Buch Der Anwalt Jason Dark war nie ein Held. Sein Leben war kein Siegeszug, und er wird das Gefühl nicht los, fast übera...
39 downloads
1138 Views
646KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Buch Der Anwalt Jason Dark war nie ein Held. Sein Leben war kein Siegeszug, und er wird das Gefühl nicht los, fast überall versagt zu haben. Im Beruf, in der Ehe, als Vater seines Sohnes. Das Leben ist ihm zu früh schal geworden, und so treibt ihn eine innere Unrast zurück ins Tal seiner Kindheit, nach Oak Valley, in Kalifornien. Hier, wo seine Vorfahren Wein anbauten, bis eine fünfzehn Jahre währende Dürre die Weinberge in Staub verwandelte, fängt er ein neues Leben an. Mit wahrer Besessenheit stürzt sich Jason in den Weinbau, und in mühseliger Arbeit gelingt es ihm, die Rebstöcke zu neuer Blüte zu erwecken. Damit scheint sich auch sein Lebensglück zu wenden: Seine Frau und sein Sohn sind nun häufige Gäste auf dem Gut, und allmählich wächst die Familie wieder zusammen. Doch dann geschieht eines Nachts in den Bergen ein tragischer Unfall. Jason überfährt in der Dämmerung einen jungen Mann. Aus Angst, alles wieder zu verlieren, wofür er so sehr gekämpft hat, begeht er Fahrerflucht. Als wenig später ein Autodieb wegen der Tat verhaftet wird, muß Jason sich entscheiden - zwischen der Wahrheit und seinem fragilen, neuen Lebensglück... Autor Peter Gadol, geboren 1964, verbrachte seine Kindheit und Jugend in New Jersey. Nach dem Studium an der Harvard University lebte er einige Jahre in Boston und New York. Heute unterrichtet Peter Gadol Literatur in Los Angeles. »Der lange Regen« ist sein vierter Roman.
Peter Gadol Der lange Regen In jenem Herbst im Tal schlief ich an manchen Nachmittagen bis vier und fuhr dann lange mit dem Auto durch die Gegend. Solange ich schnell fuhr, mußte ich an nichts denken, nur an die Straße vor mir, und so raste ich an all den brachliegenden Weinbergen mit den ordentlichen Reihen abgestorbener Reben vorbei und an den kalkweißen Hängen der Weinberge, aus denen man Steinbrüche gemacht hatte. Ich raste über eine flache, mit weißen Steinen übersäte Senke, die einmal ein Flußbett gewesen war, und fegte dann eine verschlafene Landstraße hinunter, die die Talsohle schnurgerade durchschnitt, bis ich irgendwann in einen der Feldwege einbog, die von der Hauptstraße abzweigten wie die Adern an einem welken Blatt. Ich fuhr hinauf in das Vorgebirge, wo die Luft blauer und kühler war, wo keine Eichen mehr wuchsen, sondern nur noch Kiefern, und wo ich in den Serpentinen der Bergstraße, die mal hart am Rand steiler Granitfelsen vorbeilief und sich dann wieder durch das grüne Dickicht des Waldes schlängelte, alles vergessen konnte. Mit etwas Glück würde sie mich vielleicht oben am Kamm in die einbrechende Abenddämmerung führen, die sich bereits auf das anschließende Tal senkte. Falls ich bei diesen Fahrten überhaupt ein Ziel hatte, dann waren es vermutlich der Schnee am Horizont, die Gipfel der Berge im Norden, aber so weit kam ich nie. Ich kam nie über die Hügel hinaus, die mein Tal umschlossen, weil ich jedesmal irgendwann unterwegs auf die steinernen Überreste eines alten Weinguts stieß, wo ich ausstieg und auf Erkundung ging. Ich weiß nicht mehr, warum sie mich faszinierten oder was ich zu finden hoffte, wenn ich durch diese Ruinen streifte. Meist hatte das Gebäude kein Dach mehr, und auch die Fensterscheiben fehlten, und manchmal flatterte ein Schwarm Fledermäuse aus einem tiefen runden Bottich empor. Auch wenn die Keller mit ihren hohen, von leeren Regalen gesäumten Mauern seit über zehn Jahren nicht mehr genutzt wurden, lag noch immer der Geruch von Schimmel in der Luft, von gärendem Obst, und mir kam es so vor, als stiege die Nacht zuerst aus diesen kalten Kammern, von wo sie, einem unheimlichen Nebel gleich, ins Tal sickerte. Alle Weingüter sahen aus, als hätte man sie Hals über Kopf verlassen, als hätten feindliche Truppen sie plötzlich überfallen, und oft fand ich zurückgelassenes Werkzeug oder Vorräte, nichts Wertvolles, zugegeben, aber Gegenstände, die man noch gebrauchen könnte, so dachte ich. Eine Hacke, eine Rebschere, einen Vorrat an Korken, schwere Eichenfässer mit verzogenen und rissigen Dauben. Und die steinernen Keller waren von leeren Flaschen übersät, die eisernen Reserven des Weingutes hatte man kurz vor dem Bankrott wohl noch getrunken, oder vielleicht waren sie auch von Plünderern geleert worden. Ich erwartete, Landstreichern zu begegnen oder wenigstens Spuren von ihnen, aber es gab keinerlei Anzeichen dafür, daß jemand in den Weingütern Unterschlupf gesucht hatte, nicht einmal in denen mit intakten Dächern. Als wäre es ein Sakrileg, diese Räume für etwas anderes als das Keltern von Wein zu nutzen. Im Lauf des Herbstes suchte ich alle alten Weingüter in der Gegend auf. Das mit den Türmchen und dem schmiedeeisernen Tor sah aus wie ein Bilderbuch-Château. Ein anderes fiel mir durch seine Pilaster und Bogenfenster auf, die an Palladio erinnerten. Ich entdeckte ein aus Baumstämmen errichtetes Weingut, ein rustikales Blockhaus am Rand einer Wiese. Aber irgendwie gefielen mir jene Weingüter am besten, die so aussahen wie das meines Großvaters: ein einfaches Steinhaus, das sich an einen Hang schmiegte. Außerdem gab es ohnehin kaum wirkliche Villen unter den Weingütern ringsum; die meisten Gebäude sahen aus wie bessere Schuppen, mit schlichter Kiefernholzverkleidung und Wellblechdach und Kellern, die Betonbunker waren. Bei meinen archäologischen Exkursionen ging ich nicht unbedingt methodisch vor -
ich erkundete nur die Anwesen, die man von der Straße aus sah - , doch ein Gut suchte ich immer wieder auf. Es war ein gelbverputztes Haus mit roten Dachziegeln, von denen die meisten schon heruntergefallen waren, so daß überall Terrakottascherben lagen. Eine Seite des Hauses war einen Hang hinabgestürzt, doch die anderen Mauern standen noch. Gras, Kleebüschel und Sumachsträucher überwucherten den Boden der einstigen Zimmer. Einige Glyzinien und andere Schlingpflanzen kletterten den Putz hoch. Das Weingut war aufgegeben, dem langsamen Zerstörungswerk der Pazifikwinde überlassen worden, und doch kam es mir vor, als hätte die Landschaft ringsumher diese Ruinen in die Arme geschlossen. In der Mitte des ehemals größten Raumes wuchs jetzt eine Gruppe Zypressen, sechs oder sieben junge Bäume, die im Halbkreis einen Gärtank umstanden und die sich grün, schmal und duftend im sanften Luftzug des Abends bogen. Wenn ich einen meiner besseren Tage hatte, hielt ich die zwischen den Ruinen wachsenden Bäume für ein gutes Omen: Bald würde mein Los sich wenden, und vielleicht würde sich ja das Glück meiner Jugend wieder einstellen, das mir in den letzten Jahren abhanden gekommen war. Wenn ich dagegen in Selbstmitleid versank und mich einsam fühlte, glaubte ich, auch die verbliebenen Mauern würden irgendwann einstürzen und nach und nach würden die Putzbrocken von Beifuß überwuchert werden, bis das Fundament ganz verschwunden wäre. So war nun mal der Lauf der Welt: wenn eine Kultur erst einmal unterging, war sie auch bald vergessen. Zugegeben, damals war ich häufig gedrückter Stimmung, und doch kehrte ich immer wieder zu jenem Weingut zurück, und bei jedem Besuch blieb ich länger, saß bis zum Einbruch der Dunkelheit unter den Zypressen, und dann steckte ich mir als Andenken eine Ziegelscherbe ein. Wenn ich eine dieser Weinkellereien durchstöbert hatte, stieg ich gewöhnlich wieder in meinen Wagen und fuhr weiter in das Vorgebirge hinein, und an manchen Abenden kam ich sogar bis zu jener Straße, die in die eigentlichen Berge führte. Am liebsten wollte ich die Berge der Diablo Range überqueren, wollte quer durch den Bundesstaat bis in die Wüste fahren, tief hinein in die Weiten Amerikas, wo ich niemanden kannte und niemand mich. Ich wollte tagelang weiterfahren und, wenn ich schließlich anhielte, einen neuen Namen annehmen und ein neues Leben beginnen. Und so arbeitete ich mich eine Serpentinenstraße hoch, sauste an einer Felswand vorbei, flitzte durch ein Kiefernwäldchen, auf der Suche nach einer Straße, die mich zu einem Paß durch die Berge bringen würde, aber ich fand keine, und hätte ich wirklich entkommen wollen, hätte ich wohl einen Blick auf eine Straßenkarte geworfen. An manchen Abenden fuhr ich nur die Bergstraße hinauf, um gleich wieder kehrtzumachen, an anderen bewegte ich mich ungewollt im Kreis. Ich erkannte dann eine Straße wieder, die ich am selben Abend schon einmal befahren hatte, und der folgte ich schließlich zurück ins Vorgebirge, zurück zu der Landstraße, die das Tal durchschnitt, zurück zu meiner eigenen Schotterstraße, die von der Hauptstraße abging, über den Arroyo, das Trockental, hinauf zu meinem Weinberg, zu dem Weinkeller und dem Steinhaus, das mein Großvater an der höchsten Stelle des Grundstücks gebaut hatte. Ich schenkte mir dann ein Glas Wein aus der Flasche ein, die ich tags zuvor entkorkt hatte, und fügte meiner Sammlung die neueste Dachziegelscherbe hinzu. Immer wieder ordnete ich sämtliche Stücke auf einem Tisch eins ums andere neu, als wollte ich das Skelett eines ausgestorbenen Vogels oder das komplizierte Muster eines antiken Mosaiks zusammenfügen. Aber irgendwie kam ich mit dem Puzzle nicht recht voran, und das frustrierte mich. So machte ich schließlich irgendwann Feuer im Kamin und verbrachte den Abend damit, grübelnd in die Flammen zu starren. Und so sah mein Leben aus: Auf dem College hatte ich eine Frau kennengelernt und mich so bis über beide Ohren in sie verliebt, daß ich damals nie geglaubt hätte, dieselbe Frau würde mir gut zehn Jahre später kaum noch in die Augen sehen können.
Unsere Ehe war gescheitert, und unseren kleinen Sohn sah ich kaum noch. Er gab mir keinen Kuß mehr, bevor er morgens zur Schule ging, und abends konnte ich ihm nicht mehr bei seinen Hausaufgaben in Mathematik und Gemeinschaftskunde helfen. Vor einem Jahr hatte ich meine Mutter und meinen Job verloren. Mein Haus war nicht mehr mein Zuhause, und ich hatte aus freien Stücken die Stadt verlassen, in der ich geboren war und wo ich auch ganz gern alt geworden wäre. Und jetzt war ich hier und überlegte verzweifelt, wie ich mich nur aus der Sackgasse befreien konnte, in der ich feststeckte, wie ich mich endlich wieder freistrampeln konnte. Wie ich den ersten Schritt machen konnte, den Schritt in ein neues Leben... aber ich wußte nicht wo, mit wem, und wie. Eins weiß ich in der Rückschau: Damals war ich zu benebelt, um zu erkennen, daß ich den Ort schon gefunden hatte, an dem ich ein neues Leben beginnen konnte. Alles, was ich brauchte, lag direkt vor meiner Nase, aber ich sah es noch nicht. Doch wenn ich zurückblicke, wünsche ich mir auch, ich könnte wieder in die seltsame Geborgenheit dieses Nebels eintauchen und dort verweilen, denn damals hatte ich wenig, wenn überhaupt etwas zu verlieren. Ich mußte nichts wahren. Ich hatte mich in keine Lügen verstrickt. Ich hatte keine Verbrechen begangen. Als ich damals ins Oak Valley kam, wollte ich ursprünglich nur das Land verkaufen, das mir vom Nachlaß meines Vaters noch geblieben war. Ich fand, meine Familie hatte genug Hoffnung in dieses Anwesen gesteckt, und ich hatte nicht vor, es meinem Sohn weiterzuvererben. Daß ich dennoch blieb und gar nicht erst dazu kam, das Anwesen zum Verkauf anzubieten, lag unter anderem daran, daß ich mir einbildete, vielleicht mehr für das Haus zu bekommen, wenn ich es erst einmal innen strich und das Grundstück auf Vordermann brachte. Doch in den ersten Monaten kam ich kein Stück voran. Wenn ich anfing, im ersten Stock ein Zimmer zu streichen, bekam ich gerade mal eine Wand grundiert, bis ich mich dabei ertappte, wie ich aus dem Fenster auf den Südhang starrte, wo der letzte halbe Hektar Weinreben längst verwildert war. Früher hatten meinem Vater einmal zwanzig Weingüter hier im Tal gehört, aber dann hatte es eine fünfzehnjährige Dürre und eine langanhaltende Rezession gegeben, die ihn und all die anderen Weinbauern der Gegend in den finanziellen Ruin getrieben hatte. Ohne Regen hatten die Reben immer weniger Trauben getragen, und die, die mein Vater schließlich erntete, ergaben einen dünnen, sauren Wein. Er mußte am Ende die Kellerei schließen und verkaufte nach und nach seine diversen Weinberge, um sich über Wasser zu halten, alle außer dem ältesten, unterhalb des Hauses gelegenen, den sein Vater, mein Großvater, Anfang des Jahrhunderts angelegt hatte. Meinem Vater blieben ein großes Steinhaus, das er aus Geldmangel nicht beheizen konnte, und der Weinkeller, aus dem er sich die Fässer holte und was sonst noch an Eichenholz herumlag, jeden Splitter Holz, dessen er im Winter habhaft werden konnte, um nicht zu frieren. Fast das gesamte Mobiliar im Haus verheizte er, all die alten Truhen, die Schreibtische und die Stühle mit den lederbezogenen Rükkenlehnen. Er trank sämtliche Flaschen Cabernet, die er noch im Keller fand, und verbrachte seine letzten Tage halb umnachtet am Fenster, wo er Wacht hielt und zusah, wie sein Tal verblaßte, wie das einstige Grün erst goldgelb wurde und dann braun. Er sah seine Welt zu Staub zerfallen, und dabei verdurstete mein Vater gewissermaßen. Das Ende der Dürre erlebte er nicht mehr. Die meisten Rebstöcke waren vertrocknet und verdorrt, wenn nicht durch die lange Dürre, dann weil sich niemand mehr darum gekümmert hatte, und es grenzte an ein Wunder, daß der erste Weinberg meines Großvaters all das überstanden hatte. Offenbar hatten sich die Reben in letzter Zeit dank frischer Regenfälle prächtig entwikkelt, und sie bildeten nun ein stacheldrahtähnliches, von keinem Spalier gebändigtes Gewirr aus klebrigen Blättern und Trieben. Als ich damals im November eintraf, lagen die Herbstbeeren verfault auf dem Boden, erfüllten die Luft mit Zitrusduft und tränkten die Erde mit blutrotem Saft, roter Wein, der sich mit dem roten Lehm vermischte.
Wochenlang starrte ich die Reben nur an, bis ich endlich in den Weinberg ging, und als ich den Hang hinunterlief, kam ich nicht sehr weit. Ich brauchte erst eine Machete oder irgend etwas anderes, um mir einen Weg durch die Rebstöcke bahnen zu können, und da ich in der Garage nichts Passendes fand, erwarb ich im Eisenwarenladen, einem der wenigen Geschäfte, die im Ortszentrum im Süden des Tals nicht dichtgemacht hatten, eine Rebschere. Und so begann ich, die Schere in der Hand, an einem Tag im Januar unter dem Vorwand, mir bloß einen Weg zu bahnen, die Reben zu beschneiden. Kaum hatte ich damit begonnen, konnte ich nicht mehr aufhören. Rebenbeschneiden war so ähnlich wie schnelles Autofahren, wo das Tempo die Traurigkeit verdrängte. Ich ging auf in dem rhythmischen Klippklapp der Schere, dem Ellbogenschlagen, der monotonen Tätigkeit. Außerdem war das Beschneiden der Rebstöcke weniger gefährlich, und es gab mir das Gefühl, eine Aufgabe gefunden zu haben. Ich brachte bloß das Grundstück in Schuß, um den Familienbesitz endlich verkaufen zu können: so rechtfertigte ich die Sisyphusarbeit, von der ich Muskelkater in den Schultern und Kreuzschmerzen bekam, und wenn ich mich umschaute und die gestutzten Pflanzen und Haufen drahtiger Schnipsel hinter mir sah, konnte ich allmählich meinen täglichen Fortschritt ermessen. Bald verbrachte ich die meiste Zeit des Tages auf dem kalten Feld draußen. Stunden über Stunden beugte ich mich über die Pflanzen, hackte Triebe ab, die inzwischen miteinander verknäult und verwachsen waren, und schnitt mich die langen Reihen des Weinbergs hinunter. Die dickeren Äste mußte ich absägen, die Rebstöcke ausdünnen, nur hier und da ließ ich an jedem Ast einen jungen Trieb stehen. Schließlich entdeckte ich die alten Spaliere, zog neue Drähte auf und befestigte sie wieder ordentlich im Boden. So arbeitete ich den ganzen Tag lang, genehmigte mir abends immer noch ein Glas Wein, und danach ließ ich mich bis zu den Ohren in ein warmes Bad gleiten, ehe ich zu Bett ging. Merkwürdigerweise konnte ich es kaum erwarten, am nächsten Morgen früh aufzustehen und mich wieder um die Reben zu kümmern. Nicht lange, und ich hatte mir einen mönchischen Tagesablauf angewöhnt: Reben beschneiden und schlafen, Reben beschneiden und schlafen. Ich fuhr auch bei schlechtem Wetter mit der Arbeit fort - ich zog mir einfach ein Regencape über. Ich arbeitete weiter, obwohl es im Februar empfindlich kalt wurde. Noch am frühen Abend hackte ich vor mich hin, obwohl ich eigentlich längst nicht mehr sah, was ich tat. Ich schnitt jeden Rebstock bis auf den erdigen Stamm und die tiefste Gabelung zurück - insgesamt waren es tausend einzelne Pflanzen - und brachte das abgeschnittene Holz mit dem alten Pick-up meines Vaters fort. Und obwohl ich stets ein paar Triebe verschont hatte, weil ich noch wußte, daß die Arbeiter meines Vaters immer die robustesten Triebe an den Stämmen stehenließen, wenn sie in den Monaten nach der Lese die Reben beschnitten hatten, befürchtete ich dennoch, in meinem Eifer die Pflanzen zerstört zu haben. Ich hatte Angst, eines Morgens aufzuwachen und festzustellen, daß meine Weinstöcke unwiederbringlich tot wären, so wie alle anderen Reben im Tal. Ich rechnete damit, Haus und Weinberg im Frühling zu verkaufen, und als ich Ende März nach San Francisco fuhr, um meinen Sohn zu besuchen, versprach ich meiner angehenden Exfrau Julia, ihr umgehend das Geld zu schicken, das ich ihr in unserer Scheidungsvereinbarung zugesagt hatte. Zwar hatte ich auch etwas Geld auf der Bank, genügend, um über den Sommer zu kommen, aber ich mußte gleichwohl den Weinberg verkaufen, und ich wußte, das würde seine Zeit brauchen, und daher hatte ich beschlossen, einen Grundstücksmakler aufzusuchen, sobald ich wieder im Tal zurück war. Doch als ich auf dem Weingut eintraf, stellte ich fest, daß die Triebe, die ich an den Stämmen belassen hatte, grüne, fast leuchtende Knospen bekommen hatten, und das verblüffte mich ehrlich. Schließlich hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie eine Pflanze hochgezogen, sondern hatte früher oder später noch jedes Gewächs, ob Farne oder Kakteen, zugrunde gerichtet, und so ertappte ich mich
dabei, daß ich einfach nur im Tal bleiben wollte, um herauszufinden, was aus diesen hartnäckigen neuen Knospen wurde. Tag für Tag sah ich nach ihnen und kontrollierte dabei jeden Trieb. Im Sommer schleppte ich einen Schlauch aus dem Haus - sämtliche Bewässerungsrohre waren längst verrostet und geborsten - und wässerte jede Rebe einzeln. Aus den Knospen sprossen neue Fruchtruten und dann Blätter. Blüten öffneten sich. Mit den Blüten tauchten Trauben voller Beeren auf, kleine Kegel voller heranwachsender Früchte. Die Beeren wurden größer, jede einzelne eine feste grüne Kugel, die immer roter und violetter wurde und am Ende des Sommers prallgefüllt mit Saft war. Im September prüfte ich jeden Tag die Reife, indem ich ein paar Trauben in der Hand zerdrückte, bis ich eines Herbstmorgens die Faust öffnete und sah, daß meine Hand klebrig war: die Zeit zur Weinlese war gekommen. Ich hatte ziemliches Glück gehabt, wenn man bedenkt, was ich später über die Pflege von Weinstöcken lernte. Weder hatte ich die Pflanzen mit Fungiziden eingesprüht, noch Schutzmaßnahmen gegen Frost und Mehltau ergriffen; ich hatte weder den Baldachin aus Laub ausgedünnt, damit die Sonne an die Früchte herankam, noch Unkraut gejätet. Als die Weinlese schließlich beendet war, lief ich wochenlang mit einem seligen Grinsen durch die Gegend, und daß die meisten Weinbauern bei dieser geringen Menge von einer arg mageren Ausbeute gesprochen hätten, ließ mich völlig kalt. Der Ertrag konnte gar nicht viel höher sein, das wußte ich, weil meine Reben dieselben Reben waren, die mein Großvater einst gepflanzt hatte, als er nach dem Ersten Weltkrieg aus Frankreich nach Hause gekommen war. Sie waren mithin fünfundsiebzig Jahre alt - in ihrer fünfundsiebzigsten Blüte, wie der Winzer sagt. Die meisten Weinbauern tauschten ihre Reben nach vierzig Jahren aus, weil ihnen der üppige Ertrag wichtiger war als der volle erdige Geschmack, den die Weine hatten. Ich hatte vielleicht nur eine bescheidene Menge geerntet, aber ich hatte bereits ein wenig herumtelefoniert und herausgefunden, daß lebhaftes Interesse an meinen altehrwürdigen Cabernet-Sauvignon-Trauben bestand. Ein angesehener Winzer aus einem Tal weiter nördlich kaufte mir die gesamte Ernte ab, um sie mit seinem eigenen Cabernet Franc zu verschneiden, der von erheblich jüngeren Reben stammte. Im darauffolgenden Jahr war ich die meiste Zeit mit der Renovierung des alten Steinhauses beschäftigt. Als mein Vater starb, hatte er nur noch zwei Zimmer genutzt, die Küche und das angrenzende Wohnzimmer mit dem großen Kamin. Vor dem Feuer hatte er ein Feldbett aufgebaut, und ich hatte immer gedacht, daß er das obere Stockwerk gar nicht mehr betreten hatte, doch bei meiner Rückkehr hatte ich entdeckt, daß die verzogenen Eichenholzfußböden in einigen Zimmern und dem Flur mit Abdeckfolien ausgelegt worden waren. In dem Eckzimmer, das ich als Kind bewohnt hatte, wenn ich in den Sommermonaten meinen Vater besuchte, fand ich Pinsel, Farbrollen und größtenteils ungeöffnete Dosen mit weißer Farbe. Alle Zimmer waren von Staub und Spinnweben grau geworden, doch die Wände meines alten Zimmers sahen etwas weniger schmuddelig aus als alles andere. Ich rieb den Ruß von einer Farbdose ab, um das Herstellungsdatum auf dem Deckel zu lesen. Die aufgedruckte Jahreszahl fiel ungefähr in die Mitte der langen Dürre. Ich kaufte neue Farbe, schliff monatelang die Böden ab und wachste sie ein, reparierte Türen und wechselte kaputte Fensterscheiben aus. Auf dem Flohmarkt kaufte ich Tische, ein Bett und einen Schreibtisch. Ich entdeckte ein dunkelblaues Ledersofa mit zwei passenden Sesseln, ein Korbsofa, eine Kommode. Ich suchte mir ein Schlafzimmer im oberen Stock aus und ließ die anderen unmöbliert. An beiden Seiten des rauchgrauen Steinhauses waren Kamine hochgemauert; das Dach war grün, ebenso wie die Fensterläden und Fensterrahmen. Die Läden auf der einen Seite des Hauses waren abgenommen worden, ich fand sie in der Garage. Noch so ein unerledigtes Projekt meines Vaters. Er hatte angefangen, kaputte Leisten zu ersetzen, vermutlich wollte er die Fensterläden auch neu streichen. Ein Blick auf die Farbdose verriet mir, daß er sich für Schwarz entschieden hatte. Ich blieb bei
Grün. Wohin ich auch sah, stieß ich auf Arbeiten, die mein Vater nicht zu Ende geführt hatte. Er hatte versucht, die Treppe auszubessern, die den Hang zum Weinkeller am Fuße des Hügels hinunterführte, aber er war nie damit fertig geworden. Dann hatte er - oder ein von ihm beauftragter Arbeiter - angefangen, den Weinberg zum Schutz gegen das Wild einzuzäunen, doch er war nicht recht vorangekommen. Mir kam es seltsam vor, daß mein Vater diese Arbeit in Auftrag gegeben haben sollte, als er pleite war, oder daß er sich vielleicht selbst daran gemacht hatte, als er den Weinberg bereits aufgegeben hatte. Ich nahm mir vor, den Holzzaun weiterzubauen, aber da ich so etwas noch nie gemacht hatte, ließ ich schließlich ein paar Leute aus dem Tal kommen, die mir halfen. Erst als ich eines Abends ein Regalbrett im Arbeitszimmer leerräumte und ein gefaltetes Blatt Briefpapier der Winzerei »Dark Oak Wines« in einer ledergebundenen Kladde fand, wurde mir nach und nach klar, was damals in meinem Vater vorgegangen war. Die in seiner schwungvollen, nach links geneigten Handschrift abgefaßte Liste war etwa auf die gleiche Zeit datiert wie die Farbdosen, die ich gefunden hatte; es war eine Liste von Dingen, die er tun wollte: das Streichen der Wände und der Fensterläden war verzeichnet, das Ausfugen der grauen Außenmauern und die Reparatur der rissigen Sparren in der Weinkellerei, ebenso wie das Ausbessern der zum Keller hinunterführenden Treppe. Auch der neue Zaun tauchte in der Liste auf. Rosenbüsche vor dem Eßzimmer pflanzen, hatte mein Vater geschrieben. Salbei und Rosmarin neben der Küchenveranda, nicht zu vergessen Lavendel und Rittersporn. Neue Regale für die Speisekammer. Die Spaliere neu verdrahten. Herausfinden, ob man den Pick-up in Zahlung geben kann. Die Liste erinnerte meinen Vater daran, einen Birnbaum auszuholzen, von dem nur noch ein Stumpf übriggeblieben war, als ich auf das Weingut kam. Er wollte eine neue Benzinpumpe für den Traktor kaufen. Den Rasen hinter dem Haus neu einsäen. Eine Hängematte aufhängen. Und dann hatte mein Vater - samt der dazugehörigen Zeichnung am Fuß der Seite - Pläne für eine breite, mit Schieferplatten ausgelegte Terrasse und einen rechteckigen Swimmingpool an der Seite des Hauses entworfen, von der aus man einen schönen Blick auf seine Rebstöcke und das sanft geschwungene Tal dahinter hatte. Die Leute von Oak Valley versammelten sich vormittags immer im Eisenwarenladen, und dorthin ging ich mit der Liste meines Vaters und fragte einige von ihnen, die ihn gekannt hatten, was er denn wohl im Sinn gehabt hatte. Ich weiß zwar nicht mehr wer, aber einer antwortete: Wir alle haben in dem Jahr Listen geschrieben. In welchem Jahr? fragte ich. In dem einzigen Jahr während der Dürre, als es regnete, erklärte ein anderer. Wir alle haben Listen geschrieben und im nächsten Winter wieder zerrissen. Mir war nicht klar gewesen, daß es in den fünfzehn Jahren der Dürre nicht nur trokkene Jahre gegeben hatte. Sieben Jahre lang war kein Tropfen Wasser gefallen, doch dann regnete es von November bis April an einem Stück. Darauf folgten sieben weitere Jahren unbarmherziger Trockenheit. Daß ich von der einen Regenzeit nichts gewußt hatte, lag wohl daran, daß ich damals nicht in Kalifornien wohnte; ich war im Osten aufs College gegangen und hatte Jura studiert. Letztendlich waren diese sechs Regenmonate bedeutungslos geblieben; es war nicht genug Niederschlag gefallen, um den Grundwasserspiegel zu heben oder die Stauseen aufzufüllen. Eine einzelne Regenzeit hatte das Tal nicht retten können, und doch hatte sie offenbar genügt, um meinen Vater und alle seine Freunde anzuspornen, eifrig Listen zu erstellen. Sie dachten, das Leben würde wieder in normale Bahnen gelenkt, und es gab so viel zu erledigen, so viel zu renovieren, daß mein Vater nicht wußte, wo er beginnen sollte. Anscheinend war er von einer Arbeit zur nächsten geeilt, ohne irgend etwas zu beenden, angefangen bei den Fensterläden bis hin zum Zaun und der Weinkellertreppe. An jenem Abend blätterte ich die Geschäftsbücher meines Vaters durch. Wir hatten
eigentlich immer ein eher distanziertes Verhältnis zueinander gehabt. Ich wußte zwar, daß er stolz auf mich war, als ich in der Schule und während des Studiums gute Leistungen erbrachte, wir hatten aber nie viel miteinander geredet. Als es mit ihm bergab ging, hatte ich ihn kaum noch gesehen. Doch als ich jetzt seine Unterlagen durchging, die Berichte eines schnellen Aufstiegs, gefolgt von dem langsamen heimtückischen Niedergang, konnte ich zum erstenmal seinen Verlust, seine lange Agonie ermessen. Der Schuldenberg war im Lauf der Zeit immer mehr angewachsen, die Einnahmen waren immer spärlicher und die Erträge immer kärglicher geworden, bis ihm schließlich nichts anderes übrigblieb, als den Grundbesitz der Familie hektarweise zu verkaufen. An den Daten erkannte ich, daß mein Vater erst in den trockenen Wintern nach der kurzen Regenzeit sein Weingut aufgegeben hatte. Erst während der zweiten Dürrewelle hatte er Land verkauft. Vermutlich hatte er sich in den ersten sieben Jahren irgendwie seinen Optimismus bewahrt, hatte voller Hoffnung durchgehalten und sich geweigert, vor einer despotischen Sonne die Waffen zu strecken. Er hatte um Regen gebetet, und ich sah ihn vor mir, wie er im kalten Regen getanzt hatte, als er endlich vom Himmel fiel. In jenem Frühling schrieb er die Liste. Er wollte eine Hängematte aufhängen - ausgerechnet eine Hängematte, wo mein Vater im Grunde seines Herzens doch Bauer gewesen war und nie auch nur ein Nickerchen gehalten hatte. Als sich dann der eine nasse Winter als Ausnahme entpuppte, ist er wohl daran zerbrochen. Nicht die lange Dürre hat ihn vernichtet, sondern die Regenzeit zwischendurch und die damit verbundene trügerische Hoffnung, die ihm jeden Lebensmut raubte. Ich wünschte, ich hätte meinem Vater jetzt sagen können, daß ich wußte, was er alles durchgemacht hatte. Ich hatte es zwar erst verstanden, als es zu spät war, es ihm noch zu sagen, glaubte aber wie alle Söhne, daß ich seine Fehler nicht wiederholen würde. Nie würde ich zulassen, daß mein Leben den gleichen Verlauf nahm wie seines. Auch ich hatte eine Zeit der Dürre erlebt, doch als ich meine Reben ein zweitesmal zurückschnitt, schwor ich mir, es nie wieder soweit kommen zu lassen. Als ich erfuhr, daß man im Tal einen Rechtsanwalt brauchte, mietete ich nicht weit vom Eisenwarenladen entfernt ein Büro an. Es war früher einmal ein Käsegeschäft gewesen, in dem die Leute, die an den Wochenenden die Weingüter besuchten, eingekauft hatten. Noch vor einem Jahr hätte ich nie geglaubt, daß ich mich wieder als Rechtsanwalt niederlassen würde. In derselben Woche, als Julia und ich uns trennten, anderthalb Monate nach dem Tod meiner Mutter, hatte ich erfahren, daß ich in diesem Jahr nicht mehr Teilhaber in der großen Anwaltskanzlei werden würde, für die ich arbeitete, und daß dies auch in Zukunft nicht der Fall sein würde. Der geschäftsführende Teilhaber empfahl mir, es bei einer anderen Kanzlei zu versuchen, doch ich beschloß für mich, die Juristerei ad acta zu legen. Ich wollte nicht mehr als Anwalt tätig sein und fand, daß es ein Fehler gewesen war, diesen Beruf zu ergreifen. Er langweilte mich. Als ich dann aber in Oak Valley wohnte und Geld brauchte, blieb mir keine andere Wahl. Und zu meinem großen Erstaunen machte mir die Arbeit plötzlich Spaß. Meine Kanzlei war zwar bescheiden, sie ernährte aber ihren Mann. Im Gegensatz zu den Firmen oder Investoren, die ich in der Großstadt vertreten hatte, stand ich nun mit ganzem Herzen auf der Seite meiner Mandanten, mit denen ich mittlerweile oft sogar befreundet war. In der Stadt hatte ich mich auf Steuersachen und Konkurse spezialisiert, aber im Tal eröffnete ich so etwas wie einen juristischen Tante-Emma-Laden. Ich setzte Testamente und Grundstücksverträge auf und vertrat einige Kläger gegen die Steinbruchbesitzer, die im Begriff waren, die Weinberge an sich zu reißen, übernahm einen Fall, in dem es um strittige Wasserrechte ging, und wenn ich einen kleinen Zusatzverdienst brauchte, arbeitete ich als Pflichtverteidiger im San Benito Country. Meist handelte es sich dabei um Diebstähle oder kleine Rauschgiftdelikte, und ich freute mich stets auf die einstündige Fahrt nach Hollister, wo ich manchmal einen Gerichtstermin hatte, obwohl es im Rechtshilfeamt üblich
war, sich der meisten Fälle durch eine rasche Absprache mit der Staatsanwaltschaft zu entledigen. Hier und da war auch meine Erfahrung mit dem kalifornischen Konkursrecht hilfreich, da etliche Winzer in Oak Valley vor der Zwangsvollstreckung standen und sich mit ihren Gläubigern einigen mußten. Die Dürre hatte die Leute hier in den Ruin getrieben, und ich half ihnen, wo immer ich konnte, ihre Häuser und schwindenden Altersrücklagen zu schützen; es war eine sinnvolle Tätigkeit, wie ich fand. Die ganze Zeit über renovierte ich das Haus und kümmerte mich um meine Rebstökke, konnte also nicht über Arbeitsmangel klagen. Ich freundete mich mit Leuten im Tal an und wurde von ihnen abends zum Essen eingeladen. Eine Zeitlang war ich mit einer Frau zusammen, meiner Kontaktperson im Büro des Pflichtverteidigers, und das machte auch eine Weile Spaß, doch auf eine einigermaßen leidenschaftliche Phase folgte ein halbstündiges Plädoyer, in dessen Verlauf wir eine vorsätzliche Affäre zu einer freundschaftlichen Ordnungswidrigkeit herabstuften. Ich wußte - und meine Freundin wußte das auch - , daß ich mein Leben eigentlich mit Julia verbringen wollte, daß Julia meine einzige große Liebe war. Und wenn ich ehrlich bin, muß ich zugeben, daß ich sogar, während ich dieses Verhältnis hatte, hin und her überlegte, wie ich Julia zum Weingut locken konnte. Die ersten paar Monate nach unserer Trennung hatten wir nur selten miteinander gesprochen. Wenn wir uns unterhielten, redeten wir vor allem über unseren Sohn. »Was hat Tim denn in diesem Schuljahr für Noten gekriegt?« fragte ich beispielsweise. »Er hat gute Noten«, antwortete dann Julia. »Gute Noten. Heißt das Einsen und Zweien?« »Das wären in der Tat gute Noten«, bestätigte Julia. Doch nach und nach, mit einer gewissen Distanz zu unserer langen Ehe und unserer schnellen Trennung, plauderten wir ungezwungener miteinander, mehr wie die alten Freunde, die wir ja schließlich waren. Was aber nicht hieß, daß ich mich auf unsere Gespräche freute, ganz im Gegenteil. Julia hatte so eine Art, mich aus der Fassung zu bringen, mich auf dem falschen Fuß zu erwischen, das gelang ihr immer. »Kommt mein Anruf ungelegen?« fragte sie mich eines Winterabends. Ich kam gerade von draußen und versuchte, möglichst wenig Matsch in die Küche zu schleppen. Ich antwortete, es sei der ideale Zeitpunkt für ein Gespräch, und stolperte, als ich die Stiefel von den Füßen schlenkerte und nach einem Saftglas und einer Flasche Wein griff. »Empfiehl mir doch mal ein gutes Buch, das ich lesen könnt«, sagte sie. »Ein gutes Buch«, wiederholte ich. »Du liest doch immer gerade ein gutes Buch«, sagte Julia, »und ich sehne mich im Moment nach einem wirklich guten Buch.« »Darum rufst du an«, stellte ich fest. »Genau aus diesem Grund«, bestätigte sie. Ich schleppte mich nach oben in eins der unmöblierten Zimmer, wo ich mich mit meinem Wein und dem schnurlosen Telefon auf dem Boden ausstreckte. »Wie geht's dir so?« fragte ich. »Ich langweile mich«, sagte sie. »Tim übernachtet bei einem Freund. Ich bin allein. Ich brauche ein gutes Buch.« »Ich bin in letzter Zeit nur noch selten zum Lesen gekommen«, sagte ich. »Und wenn ich mal Zeit habe, so wie heute, bin ich draußen.« Julia schwieg. »Und arbeite im Weinberg«, fuhr ich fort. »Ich hab dir doch erzählt, wie ich die Reben wieder aufgepäppelt habe.« »Macht man das denn nicht eher im Sommer, solche Gartenarbeiten?« Sie wollte wohl meine Tätigkeit als Weinbauer nicht herabsetzen. »Es ist eher so etwas wie eine ganzjährige Manie«, sagte ich.
Wieder schwieg Julia. Dann sagte sie: »Weißt du, ich habe noch all deine Bücher hier...« »Stimmt«, unterbrach ich sie. »Ich sollte mal vorbeikommen und sie ins Auto pakken.« Früher hatte ich Bücher verschlungen und mir eine recht umfangreiche Sammlung von Romanen und Reiseberichten zugelegt. Als ich Julia verließ, blieben die Bücher zurück, genau wie fast alles andere, was ich besaß. »Nein, nein, die liegen hier gut«, sagte sie. »Ich meinte damit... Also, ich sollte doch immer die Bücher lesen, die du gerade gelesen hast, weißt du noch?« Ich wußte es noch. »Ich hatte aber nie die Zeit«, sagte Julia. Als wir noch verheiratet waren, hatte sie lange auf eine Promotion in Kunstgeschichte an der Uni in Berkeley hingearbeitet und nicht die Zeit gefunden, meine Bücher zu lesen, ganz zu schweigen von ihrer Fachliteratur, da sie andauernd stillen oder unser kleines Kind beschäftigen mußte. Ihre Dissertation hatte sie aufgegeben. »Jetzt habe ich Zeit«, fuhr Julia fort. »Offenbar habe ich inzwischen jede Menge Zeit. Jetzt zum Beispiel. Also. Schieß los, was soll ich lesen?« Ich hörte sie atmen. »In zwei Wochen wollte ich raufkommen und Tim besuchen«, sagte ich. »Nun hab ich mir überlegt, er könnte allmählich auch mal zu mir aufs Weingut kommen und übers Wochenende hier bleiben.« Um meinen Sohn zu sehen, fuhr ich gewöhnlich nach San Francisco und ersparte Julia die fast zweihundert Kilometer lange Fahrt nach Süden. Vermutlich war Tim nicht besonders angetan von der Vorstellung, sich länger im Tal herumzutreiben, und ich war nicht erpicht darauf, ihn zu lange aus seinem Stadtleben zu reißen. »Vielleicht«, sagte Julia. Ich atmete tief durch. »Und da hab ich mir gedacht, du könntest ihn ja vorbeibringen und dann einmal hier übernachten, bevor du wieder zurückfährst, und dann könnte ich ihn nach dem Wochenende wieder zurückbringen.« »Aha«, sagte Julia. »Interessant. Bloß, sieh mal, ich bin momentan ziemlich beschäftigt und habe nicht allzuviel Zeit. Ich überlege mir nämlich, wieder mit meiner Dissertation anzufangen.« Ich ließ die Hoffnung fahren. »Ach ja? Das ist toll.« »Ja, ich weiß also nicht genau, ob ich das alles schaffe. Aber ich werde Tim fragen. Vielleicht möchte er mal runter aufs Weingut.« »Oder ich komme einfach in die Stadt, wie üblich«, schlug ich vor. »Ja, oder so«, sagte Julia. »Mal sehen«, sagte ich. Und damit war unsere fernmündliche Begegnung an diesem Abend beendet. Ich blieb in dem dunklen Zimmer auf dem Rücken liegen und rührte mich eine ganze Weile nicht. Irgend etwas war während dieses Gesprächs passiert. Ich wußte zwar nicht genau, was, redete mir aber ein, daß Julia dasselbe wollte wie ich. Nun mußten wir sehr langsam vorgehen, mit der Geschwindigkeit eines Gletschers. Als sie ein paar Tage später wieder anrief, nahm ich meine Flasche Merlot mit nach oben ins Schlafzimmer und unterhielt mich eine Stunde lang mit ihr. Ich weiß nicht mehr genau, worüber wir redeten, erinnere mich aber, daß Julia mich über meine Arbeit als Anwalt aushorchte. »Was deine guten Taten als Pflichtverteidiger betrifft... «, fing sie an. »Was ist damit?« »Ich bin stolz auf dich, Jason«, sagte sie. »Schau mal, ständig hast du davon geredet, etwas in der Art zu machen, aber du hast dich nie dazu aufraffen können. Ich hab schon nicht mehr damit gerechnet.« »Ich nehme nur hin und wieder einen Fall an«, sagte ich. »Eher im Winter und auch nur, weil ich das Geld brauche. Mach keinen Heiligen aus mir, Julia, schließlich bekomme ich nicht viel dafür. Ich verdiene mir bloß ein kleines Zubrot.«
»Gute Taten sind gute Taten«, sagte sie. »Nimm doch das Kompliment einfach an.« »Na schön«, sagte ich. »Danke.« Ein paar Tage später rief ich sie an. »Erzähl mir von der Dissertation. Würdest du ein neues Thema wählen?« wollte ich wissen. »Das müßte ich sogar«, antwortete sie. »Jemand anderes hat ein Buch über meinen Künstler veröffentlicht.« Ihr Künstler war ein kaum bekannter Miniaturmaler aus dem Quattrocento. »Außerdem will ich mich wohl doch eher in diesem Jahrhundert umsehen.« »Da wirst du sicherlich fündig werden«, sagte ich. »Schließlich ist dieses Jahrhundert ja fast vorüber.« »Tim freut sich wirklich auf den Besuch bei dir«, sagte sie. Mein Herz raste. »Falls du es noch immer willst...« »Unbedingt«, sagte ich. »Und ich übernachte einmal, wenn das geht. Falls du ein Sofa hast«, sagte Julia. »Klar habe ich das«, sagte ich, und sobald ich aufgelegt hatte, rannte ich nach unten, um die Sofakissen aufzuschütteln, als würde Julia jeden Moment durch die Tür marschieren und sich sofort hinlegen wollen. Darauf hatte ich gewartet, darauf hatte ich es angelegt - daß Julia Tim aufs Weingut brachte und mich hier besuchte. Es kam so, wie ich es mir gewünscht hatte, und das erstaunte mich wirklich, weil ich noch nie ein großer Dirigent war; wenn überhaupt, spielte ich eher die zweite Geige. Im strategischen Planen war ich nie besonders gut gewesen, ich lebte einfach in den Tag hinein, und daher fragte ich mich allmählich, ob ich mich in dem Jahr und den paar Monaten, die ich von Julia getrennt gewesen war, vielleicht tatsächlich verändert hatte. Vielleicht war ich ein neuer Mensch geworden, der endlich einmal sein Schicksal selbst in die Hand nahm. Es war die letzte Februarwoche oder die erste Märzwoche, als Julia eines Freitagabends auftauchte. Die Sonne ging gerade unter. Sie stellte ihren Sportwagen neben den beiden Eukalyptusbäumen ab, die wie Wachposten am Anfang des langen Weges zum Haus hoch standen. Während sie näher kam, beschien die Sonne sie von hinten, so daß nur die Silhouette ihrer schlanken Gestalt zu sehen war. Vor dem leuchtenden Hintergrund hatte man den Eindruck, sie stünde in Flammen, und ich beeilte mich, sie in die Arme zu nehmen, um die Flammen mit meiner Umarmung zu ersticken. Ihre Lippen streiften meinen Hals. Ihr Atem wärmte mein linkes Schlüsselbein, mein Ohr. In diesem Augenblick wollte ich nur noch eins, nämlich daß sie mein gebügeltes weißes Hemd aufknöpfte, es mir vom Körper riß und mit ihren Handflächen über meine Arme und meinen Brustkorb fuhr, so wie früher, als ich mich stark gefühlt hatte. Als sie sich von mir löste, fragte ich, wo Tim sei. »Bei einem Freund«, antwortete sie. »Ich hatte völlig vergessen, daß er zu irgendeiner großen Geburtstagsfeier mußte, mit Übernachtung, und ich es ihm erlaubt hatte. Ich dachte, du kannst ja nächstes Wochenende raufkommen und ihn besuchen...« Ich muß wohl die Stirn gerunzelt haben. »Ich weiß, tut mir leid, tut mir leid. Ich hätte anrufen sollen«, sagte Julia. Sie war allein gekommen, was ich in erster Linie aufregend fand, und ich hatte nicht aus Verärgerung das Gesicht verzogen, sondern weil ich plötzlich Angst bekam. »Nein, ich freue mich wirklich«, sagte ich. Julia trat beiseite. »Zeigst du mir alles?« Zuerst führte ich sie durchs Haus, ins Wohnzimmer mit der lädierten Ledercouchgarnitur, dem Korbsofa, dem Schreibtisch. Dann ins Eßzimmer mit seinem zerschrammten langen Speisesaaltisch. Ins Arbeitszimmer, in mein Schlafzimmer mit dem Himmelbett vom Flohmarkt, bei dem der Himmel fehlte. Das war's, doch Julia sagte: »Mir gefällt deine Einrichtung.«
»Meine Einrichtung?« »Dein Stil.« »Mein Stil? Das Zeug hier stammt aus dem Trödelladen«, sagte ich. »Du hast einen ganz eigenen Stil«, behauptete sie. »Sparsam, schlicht, schön.« »So was nennt man dann wohl Neo-Flohmarkt«, sagte ich. »Früher hattest du keinen eigenen Geschmack.« »Wirklich nicht?« »Jedenfalls hattest du keinen blassen Schimmer, wie man ein Zimmer einrichtet«, sagte sie. Gern hätte ich darauf hingewiesen, daß ich unsere Sechs-Zimmer-Wohnung mit Terrasse problemlos hätte möblieren können, mich aber immer Julia mit ihrer Vorliebe für magersüchtige Möbel, spindeldürre Stühle und polierten Ahorn gefügt hatte. Immer hatte ich sie den Bezugsstoff für die Polster und den Musselin für die Vorhänge auswählen lassen. Sie hatte entschieden, welche Landschaftsbilder aus dem Weinanbaugebiet an welchen Wänden hingen. Doch jetzt war ich nicht zum Streiten aufgelegt, deshalb führte ich sie hinaus zu meinen Weinstöcken. Ich hatte sie erst kurz davor zurückgeschnitten und fand, daß sie in diesem kahlen Zustand Julia weit weniger zu beeindrucken vermochten als etwa im Hochsommer, wenn alles grün war, oder im Frühherbst, wenn die Blätter sich bunt färbten. »Ich muß dir etwas gestehen«, sagte sie, als wir zum Weinberg hinuntergingen. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages fingen sich im Nickelgestell ihrer Brille, die sie nur zum Autofahren oder zum Lesen aufsetzte und meistens wie einen Haarreif auf ihre weizenblonden Haare schob. Die Brille funkelte wie eine Tiara. »Das mit deinen Reben hab ich dir nie so richtig abgenommen«, sagte sie. Sie ließ mich am Rand des Feldes stehen und ging, obwohl sie ein paar blankgeputzte Lederschuhe anhatte, einen Gang zwischen den matschigen Reihen knorriger Rebstöcke hinunter. »Du hast geglaubt, ich hätte mir das alles ausgedacht?« fragte ich. Als sie wieder zurückkam, konnte ich nicht sagen, ob sie rot geworden war oder nur von der Märzluft ein wenig Farbe bekommen hatte. »Du willst mich beeindrucken«, sagte sie. Jetzt wurde ich rot. »Und es funktioniert«, fuhr sie fort. »Ich bin's.« Ich nahm Julia bei der Hand und führte sie den Hügel hinauf. »Zeit fürs Abendessen«, sagte ich. »Gibt's denn in Oak Valley ein passables Restaurant, das nach Hause liefert?« meinte sie darauf, und später, als wir wieder in der Küche waren und ich ein Hähnchen aus dem Herd holte, fragte sie nur ungläubig: »Wer hat das gekocht?« Ich salutierte mit einem Topfhandschuh. »Das gibt's nicht«, rief sie. »Du kannst nicht kochen. Das hast wirklich du gemacht?« Es war das einzige Gericht, das ich zubereiten konnte und das jedesmal gelang. Ein gebratenes und gefülltes Hähnchen mit irgendeinem unkomplizierten Gemüse als Beilage. An diesem Abend glasierte Möhren. Zwar war das Hähnchen ein wenig zu lange im Backofen geblieben, aber dadurch hatte es nur eine knusprigere Haut bekommen. Auch das Gemüse hatte ich zu lange gekocht. Der frische Salbei, den ich klein gehackt und unter die Füllung gemischt hatte - zuviel Salbei, fand ich -, erfüllte mein Eßzimmer mit jenem durchdringend würzigen Duft, den jeder Kalifornier als Geruch der Frühlings-Tagundnachtgleiche kennt. Zum erstenmal seit über einem Jahr aßen wir zusammen, und auch wenn ich in dem Moment mit mir und meinem Leben zufrieden war, war das nicht genug. Ich wollte mehr. Ich wollte, daß Julia nachher mit mir nach oben gehen, mit mir schlafen und morgen mit mir aufwachen würde. Ich wollte, daß Tim wie von Zauberhand am Frühstückstisch erschien. Ich wollte unser altes Leben wiederhaben, hierher versetzt, und obwohl dieser Abend ein erster Schritt war, schien mir das endgültige Ziel so weit entfernt zu sein, daß ich befürchte-
te, es nie zu schaffen. Julia blieb nicht über Nacht, sie mußte Tim am nächsten Morgen bei seinem Freund abholen. Als sie mich zum Abschied umarmte, war ich wie gelähmt. Ich machte die Haustür zu, und in mir stieg eine tiefe Trauer hoch, fast wie damals, als meine Mutter nach jahrelanger Krankheit starb. Es war ein solcher Schmerz, daß ich gegen die Wand sank und lange in dem eichenholzgetäfelten Flur weinte. Ich wollte keinen Tag mehr in dem alten Steinhaus bleiben, weil ich plötzlich erkannt hatte, was mir fehlte. Was mein Leben so offensichtlich und, wie ich an diesem Abend befürchtete, dauerhaft unvollkommen machte. Und doch kamen wir uns näher, Julia und ich, vorsichtig und unausweichlich. Da führte kein Weg dran vorbei. Wir sprachen oft miteinander, und mit jedem Gespräch wurde ich gelassener. Wir aßen zusammen, wenn ich Tim besuchte. Er kam regelmäßig runter aufs Weingut, und dann machten wir beide Pizza, unternahmen lange Wanderungen, und obwohl ich aus meinem elfjährigen Sohn nicht mehr so leicht schlau wurde, glaubte ich, daß Tim gern bei mir war. Julia blieb aber nie über Nacht, und ich fand bald heraus, daß sie in San Francisco einen Freund hatte, einen Maler, mit dem sie jene Wochenenden verbrachte, die Tim auf dem Weingut war. Ein Künstler. Ein Börsenmakler wäre mir lieber gewesen. Julia hatte schon immer ein Faible für Künstler gehabt, und als wir uns am Ende unseres Studiums ineinander verliebt hatten, glaubten vermutlich alle ihre Freunde, sie würde mir alsbald den Laufpaß geben, weil ich nur mit Müh und Not einen Baum zeichnen konnte. Ich weiß noch, daß ich wie vom Donner gerührt war, als sie mir erzählte, sie sei mit einem anderen Mann zusammen. Ich wußte zwar, daß sie inzwischen Affären gehabt hatte, genau wie ich auch, machte aber häufig den Fehler anzunehmen, daß Julias Leben parallel zu meinem eigenen verlief. Wenn ich solo war, war sie es auch. Doch das stimmte nicht, und als wir uns in jenem Frühling und dann im Sommer näherkamen, wollte mir Julia von ihrem Liebhaber erzählen, und ich hörte zu, auch wenn es mir in der Seele weh tat. Ich empfand eine gewisse Genugtuung, wenn sie und der Maler sich gestritten oder eine Meinungsverschiedenheit gehabt hatten, und hörte nur ungern von ihrer Versöhnung. Ansonsten bemühte ich mich, ihm aus dem Weg zu gehen. Eines Spätsommerabends brachte Julia Tim zu mir, und nach dem Essen - ich hatte mittlerweile gelernt, wie man Lachsfilet in Zitronen-Dill-Sauce zubereitet und mir dazu ein Couscousgericht ausgedacht - spülte ich mit Julia ab, während Tim im Wohnzimmer an seinem Computer spielte. Wir standen dicht nebeneinander, und ich habe vergessen, worüber wir redeten; um die Wahrheit zu sagen, habe ich Julia eigentlich gar nicht zugehört, sondern den sanften Übergang zwischen ihrem Hals und den Schultern bewundert. Es war ein warmer Abend, und sie trug bloß eine weite weiße Bluse, unter deren leichtem Stoff sich ihre dunklen Brustwarzen abzeichneten. Und auf einmal machte mich allein ihre Gestalt wie benommen. Sie schaute mich an, grinste und schob mit ihrem trockenen Handrücken ein paar Strähnen nach hinten, bekam die Haare aber nicht aus dem Gesicht. Ich legte den Teller beiseite, den ich gerade abtrocknete, und strich ihr die Haare hinter das Ohr. Dann berührte ich mit einem Finger ihren Hals und ihre Schulter. Als sie sich zu mir umdrehte, sah ich, daß ihr Gesicht glühte. Sie ließ sich küssen. Der Kuß dauerte vielleicht eine Sekunde, und doch hatte ich das Gefühl, durch einen langen Tunnel zu rasen und dann eine steil zum Meer abfallende endlose Serpentinenstraße zu nehmen. Ich dachte: Ich habe sie endlich wieder. Doch dann löste sich Julia von mir. Sie griff nach einem Tuch, trocknete sich die Hände ab, und ehe ich mich versah, gab sie Tim einen Abschiedskuß und lief durch die Tür, ohne sich noch einmal umzudrehen, obwohl ich hinter ihr herrief. Sie ging den Weg hinunter zu ihrem Wagen und verschwand in einer Staubwolke. Da lag ich nun wieder, zusammengesackt an der Wand des Hausflurs lehnend, und mußte mich zusammenreißen, weil Tim nach mir rief. Er wollte mir irgend etwas auf seinem Computerbildschirm zeigen, und so stand ich hinter ihm und sah zu, wie er durch das
Computerspiel flitzte. Dabei konnte ich nur daran denken, daß ich wieder einmal alles verdorben hatte. Julia hätte gesagt, ich sei genauso ichbezogen wie eh und je. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was sie wollte. Ich hatte alles verdorben. Als ich Tim am Sonntag abend nach San Francisco zurückbrachte, lernte ich den Maler kennen. Er saß in der Küche, genau an der Stelle, wo ich morgens immer meinen Cappuccino getrunken hatte. Julia war betont nett zu mir. Sie entschuldigte sich dafür, daß sie weggelaufen sei, und ich sagte, es täte mir leid, daß ich sie falsch verstanden hätte, und sie sagte, das müsse mir nicht leid tun, und damit hatte sich's. Der Maler hatte einen breiten Brustkorb, massige Arme, schulterlange Haare und Ringe in beiden Ohren. Ich setzte mich zu ihm, während Julia den Jungen ins Bett brachte, und ich hatte dem Mann absolut nichts zu sagen. »Na, was habt ihr beiden in letzter Zeit so gemacht?« fragte ich endlich. »Hä?« fragte der Maler zurück. Er hatte ein dünnes Hundehalsband aus Leder um. Ich fand, daß er ein wenig schielte. »War es hier auch so heiß?« fragte ich. Der Maler trank einen Schluck Bier. »Ich hab nichts gegen die Hitze. Irgendwie mag ich sie.« »Ach ja?« »Klar, ich steh total drauf. Wenn der Straßenbelag so schön weich wird. Ich meine, ich finde, Hitze kann ziemlich cool sein«, schloß er. Ich fing an zu lachen. Der Maler legte den Kopf schräg. Er runzelte die Stirn; er hatte keine Ahnung, warum ich lachte. Er merkte nicht, wenn er einen Witz machte. »Hitze kann ziemlich cool sein«, wiederholte ich. Wieder schüttelte der Maler den Kopf. Er hatte es immer noch nicht begriffen, was mich noch mehr zum Lachen brachte, und als Julia wieder in die Küche kam, wollte sie wissen, was denn so lustig sei. Ich verriet ihn nicht. Am liebsten hätte ich gesagt, daß ich ihren Maler für ziemlich dämlich hielt, und sie in die Arme genommen, weil ich so erleichtert war. Ich wußte, dieser Mann war auf Dauer keine Konkurrenz. Klar, er hatte gewaltige Arme, und vielleicht war er gut im Bett - vielleicht waren auch seine Bilder phantastisch -, aber ohne Humor hatte er auf Dauer keine Chance. Der war kein Gegner, das stand für mich fest. Solange Julia noch unsicher war, ob sie zu mir zurückkehren wollte, war sie besser bei einem Dämlack wie dem hier aufgehoben als bei jemandem, der wirklich ihr Herz eroberte, bei einem Mann, den ich vielleicht nicht so einfach in die Tasche stecken konnte. Und so fuhr ich wieder zu meinen Weinberg und war seltsamerweise viel gelassener. Ich konnte Geduld haben, mir Zeit lassen. So langsam genoß ich es, daß wir wie gute Freunde miteinander umgingen. Wenn ich mit Julia redete, war ich glücklich, und wir telefonierten an manchen Abenden stundenlang. Es verging kaum ein Tag, an dem wir uns nicht beim anderen meldeten, und sei es nur, um gute Nacht zu sagen, schlaf gut. Ich konnte warten. Was nicht heißt, ich sei damals im Herbst nicht einsam gewesen, manchmal nahm die Melancholie sogar Überhand, aber mit meinen fünfunddreißig Jahren hatte ich endlich gelernt, damit zurechtzukommen. Ich versuchte, meine Tage zu füllen, beizte eine alte Kommode, hackte den harten Boden um die Reben oder vertiefte mich in einen Romanklassiker, den ich schon immer mal hatte lesen wollen. Ich freute mich auf den Wechsel der Jahreszeiten - auf das Grau des Winters, das wie ein schwerer Mantel auf mir lastete, auf die kathedralengleiche Himmelskuppel im Frühling, die klare Sommerluft, dieses Meer ohne Wasser. Am meisten freute ich mich auf den Herbst. Das lag nicht daran, daß die Temperaturschwankungen in dieser Jahreszeit meinem eigenen Auf und Ab entsprachen, oder weil mir die Herbstlandschaft so gut gefiel - das gesamte Tal färbte sich dann goldgelb, Hügel, Bäume, Sonnenuntergänge. Aus mir war ganz einfach ein richtiger Winzer geworden, den die Weinlese mit Stolz und tiefer Befriedigung erfüllte.
Meine zweite Lese fiel üppiger aus als die erste, was auch wieder nicht mein Verdienst war. Ich hatte die Reben im Winter zurückgeschnitten und im Sommer bewässert, mehr nicht. Sobald die Früchte reif wurden, hatte ich täglich ihren Zuckergehalt getestet, und dann machte ich mich mit einem gekrümmten Messer, einer kleinen Sichel, über die Reben her und las meinen Wein Traube für Traube. Wieder verkaufte ich meine Ernte, und auch wenn ich von meinen Weintrauben nicht reich wurde, verdiente ich doch etwas dabei. Ein paar Tage nachdem die Trauben abgeholt worden waren, fuhr ich in den Ort und machte beim Eisenwarenladen halt, bevor ich meine Kanzlei aufsuchte. Als ich eintrat, klatschten die Anwesenden, meine Freunde im Tal, Beifall. Ich wußte nicht genau, warum. Hier und da klopfte mir jemand auf die Schulter, und bald stellte sich heraus, daß man mich einfach dafür beglückwünschte, daß ich ein paar Weintrauben angebaut und verkauft hatte. Ganz gleich, wie unbedeutend meine Arbeit als Weinbauer war, für die Menschen im Oak Valley setzte sie ein Zeichen. Wenn irgendein Städter daherkommen, Trauben ernten und in zwei aufeinanderfolgenden Jahren zu einem angemessenen Preis verkaufen konnte, dann durften auch die anderen Winzer wieder hoffen. Ich hatte nie vorgehabt, meine Arbeit besonders herauszustellen. Ich war nicht ausgezogen, um für irgendwen ein Vorbild zu werden, doch an diesem Vormittag erzählten mir einige Weinbauern, sie wollten sich ein paar neue Wurzelstöcke, ein paar neue Reben besorgen. In den folgenden Tagen und Wochen kamen mehrere Winzer in meiner Kanzlei vorbei und holten sich juristischen Rat, wie sie mit ihren Weingütern einen Neuanfang machen konnten. Alte Hasen fragten mich nach meinen Geheimtips, und ich wünschte, ich hätte welche weitergeben können. Jemand backte mir einen Teller Kekse und stellte sie eines Morgens vor meine Kanzleitür, dabei lag ein Zettel mit den Worten: Danke, daß Sie ins Tal gekommen sind. Der eine oder andere wollte wissen, ob ich Arbeit für ihn hätte, als wäre ich mein Vater zu seiner Glanzzeit, als ihm haufenweise Weinberge gehörten, und ich bedauerte, keinem eine Stelle anbieten zu können. Auf einmal redete man von dem Wohlstand, der uns erwartete. Mir fiel auf, daß die Gespräche im Eisenwarenladen heiterer und lebhafter wurden; damals in der Weihnachtszeit plauderte man fröhlich, als habe sich das Gerücht verbreitet, ein in weiter Ferne ausgetragener Krieg gehe nun bald zu Ende. Die Kampfhandlungen seien bereits eingestellt, und ein dauerhafter Friede stehe bevor. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas wahrlich Heldenhaftes vollbracht. Ich hatte nie ein Baseballspiel entschieden, ein Kind aus einem Brunnen gerettet, von der Treppe eines Rathauses aus eine aufrüttelnde Rede gehalten, eine Theorie der Schwerkraft aufgestellt, eine atmosphärisch dichte Erzählung geschrieben oder auch nur ansatzweise etwas Vergleichbares zustande gebracht. Ich hatte vieles falsch gemacht, und jetzt versuchte ich nur, mein Leben irgendwie wieder in den Griff zu bekommen. Mir war in meiner neuen Rolle und dem dazugehörigen Erfolgszwang nicht ganz wohl, ich muß aber zugeben, daß es mir gefiel, wie die Leute mich voller Stolz ansahen, als hätte ich ein goldenes Händchen. Das wog mich in dem Glauben, ich hätte endlich wieder etwas Glück. Ich dachte, nun müßte alles gelingen, was ich in Angriff nahm. Und so beschloß ich eines Abends, als ich von der Kanzlei nach Hause fuhr, bei der nächsten Lese nicht mehr die gesamte Ernte zu verkaufen. Ich würde einen Teil der Trauben oder vielleicht sogar alle behalten, um das zu tun, was ich inzwischen als meine Bestimmung erkannte: meinen eigenen Wein herzustellen. Eines Samstagmorgens im Winter traf unangemeldet Julia ein. Sie hatte Tim mitgebracht, und einen Augenblick lang glaubte ich, mich im Kalender verguckt zu haben; mein Besuchswochenende war erst in vierzehn Tagen. Tim lief ins Haus, in den Armen ein Päckchen mit im Dunkeln leuchtenden Sternbildern, die ich mit ihm an die Decke seines Schlafzimmers kleben sollte. Julia ließ sich im Wohnzimmer in einen Sessel fallen. Sie sah erschöpft aus.
