großen Schwester ins Bett und war sieben Jahre später immer noch dort. Am Tag, nachdem sie ihren Bruder begraben hatten, wurde 67
Joyce zu Norma Joyce. Der tote Junge hatte Norman geheißen. Es war die Idee ihrer Mutter. Ernest erinnert sich an das strahlende Cheshire-Katze-Lächeln seines Sohnes, wenn er wie gewöhnlich rückwärts aus dem Zimmer ging; ein Junge, der einen gerne im Blick behielt und der offenbar ein Spiel damit spielte. Er ging rückwärts durch die Fliegengittertür in die gefährliche Küche hinein. Ernest erinnert sich, aber der Argwohn und das Bedürfnis, jemandem die Schuld zu geben, verdüstern seine Erinnerung. Wie hatte sein Junge ganz plötzlich fallen können, ohne Anlass? Eine Herausforderung zum Beispiel, von seiner winzigen, eifersüchtigen Schwester? Oder ein Schubs? Sogar ihren Gesichtsausdruck kann er sehen. Sogar die Spitzen ihrer winzigen Finger kann er sehen. In manchen Nächten steht er in der Tür zum Schlafzimmer und betrachtet sie, während sie neben ihrer Schwester schläft. Er betrachtet sie, und ihm ist, als hätte man ihm jede Fähigkeit genommen, überhaupt etwas zu lieben. Sein Blick wandert zu Lucinda, und er ist beruhigt. »Zwillinge gebieten über das Wetter«, erzählt ihr Maurice, »das glauben jedenfalls die Indianer.« Sie malen am Küchentisch; er hat sie gebeten, ihm noch ein Geheimnis zu erzählen, und sie hat es getan. »Ich sehe ihn ziemlich oft«, sagt sie, »aber meine Mutter sehe ich nie.« »Wie sieht er aus?« »Wie ich. Außer dass er hübsch ist.« »Man weiß nie. Vielleicht bist du eines Tages schön.« Sie setzt sich aufrecht hin. »Glaubst du?« 68
Er glaubt es nicht. Aber er sagt: »Meine Mutter sagt, die meisten schönen Frauen, die sie kennt, waren unscheinbare Babys.« Sie denkt darüber nach. »Ich bin natürlich kein Baby mehr.« »Nein.« »Obwohl ich sehr klein bin.« »Das stimmt auch.« In dieser regnerischen Woche hat er einen erotischen Traum nach dem anderen, und wenn er aufwacht, denkt er immerzu an die schöne Lucinda. Er lässt ihre kleine Schwester alles tun. Sie will sein Haar bürsten, er lässt sie. Sie bittet ihn, ihr vorzulesen, er liest ihr vor. Sie fragt ihn nach Ontario, und er beschreibt eine Luft, die so klar und süß ist, dass sie wie Ahornsirup riecht, Seen, die so tief sind, dass sie Suppenschüsseln ähneln, Ulmen, die so hoch und so zahlreich sind, dass sie einen Baldachin bilden, und L-förmige Farmveranden, die so angelegt sind, dass sie eine schöne, schattige Ecke bilden. Er beschreibt Apfelbäume, die sich unter den Früchten biegen, und Hügel, auf denen so viele Blaubeeren wachsen, dass der Boden selbst ganz blau ist. Er erzählt ihr, dass seine Mutter und sein Vater von Anfang Mai bis Anfang Oktober im Freien essen, sein Vater ohne Kopfbedeckung, seine Mutter mit einem weißen Strohhut. Eine Dove-Tradition, sagt er, bis zum ersten schweren Frost im Freien zu essen. »Machst du das auch?«, fragt sie ihn. »Oh ja. Und deswegen werde ich niemals eine Ehefrau haben.« Dies mit einem Zwinkern zu Lucinda, die gerade in die Küche gekommen ist. 69
Lucinda lächelt. Sie versteht. Seine Aufmerksamkeiten für das kleine Mädchen zollen ihr selbst Tribut. Norma Joyce liegt auf ihrem Bett und studiert ihr Gesicht in Lucindas Handspiegel. In dieser Stellung – wenn sie flach auf dem Rücken liegt und einen Spiegel in die Höhe hält – verschiebt sich ihr Gesicht und wird asiatisch und mandeläugig. Sie denkt: »So wird ein Mann mich sehen, wenn er zu mir ins Bett kommt.« Sie denkt: »Bin ich vielleicht schön und weiß es nicht?« Dieselben Pantoffeln, aber jetzt ziehen seine bloßen Knöchel ihren Blick auf sich. Jetzt wäscht und rasiert er sich ohne Hemd, und sie sieht das lockige braune Haar auf seiner Brust, unvorstellbar weich, und seine schmalen Hüften. Als er aus dem Haus gegangen ist, untersucht sie seine weichen Lederpantoffeln. Die Sohlen sind so blank und dunkel wie schwarzes Eis, innen sind sie abgenutzt von seinen Zehen. Es hat sich mehr verändert als das Wetter. Sie hat aufgehört, so zu tun, als könnte sie nicht lesen. Jetzt trägt sie ein offenes Buch von Zimmer zu Zimmer und liest aus Leibeskräften, so, wie die Frauen früher strickten. Sie liest die World Books ihrer Mutter und ihre Grammatik und zieht daraus ein bestimmtes Vergnügen, wie ihre Schwester es in gleichförmiger Arbeit findet. Sie erfährt, dass Giraffen Akazienblätter weiden und dass ihre Haut infolgedessen nach Honig riecht. Sie können über lange Zeiträume hinweg ohne Wasser auskommen, und sie sind seltsam still, sie geben keinen Laut von sich, wenn sie erschrecken, und stöhnen nicht einmal vor Schmerz, wenn sie im Todeskampf liegen.
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Jeden Tag geht sie zur Schule. Sie nimmt in ihrer Brotbüchse ein Marmeladenbrot und ein Rosinenbrötchen mit (andere Kinder nehmen Zwiebelbrote, Knoblauchbrote, Melassebrote mit; ein Junge namens Art nimmt ein Viertel Milch mit und gar nichts zu essen; ein Mädchen namens Flora isst für zwei, so kichern jedenfalls die Jungen, und quälen sie, weil ihre Schwester Daisy heiraten musste; Daisy und Lucinda waren einmal dicke Freundinnen). Norma Joyce geht hin, um Seine Majestät King George VI. in zeremonieller Uniform und Hermelinmantel über der Tafel hängen zu sehen. »Er ist so aufrecht«, sagt sie zu Maurice, »und seine Haut ist so weich.« Sie geht auch hin, um die hübsche Miss Stevenson aus Ontario zu sehen. Was für ein Glück, eine Lehrerin zu haben, die drei reizvolle Kleider hat: ein marineblaues Alpakakleid, das vorn geknöpft ist und fest ihre wohl proportionierte Figur umschließt (es hat zwei Garnituren abnehmbarer Kragen und Manschetten, eine in Weiß und eine in Karamell); ein braunes Kreppkleid mit rundem weißem Kragen und einer hübschen weißen Rüsche, die diagonal von der linken Schulter bis zur Taille verläuft; und ein rotes Jerseykleid, das mit schwarzem Satin besetzt ist und vorn eine Reihe schwarzer Knöpfe hat. Miss Stevenson trägt jedes Kleid eine ganze Woche. Am Anfang der Woche ist das Kleid makellos, aber am Ende der Woche ist es voller Kreidestreifen. Auf dem Nachhauseweg schreibt Norma Joyce immer wieder
Maurice auf die Straße. Zu Hause steckt sie das weiche Haar ein, das sich in seiner Bürste verfangen hat. Sie nimmt eins seiner Taschentücher und ein paar Fäden von seinem Pfeifentabak. Sie bewahrt das alles in der Zigarrenkiste auf, die unter ihrem Bett in der Holzkiste liegt. 71
Bäume und Flüsse ziehen Regen an. Schwer fassbare Männer ziehen Frauen an. Märchen ziehen Kinder an. Wann immer Norma Joyce spazieren geht, nimmt sie ein Stück Brot mit und wird eins mit der alten Geschichte, in der die Steine in mondhellen Wäldern leuchten und die Krümel von Vögeln gefressen werden. Ihre Streifzüge führen sie von verlassenem Haus zu verlassenem Haus, wo sie Schubladen und Schränke öffnet und einzelne Haarspangen findet, verlorene Knöpfe und gelegentlich ein Maskenkostüm, das bei diesem Wetter nicht zu gebrauchen ist, aber bei anderem Wetter schon, bei BloßeSchultern- oder Schmale-Taillen-Wetter, bei Pantoffel- oder Glacéhandschuh-Wetter, bei Ontario-Wetter. Sie nimmt das weiche, raschelnde Ontario zwischen die Finger, den Samt und den Taft, der nach Westen geschickt wurde, wenn das reiche Toronto seine Dachböden für das arme Saskatchewan ausgemistet hatte. Wenn Mrs. Hayden bitter gestimmt war, pflegte sie ein Gewand mit drei eingenähten Petticoats anzuziehen, das nach Mottenkugeln stank, und dann ging sie hinaus in die Scheune, um die Kühe zu melken. Aber Mrs. Hayden ist fort. Sie sind nach Okanagan Valley gezogen, denn sie sagte, es sei ihr einziger Wunsch, die Hand auszustrecken und einen schönen, reifen Pfirsich zu pflücken. Norma Joyce findet in einem der Schlafzimmer hinter einer verlassenen Frisierkommode eine kleine Messingröhre mit Lippenstift. Das ist ein Schatz. Nur halb aufgebraucht und dunkelrot. Sie steckt ihn ein für den späteren – schändlichen – Gebrauch. In der Scheune ist es still, denn alle Tiere sind fort. Leere Scheunen gefallen ihr. Es gefällt ihr, wie das Licht weit oben durch die Ritzen fällt, so dass man nicht im Dunkeln steht, sondern im Schatten und den Geruch von Heu und von Tieren 72
atmet und sonst nichts; diesmal ist dort aber noch etwas anderes. Aus dem Nichts packt eine Hand ihren Knöchel, und ihr Kopf schlägt auf den Boden. Ihre Schreie überraschen sie selbst. Jetzt muss ich schreien, denkt sie, und sie kommen stoßweise heraus. Er fährt zurück. »Es tut mir Leid es tut mir Leid es tut mir Leid«, zieht seine Hosen hoch und schließt die Gürtelschnalle. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.« »Ist schon gut«, immer noch rücklings auf dem Fußboden. »Geh einfach weg.« Und das tut er. Vom Scheunentor aus beobachtet sie, wie er auf der Straße davontrippelt. Jung. Dünn. Fettiges schwarzes Haar, das geschnitten werden muss. Zerrissene Stiefel. Es ist heller Nachmittag – es ist nicht einmal Nacht. Aber sie hat Glück gehabt. Was der armen Daisy Thompson passiert ist, hätte ihr auch passieren können. Auf halbem Weg nach Hause fällt ihr der Lippenstift ein. Sie geht zurück, und da liegt er auf dem Scheunenboden, deutlich sichtbar. Genau wie er, als sie durch die Küchentür tritt. Er sitzt vor einem Teller Bohnen und einer Tasse Tee am Tisch. Als sie hereinkommt, hört er auf zu kauen, dann wird er schneller. Er kaut mit weit geöffnetem Mund, und sie schaut weg. Maurice und Lucinda sitzen auch am Küchentisch. Sie setzt sich neben Maurice und starrt auf den Tisch. Er wird bald fort sein, der fettige junge Mann, der frisst wie ein Schwein. Maurice hat Lucinda gefragt, ob sie die Schule vermisse, und Lucinda sagt: »Nicht sehr, wenn ich ehrlich bin. Obwohl ich gut war.« »Magst du die Schule?« 73
Jetzt spricht Maurice mit ihr. »Ich mag Bücher.« »Warum?« »Sie sehen hübsch aus.« »Sie sehen hübsch aus?«
»Sie sind sicher.« »Du glaubst, Bücher sind sicher? Sie sind voller gefährlicher Ideen.« »Bücher sind nicht gefährlich.« Der schmierige junge Mann steht auf. Er murmelt ein eiliges Danke. Und schon ist er fort. »Sie sind interessant«, sagt sie. »Heute habe ich etwas über Giraffen gelesen. Sie machen nie einen Laut. Hast du das gewusst? Nicht einmal, wenn die Löwen sie in Stücke reißen. Menschen schreien, aber Giraffen schreien nicht. Sie brauchen auch kein Wasser. Sie bekommen schon dadurch genügend Feuchtigkeit, dass sie Blätter fressen.« »Wie die Taschenmäuse«, sagt Maurice interessiert, »in den Great Sand Hills?« Sie nickt und Lucinda auch. Sie kennen die großen, welligen Sanddünen, die westlich von Swift Current liegen. »Diese Taschenmäuse«, sagt Maurice, »sind klein und knochig, aber ihre Hinterbeine sind wie bei einem Känguru deswegen bewegen sie sich auf Sand so leicht fort.« »Und sie trinken kein Wasser?« »Sie trinken nie Wasser. Sie überleben mit der Feuchtigkeit, die sie aus trockenen Samen ziehen.« Er nickt mit dem Kopf. »Allerdings. Darwin hätten sie gefallen.« 74
»Darwin?«, fragt Lucinda. »Das ist das zweite Mal, dass du von Darwin sprichst«, sagt Norma Joyce. Maurice lächelt sie an. Ihr Gedächtnis wird ihn immer beeindrucken und manchmal abstoßen. »Tatsächlich?« Und er erzählt ihnen von dem ziellosen jungen Mann, dessen Leben ein Brief veränderte, als er erst zweiundzwanzig war. »Stellt euch vor, der Brief wäre nicht angekommen«, sagt er. »Er wäre nicht auf die Beagle gegangen; wir hätten seine Theorien und seine Bücher nicht.« »Sie hätten ihm noch einmal geschrieben«, sagt Norma Joyce. »Vielleicht.« »Hätten sie.« »Meine Schwester.« Das sagt Lucinda lachend. »Norma, die Besserwisserin.« »Ist das dein Lieblingswissenschaftler?«, fragt sie und übergeht Lucinda, der sie gerne auf die Nase schlagen würde. »Einer davon.« »Aber du magst ihn am liebsten.« »Muss ich jemanden am liebsten mögen?« »Magst du ihn nicht am liebsten?« »Na gut. Ich mag Darwin am liebsten, wenn es dich glücklich macht.« Das macht es, aber sie hätte nicht erklären können, warum sie das Bedürfnis hat, diese Dinge deutlich auszusprechen und abzusichern. »Zweiundzwanzig«, dreiundzwanzig.«
sagt
Maurice.
»Dante war erst elf.« 75
»Ich
bin
schon
»Dante?« »Er war erst elf, als die Liebe sein Leben verändert hat. Und Beatrice war erst acht. Hat Miss Stevenson uns erzählt.« Maurice lässt seine Brille in ihrem weichen Stoffetui auf dem Küchentisch liegen. Sie nimmt sie aus dem Etui, rückt sie auf ihrer Nase zurecht und starrt auf die verschwommene Fläche, zu der das Zimmer dadurch wird. Sie trinkt das letzte Schlückchen Tee aus seiner Tasse. Sie spielt als Erstes am Morgen Klavier. »Good King Wenceslas« oder »We Wish You a Merry Christmas«. Ständchen für Maurice. »Zurückhaltung ist nicht gerade ihre Stärke«, sagt Lucinda zu Ernest. Und zu ihrer Schwester: »Versuchst du, es schneien zu lassen?« Diesmal – bei diesem Besuch im Mai und Juni – bleibt er drei Wochen. Jeden Tag kommt er mit einem Rucksack voll zarter junger Gräser nach Hause, die er zeichnet und etikettiert und dann zwischen dünnem Zeitungspapier in seiner tragbaren Eichenpresse presst. Wenn er die Gräser auf Pappe aufgeklebt hat, fährt er mit seinem langen linken Daumennagel hin und her und drückt Rillen in das Klebeband. »Verstehe«, sagt Norma Joyce, die sich über diesen Daumennagel gewundert hat. Er denkt laut, während er arbeitet, probiert Ideen aus, hält hochtrabende Reden, wie sie Jahre später denkt. »Man muss berücksichtigen«, sagt er zu ihr, »dass es im Westen schon früher schlimme Dürreperioden gegeben hat.« »Das weiß ich.« »Die 1890er Jahre waren genauso schlimm. Neun Jahre Dürre.« Er radiert seine Zeichnung aus und fängt von neuem an. »Und 76
es war ganz genauso. Alle verlassen ihre Farmen. Ziehen weg. Außer denen, die Glück hatten oder hart waren.« Er schaut sie mit einem kurzen Lächeln an. »Man muss hart wie Hardy sein, um hier zu überleben, und das seid ihr natürlich. Es ist allerdings nicht annähernd so schlimm wie 1921 in Russland.« »Russland?« »Sie haben Brot gegessen, das aus Dreck gemacht war. So schlimm war es. Du kannst dir vorstellen, wie viele Kinder gestorben sind.« »Wie viele?« »Fast alle Kinder unter drei.« Er radiert die obere Ecke seiner Zeichnung aus und wischt sie mit der Handkante sauber. »Wie macht man überhaupt Brot aus Dreck?«, will sie wissen. »Nach dem, was ich gelesen habe«, sagt er, »haben sie es so gemacht, dass sie Eicheln zerstampften und sie mit Dreck und Wasser und trockenen Birkenblättern mischten.« »Igitt«, sagt sie. Seine treue Zuhörerin. Lucinda hat zu viel zu tun. (Der Preis, den man zahlt, wenn man nützlich ist.) »Hört deine Schwester jemals auf?«, fragt er sie. »Nein. Die nicht. Mein Vater sagt, sie ist arbeitswütig. Wie er.« Also ist es Norma Joyce, die etwas über das Wetter erfährt, während die Vögel wiederkommen und die Ernte wächst und das Licht an den langen Abenden Anfang Juni verweilt. An Maurice' Seite betrachtet sie seine Diagramme mit den Luftmassen und den Pfeilen, und was sie sieht, ist ein warmer Luftkörper, der über einen kalten Luftkörper nach oben gleitet und ihn gegen seinen Willen dort hält, oder ein kalter 77
Luftkörper, der unter die Schöße eines warmen Luftkörpers drängt und nach oben drückt, aber so unbeholfen, so rastlos, so ölig und kalt in seiner achtlosen Art, dass es zu keiner wirklichen Paarung kommt, nur zu einem Stellungsgerangel, das in der Depression endet, über die sie schon alles weiß, denn im Grunde ist sie selbst in einer. Sie wurde schließlich 1929 geboren, und sie und die Große Depression gingen von Anfang an Hand in Hand. Sie hört zu, wie er sagt, dass die warme Luft steigt und die kalte Luft darunter einfließt, dass das Wasser die Wärme länger hält als das Land und dass die Gegensätze alles in Bewegung bringen, und sie nickt und versteht, dass das, was im Spiel ist, die Kräfte von Anziehung und Abstoßung sind, mit anderen Worten, die der Liebe. Heiß trifft auf kalt, und was folgt, ist Wind, Regen, Nässe und Tau. Je schärfer der Gegensatz, desto mehr ist zu sehen. Je schneller zum Beispiel etwas abkühlt, desto mehr Tau zieht es an; ein Grashalm wird nasser als eine gepflasterte Straße. Wenn entsprechend drei Frostnächte auf drei warme Frühlingstage folgen, fließt eimerweise Nässe an den erregten Bäume herab. Er sagt, dass das schon immer so geht, das Auf und Ab von Wärme und Kälte, und nicht nur von Tag zu Tag, sondern über die Zeiten hinweg. Heiß und kalt wechseln sich auch in der gesamten Geschichte ab. Vor neunhundert Jahren wuchsen überall in England Trauben, so warm war es, dann änderte sich das Wetter, und im späten Mittelalter gab es schließlich in England keine Weinberge mehr, und die Kleine Eiszeit hatte begonnen – die Zeit der großen Fröste, als Europas Flüsse gefroren, als die Menschen über die zugefrorene Ostsee gingen und die Eskimos so weit nach Süden kamen, dass mindestens einer mit dem Kajak den River Don bei Aberdeen hinauffuhr. 78
Seitdem ist es wieder wärmer geworden. Es war erholsam, wenn die Zeit auf diese Weise verging. Ihre Augen, merkte sie, waren müde. Sie taten weh. Damals ruhten die Leute in diesem staubgetriebenen Teil der Welt immer ihre Augen aus, spülten sie, tupften sie mit Taschentüchern ab. Die Augen waren so trocken, dass sie überliefen, was ein interessanter Widerspruch war. Was ist damit, Maurice? Es sei seltsam, aber wahr, sagte er, genauso, wie etwas äußerst Kaltes einem die Haut verbrenne. Die Norweger bewunderte er und die Schweden. Sie waren Lichtjahre voraus, wenn es ums Wissen über das Wetter ging. Unter den Engländern verdiente nur Darwin seine Bewunderung. Seine Helden waren Vilhelm Bjerknes mit seiner Erkenntnis, dass die Luft flüssig war; und Tor Bergeron mit der Wahrheit, die in alten Volksmärchen über das Wetter lag; und Fridtjof Nansen mit der Kunst des Reisens im Schnee; und Roald Amundsen mit der Notwendigkeit, wie ein Indianer durch jedes Wetter zu gehen. Für Scott hatte er keine Zeit. Keine Geduld für seine aufgeblasenen Übertreibungen. Dieses Scheitern war typisch englisch, fand er, man versucht, auf jeden Fall Eindruck zu machen, und ist zu besorgt um die eigene Wirkung. Sie sehen skandinavisch aus, sagte er zu Lucinda. »Was ist mit mir?«, fragte Norma Joyce. »Du«, sagte er nachdenklich, »du siehst italienisch-japanisch aus, aber du könntest auch zu diesen dunklen Schotten gehören.« Ihr Ontario Reader (den sie im Winter 1972 in Ernests Keller wiederfindet, zusammen mit Lucindas Nähmaschine und verschiedenen alten Schlittschuhpaaren und vielen anderen Büchern, die seit Jahrzehnten niemand mehr aufgeschlagen hat), ihr Ontario Reader, Preis vierzehn Cents und 1925 von der 79
T. Eaton Company veröffentlicht, enthielt Captain Scotts letzte Reise in Zusammenfassung. Maurice nahm ihr das Buch aus der Hand, las einen Absatz und schüttelte die ganze Zeit den Kopf. Er sagte, wenn Scott ein Farmer wäre, würde er immer noch seine sommerbrachen Felder pflügen, damit sie ordentlich aussähen. Auch wenn hinterher die gesamte Erde wegwehte. »Man braucht Stoppeln, damit die Erde an ihrem Platz bleibt, das sage ich ihnen immer wieder. Wie man einen Schnurrbart braucht, damit einem das Gesicht nicht abfriert.« »Du hast keinen Schnurrbart.« Sie streckte die Hand aus und berührte seine Wange. Sie strich mit den Fingern über sein Gesicht. Er bemerkte es kaum. »Stur«, sagte er. »So stur, dass es selbstmörderisch ist. Sie geben nicht auf, bis es zu spät ist und sie alles auf einmal aufgeben müssen.« »Wie Hitler«, sagte er, drehte sich um und sah Ernest in seiner Küchenecke an. »Nichts wird ihn aufhalten, aber letzten Endes wird er doch nicht gewinnen. Er wird zu weit gehen.« »Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte Ernest trocken, aber immer noch höflich. »Es gibt eine Gerechtigkeit auf der Welt. Es gibt Fairness.« »Fairness vielleicht nicht, aber ein Gleichgewicht. Die Dinge sind manchmal im Gleichgewicht und manchmal nicht. Nur darum geht es beim Wetter. Auf Kälte folgt Hitze, auf Dürre folgt Regen.« »Und wann soll das sein?« »Es ist schon passiert«, sagte er, »aber das Land ist so geschädigt, dass der Regen nicht mehr hilft.« »Vielleicht täuschen Sie sich auch«, sagte Ernest. »Was wissen Sie denn schon wirklich? Gar nichts, verdammt.« 80
Diese Wandlung, erst Verbindlichkeit, dann Beschimpfungen. Ein Ruck, genau wie die Kleine Eiszeit, in der die Themse immer wieder gefror und alle Orangenbäume in Südfrankreich starben. Aber es habe immer warme Gebiete gegeben, erwiderte Maurice, immer Oasen der Feuchtigkeit, sogar in den schlimmsten Zeiten. Orte, die offenbar davonkamen. Zweifellos habe das bisschen Regen dort eine vorhandene Findigkeit und Beharrlichkeit befruchtet, genau wie hier, sagte er, und er beschwichtigte Ernest, weil er nicht auf seinen Zorn einging, sondern auf sein Bedürfnis nach Schmeichelei und Respekt. Aber die boshafte Norma Joyce kann es nicht lassen. »Magst du Scott wirklich nicht?« »Ich mag es nicht, wie er zum Helden gemacht wird, das ist alles. Und wie man mit Amundsen umgeht.« Er nimmt sich den Ontario Reader und liest vor: »›Brach aus geringerer Entfernung auf und stürmte los.‹ Als wäre es irgendwie kriminell, etwas nicht auf die schwierigste Art zu tun.« Ernest kann dergleichen Gerede nicht ertragen. Er klopft heftig seine Pfeife aus, dann steht er plötzlich auf und verlässt das Haus. Maurice schaut Lucinda an. »Er nimmt diese Dinge ernst, nicht wahr?« »Ich fürchte ja.« »Es tut mir Leid. Ich wollte ihn nicht verärgern.« Aber Norma Joyce ist froh. Sie schaut durch das Fenster zu, wie ihr Vater wütend auf die Scheune zugeht, und hofft, dass er der Länge nach hinschlägt. Das tut er nicht. Also wendet sie sich einem geringeren Vergnügen zu. Sie fragt Maurice nach seiner Lieblingspflanze 81
und will noch einmal hören, was sie schon weiß. »Farne«, um sie zu necken. »Du glaubst, Farne sind besser als Gräser?« »Sie sind uralt, und sie sind interessant. Und sparsam. Sie nutzen alles, was ihnen zur Verfügung steht, wie die Menschen jetzt. Die Weltwirtschaftskrise hat aus allen Leuten sparsame Farne gemacht.« »Aber wir gedeihen nicht«, sagt Lucinda. »Manche schon«, sagt er und lächelt sie an. »Aber was magst du am liebsten? Farne oder Gräser?« »Norma Joyce Hardy«, sagt Maurice und lächelt immer noch Lucinda an, »das Mädchen, das aus allem einen Wettbewerb macht.« Für ein paar Minuten ist sie still und tief verletzt. Dann: »Ich wünschte, ich könnte nach Ottawa fahren.« »Ottawa«, sagt er grüblerisch. »Weißt du, was das Wort bedeutet?« »Ja.« Ihr Ton ist lebhaft Indianerstamm.«
und
bestimmt.
»So
heißt
ein
»Es bedeutet: ›Die Stadt, in der drei Flüsse sich treffen‹. Also. Sag du mir«, und zwinkert Lucinda zu, die diesen selbstgefälligen, tugendhaften Gesichtsausdruck trägt, den Norma Joyce nicht aushält, nicht einmal eine Sekunde, »welche Flüsse? Einen Nickel, wenn du sie alle weißt.« »Ich dachte, du magst keine Wettbewerbe?« Er lacht, und ihr Sieg ist vollkommen, als sie sagt: »Ottawa, Rideau und Gatineau« und seinen Nickel einsteckt. Endlich ist der erste Samstag im Juni gekommen, der Abend mit 82
dem Fest zu Ehren des Regens. Die Haarings kommen, die Gallots und die Wolfes, die Lehrerin Miss Stevenson und die Postmeisterin Wanda Thurston. Sie kommen mit dem Auto oder zu Fuß und bringen für das Mitternachtsessen gebratenen Schinken, Gurkensalat, eingelegte Rüben und Brot – und alles wird von Lucindas beiden Biskuitkuchen und Mrs. Gallots drei Zitronenbaiserkuchen gekrönt. Man wird Karten spielen und singen und essen und sich unterhalten – dazu kommen reichlich Tee und das ungezwungene Kommen und Gehen zwischen Küche und Veranda, der Abend ist warm, und es ist lange hell. Gegen zwei Uhr morgens wird Mrs. Haaring im Schaukelstuhl neben dem Küchentisch sagen, dass sie sich zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren zu Hause fühlt. Ihr Gesicht ist weich geworden, sie hat ihre großen Hände im Schoß gefaltet, und ihre Gedanken schweifen zurück zu dem Tag, an dem sie Holland verließ, an dem es so warm war; es war Ende September und ein so schöner Tag, dass sie in der Morgendämmerung hinaus in den Garten ging und einen Arm voll Chrysanthemen schnitt, um sie mit in den Zug zu nehmen. Zwei Monate später stieg sie in Regina aus und konnte nicht atmen, so kalt war es. Am nächsten Morgen hatte es den Schnee fünf Zentimeter hoch über das Fußende ihres Bettes geweht. »Wie sehen die aus, Chrysanthemen?«, fragt der WhiskyTenor von einem Schemel neben der Küchentür aus. Sommerluft dringt durch das ausgebesserte Fliegengitter und mit ihr der unheimliche Schrei einer Eule. Hört doch. Und alle hören hin. Ein Laut, den sie seit Jahren nicht gehört haben, so kommt es ihnen jedenfalls vor. »Wie Kokosnusszotteln«, antwortet Mrs. Haaring. »Meine waren so weiß wie die Manschetten am Kleid deiner Schwester.« »Eine
Begräbnisblume«,
erklärt 83
Mrs.
Gallot,
»die
Chrysantheme. Die Blume, die man am besten mitnimmt, wenn man zum letzten Mal sein Zuhause verlässt.« »Ich habe noch eine«, sagt Mrs. Haaring. »Hinten in der Bibel. Als Glücksbringer.«
Glück. In dieser Zeit, den Dreißigerjahren, stickte der Aberglaube sein Muster in jeden Geist, klapperten in jedem Schädel die Stricknadeln der Sorge. Es gab viele und unbedingte Tabus: Niemals prahlen oder etwas zu sehr loben, sonst zieht man den bösen Blick des Neids auf sich. Niemals eine gute Ernte voraussagen. Niemals gutes Wetter voraussagen. Niemals irgendeine Art von Glück voraussagen. Immer auf Nummer sicher gehen. Jedes Mal Salz über die linke Schulter werfen, wenn man welches verschüttet hat. Warten, bis jemand anderes vorbeikommt und das Pech auf sich nimmt, wenn eine schwarze Katze den Weg kreuzt. Niemals einschlafen, wenn einem der Vollmond ins Gesicht scheint. Die Glücksbringer-Münze in der Tasche umdrehen, wenn man den Neumond zum ersten Mal sieht. Ein rotes Band tragen, um den bösen Blick abzuwehren. »Mein Vater hat immer seinen Kragen berührt, wenn ein Leichenwagen vorbeikam, und meine Tante hat kein Grün im Haus geduldet.« Ernest, überraschenderweise. Sogar er hat sich entspannt. Er sagt, die einzige Person, die er jemals gekannt habe und die nicht abergläubisch gewesen sei, sei Florida May gewesen, und vielleicht hätte sie es besser sein sollen, aber sie habe an die Bildung geglaubt. Wie ungeheuer viel sie gelesen habe. »Morgens habe ich sie manchmal gesehen, wie sie Brot knetete, dahinter stand aufgestützt ein Buch, und eine Stunde später knetete sie immer noch dasselbe Brot.« Mrs. Wolfe, die sich gerade ein weiteres Stück Zitronenbaiserkuchen genommen hat, erinnert sich an den 84
Winter, in dem sie und Florida May alles von Jane Austen lasen. Ein Winter, der so kalt war, dass sie den Brotteig mit ins Bett nehmen musste, damit er aufging. Im selben Winter kam ihr Sohn nach Hause, und seine Ohren waren angeschwollen wie Doughnuts. Sie habe sie in Schnee gepackt, sagt sie, gegen den Schmerz. »Wieso Schnee?«, fragt Norma Joyce. »Die Haut soll nicht zu schnell auftauen. Deswegen.« »Aber wieso keine warme Hand?« Und Maurice, der am Küchentisch sitzt, sagt: »Ich glaube, eine warme Hand ist das Beste. Eine warme Hand bei Erfrierungen. Ein dunkles Zimmer bei Schneeblindheit. Ich habe einmal drei Tage in einem dunklen Zimmer gelegen, so schlecht ging es meinen Augen. Aber ich hatte Glück. Ich hätte auch für immer verloren sein können.« »Wie Maria Chapdelaines Liebhaber«, sagt Lucinda leise. Das Wort Liebhaber, und Norma Joyce hält erstaunt den Atem an, weil Lucinda es ausgesprochen hat. »Ein Sammelband«, sagt Maurice und lächelt. »Kein Sammelband«, antwortet sie, »es war bei den Büchern in der Wanderbücherei. Ich habe es ausgesucht, weil es kurz war.« »Hat es Ihnen gefallen?«, fragt er sie. »Ich fand es sehr traurig.« »Ja«, pflichtet ihr Miss Stevenson bei, die auf der anderen Seite des Tisches sitzt und zugehört hat. »Ach ja.« Sie trägt ihr rotes Jerseykleid, die Kreide hat sie abgebürstet, und sie macht ein erwartungsvolles Gesicht; ihre Augen leuchten. »Hat es dir gefallen?«, fragt Norma Joyce Maurice. Sie hat ihren Platz an der Tür verlassen und sich an Mrs. Haaring vorbeigedrängt, damit sie sein Gesicht sehen kann, und Lucindas. »Ja.« 85
»Glaubst du«, fragt sie so ernst, dass alle sie ansehen, »glaubst du, dass Maria jemals wieder glücklich wird?« »Du meinst, so glücklich, wie sie war, bevor ihr Liebhaber starb?« Wieder Liebhaber, und sie zieht den Kopf ein. »Ja«, und reibt mit der Fingerspitze über die Tischplatte. »Wenn das Buch zu Ende ist.« »Nein«, sagt er. »Nein?« »Nein. Sie wird vielleicht glückliche Augenblicke haben, aber sie wird nie mehr dauerhaft glücklich sein.« »Oh.« Und Norma Joyce sieht sie, die glücklichen Augenblicke, wie Perlen, die jemand in der Ecke eines dunklen Zimmers verloren hat. »Das glaube ich auch«, sagt Miss Stevenson. Später fragt Maurice sich laut, wie die Leute wohl einmal auf diese Zeit zurückblicken werden, und weil es so spät ist und alle so mitteilsam sind, lassen sie sich zu der Vorstellung verleiten, sie hätten nicht das Leben durchlebt, wie es eben ist, sondern »eine Zeit«, die im Begriff ist, zu enden. Die Frage eines müßigen Gastes, und es ist gut, dass sie ihn so gerne mögen, aber er gehört zu den Menschen, die alles fragen können. Miss Stevenson sagt: »Ich glaube, man wird dem Mut der Präriefarmer ein Denkmal setzen.« Niemand antwortet, bis Ernest sagt: »Unsinn.« Er sagt: »Das interessiert doch keinen. Wir könnten genauso gut unsichtbar sein.« Er sagt: »Eine Flut ist nötig, damit die Menschen aufmerken, oder ein Erdbeben oder ein Eisenbahnunglück und keine Dürre, 86
die langsam anfängt und dann immer immer immer weitergeht.« »Das stimmt«, meint Maurice. »Aber trotzdem ist eine lange Dürre dramatisch. Finde ich.« »Was ist daran dramatisch?«, will Ernest wissen. »Dass man sieht, wie schlimm es einem ergehen kann?« Gereizte Worte, die im Raum stehen, bis Miriam Wolfe sagt, dass man Gott sei Dank nicht in die Zukunft sehen kann, und Lucinda ihr beipflichtet. Sie sagt, dass sich immer irgendetwas tut, dass man daran denken muss. Aber die kleine Norma Joyce – die Tochter ihres Vaters – sagt: »Aber ist dieses Etwas dann gut oder schlecht?« Und darauf gibt es keine Antwort. »Ich weiß nur«, schaltet sich der schroffe John Haaring ein, »dass man mit dem auskommen muss, was man hat.« Aus einem kleinen Beutel mit Schnürverschluss nimmt er genügend Zig-Zag-Tabak, um eine Zigarette zu drehen. »Wisst ihr noch, damals«, sagt er, während er den Tabak rollt, »wisst ihr noch, damals«, leckt das Papier ab und klebt es zu, »wisst ihr noch, damals, als wir die ganzen Pilze hatten?« Er meint den warmen, nassen Juni, in dem das Weideland weiß gesprenkelt war von Pilzen, zartrosa unter ihren Hüten, und in dem die Leute sie auf alle möglichen Weisen aßen, geschnitten und gebraten mit Schinken oder Wurst, auf kleiner Flamme im Topf zu Pilzsuppe gekocht, als dickflüssiges Pilzmus. »Und wisst ihr noch, die wilden Erdbeeren?« Er meint die Rekordernten, die manchmal in den kleinen Mulden der dicken, feuchten Prärieerde wuchsen. »Viel Frühlingsregen, das braucht man nämlich, und dann viel Sonnenschein«, behauptet seine Frau. »Ich weiß es nicht mehr«, 87
sagt Norma Joyce. »Ich weiß es noch«, sagt Lucinda. Winzige Beeren nach einem endlosen Winter. So etwas ist die Rettung. Etwas Zartes und Verborgenes nach endloser Entbehrung. Für Lucinda war es die Handarbeit, für Ernest war es das geschickte Ausbessern beschädigter Sachen, für Norma Joyce waren es die winzigen Szenen mit fegenden Tieren in Schürzen. »Beeren, so groß wie mein kleiner Finger«, erinnert sich Wanda Thurston. »Wir haben stundenlang auf den Knien gelegen, meine Mutter und ich.« Ihr sanfter, belustigter Ausdruck; und Geschichten vom Wetter werden zu Beispielen für Ergebenheit. Da war Neil Pratts Hund Tramp, der ihm 1916 zum Rangiergleis folgte und dort bis zu Neils Rückkehr 1919 sitzen blieb, während die Rancher aus der Nähe ihn fütterten. Da war die Frau, die ihren durch Kinderlähmung verkrüppelten Ehemann jeden Morgen auf dem Rücken vom Haus zu seinem speziell ausgestatteten Traktor trug. Da waren die vier Indianerjungen, die eines Tages im Januar aus dem Wohnheim ihrer Schule davonliefen und erfroren im matschigen Eis des Fraser Lake gefunden wurden, eine Dreiviertelmeile von ihrem Reservat entfernt. Ohne Mützen, leicht bekleidet, die Arme umeinander geschlungen. Ein Junge hatte einen Schuh verloren. Es war sehr, sehr spät, aber niemand rührte sich, bis Lucinda sagte: »Lasst uns etwas singen.« Im Wohnzimmer spielte Maurice »Danny Boy«, und Mrs. Haaring musste sich zwei Mal die Augen wischen. Dann spielte Miriam Wolfe ein altes Seemannslied. Dann spielte Maurice noch einige alte Lieder. Um vier Uhr morgens besorgte Lucinda 88
Decken für alle. Die Frauen und die Mädchen teilten sich die Betten im Obergeschoss, die Jungen und Männer schliefen unten auf dem Fußboden. Maurice stand um sieben Uhr auf. Vom Kaffeeduft angelockt, kamen Norma Joyce und Mrs. Haaring dazu. Er bot an, Porridge zu machen, aber Mrs. Haaring sagte, nein, sie werde Fettgebackenes machen, wenn die anderen aufgestanden seien, und Norma Joyce sah sie begeistert an. Das würde ein Glückstag werden. Von Lucindas Biskuitkuchen war noch etwas übrig. »Sollen wir es wagen?«, fragte Mrs. Haaring. Sie wagten es. Mrs. Haaring sagte: »Das schmeckt, als würden Engel auf meiner Zunge Pipi machen«, und sie wiederholte die Worte auf Holländisch, und alle drei kicherten. Dann stellte Maurice eine einfache Frage. Er fragte Mrs. Haaring, die fünfundfünfzig Jahre alt und 1912 nach Willow Bend gekommen war, was sie über das Leben in Saskatchewan denke. Für einen Moment antwortete sie nicht. Sie nahm sich noch etwas Zucker und rührte um. Dann sagte sie: »Nichts hat mich auf die Prärie vorbereitet.« In der Küche war es still. Sie rührte weiter. Sie sagte: »Ich weiß noch, wie ich mich umsah und dachte, jetzt bin ich an einem Ort, der jenseits von schön und hässlich ist, an einem Ort, der so neu, so leer, so kalt ist, dass die Worte schön und hässlich nicht passen.« Die Leute, sagte sie, seien einfach und freundlich, aber ohne jede Neugier. Sie stellten ihr nicht eine einzige persönliche Frage. Dann, eines Tages, Jahre später, kam eine Frau an die Tür, die zur Royal Society in England gehörte. Sie sammelte wilde Blumen.
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»Hier ist sie auch gewesen«, sagte Norma Joyce. »Und sie stellte so viele Fragen, dass ich dachte, warum stellst du all diese Fragen, was geht dich das an? Und dann wusste ich«, sagte Mrs. Haaring und lachte voller Reue, »dann wusste ich, dass ich eine echte Kanadierin bin.« Über diese Dinge hatte sie noch nie mit jemandem gesprochen, aber es hatte auch noch nie jemand gefragt. Maurice hatte kommen müssen. Bei ihm klang jede Frage wie die natürlichste Sache der Welt. Norma Joyce beobachtete ihn, und wenn sie auch nie sein grenzenloses Geschick mit Menschen erlangte – weil sie zu seltsam war, zu frech, weil sie ein Mädchen war –, lernte sie doch, dass man jeden alles fragen kann, wenn man es aufrichtig tut. Wenn man sah, wie Maurice jemanden ausfragte, war es, als betrachtete man ein Fenster, dessen Vorhang weggezogen wird. Er machte die Menschen interessanter, als sie waren. Sie wuchsen, um dem Interesse zu genügen, das er an ihnen hatte; das war das Entscheidende, und seine besondere Aufmerksamkeit rief es hervor. Aber als er Mrs. Haaring wieder sah (es war im folgenden November bei seinem letzten Besuch), erinnerte er sich nicht an sie. Sie erwähnte das lange Fest mit den vielen Gesprächen im Haus der Hardys. Natürlich, sagte er, Sie haben mir dieses alte Seemannslied beigebracht. Nein, sagte sie freundlich, das war Miriam Wolfe. Er trug seinen Fehler mit Anmut, es war ihm nicht peinlich, und er rechtfertigte sich nicht. Natürlich, sagte er. Und sie merkte, dass er ihren Geist sehr viel mehr durchdrungen hatte als sie den seinen, was nur natürlich war, wie sie sich sagte, sein Charme war nicht seine Schuld. Dennoch hatte diese lange Nacht Zuneigung und Interesse in ihr geweckt, und nun kam die entsprechende Enttäuschung. Offenbar war er 90
nicht so aufmerksam, wie er vorgab, oder seine Aufmerksamkeit war zwar so groß, wie sie zu sein schien, aber kurzlebig, oder seine Interessen waren zu vielfältig, oder sein Charakter war nicht so beschaffen wie sein Benehmen. Jedenfalls kamen mit ihm die Enttäuschungen, und er war sich dessen nicht bewusst. Sie war in seinen Gedanken nur ein undeutliches Gesicht, eine Farmersfrau aus Belgien, oder war es Holland? Und dann erkannte sie den Wert der Zurückhaltung, die man in der Prärie pflegte. Sie war zuverlässig, sie setzte einen keiner Enttäuschung aus, sie ließ einen in Ruhe, und sie blieb durch beständige Höflichkeit im Gleichgewicht. Die Leute erkannten einen immer wieder, und sie schnüffelten nie herum. Zwei Tage später wurde es heiß, und alle dachten: Es ist wieder so weit. Wird der Sommer so sein wie im letzten Jahr, als die Ernte Ende Juni erledigt war und es so heiß blieb, dass man Mitte August immer noch über neununddreißig Grad maß? Oder wie im vorherigen Jahr, als jeder Tag heißer war als der Tag zuvor und jedes Korn, das zum Vorschein kam, bis Juli schwarz verbrannte? Norma Joyce taten die Steine Leid, und sie legte sie in den Schatten des Hauses. Der vom Land eingeschlossene Fisch oben auf der Scheune tat ihr Leid. Sie selbst tat sich wirklich Leid, als Maurice sagte, es werde für ihn Zeit abzureisen. Sie war die Einzige, die ihm etwas schenkte. Einen kleinen bestickten Beutel für sein Barometer. Lucinda rief: »Du hast es die ganze Zeit gewusst!« Sie hatte ihn mit der Hand genäht und auf die Vorderseite den glänzendsten Messingknopf aus ihrer Knopfsammlung, ein Stück rotes Band und ein Stück blauen Satin genäht – der Beweis, dass sie eine Fantasie besaß, die aus ein paar Fetzen 91
etwas Schönes machen konnte. »Danke«, sagte Maurice mit seiner hellen, belegten, geschmeidigen Stimme. »Gern geschehen«, sagte sie mit ihrem Whisky-Tenor.
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In diesem Herbst probierte Norma Joyce es an dem Hund aus; sie stahl seine Zuneigung, bevor sie Maurice' Zuneigung stahl. Das dachte jedenfalls Lucinda. Der Hund erschien am Ende eines Sommers, den Millionen von Grashüpfern verwüstet hatten, sie kamen in Wellen und fraßen sich durch die Ernte, durch Gräser, Besenstiele, Wäsche auf der Leine, durch Hemden auf verschwitzten Rücken und durch den Schlaf. Kinder wachten auf und schrien: Sie kommen durchs Fenster, sie kommen ins Bett, und dann sagten ältere Schwestern: »Ist schon gut, ist schon gut.« Nach den Grashüpfern kamen Brand, Hagel, Drahtwürmer und Blattwespen. Und danach der Hund, wie ein Wolf, der einer Reihe unerhörter Katastrophen auf dem Fuße folgt. Er saß plötzlich an der Hintertür, an einem Augustmorgen, als aus dem Sommer gerade ein Spätsommer wurde. Lucinda gab ihm Wasser und das Porridge, das vom Frühstück übrig geblieben war, und anfangs war er damit zufrieden, ihr nachzulaufen, seinen Kopf an ihren Handrücken zu schmiegen, auf sie zu warten, während sie den Garten hackte, und ihr zurück ins Haus zu folgen, wo er sich auf eine Matte an der Tür legte, während sie das Abendessen machte. Dann kam Norma Joyce nach Hause. »Wir nennen ihn Darwin«, sagte sie und ließ sich neben den gelbgrauen Köter auf den Boden plumpsen. Sie erzählte ihm, dass Darwin ein berühmter Name war und er der erste Hund, der ihn bekam. Ihre Stimme war sanft und tief, was man bei Sängern eine dunkle Stimme nennt, und sie schien den Hund zu bezaubern. Danach spitzte er sofort die Ohren, wenn ihre Füße den Fußboden über seinem Kopf berührten, und er wandte die 93
Augen nicht von der Tür, bis sie eintrat. Er begleitete sie zur Schule, wartete stundenlang, bis sie herauskam, lief neben ihr her zum Postamt und nach Hause und folgte ihr auf Schritt und Tritt. Sie bürstete sein Fell, und er lag wie betäubt, er gab sich ihrer Zuwendung so willig hin, wie Maurice es getan hatte. Sie benutzte keine Stühle mehr und saß neben ihm auf dem Fußboden. Manchmal fand Lucinda sie morgens Seite an Seite auf der Matte neben der Küchentür; ihre Schwester lag unter dem alten Persianermantel, den Florida May Jahre zuvor getragen hatte, und Darwin hielt Wache. Wenn sie in die Küche kam, hob er den Kopf und sah zu, wie sie umherging, aber er rührte sich nicht, bis Norma Joyce aufgewacht war. Nicht einen Moment hätte er ihren Schlaf gestört. Er hatte viel zu viel Feingefühl. Mädchen und Hund. Beide waren Herumtreiber. Sie kannten jede Straße und jeden Zaun ,jede Schlucht und jedes Bachbett, jeden Nistplatz und jeden Bau in der Umgebung. Zusammen fanden sie die wenigen Beeren, die es noch gab, den Lehm, der mit ein wenig Wasser in der Hand geschmeidig wurde, die verschiedenen Kiesel und Pfeilspitzen und manchmal alte Pennys, die Norma Joyce teuer waren. Und ihr Zahnfleisch hatte dieselbe dunkle Farbe. Das warme Augustwetter hielt den September über an bis in den Oktober hinein. Ein Farmer in Willow Bend behauptete, das wäre es mit der Trockenheit »gewesen«, weil sein Holzapfelbaum zum ersten Mal seit 1931 so viele Früchte trug, dass er sie verkaufen konnte. Bis zum 14. Oktober gab es keinen Hauch von Frost. Anfang November träumte Lucinda, ihr Haar wäre grau geworden. Sie bürstete es aus dem Nacken und sah, dass es am 94
Ansatz so silbrig war wie die Unterseite der Weidenblätter oder wie das perlmuttene Innere einer Erdnussschale oder wie der staubige Mehltauglanz von Fliederblättern im Spätsommer. Sie wachte auf, Neuschnee war auf die Dächer der Nebengebäude und der Scheune gefallen, griff nach dem Handspiegel auf der Kommode und war beruhigt. Maurice traf vor dem Abendessen ein. Diesmal kam er mit einem Glas Seifenblasen für Norma Joyce, noch mehr Zigarren für Ernest, einer besonders großen Flasche Jergens-Lotion für Lucinda (genug, um darin herumzuplantschen, sagte er) und, was das Beste war, mit drei Golden Russets. Norma Joyce nahm den ihren und untersuchte die gelbbraune Schale, die abwechselnd rau war und weich – und mit milchigen Pünktchen gesprenkelt, außer da, wo große Flecken aus purem Gold sich zeigten wie nackte Haut durch ein Loch in einem groben Strumpf. Er hat über mich nachgedacht. Er hat sich an
unser Gespräch erinnert. Im Sonnenlicht – die Sonne schien an diesem frühen Novembertag – sah er aus wie der goldene Apfel, dieser unscheinbare Winterapfel. »Sie halten den ganzen Winter«, sagte Maurice, »aber Weihnachten sind sie am besten.« Sie konnte nicht warten. Sie schnitt ihren Apfel in zwei Hälften, und der Saft spritzte heraus. Das Fleisch war blassgrün und fest; es tat ihr an den Zähnen weh, weil es so hart und sauer war. Wie lange man kauen musste. Lucinda sagte: »Ich hebe meinen auf.« Aber was für ein kräftiger Geschmack. Und in einer plötzlichen großzügigen Anwandlung schnitt sie für jeden ein Stück ab.
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»Ja«, sagte Maurice und kaute vor sich hin, »Weihnachten«, und der Klang seiner Stimme erinnerte sie an etwas – an eine vom Tee verbrühte Zunge, an eine Schicht Geschmacksknospen, die weggebrannt war, so dass nur leichte, hohe Heiserkeit blieb. Die hatte sie so vermisst. Er sagte: »Jetzt weiß ich, dass ich einen Apfel gegessen habe.« »Wieso?« »Ich spüre es auf meinen Lippen.« Sie betrachtete seine Lippen. »Das passiert immer«, sagte er, »wenn der Apfel richtig sauer ist.« Seine Lippen waren sehr dunkelrot. Sie folgte ihm nach oben und half ihm beim Auspacken. In seinem Rucksack war etwas Neues, eine kleine Holzkiste mit Scharnier, die mit einem winzigen Haken und einem Nagel verschlossen war. Er sagte, nur zu, und sie löste den Haken, öffnete die Kiste und sah zehn Grüntöne, geschützt von einem weichen Wattekissen, dessen Unterseite die schlanken Formen der zehn Pastellkreiden angenommen hatte. Alle Pastellkreiden steckten auch mit der Spitze in schützender Watte, und die Watte trug dadurch denselben Farbverlauf vom hellsten bis zum dunkelsten Grün. Rohes kleines Schmuckkästchen der Farben. Sie hakte es zu und hakte es wieder auf, denn sie konnte dem Vergnügen nicht widerstehen, diese geordnete, ruhende Reihe der Farben zu sehen. In dieser Nacht lag sie unter dem alten Persianermantel ihrer Mutter im Bett. Das schwarze Schaf der Familie lag neben seiner goldenen Schwester und dachte nach. Sie mochte das Gewicht 96
dieses schweren Mantels, die Haken bogen sich schon bei seinem Anblick. Sie mochte sein schwarzes Seidenfutter, das mit Blumen bestickt war, sogar in den Ärmeln, wo man es nicht sehen konnte, gebogene Glockenblumen an blaugrünen Stielen, und bei jeder (es waren vierundzwanzig) waren Violett, Gelb und Rot anders angeordnet. An den Ärmeln war der Pelz an vielen Stellen aufgeplatzt, und deswegen gehörte der Mantel ihr und nicht Lucinda. Sie strich mit den Fingern über die festen Persianerlocken und dachte an den listigen Jakob und den sorglosen Esau, und sie fragte sich, warum Jakob seinem Tastsinn mehr vertraut hatte als seinem Gehör. Er musste beinahe taub und auch blind gewesen sein, ein sehr, sehr alter Mann, der seinen Lieblingssohn um sein Geburtsrecht brachte. Ihre eigene Stimme war schon so tief wie Lucindas. Die Leute sagten, man könne die beiden Schwestern am Telefon nicht auseinander halten. Für Esau war zu vieles selbstverständlich, das war sein Problem. Die ältesten Kinder sind so. Aber die jüngeren Kinder nicht. Am folgenden Tag saß sie auf der Veranda und machte Seifenblasen, und zwei Tage später lag sie mit Mumps im Bett. »Jetzt tue ich für dich, was mein Vater für mich getan hat«, sagte Maurice, als er mit einem Buch in ihr Zimmer kam. Es war später Vormittag, und schwaches Novemberlicht fiel auf den alten Pelzmantel, den sie bis an ihr gerötetes, schmerzendes Gesicht heraufgezogen hatte. Sie fragte ihn: »Wie sieht man Sachen, die einem im Kopf herumgehen?« 97
»Was siehst du denn, das dir im Kopf herumgeht?« »Man denkt rot, und es ist da, es ist nirgendwo, nur im Kopf.« »Ja«, sagte er, und er staunte auch. »Letzte Nacht habe ich von Schlangen geträumt.« »Das war das Fieber.« »Ich hasse Schlangen.« »Ich mag sie. Solltest du auch«, sagte er. »Schlangen wissen eine Menge. Sie haben scharfe Augen, sie bewegen sich schnell, und sie wissen, wie man sich häutet und wiedergeboren wird. In manchen Kulturen bewachen sie die Zeit oder das Wasser oder Schätze. Ich habe gelesen, dass die Leute in Griechenland Milch für die Schlangen nach draußen stellen, damit die Schlangen sie beschützen.« Norma Joyce war glücklich unter dem Mantel ihrer Mutter, während Maurice neben ihr in einem Sessel saß und sie ihre Gedanken schweifen ließen. Er las laut aus Marco Polos Reisen vor, und die Tataren gefielen ihr sofort, weil sie so viel wussten und so weit reisten, ruhelose Menschen in leichten, beweglichen Zelten, die die größte Not ertrugen, indem sie umherzogen. Für die Tataren war die Neun die magische Zahl. Sie war neun. Marco Polo war siebzehn, als er mit seinem Vater und seinem Onkel ins Reich der Mitte fuhr. Es dauerte drei Jahre, dorthin zu kommen; sie blieben siebzehn Jahre; es dauerte drei weitere Jahre, nach Hause zu kommen. 17+3+17+3. Das war ein Muster. Es ergab 40. Der Khan wollte sie nicht gehen lassen, und sie verstand, warum. Sie hätte ihn auch nicht gehen lassen. Sie gelangten trotzdem nach Hause, auch gegen den Willen des Khans, und niemand erkannte sie. Die Hunde bellten, als wären sie Fremde. (Eine Heimkehr, auf die man Jahre um Jahre 98
hingearbeitet hat, und allen anderen bedeutet sie nichts. Man steht dumm auf der Straße herum.) »Zeit war damals etwas ganz anderes«, sagte Maurice. »Kannst du dir vorstellen, dass dein Sohn auf eine Reise geht und dreiundzwanzig Jahre lang nicht zurückkommt?« »Ist er reich nach Hause gekommen?«, fragte Norma Joyce. »Stinkreich. Aber so schäbig, dass niemand es glaubte, bis er die Säume an seinen Kleidern aufriss und die Juwelen herauspurzeln ließ.« Sie berührte den Saum am Mantel ihrer Mutter und ließ ihre Finger über die gestickten Blumen gleiten. »Woher weißt du, dass ich nicht insgeheim reich bin?«, fragte sie ihn. »Vielleicht bin ich reich. Woher weißt du, dass ich es nicht bin?« »Weil du zuhörst«, sagte er. Der Schulatlas ihrer Mutter lag auf ihrem Schoß, sie hatte Persien aufgeschlagen und verfolgte Marco Polos Route unermüdlich, aber ohne Ansprüche zu stellen; wenn Maurice aufhören wollte, sagte sie, danke, Maurice. Sie wusste, wie man ohne etwas auskam, genau wie die Tataren. (Sie kam auf andere Weise als Lucinda ohne etwas aus. Lucinda war süchtig nach ihren Pflichten, während Norma Joyce wusste, wie man still ist, allein, gedankenverloren. Auf ihre besondere Art war Norma Joyce sparsamer als ihre sparsame Schwester.) Maurice las ihr von der schönen Ebene von Hormuz vor, für deren Durchquerung man zwei Tage brauchte, eine von Strömen durchzogene Fläche, übersät mit Dattelpalmen und voller Vögel. Vor der Küste lag eine Insel, und auf der Insel war die Stadt Hormuz, deren Klima sogar noch extremer war als dieses hier. Ein Wind, der so heiß war, dass im Sommer alle zum Fluss gingen, dort über dem Wasser Weidenhütten bauten und von neun bis Mittag, wenn der erstickende Landwind nachließ, bis 99
zum Kinn untertauchten. Es war vor allen Dingen seine Stimme. Sie liebte seine Stimme. Und die Tatsache, dass er so viel wusste und noch mehr wissen wollte. Es war ihre Fähigkeit, zuzuhören. Ein herzloser Mensch hätte gesagt, ihre Fähigkeit, ihm zuzuhören. Wenn man ihm vorgeworfen hätte, dass er flirtete, schäkerte, Erwartungen weckte oder zärtliche Hoffnungen bestärkte, wäre er verblüfft und verletzt gewesen. Und streitet denn ein ausgetrocknetes Stückchen Land über das Wesen eines Wassertropfens? Sie saugte auf, was immer er sagte, und sie sorgte dafür, dass es weiterging. Er sagte, er werde vielleicht eines Tages Marco Polos Route folgen. Er werde vielleicht ein Buch darüber schreiben. »Ich frage mich, ob ich eines Tages einmal reisen werde«, sagte sie. »Das wirst du ganz bestimmt.« »Wieso?« »Weil du nicht immer hier bleiben wirst.« »Du hast gesagt, fünf Jahre. In fünf Jahren ziehen wir weg.« »Habe ich das?« »Dann bin ich vierzehn.« »Und ich bin achtundzwanzig. Viel zu alt für dich.« Ach, ihr Männer mit den funkelnden Augen. Man sollte euch bei der Geburt erdrosseln. Er las ihr von dem sagenhaften arbor secco vor, dem trockenen Baum, der allein auf einer Ebene in der Nähe der persischen Nordgrenze wächst. Seine Schoten enthalten keine Früchte. Kein anderer Baum wächst im Umkreis von hundert Meilen. Man nennt ihn den Baum der Sonne, und die schönsten 100
Frauen der Welt wohnen in seinem Schatten. »Wer ist schöner?«, fragte sie ihn. »Katherine Hepburn oder Carole Lombard?« »Sie sind beide schön.« »Aber wer ist schöner?« Er lächelte. »Na gut. Katherine Hepburn.« »Wieso?« »Besser gebaut. Aber Carole Lombard mag ich lieber.« »Wieso?« »Sie ist lustiger, sie ist natürlicher.« (Eine Unterscheidung, die sie zur Benutzung und zum Trost für die Zukunft verwahrte; Katherine Hepburn bekam nur Spencer Tracy, während Carole Lombard Clark Gable bekam.) »Findest du, dass Katherine Hepburn schöner ist als Mrs. Simpson?« »Mrs. Simpson ist nicht schön, und sie weiß das. Das macht die ganze Sache so verwirrend.« »Er liebt sie.« »Da habe ich meine Zweifel.« »Bestimmt. Wenn er doch seinen Thron aufgibt.« »Vielleicht hat sie auch etwas gegen ihn in der Hand.« »Man muss nicht schön sein, weißt du.« »Natürlich nicht.« Endlich merkte er etwas und besänftigte sie. »Aber ich schätze,
du würdest nie eine Frau lieben, die nicht schön ist.« »Das würde ich nicht sagen.« »Lucinda ist schön.« »Ja.« 101
»So schön wie Katherine Hepburn?« »Was bist du nur für ein Mädchen«, sagte er. »Warum musst du unbedingt immer alles vergleichen?« »Du wirst Lucinda heiraten, nicht wahr?« »Und wenn du brav bist, darfst du zur Hochzeit kommen. Jetzt hör zu.« Und er las weiter vor, von der Tapferkeit, »beinahe bis zur Verzweiflung«, dieser Menschen, die an Stärke nicht zu übertreffen waren, »und die in Nöten jeglicher Art keine größere Geduld hätten zeigen können«. Die Männer blieben zwei Tage und zwei Nächte auf dem Pferderücken sitzen und schliefen, während ihre Pferde grasten. Sie waren zehn Tage am Stück unterwegs und hielten nicht an, um Essen zuzubereiten, sondern lebten von getrockneter Stutenmilch und von dem Blut, das sie aus ihren Pferden sogen, denn »jeder Mann öffnete eine Ader«. Jeden Morgen gaben sie etwas von der harten Milchmasse in eine Lederflasche mit Wasser, und zur Essenszeit hatte die Bewegung des Pferdes aus den Bestandteilen dünnes Porridge gemacht. »Igitt«, sagte sie. »Hör dir das an. Sie schossen mit den Pfeilen rückwärts so zielgenau wie vorwärts. Ihre Pferde waren so dressiert, dass sie sich auf der Stelle umdrehen konnten.« Er übersprang die Sitte, einen Menschen zwischen zwei Decken einzunähen und zu Tode zu schütteln, aber er las von dem Brauch vor, ein totes Kind mit einem anderen toten Kind zu verheiraten. Man malte Bilder von Pferden, Möbeln und Geschenken auf Papier, und dann übergab man das Papier zusammen mit dem Ehevertrag einem Feuer, dessen Rauch die Dinge dem toten Paar in der anderen Welt überbrachte. Er las ihr von dem Moschustier aus Tibet vor, dem die bitterste Kälte 102
am besten gefiel, und sie sagte: »Was ist Moschus?« »Moschus? Das ist das ölige Wachszeug, das die Moschusdrüsen bilden. Hier heißt es, dass der Moschus des männlichen Moschustiers sich am Nabel in einer kleinen Tasche sammelt, die wie eine Talgzyste aussieht.« Daraufhin nahm sie seine Hand und legte sie auf ihren Hinterkopf, wo er verschiedene Talgzysten von unterschiedlicher Größe spürte, wie kleinere und größere Eier. »Ich habe neun«, sagte sie. »Und ich bin neun.« Über ihren Knien lag der Persianer und darüber der Atlas, in dem Persien aufgeschlagen war, und über beidem ihre breite, wissbegierige Stirn. »Woher weißt du, dass ich nicht reich bin?«, fragte sie wieder. »Das habe ich dir gesagt.« »Was hast du gesagt?« Ihre Augen glänzten vom Fieber. Er lachte. »Vielleicht habe ich mich geirrt.« Allmählich fand er die übervollen Lippen eher sinnlich als eigenartig, die überbreite Stirn eher eindrucksvoll als befremdlich, das lakritzfarbene Zahnfleisch eher exotisch als sonderbar. Es kann jedem passieren. Man sieht dieselbe flache Landschaft Tag für Tag, und eines Tages, vielleicht liegt es am Spiel des Lichts oder an der Jahreszeit, findet man sie schön, und andere Landschaften verlieren. So muss es mit der Mode sein. Die gewöhnliche Meinung gerät in Vergessenheit, und etwas anderes, eine Bezauberung, tritt an deren Stelle. Wie sonst soll man sich den Reiz der Kleider erklären, die nach ein paar Jahren so lächerlich wirken? Bezauberung. In einem so flachen Land schafft die geringste 103
Erhebung, die geringste Vertiefung eine so dramatische Erleichterung wie ein Schluck Whisky. Eine kleine Verschiebung, und Norma Joyce gewann eine neue Schönheit, frisch ausgeprägt und überzeugend. Etwas geschah, das diese entscheidende Verschiebung beförderte. Ständig kamen Männer in dünnen alten Anzugjacken an die Tür, die Arbeit suchten, und Ernest erklärte dann, dass er kein Geld hatte, dass seine Tochter ihnen aber einen Teller mit Essen geben würde. Zu diesem Zweck hatte Lucinda hinten auf dem Herd einen großen Topf Bohnen stehen. Etwa in der Mitte von Maurice' drittem Besuch, als Norma Joyce sich so weit erholt hatte, dass sie den Schaukelstuhl in der Küche mit Beschlag belegen konnte, kam ein winziger alter Mann an die Tür, und er hatte so wässrige Augen, dass sie beinahe überliefen. Lucinda musste wegsehen, damit ihre Augen nicht aus Mitleid wässrig wurden, aber Norma Joyce machte sich nichts aus den Glyzerintränen des alten Mannes, die weder versiegten noch überflossen. Der Mann war so braun wie eine Nuss. Er tätschelte Darwin, der seine Hand leckte. Er aß einen Teller Bohnen mit Brot, den Lucinda ihm hinstellte. Er dankte ihr für das Essen, und dann bot er an, ihr aus der Hand zu lesen. Nein. Lieber nicht. Und Maurice sah, wie sie geradezu erstarrte. Im Schaukelstuhl streckte Norma Joyce die Hand aus. Der alte Mann nahm die kleine Hand und sagte: »Hast du noch Fieber?« »Meine Hände sind immer warm«, sagte Norma Joyce. Er schob seinen Stuhl nah heran und betrachtete eingehend die warme kleine Hand. Er roch nach Schweiß, Pfefferminzbonbons, Tabak, altem Kaffee. Trotz seines Akzents war er gut zu verstehen – er sprach sehr langsam und deutlich. Sie werde ein langes Leben haben, sagte er. Es werde ein Kind 104
geben. Das Leben des Kindes werde aufhören, dann werde es wieder anfangen. Und ihr Leben auch. Es werde aufhören, aber es werde wieder anfangen. Du hast besondere Begabungen, sagte er ihr. Die Leute merken das nicht. »Bist du ein Zwilling?«, fragte er sie. »Er ist gestorben.« »Deswegen«, sagte er, »hört dein Leben auch auf.« Und er hielt zwei krumme Finger hoch. »Eine Hälfte«, er senkte einen Finger, »dann die andere Hälfte.« Vielleicht lassen sich die meisten Menschen dazu verleiten, Interesse zu zeigen, wenn sie sehen, dass jemand anderes Interesse zeigt. Sicher war Maurice beeinflussbar. Er sah Norma Joyce durch die anerkennenden Augen des alten Mannes, und in diesem Moment wurde aus Hässlichkeit Schönheit und aus Neugier so etwas wie Liebe. Der alte Mann winkte sie zu sich, mit einem langen braunen Zeigefinger, der so wettergegerbt war, dass er glänzte wie Wachspapier. Sie beugte sich zu ihm hin – weil sie dachte, er wolle ihr etwas zuflüstern –, und er küsste sie auf die Wange. Eine alte russische Gewohnheit, sagte er, vergib mir. Am nächsten Tag dachten sie sich ihr Hochzeitsspiel aus. Norma Joyce und Maurice waren allein in der Küche. Ernest war draußen, Lucinda war oben, Darwin schlief auf der Matte neben der Tür. Norma Joyce sagte: »Ich sehe was, was du nicht siehst, und das glänzt.« »Na gut«, sagte Maurice. »Ist es kleiner als ein Brotkasten? Ist es größer als eine Nadel? Brennt es? Schwimmt es? Rostet es?« »Glänzt es überall?«, wollte er wissen. »Ist es flach? Ist es spitz? Ist es gefährlich? Kann man sein Buch darauf legen? Kann man sein Gesicht darin sehen? Kann man es 105
anziehen?« Und es machte ihr große Freude, dass er Fragen stellte, die so weit reichend und genau waren, dass sie alles zu erfassen schienen, indem sie ein Ding erfassten. Sie sah, wie der Gegenstand Stück für Stück erschien, und es fesselte sie, das tat es wirklich. Maurice streifte seinen Ring ab. »Weil du krank bist«, sagte er. »Das würde ich nicht für jeden tun«, und sie durfte ihn an ihren Finger stecken. Sie erwiderte den Gefallen, indem sie ihm das Rezeptbuch ihrer Mutter zeigte, ein blassgrünes Notizbuch mit unlinierten Seiten, in dem ihre Mutter die Rezepte in trockene Zutaten auf der linken und feuchte Zutaten auf der rechten Seite aufgeteilt hatte. Auf den letzten Seiten gab es verschiedene Skizzen von Fossilien und Blättern und Baumringen, die aus Büchern abgezeichnet waren, von Blätterhülsen, Samen, Äpfeln im Querschnitt. Florida May hatte Malerin werden wollen. »Aber wo in Saskatchewan kann man Kunst studieren?«, hatte sie immer gefragt. »Ich hätte weglaufen sollen, nach New York.« Vorn in das Rezeptbuch hatte sie ihren Namen geschrieben, Florida May Lamb, und dann Lamb durchgestrichen und Hardy darüber geschrieben. Maurice bemerkte das, als er es ein zweites Mal durchblätterte. »Lamb, Lamm, heiratet Hardy, Hart, das passt gut.« »Wieso?«, fragte Norma Joyce. »Ein Lamm muss zäher werden, etwas Hartes muss weicher werden. Gegensätze ziehen sich an.« »Dann hätte Jeanne Eagels, Adler, Maurice Dove, Taube, heiraten sollen.« »Und sie wäre heute eine glückliche Frau«, sagte Maurice und lächelte. »Aber wäre ich ein glücklicher Mann?« 106
»Ist es schlimm, wenn man Selbstmord begeht?«, fragte Norma Joyce. »Ziemlich schlimm.« »Ich glaube, das hängt davon ab, wie man es macht. Ryatts Vater hat sich den Hals aufgeschlitzt.« »Das hat Robert Fitzroy auch gemacht«, sagte Maurice, und sie sah ihn an und wartete. »Der Kapitän der Beagle«, erklärte er. »Weißt du noch? Darwins Schiff. Er war der erste echte Meteorologe, und zu guter Letzt hat er sich den Hals aufgeschlitzt. Das hat man nämlich vom Wetter.« »Mit was?« Eine Norma-Joyce-Frage, dachte er mit Bewunderung und auch mit Besorgnis. »Rasiermesser«, antwortete er. »Jeanne Eagels hat Pillen genommen.« »Keine Pillen. Heroin gibt es nicht in Pillen. Eine Nadel. In den Arm.« »Oh.« »Allerdings«, sagte er. »Aber man muss sich an dieses Leben anpassen können, und das konnte sie nicht. So sehe ich das jedenfalls. Sie hat die Umstellung von Stummfilm auf Tonfilm nicht verkraftet, habe ich gelesen. Schönsein ist nicht alles.« »Ist es doch. Ich glaube das.« »Nein, tust du nicht. Dazu bist du zu gescheit.« Jedes Kompliment war willkommen. Aber dann fügte er hinzu: »Das Leben ist hart, wenn man schön ist.«
»Wer hat dir das erzählt? Hat Lucinda dir das erzählt?« Er musste lachen. »Ich glaube, das stimmt. Das Leben ist für die Harten da.« »Und wen soll ich dann heiraten?« 107
»Norma Joyce Hardy? Wieso, Maurice Softie natürlich.« Ihr Gelächter lockte Lucinda an die Tür. »Was heckt ihr beide denn aus?« Maurice antwortete: »Ach, nichts. Norrie und ich bringen uns nur gerade gegenseitig unter die Haube.« Die Glasur auf dem Kuchen. Norrie. Ihre Mutter hatte sie Norrie genannt. Sie saß ganz still in ihrem Glück. »George Raft, Floß, und Ethel Waters, Wasser«, schlug Norma Joyce vor. »Claude Rains, Regen, und Louise Brooks, Bach. Luise Rainer, Regner, und Orson Welles, Brunnen.« Maurice lachte und sagte, es gefalle ihm, was sie sich ausdenke, also machte sie weiter, bis sie neun Paare hatte. »Rudy Vallee, Tal, und Grace Fields, Felder. George Burns, Brand, und Betty Furness, Ofen. Stan Laurel, Lorbeer, und Judy Garland, Kranz. WC. Fields, Felder, und Frances Farmer. Tallulah Bankhead, Banckopf, und Samuel Goldwyn, GoldGewinn.« Sie fing an, Dinge neun Mal hintereinander zu tun. Neun Seiten eines Buchs, neun Schlucke Tee, neun Kohlen auf das Feuer, seinen Namen neun Mal geflüstert. Die Tataren waren in ihre Träume eingedrungen. Sie sah sie über Land ziehen wie das Wetter. Abend für Abend hat Lucinda vorsichtig einen Tropfen Lotion in ihre Handfläche fallen lassen. Maurice beobachtet sie. Wird sie jemals mehr als einen Tropfen nehmen, fragt er sich. Wird sie jemals auch nur eine Unze vom Leichtsinn ihrer Schwester haben? Lucinda spürt, dass er sie beobachtet, und missversteht seine 108
Neugier als Bewunderung, aber es ist nur Neugier, und bald ist es nicht einmal mehr das. Warum ist sie so knauserig? Was hat es für einen Sinn, ihr viel zu schenken, wenn sie damit umgeht, als wäre es wenig? Plötzlich springt er ungeduldig auf und nimmt ihr die Flasche aus der Hand. »Ich zeige Ihnen, wie man das macht!« Norma Joyce blickt von Hurlbut's Story of the Bible auf. Ernest blickt vom Family Herald auf. Sie sind gefesselt von dem hübschen Paar, das neben der Küchenspüle steht; Lucinda stützt die Hände in die Seite, Maurice ist rot geworden und schüttelt die widerspenstige Flasche. Ärger, denkt Norma Joyce. Und wegen Lucinda. Heirat, denkt Ernest, und Enkelkinder. Sie werden ihren Sohn Ernest nennen. Sie werden ihre Tochter Florida May nennen. Norma Joyce hat noch nie zuvor gesehen, dass einer von beiden so aussieht oder klingt. Ich zeige Ihnen, wie man das macht, in einem so bestürzenden Ton, dass die Worte immer noch in ihrem Kopf klingeln. Und Lucinda, die albern aussieht. Im nächsten Augenblick löst sich das Zeug mit dem Kirschgestank und platscht durch seine Finger hindurch auf den Küchenfußboden. »Oh«, stöhnt Lucinda. Aber Maurice packt ihre Hände. Er überschüttet sie mit Lotion, er sagt ihr, dass große Mädchen wegen verschütteter Jergens-Lotion nicht weinen, und in diesem Übermaß an Lotion und heftigem Gelächter fliegt sein Ring davon und rollt außer Sicht. Es ist dunkel, natürlich. Neun Uhr abends. Sie suchen den Ring, sogar Ernest wirft einen Blick unter den Tisch, aber es ist spät. Sie sind müde. Es ist schwierig im Lampenlicht. »Morgen früh«, sagen sie, und sie machen Anstalten, nach oben zu gehen.
