Karen Sandler
Wenn du nur glücklich bist…
War es ein Fehler, zuzustimmen? Nina hat eine Vernunftehe mit dem Vater ihr...
8 downloads
279 Views
4MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Karen Sandler
Wenn du nur glücklich bist…
War es ein Fehler, zuzustimmen? Nina hat eine Vernunftehe mit dem Vater ihres kleinen Sohnes geschlossen. Denn plötzlich kommen erneut Gefühle ins Spiel, aber Nina will Jameson, ihrem Exgeliebten, der sie vor Jahren so enttäuschte, nicht noch einmal vertrauen. Doch Jameson scheint entschlossen zu sein, ihr zu beweisen, dass er sich geändert hat. Auf einer gemeinsamen Reise nach San Francisco wird Nina schwach: In Jamesons Hotelzimmer erlebt sie genau wie damals traumhafte Stunden der Liebe. Darf sie dem Glück diesmal trauen?
© 2004 by Karen Sandler
Originaltitel: „A Father's Sacrifice“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
in der Reihe: SPECIAL EDITION
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. Amsterdam
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1473 (13/2) 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Juni Meyer
PROLOG Jameson O'Connell saß in dem BMW seines Anwalts und starrte aus dem Fenster, während der silberfarbene Wagen mit ihm in Richtung Freiheit rollte. Die grauen, düsteren Mauern der Justizvollzugsanstalt Folsom verschwanden langsam hinter der Kurve, und schließlich war das Gefängnis aus seinem Blickfeld verloren. Die Erinnerungen würden jedoch nicht verschwinden. Die schrecklichen Bilder und all die grausamen Erlebnisse würden ihm für immer im Gedächtnis haften bleiben. „Ein Wagen wartet auf Sie“, bemerkte John Evans jetzt. „Ich habe ihn vor meiner Kanzlei abstellen lassen.“ „Ein Wagen?“ Erstaunt sah Jameson den Mann an, der ihn unverhofft gerettet hatte. „Wessen Wagen?“ „Ihrer“, erklärte John und stoppte am Ende der Prison Road. „Ein Geschenk Ihrer Großmutter.“ Ich verzichte! war Jamesons erster Gedanke. Augenblicklich kochte die Wut in ihm hoch, aber er schluckte die Worte hinunter. Schließlich hatte er auch das astronomische Honorar des Anwalts aus dem Vermögen seiner Großmutter beglichen. Ebenso die Kosten für die Revision vor Gericht, das Gutachten des vereidigten Sachverständigen, die schicke neue Hose sowie das strahlend blaue Hemd, das er am Leib trug. Grandma will sich nur von ihrer Schuld freikaufen, überlegte er grimmig. Im Moment war er allerdings gezwungen, ihre Großzügigkeit anzunehmen. Ohne ihre Finanzkraft hätte er seine Entlassung aus dem Gefängnis niemals erreichen können. Sie waren bei der Dam Road angekommen, und rechts von ihnen lag der Folsom Lake. Das Wasser schimmerte dunkelgrün. Der Herbstwind jagte über die Oberfläche des Sees und peitschte das Wasser auf. Plötzlich verspürte er den Wunsch, in ein Boot zu springen und über die schaumgekrönten Wellen zu segeln. Ich könnte es sogar tun, überlegte er einen Moment lang. Wenn ich wollte, könnte ich John Evans bitten, den Wagen anzuhalten, zu wenden und mich aussteigen zu lassen. Ich könnte mir ein Boot mieten, an Bord gehen und die zerklüftete Küste von Folsom genauestens erkunden. Ich bin ein freier Mann. Frei zu segeln, wann ich will, Steine über die Wasseroberfläche flitzen zu lassen und andere Dummheiten zu begehen, nach denen mir gerade der Sinn steht. Als der BMW scharf in die letzte Kurve der Dam Road ging, stemmte Jameson sich mit seinem ganzen Gewicht in die Gegenrichtung. Mit eisernem Griff schloss er seine Hände um die glänzend polierte Mahagonibox, die er auf seinem Schoß hielt. Wie albern, eine Holzbox mit Asche um jeden Preis schützen zu wollen, dachte er unwillkürlich. Aber solange sein Bruder Sean am Leben gewesen war, hatte Jameson sich ihm nie nahe gefühlt. Vielleicht fiel ihm die Trennung deshalb so schwer. Jetzt, wo Sean tot war. „Wissen Sie schon, wohin Sie als Erstes fahren wollen?“ fragte Evans. Hart Valley. Die unausgesprochene Antwort traf ihn selbst wie ein Schlag, und er presste die Lippen fest zusammen. Das mulmige Gefühl in seiner Magengegend machte ihm unmissverständlich klar, wie gefährlich es war, auch nur einen einzigen Gedanken an diesen Ort zu verschwenden. Hart Valley war für ihn mit einem strikten Tabu belegt. Jameson hatte nicht die geringste Lust, weiter über das Thema nachzugrübeln
oder mit seinem Anwalt zu plaudern. Evans hatte zwar weder Kosten noch Mühen gescheut, bis das Urteil gegen Jameson aufgehoben und er in die Freiheit entlassen worden war. Dafür war Jameson dankbar. Sehr dankbar. Aber er durfte nicht riskieren, dass seine Gedanken nach Hart Valley abschweiften, denn dann kreisten sie unwillkürlich um die Russos. Und wenn er die Russos erst im Kopf hatte, gesellte sich früher oder später unausweichlich Nina dazu. Doch über Nina wollte er ganz gewiss nicht nachdenken. Über alles, nur nicht über sie. „Wohin ich zuerst fahren will?“ wiederholte Jameson unwirsch, wandte hastig den Blick ab und starrte wieder aus dem Fenster. „Keine Ahnung.“ Evans begriff das Verhalten seines Mandanten und schwieg. Nachdem sie bei Evans Kanzlei angekommen waren, tauschten sie nur die nötigsten Höflichkeiten aus, dann übergab der Anwalt Jameson die Schlüssel für seinen nagelneuen Wagen. Jameson schloss die Faust so heftig um die Schlüssel, dass seine Handflächen schmerzten. Die widersprüchlichsten Gefühle stiegen in ihm hoch: Dankbarkeit, die ihm verhasst war, dazu das unbändige Verlangen, die Schlüssel im hohen Bogen wegzuschmeißen. Scham und überwältigende Schuldgefühle, die er nie wieder abschütteln würde. Seine eigene Schuld, die Schuld seiner Großmutter und Seans Schuld. Jameson schloss den silberglänzenden Viertürer auf und stellte die handgeschnitzte Mahagonibox vorsichtig auf den Beifahrersitz. Evans übergab ihm noch einen dicken Umschlag mit Papieren, die beglaubigten, dass seine Großmutter einen Teil ihres Vermögens auf ein Treuhandkonto für Sean überschrieben hatte und dass dieses Geld jetzt ihm, Jameson, gehörte. Er glitt hinter das Steuer und ließ den Umschlag auf die Fußmatte des Beifahrersitzes fallen. So bald wie möglich wollte er das Geld seiner Großmutter loswerden. Blutgeld, dachte er, unentwirrbar verstrickt in Leid und Schmerzen. Während er jedoch durch die Straßen von Sacramento fuhr und sich nach einer Bleibe umschaute, stellte er fest, dass er ebenso wenig in der Lage war, das Geschenk seiner Großmutter zurückzuweisen, wie er die verlorenen fünf Jahre wiederbekommen konnte. Sein Ruf war ruiniert, sein Leben verpfuscht. Obwohl er in der Gefängniswerkstatt mehrere Lehrgänge als Tischler absolviert hatte, waren seine Bewerbungen erfolglos geblieben. Sein kleines Vermögen würde es ihm allerdings erlauben, sich selbstständig zu machen. Von solchen Sicherheiten konnten frisch entlassene Sträflinge wie er normalerweise nur träumen. Im Grunde genommen könnte ich sogar nach Hart Valley fahren, dachte er. Wenn ich wollte. Sein Vater war kürzlich verstorben, und Jameson konnte sich auf den spärlichen fünf Hektar Land, die er geerbt hatte, ein neues Zuhause aufbauen. Vielleicht konnte er sich sogar eine Tischlerwerkstatt einrichten hinter der jämmerlichen Hütte, in der er aufgewachsen war. Sofern sie die knapp fünfjährige Vernachlässigung überstanden hatte. Ob ich einer Begegnung mit Nina wohl gewachsen bin? fragte er sich insgeheim. Die Ampel an der Kreuzung der Schnellstraße sprang von Gelb auf Rot, und Jameson trat abrupt auf die Bremse. Die Reifen des Pickups hinter ihm quietschten grauenvoll. Beinahe wäre er auf das Heck von Jamesons neuem Wagen geknallt. Die junge rothaarige Frau am Steuer stieß ein paar heftige Flüche aus und hupte wie verrückt, als die Ampel auf Grün sprang. Jameson fuhr wieder an und schimpfte lauthals auf sich selbst, weil er den Gedanken an Nina überhaupt zugelassen hatte. Fünf lange Jahre lagen hinter ihm, fünf Jahre, in denen er alles unternommen hatte, um sie aus seinem Leben
zu verbannen. Mit aller Kraft hatte er sich dagegen gesträubt, dass die Erinnerung an sie sich hinter den hässlichen Gefängnismauern einnistete. Wenn sein Verlangen nach ihr zu brennend wurde, hatte er die verführerischen Gedanken an sie verdrängt und seine Fantasien auf die prallen PinupGirls konzentriert, mit deren Bildern die anderen Gefangenen die Wände tapeziert hatten. Noch nicht mal den Gedanken an Ninas Parfüm hatte er zugelassen. Jetzt stürzten sämtliche Erinnerungen gleichzeitig auf ihn ein. Die Attacke war so heftig, dass seine Finger zitterten. Mit schweißnassen Händen umklammerte er das Lenkrad, bis er schließlich den Fuß vom Gas nahm und die Schnellstraße verließ, um nicht einen schlimmeren Unfall zu riskieren als den Zusammenstoß mit dem Pickup. Jameson bog in eine Einkaufsstraße ein und parkte den Viertürer vor einem Schuhgeschäft. Dann sank er in seinem Sitz zusammen, lehnte den Kopf nach hinten und blickte aus dem Fenster. Seine Brust fühlte sich an wie gepanzert. Ein scharfer Schmerz durchfuhr sein Inneres. Wenn er diesen Schmerz nicht schon tausend Mal gespürt hätte, als er einsam in seiner Gefängniszelle lag, wäre er überzeugt gewesen, dass er gerade einen Herzinfarkt erlitt. Du bist frei, jetzt darfst du an sie denken! meldete sich eine innere Stimme. Die Tränen brannten ihm in den Augen, aber er drängte sie mit aller Macht zurück. Jameson kniff die Lider fest zusammen, atmete stockend aus und entspannte sich ganz langsam. Der Druck auf seiner Brust nahm ab. Die Zeiten waren vorbei, als er sich den Gedanken an Nina strengstens hatte verbieten müssen. Andererseits wusste er, dass es noch immer gefährlich war, an sie zu denken. Fast befürchtete er, dass er es nicht überleben würde, wenn er es tat. Verzweifelt verstieg er sich ein paar Minuten lang in die Fantasie, dass Nina Russo noch immer die tolle Frau war, die er vor knapp fünf Jahren in seinen Armen gehalten hatte. Die echte Nina – die, die ihn todsicher wütend davonjagen würde – würde noch durch seine besten Absichten hindurch auf den dunklen Abgrund in seiner Seele blicken können. War es da nicht das Beste, er tat so, als würde sie gar nicht existieren?
1. KAPITEL Nina Russo setzte sich auf den Stuhl hinter dem Tresen ihres Cafes. Die Gäste, die bei ihr regelmäßig den Mittagstisch einnahmen, waren gerade wieder verschwunden. Ninas Cafe in Hart Valley war ein beliebter Treffpunkt in der kleinen Stadt, aber um drei Uhr nachmittags war es fast immer leer. Erst gegen fünf würden die ersten Gäste zum Abendessen eintreffen. Dann würde der Abendkoch die Bestellungen für Hackbraten, Kartoffelpüree und Chilibohnen bearbeiten. Das heißt, wenn mein Koch rechtzeitig zur Arbeit kommt, dachte sie spontan. Immer eine spannende Frage, ob er pünktlich ist oder nicht, denn Dale hatte gewiss keinen Orden für Pünktlichkeit verdient. Mit ihren Abendköchen hatte Nina noch nie Glück gehabt, aber Dale war der unzuverlässigste Koch von allen. Wenn man von Jameson O'Connell absieht, fügte sie im Stillen hinzu. Ein unangenehmes Gefühl kroch ihr den Rücken hinauf. Wie, um alles in der Welt, hatte es passieren können, dass Jameson plötzlich in ihren Gedanken auftauchte? Damals, vor knapp fünf Jahren, hatte er ihr fast den Verstand geraubt, sowohl vor als auch nach der Nacht, die ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt hatte. Aber kurze Zeit später hatte Nina ihn mit aller Macht aus ihren Gedanken verbannt, besonders nachdem er Pauline und Vincent Russo im Stich gelassen und das Weite gesucht hatte. Ich bin müde, das ist alles, dachte sie. In den vergangenen sieben Nächten war Dale drei Mal nicht zur Arbeit erschienen, und Nina hatte ihn in der Küche ersetzen müssen. Der Teenager, der als Tellerwäscher bei ihr engagiert war, hatte sich die schwere Erkältung eingefangen, die gerade in Hart Valley grassierte. Noch ein weiteres Paar helfende Hände, auf das sie verzichten musste. Erschöpft rieb Nina sich die Augen und lehnte sich seufzend auf dem Drehstuhl zurück. Sie war in diesem Cafe aufgewachsen. Ihre Hausaufgaben hatte sie in der Sitzbucht vorn in der Ecke erledigt, und auf dem Linoleumfußboden hatte sie mit Murmeln gespielt, während ihre Eltern kurz vor Ladenschluss damit beschäftigt gewesen waren, das Lokal aufzuräumen. Sie hatte den Betrieb von der Pike auf kennen gelernt. Jeder Handgriff war ihr vertraut, gleichgültig, ob es sich um den allabendlichen Kassenabschluss oder um die Auswahl des besten Rindfleisches handelte. Und als Kleinunternehmerin war genau das ihr Schlüssel zum Erfolg: jeden Mitarbeiter ersetzen zu können, wenn er nicht auftauchen sollte. Das galt besonders für Jameson. Er war von seinem Wochenendtrip nach Sacramento nie zurückgekehrt. Es reicht, ermahnte sie sich, lass endlich die Vergangenheit ruhen. Du hast heute Nachmittag etwas Besseres zu tun, als dich mit Erinnerungen an alte Zeiten herumzuplagen. Nina lächelte, als Lacey Mills aus der Küche kam. Sie war dankbar für jede Ablenkung. „Ich kann gern noch länger bleiben, wenn Dale nicht kommt“, bot die neunzehnjährige Studentin an, warf ihre blonde Mähne mit einer schwungvollen Kopfbewegung über die Schultern und setzte sich auf den Stuhl neben Nina. Nina schüttelte den Kopf und spürte die langen dunklen Haare wie ein Gewicht auf ihrem Rücken. Schluss für heute, dachte sie. „Du bist seit heute früh um sechs Uhr hier“, lehnte sie ab. „Hast du heute Nachmittag gar keine Vorlesung?“ Lacey zuckte die Schultern. „Doch. Aber ich könnte direkt von hier aus nach
Marbleville fahren.“ Die Türglocke ging, was hieß, dass ein Gast das Cafe betreten hatte. Nina erhob sich und drehte sich zum Eingang hin. Die spätherbstliche Sonne schien dem Mann in den Rücken, so dass sein Gesicht im Schatten lag. Wieder kroch ihr ein ungutes Gefühl in den Nacken. Ganz so, als würden unsichtbare Fingerspitzen die Haut um ihre Schultern herum betasten. Nervös versuchte Nina, die Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Der Mann trat aus der Sonne und drehte sich so zur Seite, dass das Licht jetzt sein Gesicht erhellte. Die strengen Konturen seiner Wangen und seines Kiefers, die mit den Jahren noch härter, ja fast hager geworden waren, standen plötzlich als Bild vor ihrem inneren Auge. Ein Bild, das spöttisch umhertanzte. Sein dunkles Haar war extrem kurz geschnitten, aber sie hatte nicht vergessen, wie seidig es sich früher angefühlt hatte. Und die Kraft, die von seinen breiten Schultern ausging, ließ unwillkürlich eine unbestimmte Hitze in ihr aufsteigen. Plötzlich sah er sie mit seinen blauen Augen direkt an und hielt ihren Blick gefangen. Sie entdeckte einen Schmerz in diesen Augen, der vor fünf Jahren nicht darin gelegen hatte, und die abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit, die aus ihnen sprach, versetzte ihrem Herzen einen heftigen Stich. Der verbitterte Zug um seine Lippen war ebenfalls neu, und mit einem Schlag wurde ihr bewusst, wer gerade ihr Cafe betreten hatte. Entsetzt rang Nina nach Luft. Lacey trat zu ihr hin und legte ihr freundschaftlich die Hand auf die Schulter. „Nina? Was ist los?“ Nina schüttelte fassungslos den Kopf und versuchte krampfhaft, sich einzureden, es könne nicht sein. Aber er war da und stand nur wenige Meter vor ihr. Jameson O'Connell. Er war aus der Haft entlassen worden. Hatte Jameson etwa erwartet, dass sie ihn mit offenen Armen und einem bezaubernden Lächeln empfangen würde? Er war überzeugt gewesen, dass die gewaltigen grauen Gefängnismauern jede Hoffnung auf sie zunichte gemacht hatten. Doch offensichtlich hatte tief in seinem Herzen ein winziges Samenkorn überlebt, und jetzt, beim ersten Wiedersehen mit Nina, war es aufgesprungen. Eigentlich hätte der Anblick ihres entsetzten Gesichtsausdrucks die aufkeimende Hoffnung sofort ersticken müssen, aber irgendwie lebte und atmete sie weiter. Und diese Erkenntnis brachte ihn beinahe um den Verstand, weil er sich bewiesen hatte, dass er noch nicht mal in der Lage war, diese kleine Gefühlsregung unter Kontrolle zu bringen. Er machte ein paar Schritte auf Nina zu und blieb auf Armeslänge vor ihr stehen. Die Gegenwart prallte heftig mit den jahrelang unterdrückten Erinnerungen an sie zusammen. Natürlich wusste er, dass er sie in seiner Fantasie idealisiert hatte. Ihr Gesicht hatte dem Antlitz eines Goldengels geglichen, und ihr Körper war zu üppig und zu sinnlich gewesen, um wahr zu sein. Aber der seidige Schimmer, den das Sonnenlicht jetzt auf ihre Wangen zauberte, das dichte schwarze Haar, das ihr über die Schultern fiel, und ihr süßes Kinn – ihm stockte schier der Atem. Jameson erlaubte sich einen hastigen Blick auf ihre Brüste. Sie waren noch üppiger, als er sie in Erinnerung hatte, ihre schmale Taille war noch weiblicher, und ihre Hüften schienen danach zu verlangen, gestreichelt zu werden. Den Bruchteil einer Sekunde lang dachte er daran, wie herrlich ihr Körper sich unter seinen Händen angefühlt, wie er ihre verborgenen Kurven erkundet hatte… Mit aller Macht zügelte er seine Fantasie, weil ihm schlagartig klar wurde, dass es fatal enden würde, wenn er der Versuchung nachgab. Unablässig fixierte er dennoch ihre großen braunen Augen. Dann betrachtete er kurz ihren Mund und
