HERBERT PAUL
Wettlauf zum „roten Zelt"
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-70. Tausend Die Tatsach...
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HERBERT PAUL
Wettlauf zum „roten Zelt"
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-70. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Deutscher Militärverlag • Berlin 1968 Lizenz-Nr. 5 Umschlag: Karl Fischer Lektor: Rolf Dieter Burgdorff Vorauskorrektor: Elfriede Seil Hersteller: Lydia Herkt Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
Eine aufregende Nacht Es begann mit einem Mißerfolg. Das war eigentlich nichts Außergewöhnliches. Nicht immer klappte es auf Anhieb, daß Signale aus der fernen Welt den Weg in den selbstgebastelten Kurzwellenempfänger fanden. Aber heute empfand es Nikolai Reinhold Schmidt eben als Mißerfolg. Ihm gegenüber saß der Lehrer des Dorfes, und dem wollte er beweisen, welche interessanten Funkpartner er über Tausende von Kilometern herbeizaubern konnte. Spät war es geworden, sehr spät. Der Lehrer wollte wiederholt aufbrechen, doch immer wieder hielt ihn Nikolai Schmidt zurück, und er versuchte aufs neue sein Glück. Nikolai kroch förmlich in die Kopfhörer hinein, aber aus dem Prasseln und Krachen konnte er keine Funkzeichen heraushören. Dabei hatte er in letzter Zeit gleich dreimal den berühmten Columbia-Chor aus Amerika gehört. Auch Jack Hylton war ihm kein Fremder mehr. Nikolai Schmidt liebte Musik, und es waren beglückende Minuten für ihn, wenn er sie über Ozeane hinweg hörte. Nicht nur im Dorf Wosnessenskoje, sondern im ganzen Gebiet Wjatka (heute Kirow) war Nikolai Schmidt als Amateurfunker bekannt. Der Lehrer gehörte nicht zu denen, die über die Passion des jungen Kolchosbauern lächelten. Ganz im Gegenteil. Er schätzte die Mühe und Beharrlichkeit, die Nikolai für sein Steckenpferd aufbrachte. Heute war der Lehrer nicht gekommen, um einmal mitzuerleben, wie Nikolai
Schmidt Radiostationen mit fremden Namen in die niedrige Bauernstube holte, so sehr ihn das auch interessierte. Er wollte den Amateurfunker bitten, den Kindern im Physikunterricht die Geheimnisse des Radios, besonders der Kurzwellentechnik, zu erklären. Selbstverständlich war Nikolai Schmidt dazu bereit. Er sprach nicht weiter darüber, seine Aufmerksamkeit blieb auf das Empfangsgerät konzentriert. Warum gelang es nur nicht, dem Lehrer den Erfolg seiner Bastelarbeit vorzuführen? Zwischen den fortwährenden Versuchen, dem Ein- und Abschalten des Empfangsgerätes, unterhielten sich die beiden jungen Männer. Vor allem erzählte Nikolai Schmidt von Kontakten mit Funkstationen in aller Welt. Mit einem Funker auf der Insel Haiti hatte er bisher regelmäßig Erfahrungen ausgetauscht. Auch mit ihm versuchte er in Kontakt zu kommen, aber den nächsten Austausch hatten sie für den 5. Juni vereinbart, in drei Tagen. Dann sprachen sie auch über die italienische Luftschiffexpedition des Generals Nobile zum Nordpol. Die Zeitungen in der Sowjetunion berichteten täglich darüber. Seit dem 25. Mai 1928 war das Luftschiff verschollen, nachdem es tags zuvor den Nordpol erreicht hatte. Nikolai Schmidt hatte sogar einige Funksprüche des Luftschiffs vom Nordpol aufgefangen. Als er sie dem Lehrer zeigte, war aus seinen Worten nicht nur der Stolz über diese Leistung, sondern auch ehrlicher Neid auf den Funker Biaggi herauszuhören. Mit den Funksprüchen vom Pol aus war Biaggi weltbekannt geworden. Und welcher Funker wollte nicht auch einmal vom Nordpol aus senden. Aber seit dem 25. Mai schwieg
Funker Biaggi. Natürlich hatten der Lehrer und auch Nikolai Schmidt den Flug des Luftschiffs in ihren Atlanten genau verfolgt. Wie viele ihrer Landsleute waren auch sie jederzeit an Neuigkeiten aus der Arktis, nicht nur von der arktischen Küste ihres Landes, interessiert. Und wie viele andere Sowjetbürger waren auch sie sich darüber im klaren, daß mit dem Flug der „Italia" weniger ein Forschungsauftrag erfüllt werden sollte, sondern vielmehr das faschistische Italien mit unerhörtem Propagandaaufwand die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu lenken versuchte. Nun schien sich da im hohen Norden eine Katastrophe ereignet zu haben. Alle großen Funkstationen der Welt konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf das Gebiet um die Moffen-Insel. Der Funker Biaggi war verstummt. Das Luftschiff blieb verschollen. Schon über acht Tage. Während der Unterhaltung schaltete Nikolai Schmidt immer wieder das Empfangsgerät ein. Mit einem Ohr hörte er auf die Worte des Lehrers, mit dem anderen lauschte er in den Kopfhörer. Beim Abschalten des Geräts seufzte er jedesmal resignierend, nickte dem Lehrer zu, als wäre er völlig auf das konzentriert, was dieser gerade sagte. Doch dann stand der Lehrer auf. Die Uhrzeiger wiesen auf Mitternacht. Es war höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Er bedankte sich bei dem Genossen Schmidt für dessen Mühe, fügte noch ein paar Worte des Trostes wegen des Mißlingens der Funkversuche hinzu. Aber Nikolai Schmidt reagierte nicht. Noch einmal schaltete er das Gerät ein. Der letzte Versuch! Der Lehrer schaute ihm mit nachsichtigem Lächeln zu. Im Raum war es ganz still, kein Räuspern, nichts. Sekunden vergingen.
Unbeweglich verharrten beide. Der Lehrer stand noch an der Tür. Nikolai Schmidt saß verkrümmt vor dem Gerät. Die eine Hand preßte die Kopfhörer ans Ohr, die andere spielte behutsam am Drehknopf der Skala. Plötzlich rief Nikolai Schmidt: „Da ist etwas!" Der Lehrer setzte sich, jede überflüssige Bewegung vermeidend, still hin. Die Erregung des Amateurfunkers übertrug sich auch auf ihn. Er wollte fragen, doch das angespannte Gesicht von Nikolai Schmidt hielt ihn davor zurück. Sonderbar, er hatte nicht gedacht, daß der Empfang eines Funksignals so aufregend sein konnte. „Da, wieder", stieß Nikolai Schmidt hervor. „Papier!" Ohne aufzusehen, fuhr er mit einer Hand über die Tischplatte. Der Lehrer schob ihm das bereitliegende Schreibpapier und den Bleistift hin. Nikolai Schmidt übertrug die kaum wahrnehmbaren Morsezeichen aufs Papier, schrieb lateinische Buchstaben. Seine Hand zitterte vor Erregung. Was waren das für Worte? Der Lehrer stand auf, stellte sich hinter Nikolai Schmidt. Er las die Worte mit. Er wagte kaum zu atmen. Doch jetzt, das war bekannt: ... „SOS" und gleich noch einmal ... „SOS". Schweißperlen standen auf Nikolai Schmidts Stirn. Und rasch, gleich zweimal hintereinander, wieder ein fremdes Wort. „Rao . . . Rao . . ." Und dann ein Name -„Nobile"! Nikolai Schmidt saß wie besessen vor seinem Empfangsgerät. Alle Nerven waren auf das eine Organ konzentriert, auf das linke Ohr. Er lauschte, bereit, den leisesten Summton aufzunehmen. Aber nichts war mehr zu hören. Nur das Kratzen atmosphärischer Störungen. Die rechte Hand spielte kaum merklich am Skalaknopf vergeblich. Er fing den Partner nicht mehr ein.
Gehetzt schaltete er das Sendegerät ein. Er drehte auf dieselbe Wellenlänge wie beim Empfang, drückte aufgeregt die Sendetaste, sendete das Verstandensignal. Hastig schaltete er wieder um, lauschte. Nichts. Noch drei-, viermal versuchte er es hintereinander. Doch es kam kein Kontakt zustande. Beinahe erschöpft, riß er die Hörer vom Kopf, stand auf und sah den Lehrer an. Auch diesem perlte Schweiß auf der Stirn. Dann fanden beider Augen zum Blatt Papier auf dem Tisch. „Tengo terra . . . SOS . . . SOS . . . Rao, Rao . . . Isola Foyn ... Nobile." Für beide war es klar. Die Besatzung des Luftschiffs „Italia" lebte und befand sich in höchster Gefahr. Aber warum Insel Foyn? In den Zeitungen hatten sie gelesen, daß die letzte Standortmeldung des Luftschiffs nordwestlich der Moffen-Insel abgegeben worden war. Zweifel kamen auf. Über acht Tage war das Luftschiff schon verschollen. Und keine der großen Funkstationen sollte bisher die SOS-Rufe gehört haben? Hatte sich irgendein Verrückter einen üblen Scherz erlaubt? Vielleicht, um damit Sensationsmeldungen für die kapitalistische Presse zu liefern? Wie war es zu erklären, daß niemand bisher einen solchen Notruf gehört hatte? Ausgerechnet Nikolai Schmidt mit seinem kleinen Amateurfunkgerät sollte es gelungen sein? Gewiß, einen Kurzwellensender hörte man oft in Tausenden von Kilometern Entfernung, aber in unmittelbarer Nähe nicht. Trotzdem, es blieb verwunderlich. Doch die Aufregung lief? sich nicht unterdrücken. Hatte Nikolai Schmidt wirklich einen Funkspruch des Funkers Biaggi aufgefangen?
Der Lehrer traf die einzig richtige und notwendige Entscheidung. „Los, wir trommeln den Vorsitzenden vom Dorf Sowjet aus dem Bett. Dieser Funkspruch muß unverzüglich weitergegeben werden."