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Lucinda kann nicht widerstehen. Auf Händen und Knien kratzt sie mit einem Spachtel sorgfältig die verschüttete Lotion zusammen und füllt sie wieder in die Flasche. Maurice lacht sie aus und Norma Joyce auch. Aber Lucinda lacht nicht. Sie sagt, dass sie Verschwendung hasst. Ihre Stimme ist scharf und verletzt. Sie hört den Klang ihrer Stimme und versucht etwas nachzutragen, indem sie sich noch leidenschaftlicher wiederholt. Sie hasst Verschwendung jeder Art. Und in der Küche wird es still. Alle schlafen, außer dem kleinen Gnom, der aus dem Bett schlüpft und nach unten kommt. Sie krault Darwins Ohren, geht dann hinüber zu dem großen Herd, legt sich flach auf den Bauch und streckt ihren Arm darunter ganz aus. Windet sich. Streckt sich noch weiter und tastet Zentimeter für Zentimeter den Boden ab. Schließlich zieht sie den Ring hervor. Er ist in der Dunkelheit kaum zu sehen und ziemlich kalt. Er dreht sich lose um ihren Ringfinger. Als sie wieder oben ist, schiebt sie den Ring unter ihr Kopfkissen. Da bleibt er, bis ihre Schwester sicher unten ist und Porridge macht, dann kommt er zu ihrer ZigarrenkistenSammlung aus abgeknipsten Nägeln, einem Taschentuch, Tabak und Haaren. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie das Wasser aufbewahrt, mit dem er sich wusch, die Haut, die sich ablöste, den warmen Atem, der über seinem Kopf in der kalten Luft schwebte, seine Fußabdrücke im Schnee. Sie hätte die Kopfschmerzen aufbewahrt, die er am nächsten Tag bekam, und das Fieber am Tag danach, weswegen er drei Tage in dem Zimmer neben ihrem im Bett liegen musste, während sie ihm vorlas und sein Aufenthalt sich um eine weitere Woche verlängerte. 110
Was sie liebte (neben seiner Extravaganz, die sie am meisten liebte), war, dass er so nach dem Draußen und nach dem Drinnen roch, nicht nur nach der Luft jenseits der Tür, sondern nach Bahnhöfen, Busdepots, Hotelzimmern, Restaurants. Außerdem den milchigen Ansatz seines Halses und das weiche Fleisch unter seinem Kinn. Und seine warme, geschmeidige Stimme. Und die Art, wie sich seine Zunge auf eine Briefmarke senkte.
Norma Joyce Dove, pflegte sie neun Mal hintereinander zu sich selbst zu sagen. Einmal nahm sie, ohne um Erlaubnis zu fragen, seine Hand und zeichnete die Adern auf dem Rücken nach und dann die Linien der Handfläche, und sie fand seine Hände nicht weniger interessant als das Wissensdurcheinander, das er im Kopf hatte. Er erzählte ihnen von dem Mann in Kitchener, Ontario, der fünfundfünfzig Stunden schaukelte, um den Meistertitel im Schaukelstuhlschaukeln zu erlangen. Von dem Friseur in Swift Current, der keine Rasur mehr anbot, denn sein Rasiermesser blieb nicht scharf, weil der Staub sich so tief in die Wangen der Präriemänner eingegraben hatte. Von dem berühmten Jahr ohne Sommer, 1816, als in Ottawa den ganzen Sommer über Schnee lag und es in Europa so kalt war und der Himmel so grell, dass Mary Shelley Frankenstein schrieb und alle die vor kurzem geprägten Namen für die Wolken lernten. Cumulus, Stratus, Cirrus und Nimbostratus. »Wie wurden sie denn vorher genannt?« »Gar nicht. Kaum zu glauben, aber gar nicht. Genau wie die Präriewinde. So viele Arten, aber wir haben keine Namen für sie. Man vergisst leicht, dass alles irgendwann angefangen hat, und oft ist es nicht lange her.« »Du weißt alles«, sagte Norma Joyce. 111
»Alles wohl kaum«, sagte Maurice. »Alles, was eine Rolle spielt.« »Nicht einmal das.« »Du weißt alles, was für mich eine Rolle spielt.« Er lächelte. Er war belustigt und geschmeichelt. Bald würde er fort sein, und sie würde ihre geballte Aufmerksamkeit auf jemand anderen richten. Lucindas Fingerhut liegt auf dem Küchentisch, ein silberner Fingerhut mit einem Blätterrand. Er nimmt ihn und wirbelt ihn auf seinem kleinen Finger herum. »Sie hören nie auf«, sagt er zu ihr. »Jetzt habe ich aufgehört«, und das hat sie wirklich, ganz plötzlich. Peinlich berührt von seinem abschätzenden Blick und seinem kritischen Unterton. Sie setzt sich hin, mit dem Staubtuch auf dem Schoß. »Sie bleiben gern an den Dingen dran, bis Sie fertig sind. Das ist eine gute Eigenschaft.« Aber sie lässt sich nicht täuschen. Das ist kein Kompliment. »Was ist schon jemals fertig?«, fragt sie. »Das macht Ihnen doch nichts aus. Jedenfalls scheint es so.« Sie wird wieder zur alten Jungfer gemacht, das kann sie spüren. Als wüsste er alles, was man über sie wissen kann, und als wäre das nicht viel. Sie steht auf und wischt weiter Staub. Dann sagt sie zur Wand gerichtet: »Ich habe das Gefühl, dass ich nie wieder anfange, wenn ich einmal aufhöre.« Das sagt sie so schlicht, dass er einlenkt. Ein paar ehrliche Worte, mit denen sie ihre Schwäche eingesteht, und er erinnert sich plötzlich daran, wer sie ist. Er muss sehr krank gewesen 112
sein, um das zu vergessen. Sie ist die schönste, tüchtigste Frau, die er jemals getroffen hat. Er sagt: »Haben Sie ein Bild von sich?« Sie schaut ihn an. »Haben Sie eins, von dem Sie sich trennen würden?« Also ist alles wieder in Ordnung. So schnell, wie es in Unordnung war. Ein paar Tage später poliert sie Silber am Küchentisch, etwas, das sie immer tut, wenn das Licht sich verändert hat; inzwischen ist es über seinen dritten und letzten Besuch fast Ende November geworden. Sie poliert den Salz- und den Pfefferstreuer, den Ständer für Essig und Öl, den großen Puddinglöffel. Maurice sitzt am Tisch und schreibt, und er spürt, dass sie ihn ansieht. »Was ist?«, fragt er freundlich und legt seinen Füllfederhalter hin. Sie lächelt und schaut wieder auf den schön geformten Löffel hinab, den sie mit ihrem weichen Tuch poliert. Der Löffel kommt aus Ontario. Lamb ist auf dem langen Stiel eingraviert. Von allen Dingen im Haus ist er ihr liebstes. »Lucinda? Sagen Sie es mir.« »Norma Joyce hält große Stücke auf Sie«, sagt sie, ohne ihn anzusehen. »Ich mag sie auch. Ich mag alle Hardys, die ich kenne.« Sie schaut auf und lächelt. »Sie sind so gut zu ihr gewesen.« »Das heißt gar nichts«, sagt er. »Das ist normal.« »Das heißt alles«, sagt sie. »Es wird schwer für sie sein, wenn Sie abreisen.« »Ich komme zurück. Keine Sorge«, und er greift nach ihrer 113
Hand. »Keine Sorge, Lucinda.« »Wann?«, fragt sie und schaut ihm geradewegs ins Gesicht. Er hat keine Ahnung. Es wird von einer festen Stelle auf der Dominion-Forschungsfarm gesprochen; sein Tutor hofft, dass er sich bewerben wird, und natürlich wird er das. »Im Frühjahr? Ich komme zu Ihrem Geburtstag zurück.« »Gut.« Ihre Augen blicken schelmisch, aber sie meinen es auch ernst. »Wann ist mein Geburtstag?« »Im April?«, rät er. »Im Mai? Nicht im Mai. Im Mai ganz bestimmt nicht. Was ist mit Juni?« Diesmal wird Norma Joyce vom Gelächter an die Tür gelockt. »Worüber lacht ihr?«, will sie wissen. Aber niemand schaut sie an. »Am 13. Juni«, wiederholt Maurice. »Und vergessen Sie nicht die Zitronenglasur auf dem Biskuitkuchen.« Am letzten Tag seines letzten Besuchs kommt Maurice früher als gewöhnlich aus der Stadt zurück; es ist gegen drei Uhr nachmittags am 29. November, einem Dienstag. Er hat alle seine Geschäfte erledigt, mit dem letzten Farmer gesprochen, den letzten Bericht ausgearbeitet. »Trinken Sie eine Tasse Tee?«, fragt Lucinda. Nein, lieber nicht. Er muss sich um ein paar Dinge kümmern. Und er geht nach oben. Eine halbe Stunde später kommt er wieder herunter, aber er setzt sich nicht zu ihr in die Küche. Er bleibt mit seinem Buch im Wohnzimmer. Sie wartet, aber er bleibt draußen, neben dem Nautilus-Ofen, mit seinem Buch. Norma Joyce und Darwin kommen nach Hause. »Wo ist 114
Maurice?« Lucinda deutet mit dem Finger in seine Richtung. Ihre Schwester geht zur Tür, dann zum Sofa hinüber. Er liest P.G. Wodehouse und lacht in sich hinein, ein äußerst privates Vergnügen. »Du liest«, sagt sie. Er liest den Satz zu Ende, legt den Finger auf die Stelle, schaut auf. »Das solltest du lesen«, sagt er, »und nicht diesen finsteren Thomas Hardy.« Den finsteren Thomas Hardy? Er hat sich schon entfernt, und es verletzt beide Schwestern, diese Leichtigkeit, mit der er gleichermaßen bei ihnen ist und sie verlässt. Er liest und kichert weiter, während sie in der Küche das Abendessen machen. Am nächsten Morgen sitzen alle außer Norma Joyce am Frühstückstisch. Maurice wird den Vormittagszug nehmen; sein Rucksack steht neben der Küchentür. Drei Köpfe sind über Porridgeschüsseln gebeugt. Lucinda hat tief Luft geholt, und Ernest schaut auf und sieht, wie seine jüngste Tochter auf ihren Stuhl gleitet. Sie hat Mrs. Haydens Lippenstift aufgetragen, und nicht nur auf ihre Lippen. Es ist schwierig mit kleinen Spiegeln und trüben Schlafzimmerlampen. Ernest ist so erstarrt, dass er die Teetasse in seiner rechten Hand vergisst. Sie kippt, und ihr siedender Inhalt ergießt sich über seine Finger. Er schleudert das dumme Ding von sich. Norma Joyce bekommt den Tee ab, aber es ist Ernest, der aufheult. Verdammt! Er stößt seinen Stuhl zurück. Wischt sich die Hand mit seiner Serviette ab. Wirft mit der Serviette nach ihr. Wisch dir diese Schweinerei aus dem Gesicht! Darwin knurrt auf seiner Matte neben der Tür. 115
Maurice findet sie hinter der Scheune, wo sie mit hart verkrustetem Schnee ihr Gesicht abreibt. Er wischt ihr sanft mit seinem Taschentuch die Augen. »Sie machen sich nur Sorgen um dich«, sagt er. »Sie machen sich keine Sorgen um mich. Sie schämen sich.« »Nein«, sagt er. »Sie reagieren übertrieben, weil sie sich Sorgen machen. Sie wissen nicht, was sie von dir halten sollen. Hast du dich verbrannt?« Er wischt behutsam ihre Wangen und ihre Lippen ab, und sie sagt: »Ich liebe dich, Maurice.« Jetzt erst wird es hell. Um sie herum zeigen sich harte Stoppeln unter dem dünnen Schnee. Maurice schaut in ihre unvergesslichen Augen, dann wendet er sich wieder ihrer Wange zu, mit der viel unverfänglicher umzugehen ist. »Oh je«, sagt er. Und wischt ihr ein letztes Mal über das Gesicht. Er legt sein Taschentuch zusammen, den Lippenstift nach innen, und steckt es ein. Reibt sich mit der flachen Hand die Stirn und beschließt, einen Witz zu machen. »Wie alt bist du noch gleich?« »Neun.« »Na dann. In neun Jahren vielleicht.« Er grinst sie schief an und wendet sich dem Haus zu. »Komm«, drängt er, »dein Vater bringt uns in die Stadt.« In der Schule lesen sie an diesem Tag »At Gull Lake: August 1810« von Duncan Campbell Scott. Mr. Scott lebe in Ottawa, sagt Miss Stevenson. Man sehe ihn die Wellington Street entlanggehen, und er könne irgendjemand sein, der unterwegs in die Stadt sei, in ein Büro. Er trage denselben dunklen Anzug, 116
denselben grauen Hut. Sie schlägt das Buch auf und erklärt: »Dieses Gedicht ist ein Liebesgedicht«, wodurch sie Norma Joyce' Aufmerksamkeit erregt. Miss Stevenson trägt das marineblaue Alpakakleid mit dem weißen Kragen und den Manschetten, die man abnehmen kann. Ihre Stimme ist klar und angenehm. Sie liest das Gedicht laut vor, und Norma Joyce versteht es gleich. Eine junge Indianerfrau liebt einen diebischen, gemeinen Händler und zeigt ihre Leidenschaft so offen, so rücksichtslos, so beharrlich, dass ihre Leute sie bestrafen und ihr ein Brandzeichen ins Gesicht drücken. Sie lassen sie zurück, und sie irrt blind umher. Ein Sturm kommt auf – Hagel und Wind – und dann ein Regenbogen – und dann der Mond.
Doch Keejigo kehrte nie mehr zurück ins Lager ihres Volkes; Nur der Mitternachtsmond wusste, wo sie ihren Weg ertastete, Nur die herbstlichen Blätter und der Schnee des Winters Wussten, wo sie lag. »Sie ist Tess«, sagt Miss Stevenson. »Eine indianische Tess of the D'Urbervilles. Sie ist die ungeliebte Stieftochter. Eine indianische Bess, die in ihr langes dunkles Haar einen Liebesknoten flicht. Alles für die Liebe. Und am Ende ist sie vollkommen allein. Nur das Wetter hat Mitleid mit ihr.« »Unerwiderte Liebe«, fügt Miss Stevenson hinzu, »ist etwas Schreckliches.« Es gibt Gerüchte um Miss Stevenson. Warum ist sie hierher gekommen, um Unterricht über Seehunde und Eisbären und Eskimos zu geben, die in der Dunkelheit leben? Warum redet sie immer über Thomas Hardy und Shakespeares Sonette und über 117
Dichter aus Ottawa, von denen noch nie jemand etwas gehört hat? Sie hat bestimmt ein gebrochenes Herz. Draußen fällt der Schnee wie graue Federn. Nach einer Weile lebt der Wind auf; er bläst den Schnee beiseite und macht strömenden Regen und Blitze daraus. Dann, auf dem Nachhauseweg, ein richtiger Regenbogen. Ginny ist bei Norma Joyce, und Darwin auch. Sie gehen nebeneinander her. Ginny sagt, dass Regenbogen Schlangen sind, die zum Trinken herunterkommen. Ihre Großmutter sagte das. Ist deine Großmutter Indianerin? Natürlich ist sie keine Indianerin, sie ist aus Quebec. Sie gehen zu Ginny nach Hause, es gibt Tee und Kekse. Mrs. Gallot ist genauso nett wie Miss Stevenson. Sie steckt für den restlichen Nachhauseweg einen Keks in Norma Joyce' Tasche. Es wird jetzt früh dunkel. Es ist der letzte Tag im November. Norma Joyce zieht ihren Fäustling aus und berührt die Stelle, die Maurice sanft mit seinem Taschentuch abgewischt hat. Die Sonne hinter ihr ist schon gesunken; das letzte Licht streift den Stacheldrahtzaun zu ihrer Linken, und sie sieht, dass sich auf der anderen Seite etwas bewegt. Darwin knurrt. Schsch, sagt sie. Der Eindruck, dass dort ein Pferd und zwei Reiter sind. Ein großes weißes Pferd und eine kleine Indianerfrau, die vor einem Mann reitet. Norma Joyce starrt hin, und sie verschwinden. Sie geht weiter, schneller, und sieht sie aus dem Augenwinkel wieder. Ein großes Pferd und zwei Reiter halten auf der anderen Seite des Zauns mit ihr Schritt. Darwin knurrt wieder. Sie bleibt stehen. Schnell wendet sie den Kopf. Da sind sie. Das weiße Pferd und die bemalte Frau und der dunkelhaarige Händler. Die Frau erwidert ihren Blick für einen Moment. Ihr Gesicht ist sehr deutlich. Dann lösen sich Pferd und Reiter auf. Sie verschwinden in der Abenddämmerung. 118
In der Pause am nächsten Morgen bleibt sie im Klassenraum und tritt zu Miss Stevenson an das Pult. »Ich habe sie gesehen«, sagt sie. »Die Indianerfrau aus dem Gedicht.« »Tatsächlich? Wo?« »Auf dem Nachhauseweg. Kurz vor dem Hügel. Auf diesem langen Stück Prärie.« »Es ist ein wunderbares Gedicht, nicht wahr?«, sagt Miss Stevenson. Norma Joyce nickt. »Vielleicht bist du eine Dichterin, Norma Joyce. Hast du schon einmal daran gedacht, Gedichte zu schreiben?« »Miss Stevenson? Auf ihre Stirn war ein blauer Halbmond gemalt. Sie hat vor ihm auf einem weißen Pferd gesessen.« »Der Händler.« »Er saß im Sattel. Sie saß vor ihm. Ich wollte Ihnen das sagen. Ich glaube, es geht ihr gut.«
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Es war Norma Joyce, die die Post abholte. Wanda Thurston saß immer am Schalter, und diesmal sagte sie: »Hier ist was für deine Schwester.« Der Brief war an Lucinda June Hardy adressiert, und nur an sie. Wann hatte er bloß von Lucindas zweitem Vornamen erfahren? In einem Moment, in dem sie nicht da gewesen war. Und dies hier war noch einer. Auf dem Nachhauseweg stellte sie sich immer wieder vor, wie ihre Schwester im Schaukelstuhl saß, aufsah und ihr glückliches Lächeln nicht unterdrücken konnte, und genau das trat dann ein. »Was schreibt er?«, fragte sie Lucinda. »Er lässt dich grüßen.« »Was noch?« »Er schreibt, Onkel Dennis sieht so rüstig aus wie immer, er hat ihn letzte Woche besucht. Er wünscht uns allen frohe Weihnachten. Er sagt, er meint es ernst, dass er zu meinem Geburtstag wiederkommt.« »Im Juni.« »Er fragt, was ich mir wünsche.« »Und was wirst du sagen?« »Gar nichts.« »Du sagst ihm nicht, was du dir wünschst?« »Natürlich nicht.« In einem so züchtigen und selbstgefälligen Ton, dass Norma Joyce sie voller Ekel ansah. Die strahlende Lucinda legte ihren leuchtenden Brief in die schmale oberste Schublade ihrer Frisierkommode. Es war leicht, ihn zu lesen. Norma Joyce hatte 120
ihn an einem Tag auswendig gelernt. In dem Brief stand auch ein Gedicht, das war die große Neuerung. In ein Gedicht kann man sehr viel hineinlesen, und man kann ein Gedicht sehr oft lesen. Maurice hatte Arthur Waleys Übersetzungen gelesen,
Chinesische Lyrik. Du kannst deine Gärten mit Pfauen bevölkern und dir im Gehege Den Vogel Rok und den Phoenix halten, und im Röhricht die roten Vögel, Deren Schrei die Flussstörche anlockt im Morgengrauen Und sie den Spielen von Ibis und Kranich gesellt, Während der Wildschwan tagaus, tagein Dem Schimmer des schweifenden Eisvogels folgt. Oh Seele, kehre zurück, der Vögel Flug zu bewundern! Ende Februar kam noch ein Brief. Es war ein kalter, sonniger Tag mit wenig Wind. Norma Joyce, die denselben dunkelblauen Melton-Mantel trug, den sie drei Jahre später immer noch tragen sollte, holte die Post ab und machte sich mit Darwin und Ginny auf den Nachhauseweg. Hinter Ginnys Haus, auf halbem Weg, nahm sie den Brief aus ihrer Schultasche, blieb mitten auf der Straße stehen und betrachtete ihn. Ein kleiner weißer Umschlag mit King George in Rot und Weiß in der oberen rechten Ecke: sein nettes Gesicht, das dichte Haar, die sorgenvollen Augen und die vollkommenen Ohren. Links darunter: Miss Lucinda June Hardy, Willow Bend, Saskatchewan. Sie erinnert sich – Jahre später, als sie sich der Erinnerung hingibt –, sie erinnert sich, dass sie nach dem Brief 121
in ihrer Schultasche griff, wie man nach einem zweiten Stück Kuchen greift, wenn es lange genug auf dem Tisch steht. Man tut es, ohne nachzudenken, auch wenn man an nichts anderes gedacht hat. Sie öffnete den Brief. Oben stand ein Datum, das schon genügte, um einen einsamen Prärieverstand für Monate zu beschäftigen: 14. Februar 1939. Valentinstag. Sie las ihn schnell durch und suchte nach ihrem eigenen Namen. Er tauchte erst ganz am Ende auf. »Sagen Sie Norma Joyce, dass der Mann, der den Ofen und die Waschmaschine meiner Mutter repariert, Mr. Washburn, Waschbrand, heißt.« Sie las den Brief noch einmal. Er folgte demselben Muster wie der erste. Maurice begann mit dem Wetter, ging zu seiner Arbeit über, fuhr mit den Weltereignissen fort und schloss mit den persönlichen Gedanken, die ihr am wichtigsten waren. Er arbeitete auf der Dominion-Forschungsfarm an Studien zum Weideland, und er schnappte dort auch Wissen über andere Dinge auf, Bodenerosion, winterharte Rosen; er wusste, dass der Krieg kam, sah ein, dass er nötig war, aber alles, was er sich wünschte, war Zeit zum Lesen und Studieren. Er schloss mit einem letzten Absatz voller zärtlicher Abschiedsworte. Diesmal gelang es ihm, weniger zu sagen, indem er mehr sagte. Er schrieb, dass sie ihm jedes Mal in den Sinn kam, wenn er nach Westen schaute. Er werde ihr und ihrer Familie immer dankbar sein, schrieb er, für ihre Liebenswürdigkeit und Großzügigkeit. Er werde sich immer an sie erinnern. Sie dachte: »Immer, wenn er nach Westen schaut, denkt er an Lucinda, aber es ist ihre Familie, die er nicht vergessen wird. Ich bin das.« Und aus Mr. Washburns Asche zog sie diesen blassen 122
Hoffnungsschimmer. Er schrieb auch, dass er wegen der neuen Stelle nicht mehr sein eigener Herr war. Er werde im Juni vielleicht nicht kommen können, er sei nicht sicher, und er drängte sie, ihm zu schreiben. Aber kein Gedicht. Und nichts vom Valentinstag, trotz des Datums. Beim Essen an diesem Abend – ihr Lieblingsgericht, Huhn mit Knödeln, was bedeutete, dass das Glück auf ihrer Seite war – blieb der Brief in der Tasche ihres blauen Wintermantels. In einem stillen Moment, als Lucinda bügelte und ihr den Rücken zuwandte, nahm sie den Brief verstohlen aus der Manteltasche und brachte ihn nach oben, in die Kiste in der Kiste unter ihrem Bett. Ihr Damaskus war umgekehrt; sie brachte einen leuchtenden Brief beiseite und wollte die Folgen für ihre Schwester nicht sehen. Im März verloren sie Miss Stevenson. Ihr Vater war krank, und ihre Mutter brauchte sie. Sie ging nach Ontario zurück, und die schreckliche Mrs. Graviston trat an ihre Stelle. Jetzt sollte Norma Joyce lernen, wie die Schule wirklich war. Mrs. Graviston, die Witwe eines Farmers aus der Gegend, hatte ein »gemeinvolles Wesen«, wie Ginny es ausdrückte, und nur zwei Kleider, ein schwarzes und ein braunes, beide formlos; Norma Joyce gab sich Mühe, statt ihrer King George zu betrachten. Aber im April geriet sie voll in Mrs. Gravistons Blickfeld. »Was hast du gesagt, Norma Joyce?« »Ich sagte, wieso.« »Wie bitte?« Und Norma Joyce wurde still. Mrs. Graviston hatte sich in den Kopf gesetzt, dass sie am 123
Nachmittag einen Frühjahrsputz in der Schule machen sollten. Aber welchen Sinn hatte es, sauber zu machen, wenn gerade das staubigste Wetter begann? Es hatte keinen Sinn, sauber zu machen. Also hatte es keinen Sinn, zu helfen. Norma Joyce setzte sich mit ihrem Exemplar von Tess in die Ecke und steckte ihre Nase tief in ihr Buch, während um sie herum alle schufteten. Einmal half sie Ginny, einen Tisch beiseite zu rücken, und sie schrubbten diesen Teil des Fußbodens, ein anderes Mal nahm sie den Mopp, den Mrs. Graviston ihr auf unmissverständliche Weise reichte, und wischte einige Male auf dem Fußboden in der Garderobe hin und her, aber ansonsten nahm sie ihre Füße aus dem Weg und richtete ihren Blick auf das Buch. Am nächsten Tag brachte Mrs. Graviston einen Kuchen mit. Sie hatte ihn in zweiunddreißig Stücke geschnitten, weil es zweiunddreißig Schülerinnen gab (ohne Ginny, die zufällig krank war). Sie nannte jede Schülerin beim Namen. Es war ein sehr großer, rechteckiger Kuchen. Die Stücke fielen überraschend großzügig aus. Weißer Kuchen mit schwerem Schokoladenguss. Sie rief Norma Joyce zuletzt auf. Norma Joyce stand auf. Sie schickte sich an, nach vorn zu gehen. »Warte«, sagte die knochige Mrs. Graviston in ihrem gemeinen schwarzen Kleid. »Meint irgendjemand hier, dass ein Mädchen, das nicht hilft, dieselbe Belohnung bekommen sollte wie diejenigen, die helfen?« Norma Joyce tastete sich langsam zu ihrem Pult zurück, aber Mrs. Graviston sagte: »Norma Joyce. Du bleibst besser stehen.« Es war diese frömmlerische Art, die sie am meisten hasste. Diese hämische, selbstgerechte, selbstgefällige, strafende Tugendhaftigkeit. Lucinda hatte sie auch, aber nicht so schlimm. »Meint irgendjemand, dass ein Mädchen, das nicht 124
hilft, ein Stück Kuchen bekommen sollte? Hebt die Hand, wenn ihr das meint.« »Norma Joyce? Ich fürchte, niemand hat die Hand gehoben.« Und Mrs. Graviston wandte Norma Joyce den Rücken zu. Im Grunde schienen alle ihr den Rücken zuzuwenden, wie die Männer mit einer einzigen Bewegung dem Hilfsgüterzug den Rücken zuwandten, wenn er in den Bahnhof einfuhr. Sie ließen ihre Frauen nach vorn treten, um die Äpfel zu holen, den Käse und den merkwürdigen, gesalzenen Kabeljau. Und überhaupt, diese Putzerei. So etwas klärt den Kopf, so ein Ächtungsakt. Man fühlt sich blank poliert wie ein griechisches Baby, das auf dem Gipfel eines Berges ausgesetzt worden ist. Als der Schrecken vorüber war, als ihre Tränen nicht mehr auf die Straße spritzten (Augen wie Springbrunnen, Zahnfleisch wie Regenwolken; aber – Gott sei Dank – nur die erste Hälfte des Heimwegs), als Darwin ihr Gesicht so heftig geleckt hatte, dass sie lachen musste, fühlte Norma Joyce sich tatsächlich stärker. Sauber gesprengt. Ein aufgerichteter Felsfinger, den der Wind bis zum innersten Kern abgeschliffen hat. Der Frühling kam spät und war trocken. Der einzige echte Regen folgte unmittelbar auf einen Wirbelsturm, der beträchtlichen Schaden anrichtete, allerdings nicht auf der Farm der Hardys. Der Mai war heiß. Der erste Staubsturm kam am 6. Mai. Zwei Wochen später, während des Besuchs von King George und Queen Elizabeth, regnete es zwei Tage lang. Der König und die Königin fuhren in ihrem blaugoldenen Zug mit den zwölf Waggons durch Saskatchewan, und jeder, der sie sah, sagte, dass der König hin und wieder eine Hand hob (es ging ihm nicht gut, natürlich nicht, im Gegensatz zu seinem braun gebrannten und unnützen älteren Bruder) und dass die Königin so eine herrliche, herrliche Frau war (im Gegensatz zu Mrs. 125
Simpson). Der Zug kam durch Swift Current – sie hätten in anderthalb Stunden dort sein können –, aber Ernest wollte nicht fahren. Dieser Verfechter des Empire, dieser Scott-Verteidiger, wollte sich nicht so weit herablassen und zur breiten Masse gehören. Er wollte nicht fahren, und seine jüngere Tochter war verzweifelt. Nach seinem ersten Nein gelang es ihr immerhin, ihre Zunge zu zügeln, und sie wartete mit ungeheurer Selbstbeherrschung auf den richtigen Augenblick, um noch einmal zu fragen. An einem Sonntagmorgen, nach seiner dritten Tasse Tee, als er den wöchentlichen Herald vor sich hatte und über einen Witz lächelte, reichte sie ihm eine Notiz, denn sie misstraute sich, die richtigen Worte im richtigen Ton zu sagen. Sie hatte jedes Wort sehr sorgfältig geschrieben und bat ihn, doch BITTE noch einmal zu überlegen, nicht nur ihretwegen, sondern auch wegen LUCINDA. Es sei eine Chance, die sie vielleicht nie wieder haben würden, IHRE MAJESTÄTEN KING GEORGE VI. UND QUEEN ELIZABETH beim ersten Besuch eines regierenden britischen SOUVERÄNS in Kanada zu sehen. Er sah auf. »Die Antwort ist nein«, sagte er, und er gab ihr die Notiz zurück. Trotzdem warf er ihr vor, dass sie sich nicht bewegte. Warum hatte ihre Mutter so einen Mann geheiratet? Sie hätte ihn mit bloßen Händen umbringen können. Später sagte Lucinda zu ihr: »Sei nicht so enttäuscht. In ein paar Wochen ist Maurice hier. Das ist etwas, worauf man sich freuen kann.« Was sollte sie sagen? Diese unwissende Ruhe machte sie nur noch wütender. Vom König und der Königin war nur noch ein Mal die Rede. 126
Ernest kam aus der Stadt zurück und berichtete erfreut, dass Mr. und Mrs. Salisbury nach Swift Current gefahren waren und dass alles, was sie zu ihrem Kummer hatten sehen können, der obere Teil vom Hut der Königin gewesen war. Der königliche Zug hatte Verspätung gehabt; als er angekommen war, war ein Automobil mit König und Königin in gerade eben zwei Minuten die Hauptstraße hinauf- und hinuntergebraust, gefolgt von einem zweiten Automobil mit Mackenzie King darin. Und dann waren sie fort. Zwölf Stunden warten, um einen Hut zu sehen. »Wie sah er aus?«, fragte Norma Joyce. »Was?«
»Wie sah der Hut aus?« Er hatte nicht einmal gefragt. Ende Mai kam ein letzter, kurzer Brief, und dem lag eine Fotografie bei. Maurice konnte nicht kommen, aber offenbar wollte er nicht vergessen werden. Norma Joyce öffnete und behielt auch diesen Brief. Auf der Fotografie sah er sich nicht ähnlich. Sie betrachtete sie eingehend und versuchte, hinter dem Gesicht, das dort war, das Gesicht zu sehen, an das sie sich erinnerte, aber es war wie der Versuch, den Geschmack von etwas Saurem wiederzuerwecken, nachdem man versehentlich etwas zu Süßes gegessen hat. In der Erinnerung machte er entweder ein neckisches oder ein gedankenverlorenes Gesicht, aber es war immer ausdrucksvoll, abwechselnd belustigt und gedankenvoll und melancholisch und wieder belustigt. Und das liebte sie, wenn die Erinnerung sich auftat und sich mit dem alten Gefühl verband, geradezu von ihm umfasst wurde. Aber auf der Fotografie war er ausgestellt, und deshalb – das musste der Grund sein – sah er starr und nichts sagend aus, sein Haar war wie angeklebt, sein Gesicht breiter. Wo waren seine lässige Zurückhaltung, das träge Funkeln und Necken, die 127
gelegentliche Traurigkeit? Hatte er zugenommen? War er ein dünner Reisender, der fett wurde, wenn er zu Hause war? Wer war der Fotograf? Sie prüfte eingehend die Umgebung. Das musste Ottawa sein: Es gab Bäume, es gab ein Backsteinhaus im Hintergrund, es gab Schnee. Auf die Rückseite des Schnappschusses hatte jemand 1. Januar 1939 geschrieben. Es war nicht seine Handschrift. Er schrieb in geneigten, genauen, kleinen Lettern. Diese Schrift schien Flügelspitzen zu haben. Der Brief enthielt einen Rechtschreibfehler, über den sie lächeln musste. »Es gibt kleine Antworten auf diese Fragen.« Er schrieb, er sei sich über die Zukunft keineswegs sicher. Soll ich mich gleich melden oder erst das Studium abschließen? Was wird aus all meinen Plänen werden? Wie lange wird der Krieg dauern? Er schrieb, er glaube nicht, dass es ein kurzer Krieg werden würde, wenn er einmal angefangen habe. Er schrieb, sie seien sicher sehr aufgeregt wegen des Besuchs von König und Königin. Sie konnte nicht widerstehen. Sie machte Andeutungen. Sie würde sich nicht wundern, sagte sie. Sie würde sich nicht wundern, wenn Maurice nun eine Ganztagsarbeit hätte. Und wenn es Krieg gäbe, würde sie sich nicht wundern, wenn er sich gleich melden würde. Sie würde sich nicht wundern, sagte sie, wenn der Krieg lange dauern würde. Lucinda sah sie merkwürdig an. »Hat er gesagt, dass er ganztags arbeiten will? Ich dachte, er braucht Zeit, um sein Studium abzuschließen.« »Ich habe nur darüber nachgedacht. Wenn er eine Ganztagsarbeit hat, kann er nicht zu deinem Geburtstag kommen.« »Meine Schwester, die für jede Lösung ein Problem findet.« Vielleicht war das die Wahrheit der Fotografie. Er hatte an 128
Lucinda gedacht, als die Aufnahme gemacht wurde, und dies war das Ergebnis. Er hätte an sie denken sollen. Vielleicht wollen alle letztlich nur, dass man sich an sie erinnert, dass sie nicht übersehen werden. Der Gedanke kommt ihr während des langen Winters von 1972, in dem sie sich um Ernest kümmert und kaum etwas anderes tut, als sich zu erinnern. Als sie an einem verschneiten Nachmittag für ihren alten Vater eine Mahlzeit aus gehacktem Lendenfilet kocht, weil die Nachbarin von nebenan sagt, dass sie sein »Blut nähren« soll, stellt sie fest, dass sie an Maurice die ernste und schmeichelhafte Aufmerksamkeit am liebsten mochte. Sie mochte ihn am liebsten medium, so, dass die Säfte der Traurigkeit und der Fröhlichkeit sich mischten, ohne dass die Fröhlichkeit jemals die Oberhand gewann. Der Juni war heiß. Der 13. Juni besonders. Ein Tag, der schwer war von weicher, außergewöhnlicher Hitze, als hätte ein böswilliger Ofen die ganze Nacht gepumpt. Ein Sonntag. Lucinda machte den Biskuitkuchen am Morgen; gegen elf kühlte er ab. Sie tischte ein frühes Mittagessen auf; gegen halb eins waren sie fertig. Ernest ging wieder aufs Feld, und Norma Joyce ging mit Darwin davon. Lucinda goss mehrere Eimer Wasser in die Badewanne in der Küchenecke. Sie badete und zog sich an, und gegen zwei Uhr saß sie auf der Veranda. Sie trug ein weißes Kleid aus Baumwollpikee mit Ärmeln bis zu den Ellbogen und eine Halskette aus Türkisperlen. Sie sah hübsch aus, ihr Hautton war sogar noch schöner gegen das Weiß, und das Kleid, eines von ihrer Mutter, hatte sie sehr geschickt neu geschnitten und genäht. Sie schaute über den Fahrweg zur Straße hinüber. Sie 129
hielt nichts in den Händen. Nichts zu Stricken oder zu Lesen oder Auszubessern. Norma Joyce und Darwin waren in der Wilson-Schlucht und folgten dem Bachbett bis zur Quelle. Norma Joyce schrieb ihren Namen in den Staub. Sie schrieb ihren Namen, Darwins Namen, Maurice' Namen, das Datum. Sie blieben fast den ganzen Nachmittag dort. Als sie zurückkamen, war es fünf Uhr. Lucinda saß noch immer auf der Veranda, und ihre Hände waren untätig. Sie schaukelte hin und her, neunzehn Jahre alt und mit dieser gelassenen Miene, aber sie war nicht Lucinda, weil sie mit ihren Händen nichts tat. Norma Joyce kam mit Darwin die Treppe herauf. Lucinda streckte die Hand aus und streichelte seinen Kopf. Sie sagte: »Er ist wohl schließlich doch nicht weggekommen.« Dann stand sie auf und ging hinein und nach oben. Sie zog ihr Kleid aus. Sie kam in dem langen braunen Rock herunter, den sie tagsüber trug. »Aber es ist doch Abend«, dachte Norma Joyce. Eine saubere Schürze aus der Schürzenschublade. Ein leichtes Abendessen, Rührei mit Toast. »Ist schon gut, Norma Joyce«, sagte sie. »Ich kann den Tisch decken.« Sie schien vollkommen beherrscht. Aber als Norma Joyce das Geschirr in der falschen Reihenfolge abwusch, die Gläser nach den Tellern statt umgekehrt, befahl ihr Lucinda, alles Geschirr im Hause abzuwaschen. »Wer weiß, wie oft sie das schon so gemacht hat?« Zu Ernest, dem nichts einfiel, was er sagen konnte. Norma Joyce spülte das Geschirr, und Lucindas unermüdlicher Kessel ließ das Wasser ständig sieden. Ihre 130
Finger tönten vor Schmerz. Als sie am nächsten Tag aus der Schule nach Hause kam, war Lucinda nicht in der Küche und die Nähmaschine auch nicht. Aber von irgendwoher kam das Geräusch des Nähens. Norma Joyce ging zur Tür ihres Wetterzimmers und erstarrte. Jemand hatte das Zimmer auf den Kopf gestellt. Die Bücher standen im Bücherregal, die Fotografie ihrer Mutter stand auf dem Schreibtisch. Aber alles andere, Kiesel, Knöpfe, Gräser, zerbrochener Krimskrams, Staubhaufen, alles andere war fort. In der Ecke, an der Nähmaschine, saß ihre Schwester. Der Ausdruck auf Lucindas Gesicht war schwer zu beschreiben, aber unvergesslich. Eine Art erstarrte Sturheit, aber an der falschen Stelle erstarrt, wie Lippenstift auf einem Zahn. Norma Joyce konnte nur ahnen, wie die kurzlebige Raserei über ihr Zimmer hereingebrochen war, wie alles weggeschwemmt und abgeschrubbt wurde, die kleinen, zarten, unnützen Dinge verwüstet, die ein kleines und unnützes Mädchen gesammelt hatte. Alles, was sie sagen konnte, war: »Soll ich Abendessen machen?« »Ja. Tu das.« Lucinda hörte auf zu nähen und ging nach oben. An zwei Abenden hintereinander Rührei und kein Nachtisch. Norma Joyce suchte den Biskuitkuchen überall. Sie suchte ihn am nächsten Tag noch einmal, und das war nach den untätigen Händen ihrer Schwester und ihrem eigenen verlorenen Zimmer der dritte Schock. Sie fand den Kuchen auf dem Misthaufen neben der Scheune. Ernest aß seine Eier auf. Er sagte: »Du siehst besser nach 131
deiner Schwester.« Sie ging nach oben. Lucinda lag auf dem Bett und starrte vor sich hin. »Geht es dir gut? Dad will das wissen.« »Es geht mir gut. Mir ist kalt.« Norma Joyce nahm die Decke von Maurice Bett und legte sie über Lucinda. Lucinda sollte sich an die Klippe ihrer Enttäuschung erinnern. Daran, wie die Enttäuschung ihre Welt zu einer einsamen Klippe verengte, auf der sie saß. Nicht, dass sie unbedingt mit Maurice' Kommen gerechnet hatte. Ihr war bewusst, dass er durchaus auch nicht kommen konnte, besonders in den Wochen davor und an dem Tag selbst. Aber Wissen ist das eine und Hoffnung das andere. Dass er nicht kam, war etwas völlig anderes als die Möglichkeit, dass er nicht kam. Wie es sich langsam abzeichnete, über den ganzen Nachmittag. Wie es in sie hineinströmte, wie es sie abwertete, bis sie nur noch aus Abwertung bestand, nur noch aus Enttäuschung. Schließlich war sie ins Haus gegangen. Oben, als sie ihren braunen Rock anzog, wallten ihre Gefühle auf und legten sich dann wieder, als sie die Treppe hinunterging. Die Gefühle wallten erneut auf, während sie das Abendessen machte, und legten sich dann gründlicher als je zuvor. Weil die Enttäuschung sie immer wieder überschwemmte, blieb sie auf ihrer Klippe hocken. Eine ziemlich kleine Angelegenheit. Warum war sie so groß? Wo war sie hergekommen, diese Flut zerbrochener Gefühle? Sie hatte den ganzen Winter an ihn gedacht, das machte es so schwierig. Eine stille Frau in einem stillen Haus, die eine 132
Stickerei aus ihrer Erinnerung machte, bis sie sich genau wie in den alten Geschichten in den Finger stach und in einen tiefen, unerwarteten Schlaf sank. Sie verschlief den halben Juni und den ganzen Juli. Während dieses verlorenen Sommers brachte Norma Joyce ihr Tee und Buttertoast. Sie zeichnete die Umrisse von Tieren in ihr Heft, und Lucinda malte sie aus. Sie drückte ihrer Schwester sanft ein Taschentuch in die Hand, wenn die Tränen in ihr Haar rannen und in ihre Ohren glitten und in das Kopfkissen sickerten. Sie drehte das Kissen um. Wenn beide Seiten nass waren, legte sie ein Handtuch darauf. Einmal sagte sie in einem verblüfften, beinahe rebellischen Ton: »Ich wusste nicht, dass dir so viel an ihm liegt.« Lucinda sagte: »Ich auch nicht, um ehrlich zu sein.« Norma Joyce sah zu, wie ihre Schwester von morgens bis abends im Bett lag. Sie dachte an die Titanic, die auf dem Grund des Ozeans ruhte. Abende im Sommerlicht und Lucinda ganz still auf ihrem Grund. »Du bist so gut«, sagte Lucinda, wenn sie die Teetassen nahm, die Norma Joyce ihr brachte. Sogar ihr Vater sagte eines Morgens: »Danke, dass du nach deiner Schwester siehst.« »Bedanke dich nicht bei mir«, sagte Norma Joyce, und sie meinte es so. Was für eine wunderbare Erleichterung, dass Lucinda von der Bildfläche verschwunden war. Wie tüchtig und schnell Norma Joyce wurde. Sie kochte, sie putzte, sie wuchs sogar. Immerhin eine Märchenwahrheit, dass das jüngste, glückloseste Kind erst zeigt, was in ihm steckt, wenn ihm die älteren Brüder nicht 133
mehr im Wege stehen. Der August kam, und mit ihm fiel die Temperatur. Lucinda setzte sich auf und blickte durch das Schlafzimmerfenster auf den achteckigen Wasserturm in der Ferne und auf die Prärie dazwischen. Sie sah, dass der Fensterrahmen eine Schicht Farbe brauchte, die er nicht bekommen würde, und sie sah sich selbst mit ungeflochtenem Haar um zehn Uhr morgens im Bett sitzen. Der Winter kam. Es gab Arbeit. Unten saßen Norma Joyce und Darwin Seite an Seite auf dem Küchenfußboden. Darwin döste vor sich hin, Norma Joyce blätterte eine Seite um. Als sie Schritte hörte, schaute sie auf und sah ihre blasse, große, immer noch schöne Schwester durch die Tür kommen, und sie hörte sie sagen, dass ihr nach Pfefferkuchen mit Ingwer war. Zwei Stunden später kam Ernest herein, es roch nach Kuchen, und seine geliebte Tochter war wieder auf den Beinen. Sie schnitt große Stücke ab und tischte sie mit Butter auf. Lucinda war anders danach. Alle sagten das. Sie sagte das. Sie scherzte, sie habe ihre Liebe verloren und Geschmack an Süßigkeiten gefunden. Zitronenbaiser-Kuchen wurde ihre Spezialität (kein Biskuitkuchen mehr), und es war ihr Geheimnis, wie sie das Baiser nach allen Seiten hin bis zum Rand verteilte, sodass es weder schrumpfte noch schwitzte. Als Maurice sieben Jahre später auf der Straße an ihr vorüberging, erkannte er sie nicht.
134
II
»Wir ließen die weite Stille des Himmels über der Prärie zurück; was dicht vor uns lag, betäubte unsere Sinne: Obstgärten mit Apfelblüten, aufrechte Ulmen bei den Einfriedungen, unbekannte wilde Blumen in den kühlen Wäldern. Dies war Ontario – selbstgenügsam, abgeschlossen…« Dorothy Livesay, Right Hand Left Hand
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Sie erinnert sich, wie sie nach draußen trat und die Farben so sehr strahlten, dass sie wegsehen musste, um sich zu sammeln. Neunzehnhundertzweiundvierzig, und mit dreizehn war sie größer, als sie mit acht gewesen war, aber nicht viel größer. Immer noch klein, immer noch dunkel, und sie schaute immer noch hin. Sie versuchte, die Dinge nacheinander zu erfassen: die glänzenden Fenster auf beiden Seiten der Straße. Die Blumen überall, in Gelb- und Rosatönen. Eine fette Katze, die am Fuß eines blutroten Weinstocks in der Sonne lag. Wein, der sich an Häusern empor- und über Telefonmasten und an den Drähten entlangrankte, um schließlich bei den farbenprächtigen Bäumen vor tiefblauem Himmel anzukommen. Dies war also Ontario. Diese großen Backsteinhäuser. Diese schönen, soliden Häuserreihen aus rotem Backstein, überschattet von Bäumen, die ihre goldenen Blätter auf einen Grund fallen ließen, der schon mit Blumen und Hecken und Rasen gesegnet war, Blumen wie kleine Trompeten oder wie Lockenperücken, Hecken so hart wie alte Spitze, Rasen, der warm in der Sonne lag wie ein alter Hund. Ganz nah war die lacküberzogene Kühle farbiger Blätter, die alte Rauheit steinerner Mauern, die Emailglätte beinahe neuer Autos – und der Kanal, randvoll wie eine endlose horizontale Quelle, die üppig und ausgestreckt ruht. Zurück blieb ein trauriger alter Hund. Als sie anfingen zu packen, hatte er es gleich gewusst. Er hatte auf seiner Matte neben der Küchentür gelegen und zugesehen, wie sie von Zimmer zu Zimmer ging, und er hatte nicht einmal den Kopf vom Boden gehoben – ein Kunststück, das nur ein Hund 136
vollbringen konnte –, und die Augen rollten in seinem Kopf wie tragische Murmeln. Ernest sagte: »Es ist besser so. Er bleibt in vertrauter Umgebung.« Mrs. Gallot sagte: »Mach dir keine Sorgen. Wir sorgen gut für ihn.« Lucinda sagte: »Armer alter Darwin.« Norma Joyce sagte gar nichts. Sie streichelte Darwins großen, viereckigen Kopf, und er wandte sich ab unter ihrer Hand – um ein paar vielsagende Zentimeter. Sie konnte seinen Kopf tätscheln, aber er sah sie nicht an. Der Tag, an dem sie abreisten, war sonnig und kühl. Der Himmel war westlich blau (heller als östlich blau), und die Ernte war gut, allerdings waren jetzt wegen des Krieges zu wenig Männer da, um sie einzubringen; später sollten Studenten aus Ontario mit dem Zug kommen, um bei der Ernte zu helfen, und sie sollten erleben, dass früher Schneefall ihrer Wohltätigkeit ein Ende setzte. Die drei – Norma Joyce und ihr Vater und ihre Schwester – drängten sich in den alten Ford der Gallots, und Mr. und Mrs. Gallot und Ginny fuhren sie zum Bahnhof nach Willow Bend. Ihr Gepäck hatten sie vorausgeschickt. Als sie ein Stück den Weg entlanggefahren waren, blickte Norma Joyce zurück. Das Haus war drei Stockwerke hoch, wenn man den Dachboden mitzählte. Rechts lagen mehrere Nebengebäude und die Scheune. Dahinter erhob sich ihr Hügel, der den Regen anzog, und dahinter in der Ferne der Wasserturm. Darwin war auf der seitlichen Veranda, er drehte sich drei Mal um sich selbst und fiel dann zu einem matten Häufchen zusammen – eine Mohrrübe am Ende des Winters, dachte sie –, 137
unaussprechlich müde. Er steckte seine Nase unter seinen Schwanz und wandte ihnen den Rücken zu. Leb wohl, Darwin, sagte sie neun Mal in ihrem Kopf. Dann stieg eine alte Erinnerung in ihr auf, und es überraschte sie, wie weh das tat. Maurice, der vergnügt allein im Wohnzimmer sitzt und sein Buch liest. Die Leichtigkeit, mit der er sie schon verlassen hatte, bevor er wegfuhr. Eine warnende Erinnerung. Aber sie war in dem Moment verschwunden, als sie sich umdrehte und sich der Aufregung hingab. Und all das nur, weil Onkel Dennis gestorben war und Ernest alles hinterlassen hatte, einschließlich seines Hauses in der Fulton Avenue. Jetzt gehörte den Gallots die Farm und fast die ganze Einrichtung. Mrs. Gallot freute sich besonders über das Klavier, auch wenn es seit Jahren nicht gestimmt worden war, wie lange eigentlich nicht? »Seit 1938 nicht mehr«, antwortete Norma Joyce. »Nicht mehr, seit Maurice Dove hier war.« Für Norma Joyce sollten die nächsten vier Jahre so schnell vergehen wie die drei zuvor, eine Zeit wie der Raum zwischen zwei Perlen einer Halskette. Die Perlen waren ihre Begegnungen mit Maurice. Sie trat in die Hopewell Public School ein; von zu Hause aus musste man fünf Minuten gehen. In die achte Klasse, und das Mitkommen fiel ihr nicht schwer. Das Gemeine Schwarze Grauen hatte ihr das eine oder andere beigebracht. Nach der Schule nahm sie den langen Nachhauseweg, die Bank Street entlang zum Kanal und dann auf dem Pfad neben dem Kanal. Sie ging gerne von Bank zu Bank und las auf jeder Bank drei Seiten aus ihrem Buch: Es gab drei Bänke dort. Nach der dritten überquerte sie den Colonel By Drive und ging die Seneca Street entlang bis zur Aylmer Avenue; über und neben ihr gab es Blätter in allen Farben. Die Rot- und Lilatöne waren dunkel, 138
aber trotzdem irgendwie silbrig; die Gelb- und Orangetöne glühten einfach nur. Hoch oben über den Bäumen blinkten und brummten ständig Flugzeuge, die von Piloten in der Ausbildung geflogen wurden. Ihr Nachhauseweg führte an Maurice' Haus in der Carlyle Avenue vorbei. Nummer 78. Kein Zeichen von Maurice, aber seine Mutter, die Statistin, schnitt ein paar späte Rosen. »Mrs. Dove?« Die kleine, adrette, weißhaarige Frau schaute auf. Ihre Gartenhandschuhe passten zu ihrem hellblauen Kleid. »Ich kenne Maurice«, verkündete Norma Joyce. »Ich meine, ich kannte ihn. In Saskatchewan.« »Oh, er ist jetzt nicht in Saskatchewan.« »Das weiß ich.« »Er ist in England, das war er jedenfalls, als wir zuletzt etwas gehört haben. Er ist bei der Air Force. Du weißt ja, wie die Jungen mit Briefen sind.« Offenbar war sie aufgeregt und verwirrt, also sagte Norma Joyce: »Sie sind bestimmt sehr stolz auf ihn.« Aber das half nicht. »Ich weiß nicht, warum er hingehen musste«, murmelte sie. »Es ist Englands Krieg.« Norma Joyce starrte Mrs. Dove an, bis ihr einfiel, dass sie aus Quebec kam. Sie kam aus Quebec, und sie hatte in den Staaten gelebt. Deswegen. Gut, dass ihr Vater das nicht gehört hatte. Sie bückte sich, um ihre Socken zu richten. Mrs. Dove wandte sich wieder ihren Blumen zu. »Mrs. Dove? Wie heißt dieser Wein?« Und sie wies auf den, der am Telefonmast emporkletterte. »Wissen Sie das zufällig?« 139
»Du lieber Gott, Kind. Nein.« »Was ist mit diesem Busch?« »Welcher? Der da? Das kann ich dir nicht sagen.« Niemand konnte das. Niemand wusste irgendetwas. Noch nie hatte sie so unbedingt wissen wollen, wie die Dinge hießen – sie fragte die Nachbarn, sie fragte ihre Lehrerin –, aber niemand wusste es. Diese Unwissenheit lag wie ein eisernes Band um ihr Herz. »Maurice weiß es bestimmt«, sagte sie. »Würden Sie ihn bitte von mir grüßen, wenn Sie ihm schreiben?« »Von wem grüßen?« »Norma Joyce Hardy. Dennis Hardys Nichte.« »Ah.« Sie nickte. »Ihr seid die neue Familie in der Fulton.« »Nummer neunundneunzig«, sagte Norma Joyce. Sie setzte ihren Nachhauseweg fort, wandte sich an der Woodbine nach rechts und ging den abfallenden Weg entlang zur Fulton. Beeren in ihrer Tasche. Kleine, längliche, rote Beeren, blauschwarze Beeren in Erbsengröße (wenn man sie leicht drückte, kamen winzige Tropfen in transparentem Lila heraus, und braungrüne Innereien, wenn man fest drückte) und winzige, wilde Trauben von den Weinstöcken an den Telefonmasten. In jeder Traube waren zwei Kügelchen, die ihr größer vorkamen als die Traube selbst, wie Hinterbacken-Kügelchen, die aus einem Korsett aus Traubenhaut platzten. Das Fleisch darum herum schmeckte nach Pfeffer. Sie erinnerte sich an ihren ersten Samstag in Ontario, denn sie fand ein Paradies im Paradies. Anfang Oktober; sie war nach 140
draußen geschlichen, als Lucinda ihr den Rücken zuwandte, und hatte den Tag für sich. Ein Stück Brot in der Tasche, eine neue Richtung im Kopf. Sie ging bis zum Ende der Straße, und diesmal wandte sie sich am Colonel By Drive nach rechts. Der Rideau Canal lag rechts von ihr, schmal, gekrümmt, voll bis zum Rand. Vor ihr lag die Drehbrücke an der Bronson Avenue. Sie ging an der Brücke vorbei und weiter um den breiten, glitzernden Dow's Lake herum zur Eisenbahnbrücke, die auch über den Kanal führte. Sie überquerte die Brücke und kam nach Eden. Ein Name an jedem Baum. Eine illustrierte Seite aus dem Larousse. Ein kultivierter Hang, der um der Wahrheit und Schönheit willen bepflanzt worden war. Nahe am Wasser standen die Weiden, weiter hinten die Eichen und die Pyramidenpappeln aus dem Süden, weiter hinten der rote, der schwarze und der Zucker-Ahorn, dann zogen sich Eschen und Linden den Hang hinauf, und auf der obersten dieser vier sanften Ebenen, die vom Kanal, dem Rasen, dem bewaldeten Hang und dem Grünland geformt waren, standen die Weymouth-Kiefern mit ihren langen, zu Bündeln von jeweils fünf gefassten Nadeln, die kanadischen HemlockTannen und die weißen Fichten. Dann ein kleines Zypressenwäldchen mit Nadeln, die so fein gemustert waren, dass Zedernblätter im Vergleich dazu wie die sperrige Handschrift eines Kindes aussahen. Sie war an einem riesigen, verschwommenen Ort gewesen, und jetzt war sie an einem klaren und geformten. Das hoffnungslose Saskatchewan, und jetzt das alte Ontario. Sie ging unter den Bäumen weiter nach Westen, bis sie auf eine Straße und ein Schild stieß – und dann wusste sie, wo sie war. Auf der anderen Seite gab es Gewächshäuser und schattige Pfade, ein 141
paar schöne, große Häuser, Holzscheunen und Bürogebäude, Schmuckgärten und kultivierte Felder. Es war die DominionForschungsfarm. Hier hatte Maurice gearbeitet. Sie überquerte die Straße. Das erste Gebäude hatte den rötlich goldenen Ton von Backstein. Rideau-Rot, sollte sie später von einem Bauunternehmer erfahren, der mit ihrem Vater befreundet war. Sie ging die Treppe hinauf und drückte die Klinke herunter. Die Tür öffnete sich. Zwei weitere Stufen, und sie ging über einen blassgrünen Flur auf die Tür zu, die am anderen Ende einen Spalt offen stand. Ein weißhaariger Mann in Hemdsärmeln blickte auf. »Wo kommst du denn her?«, fragte er. Sein langer Schreibtisch war mit Papieren übersät; er hatte einen Bleistift hinter dem Ohr und trug eine Brille und einen Bart. »Saskatchewan«, antwortete sie, und seine Lippen zuckten. »Und was kann ich für ein Mädchen aus Saskatchewan tun?« »Ich dachte«, sagte sie, »ich dachte, vielleicht kennen Sie Maurice Dove.« »Maurice wie?« »Maurice Dove.« Was für ein Vergnügen es war, seinen Namen zu sagen. Er schüttelte den Kopf. »Da klingelt nichts.« »Er hat vor dem Krieg hier gearbeitet.« »Maurice Dove.« Er hob die Augenbrauen und schüttelte noch einmal den Kopf. »Ist schon gut«, sagte sie. »Danke.« »Na dann«, sagte er. »Weiter so.« Von ihrem Schlafzimmerfenster aus studierte sie die Rückseite von Maurice' Haus. Nichts verstellte ihren Blick – der Garten 142
ihres Onkels erstreckte sich bis hinauf zu dem grasbewachsenen Feldweg, dahinter begann der Garten der Doves, und der erstreckte sich bis hinauf zu dem dreistöckigen Haus, das seine Eltern bewohnten. Sie war ihnen dankbar dafür, dass es keinen Zaun gab und dass sie mit ihren Gardinen so nachlässig waren. Oft gingen Mr. und Mrs. Dove abends am Küchenfenster vorbei oder saßen gut sichtbar am Esszimmertisch. Sie aßen nicht draußen unter der Ulme, wie Maurice es gesagt hatte, und sie fragte sich, warum er es gesagt hatte. Dann fragte sie sich, ob er noch etwas anderes gesagt hatte, das nicht zutraf. Sie schlug Kartätsche im Wörterbuch nach. Sie schlug Wörter nach, die sie las: sensitiv, Expletiv, inkarniert, und bald hatte sie ein mit Definitionen voll gestopftes Heft, das sie immer wieder durchging, als müsste sie alles auf der Stelle wissen. Im Grunde war sie nur viel zu hastig. Ihre Offenheit war so offen, dass Maurice sie lustig fand, als er nach dem Krieg schwach und blass wieder in das Leben zurückkehrte. Die geschmeidige Glacéhandschuhglätte der Birken, so kühl und feucht wie die mit Puderzucker bestäubten Doughnuts, die sie frühstücken sollte, wenn sie nach New York geflohen sein würde. Sogar das Licht sah nass aus. Sogar der buschige, zuckende Bewuchs am Lauf des Kanals, durch den sie dessen glänzende Biegungen sah, und darüber der kohlschwarze, glänzende Himmel: Alles sah nass aus. Häufig spielte sie Heiß und Kalt. Wenn sie durch das Arboretum zur Forschungsfarm ging, wurde ihr warm; auf dem Gehweg vor dem Haus seiner Eltern war ihr heiß; in ihrem eigenen Haus war ihr merkwürdig kalt, außer in ihrem Zimmer, wo sie Frieden empfand. Ihre Schwester und ihr Vater reizten sie bis aufs Blut, eine ewige Reibung, die sie wund machte von 143
vorne bis achtern, wie sie sich sagte, und dann schlug sie achtern im Wörterbuch nach. Es war kein Betrieb, kein Kommen und Gehen, kein Leben im Haus, nur ihre Schwester, die nach wie vor ständig putzte, strickte, nähte und kochte, und ihr Vater, der Radio hörte, die Zeitung las, Obstgärten in allen Einzelheiten plante und seine Mahlzeiten pünktlich zu sich nahm. Zum ersten Mal mussten sie sich um Geld keine Sorgen machen. Das Verdienst unseres Onkels, pflegte Ernest regelmäßig und dankbar zu sagen. Ein Haus, das von keiner Hypothek belastet war, ein gesundes Bankkonto, ein paar zuverlässige Anlagen. Das hatten sie geerbt. Ernest hatte vor, Farmland zu kaufen und daraus die Obstgärten zu machen, über die er und Dennis gesprochen hatten. Seine Pläne beschäftigen ihn; das Haus beschäftigte Lucinda. Nur Norma Joyce war ruhelos. Manchmal sorgte sie dafür, dass etwas geschah. Ende November, als Lucinda in einem anderen Teil des Hauses zu tun hatte, fing sie an, einen Kuchen zu backen, und nicht einfach irgendeinen Kuchen; sie raffte sämtliche Sultaninen und Korinthen in den Schränken zusammen und beeilte sich, um voll bei der Arbeit zu sein, wenn Lucinda erschien. Was für eine Freude, zu sehen, wie Lucinda in der Tür stand und verletzt war wegen der Verschwendung. Zu sehen, wie sie die Szene verzweifelt musterte, um herauszufinden, was noch zu retten war. Wie sie dann langsam auf den Tisch zukam. »Norma? Was machst du denn?« »Letztes Jahr gab es keinen.« »Brauchst du Hilfe?« »Du kennst mich doch«, sagte Norma Joyce. »Ich helfe nicht gern, und ich lasse mir nicht gern helfen.« »Welches Rezept hast du genommen?« 144
Sie hatte in Fanny Farmer eine Seite aufgeschlagen, die bis zu diesem Moment makellos gewesen war. Mit ihrem mehligen Butterfinger stach sie zu. »Ich bin jetzt hier.« Lucinda nahm das Buch, ging zur Spüle, wischte die Seite vorsichtig mit einem feuchten Tuch ab. Dann legte sie eine Schürze um Norma Joyce' Taille. Sie band sie fest. »Warum hast du nicht gefragt? Warum hast du mir nicht gesagt, dass du einen Weihnachtskuchen backen willst?« »Du hast gesagt, dass ich nie backe.« »Ich schlage vor, du sagst es mir nächstes Mal. Wir fangen dann mit etwas an, das nicht so anspruchsvoll ist.« »Du kannst ja auch die Küchenschränke abschließen.« »Fang keinen Streit an«, sagte Lucinda. »Ich stelle nur eine Tatsache fest.« »Die Tatsache ist, dass du Streit anfängst.« »Hast du etwas gegen meinen Ton?« Lucinda sah ihre verschwenderische, unscheinbare, hemmungslose, stichelnde Schwester an. Sie sagte: »Ich habe etwas gegen deinen Ton und deine Frechheit und dein Benehmen. Aber gegen dich habe ich nichts. Was geht mit dir vor, Norma? Was ist in dich gefahren? Ich finde, du hast dich verändert.« Und ein paar Stunden später sagte Lucinda: »Wir sind Schwestern, und das bedeutet viel, aber es ist nicht nur das. Ich bin dir dankbar, und ich vertraue dir.« Und draußen die Schärfe von Kiefernnadeln und Fichten. Das seltsam Staubige, Rauchige bestimmter dunkler Herbstfarben. Ein Apfel, der ein Spy ist, ein Spion. Sie hatte den Gedanken 145
immer gemocht, auch bevor sie erfuhr, dass das lateinische Wort für Apfel malum ist. Alle Holzäpfel im Arboretum waren Variationen des malum. Von malum kommt Malice, Bosheit, und das Wort tat seine Wirkung. Sie ging unter den Holzapfelbäumen spazieren und war wütend. Sie ging unter den Zypressen spazieren und war selig. Sie verstand, dass Jakob eine väterliche Hand spüren wollte, die seine Stirn glatt strich; sie hätte so etwas jedenfalls gemocht. Stattdessen stand sie unter Zypressen, die nie blühten und immer schön waren, von weit her aus Japan, und dachte, Lucinda vertraut mir. Ich wette, sie meint eigentlich: Sei vertrauenswürdig, denn du bist meine Schwester. Und als sie das begriffen hatte, als sie aus dem aufrichtigen Kompliment einen verhohlenen Befehl gemacht hatte, ging es ihr besser mit ihrer eigenen Vertrauensunwürdigkeit. Der Lavendelduft drang aus den Schubladen der Frisierkommode ihrer Schwester hervor. In der obersten Schublade lag unter den tadellos zusammengelegten Unterröcken Maurice' erster Brief. Auf dem Bord in Lucindas Wandschrank lagen, in Seidenpapier gewickelt, die bestickten rosa Pantoffeln, die ihre Mutter für sie bestimmt hatte. Sie waren Lucinda zu klein, aber ihr waren sie nicht zu klein, das wusste sie, denn sie hatte sie heimlich anprobiert, als ihre Schwester nicht zu Hause gewesen war. In der schmalen obersten Schublade der Kommode ihres Vaters (die Kommode, die sie auf der Farm mit Lucinda geteilt hatte) lag ein Umschlag, der Geld in Scheinen enthielt. Sie brachte Mrs. Dove einen ihrer Früchtekuchen. Es wird im Dezember gewesen sein. Sie erinnert sich, dass Mrs. Dove mit einem Staubtuch in der Hand an die Tür kam. »Ich bringe Ihnen etwas für die Weihnachtszeit«, sagte sie, und das genügte, 146
um eingelassen zu werden in den breiten Flur mit der Tür, die links ins Wohnzimmer führte, und der Treppe, die rechts in den ersten Stock führte. Der Flur war mit einem geometrischen Muster aus schwarzen und silberfarbenen Linien auf elfenbeinfarbenem Hintergrund tapeziert. »Ihr Haus ist schön«, sagte sie. »Ich frage mich, ob die Zimmer wie unsere sind. Ich glaube, Ihr Wohnzimmer ist größer.« »Möchtest du es sehen?«, fragte Mrs. Dove. Oh ja. Das Wohnzimmer war größer. Eine beige- und lachsfarbene Tapete, glänzende Möbel voller Kanten, ein Kamin aus Stein und ein Kaminsims aus geschnitztem Holz. »Ich bringe nur deinen herrlichen Früchtekuchen in die Speisekammer«, sagte Mrs. Dove, und Norma Joyce folgte ihr in die kleine weiße Küche, von deren Fenster aus man den Garten sah, der zu ihrem eigenen Haus hinunterführte. »Wir haben drei Schlafzimmer«, sagte Norma Joyce. »Sie auch?« Liebenswürdigerweise führte Mrs. Dove sie die enge Hintertreppe hinauf und zeigte ihr vier Schlafzimmer, und eines davon interessierte Norma Joyce. Zu ihrer Freude ging es nach Westen. Also sah man von dort auf ihr Haus. Wie bei den anderen Schlafzimmern blieb Mrs. Dove im Flur stehen, sodass Norma Joyce hineinsehen musste, ohne es zu betreten. Sie sah Maurice' Bett unter einem Quilt, seinen Schreibtisch und zwei hohe Bücherregale, dann schob Mrs. Dove sie wieder nach unten. Jetzt konnte sie sich vorstellen, wie er von Zimmer zu Zimmer ging. Sie konnte sogar sehen, wie er zu Bett ging. Sie stellte sich vor, wie sie neben ihm lag. Nur einmal – soweit sie sich erinnern kann – fiel ihre schwer 147
arbeitende Schwester aus der Rolle. Lucinda ging eines Tages, nachdem sie das Geschirr abgewaschen hatte, in einen Schönheitssalon bei Bank and Grove und ließ eine kosmetische Gesichtsbehandlung machen; es wurde Dampf und Lehm verwendet, und immer mehr Öl, bis sie hinter geschlossenen Augenlidern hörte, wie die Kosmetikerin rief: Nun schau sich
das einer an! Lucinda erzählte diese Geschichte nur zu gern. Ich schlug die Augen auf, sagte sie, und sah ein kleines Knäuel aus gaffenden Frauen. »Woher kommen Sie?«, fragte die Kosmetikerin, drehte die Flasche um und schüttelte sie staunend und mit leiser Entrüstung. »Saskatchewan.« »Saskatchewan«, flüsterte die Kosmetikerin. Saskatchewan, wiederholten alle. »Kein Wunder, dass Ihre Haut so trocken ist.« Und dort, in dem Kosmetiksalon mit den Trockenhauben, die wie glatte silberne Bienenstöcke in einer Reihe standen, mit der Spiegelreihe gegenüber, den Zeitschriften auf den niedrigen Tischen, dem Gesumm entspannter Unterhaltung, dem Geruch von Lippenstift und Shampoo, vermischt mit dem scharfen Geruch von Chemikalien, dort hatte Lucinda eine Idee, wie sie Geld verdienen konnte. Sie übte zuerst an sich selbst, dann an Norma Joyce, dann an der Nachbarin Mrs. Hulder (oder Mother Hulder, wie man sie wegen ihrer beiden rothaarigen Zwillingspaare nannte). Beim dritten Haarschopf war Lucinda Meisterin. Eine scharfe Schere, scharfe Augen, dasselbe gedankenlose Selbstvertrauen, das man braucht, um einen guten Teig zu machen, und sie war im Geschäft. Sie arbeitete zu Hause und nahm montags, mittwochs und freitags nachmittags von eins bis vier Kundinnen an, deren Haare sie in der Küche wusch und legte. Sie kaufte in einem Schönheitssalon, der geschlossen 148
wurde, zwei Trockenhauben und stellte sie auf die hintere Veranda, wenn sie nicht gebraucht wurden. Ernest hatte keine Einwände. Er lernte ihr aus dem Weg zu gehen, und Lucinda konnte nichts falsch machen. Ihr Name sprach sich herum. Wenn man einen guten Schnitt zu einem guten Preis haben wollte und dazu Tee und Kekse, dann ging man zu ihr. Nie war eine Kundin mit dem Ergebnis unzufrieden oder mit dem Preis, den sie berechnete: einen Dollar für einen Haarschnitt und fünf Dollar für eine Dauerwelle. Lucinda sparte jeden Cent und kaufte sich später ein schwarzes Ford-Kabriolett mit roten Sitzen. Nichts entspannte sie mehr als eine Fahrt in diesem Kabriolett. Während des Krieges fing Ernest an, Farmland an der alten Carp Road zu kaufen und Obstbäume zu pflanzen; später sollte er sich für eine Art Pomologie-Experten halten und im Winter Broschüren darüber schreiben, wie man Obst in einem rauen Klima anbaut. Norma Joyce ging zur Schule, erforschte bei jedem Wetter das Arboretum und sah im Mayfair so viele Filme, wie sie konnte. Nach der Hopewell School besuchte sie das Glebe Collegiate auf der anderen Seite des Kanals und fand dort eine Freundin, die den denkwürdigen Namen Hendrickje Jurrina de Vos (abgekürzt Hennie) trug. Hennie erzählte ihr stolz, dass sie ihren ersten Vornamen mit Rembrandts Frau Hendrickje Stoffels teilte, ein Umstand, der Norma Joyce entzückte und ihr Anlass gab, einen Besuch in der National Gallery vorzuschlagen. Damals war sie im Ostflügel des Victoria-Museums in der McLeod Street untergebracht. Hennie, in deren Elternhaus es viele Bücher gab, ganz zu schweigen von dicken Orientteppichen, die im Wohnzimmer über den Tischen ausgebreitet lagen wie auf den großen holländischen Gemälden, war ausgesprochen wenig beeindruckt. Du musst nach Europa fahren, um gute Kunst zu sehen, sagte sie. »Dann los«, sagte Norma Joyce, und auf dem Weg von der Schule nach Hause 149
planten sie in allen Einzelheiten ein Jahr in Europa, sobald die Alliierten gewonnen hatten. In Hennies Elternhaus in der Woodlawn Avenue machte Norma Joyce Bekanntschaft mit Hagelslag-Schokolade auf Butterbrot, eine seltene Freude angesichts der allgemeinen Knappheit und Rationierung. Hennies Vater, der in der Holländischen Botschaft arbeitete, behandelte seine Versorgungsquellen diskret. Hennie gab zu, dass sie die Schokoladensplitter zum Frühstück aß. Kein Porridge? Kein Porridge. Isst Prinzessin Juliana das auch zum Frühstück? Darüber musste Hennie lachen. Die beiden verfolgten ganz genau, was die Kronprinzessin tat, die während des Krieges in Ottawa lebte. Sie wussten, dass sie ihren Kinderwagen durch den Strathcona Park schob, allen huldvoll zunickte und immer zuerst grüßte. Eines Tages sahen sie tatsächlich ihre Mutter, Königin Wilhelmina, ins Freiman's Kaufhaus in der Rideau Street kommen. Eine hoffnungslos unmodisch gekleidete Frau mit ihrem weiten weißen Rock und dem weißen Oberteil, und sie verbeugte sich vor jedem Menschen im Kaufhaus. Norma Joyce fand, dass sie aussah wie ein viereckiger Briefumschlag – natürlich sagte sie das Hennie nicht, die ungeheuer stolz auf ihre wenig glanzvolle Königin war. Julianas kleine Mädchen waren bekanntermaßen pummelig und vergnügt. Zweifellos waren die Schokoladensplitter der Grund. Hennie kam auch zu Norma Joyce nach Hause, allerdings seltener. Sie machten zusammen am Esszimmertisch ihre Hausaufgaben und zogen sich dann nach oben in Norma Joyce' Zimmer zurück, um zu zeichnen. Eines Tages lagen sie nebeneinander auf dem Dreiviertelbett und fingen an, statt modisch gekleideter Frauen begehrenswerte Männer zu zeichnen. Hennie zeichnete den Kopf, Norma Joyce 150
die Ohren, Hennie die Augen, Norma Joyce den Mund. Als es an die Nase ging, bekamen sie nach Hennies Versuch einen hysterischen Anfall. Sie schlugen in beide Kissen, weil sie so sehr lachen mussten. »Ich zeige dir ein hübsches Gesicht«, sagte Norma Joyce. Sie ging in ihren Wandschrank – er war so groß, dass sie sich darin umdrehen konnte – und griff nach der Schnur, die mit der Glühbirne an der Wand verbunden war. »Warte einen Moment«, und die Tür des Wandschranks fiel hinter ihr zu. Sie legte den Koffer, der hinten im Wandschrank stand, auf den Fußboden, löste die Riemen und klappte ihn auf. Sie zog ihre Zigarrenkiste hervor, nahm den Schnappschuss heraus, stellte die Zigarrenkiste wieder hinein, löschte das Licht und trat aus dem Wandschrank. »Wer ist das?«, fragte Hennie. Norma Joyce hatte sich neben ihrer Freundin ausgestreckt. »Gefällt dir sein Gesicht?«, fragte sie.
