Stephanie Seidel
Wo der Eisvogel singt … Version: v1.0
Reverend Thomas Shackleton St Peter’s Church Dozmary Glen, Dar...
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Stephanie Seidel
Wo der Eisvogel singt … Version: v1.0
Reverend Thomas Shackleton St Peter’s Church Dozmary Glen, Dartmoor Mein lieber, alter Freund! Ist es tatsächlich schon einen Monat her, dass Sie mir die Freude Ihres Besuches machten? Wie schnell doch die Zeit vergeht! Thomas, Sie wissen von dem Poltergeist, der mein Landhaus Towering Blynes heimsucht und Sie kennen das Gerücht um die traurige Tote vom Eisvogelbach. Doch Sie kennen nicht die ganze Geschichte! Heute will ich sie Ihnen erzählen, denn es ist etwas geschehen und ich benötige Ihre Hilfe. Ich schicke Ihnen diesen Brief durch Tim McColl. Er ist ein guter
kleiner Junge und man kann sich auf seine Diskretion verlassen. Aber das wissen Sie ja …
* Wenn ich an die Ereignisse der letzten Tage denke, fällt mir auf, dass ich gar nicht sagen könnte, wer dafür verantwortlich ist. Der Sturm vielleicht? Der Zufall, der die alte Uhr aus der Erde holte? Oder liegt die Schuld erneut bei dem Toten, der – wie ich meine – zu Recht keine Ruhe findet? Was ich konnte, habe ich getan, um das Unheil abzuwenden. Doch es war nicht genug. Dabei hatte das Jahr so gut angefangen! Alles ging seinen gewohn ten Gang und wenn sich überhaupt eine Veränderung feststellen ließ, dann war sie erfreulich: Der eisige Winterwind auf der Straße nach Dozmary Glen verlor allmählich an Schärfe, im Dorf selbst erwachte neue Lebensfreude und auf der schneeverkrusteten Weite des Dartmoors schimmerte ein Hauch von erstem Grün. Jeder noch so flüchtige Blick aus den Fenstern meines Landhauses Towering Blynes bestätigte mir, dass die kleine, beschauliche Welt ringsum in Ordnung war. Dann kam ein Brief – Ende Februar, aus Oxford. Ich war überrascht, denn ich erhalte selten Post. Der Brief trug das Siegel des Trinity Colleges und war an Miss Sa rah Cook adressiert. Ich weiß noch, dass ich lächeln musste, als ich die Anrede las. ›Miss‹ klingt so frisch und unverbraucht. Passender wäre ›Mrs.‹ gewesen, denn ich bin, nun ja – betagt. Absender war ein gewisser Julian Vanguard. Er schrieb mir, dass er Parapsychologie studierte und fragte an, ob er die übernatürli chen Phänomene von Towering Blynes untersuchen dürfte. Ich ant wortete ihm, dass der Poltergeist in meinem Haus eher unspektaku
lär sei und nannte ihm aus Gefälligkeit eine Kontaktadresse für das wahrhaft schaurige Kloster von Chapel Hill. Dann vergaß ich Julian Vanguard. Kurz darauf schlug das Wetter um. Niemand dachte sich etwas, als der Wind auffrischte und salzig schmeckenden Regen herantrug, denn das war eigentlich nichts Un gewöhnliches. Südengland wird jedes Jahr von Frühjahrsstürmen umtobt. Nur blieben sie diesmal nicht an der Küste. Zumindest einer nicht. In der Bucht von Port Isaac in Cornwall hatte sich ein schweres Unwetter verfangen. Es zog landeinwärts und als feststand, dass es auch die Grafschaft Devon heimsuchen würde, gaben die hiesigen Behörden Sturmwarnung aus. Allerdings zuerst für das weiter ent fernte Newton Abbot und erst anschließend für Dozmary Glen. Wahrscheinlich hielt man unser kleines Dorf für verzichtbar. Es bringt wenig Steuern ein. Die Warnung erreichte uns zu spät. Wie aus dem Nichts fegte ein Orkan heran, entwurzelte Bäume, deckte Dächer ab und riss die Schafe auf der Frühjahrsweide in den Tod. Hagelkörner so groß wie Taubeneier bombardierten das Dorf. Sie zerschlugen jedes ungesicherte Hab und Gut. Ihnen folgten sint flutartige Regenfälle. Sie machten die Straßen unpassierbar und verwandelten den Friedhof von Dozmary Glen in einen Albtraum. Das noch lockere Erdreich der neueren Gräber wurde von den Wassermassen fortgeschwemmt und als das Unwetter verebbte, war der Friedhof mit faulenden Leichen übersät. Den Körper von Mrs. Racknitts hatte es sogar durchs Tor auf die offene Straße gespült. Im Dorf selbst sah es aus, als hätte eine biblische Plage gewütet. Kein Haus stand unbeschadet da, keine Familie war verschont ge blieben – und niemand war versichert. Hohe Prämien kann sich keiner leisten in Dozmary Glen, denn die
Menschen sind arm. Ich kenne sie alle, manche seit Jahrzehnten und sie sind mir ans Herz gewachsen. Also half ich, so gut es ging. Zum Glück verfüge ich über die nötigen Mittel: Ich bin Alleinerbin eines bescheidenen Vermögens. Es reicht für mein sorgenfreies Da sein, für die Instandhaltung von Towering Blynes und für gelegentli che Nachbarschaftshilfen. Ich muss das Geld nur hin und wieder neu anlegen. Die Sturmschäden auf meinem Anwesen waren erfreulich gering. Es fehlten einige Dachschindeln, mein Gewächshaus lag in Scherben und die Koppel für die Kutschpferde brauchte ein neues Gatter. Das sind alles Arbeiten, die mein Angestellter Roddie McColl erledigen konnte. Halcyon* Creek jedoch, diesen schicksalhaften Bach, der unter Holderbüschen und Birken durch die Wildwiesen von Towering Bly nes plätschert, hatte das Unwetter auf Tage hinaus in ein reißendes Gewässer verwandelt. Ich war mir so sicher, dass an seinen lehmigen Steilufern in diesem Frühjahr kein Eisvogel singen würde …
* »Gott, ist das ein Scheißkaff!«, fluchte Kylie Heckett. Die 19-Jährige war mit ihren Sneakers in frischen Schafskot getreten. Er klebte wie weiches Lakritz an ihren Sohlen und stank zum Himmel. Julian Vanguard hob die Hand. »Vorsicht!«, warnte er seine hübsche, rothaarige Begleiterin. »Die Leute hier sind vielleicht Hinterwäldler, aber sie sind nicht taub.« »Na und? Sollen sie es doch hören!« Wütend schrappte Kylie über den Straßenbelag. *engl.: Eisvogel
Ihre Schuhe hinterließen dunkle Stinkstreifen. Die Studentin fluch te erneut. »He, vergiss nicht: Das Ganze war deine Idee!« Julian wich einem Farmer aus, der mit einer Schubkarre angescheppert kam und grinsend auf Kylies Füße starrte. »Mich hätte eher Chapel Hill inter essiert. Aber du wolltest ja nach Towering Blynes.« »Unbedingt sogar.« Kylie nickte energisch. »Allerdings auf direk tem Weg! Nicht über ein Dorf voller Schafskacke.« Julian schüttelte den Kopf. »Du hast doch den Brief von Miss Cook gelesen! Er war eine glatte Absage, wenn auch freundlich formu liert.« Der junge Mann erinnerte Kylie daran, was er mit ihr auf der Reise nach Dartmoor besprochen hatte. Julian wollte in bester Touristen manier durch Dozmary Glen wandern und sich beim Plaudern mit den Einheimischen diskret nach Sarah Cook erkundigen. »Ich muss wissen, was uns auf Towering Blynes erwartet«, sagte er. »Alte Leute sind schrullig! Besonders, wenn sie zurückgezogen leben! Miss Cook wäre nicht die Erste, die ungebetene Besucher mit der Schrotflinte verjagt und das muss ich mir nicht geben.« »Hmhm …« Kylie nickte abwesend, während ihr Blick über die Häuser des Dorfes streifte. Sie waren klein, grau und ärmlich; mit verwaschenen Gardinen an den Fenstern und Rissen in den Wänden. Hier und da wärmte sich eine Katze in der Märzsonne. Es roch nach Schafen und hinter einigen Türen bellte ein Hund. Überall in den noch winterkahlen Gärten waren zerbrochene Ziegel und Äste aufgetürmt. Kylie konnte sehen, dass hier der Sturm aus Cornwall gewütet hatte, der es bis in die Abendnachrichten geschafft hatte, weil er kurz vor Newton Abbot spurlos verschwunden war. Doch die Stu dentin aus Oxford sah noch etwas anderes. Ungläubig zeigte sie auf die andere Straßenseite. »Wow! Hier gibt es tatsächlich noch einen Tante-Emma-Laden!«