Die Katastrophe Am 15. April 1928, einem Sonntag, war das Luftschiff „Italia" in Mailand zu seinem Flug zum Nordpol gestartet. Mit ungeheurem Propagandaaufwand hatte das faschistische Italien diesen Flug vorbereitet. Beim Abschiedszeremoniell vor dem Start waren eine italienische Trikolore und ein vom Papst geweihtes Eichenholzkreuz feierlich in die Führergondel des Luftschiffs getragen worden; Die Länge der „Italia" betrug 115 Meter. Das Luftschiff wurde von drei Maybachmotoren mit je 240 PS angetrieben. Zur Besatzung gehörten sechzehn Männer, einschließlich des Kommandanten, Generals Nobile, der auch das Luftschiff konstruiert hatte. Nobile war Ingenieur und begeisterter Flieger. Bereits im Jahre 1926 baute er für den norwegischen Forscher Amundsen das Luftschiff „Norge". Umberto Nobile hatte als Führer dieses Luftschiffs unter der Expeditionsleitung von Roald Amundsen und Lincoln Ellsworth an der berühmten Polüberquerung teilgenommen. Die faschistische Regierung in Italien entdeckte bald die besonderen Fähigkeiten und den Tatendrang dieses Ingenieurs. Warum Lorbeer für ein fremdes Land, wenn man selbst Anerkennung einheimsen konnte? Was hieß
Erforschung der arktischen Gebiete? Die hochentwickelte italienische Technik und den Mut der Italiener galt es zu demonstrieren. Der Ingenieur Nobile erhielt Geld zum Bau eines neuen Luftschiffs, wurde kurzerhand zum Oberst befördert und vor seinem selbständigen Polflug zum General ernannt. Nobile bemerkte den Mißbrauch seiner Fähigkeiten nicht, vielleicht wollte er ihn auch nicht wahrhaben. Er wollte Luftschiffe bauen und fliegen. Das war ihm das wichtigste. Mochten es Politiker oder Militärs ansehen, wie sie wollten, er sah seine eigenen Wünsche erfüllt. Ein riesiges Aufgebot von Presseleuten und Fotografen wohnte der Zwischenlandung in Stolp bei. Die linksgerichtete Presse reagierte im allgemeinen zurückhaltend auf den bombastischen Rummel um diesen Nordpolflug. In den Blättern, die zum Presse- und Meinungskonzern des Monopolkapitalisten Hugenberg gehörten, wurde in den Berichten über die Expedition gefordert, es wäre an der Zeit, deutsches Nationalbewußtsein durch ähnliche Aktionen zu stärken. Vierzehn Tage vergingen, bevor die durch Sturm verursachten Schäden ausgebessert waren und der Flug fortgesetzt werden konnte. Vadsö in Norwegen wurde am 4. Mai, Kings-Bay am 6. Mai erreicht. Hier ankerte das Basisschiff „Citta di Milano". Kapitän Romagna war auch der Kommandant der Expeditionsbasis. Unter seiner Leitung war am Kings-Bay, im westlichen Spitzbergen, bereits ein Hangar für die „Italia" errichtet worden. Von hier aus sollte der Vorstoß zum Pol erfolgen. Noch 1350 Kilometer trennten die „Italia" vom Nordpol. Einige Probeflüge in Richtung Nordkap, Franz-Joseph-Land
und Nowaja Semlja verliefen zur Zufriedenheit Nobiles. Die „Italia" hatte sich bewährt. Am 23. Mai, morgens um 5.00 Uhr, war es soweit. In der Messe der „Citta di Milano" klangen die Sektgläser aneinander. „Italia" startete zum Pol. Unter der sechzehnköpfigen Besatzung befanden sich der tschechische Geophysiker Professor Franz Behounek und der bekannte schwedische Meteorologe und Polarforscher Professor Finn Malmgren. Er hatte bereits 1926 an der „Norge"-Expedition teilgenommen. Trotz der mit diesem Nordpolflug verbundenen propagandistischen Absichten hielt es die italienische Regierung für angebracht, zwei Ausländern, natürlich Wissenschaftlern, die Teilnahme an dem Flug zu ermöglichen. Damit konnte man die internationale Bedeutung des Unternehmens betonen. Der Flug verlief normal. Am Steuerrad standen abwechselnd die Offiziere Zappi, Mariano und Viglieri. Die technische Leitung hatten die Ingenieure Ceccioni und Trojani. Funker Biaggi war ununterbrochen beschäftigt, die von General Nobile aufgesetzten Situationsberichte und die Standortmeldungen zu senden. Die Flugroute verlief entlang dem 27. Längengrad. Das Tag und Nacht gleich grelle Licht des nördlichen Sommers machte allen an Bord trotz ihrer Sonnenbrillen zu schaffen. Von dem Packeis war nichts zu sehen. Eine dichte Dunstschicht lag über der Erdoberfläche. Die Erregung der Männer im Luftschiff steigerte sich zur Hochstimmung. Gleich mußte der Pol erreicht werden. Wenn auch Professor Malmgren und Professor Behounek innerlich von dieser Erregung erfaßt wurden, bewahrten sie doch völlige Ruhe. Keine Minute lang
Verließen sie ihre Meßgeräte in der Führergondel. Eine halbe Stunde nach Mitternacht - der 24. Mai hatte begonnen - erreichte das Luftschiff den Pol. Die Männer umarmten sich, riefen: „Evviva Italia." Eine Flasche Eierlikör machte die Runde. Nobile ließ das Luftschiff tiefer heruntergehen. In zweihundert Meter Höhe erkannte man endlich das Eis. Im Nebel war eine graue zusammengeschobene und zerklüftete Eiswüste zu sehen. Dem einen oder anderen der Männer schauderte es für Augenblicke. Das Ziel ihrer Träume und Wünsche - der Nordpol -war erreicht. Aber was ihre Augen erblickten, war wenig einladend. Doch zum Nachdenken blieb keine Zeit. Die Trikolore und das Kreuz des Papstes wurden abgeworfen. Beide Gegenstände verschwanden im Nebel. Zwei Stunden lang schwebte das Luftschiff im Kreis über dem Pol. In dieser Zeit funkte Biaggi die Nachricht von der Bezwingung des Nordpols durch Nobile mit „Italia". Der Funker wußte, daß sich die Presseagenturen in aller Welt um seine Funksprüche reißen würden. Um 2.30 Uhr gab Nobile den Befehl zum Rückflug. Der Wind stand günstig, aber der Nebel verdichtete sich. Die Erregung und die Anspannung der Männer im Luftschiff wichen tiefer Erschöpfung. Sie spürten auf einmal die Kälte, die sie in ihrer Aufregung nicht wahrgenommen hatten. Millionen feinster Eiskristalle legten sich auf die Hülle und ließen das Luftschiff langsam schwer werden. Der Wind begann sich zu drehen und wehte bald zunehmend von steuerbord vorn. Die Leistung der Motoren wurde auf das äußerste erhöht, aber die Fluggeschwindigkeit verringerte sich auf vierzig Kilometer je Stunde. In den
Abendstunden steigerte sich der Wind zum Sturm. Nobile wurde unruhig. Seine Unruhe übertrug sich auf die gesamte Besatzung. Die ganze Nacht über kämpften die Männer gegen den Sturm und die Vereisung des Schiffes. Doch das Schiff wurde immer schwerer. Eine geschlossene Eisschicht umgab bereits die Hülle. An ein genaues Navigieren war längst nicht mehr zu denken. Unaufhörlich sackte das Luftschiff tiefer. Korvettenkapitän Zappi gab in den Morgenstunden des 25. Mai den von ihm vermuteten Standort an Funker Biaggi. Nach Zappis Meinung befand sich das Luftschiff nordwestlich der Moffen-Insel. Unter normalen Verhältnissen müßten sie in drei Stunden beim Basisschiff in Kings-Bay sein. Diese Meldung war der letzte Funkspruch, den Biaggi vom Luftschiff aus aufgab. Das Luftschiff fiel tiefer und tiefer. Plötzlich tauchten unten aus dem Nebel zerklüftete Berge von Eis und bizarre Risse auf. Höchstens noch sechzig bis siebzig Meter befand sich das Luftschiff über dem Eis. Nobile schwieg. Was sollte er auch sagen? Er wußte es, wie jeder an Bord es wußte. Es konnte nur noch Minuten dauern bis zur Katastrophe. Von der Hochstimmung, die am Pol geherrscht hatte, war an Bord nichts mehr zu spüren. Plötzlich sackte das Luftschiff ruckartig durch, als habe der Sturm oder die Eisschicht die Hülle eingedrückt, und das Gas konnte entweichen. Es schien, als stürzte das zerfurchte Eis an die Luftschiffgondel heran. Entsetzen stand in den Augen der Männer. Da splitterte und krachte es. Das Luftschiff „Italia" zerschellte auf dem Polareis. Das geschah am Vormittag des 25. Mai 1928.
Das Luftschiff Italia
Ein Schiff läuft aus Die Zeitungen in aller Welt veröffentlichten die Nachricht von dem Funkspruch, den der sowjetische Funkamateur Nikolai Reinhold Schmidt im Dorf Wosnessenskoje, südwestlich von Archangelsk, aufgefangen hatte. Dabei war es in jener Nacht für Nikolai Schmidt gar nicht so einfach gewesen, den schlaftrunkenen Vorsitzenden des Dorfsowjets von der Richtigkeit des empfangenen Hilferufs zu überzeugen. Bisher hatte man ja den eifrigen Amateurfunker nicht allzuernst genommen. Und selbst im Gebietssowjet von Wjatka hatten die Anrufer aus Wosnessenskoje einige Mühe mit dem Überzeugen. Am frühen Morgen jedoch war die
Meldung an der richtigen Stelle in Moskau angekommen: im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten. Der Direktor des Arktischen Instituts in Leningrad, Professor Samoilowitsch, wurde gebeten, diese Nachricht zu überprüfen. Professor Samoilowitsch verglich die Positionsangabe der „Italia" aus dem Funkspruch von Nikolai Schmidt mit den Wettermeldungen der meteorologischen Stationen des Nordens, die vom Zeitpunkt der vermutlichen Katastrophe vorlagen. Der Wissenschaftler hielt den Aufenthalt von Überlebenden des Luftschiffs im Gebiet der Insel Foyn für möglich. Die Expeditionsleitung auf der „Citta di Milano" tat den von Schmidt aufgefangenen Funkspruch als lächerlich ab. Nach Einschätzung der Experten des Basisschiffes wäre es völlig ausgeschlossen, daß sich das Luftschiff oder Überlebende in der Gegend der Insel Foyn befänden, sondern bestenfalls im Gebiet der viel weiter westlich liegenden Moffen-Insel. Unermüdlich funkte die „Citta di Milano", daß sich bereits die „Braganza", ein norwegisches Walfangschiff, durch das Eis nordwärts kämpfe, um das Luftschiff zu suchen. In Mailand habe sich bereits ein Hilfskomitee gebildet. Der Fliegerhauptmann Maddalena stehe vor dem Start mit einem gutausgerüsteten großen Flugzeug. Verschiedene Länder, wie Schweden, Kanada und andere Staaten, hätten Hilfsaktionen eingeleitet. Selbst der berühmte Amundsen bereite mit einer französischen Fliegergruppe eine Suchaktion vor. Es war offensichtlich: Die Regierung des faschistischen Italiens wollte auf keinen Fall, daß sich die Sowjetunion, der erste sozialistische Staat der Welt, in irgendeiner Form an der Rettung der „Italia"-Besatzung beteiligte.
Die Weltpresse hatte ihre Sensation. Die Leser sollten nicht die Ursachen und Hintergründe der Katastrophe der „Italia" erfahren, sie sollten spannend unterhalten und vom Nachdenken über die Zusammenhänge abgehalten werden. So wurde auch der von Nikolai Schmidt aufgefangene Funkspruch aufgemacht. In manchen Blättern wurde anfangs die Meldung so veröffentlicht, daß der Leser zweifeln sollte: Dieser Kolchosbauer aus einem vergessenen russischen Dorf wäre doch nicht ernst zu nehmen. In der Sowjetunion nahm man die Diffamierung durch die Sensationspresse zur Kenntnis, regte sich aber nicht weiter darüber auf. Man war es gewohnt. Vielmehr bereitete man tatkräftige Hilfe vor. Innerhalb weniger Stunden wurde das „Komitee zur Rettung der Nobile-Expedition" gegründet. In Leningrad stellte sich Professor Samoilowitsch an die Spitze des Komitees. Die Finanzierung übernahm die Massenorganisation „Osoaviachim", die Gesellschaft zur Unterstützung der Verteidigung der UdSSR, zu der sich im Januar 1927 ähnliche Organisationen, wie die Gesellschaft der Freunde der Luftflotte und der Verband für die chemische Verteidigung, zusammengeschlossen hatten. Gewerkschafter, Kolchosbauern, Parteimitglieder, Künstler und Wissenschaftler folgten dem Aufruf der „Osoaviachim" und spendeten Geld für das Hilfskomitee. Alsbald begann die reaktionäre Presse im kapitalistischen Ausland das sowjetische Hilfskomitee zu verleumden. In Berichten und Kommentaren wurde behauptet, die Sowjetregierung plane damit nur einen Propagandafeldzug, um sich selbst aufzuwerten. Doch die Millionen Sowjetbürger berührte das nicht. Die kommunistische Moral war eine andere als die der