»Meine Nase ist mir lieber.« Sie ließ das Bild los und rollte sich vor Lachen herum. Dann drehte sie sich auf die Seite und stützte sich auf einen Ellbogen. »Wer ist das?«, fragte sie wieder. »Mein Cousin.« »Er sieht nicht aus wie du.« »Er ist bei der Air Force.« »Komm, wir malen sein Gesicht ab«, sagte Hennie, und sie fingen damit an. Beide hatten unlinierte Notizbücher, die sie zum Zeichnen benutzten. »Wenn er dein Cousin ist«, fragte Hennie nach einer Weile, »warum versteckst du dann sein Bild?« Norma Joyce radierte seinen Mund aus und zeichnete ihn neu. »Weil ich es gestohlen habe«, sagte sie. An diesem Abend zog sie nach dem Essen seine Fotografie unter 151
ihrem Kopfkissen hervor; sie hatte es dort mit dem Gesicht nach unten liegen gelassen, als Hennie nach Hause gehen und sie den Tisch decken musste. Es war dämmrig. Sie saß auf ihrer Bettkante, drehte die Fotografie in ihrem Schoß und wurde ganz still. Maurice' Gesicht war ein leerer Fleck – als hätte jemand vergessen, diesen Teil der Platte zu belichten. Sie schaltete die Nachttischlampe an und hielt die Fotografie direkt unter das Licht. Seine Züge glitten an ihren Platz zurück. Offenbar hatten die Augen ihr einen Streich gespielt oder das schwindende Licht. Wie gewöhnlich wünschte sie sich, dass die Fotografie ihm ähnlicher wäre – dass sie ihn persönlich sehen könnte – dass Schnappschüsse wie Filme wären –, als sein Gesicht in zwei Hälften zu brechen schien. Eine Seite – die rechte – glitt herab. Jetzt lag ein Auge tiefer als das andere. Das ganze Gesicht war schief. Mrs. Dove kam an die Tür, und dort stand ein Mädchen mit einem wilden Gesicht – mit einem weißen Gesicht – sogar mit weißen Lippen – und plapperte etwas über ihren Sohn. Geht es ihm gut? Geht es Maurice gut? Beruhige dich, sagte sie zu ihr, du machst mir Angst. Arthur?, rief sie über die Schulter. Es tut mir Leid, sagte das Mädchen. Es tut mir wirklich sehr Leid. Und dann bemerkte Mrs. Dove, dass es das HardyMädchen war, das gleich unterhalb von ihnen wohnte. Das Mädchen packte ihre Hand. Mrs. Dove mochte es nicht, wenn man ihre Hand packte, und zog sie weg. Inzwischen war Maurice' Vater zu ihr in den Flur gekommen. Versprechen Sie mir etwas, sagte das Mädchen, und wandte sich damit an sie beide. Wenn Sie etwas von ihm hören – sobald Sie irgendetwas hören –, sagen Sie mir Bescheid. Aber als das Telegramm kam, 152
hörte Norma Joyce aus dritter Hand von Ernest, der es von Mrs. Hulder gehört hatte, dass Maurice Dove in einem Krankenhaus in England war. Er war mit seinem Flugzeug abgestürzt, und seine Mutter war außer sich. »Wann ist das passiert?«, fragte Lucinda. »Am vorletzten Montag«, sagte Norma Joyce. »Hast du mit den Doves gesprochen? Warum hast du es uns nicht erzählt?« Norma Joyce antwortete nicht. Sie sagte langsam: »Ich frage mich, wie er jetzt aussieht.« Von da an gab Mrs. Dove Nachrichten über Maurice weiter, wenn die kleine, dunkle Tochter fragte, auch wenn das Mädchen sie so beunruhigte. Dies war die Familie, von der Maurice gesprochen hatte. Merkwürdig, dass er die ältere Schwester so schön fand. Natürlich verlieren manche Frauen ihr gutes Aussehen früh, besonders auf einer Farm, aber Lucindas Haar wurde schon weiß. Und was die jüngere Schwester anging, die war ausgesprochen erschreckend. »Woher wusstest du, dass er verletzt ist?«, fragte Mrs. Dove sie. »Ich habe ihn am Fußende meines Bettes gesehen«, sagte Norma Joyce. Es war die einfachste Antwort, und sie sprach sie ganz natürlich aus, aber als sie das sagte, fiel ihr auf, dass sie ihren Bruder Norman schon lange nicht mehr gesehen hatte, nicht, seit sie aus Saskatchewan weggegangen waren. Maurice erholte sich lange und langsam, aber offenbar vollständig. Acht Monate nach dem Unfall flog er wieder, obwohl der Krieg ganz bestimmt schon fast vorbei war, und mit Gottes Gnade, sagte seine Mutter, werde er bald zu Hause sein. Inzwischen war es Frühling 1945. Am 7. Mai versammelte der Rektor des Glebe Collegiate die Schülerinnen in dem ehrwürdigen Auditorium mit den Buntglasfenstern und verkündete, dass Deutschland sich 153
ergeben habe. Der Krieg sei vorbei, frohlockte er, und der Rest des Tages gehöre ihnen! Die Schülerinnen, darunter Norma Joyce und Hennie, strömten aus der Schule und in die Stadt, wo Tausende von Menschen mit einem Male auf der Sparks Street marschierten und schrien und sangen, während ein Schneesturm aus Papier um ihre Köpfe wirbelte. Norma Joyce watete in zerfetzten Steuerunterlagen, Briefköpfen, Addiermaschinenpapier, Lochstreifen und Konfetti herum. Dann zog eine zusammengewürfelte Kapelle in blauen Mänteln beschwingt die Straße entlang und spielte einen Marsch nach dem anderen, und nach tagelangem kaltem Regen schien die Sonne. Sie kam erst um drei Uhr nach Hause. Lucinda nahm die Kleider von der Leine – es war Montag, und nicht einmal das Ende eines Weltkriegs konnte den Waschtag stören –, und Ernest hörte Radio. In den kommenden Monaten hielten sich ihre Vorfreude auf Maurice' Rückkehr und ihr Kummer über Hennies Abreise die Waage. Wie Prinzessin Juliana gingen Hennie und ihre Familie nach Holland zurück. Im August tauschten die beiden Mädchen Abschiedsgeschenke aus. Sie schenkte Hennie ein Exemplar von Tess of the d'Urbervilles. Hennie schenkte ihr ein Buch, das sie immer noch hat. The Natural Way to Draw von Kimon Nicolaides. Man kann jeden Gegenstand zeichnen, schrieb Nicolaides, »auch wenn die von der Natur geformten oder durch langen Gebrauch abgenutzten Dinge wohl die größte Vielfalt an Variationen bieten, wie eine Blume, ein Stein, ein Stück Obst oder ein alter Schuh«.
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Es war Lucinda, die ihn als Erste sah. An einem kühlen und wolkigen Nachmittag am Ende des folgenden Maies ging sie mit einer Tüte Lebensmittel im Arm die Sunnyside Avenue entlang. In ihrer Tüte waren ein kleiner Sack Kartoffeln, ein Dutzend Zwiebeln, ein Schulterbraten und ein Laib Brot. Einen halben Block von der Seneca entfernt sah sie ihn um die Ecke kommen. Seine Hände steckten in den Taschen, sein Blick war auf den Boden gerichtet. Sie war nicht darauf vorbereitet, dass er so dünn und so wirklich, so körperlich war. Lucinda verlangsamte ihren Schritt, und sie nahm die Kleidung wahr, die seine langen Glieder bedeckte, die Spuren des Schlafs der letzten Nacht in seinem zerwühlten Haar, die Blässe seiner Haut, die Möglichkeit, dass sein Atem nach Getreide roch. Es war geradezu abstoßend, auch wenn sie nicht wusste, warum. Er sah auf, und sie konnte sehen, dass eines seiner Augen ein wenig höher saß als das andere und dass eine Narbe quer durch seine rechte Augenbraue verlief. Er sah ihr sogar ins Gesicht, nickte und ging ohne einen Schimmer des Wiedererkennens vorbei. In der Küche stellte sie die Lebensmittel auf den Tisch und sagte zu Norma Joyce, die gerade aus der Schule nach Hause gekommen war: »Maurice Dove ist zurück.« Aber auf jede Frage – Wann ist er nach Hause gekommen? Kommt er uns besuchen? Geht es ihm besser? – gab sie zur Antwort, sie wisse es nicht. »Hast du nicht mit ihm
gesprochen?« »Nein.« Sie legte den Laib Brot in den Brotkasten, der auf der 155
Küchentheke links neben der Spüle stand. »Habe ich nicht.« »Wieso nicht? Wieso hast du nicht mit ihm gesprochen?« »Weil er glatt an mir vorbeigegangen ist.« Jetzt brachte sie den Braten und die Kartoffeln zur Spüle. »Er hat dich nicht gesehen.« »Er hat mich gesehen.« Sie drehte sich um und sah Norma Joyce an. »Er hat mich gesehen«, sagte sie wieder. »Er hat mich einfach nicht erkannt.« Dann zuckte sie mit den Schultern. »Es ist lange her.« Ihr Gesicht hatte diesen Ausdruck aus der Prärie, mit dem man sich einer unvermeidlichen Wahrheit beugt. So ist das eben; beim nächsten Mal mehr Glück. Der folgende Tag war der erste Juni, einer von vielen kühlen, grauen, enttäuschenden Tagen, wenn man darauf wartet, dass der Sommer kommt. Um elf Uhr morgens ging Maurice Dove die vordere Treppe seines Hauses hinunter. Er wandte sich nach links und ging zur Aylmer Avenue, wandte sich nach rechts und ging in Richtung Bank Street, wo er sich wieder links hielt – ein großer Mann, der keine Eile hatte und dem in einiger Entfernung ein Mädchen mit weißen Handschuhen folgte. Er überquerte die Brücke an der Bank Street und ging weiter bis zu dem Zeitungsladen zwischen Fourth und Fifth Avenue. Er ging hinein. Norma Joyce wartete draußen. Sie hatte seit dem vorherigen Nachmittag nichts mehr essen können. Ihr Bauch tat weh, und sie fühlte sich benommen. Maurice kam mit einem Exemplar des Journal heraus; er stand einen Augenblick da und war nicht sicher, wohin er gehen sollte, bis er links hinter sich ein dumpfes Geräusch hörte. Er kniete auf dem Gehweg nieder und tätschelte die Hand des Mädchens. Sie trug diese dünnen weißen Baumwollhandschuhe, 156
die die Mädchen in der Sonntagsschule trugen, aber es war Samstag. Er zog ihr die Handschuhe aus, um ihre Hände zur besseren Durchblutung zu reiben, und sah seinen Ring. Maurice war an die unterschiedlichen Schrecken des Krieges gewöhnt, aber nicht an Überraschungen aus der Vergangenheit. Er blickte von seinem Ring in das aschene Gesicht und empfand Faszination und Bestürzung zugleich. (»Seit ich dich kenne«, wird er ihr eines Tages sagen, »hast du in mir mehr gemischte Gefühle geweckt als jeder andere Mensch, den ich kenne.«) Der Krieg hatte ihn verändert. Er war in gewisser Weise entspannter, in anderer willkürlicher, entschlossener. Er hatte für King George eigene Pläne verschoben, und er würde sie nicht noch einmal verschieben; er hatte das Gefühl, in Eile zu sein, und das wurde dadurch verstärkt, dass er dem Tod so nahe gewesen war; und er hatte das Gefühl, Glück gehabt zu haben, was durch den Anblick seines lange verlorenen Rings nur bestätigt wurde. Norma Joyce schlug die Augen auf, und da war er, er kam wieder aus dem Schnee: weiße Flecken trieben in der Luft. Um sich vorzustellen, flüsterte sie: »Norma Joyce.« »Ich weiß.« Die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück. Er legte seine Hand unter ihren Kopf. »Geht's besser?« »Dann erinnerst du dich.« »Saskatchewan«, sagte er. »Willow Bend.« Sie setzte sich auf, und Maurice hockte nun neben ihr. »Ich habe deinen Ring gefunden«, sagte sie, wie sie es geplant hatte. »Das sehe ich.« Er half ihr auf, nahm ihren Arm und führte sie in das nächste Café, wo er fragte, ob sie Eistee wolle oder Limonade, und sie 157
sagte, ja, Limonade. Sie löste das weiße Klebeband um die Innenseite des Rings herum ab und legte den Ring vor ihn auf den Tisch. Er nahm ihn, legte ihn in seine offene linke Handfläche, drehte ihn um und ließ ihn dann über den Ringfinger seiner linken Hand gleiten, wo er locker saß. »Meine Mutter hat Recht«, sagte er. »Ich habe abgenommen.« »Mir gefällt, wie du aussiehst«, sagte sie fest, und er lächelte. Er sagte: »Gefällt es dir, wie ich mich verändert habe?« Sie nickte. »Du siehst interessanter aus.« »Du klingst wie eine Malerin«, sagte er. Es amüsierte und freute ihn und sie auch. »Ich habe deine Aquarellfarben benutzt, bis sie alle waren«, sagte sie, »aber den Kasten habe ich immer noch.« Dann sagte sie, sie wolle alles über sein Leben während des Krieges hören. Er solle am Anfang beginnen und ihr alles erzählen, was er gesehen und getan hatte. »Zuerst möchte ich dich etwas fragen«, sagte er, und er hob die Hand, an der der Ring steckte. »Wo war er?« Sie griff nach ihrem Limonadenglas. »Unter dem Herd«, sagte sie, nahm einen kleinen Schluck und sah ihn an. »Als wir umgezogen sind, habe ich ihn gefunden.« »Scharfe Augen«, sagte er. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Scharfe blaue Augen«, sagte er. »Daran erinnere ich mich.« Er lächelte sie an – ein amüsiertes, weltliches, zärtliches Lächeln, das sie durchdrang. Sie konnte spüren, wie es zwischen ihren Rippen eindrang und auf der anderen Seite herauskam. Und an Lucinda war er vorbeigegangen. »Woran erinnerst du dich noch?«, fragte sie und sah ihn so eindringlich an, dass er lachen musste. 158
»Warum? Habe ich etwas vergessen, das ich nicht vergessen sollte?« »Erinnerst du dich an meine Schwester?« »Ich erinnere mich an deine Schwester«, sagte er. »Ich erinnere mich gut an sie.« Aber ihr Name wollte ihm um nichts in der Welt mehr einfallen. Bevor sie auseinander gingen – er sagte, er sei unterwegs in die Stadt –, nahm sie ihm das Versprechen ab, dass er sie am nächsten Nachmittag besuchen würde. Maurice kam den Abhang hinunter zum Tee. Er trug keine Kopfbedeckung und war gekleidet für eine Hitze, die noch immer nicht gekommen war – eine leichte Sommerhose, ein Hemd mit weichem Kragen, das am Hals offen stand und dessen Ärmel umgeschlagen waren, und Sandalen. Ernest beobachtete ihn vom Küchenfenster aus und dachte, hier kommt der Flieger, hier kommt der Schönling. Er machte sich Sorgen um Lucinda. Es war wirklich nicht nötig, dass man ihr das Herz noch einmal brach. Norma Joyce hatte ihn vom selben Fenster aus beobachtet; sie schoss zur Hintertür und öffnete sie, bevor er klopfte. Sie führte ihn herein, wo Ernest ihn höflich, aber zurückhaltend willkommen hieß – er schüttelte ihm die Hand, gratulierte ihm zu seiner sicheren Rückkehr und erlaubte sich einen langen Blick auf diese Sandalen. Lucinda trug ein frisch gebügeltes weißes Kleid mit marineblauen Taschen. Wenn sie nach draußen gingen, würde sie sich einen weißen Pullover über die Schultern werfen. Ihr Vater musste sich keine Sorgen machen. Ihr ging es gut. Sie sah Maurice in die Augen und lud ihn in 159
ruhigem, angenehmem Ton ein, draußen unter dem Apfelbaum zu sitzen, wenn es ihm nicht zu kühl sei. Unter dem Baum standen zwei große, dunkelgrün gestrichene Muskoka-Sessel und ein Gartenklappstuhl aus Segeltuch. Norma Joyce holte einen Schemel von der hinteren Veranda, und Maurice nahm ihn ihr aus der Hand. Er trug ihn zu dem Baum und stellte ihn neben den Segeltuchstuhl. Lucinda brachte ein Tablett mit der Teekanne unter ihrem wattierten Wärmer, den geblümten Teetassen, dem Sahnekännchen mit der Milch, den Löffeln, den Servietten und einem Teller Zuckerkekse. Sie stellte es auf einen kleinen hölzernen Tisch, der neben einem der Muskoka-Sessel stand. »Brauchst du keinen Pullover?«, sagte sie zu ihrer Schwester, aber Norma Joyce hatte nicht einmal bemerkt, dass die Sonne jetzt hinter den Wolken stand und ein leichter Wind sich regte. Als sie dann saßen – Norma Joyce auf dem Schemel, Maurice neben ihr in dem Segeltuchstuhl, Ernest und Lucinda ihnen gegenüber in den Muskoka-Sesseln –, sagte Ernest, er habe außer einem katholischen Priester noch nie jemanden Sandalen tragen sehen. Maurice lächelte nur. Er erklärte, dass ein Kumpel von ihm sie in Nordafrika aufgelesen hatte. Auch ein Flieger? Nein, ein Soldat, der sich im selben Krankenhaus erholte. Unsere Betten standen zwei Monate lang nebeneinander – unglücklicherweise ist er nicht durchgekommen. Hat er Ihnen seine Sandalen hinterlassen? Gewissermaßen. »Sie sind erstaunlich bequem«, fügte er hinzu. »Hier drüben trägt niemand so etwas«, sagte Lucinda mild und verbündete sich so mit ihrem Vater. Sie hatte den Tee ausgeschenkt, und jetzt reichte sie ihrem Vater eine Tasse, dann Maurice, dann ihrer Schwester. Norma Joyce schob ihren Schemel näher an den Segeltuchstuhl heran. »Jesus hat Sandalen getragen«, sagte sie. 160
Maurice lachte. »Da bin ich in besserer Gesellschaft, als ich dachte.« Er sah auf sie herab, und das Funkeln in seinen Augen war belustigt und neckend, wie in alten Zeiten, aber doch auf eine Weise anders, die sie durcheinander brachte. Hochmütig? Spöttisch? Wahrscheinlich war es verändert durch eine Erfahrung, von der keine Frau etwas wusste, wie sein Blick erahnen ließ. »Ich will wissen«, sagte sie, »wie du mit dem Flugzeug abgestürzt bist.«
»Norma«, empörte sich Lucinda. »Meine Schwester hat sich nicht verändert.« Aber Maurice sagte, es mache ihm nichts aus. Es sei passiert, als er sich bei schlechtem Wetter verflogen hatte. Er hatte Befehl, ohne Funk zu einem Übungsflug aufzusteigen – Funkgeräte waren knapp, alles war knapp –, und als er über der Nordsee war, zog sich der Nebel zusammen. Er schlug den Rückweg ein, aber er konnte sich nicht orientieren, also drückte er das Flugzeug nach unten und flog tief, bis er Eisenbahnschienen sah. Er folgte den Schienen zwischen Hügeln, bis das Land flacher wurde, dann kam eine Landebahn in Sicht, aber er schoss darüber hinaus, kippte vornüber und überschlug sich. Er erzählte so freimütig, er stellte seine Fehler und seinen Mut so unbeschwert dar, dass Ernest sich kampflos ergab. Sie kamen überein, dass Neville Chamberlain als Vogelbeobachter gut war, aber nicht als Premierminister, sie jammerten über die Wählerschaft, die so wankelmütig war, dass sie Churchill aus dem Amt werfen würde, sie waren einhellig der Meinung, dass der Krieg Verschwendung, aber notwendig war und ein kämpferisches Temperament erforderlich, um ihn wirkungsvoll zu führen. Sie waren in jeder Hinsicht einer 161
Meinung – zu Norma Joyce' Überraschung. Sie hörte zu, aber hauptsächlich beobachtete sie. Sie hatte ihren Schemel wieder verschoben, angeblich, um näher bei den Keksen zu sein, aber in Wirklichkeit, um Maurice besser im Blick zu haben. Sie saß jetzt rechts von Lucinda, schräg gegenüber von ihm, und konnte sein verändertes Gesicht studieren. Sein linker Wangenknochen war ein wenig eingedrückt, wie sie jetzt merkte, und er sah älter, hungriger und härter aus; auch wenn er weicher sprach. Er sah Lucinda kurz an – und nahm von Kopf bis Fuß alles an ihr mit einem schnellen, kühlen Blick in sich auf. Er sah, dass Norma Joyce ihn beobachtete, und zwinkerte. Sie grinste zurück. »Wie lange musstest du im Krankenhaus bleiben?«, fragte sie. »Sechs Monate. Aber dann musste ich gehen, weil die Krankenschwester mich heiraten wollte.« Alle lachten, und jeder außer Norma Joyce hätte es dabei belassen. Aber sie richtete ihren Blick unverwandt auf sein Gesicht. »Wieso wolltest du sie nicht heiraten?« Er hob nur die Augenbrauen und lächelte über die Frage hinweg, so dass sie eine andere stellte. »Stimmt es, dass die Flieger große Trinker sind? Wir haben gehört, dass sie die ganze Zeit Gin trinken, sogar in der Luft.« Diesmal zwinkerte er Lucinda zu. »Sie haben Recht«, sagte er. »Ihre Schwester hat sich nicht verändert.« Ernest fragte schließlich nach seinen Plänen für die Zukunft – aber auch da legte Maurice sich nicht fest. Er hatte vor, den Sommer mit Faulenzen zu verbringen, und dann, wer weiß? Er wolle reisen und schreiben, aber er müsse einen Weg finden, um Geld zu verdienen. Er werde den Sommer für sich selbst nehmen, und dann werde er sich ernsthaft um die Zukunft 162
kümmern. »Weißt du denn nicht, was du machen willst?«, fragte Norma Joyce. »Ich weiß ganz genau, was ich machen will«, sagte er. Ernest pflichtete ihm bei. »Nehmen Sie sich Zeit«, riet er. »Gönnen Sie sich einen Tapetenwechsel.« Und dann erwähnte Maurice Lake Clear. »Wir haben eine Hütte«, sagte er. »Kommen Sie doch vorbei, zum Schwimmen und auf ein Picknick.« Sein entspannter Blick schloss alle drei Hardys ein, bis er daran dachte, woher sie kamen. »Können Sie schwimmen?«, fragte er die beiden Schwestern. »Du hast versprochen, es mir zu zeigen«, sagte Norma Joyce. »Habe ich das?« »Er hatte andere Sachen im Kopf«, sagte Lucinda. Maurice lächelte sie an, diese Frau, die sich gestattet hatte, so weich und breit zu werden wie ein altes Sofa auf einer Veranda hinter dem Haus. »Wo ist Lake Clear?«, fragte Norma Joyce. Maurice zog einen Umschlag aus der Tasche und zeichnete auf die Rückseite eine Karte, die den Weg zum Lake Clear zeigte, mit einem X für die Hütte. »Lucinda kann fahren«, sagte Norma Joyce. »Sie bringt es mir bei. In drei Wochen versuche ich den Führerschein zu machen.« »Dann kommen Sie nächstes Wochenende. Kommen Sie am Samstag«, drängte er. »Fahrt doch hin«, sagte Ernest, er sah Lucinda an und vergaß die Sorgen, die er noch vor einer Stunde gehabt hatte. »Ich passe, aber ihr könnt doch fahren.« »Es ist zu kalt zum Schwimmen«, sagte sie. »Wie spät es Frühling geworden ist.« 163
Der Wind hatte sich gelegt, aber es war immer noch kühl. Doch kein Ungeziefer, außer einer Biene, die um Norma Joyce herumflog. »Bienen lieben Norma Joyce«, sagte Lucinda. Ihre Schwester lächelte geheimnisvoll und pustete auf ihren Tee. »Na gut«, sagte Maurice. »Erzähl.« Norma Joyce lächelte wieder. Sie sagte: »Ich habe unter diesem Baum gesessen, im Mai. Ich habe mein Haar in der Sonne getrocknet und mich nach vorn gebeugt, so dass es über mein Gesicht fiel, und ich habe von weitem so ein Summen gehört. Es wurde immer lauter«, sagte sie. »Rate mal, was das war?« Sie beobachtete sein Gesicht und war über sein Interesse hocherfreut. »Ein Bienenschwarm hat sich auf meinen Kopf gesetzt.« »Der Shampoo-Geruch«, rief er aus. »Sie haben dich mit einer Honigquelle verwechselt.« Die Honigquelle grinste zurück, und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie voll und rund ihre Brüste unter der blassgelben Bluse mit den zwei, nein, drei offenen Knöpfen waren. »Gerry Hulder hat sie vertrieben.« Sie wies mit einer Kopfbewegung auf das Haus nebenan. »Er hat eine lange Kleiderbürste genommen und sie aus meinem Haar gebürstet.« »Du hast sicher ganz still gehalten.« Wie rund ihre Brüste waren und wie voll ihre Lippen, die auf den Tee pusteten. »Sie haben auf dem Boden gelegen«, sagte sie, »und dann sind sie weggeflogen.« »Gerry ist der mit den vielen Sommersprossen?«
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»Joe hat noch mehr. Aber man kann sie kaum auseinander halten.« Er betrachtete wie sie das Haus nebenan, wo auf drei verschiedenen Leinen Laken und Kissenbezüge hingen. Mother H. nahm immer noch Wäsche an, das hatte sich nicht geändert. Dann fragte er: »Sind Sie glücklich hier?« Er hatte sich umgedreht und sah sie alle drei an, und er staunte, wie sehr sich diese Umgebung von der in Saskatchewan unterschied. »Ist Ontario so, wie Sie gehofft hatten?« Lucinda warf ihrem Vater einen Blick zu. Das war eine dieser persönlichen Fragen, bei denen er sich unwohl fühlte, und tatsächlich sah er entschlossen auf seine Tasse herab. »Ja«, sagte sie schnell. »Sind wir.« »Ich nicht«, protestierte Norma Joyce. »Ich bin nicht glücklich.« Und da war das verlegene Lachen ihrer Schwester, das sie nicht beachtete, weil sie Gefallen an diesem ernsthaften Thema fand. »Ich will in einer großen Stadt leben oder gleich im Wald. Ottawa liegt dazwischen, findest du nicht, Maurice? Es ist keine richtige Stadt, und es ist nicht das Land. Es ist ein Nirgendwo«, und plötzlich wurde sie leidenschaftlicher, als sie es wollte. Unmäßig. »Ich würde nicht sagen, dass es ein Nirgendwo ist«, sagte er freundlich. »Bisher hat es dir ganz gut gefallen«, sagte Lucinda. »Ich habe gehört, wie du Mother Hulder erzählt hast, dass es dir sehr gut gefällt.« »Und Sie, Lucinda?« Er versuchte sich daran zu erinnern, wie alt sie war. Das Weiß in ihrem Haar war trügerisch. Sie war immer noch schön, man 165
musste nur zwei Mal hinsehen. »Gefällt es Ihnen?« »Es ist sehr grün«, antwortete sie lächelnd, »es ist sehr friedlich. Ja, es gefällt mir.« Sie entschuldigte sich und ging hinein, um den Zitronenbaiserkuchen zu holen. Er war wahrscheinlich inzwischen fest geworden. Und dann hatte er nur noch Augen für den Kuchen. Man betrachte irgendeinen Mann, auch wenn er neunzig Jahre alt ist und sabbert – beim Anblick eines hausgemachten Kuchens lebt noch der allerletzte Funke seines Geistes auf. »Woher wussten Sie, dass Zitronenbaiser mein Lieblingskuchen ist?« »Du hast es uns erzählt!«, sagte Norma Joyce. »Habe ich das?« Er amüsierte sich über sie und über sich selbst. Sie war immer noch klein, trotz ihrer Brüste. Immer noch unscheinbar, trotz ihres Mundes. »Du hast ein Gedächtnis wie ein Elefant«, sagte er. »Ein indischer Elefant oder ein afrikanischer Elefant?« »Welcher hat die großen Ohren?« »Findest du meine Ohren groß?« So verletzt und überrascht, dass er und Lucinda in Gelächter ausbrachen. Und dann wurde der Spieß umgedreht. Maurice wollte wissen, ob Lucinda noch immer ihren berühmten Biskuitkuchen machte, und das Gelächter erstarb. »Ich hatte ihn satt«, sagte sie. »Man hat es irgendwann satt, immer dasselbe zu machen.« »Lassen Sie den Brauch wenigstens an Geburtstagen wieder aufleben.« Er balancierte seinen Teller auf seinem Knie. »Wer hat als Nächstes Geburtstag?« 166
Niemand gab Antwort. Ernest rührte sich in seinem Sessel. »Ausgezeichneter Kuchen, Lucinda. Ich hoffe, wir bekommen noch ein Stück.« Er fing ihren Blick ein, und sie lächelte ihm dankbar zu. »Lucinda hat als Nächstes Geburtstag«, sagte Norma Joyce. »Am 13. Juni.« »Lucinda June Hardy«, stolz auf sich, weil er sich daran erinnerte. »Ich erwarte eine Einladung. Ich bringe zwei Geschenke mit, um den Geburtstag auszugleichen, den ich verpasst habe.« Das kam unerwartet. Sie legte ihre Gabel hin. Sie sagte beinahe zu sich selbst, so leise war ihre Stimme: »Ich habe auf Sie gewartet.« Unter dem Apfelbaum. Er führte einen weiteren Bissen Zitronenbaiserkuchen zum Mund. Köstlich, sagte er, wirklich köstlich, Sie haben das Gefühl dafür nicht verloren, und er hörte ihr nicht richtig zu, weil er mit seinem Kuchen beschäftigt war. Wie konnte ein Mann so fröhlich sein, fragte sie sich, so sonnig, so ungekünstelt und zugleich so verletzend? »Ich habe gewartet, und Sie sind nicht gekommen«, sagte sie. »Aber Sie haben doch meinen Brief bekommen?« »Ja«, sagte sie. Sie blickte in sein verwirrtes Gesicht. »In Ihrem Brief stand, Sie hoffen immer noch, dass Sie kommen können.« Norma Joyce und ihr Vater waren sehr still. »Es gab noch einen zweiten Brief«, sagte er. »Wissen Sie das nicht mehr? Ich habe erklärt, dass ich es doch nicht schaffe.« Und sie dachte, ich habe keinen zweiten Brief bekommen, weil du keinen geschrieben hast. Vielleicht hattest du es vor. Aber es kam kein Brief.
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Lucinda forschte nicht wie ihre Schwester, sie stürmte nicht los. Sie musste ihren Widerwillen überwinden – das zuerst –, bevor sie einen zweiten Schritt unternahm. Am folgenden Samstag versuchte Maurice sie in den eisigen Lake Clear zu locken, aber sie wich nicht von dem warmen Sand, und dann war er zu sehr damit beschäftigt, sich gegen den Ansturm der Wellen zu verteidigen, um noch an Lucinda zu denken. Später lagen er und Norma Joyce hechelnd auf Handtüchern in der Sonne, während Lucinda zum Auto ging, um den Picknickkorb zu holen. Seine Augen waren geschlossen, er nickte ein. Sie stützte sich auf einen Ellbogen, um jedes kleine Stück der blassen, schnurrbärtigen Haut zu studieren, die leuchtende Narbe, nasse Lippen, aufblitzende Zähne. Die Liebe machte ihr Mut, und sie griff fest in sein Haar und zog daran, dann setzte sie einen Kuss auf seinen Mund, als der gerade aufschrie. Unten am Strand rannte er hinter ihr her ins Wasser, wo sie einander traktierten, bis sie blau vor Kälte waren. Er fand in der Hütte einen alten Daunenschlafsack und breitete ihn auf der Wiese aus. Sie wickelte sich darin ein, um sich aufzuwärmen, und als sie hervorkam, war ihr Körper mit winzigen Federn bedeckt. Es ist immer ein wichtiger Punkt in den alten Märchen, dass der Prinz zur Vergesslichkeit neigt. Aber vielleicht gehören Charme und Vergesslichkeit zusammen. Vielleicht erlaubt die Vergesslichkeit solchen Menschen, charmant zu sein, denn sie merken sich nicht so viel, dass es zur Last würde. Also vergessen die Märchenprinzen ihre wahre Liebe, bis etwas sie daran erinnert, ein Schuh, der passt, oder ein Ring, den sie wieder erkennen, oder eine Welle Wasser im Gesicht. In diesen überschwänglichen Tagen nach seiner Rückkehr tat Norma Joyce ihr Bestes, um unvergesslich zu sein. 168
Am nächsten Wochenende fuhren sie allein. Wegen des Schwimmunterrichts, sagte sie. Lucinda war krank, sie hatte Migräne, die am Donnerstag gekommen war und sie vor den Schwierigkeiten ihres sechsundzwanzigsten Geburtstags rettete; Ernest hatte mit seinen Apfelbäumen zu tun. Maurice lieh sich das Auto seines Vaters aus, und sie fuhren am Mittag los. Man brauchte zwei Stunden bis zum See. Im Auto legte sie ihre Hand auf seine Wange, dann auf das milchigere, weichere Fleisch unter seinem Kinn, das ihren Blick von Anfang auf sich gezogen hatte. Sie sagte: »Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist blau.« »Ist es ganz blau?«, fragte er. »Hat es einen schwarzen Rand? Kann man es leicht in die Hand nehmen?« Er hatte immer noch diese entspannte, aufmerksame Art, etwas mit Raten zum Leben zu erwecken. »Gehört es zum Auto? Ist es der blaue Himmel im Seitenspiegel?« Der Sommer war gekommen. In der Hütte war es dunkel und kühl und draußen heiß und hell. Es gab einen kleinen Strand, zu dem man zehn Minuten auf einer ungepflasterten Straße gehen musste, und ganz in der Nähe war die Felsnase aus Granit. Von dort aus konnte man direkt in tiefes blaugrünes Wasser tauchen oder am Strand in flachem Wasser waten. In der Nähe der Hütte war das Gras weich, wenn es Gras gab, eine Miniaturwiese mit Kiefern am Rand. Näher am Wasser lagen große Granitplatten herum wie Banketttische. Bald betrachtete Maurice die Flecken, welche die Flechten auf den Felsen bildeten, durch ein kleines Vergrößerungsglas, das an seinem Taschenmesser befestigt war. Sie kniete sich neben ihn. Er sagte, dass er die Flechten mit seinem Messer abkratzte, wenn er eine Probe haben wollte, oder Wasser darüber goss, damit sie anschwollen und dadurch leicht zu lösen waren. Er reichte ihr das Vergrößerungsglas, und sie 169
beugte sich tief hinunter. Sie sah zu, wie die Flechte sich plötzlich verformte, er sah zu, wie ihre Brüste gegen ihre Bluse drückten. Die Flechte war aschgrau und fühlte sich steif an. Wie nennt man die, fragte sie. Lichtflechte, antwortete er. Sie sieht dürr aus, sagte sie. Nein, lachend, sie gedeiht. Und diese, die winzige schwarze? Wenn sie größer wird, sagte er, sieht sie aus wie eine verbrannte schwarze Rose. Nah am Grund war es wärmer als einen halben Meter weiter oben, etwa fünf bis zehn Grad. Diesmal schwammen sie vom Felsen aus los. Er band ein Seil um ihre Taille, und schon sprang sie hinein, denn das sanfte Ziehen, das sie am Seil spürte, machte sie sicher. Unter seinem aufmerksamen, anerkennenden Blick lernte sie minutenschnell, von Natur aus begabt, sagte er, eine geborene Schwimmerin. (Seither hat sie wahre Geschichten gehört von Frauen, die ihren Schwimmlehrer heirateten. Der Maler Albert Franck, der am Oakwood Swimming Pool in Toronto arbeitete, sah zum Beispiel seine zukünftige Frau unter sich vorüberschwimmen; vielleicht verliebte er sich in ihren schönen Rücken, dieser Mann, der die Rückseiten alter Häuser in Toronto malte.) Sie fuhren am späten Nachmittag nach Hause. Im Auto legte Maurice seine Hand für einen Augenblick auf ihr bloßes Knie, und sie war elektrisiert. Sie erinnerte sich an ein Mädchen in der Schule, ein schlechtes Mädchen, das sagte, dass Sex aufregender war als Riesenradfahren. Eine Stunde später prickelte ihr Knie noch immer. Das reichte aus, um sie glauben zu machen, dass die Leidenschaft in Wirklichkeit in den Knien sitzt. Eine behutsame Diebin; das Geräusch des Regens am nächsten 170
Morgen, als der Flieder verblüht war und die Taglilien kamen. Sie schlüpfte mit bloßen Füßen nach draußen, pflückte eine Lilie aus der Gruppe am unteren Ende seines Gartens und schaute hinauf zu dem Schlafzimmerfenster, von dem sie wusste, dass es seines war. Sie ging den Abhang hinauf zur Hintertür; sie wurde nie abgeschlossen, aber bewacht vom alten Sammy, der sie kannte. Sie kraulte Sammys Ohren. Durch den Regen kam die Dämmerung spät. Die Luft war graublau. Keine erkennbaren Spuren; Mrs. Dove vergewisserte sich, dass es nur der Regen war, und legte sich wieder schlafen. Und sie ging die Hintertreppe hinauf und in sein Zimmer mit dem Fenster, das nach Westen wies. Sie kletterte neben ihn ins Bett, und er rührte sich nicht. Ein fester Schläfer, und warm. Sie rückte näher heran, bis sie seinen großen, nackten Rücken berührte, der Hitze ausstrahlte. Er rollte sich herum und schlug die Augen auf, und sie sagte: »Ich konnte nicht schlafen.« Er hatte eine bestimmte Art, sich das Gesicht zu reiben, und das tat er jetzt – mit der flachen Hand fuhr er sich fest im Gesicht hin und her, wie man es tut, wenn man sich am Morgen als Erstes kräftig wäscht oder wenn man versucht, sich spät nachts wach zu halten. Dann drückte er sein Kissen an das Bettgestell, lehnte sich zurück und sah sie an. In diesem Licht wirkte sie älter. Ihre Erscheinung und ihr Annäherungsversuch erinnerten ihn an die kleine englische Krankenschwester, der er gerade entkommen war. »Zisch ab«, sagte er. Sie ließ die Lilie und eines ihrer langen schwarzen Haare zurück. Er nahm das Haar vom Kopfkissen und zwirbelte es zwischen den Fingern. Es hätte ein Stück Angelschnur sein können, weil es so grob und drahtig war. Kein Haken daran, und doch fühlte er sich so gezogen. Als er die Augen schloss, sah 171
er sie auf seinem Kissen liegen. Sie sagte ihrem Vater, sie wolle draußen schlafen. Da ist doch noch dieses alte Zelt im Keller, sagte sie, ich weiß, wo es ist. Eine Stunde später kräuselte sie ihre Nase vor Vergnügen über den durchdringenden Geruch von altem Segeltuch, der einem das Wasser in die Augen trieb. Das Zelt war geräumig für einen und groß genug für zwei. Eine zusammengelegte Decke verstärkte den Segeltuchboden; ein Laken, das sie durch die Nähmaschine zog, diente als Schlafsack. Es hätte Lucinda auffallen müssen, wie mühelos sie das tat; die Säume waren so gerade wie Pfeile, von Cupido geschossen. Und sie kletterte in das Zelt, zog den Reißverschluss des Fliegengitters zu und verliebte sich in dieses lange, trockene Geräusch, das von allen Geräuschen ihr liebstes bleiben sollte. Der Segeltuchgeruch (wie Wachsmalstifte) und die papierne Farbe des Lichts, das Gefühl, ausgesetzt und abgeschieden zu sein in etwas, das nicht einmal ein Zimmer war, und noch nie war sie so glücklich gewesen. Am Morgen schaute Maurice hinaus und sah unter sich das weiße Zelt, hervorgeschossen wie ein Pilz. Er nahm seine Kaffeetasse mit zum unteren Rand des Gartens, und in der Stille des Morgens hörte er eine Bürste im Kampf mit dickem Haar. Das Geräusch zog ihn über den grasbewachsenen Weg und um das Zelt herum zur Vorderseite, wo sie im Eingang kniete und auf ihr langes, schwarzes, widerspenstiges Haar einschlug. Er sank mit gekreuzten Beinen ins Gras und bot ihr einen Schluck von seinem Kaffee an. »Du siehst aus wie eine Zigeunerin«, sagte er. »Eine Zigeunerin?« 172
Sie sah ihn lang und fest an. »Nicht italienisch-japanisch?« »Wer hat gesagt, dass du italienisch-japanisch aussiehst?« »Du. Du hast gesagt, dass Lucinda skandinavisch aussieht und ich italienisch-japanisch aussehe.« »Ich bin schrecklich«, lachte er. »Wirst du mir verzeihen?« Sie begann wieder ihr Haar zu bürsten. Auf einem der oberen Zweige der Eiche nebenan sang ein Kardinal. Maurice griff nach ihr und packte ihr Handgelenk. Handgelenke und Knie. Ihr Herz schlug schnell. »Wie lautet das Urteil?«, fragte er. »Ich überlege noch«, sagte sie und berührte seine Wange. Als er an diesem Nachmittag auf seinem Bett ein Nickerchen machte, träumte er von ihr. Sie arrangierte Blumen in einer Vase auf dem Esszimmertisch seiner Mutter. Abgesehen von einer Schürze war sie nackt. Das war er auch, er stand in der Tür mit einer gewaltigen Erektion. Sie sah auf und lächelte ihn an. Dann rannte sie auf ihn zu und sprang in seine Arme. Sie umspannte rittlings seine Taille. Wahrscheinlich passiert es ziemlich oft, dass man sich im Traum verliebt. Man wacht auf und hat auf jemanden Appetit, den man vielleicht nicht einmal mag. Doch in dem Traum hat es Sex gegeben und beim Erwachen den Gedanken an Sex, und von da an denkt man auf eine völlig neue Weise an diesen Menschen. Als sie in dieser Nacht hörte, wie jemand leise ihren Namen rief, zog sie den Reißverschluss am Zelteingang auf, und er kam herein. »Ich habe von dir geträumt«, sagte er. Er saugte an ihren Brustwarzen, er nahm sie zwischen die Zähne, er senkte seinen Penis in ihren Mund, und am Morgen stellte sie fest, dass der Tau vom Zelt tropfte, während das Gras 173
trocken war. Sie stand mit bloßen Füßen auf dem warmen, trockenen Gras und strich mit der Hand über die durchnässte Oberfläche des Zelts. Nur das Zelt und nur sie selbst. Ein nasses Vlies auf einem trockenen Feld. Das war die dritte Nacht. In der ersten Nacht nahm er ihre warme Hand und legte sie auf seine erstaunliche Erektion. Willst du nicht sehen, was du mit mir machst?, und seine Augen glitzerten. Nein, dachte sie. Eigentlich nicht. Später drang er in sie ein und tat ihr so weh, dass sie sich fragte, warum es nicht in den Nachrichten gesendet wurde. In der zweiten Nacht scheute sie zurück, bis er sie mit Fingern und Zunge erregte. Dann flutete die gesamte Anspannung, die vierundzwanzig Stunden über sie geherrscht hatte, aus ihr heraus. In der dritten Nacht senkte er seinen Penis in ihren Mund, und am Morgen stand er in seinem Fenster und sah zu, wie sie Tau über das Gras fliegen ließ. Nachts glühte das Zelt unten im Garten von der Kerze darin, ein Iglu aus Papier, dachte er, Osten und Norden finden in dem Präriemädchen mit der olivfarbenen Haut zusammen. Seine Mutter sagte, sie sehe fremd aus, und seine Mutter hatte Recht. Wahrscheinlich las sie gerade etwas über die Tataren, da unten in ihrem Zelt. Am Tag bot das Zelt Schatten und eine Sicherheit aus Segeltuch und Geschick – ein Zimmer, das wohl durchdacht mit Taschen und Fliegengitterfenstern und Fliegengittertür ausgestattet war, abgeschieden und exponiert zugleich, und es bestimmte den ständigen Austausch zwischen ihnen. In den nächsten Wochen fand er sie schön. Er fragte sich sogar 174
tagsüber, wie er jemals etwas anderes hatte denken können, und vergaß dabei, dass er ihre dicken Lippen bereits einmal plötzlich voll gefunden hatte und ihren merkwürdigen, übergroßen Kopf hübsch und ihre olivfarbene Haut unvergesslich. Ihre Haut hatte die Farbe einer blassen, polierten Walnuss, und abgesehen von ein paar jungen Blättern zu Beginn des Frühlings, hatte er nie etwas so Weiches gespürt. Als er eines Tages im Wohnzimmer seiner Eltern Madame Butterfly auf dem Plattenspieler hörte, sah er Norma Joyce mit Büchern im Arm draußen vorübergehen. Er ging zur Tür und rief ihren Namen. Er winkte sie herein und sagte, sie solle sich etwas anhören. Sie legte ihre Bibliotheksbücher auf den Tisch im Flur, dann folgte sie ihm ins Wohnzimmer, wo er die Platte anhielt. »Wo sind deine Eltern?«, fragte sie ihn. »Den Tag über in Montreal.« Er bat sie, sich in den Sessel neben dem Kamin zu setzen, dann drehte er sich wieder zu der Truhe um, die auf der einen Seite einen Plattenspieler und auf der anderen ein Radio enthielt, und sagte: »Du musst nur wissen, dass die Oper in Japan spielt und dass Butterfly am Ende Selbstmord begeht.« »Ich muss nicht nur das wissen. Was ist passiert?« »Na gut«, mit einem Lächeln. Und von der gegenüberliegenden Seite des Zimmers aus erklärte er ihr, Butterfly habe drei Jahre darauf warten müssen, dass Pinkerton, ein amerikanischer Offizier und ihr Liebhaber, nach Japan zurückkehrte. Während er fort gewesen sei, habe sie seinen Sohn geboren. Bei seiner Rückkehr, sagte Maurice, habe er seine amerikanische Ehefrau mitgebracht. Er betrachtete Norma Joyce' aufmerksames Gesicht und dachte, dass er sie sehr mochte und dass Pinkerton Butterfly nicht weniger gemocht haben musste. Ein unangenehmer Gedanke. Aber Norma Joyce, aggressiv, kühn, beharrlich, 175
erstaunlich erfahren, war aus anderem Holz geschnitzt als Butterfly. Wenn Norma Joyce etwas war, dachte Maurice, dann war sie unverwüstlich. »Stell ihn an«, sagte sie und deutete auf den Plattenspieler. Sie hörten sich die zweite Seite an. Wieder beobachtete er sie, und wieder dachte er, dass sie sehr gut zuhören konnte. Jede Note stand auf ihrem Gesicht geschrieben, aber sie weinte nicht. Als es zu Ende war, sagte sie: »Ich hätte mich nicht umgebracht.« »Gut zu wissen«, sagte er lächelnd. »Ich bin froh, das zu hören.« Aber er fragte sie nicht, was sie getan hätte. Mitte Juli löste sich die erste Naht. An einem heißen, windigen Nachmittag, als Mother Hulder zum zweiten Mal an diesem Tag Laken aufhängte und ihre Zwillinge Gerry und Joe abwechselnd den Rasen mähten, kam Maurice den Abhang hinunter, um mit ihnen Eistee zu trinken. Wie gewöhnlich saßen sie auf Stühlen unter dem Apfelbaum. Maurice unterhielt sich mit Ernest; Lucinda hatte mit dem Einschenken und Servieren zu tun; Norma Joyce beobachtete Mother Hulder. Sie dachte an das Laken, das sie ein paar Wochen zuvor heimlich eingeweicht hatte, und eine Gefahr ließ sie die andere vergessen. Lucinda erwähnte den Ofen. Seinetwegen brannte immer wieder die Sicherung durch, sie würden einen Handwerker rufen müssen, und ohne nachzudenken sagte Norma Joyce: »Ruf Mr. Washburn an. Er repariert Waschmaschinen und Öfen.« Lucinda lächelte überrascht. »Das ist aber merkwürdig, dass du das weißt.« »Maurice hat es uns erzählt.« Maurice hob in Unkenntnis die Hände, und Norma Joyce 176
sagte: »Weißt du noch? In deinem Brief.« »In Maurice' Brief stand nichts von einem Mr. Washburn«, sagte Lucinda. Sie füllte ihre Gläser auf, es war ein schöner Sommernachmittag, und Norma Joyce erkannte das ungeheure Ausmaß ihres Fehlers. »Ich weiß nicht, warum ich ihn hätte erwähnen sollen«, sagte Maurice. »Mr. Washburn ist vor dem Krieg gestorben.« »Nicht vor dem Krieg«, sagte Norma Joyce zum Boden gewandt; Genauigkeit war ihr wichtiger als ihr eigenes Wohlergehen. Mother Hulder hatte ihr gesagt, dass Mr. Washburn 1941 gestorben war. »Jedenfalls ist das der perfekte Name für diese Arbeit«, lenkte Lucinda ein. »Wie ein Banker, der Coyne heißt, Münze, oder ein Arzt, der Payne heißt, Schmerz.« Das war auf ihr Spiel mit den Namen bezogen, und Maurice nickte langsam mit dem Kopf. »Jetzt erinnere ich mich. Ich habe ihn erwähnt.« »Nein«, beharrte Lucinda. »Von einem Mr. Washburn stand nichts in Ihrem Brief.« »Im nächsten Brief. Sie haben es vergessen.« »Das habe ich nicht«, sagte sie fest. »Ich habe es nicht vergessen.« Die Sache mit dem zweiten Brief beschäftigte sie, seit er ihn erwähnt hatte, und sie war froh, dass sie die Möglichkeit hatte, die Wahrheit noch einmal zu betonen. »So etwas vergisst man nicht.« Sie holte tief Luft. »Norma Joyce ist nie ohne die Post nach Hause gekommen. Ganz egal, wie das Wetter war, nicht?« Sie wandte sich ihrer Schwester zu und suchte Bestätigung, 177
aber Norma Joyce starrte fest in ihr halb leeres Glas – was hatte Lucinda denn schon gesehen? Sie hatte gesehen, wie ihre Schwester Briefe aus ihrer Schultasche zog und auf den Küchentisch legte und dass sie ihr den einen oder anderen ohne ein Wort vorenthielt. Das Postamt war hinten im Gemischtwarenladen. Vorn waren die Lebensmittel, dahinter die Kurzwaren, dahinter der Postschalter mit dem Schlitz für die Briefe und dem winzigen Fenster darüber. Norma Joyce wartete fast immer, bis die Post zwischen vier und fünf Uhr sortiert war, dann kam sie nach Hause. »Die Post ist nicht besonders zuverlässig.« Das war Ernest, der wegen seiner unbeantwortet gebliebenen Briefe mit Ratschlägen an das Amt für Landwirtschaft verbittert war. Er begann, in Einzelheiten von seinem jüngsten Brief zu berichten, und Norma Joyce hatte Gelegenheit, hineinzugehen und den Teller mit den Keksen aufzufüllen. Als sie wieder herauskam, sprachen sie über neue Apfelsorten. »Norma?« Sie saß gerade lesend auf ihrem Bett und schaute auf. Lucinda stand in der Tür. »Hat es denn einen Brief gegeben?« Lucindas Gesicht lag im Schatten. Anscheinend war sie nicht wütend. »Es hat keinen Brief gegeben.« »Nein? Bitte lüg mich nicht an, Norma.« »Es hat zwei Briefe gegeben.« »Zwei Briefe.« Sie trat ins Zimmer und setzte sich auf die Bettkante. Norma Joyce machte ihr Platz. »Was stand drin in diesen zwei Briefen?«
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»Dass er nicht kommt. Im ersten stand, dass er es vielleicht nicht schafft, und im zweiten stand, dass er nicht kommen kann.« »Und du hast mir nichts erzählt.« Norma Joyce sagte nichts. Ihr Buch lag offen in ihrem Schoß. Sie drehte es um und fuhr mit dem Fingernagel über seinen weichen grauen Rücken. »Was hast du dir dabei gedacht? Das würde ich gerne wissen.« Norma Joyce sah sie nicht an. Sie konnte sich die Verwirrung, den Schmerz und die stille Anklage in ihrem Gesicht gut vorstellen. Das Buch war Adam Bede. Sie hatte gerade den Abschnitt gelesen, in dem Dinah Morris Hetty zu ihrem Bekenntnis bringt. Sie sagte: »Ich weiß es nicht mehr.« »Natürlich weißt du es noch.« »Nein, weiß ich nicht.« Sie sah Lucinda an. »Ich war erst neun.« »Tatsächlich?« Das war wirklich eine Frage. »Du hast immer älter gewirkt.« Norma Joyce griff nach dem Lesezeichen auf dem Nachttisch. Sie drehte das Buch um, legte das Lesezeichen hinein und klappte es zu. »Du hast ihn geliebt, nicht wahr?«, sagte Lucinda. »Ich habe ihm das gesagt.« Die blauen Augen wurden grimmig. »Ich auch!« Das war der Unterschied zwischen ihnen, und beide wussten das. Es war beinahe sechs Uhr. Der Geruch von Kartoffeln zog die 179
Treppe herauf. »Es ist Zeit fürs Abendessen«, sagte Lucinda. »Es ist Zeit, den Tisch zu decken.« Ihre Stimme klang sehr müde. Dann sagte Norma Joyce: »Ich weiß nicht, wieso. Sie waren in meiner Schultasche. Ich habe sie herausgenommen. Ich wollte wissen, was drinsteht.« Sie hörte die geradezu dumme Unschuld, die in ihrer Antwort lag, aber sie konnte nichts Besseres tun. »Und du wolltest nicht, dass ich sie habe. Oder bin ich dir überhaupt in den Sinn gekommen?« »Es tut mir Leid.« »Also, was hat er geschrieben? Ich bin neugierig.« »Nicht viel, außer was er gerade machte und –« »Als du ihm gesagt hast, dass du ihn liebst. Was hat er gesagt?« »Oh. Er sagte, vielleicht in neun Jahren.« »Jetzt sind es sieben.« »Nein«, sagte Norma Joyce. »Acht.« Ein paar Tage später kam Lucinda mit einem Krug Limonade nach draußen und sah, wie sie einander zugeneigt im Schatten des Apfelbaums saßen und miteinander sprachen. Nicht wie zwei Menschen, die sich gerade verlieben, sondern wie zwei Menschen, die schon lange verliebt sind und besprechen, was zu tun ist. Sie saßen im Gras, einer in Grau, einer in Weiß, und kannten einander so genau wie zwei Tiere, die Seite an Seite grasen. Sie blieb stehen mit ihrem Limonadenkrug, und sie bemerkten sie nicht, so sehr waren sie ineinander vertieft. Das Gewicht des Krugs, der Schmerz in ihrem Handgelenk. Mrs. Dove beobachtete, dass ihr Sohn die ungleichen 180
Schwestern immer wieder besuchte. Sie stellte Nachforschungen an. Zwei oder drei Anrufe bei seinem früheren Abteilungsleiter auf der Forschungsfarm, und sie konnte ihm von einer freien Stelle im Botanischen Garten in Brooklyn erzählen. Ohne einen Moment zu zögern, schickte er seine Bewerbung los. Unpassend, denn er konnte es so viel besser treffen. Sie kannte die Neigung junger Männer – aller Männer –, sich mit der erstbesten Frau zufrieden zu geben; Lucinda war zwar hübsch gewesen, aber sie hatte ihr gutes Aussehen schon verloren, und die jüngere Schwester hatte kein Aussehen zu verlieren. Was würde ich für Enkelkinder haben? Außerdem wollte sie nicht, dass ihr einziger Sohn die Friseuse von nebenan heiratete. Norma Joyce sah, wie Maurice sich veränderte, den Richtungswechsel, die veränderte Stimmung, und wie Darwin wusste sie sofort, dass er sie zurücklassen würde. Maurice zeigte jetzt auf freundliche Weise, dass er zu tun hatte, entweder bei alten Kollegen auf der Forschungsfarm oder in der Bibliothek, wo er las und sich auf das Vorstellungsgespräch vorbereitete, das er in New York haben würde. Es war die Stelle, die Maurice etwas bedeutete. Inzwischen war es Anfang August. Als er aus New York zurückkam, lag ein Hauch von Herbst in der Luft. Das Licht war anders, und die Temperatur. Seine Mutter hatte einen Blaubeerkuchen für ihn gebacken. »Mein Lieblingskuchen«, sagte der schmeichlerische Sohn. Am nächsten Morgen zog er seine ausgeblichene grüne Windjacke an und ging den Abhang hinunter, um es hinter sich zu bringen. Das Zelt stand immer noch, aber Norma Joyce schlief bestimmt im Haus, jetzt, wo das Wetter umgeschlagen war. Es war Mitte August. Sie waren gerade mit dem Frühstück fertig. Lucinda lud ihn 181
ein, sich auf eine Tasse Kaffee zu ihnen zu setzen. Ernest faltete seine Zeitung zusammen. Norma Joyce war auffallend blass, und sie sah, dass er ihrem Blick auswich. Er hängte seine Jacke über die Lehne eines Küchenstuhls, und sofort bemerkte sie den kleinen schwarzen Kreis auf der weißen Hemdtasche über seinem Herzen. »Ja«, sagte er. »Ich dachte, ich hätte die Kappe auf meinen Füllhalter gesteckt, und das hatte ich auch, aber am falschen Ende.« »Ich erwähne es nur«, sagte sie, »weil ich dachte, dass es gerade passiert.« »Zitronensaft«, sagte Lucinda. »Zitronensaft wirkt immer.« Er setzte sich neben Ernest. Norma Joyce fragte über den Tisch hinweg: »Hattest du eine gute Reise?« »Ich mache sogar die Klaviertasten mit Zitronenschalen sauber«, sagte Lucinda und schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein. »Hat New York dir gefallen?«, fragte sie wieder. Oh ja. Es hatte ihm gefallen. Es hatte ihm so gut gefallen, dass er in zwei Tagen dorthin ziehen und in einer Woche seine Stelle im Rosengarten antreten würde. »Danke, Lucinda.« Er lächelte ihre Schwester an, die seine Tasse wieder füllte, und sprach mit ihrem Vater über den Botanischen Garten in Brooklyn, und sie erkannte mit vollkommener Klarheit, dass es für ihn das erste und letzte Mal sein sollte. Auf der anderen Seite des Fensters erfasste ein kühler Augustwind jedes Blatt, auf dieser Seite des Fensters war Maurice schon fort – beschäftigt mit seiner neuen Stelle, seinem neuen Leben, seiner Zukunft. »Noch etwas?«, fragte Lucinda ihre Kaffee liebende Schwester, aber Norma Joyce schüttelte den Kopf und sagte, dass sie Kaffee nicht mehr mochte. Ihr wurde schlecht davon. 182
Wenn sie vielleicht offener gewesen wäre. Oder weniger offen. Denn sie war beides, zu offen und nicht offen genug. Sie folgte ihm den Abhang hinauf. »Maurice. Warte.« Aber als sie in seinem Gesicht nach dem alten, entgegenkommenden Ausdruck suchte, war er nicht da. Eher eine sorgfältig bemessene Höflichkeit, die sie frösteln ließ. »Wann sehe ich dich wieder?« war alles, was sie sagen konnte. Er schaute in ihr ernsthaftes, drängendes Gesicht hinab. »Wir sehen uns«, sagte er. »Ich komme wahrscheinlich zu Thanksgiving zurück. Wir bleiben in Verbindung.« »Du willst mich nicht«, sagte sie. Das war eine rohe, gemeine Feststellung. Für seine Ohren klang sie übertrieben, melodramatisch, kindisch. Er lächelte. »Das würde ich nicht sagen«, und ein Ausdruck sexueller Zärtlichkeit glitt über sein Gesicht, aber sie starrte zu Boden und sah ihn nicht. »Aber ich glaube, wir müssen weiterkommen mit unserem Leben. Du musst auch mit deinem Leben weiterkommen.« Und jetzt spürte sie, dass er sich abwandte, und sie hatte es ihm noch immer nicht gesagt. »Maurice«, sagte sie wieder. Er wartete, aber die Worte wollten nicht kommen. Sie lagen wie schwere Steine in ihrer Magengrube, und sie hatte nicht die Kraft, sie hervorzuziehen. »Wünsch mir Glück«, sagte er und lächelte. Er strich ihr das Haar aus den Augen. »Du wirst es gut haben«, sagte er zu ihr, und seine Stimme war weicher geworden. »Nein, werde ich nicht.« »Doch. Ich habe großes Vertrauen zu dir.« Sammy kam schwanzwedelnd den Abhang hinunter. Sie 183
tätschelte seinen Kopf. Maurice' Worte hatten sie besänftigt, und sie war den Tränen nahe. Sie biss sich auf die Lippen. Jetzt sagte er leise: »Du bist etwas Besonderes«, und offenbar meinte er, was er sagte, auch wenn er die Unterhaltung damit schloss. Er rief nach Sammy. Er und der Hund stiegen den Rest des Hangs gemeinsam hinauf, und die Tür fiel hinter ihnen zu. Zwei Tage später war Maurice fort. Sie wusste es, weil die Vorhänge in seinem Zimmer bei Nacht nicht mehr zugezogen wurden. Der August ging zu Ende. An drei Abenden blieb sie lange auf und nähte ein Kleid. »Für die Schule«, erklärte sie, als Lucinda sie fragte. Sie würde nach dem Labour Day in die dreizehnte Klasse kommen. Aber am 2. September, als Ernest und Lucinda im Garten waren, schlich sie sich aus dem Haus und nahm die Straßenbahn in die Stadt. Es war sieben Uhr abends, und die Sonne schien auf die Ladenfronten an der östlichen Seite der Bank Street. Sattes goldenes Licht. Neben ihr stand die braune Golftasche, die Onkel Dennis gehört hatte, und tief in ihrem Portemonnaie steckte das Geld, das sie aus Lucindas Portemonnaie und aus der schmalen obersten Schublade in der Kommode ihres Vaters genommen hatte. An beiden Stellen lagen Zettel. Ich zahle es dir zurück, ich verspreche es. Insgesamt 157,93 Dollar. Sie nahm den Nachtzug nach New York und kam am frühen Morgen an der Grand Central Station an.
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Sie fühlte sich wie Gretel, die ihren Kopf in einen heißen Ofen steckt, in dem es nach Menschen riecht. Die gesamte Luft schien zu kochen. Betrieb und Lärm schienen den gesamten Raum zu verschlucken. Sie trug ihre Tasche in das gewaltige marmorne und cremefarbene Innere der Grand Central Station hinein, und dort blickte sie zu der blauen, gewölbten Decke voller erleuchteter Sterne hinauf und staunte, weil es in dieser vom Himmel inspirierten Halle nicht windig war. Sie roch Zimt, Kaffee, Schweiß, Parfüm, Rauch, staubiges Sonnenlicht, gefangene Hitze, Blumen. Sie hörte Absätze auf dem Marmorfußboden, und ihr wurde klar, dass sie sich in einer neuen Welt befand. Die Absätze kamen schnell näher. Sie fuhr herum und sah eine Frau in einem schwarzen Leinenkleid und schwarzen Pumps, die auf sie zukam und im letztem Moment aufsah und lächelte, während sie vorübereilte – ein warmes, strahlendes Lächeln –, und Norma Joyce spürte eine Woge der Erleichterung. Ein gutes Zeichen, dachte sie. Sie war in einer neuen Welt, wo etwas so Einfaches wie das Lächeln einer Fremden alles verändern konnte. Mit der Erleichterung kam der Hunger. Sie suchte eine KaffeeBar, dort stand sie mit ihrer Tasche zwischen den Füßen und nahm ein Glas Milch und drei mit Puderzucker bestäubte Doughnuts zu sich, wobei der Puderzucker an ihr herunterrieselte. Beim nächsten Mal würde sie einen Plunder nehmen. Dann begab sie sich zum Informationsschalter in der th Mitte des Bahnhofs, wo sie erfuhr, dass Morgan Hall an der 45 Street zwischen Second und Third Avenue auf Frauen eingerichtet war. Es war sauber, billig, ehrbar und zwei Blocks 185
entfernt. Dorthin würde sie gehen. Draußen schlägt ihr die alte Hitze entgegen. Sie erinnert sich an die dicke, dunstige Luft, an die breiten Gehwege, an die gelben Taxis, an ihre erhebende Furcht, davongespült zu werden, während sie ihren Weg suchte. Sie fand Morgan Hall, und das Gebäude sah aus wie eine Bank. Massiv, zwölf Stockwerke hoch. Ihr Zimmer lag im neunten Stock, noch ein gutes Zeichen. Ein kleines Zimmer mit einem Einzelbett, einem Waschbecken, einem Kleiderschrank, einer Frisierkommode. Die Tagesdecke mit den Bommeln war gebrochen weiß, die Wände waren krankenhausgrün. Unten fragte sie nach einem Postamt, und die faltige Blondine am Empfang sagte: »Ein Postamt? Ich erkläre Ihnen, wo ein Postamt ist« und zeichnete für sie eine Karte auf ein liniertes Stück Papier. »So sehen Sie gleichzeitig auch die Stadt«, sagte sie. Dann fragte Norma Joyce, wie man zum Botanischen Garten in Brooklyn komme, und sie sagte: »Da muss man die Subway nehmen« und zeichnete noch eine Karte für sie. Die Hände der Frau waren klein, und ihre Fingernägel waren mit rosa Perlmuttlack lackiert. Norma Joyce nahm beide Karten und sagte: »Sie haben hübsche Hände«, und ein hocherfreutes Lächeln erhellte das Gesicht der Frau. »Sie wissen, dass Sie ein Bügeleisen ausleihen können«, sagte sie zu Norma Joyce. »Zehn Cents die Stunde. Lassen Sie es einfach am Aufzug stehen, wenn Sie fertig sind. In ihrem Kleiderschrank ist ein kleines Bügelbrett.« Also bügelte Norma Joyce zuerst in ihrem Zimmer ihr Kleid, dann ging sie die dreißig Minuten durch die Stadt, zwölf Blocks zum Hauptpostamt mit seiner zwei Blocks breiten Treppenflucht und seiner ebenso breiten Inschrift über den vielen Säulen. Sie las sie vom Anfang bis zum Ende. »Nicht 186
Schnee noch Regen, nicht Hitze noch nächtliche Dunkelheit kann diese Boten hindern, rasch ihre festen Runden zu gehen«, und ihre traurige Geschichte holte sie ein, als sie die Worte las. Nicht Schnee noch Regen, nicht Hitze noch nächtliche Dunkelheit, aber eine Schwester – eine Schwester konnte die Postrunden stören. Das Hauptfoyer war mit den Wappen aller Nationen geschmückt, in die man schreiben konnte, und hier fand sie in einem Abfalleimer ein beinahe leeres Stück Papier, riss den beschriebenen Teil ab und schrieb auf den Rest: »Alles in Ordnung. Keine Sorge. Ich melde mich bald. NJ.« Aber sie hatte keinen Umschlag, also durchwühlte sie den Abfalleimer noch einmal, bis sie spürte, dass jemand sie an der Schulter berührte. »Suchen Sie etwas?«, fragte mit krächzender Stimme eine weißhaarige Frau in einem karamellfarbenen Kleid. »Einen Umschlag.« »Sie sagen Umschlag. Ich sage Omschlag.« Die Frau wühlte in ihrem Portemonnaie herum. »Also einigen wir uns doch hierauf. Wird das gehen?« »Danke.« Norma Joyce war in eine Stadt mit Persönlichkeit gekommen, in eine mehrstöckige Welt. Sie war das Gegenteil der Prärie, auch wenn sie etwas Kindliches hatte – so viele Menschen in einem Gebäude, wie im Märchenbuch die Tierfiguren in den Bäumen. In den Büchern, aus denen Kinder die Gegensätze lernen – nass und trocken, heiß und kalt, süß und sauer, klein und groß –, hatte sie die große Seite aufgeschlagen. Die riesige. Am Morgen hatte sie ein Zimmer gemietet, und am Nachmittag ging sie in den Botanischen Garten. Sie sah Maurice um drei Uhr, neben den Cardinal-de-Richelieu-Rosen. Noch bevor sie 187
die Subway betreten hatte, waren schon Ströme von Schweiß an ihr hinuntergelaufen und hatten sich um ihre Taille gesammelt. Ihr Kleid war aus mattgrauem Körper mit roten Paspeln an Kragen und Manschetten; es hatte lange Ärmel und eine eng geschnittene Taille. Als sie dann den Eastern Parkway entlangging und die Tore zum Garten suchte, waren ihre Achselhöhlen und ihr Kragen dunkel vom Schweiß, und ihr rechter Ärmel war durchnässt, weil sie ihn so oft über ihr Gesicht gezogen hatte. Wie Scarlett O'Hara hatte sie kein Taschentuch. Die Tore zum Garten waren riesig. Schwarzes Schmiedeeisen, verziert mit vertikalen Reihen aus Blättern, Zapfen und Reben und mit horizontalen Nachbildungen von Weizen, Gerste und Hafer, alles Gräser, die sie erkannte. Jenseits der Tore gab es Bäume, offene Wiesen, viele Grüntöne und einen Gärtner, der einen Strauch zurechtschnitt. Sie trat hindurch, ging auf den Gärtner zu, um nach der Richtung zu fragen, und nahm dann den Weg, auf den er zeigte. Zunächst spendeten Holzapfelbäume, Linden und Europäische Weißbuchen Schatten, dann säumten ihn Japanischer Flieder, Buchen mit tief eingeschnittenen Blättern und St.Bartholomäus-Bäume. Im Vorübergehen las sie die Schilder und beruhigte sich. Der Weg wurde breiter, dann tat sich eine weite, lichte Fläche auf, obwohl der Himmel schwer von Regenwolken war, und schließlich führte er zum Cranford Rose Garden. Auf einem Schild am Eingang stand, dass die ersten Rosenbeete im Herbst 1927 angelegt worden seien, und Mrs. Cranford habe zum Gedenken an Mr. Cranford weitere hinzufügen lassen. Sie ging durch eine Gitterwerkarkade in den Garten. Rechts ließ eine Hochzeitsgesellschaft neben einem Teich Bilder 188
machen, die Braut in Weiß, die Brautjungfern in Zitronengelb. Links, am anderen Ende des Gartens, war Maurice. Sie sah ihn im Profil, wie er sich über ein Rosenbeet beugte. Ihre Füße trugen sie den Rest des Weges, vorbei an der GeneralWashington-Rose, der Hugh-Dickinson-Rose und der ArnoldRose, an der Kathryn Morley, der Felicia, der Bloomfield Courage, der Mrs. Antony Waterer und der MacGregor Damask, und geradewegs hin zur Cardinal de Richelieu, einer 1940 eingeführten Gallica, einem Rosenstock von mittlerer Höhe, an dem nur noch ein paar Blüten übrig waren. Maurice trug nichts auf dem Kopf und nichts an den Händen und prüfte die Rose wie ein junger Arzt, der wunderbar mit Kranken umgehen kann. Sie dachte: Vielleicht nennt er eines Tages eine Rose nach mir. Sie sagte: »Wer war der Cardinal de Richelieu?« Und als er aufblickte, traute er seinen Augen kaum. Sie war so klein, so dunkel und sah so seltsam fremd aus. »Norma Joyce Hardy«, sagte er, als würde er sie aus der Ferne erkennen. Sie war sehr klein, ungefähr so groß wie Jane Eyre, und sie trug nüchternes Grau. »Willst du dich setzen?«, fragte er. Er ging zu einer steinernen Bank unter einem Baum und setzte sich. Er stützte die Hände rechts und links auf die Bank. Sie folgte ihm und setzte sich ebenfalls. Zwischen ihnen war ein halber Meter. Maurice griff nach dem Taschentuch in seiner hinteren Hosentasche und wischte sich das Gesicht. »Ist es immer so heiß?«, fragte sie und wischte mit dem Ärmel über ihre Stirn. Die Hochzeitsgesellschaft kam allmählich näher. Sie hörte, wie eine schrille Stimme sich empört erhob, und sie hörte Maurice sagen: »Hast du Familie hier?« 189
Sie sah ihn an. »Besuchst du jemanden?«, fragte er. Er hatte es raus mit der Selbstbeherrschung, er ging nicht auf sie ein, sondern starrte stattdessen einfach zur Seite. Und die Wirkung auf einen Menschen, der eine bestimmte Reaktion erwartete und sie nicht bekam, war sehr stark. Sie sagte: »Ich glaube, das Baby wird ein Junge.« In dieser schrecklichen Hitze – ihr war noch nie so heiß gewesen – war es eine Verzweiflungstat, das zu sagen. Die Farbe wich aus seinem Gesicht. Es war, als gäbe man Bleiche zur Wäsche. Weiß trat hervor. Sie konnte die Schweißperlen auf seiner Oberlippe zählen. »Warum bin ich nicht überrascht?«, sagte er zu sich selbst. »Erschrocken – aber nicht überrascht.« Er ließ seinen Kopf in die Hände sinken und stöhnte. Sie berührte seinen Arm. Streifte mit den Fingerspitzen seinen weißen Baumwollärmel. Er nahm seine Hände weg von seinem Gesicht und verschränkte sie unter dem Kinn, dann sah er sie von der Seite an. Ihre Gesichter waren auf gleicher Höhe. »Was machen wir jetzt?«, fragte er, und das Durcheinander der Gefühle in seiner Stimme – Sorge, Ärger und Schrecken – machte sie schwindelig und betäubt. »Was denkst du?«, fragte sie. »Ich sage dir jetzt ganz genau, was ich denke. Ich denke, du hast dir die Suppe eingebrockt, und du löffelst sie auch aus.« Das war grausam, aber sie hatte ihn gefragt. Dann sagte er: »Es tut mir Leid. Das war nicht fair.« Die Art, wie er sie von sich fern hielt und dann weicher wurde. Dieser Rhythmus. Sie anlocken und ihr dann zuvorkommen.