ihre leicht geöffneten Lippen. Unwillkürlich formte sich in seiner Vorstellung die Erinnerung an einen lange zurückliegenden Kuss, und angestrengt lenkte er seine Gedanken auf etwas, was ihm weniger gefährlich vorkam. Plötzlich allerdings drang eine Stimme an sein Ohr. „Was kann ich für Sie tun? Möchten Sie einen Tisch?“ Jameson begriff nicht auf Anhieb. Verwirrt wandte er sich der schlanken blonden Frau zu, die neben Nina saß. „Wie bitte?“ „Möchten Sie einen T…“ Nina legte der Blonden eine Hand auf die Schulter. „Schon gut, Lacey. Ich kümmere mich darum.“ Ich kümmere mich darum, wiederholte er den Satz grimmig in Gedanken. Sie tut so, als ob ich für sie nichts anderes sei als eine lästige Pflicht, dachte er ärgerlich. Und genau das war er auch. Niemand wusste besser als er, dass er sich auf der Liste von Leuten, die Nina in ihrem Leben nie wieder unter die Augen treten sollten, einen Platz ganz weit oben erobert hatte. Nur änderte das leider nichts an dem brennenden Verlangen, das sich zwischen seinen Schenkeln ausbreitete. Die dünne Blonde stand auf und stellte sich neben ihre Chefin. „Soll ich nicht besser…“ „Nicht nötig“, unterbrach Nina. „Geh ruhig nach Hause, ich komme schon zurecht.“ Die junge Frau schaute unschlüssig in die Runde, ging dann hinter den Tresen und griff nach der Dose mit den Trinkgeldern. Sie ließ Jameson nicht aus den Augen, während sie sich die Münzen und Scheine in die Taschen ihrer Schürze stopfte. „Wenn du willst, dann…“ „Geh doch endlich“, unterbrach Nina ziemlich ungeduldig. „Bis morgen.“ Lacey stellte die leere Dose wieder an ihren Platz zurück und eilte zu den hinteren Räumen. Das Schweigen im Cafe nahm jetzt bedrohliche Ausmaße an. Nina verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. Es sah aus, als wollte sie in Verteidigungsstellung gehen, und die Haltung betonte die üppigen Brüste unter ihrem weißen Hemd. Nina strahlte immer noch dieselbe weiche Sinnlichkeit aus, die ihn damals schon fasziniert hatte. Plötzlich merkte er, in welche Richtung seine Gedanken drifteten, und er trat unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Entschlossen streckte sie ihm das Kinn entgegen. „Was willst du?“ Das klang mehr nach einer Herausforderung als nach einer Frage. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und antwortete im selben Ton, in dem sie ihre Frage gestellt hatte. „Wo sind deine Eltern?“ Sie musterte ihn eindringlich. „Wie kommst du darauf, dass ich das ausgerechnet dir verrate?“ „Ich möchte mit ihnen sprechen“, entgegnete er. Ihr gereizter Tonfall passte ihm überhaupt nicht, obwohl er nur zu gut wusste, dass er sich ihre scharfe Erwiderung selbst zuzuschreiben hatte. „Worüber?“ Mit einem ungeduldigen Seufzer atmete er aus. Das geht dich überhaupt nichts an, schoss es Jameson durch den Kopf, aber zum Glück gelang es ihm, diese Bemerkung zurückzuhalten. „Ich will mich bei ihnen bedanken.“ Wütend presste sie die Lippen aufeinander, bevor sie antwortete. „Besser, du entschuldigst dich vorher.“ Wie verführerisch ihre Lippen sich bewegen, wenn sie spricht, dachte er vollkommen fasziniert. Für den Bruchteil einer Sekunde sehweiften seine Gedanken in verbotene Regionen. Blitzartig erinnerte er sich daran, wie wundervoll es sich angefühlt hatte, wenn sie ihre weichen Lippen auf seinen Hals
gepresst hatte. Sofort versteifte sich sein Körper. Er trat einen weiteren Schritt zurück, weil er befürchtete, dass er jeden Augenblick die Kontrolle über seine Hände verlieren würde und sie berühren musste. „Nina…“ Sein Mund war trocken, und er schluckte mühsam. Es klang ihm ungewohnt und fremd in den Ohren, ihren Namen auszusprechen. „Ich bin nicht zurückgekehrt, weil ich euch Ärger machen will. Ich will nur kurz mit deiner Familie sprechen.“ Schweigend starrte sie ihn an, griff dann hinter sich und langte nach dem Bestellblock auf dem Tresen. „Gib mir deine Telefonnummer. Ich werde sie wissen lassen, dass du wieder aufgetaucht bist.“ „Ich habe kein…“, begann er und erinnerte sich dann an das Handy, das Evans ihm gegeben hatte. „Warte.“ Er eilte nach draußen zu seinem Wagen. Als er das Gerät aus dem Lederetui zog, entdeckte er, dass die Nummer zum Glück auf einem Aufkleber hinten auf dem Gerät notiert war. Mit dem Handy ging er zurück ins Cafe. Nina hatte sich in der Zwischenzeit nicht von der Stelle gerührt. Er nannte die Nummer, und sie notierte sie auf dem Block, riss das Blatt ab und steckte es in die Tasche ihrer schwarzen Hose. „Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe zu arbeiten.“ Sie machte sieh auf den Weg in die Küche. Jamesons Magen rumorte. Plötzlich merkte er, dass er einen riesigen Hunger hatte. Automatisch rechnete er nach, wie lange es noch dauern würde, bis es endlich sechs Uhr war. Abends um sechs war in Folsom immer das Essen aufgetischt worden. Seine Entlassung lag zwar inzwischen schon drei Wochen zurück, aber manchmal war es für ihn immer noch wie ein Wunder, wenn er feststellte, dass er auf nichts und niemanden mehr zu warten brauchte. Wenn er wollte, konnte er sofort essen. Und er konnte sich das bestellen, worauf er Lust hatte. Schließlich besaß er immer noch das Bargeld, das ihm bei der Entlassung von der Gefängnisverwaltung ausgehändigt worden war, und er verfügte über eine Reihe Kreditkarten aus dem Umschlag, den Evans ihm gegeben hatte. „Ich möchte etwas essen.“ Sie blieb abrupt stehen, bevor sie die Küche erreicht hatte. „Machst du immer noch Hackbraten?“ Nina drehte sich um und schaute ihn an. Ihre verspannten Schultern verrieten ihren Widerwillen nur zu deutlich. „Ja.“ „Dann bitte eine Portion Hackbraten mit Kartoffeln.“ Hilflos gab sie nach. „Gebraten oder püriert?“ „Püriert. Mit einer Extraportion Soße.“ Jameson hatte keine Ahnung, was der Grund dafür sein mochte, aber plötzlich drehte sie sich zu ihm herum, und er machte eine Entdeckung, mit der er nie und nimmer gerechnet hatte: Aus ihrem Blick sprachen Verständnis und Mitgefühl. „Setz dich“, antwortete Nina. „Ich bringe es dir an den Platz.“ Sie ging in die Küche, während Jameson sich die nächstgelegene Sitzecke auswählte und das Besteck aus der Serviette auswickelte. Messer, Gabel und Löffel. Wieder schoss ihm die Erinnerung an die Mahlzeiten im Gefängnis durch den Kopf. An den Lärm und an den Geruch der Körper, die sich dicht an dicht drängten. Zu spät. Schlagartig traf ihn eine Panikattacke, und obwohl ihm das Gefühl nur zu vertraut war, empfand er zwei Sekunden später den überwältigenden Wunsch zu fliehen. Aber wie? Flucht war ausgeschlossen. Unüberwindliche Mauern umzingelten das Gefängnis. Bewaffnetes Sicherheitspersonal beobachtete jede
seiner Bewegungen. Noch in diesem Augenblick schlug ihm das Herz bis zum Hals, es pochte so heftig, dass es einen geradezu ohrenbetäubenden Lärm in seinem Kopf zu verursachen schien. „Alles in Ordnung?“ Erschrocken schaute er Nina an, die an seinen Tisch getreten war und ihn besorgt ansah. Die Freundlichkeit in ihrem Blick beruhigte ihn auf Anhieb. Nervös fingerte er an seinem Besteck herum und ordnete es schließlich sorgfältig. „Ja, alles bestens.“ Nina zögerte kurz, musterte ihn eindringlich und verschwand dann wieder in der Küche. Er konnte nicht widerstehen, den Blick an ihren Hüften hinuntergleiten zu lassen. Ausnehmend verführerisch, wie sie leicht hin und her schwangen. Entschlossen riss er sich von dem Anblick los und schaute auf die Zeitung The Sacramento Bee, die auf einem unordentlichen Stapel am Ende des Tresens lag. Ein paar Blätter der Reno Gazette lugten aus der zusammengefalteten Zeitung heraus. Jameson stand auf, ging zum Tresen hinüber, sortierte die Sacramento Bee und die Reno Gazette sauber auseinander und legte die Zeitungen auf zwei verschiedenen Stapeln ab. Dann griff er sich die erste Seite der Sacramento Bee und wollte zu seinem Platz zurückgehen. Plötzlich stand Nina neben ihm, in der Hand eine dampfende Platte. Vor Schreck stolperte sie beinahe, als sie ihn völlig unerwartet am Tresen stehen sah. Er ließ die Zeitung fallen und stützte Nina gerade noch rechtzeitig, um einen Sturz zu verhindern. Schützend glitten seine Hände über ihre Schultern. Nina fühlte sich unbeschreiblich weich und verführerisch an, und er brachte es kaum fertig, sie wieder loszulassen. Unsicher hob Nina das Gesicht und fing seinen Blick auf. Ihre Lippen teilten sich leicht. Deutlich konnte er sich daran erinnern, wie sie schmeckten, wie warm sie gewesen waren, damals, als er seinen Mund auf ihren gepresst hatte. Ihr warmer Atem hatte seine Wangen gestreichelt, und das leise Stöhnen, das ihr wieder und wieder entschlüpfte, während ihre Lust immer höher stieg, klang ihm noch jetzt in den Ohren. Jede Berührung, jede Empfindung, jedes Detail ihrer unvergleichlichen Liebesnacht hatte sich ihm unauslöschlich eingeprägt und drängte jetzt mit Macht an die Oberfläche. Er musste schleunigst auf Distanz gehen. Verzweifelt versuchte er, einen Schritt zurückzutreten. Vergeblich. Er fühlte sich, als würden die grauen Mauersteine des Gefängnisses ihn immer noch festhalten. Aber er hatte keine Wahl, denn wenn es ihm nicht augenblicklich gelang, die Hände von ihren Schultern zu nehmen, würde er sie in die Arme schließen und sich in ihr Leben drängen, genau wie er es vor knapp fünf Jahren getan hatte. Nina ging auf Abstand. Ein Glück! dachte er spontan. Sie atmete tief durch, und dabei hoben sich ihre Brüste. Wieder musste er sie anschauen. Aber immerhin hatte er die Hände von ihren Schultern genommen, als sie den Schritt zurück gemacht hatte. Mit zitternden Fingern hob er die Zeitung auf, die zu Boden gefallen war. Als er sich wieder aufrichtete, hatte Nina die Servierplatte mit Hackbraten und Kartoffelbrei auf dem Tisch abgestellt und war gerade dabei, sich hinter dem Tresen zu verschanzen. Jameson nahm entschlossen Platz und legte das Titelblatt der Bee neben dem Teller ab. Verstohlen schaute er zum Tresen hinüber. Sein kurzer Blick reichte, um Nina endgültig in die Küche zu verscheuchen. Durch die Scheibe, die die Küche vom Gastraum trennte, konnte er ihre weit aufgerissenen braunen Augen erkennen. „Lass es mich wissen, wenn du noch etwas brauchst!“ rief sie ihm zu.
Krampfhaft überlegte er, um was er sie bitten könnte. Schließlich wollte er unbedingt erreichen, dass sie in den Gastraum zurückkam. Ketchup stand auf dem Tisch. Soße gab es reichlich. Als Gemüsebeilage hatte sie Erbsen serviert. Nicht gerade sein Lieblingsgemüse, aber im Gefängnis hatte er gelernt, dass er zu essen hatte, was auf den Tisch kam. Eigentlich hätte er sich ein Stückchen Brot gewünscht, um die Soße aufzutunken, aber er unterdrückte die Bitte. „Ich habe das Brot vergessen.“ Jameson erschrak und fragte sich, ob sie Gedanken lesen konnte. Tatsächlich kam Nina aus der Küche, öffnete den Sandwichtoaster im Regal hinter dem Tresen, wärmte ein paar Scheiben Brot auf und brachte sie ihm an den Tisch. Ihr Blick wirkte ängstlich. Es duftete nach Hefe. „Backt deine Mutter das Brot immer noch selbst?“ „Nein, ich backe“, antwortete Nina widerwillig. „Das Cafe gehört jetzt mir.“ „Deine Eltern…“ „… sind im Ruhestand“, beendete sie den Satz für ihn und deutete auf seinen Teller. „Iss, bevor es kalt wird.“ Offenbar fühlte sie sich unbehaglich. Sie trat von seinem Tisch zurück, warf über die Schulter einen Blick auf die Uhr in der Küche, dann wieder zu ihm und schaute schließlich auf den Eingang des Cafes. In den knapp fünf Jahren seiner Gefangenschaft hatte Jameson sich zwangsläufig eine äußerst scharfe Wahrnehmung angewöhnt. Als er ihre Blicke bemerkte, brodelte sofort eine merkwürdige Unruhe in ihm auf. Er entschloss sich, keine Rücksicht darauf zu nehmen, und aß ein Stück Braten mit Kartoffelbrei und Soße. Es schmeckte köstlich. Er seufzte genüsslich, lehnte sich zurück, schloss einen Moment lang die Augen und ließ sich den Bissen auf der Zunge zergehen. „Ich muss wieder an die Arbeit“, sagte sie, rührte sich aber nicht vom Fleck. „Geh schon“, ermunterte er sie. „Es schmeckt ausgezeichnet.“ Die Türglocke klingelte. Das Unbehagen in ihren Gesichtszügen wich der puren Angst, als ihr Blick zwischen der Tür und ihm hin und herging. Was, zum Teufel, ist nur in sie gefahren? überlegte er ratlos. „Mommy!“ Der Schrei des Kindes zerriss die Stille im leeren Cafe. Jetzt ging Nina von Jameson weg, um den kleinen Jungen zu begrüßen, der zwischen den Tischen hindurch zu ihr rannte. Sie hob ihn hoch, drückte ihn an sich und hastete dann an Jameson vorbei in die Küche. Es lag auf der Hand, warum Nina ihren Sohn um jeden Preis von Jameson fern halten wollte. Welche Mutter würde ihren Sohn freiwillig einem ehemaligen Sträfling begegnen lassen?
2. KAPITEL Das Herz hämmerte Nina panisch in der Brust. Sie hatte sich in die Küche verzogen, hielt sich ganz bewusst aus Jamesons Blickfeld und drückte ihren Sohn Nate an sich. Sie zitterte am ganzen Leib. Ihre Knie fühlten sich plötzlich so schwach an, dass sie sich gegen die Küchenzeile lehnen musste. Sie verspürte den heftigen Wunsch, ihren Sohn zu beschützen, und drückte ihn noch fester an sich. Sie duckte sich ein wenig und lugte durchs Fenster in den Gastraum. Jameson schien zu spüren, dass sie ihn beobachtete, hob den Blick und musterte sie eindringlich. Nina fühlte sich wie gelähmt. „Mommy, lass mich runter“, sagte Nate, die Lippen dicht an ihrem Hals. „Ich will runter.“ Schließlich riss Nina ihren Blick von Jameson los und ging wieder außer Sichtweite. Zitternd atmete sie durch und unterdrückte den Wunsch, durch die rückwärtige Tür des Cafes nach draußen zu flüchten. Ihr Apartment lag direkt über dem Lokal. Relativ einfach konnte sie Nate die Treppen hinauftragen und ihn aus dem Weg schaffen, bis Jameson wieder verschwunden war. Nate wand sich in ihren Armen, und auf Anhieb wurde Nina klar, dass die Flucht vollkommen vergeblich sein würde. Mit seinen vier Jahren war Nate ein ungeheures Energiebündel. Ausgeschlossen, dass er sich ihrem mütterlichen Beschützerinstinkt fügen würde. Seufzend lockerte sie deshalb die Umklammerung und ließ ihn zu Boden rutschen. „Bleib bitte hier“, ordnete sie an. „Such deine Buntstifte und Papier.“ Nate schenkte ihr ein süßes Lächeln und schaute sie mit ernsten braunen Augen an. „Im Kindergarten habe ich ein Bild für dich gemalt. Es ist in meinem Rucksack.“ Er ruderte mit den Armen und zog sich den rotvioletten Minirucksack vom Rücken. „Nimm es mit in deine Spielecke. Ich schaue es mir an, wenn ich dir dein Essen bringe.“ Er grinste schelmisch. „Darf ich Schokokekse?“ „Mit Milch. Ich bringe sie dir gleich.“ Nate verzog sich in den hinteren Teil der Küche, wo Ninas Eltern ihm eine kleine Ecke zum Spielen eingerichtet hatten, als er noch ganz klein gewesen war. Früher war dort eine gut gefüllte Speisekammer gewesen. Ninas Eltern hatten in der Ecke eine tragbare Wiege aufgestellt und ein Babyfon zusammen mit einem Monitor installiert. Diese Geräte waren längst der Malecke und einem Spielzeugregal gewichen. Jetzt hatte Nina einen kleinen Kindertisch aufgestellt, das Regal quoll über vor Spielzeug, und in der Kiste stapelten sich die Bücher. An manchen Abenden herrschte im Cafe unerwartet viel Betrieb, und für solche Notfälle hatte sie einen Videorekorder aufgestellt, der für Nates Unterhaltung sorgte. Wenn Nate seine kleine Mahlzeit beendet hatte und das Interesse an seinem Malblock erlahmte, würde er in der Küche auftauchen und seiner Mutter Hilfe anbieten. Normalerweise war an Mittwochabendend nie besonders viel los, so dass Nina ihren Sohn im Auge behalten konnte, wenn sie ihn mit kleinen Aufgaben betraute. Aber heute Abend wollte sie nur eines: Ihren Sohn so lange in seiner Spielecke beschäftigen, bis Jameson endlich das Lokal verließ. Die Türklingel ging. Nina hoffte inständig, dass der Koch zur Abendschicht eintraf. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, deshalb war ihr jede Ablenkung willkommen. Aber es war nicht Dale, sondern ein Paar, das irgendwo außerhalb der Stadt wohnte, mit seinen zwei kleinen Kindern. Bestimmt waren