Sensationsmacher, die so großsprecherisch den Nordpolflug des Luftschiffs verkündet hatten. Menschen drohte in der Eiswüste des Nordens Lebensgefahr. Für die Sowjetbürger blieb es gleichgültig, daß diese Menschen Vertreter eines faschistischen Staates waren. Das Gebot der Menschlichkeit ist für jeden Kommunisten eine selbstverständliche Pflicht. Der Eisbrecher „Malygin" liegt in seinem Heimathafen Archangelsk. Kapitän Tschertkow und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Professor Wiese erhalten am 12. Juni den Auftrag, in Richtung der Insel Foyn auszulaufen. An Bord befindet sich ein Flugzeug, ausgerüstet mit Kufen. Pilot ist der erfahrene Polarflieger Babuschkin. Michail Babuschkin hat im Jahre 1926 zur Unterstützung des Robbenfangs Flüge über das Weiße Meer und die Barents-See unternommen und die erste Kufenlandung auf dem Treibeis ausgeführt. Die ganze Besatzung ist erfüllt von ihrem Auftrag. Der Eisbrecher „Malygin" ist berühmt. Vielen Schiffen in der Kara-See und in der Ob-Mündung hat er schon geholfen. Er macht seinem Namen, den er nach einem russischen Leutnant der „Großen Nordischen Expedition" von 1733/43 erhalten hat, alle Ehre. Die Besatzung wird ihr Letztes geben, um den Männern auf dem Eis zu helfen. Alle an Bord kennen die Gefahren im ewigen Eis, die Entbehrungen der Arktis, und sie sind bereit, für die Rettung anderer ihr eigenes Leben einzusetzen. In Erkenntnis der äußerst extremen Bedingungen des Polargebiets trifft das sowjetische Hilfskomitee eine weitere Entscheidung. Wohl gibt es volles Vertrauen zur Führung und zur Besatzung des Eisbrechers „Malygin", aber für das Komitee hieße es leichtfertig handeln, alle
Hoffnungen allein auf diesen Eisbrecher zu konzentrieren. Schon über einundeinhalbes Jahr liegt der Eisbrecher „Krassin" im Hafen von Leningrad. Er soll in der Werft überholt und für eine neue Fahrt ins Nördliche Eismeer ausgerüstet werden. Der Eisbrecher „Krassin" ist der Stolz der sowjetischen Eisbrecherflotte. Seit Jahren ist er ständig im Einsatz gewesen. Das Schiff wurde 1917 in russischem Auftrag auf der englischen Werft Armstrong Whitworth & Co in Newcastle gebaut. Es erhielt den Namen „Swiatogor" und war der größte Eisbrecher der Welt. Die englischen Interventionstruppen unter General Miller raubten im Jahre 1919 den Eisbrecher in Murmansk und brachten ihn nach England. Zu dieser Zeit war schon ein Beschluß des Rates der Volkskommissare zur Ausrüstung und Entsendung einer „Expedition zur Erforschung des Nördlichen Eismeeres" gefaßt worden. Lenin hatte sich bereits im Frühjahr 1918 über die Erschließung des hohen Nordens und des Nördlichen Seeweges berichten lassen. Der wirtschaftliche Aufbau Sowjetrußlands erforderte die Nutzung der Rohstoffvorkommen Sibiriens und des hohen Nordens und die Errichtung einer Industrie in diesen Gebieten. Die.Bevölkerung des europäischen Teiles von Sowjetrußland brauchte außerdem den sibirischen Weizen. Dieser konnte damals nicht nur auf dem Schienenweg transportiert werden. So wurde die I. Karische Expedition vorbereitet. Nach der Befreiung der Gebiete von Archangelsk und Murmansk durch die Rote Armee im Februar 1920 konnte im August 1920 ein Konvoi von achtzehn Schiffen den Hafen von Archangelsk verlassen. Die Karischen Ex-
peditionen wurden fortgesetzt. Lenin unterzeichnete zwei Dekrete für die weitere Erschließung der nördlichen Gebiete. Danach sollten an den Mündungen der sibirischen Flüsse Häfen gebaut werden. Für die Schiffahrt auf dem Nördlichen Seeweg und für den Kauf von Maschinen für die künftige sibirische Industrie wurden sieben Millionen Goldrubel bewilligt. Der Eisbrecher „Malygin" wurde mit hydrographischen Forschungen in der Barents- und der Kara-See beauftragt. Dann geschah es. Der Eisbrecher „Malygin" saß im Eis vor der Timan-Küste fest, und es bestand Lebensgefahr für die gesamte Besatzung. Nur der Eisbrecher „Swiatogor" war in der Lage, das Eis aufzubrechen und die „Malygin" vor dem Zerquetschen zu bewahren. Die Sowjetregierung forderte deshalb energisch, daß ihr Eigentum von den Engländern zurückgegeben wurde. Die englische Regierung verlangte für die Auslieferung des Schiffes 30000 Pfund Sterling - 600000 Mark. Die Sowjetregierung war gezwungen, dieser Erpressung nachzugeben. Das war eine der zahlreichen Repressalien imperialistischer Mächte gegen den jungen Sowjetstaat. Die Verhandlungen über die Freigabe des Eisbrechers führte der Volkskommissar für Handel und Industrie, der zeitweilig auch die Funktion des Volkskommissars für Verkehr übernommen hatte, L. B. Krassin. Ihm zu Ehren erhielt das Schiff seinen Namen. An Bord des Eisbrechers „Krassin" befinden sich 1928 nur fünfundzwanzig Mann der Besatzung, gleichsam als Werftbemannung. In fieberhafter Eile werden die an Land gegebenen Ausrüstungsgegenstände wieder an Bord gebracht. Die übrigen Besatzungsmitglieder
werden herbeitelegrafiert. Zum Kapitän wird der berühmte Polarfahrer Eggi berufen. Als Erster Offizier wird der ebenfalls erfahrene Eisbrecherfahrer Ponomarew eingesetzt. Boris Tschuchnowski, einer der bekanntesten Polarflieger der Sowjetunion, wird mit seinem Flugzeug auf der „Krassin" erwartet. Genosse Oras, ein noch junger, aber bewährter Parteiarbeiter, wird der politische Kommissar an Bord. Die Expeditionsleitung auf der „Krassin" übernimmt der Vorsitzende des Leningrader Hilfskomitees, Professor Samoilowitsch. Rudolf Lasarewitsch Samoilowitsch war wegen seiner Teilnahme an der Revolution von 1905 nach dem Gouvernement Archangelsk verbannt worden. Als Geologe nahm er in den Jahren von 1912 bis 1915 an Forschungsreisen auf Spitzbergen und danach im russischen Norden teil. Bevor er an das Arktische Institut berufen wurde, leitete er unter anderem auch eine Expedition zur Untersuchung der Fischereimöglichkeiten in den nördlichen Gewässern. Es ist eine Meisterleistung der Organisation. Innerhalb von zehn Tagen wird das Schiff fahrbereit gemacht und für die Polarfahrt ausgerüstet. Von der Zwiebel in der Kombüse bis zum Ersatzteil für das Flugzeug - es fehlt nichts. Niemand von der Besatzung geht für länger als zwei Stunden Schlaf in seine Koje. Viele Freiwillige melden sich für die Hilfsexpedition, aber aus verständlichen Gründen müssen sie zurückgewiesen werden. Am 15. Juni 1928 verläßt die „Krassin" den Hafen von Leningrad. Die Reiseroute wird durch die Ostsee, das Kattegat, die Nordsee bis hinauf nach Spitzbergen führen. An Bord befinden sich 136 Menschen.
Auf de m Eis Nachdem die „Italia" auf das Eis gestürzt war, trieb der Sturm das Luftschiff über das zusammengeschobene Packeis dahin. Alle Gondeln zersplitterten und rissen ab. Die leichter gewordene Hülle erhielt wieder Auftrieb, und der Sturm trug sie davon. Bei dem Aufprall befanden sich zehn Männer in den Gondeln und sechs in dem schmalen Laufgang der Hülle. Weit verstreut lagen die Trümmer auf dem zerklüfteten Eis. Es vergingen einige Stunden, bis sich die Überlebenden zusammenfanden. Die meisten von ihnen waren verletzt. Für sie war es eine qualvolle Anstrengung, in der Kälte über Eisblöcke zu kriechen. Immer Wieder fielen die Männer in mit Schnee angefüllte Spalten. Der Sturm wirbelte Eiskristalle und Schnee auf, peitschte schmerzend die Gesichter, verstopfte Mund, Nase und Ohren. In den Nachmittagsstunden ließ der Sturm nach. Neun Männer hatten sich auf einer einigermaßen ebenen Fläche zusammengefunden. Es waren: General Nobile, die Ingenieure Trojani und Ceccioni, die beiden Wissenschaftler Malmgren und Behounek, der Funker Biaggi und die Offiziere Zappi, Mariano und Viglieri. Zu den Schwerverletzten gehörten Ceccioni mit gebrochenen Beinen, Nobile, der sich einen Arm und ein Bein gebrochen hatte, und Professor Malmgren, dessen linke Körperhälfte gelähmt war. Alle anderen hatten Hautabschürfungen, Prellungen und Verstauchungen erlitten. Der Mechaniker Pommela wurde tot neben seiner zertrümmerten Motorengondel gefunden.
Und die anderen sechs? Takelmeister Alessandrini und seine Männer trieben mit der Hülle des Luftschiffs davon. Von ihrem Schicksal sollte die Welt niemals etwas erfahren. Freude darüber, daß sie noch am Leben waren, wollte bei den neun Männern auf dem Eis nicht aufkommen. Nachdem sie die erste Niedergeschlagenheit überwunden hatten, begannen sie das Trümmerfeld nach Brauchbarem abzusuchen. Professor Behounek bemühte sich um die Verletzten. Die Ausbeute des Suchens war erfreulich. Einer der Männer stolperte über ein verpacktes Leinwandzelt. Es war schnell aufgeschlagen, und zunächst wurden die Verletzten auf Wolldecken und Schlafsäcke gebettet. Später malte Biaggi mit Anilinfarbe violette Streifen auf das Zelt. Deshalb wurde es dann das „rote Zelt" genannt. Professor Behounek und Korvettenkapitän Zappi fanden in der Nähe des Lagerplatzes zahlreiche Konservenbüchsen. Viele Büchsen enthielten Pemmikan, ein Nahrungsmittel für Polarexpeditionen, das aus getrocknetem Rentierfleisch, Fett und Gemüse zubereitet wird. Unter den Trümmern der Führergondel entdeckte Biaggi ein leicht zu reparierendes Kurzwellenfunkgerät. Triumphierend brachte er das Gerät zum Zelt geschleppt. Die Männer jubelten. Das Funkgerät würde die Rettung sein. Nur ein paar Tage, vielleicht nur noch Stunden müßten sie ausharren, dann würde man sie vom Eis herunterholen. Biaggi stöberte noch einmal im Trümmerhaufen der Luftschiffgondel und fand einen Sextanten und ein Chronometer. Professor Malmgren bestimmte den Standort. Er stellte überrascht fest, daß sie sich nicht, wie noch im Luftschiff
angenommen, in der Gegend der Moffen-Insel, sondern etwa dreißig Kilometer nördlich der einsamen, vereisten Insel Foyn befanden, also viel weiter östlich, als Biaggi mit der letzten Positionsmeldung angegeben hatte. Der neue Standort mußte deshalb bald gefunkt werden. Funker Biaggi arbeitete fieberhaft an dem beschädigten Gerät. In den Abendstunden hatte er es geschafft. Trotz der Kälte flossen Schweißbäche über sein Gesicht. Es war nahezu ein feierlicher Augenblick, als er vor den Umstehenden das Empfangsgerät zur ersten Funktionsprobe einschaltete. Ein Handgriff an dem Skalaknopf, und schon hielt er den Neugierigen die Kopfhörer hin. Musik, schwungvolle Rhythmen von irgendeinem Sender in Europa oder in Kanada. Trojani nahm die Hörer ans Ohr. Aus welcher Welt kamen diese Töne? Dann schaltete Biaggi auf den Sender um. Alle Augen blickten auf seinen rechten Mittelfinger, der die Sendetaste bediente. Atemlos sahen die Männer zu, wie Biaggi wieder auf Empfang umschaltete und die Kopfhörer zurechtrückte. Biaggi sendete immer wieder, horchte. Doch niemand meldete sich auf seine SOSRufe. So vergingen die ersten Tage. Unruhe erfaßte die Männer. Warum hörte sie niemand? Vielleicht war das Gerät zu schwach? Biaggi sendete zu den verschiedensten Zeiten. Er erhielt keine Antwort, aber er konnte den Funkverkehr anderer Stationen verfolgen. Es entging ihm kaum einer der Funksprüche von der „Citta di Milano". Biaggi erlebte, wie man vom Basisschiff aus die Weltöffentlichkeit irreführte. Nobile wäre mit dem Luftschiff auf das Eis niedergegangen, um besseres Wetter abzuwarten. Zur Besorgnis gäbe es keinen Anlaß,
denn das Luftschiff hätte für siebzig Tage Proviant an Bord. Auf der „Citta di Milano" Würde der triumphale Empfang der Nordpolhelden vorbereitet. Doch dann wurden die Funksprüche von der „Citta di Milano“ seltener, enthielten keine neuen Angaben über die Luftschiffexpedition. Und Biaggi nahm auch den Funkspruch auf, in dem eingestanden wurde, daß die „Italia" überfällig war. Sie wäre in der Gegend der Moffen-Insel verschollen. Viele der Funkstationen, die immer dringender bei der „Citta di Milano“ nach der „Italia" gefragt hatten, konzentrierten nun ihre Aufmerksamkeit auf das Gebiet der Moffen-Insel. Funker Biaggi zwang sich zur Ruhe. Immer wieder setzte er seinen Hilferuf ab. Und immer wieder hörte er statt einer Antwort die Spekulationen, Hoffnungen und Vermutungen um den Verbleib der „Italia". In den Gesprächen der Männer auf dem Eis wurden die ersten Vorwürfe laut. Sie richteten sich vor allem gegen Nobile. Warum hatte man bei der Vorbereitung des Polflugs den Katastrophenfall nicht mit einkalkuliert? Dachte man nur an den Erfolg, einzig und allein? Warum waren auf dem Nordkap von Spitzbergen und so weit wie möglich auf das Eis vorgeschoben, keine Sicherungsstützpunkte angelegt worden? Ja, nicht einmal ein Arzt befand sich unter der Besatzung. Nobile antwortete nicht auf diese Vorwürfe. Was sollte er auch erwidern? Er hatte sich drängen lassen. Die Regierung wollte den Erfolg haben. Und in seinem Eifer hatte er nur das Ziel gesehen: den Pol. Die Möglichkeit eines Unfalls hatte er kaum bedacht, nicht mehr jedenfalls, als für die bestmögliche Ausrüstung des Luftschiffs nötig gewesen war.