»Willkommen in der Steinzeit!« Julian grinste. Als er sich an schickte, mit Kylie die Straße zu überqueren, kam ihnen ein schwarz gekleideter Priester entgegen. Über seinem freundlichen Speckge sicht schimmerte weißes Haar. Er hielt einen Jungen an der Hand, elf oder zwölf Jahre alt und nickte zum Gruß. Ohne Eile ging er an den Studenten vorbei. Kylie ergriff Julians Arm. »Hast du das gesehen?«, raunte sie. Julian drehte sich flüchtig um. »Das Priesterlein?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, den Jungen. Sieh nur, wie er sich festklammert! Ich sage dir: Da stimmt was nicht!« Ihr Freund lachte auf. »Oh, Mann, das ist so typisch für Erstsemes ter der Psychologie: Ein Priester geht mit seinem Ministranten spa zieren und schon wird Sigmund Freud bemüht! Was willst du Don Camillo unterstellen?« »Genau das!«, entgegnete Kylie und fügte hinzu: »Interessant üb rigens, dass du gleich wusstest, was ich meine.« Julian blieb stehen. Er lächelte nicht mehr. »Hör zu, Kylie …«, hob er an. Die junge Frau fiel ihm ins Wort. »Wie alt schätzt du den Jungen?« Unwillig zuckte Julian die Schultern. »Keine Ahnung. Zwölf vielleicht.« »Und wie viele Jungen kennst du, die mit zwölf Jahren noch frei willig an der Hand gehen?« Kylie zeigte hinter dem mageren Blond schopf her und sagte nicht gerade leise: »Klammern ist ein Angst reflex! Sieht man oft bei missbrauchten Kindern.« »Verdammt!« Julian schlug Kylies ausgestreckte Hand herunter. Wütend packte er seine Freundin und zerrte sie fort. »Soll ich dir was sagen? Ich finde es zum Kotzen, wie sorglos manche Leute mal eben einen Verdacht daherplappern, der eine ganze Existenz zerstö ren kann!«
Julian löste seinen Griff erst wieder vor der Ladentür. Ein Glöck chen bimmelte empört, als er sie auf stieß. Im Verkaufsraum roch es nach Käse, Tee und Putzmitteln. An der Wand hing ein gemaltes Bild von Königin Elisabeth. Eine erschre ckend ähnliche Version, wenn auch mit Lockenwicklern und Kittel schürze, stand hinter der Ladentheke – in Gestalt von Mrs. Faulkner. Neugierig blickte die grauhaarige Frau ihrer unerwarteten Kund schaft entgegen. »Hi!«, grüßte Julian. »Wir sind aus Oxford und …« »Ach!« Mrs. Faulkners Augen weiteten sich. Julian lächelte. »Ja, vom Trinity College. Und wir möchten gern …« »Vom College?« Mrs. Faulkner wischte ihre Hände ab, bevor sie sie Julian hinhielt. Er nahm eine davon und versuchte zum dritten Mal, seinen Satz zu Ende zu sprechen. »Wir sind auf dem Weg nach Towering Blynes und …« »Heilige Maria!« Unablässig schüttelte Mrs. Faulkner Julians Hand. Dabei rief sie erregt ins Halbdunkel des Ladens: »Harry! Komm her! Hier sind Verwandte von Sarah Cook! Studierte Verwandte, aus Oxford!« Kylie und Julian sahen sich verdutzt an. Zeit zum Reagieren blieb ihnen nicht, denn Mrs. Faulkner redete ohne Pause weiter. »Wie mich das freut, dass Sie hier sind!«, versicherte sie. »Wissen Sie, unsere Sarah bekommt nicht oft Besuch. Eigentlich nie, wenn man es genau nimmt. Dabei ist sie eine so gute Seele! Stimmt doch, Harry, oder?« »Ja, stimmt«, sagte Harry, ein Sechziger in Jogginghose und Un terhemd. Seine Brust war von grauen Haaren überwuchert. Er kratz te daran herum, während er näher schlurfte. Kylie wandte sich angewidert ab. Julian war härter im Nehmen. Er
drückte sogar Harrys Kratzfinger und wurde dafür mit Informa tionen über Miss Cook belohnt. Laut Harry war die alte Dame freundlich und hilfsbereit und ver passte keinen Gottesdienst. Miss Cook lebte allein in ihrem Haus, doch es gab auf dem Anwesen auch eine Art Verwalter. Er wohnte mit Frau und Kind in einem der Nebengebäude. Sein Name war Roddie McColl. Beim Klang dieses Namens setzte Mrs. Faulkner ihre beste Verschwörermiene auf und raunte den Studenten zu: »Roddie hat im Zuchthaus von Dartmoor gesessen! Sarah hat ihn danach bei sich aufgenommen. Das ist typisch für sie. Aber wohl ist uns dabei nicht!« »Roddie hält alles picobello in Ordnung«, brummte Harry und fegte ein paar Krümel von der Ladentheke. »Wir helfen natürlich auch, wenn mal was ist. Schließlich hat Sa rah schon viel für das Dorf getan!«, sagte Mrs. Faulkner und erklärte den Sachverhalt. Dozmary Glen war eine ehemalige Arbeitersiedlung, um 1840 nahe der Zinnmine Bonnie Lass* entstanden. Doch das Hübsche Mäd chen gab längst nichts mehr her und weil sich in der Weite des Dart moors kaum eine andere Beschäftigung finden ließ, war der Nach wuchs zunehmend in die Städte abgewandert. Deshalb gab es im Dorf immer mehr alte Menschen – und immer weniger Einkommen. Die Großzügigkeit von Miss Cook hatte schon manchen Engpass be seitigt. »Warum ziehen Sie nicht weg?«, fragte Kylie ahnungslos. Mrs. Faulkner klappte die Kinnlade herunter. »Ja, wohin denn?« »Und wozu auch, solange es Miss Cook gibt?«, murmelte Julian. »Wissen Sie, Ihre Tante …« Harry unterbrach sich und knispelte an seinem Ohr herum. »Sarah ist doch Ihre Tante, oder?« *»Hübsches Mädchen«
»Naja … Nicht direkt«, gab Julian zu. Mrs. Faulkner tippte sich an die Stirn. »Was redest du denn da, Harry? Der junge Mann ist ein Student! Aus Oxford! Sarah kann also höchstens seine Großtante sein.« Sie zwinkerte Julian zu. »Wissen Sie, wir sind ja nur einfache Leute und mit den Studierten können wir nicht mithalten. Aber Zwei und Zwei zusammenzählen, das klappt! Wollen Sie einen Tee?« »Nein, danke.« Julian schüttelte den Kopf. »Ich möchte eigentlich nur wissen, wie man von hier aus am Besten nach Towering Blynes kommt.« »Ja, das ist schwierig dieses Jahr«, rief Mrs. Faulkner über die Schulter zurück, während sie loszog, um den Teekessel aufzusetzen. »Der Sturm hat ein paar Bäume auf die Straße geworfen. Die sind noch nicht weggeräumt. Warum eigentlich nicht, Harry?« Ihr Mann verzichtete auf die Antwort, nahm ein Stück Papier und machte eine Zeichnung für Julian. »Richtung Osten aus dem Dorf raus und durch die Senke«, brummte er. »Folgen Sie dem Halcyon Creek bis zu der Stelle, an der die fünf Felsen aus dem Wasser ragen. Sie sind abgeflacht und lassen sich gut als Brücke benutzen. Towering Blynes liegt ungefähr eine Viertelmeile dahinter. Man kann es von der Stelle aus sehen.« Harry zielte mit dem Bleistift auf Julian. »Noch was: Ich will Ihnen keine Angst machen … Aber halten Sie sich am Halcyon Creek nicht unnötig auf! Der Bach ist nicht geheuer! Da geht was um.« »Ach, Papperlapapp!«, rief Mrs. Faulkner aus dem Hinterzimmer. Ihr Mann schob die Lippe vor wie ein verärgertes Kind. »Ich habe es doch selbst gesehen!« »Was denn?«, fragte Julian neugierig. Harry zog den Bauch ein, um seine Frau und den heißen Tee vor beizulassen. »Na, das Gespenst! Die traurige Tote. Bethany.« »Bethany?« Kylie runzelte die Stirn. »Sind Sie sich sicher?«