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Er sah ihr ins Gesicht. »Ich muss wissen, was du machen wirst.« Damit hatte er den Spieß umgedreht. »Das hängt von dir ab«, sagte sie schlicht. »Natürlich.« Er stand auf und ging hinüber zum nächsten Rosenbeet. Schob seine Hände in die Taschen und wandte ihr weiterhin den Rücken zu. Drehte sich um und kam auf demselben Weg zurück. Sie liebte sein bekümmertes Gesicht. Sie glaubte, nur eines nicht aushalten zu können, nämlich, ihn nicht wieder zu sehen. Mit seiner alten Geste rieb er sich das Gesicht. Dann fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar und zog daran – wie Stan Laurel. Sie sagte: »Du hast mal wieder was Schönes angerichtet.« Ein erschrockener Blick auf ihr unbewegtes Gesicht, und er brach in Gelächter aus. »Liebe Norrie«, sagte er, ließ sich neben sie auf die Bank fallen und nahm ihre Hand. »Wir hatten eine gute Zeit, nicht wahr?« Eine Weile saßen sie schweigend da. Es war viel zu heiß, um sich an den Händen zu halten, also legte er ihre Hand auf sein Knie und streichelte sie zerstreut. Die Hochzeitsgesellschaft trieb vorbei, und zum ersten Mal nahm er sie wahr. Der Bräutigam war jung und bot ein klägliches Bild in seinem schlecht sitzenden Anzug. Ein Junge. Die Braut war herrisch. Ihre Mutter war noch herrischer. Er beobachtete sie, und Norma Joyce spürte, wie seine Laune umschlug. Er sagte: »Warum hast du gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll? Ich dachte, es wäre sicher. Du hast gesagt, es wäre sicher.« »Ich dachte, es wäre so. Ich wusste es nicht genau. Ich habe es gehofft.«
»Gehofft?« 191
Er wandte sich ihr erbittert zu. »Was soll das, gehofft?« Ihre Hand gehörte wieder ihr, und da war noch etwas – sie hatte etwas verstanden. Er sagte: »Du hättest mich nicht hereinlegen dürfen«, und sein Ton war kalt. Sie verstand, dass im Kopf eines Menschen statt Sommer plötzlich Winter sein kann, ohne dass man das Zimmer verlassen muss. Sie machte es noch schlimmer. Sie sagte: »Ich habe dich gefragt, ob du Kinder willst. Du hast gesagt, du willst. Du hast gesagt, du glaubst, es wäre wunderbar, Kinder zu haben.« »Eine allgemeine Frage«, sagte er. »Ich habe dir eine allgemeine Antwort auf eine allgemeine Frage gegeben und keine Pauschaleinladung.« Er war sehr zornig. Sie konnte hören, dass der Fotograf ebenfalls die Geduld verlor. Die Mitglieder der Hochzeitsgesellschaft wurden in der Hitze matt und unleidlich. Ich und du, Müllers Kuh, dachte sie. Müllers Esel, der bist du. »Was soll ich deiner Meinung nach machen?«, sagte er. »Nichts«, sagte sie rundheraus. Dann warf sie ihm einen kurzen, ironischen Blick zu. »Alles.« Und zuckte mit den Schultern. »Alles kann ich nicht tun. Aber ich kann helfen.« »Ich will keine Hilfe.« Warum bist du dann gekommen?, hätte er beinahe gefragt. Aber er wusste, warum, und er würde nicht fragen. »Ich brauche keine Hilfe.« Und jetzt war sie es, die zornig war. Der Zorn war eine Stütze für sie. Er hielt sie aufrecht, auch wenn er ihr Widerstand bot, genau wie dieser wankelmütige, ausweichende, widerspenstige Mann neben ihr. »Schau mich an«, sagte er. »Ich muss wissen, 192
was du machen wirst.« Er war sehr ungeduldig, und sie nahm an, dass er um seiner inneren Ruhe willen fragte, damit er wieder an die Arbeit gehen konnte. »Ich denke mir etwas aus«, sagte sie. Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar, und Norma Joyce sagte: »Keine Sorge. Ich sage nicht, dass du es warst.« Sie sah die Dankbarkeit und die Scham in seinem Gesicht. »Deswegen habe ich mir keine Gedanken gemacht«, sagte er. Aber sie wusste, dass es so war. Dann sagte er: »Adoption ist die einzige Lösung. Das weißt du, nicht wahr?« Sie sah in den Himmel hinauf. Jeden Moment würde es anfangen zu regnen. Das Wasser in den Brunnen stieg, die Fliegen stachen mehr, Maurice wiederholte denselben Vorschlag – das Baby einer Familie geben, die es will –, und sie fühlte sich müder als je zuvor in ihrem Leben. Sie wollte sich ins Gras legen und schlafen. »Norrie?« Aber sie antwortete nicht. »Wann fährst du nach Hause?«, fragte er sie. »In ein paar Tagen.« »Hast du eine Rückfahrkarte?« Sie hätte in diese kleine Öffnung schlüpfen und einen Platz für sich schaffen können, und noch mehr Platz. Sie hätte ihn anflehen können. Ihn bearbeiten. Sagen, nein, ich habe keine Rückfahrkarte. Ich habe nichts geplant. Ich habe gar nichts. Sie sagte: »Ich habe eine Rückfahrkarte.« »Gut«, sagte er. »Das ist gut.« »Du willst wieder an die Arbeit gehen«, sagte sie. Damit hatte sie Recht. Im Hinterkopf dachte er schon an den Bericht, den er gerade schrieb – er war nur für einen Augenblick hinausgegangen, um einen klaren Kopf zu bekommen, um die Rosen zu bewundern. Er rieb sich langsam mit beiden Händen 193
die Augen. Und er dachte an die Falle, die sie ihm gestellt hatte. Er sagte: »Er war die treibende Kraft hinter dem Thron.« »Was?« Maurice deutete über den Rasen hinweg. »Richelieu hat Frankreich unter irgendeinem Louis geführt. Ein richtiger Verschwörer, und er hat ein schlimmes Ende genommen.« Das Letzte war überflüssig, denn er wusste nicht, welches Ende Richelieu genommen hatte, und es war ihm gleichgültig. Sie sagte: »Eine Blume ist nach ihm benannt. Das ist kein so schlimmes Ende.« »Du hast Recht«, sagte er. »Du hast Recht«, und unwillkürlich wurde er weich – weich genug, um aufzustehen und zu der Rose zu gehen und mit seinem Taschenmesser eine Blüte abzuschneiden, die weder rot noch rosa, noch gelb oder weiß war, sondern von einer Farbe, für die sie keinen Namen hatte. Er kam zurück und gab ihr die Rose. Aber es war wirklich zu heiß, um etwas lange festzuhalten. Sie ließ sie in die grauen Falten ihres grauen Schoßes fallen. »Wenn du etwas brauchst, Norrie, dann lass es mich wissen. Machst du das?« »Ja.« »Versprochen?« »Versprochen.« »Hier«, sagte er, »da wohne ich.« Er zog einen Notizblock und einen Stift aus seiner Hemdtasche und schrieb seine Adresse auf. Er sagte: »Ich wünschte, ich könnte dir die Gärten zeigen, aber ich kenne sie selbst kaum.« »Ich finde den Weg.« 194
»Das wirst du bestimmt«, sagte er. »Du hast mich gefunden.« Er ging den Weg entlang, auf dem sie gekommen war, und sie sah ihm nach. Am Gitterwerk drehte er sich um und betrachtete sie auf ihrer Bank. Er winkte nicht. Vielleicht war es zu heiß. Die Hochzeitsgesellschaft sah jedenfalls halb tot aus. Der Bräutigam hatte sich ins Gras geworfen, die Braut stand neben ihm, das Blumenmädchen zupfte am Ärmel der Braut. Norma Joyce stand auf und ging in die entgegengesetzte Richtung, mit ihrer dummen Rose. Glyzinien, so gewunden und knorrig wie die Weiden in der Schlucht. Dann eine hohe Böschung mit blühendem St.Bartholomäus-Baum, dessen Blüten wie Flieder aussahen, aber spitzenartiger, aus der Familie des Gilbweiderichs, beheimatet in China, wie aus der Beschriftung hervorging. Sie stieg unter diesen gerüschten Blüten den Weg hinauf und dachte Röslein rot. Alles tat ihr weh. Als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Peng. Und es hatte sie um etwa einen halben Meter zurückgeworfen. Sie stieg weiter hinauf und blickte zurück. Alles, was sie sah, waren Baumkronen und niedrige Wolken. Hinter ihr klapperte eine große Schere, und es gab Grillen. Sie stieg noch etwas weiter den Hang hinauf und blickte nun ungehindert zurück auf den Rosengarten. Maurice war fort. Es fing an zu regnen. Alle Bänke in der Nähe waren leer. Sie stand unter einem japanischen Pagodenbaum und dachte an Marco Polo und seine langen Reisen um den Globus, mit allen erdenklichen Entbehrungen. Hinter ihr stand ein blasses, imposantes Gebäude, wahrscheinlich eine Bibliothek oder ein Museum. Sie wandte sich nach rechts und ging auf einen Brunnen zu, der die geschwungene Form einer Herzmuschel 195
hatte, mit einem bescheidenen Wasserstrahl. Sie hätte einen Penny hineingeworfen, wenn ihr etwas auch nur entfernt Passendes eingefallen wäre. Ein Gärtner sprach mit einem anderen Besucher. »An einem Tag wie diesem«, sagte er gerade, »wenn nur ganz wenig Regen fällt, sollte man wässern, denn die Feuchtigkeit sickert dann sehr gut ein.« Sie hörte die Rasensprenger jetzt ganz deutlich. Sie waren in zwei Reihen über die ganze Länge des weitläufigen Gartens verteilt. Am entgegengesetzten Ende des Gartens waren die großen schwarzen Tore. Und dann hörte sie ihren Namen. Sie drehte sich um. Maurice kam den Weg entlang auf sie zu. Es war ein sehenswerter Anblick. Er kam zu ihr und atmete schwer, sein Schweiß roch nach altem Segeltuch. Kein Wunder, dass sie den Geruch liebte. Er sagte, es sei ihm noch etwas anderes eingefallen, es gebe eine andere Möglichkeit. Und ihr Herz machte einen großen, klopfenden Ruck. Was für eine Möglichkeit?, fragte sie. Sie könne doch in New York bleiben, anstatt nach Ottawa zurückzufahren. Ja? Es wäre vielleicht leichter für sie, wenn sie hier bliebe. Der Regen hatte aufgehört. Kein Lüftchen regte sich. Er werde ihr mit Geld aushelfen. Es gebe Heime für Mädchen, die in ihre Situation gerieten. Es gebe nichts, wofür man sich schämen müsse. Es komme oft vor. »Oh.« Ihre Knie versagten, und er packte sie am Arm. »Setz dich da drüben hin«, sagte er. »Nein, es geht mir gut.« Sie befreite ihren Arm. »Bitte setz dich.« »Ich will mich nicht setzen.« 196
»Denk wenigstens darüber nach«, sagte er gerade. Sie konnte ihn nicht anschauen. Sie fand es physisch unmöglich, ihm in die Augen zu sehen. Sie sagte: »Und worüber soll ich nachdenken? Darüber, dass du dich so für mich schämst, dass du mich in ein Heim schicken willst?« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und drehte es zu sich hin, und was er als Nächstes sagte, setzte sich in ihr fest und blieb, weil es so wohl überlegt war, so offen für eine Interpretation. Er sagte: »Zweifle nie an meinen Gefühlen für dich.« Jetzt sah sie ihm in die Augen. »Du hast meine Adresse«, sagte er. Sie nickte. »Ja.« Und jetzt lächelte sie. Ohne Lebwohl zu sagen, drehte sie sich um und ging auf die Tore zu, dann blieb sie stehen und blickte zurück. Er war immer noch da und betrachtete sie. Wie von einer Schnur gezogen, ging sie zu ihm zurück. Sie konnte sehen, wie die Unsicherheit – der Argwohn – in seinen Augen aufstieg. Sie zog seinen Kopf zu sich herab und küsste ihn auf den Mund. Er zog sich gerade eben wahrnehmbar zurück. In der Subway bezahlte sie ihre fünf Cents und nahm auf einem der dunkelgrünen Sitze Platz, und sie wandte sich an den Mann neben ihr. »Was würden Sie sagen, welche Farbe ist das?«, fragte sie. »Ich würde sagen, das ist Koralle.« Sie sah ihn dankbar an, und er lächelte ihr zu. Sein Blick war schüchtern, intelligent, ängstlich. Mit seinen braunen Schuhen, der braunen Hose und der braunen Jacke war er eine kleine Maus von einem Mann mit einer braunen Aktentasche auf dem 197
Schoß. Er sollte mit Nachnamen Little heißen, Klein, dachte sie. Er sollte eine Frau heiraten, die Less heißt, Weniger. Oder More, Mehr. Inzwischen war die Rose in sich zusammengesunken. Sie war wie eine kleine, weiche Schnauze. Sie war wie ein Penis danach. Sie aß sie sehr nachdenklich auf. Irgendwo aßen die Leute Rosen. Sie hatte in einem Buch darüber gelesen. Ich frage mich, wieso. Sie schmeckt nach gar nichts. Aber sie war so hungrig, dass sie ein Pferd hätte essen können.
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Über Nacht hatte sich die Hitze gelegt, und am Morgen roch sie durch das offene Fenster ihres Zimmers den Ozean. Ihr Kleid schaukelte auf einem Bügel vor dem Fenster, sie hatte es zum Lüften dorthin gehängt. Ihre ausgewaschene Unterhose und der Unterrock waren trocken, wie auch die abnehmbaren Schweißeinlagen, die mit Druckknöpfen in den Achselhöhlen ihres Kleides befestigt wurden. In den Schubladen der kleinen Kommode (braun gestrichen und gegen die Wand geschoben) lagen zusammengelegt ihre übrigen Kleider: zwei Röcke, zwei Blusen, eine Strickjacke, ein Unterrock, drei Paar Socken und ein weiteres Paar Unterhosen. Sie zog das graue Kleid an. Unten sagte die faltige Blondine, es sei ein wunderbarer Tag für das Empire State Building, haben Sie es schon gesehen? Sie ging. Jetzt, wo es Herbst geworden war, würde das graue Kleid ihr gute Dienste leisten. Es saß in der Taille locker. Offensichtlich nahm sie ab. Manche Dinge konnte sie nicht essen – Frankfurter, zum Beispiel, und alles Fettige –, und sie hielt sich beim Kaffee zurück. Oben auf dem Empire State Building erkannte sie deutlich, was sie schon wusste: dass sie auf einer Insel war. Der Ostwind wehte ihr ins Gesicht. Wolken fegten vorbei – und sie segelte auf einem Schiff nach Europa. Maurice lehnte sieben Meter entfernt an der Reling, und sie spürte seinen Blick. Sie waren in derselben Stadt. Er konnte jeden Moment auftauchen. Aber sie würde nicht nach ihm suchen, beschloss sie, nicht, bevor sie eine Stelle und einen Platz zum Wohnen gefunden hatte. Sie würde nicht betteln. Schmeichelndes Licht. Sogar der schmutzigste Schornstein sah schön aus darin. Warum also sie nicht? Es glitzerte auf Uhrtürmen und Dächern, auf 199
Turmspitzen und Wassertanks, auf Fenstern. Es kräuselte sich wie Wasser. Die Schatten waren tief. Wie klein New York war. Sie konnte es ganz sehen, und noch weiter. Ein Mann erzählte seinem kleinen Sohn, dass man Kanada sehen konnte, wenn man weit in die Ferne blickte, und auf der anderen Seite den Golf von Mexiko. Von hier oben aus gesehen hatte die Stadt Kindergröße. Die Autos wie Kinderspielzeug auf dem Boden verstreut. Spielsachen. Sie legte den Kopf zurück, bis sie nur noch Himmel sah. Ich könnte auch in der Prärie sein, dachte sie, aber das bin ich nicht; ich bin ganz weit weg. Sie schaute noch einmal nach unten. Diesmal sah sie ein schattiges Tal, auf dessen Grund ein bunter Mantel lag, der in schmale Streifen gerissen war. Sie sah zu, wie die roten und gelben Autos fuhren und hielten und wieder fuhren. Josephs eifersüchtige Brüder hatten ihn in die Grube geworfen, und der arme Jakob saß zu Hause, alt und mit gebrochenem Herzen. Das geschah ihm recht, weil er Esaus Segen gestohlen hatte. Sie hatte Jakob nie gemocht. Aber sie mochte New York. Innerhalb eines Monats hatte sie rd eine Stelle angetreten, ein Zimmer an der 23 Street West in der Nähe der Eighth Avenue gemietet, dessen Wände apfelgrün gestrichen waren, und sich einen leuchtend roten Lippenstift gekauft. Die Stelle hatte sie in der ersten Woche durch Zufall gefunden. Auf einem von vielen langen Spaziergängen sah sie im Kellerfenster einer Druckerwerkstatt an der Seventh Avenue ein Schild. Aushilfe gesucht. Sie ging drei Stufen hinunter und durch eine Glastür, auf der Quality Printing in goldener Schrift quer geschrieben stand. Drinnen beugten sich zwei ergrauende Köpfe über eine schwarze Druckerpresse. »Wo haben Sie vorher 200
gearbeitet?«, wollten sie wissen. Und sie antwortete: »Ich kann gleich anfangen, wenn Sie wollen. Ich komme aus Kanada.« Sie fing in der Buchbinderei an, und nach einem Monat bekam sie eine Gehaltserhöhung. Sie hießen Frank und Hilda McIntyre und gehörten zur alten Schule der Arbeiter-Unternehmer, die über Massenproduktion, schnellen Profit und hohe Löhne erhaben waren. Infolgedessen hatte ihr unterbezahlter früherer Gehilfe sie sitzen lassen, und sie hatten einen eiligen Auftrag, den sie nicht bearbeiten konnten, bis ihr rettender Engel hereinspaziert kam. Eine Kanadierin, sagten sie zueinander und zu jedem, der es hören wollte. Frank war das Talent und Hilda seine aufgeregte Helferin, die regelmäßig um zehn Uhr morgens, um halb eins und um drei Uhr nachmittags auf der Kochplatte hinten in der Werkstatt Kaffee machte und aus einem Schrank eine Büchse mit selbst gebackenen Haferkeksen holte. Die lange, schmale Kellerwerkstatt hatte zwei Frontfenster, die mit bauchigen schmiedeeisernen Gittern versehen waren, und zwei von horizontalen Stäben geschützte Hinterfenster. Vorn saß in jedem Gitter ein Blumenkasten. Wenn Norma Joyce von dem langen Tisch aufsah, an dem sie die Anordnung auf Konzertprogrammen prüfte oder Visitenkarten verpackte, sah sie rote Geranien und vorübergehende Füße und das Blitzen der Kotflügel. Ein kleines Tier in seinem Bau, unsichtbar für die Passanten, solange sie nicht zufällig nach unten sahen und einen Blick auf ihren dunklen, glänzenden Kopf erhaschten. Der lange Tisch stand links von der Tür, wenn man hereinkam; er gehörte zur Buchbinderei und war zwischen die Falzmaschine und die Heftmaschine geklemmt. Rechts von der Tür standen die kleine, pedalbetriebene Tiegeldruckpresse, deren Bedienung Frank ihr noch erklären sollte, und das massive Holzpult, an dem Hilda 201
Anrufe entgegennahm und mit nervöser Sorgfalt alle Geschäfte registrierte. Hinter Hilda war ein Gang, rechts davon standen die Linotype-Maschine, die sie bediente, und die tresenhohen Setzkästen, in denen die Schubladen mit den verschiedenen Schriftarten steckten – Goudy, Bodoni, Park Avenue etc. –, und links davon drei Hochdruckpressen: die Miller-Zylinderpresse, die nur für große Plakate oder Handzettel benutzt wurde, die treue Heidelberg-Tiegeldruckpresse und die etwas weniger zuverlässige Gordon-Tiegeldruckpresse. Sie hatte den Eindruck, dass Frank seine Vorlieben so unverhohlen zeigte wie jeder Vater. Die Miller, sagte er offen, war beinahe unnütz, die Gordon war ein guter Kerl; und die Heidelberg war seine rechte Hand. In der Werkstatt wurden Briefpapier, Handzettel (»Gauner« nannte Frank sie), Konzertprogramme, Wahllisten und Stimmzettel, Milch- und Brotmarken, Visitenkarten, Einladungen, Lesezeichen, Trauerkarten, Speisekarten, Quittungen gedruckt. An seiner Seite lernte sie – während sie unter nackten Glühbirnen an der schrägen Umbruchfläche über den Schubladen mit den Schriften arbeitete –, wie man die Schrift in einen Setzwinkel setzte und sie dann in metallenen Setzschiffen umbrach, die wie Keksbleche waren, aber mit scharfen Kanten an drei Seiten. Das gehörte zu den feinen, präzisen Arbeiten, in denen sie gut war. Ganz hinten in der Werkstatt, links, stand ein Klavier, an dem Frank manchmal in ruhigen Momenten saß. Rechts war der niedrige Tresen mit dem Spülbecken, und dort standen die Stühle, auf denen sie beim Morgen- und Nachmittagskaffee saßen – oder, in Norma Joyce' Fall, bei heißem Wasser. »Hups, habe ich vergessen. Kein Kaffee für Norma Jean« wurde zu Hildas nervtötendem Refrain. »Norma Joyce«, sagte sie. Es war nicht wie bei Beatrix Potter. Es war wie ein 202
braunschwarzer Stich aus einem dieser alten Kinderbücher, die man auf eigenes Risiko liest. Die furchtsame Hilda hastete hin und her, als würde sie verfolgt, der perfektionistische Frank schritt von einer finsteren Aufgabe zur nächsten, und die geschäftige Norma Joyce schmorte unsicher in ihrem eigenen Saft. Sie hatte Maurice gesehen. Eine zufällige Begegnung vor Macy's, zwei Wochen nach der im Rosengarten. Ein Samstag, und als sie mittags mit der Arbeit fertig gewesen war, war sie nach Hause gegangen, um eine Stunde zu ruhen. Sie hatte sich auf ihrer Kochplatte ein Ei weich gekocht und es mit Brot und Butter gegessen, dann hatte sie einen Spaziergang gemacht, den sie später oft und gerne wiederholen sollte – sie ging Richtung Osten, an den zarten Eisenbalkonen des Hotels Chelsea vorbei, zur Sixth Avenue, dann durch den Blumengroßmarkt nach Norden, nach Westen zum Pelzviertel auf der Seventh Avenue, dann durch das Textilviertel. Von den Blumen zu den Pelzen zu den Kleidern. Von den Eimern mit Chrysanthemen auf dem Gehweg zu den Fellen, die sich hinter vergitterten Fenstern türmten, und zu den Lastwagen, von denen am Bordstein Stoffe in Ballen abgeladen wurden. Ihr letztes Ziel war die stattliche Schaufensterreihe an der Fifth Avenue, die vollendet umrahmten Kleider, die Schuhe und der Schmuck, die frisch geschnittenen Blumen und die Pelze, die in Sicherheit waren und denen nichts etwas anhaben konnte. Ein langer Spaziergang. Wie gewöhnlich hatte sie sich zu viel vorgenommen. Sie erinnert sich an ihre vom Wind glasigen Augen, an die hüpfenden Reflektionen auf Tafelglas, an den Schmerz in ihrer Blase, an die Geschäftigkeit, sogar auf Kniehöhe, und an den Lärm um sie herum, als wäre sie in Jericho und die Trompeten würden ertönen. Die öffentliche Bibliothek lockte mit ihren Toiletten und Bänken, und gewöhnlich suchte sie in dieser gewaltigen Marmorhalle 203
Zuflucht vor dem quietschenden Gedränge der Beinahe-Unfälle. In New York müsste man ein Buch sein, dachte sie. Sie war kein Buch, sie war ein Wintermantel für ihr Baby. Immer zu warm und auf Fehlschläge besser vorbereitet als je zuvor in ihrem Leben. Ihre Kindheit war ein ständiger Wettlauf mit der Katastrophe gewesen, und sie hatte sich permanent Unfälle vorgestellt, weil sie glaubte, dass schlimme Dinge nicht passieren würden, wenn man sie in Gedanken vorwegnahm. Ein Glaube im Rückwärtsgang, wenn man so will, und einer, der ununterbrochene Wachsamkeit verlangte. Jetzt war sie schwanger in New York City, und die Gefahren hatten sich hundertfach vervielfältigt. Sogar in der Bibliothek, am Fuß der breiten Treppenflucht, die sich zum zweiten Stock emporschwang, sah sie jemanden über die Brüstung stürzen und mit einem kranken, toten Knall auf dem Boden aufschlagen – Norma Joyce Hardy, bis vor kurzem aus Ottawa. Niemand anderen als sich selbst sah sie oben auf der Treppe stolpern und kopfüber nach unten stürzen. Überreizt, übermüdet und erst siebzehn. Vor Macy's sah sie dann Maurice, der vom Bordstein auf die Straße trat, um ein Taxi zu rufen. Er streckte seinen Arm mit jener leichten Anmut aus, die sie immer mit ihm in Verbindung bringen sollte. Er sah gut und zerzaust und dünn aus, der Wind peitschte sein Hemd und siegte über ihre Stimme, als sie nach ihm rief. Das war gut so, denn er war nicht allein. Er war mit einer jungen Frau zusammen, die genauso aussah wie Lucinda. Das Taxi hielt an. Er hielt ihr die Tür auf und stieg dann neben ihr ein. Bevor das Taxi anfuhr, sah Norma Joyce, wie er den Arm um Lucinda die Zweite legte.
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Am nächsten Tag stolperte ihre Sturheit geradezu über seine Adresse. Am Morgen nach einer schlaflosen Nacht fischte sie sie aus ihrem Portemonnaie heraus, und am selben Nachmittag stand sie vor seiner Tür. th
Er wohnte an der 60 Street West, nicht weit vom Columbus Circle, in einem alten und eindrucksvollen Gebäude aus grauem Stein. Man klingelte, und der Bewohner kam mit einem Aufzug herunter, um einen einzulassen. »Ich habe mit jemand anderem gerechnet«, sagte er mit einem vorsichtigen Lächeln, und sie nahm an, dass er die Frau meinte, die aussah wie Lucinda. Aber er bat sie herein. Sie nahmen den Aufzug in den dritten Stock. Da war der Aufzug, seine Langsamkeit, und da war ihr Schweigen. Eine Puppe in einer Puppe in einer Puppe, und in der Puppe war ihr Schweigen. Er hielt ihr die Tür zu seiner Wohnung auf, aber er legte ihr nicht den Arm um die Schultern. Und er bot ihr auch nichts zu essen oder zu trinken an. Verglichen mit ihrer, war diese Wohnung groß, hell und aufgeräumt. Drei Zimmer, hohe Decken, sehr wenige Möbel. Ein Sessel, ein hölzerner Schreibtisch, zwei Bücherregale. Durch die Flügeltür im Wohnzimmer sah sie im Zimmer dahinter ein Doppelbett, ordentlich gemacht. Aus Nervosität ging sie im Wohnzimmer herum, und aus Neugier blieb sie vor seinem großen Schreibtisch stehen. Es war ein Arbeitstisch. Seine Papiere lagen in ordentlichen Stößen darauf, seine Bücher waren seitlich gestapelt, seine Füllhalter und Bleistifte steckten dicht gedrängt in einem Einmachglas. Rechts stand ein Schreibmaschinentisch. In der Schreibmaschine steckte Papier: Sie hatte ihn gestört. Die Bücher handelten von englischen und japanischen Gärten. »Der Botanische Garten hat eine japanische Abteilung«, sagte er und stellte sich neben sie. »Ich will noch mehr lernen. In ein 205
paar Monaten bin ich hier«, und er nahm das Buch über die Kew Gardens. »Du gehst weg?« »Im März. Es ist ein Austausch«, erklärte er. »Ich werde sechs Monate fort sein.« März war nach ihren Berechnungen der Monat, in dem das Baby kommen sollte. »März«, wiederholte sie, als hätte sie es nicht ganz erfasst. »Das hier würde dir gefallen.« Er legte das Buch über Kew Gardens hin und nahm eine Biografie von Marie Curie. »Sie war eine bemerkenswerte Frau.« Ihre Schultern berührten sich nicht, auch ihre Hände nicht. Aber sie spürte ihn. Wie die Hitze auf einem Bügelbrett, wenn man gerade mit dem Bügeln fertig ist. »Inwiefern war sie bemerkenswert?« »Ich erzähle es dir«, sagte er, und man konnte sehen, dass es ihm Vergnügen machte, Dinge aus dem Leben anderer zur Sprache zu bringen. Sie gingen in die Küche – er bot ihr Tee an, sie bat um ein Glas Wasser –, und er erzählte von Marie Curie. Norma Joyce hörte zu, und als sie sein vertrautes, ausdrucksvolles Gesicht betrachtete, überkam sie ein altes Gefühl, die unterdrückte Aufregung, alles wissen zu wollen, was man wissen konnte, der Wunsch nach einem Leben, das aus Studieren und Lernen bestand, aus Fleiß und aus der Befriedigung, die Fleiß erzeugte. Das Gefühl wurde ausgelöst von diesem Mann, den sie liebte, der so klar und so gut Marie Curies Leben umriss. Studentin in Polen, dann Hauslehrerin, eine unglückliche Liebesgeschichte, dann ihre Begegnung mit Henri Curie in Paris, wo sie nach gewissenhaftester Arbeit das Radium entdeckten. Als er gestorben war – ein schrecklicher Tod, sein Kopf wurde von den Rädern eines Pferdewagens 206
gespalten –, richtete der Schmerz sie zugrunde, sagte Maurice und sah Norma Joyce an, aber trotzdem setzte sie ihre Arbeit fort. Sie arbeitete immerzu. Sie war eine schöne Frau, die immerzu arbeitete. Jahrelang, sagte Maurice, habe man gerne behauptet, dass es ohne Henri Curie keine Marie Curie gegeben hätte, aber das sei nicht wahr. Was für schöne Hände er hatte. Er fegte ein paar Krümel zu einem Häufchen zusammen und wischte sie dann mit dem Handrücken weg. Mit etwas Glück würde ihr Baby seine Hände erben und nicht ihre. »Norrie?« Sie sah auf. »Ich bin sehr selbstsüchtig«, sagte er. Von draußen kamen Geräusche – Autos, Tauben, ein kläffender Hund. Die Fenster standen offen. »Es gibt bestimmte Dinge, die ich tun will. Ich habe viel darüber nachgedacht. Bücher, die ich schreiben will, Orte, an die ich reisen will. Ich habe schon eine Menge Zeit verloren.« Sie studierte die Lippenstiftspuren an ihrem Glas. Sie wusste, was er meinte, noch bevor er deutlicher wurde. Er sagte: »Ich will keine Kinder.« Sie trank einen Schluck Wasser. »Nie?« »Noch lange nicht.« »Ungefähr neun Jahre«, ein Hauch Sarkasmus in der Stimme. »Länger.« Norma Joyce schob ihren Stuhl zurück. Sie ging in das Wohnzimmer hinüber. Er dachte, sie wolle gehen, aber sie durchquerte das Zimmer bis hin zur Flügeltür. Sie konnte den Durchgang zur Küche sehen, der sich im Glas spiegelte, und durch das Glas das breite Bett, auf dem eine blauweiße Tagesdecke lag. 207
»Ich liebe dich nicht«, sagte sie so leise, dass er es nicht verstand. »Wie bitte?«, sagte er. Sie öffnete die Flügeltür und betrat das Schlafzimmer. Ich liebe dich nicht, sagte sie zu sich selbst, während sie ihre Schuhe auszog und sich auf sein Bett legte. Sie hätte baden sollen, bevor sie kam. Sie konnte ihre Füße riechen. Er folgte ihr in das Zimmer und setzte sich neben sie. »Ich könnte doch hier bleiben«, sagte sie. Er antwortete nicht. Sein Blick war so sorgenvoll, dass er beinahe aussah wie King George. »Ich meine, nur heute Nacht«, und sie schloss die Augen. Weil sie Marie Curies Leben in seinen Konturen gesehen hatte – den Anfang, die Mitte, das Ende, wie ein Kunstwerk, das Schritt für Schritt entwickelt wird, oder wie ein Wissenschaftsprojekt, auf feinem Glanzkarton skizziert –, verspürte sie eine tiefe, erholsame Erregung, und sie gab sich große Mühe, dieses Gefühl zu halten. So will ich sein, dachte sie wieder. Ich will hochgehoben werden. Ich will hochgerissen werden, in etwas hinein, das mich aufnimmt und weiterführt. Obwohl sie vor allem damit beschäftigt war, nicht den Kopf zu verlieren, fragte sie sich, wie sie aussah. Es war die beste Stellung für sie, wenn sie so auf einem Kissen lag und die Haut sich über ihren Wangenknochen straffte. Wie sie Jahre später erfahren sollte, wählte Cary Grant diese Stellung, als er älter geworden war und das Fleisch in seinem Gesicht erschlaffte. Er lehnte sich immer auf dem Bett zurück, und die Frau musste sich über ihn beugen. Sie versuchte sich zu erinnern, welche Unterwäsche sie trug und ob sie sauber war. »Hatte Marie Curie Kinder?« Und sie schlug die Augen auf, um zu sehen, ob sein Gesicht zumindest einen Schimmer des Begehrens zeigte. »Zwei Töchter. Eine von ihnen hat die Biografie geschrieben.« Kein Funke. Nur Kühle und Betroffenheit. »Was denkst du 208
gerade?«, fragte sie ihn. Er dachte an ein Kamel und an ein Zelt. Er sah das Mädchen, das die Hand ausgestreckt und sich ein Anrecht gesichert hatte, als er sie zum ersten Mal sah. Er fragte sich, wie er es hatte zulassen können, dass sie so tief in sein Leben eindrang. Er sagte: »Nichts.« Dann stand er auf und ging in die Küche zurück. Sie hörte, wie er den Wasserhahn aufdrehte, um ihr weniges Geschirr abzuwaschen. Dann schloss sie die Augen und schlief tatsächlich ein. In dieser Nacht sah sie, wie es wäre. Sie streckte ihre Hand aus und berührte seine Schulter. Er drehte sich weg von ihr. Er schlief, und sie lag wach. Als es hell wurde, schüttelte sie ihn. Sie musste ihn fest schütteln. »Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen«, sagte sie. Er war dabei, aus dem Bett zu steigen, und sie packte seinen Arm, aber er zog ihn entschlossen weg. Sie folgte ihm in die Küche, und er hielt sich immer noch von ihr fern; er goss Milch in einen Kochtopf und stellte ihn auf den Herd. Dann sagte er: »Es tut mir Leid.« Er drehte sich um und sah sie unverwandt an. »Ich kann dir nicht die Schuld geben, Norrie. Ich weiß, es ist eher mein Fehler als deiner.« Sein ruhiges Eingeständnis löste etwas in ihr. Zu ihrem Entsetzen begann sie zu weinen. Ihre Augen waren wie die Stigmata Christi, so, wie sie überquollen. Sein Taschentuch reichte nicht aus; er musste ein Handtuch holen. Er stellte eine Tasse heiße Milch vor sie hin. »Ich bin doch nicht krank«, sagte sie. »Trink sie einfach. Das wird dich 209
beruhigen.« »Was hast du gegen Tee?« »Trink sie einfach.« Ach, sollte sie Jahre später denken, die Unerbittlichkeit sanfter Männer. Sie trank die Milch. Sie aß den Toast, den er für sie machte. Sie lieh sich seine Bürste aus, um ihr Haar zu bürsten. Sie sagte: »Ich habe dich am Samstag vor Macy's gesehen. Du bist in ein Taxi gestiegen.« »Aha«, langsam. »Sie sieht aus wie meine Schwester, die Frau, die bei dir war.« Er überlegte einen Moment. »Lucinda war schöner«, sagte er, »bevor sie ihr Aussehen verloren hat.« Sein Ton war so sachlich, dass sie ihn nur anstarren konnte. Was sie sah, war der feste, wissenschaftliche Blick eines Mannes, der mit sich im Reinen ist. Niemals würde Maurice Dove sich selbst der schlimmste Feind sein. »Ist das eine neue Freundin?« »Ich würde sagen, Louise ist mehr als eine Freundin.«
Mehr als eine Freundin. »Und was bin ich dann? Weniger als eine Freundin?« Das brachte ihr ein kleines Lächeln ein, aber sonst nichts. Jedes Mal, wenn sie am Ende des Tages ihren Arbeitsplatz verließ, zog Frank die Pfeife zwischen seinen feuchten Lippen hervor – seine Lippen waren immer feucht – und sagte: »Danke für deine Hilfe, Norma Joyce. Bis morgen.« Sein Tabakgeruch rührte an irgendeine alte Erinnerung, aber 210
sie gab sich keine Mühe, und die Erinnerung an den alten Wahrsager kam nicht zurück. Frank erzählte ihr, dass die Leute seiner Mutter Drucker in Edinburgh gewesen waren. Ein Groß-Großonkel, der für die Druckerei von John Ballantyne gearbeitet hatte, hatte die Rechtschreibung von Sir Walter Scott korrigiert. Seine Mutter kannte lange Abschnitte von The Lady of the Lake auswendig, und er auch. Als Norma Joyce eines Tages während ihrer Kaffeepause besonders müde aussah, nahm er seine Pfeife aus dem Mund und sagte mit sanfter, versonnener Stimme:
Krieger ruh', der Kampf ist aus, Schlumm're, Nichts soll Störung machen; Träume nicht von Schlachtengraus, Tages Mühen, nächt'gem Wachen. Er war ein liebevoller Mann, dieser Frank. Er kannte auch Burns und Milton. Er sagte, dass seine Mutter seinem Vater Gedichte vorgelesen hatte, wenn er Schriften setzte. Seine Mutter hatte eine schöne Lesestimme gehabt. Ganz ähnlich wie deine, sagte er. Norma Joyce hatte ihn vom ersten Augenblick an gemocht. Seine Freundlichkeit, seine Geduld, sein Verständnis für so vieles. Und er hatte sie gemocht. Ihre stille Gesellschaft, ihren kanadischen Akzent, ihre Eifrigkeit. Sie fühlten sich wohl miteinander. Sie passten zusammen. Inzwischen war es Oktober. Das Wetter war im Gleichgewicht, und durch irgendein Wunder blieb es dabei, Woche um Woche 211
um Woche. Sehr selten und nur im Herbst ist die Luft gleichzeitig trocken und leicht, die Sonne wärmt und lässt reifen, die Winde sind böig und stark, die Wolken verspielt und unbezähmbar. Die Hitze war weg, ihre Übelkeit war vorüber. Die Gefahr, dass sie zur Toilette rennen musste, um zu würgen, bestand nicht mehr. Es war zwei Mal passiert, und sie hatte sich entschuldigt und gesagt, es sei der Geruch der Druckerschwärze, sie werde sich bald daran gewöhnen. Sie hatte an Ernest und Lucinda geschrieben, einen Brief diesmal, und sie hatte die beiden wissen lassen, wo sie war und dass sie sich keine Sorgen machen sollten. Sie habe Arbeit und einen Platz zum Wohnen. Sie werde ihnen bald alles zurückzahlen können. Als Antwort schrieb Lucinda, dass das Geld, das sie genommen hatte, ihre geringste Sorge war. Ob sie nicht gemerkt habe, wie viel Sorgen sie ihnen bereitet hatte? Sie und Ernest seien froh, zu wissen, dass es ihr gut ging, aber sie wollten, dass sie nach Hause kam. Sie solle sich keine Sorgen machen. Der Zorn ihres Vaters sei schon verflogen. Ihre Taille wurde jetzt allmählich dicker. Sie bat Hilda wegen einer Nähmaschine um Rat und erhielt als Leihgabe eine tragbare Singer, die Hilda nicht mehr benutzte. An ihrem nächsten freien Tag ging Norma Joyce zu Macy's und betrachtete die Kleider auf den Ständern genau. Sie prägte sich ein Kleid ein, das angemessen locker sitzen würde, ging sofort nach Hause, zeichnete den Zuschnitt auf eine alte Zeitung und schnitt ihn aus. Sie hatte einen Blick für Formen, erinnerte sich an Details und ging geschickt mit der Schere um. Ihr Pult war so klein, dass sie auf dem Fußboden nähte. (Gibt es etwas Schwärzeres als eine Nähmaschine, fragte sie sich, oder etwas Goldeneres als das Wort Singer?) Sie saß auf dem Boden, beugte sich vor und nähte, bis ihr Rücken streikte. Dann streckte sie sich auf der Seite aus und ließ ihre Augen auf dem 212
goldenen Streifen aus stilisierten Achten und winzigen Quadraten ruhen, der den Rand von Mr. Singers nützlicher Maschine zierte. In ihrem Zimmer gab es ein Einzelbett mit einer breiten Bank am Fußende, ein Pult, das für ein Kind gedacht war, einen Sessel, eine Stehlampe und einen Fußschemel. Die Kochecke bestand aus einem taillenhohen Kühlschrank, dem quadratischen Tisch, unter dem er stand, und einem Hängeschrank mit Türen, die so dick gestrichen waren, dass man sie nicht schließen konnte. Keine Spüle. Sie wusch ihr Geschirr in der Badewanne ab. Ihr einziges Fenster ging auf eine Feuertreppe. Nachdem sie es geputzt hatte, waren Drinnen und Draußen wie verwandelt. Jetzt sah sie klar und mit Freude den Lichtschacht draußen, das Muster aus roten Backsteinen auf der gegenüberliegenden, sieben Meter entfernten Wand, die benachbarte Feuertreppe mit den Geranientöpfen und dem Klappstuhl und die Nachbarin, die in der Dämmerung herauskam, um die Pflanzen zu gießen. Es brauchte sehr wenig, um sie glücklich zu machen, dieses Mädchen, das so viel wollte. Sie schob das Kinderpult zu ihrem Fenster hinüber, und am frühen Morgen zeichnete sie eine Stunde, bevor sie in die Werkstatt ging. Manchmal zeichnete sie den Blumenstrauß, den sie jeden Samstag kaufte, manchmal den Korb, in dem sie ihre sorgfältig zusammengelegte Wäsche aufbewahrte, manchmal die Kleider auf den Bügeln, die an dem beweglichen Arm der Stehlampe hingen, manchmal die Tauben auf der Feuertreppe. Sie befestigte ihre Zeichnungen an der apfelgrünen Wand. An den Abenden erkundete sie Straßen, die stiller waren als die, in der sie wohnte. Sie spazierte gerne am Theologischen 213
th
Seminar an der 20 Street West zwischen Ninth und Tenth Avenue vorbei und ging dann über die Straße zu den Gebäuden aus rotem Backstein oder Sandstein mit ihren weit zurückgesetzten Eingängen und den schmiedeeisernen Zäunen, die manchmal Beete mit Efeu umschlossen, der an den Stämmen schlanker Stadtbäume emporwuchs. Sie ging an Gebäuden mit Türklopfern aus Messing vorbei, die geformt waren wie Pfoten oder Schnäbel, und manchmal blieb sie stehen, um zu sehen, wer in den erleuchteten Räumen umherging. Auf der anderen Straßenseite beugte sich vielleicht gerade eine Frau über einen Tisch, oder ein Mann goss sich etwas zu trinken ein, und dann fragte sie sich, was es zum Abendessen geben würde, und malte sich einen Braten mit Sauce aus; an guten Tagen stellte sie sich vor, wie man sie dazu einlud, und an schlechten Tagen stellte sie sich vor, wie sie für den Rest ihres Lebens draußen im Dunkeln stand und hungrig hineinsah. Sonntags ging sie in den Central Park und lief über Wiesen und Brücken und an Spielfeldern vorbei. Sie hörte, wie Mütter ihre Kinder ausschimpften und junge Männer übel fluchten, und einmal, wie eine chinesische Frau auf einer Bank einer anderen chinesischen Frau flüsternd Englischunterricht gab. Wenn es zu regnen anfing, überquerte sie die Fifth Avenue th in Höhe der 70 Street East und ging in das Frick Museum, dessen Innenhof mit seinen Bänken und dem Grün und dem plätschernden Wasser Balsam für jede verzagte Seele war. Jenseits des Hofs gab es Zimmer mit Samtsofas und mit Brokatsesseln, die ein Seil vor müden Hinterteilen schützte, und mit Gemälden in geschnitzten, vergoldeten Rahmen. Auf einer mit grünem Samt bespannten Wand war Rembrandt mit der großen Nase zu Hause. Sie studierte das müde, unschöne Gesicht auf seinem Selbstporträt von 1658 und fragte sich, was für ein Mann das war, der sich selbst so schonungslos 214
betrachten konnte. Ein kleiner, stämmiger, hoheitsvoller Mann, der auf den Schlag wartete, der ihn zu Fall bringen wird, und trotzdem wirkte er ruhig mit seinem Hut und dem Umhang und dem Gewand, das aussah wie das eines Jüngers: In diesem kleidartigen Stoffgewirbel sah er schwangerer aus als sie. Sie sollte noch erfahren, dass 1658 eines der schlimmsten Jahre in Rembrandts Leben gewesen war – wie sie auch erfahren sollte, dass man den Central Park unter dem Druck und in der Panik der Wirtschaftskrise von 1857 angelegt hatte –, aber Rembrandt, der bankrott gegangen war, der gezwungen gewesen war, seine private Sammlung zu verkaufen, benutzte sich hier selbst. Er zog aus seinem Elend eben einen Vorteil. Sie blieb im Frick Museum, bis es um fünf Uhr geschlossen wurde, dann ging sie nach Hause. New York hatte etwas von Rembrandts Dunkelheit. Eine samtene Rußigkeit, besonders unterirdisch, dort schwebte sie um die Dachsparrendecken der Subway herum und senkte sich in den Schmutz, der tief war wie Plüsch, aber auch oberirdisch, auf belebten Gehwegen, im Schatten hoher, dunkler, schöner Gebäude. Ihr wird klar, dass sie immer noch mit dem kämpft, womit sie damals kämpfte – wie man aus sehr wenig ein Leben aufbaut. Eines Samstagmorgens Anfang November lud sie Maurice zum Abendessen ein; sie rief aus der Werkstatt an, weil sie kein Telefon hatte. Sie hörte, wie er am anderen Ende zögerte, und sie überzeugte ihn dadurch, dass sie sagte: »Keine Angst. Ich vergifte dich nicht.« »Gut«, sagte er, »ich habe mich schon gefragt, wie es dir geht.« Er kam eine Stunde zu spät und hatte eine fettfleckige Papiertüte in der Hand, mit irgendetwas darin, er sagte nicht, was, und stellte sie auf ihr Pult. Dann drehte er sich einmal um 215
sich selbst und pfiff. »Das ist wie eine mobile Feldküche hier drin«, sagte er. »Oder ein Zelt«, sagte sie. »Du hast alles, was du brauchst.« »Alles würde ich nicht sagen.« Aber er war damit beschäftigt, ihre gemütliche, primitive Einrichtung zu betrachten, zu der auch ein niedriger, für zwei gedeckter Tisch gehörte: die breite Bank, die, mit einem karierten Tuch bedeckt, mitten auf dem Fußboden stand. Erst, als er das ganze Zimmer begutachtet hatte, schaute er in ihr entschiedenes, ungeschütztes Gesicht herab. Ihre Wangen waren breiter, ihre Augen leuchteten mehr, aber ansonsten war nicht zu erkennen, dass sie schwanger war. Und auch andere kamen bis zum Ende nicht darauf; sie war von Natur aus klein und in der Schwangerschaft kompakt. Sie kleidete sich mit Umsicht, und sie trug einen Hüftgürtel. Die Intensität ihres Blicks – er fühlte! sich aufgefressen – war ihm unangenehm, und sein unwohles Gefühl machte ihn übermäßig herzlich. Er schwärmte von ihrem winzigen Pult. »Das kommt aus einer Schule für Zwerge«, sagte sie. Manche Leute, Lucinda zum Beispiel, glaubten, sie habe keinerlei Humor. Aber Lucinda irrte sich. Maurice grinste. Er setzte sich auf ihr Bett. »Das hast du gut gemacht. Ich bin beeindruckt.« Sie hatte mit ihrem schwer verdienten Geld ein Steak für ihn gekauft. (Ein Un-Steak, wie sie es in Kürze nennen würde.) Eine großartige Idee, aber sie hatte noch nie eines zubereitet. Der Kartoffelbrei war in ihrem einzigen Topf und konnte auf der Kochplatte wieder aufgewärmt werden; die gebutterten grünen Bohnen hatten Zimmertemperatur, wobei es bleiben würde, und lagen in einer Schüssel. 216
Ihre Kochplatte hatte zwei Temperaturen, hoch und niedrig. Die Bratpfanne war dünn. Sie machte sich an die Arbeit. Maurice sah ihr zu. »Du bist vollkommen unabhängig. Ich bin froh. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.« »Ich esse nicht jeden Tag ein Steak, weißt du. Ich habe es für dich gekauft.« »Was isst du denn?« »Knochen. Ich bekomme sie vom Metzger.« Sie ließ Butter in der Bratpfanne aus. »Ich mache mir Suppe. Er glaubt, ich habe einen Hund.« Sie stießen einander an, traten einander auf die Füße, sagten einander, was zu tun war, und brachten am Ende ein Steak zu Stande, das halb so groß war wie das gekaufte. Maurice schnitt es entzwei und ließ die Stücke auf ihre Teller gleiten, zusammen mit dem aufgewärmten Kartoffelbrei und den Bohnen mit Zimmertemperatur. Sie setzten sich auf den Boden und schlugen die Beine übereinander. Jeder aß einen Bissen. Maurice sagte lächelnd: »Es ist sehr Je ne sais quoi.« »Kaubar«, sagte sie. »Es ist sehr kaubar.« Sie waren für eine halbe Stunde ein vergnügtes Paar. »Ich habe Nachtisch mitgebracht«, sagte er zu ihr, und ohne aufzustehen griff er nach der fettfleckigen weißen Papiertüte auf ihrem Pult. Sie öffnete die Tüte und sah ein halbes Dutzend Krapfen. »Krapfen«, sagte er. »Wie Zapfen«, sagte sie entzückt. Im Geschmack erinnerten sie an Mrs. Haarings Fettgebackenes. Aber Maurice erinnerte sich nicht an Mrs. Haaring. »Willow Bend«, sagte sie. »Wir haben zusammen in der Küche gesessen, als alle noch schliefen. Du hast sie gefragt, wie es ist, in der Prärie zu wohnen.« 217
Aber er schüttelte den Kopf. Keine Erinnerung. Sie starrte ihn an. Dann packte sie ihn über ihren improvisierten Tisch hinweg am Kragen. »Wag es nicht, mich zu vergessen!« Er kicherte. Er legte seine Hand an ihren Hals. Er ließ sie dort einen Augenblick liegen. »Auf keinen Fall«, sagte er. Bevor er ging, gab sie ihm einen Zettel, auf den sie die Adresse und die Telefonnummer von Quality Printing geschrieben hatte, aber er rief sie nicht an. Eine Woche verging, und sie rief ihn an. Aber er hatte sich wieder von ihr zurückgezogen. Er sagte nur, er habe zu tun, er müsse schwer arbeiten, ja, es gehe ihm gut. Er fragte sie, ob sie gut esse und sich ausruhe. Als sie sagte, dass sie ihn sehen wolle, sagte er, nein, keine gute Idee, nicht jetzt. Ich rufe dich an, sagte er. Aber das tat er nicht. Sie rief ihn an, mehrere Male, weil sie sich nicht zu helfen wusste. Beim letzten Mal hörte sie im Hintergrund die Stimme einer Frau. »Wer ist das?«, fragte sie. »Ist das deine Mehr-als-eineFreundin?« Er antwortete nicht. »Ist sie das?« »Sie heißt Louise«, sagte er. Inzwischen war es Ende November, und obwohl sie sich immer wieder sagte, dass alles irgendwie gut werden würde, konnte sie nicht mehr schlafen. Dann lag sie auf ihrem Bett und atmete langsam und tief, um sich in Schlummer zu versetzen, und sie verschluckte sich an ihrem eigenen Atem. Er zuckte in ihrem Hals und blieb stecken. Sie keuchte und rollte sich zur Seite, dann zur anderen Seite und drehte und wand sich in der Enge ihres Bettes. Ich werde hier sterben, und was wird auf meinem Grabstein stehen? SIE HAT NIE GEHOLFEN. Schließlich stand sie auf, setzte sich in eine Decke gewickelt in 218
ihren Sessel und las An Anthology of World Poetry; Frank hatte ihr das Buch geschenkt. Sie las immer wieder Christina Rossetti und Emily Dickinson und bestimmte alte spanische und französische Verse in Übersetzung und suchte in einem kurzen, genauen Gedicht den Moment, in dem es vor Bedeutung zu beben begann. Dann atmete sie leichter, und manchmal konnte sie danach schlafen. Ihr gefiel der Gedanke, dass Christina und Emily so wenig veröffentlichten und wie Nonnen lebten. Sie begriff diesen Reiz. In den Stunden, die sie zum Lesen und Zeichnen für sich hatte, lebte sie erfüllter als zu jeder anderen Zeit. Zurückgezogenheit brachte reichen Lohn, das hatte sie immer gewusst. Zurückgezogenheit, Abgeschiedenheit, konzentrierte Arbeit. Und trotzdem war sie einsam. Das Baby in ihrem Bauch schob sie buchstäblich zur Seite, in einer Stadt, in der jeder seine eigene, persönliche Isolation zu pflegen schien. Als die Tage kälter und kürzer wurden und der dunkle Dezember dem großen schwarzen Handschuh Manhattan ein Innenfutter gab, war sie dankbar für die hell erleuchtete Gesellschaft von Frank und Hilda. Frank zeigte ihr, wie man auf der kleinen, pedalbetriebenen Tiegeldruckpresse Hochzeitseinladungen druckte. Sie war wie eine alte Nähmaschine: Man bediente das Pedal mit dem rechten Fuß, drehte das große Rad an der Seite mit der rechten Hand und legte mit der linken die Karten ein. Eines Tages schloss sich die Presse über ihrer Hand. Das überraschte sie. Sie drehte das Rad, um die Presse zu öffnen, aber sie schloss sich nur noch fester. Sie drehte es in die andere Richtung, und diesmal war ihre Hand frei. »Frank«, sagte sie. »Frank?« Ihre linke Hand war platt gedrückt, und Dorothy Buckles Hochzeitseinladung war in Gold dort eingraviert. Seither immer 219
geschwollene Knöchel und ein neuer Respekt vor der alten Presse. Frank legte Eis auf ihre Hand und machte dann aus einem großen, sauberen Lappen eine Schlinge. Sie ging früh nach Hause, aber am nächsten Tag war sie wieder da. Beim Kaffee fragte sie die beiden, wie sie sich kennen gelernt hatten. Hilda, die aussah, als hätte sie mit fünfundvierzig noch immer dasselbe Gewicht wie mit dreizehn, wurde rot und hastete zum Schrank, während Frank sagte, dass sie sich in der Kirche kennen gelernt und drei Jahre später in der City Hall geheiratet hatten. Sie fragte, ob es eine Hochzeitsreise gegeben habe, und er sagte, nein. Er habe um elf Uhr wieder bei der Arbeit sein müssen, also habe es in derselben Straße Kaffee und Doughnuts gegeben. Norma Joyce' Reaktion überraschte ihn. »Kaffee und Doughnuts«, schwärmte sie. »Das würde ich auch so machen. Wo habt ihr gesessen?« »Am Tresen.« »Das hätte ich auch so gemacht!« »Kein Theater«, sagte Frank. »Kein Tamtam«, sagte Norma Joyce. »Kein Hokuspokus«, sagte Frank und blickte auf, um in ihre schimmernden Augen zu sehen. »Kein Hallihallo!« Aber Hilda unterbrach sie. »Ich weiß nicht. Ich mag große Hochzeiten«, und in ihrem Ton war etwas Wehleidiges und Mädchenhaftes. Norma Joyce hatte nie gesehen, dass sie sich berührten. Zwei Mal hatte sie Franks Hand auf ihrer eigenen Schulter gespürt, aber sie hatte sie nie auf Hildas liegen sehen, und Hilda selbst brachte es fertig, durch die Werkstatt zu gehen, ohne jemanden auch nur zu streifen. Sie hatte keine Hüften, und mit den Jahren nannte Norma Joyce sie im Stillen die Hüftlose Hilda vom 220
Süßen Lächeln. Eine freundliche und nervöse Frau. Einmal küsste Norma Joyce sie auf die Wange, und sie schrie erschrocken auf. Ein anderes Mal fragte sie: »Hilda? Was wolltest du werden, als du ein junges Mädchen warst?« »Oh, eine Mutter. Schon immer eine Mutter«, sagte Hilda. Dann fügte sie mit einem kurzen Lächeln hinzu: »Aber es sollte nicht sein. Egal«, sagte sie, »ich habe auch so genug zu tun.« Frank sagte: »Sie spricht von ihren Quilts.« Hilda sagte: »Ich bin an Nummer dreinullneun.« Frank sagte: »Sie wird bei tausend ankommen, bis sie fertig ist.« Wie sich herausstellte, nähte Hilda Quilts für die Bedürftigen. Die Mitglieder ihrer Kirche steuerten alte Stofffetzen bei, und damit gestaltete sie Quilts in Einzelbettgröße, zwei Stück im Monat. Nicht, dass sie besonders gerne nähte, erklärte sie, ihr gefiel es einfach, wie gut sie eine beliebige Ansammlung von Farben, Geweben und Größen zu einem Muster arrangieren konnte. Eine Gewohnheit aus ihrer Kinderzeit, diese Schwäche dafür, mit dem Gegebenen auszukommen. Weil es keine Münzen gab, hatte sie zum Beispiel Haarlocken gesammelt und in ihr Notizbuch geklebt. »Zeig es mir«, sagte Norma Joyce. Also brachte Hilda am nächsten Tag das alte Notizbuch mit zur Arbeit und ordnete die verschiedenen Haarlocken zu: ihrer Familie, den Mädchen in der Schule, der Musik- und Tanzlehrerin, die den Highland Fling, den Irish Washerwoman und den Sailors Hornpipe lehrte, und den verschiedenen Katzen, Hunden, Lämmern und Pferden. Hilda war auf einer Farm aufgewachsen, im Norden des Staates New York. Sie wies auf einen Fleck in ihrem Notizbuch und sagte: »Alles, was von Ryatt übrig ist, ist das Fett.«
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Norma Joyce sagte: »Ich kenne auch einen Ryatt. Sein Vater hat Selbstmord begangen.« »Dafür«, sagte Hilda züchtig, »gibt es keine Entschuldigung.« Als Hilda eines Tages nach Hause gegangen war, um Abendessen zu machen (sie und Frank hatten ein paar Blocks von der Werkstatt entfernt eine Wohnung), in einem Moment, als Norma Joyce und Frank die Pressen reinigten, sie die Walzen mit petroleumgetränkten Lumpen abrieben und dann das Petroleum mit benzingetränkten Lumpen abrieben, fragte sie ihn, was er tun würde, wenn er entdeckte, dass er einen Sohn hatte. »Ich meine, sagen wir mal, eine Frau kommt zu dir, ich meine, du hast sie in der Vergangenheit gekannt, und sie legt dir ein Baby in den Arm und sagt, es wäre deins. Was würdest du machen?« Er nahm seine Pfeife aus dem Mund und kratzte sich hinter dem Ohr. »Wenn sie sagen würde, Frank. Das hier ist dein Sohn.« »Um ehrlich zu sein«, er steckte die Pfeife wieder zwischen seine Zähne, »ich würde wahrscheinlich vor Freude einen Luftsprung machen.« Er trug wie immer Hosenträger und unförmige Hosen und Schuhe, die an den Zehen beinahe durchgewetzt waren, sein graues Haar war dick und zerzaust, seine rauen, tüchtigen Hände hatten Tintenflecken. »Das würde jeder Mann tun«, sagte er. »Er weiß es vielleicht nicht, bis du das Baby in seine Arme legst, aber jeder Mann will einen Sohn. Oder eigentlich eine Tochter.« »Wahrscheinlich hält es aber nicht lange«, sagte sie. »Ich 222
meine, nach der ersten Aufregung ist es vorbei.« »Das stimmt. Manche Männer bleiben nicht da.« Sie reinigten weiter die Presse, bis sie fertig waren, und als sie mit der anderen anfangen wollten, sagte Frank: »Norma Joyce, warum machst du nicht Feierabend. Ich mache das fertig.« Und von da an war er so besorgt um ihre Gesundheit, dass Hilda vor Schreck errötete, als er drei Karten aus seiner Hemdtasche zog und zu Norma Joyce sagte: »Du hast gesagt, du warst noch nie in der Oper.« Der liebe Frank. Er wusste alles. Eine Woche später erlosch im Metropolitan Opera House das Licht, der wunderbare goldene Vorhang hob sich und gab die Szene frei, die Maurice im Sommer zuvor so kurz umrissen hatte. Pinkerton inspizierte das kleine Haus, das er nach ihrer »japanischen« Hochzeit mit Butterfly teilen wollte. Pinkerton trug Weiß, Butterfly trug Gelb. Andere Figuren kamen und gingen und brachten Warnungen mit oder Flüche oder schlechte Nachrichten oder Heiratsangebote, aber die eigentliche Geschichte war die Liebesaffäre zwischen einem achtlosen Mann und einer ergebenen Frau.
Drei Jahre vergingen, und da war der Junge, den Butterfly zur Welt brachte, als Pinkerton zurück nach Amerika gegangen war, da war Sharpless mit dem Brief, den Butterfly nicht lesen wollte, da war der Kanonensalut, als das Schiff mit Pinkerton und seiner Frau in den Hafen einfuhr, da war Butterfly, die die ganze Nacht darauf wartete, dass er zu ihr kam. Und da war die Morgendämmerung. Und viele Tränen. Frank drückte ihr sein Taschentuch in die Hand. »Ich weine fast nie«, sagte sie hinterher, als Hilda über den Zustand ihres Gesichts eine 223
Bemerkung machte. »Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich geweint habe. Und wenn ich es tue, sprudeln die Tränen heraus, wisst ihr, weil sie sich angestaut haben. So erkläre ich mir das.« »Das ist oft passiert«, sagte Frank. »Soldaten in Übersee. Frauen, die zurückgelassen werden.« Dann fragte Hilda: »Suchst du jemanden?«, weil Norma Joyce ihren Blick so eingehend über die Menge wandern ließ. Norma Joyce schüttelte den Kopf, und sie gingen die mit Teppichen ausgelegten Stufen hinunter. Norma Joyce wusste, dass sie keine Butterfly war, und sie war nicht sicher, ob Butterfly selbst Butterfly war, ob so ein Mensch wirklich möglich war. Sie traute dem Anschein der Reinheit nicht, ganz gleich, wie sehr er sie rührte. Weihnachten verbrachte sie mit Frank und Hilda und mit Franks Tante Joan. Franks und Hildas Wohnung überraschte sie. Sie war geräumiger und geschmackvoller, als sie erwartet hatte. Norma Joyce kannte die arbeitsreiche Seite ihres Lebens, nicht diese helle und bequeme andere Seite mit den Kirschbaumregalen, die unter und neben den Wohnzimmerfenstern eingebaut waren, mit den Sofas, die sich, durch einen niedrigen, mit Zeitschriften und Büchern bedeckten Holztisch getrennt, gegenüberstanden, mit einem Tisch, den ein werdendes Puzzlespiel teilweise bedeckte. Sie und Hilda und Tante Joan arbeiteten an dem Puzzle (die Cutty Sark unter vollen Segeln), dabei erzählte Joan Geschichten vom Niedergang ihrer Gesundheit und von der elenden Putzfrau, die ihre Post las. »Es gibt nichts Niedrigeres«, sagte Tante Joan, »als die persönliche Post anderer Leute zu lesen.«
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Norma Joyce war geknickt von ihrer Schande. Noch jetzt kann sie den entrüsteten Ton hören, in dem diese gutherzige, felsenfeste Erklärung abgegeben wurde. Der nächste Tag war der Tag des heiligen Stephanus. Sie machte sich auf den Weg, um Maurice eine Geburtstagskarte zu bringen. Es war ein Aquarell, das sie gemalt hatte, von Wiesengräsern aus dem Central Park. Poa pratensis. Sie hatte es in der Bibliothek nachgeschlagen, in Agnes Chase' First Book of Grasses. Aber sie übergab ihm die Karte nie, denn als sie ankam, ging er gerade weg. Sie stand an der Treppe vor seinem Haus, als er und Louise aus der Vordertür traten. Es war früher Abend. Ein paar Schneeflocken fielen. Sie schmolzen sofort, wenn sie den Boden berührten. Er sagte ihren Namen. Sie sagte, sie sei gekommen, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Ich hätte anrufen sollen, sagte sie. Ich kam gerade vorbei. Sie stand auf dem Gehweg; er und Louise standen oben auf der Treppe und schauten auf sie herab. Die wenigen Schneeflocken, die auf Louise' Pelzmütze gefallen waren, blieben liegen. Ihr brauner Mantel hatte einen Pelzbesatz. Sie trug Strümpfe und Pumps. »Ich dachte, ich sehe dich vielleicht in der Oper«, sagte Norma Joyce fröhlich; sie dachte an Hilda und begriff blitzartig den Kummer, der vielleicht hinter Hildas vergnügter Fassade lag. »Letzte Woche hat mich jemand dorthin mitgenommen. Es gab
Madame Butterfly.« »Wir sind nicht hingegangen«, sagte er; jetzt kamen sie die Treppe herunter, und sie trat zur Seite. Sie hörte das wir, aber nicht so deutlich wie später, als das Gespräch in ihrem Kopf noch einmal ablief. »Vielleicht habe ich sie zu oft gesehen«, sagte er; er achtete nicht auf seine Worte, weil die Situation so peinlich war. 225
Louise hatte nicht gelächelt oder grüßend genickt, aber er hatte sie einander auch nicht vorgestellt. »In welche Richtung gehst du?«, fragte er. Verwirrt schaute Norma Joyce nach rechts. Er sagte: »Dann sagen wir Lebwohl. Wir gehen in die andere Richtung.« Er berührte sie Geburtstagswünsche.«
am
Arm.
»Danke
für
die
Von da an eignete sie sich eine Art Selbstbeherrschung an. Sie beugte ihren Kopf über die Trittbuchdruckpresse, ihr Bauch wuchs, ihre Fingerspitzen wurden golden von den Hochzeitseinladungen oder schwarz von den Trauerkarten, und sie übte sich in einer Art Ruhe. Und es war eine Übung. Eine Probe für den Moment, in dem sie Lucinda und ihrem Vater gegenübertreten musste. Sie hatte ihnen geschrieben, dass sie nach Hause kam, aber sie hatte nicht gesagt, warum, und Lucindas Antwort war beinahe mütterlich gewesen. »Wir haben dich vermisst«, schrieb sie. Aber Norma Joyce wusste, wie schwierig es werden würde, und sie wappnete sich. Mitte Januar sagte sie Frank und Hilda, dass sie nach Hause fahren wollte. Du bist noch keine fünf Monate bei uns, wandte Hilda ein. Was sollen wir ohne dich machen? Sie war im siebten Monat schwanger, und bald würde sogar Hilda etwas merken, und würde sie dann noch so gütig sein? Ich gehe wieder zur Schule, sagte Norma Joyce. Fängt die Schule im Januar an? In Ottawa schon. Eine Woche vor ihrer Abreise rief sie Maurice an, um es auch ihm zu sagen. Er schwieg für einen Augenblick. Dann sagte er: »Das ist wahrscheinlich das Beste. Dein Vater weiß es, oder?« »Nein. Noch nicht.« 226
»Es wird schwer werden«, sagte er. »Machst du dir Sorgen?« »Und du?«, fragte sie. Wieder schwieg er. Sie sagte: »Ich bin nicht blöd, Maurice. Ich weiß, dass ich allein bin.« Er hätte diesen Augenblick nutzen und ihr widersprechen können, aber er tat es nicht. Er fragte, ob sie genug Geld habe. Sie sagte, sie habe genug. Er wünschte ihr Glück. Sie antwortete ziemlich trocken, dass man davon schließlich nie genug haben konnte. Er sagte ihr, er werde an sie denken, und jetzt, beim Abschied, lag in seiner Stimme alle Wärme, die zuvor gefehlt hatte. Sie konnte nicht umhin, ihn zu bewundern, weil er so standhaft war, so unerschütterlich, so unzugänglich für sie. An ihrem letzten Abend in New York luden Frank und Hilda sie nach Hause zum Abendessen ein, und Hilda machte ein Foto von ihr. Frank hat diesen Beleg für ihre New Yorker Verwandlung immer noch. Sie trug ein locker sitzendes Kleid, das sie aus rosenfarbenem Viyella-Stoff gemacht hatte, einem Sonderangebot. Ihr dickes, dunkles Haar war auf dem Kopf locker zusammengesteckt, ihre dicken, dunklen Augenbrauen zu feinen Linien gezupft, ihr Gesicht alterslos und voller Leben. Ihr Ellbogen ruhte auf der Stuhllehne. Ein Buch lag offen vor ihr auf dem Tisch. Sie las es im Zug zu Ende, bevor sie in Ottawa ankam. Es war Franks Exemplar von Jane Eyre. »Nimm es mit«, hatte er gesagt. »Ich schicke es dir zurück, wenn ich fertig bin.« Er schlug das Buch auf, strich seinen Namen aus und schrieb ihren darüber. Sie klappte das Buch zu und betrachtete vom Zugfenster aus die 227
verschneiten Felder, die vorüberzogen – ein ferner Ruf von den Feldwegen und Hecken aus Jane Eyre. Was für eine harte und scheue Figur Jane war. Sie mochte sie so sehr, obwohl es ihr so vor sexueller Sünde graute. Eyre-Rochester. Von roche, rock, zweifellos. Das war ein altes Spiel, jenes mit Stein, Schere, Papier. Stärke, wo man sie zuletzt erwartet. Die Taube, die härter ist als hart. Der Tag, an dem sie nach Hause kam, sollte allen als kältester Tag des Jahrhunderts in Erinnerung bleiben. Der 3. Februar 1947. In Snag, Yukon, fiel die Temperatur auf -60 Grad Celsius. Ein Mann namens Wilf Blezard wurde von der Zeitung befragt und sagte, er habe draußen eine Schüssel mit Wasser ausgeleert und das Wasser habe gezischt und sei in weizenkorngroßen Eisklümpchen heruntergefallen. Er habe Hundegebell aus einem Dorf gehört, das über vier Meilen weit entfernt war. Seine Spucke sei vom Boden abgeprallt. Norma Joyce wickelte sich ihren Schal um den Kopf und wartete am Kriegerdenkmal auf die Straßenbahnlinie B, die sie die Sparks Street entlang zur Bank Street bringen sollte, dann auf der Bank nach Süden zur Sunnyside und auf der Sunnyside nach Westen zur Seneca. Von dort ging sie zum Haus ihres Vaters und trat um neun Uhr abends durch die Hintertür. Lucinda und Ernest erwarteten sie später in der Woche. In ihrem Brief hatte sie sich mit Absicht unklar geäußert: Sie wollte nicht, dass sie sich verpflichtet fühlten, sie am Bahnhof abzuholen. Als sie ankam, waren sie in der Küche und hörten zu, wie im Radio der schlimmste Schneesturm in der Geschichte Saskatchewans beschrieben wurde. Highways waren blockiert, Schulen waren geschlossen, Brotfirmen hatten ihre Lieferungen eingestellt. Eaton's und Simpsons blieben geschlossen. In der 228
Nähe von Weyburn waren vier Lokomotiven und zwei Schneepflüge unter einer Verwehung begraben, die eine halbe Meile lang und sechs Meter hoch war. Der Mann im Radio sagte, es sei »absolut fantastisch«. Im Vergleich dazu war eine entlaufene Tochter eine überschaubare Katastrophe. Ernest stand nicht auf, aber er sagte: »Komm herein und wärm dich auf. Stell deine Füße auf die Ofenklappe.« Lucinda sagte: »Du bist bestimmt ganz durchgefroren«, und sie füllte den Kessel, um eine frische Kanne Tee zu kochen. Beide staunten, was sie aus sich gemacht hatte. Sie sah wirklich aus wie ein Mädchen aus der Stadt. Beinahe hübsch. Norma Joyce setzte sich an den Küchentisch. Sie sagte, sie habe das Geld, das sie ihnen schulde, und sie fing an, von New York zu erzählen, aber Ernest unterbrach sie. »Morgen früh«, sagte er. »Trink jetzt deinen Tee.« Lucinda ließ ein heißes Bad für sie ein und legte eine Wärmflasche in ihr Bett. Als sie ihr eine Gute Nacht wünschte, sagte Norma Joyce: »Lucinda?« »Ja?« »Danke.« Beim Frühstück erzählte Norma Joyce es ihnen. Das erklärte alles. Deswegen sah sie so viel besser aus, als sie jemals ausgesehen hatte. Die verlorene Tochter. Sie sagte nicht, wer der Vater war, und sie fragten nicht danach. Sie wussten es. Sie erzählte die ganze Geschichte, ohne es zu sagen: ihre Monate in New York und ihre Rückkehr allein. Lucinda sagte, sie habe hoffentlich gut gegessen. Du machst am besten heute Morgen einen Termin beim Arzt. Sie sagte: »Ich bin froh, dass du nach Hause gekommen bist. Da gehörst du 229
jetzt nämlich hin.« Ernest sagte kein Wort. Er starrte aus dem Küchenfenster und den Abhang zum Haus der Doves hinauf, krank im Herzen, denn er schämte sich so. Aber gegen seinen Willen fing er in den nächsten Wochen an, seine ausgeglichene Tochter zu bewundern. Kein Theater, keine Tränen, kein Gerede. Unerschütterlichkeit bewunderte er immer und besonders bei Frauen. Sie machten gleichzeitig ihren Mittagsschlaf. Norma Joyce kochte immer Tee für sie beide, wenn sie aus ihrem Zimmer kam. Und sie war sich bewusst, wie außergewöhnlich ihr Vater und ihre Schwester waren. Sie hätten sie in ein Heim für ledige Mütter schicken können, sie hätten sie mit Schweigen und Verachtung strafen können. Sie taten nichts davon. Sie nahmen sie auf, und von ihrer Haltung hing ab, wie alles werden würde. Sie verlangten keine Entschuldigung und keine Erklärung, und sie selbst entschuldigten und erklärten sich ebenfalls nicht. Sie wussten, dass es viel Gerede geben würde – aber das würde wie bei anderen Unglücksfällen auch mit der Zeit vergehen, und vielleicht sogar schneller. Es war, als wären die Hardys wieder auf der Farm, so sehr vertrauten sie auf ihren Stolz, so sehr pflegten sie die Zurückhaltung der Prärie. Von Januar bis März schneite es ständig. Oft lag Norma Joyce wach, und es war mitten in der Nacht, obwohl das Schneelicht in ihrem Zimmer vermuten ließ, dass es bald Morgen war. Dann hörte sie Füße in Pantoffeln, die Toilettenspülung, wieder Füße in Pantoffeln und das Geräusch der Schlafzimmertür ihres Vaters. In Gedanken sah sie dann Fußspuren im Schnee. Lucindas Fußspuren, die über die Verandatreppe in den Schnee 230
hinunterführten und dann wieder heraus aus dem Schnee und die Treppe hinauf, und dort wandte sie sich um, weil etwas ihre Aufmerksamkeit erregte. Man musste nur hinunterschauen, und man konnte die ganze Geschichte sehen. Das Baby war eine Woche alt. Fressraupe nannte sie ihn gern. Schlafräuber. Dorn in meinem Fleisch. Noch nie hatte sie so wenig geschlafen. Sie lag auf der Seite. Ihr winziger, heißhungriger Sohn schlief neben ihr. Hinter ihm war das Fenster, von dem aus man zu den Doves hinübersah. Jemand hatte von diesem Haus aus einen Pfad geschaufelt, den Abhang hinunter bis zum Feldweg, und entsprechend führte von ihrem Haus ein geschaufelter Pfad zum Feldweg hinauf. Von ihrem Fenster aus konnte sie sehen, wie neuer Schnee die alten Fußspuren bedeckte und den Boden bereitete für die Spuren, die noch kommen sollten. Als sie eines Morgens nach draußen schaute, sah sie das, was sie sich gewünscht hatte – frische Spuren, die vom Haus der Doves kamen, den Feldweg kreuzten und weiter zu ihrem Haus führten. Sie zog sich schnell an, ihr Herz klopfte. Nahm das Baby von seiner Seite des Bettes hoch und trug es nach unten. Aber es war nicht Maurice. Es war seine Mutter. Mrs. Dove saß am Küchentisch. Ihre Stiefel standen neben der Tür. Sie schaue nur kurz herein, sagte sie, um ein Geschenk für das Baby zu bringen. Norma Joyce stand in der Küche und spürte, wie sie vor Verlegenheit und Verwirrung errötete. Sie verstand nicht. Erhob seine Mutter Anspruch auf ihr Enkelkind? Anscheinend. Sie wollte es auf dem Schoß halten. Als Nächstes fing sie an, es 231
gebührend zu bewundern, besonders sein rotes Haar. »Mrs. Hulder hat mir erzählt, dass es ein Rotschopf ist«, sagte sie äußerst selbstzufrieden. »Ich frage mich, von wem er den hat. In Ihrer Familie gibt es keine roten Haare, oder? In meiner auch nicht. Die Hulders dagegen. Das ist eine Familie mit roten Haaren.« Jetzt verstand Norma Joyce. Nicht um Anspruch zu erheben, sondern um zu verleugnen. Die rothaarigen Hulder-Jungen waren neunzehn und eigneten sich gut als Sündenböcke. Würde sie ihren Sohn jemals so gewissenhaft beschützen, fragte sie sich, wie Mrs. Dove Maurice beschützte? Eine Babydecke. Und eine Karte. »Die ist von Maurice«, sagte Mrs. Dove und wies auf die Karte. »Maurice?« »Eine Stippvisite«, sagte sie. »Er ist gestern eingeflogen und heute Morgen wieder davon. Bevor er nach England geht. Aber er wollte nicht fahren, ohne seine Eltern zu besuchen.« Auf der Karte stand in Maurice' Handschrift, er freue sich sehr, zu hören, dass es ihr gut ging. Er wolle sie nicht stören. Seine Mutter habe ein Geschenk für sie, und sie werde seine Karte überbringen. Er hatte sie mit Die besten Wünsche unterschrieben. Und Mrs. Dove war ganz Baby, ganz Oooh und Aaah. Danach nur Schlaflosigkeit. Das Baby wurde rund um die Uhr alle zwei oder drei Stunden gestillt. Zwischen diesen Mahlzeiten lag Norma Joyce wach. Ihr Gesicht war breit und grau vor Müdigkeit. Eine Woche später kam sie mit dem in Decken gewickelten Baby nach unten. Lucinda war mit einer Kundin in der Küche. 232
Norma Joyce sah ihre Hinterköpfe, als sie Ernests Autoschlüssel von dem runden Tisch im Flur nahm; sie rief ihnen zu, dass sie mit dem Baby eine Spazierfahrt machen wollte, dass es dann vielleicht einschlafen würde. »Viel Glück«, rief Lucinda ihr nach. Es war Ende März, und es hatte jeden Tag geschneit. Die Straßen waren geräumt und würden in wenigen Stunden weder geräumt werden. Es war nicht besonders kalt. Sie ließ das Auto an, und innerhalb von Minuten schlief das Baby ein. Es lag auf dem Rücksitz in seinem Korb. Sie fuhr nach Renfrew, dann weiter nach Eganville und schlug den Weg zum Lake Clear ein. Sie tat es automatisch, ohne nachzudenken. In ihrem Kopf raschelte es, als wäre er innerlich ausgetrocknet. Sie hörte sogar über das Geräusch des Autos hinweg, wie es in ihrem schlafverlassenen Schädel arbeitete. Aber wie erholsam es war. Wie gut, zu entkommen, sich durch die große, weiche weiße Welt zu bewegen, die sie schon fast vergessen hatte. Ihr Weg wand sich an bauschigen Feldern und Büschen vorbei, schneeweiche Hügel hinauf und hinab, über eine schmale Brücke und schließlich zur Seite hin, weil ihr Auto von der Straße rutschte. Innerhalb von Minuten bedeckte Schnee die Windschutzscheibe. Sie drehte sich um und betrachtete das Baby, das fest schlief. Es wurde schon dunkel. Sie stieg aus dem Auto und schloss die Türen ab. Schnee wehte ihr ins Gesicht, und sie wandte ihren Kopf zur Seite. In einer halben Stunde würde sie zurück sein. Sie würde jemanden finden, der ihr half. Über das, was danach geschah, sollte im Renfrew Mercury geschrieben werden, im Evening Citizen und im Ottawa Journal. Fotografen kamen zum Haus, aber Ernest schickte sie fort, also wurde nur über die bloßen Tatsachen berichtet, von 233
einem Auto, das am frühen Abend des 26. März von der Straße abgekommen war. Die Fahrerin war Miss Norma Joyce Hardy, 99 Fulton Avenue in Ottawa. Miss Hardy ging Hilfe holen, stand in den Zeitungen, und kam mit einem Farmer aus der Nachbarschaft zurück, mit John Flower Senior, aber sie konnten das Auto nicht finden, weil es unter dem fallendem Schnee vollständig begraben war. Im Auto war ein zwei Wochen altes Baby. Norma Joyce hatte nicht das Gefühl, besonders weit gelaufen zu sein, als sie auf den mit Blumen bemalten Briefkasten stieß. Rote Tulpen, gelbe Gänseblümchen, blaue Veilchen: ein Strauß, den man ihr in die Hände mit den Fäustlingen drückte. Aber offenbar war es weiter gewesen, als sie glaubte, und offenbar war sie irgendwo abgebogen und hatte es später vergessen. Sie folgte den Reifenspuren auf dem Feldweg zu einem Farmhaus voller runder, strahlender Gesichter. Der Vater, der an die Tür kam, die Mutter, die darauf bestand, dass sie Tee und etwas zu essen annahm, und neun Kinder um sie herum – und alle strahlten sie an, wie ihr Zwillingsbruder Norman es immer getan hatte. Sie dankte, aber könne sie den Tee später trinken? Sie müsse zu ihrem Auto zurück. Ihr Sohn schlafe darin. John Senior und John Junior setzten sie in ihren Lieferwagen – er hatte Ketten um alle vier Reifen –, und sie fuhren den zerfurchten Feldweg entlang zur Straße. Sie saß zwischen ihnen. In diesem Teil von Ontario trennten Lattenzäune Zedern von steinigen Feldern, eine Farmlandschaft, die zu widerspenstig war für alle, die nicht sehr viel Geduld mitbrachten. Vater und Sohn waren unerschütterlich und still. John Senior fragte, wie alt ihr Sohn sei, und er war erleichtert, als er hörte, dass er noch ein Baby war; es geht ihm sicher gut, sagte er, Babys überstehen mehr, als 234
man glaubt, weil sie so viel schlafen, und es ist nicht so kalt, es ist nie kalt, wenn diese Art Schnee fällt, und wahrscheinlich schneit es die ganze Nacht. Sie war merkwürdig ruhig – wie damals, als ihre Mutter gerade gestorben war. Aus ihren Brüsten begann Milch zu laufen. Sie hatten mehr Gefühl als sie. Nach einer Weile brachte John Senior den Transporter zum Stehen. Haben Sie gesagt, ihr Auto ist blau? Ein Hillman? Wir müssen daran vorbeigefahren sein. Er wendete mit einem gekonnten Manöver an einer engen Stelle und fuhr denselben Weg zurück, bis sie wieder bei dem geblümten Briefkasten am Ende des Feldwegs waren. Wir versuchen es noch einmal. Er bog in den Feldweg ein, fuhr rückwärts wieder hinaus und davon. Keine Reifenspuren außer ihren eigenen. Der Schnee hat Ihre wohl zugedeckt, sagte er, und Norma Joyce nickte, wieder sah sie diese Fußspuren im Schnee, an einem Abend, der diesem ähnlich war, aber windiger, rauer. Sie nahm ihre Hand weg, und Maurice kam die letzte Stufe hinauf. Die Art, wie sich sein Gesicht beim Sex veränderte, wühlte sie immer noch auf. Er gab dem Nachgeben nach. Sie sorgte dafür. Sie hatte diese Wirkung. Sie erinnerte sich daran, wie sie seine Hand genommen hatte, eine Miniaturfrau, die ihn zu einer Miniaturwiese führte, mit heißem Gras und scharfen Kiefernnadeln und üppigen Erdbeeren, und es war kein Wunder, dass sich das rächte: Sie lachten, als sie ihre rotfleckigen Rücken sahen, von den Beeren, auf die sie gerollt waren. Keine Schnee-Engel, sondern GrasTeufel, sagte er und schaute auf die Abdrücke hinab, die sie hinterlassen hatten. Als der Transporter das nächste Mal hielt, war es stockdunkel, abgesehen von den Scheinwerfern und dem Licht, das der Schnee reflektierte. Jemand, für den Schnee etwas Neues war, 235
hätte die Besonderheit dieses Lichts bemerkt, wie es emporleuchtete, obwohl leuchten ein zu strahlendes Wort für etwas so Zartes und Einfaches ist. Sie würden die ganze Nacht fallen, die großen, weichen Flocken des Winters, der zum Frühling wird. Es wurde telefoniert. Norma Joyce bekam zu essen und wurde dann in einem von Mrs. Flowers Nachthemden ins Bett gesteckt. Sie bat um ein Handtuch und wickelte es um ihre Brust. Sie schlief in dem Schlafzimmer unten hinter der Küche, neun Stunden Schlaf, und als sie erwachte – mit schweren, schmerzenden, triefenden Brüsten –, war sie umgeben von heißem Kaffee, dicken Pfannkuchen und einem Kreis Flowers um den großen Küchentisch herum. Mrs. Flowers sagte: »Es freut mich, dass Sie geschlafen haben, ich dachte, Sie machen sich vielleicht zu viele Sorgen«, und Norma Joyce wurde rot. »Sie haben es gebraucht«, sagte Mrs. Flowers. »Jeder hat Ihnen angesehen, dass Sie todmüde waren.« Dann sagte sie: »Jesus wird sich um das Baby kümmern.« Norma Joyce sah in ihr rundes, freundliches Gesicht. Sie dachte, besser Jesus als ich, aber sie sagte es nicht. Am Vormittag fuhr ein zweites Auto in dieselbe Senke zwischen zwei niedrigen Hügeln; der Aufprall war sanft, und es fiel gerade so viel Schnee ab, dass man einen blauen Kotflügel sah. Der Fahrer stieg aus. Er hörte einen kleinen, müden Schrei und sah sich nach einer Katze um. Er sei kein religiöser Mensch, sagte er der Polizei, aber als er durch das Autofenster gespäht und den Babykorb gesehen habe, habe er an Moses im Schilfrohr gedacht, und er sei nicht einmal zur Sonntagsschule gegangen.