Professor Behounek und Professor Malmgren hielten sich bei diesen Gesprächen besonnen zurück. Was nützten jetzt Vorwürfe? Wohl spürten sie die sich regende Einsicht bei Nobile. Er wollte Luftschiffe bauen, hatte nicht darüber nachgedacht, weshalb man seine Pläne gefördert hatte. Seine Fähigkeiten, seine Kenntnisse waren mißbraucht worden, aber diese Erkenntnis verminderte nicht seine Schuld. Und nun lastete die Verantwortung auf ihm, die Verantwortung für den mißglückten Flug, für die Männer hier auf dem Eis und für die sechs in der Luftschiffhülle. Wiederholt hatten die beiden Offiziere Zappi und Mariano heimlich Absprachen geführt. Dann erläuterten sie einen Vorschlag. Sie wollten versuchen, im Fußmarsch das Nordkap von Spitzbergen zu erreichen. Zappi war der Wortführer. Er, ein Hüne von Kerl, hatte den Absturz gut überstanden. Seine Art der Ausführungen wirkte herausfordernd. Zappi betonte, er wollte für alle von Spitzbergen aus die Rettung organisieren. Mariano - den er offensichtlich überredet hatte - wäre zu diesem Marsch bereit. Korvettenkapitän Zappi schloß seinen Vorschlag mit der Forderung, Professor Malmgren, der erfahrendste Arktiskenner unter ihnen, müßte sie begleiten. Nobile lehnte Zappis Ansinnen vorerst ab. Noch hoffte er auf eine Funkverbindung. Professor Malmgren warnte, er kannte die Gefahren eines Fußmarsches in der Arktis. Auch Professor Behounek fand Zappis Vorschlag bedenklich. Doch die anderen drängten Nobile zuzustimmen. Fünf Tage schon versuchte Biaggi erfolglos, Funkverbindung zu bekommen. Nobile gab nach, bat Professor Malmgren, der sich wieder bewegen konnte, sich Zappi und Mariano anzuschließen. In der Nacht des 30. Mai brach die Gruppe Zappi auf.
Alles, was man an Lebensmitteln entbehren konnte und was die drei zu schleppen vermochten, hatten sie in Rucksäcken verstaut. Alle guten Wünsche der sechs Zurückbleibenden begleiteten die drei.. Die Hoffnungen der sechs Männer auf dem Eis belebten sich nach dem Abmarsch der Gruppe Zappi wieder etwas. Wenige Tage danach erfuhr Biaggi aus dem Funkverkehr, daß ein sowjetischer Amateurfunker seinen Hilferuf aufgefangen hatte. Doch erst am 7. Juni, dreizehn Tage nach dem Absturz, kam die erste Funkverbindung zwischen den Schiffbrüchigen auf dem Eis mit der „Citta di Milano“ zustande.
Ein „Teufelskerl" Am 19. Juni sitzt der Eisbrecher „Malygin" bei 76°30' nördlicher Breite im Eis fest. Die Besatzung hat bis zur Erschöpfung gearbeitet. In den letzten sechs Stunden ist der Eisbrecher nur fünfhundert Meter vorwärts gekommen. Kapitän Tschertkow befiehlt eine Ruhepause. Am nächsten Tag soll es weitergehen. Unaufhörlich kämpft sich die „Malygin" durch das Eis. Einen halben Tag lang ächzt die Maschine, und wieder sind es nur Meter, die das Schiff zurücklegen kann. Bis zur Insel Foyn sind es noch über vierhundert Kilometer. Babuschkin bereitet das Flugzeug zum Start vor. Da die Entfernung bis zur Insel Foyn zu groß ist, beabsichtigt er, auf halber Distanz, auf den König-Karl-Inseln, ein Treibstoffdepot anzulegen und dann zurückzufliegen. Später will er von diesem Depot aus zum „roten Zelt" fliegen.
Vier Tage muß Babuschkin warten, bis das Wetter den Flug erlaubt. Die Maschine steht startbereit auf einer mit viel Mühe hergerichteten Startbahn. Am 24. Juni startet er. Außer Babuschkin sind Mechaniker Groschew und Kameramann Valentin an Bord. Die Maschine findet bei den König-Karl-Inseln einen Landeplatz. Das Treibstoffdepot wird angelegt und sogleich der Rückflug angetreten. Da setzt wieder schlechtes Wetter ein. Es nützt alles nichts, die Maschine muß hinunter. Babuschkin bietet alles Können auf, und die Landung gelingt auf einer kleinen ebenen Fläche zwischen aufgetürmtem Packeis. Die ganze Nacht verbringen die drei Flieger in der Kabine. Eisbären kommen heran und beschnuppern das Flugzeug. Abwechselnd verjagen die drei sie mit Revolverschüssen. Am nächsten Tag kehrt die Maschine wieder zur „Malygin" zurück. Da der Motor defekt ist, muß er ausgewechselt werden. Unermüdlich arbeiten Babuschkin, sein Mechaniker und einige Helfer. Über dem Eis liegt dichter Nebel. Am 29. Juni startet Babuschkin wieder. Nach einer Dreiviertelstunde Flug bricht die Funkverbindung zur „Malygin" ab. Babuschkin bleibt zuversichtlich. Das Wetter ist günstig, auf dem Rückflug wird er die „Malygin" schon wieder finden, auch ohne Funkverbindung. Kapitän Tschertkow will versuchen, die „Malygin" näher an die König-Karl-Inseln heranzubringen. Bald erreicht Babuschkin das Depot. Die Männer laden die Treibstoffkanister aus und starten sofort zum Rückflug. Das Wetter wird zusehends schlechter. Sturm kommt auf, und dichter Nebel breitet sich aus. Die Maschine muß hinunter. Alle Augen suchen
angespannt nach einer Landefläche. Es gelingt. Babuschkin schätzt die Entfernung zur „Malygin" auf einhundertzwanzig Kilometer. Drei Tage sitzen die Flieger im heulenden Sturm in der Kabine. Der Sturm läßt nicht nach. Soll die Maschine nicht vereisen, so muß Babuschkin das Unmögliche wagen. Zwischen zwei Sturmböen startet er. Das Flugzeug wird hin und her geworfen, aber es fliegt. Doch dann drückt der Sturm es wieder hinunter. Es bleibt nichts weiter übrig, es muß zu neuer halsbrecherischer Landung angesetzt werden. Im peitschenden Sturm hocken die drei Flieger in der Kabine. Da poltert etwas gegen das Fahrwerk. Jedem ist klar, was das bedeutet. Babuschkin reißt die Tür auf. Mit einem gezielten Revolverschuß in den Kopf bringt er einen großen Eisbären zur Strecke. Die Hintertatzen werden als Trophäe abgeschnitten. Am vierten Tag seit ihrem Abflug von der „Malygin" legt sich der Sturm. Babuschkin startet. Er strebt der Stelle zu, wo er die „Malygin" vermutet. Die Sicht ist schlecht. Der Benzinvorrat geht zur Neige. Der Pilot will nicht planlos umherkurven, deshalb entschließt er sich zur erneuten Landung. Die fünfte Nacht auf dem Eis. Das Leben der drei Flieger scheint keine Kopeke mehr wert zu sein. Auf einer Eisscholle überdenken sie ihre Lage. Der Mechaniker überprüft die Startbahn. Nach ein paar Schritten fällt er durch eine Eisspalte ins eiskalte Wasser. Mit Mühe wird er wieder geborgen. Naß und frierend hocken alle drei in der Kabine nebeneinander. Die Überprüfung des Treibstoffs zeigt, daß er bei sparsamstem Verbrauch noch für eine knappe Drei-viertelstunde Flug reicht. Es muß gewagt werden. Mit den letzten Benzintropfen im Tank entdeckt Babuschkin am Horizont Rauchwolken ...
Die Freude an Bord war groß. Fünf Tage hatte man von Babuschkin nichts gehört. Beschlich viele Männer der Besatzung bereits Sorge um den erfahrenen Flieger, so waren es ebenso viele, die an einer Rückkehr des „Teufelskerls" Babuschkin nicht eine Sekunde lang zweifelten. Die „Malygin" ist inzwischen in eine günstige Drift geraten. Das Eis bricht über weite Strecken auf. Der Eisbrecher kann sich an das Kap Leigh Smith heranschieben. Inzwischen weiß man aus Funksprüchen die Position der Schiffbrüchigen. Bis zum „roten Zelt" sind es kaum mehr als zweihundert Kilometer. Die nördliche Breite von 78°55' wird erreicht. Noch zweihundert Kilometer. Für Babuschkin und seine Freunde kein besonderes Hindernis mehr. Doch wieder liegt dichter Nebel über dem Eis. Verbittert warten die Flieger vier Tage. Unentwegt sind ihre Gedanken bei den sechs Männern auf der nordwestlich vor ihnen treibenden Eisscholle. Endlich kann die Maschine starten. Wer an Bord des Eisbrechers nur irgendwie abkömmlich ist, sieht dem Start zu. Da passiert es. Die Kufen und das Gestänge gehen zu Bruch. Die Maschine dreht sich ein paarmal im Kreis und bleibt dann bewegungslos liegen. Fünfzehn Starts und Landungen auf dem zerfurchten Eis sind für die Kufen zuviel gewesen. Die Maschine muß an Bord genommen werden, aber kann hier nicht repariert werden. Bäbuschkin und seine Freunde haben Tränen in den Augen. Die „Malygin" setzt ihren Kurs durch das sich verdichtende Eis fort, kommt nur mühsam vorwärts. Dann
muß eine Entscheidung getroffen werden: Der Kohlenvorrat reicht nur noch für die Rückfahrt. Die „Malygin" verläßt das Eisgebiet. Die Besatzung der „Malygin" hat die Gewißheit, das Menschenmögliche zur Rettung der Überlebenden der „Italia"-Expedition unternommen zu haben. Alle hoffen jetzt, daß die „Krassin" den Auftrag erfüllen wird. Diese Hoffnung begleitet die Männer auf der „Malygin" bei ihrer Fahrt nach Archangelsk.
Befehl an Nobile Nach dem Abmarsch der Gruppe Zappi und der seit dem 7. Juni bestehenden Funkverbindung mit der „Citta di Milano“ machte sich bei den sechs Zurückgebliebenen auf dem Eis etwas bemerkbar, was sie als Eiswahn bezeichneten. Je besser der Funkverkehr mit dem Basisschiff wurde, um so rapider sank die Hoffnung auf Rettung. Biaggi empfing immer neue Meldungen von der „Citta di Milano“ über die begonnenen Aktionen für ihre Rettung. Vertreter von achtzehn Nationen beteiligten sich schon daran, aber die Männer im „roten Zelt" spürten nichts von dieser Hilfe. Resignierend verfolgten sie, wie ein Versuch nach dem anderen scheiterte. So blieb die norwegische „Braganza", die Italien gechartert hatte, hilflos im Eis stecken. Man versuchte mit Hundeschlitten weiterzukommen. Auch das mißlang. Dann bemühten sich schwedische Flieger, die Absturzstelle zu erreichen. Der Erfolg blieb bisher aus. Ein anderes Bergungsschiff, die „Hobby", blieb ebenso wie die „Braganza" im Eis stecken.
Am 18. Juni ging abermals eine Sensationsmeldung um die Welt. Der berühmte Amundsen sei mit dem großen französischen Doppeldecker „Latham" unter der Führung des Flugkapitäns Guilbaud gestartet. Doch die Männer auf dem Eis wurden immer apathischer. Sie hörten schon gar nicht mehr hin, wenn Biaggi mit neuen „Botschaften" kam. Ceccioni stöhnte, wenn er sich auf die andere Seite wälzte. Die Brüche an beiden Beinen heilten schlecht. Die von ihm mit Hilfe von Professor Behounek angelegten Schienen waren wenig fachgerecht. Trojani hatte die ersten Halluzinationen. Er wollte sich die Kleider vom Leibe reißen. Nur mit Gewalt konnte er daran gehindert werden. Da hörte als erster Viglieri - es war der 20. Juni Motorengebrumm. „Die Rettung! Die Rettung!" schrie fortwährend Trojani. Ein Flugzeug kam herangebraust. Es war Hauptmann Maddalena mit seiner Maschine. „Viva Italia!" brüllte Funker Biaggi. Die Männer lagen sich, weinend vor Freude, in den Armen. Aber was war das? Warum landete die Maschine nicht? Sie schien groß genug, um sie alle von hier wegzuholen. Unaufhörlich zog sie Kreise über dem „roten Zelt". Dann ging ein kleiner Signalfallschirm nieder. Maddalena teilte mit, daß die Maschine zu groß sei, um auf der zerklüfteten Eisfläche landen zu können. Er werde wiederkommen. Sie sollten ausharren. Viva Italia! Im Dunst verschwand das Flugzeug. Diese Nachricht enttäuschte alle. Trojani begann weinerlich und hemmungslos auf den Faschismus, den Duce und den König zu schimpfen. Professor Behounek mußte Biaggi zurückhalten, damit dieser nicht mit den Füßen das Funkgerät zertrampelte.