»Alles in Ordnung?« fragte ich. »Ich kriege nicht genug Schlaf«, antwortete sie. Tim rief nach mir. »Geh rauf«, sagte sie. »Bring die Sterne mit ihm an.« Julia war den ganzen Tag lang still, und ich drängte sie nicht. Beim Abendessen sagte sie nichts, und erst als Tim ins Bett gegangen war, gestand sie mir, sie habe mit ihrem Maler, dem Schönling, Schluß gemacht. Ich bemühte mich, nicht zu lächeln, konnte mir aber ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. »Du hast ihn nie leiden können, ich weiß«, sagte Julia. »Irrtum«, widersprach ich. »Ich konnte ihn leiden.« Diese Lüge war reichlich plump. Julia kamen die Tränen. »Keine Ahnung, warum ich so am Boden zerstört bin«, sagte sie, »schließlich hab ich mit ihm Schluß gemacht. Er hat es ganz gut weggesteckt, aber mich nimmt es fürchterlich mit.« »Ist ja schon gut«, sagte ich, und dann zog ich sie an mich, nahm sie in die Arme und hielt sie ganz fest. Ich ließ sie leise an meiner Brust weinen. Ich mußte es ganz vorsichtig angehen, das war mir klar. Sie kam mir zerbrechlich vor, und wenn ich nicht aufpaßte, würde ich ihren zarten Körper zerquetschen. Ich nahm sie bei der Hand und führte sie zum Sofa. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Das muß es nicht. Wein dich ruhig aus«, sagte ich. »Es ist besser, jetzt zu weinen, als...« Eigentlich wußte ich gar nicht, was ich sagen sollte, und dann wurde mir klar, daß ich gar nichts sagen mußte. Sie war zu mir gekommen, um sich trösten zu lassen, und ich brauchte sie nur in den Armen zu halten. Sie vergrub den Kopf an meinem Brustkorb, so daß ich mir jetzt das breite Lächeln erlauben konnte, das ich bislang zurückgehalten hatte, breit, aber nicht breit genug für die diebische Freude, die ich in diesem Augenblick empfand. Ich bestand darauf, daß Julia auf dem Sofa schlief, statt nach Hause zu fahren, verstört wie sie war, und schließlich erlaubte sie mir, das Sofa in ein bequemes Bett zu verwandeln. Ich küßte sie auf die Wange und ging dann nach oben in mein Bett, tat aber kaum ein Auge zu. Julia und Tim, alle beiden schliefen in meinem Haus. Ich berührte den Putz hinter meinem Bett mit der Handfläche, und die Wände schienen warm zu sein, als vibrierten sie von all dem Leben, das sie so unerwartet bargen. Am nächsten Morgen war Julia besser gelaunt. Sie machte Bananenpfannkuchen. Vor mir lag ein Riesenstapel, aber ich wollte keinen essen. Ich wollte nur Julia und Tim zusehen, wie sie Sirup auf ihre Pfannkuchen gossen und sich dann darüber hermachten. Ich hatte keinem Menschen bisher erzählt, daß ich vorhatte, die Kellerei wieder in Betrieb zu nehmen. Julia fand die Idee phantastisch, als ich sie in mein Geheimnis einweihte. »Diesen Sommer werde ich sehr viel zu tun haben«, meinte ich. »Die Fässer und Gärbehälter müssen in Schuß gebracht werden und dergleichen.« »Weißt du eigentlich, wie man Wein macht?« erkundigte sich Julia. »Irgendwie habe ich die stille Hoffnung, daß die Trauben das selbst erledigen«, sagte ich. »Darauf würde ich mich lieber nicht verlassen«, meinte sie und blinzelte mir zu. Nun kam Julia häufig aufs Weingut. Wir gaben die Besuchsregelung auf, die wir in unsere Sorgerechtsvereinbarung aufgenommen hatten. Sie hatte ein Stipendium bekommen, um an einer neuen Dissertation zu arbeiten, und sie behauptete, daß sie die heiteren Wochenenden auf dem Land genoß, wenn ich Tim beaufsichtigen und sie sich in ihre Arbeit vertiefen konnte. Sie kam mit einem Stapel Bücher aus der Bibliothek an und nahm meinen Schreibtisch im Arbeitszimmer in Beschlag. Unterdessen verlegte Tim ein Kabel von meinem Schlafzimmer zu seinem Zimmer und kommunizierte oben stundenlang per Modemverbindung mit seinen Freunden; ich arbeitete im Weinberg. Abends trafen wir uns zu einem großen Festessen und mach-
ten ein Feuer im Kamin. Julia schlief auf dem Sofa. Ich muß gestehen, daß ich es zwar kaum erwarten konnte, schneller den Endbahnhof zu erreichen, auf den wir, wie wir beide wußten, zusteuerten, andererseits genoß ich es, Julia nur zeitweise um mich zu haben. Das hatten wir beide versäumt, als wir noch jünger waren, und jetzt erst merkte ich, wie spannend etwas Abstand sein konnte. Als ich Julia kennenlernte, standen wir beide kurz vor dem Examen, ich wohnte damals in einem Studentenwohnheim, und sie teilte sich mit Kommilitoninnen ein Haus außerhalb des Campus. Sofort nach dem Studium zogen wir zusammen; ein Vierteljahr danach ging es zum Standesamt, und das war zu früh, viel zu früh. Jetzt, viele Jahre später, gab ich mir besondere Mühe, wenn die beiden zu Besuch kamen. Ich schmückte die Vasen mit dem, was ich gerade im Garten fand, Rosmarin, Lavendel, Mohnblumen und fiedrigen Fenchel, füllte die Speisekammer und den Kühlschrank auf und legte mehr Obst in Schalen, als unsere Kleinfamilie je essen konnte. Wenn Julia und Tim abgereist waren, war ich auch gern wieder allein. Ich joggte die Weinbergstraße hinunter, duschte ausgiebig und legte mich anschließend mit einem guten Roman ins Bett. Mir hätte es vermutlich nichts ausgemacht, noch ein Jahr oder länger so weiterzumachen. Gegen Ende April hörte ich im Radio einen beunruhigenden Wetterbericht. Als am selben Tag Julia und Tim eintrafen, schritt ich gerade zwischen meinen Reben auf und ab. Julia schickte Tim ins Haus und fragte mich, was los sei. »Bis jetzt habe ich Glück gehabt«, antwortete ich, »aber früher oder später erwischt der Frost jeden.« »Und was bedeutet das?« fragte sie. »Verlierst du vielleicht die gesamte Ernte?« »Schon möglich«, antwortete ich. »Na ja, aber das wäre das Katastrophenszenario.« »Was hast du vor?« Ich zählte meine Möglichkeiten auf; viele waren es nicht. Julia hatte ein dunkelbraunes Hemd an, das der Wind gegen ihren Oberkörper preßte. Auch ihre Haare wehten nach hinten, und es sah aus, als würde sie weggewirbelt. Als sie meine Hand nahm, dachte ich, sie benutzte mich als eine Art Anker. Sie sagte: »Keine Sorge, Jason. Wir werden den Frost überstehen«, und dabei lächelte sie, und ich glaubte ihr. Am selben Nachmittag hoben Julia und ich überall um die Anbaufläche herum im Abstand von fünf Metern flache Löcher aus. Auch Tim half eine Weile mit, doch er hatte für die Schule zu tun und mußte lernen. Und so trugen hauptsächlich Julia und ich Unterholz und Zweige zusammen und warfen sie mit einigen Scheiten von dem Brennholzstapel aus meiner Garage in die Gruben. Außerdem füllten wir das Dutzend Blecheimer, die ich im Eisenwarenladen gekauft hatte, mit Stöcken, Holzschnipseln und etwas Kohle und stellten die Eimer um die Reben herum auf. Um halb acht war es dunkel. Wir sahen uns mit Tim einen Film an, brachten den Jungen anschließend ins Bett, und um Mitternacht, als die Temperatur wie vorhergesagt fiel, zogen Julia und ich uns Pullover und warme Mäntel über und trotteten mit Streichhölzern und Benzinkanistern bewaffnet aufs Feld hinaus, wo wir das Unterholz, die Zweige, Holzscheite und Kohle in den Gruben und Eimern anzündeten. Wir behielten jedes Feuer im Auge, um sicherzugehen, daß keines ausging; einige kleinere Scheiterhaufen blies der Nachtwind aus, doch die meisten brannten gut, und die qualmenden Eimer hielten die Pflanzen warm. Gegen Morgen machte die Kälte unsere Gesichter taub, der fahle weiße Glanz des angekündigten Frostes senkte sich auf das Tal. Wären meine Bewässerungsrohre funktionstüchtig gewesen, hätten wir die Reben bewässern und vereisen lassen können; Eis überstanden sie, aber Frost nicht. Das hatten sie mir im Eisenwarenladen alle erzählt, aber da die Rohre verrostet waren, konnte ich nur auf die alte bewährte Methode des Frosträucherns zurückgreifen. Irgendwann kurz vor Tagesanbruch brannten die Feuer nieder, die Glut schwelte in den Gruben und Eimern vor sich hin, und ein warmer Rauchschleier legte sich um
die Reben mit ihren Knospen jungen Blättern und ersten weißen Blüten. Der Rauch roch zwar gut, weil wir Eichenzweige, Beifußsträucher und Fichtenscheite verbrannt hatten, doch nach einer Weile wurde mir schlecht. Der schwebende Schleier hatte etwas Bedrohliches. Julia behauptete zwar, der Qualm mache ihr nichts aus, aber ich fand, daß sie reichlich fahl aussah, als ich sie irgendwann mit meiner Taschenlampe anleuchtete, und sie bewegte sich immer langsamer, je weiter der Morgen voranschritt. »Geh rein und ruh dich aus«, schlug ich vor, aber sie wollte nicht. Gemeinsam schritten wir die Wege zwischen den Rebstöcken ab, Arm in Arm. Wir beobachteten, wie der Boden um uns her, der Rasen, die Bäume, alle weniger glücklichen Blumen auf dem Hang, dem gnadenlosen Tau zum Opfer fielen. Und erst gegen fünf Uhr früh, als sich die Sonne allmählich über dem Tal erhob und es dann immer eiliger hatte, uns von der Wache abzulösen, konnten wir das gefrorene Gras mit unseren rauchverwöhnten Reben vergleichen, die immer noch grün waren, von denen die warme Feuchtigkeit troff, und wir wußten, daß wir mit unserem Frosträuchern Erfolg gehabt hatten. »Ich hab dir doch gesagt, daß du dir keine Sorgen zu machen brauchst«, meinte Julia. Als die Sonne höher am Himmels stand, traten wir mit unseren Wanderstiefeln die letzte Glut aus und gingen ins Haus, wo wir uns aus den Mantel- und Pulloverschichten schälten, und dann, in der Waschküche vor der Küche, umarmten wir uns, obwohl wir müde und verschwitzt waren. Wir waren mit unserer Arbeit zufrieden. Ich drückte sie eine Zeitlang fest an mich, und dann küßten wir uns kurz, und wir küßten uns wieder. Ich küßte Julia auf den Hals und zog ihre Bluse nach hinten, damit ich sie auf die Schulter küssen konnte, und diesmal gebot sie mir nicht Einhalt. Sie flüsterte mir etwas ins Ohr, was ich allerdings nicht richtig verstand. Laß mich nie mehr los, glaube ich. Und ich gehorchte. Ich ließ sie nicht los, als wir ins Wohnzimmer stolperten zum Sofa, ich mit offener Hose, die an meinen Knien hing, und Julia ohne Bluse, ohne T-Shirt, einen BH trug sie nicht. Als wir im Morgengrauen zum erstenmal seit unserer Trennung wieder miteinander schliefen, hielt ich nicht inne, um Julia seitlich an Brust und Rippen zu küssen, so wie sie es gerne hatte, genausowenig wie ich darauf wartete, daß sie sich hinter mich stellte und mich streichelte, bis ich soweit war. Wir waren unbeholfen, wir waren ungestüm - wie betrunken vor Übermüdung -, und ich meinte, die ganze Zeit über schluchzen zu müssen... auch später noch, als Julia auf dem Fußboden saß, den Rücken ans Sofa gelehnt, und ich auf der Seite lag, den Kopf auf ihren Schoß gelegt. Sie strich mir sanft über die Wange, während wir beide den kalten Aschehaufen im Kamin betrachteten. Daß wir uns wieder liebten, fühlte sich an, als fiele man aus großer Höhe, immer tiefer und immer schneller, ohne in das trockene Flußbett voller weißer Steine zu stürzen, das sich durch das Tal zog. Julia kam nun an jedem Wochenende zu Besuch. Wir teilten das Bett miteinander. Wir sprachen zwar davon, es langsam angehen zu lassen, hatten uns aber stillschweigend darauf geeinigt, dass Julia und Tim, sobald das Schuljahr zu Ende war, auf das Weingut ziehen würden. Tim wurde immer schweigsamer, als die Wochen vergingen und der Umzug anstand. Zunächst dachte ich, er hätte Bedenken, der Stadt und seinen Freunden den Rücken zu kehren, doch daran lag es nicht. Auf dem Weingut verbrachte er immer mehr Zeit allein in seinem Zimmer - was er dort trieb, wußte ich nicht. Stundenlang ging er online, wie ich meiner Telefonrechnung entnehmen konnte. Als ich einmal den unverzeihlichen Fehler beging, an seine Tür zu klopfen und einzutreten, bevor er es mir erlaubte, kreischte er auf und bedeckte mit beiden Armen seinen Computerbildschirm. Er hatte zwar einen Freund im Tal, mit dem er gelegentlich spielte, aber eben nur einen Freund, und ich befürchtete, daß er zu der Sorte Jungen gehörte, die Einzelgänger waren. Ich war auch einer gewesen, und bei meinem Sohn sollte sich das
nicht wiederholen, aber Julia sagte, auf so etwas hätten wir keinen Einfluß. Anscheinend war mein Sohn mir gegenüber mißtrauisch. Wenn ich etwa im Eßzimmer Zeitung las, blieb Tim in der Tür zwischen Eßzimmer und Küche stehen und unterhielt sich minutenlang mit mir über Belanglosigkeiten wie das Wetter oder was es zum Mittagessen gab, ehe er sich zu mir an den Tisch setzte. Und ich konnte ihm nicht einmal verdenken, daß er mir nicht vertraute. Warum sollte er auch? Schließlich war ich schon einmal fortgegangen. Ich konnte ihm versprechen, was ich wollte, er nahm mir nicht ab, daß ich ihn nicht wieder im Stich ließ. In der ersten Zeit, nachdem Julia und ich uns getrennt hatten, hatte ich Tim zu meinem Bedauern nur selten gesehen. Über so etwas konnte ich nicht besonders gut mit ihm reden, so daß ich nicht wußte, was er wirklich durchgemacht hatte, und Julia ging es wohl nicht anders. Doch als wir uns im letzten Jahr häufiger sahen und Julia und ich uns immer näherkamen, hatte mein Sohn einen überglücklichen Eindruck gemacht. Ich hatte ihn dabei ertappt, wie er im Eßzimmer vor sich hin grinste, wenn wir die Salatschüssel weiterreichten. Wir hatten ein paar lange Wanderungen unternommen, nur er und ich, und es hatte uns Spaß gemacht - jedenfalls glaubte ich das - , in Bestimmungsbüchern die Namen der Bäume herauszufinden und in kalten Nächten nach Sternbildern Ausschau zu halten. Ich hatte gedacht, er wollte, daß seine Mutter und ich zusammen waren, darum verstand ich nicht, warum er so schlechte Laune hatte, als es endlich soweit war. »Ich hatte gedacht, es wäre genau andersherum«, sagte ich zu Julia. »Vielleicht weiß er etwas, was wir nicht wissen«, entgegnete sie. »Und zwar?« »Vielleicht glaubt er, wir sind zu schnell zu weit gegangen«, sagte sie. »Vielleicht befürchtet er, daß alles wieder von vorn losgeht.« »Er ist elf. Von wem reden wir hier eigentlich?« fragte ich. »Vielleicht hat er Angst, daß wir uns wieder nicht vertragen.« »Das tun wir nicht«, sagte ich. »Auf dich ist er anscheinend nicht sauer.« Ich hatte bemerkt, daß Tim so heiter und ausgelassen wie früher war, wenn er mit seiner Mutter allein war, daß aber seine Stimmung sofort umschlug, sobald ich das Zimmer betrat; dann verzog er keine Miene. Irgendwie mußte ich seine Zuneigung zurückgewinnen. Aber wie? Es wurde Sommer, und Julia und Tim zogen aufs Weingut. Ich hatte mehr Fälle angenommen, als ich bewältigen konnte, und mußte täglich in die Kanzlei, aber Julia half mir, jätete Unkraut und bewässerte die Reben. Wenn ich nicht im Büro war, hatte ich alle Hände voll zu tun, die Weinkellerei wiederherzurichten. Sie bestand aus verschiedenen kleinen Häuschen, und jedes mußte repariert werden. Sie waren terrassenförmig am Hang errichtet worden, damit der Falldruck die Trauben, den Most oder den gekelterten Wein während des Gärungsprozesses nach unten zog, von einem Behälter in den nächsten. Ganz oben kippte man die frisch gepflückten Trauben in einen breiten Trichter, der in eine Reihe von Rutschen mündete, auf denen die Beeren zur nächsttieferen Ebene befördert wurden, in den Schuppen, wo die Gärtanks standen. Ich hatte drei Stahlkessel, jeder zwei Meter fünfzig im Quadrat und drei Meter hoch, die mein Vater anstelle der ursprünglichen Holzbottiche aufgestellt hatte, aber für unseren ersten Jahrgang wollte ich nur einen davon wieder funktionstüchtig machen. Ich kletterte also in den Stahltank hinein und überprüfte, ob es Lecks gab, und schließlich kratzte ich noch Roststellen mit einer Ammoniaklösung weg, eine übelriechende und monotone Arbeit. Sämtliche Plastikschläuche und Drahtsiebe, sämtliche Verbindungsleitungen zwischen den einzelnen Häuschen waren kaputt. Ich mußte mir ein paar Pressen besorgen - mein Vater hatte die alten versetzt - und den Zwischentank auf der Ebene unter den Pressen reinigen. Das nächste Gebäude darunter beherbergte die Schönungstanks; hier wurde der Wein auch zum Reifen in Fässer abgefüllt. Die Schönungsbehälter hatten die Zeit gut überstanden, aber kein einziges Faß war mehr da,
weil mein Vater alle verfeuert hatte. Um den Keller auf der untersten Ebene, ein mit Backsteinen gemauertes Gewölbe, machte ich mir einstweilen keine Gedanken, da ich noch fast zwei Jahre lang keinen Wein in Flaschen abfüllen würde. Ich erstand einen Teil der nötigen Ausstattung und stellte dabei fest, daß mein Unterfangen ziemlich kostspielig war. Wenn es mir mit der Qualität meines Weins ernst war, hätte ich Eichenfässer aus Frankreich kaufen müssen, weil diese einfach die besten waren. Gewöhnlich bestellten Winzer ihre Fässer ein Jahr im voraus, und wenn man sie ohne langfristige Vorbestellung haben wollte, mußte man einen Zuschlag zahlen. Mit der Kanzlei konnte ich zwar im Moment meine Familie über Wasser halten, ich hatte aber kein Geld für irgendwelche Spielchen übrig, die sich am Ende als purer Leichtsinn erweisen konnten, falls sich mein Wein in Essig verwandelte. Deshalb kaufte ich einige Gärverschlüsse und Abfüllgeräte, die ich unbedingt brauchte, und eines Abends mitten im Sommer fragte ich Tim und Julia, ob sie mich auf einer Fahrt begleiten wollten. Julia war einverstanden, aber Tim lehnte ab, und dann überredete Julia Tim mitzukommen. Als wir alle draußen in der Garage waren, änderte Julia plötzlich ihre Meinung. Sie blinzelte mir zu - und ging ins Haus zurück. Tim sagte, er wolle auch nicht mitkommen. Ich sagte: »Bitte, Tim. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen.« Und aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen folgte er seiner Mutter nicht ins Haus. Wir machten uns mit dem älteren, aber verläßlichen Geländewagen auf den Weg mein Pick-up hatte zwar mehr Ladefläche, konnte aber neue Scheinwerfer gebrauchen. Ich lenkte den Wagen durch die Schlucht und folgte eine Zeitlang der Hauptstraße, bis ich die unbeschilderte Straße auf der anderen Seite des Tals fand, zu der ich wollte. Wir fuhren einen Hügel hoch, der uns in eine abgelegene Gegend führte. Tim mußte mehrmals aussteigen und Unterholz oder Gestrüpp aus dem Weg räumen. Dann kamen wir schließlich zu einer Art Schuppen, neben dem eine gedrungene Windmühle stand, deren Flügel zerbrochen und abgerissen und überhaupt viel zu kaputt waren, um sich noch im Wind zu drehen. Tim sprang als erster aus dem Wagen, und ich folgte ihm in die verlassene Weinkellerei. »Wir brauchen Fässer«, erklärte ich. »Du willst sie klauen?« fragte Tim ungläubig. »In diesem Fall würde ich es wohl eher Recycling nennen.« Als wir uns umsahen, fanden wir eine lange Stange, ein Paddel, mit dem man den Most im Gärtank umrührt. Weiter stießen wir auf eine handbetriebene Verkorkmaschine sowie eine Rolle Folie zum Umwickeln der Korken. Wir entdeckten jede Menge unbenutzte Flaschen, aber keine Fässer. Ich hielt die Suche nicht für besonders erfolgreich, aber Tim lief aufgeregt hin und her, die Taschenlampe wie eine Pistole in Hüfthöhe. Als ich aufbrechen wollte, stand er in der dunkelsten Ecke des Raums neben einem Bottich, und als ich zu ihm ging, trat er gegen den Behälter. Ein paar graue Fledermäuse stiegen daraus empor, flatterten zu den Dachsparren und stießen gegen die Reste der Decke, als wären sie betrunken von dem getrockneten Bodensatz, den sie vom Tank geleckt hatten. »Cool«, sagte er. Und er lächelte. Tim lächelte in meiner Gegenwart. Es war ein ehrliches, ansteckendes, aus vollem Herzen kommendes Grinsen, das auch mich strahlen ließ. »Wir sollten hier verschwinden, ehe uns jemand bemerkt«, schlug ich vor. Tim trat noch einmal gegen den Bottich, und noch eine Fledermaus flog heraus. »Cool«, wiederholte er lachend. Nach einem weiteren Tritt flogen keine Fledermäuse mehr hoch. »Gehen wir«, sagte ich und zog ihn am Ellbogen. Am nächsten Abend machten wir wieder einen kleinen Ausflug. Wir fuhren zu einem der Weinberge, aus dem man einen Steinbruch gemacht hatte. Im Dunkeln sah der blanke Kalkstein wie Schnee aus; der malträtierte Hang hätte ebensogut eine Sla-
lomstrecke sein können. Die Luft roch seifig. Diesmal hatten wir eher Angst, erwischt zu werden, schließlich konnten wir ja einem Nachtwächter in die Arme laufen oder irgendwelche Spuren hinterlassen, die ein Steinbrucharbeiter am nächsten Morgen fand. Wir stießen aber in das alte Weingut vor, ohne bemerkt zu werden. Tim war wieder vor mir aus dem Wagen und sprang über den Maschendrahtzaun. Offenbar wurde der Weinkeller als Autowerkstatt genutzt; auf der anderen Seite des Zauns standen Traktoren und Pritschenwagen herum, und Flutlicht erhellte das Grundstück. Wie sich herausstellte, war in dem Hauptgebäude ein Büro untergebracht. Wir schlichen um die Schreibtische und Aktenschränke, und als ich gerade zu unserem Wagen zurückgehen wollte, weil es augenscheinlich nichts gab, das wir hätten mitnehmen können, zeigte Tim auf einen Tisch in der Ecke, einen niedrigen runden Tisch, auf dem eine Kaffeemaschine und ein paar Becher standen. Der Tisch war ein auf den Kopf gestelltes Faß, ein schönes und absolut intaktes Faß, das wir ohne Bedenken klauten. Auf dem ganzen Heimweg summte Tim vor sich hin. Da war er wieder, mein unbeschwerter Sohn. Er sagte: »Wir müssen alle Weingüter abklappern, Dad.« »Ganz wie du willst«, erwiderte ich. »Wir müssen das ganze Tal plündern«, sagte er. Natürlich befürchtete ich, ein schlechtes Beispiel für meinen Sohn abzugeben, und ich machte ihn darauf aufmerksam, daß Diebstahl, auch ein noch so kleiner, nicht in Ordnung war. Doch die meisten Weingüter, die wir durchstöberten, waren längst verlassen, daher kamen mir unsere Diebestouren eher harmlos vor. Anscheinend wollte Tim zwar tagsüber immer noch nicht mit mir reden, aber während unserer nächtlichen Raubzüge, die wir im Juli und August regelmäßig unternahmen, kicherte er immer und alberte herum. Julia kam nie mit. Das sei was für Männer, sagte sie, diese Einbruchsgeschichten. Wir fanden eine wunderschöne Korbpresse mit kaputter Kurbel, und wir entdeckten jede Menge Trichter und eine Mostwaage mit einem Sprung, die ich nicht gebrauchen konnte, und wenn wir Glück hatten, stießen wir gelegentlich auf ein Eichenfaß. Tim war mir immer einen Schritt voraus, wenn wir die Kellereien erkundeten, die mit den Türmchen oder die im Blockhausstil waren auch darunter. Er wollte unbedingt derjenige sein, der als erster über den Schatz stolperte, und mir war das recht. Ich für mein Teil kam mir vor, als zeigte ich ihm die verschiedenen geheimen Verstecke meiner Jugend, besonders als wir zu der Weinkellerei mit der Zypressengruppe kamen. In den vergangenen drei Jahren waren die Bäume über die verputzten Mauern hinausgewachsen, die inzwischen immer mehr verfielen. Breitblättriger Efeu bedeckte eine Seite der Kellerei, und obwohl ich keine Spuren anderer Eindringlinge fand, keine von Landstreichern zurückgelassenen Kleidungsstücke oder Decken, kam es mir vor, als wären wir nicht die einzigen Besucher. Das Gras war um die Bäume herum niedergetrampelt, genau wie der Weg, dem wir von der Straße her gefolgt waren. Ich setzte mich neben die Bäume und sah zu, wie mein Sohn die Haufen kaputter Dachziegel durchstöberte. »Hier ist nichts«, sagte er. Ich sah zu den Sternen hoch. Was ich dachte, weiß ich nicht mehr. »Dad, hauen wir ab«, sagte Tim. »Dad?« »Geh zum Wagen zurück«, sagte ich. »Ich komm gleich nach.« Und als Tim weg war, bohrte ich die Finger in den kalten Boden und kämpfte gegen die Tränen an, die mir hochstiegen. Dann räusperte ich mich und ging zum Wagen zurück. Wir sammelten etwa ein Dutzend Fässer und hätten unsere Schatzsuche sicher noch fortgesetzt, wenn die Trauben nicht rot und schwer und jeden Tag dunkler und süßer geworden wären. Tim besuchte die Schule in New Idria, dem nächsten Ort östlich von Oak Valley, und offenbar mochte er die neuen Lehrer. Jeden Tag, bevor Tim mit dem Rad die Weinbergstraße hinunter zum Schulbus fuhr, half er mir, eine Weintrau-
be in das Becherglas der Mostwaage zu pressen, die ich gekauft hatte - die Methode mit den klebrigen Handflächen war nicht mehr professionell genug, wenn ich meinen eigenen Wein machen wollte. Dann tauchten wir ein geeichtes Glasröhrchen in den Becher, das uns das spezifische Gewicht des Safts verriet. So bestimmten wir den Säuregehalt der Trauben, und wir maßen den ständig steigenden Zucker. Bis Julia eines Morgens Ende September ihre Bücher beiseite legte und Tim nicht mit dem Rad zur Straße fuhr, um den Schulbus zu erwischen, sondern wir uns alle drei die Eimer und frisch geschärften kleinen Sicheln schnappten und die Trauben von den Reben schnitten. Die Weinlese dauerte zwei Tage. Tim durfte zu Hause bleiben. Wenn ich ihn gebückt hinter den Rebstöcken stehen sah, über die gelegentlich sein blonder Schöpf ragte, wenn ich durch die Blätter seinen unermüdlichen Fleiß beobachtete, dachte ich sehnsüchtig an die Zeit mit meinem Vater zurück, lange vor der Dürre, obwohl ich ihm eigentlich nie im Weinberg geholfen hatte, sondern immer vor der Lese nach San Francisco in die Schule zurückgekehrt war. Jetzt fiel mir aber ein bestimmter Ölbaum wieder ein, auf den ich immer geklettert war - er stand auf einer Parzelle, die mein Vater später verkauft hatte - , und ich erinnerte mich, daß mir ein Arbeiter meines Vaters das Schnitzen beigebracht hatte. Ich mußte an den Sommer denken, als ich in Tims Alter war und mein Vater mir meinen ersten Tropfen Cabernet eingeschenkt hatte, kaum ein Schnapsglas voll, und ich zu der Erkenntnis kam, daß man mit jedem Schluck Wein ein wenig klüger wird. Wein bewirkte, daß man die Welt mit größerer Klarheit sah; jedes Blatt an jeder Eiche und an jedem Eukalyptus bekam deutlichere Umrisse, jedes Blatt fing den Luftzug auf, den ich an meinen Armen oder meinem Gesicht kaum spürte. Natürlich hatten die paar Schlückchen auch zur Folge, daß ich mich am liebsten auf den Rasen gelegt und ein Nickerchen gemacht hätte, aber ich begriff nicht, warum meine Mutter damals darauf bestand, daß wir von der Quelle dieses erstaunlichen Elixiers wegzogen, oder warum sie meinen Vater dafür verfluchte, daß er mit Leib und Seele Winzer war. Es war ein Getränk, das mir Rätsel aufgab, und ich glaubte, daß Menschen wie mein Vater und mein Großvater, die Wein herstellen konnten, in ein großes Geheimnis der Natur eingeweiht waren, daß sie eine Alchimie beherrschten, die wir gewöhnlichen Sterblichen nie verstehen würden. Auch Jahre später dachte ich immer noch so. Jeder konnte Weintrauben anbauen, aber nur einige wenige weise Winzer konnten diese Frucht in etwas Edleres verwandeln. Wir sammelten die Trauben in Eimern, leerten sie in den Pick-up und kippten schließlich alles auf die Rutschen zum Weinkeller. Es war ein erhebendes Gefühl, diese Kaskade winziger Kugeln, all die dicken granatfarbenen Edelsteine in die Tiefe rollen zu sehen. Als die Trauben den Gärtank allmählich füllten, nahmen dessen Stahlwände einen lila Schimmer an. Wie mein Großvater und mein Vater vor mir, ließ ich die Stiele dran und preßte die Beeren nicht sofort aus, wie es in den riesigen Weingütern in Napa und Sononia gang und gäbe ist. Ich ging vielmehr nach der Methode meines Großvaters vor, bei der die Trauben sich ganz langsam auflösten; die, die auf dem Boden des Gärbehälters liegen, werden durch das Gewicht der Früchte darüber zerdrückt, und die obenliegenden Beeren zerfallen durch die beginnende Gärung. Ich hatte gleich zu Anfang Sulfate hinzugefügt - eine Menge, die ich den präzisen Aufzeichnungen meines Großvaters und meines Vaters entnommen hatte - , um jene Hefepilze und Bakterien abzutöten, die den Wein in Essig verwandeln könnten. Mit dem langen Paddel, das wie die Stake eines Gondoliere aussah, der Stange, die wir aus der ersten von uns geplünderten Weinkellerei entwendet hatten, mischte ich dann Reinzucht-Hefe darunter, damit die Maischegärung beginnen konnte. Zwei lange Tage passierte gar nichts. Dann, vom dritten Tag an, stiegen Blasen an die Oberfläche der breiigen Masse. Dicker rötlicher Schaum perlte im Most nach oben. Während der nächsten zehn Tage half mir Julia zweimal, den Tresterhut mit dem Paddel nach unten zu drücken. Ich wollte, daß die Hülsen und Stiele, die oben
trieben oder durch die Gärung an die Oberfläche geschoben wurden, möglichst lange unter den Saft gemischt blieben. Außerdem konnte der Trester, wenn er der Luft ausgesetzt war, den Essigbakterien zum Opfer fallen. Sobald der Most gegoren war, ließ ich ihn noch ein paar Tage im Behälter ruhen, bevor ich am Boden des Tanks einen Absperrhahn öffnete und den Obstwein einfach in den nächsttieferen Gärbehälter laufen ließ. Dann kratzte ich die Hülsen und Stiele vom Boden des Gärtanks, schaufelte sie in die Faßpresse, und Julia preßte den Trester bis auf den letzten Tropfen aus. Ich rührte anschließend die vorgeschriebene Menge einer anderen Hefekultur in den Most, um die restlichen Bakterien abzutöten, und nach dieser zweiten Gärphase füllten wir, an einem trüben Samstag nachmittag, vorsichtig den ersten jungen rubinroten Jahrgangswein aus dem Zwischentank in die entwendeten Fässer. Der Wein würde reifen und etwas vom Aroma des Eichenholzes aufnehmen. In den kommenden Monaten würden wir von Zeit zu Zeit eine große Pipette in das Spundloch jedes Fasses einführen, den Säure- und Zuckeranteil überprüfen, den Wein ein paarmal in andere Fässer umziehen und ihn in fünfzehn Monaten schließlich in Flaschen abfüllen. Noch mal zwei Jahre später konnten wir ihn trinken. Dann war Tim fünfzehn, und Julia und ich wurden vierzig. Ich sah der Zukunft beruhigt entgegen. Im Laufe des Sommers hatte ich den Leuten im Eisenwarenladen verraten, daß ich meinen eigenen Wein machen wollte. Ich mußte einfach die Wahrheit sagen, schließlich kaufte ich so viele Geräte und stellte den erfahrenen Winzern so viele detaillierte Fragen. Im Herbst warteten alle auf meinen Bericht, und sobald der Wein in den Fässern war, gaben die Leute von Oak Valley ein kleines Fest für meine Familie. Hinter dem Laden wurde Sekt ausgeschenkt, man prostete uns zu und lobte uns, und als es anfing zu nieseln, gingen wir nach drinnen zu all den Gartengeräten, Leihvideos und Toastern. Als ich mit einem Tortenteller in der einen und einem Plastikbecher in der anderen Hand dastand, hatte ich zum erstenmal das Gefühl, an einem Ort richtig zu Hause zu sein. Während des nächsten Jahres schien Oak Valley aufzublühen, im wahrsten Sinne des Wortes zu erblühen. Auch andere Winzer kümmerten sich wieder um ihre Weinberge, und einige setzten ihre Kellereien instand. Angesichts dieser Aufbruchsstimmung malten sich die Leute schon aus, daß man die Steinbrüche eines Tages alle schließen, die zerklüfteten Hänge mit frischem Lehm bedecken und in Weinberge zurückverwandeln würde. Ich schnitt meine Reben wieder zurück, wenn ich nichts in der Kanzlei zu tun hatte, Julia arbeitete an ihrer Dissertation, und Tim besuchte nun die Junior-High-School in New Idria. Er freundete sich mit ein paar seiner Mitschüler an und übernahm eine kleine Rolle in einem Theaterstück. Mein Sohn und ich kamen uns näher; an den Wochenenden machten wir lange Wanderungen in die Wälder. Julia und ich liebten uns häufig und leidenschaftlich. Im nächsten Sommer sahen meine Reben sogar noch grüner aus als im Jahr zuvor. Das ganze Tal wirkte grüner und lebendiger, aber so war es nun einmal, wenn im Leben alles gut lief: Die Gegend, in der man wohnte, kam einem außergewöhnlich üppig vor. Als der Jasmin blühte, roch er noch lieblicher als sonst. Als ein Hügel sich gegen Ende des Sommers goldgelb färbte, funkelte er wie ein Stapel wertvoller Münzen. Ich hatte genau das getan, wonach ich mich gesehnt hatte. Ich hatte meinem Leben eine neue Richtung gegeben. Ich war Vater, Geliebter, Rechtsanwalt und Winzer, für manche Leute ein Held. Meinem Leben im Tal schien es an nichts zu fehlen. Daher fand ich keine Erklärung, überhaupt keine, dafür, warum ich am Ende eines Tages immer noch lange Autofahrten unternahm oder warum ich, wenn ich mich jeden Abend im Halbdunkel auf die Bergstraße zubewegte, immer noch davon träumte, zu verschwinden. Ganz gleich, wo ich gewohnt habe oder herumgezogen bin, wenn es am späten Nachmittag langsam dämmerte, hat mich das immer ruhelos gemacht. Irgend etwas
daran, wie ein Tag verblaßt, weckte in mir Zweifel und versetzte mich in Panik. Als nehme mit dem Sonnenlicht meine Selbstsicherheit ab. Sogar als ich in der Stadt wohnte, unternahm ich statt langer Autofahrten lange Spaziergänge; von meiner Kanzlei aus ging ich nie auf direktem Weg nach Hause. Das mag den Eindruck erwecken, ich sei ein sehr romantischer Mensch, aber dem ist nicht so. Ich konnte einfach nichts gegen meine Ruhelosigkeit machen. Und zudem war ich nicht der einzige, der in der Abenddämmerung herumstreifte. Überall begegnete ich Männern und Frauen, die, wenn der Tag zur Neige ging, über einem Glas Rotwein oder einem latte in den Bars und Cafés saßen. Überall waren Menschen, die Angst vor dem Alleinsein hatten. Solange man tagsüber seinem Job nachging, kam dieses Gefühl nicht auf. Aber abends konnte man mit seiner Familie, einem Freund oder mit seiner Liebsten zusammen sein und sich trotzdem hoffnungslos einsam fühlen. Und genau davor hatte ich wohl eine Heidenangst. Ich arbeitete also an meinem Schreibtisch, einer lampenerleuchteten Insel in dem immer dunkler werdenden Zimmer, beendete, womit ich mich gerade abgab, und machte mich in meinem Wagen auf den Heimweg. Als ich auf der Hauptstraße nach Norden war, hatte ich stets fest vor, die Straße zum Weingut raufzufahren. Doch dann fuhr ich an meiner Abzweigung vorbei und immer weiter. Ich überquerte das Flußbett weiter nördlich. Und folgte dann einer anderen Straße bis ins Vorgebirge und noch weiter. Anfangs war die Bergstraße ein unergründliches Labyrinth gewesen, doch jetzt barg sie kein Geheimnis mehr. Es war keine stark befahrene Route, und wenn ich in der Abenddämmerung unterwegs war, begegnete mir nur selten jemand. Ich fuhr auf dem Mittelstreifen und drückte aufs Gaspedal. Je länger ich unterwegs war, desto mehr kam ich zur Ruhe. Vielleicht ließ ich mich von den Kurven und Serpentinen der Straße hypnotisieren, vielleicht verfiel ich in eine Art Trance. Jedenfalls fuhr ich viel zu schnell, gefährlich schnell und fühlte mich doch in meinem Geländewagen vollkommen sicher, während ich durch den finsteren Wald raste. So mochte ich vielleicht immer eine halbe Stunde unterwegs gewesen sein, bis ich schließlich aus meiner Trance erwachte und den schnellsten Weg zurück ins Tal nahm. Zu Hause gab ich Julia einen Begrüßungskuß und atmete ihren vertrauten Duft nach Zitronen und Pekoe ein. Sie kochte das Abendessen, hörte sich die Fernsehnachrichten an, Tim saß am Küchentisch und machte seine Schulaufgaben. Dann öffnete ich eine Flasche Wein und half beim Tischdecken. Ich erzählte Julia nie von diesen Spritztouren, und sie hegte vermutlich auch keinen Verdacht, daß ich von der Kanzlei nicht direkt nach Hause kam. Falls doch, wäre es ihr bestimmt egal gewesen. Was sollte sie auch dagegen einzuwenden haben? Ich brauchte diese kleinen Ausflüge, ich mußte einfach eine halbe Stunde oder auch eine Stunde am Tag abschalten und alles vergessen. Nachdem ich meine Kanzlei eröffnet hatte, fuhr ich vielleicht einmal die Woche los. Als Julia wieder ihren Platz in meinem Leben einnahm, machte ich mich zweimal wöchentlich auf den Weg, wenn es dunkel wurde. Als sie wieder aufs Weingut zog, etwa jeden zweiten Abend, im Sommer dann allabendlich. Auch als ich immer öfter unterwegs war, dachte ich jedesmal, diese Fahrt wäre die letzte. Ich wollte mit diesen Spritztouren aufhören. Was ich tat, war purer Leichtsinn, und das wußte ich auch. Ich sehnte mich nach irgendeiner Gefahr und fuhr immer viel zu schnell. Was wäre gewesen, wenn ich einen Abhang hinuntergestürzt wäre? Ich hätte Julia und Tim einfach im Stich gelassen. Ich wußte sehr wohl, daß ich mich egoistisch verhielt. Und so befahl ich mir selbst, damit Schluß zu machen, und ein- oder zweimal kam ich auch aus der Kanzlei sofort nach Hause und ging im Wald spazieren, doch das half nicht. Die Nacht danach wurde grauenhaft, ich machte kein Auge zu; ich wälzte mich hin und her und war am nächsten Tag schlecht gelaunt. Ich brauchte die Geschwindigkeit, ich mußte schnell fahren. Wenn ich eine Straße
entlangraste, kam ich auf andere Gedanken und konnte träumen, wie ich nachts nie träumte. Die Fahrten in die Berge erfüllten all meine Sehnsüchte. Die Biegungen, die Kurven, die Serpentinen, die Höhenunterschiede. Die Steilfelsen, die hohen Bäume. Je vertrauter mir die Bergstraße wurde, desto stärker war mein Verlangen, ihren Windungen und Biegungen zu folgen. Warum fuhr ich eigentlich so schnell? Mußte ich mir etwas beweisen? Mußte ich ausloten, wie weit ich gehen konnte? Warum träumte ich davon zu verschwinden? Vielleicht wollte ich nur herausfinden, wie sehr es mich nach Hause zurückzog. Und warum fühlte ich mich so allein, wenn ich nachts heimkam? Mein Leben im Tal war doch vollkommen, oder etwa nicht? Warum hatte ich dann den Verdacht, daß irgend etwas fehlte? Ganz tief in mir spürte ich es. Etwas fehlte, auch wenn ich es nicht zugeben wollte, aber was, was war es? Ich wußte es nicht. Ich konnte diese Fragen nicht beantworten. Nur eins weiß ich genau, nämlich daß ich bei Sonnenuntergang losfuhr, und daß damit meine Probleme begannen. Ich lebte schon vier Jahre im Tal, als ich eines Abends früh die Kanzlei verließ, in meinen Wagen stieg und rasch in Richtung Vorgebirge aufbrach. Es war Oktober. Julia, Tim und ich hatten die bisher beste Ernte eingebracht. Wir hatten etwa die Hälfte unseres zweiten Jahrgangs gekeltert, und bis jetzt war alles gutgegangen. Das Wetter war schlechter geworden, und an jenem Nachmittag mußte ich eine warme Jacke überziehen, einen langen Schal umbinden. Es nieselte den ganzen Tag schon, und als ich an der Bergstraße ankam, sah der Straßenbelag aus wie in Tinte getaucht. Ich fuhr vielleicht fünf Minuten lang Richtung Norden, bis es viel stärker zu regnen begann. Nun goß es wie aus Kübeln. Es war erst sechs Uhr abends, vielleicht halb sieben, aber auf dieser unbeleuchteten Straße war es stockfinster. Und die Straße wurde glatt, beinahe wie vereist. Das Wasser lief in Strömen meine Windschutzscheibe herunter, mehr Regen, als die Scheibenwischer bewältigten. Im Handumdrehen hatte das Unwetter aus der schwarzen eine graue Nacht gemacht, und wenn ich manchmal einen Blick auf das Tal warf, schaute ich in ein irritierendes Meeresgrün. Zwar fuhr ich nicht so schnell wie sonst, aber immer noch schnell genug. Ich raste die Straße entlang bis zu einem Steilfelsen, wo ich in einer Kurve abbremsen mußte, dann jagte ich weiter durch den Wald. Bergauf und bergab. Ich trat aufs Gas, wenn ich die Beschleunigung spüren wollte, und bremste nur so viel, daß mein Wagen nicht aus der Kurve getragen wurde. Nach etwa fünfzehn, zwanzig Minuten beschloß ich, mich auf den Heimweg zu machen. Ich war mitten in dem weitläufigen Waldgebiet, wußte aber, daß nach einem knappen halben Kilometer eine Straße abzweigte, die ins Tal führte. Ich drückte aufs Gas, lehnte mich zurück, beide Hände am Lenker, und raste durch den schmalen schwarzen Kanal, zu beiden Seiten schlanke dunkle Bäume, zahllose Kiefern und gelegentlich mal eine Birke. Und dann sah ich im fahlen Schimmer meiner Scheinwerfer eine Gestalt... Zehn Meter vor mir ging ein Mann mitten auf der Straße. Ich trat das Bremspedal durch, doch die Straße war spiegelglatt, und der Wagen kam ins Schleudern. Es gab praktisch keinen Seitenstreifen, wenn ich nach rechts auswich, würde ich unweigerlich gegen einen Baum knallen, und so trat ich das Bremspedal durch und hieb mit der Faust auf die Hupe, brauchte aber beide Hände zum Lenken. »Halt, halt«, schrie ich, als ob das helfen würde. Doch die nasse Straße wurde zu einer Art Seil, zu einem Flaschenzug, der mich schnell und immer schneller zu dem Mann hinzog, und er mußte meine rutschenden Reifen gehört haben... er mußte gehört haben, daß ich auf ihn zukam, denn er schaute über die Schulter. Ich sah, wie er zu mir herblickte, seine Augen, wie er sie aufriß. Doch er erstarrte, statt aus dem Weg zu springen. Mit aller Macht versuchte ich, den schlingernden Wagen zum Stehen zu bringen, und
stemmte mich mit den Schultern, mit meinem ganzen Körper in das Bremsmanöver, doch ich fuhr zu schnell. Ich hatte keine Chance. Die Straße war zu rutschig, der Regen setzte meine Windschutzscheibe unter Wasser, nahm mir die Sicht, und ich hörte nichts mehr außer dem Quietschen der Reifen, ein schrilles Klagen in der Nacht, gefolgt von einem dumpfen Aufprall gegen die vordere rechte Stoßstange meines Wagens. Ein dumpfes Geräusch, das klang, als wäre ein Ast auf meine Motorhaube gefallen. Meine Reifen fuhren über einen Ast, zermalmten ihn, machten ihn kurz und klein, und dann vernahm ich ein Geräusch, als flattere ein Vogel meine Windschutzscheibe hoch. Ein Vogel, der im Regen davonflatterte. Mein Wagen drohte auszubrechen, darum zog ich das Lenkrad rasch nach rechts, und er hätte sich wahrscheinlich überschlagen, wenn ich nicht eine am Straßenrand stehende Birke angefahren hätte. Es war ein schmaler Schatten von einem Baum, der schwankte, brach und halb über die Straße fiel, als der Wagen von ihm abprallte. Ich wurde gegen die Rückenlehne gepreßt, dann nach vorn auf das Lenkrad geschleudert und stieß mit dem Kopf heftig gegen die Windschutzscheibe. Inzwischen hatte sich der Wagen in die Gegenrichtung gedreht, und die Scheinwerfer beleuchteten nichts weiter als die Straße, auf der ich gerade gekommen war, den kaputten Baum und einen schwarzen Schirm, der von dem Wind davongetragen wurde. Der flatternde Vogel entpuppte sich jetzt also als ein Schirm, der sich überschlug und davonschwebte, zu fliegen versuchte, aber nicht ganz abhob. Er verschwand im Wald. Meine Rippen schmerzten. Meine Schläfen pochten. Mir wurde schwindlig, und mein Nacken und Gesicht waren kalt. Mein Herz raste. Ich griff nach einer Taschenlampe, die unter den Sitz gerollt war, sprang aus dem Wagen und in den Regen; inzwischen schüttete es. Ich wickelte meinen Schal um den Kopf und leuchtete mit der Taschenlampe auf die Straße, beschien die Bäume, fand den Mann aber nicht. Einen flüchtigen Augenblick lang glaubte ich, ich hätte alles nur geträumt. Irgend etwas hatte mich erschreckt und mir vorgegaukelt, ich hätte mit meinen Scheinwerfern einen Mann erfaßt, obwohl gar keiner dagewesen war, und ich war ins Schleudern gekommen und hatte eine Birke gefällt, mehr nicht. Nie wieder würde ich nachts allein auf Fahrt gehen, es war mir eine Lehre. Einen Moment lang redete ich mir das ein, doch dann stolperte ich über etwas, das auf der Straße lag. Einen Rucksack. Da ich noch neben meinem Wagen stand, öffnete ich die Beifahrertür und warf den Rucksack auf den Sitz, als ob ich den Fremden irgendwohin mitnehmen wollte. Der Rucksack bewies, daß der Mann keine Einbildung gewesen war, doch da ich ihn nicht fand, ging ich weiter und rief nach ihm. Ich hatte eine trockene Kehle, brachte kaum ein Wort heraus. Ich lief ein Stück die Straße entlang, sah aber immer noch niemanden. Und dann entdeckte ich endlich etwas - weiter, viel weiter, erschreckend weiter unten auf der Straße, als ich es für möglich gehalten hätte, acht, zehn Meter entfernt, und zwar auf derselben Fahrbahn, auf der mein Wagen schließlich stehengeblieben war. Er lag auf dem Bauch, ein Arm unter dem Körper, der andere griff nach einem Ast. Das eine Bein war in Kniehöhe geknickt und stand merkwürdig schräg ab. Ich lief zu ihm. Ich kniete mich neben ihn. Er bewegte sich nicht, doch sein linker, ausgestreckter Arm zuckte, und ich sah, daß er einen großen Kiefernzapfen festhielt. Der Mann hielt einen Kiefernzapfen, und ich dachte, daß er noch lebte, bewußtlos war, aber noch atmete, und vielleicht mußte ich ihn nur auf die Füße stellen, den Dreck abwischen, und schon konnte er weiter Kiefernzapfen sammeln oder was er sonst mitten in der Nacht während eines Unwetters hier draußen gemacht hatte. Ich redete auf ihn ein - was ich sagte, weiß ich nicht mehr - , doch er öffnete die Augen nicht. Unter ihm sickerte eine dunkle Flüssigkeit hervor, und erst dachte ich, es wäre Regen, der um seinen Körper herum eine Pfütze bildete, oder Schlamm, doch dann wurde mir klar, daß es Blut war. Wieder pochte mein Herz wie wild, und ich schrie ihn an.
»Halt durch«, brüllte ich immer wieder. Er röchelte, würgte. Ich mußte etwas tun, wenn ich ihn nicht ersticken lassen wollte, und so packte ich seine Schultern, bis ich ihn vorsichtig auf den Rücken gelegt hatte, und als ich sein Gesicht sah, erkannte ich ihn. Seine Augen waren glasig, sein Kiefer schwoll an, und die eine Gesichtshälfte war voller Blut, wie angemalt. Aus dem einen Mundwinkel lief ein blutiges Rinnsal. Er war gar kein erwachsener Mann, sondern noch ein Jugendlicher. Der dumpfe Aufprall, das Quietschen der Reifen... ich hörte die Geräusche immer wieder, wie ein verspätet zurückgeworfenes Echo, das mich verschlang. Was hatte ich bloß getan? »He«, schrie ich, »du schaffst es. Du mußt durchhalten.« Er wohnte im Tal. Ich hatte nur im Vorübergehen mal mit ihm gesprochen. Er war erst sechzehn oder siebzehn - höchstens drei Jahre älter als mein Sohn -, groß und schlaksig, beliebt; er lag im Sterben, und ich konnte nichts dagegen tun. »Du schaffst es«, flüsterte ich. Ich wollte um Hilfe rufen, aber wer hätte mich hören können? Ein Autotelefon hatte ich nicht. Das nächste Haus war eine halbe Fahrstunde entfernt. Wir waren ganz allein, und ich dachte, mir blieb nichts anderes übrig, als den Jungen ins Krankenhaus nach Hollister zu bringen, was eine Stunde dauern würde. Ich wagte es aber nicht, ihn zu bewegen oder gar hochzuheben. Er würde es nicht schaffen, auf keinen Fall. »Hilfe«, brüllte ich. »Hilfe, Hilfe«, obwohl ich wußte, daß es zwecklos war. Mit dem Jungen ging es schnell zu Ende. Und ausgerechnet ein Fremder, ein rücksichtsloser Fahrer, sein Mörder war der einzige Mensch, der ihn in den Armen halten und trösten konnte. Ich verlagerte seinen Kopf und die Schultern auf meinen Schoß. »Hilfe«, schrie ich auf. »Du schaffst es«, flüsterte ich. Er seufzte und atmete tief aus. Den Kiefernzapfen hielt er immer noch fest, aber jetzt verlor er immer mehr Blut. Es floß auf meinen Schoß, vermischte sich mit Schlamm und Regen, überzog die Straße wie ein Ölfilm. Ich zog meine Jacke aus und deckte ihn damit zu, weil er zitterte. Meinen Schal wickelte ich zu einem Kissen. Mit einer Hand hielt ich seinen Hinterkopf, sein Kinn und eine Wange mit der anderen. Ich wollte ihn beruhigen. Sein Körper sollte aufhören zu zittern, aber ich zitterte auch, zitterte mit ihm. »Alles wird gut«, sagte ich. »Du kommst durch.« Ich konnte nicht verhindern, daß er immer weiter zitterte. »Alles wird gut.« Ich habe keine Ahnung, wie lange ich im kalten Regen neben der Straße saß, wie lange ich mit seinem Kopf im Schoß dasaß, bevor sich seine Augen öffneten, runde braune Augen, und er mich ansah... nein, zuerst durch mich hindurchsah, als wäre ich überhaupt nicht da. Dann richtete er den Blick auf mich, suchte in meinem Gesicht, las mein Gesicht. Dabei bat er mich nicht um Hilfe, er sprach mich auch nicht von der Schuld frei, er schien nicht einmal böse auf mich zu sein, nur verwirrt, nur verdutzt, nur verunsichert. Wer bist du? Das schienen mich seine Miene zu fragen. Seine braunen Augen weiteten sich, wurden schwarz. Wer bist du? Dann teilten sich seine Lippen, als wolle er sprechen. Sein Mund öffnete sich weit, wie um zu schreien, doch kein Laut drang heraus, nicht einmal ein Keuchen. Schließlich zitterte sein Körper nicht mehr, die Finger seiner linken Hand öffneten sich, und der Kiefernzapfen rollte fort. Ich zitterte immer noch. Sekundenschnell, einfach so, war er dahingegangen - er wurde so kalt wie die Straße unter mir. Was für ein Alptraum! Der Regen prasselte auf die Landstraße. Die Äste der Bäume stießen gegeneinander, hielten Totenklage, sie ließen die Zweige hängen. Ich legte die Leiche auf den Boden und kniete erst einmal nieder, bevor ich mich aufrichtete, dann wankte ich ein paar Meter in den Wald, wo das Unwetter unter dem Baldachin aus Bäumen zum Nieselregen wurde. Ich übergab mich, erbrach mich, bis es in meiner Kehle brannte. Dann setzte ich mich auf den feuchten Teppich aus Nadeln. Der Regen peitschte auf die Leiche des Jungen, ich konnte ihn nicht da liegenlassen, und so kroch ich zu ihm hinüber, griff unter seine Schultern und zog ihn von der
Straße und unter die Bäume. Meine Jacke nahm ich wieder an mich, zog sie aber nicht an, obwohl ich fror. Sie war von Blut und Matsch durchweicht. Irgendwie hoffte ich noch, daß ein Auto vorbeikam, ein Ranger, der jetzt mit dem Funkgerät Hilfe hätte holen können, wo jede Hilfe zu spät kam, doch es tauchte niemand auf. Ich mußte den Unfall melden, und ich hörte mich berichten, wie es passiert war: Ich fuhr zu schnell, um noch bremsen zu können - wie schnell? würde mich der Ranger fragen. Na ja, so hundert oder hundertzehn - Bei diesem Wetter? Also gut, achtzig, aber nachts ist auf dieser Straße niemand mit dem Auto unterwegs, geschweige denn zu Fuß - Wie schnell sagten Sie noch? Ich begrub meinen Kopf zwischen den Knien und schaukelte hin und her. Ich hatte einen Jungen getötet, ich hatte ein Leben beendet. Auch ohne ihn jetzt zu betrachten, sah ich seinen letzten Blick vor mir, wie seine hilflosen Augen mein Gesicht durchforschten. Mit seinem letzten Atemzug war seine Verwirrung meine Verwirrung geworden. Mit seinem letzten Seufzer waren seine Sorgen meine Sorgen geworden. Er konnte jetzt ruhen, doch ich mußte mir den Kopf darüber zerbrechen, wie es weitergehen sollte. Was würde nun geschehen? Ich saß im Wald und versuchte, mir das Strafgesetzbuch mit all seinen Paragraphen in Erinnerung zu rufen, konnte aber keinen klaren Gedanken fassen. Konnte man mich strafrechtlich verfolgen? Konnte man mich ins Gefängnis stecken? Ich dachte an die unglücklichen Eltern des Jungen. Würden sie mich verklagen? Würden sie mir meinen Weinberg wegnehmen wollen? Alles könnte ich verlieren, das neue Leben, das ich mir aufgebaut hatte, alles. Ich wollte nur noch heim, meine Frau küssen und meinen Sohn in die Arme schließen. Ich wollte ihn nur noch an mich drücken, bis er mich aufforderte, ihn wieder loszulassen. Ich sah den Jungen an, und obwohl ich wußte, daß es bedeutungslos war, daß es nichts mehr änderte, bat ich ihn um Verzeihung. Ich konnte nun nichts mehr für ihn tun, außer ihn bis ans Ende meiner Tage um Verzeihung zu bitten. Er war nicht mehr zu retten, er war tot. Ich rannte also zurück zu meinem Wagen und setzte mich hinters Lenkrad, als ich auf dem Beifahrersitz den Rucksack bemerkte. Ich stieg aus dem Wagen, schmiß den Sack so weit wie möglich in den Wald, setzte mich wieder ins Auto, ließ den Motor an, legte den Rückwärtsgang ein und löste mich von der kaputten Birke. Beim Anfahren kam der Wagen leicht ins Schleudern. Dann fuhr ich weg. Je länger man mit einer Lüge lebt, desto freizügiger wird der Umgang mit der Wahrheit. Ein Geschehen läßt sich in beliebig vielen Varianten erzählen, und wo man beginnt und was man wegläßt, verändert ein Geständnis grundlegend. Was passiert ist, will ich nun endlich so berichten, wie es wirklich war, obwohl ich weiß, daß ich mit meinen Lügen einen Teil der Wahrheit für immer zerstört habe. Ich will die Wahrheit erzählen, bevor es zu spät ist, bevor ich noch mehr vergesse, denn mir ist schon so vieles entfallen. Beispielsweise weiß ich nicht mehr, wie ich damals nachts nach Hause gelangt bin. Bin ich hinter dem Arroyo von der Straße abgefahren und habe dann den Reifen gewechselt? Oder habe ich das bloß Julia erzählt? Habe ich ihr damit die Schürfwunde auf meiner Stirn, das Blut und den Dreck auf meiner Kleidung erklärt? Heute weiß ich auch nicht mehr, wie ich in den ersten Stock gekommen bin, ohne daß Julia oder Tim mich bemerkten - ich habe mich wohl durch die Haustür hereingeschlichen, nicht durch den Eingang zur Waschküche. Ich erinnere mich nur noch, daß ich nackt und zitternd in meinem Bad auf dem Wannenrand saß, als Julia hereinkam. »Jason? Wo bist du... Jason«, sagte sie erschrocken. »Schatz, was ist passiert?« Sie kniete sich neben mich, doch ich konnte ihr nicht in die Augen sehen, sondern starrte statt dessen auf die abblätternde Farbe an den Füßen unserer alten Badewanne. »Was ist passiert?« wiederholte sie. »Du bist ja weiß wie die Wand, du frierst.« Mit den Fingerspitzen berührte Julia meine Stirn. Es tat weh. Im Spiegel an der Wand
gegenüber sah ich die dunkelrote Schürfwunde. Julia griff sich ein Handtuch und warf es mir über die Schulter. Schließlich sah ich sie an. »Ich hatte einen Unfall«, sagte ich. »Ich... ich war mit dem Auto unterwegs...« Und genau das war der entscheidende Augenblick. Im nachhinein ist mir das klar. Nicht als ich aus dem Wald kam, nicht als ich die Straße den Weinberg hinauffuhr oder als ich mich ins Haus und nach oben schlich, sondern jetzt und hier, nachdem sich meine Panik teilweise gelegt hatte, traf ich meine erste echte Entscheidung. Ich weiß aber nicht mehr, warum ich beschloß, daß ich mich der Frau nicht anvertrauen konnte, die mit ihren Händen meine Hände wärmte. Mir ist entfallen, was ich in diesem Moment dachte, ich erinnere mich aber an das plötzlich auf mir lastende Gewicht, als wären meine Arme und Beine aus Stein, und ich weiß noch genau, wie ich mich auf den Badezimmerboden gleiten ließ. In diesem Augenblick fing ich an zu lügen. »Es hat geregnet, ich bin gar nicht mal besonders schnell gefahren«, sagte ich. »Die Räder sind weggerutscht, ich geriet ins Schleudern. Der Wagen hätte sich beinahe überschlagen.« Julia nahm meine Hand. »Und dann kam ich von der Straße ab«, fuhr ich fort. »Ich bin im Graben gelandet und mußte einen Reifen wechseln«, und dann dachte ich mir wahrscheinlich überflüssige Einzelheiten aus. Ich log, und sogar mir war wohl klar, daß es sich nicht um eine kleine Flunkerei handelte, sondern um einen riesigen Lügenberg, aus dem sich zwangsläufig ein immer breiter werdender, immer reißenderer Strom noch größerer Lügen ergießen würde. Julia ließ sich neben mich auf den Boden des Bads fallen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie nahm mich in die Arme. »Ich brauche nur eine heiße Dusche«, meinte ich zu ihr. »Dann geht's mir bestimmt wieder besser.« Julia sammelte die verdreckten Kleidungsstücke ein. »Nein, laß nur«, sagte ich. »Sag Tim, daß ich gleich zum Abendessen runterkomme.« Ich stellte die Dusche an, und bald schrubbte ich mir die Haut, rieb wie wild jeden Quadratzentimeter meines Körpers mit einem rauhen Luffa-Schwamm ab. Ich hatte den einzigen Menschen belogen, der mir den Rat hätte geben können, den ich brauchte. Ich hatte gelogen und war ehrlich erstaunt, wie leicht ich die Wahrheit samt dem Dreck aus dem Wald von mir abwaschen und in die Kanalisation spülen konnte. »Sieht schlimm aus«, meinte Tim, als er die Schürfwunde auf meiner Stirn entdeckte. Ich blinzelte ihm zu. »Was hast du da?« fragte ich ihn und zog sein Mathebuch zu mir rüber. »Ich schreibe morgen eine Mathearbeit. Eine von diesen Gleichungen ist dran«, erklärte Tim und nahm sich wieder sein Buch. »Ich hab mir gedacht, wenn ich heute abend alle zehn Aufgaben löse, schaffe ich es mit links.« »Kann ich dir helfen?« fragte ich. Tim blinzelte mir zu. »Klar«, sagte er, obwohl es eigentlich gar nicht stimmte. Ich kramte in den dunklen Gängen meines Gedächtnisses nach angestaubten Axiomen. Die simplen Hausaufgabenprobleme meines Sohnes spendeten mir einen gewissen Trost. Abendessen, Abwasch, es war ein Abend wie jeder andere. Tim lernte am Eßtisch, und Julia und ich ließen uns auf dem Sofa nieder, sie mit einem Text über ehemalige Avantgardebildhauer, und ich tat so, als läse ich einen Roman. Im Kamin loderte ein Feuer. Draußen peitschte der Regen auf den Rasen. Als ich vor dreizehn Jahren Vater geworden war, fuhr ich plötzlich defensiver Auto, nahm mich viel mehr vor anderen Fahrern in acht. Auf Autobahnen benutzte ich die rechte Spur und fuhr viel vorsichtiger, und zwar nicht nur, wenn Tim im Kindersitz
saß. Ich hörte von frischgebackenen Eltern, die auf einmal Angst vor dem Fliegen hatten, was mir immer etwas übertrieben vorgekommen war, doch auf einmal verreiste ich überhaupt nicht mehr. Und noch etwas fiel mir ein: daß ich früher die Angewohnheit hatte, mir teure Schlipse zu kaufen. Ich besaß viel mehr Schlipse, als ich tragen konnte, mehrere hundert seidene Krawatten; sie waren ein Fetisch. Doch nach Tims Geburt fand ich es egoistisch, ein Geschäft zu betreten und Geld für Schlipse auszugeben. Erklären kann ich das nicht, ich weiß nur, daß sich mein gesamtes Selbstverständnis änderte, als ich Vater wurde, und zwar radikal. Ich war nicht mehr allein auf der Welt; ich hatte einen Sohn. Und dann wuchs mein Sohn heran. Prompt nahm ich mir wieder ein paar Dinge heraus. Beispielsweise schnelles Autofahren, und schon war es passiert. Tim war in seine Matheaufgaben vertieft und bemerkte vermutlich gar nicht, daß ich ihn beobachtete. Er hatte einen Laptop vor sich, und seine Finger glitten elegant über die Tasten, als spiele er Klavier. Julia notierte etwas in ihren Notizblock und warf dann wieder einen Blick in den auf ihrem Schoß liegenden Text. Sie sah zu mir herüber, merkte, daß ich Tim beobachtete, und lächelte. Alles, was ich auf dieser Welt wollte, war ein Abend wie dieser. Plötzlich überkam mich ungeheure Angst. Ich befürchtete, daß ich, wenn ich zur Polizei ging, erneut alles verlieren würde. Und das durfte nicht, das durfte auf gar keinen Fall geschehen. Ich legte mein Buch auf die Armlehne des Sofas. »Tim, kannst du die Lampen ausmachen und darauf achten, daß das Kamingitter an seinem Platz steht?« fragte ich. Julia nahm die Brille ab. »Klar«, meinte Tim, ohne von seinem Bildschirm aufzusehen. »Deine Mutter und ich gehen heute früh zu Bett«, sagte ich. Ich nahm Julias Hand, ging mit ihr nach oben und machte leise die Schlafzimmertür hinter uns zu. Wir standen neben dem Bett, sahen einander an, und ich hörte mich leise seufzen. Alles ging sehr schnell, ohne das gewohnte Vorspiel. Ich zog Julia aus, drang rasch in sie ein, und ich glaube, sie hielt mich fester als sonst in den Armen, umklammerte mich beinahe ängstlich. Zuerst waren wir von einer wilden Hast ergriffen, doch dann ließen wir es langsamer angehen und liebten uns vorsichtig, als wären wir zerbrechliche Wesen und könnten in Stücke zerfallen. Julia wollte mir so zeigen, wie erleichtert sie war, daß mir nichts passiert war, und ich wollte wohl so tun, als wäre auf der Bergstraße nichts Schlimmes geschehen, daß ich vielleicht alles nur geträumt hatte. Wir kuschelten uns unter der breiten Daunensteppdecke zusammen, bald atmete Julia flacher, und auch ich nickte ein Weilchen ein. Um Mitternacht wurde ich wach. Julia nahm sich ein Kissen, drehte sich von mir weg und schlief weiter. Ich lag auf dem Rücken und versuchte, die Augen wieder zu schließen, doch sobald ich das tat, sah ich die Straße im Wald vor mir, naß und schwarz. Schon stand der Junge vor mir auf der Straße, drehte sich um, sah mich über die Schulter an. Im Bett schoß mein Bremsfuß nach vorn, und auch als ich die Augen aufriß, sah ich immer noch den überfahrenen Jungen vor mir liegen, mit verdrehten Knien. Er versank fast in der Blut- und Schlammlache, die immer größer wurde. Ich stieg aus dem Bett, setzte mich auf der anderen Seite des Zimmers in einen Schaukelstuhl, und mir wurde wieder eiskalt. Ich spürte, wie der Junge in meinen Armen zitterte, erkaltete, seinen letzten Atem aushauchte, und dann sah er mich an. Ich ging zu meiner Kommode und tauschte meine Boxershorts gegen einen Flanellpyjama, den Julia mir geschenkt hatte und den ich nie trug. Den zog ich an und darüber einen Bademantel, zitterte aber immer noch. Ich sah den Jungen vor mir, wie er mich anschaute und seine braunen Augen in meinem Gesicht lasen, als wäre es eine in einer alten Sprache beschriebene Stelle, die er nicht entziffern konnte. Und dann erschlaffte er: Er wurde zu Stein, er wurde zu Schlamm, er wurde zu Regen... Halt, hörte ich mich sagen, obwohl ich das Wort nicht laut aussprach. Halt.
Ich ging über den Flur zu Tims Zimmer und machte leise die Tür auf. Ich schlich mich an sein Bett. Er lächelte im Schlaf. Ich hätte nicht einfach so wegfahren dürfen, es war nicht richtig, und das wußte ich auch. Ich hätte den Jungen nicht im Wald liegenlassen dürfen, als wäre sein Leben wertlos gewesen. Seine armen Eltern fragten sich mittlerweile vermutlich, wo er blieb, telefonierten herum, waren ganz krank vor Sorge. Und bald würde man an ihre Tür klopfen. Ihre schlimmsten Befürchtungen würden wahr werden. Ein Polizist würde ihnen erzählen, daß jemand die große Hoffnung ihres Lebens tot auf der Bergstraße liegengelassen hatte, und das hatte ich ihnen angetan. Ich hatte nicht nur einen Jungen umgebracht, sondern auch dessen Eltern. Wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre, wenn Tim etwas zugestoßen wäre... Er zuckte im Schlaf. Es war unvorstellbar. Ich hatte auch früher, vor dem Unfall, schon zahllose Fehler begangen, mich aber stets an gewisse Regeln gehalten. Ich wußte, daß ich mich stellen und die Konsequenzen tragen müßte, wie diese auch immer aussehen mochten. Und zwar bevor die Situation außer Kontrolle geriet, bevor man den Jungen im Wald fand. Ich dachte mir, das wäre der richtige Weg, denn wenn ich mich stellte, und zwar in Begleitung meines Anwalts, hatte ich bessere Chancen, als wenn ich nicht in die Offensive ging. Alles war klar. Ich wußte, was zu tun war. Am nächsten Morgen würde ich mir einen Anwalt nehmen und zur Polizei gehen. Am nächsten Morgen würde ich Julia gestehen, was passiert war. Doch als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich überhaupt nicht gut. Und das sollte den ganzen Tag so bleiben. Ich lag im Zimmer meines Sohnes auf dem Fußboden, mit einer seiner Wolldecken zugedeckt, und war völlig verspannt. Mein Rücken tat weh, die Augen brannten. Ich meinte, jemand hätte mir ein Loch in den Hinterkopf gebohrt. Tim und Julia waren schon in der Küche. Julia stand am Herd, briet Eier in der Pfanne, und Tim saß am Tisch und ging noch einmal seine Matheaufgaben durch. Genauso hatte ich sie angetroffen, als ich am Abend zuvor nach Hause gekommen war. Ich krächzte guten Morgen und nahm am Tisch Platz - Tim reagierte nicht -, und im nächsten Moment schob mir Julia einen Teller hin. Spiegeleier, ein wenig Schinkenspeck und einen Stapel Toast. Sie reichte mir ein Glas Orangensaft und einen Becher Kaffee. Dann stellte sie mir die ganze Kaffeekanne hin. Für sich selbst hatte sie auch Frühstück gemacht, doch als sie sich zu mir setzte, rührte sie die Gabel nicht an. Julia sah mir beim Essen zu. Tim warf mir einen kurzen Blick zu, dann widmete er sich wieder seinen Gleichungen. Ich wußte, daß ich erklären mußte, wieso ich auf dem Fußboden seines Zimmers eingeschlafen war, brachte aber lediglich ein: »Konnte nicht schlafen« heraus. Julia schenkte mir nach. Als ich nach der Milchtüte griff, sagte sie: »Du solltest ihn schwarz trinken.« »Schwarz, wieso?« fragte ich. Sie antwortete nicht. Ich verschlang die Eier, den Schinkenspeck und die Toastscheiben - mein Hunger überraschte mich - und leerte drei Becher Kaffee. Julia biß ein Häppchen Toast ab und ließ den Rest liegen. »Du ißt ja nichts«, stellte ich fest. Sie widmete sich der Zeitung. »He, Tim«, sagte ich. Tim schaute auf. »Alles klar für die Mathearbeit?« Die blonden Haare hatte er von seiner Mutter und den dunklen Teint von mir, aber die Augen waren einzig und allein seine. Ich fand, daß sie an diesem Morgen grüner aussahen, weniger glänzten; vielleicht ließ sie das schwache Licht in der Küche dunkler wirken. Das Gewitter hatte sich bis zum Morgen gehalten, und draußen war
es grau, es goß. »Alles klar«, antwortete er. Er sah Julia an, und als die nickte, klappte er sein Buch zu und stand vom Tisch auf. Ich hörte ihn nach oben stapfen. Ich warf einen Blick auf die Uhr an der Kaffeemaschine. Ich war anderthalb Stunden später als sonst aufgewacht. Normalerweise war ich für das Frühstück zuständig. Normalerweise machte ich auch Tims Schulbrote, doch offenbar war die pralle Papiertüte auf der Anrichte schon gepackt. »Ich habe den Wein kontrolliert«, sagte Julia. Normalerweise tat ich das morgens um halb sieben als erstes. »Danke«, sagte ich. »Und schäumt er?« »Wie wild«, antwortete sie. »Ich glaube, wir müssen den Tresterhut wieder unterstoßen. Übrigens habe ich heute einen Arzttermin in Hollister.« »Ach ja?« »Ich hab's dir doch gesagt«, behauptete Julia, woran ich mich aber nicht erinnern konnte. »Und dann werd ich ein wenig einkaufen, ins Kino gehen. Mal den Tag für mich allein genießen.« »Ich konnte nicht schlafen«, sagte ich. »Darum bin...« »Klar«, sagte sie. Hastig räumte sie den Tisch ab und warf ihr ungegessenes Frühstück in den Müll. »Kommst du mit dem Unterstoßen allein zurecht?« »Julia?« »Ich brauch auch mal ein bißchen Zeit für mich«, fuhr sie fort. »Beim erstenmal war's nicht besonders schwierig. Ich schaff das schon«, sagte ich. Gewöhnlich zog sich Julia um diese Zeit in ihr Arbeitszimmer zurück und widmete sich ihrer Dissertation. Wir ähnelten uns insofern, als wir beide eine gewisse Routine brauchten. Doch heute zog sie sich in der Waschküche ein Paar Stiefel an, schnappte sich einen langen Regenmantel und verschwand ohne einen Abschiedskuß. »Julia?« rief ich ihr nach. »Julia, warte!« Sie reagierte nicht. »Ich muß dir unbedingt was erzählen«, rief ich. Kurz danach hörte ich ihren Sportwagen die Weinbergstraße hinunterbrausen. Tim kam in die Küche. Er zog sich eine alte dunkelblaue Jacke von mir über, die er zu seinem Wintermantel erklärt hatte. Sie war ihm viel zu groß. Er setzte seinen Rucksack auf, blieb in der Haustür stehen und verlagerte das Gewicht auf einen Fuß. »Hör zu. Ich konnte nicht schlafen«, sagte ich, »und bin in dein Zimmer gelaufen, um nachzusehen, ob mit dir alles okay ist. Das kommt dir vielleicht seltsam vor, aber Väter tun manchmal so was. Und da bin ich einfach eingeschlafen. Das war alles.« Tim sah an mir vorbei auf die Uhr an der Kaffeemaschine. »Danke, daß du mir die Decke übergeworfen hast«, sagte ich, ohne zu wissen, ob er oder Julia mich zugedeckt hatte. Die Rinne konnte den vielen Regen nicht fassen, daher lief das Wasser wie ein Vorhang die Fenster hinunter. »Ich fahr dich zum Bus runter«, bot ich an. »Ich werde abgeholt«, sagte Tim. Er nahm sich seine Schulbrote von der Anrichte. Ich sah weg. Als ich mich ihm wieder zuwandte, war er fort. Ich zog mir irgendwas über und ging in die Weinkellerei runter. In dem modrigen Schuppen roch es weniger nach Wein als nach feuchter Rinde oder nassem Rasen. Ich kletterte die Leiter neben dem Gärtank hinauf und betrachtete die tiefrote Schaumschicht auf der Oberfläche. Dann musterte ich das über dem Bottich hängende Klemmbrett wie die Fieberkurve eines Krankenhauspatienten. Mit einem roten Filzstift nahm ich einen Eintrag vor. Elfter Tag, so weit, so gut, aber Julia hatte recht: Die nach oben gestiegenen Kerne und Stiele mußten in den Saft hinuntergestoßen werden. Mit unserer langen Stange konnte ich den Tresterhut durchstoßen, doch von der obersten Leitersprosse aus brachte ich nur eine kleine Delle zustande. Saft und Schaum stiegen gurgelnd nach oben, doch dann schloß sich das Loch wieder. Das
erste Mal war es viel leichter gewesen, den Trester nach unten zu drücken. Ein paar sanfte Stöße hatten genügt. Doch nun blieb mir nichts anderes übrig, als mich in den kniehohen schwarzen Gummistiefeln über die Wand des Gärtanks zu schwingen. Mit dem Fuß trat ich gegen den Tresterhut; er war fest wie Eis. Ich hielt mich am Rand des Tanks fest und hüpfte auf und nieder, ohne dabei den Rand des Tanks loszulassen. Als die rote Kruste unter mir knackte und erste Sprünge und Dellen bekam, stieg ich wieder auf die Leiter und stieß die Stange fest nach unten. Die Schicht aus Traubenhülsen brach, große Stücke knickten ein und fielen in die Tiefen des Bottichs. Die gärende Obstsuppe in dem drei Meter tiefen Bottich umzurühren gab mir den Rest. Alle Knochen taten mir weh. Doch ich hätte mich nur allzugern der nächsten anstrengenden Arbeit widmen mögen, denn sobald ich die Leiter heruntergeklettert war und tief durchgeatmet hatte, beschäftigte sich mein Kopf wieder mit dem Unfall. Ich mußte etwas tun, mit einem Anwalt zur Polizei gehen. Ich wußte ungefähr, wie ich mit einem blauen Auge davonkommen konnte, doch im Augenblick wollte ich einfach nur ein Geständnis ablegen. Ich wollte es einfach bloß hinter mich bringen und sagen: Ich war es. Die Wahrheit loslassen wie einen Luftballon. Ich riß mich zusammen, ging ins Haus und duschte schnell. Dann ging ich raus zur Garage, doch als ich die Scheunentore öffnete, wurde mir übel. Ich wollte nicht so schwach, so feige sein, doch als ich vor dem Auto stand, schlug mir das Herz bis zum Hals. Ich wollte diesen Wagen nicht fahren, ich wollte überhaupt kein Steuer mehr anfassen. Dann kam mir der Gedanke, daß ich mich mit dem Gefährt besser gar nicht auf der Straße sehen ließ, wenn ich nicht schon vor meinem Geständnis festgenommen werden wollte. Auf dem dunkelgrünen Geländewagen hatten sich in den letzten zehn Jahren zwar unzählige Beulen und Kratzer angesammelt, doch ich wußte nur zu gut, daß einige dieser Dellen neu waren. Nach und nach würde sich im Tal herumsprechen, was passiert war, und ich wollte im Moment nicht in den Ort fahren, wo sich jemand meine Stoßstange ansehen und sagen konnte: He, Jason, das sieht ja aus, als hättest du einen Unfall gehabt. Sieht aus, als wärst du gegen einen Baum gefahren. Oder gegen einen Jungen. Ich hatte es nie geschafft, den Pick-up zu reparieren, den Wagen meines Vaters, und inzwischen funktionierten außer den Scheinwerfern auch die Scheibenwischer nicht mehr. Ich fuhr damit nur aufs Feld. Jemand könnte mich fragen, warum ich damit unterwegs war, und darum suchte ich vorab schon nach einer einfachen und vernünftigen Ausrede, als ich den Weinberg hinunterfuhr. Ich dachte mir, daß ich ein Netz aus Notlügen um mein schmutziges Geheimnis spann, wenn ich nicht bald die Wahrheit sagte, und ich wußte, jede noch so kleine Täuschung würde meine Lage nur verschlimmern. Ich trat das Gaspedal des Pick-ups durch. Daß sich Oak Valley langsam, aber sicher erholte, wäre einem Fremden auf der Durchreise nicht aufgefallen, da die meisten Geschäfte an der Hauptstraße weiterhin verrammelt waren. Es gab noch einen Supermarkt, einen Wein- und Schnapsladen sowie eine kleine Kindertagesstätte. Ich war nie dahintergekommen, wie die sich hatte halten können. Wir hatten zwei Tankstellen mit dazugehöriger Werkstatt. Die Schulen und Banken waren in New Idria, sämtliche Ärzte und Grundstücksmakler in Hollister. Von den Fassaden der geschlossenen Läden hatte man fast alle Schilder abgenommen, und die, die noch hingen, waren im Laufe der Jahre immer weiter verblichen, so daß man die Namen der früheren Bilderrahmer oder Metzger kaum noch entziffern konnte. Selbst die Schilder der geöffneten Geschäfte waren unlesbar, vom Eisenwarenladen abgesehen, denn der hatte eine rote Leuchtreklame, die aber nie jemand einschaltete. Ich schaute immer kurz im Eisenwarenladen vorbei, bevor ich mich in meiner Kanzlei verkroch. Heute wollte ich darauf verzichten, aber da so viele Autos davorstanden, fragte ich mich, was da wohl los sein mochte. Das Grüppchen, das sich gewöhnlich am Tresen hinten im Geschäft neben der Schlüsselmaschine traf, war zu einer regel-
rechten Versammlung angewachsen, und wenn ich in den Gang mit den Lampen und Lampenfassungen oder in den Gang mit den Vogelhäuschen, Bilderrahmen und Kerzen sah, entdeckte ich jede Menge bekannte Gesichter. Niemand nickte oder grüßte mich; alle waren viel zu sehr in auffällig gedämpfte Gespräche vertieft. Als ich mir an den Farben vorbei einen Weg bahnte, hörte ich jemanden sagen: »Er konnte als einziger in der Mannschaft mit dem Ball umgehen.« Und ein anderer erwiderte: »Ein Dekan von der Universität Standford hat ihm persönlich den Zulassungsbescheid übergeben. Sie wollten ihm angeblich ein Vollstipendium anbieten.« Man konnte den Jungen unmöglich schon gefunden haben. Ich hätte erwartet, daß es mindestens ein, zwei Tage dauern würde, wenn ich mich nicht meldete. Es war unmöglich. Ich begrüßte Will Clark. Ihm gehörte der Laden. »Guten Morgen, Jason«, sagte er. Er saß auf einem Hocker neben einem Ständer mit Schlüsselrohlingen. Er hielt immer eine Kanne Kaffee für jeden bereit, der auf einen Sprung vorbeikam, doch heute war die Kanne leer. Er hatte einen dicken Bauch und lange Arme, mit denen er beim Reden gewohnheitsmäßig herumwedelte, als versuche er zu fliegen, sei aber zu schwer, um vom Hocker abzuheben. »Hast du's schon gehört?« fragte er und wedelte einmal. Daß man den Jungen so bald gefunden hatte, war schlicht unmöglich. Ich überlegte, ob ich mich dumm stellen sollte, nickte aber statt dessen. »Es ist eine furchtbare Tragödie«, erklärte Emma Hodges. Ihr hatte einmal die Bäkkerei drei Türen weiter gehört, die sie vielleicht wiedereröffnen wollte, wie sie mir kürzlich erzählt hatte. Ein Winzer namens Alex Marquez schob sich zum Tresen vor. Ihm gehörte früher eines der größeren Weingüter im Tal, und auch ihm versuchte ich zu helfen, sich aus der Asche des Bankrotts zu erheben. Er war sehr groß und hatte lange schwarze Haare, die hinten zu einem seidigen Pferdeschwanz zusammengebunden waren. »Stimmt es?« fragte er. Wir alle antworteten mit ernstem Kopfnicken. »Ausgerechnet der Junge«, sagte er. Er schüttelte verzweifelt den Kopf, wobei sein Pferdeschwanz hin und her schwang. »Wer hat ihn gefunden?« fragte er. »Ein Ranger«, antwortete Will Clark. »Er fuhr heute morgen die Bergstraße hoch. Sah nach, ob es Sturmschäden gab. Ein Baum lag quer über der Straße, und als er ausstieg, um ihn aus dem Weg zu räumen, entdeckte er die Bremsspuren.« »Die Bremsspuren«, wiederholte ich. Emma Hodges sah mich an. »Dann sah er das Blut«, fuhr Will Clark fort. »Eine Blutlache. Und die Leiche im Wald direkt neben der Straße. Es war Craig Montoya, der da im Matsch lag.« Ich wünschte, ich hätte diesen Namen nie gehört. Der Junge, den ich getötet hatte, war plötzlich kein namenloser Fremder mehr. Er hatte einen Namen. Craig Montoya lag im Dreck. Die bleierne Schwere kehrte in meine Glieder zurück. Am liebsten hätte ich mich auf den Boden gesetzt. »Hast du ihn mal Fußball spielen sehen?« fragte mich Alex Marquez. »Dem hat keiner den Ball abgenommen. Er war mit dem Ball verwachsen.« »Eines Tages hätte er es wirklich zu etwas gebracht«, sagte Emma Hodges. »Er hätte Gouverneur werden können«, schlug Alex Marquez vor. »Nein, ich meine, er hätte wirklich was erreicht«, sagte Emma Hodges. Alle sahen mich an. »Ja, es ist sehr traurig«, sagte ich. »Seine Eltern machen Schreckliches durch«, erklärte Emma Hodges. »Emma«, sagte Will Clark. »Ich habe sie vor einer Stunde gesehen. Sie waren mit Harry Padillo zusammen.«
Harry Padillo war der Sheriff von San Benito County. »Sie sahen aus wie Gespenster«, sagte Emma Hodges. »Als wäre auch ein Teil von ihnen gestorben.« »Craigs Vater hat früher mal für deinen Vater gearbeitet«, sagte Will Clark. »Stimmt«, bestätigte ich. Das hatte ich ganz vergessen. »Harry hat gesagt, für ihn fällt das erst mal unter Fahrerflucht«, berichtete Emma Hodges. Ich atmete tief durch. Zu hören, wie mein Verbrechen eingestuft wurde, verlieh der Sache etwas Endgültiges, Unwiderrufliches. »Was für ein Wahnsinniger tut so was einem netten Jungen wie Craig Montoya an?« wollte Alex Marquez wissen. »Was für ein Feigling, meinst du wohl«, sagte Will Clark. »Einen Jungen anzufahren und dann einfach...« »Abzuhauen«, flüsterte ich. »Aber«, sagte Emma Hodges, »Harry sagt, es sind noch jede Menge Fragen offen.« Ich schluckte schwer. »Wie ist Craig beispielsweise dorthin gekommen?« fragte sie. Einen Moment lang dachte ich, sie erwarte von mir eine Antwort. »Sein Auto ist nämlich verschwunden«, fuhr sie fort. »Seine Eltern sagen, er ist gestern abend nicht nach Hause gekommen, was ihnen aber erst morgens auffiel. Übrigens steckte er mitten in den Prüfungen. Am nächsten Morgen mußte er zur Schule. Was hatte er bloß auf dem Oak Leaf Highway zu suchen?« »Auf dieser Straße geht nie jemand zu Fuß«, warf ich ein. »Genau. Das ergibt keinen Sinn«, sagte sie. »Die erwischt man fast nie«, sagte Will Clark. »Sagt jedenfalls Harry.« Ich kniff die Augen zusammen. »Leute, die Fahrerflucht begangen haben«, sagte er. »Die erwischt man fast nie. Sie müssen schon einen Fehler machen. Ein beschädigtes Auto in die Werkstatt bringen oder... Dein Kopf«, sagte er dann. Er nickte in Richtung der Schürfwunde auf meiner Stirn. Ich hatte zwar eine Baseballmütze auf, aber die Schürfwunde war nur teilweise verdeckt. »Ach das. Tja, ich hab den Tresterhut untergestoßen«, sagte ich. Keine Ahnung, warum ich es für nötig hielt, mir eine neue Lüge auszudenken. »Dabei hab ich mir im Weinkeller den Kopf an einem Dachbalken gestoßen.« Ich rang mir ein Kichern ab. Wieder starrte mich Emma Hodges an. »Jedenfalls hat Harry Padillo schon eine Fahndung eingeleitet«, erzählte Will Clark. »Eine Fahndung«, sagte ich. »Das ist... wirklich prima. Gut, daß er so schnell aktiv wird.« Ich hielt mich am Tresen fest, weil ich Angst hatte, in die aufgebauten Pinsel und Farbrollen zu fallen. Mir lief die Zeit davon. Alex Marquez deutete auf meine Schürfwunde. »Ich hab den Trester nie untergestoßen, sondern immer umgepumpt«, sagte er, womit er eine Methode meinte, bei der mittels einer Pumpe Flüssigkeit vom Boden des Bottichs nach oben befördert wird. »Und dein Merlot war deshalb wohl auch nie der Beste«, witzelte Emma Hodges. Immer mehr Leute strömten in den Laden. Über kurz oder lang würde sich ganz Oak Valley hier versammeln. »Ich glaube, hier im Tal gab es noch nie ein Carjacking«, stellte Emma Hodges fest. »Augenblick mal - Carjacking? Hat Harry nicht etwas von Fahrerflucht gesprochen?« fragte ich. »Ja, das stimmt«, sagte Will Clark. »Aber von dem Wagen des Jungen fehlt jede Spur.« »An das letzte Mal kann ich mich gar nicht erinnern«, sagte Alex Marquez. »Welches letzte Mal?« fragte ich. »Vor zehn Jahren«, sagte Emma Hodges.