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Norma Joyce schloss das Auto auf. Sie bückte sich, zog die Decke weg und sah auf dem kalten, tränengefleckten Gesicht des Babys eine münzgroße Erfrierung. Dann bewegte es sich und fing an zu weinen. Sie zog ihren Fausthandschuh aus und legte ihre warme Hand auf seine Wange. Es war das Echo, die Wiederholung. Sie verinnerlichte es als etwas Unentrinnbares, eine Verbindung, die sie zu bestimmten Dingen hatte. Sie nahm das Baby in die Arme und spürte eine Woge der Zärtlichkeit und der Erleichterung. »Wie heißt denn das Kleine?«, fragte der jüngere der beiden Polizisten. Es hatte keinen Namen. »Rote Haare«, sagte der andere Polizist. »Das hätte ich mir denken können. Ein Rotschopf ist nicht totzukriegen«, sagte er. »Iren und Rotschöpfe sind nicht totzukriegen.« John Senior fuhr die Mutter und das namenlose Baby zum Farmhaus zurück, und seine Frau richtete ihr in dem Schlafzimmer, wo sie die Nacht zuvor so gut geschlafen hatte, einen großen Schaukelstuhl bequem her. Sie stillte das Baby und beschloss, dass es John Francis Hardy heißen sollte. Es gibt solche Zufälle. Schneefall hatte Maurice in ihr Haus gebracht, ein weiterer Schneefall brachte ihren gemeinsamen Sohn in ihre Arme zurück. Sie fuhr am Nachmittag nach Hause, und sie fühlte sich ausgeruht und hoffnungsvoll und wieder wie ein Teil der Welt.
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Ein früher Morgen wie der staubige Schimmer auf einer blauen Traube, und schön zu sehen nach so vielen Monaten Dunkelheit. Im Radio sagte ein Mann, dass der viele Regen ihnen später eine Menge Erdbeeren bringen würde. Mitte April, und so weit man sah, war es, als wären alle Zäune eingerissen. Die feinen grauen Linien und die verwitterten Wiesen, die Konturen der Landschaft, die kein Weiß und kein Grün verwischte, die Zweige, die wie Haare waren, und durch das Haar die leuchtende Kopfhaut des Himmels. Am Nachmittag, während Johnny schlief, zeichnete Norma Joyce am Küchentisch, und ihr gelang mehr als je zuvor, ruhig, wie sie war, und aufgeregt wegen der zarten Töne der Dinge, die diesen langen, langen Winter überstanden hatten. Alles war karg und bewegte sich auf etwas zu, das man noch nicht sah. Auf die Farbe. Doch zunächst war die Welt wie eine große Silberbrosche über ihrem Herzen. Sie hatte sich in ihren Sohn verliebt, und die Liebe quoll über und schloss auch ihr Stadtviertel ein, diese ruhige Ansammlung baumgesäumter Straßen zwischen Fluss und Kanal, und ihre Familie. Lucinda hielt Johnny, während ihre Schwester aß, sie gab ihm die Flasche, als Norma begann, ihn abzustillen, sie holte ihn früh am Morgen in ihr eigenes Bett, damit Norma Joyce nach unten gehen konnte, um zu zeichnen oder zu lesen. Ernest nannte ihn »mein kleiner Mann«, und in seiner Gegenwart wurde er beinahe gesprächig. Endlich hatte er den Sohn, den er immer gewollt hatte. Er schob ihn in seiner Sportkarre in den Park und fuhr im Auto mit ihm zu seinen Obstgärten an der 238
alten Carp Road. Wie anders es war mit einem Enkelsohn. Er war der warme und knisternde Ofen, um den sie sich sammelten. Balsam für die gequälte Seele. Aus Frühling wurde Sommer. Mrs. Dove kam mit ihren Gartenhandschuhen nach draußen, und Norma Joyce tat so, als sähe sie sie nicht. Die beiden Frauen versuchten sich bei aller Nähe aus dem Weg zu gehen. Wann immer sie draußen saß, wandte Norma Joyce dem Haus über ihr den Rücken zu. Der Sommer kam schnell. Im Juni standen alle Fenster des Hauses weit offen, davor lag eine Stadt voller Gärten, und doch schien der Geruch drinnen süßer zu sein als draußen, als hätte die Sommerluft verborgene Sommerwände zum Vorschein gebracht oder das Innere des Hauses umgedreht wie eine Matratze, von der dunklen Winterseite zur hellen Sommerseite. Bald war es so heiß, dass auf der Hopewell Avenue eine Reihe Schwertlilien einknickte wie Pferde in einer New Yorker Hitzewelle. Lucinda füllte eine tragbare Waschschüssel mit Wasser, und Johnny nahm kühle Bäder unter dem Apfelbaum, während Norma Joyce die Blumen studierte, die zu blühen begannen. Sie blickte ins Gesicht eines Türkenmohns und war nicht vorbereitet auf die Erschütterung, den seine strahlende, ungeheure Schönheit bei ihr verursachte: Hunderte von purpurschwarzen Ballettschuhen winkten in der Luft, und darunter hatte die Mohnblume wie in einer scharlachroten Grube die Rockschöße zurückgeworfen, um Bürstenstriche mit dunkler Mascara entgegenzunehmen, üppig aufgetragen. »Lucinda? Was dagegen, wenn ich eine Weile zeichne?«
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»Ich habe nichts dagegen.« Sie wickelte Johnny in ein Handtuch und nahm ihn auf ihren Schoß. Lucinda war als Tante in ihrem Element, und notgedrungen musste das so bleiben, denn im September bekam Norma Joyce eine Stelle als Schaufensterdekorateurin für Freiman's Kaufhaus in der Rideau Street. Wenn man ihr Haus in der Morgendämmerung sehen könnte, wenn man zum Beispiel in Maurice' altem Fenster stünde und den Abhang hinunterblickte, würde man sehen, wie sich an beiden Fenstern die Jalousien hoben, denn beide Schwestern standen früh auf. Lucinda brachte Johnny in die Küche oder nach draußen; Norma Joyce beschäftigte sich an ihrem Schreibtisch mit den Übungen aus The Natural Way to Draw. Um halb acht kam sie nach unten, um zu frühstücken und mit ihrem Sohn zu spielen, und dann nahm sie die Straßenbahn zu Freiman's. Jetzt war es hilfreich für sie, dass sie Stunden mit dem Studieren von Schaufenstern in New York verbracht hatte. Inspiriert von deren Kühnheit, setzte sie Unscheinbares neben Wertvolles – die zerknitterte Zeitung von gestern, die abgewetzten Schuhe vom letzten Jahr, die verwitterten Gräser vom letzten Herbst neben ein Seidenkleid, das zum Kaufen zu teuer war. Hornstrauch aus Eganville, lange Gräser von den Chaudiere Falls, Birkenrinde von der alten Carp Road – alles sorgfältig gekennzeichnet und neben der neuesten, teuersten Mode arrangiert. Die Leute auf der Forschungsfarm sprachen darüber. Habt ihr die Fenster bei Freiman's gesehen? Dort ist bestimmt jemand 240
Naturforscher. Und im Herbst stand im Ottawa Journal ein Artikel über sie, die Dekorateurin, die ihre Wochenenden damit verbrachte, durch die Landschaft zu streifen und Blätter, Zweige, Gräser und Vogelnester zu sammeln, die sie dann mit Fantasie und Sorgfalt in ihren Schaufenstern an der Rideau Street arrangierte. Norma Joyce steckte den Zeitungsausschnitt in einen Umschlag und schickte ihn an Maurice zum Botanischen Garten in Brooklyn; er war sicher vor Monaten aus England zurückgekehrt. Auch wenn sie keine Antwort erwartete, gab sie die Hoffnung, etwas zu hören, noch lange nicht auf. Sie sollte in den nächsten sechs Jahren bei Freiman's arbeiten und dort etwas schaffen, das die Zeitung »Modelandschaften« nannte. Als einmal besonders viel Schnee gefallen war, schnitt sie Bilder von Schneeflocken aus, die einigen von Bentleys vierzigtausend Schneekristall-Fotografien entsprachen, nummerierte sie wie er und hängte sie vor verschiedenen schwarzen Samtkleidern auf. Ostern hängte sie in ein kleines Fenster den schlanken Ast einer Buche, in dessen Gabel sich ein Kolibrinest in Eiergröße schmiegte, und stellte dann eine Reihe handbemalter Eierbecher darunter. Seitlich lag dann das Eigentliche, der gefiederte Osterhut zu $ 17.50 und die blassgelben Handschuhe zu $ 5.29. Gerry Hulder brachte Norma Joyce jedes Mal etwas mit, wenn er seine Mutter besuchte. Er war knochig und still, dieser rothaarige Zwilling, der sie vor den Bienen gerettet hatte. Ein Hornissennest, eine Schlangenhaut, einen verrosteten Honigeimer, seltsam geformte Treibholzstücke. Er studierte Forstwirtschaft, also war er oft im Wald. Sie mochte ihn. Er war freundlich und schüchtern. Er brachte das Baby zum Lächeln. Aber er war sehr jung. Und wenn er sie besucht hatte, erschien 241
in seinem Kielwasser immer seine Mutter, und sie war zu ihr so frostig, wie sie freundlich zu Lucinda war. Als Norma Joyce schon drei Jahre bei Freiman's war, stattete ihre Schwester ihr eines Morgens bei der Arbeit einen Besuch ab. Lucinda war beim Zahnarzt in der Dalhousie Street gewesen, und jetzt ging sie zur Rideau Street, überquerte sie zur südlichen Seite hin und ging weiter nach Westen, wobei sie sich fragte, ob sie Norma Joyce in einem ihrer Fenster sehen würde, und so war es. Sie blieb stehen und schaute ihr zu. Ein paar vorüberfahrende Autos behinderten ihre Sicht, aber nicht lange. Ihre Schwester mit der olivfarbenen Haut arbeitete schnell und konzentriert – sie legte zwei Schaufensterpuppen Masken an, dann befestigte sie deren sperrige Füße in einer nächtlichen Waldszene mit ausgebreiteten Handschuhen und Kleidung, die sich in Zweigen verfangen hatte. Die Leute sagten, dass ihre Fenster lebendig aussahen, und Birks hatte versucht, sie bei Freiman's abzuwerben. Eine Form der Zauberei, diese Fenster. So kam es Lucinda vor. Die Schaufensterpuppen traten aus zerrissenen, staubigen Mänteln heraus und in elegante Seide und Satin hinein. Sogar Norma Joyce nannte diese Schaufenster Aschenputtel-Fenster, denn sie spielten mit dem Verlangen jeder Frau, viel schöner zu sein, als ihr bewusst ist. Lucinda ging über die Straße. Es war ein Morgen im November 1950; Johnny war zu Hause bei Ernest; die Apfelsaison war vorbei, und die Handschuhsaison hatte begonnen. Lucinda klopfte an das Fenster, und Norma Joyce lächelte und winkte sie herein. Sie gingen nach oben in die Kantine, wo sie sich nebeneinander setzten und in ihren Kaffeetassen rührten. Norma Joyce dachte an ihr Fenster; 242
Lucinda überlegte, wie sie am besten die Nachricht vermitteln konnte, die sie am Morgen erhalten hatte, denn Mrs. Dove hatte sie auf der Straße abgepasst. »Norma? Ich habe heute Morgen Mrs. Dove getroffen.« Sie versuchte ihre eigenen Gefühle aus dem, was sie erzählte, ganz herauszuhalten, aber Norma Joyce hörte, dass sie nicht überrascht war, und den leisen, rechtfertigenden Unterton. »Du regst dich anscheinend nicht auf«, sagte Lucinda. »Ich dachte, du würdest dich aufregen.« »Was soll ich deiner Meinung nach tun?« Ein müdes Lächeln. »Mir die Haare raufen?« Auch Lucinda musste lächeln. Manchmal vergaß sie, wie zäh ihre Schwester war. »Ich habe vergessen, wie stark du bist«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was das heißen soll.« Diese oberflächliche Darstellung ihrer Persönlichkeit verletzte sie unmittelbarer als die Nachricht von Maurice' Heirat. Kleine Verletzungen machten ihr oft mehr Kummer als große. Bei Gefühlen sparte sie manchmal am falschen Ende, wie beim Geld. »Hat sie dir gesagt, wie seine Frau heißt?« »Louise.« »Louise. Ich habe sie gesehen. Sie sieht aus wie du.« »Louise Hunt. Aus Long Island. Sie ist Geigerin.« »Louise Hunt. Das wird nicht funktionieren.« »Warum nicht?« »Dove, Taube, und Zusammenstellung.«
Hunt,
Jagd.
Eine
schlechte
In Gedanken schloss Norma Joyce für Maurice die Tür. Er kam bettelnd zu ihr. Sie schloss die Tür. Sie zertrat die Blumen 243
auf seinem Grab. Sie war fertig mit ihm. Und das hätte das Ende sein können, aber: Er war nicht fertig mit ihr. Als Johnny sechs Jahre alt war, kehrte Maurice nach Ottawa zurück. Norma Joyce stand immer noch früh auf. Sie trank ihre erste Tasse Kaffee gern in dem Segeltuchklappstuhl auf der hinteren Veranda. Die Veranda war klein, sie hatte ein niedriges Dach und ein grünes Geländer aus Holz. Als sie an einem Septembermorgen früh in den Segeltuchstuhl sank und ihre Tasse in beiden Händen hielt, fing es an, auf den malvenfarbenen Kosmos am Fuß der Treppe zu regnen, auf die Sonnenaugen an Mother Hulders Zaun, die so groß waren wie Giraffen, auf die Apfelbäume, das Gras auf dem Feldweg und auf die beiden Liegestühle der Doves, die im Freien standen. Johnny kam heraus und kletterte auf ihren Schoß. Er hatte seine momentanen Schätze in der Hand. Eine Fünfzigcentmünze, ein Buch über griechische Helden, ein Gummiball. »Das ist der letzte Sommertag«, sagte sie zu ihm, und er fragte, ob alle Blumen morgen sterben würden. »Nein«, sie zauste sein dickes rotes Haar, »werden sie nicht. Es bedeutet nur, dass es morgen zwölf Stunden hell und zwölf Stunden dunkel ist. Nacht und Tag sind dann ganz gleich.« Ein altes Rätsel fiel ihr ein. »Was bricht herein, aber nie an, und was bricht an, aber nie herein?«, fragte sie ihren Sohn und dachte daran, wie sanft der Regen war und wie dankbar sie immer sein würde, wenn sie ihn sah. »Musst du passen?« Er musste passen. »Nacht und Tag«, sagte sie, »und so heißt außerdem ein schönes Lied.« »Ich habe Hunger«, sagte er. 244
Sie gingen hinein. Auf der Küchentheke lagen seine angegessenen Äpfel – er liebte Äpfel, aber nicht, wenn ihr Fleisch braun wurde. Ihre Schwester würde aus diesen Resten ein Kompott mit Pflaumen und Zitronenscheiben machen. Lucinda war jetzt nachsichtiger, aber sie konnte noch immer nicht verschwenderisch sein. Sie schrubbte Möhren und Kartoffeln in wenigen Millilitern Wasser und badete Johnny in nicht viel mehr. Sie ermahnte ihn, den Wasserhahn abzudrehen, während er sich die Zähne putzte oder seine Hände einschäumte, nie das Wasser laufen zu lassen. »Wassermanieren« nannte sie das. Sie brachte ihm auch andere Manieren bei. Lass immer deine Schuhe an der Tür stehen, auch
im Sommer. Grüße alle, die du triffst, damit sie nicht das Gefühl haben, dass du sie übersiehst. Lass nie einen Brief unbeantwortet und lies nie die Post anderer Leute. Das sagte sie so ernsthaft, dass Johnny in diesen Gesetzen den Gipfel der Höflichkeit sah. Sie brachte ihm auch bei, wie man kaut. Deine Großmutter ist an einem Stück Fleisch erstickt, denk daran, und sei bei Fisch ganz besonders vorsichtig: Hab immer ein Stück Brot zur Hand, ein Glas Wasser reicht nicht aus. Lucinda und Ernest kauten ihr Essen so, wie manche Frauen ihr Haar bürsten, hundert Mal, ob es nötig war oder nicht. Lucinda schlief noch. Das war nicht normal. Das hätte man als Zeichen deuten können. Aber Norma Joyce suchte nicht nach Zeichen. Sie und Johnny kehrten mit ihrem gebutterten Toast auf die Veranda zurück, als Mrs. Dove gerade herauskam, um ihre Stühle zu retten; sie schüttelte sie, dann klappte sie sie zusammen und stellte sie auf die Veranda. Sie und Norma Joyce sahen sich, aber sie winkten nicht. 245
Mrs. Dove vermisste ihren Sohn. Er kam nie zu Besuch, und ihre Freundinnen verstanden nicht, warum. Maurice und Louise besuchten sie und Arthur jeden Winter in Florida, aber Ottawa mied er. Sie wusste, warum, und machte ihm keinen Vorwurf (nicht, dass sie glaubte, es wäre sein Junge), aber sie hätte gerne mit ihm geprahlt – ihr Sohn, der über Pflanzen und über das Klima alles wusste, was man wissen konnte –, aber jetzt würde sie ihre Chance bekommen. Man hatte ihn eingeladen, zur Forschungsfarm zurückzukehren und ein neues Gräserhandbuch für Nordamerika zu schreiben. Eine Gelegenheit, die er nicht verpassen könne, sagte er ihr; er werde mit seinem alten Lieblingschef eng zusammenarbeiten. Aber ich muss dich um einen Gefallen bitten, sagte er. Wohnen die Hardys immer noch im selben Haus? Kannst du ihnen dann bitte sagen, dass ich wiederkomme? Ihr Warum war scharf. »Weil sie es wissen sollten«, sagte er mit seiner vernünftigen Stimme. »Sie werden es wissen. Sobald du einziehst, wissen sie es.« »Ich ziehe nicht ein«, sagte er, »wenn du es ihnen nicht sagst.« Diese Peinlichkeit. Aber Glück gehabt. Norma Joyce und der Junge sind hineingegangen, und Lucinda ist mit einer Schüssel voller Krümel für die Vögel herausgekommen. Mrs. Dove sieht sie vom Küchenfenster aus. Der Regen hat aufgehört, die Sonne kommt hervor, Lucinda verstreut unter dem Apfelbaum Krümel und geht dann auf die Himbeerhecke zu, obwohl sicher nicht mehr viele übrig sind. »Habt ihr immer noch Himbeeren?«, ruft sie laut, als sie den Hang hinunterkommt. »Sieh mal einer an. Ihr habt vielleicht Glück.« 246
Und haben wir nicht alle Glück. Lucinda lächelte und hörte zu, sie pflückte langsam die Beeren und legte sie in eine Schüssel, und sie erfuhr, dass Maurice Dove im Begriff war, wieder nach Ottawa zu ziehen. Wenn man seiner Mutter glaubte, war er bei den älteren Leuten auf der Farm besonders begehrt. »Sie lieben ihn da drüben«, sagte sie. »Alle lieben Maurice«, antwortete Lucinda leise und ohne Ironie. Mrs. Dove freute sich und schnatterte weiter. Er werde zur Arbeit laufen können, weil es so nah war, und er und Louise würden das Haus für sich haben, weil sie und Arthur nämlich für immer nach Florida zogen. »Ich habe jahrelang versucht, Arthur davon zu überzeugen.« Eine der Himbeeren hatte zufällig dasselbe blasse Puderrosa wie Mrs. Doves alte, weiche Wange. Lucinda bot ihr Himbeeren an. »Ach nein. Nein, danke, meine Liebe.« Und sie machte sich auf den Rückweg, den grasbewachsenen, blumenbestandenen Abhang hinauf. Lucinda schüttelte kurz ihre gelbe Schüssel. Sie war viertel voll. Nicht besonders viele. Dann beschattete sie ihre Augen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden, und sah zu, wie Mrs. Dove voranschritt, so anmutig wie eine Katze bahnte sie sich den Weg durch das nasse Gras. Es war halb neun am letzten Sommermorgen, und ein ganzer Wohnblock der Gefühle war gerade in ihrem Garten explodiert. Ernest betrachtete seine Lieblingstochter. Das kurze weiße Haar und die Haut mit der Kreuzschraffur aus feinen, feinen Falten, als hätte sie im feinsten Gras geschlafen, und er musste einen 247
Augenblick überlegen, wie alt sie war. Sie war zweiunddreißig. Sie würde niemals heiraten, und das überraschte ihn immer noch. Er fragte sie, wann. Ende Oktober, mit seiner Frau. Aber davor allein, für ein paar Tage Anfang Oktober. »Was sollen wir Norma Joyce sagen?«, fragte sie. »Erzähl es ihr«, sagte er. »Sie wird wissen, was zu tun ist.« »Sie wird weggehen, das wird sie tun. Sie wird wegziehen.« »Wahrscheinlich.« »Sie wird wegziehen, und wir verlieren Johnny.« »Wir haben keinen Johnny zu verlieren«, sagte ihr Vater. Dann fügte er überraschend sanft hinzu: »Es ist kein Weltuntergang, Lucinda.« »Es ist mein Weltuntergang«, sagte sie. Der Hund war ihr Werk. Norma Joyce hatte immer Nein gesagt. Sogar, als Johnny einen ganzen Sommer lang mit dem Wort Hund auf den Lippen eingeschlafen und aufgewacht war, hatte sie Nein gesagt, wer weiß, wo wir in ein paar Jahren sind? Nein. Das sei keine gute Idee. Aber als später an diesem Morgen Mother Hulder an den Zaun kam und erzählte, ihr Cousin habe Welpen und sie seien so unwiderstehlich, dass sie ihm gesagt habe, er solle zu ihr kommen, wenn er anderswo kein Glück habe, »und was mache ich denn jetzt, wenn der arme Raymond bei mir anklopft, und das tut er bestimmt?«, hatte Lucinda eine Antwort für sie. »Sagen Sie ihm, er soll bei mir klopfen.« Es klopfte um vier Uhr, und sie sorgte dafür, dass Johnny bei ihr war. Es waren drei Welpen in einem Korb. Johnny suchte sich den 248
kuscheligsten aus, einen hellbraunen Köter mit schwarzen Kreisen um die Augen. Er sah aus wie ein kleiner Professor. Chops nannte der Junge ihn, denn es gab Lamb Chops, Lammkoteletts, zum Abendessen. Als Norma Joyce nach Hause kam, fand sie einen Hund und die Nachricht von Maurice' Rückkehr vor, und es war nicht schwer, zwei und zwei zusammenzuzählen. Nach dem Essen, beim Abwasch, sprachen die Schwestern miteinander. Lucinda spülte, sie benutzte eine Spülbürste und siedend heißes Seifenwasser in einer verbeulten weißen Schüssel mit rotem Rand. Das Geschirr wurde nie nachgespült. Die Seife verschwand, wenn Norma Joyce das Geschirr abtrocknete. Sie stand links neben Lucinda und stellte sich vor, wie es wäre, neben einem glücklich verheirateten Maurice zu wohnen. Was sie am meisten verletzte, was sie maßlos ärgerte, war seine ausweichende Art, seine Achtlosigkeit. Dass er sich nicht die Mühe machte, mit ihr zu sprechen. Dass er seine Mutter als Botin benutzte. Dass er ihre Welt auf den Kopf stellte und ihr sein glückliches Leben genau vor die Nase setzte. Sie sollte ihr Zelt an seiner Türschwelle aufschlagen und heulen. Steine durch seine Fenster werfen. Mit faulen Eiern auf seine Tür zielen. Das würde Leben in die Nachbarschaft bringen. Sie sagte: »Wir ziehen zurück nach New York und Schluss. Wir gehen weg, bevor er kommt.« Das Fenster über der Spüle war höher, als es breit war. Im Abendlicht sah Lucindas Haut mitgenommen und abgeschlafft aus. Helle Haut – das wusste Norma Joyce aus der Beobachtung – hatte sehr wenig Ausdauer. Die Hände ihrer Schwester waren ein ständiges Problem, an den Finger wimmelte es von kleinen Blasen, die höllisch juckten. Meiden Sie Seife, sagten die Ärzte. 249
Aber wie konnte Lucinda Seife meiden? »Komm doch mit«, sagte Norma Joyce. Die Spülbürste hielt für einen Moment inne. Lucinda sah aus dem Fenster, und ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. Johnny und Chops alberten auf der Wiese herum. »Wir könnten zusammen gehen«, sagte Norma Joyce. Sie antwortete nicht. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es in New York wäre, aber alles, was sie sah, war eine Folge von Besorgungen im Auftrag von Norma Joyce. »Ich kann nicht, Norma. Aber danke, dass du mich gefragt hast.« »Für Dad wäre es in Ordnung.« »Sicher. Das ist es nicht.« »Was denn?« Im Stillen taten ihr die mitgenommene Haut und das Alltagsleben ihrer Schwester Leid. »Wieso willst du nicht mitkommen?« Draußen rollten und rangelten Junge und Hund auf der Wiese herum. Lucinda lächelte wieder. Dann sagte sie: »Ich könnte ihn nicht hier lassen.« Sie sah Norma Joyce an. »Oder nimmst du den Hund mit?« »Du weißt, dass ich den Hund nicht mitnehmen kann.« Und da war es wieder. Das Mädchen, das ihren Hund zurückgelassen hatte, das Mädchen, das immer zuerst an sich dachte, das Mädchen, dem man nicht vertrauen konnte – und ihre ältere, verantwortungsbewusste Schwester. Am nächsten Morgen kam Norma Joyce früh herunter, und auf der siebten Stufe spürte sie kühle Luft. Insgesamt waren es vierzehn Stufen. Warme Luft steigt auf, dachte sie, und darunter fließt kühle Luft ein – vielen Dank, Professor Dove. Sie erhitzte Wasser in einem Topf, rührte ein paar gehäufte Esslöffel Kaffee 250
hinein und sah verdrossen zu, wie das schwere, dunkle Gebräu aufschäumte und sich dann setzte, als sie es vom Feuer nahm. Hildas Methode. Es war nicht einmal sechs Uhr. Johnny schlief noch. Ernest auch. Lucinda hatte in der Nacht Migräne gehabt, aber jetzt war sie auch still. Norma Joyce sah sich in der Küche um und nahm jede einzelne Fläche in sich auf – es wurde hell, und das war so beruhigend wie kleine Fische, die durch Wasser glitten, oder wie das scheinbare Sich-Heben der Prärie oder wie Blätter, die sich allmählich der Sonne zuwandten, was Darwin studiert hatte, als er zu krank war, um irgendetwas anderes zu unternehmen. Vielleicht, wenn ich ihn sehe, dachte sie. Vielleicht, wenn er Johnny sieht… Draußen durchweichte der Tau des ersten Herbsttages ihre Schuhe. Es war die Zeit der schönen Himmel und der Farben auf dem Boden. Der gelben Blätter, der violetten Blumen, der blau geschlagenen Luft. Die Gärten voller Astern, die so hoch waren, dass Mother Hulder die ihren zusammenschnürte wie mit Zuckerwasser steif gemachte Zöpfe. Hinter ihr öffnete sich die Tür, und Junge und Hund kamen heraus. Pssst, sagte Norma Joyce und deutete zu Lucindas geschlossener Jalousie hinauf. Pssst. Sie gingen wieder hinein und packten eine Schachtel Kräcker, eine Flasche Wasser und das Buch über griechische Helden in einen Rucksack, warfen ihn über Johnnys Schultern und gingen zum Rideau River, nur ein paar Blocks entfernt. Kaum eine Wolke am Himmel und pausenlos Grillen und die warme Sonne auf ihren Rücken. Wein in der Farbe eines gerade Erstickenden. New York, sagte sie sich. Kündige bei Freiman's und ruf Frank an, um zu fragen, ob er dich gebrauchen kann. Nur weg hier, 251
bevor du schwach wirst. Sei nicht da, wenn er Anfang Oktober kommt, sei Ende des Monats fort. Sie konnte schon spüren, wie ihre Entschlossenheit der Neugier wich. Bald würde die gefürchtete Wissbegier kommen, und sie wäre verloren. Johnny und Chops spielten am Fluss, bis sie ganz ausgepumpt waren. Dann schlief Chops auf ihrem Schuh ein, und sie las ihrem Sohn laut vor. Nach zwanzig Jahren war Odysseus endlich nach Hause gekommen, und was erwartete ihn? Diese schrecklichen Freier. (Das war ich auch, dachte sie, ein schrecklicher Freier.) Was also tat er? Er verkleidete sich als Bettler und machte sich auf den Weg in den Palast. Keine Seele wusste, wer er war, bis er an einem Misthaufen vorbeikam, wo ein alter, vergessener Hund lag und schlief. Der Hund spitzte die Ohren und wedelte langsam mit dem Schwanz, und Norma Joyce hörte auf vorzulesen. Sie überflog den Rest des Absatzes: »Odysseus hätte den armen Argus gerne getätschelt, aber dann hätte er sich verraten. Also ging er weiter in den Palast hinein, und Argus starb. Sein schwaches, treues Herz ertrug die Gemütsbewegung nicht, als er seinen geliebten Herrn wieder sah.« Tränen schossen ihr in die Augen. »Ich kann das nicht vorlesen«, sagte sie zu ihrem Sohn und legte das Buch ins Gras. »Es ist zu traurig. Diesen Teil musst du selbst lesen.« Sie war beides, ein schrecklicher Freier und ein treuer Hund. Sie hatte außerdem eine Schwäche für Szenen familiärer Loyalität, wie nur das schwarze Schaf der Familie sie haben kann. Solche Szenen waren für sie, wie Reichtum für die Armen – unendlich begehrenswert, absolut unerreichbar –, nun einmal nicht vorgesehen für jemanden wie sie. Der Junge nahm sich das Buch. Er studierte das Bild, und sie studierte ihren Jungen. Wie sollte sie ihm sagen, dass sie seinen 252
Hund nicht mit nach New York nehmen konnten? Was war in Lucinda gefahren, als sie Ja zu Mother Hulder sagte? Sie dachte an den verlotterten alten Darwin zurück – Mrs. Gallot hatte bestimmt gut für ihn gesorgt, das wusste sie, genau wie Lucinda und Ernest gut für Chops sorgen würden. Sie hatte keine Wahl gehabt; aber sie hätte um Darwins willen aufbegehren können. Und jetzt muss sie noch einen Hund zurücklassen. Lucinda hatte es ihr in ihrer untadeligen Art heimgezahlt. Lucinda sammelte Tomaten ein, denn Frost war angesagt. Anfang Oktober, und einem langen Altweibersommer ging ein Kälteeinbruch voraus. Sie wusste, dass die beiden nebenan durch den Garten gingen, aber sie sah nicht auf, bis sie ihren Namen hörte. Sie setzte ihre Tomaten ab und trat über den Feldweg, um seine Frau kennen zu lernen. Immerhin war Maurice nicht allein gekommen. Er fragte nach Ernest. Ernest ging es sehr gut. Uns geht es allen sehr gut. Und weil sie ein nachgiebiges Wesen hatte, sagte sie dann, ihre Schwester sei für ein paar Tage weggefahren, eine Wohnung suchen, und ihr Vater und ihr Neffe seien in den Apfelgärten an der alten Carp Road, und Maurice entspannte sich. Sie schaute Louise Dove noch einmal an, und die Ähnlichkeit war so verblüffend, dass sie sie bestimmt auch sah. Oder hatte sie sich so sehr verändert? Sie spürte, wie sie in ihren jüngeren Körper trat und ihre alte Hülle hinter sich ließ, mit den Händen, die nach Tomaten rochen. Lucinda fragte, ob das Haus für sie alle groß genug sein werde. »Das Haus«, sagte Maurice, »ist allemal groß genug für uns beide, wenn wir uns entscheiden, darin zu wohnen.« Also keine Kinder. 253
Wie durch ein Wunder gab Franks Tante Joan zur richtigen Zeit th ihre mietpreisgebundene Wohnung an der 20 Street West auf, um zu einer Cousine nach New Jersey zu ziehen; sie würde Norma Joyce die Wohnung untervermieten. Frank und Hilda waren entzückt, dass sie zurückkam, und wollten ihr in jeder Weise helfen. »Es ist alles abgemacht«, sagte Norma Joyce zu Lucinda. Sie waren in ihrem Schlafzimmer und packten, während Johnny am anderen Ende des Flurs in Lucindas Bett schlief. »Und hast du ihn gesehen?«, fragte Norma Joyce. »Ich habe sie beide gesehen. Seine Frau war auch hier.« »Dein Zwilling«, sagte Norma Joyce. Lucinda nahm Sachen aus Norma Joyce' Wandschrank. Sie hatte ihre Kleider auf das Bett gelegt, und jetzt zog sie einen Koffer hervor und löste die Riemen. Norma Joyce war damit beschäftigt, Bücher abzustauben und in Kartons zu legen. Sie sah ihre Schwester nicht an. Sie sagte: »Schließlich hat er dich doch noch geheiratet, Lucinda.« Das hätte sie nicht sagen sollen. Sie packten weiter, und niemand sprach. Dann: »Norma?« Lucinda kniete, der Koffer stand offen vor ihr, die Zigarrenkiste lag offen in ihrem Schoß. Sie starrte zwei Briefe an. »Du hast sie aufgehoben?« Sie sagte es so leise, wie eine Stecknadel fiel. »Die ganze Zeit?« Sie hielt das Unverzeihliche in den Händen. Dort, im oberen Stockwerk, an einem warmen Oktobernachmittag, betrachtete Lucinda Norma Joyce mit einem langen, gemessenen Blick, und er wurde Teil der unheimlichen Atmosphäre, die in einem der längsten Altweibersommer überhaupt herrschte. Durch die 254
Baumwipfel draußen strich ein warmer Wind. Weiße Gardinen wehten in der Brise. Die kleinen weißen Umschläge lagen still in Lucindas Schoß. Dann untersuchte sie sie – Briefmarke, Adresse, Absender. Norma Joyce sah ihr zu, und nichts kam ihr wirklich vor, nur das Verlangen – der Wunsch –, dass dieser alte Kummer vergehen möge. Aber als sie Lucindas Blick sah, sah sie alles durch Lucindas Augen, und es tat ihr Leid, und sie fühlte sich schlecht. Wenig später stieg in ihrem Hals Gelächter auf. Sie musste sich umdrehen und heftig schlucken. Es war wie nach einem emotionalen Schlag – halb brach sie zusammen, halb kicherte sie –, und sie erinnerte sich an Maurice' Gesicht, das beim Absturz seines Flugzeugs in zwei Richtungen zerfallen war. »Ich hätte sie dir gegeben«, sagte sie schließlich. »Du hast nie gefragt.« »Ich wäre nie darauf gekommen, dass du sie noch hast. Ich dachte nicht…« Lucinda hielt inne. »Du dachtest nicht, dass ich so eine Elster bin«, um ein netteres Wort als Diebin zu verwenden. Sie legte ihre Hand auf den Koffer, damit sie nicht zitterte, aber sie spürte kein kühles, hartes Leder, sondern die schwammige Taubheit in ihren Fingerspitzen, und auch dieses Gefühl war alles andere als klar. Und was dachte Lucinda, als sie die Briefe in ihrem Schoß betrachtete? Dass sich die Vergangenheit hinter ihr aufrollte wie ein alter Teppich, der darauf wartete, dass sie aus dem Weg ging, damit er sich weiter aufrollen konnte. Sie sagte: »Soll ich sie in deinen Koffer legen?« Es war der einzige Moment, in dem sie sarkastisch war. »Es sind deine.« »Es sind meine.« 255
Lucinda June Hardy, Willow Bend, Saskatchewan. Als Lucinda in ihr Zimmer gegangen war und die Tür geschlossen hatte, hörte die kleine Tatarin auf zu packen. Sie stellte sich vor, wie Lucinda auf ihrem Bett die Briefe las, und sie schlug die Hände vor das Gesicht und schüttelte den Kopf. Dann, nach einem Augenblick, wandte sie sich wieder ihrer Aufgabe zu. Von Zeit zu Zeit hielt sie schmerzerfüllt inne und dachte an all die Folgen, eine nach der anderen. Und dann löste sie sich wieder davon. Lucinda hatte die Briefe nicht geöffnet. Sie hatte sich auf ihre Bettkante gesetzt, um Johnny nicht zu stören. Sie studierte sein Gesicht. Wie ähnlich er Maurice um Mund und Nase und Augen war, aber wie ähnlich ihrer Schwester mit seiner hohen, breiten Stirn und seinem Eigensinn, der ihm auf Kosten anderer gute Dienste leisten würde. Lucinda hatte sich angewöhnt, Männerhände zu berühren – die des Bäckers, des Straßenbahnfahrers, des Bibliothekars. Die Hand des Bäckers war überraschend kühl, sogar feucht, aber nicht unangenehm; er hatte sehr starke Muskeln, kurz geschnittenes Haar, sehr weiße Haut. Die Hand des Straßenbahnfahrers war warm und trocken, und unter seinem sorgfältig gebügelten Hemd konnte man den Umriss seines Unterhemds sehen. Die Hand des Bibliothekars war kühl und rau, die Unterseite seines Zeigefingers war rot und aufgesprungen und sah angegriffen aus, wie die ihrer eigenen. Sie berührte seine Hand, als sie ihre Mahngebühr zahlte. Das Buch, das Lucinda einen Tag zu spät zurückbrachte, hatte ihre 256
Schwester ausgeliehen. Lucinda fand es eines Nachts auf dem Küchentisch, als sie nicht schlafen konnte. Es handelte von Constable und Turner, und es erzählte von der Szene in der National Gallery, als Constable mit großer Sorgfalt seinem gerade gehängten Gemälde den letzten Schliff gab. Turner kam in den Raum. Er ging zu seinem eigenen Bild, das neben Constables Bild an der Wand hing, und setzte mit einem Streich einen einzelnen Blitz Rot in die Mitte der Leinwand. Dann ging er. »Er ist hier gewesen«, sagte Constable zu einem anderen Maler, »und hat geschossen.« Lucinda sah, wie eine kleine Hand sich zu einer erfrorenen Wange hob und dort liegen blieb, bis die Haut sich rosa färbte. Sie sah in ihrer Schwester dasselbe bemerkenswerte Selbstvertrauen, das Constable mit Ehrfurcht erfüllt hatte. Lucinda hat aufgehört zu schlafen. Von diesem Punkt an nagt die Nacht an ihr wie die Frühlingssonne an altem Schnee. Bald ist nichts mehr übrig als ein dünner, heller Knochen. Am Morgen geht sie zum Fenster ihres Schlafzimmers und zieht den Vorhang zurück. Der 11. Oktober? Schon? Hatte sie sich nicht erst gestern tief über ein Büschel Vergissmeinnicht gebeugt, weil sie nicht sicher war, ob die Süße in der Luft von ihnen kam, und sie war von ihnen gekommen? Hatte der Flieder nicht erst gestern seinen Gipfel überschritten und doch noch immer geblüht, während die Blüten an den Rändern rostig wurden? Erst gestern, und jetzt ist heute, und bald ist es Nacht. Sie legt sich um Mitternacht hin, und die Panik rutscht auf ihrer Brust herum wie eine Maus – Panik Panik Panik –, bis sie wieder aufsteht. Sie sucht sich Papier und einen Füllhalter und fängt an zu schreiben. Ihre Handschrift hat sich verändert. Sie ist größer und 257
schlampiger geworden, als würde sie im Dunkeln schreiben, und das tut sie auch. Sie sitzt jetzt kurz vor der Dämmerung auf der obersten Stufe der Verandatreppe und schreibt noch ein paar Gedanken in einen unvollendeten Brief, den sie nie übergibt. Als es hell wird, geht sie wieder hinein und nach oben in die gespeicherte Wärme des vergangenen Tages: tagalte Wärme wie tagaltes Brot, ein wenig schal, aber immer noch willkommen. Sie schreibt: Erinnerst du dich nicht mehr an den Tag, an dem
ich gewartet habe, dass er kommt? Du hättest mich retten können. Du hättest mir all dieses Leiden ersparen können, wenn du nicht so selbstsüchtig gewesen wärst. Sie schreibt: Ich habe immer etwas geahnt, ich habe sogar das
geahnt, warum also ist alles so schwer? Sie streicht mit der Hand durch ihr kurzes weißes Haar. Sie sagt zu ihrer Schwester: »Ich kann nicht schlafen.« Norma Joyce sagt leichthin: »Es wird dir gut gehen.« Am Tag vor ihrem Umzug hört Lucinda, wie sie Johnny laut von Herkules vorliest, der keine Waffen trägt. »Keine Affen«, ruft der Junge und hebt die Arme. »Keine Affen«, fährt seine Mutter fort, »und keine Löwen und keine Tiger«, und der Junge quietscht vor Lachen. Sie sitzen zusammen in dem großen Muskoka-Sessel unter dem Apfelbaum, Maurice' Sohn und ihre Schwester mit dem teerfarbenen Haar und dem teerfarbenen Zahnfleisch, die sich in das Leben von Hunden und Jungen und bestimmten Männern schmeichelt. »Es wird dir gut gehen«, sagt ihre Schwester wieder, als sie am Bahnhof zum Abschied winkt und Johnny mit sich nimmt – ihn genauso stiehlt, wie sie die Briefe stahl –, einen Jungen, der 258
ebenso gut ihr gehört wie Norma Joyce. Wer hat sich all die Jahre um ihn gekümmert? Sie schreibt: Meine hinterhältige Schwester, die alles zerstört,
was sie berührt. Um zwei Uhr morgens sieht Lucinda im Badezimmer ein langes schwarzes Haar von ihrer Schwester, wie eine Visitenkarte im weißen Waschbecken zurückgelassen. Es bewegt sich, als sie versucht, es durch den Abfluss zu spülen; es bewegt sich, als sie ohne Erfolg mit einem Stück Toilettenpapier nach seinem weichen Körper greift. Es bewegt sich und zeigt sein kurvenreiches Leben. Ihre Hände sind wie ein offenes Buch. Alles, was sie anfasst, befleckt ihre Haut. Äpfel, Möhren, Kartoffeln, Rüben, alles hinterlässt eine Tönung auf den gequälten Fingern. Shampoos und Chemikalien sind ihr Verderben gewesen. Keine Friseurarbeit mehr, sagen die Ärzte. Sie müssen sich eine andere Beschäftigung suchen. Sie liegt im Bett und spürt, dass der bohrende Juckreiz und die schlaflose Panik sie irremachen. Mother H. hat ihr eine heilende Lotion versprochen, und am späten Nachmittag des 25. Oktober kommt sie vorbei und riecht nach dem Talkumpuder, mit dem sie jede Falte ihres üppigen Fleisches reichlich bestreut hat. Bienenwachs, sagt sie über ihr Gebräu, und Olivenöl. In dieser Nacht zieht Lucinda Baumwollhandschuhe über ihre Bienenwachshände, und seit Wochen schläft sie zum ersten Mal die ganze Nacht durch bis zum Morgen. Sie träumt, dass sie Mother H. besucht und dass sie zu tanzen beginnen. Aus ihr wird eine gute Tänzerin in den Armen der fetten Frau, denn ihr 259
Wissen und ihre Masse unterstützen sie und treiben sie an. Dann gesteht Mother H., was sie wirklich will. Lucinda geht nach Hause und kommt zurück mit Geld, das sie überall um ihren Körper herum in verschiedenen Taschen und an anderen versteckten Plätzen untergebracht hat. Die fette Frau muss das Geld finden. Lucinda legt sich auf das Bett. Mother H., die vor Aufregung summt und sie mit ausgesucht leichten Berührungen liebkost, entkleidet sie nach und nach und findet so das Geld. Ihre Finger stoßen auf Nähte und streicheln sie, entdecken Taschen und dringen in sie ein. Für die saftige Tasche zwischen Lucindas Beinen benutzt sie ihre Zunge, dann beugt sie sich zu ihren Brüsten herab, leckt und züngelt und befingert ihre Brüste, saugt und knetet und rollt sie zwischen den Fingern, züngelt und züngelt. Dann nimmt sie Lucindas Hand und legt sie sich auf die Wange, schiebt sie hinunter zu ihrem Hals, dann zu ihrem Busen, dann noch tiefer, bis Lucinda ihre Hand wegzieht und aufwacht an einem Oktobertag, der so warm ist, dass es ihr vorkommt, als wäre ein Wunsch in Erfüllung gegangen. Der Sommer ist zurückgekehrt. Es ist ein fröhlicher, schön erleuchteter Tag. Der Himmel quillt über von dunklen Wolken und strahlendem Licht. Diese Farben und die späten Beeren; die dichter werdenden Reben und die wilden Trauben sitzen wie ein großes violettes Trauerjuwel in einer heißen Fassung aus Gold. Ausnahmsweise erkennt Lucinda in ihrem Wohlgefühl das, was es ist, und sie beschließt, spazieren zu fahren, bevor die Migräne kommt. Nachdem sie das Haus von oben bis unten gereinigt hat, tritt sie am Nachmittag des 26. Oktober in die Einfahrt hinaus und pfeift nach Chops. Pfeift noch einmal. Er kann nicht weit sein. Sie geht um das Haus herum, und da ist er, bei Ernest. Chops. 260
Aber er will ihren Vater nicht alleine lassen. (Daran wird Ernest sich später erinnern. Sie hat zwei Mal nach dem Hund gerufen. Sie wollte ihn mitnehmen. Sie wollte ihm im Wald Auslauf bieten. Natürlich hatte sie vor, zurückzukommen.) Lucinda steigt in ihr schwarzes Kabriolett. Sie bindet sich ein Tuch mit Paisley-Muster um den Kopf, nimmt aus ihrer Tasche die Briefe, die sich in ihre Oberschenkel graben, die beiden von Maurice und den, den sie an ihre Schwester geschrieben hat, und legt sie in das Handschuhfach ihres Autos. Es ist beinahe drei Uhr, und nur Mother Hulder sieht, wie sie davonfährt. Sehr bald passiert sie Lattenzäune mit Scharlach-Sumach auf der einen Seite und auf der anderen Stoppelfelder, die sich bis in die Ferne erstrecken. In den Gräben stehen Feldasternsträuße aus eigener Kraft. Alle Bäume haben einen silbrigen Schimmer, wie auch der Himmel, denn der Tag ist so merkwürdig warm. Sie fährt nicht schnell. Die Straße ist wie Wasser, weil sie so glänzt. Das Licht blendet sie von Zeit zu Zeit, aber sie fährt nicht schnell. Carleton Place, Lanark, McDonald's Corners. Dann ein Schild Richtung Snow Road. Hätte sie einen klaren Kopf gehabt, wäre sie umgekehrt, aber sie hatte keinen klaren Kopf und würde auch in nächster Zeit nicht klar sehen. Wenn das Licht funkelte und pulsierte, kam sie jedes Mal schneller, die Verfinsterung auf beiden Seiten; ihr Gesichtsfeld trübte sich an den Rändern, und der Schmerz ergriff die Macht. Es ist die Jahreszeit, in der die verbleibenden Gelbtöne am kräftigsten sind. Zitronengelb, Goldgelb, Kupfergelb. Der kühle Perlenschimmer gelblicher Schwarzbirken. Das matte, satte Gelb sehr alter Ahornbäume. Und alles, all diese Gelbtöne vibrieren in der Luft. Sie dreht das Radio an, und jemand singt »Autumn Leaves«. Schönes Lied. 261
Eine Erinnerung sticht nach ihr, eine, die der Name Snow Road und das Lied ausgelöst haben. Eine unbenennbare Verbundenheit, die sie an diesem warmen Tag verspürt, während zwei Jahreszeiten zugleich in der Luft liegen. Die Straße windet sich einen Hügel hinauf. Rechts Zedern in Gruppen, links goldene Ahornbäume. Von oben kann man sehen, wie sich die Straße zu einem See im Talgrund hinunterwindet. Der See ist seicht. Nahe am Ufer gibt es hohes Unkraut und alte Stümpfe. Zwischen dem See und der Straße steht der schönste Baum im Umkreis von Meilen. Von hier oben, vom Gipfel des Hügels betrachtet, sieht es aus, als wäre das Gefälle sanft und gleichmäßig, aber die Straße fällt zunächst ab, dann wird sie flach, dann fällt sie erneut und lange ab bis in den Talgrund hinein, wo sie eine Kehre nach links macht, um den Baum herum verläuft und für etwa neunhundert Meter dicht an der Uferkrümmung entlangführt, bis sie sich einen anderen Hang hinaufwindet und außer Sicht gerät. Lucindas Auto treibt den Hügel hinunter. Es fährt durch die erste Senke und über das flache Stück, dann den langen Hang hinunter bis in den Talgrund und gegen den wunderbaren goldenen Baum.
262
III
»Luft dehnt sich auch bei zunehmender Wärme aus, durch dieses feine und geheimnisvolle Mittel, das mechanisch und auf unerklärte Weise wirkt auf eine Weise, die man in der dichtesten wie in der leichtesten Materie spürt, die aber den allgemeinen Sinnen nicht erklärlicher ist als die Sehkraft oder das elektrische Feld oder die moralische Gemütsbewegung, die ein menschliches Wesen in einem anderen durch einen Blick oder ein Wort hervorrufen kann.« Robert Fitzroy, Weather Book
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Von Lucindas Beerdigung ist ihr am deutlichsten in Erinnerung geblieben, dass ihr Vater in der Nacht zuvor in ihrer Schlafzimmertür stand und dass die Briefe am Morgen danach auf dem Küchentisch lagen. Es musste kurz vor der Dämmerung gewesen sein, als sie die Augen aufschlug und sah, dass er sie anschaute, wie er es getan hatte, als sie ein Kind war, auch wenn sie sich damals schlafend gestellt hatte. Dasselbe Gefühl, als strömte ihr eine Verwünschung entgegen. Diesmal sprach sie auf ihrem Kissen. »Was ist?«, fragte sie. »Was ist los?« Aber Ernest antwortete nicht. Er drehte sich um und ging in sein Zimmer zurück, und anschließend lag sie wach. Beim Frühstück sagte sie: »Wieso hast du mich im Bett so angestarrt?« Er schmierte Erdnussbutter auf seinen Toast und sah nicht auf. »Ernest?« Und sie versuchte ungezwungen zu klingen. »Was hattest du vor? War das der böse Blick?« Er strich die Erdnussbutter glatt. »Das ist dein Gebiet«, sagte er. Er gab ihr die Schuld an Lucindas Tod, wie er ihr die Schuld an Normans Tod gegeben hatte. Er sagte nichts mehr, aber seine Haltung der jüngsten Tochter gegenüber verhärtete sich. Sie hatte erlebt, dass er einer Missernte genauso die kalte Schulter zeigte. Alles, was sie erfahren hatte, war von ihm gekommen. Der knapp gehaltene Anruf in der Druckerei, die kurze Auskunft über die Beerdigung, als er sie und Johnny am Bahnhof abholte, die Beschreibung des Unfalls (nachdem sie Johnny zu Bett gebracht hatte), der Finger, der am Morgen nach der Beerdigung auf die Briefe zeigte, die auf dem Küchentisch lagen. 264
Es war ein kurzer Gottesdienst in der Williamson Funeral Chapel an der Powell Avenue gewesen. Jeder, dem Lucinda jemals das Haar geschnitten hatte, war da und sagte, was für eine feine Frau sie gewesen sei und was für ein tragischer Tod. Norma Joyce hatte gedacht, dass Maurice vielleicht kommen würde, aber die einzige Dove, die erschien, war seine Mutter. Mrs. Dove richtete ihnen seine Anteilnahme aus, und sie ließ sie wissen, dass er und seine Frau nicht vor dem ersten November kommen würden. »Genau der Tag, an dem wir fahren«, sagte Norma Joyce. »So eine Tragödie«, sagte Mrs. Dove. »Ich habe schon immer gesagt, dass man mit Autos gar nicht vorsichtig genug sein kann.« »Mit Autos«, sagte Norma Joyce, »und mit Männern.« Als sie ihren Vater später bedrängte, um Näheres zu erfahren, sagte er nur: »Sie war sehr müde. Sie hat Johnny vermisst.« Er hätte sehr viel mehr sagen können. Er hätte Lucindas Worte wiederholen können: Es ist mein Weltuntergang. Er hätte schildern können, wie sie nächtelang durch das Haus gewandert war. Wie die jüngere Schwester ihr vor langer Zeit jede Hoffnung auf Glück genommen hatte. Aber er war ein Mann, der nicht viele Worte machte, der Selbstbeherrschung bewunderte, besonders seine eigene. Er hätte auch sagen können, dass Lucinda an dem Tag, an dem sie starb, zum ersten Mal seit Wochen glücklich ausgesehen hatte. Dass sie nach dem Hund gepfiffen hatte, weil er mitkommen sollte. Dass Traurigkeit vielleicht nicht der einzige Grund war für ihren Tod. Doch damit wäre seine andere Tochter wieder einmal davongekommen. Die
Polizei
hatte
die
Briefe 265
im
Handschuhfach
des
eingedrückten Kabrioletts gefunden und sie Ernest gegeben. »Einer davon ist für dich«, sagte er und zeigte ihr die Briefe auf dem Tisch. Zwei alte Briefe mit King George, der in der Ecke klebte, und ein neuer, der einfach an Norma Joyce adressiert war. Sie nahm ihn. Er war nicht zugeklebt. »Hast du ihn gelesen?«, fragte sie. »Ich lese nicht die Post anderer Leute«, sagte ihr Vater, und er ging mit der Zeitung und seiner Teetasse ins Wohnzimmer. Norma Joyce glaubte ihm nicht. Sie las den Brief durch, dann betrachtete sie die anderen beiden Briefe und sah, dass Lucinda sie mit Anmerkungen versehen hatte wie eine Schullehrerin, die einen Aufsatz korrigiert. Nicht vertrauenswürdig, stand am Rand. Sie hat mein Leben gleich von Anfang an untergraben, stand an der Oberkante. Ehrlich währt am längsten, erschien pathetisch am Schluss. Sie steckte die Briefe in die Tasche und ging hinaus. Inzwischen, am letzten Oktobertag, waren fast alle Blätter herabgefallen. Sie lagen um ihre Füße herum, als sie gedankenverloren einen Augenblick stehen blieb; dann steckte sie die Hände in die Taschen und machte sich auf den Weg. Sie ging lange, bis sie sich auf der Chaudiere Bridge wiederfand und kaum wusste, wie sie dorthin gekommen war. Der Wind zerzauste ihr Haar. Der Ottawa River war aufgewühlt und ganz nah. Wenn sie ihren Kopf nach rechts gewandt hätte, hätte sie gesehen, dass noch etwas besonders Trauriges bevorstand: Der Winter brach ein in den Gatineau Hills, die Bäume trugen fast keine Blätter mehr. Aber sie hatte nur Augen für das Schreckliche gleich vor ihrer Nase: Man hatte die Chaudiere Falls verkürzt und der unrechtmäßigen Rentabilität der Eddy Paper Company unterworfen. E. B. Eddy ließ diesen großartigen Wasserfall für sich arbeiten. E. B. Eddy hatte sich nicht die 266
Mühe gemacht, zwei Mal zu überlegen. »Es tut mir Leid«, und sie sagte es laut. »Aber du hast dein Leben selbst vergeudet.« Sie starrte in den Schaum und auf die Rinde und die Zweige, die vorübertrieben, dann hob sie ihren Blick wieder zu den steinernen Fabrikbaracken empor. Schöne Gebäude. Sie fand sie schön. Interessant, schön, böse. Wie ein gemeiner weißer Stier, der niemanden vorbeilassen will. Was für ein Melodram, dachte sie. Was für ein leichter Ausweg. Und sie stellte sich vor, was ihr Vater beschrieben hatte: Lucinda unter einer Decke aus Blättern, so viele, dass man sie von der Motorhaube des Autos fegen musste, um festzustellen, dass ihr Hals in die eine und ihr Körper in die andere Richtung wies. Aber wie wirkungsvoll. Einen Brief zu hinterlassen, den sie nicht beantworten konnte, und ihn auf eine Weise zuzustellen, die sie nicht vergessen konnte. Ein grausiger Briefkasten, das Handschuhfach eines verunglückten Kabrioletts. Besonders, weil die passenden Briefe von Maurice darin lagen wie Figuren aus einem Liebesbund in der Oper. Die Briefe hatten sich die Hände gereicht, um gemeinsam heulend ihren letzten Weg zu gehen.
Du hast nie zugegeben, dass du mein Leben ruiniert hast, hieß es in einem hitzigen Absatz, weil du nie darüber nachgedacht hast. Sogar als du klein warst, hast du dir genommen, was du wolltest. Du bist zu weit gegangen. Du gehörst zu den Menschen, die das tun. Es wäre ganz leicht gewesen, die Briefe über das Brückengeländer zu werfen, aber sie tat es nicht. Es war ein sehr langer Fußweg nach Hause. Danach fiel etwas von ihr ab. Ihr Part war immer die Amoralität der im Schatten stehenden Schwester gewesen, aber jetzt war ihre Schwester fort, 267
und wie konnte sie nun ihr Leben leben? Achtzehn Jahre mussten vergehen, bis sie zurückkehrte, um für einen kränkelnden Vater zu sorgen, der am Stock ging, und was soll sie über diese achtzehn Jahre denken? Wenn sie die Augen schließt, treiben bestimmte Szenen an die Oberfläche. Sie sieht, wie sie in Johnnys Tür steht, ihm beim Schlafen zusieht und versteht, was es heißt, von seinem Kind enttäuscht zu sein. Sie sieht in beinahe fotografischer Genauigkeit einen Sommernachmittag, der so vollkommen ist, dass für ein paar Stunden alles wieder möglich scheint. Sie sieht in rascher Folge: ihre Hand, die sich auf Maurice' Mund legte; den Moment, als sie im Lampenlicht den sexuellen Betrug deutlicher erkennen konnte; den Abend, an dem sie die Einzelheiten von Hildas Gesicht in sich aufnahm: die blasse, ziemlich trockene Haut, die Lucindas so ähnlich war, die dünnen Lippen, die hochgeschnittenen Nasenlöcher, durch die man das Innere der Nase sah, zartrot wie Haut, die man vor eine Lampe hält. Die klaren Augen, ohne Anklage, billigend und verletzt. In New York arbeitete sie an sechs Tagen in der Woche für Frank und Hilda, von neun bis fünf, mit einer Unterbrechung um drei, damit sie Johnny von der Schule abholen konnte, die ein paar Blocks entfernt war. Sie bildeten eine Familie, Frank und Hilda, Johnny und sie. »Mehr als eine Familie«, sollte sie vielleicht in Anlehnung an »mehr als eine Freundin« sagen, auch wenn es zunächst nicht so war. Zunächst war es einfach. Die vier feierten gemeinsam Johnnys Geburtstag und verbrachten Weihnachten und Thanksgiving jedes Mal zusammen. Frank ging mit ihm zum Angeln an den Hudson River und zeigte ihm, wie man Karten spielt; Hilda strickte ihm Socken und wurde sein offizieller Babysitter. Und Johnny gab ihnen genau das, was 268
er Ernest gegeben hatte, die Gelegenheit, einen Sohn zu haben. Es war Frank, der ihm zeigte, wie man »Home on the Range« spielte, und der ihm sagte, dass es das Lieblingslied von Franklin Delano Roosevelt war, und es war Hilda, die ihm am Samstagmorgen Klavierstunden gab und ihn dann für den Nachmittag mit nach Hause nahm. Norma Joyce und Johnny th wohnten jetzt in der 20 Street West, in der mietpreisgebundenen Wohnung im Erdgeschoss, die sie von Franks entgegenkommender Tante gemietet hatten. Wenn man vom Gehweg aus durch das Fenster spähte, konnte man sie in voller Länge sehen, vom langen Schlafzimmer durch das Wohnzimmer in die Küche und in den briefmarkengroßen Garten. Ein kleineres Schlafzimmer, das links von der Küche abging, konnte man nicht sehen. Das war Johnnys Zimmer. Im Wohnzimmer gab es einen funktionierenden Kamin; im Badezimmer gab es keine Wanne – den entsprechenden Einbau, der in der Küche eine Ecke einnahm, nannte Norma Joyce Saskatchewan. Zeit für einen Besuch in Saskatchewan, sagte sie am Samstagabend zu Johnny. Zeit, im Morast zu versinken. Er war ihr Augapfel, dieser laute, schüchterne, energiegeladene Junge, der so gerne Witze erzählte. Er platzte in die Küche und sagte: »Was macht man mit einer blauen Banane?« »Was?« »Man nüchtert sie aus.« »Wie heißt das Reh mit Vornamen?« »Kartoffelpü!« Sie mochten dieselben Bücher. Sherlock Holmes, Treasure Island, The Tale of Samuel Whiskers or the Roly-Poly Pudding, und die vielen haarsträubenden Geschichten aus dem Alten Testament. Johnny erduldete jeden Film der Welt, und Norma Joyce nahm ihn in jeden mit, von Brigadoon bis The Bridge on 269
the River Kwai. Fast jeden Sonntag gingen sie in den Central Park, sie stiegen am Columbus Circle aus der Subway und gingen durch Merchant's Gate zum Spielplatz oder zum Teich. Später verlor er seine freie und unbefangene Art, aber sie sieht immer noch vor sich, wie ihr Sohn an einem heißen Sommertag sein Hemd abstreifte und so tat, als wäre er ein Indianer. (Ihr Taschentuch diente als Stirnband, jede beliebige Feder auf dem Boden wurde zur Adlerfeder.) Und sie zog ihre Aquarellfarben hervor, füllte den Becher der Thermoskanne mit Wasser aus dem Teich und malte ein weißes, galoppierendes Pferd auf seine Brust, einen blauen Halbmond auf seine Stirn und ockerfarbene Streifen unter seine Wangenknochen. Als sie nach Hause kamen, hatten sie beide die Taschen voll mit Steinen, toten Insekten, Samenhülsen, Rindenstückchen. Norma Joyce machte an dem Arbeitstisch in ihrem Schlafzimmer Platz für ihn, gab ihm Aquarellfarben und Tinte und hängte seine Gemälde neben ihren eigenen auf, in einem Zimmer mit einem Einzelbett, zwei langen Tischen und vielen Regalen, die Frank eingebaut hatte. Sie stand noch immer früh auf, um zu zeichnen oder zu malen. Sie arbeitete mit Bleistift, Tusche, Aquarellfarben und Öl und machte genaue Studien von Zweigen, die sie im Central Park gefunden, von Muscheln, die sie im Museum of Natural History gesehen hatte, von Druckerpressen und von Franks Pfeife. Sie gab sich große Mühe, um die abgestoßenen und verblassten Farben der alten Feuertreppen zu treffen: das Laternenschwarz, Ockergelb, Zimt und Eisenoxyd-Orange und das weiche Aschgrau, wo das Schwarz staubig war. Eine Malerin winziger Landschaften und noch winzigerer Stillleben im wilden, gewaltigen, abstraktexpressionistischen New York.
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In manchen Jahren konnte Norma Joyce Ernest überzeugen, an Weihnachten zu ihnen zu kommen. Sie schlug ihm diesen Besuch gewöhnlich vor, wenn sie ihm im Sommer schrieb, und erneuerte die Einladung noch einmal, wenn sie im Herbst schrieb. Vier Mal im Jahr korrespondierte sie mit ihrem Vater, ein Brief pro Jahreszeit, und er beantwortete sie alle. Doch nur einmal schrieb er ihr, ohne dass sie ihm zuerst geschrieben hatte. Weihnachten blieb er drei Tage, nicht mehr und nicht weniger, und er schlief in Johnnys Bett, während Johnny auf dem Sofa schlief. In ihrer kleinen Wohnung legte er sein bestes Benehmen an den Tag, er half beim Abwasch, deckte den Tisch und unterhielt seinen Enkelsohn, indem er ihm zeigte, wie man schnitzte, oder ihm half, ein Modellflugzeug zusammenzubauen, oder ihm erklärte, wie man ein Regal zimmert. Aber er war immer noch ihr Vater. Immer noch zurückhaltend bis zur Schroffheit, wann immer sie versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Den Weihnachtstag verbrachten sie bei Frank und Hilda, und Ernest genoss die Gesellschaft eines Mannes, dem »die Arbeit nicht fremd« war, wie er sich ausdrückte, und die einer Frau, die »erstklassig« war. Diese Besuche fielen ihm nicht leicht, das wusste sie. Trotzdem zuckte er jedes Mal mit den Schultern, wenn sie anbot, nach Ottawa zu kommen. »Sieh mal«, sagte sie schließlich, »ich überlasse es dir. Wenn du willst, dass wir kommen, kommen wir.« Vier Jahre sollten vergehen, bis dieser verhältnismäßig ruhige Abschnitt ihres Lebens zu Ende ging. Der unerwartete Brief von ihrem Vater brachte eine Neuigkeit. Im letzten Absatz ließ er sie wissen, dass Maurice Dove und seine Frau nach New York 271
zurückgingen; er hatte es vermerkt wie einen Nachtrag, obwohl er eindeutig deswegen geschrieben hatte. Irgendeine Stelle als hohes Tier im Botanischen Garten. Ein »Zu-Verkaufen«-Schild vor ihrem Haus. Sie fand es pervers. Selbst wenn sie versuchte, ihn hinter sich zu lassen, ließ er das nicht zu. Maurice verfolgte sie mindestens so hartnäckig, wie sie ihn jemals verfolgt hatte. Die Neuigkeit erschütterte sie mehr, als sie sich hatte vorstellen können. Der Gedanke, dass sie in derselben Stadt waren, die Möglichkeit, dass ihre Wege sich kreuzten – dass er sie sah und stehen blieb, um mit ihr zu sprechen, oder dass er sie sah und vorüberging. Sie wusste nicht, was schlimmer wäre. Warum verstörte sie das so sehr? Weil es ihr Leben so zeigte, wie es war. Als ein Auskommen, ein Durchkommen. Eine persönliche Dürre, die ihr nicht bewusst gewesen war, bis sie auf die Quelle stieß. Sie arbeitete gerade an der kleinen, pedalbetriebenen Presse, als er durch die Tür trat. Sechs Monate waren seit dem Brief ihres Vaters vergangen, aber es war immer noch ein Schock, ihn zu sehen, zu sehen, dass er älter aussah und gediegener. Er trug ein graues Tweedjackett und eine graue Hose und hatte eine weiche schwarze Aktentasche dabei. Ein Mann, der sich in seiner Kleidung wohl fühlte, der in der Welt zu Hause war. Er ging gleich auf Hilda zu, die über ihren Geschäftsbüchern saß, und nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, übte er denselben alten Zauber aus. Norma Joyce saß rechts von ihm, aber im Hintergrund und beinahe versteckt von der Presse; er sah sie nicht, und der Name Quality Printing sagte ihm offensichtlich nichts, denn er wirkte entspannt und sicher. Er ging pfeifend hinaus. Sie stand wie angewurzelt da, dann packte sie ihren Mantel 272
und rannte ihm nach. Sie merkte, dass es schlimmer war, übergangen zu werden, als gesehen zu werden. Lucinda kann man von mir aus übersehen, dachte sie, mich nicht. Es war Spätherbst. Die Zeit der langen Mäntel und der kurzen Tage, in denen die Stadt sich in einen kalten, unmöblierten, schwarzweißen Innenraum verwandelt, den jeder rasch durchquert. Sie war nicht schnell genug. Als sie die Straßenecke erreichte, war er fort. »Alles in Ordnung?«, fragte Frank, als sie zurückkam. »Was ist?«, flatterte Hilda. »Was ist denn los?« »Nichts ist los. Jemand, den ich mal gekannt habe, sonst nichts. Nichts ist los.« »Mr. Dove?«, fragte Hilda; eine dieser unvermittelten Beobachtungen, die Norma Joyce überraschten. Als Hilda sich später für diesen Tag verabschiedet hatte, durchsuchte Norma Joyce das Auftragsbuch auf ihrem Pult und fand seine Adresse. Er ließ sich Visitenkarten machen. Sie sollten in einer Woche fertig sein. Der nächste Tag war ein Samstag. Sie arbeitete bis drei, dann fragte sie Frank, ob sie ein paar Besorgungen machen könne. Sie würde Johnny um halb sechs bei Hilda abholen, wie gewöhnlich. Seine Adresse führte sie nach Brooklyn, in die Gegend von Park Slope. Eine Häuserreihe aus braunem Sandstein, alt und reizvoll, mit Blumentöpfen auf den Treppen. Weiße Chrysanthemen. Sie konnte keine Chrysanthemen sehen, ohne an Mrs. Haaring in Holland zu denken, die einen Strauß mit in den Zug genommen hatte und zwei Monate später in einer Welt 273
angekommen war, wo der wehende Schnee durch das Fenster eindrang und über das Fußende ihres Bettes trieb. Von der anderen Straßenseite aus betrachtete sie die hübsche Fassade und die hohen Fenster, die blasse Granittreppe, das schmiedeeiserne Geländer. Ein Auto hielt vor seinem Haus, und wenig später weiteten sich ihre Augen, denn die Eingangstür öffnete sich, und Louise Dove, so gepflegt, wie Norma Joyce sie in Erinnerung hatte, kam die Treppe herunter. Norma Joyce konnte sogar von der anderen Straßenseite aus sehen, dass ihre Schuhe aus Wildleder waren. Louise setzte sich auf den Beifahrersitz neben eine Frau in einem Pelzmantel, und Norma Joyce stopfte ihre tintenfleckigen Hände in die Taschen. Als das Auto weggefahren war, überquerte sie die Straße und ging die Treppe hinauf zu der geschnitzten, lackierten Eichentür. Drei Summer links von der Tür: Dove war 1#, der erste Stock. Sie strich mit dem Finger über seinen in dicken Blockbuchstaben geschriebenen Namen und spürte, wie sie schwach wurde. Wieso sagt man, dass sie das Beste in uns zum Vorschein bringt?, fragte sie sich. Sie war dabei, eine Liebe durch eine andere zu zerstören. Sie stand an einem kalten Herbsttag auf einer Treppe in Brooklyn und dachte: Wenn ich mich über das Geländer beuge, kann ich hineinsehen. Und da war er. Auf der anderen Seite des Fensters, das vom Fußboden bis zur Decke ging, etwa drei Meter entfernt. Er saß lässig an seinem Schreibtisch, wie große Männer es tun, und fühlte sich vollkommen wohl mit Füllhalter und Papier, er war vollkommen in seine Arbeit versunken. Sein linker Arm ruhte auf dem Schreibtisch, die Hand war ausgestreckt und entspannt; seine rechte Hand konnte sie nicht sehen, aber sie fuhr wahrscheinlich gleichmäßig auf dem Papier hin und her. Das 274
war es, was sie auch haben wollte, diese Art der Konzentration. Sie wollte genauso selbstvergessen arbeiten. Als sie hineinsah und Maurice betrachtete – als sie ihn zum ersten Mal sah, seit er sie leicht am Ärmel berührt und »Danke für die Geburtstagswünsche« gemurmelt und sie so ins Exil geschickt hatte –, wurde ihr klar, dass sie das sogar noch mehr wollte als ihn. In diesem Moment drehte er den Kopf, um aus dem Fenster zu schauen, und sah sie. Ach ja. Aus solchen Augenblicken bestehen anhaltende Demütigungen. Sie sah in seinem Gesicht, dass er nicht misstrauisch war, sondern beunruhigt. Dann stand er auf und gab ihr mit Gesten zu verstehen, dass er zur Tür kommen würde. Sie wartete kurz im Wind, der den Saum ihres dunkelgrünen Mantels hob. Sie hatte wieder herumgeschnüffelt, und diesmal war sie erwischt worden. Die Tür flog auf, und sie standen sich gegenüber. Sie stand auf der Treppe, er stand in der Tür und trug ein blaues Flanellhemd und dieselbe graue Hose wie gestern. Aber er pfiff nicht mehr. »Norma Joyce«, sagte er, und sie dachte, dass sein Tonfall keineswegs schmeichelhaft war. »Hi.« Sie brachte ein Lächeln zu Stande. »Ich habe gestern versucht, dich einzuholen. Du warst bei Quality Printing.« »Warst du auch da?« Und jetzt klang er zumindest neugierig. »Ich arbeite dort. Bei Frank und Hilda. Genau wie vorher.« Sie beobachtete ihn, um zu sehen, ob er sich erinnerte. »Du erinnerst dich nicht«, sagte sie, und diese verzweifelte Wahrheit 275
gab ihr eine gewisse Kraft. »Tut mir Leid«, er stieß die Tür weiter auf, »willst du hereinkommen?« »Das habe ich mir gedacht.« Sie bearbeitete ihre Unterlippe mit den Zähnen. »Ich will nicht hereinkommen. Aber ich habe eine Frage.« Er wartete in der Tür, und sie betrachtete seine Hand, die auf dem Türrahmen ruhte. Der Ring, den sie so gut kannte, war der einzige Ring, den er trug. Marlon Brandos Hand, dachte sie. Guys and Dolls. Hier war es viel ruhiger als in Manhattan. Ruhiger, heller, grüner, aber genauso kalt. Sie zitterte. »Komm wenigstens aus dem Wind.« Dann standen sie also in einem kleinen Foyer mit vier Messingbriefkästen und holzgetäfelten Wänden; ein Keil hielt die innere Glastür offen. Es war schwer, ihre Frage in Worte zu fassen, und schließlich wurde eine unverblümte Feststellung daraus. Sie sagte: »Du hast noch nie deinen Sohn besucht, und er ist fast elf.« Er lehnte sich an die Briefkästen und verschränkte die Arme.