Es schien, als bewahre nur Nobile die Ruhe. Er saß vor dem Zelt und schrieb. Niemand achtete darauf. Bis er das Blatt Papier dem Funker Biaggi reichte. Dieser Funkspruch sollte unverzüglich an die „Citta di Milano“ gegeben werden. Es war ein langer Funkspruch. Er enthielt die Erkenntnis, die Nobile in der fast einen Monat währenden Notlage auf dem Eis gefunden hatte. Es war keine Rechtfertigung seines bisherigen Verhaltens, vielmehr eine Abrechnung mit sich selbst. In voller Verantwortung für die gesamte Besatzung der „Italia" forderte er unverzügliche Koordinierung aller Hilfsmaßnahmen, vor allem die Einbeziehung der sowjetischen Eisbrecher, die für ihn ein wichtiger Garant aller Bemühungen um ihre Rettung seien. Es sei unverantwortlich, aus Italien Flugzeuge und Besatzungen heranzuschaffen, die keine Arktiserfahrungen hätten, nur in dem Bemühen, ausländischen Rettungsexpeditionen zuvorzukommen, vor allem denen der Sowjetunion. Er sei bereit, sein Versagen vor aller Welt einzugestehen, und es sei an der Zeit, daß es seine Auftraggeber auch tun würden. Der Funkspruch wurde von der „Citta di Milano“ unverzüglich nach Rom weitergeleitet. Hier löste er an höchster Stelle Unwillen aus. Es ergingen chiffrierte Verhaltungsregeln an Kapitän Romagna auf der „Citta di Milano“ und an die diplomatischen Missionen in jenen Ländern, die sich an Hilfsaktionen beteiligten. Die von Nobile geforderte Koordinierung erfolgte nicht. . Nachdem Hauptmann Maddalena nochmals über dem „roten Zelt" erschienen war, Proviant und allerlei Ausrüstungsstücke abgeworfen hatte, gelang am 23. Juni
dem schwedischen Flieger Lundborg mit seiner kleinen „Fokker"-Maschine die Landung. Seine Maschine konnte nur einen der Verunglückten aufnehmen. Es brauchte keine Beratung stattzufinden. Alle waren der Meinung, daß Ingenieur Ceccioni als erster gerettet werden müßte, denn ihm ging es am schlechtesten. Doch Lundborg hatte Befehl, zuerst Nobile aufzunehmen. Das sei eine ausdrückliche Weisung der italienischen Regierung. Nobile war bestürzt. Er ahnte, daß er isoliert werden sollte. Er weigerte sich, als erster gerettet zu werden. Daraufhin erklärte Lundborg, daß er dann, entsprechend seinem Befehl, ohne einen anderen mitzunehmen, zurückfliegen müßte. Lundborg war es anzumerken, wie ungern er diesen Auftrag ausführte. Da begannen die Leidensgenossen auf Nobile einzureden. Es wäre vielleicht sogar die beste Lösung, wenn er als erster mitfliegen würde. Nur er könnte die weiteren Maßnahmen zielgerichtet koordinieren. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, machte sich Nobile zum Flug fertig. Als er in die Maschine kletterte, unterdrückte er den Schmerz in seinem Bein. Der Bruch war noch immer nicht verheilt. Sein Gesicht hellte sich auch nicht auf, als er beim Start den Kameraden zuwinkte. Wenig später erschien Oberleutnant Lundborg mit seiner „Fokker"-Maschine wieder. Doch beim Landen ging das Flugzeug zu Bruch. Nun war er selbst Gefangener des Eises. Der Eiswahn griff weiter um sich. Entsetzt stellte es der schwedische Flieger fest. Am zweiten Tag schon saß auch er vor dem Zelt und stierte in die Ferne. Es gelang
ihm nicht, die anderen zu trösten. Er selbst hatte nur einen Wunsch - wieder weg von hier. In der Nacht vom 5. zum 6. Juli glückte dem schwedischen Leutnant Schyberg mit einer kleinen „Moth"-Maschine die Landung. Sein Befehl lautete, Lundborg zu retten. Die fünf Zurückbleibenden sahen stumpfsinnig dem Start des Flugzeugs zu.
Ein schwerer Entschluß Der Eisbrecher „Krassin" erreicht am 1. Juli das Nordkap von Spitzbergen. Die Eisfelder werden dichter. Bisher ist die lange Fahrt ohne nennenswerte Schwierigkeiten verlaufen. Jetzt beginnt der Kampf mit dem Eis. Bereits am 21. Juni war die „Krassin" in den Hafen von Bergen eingelaufen. Professor Samoilowitsch drängte darauf, daß schnellstens der Kohlenvorrat ergänzt und eine notwendige Reparatur an den Kesseln vorgenommen wurde. Die Norweger gaben dem Eisbrecher wenig Chancen für die Bergung der Schiffbrüchigen. Bereits vor drei Tagen war Amundsen gestartet, um Nobile und seine Männer vom Eis zu holen. Bisher hatte man zwar von Amundsen noch nichts wieder gehört, aber man wußte ja, daß er seine Unternehmungen stets vor den Augen der Welt verbarg, um hernach den erfolgreichen Abschluß, gleichsam als Überraschung, bekanntzugeben. Für die Norweger stand es völlig außer Zweifel, daß Amundsen der Sieger sein würde.
Doch für Professor Samoilowitsch, Kapitän Eggi, Kommissar Oras und die gesamte Besatzung hatte die Auffassung der Norweger keine Bedeutung. Sollte Amundsen die Rettung der Überlebenden gelingen, würde man sich freuen, in der Gewißheit, selbst das Menschenmögliche unternommen zu haben, um Menschen vor dem Tode zu retten. Unverdrossen ging die Besatzung ihrer Arbeit nach. Bereits wieder auf See, erreichte sie die Nachricht von der Rettung Nobiles durch den schwedischen Flieger Lundborg. Das löste zunächst Verwunderung aus. Wie war es möglich, daß sich der Kommandant zuerst retten ließ und seine Untergebenen zurückblieben. Doch bald fand sich dafür eine Erklärung. Professor Samoilowitsch bat das Basisschiff in Kings-Bay um Kontakt mit General Nobile, um Näheres über die Eisverhältnisse und die meteorologischen Bedingungen am Unglücksort zu erfahren. Dieser Kontakt wurde von Kapitän Romagna brüsk verweigert. Die Expeditionsleitung der „Krassin" verstand sofort, hatte man doch den anklagenden Funkspruch Nobiles selbst aufgefangen. Nun war es offensichtlich, daß man von italienischer Seite mit höchstem Unbehagen die sowjetischen Hilfsmaßnahmen verfolgte. Doch auch das störte die Besatzung der „Krassin" nicht, sie erfüllte getreu die Verpflichtung, die ihr die Millionen Menschen in der Heimat aufgetragen hatten. Das Schiff strebt mit hoher Fahrt nordwärts. Am 2. Juli liegt festes Wintereis vor dem Bug. Mit voller Kraft schiebt sich das Vorschiff der „Krassin" auf das Eis, und sein Gewicht zersplittert die mehr als einen Meter dicken Schollen. Die aufgebrochene Rinne füllt sich mit
zerstückelten Eisklumpen, die durch den Schraubensog herumgewirbelt werden. Es geht stetig, wenn auch langsam, vorwärts, manchmal nur Meter um Meter. Fünfzehn bis zwanzig Meter hohe Packeisberge türmen sich mitunter beiderseits des Schiffes. Dichtes Schneetreiben behindert immer wieder die Sicht. Auf einmal geht ein eigenartiges Zittern und Rumpeln durch das Schiff. Aus dem Maschinenraum kommt die Meldung zur Brücke: „Backbordschraubenwelle vibriert stark." Kapitän Eggi befiehlt, die Maschinen zu stoppen. Er befürchtet ein Unglück, deshalb läßt er ein Boot ausbringen und den Taucher nach den Schiffsschrauben und dem Ruderblatt sehen. Die Befürchtung bewahrheitet sich. Durch einen Eisbrocken ist einer der vier Schraubenflügel an der linken Schraube abgebrochen. Das Ruderblatt ist in Ordnung. Die unheilvolle Meldung des Tauchers bedeutet, daß die Leistung des Schiffes um fünfundzwanzig Prozent vermindert ist. Damit steht die Schiffsführung vor einer schweren Entscheidung. Weiterfahren mit einem havarierten Schiff oder das Unternehmen abbrechen? An Bord befinden sich 136 Menschen. Wer kann die Verantwortung übernehmen. Schiff und Besatzung einer Gefahr auszusetzen, die unter Umständen die 136 Menschen selbst zu Schiffbrüchigen macht? Alle Mitglieder der Schiffsführung sind langjährige Arktiskenner. Sie wissen, was es bedeutet, mit einem nicht voll leistungsfähigen Schiff im Packeis zu manövrieren. Das Leben der Besatzung ist ihnen anvertraut, niemand hat das Recht, Leben und Gesundheit anderer aufs Spiel
zu setzen. Doch sie haben einen Auftrag zu erfüllen. Sie wissen vom mißglückten Flug Lundborgs, sie hoffen auf eine Nachricht von Amundsen. Die Hoffnung der Männer auf dem Eis hängt an der Fahrt des sowjetischen Eisbrechers. Die Expeditionsleitung muß eine Entscheidung treffen. Diese Entscheidung muß wohl überlegt sein.
Professor R. L. Samoilowitsch
Des halb schlägt Kommissar Oras eine Versammlung der gesamten Schiffsbesatzung vor. Jeder soll das Recht haben, offen seine Meinung zu sagen, und die Forderung der Mehrheit soll die Entscheidung sein. Rückhaltlos legt Kapitän Eggi der Besatzung die Lage nach der Havarie dar. Er beschönigt nichts, und er dramatisiert nichts. Sein sachlicher Bericht entspricht ganz seiner Persönlichkeit, die in zahllosen Gefahren der Eismeerfahrten gewachsen ist. Die Moral kommunistischer Menschlichkeit offenbart sich in dieser Versammlung auf dem Achterdeck des Eisbrechers „Krassin". Dichter Nebel hüllt das Schiff ein, Schneetreiben fegt um die Aufbauten. Nicht einer von der Besatzung spricht von Umkehren. Jeder Redner fordert von der Schiffsführung, den Auftrag zu Ende zu führen. Und jeder von der Mannschaft der „Krassin" verpflichtet sich, der Gefahr, die dem Schiff droht, zu trotzen. Einstimmig wird der Beschluß gefaßt, die Fahrt fortzusetzen. „Keine Angst, Genosse Professor, sobald sich der Bug aufs Eis schiebt, werden die Schraubenwellen ausgekuppelt", sagt einige Zeit später Kapitän Eggi zu Professor Samoilowitsch, weil er glaubt, beim Eisangehen jedesmal eine Sorgenfalte auf dessen Stirn zu sehen. „Diese Antwort höre ich bereits zum zwölftenmal, ohne daß ich gefragt habe", erwidert mit einem Lächeln der Professor. Am 6. Juli steht die „Krassin" 80°47' nördlicher Breite, knapp vierzig Kilometer von den König-Karl-Inseln entfernt.