»Na, klar! Bethany Cook«, sagte Mrs. Faulkner, während sie das Tablett abstellte. »Die Tochter vom Reverend. Sie hat vor 120 Jahren hier gelebt. Towering Blynes war damals noch das Pfarrhaus. Lag di rekt am Ortsausgang.« Harry schnaubte. »Und dann kamen die Krauts! Die haben in der Nacht einen schweren Angriff auf Plymouth geflogen!* Einer von den Scheißkerlen hat sich unter Beschuss verirrt und ist nach Dart moor abgetrudelt. Und was glauben Sie, wo er seine Bomben hinge schmissen hat, ehe er zur Hölle fuhr? Genau auf unseren Ortsrand! Seitdem gibt es dieses freie Feld zwischen Dozmary Glen und dem Anwesen der Cooks.« »Warum haben Sie Ihre Häuser nicht wieder aufgebaut?«, fragte Julian. »Wegen der Toten«, erklärte Harry. »Die liegen da noch in der Erde rum. Die waren so zerfetzt, das konnte keiner aufsammeln.« Mrs. Faulkner stellte ihrem Mann eine Tasse hin und stöhnte: »Mein Gott, Harry! Wie weit willst du noch ausholen? Komm zur Sache!« »Erzähl du es doch, wenn du es besser kannst!«, brummte Harry beleidigt. »Mach ich«, sagte Mrs. Faulkner und legte los. Sie begann mit einem Seufzer Richtung Julian. »Wissen Sie, junger Mann, die erste Liebe … Ach, die ist was Besonderes!« Julian nickte gequält, Kylie schaute feixend aus dem Fenster und Harry dachte an die Krauts, während seine Frau eine bittersüße Ge schichte erzählte. Zur Blütezeit der Zinnmine gab es reichlich Arbeit in Dozmary Glen, auch für Männer von außerhalb. Reverend Jonathan Cook war der Dorfpfarrer. Er lebte mit Tochter Millicent und der adoptierten Bethany auf Towering Blynes. Cook hatte das gleichaltrige Mädchen *21./22. April 1941
nach dem Tod seiner Frau ins Haus geholt, damit Millicent nicht allein aufwachsen musste. 1884 kam ein Tagelöhner nach Dozmary Glen. Sein Name war Horatio Wattenfield. Er war ein junger, gut ausse hender Draufgänger mit roten Locken und dem unwiderstehlichen Charme der Iren. Die Herzen der Mädchen flogen ihm zu. »Eines davon gehörte Bethany Cook«, sagte Mrs. Faulkner. Harry schlürfte geräuschvoll seinen Tee, während sie fortfuhr: »Bethany war siebzehn Jahre alt! Horatio hat sie gesehen und sich sofort in sie verliebt! Damals kamen die Minenarbeiter jeden Tag an Towering Blynes vorbei, denn die Straße zur Mine lief ein Stück neben dem Halcyon Creek her.« »Ja! Das war bevor die Krauts sie weggesprengt haben«, knurrte Harry über den Tassenrand. Mrs. Faulkner warf ihm einen säuerlichen Blick zu. »Am Halcyon Creek gab es eine lauschige Stelle, ganz versteckt, da haben sich Ho ratio und Bethany immer heimlich getroffen. Der Reverend durfte das nicht wissen, sonst hätte er das Mädchen bestimmt ins Kloster geschickt! Das ging damals ruckzuck! Aber es ist ja auch irgendwie verständlich. Ich meine: Wer möchte schon, dass seine Tochter was mit einem Tagelöhner hat?« Kylie Heckett fuhr herum. »Sie meinen, Horatio war nicht gut genug für sie?« »Öhm …« Mrs. Faulkner dachte nach. »Doch, sicher! Also, jeden falls wollten die beiden durchbrennen. Es heißt, Horatio hätte seiner Liebsten eine Nachricht geschickt: Warte auf mich, wo der Eisvogel singt! Romantisch, was?« »Sehr«, antwortete Kylie trocken. »Was ist passiert?« Mrs. Faulkner breitete die Arme aus und seufzte schwer. »Er ist nicht gekommen«, sagte sie jammervoll. »Niemand hat Ho ratio Wattenfield nach diesem Tag mehr gesehen! Die arme Bethany!
Kurz darauf hat sich auch noch Millicent das Leben genommen! Sie soll furchtbar eifersüchtig gewesen sein auf ihre Adoptivschwester und den jungen Mann. Wer weiß, vielleicht hat sich Millicent ge wünscht, dass er nicht kommt und dann hatte sie ein schlechtes Ge wissen. So sind sie, die Teenager! Und weil es Selbstmord war, konnte der Reverend seine Tochter nicht mal in geweihter Erde be graben! Das hat ihm das Herz gebrochen.« »Seitdem geht was um an dem Bach«, fügte Harry hinzu. »Manch mal sieht man da eine weiße Frau durch die Büsche schweben. Wie Nebel. Irgendwie unheimlich! Sie ruft nach ihrem Geliebten: Ho-rati-ooo! Hab ich selbst schon gehört.« »Sicher?«, fragte Julian skeptisch. Harry Faulkner räusperte sich. »Sie brauchen es nicht zu glauben, junger Mann! Aber eines steht fest: Jedes Jahr fangen die Eisvögel vom Halcyon Creek genau am 17. März an zu singen. Keinen Tag früher oder später.« Julian sah ihn verständnislos an. »Und das bedeutet?« »Na ja.« Harry stellte seine Tasse ab. »Das war der Tag, an dem Horatio und Bethany durchbrennen wollten …«
* … Die Sonne sank und ich war gerade dabei, die erste Kerze anzu zünden, als der Hofhund anschlug. Schritte knirschten auf dem Kies. Gleich darauf klopfte jemand an meine Haustür. Ich wusste sofort, dass es ein Fremder war. Niemand aus Dozmary Glen hätte so sacht ans Holz gepocht. Dorfleute benutzen ihre Faust, um sich bemerkbar zu machen. Als ich die Tür öffnete, war es für einen Moment, als käme ein Feuerball auf mich zu. Schuld war die Abendsonne auf den Hügeln. Sie stand exakt hinter einer schlanken, schwarzen Silhouette mit
flammend roten Locken. Die junge Frau sagte etwas, doch ich konn te sie nicht verstehen, weil Roddie McColl vom Fenster des Gesinde hauses her den Hofhund niederbrüllte. Plötzlich verstummten Gebell und Geschrei und ein Mann trat in mein Blickfeld. »Miss Cook?«, fragte er lächelnd. »Mein Name ist Julian Vanguard! Verzeihen Sie bitte die Störung.« Ich war weit davon entfernt, ihm zu verzeihen, denn Überra schungsbesuche sind mir ein Gräuel. Trotzdem bat ich den jungen Mann und seine Begleiterin Miss Heckett herein. Es war schon dämmerig im Flur und weil die Bodenfliesen im Laufe der Jahrzehnte kantig und uneben geworden waren, griff ich nach dem Lichtschalter. Als meine Besucher über die Schwelle traten, begann die Lampe zu flackern. »Ist das der Poltergeist?« Die junge Frau hatte ihren Rucksack abgestellt und war dabei, ihre Jacke auszuziehen. Sie zögerte. Ich winkte ab. »Es hat vor kurzem ein Unwetter gegeben. Die Stromleitungen wurden beschädigt. Sie sind inzwischen repariert, aber gelegentlich kommt es noch zu Störungen. Mit Geistern hat das nichts zu tun … Keine Sorge«, fügte ich lächelnd hinzu. »Er meldet sich erst, wenn es Nacht wird.« »Er?«, fragte Miss Heckett. Es klang seltsam aggressiv und ich be merkte, dass Julian Vanguard verstohlen ihren Arm berührte. Einen Moment lang war ich verunsichert. Ich hatte Kylie Heckett nie zuvor gesehen und dennoch kam sie mir irgendwie bekannt vor. Sie trug ein dunkles Sweatshirt. Ein roter Kreis war darauf abge bildet mit einem Querbalken und einer Art lustigem Gespenst. Dar über stand in großen Buchstaben: ›Ghost-Buster‹. Ich fand das etwas anmaßend. Aber vielleicht war es auch nur neueste Mode und hatte gar keine Bedeutung. Auf dem Weg ins Wohnzimmer erzählte Julian, er hätte eigentlich nach Chapel Hill fahren wollen. Doch sein Auto wäre in Exeter mit