sie für ein verlängertes Wochenende auf dem Weg nach Tahoe oder Reno. Als sie ihnen die Speisekarte brachte, betrat ein weiteres Paar das Cafe, im Schlepptau vier Kinder und die Großmutter. Nina griff nach sieben weiteren Speisekarten, als zwei Gruppen dazukamen und begannen, die Tische in der Mitte des Cafes zusammenzurücken. Sie wartete bei Jamesons Tisch, bis die Eltern ihren Kindern aus den Jacken geholfen hatten und sich schließlich setzten. Jameson tunkte gerade den letzten Rest Soße mit dem Brot auf. „Die Abendgäste sind aber heute früh dran. Noch dazu an einem Mittwoch.“ Eigentlich wollte sie gar nicht antworten. Am liebsten hätte sie seine Anwesenheit schlichtweg ignoriert. Warum verschwindest du nicht endlich? flehte sie stumm. „Das ist die Kirchengruppe aus Sacramento. Mittwochs sind sie immer hier.“ Eine dritte Familie mit dem Pastor an der Spitze betrat das Lokal. Beinahe zwanzig Gäste waren jetzt im Cafe versammelt. Nina fügte ein paar Kinderspeisekarten zu dem Stapel hinzu, den sie an den Enden der Tischreihe und in der Mitte abgelegt hatte. In der Küche überschlug sie in Gedanken kurz, wie sie die Arbeit bewältigen sollte. Sie konnte Lacey bitten, kurzfristig einzuspringen. Oder ihre Mutter. Aber Pauline Russo sollte zu Hause bei ihrem Mann bleiben und nicht im Cafe am Herd stehen. Schließlich hatte Ninas Vater sich von seinem leichten Herzinfarkt immer noch nicht ganz erholt. Oder soll ich…? Nein, das darfst du noch nicht mal denken, schalt sie sich entrüstet. Je eher er verschwindet, desto besser. In einem Anflug von Verzweiflung schloss sie die Augen und versuchte, sich etwas Vernünftiges einfallen zu lassen. „Wo steckt der Abendkoch?“ Beim Klang seiner Stimme zuckte Nina heftig zusammen und trat erschrocken zurück. Sie hatte seine ruhigen Schritte auf dem Küchenfußboden vollkommen überhört. „Sieht so aus, als hätte er sich ein bisschen verspätet.“ Jameson nickte. „Du kannst nicht gleichzeitig bedienen und am Herd stehen.“ Trotzig verschränkte sie die Arme. „Er muss jeden Augenblick eintreffen.“ Wieder nickte er. „Gibst du meine Telefonnummer an deine Eltern weiter?“ „Ja. Ganz bestimmt.“ Und jetzt verschwinde bitte! fügte sie im Geiste hinzu. Jameson nickte ein drittes Mal, drehte sich um und hatte die Küche beinahe schon verlassen, als das Telefon klingelte. „Mommy, ich geh ran!“ rief Nate aus seiner Spielecke und raste zu dem altmodischen Wandtelefon. Neugierig beobachtete Jameson, wie der kleine Wirbelwind den Hörer herunterriss. „Nina's Cafe“, meldete er sich mit ernster Stimme. „Was kann ich für dich tun?“ Er lauschte kurz und gab den Hörer dann an Nina weiter. „Es ist Dale. Er ist krank.“ Nina schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Dale sich nur einen schlechten Scherz erlaubte und sich überreden ließ, so schnell wie möglich zur Arbeit zu kommen. Aber sie verstand nur ein paar der Worte, die er heiser in den Hörer krächzte. Offensichtlich war Dale wirklich krank, ein Opfer der heftigen Grippe, die in der Stadt grassierte. „Gute Besserung, Dale.“ Nina legte auf und ließ ihren Blick über die Tische mit den hungrigen Gästen schweifen. „Nina“, begann Jameson wieder, „lass mich helfen.“ „Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. Solange er sich im Cafe aufhielt, konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Aber sobald er verschwunden war, würde ihr sicher eine Lösung für das Problem einfallen. Nate zog sie ungeduldig an der Hand. „Mommy, ich kann dir doch helfen. Ich
kann alle Zuckerdosen auffüllen. Und Salz und Pfeffer.“ „Das hat Lacey schon für dich erledigt, Liebling.“ Nina legte den Arm um die Schultern ihres Sohnes und führte ihn zurück in seine Ecke. „Ich bringe dir gleich deine Kekse. Und dann rufe ich Grandma an. Sie holt dich ab, und du kannst heute Abend bei ihr spielen.“ Auf keinen Fall wollte sie ihre Mutter darum bitten, im Cafe einzuspringen. Ebenso wenig würde Pauline sich die Gelegenheit entgehen lassen, einen Abend mit ihrem Enkel zu verbringen. Nate hatte sich längst wieder seinem neuesten Kunstwerk zugewandt, das er mit seinen Buntstiften zu Papier brachte, als Nina durch das Fenster in das Cafe schaute und drei weitere Paare entdeckte, die sich gerade ihre Plätze suchten. Nachdem das zuletzt angekommene Paar sich gesetzt hatte, erinnerte sie sich plötzlich, dass sie in der Sacramento Bee von der Kirchenkonferenz gelesen hatte, die am kommenden Wochenende in Reno stattfinden sollte. Jameson war nirgendwo zu entdecken. Sie verspürte Dankbarkeit und war zugleich ein bisschen ängstlich. Endlich hatte er das Lokal verlassen. Das hast du doch gewollt, oder? redete sie sich ein. Verrückt, dass sie sich trotzdem im Stich gelassen fühlte. Nina griff nach dem Telefon und wählte die Nummer ihrer Eltern. Ihr Vater war am Apparat, und ihr entging nicht die Müdigkeit in seiner Stimme, die sonst immer ausgesprochen herzlich geklungen hatte. Erschöpft rieb sie sich über die angespannte Stirn. „Mittwochs spielt sie immer Bingo“, erinnerte Vincent Russo seine Tochter. „Mom wird frühestens gegen zehn zurück sein. Aber sie hat ihr Handy dabei. Ruf sie doch einfach an.“ „Schon in Ordnung, Daddy“, erwiderte Nina. „Mach ich später.“ Es kam überhaupt nicht infrage, dass sie ihrer Mutter das kleine Vergnügen raubte, das sie sich einmal pro Woche gönnte. Ratlos legte Nina auf und ging zu Nate in die Spielecke. „Grandma ist heute Abend schon beschäftigt. Du kannst hier bleiben, Schatz“, erklärte sie und schaltete den Videorekorder ein. „Super! Video gucken!“ Nate stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab und krabbelte zum untersten Regal, suchte nach einem Video und zog schließlich eine Kassette hervor. „Diese hier.“ Nina legte das Video ein und drückte Nate die Fernbedienung in die Hand. „Aber erst isst du dein Abendbrot. Dann kannst du dir den Film ansehen“, erklärte sie und eilte zurück in die Küche. Erschrocken hielt sie inne, als sie Jameson an der Arbeitsfläche stehen sah. Er hatte sich die weiße Schürze umgebunden und schnitt geschickt Tomaten klein. „Deine Gäste möchten bestellen.“ „Was, um alles in der Welt, machst du da? Du kannst nicht bleiben.“ Er sah sie eindringlich an. „Draußen sitzen ungefähr dreißig Gäste. Und dein Koch hat sich krankgemeldet.“ Ein Blick in den Gastraum verriet ihr, dass drei weitere Familien eingetroffen waren. „Ich werde schon jemanden finden.“ „Verstehe, dass du deinen Sohn vor mir schützen willst“, meinte Jameson, straffte die Schultern und ließ das Messer einen Moment lang ruhen. „Zugegeben, ich bin das schlechteste Vorbild, das dir weit und breit über den Weg laufen kann. Wenn er mein Sohn wäre…“ Nein! Er ist nicht dein Sohn! hätte sie ihm am liebsten ins Gesicht geschrien. „Ich will nur helfen“, schloss er. „Und ich werde kein Wort mit ihm wechseln. Ich werde mich in angemessener Entfernung halten. Versprochen.“
Der Geräuschpegel ging drastisch in die Höhe, als eine weitere Gruppe das Lokal betrat. Jameson starrte Nina unverwandt an und wartete auf eine Antwort. Schließlich nickte sie geschlagen. „Ja, ich bin einverstanden. Schön, dass du helfen willst.“ Ihr entging nicht, dass in seinem Blick ein Fünkchen Dankbarkeit aufflackerte, bevor er fortfuhr, die Tomaten klein zu schneiden. „Gibt es ein neues Gericht auf der Speisekarte? Irgendetwas, was ich noch nicht kenne?“ „Ja. Gegrillter Seewolf. Hier sind die Gewürze.“ Sie langte an ihm vorbei auf das Gewürzbrett und stellte die Gläser auf die Arbeitsfläche. Jameson konzentrierte sich. Mit einem schnellen Blick überflog er die Anordnung der Gerätschaften auf der Arbeitsfläche, die ihm immer noch vertraut war. Kalte Sandwichs, Beilagen und Soßen für die warmen Gerichte. Backofen und Grill hinter ihm. Nur ein Jahr lang hatte er in dem Cafe gearbeitet, aber die Erinnerung an dieses eine Jahr stand ihm deutlicher vor Augen als irgendeine andere Zeit in seinem Leben. Natürlich wegen Nina. Und wegen der heißen Liebesnacht, die sie miteinander verbracht hatten. Aber auch wegen ihrer Eltern. Sie hatten ihn ausgesprochen freundlich aufgenommen und großes Vertrauen in ihn gesetzt. Nina klemmte die ersten fünf Bestellzettel an den Drehständer und eilte wieder zurück in den Gastraum. Zeit zum Nachdenken blieb Jameson nicht, es sei denn über den Hamburger auf dem Grill oder die tiefgefrorenen Pommes frites in der Fritteuse. Pausenlos kamen neue Gäste, die alten gingen, und er war froh, dass er alle Hände voll zu tun hatte. Nach kurzer Zeit hatte sich der alte Arbeitsrhythmus wieder perfekt eingestellt. Es war wie vor knapp fünf Jahren, als er fast jeden Abend im Cafe gekocht hatte. Völlig automatisch spulte er die Bewegungen ab: ein schneller Blick auf den Bestellzettel, dann drehte er sich um und warf das gewürzte TBoneSteak auf den Grill, holte den Seewolf aus dem Ofen und richtete ihn auf der Servierplatte an. Aus den Augenwinkeln registrierte er eine hastige Bewegung. Zumindest glaubte er es. Doch in diesem Moment war er zu sehr damit beschäftigt, das TBone Steak vom Grill zu nehmen, um die Sache genauer betrachten zu können. Dann scharrten ein Paar Füße auf dem Boden, und als Jameson sich zu der Geräuschquelle hinwandte, duckte sich jemand weg und verschwand aus seinem Blickfeld. Und dieser Jemand war ziemlich klein. Fünf Jahre hatten Jamesons Nerven sich in einem permanenten Alarmzustand befunden. Hinter jeder Ecke konnte die Gefahr lauern. Er war heilfroh, dass er in Ninas Lokal nichts anderes zu fürchten hatte als die neugierigen Blicke eines kleinen Jungen. Als er jedoch zum zweiten Mal das scharrende Geräusch hörte und als Sekunden später ein großer Löffel aus Metall klirrend zu Boden fiel, begriff er, dass das Kind auf keinen Fall entdeckt werden wollte. Also arbeitete er geflissentlich weiter. Jameson hatte nur einen kurzen Blick auf das Kind werfen können, so schnell war Nina vorhin mit dem Jungen auf dem Arm in der Küche verschwunden. Er hatte große Ähnlichkeit mit seiner Mutter – dunkles Haar, lebhafte braune Augen, ein süßes Lächeln. Aber er war spindeldürr, im Unterschied zu Nina, die eine üppige Figur hatte. Der Junge ist ja kaum zu bändigen, hatte Jameson bei sich gedacht, als Nate vorhin ins Cafe geflitzt war. Wer ist wohl der Vater? überlegte er kurz. Jameson erinnerte sich noch bestens, dass Nina in einen der Rancher in der Gegend sehr verliebt gewesen war. Tom Jarrett. Das war einer der Gründe, weshalb sie damals so verletzlich gewesen war. Unwillkürlich stiegen Schuldgefühle in ihm hoch.
Trotz allem war er sich damals in ihrer Liebesnacht sicher gewesen, dass sie wirklich ihn begehrt hatte. Obwohl er insgeheim wusste, dass er niemals eine Chance gehabt hätte, wenn der andere Mann sie nicht zurückgewiesen hätte. Vielleicht ist dieser Rancher der Vater, überlegte Jameson weiter. Vielleicht haben er und Nina zueinander gefunden, nachdem ich aus ihrem Leben verschwunden bin. Aber es war äußerst unwahrscheinlich, dass sie immer noch mit ihm zusammenlebte, denn sonst hätte sie ihn sofort angerufen, nachdem Dale sich krankgemeldet hatte. Plötzlich entdeckte er Nina auf der anderen Seite der Durchreiche. Verwundert schaute sie ihn an. Jameson stieg die Röte in die Wangen, und er fragte sich, ob sie wohl erraten hatte, was ihm gerade durch den Kopf gegangen war. Offenbar war sie jedoch nur gekommen, um eine weitere Bestellung abzugeben. Er griff nach dem Zettel und berührte unwillkürlich ihre Finger, weil sie das Blatt noch nicht losgelassen hatte. Erschrocken starrte sie ihn an. Ihre Hand verkrampfte sich sofort in seiner, und er hielt sie fest. Du darfst sie nicht anfassen, mahnte seine innere Stimme eindringlich, aber Ninas Hand fühlte sich angenehm warm und wohlig an. Es war, als würde er sie niemals loslassen können. Sie riss sich los und klemmte den Zettel wieder an den Drehständer. „Bitte entschuldige. Ich habe die Pommes frites vergessen.“ „Macht nichts.“ Er drehte sich weg und tat so, als müsste er dringend nach dem Steak in der Pfanne sehen, wendete es langsam und wollte ihr die Gelegenheit verschaffen, aus seiner Nähe zu verschwinden. Als er sich wieder an der Arbeitsfläche zu schaffen machte, stand sie noch immer an der Durchreiche und sah ihn beunruhigt an. „Wir konnten schon immer gut zusammenarbeiten“, bemerkte sie plötzlich und eilte wieder zurück ins Cafe. Jameson kämpfte gegen die Welle der Gefühle, die in ihm aufstieg. Ninas Worte erinnerten ihn daran, wie herzlich die Russos ihn in ihrem Leben willkommen geheißen hatten. Obwohl Mr. Russo ihm nie wirklich zu vertrauen schien. Damals hätte er alles getan, um voll und ganz von ihm akzeptiert zu werden. Trotzdem hatte er Ninas Eltern bitter enttäuscht. Er hatte ihr Vertrauen schwer missbraucht, zwei Mal sogar. Das erste Mal ging es um Nina, und das zweite Mal war er im Gefängnis von Folsom gelandet. Angestrengt konzentrierte er sich wieder auf die Arbeit. Er nahm ein weiteres T BoneSteak vom Grill, legte es auf einen Teller und fügte den Kartoffelbrei hinzu. Anschließend noch einen Löffel Erbsen, die Soße – und die Bestellung war erledigt. Schnell kümmerte er sich um die nächsten Bestellungen, klingelte und heftete die Rechnung für den Tisch an die Drehspindel. Außerdem wollte er ein paar Steaks aus dem Kühlraum holen, während Nina die servierfertigen Gerichte abholte. Als er an der ehemaligen Speisekammer vorbeikam, stellte er erstaunt fest, dass der Raum zu einem Kinderzimmer umgebaut worden war. Der kleine Spion hatte sich in sein eigenes Reich zurückgezogen und beugte sich mit Buntstiften in der Hand über ein großes Blatt Papier. Im Videorekorder lief ein Film, und am Boden lag allerlei Spielzeug verstreut. Der Name „Nathan“ war in ungelenken Buchstaben überall auf die Wand gekritzelt. Jameson ermahnte sich, die Steaks im Kühlraum nicht zu vergessen, und riss sich eilig von dem Anblick los. Sieht so aus, als hätten sie hier auch alles umgeräumt, überlegte Jameson, als er den Kühlraum betrat. Kurz darauf hatte er die Steaks jedoch gefunden. Er griff nach der fünf Kilo schweren Box auf dem Metallregal und stieß die Tür des
Kühlraums wieder auf. Als er hinaustrat, prallte er beinahe mit dem gerade mal ein Meter großen Energiebündel in Jeans und HarryPotterTShirt zusammen. Nate sprang zurück und warf den Kopf in den Nacken, um Jameson besser anschauen zu können. „Wer bist du?“ Irgendetwas an dem Jungen erregte Jamesons Aufmerksamkeit. Vielleicht lag es daran, dass der Kleine ihm trotzig das Kinn entgegenstreckte. Oder an der frechen Stupsnase. Der Gesichtsausdruck des Kindes erinnerte ihn an seinen Bruder Sean, als er zehn Jahre alt gewesen war. Jamesons Großvater hatte Besuche bei ihm strikt verboten, und es war purer Zufall gewesen, dass er Sean an jenem Tag in San Francisco über den Weg gelaufen war. Mit seinen zehn Jahren war Sean damals ein paar Jahre älter gewesen als Ninas Sohn jetzt, aber sein Gesicht hatte immer noch kindlich und unschuldig gewirkt. Erst später hatten Wut und Enttäuschung ihre Spuren in seinen Gesichtszügen eingegraben. Er zwang sich zu einem Lächeln. „Ich bin Jameson.“ Der Kleine musterte ihn aufmerksam. „Bist du der neue Koch?“ „Ich helfe deiner Mom nur heute Abend aus. Und du, bist du Nathan?“ fragte Jameson zurück. „Nate“, korrigierte der Junge. „Stimmt, Mommy braucht Hilfe. Weil die Köche einfach nichts taugen.“ Jameson unterdrückte ein Lachen. „Ich bin sicher, dass sie ihr Bestes geben.“ „Lüge. Sie taugen nichts. Sagt jedenfalls Mommy.“ Die Kühlbox mit den Steaks ließ Jamesons Hände langsam kalt und klamm werden. Bestimmt waren inzwischen weitere Bestellungen eingegangen, trotzdem konnte er sich dem Charme nicht entziehen, den Ninas kleiner dunkelhaariger Sohn ausstrahlte. Angestrengt überlegte er, wie er die Plauderei fortsetzen konnte. „Deine Spielecke gefällt mir.“ „Ich zeig sie dir“, bot Nate an und zerrte Jameson am Hosenbein. „Grandpa und Grandma haben sie für mich gebaut.“ Zusammen gingen die beiden zu Nates Spielzimmer und wollten gerade eintreten, als Nina auftauchte und Jameson den Weg versperrte. „Was erlaubst du dir eigentlich?“ herrschte sie Jameson an. Erschrocken trat er zurück. „Tut mir Leid. Ich wollte nur Steaks holen. Er ist…“ „Der neue Koch gefällt mir.“ Nate musterte Jameson von Kopf bis Fuß. „Der taugt was.“ Nina atmete tief durch und versuchte, Ruhe zu bewahren. „Nate, geh in deine Spielecke.“ Der Junge schob die Unterlippe vor, als wollte er protestieren, drehte sich dann aber um und trottete in das kleine Zimmer. Plötzlich blieb er stehen und schaute über die Schulter zurück zu Jameson. „Kommst du vorbei und sagst Auf Wiedersehen? Bevor du gehst?“ Jameson warf Nina einen fragenden Blick zu. Sie nickte zögerlich. „Versprochen“, stimmte er zu. „Bevor ich gehe.“ Nina verschränkte die Arme vor der Brust und marschierte in die Küche. Jameson folgte ihr. Er setzte die Kühlbox auf der Arbeitsplatte ab und öffnete sie. „Ich habe ihm nicht nachspioniert.“ „Ich weiß.“ Jameson ging hinüber zu dem Kühlschrank aus Edelstahl, öffnete die Tür und holte eine Plastikwanne heraus. „Außerdem würde ich ihm niemals etwas tun.“ Er verfrachtete die Steaks aus der Kühlbox in die Plastikwanne. „Verdammt noch mal, ich bin. doch kein Unhold“, bekräftigte er mit gesenkter Stimme. „Habe ich das behauptet?“ Jameson stellte die gefüllte Plastikwanne in den Kühlschrank und schloss die Tür.