»Die Frau, die drüben in der Siedlung ihren Mann umgebracht hat«, sagte Will Clark. »Nein, ich meine das letzte Mal, als jemand ein Kind ermordet hat«, sagte Alex Marquez. »Moment mal«, warf ich ein. »Sind wir da nicht ein bißchen voreilig? Unfall mit Todesfolge und Fahrerflucht ist eine Sache, aber Mord...« »Irgendwer wollte dem Jungen was antun«, stellte Alex Marquez fest. »Du meinst, es war vorsätzliches Überfahren mit anschließender Fahrerflucht«, sagte ich. »Glaubst du das nicht?« fragte er. »Ich finde, wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.« Keiner sagte etwas. Ich räusperte mich. »Aber wenn Harry glaubt, daß es mehr als Fahrerflucht war«, sagte ich, »dann sollten wir vielleicht von« - ich schluckte - »Mord ausgehen.« »Nimm das Schlimmste an, Jason«, sagte Alex Marquez. »Man sollte immer das Schlimmste annehmen.« »Harry mußte schnell weg«, berichtete Emma Hodges. »Er wurde angepiept«, erklärte Will Clark. »Ist mit Blaulicht losgefahren. Klar, er macht sich gerne wichtig.« Ich mußte rasch telefonieren. »Der Countdown läuft«, sagte Emma Hodges. Ich lief die Straße runter zu meiner Kanzlei, doch als ich am Schreibtisch Platz nahm, konnte ich nur das Schaufenster anstarren, auf dem in Goldbuchstaben mein Name stand. Ich wußte nicht genau, was auf mich zukam. Ich zog das kalifornische Strafgesetzbuch aus einem Regal neben dem Schreibtisch. Man konnte mich des Totschlags anklagen. Ich hatte zwar kein Kapitalverbrechen begangen, aber falls der Staatsanwalt zu dem Schluß kam, daß ich mich grob fahrlässig verhalten hatte, falls sich das anhand der Bremsspuren oder daran, wie der Junge weggeschleudert worden war oder weiß Gott welcher anderen Indizien, die man unweigerlich aus dem Wald holen würde, beweisen ließ, dann kamen eine Geldstrafe und eventuell eine Gefängnisstrafe auf mich zu. Daß ich den Unfall immer noch nicht gemeldet hatte, sprach gegen mich, je länger ich es hinausschob. Auch ohne grobe Fahrlässigkeit konnte man mich anklagen und verurteilen. Das Strafmaß war in letzter Zeit immer weiter erhöht worden - ein Jahr war möglich. Selbst wenn die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde, konnte mir das schaden. Wenn ich nicht ehrlich war, konnte mir sogar ein glatter Freispruch schaden. Es war mir entfallen, doch als ich da in meinem Büro saß und das Gesetzbuch ansah, mußte ich plötzlich an den Fall eines Mannes denken, der von einer Kanzlei vertreten worden war, bei der ich während des Studiums einmal im Sommer als Praktikant gearbeitet hatte. Der Mann war Manager einer Computerfirma und setzte eines sonnigen Herbstmorgens auf dem Weg zur Arbeit rückwärts aus seiner Einfahrt, wobei er einen kleinen Jungen auf dem Dreirad überfuhr. Das Kind war in den toten Winkel des Autofahrers geraten. Es war zweifelsfrei ein Unfall, aber es kam dennoch zu einer Anklage wegen Totschlags. Der Mann wurde freigesprochen. Aber - und das machte mir Sorgen - das Leben dieses Mannes ging trotzdem in die Brüche. Bei der Arbeit konnte er sich nicht mehr konzentrieren und wurde entlassen. Seine Frau verließ ihn und nahm die drei gemeinsamen Kinder mit; sie reichte die Scheidung ein. Sie ließ ihm zwar das Haus, doch der Mann konnte nicht mehr in dem Viertel wohnen bleiben, weil ihm auf der Straße jeder aus dem Weg ging, weil keiner mit ihm reden wollte. Er war geächtet. Er war ruiniert. Ich steckte in Schwierigkeiten. Aber dieser Mann, der Computerexperte, hatte sich gestellt. Er hatte keine Wahl gehabt, weil sämtliche Kinder aus der Wohngegend, die gerade auf dem Schulweg gewesen waren, gesehen hatten, wie er den Kleinen auf dem Dreirad überfuhr. Es gab Zeugen. Er mußte sich stellen, aber ich nicht. Keiner hatte etwas von meinem Unfall
auf der Bergstraße mitbekommen. Keiner wußte von meinen abendlichen Spritztouren. Keiner hatte beobachtet, wie ich den Jungen in den Armen gehalten hatte, und außer mir hatte ihn keiner sterben sehen. Ich mußte mich nicht stellen. Nein. Dies war der falsche Weg, befand ich. Ich mußte unbedingt ein Geständnis ablegen. Und so nahm ich den Hörer ab, um im Büro des Pflichtverteidigers anzurufen. Ich wählte die Dienstnummer meiner Bekannten. Nach dem Ende unserer kurzen Affäre waren wir Freunde geblieben, und sie meldete sich immer zuerst bei mir, wenn sie Aufträge vergab. Ich konnte sie jetzt vertraulich fragen, was ich tun sollte. Oder ich konnte so tun, als riefe ich an, um Auskunft für einen Klienten zu holen. Als sie sich meldete, legte ich auf. Selbst wenn es mir irgendwie gelänge, mich der Strafverfolgung zu entziehen, kam eventuell ein Zivilprozeß auf mich zu. Die Montoyas würden mir Haus und Hof wegnehmen wollen. So war nun mal der Lauf der Welt: Wenn man etwas verloren hat, sinnt man auf Rache. Die Geschworenen würden schluchzen, sobald die Mutter in den Zeugenstand trat, und ich müßte Schadenersatz bezahlen. So lange ich lebte, würde ich bezahlen müssen, und vielleicht kam ich nie wieder auf die Beine. Die Wahrheit konnte mich möglicherweise teuer zu stehen kommen, so daß ich mich fragte, ob dies tatsächlich der richtige Weg war. Ich mußte mich diesem Gewissenskonflikt stellen: War es wert, die Wahrheit zu sagen, wenn man bedachte, was ich meiner Familie damit zumutete? Ich schritt in meiner Kanzlei auf und ab. Die Schritte wurden immer schneller. Ich kam mir vor wie ein großer Hund in einem viel zu kleinen Zwinger. Aber warum sollte ich eigentlich ohne Strafe davonkommen? Warum sollte ich weitermachen wie bisher? Ich hatte einen Jungen getötet. Er hatte einen Namen: Craig Montoya. Ich hatte Craig Montoya überfahren. Es war ein Unfall gewesen - ich hatte ihn nicht überfahren wollen - , doch es war meine Schuld. Was, wenn ich bei dem Regen langsamer gefahren wäre? Oder wenn ich mich gar nicht erst hinters Steuer gesetzt hätte? Und der Junge war allein gestorben. Craig Montoya war allein gestorben. Ich war zwar bei ihm gewesen, hatte ihn in den Armen gehalten, doch als er mich ansah, wußte er nicht, wer ich war, mithin war er allein gestorben, weit weg von zu Hause und den Menschen, die ihn liebten. Niemand sollte aber allein sterben. Warum sollte ich also nicht für meine Tat büßen? Ich blieb stehen und nahm Tims Foto in die Hand, das auf meinem Schreibtisch stand. Ich hatte kein neues Bild von ihm. Dieses hatte Julia aufgenommen, als wir uns getrennt hatten, und mir geschickt, weil es sie an mich erinnerte, wie sie sagte. Sie und Tim hatten in der Mojave-Wüste Urlaub gemacht, als dort der Mohn blühte, daher sah man auf dem Foto Tim mitten in einem roten Blütenteppich sitzen. Die Mohnblumen reichten bis zum Horizont, und weil der Himmel wolkenverhangen und grau war, leuchteten die Blüten noch mehr. Tim blickte nicht in die Kamera. Er sah irgendwohin, weit weg, als hätte er schon viel zu lange darauf gewartet, daß seine Mutter endlich auf den Auslöser drückte, und er hatte das Kinn weggedreht. Und darum meinte Julia, auf diesem Foto erinnere er sie an mich. Deswegen hatten wir uns oft gestritten, waren aber mittlerweile erwachsen genug, um darüber zu scherzen - daß ich mich beschwerte, sie brauche ewig, um ein Foto zu knipsen, daß sie sich Zeit ließ und zögerte, nur um mich zu ärgern. Es gab kein einziges Foto von mir, auf dem ich in die Kamera sah, wenigstens keins, das Julia aufgenommen hatte. Da saß also unser Sohn zwischen den Wüstenblumen, ungeduldig, verträumt. Jetzt war er glücklich, gut in der Schule, aber immer noch ein Kind, leicht aus der Fassung zu bringen. Ich mußte an Julia denken und was es bedeutete, ihr von dem Unfall zu erzählen. Im Grunde hatte ich sie schon mit meiner ersten Lüge verletzt. Wenn ich ihr die Wahrheit sagte, könnte ich versuchen zu erklären, warum ich zunächst gelogen hatte, doch ein Makel bliebe zurück. Das neugewonnene Vertrauen zwischen uns wäre dahin. Zwar würde sie mir sicher auch weiterhin zur Seite stehen, doch ich befürchtete,
daß uns die zu erwartenden Widrigkeiten nicht näher -, sondern vielmehr auseinanderbringen würden. Obwohl Julia wieder bei mir lebte, verspürte ich immer noch den Schmerz, den unsere Trennung ausgelöst hatte. Obwohl wir nun Nacht für Nacht ein Bett teilten, ließ das vertraute Herzflattern nicht nach, als ob ich zuviel Kaffee getrunken hätte. Es war ein dumpfer Schmerz, der vielleicht, so hoffte ich verzweifelt, irgendwann verschwinden würde. Doch wenn ich mich offenbarte, gestand, ihr meine Lüge beichtete, würde ich das Gegenteil erreichen. Ich liebte Julia sehr, sehnte mich aber nach dem Tag, an dem meine Liebe zu ihr frei von dieser Qual war. Irgendwie redete ich mir nach und nach ein, wenn Julia die Wahrheit über den Unfall, meine Flucht und meine Lüge kannte, würde dieser quälende Schmerz chronisch werden und nie wieder verschwinden. Wieder blätterte ich das Strafgesetzbuch durch. Ich schlug die Strafe für Carjacking nach. Für Carjacking gab es drei, fünf oder neun Jahre. Mord mußte ich nicht nachschlagen. Für Mord gab es fünfundzwanzig Jahre. Einen im Verlauf eines Verbrechens wie Carjacking begangenen Mord konnte man als Kapitalverbrechen auslegen, was unter Umständen lebenslänglich ohne Begnadigung oder sogar die Todesstrafe bedeutete... Moment mal, Carjacking, Mord - das war doch absurd. Ich ließ mich von den Gerüchten verrückt machen. Ich wußte, was durchgesickert war, und fest stand, daß ich keinen Mord begangen hatte. Jedenfalls nicht im juristischen Sinne, nicht vorsätzlich. Ich hatte diesen Jungen nicht entführt. Schließlich hätte ich selbst gern gewußt, wo sein Auto war und warum er auf einer Straße herumlief, wo sonst nie jemand zu Fuß unterwegs war. Was ging ihm wohl in den wenigen Sekunden durch den Kopf, als er über die Schulter in meine Scheinwerfer sah? Ich blätterte zu den Verkehrsdelikten zurück. Bei grober Fahrlässigkeit bekam man zwei, vier oder sechs Jahre. Jetzt wußte ich Bescheid. Das stand mir bevor. Und die Zivilklage. Und daß ich meinem Sohn einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügte. Und Julia verletzte, uns alle verletzte. Und mein Haus und das Weingut aufs Spiel setzte. Ich mußte einen Anwalt ins Vertrauen ziehen. Meine Bekannte im Büro des Pflichtverteidigers meldete sich. »Wie weit bist du in der Drogensache?« fragte sie mich. Ich hatte den Auftrag angenommen, einen wegen Kokainbesitzes angeklagten Straftäter zu verteidigen, den ich auf Entzug schicken wollte. »Bin fast soweit«, antwortete ich. »Hier ist die Hölle los«, sagte meine Bekannte. »Hast du schon von dem Jungen gehört, der getötet wurde?« Wußte das schon der gesamte County? »Wirklich traurig«, sagte ich. »Übrigens wollte ich deshalb...« »Harry Padillo fahndet im großen Stil, es wird also die ganze Nacht Gegenüberstellungen geben. Du kennst ja Harry. Der nimmt die Kinder seiner Schwester fest, wenn ihm danach ist.« »Stimmt«, sagte ich. »Und Dreifuß dreht völlig durch«, sagte meine Bekannte. Eric Dreyfus war der Bezirksstaatsanwalt. In einem knappen Monat mußte er sich zur Wiederwahl stellen. »Bestimmt setzt er Harry unter Druck, diese Sache möglichst schnell aufzuklären«, sagte ich. »Vor allem, weil er in den Umfragen hinten liegt. Was sollen die Wähler von jemandem halten, der nicht mal einen Kindsmörder fassen kann? Na, zu seinem Glück hat Harry eine heiße Spur.« Ich hielt den Atem an. »Eine heiße Spur, sagst du?« »Einen, den er jagen kann.« Ich mußte es wissen, ich mußte fragen: »Und wer ist das?« »Irgendein kleiner Gauner, der gestern abend in einem Tankstellen-Supermarkt bei Salinas eine Flasche Limo und eine Tüte Chips klauen wollte. Der Geschäftsführer
hat ihn mit einem Baseballschläger verfolgt. Der Typ konnte entkommen, aber der Geschäftsführer hat sich einen Teil des Autokennzeichens gemerkt. Es paßt zu dem am Wagen des toten Jungen.« Sie waren hinter jemandem her. »Jason? Bist du noch dran?« »Woher weißt du das?« fragte ich. »Bist du dir ganz sicher?« »Was soll das heißen, woher ich das weiß? Man spricht hier über nichts anderes«, sagte meine Bekannte. »Wie ist der Kerl an den Wagen des jungen Montoya rangenommen?« fragte ich. »Wer weiß? Ein Geschenk war es vermutlich nicht.« »Hat man eine Beschreibung des Burschen?« fragte ich weiter. »Man hat sein schwarzweißes Konterfei auf dem Überwachungsvideo. Heißt es.« Es wurde nach jemandem gefahndet, aber nicht nach mir. »Worauf wird die Anklage lauten, Autodiebstahl?« fragte ich und schlug im Strafgesetzbuch nach. »Dreyfus wird's mit Carjacking probieren«, antwortete meine Bekannte. »Das macht viel mehr her.« »Dann lautet die Anklage wohl auf Mord«, sagte ich. »Vielleicht läßt er vor dem Wahltag ja mit sich handeln.« »Der Kerl wird den Wagen schnell loswerden«, sagte ich. »Wenn nicht, läßt Harry ihn von der Bundespolizei festnehmen, sobald er Kalifornien verläßt«, schlug meine Bekannte vor. Man fahndete nach einem anderen, was mir mehr Zeit verschaffte. »Also, was willst du?« fragte sie. »Warum rufst du überhaupt an? Wie geht's Julia? Wie geht's Tim? Kelterst du dieses Jahr wieder Wein? Jason?« Ich hätte antworten sollen, ich hätte sagen sollen: Ich stecke in Schwierigkeiten und brauche deine Hilfe. Ich hätte sagen sollen: Ich will das Richtige tun, aber meiner Familie keinen Schaden zufügen. Doch man war hinter einem anderen her, und an diesem Punkt fing ich wohl an, ein Spiel zu spielen, dessen Regeln ich bei jedem Zug neu improvisierte. Ich würde erst mal abwarten, was als nächstes geschah. Ich hätte sagen sollen: Ich war's. Ich hab's getan, und ich will mich stellen. Statt dessen sagte ich zu meiner Bekannten: »Mit der Rauschgiftsache bin ich bald fertig«, und legte auf. Es gelang mir, mich für den Rest des Tages auf meine Arbeit zu konzentrieren. Neue Nachrichten gab es keine. Sobald ich nach Hause kam, wollte ich mich um die verdreckten Kleider kümmern, die ich bei dem Unfall getragen hatte. Ich hatte sie mitsamt meiner Stiefel und meiner Jacke in einen Müllsack gestopft und den Sack vorerst in einen Schrank in einem der unbenutzten Zimmer im ersten Stock versteckt. Waschen wollte ich nichts, weil sich das als Vernichtung von Beweismaterial interpretieren ließ. Außerdem würde ich ganz bestimmt nie wieder etwas davon anziehen. Als ich in die Garage einbog, fiel mir Tims Fahrrad auf. Er war früh nach Hause gekommen, aber Julias Wagen war nirgends zu sehen. Eigentlich hatte ich im Weinkeller nichts Bestimmtes vor, wollte aber trotzdem mal rasch nach dem Wein sehen, und das war auch gut so. Das am Gärbehälter befestigte Thermometer zeigte einen Wert im Gefahrenbereich an. Eigentlich hätte eine laute, schrille Alarmanlage angehen müssen, und ich hatte keine Ahnung, welches Gerät versagt hatte, das Thermometer oder die Alarmanlage. Doch als ich die am Tank lehnende Leiter hochkletterte und eine Hand in den Most hielt, stand fest, daß der Saft zu warm war. Ich hatte übrigens einen Doppelmantel-Stahltank, in dessen Hohlwand man gekühltes Wasser hineinleiten konnte; es war die einzige technische Neuerung, die sich mein Vater geleistet hatte, als es ihm finanziell noch etwas besser ging. Ich drehte an den Griffen, mit denen man die Rohre öffnete, und hielt den Atem an, bis ich das kalte Wasser in die Hohlwand des Tanks strömen hörte. Erst vor ein paar Monaten hat-
te ich glücklicherweise einen Klempner kommen lassen, der die Rohre überprüft hatte. Ich fühlte, wie die Seiten des Stahltanks merklich kühler wurden. Nach einer Weile stieg ich wieder auf die Leiter und beobachtete den Most genau. Das Sprudeln und Blubbern ließ nach. Ich hätte wissen müssen, daß das Unterstoßen des Tresters, das heftige Herumstochern im Wein die Gärung beschleunigt. Ich hätte abwarten und die Temperatur kontrollieren sollen. Eine halbe Stunde und länger behielt ich den erdbeerfarbenen Schaum im Auge, und als ich gerade ins Haus gehen und Tim berichten wollte, der Wein sei möglicherweise ruiniert, spritzte in der Mitte des Behälters ein rubinroter Geysir nach oben. In Sekundenschnelle wurde das Blubbern zu einem regelrechten Aufwallen, und ich ertappte mich dabei, wie ich dastand, auf den Zehen wippte und immer heftiger wippte, als die Gärung wieder richtig in Gang kam. Tim antwortete nicht, als ich ihn rief. Ich sah in seinem Zimmer nach, doch da war er nicht, und als ich wieder nach unten ging, fand ich ihn ausgestreckt auf dem Sofa im Arbeitszimmer. Er starrte an die Decke, und der Fernseher lief ohne Ton. Alle Lampen waren ausgeknipst. Ich machte eine an. Tim hielt sich einen Arm vor die Augen. »Hallo«, sagte ich. Ich setzte mich auf die Armlehne der Couch. »Wie war die Mathearbeit?« »Ausgefallen«, antwortete Tim. Er schwang die Beine herum und setzte sich hin. »Wir durften früher nach Hause.« Ich wußte, daß ich dieses Gespräch langsam angehen mußte. »Ich hab ihn nicht gekannt«, sagte Tim. »Craig Montoya«, sagte ich. »Natürlich wußte ich, wer er war. Jeder wußte das.« »Er war Kapitän der Fußballmannschaft«, erklärte ich. »Er gehörte zu einer echt coolen Clique«, sagte Tim. »Sein Tod nimmt dich ganz schön mit«, stellte ich fest. »Nein. Hör auf damit«, gab er zurück. Ich nickte. »Zünd doch einfach mal ein Feuer an. Ich koche was zu Abend, und dann essen wir vor dem...« »Ich bin in Ordnung, okay?« »Okay«, sagte ich. »Deine Mutter ist also noch nicht zu Hause?« Tims Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. »Ich hab eben nach dem Wein geschaut«, sagte ich, »und das war gut so, denn...« Er sah an mir vorbei. »Ich gehe jetzt in die Küche«, fuhr ich fort. »Da bin ich dann, falls du mich brauchst.« Ich wollte meiner Familie ein phantastisches Abendessen zubereiten. Also beschloß ich, das zu machen, was Julia neulich abends kochen wollte. Ich füllte ein Hühnchen mit wildem Reis. Von einem Kürbis schnitt ich die dünne Schale ab und hieb ihn mit einem Hackbeil in Stücke. Ich schenkte mir ein Glas Pinot ein, um lockerer zu werden. Als Tim in die Küche kam, nahm ich, ohne groß nachzudenken, ein zweites Glas aus dem Schrank und goß es ihm ebenfalls halb voll. Er schaltete den Küchenfernseher ein. In dem Augenblick lief die Hauptmeldung der Lokalnachrichtensendung. Der Sprecher redete mit ernster Stimme, ein Nachruf. Ein Foto aus dem Jahrbuch der Schule füllte den Bildschirm: ein gutaussehender Junge im Halbprofil, die Haare ordentlich gekämmt. Craig Montoya mit breitem Grinsen. Schnitt auf einen Reporter, der unter einem Schirm auf einer nassen Straße stand. Es hätte jede x-beliebige Straße in den Bergen sein können. Ein Stück Plastikband von einer polizeilichen Absperrung wehte ins Bild und wieder raus. Der Journalist spulte die neuesten Behauptungen herunter, alles, was ich schon von meiner Bekannten gehört hatte, einschließlich der Theorie, der Junge sei samt Auto entfuhrt worden. Und als der Nachrichtensprecher den Reporter befragte, sprach dieser davon, daß der Junge möglicherweise ermordet worden sei. Er ratterte Juristenkauderwelsch herunter. Aus Indiskretionen waren Gerüchte geworden und aus Gerüchten Meldungen.
Tim seufzte laut. Ich merkte, daß ihn die Nachrichten mitnahmen, doch ich mußte sie sehen. Ich mußte wissen, wie mein Unfall, die Fahndung, alle aktuellen Ereignisse dargestellt wurden. Als ich auf einen anderen Sender schaltete, verließ Tim die Küche. Der zweite Bericht war Einstellung für Einstellung mit dem ersten identisch, abgesehen von dem verschwommenen Foto eines Mannes, den ich noch nie gesehen hatte, ein Standbild aus dem Überwachungsvideo in dem Supermarkt. Der Name des Mannes wurde nicht genannt, aber falls man ihn sah, wie er beispielsweise über die Autobahn raste oder im Tante-Emma-Laden nebenan eine Tüte Kekse klaute, sollte man die Nummer wählen, die eingeblendet wurde. Das Foto war so unscharf, so verwackelt, daß man ein Dutzend Unschuldiger für den Verdächtigen halten, anhalten, schikanieren und vielleicht sogar zur Vernehmung auf ein Revier bringen würde. Bei der grellen Beleuchtung und der Aufnahmeposition der Überwachungskamera hätte jeder so kaputt und schuldig ausgesehen wie dieser Mann. Und doch, je länger ich ihn mir ansah, desto durchschnittlicher kam er mir vor. Er hatte dunkle halblange Haare und die Ansätze eines Spitzbarts. Seine ovale Brille mit den schwarzen Gläsern kam mir für einen mutmaßlichen Mörder merkwürdig elegant vor. Den Jackenkragen hatte er hochgeschlagen. Auch wenn man es anhand dieses Fotos unmöglich sagen konnte, wirkte er nicht besonders massig. Im Gegenteil, er schien eher drahtig zu sein, als ob er nicht sehr viel Platz in der Welt einnahm. Auf das Standbild folgte das Foto eines neben einer Landstraße im Marin County abgestellten Kombis. Laut Reporter war es Craig Montoyas Wagen, verlassen. Vielleicht hatte der Mann, wer auch immer es sein mochte, Craig Montoya etwas angetan. Vielleicht hatte er ein Verbrechen an dem Jungen begangen, bevor ich vorbeigekommen war, ein Verbrechen, für das er angeklagt und bestraft gehörte. Das bedeutete, daß man meine Straftat nicht zwangsläufig verfolgen mußte, nicht, wenn der Gerechtigkeit bereits Genüge getan wurde. Dann könnten die Montoyas jemand anderen verklagen. Vielleicht blieb dann mein Verbrechen ungeklärt. Ich schäme mich zwar, es zuzugeben, aber es ging mir wirklich durch den Kopf, daß ich mich überhaupt nicht stellen müßte. Ich konnte im stillen Kämmerlein Buße tun, und das genügte vielleicht. Niemand brauchte davon zu erfahren. »He, Tim? Soll ich den Kürbis so kochen, wie du ihn magst, mit Honig und Ingwer?« Keine Antwort. »Tim?« Er war nicht im Arbeitszimmer. Er war auch nicht auf sein Zimmer gegangen. Von meinem Schlafzimmerfenster aus sah ich ein flackerndes Licht im Weinberg. Und da fand ich ihn, im Regen zwischen den Reben, in der Hand eine Taschenlampe. Er weinte. Ich ging zu ihm und hielt meinen Schirm über ihn. »Tut mir leid«, sagte Tim. »Ist schon in Ordnung«, sagte ich. »Dabei hab ich ihn gar nicht gekannt«, sagte er. »Trotzdem kann man traurig sein«, sagte ich. Ich fühlte mich, als hätte man mir einen Schlag in die Magengrube versetzt. Der Junge war tot, und es war meine Schuld. Mein Sohn verzweifelte, und es war meine Schuld. Nie würde ich vergessen können, daß ich dieses Verbrechen begangen hatte, nie von meiner Tat freigesprochen werden, niemals, wieso suchte ich also überhaupt noch einen Ausweg? Es war geschehen, unabänderlich, Unfall oder nicht Unfall, und ich war dafür verantwortlich und würde es immer bleiben. »Ich bin auch traurig darüber«, sagte ich. »Trauriger, als du denkst.« Ich begleitete Tim zurück ins Haus. Als er sich drinnen mit einem Handtuch trockenrieb, erzählte ich ihm eine Geschichte, eine wahre Geschichte über ein Mädchen aus meiner High-School, die ich nicht sehr gut gekannt hatte. Niemand hatte sie sehr gut gekannt. Eines Tages fuhr sie ihr Freund - keiner ahnte, daß sie einen Freund hatte nach dem Treffen einer Jugendgruppe nach Hause und raste in ein geparktes Auto.
Der Freund blieb unverletzt, aber das Mädchen lag etwa eine Woche im Koma, bis sie starb. Ich hatte sie nicht gekannt, erzählte ich Tim, doch ihr Tod berührte mich sehr. Er berührte alle meine Freunde. Wir gingen wie in Trance umher, und einige von uns weinten sogar, als hätten wir nur darauf gewartet, jemanden betrauern zu können - egal wen. Damals kam es mir seltsam vor, so leicht in Trauer um jemanden zu verfallen, den ich kaum kannte, irgendwie heuchlerisch, doch im nachhinein, so sagte ich meinem Sohn, fand ich es völlig in Ordnung. Uns fallen dann nämlich die Menschen ein, sagte ich zu meinem Sohn, die wir kennen und lieben, und uns kommt der Gedanke, was es bedeuten würde, sie plötzlich zu verlieren. In dem Moment möchten wir sie am liebsten in den Arm nehmen und drücken, um zu wissen, daß sie noch am Leben sind. »Und darum bin ich gestern nacht in deinem Zimmer gewesen«, fuhr ich fort, »weil ich an den toten Jungen auf der Straße denken mußte, und wie grauenhaft es wäre, wenn du das gewesen...« Ich verstummte. Ich hatte einen Fehler gemacht. Die zeitliche Abfolge konnte nicht stimmen. Gestern nacht war zu früh, ich hätte von dem Unfall und der Fahrerflucht unmöglich etwas wissen können. Der Ranger hatte Craig erst am Morgen gefunden. Doch da umarmte mich Tim, nahm mich lange und fest in die Arme, drückte mich und schniefte dabei wieder. Ich glaubte nicht, daß er mich bei einer Lüge ertappt hatte. Jedenfalls noch nicht. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, was auch immer in den kommenden Tagen geschähe, ich würde ihn und Julia beschützen. Unser Leben würde sich nicht ändern. Vielleicht hatten mir die Nachrichten im Fernsehen Mut gemacht. Die Jagd auf einen falschen Verdächtigen könnte mir womöglich Deckung verschaffen. Ich wollte dieses Versprechen abgeben, obwohl ich es eigentlich nicht halten konnte. Als er sich von mir löste, rieb er sich mit einem Ärmel über die Nase. »Krieg ich noch etwas Wein?« fragte er. »Hast du morgen Schule?« Er zuckte die Achseln. »Zum Abendessen«, sagte ich. Als wir ein Auto die Straße hinauffahren hörten, drehten wir uns beide zur Tür. Kurze Zeit später kam Julia herein; in jeder Hand trug sie ungefähr fünf Einkaufstüten, die sie alle auf einmal in der Waschküche fallen ließ. »Da bist du ja«, sagte ich. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht.« »Da hast du ja wohl mächtig zugeschlagen, Mom«, kommentierte Tim. Offenbar war sie auch beim Friseur gewesen und hatte sich ihre ohnehin kurze Frisur noch kürzer schneiden lassen, so daß sie jetzt ungefähr wie fünfzehn aussah. »Steht dir gut«, sagte ich. »Findest du?« fragte Julia. »Aber ja«, versicherte ich und bot ihr ein Glas Wein an, das sie ablehnte. »Hast du mir was mitgebracht?« »Nein«, antwortete sie. »Und mir?« fragte Tim. Julia durchwühlte die Tüten, bis sie eine ganz bestimmte fand, die sie Tim quer durch die Küche zuwarf. »Einfach Klasse«, sagte Tim. Er hielt eine glänzende schwarze Lederjacke in die Höhe und gab seiner Mutter einen Kuß. »Ist die auch warm genug?« fragte ich. Meine eigentliche Frage lautete: Wie teuer war die? Tim probierte die Jacke an. Schick sah er aus. »Wen interessiert das?« meinte er nur. Ich beäugte die anderen Tüten. »Sieht so aus, als stünde uns 'ne Modenschau bevor.« »Dir geht's wohl wieder besser«, stellte Julia fest.
»Ach ja?« »Jedenfalls hast du bessere Laune als bei meiner Abfahrt heute morgen«, sagte sie. »Das bewirken zwei Gläser Pinot, nehme ich an«, antwortete ich und bot ihr wieder den Wein an. »Lieber nicht«, sagte sie. Julia probierte für Tim und mich die neuerstandenen Kleidungsstücke an. Sie verschwand im Bad, und als sie wieder auftauchte, trug sie einen schokoladenbraunen Pullover mit Puffärmeln und eine enge schwarze Hose. Ihre neuen Kleider sahen genau wie die alten aus - als sie am Morgen aufbrach, hatte sie einen braunen Pullover und eine schwarze Hose angehabt - , aber ich hielt den Mund. Ich hinterfragte lediglich den Kauf eines Paars edler Wildlederstiefel. »Man munkelt, in dieser Gegend regnet es im Winter bisweilen stark«, sagte ich. »Vielleicht hab ich ja gar nicht vor, das Haus zu verlassen«, entgegnete Julia. Tim schenkte sich noch etwas Wein nach. »He«, schritt Julia ein. »Dad hat's mir erlaubt«, sagte Tim. Julia sah mich an. »Tim war nicht gut drauf«, erklärte ich. Sie sah Tim an. »Hast du etwa die Mathearbeit verhauen oder was?« Da wurde mir klar, daß sie noch gar nichts von dem Unfall gehört hatte. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie das möglich war, aber als sie sich in Hollister von einem Geschäft zum anderen treiben ließ und später im Auto von einem Musiksender zum anderen schaltete, hatte Julia offenbar keine Nachrichten gehört. »Ein Junge aus der Schule ist tot«, sagte Tim, bevor ich Gelegenheit hatte, mich durch eine behutsamere Erklärung zu quälen. »Er hatte einen Autounfall. Er ist letzte Nacht überfahren worden«, fuhr Tim fort. »Wer? Wo? Wie?« fragte Julia leise. Ich erstattete Bericht, erzählte ihr die Einzelheiten, gab die neuesten Meldungen aus dem Fernsehen weiter. Ich fütterte sie mit sämtlichen Gerüchten. »Das ist wirklich traurig. Er war so ein netter Kerl«, sagte Julia. »Wir haben höchstens mal guten Tag gesagt, aber trotzdem, nett war er.« Tim sah wieder grimmig drein. »Das nimmt dich natürlich mit«, sagte sie zu ihm. »Das ist verständlich...« »Ich hab die Sache jetzt im Griff, Mom«, behauptete Tim. »Dad und ich, wir haben uns unterhalten.« Julia sah mich an. Sie musterte mich kurz, als wüßte sie, daß dies nicht die ganze Geschichte war. Dann sah sie wieder Tim an. »Jedenfalls ist es sehr traurig.« »Ja, das stimmt«, bestätigte ich. Beim Essen behielt Tim seine Lederjacke an. Julia trug ihre neuen Schuhe. Wir aßen rasch und sprachen nicht viel. Nach dem Essen wünschte uns Tim gute Nacht - der Wein hatte ihn wohl müde gemacht - und ging nach oben. Julia folgte, und so blieb ich allein im kalten und leeren Erdgeschoß zurück. Als ich kurz darauf auch nach oben ging, hörte ich, daß Tim noch nicht schlief. Sein Computer piepte gelegentlich. Julia saß auf der Bettkante. Sie hatte immer noch ihre neuen Sachen an und hielt einen neuen Schuh in der einen Hand, während sie mit der anderen geistesabwesend über das Wildleder strich. Ich setzte mich neben sie. Ihre frisch frisierten Haare rochen nach Ananas. Jetzt oder nie. Ich mußte aufhören zu lügen. Ich mußte es ihr sagen. »Heute morgen wollte ich dir etwas erzählen«, fing ich an. »Ich weiß«, sagte sie. Meine Schultern sackten nach unten. Ich schloß die Augen. Sie wußte es also. Natürlich wußte sie es. Vor meiner ältesten Freundin ließ sich nichts geheimhalten. Hatte sie um Tims willen vorgegeben, nichts von dem Unfall zu wissen? »Aber«, fuhr Julia fort, »ich weiß wirklich nicht, ob du dich entschuldigen solltest.
Vielleicht hab ich ja überreagiert, als ich einfach so weggefahren bin.« »Nein«, sagte ich. »Das verstehe ich. Du brauchtest Abstand, um nachzudenken.« »Dabei ist eigentlich gar nichts passiert. Du konntest nicht schlafen, bist aufgestanden, hast mal bei Tim reingeschaut und bist dort eingeschlafen«, sagte sie. »Was soll daran so schlimm sein?« Ich mußte lächeln. Sie hatte keine Ahnung. »Vermutlich hat mich das wieder an die schlimme Zeit nach dem Tod deiner Mutter erinnert«, erzählte sie weiter. »Damals in San Francisco, als du angefangen hast, in deinem Arbeitszimmer zu schlafen.« Im Zuge eines lachhaften Versuchs, unsere Ehe zu retten, waren wir übereingekommen, statt als Mann und Frau als eine Art Zwei-Personen-Wohngemeinschaft zusammenzuleben. Es sollte wohl eine Trennung auf Probe innerhalb unseres Zuhauses sein, war aber in Wirklichkeit der Todesstoß für unsere Beziehung. Ab und zu schliefen wir miteinander, abgestumpft und wenig leidenschaftlich. Dann war auch damit Schluß, und bald darauf floh ich aufs Weingut. »Es wird nicht wieder vorkommen«, sagte ich. »Hör zu, wenn du nicht schlafen kannst...« »Wenn es dich traurig macht, ist es das nicht wert«, sagte ich. »Lieber liege ich wach im Bett, als dich daran zu erinnern...« Statt den Gedanken zu Ende zu führen, nahm ich sie in die Arme. Und da sagte Julia: »Jason«, und sie flüsterte es, »ich bin schwanger.« Mein Herz setzte aus. Ich rutschte zu Boden, kniete vor ihr nieder und stellte den Schuh weg, den sie festhielt. Ich nahm ihre Hände. »Sag's noch mal«, sagte ich. »Ich bin schwanger«, wiederholte sie. »Anderthalb Monate vermutlich. Höchstens zwei. Der Arzt...« »Dein Arzttermin, stimmt! Du hast mir nicht erzählt, daß du so was vermutet hast.« »Weil ich nicht wollte, daß du dich wegen nichts und wieder nichts freust«, sagte sie. Manchmal hatten wir davon gesprochen, noch ein Kind haben zu wollen, und zwar lieber früher als später, aber ohne konkrete Pläne zu schmieden. Wir legten es nicht darauf an. »Falls du dich freust«, meinte sie dann. Ich sah sie fest an. Dann legte ich ihre Hand auf mein rasendes Herz. »Das könnte bedeuten, daß du einfach nur nervös bist«, sagte sie. »Stimmt. Nervös und begeistert«, erwiderte ich. »Ich weiß nicht«, sagte Julia. »Alles bleibt wohl beim alten. Ich werde weiter an meiner Doktorarbeit schreiben. Aber, tja, damit habe ich nicht gerechnet. Nicht so schnell. Ich bin mir nicht mal sicher...« »Laß uns dieses Kind bekommen«, sagte ich. »Unbedingt. Wir wollen es haben.« Ich wollte es. Mir fiel die überwältigende Freude ein, die ich bei Tims Geburt empfunden hatte. Damals hatte ich Julia mehr geliebt als je zuvor. Meine Liebe zu ihr war völlig ungetrübt gewesen. Damals hatte ich ihr alles erzählt. Ich hatte keine Geheimnisse gehabt. »Ich mußte nach Hollister fahren«, fuhr Julia fort. »Nur weg von hier und nachdenken. Ich hätte dich aus der Arztpraxis anrufen und es dir erzählen sollen. Verzeih mir.« Sie hätte es mir schon vor Wochen erzählen sollen, als ihre Periode ausblieb, aber was das Zurückhalten von Informationen betraf, war ich wohl der letzte, der ihr Vorhaltungen machen durfte. »Ich war ziemlich durcheinander, als ich dich in Tims Zimmer fand«, sagte sie. Ich zog mich aufs Bett hoch und nahm sie wieder in die Arme. Ich strich ihr über die kurzen Haare. »Wir wollen es«, sagte ich. Jetzt gab es noch mehr zu beschützen. Jetzt stand sogar noch mehr auf dem Spiel. Julia zog sich aus und legte sich ins Bett, und ich folgte ihr, obwohl es noch früh war, und als sie einschlief, lag ich einfach da und betrachtete die dunklen Streifen der un-
verputzten Deckenbalken. Die Wahrheit zu sagen wurde immer riskanter, und ich hatte keine Ahnung, wie lange ich sie noch für mich behalten konnte. Vom nächsten Tag weiß ich nicht mehr viel, außer daß Julia und ich morgens gemeinsam den Wein kontrollierten. Der Most moussierte weniger schwungvoll als zuvor, die Temperatur stieg nicht an. Dann ging Tim zur Schule, Julia beschäftigte sich mit ihren Büchern, und ich fuhr in die Stadt. Ich nahm den Geländewagen, schließlich konnte ich ihn nicht ewig wegschließen. Im Eisenwarenladen hörte ich mir die bekannten Gerüchte an - niemand wußte etwas Neues -, bevor ich mich in der Kanzlei eine Zeitlang in der Arbeit vergrub. Alle paar Stunden rief ich im Büro des Pflichtverteidigers an. Ich holte einige kleine Erkundigungen zu dem Fall ein, den ich bearbeitete, um meine drängendere Frage zu tarnen, doch keiner sagte, der Gesuchte sei entdeckt worden. Ich dachte mir, wenn er so schlau gewesen war, sich Craig Montoyas Wagens zu entledigen, wußte er wohl auch, daß er sich besser aus dem Staub machen sollte. An diesem Abend ging die Gärung unseres zweiten Jahrgangs zu Ende. Erst sollte er sich im Tank setzen, bevor es ans Pressen ging. Tim vergrub sich in seinem Zimmer und verbrachte den größten Teil des Abends am Computer, und Julia und ich gingen früh zu Bett. Irgendwann landete ich in einem Stuhl am Fenster und sah auf meine Reben hinaus. Vom Tag danach ist mir jede Minute gegenwärtig. Es hörte auf zu regnen, ein schneidend kalter Wind wehte durchs Tal und überzog die Straßen mit einer dünnen Eisschicht. Wie Julia zog ich mich schwarz an, Tim trug seine neue Lederjacke, weil es die dunkelste Jacke war, die er besaß. Wir nahmen Julias Sportwagen. Ich fand es pervers, mit dem Geländewagen zu fahren; keiner fragte, warum ich dem weniger bequemen Auto den Vorzug gab. Auf dem Friedhof gesellten wir uns zu den anderen Leuten aus Oak Valley. Wie es hieß, hatte unser Bezirksstaatsanwalt ein paar Beziehungen spielen lassen und es gedeichselt, daß die Autopsie beschleunigt werden konnte. Diese Geste verschaffte Eric Dreyfus beim Begräbnis einen Ehrenplatz neben Craigs Eltern. Wir trafen frühzeitig am Friedhof ein, um die Gräber meiner Großeltern und Eltern zu besuchen, die - einschließlich meiner geschiedenen Eltern - nebeneinander lagen, und weil wir vor allen anderen da waren, weil wir mitansahen, wie alle anderen eintrafen, wurde ich immer gefühlloser, was den Anblick der zerfurchten Gesichter betraf, was die stoische Fassade betraf, die Will Clark aufsetzte, was Alex Marquez und Emma Hodges betraf, die, so fand ich, im gleißenden Licht eines wolkenlosen Nachmittags bleich und älter wirkte. Ich beobachtete die Lehrer, die Trainer und die vielen weinenden Schüler, und je theatralischer sich alle miteinander aufführten, desto unnahbarer wurde ich. Tim ließ Julia und mich stehen und ging zu seinen Freunden, kam aber noch vor Eintreffen der Montoyas wieder an meine Seite. Selbst als Craigs Mutter, eine rundliche, in ein schwarzes Umhängetuch gehüllte Frau, und Craigs Schwester, eine kleine, an eine russische Puppe erinnernde Version der Mutter, erschienen - gefolgt von Craigs Vater, der stolperte und schwankte und eindeutig sturzbetrunken war -, selbst in dem Augenblick, als ich dieses traurige Familienportrait mit der klaffenden Lücke, der augenfälligen Wunde, sah, war ich nicht sonderlich betroffen. Ich hätte eine Szene machen sollen. Ich hätte zu dem in Samt gehüllten Tisch mit der aschegefüllten Urne laufen und niederknien sollen. Ich hätte mich vor den schwarzbestrumpften Knöcheln der trauernden Mutter zu Boden werfen und sie um Vergebung anflehen sollen. Statt dessen beobachtete ich die Szenerie wie ein verwirrter Brandstifter, der in der Menge steht und den Feuerwehrleuten zuguckt, die sein Inferno löschen. Ehrlich gesagt beschäftigte mich viel mehr, was unser Sheriff im Schilde führte, der während des Begräbnisses ständig mit seinem Handy telefonierte. Gelegentlich zwinkerte er in Richtung Eric Dreyfus, und ich hätte zu gern gewußt, welche neuen Informationen er bekommen hatte.
In Oak Valley gab es keine Kirche, und die Montoyas hatten keine Messe und keinen Gottesdienst in der Kapelle eines Nachbarortes ausrichten lassen. Sie hatten darauf bestanden, daß sich der Priester bei seiner Predigt beeilte. Ich achtete nicht darauf, was er sagte oder welche Erklärung er dafür anbot, daß ein Sportler so jung sterben mußte. Ich begriff nicht einmal, warum wir überhaupt auf den Friedhof gekommen waren, da die Montoyas wie viele Familien, die immer wieder umgezogen und nirgendwo richtig verwurzelt waren, die Asche ihrer Verstorbenen in alle Winde verstreuten. Außerdem war der Friedhof von Oak Valley - eine am östlichen Rand der Talsohle gelegene kleine Erhebung voller unleserlicher Schilder und bescheidener Grabsteine - allein schon deshalb ein deprimierender Ort, weil einer der größeren Steinbrüche ganz in der Nähe war. Von unserem Standort aus hörten wir das leise Brummen des am Berg nagenden schweren Geräts, und wir blickten auf einen abgeholzten Abhang und rostende Rutschen, die Steinbrocken nach unten auf Geröllhalden beförderten, über denen ein feiner Talkumnebel hing. Bald öffnete der Priester die bronzene Urne und warf die erste Handvoll Asche über den Rand des Hügels, als säte er neue Samen in dem gefrorenen Unterholz. Mr. Montoya folgte seinem Beispiel, dann half er seiner Tochter mit einiger Mühe, das gleiche zu tun, bis schließlich Mrs. Montoya, deren Umhang von den Schultern nach hinten in die Trauergemeinde wehte, den gesamten Behälter nahm und abrupt die Überbleibsel ihres Sohnes dem Wind überantwortete. Die Asche hing in der Luft, glänzte im Sonnenschein kurz auf und verflüchtigte sich dann. Ich sah Tim an, der lautlos weinte, und nahm seinen Arm. Auch Julia weinte. Ich schaute wieder zu den Montoyas hinüber, und dabei fiel mir auf, daß Harry Padillo verschwunden war. Ich hatte ihn nicht gehen sehen. Tim suchte das Weite, rannte weg von der Menge und durch das Gräberfeld zum Auto, gefolgt von Julia. Als ich sie einholte, hielten sie einander umarmt. Ich legte die Hand auf Tims Schulter, doch er schüttelte sie ab. Von mir wollte er sich offenbar nicht trösten lassen. Wir fuhren schweigend nach Hause. Der Wind legte sich, an diesem Abend blieb es recht kalt, und ich bildete mir ein, in einiger Entfernung eine Sirene zu hören. Die abendliche Stille setzte mir zu. Ich schlich mich ins Arbeitszimmer und rief meine Bekannte von der Rechtshilfe unter ihrer Privatnummer an. »Hast du's gehört?« fragte sie. »Nein«, antwortete ich. »Was?« Im Hintergrund hörte man Stimmen und Gläserklirren. »Was?« wiederholte ich. »Sie haben ihn oben im Del Norte County geschnappt. Er war noch nicht nach Oregon entwischt.« »Sehr weit ist er nicht gekommen«, stellte ich fest. »Meinem Eindruck nach ist er nicht besonders schlau. Er hat ein zweites Auto geklaut, und da er noch in Kalifornien gefaßt wurde, wird er wahrscheinlich schon morgen nach Hollister überfuhrt.« Ich wollte wissen, wo genau man ihn aufgegriffen hatte. »In einem Supermarkt«, sagte meine Bekannte. »Beim Stehlen von Lebensmitteln. Und weißt du was, ich hab da was Komisches gehört. Na ja, für ihn ist es weniger komisch. Offenbar war im Auto des toten Jungen kein Benzin mehr. Wahrscheinlich hat er es deshalb stehenlassen, nicht weil er glaubte, verfolgt zu werden. Hör zu, ich hab Gäste«, sagte sie dann, »aber ist bei dir alles klar? Stimmt irgendwas nicht mit Julia oder...« »Nein, nein«, unterbrach ich. »Alles in Ordnung.« Später schlief ich ungewöhnlich leicht ein, doch der Schlaf war nicht von Dauer, denn um zwei Uhr morgens wurde ich plötzlich mit einem Ruck wach. Über die letzten Ereignisse hatte ich noch nicht gründlich nachgedacht, und mir kam nun der Gedanke, daß zwar ein Verdächtiger in Haft sein mochte, den man wegen meines Verbrechens
verhören würde, ein Verdächtiger, den man eventuell anklagen und vor Gericht bringen würde, daß ich aber keine Ahnung hatte, was dieser Mann eigentlich sagen würde. Gab es irgendwelche stichhaltigen Beweise gegen ihn, wenn man davon absah, daß er zufällig und dem Vernehmen nach Craig Montoyas Wagen gefahren hatte? Und wenn er ein Alibi hatte? Wenn er beweisen konnte, daß er zum Zeitpunkt von Craigs Tod gar nicht im Wald gewesen war? Oder wenn er zwar im Wald gewesen war, aber den Unfall gesehen hatte? Was wäre - und bei der Vorstellung stand ich auf und begab mich nach unten, wo ich auf und ab gehen konnte, ohne Julia zu wecken -, wenn er Zeuge des wirklichen Ereignisses geworden war? Ich hatte keinen Grund anzunehmen, daß der Festgenommene, der Ladendieb, der Autodieb, nicht seine Unschuld beteuern würde, wenigstens was den Unfall mit Fahrerflucht betraf, oder wozu man das sonst aufbauschen mochte. Und vielleicht würde er am Ende der Polizei helfen. Vielleicht würde er zum Kronzeugen der Anklage aufgebaut werden. Es war zwar ein schrecklicher Gedanke, aber für mich wäre es besser gewesen, wenn man den Mann tot aufgefunden hätte, Selbstmord, oder wenn man ihn bei seiner Festnahme erschossen hätte. Dann hätte man die Akte wahrscheinlich geschlossen, und der Mann wäre nie dazu gekommen, eine Aussage zu machen. Ich hatte nicht weit genug vorausgesagt, nicht annähernd weit genug, denn sobald die Unschuld dieses Verdächtigen feststand, würde ein Suchtrupp ausrücken, der um jeden Preis für Gerechtigkeit sorgen und den wahren Täter aufspüren wollte. Ich war ein Narr gewesen, so lange zu warten, bis ich mich stellte. Indem ich mein Geständnis hinauszögerte, machte ich es mir nur schwerer, und jetzt mußte ich mir auch noch Sorgen machen, was dieser Mann im Gefängnis wohl sagen würde. Was wohl? Im Morgengrauen gingen Julia und ich in den Weinkeller. Tim stand früher als sonst auf, um uns zu helfen. Wir öffneten den Absperrhahn unten am Gärbehälter, und der Wein floß zuerst zaghaft, dann mit kräftigem Druck durch ein Filtersieb in einen Schlauch, der in den nächsten Tank eine Ebene tiefer führte. Ich stand auf einer an den unteren Behälter gelehnten Leiter und achtete darauf, daß nichts danebenging und daß es nicht zu stark spritzte, besonders als der untere Tank immer voller wurde. Als ich den Schlauch in den Händen hielt, spürte ich den Traubensaft durch die Röhre rauschen, und dieses Rauschen war so laut, oder vielleicht war der bloße Anblick der gewaltigen Flut so fesselnd, jedenfalls hörte ich Tim nicht schreien, und ich bemerkte auch nicht, daß ich versehentlich zu stark an dem Schlauch gezogen hatte, so daß er sich oben vom Filter des Gärbottichs gelöst hatte und der Wein danebenhieb. Erst als meine Hand klebrig wurde und Tim über die Treppe nach unten in den Raum mit dem Zwischentank gerannt kam, merkte ich, was ich angerichtet hatte, und drückte den Schlauch wieder an seinen Platz. Eine halbe Stunde lang und länger mußte ich den Schlauch festhalten, bis mir das Kreuz weh tat. Als ich schließlich noch den Gärbottich gesäubert hatte, war ich völlig erschöpft und übel gelaunt. »Du hast wohl wieder nicht gut schlafen können«, stellte Julia fest. »Ich hab ausgezeichnet geschlafen, danke«, fuhr ich sie an. Sie zog die Augenbrauen hoch, als wollte sie sagen: Entschuldige die Frage. »Ich bin mit meinen Gedanken oft woanders«, sagte ich und bat um Verzeihung, daß ich so aufbrausend gewesen war. Tim und Julia wechselten sich beim Pressen des Tresters ab, drückten den Saft aus den Stielen - weil wir nur eine Presse hatten, mußte diese Tätigkeit in ein Dutzend Arbeitsgänge aufgeteilt werden. »Wo?« fragte Julia. »Wo was?« fragte ich zurück. Sie gab mir noch eine Chance, eine Gelegenheit. »Das hat mit einem Fall zu tun, an dem ich arbeite«, antwortete ich. »Daran mußte ich gerade denken.« »Der macht dir Sorgen«, sagte Julia.
Ich nickte. »Vertrittst du jemanden, von dem du weißt, daß er schuldig ist?« fragte Tim. Ich starrte meinen Sohn an. Irgendwie war es mir vor diesem Samstag morgen nicht aufgefallen, aber er war nicht so dürr wie früher, immer noch schlaksig, aber nicht mehr so mager. Um die Schultern herum hatte er ein wenig zugelegt, doch zugleich hatte sein Gesicht, seine Kinnpartie etwas dezent Eckiges bekommen, das eindeutig von seiner Mutter stammte. »So was in der Art«, sagte ich. »Und dieser Typ kommt frei«, stellte Tim fest. »So simpel ist das nicht«, wandte ich ein. »Die Situation ist komplizierter. Der Mann hat einen Fehler gemacht, aber... Na ja, was er gemacht hat - oder was er hätte tun sollen...« Tim schaufelte den ausgepreßten Trester in einen Mülleimer. Er stützte sich auf die Schaufel und sah mich an. Sag's ihm, dachte ich, nun sag s den beiden endlich. »Kann schon sein, daß er freikommt«, sagte ich. »Wenn er Glück hat.« Wir ließen den Wein ein paar Stunden im Zwischentank setzen und gönnten uns eine lange Mittagspause. Ich huschte ins Arbeitszimmer, um ein paar Anrufe zu tätigen und so viele Gerüchte wie möglich aufzuschnappen, doch im Büro des Pflichtverteidigers konnte mir keiner etwas Neues sagen. Dann rief ich Will Clark an, ausgerechnet den, doch er wußte auch nichts Neues, hatte aber gehört, der Verdächtige sei nach Hollister überführt worden. Am selben Nachmittag mischten wir eine Bakterienkultur in den im Zwischentank lagernden Wein. Dann füllten wir ihn in Fässer um. Tim half mir, sämtliche Fässer eine Treppe tiefer in den Weinkeller zu schleppen, wo wir sie getrennt von unserem ersten Jahrgang lagerten. In diesem Raum roch es weniger furchig als in den weiter oben gelegenen Räumen; hier ließ sich das Aroma eher als eine Mischung aus frisch umgegrabener Erde, Pilzen und einer Spur Vanille beschreiben. Als wir mit unserer Arbeit fertig waren, standen Tim, Julia und ich einfach da und betrachteten die Wand aus Eichenfässern, und dann gaben wir uns die Hände und umarmten einander. Ich wußte, daß ich in diesem Augenblick eigentlich nichts als Stolz empfinden müßte, schließlich war ein zweiter Jahrgang in den Fässern, ich hatte mit meiner Familie Wein gekeltert, doch statt dessen packte mich unterschwellige Angst. Draußen hatte am späten Nachmittag der Wind wieder aufgefrischt, die Luft war schwer und grün von einem neuen Unwetter, das vom Meer landeinwärts wehte. Wir aßen Reste. Nach dem Abendessen warf ich mich auf das Sofa vor dem Kamin, war aber zu erledigt, um Feuer zu machen. Tim sah ein wenig fern und ging dann hinauf in sein Zimmer. Julia sagte, sie sei völlig verspannt und wolle ein Bad nehmen. Sie fragte, ob ich mich später zu ihr gesellen wollte, was ich versprach. Sobald ich unten allein war, ging ich ins Arbeitszimmer, um noch ein paar Telefonate zu erledigen. Ich wollte wissen, was bei der Polizei in Hollister herausgekommen war, und dachte, meine Bekannte könnte mir berichten, ob der Verdächtige einen Pflichtverteidiger beantragt hatte. Doch als ich den Hörer abnahm, hörte ich nur ein Rauschen und Piepen, und dann brüllte mein Sohn von oben, weil er online gegangen war - wir hatten nur den einen Anschluß -, und ich die elektronische Nachricht unterbrochen hatte, die er gerade abschickte oder empfing. Ich ging mein Haus der Länge nach ab, vom Kamin zurück ins Arbeitszimmer. Hin und her. Irgendwann stellte ich mir vor, wie die Leute aus dem Ort gerüchteweise gehört hatten, von wem der Fußballstar wirklich überfahren worden war, und sich unten am Hügel mit Fackeln in den Händen versammelten und den langen Marsch zu meiner Haustür antraten, um auf der Stelle Gerechtigkeit zu verlangen. Eine halbe Stunde verging. Eine Stunde. Schließlich hielt ich es nicht länger aus. Ich konnte nicht mehr warten. Zuerst sah ich nach, was Tim machte. Ich dachte, er wäre vielleicht ins Bett gegan-
gen, weil durch den Spalt unter der Zimmertür kein Lichtschein mehr in den Flur fiel, doch dann hörte ich ihn auf seinem Computer tippen. Ich öffnete die Tür. Der blaugraue Monitor schien in dem dunklen Raum zu schweben, der nur spärlich von ein paar Teelichtern auf dem Fensterbrett beleuchtet wurde. »Was ist los, schickst du dem Teufel Emails?« fragte ich. »Kann ich dir irgendwie helfen?« entgegnete Tim. Der Computer piepte, und Tim schaute kurz auf den Bildschirm und tippte ein paar Wörter auf seiner Tastatur. »Nein, nein, es ist nur...« Ich kratzte mich an der Stirn. Tim sah mich nicht an. Der Computer piepte wieder, und Tim lächelte über das, was da auf dem Schirm zu sehen sein mochte. Diesmal blieb ich zwischen Tür und Angel stehen. »Dad?« sagte Tim fragend. »Ich liebe dich«, sagte ich und machte seine Zimmertür zu. Dann schlenderte ich in mein Schlafzimmer und weiter ins mit Dampf gefüllte Bad. Julia lag unter einer Decke aus Schaum in der Wanne. »Wird aber auch Zeit«, sagte sie. »Ich wollte dich gerade abschreiben.« Auch sie hatte Kerzen angezündet, überall auf dem Wannenrand. »Du wirst es nicht glauben«, sagte ich. »Die Rechtshilfe hat gerade angerufen.« »Ich hab das Telefon gar nicht klingeln hören«, sagte sie. »Weil ich nach dem ersten Klingeln den Hörer abgenommen habe«, konterte ich. »Aha. Und?« »Ich muß nach Hollister.« »Jetzt?« fragte Julia vorwurfsvoll und bespritzte mich mit Schaum. »Es geht um diesen Kerl, den ich vertrete. Den Rauschgiftfall...« »Was ist los?« »Er wurde wieder festgenommen«, sagte ich. »Diesmal beim Dealen.« Julia schwieg. Sie sank tiefer in die Wanne, und wie ein Berg durchbrach ein Knie die Schaumblasen. »Er ist völlig high, und ich muß einfach aufpassen, daß er der Polizei kein dummes Zeug erzählt oder irgendwas unternimmt, womit er sich in noch größere Schwierigkeiten bringt.« Da diese Lüge selbst in meinen Ohren etwas dürftig klang, bezweifelte ich, daß Julia sie mir abnahm. Der Wind rüttelte an dem Fenster hinter der Wanne. Die Scheibe war regennaß. »Natürlich werden sie heute keine Anklage gegen ihn mehr erheben«, sagte ich. »Dazu ist es zu spät, aber ich sollte...« »Na schön«, sagte Julia. »Mach, daß du wegkommst.« »Tut mir leid«, sagte ich. »Am liebsten würde ich jetzt zu dir in die Wanne steigen. Ehrlich.« »Nun verschwinde schon«, sagte sie und bespritzte mich wieder. Dadurch löschte sie zwei Kerzen. »Ich liebe dich«, sagte ich und machte mich auf den Weg nach draußen in den Regen. Die Bergstraße hieß Oak Leaf Highway, weil sie die Form eines riesigen gezackten Blattes beschrieb. Sie schmiegte sich an den Rand des Tals und führte immer wieder durch Schluchten und über die Hügel des Vorgebirges. Aber das nahm im Grunde nur wahr, wer sich die gesamte Strecke auf einer Straßenkarte ansah. Unter bestimmten Bedingungen - an klaren Herbsttagen etwa, wenn das Tal bei Sonnenuntergang in besonders sanftes Licht getaucht war - konnte man das Eichenblatt auch erkennen. Dazu mußte man am Rand eines namenlosen hohen Felsens im Norden stehen, einem moosbewachsenen pfeilformigen Felsvorsprung, der aus dem Wald ragte. Nur Einheimische wußten, wo man im Wald den Wagen abstellte und auf welchem Weg man zwischen den Kiefern zu dem Felsen kam. Und weil die Felswand so steil und tief abfiel, weil der Granit bei Nässe so gefährlich glatt war, sprach nie jemand über dieses Naturdenkmal, als befürchteten die Leute aus dem Tal, ihre Kinder
könnten mit dem Rad zu dem Abgrund fahren, bis eins von ihnen irgendwann einen Unfall hatte... oder daß junge Liebespärchen in einen viel zu frühen Tod stürzten, wenn sie sich zum Schmusen auf dem abgelegenen Felsen trafen. Nachdem ich auf das Weingut gezogen war, hatte ich den Felsen gelegentlich aufgesucht, und immer, wenn ich von der Straße aus durch die hohen Bäume wanderte, überkam mich eine gewisse Todessehnsucht. Doch ich hatte noch nie davon gehört, daß jemand tatsächlich von dem Felsvorsprung aus in den Tod gesprungen wäre. Sobald ich zu dem Aussichtspunkt kam, die Augen zusammenkniff und mir einredete, daß ich wirklich den Umriß eines Blattes erkennen konnte, wollte ich nicht mehr springen. Das Tal verzauberte mich. Wie die untergehende Sonne die Hügel in schlafende Bären verwandelte, wie man zur Rechten den blauen Horizont des Pazifiks und zur Linken die silbernen Zacken der Diablo Range sah und sich einbilden konnte, den höchsten Gipfel der Welt erklommen zu haben, die prickelnde Luft in dieser Höhe, wo es nach Minze und Tannenbäumen roch... all das half mir in jener Zeit über meine Einsamkeit hinweg. Dann eilte ich durch die Bäume zurück zu meinem Wagen und fuhr nach Hause. Erst auf der nächtlichen Fahrt nach Hollister fiel mir ein, daß mein Unfall im Wald gar nicht weit von der Ausweichstelle entfernt passiert war, wo ich damals immer mein Auto abgestellt hatte, vielleicht einen knappen halben Kilometer weiter. Erst mußte ich an der Unfallstelle vorbeifahren, und obwohl ich mich auf diesen Moment eingestellt hatte, schlug mir das Herz bis zum Hals, als ich zu der Geraden kam, und ich ertappte mich dabei, wie ich den Fuß vom Gas nahm, damit ich diesmal rechtzeitig bremste; damit ich dem Jungen ausweichen konnte und nicht ins Schleudern kam. Es war ein Fehler gewesen, den Geländewagen zu nehmen; alles erinnerte mich schmerzlich an jenen verhängnisvollen Abend. Dann sah ich, was von der Birke übriggeblieben war, der spitze Stumpf des Baumstamms, und ich bemerkte einige lose baumelnde Reste des grellen Polizeiabsperrbandes, die sich um die Kiefern schlangen und wieder lösten. Es hatte den Anschein, als ob die Bäume zu beiden Seiten der Straße sich leicht neigten, sich in meine Richtung beugten, langsam auf mich niederfielen, wenn nicht, um mich zu zerquetschen, so um mich einzufangen. Ich schloß die Augen und beschleunigte. Es grenzte an ein Wunder, daß ich mit geschlossenen Augen nicht noch einen Unfall baute, zumal es inzwischen stärker regnete und meine Reifen rutschten, als ich schneller fuhr. Als ich die Augen wieder öffnete, merkte ich, wo ich war: Ich war auf dem Weg hinauf zu dem hohen Felsen. Als ich die Ausweichstelle erreicht hatte, hielt ich an. Ich wollte zu dem Felsen laufen, obwohl ich wußte, daß ich bei dem Regen kaum etwas sehen würde. Mir fiel der heiße Sommertag ein, an dem mich mein Vater zu dem Aussichtspunkt mitgenommen hatte; ich war sechs - meine Eltern hatten sich gerade erst getrennt -, und ich weiß noch, wie er sich am Rand des Vorsprungs hinter mich gehockt hatte, die rechte Hand um meinen Bauch geschlungen, damit ich nicht auf dem Moos ausrutschte, seine andere Hand formte aus den Fingern meiner Hand eine Pistole. Mein Vater malte mit meinem Zeigefinger die bewaldeten Umrisse des Tals nach, und auch wenn ich das »Blatt« nicht sah, machte ich meinem Vater weis, ich sähe es, weil mir gefiel, wie er meine Hand in die seine nahm. Ich bat ihn, es mir noch mal zu zeigen, was er auch tat, immer um das Tal herum. Lange Zeit blieb ich reglos in meinem Wagen sitzen und hörte nur meinen Atem. Und dann weinte ich, zum erstenmal seit dem Unfall. Keine Ahnung, ob ich Mitleid mit mir selbst oder mit meiner Familie hatte. Oder ob ich mir vorstellte, wie ich mich eines Tages meinem ungeborenen Sohn offenbaren würde - für mich stand mittlerweile fest, daß Julia einen Jungen in sich trug. Oder ob mich endlich das Mitleid mit der Familie des Toten und mit dem Jungen selbst einholte, dessen hoffnungsvolles Leben ich so jäh beendet hatte. Warum auch immer, ich weinte und weinte, bis ich mich schließlich wieder etwas faßte und den Motor anließ. Ich wußte, was ich zu tun hatte - das hatte ich immer gewußt - , und jetzt war es soweit. Ich wollte nicht daran den-
ken, welche Konsequenzen meine verspätete Ehrlichkeit für mich haben würde, sondern konzentrierte mich statt dessen auf die nasse Straße in Richtung Norden. Als ich die Polizeiwache in Hollister betrat, stand ein Hilfssheriff hinter der runden Absperrung. Hinter ihm befand sich ein dunkles Fenster aus getöntem Glas, durch das man ab und zu die Lichter des Kontrollpults in der Funkleitzentrale flackern sah. Er begrüßte mich mit Namen, was, so nahm ich an, daher rührte, daß er mich erwartet hatte. »Das ist vielleicht eine Nacht«, sagte er, »stimmt's?« Ich wollte es für alle einfacher machen, daher nahm ich meine Armbanduhr ab und legte sie auf den Tresen. »Bei diesem Regen...« Der Hilfssheriff sah erst die Uhr an und dann mir ins Gesicht. Ich griff in meine Hosentasche, holte das Portemonnaie hervor und legte es neben die Uhr. Der Hilfssheriff rieb sich die Nase. Er trug einen riesigen Collegering. »Na los«, sagte ich. »Sagen Sie ihnen, daß ich hier bin.« Der Hilfssheriff lächelte höflich und redete in eine Gegensprechanlage. Gerade wollte ich meinen Gürtel abnehmen und mir die Schnürsenkel von den Schuhen ziehen, als Eric Dreyfus persönlich aus der Tür hinter dem Schreibtisch auf mich zustürmte. »Jason?« Eric Dreyfus gab mir die Hand. »Was für eine Überraschung.« »Tja, ich bin...« Meine Kehle war staubtrocken. »Aber es ist garantiert ein Irrtum«, sagte er. »Tja, stimmt, ein Irrtum«, murmelte ich. »Wir haben keinen Anwalt angefordert«, sagte er. »Was haben Sie nicht?« »Alle fünf Minuten haben wir ihn gefragt. Ich hab das Verhör selbst durchgeführt. Ich wollte kein Risiko eingehen. Er hat darauf bestanden - keinen Anwalt.« »Wenn Sie >er< sagen«, warf ich ein, »dann meinen Sie damit...« »Hat die Rechtshilfe Sie aus dem Schlaf gerissen?« Der Hilfssheriff hinter dem Schreibtisch sah erst mich und dann den Staatsanwalt an. »Denn Tatsache ist«, fuhr Eric Dreyfus fort, »wir haben die Aussage des Burschen auf Video.« Er grinste so breit, daß ich die Kaffeeflecken auf seinen Backenzähnen sehen konnte. »Seine Aussage?« fragte ich, »soll das heißen...« »Er hat gesungen.« »Er hat gesungen?« Ich lächelte auch. »Er hat gestanden.« »Was genau gestanden?« fragte ich. »Daß er den jungen Montoya umgebracht hat, unter anderem. Es hat zwar den ganzen Tag gedauert, aber dann war er soweit und ist auf unser Angebot eingegangen. Tut mir leid, daß man Sie geweckt hat, aber wir brauchen heute nacht niemanden von der Rechtshilfe.« Ich steckte mein Portemonnaie wieder ein. »Das macht nichts.« »Aber halt. Wenn Sie schon mal hier sind«, sagte Eric Dreyfus, »können Sie ruhig mal nachsehen, ob alles koscher ist. Sie verstehen?« Er zwinkerte mir zu. Ich zog meine Uhr um und zwinkerte zurück. Von den Fenstern in Harry Padillos Büro aus sah man den leeren Mannschaftsraum, ein Sammelsurium aus Schreibtischen und Aktenschränken. Der Sheriff hatte mich mit einem freundlichen Klaps auf den Rücken begrüßt und zu einem Stuhl geführt. Er nahm an seinem Schreibtisch Platz und hinter ihm, neben einem schmalen Fenster, hingen Landkarten von San Benito County. Jede Karte war auf einem Brett befestigt und von diversen verschiedenfarbigen Stecknadeln durchbohrt. Mir fiel sofort eine Nadel auf, die rechts steckte, in der südlichen Hälfte des Bezirks, eine rote Nadel am Rand von Oak Valley.
»Hoffentlich haben Sie nicht schon geschlafen«, sagte Harry Padillo. Mit seinem buschigen Schnurrbart sah er beim Sprechen ein wenig wie eine Marionette aus, da sich sein Mund kaum bewegte. »Okay«, sagte er und sprach leiser, »Sie sollten wissen, daß wir den Kerl nicht unter Druck gesetzt haben. Wir haben nur vernünftig mit ihm geredet. Und er hat zugehört.« Eric Dreyfus reichte mir eine Aktenmappe. Ich erfuhr den Namen des Beschuldigten. Er hieß Troy Frantz. Die Mappe enthielt die von ihm unterschriebenen Erklärungen. Er verzichtete auf eine Gerichtsverhandlung und bekannte sich schuldig. Ich betrachtete eine Fotokopie seines abgelaufenen Führerscheins - er war Mitte dreißig, mein Alter - sowie eine Kopie seines Haftbefehls. Ich las, was man ihm vorwarf. Es ging um das Carjacking und den Tod Craig Montoyas - beides keine Überraschung -, aber außerdem wurde ihm noch ein zweites Carjacking in Nordkalifornien zur Last gelegt. Und bei seiner Festnahme hatte er betrunken am Steuer gesessen. »Was ist beim zweiten Carjacking passiert?« fragte ich. Eric Dreyfus und Harry Padillo sahen einander an. »Der Typ hat gestanden«, sagte Harry Padillo. »Sie können sich das Video ansehen.« Eric Dreyfus unterbrach ihn. »Das weiß er. Jason, Sie sollen uns eigentlich nur bestätigen, daß diese Sache sauber abgelaufen ist, dann können wir alle heimgehen. Es ist immer besser, wenn man einem Richter sagen kann, obwohl der Angeklagte auf einen Anwalt verzichtet hat...« »Ich bin nicht der Anwalt dieses Mannes.« »Sie sind nur ein Aufpasser der Rechtshilfe, der darauf achten soll, daß hier alles mit rechten Dingen zugeht«, sagte Eric Dreyfus. »Beim zweiten Carjacking hat Troy Frantz übrigens auf dem Parkplatz eines Supermarkts in Mendocino einen Minivan geklaut. Als er losfuhr, hatte er noch ein Baby im Kindersitz, dessen Mutter lief hinter ihm her, und er kann von Glück reden, daß er der Frau ihr Kleines zurückgegeben hat, bevor er seine Reise nach Norden fortsetzte.« Er hatte also ein Verbrechen begangen, ein Verbrechen, mit dem ich nichts zu tun hatte. »Keine Waffen?« fragte ich. »Keine Waffen. Aber den jungen Montoya hat er getötet«, sagte Eric Dreyfus. »Er hat das Auto des Jungen gestohlen und ihn damit überfahren.« »Und das hat er auch gestanden?« bohrte ich weiter. »Daß er Craig überfahren hat? Sagte er, es sei ein Unfall gewesen?« »Selbst wenn es so wäre, ist das unwichtig, wie Sie wissen«, sagte der Staatsanwalt. »Das Carjacking kommt erschwerend hinzu. Außerdem sind wir der Meinung, daß Troy außergewöhnlich kaltblütig vorging. Wir glauben...« »Wie steht's mit Beweisen? Haben Sie welche?« fragte ich. Harry Padillo beugte sich auf seinem Drehstuhl vor. »Sie können sich das Video ansehen.« »Ist schon in Ordnung, Harry«, sagte Eric Dreyfus. Und zu mir: »Ich geb Ihnen eine Zusammenfassung. Eine kurze.« An diesem Punkt wußte ich, daß ich eine Grenze überschritten hatte. Faktisch war ich vielleicht noch nicht Troy Frantz’ Anwalt, doch ich benahm mich so. Und als sein Defacto-Anwalt verstieß ich bei meinem - vorsichtig formuliert - Interessenkonflikt gegen Standesregeln, was mich meine Zulassung als Anwalt kosten konnte. Mir war das egal. Ich mußte wissen, ob das Geständnis dieses Mannes wasserdicht war. »Craig Montoyas Wagen wies größere Beulen auf, die zu dem Unfall auf dem Oak Leaf Highway passen. Troy fuhr eindeutig Craigs Wagen. Wir haben Fingerabdrücke, wir haben Fasern. Die Ergebnisse der Gerichtsmedizin kriegen wir bald«, sagte Eric Dreyfus. »Wenn Sie Troys Fingerabdrücke haben, können Sie damit noch lange nicht beweisen, daß er Craig überfahren hat«, sagte ich.
»Am vorderen rechten Stoßdämpfer von Craigs Kombi haben wir Blutspuren gefunden«, sagte Harry Padillo. Blut an Craigs Wagen? »Die Ergebnisse der Gerichtsmedizin kriegen wir bald«, sagte Eric Dreyfus. »Des weiteren haben wir Erde von seinen Schuhen - er hat sich im Wald aufgehalten -, Kiefernnadeln von seiner Kleidung...« »Aber haben Sie wirklich genug Beweise?« fragte ich. »Für den Autodiebstahl reicht es vielleicht. Einverstanden, aber für das Carjacking...« »Vergessen Sie nicht die Frau auf dem Parkplatz in Mendocino«, warf Eric Dreyfus ein. »Das gleiche Verhaltensmuster. Doch zurück zu Craig Montoya. Das war noch nicht alles. Troy Frantz hat sich wirklich wie ein Anfänger verhalten. Anstatt die Leiche des Jungen irgendwo verschwinden zu lassen, hat er sie nur von der Straße gezerrt. Auch den Rucksack des Jungen haben wir gefunden. Und was noch? Einige Haare an der Leiche stammen mit Sicherheit von Troy.« Nein, die sind von mir. Harry Padillo sagte zum Staatsanwalt: »Erzählen Sie ihm von dem Erbrochenen.« Eric Dreyfus verzog die Nase. »Jemand hat sich im Wald übergeben. Widerliches Zeug, aber jede Menge DNS. Falls es von Troy stammt - Volltreffer. Falls es von Craig ist, läßt das auf Folter oder was in der Art schließen.« Mir lief ein einzelner kalter Schweißtropfen den Rücken herunter. »Vergessen Sie nicht die Schuhabdrücke im Matsch«, sagte der Sheriff. Meine Schuhabdrücke. »Und die Bremsspuren.« Von meinem Wagen. »Sogar noch besser. Troy hat ein Kleidungsstück fallen lassen«, sagte Eric Dreyfus. »Nicht sehr clever. Die Montoyas sagen, daß es nicht Craig gehört hat.« Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. »Was hat er fallen lassen?« »Einen Schal«, antwortete Harry Padillo. Mein grauer Kaschmirschal mit den schwarzen Quasten. Ich sah ihn vor mir, wie ich ihn zurückgelassen hatte, das improvisierte Kissen, das ich unter den Kopf des Jungen gelegt hatte. Ich wollte etwas sagen, bekam aber kein Wort heraus. Sie hatten mich. Alle Beweise, die sie brauchten, um ihre Videokamera auf mich zu richten. Wenn sie's nur wüßten... sie hatten mich. Egal welche moralische Kraft ich zuvor im Wald aufgeboten hatte, sie löste sich rasch in Luft auf. »Wenn ich vor Gericht gegangen wäre«, sagte Eric Dreyfus, »hätte ich die Giftspritze gefordert. Troy Frantz ist nicht dumm. Er sah ein, daß die Absprache gut für ihn war.« Sobald das Beweismaterial untersucht worden war, würde nur ein Teil der Indizien auf diesen Troy Frantz hinweisen. Einige Analysen würden ergeben, daß noch ein dritter Mann am Ort des Verbrechens gewesen war, und ich fragte mich, wie lange der Sheriff und seine Mitarbeiter brauchen würden, um mich mit dem Schal in Verbindung zu bringen. Es sei denn, man ging nicht besonders gründlich vor. Es sei denn, daß nach Troy Frantz' Geständnis auf Video keiner mehr wissen wollte, was die Gerichtsmedizin noch zu erzählen hatte. Ich mußte darauf hoffen, daß der Bezirksstaatsanwalt ein größeres Interesse daran hatte, seinen Wählern die schnelle Aufklärung eines schrecklichen Verbrechens zu präsentieren, als Gerechtigkeit walten zu lassen. Und das war mein Wagnis, mein Risiko: Laß Troy Frantz ins Gefängnis gehen und bete, daß später keiner Fragen stellt. Und erfahrungsgemäß lief es genauso ab, wenn man einen Fall schnell abschließen wollte und unbedingt ein Geständnis brauchte. Niemand machte sich später die Mühe, noch einmal die Logik, die Stimmigkeit, den ordnungsgemäßen Verlauf eines Verfahrens zu überprüfen; wenn jemand bereit war, die Schuld auf sich zu nehmen, war allen alles andere egal. »Die Trunkenheit am Steuer lassen wir großzügig unter den Tisch fallen«, sagte der
Staatsanwalt. Ich sah mir die Absprache an. Fünf Jahre für das Carjacking in Nordkalifornien sowie zehn Jahre wegen Totschlags im Fall Craig Montoya. »Fünfzehn Jahre«, sagte Eric Dreyfus. »Das ist viel zu gnädig. Aber ich bin schließlich ein gnädiger Mensch.« Daß die Strafen für beide Verbrechen gleichzeitig und nicht nacheinander abgesessen werden sollten, überraschte mich, und das sagte ich auch. Eric Dreyfus fummelte wieder an seiner Krawatte herum. »Darauf hat er bestanden. Sonst hätte er sich nicht auf diese Vereinbarung eingelassen.« Fünfzehn Jahre Gefängnis, das war die Strafe; nachdem zwei Drittel der Zeit abgesessen waren, bestand die Möglichkeit, daß er unter bestimmten Auflagen freikam. Und ich dachte mir, wenn dieser Troy Frantz wirklich ein Auto mit einem Kind darin gestohlen hatte, verdiente er vielleicht sogar, ein wenig im Gefängnis zu sitzen. Und vermutlich hatte er auch Craigs Wagen genommen. Das fand ich einleuchtender als alles andere, was ich an diesem Abend gehört hatte. Das würde erklären, warum Craig Montoya auf der Bergstraße herumgeirrt war. »Herr Anwalt?« sagte Eric Dreyfus. »Ein Richter würde doch diese Absprache akzeptieren, stimmt's?« Etwas machte mir Sorgen. Wenn der Staatsanwalt so viel Beweismaterial gegen den Beklagten gesammelt hatte, warum wartete er dann nicht die Ergebnisse der Gerichtsmedizin ab und ließ es auf einen Prozeß ankommen? Würde ihn das nicht bei der Wählerschaft noch beliebter machen? Ich verstand zwar, warum Troy Frantz auf eine Absprache aus war, aber warum sollte sich Eric Dreyfus darauf einlassen? Für mich stand fest, daß der Staatsanwalt seiner Sache keineswegs so sicher war, wie er vorgab; er konnte zwar den Autodiebstahl beweisen, aber nicht unbedingt das Carjacking, und ohne das konnte er nicht auf Totschlag plädieren. Das Gerede von der Todesstrafe war reine Angstmache. Unter Umständen hätte er eine fahrlässige Tötung herausholen können. Aber er hatte Glück gehabt. Troy Frantz war bereit zu gestehen, und sein Schuldbekenntnis sicherte dem Staatsanwalt einen größeren Sieg, als er ihn vielleicht ohne ein Geständnis hätte erlangen können. Ich hätte verhindern müssen, daß der Falsche ins Gefängnis kam. Ich hätte die Wahrheit sagen müssen, doch auf einmal bot man mir einen Ausweg. Wenn Troy Frantz nun schon für ein oder zwei Verbrechen zahlen würde, warum nicht auch noch für meins? Eric Dreyfus schob eine Kassette in einen Recorder, der in der Ecke des Büros auf einem Videowagen stand. Auf dem kleinen Fernsehschirm tauchte Troy Frantz' Gesicht auf. Wieder keine sehr schmeichelhafte Pose, Troy sah ganz ähnlich aus wie auf dem Bild, das die Überwachungskamera gemacht hatte, nur hatte er diesmal keine Brille auf und saß an einem Tisch, die gefalteten Hände vor sich. »Mir tut das alles wirklich leid«, sagte er. Er hörte sich an, als bedauere er alles sehr. Seine Stimme war tiefer, als ich erwartet hatte. Er sprach zwar langsam, machte aber keine Pausen. Er sagte, er habe getrunken. Er habe einen Monat lang pausenlos getrunken, länger noch. Er sagte, sein Leben sei völlig verkorkst, nannte aber keinen Grund. Er sagte, er sei durchgedreht. Er habe Craigs Wagen gestohlen. Als sich Craig ihm in den Weg gestellt hätte, habe Troy ihn überfahren. Er gestand diese freie Erfindung ein. Er habe versucht, die Leiche zu verstecken, und sei dann weggerast, das Auto habe er erst stehenlassen, als das Benzin ausgegangen war. Ein paarmal sei er per Anhalter weitergekommen. Dann habe er den zweiten Wagen gestohlen. Zuerst habe er das Baby nicht gesehen, und komischerweise habe es erst zu heulen angefangen, als Troy es der Mutter zurückgab. Er habe sich in einem Wald versteckt, aber Hunger bekommen, habe etwas zu essen gebraucht und sei schließlich festgenommen worden. Warum? fragte man ihn. Warum er das getan habe? Troy Frantz schüttelte den Kopf, war offenbar selbst verwirrt, und dann brach er zu-
sammen, weinend. Ich hatte nicht den Eindruck, daß er schauspielerte. »Ich bin so müde«, sagte er. Er rieb sich über seinen Dreitagespitzbart. »Ich dachte, ich hätte einen Hirsch angefahren.« Einen Hirsch? fragte man ihn. Wo, im Wald? »Ich war so fix und fertig«, antwortete Troy Frantz. »Ich war so daneben. Ich hab nichts mitgekriegt.« Tränen flossen über sein Gesicht und in die Bartstoppeln. »Ich dachte, ich hätte einen Hirsch angefahren«, wiederholte er. »Und dann ist er weggelaufen, ich hab nicht mal geglaubt, ich hätte ihn getötet. Hat jemand... hat jemand einen toten Hirsch gefunden?« fragte er in die Kamera. Dann sagte er: »Ich dachte, ich hätte einen Hirsch angefahren, aber es war ein Junge. Ein Junge.« Er vergrub den Kopf in seinen auf dem Tisch liegenden Armen, und seine Schultern hoben und senkten sich, während er schluchzte. Der Bildschirm wurde leer. Sheriff und Staatsanwalt sahen mich an. Ich dachte nach. Der Junge war tot. Eigentlich war es gleichgültig, ob Troy Frantz oder ich ihn überfahren hatte. Der Junge war nicht mehr am Leben. Schluß, aus. Ich drehte mich zu Eric Dreyfus um und sagte: »Er glaubt wirklich, daß er es war.« Als ich merkte, wie seltsam das klang, ergänzte ich rasch: »Und er stellt unmißverständlich fest, daß er es war. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihnen irgendein Richter Ärger machen wird.« »Sind Sie sich sicher?« fragte Eric Dreyfus. »Wir können also sagen, wir haben es einem Pflichtverteidiger vorgespielt, und der sagte, es sei sauber?« Ich nickte. »Aber eins müssen Sie wissen«, sagte ich, als er mich durch den Mannschaftsraum bugsierte. »Niemand hat mich angerufen und mich gebeten, hierherzukommen.« »Nein?« Die nächste Lüge war angesagt. »Ich war gerade in Hollister, wurde aufgehalten Probleme mit dem Auto - und wollte zu Hause anrufen und sagen, wo ich war.« Als ich gerade durch die Tür gehen wollte, sah ich auf der anderen Seite des Zimmers zwei Hilfssheriffs, die in meine Richtung gingen. Ein Hilfssheriff hatte Troy Frantz am Arm gepackt, Troys Hände waren hinter dem Rücken gefesselt. Er war genauso blaß wie auf dem Video. Ich hatte recht gehabt: Er nahm nicht viel Platz in der Welt ein; er war ein kleiner, magerer, feingliedriger Mann. Er kam auf mich zu, war einen Meter von mir entfernt und sah mich an. In seinen Augen war nichts Weißes; es waren schwarze, rotgeränderte Kreise. Er schaute mich an. Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen. Doch als er wegsah, schwieg ich. Nachdem mein Großvater aus den Schützengräben Frankreichs verwundet nach Hause gekommen war, zog er sich ins Oak Valley zurück und pflanzte seine Weinreben. Doch da kurz darauf die Prohibition begann, durfte er über ein Jahrzehnt lang legal weder Wein herstellen noch ihn verkaufen. Was nicht heißt, daß er sich an das Gesetz hielt: Er kelterte seinen ersten Wein, experimentierte mit kleinen Mengen, um stetig die Qualität zu verbessern. Den Wein, den er heimlich in Flaschen abfüllte, lagerte er in einem Versteck von der Größe eines Grabes, das in den Boden des Weinkellers eingelassen war. Um daran zu gelangen, mußte man sämtliche Flaschen aus dem bis zur Decke reichenden Regal räumen und dann die Gestelle selbst wegschieben. Da ich noch keinen Jahrgang auf Flaschen gezogen hatte, mußte ich nur das Holzregal beiseite ziehen. Das Vorhängeschloß war zwar verschwunden, doch die Tür zur Kellernische klemmte wie ein Fenster, das man seit Jahren nicht mehr geöffnet hatte, und ich mußte es mit einem Brecheisen aufstemmen. Das Betongrab war modrig, kalt und völlig leer. Weder Julia noch Tim hatte ich es je gezeigt. Ich schlich nach oben in das leere Schlafzimmer und zu dem Schrank, in dem ich meinen Beutel mit der Kleidung versteckt hatte, ging dann wieder in den Weinkeller hinunter und ließ das Beweismittel in das Versteck fallen. Ich beschloß, die Sachen in ein paar Wochen irgendwohin zu bringen, weit weg, und sie zu verbrennen. Ich
schloß die Kellernische und schob das Regal zurück an die Wand. Anschließend putzte ich in der Garage meinen Wagen. Ich wusch den ganzen Dreck ab, der seit der Unfallnacht an dem Auto war. Dann polierte ich es über eine Stunde lang, wobei meine größte Aufmerksamkeit der vorderen Stoßstange und der Motorhaube galt. Zum Schluß warf ich alle Lappen weg. In der Garage stand ein alter Staubsauger, mit dem ich jetzt die Sitzpolster und die Bodenmatten säuberte. Dreimal ging ich den Wagen mit meinem Staubsauger durch. Den Staubsaugerbeutel schmiß ich ebenfalls weg. Ich überlegte, welche Spuren ich sonst noch verwischen mußte, wollte aber eigentlich nur noch ins Bett. Julia jagte mir einen Schrecken ein, als ich gegen fünf Uhr morgens das Haus betrat. Sie saß in der Küche und verspeiste die Reste einer Schokoladentorte. »Offenbar kann keiner mehr schlafen«, sagte ich. »Das Haus war laut«, sagte sie. »Laut?« wiederholte ich. »Du meinst, es knarrt?« Aus dem Küchenschrank holte ich zwei Gläser und dann Milch aus dem Kühlschrank. Sie reichte mir eine Gabel. »Ich würde eher sagen: es weint«, antwortete sie und schnitt mir ein ordentliches Tortenstück ab. »Es gab keine Ruhe.« »Wie ungehobelt«, sagte ich. Ich aß ein wenig Torte und fuhr fort: »Du wirst nicht glauben, was passiert ist.« Dann erfand ich irgendeine konfuse Geschichte, wie ich zum falschen Revier gefahren sei, um meinen mit Drogen vollgestopften Mandanten zu treffen, der in einem anderen County festgenommen worden sei, was mir aber niemand erzählt habe. Dann erzählte ich ihr von Troy Frantz und seinem Geständnis. Julia sah mir nicht in die Augen und aß weiter ihre Torte. Sie hatte ein Jeanshemd von mir an, es aber nicht zugeknöpft, und als sie über den Tisch nach der Milchtüte griff, sah ich den Halbmond einer Brust. »Er hat eine Abmachung getroffen«, sagte ich. »Er hat sich überlegt...« »Es ist also vorbei?« fragte Julia. »Ein Richter muß die Absprache akzeptieren«, erklärte ich, »und sich vergewissern, daß der Mann begreift, daß er sein Recht auf einen fairen Prozeß und so weiter aufgibt. Dann ist es vorbei.« »Wann geschieht das?« fragte sie. »Morgen oder übermorgen, schätze ich.« »Gut.« »Ja, vermutlich ist das gut«, sagte ich. »Warum einen endlosen Prozeß führen, wenn...« »Wir sollten irgendwohin fahren«, befand Julia. »In Ordnung«, sagte ich. »Wo es warm ist. Wir sind urlaubsreif.« Ich nickte. »So müde war ich noch nie«, sagte ich. »Geh schon mal rauf ins Bett. Ich komm später nach«, sagte sie. Ich gehorchte, allerdings kam sie nicht nach. Ich schlief den restlichen Vormittag durch und verschlief den Nachmittag. Ich ließ mich treiben, wachte auf, sah auf meinen Wecker, wieviel Zeit vergangen war, und beschloß aufzustehen, doch dann nickte ich wieder ein. Ich schlief bis vier Uhr nachmittags. Als ich endlich aufwachte, dachte ich über die nahe und ferne Zukunft nach. Julia und ich würden unserer gewohnten Arbeit nachgehen, unser Sohn würde hier auf dem Weingut aufwachsen, genau wie sein jüngerer Bruder. Wir würden auch weiterhin auf Regen warten, im Frühling würden unsere Reben blühen, jeden Herbst würden wir die Trauben lesen, den Saft vergären und den Wein in Fässer füllen. Vielleicht würden wir noch mehr Weinstöcke pflanzen und schließlich die Ernten unserer diversen Weinberge verschneiden, um einen noch volleren und harmonischeren Wein zu erhalten. Wir würden diesen Wein reifen lassen, auf Flaschen ziehen und vielleicht sogar verkaufen, einen ausdrucksstarken roten Cabernet, mit einem leichten Barriquegeschmack, der ein erstklassiger Jahrgangswein werden würde.