einem Getriebeschaden liegen geblieben. »Deshalb und weil wir übermorgen wieder zur Uni müssen, haben wir nur den Zug nach Dartmoor genommen«, endete sein Bericht. »Und wo werden Sie übernachten?«, erkundigte ich mich. Julian zuckte die Achseln. »Wir haben im Dorf mit einer Mrs. Faulkner gesprochen. Wenn wir nichts anderes finden, wird sie uns ein Zimmer vermieten.« Ich nickte wissend. Mrs. Faulkner, natürlich. Das wandelnde Tage blatt von Dozmary Glen. Laut sagte ich: »Dann sollten Sie sich hier nicht lange aufhalten. In spätestens einer Stunde ist es dunkel und die Straße zum Dorf hat keine Beleuchtung. Aber das wissen Sie ja.« »Wir sind nicht über die Straße hergekommen, sondern über das Feld«, sagte Miss Heckett. »Den Halcyon Creek entlang.« Sie sprach mit seltsamer Betonung. Julian hielt den Blick gesenkt und ich hatte plötzlich ein ungutes Gefühl. Kylie Heckett verbarg et was vor mir, das konnte ich spüren – und ihr Begleiter schien zu wissen, was es war! Ich brauchte Zeit, um meine Gedanken zu sortieren. Darum bot ich meinen Besuchern Tee an. Sie akzeptierten und ich ging in die Küche. Die beiden konnten nicht wissen, dass es dort zum Wohnzimmer eine Durchreiche gab. Sie war mit einem Wand teppich verhängt. Während ich den Kessel aufsetzte und das gute Geschirr aus dem Schrank holte, bekam ich ihre Unterhaltung mit. Es ließ sich gar nicht vermeiden. Ich habe selbstverständlich nicht gelauscht, aber Miss Hecketts Stimme war auch dann noch penetrant, wenn sie leise sprach. »Guck dir diesen Kitsch an, Julian!«, hörte ich sie sagen. Etwas klirrte. Vermutlich griff die junge Frau nach meinen Porzellanfigu ren. »Und wie es hier aussieht! Plüschsessel, Ölgemälde, ein ausge
stopftes Vieh an der Wand und Fotos von Anno Krug auf dem Ka min! Mein Gott, die Alte bedient jedes Klischee! Würde mich nicht wundern, wenn gleich noch ein blinder Butler durch die Tür käme!« »Und mich würde es nicht wundern, wenn Miss Cook uns gleich rauswerfen würde«, brummte Julian. Ich nickte stumm. Genau das hatte ich vor. Aber dann sagte Kylie Heckett etwas Unerwartetes. Es ergab keinen Sinn und eben das machte es bedeutungsvoll, fast bedrohlich. »Du musst ihr den alten Ticker zeigen, Julian!«, verlangte sie, als ich die Küche verließ. Die Tassen auf meinem Tablett bebten leise …
* »Schön haben Sie es hier!«, sagte Miss Heckett scheinheilig, wäh rend sie zusah, wie ich den Tisch deckte. Ich erzählte ihr, dass die meisten Dinge im Haus Familienerb stücke waren. »Auch der ausgestopfte Vogel?« Miss Heckett griff nach meinen Schokoladen-Cookies. Sie sah belustigt aus. »Er soll wahrscheinlich Glück bringen oder so.« »Das sagt man den Eulen nach.« Ich zeigte an die Wand. »Aber das da ist ein Kauz! Er bringt kein Glück. Er bringt den Tod.« Ich gestehe, dass ich eine gewisse Zufriedenheit verspürte, als Miss Hecketts Lächeln so schlagartig erlosch. Ein Krümel fiel von ih rer Lippe; sie legte das Plätzchen auf den Tisch und warf Mr. Vanguard einen raschen Blick zu. Der junge Mann griff in seine Ta sche. »Warum hängen Sie sich den Tod ins Wohnzimmer?«, fragte er. »Er ist nicht mein Tod«, antwortete ich. Irgendwo im Haus schlug eine Uhr zur vollen Stunde. Ich stand
auf, um zusätzlich zur Deckenbeleuchtung noch ein paar Kerzen anzuzünden. Dabei erzählte ich Mr. Vanguard und Miss Heckett, dass dem Volksglauben nach jemand sterben muss, wenn vor sei nem Haus ein Käuzchen ruft. Die düstere Eulenstimme – ein schar fes, in die Nacht gestoßenes ›Ku-witt‹ – klingt unangenehm ähnlich wie: Komm mit! und kann Menschen sehr verängstigen. Ich hielt inne, ein brennendes Streichholz in der Hand. Mehr zu mir selbst als zu meinen Besuchern sagte ich leise: »Es war mein Vater! Er hat den Kauz aus der Hofeiche geschossen. Ich war damals noch ein kleines Mädchen.« Kylie Heckett lachte auf. »Gott! Dann muss das Ding ja wirklich alt sein!« Mr. Vanguard blickte sie vorwurfsvoll an. »Sorry!«, fügte sie hastig hinzu, als ihr bewusst wurde, was sie ge sagt hatte. Ich griff nach dem Krückstock, der neben der Anrichte lehnte. Es war ein langer Tag gewesen. Als ich etwas mühsam an den Sesseln vorbeiging, zündete sich Mr. Vanguard gerade eine Zigarette an. Su chend schaute er sich um und weil er keinen Aschenbecher fand, benutzte er die Untertasse. »Wie lange spukt es schon in Ihrem Haus, Miss Cook?«, fragte er. »Eine Ewigkeit.« Ich trat ans Fenster. Draußen erlosch das letzte Himmelslicht über der blauen Dämme rung. Schatten flossen von den Hügeln des Dartmoors herab und an den Fensterscheiben spiegelten sich bereits meine Kerzen. Ich fragte mich, warum die Studenten ihren Besuch nicht auf den Morgen ver schoben hatten und kam zu dem Schluss, dass sie auf eine Ein ladung zum Übernachten hofften. Es ärgerte mich. »Haben Sie keine Angst vor Gespenstern?«, forschte Mr. Vanguard weiter. »Ach, wissen Sie, in meinem Alter …« Ich ließ den Satz unvoll
endet und griff nach den Vorhängen. Dabei sah ich im Fenster die schemenhafte Spiegelung meines Wandteppichs – und das Gesicht darin! Es starrte von der Küche her ins Wohnzimmer; gierig, als ob es et was zu holen gäbe. Ruckartig zog ich den Vorhang zu und wandte mich um. »Sagen Sie, Mr. Vanguard: Woher wissen Sie eigentlich von dem Pol tergeist? Ich nehme doch nicht an, dass Towering Blynes auf dem Lehrplan des Trinity Colleges steht.« Der junge Mann tauschte einen Blick mit seiner Begleiterin. Miss Heckett legte ihren Arm um seine Schulter und erzählte mir, ein Stu dienfreund hätte letzten Sommer das Dartmoor bereist. Er wäre einem alten Dorfpfarrer begegnet und der hätte von dem Spuk auf meinem Anwesen gewusst. Ich nickte stumm. In den Tiefen des Moores kursieren viele Geschichten und es war durchaus denkbar, dass es eine davon bis nach Oxford geschafft hatte. Mr. Vanguard zeigte mit seiner Zigarette auf mich. »Sie sollten diesen Poltergeist aber nicht für eine Belanglosigkeit halten, Miss Cook! Rachsüchtige Tote können gefährlich werden.« Ich stutzte und sah den Studenten nachdenklich an. Miss Heckett hatte sich an seine Seite geschmiegt, lässig und lau ernd zugleich. Wie eine Katze. Sie hatte den zarten Teint der Rothaa rigen und in ihren Augen schimmerte die Arroganz der Jugend, als sie zu mir sagte: »Wir glauben übrigens zu wissen, wer das ist, der hier spukt!« »Tatsächlich?« Meine Hand schloss sich unwillkürlich um den Krückstock. »Wer denn?« »Ein Mann, der vor 120 Jahren ermordet wurde«, sagte die Stu dentin. »Horatio Wattenfield.« Schlagartig ging das Licht aus. Ich schaffte es gerade noch bis zum Sessel. Meine Knie gaben nach