»Ist er mein Sohn?« »Du weißt, dass er das ist, Maurice. Jeder würde das erkennen. Es ist offensichtlich.« Immerhin schaute er nicht weg. Er hielt ihrem Blick stand, und sein Gesichtsausdruck war nachdenklich, nüchtern, berührt von ihr. So, wie sein Gesicht ihr gefiel. Er schwieg, und sie warf ihm einen Knochen hin. »Auf deinen Visitenkarten wird Schriftsteller stehen.« Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken und sagte: »Mein erstes Buch kommt in diesem Frühjahr heraus.« Er hätte noch mehr gesagt, aber ein Telefon begann zu 276
klingeln. »Entschuldigung.« Er drückte die festgekeilte Tür ein wenig weiter auf, trat den Keil beiseite und bat sie herein. Seine Wohnungstür war rechts und angelehnt. »Es dauert nur eine Minute.« Er winkte sie ins Wohnzimmer und ging dann durch den schmalen Flur in die Küche. Norma Joyce setzte sich auf ein langes Sofa, das mit hellgrünem Samt gepolstert war. Sie hatten eindeutig keine Kinder und nicht die Absicht, Kinder zu haben. Samt! Sie streichelte ihn mit der flachen Hand. Das Zimmer war groß, gut eingerichtet, hell. Rechts stand sein Schreibtisch neben dem hohen Fenster, durch das sie gesehen hatte, derselbe wie in der th 60 Street West. Daneben standen Regale voller Bücher und Schallplatten. Sie saß da, hörte seiner hellen, klangvollen Stimme zu und merkte nach einer Weile, dass er offenbar mit seiner Frau sprach. Es gab einen intimen, gereizten Unterton, den niemand sonst hervorgerufen haben konnte. Maurice redete weiter. »Ja, ja. Ich denke daran.« Norma Joyce stand auf und ging zu den Regalen hinüber. Es waren hauptsächlich Jazz- und Opernplatten. Tosca, Der Barbier von Sevilla, und da war Butterfly mit ihrem gepuderten weißen Gesicht und dem gelben Seidenkimono. Butterfly wäre Pinkerton nicht nach Hause gefolgt. Sie hätte nicht herumgeschnüffelt und Dinge betrachtet, die ihr nicht gehörten. Butterfly war eine ehrbare Frau. Aber Butterfly war auch tot. Sie ging zu seinem Schreibtisch. Die letzten Worte, die er geschrieben hatte, lauteten: »die Wechselfälle in einem Leben, das keine Strahlkraft hat«. Sie nahm seinen Füllhalter und schrieb gleich darunter: 277
»Durch allen Dunst und Nebel liebe ich dich.« Sie fand allein hinaus und nahm die Subway zurück zu Franks und Hildas Wohnung, um ihren Sohn zu holen. Am folgenden Samstagmorgen kam Maurice, um seine Visitenkarten abzuholen und um sie zu besuchen. Sie und Johnny verpackten Basketball-Handzettel an dem langen Tisch in der Buchbinderei, gleich links von der Tür. Und so sah er seinen Sohn zum ersten Mal. Dieselben hellblauen Augen, derselbe Mund, dasselbe Lächeln, dieselben langen, geschickten Finger. Sogar ihr Haar hatte dieselbe schlaffe Dichte, wenn auch nicht dieselbe Farbe. Der Vater betrachtete den Sohn, und Norma Joyce konnte zu ihrer Befriedigung sehen, wie sein Gesichtsausdruck sich langsam dem Beweis ergab, den er vor sich hatte. Er setzte sich an ihren Tisch; sie merkte, dass Frank neugierig in ihre Richtung sah, und spürte einen Anflug von Stolz. Eitelkeit, denkt sie jetzt. Seht den hübschen Mann, den ich beschlafen habe. Maurice fragte sie, wo sie wohnten, sein Ton war nachdenklich – betroffen –, und sie konnte spüren, wie ihre Welt sich öffnete: die Welt einer Frau, deren Sohn sich als Trumpf im Ärmel erweist. Sie sagte ihm, wo, und fragte dann, ob er sie besuchen wolle. Er antwortete nicht gleich. Dann sagte er, ja, vielleicht. Was ihr in dieser Nacht in den Sinn kam, war das Wort Milde. Das Leben zeigte, dass es ihr gegenüber mild sein konnte. Und so begannen die Sonntagsbesuche. Maurice kam gewöhnlich um zwei Uhr nachmittags, und je nach Wetter gingen sie in ein Museum oder in einen Park, normalerweise in den Central Park, weil Johnny gern sein hölzernes Segelboot auf 278
dem Teich schwimmen ließ, egal, wie kalt es war. Frank hatte Stunden mit seiner Konstruktion verbracht, für die er die Bluenose als Modell benutzte, und Maurice war gebührend beeindruckt. Der Park bot mehr als genug, um sich zu beschäftigen. Glatte, schnurrbärtige Seelöwen im Zoo; hochnäsige Lamas mit gelben Klaviertasten als Zähne; einen zotteligen Yak, einen Mähnenspringer mit großen, gebogenen Hörnern, einen Tahr mit langem Fell; einen Orang-Utan im Käfig. Es gab Hügel zum Schlittenfahren; ein Karussell, das man verschmähen konnte, weil es nur für kleine Kinder war; die Möglichkeit, alle anderen beim Schlittschuhlaufen auf der Wollman Memorial Rink hinter sich zu lassen (Johnny ahmte Maurice' Technik nach, und Maurice versicherte, er habe sie erst zur Perfektion gebracht, als er von Florida nach Ottawa gezogen sei und Hockeyspielen gelernt habe, »da war ich älter als du jetzt und lange nicht so koordiniert«); Eiscremeverkäufer an heißen Sommernachmittagen; Ruderboote zum Mieten auf dem See. Bei diesen Ausflügen hatte Maurice' ruhige, distanzierte, aber interessierte Art – beruhigend, aber unnahbar – etwas an sich, das ihr die Knie weich werden ließ. Sie war nichts als formbares, erwartungsvolles Fleisch, und sie spürte neben sich jeden Zentimeter von ihm. Im Winter trug er das zerknitterte Tweedjackett, das sie so mochte. »Louise sagt, ich brauche ein neues«, sagte er. »Louise hat Unrecht«, entgegnete sie. Im Sommer ein leichtes Baumwollhemd und Hosen und keine Schuhe, sondern Sandalen – was am Ende des Sommers zu einer Kreuzschraffur aus Hell und Dunkel führte, wie ein Schädel über gekreuzten Knochen auf der durchbrochenen Bräune. Einmal griff er nach etwas, das zu weit weg war, und sie konnte ihm zu Hilfe 279
kommen. Aber jetzt übertrifft sie sich selbst. Dies ist der Tag, den sie in ihren Gedanken gerne immer wieder aufleben lässt, weil er ihr das Gefühl gab, es würde eine Geschichte fortgesetzt, weil es ihn gab, bevor die nächsten Schwierigkeiten begannen, weil er auf eine bestimmte Weise endete. Und immer funktioniert es am besten, wenn sie langsam zu ihm überleitet. Ihren ersten Ausflug machten sie im November. Ein kalter Nachmittag, an dem der Wind Fetzen von Karussellmusik herüberwehte und sie ihre Hände in die Ärmel steckte, um sie warm zu halten. Johnny ließ sein Boot auf dem Teich schwimmen. »Da kommt die Hispaniola«, schrie ein anderer Junge, weil es so schnell war und so gut gebaut. Maurice beobachtete Johnny, aber er fragte nach ihr. Mochte sie ihre Arbeit in der Druckerei? »Erstaunlicherweise ja. Ich bin gut darin.« Fand sie Gelegenheit zum Malen? »Ja, jeden Tag ein bisschen.« Hatte sie genügend Geld? Er könne ihr jeden Monat etwas schicken. Das sollte er tun. »Wir kommen zurecht, aber das würde uns helfen. Ja.« »Bist du sehr wütend?«, fragte er und sah sie an. Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wieso. Ich könnte es sein, und ich war es auch, aber ich bin es nicht mehr.« Sie hielt inne und sagte dann: »Hast du deiner Frau von Johnny erzählt?« »Noch nicht.« »Johnny weiß es auch nicht«, sagte sie. »Ich habe es ihm nie erzählt. Ich habe es niemandem erzählt. Manche Leute«, sagte sie, »manche Leute glauben lieber, dass er nicht dein Sohn ist, wegen der roten Haare. Du hast das auch geglaubt.« 280
»Ich hatte Zweifel. Es tut mir Leid.« »Du hast mir diese Karte geschickt. Als er geboren wurde. Durch deine Mutter.« Er warf ihr einen kurzen Blick voller Anspannung und Scham zu, dann sah er weg, und das machte sie sich schnell zunutze. »Wirst du mit ihm reden?«, fragte sie. »Ich glaube, es sollte von dir kommen – jetzt, wo du ein Teil seines Lebens bist. Du wirst es auch Louise sagen müssen.« »Ich weiß«, sagte er. Und, ja, er werde beides tun. »Wenn es so weit ist.« Dann ließ er sie allein und ging zu Johnny. Mit langen Stöcken schickten sie das Boot auf den Teich hinaus und rannten am Ufer entlang, um mitzuhalten. Und Maurice ging so entspannt mit ihrem Sohn um wie mit ihr als Kind. Eine selbstsichere, gelassene, flüchtige Präsenz. Nur einmal in den folgenden Monaten machte er ein finsteres, ärgerliches Gesicht. Sie hatte ihn gefragt, was Louise von seinen Sonntagsbesuchen halte. »Sie gewöhnt sich daran«, sagte er knapp. »Seid ihr glücklich zusammen? Du und Louise?« »Louise und ich sind verheiratet«, sagte er und wollte damit jede weitere Frage dieser Art im Keim ersticken. Aber er sagte verheiratet, als würde er Zement sagen; und sie zog ihre eigenen hoffnungsvollen Schlüsse daraus. Sie erinnert sich, dass sie sich als Kind von allem angezogen fühlte, was abgeschlossen war. Sie mochte Steine, weil sie heil blieben, wie Knöpfe und Knochen. Holz war weniger widerstandsfähig. Stoffe waren schwach. Auch die Art, wie Maurice sich abschloss, zog sie an. Nichts beeinträchtigte seine 281
Konzentration in dieser treibenden, ausgetrockneten Welt, in der Innen und Außen von beiden Seiten durchlässig waren. Mit anderen Worten: Von Anfang an hatte sein Mangel an Aufmerksamkeit sie genauso sehr angezogen wie seine Aufmerksamkeit; wenn er sich in etwas anderes vertiefte, konnte sie ihn beobachten. Seine Konzentration bot der ihren Raum. Es war an einem Nachmittag Anfang Juli, als sie mit einem Picknick für drei in den Central Park gingen. Sie erinnert sich an die Wolken, denn die drei lagen auf dem Rücken und sahen ihnen zu, sie erinnert sich an seinen Rücken, weil er sein Hemd abstreifte, sie erinnert sich an seine Augen, weil in ihnen diese weiche, flüchtige Andeutung des Verlangens lag. Weiße Wolken türmten sich am sauberen blauen Himmel. Der Wind kam von Osten und war frisch, er gönnte ihnen eine Pause zwischen der letzten Hitzewelle im Juni und der ersten Hitzewelle im Juli. Johnny hatte seinen Softball dabei, und er und Maurice warfen ihn hin und her. Sie hatte eine blaue Stofftasche, in der eine Decke und ihr Essen waren: eine Thermoskanne mit Limonade, Butterbrote, Käse und Äpfel. Sie waren unterwegs zum See und dem Wandergebiet dahinter, und Maurice machte sie wie gewöhnlich auf Dinge aufmerksam – auf einen Osagedorn oder auf ein Diamantmuster im Mauerwerk einer Brücke oder auf eine geschwungene Bank, die gleichzeitig eine Sonnenuhr war. Als sie die Tafel für Balto, den Alaska-Schlittenhund, lasen und als sie fragte: Wieso? Wieso hat das Hundegespann im Winter 1925 Medikamente nach Nome transportiert?, kannte er die Antwort. Die Diphterie war ausgebrochen, antwortete Maurice. Er erzählte ihnen, dass man die Nadel der Kleopatra, den Obelisk, der vor 3500 Jahren von Thutmosis III. gehauen worden war, 1880 mit dem Schiff herübergebracht, auf Pontons 282
den Hudson hinaufgeschleppt, dann in ein Gerüst gelegt und auf Kanonenkugeln zu genau dieser Stelle gerollt hatte. Wenn man neben ihm ging, war es, als ginge man neben einem Buch, das Wort war Fleisch geworden, und ihr Vergnügen war genauso groß wie damals am Lake Clear, als sie durch die Erdbeerwiese gingen, die er sorgfältig pflegte, damit sie wild und fruchtbar blieb, und er ihr sagte, dass die stacheligen Stiele, die an ihren Beinen klebten wie Cellophan, Labkraut hießen, und den Günsel benannte, der um die Beeren wuchs, die kletternde Vogelwicke, Schachtelhalme, Kunigundenkraut, die gelben Stäbe des Odermennig, Beschreikraut, Fingerkraut, Froschorchidee, Springkraut, Schafgarbe, Leinkraut, Pfennigkraut, Krauser Ampfer, Rainfarn. Gelegentlich bückte er sich, um ein Unkraut zu pflücken, das auf sein Zerren so reagierte wie ein Hund, der an seiner Leine häkelt. (Viel zugänglicher als das Gewirr, das er später aus ihrem Haar zu bürsten versuchte.) Die beiden Tage vermischten sich in ihren Gedanken, der Nachmittag im Central Park wurde zur Fortsetzung ihrer glücklichsten gemeinsamen Zeit. Zu ihren Füßen fanden sie sogar ein paar wilde Erdbeeren, die in Büscheln unter dem dichten Schatten ihrer dicken Blätter wuchsen. Sie schob die Blätter beiseite, und dort hingen rote Juwelen an einem dunklen Busen, und die weiche Luft, und die Sonne brannte auf die Beeren herunter, und sie verströmten ihren Duft. Weißt du noch, sagte sie, weißt du noch, die Beeren am Lake Clear? Wohin wir auch gingen, sagte sie, wir konnten sie riechen. Eine Flut von Rot im Lauf dieses Tages – von den Beeren zu beerenfleckigen Fingern zu beerenfleckigen Kleidern, beerenfleckiger Haut. Sie sagte, ich weiß noch, dass du es eine Rekordernte genannt hast. 283
Er lächelte und sagte, er könne bei ihrem Gedächtnis nicht mithalten. Die Beeren hingen herab, vollkommen und fest, aber reif. Sie pflückte ein paar und gab sie Johnny. »Und ich?«, fragte Maurice. »Du kannst dir deine eigenen pflücken«, sagte sie im Scherz. Sie fanden einen grasbewachsenen, abgelegenen Flecken im Wandergebiet und breiteten ihr Essen auf der Decke aus. In der Nähe wuchs Leinkraut. »Linaria vulgaris«, sagte er und streckte sich nach einem Stiel aus, aber er streckte sich zu weit und schrie vor Schmerz auf. Dennoch erzählte er weiter von der orangefarbenen Spitze, »die als Honigführer für die Bienen dient, die den Nektar darin suchen«. »Dreh dich um«, befahl sie. Sie kniete neben ihm und rieb die Zerrung aus seinem Rücken fort. Sie rieb ziemlich lange. Johnny lümmelte, in sein Buch vertieft, auf der anderen Seite neben Maurice herum. Er schwankte zwischen Missmut und Reizbarkeit, manchmal verschwand er in einer Abenteuergeschichte, manchmal schloss er sich stundenlang in seinem Zimmer ein, manchmal forderte er Maurice' Aufmerksamkeit und beanspruchte ihn ganz für sich; früher war seine Persönlichkeit in eine laute und eine schüchterne Seite gespalten gewesen, jetzt war er bedürftig und in sich gekehrt, und das machte ihr Sorgen. »Es wäre leichter«, sagte sie zu Maurice, »wenn du dein Hemd ausziehen würdest«, und das tat er. »Dein Hals ist dunkelhäutig«, sagte sie und brachte ihn dadurch zum Lachen. Sie dachte an den hübschen Übergang von Braun zu Weiß zwischen Oberschenkel und Hinterbacke. Sie wusste, wie leicht er braun wurde. Als sie fertig war, rollte Maurice sich auf den Rücken und fragte: »Wo hast du solche Sachen gelernt?« 284
Seine Augen wie die von Cary Grant, wenn die Frau endlich ihr wahres Gesicht zeigt. Sie war sich bewusst, dass Johnny da war und, auf seine Ellbogen gestützt, ein Hardy-Boys-Buch las; sie erinnert sich jetzt, weil es Maurice die amüsierte Bemerkung entlockte: »Die Hardy Boys kenne ich nicht, ich kenne nur die Hardy Girls.« »Ich habe das immer für Lucinda gemacht. Sie hatte Kopfschmerzen. Sie hat gesagt, es hilft.« Maurice sagte: »Sie fehlt dir sicher.« Sie antwortete nicht gleich. Weil von ihrer Schwester die Rede war, hatte sie den Faden verloren, und ihre Konzentration war hinüber. »Ja und nein. Wir hatten nicht viel gemeinsam, aber das weißt du ja.« »Ich dachte, ihr wärt euch in vielem sehr ähnlich.« Ein überraschter Blick, und er fügte hinzu: »Zuerst habe ich das nicht gedacht, aber später… eure Art zu reden. Ich meine euren Tonfall und die langen Pausen.« Er sprach weiter. »Ihr wart beide Hardys. Ihr habt euch nicht in die Karten blicken lassen. Keine hat viel gelacht. Und deine Haut hat genauso wie ihre gerochen.« Jetzt starrte sie ihn sprachlos an. »Ihr wart nicht umsonst Schwestern«, sagte er, um sein Argument zu bekräftigen. »Wie meinst du das, unsere Haut hat gleich gerochen?« »Sie hat gleich gerochen.« Er streckte bequem die Beine aus und legte seine Hände hinter den Kopf. »Ich muss es wissen. Ich habe euch beide geküsst.« »Hast du das.« 285
»Zur Begrüßung und zum Abschied. Einige Male, du erinnerst dich.« Wenn der Nachmittag mit diesem verletzend leichten Ton geendet hätte, würde sie sich weniger liebevoll daran erinnern. Aber er streckte die Hand aus. »Hilf mir hoch«, sagte er. Sie nahm seine Hand und schob ihre Finger zwischen die seinen. Sie machte keine Anstalten aufzustehen, und sie hörte Maurice sagen: »Du hast dich verändert.« »Wirklich«, beharrte er, als sie fragend eine Augenbraue hob. »Du bist nicht mehr so ernsthaft. Nicht so verzweifelt.«
»Verzweifelt?« »Sonst hast du mich beinahe zu Tode geängstigt«, lachte er. »So mag ich dich lieber.« »Meine neue Methode«, sagte sie mit schelmischem Lächeln. Er lächelte auch, aber sie sagte nur die Wahrheit. Sie hatte sich gemäßigt und hoffte, nun zarter auf seine Gefühle einzuwirken als in der Vergangenheit. Sie sagte: »Man verändert sich, wenn man Mutter wird«, und auch das traf zu. »Ich bin viel vorsichtiger geworden«, sagte sie. »Mit allem.« »Du bist älter.« »Das ist es nicht. Es liegt am Muttersein.« Er drückte ihre Hand. »Hilf mir hoch«, sagte er wieder, und Norma Joyce stand auf und zog an seinem Arm. Als er sein Hemd wieder angezogen hatte, legten sie die Decke zusammen und packten die Stofftasche. Johnny war aus der Welt seines Buchs zurückgekehrt und plagte Maurice damit, dass er Fangen spielen wollte. Als sie die beiden zusammen beobachtete, Maurice und ihren Sohn, kam sie darauf, dass Johnny ein »Weizenkind« war, eine vollkommene Kreuzung zwischen ihr und Maurice, wie der 286
Marquis-Weizen alle guten Eigenschaften des Red Fife und des Hard Red Calcutta in sich trug und keine der schlechten. Sie warfen sich den Ball zu, und Johnny fing ihn jedes Mal. Johnny hatte die Neuigkeit über seinen Vater sehr ernst genommen, zu ernst, wie sie jetzt weiß. Wieder einmal waren sie im Park gewesen, und sie hatte gedacht, dass sie hervorragend aussahen, dass sie sich gut benahmen, so ernsthaft, mit ihren offenen Gesichtern und den wenigen Worten an diesem Tag Ende März, als der Schnee bis auf einen schmutzigen Rest geschmolzen war. Maurice hatte Johnny die Hispaniola weggenommen und sie auf die Bank gelegt; Johnny stützte sich auf seine Knie und hörte zu. In solchen Momenten mit Maurice war es verzeihlich, zu denken, man wäre bei ihm in guten Händen. Und bei Johnny würde eine Frau vielleicht dasselbe denken, wenn er erwachsen war. Ihr Sohn hatte seinem Vater zugehört und sich dann zu ihr gewandt und gefragt: »Stimmt das?« »Ja, das stimmt.« Er hatte ihr für einen Moment in die Augen gesehen, aber sie wusste nicht, was er dachte. Als er sich dann wieder Maurice zuwandte, wollte er wissen, wie er ihn nennen sollte. »Maurice ist doch gut. Daran haben wir uns gewöhnt.« Sie hätte an die Zeit denken sollen, als sie selbst elf Jahre alt war, ein Alter, in dem Worte außer Reichweite geraten. In dem sie sich hinter großen Toren verschließen und einen verspotten und den Schlüssel verlangen, den man vergessen hat. Als sie Johnny zu Hause fragte, sagte er nur, ja, er sei froh, dass Maurice sein Vater sei: »Aber warum lebt er nicht mit uns?« »Das hat er dir erzählt«, sagte sie sanft. »Er ist mit einer anderen verheiratet, und er lebt mit ihr.«
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»Warum hat er dich nicht geheiratet?« Und dann machte sie einen Fehler. Sie schaute in die abschätzenden Augen ihres Sohnes und sagte im Scherz, was er gerade zu denken im Begriff war. »Wer würde mich schon heiraten wollen?« Aber dieses mauriceblaue Augenpaar blickte ohne eine Spur von Humor zu ihr zurück. Sie versuchte sich zu fangen. »Schau. Es ist sein Pech, dass er nicht mit uns lebt.« Aber alles, was Johnny dann sagte, war: »Ich wünschte, er würde mit uns leben.« Und an diesem vollkommenen Sommernachmittag im Central Park dachte sie, dass es durchaus noch so werden konnte: dass die Dinge sich vielleicht richten würden, wenn man geduldig wartete. Sie gingen den gleichen Weg zur Subway zurück und kamen wieder an der kleinen Gruppe wilder Erdbeeren vorbei – sie konnte nicht widerstehen, bückte sich und pflückte noch ein paar. Diesmal sagte sie: »Halte die Hand auf«, und sie gab Maurice die wenigen, die sie gefunden hatte. Als er sie nahm, gluckste er im Stillen vor Vergnügen, und sie fragte ihn, an was er denke. Er schüttelte den Kopf. »Sag's mir«, drängte sie. Und während Johnny seinen Ball in die Luft warf und hin und her rannte, um ihn zu fangen, erzählte ihr Maurice das Indianermärchen von Old Man Coyote, der einmal eine Gruppe Frauen entdeckte, die wilde Erdbeeren pflückte und er grub sich zwischen ein paar Erdbeerpflanzen in der Erde ein, so dass nur die Spitze seines Penis herausschaute. Die Frauen kamen vorbei, sagte Maurice und lächelte boshaft. Eine von ihnen sagte: »Da ist eine große Beere, aber sie ist anders. Sie hat tiefe Wurzeln.« 288
Die anderen kamen herbei und versuchten ebenfalls, sie abzupflücken. Einige zogen daran, sagte Maurice, einige knabberten daran. »Oh je«, sagte eine, »die Beere weint.« Jetzt lachten sie beide, und er nahm ihre Hand. »Eine andere Frau war anderer Meinung. Sie sagte, nein, sie weint nicht, es ist Milch darin.« Johnny kam zu ihnen und wollte wissen, was so komisch war, und Maurice zerzauste sein Haar. Der Wind lebte auf, die Sommerwolken glitten über den Spätnachmittagshimmel, und Maurice hielt Johnnys Hand und die ihre. Es sollten Zeiten kommen, in denen sie sein Gesicht vergaß, in denen es ihr schwer fiel, sich Mund und Augen genau vorzustellen, aber seine Berührungen hat sie nie vergessen. Sie waren gewandt und sicher, und dann hörten sie auf. Norma Joyce sah ihn vor August nicht wieder, weil seine Sommerferien dazwischen lagen. Als sie sich danach trafen, war er kühler und achtloser. Eines Tages im Herbst nahmen sie zu dritt einen Spätnachmittags-Imbiss bei Schrafft's, und sie saßen an einem Tisch, obwohl Johnny die Drehstühle an der Eiscremetheke lieber mochte. Maurice reichte Norma Joyce das Sahnekännchen für ihren Kaffee, aber sie schüttelte den Kopf. »Nein?«, sagte er. »Schwarz. Ich trinke meinen Kaffee immer schwarz.« »Ich dachte, du nimmst Sahne.« »Wie lange kennst du mich?« Beleidigt, denn seit fast einem Jahr rundeten sie ihre Sonntagsbesuche mit Kaffee und Kuchen ab. Maurice hatte auf dem Tisch Platz gemacht, und er und Johnny spielten unauffällig Poker. Das Spiel ging weiter, 289
während Maurice – in allen Einzelheiten, wie ihr später auffiel – von dem Rosenbuch erzählte, das er geschrieben hatte und das so gut ging, und von einem anderen Buch über die Naturgeschichte von New York, das er gerade fertig stellte. Er sagte, dass er aus seinem Wissen über die Pflanzen und das Klima Kapital schlagen und es weiter ausbauen wolle, eine Nische schaffen für sich als vagabundierenden Naturschriftsteller mit breitem Publikum. »Darwin der Zweite«, sagte sie trocken. »Nein.« Er korrigierte sie, obwohl er wusste, dass sie es nicht ernst meinte. »Ich würde keine wissenschaftlichen Abhandlungen schreiben, selbst wenn ich es könnte. Es gibt zu viele akademische Bücher, die niemand liest. Ich will gelesen werden. Das ist doch nicht verkehrt, oder?« »Du solltest Abenteuergeschichten schreiben«, riet Johnny. »Die würde ich gerne lesen. Du wärst bestimmt gut darin.« »Wissenschaftliche Abenteuer«, sagte Maurice. »Genau.« »Woher nimmst du nur dein Selbstvertrauen?«, fragte sie. »Es ist offenbar grenzenlos.« »Das Leben ist kurz«, sagte er einfach, »und man muss in großen Dimensionen denken.« Und dann ließ er den ersten Hammer fallen. Norma Joyce war nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte, denn das Restaurant war voll. Alle Hocker an der Theke waren besetzt, und die Leute bedrängten schon die wenigen langsamen Esser, damit sie endlich fertig wurden. Es war ihr bewusst, dass man wegen der Tische Schlange stand, aber Maurice war das egal. Er wiederholte sich. Er hatte ein Fulbright-Stipendium für Oxford bekommen. Postdoktorat. Er würde Zeit zum Forschen haben, 290
seine Kontakte zu Kew Gardens erneuern, einen englischen Verleger finden. Eine großartige Gelegenheit. Wie konnte er Nein sagen? »Ganz leicht«, sagte sie. »So, wie du zu mir Nein gesagt hast.« Er kaute und betrachtete sie dabei. Dann nahm er mit der linken Hand seine Karten auf und betrachtete sie. Johnny sagte: »Gehst du fort?« »Nicht für immer«, versicherte ihm Maurice. »Keine Sorge.« Sie schaute weg und sah Familien, die Blintzes oder Käsekuchen aßen, Mütter und Väter, Brüder und Schwestern, Tanten und Onkel, alle strahlend und herrisch und wohl genährt. Sie schaute Maurice an, und ohne Rücksicht auf Johnny sagte sie leise: »Du lässt uns wieder im Stich.« Er legte sein Plunderteilchen hin. Er wischte sich die Finger ab. Er sagte: »Vielleicht kann ich es diesmal wiedergutmachen.« Und die Hoffnung wallte auf. Sie schoss so plötzlich in ihr hoch, dass ihre Hände zitterten und sie ihren Kaffee verschüttete. »Wie?« »Gib mir noch etwas Zeit«, sagte er und schaute prüfend in ihr Gesicht. »Ich arbeite daran.« Wie sorgfältig sie sich anzog in diesem einen Jahr, in dem sie ihn jeden Sonntag traf. Wie gründlich sie ihre tintenfleckigen Hände schrubbte, ihre Augenbrauen zupfte, ihre Beine rasierte, neue Lippenstiftfarben ausprobierte – und immer empfand sie diese Vorfreude, die die Luft knistern lässt. (Wieso in meine?, fragte sie ihn einmal. Wieso bist du nicht in eine Druckerei in Brooklyn gegangen? Und er erklärte ihr, es sei Zufall gewesen, er habe seinen Verleger besuchen wollen und sei ein paar Minuten zu früh gewesen. Und so würde es immer sein: Sie lag auf seiner 291
unbewussten Strecke.) Ein paar Wochen später saß er ihr gegenüber und ließ den zweiten Hammer fallen, und sie hatte noch kaum Zeit gehabt, sich auf die Neuigkeit von seiner Abreise einzustellen. Er sagte, er wolle Johnny adoptieren. Mittagszeit, und nur sie beide, und er fing an, von Schulen in England zu reden und all den Vorteilen, die es für Johnny haben würde. »Das wäre eine wunderbare Gelegenheit«, sagte er, »und außerdem bin ich an der Reihe, Verantwortung zu übernehmen. Du hast es zu lange allein gemacht.« Sie war verblüfft, aber falls er es registrierte, ließ er es sich nicht anmerken. »Du bist ein starker Rückhalt gewesen«, sagte er. »Johnny ist großartig, und du bist wunderbar mit ihm gewesen.« Das war zu viel. »Also ist alles wunderbar. Um es mal so auszudrücken.« Ihr Ton war gallenbitter. Maurice lehnte sich zurück und schuf so etwas mehr Distanz zwischen ihnen. Dann rieb er sich mit der Hand den Nacken. »Du bist wütend.« »Für einen gescheiten Mann«, sagte sie, »bist du nicht besonders helle.« Er sah beleidigt aus, dann dumm, dann ein wenig missmutig. »Wir wollen beide das Beste für Johnny. Ich will mich nicht einmischen, aber ich denke an seine längerfristigen Interessen. Du musst zugeben –« Als sie in sein Gesicht sah und seine vernünftige Stimme hörte, wallte ein Gefühl des Verlusts in ihr auf, und es tat so weh, dass sie die Hand ausstreckte und sie über den Tisch hinweg auf seinen Mund drückte, so fest, dass er ihren Arm 292
wegschob. Sie nahm ihre Jacke von der Stuhllehne und zog sie an. Ein älterer Mann, der gerade hinausging, versetzte ihr einen Stoß, und sie griff nach dem Tisch, um sich abzustützen. »Norrie«, sagte Maurice halb stehend. »Geh nicht weg. Bleib hier und sprich mit mir. Geht es dir gut?« »Nein«, sagte sie. »Keineswegs.« Er folgte ihr nicht. Sie ging zurück zur Arbeit, die drei Stufen hinunter und durch die Glastür in die Druckerei im Keller. Wenn sie jetzt zurückblickt, hat sie das Gefühl, zwar nicht aufgegeben, aber sich ergeben zu haben. Das Gefühl, es zugelassen zu haben, dass sie klein wurde in dieser riesigen Stadt. Sie war ein Dachs, der mit der Nase am Boden herumhuschte und sich bemühte, dem Reichtum der Möglichkeiten auszuweichen, der über ihr bedrohlich näher rückte. Die Hardy-Kauerstellung, scherzte Maurice einmal, als sie nach einem Nickel auf dem Gehweg schnappte. In New York City gab es nichts Dauerhaftes – was hatte Maurice über Maria Chapdelaine gesagt? Sie wird glückliche Augenblicke haben, aber nicht dauerhaft glücklich sein? –, und es gab nichts Dauerhaftes in ihrem Leben. Sie eilte zwischen Wohnung und Arbeit hin und her und zog ihren Sohn ohne fremde Hilfe auf (wenn auch mit Hilfe von Maurice' Schecks). Ihre Arbeit ersparte ihr Not und Verpflichtungen und bot ihr noch etwas: etwas Unterschwelliges zwischen ihr und Frank, das sie tröstete, besonders, als Maurice weggegangen war. Und sonst nichts weiter als ihre Präriebegabung für die Einsamkeit, denkt sie jetzt, eine Art Selbstverachtung, die ganz natürlich aus ihrer Kindheit erwuchs. In Buchläden sah sie sein Gesicht. Sie kaufte seine Bücher nicht 293
(bald waren es zwei), aus einem verwundeten, tief sitzenden Widerstand heraus, aber sie las die Titel: Following the Scent, seine Geschichte alter Rosen, in der er ihren Zug um die Welt verfolgte, und A Naturalist in Manhattan, sein Stadtführer zur Naturgeschichte. Sie sah sich die Widmungen an: für seine Eltern, für Louise. Sie betrachtete die Fotografien des Autors auf der Rückseite. Er trug in einem Fall ein Flanellhemd und im anderen sein Tweedjackett, und das machte ihn jünger, als er war, sein Ausdruck wirkte einstudiert, und das gefiel ihr nicht: Er ließ sich wieder einmal besichtigen, auf eine Art, die sie höchst unbefriedigend fand. Doch andererseits hatte sie ihn in Gesellschaft anderer immer am wenigsten gemocht – wenn sein Lächeln in zu viele Richtungen ging, wenn er nickte und sagte, in der Tat, in der Tat, wenn er seine Konzentration verlor und zu Freundlichkeit zerfaserte, zu nichts als Oberfläche. Als Norma Joyce einmal ein Buch über Schriftsteller durchblätterte, sah sie ein Bild von jemand anderem, den sie kannte. Derselbe bescheidene, aber interessierte Blick, derselbe kleine Bart und die großen Ohren, dieselbe Krawatte. Dieser kleine Mann, der ihr vor so vielen Jahren in der Subway die Farbe ihrer korallenfarbenen Rose genannt hatte, war E. B.White. Sein Kinderbuch Charlotte's Web hatte sie Johnny mehr als einmal vorgelesen. Seltsam, wie Wege sich kreuzen und immer wieder kreuzen. Ein alter Freund aus der Prärie war plötzlich in der Straße ihres Vaters aufgetaucht, ein Zufall, der so überraschend war wie der vor Jahren, als das Küchenradio ein knisterndes Echo aus der Prärie-Vergangenheit brachte. Es war der unvergesslich durchdringende New-Brunswick-Ton. Dad! Normet! Hört mal! Northrop Frye, der junge Prediger, der Anfang der dreißiger Jahre zu Pferd unterwegs gewesen war, sprach über William 294
Blake. Danach hatte ihre Schwester ein Exemplar von Fryes Fearful Symmetry gekauft, nur, um Abend für Abend darüber einzuschlafen, bis ein Witz daraus wurde. Wo ist mein Schlafmittel?, hatte Lucinda gefragt. Johnny war damals ungefähr zwei gewesen. Jetzt war er fast dreizehn, größer als sein Großvater und genauso finster, seit Maurice weggegangen war. Wenn er nicht in der Schule war, war er in seinem Zimmer und las. Ihm fehlte ein Freundeskreis, genau wie ihr, und vielleicht war er schon dabei, ein Einsiedler zu werden wie sie. Samstags kam er immer noch in die Druckerei. Frank lehrte ihn das Handwerk und zahlte ihm einen Stundenlohn. Frank und Hilda gegenüber war er unverändert, aber ihr gegenüber war er launisch und unnahbar geworden. Und er ging häufig zum Briefkasten im Vestibül am Ende des Flurs. Eines Tages sah sie, wie er als Welpe in den Flur ging und als geprügelter Hund zurückkam, und sie versuchte sich neben ihn auf das Sofa zu setzen. »Mach mir Platz«, sagte sie, und dann erst hob er seine Füße an. Er war bereits fünf Zentimeter größer als sie, und seine Füße waren gewaltig. Sie schlugen mit einem dumpfen Geräusch am Boden auf. »Du vermisst ihn«, sagte sie und seufzte. »Ich weiß nicht, warum er weggehen musste«, murmelte er. Er zog seine Oberlippe immer wieder über seine Zähne. »Und was gibt es schon Besonderes in England.« »Nicht«, sagte sie, und er hörte auf. »Die Queen«, scherzte sie, aber er lächelte nicht. Sie sagte: »Maurice hat noch nie eine Gelegenheit ausgelassen.« Aber das konnte ihren Sohn kaum aufheitern. Sie versuchte es 295
noch einmal. »Es ist nicht so, dass du ihm egal bist.« Sein Gesicht war versteinert. »Du bist ihm nicht egal.« »Doch, das bin ich.« In angeekeltem Ton. »Er wollte dich mitnehmen. So wenig egal bist du ihm.« Dieser zwölfjährige Blick hob sich und fing sie mit seinen kalten Fernlicht-Strahlen ein, und ihr wurde klar, dass sie ihn hätte fragen sollen, ob er mitgehen wolle. Oh Gott, dachte sie. Er hätte Ja gesagt. »Johnny?« Und dann sah sie unter Schmerzen zu, wie er sich ganz von ihr abwandte, wie eine junge Pflanze zu einer interessanteren Sonne hin, und sie wusste, dass sie es war, die ihn ans Fenster gestellt hatte. Danach war er kaum mehr höflich zu ihr. Sie wusste nicht, wie oft er an Maurice schrieb, aber es kamen regelmäßig Antwortbriefe, ungefähr zwei Mal im Monat. Er versteckte sie wie ein Eichhörnchen. Einmal versuchte sie schamlos, ihn zurückzugewinnen. Sie schlug vor, dass sie etwas zusammen unternehmen sollten, wie früher. »Wir haben noch nie irgendwas zusammen unternommen.« »Haben wir doch«, sagte sie geduldig. »Wir haben alles Mögliche unternommen. Weißt du noch? Weißt du noch, die Knetfiguren, die wir gemacht haben? Einen ganzen Satz Cowboys und Indianer. Wir haben auf dem Küchentisch Schlachten geschlagen.« Aber er sagte, nein, er erinnere sich an nichts davon. Sie starrte ihn verblüfft an. Aber offenbar meinte er es genau so, wie er es sagte.
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Ein paar Monate später stand sie eines Abends in seiner Tür und sah ihm beim Schlafen zu. Es war mitten in einer Hitzewelle. Johnny lag, von seiner Unterhose abgesehen, nackt auf seinem Bett – so ein langes Ende, ihr Sohn –, und sie spürte ihre Liebe zu ihm – ihre Form, ihr Wesen, sogar ihren Platz in ihrem Leben –, aber die Liebe selbst wollte nicht kommen, höchstens so wie ein kratzendes, scheuerndes, unglückliches, ganz bestimmtes Wort, das einem nicht einfallen will. Sie versteht nicht, wie das Gedächtnis funktioniert, und sie sucht nicht nach einer Erklärung. Aber trotzdem möchte sie wissen, was vorgeht, wenn etwas beinahe vergessen wird und dann die Hände hebt, um sich selbst wieder hinauf ins Licht zu ziehen. Maurice hatte zwei weitere Überraschungen für sie. Die erste kam, als er schon seit über einem Jahr in England war, er hatte seinen Aufenthalt verlängert und würde es noch einmal tun. Himmelblau, seidenpapierdünn, an den Seiten zugeklebt und dieses Mal an Norma Joyce Hardy adressiert. Sie öffnete ihn und las:
Grüne Binsen mit rötlichen Spitzen, Schlanke Halme im Windeswehen, Im selben Boote wir beide sitzen, Um Binsen zu pflücken bei den Fünf Seen. Früh brachen wir auf bei den Inselbrücken Und ruhten bis mittags im Ulmenhain. Beide sollten wir Binsen pflücken – Es war keine Handvoll im Abendschein! 297
Sonst nichts, nur ihr Name oben und seiner unten und die Quelle des Gedichts in Klammern hinter seinem Namen. (Ein anonymes chinesisches Gedicht, übersetzt von Arthur Waley.) Er warb immer noch mit Waley. Sie hatte ihr erstes Gedicht bekommen. Ihre Freude ging so tief, dass sie geradezu ihr Aussehen veränderte. Hilda sagte: »Hier hat aber jemand gut geschlafen. Oder hast du dir die Haare geschnitten? Du hast dir die Haare geschnitten!« »Ich habe mir nicht die Haare geschnitten.« Sie lachte und gab Hilda einen Kuss auf die Wange. »Ich habe mir den Bart abrasiert.« Und es war wunderbar, Hildas entzücktes Kichern zu hören. Norma Joyce erwischte Frank dabei, wie er sie ansah, und als sie zurücklächelte, zog er den Kopf ein – verwirrt, verlegen, bloßgestellt und irgendwie erfreut. Vielleicht hätte sie Maurice mit Elizabeth Barrett Browning antworten sollen, anstatt ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, aber sie schüttete auf zehn Seiten ihr Herz aus und erinnerte ihn an alles, was zwischen ihnen gewesen war, vom ersten Moment an, als sie ihren Fausthandschuh ausgezogen und ihre Hand auf seine Wange gelegt hatte, bis hin zum letzten. »Johnny vermisst dich so sehr«, schrieb sie, »und ich auch.« Sie schrieb ihm, wie oft er in ihren Träumen erschien und wie erotisch diese Träume waren. Sie erinnerte ihn an ihre warmen und geschmeidigen Hände, und während sie die verschiedenen Freuden beschrieb, die ihn erwarteten, steigerte sie sich in eine recht angenehme Frivolität hinein. Als er nicht antwortete, schrieb sie noch einmal. Und noch 298
einmal, denn ihr war nicht klar, dass Männer sich oft an die vorherige Frau erinnern, bevor sie an die nächste denken. Und dann noch einmal. Bis ein einfacher Brief von ihm ein paar Monate später alldem ein Ende setzte. In diesen Tagen wagte sie sich immer wieder in die Stadt. Eines Tages gelangte sie zum Riverside Park, und sie starrte über den Hudson River auf New Jersey am gegenüberliegenden Ufer, dann kletterte sie über die Steine, die das Flussufer säumten, hinab. Männer und Jungen angelten gerne stundenlang an einer Stelle, von Himbeersträuchern und wilden Rosen fast versteckt. Hier war der Himmel größer und ungebrochen von den aufragenden Vertikalen aus Stahl und Glas, und sie konnte zusehen, wie das Wetter von Westen herankam. Maurice hatte ihr vor Jahren gesagt, dass die Welt nicht existieren würde, wenn es kein schlechtes Wetter gegeben hätte: ein Sturm zu Anfang, gefolgt von weiteren Stürmen, die verschiedene Lebensformen hervorbrachten. Schlechtes Wetter, dachte sie, und das Verbotene. Damit fängt alles an. Und wodurch geht es zu Ende? Durch Autounfälle und einfache Briefe. Er war auf den 10. Mai 1961 datiert. Er vermisse Johnny auch, schrieb er, aber »bald werden wir uns wieder auf geregelter Basis sehen«. (Üble Formulierung. Rechnungen wurden auf geregelter Basis ausgestellt. Prüfungsarbeiten wurden auf geregelter Basis geschrieben.) »Ich komme nächstes Jahr nach New York zurück«, schrieb er, »und ich bringe jemanden mit, den er kennen lernen soll. Du hast sicher geahnt, dass Louise und ich nicht glücklich waren. Jetzt hat sie jemand anderen kennen gelernt, und das habe ich auch.« Ein erstaunlicher Rückschlag, wenn sie Napoleon gewesen 299
wäre. Sie fühlte sich wie ihr Vater in den dreißiger Jahren, geschlagen mit dem Segen der Beharrlichkeit. Wie ihr Vater hatte sie ein trockenes Feld gepflügt, und wie er hatte sie es besser gewusst. Es kann nicht lange danach gewesen sein, dass Frank sie einlud, mit ihm in Turandot zu gehen. Es werde ihr gut tun, sagte er. Hilda und Johnny werden für einen Nachmittag allein mit der Werkstatt fertig, du siehst blass aus. Wir haben uns Sorgen um dich gemacht. An einem Samstag gingen sie nach dem Mittagessen zusammen zu dem Opernhaus aus gelbem th Backstein an der 39 Street, betraten es durch eines der Seitenstraßen-Foyers und stiegen die Treppe zum Family Circle hinauf. Als sie ihre Plätze gefunden hatten, ging sie zum Rand des Balkons, um sich an der Eleganz des Saales zu freuen. Die fünf ansteigenden Ränge mit den Sitzen, die braungoldenen Wände, die Barockdecke und der Kronleuchter in Form eines Sonnenrads, der Proszeniumsbogen mit seinen gekrümmten Ausbuchtungen, der wunderbare goldene Vorhang. Durch Franks Fernglas las sie die Namen der Komponisten auf den vergoldeten Tafeln, die in den Proszeniumsbogen eingelassen waren: Gluck, Mozart, Verdi, Wagner, Gounod, Beethoven. Dann richtete sie das Glas auf das Publikum, um zu sehen, was man trug. Es war ein Spiel, die Nerze und die Zobel zu zählen, so, wie Johnny die Kerne in seiner Grapefruit zählte. Ihr Platz war links von Frank. Sie hatte das Programm gelesen und dachte nichts Nettes über die eisige Prinzessin Turandot und darüber, dass sie Rätsel benutzte, um der Liebe zu entgehen, als Frank überraschend ihre Hand von ihrem Schoß nahm und nicht die Handfläche, sondern den Handrücken 300
untersuchte. »Katzen?« »Himbeeren«, sagte sie. »Ich habe am Hudson River ein paar Sträucher gefunden.« »Es ist zu spät für Himbeeren.« »Es war noch ein dunkelroter Zweig übrig für mich.« Dann tat er etwas, das sie noch weniger erwartet hätte. Er hob ihre Hand an seine Lippen und küsste die Kratzer. Seine Lippen – diese nass aussehenden Lippen – waren warm und trocken. Dann legte er ihre Hand in ihren Schoß zurück, aber danach war nichts mehr, wie es gewesen war. Etwas sehr Weiches hatte sich in ihr geregt. Sie war es, die weiterging. Sie lud ihn ein, mit ihr nach Hause zu kommen, und als er die Nachttischlampe ausknipste, knipste sie sie wieder an. »Ich will dich sehen«, sagte sie. Und sie sah: ausgelaugte, schlaffe Weißheit. Sein Penis halb aufgerichtet und an der Spitze leicht gebogen wie der Zapfen einer Banks-Kiefer. Die dünn behaarten Stellen auf seiner Brust und an seinen Schenkeln, die haarlosen Waden. Seine Augen wehrlos ohne seine Brille. Sein Penis war am Ende so merkwürdig und traurig gebogen wie ein Hirtenstab oder wie der Anfang eines Fragezeichens. Ihre tintenfleckigen Hände passten zusammen. Frank machte das Licht aus, und das half. Er fuhr mit der Hand von ihrer Schulter über Brüste und Bauch zwischen ihre Schenkel, und das half noch mehr. Er staunte, wie weich ihre Haut war. Er sagte ihr, dass sie schön war. »Sag das noch mal«, sagte sie. Er streichelte sie überall. Dann schob er seine Hand unter ihre Hinterbacken und hob sie auf sich hinauf. Und später drang er in sie ein, köstlich, von hinten. »Du erinnerst mich an Darwin«, sagte sie, als sie ganz dicht neben ihm auf dem schmalen Bett 301
lag. »Ohne Bart.« »Mein Hund.« Sie grinste ihn an. »Das ist ein Kompliment. Er war ein wunderbarer Hund.« Sie waren immer vorsichtig. Hilda hätte es ahnen können, weil Frank geduldiger wurde, weil Norma Joyce weniger reizbar war. Johnny war vollauf mit seinen Teenagergrübeleien, seinen Teenagerangelegenheiten beschäftigt und kümmerte sich nicht um seine Mutter. Er hatte einen Freund in der neunten Klasse gefunden, der einen Block entfernt wohnte, und er verbrachte ebenso viel Zeit bei Tom wie zu Hause. Frank war sechzig. Achtundzwanzig Jahre älter als sie. Sie sahen einander jeden Tag, aber sie mussten Gelegenheiten schaffen, um allein zu sein. Das war Grund genug, mit dem Anlegen kleiner Sammlungen zu beginnen, denn sie hatte sich ohnehin eine Abwechslung vom Malen und Zeichnen gewünscht. Dabei brauchte sie Franks Hilfe. Er baute die offenen, schuhkartongroßen Schränkchen in seiner Werkstatt zu Hause und brachte sie am Sonntagnachmittag vorbei. Sie nannte sie ihre Fensterkisten, denn es waren Miniaturausgaben von Schaufenstern, ein Platz für die Dinge, die sie auf der Straße aufgelesen oder im Park gefunden oder selbst gemacht hatte. Frank sagte, es seien Puppenhäuser, aber ohne Puppen und Möbel. Puppenhäuser, in die die Natur eingedrungen war: zerfetzte Blätter, tote Bienen und glänzende Käfer, Vogelnester und Rinde, die sie jahrelang aufbewahrt hatte. Sie richtete ihre Fensterkisten ein mit den Überbleibseln der natürlichen Welt. Sex zu haben gab ihrer Kreativität möglicherweise frischen Wind. Jedenfalls begann für sie eine Zeit voll schöpferischer Kraft, und wieder fand sie Trost in den kleinen Dingen, wie in 302
der Prärie. Sie malte auch. Wäsche, die draußen hing; Blumentöpfe; alte Schuhe; eine Kaffeekanne voller Pfingstrosen neben einem Holzofen von gleicher Größe; Innenräume, belebt durch Stückchen von echter Tapete oder Stoff; Petroleumlampen; Tischplatten, mit häuslichem Krimskrams übersät; Eisbären im Zoo; knospende Bäume; immer wieder Ansichten des Central Park. Bei einigen Bildern benutzte sie Geschirrscherben, Knochenstückchen, Federn, Haare: Einfälle, die ihrer eigentlichen Haltung entsprachen. Die Zweige, die sie aufhob und auf ihr Fensterbrett legte, fand sie ebenso interessant wie alles andere; die Variationen in der Linienführung waren einfach, aber unendlich. Ein paar Jahre später betrachtete sie ihre kleinen Arbeiten an der Wand und sagte zu Johnny: »Wenn ich ein Mann wäre, würde ich riesige Gemälde malen. Je kleiner der Mann, desto größer die Gemälde. Ist dir das aufgefallen? Aber ich bin kein Mann.« »Du bist ein Mönch«, sagte Johnny. Sie fand das sehr lustig, und Johnny grinste auch. Er war jetzt sechzehn, und die schwerfällige Dragonerin, die er zur Mutter hatte, widerte ihn wesentlich weniger an, seit Maurice zurückgekommen war und ihn unter seine glänzenden Fittiche genommen hatte. Er verbrachte jeden Sonntag in Brooklyn bei seinem Vater und seiner Stiefmutter. Samstags arbeitete er weiterhin für Frank und Hilda. Was für einen Anblick müssen wir geboten haben, denkt sie, wenn sie sich die Samstagnachmittage in der Werkstatt vorstellt und die Abendessen danach. Jahrelang die Mahlzeiten im nächsten Howard Johnsons, weil Hilda die Hühnchenpastete 303
dort mochte und Johnny den Vanille-Milchshake. Inzwischen war Johnny achtzehn, Hilda hatte ihren siebenhundertfünfzigsten Quilt fertig gestellt, und Frank hatte ihr einen Nerzmantel geschenkt, aus welchem Bedürfnis nach Wiedergutmachung heraus auch immer. Hilda saß in der orangefarbenen Nische und hatte ihren Pelz lose um die Schultern drapiert, bis das Essen kam, dann stand sie auf, legte den Mantel sehr vorsichtig zusammen und platzierte ihn am anderen Ende der Nische, wo er in Sicherheit war. »Wenn ich ihn schone, trage ich ihn nie, und Schluss«, sagte sie. Eines Abends sagte Norma Joyce, das Howard Johnsons habe noch nie so nobel ausgesehen wie jetzt, wo sie dort sei, und Hilda antwortete: »Du weißt, du kannst ihn dir leihen, wenn du mal ausgehst.« »Du kennst mich, Hilda. Ich gehe nicht aus.« »Nicht? Solltest du aber.« Und es war etwas in ihrem Ton, das Norma Joyce einen zweiten Blick auf dieses mütterliche, zarte Frauengeschöpf werfen ließ. Sie sah, wie sie den Kopf zurückwarf, die ungezwungene Ruhe, den Ausdruck in diesen verwundeten, arglosen Augen, und als sie eine Woche später Seite an Seite lagen, sagte sie zu Frank: »Lass uns damit aufhören.« Sie hörte, wie er einen tiefen Seufzer ausstieß. Sie schwiegen lange. Dann sagte er: »Ich erinnere mich noch an den ersten Tag, als du in die Werkstatt kamst.« »Ich auch.« »Du hattest ein graues Kleid an. Ich dachte, du bist eine Art Waise.« Sie lachte und stützte sich auf einen Ellbogen, um ihn anzusehen. »Wie schön. Johnny nennt mich einen Mönch. Du 304
nennst mich eine Waise.« »Für mich bist du schön«, sagte er. Wie warm und traurig und belustigt sie ihn anlächelte. Er griff nach seiner Hose, nahm seine Brieftasche heraus und zeigte ihr den Schnappschuss, den er all die Jahre bei sich getragen hatte; er hatte ihn gemacht, als sie im siebten Monat schwanger und im Begriff gewesen war, zurück nach Ottawa zu gehen – die folgenden Schnappschüsse von Johnny und von Hilda machten es weniger gefährlich. Lieber Frank. Trotzdem konnte sie sich nicht zurückhalten anzumerken: »Hast du keine Angst, dass Hilda das Bild sieht?« »Sie gehört nicht zu denen, die herumschnüffeln.« »Ich schon.« »Nein, tust du nicht.« »Doch, Frank. Ich gehöre zu denen, die die private Post anderer Leute lesen. Ich gehöre zu denen, die mit den Männern anderer Frauen schlafen.« Er streichelte ihr Haar, dann ihr Gesicht. »Ich bin eine treulose Heimlichtuerin.« »Du bist so treu wie nur irgendwer.« Zu Weihnachten, als Johnny zwanzig war und schon allein wohnte, kam ihr Vater zum letzten Mal, um sie zu besuchen. Es war 1967, das Jahr, in dem die Stadt Ottawa Holzapfelbäume verschenkte, um den hundertsten Geburtstag des guten alten Kanada zu begehen. Ernest erzählte ihnen, er habe einen in den Vorgarten und einen in den hinteren Garten auf das Grab von Chops gepflanzt, der als alter Hund unter Ernests Bett gestorben war, wo er vor dem donnernden Feuerwerk zu Queen Victorias 305
Geburtstag Zuflucht gesucht hatte. Norma Joyce stellte sich vor, wie diese Bäume Jahr um Jahr gediehen und schließlich blühten wie die anderen Apfelbäume, die schon so üppig waren, dass man in Abrahams feurigen Busch geriet, wenn man im Monat Mai nach oben ging, weil die Wände über und über in Rosarot gebadet waren. Durch das, was Ernest ihr geschrieben hatte, wusste sie, dass Mother Hulder auf alles ein Auge hatte, dass sie Schmortöpfe brachte und ihm ein Ohr abschwatzte, während er schweigend aß. Ihr Vater hatte keine Geduld mit Mother Hulders endlosem Gerede, mit ihren Fragen und Antworten, die waren wie weicher Schlamm, mit ihrem ausgedehnten, richtungslosen Gemurmel, das war wie ungeschnittenes, hohes Gras. Ohne Zweifel konnte er sie mit Geschick zum Schweigen bringen. »Danke fürs Essen, muss los«, hörte sie ihn sagen, während er in Richtung Badezimmer ging. Es war Mother Hulder, die anrief, um ihr von seinem Herzanfall zu erzählen. Der Anruf kam im August 1971, als Ernest einundachtzig Jahre alt war; er würde Vollzeitpflege brauchen. Norma Joyce würde nach Hause fahren müssen, ob Ernest sie dort haben wollte oder nicht. Johnny half ihr beim Packen. Sie misteten aus, wie sie es nannte, und machten so gründlich sauber, dass sogar Lucinda beeindruckt gewesen wäre. Sie spürte ihre Schwester in jedem Wedeln ihres Staubtuchs, während sich die Abstellflächen leerten und Kiste um Kiste in den Flur getragen wurde. Johnny würde in der Wohnung bleiben, während sie fort war. Er hatte einige Jahre lang mit zwei anderen Anthropologiestudenten von der Columbia University zusammengewohnt. Er war froh, das gemeinsame Durcheinander hinter sich zu lassen. Sie sahen ihre Stapel von Aquarellen und Zeichnungen, von kleinen Studien, 306
Stillleben, Ölbildern durch. Die Figuren aus Lehm und Pappmaché. Die Fensterkisten. Wie ungeheuer viel es war, wenn man es einmal in Angriff nahm. »Wann hast du das ganze Zeug gemacht?«, fragte Johnny. »Wenn du nicht hingesehen hast«, sagte sie. »Nein, im Ernst. Du könntest einen Laden aufmachen. Du könntest die Sachen verkaufen. Oder in eine Galerie bringen. Warum bringst du sie nicht in eine Galerie?« »In was für eine Galerie? Ich kenne niemanden. Man muss Leute kennen.« »Du bist wie Frank«, sagte er. Er meinte damit, dass Frank die Dinge so gefielen, wie sie waren. Hin und wieder kam jemand zu ihm und schlug ihm vor, die Werkstatt zu vergrößern oder sich mit anderen Firmen zusammenzuschließen, aber Frank war zufrieden, wenn er stetig und ohne großes Aufsehen das tun konnte, was er beherrschte. »Ich wünschte, ich wäre wie Frank«, sagte sie, »aber das bin ich nicht.« Sie verstand ihren tiefen Widerwillen, sich zur Schau zu stellen, nicht ganz – eine Galerie zu suchen und ihre Arbeiten anzubieten. Eine Weile hatte sie wirklich keine Zeit gehabt. Johnny bestimmte über ihre Tage und Nächte, wie Kinder es tun. Aber danach? Vielleicht war es der Wunsch, zu beweisen, dass Lucinda Unrecht hatte. Wenn sie so selbstsüchtig und unbarmherzig war, wie Lucinda glaubte, würde sie nicht so leben. Vielleicht brauchte sie auch diese alte Rivalität, um sich anzutreiben. Vielleicht war sie ein Nichts, solange sie keine Schwester hatte, bei der sie anecken, keinen Gegensatz, an dem sie sich reiben konnte – was auch immer sie sonst gerne glaubte. »Sie gefallen mir«, sagte Johnny über einen Stapel Aquarelle, den er von einem Regal genommen hatte. »Das klingt aber überrascht.« 307
»Ich bin beeindruckt«, sagte er, und sie beugte sich vor und küsste ihn auf den Kopf. »Nimm dir eins«, sagte sie. »Nimm dir so viele, wie du willst.« »Du brauchst einen Agenten«, sagte er. »Ich mache das, um mir Gesellschaft zu leisten. Einen Agenten brauche ich nicht.« »Ich weiß, was dein Problem ist«, sagte er. Er sah sie mit seinen hellblauen Augen lange an. »Du bist eine Landschaftsmalerin.« »Was ist verkehrt daran, Landschaftsmalerin zu sein?« »Sei nicht so empfindlich. Ich meine nur, es ist schwer, Landschaftsmalerin zu sein, wenn man in New York lebt.« »Mein Sohn, das Genie«, sagte sie, und es war ihr ernst damit. Später zog Johnny verschiedene Schachteln mit Papieren und Fotografien unter ihrem Bett hervor, und bald fragte er: »Was ist damit? Und damit?« Dann: »Was ist mit denen hier?« Jedes Mal sah sie auf und entschied schnell, was sie wegwerfen oder behalten wollte, aber diesmal veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie streckte die Hand aus, und er gab ihr die Briefe. Sie waren klein, das Weiß gebrochen, vom Alter weich geworden. So heiter wie ein Schachtelteufel. Ein visueller Schlag ins Gesicht. »Erinnerst du dich an Lucinda?«, fragte sie ihn. »Ein bisschen. Sie hat mir immer einen Nickel gegeben, wenn ich die abgeschnittenen Haare vom Boden gefegt habe.« Norma Joyce lächelte. Dann betrachtete sie nachdenklich ihren Sohn. »Hat Maurice sie jemals erwähnt?« 308
Er schüttelte den Kopf. »Aber er fragt nach dir. Er will immer wissen, wie es dir geht.« »Tut er das noch?« Und unwillkürlich klang ihre Stimme angespannt. »Er hat einmal gesagt, dass er dich sehr bemerkenswert findet.« Erstaunlicherweise spürte sie, wie ihr Herz leichter wurde, und ein Lächeln trat ganz von selbst auf ihre Lippen. Offenbar konnte sie von Brosamen leben. Wer war es noch – Matonabbee? –, der damit prahlte, dass seine Frauen mit dem Essen überleben konnten, das sie von dem Löffel leckten, mit dem er in seinem Topf rührte? Eine Bemerkung, die sie in einem Buch über den hohen Norden gefunden und die sie nie vergessen hatte. Eine unglaubliche Behauptung; und auf die Liebe durchaus übertragbar.
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Norma Joyce kehrte im September nach Ottawa zurück und dachte, dass es leicht sein würde. Aber zurückzukehren ist niemals leicht, und auch der September nicht. Es liegt etwas in der Luft, eine tiefe Unruhe, die der Oktober mit seinen Farben und seiner unerwarteten Wärme noch einmal zurückdrängt, der aber der September gänzlich offen steht. Alles läuft darauf zu. Das Licht ist anders, und die Grillen verstummen nie. Als sie gegen drei Uhr nachmittags aus einem Taxi stieg und schließlich auf dem Gehweg vor dem Haus ihres Vaters stand, fühlte sie sich im geschmolzenen, staubigen Kalklicht ihrer Schule gefangen. Im grellen Kanzleipapierschein von Mrs. Gravistons Blitzprüfungen. Es bohrte sich in ihre Augen, in die hohe, nervöse Stirn, in das düstere Herz. Es schlitzte sie auf, und ach, der Schock, im Licht so deutlich sichtbar zu sein. Das dunkle New York, und jetzt dies. Sie schirmte ihre Augen ab, und da stand Mother H., trotz ihrer Kleinmädchenstimme dicker als je zuvor, und füllte den Türrahmen ihres Vaters aus. Fein gemacht mit Faltengewand und weißen Pumps, als ginge sie zum Tee. »Willkommen in den Dreißigerjahren«, tönte Mother H., und Norma Joyce hatte keine Ahnung, was das alte Weib meinte. Aber jetzt weiß sie es. Jetzt kommen die Worte ihr unheimlich vor, als hätte Mother Hulder die ganze Zeit gewusst, was ihr bevorstand. Als sie im Flur ihre Taschen absetzte, hörte sie den Stock ihres Vaters. Kam er, um sie zu begrüßen? Nein. Er war unterwegs in die Küche. Dort fand sie ihn, er saß am Tisch und wartete auf seinen Tee. »Hallo, Dad.« 310
Sie bückte sich, um eine Wange zu küssen, die so glatt war wie warmes Glas. Er roch nach Muffins. »Wie fühlst du dich?« »Alt«, sagte er. Mother H., die mit dem Kessel beschäftigt war und in ihrer unsteten, umständlichen Art erzählte, sagte ihr, dass jemand namens Vera zwei Mal in der Woche für Ernest putzte und einkaufen ging, dass die Eichhörnchen alle Zwiebeln fraßen, Schande über sie, und dass eine andere, deren Namen sie sich nie merken konnte, zwei Mal in der Woche kam. »Doris«, sagte Ernest. »Drei Mal in der Woche.« Er hatte ihr nicht in die Augen gesehen oder sie willkommen geheißen, und sie ahnte, was er dachte. Dass sie in New York hätte bleiben und sich um ihre eigenen Angelegenheiten hätte kümmern sollen. Sie war zurückgekommen, um ihren Vater zu versorgen, einen Mann, der ihr nie viel bedeutet hatte. Und wieso? Jetzt ist es offensichtlich. Als hätte jede ihrer Bewegungen im Herbst, Winter und Frühling auf diesen einen Tag Ende Mai hingeführt, an dem das Saubermachen im Haus nicht nur ein tugendhaftes Gefühl erzeugt, sondern tatsächlich eine Beute erbracht hat: etwas, das sie öffnen und staunend ansehen kann, während eine gemeinsame Vergangenheit ihre Augen überfließen lässt. Aber im September ging sie davon aus, dass ihr einziger Lohn geringer ausfallen würde: nur der Beweis, dass sie zu wenigstens einem Akt der Treue fähig war. Das Schlafzimmer ihres Vaters war das umgebaute Esszimmer. In einer Ecke hatte man eine Toilette und ein Waschbecken installiert. »Das ist sinnvoll«, sagte sie zu Mrs. Hulder. »Es musste sein«, kam als Antwort. Ein Einzelbett mit Nachttisch, ein Sessel mit einem 311
Fußschemel und einer Stehlampe, eine niedrige Anrichte und auf der Anrichte der silberne, ovale Rahmen, der immer die Fotografie ihrer Mutter enthalten hatte, in dem aber jetzt ein Bild von Lucinda steckte. »Wo ist es hin? Das Bild von meiner Mutter?« Es war Abend. Ernest saß in seinem Zimmer im Sessel mit einem Becher Tee neben sich, Milch, kein Zucker, und Norma Joyce betrachtete die Fotografie auf der Anrichte. Sie hatte das Zimmer ihrer Schwester schon untersucht und eine Art Schrein erwartet, aber der Wandschrank war leer. Ein paar Bücher in den Regalen. Auf der Frisierkommode stand nichts; auch ihre Schubladen waren leer. Sie spürte ihre Schwester trotzdem im Zimmer, wie einen Vorwurf: ein beginnender Kopfschmerz, eine Seite, die sich nicht umblättern lässt, eine Geschichte, die ein anderes Ende braucht. Ernest hob das Kinn: »Dahinter.« Sie drehte den Rahmen um. Der Rücken aus blauem Samt war abgewetzt. Sie löste das winzige Metallscharnier, hob dann mit einer Fingerspitze den Rücken an – seine blauseidene Unterseite war nicht verblasst – und zog behutsam ihre Mutter hinter Lucinda hervor. Sie betrachtete beide Bilder: Lucinda im Rahmen, ihre Mutter in der Hand. Ein ähnliches Alter, dachte sie. Ende zwanzig, Anfang dreißig. Das Gesicht ihrer Mutter hatte einen entschlossenen und ruhigen Ausdruck. Lucindas Gesicht hatte etwas Hingebungsvolles, etwas Schwaches oder Unausgeglichenes, aber vielleicht sah sie auch nur ihren eigenen Mangel an Sympathie. Zwei schöne Frauen. Sie setzte sich auf das Bett ihres Vaters und studierte ihre Gesichter. »Wie war sie? Meine Mutter?« 312
Er wandte sich in seinem Sessel von ihr ab, und seine Lippen wurden schmal. Oh, wie er es hasste, ausgefragt zu werden, dieser stolze, wortkarge, zutiefst vorsichtige Mann, der es gewohnt war, Befehle zu geben, zuerst auf seiner Farm, wo andere getan hatten, was er sagte, dann in seinen vor kurzem verkauften Obstgärten, wo er wieder das Kommando gehabt hatte. »Bin ich ihr irgendwie ähnlich?« Jetzt, wo Ernest eine Frage hatte, die er ausdrücklich ignorieren konnte, war er gewillt, auf die andere einzugehen. Alles zu seinen Bedingungen, dachte sie. Er sagte: »Deine Mutter hatte auch kein Glück.« Er nahm seinen Becher. Er schluckte geräuschvoll, aber wenn er nippte, war es noch lauter. Er schlürfte den Tee wie ein Staubsauger, und sein Hals war der gefältelte Schlauch. Sie hätte ihn mit ihren beiden kleinen Händen umfassen können, so dünn und welk war er geworden. Dann änderte er seinen Ton, was sie überraschte und betörte, und sagte nachdenklich: »Vielleicht habe ich deiner Mutter im Weg gestanden. Sie wäre in der Stadt glücklicher gewesen.« Das hatte Norma Joyce immer gedacht. »Ich glaube nicht, dass du ihr im Weg gestanden hast. Es waren die Umstände. Wer hatte damals schon Glück.« »Du machst dein Glück«, sagte Ernest. »Das glaubst du doch nicht wirklich, oder?« Aber es war die falsche Frage, auf die falsche Weise gestellt. Eine herausfordernde Frage, zu angriffslustig gestellt. Sie war seiner Antwort nicht würdig.