Überall würden sich die Leute darum reißen. Die Weinlesen würden zu Ende gehen, die Blätter vorbeiwehen, und ich konnte mir vorstellen, daß ich irgendwann später einmal meine Anwaltskanzlei aufgeben und meine gesamte Zeit dem Weinbau widmen würde. Vielleicht könnte Julia irgendwo unterrichten. Vielleicht würden wir einen Teil der Zeit in der Stadt leben, je nachdem wie ihre Lehrtätigkeit aussah. Eher früher als später würde Tim das alte Steinhaus verlassen und sich in die weite Welt hinauswagen, doch ich malte mir aus, daß wir immer enge Freunde bleiben würden und er uns oft anrufen und besuchen kam. Irgendwann würde auch sein jüngerer Bruder von uns fortziehen. Dann hätten Julia und ich einander. Und wir würden gemeinsam alt werden. Was ich mir an jenem Nachmittag vorstellte, war eine schlichte Zukunft, die mir möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich erschien. Ich ließ es zu, daß man einen anderen für meine Tat bestrafte. So sollte es sein. Ich rechnete nicht damit, Craig ohne weiteres zu vergessen. Wie sollte ich das auch können, wo ich doch mitangesehen hatte, wie das Leben aus ihm wich. Aber irgendwann würde ich ihn vergessen müssen. Wenn ich weiterleben wollte wie bisher, dürfte ich nicht mehr an diesen Jungen denken. Ich würde die Sache aus meinem Gedächtnis löschen müssen, und bereits in einem Jahr würde ich mich an jene kalte Oktobernacht nur noch vage erinnern. Ich würde bis dahin selber daran glauben, daß Troy Frantz seine gerechte Strafe verbüßte. Wenn ich mir das in einem Jahr noch immer erfolgreich eingeredet hätte, dann würde ich mich bis zur übernächsten Weinlese davon überzeugen. Und im Lauf der Jahre wäre dann alles vergessen, was damals im Wald vorgefallen war. Und im nachhinein frage ich mich: Was wäre, wenn die Geschichte hier geendet hätte? Der Falsche wandert ins Gefängnis. Schluß der Vorstellung. Warum eigentlich nicht? Auch andere ließen die Falschen für ihre Missetaten büßen; so was kommt andauernd vor. Viele Übeltäter, viele Verbrecher, blieben auf freiem Fuß. Das war nichts Außergewöhnliches. Warum sollte es also bei mir anders ablaufen? Warum endete meine Geschichte nicht hier? Tim klopfte an die Tür. »Du hast gesagt, wir würden heute eine Spritztour machen«, sagte er. Ich gähnte. »Wo ist deine Mutter?« fragte ich. »Draußen. Macht irgendwas im Weinkeller. Ich weiß nicht.« Ich fragte mich, ob Julia Tim von dem Kind in ihrem Bauch erzählt hatte. Nein, das hätte er erwähnt. »Du hast gesagt, wenn es nicht mehr regnet, darf ich ans Steuer.« Auf seinen Fahrschülerausweis mußte er noch über ein Jahr warten, doch wir hatten schon den ein oder anderen kleinen Ausflug unternommen, er am Lenkrad, ich mit beiden Händen das Armaturenbrett umklammernd. Es war ein stürmischer Abend, und obwohl Tim äußerst vorsichtig den Windungen der Bergstraße folgte, schob uns der Wind von hinten, so daß ich ihn immer wieder ermahnte, langsamer zu fahren. Ich wollte nicht an der Unfallstelle vorbeikommen, deshalb sagte ich Tim, als wir nicht mehr weit davon entfernt waren, er solle rechts ranfahren. Er stöhnte. »Nur noch eine Meile«, meinte er. »Dann geht's heimwärts.« Wir bogen um einen Felsen, und ich hoffte, daß Tim das Absperrband nicht bemerken würde, doch ehe wir den abgeknickten Birkenstamm erreichten, schaute ich zufällig von der Straße weg in den Wald, und dabei sah ich, daß sich zwischen den schwarzen Kiefern etwas Braunes bewegte, irgendein Tier. Ein Tier, das litt. Das mußte ich mir aus der Nähe ansehen. »Fahr rechts ran«, befahl ich. »Dad, eben hast du gesagt...« »Tim, halt an«, sagte ich. Er würgte den Motor ab.
»Bleib hier«, sagte ich. Ich sprang aus dem Wagen und trabte zurück, in Richtung des Tiers. »Dad?« Tim rannte hinter mir her. »Dad?« Ich kam bei dem Tier an. Tim war dicht hinter mir, und ich zog ihn an mich, damit er keine Angst bekam. Es war ein junger Hirsch. Einer seiner Hinterläufe war schlimm verletzt, verdreht und verstümmelt. Offenbar bemerkte er mich nicht mal, als er einen Meter weiter wankte und dort mit einem gedämpften Aufschrei zusammenbrach. Dann rappelte er sich auf und hoppelte noch einen Meter weiter. »O Scheiße«, sagte Tim. Ich packte ihn am Arm. Ich sah, daß das Fell des Hirsches von Blut und Kiefernnadeln verfilzt war, sein Bauch war dünn, die knochigen Keulen standen hervor. Er würde bald sterben, eines langsamen, qualvollen Todes. »Du mußt ihn erschießen«, sagte Tim. »Ihn von seinen Qualen erlösen.« Ich hatte aber keine Schußwaffe dabei, ich besaß gar keine. »Du mußt etwas tun, Dad.« Das war es, Troy Frantz' wahres Opfer. Sein Hirsch, der ihn von jeder Schuld freisprach. Das Tier wankte ein paar Meter tiefer in den Wald, wo es gegen eine Kiefer gelehnt stehenblieb und sich zu uns umdrehte, die Augen geweitet vor Angst. Er konnte nicht weglaufen. »Du mußt etwas tun«, wiederholte Tim. Er wurde hektisch. »Mach was, Dad. Du mußt.« »Was soll ich denn machen? Was kann ich machen?« fragte ich. Tim durchkämmte den Boden, suchte etwas - was? »Was kann ich machen?« wiederholte ich. Er schlurfte herum, bis er irgendwas am Straßenrand aufhob. Dann kam er zu mir gerannt und reichte mir einen großen flachen Stein. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst«, sagte ich, nahm ihm aber den Stein aus den Händen. Tim war weiß wie eine Wand. Er sah verängstigt aus. »Du darfst ihn nicht so verenden lassen«, sagte er. »Ich kann ihn nicht erschlagen. Wenn ich ihn nicht richtig treffe, mache ich alles nur noch schlimmer«, sagte ich. Tim schob mich in Richtung Hirsch. »Du mußt«, sagte er. »Na schön«, sagte ich, »okay. Aber du gehst zum Wagen zurück.« Er ging. Ich wartete, bis ich ihn die Wagentür zuknallen hörte. Ich näherte mich dem Hirsch. Er schleppte sich noch einen Meter weiter, dann fiel er hin. Ich stand hinter ihm, den schweren grauen Stein in der rechten Hand. Der Hirsch sah mich nicht an. Er rappelte sich wieder auf und schrie leise und klagend. Ich hob den Stein über meinen Kopf. Ich zielte auf den Schädel des verletzten Tieres. Dann sah mich der Hirsch an. Braunschwarze Augen. Und ich warf den Stein fort, auf den Stamm einer Kiefer, und lief zur Straße zurück. Die Blätter fielen von den Bäumen. Der Boden begann zu frieren. Der Himmel wurde blasser, doch in diesem Winter blieb der Wind mild, ohne die übliche Eiseskälte. An manchen Tagen war es sogar feucht. Zwar regnete es, aber nicht sehr häufig und ausgiebig. Wir hatten Nebel und Nieselregen, kaum ein paar Unwetter. Noch sprach keiner von einer neuen Dürre oder davon, daß der Lehmboden mehr Wasser brauchte, doch im Tal machte sich deutlich Unsicherheit breit. Die Leute waren angespannt, wenn sie einander vor dem Eisenwarenladen begrüßten oder wenn sie auf der Hauptstraße aneinander vorbeifuhren. Alle starrten zum Himmel, wenn es anfing zu nieseln, und betrachteten mit zusammengekniffenen Augen mißtrauisch die weiße trübe Sonne, sofern sie zwischen den Wolken zu sehen war. Man hatte das Gefühl, als ob sie etwas im Schilde führte, irgendeinen hinterhältigen Trick ausheckte, früher oder später irgendeinen Tribut einfordern würde... doch wann genau, wann? Auch mir kam das warme Wetter etwas sonderbar vor. Wenn ich meine Reben zu-
rückschnitt, trug ich häufig nur ein Rugbyhemd und manchmal noch ein Sweatshirt darüber. Abends schleppte ich Holzscheite ins Haus, um ein Kaminfeuer anzumachen, empfand es aber als Verschwendung, Holz zu verbrennen, wenn nicht mal die Heizung angestellt war. Es war ein seltsames Wetter, doch alles in allem folgte mein Leben auf dem Weingut einem festen, mir mittlerweile vertrauten Zeitplan. Im Januar gab es allerdings ein kleines Problem mit unserem Wein. Anfang des neuen Jahres führten Julia und ich eine lange Pipette in die Spundlöcher sämtlicher Fässer ein und entnahmen Proben aus dem ersten und zweiten Jahrgang. Mit den Utensilien, die ich im Eisenwarenladen gekauft hatte, richteten wir in der Küche ein improvisiertes Labor ein. Wir mußten sicherstellen, daß die Gärung vollkommen abgeschlossen war, um den Wein in Flaschen abfüllen zu können, und wie früher schon schnitt der erste Jahrgang bei Tests gut ab. Der Säuregehalt war sogar ideal. Doch als wir die Proben aus unserem jüngeren Jahrgang überprüften, stellten wir bei dem Wein, den wir erst vor Monaten in Fässer gefüllt hatten, in einigen, aber nicht in allen Fässern einen hohen Apfelsäuregehalt fest. Die Apfelsäure hätte sich während der zweiten Gärung in Milchsäure verwandeln sollen, doch das war nicht geschehen. Wir mußten nun eine Bakterienkultur durch das Spundloch dazugeben, doch die Frage war, in welcher Menge. Ich wollte in den Aufzeichnungen meines Großvaters nachschlagen und mich an seine Angaben halten. Julia bestand darauf, die Leute im Eisenwarenladen zu fragen. Emma Hodges, die zwar keine Winzerin, aber eine anerkannte Alleswisserin war, erzählte uns, wir brauchten zwei Tassen von einer bestimmten Bakteriensorte pro Faß, die den Cabernet garantiert angenehm samtig machte, aber Alex Marquez - das war zu der Zeit, als er noch mit mir sprach - behauptete, die Säure an sich sei nicht schlimm, und wir müßten dafür sorgen, die Mikrobiologie des Weines zu stabilisieren, indem wir pro Faß eine Tasse einer anderen Bakterienart hinzufügten. Weiter sagte er, wir müßten Sulfate zugeben, um die von uns untergemischten Bakterien wieder abzutöten, während Emma Hodges den Standpunkt vertrat, von Sulfaten werde Rotwein zu bitter. Am Ende waren wir konfuser denn je, so daß Julia beschloß, die Önologen der Universität in Davis zu konsultieren, doch deren Informationen verwirrten uns endgültig. Die ganze Zeit über lagerte der Wein unbeachtet in den Fässern, daher beschloß ich eines Nachmittags endlich, etwas von den Bakterien unterzumischen, die wir schon früher benutzt hatten, eine kleine Menge, wie sie mein Großvater empfohlen hatte. Ich ging in den Weinkeller, als Julia gerade nicht zu Hause war, und als sie heimkam, war sie zutiefst beleidigt. Sie sagte: »Jetzt ist es also dein Wein. Du machst damit einfach, was du willst.« »Nein«, widersprach ich, »ich wollte bloß verhindern...« »Früher war es mal unser Wein«, unterbrach sie mich, und natürlich hatte sie recht. Ich hätte nicht einfach ohne sie eine Rezeptur beschließen dürfen. »Ich dachte, wir würden den Wein gemeinsam machen«, fuhr sie fort. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, was ihren Bauch betonte, den man bei den schlabbrigen Pullovern, die sie immer trug, normalerweise kaum bemerkte. Sie sagte: »Mach doch, was du willst«, und zog sich ins Haus zurück. »Es ist immer noch unser Wein«, rief ich hinter ihr her. Ich hatte erst zwei der problematischen Fässer behandelt und wollte die Arbeit eigentlich beenden, bekam aber plötzlich Zweifel. Wie große Köche müssen auch Winzer eine gewisse Arroganz an den Tag legen, wenn sie gute Arbeit leisten wollen, doch nach der kleinen Szene mit Julia hatte ich das nötige Selbstvertrauen eingebüßt. Ich beschloß, mich beim nächsten Faß auf die Weisheit der Uni-Önologen in Davis zu verlassen, wofür auch Julia irgendwann plädiert hatte. Das sagte ich ihr, als ich ins Haus zurückkam. »Und dann warten wir eine Woche, prüfen den Wein noch einmal und sehen nach, welcher mehr Apfelsäure hat, deiner oder meiner«, sagte ich.
»Ach so, ich verstehe«, sagte Julia. »Das Ganze ist ein Wettkampf.« »Nein«, widersprach ich, »es ist kein Wettkampf...« »Ist doch eh egal«, sagte Julia und ließ mich in der Küche stehen. »Was soll ich mit dem letzten Faß machen?« fragte ich. »Mir doch egal«, sagte Julia mit leiser werdender Stimme, während sie die Treppe hinaufging. Ich kehrte also zurück in den Weinkeller und brachte die Arbeit zu Ende. Später am Abend verließ Julia demonstrativ jedes Zimmer, das ich betrat, doch schließlich landeten wir im selben Schlafzimmer, im selben Bett. Ich wollte mich entschuldigen. »Ich hätte heute nicht einfach...« Sie unterbrach mich mit einem verächtlichen Schnauben. »Da hast du recht«, sagte sie. Auch unter dem Nachthemd sah man ihren Bauch kaum. »Ich will mich doch bloß entschuldigen«, sagte ich. Julia zuckte mit den Achseln. »Jetzt ist es dein Wein«, sagte sie. »Na toll«, sagte ich. »Ich übernehme die volle Verantwortung, wenn er sämtliche Preise bekommt.« »In drei Jahren sprechen wir uns wieder«, sagte sie. Kurz darauf, im Dunklen und den Kopf in meinem Kissen vergraben, seufzte ich so laut, daß Julia mich nicht ignorieren konnte. Sie schlang die Arme um mich und ließ eine Hand über meinen Brustkorb gleiten. Sie küßte mich auf den Rücken, und ich hörte sie sagen, es täte ihr leid. Spätestens jetzt hätte ich mich umdrehen und sie in die Arme nehmen müssen, doch ich hatte wohl das Gefühl, zweimal gekränkt worden zu sein, und nach dem doppelten Affront reagierte ich nicht auf Julias verspätete Geste. Wir schliefen ein und sprachen am nächsten Tag nicht mehr über den Wein. Wir machten nie den Urlaub, von dem Julia damals im Oktober geredet hatte - den Grund weiß ich nicht mehr; vermutlich waren wir zu sehr in unserem Alltagstrott gefangen, um uns auch noch mit Urlaubsplanung zu befassen -, aber ein Tapetenwechsel hätte vermutlich auch nicht mehr viel geändert. Wie es anfing, weiß ich nicht, aber Julia und ich verfielen in diesem Winter in ein Wetterschema, mit dem wir nur allzu vertraut waren - auf Hitzewellen folgten Kaltfronten, und dieses ständige Hin und Her ließ wohl unser neues Mauerwerk rissig werden. Ich will nicht alle anderen Streitereien auflisten, sondern nur erwähnen, daß sie immer banaler wurden, und statt uns durch eine weitere komplizierte Debatte zu quälen, ob wir beispielsweise neue Vorhänge im Schlafzimmer brauchten, entzog sich einer von uns dem Streit, indem er das Zimmer verließ und so tat, als gebe er nach, als sei es ihm ohnehin gleichgültig. In der Regel war es Julia. Irgendwann verbrachten wir die Abende in unterschiedlichen Stockwerken, ich war meist unten, hinten im Arbeitszimmer, und versuchte, die Geräusche zu ignorieren, die Julia oben in unserem Schlafzimmer machte. Ich hielt das für eine vorübergehende Phase. Mir hätte klar sein müssen, daß sich unsere offenkundigen Dissonanzen auf Tim auswirken würden, doch daran dachte ich nicht. In dieser Zeit entzog sich der Junge mir und Julia und verbrachte noch mehr Zeit allein auf seinem Zimmer. Später wurde mir dann klar, daß sich Tim seit Craig Montoyas Beerdigung so verhielt. Schon seit Herbst nahm er nicht mehr an den Proben für die Theateraufführung teil. Von seinen Internet-Bekannten abgesehen hatte er offenbar keine Freunde, und trotz meiner Beschwerden über die hohe Telefonrechnung verbrachte er immer mehr Zeit online, und zwar so viel, daß Julia und ich ihm einen eigenen Anschluß installierten, damit wir abends telefonieren konnten. Ich hielt Tim einfach für einen pubertierenden Jugendlichen - eben noch zärtlich, plötzlich mürrisch; seine Stimmungsschwankungen waren schwer zu deuten und unvorhersehbar. Er fing an, sich komplett schwarz zu kleiden - schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans und schwarze Schuhe. Aber das war doch ganz normal! Ich hatte in seinem Alter die gleiche Uniform getragen. Wenn ich ihn etwas fragte, reagierte er häufig mit verständnislosen Blicken und Schulterzucken. Er blieb im Türrahmen ste-
hen: Muß ich mich wirklich zu dir setzen und darüber reden, schien er zu denken. Solange sich Tim nicht bemüßigt fühlte, durch exzessives Trinken und harten Drogenkonsum gegen seine Mutter und mich zu rebellieren, würden wir, so meinte ich, über seine Pubertät schon hinwegkommen. Auch diese Phase war irgendwann vorbei. Es war also für uns alle nicht der beste Winter, aber auch keineswegs der schlechteste. Wenn ich deprimiert war, träumte ich vom Frühling. Ich stellte mir die Knospen an den Reben vor, die Blüten, die Trauben. Dann würde der Sommer kommen und mit ihm ein neues Kind, noch ein wunderbares Kind, und ehe wir uns versahen, war der Herbst da, und wir würden die nächste Ernte einbringen und unseren nächsten Jahrgang keltern; um die Zeit waren die Probleme des Winters längst vergessen. Es würde ein wunderschönes Jahr werden. Als Julia und ich eines späten Abends Anfang Februar ins Bett gingen, wurde ihr schwindlig, und sie mußte sich auf den Toilettendeckel im Bad setzen. Sie warf mir einen Seitenblick zu und stöhnte ganz leise auf. Dann wurde sie so weiß wie die geflieste Wand. Sie stand auf, und dabei schoß zwischen ihren Beinen ein Schwall Fruchtwasser zu Boden. Ihr Nachthemd klebte an den Oberschenkeln. Sie fiel auf den Boden, flüsterte meinen Namen, lehnte den Kopf nach hinten an die Kacheln unter dem Waschbecken und wurde ohnmächtig. Ich rannte zu ihr, überlegte krampfhaft, wie weit ihre Schwangerschaft war. Wie viele Monate fehlten noch, wie viele waren vergangen? Fünf Monate waren vergangen, erst fünf Monate. Ich geriet in Panik. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. »Tim«, brüllte ich. »Tim, wach auf.« Ich hob Julia hoch, trug sie zum Bett, deckte sie mit einer Decke zu - sie war so bleich, daß man jede Ader in ihrem Körper sehen konnte - und schnappte mir eine Hose, doch dann wurde mir klar, daß ich einen Krankenwagen rufen mußte... nein, ich mußte Julia einen Morgenmantel anziehen, weil sie zitterte. Auf der Decke unter ihr sah ich Blut. Ein Krankenwagen, ich hätte sofort einen Krankenwagen rufen sollen. »Tim«, brüllte ich. »Was ist los?« fragte Tim, der offensichtlich noch nicht im Bett gewesen war, und dann schrie er: »Mom!« und fing sofort an zu weinen. »Krankenwagen«, quetschte ich heraus. Julia sagte mit schwacher Stimme: »Fahr mich.« Tim stand neben dem Bett und hatte den Telefonhörer in der Hand. Julia warf ihm einen Blick zu und sagte: »Nicht genug Zeit. Fahr mich.« »Wir warten auf den...« »Zu spät«, sagte sie. »Dad«, schrie Tim. Er war so blaß wie Julia. Er lief zum Bad am anderen Ende des Flurs. Ich hörte ihn würgen. »Zu spät«, wiederholte Julia. Ich weiß nicht, ob es etwas geholfen hätte. Bis zu uns hätte ein Krankenwagen mindestens eine halbe, eher eine ganze Stunde gebraucht. Und natürlich regnete es. Den ganzen Winter über hatten wir bisher kaum Regen gehabt, doch ausgerechnet in dieser Nacht mußte es gießen. Es mußte schütten. Der Regen fegte gegen die Schlafzimmerfenster. Ich warf mir ein Hemd über, fand ein paar Schuhe, wickelte Julia in die Bettdecken, und dann kam auch Tim zurück ins Zimmer und half mir, seine Mutter nach unten zu tragen. Sie schien kein Gewicht zu haben. Wir blieben nicht stehen, um uns Jacken überzuziehen, sondern stürmten nach draußen und durch den kalten Wolkenbruch in die Garage. Tim glitt auf den Rücksitz, und ich legte Julia quer über die Sitzbank, den Kopf auf seinen Schoß. Durch die Decken sickerte Blut. Tim schluchzte. Als ich die Weinbergstraße hinunterfuhr, fiel mir auf, daß ich die Haustür sperrangel-
weit hatte offenstehen lassen. Ich raste an unserem Weinberg vorbei, durch die Schlucht und dann auf der Hauptstraße nach Norden, auf einer anderen Straße weiter zur Bergstraße. »Red mit mir, Schatz«, sagte ich und griff nach hinten, um Julias Hand zu halten. Lange konnte ich das nicht tun, weil ich beide Hände zum Lenken brauchte. Sie war bewußtlos. »Dad«, sagte Tim und zuckte zusammen. »Halt sie warm«, sagte ich. »Klar? Das ist deine Aufgabe. Halt du sie warm. Sorg dafür, daß sie mit dir spricht.« »Mom?« sagte Tim fragend. »He, Mom? Mommy?« Der Blutfleck um ihre Beine war dunkler und größer geworden, und ich fuhr so schnell ich konnte durch den Regen. Doch die Straße war glitschig. Als ich durch den Wald brauste, kam ich an eine glatte Stelle, der Wagen geriet ins Schleudern, so daß ich die Kontrolle verlor und von der Straße abkam, knapp einen Baum verfehlte und in einen schlammigen Graben rutschte. Julia wurde nach vorn, gegen die Vordersitze geschleudert. Tim packte sie und zog sie vorsichtig wieder auf seinen Schoß zurück. »Mom«, bat er. »Sag etwas, Mom.« Ich versuchte, aus dem Graben herauszukommen, doch die Reifen drehten durch. Wir saßen fest. Ich mußte den Gang herausnehmen, aussteigen, den schweren Wagen nach vorn schieben, schnell wieder hinters Steuer klettern und dann vorsichtig versuchen anzufahren. Doch die Räder drehten lautstark durch, und das rechte Hinterrad schien immer tiefer im Schlamm zu versinken. »Sie blutet, Dad«, sagte Tim. Ich wußte nicht, ob er mir draußen im Matsch helfen oder bei seiner Mutter bleiben sollte. »Halt sie warm«, sagte ich. Wieder sprang ich aus dem Wagen - inzwischen war ich pitschnaß und völlig verdreckt - und warf mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Motorhaube. Ich schob das Auto nach hinten statt nach vorn; sobald ich am Steuer saß, legte ich den Rückwärtsgang ein. Vergebens. Ich stieg aus und stemmte mich wieder gegen die Motorhaube. Ich versuchte, rückwärts aus dem Graben zu kommen. Die Reifen drehten durch, doch diesmal lauter und mit mehr Reibung. Beim fünften Versuch klappte es. Ich fuhr Richtung Norden nach Hollister, langsamer, als ich wollte, weil ich Angst hatte, wieder im Graben zu landen. Julia war kalt und blutete, und ich dachte: das war's, das war's, das war's, ich verlier sie. Bitte nicht, ich darf sie nicht verlieren. Mir fiel auf, daß Tim auch zitterte. »Tim? Timmy?« Er antwortete mir nicht, und seine Lippen waren so blau, daß mir klar wurde, er verfiel gerade in einen Schockzustand. Diese verdammte Straße würde uns alle umbringen. Ich schaffte es bis zum Krankenhaus, wo auf mein Hupen hin Personal aus der Notaufnahme herausgelaufen kam und mich ablöste. Krankenpfleger brachten Julia auf einer Tragbahre weg. Eine Schwester wickelte Tim in eine Decke und nahm ihn mit. Ich saß allein im Wartezimmer. Eine Schwester brachte mir eine Decke und einen Becher heißen Kakao. Sie hielt mich auf dem laufenden. Das Kind, ein Junge, war eine Totgeburt. Julias Blutung war unter Kontrolle, sie hatte aber sehr viel Blut verloren. Tim war nichts Ernstes passiert, er hatte einen Schock erlitten, wie von mir vermutet, und man hatte ihm ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben. Als ich Julia endlich sah, wirkte sie völlig verloren zwischen all den Schläuchen und Apparaten, und sie stand unter so starken Medikamenten, daß sie nur in meine Richtung blinzeln konnte. Tim lag auf einem Feldbett in einem verdunkelten Raum neben ihrem Zimmer, hatte aber die Augen auf. Ich erzählte ihm, was geschehen war, und daß er tapfer gewesen sei, aber er hörte mich wohl nicht. Julia blieb eine Woche im Krankenhaus. Ich verbrachte tagsüber die meiste Zeit bei
ihr, las ihr laut aus der Zeitung oder einem Roman vor, den sie sich gewünscht hatte, aber offenbar hörte sie nicht zu. Sie wurde ein bißchen munterer, wenn ich Tim mitbrachte, doch nach zwei Besuchen wollte er lieber zu Hause bleiben. Und so besuchte ich Julia allein, und während meiner Besuche sah sie die meiste Zeit geistesabwesend aus dem Fenster auf die Berge hinter dem Krankenhaus. Ein paar Tage nachdem ich sie nach Hause geholt hatte, mußte ich sie einfach fragen: »Bist du mir böse?« Das fragte ich, weil ich den Eindruck hatte, daß sie mich irgendwie stumpf ansah, als fände sie mich inzwischen abstoßend. Ein Ungeheuer, das ihr so etwas angetan, ihr unser werdendes Kind entrissen hatte. Als wäre ich für alles verantwortlich, weil ich sie hier am Ende der Welt eingesperrt hatte. »Nicht alles dreht sich um dich«, sagte sie. »Ich weiß, ich hab nur...« »Denk doch nicht immer nur an dich«, sagte sie. »Ist das der Grund? Denk ich so viel an mich?« fragte ich, flehte ich. Wie konnte das sein? Julia funkelte mich böse an. »Wir sollten eine Weile warten, bevor wir über alles reden.« »Klar. Stimmt«, sagte ich. »Du mußt dich jetzt erst einmal erholen.« »Ist dir eigentlich klar, daß du banales Zeug daherredest, wenn du nicht richtig weißt, was du sagen sollst?« fragte sie. Jetzt traute ich mich nicht, auch nur den Mund aufzumachen. »Verzeih mir, Jason«, sagte sie. »Wir kriegen das schon wieder hin.« In meinen Ohren hörte sich das wie die große Lüge unseres gemeinsamen Lebens an. Das kriegen wir alles wieder hin. Doch ich wollte ihr glauben. Ich mußte glauben, daß sie die Wahrheit sagte. Ein paar Tage später wollten wir unseren ersten Jahrgang auf Flaschen ziehen. Julia mußte sich noch schonen, half aber, so gut sie konnte, und Tim überraschte mich mit dem Angebot, aus seiner Zelle nach unten in den Weinkeller zu kommen und mitanzupacken. Am ersten Morgen seiner Winterferien trennten wir etliche Dutzend Eier, die Eigelbe warfen wir weg. Dann leerten wir alle Fässer dieses Jahrgangs in den Schönungsbehälter, verschnitten die verschiedenen Chargen. Ich stieg eine Leiter hoch und kippte das Eiweiß in den Behälter - die Rezeptur meines Großvaters schrieb drei Eiklar pro Faß vor -, und dann mußte ich den Wein mit der langen Stange umrühren, und zwar schnell, weil das Eiweiß seine Wirkung nicht sehr lange entfaltete. Es zog alle Flokken und Trübteile an, die sich dann am Boden des Tanks absetzten. Wir ließen den Wein einen Tag lang ruhen, dann verlegte ich einen Schlauch in die nächsttiefere Ebene des Weinkellers, um mit der Flaschenabfüllung zu beginnen. Mit dem Schlauch ging ich vorsichtig zu Werke, um keinen Wein zu verschütten, und Tim trug die vollen Flaschen, immer vier auf einmal, zu einem Tisch, wo Julia auf einem Hocker saß und jede Flasche zuerst unter eine Verkorkmaschine hielt und dann in eine Presse, die die Kapsel über Korken und Flaschenhals stülpte. Dabei mußte sie sich nicht übermäßig anstrengen, wirkte aber doch sehr müde. Tim trug die fertigen Flaschen zu den in den Wand eingelassenen Regalen, dann eilte er zu mir zurück und holte mehr frisch gefüllte Flaschen ab. Wir drei, Julia, Tim und ich, verfielen in einen einfachen Rhythmus und arbeiteten wortlos den ganzen Tag und den größten Teil des nächsten Tages. Wir wurden immer schneller, füllten die schlanken grünen Flaschen mit Cabernet, verkorkten sie und legten sie in die Gestelle, eine nach der anderen. Ich dachte, das wäre vielleicht genau die Ablenkung, die wir brauchten. Diese einfache Tätigkeit würde Wunder wirken, was die Heilung unserer Wunden betraf, und als wir die Arbeit beendet hatten, stellten sich Julia auf eine und Tim auf die andere Seite von mir. Gemeinsam betrachteten wir die Wand aus Flaschenwein, unseren Wein. Ich wußte, daß ich breit
und dümmlich grinste, weil eine gewisse Ordnung wiederhergestellt zu sein schien. Wir waren auf die Probe gestellt worden, wir drei, aber wir hatten es überstanden. Jetzt würden wir zu unserem gewohnten Leben zurückkehren. Das ging nicht von heute auf morgen, aber wir waren stark und würden den Schmerz überwinden. Das sagte ich mir immer und immer wieder. Wir waren stark. Gemeinsam würden wir es schaffen. Doch ich fand heraus, daß ich nicht stark genug war; ich bekam mein Leben nicht wieder in den Griff, weil es mir nicht gelang, den Unfall auf der Bergstraße ad acta zu legen. Ich hatte zwar nicht erwartet, ihn umgehend zu vergessen, nein, doch das Gegenteil trat ein: Je mehr Zeit verging, desto häufiger schreckte ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf auf. Immerzu versuchte ich zu verhindern, daß mein Wagen außer Kontrolle geriet und den Jungen überrollte. Und ich brauchte nicht mal einzuschlafen, um mich an jene Oktobernacht zu erinnern. Mitten beim Abendessen sah ich Tim an und mußte zwangsläufig daran denken, wie Craig Montoya seinen letzten Atem aushauchte. Manchmal setzte ich einen Vertrag auf, starrte in der Kanzlei auf meinen Computerbildschirm und war völlig in die Arbeit vertieft, da schweiften meine Gedanken plötzlich ab, und ich fragte mich: Was würde Craig Montoya jetzt wohl machen? Er wäre ein Erstsemester an der Universität in Stanford, und ich stellte mir vor, wie er die für diese Jahreszeit untypische Wärme ausnutzen würde, Seminare schwänzte, um mit seiner Freundin an den Strand zu fahren. Ich malte mir aus, wie er an der Küste entlangwanderte, auf der Suche nach einer menschenleeren Bucht, wo die beiden sich im Sand lieben würden. Oder ich sah ihn vor mir an der Uni, im Seminar, die Sorte Student, den der Professor gerne aufrief. Der Junge, der die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllte. Ich stellte mir vor, wie er an einem langen Tisch in der Mensa saß und sein Essen von einem Tablett aß, der Mittelpunkt einer großen Gruppe, alle wollten in seiner Nähe sein, bei ihm sein, weil er überall beliebt war. Ich bemühte mich, nicht an ihn zu denken, was mir an manchen Tagen auch gelang. Doch dann wieder, während ich im Bett lag, Essen kochte oder mir die Fernsehnachrichten ansah, sah ich Craig Montoya vor mir, allein oder auf einem Sportplatz, einem großen grünen Platz, im Hintergrund die Berge. Dann sah ich Craig mit schwarzen Kniestrümpfen, schwarzer Sporthose und einem übergroßen gestreiften Hemd. Wie der Junge, den ich getötet hatte, einen Ball über den Rasen trat. Wie der Ball unendlich weit flog. Wie der Ball unter dem weißen Rahmen ins Tor ging. Und diese Bilder endeten immer gleich. Mit Regen. Mit mir auf der Bergstraße. Wie ich die Leiche des Jungen sah. Das Knie eigenartig verdreht. »Du bist bleich wie ein Vampir«, sagte Tim einmal zu mir. Wir frühstückten gerade. Ich verschluckte mich an meinem Kaffee und blinzelte ihm zu. Doch wie ich meinen Sohn ansah, wie er da saß mit seinen geröteten Wangen, da empfand ich es als ungerecht, daß er mir gegenübersaß und Comics las, während am Tisch der Montoyas ein Stuhl leer blieb. Manchmal dachte ich, Julias Fehlgeburt sei meine Strafe dafür, daß ich Craigs Leben beendet hatte - Auge um Auge, Zahn und Zahn - , doch das war eine dümmliche Überlegung. Es gab keinen Tauschhandel mit Schicksalen, das war mir klar, aber ich fühlte mich elend bei dem Gedanken, daß mein Leben weiterlief, während das Leben der Montoyas an jenem Morgen in die Brüche ging, als die Polizei an die Tür klopfte. Ihr Leben war ein Scherbenhaufen. Das wußte ich genau. Mr. Montoya hatte seine Familie verlassen, und Mrs. Montoya war mittlerweile chronisch an Grippe oder Arthritis erkrankt; ihre Tochter mußte sie versorgen und fehlte viel in der Schule. Gern hätte ich Mrs. Montoya und ihrer Tochter irgendwie geholfen, hatte aber keine Ahnung wie, und mir fiel nichts weiter ein, als ihnen anonym Geld zu schicken. Eigentlich hätte ich ihnen gern mein tiefes Bedauern ausgedrückt. Ich fuhr sogar einmal zum Haus der Montoyas im Süden des Tals. Viele Menschen, die früher in den Weinbergen gearbeitet hatten und heute in den Steinbrüchen ihr Geld verdienten,
wohnten in diesem flachen rechteckigen Netzwerk kahler Straßen. Es waren kleine Häuser, die noch kleiner wirkten, weil sie so weit auseinanderstanden. Rasenflächen gab es keine, nur Dreck und Gebüsch. Keine Bäume weit und breit. Ein paar Häuser hatten vorne Satellitenschüsseln. Ich machte mich in der Abenddämmerung auf zum Haus der Montoyas, das am Ende einer dieser Straßen stand, ein weißes Haus, verwahrlost und heruntergekommen, am Dach fehlten Schindeln, und ein unbehauener Holzstamm stützte eine Ecke der Veranda. Im feuchten Wind baumelten die Ketten einer Schaukel. Aber was konnte ich den Montoyas denn schon sagen? Selbst die Wahrheit kam mir mittlerweile zu absurd vor, so traurig und einfach sie auch war, und die Wahrheit würde Craig nicht zurückbringen. Vermutlich würde die Wahrheit auch Mr. Montoya nicht zurückbringen. Ich fuhr weiter, ohne angehalten zu haben. Das war im März, und ich glaube, daß sich etwa um diese Zeit meine Rolle im Ort änderte. Oder vielleicht fiel es mir damals erst auf, denn das Ganze mußte schon viel früher begonnen haben, ohne daß ich es bemerkt hatte. Zunächst hatte sich herumgesprochen, daß ich bei der Absprache im Fall Troy Frantz mitgewirkt hatte. Im Eisenwarenladen war man der Meinung, daß Troy Frantz eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßen sollte - oder besser noch: er sollte die Todesstrafe bekommen. Man warf mir vor, daß ich mich mit meinem liberalen Großstädterherz zu seinen Gunsten eingeschaltet und für ihn eine minder schwere Strafe erwirkt hätte. Was natürlich nicht zutraf, da die Absprache getroffen worden war, bevor ich an jenem Abend die Polizeiwache in Hollister betreten hatte. Ich war mir zwar nicht sicher, hegte aber den Verdacht, daß unser mit knapper Mehrheit wiedergewählter Bezirksstaatsanwalt in einem Gespräch erwähnt hatte, ich sei damals zugegen gewesen; vielleicht hatte auch Harry Padillo meine Rolle übertrieben. Das war einerlei. »Du hättest nicht verhindern dürfen, daß sie ihn einen Kopf kürzer machen«, sagte Will Clark zu mir. »Eigentlich hatte ich damit gar nichts zu tun«, sagte ich und versuchte zu erklären, daß ich keinen Einfluß auf die Absprache gehabt hatte. Anscheinend hörte mir keiner zu. Mittlerweile kursierten Gerüchte, was für ein schlechter Mensch Troy Frantz sei. Emma Hodges meinte: »Frau und Kinder hat er ohne einen Cent oben in Eureka gelassen, weil er nach Hollywood gehen und miese Horrorstreifen drehen wollte.« Will Clark verkündete: »An der High-School von New Idria hat er Drogen verkauft.« Alex Marquez sagte: »In L. A. hat er mal einen Jungen entführt... nein, hört zu, es stimmt. Er hat ihn in den Wald gebracht und da festgehalten, mußte aber nie in den Knast, weil die Anklage irgendwas verbockt hatte. Und dasselbe hat er mit dem jungen Montoya probiert. Vielleicht konnte der Junge von Glück reden, daß er bloß überfahren wurde.« In Wahrheit wußte keiner von uns auch nur das geringste über Troy Frantz, der - ohne das Forum eines öffentlichen Prozesses - keine Chance hatte, sich zu verteidigen. Troy Frantz blieb ein Rätsel. Ich gab mir Mühe, nicht an ihn zu denken, was mir besser gelang als im Fall Craig Montoya. Ganz abgesehen von meiner Verbindung zu Troy Frantz fiel ich im Ort noch aus einem anderen Grund in Ungnade. Und das hing mit meiner Tätigkeit als Anwalt zusammen. Am selben Tag Ende März tauchten im Abstand von einer Stunde zwei Mandanten unangemeldet bei mir im Büro auf. In den zwei oder drei Monaten zuvor, als viele inzwischen wieder aktive Winzer an ihren neuen Rebstöcken die Triebe zurückgeschnitten hatte, als einige sogar Wein aus Trauben kelterten, die sie von Winzern an der Küste erworben hatten, kauften die Steinbruchunternehmen im Oak Valley unaufhörlich Land auf und bezahlten, was nötig war, damit sie die Hänge bekamen, die sie haben wollten, also nicht viel. Mittlerweile machten sie sich auch an die Weinber-
ge meiner Mandanten heran, die ich vor dem Bankrott gerettet hatte. Den beiden Mandanten, die mich aufsuchten, hatte ich geholfen, neue Betriebe zu gründen, aus denen quasi automatisch Teilgläubiger wurden, weil die alten, bankrotten Unternehmen bei ihnen in der Schuld standen. Im Einzelfall ging man dabei so vor, daß man einige der alten Gläubiger auszahlte, aber nicht mit Bargeld, sondern mit Anteilen an der neuen, eingetragenen Firma. Ich weiß, es hört sich völlig gesetzwidrig an, seine eigenen Schulden zu kaufen, ohne sie auf Heller und Pfennig zurückzuzahlen, doch es war juristisch korrekt, und Konkursverwalter hatten diese Vermögen abgesegnet. Es gab Hintertürchen; es gab Möglichkeiten, das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren zu umgehen; ich hatte diesen Kunstgriff weder erfunden noch ihn offenbar begriffen. Ehrlich gesagt war ich in den obskuren Gesetzen dieses Bundesstaates nicht sattelfest, war es nie gewesen, und vor allem hatte ich nie vorhergesehen, was sich mittlerweile abzeichnete: Erstens klagten die Gläubiger, denen keine Anteile der neuen Weinberge angeboten worden waren, und zweitens begannen die Gläubiger, die den Köder geschluckt hatten, ihre Anteile der neuen Unternehmen an die Steinbrüche zu verkaufen. Ich hatte geglaubt, dem mit gewissen vertraglichen Tricks vorgebeugt zu haben, doch da hatte ich offensichtlich mich und andere getäuscht. Noch mehr Hintertürchen. Und so bekamen die Steinbrüche die Weinberge unter Kontrolle, was ihnen nicht gelungen wäre, wenn ich mich nicht eingemischt und an den bereits existierenden, sichereren Schutzmechanismen herumdilettiert hätte. Ich hatte meine Mandanten in eine heikle Situation gebracht. Darüber waren sie nicht glücklich, und die beiden waren an diesem Tag nur in meiner Kanzlei vorbeigekommen, um ihre Akten abzuholen und einem anderen Anwalt zu bringen. Daraufhin kam bei meinen anderen Mandanten Panik auf, und in zwei Fällen gaben die Winzer noch vor dem Sommer auf und verkauften ihr gesamtes Land direkt an die Steinbrüche. Meine Mandanten sprangen ab. Ich hatte Schwierigkeiten, neue zu finden, und verdiente nicht so viel Geld wie nötig. Noch so eine Phase - die mußte einfach vorübergehen, redete ich mir immer wieder ein. Schließlich würde ich meinen guten Ruf zurückgewinnen. Ich mußte Geduld haben und Fleiß an den Tag legen. Ich kam schon wieder auf die Beine. Alex Marquez gehörte zu den Mandanten, die sich verraten fühlten. Ich hörte zufällig, wie er sich im Eisenwarenladen mit Will Clark unterhielt. Vermutlich hatten sie nicht bemerkt, wie ich hereingekommen und durch den Gang mit den Lampen und dem Elektrozubehör gegangen war, aber vielleicht taten sie auch nur so, als hätten sie mich nicht gesehen. Alex Marquez sagte: »Wenn du mich fragst, ist er keinen Deut besser als sein Vater. Sein Vater hat uns allen eingeredet, wir sollten uns vergrößern. Sein Vater hat uns weisgemacht, wir sollten Land kaufen, um mehr Rebstöcke zu pflanzen, um mehr Wein abzufüllen, und das haben wir gemacht. Er hat uns geraten, wenn nötig, zur Bank zu gehen und Kredite aufzunehmen, und auch das haben wir gemacht. Zeigt's den Leuten oben in Napa und Sonoma, hat er gesagt, zeigt denen, daß wir besseren Wein machen können, und das in größeren Mengen. Und sieh dir an, wer die Dürre überstanden hat, sie oder wir? Wir nicht. Das kannst du mir glauben. Wir nicht.« Will Clark erwiderte etwas, was ich nicht verstand. »Verrat mir doch, inwiefern er anders ist«, sagte Alex Marquez. »Der führt uns direkt ins Verderben.« Ich hörte seine Worte - es tat weh - und verließ das Geschäft, ohne etwas zu kaufen. Im April zogen wir den zweiten Jahrgang ab. In den vergangenen Wochen hatten wir alle Fässer regelmäßig überprüft und nichts Beunruhigendes entdeckt. Der Säuregehalt war durchschnittlich, der Zucker verbraucht, der Wein stabilisiert, so dachten wir. Doch als wir eins der Problemfässer umfüllten, die wir im Januar mit der Bakterienkultur behandelt hatten, hielten wir uns die Nasen zu. Statt des erwarteten Dufts von Holz und Karamel mit einer Spur Apfelwein stieg uns ein übler und saurer Gestank in
die Nasen, und als ich eine Pipette in dieses Faß einführte und nur einen einzigen Tropfen Wein auf meine Zunge fallen ließ, mußte ich mir eine Thermoskanne mit süßem Tee nehmen und gleich hinterher meinen angebissenen Muffin aufessen, irgendwas tun, um den bitteren Geschmack loszuwerden. Aus dem Wein war Essig geworden. »Wie das?« fragte ich Julia. »Noch vor einem Monat war alles prima. Warum ist er umgekippt?« Wir überprüften die anderen Problemfässer, von denen noch eins schlecht geworden war, aber zwei waren in Ordnung. Wir hatten zwei Fässer an die Essigsäuregärung verloren, fünfhundert Liter Wein. Zwar waren wir uns ziemlich sicher, daß der Rest der Fässer in Ordnung war, allerdings waren uns die in ihnen ablaufenden chemischen Prozesse nunmehr suspekt, und fest stand, daß wir uns um den gesamten Jahrgang sorgen mußten, bis wir ihn im kommenden Winter auf Flaschen zogen. Den verdorbenen Wein hätte ich einfach wegkippen sollen, brachte es aber nicht übers Herz, und so zog ich ihn doch ab und stellte das Faß beiseite, abseits vom Rest des Jahrgangs. Wie gesagt, zwei der Problemfässer waren nicht verdorben, und als Julia überlegte, wie das möglich war, mußte ich es beichten. »Die Fässer, die ich nach meiner Rezeptur behandelt habe«, erklärte ich, »enthielten den Essig.« »Und die nicht umgekippt sind?« fragte Julia, obwohl sie sehr gut wußte, wie meine Antwort ausfallen würde. »Da habe ich die Menge hinzugefügt, für die du plädiert hast. Nach deiner Rezeptur«, gestand ich. Julia schwieg. »Du hast also gewonnen«, sagte ich. »Ich habe gewonnen«, sagte sie. »Na toll. Was gibt's dafür?« Wir lagen im Bett, und als ich näher zu ihr rutschte, drehte sie sich von mir weg. Ich streichelte ihre Schulter, ihre Hüfte, doch sie schüttelte mich ab. Als ich morgens aufwachte, lag sie nicht mehr neben mir. Ihre Kissen waren weg. Ich fand sie im Gästezimmer, wo sie auf dem Boden auf dem Futon lag, einen Quilt über den Kopf gezogen. Das wurde bald zur Dauereinrichtung. Julia schlief zwar neben mir ein, flüchtete aber noch vor Morgengrauen in das Zimmer am anderen Ende des Flurs. »Du hast Schlafstörungen«, stellte ich eines Morgens fest. »Im Frühling schlafe ich nie gut«, antwortete Julia, was mir neu war. »Übrigens bist du wie ein Schiff im Sturm.« »Wie ein was?« »Du wälzt dich wild hin und her. Ein Wunder, daß du nicht kenterst«, sagte sie. Bald hielt Julia nachmittags ein Nickerchen, und wenn ich zu Bett ging, blieb sie wach und sah meist im Arbeitszimmer fern. Ich hatte keine Ahnung, was sie den ganzen Tag lang machte, oder wenn ich im Bett war. Irgendwann kam sie gar nicht mehr ins gemeinsame Bett. Wir schliefen anfangs etwa alle zehn Tage miteinander, dann gar nicht mehr. Ich wußte, worauf das hinauslief. Es ließ sich nicht leugnen. So war es mit uns schon einmal bergab gegangen, und ich hatte keine Ahnung, wie ich das bremsen konnte. Im stillen übte ich Gespräche ein. Ich sagte: Julia, bitte, ich will das nicht... wir wollen das nicht. Doch wenn ich in ihrer Nähe war, schlug mein Herz schneller, und der Text war mir entfallen, mein auswendig gelerntes Friedensangebot, und so schwieg ich lieber. Ich schwieg, und mit uns ging es immer rascher bergab. Eines Nachts, eines Morgens gegen drei Uhr, als ich gerade aufstand, um aufs Klo zu gehen, hörte ich Geräusche, als ob unten jemand weinte. Doch in einem Steinhaus kann sich der Hall sehr verändern. Ein Knarzen im Balken wird zu einem geradezu menschlichen Stöhnen. Wenn ein Zweig einen Dachsparren streift, klingt es,
als würde in der Küche ein Teller zerschlagen. Ich ging nach unten und fand heraus, daß ich mich nicht geirrt hatte: Julia war dabei, ein Kaminfeuer zu entfachen, schluchzend. In einem kalten Frühling wie diesem war ein Feuer Ende April nichts Ungewöhnliches, aber um drei Uhr morgens fand ich es ein wenig merkwürdig. Anscheinend hatte sie sich Scheite vom Holzstapel draußen hinter dem Haus geholt, denn unser Holzstapel im Haus war aufgebraucht. Das Holz war feucht und zischte. »Wir müssen miteinander reden«, sagte ich. Und ich bedauerte sofort, überhaupt etwas gesagt zu haben, denn Julia reagierte darauf mit dem Satz: »Am besten sage ich dir gleich, daß ich kein Interesse habe, es jetzt noch einmal zu versuchen.« »Das beschließt du, einfach so«, sagte ich. »Nicht einfach so«, entgegnete sie. »Eben nicht einfach so.« »Na schön«, sagte ich. »Wann willst du es also versuchen, wenn nicht jetzt?« Julia gab keine Antwort. »Nie wieder?« fragte ich. »Die Sache ist die, Jason, daß ich eigentlich nicht noch ein Kind haben wollte. Das wußtest du.« »Ach ja! Wir haben doch darüber gesprochen«, sagte ich. »Du hast darüber gesprochen«, sagte Julia. »Ich sagte, ich könnte ganz gut ohne ein zweites Kind leben, und du sagtest, du hättest gern noch eins. Tim ist prima. Mir reicht er.« »Natürlich ist er ein prima Junge, aber darum geht's gar nicht«, sagte ich. »Wir haben es nie ausdiskutiert«, sagte Julia. »Wir sollten später darüber reden«, schlug ich vor. »Ich bin nämlich müde, und du bist...« »Was bin ich?« fragte Julia. Die feuchten Scheite wurden schwarz, brannten aber nicht richtig. »Was bin ich?« wiederholte sie. Ich wußte nicht mehr, was ich hatte sagen wollen. Ich küßte sie auf die Wange und ging wieder ins Bett. Ein paar Tage später gab es einen Frost, auf den ich nicht vorbereitet gewesen war. Ich hatte endlich einmal wieder durchgeschlafen, mich zwar hin und her gewälzt, aber trotzdem durchgeschlafen, und als ich gegen sechs Uhr aufwachte, sah ich nach draußen auf rauhreifbedeckte Hügel, auf die von Eiskristallen überzogenen Hänge. Ich zog eine Jeans an, raste nach unten und lief ohne Hemd auf den kalten Weinberg hinaus. Aus irgendeinem Grund war der Frost nicht in die höhergelegenen Bereiche vorgedrungen, und meine Reben hatten die Nacht unbeschadet überstanden. Die Rebstöcke waren voll erblüht, hatten keine einzige Blüte verloren. Ich hätte die gesamte Ernte verlieren können, hatte also noch einmal Glück gehabt. Doch irgendwie sah ich das ganz anders. Als ich aufwachte, war Julia nirgends zu sehen gewesen, und ich nahm an, daß sie am anderen Ende des Flurs schlief. Um so erstaunter war ich, daß sie auf dem Fensterplatz im Wohnzimmer saß, als ich zurück ins Haus kam. »Es hat Frost gegeben«, sagte ich. »Ich weiß«, sagte sie. »Ich war letzte Nacht auf und hab gesehen, wie das Thermometer fiel.« »Ach ja?« Ich ballte meine Hände fast reflexhaft zu Fäusten. »Du hättest mich wekken sollen«, sagte ich. »Dann hätte ich die Heizöfen aufgestellt.« »Wie geht's den Reben?« »Denen ist nichts passiert«, antwortete ich. »Es ist zwar ein Wunder, aber ihnen ist nichts passiert.« »Und?« fragte Julia. Sie ließ die Decke herunterfallen. Sie war angezogen, trug einen Pullover und dunkle Jeans.
»Und?« wiederholte ich. »Warum bist du so wütend?« »Darum geht's gar nicht«, sagte ich. »Es geht darum, daß du wußtest, wie kalt es war, und mich hättest wecken müssen.« »Na toll«, sagte Julia. »Aber den Reben fehlt nichts, oder?« »Du begreifst überhaupt nichts«, schrie ich. Ich hörte, wie oben knarrend eine Tür aufging. »Ich begreife sehr gut. Du bist sauer, weil die Rebstöcke nicht erfroren sind«, sagte sie. Ich sah sie an und glaubte in diesem Augenblick, daß sie mich nicht sehr gut kannte. Oder vielleicht zu gut. »Ich gehe«, sagte Julia. Moment mal. Das war ungerecht. Sie erhöhte den Einsatz. »Hör zu, es tut mir leid«, sagte ich. »Ich hätte dich nicht anschreien dürfen.« »Vielleicht einen Monat«, fuhr Julia fort. »Tu's nicht«, bat ich. »Bitte nicht.« »In die Stadt zurück.« »Bitte«, sagte ich. »Ich muß wieder an meiner Dissertation arbeiten.«, sagte sie. »Ich muß näher an der Bibliothek wohnen...« »Und Tim?« »Tim sollte hierbleiben«, antwortete sie, »bis das Schuljahr zu Ende ist.« Ich hörte, wie oben die Tür zugeknallt wurde. »Julia«, sagte ich, flehte ich. »Immer mit der Ruhe, laß uns reden. Wir können das doch alles besprechen, stimmt's?« Sie hatte abgenommen. Der Pullover rutschte ihr von der Schulter, und ein schmaler Knochen kam zum Vorschein. »Übrigens hast du recht«, sagte sie. »Womit?« wollte ich wissen. »Ich hätte aufs Thermometer schauen und dich wecken sollen, und ich hab mir gedacht, daß wir Frost kriegen. Genauer gesagt: Ich wußte es. Andererseits...« »Was?« Ich konnte sie nicht ansehen. Ich betrachtete die parallel verlaufenden Rillen zwischen den Dielen. »Ich wollte, daß das ganze beschissene Tal zufriert«, sagte sie. Dazu fiel mir nichts ein. Ich konnte sagen, was ich wollte, sie würde nicht bei mir bleiben. Später am Vormittag unterhielt sie sich mit Tim, der den restlichen Tag nicht mehr aus seinem Zimmer kam. Julia packte ein paar Sachen zusammen, und als der Abend dämmerte, war sie weg. Sie versprach, aus San Francisco anzurufen und eine Nummer durchzugeben, unter der sie erreichbar war, aber als sie am nächsten Tag anrief, glaubte ich, daß sie log. Sie klang so weit weg, als wäre sie auf einen anderen Erdteil gefahren, daß ich dachte, sie gäbe mir irgendeine Phantasienummer. Kaum hatte sie aufgelegt, rief ich zu Testzwecken sofort zurück, und als sie abnahm und ich eine Minute lang schwieg, sagte Julia schließlich: »Es tut mir leid, Jason. Du ahnst gar nicht, wie leid es mir tut.« Tim hielt sich nur noch oben in seinem Zimmer auf. Ich hörte ihn auf seinem Computer tippen. Ich wußte, daß er täglich mit seiner Mutter sprach, aber er nahm alle Anrufe oben entgegen, und ich lauschte nicht. Julia und ich telefonierten alle drei Tage wir redeten ausschließlich über Tim -, später einmal die Woche. Inzwischen versuchte ich krampfhaft, ein Gespräch in Gang zu bringen, sofern ich meinen Sohn zu Gesicht bekam. Als er sich beim Frühstück gerade Marmelade auf eine Scheibe Toast schmierte, fragte ich ihn, was er am Abend davor am Computer gemacht habe. Zuerst antwortete Tim nicht, doch dann sagte er: »Ich habe die ganze Nacht Homer
gespielt.« »Homer«, wiederholte ich. Und dann sah mich Tim sogar an und redete mit mir, und obwohl ich eigentlich nicht wußte, wovon er sprach, jedenfalls nicht genau - er beschrieb ein interaktives Computerspiel, das bei seinen Altersgenossen zur Zeit beliebt war -, freute ich mich doch, ihn so lebhaft zu sehen. »Und hast du gewonnen?« fragte ich. »Dabei geht's nicht ums Gewinnen«, sagte Tim. »Man findet Hinweise.« »Hinweise«, wiederholte ich. »Im Grunde versucht man, nach Hause zu gelangen«, erklärte er. »Und hast du's geschafft?« Er stieß nur ein lautes »Ha« aus. »Das hat erst ein einziger Mensch hingekriegt«, sagte er. Und damit hatte sich's. Mir fielen keine Fragen mehr ein, Tim aß seinen Toast, und gleich darauf war er verschwunden, unterwegs zur Schule. Eines Tages rief mich sein Mathelehrer an und ließ mich wissen, daß mein Sohn in diesem Schuljahr durchfallen werde. »Aber du bist doch in Mathe so gut«, sagte ich abends beim Essen zu ihm. Tim zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, daß es nicht leicht für dich ist, jetzt, wo deine Mutter weg ist«, sagte ich, »aber sie...« »Du weißt, daß sie nicht mehr zurückkommt«, warf er ein. »Das weißt du doch, oder?« Ich atmete tief durch. »Das hat sie dir gesagt«, sagte ich. »Darf ich nach Los Angeles ziehen?« »Ob du was darfst?« »Hab ich mir gedacht«, sagte Tim. Er stand vom Tisch auf. »Moment, ich bin noch nicht mit dir fertig«, rief ich, doch er stapfte die Treppe hoch und blieb den Rest des Abends verschwunden, und am nächsten Morgen sah ich ihn nur kurz beim Frühstück. Hatte Julia ihm wirklich erzählt, sie werde nicht zurückkommen? Ich beschloß, ihm nicht zu glauben. Ich beschloß, es könne nicht wahr sein. In einem, höchstens zwei Monaten war sie wieder da. Sie mußte eine Weile allein sein, mehr nicht, und unterdessen würde ich hoch oben eine Warteschleife drehen. Unterdessen mußte ich mir über andere Dinge den Kopf zerbrechen, über Geld beispielsweise. Die Rechnungen konnte ich zwar noch bezahlen, aber nur mit Müh und Not. Die meisten meiner Mandanten hatten mich verlassen, und ich bekam keine Aufträge als Pflichtverteidiger mehr. Mir war bisher auch nicht klar gewesen, daß ich die Wertschätzung meiner Bekannten bei der Rechtshilfe verloren hatte. Auch sie hatte über mein Gespräch mit dem Staatsanwalt damals an jenem Oktoberabend die Stirn gerunzelt; sie hatte mir eine kurze Notiz geschickt, einen Tadel, daß ich meine Kompetenz überschritten hätte. Im Winter hatte sie mich zwar noch als freien Mitarbeiter beschäftigt, doch im Frühling blieben die Aufträge allmählich aus, und ich fragte mich, ob es da einen Zusammenhang mit meinen Fehlern bei den Bankrottgeschichten gab. Als ich am dringendsten Arbeit brauchte, bekam ich keine. Ich mußte sparen und gab meine Kanzlei auf. Niemand hinderte mich daran; offenbar merkte keiner, daß ich Kartons voller Akten sowie Bücher und Möbel in meinen Wagen lud. Ich verwandelte mein Arbeitszimmer zu Hause in ein Büro. Das klappte eigentlich ganz gut, ich konnte einen Vertrag durcharbeiten, anschließend raus auf den Weinberg gehen, dann wieder ins Haus und ein paar Telefonate erledigen und so weiter, auch wenn Tim vermutlich nicht besonders erpicht darauf war, mich dauernd um sich zu haben. Trotz meiner Proteste aß er auf seinem Zimmer zu Abend, und ich nahm mein Abendessen an meinem Schreibtisch ein und gab vor, arbeiten zu müssen, löste aber in Wirklichkeit häufig genug Kreuzworträtsel.
Nachts lag ich wach und rechnete durch, wieviel Gewinn sich mit dem in Flaschen abgefüllten Wein erzielen ließ, und was ich mit meiner Anwaltstätigkeit verdienen mußte, um mich über Wasser zu halten. Im nächsten Jahr würde Tim ein Auto brauchen, und ich wollte nicht, daß er irgendeine alte Kiste fuhr. Und ehe ich mich versah, galt es, seine Studiengebühren zu bezahlen. Geld war knapp, und vom vielen Grübeln darüber konnte ich nicht mehr schlafen, so daß ich eines Morgens Anfang Juni einen Arzt in New Idria aufsuchte, der mir Schlaftabletten verschrieb. Die halfen zwar, doch am nächsten Tag fühlte ich mich lange benommen. Dennoch nahm ich jeden Abend eine Tablette, um ein wenig Ruhe zu finden. Eines Abends, als eine der Tabletten gerade zu wirken begann, rief Julia an. »Mir wäre es am liebsten, Tim könnte den Sommer über bei dir bleiben«, sagte sie. Ich hörte eine leise Stimme im Hintergrund. »Wo bist du?« fragte ich. »Was soll das heißen, den Sommer bei mir bleiben? Verbringst du denn den Sommer nicht bei mir?« »Ich habe eine neue Adresse«, sagte Julia. »Dein Sohn fällt in Mathe durch«, sagte ich. »Und eine neue Telefonnummer«, fuhr sie fort. »In Mathe«, wiederholte ich. »Seinem besten Fach.« »Hier ist meine Nummer«, sagte sie. Ich schaffte es, sie irgendwohin zu kritzeln. »Julia, bitte. Wir müssen uns treffen.« Ich hätte gern mehr gesagt, doch das Beruhigungsmittel bewirkte, daß ich meine Gedanken nicht mehr klar formulieren konnte. »Wir reden bald miteinander«, sagte sie und legte auf. Nein, dachte ich. Das durfte nicht wieder passieren. Wie konnten wir uns so schnell auseinanderleben? Das durfte nicht passieren. Ich rief sie unter der neuen Nummer zurück. Ein Mann nahm ab. Es war der Maler. »Moment«, sagte er. Sie war zu diesem dämlichen Maler zurückgekehrt. Ich legte auf, bevor sie ans Telefon kam, und sie rief mich nicht zurück. Sie lief mir nicht nach. Ich schlug mit der Faust gegen den Putz hinter meinem Bett und nahm mir das Versprechen ab, auch nicht hinter ihr herzurennen. Ein Glück, daß ich sie los bin, dachte ich. Schluß mit der Warteschleife. Dann brach ich zusammen; dann fing ich an zu heulen. Ich wollte mich zu irgendeinem Entschluß durchringen, doch mir fiel nichts ein. Ich weinte mich in den Schlaf. Dann stürzte ich mich auf die Arbeit im Weinberg. Meine Pflanzen brauchten meine Zuneigung. Ich fand, das sei das einzige, was ich gut konnte, Wein anbauen. Ich kümmerte mich liebevoll um meine Reben. Ich spritzte gegen Mehltau; ich spritzte Unkrautvernichtungsmittel. Ich erzog die Reben, wickelte die Ranken um die oberen Drähte der Spaliere. Ich bewässerte sie. Ich widmete mich voller Hingabe meiner Arbeit im Weinberg, weil mir das auch früher schon geholfen hatte. Es hatte mir große Zufriedenheit verschafft, als alles andere versagt hatte. Eines Morgens - immer noch im Juni - entdeckte ich eine daumennagelgroße Galle unter einem Weinblatt. Ich überprüfte die anderen Blätter am selben Stock und fand noch mehr dieser warzigen Stellen, dann entdeckte ich sie auch auf einigen jüngeren Trieben. Rasch untersuchte ich sämtliche Reben in dieser Reihe und fand die Knoten überall, wo ich nachsah. An den Reben in der nächsten Reihe tiefer am Hang fand ich noch mehr davon; und in der Reihe darunter auch. Als ich eine Galle mit dem Daumennagel zerdrückte, wurde mir richtig übel. Im Inneren war sie orange, ganz pappig von klebrigen Larven. Ich lief ins Haus, nahm ein Buch über Weinbau zur Hand und blätterte den mit »Schädlinge« überschriebenen Anhang durch. Ich mußte mir seitenlange Schilderungen von Milben, Motten und allem möglichem anderen Getier zu Gemüte führen, ehe ich die Beschreibung meiner Symptome fand.
Es war Phylloxera, die Reblaus. Ich steckte in Schwierigkeiten. Laut meinem Buch hatte die Reblaus im Jahre 1869 einen Großteil der europäischen Reben vernichtet; Ende des letzten Jahrhunderts hatte die Plage dann auch Kalifornien heimgesucht. Erst kürzlich hatte ich in der Zeitung darüber gelesen, daß Agrarwissenschaftler vor einer neuen Reblausart warnten, hatte aber geglaubt, auf keinen Fall betroffen zu sein. Erstens waren meine Reben alt, zweitens hieß es, CabernetSauvignon-Trauben seien nicht sehr reblausgefährdet. Das versetzte mir im Eisenwarenladen vermutlich den Todesstoß. Mit der Neuigkeit von meinen kranken Reben in den Ort zu fahren war ein Fehler, aber ich geriet in Panik. Ich brauchte Rat. Will Clark trat zwei Schritte von mir zurück, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Alex Marquez verließ den Laden, aber der redete ja ohnehin nicht mehr mit mir. »Scheiße, Jason«, sagte Will Clark und ruderte mit den Armen. »Dieses Zeug verbreitet sich wie ein Steppenbrand. Du mußt es sofort vernichten. Sofort, augenblicklich, hast du verstanden?« »Ich weiß«, sagte ich, »ich weiß. Was soll ich denn machen?« Emma Hodges zeigte mit einem knochigen Finger auf mich. »Hol dir jemand zum Spritzen«, sagte sie. »Hol dir jemand, der sich auskennt.« Sie nickte in Richtung Straße. »Du könntest das Dreckzeug in deinem Pick-up anschleppen. Vielleicht hast du es an den Schuhen. Dann könnten wir es alle mit nach Hause nehmen. Dann kriegen es unsere Reben. Es frißt die Wurzeln auf. Es zerstört in einem Sommer ganze Weinberge«, sagte sie. Und mit einem kalten Flüstern fuhr sie fort: »So vernichtest du jeden einzelnen Rebstock im ganzen Tal, und keiner wird je wieder einen neuen pflanzen. Damit hat sich's. Das ist das Ende.« Ich fuhr wieder nach Hause und rief das Institut für Önologie der Universität in Davis an. Dort sagte man mir, vielleicht hätte ich Glück, weil Phylloxera eine Wurzellaus sei, wie Emma Hodges erzählt hatte, und ich sie womöglich in ihrer frühen Form direkt am Blatt erwischt hatte. Falls sie sich im Oak Valley ausbreite, so sagte man mir, könne sie auch anderswo im Staat auftauchen. Der Mann, mit dem ich sprach, erbot sich, am nächsten Tag einen Experten loszuschicken. Und so fielen am nächsten Morgen ein halbes Dutzend Männer und Frauen in grellen Overalls und Helmen samt Schutzmasken über meinen bescheidenen Weinberg her; jeder einzelne mühte sich mit einem oktopusartigen Schlauch ab, der in einen mit Chemikalien beladenen Lkw mündete. Sie besprühten das Feld in einer knappen Stunde. Ich sah von meinem Schlafzimmer aus zu. Tim kam aus seinem Zimmer und sah auch zu. Ich wußte zu schätzen, daß er mir kurz tröstend eine Hand auf die Schulter legte, doch ehe ich mich versah, war er wieder weg, in seinem Zimmer verschwunden. Das maskierte Team hackte auf die befallenen Stöcke ein, ein Viertel meines Rebenbestands, und lud die Pflanzen in einen anderen Lkw, der damit umgehend verschwand. Sie würden verbrannt werden. Die Fachleute inspizierten die Spaliere und die Wurzeln und erzählten mir, um ganz sicherzugehen, müßten sie einige Pflanzen ausreißen. Sie zogen die Wurzeln von hundertfünfzig Weinstöcken heraus und sagten, ich könne von Glück reden, daß sie nicht den gesamten Bestand vernichten müßten. Sie betonten immer wieder, was für ein Glück ich hätte. Mein Glück, hätte ich am liebsten entgegnet, war dahin. Die Liebe meines Lebens, meine engste Vertraute, hatte mich verlassen. Mein Sohn sprach kaum noch mit mir. Ich hatte keine Freunde im Ort, hielt mich finanziell nur mit Müh und Not über Wasser. Ich hatte alles andere als Glück. Und jetzt auch noch das. Hier ging es um die Reben meines Großvaters. War das diesen Wissenschaftlern eigentlich klar? Diese Weinstöcke hatten fast achtzig Jahre überdauert. Ich konnte nicht mitansehen, wie diese Leute sie herausrissen. Tim ließ ich einen Zettel zurück, auf dem stand, ich würde einen langen Spaziergang machen und für den Rest des Tages fort sein, dann stieg ich in meinen Wagen und fuhr weg. Ich wollte nicht dabeisein, wenn sie mit der
Bodenfräse ankamen. Ich konnte nicht zusehen, wie sie meinen Weinberg zerstörten. Als ich abends nach Hause kam, sah ich die dunkle Bahn umgegrabenen Erdreichs, mein in zwei ganz unterschiedliche Felder zerteiltes Land, und ich hielt mitten auf der Weinbergstraße an, stieg aus meinem Auto und stand einfach lange Zeit nur da und starrte den flachen Graben an. Es wurde einer der einsamsten Sommer meines Lebens. An jedem zweiten Wochenende brachte ich Tim zu seiner Mutter in die Stadt, und wenn das Wochenende vorbei war, holte ich ihn wieder ab - alles, ohne Julia zu Gesicht zu bekommen. Wenn Tim auf dem Weingut war, scheute er das Sonnenlicht, als wäre es die Pest. Die Jalousien in seinem Zimmer blieben immer unten. Tagsüber arbeitete ich auf dem zweigeteilten Feld, und abends nahm ich eine Schlaftablette. Die Tage waren heiß, bedrückend trocken und lang. Ich beschloß, keine großen Entscheidungen hinsichtlich der Zukunft zu treffen. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, und bei dieser Hitze konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Manchmal nahm ich meine Schlaftablette, sobald die Sonne unterging. Ich wollte wirklich nur noch schlafen. Ende August bekamen die restlichen Trauben allmählich Farbe, früh in der Saison, und im September maßen wir mit meinem Aräometer den Zuckergehalt. Jedes Jahr verlor ich einen Teil meiner Ernte an die Vögel. Ich hätte Streifen aus Alufolie an die Reben binden können, um sie zu verjagen, was mittlerweile die meisten Winzer machten. Aber ich war mir nicht sicher, ob das wirklich funktionierte. Früher, als ich jung war, hatte ich im Tal manchmal Gewehrschüsse gehört, wenn die Arbeiter auf die traubenfressenden Vögel schössen oder versuchten, das in den Weinbergen äsende Wild zu vertreiben. Der Schaden in meinem Weinberg hielt sich bisher jedoch in Grenzen, und mich störte das bißchen Obst nicht, das der heimischen Tierwelt zum Opfer fiel. Und tatsächlich kamen die Stare und großen Krähen pünktlich geflogen, krächzten aus den oberen Ästen der Eichen, stießen ins Feld herab, um sich dann, großen schwarzen Bumerangs gleich, wieder in die Bäume zu erheben. Eines Nachmittags entdeckte ich eine Krähe, die auf dem braunen Gras zwischen zwei Rebenreihen lag. Es war ein riesiger Vogel, tot beängstigender als lebendig, die Krallen geöffnet, als wolle sie einen Ast, den Himmel, irgend etwas packen, während sie ein letztesmal krächzte. Auch der Schnabel stand offen. Ich vergrub das Tier. Am nächsten Tag fand ich noch zwei tote Krähen. Ich erzählte Tim von den toten Vögeln und fand seine Reaktion besorgniserregend. Er fragte: »Wieso überrascht dich das?« Die Chemikalien, die zur Bekämpfung der Rebläuse auf die Reben gespritzt wurden, waren angeblich einzig und allein für die Läuse giftig. Ich nahm nicht an, daß meine Trauben die Vögel umbrachten, fand aber nirgendwo anders auf dem Grundstück tote Vögel als in der Nähe meiner Früchte. »Mich überrascht das nicht«, behauptete mein Sohn. »Mich überrascht das ganz und gar nicht.« Er war böse mit mir, das wußte ich, und wahrscheinlich auch mit seiner Mutter, weil wir - besser gesagt: sie - beschlossen hatten, daß Tim auf dem Weingut bleiben und hier zur Schule gehen sollte, wenigstens bis Julia in der Stadt eine Bleibe für sie beide gefunden hatte. Ich hatte Angst davor, meine Reben abzuschreiten, weil ich jedesmal auf einen neuen auf dem Rücken liegenden toten Vogel stieß, mit dem verblüfften erstarrten Blick eines ausgestopften Tieres. Eine Woche ging das so. Allmählich fragte ich mich, was für ein Gift in meinen Früchten war, und natürlich fragte ich mich, was für ein Wein aus diesen Trauben werden würde. Irgendwann hatten die widerstandsfähigsten Vögel wohl herausgefunden, daß ihnen die dicken Beeren schadeten, und sie verließen mein Grundstück ganz. In diesem Herbst verschwanden die Krähen von meinem Weinberg. Auch alle anderen Vögel verzogen sich, und ohne Vögel wurde der Weinberg unheimlich still.
In dem Monat vor der Weinlese war der Himmel an jedem Tag bewölkt, was viele Winzer für einen Glücksfall hielten, solange es vor der Lese nicht regnete. Diese Wettergeschichten waren für mich immer ein Buch mit sieben Siegeln, aber irgendwie hatten die Wolken - oder vielleicht besser der verminderte Sonnenschein - angeblich ein ideales Säure-Zucker-Verhältnis zur Folge. Ich lebte schon lange genug im Tal, um zu wissen, daß die Herbstmorgen grau sind, daß nachmittags gegen zwei eine Stunde lang die Sonne durchkommt und eine düstere, trübe Abenddämmerung folgt. Ich dachte, ich könnte das Wetter an den Bäumen ablesen und wüßte, daß wahrscheinlich ein Nieselregen bevorstand, wenn die Blätter schlaff wurden oder sich aufrollten. Eines Tages Ende September brach Tim zur Schule auf, und gegen Mittag rief irgend jemand von der Schule an und erkundigte sich, ob er krank sei. Er schwänzte den Unterricht. Das weiß ich noch, weil ich nie dazu kam, mit ihm zu schimpfen. Denn plötzlich raschelte es nicht mehr in den Eichen, und es fing unversehens an zu schütten. Es regnete und regnete und hörte nicht wieder auf. Ich glaube nicht, daß irgendwer den zwei Tage lang andauernden strömenden Regen hätte vorhersagen können, der das Tal durchweichte. Die Dachrinnen meines Hauses flössen über. Überall wurde der Erdboden matschig, und als ich nach dem Regen den Zuckergehalt der Trauben überprüfte, war der Wert viel zu hoch. Doch der Reifungsprozeß des Weins ließ sich nicht umkehren, ich konnte nichts weiter tun, als mit der Lese zu beginnen, was ich so schnell wie möglich tat. »Entweder gehst du in die Schule, und zwar richtig, oder du hilfst mir bei der Lese«, sagte ich zu Tim. »Was bringt das schon«, sagte er. »Was die Weinlese bringt?« fragte ich. »Was bringt das überhaupt alles?« sagte er und fuhr mit dem Rad die Weinbergstraße hinunter, um den Bus zu nehmen. Ich kippte die Trauben in den Stahltank und wußte nicht genau, wieviel Sulfat ich zugeben mußte und wieviel von der Hefekultur, weil der hohe Zuckergehalt all meine bisherigen Berechnungen durcheinanderbrachte. Doch was ich auch hineinrührte, es war nicht genug, denn am dritten Tag, nachdem ich die letzten Früchte in den Bottich gekippt hatte, tat sich gar nichts - die Gärung kam nicht in Gang. Ich fügte noch mehr Hefe hinzu - immer noch nichts. Am fünften Tag bemerkte ich in der Früh endlich ein paar Blasen, ein langsames und unregelmäßiges Schäumen. Ich stand auf der Leiter und beobachtete den Most, und bald begann der Saft intensiver zu schäumen. Später am selben Tag geriet die Gärung ins Stocken, sie brach ab. Und es roch merkwürdig. Nicht nach gärendem Obst, nicht der gewohnte saure Geruch, den alle Winzer begrüßen, sondern beängstigend süß, wie Honig. Der Most war dickflüssig, fast wie Sirup. Als ich noch mehr Hefe hineingab, um die chemische Reaktion anzukurbeln, fing der Most wieder an zu schäumen; schließlich stieg der Trester nach oben, den ich wieder unterstoßen mußte. Doch der zuckersüße Geruch verschwand nicht; der Geruch faulender Äpfel stellte sich nicht ein. Was früher zwei Wochen gedauert hatte, dauerte nun dreieinhalb. Die Gärung kam mehrmals ins Stocken. Ich wußte, daß dieser Wein eine Katastrophe war, öffnete aber dennoch die Hähne unten am Tank und ließ den Most eine Ebene tiefer in den Zwischentank fließen. Tim bot seine Hilfe nicht an, und ich bat ihn auch nicht darum. Ich mischte die Hefe für die Nachgärung unter und hatte keine, nicht die geringste Ahnung, wie ich das richtige Mischungsverhältnis finden sollte. Der Wein roch immer noch süßlich, und wenn überhaupt, wurde er Tag für Tag dickflüssiger. Daher nahm ich einen Schlauch und drehte den Hahn am Tank auf. Ich hörte nur ein lautes Gluckern, und schon floß der Wein durch den Schlauch ins Freie. Ich ging nach draußen, hockte mich auf den feuchten Boden und sah zu, wie der merkwürdige Wein meines dritten Jahrgangs zuerst in einem Rinnsal, dann als Bach den Hügel hinablief.