und ich sank in die Polster. Ein paar Herzschläge lang geschah nichts, dann wurde die Stille ringsum vom Quietschen einer Haustür zerschnitten, die sich in Wirklichkeit gar nicht öffnete. Wind fuhr durch den Raum, kalt wie eine Dezembernacht. Er brachte die Kerzen zum Flackern. Eine erlosch sogar und ich sah, wie Miss Heckett beunruhigt ihre Beine unterschlug. Schatten tanzten die Wände hoch und verliehen den Gegen ständen ringsum ein kurzes Scheinleben. Mein Blick fiel auf den ausgestopften Totenvogel. Sein schwarzes Abbild schien zu fliegen, quer über die Decke auf mich zu und es hörte nicht mehr auf – ob wohl die einzige Kerze in seiner Nähe erloschen war. Schritte hallten durch den Flur. Etwas schlurfte über die Steinfliesen, an der offenen Wohnzimmertür vorbei und die knar rende Holzstiege hoch. Im ersten Stock flog eine Tür auf. Sie krachte an die Bade zimmerwand. Wasser rauschte in die Wanne, gefolgt von dumpfen Poltergeräuschen. Als sie aufhörten, wehte ein Seufzer durchs Haus. Da ging das Licht wieder an. Mr. Vanguard und Miss Heckett waren ziemlich blass. Ich nickte ihnen aufmunternd zu. »Das war es«, sagte ich und ergänzte in Mr. Vanguards Richtung: »Ich hatte Ihnen ja geschrieben, dass der Poltergeist von Towering Blynes eher unspektakulär ist.« Ausgerechnet in diesem Moment klopfte es an der Haustür und die Studenten schrieen gellend auf. Ich werde nie erfahren, wer sich in jenem Augenblick mehr erschrocken hat – die beiden oder Tim McColl. Seine Mutter Eve hatte den Jungen mit einem Korb frisch ge bügelter Wäsche zu mir geschickt. Als ich ihm öffnete, lag ein fahler Schleier über dem Hof: Nebel zog auf! Ich seufzte. Meine Besucher konnten nicht ins Dorf zurück
kehren – es würde nur noch eine Frage von Minuten sein, bis Towe ring Blynes von gespenstischem Weiß umhüllt war. »Sag deiner Mutter, sie soll noch schnell herüberkommen und das Gästezimmer herrichten«, bat ich Tim, während er den schweren Korb für mich zur Treppe trug. Der Junge nickte. »Okay, mach ich.« Es beunruhigte mich ein wenig, dass Miss Heckett beim Anblick des Jungen große Augen bekam. Erst recht, dass sie Mr. Vanguard etwas zuflüsterte und dabei auf Tim zeigte. Sie kannte ihn doch gar nicht …
* Zwei Stunden später saßen Mr. Vanguard und Miss Heckett gemüt lich auf dem Teppich vor meinem Kamin. Eve McColl hatte ihn befeuert, die Gästebetten vorbereitet und das Abendessen gebracht. Ich räumte gerade den Tisch ab. Während des Essens hatte Miss Heckett über Körpersprache und menschliche Verhaltensmuster referiert. Ich wusste inzwischen, dass sie Psychologie studierte und ich begann, mich unter ihren Blicken seltsam gläsern zu fühlen. Als ich die Teller aufnahm, fragte sie plötzlich, ob man den Spuk von Towering Blynes auch herbeirufen könnte. Zu meinem Erstaunen antwortete Mr. Vanguard: »Hör auf, Kylie! Mit Geistern ist nicht zu spaßen. Es ist besser, man lässt sie in Ruhe.« Stirnrunzelnd trug ich das Tablett in die Küche. Miss Hecketts Stimme folgte mir. »Meine Güte, Julian! Seit wann bist du so ein Weichei? Du hast ihn doch erlebt! Er wird uns nichts tun, Poltergeist hin oder her! Schließlich ist Horatio …«
Es klirrte, als ich das Tablett absetzte. Beim Klang dieses Namens war ein Heulen durchs Haus gezogen, wie ich es nie zuvor gehört hatte. Miss Heckett schien es als Spiel zu betrachten. »Horatio?«, wiederholte sie in fragendem Tonfall. Das Licht begann zu flackern. Etwas knarrte im Gebälk. »Ho-ra-ti-o!«, rief die Studentin noch einmal. Ich presste die Lippen zusammen. Unerträglich! Es war uner träglich! Ein metallisches Geräusch ließ mich aufsehen. An der Wand gegenüber hing eine Reihe Küchenmesser, lang und blitzend. Un sichtbare Hände zogen sie von ihren Haken und schleuderten sie mit unglaublicher Wucht nach vorn. Haarscharf an mir vorbei in die Durchreiche. Sie blieben im Wandteppich stecken. Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, ragten acht scharfe Klingen aus der Wand. Halb hatte ich erwartet, Miss Heckett von ih nen durchbohrt zu finden. Doch die junge Frau kauerte unversehrt am Boden und packte ein Kaugummi aus. Mr. Vanguard starrte in den Kamin. Ich folgte seinem Blick und schlug beide Hände vor den Mund. In den Flammen verbrannte mein ausgestopftes Käuzchen! Beide Flügel schmolzen herunter, der Körper färbte sich schwarz und die Füllung explodierte in prasselnden Fontänen. Seine Augen aber – diese gelben, kalten Eulenaugen – sahen mir unentwegt ins Gesicht. Als wollten sie sich mein Bild einprägen und es mitnehmen. Um mich wieder zu erkennen in einer anderen Welt. Meine Knie gaben nach und ich musste mich am Türrahmen festhal ten. Mr. Vanguard wies mit einem Kopfnicken auf den Kamin. »Ich weiß nicht, wie das passiert ist!«, sagte er halb verlegen. »Das Ding ist einfach von der Wand gefallen.«
»Und um die Ecke in den Kamin geflogen?« Abwechselnd sah ich die beiden Studenten an. »Hier stimmt doch etwas nicht! Wieso bringen Sie mein Haus in Aufruhr? Was wollen Sie von mir?« Miss Heckett zerknallte eine Kaugummiblase. »Julian und ich wollen wissen, was mit Horatio Wattenfield geschehen ist.« Etwas kratzte von unten an den Bodenbrettern. »Sprechen Sie diesen Namen nicht aus!«, befahl ich Miss Heckett. »Ach, kommen Sie, Miss Cook!« sagte die Studentin verächtlich. »Das kann Ihr Poltergeist verknusen! Warum sollte ihn auch sein eigener Name ärgern?« »Vielleicht, weil es nicht sein eigener Name ist?«, hielt ich scharf dagegen und fügte hinzu: »Ich kann mir nicht denken, worauf Ihr vermeintliches Wissen basiert, aber seien Sie versichert: Sie liegen falsch! Sie haben keine Ahnung von Towering Blynes und seinen Ge heimnissen.« Mr. Vanguard beugte sich vor. »Dann erzählen Sie es uns! Was ist hier 1884 geschehen, Miss Cook?« »Sie erwarten, dass ich das weiß?«, fragte ich gedehnt. »Wieso nicht?« Mr. Vanguard zeigte mit ausholender Handbewe gung in den Raum und zählte auf: »Alte Fotos, alte Gemälde, alte Möbel. Sie sind umgeben von der Vergangenheit. Sie leben in der Vergangenheit! Und Sie sind eine Cook! Sie müssen etwas wissen.« »Es ist 120 Jahre her«, murmelte ich. Miss Heckett grinste mich an und sagte frech: »Wir erwarten ja auch keinen Augenzeugenbericht!« Mr. Vanguard warf ihr einen tadelnden Blick zu und richtete sich auf. Er schlenderte wie suchend durch mein Wohnzimmer. »Es gibt doch bestimmt noch Dokumente, Miss Cook! Briefe vielleicht. Oder ein Geständnis von Jonathan Cook. Sie wissen schon: Späte Reue und so.« »Jonathan Cook?« Ich glaubte, mich verhört zu haben.