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Am Morgen, vor dem Frühstück, ging sie kurz im hellen Sonnenlicht spazieren, das reich und golden war und die Baumwipfel schimmern ließ. Als sie die Häuser, die Gärten, die anmutigen Bäume und den weiten Himmel um sich herum betrachtete, merkte sie, wie sehr sie sich nach der natürlichen Welt sehnte. Wie sie hungerte nach Blättern, Gras, dem Feldweg, der Neigung eines niedrigen Daches, dem Winkel einer Hecke, dem schiefen Holzzaun. Nicht nur nach der natürlichen Welt, sondern nach einer einfacheren Welt. Sie ging weiter. Blieb dann wieder stehen, um zu schauen. Wenn sie ihren Kopf weit zurücklegte, sah sie durch hoch aufragende Schatten hinauf in einen Schirm aus reinem Licht. Doch dann bewölkte es sich, und später begann es zu regnen. Als sie die Vorhänge in Ernests Zimmer aufzog, sagte er: »Düster.« Sie half ihm beim Anziehen. Er hatte Mühe, seinen rechten Arm in den Ärmel zu stecken, und jeder Knopf war eine lästige Pflicht. Wenn er sein Hemd in die Hose schob, streckte er die Finger aus und legte die Daumen in die Handfläche, eine Gewohnheit aus seiner Zeit auf der Farm, als seine Daumen von der kalten, trockenen Luft aufgerissen waren. Er stand in der Küche und sah in den Regen hinaus. Sie stand neben ihm und sagte: »Ich kann keinen Regen sehen, ohne dankbar zu sein«, und er schnaubte: »Wir sind nicht mehr in Saskatchewan.« Sicher hatte sie sich in Maurice verliebt, weil er so anders war als Ernest. Der eine hatte ein gnädiges, unangestrengtes Wesen und die seltene Gabe, niemanden zu überfordern, die Leute zu nehmen, wie sie waren, zu gewinnen, ohne sichtlich zu kämpfen. Der andere ein herrischer, kritischer, kleinmütiger Mann, der alles persönlich nahm. Der Enttäuschungen genoss, weil sie bewiesen, dass er Recht hatte. »Du und ich, wir sind uns 314
so ähnlich«, sagte sie. Er wandte sich vom Fenster ab und kam zum Tisch, an dem sie saß. »Ich wüsste nicht, inwiefern«, sagte er, zog seinen Stuhl zurück und setzte sich. »Ungeduld«, sagte sie. »Selbstekel.« »Ich dachte immer, deine Schwester und ich wären uns ähnlich.« Er nahm den Teller mit Toast, den sie ihm reichte, mit einem milden Blick. »Aber vielleicht hast du Recht.« Wie wenig es brauchte. Nur das. Nur diesen leichten, einlenkenden Ton – diese Erweiterung des Denkens –, und sie war bereit, alles für ihn zu tun. Eine Stunde später sah sie Maurice, als wäre er durch ihre Gedanken an ihn herbeigezaubert worden. Was für ein seltsamer Schreck. Mitten auf der Unterhaltungsseite und neben einer forschen Kritik einer örtlichen Kunstausstellung ein Bild von Maurice Dove, der halb so alt aussah, wie er war: das Hemd am Hals offen, entwaffnend strahlendes Jungenlächeln. Ihre Augen verschlangen das Bild und dann den Artikel. Sein fünftes Buch offenbar, und in den nächsten Monaten würde er dafür werben; eine populäre Geschichte des Graslands von Nordamerika, beruhend auf jahrelangen Reisen und Forschungen. Eine alte Zeitung, vom 10. September. Sie hatte sie für die Apfelschalen auf dem Küchentisch ausgebreitet, denn was tat sie? Sie machte für ihren Vater einen Apfelkuchen. Ein Werben um Anerkennung, so deutlich, dass sie schon jetzt – obwohl erst acht Monate vergangen sind – ungläubig den Kopf schüttelt. Ernest schälte das Obst genau so, wie er es immer für Lucinda getan hatte, und war stolz, wenn ihm bei jedem Apfel ein langer, 315
unbeschädigter Streifen Schale gelang. »Schau.« Sie deutete mit ihrem Messer darauf. »Maurice Dove.« Er schaute. »Das ist mal ein Mann, der es wirklich geschafft hat«, verkündete er. »Das habe ich mir immer gedacht.« Er schälte beständig, langsam und tadellos weiter, trotz seiner zittrigen Hände. Sie schnitt, und schnitt sich in den Finger. Ein Tropfen Blut fiel auf das weiße Fleisch des Apfels. Granatrot auf reinem Weiß. Und sie dachte an Maurice' Lippen, die immer rot wurden, wenn er einen Apfel aß – empfindlich bei sauren Sachen, dachte sie –, überhaupt empfindlich, dachte sie säuerlich, außer bei mir. Und sie stellte fest, dass sie ihn gern sehen würde. Die Landschaft war dieselbe. Neben der hinteren Veranda führte der uralte Hang zum alten Haus der Doves hinauf, das am Ufer eines eiszeitlichen Sees gebaut war, während euer Haus, hatte Maurice ihr einst gesagt, im verschwundenen Wasser steht. Durch die alten Fenster der Doves, die vergrößert worden waren, aber noch immer ohne Vorhänge, sah sie eine schlanke Mutter am Spülbecken, einen Vater, der um sechs Uhr nach Hause kam, ein Mädchen mit Lockenkopf am Küchentisch, einen dunkelhaarigen Jungen. Und besonders in den ersten Wochen ging sie die Verandatreppe hinunter in den Garten und strich mit der Hand über die kräftigen Geranien (und setzte so ihren starken, durchdringenden Geruch frei), über fedrige Kosmeen, raue Petersilie, kratzigen Sonnenhut. Sie spürte den unebenen Rasen gern unter ihren Füßen, das Auf und Ab des steinernen Pfads, die blätterbedeckten Blumenbeete, den ausgebesserten Gehweg. Sie betrachtete gern die Farben und Bewegungen der Blätter 316
und Wolken. Sie folgte gern dem Feldweg zur Straße und der Straße zum Fluss, wo alles noch so wie immer war und doch so verändert, dass es sie gleichzeitig erleichterte und verwirrte. Der September, so erinnert sie sich, wurde kalt und blieb kalt bis zum letzten Tag. Dann kam eine Reihe warmer Tage. Als sie an einem von ihnen draußen in dem grünen Muskoka-Sessel saß und sich noch immer daran freute, dass man früh wie spät so leicht von drinnen nach draußen wechseln konnte, ohne eine Unmenge Schlösser überwinden zu müssen, beugte Mrs. Hulder sich über den Zaun und sagte: »Für eine Sekunde habe ich gedacht, du bist Lucinda. Arme Lucinda. Der Herr holt immer die Guten. Ich weiß nicht, warum.« Norma Joyce wusste es auch nicht. Aber sie spürte, dass ihr das kleine, dunkle Fehlerkind den Rücken hinaufkletterte. Man kommt nach Hause und fällt ab von sich selbst. Die jüngere Vergangenheit verschwindet, und die fernere Vergangenheit tritt hervor. Ihr Sohn war wieder sechs Jahre alt, und die letzten Jahre verschwammen. Es war wie eine Form der Altersschwäche, in der das Leben sowohl innerhalb als auch außerhalb des Blickfelds lag: eine Brille, die so neu war, dass sie ihr Kopfschmerzen bereitete. Und unter Schmerzen musterte sie die Jahre in New York – ohne sich den Schwund erklären zu können –, während ihre Kindheit lebhaft den Kopf erhob. Eine frühe Pubertät, so stark und bestimmend, dass sie sie niemals wirklich hinter sich ließ. Mother H. kam gerne mitten am Vormittag, unangemeldet und mit »einer Kleinigkeit für die Speisekammer«, wie etwa Buttertörtchen, die so süß waren, dass man Zahnschmerzen bekam. Oder Fondant. »Wir schicken ihr unsere Zahnarztrechnungen«, sagte Norma 317
Joyce zu ihrem Vater. Ihre vernaschte Nachbarin erschien auch im Garten, wenn man sie nicht erwartete, was dieselbe unangenehme Wirkung hatte. Eines Nachmittags pflückte Norma Joyce Äpfel unter einem höchst dramatischen Himmel. Alles – das hohe Banner aus hellem Blau, die rasenden Wolken, das gedämpfte, schräg einfallende Licht –, alles war durchflutet von einem Strahlen, staubiges Gold oder gehämmertes Gold oder beides. Die Erde war gekippt wie ein Teller, und sie verströmte von der prächtigen Decke bis zum prächtigen Fußboden Farbe und Licht. Für einen Augenblick fiel Regen, während die Sonne schien, und neben dem Zaun tauchte Mother H. auf. Sie sagte: »Eine alte Frau heiratet.« »Heiraten Sie?« Es folgte ihr Kleinmädchenlachen. »Wenn die Sonne scheint und es regnet, heiratet eine alte Frau, so sagt man doch.« »Und werden Sie das sein oder ich?«, fragte Norma Joyce. »Oh, du wirst es nicht sein«, sagte Mother Hulder. Lächerliche, verletzende alte Frau. Aber Mother H. erzählte ihr auch von einer alten Freundin, die in einem der Reihenhäuser an der Carlyle Avenue wohnte, nur zwei Häuser von »dem alten Dove-Haus« entfernt, wie alle es immer noch nannten, weil Maurice der berühmteste Sohn des Viertels war. Mother Hulder enthüllte ihre Karamellstückchen, und Norma Joyce sagte: »Jetzt hören Sie mal zu. Sie essen zu viel Zucker«, und als Antwort hörte sie: »Das sagt Mrs. Gallot auch.« »Mrs. Gallot?« »Sie behauptet, dass sie dich kennt.« 318
Norma Joyce fuhr herum und sah ihren Vater an. »Wieso hast du mir das nicht gesagt?« »Ihre Tochter wohnt hier«, sagte Mrs. Hulder, »und einer ihrer Söhne. Deshalb ist sie hergekommen.« Also pflückte Norma Joyce an diesem Nachmittag noch mehr Äpfel und suchte die besten heraus, um sie Mrs. Gallot an die Hintertür zu bringen, und ein kleiner Kloß von einer Frau hieß sie lauthals willkommen; sie trug einen weiten schwarzen Rock und einen geblümten Pullover, hatte lockiges graues Haar, eine Brille hing an einer schwarzen Schnur um ihren Hals, und ihre Hände drückten Entzücken aus. »New York ist gut zu dir gewesen! Schaut sie euch an. New-York-Französisch. Deine Haare, deine Schuhe. Ich freue mich so, dich zu sehen, mein Liebes.« Sie küsste sie noch einmal auf beide Wangen. »Audrey-Hepburn-Schuhe«, lachte Norma Joyce und hob ihren Fuß in seinem flachen, schmalen, schwarzen Lederschuh. »Ja, ja«, sagte Mrs. Gallot entzückt. »Und ein Tänzerinnenchignon«, und sie bewunderte das dunkle Haar, das in der Mitte gescheitelt und in Norma Joyce' Nacken zu einem Knoten geschlungen war. Mit zweiundvierzig Jahren war Norma Joyce' Gesicht rund, ihre Stirn so hoch wie immer und ihr Hals überraschend lang. Silberohrringe in Muschelform bedeckten ihre weichen, übergroßen Ohrläppchen fast ganz. Sie setzten sich an den Küchentisch, auf dem eine handbestickte Decke lag (blauer Kreuzstich auf Weiß), und Norma Joyce sagte: »So etwas konnte meine Schwester im Schlaf.« »Sie war ein hübsches Mädchen«, sagte Mrs. Gallot. »Man weiß nie, was einem bevorsteht, nicht wahr?« »Nein«, sagte Norma Joyce, »das weiß man nicht.« 319
Sie fragte nach Ginny und erfuhr, dass sie nach einer zweiten Krebsattacke in Toronto lebte, aber es schien ihr gut zu gehen, »drei Mal auf Holz geklopft, und Gott segne sie, denn sie ist das süßeste, reinste menschliche Wesen im Angesicht von Gottes Erde«. Norma Joyce fragte nach Darwin und erfuhr, dass er ein reifes, hohes Alter erreicht hatte. Eines Abends erschien er nicht zur Fütterung, und am nächsten Tag fanden sie ihn unter einem Strohhaufen in einer Scheunenecke. Sie hörte von Mrs. Gallots anderen Kindern: Ihre jüngste Tochter Natalie wohnte in Ottawa, mit drei Kindern, wie auch Mickey mit seinen beiden, »und deswegen bin ich vor zehn Jahren hierher gezogen. Um mich nützlich zu machen.« »Jetzt«, und sie faltete die Hände und legte sie auf den Tisch, »erzähl mir von dir, Norma Joyce. Malst du?« »Ich male. Ja. Wenn ich Zeit habe. Trotzdem verkaufe ich nichts. Ich male anscheinend für die Schublade.« »Aber es macht dich glücklich.« »Früher hat es mich glücklicher gemacht.« Mrs. Gallot sah sie mit scharfen, freundlichen Augen an. »Ginny hat angefangen zu töpfern, als sie krank war. Nicht, dass sie dein Talent für solche Sachen hätte.« »Sie sind die Einzige, die jemals fand, dass ich Talent habe, und ich liebe Sie dafür.« Als Norma Joyce aufstand und gehen wollte, bot Mrs. Gallot an, ihr den Rest des Hauses zu zeigen, und sie sah das angefangene Scrabble-Spiel auf dem Esszimmertisch. »Bella und ich spielen gern«, sagte Mrs. Gallot. Ihr Pensionsgast Bella Pugg aus Winnipeg. Ein wahres Energiebündel, das an der Carleton University studierte und gleichzeitig für den Citizen schrieb. 320
»Du musst sie kennen lernen.« Und zufällig tat sie das. »Bei uns gelten Wörter in Englisch oder Französisch. Das hier ist beides«, und sie zeigte auf vestiges. »Ein gutes Wort«, sagte Norma Joyce. »Von Bella, nicht von mir.« Sie gingen weiter ins Wohnzimmer, und Norma Joyce erkannte die schwarzen Walnussmöbel wieder, die ihr Vater zusammen mit der Farm verkauft hatte, aber etwas anderes zog sie an. Ein Aquarell an der Wand, wilde Blumen, die vor einem blassgrünen Hintergrund in einer Silbervase angeordnet waren. Jede Linie vollkommen gesetzt. Die Farben äußerst zart aufgetragen. »Wer hat das gemacht?«, fragte sie. »Das ist schön.« »Das hat deine Mutter gemacht.« Mrs. Gallot stand neben ihr. Meine Mutter. Sie sah Mrs. Gallot staunend an. »Auf dem Dachboden habe ich eine ganze Schublade voll gefunden«, sagte sie. »Voll mit ihren Skizzen und Aquarellen. Hat er dir das nie erzählt?« Norma Joyce schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Aquarell ihrer Mutter zu. Meine Mutter. »Dieses habe ich behalten und den Rest an deinen Vater geschickt.« »Waren sie alle so gut?« »Ich finde schon. Ich fand sie sehr gut. Es waren ein paar von dir dabei – beim Lesen. Na ja, vielleicht nicht beim Lesen. Du hast mit einem Buch dagesessen. Es war eine Zeichnung von dir und deinem Bruder dabei. Wie alt war er, als er starb?« »Fast zwei.« Sie sah Mrs. Gallot prüfend an. »Sie waren auf dem 321
Dachboden?« »Ich dachte, er hat sie wohl vergessen. Ich habe ihm geschrieben. Zwei Mal. Einen Brief, dann eine Weihnachtskarte. Dann habe ich sie einfach eingepackt und ihm geschickt. Hast du sie nie gesehen?« »Ich glaube nicht, dass es sie gibt. Vielleicht sind sie nie angekommen?« »Es waren ein paar Akte dabei«, sagte Mrs. Gallot. »Vollkommen unschuldig. Wir hatten keine Modelle. Deine Mutter hat sich selbst vor einem Spiegel gezeichnet.« Dann nahm sie das Aquarell von der Wand. »Das solltest du haben«, sagte sie. »Ich habe mich lange daran gefreut. Jetzt bist du an der Reihe.« Nachdem Norma Joyce aus Mrs. Gallots Haus getreten und die Treppe zur Straße hinuntergegangen war, blieb sie einen Moment stehen und betrachtete ein Stadtviertel, das ihre Mutter nie gesehen hatte. Die Carlyle Avenue bildete ein T mit der Pansy Street, die so hieß, weil sie früher einmal als blumenbestandener Feldweg zu dem alten Backstein-Farmhaus hinter ihr geführt hatte, jetzt aber von weiteren Häusern gesäumt war. Mit dem Bild ihrer Mutter unter dem Arm blickte sie bis zum Ende der begrünten Straße, deren Bäume gerade ihre größte Pracht entfalteten, und fühlte sich wie ein Liegeplatz, in den gerade ein Boot hineingeglitten war. Das Erzählte wirkte wie der Zusammenprall zweier Dinge, die bislang getrennt gewesen waren. Als sie später zum Abendbrot Hackbraten und Bratkartoffeln aßen, sagte sie: »Mrs. Gallot hat mir eines von den Bildern 322
meiner Mutter gegeben.« Ernest hob seinen alten, wässrigen Blick von seinem Teller. Das Blau in seinen Augen lag in den letzten Zügen. Sie streckte die Hand über den Tisch hinweg aus und ließ ein kleines Stück Butter auf seine Bratkartoffeln fallen. »Was ist mit dem ganzen Rest passiert?«, fragte sie. Er fing an zu essen. »Mrs. Gallot sagt, sie hat dir einen ganzen Schrankkoffer voll geschickt. Wo sind sie?« »Das hat deine Schwester geregelt«, sagte er. »Ich weiß nicht, was sie damit gemacht hat.« »Also ist der Koffer angekommen.« »Deine Schwester hat sich darum gekümmert.« »Ernest.« Sie beugte sich zu ihm hin. »Das ist wichtig.« »Da war nicht viel«, sagte er. »Deine Mutter hat nicht viel gemacht. Ein paar Zeichnungen. Sie waren nichts Besonderes. Das hat sie selbst gesagt.« »Ihr habt sie weggeworfen.« Ihre Stimme war sehr leise. »Es war kein Schrankkoffer.« Er aß weiter. Sie schob ihren Teller zur Seite. Sie stand auf, aber ihr Kopf dröhnte. Sie setzte sich wieder hin. »Du und Lucinda habt sie weggeworfen.« Ihr Vater aß langsam, ruhig und gründlich weiter. Der König der Kauer. Sie hörte ihm zu, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Also schüttelte sie den Kopf, um den Fluss zu stoppen, und starrte angestrengt auf die gelb und orangefarben tapezierten Wände, auf die weiß gestrichenen Schränke, auf die gelbe, mit grauen Tupfen gesprenkelte Platte der Küchentheke, auf das 323
Fenster über der Spüle, in der noch immer die alte Spülschüssel mit dem roten Rand saß. Sie versuchte es auf andere Weise. »Wieso hast du das Bild von meiner Mutter mit dem von Lucinda überdeckt?« Sie wies auf den ovalen Rahmen in seinem Zimmer und wiederholte ihre Frage. »Wieso hast du sie mit Lucinda überdeckt?« Ernest hatte aufgehört zu essen. Er legte Messer und Gabel nebeneinander auf seinen Teller und schob den Teller um den Bruchteil eines Zentimeters beiseite. »Deine Mutter hat mich an deinen Bruder erinnert«, sagte er schlicht. »Norman«, flüsterte Norma Joyce. »Sie hat sich nie davon erholt. Sie hat sich selbst die Schuld gegeben. Sie hätte euch beide nicht allein lassen sollen.« Ihr Vater strich das Tischtuch auf beiden Seiten seines Tellers glatt, und sie dachte: Wenn eine Fotografie meiner Mutter ihn an Norman erinnert, was ist dann mit mir? Ihr Vater schlief in seinem Sessel, der Mund leicht geöffnet, der Kopf nach links geneigt, der Körper schlaff und gebrechlich. Sie nahm die zusammengelegte Decke vom Fußende des Bettes und breitete sie über seine Knie. Wie zart – wie brüchig weiß – seine Hände geworden waren. Er musste sich nur einen Fingerknöchel stoßen, schon blutete er. Zwei Heftpflaster waren an seiner rechten Hand, eines an der linken. Es wurde Abend. Im Wohnzimmer schaltete sie die Lampe ein und fing an, in einer der zahllosen Broschüren zu lesen, die ihr Vater über die Jahre geschrieben hatte; diese handelte von Apfelbäumen, die so alt waren, dass ihre Äste auf dem Boden lagen und man sich bücken musste, um die Früchte zu pflücken. Duchess, Wealthy, Grimes Golden, Ben Davis, Ontario Snow, Thomas Sweet, Maiden's Blush, Sheep's Snow, King, Blenheim Orange – 324
Namen, die den Weg allen Fleisches gegangen waren. Sie dachte an andere Namen – Voile, Organdy, Batist, Crêpe, bedruckte Seide, Chintz, Taft, appretierter Pikee, Pantoffelsatin –, die jetzt exotisch waren wie Cathay und Golden Coin und Mint, Namen, die sich einmal so merkwürdig rasch überall in der Prärie ausgebreitet hatten. Als sie klein war, rief sie oft nach ihrer Mutter, damit sie mit ihr nach draußen ging und sich mit ihr in die Prärie legte. Dann lagen sie flach auf dem Rücken und sahen in den gewaltigen Nachthimmel hinauf. Damals glaubte sie, die Sterne wären Löcher im Fußboden des Himmels. Um sie herum stieg der würzige Geruch von Gras und Salbei auf. Der Wind fand sie sogar im Gras. Sie hielt die Hand ihrer Mutter. Sie erinnert sich an das Zimmer, das sie mit ihrer Schwester teilte, an die Tapete mit einem Muster aus blauen Rosen und stachligen Blättern vor elfenbeinfarbenem Hintergrund, »als hätten sie sich verkühlt«, sagte Lucinda einmal, als sie nebeneinander lagen, ehe sie die Lampe ausblies. Sie erinnert sich an den Blätterrand um den silbernen Fingerhut ihrer Schwester, an das Schnörkelmuster auf dem Pedal der alten Nähmaschine, an die RaureifMedaillons, die sich mitten im Winter an den Nagelköpfen auf der hinteren Veranda bildeten. Sie erinnert sich an die Farmersfrau, deren Mann Selbstmord beging. Alle kamen zu Hilfe und brachten Essen in die bemitleidenswerte Küche, und man konnte sehen, dass das Gesicht der Frau vor Schreck mit einer Gänsehaut bedeckt war und dass Wetter-Armbänder aus aufgesprungener, geröteter Haut die mit Armut geschlagenen – Ärmel zu kurz, Fäustlinge zu klein – Handgelenke ihrer Kinder schmückten. Eine Woche später waren sie fort. Sie nahmen das Geld, das für sie gesammelt worden war, und kauften Zugfahrkarten nach British Columbia; sie ließen ein ärmlich 325
möbliertes Farmhaus unverschlossen zurück und eine halb verhungerte Kuh in der Scheune. Das Aquarell ihrer Mutter lag auf ihrem Bett, wo sie es hingelegt hatte, als sie nach Hause kam. Sie suchte im Keller einen Hammer und Nägel, und bald hing das Bild über ihrem Arbeitstisch (ein quadratischer Tisch, den sie auch im Keller gefunden und mit Veras Hilfe heraufgetragen hatte, an einem Tag, als sie zum Saubermachen kam). Ihr Hämmern schien ihren Vater in seinem Sessel nicht zu stören. Unten war alles still. Zumindest so viel von dir ist gerettet worden, dachte sie und trat zurück, um zu sehen, ob das Bild gerade hing. Auf dem Tisch darunter stand die Fotografie ihrer Mutter. Norma Joyce hatte im Schrank noch einen Rahmen gefunden, aus Metall, nicht aus Silber, der Rücken aus Veloursamt, nicht aus Samt, karamellfarben, nicht königsblau. Ihr fiel auf, dass sie ihre Kindheitsecke wieder errichtete. Sie hatte schon einen Krug mit purpurfarbenen Astern, Goldrute, farbigen Blättern. Ein Vogelnest. Das Hornissennest, hervorgeholt aus einem Eckregal im Keller, wo es lag, seit Gerry Hulder es ihr geschenkt hatte: groß, kugelförmig, papieren, wenn man es berührte, und aschgrau: köstlich. An dem Tag, als sie es nach oben brachte, hatte ihr Vater gesagt: »Was hast du denn damit vor?« Für Lucinda und ihren Vater hatte die Kunst ihrer Mutter keinen Wert gehabt. So war es offenbar gewesen. Manches hatten sie abstoßend gefunden. Und den Rest nicht gut genug, um ihn zu behalten. Aber sie konnte es nicht verstehen. Sie konnte sich nur vorstellen, wie Lucinda in der ganzen Wollust des Hausputzes aufging und die Zeichnungen ihrer Mutter zerstörte, wie sie viele Jahre zuvor ihr kleines Wetterzimmer verwüstet hatte. Ein 326
fehlgeleiteter oder wohl geleiteter Anfall tatkräftiger Brutalität. Entweder achtlos oder unbedacht. Beschämt und engstirnig. Oder rachsüchtig, abfällig, kleingeistig und gemein. Aber am nächsten Morgen sagte Ernest: »Vielleicht möchtest du das haben.« Er legte das blassgrüne Rezeptbuch ihrer Mutter an ihren Platz am Tisch. Sein Rücken war wie ein loser Hautlappen, der Klebstoff war vertrocknet und hatte sich abgelöst. Und darin: Dattelbrot, Trost-Kekse, Knusprige Haferflockenkekse, Zitronenschnittchen, Rhabarbermarmelade, SchwarzeJohannisbeer-Marmelade, Fleischeintopf mit Kartoffeln, Heißer Kartoffelsalat, Heiße Sternbrötchen, und die Handschrift glich den zarten, präzisen Strichen der Aquarelle genau, alle Buchstaben waren winzig, außer wenn ein l oder g nach oben oder nach unten ragte oder wenn sie ihre t's mit einem einige Buchstaben breiten Strich durchkreuzte. Auf der Rückseite: ein Rezept für Rhabarberbrandy, ein Strickmuster für ein Kleid, noch ein Muster für eine Strickjacke; und dann die Zeichnungen von Pfeilspitzen, Schädeln, Muscheln, Fischgräten, einige Seiten mit Fossilien, das Gesicht einer Eule. Sie schaute vom Friedensangebot ihres Vaters auf und sagte: »Ich bin froh, dass ich das habe. Weißt du, ich habe ihren alten Pelzmantel gefunden, er hängt unten im Schrank.« »Ich weiß nichts von einem Pelzmantel. Der hat bestimmt nicht deiner Mutter gehört.« »Persianer.« »Kann sein.« An diesem Nachmittag kam Doris vom Pflegedienst, eine Frau 327
mit einem schweren Hintern und großen Händen und dicken Handgelenken, die in ihrer Freizeit Krimis las. Norma Joyce nutzte ihre Anwesenheit aus und floh. Die Farben draußen waren gelblich braun, sogar das Rot war gelbrot, und sie dachte an die Töne und die Wärme von Frauenhaar und erinnerte sich an die Schwielen an Lucindas Fingern, die daher kamen, dass sie die Schere zu fest anpackte. Sie war in einem Viertel, in dem es Hintergässchen gab und dichter werdende Weinstöcke, die manchmal einen nussigen, gärenden Hauch verströmten. Die Blätter des wilden Weins waren grauviolett, nicht so blau wie ein Bluterguss und nicht so rot wie eine Verbrennung. Sie hörte, wie die gelben Blätter des Eschenahorns über den Backstein von Mrs. Gallots Haus strichen. Sie klopfte. Die Tür wurde geöffnet, und sie sagte: »Sie haben sie weggeworfen.« Mrs. Gallot zog sie in die Küche, setzte sie an den Tisch, nahm dann die Brille von ihrem Busen und klappte deren Metallbügel immer wieder auf und zu. »Wieso?«, heulte Norma Joyce. Und dann: »Ich weiß, wieso. Ihre Sachen waren nicht wichtig, weiter nichts. Sie spielten keine Rolle. Sie zählten nicht.« »Bella ist auch so etwas passiert«, seufzte Mrs. Gallot. »Sie hat ein ganzes Buch verloren, das sie geschrieben hat. Sie hat es im Zug liegen lassen, als sie aus Winnipeg hierher gekommen ist.« »Das ist einfach nachlässig.« »Die Menschen sind eben nachlässig, sogar mit Dingen, die ihnen wichtig sind. Manchmal am nachlässigsten mit den Dingen, die am wichtigsten sind. Ich weiß nicht, warum.« Sie bearbeitete noch immer ihre Brillenbügel. 328
Norma Joyce rieb sich das Gesicht mit den Händen, dann sah sie aus dem Fenster. »Glauben Sie, er hat meine Mutter geliebt?« Ihr besorgter Blick glitt zurück und richtete sich auf Mrs. Gallot. »Sie haben sie beide gekannt. Sie haben sie zusammen gesehen.« »Ja.« Mrs. Gallot war sicher. »Ich habe sie zusammen gesehen. Er war ihr treu ergeben, dein Vater.« »Na ja«, sagte Norma Joyce, »war das etwa treu ergeben?« Ernest blätterte in seinem Zimmer Seiten um. Durch die halb geöffnete Tür sagte sie ihm, sie gehe zur Kunstgalerie, sie sei zurück, bevor Doris für diesen Tag ging. In der Bank Street nahm sie den Bus Nummer 7 in die Stadt. Keine Straßenbahnen mehr, und die Galerie war an einem neuen Ort: in einem Bürogebäude an der Elgin Street. Sie hatte eine Stunde, und sie erwartete nicht viel. Aber jemand hatte Kunst angekauft, seit sie und Hennie regelmäßig nach der Schule gekommen waren. Im zweiten Stock stand sie plötzlich Rembrandts Esther von 1633 gegenüber, mollig und gelassen in ihrem aufwendigen, bestickten Samtgewand. Dann Simone Martinis Heilige Katharina von 1320, so traurig und tapfer, und in dem schweren, juwelenbesetzten Ausschnitt, der sich in ihre Schultern grub, lag nur eine Ahnung der Folter, die kommen sollte. Dann, in einem kurzen Gang, zwei winzige ChardinGemälde von 1738: Die Heimkehr vom Markt und Die Gouvernante, nebeneinander über einer hölzernen Truhe. »Sie sind herrlich, nicht wahr?« Eine junge Frau in einem Rollstuhl war zu ihr gekommen. Dunkles Haar, lebhaftes Gesicht, roter Lippenstift, 329
limonengrüner Schal. Sie hatte einen Notizblock auf dem Schoß und einen Zeichenblock. »Ich komme mindestens zwei Mal in der Woche, um sie zu sehen, und ich langweile mich nie.« »Sind Sie Künstlerin?« »Kunststudentin. Aber Sie sind Künstlerin. Das erkenne ich immer.« Norma Joyce fühlte sich geschmeichelt und töricht, weil sie sich geschmeichelt fühlte. »Woran erkennen Sie das?« »Sie sehen neidisch aus«, lachte das Mädchen, und Norma Joyce lachte auch und sagte: »Aber Sie haben schließlich einen Zeichenblock.« »Ich verstehe sie besser, wenn ich sie zeichne. Und ich bleibe dadurch bei allen aufmerksam.« Sie klappte ihren Block auf und zeigte ihr eine in Teilen schematisch dargestellte Gouvernante. »Ich zeichne alle gekrümmten Linien in Blau, die vertikalen Linien in Rot, die Diagonalen mit Bleistift. Ich habe den Rubens schematisiert. Haben Sie ihn gesehen? Dann führe ich Sie hin«, und sie rollte in eine lange, enge Galerie hinein, während Norma Joyce in ihrem Kielwasser folgte; vor Rubens' Grablegung Christi blieb sie stehen. Eine Weile betrachteten die beiden den marmorweißen, schweren Körper Christi, der von zwei Männern angehoben wurde, während drei Frauen kummervoll zu Boden sahen. Norma Joyce sagte: »Was für eine Szene der geballten Trauer.« Das Mädchen mit dem limonengrünen Schal nickte. »Es orientiert sich an Caravaggios Bild, auf dem alle die Arme heben. Aber dieses ist anders«, sagte sie. »Es besteht ganz aus Kurven.« »Einmal habe ich es schematisiert«, fuhr sie fort, »und ein 330
kleines Mädchen kam zu mir – sie war mit ihrer Schulklasse da und langweilte sich anscheinend –, und sie sagte: ›Was machst du da?‹ Also habe ich ihr die Kurven, die Vertikalen, die Diagonalen gezeigt. ›Du hast aber eine vergessen!‹, sagte sie: ›Wo?‹ Und sie zeigte mir die Hand von Maria Magdalena. Sehen Sie?« Zu Norma Joyce, die schaute und nickte. »Sehen Sie, wie ihre Wange in ihrer Hand ruht. Die Hand ist eine Diagonale, aber das Handgelenk ist eine Vertikale. ›Du hast aber eine vergessen!‹ Ich war begeistert«, und wieder lachte sie dröhnend. Das Mädchen war bezaubernd vergnügt, glühend enthusiastisch. Eine Wohltat. »Haben Sie den Lippi gesehen?«, fragte sie. »Und den Hans Meniling? Sie sind auch auf diesem Stockwerk. Durchaus einen Blick wert.« Norma Joyce folgte ihrem Hinweis zu dem Memling, einer Maria mit Kind von 1472, einem Bild, auf dem das Gesicht des Kleinkinds viel ernster aussah als das seiner Mutter; dann zu dem Gemälde von Filippo Lippi aus derselben Zeit. Noch eine Esther, aber diese war vollkommen anders als Rembrandts. Diese Esther war Lucinda in ihren besten Jahren. Eine große, gertenschlanke, blonde Schönheit, gekleidet in ein fließendes rosafarbenes Kleid, und ganz allein ging sie auf ein Schloss zu. Diese langen Finger. Dieses Zaudern. Später an diesem Nachmittag spielte Norma Joyce Cribbage mit ihrem Vater. Das Licht war schon am Schwinden. Sie saßen in der einbrechenden Dämmerung am Wohnzimmerfenster, und der ausklingende Sonnenuntergang war so farbenprächtig, dass sie die Lampe nicht angemacht hatte. »Du gibst«, sagte Ernest. Während sie gab, sah sie etwas aus dem Augenwinkel: das, was man im Herbst sieht, wenn man einen Hügel hinauffährt und 331
fast den Kamm erreicht hat: vorn nichts als blauen Himmel und auf beiden Seiten ein Filigran aus goldenen Blättern. Das Bild huschte jedes Mal vorbei, wenn sie den Kopf drehte, und jedes Mal fühlte sie sich auf seltsame Art getröstet. »Ich glaube, sie ist eingeschlafen«, sagte sie. »Dad? Ich bin sicher, dass Lucinda am Steuer eingeschlafen ist – Ernest?« Er studierte seine Karten, und sie musste raten, was er dachte. Wahrscheinlich daran, dass die Menschen, die ihm am meisten bedeuteten, schon lange tot waren. Er hatte nie über einen dieser Tode gesprochen, und er würde jetzt nicht damit anfangen. »Macduff, nun magst dich wehren«, befahl er. »Wahren«, sagte sie.
»Wehren.« »Nun magst dich wahren, Wer Halt! zuerst ruft, soll zur Hölle fahren!« Sie hätte ihn gewinnen lassen können, aber dann wäre sie nicht ihres Vaters Tochter gewesen. Fünfzehn – zwei, fünfzehn – vier, fünfzehn – sechs und zwei Paare zu zehn. Sie konnte den Jubel in ihrer Stimme nicht beherrschen und er den angeekelten Gesichtsausdruck ebenso wenig – nicht in diesem Moment und auch später nicht, als kalter Niederschlag in verschiedenen Formen zu fallen begann. Tag für Tag gab es Schnee, Regen und eine dichte Mischung aus beidem, wie Haferschleim. Ernest starrte aus dem Fenster. »Schrecklich«, murmelte er, »schreckliches Wetter.« Eines Morgens schrubbte Norma Joyce aus Leibeskräften den Küchenfußboden und hörte, dass Besuch hereinkam. »Was machst du da unten, mein Mädchen?« »Ich verschaffe mir Bewegung«, sagte sie und grinste zu Mrs. Gallot hinauf. »Manche Frauen spielen Golf, ich putze 332
Fußböden«, und sie stand auf und wurde zärtlich und lachend umarmt. Sie trocknete sich die Hände ab und sagte: »Ich werde einfach nicht warm«, und sie zog dem Tag draußen ein Gesicht. »Versuch's mit heißen Bädern«, sagte Mrs. Gallot. »Heißer Tee und zwei heiße Bäder am Tag.« »Sind Sie bereit für den Winter?« »Wenn es viel Schnee gibt«, sagte Mrs. Gallot, »dann will ich mich nicht beklagen.« Und es gab viel Schnee. Mitte November fiel leichter Schnee so ununterbrochen, dass aus sehr wenig bald eine Menge wurde, und weil es nicht windig war, türmte er sich überall auf. Kinder kamen nach draußen, um kunstvolle Festungen aus Schnee mit verschiedenen kleinen Zimmern zu bauen, die mit Schneebetten und Schneetischen eingerichtet waren. Zur Essenszeit gingen sie mit schneeverkrustetem Haar wieder hinein. Norma Joyce maß die Tiefe des Schnees auf Ernests Chevrolet, der Woche für Woche in der Einfahrt stand, denn sie ging immer zu Fuß, und er kam nicht heraus. Sie benutzte ein langes Lineal und hörte, wie eine hohe, näselnde Stimme fragte: »Wie viel?« Es war der dunkelhaarige Junge von oben. Der, den sie so oft durch die alten Fenster der Doves gesehen hatte. »Über fünfzig Zentimeter«, sagte sie zu ihm. Er stand mitten in ihrem Hof und hielt seinen Schlitten am Seil; er war nicht nur über sein Grundstück hinausgeschossen, sondern auch über den Feldweg. Sie ging durch den Schnee dorthin, wo er stand. »Du kannst auch ganz in meinen Garten kommen«, sagte sie, »ich habe nichts dagegen.« Er starrte auf seine Füße, plötzlich war er schüchtern, wie Johnny es im selben Alter auch gewesen wäre. »Weißt du, wo 333
das ist?«, fragte Norma Joyce und deutete auf das Wort Sibirien, das in Rot vorn auf seinem Toboggan stand. »Russland.« Sein Name war Max. Er hatte Sommersprossen und schiefe Zähne und ein gutes Gespür für Geographie, denn an seiner Küchenwand hing eine große Weltkarte. Vermeer in Day-Glow, dachte sie immer, wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit oben am Abhang das häusliche Tableau mit der Mutter und den beiden Kindern betrachtete, die an einem Tisch saßen, mit der Landkarte dahinter. Der Vater war anscheinend aus dem Bild gefallen. Allerdings war die Karte schöner als Day-Glow, diese verschiedenen Schattierungen und Blautöne in der Ferne. Keine Kinder bei Vermeer. Und kein Wetter. Beides nur angedeutet in der luxuriösen Einsamkeit der Frauen, die allein sind mit ihren Briefen und Perlen, neben Fenstern ganz ohne Frost und Staub. Als sie am nächsten Tag im Eckladen an der Sunnyside Milch und Brot kaufte, sah sie das Mädchen mit dem limonengrünen Schal, ein lebendes Beispiel für die Regel, dass der Mensch, den man bemerkt, derjenige ist, den man wieder sehen wird. Diesmal stand das Mädchen auf ihren eigenen zwei Beinen und kaufte ein Zeitung. »Wo ist Ihr Rollstuhl?« Das Gelächter des Mädchens dröhnte durch den Laden. »Ich benutze nur dann einen, wenn ich Bilder betrachte. Viel bequemer als ein Schemel. Ich kann mit meinem Notizbuch stundenlang dort sitzen.« »Was für eine gute Idee!« »Sie haben welche im ersten Stock, wo man hereinkommt.« Das Mädchen bezahlte die Zeitung. Norma Joyce hatte ihre Milch und ihr Brot. »Sie wohnen bestimmt auch hier in der Gegend«, sagte Norma Joyce. »An der Carlyle.« 334
»Dann sind Sie Bella Pugg!« »Und Sie sind Watson«, sagte Bella Pugg. »Sie meinen, ich irre mich?« »Ich meine, Sie haben Recht. Sie haben vollkommen Recht!« Und Bella lachte dröhnend, sie lachte so ungezügelt und ansteckend, dass Norma Joyce dachte, genau das brauche ich. »Ich bin Watson, Sie sind Holmes«, sagte Bella. »Woher wussten sie das?« »Wir sind Nachbarinnen. Ich habe ihren Spielstand mit den Doppelwörtern auf Mrs. Gallots Scrabble-Brett gesehen.« »Aber sie gewinnt immer«, klagte Bella. Sie verließen den Laden zusammen und gingen die Seneca Street entlang. Norma Joyce fragte Bella, was sie in der Galerie noch sehen sollte, und Bella nannte ihr Joyce Wieland. »Sie versucht sich an allem. An Quilts, Kuchen, Filmen, Parfüm. Ich glaube, das Wohnen in New York hat sie aufgerüttelt.« »Ich habe auch in New York gewohnt. Ich bin immer noch dabei herauszufinden, was es mit mir angestellt hat.« Bella sah sie an und kicherte. »Nicht alles, was sie macht, ist groß und knallig. Die Arbeit, die mir am besten gefallen hat, war ganz einfach. Sie hat die Briefe genommen, die General Wolfe und General Montcalm sich geschrieben haben, kurz bevor sie 1759 auf den Plains of Abraham gestorben sind, und hat sie auf Leinen sticken lassen und dann nebeneinander eingerahmt.«
»Briefe«, sagte Norma Joyce, als spräche sie mit sich selbst. »Gestickte Briefe.« »So hat man Geschichte, Zeichnen, Schreiben und Sticken in einem.« »Ja.« 335
Inzwischen waren sie am Woodbine Place und an der Carlyle Avenue angekommen, und dort trennten sie sich. Norma Joyce starrte über Woodbine Place hinweg zur Bronson Avenue und auf die Felder und Hügel, die in der weißen Wintersonne glänzten. »Ich wünschte, das wäre mir eingefallen«, sagte sie. »Ich habe mich immer gefragt, was man mit Briefen machen kann.« Sie war verzückt und niedergeschmettert. Eine Idee zu finden, die vollkommen zu ihr passte und die jemand anderes ausgeführt hatte. »Keine Sorge«, sagte Bella. »Es gibt Millionen Möglichkeiten. Die Ideen gehen nicht aus.« »Ja. Sie haben schließlich ein Manuskript verloren und seither einiges zu erzählen.« Bella stöhnte. »Reden Sie mir nicht davon.« »Ich habe einmal ein Baby verloren. Im Schnee.« »Aber Sie haben es wiedergefunden.« Sie sah sie erschrocken an. Norma Joyce nickte. »Mein Sohn. Und dann habe ich ihn wieder verloren, an seinen Vater. Wenn man so will.« Bella sagte: »Ich rede mir ein, wenn ich etwas verloren habe, dann kann es nicht so wichtig gewesen sein. Aber ich glaube nicht wirklich daran.« »Nein«, sagte Norma Joyce. Max bohrte einen Puck in eine Schneeverwehung hinein. Seine Mutter war auf der Veranda und rief nach ihm, aber er hörte nicht hin. »Kennen Sie Ida?«, fragte Bella. »Nur durchs Fenster.« »Ihr Mann ist vor einen Monat ausgezogen. Ich stelle euch 336
vor.« Und so wurden »Norma Joyce Hardy, Malerin«, und »Ida Berns, Übersetzerin und Mutter von Max und Rose«, einander vorgestellt. »Eher ein nervöses Wrack«, sagte Ida, sie hatte ein zerknülltes Papiertaschentuch in der Hand, und ihre Stimme war wegen einer Erkältung belegt. Max wollte, dass seine Mutter mit ihm in die Bibliothek ging, wie sie erfuhren, und sie wollte nicht. Sie hatte das Essen zu machen, er hatte sein Zimmer aufzuräumen. »Ich habe keine Zeit, in die Bibliothek zu gehen«, und ihre Stimme wurde beim Sprechen höher. »Ich nehme ihn mit«, sagte Norma Joyce. »Ich wollte sowieso hingehen.« »Sind Sie sicher?« »Ich habe noch eine halbe Stunde Zeit. Mrs. Hulder sitzt bei meinem Vater. Kann ich meine Einkäufe bei Ihnen lassen?« Es überraschte sie ein wenig, dass Max mit ihr gehen wollte, und nach einem Block wimmerte er vor Kälte. »Hast du kein Auto?«, seufzte er. »Das ist der Ostwind, wir laufen ihm direkt entgegen.« Er blieb wie angewurzelt stehen. »Vielleicht schleicht sich ein Eisbär von hinten an?«, sagte sie. Und er ging weiter. Acht Jahre alt. Auf dem Rückweg trug Max die Tasche mit den Büchern über der Schulter, er war jetzt froh, seine drei Abenteuergeschichten zu haben, und trug bereitwillig auch ihre Bücher – zwei über Kunst und zwei von Maurice Dove. Ein kleiner Test. Um zu sehen, ob sie Maurice' Bücher lesen 337
konnte, ohne sich selbst wehzutun, und um zu sehen, ob sie überhaupt etwas taugten. In der folgenden Woche ging sie wieder mit Max in die Bibliothek. Unterwegs sagte er kaum ein Wort. Auf dem Rückweg fragte er: »Wie kriegt man einen Gedanken aus dem Kopf?« »Hast du einen Gedanken, den du loswerden willst?« »Ja.« »Manchmal geht er nach einer Weile von selbst weg.« »Und wenn nicht?« »Manchmal geht er weg, wenn man darüber redet.« »Ich will nicht darüber reden.« Sie sah auf ihn herab, während sie weitergingen. Sein Schal flatterte im Wind. »Warte«, sagte sie, »ich richte ihn dir.« Aber er hatte nicht die Geduld, stillzustehen. »Ist dir kalt?« »Nein.« Sie hatte neulich gesehen, wie sein Vater vorübereilte. Ein wohlhabend aussehender Mann, dessen dunkler Schnurrbart in der Mitte weiß war, als hätte er seinen Mund in eine Schüssel mit Milch getaucht. Ein jungenhaftes Gesicht, aber müde und geistesabwesend. Max' Gesicht war mehr wie das seiner Mutter. Das dunkle Haar und der olivfarbene Teint. Zuerst, als sie ihn nur durch das Fenster gesehen hatte, hatte er sie an die Jungen aus dem Eaton's–Katalog erinnert, so gesund und mit frischem Gesicht. Aber jetzt kam er ihr sehr blass vor. Wie seine Mutter mit den traurigen Augen, deren Kopf mit endlosen Kleinigkeiten belastet war. Ida übersetzte Bücher aus dem Französischen ins Englische und las sich ihre 338
Übersetzungen selbst laut vor, »wie Flaubert«, sagte sie zu Norma Joyce. »Sie kennen Flaubert?« Norma nahm Max mit nach Hause und gab ihm Kakao und Kekse, weil beides in seinem intellektuellen, ruhelosen Haushalt knapp zu sein schien. Ihr Vater saß am Küchentisch und spielte Solitaire. Max beugte sich über die Karten und hatte keinerlei Scheu vor diesem zittrigen alten Mann, und unversehens zeigte Ernest ihm, wie man spielt. Er lernte schnell. Es war ein seltsames Vergnügen für sie, zu sehen, dass der alte Mann sich bei dem Jungen entspannte, während er sich bei ihr nicht entspannen konnte. Sie rasierte Ernest jeden Morgen, stutzte seine Augenbrauen und die Haare in seinen Ohren, flickte seine Unterwäsche, wusch seine Laken. Sie machte den Apfelkuchen, den er liebte, sie las ihm abends vor, sie rupfte ihn nach wie vor beim Kartenspielen, aber nichts, was sie tat, ließ sein Gesicht so leuchten, wie es bei diesem dunkelhaarigen Jungen leuchtete. Der Dezember kam, so dunkel und dicht und angenehm wie der alte Persianermantel ihrer Mutter, der auf dem stärksten Kleiderbügel in ihrem Wandschrank hing. Nachts breitete sie ihn über ihr Bett und war getröstet von seinem Gewicht, und am Morgen schaute sie hinaus auf ihre Kindheitsvorstellung von Ontario: der sanfte, unvergängliche Schnee auf abfallenden Dächern, der Frieden der winterlichen Gärten, die ihre Erinnerung an Äpfel und alle möglichen Beeren sicher verwahrten, die Dimensionen einer Welt, die einen vor jeglichem bösen Missgeschick beschützte. Gegen ihren Willen gefiel ihr Maurice' Buch, aber das 339
überraschte sie nicht. Er schrieb gewandt und war vertraut mit seinem Thema, und er hatte keine Angst vor dessen Bedeutung. Jeder würde diesen Menschen kennen lernen wollen, jeder würde sich zu ihm hingezogen fühlen. Kein Wunder, dass er eine solche Gefolgschaft hatte – sie und Johnny waren nur zwei von vielen, die sich von seinem unverschämten Charme verführen ließen, den er benutzt und verarbeitet hatte. Sein neuestes Buch war nicht unter denen, die sie ausgeliehen hatte: Die Geschichte des Graslands war an einen anderen Leser vergeben. Sie hatte vielmehr sein Life of Darwin und sein gleichermaßen gepriesenes Buch über das Wetter, Floods and Famines. In beiden raspelte er das gleiche Süßholz, benutzte denselben gebildeten, freundlichen Ton. »Vor einem Sturm«, schrieb er, »sind Tiere weniger misstrauisch, weil sie wissen, dass sie vielleicht einige Tage lang nicht mehr fressen können. Vögel verlieren ihre Vorsicht, Kinder werden unerträglich. Nichts spricht stärker auf die Schwankungen des Wetters an als Kinder, außer vielleicht Weiden und Gräser.« Sie erinnert sich, dass sie das Buch zuschlug und hinausschaute in den fallenden Schnee. Ein älteres Paar ging untergehakt in der Mitte der Straße vorbei, und die Spuren, die sie hinterließen, bezeugten ihr Fortkommen. Sie hätten sich umdrehen und ihr stilles Werk betrachten können, aber sie taten es nicht. Der Postmann, der wenige Minuten später mit großen Schritten näher kam, tat es auch nicht. Sie mochte diese Stille damals, und sie mag sie jetzt, dieses Gedämpfte, das zum Dezember gehörte und das sich hielt bis in den Mai – in einem Haus, das durch den Tod und durch die Lautlosigkeit einer Entdeckung sogar noch stiller geworden ist. Sie saß da und sah in den Schnee hinaus; zuerst hielt sie 340
Maurice' Buch im Schoß und später, als der Briefträger gekommen war, Weihnachtskarten. Eine war von Johnny (er würde den Feiertag mit Maurice verbringen, aber er vermisste sie und wollte versuchen, bald zu Besuch zu kommen) und eine von Frank und Hilda (die sich entschuldigten, weil sie ihre Briefe nicht beantwortet hatten, aber sie hatten mehr zu tun, als ihnen lieb war, und waren sehr müde. Hilda hatte geschrieben. Am Schluss hatte Frank in seiner steilen Handschrift ergänzt: »Wir vermissen dich.« Seiner Bemerkung glaubte sie mehr als Johnnys, aber sie war dankbar für beide). Rote Weihnachtssterne und eine goldene Birne. Ein Notenblatt mit einem breiten roten Rand. Dieser rote Schwall, seine Art, einen winterlichen Monat zu durchfluten, entwaffnete sie ganz und gar. Sie war in Gedanken wieder bei ihrer Mutter, von der sie lernte, dass Farben im Dezember ein Taumel sind, den die Post bringt. Und im Haus war es immer noch still. Sie konnte die Geräusche zählen: das Knarren der Fußböden, auch wenn niemand umherging, etwas, das in den Wänden rutschte, den Husten ihres Vaters, das Ticken der Küchenuhr, das trockene Kratzen ihres Fingerknöchels, der auf ihrer trockenen Unterlippe hin und her fuhr: Das war ein zartes Geräusch, wie etwas, das man durch ein Schlüsselloch hört. Dann das sanft summende Schlaflied, wenn der Ofen ansprang. Und dann das harte Klopfen des Stocks ihres Vaters. Klopf, klopf, klopf. Bis es neben ihrem Sessel innehielt. Also drehte sie sich um und sah zu ihrem finsteren Vater hinauf, der vor fünfzehn Minuten sein Mittagessen hatte haben wollen. »Wie spät ist es?«, fragte sie, überrascht von ihrer eigenen Milde, und ihr wurde klar, dass ihn das noch zorniger machen würde. 341
»Es ist Zeit, dass du dich bewegst.« »In Ordnung«, lachte sie. »Du bist ein harter Mann, Ernest Hardy, aber ich glaube, du hast Recht.« Dann stand sie auf und ging in die Küche. Ernest folgte ihr. Was für ein Paar wir sind, dachte sie. Die einzigen Überlebenden einer fünfköpfigen Familie und nicht in der Lage, miteinander auszukommen. Erklär mir das, Darwin. Nicht nur ein stilles Haus, sondern eine Stadt, in der die Dinge still geschahen. Ab Januar entstand im Einklang mit den länger werdenden Tagen ein einfaches Bild, das alle Ereignisse enthielt, die folgen sollten: ein erfrorenes Ohr, das zu einem »Hauch von Frühling« erblühte, dann eine Stimme, die sie wieder erkannte, dann Worte, die sie kaum hören konnte, und schließlich jemanden, der ihren Namen rief. Anfang Januar borgte sie sich Idas Schlittschuhe aus und versuchte sich auf dem Kanal, man hatte den Schnee auf einer Strecke von einigen Meilen geräumt und ihn dann überflutet, damit man Schlittschuh laufen konnte. Sie lief bis in die Stadt hinein (es dauerte fünfundvierzig Minuten) und wischte auf Oberlippe und Wangen den Bart aus Raureif weg, der sich immer wieder bildete, dort kaufte sie eine heiße Schokolade und ruhte sich auf einer Bank für ein paar Minuten aus, bevor sie zurücklief. Auf dem Rückweg, kurz hinter der Pretoria Bridge, sah sie Blut auf dem Kanal. Die Lache sah aus wie ein Körper, der flach und leuchtend rot dalag, nicht im trüben Ton vergossener heißer Schokolade, sondern in einem helleren, dünneren Rot. Sie sah darauf hinab und dachte, das passiert, wenn man übermütig wird. Und danach lief sie vorsichtiger Schlittschuh. Sie saß auf einer hölzernen Bank, bückte sich und schnürte ihre Schlittschuhe auf, als sie spürte, wie sich jemand neben ihr niederließ und dann eine warme 342
Hand ihr Ohr bedeckte. Es war Bella Pugg. »Ihre Ohrringe«, als Erklärung. »Ihr anderes Ohr ist auch erfroren, aber es ist anscheinend nicht so schlimm. Metall leitet die Kälte.« Norma Joyce legte ihre eigene Hand auf ihr linkes Ohrläppchen, dann nahm sie die silbernen Ringe ab. »Ich nehme meine immer heraus, bevor ich Schlittschuh laufen gehe. Ich versuche jedenfalls, daran zu denken«, sagte Bella. »Danke, Nachbarin. Ich wusste nicht, dass Sie zurück sind. Wie war es in Winnipeg?« Bella beugte sich über ihre eigenen Schlittschuhe und kämpfte mit den Schnürsenkeln. »Scheiße, ist das kalt.« Sie wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. »Meine Mutter ist krank, und mein Vater taugt nichts. So war es in Winnipeg. Was macht das Malen?« »Welches Malen?« »Ah.« Sie zog aus ihrer Segeltuchtasche einen Lappen, um ihre Kufen abzuwischen. »Mrs. Gallot hat mir gesagt, dass ich Ihr Ego stärken soll.« Norma Joyce lachte. »Ich liebe sie wie eine Mutter«, sagte sie. Die beiden Frauen gingen die Holztreppe zur Straße hinauf und machten sich dann auf den Nachhauseweg, und meistens sprach Bella. Sie wollte mehr Arbeiten von Norma Joyce sehen. »Mir gefällt die Zeichnung, die Sie Mrs. Gallot geschenkt haben. Max und Ihr Vater beim Kartenspielen. Sie ist gut. Wissen Sie, warum?« »Wie geht es Ihrer Mutter?«, fragte Norma Joyce. Bella kramte in ihrer Tasche und zog ihr Player's-Light-Päckchen hervor. Sie 343
ließ sich nicht ablenken. »Ich schreibe für die Zeitung über Kunst«, sagte sie. »Ich könnte Sie interviewen. Ich mache das ständig, Interviews mit Künstlern aus der Gegend. Malerin aus Ottawa kommt nach Hause, nach wie vielen Jahren in New York? Wir könnten darüber reden, was Sie dort gemacht haben. Was Sie gelernt haben. Was Sie über Ottawa denken.« »Stellen Sie mir nicht solche Fragen. Das sind schreckliche Fragen.« »Die Leute müssen wissen, dass Sie hier sind. Sie müssen mal raus.« »Nein, muss ich nicht.« »Warum gehen wir nicht zusammen in die Galerie, das wäre ganz leicht. Und machen eine Art Interview beim Spazierengehen, über die Bilder, die Sie mögen, und warum.« »Sie sind eine Nervensäge, Bella Pugg.« »Ich weiß, aber dafür lieben Sie mich«, und sie lachte ihr warmes, ungezwungenes Lachen. Als die Nacht hereinbrach, waren Norma Joyce' Ohrläppchen angeschwollen und feuerrot. Feuerrot, dachte sie, als sie in den Badezimmerspiegel sah, und weicher als alles, was sie je zuvor berührt hatte. Als die Tage länger wurden, wurde Ernest gebrechlicher. Er musste sich zum Pinkeln setzen, und es fiel ihm schwer, wieder aufzustehen. Er konnte sich nicht abwischen. Und er wollte nicht um Hilfe rufen. Norma Joyce behielt ihn im Auge und ging ohne einen Kommentar – bis auf: »Ich mache das« – hinein. Wenn sie in manchen Nächten sein Klopfen hörte, ging sie zu ihm nach unten und machte Kakao in einem Topf auf dem 344
Herd. »Hier«, und sie reichte ihrem Vater eine Tasse, die so heiß war, dass eine dicke Schaumschicht darauf lag, »verbrenn dir die Zunge.« Über Ernests Lippen zuckte dann ein Lächeln. Sie glaubte gern, dass sie einander in bissigen, beinahe zärtlichen Momenten wie diesem verstanden. Er lebte noch immer auf, wenn Max herüberkam. Sie spielten jetzt Poker und auch Cribbage. »Vergiss nicht zu kauen«, mahnte sie Max, wenn sie ihnen einen Teller mit geschnittenen Äpfeln oder Möhren oder Keksen hinstellte. Inzwischen juckten ihre Ohrläppchen, dann trockneten sie aus, und die Haut schälte sich, und es lagen immer wieder Zettel in ihrem Briefkasten. Auf einem von ihnen stand: ›»Ein Künstler muss sein eigenes Tempo haben. Sein ganzes Leben ist ein schmerzhafter Versuch, sein Inneres nach außen zu kehren.‹ Sir Kenneth Clark höchstselbst.« Auf einem anderen stand: »Wie sagte der Buddhist zum HotDog-Verkäufer? ›Eins mit allem.‹« Die unverwüstliche Bella Pugg. Im Februar wurde das Licht golden. Eigentlich war es Oktoberlicht, das schräg vom puderblauen Himmel auf die wildlederblauen Schatten in ihren kleinen, tiefen Fußstapfen fiel. »Ein Hauch von Frühling«, sagte Mrs. Gallot, als sie ihr einen Topf mit Hyazinthen und Osterglocken brachte. Sie stellte die Blumen in die Küche, wo sie Tee tranken. Ernest setzte sich zu ihnen an den Tisch, und dann kam auch Mrs. Hulder, treu wie immer, mit ihren Schmortöpfen und Kuchenstücken. Bella war 345
für eine Woche zurück nach Winnipeg geflogen, wie Mrs. Gallot erklärte. »Ihre Mutter ist arm dran. Hat sie dir das erzählt?« »Ist sie immer noch krank?« Mrs. Gallot tippte sich an die Stirn. »Oh je«, sagte Norma Joyce. »Es geht schon lange so.« »Das tut mir Leid.« Und das Bild von Bella der Fröhlichen, der Tüchtigen, der Unermüdlichen brach auf, und es zeigte sich ein neuer Grund für ihre überstürzte Lebensgier. Es gab außer der intellektuellen Neugier noch etwas, das sie antrieb. Deshalb also interessierte sich Bella so sehr für Frauen im mittleren Alter, die vom Weg abgekommen waren. Norma Joyce war seltsam berührt – um ihrer selbst willen wie auch um Bellas willen. Als Mrs. Gallot und Mrs. Hulder gegangen waren, schob sie die Frühlingsblumen in die Mitte des Küchentischs. Zog dann die Zeitung zu sich hin. Schlug sie auf, wo die farbigen Comics waren, und lehnte sie an die Blumen, wodurch zwei gute Diagonalen entstanden. Der Fensterrahmen bot je eine starke Vertikale und Horizontale. Dann tunkte sie den Einsatz ihres Aquarellkastens in die Schüssel, die in der Spüle stand, um die Farben aufzuweichen, füllte zwei Gläser mit Wasser, suchte sich einen sauberen Lappen, Papier, einen guten Bleistift und ging ans Werk. Sie fing an, mit dem Bleistift auf ihrem dreißig mal vierzig Zentimeter großen Papier einige Details zu umreißen, um Anhaltspunkte zu haben, wenn sie daran ging, mit dem Pinsel zu malen. Minuten später stand sie auf und ging in der Küche herum. Setzte sich reizbar und nervös wieder hin und skizzierte die Comics und ein paar Blumen genauer. Holte tief Luft, machte ihren Pinsel nass und fing rasch an, ein sehr helles Gelb aufzutragen. Zehn Minuten vergingen, und tatsächlich entstand etwas – sie hatte ihren Pinsel ausgewaschen und war zu 346
einem wärmeren Gelb und dann zu einem Gelborange übergegangen –, dann hörte sie aus Ernests Zimmer ein Krachen und hielt wütend inne. Ihr Vater hatte sein Wasserglas zu Boden fallen lassen. Unterbrechungen. Furchtsamkeit. Schlechte Laune. Verlust der Nerven. Nach zwei Wochen waren die Blumen tot, und einige Aquarelle, alle unfertig, lagen auf dem Tisch in ihrem Schlafzimmer. Sie blickten ihr genauso vorwurfsvoll entgegen wie ein Hund, der keinen Auslauf hat. Aber der Vormarsch des Lichts war nicht aufzuhalten. Ein natürliches, beseeltes Wachstum, das sich auf alle gleichermaßen übertrug. Damals dachte sie, sie sei beinahe zum Stillstand gekommen, ihre Bewegungen seien nun auf das Leben ihres Vaters abgestimmt. Aber etwas arbeitete in ihr. Nach New York war Stillstand das, was sie brauchte. Mitte März war es dann um sieben Uhr morgens hell, das Licht war wärmer, weniger metallisch als im Februar, beinahe blütenzart, und es schien die Zweige der Apfelbäume eher weich zu zeichnen als direkt zu beleuchten. Auch der Schnee war warm und dicht, und wenn mehr Schnee fiel, war er wie Lotion auf einem mit Lotion gepflegten Gesicht: Er trieb den alten Schnee weiter in den Boden hinein. Eines Nachts wachte sie auf, weil sie um die Dachrinnen herum Flügel schlagen hörte und das Trappeln kleiner Füße auf dem Dach. Sie lauschte. Es dauerte einen Moment, aber sie erkannte das himmlische Geräusch des Schmelzens, des Schnees, der sich rührt, und des Wassers, das zu tröpfeln beginnt. Der 29. März war ihr Geburtstag. Sie wurde dreiundvierzig. Ernest dachte nicht daran, und sie sagte es ihm nicht. Zu ihrer 347
Überraschung rief Johnny an und auch Frank, der nie jemanden anrief. »Wann kommst du zurück?«, fragte Frank, und sie sagte, sie wisse es nicht. »Glaub nicht, dass dich keiner vermisst«, sagte er. Die Luft draußen war rau, der Himmel war grau und hing tief. Sie ging trotzdem spazieren, den Pfad hinter dem Haus hinauf, wo in einem hohen, schmalen Fenster das violette Usambaraveilchen so üppig blühte, dass sie wieder einmal stehen blieb und zu erkennen versuchte, ob die Pflanze echt oder künstlich war, und während sie dort stand, begann es zu hageln. Winzige, körnige Kügelchen. »Graupel«, sagte Ernest, als sie zurückkam. »Woher kennst du das Wort?« »Hast du gedacht, du bist die Einzige, die liest?« Die Erinnerung an vollkommene Ernten, die in nur sechs Minuten zerstört worden waren, hatte ihm die Laune verdorben. Wie hieß er noch? Der Mann von vierzig Jahren, der alles verlor, während auf beiden Seiten seiner niedergedrückten Felder weiter die Sonne schien. Perkins. John Perkins. Er war über Nacht grau geworden. Geschichten wie diese waren damals überall im Umlauf. Man hörte Redewendungen wie: Er wurde praktisch vor meinen
Augen grau, das Vieh ist im Stehen gestorben, die Gefühle haben ihr den Verstand geraubt, und jeder wusste, was gemeint war. Es war der Tag nach ihrem Geburtstag. Sie rief Bella an, obwohl es unwahrscheinlich, aber möglich war, dass sie Zeit hatte, doch Mrs. Gallot sagte, sie sei nicht zu Hause. »Ich bin auf dem Weg in die Galerie«, erklärte Norma Joyce. »Suche nur jemanden, der 348
mitgeht.« »Vielleicht findest du sie dort«, sagte Mrs. Gallot. Als Norma Joyce endlich in die Stadt kam, war es schon Nachmittag. In weniger als einer Stunde würde sie sich auf den Weg zurück zu Ernest machen müssen. Zuerst verharrte sie ein wenig bei den beiden Gemälden von Chardin, dann ging sie hinüber in den französischen Raum, einen kleinen, runden Raum mit Wänden aus matter graugrüner Seide, auf der die französischen Bilder hingen. Im Türdurchgang sah sie Maurice Dove. Er wandte ihr den Rücken zu, und das war ein Glück; so konnte sie sich einen Moment erholen. Sein Haar war vollkommen grau. Er trug ein braunes Tweedjackett und eine dunkelbraune Hose und stand zwischen einer großen Frau in einem rosenroten Tweedkostüm und einem schlanken jüngeren Mann. Er sagte gerade, es sei sehr geschickt von ihnen gewesen – von seinen beiden Begleitern –, sehr geschickt gewesen, Canovas anmutige Tänzerin in der Mitte des Raums zu platzieren, so dass sie den gut aussehenden Paris an der gegenüberliegenden Wand im Auge behalten konnte. Er klang sehr zufrieden mit sich selbst, sehr vergnügt, sehr kultiviert. Dann drehten die drei sich um und wollten gehen, und sie stand ihnen direkt im Weg, aber offenbar wurde sie nur als Hindernis wahrgenommen, das man umgehen musste. Sie streckte ihren Fuß aus, und Maurice blieb plötzlich überrascht stehen. »Maurice Dove«, sagte sie. »Wag es nicht, an mir vobeizugehen.« »Norrie?« Und mit diesem einen Wort ging ihr das Herz auf. Dass es der Luft ausgesetzt war, tat ihr nicht weh. Dass die Luft sie bloßlegte und anrührte, diese weiche, klumpige Verwirrung der Gefühle.
Norrie. 349
Wer hätte gedacht, dass es so leicht sein würde? Er stellte sie der Frau im rosenroten Tweed und dem schlanken jungen Mann vor, die beide für die Galerie arbeiteten. Sie waren auf dem Weg in die Cafeteria, und er versicherte ihnen, dass er sofort nachkommen würde. Und jetzt waren sie und Maurice mit der frechen Tänzerin und Paris als nacktem Schäfer und mit dem Bild von den kleinen Pfirsichen und dem von den italienischen Wäldern allein. »Es ist schön, dich zu sehen, Norrie.« Er schien es ehrlich zu meinen. Ihre leidenschaftlichen Briefe von vor zehn Jahren hatten keine üblen Auswirkungen gehabt. Sie sah den Ausdruck in seinen Augen – erfreut, aber selbstgefällig –, und zwei Dinge wurden ihr klar. Dass es ihm gefiel, wenn sie verliebt in ihn war, erstens. Und zweitens, dass es, was ihn betraf, darüber nie hinausgehen würde. Später hatte sie das Gefühl, ein Nudelsalat bei irgendeinem Essen zu sein, ohne den der Tisch leer wäre, aber Maurice würde nicht auf die Idee kommen, sich etwas davon zu nehmen. Die alte, vertraute Bitterkeit. Sie wollte nicht sagen, dass sie seine Bücher gelesen und bewundert hatte. Nur: »Ich habe deinen Namen in der Zeitung gesehen. Gratuliere. Das hast du gut gemacht, Maurice.« Er lächelte. »Ein gutes Leben«, sagte er. Sein Gesicht war breiter geworden und seine Stimme rauer. »Johnny hat mir erzählt, dass du hier bist und dich um Ernest kümmerst. Wie läuft es?« So lässig, so forsch und fröhlich, dieser Rivale um die Zuneigung ihres Sohnes. Dieser alte Liebhaber, der ihr Inneres jedes Mal aufwühlte, wenn sie ihn sah. Sein Hals und die Unterseite seines Kinns hatten die alte, anziehende Milchigkeit, und es wäre schön gewesen, die Hand auszustrecken und ihn 350
dort zu berühren. »Wo wohnst du?«, fragte sie. »Im Lord Elgin.« »Wie lange?« »Ich reise leider morgen ab. Ich fliege um fünf Uhr nach Toronto.« »Dann hast du Zeit, mich zum Essen auszuführen, bevor du abreist.« Er lachte. »Ich meine es ernst. Das ist das Mindeste, was du tun kannst.« »In Ordnung.« Auch wenn die Antwort zögernd kam. »Wo?« »Murray's«, sagte sie. »Um zwölf. Du musst nicht einmal dein Hotel verlassen.« »Nicht um zwölf. Ein Uhr.« »Gut. Aber komm nicht zu spät. Ich habe dir etwas zu sagen.« »Sag es doch«, sagte er. »Ich bin hier.« Sie schloss die Augen und überlegte einen Moment. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Wo soll ich anfangen?« »Am Anfang«, antwortete Maurice und lächelte. »Immer am Anfang anfangen.« »Dann müsste ich mit dir anfangen.« Ihre schlichten Worte hatten die gewünschte Wirkung. Er sah sie lange und eindringlich an, und sie erwiderte seinen Blick – verwirrt, matt, suchend –, bis sie von Schulkindern angerempelt wurde. Wenig später erschien eine atemlose Lehrerin, die nur einen Blick auf die aufreizende Tänzerin warf und ihre Schüler gleich wieder hinausschickte. Norma Joyce und Maurice lächelten sich an. Immer noch lächelnd, sagte sie: »Und ich 351
fürchte, du bist zu einer Sackgasse geworden.« Maurice warf ihr einen zweifelnden Blick zu, räusperte sich dann und schaute weg. »Es gefällt dir nicht, wenn man dich Sackgasse nennt.« Er antwortete nicht. Noch ein paar Hiebe, und er würde zum Essen nicht erscheinen. »Eigentlich«, sagte sie, »wollte ich etwas ganz anderes sagen. Du hast mir einmal gesagt, dass ich nie an deinen Gefühlen für mich zweifeln soll. Weißt du das noch? Du weißt es nicht mehr.« »Weiter.« »Ich hätte dich fragen sollen, was für welche es sind.« »Ah.« Er schloss die Augen und rieb sie mit der linken Hand. »Das Mädchen mit den guten Fragen.« Eine rundliche, bebrillte Dozentin führte eine Gruppe gut angezogener Frauen von Bild zu Bild. Norma Joyce hörte, wie sie sehr knapp sagte: »Unser Blick wird nach und nach zum zentralen Fokus geführt«, und sie und Maurice traten zur Seite, als die Frauen vorüberströmten. »Um ehrlich zu sein«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durch das Haar, »hatte ich dir gegenüber immer gemischte Gefühle.« Er lächelte kläglich. »Ich glaube, du hast in mir mehr gemischte Gefühle geweckt als jeder andere Mensch, den ich kenne.« »Das ist immerhin etwas«, sagte sie trocken. Dann sagte er, er müsse zu seinen Begleitern nach oben gehen, sie warteten auf ihn. Und er begleitete sie zur Wendeltreppe, die nach unten in 352
die Eingangshalle führte. »Morgen«, sagte sie. »Ein Uhr. Du kannst dir zu deinen gemischten Gefühlen einen gemischten Salat bestellen.« »Na gut.« Er lächelte, irgendwie misstrauisch, dachte sie. »Versetz mich nicht.« Dann ging sie die Treppe hinunter, vorsichtig, damit sie nicht vor ihm lang hinschlug. Aber als sie unten war und hinaufschaute, um zum Abschied zu winken, war er nicht da. Auch als sie am nächsten Tag in das Murray's kam, war er nicht da. Sie nahm einen Tisch am Fenster, von dem aus man die Elgin Street überblickte (sie hatte vorher reserviert, weil sie wusste, dass es um ein Uhr voll sein würde), und wartete. Am Fenster hatten sich Eisblumen angesammelt, die zahllose Male geschmolzen und wieder gefroren waren. Sie hatte die Hände auf dem Papierset gefaltet, das vor ihr lag. Die Kellnerin, die beide Gläser mit Wasser füllte, trug eine braune Uniform und sagte, sie werde später wiederkommen. Norma Joyce sah auf die Uhr. Weitere zehn Minuten, und sie wartete immer noch. Es wäre wirklich schade, wenn sie keine Gelegenheit bekäme, ihr Herz auszuschütten. Dann klopfte ihr jemand auf die Schulter. »Es tut mir Leid. Hast du lange gewartet?« »Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige«, erwiderte sie scharf, »sagte Paul Newman zu Robert Redford.« »Tut mir Leid.« Er zog den Stuhl zurück und ließ sich stöhnend hineinfallen. »Ich bin interviewt worden. Kam nicht weg. Ich hab's versucht.« Er knöpfte sein Tweedjackett auf, fuhr sich mit den Händen 353
durch das graue Haar und lächelte sie an. »Erzähl mir, was du so getrieben hast, außer dich um Ernest zu kümmern. Malst du noch?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht viel. Fast aufgehört, um ehrlich zu sein.« »Dann fängst du eben wieder an«, sagte er schlicht. »Wieso?« »Es ist dein Schicksal, oder?« Er trank aus seinem Wasserglas. »Dein Leben wird aufhören, und dann wird es wieder anfangen. Das hat der alte Wahrsager gesagt.« Sie starrte ihn an. »Das weißt du noch.« »Wer könnte das vergessen?«
»Ich habe es vergessen.« Das verblüffte sie; sie, die sich damit brüstete, sich an alles zu erinnern. Die schwimmenden Augen fielen ihr wieder ein, die abgetragene Anzugjacke, der Geruch von Tabak und Pfefferminz, der Kuss auf ihre Wange. »Das war ein seltsamer alter Mann, nicht wahr?« »Ich mochte ihn.« »Ich auch.« Sie stützte den Kopf auf ihre Hand. »Er hat gesagt, ich würde ein Kind haben und sein Leben würde aufhören und dann wieder anfangen. Nun ja, das ist jedenfalls eingetroffen. Wusstest du das? Ich hatte Johnny für zwölf Stunden im Schnee verloren.« »Er hat mir erzählt, dass es eine deiner Lieblingsgeschichten ist.« »Immerhin ein Anfang.« Die Kellnerin kam zurück, und diesmal fielen Norma Joyce 354
ihre orthopädischen Schuhe und ihre dicken roten Fingerknöchel auf. Sie bestellten warme Truthahn-Sandwiches und widerstanden der Kellnerin, die flehentlich Steckrübenpüree empfahl. »Wahrscheinlich will die Küche, dass Sie dafür Werbung machen«, sagte Maurice und zwinkerte ihr zu. Die Kellnerin kicherte und gestand, dass die Mädchen es anpreisen sollten, ja. »Ich habe auch etwas zu gestehen«, sagte Norma Joyce, als die Kellnerin gegangen war. Aber Maurice sah sich im Restaurant um. Es war zu dieser Tageszeit überfüllt, eine Zuflucht für Ältere und für Leute, die allein waren: Balletttänzer, die im Hotel wohnten, Touristen, Damen in lavendelfarbenen Kostümen, alte Gentlemen. »Du hörst mir nicht zu«, sagte sie. »Du hast etwas zu gestehen.« Er lächelte sie an. »Ich bin ganz Ohr.« »So wichtig ist es nicht.« »Ich mag Geständnisse«, sagte er. »Geständnisse und Geheimnisse.« »Dies hier ist beides.« Dann holte sie tief Luft und sagte: »Die Briefe, die du meiner Schwester vor dem Krieg geschrieben hast. Erinnerst du dich?« »Du meinst die, die sie nie bekommen hat.« »Du hast es erraten!« »Nein.« Er sprach nicht weiter, und sie breitete ungeduldig die Arme aus. »Was sonst?« »Lucinda hat es mir erzählt.« Auch jetzt sprach er nicht weiter. Aber diesmal saß sie ganz 355
still. Ihr Blick war fest auf sein Gesicht gerichtet. Dann sanken ihre Schultern herab, und sie schlug die Augen nieder. »Norrie?«, sagte er. Sie starrte auf den Tisch. Die Ecke ihres Sets war umgeknickt. Sie fing an, mit der Fingerspitze auf dem Knick hin und her zu fahren. Schließlich sagte sie: »Und? Wann? Was hat sie gesagt?« »Gleich nach Johnnys Geburt. Als ich meine Leute besucht habe.« »Sie hat dir erzählt, dass ich ihre Briefe gestohlen habe?« »Sie hat dieses Wort nicht benutzt, aber, ja.« Ihre Teller mit dem Essen wurden gebracht, und jetzt sprach sie über die breiten Arme der Kellnerin hinweg mit ihm. »Wie hat sie es ausgedrückt?« »Das ist alles lange her. Bist du sicher, dass du es hören willst?« »Ja.« »Warum isst du nichts?«, und er nahm sein Messer und seine Gabel, und für eine Weile sah sie ihm beim Kauen zu. Ihr eigenes Besteck blieb liegen. Dann packte sie ihn am Handgelenk, so dass er seine Gabel nicht zum Mund führen konnte. »Na gut.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Es war am Nachmittag. Sie klopfte an die Tür, meine Mutter und ich waren zu Hause, und sie kam herein mit etwas, das sie gebacken hatte. Eine von ihren Spezialitäten. Kuchen? Sie sagte, sie müsse mir etwas sagen. So ähnlich wie du gestern«, und er wartete, bis sie das aufgenommen hatte. »Das Wort, das sie benutzt hat, war ›vertrauenswürdig‹.« 356
Norma Joyce rutschte auf ihrem Stuhl »Vertrauensunwürdig. Ich war vertrauensunwürdig.«
herum.