Bald wurde der Bach zum Fluß, der unterwegs Beifuß- und Sumachpflanzen verschlang und einen Eibenholzbaum zur Insel machte, der Steine, Äste und Blätter beiseite schob, bis er sich schließlich in einer riesigen Pfütze, einem Teich am Fuße des Hügels sammelte, in einem See, der am Ende des Tages im Lehm versickert war. An diesem Abend ging ich in das alte Steinhaus und legte Tim einen Zettel hin, auf dem stand, er müsse allein essen. Ich ging in mein Schlafzimmer rauf, nahm zwei Schlaftabletten, und als ich wieder aufwachte, war es draußen immer noch dunkel; doch dem Jucken meiner Bartstoppeln nach zu urteilen, hatte ich einen ganzen Tag geschlafen. Meine Tage wurden kürzer. Ich schlief bis spät am Vormittag, und früh am Abend nahm ich eine Schlaftablette. Ich bekam mit, daß Tim kam und ging, aber wir wechselten kaum einmal ein paar Worte. Ich mußte annehmen, daß er in die Schule ging, weil niemand anrief und wegen seiner Schwänzerei klagte. Abends hörte ich ihn auf seinem Zimmer am Computer. Ich ging fast nie mehr aus dem Haus. Wenn ich etwas zu essen brauchte, rief ich einen Laden in New Idria an, der frei Haus lieferte. Ich machte mir nicht die Mühe, meine Post aus dem Briefkasten am Ende der Weinbergstraße zu holen. Ich ging auch nicht ans Telefon, und irgendwann hörte es auf zu klingeln. Derweil verfiel mein Haus zusehends. Aus irgendeinem mir unbekannten Grund stieg die Heizungswärme nicht mehr in den ersten Stock, das Erdgeschoß blieb allerdings warm. Mein Schlafzimmer wurde zu einer Art arktischem Unterstand, so daß ich irgendwann im Arbeitszimmer schlief. Ich hatte keine Ahnung, wie Tim sich warm hielt. Er behauptete, es ginge ihm gut. Und der Regen, der meine Trauben hatte überreif werden lassen, ließ kaum nach. Immerhin machten wir nicht noch eine Dürre durch. Zu der Zeit war es keinem klar, aber uns stand eine der verlustreichsten Regenzeiten in der Geschichte des Tals, ja der Geschichte Kaliforniens, bevor. Uns stand ein langer Regen bevor, ein permanentes Unwetter, das monatelang anhalten sollte; manchmal fielen nur ein paar Tropfen, und manchmal stürmte es, aber der Regen hörte nie auf. Die Rinnen hielten dem vielen Regen nicht stand, und auf zwei Seiten des Hauses lösten sie sich von den Dachtraufen, baumelten noch eine Weile, bis sie herunterfielen und auf dem Rasen landeten. Ich hörte, wie, so nahm ich an, Ziegel vom Dach rutschten und kaputte Fensterläden am Mauerwerk kratzten. Auch das Dach war undicht geworden, und in einigen Zimmern mußte ich Eimer aufstellen. Ich war allerdings machtlos gegen die Feuchtigkeit, die in die Wände drang und dafür sorgte, daß der Putz sich wölbte und abplatzte. Der lange nicht gemähte Rasen sah wie Marschland aus, was an den vielen Pfützen, dem hohen Gras und den ungepflegten Hecken lag. Mit Sicherheit war auch der Weinberg zu einem Sumpf geworden, doch ich vermied, aus einem auf das Feld gerichteten Fenster zu schauen. Meine Reben konnte ich nicht ansehen. So stellte ich mir das Gefühl vor, wenn man langsam ertrank. Das Atmen fiel einem immer ein wenig schwerer. Ich wußte, ich mußte mich zusammenreißen, und jeden Tag versprach ich mir aufs neue, daß ich am nächsten die Tabletten wegwerfen würde, die ich jeden Abend schluckte, daß ich mir ein sauberes Hemd anziehen und meinem Sohn ein vernünftiges Essen kochen würde. Am nächsten Tag würde ich mir den Kontoauszug gründlich ansehen und entscheiden, ob wir von dem Weingut leben konnten. Am nächsten Tag würde ich mich endlich entschließen, in die Stadt zurückzuziehen. Doch der nächste Tag kam, und ich schlief lange, bis ich mich irgendwann von der Couch an meinen Schreibtisch schleppte, aber dann stierte ich lediglich in den Regen hinaus, in dieses endlose Grau. Der Regen kam näher, umgab mich, schloß mich ein wie ein Gefängnis, und bald lag ich wieder auf der Couch. So ging das einen Monat.
Eines späten Abends wachte ich aus meinem tablettentiefen Schlaf auf und hörte, wie jemand gegen meine Haustür hämmerte. Gleichzeitig klingelte das Telefon. Ich nahm zuerst den Hörer ab. Harry Padillo war dran. »Offnen Sie die Tür«, sagte er. Er stand auf meiner Treppe, ein Handy in der Hand. »Seit einer Viertelstunde klopfe ich und rufe an«, sagte er. Jetzt war es also soweit, dachte ich. Es hatte über ein Jahr gedauert, aber endlich hatte mich jemand bei meiner Lüge ertappt. Ich winkte den Sheriff in die Küche. Ich mußte mich setzen. Ich fragte mich, ob er seine Hilfssheriffs angewiesen hatte, im Einsatzwagen zu warten. Vermutlich wußte er, daß ich mich seiner Verhaftung nicht widersetzen würde. »Jason, sind Sie nüchtern?« fragte Harry Padillo. »Ich nehme irgendwelche Tabletten«, versuchte ich zu erklären. »Ich bin wegen Tim hier«, sagte der Sheriff. Ich richtete mich kerzengerade auf. Tim hätte das Pochen an der Tür hören müssen. »Wir haben versucht anzurufen. Vor einer Stunde haben wir einen Mann vorbeigeschickt...« »Tim ist oben«, sagte ich. »Tim ist nicht oben«, widersprach Harry Padillo. »Er hatte einen Unfall. Er liegt in Hollister auf der Intensivstation. Auch das Krankenhaus hat versucht, Sie anzurufen.« Ich sah ihn von der Seite an. Was redete er da? »Er hat Ihren Wagen auf dem Oak Leaf Highway gegen einen Baum gefahren.« Mein gesamter Körper zitterte. »Das ist unmöglich. Er ist oben«, sagte ich und lief hinauf in sein Zimmer. Die Tür stand offen, sein Computer war ausgeschaltet. Ich setzte mich aufsein zerwühltes Bett. O nein, dachte ich. O nein. Nein, nein. Als ich aufschaute, stand Harry Padillo in der Tür. »Nicht weit von der Stelle, wo der junge Montoya überfahren wurde«, sagte er. »Er ist gegen eine Kiefer geprallt. Ihr Wagen hat einen Totalschaden. Tim kann von Glück reden, daß ihn schließlich ein Ranger gefunden hat. Und ich muß Ihnen sagen, warum ich eingeschaltet wurde, Jason. Tim hatte getrunken. Er war sternhagelvoll. Und er ist mit vollem Tempo gegen den Baum gerast«, sagte der Sheriff. Tim hing an so vielen Schläuchen und Monitoren, daß er wie eine verdutzte Fliege aussah, die sich in einem Netz verfangen hatte und jetzt hilflos darauf wartete, daß die Spinne näher kam. Er hatte etliche Knochenbrüche, Schnittwunden und vielleicht sogar Organquetschungen davongetragen. Die Ärzte befürchteten innere Blutungen, doch zunächst schien er außer Gefahr zu sein. Sein Gesicht sah furchtbar entstellt aus, zur Hälfte bandagiert, aber er hätte schwere Kopfverletzungen abbekommen können, und der behandelnde Neurologe war sich ziemlich sicher, daß dem nicht so war. Schlimmstenfalls hatte er eine Gehirnerschütterung. Er war nicht ansprechbar, mit Morphium oder sonst etwas ruhiggestellt, doch ich glaube, er spürte, wie ich seine nicht verbundene Hand drückte. Ich hoffte, daß er hörte, wie ich zu ihm sprach. Ein Arzt aus der Notaufnahme bat mich, mit dem diensthabenden Psychiater zu reden. Dieser äußerte die Vermutung, Tim habe versucht, Selbstmord zu begehen. »Nein«, entgegnete ich, »das glaube ich nicht. Nicht Tim.« Aus heiterem Himmel tauchte Julia auf, lief in Richtung Notaufnahme. Ein Pfleger packte sie und hinderte sie daran, durch die Doppeltüren der Intensivstation zu stürmen. Ein paar Schritte hinter ihr tauchte der Maler auf und nahm sie am Arm. Nachdem sie Tim gesehen hatte, entdeckte sie mich im Wartebereich. Jetzt waren wir alle wieder im Krankenhaus. Ich wußte nicht, was ich zu ihr sagen sollte. »Ich weiß, daß es auch meine Schuld ist«, sagte sie. »Ich hätte ihn nicht bei dir lassen sollen.« »Er wird wieder«, sagte ich. »Sie glauben, daß er sich umbringen wollte«, sagte Julia.
Sie hatte etwas zugenommen und längere, nicht mehr so streng gestutzte Haare, doch vor Angst war sie so bleich, daß ich fand, sie sah ganz ähnlich aus wie nach ihrer Fehlgeburt im vorigen Winter. »Das glaube ich nicht«, entgegnete ich. »Du denn?« Julia seufzte. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll.« Die ganze restliche Nacht und den gesamten folgenden Tag verbrachten wir auf Stühlen zu beiden Seiten seines Bettes sitzend, sprachen leise mit den Schwestern und Ärzten, die kamen und gingen und deren diverse Tests keine Ergebnisse brachten, die Anlaß zur Sorge gegeben hätten. Man sagte uns, Tim habe Glück gehabt. Der Wagen war so groß, daß er dem schweren Aufprall standgehalten hatte. Es hatten also alle Glück gehabt. Ich hatte Glück gehabt, daß nicht meine gesamte Ernte einer Killerlaus zum Opfer gefallen war, und Tim, tja, der hatte Glück gehabt, daß er nur mit zweihundert Stichen genäht werden mußte, weil er mit einem Auto gegen einen Baum gerast war. Ich legte eine Hand auf die Wange meines Sohnes. Ich hatte erwartet, daß er fiebrig wäre, doch er fühlte sich kühl an. Seine geschwollenen Augenlider zuckten. Julia blieb auch die nächste Nacht noch im Krankenhaus, aber ich fuhr heim und durchstreifte das Haus. Ich ging in alle Zimmer hinein und wieder heraus, nur in Tims nicht. Wenn ich da reinging, würde ich herumschnüffeln. Ich wollte unbedingt wissen, was er vorgehabt hatte. Wollte er alkoholisiert Auto fahren? Wollte er auf der Bergstraße einen Unfall bauen? Am nächsten Tag hielt ich Tims Hand. Einige Schläuche und Kabel waren entfernt worden. Nur einmal ließ ich ihn allein, um mit jemandem von der Staatsanwaltschaft zu verhandeln. Man wollte die Anklage wegen Trunkenheit am Steuer fallenlassen, wenn wir Tim zu einem Therapeuten schickten, wozu mich Julia ohnehin schon überredet hatte. Seinen Führerschein würde er nicht vor seinem achtzehnten Lebensjahr bekommen. Er würde an gewissen Kursen teilnehmen, vielleicht ein wenig gemeinnützige Arbeit und dergleichen leisten müssen. Als ich in Tims Zimmer zurückkam, saß er etwas aufrechter in seinem Bett, hatte die geschwollenen Augen aber immer noch geschlossen. Er sprach mit seiner Mutter. Sie hörte ihm nicht zu. Julia murmelte immer nur: »Mir müßte es eigentlich leid tun, Schatz, nicht dir.« Ich nahm neben ihm Platz, und obwohl er die Augen nicht öffnete, wandte er sich zu mir um und flüsterte, formte mit den Lippen die Worte: »Es tut mir leid, Dad.« »Es muß dir nicht leid tun«, sagte ich. »Hauptsache, du wirst gesund.« »Es tut mir leid«, flüsterte er wieder, und mehr versuchte er auch gar nicht zu sagen. Doch ich wußte, daß er sich nicht nur dafür entschuldigte, daß er allein mit meinem Wagen unterwegs gewesen oder betrunken gefahren war. An dem Abend betrat ich sein Zimmer. In seinem Nachttisch, seiner Kommode und den Schreibtischschubladen fand ich nichts. Offenbar führte mein Sohn kein Tagebuch. In den Skistiefeln oder alten Brettspielen in seinem Schrank hatte er auch nichts versteckt. Ich schaltete also seinen Computer an. Ich hatte keine Ahnung, was ich unter den Dateien zu finden hoffte, die auf dem Bildschirm aufgelistet wurden. Ein Tagebuch? Ich wußte nicht, ob er Freunde hatte, die ich anrufen konnte. Konnte mich jemand über meinen Sohn aufklären? Konnte mich jemand auf den aktuellen Stand bringen? Und da kam mir der Gedanke, wenn mein Sohn überhaupt einen Freund hatte, dann einen elektronischen. Ich versuchte, das Online-Programm anzuwerfen. Ich war erst einmal mit Tim Cybersurfen gewesen, und das war schon eine Weile her, so daß ich mich eigentlich nicht auskannte. Als erstes brauchte ich ein Paßwort. In einem Kästchen tauchte Tims Screen-Name auf - unter diesem Namen kannten ihn seine Online-Freunde - , und in der Lücke unter dem Screen-Name mußte ich das Paßwort eingeben. Ich kannte das Paßwort nicht... Dann warf ich noch einmal einen Blick auf den Screen-Namen. Der war nicht, was
ich erwartet hätte. Da stand nicht TimothyDark oder TDark oder TimD oder sonst eine Kombination seines Vor- und Nachnamens. Mein Sohn hatte sich für den ScreenNamen Montoya entschieden. Mein Sohn, mein Sohn - ich hatte ihn fast verloren. Es ließ sich nicht leugnen, daß er von dem Jungen besessen war, den ich getötet hatte. Auch mein Sohn wollte tot sein. Und ich hätte die Warnzeichen bemerken müssen, ich hätte mich um ihn kümmern müssen. Wie gern hätte ich die Uhr zurückgedreht. Ich wünschte mir, es wäre erst Sommeranfang und ich würde mit Tim über das reden, was ihn traurig machte. Oder es wäre wieder Frühling und ich würde mich vor der Haustür aufbauen und verhindern, daß Julia uns verließ. Wie gern wollte ich das Rad der Zeit zum vergangenen Herbst zurückdrehen... Tim wurde in ein Einzelzimmer verlegt. Er lag nun nicht mehr auf dem Rücken, sondern auf der Seite, und wie er so dalag und schlief, sah er wieder mehr wie der alte aus. Bis er aufwachte. Sobald er die Augen öffnete, wirkte er wie ein Schatten seiner selbst. Sein Gesicht war aufgedunsen und verschorft, die Haare hatte man bis auf einen feinen Flaum abrasiert. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen, und er sah ausgemergelt aus, als würde er am Verhungern sein. Er versuchte erst gar nicht, mit mir zu reden. Er starrte mich einfach nur an, und dann schlief er wieder ein. Julia hatte sich mit etlichen Ärzten beraten, die ein intensives Therapieprogramm vorgeschlagen hatten; den größten Teil der Ferien würde er in einem Sanatorium verbringen und anschließend zu ihr in die Stadt ziehen. Bevor ich das Krankenhaus verließ, war ich eine Weile mit Tim allein und fragte: »Willst du das auch wirklich? Bei deiner Mutter in der Stadt leben?« Er zuckte die Achseln. »Na schön«, sagte ich. »Du weißt, daß ich dich immer lieb habe.« Tim blinzelte, und dann runzelte er die Stirn, als hätte ich gelogen, als vertraute er mir nicht. Er sah weg. Und warum sollte er mir auch vertrauen? Ich hatte so oft gelogen. Dezember. Ein neues Jahr. Januar. An die folgenden Wochen erinnere ich mich nur undeutlich. Ich war wieder allein, und ich hatte vergessen, wie das Alleinsein ist. Das war nicht wie Schwimmen oder Radfahren. Man verlernte es und wußte nicht mehr, was man tun mußte. Ich ernährte mich schlecht, aß eine Dose kalten Mais zum Abendessen. Und ich tat nichts, um mich auf andere Gedanken zu bringen, spielte keine Musik, nahm kein Buch in die Hand. Ich warf meine Tabletten weg und lag nachts wach. Ich fand keine neuen Mandanten, lebte von meinen schwindenden Ersparnissen und dachte daran, mein Weingut zu verkaufen. Es regnete jeden Tag, und an manchen Tagen, wenn der Regen nachließ, machte ich mich zu meinen Rebstöcken auf und fing an, sie im Nieselregen zu beschneiden. Ich spreizte meine Ellbogen weit ab und klappte dann mit voller Wucht die Rebschere zusammen. Ich hackte auf das Unkraut ein, zog die Triebe und Blätter vom Spalier und schmiß das Grünzeug hinter mich auf den schlammigen Gang zwischen den Reben. Ich wählte die Triebe für die kommende Saison, für den nächsten Trottel aus, der hier antreten und versuchen wollte, in dieser lebensfeindlichen Tundra Wein anzubauen. Eines Tages, als ich gerade im kalten Nebel meine Reben beschnitt, hielt ich die Yförmige Rebschere wie eine wirkungslose Wünschelrute von mir ab, so daß sie auf den durchweichten Boden zu meinen Füßen zeigte. Ich wußte genau, was ich wollte und was nicht. Auf gar keinen Fall wollte ich ins Gefängnis; Strafanstalten sind unmenschlich. Im Grunde meines Herzens wollte ich im Tal wohnen bleiben, mich um meine Reben kümmern und Wein machen. Ich wollte Julia zurück aufs Weingut holen und einen neuen Versuch machen, ja, einen letzten. Ich wollte meinem Sohn ein besserer Vater sein, wenn er es zuließ, wenn es nicht zu spät war. Ich wollte jetzt nichts weiter, als so zu leben, wie wir das vor dem Unfall getan hatten. Ich machte mich wieder ans Beschneiden, arbeitete mich durch eine Reihe Reben.
Ich stellte mir vor, an einem trockenen Sommertag hier zu sein, Unkraut zu zupfen, mit den Händen tief in den Boden zu greifen und eine Handvoll Erde herauszuholen, Erde, die nach Kaffee, nach Veilchen roch. Ich sah Tim vor mir, wie er auf dem Gras lag, in die Sonne blinzelte und mit mir sprach, mir seine geheimsten Wünsche anvertraute. Ich sah Julia vor mir, wie sie mit einem Krug Limonade und Saftgläsern den Hang herunterkam. Das war das Ziel, das ich erreichen wollte. Aber wie? Wie sollte ich es bloß von hier nach dort schaffen? Es goß aus Kübeln, aber ich wollte nicht ins Haus zurück. Ich war völlig durchnäßt und fror, arbeitete aber weiter. Ich kannte die Redensart, daß auf dieser Welt jeder seines Glückes Schmied ist, war mir aber nie ganz sicher gewesen, was das zu bedeuten hatte. Wenn jeder sein Glück selbst in der Hand hatte, hieß das etwa auch, daß jeder sein Unglück selbst in der Hand hatte? Es gab keinen Gott, das stand für mich fest, und ich wußte nicht recht, was die Leute meinten, wenn sie vom Schicksal sprachen. Wie konnte ein Ereignis vorherbestimmt sein, obwohl es doch augenscheinlich so viele zufällige Ereignisse gab, etwa bei den Wetterkapriolen, die einen Bauern ruinieren konnten? Es war Zufall, wenn man schnell eine Bergstraße entlangfuhr, auf der gerade ein junger Mann ging. Es war Zufall, daß der Tod dieses Jungen meinen eigenen Sohn zerstörte. Ich glaubte an die Gesetze der Physik, an die Evolution. Und doch, ohne irgendwelche wissenschaftlichen Belege zu haben, war ich zu folgendem Schluß gekommen: Es bestand ein Zusammenhang zwischen dem eigenen Verhalten und dem, was einem zustieß. Anders gesagt, wenn man ein moralischer Mensch war, ein guter Mensch, großzügig und gerecht, und wenn man seinen Mitmenschen beistand, wurde man mit Glück belohnt. Umgekehrt galt, wenn man einen Menschen für ein Verbrechen ins Gefängnis gehen ließ, das man selbst begangen hatte, dann würde dadurch das Leben des wahrhaft Schuldigen zerstört werden. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, daß diese Theorie stimmt, aber damals glaubte ich es. Das erschien mir wie eine ganz simple Wahrheit: Es gab einen Zusammenhang zwischen dem, was man im Leben tat und was einem wiederfuhr. Am nächsten Tag fuhr ich in die Strafanstalt nach Corcoran, zwei Stunden südlich von Oak Valley. Ich ging zum neu errichteten Gefängnisanbau, einem langgestreckten Gebäude aus Stahl und Beton, das einem Kraftwerk glich, und ich sagte dem Wachmann, der in einem Häuschen direkt hinter dem hohen Zaun an einem Schreibtisch saß, ich wolle Troy Frantz sprechen. Der Wachmann schaute auf ein Klemmbrett und fand meinen Namen nicht. Hatte der Gefangene verlangt, mich zu sehen? Das mußte ich verneinen, worauf mir der Wachmann sagte, alle Besuche müßten im voraus beantragt und genehmigt werden; ich könne nicht einfach auftauchen und verlangen, irgendeinen Häftling zu sprechen. Ich sagte, ich hätte eine weite Reise hinter mir, und bat um eine Ausnahme, doch der Wachmann schüttelte nur den Kopf. Er deutete auf sein Klemmbrett und entgegnete, ich könne ja meinen Mandanten anrufen und ihm sagen, wenn er mit seinem Anwalt reden wolle, müsse er sich an die vorgeschriebenen Regeln halten, worauf ich ihn mit den Worten unterbrach, eigentlich sei ich nicht Troy Frantz' Anwalt. In der Zeitung hatte ich gelesen, daß die Montoyas inzwischen eine zivilrechtliche Klage gegen Troy Frantz erhoben hatten, in der sie Schadenersatz verlangten. Der geforderte Betrag überstieg das, was Troy Frantz nach Verbüßung der Gefängnisstrafe je verdienen konnte, und weiterhin hatte ich gelesen, daß Troy Frantz beschlossen hatte, sich nicht gegen die Zivilklage zu wehren; nach gewissen, formal erforderlichen Anhörungen würde das Gericht der Forderung der Familie Montoya nachkommen. Daher improvisierte ich; ich erzählte dem Wachmann, Troy Frantz' Mutter habe mich geschickt, um ihren Sohn zu überreden, die Zivilklage anzufechten, auch wenn ihm alles gleichgültig war. Der Mann knurrte irgendwas und tippte mit seinem Kuli gegen das Klemmbrett. Anrufe wurden getätigt. Eine Stunde später führte man mich quer über ein flaches, nicht
bepflanztes Feld und durch einen weiteren Zaun in das eigentliche Gefängnis, in einen Raum, der sehr den Räumen in anderen Zuchthäusern und Gefängnissen glich, die ich aufgesucht hatte - ein helles Zimmer mit niedriger Decke, das von einer Trennwand aus dickem Glas zweigeteilt wurde. Troy Frantz trug einen grellorangefarbenen, kurzärmeligen Overall, der zu weit für ihn war, so daß die eine Hemdtasche am Bauch hing. Die Hosenaufschläge waren über den schwarzen Pantoffeln aufgerollt. Seine Brille mit dem ovalen Gestell wurde von Klebeband zusammengehalten. Sein Nasenrücken sah geschwollen aus. Genau wie die Kinnlade. Was ich zuerst für verpfuschte Tätowierungen auf seinen beiden Armen gehalten hatte, ein Archipel schwarzer, grüner und blauer Flecken, waren in Wirklichkeit Blutergüsse. Seinen Spitzbart hatte er nicht mehr, aber immer noch den Eintagebart, und mit seinen kurzgeschorenen Haaren wirkte er auf mich kleiner, als würde er laufend schrumpfen und eines Tages verschwinden, wahrscheinlich ohne daß ihn jemand vermißte. Wir saßen an den Tischen zu beiden Seiten des Trennglases, hinter uns beiden standen Gefängnisbedienstete. Troy Frantz nahm den Telefonhörer auf seiner Seite ab, ich den meinen, und er schwieg. Keine Ahnung, warum ich erwartete, daß er als erster etwas sagen würde. Ich nannte ihm meinen Namen und sagte, daß ich Anwalt sei. »Und meine Mutter hat Sie geschickt«, sagte er. »Das stimmt«, sagte ich. »Sie ist genau wie ich der Meinung, Sie sollten sich gegen die Zivilklage wehren. Eines Tages kommen Sie hier raus und...« Troy betrachtete mich mißbilligend. Er nahm die Brille ab und rieb seine Stirn. »Geht's Ihnen gut?« fragte ich. »Sie sind mein erster Besucher«, sagte er und sah mich wieder an. »Warum hat meine Mutter mich nie besucht?« »Tja«, sagte ich und überlegte rasch, warum eine Mutter ihren Sohn nicht im Gefängnis besuchen würde. »Sie ist wohl immer noch sehr erschüttert, und...« »Warum sind Sie hier?« fragte Troy. Weil ich Sie kennenlernen mußte, ich mußte mit Ihnen reden. Weil Sie der Mann sind, dem ich unrecht getan habe. »Wie bereits gesagt, Ihre Mutter hat mich beauftragt, um...« »Ich bin Vollwaise«, sagte Troy Frantz. »Oh«, sagte ich. Ich dachte, er würde jetzt auflegen und wieder in seine Zelle zurückgehen, doch er drückte den Hörer fester an sein Kinn. »Meine Eltern starben, als ich fünf war«, sagte er. »Verstehe«, sagte ich. »Tut mir leid.« »Ich bin bei Pflegeeltern aufgewachsen«, fuhr er fort. Troy Frantz sah mich direkt an. »Ich weiß, daß Sie den Jungen im Wald nicht getötet haben«, sagte ich. Seine Augen sahen wie kleine schwarze Knöpfe aus. »Ich habe Ihr Geständnis gelesen«, sagte ich. »Sie dachten, Sie hätten einen Hirsch angefahren. Und so war es auch. Ich weiß, daß Sie einen Hirsch angefahren haben.« Troy beugte sich vor. »Sie haben den Jungen nicht umgebracht«, sagte ich. »Ich weiß es, und ich glaube, Sie wissen es auch.« Troy schluckte. »Und eins begreife ich nicht«, sagte ich weiter, »nämlich warum Sie...« Und dann kam mir die Idee. Auf einmal wußte ich, was ich tun mußte. Ich sagte: »Sie müssen nicht hier sein.« »Aber«, wandte Troy Frantz ein, »aber ich...« »Ich kann Ihnen helfen«, sagte ich. »Wie denn?« fragte er. »Wie können Sie mir helfen?«
»Ich bin Anwalt«, sagte ich. »Ich kann Ihnen helfen, hier herauszukommen.« Ein quadratisches Guckloch in der Stahltür war das einzige Fenster in dem Besuchsraum. Die Wände waren aus Beton, weiß getüncht und kahl, und bei den arktischen Winden, die aus einer Lüftungsklappe wehten, fühlte sich alles kalt an, was man berührte. Der am Boden festgeschraubte Metalltisch, die beiden metallischen Stühle. Schon nach wenigen Minuten waren meine Finger, die einen silbernen Stift hielten, starr vor Kälte. Ein paar Tage nach dem ersten Besuch war ich wieder ins Gefängnis gekommen und sofort nach links in einen Raum am Ende eines tunnelartigen Flurs gebracht worden, wo Troy mich bereits erwartete. Er hatte einen Bleistift in der Hand und malte etwas auf einen Zeichenblock. Sobald ich eintrat und ihm gegenüber Platz nahm, klappte er den Block zu. Er legte den Stift beiseite, faltete die Hände und musterte mich ernst, eine Augenbraue fragend nach oben gezogen. Ich erkundigte mich, wie es ihm gehe, worauf er einen langen Seufzer ausstieß, die Schultern hängen ließ und nickte, es ginge so. »Wie neulich bereits gesagt, Troy, habe ich mir Ihr auf Video aufgenommenes Geständnis angesehen«, begann ich das Gespräch. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Und daher weiß ich, daß Sie eigentlich annahmen, Sie hätten einen Hirsch getötet«, fuhr ich fort. »Ich habe einen Jungen getötet«, sagte Troy. Er schloß die Augen. »Nein«, widersprach ich. »Das stimmt nicht. Und genau darum bin ich hier. Einen Hirsch haben Sie möglicherweise überfahren, aber diesen Jungen gewiß nicht. Und Sie wissen das ganz genau. Sie haben den Jungen nicht getötet.« Troy öffnete die Augen wieder und musterte mich eine Zeitlang. »Ich kann Sie nicht bezahlen«, sagte er dann. »Ich habe kein Geld, nicht einen Cent.« »Ich erwarte kein Geld von Ihnen«, sagte ich. »Aber Sie kennen mich doch gar nicht.« »Das stimmt.« »Warum helfen Sie mir dann?« »Warum ich Ihnen helfe?« fragte ich zurück. »Sie kennen mich nicht«, sagte er. Wie konnte ich sein Vertrauen gewinnen? »Also, wie ich schon sagte«, fuhr ich fort, »habe ich Ihr Geständnis gesehen. Und ich habe die von Ihnen unterschriebenen Verzichterklärungen gelesen. Ich war an jenem Abend, als Sie die Tat zugegeben haben, bei der Polizei in Hollister.« »Und?« sagte Troy, offenbar unbeeindruckt. »Und dabei habe ich Sie sagen hören, daß Sie glaubten, Sie hätten einen Hirsch angefahren, und später habe ich im Wald einen verletzten Hirsch gesehen.« »Vielleicht hab ich einen Hirsch und einen Jungen angefahren«, sagte Troy. »Vielleicht«, sagte ich. »Vielleicht auch nicht.« Troy nahm die Brille ab und putzte die Gläser mit dem Revers seines Overalls. Ich wartete, bis er die Brille wieder aufgesetzt hatte. Dann atmete ich tief durch und sagte: »Eigentlich wollte ich mich nicht einmischen. Ich dachte, im Grunde ginge mich das ja nichts an. Was hatte das mit mir zu tun? Aber ich bin Anwalt. Zweifel lassen mir keine Ruhe. Und als ich hörte, daß Sie nichts gegen die Zivilklage unternehmen wollten...« »Deshalb sind Sie jetzt hier?« fragte Troy. »Deshalb und...« Es reichte ihm nicht. Ich sagte: »In letzter Zeit bin ich mir über einiges in meinem Leben klargeworden. Dinge, auf die ich nicht besonders stolz bin.« Troy nickte langsam. »Und jetzt wollen Sie etwas machen, worauf Sie stolz sein können«, stellte er fest. Ich zuckte mit den Achseln, ja.
»Beispielsweise mir zu helfen«, sagte er. »Beispielsweise«, meinte ich. Da lächelte Troy kurz, nur der Anflug eines Lächelns, bevor seine sorgenvolle Miene zurückkehrte. Mit geblähten Nasenlöchern sah er mich wieder an. »Aber Sie kennen mich doch gar nicht«, sagte er. Worauf ich nur mit: »Das stimmt«, antworten konnte. »Danke für Ihren Besuch«, sagte er. »Ich weiß das zu schätzen. Aber, Mr. Dark, meiner Ansicht nach vergeuden Sie Ihre Zeit.« »Troy«, sagte ich, »als ich das letzte Mal hier war, habe ich Sie gefragt, ob ich wiederkommen dürfte, was Sie bejahten. Und jetzt bin ich hier, und ich möchte...« »Tut mir leid«, sagte er. »Aber Sie kennen mich nicht, und Sie wissen wirklich nicht... ich glaube, daß... ich glaube«, stammelte er. »Ich habe den Jungen getötet. Ihn mit seinem eigenen Auto überfahren. Und ich sollte der Familie bezahlen, was sie verlangt.« »Troy«, sagte ich, streckte die Hand aus und packte ihn am Arm, der so kalt war wie die stählerne Tischplatte. »Hören Sie mir zu. Ich glaube nicht, daß Sie den Jungen überfahren haben.« Er schluckte. Es fehlte nicht viel, und er wäre in Tränen ausgebrochen. »Erinnern Sie sich noch an Ihr Geständnis? Sie kamen zu dem Schluß, daß Sie den Jungen angefahren haben, aber so ganz sicher waren Sie sich nicht, stimmt's?« »Ich war ziemlich fertig«, sagte Troy. »Sie waren an diesem Abend durcheinander«, meinte ich. »Ich muß nachdenken«, sagte er dann. »Im Grunde Ihres Herzens wissen Sie es«, sagte ich. »Sie wissen es.« »Ab und an, in meinem Hinterkopf«, gab er zu, »habe ich mich gefragt... O Mann.« »Es ist immer noch verwirrend«, sagte ich. »Aber wieso sind Sie sich so sicher?« fragte er. »Ich bin's nämlich nicht.« »Sehen Sie, genau darauf will ich ja hinaus«, sagte ich. »Ich muß mir nicht sicher sein. Anders gesagt, sicher bin ich mir schon, aber darauf kommt's gar nicht an. Es kommt darauf an, daß meine Zweifel ausreichen. Ich bezweifle, daß Sie den Jungen getötet haben.« »Das ist ein ziemlich starker Tobak«, sagte er. »Das glaub ich gern.« »Jetzt weiß ich's wieder«, sagte er. »Falls ich irgendwelche Zweifel hatte, mußte ich sie über Bord werfen. Es ging nicht anders.« Ich tätschelte wieder seinen Arm. »Wissen Sie noch, wie verwirrt Sie am Abend Ihres Geständnisses waren? Darauf müssen wir uns jetzt wieder besinnen. Nicht auf Ihren Entschluß, sondern auf die...« »Zweifel«, ergänzte er. »Genau«, sagte ich. »Auf die vielen Zweifel, die Sie hatten.« »Na schön, angenommen, ich habe gewisse Zweifel«, sagte er. »Was dann?« »Dann dürften Sie eigentlich nicht hier sitzen.« »Und Sie können mich hier rausholen? Sie können beweisen, daß ich den Jungen nicht totgefahren habe?« »Das glaube ich, ja«, behauptete ich. »Wie denn? Wie können Sie es beweisen?« wollte er wissen. Eine gute Frage. So weit hatte ich noch nicht vorausgedacht. »Das ist meine Aufgabe«, sagte ich. »Ich brauche Ihre Hilfe, und deswegen bin ich hier. Den Rest überlassen Sie mir.« »Und die ganze Zeit«, fuhr Troy Frantz fort, »habe ich mir eingeredet, ich hätte den Jungen getötet und müßte dafür büßen. Jetzt weiß ich nicht, was ich denken soll.« »Darf ich morgen wiederkommen?« fragte ich. Er antwortete nicht. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, wiederholte er. Am folgenden Tag kehrte ich ins Gefängnis zurück. Ein Aufseher brachte mich in den
weißen Raum, wo Troy schon auf mich wartete. Als ich eintrat, drehte er seinen Zeichenblock um. Ich erwähnte die Zivilklage um Schadenersatz, die von der Familie Montoya gegen ihn angestrengt worden war. »Aber ich sollte der Familie etwas bezahlen«, sagte Troy. »Das wäre nur recht und billig.« »Warum?« fragte ich. »Weil diese Leute gelitten haben«, antwortete Troy. »Aber wenn Sie doch nicht daran schuld sind?« fragte ich. »Vielleicht bin ich es ja«, sagte er. Ich wußte, daß ich ihn langsam bearbeiten mußte; die Vorstellung, unschuldig zu sein, war für ihn offenbar etwas merkwürdig Neues. Ich ließ mich auf sein Spiel ein und sagte, meiner Meinung nach müßte er nicht auf »nicht schuldig« plädieren, wenn er sich vor einem Zivilgericht verteidigte. Ich fügte hinzu, es gebe verschiedene Möglichkeiten, um für ein Verbrechen zu büßen, verschiedene Möglichkeiten der Wiedergutmachung, die nicht unbedingt beinhalteten, sein ganzes restliches Leben lang zehn Prozent seines mageren Einkommens an die Familie des Jungen abzuführen. Ich bat ihn nur, mich wenigstens ein Weilchen sein Anwalt sein zu lassen, ein paar Wochen, nach denen ich ihm darlegen durfte, welche Chancen er hatte. »Daß mich die Montoyas verklagen, beschäftigt mich eigentlich nicht besonders«, sagte Troy. »Sondern, wie Sie hier rauskommen«, sagte ich. »Und damit befassen wir...« »Nein«, widersprach Troy. »Das heißt, doch. Aber da wäre noch etwas.« Ich wartete, daß er mir erzählte, was ihn sonst noch beschäftigte. »Ich möchte lieber nicht darüber reden«, sagte er. »Auch gut«, sagte ich. »Aber darf ich mich um den Zivilprozeß kümmern? Sehen Sie, später können Sie sich immer noch anders entscheiden und den Montoyas alles geben, was Sie besitzen.« Troy musterte mich eine Weile und sagte dann: »Danke«, als ob ich mein Vorhaben schon erfolgreich in die Tat umgesetzt hätte. Einige Tage später reichte ich einen Antrag auf Aussetzung des Zivilverfahrens ein, bis ich als sein neuer Verteidiger genug Zeit gefunden hatte, mich vor Beginn der Verhandlung mit dem Fall vertraut zu machen. Ich wußte, daß ich unmißverständlich zeigte, auf wessen Seite ich war, und dies würde im Eisenwarenladen nicht folgenlos bleiben. Doch ein böser Blick, ein paar unfeine Worte hinter meinem Rücken... das war ehrlich gesagt nichts Neues für mich. Ich hatte einen Fall übernommen, und den würde ich zu Ende führen, so einfach war das. Es handelte sich um einen Zivilprozeß, dem fühlte ich mich gewachsen. Also war ich ganz locker, als ich im Richterzimmer den Anwalt der Familie Montoya mit Worten wie »Überfall« und »hinterhältiges Verhalten« um sich werfen hörte. Ich konnte den Anschein erwecken, daß ich die Strafpredigt des Richters ernst nahm, der etwas von Mandantenfang und Prozeßverschleppung erzählte und andeutete, daß Leute wie ich den Begriff ordnungsgemäßes Verfahren in den Dreck zögen. Der Antrag meines Mandanten auf eine Schöffengerichtsverhandlung wurde angenommen; man setzte einen Termin fest, an dem ein anderer Termin festgesetzt werden sollte, an dem man diesem Fall seinen Platz in der langen Reihe von Fällen zuwies, die sich im Schnekkentempo auf eine Gerichtsverhandlung zubewegten. Ein Zivilprozeß würde noch mindestens ein Jahr auf sich warten lassen, wahrscheinlich eher zwei oder drei Jahre. Ich hätte Troy anrufen können, wollte ihm die gute Nachricht aber persönlich mitteilen, weshalb ich vom Gericht in Hollister direkt zum Gefängnis nach Corcoran fuhr. »Danke«, sagte Troy. »Ich danke Ihnen sehr.« »Sie müssen sich klarmachen, daß die Mühlen der Justiz sehr langsam mahlen«, warnte ich.
Troy nickte. »Aber ich werde mit dem Anwalt der Kläger Kontakt aufnehmen und mich in den Fall einarbeiten.« Troy sah verständnislos drein. »Manchmal kommen solche Fälle gar nicht zur Verhandlung«, erklärte ich. »Eventuell einigen wir uns auf einen Schlichter. Und Sie haben doch hoffentlich nichts dagegen, daß ich in der Zwischenzeit die Ärmel hochkremple und mich in die strafrechtlichen Aspekte vertiefe.« Troy sah auf. »Ich möchte mit Ihnen über eine Revision reden«, sagte ich. »Eine Revision«, wiederholte Troy. »Um Sie hier herauszuholen. Ich will... stimmt was nicht?« fragte ich. »Ich kann Sie nicht bezahlen«, sagte er. »Warum tun Sie das? Was haben Sie eigentlich verbrochen, Mr. Dark, daß Sie Buße tun müssen? Warum wollen Sie einen Nichtsnutz wie mich retten?« Troy machte keinen abwehrenden, feindseligen oder gar undankbaren Eindruck. Seine Gestik hatte vielmehr etwas Vornehmes, etwa wie er die gefalteten Hände vor sich auf den Tisch legte. Er wirkte freundlich, redete stets bedächtig, leise und legte nachdenkliche Pausen ein. »Ich halte Sie für keinen Nichtsnutz«, erklärte ich. »Woher wollen Sie das wissen?« fragte er. »Vielleicht habe ich furchtbare Dinge verbrochen.« »Vielleicht«, sagte ich. »Womöglich gehöre ich hierhin«, sagte er. »Das kann schon sein«, gab ich zu. »Aber Sie sind kein typischer Verbrecher, und ich habe einige kennengelernt.« Ich deutete auf den vor ihm liegenden Block. »Darf ich sehen, was Sie da zeichnen?« »Nein«, antwortete er. »Noch nicht.« Noch nicht. Ich nahm dieses bescheidene Angebot so hin. Noch nicht bedeutete, daß er vielleicht später, wenn die Zeit gekommen war, sagen würde: Aber ja, hier, werfen Sie einen Blick darauf. »Ich will's immer noch wissen«, fuhr Troy fort. »Was haben Sie auf dem Kerbholz?« Sein schleppender Baß hallte zwischen den Betonwänden wider. Heute frage ich mich, was wohl geschehen würde, wenn ich gesagt hätte: Ich habe ihn überfahren, Fahrerflucht begangen und Sie dafür in den Knast gehen lassen. Ich frage mich, was wohl geschehen wäre, wenn ich gesagt hätte: Ich will Sie aus dem Gefängnis holen, ohne daß ich selbst hinein muß. Ob er das wohl verstanden hätte? Möglicherweise hätte er es getan, doch selbst dann hätte er wohl kaum mitgespielt. Da ich offen und ehrlich sein wollte, mußte ich ihm etwas verraten, und zwar mehr als bisher, folglich rückte ich nun mit einem Teil der Wahrheit heraus. »Mein Sohn hat vor nicht allzulanger Zeit einen Selbstmordversuch unternommen«, sagte ich. Mich fröstelte. Mir selbst gegenüber hatte ich das nie eingestanden, es nicht ausgesprochen, obwohl ich mich damit abgefunden hatte, daß Tim damals auf der Bergstraße sterben wollte. »Mit meinem Wagen«, sagte ich. »Er ist gegen einen Baum gefahren. Mein einziger Sohn, mein einziges Kind.« Als ich Troy wieder ansah, hatte er die Hände nicht mehr gefaltet und streckte mir eine Hand über den Tisch hinweg entgegen. »Wie jeder Vater mache ich mir Vorwürfe, daß ich die Warnzeichen übersehen habe«, fuhr ich fort. »Was aber noch schlimmer ist: Im Grunde meines Herzens wußte ich, daß er in Schwierigkeiten steckte, und als er mich am meisten brauchte, war ich nicht für ihn da.« Ich erzählte ihm, wie ich mich damals hatte gehen lassen.
»Das war am Ende wirklich schlimm«, sagte ich. »Was im Sommer davor, im Frühling oder Winter passiert ist, sage ich Ihnen nicht. Ich erzähle Ihnen nicht, wie meine Frau - na ja, meine Exfrau - eine Fehlgeburt hatte, oder wie sie mich verlassen hat und... Jetzt will ich sie zurückhaben«, sagte ich. »Immer lasse ich sie kampflos ziehen«, fügte ich hinzu, und obwohl sich das anhörte, als ginge mir dieser Gedanke häufig durch den Kopf, hatte ich doch zum erstenmal so klipp und klar ausgesprochen, daß ich nie mit aller Macht um Julia gekämpft hatte, wenn sie sich von mir abwandte. »Ich weiß auch nicht, woran das liegt, aber ich lasse sie immer ziehen.« Ich hatte Kopfschmerzen und müde Augen. Am liebsten hätte ich meinen Kopf auf den Tisch gelegt und ein Nickerchen gehalten. »Verzeihung«, sagte ich, »ich wollte keine Volksreden halten.« Wieder faltete Troy die Hände. Er runzelte die Stirn. Nach einer Weile sagte er: »Ein Sohn.« »Tim«, sagte ich. Er fing an: »Mein eigener Sohn«, und verstummte. »Sie haben einen Sohn?« »Mein einziges Kind. Er... Also, er ist...« Troy rieb sich die Schläfe. Er blinzelte mehrmals. Dabei sah er an mir vorbei zur Tür hinter mir, als wollte er sichergehen, daß kein Schließer hereinplatzte und uns sagte, unsere Zeit sei abgelaufen, als wolle er unbedingt sichergehen, daß niemand mithörte. Dann sagte er: »Ich habe auch einen Sohn, aber ich weiß nicht, wo er ist.« »Wie heißt er?« fragte ich. »Jared«, antwortete Troy. »Wie alt ist er?« »Wie alt ist Ihr Sohn?« fragte er zurück. Ich verriet es ihm. »Ach, genauso alt wie Jared«, sagte er. »Es ist jetzt zwei Jahre her, daß ich ihn das letztemal gesehen habe. Länger. Ich habe keine Ahnung, wo er steckt.« »Das tut mir leid«, sagte ich. »Und seine Mutter? Ist sie bei ihm?« Troy setzte sich kerzengerade auf, dann sackte er wieder zusammen. Er atmete tief durch, und sein Mund verzog sich zu einem schmalen Schlitz... er brauchte sehr lange, um mir zu antworten, so daß ich annehmen mußte, das Thema sei für mich tabu. Ich dachte, Troy würde mir verbieten, über die Mutter seines Sohnes zu sprechen. Der Gedanke an sie wäre mit zuviel Bitterkeit, zuviel Wut verbunden. Und es ginge mich nichts an. Doch statt dessen sagte Troy: »Jeder Tag ohne sie macht mich noch ein Stück unglücklicher. Ich will sie unbedingt zurückhaben. Nur dafür lebe ich«, sagte er. »Ich muß die beiden finden, damit wir einen Neuanfang machen können.« Für die Rückfahrt brauchte ich fast zwei Stunden, weil ich auf Nebenstraßen fuhr und bei dem Dauerregen nur sehr langsam über die Berge vorankam. Bald besuchte ich Troy so häufig im Gefängnis, daß ich den Überblick verlor und nicht mehr wußte, wie oft in einer Woche ich dorthin unterwegs war, und die viele Zeit auf der Straße ist mittlerweile aus meinem Gedächtnis verschwunden. Stunden über Stunden, die, zusammengerechnet, bestimmt Tage, ja Wochen ergäben. Ich weiß nicht mehr, ob ich noch an etwas anderes dachte als an meine Gespräche mit Troy. Ich hatte früh begonnen, meine Sitzungen mit ihm aufzunehmen, und gelegentlich schob ich im Wagen die Kassette in den Recorder und hörte mir an, wie sich Troy in kurzen, rätselhaften Kapiteln durch seine Lebensgeschichte wand. Irgendwie wärmte seine sanfte Stimme den Gebrauchtwagen, den ich für meinen schrottreifen Geländewagen gekauft hatte, seine Stimme, seine unablässige Lebensbeichte hielten mich auf der langen Fahrt nicht nur munter, sondern versetzten mich auch in einen angenehmen Tagtraum. Das Gefängnis. Die Straße. Das alte Steinhaus.
In diesem Winter fuhr ich kaum einmal woandershin. Und sobald ich zu Hause ankam, stapfte ich durch den Sumpf, der einmal mein Land gewesen war, zog in der Waschküche die Stiefel aus, schmierte mir ein Brot zum Abendessen und schlenderte in mein Arbeitszimmer, wo ich mir noch einmal die Bänder mit den Gesprächen anhörte, wo ich das bißchen Arbeit erledigte, was ich noch schaffte, wo ich einschlief. Nach oben ging ich nur, um morgens zu duschen oder um einen Eimer unter einer undichten Stelle zu leeren und wieder an seinen Platz zu stellen. Im Haus war es kalt. Es hallte. Nachts waren laute Echos zu hören, das übliche Knarren und Klopfen, außerdem eine Art Flüstern in den Rohren, das ich nur frühmorgens bemerkte. Ich schlief nie gut. In Kalifornien regnete es damals so viel wie nie zuvor. Ununterbrochen goß es. Der Regen prasselte grau zu Boden, und ich erinnere mich, daß ich vom Neujahrstag an bis eines Nachmittags Ende April - es war der zweiundzwanzigste April; daß ich das genaue Datum noch weiß, hat seinen Grund - nicht ein einziges Mal die Sonne sah. Und selbst nach diesem Apriltag regnete es weiter, so daß es überall Schlammlawinen gab und zahllose Familien evakuiert wurden. Man nahm seine kostbarsten Besitztümer mit, packte die Kinder ins Auto, trieb die Haustiere zusammen und fuhr über Nacht in die Sporthalle irgendeiner Schule. Nach dem Unwetter kehrte man wieder heim und ließ die Wertsachen neben der Tür stehen. Manchmal fuhr man zwischendurch nach Hause und konnte nichts weiter sehen als den Wetterhahn auf seinem Dach. Der Rest seines Heims lag unter den braunen Fluten eines Flusses der Sacramento, der Klamath, der Eel, der San Joaquin und der Russian River waren allesamt über ihre durchweichten Ufer getreten. Im Frühling füllte sich sogar das durchs Oak Valley verlaufende trockene Flußbett einen Monat lang mit Wasser, doch die Sommerhitze trocknete die Senke wieder aus. Unterspülte Straßen brachen weg, und Ackerland wurde zu Sumpf. Eine Plantage nach der anderen wurde zerstört, Avocados, Orangen, Oliven und auch alle heimischen Rankengewächse litten unter dem Wasser, die Erdbeeren, die Weintrauben. Es hieß, komplette Ernten seien vernichtet worden, obwohl einige Weinstöcke, die wie die meinigen an Hängen standen, nicht der Wurzelfäule oder anderen Krankheiten zum Opfer fielen. Und die traurige Wahrheit lautete, daß es noch schlimmer kam. Das meiste Leid und die größten Schäden, die furchtbarsten Schlammlawinen, Überschwemmungen und die meisten Todesopfer gab es erst im darauffolgenden Herbst, als der Regen nicht wußte, wohin. Der Grundwasserspiegel war bereits hoch, die Stauseen waren bis an den Rand gefüllt, die Deiche durchweicht, und die weggeschwemmte Pflanzendecke war noch nicht wieder nachgewachsen, weil der Boden zu feucht und die Sommersonne zu sengend gewesen waren. Das größte Unglück stand uns also noch bevor. Doch immer der Reihe nach. Von diesem Winter weiß ich noch, daß überall Sandsäcke lagen, an den Straßen, auf den Deichen, vor den Läden an Hauptstraßen und um jedes Haus herum. Kilometerlange Sandsackwälle. Es sah so aus, als wäre hier erst vor kurzem Krieg geführt worden, als wären die Soldaten längst abgezogen, hätten aber die Schützengräben zurückgelassen, samt den Toten, und die aufgedunsenen Leichen würden nach oben treiben, sobald das viele Wasser versickert war. Der lange Regen machte mich blind. Ich bekam mein Tal nicht mehr zu sehen. Der Regen schloß mich ein, so daß ich das Gefühl hatte, jemand oder etwas käme mir bedrohlich näher, und ich könnte wenig tun, um zu verhindern, selbst von den Fluten ins Meer hinausgeschwemmt zu werden. Manchmal wollte ich nichts weiter als die lichtlosen Nachmittage verschlafen. Manchmal wußte ich selbst nicht, warum ich nicht einen Koffer packte und in die Wüste fuhr, wo es etwas Sonne geben mußte. Das Gefängnis, die Straße heimwärts, das alte Haus aus Stein. Mehr sah ich während dieser Monate nicht. Doch die Gespräche mit Troy Frantz gaben mir unendlich viel Kraft. Wie soll ich das erklären? Ich mußte einfach mit ihm reden. Manchmal vergaß ich,
daß ich sein Anwalt war. Mein Mandant entpuppte sich als sehr guter Zuhörer. »Irgendwie«, erzählte ich Troy, »hatten Julia und ich immer Geheimnisse voreinander. Ich weiß, ich weiß. Zwischen Geheimnistuerei und Lügen gibt es keinen großen Unterschied.« Troy hatte wissen wollen, warum meine Ehe ein zweites Mal in die Brüche gegangen sei. Angefangen hatte unser Gespräch bei Fragen der Revision, und dort waren wir gelandet. Erst mußte ich eine Weile überlegen, wie ich ihm antworten sollte, doch dann fand ich kein Ende mehr. »Wir sind zusammen aufs College gegangen, haben uns aber erst im letzten Studienjahr kennengelernt«, sagte ich. »Ich habe meinen Mitbewohner begleitet, dessen Freundin bei einer Tanzaufführung auftrat. Und da tanzte noch eine andere Frau mit, die ich nicht aus den Augen ließ, eine langbeinige Blonde, die laut meinem Programmheft das wichtigste Stück des Abends choreographiert hatte.« Ich schilderte Troy den Tanz, und dabei schloß er die Augen, als könne er ihn sich so vorstellen. Der Tanz hieß »Zum Gedanken an meinen Bruder« oder so ähnlich und beinhaltete jede Menge sehr lyrischer Bewegungen, viel Sichwiegen und Sichdrehen. Das verbindende Element bestand darin, daß sich das gesamte Ensemble immer wieder zu einem Kreis formierte, in dem jedesmal weniger Tänzer zusammenfanden. Sie bewegten sich zu den Klängen von Cellos, von Cellos und Gitarren, und zum Schluß schaltete jemand eine Nebelmaschine ein, so daß die graziösen Pirouetten der Tänzerinnen in den die Bühne einhüllenden weißen Wolken verschwanden. Julia blieb als eine der letzten Tänzerinnen auf der Bühne zurück, und ich weiß noch, daß ich von ihrem Auftritt regelrecht gefesselt war, ihre ernste Miene, die Trauer, die sie zum Ausdruck brachte. Nach der Aufführung machte uns mein Mitbewohner miteinander bekannt, und ich war ein wenig irritiert, als Julia mit einigen Freundinnen kicherte und nicht denselben Ernst an den Tag legte wie bei ihrem Auftritt. Dennoch sagte ich guten Abend, und wie bewegt ich sei; ich verabredete mich mit ihr auf einen Kaffee. »Das ist schon so viele Jahre her«, sagte ich zu Troy. »Es kommt mir fast so vor, als hätte ich mir das alles ausgedacht.« »Erzählen Sie weiter«, sagte er. Ich berichtete von meiner Verabredung mit Julia, und wie ich nicht lockergelassen hatte, ihr erzählte, wie sehr mich ihre Fähigkeit beeindruckt hatte, ihre tiefe Trauer so eindrucksvoll umzusetzen - genau darum beneide ich Künstler, sagte ich -, und als ich sie fragte, ob sie mir nicht erzählen wollte, wie sie ihren Bruder verloren habe, antwortete sie so etwas wie: Meinen Bruder verloren? Tja, lieber würde ich den Tanz für sich sprechen lassen. Ich sagte, ich würde sie gern wiedersehen, woraufhin wir weitere Verabredungen trafen, und bald sahen wir uns täglich, wir wurden ein Liebespaar und schließlich unzertrennlich. Erst nach einer ganzen Weile, nach zwei äußerst leidenschaftlichen Monaten, teilte mir Julia mit, ich hätte das Programm falsch gelesen, weder habe sie den Tanz choreographiert, von dem ich so beeindruckt war, noch sei ihr Bruder gestorben; vielmehr sei sie ein Einzelkind, genau wie ich. Sie gestand, sie habe mich nicht früher aufklären wollen, weil sie dachte, das zöge mich zu ihr hin, ihr Verlust und ihr Tanz über diesen Verlust, und sie fände mich nett und sei gern mit mir zusammen, könne aber nicht mehr lügen, es sei zu gemein. Ob ich sie nun verabscheute, wollte sie wissen. »Und haben Sie das?« fragte Troy. »Überhaupt nicht«, antwortete ich. »Mittlerweile hatte ich mich schon so in sie verliebt, daß es mir egal war. Ich fand sie aus anderen Gründen anziehend, obwohl...« All die Jahre später, in einem anonymen Gefängnisraum, überkam mich plötzlich eine gewisse Enttäuschung. »Obwohl?« wiederholte Troy. »Ein winziges bißchen«, sagte ich, »fand ich... na ja, ich fand, daß ich um etwas be-
trogen worden war.« Troy lächelte. »Sie finden das komisch«, sagte ich. »Nein, ich verstehe das völlig«, widersprach er. »Sie wären gern derjenige gewesen, der ihr wirklich half, über den Verlust ihres Bruders hinwegzukommen.« »War das der Grund?« fragte ich. »Oder vielleicht wollten Sie einfach über den Umweg Julia diese Erfahrung selbst machen«, sagte er. »Das stimmt«, pflichtete ich ihm bei. »Aus meiner näheren Umgebung war noch niemand gestorben. Damals war ich einundzwanzig. Ich fragte mich, wie das wohl war.« »Man könnte es mit einer Reise in ein Land vergleichen, dessen Sprache man nicht beherrscht«, sagte Troy. »Stimmt«, sagte ich. Genau das war es. Er hatte die Brille nicht auf, und das eine Auge war um die Braue herum ein wenig geschwollen und gerötet. Seine rechte Hand war an der Seite schwarz von Graphit. Jetzt war er an der Reihe. »Erzählen Sie mir von Lauren«, schlug ich vor. Lauren war seine verschollene Frau. »Tja, sie war keine Tänzerin«, sagte Troy. Er atmete langsam aus, als hätte er eine Zigarettenrauchwolke in der Lunge. »Sie war Sängerin. Sie hat ihre eigenen Songs geschrieben.« »Was für Songs?« fragte ich. Eine Weile sagte Troy gar nichts. Dann meinte er: »Stellen Sie sich ein Haus auf einem Steilfelsen mit Blick aufs Meer vor. Und um das Haus herum ist kilometerweit nichts, gar nichts... Jetzt betreten Sie das Haus«, fuhr er fort, »und gehen darin herum. Sämtliche Zimmer sind leer, es gibt keine Möbel. Nun gehen Sie wieder hinaus, und vor dem Haus, am Steilfelsen, steht ein Stuhl; stellen Sie sich vor, daß sie daraufsitzt.« »Lauren?« fragte ich. Troy schloß die Augen und atmete tief ein. »Sie hat glatte kastanienbraune Haare und summt etwas vor sich hin.« »Wann, sagten Sie, hat sie Sie verlassen?« fragte ich. »Vor über zwei Jahren... nein, vor über drei Jahren«, antwortete er. »Möchten Sie mir erzählen, was passiert ist?« »Lieber nicht«, sagte Troy. Aber nach einer langen Pause fuhr er doch fort: »Wir wohnten damals in Portland, haben uns mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser gehalten. Jared war noch klein. Lauren und ich, wir hatten noch Träume.« Er beugte sich näher zu mir. »Ich wollte Filme drehen«, sagte er und lachte. »Heute hört sich das ziemlich absurd an, aber, na ja, ich dachte, so was könnte ich, und Lauren wollte ihre selbstgeschriebenen Songs singen. Wir fuhren also nach Los Angeles. Und eine Zeitlang kamen wir auch ganz gut zurecht. Wir bedienten in Kneipen, arbeiteten für Zeitarbeitsfirmen und dergleichen, aber immerhin waren wir der Szene näher. Lauren sang ab und an einmal in irgendwelchen Kaschemmen, und ich besuchte ein Jahr lang eine Filmhochschule.« Troy leckte sich die Oberlippe. »Manchmal unternahmen Lauren und ich nachts lange Fahrten durch die Berge. Nachts sah die Stadt wirklich toll aus. Die vielen Lichter. Aber...« »Aber?« »Die Filmschule war zu teuer«, sagte er. »Das zweite Jahr konnte ich mir nicht mehr leisten. Ich hatte unser ganzes Geld ausgegeben und wofür? Aber dann...« »Was?« fragte ich. »Ich weiß auch nicht, wie es dazu kam«, sagte Troy. »Der Kleine wurde älter. Lauren
mußte dauernd arbeiten, hat keine Songs mehr geschrieben. Ich verlor meinen Job. Die Miete für unsere kleine Wohnung mußte bezahlt werden. Rechnungen mußten beglichen werden. Ein Kind mußte ernährt und gekleidet werden. Ich lieh mir bei irgendeinem Kredithai Geld. Ständig haben wir uns gestritten, Lauren und ich. Ständig. Ich hielt es nicht mehr aus, mit ihr in unserer Wohnung zu sein. Nachts streifte ich durch die Stadt, und zwar allein. Manchmal kam ich nachts gar nicht mehr nach Hause. Ich fing an zu trinken.« Troy schwieg. Er saß völlig bewegungslos da. »Und dann haben Sie sich noch mehr Geld geliehen«, stellte ich fest. »Und danach noch mehr«, sagte Troy. »Das ich unmöglich zurückzahlen konnte, das wußte ich. Nie im Leben. Nicht alles.« »Um wieviel Geld geht es denn?« fragte ich. Troy nannte mir keinen Betrag. Er sagte nur: »Keine Unsummen, aber für mich war es zuviel. Ich hielt die Kredite vor Lauren geheim.« »Wollte sie denn nicht wissen, woher das Geld kam?« »Nein, und ich habe es ihr nicht verraten, wollte ihr keine Angst machen«, antwortete Troy. »Sie hat nie gefragt, wo ich die Scheine herhatte. Wenn Sie mein Geheimnis wissen wollen - das war es.« »Was wollten Sie wegen der Schulden unternehmen?« fragte ich. »Abhauen. Das Auto volladen und nichts wie weg«, sagte Troy. »Warum haben Sie's nicht gemacht?« Troy schüttelte den Kopf. »Na?« »Mein Wagen war in der Werkstatt«, antwortete er, »und ich hatte nicht genug Geld, um die Reparatur zu bezahlen. Ich wollte mir von irgend jemand ein Auto leihen, und dann wären wir einfach weggewesen.« Troy verstummte. »Wieso habe ich das Gefühl, daß Sie mir nicht die ganze Geschichte erzählen?« fragte ich. »Was wollen Sie denn unbedingt wissen?« »Hätten Sie nicht für ein paar Dollar ein altes Auto kaufen können?« »Sicher«, antwortete Troy, »aber es war schon zu spät. Als ich eines Nachmittags nicht zu Hause war, nahm Lauren das bißchen Geld, das sie zusammengekratzt hatte, und holte den Wagen aus der Werkstatt. Dann packte sie Jared und fuhr den Coast Highway hinauf. Seitdem sind die beiden verschwunden.« »Einfach so?« fragte ich. »Ein paar Tage später rief Lauren von ihren Eltern aus an. Die wohnten damals in Oregon. Und danach hat sie sich nie wieder gemeldet. Ihre Eltern wollten mir nicht verraten, wohin sie gefahren ist. Und dann brach auch mein Kontakt zu ihnen ab.« »Sie werden die beiden finden, sobald Sie hier rauskommen«, sagte ich. »Das war's für heute«, sagte Troy, nahm seinen Bleistift und den Zeichenblock, ging zur Stahltür und schlug dagegen. Vielleicht hatte ich ihn zu sehr gedrängt. Als der Wärter kam und aufschloß, verschwand Troy, ohne sich zu verabschieden. »Haben wir denn keinen interessanteren Gesprächsstoff?« fragte Troy. Als ich am nächsten Tag ins Gefängnis gekommen war und mich ihm gegenüber an den Tisch gesetzt hatte, war meine erste Reaktion, den Wärter zu rufen und eine Erklärung zu verlangen. Troys Arme waren von blauen Flecken übersät, und auf der einen Wange klaffte eine Wunde. Seine Nase war geschwollen, und er konnte kaum reden. Ich habe nie begriffen, warum Gefängniswärter wegsehen, wenn ein Häftling zusammengeschlagen wird. »Was war los?« fragte ich ungefähr zum drittenmal. »Was schätzen Sie denn?« »Man hat Sie fertiggemacht, weil Sie klein sind«, sagte ich. »Man hat mich fertiggemacht, weil ich mich nicht wehre«, sagte Troy. »Wir müssen Sie hier rausholen«, stellte ich fest. »Wir müssen in die Revision ge-
hen.« Troy nickte. »Ich will raus«, flüsterte er. »Bis es soweit ist, werde ich dafür sorgen, daß man Sie isoliert«, sagte ich. Ich hatte den Verdacht, daß Troy von seinen Mitgefangenen verprügelt wurde, weil sie ihn für einen Kindsmörder hielten. Denn die waren im Gefängnis besonders verhaßt. Damit würde ich gegenüber dem Direktor meine Forderung begründen, Troy eine Zeitlang in einem anderen Trakt unterzubringen. »Ich bin froh, daß Sie mich besuchen kommen«, sagte Troy. »Sie sind der einzige Mensch, der sich für mich interessiert.« »Ich weiß«, sagte ich. Manchmal wirkte er so hilflos. Er gehörte nicht hierher. Und dann kam mir der Gedanke, daß ich im Gefängnis noch viel schlechter zurechtkäme. Nie könnte ich mit diesem Mann tauschen, nicht einen Tag. »Hoffentlich geben Sie mich nicht auf«, sagte Troy mit schwacher Stimme. »Niemals«, entgegnete ich. »Auch nicht, wenn Sie herausfinden, was ich für ein schrecklicher Mensch bin.« »Wir holen Sie hier raus«, sagte ich. Als ich Troy das nächstemal besuchte, sah er besser aus. Seine blauen Flecke waren nur noch rosa Druckstellen, und aus der Wunde in seinem Gesicht war eine schmale Narbe geworden. Inzwischen hatte man ihn in dem Teil des Gefängnisses untergebracht, der Problemfällen vorbehalten war. Wir unterhielten uns ein paar Minuten, und ehe ich mich versah, sprachen wir wie üblich über ganz andere Dinge als über juristische Fragen. »Eines Abends kam ich von der Arbeit nach Hause«, erzählte ich. »Damals haben wir noch in San Francisco gewohnt. Und da stand jede Menge Keramik auf dem Eßzimmertisch herum.« »Keramik«, wiederholte Troy. »Hohe zylindrische Vasen und gedrungene runde Schalen. Teller und Urnen. Tassen, noch mehr Vasen. Zwanzig oder dreißig Teile, alle in einer Reihe, alle leuchtend grün und blau glasiert.« »Die Gattin war einkaufen«, sagte Troy. »Die Gattin hatte an einem Kurs teilgenommen«, sagte ich. »Sie war losgezogen, hatte einen Töpferkurs besucht und es mir erst erzählt, als er schon vorbei war.« »Wieso habe ich das Gefühl, daß Sie mir nicht die ganze Geschichte erzählen?« fragte Troy. »Ich dachte, sie arbeitet an ihrer Doktorarbeit, statt dessen lernte sie, wie man mit Lehm umgeht.« »Und?« »Hören Sie, ich fand es toll, das mit dem Kurs«, sagte ich. »Die Keramiksachen waren wunderschön. Sie wollte mich beeindrucken, und das ist ihr gelungen.« »Und?« wiederholte Troy. »Ich fühlte mich außen vor. Warum mußte sie den Kurs vor mir geheimhalten?« »Sie hat's Ihnen doch erzählt«, befand Troy. »Klar«, gab ich zu, »und wissen Sie, was danach geschah?« »Sie hörte auf zu töpfern«, antwortete Troy. »Sie hörte auf... Stimmt«, sagte ich. »Als ob ich das von ihr verlangt hätte.« »Und Sie hatten nie ein Geheimnis vor ihr?« fragte Troy. Ich schwieg. »Welche Geheimnisse hatten Sie vor ihr?« fragte er. Jede Menge, doch ich hatte das Gefühl, daß er in unserem Schachspiel der Offenbarungen allmählich die Oberhand gewann und ich mich besser auf meinem Stuhl zurücklehnen und die Arme vor dem Oberkörper verschränken sollte. »Hatten Sie nie eine Affäre?« fragte er. Nein, aber ich antwortete ihm nicht. »Was haben Sie vor ihr geheimgehalten?« wiederholte er.
Ich schwieg. Troy beugte sich vor. Die eine Hand schob er in den orangefarbenen Overallärmel seines anderen Arms. Er sah aus, als trage er eine Zwangsjacke. »Vielleicht sollte ich Ihnen lieber erzählen, wie es mich in diese Gegend verschlagen hat.« Er pochte mit dem Bleistift auf die Rückseite seines Zeichenblocks. Ich sah ihn unverwandt an. »Sie wüßten wahrscheinlich gern, warum ich mich nicht intensiver bemüht habe, Lauren zu finden«, sagte er. »Ich weiß es nicht. Die Hälfte der Zeit war ich wütend, die andere Hälfte besoffen. Es ist mir gelungen, einen Teil des Geldes zurückzuzahlen, aber nicht viel. Ich habe alles versetzt, was ich verpfänden konnte. Meine Wohnung habe ich verloren. Ich war obdachlos. Als ich einen Job als Hilfsarbeiter auf einer Baustelle bekam, schlief ich am Strand in meinem Auto. Gewaschen habe ich mich auf einem Männerklo in einem Einkaufszentrum. Irgendwann hab ich mein Geld für Tequila und Dope ausgegeben.« Dann erzählte mir Troy, wie er eines Tages aufgewacht und halb mit Sand bedeckt war. Er war am Strand eingeschlafen. Irgendwo hatte er einen Schuh verloren. An die Woche davor erinnerte er sich nicht. »Ich wußte, ich mußte meine Familie finden. Ohne meine Familie würde ich zugrunde gehen«, sagte er. Und so wusch er sich, kratzte das Geld für ein klappriges Auto zusammen und schlug sich Richtung Norden durch. Er hatte keine Ahnung, wo er seinen Sohn suchen sollte, nahm aber an, die beiden würden sich nicht weit von der Westküste entfernen. Es kam einfach nur darauf an, nach Norden zu fahren. »Ich dachte mir, sie wären bestimmt in Nordkalifornien, Oregon oder Washington«, sagte Troy. Troy landete in Oxnard und später in Ventura, wo er eine Zeitlang in einem Olivenhain arbeitete. »Ich dachte mir, wenn ich Jared und Lauren wiederfände, könnte ich beide mit nach Ventura nehmen. Jared einschulen. Zur Abwechslung mal für Lauren sorgen. Die Arbeit gefiel mir, obwohl sie sehr anstrengend war«, sagte er. Dann befand Troy, es sei Zeit, weiter nach Norden zu fahren, und er kam bis Oak Valley. Dort ging sein Auto kaputt. Es war ein Wunder, daß er damit überhaupt so weit gekommen war. »Ich hielt es für ein schlechtes Omen«, sagte er. An seinem Wagen waren größere Reparaturen erforderlich. Er entdeckte einen Schnapsladen und trank, während er auf sein Auto wartete. Schließlich gab er sein gesamtes Geld für Gin und ein billiges Strandhotel aus. Er ließ seinen Wagen stehen und fuhr per Anhalter weiter. »Ich habe in den alten Weingütern gehaust«, sagte er, »und wieder angefangen zu saufen. Ich ging in den Ort, holte mir was zu trinken, und dann trampte oder marschierte ich zu irgendeinem alten Weingut.« Ich fragte mich, warum ich von keinem in Oak Valley etwas über Troy gehört oder ihn selbst gesehen hatte. Ein Fremder fiel im Tal sehr schnell auf. »Aber meinen Plan, nach Norden zu fahren, habe ich nie aufgegeben. Irgendwann würde ich in einem kleinen Ort landen und dort meine Familie finden, das wußte ich«, sagte er. »Und dann?« »Den Rest wissen Sie«, sagte Troy. »Das stimmt nicht«, widersprach ich. »Im Augenblick kann ich nicht darüber reden«, sagte er. Und nach einer Pause: »Ich glaube nicht, daß Sie keine Geheimnisse vor Julia hatten.« Und schon waren wir wieder bei mir gelandet. Und ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Natürlich hatte ich vor Julia Geheimnisse gehabt, eine ganze Menge sogar,
doch mir fiel nur das ein, was jetzt noch über uns lastete... sogar in dem hell erleuchteten Raum, wo ich mit meinem inhaftierten Beichtvater saß, lastete dieser Schatten schwer auf uns, und damit meine ich den Unfall auf der Bergstraße und alles, was seither geschah. Meine Geheimnisse? Ich erzählte Troy, eine Zeitlang sei ich allein ins Kino gegangen, wenn Julia annahm, ich müsse spätabends noch arbeiten, und wenn sie sich irgendwann einen Film angucken wollte, den ich schon gesehen hatte, ging ich einfach noch mal mit ihr rein, auch wenn mir der Film überhaupt nicht gefallen hatte, und tat so, als sähe ich ihn zum erstenmal. Davon berichtete ich Troy, doch die dunklere Wolke lastete auf mir, und ich sagte: »Manchmal habe ich das Gefühl, daß sie mich zu gut kennt. Ich hätte gern etwas ganz für mich allein gehabt.« »Wie das Töpfern«, kommentierte Troy. »Die vielen Vasen und Schalen, die ich nicht bekam«, sagte ich. »Manchmal ist ein Kind auch nicht gerade hilfreich«, sagte Troy. Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. »Ist ein Kind da«, erklärte er, »glaubt man, es verbindet einen, obwohl das vielleicht gar nicht stimmt.« Ich begriff. »Haben Sie je...« »Habe ich mal was?« fragte Troy. »Als Sie die vielen Schulden hatten«, fuhr ich fort, »haben Sie damals je daran gedacht, allein abzuhauen?« »Ach so«, sagte Troy und seufzte. »Ja, klar habe ich daran gedacht.« »Aber dann hat Lauren Sie verlassen. Sie sind nicht abgehauen«, stellte ich fest. »Stimmt«, sagte er und grinste. Und aus irgendeinem Grund schob er mir jetzt über den Tisch seinen Zeichenblock mit der Spiralheftung zu, und ich konnte mir seine Zeichnungen ansehen. Ich wußte nicht, was ich erwartet hatte. Skizzen vom Gefängnishof, die Wachtürme, Elektrozäune. Vielleicht ein aus der Erinnerung gezeichnetes Porträt von Lauren oder seinem Sohn. Ich hatte aber nicht gewußt, daß Troy so gut mit dem ZeichenStift umgehen konnte. Auf jeder Seite des Blocks hatte er eine Landschaft gezeichnet, und jede Landschaft war präzise und penibel ausgearbeitet. Er hatte es auf einen gewissen stimmungsvollen Fotorealismus abgesehen. Er bevorzugte dunkle Wolken und die Abenddämmerung, was mir gefiel. Mit nichts weiter als einem Bleistift hatte er eine ganze Palette von Schwarz- und Grautönen geschaffen. Ich gestand, ich sei von seiner Technik beeindruckt, und wollte wissen, ob er in irgendwelche fernen Länder gereist sei, da jede Landschaft - ein kahler Hügel, ein Waldrand oder eine Anhöhe - das liebevoll gezeichnete Porträt einer Ruine enthielt. »Ich bin noch nie über die Westküste hinausgekommen«, antwortete Troy. Und dann schaute ich mir alle Blätter noch einmal an, und ich sah Troy an und mußte lachen, weil es zwar Zeichnungen von Ruinen waren, das wohl, aber es waren keine Tempel, Orakelstätten oder irgendwelche Heiligengräber. Sie lagen viel näher. Offenbar war Troy Frantz die ganze Zeit damit beschäftigt gewesen, die verlassenen und zerfallenen Weingüter im Oak Valley zu zeichnen. Die Seiten seines Blocks kringelten sich mittlerweile vom Gewicht des Graphits, die Ecken waren verschmiert. Ich blätterte den ganzen Block mehrmals durch und sah mir jedes Weingut genau an. Da war das Haus mit den Türmchen. Da war das mit den symmetrischen Fenstern, die Scheiben verschwunden, die Rahmen zerschlagen. Ich suchte und fand das Weingut mit den Zypressen. Troy hatte präzise die verputzten Mauern mit den vielen Rissen und dem Efeu abgebildet, den Dachziegelhaufen und die Bäume, die höher aufragten als das alte Weingut. Außerdem erkannte ich auf dem Zeichenblock einige andere Motive aus dem Tal. Ein paar Hänge mit verkümmerten Reben, den einen oder anderen weißen Steinbruch und den Blick vom Felsen aus auf das Tal, an einem Sommertag gemalt.