„Gibt's neue Bestellungen?“ wollte er wissen und schaute zu Boden, um ihrem Blick auszuweichen. „Nein. Ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, dass wir uns eine kurze Pause gönnen sollten.“ Sein dunkles braunes Haar ist viel zu kurz geschnitten, ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Früher, als er es länger trug, hatte es sich in leichte Wellen gelegt. Noch immer war der Kontrast zwischen seiner Haarfarbe und seinen blauen Augen jedoch auffallend. Sie erinnerte sich noch deutlich an ihre gemeinsame Liebesnacht. Alles hatte damit angefangen, dass sie ihm eine widerspenstige Locke aus der Stirn gestrichen hatte. Ich hätte ihn niemals berühren dürfen, dachte sie. Normalerweise war es ihr ohne Probleme gelungen, ihre Einsamkeit in Schach zu halten. Aber in jener Nacht, nachdem sie Tom Jarrett im Cafe begegnet war, hatte sie schlagartig begriffen, wie aussichtslos ihre Liebe zu dem Rancher war. Sie hatte sich in die Küche geflüchtet, weil sie unbedingt ein paar Minuten Ruhe brauchte. Plötzlich hatte Jameson neben ihr gestanden, und der Blick seiner strahlend blauen Augen war bis auf den Grund ihrer Seele gedrungen. Mit einem heftigen Kopfschütteln befreite Nina sich von den alten Erinnerungen und eilte zur Kasse. Die Kundschaft wartete. Sie kassierte, kam dann zurück, zog eine Schiene der kleinen Spülstraße heraus und sortierte die schmutzigen Teller ein. Kurz darauf hatte sie vier Schienen beladen. Ungefähr zwanzig Minuten würde es dauern, bis das Geschirr gereinigt wieder herauskommen würde. Zwanzig Minuten später betätigte Jameson die Glocke, weil die letzte Bestellung fertig war. Während sie die Mahlzeit servierte, beschlich Nina ein schlechtes Gewissen. Du musst es ihm sagen, mahnte ihre innere Stimme. Er hat ein Recht, es zu erfahren. Aber wenn ich ihm die Wahrheit verrate, widersprach sie sich selbst, dann verliere ich vollkommen die Kontrolle über die ganze Angelegenheit. Es lag auf der Hand, welche Schritte er einleiten würde. Wie sollte sie Nate dann noch vor ihm schützen? Man hatte ihn wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Fahrlässige Tötung durch einen Autounfall. Die Einzelheiten der Ermittlungen und des Gerichtsurteils kannte sie nicht, aber das, was sie wusste, reichte ihr. Jameson war frontal mit einem anderen Wagen zusammengeprallt. Weder Fahrerin noch Beifahrer hatten den Unfall überlebt. Er war für schuldig erklärt und zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden. Am Tag der Urteilsverkündung hatten die Klatschtanten aus Hart Valley sich schier das Maul zerrissen. Jameson O'Connell ist immer ein wilder Kerl gewesen, hatte es geheißen, immer hatte er seine dreckigen Finger im Spiel, wenn es irgendwo Ärger gab. Garantiert. Endlich hat er die Strafe bekommen, die er verdient. Hat man ihn entlassen und die Reststrafe womöglich zur Bewährung ausgesetzt? überlegte Nina. Er hat doch nur knapp fünf Jahre gesessen. Viel zu wenig für eine vorzeitige Entlassung zur Bewährung, wenn man zwei Menschen getötet hat. Sie sortierte das Besteck in den Kasten und brachte es an seinen Platz hinter dem Tresen. Als sie in die Küche zurückkam, stand Jameson am Grill und reinigte ihn mit einem Scheuerstein. Erwartungsvoll schaute er sie an. „Du kannst gehen, wenn du willst. Ich kann allein putzen.“ Kopfschüttelnd lehnte er ab. „Was ich anfange, das bringe ich auch zu Ende.“ Das Geheimnis lastete ihr schwer auf den Schultern, während sie ihn bei der Arbeit beobachtete. Er hatte Fehler begangen. Große Fehler. Aber hatte er nicht gerade deshalb Anspruch darauf, dass sie mit ihm darüber sprach? Mit welchem Recht behalte ich das Geheimnis für mich? fragte Nina sich. Vielleicht ist es doch besser, überlegte Nina weiter, wenn ich ihn einfach seiner
Wege ziehen lasse. Vielleicht wird er glücklicher sein, wenn er die Wahrheit niemals erfährt. „Was hast du als Nächstes geplant?“ erkundigte sie sich laut. Die Überraschung in seinem Blick entging ihr nicht. „Wie meinst du das? Wenn ich mit der Arbeit fertig bin?“ „Nein, ganz allgemein. Wenn du Hart Valley verlässt.“ Jameson legte den Scheuerstein zur Seite und wischte sich die Hände an der Schürze ab. „Ich komme doch nicht nach Hart Valley, um gleich wieder zu verschwinden. Nein, ich bleibe.“
3. KAPITEL Ich bleibe. Was, zum Teufel, habe ich gerade gesagt? fragte Jameson sich entsetzt. Er war vollkommen verwirrt. Er hatte nie geplant, in Hart Valley zu bleiben. Im Grunde genommen hatte er überhaupt keinen Plan gehabt. Eigentlich war ihm nur flüchtig durch den Kopf gegangen, kurz in Hart Valley vorbeizufahren, mit den Russos zu sprechen und Seans Urne zu beerdigen. Aber die Begegnung mit Nina und die Aushilfe im Cafe tauchten plötzlich alles in ein ganz anderes Licht. Seine Worte schienen in Nina eine wahre Horrorvorstellung ausgelöst zu haben. „Du kannst nicht bleiben!“ Ihre Stimme klang schrill. „Und warum nicht?“ „Weil… weil sie es nicht zulassen werden. Arlene und Frida und ihre Freundinnen“, stammelte sie. „Die Maulheldinnen.“ Nina hatte der Klatschrunde diesen Namen gegeben, damals schon, als er noch regelmäßig im Cafe gearbeitet hatte. Die vier alten Damen hatten oft in der Sitzbucht in der Ecke des Lokals Hof gehalten, ihn durch die Scheibe bei der Arbeit in der Küche beobachtet und boshafte Bemerkungen gezischelt. Sobald er die Küche verlassen hatte, um ein besonders schweres Tablett für Nina zu servieren oder um zu kassieren, hatten sie missbilligend geschwiegen und ihn mit giftigen Blicken verfolgt. Jameson griff nach einem Handtuch und wischte ein paar Krümel vom Grill. „Lass sie tratschen. Ihr Gerede interessiert mich nicht mehr.“ „Aber mich“, flüsterte Nina kaum hörbar. Eine Gänsehaut kroch ihm den Rücken hinauf. Warum flüstert sie plötzlich? überlegte er. Der Grill war endlich sauber. Jameson deckte ihn mit einem Tuch ab und säuberte sich die Hände an seiner Schürze. „Nina, was ist los? Erzähl schon.“ Er trat auf sie zu und umklammerte ihre Schultern. Augenblicklich spürte er die Wärme ihres Körpers unter seinen Handflächen, und er wusste, dass er sie niemals hätte berühren dürfen. Der Stoff ihrer weißen Bluse war so dünn, dass er praktisch direkt ihre Haut berührte. Dunkel erinnerte er sich daran, dass seine Selbstbeherrschung früher ausgezeichnet funktioniert hatte, aber nach fünf Jahren Abstinenz im Gefängnis konnte davon keine Rede mehr sein. Er verstärkte seinen Griff um ihre Schultern, atmete tief durch und wartete darauf, dass sie sich bewegte. Hoffentlich rückt sie ein paar Schritte ab, flehte er insgeheim. Denn wenn sie sich nicht von der Stelle rührte, würde er sie küssen müssen. Und wenn er sie küsste, konnte er für nichts mehr garantieren. Als Nina sich endlich bewegte, geschah es wie in Zeitlupe. Ganz langsam hob sie die Hände. Zweifellos wollte sie ihn zurückstoßen. Aber stattdessen ruhten ihre Handflächen plötzlich auf seiner Brust. Die Berührung traf ihn vollkommen unerwartet, und ein wohliges Stöhnen entfuhr ihm. Ihre Hände glitten höher. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, wie erstaunt sie selbst war. Leise drang ihre Stimme an sein Ohr. „Ich hatte schon fast vergessen, wie wundervoll du dich anfühlst.“ Sein Herz pochte so heftig, dass er beinahe fürchtete, sie könnte es hören. „Nina“, presste er mühsam hervor. Jameson riskierte einen Blick auf ihr Gesicht und verfluchte sich sofort für den Fehler. Sie hob den Kopf und schaute ihn an. Ihre Lippen schimmerten feucht und waren leicht geöffnet. Ihr eindringlicher Blick machte seine letzte Hoffnung zunichte, seine Kraft könnte ausreichen, ihr zu widerstehen. Er nahm die Hände
von ihren Schultern und schmiegte sie sanft um ihre Wangen, während er ihren Mund zögernd mit seinen Lippen berührte. Nina lehnte sich an ihn, ihre vollen Brüste gegen seinen Oberkörper, während sie mit den Fingerspitzen zärtlich die empfindliche Stelle an seinem Hals streichelte. Er drang mit der Zunge in ihren Mund ein, obwohl er ahnte, dass er viel zu viel verlangte und viel zu hastig war. Mit einem Ruck drängte er Nina gegen die Arbeitsfläche und schob sein rechtes Bein zwischen ihre Schenkel. Kraftvoll presste er sich gegen ihre Hüfte, obwohl er wusste, dass sie seine Erregung spüren musste. Aber trotzdem machte sie keine Anstalten, sich zu befreien. Jameson spürte, wie ihr Körper bebte, und das feuerte ihn nur noch mehr an. Er konnte einfach nicht widerstehen. Sie fühlte sich wundervoll an. Herausfordernd spielte er mit seiner Zunge in ihrem Mund und gab sich der Fantasie hin, sie gleich in der Küche zu lieben. Doch plötzlich kamen ihm arge Zweifel. Später fragte Jameson sich, wie er die Kraft dazu aufgebracht hatte, aber es gelang ihm, sich von ihr loszureißen und einen Schritt zurückzutreten. Beschämt wandte er den Blick ab und ging hinüber zum Waschbecken. Das Verlangen brannte immer noch heiß in seinem Innern. Er schenkte sich ein Glas Wasser ein und stürzte es in einem Zug hinunter, dabei kehrte er ihr den Rücken zu. Leise klangen ihre Schritte durch den Raum. Jameson hörte, dass sie näher kam, und er spürte die Wärme ihrer Hand, noch bevor sie ihn berührte. „Nein.“ „Jameson.“ Es klang unglaublich verführerisch in seinen Ohren, wenn sie seinen Namen aussprach. „Bitte fass mich nicht an. Ich kann nicht…“ Sie zögerte. „Entschuldige“, erwiderte sie dann und trat wieder einen Schritt zurück. „Ich hätte mich beherrschen müssen. Ich habe deine Situation ausgenützt. Zu meinem Vergnügen.“ Er lachte aus vollem Halse, und endlich wich die Anspannung aus seinem Körper. „Glaub mir, Liebling, das Vergnügen war ganz auf meiner Seite.“ Die Röte kroch ihr in die Wangen. „Eigentlich wollte ich es dir verschweigen“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. „Weil ich nicht möchte, dass er verletzt wird.“ Jameson stellte das Wasserglas zur Seite und schüttelte verständnislos den Kopf. „Was wolltest du mir verschweigen? Und wer…“ Er unterbrach sich, als er ein Geräusch aus der Kochecke vernahm. „Mommy, wo bist du?“ quengelte eine ungeduldige Kinderstimme. „Hier, Schatz.“ Nina warf Jameson einen Blick über die Schulter zu, eilte zu ihrem Sohn und kniete sich neben ihn auf den Boden. Wie versprochen blieb Jameson auf Distanz. Nate rieb sich die Augen und gähnte herzhaft. Jameson verspürte einen schmerzhaften Stich im Herzen. Nates Gesichtszüge, der schlanke Körperbau, sogar die Art, wie er seinen Kopf an die Schulter seiner Mutter lehnte – für Jameson war es wie ein Buch, das er zu lesen versuchen musste. Immer wieder merkte er, dass ihn die frappierende Ähnlichkeit zwischen Ninas Sohn und dem kleinen Sean irritierte. Aber sofort rief er sich ins Gedächtnis zurück, dass er seinem kleinen Bruder nur ein einziges Mal begegnet war, nachdem sie getrennt worden waren. Woher soll ich also wissen, ob Nate meinem Bruder tatsächlich ähnlich sieht oder nicht? überlegte Jameson. Kein Zweifel, dass Nina die Mutter ist, aber in ihm steckt auch etwas von seinem Vater. Der Vater… Ein ohrenbetäubendes Brüllen erfüllte seinen Kopf, als ihm schlagartig bewusst wurde, was sich vor seinen Augen abspielte. Er nahm nur noch die zwei Menschen wahr, die vor ihm auf dem Boden hockten. Nate hatte sich in die
Armbeuge seiner Mutter geschmiegt. Nina starrte Jameson unverwandt an und legte den Arm schützend um ihren Sohn. Kaum merklich nickte sie und sprach sehr leise, aber in seinen Ohren klang es wie eine Explosion. „Nate ist dein Sohn.“ Jameson hatte nicht bemerkt, dass er sich überhaupt vom Fleck gerührt hatte, bis er gegen den Herd stolperte und mit der Hand in den Grill fasste, der immer noch heiß war. Abrupt zog er die Hand zurück. Wie durch einen Nebel nahm er wahr, dass er sich allerdings nicht verbrannt hatte. Angestrengt mobilisierte er seine letzten Kräfte, um die Wahrheit aufzunehmen, mit der Nina ihn gerade konfrontiert hatte. Nate ist mein Sohn, hämmerte es in seinem Schädel. In jener wahnsinnigen Liebesnacht hatte er also ein Kind gezeugt. Es gab nicht viel in seinem Leben, worauf er stolz sein konnte. Und eben gerade hatte er erfahren, dass er ohne die geringste Absicht die Welt um ein Wunder reicher gemacht hatte. Das war zu viel für ihn. Das Gebrüll in seinen Ohren wurde lauter und lauter. Unmöglich, nur noch eine Sekunde länger stillzustehen. Wie von selbst setzten seine Füße sich in Bewegung, trugen ihn aus der Küche, fort von Nina und Nate, durch das Cafe, hinaus in die kühle Herbstnacht. Er rannte, bis er bei seinem Wagen angekommen war, zog die Schlüssel aus der Tasche, stieg ein, startete den Motor und raste die Main Street hinunter in die Dunkelheit hinein. Regungslos blieb Nina neben Nate hocken. In all den Horrorvisionen, die ihr durch den Kopf gegeistert waren, was passieren würde, wenn Jameson von seiner Vaterschaft erfuhr, war sie niemals auf die Idee gekommen, dass er sie einfach im Stich lassen würde. Sie und den Sohn, den er gezeugt hatte. Sie rührte sich nicht, bis Nate in ihren Armen eingeschlafen war. Ihre Beine schmerzten, als sie sich schließlich erhob. Sie wollte den Jungen nach oben in ihre Wohnung bringen und ihn ins Bett legen, um dann im Cafe die Tische abzuwischen, die Einnahmen abzurechnen und den Laden zu schließen. Länger als eine halbe Stunde würde es nicht dauern, und so lange konnte sie Nate problemlos allein schlafen lassen. Die kühle Herbstluft ließ sie frösteln, während sie das schlafende Kind die Treppen hinauftrug. Für sein Alter war Nate zwar eher klein, aber er war trotzdem ziemlich schwer. Nina musste tief durchatmen, bevor sie die Tür zu ihrem Apartment aufschloss und eintrat. Sie machte das Licht nicht an, sondern suchte sich im Dunkeln den Weg durch das Wohnzimmer zu dem kleinen Raum, den sie für Nate zum Schlafzimmer eingerichtet hatte. Als ihre Eltern das Cafe kauften, hatten die Räume im Obergeschoss zunächst als Vorratskammern gedient. Vor zehn Jahren waren sie zu einer Wohnung für Nina umgebaut worden. Seit damals lebte sie hier. Und hier hatte sie Nate empfangen. Sanft legte sie ihn auf sein Bett, zog ihm die Schuhe sowie die Jeans aus und deckte ihn mit der Decke zu, auf der das Logo der San Francisco Giants prangte. Dann drückte sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und eilte aus seinem Schlafzimmer. Unten in der Küche war es ruhig. In aller Eile räumte sie das schmutzige Geschirr in die Spülstraße, wischte die Kuchenkrümel von der Anrichte und verschloss die Gewürzgläser. Sie war dankbar für die Beschäftigung, aber trotzdem gingen ihre Gedanken immer wieder zu Jameson. Sie spürte noch förmlich, wie er mit seinen Fingern ihren Nacken streichelte, wie seine Zunge zwischen ihre Lippen glitt… Schluss damit! rief sie sich zur Ordnung. Sie nahm den Drahtkorb mit den sauberen Tellern und Gläsern und sortierte sie in die Schränke ein. Es dauerte
nicht lange, und ihre Fantasien drängten sich mit aller Macht in ihr Bewusstsein
zurück. So schnell sie konnte, kratzte sie die Essensreste von den Tellern, spülte
sie mit dem Hochdruckreiniger im Waschbecken vor und stellte sie in die
Maschine. Es half alles nichts. Jameson spukte ihr hartnäckig im Kopf herum, und
die Erinnerungen raubten ihr den letzten Nerv.
Krachend fiel ein Teller zu Boden und zersplitterte in tausend Stücke. Das
Geräusch riss sie abrupt aus ihren Träumereien. Erschrocken starrte sie auf die
Scherben, lehnte sich erschöpft gegen die Arbeitsplatte und wünschte sich
sehnlichst, dass Jameson O'Connell nie in ihr Leben getreten wäre.
Plötzlich merkte Nina auf. Jemand schien sich am Eingang zu schaffen zu
machen. Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie nicht abgeschlossen hatte. Noch nicht
mal das Schild mit der Aufschrift „Geschlossen“ hatte sie umgedreht. Sie straffte
sich und bahnte sich den Weg durch die Scherben, um den späten Gästen zu
erklären, dass die Küche schon kalt war.
Als sie feststellte, dass Jameson in der Tür stand, blieb ihr fast das Herz stehen.
Er hatte sich die Schürze abgenommen und hielt sie zerknüllt in der Hand.
Seinem Ausdruck nach zu urteilen, hatte er in der vergangenen Stunde
Entsetzliches durchgemacht.
Langsam kam er auf Nina zu und gab ihr die Schürze. „Ich hatte vergessen, sie
dir zurückzugeben.“
Nina ging ihm nur so weit entgegen, dass sie ihm das Stoffknäuel abnehmen
konnte. „Macht nichts. Danke.“ Sie legte die Schürze auf den Tisch direkt neben
sich und bot ihm einen Platz an.
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Wir müssen reden. Wo ist er jetzt?“
„Oben. Er schläft.“
„Wie alt…“ Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und suchte ihren Blick.
Den Bruchteil einer Sekunde lang strahlte er vor Freude, bevor sich seine Miene
wieder verdunkelte. „Wie konnte… wir haben doch…“
„… ein Kondom benutzt, ich weiß. Aber das Ding war vermutlich alt. Anders kann
ich mir jedenfalls nicht erklären, dass es versagt hat.“
„Und warum hast du mir kein Sterbenswörtchen davon erzählt?“
Nina umklammerte die Tischkante, um sich abzustützen. „Du kennst die Antwort.
Plötzlich warst du einfach verschwunden. Und bis wir überhaupt erfahren hatten,
was dir zugestoßen war, hatte man dich wegen Totschlags verurteilt. Außerdem…
was hättest du denn tun können, wenn du die Wahrheit gewusst hättest? Hätte
das wirklich etwas geändert?“
In seinem Blick flackerte Verwirrung auf. „Vielleicht hätte es nichts geändert.
Aber vielleicht hätte ich…“ Jameson unterbrach sich und schaute zur Seite. „Egal.
Ich kann es nicht rückgängig machen.“
„Es ist viel Wasser den Fluss hinuntergeflossen“, bemerkte sie und überlegte, ob
er sich wohl noch an diese Worte erinnern konnte.
Um seine Mundwinkel machte sich ein schüchternes Lächeln breit. „Das hat deine
Mutter immer gesagt, wenn sie zu verstehen geben wollte, dass sie jemandem
verziehen hatte.“
„Mom ist überzeugt, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient hat.“
Plötzlich wirkte Jameson wieder nervös und angespannt. „Und du? Kannst du
verzeihen?“
Nina antwortete nicht. Stattdessen rieb sie sich mit den Händen über die Arme
und ließ ihren Blick über die Tische schweifen, die sie noch immer nicht
abgeräumt hatte. „Lass mich weiterarbeiten. Ich möchte Nate nicht zu lange
allein lassen.“
„Ich kümmere mich um die Teller“, bot Jameson an.
Sie nickte, holte die Schlüssel aus einer Schublade hinter dem Tresen, schloss das Lokal ab und schaltete die Außenbeleuchtung aus. Die ganze Zeit über kehrte sie ihm den Rücken zu, damit er endlich begriff, dass er bei ihr nicht erwünscht war. Aber es gab einen Haufen Dinge, die er mit ihr zu klären hatte, und er dachte nicht im Traum daran, das Lokal zu verlassen, bis er mit ihr gesprochen hatte. Schon bald nach seiner impulsiven Flucht vor einer guten Stunde hatten sich tiefe Schuldgefühle gemeldet. Er war zurückgekehrt, um sich seiner Verantwortung zu stellen. Und er fühlte sich gut dabei. Nachdem er das saubere Geschirr aus der Spülmaschine in die Schränke geräumt und die Bestecke einsortiert hatte, eilte er in den Gastraum. Nina zählte gerade die Einnahmen. Die Kreditkartenbelege und das Bargeld hatte sie in zwei Haufen getrennt. Er wartete, bis sie die Dollarnoten durchgezählt und die Summe der Tageseinnahmen in ihrem Buch notiert hatte, bevor er aus dem Schatten trat. „Unser Gespräch ist noch nicht beendet.“ Auf ihrer Wange bildete sich ein kleines Grübchen, als sie die Lippen aufeinander presste. „Stimmt“, bestätigte sie schließlich und seufzte. „Wer weiß, dass ich der Vater bin?“ „Niemand. Noch nicht mal meine Eltern.“ Sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, bevor er weiterfragte. „Und Nate?“ „Ich habe ihm erklärt, dass sein Vater woanders wohnt und ihn nicht besuchen kann“, erwiderte Nina. Das war die reinste Wahrheit, und sie tat höllisch weh. „Und jetzt, wo ich hier bin? Was erklären wir ihm jetzt?“ „Keine Ahnung. Bisher hatte ich noch keine fünf Minuten Ruhe, um darüber nachzudenken.“ „Wir müssen ihm ja nicht erzählen, dass ich im Gefängnis war.“ Wütend blitzte es in ihren Augen auf. „Warum sollten wir ihm denn überhaupt irgendwas erzählen?“ „Stimmt. Abgesehen davon, dass ich sein Vater bin.“ „Ich sag's ihm nicht. Er ist doch erst vier. Viel zu klein, um die Geschichte zu begreifen.“ Jameson explodierte beinahe vor Wut, aber es gelang ihm, sich zu zügeln. „Er wird es begreifen, glaub mir“, entgegnete er, trat auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Bitte, Nina…“ Angespannt atmete sie durch, schob seine Hand aber nicht fort. „Jameson, was hast du vor? Willst du alle Welt wissen lassen, dass du der Vater bist, und uns dann im Stich lassen? Vorhin hast du behauptet, dass du bleiben willst, aber für wie lange? Es wird Nate das Herz brechen, wenn er erfährt, dass du sein Vater bist, und wenn du dich dann auf Nimmerwiedersehen aus dem Staub machst.“ „Ich werde nicht verschwinden.“ Tränen glitzerten in ihren Augen. „Wie kann ich da jemals sicher sein?“ Jameson hatte keine Ahnung, was er darauf erwidern sollte. Er wollte keine Versprechungen machen, die er nicht halten konnte. So hätte sein Vater gehandelt. Jameson war zwar nicht in die Fußstapfen seines Vaters getreten, aber trotzdem hatte er versagt. Wie soll ich Nina beweisen, dass ich der Mann bin, den Nate als Vater verdient hat? überlegte er verzweifelt. Und plötzlich formte sich eine Idee in seinem Kopf. Die Idee war der reinste Wahnsinn, und er hätte sie lieber gleich streichen sollen. Selbst wenn er den Mut aufbrachte, die Worte über die Lippen zu bringen, würde sie niemals zustimmen.