Nicht alle Wege führen nach Rom Nun war der Juli angebrochen. Noch immer harrten fünf Männer im „roten Zelt" der Rettung vor dem Eistod. Von der Gruppe Zappi, die am 30. Mai aufgebrochen war, um das Nordkap von Spitzbergen zu erreichen, fehlte jede Spur. Ebenso gab es keinerlei Anhaltspunkte über den Verbleib der sechs Männer, die mit der Luftschiffhülle abgetrieben worden waren. Die Weltpresse hatte ihre Sensation: der Flug eines Luftschiffs zum Pol. Die Katastrophe und die Rettungsaktionen boten Stoff für dramatische Schilderungen. Mitunter wurden wahre Schauermärchen von Eisbärenangriffen, zentimeterweisem Abfrieren der Glieder und forschen Fliegerkunststücken zwischen Eisbergen veröffentlicht. In Japan wurde auf den Ministerpräsidenten ein Attentat verübt, in Deutschland trat die Regierung zurück. Das alles war nichts gegen die sensationellen Vorgänge im ewigen Eis. Und doch, mit der Zeit erlahmte das Interesse der Sensationsmacher. Von den aufreibenden Fahrten der sowjetischen Eisbrecher „Malygin" und „Krassin" berichtete man nur wenig. Das fehlte gerade noch, für die Sowjets Publicity zu machen. Genau damit hatte das faschistische Marineministerium in Italien gerechnet. Das öffentliche Interesse an dem höchst unangenehmen Sachverhalt sollte abklingen. Die Blamage war groß genug. In dieser Absicht wurden auch die diplomatischen Vertretungen Italiens in den verschiedenen Ländern angewiesen, nicht etwa die
Koordinierung aller Hilfsmaßnahmen zu betreiben, sondern die Aktionen zu dämpfen. Man bedankte sich für die Bemühungen und ließ durchblicken, daß man schon allein fertig würde. Schweden hatte nach dem mißlungenen Landeversuch von Lundborg und seiner geglückten Rettung jede weitere Aktion eingestellt. Die „Braganza" saß im Eis fest, und die von ihr aus unternommene Hundeschlittenexpedition kam nicht vorwärts, man erwog bereits den Rückmarsch. Von Roald Amundsen fehlte seit dem 18. Juni jede Spur, aber auch um ihn wurde es ruhiger. Die „Hobby" hatte ihre Versuche längst eingestellt. Auch die Kanadier, Dänen und Engländer, Holländer, Franzosen und alle anderen, die zum Teil ohnehin nur mit geringem Aufwand an den Aktionen beteiligt waren, brachen ihre Unternehmungen ab. Nobile saß in einer Kajüte der „Citta di Milano“, und Kapitän Romagna erhielt detaillierte Weisungen über die Behandlung des Generals. In Rom war man nicht unzufrieden. Man gab Empfänge für die diplomatischen Vertreter jener Länder, die an Rettungsaktionen teilgenommen hatten. Es kamen sogar direkt beteiligte Akteure, die entweder ihr Leben eingesetzt, Geld für die Rettung gespendet oder in Zeitungen über den „heroischen Versuch" Nobiles berichtet hatten, um den Dank der faschistischen Regierung entgegenzunehmen. So blieb nur noch der sowjetische Eisbrecher „Krassin". Von seiner Besatzung war niemand nach Rom geeilt, auch kein Vertreter des sowjetischen Hilfskomitees. Man nahm das in Rom nicht weiter ernst. Wenn den anderen Ländern die Rettung der Verunglückten nicht gelungen
war, so würde es die Sowjetunion erst recht nicht schaffen. Hörte man doch allenthalben, welche wirtschaftlichen Schwierigkeiten es dort gab. Doch unentwegt brach die „Krassin" auf ihrem Weg nach Norden Meter um Meter das Eis.
Wo ist der dritte Mann? Die „Krassin" hat sich so weit nach Norden gekämpft, daß die Expeditionsleitung beschließen kann, den Flieger Tschuchnowski einzusetzen. Zu Tschuchnowskis fliegerischen Leistungen in der Arktis gehören die Überquerung der Kara-See im Jahre 1924 und ein Flug von Leningrad nach Nowaja Semlja und zurück im Jahre 1926. Die Eisdecke beträgt nicht selten zwei bis drei Meter. Nur mühevoll, unter rationellstem Einsatz der Maschinen und unter äußerster Anspannung der gesamten Besatzung, ist das Schiff in den letzten Tagen vorwärts gekommen. Rasch wird ein Startplatz auf dem Eis ausfindig gemacht und hergerichtet. Professor Samoilowitsch und Tschuchnowski sind sich völlig darüber im klaren, daß eine Rettung der Verunglückten mit dem Flugzeug schwer möglich sein wird. Das wissen sie aus den Berichten der anderen Piloten. Das Flugzeug wird deshalb in erster Linie zur Aufklärung eingesetzt. Die Eisscholle mit dem „roten Zelt" driftet. Der Standort der Schiffbrüchigen verändert sich ständig. Das erschwert die Suche, zumal vorwiegend nur schlechte Sichtverhältnisse herrschen. Am 8. Juli unternimmt Tschuchnowski den ersten Probeflug. Beim Start stößt die Maschine an einen
Eisblock. Eine der Kufen stellt sich quer. Aufgeregt winken zahlreiche Besatzungsmitglieder zu Tschuchnowski hinauf, um ihn auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Die Maschine dreht einige Runden um das Schiff. Dann setzt sie zur Landung an. Den Zuschauern steht fast das Herz still. Da, als sich die Geschwindigkeit verringert und damit der Winddruck nachläßt, nimmt die Kufe wieder ihre normale Stellung ein. Professor Samoilowitsch wischt sich aufatmend den Schweiß von der Stirn. Zwei Tage brauchen nunmehr die Machaniker, um den Schaden an dem Flugzeug zu beheben. Tschuchnowski meldet die Maschine am 10. Juli wieder startklar. Frühmorgens, um 4.25 Uhr, startet Tschuchnowski. Außer ihm sind noch vier Männer an Bord der Maschine. Alles verläuft reibungslos. Die Stimmung auf dem Schiff und im Flugzeug ist ausgezeichnet. Nur leider das Wetter nicht. Nebel treibt wieder über dem Eis, zwar nicht sehr dicht, aber die Sicht beträgt nur einige hundert Meter. Funker Bakunin hält ständigen Kontakt mit dem Bordfunker in Tschuchnowskis Maschine. Die erste Funkmeldung an die „Krassin" geht um 4.42 Uhr ein. „Wir nähern uns den König-Karl-Inseln." Die Sicht bessert sich. Eine halbe Stunde später erreicht das Flugzeug die Esmark-Inseln. Nunmehr liegt das Seegebiet nördlich von Spitzbergen unter der Maschine. Bis 6.18 Uhr geht der Flug nordwärts. Dann wendet Tschuchnowski, meldet über Funk den Rückflug. So sehr die Flieger auch Ausschau halten, sie können nichts von der „Nobile-Scholle" entdecken.
Kapitän Eggi läßt zur Sichtmarkierung die Schornsteine der „Krassin" aufqualmen. Da trifft um 6.45 Uhr die unerwartete Funknachricht ein: „Haben die Gruppe Malmgren entdeckt." Diese Mitteilung stößt bei der Expeditionsleitung nahezu auf Unglauben. Vor sechs Wochen sind Zappi, Mariano und Professor Malmgren vom „roten Zelt" aufgebrochen. Bisher hat jede Nachricht von den drei Männern gefehlt. Professor Samoilowitsch schätzt die außergewöhnlichen Fähigkeiten des schwedischen Wissenschaftlers, befürchtete aber doch insgeheim, daß die Gruppe im ewigen Eis verschollen ist. Der sowjetische Expeditionsleiter zweifelt nicht an der freudigen Nachricht. Tschuchnowski ist ein zu gewissenhafter Mensch, als daß er etwas leichtfertig melden würde. Sofort wird über Funk nach Einzelheiten gefragt. Doch Tschuchnowski schweigt. Unentwegt sitzen Funker Bakunin und sein Gehilfe Judachin am Funkgerät. Der Nebel zieht dichter auf. Die Sorge um die Flieger wächst auf der „Krassin". Warum ist nur die Funkverbindung abgerissen? Endlich, um 1.1.05 Uhr, erreicht wieder ein Funkspruch das Schiff, doch er ist äußerst knapp: „Drei Menschen gesichtet, wir suchen Landeplatz." Die Freude verliert sich allmählich auf der „Krassin". Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Mit Tschuchnowski ist abgesprochen, daß er bei irgendwelchen Entdeckungen keinesfalls landen solle. Die Gefahren sind zu groß. Und leichtsinnig handelt er nicht. Alle fünf Minuten geht eine Funkanfrage ab, aber die Antwort von Tschuchnowski bleibt aus. Eine Stunde vergeht so in banger Ungewißheit.
Genau 12.00 Uhr empfängt Bakunin endlich einen neuen Funk Spruch von Tschuchnowski: „Wir können wegen Nebels die ,Krassin' nicht finden. Wir haben die Malmgren-Gruppe gesehen. Wir suchen jetzt in der Gegend der Sieben-Inseln einen Landeplatz." Wieder vergehen Stunden. Professor Samoilowitsch und Kommissar Oras verlassen nicht den Funkraum. Sorge und Spannung zerren zugleich an ihren Nerven. Was ist geschehen? Ist Tschuchnowski eine Landung geglückt? Dann endlich, um 16.00 Uhr, hat die Nervenprobe ein Ende. Tschuchnowski sendet ausführlichen Bericht: „An den Führer der Expedition. Karte 303. Wir haben Malmgren auf 80°45' nördlicher Breite, 25°45' östlicher Länge auf einer kleinen, hohen, scharfkantigen Scholle in sehr zerklüftetem Eis entdeckt. Zwei Leute standen mit Fahnen in der Hand. Ein dritter lag am Boden. Wir kreisten fünfmal über ihnen. Die Eisverhältnisse in diesem Gebiet sind günstig. Wir haben Strecken freien Meeres überflogen. Nebel behinderte uns beim Rückflug. Wir konnten die .Krassin' nicht finden. Nur Kap Wrede war sichtbar. Wir konnten keinen Landeplatz aussuchen. Wir gingen auf einer Scholle, eine Meile vom Ufer entfernt, nieder, südwestlich vom Kap Wrede oder Kap Platen. Der Nebel hinderte uns daran, unsere Lage genau festzustellen. Bei der Landung ging das Fahrgestell in Trümmer. Auf Schwimmkörpern ist die Maschine noch zu gebrauchen. Alle gesund. Vorräte für zwei Wochen. Ich halte es für notwendig, daß ,Krassin' Malmgren schnellstens zu Hilfe kommt, ehe sie sich um uns kümmert. Tschuchnowski." Professor Samoilowitsch und Kommissar Oras sehen sich erleichtert an. Obwohl beide an das nicht
mehr einsetzbare Flugzeug denken müssen, sagt Kommissar Oras lächelnd: „Das ist nun wieder echt Tschuchnowski. Holt erst einmal die anderen vom Eis, die haben es nötiger als wir. Unterdessen werden wir so lange den Eisbären Gesellschaft leisten." Es bleibt keine Zeit, um über Tschuchnowskis Eskapaden zu lachen. Ohne Pause wird das Eis angegangen, um schnellstmöglich den von Tschuchnowski bezeichneten Standort der Gruppe Malmgren zu erreichen. Die Besatzung leistet Übermenschliches. Doch keiner klagt. Jeder ist erfüllt von dem Gedanken, so schnell wie nur möglich die drei Männer zu retten. Der 12. Juli bricht an. Professor Samoilowitsch setzt eine Prämie von hundert Rubel für denjenigen aus, der die Schiffbrüchigen zuerst entdeckt. Der Gehilfe des Kapitäns, Breinkopf, verdient sich die Prämie „Da!" schreit er plötzlich. „Ich sehe sie", und er weist die Richtung. Viele Augen folgen seinem Arm. Tatsächlich, durch das Fernglas ist ein Mensch auf einem Packeisberg zu erkennen. Der Mann winkt mit beiden Armen. Die Aufregung auf der „Krassin" ist groß. Mit Schwung reiften die Heizer die Feuerlöcher der Kessel auf, und Schaufel um Schaufel Kohle frißt die Glut. Die „Krassin" schiebt sich weiter heran. Bald ist es geschafft. Der Arzt Srednjewski, Breinkopf, die Mechaniker Philippow und Najonow und fünf Matrosen stürmen auf dem ausgebrachten Fallreep auf das Eis hinunter und sind schon bei den Schiffbrüchigen. Der eine, groß und stark, trägt mehrere Pelze übereinandergezogen auf seinem Körper. Er lacht, begrüßt die Herbeigekommenen mit „Towaristsch" und
zeigt keine Spur von Erschöpfung. Der andere liegt in einer Eismulde. Er ist so entkräftet, daß er sich nicht mehr erheben und auch nicht sprechen kann. Tränen rinnen über sein abgezehrtes Gesicht in den wildwuchernden Bart. Seine Kleidung ist so zerschlissen, daß die nackten Knie hervorsehen. Wo ist der dritte? Es ist kein dritter Mann aufzufinden. Der große, starke Mann ist Korvettenkapitän Zappi, der Mann aus der Eismulde Korvettenkapitän Mariano. Tschuchnowski und seine Besatzung haben aber vom Flugzeug aus drei Männer gesehen. Wo ist Professor Malmgren? An Bord verlangt Zappi als erstes zu essen. Immer wieder. Er macht keineswegs den Eindruck eines Menschen, der furchtbare Entbehrungen hinter sich hat. Er ist redselig und verlangt, in der Manier eines Herrenmenschen, unverzüglich nach Kings-Bay zur „Citta di Milano“ gebracht zu werden. Die Expeditionsleitung und die gesamte Besatzung der „Krassin" reagieren bald mit Abscheu auf das Gehabe dieses Menschen. Das Schicksal seiner fünf Kameraden, die noch immer auf dem Eis ausharren, interessiert ihn nicht. Er will nach Kings-Bay gebracht werden. Bei seiner Begegnung mit den Männern der „Krassin" trug er nicht nur seine eigene Pelzkleidung, sondern auch die seines Leidensgefährten Mariano und die von Professor Malmgren. Mariano ist weder einer Unterhaltung noch sonst einer Regung fähig. Doktor Srednjewski muß alle Fürsorge aufbieten, um ihn am Leben zu erhalten. Für Mariano kam die Rettung buchstäblich in letzter Minute. Den Fragen nach Professor Malmgren weicht Zappi stets nervös aus. Er verstrickt sich in Widersprüche und ist
schließlich, nachdem er eine Aussage zu Papier gegeben hat, zu keinerlei weiteren Auskünften bereit. Wenn das Protokoll mit der Erklärung von Zappi auch keine Aufklärung über den Verbleib von Professor Malmgren gibt, so wird damit doch der Nachwelt einiges vom Geist faschistischer Offiziere mitgeteilt. Es heißt darin: „... Es gelang uns nicht, die Küste zu erreichen, da das Eis durch den Wind zerbrochen und vom Ufer abgetrieben wurde... Malmgren erklärte, daß es ihm, da sein Schlüsselbein gebrochen war, sehr schwierig sei weiterzugehen und daß wir, um schneller vorwärts zu kommen, ihn hierlassen, seinen Proviant mitnehmen und unseren Marsch fortsetzen sollten. So haben wir es auch getan . .. Schließlich erkrankte Mariano, er hatte sich seinen Fuß erfroren und war am Ende seiner Kräfte ... Mariano erlaubte mir, ihn nach seinem Tode zu essen." Am Bergungsort von Zappi und Mariano ruhen die Maschinen der „Krassin" kaum eine Stunde. Dann geht es wieder nordwärts. Bis zum „roten Zelt" kann es nicht mehr weit sein.