Mr. Vanguard nickte. Als er am Fenster vorbeiging, schob er flüchtig den Vorhang zurück und schaute hinaus. Nebel wogte vor den Scheiben. Ich wäre die Studenten so gern losgeworden! Doch ich musste warten, bis der Morgen kam. Miss Heckett tippte mich an. Als ich mich ihr zuwandte, sagte sie: »Wir glauben, dass Jonathan Cook Horatio ermordet hat. Möglicher weise sogar hier, in diesem Haus.« »Das würde auch den Poltergeist erklären«, warf Mr. Vanguard ein. »Das ist ja lächerlich!«, entfuhr es mir verärgert. »Mein … Jona than Cook war Dorfpfarrer! Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass er einen Mord begangen hätte! Wozu auch?« Miss Heckett verzog die Mundwinkel. »Vielleicht war ihm Horatio nicht gut genug für die schöne Millicent.« »Bethany«, verbesserte ich automatisch. Die Studentin winkte ab. »Das haben sie in Dozmary Glen auch behauptet. Aber es stimmt nicht. Horatio war in Millicent verliebt, nicht in Bethany.« »Aber so wurde es überliefert!«, rief ich aufgebracht. »Und ich wünsche, dass Sie mit Ihren Spekulationen aufhören!« Nervös zupfte ich an meiner Perlenkette. Meine Gefühle hatten mir einen Streich gespielt. »Hören Sie, Miss Cook«, sagte Mr. Vanguard bittend. »Ich kann verstehen, dass es Sie empört, wenn man Ihren – ja, was eigentlich … Urgroßvater? – des Mordes beschuldigt. Schließlich ist er Teil Ih rer Familie. Aber hier geht es nicht um Sie. Es geht um Horatio Wattenfield.« »Und der ist auch Teil einer Familie«, warf Miss Heckett ein. Mr. Vanguard legte ihr die Hand auf die Schulter. »Kylie hat eine Theorie«, sagte er und begann zu erzählen … Von Jonathan Cook und seinen beiden hübschen 17-jährigen Mäd
chen. Wie logisch es war, dass er sie keinem Tagelöhner aus Irland überlassen wollte und dass bestimmt auch die Dorfbewohner es nicht gut gefunden hätten. Wie leicht es für den Reverend gewesen wäre, Horatio nach Towering Blynes zu locken und die Leiche später irgendwo verschwinden zu lassen. Vielleicht hatte Millicent von dem Mord gewusst und sich deshalb umgebracht. Vielleicht wusste das ganze Dorf davon. Ich war müde vom vielen Zuhören und die Wärme des prasseln den Kaminfeuers tat ein Übriges. Mr. Vanguards Stimme hatte Bilder in die Flammen gemalt und noch während er Miss Hecketts Verschwörungstheorie vortrug, wanderten meine Gedanken davon. Zurück in eine längst vergangene Zeit … Ich glaubte sie zu sehen, die Minenarbeiter von Dozmary Glen mit ihren rauen, staubverschmierten Gesichtern. Wie sie diskutierten – vor der Zinnmine, auf den Straßen, im Pub. Da waren Millicent und Horatio. Die einsame Stelle am Eisvogelbach und die kleinen, leuch tend blauen Vögel mit ihrem unverkennbaren Ruf. Zipp-Ziiip, ZippZiiip. Verzauberte Boten einer Märchenwelt. Sie konnten die Spitz hacke nicht aufhalten. Ich sah sie heruntersausen und ich sah das Blut. Das viele Blut. Es war überall und ich schloss die Augen, um es loszuwerden. Als ich sie wieder aufschlug, tanzte eine höhnische Fratze im Kaminfeuer. Funken sprühten und sie verschwand. »… deshalb haben die Dorfbewohner die Namen vertauscht und aus Millicent später Bethany gemacht«, sagte Mr. Vanguard gerade. Es war bedauerlich, dass ich den Anfang dieses Satzes verpasst hatte, doch ich wollte nicht nachfragen. »Ein interessanter Vortrag, junger Mann. Aber nun entschuldigen Sie mich – ich bin erschöpft und möchte mich zurückziehen.« Ich hatte schon den Krückstock in der Hand, da packte Miss Heckett ihren Begleiter am Arm und sagte hastig: »Der Ticker! Zeig ihr den Ticker, Julian!« Bis heute kann ich nicht sagen, warum diese Worte so alarmierend
auf mich wirkten. Doch sie taten es und ich sank in meinen Sessel zurück. Mr. Vanguard ging in den Flur, wo er seinen Rucksack abgelegt hatte und ich erfuhr von Miss Heckett den Grund, warum die beiden erst zu später Stunde nach Towering Blynes gekommen waren. Sie hatten den Tag damit verbracht, nach einer Weg beschreibung der Faulkners die versteckte Stelle am Halcyon Creek zu suchen, an der Horatio seine Rendezvous gehabt hatte. »Die gibt es nicht mehr«, sagte ich. »Stimmt. Die Krauts haben sie weggesprengt.« Mr. Vanguard grinste, als er mit dem Rucksack ins Zimmer kam. »Die Deutschen haben die Straße gesprengt, nicht den Bach«, ver besserte ich ihn. »Was die Uferregion verwüstet hat, war das Un wetter letzten Monat.« Der Sturm aus Cornwall hatte am Halcyon Creek mehrere Bäume entwurzelt. Einer war ins Wasser gestürzt und die schäumenden Fluten hatten ihn fort getragen – bis zu den verborgenen Plätzen, wo der Eisvogel singt. Wie ein Rammbock war der mächtige Stamm in das Steilufer gestoßen. »Dabei wurden bestimmt viele Nistplätze zerstört«, vermutete Miss Heckett. »Traurig, nicht wahr?« Ich lächelte. Doch die Studentin ignorierte mich. Sie hatte sich Mr. Vanguard zugewandt, der seinen Rucksack durchsuchte. Unvermittelt sagte sie: »Es muss schwer gewesen sein für die ad optierte Bethany, erst Millicent zu verlieren und dann noch den Re verend! Wie mag sie weitergelebt haben – so ganz allein?« »Niemand ist ganz allein in Dozmary Glen«, erwiderte ich. »Aber die Cooks waren alles, was Bethany je an Familie hatte!«, beharrte Miss Heckett. Sie sah mich an. »Wer waren eigentlich ihre leiblichen Eltern?«
»Das ist nicht bekannt«, sagte ich und so plötzlich, wie es auf geflammt war, erlosch das Interesse der Studentin wieder. Mr. Vanguard hatte gefunden, was er suchte und während Miss Heckett ihn an ihrem Sessel vorbei ließ, schilderte er die Umstände, die zur Entdeckung des ominösen Tickers geführt hatten. Am Nachmittag waren die Studenten unweit des Halcyon Creeks auf eine verwitterte Säule gestoßen. Sie stand halb verborgen im Ge strüpp, moosbewachsen und sie trug die Reste einer Inschrift: nie Las. Ich nickte wissend. Es war der alte Wegweiser zur Zinnmine Bonnie Lass. Ursprünglich hatte sich dort die Landstraße gegabelt. Der befestigte Teil hatte zur Mine geführt, der andere zu den Holderbüschen am Eisvogelbach. Die Studenten hatten sich die Säule genauer ansehen wollen. Doch das umliegende Erdreich war vom Unwetter aufgeweicht worden und Mr. Vanguard war ins Straucheln geraten. Beim Kampf ums Gleichgewicht hatte er ein paar Steine losgetreten. Sie waren fortge rollt. »Darunter hat Kylie das hier entdeckt. Einfach so!« Mr. Vanguard streckte die Hand aus. »Seltsam, nicht?«, fragte Miss Heckett und ich hörte an ihrem Ton, dass sie es kein bisschen seltsam fand. Ich senkte den Blick auf ihren Fund. Es war eine alte silberne Ta schenuhr, schwarz angelaufen und verbeult. Die Kette war noch in takt. Sie klackerte leise, als Mr. Vanguard mir mit dieser Uhr etwas überreichte, auf das ich nicht vorbereitet war. Wenn überhaupt, dann hatte ich ein vergessenes Relikt der Cooks erwartet. Doch auf dem Uhrendeckel waren die Initialen H.W. eingraviert. Horatio Wattenfield. Einen Moment lang schloss ich die Hände um den verstummten Zeitzeugen – diese schönen, schlanken Jungmädchenhände von einst. Sie waren krumm und dünnhäutig geworden und von Alters
flecken übersät. Niemand würde sie heute noch halten wollen, sie küssen und zärtlich flüstern: »Warte auf mich, wo der Eisvogel singt!« Das Leben hatte sie geschändet – wie Horatio Wattenfields Uhr. »Er muss sie verloren haben!«, murmelte ich erschüttert. Als ich die Hand öffnete und sacht über den Deckel strich, klappte er plötzlich hoch. Ich fuhr zurück. Auf dem dunklen, zerbrochenen Ziffernblatt wogten Maden umeinander. »Horatio hat mehr verloren als nur seine Uhr!«, sagte Miss Heckett düster. Unsanft nahm sie mir den Fund aus der Hand und gab ihn Mr. Vanguard. Wie ein Beweisstück, das es zu sichern galt. Bestürzt sah ich die Beiden an. Sie machten mir Angst. Ich wandte mich an Miss Heckett. »Horatio Wattenfield hat lange vor Ihnen gelebt. Wieso ist er Ihnen so wichtig? Sie kennen ihn doch gar nicht.« »Ich nicht«, antwortete die Studentin. Ihr triumphierender Gesichtsausdruck hatte etwas Abstoßendes an sich, als sie hinzufüg te: »Aber meine Urgroßmutter Daphne hat ihn noch gekannt. Hora tio Wattenfield war ihr Onkel.« Mr. Vanguard meldete sich zu Wort. »Deshalb wusste Kylie auch, dass Horatio in Millicent Cook verliebt war und nicht in Bethany! Wir haben seine Briefe unter dem Nachlass von Daphne Heckett ge funden. Aus ihnen geht eindeutig hervor, dass Horatio die schöne Millicent heiraten wollte.« Ich sah ihn nachdenklich an. Bis zu diesem Moment hatte ich den jungen Mann gemocht. Aber nun wusste ich nicht mehr, warum eigentlich. Mr. Vanguard plapperte erstaunlich sorglos daher. Als gäbe es keine Konsequenzen im Leben. »Na, schön.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Was wollen Sie wissen?«
»Alles, was Sie wissen!«, befahl Miss Heckett. Sie verschränkte die Arme vor ihrem Sweatshirt mit der Aufschrift Ghost-Buster. Zögernd bestätigte ich, dass Horatio Wattenfield tatsächlich ermordet worden war. »Aber ich kann Ihnen nicht sagen, von wem«, fügte ich hinzu. Es war die reine Wahrheit. Nur anders, als Mr. Vanguard und Miss Heckett sie verstanden. Die junge Frau war nicht zufrieden. Sie bohrte weiter; sie fragte und schmeichelte und wies mich immer wieder darauf hin, dass die Sache doch schon 120 Jahre zurück lag. Schließlich gab ich zu, die Stelle zu kennen, an der Horatios Leiche versteckt worden war. Ich musste den beiden versprechen, dass ich sie ihnen am nächsten Morgen zeigen würde. Danach konnte ich mich endlich zur Ruhe begeben. Wenig später ging ich müde und auf meinen Stock gestützt die Treppe zum Schlafzimmer hoch. Hinter mir knarrte etwas. Genau im gleichen Schritt, als ob mir jemand unbemerkt zu folgen versuch te. Aber wenn ich mich umsah, war nichts da außer der Kälte des Flures. Und noch ein anderes Geräusch zog an jenem Abend durch Towe ring Blynes. Es kam von draußen, aus den nachtdunklen Ästen der Hofeiche. »Ku-witt, Ku-witt!«, scholl es düster an mein Ohr und ich erschau erte. Es war der Ruf des Totenvogels …
* Am nächsten Morgen schickte ich Mr. Vanguard nach dem Früh stück ins Nebengebäude. Roddie McColl sollte die Pferde an spannen. Ich hätte natürlich auch das Haustelefon benutzen können, doch ich wollte einen Moment mit Miss Heckett allein sprechen.