Troy nahm mir den Block wieder ab und klappte ihn zu. »Sie waren wohl eine ganze Weile im Oak Valley?« »Ein paar Monate letzten Sommer«, sagte er. »Etwas an der Gegend hat Sie fasziniert«, sagte ich. Troy antwortete nicht. »Sie sind ganz schön im Tal herumgekommen, haben aber keine Weingüter gezeichnet, die wieder in Betrieb genommen wurden«, sagte ich. »Das hat mich nicht interessiert«, sagte Troy. Er fiel ein wenig in sich zusammen. Er sah sehr müde aus. Alles an Troy Frantz war dunkel. Sein Teint, seine Haare, sein häufig unrasiertes Gesicht. Seine schwarz schimmernden Augen, seine Zeichnungen. Auch seine Vergangenheit lag im dunkeln. Man würde nicht vermuten, daß jemand viel Zeit mit ihm verbringen wollte, und ich fragte mich, wie er wohl früher einmal gewesen war - vor seinen Geldproblemen, bevor er den Kontakt zu seiner Familie verloren hatte. Ich hatte den Verdacht, daß er schon immer ein ziemlich düsterer Mensch gewesen war. Ich mußte an Lauren denken, und ob sie wohl ein ähnlich düsteres Gemüt wie Troy hatte. Er hatte ihre traurigen Songs erwähnt; ob sie so trostlos waren wie seine Zeichnungen? Zog diese Düsterkeit ihn irgendwie zu ihr hin? Ihn fragte ich das nie. Er war düster und bitter, und doch sehnte ich mich damals nach seiner Gesellschaft, was mir ein wenig angst machte, als ich mich nach dem Grund fragte. Möglicherweise saß ich gern mit ihm in dem Gefängnisraum zusammen, weil seine Düsterkeit zu dem Regen paßte, durch den ich mich treiben ließ, ich weiß es nicht. Auf der Heimfahrt und zu Hause spielte ich die Kassetten mit unseren Gesprächen immer und immer wieder, von denen ich übrigens keine einzige aufgehoben habe. Eine Zeitlang behielt ich sie, doch irgendwann warf ich sie weg. Seine Zeichnungen habe ich auch nicht. Ich habe sie nie aus dem Gefängnis geholt, was ich bedauere, weil ich eigentlich im Zweifel bin, ob Troy wirklich die Ruinen der Weingüter gezeichnet hatte, so wie ich mich zu erinnern glaube, oder ob er sich nicht viel mehr für die Bergkette im Hintergrund interessierte und der dachlose Bau nur zufällig in den Bildausschnitt fiel. Fast zwei Monate waren verstrichen, doch ich hatte das Gefühl, Troy schon viel länger zu kennen. Seine düsteren Gedanken waren meine düsteren Gedanken. Meine Überlegungen schienen mit seinen Überlegungen seelenverwandt zu sein. Und daß ich in diese Freundschaft gestolpert war, nun, das spornte mich an. Einen anderen Ausdruck gibt es dafür nicht. Als ich eines Tages - es war in der ersten Märzwoche - ins Gefängnis kam, sagte man mir, daß der Tagesablauf für die Häftlinge im Sondertrakt geändert worden war. Troy war allein im Hof und ging im Kreis auf der kiesbestreuten Laufbahn. Es nieselte. Ich holte mir von einem Wärter die Erlaubnis, ins Freie zu gehen und Troy zu begleiten. Es war das erste Mal, daß ich ihn außerhalb des weißen Zimmers traf. Den Kassettenrecorder nahm ich nicht mit. Wir gingen gemeinsam die Laufbahn ab. Es war keine große Runde, höchstens vierhundert Meter, aber die gegenüber der Gefängnismauer gelegene Seite des Platzes war irgendwie aufregend. Da stand zwar ein Zaun, doch man konnte durch den Maschendraht auf die freie Fläche und den zweiten Zaun dahinter schauen und noch weiter, bekam ein Stückchen Autobahn zu sehen, die für jeden Gefangenen der Inbegriff der Freiheit sein mußte. Wir gingen die Bahn noch einmal ab. Und dann noch einmal, wortlos. Schließlich machten wir an der gegenüberliegenden Seite der Bahn halt, und Troy fragte: »Wie geht's Ihrem Sohn?« Wir hatten zwar viel über die Frauen in unseren Leben gesprochen, aber kaum über unsere Söhne. »Ihm geht's besser«, antwortete ich. »Er hat das Sanatorium verlassen, in dem er anfangs war. Jetzt wohnt er bei seiner Mutter in San Francisco und geht wieder zur Schule. Er ist bei einem Therapeuten in Behandlung, und Julia glaubt, daß ihm das
sehr hilft.« »Aber Sie haben ihn nicht gesehen«, stellte Troy fest. »Nein.« »Haben Sie auch nicht mit ihm gesprochen?« »Nein«, gab ich zu. Ich berichtete, wie es ablief: »Wenn ich ihn anrufe, will er nicht mit mir reden. Wenn ich frage, ob ich ihn besuchen darf, sagt er seiner Mutter, sie soll mich abwimmeln.« »Sie sollten sich noch mehr bemühen«, sagte Troy. »Ich weiß, was Sie denken«, sagte ich. »Wenigstens weiß ich, wo er ist.« Auf einmal regnete es heftiger, ein dünner Regen, und Troys Gesicht war feucht, als ob er geweint hätte. »Verzeihung«, sagte ich. »Das war nicht nett von mir.« »Nein«, sagte Troy. »Das habe ich nicht gedacht. Jared würde mich wahrscheinlich gar nicht sehen wollen.« »Warum nicht?« fragte ich. »Kurz bevor Lauren verschwand, war ich betrunken. Schwer betrunken«, sagte Troy. »Ich kam nach Hause. Jared lief mir zufällig über den Weg. Da hab ich ihn geschlagen. Und zwar fest. Das hat Lauren wohl den Rest gegeben.« »Sind das die furchtbaren Dinge, die Sie getan haben?« fragte ich. Jetzt prasselte der Regen richtig auf den Gefängnishof. Wir waren beide patschnaß; ich hatte wenigstens einen Mantel an, aber Troy trug nur eine dünne Jacke über seiner Gefängniskleidung. Die Jacke und der Overall klebten an seinem drahtigen Körper. Sein Gesicht war völlig durchnäßt, und er steckte die Hände tief in seine Jackentaschen. »Eines Abends, als ich mich eine Weile in Oak Valley herumgetrieben hatte, ein Abend, an dem es goß, fand ich am Rand der Bergstraße ein abgestelltes Auto«, erzählte Troy. »Einen alten Kombi«, ergänzte ich. »Als ich die Straße raufging, fielen nur ein paar Tropfen, doch dann regnete es Bindfäden.« »Ich erinnere mich«, sagte ich. »Es war das erste Herbstunwetter in jenem Jahr.« »Ich war besoffen und wollte mich nur irgendwo hinlegen, aber der Fahrer, er war wohl pinkeln, hatte die Schlüssel stecken lassen. Ich sah mich um; niemand war zu sehen. Was für ein Trottel, dachte ich.« »Sie wollten Richtung Norden«, sagte ich. »Ich fuhr los, betrunken wie ich war, und wußte, daß es unrecht war, was ich tat. Ich dachte aber: Vergiß es, fahr einfach ein Stück, und laß den Wagen später irgendwo stehen. Und ich war noch gar nicht weit gekommen, als ein kleiner Hirsch vor mir auftauchte. Ich hab ihn erwischt. Er lief weg«, sagte Troy. »Ich bin weitergefahren.« »Auf dem Überwachungsvideo eines kleinen Supermarkts hat man Sie beim Ladendiebstahl erwischt«, sagte ich. »Ich hatte Hunger«, erwiderte Troy. »Wußten Sie denn von dem Jungen...« - sag seinen Namen -, »von Craig Montoya?« »Ehe ich mich versah«, erzählte Troy, »saß ich in 'ner Kneipe, der Fernseher lief, und da tauchte auf dem Bildschirm mein Gesicht auf. Zum Glück achtete in der Kneipe keiner darauf. Ich sah elend aus. Ich fühlte mich elend. Und dann hörte ich mir den Bericht an und dachte: O nein, o nein. Ich habe ihn erwischt. Ich hab ihn überfahren. Ich dachte, ich hätte einen Hirsch angefahren.« Troy flüsterte fast und war schwer zu verstehen, so wie der Regen überall um uns her auf den Asphalt klatschte. »Sie haben einen Hirsch angefahren«, sagte ich. »Aber ich habe mir selbst eingeredet, ich hätte den Jungen erwischt«, sagte Troy. Er ließ den Wagen stehen, fuhr per Anhalter weiter nach Norden, auch auf die Ge-
fahr hin, schneller erkannt zu werden. Er brauchte ein anderes Auto und fing an, sich auf den Parkplätzen von Supermärkten nach Autos umzusehen, in denen der Schlüssel steckte. »Das zweite Carjacking«, sagte ich. »Mit dem Baby auf dem Rücksitz.« »Ich schwor's, ich hab das Kind erst gesehen, als es anfing zu schreien, und dann guckte ich in den Rückspiegel und sah, daß eine Frau hinter mir herlief«, erzählte Troy. »Ich gab das Baby der Frau, und dann hab ich das Gaspedal voll durchgetreten.« Er war auf der Flucht vor einem Verbrechen, das er nicht begangen hatte - sein einziges Vergehen war der Autodiebstahl -, und dann beging er ein weiteres Verbrechen, wozu es nicht gekommen wäre, wenn er nicht hätte annehmen müssen, einen Jungen getötet zu haben. Und er hätte nicht annehmen müssen, Craig getötet zu haben, wenn ich mich gestellt hätte. Letzten Endes war alles meine Schuld. »Ich dachte, ich hätte einen Jungen überfahren, und als sie mich erwischten, war ich völlig fertig«, sagte Troy. »Und als sie mir dann erzählten, sie würden mich wegen Mordes anklagen, dachte ich: Ich bin ein Stück Dreck. Ich habe verdient, wozu sie mich verurteilen. Und so hab ich gestanden. Ich hätte alles unterschrieben.« »Sie haben einen Hirsch angefahren«, wiederholte ich. »Und vermutlich hat ein anderer den Jungen überfahren«, sagte Troy. Ich strich meine nassen Haare mit der Hand zurück. Ich zitterte. Auch Troy sah verfroren aus; seine Lippen wurden blau. »Das sagen Sie jetzt«, bemerkte ich, »aber wann ist es Ihnen klargeworden?« »Eigentlich erst, als Sie hier aufgetaucht sind«, sagte Troy. »Sie haben mich verwirrt. Eine Zeitlang wußte ich nicht, was ich glauben sollte. Und ich muß Ihnen gestehen, manchmal bin ich mir immer noch nicht ganz sicher.« »Für die Autodiebstähle haben Sie lange genug gesessen«, sagte ich. Jetzt weinte Troy wirklich, kein Zweifel. Durch den Regen sah ich, daß er schluchzte. »Ich will meinem Sohn sagen, wie leid es mir tut, daß ich ihm weh getan habe«, sagte er, und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Wir müssen unbedingt in die Revision gehen. Und zwar sofort.« An diesem Abend kam ich nach Hause, ging die Treppe hoch in meine Dusche und blieb lange unter dem Wasserstrahl stehen. Dann setzte ich mich auf den Boden der Duschwanne und ließ mir den warmen Regen auf die Schultern prasseln. Für die Revision brauchte ich Beweismaterial. Da es zu keinem Prozeß gekommen war, hatte man die ganzen Unterlagen und Beweismittel, die zu diesem Fall gehörten, nie richtig geordnet. Ich war schon mehrmals nach Hollister gefahren, um mich durch diverse Kellerarchive zu arbeiten, um Fotos vom Tatort, gerichtsmedizinische Berichte und anschließend die Kisten mit Beweismaterial mitzunehmen, die vielen Plastiktüten und Gläser mit Müll, die man eingesammelt hatte. All das hatte ich gegen Quittung ausgeliehen, konnte mir das Material aber nicht ansehen; ich ertrug es einfach nicht. Wochenlang hatte der Aktenstapel unangerührt auf meinem Schreibtisch gelegen, weil ich die Erinnerung an den Unfall nicht wachrufen wollte. Ich wollte diese Nacht nicht noch einmal durchleben. Eines Abends machte ich mich jedoch endlich an die Arbeit, atmete tief durch und öffnete den obersten Aktenordner. Ich sah mir Fotos von der Leiche an. Es waren Farbfotos, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließen. Man hatte Craig Montoya aus jedem Winkel aufgenommen, aus einiger Entfernung, aus der Nähe und dann sein aufgedunsenes Gesicht auch noch vergrößert - nicht wiederzuerkennen, wächsern, verunstaltet. Aus den Mundwinkeln zogen sich Rinnsale getrockneten Blutes. Mir war übel, doch gleichzeitig war ich wie gebannt. Ständig suchte ich in den Bildern nach mir, nach meinem Schuh oder meinem Arm am Rand eines Fotos. Ich war ein Gespenst, das sich mit Silbernitrat nicht festhalten ließ. Ich war ein über dem armen toten Jungen schwebendes Phantom, das beobachtete, Angst hatte, aber sehr wohl
wußte, daß es sein Leben führen konnte, ohne gesehen zu werden, ohne ertappt zu werden. Es gab auch andere Fotos, die zu betrachten mir ein wenig leichter fiel - eine Aufnahme von meinen Schuhabdrücken und von den Bremsspuren meines Wagens, von der geknickten Birke, dem dichten Kiefernwald. Fotos von Craigs Kombi, von den Reifenspuren seines Autos. Doch auch diese Bilder waren mir unheimlich, und ich fühlte mich so miserabel wie an jenem Morgen nach dem Unfall. Meine Fingerspitzen wurden so kalt, daß ich die steifen Fotos in meinen Händen kaum spürte. In einer anderen Schachtel lagen ein paar Stoffetzen sowie - aus mir unbegreiflichen Gründen - die Schuhe, die Craig getragen hatte, von Regen, Schlamm und Blut durchweichte, inzwischen getrocknete Wanderstiefel. Und außerdem ein durchsichtiger Plastikbeutel mit dem Kaschmirschal, den Julia mir einmal geschenkt hatte. Auf den Fotos sah man diesen Schal, und da lag er nun. Mein alter Lieblingsschal. Ich kam mir vor, als durchsuchte ich im Fundbüro eine Kiste, um das zu nehmen, was mir gehörte, und den Rest zurückzugeben. Das Beweismaterial war zwar schriftlich aufgelistet, aber vermutlich konnte ich den Schal verschwinden lassen, ohne daß es jemand merkte. Ich könnte dieses Beweisstück vernichten, und wahrscheinlich würde niemand dahinterkommen. Aber was war, wenn der zuständige Beamte aufpaßte und achtgab, ob sämtliche von mir ausgeliehenen Gegenstände auch wieder zurückgebracht wurden? Endlich würde man mich beim Begehen einer Straftat ertappen, und wenn ich meine Schuld bisher nicht zugegeben hatte, so würde ich es damit klar und deutlich tun. Ich legte den Schal in die Schachtel zurück. Ich sah die verschiedenen Laborberichte durch. Analysen des Schlammes im Wald, von menschlichen Haaren und anderen Fasern, die man an Craigs Leiche gefunden hatte, von meinem Erbrochenen, von Blut und von all dem Beweismaterial aus Craigs Auto. Solche chemischen Befunde hatte ich auch früher schon gesehen, mich aber immer auf die von den Labortechnikern beigefügten zusammenfassenden Berichte verlassen. Doch diesmal erkannte ich, daß einige der in Craigs Wagen gefundenen Haare nicht zu den auf der Bergstraße entdeckten Haaren paßten; soviel lag auf der Hand. Und mir fiel auf, daß sich das Blut an der vorderen Stoßstange von Craigs Kombi durch Tests offenbar nicht eindeutig dem Opfer zuordnen ließ. Auch bei der Autopsie war fotografiert worden, und auf den Fotos sah der Junge so aufgequollen und blau, so viel blasser als der Craig auf den Tatortfotos aus, daß ich mich fragte, ob der Gerichtsmediziner seine Autopsie an dem richtigen Opfer vorgenommen hatte. Ich rannte aufs Klo. Mehr ertrug mein angegriffener Magen nicht. Dann kehrte ich zum Schreibtisch zurück und vergrub meinen Kopf in den Händen. Ich hatte keine neuen Beweise, doch genau die brauchte ich. Das gesamte vor mir auf dem Schreibtisch liegende Beweismaterial half mir nicht, jedenfalls nicht unmittelbar; daß es nicht zusammenpaßte und nicht auf Troy als Schuldigen wies, brachte uns nicht weiter, weil er durch sein Schuldbekenntnis auf sein Recht verzichtet hatte, dieses Beweismaterial vor Gericht überprüfen zu lassen. Ich ging in die Küche, fand eine Flasche von dem, was ich am Abend zuvor zufällig getrunken hatte, einen süßen Syrah, und leerte drei Gläser davon. Es gab tatsächlich einen neuen Beweis, den ich vorlegen könnte, einen Beweis, der garantiert das Ergebnis des Prozesses beeinflußt hätte. Dieses neue Beweismaterial ließe sich ganz einfach beschaffen. Es käme in Gestalt einer eidesstattlichen Erklärung, die ich bekommen könnte, ohne weite Reisen zu unternehmen. Ich könnte einen Block holen und mein Geständnis aufschreiben. »Wie geht's voran?« fragte Troy, als ich ihn das nächstemal im Gefängnis besuchte. Wir trafen uns wieder im weißen Raum, und als ich eintrat, zeichnete er auf seinem Block weiter. Er zeigte mir, woran er gerade arbeitete. Es war wieder eine Landschaft, der Blick auf eine Bergkette, und weit und breit war kein verlassenes Weingut zu sehen. Ich erkannte das Motiv nicht, aber das mochte auch daran liegen, daß hier
die Sonne schien, anders als in allen anderen Zeichnungen Troys. Kräftige Sonnenstrahlen durchstießen eine Wolkenwand. »Die Revision macht Fortschritte«, berichtete ich. »Ausgezeichnet«, sagte Troy. »Wie ich sehe, scheint da ein wenig die Sonne«, stellte ich fest. »Jared soll schließlich nicht glauben, ich könnte bloß Regen zeichnen«, sagte Troy. Ich schwieg. »Ich werde ihm sämtliche Zeichnungen schenken«, sagte er. »Ein tolles Geschenk«, sagte ich. Troy blinzelte mir zu und rieb mit einer Seite seines kleinen Fingers über einen Felszacken. Früher einmal war ich ein echter Rätselfan. Jeden Morgen löste ich in der Zeitung das Kreuzworträtsel, bevor ich mich den Schlagzeilen widmete. Auf langen Autofahrten machte ich hingebungsvoll bei irgendwelchen Ratespielen mit. Doch dieses Rätsel, das ich jetzt vor mir liegen hatte, machte mich mürrisch und konfus. Ich verabscheute diese Revision. Es war ein Spiel, das ich unmöglich gewinnen konnte. Ich mußte mein Dilemma aus einer neuen Perspektive betrachten, und schließlich ertappte ich mich dabei, wie ich durch das leere Haus streifte und mich in alle Zimmer setzte, die ich sonst nie benutzte. Da saß ich nun an dem langen Tisch im Eßzimmer, auf dem kalten Bett in Tims Schlafzimmer. Vermutlich nahm ich an, daß ich plötzlich eine Erleuchtung haben würde. Der Regen hämmerte auf das Dach. Er lief die Fensterscheiben hinunter. Egal wo, es regnete in einem fort. Im Weinberg hatte ich wichtige Arbeiten vernachlässigt. Zwar hatte ich die Reben zurückgeschnitten, der zweite Jahrgang hätte aber längst schon auf Flaschen gezogen werden müssen. Eines Tages ging ich nach unten in den Weinkeller - ich verstauchte mir fast den Fuß auf einer kaputten Stufe - und verschnitt die Fässer. Ich glaube, mein schnurloses Telefon klingelte, als ich den Schö-nungstrüb setzen ließ. Mittlerweile klingelte das Telefon so selten, daß ich immer leichtes Herzflattern bekam, wenn es einmal wieder der Fall war. »Hallo«, sagte Julia. »Oh, hallo«, sagte ich. In letzter Zeit telefonierten wir wieder regelmäßiger miteinander. Noch im Januar hatte ich sie einmal die Woche angerufen; immer rief ich sie an, nie sie mich. Ich wollte herausfinden, welche Fortschritte Tim machte, nachdem er das Sanatorium verlassen hatte. Ich wollte ihre Stimme hören. Und unsere Gespräche waren so kurz, daß ich mich oft fragte, ob sie überhaupt stattgefunden hatten. »Wie geht's Tim, welchen Eindruck macht er auf dich?« fragte ich bei der Gelegenheit. »Es geht ihm besser«, antwortete Julia. »Besser? Was heißt das, wachsen seine Haare nach?« »Seine Haare wachsen nach«, gab Julia zurück. »Ich muß los«, sagte sie, und das war's. Ein anderes Mal rief ich an und sagte: »Weißt du, ich möchte ihn wirklich gern sehen.« »Also, ich spreche es immer mal wieder an, und er, tja, ist einfach noch nicht soweit«, sagte sie. »Er macht mich für das verantwortlich, was passiert ist«, sagte ich. »Er hat gesagt, daß er wütend ist, aber... tut mir leid«, sagte sie. »Ich weiß, daß es nicht richtig ist.« »Er braucht Zeit«, sagte ich. »Das stimmt wohl.« »Geht er immer noch zu seinem Psychologen?« fragte ich. »Zweimal die Woche.« »Wir können ihn wohl nicht jede Minute im Auge behalten«, stellte ich fest.
»Alle zwei Minuten denk ich dran, nachzusehen, was er gerade macht«, sagte Julia. Plötzlich war die Verbindung stark gestört. »Ich muß los«, sagte sie, und weg war sie. Allmählich wurden unsere Telefonate länger, und wir sprachen über den Regen, und was Julia so machte, daß sie bei ihren Forschungen gerade einen Bereich abschloß, in einer Buchhandlung arbeitete, aber über mich sprachen wir nie. Wir redeten nicht über den Weinberg, und wie gesagt, die Initiative ging immer von mir aus. Um so überraschter war ich nun, daß sie am anderen Ende der Leitung war. »Du klingst, als stündest du auf dem Boden eines Aquariums«, sagte Julia. »Ich bin im Weinkeller«, sagte ich. »Ach ja?« »Und ziehe gerade den zweiten Jahrgang auf Flaschen«, ergänzte ich. »Ich komme jetzt erst dazu. Ich war ziemlich beschäftigt. Ich hab...« Dann fiel mir ein, daß sie mich anrief und ich nicht die Pausen in unserem Gespräch füllen mußte. »Ich wollte dir nur mitteilen, daß ich vielleicht umziehe«, sagte Julia. Umziehe? Wohin umziehe? In eine andere Stadt, einen anderen Bundesstaat? Wie weit weg? »Ach ja?« sagte ich. »Wahrscheinlich nur auf die andere Seite der Bucht. Wir könnten ein viel größeres Haus kriegen und müßten viel weniger Miete dafür zahlen. Und Tim könnte weiter seine alte Schule besuchen.« »Prima«, sagte ich. »Ich wollte dir das nur mitteilen«, sagte sie. »Damit du nicht aus allen Wolken fällst, wenn du anrufst, und ich sage: Hör mal, wir ziehen um.« »Klar«, sagte ich. »Falls es wirklich klappt. Ich weiß es nicht. Vielleicht kommt ja noch etwas dazwischen«, plapperte sie weiter. »Macht auch nichts. Mir gefällt's hier im MissionViertel.« Dazu fiel mir nichts ein. »Ich hab mit dem Mann Schluß gemacht, den du nicht leiden konntest«, sagte sie. »Mit dem Maler«, sagte ich und hatte den Verdacht, daß meine Reaktion ein wenig zu schnell kam. »Was nicht heißt...« »Schon klar«, sagte ich. Das hieß nicht, daß sie nun bald ihr Schiff in meinem Hafen vertäuen würde. »Ich wollte es dir nur sagen«, fuhr sie fort. »Nett von dir«, sagte ich. »Hoffentlich nimmt dich das nicht zu sehr mit«, fügte ich hinzu. »Schließlich sind wir ja uralte Freunde«, sagte Julia. Ich lehnte mich gegen den Bottich. Draußen trommelte der Regen auf den Hügel. »Ich wünschte, ich könnte Tim sehen«, gestand ich. »Es ist schon Monate her.« »Ich weiß«, sagte Julia. »Ich sag ihm immer mal wieder, er soll mit dir reden, aber...« »Das machst du?« »Dann ist er sauer auf mich, ich weiß auch nicht, vielleicht dränge ich ihn nicht genug, weil ich befürchte, daß er mich auch noch aus seinem Leben verbannt.« »Unser Sohn himmelt dich an«, stellte ich fest. »Danke«, sagte sie. »Danke, daß du das gesagt hast.« »Du weißt doch von seinem Computernamen«, fuhr ich fort. Wir hatten darüber gesprochen. »Daß er rumlief und so getan hat, als wäre er der tote Junge.« »Craig Montoya«, sagte Julia. »Ja, warum nur?« »O Julia«, seufzte ich. »Das ist ganz allein meine Schuld. Es ist wirklich meine Schuld.« »Warum? Weil ein Junge ums Leben gekommen ist, den Tim kannte? Weil er dessen Tod nicht richtig verarbeiten konnte? Das ist doch nicht deine Schuld, Jason.«
Das war es sehr wohl, und ich sehnte mich danach, ihr die Wahrheit zu sagen. Ich sehnte mich danach, es irgendwem zu erzählen. »Du hast im Augenblick also viel zu tun?« fragte Julia. »Ach so, ja, die Revision. Hab ich erwähnt, daß ich Revision einlege?« Ich wußte verdammt gut, daß ich es nicht getan hatte. Jetzt berichtete ich Julia, daß ich Troys Verteidigung übernommen hatte. »Ich wußte gar nicht, daß du noch für die Rechtshilfe arbeitest«, sagte Julia. »Es ist nicht für die Rechtshilfe«, sagte ich. »Ich mache es unentgeltlich.« Julia schwieg. »Der Kerl gehört nicht ins Gefängnis, und ich kann nicht zulassen, daß er einsitzt«, sagte ich. »Du bist also auf einem Kreuzzug«, stellte Julia fest. Es klang leicht abfällig. »Er hat niemanden«, erklärte ich. »Und ich kann ihm helfen.« »Bei den Leuten im Eisenwarenladen dürfte das keinen großen Anklang finden«, sagte Julia. »Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich fahr nie in den Ort runter.« Julia schwieg. Dann sagte sie: »Paß bloß auf. Paß bloß auf dich auf, okay?« Ich kann nicht behaupten, daß mir von ihrer Warnung ganz warm ums Herz wurde. Auf einmal klang sie so weit weg. Paß bloß auf, als wollte sie sagen: Komm mir nachher nicht und sag, ich hätte dich nicht gewarnt. Als wollte sie sagen: Du hast ja keine Ahnung, worauf du dich da einläßt. Als wollte sie sagen: Komm bloß nicht und bettel mich um Hilfe an. Du bist auf dich allein gestellt. Ich widmete mich wieder meiner Arbeit. Ich wollte den Wein noch ein wenig auf dem Trüb ruhen lassen, darum ging ich zunächst zu den Regalen. Der erste Jahrgang staubte in den Regalen auf der rechten Seite des Raums vor sich hin, doch die linke Seite war noch leer. Das Regal zur Linken konnte man beiseite schieben, solange es noch leer war, um an das geheime Gewölbe meines Großvaters zu gelangen. Ich betrachtete die leeren Regalbretter und schnappte nach Luft. Das Gewölbe. Mir war entfallen, was ich dort versteckt hatte. Ich gab einen erbärmlichen Verbrecher ab. Es war reine Glückssache, daß man mich noch nicht erwischt hatte. Ich hatte die Tüten mit meinen Kleidern loswerden wollen, alle Beweisstücke, die mich ganz eindeutig mit dem Unfall in Verbindung bringen würden, aber ich hatte es vergessen. Es war mir völlig entfallen. Ich mußte die Sachen loswerden. Sofort. Ich mußte die Kleidungsstücke verbrennen. Ich schob das Regal beiseite. Dann hebelte ich das Gewölbe mit einem Stemmeisen auf. Ein Schwall muffiger Luft umgab mich. Und mir wurde ganz schwindlig. Das Gewölbe war leer. Was wußte Julia, und was wußte sie nicht? Nicht so hastig: Wann hatte sie das Gewölbe entdeckt? Wann die Kleider gefunden? Was hatte sie damit gemacht? Hatte sie sie beiseite geschafft? Nahm sie an, ich wüßte, daß sie sie fortgeschafft hatte? Ich kam zu dem Schluß, sie müsse mich gesehen und eventuell gehört haben, als ich damals im Oktober spätnachts von der Polizei in Hollister nach Hause gekommen war. Genau, denn ich erinnerte mich noch, wie ich heimgekommen war und die Tüten aus dem Schrank im ersten Stock in den Weinkeller gebracht hatte, dann zurück ins Haus gekommen war und sie in der Küche angetroffen hatte, wo sie Schokoladentorte aß. Sie wußte Bescheid. Das stand für mich fest. Sie hatte es die ganze Zeit gewußt. Sie hatte hinter mir aufgeräumt. Und ich nahm ihr das übel. Es ärgerte mich, daß ich die ganze Zeit über durchschaut worden war. Sie hatte es schon so lange gewußt und zugelassen, daß ich mich mit meiner Geheimnistuerei selbst zerstörte. Warum hatte sie mir nicht erzählt, daß sie es wußte? Warum versuchte sie nicht, mir zu helfen? Ich war verwirrt. So bald wollte ich nicht wieder mit Julia sprechen. Wenn ich ihre Stimme hörte, würde ich wahrscheinlich ausrasten, oder sie dachte vielleicht, daß sie
mir einen Gefallen tat, indem sie das Belastungsmaterial beiseite schaffte. Doch dem war nicht so. Sie hätte mir beistehen können. Sie hätte mich in die Arme nehmen und lügen und sagen können, alles würde gut werden. Ich hätte den Kopf in ihren Schoß betten und sie hätte mir über die Haare streichen können. Alles würde gut werden. Jetzt konnte ich mich wohl nie mehr an sie wenden. Jetzt war ich ganz allein. Monatelang hatte ich einen Bogen um den Ort gemacht. Zum Einkaufen und Tanken fuhr ich nach New Idria, doch gelegentlich brauchte ich etwas, das ich nur im Eisenwarenladen fand. Als ich anfing, den zweiten Jahrgang aus dem Schönungsbehälter auf Flaschen zu ziehen, bemerkte ich einen Riß in einem Schlauchstück; schließlich mußte ich die gesamte Leitung ersetzen. Ich hatte aber keinen Schlauch mehr, mußte also in den Ort fahren; das hieß, den Eisenwarenladen zu betreten, ohne daß mich jemand bemerkte, und mich in den Gang zu schleichen, wo ich fand, was ich brauchte. Dann würde ich mich der Kasse nähern, meinen Einkauf so schnell wie möglich bezahlen und dabei ständig auf meine Füße starren. Ich raste die Hauptstraße entlang und hielt vor dem Eisenwarenladen an. Meine Schultern wurden starr, als die Türklingel mein Kommen ankündigte, und dann fand ich zu meiner Bestürzung die lebensmittelechten Schläuche nicht an der gewohnten Stelle. »Jason«, sagte Will Clark, der auf seinem Hocker neben der Schlüsselmaschine saß. Alex Marquez und Emma Hodges flankierten ihn. Aus irgendeinem Grund waren alle drei hinter dem Tresen, bildeten ein unergründliches Tribunal. »Ich brauche einen Schlauch«, sagte ich. »Tatsächlich«, sagte Will Clark. »Ich ziehe auf Flaschen«, erklärte ich. »Was du nicht sagst«, sagte er. Alex Marquez schnaubte verächtlich. Er packte gerade Lebensmitteldosen in einen Pappkarton. Den Karton schob er über den Tresen zu Will Clark, der erst in den Karton schaute und dann mich ansah. »Weißt du, was das ist?« fragte Will Clark. »Sieht wie ein Carepaket aus«, sagte ich. Er nickte. »Und möchtest du auch gern etwas hineintun?« Emma Hodges sah auch mich herab. In den Händen hielt sie eine große Schere. Alex Marquez reichte Will Clark ein Bindfadenknäuel. Der sagte: »Es ist für Mrs. Montoya und ihre Tochter.« Ich schluckte. »Ihnen geht's zur Zeit nämlich ziemlich schlecht«, fuhr er fort. »Ich brauche nur ein Stück Schlauch«, sagte ich. Alex Marquez schnaubte. »Du kommst hier rein und traust dich, damit zu protzen...« »Protzen? Womit protze ich? Daß ich Wein in Flaschen abfülle?« fragte ich. »Das heißt vermutlich, du willst nichts in den Karton tun«, stellte Will Clark fest, klappte die Kiste zu und wickelte den Bindfaden darum. Emma Hodges nahm ihm das Paket ab, machte einen Knoten und schnitt mit ihrer Schere den Faden ab. Sie packte den Karton auf einen Stapel neben der Schlüsselmaschine. »Wie kannst du nachts bloß ruhig schlafen? Du weißt doch, wie schlecht es den Montoyas geht! Wie kannst du da einen gemeinen Verbrecher verteidigen?« fragte sie. »Troy Frantz hat Craig Montoya nicht getötet«, sagte ich. »Er hat es doch zugegeben«, sagte sie. »Er ist unschuldig«, sagte ich. »Man hat den Falschen eingesperrt.« Will Clark sah mich an. »Dritter Gang«, knurrte er. Wenig später kehrte ich mit einer Rolle Schlauch zurück. Ich zahlte in bar und ging, ehe mir Will Clark das Wechselgeld gab. Draußen hatte der Regen ein wenig nachgelassen, und als ich in meinen Wagen
stieg, sah ich eine rundliche, schwarzgekleidete Gestalt auf mich zugehen. Ich erkannte die Mutter des Jungen, den ich totgefahren hatte. Um ihre Schultern lag ein schwarzer Regenumhang aus Plastik. Ihre Fußknöchel waren geschwollen, sie hatte Schwierigkeiten beim Gehen. Mrs. Montoya zog eine Art Einkaufswagen hinter sich her, und ich fragte mich, ob sie die ganze Strecke von ihrem Haus zu Fuß zurückgelegt hatte. Es war zu weit, aber ich sah nirgends ihren Wagen stehen. Ob sie mich bemerkte, als sie den Eisenwarenladen betrat, wußte ich nicht. Ich wollte warten, bis sie wieder herauskam. Ich wollte mit ihr reden. Ich wollte ihr sagen, daß ihr Zorn dem Falschen galt, fuhr aber weg, bevor sie wieder aus dem Laden trat. Ich tauschte den zerrissenen Schlauch aus und verbrachte den restlichen Abend und die nächsten beiden Tage damit, meinen Wein in Flaschen zu füllen und die Flaschen im Keller zu lagern. Ohne Hilfe dauerte es lange, aber ich genoß diese monotone Tätigkeit. Als ich fertig war, beschloß ich, eine Flasche des ersten Jahrgangs zu öffnen. Bis er ausgereift war, würde zwar noch ein Jahr vergehen, aber ich wollte ihn dennoch jetzt probieren, und so nahm ich eine Flasche mit ins Haus, entkorkte sie - der Korken rutschte ohne ein Floppen aus der Flasche, als hätte man ihn eingefettet - und goß mir ein Glas ein. Ich hatte es geschafft. Wir hatten es geschafft, Julia, Tim und ich, und wunderschön sah er aus, der klare rubinrote Cabernet in dem Kristallglas, daß ich ihn fast nicht trinken wollte. Doch dann hielt ich ihn gegen das Licht, zwirbelte den Stiel des Glases zwischen meinen Fingern, roch das Bukett, und mir stieg ein Duft in die Nase, der mich an ein Frühlingsfeld, an eine Wiese erinnerte. Ich roch Veilchen und hochgewachsenen Roggen, einen Hauch von Salbei. Ich trank ein Schlückchen. Und noch eins. Dann schloß ich die Augen, und jetzt sah ich das Feld, die Wiese, vor mir. Es war, kurz nachdem Julia und ich nach Kalifornien gezogen waren. Sie war mit Tim schwanger, was wir aber noch nicht wußten. Für einen Tag hatten wir der Stadt den Rücken gekehrt und waren aufs Geratewohl die Küste hochgefahren. An einem Wald stiegen wir aus und gingen ein Stück zu Fuß bis zu einer Wiese, die ans Steilufer reichte. Dort breiteten wir an einer geschützten Stelle eine Decke aus. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Wir hatten den Pazifik nur für uns. Wir hörten, sahen aber nicht, wie dreißig Meter unter uns die Wellen gegen die Felsen schlugen. Wir waren ganz allein, und ich zog mein Hemd aus. Julia streichelte meinen Brustkorb. Sie zog ihre Bluse aus, legte sich auf mich, und unsere nackten Oberkörper rieben sich aneinander. Als sie mir sagte, daß ihr Rücken brannte, griff ich - ohne sie von mir rutschen zu lassen - in meinen Rucksack, holte die Sonnenmilch heraus, drehte irgendwie den Verschluß ab und drückte etwas davon auf Julias Rücken. Ich cremte sie ein. Dann setzte Julia sich hin, und ich verteilte die Sonnenmilch auf ihren Brüsten. Sie nahm mir die Tube ab und schmierte mit der kühlen Flüssigkeit meinen Oberkörper ein. Dann rollte sie mich auf die andere Seite und nahm sich meinen Rücken vor. Wie konnten so viele Jahre einfach verfliegen? Ich trank noch ein Glas von unserem ersten Cabernet und blieb noch eine Weile in Gedanken auf der Wiese, verteilte Sonnenmilch überall auf dem Körper der Frau, mit der ich eigentlich mein restliches Leben hatte verbringen wollen. Ich saß am Küchentisch und trank die ganze Flasche leer, wurde aber nicht betrunken, kein bißchen. Am nächsten Morgen weckte mich das Klingeln des Telefons. Ich wachte in Tims Zimmer auf, erinnerte mich aber nicht, dorthin gegangen zu sein. »Ich hab Sie lange nicht gesehen«, sagte Troy. Das könnte daran liegen, daß ich dich gemieden habe. »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich hab schon befürchtet, daß Sie Bedenken bekommen haben.«
»Da liegen Sie völlig falsch, Troy«, sagte ich. »Was macht also meine Revision?« fragte er. »Ich bin schon ein gutes Stück vorangekommen«, behauptete ich, und meine Lüge blieb mir fast im Hals stecken. »Das ist ja prima. Wann sind Sie damit fertig?« wollte er wissen. »Bald«, antwortete ich. »Wann kommen Sie mich besuchen?« fragte er. »Bald«, sagte ich. »Bald«, äffte er mich nach. »Ich bin fast fertig«, sagte ich. »Lassen Sie den Kopf nicht hängen«, bat ich. Ich war überhaupt nicht vorangekommen. Ich war keineswegs fast fertig. Ich hatte mehrere Anwälte um Rat gefragt, einschließlich meiner Bekannten bei der Rechtshilfe, und sie waren einhellig der Ansicht, daß ich kaum etwas unternehmen konnte. Als ich nach unten ging, sah ich am Fuß der Treppe eine leere Flasche stehen. Ich setzte mich auf eine Stufe und hielt die Flasche an meine Lippen. Dann blies ich Luft über die Öffnung der Flasche und entlockte ihr einen tiefen Ton. Und plötzlich sah ich ihn. Einen Ausweg. Vielleicht. Ich mußte ins Del Norte County hochfahren. Ich mußte einen Psychologen zu Rate ziehen - und einen Zoologen. Und ich mußte hoffen, irgendwelche Präzedenzfälle zur Untermauerung meines Plans zu finden. »Ein guter Vertrag ist kurz und bündig«, sagte ich zwei Tage später zu Troy. Ich hatte kein Auge zugetan, und mir war klar, daß ich vielleicht ein wenig aufgedreht war. »Genauso sollte auch eine Revision sein.« Troy saß wie üblich mit gefalteten Händen am Tisch, hatte aber seinen Zeichenblock nicht dabei. Er beobachtete mich, während ich ihn umkreiste, immer an den Wänden des kleinen Zimmers entlang. »Die Revision darf keineswegs den Eindruck vermitteln, daß wir im Nebel herumstochern«, sagte ich. »Sie muß sich auf das Wesentliche beschränken.« Troy nickte und sah mir bei einer weiteren Runde zu. Er hockte auf der Stuhlkante. »Nun habe ich Ihr Geständnis, Ihr Schuldeingeständnis, immer für das größte Problem gehalten, und es ist ja auch eine Hürde. Aber nachdem ich versucht habe, einen Weg drum herum, drüber hinweg oder dran vorbei zu finden, ist mir klargeworden, daß das gar nicht notwendig ist.« Troy strich sich übers Kinn. »Wenn jemand gesteht, kann es dafür zwei Gründe geben«, dozierte ich. »Entweder ist es ein taktisches Manöver, um mildernde Umstände auszuhandeln. Oder es ist echte Reue, ein Zeichen, daß man die Verantwortung für seine Tat übernimmt. Allerdings unterscheidet das Gericht nicht zwischen beidem, obwohl es das tun müßte.« »Ich dachte, ich hätte den Jungen überfahren«, sagte Troy. »Ich habe mir selbst eingeredet, daß ich ihn mit dem Wagen erwischt habe.« »Sie dachten, Sie sollten dafür büßen«, stellte ich fest. »Stimmt.« »Ausgezeichnet«, sagte ich. »Und genau das werden Sie der Therapeutin erzählen, mit der ich für Sie einen Termin vereinbart habe. Bei der Revision darf ich zwar keine neuen Beweise vorlegen, ich werde aber ein psychologisches Gutachten einreichen und abwarten, was passiert. Dessen ungeachtet kann ich wohl zeigen, daß Sie bei Ihrem Verhör, als Sie Ihr Geständnis ablegten, als Sie auf eine Gerichtsverhandlung verzichteten, nach bestem Wissen und Gewissen handelten. Sie wollten alles richtig machen.« »Das stimmt, genauso war's«, sagte Troy. »Im Gegensatz zum Staatsanwalt.« Troy grinste zwar, wirkte aber verwirrt. »Der Sheriff und der Bezirksstaatsanwalt wollten Sie um jeden Preis drankriegen, die haben ein Spiel mit Ihnen gespielt, intrigiert, getrickst.«
»Oh«, machte Troy. »Sie waren offen und ehrlich, während die nur daran interessiert waren, den Fall so schnell wie möglich abzuschließen.« »Verstehe«, sagte Troy. »Bei der Revision geht es nicht um die Frage, ob Sie schuldig oder unschuldig sind«, sagte ich, »obwohl aus den Beweisen hervorgehen würde, daß Sie unschuldig sind. Das Revisionsgericht befindet einzig und allein darüber, ob ein Verfahrensfehler begangen wurde, ob Ihre Rechte mit Füßen getreten wurden. Sollte es später zu einem Gerichtsverfahren kommen, ist die Staatsanwaltschaft in der Beweispflicht. Und weil der Fall nur auf dubiosen Indizien beruht, kann die andere Seite den Prozeß nie und nimmer gewinnen.« Troy runzelte die Stirn. »Spielen wir gemeinsam das Revisionsverfahren durch«, sagte ich. »Sie waren betrunken, als man Sie festnahm.« »Aber irgendwann war ich wieder nüchtern«, sagte Troy. »Tut mir leid. Ich will keine Schwierigkeiten machen.« »Aber nein, ich bitte Sie«, entgegnete ich. »Sie waren betrunken, und dann sind Sie wieder nüchtern geworden, wie Sie sagen. Aber woher wußten der Sheriff und der Staatsanwalt, wann Sie wieder nüchtern waren?« Ich holte aus meiner Aktentasche einen Bericht, den ich vom Kraftfahrzeugamt im Del Norte County bekommen hatte. Er enthielt die Ergebnisse eines Alkoholtests, den man bei Troys Festnahme durchgeführt hatte. Der Polizeibeamte mußte nicht beweisen, daß Troy betrunken Auto fuhr, um ihn festzunehmen - er besaß einen Haftbefehl -, doch der Mann war noch Anfänger und dachte wohl, es wäre hilfreich, wenn er dem Verfahren einen weiteren Anklagepunkt hinzufügte. Damit konnte ich beweisen, daß Troy damals nicht nüchtern gewesen war. »Jason, als ich gestand, habe ich mich zwar elend gefühlt, aber ich war nüchtern«, erklärte Troy. »Ich weiß. Aber als man Ihnen erzählte, was man Ihnen zur Last legte«, sagte ich, »wußte der Sheriff nicht mit Sicherheit, daß Sie nüchtern genug waren, um die Anklage zu verstehen. Schließlich hatte man keinen neuen Alkoholtest veranlaßt.« Ich entnahm meiner Aktentasche eine Mappe, die eine Abschrift des auf Videokassette aufgenommenen Verhörs enthielt. Den ganzen Tag lang hatten die Polizisten damals den Raum verlassen und wieder betreten, in dem Troy saß, sich fünfzehn Minuten hier und ein Stündchen da mit ihm unterhalten, ihn immer wieder geraume Zeit allein gelassen, ehe sie ihn erneut mit Fragen traktierten. Die Abschrift war zwar über hundert Seiten stark, doch nirgends wurde die Anklage vorgetragen, was meiner Ansicht nach bedeutete, daß man ihm noch vor seiner Ausnüchterung erzählt hatte, warum man ihn festhielt. »Der sechste Verfassungszusatz«, erklärte ich ihm, »legt fest, daß man Sie über die Ihnen zur Last gelegten Verbrechen informiert, doch davon steht nichts in den Unterlagen, und Sie wurden mit Sicherheit nicht zu einem Zeitpunkt informiert, als Ihnen klar war, was man Ihnen zur Last legte.« »Verstehe«, sagte Troy. »Meiner Ansicht nach grenzt das an Nötigung«, fuhr ich fort, »was einen berechtigten Revisionsgrund darstellt. Außerdem, mein zweiter Punkt...« Ich blätterte die Abschrift durch, bis ich eine Drohung fand, die gegen Ende des Verhörs ausgesprochen worden war. Ich zeigte Troy die unterstrichene Stelle. »Ihnen wurde erzählt, man könne Ihnen sofort, noch am selben Abend, eine besondere Vereinbarung anbieten, doch falls die Beweise bearbeitet werden müßten, könne sich diese Absprache in Luft auflösen«, sagte ich. »Das ist rechtlich unzulässiger Druck. Man darf Sie nicht zu einer schnellen Entscheidung zwingen.« »Ist das nicht üblich?« fragte Troy. »Sie waren möglicherweise nicht nüchtern, als man Ihnen die Anklage vortrug«, sag-
te ich. »Sie wurden einen ganzen Tag lang und bis in die Nacht hinein befragt, und als man Ihnen dann ein Angebot unterbreitete, mußten Sie es sofort annehmen, ohne daß man Sie noch mal darüber schlafen, geschweige denn darüber nachdenken ließ.« Troy schluckte. »Es wurde viel von der Todesstrafe geredet.« »Klar, weil die Gegenseite Sie am liebsten unter Mordanklage gestellt hätte«, rief ich und schlug auf den Tisch. »Was mich zu meinem dritten Punkt bringt. Nämlich, daß Sie hinsichtlich der zu erwartenden Anklage vorsätzlich falsch informiert wurden.« Ebenfalls aus der Abschrift ging hervor, daß der Sheriff und der Staatsanwalt Troy nie Beweise für das Carjacking vorgelegt hatten. Autodiebstahl ja, aber es hatte nie Beweise gegeben - jedenfalls waren während des Verhörs keine genannt worden -, daß Craig Montoya zu dem Zeitpunkt im Auto saß, als Troy den Wagen nahm. Und den Autodiebstahl in Nordkalifornien konnte man nicht zwangsläufig als Carjacking werten, die Frau war nämlich erst aufgetaucht, als Troy wegfuhr, nicht als er das Fahrzeug stahl. Und niemand hatte behauptet, er habe das Baby auf dem Rücksitz entführen wollen. Sie hatten nichts weiter in der Hand als zwei Autodiebstähle, verhandelten trotzdem mit Troy, als wären es zwei Carjacking?, und aus dem einen hatten sie sogar eine Mordanklage konstruiert. Sie fuhren viel schwerere Geschütze auf, als nötig gewesen wäre, so daß Troy gar nichts anderes übrigblieb, als klein beizugeben. Nachdem ich Troy all das erklärt hatte, sagte ich: »Und da die von Ihnen akzeptierte Vereinbarung auf dieser falschen Darstellung der Anklage beruhte, würde dadurch die gesamte Absprache hinfällig.« »Die sind nicht sehr fair mit mir umgesprungen«, stellte Troy fest. Die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich schlug wieder auf den Tisch. »Zumal Sie wiederholt darauf verzichtet haben, einen Anwalt zu Rate zu ziehen. Sie akzeptierten Ihre Schuld, wollten das Verhör so rasch wie möglich hinter sich bringen, übernahmen die Verantwortung für alles, waren offen und ehrlich; aber die Gegenseite hat Sie nach allen Regeln der Kunst hereingelegt, um sicherzugehen, daß man mit Beweisen, die es nicht gab und von denen man wußte, daß es sie wahrscheinlich nie geben würde, nicht mit Ihnen vor einem Geschworenengericht antreten mußte. Das macht mich wütend.« Ich war der festen Meinung, daß der Staatsanwalt Troys Rechte mit Füßen getreten hatte. Nun stand zwar gerade mir eigentlich nicht zu, darauf hinzuweisen, aber Troy war ein ordnungsgemäßes Verfahren verweigert worden. »Ich hätte mir einen Anwalt nehmen müssen«, sagte Troy. »Allerdings«, pflichtete ich ihm bei. »Auch für ihr Schuldbekenntnis hätten Sie einen Anwalt gebraucht. Der Staatsanwalt war begeistert, daß Sie keinen verlangt haben, und wissen Sie was? Wenn Sie mit der ursprünglichen Anklage einverstanden gewesen wären, anders gesagt: Wenn der Staatsanwalt darauf bestanden hätte, Sie wegen Mordes anzuklagen, und Sie sich schuldig bekannt hätten, hätte man Ihnen einen Anwalt geben müssen, denn ohne Anwalt darf man sich eines Kapitalverbrechens nicht schuldig bekennen.« »Ich vertraue Anwälten nicht so recht«, sagte Troy. Ich runzelte die Stirn. »Früher habe ich ein paar schlechte Erfahrungen mit Anwälten gemacht«, gestand er. »Aber zu Ihnen habe ich Vertrauen.« Seine Worte hallten durchs Zimmer. Ich wollte, daß dieser Mann mir vertraute; ich war ja schließlich ein Doppelagent, nicht wahr? Ich brauchte sein Vertrauen, um mich in dem Glauben zu wiegen, das Richtige zu tun. Und deshalb hörte ich mir wohl nicht so genau an, was er mir da erzählte, obwohl ich sofort hätte nachhaken müssen. Welche schlechten Erfahrungen hatte er früher mit Anwälten gemacht, was genau meinte er damit? Ich hörte nur: Zu Ihnen habe ich Vertrauen, und dann redete ich weiter.
»Und noch etwas«, sagte ich. Als mir klar wurde, wie laut ich geworden war, sprach ich leiser. »Der zuständige Staatsanwalt und der Sheriff haben die Beweislast rechtswidrig Ihnen aufgebürdet.« »Wieso?« fragte Troy. »Die Gegenseite hat Ihre Version nie überprüft.« »Ich hatte doch den Wagen des Jungen«, wandte Troy ein. »Aber Sie hatten keinen Kontakt zu dem Jungen«, erwiderte ich. »Dafür existiert kein Beweis. Klar hat man Ihre Fingerabdrücke und Textilfasern im Wagen gefunden, aber nicht an der Leiche. Die Haare an der Leiche können nicht von Ihnen stammen, weil Sie keinen Kontakt zu dem Jungen hatten. Nicht einmal die Laborergebnisse sind gründlich überprüft worden. Und Sie haben ausgesagt, Sie hätten einen Hirsch angefahren.« »Hab ich, klar«, sagte Troy. »Darauf behauptete der Sheriff, das sei alles Blödsinn, und es gäbe keinen Hirsch.« »Sie haben wirklich einen Hirsch überfahren«, sagte ich. Ich zog noch zwei Papiere aus meiner Aktentasche. Auf dem einen standen die Ergebnisse der Analyse von Blutresten, die man von der Stoßstange an Craigs Auto genommen hatte. Sie waren nicht eindeutig. Auf dem zweiten Blatt bestätigte ein Biologe aus San Diego meine Vermutung, es könne sich bei dem Blut an der vorderen Stoßstange auch um Hirschblut handeln. »Die Staatsanwaltschaft wäre verpflichtet gewesen, Ihre Version zu überprüfen«, sagte ich. »Ihre Version zu überprüfen hätte bedeutet, auf die Resultate der gerichtsmedizinischen Untersuchungen zu warten, doch darauf hat man lieber verzichtet. Die wußten, daß man Sie verrückt machen konnte, bevor die Blutanalysen zurückkamen. Hätten Sie denen ein Alibi genannt, hätte man es überprüfen müssen, bevor man weitere Schritte unternahm.« »Die Beweislast«, meinte Troy. »Sie wußten selbst nicht mehr genau, ob Sie einen Jungen oder einen Hirsch angefahren hatten. Sie waren ganz durcheinander, und weil Sie sich irgendwie für schuldig hielten, wehrten Sie sich nicht mehr«, sagte ich. »Stimmt das nicht? Die Gegenseite hatte nur darauf gewartet, daß Sie sich selbst belasteten. Verstehen Sie, was ich meinte, als ich sagte, die hätten für Sie die Spielregeln geändert?« Troy ließ die Schultern hängen. Er lehnte sich zurück. »Wird das reichen? Schaffen wir's damit?« Ich setzte mich. Ich wußte es wirklich nicht. Vielleicht reichte es nicht. Doch ich sah Troy in die Augen und sagte: »Die haben mit gezinkten Karten gespielt, die haben Sie hinters Licht geführt, die haben Sie ihre Arbeit machen lassen. Und ich glaube, sie wußten ganz genau, was sie da taten. Das ist noch nicht alles.« Ich hielt inne, dann sagte ich, ohne Luft zu holen: »Daß kein Anwalt zugegen war, heißt nicht, daß man Ihnen die Informationen vorenthalten durfte, die Ihr Anwalt verlangt und bekommen hätte. Sehen Sie, man hat Ihnen möglicherweise entlastende Informationen vorenthalten, wissentlich vorenthalten.« Troy sah mich schief an. »Was ist?« fragte ich. »Was hat die Gegenseite, das mir hätte helfen können?« fragte er. Ich tippte auf den Hefter, der die Verhörabschrift enthielt. »Nicht vergessen, das befindet sich auch alles auf Video«, sagte ich. Dann zog ich die Fotos vom Tatort heraus. Ich zeigte Troy die Bilder des tot im Wald liegenden Craig; als wir sie uns ansahen, zuckten wir beide zusammen. Ich zeigte ihm die Fotos vom Wald und dann die von der Straße mit den Bremsspuren meines Wagens. »Beim Verhör hat man Ihnen diese Fotos gezeigt«, sagte ich. »Davon wurde mir schlecht«, sagte Troy. »Mir auch«, gab ich zu, was sich vielleicht seltsam anhörte. »Aber diese Fotos wur-
den Ihnen vorenthalten«, fuhr ich fort und zog die Fotos von dem Straßenstück und dem Feld heraus, wo Craig Montoyas Auto gefunden worden war. »Und dabei handelt es sich keineswegs um Laborberichte, die damals noch nicht vorlagen. Diese Fotos hatte man bereits zum Zeitpunkt des Verhörs, diese Fotos hätte man Ihnen damals zeigen können und müssen, was aber nicht, ich wiederhole, nicht geschah.« Troy sah sich die Bilder an und schüttelte den Kopf. Ich fand das Foto von den Bremsspuren meines Wagens auf der Bergstraße. Das legte ich neben ein Bild der Reifenspuren von Craigs Kombi im Matsch neben dem Feld. »Sie stimmen nicht überein«, befand Troy. »Die sehen völlig unterschiedlich aus«, stellte ich fest. Die Reifenspuren meines Geländewagens waren breit und gezackt, im Gegensatz zu den zarten und schmalen Abdrücken, wie sie die abgefahrenen Pneus von Craigs Kombi hinterließen. »Hätten Sie sämtliche Fotos gesehen, hätten Sie sich möglicherweise gar nicht schuldig bekannt«, sagte ich. »Keine Ahnung, ob mir der Unterschied zwischen den Reifenspuren wirklich aufgefallen wäre«, gab Troy zu bedenken. Er betrachtete die Fotos erneut. »Aber darauf kommt es eigentlich auch nicht an, oder?« Ich grinste. »Ein anderes Auto hat den armen Jungen überfahren«, sagte Troy. »Ich weiß«, sagte ich und hörte auf zu grinsen. »Der arme Junge«, sagte er. »Es ist sehr traurig«, sagte ich. »Aber Sie waren es nicht.« »Ich sitze also hier drin, und der wahre Mörder ist irgendwo da draußen«, sagte Troy. Meine Nackenmuskeln verspannten sich. Ich spürte, wie ich rot wurde. Ich stand auf und ging wieder auf und ab. »Man könnte sagen, die hätten gelogen und behauptet, sie hätten die Mordwaffe gefunden, was überhaupt nicht stimmte«, sagte ich. »Ich komme mir dämlich vor«, gab Troy zu. »Das sollten Sie aber nicht«, sagte ich. »Sie waren einfach mürbe. Sie wollten nur wieder mit Ihrer Frau zusammensein. Mit Ihrem Sohn.« Jetzt wurde Troy rot. »Darum sollten Sie mit der Therapeutin reden«, fuhr ich fort. »Sie waren so müde, daß Sie verzweifelt nach einem Ausweg suchten. Und als Sie wieder aufwachten, saßen Sie im Gefängnis.« Ich erklärte, was wir mit der Revision erreichen wollten. Es gab kein Urteil, das aufgehoben werden mußte. Wir wollten nur wieder zurück zur Anklageerhebung. »Und dann zu einer Gerichtsverhandlung«, ergänzte Troy. »Oder auch nicht«, wandte ich ein. »Vielleicht bekennen wir uns sogar schuldig, falls sie mit zwei Fällen von Autodiebstahl ankommen und wir Sie aufgrund der verbüßten Strafe sofort rauskriegen. Eventuell erhebt die Staatsanwaltschaft auch gar keine neue Anklage.« Als ich aufstand und gehen wollte, erhob sich Troy und gab mir die Hand. »Danke, Jason«, sagte er. »Hören Sie«, entgegnete ich, »vielleicht klappt es gar nicht.« »Trotzdem danke«, sagte er. Am nächsten Tag traf Troy die Psychologin, und in der folgenden Woche hatte er noch mehrere Sitzungen mit ihr. Kurze Zeit später legte ich Troy den Revisionsantrag zur Unterschrift vor und reichte ihn noch am selben Tag bei Gericht ein. Und damit hatten wir den mächtigen Zug der Gerechtigkeit bestiegen, der von seinen sich langsam drehenden Rädern zum nächsten Bahnhof geschoben wurde. Nachdem man den Eingang der Revision bestätigt hatte, suchte ich Troy wieder auf. Ich konnte ihm nichts Neues mitteilen. Man schrieb den 22. April, und ich weiß noch,
daß während meiner Fahrt zum Gefängnis zum erstenmal seit Monaten die Sonne durch die Wolken brach und die Autobahn in ihr Licht tauchte. Tags darauf regnete es wieder, doch an diesem Nachmittag schien die Sonne, und die Nacht war sternenklar. Troy hatte sich verändert. Ich kannte ihn zwar noch nicht lange, fand aber, daß er irgendwie anders war. Er begrüßte mich an der Tür des weißen Raums, als hieße er mich in seinen eigenen bescheidenen vier Wänden willkommen. Er fragte, ob ich etwas trinken wolle. Kurz darauf brachte mir ein Aufseher eine Dose Limonade. Wir stießen mit den Limonadedosen an und sagten kein Wort. Seine Augen sahen anders aus, das wurde mir jetzt klar. Er trug keine Brille mehr. Ich wußte nicht, wie dringend er sie brauchte, und ich bezweifelte, daß irgendwer im Gefängnis Kontaktlinsen trug, daher fragte ich mich, ob sich seine Sehkraft im Laufe der letzten Monate verbessert hatte. Jedenfalls waren seine dunklen Augen nicht mehr ganz so schwarz oder stumpf wie früher. Ich fand, daß seine Augen brauner aussahen, als wäre eine harte dunkle Oberfläche entfernt worden. »Was ist nun mit Ihnen?« fragte Troy. »Mit mir?« »Sie helfen mir, hier rauszukommen, damit ich meinen Sohn suchen kann«, sagte er, »aber was ist mit Ihrem Sohn?« »Mein Sohn«, sagte ich. »Der redet immer noch nicht mit mir. Ich warte darauf, daß er...« »Sie wissen doch, wo er ist«, stellte Troy fest. »Das stimmt«, sagte ich. »Könnte ich mit meinem Sohn reden«, sagte Troy, »würde ich ihm sagen, es sei in Ordnung, wenn er jahrelang böse auf mich wäre. Ich würde ihm aber auch sagen, daß er immer mein Sohn bleibt, egal, was geschieht.« Troy atmete tief ein und rasch wieder aus. »Wenn Sie zu lange warten«, fuhr er fort, »ist er weg.« »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Warten Sie nicht zu lange«, sagte Troy. »Warten Sie nicht.« Als ich das Gefängnis verließ, fuhr ich nach Norden, bog aber nicht auf die Bergstraße ab, die mich nach Hause geführt hätte, sondern fuhr immer weiter geradeaus stundenlang bis nach Berkeley. Es war richtig ungewohnt, daß man die Scheibenwischer nicht anstellen mußte. Ich überprüfte immer wieder, ob die Scheinwerfer brannten oder ob genug Benzin im Tank war, da ich das Gefühl hatte, irgend etwas vergessen zu haben. An diesem Abend fiel kein Regen, und ich brauchte eine Weile, um mich daran zu gewöhnen. Erst dann fuhr ich schneller. Julia bewohnte die oberen beiden Stockwerke eines kleinen, mit unzähligen Erkern versehenen viktorianischen Hauses. Sie drückte auf den Türöffner, und ich stieg in der Erwartung die steile Treppe zu ihrer Wohnung hoch, gleich wieder hinausgeworfen zu werden, weil ich mitten in der Woche um halb zehn Uhr abends unangemeldet aufkreuzte. Doch Julia, die ein altes Sweatshirt und Jeans trug, umarmte mich zur Begrüßung und sagte: »Er ist in seinem Zimmer.« Dabei zeigte sie auf den hinteren Teil der Wohnung. »Ich hab's einfach nicht mehr ausgehalten«, sagte ich. »Das geht jetzt lange genug so«, pflichtete mir Julia bei. Die Haare trug sie hinten locker zusammengebunden. »Entschuldige, daß ich nicht angerufen habe«, bat ich. »Rede mit ihm«, sagte sie. »Er kann damit umgehen. Rede einfach mit ihm.« Ich klopfte an Tims Tür. Er spielte laute Musik, so daß ich ein zweitesmal anklopfen mußte. Tim sah auf seinen Computer und drehte sich nicht um. Er sagte: »Hoffentlich bringst du mir Kaffee, ich werd mich nämlich die ganze Nacht lang mit diesen Typen rum-
schlagen.« »Hallo«, sagte ich. Tim fuhr auf seinem Drehstuhl herum. Gut sah er aus. Er hatte ein wenig zugenommen, und seine Wangen hatten Farbe bekommen. Selbst aus einiger Entfernung sah ich die kleine Narbe über seiner linken Augenbraue. Am liebsten hätte ich ihn umarmt, ihn an mich gedrückt. Erst einmal sagte ich gar nichts. Ich verschränkte die Arme und lehnte mich gegen den Türrahmen. Ich hatte gedacht, ich würde nervös sein, doch das war ich gar nicht. Ich war einfach nur froh, ihn zu sehen. »Was sind das für Typen?« fragte ich schließlich. »Du hast gesagt, du würdest dich die ganze Nacht mit diesen Typen rumschlagen.« »Die Beatniks«, antwortete Tim. Seine Stimme versagte. »Ich schreibe ein Essay über die Schriftsteller der Beatgeneration. Hallo, Dad«, sagte er. Dieses Wort wieder zu hören, Dad. Als ob mir ein Arzt zum erstenmal die Hand schüttelte. Gratuliere, Mr. Dark, Sie sind soeben Vater eines gesunden Jungen geworden. »Ich weiß, ich hätte vorher anrufen sollen«, sagte ich. »Ich hätte nicht mit dir gesprochen«, sagte Tim und drehte sich wieder zu seinem Computer herum. Er drückte auf eine Taste. Ich beschloß, einen Versuch zu wagen, ging quer durch das Zimmer und setzte mich aufs Bett. Tim streckte die Hand aus und stellte die Musik leiser. »Du hast mir so gefehlt«, sagte ich. Tim schluckte. »Du weißt ja gar nicht, wie sehr«, sagte ich. »Wie geht's dem Weinberg?« fragte Tim. »Er ist naß«, berichtete ich. »Sehr naß.« »Wie haben sich die Reben gehalten?« wollte Tim wissen. »Bis jetzt ganz ordentlich, aber ich weiß nicht, wie sich der viele Regen auf unsere Beeren auswirken wird.« Ich wählte meine Worte zwar nicht betont sorgfältig, merkte aber, daß jedes einzelne eine besondere Bedeutung für meinen Sohn hatte. Ich weiß nicht, wie sich der viele Regen auf unsere Beeren auswirken wird, nicht auf meine Beeren. »Wenn du jahrelang böse auf mich bist, geht das in Ordnung«, sagte ich. »Wenn du nicht mit mir reden oder mich lange Zeit nicht sehen willst, geht das auch in Ordnung. Aber ich muß dir sagen - und deswegen bin ich hier - , ganz egal, wer du bist, was du machst, wo du dich in der Welt herumtreibst, du bist immer mein Sohn, wirst es immer bleiben, und ich liebe dich. So ist das nun mal. Das läßt sich nicht ändern.« Tim starrte auf den Monitor. Ich hatte gesagt, was ich sagen wollte - oder wenigstens soviel, wie ich glaubte sagen zu können - , und jetzt stand ich auf, um meinen Sohn allein zu lassen. Da sagte Tim mit dünner Stimme: »Ich war wirklich ziemlich sauer auf dich.« Er schaute mich an. Dann sah er wieder auf den Bildschirm. »Schon gut«, sagte ich. »Das macht nichts.« Wieder sah mich Tim kurz an. »Weil wir uns wieder nicht verstanden haben, deine Mutter und ich«, schlug ich vor. Tim zuckte mit den Achseln. »Weil dir das Leben auf dem Weingut so zuwider war, besonders nachdem deine Mutter weggegangen war«, sagte ich. Tim schloß die Augen. »Weil ich mich letzten Sommer kein bißchen um dich gekümmert habe. Ich habe mich völlig vergraben. Es tut mir leid, Tim. Es tut mir so leid. Kann ich...« Ich ging zu ihm. Ich bückte mich, wollte ihn umarmen. Ich umarmte ihn. Seine Schul-
tern waren breiter geworden. Er war stärker. Ich umarmte ihn, und er umarmte mich. Dann setzte ich mich wieder aufsein Bett. »Ich habe es niemandem erzählt«, sagte er. »Außer meinem Therapeuten, aber der sagt, solange niemand in Gefahr ist und niemand sich selbst oder einem anderen etwas antut, ist das Geheimnis bei ihm gut aufgehoben. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.« Das Geheimnis? Welches Geheimnis? »Ich hab's nicht mal Mom erzählt«, flüsterte er weiter. »Sie weiß nichts davon.« »Ich hab keine Ahnung, was du meinst«, sagte ich. »Eigentlich bin ich dir nicht böse, verstehst du? Ich war's mal, aber das ist vorbei.« »Gut«, sagte ich. »Bloß... Wir können zwar so tun, als gehörten wir zusammen, stimmt's? Du und Mom und ich. Aber über wirklich wichtige Dinge reden wir nie.« Mittlerweile sah Tim mich direkt an, er hatte seinen Stuhl etwas näher ans Bett gezogen, und obwohl ich mir nicht sicher war, worüber er da redete, wollte ich ihn auch nicht unterbrechen. »So ist es eben. Mir hat das Weingut gut gefallen, ich hab gern da gewohnt, aber plötzlich passiert was, und irgendwie darf keiner was davon erfahren. Plötzlich wird über dies und das nicht mehr geredet.« »Wir können doch jetzt über alles reden«, sagte ich. »Und nachdem sie die Fehlgeburt hatte, war Mom total unglücklich, und du hast irgendwie nichts mitgekriegt. Es war alles furchtbar traurig. Ich hab's nicht ertragen. Alles war traurig, Dad.« Ich nickte. »Manchmal wünschte ich, ich hätt's Mom erzählt. Oder selber die Polizei geholt, bloß damit es endlich vorbei war.« Mein Herz pochte wie wild. Allmählich begriff ich, was mir mein Sohn zu sagen hatte. »Ich dachte andauernd, man würde dich festnehmen«, fuhr Tim fort. »Und anschließend mich.« Er wußte es. Mein Sohn wußte Bescheid. »Und ich hatte Angst, Mom würde uns beide anzeigen, wenn ich ihr verriet, na ja, und dann war sie ganz allein, und dann kam die Fehlgeburt, und danach wurde es immer nur noch schlimmer.« Tim brach ab. Er atmete schnell, bemüht, nicht zu weinen. »Tim?« Ich schluckte. »Warum hattest du Angst, festgenommen zu werden?« Er runzelte die Stirn. »Du weißt schon.« »Ich weiß, warum man mich hätte festnehmen können, aber dich?« »Ich hab doch die Beweise vernichtet«, sagte er. »Für so was kommt man ins Gefängnis, oder?« »Ja«, sagte ich, »aber ich verstehe nicht...« Die Kleidungsstücke im Kellergewölbe. »Oh«, sagte ich. »Ach, Tim.« »Ich hab's Mom nie verraten«, sagte er. »Ehrenwort. Ich hab's keinem verraten.« »Wann hast du sie entdeckt?« fragte ich. Tim schwieg. Dann sagte er leise: »An dem Tag, als ich früher aus der Schule gekommen bin, da stand die Schranktür in dem leeren Schlafzimmer einen Spaltweit offen. Und ich fand die Tüten mit deinen Stiefeln, der Jacke und so weiter. Und dann - ich weiß nicht mehr genau, wann -, vielleicht ein paar Tage später, sah ich, daß der Schrank leer war. Und dann? Weiß auch nicht, ich hab nicht danach gesucht oder so, aber ich hab im Weinkeller rumgemacht und in dem Versteck nachgesehen, und irgendwie war mir plötzlich alles klar. Was passiert war.« Wie sich herausstellte, hatte er ein Jahr zuvor auf eigene Faust das geheime Gewölbe gefunden. »Was hast du mit den Tüten gemacht?« fragte ich.
»In den Wald getragen und verbrannt«, sagte er mit tonloser Stimme. Tim starrte auf seine Wanderstiefel. Er zitterte. »Ich wollte nicht, daß man dich erwischt«, sagte er. »Aber gleichzeitig habe ich dich gehaßt. Als Mom dann wegzog, war das für mich allein mit dir wie in einem Straflager.« Ich konnte unmöglich ermessen, wie das für ihn gewesen sein mußte, nicht nur zu wissen, daß sein Vater ein finsteres Geheimnis hütete, sondern daß ihm dieses Geheimnis auch schaden konnte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie allein sich Tim gefühlt haben mußte, schließlich konnte er es keinem Menschen erzählen. Warum war er nicht zu mir gekommen? Warum hatte er mich nicht gefragt, was los war? »Wie bist du darauf gekommen, daß ich einen Unfall hatte? Nur durch die versteckten Kleider?« fragte ich. »Das war nicht schwer«, sagte Tim. »Ich glaube aber nicht, daß Julia... ich glaube nicht, daß deine Mutter dahintergekommen ist«, sagte ich. »Hätte mich auch gewundert«, sagte er. Ich seufzte so laut und inbrünstig, daß ich einen Augenblick lang glaubte, ohnmächtig zu werden. Soeben hatte ich zum erstenmal über den Unfall gesprochen. Soeben hatte ich zum erstenmal über mein Verbrechen gesprochen, und die Erleichterung, die ich dabei empfand, die Befreiung und die anschließende Furcht waren zuviel für mich. Ich mußte mich am Fußende des Bettes festhalten, um nicht zusammenzubrechen. »Es war ein Unfall«, sagte ich. »Du weißt doch hoffentlich, daß es ein Unfall war.« »Ich weiß«, sagte Tim. »Aber er war ein Junge, genau wie du«, fuhr ich fort. »Ein bißchen älter«, sagte er. »Bei uns lief gerade alles so gut«, sagte ich. »Ich dachte, irgendwie könnte ich schon dafür Buße tun.« »Und nun läßt du einen anderen die Suppe auslöffeln«, stellte Tim fest. Ich nickte. Und wie sollte ich das erklären? An seinem argwöhnischen Blick erkannte ich, daß er mich verurteilte. Was war richtig, was war falsch - wie ich es auch drehte und wendete, es wurde nicht besser. »Mom hat gesagt, du bist jetzt der Anwalt dieses Mannes«, sagte Tim. »Das stimmt«, sagte ich. »Ich habe gerade Revision für ihn eingelegt.« »Warum?« »Ich hab gehofft, falls ich ihn aus dem Gefängnis raushole, geht's uns vielleicht wieder besser. Ich weiß auch nicht«, sagte ich. »Mir geht's jetzt schon ganz gut«, sagte Tim. »Und Mom auch.« Das hieß, ich sollte mich gefälligst aus ihrem Leben heraushalten. Ich verstand. »Ich liebe deine Mutter immer noch sehr«, gestand ich. Und ich will, daß ihr beide zurück aufs Weingut kommt. Sofort, heute abend. Packt eure Sachen. Pack deinen Computer ein. Bitte kommt nach Hause. »Irgendwie ging er mir nicht mehr aus dem Kopf«, sagte Tim. »Craig«, sagte ich. »Ich dachte, alles stünde in seinen Gedichten«, sagte Tim. »Was für Gedichte?« »Hab ich sie dir nie gezeigt? Die Gedichte, die in der Literaturzeitung unserer Schule standen?« »Nein«, sagte ich. »Ich wußte nicht, daß Craig Gedichte geschrieben hat.« »Nach seinem Tod gab seine Schwester sämtliche Gedichte aus seinen Tagebüchern der Schulzeitung, und da wurden sie alle veröffentlicht«, erklärte Tim. »Sie waren schier unglaublich. Ich schreibe jetzt auch Lyrik, und irgendwie hängt das mit Craig zusammen, allerdings schreibe ich über andere Themen als er.« Ich wußte nicht recht, ob ich es wirklich wissen wollte, mußte aber einfach fragen:
»Über was hat Craig geschrieben?« »Über den Tod«, sagte Tim. »Über Selbstmord.« »Und worüber schreibst du?« wollte ich wissen. Tim zuckte die Schultern. »Über alles. Über die alte Frau, die im Park auf der anderen Straßenseite Tai Chi macht.« »Das ist hübsch«, sagte ich und wußte sofort, daß ich das Falsche gesagt hatte. »Ich schreibe auch darüber, daß man gegen Bäume fährt«, sagte Tim bockig. Ich nickte. »Ich bin froh, daß du darüber schreiben kannst. Deine Gedichte würde ich gern lesen. Wenn du sie mir zeigst.« »In Ordnung«, sagte er. »Ein andermal. Also.« »Also«, wiederholte ich. »Ich hab mit meinem Essay zu tun«, sagte er. Ich stand auf und umarmte meinen Sohn. Er drückte mich zwar auch, ließ aber für mein Empfinden viel zu früh los. »Danke, daß du mir geholfen hast«, flüsterte ich. »Nach dem Unfall, meine ich.« »Das hätte ich besser nicht tun sollen«, sagte Tim. »Schon möglich«, gab ich zu. »Ich hab keine Ahnung, was ich heute tun würde«, sagte er. »Hör mal, Dad, mir gefällt es hier. In der Stadt.« Mein Sohn hatte viel durchgemacht, was auch an dem Tod eines Schulkameraden lag, doch ein Gutteil hatte mit mir, seinem Vater, zu tun, um den er sich Sorgen gemacht und geängstigt hatte, den er vor Gefahren hatte bewahren wollen und den er mittlerweile ablehnte. Ich trug die Hauptschuld an seiner Wut und seiner Verzweiflung - ich, sein Vater, der sich eigentlich um ihn hätte kümmern müssen. Sein Schweigen, sein Rückzug waren meine Strafe gewesen. Ich konnte kaum etwas tun, um zu flicken, was zwischen uns zerrissen war, und sagen konnte ich nichts außer: »Hoffentlich sehen wir uns bald wieder, Tim.« Doch ich wußte, er würde entscheiden, wann es soweit war. Ich ließ ihn an seinem Computer sitzen, machte die Tür zu und ging in die Küche, wo Julia untätig am Tisch saß, die Augen geschlossen, als meditierte sie. »Ich hab mit ihm gesprochen«, sagte ich und blieb stehen. »Du hast es wegen uns getan«, sagte sie. »Darum hast du dich nicht gestellt.« Ich klammerte mich an die Stuhllehne. »Du hast gelauscht?« Julia starrte mich böse an. »Oder wolltest du dich selbst schützen?« »Du hättest nicht lauschen dürfen, Julia. Das ging nur Tim und mich etwas an...« »Natürlich hab ich gelauscht«, erwiderte sie. »Hättest du das etwa nicht getan? Seit Monaten weigert er sich, mit dir zu reden, verrät mir aber nicht den Grund, sondern sagt nur, es habe damit zu tun, warum er sich auf dieser verfluchten Straße das Leben nehmen wollte. Und da würdest du nicht lauschen?« Mittlerweile schrie sie mich an. »Schrei bitte nicht«, sagte ich. »Ich schrei verdammt noch mal, wann mir danach ist«, brüllte sie. »Du hättest uns nicht belauschen dürfen«, sagte ich. »Es ging nur uns beide etwas an.« »Du hast uns in Schutz genommen, und er dich«, stellte Julia fest. »Ja, das ist seltsam«, sagte ich. »Es ist beschissen«, sagte sie. Ich starrte sie an. »Du hättest mir erzählen sollen, was passiert ist«, sagte sie. »Wieso werde ich das Gefühl nicht los, daß ich von dir hintergangen wurde?« Weil ich mit meiner Geheimniskrämerei ihr Vertrauen mißbraucht hatte. »Und du hast zugelassen, daß ein anderer an deiner Stelle ins Gefängnis kam.« Juli verzog das Gesicht. »Nein, noch schlimmer. Du warst daran beteiligt, daß er in den Knast kam, du hast mitgeholfen... und ich hab keinen blassen Schimmer, was zum
Teufel du jetzt vorhast.« »Ich versuche, möglichst viel wiedergutzumachen«, flüsterte ich. »Ich sollte die Polizei anrufen«, sagte sie. Würde sie mir das wirklich antun? »Das sollte ich wirklich machen«, sagte sie. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment losheulen, tat es aber nicht. »Ich weiß noch, wie ich dich kennengelernt habe«, fuhr sie fort, »wie unbeholfen und schüchtern und lieb du warst, und jetzt...« Ich hielt den Atem an. »Das ist ja wohl schon lange her«, sagte sie. Sie mußte an mich glauben. Sie mußte mich respektieren. »Julia«, sagte ich. »Ich habe dir nichts zu sagen«, antwortete sie. Tim platzte in die Küche. Er starrte erst seine Mutter und dann mich an. Sein Gesicht war rot angelaufen. »Tim«, sagte ich. »Verschwinde einfach, Dad«, sagte er. »Sohn.« »Bitte«, sagte er und rannte zurück aufsein Zimmer. Julia sprang auf und lief hinter ihm her. Dabei warf sie mir einen kurzen Blick zu, der das gleiche sagte wie mein Sohn: Verschwinde. Sie lief durch den langen Flur, und als ich sie mit Tim reden hörte, wußte ich, mit meinem Sohn war alles in Ordnung. Ich ging runter auf die Straße. Das Pflaster war naß, mein Wagen war naß. Es hatte wieder angefangen zu regnen. »Sehen Sie es doch mal so«, sagte Troy. »Er hätte Sie wieder wegschicken können, noch bevor Sie ein Wort sagen konnten.« »Schon möglich«, gab ich zu. Er fuhr mit dem Bleistift über den unteren Teil des Zeichenblocks. »Ernsthaft, Jason. Denken Sie daran, wie lange Sie ihn nicht gesehen hatten.« Troy zeichnete ein kleines, gedrungenes Haus, das auf einem Steilfelsen hoch über dem Meer thronte. Dabei mußte ich an das leere Haus denken, von dem er erzählt hatte, um Laurens Musik zu beschreiben. »Sie sehen ihn früher wieder, als Sie denken«, sagte Troy. Das wollte ich ihm zu gern glauben, aber ich hatte so meine Zweifel. Ich hatte ihm zwar erzählt, daß ich aus Julias Wohnung gejagt worden war, aber verschwiegen, welches Geständnis zu meiner Vertreibung geführt hatte. Troy machte den Meereshorizont dunkler. Dazu rieb er mit der Seite einer Hand über die Wellen. »Ein Haus mit schöner Aussicht«, sagte ich. »Ich hätte nichts dagegen, mich da eine Weile zu verstecken.« »Ich habe mir überlegt, was ich mache, wenn die Revision Erfolg hat«, sagte er. Zehn Tage waren vergangen, seit man den Eingang der Revision bestätigt hatte, und das höhere Gericht hatte sich noch nicht gemeldet - bis wir wußten, woran wir waren, konnte noch gut und gern ein Monat vergehen -, aber jedesmal, wenn ich Troy sah, sah er hoffnungsvoll in die Zukunft. »Ich will wegziehen, sehr weit weg von hier«, sagte er. »Also an den Atlantik, nicht an den Pazifik«, schlug ich vor. »Ich will in einer großen Stadt wohnen.« »In einer Stadt kann man unter die Räder kommen«, sagte ich. »Was haben Sie dort vor?« Troy lächelte. »Na was?« »Sie werden lachen«, sagte er. »Keineswegs«, protestierte ich.