Der Sekt ist schal Die Welt geriet noch einmal in Aufregung, als das undurchsichtige Schicksal des bekannten Arktisforschers Professor Malmgren bekannt wurde. Kapitän Romagna sah Schwierigkeiten für seine Berichterstattung an das Marineministerium. In Rom hatte man sich auf Grund der Einschätzung der Lage durch Romagna ein anderes Bild gemacht. Jetzt war man
bestürzt. Die Rettung der Gruppe Zappi durch die Sowjets war unglaublich. Nun lag es auf der Hand, daß diese „Krassin" alsbald bis zum „roten Zelt" vorstoßen würde. Damit hatte man nicht gerechnet. Nur wenige Journalisten waren in Kings-Bay geblieben, um ihre Agenturen und Redaktionen mit Berichten über die Rettungsaktionen zu versorgen. Nachdem Zappi und Mariano gerettet worden waren, kamen zahlreiche Berichterstatter zum Basisschiff. Es blieb Romagna nichts weiter übrig, als in improvisierten Presse-konferenzen Informationen zu geben. Diese Konferenzen fanden in der Offiziersmesse der „Citta di Milano“ statt. Stets um eine freundliche Atmosphäre bemüht, ließ Romagna an die Reporter durch die Stewards Sekt reichen. Dieser Sekt war den Beständen entnommen, die ursprünglich für eine triumphale Siegesfeier nach der Rückkehr der „Italia" gedacht waren. Die Journalisten verlangten Informationen über das Schicksal von Professor Malmgren. Der berühmte Amundsen war bei der Suche nach der „Italia"-Besatzung verschollen, und nun der mysteriöse Tod einer weiteren Forscherpersönlichkeit. Das war schon eine Sensation! Wenn auch Romagna die auf der „Krassin" schriftlich gegebene Aussage von Zappi nicht rechtzeitig verhindern konnte, so erteilte er doch funktelegrafisch Zappi und Mariano Redeverbot über den Marsch auf dem Eis und ihre Rettung, bis sie auf der „Citta di Milano“ wären. Doch das Aufsehen in der Welt war bereits groß genug, und er mußte nun sehen, ob und wie er damit fertig wurde. So wirkten alle Erklärungen von Romagna gegenüber den Journalisten fade und schal. Natürlich wäre die
nahezu unvorhergesehene Rettung der Gruppe Zappi durch den sowjetischen Eisbrecher ein erfreulicher Umstand, und es wäre nun nicht mehr unwahrscheinlich, daß auch die Bergung der fünf Männer im „roten Zelt" gelingen würde. Doch das interessierte die Journalisten nicht so sehr. Sie wollten Näheres über Professor Malmgren wissen. So raffiniert Romagna auch direkten Antworten auf diese Fragen auswich, in großen bürgerlichen Zeitungen konnte man bald in fettgedruckten Überschriften lesen: „Italiener Überließen Malmgren dem Eistod!" - „Wurde Malmgren aufgegessen?" -„Kannibalismus im Eis!" Selbstverständlich wurde die hervorragende Tat des Eisbrechers „Krassin" und vor allem seines Fliegers Tschuchnowski auch erwähnt, aber nur nebenbei. Der nicht ausgeschlossene Kannibalismus, dem der schwedische Forscher möglicherweise zum Opfer gefallen war, eignete sich weitaus besser für Sensationsmeldungen der kapitalistischen Presse. General Nobile, den die Journalisten immer wieder zu sprechen verlangten, erschien nicht zu den Pressekonferenzen. Romagna beteuerte, der Zustand des Generals erlaubte ihm nicht, auch nur das Bett zu verlassen. Er wäre noch immer schwer krank, sein physischer und auch sein psychischer Zustand gäben sogar Anlaß zu ernster Besorgnis. In Wirklichkeit saß Nobile in seiner Kajüte. Davor stand ein Posten. Er durfte sie nicht verlassen. Nur die Verbitterung blieb ihm in diesem Gefängnis. Die Erkenntnis, daß er sich hatte mißbrauchen lassen, und die Folgen dieses Mißbrauchs lasteten schwer auf ihm.
Die Rettung Für Professor Samoilowitsch gab es am Abend des 12. Juli keinen Zweifel mehr: Die „Krassin" mußte dicht an das „rote Zelt" herangekommen sein. Schon am frühen Morgen, bei der Anbordnahme von Zappi und Mariano, war ihm klargeworden, daß die Malmgren-Gruppe trotz ihres Marsches nach Süden durch Eisbewegung und Drift immer wieder in Richtung des „roten Zeltes" zurückversetzt wurde. Der Funker Bakunin ruft um 19.15 Uhr den Funker Biaggi und läßt,sich den genau ermittelten Standort geben. Die Antwort lautet: ,,80°38,5' nördlicher Breite, 29°13' östlicher Länge. Eisscholle mißt etwa 225 mal 120 Meter." Noch genau ein halber Breitengrad Distanz liegt zwischen der „Krassin" und den Verunglückten. Die Eisverhältnisse sind günstig, wenn auch wieder Nebel aufzieht. Breite Wasserkanäle teilen das Eis in große Felder. Nach einigen Stunden hoher Fahrt müßte das „rote Zelt" in Sicht kommen. Das Schiff kommt schnell voran. Die Stimmung an Bord ist schwer zu beschreiben. Wochenlanges Mühen, Kampf mit meterdickem Eis, Schneetreiben, Kälte und Stürme - alles ist vergessen in diesen Stunden. Auch die hämischen und abwertenden Berichte über den opferbereiten Einsatz der „Krassin". Das Ausharren und der Mut der Besatzung, die trotz Havarie des Schiffes die Fahrt fortsetzte, stehen vor der Krönung ihrer Anstrengungen. Mit dem Bewußt sein, die Heimat nicht enttäuscht zu haben, steht jeder von der Besatzung, der
Der Eisbrecher „Krassin" an Maschinen und Geräten abkömmlich ist, an der Reling und hält Ausschau nach dem „roten Zelt". Die Nervenanspannung aller Menschen an Bord ist groß. Doch niemand spürt in diesen Stunden, selbst für Augenblicke nicht, die Erschöpfung. Dann ist es soweit. Aus dem Dunst heraus heben sich die Konturen des Zeltes und die auf dem Kopf stehende Maschine des Fliegers Lundborg ab. Die „Krassin" manövriert sich an die Eisscholle heran. Die fünf Männer kommen auf das Schiff zugelaufen. Ingenieur Ceccioni humpelt an zwei Stökken, seine Beinbrüche sind noch nicht verheilt. Wie ein Wunder aus einer anderen Welt muß ihnen das Schiff vorkommen. Der Eiswahn hat ein Ende. Trojani weint still vor sich hin. Ein neu zum Leben erwachter Wille ist es, der ihn bedächtig die Schritte setzen und dem Schiff ent-
gegengehen läßt. Viglieri läuft voraus, sich immer wieder ungläubig zu seinen Kameraden umdrehend. Professor Behounek stützt jetzt Ceccioni, beide achten nicht auf die Unebenheiten des Eises. Ihre Augen sind starr auf das Schiff gerichtet. Als letzter kommt Biaggi. Beim Anblick des Schiffes setzt er seinen letzten Funkspruch ab. Dann reißt er sich den Kopfhörer vom Ohr und läuft seinen Kameraden hinterher zum Schiff. Wer auf der „Krassin" nur abkommen kann, kommt über das Fallreep auf die Eisscholle herunter. Fast herrscht feierliche Stille. Augenblicke lang. Die Verunglückten sind herangekommen. Und schon werfen sie sich ihren Rettern in die Arme. Sie möchten jubeln vor Freude, doch es gelingt keinem. Das Erlebte war zu furchtbar. Nur stille, ehrliche Dankbarkeit spricht aus ihren Augen, und alles Überschwengliche, jeder Laut, käme ihnen in diesem denkwürdigen Augenblick ihres Lebens unpassend vor. Sich ihrer Tränen nicht schämend, drücken sie ihre Retter stumm an sich. Menschlichkeit erfährt in dieser Stunde, auf einer Eisscholle im Nordmeer, eine tiefe Offenbarung. Fünf Männer, die ausgezogen sind, für das faschistische Italien zweifelhaften Ruhm zu erwerben, und die einem qualvollen Tod ausgesetzt waren, werden durch den selbstlosen Einsatz sowjetischer Kommunisten dem Leben wiedergegeben. Die Männer der „Krassin" lassen es sich nicht nehmen, die Geretteten auf das Schiff zu tragen. Im Lazarett haben Doktor Srednjewski und seine Helfer alles vorbereitet, um die Patienten aufzunehmen. Jeder der Geretteten fällt nach der notwendigen ärztlichen Behandlung im Bewußtsein der Geborgenheit in tiefen Schlaf.
Die Anbordnahme des „roten Zeltes", der umherliegenden Ausrüstungsstücke und des Flugzeugs ist für die Besatzung noch ein hartes Stück Arbeit, denn als habe das Wetter nur die Rettung abwarten wollen, setzen nun wieder dichter Nebel und Sturm ein. Zwei volle Tage muß das Schiff an der Bergungsstelle bleiben. Es vergeht keine Stunde, in der Professor Samoilowitsch, Kapitän Eggi oder Kommissar Oras nicht nach dem Barometer und dem Windmesser sehen. „Tschuchnowski und die Genossen werden kalte Füße bekommen", meint scherzend, die Sorge damit überspielend, Professor Samoilowitsch. „Wir müssen uns beeilen." Der Sturm zeigt die ersten Anzeichen eines Abflauens, da läßt Kapitän Eggi schon Fahrt aufnehmen. Funker Bakunin drückt auf die Sendetaste: „Tschuchnowski, wir kommen!"