Nein, das große Glück wartete immer nur auf die anderen. Auf Leute wie die Russos zum Beispiel. Für einen Mann wie ihn war das nichts als ein schlechter Witz. Im Grunde genommen bin ich meinem Vater ähnlicher, als ich es mir selbst eingestehen will, dachte er insgeheim. Aber es geht hier nicht um mich, sondern um Nate, überlegte er weiter. Vor wenigen Stunden hatte er erfahren, dass er einen Sohn hatte, und er wollte alles dafür tun, damit der kleine Kerl ein besseres Leben führen konnte als er selbst. Jameson schluckte, da er einen trockenen Mund hatte, suchte Ninas Blick, verstärkte den Griff um ihre Schulter und zwang sich, seinen Gedanken auszusprechen. „Heirate mich.“
4. KAPITEL Noch bevor Nina das Wort ergriff, erkannte Jameson an ihrem Blick, dass sie ihn zurückweisen wollte. Hastig legte er ihr die Hand auf den Mund, und ihre weichen Lippen berührten seine Handfläche. Erschrocken riss sie die Augen auf und stolperte einen Schritt rückwärts. „Nein!“ „Nina, überleg doch erst mal…“ „Es gibt nichts, was ich mir überlegen müsste.“ Heftig schüttelte sie den Kopf und machte Anstalten, in die Küche zu gehen. „Du bist verrückt. Dich heiraten! Ich kenne dich doch gar nicht. Und ich will dich auch nicht kennen lernen!“ Ihre Worte trafen ihn bis ins Mark. „Ich bin der Vater des Kindes.“ „Nate.“ Sie warf den Kopf in den Nacken und blitzte ihn herausfordernd an. „Er heißt Nate. Und du warst nichts als der Samenspender. Als Vater bist du bisher nicht in Erscheinung getreten.“ „Ich wusste doch nicht mal, dass der Junge auf der Welt ist.“ „Wir wissen beide, dass ich gute Gründe hatte, diesen Umstand vor dir geheim zu halten.“ Wenn ich jene Nacht in Sacramento doch nur rückgängig machen könnte, fluchte Jameson unhörbar. Wenn ich doch nur anders entschieden und meinen Bruder im Stich gelassen hätte… „Ich verstehe, dass die Situation für dich kompliziert war“, gestand er ein. „Was auch immer damals geschehen ist, jetzt will ich nur noch eines: Das Richtige tun.“ „Es wäre wohl das Richtige, wenn du endlich verschwinden würdest. Aus unserem Leben“, stieß Nina wütend hervor und verschränkte die Arme vor der Brust. Jameson rührte sich nicht. „Ich will zu seinem Leben gehören, Nina. Und ich werde es auch. Egal, wie.“ „Was willst du damit sagen?“ fragte Nina unsicher. „Du kannst mir den Umgang mit ihm nicht verweigern.“ Sein Magen verkrampfte sich schmerzhaft, so schwer fiel ihm das Sprechen. „Als Vater habe ich Rechte.“ „Du irrst dich. Ich bin seine Mutter. Du bedeutest ihm nichts.“ „Aber genau das möchte ich ändern.“ Verzweifelt versuchte Jameson, sich ihr verständlich zu machen, und trat ein paar Schritte auf sie zu. Irgendwie musste er sie dazu bringen, seinen Antrag anzunehmen. „Nina…“ Vorsichtig berührte er sie an der Schulter. Sie zitterte. „Es muss doch keine… normale Hochzeit sein. Wir müssen doch nicht…“ Nina schluckte, und die Bewegung an ihrem Hals nahm ihn sofort gefangen. Kopfschüttelnd verscheuchte er die erotische Fantasie, die in ihm aufstieg, und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. „Wir können zusammen in einem Haus leben, den Alltag miteinander teilen, aber wir müssen doch nicht…“ Verwirrt brach er ab. „Jameson…“, brachte sie flüsternd hervor. Obwohl ihr Ton noch nicht mal einladend klang, konnte er nicht widerstehen. Er senkte den Kopf, um seinen Namen auf ihren Lippen zu spüren. An ihrem Nein wird das keinen Deut ändern, redete er sich ein. Aber vielleicht konnte er gerade deshalb an nichts anderes mehr denken als an diesen Kuss. Sanft berührten Jamesons Lippen ihren Mund. Nina brachte es kaum fertig, seine Zärtlichkeit nicht zu erwidern, aber sie nahm all ihre Kraft zusammen, riss sich los und ging augenblicklich wieder auf Distanz. Überstürzt lief sie in den Gastraum zurück und stieß sich dabei den Knöchel an einem Stuhl. Ein heftiges
Stechen durchzuckte ihren Körper, und sie nutzte die Welle des Schmerzes, um sich zur Ordnung zu rufen. „Ich möchte, dass du gehst.“ Ihre Stimme klang noch nicht wieder so fest wie gewohnt, aber trotzdem hatte sie sich unmissverständlich ausgedrückt. „Ich werde dich nicht heiraten. Du kannst mich nicht zwingen.“ Plötzlich brach eine unbändige Wut in ihm auf. Bevor Nina durchatmen konnte, stand er neben ihr und umklammerte ihr Handgelenk. „Nein, zwingen kann ich dich nicht.“ Die unterschwellige Drohung war unüberhörbar. „Aber ich werde alles tun, um meine Rechte als Vater durchzusetzen.“ „Du? Ein ehemaliger Sträfling? Kein Richter der Welt wird dir das Umgangsrecht zubilligen. Vom Sorgerecht ganz zu schweigen.“ „Du vergisst meine Großmutter. Sie ist eine wohlhabende alte Dame, die einen ausgezeichneten Ruf genießt. Sie hat mehr Geld auf dem Konto, als sie je in ihrem Leben ausgeben kann. Und sie wäre überglücklich, wenn sie ihren Urenkel kennen lernen dürfte. Sie würde es nur schwer verkraften, wenn ich mich nicht um den Jungen kümmern darf.“ Nina reagierte panisch. „Nie im Leben würdest du es wagen, mir meinen Sohn wegzunehmen!“ Sie wusste nicht genau, was plötzlich in seinen blauen Augen aufblitzte. Zu schnell hatte Jameson den Kopf zur Seite gedreht. Als er sie wieder anschaute, war sein Blick klar und hart wie Eiskristall. „Heirate mich.“ Vor Nina schien sich ein Abgrund zu öffnen. Krampfhaft suchte sie nach einem Ausweg, aber ihre Gedanken wirbelten hoffnungslos um die Angst herum, die schlagartig von ihr Besitz ergriffen hatte. Selbst vor fünf Jahren hatte sie Jameson kaum gekannt. Jetzt stand ein fremder Mann vor ihr. War er wirklich in der Lage, so grausam mit ihr umzugehen? Würde er ihr Nate wirklich wegnehmen? Nein, entschied sie, denn ich werde es nicht zulassen. Ich werde mit Nate aus Hart Valley fliehen. Wenn es sein muss, werde ich das Cafe und sogar meine Familie im Stich lassen. Aber niemals werde ich meinen Sohn aufgeben. Nina brauchte Zeit, um Pläne zu machen. „Bitte, lass mich eine Nacht drüber schlafen. Komm morgen wieder. Dann können wir…“ „Wann morgen?“ Nina zerrte an der Hand, die Jameson noch immer fest umklammert hielt, und war erleichtert, als er sie endlich freigab. „Nate geht um neun in den Kindergarten. Bis zehn brauche ich Zeit, um den Mittagstisch vorzubereiten. Danach können wir reden. Versprochen.“ Sie gab sich die größte Mühe, möglichst überzeugend zu klingen. Jameson nickte und musterte sie eindringlich, als suchte er nach den Anzeichen für eine Lüge. „Ich will nur das Richtige tun“, wiederholte er. „Nate braucht mich.“ Hastig drehte er sich um und eilte zur Tür. Nina wartete, bis sie ganz sicher sein konnte, dass er verschwunden war. Dann rannte sie ebenfalls zur Tür und legte den massiven Bolzen vor, den sie zur Sicherung gegen Einbrecher hatte anbringen lassen. Zwei Mal schloss sie um. Nur mit Mühe unterdrückte sie das Bedürfnis, die Tür zusätzlich mit einem der schweren Tische zu verbarrikadieren. Mit den Schlüsseln in der Hand verließ sie das Cafe durch den rückwärtigen Eingang und nahm zwei Stufen auf einmal, als sie die Treppe zu ihrem Apartment hinaufhastete. In Gedanken machte sie bereits eine Liste mit den Dingen, die sie unbedingt mitnehmen musste. Leise betrat sie Nates Schlafzimmer, öffnete den Schrank und zog den kleinen
Koffer heraus, den sie immer für Nate packte, wenn er bei seinen Großeltern übernachtete. Kleidung zum Wechseln für zwei oder drei Tage passten da hinein. Was sie sonst noch brauchte, wollte sie unterwegs kaufen. Die komplette Spielzeugkiste würde nicht in den Kofferraum ihres kleinen Wagens passen. Sie musste also seine liebsten Stücke heraussuchen. Wird nicht leicht sein, ihm zu erklären, warum er seine Schätze zurücklassen muss, dachte sie insgeheim, aber ich habe keine Wahl. Nina stellte den Koffer neben Nates Kommode und zog die oberste Schublade auf. Besser, wenn ich extra Unterwäsche einpacke, überlegte sie. Nate hatte zwar seit Monaten nachts das Bett nicht mehr nass gemacht, aber wenn er aufgeregt war, konnte schnell mal ein Unglück passieren. Gerade wollte sie die Wäsche in den Koffer legen, als es klopfte. „Verdammt, ich muss ihn hereinlassen“, schimpfte Nina leise. Sonst klopft er noch lauter, und Nate wacht auf. In der einen Hand hielt sie Nates Wäsche, während sie mit der freien Hand die Tür öffnete. Den Kopf gesenkt, die Schultern hängend, stand Jameson draußen auf dem kleinen Flur. Als er aufschaute, fiel sein Blick auf das Wäschebündel. „Nina, bitte bleib.“ „Ich hatte nicht vor…“ Sie unterbrach sich. Die Lüge war zu offensichtlich. „Wenn du ihn mir fortnimmst, wenn du ihn aus dem einzigen Zuhause reißt, das er je kennen gelernt hat…“ Die Tränen brannten ihr in den Augen und erstickten ihre Stimme. „Ich will dich nicht heiraten. Warum können wir uns nicht ohne Trauschein arrangieren?“ „Ich möchte, dass er uns zusammen erlebt. Er braucht uns beide.“ Jameson hob bittend die Hände. „Nina, gib mir zwei Jahre. Nur zwei. Das reicht, damit sich eine tiefe Beziehung zwischen Nate und mir aufbaut. Und wenn du mich dann nicht mehr in deinem Leben haben willst… Wir müssen nicht ewig verheiratet bleiben.“ Sie wollte Nein sagen, denn der Gedanke, mit Jameson verheiratet zu sein, ängstigte sie noch immer. Es fiel ihr nicht leicht, in ihrem Alltag immer das richtige Gleichgewicht zu finden und die Kontrolle über ihr Leben zu behalten. Und Jameson gefährdete ihre Balance noch zusätzlich. Sag Nein, schrie es in ihr. Jameson streckte die Hand aus und berührte sie, als ob er gespürt hätte, was ihr durch den Kopf ging. „Nina. Bitte. Heirate mich.“ Sie atmete tief ein, um genügend Kraft zu schöpfen. „Ja. Ich will.“ Spät am Nachmittag schien die Sonne zwischen den Kiefern hindurch, die die Main Street zu beiden Seiten säumten. Nina saß auf der Bank vor dem Cafe. Sie bebte vor Nervosität, und ihr ganzer Körper schmerzte. Jameson lehnte regungslos gegen den großen Briefkasten an der Straße vor dem Friseursalon Janine Style & Cut und hatte die Fäuste in den Hosentaschen vergraben. „Wann kommt er denn endlich?“ stieß Jameson rau und ungeduldig hervor. „In zehn Minuten“, gab Nina zurück. „Normalerweise bringt der Schulbus ihn um halb vier aus dem Kindergarten zurück.“ Schweigend betrachtete Jameson das Hart Valley Inn auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Besitzerin, Beth Henley, trat mit dem Besen in der Hand auf den Bürgersteig und begann zu fegen. Sie hob die Hand, winkte Nina zu und lächelte dann Jameson an, der den Gruß mit einem knappen Kopfnicken erwiderte. Beth schaute Nina fragend an, bevor sie den beiden den Rücken zukehrte und sich um ihre Arbeit kümmerte. Offensichtlich wollte Beth wissen, was Jameson bei ihr zu suchen hatte, aber Nina dachte nicht daran, sich irgendjemandem zu erklären, bevor sie nicht mit den drei wichtigsten Menschen
in ihrem Leben gesprochen hatte. Nachdem Nina in der vergangenen Nacht Jamesons Antrag angenommen hatte, hatte sie sich mit ihm ins Wohnzimmer gesetzt und in aller Ruhe besprochen, wie es weitergehen sollte. Sie hatten beschlossen, zuerst Nate zu informieren, und zwar sobald er aus dem Kindergarten nach Hause kam. Für den Abend hatte Nina sich zum Dinner bei ihren Eltern eingeladen. Dort wollte sie ihrer Familie die Entscheidung bekannt geben. Jameson trat vom Briefkasten weg, marschierte unruhig ein paar Schritte auf und ab und bezog dann wieder seinen Posten am Briefkasten. „Und du hast ihm heute Morgen wirklich nichts verraten?“ „Ich habe dir doch schon erklärt, dass…“ „Vielleicht hattest du Recht“, unterbrach er sie und nahm die Fäuste aus der Hosentasche. „Vielleicht wäre es klüger gewesen, wenn du allein mit ihm geredet hättest. Ohne mich. Es ist einfacher, wenn…“ Die Worte blieben ihm im Halse stecken, als der kleine gelbe Schulbus um die Ecke bog und die Main Street hinauffuhr. Nina erhob sich und stellte sich an der Haltestelle auf. Nate war es gewohnt, direkt ins Cafe zu stürmen, um seine Mutter zu begrüßen, und nahm nun verwundert zur Kenntnis, dass sie ihn bereits an der Haltestelle erwartete. Langsam ging er auf Nina zu und schaute Jameson verunsichert an, bevor er seine Mutter begrüßte. „Hallo, Mom.“ Flüchtig schlang er seine Arme um ihre Beine und ließ den Blick dann wieder zu Jameson schweifen. „Hi.“ Nina ging in die Knie, bis sie Nate auf gleicher Höhe in die Augen schauen konnte. „Wir wollen einen kleinen Ausflug machen. Weil wir dir etwas Wichtiges erklären müssen.“ Nate drängte sich enger an seine Mutter. „Okay.“ Jameson griff in seine Hosentasche und zog die Autoschlüssel heraus. „Möchtest du vorne sitzen?“ „Hat Mommy verboten“, erwiderte Nate mit ernstem Kopf schütteln. Mit ihrem Sohn an der Hand, überquerte Nina die Straße und folgte Jameson zu dem Parkplatz, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. Er schloss auf und wartete, bis Nina den Jungen hinten im Kindersitz angeschnallt hatte. Dann stieg er ein, startete den Motor und lenkte den Wagen die Main Street hinunter aus der Stadt. Jameson hockte auf der obersten Stufe der verrotteten Treppe, die auf die Veranda der Hütte seines Vaters führte. Nina saß neben ihm. Nate hatte ihnen den Rücken zugekehrt und spielte etwa fünfzig Meter entfernt am unkrautüberwucherten Weg mit einem dicken Ast, den er gefunden hatte. In seiner Einbildung war der Stock in seiner Hand zum Degen geworden, mit dem er ab und zu einen Kampf mit einem unsichtbaren Gegner ausfocht. Seine Reaktion auf Ninas und Jamesons Eröffnung hätte nicht schlimmer ausfallen können. „Neiiin!“ hatte der Junge geschrien und war voller Panik davongerannt. Erst seit ein paar Minuten beschäftigte er sich mit dem Ast und würdigte die beiden Erwachsenen keines Blickes. Nina stand auf, ging ein paar Schritte und lugte durch ein Fenster in die Hütte. „Kaum zu glauben, dass du hier mal gewohnt hast. Sieht nicht aus wie ein gemütliches Zuhause.“ Ihre Wangen waren gerötet, als sie sich Jameson wieder zuwandte. „Bitte entschuldige. Das war gemein.“ Jameson erhob sich ebenfalls und kam zu ihr. „Warum entschuldigst du dich? Es war wirklich kein Zuhause.“ Er lehnte sich gegen die verwitterte Holzwand und achtete auf einen gehörigen Abstand zu ihr. „Wir haben noch gar nicht darüber gesprochen, wo wir wohnen wollen.“
„Stimmt.“ Nina seufzte auf. „Mein Apartment ist viel zu klein, selbst wenn ich bei
Nate schlafe und dir mein Zimmer überlasse.“
„Nicht nötig. Ich habe heute die Immobilienanzeigen in der Zeitung
durchgesehen und ein hübsches Haus draußen vor der Stadt entdeckt, mit einem
guten Stück Land dazu. Früher hat es den McPartlands gehört.“
Kopfschüttelnd lehnte sie ab. „Zu teuer. Außerdem hält der Schulbus dort
draußen nicht.“
„Um das Geld mach dir bitte keine Sorgen“, wehrte er ab. „Und Nate kannst du
einfach mitnehmen, wenn du in die Stadt fährst. Der Bus kann ihn dann am Cafe
einsammeln. Wie bisher.“
„Aber dann muss er zwei Stunden früher aufstehen“, wandte sie ein.
„Gut. Ich bringe ihn in den Kindergarten.“
„Ich will nicht, dass er mit dir fährt!“ Sie schloss die Augen und atmete tief
durch. „Jameson, er kennt dich doch gar nicht.“
Plötzlich kletterte Nate die Stufen hinauf und starrte die beiden finster an. „Mom,
wie muss ich ihn nennen?“
„Wie möchtest du mich denn nennen?“ fragte Jameson zurück.
Nate streckte ihm trotzig das Kinn entgegen. „Jedenfalls nicht Daddy.“
Jameson hatte das Gefühl, als hätte der Kleine ihm einen Dolch in die Brust
gestoßen. „Das erwartet auch niemand von dir.“
Nate atmete auf, als hätte man ihm eine Riesenlast von den Schultern
genommen. „Okay, dann sage ich Jameson'.“
„Das würde mich freuen. Und wie darf ich dich nennen? Nate?“
„Okay.“ Der Junge grinste verschmitzt, streckte Jameson die Hand entgegen, und
sie besiegelten die Abmachung mit einem feierlichen Handschlag.
Nina seufzte kaum hörbar auf. Als Jameson sich nach ihr umdrehte, entdeckte er
Tränen in ihren Augen. Hastig stieg sie die Treppe hinunter, drehte den Kopf zur
Seite und wischte sich über die Wangen.
„Lasst uns aufbrechen. Meine Eltern warten sicher schon auf uns“, meinte sie und
eilte zum Wagen.
Als Jameson bei seinem Wagen angekommen war, hielt er Nate immer noch an
der Hand.
5. KAPITEL Kaum hatte Jameson seinen Viertürer vor dem Haus von Ninas Eltern geparkt und den Motor abgestellt, da hatte Nate auch schon den Sicherheitsgurt gelöst und sprang aus dem Wagen. Mit Riesenschritten rannte er die Stufen zu der ausladenden Veranda hinauf. Ninas Mutter hatte die Tür geöffnet, noch bevor der Junge klingeln konnte. „Hi, Grandma!“ Während Nina ausstieg, beobachtete sie, wie ihre Mutter die Tür weit öffnete und Nate herzlich umarmte. Jameson blieb noch einen Moment lang im Wagen sitzen. Die Nachmittagssonne blendete Pauline Russo, so dass sie noch nicht entdeckt hatte, wer der Gast war, den ihre Tochter ihr angekündigt hatte. „Granny, rate mal, was ich habe“, rief Nate glücklich und befreite sich aus der Umarmung. Nina eilte auf die beiden zu, um zu verhindern, dass ihr Sohn das Geheimnis ausplauderte, bevor sie selbst den Mund aufmachen konnte. Aber Nate griff in die hintere Tasche seiner Jeans, zog ein Blatt Papier heraus und übergab es seiner Großmutter. „Ein Bild von Grandpa und dir und mir.“ Pauline nahm das Geschenk entgegen und bewunderte es gebührend, während sie unauffällig zu dem fremden Wagen hinüberlinste und Nina fragend ansah. Nina blickte über die Schulter zurück zu Jamesons Wagen. Plötzlich überkam sie der Wunsch, dass Jameson den Motor starten und einfach davonfahren möge. Für Nate wäre es schlicht eine Katastrophe, aber das interessierte sie in diesem Moment nicht. Sie wollte das Leben wiederhaben, das sie noch vor vierundzwanzig Stunden geführt hatte. Bevor Jameson O'Connell aus dem Nichts aufgetaucht war. Entschlossen verscheuchte sie ihre Feigheit und warf ein Lächeln in Jamesons Richtung. Die Wagentür wurde geöffnet. „Pauline, wer ist an der Tür?“ hörte Nina ihren Vater aus dem Innern des Hauses rufen. Genau in diesem Moment trat Jameson in Paulines Blickfeld. Ninas Mutter schrie entsetzt auf. Sekunden später stand Vincent Russo neben ihr. „Was ist los?“ Jameson schlug die Wagentür zu, kam zum Haus herüber und blieb am Fuß der Treppe neben Nina stehen. „Guten Tag, Mr. Russo.“ „Was haben Sie denn hier zu suchen?“ herrschte Vincent Russo ihn an und stellte sich schützend vor seine Frau und seinen Enkel. „Sir, ich möchte mit Ihnen reden“, erklärte Jameson mit ernster Miene. „Aber zuerst möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen. Besser spät als gar nicht.“ Mr. Russo wirkte noch immer sehr angespannt. „Eine Entschuldigung? Wofür?“ „Ich habe Sie im Stich gelassen. Damals vor fünf Jahren, als ich nicht zur Arbeit im Cafe erschienen bin.“ Obwohl Nina zwei Meter von ihm entfernt stand, spürte sie, wie die Spannung aus seinem Körper wich, nachdem Jameson seine Entschuldigung losgeworden war. „Ich bin ohne ein Wort abgehauen und habe mein Versprechen gebrochen.“ „Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten Sie niemals eine Chance bekommen.“ Vincent Russo richtete sich in seiner ohnehin straffen Körperhaltung noch weiter auf. „Aber Pauline hat irgendetwas in Ihnen gesehen, was mir bis heute verborgen geblieben ist. Meine Pauline, der Sie das Herz gebrochen haben.“ „Was geschehen ist, ist geschehen“, erwiderte Jameson ernst und wandte sich Ninas Mutter zu. „Ich bedaure es von ganzem Herzen. Aber leider kann ich die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Mrs. Russo, bitte verzeihen Sie mir, dass ich Ihnen solchen Schmerz zugefügt habe.“
Paulines Augen füllten sich mit Tränen, aber ihr Blick blieb trotzig. Zu leicht sollte Jameson es nun auch nicht haben. Er nahm die erste Stufe der Verandatreppe. „Und ich hoffe, dass Sie uns beiden Ihren Segen schenken.“ Er ballte die Hand zu einer Faust. „Nina und ich werden heiraten.“ Jameson konnte nicht entscheiden, welche Aussicht ihn mehr erschreckte. Mrs. Russo, die möglicherweise auf der Veranda in Ohnmacht fiel, oder ihr Mann, der vielleicht die Beherrschung verlor und ihn mit ein paar gezielten Faustschlägen zur Strecke brachte. Entgegen seinen Befürchtungen erwies Ninas Mutter sich als standfest, und Mr. Russo gelang es, sein Temperament zu zügeln. Schließlich versammelten sich alle im Wohnzimmer der Russos. Ninas Eltern hatten tatsächlich keine Ahnung gehabt, dass Jameson Nates Vater war, obwohl Mrs. Russo nicht besonders überrascht wirkte. Jameson erklärte den beiden das Nötigste über seine Verurteilung, die Zeit im Gefängnis und die Umstände seiner Entlassung. „Und wann?“ wollte Mrs. Russo schließlich wissen. „Wir sind uns noch nicht einig“, meinte Jameson und warf Nina einen Blick zu. Nina atmete tief durch. „Bald“, erklärte sie schließlich. „Vielleicht fahren wir schon nächsten Montag nach Reno, wenn das Cafe geschlossen ist.“ „Habt ihr eure Hochzeitsnacht schon geplant?“ fragte Mrs. Russo. „Ich könnte Nate…“ „Nein!“ Nina hielt kurz inne. „Die Hochzeit… Es wird… eine reine Vernunftehe.“ Sie schloss die Augen. „Wir haben nichts Besonderes geplant.“ Das Dinner verlief angespannt, und obwohl es Jameson fantastisch schmeckte, lehnte er das Eis ab, das Mrs. Russo als Dessert servieren wollte. Er war erleichtert, dass auch Nina auf den Nachtisch verzichtete. Nate hatte die Teigtaschen regelrecht verschlungen, die seine Großmutter für ihn aufgewärmt hatte, und quengelte jetzt müde herum. Kurze Zeit später standen sie schweigend auf der Veranda. Jameson lauschte dem Herbstwind, der durch Kiefern und Zedern pfiff. Die goldenen Zeiten, in denen die Russos ihn herzlich und offen in ihrer Familie willkommen geheißen hatten, schienen endgültig vorüber zu sein. Wie oft sie miteinander gelacht hatten, wenn sie das Cafe geschlossen hatten und noch gemeinsam zum Essen am Tisch saßen. Zu seinem Geburtstag hatte Pauline ihn sogar mal mit einem Geburtstagskuchen überrascht. Vielleicht hatte er sich selbst zum Narren gehalten, als er sich einbildete, diese Zeiten könnten wiederkehren. Mit verschränkten Armen wandte Mr. Russo sich ihm jetzt zu. Er sprach so leise, dass Nate ihn nicht hören konnte. „Du weißt, dass ich nicht einverstanden bin.“ Mr. Russo trat noch einen Schritt näher. „Und wenn du ihr wehtust… wenn sie auch nur ein einziges Mal weint, dann werde ich dich in die Mangel nehmen. Glaub mir, Folsom wäre das reinste Sanatorium dagegen.“ Jameson gelang es, Mr. Russos Blick standzuhalten, und nickte. „Ich werde ihr nicht wehtun.“ Mrs. Russo zupfte ihren Mann am Ärmel und gab ihm zu verstehen, dass er Jameson in Ruhe lassen sollte. Ein wenig zurückhaltend umarmte sie ihren zukünftigen Schwiegersohn. „Irgendwie lässt mich das dumme Gefühl nicht los, dass mehr in dir steckt, als du bisher gezeigt hast. Du bist kein schlechter Kerl“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Jameson freute sich über das unerwartete Kompliment. Unwillkürlich griff er nach Ninas Hand. Als sie ihre Finger mit seinen verschränkte, kam es ihm plötzlich so vor, als würde er hier, in diesem Moment vor dem Hause der Russos, neue Wurzeln schlagen.