Vielleicht ließ sich das Unheil ja noch abwenden. Die junge Frau stand im Flur und packte schweigend ihre Sachen zusammen. »Mr. Vanguard ist kein Parapsychologe, nicht wahr?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf und erwiderte, ohne aufzusehen: »Nein, er studiert Rechtsmedizin. Aber wir brauchten eine Begründung für unser Interesse an Towering Blynes.« Ich lächelte. »Sie hätten es auch mit der Wahrheit versuchen können!« »Wahrheit!«, stieß sie verächtlich hervor. »Wie weit kommt man mit der Wahrheit bei der Familie eines Mörders?« Miss Heckett schloss den Rucksack und richtete sich auf. »Wie haben Sie es gemerkt? Ich meine: das mit Julian?« »Er hat den Poltergeist in meinem Haus als rachsüchtigen Toten bezeichnet. Aber Poltergeister sind eine wiederholte spontane Psy chokinese. Ein Parapsychologe hätte das gewusst.« Die Studentin war verblüfft. Ich griff nach ihr mit beiden Händen und sagte eindringlich: »Hö ren Sie, Miss Heckett: Manche Dinge sind nicht das, wonach sie aus sehen! Towering Blynes ist eines davon. Seien Sie klug! Vergessen Sie, was Sie hier erfahren haben und leben Sie weiter!« »Einen Scheiß werde ich!« Miss Heckett riss ihre Arme hoch und ich musste schnell loslassen, um mir nicht weh zu tun. Sie sah mich herablassend an. »Glauben Sie echt, wir wären zum Spaß hergekom men? Julian bereitet seine Doktorarbeit vor! Ein ungeklärter Mord wie der an Horatio Wattenfield ist bestes Material! Julian wird dar über schreiben.« »Das verbiete ich Ihnen!«, sagte ich scharf. »Können Sie nicht.« Miss Heckett hob den Rucksack auf. »Horatio gehört zu meiner Familie. Ich bestimme, was mit ihm passiert! Sobald wir wieder in Oxford sind, sagen wir den Behörden Be
scheid. Das Onkelchen wird exhumiert und in die Rechtsmedizin gebracht. Danach sehen wir weiter.« Draußen fuhr meine Kutsche vor. Die Pferde schnaubten und ich hörte Schritte auf dem Kies. Miss Heckett warf sich den Rucksack über die Schulter und marschierte los. »Tun Sie das nicht!«, rief ich händeringend hinter ihr her. »Denken Sie doch an die Menschen von Dozmary Glen und was es für sie be deuten würde!« Miss Heckett öffnete die Haustür, blieb stehen und drehte sich um. Sonnenlicht fiel auf ihr rotes Haar und sie lachte frech. »Seien Sie mir nicht böse, Miss Cook – aber Ihrem verschlafenen Kaff kann es nur gut tun, wenn sich mal jemand dafür interessiert!« Mr. Vanguard erschien an der Tür. »Kommt ihr?«, rief er vergnügt. Miss Heckett ging wortlos an ihm vorbei. Fragend blickte er erst auf sie, dann auf mich. Er ahnte wohl, dass unsere Unterhaltung nicht erbaulich gewesen war, doch er zog die falschen Schlüsse. »Keine Sorge, Miss Cook, Sie tun das Richtige!«, sagte er. Ich setzte meinen Hut auf und griff nach dem Krückstock. Mr. Vanguard war schon halb aus der Tür, als er noch hinzufügte: »Ihre Großmutter Bethany ist Ihnen bestimmt dankbar dafür!« Ich runzelte die Stirn. »Ich habe nie behauptet, dass Bethany meine Großmutter ist«, ant wortete ich. Doch das hörte er nicht mehr …
* Es war ein schöner Morgen; kühl, aber frühlingshaft. Insekten tanz ten über dem Heidekraut und die Vögel von Dartmoor machten
Jagd auf sie. Roddie McColl lenkte meine Kutsche auf einen Seiten weg und hielt die Pferde an. Er half mir beim Aussteigen. »Warten Sie hier, Roddie!«, sagte ich ruhig und er nickte. Miss Heckett sah sich um; eifrig, aber ohne jeden Sinn für die wilde Schönheit des Moores. »Gehört das alles noch zu Towering Blynes?«, fragte sie. Ich verneinte und hob den Krückstock. »Wir sind hier am äußersten Rand von Dozmary Glen. Das dort«, ich wies auf einen zerfurchten Streifen zwischen den Ginsterbüschen, »ist der alte Weg zur Zinnmine Bonnie Lass. Ihr Eingang befindet sich da drüben.« Die Studenten hatten erst nach vorn, dann nach links geschaut. Sie begriffen nicht, dass ich ihnen den Weg aus gutem Grund gezeigt hatte und nahmen eine Abkürzung – querfeldein über sprießendes Wollgras. Flüche hallten durch die Stille der Landschaft, als Mr. Vanguard und Miss Heckett knöcheltief in kaltem Morast versanken. Ich blieb auf dem Weg und kam nur unwesentlich später ans Ziel als die beiden. Der schlanke, hoch gemauerte Minenturm war längst verfallen. Wind heulte durch seine leeren Fenster; die Erde ringsum war über sät von heruntergestürzten, zerschlagenen Backsteinen. Grau verwitterte Bretter sicherten den Eingang. Ich zeigte darauf. »Horatio liegt dort drin. In einem Holzver schlag.« Miss Heckett sah mich an, so triumphierend wie ein Inspektor den überführten Kriminellen – und lief los. Ich war erstaunt. Eigentlich hätte sie etwas fragen müssen. Mr. Vanguard rief ihr besorgt hinterher: »Sei vorsichtig, Kylie! Das Gemäuer sieht ziemlich morsch aus!« Während er sprach, trat ich hinter ihn. Dabei stieß mein Fuß an einen Stein. Ich bückte mich danach.
Als Mr. Vanguard verstummte, holte ich aus und schlug ihm den Schädel ein. Er barst lauter, als ich es erwartet hätte. Doch Miss Heckett bemerkte es nicht. Sie war so versessen darauf, den Mord an Horatio Wattenfield zu klären, dass sie bereits mit roher Gewalt die Holzbretter abriss. Sie machten ganz ähnliche Ge räusche wie Mr. Vanguards Kopf. Beim Umrunden der Leiche stützte ich mich auf meinen Krück stock. Man rutscht leicht aus auf blutverschmiertem Gras und in meinem Alter können Knochenbrüche zu einer ernsthaften Gefahr werden. Als ich Miss Heckett erreichte, hatte sie alle Bretter entfernt bis auf zwei. Sie waren neuer und widerstanden ihrem Gezerre. »Ach, Scheiße!«, fluchte die Studentin. Das obere Brett befand sich in Hüfthöhe. Miss Heckett bückte sich nach dem unteren und schob ihr Bein über den Rand. Ich konnte es nicht fassen: Sie wollte tatsächlich durch die Lücke klettern! Was, glaubte sie, befand sich auf der anderen Seite? Fester Boden? Jetzt ging alles sehr schnell. Ich trat heran und stieß ihr kräftig den Stock in die Rippen. Miss Heckett war überrascht; sie schrie auf und schwankte – doch sie fiel nicht. Stattdessen bemühte sie sich, wieder aus dem Schacht herauszu kommen. Sie hatte nur einen Fuß auf der Erde. Ich stach mit der Stockspitze nach ihren Zehen. Miss Heckett gab Schmerzlaute von sich und versuchte auszuwei chen. Dabei achtete sie nicht auf ihr Gleichgewicht. Sie verlor den Halt, geriet ins Rutschen und verschwand schließlich wie eine zappelnde Holzmarionette zwischen den Brettern. Nur ihre weiß verkrallten Hände waren noch zu sehen. Ihre Hände und ihr Gesicht, das dümmer nicht hätte dreinschauen können.