Flaggen über Topp Die Eisfelder verdichten sich wieder. Die „Krassin" muß wieder mit aller verfügbaren Kraft meterdickes Eis aufbrechen. Doch am 15. Juli ist es geschafft. Tschuchnowskis Flugzeug kommt in Sicht. Die Freude ist groß, nicht nur an Bord des Schiffes, sondern auch auf dem Eis bei den Fliegern. Viel Arbeit macht es, die Maschine mit dem zerbrochenen Fahrgestell wieder auf das Schiff zu bringen. Die „Krassin" nimmt am 17. Juli Kurs auf Kings-Bay, um die Geretteten an die „Citta di Milano“ zu übergeben. Während der ganzen Fahrt haben Funker Bakunin und,
sein Gehilfe wieder alle Hände voll zu tun. Glückwünsche von kommunistischen Parteien und Organisationen vieler Länder treffen ein, von Gewerkschaftsgruppen, von namhaften Persönlichkeiten. Sie alle drücken mit ihren Glückwünschen über die mutige Tat der „Krassin" auch ihre Verbundenheit mit dem ersten sozialistischen Staat der Welt, der Sowjetunion, aus. Die Arbeiterpresse feiert anerkennend den Eisbrecher und seine Besatzung. Die bürgerliche Presse muß ihren Lesern auch die glückliche Rettung der Schiffbrüchigen bekanntgeben. Doch aus diesen Zeilen kann man die sauren Mienen so mancher Redakteure erkennen, die es nicht verwinden wollen, daß ausgerechnet einem sowjetischen Eisbrecher die Rettung gelungen ist. Die Schiffbrüchigen erholen sich unter der Pflege von Doktor Srednjewski sehr rasch. Bald herrscht zwischen ihnen - außer Zappi - und der Besatzung ein herzliches Verhältnis. Nur Mariano ist noch immer zu schwach, um sich an Unterhaltungen zu beteiligen. Dennoch läßt auch er seine Dankbarkeit auf jede nur erdenkliche Weise spüren. Freundschaften werden geschlossen, und der Austausch familiärer Ereignisse will kein Ende nehmen. Zwei Briefe an Doktor Srednjewski kennzeichnen das Verhältnis der Geretteten zu ihren Rettern: Herrn Dt. Anton Srednjewski Schifisarzt des Eisbrechers „Krassin" Das unterzeichnete Mitglied der Polarexpedition Nobiles, die mit dem Luftschiff Jtalia" auf 80°50' nördlicher Breite und 27°15' östlicher Länge am 25. Mai 1928 um 11 Uhr 30 Minuten Greenwicher Zeit verunglückte und
durch den russischen Eisbrecher „Krassin" am 12. Juli um 8 Uhr 24 Minuten auf 80°24' nördlicher Breite und 28°26' östlicher Länge gerettet wurde, dankt hiermit Herrn Dr. Anton Srednjewski, dem Schifisarzt des Eisbrechers „Krassin", für alle die unermüdliche und liebenswürdige Hilfe, die er ihm zuteil werden ließ, sowie auch für seine ausgezeichnete Freundschaft. Die Zeit, die der Unterzeichnete an Bord der „Krassin" zugebracht hat, gehört zu der schönsten seines Lebens und wird ihm unvergeßlich bleiben. Ohne die Hilfe der Russen wären heute sieben Menschen nicht mehr am Leben. Was die russische Hilfsexpedition geleistet hat, wird für immer in die Geschichte der Humanität eingehen. Möge es ihr gelingen, auch noch die sechs anderen unglücklichen Kameraden, die im Luttschiff blieben, zu retten. Dr. Franz Behounek Staatliches Radiologisches Institut Prag-Podoli Geschrieben an Bord der „Krassin", den 18. Juli 1928 An den Schifisarzt Dr. Srednjewski Hier meine Adresse in Turin, die ich dem Schiffsarzt Srednjewski freudig überlasse, dem ich für die Pflege dankbar bin, die er mir angedeihen ließ, der mich ins Leben zurückrief! Ich hoffe sehr, daß ich durch zukünftige persönliche Bekanntschaft meine Dankbarkeit noch besser werde ausdrücken können. Alberto Mariano
Als die „Krassin" in den Kings-Bay einläuft, läßt Kapitän Eggi über die Toppen flaggen. Er will damit nicht den Sieger demonstrieren, sondern es soll Ausdruck der Freude sein, Freude über das Gelingen eines schweren Auftrages; Freude darüber, daß die „Krassin" die Schiffbrüchigen lebend in den Kings-Bay bringt. Romagna ist aus Rom angewiesen worden, die sowjetische Hilfsexpedition mit allen Ehren zu empfangen. Man will sich nicht abermals vor der Welt blamieren. Doch die Besatzung der „Krassin" verzichtet auf eine pompöse Feier. Die sowjetische Expeditionsleitung bekommt Nobile nicht zu sehen, und das besagt genug. Man kann sich schon vorstellen, wie von Rom aus der weitere Sachverhalt dargestellt wird. Außerdem will die Expeditionsleitung der „Krassin" keine Zeit verlieren und unverzüglich mit der Suche nach den sechs in der Luftschiffhülle verbliebenen Männern beginnen. Da jeder Anhaltspunkt ihres Verbleibens fehlt, rät die italienische Seite davon ab. Romagna gibt an, keinerlei Material zu besitzen, das auch nur irgendwelche Hinweise liefern kann. Professor Samoilowitsch glaubt dem Kapitän, aber er kann doch das Gefühl nicht loswerden, daß Rom kein Interesse an weiteren Aktionen zur Rettung der sechs Vermißten hat und die ganze Angelegenheit um die Nobile-Expedition als abgeschlossen betrachten will. Noch bevor sich Samoilowitsch entscheiden kann, erreicht den Eisbrecher „Krassin" ein Hilferuf, der alle weiteren Überlegungen hinfällig werden läßt.
Passagierschiff „Monte Cervantes" Keine zehn Jahre nach dem ersten Weltkrieg gab es in Deutschland bereits wieder genug Leute, die sich eine Nordmeerfahrt auf einem luxuriösen Passagierschiff leisten wollten und konnten. Das Passagierschiff „Monte Cervantes" der „HamburgSüdamerikanischen Dampfschiffahrts-Gesellschaft" kreuzt, bereits zum wiederholten Male, mit 1500 Passagieren an Bord, westlich von Spitzbergen. Ein Arbeiter in Deutschland konnte es sich zu dieser Zeit nicht leisten, so viel Geld aufzubringen, um den Zauber des Nordlichts und der Gletscher auf Spitzbergen zu erleben. Für einfache Leute waren diese Luxusfahrten auch nicht gedacht. Da jedoch für den nicht unerheblichen Passagierpreis möglichst viel geboten werden sollte, andererseits der Schiffahrtsgesellschaft hinreichend Profit sicher sein mußte, ließ der Kapitän das Schiff mit einer Geschwindigkeit durch die Fjorde Spitzbergens fahren, die in diesem Eisgebiet der allgemeinen Vorsichtsmaßregel widersprachen. So geschieht es dann auch. Beim Durchfahren des Rechurch-Bay kollidiert das Schiff mit einer Eisscholle. Die Bordwand wird aufgerissen, und das Schiff macht stark Wasser. Bald zeigt sich, daß die Pumpen nicht ausreichen, das eindringende Wasser zu lenzen. Auf dem Schiff bricht eine Panik aus, vor allem als offenbar wird, daß die Rettungsmittel für Passagiere und Besatzung nicht ausreichen. Unaufhörlich läßt der Kapitän den Standort des Schiffes und SOS funken. Acht Stunden später, nach dem ersten Hilferuf, trifft die
„Krassin" bei dem beschädigten Schiff ein. Der Taucher der „Krassin" macht sich sofort an die Arbeit. Er stellt an der Steuerbordseite ein dreieinhalb Meter langes und zwei Meter breites Loch fest. Auch an der Backbordseite ist das Schiff leck geschlagen. Zunächst werden rund vierhundert Tonnen Sandballast ins Wasser geworfen. Eine langwierige Arbeit für die Besatzung des Passagierschiffs und der „Krassin". Das Schiff hebt sich etwas. Dann werden von der „Krassin" Stahlplatten an die Lecks gebracht und mit Zement abgedichtet. Das erfordert von den Matrosen, die an den Lecks arbeiten, viel Geschick und Kraft. Doch es wird geschafft, die Gefahr wird behoben. Die Passagiere der „Monte Cervantes" zollen der Besatzung der „Krassin" frenetisch Beifall. In der Angst um ihr Leben ist es ihnen völlig gleichgültig, daß ihre Retter Bürger eines Arbeiter-und-Bauern-Staates sind, für den sie ansonsten kein Interesse empfinden. Der Kapitän der „Monte Cervantes" kann auf die Vorhaltungen Kapitän Eggis nichts erwidern. Kapitän Eggi sagt ihm, daß es unverantwortlich sei, in diesem Seegebiet regelwidrig zu navigieren, nicht für alle Personen an Bord Rettungsmittel, nicht einmal hinreichend Material zum Ausbessern einer beschädigten Bordwand zu haben.
Die Arbeit an dem Passagierschiff ist abgeschlossen. Der „Hamburg-Südamerikanischen DampfschiffahrtsGesellschaft" ist ein Schiff erhalten geblieben — und ohne Zweifel vielen Menschen das Leben. Das Passagierschiff kann die Heimreise antreten. Wenn auch nach Meinung Kapitän Romagnas eine
Suche nach der Luftschiffhülle und den sechs Männern zwecklos ist, so kann sich Professor Samoilowitsch doch nicht entschließen, mit der „Krassin" das Nordmeer zu verlassen. Auch von Amundsen, der bedeutendsten Forscherpersönlichkeit der Arktis, fehlt jede Spur. In der Absicht, anderen zu helfen, ist er selbst ins Unglück geraten. Kommissar Oras braucht in einer Versammlung die Besatzung der „Krassin" nicht zu überzeugen, daß es eine Ehrenpflicht sei, nach diesem Manne zu suchen. Wer soll es sonst tun, wenn nicht sie mit ihrem Schiff. Die „Krassin" dampft wieder nach Norden. Tage und Wochen bricht sie das Eis nördlich von Spitzbergen. Sturm, Schneetreiben und Kälte umgeben das Schiff. Die Augen der Männer sind entzündet von dem unentwegten Starren über die Eiswüste. Eiserner Wille und unbeugsame Moral halten die Besatzung aufrecht. Doch der freudige Ausruf einer der Ausschauhaltenden bleibt aus. Von Amundsen und seinen Fliegergefährten ist nichts zu finden. Die erste Woche des September ist vorüber. Der arktische Winter kündigt sich bereits an. Unter diesen Umständen ist es unmöglich, die Suche fortzusetzen. Fällt Professor Samoilowitsch der Entschluß auch schwer, es bleibt keine andere Wahl. Die Besatzung ist abgekämpft. Sie braucht dringend Ruhe. So ergeht an Kapitän Eggi die Anweisung: Kurs Leningrad !
Heimkehr Dicht gedrängt steht eine riesige Menschenmenge am Kai in Leningrad. Tausende mögen es sein. Der Wind peitscht das Wasser der Newa. Doch niemand verläßt
den Hafen, im Gegenteil, immer mehr Menschen strömen herbei. Sie alle wollen dabeisein, wenn die „Krassin" von ihrer heldenhaften Fahrt aus dem Nordmeer zurückkehrt. Ganz vorn, direkt an der Anlegestelle, stehen die Angehörigen der Besatzungsmitglieder. Die Frauen halten Blumen in den Händen. Ein Jubelschrei schwillt zum Orkan der Freude an. Auf der Reede kommt die „Krassin" in Sicht. Kriegsschiffe der Baltischen Rotbannerflotte grüßen die Heimkehrer mit Salutschüssen. Winken und Jubel von den Dächern der umliegenden Gebäude. Eine Vielzahl von kleinen Booten strebt der „Krassin" entgegen und geleitet sie zum Kai. Und nicht nur in Leningrad werden die Heimkehrer jubelnd empfangen. Alle Rundfunkstationen haben Reporter geschickt, und in direkten Sendungen erlebt das ganze Sowjetland die Rückkehr der mutigen Lebensretter mit. Was bedeutet es schon, daß die bürgerlichen Sensationsmacher die Leistungen der Männer der „Krassin" zu schmälern versuchen? Die Heimat hat sie verstanden und hat an sie geglaubt. Ihr Dank an diesem Oktobertag 1928 ist überwältigend. Die Männer auf der Brücke, den Aufbauten oder an der Reling winken zum Kai hinüber. Verstohlen wischt sich manch einer die Freudentränen aus dem Gesicht. Und bei aller Freude ist um sie so etwas wie schüchterne Verwunderung: Warum nur dieser Aufwand? Ein jeder von euch da drüben am Kai und im weiten Rund hätte doch genau das gleiche wie wir getan! Professor Samoilowitsch wendet sich mit seinem sparsamen Lächeln, wie er es immer tut, wenn er einen seiner sarkastischen Scherze ausspricht, an den Kapitän:
„Genosse Eggi, ich glaube, die nächste Stunde wird schlimmer als ein orkanartiger Nordoststurm." Die „Krassin" macht am Kai fest. Das Fallreep wird ausgebracht. Feierliche Stille herrscht. Der erste, der ruhigen, gemessenen Schrittes das Fallreep zum Schiff hinaufgeht, ist Nikolai Reinhold Schmidt, der Amateurfunker aus Wosnessenskoje im Gebiet von Wjatka.