Und ein winziger Funke Hoffnung glomm in seinem Herzen auf. Als Jameson zwei Wochen später vor der kleinen Hochzeitskirche in Reno stand, wurde ihm schlagartig bewusst, welche Verantwortung er auf sich geladen hatte. Panik stieg in ihm hoch, und es kostete ihn große Mühe, ruhig durchzuatmen. Sein Anzug war neu und steif und saß wie eine Zwangsjacke. Am Revers steckte eine kleine Blume, deren Duft ihm in die Nase stieg und ihn zum Niesen reizte. Jameson betrat die Kirche und ging zu der Geistlichen hinüber, die beim Altar stand. Die Unruhe im hinteren Teil der Kirche zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Mr. Russo, der durch die üppigen Arrangements mit künstlichen Blumen zum Teil verdeckt war, schritt vor dem Umkleideraum auf und ab, in dem Nina sich umzog. Jetzt schaute er zu Jameson hinüber, hielt den Blick seines Schwiegersohnes einen Moment lang gefangen und wandte sich dann wieder ab. Eine kalte Hand schien nach Jamesons Herz zu greifen. Jameson hielt Nate fest an der Hand, als es in den Lautsprechern vernehmlich knackte und der Hochzeitsmarsch vom Band gespielt wurde. Vater und Tochter schritten gemeinsam das Kirchenschiff hinunter. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er Nina zum ersten Mal in voller Pracht erblickte. Sie trug ein knielanges elfenbeinfarbenes Kleid, das sich perfekt um ihre Kurven schmiegte. Es betonte ihre schmale Taille und überspielte die etwas üppigen Hüften. Es war ein kurzärmliges Kleid, das ihre Arme freigab. In der Hand hielt sie einen elfenbeinfarbenen Rosenstrauß. Das Kleid war gerade so tief ausgeschnitten, dass ein Hauch ihres Dekolletes zu sehen war. Ein Hauch von Erregung durchlief Jamesons Körper, als er den Ansatz ihrer Brüste betrachtete. Mr. Russo zögerte kaum merklich, als er mit seiner Tochter am Altar angekommen war und ihre Hand in Jamesons legte. Die Worte der Geistlichen nahm Jameson nur wie durch einen Schleier wahr. Später konnte er sich lediglich an zwei Momente der kurzen Zeremonie erinnern. An Ninas klares „Ja, ich will“, während seine eigene Stimme reichlich gezittert hatte. Und daran, dass er sie länger küsste, als es eigentlich angemessen gewesen wäre. „Es tut mir Leid“, stieß er schließlich atemlos hervor. „Was?“ „Das hier…“ Mit einer Handbewegung deutete er auf die schmucklose Kirche. „Du hättest eine prachtvollere Hochzeit verdient.“ „Kommt nicht darauf an“, erwiderte sie. Warum kommt es nicht darauf an? dachte er unwillig. Weil es keine echte Hochzeit ist? Weil wir nur um Nates willen heiraten? Obwohl Nina Recht hatte, schmerzte ihn die Wahrheit mehr, als er zugeben wollte. „Stimmt“, erwiderte Jameson und ließ ihre Hand abrupt los. „Es kommt nicht darauf an. Lass uns gehen.“ Hastig drehte er sich um, damit er ihr nicht in die Augen sehen musste. Nina warf einen Blick auf den Rücksitz des Wagens, als sie sich Hart Valley näherten. Der aufregende Tag hatte Nate völlig erschöpft. Sein Kopf war auf den Sicherheitsgurt gesunken, und er schlief tief und fest. Am liebsten wäre sie auch einfach eingeschlafen, aber ein Strudel widersprüchlichster Gefühle wirbelte in ihr durcheinander. Und die Anwesenheit des Mannes, der neben ihr am Steuer des Wagens saß, nahm sie vollkommen gefangen. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Vor Anspannung seufzte sie auf. Es half leider gar nichts, dass Jameson ihr leicht über den Arm strich. „Du musst heute nicht zu mir ins Ranchhaus ziehen“, bemerkte er leise.
„Du weißt doch, dass das Cafe nur montags geschlossen bleibt. Wenn wir heute nicht umziehen, müssen wir eine Woche lang warten.“ „Deine Freundin Andrea Jarrett könnte dich vertreten. Oder deine Eltern…“ „Meine Eltern sind im Ruhestand. Ich will nicht, dass sie für mich arbeiten.“ Entschieden legte Nina eine Hand auf seine Schulter. „Wir ziehen heute um. Tom und Andrea haben die Möbel schon in ihren Truck geladen. Auch die restlichen Sachen sind schon verpackt. Wir müssen nur noch alles in den Wagen laden.“ Jameson verlangsamte das Tempo, als sie sich der Ausfahrt nach Hart Valley näherten, und bog schließlich an einem Stoppschild links ab. Schweigend fuhren sie weiter, bis er den Wagen hinter dem Cafe parkte. Nate wachte auf. „Mommy?“ rief er, löste den Sicherheitsgurt, kletterte aus dem Wagen und rannte wie der Blitz die Treppe hinauf. Noch bevor Nina ausgestiegen war, hatte er bereits den oberen Treppenabsatz erreicht. Ungeduldig trat er vor der Wohnungstür von einem Bein aufs andere. „Mommy, es ist abgeschlossen, und ich muss mal! Dringend!“ Kaum hatte Nina aufgeschlossen, stürzte der Junge ins Bad. Nina betrat ebenfalls das Apartment und manövrierte sich an den Umzugskisten vorbei. „Du kannst dich in Nates Zimmer umziehen, wenn du willst“, rief sie Jameson zu, der wie sie noch seine Hochzeitskleidung trug. Er nickte. „Danke.“ Nina eilte in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür fest hinter sich. Das Bett, die Kommode und der Nachttisch waren bereits ausgeräumt. Im Schrank hingen nur noch ein paar Kleiderbügel. Sie schmiss die Hose und das TShirt, die sie aus dem Wagen mitgebracht hatte, auf den Fußboden und wollte den Reißverschluss ihres Kleides hinunterziehen. Aber sosehr sie sich auch drehte und verrenkte, sie bekam ihn nur bis zur Mitte auf. Ihre Hüften waren zu ausladend, um das enge Kleid mit halb aufgezogenem Reißverschluss abzustreifen, und ihre Brüste waren zu üppig, um es über den Kopf zu ziehen. Soll ich Nate um Hilfe bitten? überlegte sie einen Moment lang, entschied sich dann aber dagegen. Erst vor kurzem hatte er erstaunt festgestellt, wie verschieden Mädchen und Jungen gebaut waren. Jedes Mal, wenn er seine Mutter zufällig in Unterwäsche sah, hatte er reichlich irritiert gewirkt. Es blieb also nur Jameson. Sie zögerte. Nicht, weil sie befürchtete, dass er die Situation zu seinem Vorteil ausnutzen würde, sondern weil sie ihre eigenen Wünsche scheute. Es half nichts. Das Brautkleid war wundervoll, und es schmiegte sich perfekt an ihren Körper, aber um die Taille herum war es eine Spur zu eng. Sie sehnte sich danach, es endlich ausziehen zu können. Endlich wieder durchatmen, dachte sie insgeheim. Leise öffnete sie die Schlafzimmertür und lugte verstohlen auf den Flur. Jameson war gerade auf dem Weg ins Wohnzimmer. „Brauchst du Hilfe?“ fragte er. Er hatte sich bereits umgezogen. Unter dem engen TShirt war sein muskulöser Oberkörper deutlich zu erkennen. Niemals hätte Nina gedacht, dass ein TShirt so sexy sein könnte. Ein Schauer der Erregung durchlief plötzlich ihren Körper, als sie sich vorstellte, wie ihre Handflächen über den weichen Stoff glitten und sie mit den Fingerspitzen die Konturen seiner kräftigen Muskeln nachzeichnete. Nina musste die Augen schließen, um die verführerischen Fantasien zu verscheuchen. „Brauchst du Hilfe?“ wiederholte Jameson. Inzwischen stand er dicht vor ihr. Sie schlug die Augen auf und schaute ihn direkt an. „Der Reißverschluss“, wisperte sie kaum hörbar. „Ich kriege ihn nicht ganz herunter.“ „Dreh dich um“, bat er heiser. Nina folgte seiner Anweisung, öffnete die Tür aber nur so weit, dass er an den Reißverschluss herankam. Sie presste sich leicht gegen die Fingerspitzen, die ihr
den Rücken hinunterstrichen, und hielt vor Aufregung den Atem an, als er den
Druck sanft erwiderte. Dabei spürte sie deutlich, dass er sich alle Mühe gab, um
sie nicht zu berühren.
Hastig drehte sie sich um und hielt die Arme vor die Schultern, damit das Kleid
nicht herunterrutschte. „Danke“, presste sie hervor.
„Keine Ursache“, antwortete Jameson mit rauer Stimme.
Ohne ein weiteres Wort schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu. Nachdem sie sich
aus dem engen Brautkleid befreit hatte, ließ sie sich auf den Holzfußboden sinken
und verbarg schluchzend das Gesicht in den Handflächen.
Nina Russo steckte bis zum Hals in Schwierigkeiten.
6. KAPITEL Das Haus, das früher den McPartlands gehört hatte, lag nur eine Meile außerhalb der Stadt. Als sie die Auffahrt zum Grundstück hinauffuhren und Nina einen ersten Blick auf das Ranchhaus werfen konnte, lächelte sie begeistert. Mit diesem Haus schienen ihre kühnsten Träume in Erfüllung zu gehen. Es hatte eine große Veranda, vor der sich eine ausladende grüne Rasenfläche dahinzog. Abseits stand noch immer der kleine Spielplatz mit Holzgeräten, an denen die fünf Söhne der McPartlands sich einst ausgetobt hatten. Nate riss vor Staunen den Mund auf. Wie der Blitz sprang er aus dem Wagen, rannte los, blieb dann jedoch abrupt stehen. „Mommy, darf ich?“ fragte er, und als Nina nickte, war er augenblicklich zwischen den Spielgeräten verschwunden. Jameson und Nina stiegen ebenfalls aus und gingen zur Rückseite des Gebäudes. „Ich möchte dir etwas zeigen“, sagte er, nahm sie bei der Hand und führte sie hinter den Spielgeräten entlang zu einem Mammutbaum. Die Buchstaben „J.O.“ waren ungelenk in den Stamm geritzt. „Deine Initialen?“ fragte sie überrascht. „In der dritten Klasse waren Brandon McPartland und ich dicke Freunde. Er hat mich damals zu seinem achten Geburtstag eingeladen“, erklärte Jameson und lächelte. „Zuerst war Mrs. McPartland stinkwütend, als sie das Kunstwerk entdeckte. Aber dann…“ Er zog sie tiefer hinab. Unten am Stamm entdeckte Nina die Initialen der restlichen Familie. Sogar Michaels Anfangsbuchstaben waren in den Stamm geritzt, obwohl er damals kaum zwei Jahre alt gewesen war. Mit der Fingerspitze fuhr Nina die Konturen der Buchstaben nach. „Ich kann mich nicht erinnern, dich auf einer der Partys bei den McPartlands gesehen zu haben.“ Jameson hatte die Finger immer noch locker mit ihren verschränkt und rieb mit dem Daumen sanft über ihren Handrücken. „Stimmt. Nur an Brandons achtem Geburtstag. Dann ist meine Mutter gestorben.“ Obwohl er den Kopf gesenkt hatte, blieb Nina die unendliche Traurigkeit in seinem Blick nicht verborgen. Sie hob die Hand und strich ihm zärtlich über die Wange. „Jameson, das tut mir sehr Leid.“ Nate kam zu ihnen gelaufen und zerrte an der Hand seiner Mutter. „Ich will endlich mein Zimmer sehen.“ Nina war erleichtert über die Unterbrechung. „Lass uns reingehen, Schatz“, erwiderte sie und ging mit Jameson und ihrem Sohn zusammen zum Haus. Jameson wühlte in seiner rechten Hosentasche und zog ein Schlüsselbund heraus. Vor der Tür musste er zwei Mal probieren, ehe er den richtigen Schlüssel gefunden hatte. Schließlich öffnete er und ließ Nina und Nate zuerst eintreten. Nate rannte sofort in die Küche, während Nina in der Waschküche die nagelneue Waschmaschine und den Trockner bestaunte. „Ich weiß, dass du dir die Geräte lieber selbst ausgesucht hättest, aber ich wollte, dass alles fertig ist, wenn wir einziehen. Der Verkäufer meinte, dass die Geräte garantiert von sehr guter Qualität seien.“ „Sie sind toll. Danke“, meinte Nina und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. In der Küche hatte Nate das gekühlte Wasser bereits entdeckt und sich ein Glas eingeschenkt, als Nina hinzutrat. Neben der Kochinsel in der Mitte des Raumes blieb sie stehen und schaute sich um. Jameson war besorgt, dass sie jedes unschöne Fleckchen auf den Kacheln und jede abgewetzte Stelle an den Küchenschränken entdecken würde. Er ärgerte sich darüber, dass er nicht mehr Zeit für die Renovierung aufgewandt hatte. Allerdings hatte er keine Ahnung, woher er die Zeit hätte nehmen sollen, da er tagsüber auf dem Bau in einer Tischlerwerkstatt arbeitete.
„Ich habe sämtliche Schränke und Türen abgebeizt“, erklärte er. „Ich dachte, helleres Holz macht in der Küche eine freundlichere Atmosphäre.“ „Ja, stimmt“, bestätigte sie. „Aber hast du dich mit den McPartlands abgesprochen? Du machst dir ziemlich viel Arbeit, wenn man bedenkt, dass wir hier nur zur Miete wohnen.“ „Die McPartlands wissen, was ich vorhabe“, erwiderte er ausweichend. „Nate, soll ich dir jetzt dein Zimmer zeigen?“ Küche, Esszimmer und Wohnzimmer gingen ineinander über. Im Wohnzimmer fiel ihm auf, wie abgenutzt der Teppich immer noch aussah, obwohl er ihn gründlich gereinigt hatte. In Gedanken notierte er sich, einen neuen Teppich zu kaufen, während sie im Flur rechts abbogen. „Zu deinem und zu Nates Zimmer geht es hier entlang.“ „Nate, das ist dein Zimmer“, verkündete Jameson kurz darauf und öffnete die mittlere der drei Schlafzimmertüren. Er blieb mit Nina zurück, als Nate den Raum betrat und sich umschaute. „Wenn es ihm nicht gefällt, kann ich es umbauen.“ Nina ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. In die Ecke hatte Jameson einen Kinderschreibtisch eingepasst. Neben dem Bett stand die Kommode, und auf den gebrauchten Teppichboden hatte er einen neuen Läufer mit einer aufgedruckten Landkarte gelegt. Der Junge hatte die Box mit dem Spielzeug bereits entdeckt und zog die Holzfahrzeuge heraus, die Jameson in den letzten Tagen in aller Eile gefertigt hatte. Nina strahlte ihn an und ergriff das Wort. „Sieht alles aus wie neu.“ „Die Spielzeugkiste und die Kommode habe ich im Möbelhaus gekauft“, erklärte Jameson. „Der Schreibtisch ist selbst gebaut. Wenn ich genügend Zeit gehabt hätte, hätte ich alles selbst gemacht.“ Auf Hände und Füße gestützt, erkundete Nate mit den neuen Autos und Trucks aus Holz bereits die Landkarte auf dem Teppich. Nina nahm einen der Wagen in die Hand. „Hast du das gemacht?“ Jameson bemerkte eine unebene Stelle in dem Holz und erinnerte sich, dass ihm das Schnitzmesser abgerutscht war. „Ich muss es noch mal schleifen.“ „Unsinn, es ist fantastisch“, wehrte sie ab und gab Nate das Spielzeug zurück. „Und wo ist mein Schlafzimmer?“ Jameson legte die Hand leicht auf ihre Schulter und führte Nina über den Flur und am Bad vorbei zu ihrem Zimmer. Ihr breites Bett hatte er in einem gemütlichen kleinen Alkoven platziert. Die Wäschekommode stand neben dem Wandschrank. Jameson war so intensiv mit den Holzarbeiten für Nate beschäftigt gewesen, dass er für sie nur einen kleinen Schminktisch hatte besorgen können. Nina ging hinüber zur Fensterfront auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers und hob den Deckel des Schminktisches an. An der Innenseite war ein Spiegel befestigt. „Wo hast du dieses Stück denn entdeckt?“ „In einem Antikladen in Marbleville.“ „Du machst dir viel zu viel Arbeit. Denk dran, wir wohnen hier nur zur Miete.“ „Nein.“ „Was?“ rief sie erschrocken. Er war sichtlich verlegen. „Ich habe das Haus gekauft.“ Schweigend starrte sie ihn an, drehte sich dann zum Fenster und schloss den Deckel des Tisches. „Jameson, ich habe dir zwei Jahre versprochen. Wenn du glaubst, dass ich… nur weil du das Haus gekauft hast…“ „Nein“, stieß er hastig hervor. „Ich hatte das Geld. Und habe die Gelegenheit beim Schopf gepackt.“ „Woher hast du so viel Geld?“ fragte sie ruhig. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, den misstrauischen Tonfall zu verbergen, aber
Jameson hörte ihn trotzdem heraus. Und es tat ihm weh. „Spielt keine Rolle.“
Soll sie doch denken, was sie will, dachte er bei sich. Besser, wenn ich ihr die
Einzelheiten erspare.
„Für mich schon.“
„Das Geld gehört mir“, versicherte er.