Er schob den Zeichenblock quer über den Tisch. Seine Landschaftsbilder waren immer äußerst stimmungsvoll. »Ich will Jura studieren«, gestand er. »Ich will anderen Menschen helfen, so wie Sie mir geholfen haben.« »Hören Sie, ich bin kein sehr guter Anwalt«, sagte ich. »Ich weiß«, sagte er. »Wenn die Revision erfolgreich ist...« »Troy«, unterbrach ich. »Wir sollten erst mal abwarten, was das Gericht sagt.« »Das wird verkünden: Laßt ihn frei«, erklärte er. »Gebt dem Mann seine Freiheit zurück.« Ich betrachtete die Lichtquelle in seiner Zeichnung; die Sonne durchbrach die dunkelsten Wolken. Es war ansteckend. Ich ertappte mich dabei, daß ich erst langsam und dann hektisch und zustimmend nickte. Sie würden diesen Mann freilassen. »Vielleicht wird sich alles zum besten wenden«, sagte ich. »Zum allerbesten«, sagte er mit Nachdruck. Als ich das Gefängnis verließ, war ich erheblich besserer Laune. Doch ein paar Tage später gab es Neuigkeiten, die zwar nicht niederschmetternd waren, aber auch keinen Anlaß zu besonderem Optimismus gaben. Das Revisionsgericht hatte entschieden, daß es keine mündliche Verhandlung in Troys Fall geben werde. Ich spielte mit dem Gedanken, Troy diese Nachricht zu verschweigen, sah aber ein, daß ich sie ihm erzählen mußte. Als ich ins Gefängnis kam joggte er ganz allein um den gepflasterten Innenhof. Dabei hatte er nicht die üblichen Sachen an, sondern eine zu weite kurze Sporthose und ein T-Shirt, und obwohl er nicht gerade ein Muskelprotz war, sah man, daß er durchtrainiert war. Er winkte und trabte zu mir herüber. »Es gibt etwas Neues«, stellte er fest und atmete tief durch. Ich erzählte es ihm. »Aber im Grunde hat das nichts zu sagen«, stellte er fest. Ich antwortete, wir könnten in diese Entscheidung hineininterpretieren, was wir wollten. »Vielleicht sind die Richter ja auf unserer Seite«, fuhr Troy dort. »Vielleicht haben sie einfach kein Interesse, vom Staatsanwalt Dinge gesagt zu bekommen, die sie ohnehin schon wissen.« Ich betrachtete die hinter dem Gefängniszaun liegenden Felder. »Na los«, sagte er. »Kopf hoch.« In seinem Leben war so viel schiefgelaufen. Wie konnte er nur so optimistisch sein? Anscheinend hatte er meine Gedanken gelesen. Er sagte: »Im Laufe meines Lebens habe ich ein paar üble Sachen gemacht. Doch das ist alles abgehakt. Ab jetzt läuft alles so, wie ich es mir vorstelle.« Ich atmete tief durch. Vielleicht hatte er recht. »Und für Sie gilt das genauso. Wir bekommen eine zweite Chance«, sagte er. Ich zuckte mit den Achseln. »Vielleicht eher eine dritte oder vierte«, schlug er vor. Ich lachte. Er wippte auf den Füßen. Dann joggte er weiter. Als er auf der anderen Seite des Hofs war, gegenüber von mir, klatschte er in die Hände, und als ich zu ihm hinsah, schlug er erst ein Rad und lief dann weiter. Irgendwie hatte ich wohl Angst davor, daß doch noch alles gut ausgehen könnte. Wenn sich mein Leben wieder zum Besseren wendete, dann konnte ich alles auch wieder verderben. Und doch glaubte ich allmählich, daß mein Entschluß richtig gewesen war. Das Risiko hatte sich gelohnt. Ich wußte, daß dieser Mann nicht ins Gefängnis gehörte, ich war ihm zu Hilfe gekommen, und auch wenn mein Eintreten für ihn zugegebenermaßen nicht ganz selbstlos war, war es richtig. Er würde durch meine Hilfe bald freikommen. Allmählich glaubte ich, diese Revision könnte Erfolg haben. Ich war auf dem richtigen Weg, sagte ich mir im stillen, ich konnte uns beide
retten. An diesem Nachmittag schaltete ich auf der Heimfahrt vom Gefängnis das Autoradio ein, sang sämtliche Popsongs mit und summte, wenn ich den Text nicht kannte. An allen Fronten meines Lebens machte ich Fortschritte, zwar langsam, aber unübersehbar. Eines Abends rief Tim an. Wir redeten nicht über seine Mutter oder über andere Dinge, die wir in seinem Zimmer besprochen hatten. Wir unterhielten uns über seine Abschlußklausur in Differential- und Infinitesimalrechnung, und wir redeten des langen und breiten über die neuesten Entwicklungen im Softwarebereich, oder besser gesagt: Tim redete, und ich hörte zu. Und was Julia betraf, tja, immerhin hatte sie nicht die Polizei verständigt, und das würde sie wohl auch bleibenlassen. Heimlich schliff und feilte ich an einer sorgfältigen Entschuldigung, die ich ihr unterbreiten würde, sobald sie mich wiedersehen wollte. Eine andere positive Entwicklung betraf meine finanzielle Situation. Als das Geld ausging, rief mich meine Bekannte von der Rechtshilfe an. Sie hatte verfolgt, welche Fortschritte meine Revision für Troy machte, und obwohl sie sagte, ihrer Ansicht nach gäbe es zur Zeit in den Strafanstalten Kandidaten, die meinen unentgeltlichen juristischen Beistand eher verdient hätten, wußte sie meine engagierten Bemühungen zu würdigen. Jeder hat ein Recht, angehört zu werden, sagte sie. Und sie bot mir eine Reihe von Aufträgen an, die ich ausnahmslos übernahm. Ehe ich mich versah, war ich sehr beschäftigt. Ich arbeitete als Anwalt, und ich mußte mich um meine lange vernachlässigten Rebstöcke kümmern. Der viele Regen hatte einen Teil des Hangs weggeschwemmt, und der Boden mußte unbedingt mit frischem Lehm bedeckt werden. Außerdem waren meine Reben durch die Nässe anfälliger für Mehltau geworden, und daher spritzte ich mehr als gewöhnlich, um jeden nur denkbaren Schimmel zu bekämpfen. Doch im Grunde hatten diese robusten uralten Weinstöcke den langen Regen recht gut allein überstanden. Die Frühlingstriebe bildeten die ersten Knospen. Die Reben blühten termingerecht. Zwar waren es anscheinend weniger Blüten als gewöhnlich, aber die Reben waren doch von weißen Blütenblättern übersät. Mich störte, daß mitten auf meinem Weinberg eine Lücke klaffte. Wo man die Wurzeln herausgerissen hatte, war eine Rinne ausgewaschen, und als die Erde in der frühen Junisonne trocknete, war sie dunkler geworden. Ich stellte mir den Weinberg vor, wie er einst ausgesehen hatte. Ich malte mir die prallen Früchte aus und wollte, daß alles wieder wie früher war. Ich mußte viel herumtelefonieren, fand aber schließlich ein Weingut, das mir hundertfünfzig Cabernet-Reben schickte, die man auf reblaus- und krankheitsfreie Wurzelstöcke gepfropft hatte. Diese Pflanzen waren offenbar von einem Winzer im Norden bestellt worden, dessen Anbaufläche sich bald darauf in einen Sumpf verwandelt hatte, und in solch nassen Untergrund konnte er unmöglich neue Weinstöcke pflanzen. Man warnte mich, die Reben wären schon vor längerer Zeit ausgegraben worden, und man wollte keine Garantie dafür übernehmen, ob sie das Verpflanzen überstehen würden. Immerhin machte man mir einen guten Preis. Und so begann ich an einem Frühsommertag einen tiefen Graben in die Rinne zwischen meine beiden verbliebenen Rebflächen zu ziehen. Ich mischte reichlich Dünger unter die dunkle Erde, grub Pfosten für die neuen Spaliere ein. Und dann trafen auf der Ladefläche eines Lastwagens die Weinstöcke ein, der prallen Sommersonne ausgesetzt, aber in feuchten Musselin gehüllt. Über Nacht steckte ich die Wurzeln in wassergefüllte Eimer und Tröge, und am nächsten Morgen stand ich noch vor Tagesanbruch auf und schnitt die Stämme zurück. Dann pflanzte ich sie ein. Bis sie blühten, würde noch ein Jahr vergehen und mehrere Jahre, bis sie brauchbare Beeren trugen. Das kümmerte mich wenig. Ich war unheimlich stolz. Meine Hände, Arme und Knie waren lehmbeschmiert, Schultern und Rücken schmerzten von der ungewohnten Feldarbeit, aber mir war ganz schwindlig von dem Gefühl der Kraft und der Hoffnung, die jeder kennt, der einmal etwas angepflanzt hat. Ich konnte mir gut
vorstellen, wie diese jungen Pflanzen kräftiger würden. Die alten Reben würden den neuen Schutz bieten, als ob sie sie aufpäppelten, über ihnen wachten und ihnen beibrachten, wie man die Unbilden des Wetters überstand. Es war Juni, wenn die Tage lang und die Nächte kühl sind. Damals glaubte ich, daß ich mein Schicksal noch einmal wenden konnte. Ich hatte einen alten Schaukelstuhl, den ich gern ins Freie auf den Rasen zog, wo ich auf ihm Platz nahm und zusah, wie sich langsam die Abenddämmerung über das Land senkte. Dann, an irgendeinem Vormittag Anfang Juli, bekam ich ein Fax von einem Gerichtsbeamten in Hollister. Ich las es zweimal durch, sprang in mein Auto und raste die Weinbergstraße hinunter. Troy sah mich unverwandt an. Ich wollte die richterliche Entscheidung gründlich erläutern. Er sollte Punkt für Punkt verstehen, was das Revisionsgericht beschlossen hatte. Alle drei Richter wiesen die Behauptung zurück, bei Troys Absprache sei ein Ordnungsfehler begangen worden, weil man ihm nicht das ganze Beweismaterial zugänglich gemacht hatte. Das Gericht führte aus, die Beweisaufnahme sei Teil des Gerichtsverfahrens, und Troy habe in dem Moment, als er auf sein Recht auf einen ordentlichen Prozeß verzichtete, automatisch keinen Anspruch mehr auf Offenlegung des Beweismaterials. Außerdem behauptete das Gericht, ich hätte keine überzeugenden Beweise dafür erbracht, daß die Staatsanwaltschaft vorsätzlich möglicherweise entlastendes Material zurückgehalten habe. »Aber«, sagte ich. Troy hielt sich an dem Tisch zwischen uns fest. Aber, hatte das Gericht erklärt, es könne nicht so tun, als existierten die im meinem Revisionsantrag aufgeführten Informationen nicht, die den Ausgang eines Prozesses beeinflußt hätten. Die Richter hatten sich kurz die Abschrift des Verhörs angesehen, die ich samt meinem Antrag eingereicht hatte, und waren - mit zwei Stimmen gegen eine - zu dem Ergebnis gelangt, daß die Anklagepunkte gegen den Beschuldigten nicht ordnungsgemäß vorgetragen worden waren. Außerdem befanden sie, daß man niemanden bedrängen dürfe, ein Angebot sofort anzunehmen, weil es sonst keine Gültigkeit mehr habe; das sei keine ordnungsgemäße Verfahrensweise. Der Beschuldigte habe sich selbst verteidigt, sei quasi als sein eigener Anwalt aufgetreten was sein gutes Recht sei - , was jedoch, nach Ansicht dieses Gerichts, bedeute, daß der Staat überprüfen müsse, ob der Beschuldigte tatsächlich in der Lage gewesen sei, in dieser Funktion tätig zu werden. »Des weiteren«, sagte ich. Troy hopste auf seinem Stuhl. Des weiteren kam das Gericht zu dem Schluß, man müsse die unzulänglichen Ermittlungen seitens der Anklage als »ausgesprochen schlampige Arbeit« bezeichnen. Es vertrat die Ansicht, daß die Geschworenen den Angeklagten in einem Prozeß vermutlich freigesprochen hätten. Mit der Aussage, es könne sich einen anderen Ausgang dieses Falls vorstellen, ging das Gericht über den Rahmen meines Revisionsantrags hinaus. Troy sprang auf und schloß mich in die Arme. »Sie haben's geschafft«, sagte er. Der Fall wurde nun an das Bezirksgericht zurückverwiesen, das über die Rechtmäßigkeit der Absprache befinden mußte. Troy blieb vorerst im Gefängnis, da das Revisionsgericht keinen Zweifel daran gelassen hatte, daß die Staatsanwaltschaft ihn weiter festhalten durfte. »Was passiert jetzt?« wollte Troy wissen. »Jetzt mache ich mich an die Arbeit«, sagte ich. Es gab keine Verschnaufpause. Am nächsten Tag verwarf der zuständige Richter die Absprache und ordnete eine neue Anklageerhebung an. Wenig später bekam ich einen Anruf von Eric Dreyfus, der beschlossen hatte, den Fall selbst zu übernehmen.
Dreyfus erklärte, er sei bereit, unter den neuen Bedingungen Anklage zu erheben. Und wieder ein paar Tage später setzte man Troy in einen Bus und fuhr ihn nach Hollister. Die Klimaanlage im Gerichtssaal funktionierte nicht, daher war es in dem mit Holzimitat verkleideten Saal genauso heiß und stickig wie im Freien. Eric Dreyfus schwitzte in seinem grauen Anzug, seine Mitarbeiter zogen ihre Jacketts aus. Die schwarzgekleidete Mrs. Montoya schien jeden Moment ohnmächtig zu werden, und ihre Tochter fächelte ihr mit einem Notizblock Luft zu. Ich hatte erwartet, daß viele Neugierige im Gericht auftauchen würden, einige Leute aus Oak Valley, und ein paar bekannte Gesichter saßen auch neben und hinter Mrs. Montoya - Alex Marquez hatte seinen Auftritt -, doch es waren viel weniger gekommen als gedacht, was an der Hitze liegen mochte. Auf unserer Seite saß niemand. Man führte Troy herein und setzte ihn neben mich an den Tisch. Neben dem Gefängnisaufseher nahm ein Gerichtsdiener Aufstellung, dann trat der Richter ein. Er war ein kleiner glatzköpfiger Mann mit rotem Gesicht, der anfing zu reden, bevor er Platz genommen hatte. Er sprach mit näselnder Stimme. Den Staatsanwalt bat er, die neue Anklage vorzulesen, und wenn ich sie nicht vor Betreten des Gerichts gehört hätte, wäre ich vielleicht erstaunt gewesen, aber Eric Dreyfus hatte mich gewarnt, und ich wiederum hatte Troy noch kurz vorher sagen können, worauf die Anklage lauten würde. Einmal Carjacking und einmal Totschlag. Ich war ehrlich gesagt verblüfft, daß der Staatsanwalt überhaupt vor Gericht ging, wo doch die Beweise so eindeutig für die Verteidigung sprachen. Glaubte er ernsthaft, diesen Prozeß gewinnen zu können? Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich stand auf, um einen Antrag einzubringen, mußte mich aber wieder setzten. »Herr Verteidiger?« sagte der Richter. Troy stand ein Prozeß bevor, und falls ich ihn nicht gut verteidigte, falls ich auf dem normalerweise leichten Trab zum Freispruch irgendwie ins Straucheln geriet, stand ihm vielleicht sogar eine strengere und längere Strafe als die bevor, die er zur Zeit absaß. Ein Prozeß war unvermeidlich, ein Prozeß, bei dem mehr auf dem Spiel stand, und was war, wenn ich Troy verwundbarer gemacht hatte, als er bisher war? Schließlich hatte ich genau das meinen Winzermandanten angetan, die ich eigentlich vor dem Bankrott hatte retten wollen. Ich hatte mich eingemischt; ich hatte ihre Lage verschlechtert. Troy stieß mich an. »Es ist die Hitze«, sagte ich, dachte aber: Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich brachte eine ganze Reihe Anträge ein und begann mit einem Abweisungsbegehren, in dem ich darlegte, diese Anklage entbehre jeder Grundlage, und der Antrag wurde umgehend abgewiesen. Daraufhin argumentierte ich, die Troy zur Last gelegten Vergehen erforderten eine Anklageerhebung durch eine Jury, obwohl ich wußte, wie der Richter entscheiden würde, und so geschah es auch. Es war Zeit, daß Troy sich zur Anklage äußerte. Wir erhoben uns beide. Er räusperte sich. »Nicht schuldig«, sagte er. Kaution wurde verweigert. Ich bat um einen schnellen Prozeß. Die Termine der Voruntersuchung wurden für Ende September, Anfang Oktober angesetzt. Dann gab Troy mir die Hand und wurde weggeführt. Es gab kein Zurück mehr. Als ich das Gericht verließ, nahm mich Eric Dreyfus beiseite. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Er sagte: »Diesmal gibt es keine Absprachen.« Über sein Gesicht breitete sich ein finsteres Grinsen aus, von dem es mir sogar bei dieser Hitze eiskalt den Rücken hinunterlief. Ich stürzte mich auf Troys Verteidigung. Ich zerlegte den Fall in mehrere Segmente und ging jedes Teil einzeln an. Beispielsweise begann ich damit, daß die Beweise
gegen Troy nicht schlüssig waren, wobei ich mich vor allem auf das Blut auf der Stoßstange von Craigs Wagen konzentrierte. Das allein reichte meiner Meinung nach aus, um berechtigte Zweifel aufkommen zu lassen, doch mir genügte das nicht. Daß der Sheriff Troys Version nicht ausreichend überprüft hatte, würde ich benutzen, um eine Debatte über das Verhör mit seinen zahlreichen Verdrehungen und Rechtsbrüchen loszutreten. Und anschließend würde ich versuchen zu erklären, weshalb ein Unschuldiger etwas gestehen konnte, das er gar nicht begangen hatte. Troy mußte in den Zeugenstand - daran führte kein Weg vorbei. Ich hatte ein weiteres Gutachten durch eine neutrale Psychologin erwirkt, mit der sich die Staatsanwaltschaft einverstanden erklärt hatte, war mir aber sicher, daß Troy die Geschworenen auf seiner Seite haben würde, wenn er nur darlegte, wie traurig er damals war, daß er Lauren und seinen Sohn nicht mehr um sich hatte, und daß er seine Familie verzweifelt hatte wiederfinden wollen. Die Beweisaufnahme begann, und ich bekam die unterschiedlichen Analysen zu sehen, die von einem unabhängigen Labor eintrafen. Die Resultate waren nicht so günstig für uns, wie ich es gern gesehen hätte. Wie das Labor feststellte, waren die Blutspuren an der vorderen Stoßstange von Craigs Wagen zu gering, um eine eindeutige Aussage zu machen. Ein anderer Bericht behauptete, die fotografierten Bremsspuren könnten unterschiedlich ausgelegt werden; vielleicht stammten sie von ein und demselben Fahrzeug, vielleicht aber auch nicht. Alle diese Informationen halfen nicht unbedingt der Anklage, andererseits hätte ich lieber konkrete entlastende Ergebnisse gehabt, die meine Argumentation untermauerten, die vorliegenden Daten weckten lediglich Zweifel. Besonders irritiert war ich, als ich erfuhr, daß die auf Craigs Leiche gefundenen Haarfasern doch von Troy stammen konnten. An Craig hafteten Haare von mir, die Troys Haaren glichen, und jetzt mußte ich jemanden finden, der nachwies, daß die Haare nicht von meinem Mandanten stammten. Doch die gerichtsmedizinischen Gutachter, die ich wahrscheinlich in den Zeugenstand rufen würde, waren möglicherweise den Experten nicht gewachsen, die der Staatsanwalt um sich scharen konnte. Allmählich begriff ich, warum es Eric Dreyfus auf einen Prozeß ankommen ließ. Vermutlich glaubte er, gewinnen zu können. Wir hatten beide das gleiche Beweismaterial vorliegen, ausschlaggebend war, wie wir es interpretierten. Ich war mir aber ziemlich sicher, daß die Anklage, von dem vorliegenden Beweismaterial abgesehen, nichts vorzuweisen hatte, und wenn die Laborberichte nicht ausreichten, um berechtigte Zweifel an Troys Schuld zu wecken, dann hatte ich immer noch Troy als Trumpf. Je weiter die Beweisaufnahme voranschritt, desto klarer wurde mir, daß Troy unbedingt in den Zeugenstand treten mußte, um den Ausschlag zu unseren Gunsten zu geben. Als ich ihm unsere Verteidigungsstrategie darlegte, überraschte er mich mit der Bemerkung, er sei nicht gerade versessen darauf auszusagen. In unserem Besprechungszimmer im Gefängnis ging er unruhig auf und ab. »Ich weiß einfach nicht, was passiert, wenn ich von der Zeit in Los Angeles erzähle«, sagte er. »Sie dürfen ruhig weinen«, sagte ich. »Die Geschworenen werden gerührt sein, genau das wollen wir.« »Ich weiß nicht recht«, sagte Troy. »Sie befürchten wohl, der Staatsanwalt könnte Ihre Worte irgendwie gegen Sie wenden, aber wenn Sie den Geschworenen einfach nur die Wahrheit sagen, dann werden wir siegen, Troy, das verspreche ich Ihnen.« »Sie haben doch das ganze Beweismaterial«, wandte Troy ein. »Sie haben das Verhör... das hat bei der Revision funktioniert. Sie haben selbst gesagt, das wäre genug.« »Wahrscheinlich schon, aber warum sollten wir das Risiko eingehen? Schließlich
haben wir Sie, und Sie sind der Traummandant eines jeden Strafverteidigers.« Ich stand auf und sah Troy an. Dann sagte ich: »Sie sind ein guter Mensch, und die Geschworenen werden Ihnen helfen wollen, Ihre Familie wiederzufinden. Nicht ich werde diesen Prozeß gewinnen, sondern Sie.« Troy biß sich auf die Unterlippe, und als er einmal rasch nickte, war das seine widerwillige Zustimmung, ich sollte meine Strategie weiterverfolgen. Der Juli verging wie im Flug. August. In diesem Sommer war die Hitze ebenso trokken und drückend, wie der Winter naß gewesen war. Es schien, als stünde die Sonne höher am Himmel und lastete schwerer auf dem Tal, als werfe sie erst Schatten, wenn der Tag zur Neige ging. Zum Glück war der Boden noch feucht genug, so daß sich meine neuen Reben hielten, und da ich neuerdings das Land gewissenhaft bewässerte, standen die älteren Weinreben die lange Gluthitze durch. Die Beeren bekamen Farbe. Tim nahm während der Sommerferien an einem Mathe- und Computerkurs in seiner Schule teil, und ich rechnete nicht damit, daß er mich im Tal besuchen würde, doch wir telefonierten häufig miteinander. Wir sprachen kurz und oft und nie über etwas Weltbewegendes, doch so war es mir am liebsten, wenigstens im Augenblick. Julia meldete sich nicht bei mir. Wenn ich Tim fragte, wie es ihr ging, gab er mir immer dieselbe Antwort, er sagte: Mom geht's prima. Wenn ich anrief, nahm sie gelegentlich den Hörer ab, sprach aber nie länger mit mir. Im Kopf spule ich immer wieder ab, was sie in ihrer Küche zu mir gesagt hatte, und ich hoffte, daß sie mir bald Gelegenheit geben würde, so viel wie möglich zu erklären. Doch derzeit konnte ich mir keine größere Auseinandersetzung mit ihr leisten. Ich brauchte mein ganzes Selbstvertrauen für etwas anderes. Im September färbten sich die Beeren. Jeden Morgen maß ich mit meiner Mostwaage den Zuckergehalt. Die Lese stand kurz bevor, genau wie Troys Prozeß. Am Ende eines jeden Tages war ich so müde, daß ich auf der Stelle einschlief. Die Beweisaufnahme zog sich in die Länge; die Staatsanwaltschaft und ich tauschten Zeugenlisten aus. Das psychologische Gutachten war fertig und sah positiv für uns aus, auch wenn mir die Ärztin, die mit Troy gesprochen hatte, im Vertrauen verriet, sie halte ihn für einen »Charmeur«. Und ehe ich mich versah, war ich zur Voruntersuchung und Geschworenenauswahl wieder im Gericht. Der Richter, der auch die Anklageerhebung geleitet hatte, saß dem Prozeß vor. Lange würde er nicht dauern, vielleicht eine, höchstens zwei Wochen. Bevor ich mein Eröffnungsplädoyer hielt, trank ich jede Menge Kaffee. Ich fand, daß ich mich gut hielt, wenn man bedachte, daß mir öffentliche Auftritte überhaupt nicht lagen. Ich sah die Geschworenen an, ließ mir Zeit und erzählte, es sei die oberste Pflicht unserer Justiz, Unschuldige zu schützen. Ob ich wollte oder nicht, ich mußte mich mit Eric Dreyfus vergleichen, der, wie ich fand, ein ziemlich trockener Redner war. Dann trug er seine Anklage vor. Er betonte, wie wichtig die auf der Leiche gefundenen Haare seien. Ich wartete nur darauf, den Experten der Anklage beim Kreuzverhör unbequeme Fragen zu stellen. Ihre Referenzen konnte ich allerdings nicht in Frage stellen, weil die Anklage erfahrene Gerichtsmediziner gewonnen hatte. Mit der Zeit wurde mir jedoch klar, daß das vorliegende Beweismaterial kein eindeutiges Urteil zuließ. Wahrscheinlich würde ein Unentschieden herauskommen. Die Geschworenen konnten so oder so entscheiden. Und falls es auf einen Gutachterstreit hinauslief, hatte die Anklage eventuell einen leichten Vorteil. Meine Nervosität wuchs, aber ich nahm mich zusammen, denn ich wußte, Troys Aussage würde uns auf der Zielgeraden in Führung bringen. Nach ein paar Prozeßtagen rief der Staatsanwalt Mrs. Montoya in den Zeugenstand. Sofort nach ihrer Vereidigung brach sie in Tränen aus. Vermutlich hätte ich ein paar Minuten warten sollen, bis aus diesen Tränen so eindeutig die Befangenheit der Zeugin hervorging, daß der Richter Mrs. Montoya hätte anweisen müssen, erst ein-
mal eine Verschnaufpause einzulegen und sich zu beruhigen. Ich bat aber um eine Pause, bevor Mrs. Montoya Gelegenheit fand, auch nur ein einziges Wort zu sagen, und prompt wies der Richter meinen Einspruch ab. »Ja, ja, er fehlt mir, und wie er mir fehlt«, sagte Mrs. Montoya. »Er fehlt mir so sehr«, fuhr sie schluchzend fort. Eric Dreyfus hatte sie gefragt, ob sie ihren Sohn vermisse. »Euer Ehren«, sagte ich. »Der Einspruch der Verteidigung erscheint im Protokoll, Herr Anwalt«, sagte der Richter. »Er fehlt mir«, wiederholte Mrs. Montoya. Die ersten Zuhörer fingen an zu schluchzen. »Erzählen Sie uns, wie Ihr Leben verlief, nachdem Ihr Sohn getötet wurde«, schlug Eric Dreyfus vor. Mrs. Montoya weinte noch ein wenig, bis der Richter sie endlich ermahnte. Dann atmete sie tief durch und erzählte, wie ihre Familie zerbrochen war. Sie sagte, sie könne das Zimmer ihres Sohnes nicht aufräumen; es sei auch heute noch genauso, wie er es verlassen habe, als er das letztemal in seinem Bett schlief. Sie könne seine Kleidung nicht wegwerfen. Manchmal hocke sie neben seinem Wandschrank und drücke seine Fußballhose an sich. Mittlerweile kamen auch einigen Geschworenen die Tränen. »Euer Ehren«, sagte ich. »Sie kommen schon noch dran«, wies mich der Richter zurecht. Mrs. Montoyas Zeugenaussage dauerte nicht sehr lange, und dann bekam ich Gelegenheit, sie zu befragen, aber was sollte ich schon groß wissen wollen? Da sie möglichst schnell aus dem Zeugenstand verschwinden sollte, versicherte ich ihr lediglich mein Mitgefühl für ihren Verlust. Für einige Anwesende mag sich das etwas überzogen angehört haben, weil ich ganz leise und mit erstickter Stimme sprach. »Wir alle fühlen mit Ihnen«, sagte ich. Sobald Mrs. Montoya den Zeugenstand verlassen hatte, schloß die Anklage ihr Plädoyer ab. Ich weiß noch, daß es erst zehn Uhr an einem Freitag morgen war, und der Richter beschloß, das Verfahren nach dem Wochenende fortzusetzen. Montag morgen würde ich meine ersten Zeugen aufrufen. Ich fuhr nach Hause. Es war die letzte Septemberwoche, und ich hatte vor, an diesem Wochenende meine Beeren zu lesen. Ich wollte gerade nach draußen gehen, als das Telefon klingelte. Eric Dreyfus war dran. Er habe Material vorliegen, das ich mir wohl besser ansehen sollte. Ich fragte, ob er es mir nicht faxen könne, worauf er antwortete, vielleicht sollte ich besser noch am Nachmittag bei ihm vorbeischauen und mich mit ihm darüber unterhalten. Vielleicht, sagte er, wolle ich ja eine Vertagung beantragen. Sein herablassender Ton machte mich wütend. Das war garantiert ein taktischer Schachzug. Er hatte irgend etwas ausgegraben, das ihm vermutlich schon seit Wochen bekannt war, hatte es jedoch bis zum letztmöglichen Augenblick für sich behalten. Etwa eine Stunde später führte mich Eric Dreyfus zu einem Stuhl in seinem Büro und schloß die Tür hinter uns. »Was macht der Weinberg?« fragte er. »Bestimmt sind Sie kurz vor der Lese?« »Kommen Sie zur Sache«, schlug ich vor. »Gern«, sagte er und reichte mir ein Blatt Papier. Es war eine geänderte Zeugenliste. Der erste Name darauf gehörte einem Detective der Polizei von Los Angeles. »Ich werde beantragen«, sagte Eric Dreyfus, »das Gericht möge zulassen, daß wir frühere...« »Sie dürfen keine früheren Vergehen einbringen«, sagte ich. Meines Wissens war Troy vorher noch nie verhaftet worden. Er hatte keine Vorstrafen. Vielleicht war Dreyfus wirklich klargeworden, daß das vorliegende Beweismaterial in diesem Prozeß keiner der beiden Seiten nützte, und daß es nicht genügte, wenn Mrs. Montoya
die Geschworenen zum Weinen brachte. »Frühere Ermittlungsergebnisse einbringen«, fuhr Eric Dreyfus fort. »Die Polizei von L. A. hat damals untersucht...« »Moment mal«, sagte ich. Ich hatte zwar keine Ahnung, wovon er redete, wollte aber nicht ahnungslos erscheinen. »Da eine frühere Verurteilung nicht notwendigerweise prozeßrelevant ist, würden zurückliegende Ermittlungsergebnisse wahrscheinlich gar nicht zugelassen. Falls gegen meinen Mandanten ermittelt wurde, ist das keinesfalls...« »Ich werde argumentieren, daß wir es hier mit demselben Verhaltensmuster zu tun haben...« »Was meinen Sie damit?« Er bluffte wahrscheinlich nur. »Sie meinen die Schulden, die Troy hatte«, sagte ich. Ging es darum? »Klar hatte Troy ein paar finanzielle Probleme, aber das ist meiner Meinung nach keineswegs relevant.« Dreyfus kratzte sich an der Nase. »Schauen Sie«, fuhr ich fort, »sobald die Geschworenen hören, wie seine Frau erst den Wagen aus der Werkstatt und dann ihren gemeinsamen Sohn aus der Schule geholt hat, um dann einfach zu verschwinden, werden sie für Troy nur noch Mitleid empfinden. Ganz egal, wieviel Schulden er hatte...« »Seinen Sohn?« fragte Eric Dreyfus. »Sagten Sie eben, Troys Frau hätte seinen Sohn aus der Schule geholt? Das hat seine Frau gemacht?« »Sie heißt Lauren«, sagte ich. »Ich weiß, daß sie Lauren heißt«, sagte Dreyfus. Er lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und legte seine Füße auf den Schreibtisch. »Wir suchen nach ihr. Wir wollen sie in den Zeugenstand rufen, sie ist aber unauffindbar. Jason, Sie müssen doch wissen, daß Lauren nicht mit dem Jungen weggefahren ist.« »Mit Jared«, sagte ich. »Genau, Jared. Sie müssen doch wissen, daß Jared ermordet wurde.« Ermordet? »Und daß Troy sich geweigert hat, bei den Ermittlungen mitzuhelfen«, fuhr Eric Dreyfus fort, »was ich unter anderem erwähnen will.« »Troys Sohn ist tot«, sagte ich. »Wollen Sie mir das damit sagen?« Dreyfus warf mir quer über den Schreibtisch eine Akte zu. Ich blätterte sie langsam durch. Das Dokument stammte von der Polizei in Los Angeles und bezog sich auf die Ermittlungen zu dem am hellichten Tag an Jared Frantz begangenen Mord. »Sie sollten wohl besser mit Ihrem Mandanten reden«, befand Eric Dreyfus. Ich spürte, wie mein Gesicht rot anlief. »Sie hätten mir die Akte faxen können«, sagte ich. »Eigentlich wollte ich Ihnen etwas ganz anderes zeigen«, erwiderte er. Und er reichte mir ein großes schwarzes Buch, ein Buch mit unlinierten weißen Seiten, die mit blauer Tinte beschrieben waren. »Das wollte ich Ihnen faxen, aber die von uns angefertigten Kopien waren nicht gut lesbar«, fuhr Dreyfus fort. »Sie halten das Original in den Händen.« Ich schlug das Buch auf. Auf der ersten Seite standen drei Wörter. Ganz oben, in sorgfältigen Großbuchstaben: TAGEBUCH. Und unten: CRAIG MONTOYA. »Mrs. Montoya kam heute erst damit an«, erklärte Eric Dreyfus. »Sie fand es in Craigs Kleiderschrank.« »Ich habe gehört, daß der Junge großartige Gedichte verfaßt hat«, sagte ich, »aber weshalb um alles in der Welt sind sie prozeßrelevant?« An einigen Seiten klebten gelbe Zettelchen, und ich schlug eine auf. Die schöne geneigte Handschrift des Jungen ließ sich leicht lesen. Ich überflog die Seite. »Tun Sie, als wäre ich gar nicht da«, sagte ich. »Sie können es ausleihen. Natürlich nur, wenn Sie daran interessiert sind«, sagte
Dreyfus. »Und da es so spät aufgetaucht ist, könnte ich mir vorstellen, daß Sie eventuell noch einiges an Ihrer Strategie ändern wollen. Mir würde es jedenfalls so gehen.« Er mußte unwillkürlich lachen. »Ihr Mandant war bisher recht gut bedient. Er ist billig davongekommen. Und dann sind Sie aufgetaucht. Jetzt können wir die Höchststrafe fordern.« Im Laufschritt überquerte ich den Innenhof. Das Tor fiel hinter mir ins Schloß. Die bekannten hellerleuchteten Gänge entlang. Durch einen langen Flur, von dem Büros abgingen. Ich grüßte die Aufseher nicht. Ohne Umwege ging ich in den weißen Raum, wo Troy auf mich wartete. Ich setzte mich nicht. »Ich habe nachgedacht. Wie Sie über Ihre Weinreben reden«, sagte Troy, »hat in mir den Wunsch geweckt, etwas Ähnliches zu machen. Etwas im Garten. Etwas anbauen. Ich will einfach die Hände in die Erde stecken und...« Er sah mich an. »Was ist?« Ich starrte ihn an. Mein Blick gab ihn nicht wieder frei. »Ist Lauren wirklich mit Ihrem Sohn abgehauen?« Troy runzelte die Stirn. »Ist sie das?« »Sie wissen es doch«, sagte er. »Und Ihr Sohn lebt«, sagte ich. »Jason«, flüsterte Troy. »Kannten Sie Craig Montoya?« fragte ich. »Was geht hier vor?« Ich wiederholte meine Frage. »Sie wissen doch, daß ich ihn nie gesehen habe«, antwortete Troy. »Seltsam«, gab ich zurück. »Er hat Sie aber gekannt.« Ich legte Craig Montoyas Tagebuch auf den Tisch und schlug es an einer der mit Zetteln markierten Stellen gegen Ende des Buches auf. Troy las die Seite. Er sah mich an. Seine Pupillen weiteten sich. »Sie haben ihn sehr wohl gekannt«, stellte ich fest. Troy holte tief Luft. Er nickte. Seine braunen Augen \wurden ausdruckslos. »Sie haben ihn noch an seinem Todestag getroffen«, sagte ich. Wieder nickte Troy. »Sie haben mich belogen«, sagte ich. Troy schwieg. »Und Lauren?« fragte ich. »Bitte. Die Wahrheit. Sagen Sie mir die Wahrheit.« »Nein, sie ist nicht mit meinem Sohn verschwunden«, gab er zu. »Ich wollte sie finden, ich wollte...« »Aber Ihr Sohn?« fragte ich. Da flossen Tränen über sein Gesicht. Jetzt war es also heraus. Wir beide glichen uns so sehr, Troy und ich. Wir beide lebten mit Geheimnissen, an denen wir zugrunde gehen würden. Ziemlich weit hinten fand ich folgenden Eintrag in Craig Montoyas Tagebuch: Ich will nichts weiter als ein Niemand nirgendwo sein, der nichts macht. Früher konnte ich ein ganz gewöhnlicher Junge auf dem Spielfeld sein. Ein Niemand, der einem anderen Niemand den Ball zuschießt. Früher haben wir einfach nur gespielt. Früher hatten wir Spaß. Heute sagen die Leute: So wie du spielst, mein Junge, kannst du mal ein ganz großer Ballkünstler werden. So wie du spielst, kannst du alles erreichen, was du willst. Du kannst reich werden. Du kannst berühmt werden. Na schön, aber irgendwann stirbt sowieso alles. Die Blumen und die Bäume und sogar ihr, ihr Idioten, alles muß sterben. Die Reben im Tal sterben jedes Jahr aufs neue ab. Weintrauben sind totes Obst. Wein ist verdorbener Saft aus totem Obst. Denkt mal drüber nach. Was soll also das Geschrei? Fußball ist doch bloß ein Spiel. Das jetzt stattfindet. Das nur so lange dauert, wie man spielt. Haut ab, laßt mich in Ruhe. Ich bin müde. Ich bin sehr, sehr müde. Wenn ich doch nur schlafen könnte. Und was passiert eigentlich, wenn der nächste Herbst vorbei ist? Dann wird es Win-
ter, dann Frühling, und ich ziehe weg, studiere, kriege gute Noten. Nach der Uni verdiene ich jede Menge Geld, damit Mom das Dach reparieren lassen und vielleicht ein wenig gelassener sein kann. Damit sie Dad sagen kann, er soll sich endgültig zum Teufel scheren. Aber wenn ich es nicht schaffe? Wenn ich es gar nicht schaffen will? Das ist ungerecht. Ich habe mich nicht darum gerissen. Alle sagen: Tja, sein Vater war ein schlimmer Säufer, aber eins hat er gut gemacht, nämlich den Jungen großgezogen. Habt ihr den Jungen mal gegen einen Ball treten sehen? Ich halte es nicht mehr aus, wenn die Leute so etwas sagen. Manchmal denke ich, meine beste Zeit liegt schon hinter mir. Schon ganz lange hinter mir. Ich will nicht, daß Mom weint. Sie soll nie wieder weinen. Ich will sie nicht enttäuschen. Aber ich bin es dermaßen leid. Ich will bloß noch abhauen. Mich kennt sowieso keiner richtig. In der Mannschaft nicht und in der Schule auch nicht. Nicht mal Mom kennt mich, keiner. Ich kiffe, ich trinke. Ich mache alles mögliche, und keiner weiß davon. Solange ich Tore schieße, ist es auch allen egal. Keiner weiß, was ich tun kann. Ich könnte abhauen. Dann würden sie es begreifen. Vielleicht. Wahrscheinlich nicht. Ich sollte mich erschießen. Ich sollte von dem Felsen springen, einen Kopfsprung vom Felsen machen. Ob sie es dann begreifen? Oder werden sie sagen, ich bin ausgerutscht? Diese Passage war wie fast alles andere davor düster. Doch etliche Tagebuchseiten später, in einem Eintrag, der auf Ende Juli datiert war, schrieb Craig: Troy ist klasse. Troy ist cool. Troy kennt sich aus. Er hat den großen Durchblick. Die Vista grande, wie er es nennt. Als er plötzlich hinter dem Faß in der alten Weinkellerei vorkam, dachte ich, er wollte mich umbringen. Ich dachte, er hätte mein Dopeversteck gefunden und wollte mich deswegen töten. Ich habe gehört, daß manche Leute schon für ein paar Gramm erstochen worden sind. Aber er sagte bloß: Mach nur und kiff dich zu, ist mir egal. Er war ein bißchen betrunken, aber nicht so besoffen wie Dad immer. Er war nett. Er sagte, er sei ziemlich einsam und froh, daß ich ihn gefunden hätte, weil er jemanden brauche, mit dem er reden könne. Dann erzählte er mir seine Lebensgeschichte. Ich finde das unvorstellbar. Mitanzusehen, wie dein Sohn erschossen wird. Mitanzusehen, wie dein Sohn stirbt. Das muß einfach unendlich traurig gewesen sein. Danach würde ich auch in alten Weinkellern hausen. Mir unbegreiflich, warum ihn seine Frau verlassen hat. Ich meine, ich begreife zwar, warum sie durchgedreht ist, aber sie hätte Troy nicht einfach so sitzenlassen sollen. Ohne ihm zu sagen, wohin sie fährt. Und deshalb geht es ihm jetzt so miserabel. Troy will sie finden, aber ich habe keine Ahnung, warum. Ich finde, er wäre ohne sie besser dran. Jedenfalls ist Troys Auto kaputtgegangen, und er ist per Anhalter bis hierher ins Tal gekommen, wo er sich jetzt sammelt oder so ähnlich. Nein, sich regeneriert, so hat er’s genannt. Er bat mich, ihm etwas Wein mitzubringen. Er hatte so ziemlich alles weggetrunken, was er in dem verlassenen Weinkeller fand, und das war bestimmt nicht sehr viel. Ich weiß es, ich hatte mich nämlich umgesehen. Ich sagte, ich wüßte eine bessere Bleibe für ihn, und dann fuhr ich ihn zu einem anderen Weingut, wo er wenigstens ein Dach über dem Kopf hatte. Und ich brachte ihm etwas zu essen. Er bemühte sich, nicht zu schlingen, aber ich wußte, daß er Hunger hatte. Ich brachte auch etwas von Dads Schnaps mit. Daß etwas fehlt, merkt der alte Herr vermutlich sowieso nicht. Wir haben uns einen kleinen Joint angezündet. Und dann feierten Troy und ich die ganze Nacht lang. Es war eine phantastische Nacht. Troy kennt die Sterne, er kann sie einem zeigen. Sobald er ein bißchen betrunken ist, erfindet er Geschichten über die Sternbilder. Er sagt, er könnte mir allerhand beibringen, und das glaube ich ihm. Hauptsächlich erzählte er mir aber von einem Film, den er eines Tages drehen will. Der handelt von einem Mann, der aus einem Fenster im ersten Stock zusieht, wie sein Sohn zum
Briefkasten geht und ein paar Verrückte in einem Auto angefahren kommen und den Jungen grundlos umlegen. Dann läuft die Frau weg, und der Mann sucht für den Rest seines Lebens nach ihr. Ich sagte zu Troy: Klingt leicht autobiographisch. Und Troy antwortete: Lohnt es sich, irgend etwas anderes zu erzählen? Als ich ihn frage: Wie endet der Film? Findet der Mann sie?, sieht Troy mich wehmütig an. Und ich sage: Der Mann lernt auf einem verlassenen Weingut einen jungen Rumhänger kennen, und beide ziehen los und finden die Frau. Ich sage: Na los, laß uns heute nacht noch abhauen. Darauf meint Troy: Mußt du denn morgen nicht in die Schule? Und ich antworte: Wir haben Sommerferien. Und er: Jobst du im Sommer nicht? Ich sage: Was soll's. Und er sagt: Ich kann nicht weg, ich sammle neue Kräfte, oder was in der Art. Morgen nach der Arbeit bringe ich Troy etwas zu essen, und wir hängen zusammen herum. Troy ist klasse. Troy hat den großen Durchblick. Auf der nächsten Seite des Tagebuchs stand auch ein kurzes, düsteres Gedicht - es ging darum, daß jemand verschwinden will, und im letzten Vers war von Selbstmord die Rede -, doch der auf das Gedicht folgende Eintrag kam mir heiter, lebensbejahend vor: Troy gefallen meine Gedichte. Er konnte damit richtig etwas anfangen. Er sagt, ich habe Talent. Er sagt, ich sollte jeden zum Teufel schicken, der mir vorschreibt, was ich tun oder lassen soll, und daß ich einfach Gedichte schreiben soll, wenn ich das will. Darauf erwiderte ich, daß ich gern Fußball spiele, jedenfalls hab ich früher einmal gern Fußball gespielt. Und er antwortete: Spiel Fußball, schreib Gedichte. Er sagte: Deine Zeit gehört dir. Wie er das gesagt hat, gefiel mir: Meine Zeit gehört mir. Recht hat er. Er hat vollkommen recht. Meine Zeit gehört mir. Meine Zeit gehört mir. Ich mußte länger arbeiten, konnte deshalb erst später kommen, und Troy wirkte richtig erleichtert, daß ich überhaupt kam. Ich hatte aber jede Menge zu essen mitgebracht. Hühnchen, ein paar Tüten Kartoffelchips und natürlich etwas Bier, und wir aßen alles auf, rauchten ein paar Zigaretten, und dann ließ sich Troy meine neuesten Gedichte vorlesen, die er ausgezeichnet fand. Und dann las er sie mir vor, damit ich hören konnte, wie sie klangen, und ich muß zugeben, sie waren gar nicht so übel, falls dieses Eigenlob gestattet ist. Sie waren nicht übel. Troy meinte, man könnte sie vertonen, aber da habe ich so meine Zweifel. Er sagte, sie erinnerten ihn an die Songs, die seine Frau geschrieben und gesungen hat. Darauf erwiderte ich, wir sollten sie suchen. Du und ich, wir könnten losfahren und sie finden. Aber Troy, irgendwie sammelt er immer noch neue Kräfte. Weil er dieses Weingut leid war, sind wir losgefahren und haben ein anderes gesucht, wo er schlafen konnte, und ich sagte: Morgen sollten wir losfahren und sie suchen, nach Norden aufbrechen und sie finden. Und was dann? fragte er. Darauf antwortete ich: Ganz einfach, wir fahren quer durchs ganze Land. Wovon Troy immer schwärmt. Wir machen einfach, daß wir wegkommen, wir drei. Ich sagte. Morgen, und er meinte: Okay, mal sehen. Okay, mal sehen, was soviel wie »bald« heißt, aber ich glaube, spätestens im August will er von hier weg. Dann finden wir seine Lauren und fahren quer durchs ganze Land. Sehen was von der Welt. Wer weiß, wo wir am Ende landen? Sobald ich aus dem Gefängnis nach Hause gekommen war, las ich Craig Montoyas Tagebuch in einem Zug durch. Und dann begann ich, es mir ein zweitesmal vorzunehmen, langsam und gründlich. Ich stellte mir dabei die Stimme des Jungen vor, den ich getötet hatte, eine kräftige Baritonstimme, die mir jeden Eintrag und jedes Gedicht laut vorlas. Ich kam aber nur bis zu der oben stehenden Passage, dann versank ich in einen dichten Nebel, mußte das Buch zuklappen und legte den Kopf auf meinen Schreibtisch. Teilweise war ich wütend auf Troy wegen seiner Hinterlist, und weil er Craig Flausen in den Kopf gesetzt hatte, doch in erster Linie machte mir der Tod dieses Jungen schwer zu schaffen. Ich sah ihn wieder vor mir, so wie ich ihn
immer sah, auf der Bergstraße, wie er während des Gewitters bergauf ging, über die Schulter zu meinem Wagen schaute. Es dauert so lange, ehe ein Mensch großgezogen und erwachsen ist. Es war mit soviel Mühe verbunden. Aus diesem Jungen wäre vielleicht einmal ein Dichter geworden, oder wer weiß, wozu er sonst noch in der Lage gewesen wäre. Keiner würde es je erfahren. Da war sie, die eiskalte Wahrheit schwappte immer und immer wieder ans Ufer. Da war sie, ich mußte mich ihr stellen. So schnell war ein Menschenleben beendet. Ein Auto geriet auf einer nassen Straße ins Schleudern, das reichte aus. Ich mußte mich dem stellen: Ein Leben war erloschen, eine Stimme war erloschen. Ich schlief ein, den Kopf auf dem Schreibtisch, und ich hatte keine Ahnung, wann oder wie ich es zu meinem Sofa auf der anderen Seite des Zimmers schaffte. Als die Sonne aufging, wurde ich wach, ging hinunter zu meinen Reben und schnitt mir eine Traube ab. In der Küche drückte ich die Beeren in ein Becherglas und füllte den Saft in meine Mostwaage. Die Lese konnte beginnen. An diesem Tag war ich dankbar, daß es die unkomplizierte und zeitaufwendige Arbeit der Weinlese gab. Ich mußte mich nur die Gänge zwischen meinen Reben entlangarbeiten, die Trauben mit meiner Sichel abschneiden und in einen Eimer werfen. Ich mußte nur den Eimer auf die Ladefläche meines Pick-ups leeren und dann wieder füllen. Noch eine Reihe entlang. Und noch eine. Die Sonne stand hoch und heiß am Himmel. Über den Bergen der Diablo Range dräuten ein paar Wolken, die aber so schnell noch keinen Regen brachten. Bis Einbruch der Dunkelheit würde ich ununterbrochen arbeiten können. Als es dunkel wurde, kippte ich die Beeren in den Gärtank. Gerne hätte ich die Lese noch bis in die Nacht hinein fortgesetzt, doch ich war völlig erschöpft und mußte mich hinlegen. Ich tat das ungern, weil ich in dem Moment, als ich die Arbeit auf dem Weinberg abbrach, wieder an all das denken mußte, was von der monotonen Tätigkeit verdrängt worden war. Ich hatte Troy Frantz vertraut und wußte nicht recht, ob ich jetzt seine wahre Geschichte wissen wollte. Seine Lügen waren deprimierend, aber wer war ich denn, daß ich mich aufs hohe Roß setzte? Ich hatte ebenso geblufft, ich hatte auch mit gezinkten Karten gespielt, ich hatte ihn reingelegt, so wie er mich reingelegt hatte. Ich hätte also nicht gekränkt oder enttäuscht sein dürfen, und doch war ich es. Als ich das Gefängnis verließ, wollte ich den Mann am liebsten nie wiedersehen. Das einzige Problem bestand darin, daß ich sein Anwalt war, und genaugenommen konnte ich den Fall nicht so ohne weiteres abgeben. Troy müßte mich entlassen, und das Gericht müßte dem zustimmen, wozu es in einem laufenden Verfahren womöglich gar nicht bereit war. Aber ich konnte Troy unmöglich als Zeugen aufrufen, man würde ihn sonst im Kreuzverhör auseinandernehmen. Unter Druck würde er sich womöglich selbst belasten, worauf ich es nicht ankommen lassen konnte. Doch allein das Tagebuch des toten Jungen reichte aus, um meinen Mandanten zu dämonisieren, und die Geschworenen würden ihn verurteilen und wahrscheinlich sogar eine schwerere Strafe verhängen wollen als vorgesehen. Ich glaubte, Troy Frantz zu kennen, doch ich kannte ihn überhaupt nicht. Ich hatte ihn für einen Freund gehalten, doch er war ein Fremder. In dieser Nacht machte ich kein Auge zu. Ich trank etwas Wein. Ich las Craig Montoyas Tagebuch noch einmal von vorne bis hinten durch. Die letzten Einträge sahen hastig hingekritzelt aus; die Handschrift war kaum leserlich. Anfang September schrieb Craig: Morgen fahren wir los. Zu Troy habe ich gesagt: Jetzt oder nie. Ich habe ihm gesagt, ich werde noch verrückt von dieser ewigen Warterei. Und wieder hat er mir einen Mordsschrecken eingejagt. Er wurde richtig unangenehm und sagte, ich hätte ja keine Ahnung, worum es hier ging. Ich sei noch zu jung. Dann wollte er, daß ich ihm noch mehr Geld brachte, aber mein ganzes Geld hatte ich ihm schon gegeben und so viel aus der Kasse bei der Arbeit genommen wie möglich war, ohne aufzufallen. Aus Moms geheimem Marmeladetopf nehme ich nichts. Nie. Irgendwo muß Schluß
sein. Er wird also richtig unangenehm, will aber trotzdem feiern, und wir sind in letzter Zeit immer schlimm bekifft und betrunken gewesen. Beim Training war ich unendlich langsam. Der Trainer war sauer. Man könnte meinen, ich hätte in meinem ganzen Leben noch nie Fußball gespielt. Ein paar Tage später folgte der nächste Eintrag: Ich habe zu Troy gesagt, wir müssen die Geschichte zu Ende erzählen. Der Junge kriegt sein Mädchen wieder. Darauf meinte er, außerhalb von Oak Valley gäbe es kein Happy-End. Das sagte er zu mir, und dann bin ich nach Hause gefahren, und heute war er nicht mehr in demselben Weinkeller. Ich mußte in der Gegend herumfahren, bis ich ihn schließlich auf einem der Weingüter fand, wo ich vorher schon mal mit ihm gewesen bin. Und ich fragte ihn: Willst du mich abservieren oder was? Und Troy antwortet: Kluges Kerlchen, du hast es erfaßt. Am liebsten hätte ich geheult, aber nicht vor ihm. Ich weiß nicht, warum er ständig so wütend auf mich ist. Ich begreif es einfach nicht. Wollen wir denn nicht zusammen quer durchs Land fahren? Das neue Schuljahr fing an. Da Craig nach der Schule zum Fußballtraining mußte, hatte er immer weniger Zeit, mit Troy herumzuhängen, und Troy wollte ihn ohnehin nicht um sich haben. Craig war am Boden zerstört. Was habe ich gesagt? Was habe ich getan? Troy meinte, er verläßt das Tal ohne mich. Darauf ich: Ach ja, und in wessen Auto? Ich sagte: Du brauchst mich als Fahrer, und er antwortete: Ich brauche dich nicht und auch niemand anderen. Troy sagte, er wisse nicht, ob er Lauren jemals finden würde. Er wisse nicht einmal, ob er das überhaupt wolle. Und dann sagte Troy, ich solle ihn nicht mehr besuchen kommen. Er sagte, ich war nicht in seinem Plan vorgesehen. Aber ich glaube, er würde seine Meinung ändern, wenn wir nur gemeinsam nach Norden aufbrächen. Ich weiß auch nicht, ich weiß gar nichts mehr. Allmählich denke ich, was soll's. Ich wünschte, ich wäre nicht mehr. Ich wünschte, ich wäre niemand nirgends. Niemand kennt mich richtig, nicht mal Troy. Niemand weiß, was ich machen könnte. Ich könnte von dem Felsen springen, sollte ich wirklich tun. Ich wünschte, ich könnte einschlafen. Vielleicht ändert Troy ja noch seine Meinung. Wenn wir doch nur zusammen nach Norden fahren würden. Ich werde ihn abholen, und dann sage ich: Komm schon, fahren wir einfach los, und vielleicht sagt er dann: In Ordnung. Vielleicht sagt er: Fahren wir. Das war Craigs letzter Eintrag. Datiert war er auf den Tag vor dem Unfall. Troy hatte ihn an der Nase herumgeführt. Troy hatte dem Jungen Hoffnung gemacht, warum hatte er ihn also im Stich gelassen? Warum hatte er ihm die kalte Schulter gezeigt? Nach der Lektüre des Tagebuchs kam ich zu dem Schluß, daß Troy und ich gemeinsam an Craigs Tod schuld waren. Zuerst hatte Troy dem Jungen Flausen in den Kopf gesetzt und ihn dann auf der Bergstraße ausgesetzt. Jedenfalls nahm ich das an. Dann hatte ich den Jungen überfahren. Ich versetzte ihm den Todesstoß. Ich war die ganze Nacht aufgeblieben, hatte Craigs Tagebuch gelesen und gegrübelt, und als die ersten Sonnenstrahlen am Himmel auftauchten, ging ich zur Garage, stieg ins Auto und fuhr die Weinbergstraße hinunter. Bald hatte ich die Bergstraße erreicht. Ich ließ die Stelle hinter mir, wo ich auf dem Weg zum Krankenhaus mit Julia im Graben gelandet war, und fuhr an dem Baum vorbei, in den Tim gerast war. Ich kam zur Unfallstelle. Ich verlangsamte so wie immer, wenn ich an diese Stelle kam. Craig hatte mich über die Schulter hinweg angesehen, und ich glaube, in diesem Augenblick wollte er sterben. Die Welt hatte ihn im Stich gelassen. Er ging zu dem Steilfelsen hinauf und wollte in die Schlucht springen, doch dann kam ich statt dessen vorbeigefahren. Ich hielt einen halben Kilometer weiter am Straßenrand an, stieg aus und arbeitete
mich durch die Bäume zu dem Felsen vor. Als ich an die Lichtung kam, beschien die Sonne fast das ganze Tal, so daß man sehen konnte, wie weit es sich erstreckte. Man erkannte die Umrisse des Eichenblattes, die Pässe, die Faltenwürfe in den Hügeln, die Abfolge von Wäldern und offenen Feldern, die kahlen Hänge der Steinbrüche, die Weinberge, die der Regen zerstört hatte. Ich trat an den Rand des Granitfelsens. Die Morgenluft hatte etwas Reines. Salbei, Minze, Kiefern. Ich stieß einen Seufzer aus, bis ich das Gefühl hatte, keine Luft mehr in den Lungen zu haben. Dann hielt ich den Atem an. Jenen Oktoberabend, als ich den Jungen getötet hatte, würde ich nie vergessen können. Immer und ewig würde ich mich fragen: Was wäre, wenn ich ihn nicht überfahren hätte? Wenn er bis hierher, zu dem Steilfelsen gekommen wäre und nach unten in die tiefe Schlucht geblickt hätte? Obwohl es damals dunkel und regnerisch war, und obwohl er keine gute Sicht gehabt hätte, bestand die Möglichkeit, daß er sich kurz vor dem Sprung anders entschieden hätte und von der Felskante zurückgekrochen wäre. Möglicherweise hätte er einen Schritt zurück gemacht, so wie ich es eben getan hatte, und möglicherweise wäre Craig Montoya durch den Wald zur Straße zurückgelaufen, hätte ein Auto vorbeifahren sehen und wäre bis nach Hause mitgenommen worden. Vielleicht hätte der Junge seinem Leben ein Ende gesetzt, aber vielleicht hätte er sich auch noch anders entschieden, und das hatte ich ihm genommen, diese Chance, diesen Moment, da er den Steilfelsen verlassen und nach Hause gelaufen wäre. Über dem Tal hingen düstere Wolken, ich mußte also die Trauben schneller lesen. Laut Vorhersage sollte es am nächsten Tag regnen. Ich ließ mein Messer sausen, so schnell ich konnte, warf die Trauben in den Eimer und bekam irgendwie nicht mit, daß ein Wagen die Straße zum Weinberg hinauffuhr. Ich hörte auch keine Schritte, und als ich aufstand, um mich zu strecken, schreckte ich zusammen, da ich am anderen Ende der Reihe Julia stehen sah. Julia in Jeans und Sweatshirt und mit ihrer eigenen Sichel samt Eimer bewaffnet. »Ich dachte mir, du steckst jetzt bestimmt mitten in der Lese«, sagte sie. »Es soll wohl erst morgen regnen«, sagte ich, »aber ich trau dem Himmel nicht.« »Dem Himmel sollte man nie trauen«, empfahl Julia, und dann, ohne ein weiteres Wort, schnitt sie Weintrauben ab und füllte ihren Eimer mit Beeren. Als sie merkte, wie ich sie anstarrte, sagte sie: »Zum Reden haben wir später noch genug Zeit.« Und so schafften wir jeder auf seiner Seite eine Reihe Reben, und wir arbeiteten uns den Hang hinunter, und nach einer Stunde erkundigte ich mich schließlich nach Tim. »Dem geht's richtig gut. Bisher mag er seine neuen Lehrer. Demnächst spricht er wieder für ein Theaterstück vor. Er lernt Gitarre.« »Gitarre«, wiederholte ich. »Das ist toll.« »Im Moment ist er bei einem Freund auf der anderen Seite der Bucht. Er übernachtet da auch. Und wie gesagt, ich dachte, du wärst gerade mitten bei der Lese...« »Das war immer deine Lieblingsjahreszeit hier draußen«, stellte ich fest. »Meine Lieblingsjahreszeit überall«, sagte Julia. »Es ist wirklich schön, daß du da bist«, sagte ich. Sie sah mich durch die Reben hindurch an, blinzelte mir zu, und dann machte sie weiter. Wir arbeiteten fast den ganzen Nachmittag durch, und natürlich ging die Weinlese so beträchtlich schneller voran. Es nieselte etwas, war ein wenig neblig, regnete aber noch nicht heftig. Wir brauchten noch einen Tag, um fertig zu werden. Doch am nächsten Tag war Montag, und ich hatte einen Gerichtstermin. Nachdem wir die Beeren in den Bottich gekippt hatten, gingen wir ins Haus und durchstöberten die Küche, bis wir die Zutaten für ein schlichtes Abendessen zusammengesucht. Wir waren immer noch ziemlich schweigsam, aber irgendwie waren wir zuerst mit der Weinlese und anschließend mit dem Kochen die ganze Zeit beschäftigt gewesen. Als wir zum Essen Platz nahmen, öffnete ich eine Flasche Cabernet von unserem ersten Jahrgang.
Julia probierte ein Schlückchen, und als ich sie bat, den Geschmack zu beschreiben, antwortete sie: »Ich sehe Tim vor mir, etwa fünf Jahre alt, wie er mit anderen Kindern spielt, wie er einen Hügel hinunterrollt.« »Du siehst Tim vor dir«, sagte ich. »In seinem Haar sind lauter Grashalme. Er erinnert mich an eine Katze, die sich an einem heißen Tag im Gras wälzt.« »Der Wein ist gut«, sagte ich. »Wir haben erstklassigen Wein gemacht«, bestätigte Julia. Sie stieß mit mir an. Wir aßen die Nudeln und den Salat und tranken die Flasche fast aus, wieder ohne viel Worte zu machen. Und dann bekannte ich, welche Geschmacksempfindungen ich mit dem Wein verband. Ich erinnerte Julia daran, wie wir vor langer Zeit auf einer Wiese gelegen hatten. Sie griff über den Tisch und nahm meine Hand. Dann ließ sie wieder los. Sie sagte: »Ich war böse auf dich. Ich war schrecklich böse.« »Ich weiß«, räumte ich ein. »Es tut mir leid.« »Das heißt, ich bin es immer noch«, fuhr Julia fort. »Wie du mich hinters Licht geführt hast. Und Tim... wie Tim darunter gelitten hat. Darüber kann ich bis heute noch nicht reden.« »Danke, daß du nicht die Polizei gerufen hast«, sagte ich. »Ich habe ernsthaft mit dem Gedanken gespielt«, sagte sie. »Du hast es aber nicht getan.« »Ich konnte nicht.« »Ich möchte so viel ungeschehen machen«, sagte ich. »Der Junge, ich habe ihn in den Armen...« »Jason«, unterbrach mich Julia. Ich verstummte. »Mir war unbegreiflich, wie du damit leben konntest«, sagte sie, »nachdem du einen Unschuldigen ins Gefängnis hast gehen lassen. Andererseits ist mir klar, daß du gar nicht anders konntest. Ich weiß, daß du jetzt versuchst, Wiedergutmachung zu leisten.« »Du bist immer noch böse auf mich«, sagte ich. »Ich weiß selbst nicht recht. Ich weiß ja nicht einmal, ob du jetzt das Richtige machst, möchte dir aber gern beistehen. Egal wie. Wir sind so gute Freunde, Jason. Die Gespräche mit dir haben mir so gefehlt.« »Und mir haben die Gespräche mit dir gefehlt«, sagte ich. »Ich hatte gehofft, daß du zurückkommst.« Julia richtete sich auf. Sie massierte ihren Hals. »Ich bin nicht zurückgekommen, Jason. Ich komme nur zu Besuch.« »Nur zu Besuch?« fragte ich. »Nur zu Besuch«, wiederholte sie. Ich trank noch mehr Wein. Ich füllte mein Glas. »Deine Freundschaft bedeutet mir viel«, sagte sie. »Aber wir werden nicht wieder wie früher zusammensein. Und das weißt du auch.« Es versetzte mir einen Stich. Was Julia erzählte, kam nicht überraschend, dennoch war die schlechte Nachricht ein Schock für mich. »Du hast dir Hoffnungen gemacht«, stellte sie fest. Ich zuckte die Schultern. Sie griff wieder über den Tisch und hielt meine Hand, doch diesmal ließ sie nicht wieder los. »Du weißt doch, daß ich dich immer liebhaben werde«, sagte sie. »Das weiß ich, stimmt«, sagte ich. »So gefällt es mir«, sagte sie. »Dieses Essen, dieser Wein, die Zeit mir dir. Ich will, daß wir Freunde bleiben, darum bin ich hergekommen. Ich möchte dich nicht unglücklich machen.« »Verstehe«, sagte ich.
»Sag mir ruhig, wenn ich verschwinden soll«, sagte sie. Aber ich wollte nicht, daß sie verschwand. Als ich den Mund aufmachte, sagte ich: »Du warst immer stärker als ich.« »Ich weiß nicht recht, ob das stimmt...« »O doch. Du warst immer stärker«, sagte ich. Es war kühl im Haus. Ich ging ins Wohnzimmer und machte Feuer im Kamin. Julia brachte den Wein mit, und wir setzten uns auf das Sofa, ich legte den Arm um sie, sie legte die Hand auf mein Knie, und wir sahen in die Flammen. »Was hast du nur?« fragte sie. »Eins muß ich dir sagen, du siehst fürchterlich aus. Als ich dich auf dem Weinberg sah, dachte ich: Den bedrückt irgend etwas.« »Mir geht's gut«, behauptete ich. »Ich bin der einzige Mensch, mit dem du reden kannst«, sagte Julia. »Das wollte ich dir schon die ganze Zeit sagen. Was ist los?« »Nichts. Ehrlich, ich würd's dir verraten. Gar nichts«, sagte ich. Wir hörten zu, wie das Holz knackte und zischte. »Na ja«, gab ich zu, »eigentlich bin ich ziemlich hin- und hergerissen.« Und dann erzählte ich ihr alles. Ich erzählte Julia von Troy und den vielen Lügen, die er mir aufgetischt hatte, und wie die Wahrheit über ihn aussah. Ich zeigte ihr Craig Montoyas Tagebuch. Ich ließ sie ein paar Einträge lesen. »Der arme Junge«, sagte sie. »Was bedeutet das für den Prozeß?« »Vielleicht bekomme ich ihn frei«, antwortete ich. »Aber es sieht nicht besonders gut aus, und ich weiß sowieso nicht recht, ob ich will, daß er wieder frei rumläuft.« »Offenbar hat Craig ihm den Sohn ersetzt, den er verloren hatte«, sagte sie. »Aber warum hat Troy ihn dann verstoßen? Warum hat er ihn so enttäuscht?« Das ließ mir keine Ruhe. »Tja, das kann dir nur Troy erzählen«, antwortete sie. Ich rieb mir die Augen. »Was hast du vor?« fragte sie. »Was sollte ich denn tun?« fragte ich zurück. »Das weiß ich doch nicht«, sagte sie. Ich beugte mich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und Julia massierte mir die Schultern. Ein Weilchen entspannte ich mich. Julia und ich waren an einem Punkt angekommen, wo wir schon einmal gewesen waren, und wo wir vermutlich immer wieder landen würden. Wir glichen Nachbarn, die rechts und links von einem Haus wohnten, das eines Tages plötzlich und unerklärlicherweise verlassen wurde. Zuerst musterten wir beide das zwischen uns gelegene Haus, und zwar jeder aus der Distanz seiner eigenen Veranda, doch schließlich traten wir ein wenig näher, um uns besser umsehen zu können. Und dabei bemerkte jeder den anderen, wie er durch nackte Fenster und leere Zimmer spähte. Leere Zimmer, wo wir uns zu gegebener Zeit treffen würden, wo wir gemeinsam die Wandschränke und den Keller durchstöbern würden, den ersten Stock, den Dachboden; wo wir Tag für Tag zusammenkamen, bis man das Haus später doch noch verkaufte oder vermietete und Julia und ich mit einer Mischung aus Widerstreben und Erleichterung wieder in unsere jeweiligen Wohnungen zurückkehrten. Wenn wir uns das nächstemal in dem Haus träfen, würden wir älter sein, wir würden dem anderen mit mehr Freundlichkeit und zugleich mit mehr Distanz begegnen, aber sehen würden wir uns immer und immer wieder, so war nun mal unsere Verbindung, eine Ehe, die zwar beendet, aber dennoch irgendwie von Bestand war, die alle anderen Ehen und die Zeit überdauerte. Ich will nicht behaupten, ich wäre schon damals zu dieser Erkenntnis gelangt, als wir während der Weinlese auf dem Sofa vor dem Kaminfeuer saßen, oder daß ich auch nur bald nach jenem Abend zu diesem Schluß gelangte. Diese Erkenntnis, wenn ich sie so nennen darf, kam später, und ich muß zugeben, als Julia aufhörte, meine Schultern zu massieren, hätte ich am liebsten gesagt: Hör nicht auf, hör bloß nicht
auf. Ich wollte sie küssen. Ich wollte sie zurückhaben. Und das würde immer so bleiben. Julia schlief auf dem Sofa. Am nächsten Tag fuhr ich frühmorgens nach Hollister und sprach mit dem Richter. Der Staatsanwalt unterstützte meinen Antrag auf Verschiebung; auch er brauchte mehr Zeit. Der Richter gab uns vier Tage und bestellte uns für Freitag wieder ins Gericht. Am späten Vormittag traf ich wieder auf dem Weingut ein und gesellte mich gleich zu Julia. Wir mußten uns mit der Lese beeilen. Der Wind hatte aufgefrischt, und es nieselte. Als es um drei Uhr nachmittags richtig zu regnen anfing, waren wir fertig und mußten die Beeren nur noch in den Gärbehälter kippen. Wir befanden uns gerade im Weinkeller, als Julia sagte: »Ich möchte dich ja ungern bei dem Wetter nach draußen schicken, aber...« Mittlerweile goß es in Strömen, das Wasser fiel wie eine Wand herab, der Regen peitschte. »Aber was?« fragte ich. »Ich rufe Tim an«, sagte Julia. »Er hat das Haus ganz gern für sich allein, und dann bleibe ich hier und helfe dir beim Abstich.« »Aber was?« wiederholte ich. »Du mußt einfach mit diesem Mann reden«, sagte sie. »So oder so, du mußt das mit ihm klären.« »Ich dachte, Sie hätten mich aufgegeben«, sagte Troy. Im Sprechzimmer des Gefängnisses legte ich beide Hände mit den Handflächen nach unten auf den Tisch. »Wenn es so wäre, hätte ich Verständnis dafür«, fuhr er fort. Die von den hoch oben angebrachten Ventilatoren verteilte Luft kam mir an diesem Abend besonders kühl vor. »Die Wahrheit?« fragte Troy. Er hielt den Atem an. »Manchmal weiß ich nicht mal mehr, was das ist.« Ich stand auf, wollte gehen. Ich griff nach meiner Aktentasche. »Warten Sie«, bat Troy. »Bitte. Warten Sie.« Ich nahm wieder Platz und verschränkte die Arme vor meiner Brust. »Das mit dem Jahr auf der Filmhochschule war gelogen«, sagte er. »Ich war nie auf der Filmhochschule. Ich hab lediglich in einem Videoladen am Sunset Boulevard gearbeitet, mehr nicht.« Troy hatte sich seit Tagen nicht mehr rasiert. Geschlafen hatte er offenbar auch nicht; seine Augen sahen aus, als hätten sie sich in die Höhlen zurückgezogen. Sogar seine Gefängniskleidung war zerknittert und zerschlissen. »Lauren hat wirklich Songs geschrieben. Das stimmte«, sagte er. »Aber sie ist damit nie irgendwo aufgetreten. Sie hätte es tun sollen, ich habe mir das für sie gewünscht. Es sind wunderschöne Songs. Ich würde alles dafür geben, wenn ich sie wieder singen hören könnte. Nur einen einzigen Song. Ich glaube, deshalb habe ich so lange durchgehalten, um sie zu finden, um sie noch einmal ein Lied singen zu hören.« Ich hätte ihm gern geglaubt, aber warum sollte ich? »Manchmal, wenn ich morgens um drei betrunken nach Hause gekommen bin«, fuhr er fort, »oder wenn ich mich tagelang herumgetrieben oder wieder irgendeinen Job verloren hatte, oder wenn ich den ganzen Tag ruhelos durch die Stadt gestreift war... dann setzte sie sich zu mir auf die Bettkante und sang mir einfach etwas vor. Das war so beruhigend, daß ich einschlief. Das brachte nur sie fertig.« Eine Träne rann Troys Wange hinunter. »Jared war ein guter Junge«, sagte er. »Er war intelligent. Er war stark. Er war ein Sportler. Nicht daß er in irgendwelchen Mannschaften aktiv war, aber er lief immer herum, spielte mit seinen Freunden auf der Straße, Basketball oder was auch immer. Ich kümmerte mich wenig um ihm. Ich war nicht für ihn da. Er war fünfzehn und wirklich auf sich allein gestellt. Klar hat er sich mit seiner Mutter gut verstanden, das weiß
ich. Aber er und ich... er hat sich zwar nie mit mir geschlagen, aber ich sah die Wut in seinem Blick, wie er mich angefunkelt hat.« Troy versuchte, den Blick seines Sohnes nachzuahmen. Ich hatte keine Ahnung, ob er mich wieder anschwindelte. Aber diesmal sprach er irgendwie ganz anders mit mir als bei allen unseren bisherigen Gesprächen. »Was ich Ihnen von dem geliehenen Geld erzählt habe«, fuhr Troy fort, »das stimmte. Ich hatte Unmengen Schulden. Ich hatte viel zu viele Schulden. Und ich wußte, ich konnte das Geld nicht zurückzahlen, und ich wußte, daß ich die Stadt verlassen mußte, und ich wollte auch abhauen. Ich wollte ganz allein abhauen. Ohne Lauren oder Jared.« Ich glaubte ihm. Ich glaubte alles. »Lauren war so traurig«, sagte er. »Inzwischen hatte sie einen Punkt erreicht, wo sie nur noch traurig war. Sie wollte mich nicht um sich haben - ich machte alles nur noch schlimmer. Und als mir schließlich einer der Männer, denen ich Geld schuldete, sagte, ich müßte endlich bezahlen, machte ich einen Termin aus, an dem ich ihm einen Teil der Schulden bar übergeben wollte, doch ich wollte noch vorher abhauen.« Die Woche verging, und Troy verschwand nicht, und schließlich war der Tag, die Stunde des vereinbarten Treffens gekommen. Es war ein heißer Sommermorgen in Los Angeles, erzählte Troy. »An dem Tag wehte kein Lüftchen. Lauren war weggefahren, ich habe keine Ahnung, wohin... aber sie hatte den Wagen genommen. Jared war zu Hause. Ich sah das Auto des Kerls, dem ich meine Schulden bezahlen sollte, an der Ecke neben dem Briefkasten halten. Ich saß in der Falle. Ich mußte verschwinden. Ich sagte zu Jared, er soll zu dem Wagen hinuntergehen und den Leuten erzählen, ich käme gleich.« Ich versuchte, etwas zu sagen, eine Frage zu stellen, hatte aber einen trockenen Hals und brachte kein Wort heraus. Was noch kam, mußte ich nicht unbedingt hören. Langsam fuhr Troy fort: »Jared hatte seinen Basketball dabei, und ich sah, wie er ihn auf dem Weg zu dem Auto mehrmals auftippte. Von unserem Wohnungsfenster im ersten Stock sah ich zu. Was dann passierte, weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob einer der Männer im Auto hochschaute und mitbekam, daß ich sie beobachtete. Ich weiß nicht, ob sie sich überlegt hatten, daß ich durch die Hintertür abhauen wollte. Keine Ahnung. Ich hörte einen Schuß. Einen einzelnen lauten Schuß aus dem Wagen. Jared flog drei Meter weit nach hinten. Er landete auf dem Rücken. Und der Wagen raste mit quietschenden Reifen davon. Und ich rannte die Treppe hinunter, aber Jared war tot. Er war tot. Sie hatten ihn erschossen, aber es war einzig und allein meine Schuld. Dieser wundervolle Junge. Er lebte nicht mehr.« Troy bekam einen Weinkrampf und begrub den Kopf in seinen Armen, die auf dem Tisch lagen. Ich räusperte mich. »Das ist also das Schreckliche, was Sie getan haben«, sagte ich. Nach einer Weile faßte sich Troy wieder und erzählte mir, wie Lauren etwa um diese Zeit nach Hause gekommen war, als der Krankenwagen eintraf. Man mußte ihr ein Beruhigungsmittel verabreichen. Sie wußte, daß Troy irgendwie die Verantwortung für das trug, was geschehen war, obwohl sie die ganze Geschichte nie erfuhr. Sie verließ die Stadt am selben Tag, als man sie aus dem Krankenhaus entließ, und Troy sah sie nie wieder, er hörte auch nichts mehr von ihr. Inzwischen nahm ihn die Polizei in die Mangel. Bei ihren Ermittlungen in dem Mordfall war er ein Verdächtiger, und Troy nahm sich einen, so klang es jedenfalls, ziemlich unfähigen Anwalt, der ihm empfahl, nicht mit der Polizei zusammenzuarbeiten, so daß die natürlich nur noch eifriger in seinem Leben herumschnüffelte. Und was nun kam, wie Troy jahrelang herumgezogen war, wie er sich zu einem Olivenhain in der Nähe von Ventura durchgeschlagen hatte, wie er an der Küste nordwärts gezogen war - all das hatte er mir so oder ähnlich schon vorher erzählt; der einzige Unterschied bestand darin, daß er nur Lauren finden wollte.
»Meine Zeichnungen haben ihr immer gefallen«, sagte er. »Sogar meine Kritzeleien am Rand der Anzeigenseiten. Die Zeichnungen, die ich gemacht habe, sind für sie.« »Sie haben keine Ahnung, wo sie ist«, stellte ich fest. »Nicht die leiseste«, gab Troy zu. »Außerdem würde sie mich nicht wiedersehen wollen. Warum auch? Aber ich will all die schlimmen Dinge wiedergutmachen, die ich verbrochen habe. Ich habe ihr das Kind genommen, und das kann ich ihr nicht zurückgeben, aber...« »Sie glauben, Sie können noch einmal neu anfangen«, sagte ich. Troy zuckte die Achseln. »Ich muß Lauren das irgendwie erklären. Und wenn ich mein Leben lang nichts anderes tue, ich muß wiedergutmachen, was ich ihr angetan habe.« »Warum haben Sie mich belogen?« fragte ich. Troy sah mich an und schluckte. »Haben Sie mir erzählt, Ihr Sohn sei noch am Leben, weil ich Ihnen erzählt hatte, ich hätte einen Sohn, den ich wiedersehen wollte?« fragte ich. »Dachten Sie, daß ich darauf anspringe? Dachten Sie, dadurch kämen wir uns näher?« Troy grinste. »Und es stimmte.« »Dachten Sie, ich würde Ihnen nicht mehr helfen, wenn ich die Wahrheit wüßte?« fragte ich. Meine Stimme wurde lauter. »Ja. Genau das dachte ich«, sagte Troy, »und wenn ich ehrlich bin, weiß ich immer noch nicht, warum Sie mir geholfen haben.« »Oder konnten Sie die volle Wahrheit einfach nicht ertragen?« fragte ich. »Haben Sie sich deshalb eine einfachere Geschichte ausgedacht? Sie waren am Tod Ihres Sohnes schuld, und damit wurden Sie nicht fertig.« »Wie wär's mit: das alles trifft zu«, antwortete Troy. »Sie hätten mich nicht anlügen müssen«, sagte ich. »Ein Anwalt verteidigt seinen Mandanten, was dieser auch immer getan haben mag.« »Ein Anwalt setzt sich mehr für einen ein, wenn er einen für unschuldig hält«, behauptete Troy. Ich wollte keinen Streit. »Irgendwann sind Sie also im Tal gelandet, wo Sie in einem verlassenen Weingut wohnten«, sagte ich. »Sie haben getrunken und gekifft, bis dieser Junge zufällig auftauchte. Ich habe Craigs Tagebuch gelesen. Er fand Sie klasse. Sie waren nett zu ihm.« Troy nickte. »In vieler Hinsicht war er wie Jared.« »Intelligent«, sagte ich, »stark.« Groß und schlaksig, ein Sportler, beliebt. »Es war, als... als bekäme ich ein Stück von Jared zurück«, sagte Troy. Julia hatte recht gehabt. »Darum blieben Sie den Sommer über in der Gegend«, sagte ich. Troy nickte. »Und konnten wieder Vater sein«, schloß ich. Ich weiß nicht genau, ob man ein Vater sein muß, der in seiner Vaterrolle versagt hat, um zu verstehen, was Troy in diesem fremden Jungen sah, der unerwartet in sein Leben getreten war, aber ich begriff es, ich verstand es nur allzu gut. Er hatte eine zweite Chance bekommen. »Warum haben Sie ihn dann abgewiesen?« fragte ich. »Warum haben Sie ihm gesagt, er solle verschwinden?« »Ich hatte es zu weit getrieben«, sagte Troy. »Ich bin ein Nichtsnutz. Ein Stück Dreck. Jared war tot, und daran war ich schuld. Ich hätte Craig Unglück gebracht.« »Begreifen Sie denn nicht? Sie haben ihm tatsächlich Unglück gebracht«, sagte ich. »Hätten Sie nicht einfach verschwinden können?« »Kein Auto«, antwortete er. »Sie haben Craigs Wagen gestohlen?« fragte ich. »Eines Nachmittags kam er zu mir«, erzählte Troy. »Und er sagte: Also, wir machen folgendes, Troy. Wir fahren los und suchen Lauren. Und da fing es an zu regnen. Ich
dachte: Der läßt mich nicht in Ruhe. Wir fuhren also eine Weile auf der Bergstraße. Und auf einmal wurde mir klar: Ich darf diesen Jungen nicht ins Unglück stürzen. Ganz zu schweigen davon, daß seine Eltern völlig außer sich sein werden und man mich wahrscheinlich wegen Kindesentführung verhaftet. Als Craig dann anhielt, um im Wald zu pinkeln, warf ich seinen Rucksack aus dem Wagen und fuhr davon.« Den Rest kannte ich. Craig war verzweifelt. Er wollte zu Fuß zum Steilfelsen. Ich kam vorbeigefahren. »Als ich hörte, daß der Junge tot war«, erzählte Troy weiter, »war eigentlich unwichtig, ob ich ihn nun getötet hatte oder nicht. Ich hatte ihn da draußen allein gelassen. Genausogut hätte ich...« »Aber das haben Sie nicht«, warf ich ein. »Als man mich verhörte«, sagte Troy, »dachte ich wirklich, ich hätte es verdient, für immer und ewig in den Knast zu wandern. Und wissen Sie, ich wußte, so oder so kam ich ohnehin ins Gefängnis. Es lag genug gegen mich vor, da war ich mir ziemlich sicher. Irgendwie würden sie mich mit dem Jungen in Verbindung bringen.« Und das gelang ihnen tatsächlich. Die Haare auf Craigs Leiche waren doch von Troy. »Sie würden mich mit ihm in Verbindung bringen«, wiederholte Troy, »und ich wußte, daß ich mich auf eine Absprache einlassen mußte, und so wartete ich den ganzen Tag lang und nahm ihr bestes Angebot an.« Mit dem Finger zog er auf der Tischplatte einen imaginären Kreis nach. »Mein Leben ist ein großer Teufelskreis«, sagte er dann. »Ich versuche immer wieder, ihn zu verlassen, ihm zu entkommen, einmal etwas richtig zu machen, aber ich schaffe es nicht.« Eine ganze Weile saßen wir uns an dem Tisch im weißen Zimmer gegenüber und starrten einander an. Endlich sagte ich: »Ich will Sie nicht in den Zeugenstand rufen.« »Ich könnte die Wahrheit sagen«, schlug Troy vor. »Die Wahrheit wird Ihnen nicht viel helfen. Außerdem haben Sie die Psychologin belogen«, sagte ich. »Der haben Sie dieselben Lügen aufgetischt wie mir. Ihre Glaubwürdigkeit ist dahin. Alles, was Sie sagen, ist völlig wertlos, jedes Wort von Ihnen.« Troy sank in seinen Stuhl. »Ich bin erledigt«, sagte er, »hab ich recht?« Ich antwortete nicht, sondern sagte: »Ich muß mir überlegen, wie es jetzt weitergeht. Am Freitag soll ich die ersten Zeugen aufrufen.« Troy hämmerte mit den Fäusten auf den Tisch. Ich erschrak. »Ich komme hier nie wieder raus«, rief er. »Warum sagen Sie mir das nicht einfach und bringen es hinter sich? Ich komme hier nie wieder raus, stimmt's? Ich komm hier nie wieder raus.« Erneut gab ich ihm keine Antwort. Ich sagte, wir sähen uns Freitag. »Ich will sie nur ein Lied singen hören«, flüsterte Troy. »Nur noch einen einzigen Song.« Als ich das weiße Zimmer verließ und mich dabei noch einmal zu ihm umdrehte, wirkte er auf mich ganz ähnlich wie damals in jener Nacht, als ich ihn auf der Polizeiwache in Hollister zum erstenmal gesehen hatte. Zerbrechlich, klein in dieser Welt. Wenn er verschwände, würde es keiner merken. Es wäre allen egal. Ich versuchte mir einzureden, daß ich diesen Mann gar nicht richtig kannte. Ich versuchte mir einzureden, daß ich ihn nie richtig gekannt hatte. Troy Frantz war ein Rätsel gewesen, als er mein Verbrechen gestand, und er war für mich ein Rätsel geblieben, als ich ihn im Gefängnis aufsuchte. Endlich hatte er mir die Wahrheit erzählt, doch ein Fremder war er immer noch. Und ich dachte, wenn ich kein Mitleid mit ihm empfand, wenn er mich glauben machte, daß er das bekam, was er verdiente, dann fiele es mir leichter, seine Verurteilung und die längere Gefängnisstrafe, die ihn nun erwartete, hinzunehmen. Dann könnte ich ihm einfach den Rücken kehren. Doch als ich im Regen nach Hause fuhr, war mir klar, daß er weder ein Fremder noch ein Rätsel war, daß ich ihn sehr wohl kannte.