»Sie sagte, dass du sie wegen der Briefe belogen hast. Dass du vielleicht auch bei anderen Dingen lügst.« Norma Joyce sagte für eine Weile nichts. Als sie dann weitersprach, klang ihre Stimme müde und bitter. »Zum Beispiel, wer der Vater ist.« »Es ist Jahre her, Norrie.« »Meine Schwester«, sagte sie, und sie wandte den Kopf und starrte hinaus auf die Straße, doch vor ihren Augen erschien die beschriebene Szenerie. Lucinda, die den Abhang zu Maurice' Tür hinaufstieg – vielleicht stehen blieb und zurückblickte –, dann weiterging und das Gebäck bei sich trug, und ihre Botschaft. Wahrscheinlich hatte sie sich entschuldigt für ihre Schwester, die immer nur Sorgen machte. Sorgen machte und eine Heimlichtuerin war. Lucinda. Die den Frieden schützt. Die es den Hardys und den Doves ermöglicht, als Nachbarn weiterzuleben. Die gute Lucinda. Listig und strafend, die gute Lucinda, die sie gezwungen hatte jedes Stück Geschirr im Haus zu spülen. Die ihr Wetterzimmer auf den Kopf gestellt hatte. Die die Zeichnungen ihrer Mutter weggeworfen hatte. Die immer gewusst hatte, wie man jemandem etwas heimzahlt. »Und du hast mich nicht verteidigt.« Sie blickte ihn an und konnte sehen, dass ihm dieser Gedanke noch nie in den Kopf gekommen war. »Wieso hast du es mir nicht erzählt?«, fragte sie. »Was hätte das für einen Sinn gehabt?« »Aber du erzählst es mir jetzt.« »Du hast danach gefragt.« 357
Er betrachtete sie für einen Moment. »Sie hat auch an dich gedacht. An dein Wohlergehen. Sie wollte, dass es in der Familie bleibt. Sie hat gesagt, es wäre besser für dich, wenn ich von der Bildfläche verschwinde. Ich glaube, sie hatte Recht. Ich war nie besonders gut für dich, Norrie.« »Wer war schon gut für mich? Wovon, um Himmels willen, redest du?« Ihre Heftigkeit erschreckte ihn. Für einen Moment sah er verlegen aus, ein wenig dumm sogar. Sie war an die Grenzen seiner Auffassungsgabe gestoßen. Andererseits hatte er nie über ihr Dilemma nachgedacht, aus dem einfachen Grund, weil es nie ein bedeutender Teil seines Lebens gewesen war. »Ihr gebt ein gutes Paar ab«, sagte sie. »Du und Lucinda. Du hättest sie heiraten sollen.« »Ich wollte sie nicht heiraten«, sagte er gelassen. »Oder mich. Eigentlich.« Und dann erkannte ihn jemand. Ein älterer Gentleman, der an ihrem Tisch vorbeikam, blieb stehen und sagte, er wolle sich nicht aufdrängen, aber sind Sie nicht Maurice Dove? Ich habe Sie im Fernsehen gesehen. Ich möchte nur sagen, wie gut mir alle Ihre Bücher gefallen haben. Maurice war dankbar, unbefangen, in seinem Element. Aber als der alte Mann gegangen war, verdrehte er die Augen. So hielt er es also. Er teilte Freundlichkeiten aus, während er mit anderen unter einer Decke steckte. Das nennt man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wissen ist immer nützlich, dachte sie, als sie draußen stand und auf den Bus wartete. Wissen überrascht immer und ist immer wertvoll. Es nutzt sich nie ab. 358
Wer war es, der sagte, dass Rache kalt am besten schmeckt? Rache und Porridge schmeckten kalt am besten. Im April zog sich Ernest in sein Bett zurück und wollte nichts mehr essen. Das war neu. Ihr Vater wollte nichts essen, ein Mann, der seine Mahlzeiten so pünktlich einnahm wie die Blauhäher, die jeden Morgen um zehn nach acht zur Futterstelle kamen. Abends las sie ihm vor, und er sagte ihr nicht, dass sie aufhören sollte. »Möchtest du, dass ich dir etwas Bestimmtes vorlese?«, fragte sie eines Tages. »Du machst das gut.« Thomas Hardys Under the Greenwood Tree. Sie hatte es vom Regal im Wohnzimmer genommen und nie zuvor gelesen, und es kam ihr besser, einfacher, interessanter vor als all seine späteren, bedeutenderen Romane. Das kann einem zweifellos eine Lehre sein, dachte sie, wenn man sich für Lehren interessiert. Doris vorn Pflegedienst beruhigte sie. So kommt es oft. »Sie beschließen, dass sie genug haben. Wir werden sehen. Er hat keine Schmerzen. Ist nur erschöpft.« Sie badeten ihn jetzt gemeinsam, und irgendwie behielt Ernest seine Würde, sogar, wenn sie ihn in das Bad und wieder heraus hoben. Im Bett wirkte er mehr und mehr wie eine kleine graue Maus, ernst wie das Kind aus Hans Memlings Maria mit Kind, und in seinen geschrumpften Zügen trafen hohes Alter und frühe Kindheit zusammen. Ende April rief sie Johnny an und sagte ihm, dass er kommen sollte. Er flog noch in derselben Woche, und sie holte ihn in Ernests Chevrolet am Flughafen ab. Wundersamerweise sprang das Auto an. Und es war noch wundersamer, dass sie nicht von der Straße abkam, eine Frau, die seit Jahren nicht mehr am Steuer eines Autos gesessen hatte. Wer fährt schon Auto in New York?, sagte sie zu Johnny und sah angestrengt durch die 359
Windschutzscheibe, als sie nach Hause fuhren, wo gebratenes Hühnchen und Apfelkuchen warteten. Johnny in Ottawa war anders als Johnny in New York. Weil sein Studium und das tägliche Leben ihn nicht ablenkten, hatte er Zeit für sie. Sie arbeiteten zusammen in der Küche, machten Salat, deckten den Tisch, spülten Geschirr. Er plapperte über seine Kurse, interessierte sich für ihre Zeichnungen von Ernest und Max, die die Küchenwand bedeckten, interessierte sich für Max, als er vorbeikam, um ihnen einen Kartentrick zu zeigen, den er gelernt hatte, und fragte immer wieder, was er tun könne, um zu helfen. Sie sah Maurice in seinem Gesicht, besonders in den besorgten blauen Augen, die nur bis zu einem gewissen Grad besorgt waren. Er war ein junger Mann, der sein Leben noch vor sich hatte. Was Ernest anging, war es, als hätte er nur auf den Besuch seines Enkelsohns gewartet. Solange Johnny da war, lebte er auf, gewann drei Cribbage-Spiele hintereinander und saß bei jeder Mahlzeit mit am Tisch. Aber als Johnny abgereist war, aß er gar nichts mehr. Ende April war es kalt. Kein Blatt in Sicht. Die Zweige und Äste sahen aus, als wären sie mit Silber eingedeckt. Sorgfältig hergerichtet wie ein Tisch. Eines Tages ging sie über den Echo Drive zur Pretoria Bridge, und dort boten die plötzliche Offenheit des Kanals, seine lange, gekrümmte Uferlinie, die parallelen Linien des schneebestäubten Pfads und der dunklen Straße, die Gruppen der Weiden, Fichten, Eichen und Büsche unter Sackleinen einen Anblick, der so befriedigend war, dass es für einen Moment auf der Brücke nichts anderes gab, was sie wollte, und dass an dem, was sie wollte, nichts war, was sie störte. 360
Als sie an einem anderen Tag im Arboretum spazieren ging, kam sie auf einen niedrigen, breiten Perückenstrauch zu, der auf seiner bloßen Kopfhaut mit Büscheln bedeckt war, die wie das Haarnetz einer alten Frau aussahen, und vier Beeren hingen wie Rubine von einem Zweig herab. Ein Blick, und sie war wieder am Lake Clear: der Boden ein Erdbeerwald und sie selbst ein neuer Gulliver, der auf Händen und Knien die Baumwipfel teilte und die vollkommenen Früchte verschlang. Das waren noch Zeiten, dieser Sommer nach dem Krieg, als sie jeden Morgen den Wetterbericht in der Zeitung las. Dunst im Mackenzie Valley, Schauer in Saskatchewan, Gewitter in Ontario, Nebel an der Bay of Fundy. Einzelne Schauer in der verdorrten Landschaft, in der sie sich kennen gelernt hatten, und jetzt Regen dort, wo sie waren. Sie stieg zwischen beschilderten Bäumen den Pfad hinauf bis dorthin, wo das Arboretum allmählich endete, und ging dann oben auf einer morastigen Straße bis zur Böschung des Hügels, der frühlingshaft verwahrlost war. Keine Hunde liefen umher. Keine Schlittenfahrer auf ihren silbernen Untertassen, die rücksichtslos abfuhren und schwerfällig wiederkehrten. Auf ihrem Nachhauseweg sah sie: Sibirische Lärchen, knotig wie Traubenstängel, wenn die Trauben abgezupft sind, ein Eichhörnchen hoch oben in einem Baum, das eine Nuss aufsägte wie ein winziger Holzhacker, eine dicke Frau, die ihren kleinen Hund Peaches ausschimpfte, und eine junge Frau, die mit der Leine in der Hand dem langen, hoppelnden Vince nachjagte. »Lieber Gott, wo ist deine Schwester?« Ihr Vater, der in der Schlafzimmertür stand. Aufgeregt. Verloren. »Warte«, sagte sie, stieg aus dem Bett und griff nach ihrem Morgenrock, der über der Stuhllehne hing. Sie nahm ihn 361
am Arm und führte ihn nach unten. »Sie ist nicht da. Sie ist schon lange nicht mehr da. Ich mache uns Tee.« Es war halb fünf Uhr morgens. Sie saßen mit ihren Teetassen über Eck am Küchentisch, und sie fragte ihn, ob es noch etwas anderes gebe, das er gerne hätte. Ja. Er wollte die Farm wieder sehen. Die Farm? Sie hatte eher an Toast gedacht. »Ich dachte, du hasst sie.« »Wie kommst du denn darauf? Ich habe die Arbeit geliebt.« Das hatte er. Er hatte die harte, drückende Arbeit dort geliebt. Lucinda auch. Es war ihre Berufung. Ihr eindrucksvolles Rückgrat war auf viehischer Arbeit errichtet. »Aber es hat dir das Herz gebrochen«, sagte sie. »Die ganze Arbeit umsonst.« »Sie war nicht umsonst.« »Es tut mir Leid. Ich meine nicht, dass alles vergeblich war.« »Es war harte Arbeit, aber ich hatte keine Angst vor harter Arbeit.« »Ich weiß«, sagte sie, und am nächsten Morgen rief sie wegen der Fahrkarten ein Reisebüro an. Als Doris kam, sagte sie ihr, dass Ernest sich erholt hatte. Er hatte gut gefrühstückt, am Tisch. Und offenbar wollte er unbedingt ein letztes Mal zurück nach Saskatchewan fahren. »Wir wollen abwarten und sehen«, sagte Doris. »Kaufen Sie die Fahrkarten noch nicht.« Es war Mitte Mai, regnerisch und kühl. Die Tulpen hätten in Blüte stehen müssen, aber zu viel Regen hatte sie tief gebeugt. Norma Joyce machte kurze Spaziergänge und blieb stehen, um die verschiedenen Rottöne zu betrachten. Sie erinnert sich, dass sie dachte, Chinesisch-Rot, und sich dann berichtigte, MountieRot. Einmal schneite es ein wenig, als sie am Morgen aufstand, und sie sagte zu Ernest: »Ich werde nicht sagen, dass es schneit. 362
Ich werde höchstens sagen, es liegt Schnee in der Luft.« Oben wurde ihr Schlafzimmerfenster rosarot. In einer Woche würde es bunt sein, und in drei Wochen würden alle Blütenblätter auf der Erde liegen. In dieser Nacht deckte Mother H. ihre Blumen mit Plastiktüten zu, einige weiß, einige schwarz. Wieder hörte sie vor der Dämmerung etwas und ging nach unten. Als sie in sein Zimmer trat, sank sein Kopf in das Kissen. Sie goss frisches Wasser in sein Glas und hob ihn an, damit er einen Schluck trinken konnte. Er zog ein Gesicht. »Tee? Ich koche dir Tee.« Sie ging in die Küche, machte Licht und stellte den Kessel an. Sie blieb wie angewurzelt stehen, bis das Wasser kochte. Es war fünfundzwanzig Minuten vor fünf. Ihr Vater hatte ihrer Mutter immer um fünf Uhr morgens eine Tasse Tee gemacht. Wieder hielt sie ihn in ihrem linken Arm, damit er von seinem Tee trinken konnte. Sie beugte sich zu ihm hin. »Was hast du gesagt?« Er sagte es noch einmal. »Du bist eine gute… Tochter.« Es ist immer schön, wie einem die Dinge am frühen Morgen begegnen. Das Licht berührt jedes einzelne Ding. Offenbar hat es sehr viel Zeit. Das schmale Bett, den Nachttisch, das weiße Tuch, das an den Rändern umhäkelt ist, das Wasserglas, die kleine Uhr, die Schachtel mit den Papiertaschentüchern, Right Ho, Jeeves in Großdruck. Ernest sagte, es gefalle ihm, aber sie hatte ihn nicht lachen gehört. Das Zimmer war sauber und ordentlich. Seine Atemzüge waren flach und kamen von weit her. Sie nahm seine Hand, und ein altes Bild fiel ihr ein aus den sorgenvollen Monaten, in denen sie schwanger war, vor Jahren. Damals schloss sie oft die 363
Augen und stellte sich vor, dass sie im Spätsommer durch die Prärie ging; Luft so klar wie Wasser, Wind, der sie umspielte, und eine Hand, die in ihre glitt. Die Hand ihres Vaters war so kühl wie eine Blume. Sein Körper war wie eine zerbrechliche blaue Tulpe. Seine Arme waren wie hängende Stiele. Er schlug die Augen auf. Sie musste sich näher zu ihm beugen. Er sagte es langsam, unmissverständlich, heiser flüsternd: »Gute… Nacht… Lucinda.« Dann schloss er die Augen, und sie blieben geschlossen. Und nach einer Weile sagte sie: »Und dir auch Gute Nacht. Irene.« Den Segen erteilt und dann zurückgenommen. In der kurzen Zeit zwischen den beiden Ereignissen war ihre Stirn endlich glatt geworden. Kein Wunder, dass Jakob vor nichts zurückschreckte, um den Segen seines Vaters zu erlangen. Nasen und Tränenkanäle weiten sich, wenn wir altern. Traurig, aber wahr. Sie hatte die alte Stellung eingenommen auf ihrem Bett, auf der Seite liegend, mit angezogenen Knien. Sie hatte nie geglaubt, dass es ihr etwas ausmachen würde. Sie hatte immer geglaubt, sie wäre ihrer Schwester dankbar dafür, dass sie ihren Vater mit Beschlag belegte, und ihrem Vater dankbar, dass er alles, was er sagte, an Lucinda richtete. Er war ein Mann gewesen, der Wert auf Höflichkeit gelegt hatte. Seinen Manieren waren wirklich beinahe vornehm gewesen, jemand, der aufstand, wenn eine Frau aufstand, und immer dicht an der Straße ging, wenn er neben ihr ging. Das hatte er sogar für sie getan. Seine Hände auf ihre Schultern gelegt und sie auf die Innenseite geschoben. Später sollte sie für ihren kleinen Sohn dasselbe tun. Nein, dass ihr Vater ganz unverhohlen Lieblinge gehabt hatte, war ihr gleichgültig gewesen. Sie hatte nicht gedacht, dass es ihr etwas ausmachte. 364
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IV
»In unserem Leben sind die Tage fast immer unberechenbar, sie gehen ohne Bedeutung, ohne besonderes Glück oder Unglück vorbei. Dann ist es, als drehe man einen Wandteppich um, von dem man nur die Rückseite kannte, und plötzlich sieht man das Muster.« Jane Gardam, Crusoe's Daughter
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Die Stille wird durchbrochen, als jemand ihren Namen ruft. Aus dem späten Vormittag ist ohne ihr Wissen Nachmittag geworden, so vertieft war sie in ihre Entdeckung. Es ist, als hätte der Tod ihres Vaters ihre Mutter wieder zum Leben erweckt, aber zu seinen missgünstigen, verletzenden Bedingungen. Sie geht zur Hintertür und tritt hinaus. Es ist Ende Mai. Auf der Wäscheleine hängen die Hosen, Hemden, Socken und der Morgenmantel, die in ein paar Tagen von der örtlichen Fürsorge abgeholt werden sollen, schon fast trocken im heißen Sonnenschein. Zwei Wochen sind seit dem Tod ihres Vaters vergangen. Johnny ist gekommen und gegangen, und sie ist Erbin eines Hauses geworden, eine neue Art der Einsamkeit, und der Sommer ist plötzlich da. Max und Ida warten an der Verandatreppe. »Wir haben etwas zu lesen für dich«, verkündet Max und steigt mit einem Arm voller Bücher aus der Bücherei zu ihr hinauf. Oben entgleiten ihm ein paar. »Oh Max!«, schilt Ida, und Norma Joyce bückt sich, um Adam Bede und The Godfather aufzuheben. »Ich wusste einfach nicht, wozu Sie in Stimmung sind«, sagt Ida auf der untersten Stufe, belustigt und ein wenig schwermütig. »Also hat schließlich die Bibliothekarin eins ausgesucht und ich das andere.« Und noch etwas. Ein Kinderbuch über das Wetter. Ein kleines Buch mit transparenten Blättern, die einen sonnigen Tag in einen regnerischen Tag verwandeln, einen klaren Tag in einen nebligen Tag, einen Herbsttag in den Winter. Die Szenerie bleibt dieselbe, aber der Ausdruck ändert sich. »Ich liebe solche Bücher!« 367
Norma Joyce setzt sich auf die oberste Stufe und blättert die Seiten um, und zum zweiten Mal für heute ist ihr Schoß mit Bildern überflutet. »Mein Sohn hatte auch immer so ein Buch.« Wie es wohl wäre, auf so ein transparentes Material zu malen?, fragt sie sich. Wie auf Film zu malen, aber wahrscheinlich leichter zu handhaben. Wie nennt man das? Cellophan? »Du kannst es erst mal behalten«, sagt Max. »Max«, sagt sie, »du bist ein Prinz.« Max und Ida überlassen es ihr, und sie wird nicht müde zu sehen, wie sich jede Seite vollendet über die vorherige Szene legt, Punkt für Punkt, und sie leicht, aber entscheidend verändert. Jetzt ist es Abend, und sie ist am Fuß ihres Gartens. Sie sieht Mrs. Gallot, die sich über ihr Beet mit der Akelei beugt, und ruft nach ihr. Sie treffen sich auf dem grasbewachsenen Feldweg zwischen den Häusern. »Ich habe heute etwas Wunderbares gefunden«, sagt Norma Joyce. »Sie müssen kommen und es sich anschauen.« Sie gehen auf dem Steinpfad den Hang hinunter und die Hintertreppe hinauf in die Küche. Das Licht darin ist gedämpft. Norma Joyce schaltet die Lampe ein, die über dem Küchentisch hängt, und Mrs. Gallot holt tief Luft. Der Tisch ist mit Zeichnungen, Aquarellen, Ölbildern bedeckt. »Wo hast du die gefunden?« »Im Keller. In dem kleinen Raum hinter dem Öltank. Sie waren darin verpackt«, und sie deutet auf eine Holzkiste, die am Tisch lehnt. »Ich habe ein paar Kartons mit Sachen von Lucinda gefunden, dann diese Kiste, eingekeilt zwischen den Kartons und der Wand. Ich habe es nie für nötig gehalten, dort hineinzugehen. Irgendwie dachte ich, sie sind in einem 368
Schrankkoffer.« »Nein, so haben wir sie geschickt.« Mrs. Gallot setzt ihre Brille auf und fängt an, sie durchzugehen; immer wieder hält sie inne, um jedes entzückt zu betrachten. Es gibt einige Aquarelle mit Blumen, Bleistiftzeichnungen von der Familie, Skizzen von der Farm, eine Serie Tuschezeichnungen von Grashalmen, einige Akte: Florida May, von der Taille aufwärts, das Gesicht manchmal nicht ausgeführt, manchmal grob gezeichnet, und es fällt beinahe zu schwer, die Bilder anzuschauen, weil sie so direkt an ihre Einsamkeit und ihren plötzlichen, frühen Tod erinnern, aber sie sind so kunstvoll gemacht, dass Norma Joyce Vergnügen und Stolz empfindet. Es gibt auch einige Ölbilder. Vor Norma Joyce' Geburt gemalt, sonst hätte sie sich an den Geruch von Farbe und Terpentin erinnert. Eines ist ein Porträt von Lucinda, die auf einem Stuhl sitzt und sich in gespannter Konzentration über ein Buch beugt. »Ich hatte Unrecht. Sie haben sie doch nicht weggeworfen.« »Gott sei Dank«, sagt Mrs. Gallot und setzt sich mit einem gewichtigen Seufzer hin. »Es war ein schrecklicher Gedanke.« »Ich habe sie beide falsch eingeschätzt.« Sie nimmt das Ölbild von ihrer Schwester. »Aber wie konnte man das wissen? Seinerzeit, meine ich.« »Man weiß nie.« »Jedenfalls werde ich nun einen Gedanken nicht mehr los. Ich frage mich immer wieder: Hat Ernest es vergessen, oder hat er es mir aus reiner Boshaftigkeit nicht gesagt?« Norma Joyce schüttelt den Kopf. »Wissen Sie, was er zu mir gesagt hat? Er sagte, sie hat nicht viel gemacht. Ich weiß nicht, 369
ob ich mich mehr für meine Mutter ärgern soll oder für mich selbst.« »Hier.« Mrs. Gallot zieht den Stuhl neben ihrem hervor. »Setz dich zu mir.« Sie setzt sich und muss lächeln, als Mrs. Gallot ihr eine lose Haarsträhne aus der Stirn streicht, einen Krümel von der Unterlippe. »Habe ich dir jemals erzählt«, sagt Mrs. Gallot, »dass mein Vater zwei Jahre lang im Bett gelegen hat? Er gab auf. Ich weiß nicht, warum. Er lag auf dem Sofa und las Zeitschriften, und meine Mutter und meine Brüder und ich kümmerten uns um die Farm.« Norma Joyce schaut sie interessiert an. »Wodurch hat er sich wieder erholt?« »Orangen. Daran glaubte man damals. An die Wirksamkeit von Orangen.«
Orangen. Sie erscheinen vor ihren Augen wie ein Stillleben: geschält und duftend auf einem Teller. »Dein Vater war nicht boshaft«, sagt Mrs. Gallot. »Er war stolz. Und er war der Erste, der jemandem half, der in Schwierigkeiten war. Mehr als einmal hat er gesagt, dass wir Wasser aus seinem Brunnen nehmen sollen.« »Er war nicht nur boshaft«, sagt Norma Joyce. Und dann wendet sie ihren Blick zum Fenster hin. »Es ist zu schön, um drinnen zu sein. Ich begleite Sie nach Hause.« Ottawa hat sie überrascht, weil es so schnell zu einem Garten wurde. Die Luft ist warm und satt, das Gras kräftig, die Blätter dicht. Auf dem Feldweg treffen sie Bella, die müde aussieht und zugibt, nicht geschlafen zu haben. Norma Joyce erzählt ihr, dass Mike, der Friseur, eine weiße Trompetenblume anbaut, deren 370
süßer Duft für gute Träume sorgen soll. Bella zuckt mit den Schultern. »Die einzige Blume, die ich kenne, ist Kapuzinerkresse. Die mag schlechten Boden und hasst Dünger, also hat meine arme Mutter es nie geschafft, sie umzubringen.« »Das stimmt«, meint Mrs. Gallot. »Das waren die einzigen Blumen, die man in diesem Trockengebiet ziehen konnte.« »Ich habe meine Fahrkarte«, erzählt ihr Norma Joyce. »Vom 10. bis 16. Juni. Ich glaube, eine Woche reicht.« »Mir in jedem Fall«, sagt Mrs. Gallot »Wohin fahren Sie?«, fragt Bella. »Sie kehrt an den Ort des Verbrechens zurück. Das gute alte Saskatchewan.« »Wollen Sie malen?« Norma Joyce lächelt Mrs. Gallot zu und sagt: »Meine Agentin, Bella Pugg.« »Es gibt nur eine Sache, die mir fehlt«, sagt Mrs. Gallot, »der Geruch der Präriegräser.« »Ja.« »Ich hatte immer ein paar in einem Buch stecken. Als ich es vor ein paar Jahren zufällig gesehen und aufgeschlagen habe, waren sie alle zu Staub geworden.« »Ich bringe Ihnen welche mit.« »Der Duft war trotzdem noch da, so würzig wie immer.« »Ich bringe Ihnen welche mit«, sagt Norma Joyce. Am Morgen vor ihrer Reise geht sie den Feldweg entlang zum Laden an der Ecke, und als sie sich umsieht, fragt sie sich, ob es irgendetwas Grüneres gibt. In der Nacht hat sich der schwere 371
Himmel eine Stunde lang entleert. Jetzt ist die Welt um einiges grüner geworden. Jacks Bohnenranke ist im Geiste überall. Als sie mit der Milch unter dem Arm auf dem Rückweg ist, sieht sie Max auf dem Gehweg vor seinem Haus. »Hast du schon die großen Neuigkeiten gehört?«, fragt er sie, seine Haare stehen in alle Richtungen ab, und seine schlanke Gestalt ist in Shorts und ein blaurotes Hemd gekleidet. »Ich habe einen Quarter verschluckt.« »Nein«, sagt sie. »Nein, hast du nicht.« Sie lachen, die beiden. Aber er meint es ernst. Er sagt: »Er ist in meinem Hals stecken geblieben.« »Wie hast du ihn herausgekriegt?«, fragt sie. »Mit einer Pinzette«, sagt er. Die Haustür wird geöffnet, Ida kommt die Treppe herunter und schiebt sich ihr schlaffes, dunkles Haar hinter die Ohren. Eine Frau, die eine Dusche und Ferien braucht. Ja, bestätigt sie mit einem Seufzer: »Ist das zu glauben? Als ob ich nicht schon genug Sorgen hätte.« Sie mussten vier Stunden in der Notaufnahme verbringen, sagt sie. Max bekam Sauerstoff und einen Herzmonitor. Dann betäubten sie ihn und entfernten die Münze mit einer langen Pinzette. »Wie ist das passiert?«, fragt Norma Joyce Max. Er zieht den Kopf ein. »Ich hab's vergessen«, sagt er. »Es ist gestern passiert. Ich weiß es nicht mehr.« »Er hat ihn hochgeschnipst«, wirft Ida ein. »Er lag wie immer auf dem Sofa und schnipste ihn in die Luft, und irgendwie – ich war in der Küche, ich habe es nicht gesehen – ist er in seinen Hals gefallen und hinter der Luftröhre stecken geblieben. Unser kleiner Geldsack«, und sie schüttelt ihren müden Kopf. Max reibt seinen Hals und stellt fest: »Er ist immer noch wund.« 372
Sein Ton ist gedankenvoll. Er ist der Schauplatz, die Quelle eines großen Ereignisses gewesen, und jetzt will – oder muss – er nicht länger die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er wirkt still, geradezu bedrückt wegen des Zwischenfalls. »Hat der Arzt dir deinen Quarter zurückgegeben?« »Ich habe ihn weggeworfen«, sagt er. »Ich will ihn nie wieder sehen.« »Das kann ich dir nicht verdenken.« Es regnet im Süden von Saskatchewan. Hier ist die Luft dunkel, und der Boden ist mit Blütenblättern bedeckt. In der Küche nimmt sie die letzte weiße Tulpe aus der Vase auf dem Tisch, und alle Blütenblätter, die sie noch hat, fallen ab. Sie hebt sie auf. Sie sind genauso leicht und sehen genauso aus wie abgestorbene Hautstückchen, die man von einer Lippe zieht. Sie fühlt sich immer noch bestraft durch die letzten Worte ihres Vaters, durch diese kalte Dusche. Sie weiß, Disziplin wird nötig sein, damit sie nicht in Selbstmitleid verfällt, sondern arbeitet, Dinge erledigt, den Rest ihres Lebens angeht und ihn nicht nutzlos an sich vorübergehen lässt. Als sie oben für ihre Reise packt, denkt sie an Ernest. Das Bild seines grauen, ruhigen, friedlichen Gesichts wechselt sich in ihren Gedanken ab mit dem Bild der Münze, die in Max' staunenden Mund fällt. Sie fährt nicht für Ernest nach Saskatchewan oder gar für ihre Mutter, deren Zeichnungen von der Farm in ihrem Schlafzimmer an den Wänden hängen. Das heißt, sie fährt nicht nur für sie. Etwas anderes drängt sie, auch wenn sie nicht sagen kann, was es ist. Sie packt einen Regenmantel ein, und die Cribbage-Spiele kommen ihr wieder in den Sinn. Ihr Vater war bis zum Schluss ein kindischer Verlierer gewesen. Ein verbissen entschlossener und bedauernswerter Mann. Der über die Vergangenheit 373
grübelte, während er vorwärts drängte. Sehr vielschichtig, auch wenn er es sich bei anderen Leuten zu einfach machte. »Lucinda«, sagte er besonders gern, »hat sich selbst vollkommen aufgegeben.« Wie sie einander verletzt hatten mit ihrem Mangel an gegenseitiger Bewunderung. Alles ist jetzt in ihrer Tasche, mit einer Ausnahme. Sie geht hinüber zur Frisierkommode, wo sie einen kleinen weißen Umschlag bereitgelegt hat. Sie zögert, nimmt ihn dann und lässt ihn in ihre Tasche gleiten.
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Außerhalb von Regina hält Norma Joyce ihre gemietete zweitürige Limousine an einer historisch interessanten Stelle (wie das Schild besagt) an. Es ist früher Nachmittag, der Flug war angenehm, aber jetzt sitzt unglücklicherweise sie am Steuer. In ihrer Nervosität sieht sie einen grünen Mietwagen vor sich, den man an einer verlassenen Präriestraße zu Schrott gefahren hat. Entweder ist sie dann tot, oder sie schuldet jemandem ziemlich viel Geld. Es gibt heißen, lebhaften Wind und gelbe Blumen auf den Feldern, ein totes Reh am Straßenrand. Ein Blick auf das Reh, und ein Stück Rehfleisch steckt in ihrem Hals. Auch hier ist alles grün. Keine Spur von dem, was so viele verzweifelte Leben und verzweifelte Tode verursacht hat. Das Schild besagt, dass sie am Grund eines eiszeitlichen Sees steht, der sich vor vierzehntausend Jahren nach Südosten hin entleert hat und einer gewaltigen Prärie mit Borstenschmiele, Quecke, Rispengras und Moskitogras gewichen ist, Pflanzen, die auf vierzig Meter dickem Erdreich gedeihen. Sie dreht sich im Kreis herum, eine Hand beschattet ihre Augen, die andere hält eine Karte, die im Wind flattert. Auf dem grünweißen HighwaySchild zeigt der eine Pfeil nach Moose Jaw, der andere nach Winnipeg. Gerade Straßen für ängstliche Fahrer. Sie ist sogar noch ängstlicher, als sie weiß. Als sie wieder im Auto sitzt und Richtung Westen fährt, schaut sie in den Seitenspiegel und fährt erschrocken zusammen, denn ein grünes Auto ist ihr dicht auf den Fersen. Aber dann sieht sie, dass es ihr eigenes Auto ist. Pass auf, denkt sie. Der große Unbekannte läuft frei herum. Sie beruhigt sich, indem sie so tut, als wäre sie ihr Vater. Ernest war einer dieser unermüdlichen, tüchtigen Männer, die stundenlang 375
hinter dem Steuer sitzen können. Sie erinnert sich an seine langen Nachtfahrten nach New York, bei denen er sich mit kernlosen Trauben auf dem Beifahrersitz stärkte. Kurz hinter Swift Current erheben sich in mittlerer Entfernung niedrige Hügel, und an ihrem Fuß bewegt sich im gleichen Tempo wie sie ein langer, dunkler Güterzug und bildet ein Perlenhalsband um die sanftgrünen Hügel. Nach einer Weile werden die Hügel langsam flacher, aber es gibt noch immer eine Welle im Land, die dazu einlädt, die Hand auszustrecken und sie glatt zu streichen. Eine Zeile aus Adam Bede: »… wo die Bäume so selten sind, dass ein Kind sie zählen könnte.« Deswegen bin ich also gekommen, denkt sie. Um mit meinen eigenen Augen das weite, holprige Grasland zu sehen. Wann immer ihr Blick sich von der Straße zur Landschaft hebt, erholen sich ihre Augen. Sie fährt den ganzen Nachmittag. Am frühen Abend erreicht sie Tom's Guest House, südwestlich von Willow Bend. Ein großes, weiß gestrichenes Holzhaus, das innen und außen die alten Ontario-Züge trägt, und sie fragt sich, wie es hierher gekommen ist, in diese bewässerte Schlucht am Rand einer ausgedehnten Prärie, ein feiner, alter Schuh, den eine eilige Prinzessin verloren hat. Ihr Zimmer liegt im zweiten Stock. Das Fenster geht nach Westen, und der immer währende Wind rüttelt daran. Am Morgen kommt sie herunter, und eine kleine braune Nuss von einer Frau, lebhaft und zerknittert, streckt die Hand aus und sagt: »Ich bin Terry, Toms Frau. Wer sind Sie?« Und: »Warum sind Sie hier?« Die anderen Gäste kommen wenig später. Der große junge Deutsche, der kleine Journalist mit dem Notizbuch, der stille Bibliothekar, der die Geschichte der Prärie liebt. Sie sitzen 376
zusammen an einem großen Tisch im Esszimmer, während Terry ihre Tassen mit dünnem Kaffee füllt und sich aus Player'sExtra-Light-Tabak und Zig Zag Kut Korners Zigaretten dreht. Der Journalist schreibt einen Artikel über die Cypress Hills, »und über alles andere, was mir gefällt«, sagt er. Innerhalb von Minuten fällt Terry dazu ein Garten ein, den der Wind bis auf den blanken Boden abgeschliffen hat, Raupen, die in gerader Linie die Wände hoch und über das Dach gekrochen kamen, Staub, der sich vor Schneezäunen sammelte, bis er so hoch war, dass man wunderbar darin spielen konnte. Ihre Eltern waren drei Mal durch Präriefeuer ausgebrannt, und die Angst vor dem Feuer »klebte förmlich an ihnen«. Nach dem Frühstück geht Norma Joyce die steile Einfahrt hinauf zu dem Felsvorsprung in der Prärie über der Schlucht, wo nicht ein einziger Baum die Linien der grasbewachsenen Hügel in der einen und der Weizenfelder in der anderen Richtung stört. Wir haben hier ganz in der Nähe gewohnt, hat sie Terry erklärt, aber auf der anderen Seite von Willow Bend, und sie hat ihr die Lage beschrieben. Terry sagte: »Ich bin nicht sicher. Ich glaube, die Hutterer haben das jetzt.« »Die Hutterer?« »Sie haben eine Menge Land aufgekauft. Sie würden staunen.« Zuerst fährt sie nach Willow Bend. Es ist kleiner, stiller, leerer. Die Molkerei ist fort und der Eisenwarenladen in gewisser Weise auch. Da ist nicht mehr der hohe, dunkle, enge Raum mit den deckenhohen Regalen, die voll gestopft und geheimnisvoll und männlich waren, ihr unbestrittener Lieblingsort nach dem Postamt; jetzt ist da eine freie Fläche voll mit leuchtend buntem 377
Plastik. Wie unheimlich, wenn man an einen Ort zurückkehrt, den man kennt und doch nicht kennt. Wie groß ist der Abstand zwischen damals und jetzt, und wie schnell füllt er sich mit Traurigkeit, wenn man nicht Acht gibt. Die Stadt ist in den Umrissen vertraut, aber nicht in den Einzelheiten. Eigentlich zwei Städte, ganz ähnlich wie zwei Schwestern, deren Verbindung nur die gewaltige Entfernung zwischen ihnen unterstreicht. Die chinesischen Restaurants sind fort, das Mint und das Gem, wo ihr Vater manchmal einen Teller Eier mit Schinken aß, während sie und Lucinda Rührei-Sandwiches mit HP-Sauce bestellten. Dort ist jetzt ein Laden namens Jim's Café. Sie geht hinein, setzt sich ans Fenster, bestellt ein HühnchenSandwich und hört jemanden hinter sich Daisy sagen. Sie dreht sich um und erkennt am übernächsten Tisch Daisy Thompson. Das Mädchen, das Pferde liebte. Bis sie mit fünfzehn schwanger wurde, war sie dick mit Lucinda befreundet. »Daisy?« Norma Joyce beugt sich zu ihrem Tisch hinüber. »Kennst du mich wohl noch?« Daisy schaut auf. Sie trägt eine schmutzige weiße Bluse mit kurzen Ärmeln. Ihre Haut ist fleckig braun. Ihre Augen sind porzellanblau. Ihr kurzes, buschiges Haar ist gelblich weiß. »Es ist sehr lange her, aber ich bin Lucinda Hardys Schwester. Wir haben hier in der Nähe gewohnt.« »Ich erinnere mich an Lucinda Hardy. Roald? Du erinnerst dich doch noch an Lucinda Hardy?« Daisys dicker, freundlicher Begleiter steht auf und rückt einen Stuhl für Norma Joyce zurecht, und sie setzt sich zu ihnen und erfährt, dass sie jetzt zusammenleben, der gelassene Roald von den reizenden Manieren und die wettergegerbte Daisy von den strahlend blauen Augen. Daisy hat die Ranch ihres Vaters. Sie ist 378
tagsüber dort und nachts in der Stadt bei Roald. Eine glückliche Frau, denkt Norma Joyce. Ein glückliches Paar. Sie fragen sie nach Lucinda und Ernest. Sie wollen wissen, wo sie wohnt, ob sie schon auf der Farm gewesen ist. »Kein Grund zur Eile«, sagt Roald. »Sie ist jetzt sicher anders.« »Sie werden sie nicht wieder erkennen«, sagt er. »Komm zur Ranch«, drängt Daisy. »Komm irgendwann nachmittags.« Vom Café aus spaziert Norma Joyce durch das übrige Willow Bend und stellt fest, dass es völlig verfällt. Läden sind mit Brettern vernagelt, Straßen nahezu leer. Aber es ist Mittag, und die Kirchenglocken läuten. Sie geht auf die Glocken zu und kommt an der High School vorbei, die sie nie besucht hat und die jetzt ein Museum ist, das sieben Tage in der Woche geöffnet hat, wie das hölzerne Schild neben dem Gehweg besagt. Sie durchquert eine Lücke in einer blühenden Erbsenstrauchhecke (der Strauch wurde 1890 aus der russischen Steppe eingeführt, wie Maurice einst ihrem unbeeindruckten Vater sagte) und geht den Fußweg hinauf zur Museumstreppe. Auf einem mit Klebeband befestigten Stück Papier stehen die Namen zweier Leute, die versprechen, jederzeit zu öffnen. Sie schreibt sich die Namen auf, und im Lebensmittelladen telefoniert die Frau hinter dem Ladentisch für sie. Wenn sie bereit ist, zu warten, wird in einer halben Stunde jemand kommen. Sie wartet im Schatten unter einer Weide, bis der Herr vom Museum kommt. Ein gesund aussehender alter Mann in Bermudashorts und Turnschuhen. Einer dieser derben, leutseligen Männer, die es lieben, wenn ihnen eine Frau zuhört, die jünger ist als sie selbst. Aber auch Norma Joyce kann hartnäckig sein. Er will ihr all seine Eisenbahn-Memorabilien zeigen, sie will sie nicht sehen. Er will ihr all seine Kriegs-Memorabilien zeigen; die will sie auch nicht sehen. Sie besteht darauf, an den Glaskästen voll 379
verblasster Uniformen und Medaillen und Flaggen vorbei in einen großen Raum zu gehen, in dem man auf einer Seite eine Pionierküche mit Wohnraum und auf der anderen ein Archiv mit alten Büchern und Zeitungen eingerichtet hat. Sie lässt sich von ihm den Zenith-Ofen mit seinem Warmhaltefach und dem Wassertank zeigen, die Hundert-Pfund-Säcke mit Mehl und Zucker, die Obstgläser, die man benutzte, um Fleisch einzumachen, die Rosshaarmöbel und die handgemachten Quilts, und dann steckt sie ihre Nase in ein Exemplar des Family Herald von 1938. Wie gemütlich die Zeitungen damals waren, wie sie einen einhüllten in das Gefühl, mit vielen Leben verbunden zu sein: die unerschrockene Dorothy Dix, die Fortsetzungsgeschichten, die Rezepte und die Verzeichnisse mit altem Aberglauben, die Anzeigen von Leuten, die nach verlorenen Verwandten suchten, die Gebrechen und Unfälle und Heilmittel, die Ratschläge, wie man Feldfrüchte anbaute und sein Leben lebte, die Radioprogramme, die Kirchenlieder, das lange Lesen. Ich vermisse die Vergangenheit, denkt sie, hebt den Blick und schaut sich um. Willkommen in den Dreißigerjahren. Plötzlich erinnert sie sich an Mother Hulders Worte. Ihr Führer mit den Bermudashorts lässt sie nicht lange in Ruhe. Er will wissen, wo sie herkommt, und aus irgendeiner plötzlichen, störrischen Verschlossenheit heraus – oder aus welchem Grund auch immer sie den schwierigen Weg wählt – sagt sie, dass sie in Ottawa lebt, »im Moment«. »Ontario!«, spuckt er. »Der einzige Ort, den ich noch mehr hasse als Quebec, ist Ontario! Quebec wegen der Sprache, Ontario wegen des Geldes!« Er sagt, er sei mit dem Gedanken aufgewachsen, dass es in Ontario alles gab. Reichtum, schöne Kleider, keine 380
Entbehrungen. Ein Utopia. »Das hängt uns heute noch nach. Wir waren die Milchkuh, und Ontario hatte alles. Große Schiffe, hohe Häuser. Es gab dort McIntosh-Äpfel, Mutter sprach davon. Das war alles geheimnisvoll, etwas, wovon man in Büchern las.« Sie sind allein im Museum. Es ist groß und nimmt alle vier Räume der alten Schule ein, außerdem den Korridor und den Keller. Norma Joyce wird durch alle Räume geführt. Als sie aus der Tür tritt, ist es fast drei Uhr. Und er redet immer noch. Er will wissen, was die Leute in Ontario von »uns in Saskatchewan« denken. »Was haben Sie gedacht«, fragt er sie, »als sie auf mich gewartet haben, damit ich das Museum aufschließe – haben Sie gedacht, dass gleich irgendein alter Hinterwäldler auftaucht? Glauben in Ontario alle, dass es in Saskatchewan lauter Hinterwäldler gibt?« Norma Joyce schüttelt den Kopf. Die Sonne strahlt herab, die Luft ist süß vom Geruch der Erbsensträucher, die in gelber Blüte stehen, und zum ersten Mal kommt ihr in den Sinn, dass ihre eigene unerfüllte Liebesaffäre immer in die größere zwischen Saskatchewan und Ontario eingebettet war. Saskatchewan, so bitter, hartnäckig, aufmerksam. Ontario, so sorglos und unempfänglich. Eine Affäre zwischen zwei Landschaften und zwei Geschichten; nicht weniger wirklich und nicht weniger dauerhaft, als es gewisse Liebesgeschichten zwischen Menschen sind. Sie findet das Grab ihrer Mutter auf dem kleinen Friedhof vor der Stadt, und Normans daneben. Eine kleine schwarze Trauerammer mit Weiß an den Flügeln und einem Repertoire höchst musikalischer Pfiffe fliegt auf und lässt sich dann 381
entweder auf Erbsensträuchern oder auf der Erde nieder. Viele Grabstellen sind mit langen Platten aus weißem Beton bedeckt, kürzlich wurde aufgeräumt, vermutet sie, von wohlhabenderen Nachkommen, die auf irgendeinen fabelhaften Betonverkäufer hereingefallen sind. Nur ein paar alte Steine sind geblieben.
Florida May. Geliebte Ehefrau von Ernest Rupert Hardy. 1896– 1934. Und daneben ein kleinerer Stein: Norman Ernest Hardy. 1929–1931. Zu gut für diese Welt. Sie setzt sich zwischen den beiden Gräbern ins Gras und hört zu, wie der Vogel aus Leibeskräften pfeift. Flieder blüht am Rand des Friedhofs, zweifellos haben ihn heimwehkranke Siedler aus dem Osten gepflanzt. Für eine Weile sitzt sie einfach da und denkt, dass wir uns von manchen Dingen nicht erholen und trotzdem glauben, dass wir das tun. Schau dir das Land an. Vollkommen grün, als hätte die Dürre es nie angerührt. Aber jeder, der es kennt, weiß es besser. Sie hat sie alle überlebt, Mutter, Bruder, Schwester, Vater. Sie war die Kleinste, die Dunkelste, die Schwierigste. Aber sie ist immer noch hier und die anderen nicht, und es wäre falsch, das gewisse Frohlocken ihrer inneren Stimme zu überhören. Sie ist immer noch die jüngere, ehrgeizige Schwester. Ein Zwerg, der nach Gold strebt. Also gibt es dieses Frohlocken, und es gibt die Zärtlichkeit, wenn sie nach Osten Richtung Ontario blickt, wo ihr Vater und ihre Schwester begraben sind, und dann wieder auf diese beiden Gräber, Seite an Seite. Und jetzt fährt sie an den Straßenrand, um die Farm zu betrachten. Das Haus ist fort. Was dort steht, ist eher eine Industrieanlage als eine Familienfarm, eine Ansammlung von Kornspeichern aus Fertigteilen, Nissenhütten, barackenartigen Gebäuden. Keinerlei architektonische Schönheit. Keinerlei 382
Bemühungen um Bäume oder Obstgärten. Ein paar Petunien, damit es Blumen gibt. Es ist jetzt eine Huttererfarm, und ein Segen, dass Ernest nicht mitgekommen ist. Er hätte gesehen, wie all seine Arbeit ausgenutzt wird von einem Haufen Farmer, die – sie kann seine Worte hören – auf die dümmstmögliche Weise gescheit sind. Der Anblick ihrer alten Farm, die zu Tode bewirtschaftet wird; der Gegensatz zwischen dem Traum ihres Vaters von einer bewässerten, gemischten, fruchtbaren Weite und der Wirklichkeit einer Farm als Fabrik fünfzig Jahre später; die Last seines Gefühls, gescheitert zu sein; der erschütternde Verlust der Landschaft – wegen all dieser Dinge lässt sie ihren Kopf eine Weile auf dem Lenkrad ruhen, dann fährt sie davon. Als die Farm dann im Rückspiegel aus dem Blick verschwindet, sieht sie ganz kurz das Gesicht ihres Vaters – einen gewissen Ausdruck, den er manchmal hatte und der so selten war, dass er sie immer überraschte. Sie hatte ihn bei der Beerdigung ihrer Mutter gesehen und noch einmal, als eines ihrer Nebengebäude in Rauch aufging, und dann an dem Tag, an dem sie Johnny mitnahm nach New York. Es war beinahe ein Ausdruck des Sich-Fügens – überraschend mild – in ein Schicksal, auf das man keinen Einfluss hat. Auf einer Nebenstraße westlich von Willow Bend fährt sie an den Straßenrand und hält neben einem Stück Land, »das nie gebrochen wurde«, wie man hier sagt; jungfräuliche Prärie, und ihr Vater hatte sich als einer von wenigen stark gemacht für seinen Schutz. Sie steigt aus dem Auto. In ihrer Tasche steckt der kleine weiße Umschlag, den sie in letzter Minute eingepackt hat, und damals wie jetzt ist sie sich über ihre Gründe nicht ganz im Klaren. Sie zieht ihn aus der Tasche und öffnet ihn. Dann schüttelt sie ihn und übergibt seinen Inhalt dem 383
allgegenwärtigen Wind (hundert verschiedene Winde in der Prärie) und sieht zu, wie ein Büschel vom weißen, feinen Haar ihres Vaters über das lange Gras treibt, bis sie es nicht mehr sieht. »Gute Nacht«, sagt sie, »alter Bussard.« Eines Abends macht Tom mit ihr einen langen Spaziergang bis zum Ende der Schlucht, die sie einst jeden Vormittag erforscht hat; der junge Deutsche kommt auch mit. Sie treffen sich hinter dem Haus und gehen los: der schlanke Tom mit seinen Cowboystiefeln; der große, weit ausschreitende, grobknochige Horst; und Norma Joyce, die Schritt hält. Wir gehen zuerst unten in der Schlucht, sagt Tom, und kommen obenrum zurück. Mit anderen Worten, hin durch das Wasser führende Tal und zurück auf der windgepeitschten Ebene. Es gefällt ihr, dass die beiden Landschaften auf diese Weise voneinander getrennt sind, unten verschlungenes Gewirr, oben nackte Prärie. Jeder Geschmack zu seiner Zeit. Als sie aufbrechen, ist es acht Uhr, und die Sonne scheint, wie schon den ganzen Tag. Wo der Rasen aufhört, beginnt der Pfad. Er führt durch hohes Gras und über einen Bach zu einem Platz mit zitternden Espen, vorbei an einer Böschung mit Zwergweide, die noch nicht blüht (»aber bald«, sagt Tom), wieder zurück zum mäandernden Strom und hin zu den Hügeln am anderen Ende der Schlucht. Bald bückt sie sich und nimmt eine Blüte zwischen die Finger, um das rasche Tempo zu verlangsamen, das Tom vorgeben will. Er ist schnell und aufgeregt. Sie weiß nicht, warum. »Was ist das?« »Waldveilchen«, sagt er und beugt sich über die kleine weiße Blume, auf dem grünen Boden wächst ein Büschel davon. Dass sie stehen bleiben, um die Blume zu bestimmen, scheint ihn zu 384
beruhigen. Danach gehen sie langsamer. An manche Dinge erinnert sie sich, bevor er sie benennt, aber es ist leichter, so zu tun, als wüsste sie nichts. »Hornkraut«, sagt er zu den kleinen Blumen, die überall wachsen. »Weißdorn« zu den silbrigen Bäumen mit den weißen Blüten. »Wir haben immer ein Laken auf den Boden gelegt und gegen die Bäume geschlagen, damit die Früchte abfallen.« Felsenbirnen in weißer Blüte. Blauer Rittersporn. Schneebeerensträucher. Ein hoher Myrtenstrauch, in dem ein rotschwänziger Habicht sein Nest hat. »Das ist ein Kirchenlied«, sagt sie. »Kennen Sie es nicht?« »Nein.« »Paul Robeson hat es berühmt gemacht. Ich könnte es singen, aber das erspare ich euch.« Er lächelt zum ersten Mal. Dreiblütige Nelkenwurz mit ihren schweren, rötlichen Köpfen, die herunterhängen, als könnten sie üppiger blühen, wollten aber nicht. Dieser Widerstand, mit gesenktem Kopf. Es
ist gestern passiert. Ich hab's vergessen. Als sie zurückkommen, ist es beinahe dunkel. Tom leiht ihr seine Geschichte der Region aus. Sie nimmt das Buch mit in ihr Zimmer und liest bis in die Nacht, und sie blättert immer wieder zurück zu einer Fotografie von zwei Schwestern, die umschlungen dastehen, in kurzen Sommerkleidern, mit kurzem schwarzem Haar und Ponyfrisur. Die jüngere umklammert eine schwarzweiße Katze, die ältere umklammert eine schwarze Börse, als wäre sie eine Katze. Sie sehen aus, als wären sie einander treu ergeben und sehr mit dem Leben beschäftigt, die jüngere entschlossener, die ältere leichter zu verletzen; keine von beiden lächelt. Es sind Molly und Jean Perkins, die Töchter des 385
Mannes, der über Nacht ergraute, und was ist aus ihnen geworden? Die ältere heiratete zuerst, liest sie, hatte zwei Söhne und starb mit dreißig. Die jüngere heiratete denselben Mann ein Jahr später, und sie sind beide noch am Leben. Als sie in dieser Nacht eingeschlafen ist, träumt sie, dass sie eine Klasse Zeichenschüler unterrichtet, die sich im Kreis versammelt haben. Sie lässt sie einen Moment allein, um ins Badezimmer zu gehen und ihr Haar zu bürsten, aber die Bürste ist voll mit Lucindas Haar. Als sie zurückkommt, bemerkt sie eine lange Schlange, die über ihren Köpfen an der Wand entlanggleitet. Die Schüler haben sie nicht bemerkt, und sie hat keine Angst. Sie hebt einen Stock und will die Schlange herunterschlagen. Zu ihrer Überraschung windet sie sich so fest um ihr Handgelenk, dass der Druck sie weckt. Sie schlägt die Augen auf, immer noch ohne Angst, und ihr Bruder Norman steht am Fußende des Bettes, so klar, wie es nur möglich ist. Die Züge eines kleinen Jungen, die grauen Wollkleider handgestrickt von ihrer Mutter, der feste Stand. Er hat eine Hand am Bettpfosten und starrt sie mit gedankenverlorenen, ruhigen, liebevollen Augen an. Eine höchst tröstliche Erscheinung. Als ihre Füße den Boden berühren, ist er fort. Sie zieht sich an und geht sehr leise die Treppe hinunter und nach draußen. Das erste Licht vertreibt gerade die Dunkelheit. Sie hört ein Pferd, das dort, wo der Rasen aufhört, durch die niedrigen Weiden geht. Ein Hahn kräht. Dann beginnt ein Zaunkönig mit seinem langen Lied. Sie schaut auf die Gräser hinab, die die Farbe von Knien im Winter haben. So blass wie Jungenknie. Es wird heller. Die Farbe kehrt zurück. Und jetzt tritt ein, worauf sie immer hofft, wenn sie ein Gemälde betrachtet: ein 386
Gefühl der Erleichterung, während sich ihr Blick vom Vordergrund über den Mittelgrund bis zum Horizont hin hebt, von Gräsern über Büsche hin zu niedrigen, bloßen Hügeln und Himmel. Sie sieht all das, was sie so lange übersehen hat. Die einfache, beständige Bewegung, hinein in die Ferne aus Landschaft und Licht. Nach dem Frühstück holt sie ihren Zeichenblock hervor. Sie benutzt einen Bleistift mit einer sehr feinen Spitze, die sie nach Nicolaïdes Anweisung auf Sandpapier geschärft hat, setzt die Spitze ihres Bleistifts auf das Papier und stellt sich vor, dass die Spitze nicht das Papier berührt, sondern die Hügellinie, die sie gerade zeichnen will. Ihr Bleistift gleitet über die Landschaft wie das Wetter. Sie zeichnet den ganzen Vormittag. Am Nachmittag findet sie Daisy umgeben von Tieren und Himmel vor, ihre Augen sind wie Perlen aus Türkis (schön zu ihrem gelb weißen Haar und der braunen Haut). Daisy nimmt sie mit in die Küche, wo sie sich so konzentriert unterhalten, dass das Brot zu lange im Ofen bleibt. »Wir haben immer so gerne Haus gespielt«, sagt Daisy über sich und Lucinda. »Jede von uns nahm ein Stück von einem Hang, und das war unsere Farm. Wir ritten auf hölzernen Pferden aus Stöcken. Wir waren immer draußen. Aber das wurde anders, als dein Bruder gestorben war.« Sie hätte auch sagen können, als deine Mutter gestorben war, und das wäre ebenfalls wahr gewesen. Aber so war es wahrer. Alles wurde anders, als Norman gestorben war. Sie erinnert sich, dass ihr Vater sie mit offener Abneigung anstarrte, dass ihre Mutter sie auf den Schoß nahm und dass ihre Schwester – das ist die deutlichste Erinnerung – in ihrem Bett für sie Platz machte und einen Arm um sie legte. Sie hat eine offene Wunde 387
der Zuneigung berührt, und der Schmerz macht sie benommen. Sie muss an diesen langen Sommer denken, in dem Lucinda wochenlang im Bett lag. Er hätte schreiben können. Es braucht nicht viel, um einen einfachen Brief zu schreiben. Und dann, danach, war es so bequem, zu glauben, dass es ihrer Schwester gut ging. Sie sah gut aus. Sie nahm zu, sie wurde fülliger, sie beklagte sich nicht. Und so leicht, sich entsprechend zu verhalten. Sie ein weiteres Mal zu übergehen und sich um das zu bemühen, was sie selbst haben wollte. Zu unterschätzen, zu welchen Gefühlen Lucinda fähig war, zu unterschätzen, wozu diese Gefühle sie bringen konnten. »Macht nichts«, sagt Roald, als er zu ihnen kommt. »Ich mag knuspriges Brot.« Nach Tee und heißem, gebuttertem Brot zeigt Daisy ihr das Haus, Zimmer für Zimmer ein dekoratives Durcheinander aus künstlichen Blumen, Fotografien, Zeitungsausschnitten, hölzernen Schildern und Fliegen. Träge Fliegen, die gegen die Fenster stoßen. Und da liegt Maurice' Buch über das Grasland auf einem Tisch neben dem durchhängenden Chesterfield-Sofa. »Ich stehe da drin, weißt du«, sagt Daisy, als Norma Joyce nach dem Buch greift. »Er ist hier gewesen und hat mich interviewt.« »Tatsächlich? Dieses hier habe ich nicht gelesen.« »Ich habe nur den Teil über mich gelesen. Roald ist derjenige, der bei uns liest.« »Was dachtest du über ihn? Über Maurice Dove?« Ihr ist klar, dass sie noch immer keine Gelegenheit auslassen kann, seinen Namen zu sagen oder über ihn zu sprechen, und das belustigt sie ein wenig. 388
»Oh, er ist ein Bild von einem Mann. Schau, was er hineingeschrieben hat.« Norma Joyce schlägt das Buch auf und liest: Für Daisy
Thompson, die mir drinnen und draußen einen so angenehmen Nachmittag geschenkt hat. Und immer noch eine leserliche Unterschrift, trotz des Erfolges. »Er hat es mir geschickt«, sagt Daisy. »Er sagte, er würde es tun, aber ich habe nicht damit gerechnet.« So ein Charmeur, denkt Norma Joyce, als sie die Fotografie auf dem Buchrücken betrachtet und sich erinnert, wie sie ihn zum ersten Mal sah, wie er am Fuß der Treppe stand. Sie war acht, und er war dreiundzwanzig. Ein Kind verliebt sich in einen Mann, und der Mann wird verführt von der Heftigkeit, die er hervorgerufen hat. Dann verlagert sich seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Ende der Geschichte. Sie und Daisy treten hinaus, und perlender Vogelgesang steigt auf. Gehen dann durch tiefe, verschlungene Quecke und durch Ginster, an einem Kaninchenstall vorbei und in den Schatten einer großen Hecke aus Erbsensträuchern, die wie auf einem Miniaturboulevard in doppelter Reihe gepflanzt sind, sodass man, wenn man will, von einem Ende bis zum anderen unter fedrigen Blättern gehen kann. Norma Joyce sagt: »Warte.« Mit gekrümmtem Rücken geht sie durch den Blättertunnel. Am anderen Ende dreht sie sich zu schnell um, und ein Zweig schlägt ihr gegen die Wange. »Wie dumm«, sagt sie, reibt sich die Wange mit der Hand und lacht, als sie aus der Hecke tritt. »Ich bin größer, als ich dachte.« Parallel zu den Erbsensträuchern verläuft ein Zaun mit einem 389
Tor. Sie zwängen sich durch das Tor, das vom Gras gebremst wird wie im Winter vom Schnee, und sehen mitten auf einer Wiese die Reste eines echten Blockhauses, das Daisys Vater vor sechzig Jahren gebaut hat. Es ist beinahe fünf Uhr, als sie geht. Über der Prärie sinkt die Sonne auf von Schatten verlängerte Hügel zu, die zu einem Spaziergang einladen, aber niemand scheint spazieren zu gehen. Sie sieht zwei Männer zu Pferd und ein paar Autos, sonst nichts. Das Land steigt an wie ein Hemd auf dem Rücken eines Mannes, und sie spürt, wie ihre Lenden sich rühren. Sie kann nicht genug schauen, und sie kann nicht ohne Gefühle schauen. Früh am nächsten Morgen kommt sie vom Zeichnen zurück, ihre Füße sind nass vom schweren Tau, und sie schließt das Fenster in ihrem Zimmer, denn es ist überraschend kalt. Dann schlägt sie das große rote Buch über die Geschichte der Region auf. 1903 fing es am 20. Mai an zu schneien. Am 21. war es ruhig, aber am 22. und 23. stürmte es wieder. »Es ist schwer zu sagen, wie viel Schnee fiel. Alles Vieh südlich des Flusses war eingeschneit.« Im Frühherbst 1913 schwärzte ein Präriefeuer das Land. Der Schnee, wenn er denn kam, war zum Trinken zu schmutzig, und die Siedler in der Heimstätte mussten das Wasser mit Eimern und Teekesseln drei Meilen weit von einer benachbarten Farm herbeitragen. Am 18. Januar 1915 gab es einen Schneesturm und einen Regenbogen. Das war ein nasses Jahr. Es regnete den ganzen Sommer, und es gab eine gute Ernte. Im Sommer 1917 gab es keinen Regen. »Kein Regen, und das Geld lag nicht lange unter dem Stein im Keller, wo man es aufbewahrte.« Jetzt, an einem Donnerstag im Juni 1972, beginnt es zu 390
regnen. Oh, lang erwarteter, kostbarer Regen. Er hört den ganzen Vormittag nicht auf. Norma Joyce sitzt in ihrem Zimmer neben dem nassen Fenster und liest weiter. »Er arbeitete, so viel er konnte, und wurde nicht müde«, ein Engländer, der wegen seiner schlechten Gesundheit nach Kanada kam und wieder Kraft schöpfte. Seine große Himmelskarte war abgenutzt und zerfleddert, »weil er in Winternächten draußen saß und sie sich über den Kopf hielt, damit er die Sterne und Planeten benennen konnte«. Am frühen Nachmittag hört der Regen auf. Dann überquert sie den Rasen. Sie nimmt die kleine Holzbrücke über den Bach und folgt dem Pfad. Bald geht sie zwischen hoher Wolfsweide hindurch. Sie bildet einen Gang aus silbernen Blättern, so leuchtend wie die Reflektoren an einem Kinderfahrrad. Sie streifen ihre Schultern, und sie bleibt stehen, nimmt einen Zweig zwischen die Finger und sieht das, worauf sie die ganze Woche gehofft hat – winzig, gelbgrün, eine, nein, zwei von später vielen und ein Duft wie Jasmin, genauso stark, aber nicht so süß, denn der Duft wilder Blätter durchdringt die Süße des Jasmins. Die Wolfsweide blüht vor ihren Augen. Das PrärieFingerkraut blüht. Eine Lupine blüht. Sie hebt den Kopf und sieht zweieinhalb Meter entfernt auf einem Weißdornast einen großen, olivfarbenen Vogel mit Banditenaugen und einer Mohawk-Frisur. Der Name Seidenschwanz kommt ihr in den Sinn. Wie aufregend. Reisen ist Medizin, sagt der grobknochige Horst beim Essen. »Wie sagt man? Ich hatte Liebeskummer.« Er war nach Marokko gefahren, mit gebrochenem Herzen und einundzwanzig Jahren, »und als ich mit den neuen Problemen fertig geworden war, waren die alten Probleme nicht mehr so groß«. »Und was haben Sie diesmal auskuriert?«, fragt sie ihn, 391
aber er schüttelt nur den Kopf und lächelt. Norma Joyce wirft sich ihren Lederranzen über die Schulter und geht auf das Auto, zu. Es gibt einen Ort, den sie zeichnen will, bevor sie abreist, ein Stück Grasland ein paar Meilen entfernt, das zu einem Felsvorsprung führt, von dem aus man über den Frenchman River schaut. Sie biegt vom Highway ab auf eine ungepflasterte Straße, die so breit ist wie ein Auto, und fährt noch ungefähr eine Meile, bevor sie parkt. Wie gewöhnlich ist keine Seele in Sicht. Es ist sieben Uhr abends. Die Sonne scheint. Die Luft ist warm. Sie geht durch das hohe Gras auf den Felsvorsprung zu, ihr Blick ist auf die Aussicht gerichtet, die vor ihr liegt. Überall um sie herum hüpfen Lärchenstärlinge und Trauerammern, und dann hüpft Norma Joyce Hardy. Direkt vor ihren Füßen hat sich eine Klapperschlange aufgerichtet, sie klappert und zischt wie rasend. Norma Joyce schaut auf ihren zornigen Kopf hinunter und auf die Spirale, aus der sie sich erhebt; sie schaut genau in ihren weit geöffneten Hals, und dann lehnt sie sich außer Atem und mit klopfendem Herzen an die Autotür. Sie bleibt dicht bei ihrem Auto stehen und macht rasch eine Skizze von diesem so wütend bewachten Ort. Dann sammelt sie schnell und behutsam Gräser, um sie für Mrs. Gallot mit nach Hause zu nehmen. Präriewolle nennt man sie, weil sie so rau und verfilzt sind. Als sie wieder hinter dem Steuer sitzt und auf der Hauptstraße ist, kurbelt sie ihr Fenster ganz herunter und fährt eine Weile, sie saust auf den Kamm eines niedrigen Hügels zu und dann hinab in ein Tal voller Wolfsweide, deren Geruch so berauschend ist, dass sie zu singen anfängt – »Do Not Forsake Me Oh My Darlin« –, und es gibt niemanden, absolut niemanden auf dieser ausgebesserten und holprigen Straße in 392
dieser nahezu leeren Provinz, der sagt: Sei still. Die Sonne sinkt mit einem letzten Auflodern ihrer Herrlichkeit, die Klapperschlange erhebt sich zornig vor ihren Füßen, und Schrecken und Freude durchdringen sie, bis das Gaspedal beinahe den Boden berührt.
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Sie kehrt zurück, und der kleine Max sitzt unter dem Lindenbaum. Ein Sonntagnachmittag, und er ist außer sich vor Aufregung, weil morgen der Tag seines Klassenpicknicks ist. Seit seine Lehrerin die Klasse habe, sei es in all den Jahren immer, immer sonnig gewesen am Tag des Klassenpicknicks, erzählt er ihr. Das sagt jedenfalls Mrs. Patterson. »Sie Glückliche«, ruft Ida zur Begrüßung. Sie ist gerade mit einem Handtuch in der Hand nach draußen gekommen. »Sie waren nicht da. Wie war es?« »Fast so schön wie ein Picknick«, und sie lächelt Max an. »Aber morgen regnet es«, platzt Ida heraus. »Ich habe es gerade im Radio gehört.« Ihr Sohn wirft ihr einen bitteren Blick zu und wendet sich dann von ihnen beiden ab. Er geht den Feldweg entlang und tritt dabei gegen Steine. »Er wird so enttäuscht sein«, sagt Ida. »Niemand kann enttäuschter sein als er. Nicht einmal ich.« »Vielleicht hat er Glück. Vielleicht hält sich das Wetter.« Mrs. Gallot hat sie entdeckt und winkt vom Fuß ihres Gartens. Also lässt sie ihren Koffer auf der hinteren Veranda stehen und nimmt aus ihrem Ranzen die Plastiktüte mit den Gräsern und geht den Feldweg hinauf. »Riechen Sie mal.« Sie öffnet die Tüte und hält sie Mrs. Gallot hin. Mrs. Gallot steckt den Kopf hinein und kommt dann wieder zum Vorschein. »Das ist es, was ich wollte. Ich wünschte, Bella hätte es riechen können.« »Hätte?« 394
»Sie musste gestern nach Hause fahren. Ihre Mutter. Ich glaube, man macht sich Sorgen, dass sie sich etwas antut.« »Oh je. Das tut mir Leid.« Mrs. Gallot schaut ihr ins Gesicht und sagt: »Ich will dir nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Komm herein und erzähl mir von deiner Reise. Hast du jemanden getroffen, den wir kennen?« »Mr. Klapperschlange.« »Wen?« Norma Joyce lacht und nimmt Mrs. Gallot in den Arm. »Ziehen Sie bloß nicht woanders hin«, sagt sie. Eine Tür schlägt zu. In der Dunkelheit greift sie nach ihrem Wecker, aber sie kann nicht erkennen, wie spät es ist. Der Wind hat sich gedreht. Armer Max. Eine Stunde später ist sie im Morgenrock auf der hinteren Veranda, sie sitzt auf der obersten Stufe, trinkt Kaffee und wartet darauf, dass der Regen kommt. Zwei Blocks entfernt hört man das Dröhnen der Bronson Avenue, aber vor diesem schrecklichen Hintergrund gibt es schließlich diesen Vogelgesang, diesen Garten und diesen Jungen, der im Schlafanzug den Abhang herunterkommt, niedergeschlagen und wütend und voller Leidenschaft wegen seines Picknicks. »Kein Picknick«, sagt er. »Ich weiß. Es ist zu schade.« Er starrt in den Unheil verheißenden Himmel hinauf und tritt dann gegen die Treppenstufe, ganz elend vor Wut und Empörung. »Das ist eine große Enttäuschung«, sagt sie. »Vielleicht solltest 395
du eine eigene Tasse Kaffee haben.« Wunderbar, wie so ein kleiner Luxus ihn aufheitert. Er setzt sich auf die Stufe unter ihr und trinkt eine Tasse Café au Lait, wie sie ausdrücklich hervorhebt. »Dieser Wind«, erzählt sie ihm, »hat Stärke drei auf der Beaufortskala. Ich habe gestern Abend etwas darüber gelesen. Siehst du die Blätter? Wie sie sich immerzu bewegen? Siehst du das Geschirrtuch auf Mrs. Hulders Leine? Wie es weht? Der Regen wird bald hier sein. Vielleicht solltest du lieber Reißaus nehmen.« Aber Max bleibt sitzen. Der Himmel wird dunkler. Dass man die Windgeschwindigkeit erkennen kann, wenn man die Dinge betrachtet, die ihm ausgesetzt sind, dass man die Kraft von etwas an seiner Wirkung auf etwas anderes erkennen kann – das sind einfache Wahrheiten, die Beaufort ausgenutzt hat. Bei eins bewegt sich Rauch, Windfahnen aber nicht; bei zwei säuseln Blätter, und man spürt Wind auf dem Gesicht; bei drei bewegen Blätter sich ständig, und der Wind streckt Wimpel; und so weiter, bis hinauf zur Zwölf. Sie schaut auf den dunkelhaarigen Jungen hinab. Sie sagt: »Ich weiß, wie man einen Gedanken aus dem Kopf kriegt.« »Wie?« Er schaut sie neugierig an. »Man zeichnet ihn.« »Oder man liest ein Buch.« »Ja. Das geht auch.« Dann zeigt er auf ihr Gesicht. »Was ist das?« »Was?« »Das«, und sein Finger stupst auf die Stelle, wo der Erbsenstrauchzweig sie getroffen hat. »Ach«, sagt sie, »das ist Saskatchewan«, und streicht langsam 396
darüber. Bestimmt ein blauer Fleck. Der erste fette Tropfen landet auf Max' Kopf. »Hey!« »Verschwinde lieber«, sagt sie, und sie sieht zu, wie er den Abhang hinauf und nach Hause huscht. Die Fliegengittertür schlägt hinter seinen bloßen Füßen zu. Dann bricht der Himmel auf. Aber sie geht nicht weg von der Treppe, nicht einmal, als der Regen so heftig niederprasselt, dass er bis an ihre Beine spritzt. Sie hat sich einen Weg in den Himmel ihrer Kindheit gesucht. Ontario und alles, was es bedeutet. Hier hatte man so lange gebraucht, um »das Land zu machen« – drei Generationen, um zweihundert Acres von Bäumen und Stümpfen und Steinen zu befreien. Hier waren müde Zuhörer auf mythische Geschichten vom kanadischen Westen hereingefallen – dass man eine Furche eine Meile weit pflügen konnte, ohne auf einen einzigen Stein zu stoßen, dass die Hufe der Ochsen rotfleckig waren von all den wilden Erdbeeren, dass die leichte, trockene, würzige Luft auch die Gesundheit des schwächsten Menschen wiederherstellte. Und hierher kehrten einige zurück, nachdem Dürre und Staub sie ausgelaugt hatten. Sie legt eine Hand an ihre Wange und weiß um den Farbklecks, den sie empfing, als die Landschaft nach ihr griff, um sie zu packen und wegzuschieben. Ich kann das benutzen, denkt sie bei sich. Ich kann mit dem blauen Fleck beginnen.
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DANKSAGUNG
Zunächst muss ich Ellen Seligman dafür danken, dass sie mich durch diesen Roman geführt hat; unter ihrer Anleitung wurde aus einem halben Buch ein ganzes Buch. Auch Mark Fried, Lisan Jutras und Bella Pomer bin ich zutiefst dankbar. Viele Leute haben mich mit Wissen und Anekdoten versorgt, und ich danke ihnen allen. Besonders Gladys Arnold, Nan Sussman, Peigi MacMillan, Rhoda und Roslyn Barrett, Sheila, Edith und Katherine McCook. Stephen Darbyshire, Nina Phillips, Marian Devries, Ann und Jim Saville, Pansy White und Norman Malmberg will ich nennen. Mitglieder meiner eigenen Familie sind ständige Quellen des Wissens gewesen, besonders meine Schwiegermutter Ruth Fried und meine Eltern Jean und Gordon Hay. Ich habe bei meinen Recherchen auf viele Bücher zurückgegriffen und würde einige von ihnen gerne nennen. Between and Beyond the Benches, herausgegeben von der Ravenscrag History Book Society, aus dem ich die Zitate von S. 327 f. entnommen habe; die beiden Bücher von James Gray über die Prärie in den dreißiger Jahren: The Winter Years und Men against the Desert; Barry Broadfoot's Ten Lost Years', Pierre Berton's The Great Depression 1929–1939; H.H. Lamb's
Climate, History and the Modern World; The Third Radfords von Joan Key; und zwei Bücher, die mir die beste mögliche Begleitung waren: Wallace Stegner's Wolf Willow und Ian Frazier's Great Plains. Schließlich danke ich dem Canadian Council, dem Ontario Arts Council und der Regional 398
Municipality of Ottawa-Carleton sehr für die großzügige Unterstützung. Das Motto auf S. 5 ist aus Break It Down von Lydia Davis (New York: Farrar, Straus and Giroux, 1986). © 1986, Lydia Davis. Das Motto auf S. 133 ist aus Right Hand, Left Hand von Dorothy Livesay (Erin: Press Porcépic, 1977) © 1977, Dorothy Livesay. Das Motto auf S. 362 ist aus Crusoe's Daughter von Jane Gardam (London, Hamish Hamilton, 1985).© 1985, Jane Gardam. Die Auszüge aus »The Great Summons« von Ch'ü Yüan auf S. 107 und der Auszug aus »Plucking the Rushes« von Anonymus auf S. 263 sind den Translations from the Chinese von Arthur Waley entnommen (New York: Alfred A. Knopf, 1941, 1964). © 1919, 1941, Arthur Waley.
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