„Okay“, erwiderte sie besänftigt. „Aber trotzdem ist das Haus viel zu groß für uns
drei.“
„Ich betrachte es als Investition“, meinte er nüchtern, obwohl er genau wusste,
dass seine geheimen Wünsche und Sehnsüchte sich längst in dem Ranchhaus
eingenistet hatten. „Wenn ich es von Grund auf renoviert und modernisiert habe,
werde ich es wieder verkaufen. Mit ordentlichem Gewinn. Dass wir hier wohnen,
bis ich damit fertig bin, ist nur ein praktischer Nebeneffekt.“
Nina wandte den Blick ab und schaute aus dem Fenster. „Gute Idee. Daran hatte
ich noch gar nicht gedacht.“ Dann eilte sie aus dem Zimmer. „Höchste Zeit, mal
nach Nate zu sehen.“
Sie war schon in Nates Zimmer verschwunden und hatte die Tür hinter sich
geschlossen, als er den Flur betrat. Durch die Tür hörte er ihre Stimmen. Es
drängte Jameson, das Zimmer zu betreten, ihr einen Kuss in die Handfläche zu
drücken und Nate zu umarmen. Einen einzigen Moment nur wollte er Teil der
kleinen Familie sein und sich nicht als Eindringling fühlen.
Er hatte die Hand schon auf den Türgriff gelegt und wollte die Tür gerade
aufstoßen. Stattdessen zog er sich zurück und setzte seinen Weg über den Flur
fort.
7. KAPITEL Bereits in der ersten Woche stellte sich der Alltag ein. Nina öffnete das Cafe um sechs Uhr morgens. Jameson brachte Nate um acht zum Kindergarten, bevor er auf die Baustelle fuhr. Nach dem Mittag schloss Nina das Cafe für kurze Zeit und fuhr nach Hause. Dort räumte sie den Frühstückstisch ab und bereitete das Dinner vor, um Jameson diese Arbeit abzunehmen. Normalerweise tauchte Jameson um sechs Uhr auf, holte Nate ab und fuhr mit ihm nach Hause. Nina half Dale während der Stoßzeiten am Abend, überließ es aber ihm, das Cafe zu schließen. Gegen acht oder neun kam sie endlich nach Hause. Meistens war sie dann so erledigt, dass sie es kaum schaffte, sich noch unter die Dusche zu stellen oder etwas zu essen, bevor sie ins Bett fiel. Doch obwohl sie rasend erschöpft war, schlief sie selten durch. Ihre Gedanken kreisten unablässig um Jameson, und wenn sie morgens aufwachte, fühlte sie sich völlig erschlagen. Am folgenden Sonntagmorgen um halb fünf saß sie in der Küche, nippte an einer Tasse starkem Kaffee und plante den Tagesablauf. Morgen ist Montag, dachte sie, Ruhetag. Und sonntags schloss das Cafe schon abends um acht. Das hieß, dass sie mehr als vierundzwanzig Stunden damit verbringen musste, ihre Fantasien in Bezug auf Jameson zu zügeln. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er am Montag auf der Baustelle der Wohnanlage in Marbleville arbeitete, aber Jameson hatte mit dem Vorarbeiter abgesprochen, am Samstag eine Extraschicht einzulegen und dafür den Montag freizuhaben. Er wollte mehr Zeit mit ihr und Nate verbringen. Sie starrte durch das Küchenfenster hinaus in die Dunkelheit und stellte sich vor, dass die Sonne irgendwo hinter dem Horizont hockte und sich weigerte aufzugehen. Hätte ich auch tun sollen, stöhnte sie innerlich, einfach im Bett bleiben. Noch nie hatte sie so hart gearbeitet. Noch nicht mal, nachdem ihre Eltern ihr das Cafe überschrieben hatten. Nina erhob sich, nahm einen weiteren Schluck Kaffee und wollte den Rest in das Abwaschbecken gießen. Doch der Schlafmangel der letzten Woche forderte seinen Tribut. Sie schwankte, und einen kurzen Moment lang wurde ihr schwarz vor Augen. Ich werde ohnmächtig, dachte sie wie im Nebel, während ihr der warme Kaffee über die Finger rann. Plötzlich griff ein Paar starker Hände nach ihrer Taille, und sie konnte sich an Jamesons warme nackte Brust lehnen. Er nahm ihr die Tasse aus der Hand. „Was machst du hier?“ fragte er besorgt. Es fiel ihr schwer, die Augen aufzuhalten. „Ich fahre ins Cafe.“ „Heute nicht.“ Eine Sekunde später drehte sich alles im Kreis. Jameson hatte sie kurzerhand auf seine Arme gehoben und trug sie aus der Küche. Nina schmiegte ihre Wange gegen die warme Haut seiner Brust und lauschte dem rhythmischen Pochen seines Herzens. „Bin viel zu schwer für dich“, murmelte sie. „Bist du nicht“, widersprach er und stieß die Tür zu ihrem Schlafzimmer auf. Nur ganz kurz öffnete sie die Augen, aber es reichte, um das unordentliche Bett zu sehen. „Das Bett ist noch nicht gemacht.“ „Umso leichter, dich wieder hineinzulegen.“ Einen Moment lang schaute sie ihm direkt in die Augen und entdeckte, dass er vor Lust beinahe verglühte, so dunkel und undurchdringlich war sein Blick. Hastig drehte er den Kopf zur Seite, legte Nina auf die Matratze, zog ihr die Schuhe und die Hose aus und deckte sie eilig zu.
Augenblicklich überkam sie ein tiefes Bedürfnis nach Schlaf. Wie sanfte Wellen, die auf feinen Sand spülten und immer größere Flächen bedeckten. Nina wehrte sich mit aller Macht. „Das Cafe! Ich muss aufschließen.“ „Ich erledige das“, versprach er und trat zurück. „Du brauchst Ruhe.“ Sie griff nach seiner Hand. „Das ist meine Aufgabe.“ „Nein, heute nicht. Wenn du ausgeschlafen hast, kannst du mittags mit Nate rüberkommen.“ Er zögerte kurz, hockte sich dann aber doch einen Moment lang auf die Bettkante und strich Nina eine Strähne aus der Stirn. Vorsichtig legte er ihre Hand auf die Bettdecke und stand wieder auf. Noch bevor er das Zimmer verlassen hatte, schlief Nina tief und fest. Um zwanzig nach fünf parkte Jameson seinen Wagen hinter dem Cafe, schloss die Hintertür auf und machte auf dem Weg in die Küche überall das Licht an. Dann stellte er die Kaffeemaschine an, aktivierte die Registrierkasse und schaltete die Beleuchtung vor dem Cafe ein. Anschließend ging er zum Eingang, drehte das Schild auf „Geöffnet“ und schloss auf. Wenig später traten zwei ältere Frauen mit leichten Schuhen und Sweatshirts ein. Zwei Männer in Anglerausrüstung folgten ihnen. Die Männer hatten Thermoskannen bei sich. Jameson eilte an den Tresen und stellte die zweite Kaffeemaschine an. „Moment“, rief er den Männern über die Schulter zu, „ich fülle euch die Kannen gleich auf.“ „Verzeihung, wir waren zuerst dran“, drängelte sich eine der Frauen dazwischen. Die Stimme war ihm irgendwie vertraut. Und noch bevor ihm der Name der Frau eingefallen war, krampfte sich sein Magen zusammen. Er ahnte Böses. Sekunden später wurde ihm dann klar, wer die Frau war: Arlene Gibbons. Und ihre Freundin hieß Frida Wilkins. Die zwei waren die übelsten Klatschtanten der Stadt. Jameson kümmerte sich ausgiebig um die zweite Kanne Kaffee, bevor er sich den beiden Frauen zuwandte. Arlene starrte ihn feindselig an. „Wo steckt Nina?“ wollte sie wissen. „Sie nimmt sich einen Tag frei. Möchten Sie einen Kaffee?“ „Was hast du hier zu suchen?“ giftete Arlene. „Ich versorge die Gäste im Cafe“, erwiderte er gleichmütig, obwohl er ihr am liebsten einen Fußtritt verpasst hätte. „Was möchten Sie trinken?“ „Du gehörst hier nicht her.“ Arlene hatte die Lippen zu dünnen Linien zusammengepresst. „Mit welchem Recht drängst du dich einfach in Ninas und Nates Leben?“ „Setzen Sie sich“, erwiderte er mühsam beherrscht. „Ich bringe Ihnen die Speisekarte.“ Jameson wandte sich den beiden Anglern zu, die am Tresen Platz genommen hatten, und würdigte Arlene und Frida keines weiteren Blickes, während er ihre Bestellung entgegennahm. Er legte den Bestellzettel auf der Durchreiche ab und griff nach den Speisekarten. Die beiden Frauen hatten sich auf ihren Stammplatz an der breiten Fensterfront gesetzt, so dass er gezwungen war, das Cafe zu durchqueren, bis er an ihrem Tisch ankam. Arlene hatte es offenbar darauf angelegt, ihm den Vormittag gründlich zu verderben. Er stand in der Küche und bereitete das Rührei für die beiden Angler zu, als das Telefon klingelte. Es war erst kurz nach sechs. Sofort durchflutete ihn eine Panikwelle, dass zu Hause eine Katastrophe eingetreten sein könnte. „Nina's Cafe.“ Der Gruß klang unhöflicher, als er beabsichtigt hatte. Am anderen Ende herrschte einen Moment lang Stille, bis Nina schließlich mit verschlafener Stimme sprach. „Also habe ich doch nicht geträumt. Du bist für mich im Cafe.“ Er stellte die Pfanne mit dem Rührei beiseite. „Alles okay?“
„Bestens“, erwiderte sie sanft. „Als ich vorhin kurz aufgewacht bin, habe ich mich noch ziemlich erschöpft gefühlt. Ich wollte nur hören, ob du zurecht kommst. Oder soll ich helfen?“ „Danke, nein, nicht nötig.“ Nina seufzte erleichtert. „Sind Arlene und Frida schon da?“ . . . . Jameson schaute durch das Fenster zu den beiden hinüber. „Ja.“ „Man kann die Uhr nach ihnen stellen.“ Nina gähnte. „Entschuldigung. Sie kommen jeden Sonntagmorgen vor ihrem Spaziergang. Und nach dem Gottesdienst auch. Mit dem Rest der Bande.“ Sie gähnte wieder. „Aber dann müsste Lacey längst eingetroffen sein. Nate und ich kommen später dazu und helfen euch dann.“ Eigentlich hätte er ablehnen und behaupten müssen, dass er mit den beiden Weibern allein zurechtkam. Dennoch erlaubte er sich einen schwachen Augenblick. „Ich würde mich freuen, wenn du mir nachher zur Hand gehst, aber jetzt schlaf dich erst mal aus.“ Jameson beendete das Gespräch, legte auf und kümmerte sich wieder um die Rühreier. Als er sie kurz darauf den beiden Anglern servierte, waren die Frauen verschwunden. Die Mittagszeit war vorbei. Nina stand in der Küche des Cafes und linste durch die Scheibe in den fast leeren Gastraum. Nate saß in der ersten Sitzecke neben der Tür und füllte sorgfältig Zucker in die Dosen, die er von allen Tischen eingesammelt hatte. Jameson hatte ihm gegenüber Platz genommen und konzentrierte sich auf den Bestellvordruck für die Lebensmittel. Sie mussten dringend bestellen, weil die Vorräte nach dem Mittagstisch am Sonntag immer drastisch zusammengeschmolzen waren. Krachend fiel die Hintertür ins Schloss. Aha, Lacey ist wieder da, dachte Nina. Die Studentin und der Koch Dale hatten zugesagt, dass sie sich an diesem Tag allein um die Abendschicht kümmern wollten. Dale hatte bereits angerufen und Nina angekündigt, dass er auf dem Weg ins Cafe war. Sie und Jameson konnten sich also einen freien Abend gönnen. Ja, das ist es, dachte sie unwillkürlich. Ich will mich nicht mehr halb zu Tode arbeiten, nur um Jameson aus dem Weg zu gehen. Höchste Zeit, die alten Geschichten, die Ängste und die jahrelange Enthaltsamkeit zu verabschieden. Höchste Zeit, den Tatsachen in die Augen zu sehen: der unbändigen Anziehungskraft, die Jameson auf sie ausübte. „Alles okay?“ Laceys Bemerkung ließ Nina erschrocken zusammenfahren. Besorgt legte ihr die junge Frau die flache Hand auf die Stirn. „Fühlt sich fiebrig an.“ Nina fühlte sich tatsächlich erhitzt, hatte aber den Verdacht, dass es an der unterdrückten Leidenschaft liegen könnte. „Traust du dir zu, den Laden allein zu schmeißen?“ fragte sie atemlos. „Ich kann natürlich auch länger bleiben, wenn du…“ „Raus hier“, befahl Lacey. „Du und dein neuer Typ, ihr braucht mal ein bisschen Zeit für euch allein. Ihr müsst euch noch aneinander gewöhnen. Außerdem ist Dale auch schon da…“ Jameson nickte dem Koch zu, der gerade das Cafe betrat, und kam mit dem Tablett in die Küche. „Bist du so weit?“ fragte er Nina. „Ich suche nur noch meine Handtasche.“ Sie fand sie in Nates Spielzeugkiste und traf sich mit Jameson und Nate hinter dem Cafe. „Lust auf einen kleinen Spaziergang?“ Er betrachtete sie aufmerksam. „Du bist schon seit Stunden auf den Beinen.“ Nate meldete sich zu Wort. „Mommy, ich will den Biberdamm sehen!“ Nina öffnete die hintere Tür von Jamesons Wagen, hob Nate auf seinen Sitz,
schnallte ihn an und ließ sich selbst erschöpft auf den Beifahrersitz fallen. Jameson startete den Motor. „Am Deer Creek hat ein Biber einen Damm gebaut, in der Nähe des Stausees. Ich habe Nate versprochen, dass wir uns das Bauwerk ansehen. Es liegt nur ein paar Schritte von der Straße entfernt.“ Das gleichmäßige Geräusch des Motors lullte Nina ein, und sie schlief die kurze Fahrt zum Stausee über. Jameson legte die Hand auf ihre Schulter, als sie angekommen waren. Erschrocken fuhr sie hoch. Ihr Herz machte einen Satz, als sie die Augen aufschlug und sein Gesicht ganz nah vor sich sah. Wie schön wäre es… „Mom, beeil dich!“ Nates Geschrei riss sie aus ihren Fantasien. Sie wandte sich von Jameson ab und stieg aus. Der Junge zerrte ungeduldig an ihrem Ärmel, während sein Vater den Wagen abschloss. Gemeinsam machte sich die kleine Familie auf den matschigen Weg zum Stausee hinunter. Nate rannte voraus. Er blieb zwar in Sichtweite, war aber doch so weit von ihnen entfernt, dass er die Unterhaltung seiner Eltern nicht verfolgen konnte. Nina musste unwillkürlich lächeln, als sie beobachtete, wie der kleine, schlanke Nate den Weg allein fand. „Die Woche mit dir hat ihm ausgesprochen gut getan, Jameson“, meinte sie glücklich. „Du kannst wirklich großartig mit ihm umgehen.“ Jameson lachte. „Die meiste Zeit ist mir gar nicht klar, was ich eigentlich gerade mache.“ „Dann geht es dir so wie mir“, erwiderte Nina und lachte ebenfalls. Sie beobachtete, wie die Anspannung langsam aus seinen Schultern wich. „Jeder glaubt, dass Frauen automatisch wissen, wie man als Mutter mit seinen Kindern umzugehen hat. Nur weil wir Frauen sind. Dabei habe ich mich in seinem ersten Lebensjahr so ungeschickt angestellt, dass ich schon fast überzeugt war, ihm niemals eine richtige Mutter zu werden.“ „Glaub mir, Nina, du bist rundherum genau die Mutter, die er braucht.“ Jamesons Bemerkung verschlug Nina die Sprache. Sie rückte ein Stück von ihm ab und versuchte, auf Distanz zu gehen. So übersah sie eine Unebenheit am Wegrand, verhakte sich mit dem Fuß in einer blank liegenden Baumwurzel und stolperte. Er griff nach ihrem Arm, stützte sie und brachte sie damit noch mehr durcheinander. Schließlich hatte Nina das Gleichgewicht wiedergefunden und überlegte, wie sie die bedrohlichen Hitzewellen, die immer wieder zwischen ihnen entstanden, in den Griff bekommen konnte. „Ich habe versucht, mich an deine Mutter zu erinnern.“ Sofort straffte Jameson die Schultern. „Wird dir kaum gelungen sein. Du wirst wenig älter gewesen sein als Nate jetzt, als sie starb.“ „Und wie alt warst du?“ „Acht.“ Sein knapper Ton erlaubte keine weiteren Fragen. Trotzdem ließ sie nicht locker. „Es muss hart gewesen sein für deinen Vater.“ „Mein Vater…“, stieß er wutentbrannt hervor. „Der Kerl hat kein Mitleid verdient. Nicht die Spur.“ Weiter vorn war Nate beim Bach angekommen, erklomm seitlich einen Felsbrocken und betrachtete den Wasserlauf. „Wo ist der Damm, Jameson?“ „ Flussaufwärts“, erwiderte Jameson, fing seinen Sohn auf, als der Kleine vom Felsbrocken hinuntersprang, und umarmte ihn fest. Dann setzte er ihn zu Boden. „Nicht mehr weit.“ Jameson drehte sich zu Nina um. Die widersprüchlichsten Gefühle spiegelten sich auf seinem Gesicht. Seine ausgestreckte Hand wirkte wie eine stumme Bitte, und in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er sie brauchte. Er brauchte sie,
und er musste ihre Hand in seiner spüren.
Plötzlich waren alle Zweifel wie weggeblasen. Fest umschloss Nina seine Hand
mit ihrer, und in diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, dass der Abgrund
zwischen ihnen nicht mehr existierte.