Er war einer, der in dem Glauben aufgewachsen war, daß er immer allein auf der Welt sein würde, unverstanden, ungeliebt. Während der Pubertät verliebte er sich hundertmal am Tag, hoffte wider besseres Wissen, jemand würde zurücklächeln. Eines Tages, er war damals zwanzig, lächelte eine Frau zurück. Es war kaum zu glauben, aber wahr. Sie kam ihm vor wie ein Sonnenstrahl. Für ihn stand fest, daß er sie vergrämen würde - schließlich überfiel ihn an manchen Tagen immer noch eine tiefe Schwermut. Doch sie blieb. Sie blieb und beruhigte ihn mit ihrer Heiterkeit und ihrem Balsam, den Liedern. Die beiden unternahmen lange Fahrten entlang der Küste, ohne ein bestimmtes Ziel. Sie fuhren in die Wüste, wo sie unter freiem Himmel übernachteten. Gemeinsam machten sie gern raffinierte Omelettes, lasen sich laut aus Büchern vor. Diese Frau war seine Rettung, und er vergötterte sie, und als sie ihm eröffnete, daß sie ein Kind bekämen, dachte er: Soviel Glück habe ich nicht verdient, das hat niemand. Als nächstes ging es in die Großstadt, sie zogen nach Süden. Der Kofferraum war voller Kinderspielzeug. Eine Zeitlang war es spannend, diese neue Stadt zu erkunden. Die Tage vergingen wie im Flug, und die Nächte waren sogar noch kürzer. Ob sie glücklich waren? Ja, sehr sogar. Und doch war Troy tief in seinem Innersten besorgt. Tief drinnen vermutete, fürchtete, ja wußte er sogar, daß zuviel Neues zu bald und zu schnell passierte. Der Junge braucht eine neue Jacke. Die Frau sieht ständig müde aus. Wir haben zwar eine eigene Wohnung, aber wäre es nicht netter, in einer ruhigeren Straße zu leben? Nicht lange, und er hatte das Gefühl, sich einen Wettlauf mit seinem alten Ego zu liefern, mit seinem jüngeren Ego, und er konnte nicht Schritt halten. Damals, als er noch jünger war, da war es leicht, große Träume zu haben. Heute kam ihm das verstiegen vor. Folglich stellte sich die Frage, was er aufgeben sollte. Sollte er den Wunsch begraben, Künstler zu werden. Sollte er sich statt dessen lieber Gedanken machen, wie er ein neues Auto oder ein Haus bezahlen konnte? Was war wichtiger? Dann kam ein Kälteeinbruch, ein verregneter Winter, der kein Ende nahm. Wie war es dazu gekommen? Früher hatte der Abend nicht genug Stunden gehabt, so gern hatte er ihn mit seiner großen Liebe verbracht, auf einer Matratze hatten sie auf dem Boden gelegen und sich im Dunkeln unterhalten. Auf einmal ging ihnen der Gesprächsstoff aus, wenn sie zusammen waren. Früher einmal hatte der Kleine so zufrieden gewirkt; er war zur Tür gelaufen, wenn Troy nach Hause kam. Auf einmal hatte der Junge nicht einmal mehr Lust, ihn auch nur zu grüßen. Was war da schiefgegangen? Troy hatte keine Ahnung. Wenn der Morgen dämmerte, stromerte er durch die Stadt und dachte: Es wäre so einfach, kurzerhand zu verschwinden. Das war Troy Frantz. Er war kein Fremder für mich, ich kannte ihn. Und wenn man ein paar Fakten veränderte, war ich Troy. Unsere Lebensläufe waren nicht so unterschiedlich. Wäre es falsch zu behaupten, Troys Leben sei lediglich eine düsterere Version meines eigenen? War sein Kälteeinbruch schlimmer? Hatte er sich von einer reißenderen Strömung treiben lassen? War meine Zeit die Abenddämmerung und seine die Mitternacht? Im Grunde hatten wir beide unser Glück verspielt. Wir hatten den Menschen weh getan, die uns am meisten liebten. Unsere Nachlässigkeit hatte tragische Konsequenzen. Mein Sohn lebte zwar noch, doch letztendlich war das wohl kaum mein Verdienst. Troy hatte einem einsamen Jungen Flausen in den Kopf gesetzt und ihn dann während eines Unwetters buchstäblich am Ende der Welt allein auf der Straße stehenlassen. Ich hatte diesen Jungen überfahren und liegenlassen, und später hatte ich so getan, als wäre nichts geschehen. So groß waren die Unterschiede zwischen mir und Troy gar nicht. Wir waren Lügner, ganz einfach, wir machten uns aus dem Staub. Aber Troy hatte sich wenigstens entschlossen, die Wahrheit zu sagen, was ich von mir nicht behaupten konnte. Ich hätte unsere Taten vergleichen und zu dem Schluß kommen können, daß seine Verbrechen schlimmer waren als meine oder daß er die härtere Strafe, die schwerere Buße verdiente. Ich hätte beschließen kön-
nen, daß er ins Gefängnis gehörte und ich nicht. Aber stand mir solch ein Urteil zu? Der Regen prasselte in einem fort auf den Rasen vor meinem Haus und lief in Strömen den Hang hinunter. Die Wassermassen bildeten einen grauen, Halluzinationen erzeugenden Schleier, der den Blick ins Freie verhängte. Es gab kein Entrinnen. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich damals während jener trostlosen Herbstunwetter jemals trocken geblieben wäre. Meine Füße und mein Gesicht waren immer naß, was unter anderem daran lag, daß ich die ganze Zeit das Haus und den Weinkeller vor einer Überschwemmung zu bewahren versuchte. Ich baute einen Damm aus Sandsäcken. Julia blieb einen Tag länger, und gemeinsam errichteten wir eine gewundene Barriere, eine endlose Pyramide aus mit Erde, Schotter und Sand gefüllten Plastikbündeln, die das Wasser um die gefährdeten Steinbauten herumlenkten. Es war schwere Arbeit, die keinen Aufschub duldete. Wir füllten die Säcke, karrten sie zu unserer improvisierten Mauer und warfen sie auf die bereits gestapelten Säcke. Eine mühselige Plackerei war das. Ich verlor den Überblick, wann der Tag begann und aufhörte, wann es Nacht wurde. Manchmal flüchteten wir uns in die Küche und kochten ein wenig Suppe. Doch mir kam es vor, als wäre ich die meiste Zeit draußen und häufte Sandsäcke auf. Mittlerweile hatte die Gärung eingesetzt. Der Most schäumte, und Julia übernahm die weitere Kontrolle. Sie war auf dem Weingut geblieben und behauptete, der Grund sei, sie habe mit ihrer Doktorarbeit aufgehört - was mir neu war - und ohnehin nichts Besseres zu tun, später gestand sie mir, sie habe sich meinetwegen Sorgen gemacht. Außerdem sagte sie, Regen hin oder her, ihr habe dieses Leben gefehlt Wein zu keltern und das Land zu bestellen -, auch wenn es bedeute, sich mit dem Regen herumzuschlagen. Tim war anscheinend ganz zufrieden damit, eine sturmfreie Bude zu haben. Wegen mir kannst du dir ruhig Zeit lassen, sagte er zu seiner Mutter. Er war erwachsen geworden, sagte Julia. »Eigentlich braucht er uns nicht mehr.« »Sieht ganz so aus«, sagte ich. »Ist das gut oder schlecht?« »Keine Ahnung«, antwortete Julia, »was meinst du?« Als uns die Plastikbeutel für Sandsäcke ausgingen, mußte ich in den Ort und Nachschub kaufen. Das war am Donnerstag. Die Weinbergstraße war eine tückisch schmale Piste geworden, weil die Ränder der Straße unterspült und weggebrochen waren oder sich in puren Matsch verwandelt hatten. Auch die Hauptstraße war inzwischen nur noch einspurig zu befahren, und wenn ein Auto entgegenkam, stellte sich die Frage, wer der größere Angsthase war: Wer würde als erster nachgeben, rechts ranfahren und das Risiko eingehen, im Dreck stekkenzubleiben? Ich schaffte es bis zum Eisenwarenladen, stieg über den Damm aus Sandsäcken und ging hinein. Die meisten Regale waren leer. Ich nahm an, daß Hamsterkäufe dafür verantwortlich waren, doch die wenigen Vorräte konnten auch bedeuten, daß eine größere Wanderungsbewegung in den vergangenen Monaten eingesetzt hatte. Viele Bewohner hatten das Tal verlassen. Die Leute gaben auf und liefen davon, auch wenn ich nicht wußte, wohin sie zogen oder was sie an ihrem neuen Ziel machten. Zu meiner Überraschung und meinem Glück hatte Will Clark noch alles, was ich brauchte, vorrätig, und ich war froh, daß sich nur er und Emma Hodges im Laden befanden. Emma Hodges sah mich zwar an, sagte aber kein Wort, und ich redete auch nicht mit ihr. Will Clark gab nur Preise und den Gesamtbetrag von sich, den ich zu bezahlen hatte. Ich hatte beschlossen, auch noch andere Sachen in Reserve mitzunehmen, Taschenlampen, Fackeln und dergleichen, und Will Clark ließ sich nun, wie es schien, übertrieben viel Zeit, um auf die Tasten seiner Kasse zu drücken. Als ich ins Freie kam, wußte ich, warum er so lange gebraucht hatte. Wer es getan hat, werde ich nie erfahren. Ganz sicher weiß ich nur, daß mir weder Emma Hodges noch Will Clark diesen üblen Streich gespielt haben konnten, was aber nicht weiter wichtig war, weil sie auch beteiligt waren und mich aufgehalten hat-
ten, während jemand anders meine Autotüren geöffnet und sämtliche Fenster heruntergekurbelt hatte. Diese Person hatte außerdem Motorhaube und Kofferraum meines Wagens hochgeklappt. Während der zwanzig Minuten, die ich im Laden war, hatte es so heftig geregnet, daß das Wasser im Kofferraum zwanzig Zentimeter hoch stand und die Wagensitze völlig durchweicht waren. Und dann wollte der Motor nicht anspringen. Ich hätte in den Laden zurückgehen können, doch das wäre eine zu große Genugtuung für die anderen gewesen. Und so saß ich in meinem durchnäßten Wagen und wartete eine Weile. Als ich erneut den Zündschlüssel drehte, keuchte und ächzte der Motor, sprang aber immer noch nicht an. Doch da das Keuchen und Ächzen kräftiger gewesen war als bei meinem ersten Versuch, entschloß ich mich, weiter zu warten. Nach einer Stunde sprang der Wagen endlich an, und ich machte mich auf den Heimweg. Ich wollte Julia keine Angst machen und ihr daher lieber nichts von dem Streich erzählen, aber sobald ich mich aus dem Regenumhang und der Jacke darunter, den Stiefeln und Strümpfen geschält hatte, ließ ich mich auf einen Stuhl fallen und plauderte alles aus. »Was für ein Kaff«, murmelte Julia nur; das war ihr einziger Kommentar. Sie stellte sich hinter meinen Stuhl und massierte mir so lange den Hals und die Schultern, bis ich lockerer wurde. Dann brachte sie mir einen Teller mit dicker Bohnensuppe, von der wir einen großen Topf gekocht hatten und den wir nach und nach leerten, einen Teller, eine Scheibe Brot und etwas Wein. »Ich weiß wirklich nicht, was ich in den letzten paar Tagen ohne dich angefangen hätte«, sagte ich. Der Regen prasselte gegen die Fenster beim Tisch. »Lieber bleibe ich hier und halte die Stellung«, antwortete Julia, »als daß ich mir sonst irgendwo um dich Sorgen mache.« Wir aßen schweigend, und dann fragte ich sie, ob sie nicht noch bis zum Ende des Kelterns bleiben könne. »Gern, klar«, antwortete sie, »aber warum willst du das wissen?« »Und meinst du, du könntest gelegentlich mal aufs Weingut kommen und dich um die Reben und Fässer kümmern...« »Jason? Was ist los?« fragte sie. Ich verriet ihr meinen Plan, soweit man von einem Plan sprechen konnte. Da, in diesem Augenblick, an meinem Küchentisch. Ich hatte entschieden, welchen Antrag ich am nächsten Tag beim Gericht einreichen würde. »Das kann ich nicht zulassen«, sagte sie. »Ich hätte es schon längst tun sollen«, entgegnete ich. Julia runzelte die Stirn. »Anders geht es nicht«, sagte ich. »Sieh mal, es ist schon spät«, erwiderte sie. »Du hast einen schlimmen Tag hinter dir. Am besten wartest du bis morgen früh mit deiner Entscheidung. Am besten wartest du noch, und dann reden wir darüber, wenn wir ausgeschlafen haben«, schlug sie vor. »In Ordnung«, sagte ich. »Versprichst du's? Versprichst du mir, daß du vor morgen früh keine Entscheidung fällst?« fragte Julia. »Ich verspreche es«, log ich. Als Julia sich zum Schlafen aufs Sofa gelegt hatte, zog ich mich an den Schreibtisch zurück und arbeitete an meinem Antrag. Ich brauchte mehrere Stunden, um das Konzept zu erstellen, es zu überarbeiten, die Präzedenzfälle und verfahrensrechtlichen Details nachzuschlagen, und schon bald wurde es Morgen, was mir allerdings nicht weiter auffiel, da der Regen den Tagesanbruch verhüllte. Ich duschte und zog mich an. Ich war zu nervös, um etwas zu essen. Als ich aufbre-
chen wollte, schlief Julia noch, träumte beneidenswerterweise etwas, das sie zum Lächeln brachte. Ich küßte sie auf die Stirn und flüsterte auf Wiedersehen. Im Gerichtsgebäude von Hollister wartete ich in einem kleinen grauen Kellerraum auf Troy. Er sah schrecklich aus, als ihn der nette Wärter aus dem Gefängnis hereinbrachte. Troy hatte sich an diesem Morgen zwar rasiert, dabei aber ein paar Ecken übersehen, und die Haare waren durcheinander. Er hatte schon seinen orangefarbenen Gefängnisoverall aus- und den Blazer und die verknitterte Hose angezogen, die er zur Verhandlung trug. Ich nahm an, daß er seit unserer letzten Begegnung nicht mehr geschlafen hatte; seine Augen waren gerötet. Er erwiderte meinen Blick, dann sah er weg, als wäre ich ein Geschworener und ihm gefiele das Urteil nicht, das er in meinen Augen las. Der Aufseher zögerte, ehe er vorschriftswidrig Troys Hand- und Fußfesseln entfernte. Dann nickte er mir zu und ließ uns allein. Troy massierte seine Handgelenke und Unterarme. Ich saß ihm gegenüber und nahm einen Ordner aus meiner Aktentasche. Ich reichte ihm den Antrag mit den Worten: »Ich brauche Ihre Unterschrift, damit ich den hier einreichen kann. Juristisch betrachtet, reichen Sie ihn ein, nicht ich, auch wenn ich ihn aufgesetzt habe.« Troy überflog nur, was oben auf der ersten Seite des langen Dokuments stand. Er schüttelte den Kopf. »Das versteh ich nicht«, sagte er. »Damit beantragen Sie, sich einen neuen Anwalt suchen zu dürfen«, sagte ich. »Lesen Sie den ganzen Antrag durch.« Ich rückte meine Krawatte zurecht. »Sie beantragen, aufgrund einer Amtspflichtverletzung Ihres jetzigen Anwalts den Rechtsbeistand zu wechseln.« Troy sah mich an. »Aber ich habe Sie belogen«, sagte er. »Nein, Troy«, erwiderte ich. »Ich habe auch gelogen.« Er las den Antrag durch. Seine Ohren wurden rot. Sein gesamtes Gesicht wurde rot. Das Dokument war, wie ich gesagt hatte, ein Antrag, den Anwalt wechseln zu dürfen, aber auch mein unterschriebenes Geständnis. Ich begann mit dem Unfall auf der Bergstraße, berichtete weiter, wie ich in Panik geraten und weggefahren war. Ich gestand alles, ließ nichts aus. Troy sah mich nicht an, als er den Antrag gelesen hatte. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Es tut mir sehr leid. Und ich weiß, daß ich damit nicht einmal ansatzweise...« »Raus hier«, sagte Troy. Er atmete schneller. »Das verhilft Ihnen zu einem neuen Rechtsanwalt«, sagte ich. »Der neue Anwalt wird mein Geständnis verwenden, und der Staatsanwalt wird wahrscheinlich nicht einmal mehr die Autodiebstähle verfolgen wollen, denn mehr hat er gegen Sie im Grunde nicht in der Hand. Und die Strafe haben Sie schon abgesessen.« »Die Strafe«, wiederholte Troy. Langsam schüttelte er den Kopf. »Sie haben ja keine Ahnung.« »Ich weiß«, sagte ich. »Es tut mir leid.« »Wie lange dauert das alles?« fragte er. Und da machte ich einen entscheidenden Fehler. Ich hätte vage bleiben und sagen sollen, das ginge vermutlich schnell über die Bühne, doch ich antwortete wahrheitsgemäß und rechnete ihm grob vor, wie lange es dauern würde, bis es zu einem neuen Gerichtsverfahren kam. »Monate?« sagte Troy. »So lange kann ich nicht warten. Ich kann überhaupt nicht länger warten.« »Troy, versuchen Sie...« »Ruhe!« schrie er. »Was soll ich machen?« »Wie gesagt, damit kriegen Sie schließlich...« »Ich hab Ihnen vertraut!« brüllte Troy »Und ich hab Ihnen schließlich die Wahrheit gesagt, und die ganze Zeit...« Daraufgab es keine Antwort. Zu meiner Verteidigung konnte ich nichts anführen, und
ich wußte, daß ihn meine ständigen Entschuldigungen nur noch wütender machten. »Sie waren mein Freund«, sagte ich. »Es tut mir leid, daß ich Sie hintergangen habe.« Troy stand auf. Das Gesicht puterrot, die Hände zu Fäusten geballt. »Wir waren nie Freunde«, sagte er. Er atmete jetzt sehr schnell. »Dafür werden Sie bezahlen«, flüsterte er, und mir lief ein kalter Schauder den Rükken hinunter, was weniger an den Worten als an seiner eiskalten Stimme lag. Ich stand auf und sah ihn an. Ich konnte nichts zu meiner Verteidigung anführen. Ich würde meinen Beruf als Anwalt endgültig an den Nagel hängen, dachte ich. Wahrscheinlich würde man mir sowieso die Zulassung entziehen. Ganz zu schweigen von dem Zivilprozeß, der mir nun bevorstand. War das alles? Vermutlich nicht. »Was passiert jetzt mit mir?« fragte Troy. »Ich versuche Ihnen doch zu sagen...« »Mund halten«, sagte Troy. »Halten Sie bloß den Mund. Ich muß nachdenken.« »Troy«, sagte ich. »Ruhe, verflucht noch mal!« schrie er. Und dann schlug er mit der Faust nach mir. Seine rechte Hand landete an meinem Kinn. Er schlug fest zu. Ich fiel nach hinten auf meinen Stuhl und warf ihn um. Vielleicht war ich ein paar Sekunden lang weggetreten. »Aufseher«, brüllte Troy. Der Ordner mit meinem Antrag war auch zu Boden gefallen, und ich sammelte die Unterlagen schnell auf und schob sie in meine Aktentasche, als ich wieder auf den Beinen war. Das alles geschah sehr schnell. Troys Schlag hatte mein Sehvermögen beeinträchtigt. Wann der Aufseher eintraf, weiß ich nicht genau. Aber ich sah, wie er das Zimmer betrat, eine Hand an seiner Waffe. Und ich sah, daß Troy hinter der Tür stand, hinter dem Aufseher die Tür schloß und ihm blitzschnell auf den Unterkiefer schlug. Der Aufseher fiel rückwärts gegen die Wand. . Troy hatte beide Hände am Hemdenkragen des Aufsehers. Der Raum im Kellergeschoß war nicht vollständig renoviert; an der einen Wand verliefen Rohre über Putz. Troy schleuderte den Wachmann gegen die Rohre. Der Mann griff nach seiner Waffe. Troy hatte den Aufseher am Kragen gepackt und hieb den Kopf des Wachmannes einmal, zweimal wuchtig gegen ein an der Wand verlaufendes Rohr, was genügte, um den Mann bewußtlos zu schlagen. Er fiel schlaff vornüber. Ich eilte zu dem Aufseher und sah, daß sein Hinterkopf blutig war. Als ich ein Ohr an seinen Brustkorb preßte, merkte ich, daß er noch atmete; Troy hatte ihn nicht umgebracht. Und als ich zu Troy aufschaute, sah ich, daß er die Waffe des Aufsehers in der Hand und auf mich gerichtet hielt. »Ich kann nicht mehr warten«, sagte er. »Ich kann es nicht.« »Troy«, flüsterte ich. »Jetzt bin ich am Ende. Völlig am Ende«, sagte er. »Endgültig fertig.« Was seine Freilassung betraf, tat er sich mit dem Angriff auf einen Sicherheitsbeamten keinen Gefallen, das war klar. »Wir hauen ab«, sagte Troy. »Wohin?« fragte ich. »Mund halten, oder ich bring Sie um«, antwortete Troy. Er zog mich hoch und schubste mich vor sich. Er stand dicht hinter mir. Die Waffe drückte er gegen meinen Rücken. »Wir können hier nicht einfach rausmarschieren«, sagte ich mit einer Kopfbewegung in Richtung Waffe.
Troy zog seinen Blazer aus, wobei er ständig die Waffe auf mich gerichtet hielt, und legte dann seine Jacke so über Handgelenk und Hand, daß die Pistole nicht zu sehen war. »Halten Sie bloß den Mund«, sagte er. »Wir können hier nicht einfach rausmarschieren«, wiederholte ich. Doch genau das taten wir. An diesem Vormittag war das Kellergeschoß des Gerichts leer; wir kamen an keiner Menschenseele vorbei. Den am Ende eines schmalen Flures gelegenen Ausgang bewachte ein Mann, der gerade eine Zeitung las und einen Doughnut aß. Hinter dem Ausgang stand der Gefangenentransporter, der Troy ins Gericht gebracht hatte. Dahinter erstreckte sich ein riesiger, weitgehend leerer Parkplatz. Wir gingen zum Ausgang, Troy dicht hinter mir, die Pistole an mein Kreuz gepreßt. Ein Telefon klingelte, und der Wachmann nahm den Hörer ab. Als wir uns ihm näherten, überlegte ich kurz, ob ich etwas sagen sollte, wußte aber, daß Troy dann die Waffe benutzen und in Sekundenschnelle mindestens einer von uns tot sein würde. Der Wachmann sah kurz auf und nickte einmal. Wer auch immer ihn angerufen hatte, brachte ihn zum Lachen. »Winken und verabschieden«, flüsterte Troy. Wir gingen an dem Wachmann vorbei. Ich gehorchte. Wenn man das Gebäude verließ, mußte man durch keinen Metalldetektor gehen. »Wiedersehen«, sagte Troy. Der Wachmann winkte, ohne noch einmal aufzusehen. Wir standen draußen im Regen. Der Regen trommelte auf den Gefangenentransporter. Auf den Asphalt. Auf die wenigen geparkten Autos. »Los, zu Ihrem Wagen«, sagte Troy. Er stieß mich mit der Waffe an. Wir gingen zu meinem Auto, das am anderen Ende des Parkplatzes stand. »Sie fahren«, befahl Troy. Ich setzte mich ans Steuer. Er nahm auf dem Beifahrersitz Platz, die Pistole auf mich gerichtet. Ich ließ den Motor an. »Wohin fahren wir?« fragte ich. An diesem Tag goß es wie aus Kübeln. Ein Unwetter entlud sich, das in die Geschichte einging. Schulen, Universitäten und ganze Autobahnen wurden wegen Überflutung geschlossen. Die Hauptstraßen kleiner Orte wurden weggeschwemmt, von schlammigen Fluten unter Wasser gesetzt. Läden wurden zerstört, Firmengebäude schwer beschädigt und riesige landwirtschaftliche Flächen vernichtet. Der Schaden ging in die Milliarden. Unzählige Menschen mußten evakuiert werden, weil die Schlammlawinen ganze Häuser unter sich zu begraben drohten. Die Schlammlawinen richteten den größten Schaden an. Sie schlossen einen Lkw-Fahrer in seiner Kabine ein, trugen einen Krankenwagen mit sich fort, während die Retter versuchten, eine Frau wiederzubeleben. Sie brachten das Dach eines Supermarktes zum Einsturz. Überall war Schlamm. Als ich mit Troy vom Gericht wegfuhr, machte ich mir mehr Sorgen um die gefährliche Straße als um die auf mich gerichtete Pistole. Ich hielt mit beiden Händen das Lenkrad umklammert und starrte geradeaus. Bestenfalls konnte ich ein, zwei Meter weit sehen. Der Wind hatte aufgefrischt, und der Regen klatschte von allen Seiten gegen mein Auto. Da mich der ständige Richtungswechsel dieser Regengüsse orientierungslos machte, hatte ich keine Ahnung, wohin wir fuhren, außer ganz allgemein in südlicher Richtung. Offenbar wußte Troy, wo wir uns gerade befanden, und er blaffte mir irgendwelche Anweisungen zu und sagte mir, wo ich abzubiegen hatte. Schließlich erreichten wir eine größere Straße, eine Landstraße, auf der nur gelegentlich ein anderes Auto zu sehen war, und nach einer Weile begegnete uns niemand mehr. Ich versuchte mehrmals, mich zu entschuldigen, obwohl ich jedesmal, wenn ich »Sie
wissen ja gar nicht, wie leid es mir tut« sagte, das Gefühl hatte, daß er immer gleichgültiger wurde, als entwerte jede Entschuldigung die vorhergehende, als würde es immer unwahrscheinlicher, daß er mir Absolution erteilte, je mehr ich um Vergebung bettelte. Wir folgten einer Straße, die uns zuerst in einen Wald und dann in die Berge brachte, und ich sagte: »Sie stecken in der Klemme, ich weiß, aber ich glaube, das biegen wir wieder hin.« Endlich machte Troy den Mund auf. Er sagte: »Man kann nicht alles wieder hinbiegen.« Und recht hatte er. Körperverletzung, Ausbruch, bewaffnete Entführung - diese Verbrechen würde man nicht einfach unter den Teppich kehren. Ich fuhr weiter. Minuten später sagte Troy: »Ich wollte doch nur Lauren finden.« Auch das hielt ich mittlerweile für ein Ding der Unmöglichkeit, zumal die Straße immer schmaler und schlechter wurde und die Reifen in jeder Kurve wegrutschten. Ich dachte, entweder würden wir frontal auf einen entgegenkommenden Lkw prallen oder den Abhang hinunterstürzen. »Ich wollte sie bloß finden«, wiederholte Troy. »Bestimmt werden Sie das eines Tages...« »Nein«, sagte Troy. »Das können Sie gar nicht wissen.« »Ich weiß es aber«, antwortete er. Ich hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war oder wo wir uns befanden. Wir hätten seit einer Stunde oder seit Tagen durch die Gegend fahren können. Bestimmt hatte man den Vorfall im Gerichtsgebäude längst bemerkt. Bestimmt war jemandem aufgefallen, daß Troy und ich nicht rechtzeitig im Sitzungssaal erschienen waren, oder jemand war in das Besprechungszimmer gekommen und hatte den Aufseher gefunden. Doch falls wir verfolgt wurden, falls eine Großfahndung nach einem flüchtigen Gefangenen und seiner Geisel lief, merkte ich nichts davon. Ich sah kein anderes Auto im Rückspiegel. Nur Warnungen vor Überschwemmungen und Verkehrshinweise wurden im Radio durchgegeben, das Troy nach einer Weile abstellte. Und so fuhren wir immer weiter in das Unwetter, auf einer unbekannten kurvigen Straße, bei der es sich, so wurde mir nach einer Weile klar, um die Bergstraße handelte. Waren wir wieder unterwegs zu der Stelle, wo sich unser beider Lebenspfade zum erstenmal gekreuzt hatten, zurück zum Unfallort? Ich wußte es nicht, ich fragte nicht. Ich nahm nicht an, daß Troy mich umbringen wollte, hielt es aber für möglich. Man brauchte ihn nur anzusehen: Er war so erledigt, so verloren, wie er an der Autotür lehnte und mich ansah, einen Blick auf die Straße warf, wieder mich ansah. Manchmal schien er zu vergessen, daß er mich mit einer Waffe bedrohte, dann ließ er die eckige Mündung sinken oder richtete sie woandershin, auf das Armaturenbrett; irgendwann fiel ihm seine Rolle wieder ein, und er zielte mit der Pistole auf meinen Hals. Bald gelangten wir zu dem Aussichtsfelsen, dann kamen wir an dem verwünschten Stück Straße vorbei, und wohin ging es weiter? Ich konnte nichts tun als fahren. Ich konzentrierte mich auf die Straße. Plötzlich, bevor wir den Felsen erreichten, näherten wir uns einer der Kurven, die so dicht am Abgrund verliefen, daß die Straße von einem Gerüst aus Stahlträgern gestützt wurde. Darunter lag eine tiefe Schlucht. Als wir dieser Kurve näher kamen, sahen wir aus vielleicht sieben Metern Entfernung, daß die Straße weggebrochen und das Stahlgerüst eingestürzt war. Ich konnte nicht erkennen, ob eine von dem Abhang über die Straße gestürzte Schlammlawine dafür verantwortlich war oder ob der Boden unterhalb der Trägerkonstruktion nachgegeben hatte, aber eigentlich war das auch egal, denn die Straße existierte nicht mehr, und wir mußten umkehren. »O Mann«, sagte Troy.
Ich dachte, er mache sich Sorgen, weil unser Fluchtweg abgeschnitten war, doch dann entdeckte ich, was er sah: Direkt am Rand der Straße, wo die Trägerkonstruktion in den Canyon gefallen war, balancierte ein Auto an der abgebrochenen Straßenkante, ein Auto, das hin- und herwippte, dessen Motorhaube in den Abgrund ragte und dessen rotierende Räder keine Bodenhaftung mehr hatten. Es war nicht zu erkennen, ob die Straße einfach unter dem Wagen weggebrochen war, oder ob der Fahrer zu spät gebremst hatte. Aus der Nähe sah ich, daß hinter dem Lenkrad und auf der Rückbank des Wagens Menschen saßen. Es war eine große, eckige blaue Limousine. Der Fahrer war vornübergesackt, hinten saßen Kinder, die uns panisch zuwinkten. Wir sprangen beide aus dem Wagen. Sofort wurden wir vom Regen durchnäßt, und zwar von einem kalten Regen, so kalt, daß meine Finger im Nu taub wurden. Troy stand neben mir, hielt aber die Waffe nicht mehr in der Hand. Er hatte sie sich in den Gürtel gesteckt, unter sein aus der Hose hängendes Hemd. Er zog mich am Ellbogen und lief zu dem anderen Wagen hinüber. Er rief mir etwas zu, doch der Regen prasselte so laut auf den Asphalt und auf die Felsen, als stünden wir unter einem Wasserfall, daß ich kein Wort verstand. Ich wußte allerdings auch so, was er mir sagen wollte. Das Auto würde jeden Moment in die Tiefe stürzen. Es wippte über dem zerklüfteten Straßenrand hin und her, und mit jeder Bewegung senkte es sich ein wenig weiter in die Schlucht. Eine Frau saß am Steuer. Ihr Kopf lag auf dem Lenkrad; sie war bewußtlos, vielleicht tot. Die Kinder waren Jungen, sie hopsten auf und nieder, wodurch der Wagen noch mehr kippte. Eine heftige Windböe genügte, und der Wagen stürzte dreißig Meter tief in den felsigen Abgrund. Troy bedeutete den Kindern, sich ruhig zu verhalten. Nicht herumzappeln, wollte er ihnen klarmachen, und sie begriffen wohl, daß wir sie retten wollten. Er kroch nahe genug an das Auto heran, daß er ihnen durch Gesten bedeuten konnte, sie sollten die Fenster herunterkurbeln. Troy befand sich auf der dem Abgrund zugewandten Seite des Wagens, ich auf der anderen. Jetzt sah ich, daß keines der Räder Bodenhaftung hatte und der Wagen über der Lücke im Straßenbelag schwebte, und zwar auf der Kardanwelle. Als die Jungen ihre Fenster heruntergedreht hatten, schärfte Troy ihnen ein, sie sollten bleiben, wo sie waren, sich keinen Zentimeter bewegen. Die Jungen reagierten gleichzeitig mit einem furchtsamen Nicken. Troy sah sich das Auto an. Dann winkte er mich auf seine Seite herüber. Ich rief, ich wolle zum Wagen zurück, um ein Seil aus dem Kofferraum zu holen - ich dachte, vielleicht könnten wir die Limousine vom Rand wegziehen -, doch als ich gehen wollte, packte mich Troy am Arm, deutete auf sein Handgelenk und schüttelte den Kopf: Dazu fehlte die Zeit. Ich zuckte die Achseln: Was sollten wir sonst tun? Eins stand fest: Wenn wir zuerst die Kinder hinten rausholten, würde der Wagen in den Canyon stürzen. Und wenn wir versuchten, zuerst die Fahrerin zu bergen, starben die Kinder. Die Motorhaube der blauen Limousine sackte ein paar Zentimeter tiefer, und der Wagen knirschte. Wieder neigte sich das Auto nach vorn, und die Kinder kreischten auf. Die Frau am Steuer, vermutlich die Mutter der beiden, bewegte ein wenig den Kopf. Sie war nicht tot. Wäre sie tot gewesen, hätten wir jeder ein Kind schnappen und den Wagen abstürzen lassen können. Die Regenböen peitschten uns ins Gesicht, ehe sie plötzlich von hinten kamen und uns in Richtung Abgrund trieben. Auf der anderen Seite der Spalte brach ein Stück Straße ab und stürzte in den Canyon. In etwa einer Minute würde der Wagen abrutschen, und alle würden sterben. Ich hatte keine Ahnung, was wir tun konnten, außer zuzusehen. Ich wippte auf den Zehen. Die Arme hatte ich ausgebreitet, als könnte ich den Sturz irgendwie mittels
Telekinese aufhalten. Während ich so dastand und mir die Katastrophe ausmalte, schlich Troy um die Limousine herum und sah sich genau an, wie sie über dem Abgrund hing. Und dann, ehe ich mich versah und ohne ein Wort zu sagen, kletterte er zum linken vorderen Kotflügel und ließ sich vorsichtig auf dem schlammbedeckten Felsen und dem kaputten Straßenbelag unter dem rotierenden Vorderrad nieder. Sein Fuß rutschte zuerst weg, doch dann faßte er Tritt. Es gelang ihm, unter dem Wagen entlangzurutschen, unter den Kotflügel zu kriechen, und irgendwie stand er auf einem Felsvorsprung, wo er sich zu voller Größe aufrichtete, und irgendwie schob er mit aller Kraft, bis er das Auto die paar Zentimeter wieder hochdrückte, die es seit unserem Eintreffen abgesackt war. Troy hatte sich als menschlicher Keil zwischen den linken vorderen Kotflügel und den Hang geklemmt, und offensichtlich hatte er die Limousine soweit stabilisiert, daß sie nicht mehr rutschte, wenigstens im Moment nicht. Die Schwerkraft arbeitete gegen uns, aber er hatte uns ein wenig zusätzliche Zeit verschafft. Troy ächzte auf. Ich sah, wie sehr er sich anstrengen mußte. Und für mich stand nun fest, was ich zu tun hatte. Wir mußten diese Aufgabe Schritt für Schritt angehen. Sehr vorsichtig, sehr langsam öffnete ich die linke, hintere, der Schlucht zugewandte Tür des Fahrzeugs, und als ich sie öffnete, wies ich gleichzeitig den Jungen auf der anderen Seite des Wagens an, vorsichtig seine Tür aufzumachen und auf die Straße zu klettern. Der Junge gehorchte. Er war der Ältere von beiden und begriff anscheinend, daß wir den Wagen nicht aus dem Gleichgewicht bringen durften. Als er ausstieg, zog er seinen Bruder über den Rücksitz hinter sich her. Ich stieg ins Auto. Die Limousine kippte nach vorn und knarrte. Ich hörte Troy ächzen. Das Auto neigte sich. Die Frau auf dem Vordersitz rührte sich und murmelte etwas. Als ich sah, daß die Jungen beide draußen im Freien waren, bedeutete ich ihnen durch ein Nicken, sie sollten sich ein Stück vom Auto entfernt in Sicherheit bringen. Zentimeterweise rutschte ich in die Mitte des Rücksitzes. Der Wagen bewegte sich nicht. Es hatte funktioniert. Ich fing an zu lachen, weil ich nicht glauben konnte, daß der Wagen nicht wackelte, und vermutlich weckte mein Lachen die Frau hinter dem Steuer. Sie lehnte sich zurück, ruckte mit dem Kopf und stöhnte auf. Ihr Gesicht war blutüberströmt. Sobald ich im Auto saß, pochte mein Herz wie wild, weil ich wußte, daß der Wagen jeden Augenblick abrutschen konnte, und dann würden die Frau und ich mit in die Tiefe gerissen werden. Jetzt kam es auf jede Sekunde an. Ich kippte den Beifahrersitz nach vorne, beugte mich hinüber und schob erst eine, dann die andere Hand unter die Schultern der Verletzten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie die Augen geöffnet und schien zu begreifen, was ich von ihr verlangte. Ich zog an ihrem Oberkörper, und sie schob mit den Füßen und dem letzten Rest ihrer Kraft, bis ich sie ganz nach hinten gewuchtet hatte. Wieder knarrte das Auto und wackelte stärker als zuvor. Der ältere Junge tauchte auf der der Schlucht zugewandten Seite auf und zog an den Beinen seiner Mutter, zerrte sie ins Freie. Und auf einmal war die Frau draußen, stand zuerst, dann kroch sie auf Händen und Knien vom Abgrund weg, und ich war allein auf dem Rücksitz. Ich machte mich darauf gefaßt, mit dem Auto jeden Augenblick in die Schlucht zu stürzen. Wieder hörte ich Troy ächzen. Ich rutschte über den Rücksitz, stellte beide Füße auf die Erde, stand vorsichtig auf und befand mich wieder im Regen, im kalten böigen Regen. Die verletzte Frau lag auf der Straße, die Kinder schmiegten sich an sie. Sie waren in Sicherheit.
Wundersamerweise hielt das Auto mit seinen rotierenden Rädern das Gleichgewicht. Ich kroch zur Vorderseite des Wagens und zu Troy, der seine Stellung hielt. Er war vom Schlamm und Regen durchweicht. Troy schaute zu mir hoch. Unter dem nassen Hemd zeichneten sich deutlich die angespannten Armmuskeln ab. Ich lächelte ihm zu. Als Zeichen, daß die Familie in Sicherheit war, hielt ich einen Daumen hoch. Ich kniete mich neben dem Wagen nieder, so weit vorn wie ich konnte, ohne vom Asphalt weg den Hang hinunterzurutschen. Dann streckte ich die Hand aus. Troy versuchte, sie zu ergreifen, doch als er den rechten Arm bewegte, neigte sich das Auto wieder nach unten. Wenn er meine Hand packte, mußte der Wagen auf ihn stürzen. Ich versuchte, mich zu strecken, und er versuchte noch einmal, meinen Arm zu pakken, doch der Wagen sackte nach unten. Er sah mich an, und ein seltsames verdutztes Lächeln überzog sein Gesicht. Troys rechter Fuß rutschte auf dem matschigen Untergrund ab. Ich brüllte seinen Namen. Er sah mich wieder an, mittlerweile verlor auch sein linker Fuß den Halt, und die braunen Augen waren völlig schwarz. Das Auto kippte nach vorne. Zuerst stürzte es direkt auf ihn, begrub ihn unter sich, zerdrückte ihn. Dann glitt der Wagen vorwärts und riß eine Lawine aus Steinen, Asphalt und Schlamm mit sich. Er stürzte in die Tiefe, überschlug sich einmal in der Luft, überschlug sich noch einmal, bis er schließlich mit der Motorhaube voran in die Schlucht fiel, Troy mit sich reißend. Falls der Aufprall Krach machte, falls es eine Explosion gab ich hörte nichts dergleichen. Falls Troy noch ein letztesmal aufschrie - ich hörte es nicht. Ich hörte immer nur den Regen, der um mich her auf die Erde prasselte. Ein Mann war tot, eine Familie gerettet. Und es regnete immer weiter, in einem fort, ohne Unterlaß. Es regnete, und es regnete, und es regnete. Während meines letzten Herbstes im Tal streifte ich manchmal durch den Wald, der an meinen Weinberg grenzte, und dabei verlief ich mich immer wieder aufs neue. Ich hatte kein festes Ziel, wollte einfach auf andere Gedanken kommen und bog ein paarmal nach Lust und Laune ab. Minuten später wußte ich nicht mehr, wo ich mich befand. Die Bäume hätten mir bekannt vorkommen müssen, jede alte Eiche unterschied sich von der daneben, doch aus irgendeinem Grund sahen sie alle gleich aus. Von allen Stämmen blätterte die gleiche graue Borke ab. Alle neigten sich in dieselbe Richtung. Alle Hänge und trockenen Bäche sahen gleich aus, alle düsteren Gassen zwischen den Bäumen. Irgendwann fiel der Regen als undurchdringlicher Nebel, und ich ließ mich gegen einen Baumstamm fallen und blieb dort auf dem feuchten Waldboden sitzen. Ich wartete darauf, daß der Nieselregen nachließ, damit die Sonne durch die Wolken brechen und mir ein wenig die Richtung weisen konnte. Schließlich raffte ich mich auf und erreichte irgendwann eine mir bekannte Lichtung, eine kahle, mit schilfartigem Gras bestandene Stelle, dann einen anderen mir geläufigen Orientierungspunkt, einen einsamen Pfefferbaum, ein Stück Zaun oder die Überbleibsel eines Schuppens, und so fand ich wieder nach Hause. Ich war schon so oft in meinem Leben in diesem Wald spazieren gewesen, doch damals im Herbst war er mir fremd geworden, eine Wüste aus wanderndem Sand, immer in Bewegung. »Da bist du ja«, sagte Julia gewöhnlich, wenn ich endlich wieder nach Hause kam. Sie war im Weinkeller damit beschäftigt, den jungen Wein in Fässer umzufüllen, und machte sich allein an den Schläuchen und schweren Eichenbehältern zu schaffen. »Da bin ich«, antwortete ich. Ich sah ihr bei der Arbeit zu. Ich hatte nicht den Wunsch, ihr zu helfen. »Hast du dich wieder im Wald verlaufen?« fragte sie mich. Ich nuschelte etwas. »Hat jemand angerufen«, fragte ich. »Nein«, meinte Julia.
»Niemand ist mit einem Haftbefehl vorbeigekommen«, sagte ich. »Ich enttäusche dich nur ungern«, sagte sie. Mit dem Handrücken rieb sie sich über die Nase. Sie versiegelte ein Faß, ehe sie zu mir hochsah. »Was ist?« fragte sie. »Ich höre eine Sirene«, antwortete ich. In diesem Jahr hörte ich pausenlos näher kommende Sirenen. »Gar nicht wahr«, sagte sie. »Hältst du das mal eben?« Ich nahm ihr den Schlauch ab und hielt ihn, bis sie soweit war, ein neues Faß mit Wein aus dem Tank zu füllen. »Könntest du das Faß für mich geradehalten?« fragte sie. Ich packte das Faß wie ein Kalb, dem wir ein Brandzeichen verpassen wollten. So zog mich Julia zur Arbeit im Weinkeller und in der Küche heran - und band mich in ein Leben ein, an dem ich nur widerstrebend teilnahm. In jenem Herbst sorgte sie für mich, blieb auch nach dem Keltern noch auf dem Gut. Jeden zweiten Tag fuhr sie nach Berkeley, um nach Tim zu sehen, und dann zurück aufs Weingut. Tim war mit diesem Arrangement durchaus einverstanden; genau davon träumte ein Junge in der Oberstufe der High-School, ein Haus für sich allein, keine Eltern weit und breit. Und als die Zeit gekommen war, zu der offiziellen Untersuchung der damaligen Vorkommnisse im Kellergeschoß des Gerichtsgebäudes nach Hollister zu fahren, begleitete mich Julia. »Du traust mir nicht«, stellte ich fest. »Wenn du recht hast, hast du recht«, sagte sie. Sie wußte, daß ich Troy im nachhinein Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte. »Rühre nicht daran«, sagte sie. »Du kannst doch nichts ändern.« »Ich habe Fehler gemacht«, entgegnete ich. »Das brauchst du dir nicht anzutun. Man wird dir die Zulassung entziehen, das weißt du doch. Man könnte dich anklagen. Die Montoyas würden dich auf jeden Fall verklagen, und sie könnten seelische Grausamkeit geltend machen...« »Das weiß ich.« »Laß es sein«, sagte Julia. »Denk an die Zukunft.« »Ich kann nicht«, sagte ich. »Ich kann nicht nach vorn blicken.« Im Gericht bewegten wir uns durch eine Reihe grauer Flure. Ich hatte gedacht, wir würden uns die gesamte Verhandlung anhören, doch in diesem Fall war ich nicht Anwalt, sondern Zeuge, und durfte daher nur zu meiner Aussage im Sitzungssaal erscheinen. Bis es soweit war, saßen Julia und ich auf einer Bank vor dem Saal, in dem sich ein Untersuchungsausschuß mit der Sicherheitslücke im Gerichtsgebäude befaßte. Wir lasen gerade eine Zeitung, als Mrs. Montoya und ihr Anwalt am Ende des Ganges auftauchten. Ich beobachtete, wie Mrs. Montoya mit großen Schritten auf uns zukam. Als sie mich bemerkte, wickelte sie sich ihren schwarzen Schal enger um den Hals. Ihr Anwalt bemühte sich, sie vor mir abzuschirmen, doch ich bot ihr meinen Platz auf der Bank an, den sie auch annahm. Die Falten in ihrem Gesicht waren noch tiefer als bei unserer letzten Begegnung. Ihre grauen Haare hatte sie schwarz gefärbt, was sie - bei ihrem hellen Teint - noch zerbrechlicher erscheinen ließ. Wir sahen einander wohl eine Minute lang an, ehe sie das Wort ergriff, und bei Mrs. Montoyas Anwalt wie bei Julia bemerkte ich den gleichen besorgten Gesichtsausdruck. Bei beiden besagte er: Zieht einen Schlußstrich. »Ich bin froh, daß er tot ist«, sagte Mrs. Montoya. Ich schwieg. »Der Mann, der meinen Sohn getötet hat, ist tot«, sagte sie. »Er ist tot. Es ist zu Ende. Es ist vorbei.« Nein, der Mann, der deinen Jungen getötet hat, ist nicht tot. Julia rückte näher an das Ende der Bank. »Endlich habe ich Frieden«, fuhr Mrs. Montoya fort und hustete. »Ich habe Frieden«,
wiederholte sie. »Ruhe und Frieden«, und dann sah sie weg. Sie hatte Frieden, sie hatte Ruhe gefunden, und warum sollte ausgerechnet ich ihr das wieder nehmen? Das konnte ich nicht. Wieder einmal hielt ich den Mund. Und vielleicht geschah es erneut aus Feigheit, oder vielleicht begriff ich auch, was meine Exfrau, meine alte Freundin, mir riet, oder vielleicht glaubte ich auch nur, daß es so am besten für eine Mutter war, die ihren Sohn verloren hatte... oder vielleicht trafen alle diese Gründe zu, denn als man mich in den holzgetäfelten Raum brachte, wo der aus vier Männern und zwei Frauen bestehende Ausschuß an einem langen Tisch saß und mich um meinen Bericht der fraglichen Ereignisse bat, erzählte ich ihnen, was sie hören wollten, nämlich die ihnen schon bekannte Geschichte, ohne Ausschmückungen, eine so einseitige Wahrheit, daß sie eher einer Lüge gleichkam. Als man mich am Ende meiner Aussage fragte, ob ich noch etwas hinzufügen wollte, beugte ich mich auf meinem Stuhl vor, und obwohl ich wußte, daß man meine Bemerkungen wohl als reine Gefälligkeitsaussage von Troys ehemaligem Rechtsanwalt abtun würde, machte ich jedem Anwesenden klar, daß Troy Frantz am selben Tag, als er einen Aufseher schwer zusammengeschlagen und mit Waffengewalt eine Geisel genommen hatte, außerdem drei Menschen vor dem sicheren Tod gerettet und dabei sein eigenes Leben verloren hatte. Nicht daß das jemanden interessiert hätte, aber wenigstens sagte ich es. Julia wartete, bis wir wieder im Auto saßen und auf der Heimfahrt waren, ehe sie mich fragte, was ich dem Ausschuß erzählt hatte. »Ich kann es immer noch nicht fassen«, antwortete ich, »daß niemand meinen Antrag in der Aktentasche gefunden hat. Ich habe die Aktentasche an dem bewußten Morgen auf dem Tisch liegenlassen.« Man hatte sie mir zurückgegeben, und mein kurzes Geständnis steckte ordentlich mittendrin. »Jeder hätte meine Unterlagen durchsehen können.« »Jason«, sagte Julia. »Das will mir einfach nicht in den Kopf.« »Jason, was hast du ihnen gesagt?« »Ich habe getan, was du von mir verlangt hast«, antwortete ich. »Ich habe einen Schlußstrich gezogen.« Und irgendwie mußte das Leben ja weitergehen. Julia wollte erst einmal auf dem Weingut bleiben; alles in allem sei sie dort glücklich gewesen, meinte sie. Mich freute dieser Entschluß, und so richtete sie sich im Gästezimmer ein, kaufte eine Kommode und einen Schreibtisch, einen gebrauchten Schrank und ein Gestell für einen Futon. Eine Weile schien sie zufrieden zu sein, wenigstens solange ich bei ihr war. Julia wohnte auch noch im darauffolgenden Winter, als ich das Oak Valley bereits verlassen hatte, in dem alten Steinhaus. Sie nahm mit unserem ersten, mittlerweile trinkfähigen Jahrgang an allen möglichen Wettbewerben teil, bei denen unser Cabernet regelmäßig lobend erwähnt wurde. Preisrichter ordneten dem Wein Aromen wie »Eukalyptus«, »Vanille« und »Veilchen« zu. Da wir Geld brauchten, verkaufte sie diesen Jahrgang zu einem guten Preis an einen Großhändler; das gleiche tat sie im nächsten Jahr. Unterdessen kümmerte sie sich um die Reben, brachte noch eine Lese ein und zog den nächsten Jahrgang auf Flaschen. Sie blieb zwar viel länger auf dem Gut, als ich gedacht hätte, sehnte sich aber erwartungsgemäß wieder nach der Stadt, und außerdem brauchte sie ein regelmäßiges Einkommen. Und so dachte sie sich einen Plan aus, der nicht funktionieren konnte - ein paar Monate im Jahr wollte sie für ein Kunstmuseum Sponsorengelder beschaffen, und an den Wochenenden sowie im Sommer und Herbst den Weinberg bestellen. Doch es klappte nicht. Irgendwann fuhr sie gar nicht mehr auf das Weingut, und da auch ich nicht mehr dort wohnte, stand das Haus wieder leer. Julia und ich telefonieren heute viel miteinander - sie hat inzwischen einen neuen Job gefunden und ist in den Südwesten gezogen - , allerdings reden wir wenig über die Menschen, die wir kennenlernen, über unsere sporadischen Liebesbeziehungen.
Diesen Aspekt behalten wir für uns. Doch sie bleibt meine Vertraute und ist schließlich die Mutter meines Sohnes. Tim sehe ich nicht annähernd so oft, wie es mir lieb wäre, aber irgendwie lassen wir drei den Kontakt zueinander nicht abreißen, eine Familie in der Diaspora. Tim besucht mittlerweile eine Universität im Osten - er hat sich für Julias und meine Alma mater entschieden - , und wir schicken uns wöchentlich E-Mails. Hoffentlich können wir beide später einmal eine gemeinsame Reise machen, nur mein Sohn und ich. Auf einem Floß den Fluß hinunterfahren oder uns irgendwo in einer abgelegenen Hütte verkriechen. Ich will nichts Besonderes mit ihm machen, nur tagelang mit ihm reden. Ein Festessen kochen, einen alten Film ansehen. Vermutlich will ich seine Freundschaft erringen - und, als Freund, sein Vertrauen - , aber daß ich sie bekomme, halte ich nicht für selbstverständlich. Ich sehne mich danach, daß zwischen uns beiden eine gewisse Lockerheit entsteht, doch bis es soweit ist, können noch Jahre vergehen. Zurück zu meinem letzten Herbst im Tal: Der neue Wein war gekeltert, Julia war in das alte Steinhaus gezogen, und ich unternahm lange Wanderungen in die umliegenden Wälder, wobei ich mich ständig verlief, bis ich allmählich glaubte, nicht mehr ins Tal zu gehören. Eines Tages sagte ich schließlich zu Julia: »Ich kann hier nicht bleiben.« »Wo willst du hin?« fragte sie. Ich wußte es nicht. »Was hast du vor?« Das wußte ich auch nicht. Ich würde meine noch anhängigen Fälle abschließen und keine neuen mehr annehmen. Zu Beginn des neuen Jahres würde ich aufbrechen, und zwar nach Norden. »Ich warte hier auf dich«, erklärte Julia, eine angenehme Vorstellung, obwohl ich wußte - und ich sollte recht behalten -, daß sie es nicht so lange hier aushalten würde. Bevor ich aus Oak Valley verschwand, machte ich noch eine Fahrt, einen Abstecher zu den Ruinen und landete schließlich auf dem Weingut, wo die Zypressen den Gärbehälter im Halbkreis umstanden. Die Bäume waren mittlerweile groß, stämmig, dicht belaubt und sehr grün, und die verbliebenen Mauern des alten Gebäudes waren allesamt eingestürzt. Unkraut, Gras und dichtes Buschwerk hatten das Fundament überwuchert. Eventuell sah man noch, daß hier einmal ein Haus gestanden hatte, aber nicht unbedingt. Der eine oder andere Dachziegel, ein Klumpen Putz - mehr war nicht übriggeblieben. Und ich dachte, falls zufällig ein Fremder auf diese Lichtung stieß, würde er wahrscheinlich eine Reihe schöngewachsener Bäume sehen, eine grüne Oase inmitten einer staubigen braunen Landschaft, weiter nichts. Ich begriff das nicht. Es ergab alles keinen Sinn. Warum war Troy Frantz an diesem Vormittag in die Schlucht gestürzt und nicht ich? Wogen seine Verbrechen schwerer als meine - mußte er darum sterben, und ich durfte weiterleben? Ich beneidete ihn, weil er als Held gestorben war. Ich beneidete ihn, weil er gewußt hatte, was zu tun war, und das ohne langes Überlegen auch getan hatte. Er hatte die Familie gerettet und war dabei ums Leben gekommen. Das alles ergab keinen Sinn. Er war vermutlich aus dem Teufelskreis ausgebrochen, von dem er gesprochen hatte, aus dieser Spirale der Verzweiflung. Mit seiner letzten Tat hatte er sich selbst bewiesen, daß er ein anderer geworden war, daß er selbstlos war, wenn auch nur ein paar Minuten lang. Es war ihm gelungen, von einem Zug zu springen, der immer dieselbe Runde drehte, während ich und alle anderen unentwegt auf denselben Gleisen dieselbe Schleife fahren. Wir durchleben Dürren, dann Überschwemmungen, gefolgt von neuen Dürren. Erst wird angebaut, dann geerntet, dann wieder angebaut. Wir machen Wein, wir lassen ihn reifen, wir trinken ihn, wir machen neuen Wein. Wir wenden die Gesetze an: Ein Verbrecher wird bestraft, dann wieder in die Gesellschaft entlassen; woanders wird ein neues Verbrechen begangen. Wir verlieben uns,
die Liebe vergeht. Wenn wir Glück haben, verlieben wir uns wieder, oft in denselben Menschen, dem unsere törichte Leidenschaft galt. Und so geht es immer weiter, bis eines schönen Tages etwas geschieht und wir aus unserem Trott gerissen werden. Aber Troy hätte für die Freiheit nicht mit dem Leben bezahlen dürfen. Er hätte eine neue Chance bekommen müssen. Die haben wir alle verdient, und ich werde nie begreifen, nie verstehen, warum ich sie immer wieder erhalte und sie diesem Mann versagt geblieben ist. Als ich das Tal verlassen hatte, mußte ich oft an Troy denken und auch an Craig Montoya. Mit jedem verband ich andere Gefühle und Bilder. Bei Troy sah ich vor meinem geistigen Auge Gewitterwolken, die sich vor der Küste ballten, so daß sich der Himmel am hellichten Tag verfinsterte. Es war, als ob man sich an nahestehende Menschen erinnerte, die gestorben sind: Man kann sie weder sehen noch mit ihnen reden, weshalb man sich bei ihnen für das, was man ihnen angetan hat, nicht mehr richtig entschuldigen kann. Wenn man nach ihrem Ableben seinen Frieden mit ihnen schließt, hat das irgendwie etwas Verlogenes. Deshalb sah ich Sonne und Licht, wenn ich an Craig dachte, auch wenn das wahrscheinlich seltsam erscheinen mag. Es war, als lebte er in den fremden Menschen weiter, denen ich unterwegs begegnete. Ich hatte das Gefühl, daß er gegenwärtig war. Beispielsweise ließ ich mich etwa ein halbes Jahr nach meiner Abreise aus dem Tal in einem Ferienstädtchen am Meer ganz im Norden Kaliforniens nieder, wo ich in einer nur im Sommer geöffneten Buchhandlung arbeitete. Eines Nachmittags ging ich an den Strand, legte mich auf ein Badetuch in den Sand und schlief ein. Ich wachte davon auf, daß zwei Jugendliche, die neben mir standen, die Sonne verdeckten. Sie waren vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt; einer war blond, der andere dunkelhaarig. Beide hatten Neoprenanzüge an, und jeder trug ein langes weißes Surfbrett unterm Arm. Der Blonde fragte mich höflich, ob ich auf ihre Sachen aufpassen würde, während sie surften - mit Sachen meinte er einen Stapel Schlüssel, Brieftaschen, Handtücher und Tuben mit Sonnenschutzmittel. Das kam mir einigermaßen überflüssig vor, weil wir drei die einzigen Menschen am Strand waren, aber ich kam dieser leichten Aufgabe nur allzugern nach. Die beiden machten sich in die Wellen auf - es waren Anfänger, noch ein wenig wacklig auf den Brettern. Etwa eine Stunde lang vertrieben sie sich die Zeit damit, in Richtung Ufer zu gleiten, in die Gischt des Pazifiks zu fallen und anschließend wieder aufs Meer hinauszupaddeln. Ich behielt ihre Siebensachen im Auge. Als sie fertig waren, kamen sie wieder zum Strand, und wir unterhielten uns ein Weilchen über ihr Wellenreiten, und dann waren sie weg. Es klingt albern, ich weiß, aber ich war für diese Stunde so dankbar, so begeistert darüber, und dann so allein, als die Jungen verschwunden waren. Und doch war ich nicht ganz allein. Während der nächsten Stunde, die ich noch am Strand verbrachte, dachte ich, daß mich jemand von der Steilküste aus beobachtete; jemand, den ich nicht sehen konnte. Ein anderer junger Mann war bei mir, hockte in einiger Entfernung und ließ mich nicht aus den Augen, lächelte vielleicht. Das soll aber nicht heißen, daß ich ein Gespenst oder so etwas sah. Ich wußte einfach, daß Craig irgendwie anwesend war, als ich mich in der albernen, simplen Freude sonnte, daß mir diese fremden Jugendlichen vertrauten, während sie surften. Craig war dabei und verzieh mir vielleicht... ich weiß es nicht und will es auch nicht überbewerten. Jedenfalls war er da. Doch andererseits weilte Craig nicht mehr unter uns, eigentlich existierte er gar nicht - und das Gefühl, daß mir Vergebung zuteil wurde, war nicht von Dauer und bestenfalls abstrakt. Wie konnte ich überhaupt erwarten, daß mir jemand vergab? Und wer? Der Sommer zog vorüber, und ich wurde immer unruhiger. Ich machte lange Spaziergänge, kam aber nicht auf andere Gedanken. Selbst wenn ich abends Wein trank, konnte ich mich nicht entspannen. Meine Rastlosigkeit nahm zu, und so kündigte ich in der Buchhandlung und zog noch weiter die Küste hinauf, bis ich ein ande-
res ruhiges Städtchen fand, wo ich wieder in einer Buchhandlung arbeitete und über einem Geschäft wohnte, das Bootszubehör verkaufte. Ein paar Monate vergingen, und wieder wurde mir unbehaglich zumute, weil mein Leben in Routine erstarrte. Und wieder zog ich weiter. In einem anderen Ort wurde ich Tischlergehilfe; ich lernte, wie man Vitrinen und Tische baut. Im nächsten Städtchen arbeitete ich in einem Reisebüro. Oder war mein nächster Job der in dem Sportladen in einer überdachten Tennisanlage? Die Orte, die Jobs wurden austauschbar. Ein Bekleidungsgeschäft, ein Blumenladen. Ich verdiente nie viel Geld, schickte aber ungefähr zehn Prozent meiner Einkünfte in bar anonym an Mrs. Montoya. Wo ich auch lebte, ich blieb ein Fremder. Das ging zwei Jahre so. Schließlich war ich im Staat Washington in einem ehemaligen Fischerdorf am Meer gelandet, arbeitete in einer nahe gelegenen Bibliothek und war wieder einmal kurz davor weiterzuziehen, als mir klar wurde, daß meine Wanderschaft selbst zu einer Art Routine geworden war. Das Sichtreibenlassen war zu vertraut und zu leicht geworden. Und da wußte ich, daß ich nicht weiterziehen konnte. Ich mußte ein paar wichtige Entscheidungen treffen, und die einfachste war, nach Oak Valley zurückzukehren und den Weinberg zu verkaufen, da Julia nicht mehr dort wohnte. Zwei Wochen nachdem ich diesen Entschluß gefällt hatte, machte ich mich wieder gen Süden auf. Ich fuhr den ganzen Tag lang - durch die winterlichen Wolkenbrüche kam ich nicht besonders schnell voran -, und ich schlief in dem erstbesten Motel, das ich nach Einbruch der Dunkelheit fand. Eines Nachmittags, als ich gerade meine letzte Etappe ins Oak Valley zurücklegte, irgendwo auf der Straße zwischen San Jose und Hollister, schaltete ich mein Autoradio an und hörte Musik. Die Stimme gefiel mir; es war eine melancholische und traurige Altstimme, und so hörte ich das Lied zu Ende, um den Namen der Sängerin zu erfahren. Wenn sie tiefe Noten sang, klang das wie das tiefe Seufzen eines Cellos, und im hohen Stimmbereich mußte ich daran denken, wie Gelächter durch eine Schlucht hallt, dabei den Klang verändern kann und sich am Ende ziemlich unheimlich, beinahe dissonant anhört. Der Song handelte von Liebeskummer, und doch hatte die Stimme dieser Sängerin etwas Leichtes, Schwebendes; mit anderen Worten, wie ihre Stimme eine Liedzeile mit der nächsten verschmolz, weckte Hoffnung, trotz des traurigen Textes. Als der Song beendet war, verkündete der Sprecher im Radio, diese Frau trete am selben Abend in einem Club in Salinas auf, der Talente aus der Gegend unterstützte. Sie habe noch kein Album auf dem Markt, doch der DJ war sich sicher, daß es nicht mehr lange dauern könne. Und dann nannte er ihren Namen, und mir wurde schwindlig, ich bekam Ohrensausen. Ich mußte den Fuß vom Gas nehmen, den Blinker betätigen und rechts ranfahren. Die Sängerin hieß Lauren Frantz. Ich fuhr nicht bis nach Oak Valley, sondern nach Salinas. Ich suchte mir ein Motel und versuchte zu schlafen, bis es Zeit war, den Club aufzusuchen, der sich als verrauchte Spelunke an einer Landstraße außerhalb der Stadt entpuppte. Ich setzte mich auf einen Barhocker und bestellte einen Hamburger und ein Bier. Nur wenige Zuhörer waren gekommen. Sie saßen an ein paar kleinen Tischen verstreut mit Sicht auf das Podium. Gerade sangen zwei Männer ein sentimentales Lied. Als sie fertig waren, klatschte das Publikum. Ein Conferencier sagte noch zwei Folksänger an. Die Freunde der Künstler erkannte man am lauten Beifallklatschen. Und dann sagte der Conferencier Lauren Frantz an. Der Beifall war wohlwollend, aber spärlich. Ich konnte überhaupt nicht klatschen. Meine Hände waren taub, lagen schwer auf meinem Schoß, mein Herz pochte. Sie war eine kleine Frau, die fast ganz hinter ihrer Gitarre verschwand, als sie hinter dem Mikrofon auf einem Hocker Platz nahm. Sie sang das Lied, das ich aus dem Radio kannte. Weil ihr einzelne Strähnen ständig ins Gesicht fielen, mußte sie sich
die Haare immer wieder hinter die Ohren streichen. Beim Singen blickte sie starr geradeaus, sah keinen direkt an. Als der Song zu Ende war, klatschte das Publikum lauter Beifall als bei den anderen Künstlern. Lauren trug noch eine Ballade vor, die zwar eine Spur heiterer als die erste, aber immer noch schwermütig war. Ihr drittes Lied brachte sie a cappella zum Vortrag, und während sie sang, hielt ich den Atem an. Sobald sie fertig war, lächelte sie und verbeugte sich vor dem dankbaren Publikum, eilte dann von der Bühne, und ein Trio nahm ihre Stelle ein, eine Frau und zwei Männer. Ich folgte ihr, als sie sich durch den Club bewegte. Sie unterhielt sich kurz mit einem Mann, der ihr etwas sagte, was sie zum Lächeln brachte. Dann ging sie zur Bar, nahm die Glückwünsche einiger Leute entgegen, setzte sich und bestellte sich ein Bier. Ich saß drei Hocker weiter und bemühte mich, sie nicht zu auffällig anzustarren. Schließlich zog sie sich einen billigen Mantel über, dessen Ärmel sie einmal umgeschlagen hatte. Sie nahm ihren Gitarrenkasten und ging zur Tür. Ich folgte ihr nach draußen. »Lauren«, rief ich ihr nach. Sie drehte sich um, stellte den Gitarrenkasten ab. Sie sah überhaupt nicht so aus, wie ich es erwartet hatte. Ich hatte wohl eine blonde, zerbrechliche, blutarme, schreckhafte Frau erwartet, aber sie war dunkelhaarig wie Troy, allerdings lange nicht so blaß wie er. Ich hatte den Eindruck, daß ihre Haare früher einmal rotbraun gewesen waren - hatte mir das nicht Troy erzählt? - , weil ich im Licht noch hier und da rote Reflexe entdeckte. Sie hatte ein breites Armband aus Angelködern um, trug silberne Ringe an beiden Händen und ein Paar staubige Cowboystiefel. Sie wartete, daß ich etwas sagte. »Ihre Musik hat mir wirklich gefallen«, sagte ich. »Danke schön«, sagte sie. »Vielen Dank.« Ihre Sprechstimme war tiefer als ihre Singstimme, vielleicht eine halbe Oktave tiefer. »Der letzte Song war der beste«, fuhr ich fort. »Na ja, eigentlich haben mir alle gefallen.« Ich trat einen Schritt zurück. Mir fehlten die Worte. Oder es gab so viel zu sagen, daß ich nicht wußte, wo ich anfangen sollte. Lauren lehnte sich gegen den Türpfosten. Als jemand den Club betrat, ging sie beiseite und hob ihre Gitarre wieder auf. »Das freut mich«, sagte sie. »Morgen abend singe ich wieder hier«, fuhr sie fort, »sagen Sie's also Ihren Freunden weiter.« »Das mach ich bestimmt«, sagte ich. Sie nickte zum Abschied und verließ den Club. Ich blieb noch eine Nacht in meinem Motel. Von Westen zog ein Unwetter auf. Als ich am nächsten Abend wieder zu dem Club fuhr, regnete es immer noch heftig. Das Programm war mit dem vom Vorabend identisch, die Reihenfolge der Künstler, was sie sangen. Doch diesmal wußte ich, wer Lauren war, und von meinem Platz an der Bar aus beobachtete ich, wie sie ankam, ihren Mantel ablegte und die Gitarre stimmte. Sie sang dieselben Lieder. Das Publikum war wohlwollend, aber nicht so laut wie am Vorabend. Sie nahm wieder an der Bar Platz, und diesmal setzte ich mich zu ihr. »Hallo«, sagte ich. Anscheinend erkannte sie mich nicht wieder. »Ich war gestern abend hier«, erinnerte ich sie. »Ach ja«, sagte sie. »Haben Sie Ihre Freunde mitgebracht?« »Nein, tut mir leid«, antwortete ich. »Ich bin nicht aus der Gegend, darum habe ich hier auch keine Freunde. Aber immerhin bin ich wiedergekommen. Ich wollte noch
mal Ihre Lieder hören.« Lauren lächelte. Genau wie bei ihrem Auftritt strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Sie drehte sich auf dem Hocker herum, so daß sie mich ansah. »Da ich niemanden mitgebracht habe, würde ich das gern wiedergutmachen und Ihnen einen Drink ausgeben«, bat ich. Sie biß sich auf die Unterlippe. »Tja, warum nicht«, sagte sie. Ich winkte dem Barkeeper und bestellte, was sie wollte. »Woher sind Sie denn?« fragte sie. »Eigentlich von nirgendwo«, sagte ich. »In letzter Zeit bin ich viel umhergezogen.« »Genau wie ich«, sagte sie. »Jetzt will ich wohl zurück nach Hause«, fuhr ich fort. »Nach Hause?« Ich erzählte ihr von dem Weinberg. Außerdem erzählte ich, daß ich mich mit dem Gedanken trug, ihn zu verkaufen. »Wollen Sie das wirklich?« fragte Lauren. Ich nickte. Ich zuckte mit den Schultern. Ich schüttelte den Kopf. »Und was ist mit Ihnen?« fragte ich. »Sie sind auch oft umgezogen?« »Ja, aber ich habe mich nie weit von San Francisco entfernt«, sagte sie. »Eine Zeitlang war ich in Monterey. Ich habe dort im Bay Aquarium gearbeitet.« »Moment mal«, sagte ich. Ich griff nach meiner Bierflasche. »Soll das heißen, daß Sie die ganze Zeit über in dieser Gegend gewohnt haben?« »Die ganze Zeit über?« wiederholte Lauren. »Die letzten paar Jahre?« Sie nickte. »Übrigens hab ich einmal gar nicht weit von Ihrem Weinberg gelebt«, sagte sie. »Und zwar in Hollister. Aber das ist vielleicht viereinhalb Jahre her.« Ich rieb mir die Augen. Diese Neuigkeit war zu grausam. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte sie. Zu grausam. Troy war auf der Suche nach ihr nach Norden gezogen, und hätte er nicht haltgemacht, wäre er vielleicht in derselben Stadt gelandet, wo sie wohnte. »Danke für den Drink«, sagte Lauren. Vielleicht wäre ja die Wahrscheinlichkeit gar nicht einmal besonders groß gewesen, daß er sie gefunden hätte, und sei es in derselben Stadt, aber er war nicht weit weg von ihr gewesen. Nicht weit weg. »Ich muß allmählich los«, sagte sie und stand auf. »Nein, warten Sie«, rief ich. »Ich möchte Ihnen noch etwas...« »Ich muß los«, wiederholte sie. Ich winkte den Barkeeper heran und bestellte ihr noch ein Bier. Sie setzte sich wieder. »Dann sollte ich auch etwas essen«,sagte sie. Ich bestellte uns einen Teller Pommes frites und bat um Entschuldigung, falls ich plötzlich ein wenig abwesend gewirkt hätte. »Es ist nur...« Sie sah mich verständnislos an. Sag es ihr, dachte ich. Sag ihr alles. »Sie haben eine so schöne Stimme«, sagte ich. Lauren lachte. »Nein, ehrlich. Ich war mit dem Auto unterwegs, habe im Radio Ihre Stimme gehört und bin hierhergekommen, um Sie singen zu hören. Erzählen Sie mir von Ihrer Musik«, bat ich. »Von meiner Musik?« »Wie Ihnen die Idee für einen Song kommt, was Sie inspiriert, so was in der Art.« »Nun«, meinte sie und schien erstaunt. »Das hat mich noch nie jemand gefragt.« Sie warf einen Blick auf die Bühne, und dann beantwortete sie meine Frage. Bald kamen die Pommes frites, und wir tunkten sie in eine Ketchuppfütze, während Lauren mir erzählte, daß sie zwei Notizbücher führte, eins für ihre Texte und das andere für die Melodien. Sie erzählte mir, welche Liedermacher sie bewunderte. Komischer-
weise hielt sie ihre Musik nicht für besonders melancholisch. Sie schreibe zwar traurige Songs, doch sie zu komponieren bereite ihr große Freude. »Genug von mir«, schloß sie. Sie rückte mit ihrem Hocker ein Stückchen näher an mich heran. »Was arbeiten Sie?« Ich legte die Hände flach auf den Tresen. Ich wollte antworten, fand aber keine Worte. »Jason?« fragte sie. »Stimmt etwas nicht?« Ich sah sie an und merkte, daß sie mein Gesicht nach dem durchforschte, was ich ihr mitteilen wollte. »Was ist denn los?« fragte sie. Da gestand ich ihr, daß ich Troy gekannt hatte. Sie setzte sich kerzengerade hin und rückte mit ihrem Hocker wieder etwas von mir weg. Ich erzählte, daß er tot war. Lauren wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Sie räusperte sich. »Ich weiß«, sagte sie. »Ich habe davon gehört.« Dann beschrieb ich ihr, wie Troy gestorben war. Ich beschrieb, wie das Auto über der Schlucht gehangen hatte, und daß er mutig gewesen war. Lauren starrte mich unverwandt an. Ich berichtete, wie ich Troy kennengelernt hatte, erklärte, daß ich sein Anwalt war. Ich erzählte von unserer Freundschaft und von Troys Lügen, beschloß aber, Lauren den präzisen Inhalt dieser Lügen zu ersparen, und sagte lediglich, sie hätten unseren Prozeß gefährdet. Weiter sagte ich, Troys Lügen seien letztlich bedeutungslos gewesen. Weil er unschuldig gewesen sei. Weil man ihn zu Unrecht beschuldigt habe. Ich schilderte ihr, wie er ein Verbrechen gestand, das er gar nicht begangen hatte. Ich erzählte ihr von dem Unfall auf der Bergstraße. Und dann sah ich Lauren an und gestand, weshalb ich mir so sicher sein konnte, daß Troy unschuldig war. Ich sagte: »Sehen Sie, ich weiß das, weil ich den Jungen überfahren und danach Fahrerflucht begangen habe. Das habe ich vor allen geheimgehalten. Er wurde von mir getötet.« Überall um uns herum bewegten sich Menschen durch den Club, und es spielte laute Musik, aber wir beide waren die einzigen an der Bar, und ich nahm eigentlich nur von Lauren Notiz. Ihr Gesicht wurde bleich. Schweigend starrte sie mich an. Ich glaubte, unter der Hitze ihres stechenden Blicks zu sterben. Schließlich sagte sie: »Ich weiß nicht, warum Sie mir das alles erzählt haben. Ich mußte das überhaupt nicht wissen.« »Es tut mir leid«, sagte ich. »Verschwinden Sie«, sagte sie. Sie hielt sich eine Hand vor die Augen. »Ich muß Ihnen noch etwas sagen«, fuhr ich fort. »Gehen Sie«, sagte sie, obwohl sie sich erhoben hatte. Sie weinte. Ein paar Leute am anderen Ende der Bar beobachteten uns. Wahrscheinlich hielten sie uns für ein Liebespaar, das sich stritt. »Hören Sie. Hören Sie bitte zu«, bat ich. Ich stand auch auf. Da ich wußte, daß mir nicht mehr viel Zeit blieb, packte ich den Rest schnell aus: »Troy war unterwegs nach Norden. Er wollte Sie finden. Er wurde abgefangen. Er wollte Sie unbedingt finden und das, was er getan hat, irgendwie wiedergutmachen.« »Das«, sagte Lauren, »ist einfach abscheulich. Was fällt Ihnen ein, hierherzukommen und mir das zu erzählen? Was fällt Ihnen ein? Als ob er... als ob das... als könnten Sie damit noch etwas ändern.« »Er hat Sie geliebt«, sagte ich. »Verschwinden Sie«, sagte sie. Sie schluchzte. »Ich mußte Ihnen das sagen.« »Sofort«, sagte sie. Sie gab mir einen Stoß gegen die Brust.
Der Barkeeper gab dem Rausschmeißer ein Zeichen. Lauren schubste mich wieder, und zwar fest, so daß ich beinahe stürzte. »Ich gehe ja schon«, sagte ich und ließ sie stehen. Ich verließ den Club. Es regnete immer noch heftig, und der Regen war so kalt, daß meine Finger ganz taub waren. Ich fummelte an meinem Autoschloß herum, und als ich endlich einsteigen konnte, war ich naß bis auf die Haut. Ich zitterte. Fahren konnte ich nicht. Es goß noch heftiger. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich so dasaß, in meinem Sitz zurückgelehnt, doch es war wohl eine ganze Weile. Ich schreckte auf, als jemand an das Fenster auf der Beifahrerseite klopfte. Ich machte die Tür auf. Lauren rutschte in den Wagen, machte die Tür hinter sich zu und schwieg. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich hätte nicht...« »Dann fahren Sie also jetzt auf Ihren Weinberg zurück«, stellte sie fest. »Stimmt«, antwortete ich. »Um ihn zu verkaufen«, fuhr sie fort. »Um ihn zu verkaufen, oder...«. »Oder was?« fragte sie. »Ich weiß nicht«, antwortete ich. Und das stimmte. Ich wußte es wirklich nicht. »Ich muß Ihnen etwas sagen«, meinte sie. Sie verstummte, und ich ließ ihr Zeit. »Irgendwie wußte ich, daß Sie etwas mit Troy zu tun hatten«, fuhr sie fort. »Tatsächlich?« »Irgendwie habe ich es wohl gespürt. Ich versuche zwar, nicht an ihn zu denken, tu es aber natürlich doch«, sagte sie. »Und seltsamerweise freue ich mich darüber, daß er mutig war, wie Sie sagen. Ich freue mich, daß er an mich gedacht hat.« Erneute Stille. »Ich kann Ihnen nicht vergeben«, sagte sie. »Ich weiß«, antwortete ich. »Ich hätte Ihnen gleich sagen sollen, wer ich bin. Ich hätte nicht mit Ihnen spielen dürfen. Das war gemein.« »Nein«, erwiderte sie. »Das meine ich nicht. Ich meine, daß ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Ich kann Ihnen nicht vergeben, was Sie getan haben - so gerne ich es wollte.« Sie griff nach meiner rechten Hand, nahm sie und drückte sie einmal. Und dann stieg sie aus dem Auto und war weg. Die Weinbergstraße mußte dringend ausgebessert werden. Fast wäre ich in den Graben gefahren. Doch ich schaffte es bis zu den beiden Eukalyptusbäumen, wo ich den Wagen abstellte. Als erstes ging ich in den Weinkeller hinunter und holte mir eine der übriggebliebenen Flaschen, eine von einem kostbaren Rest. Das alte Steinhaus war feucht. Weil der Strom abgestellt war, suchte ich mir ein paar Kerzen. Es gab keine Heizung, deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als nach oben in mein Schlafzimmer zu gehen und mich in eine Decke zu wickeln. Ich setzte mich in den Schaukelstuhl, goß mir ein Glas Cabernet ein und lauschte, wie das Haus im Unwetter knarrte. Von oben schabte ein Ast an der Dachrinne. Ich dachte an meinen Großvater. Ich sah ihn vor mir, wie er auf einem Feldbett in einem französischen Weingut lag, aus dem man ein Lazarett gemacht hatte, und überlegte, was er wohl tun könnte, wenn er irgendwann nach Hause kam. Er hatte sich langsam erholt, war an Krücken herumgehinkt und hatte beobachtet, wie die Arbeiter auf die Weinberge zurückgekehrt waren, die sie im Krieg vernachlässigt hatten. Vielleicht war gerade Herbst, und er sah, wie sie die Lese einbrachten. Mein Großvater hatte plötzlich ein Bild vor Augen: Es war eine schlichte Vision, nämlich Trauben anzubauen und Wein zu keltern. Ich mußte an meinen Vater denken. Er hatte versucht, den Besitz meines Großvaters zu mehren, und eine Zeitlang hatte er damit Erfolg gehabt, ehe ihn das Wetter in die
Knie zwang. Ich dachte daran, wie er geendet hatte, ganz allein in diesem kalten Haus, wie er zuletzt mit leerem Blick auf das immer brauner werdende Tal gestarrt hatte. Ich hatte aber nie gewürdigt, daß er die von meinem Großvater gepflanzten Reben nie veräußert hatte, und sei es nur aus dem einzigen Grund, sie mir zu vererben. Jetzt hatte ich nur noch sie. Ich hatte keine Ahnung, ob Tim jemals Winzer werden wollte, doch mir wurde klar, daß ich ihm diese Möglichkeit offenhalten mußte. Mehr konnte ich eigentlich nicht tun, als meinem Sohn den Weinberg zu erhalten, und wahrscheinlich würde er erst nach meinem Tod den Sinn des Ganzen erkennen. Ich mußte fort von hier und wiederkommen, um zu begreifen, daß dies meine Pflicht war. Ich pustete die Kerzen aus und ging zu Bett. Während ich schlief, hörte der Regen auf. Ich schlief gut - nicht lange, aber so tief wie seit Jahren nicht mehr. Das war letzte Nacht. Heute morgen wachte ich früh auf und ging hinunter zu den Rebstöcken. Sie sind ein einziges Gewirr, ein gräßlich überwuchertes Gestrüpp, und wenn ich nur ans Zurückschneiden denke, wird mir angst und bange. Aber andererseits ist jetzt im Winter die richtige Zeit dafür. Heute strahlt die Sonne. Und ich weiß, was zu tun ist. Schließlich mache ich es nicht zum erstenmal.