»Was …? Was …?«, stammelte die Studentin. Sie hing über einem gähnenden Abgrund. »Sie müssen das verstehen, Miss Heckett«, sagte ich. »Ich kann nicht zulassen, dass sie nach Oxford zurückkehren.« Die junge Frau holte tief Luft. »Julian!«, brüllte sie aus Leibeskräften. Der Schall trug weit. Aber nicht bis ins Reich der Toten. »Er kann Sie nicht hören«, erklärte ich und trat ein Stück zur Seite. Als Miss Heckett den Leichnam entdeckte, begann ihre Selbstsi cherheit zu bröckeln. Sie schluchzte und rief laut um Hilfe. Ich wartete geduldig, bis sie begriffen hatte, dass niemand kommen würde. Schließlich zeigte ich auf ihre Hände. »Lassen Sie einfach los, Miss Heckett!« »Aber warum denn nur?«, schrie sie mich an. »Verdammt noch mal, warum? Warum tun Sie das?« »Wegen Horatio«, erklärte ich sanft. »Ich muss ihn schützen.« Miss Heckett wurde hysterisch. Ihre Finger glitten ab. Sie fasste nach, wieder und wieder. Das Holz begann zu knirschen und sie strampelte, während sie kreischte: »Aber der Scheiß-Mord ist 120 Jahre her! Von dem Typ sind nur verfluchte Knochen übrig! Es kann Ihnen doch egal sein, was damit passiert!« »Das ist es mir aber nicht«, sagte ich und drehte den Stock um. Dann beugte ich mich vor und schlug mit der Krücke auf Miss Hecketts Fingernägel. Bis sie losließ. Sie stürzte in die Tiefe, ihr Schreien verebbte und alles wurde still. Ich richtete mich auf. Ich war erschöpft und ich spürte ein leises Bedauern. Vielleicht hätte ich Miss Heckett noch etwas sagen sollen? Zum Beispiel, dass keines der Skelette im Minenschacht Horatio war. Und dass sie mit ihrer Mordtheorie völlig falsch gelegen hatte.
Aber andererseits … Hätte das etwas genützt? »Nein«, sagte ich zu mir selbst und wandte mich ab …
* Als ich mich der wartenden Kutsche näherte, wieherten meine Pferde und scharrten ungeduldig mit den Hufen. Das Licht der Morgensonne streifte ihre Mähnen – diese lange, ungebändigte Pracht aus fuchsroten Locken, die mich so bittersüß an Horatio er innert. Er war meine große Liebe. Er ist es noch heute. Nach 137 Jahren … Warum ich noch lebe? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es der Hass auf Millicent, der den Tod von mir fern hält. Vielleicht findet er mich auch deshalb nicht, weil ich keine Seele habe. Niemand kennt meine leiblichen Eltern. Ich wuchs im Waisenhaus von Newton Ab bot auf, bis der Reverend kam. Jonathan Cook hat mich nicht aus Liebe adoptiert. Er suchte nur ein Spielzeug für seine Tochter – die schöne, verwöhnte Millicent. Sie war der behütete Schatz von Towe ring Blynes. Jeder liebte sie, jeder war ihr zu Diensten. Millicent be kam alles, was ich mir wünschte. Außer Horatio Wattenfield … Ich habe ihn so geliebt! Er war wie ein Sonnenaufgang nach end loser Nacht und er gehörte nur mir. Mir allein und auf ewig! Jedes Mal habe ich mir das geschworen, wenn ich ihn aus der Fer ne sah. Gewiss, Horatio traf sich nur mit anderen Mädchen am Hal cyon Creek, nie mit mir. Doch ihre Küsse bedeuteten ihm nichts. Er dachte nur an mich. Ich weiß es, denn ich habe ihn immer heimlich beobachtet.
Millicent musste ihn verhext haben. Anders lässt es sich nicht er klären, dass Horatio die Nachricht an sie schickte, die mir allein zu stand: Ohne Dich kann ich nicht sein, Geliebte! Lass uns fliehen, noch heute Nacht! Es ist alles vorbereitet – warte auf mich, wo der Eisvogel singt! Ich hatte den Zettel unter ihrem Kopfkissen gefunden. Millicent hat mich angefleht, dem Reverend nichts zu verraten. Das tat ich auch nicht. Stattdessen lief ich Horatio entgegen, um ihn über seinen Irrtum aufzuklären. Doch er lachte nur. Er war wirklich verhext. Ich konnte ihn nicht an den Halcyon Creek lassen. Ich musste ihn töten, meinen geliebten Horatio und daran war nur Millicent schuld. Was hat sie sich gegrämt, als er nicht erschien! Ich riet ihr, sie solle ihr sinnloses Leben beenden, doch Millicent wollte nichts davon hö ren. Sie wollte lieber leiden und mich mit ihrem Trübsinn belästigen. Es wurde unerträglich und so habe ich sie vergiftet. Die Dorfbewohner hielten sie für eine Selbstmörderin, nachdem ich Horatios Nachricht herumgezeigt hatte. Deshalb wurde Millicent nicht in geweihter Erde bestattet. Sie landete hier, auf Towering Bly nes und da liegt sie noch heute. Unter den Tomaten in meinem Ge wächshaus. Reverend Cook wurde mit der Zeit ein wenig seltsam. Ständig schlich er hinter mir her, mit seiner Bibel in der Hand und er murmelte Sätze wie: »Wer den Himmel um eine Seele betrügt, endet im Schattenreich!« Es konnte mir eigentlich egal sein. Aber mir ging seine weinerliche Stimme auf die Nerven. Als ich sie nicht mehr hören konnte, habe ich ihm ein Bad einge lassen. Der Reverend liebte heiße Schaumbäder am Abend und schlief im Lavendelduft leicht ein. Es war nicht schwer, ihn unter Wasser zu drücken. Er war ein schwacher Mann und gesundheitlich angeschlagen.
Vielleicht hätte ich Jonathan Cook nicht verfluchen sollen, wäh rend er ertrank. Er hat mir immerhin Towering Blynes hinterlassen. Doch ich habe es getan und seitdem spukt er hier herum. Hin und wieder lockt er Fremde an – Menschen wie Kylie Heckett und Julian Vanguard. Ich gebe mich ungern mit ihnen ab. Der Weg zur Zinn mine ist beschwerlich und ich bin nicht mehr die Jüngste. Aber ich muss über Horatio wachen, denn ich liebe ihn und er gehört nur mir. Mir allein und auf ewig. Das sollte auch Millicent endlich begreifen. Ich habe ihren Körper vergiftet und sie in die tiefste Hölle verflucht. Und trotzdem kommt dieses Miststück immer wieder zu rück. Immer, wenn der Eisvogel singt …
* Hier endet meine Geschichte, lieber Thomas. Ihnen als unserem Priester konnte ich sie unbesorgt anvertrauen, denn Sie sind der Hü ter aller Geheimnisse von Dozmary Glen! Sie wissen, wo der deut sche Pilot abgeblieben ist, der uns damals im Krieg bombardiert hat. Sie kennen den Grund, warum während des Unwetters Leichen ohne Särge aus der Friedhofserde kamen und warum unser ehema liger Dorfbestatter Roddie McColl im Zuchthaus war. Und Sie haben eine ganz besondere Beziehung zu unseren Kindern. Speziell zu kleinen blonden Jungen. Am Anfang dieses Briefes hatte ich um Ihre Hilfe gebeten. Wahr scheinlich ahnen Sie schon, weshalb ich sie brauche! Wir müssen davon ausgehen, dass Mr. Vanguard und Miss Heckett mit jemandem über ihr Reiseziel gesprochen haben. Es ist also – auch wenn das Auto der Beiden in Exeter steht – nur eine
Frage der Zeit, bis die Polizei ins Dartmoor kommt. Man wird die Studenten nicht finden, dafür hat Roddie McColl in zwischen gesorgt. Aber die Faulkners sind so schrecklich unbedacht, Thomas! Sie könnten etwas ausplaudern und das wäre nicht gut! Weder für mich, noch für die Dorfgemeinschaft. Ich vertraue darauf, dass Sie dieses Problem aus der Welt schaffen werden. Roddie McColl hat den Minenschacht noch nicht wieder verschlossen. Wir sehen uns dann am Sonntag in der Kirche, lieber Freund! Und besuchen Sie mich bald einmal wieder! Ihre Sarah Bethany Cook. ENDE