8. KAPITEL Schnell versank die Sonne hinter dem Horizont. Die letzten Strahlen drangen durch das Laub der Bäume und ließen den Waldboden golden leuchten. Nina spürte, wie sie von Minute zu Minute trauriger wurde. Nate spielte am Ufer des Sees, während Jameson und Nina auf einem nahe gelegenen Holzstoß hockten. Jameson grübelte schweigend vor sich hin. Warum soll ich das Schweigen brechen, überlegte Nina kurz, aber um ihres Sohnes willen musste sie mehr über die Sache erfahren. „Jameson?“ Er antwortete nicht. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Erzähl mir ein bisschen mehr über deine Familie. Nate wird dich eines Tages danach fragen.“ Jameson seufzte auf, lehnte sich nach hinten und stützte sich mit den Händen ab. Die Muskeln seines Armes traten deutlich hervor. „Mein Vater war ein Unhold.“ Obwohl er leise sprach, war aus seiner Stimme der Hass deutlich herauszuhören. „Er war… brutal. Gegenüber meiner Mutter. Und mir gegenüber.“ „Das tut mir sehr Leid.“ „Meine Mutter war…“ Unwirsch wischte er ihr Mitleid beiseite. „Solange sie lebte, war sie mein Schutzschild.“ Er richtete sich auf und legte die Hände in den Schoß. „Im Grunde genommen hätte sie ihn niemals heiraten dürfen. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie und hätte jeden haben können. Aber dann wurde sie schwanger. Plötzlich hat mein Vater das Geld gerochen und sie gezwungen, ihn zu heiraten.“ Jamesons Gesichtszüge waren wie versteinert, als er sich Nina jetzt zuwandte. „Wie ich dich.“ Bitter lachte er auf. „Seltsam, dass mir das erst jetzt klar wird.“ „Du hattest andere Gründe für die Ehe“, wandte Nina ein. „Es ist Unsinn, die Situationen zu vergleichen.“ „Und wenn schon!“ Jameson atmete hörbar aus. „Meine Mutter hat mir immer weismachen wollen, dass das Leben ihm übel mitgespielt hat. Im Grunde genommen hat er ein gutes Herz, behauptete sie. Aber das war eine Lüge.“ Er ballte die Hände zu Fäusten. „Offenbar hat er sich unter Kontrolle gehabt, bis ich geboren wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Familie meiner Mutter sich von ihr losgesagt. All das schöne Geld, auf das mein Vater geschielt hatte, war in unerreichbare Ferne gerückt.“ Nina rückte näher zu ihm heran und legte ihm den Arm um die Schultern. Er zuckte unwillkürlich zusammen und warf ihr einen verzweifelten Blick zu. Zwar wehrte er ihre Berührung nicht ab, aber es dauerte einen Moment, bis er sich wieder entspannen konnte. „Ich kann mich kaum noch an sie erinnern.“ Jamesons Blick verlor sich in den Baumkronen, als suchte er dort nach den Erinnerungen. „Sie hatte dunkles Haar. Ein bisschen heller als deines. Blaue Augen. Und ein süßes Lächeln.“ Aufmerksam sah Nina ihn an. „Es verging kein Tag“, fuhr Jameson fort, „an dem sie nicht davon gesprochen hätte, dass sie sich von ihm trennen will. Dann wurde sie wieder schwanger. Ich bekam einen Bruder. Und meine Mutter… Sie hatte schon Probleme während der Schwangerschaft. Eine Woche nach der Geburt ist sie gestorben.“ Tröstend streichelte Nina Jameson über den Rücken, aber er schien ihre Berührung überhaupt nicht zu bemerken. „Dann sind sie gekommen und haben meinen Bruder abgeholt.“ „Wer?“
„Die Eltern meiner Mutter. Sie haben meinen Bruder abgeholt“, stieß Jameson mit kalter Stimme hervor. „Ihn. Mich nicht.“ „Jameson…“ Sein Blick war so schneidend, dass ihr die Worte im Halse stecken blieben. „Sie haben ihn aufgezogen. Ich dagegen blieb bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr bei meinem Vater. Danach ging ich zur Army. Mein Vater ist gestorben, als ich in Kuwait gegen den Irak gekämpft habe.“ „Und dein Bruder?“ „Tot.“ Jameson sprang von dem Holzstoß herunter und ging zu Nate hinüber. „Höchste Zeit, dass wir nach Hause fahren, Sportsfreund.“ Er hob seinen Sohn auf und setzte ihn sich auf die Schultern. Nate spielte Riese, und Jameson unterstützte ihn mit den passenden Geräuschen, während sie den matschigen Weg zum Wagen zurückgingen. Nina hielt sich ein paar Schritte hinter ihnen und versuchte, sich einen Reim auf die Geschichte zu machen, die Jameson ihr erzählt hatte. Als sie beim Auto ankam, war es stockdunkel geworden. Kalter Herbstwind pfiff durch ihre Kleidung und ließ sie frösteln. Nina wartete, bis Jameson den Jungen auf dem Kindersitz festgeschnallt und die Tür geschlossen hatte. „Jameson.“ Sie schlang sich fröstelnd die Arme um den Oberkörper. Unendlich viele Fragen schossen ihr durch den Kopf. „Sind deine Großeltern noch am Leben?“ „Nur meine Großmutter“, antwortete er widerwillig. „Habt ihr noch Kontakt miteinander?“ Er zögerte lange. „Nicht wirklich.“ „Weiß sie, dass es Nate gibt?“ „Nein.“ Er öffnete die Fahrertür. „Es ist verdammt kalt. Ich will endlich nach Hause.“ Kaum hatte Nina auf dem Beifahrersitz Platz genommen, war Jameson hinter das Steuer gerutscht und hatte den Motor gestartet. Sie schaute sich nach Nate um, während sie sich anschnallte. Nate hielt eins seiner neuen Holzautos in der Hand und ließ die Räder mit dem Finger kreisen. Nina senkte die Stimme. „Wann willst du es ihr erzählen?“ Ruckartig legte Jameson den Rückwärtsgang ein und fuhr so heftig an, dass der Kies unter den Reifen knirschte. „Überhaupt nicht.“ „Du musst.“ Die Tachonadel zeigte an, dass er mit überhöhter Geschwindigkeit in Richtung Hart Valley raste. „Ich muss gar nicht. Außerdem geht dich das nichts an.“ „Aber ihn“, widersprach Nina leise und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Rückbank. „Und deshalb auch mich. Ich möchte, dass Nate seine Urgroßmutter kennen lernt.“ Jameson hielt das Steuer geradezu krampfhaft umklammert. „Nein.“ „Wenn es böses Blut zwischen euch gegeben hat…“ „Ich habe Nein gesagt!“ Völlig unvermittelt trat er auf die Bremse und riss den Wagen auf den Seitenstreifen. Der Viertürer rutschte durch den Dreck, bis er endlich stehen blieb. Wortlos öffnete Jameson die Tür, sprang heraus und hastete durch die Scheinwerferkegel auf die Baumgruppe zu, die den Seitenstreifen begrenzte. Mit steifer Haltung schritt er auf und ab und versuchte, den Schmerz in seinem Innern zu besänftigen; „Mommy, was ist los?“ Nates kleines Stimmchen kam von der Rückbank. „Warum haben wir angehalten?“ „Jameson muss etwas überprüfen. Wir fahren gleich weiter“, beruhigte sie ihren Sohn und hoffte inständig, dass Jameson nicht im Wald verschwinden würde. Nach ein paar Minuten kam er jedoch zurück, stieg wieder ein und schloss die
Tür. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, lenkte er den Wagen wieder auf die Straße und fuhr schweigend nach Hart Valley. Nina schwieg ebenfalls. Als sie vor ihrem Haus parkten, stellte sie fest, dass es gar keiner Worte bedurfte. Sie wartete ab, bis er den Motor ausgeschaltet hatte. Dann griff sie nach seiner Hand und drückte einen Kuss in die geöffnete Handfläche. „Ich würde dich niemals im Stich lassen“, sagte sie so leise, dass Nate sie garantiert nicht hören konnte. Den folgenden Montag konnte Jameson nicht wie geplant mit Nina und Nate verbringen. Am Sonntagabend hatte sein Vorarbeiter ihm eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, dass in einem der Häuser auf der Baustelle eine Leitung geplatzt sei. Die Schränke hatten herausgerissen werden müssen, um den Schaden zu beseitigen, und der Mann erwartete Jameson am Montag auf der Baustelle, um die Schränke wieder einzubauen. Die Reparatur hatte allerdings nur den halben Tag in Anspruch genommen. Der Vorarbeiter hatte Jameson deshalb angeboten, die Überstunden aufzuschreiben und ihm am Montag darauf einen freien Tag zu geben. Jameson hatte angenommen, freute sich auf den freien Tag in der kommenden Woche und auf die zwei oder drei Stunden, die ihm noch blieben, bevor Nate aus dem Kindergarten zurückkam. Sie hatten mit Ninas Eltern verabredet, Nate vom Bus abzuholen und zur Ranch zu bringen. Als er die Auffahrt zum Haus hinauffuhr, war Nina gerade damit beschäftigt, das Eichenlaub vom Rasen zu harken. Sie trug ausgewaschene Jeans sowie ein rosenfarbenes Sweatshirt mit VAusschnitt, das ihre vollen Brüste betonte. Das dunkle Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Nachmittagssonne schien ihr ins Gesicht und zauberte einen goldenen Schimmer auf ihre Wangen. Am liebsten hätte Jameson sie sofort in seine Arme gezogen. Er griff nach dem Werkzeuggürtel, der auf dem Rücksitz seines Wagens lag, und als er sich wieder umdrehte, lächelte sie ihn an. Jameson stieg aus und ging zu ihr. „Ich räume nur kurz das Werkzeug weg, dann helfe ich dir“, versprach er. Nina strich sich eine widerspenstige Strähne hinter das Ohr. „Nicht nötig. Ich bin fast fertig“, erklärte sie. „Und ich habe schon auf dich gewartet.“ Er fühlte sich von ihren Worten sanft umhüllt. Unwillkürlich meldete sich die Leidenschaft in seinem Herzen. „Ich habe die Farbe für das Kinderzimmer ausgesucht“, berichtete er dennoch geschäftig. Als er das Werkzeug auf der Veranda abgelegt hatte und zu Nina zurückkam, hatte sie gerade den schwarzen Plastiksack geöffnet und stopfte das Laub hinein. Der VAusschnitt ihres Sweatshirts wölbte sich ein kleines Stück vor und gab den Blick auf einen schmalen Streifen ihrer verführerischen Brüste frei. Wie verzaubert starrte er sie an, obwohl er wusste, dass es ungehörig war. Nina straffte ihren Körper und bemerkte, dass er sie unverwandt anblickte. Sein Verlangen steigerte sich unmäßig, als er die Leidenschaft auch in ihrem Blick entdeckte. „Lass mich festhalten“, bat er rau und gab sich keine Mühe, sein Verlangen zu verbergen. „Du tust das Laub hinein.“ Kaum hatte Nina die letzten Blätter in den Plastiksack gestopft, verschnürte er ihn und warf ihn zur Seite. Dann nahm er Nina die Harke aus der Hand und warf sie auf den Rasen. Mit einer Hand auf ihrer Schulter, zog er sie näher zu sich heran. Das Verlangen in ihren dunklen Augen war eindeutig. Ihre Lippen teilten sich, als er sich ihr näherte, und ihr Atem strich sanft über seinen Mund, während er sie liebkoste. Dann ließ er seine Zunge in ihren Mund gleiten. Augenblicklich explodierte die Leidenschaft in seinem Innern, und er befürchtete, sich nicht lange beherrschen zu können. Plötzlich jedoch wurde ihm
bewusst, dass sie ins Haus gehen mussten, weil er sonst Gefahr lief, vor dem Haus auf dem Rasen die Kontrolle über sich zu verlieren. Er legte einen Arm unter ihre Knie, den anderen um ihre Schultern und hob sie auf, so, wie er es am Tag zuvor auch getan hatte. Gestern hatte er sie in ihr Bett gelegt, damit sie endlich ihren wohlverdienten Schlaf bekam, heute ging es um etwas anderes. Er wollte sie in sein Bett bringen, damit sie ihre üppigen Kurven gegen seinen Körper schmiegte, damit ihre seidige verführerische Hitze sein Verlangen erfüllen konnte. In der Küche zögerte er und ließ sie hinunter, hielt sie aber immer noch eng an sich gepresst. „Wir müssen nicht“, stieß er heiser hervor, obwohl sein Körper etwas ganz anderes sagte. „Wir können sofort aufhören.“ Jameson war nicht überzeugt, dass er sich tatsächlich hätte zurückhalten können, aber Nina stellte ihn zum Glück nicht auf die Probe. Stattdessen zog sie ihn näher zu sich und spielte mit ihren vollen Lippen ein erotisches Spiel an seinem Mund. Langsam drängte sie ihre Zunge gegen seine. Jameson stöhnte auf, er war am Rande seiner Beherrschung. Mühsam atmete er ein, um nicht zu früh die Kontrolle zu verlieren. Immer enger schmiegte Nina sich an ihn. Er legte die Hand über ihre Brust und streichelte sie durch das Sweatshirt. Ihre Brustknospe richtete sich auf, so dass er sie unter seinen Fingern spüren konnte. Er spielte mit ihr und genoss die lustvollen Worte, die sich ihr über die Lippen stahlen. Verzweifelt sehnte er sich danach, sie zum Höhepunkt zu führen, jene heiße Liebesnacht, in der sie fast wahnsinnig geworden waren, noch mal zu durchleben. Nina stockte der Atem, als Jameson den Knopf ihrer Jeans aufknöpfte und den Reißverschluss langsam herunterzog. Mit den Fingerspitzen strich er am Saum ihres Slips entlang. Dann glitt er zu ihrer Hüfte hinunter. Sie wand sich lustvoll unter seiner Berührung und griff unwillkürlich nach seinem Handgelenk. Er hielt inne und wartete ab. Nach kurzem Zögern ließ Nina ihn wieder los und gab sich ihm hin. Langsam und voller Genuss glitt er tiefer. Beim Klingeln des Telefons brach er ab und streichelte nur noch leicht mit den Fingerspitzen über ihre Haut. „Soll ich rangehen?“ flüsterte er nahe bei ihrem Ohr. Sie hielt die Augen geschlossen und lehnte sich in seine Umarmung. „Der Anrufbeantworter ist eingeschaltet.“ Das Telefon hörte auf zu klingeln. Der Apparat sprang an. Zwei Sekunden lang herrschte Schweigen, als ob der Anrufer am anderen Ende es sich noch mal überlegen wollte, eine Nachricht zu hinterlassen. Dann hörten sie eine Frauenstimme. „Nina? Hier ist Lydia Heath.“ Jameson erstarrte. „Es ist schade, dass ich Sie nicht erreiche. Bitte rufen Sie mich an. Ich möchte gern mit Ihnen reden.“ Er spürte Ninas Blick auf sich ruhen, als er sich von ihr löste und auf Abstand ging. Mühsam versuchte er, seine unbändige Wut unter Kontrolle zu bringen. Urplötzlich vernahm er wieder das lautstarke Brüllen in seinem Kopf. Wie durch einen dichten Nebel nahm er wahr, dass die Frau ihre Telefonnummer auf dem Anrufbeantworter hinterließ. An der Vorwahl erkannte er, dass es sich um irgendeine teure Wohngegend in der Nähe von Palo Alto handeln musste. Bevor sich der Apparat abschaltete, war er bereits aus dem Haus gestürmt. Ninas Wangen waren vor Scham gerötet, als sie den Reißverschluss ihrer Jeans wieder hochzog. Mit dem Haarband in der Hand, rannte sie zur Tür und sah
gerade noch, wie Jamesons Wagen die Auffahrt zur Straße hinunterraste und mit quietschenden Reifen in Richtung Stadt abbog. Kraftlos ließ sie die Schultern hängen, als sie ins Haus zurückging und sich die Haare wieder zusammenband. Sie hatte gewusst, dass es riskant war, an Jamesons Stelle zu seiner Großmutter Kontakt aufzunehmen. Doch obwohl sie mit seiner Wut gerechnet hatte, war ihr nicht klar gewesen, dass er fast durchdrehen würde. Trotzdem hielt sie ihre Entscheidung für richtig. In seinem kurzen Leben hatte Nate kaum die Hälfte seiner Familie kennen lernen dürfen. Bevor Jameson in ihr Leben zurückgekehrt war, hatte sie es ohne weiteres vor sich rechtfertigen können, ihrem Sohn nichts über seinen Vater zu erzählen. Wenn sie allerdings akzeptierte, dass Jameson zu Nates Leben gehörte, dann durfte sie seiner Großmutter nicht die Tür vor der Nase zuschlagen. Nina schaute auf die Uhr. Es blieben ihr noch ein paar Stunden, bis Nate von ihren Eltern aus dem Kindergarten nach Hause gebracht werden würde, und sie entschied sich, mit den Malerarbeiten in seinem Zimmer zu beginnen. Die Wände waren fast vollständig gestrichen, als sie hörte, wie draußen Autotüren zugeschlagen wurden. Nur ein paar Stellen an der Decke mussten noch ausgebessert werden. Sie war gerade dabei, die restliche Farbe in den Eimer zurückzuschütten und die Rolle am Gitter abzustreifen, als ihr Sohn hereinstürmte. Der Junge hielt einen Stofftiger fest an sich gedrückt und rannte schnurstracks zur Toilette. Nina lächelte und wollte ihre Eltern begrüßen, aber stattdessen trat Jameson ein. Er schloss die Tür hinter sich. „Ich war gerade am Cafe, als der Bus kam.“ Nina wischte sich die Hände an einem Lappen ab. „Wir müssen reden.“ Nachdem Nate sein Geschäft erledigt hatte, trottete er mit dem Stofftiger in sein Zimmer, um ihn seinen neuen Autos vorzustellen. Krampfhaft überlegte Nina, was sie als Nächstes sagen sollte. Jameson ergriff das Wort. „Könntest du deine Eltern bitten, heute Abend auf Nate aufzupassen?“ Sie nickte. „Ja, ich rufe sie gleich an.“ „In der Nähe von Marbleville gibt es ein sehr gutes mexikanisches Restaurant.“ „Ja. Ich bin mit Nate schon mal dort gewesen.“ Die Belanglosigkeit ihrer Unterhaltung konnte die Spannung nicht auflösen. „Es hat uns sehr gefallen.“ „Gut. Ich ziehe mich um.“ Jameson zögerte, kam auf sie zu, als wollte er den Graben überbrücken, der sich zwischen ihnen aufgetan hatte, drehte sich dann aber weg und verschwand in seinem Zimmer. Noch in der Küche griff Nina nach dem Wandtelefon und wählte die Nummer ihrer Eltern. Ihre Mutter freute sich, Nate am Abend betreuen zu können und bot sogar an, ihn über Nacht bei sich zu behalten. Zusammen mit ihrem Mann wollte sie den Jungen am nächsten Morgen dann in den Kindergarten bringen. Nate war außer sich vor Freude, als er erfuhr, dass er die Nacht bei seiner Großmutter verbringen durfte. Nina half ihm, den Pyjama, Kleidung zum Wechseln, die Zahnbürste sowie ein Bilderbuch in seinen kleinen Rucksack zu packen, bevor sie sich unter die Dusche stellte und umzog. Sie entschied sich für ein kornblumenblaues Kleid aus herrlich weichem Kaschmir, das sie aus der hintersten Ecke ihres Schrankes hervorholte. Es war so tief ausgeschnitten, dass es beinahe die Schultern freigab. Ich muss also einen trägerlosen BH anziehen, überlegte sie, während sie den breiten Ledergürtel zurechtlegte, der ihre schmale Taille betonen würde. Zuletzt packte sie ein paar Utensilien aus der Alltagstasche in die schmale schwarze Lederhandtasche und verließ das Zimmer. Auf dem Flur atmete sie tief
durch und zögerte kurz, bevor sie das Wohnzimmer betrat, wo Jameson und Nate auf sie warteten. Plötzlich fühlte sie sich unsicher und nervös. Schließlich aber nahm sie ihren Mut zusammen und trat ein. Nate lächelte sie an. „Mommy, du siehst toll aus.“ Jameson richtete sich auf. Sein erstaunter Blick machte jedes Wort überflüssig, und es lief ihr abwechselnd heiß und kalt über den Rücken. Sie sehnte sich danach, in seinen Armen zu liegen und von ihm gehalten zu werden. Aber es gab so viele Dinge, die zwischen ihnen standen. Seine grausame Vergangenheit, die ihn immer noch verfolgte. Ihre eigenen Hemmungen, sich auf einen Mann einzulassen, den sie kaum kannte. Nina hatte nicht die geringste Ahnung, ob es ihnen gelingen würde, während des Dinners mit der Vergangenheit aufzuräumen. Doch zumindest wollte sie heute Abend für ihn schön sein. Er sollte stolz sein auf die Frau an seiner Seite. Über alles andere können wir später immer noch reden, dachte sie insgeheim.
9. KAPITEL Nach ihrer heißen Begegnung mit ihm am Nachmittag hätte Nina auch in Sack
und Asche gehen können, sie hätte Jamesons Verlangen trotzdem aufgeheizt.
Das wundervolle blaue Kleid schien ihn förmlich anzuflehen, sie zu streicheln.
Lange halten meine Nerven das nicht mehr aus, stöhnte er innerlich, während er
ihr im Restaurant gegenübersaß. Er konnte sich kaum auf die Speisekarte
konzentrieren. Schließlich wählte er willkürlich irgendein Gericht aus. Nachdem
die Kellnerin verschwunden war, goss er sich hastig ein Glas eiskaltes Wasser ein
und stürzte es fast in einem Zug hinunter.
Nina sah ihn ernst an. „Wegen deiner Großmutter…“
Jameson hatte das Gefühl, als hätte sie ihm eine kalte Dusche verpasst. Unwirsch
warf er die zerknüllte Serviette beiseite. „Worauf willst du hinaus?“
„Ich möchte, dass Nate sie kennen lernt.“
Er zwang sich zu einem entspannten Gesichtsausdruck. „Sie gehört nicht zu den
Leuten, die ich in der Nähe meines Sohnes wissen möchte.“
„Damals, als sie dich im Stich gelassen hat… Vielleicht war sie der Meinung, dass
dein Bruder sich schneller an sie gewöhnen kann. Schließlich war er noch ein
Baby. Du warst schon älter. Bestimmt wollte sie nicht, dass du dein Zuhause
aufgeben musst.“
„Sie wusste genau, wie gewalttätig mein Vater war“, wies er Ninas Vermutung
empört zurück.
„Wirklich? Hast du jemals mit ihr darüber gesprochen?“ Die Antwort stand ihm
ins Gesicht geschrieben. „Vielleicht ist es langsam an der Zeit, dass du deinen
Frieden mit ihr machst. Lass die Vergangenheit endlich hinter dir.“
„Die Vergangenheit hat mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin“, entgegnete er
bitter. „Und wegen genau dieser Vergangenheit bin ich im Knast gelandet.“
Nina langte über den Tisch und griff nach seiner Hand. „Es ist mir gleich, wie
sehr du deine Großmutter hasst oder was du über sie denkst. Nate hat das
Recht, sie kennen zu lernen. Ganz unbefangen, ohne deine Einmischung. Wenn
sie wirklich so schrecklich ist, wie du behauptest, dann wird er es schnell
herausfinden.“
Jameson zögerte. „Nun gut, er soll sie kennen lernen“, willigte er schließlich ein.
Die Kellnerin brachte das Essen. Nina zog ihre Hand fort und legte sich die
Serviette auf den Schoß. Jameson riss den Blick von ihr los und konzentrierte
sich auf das Essen.
Nina schnitt kleine Häppchen von ihrem Fleisch ab, spießte sie auf die Gabel,
legte sie dann aber zur Seite. „Wann?“
„Keine Ahnung.“
„Wir könnten sie zu Thanksgiving einladen. Zu uns nach Hause.“
„Geht nicht.“
Nina sah ihn scharf an. „Welcher Termin würde dir denn passen?“
An ihrem Ausdruck konnte er erkennen, dass Nina erst dann Ruhe geben würde,
wenn er sich auf eine Verabredung eingelassen hatte. Angestrengt dachte er über
eine Lösung nach, die ihm halbwegs entgegenkam, und seufzte erleichtert auf,
als Ninas Handy klingelte.
Nina warf einen Blick auf das Display und machte ein besorgtes Gesicht.
„Nate?“ fragte Jameson.
Sie schüttelte den Kopf und sackte auf ihrem Stuhl zusammen, während sie dem
Anrufer am anderen Ende zuhörte. Wer auch immer sie angerufen hatte, er
überbrachte keine guten Nachrichten.
„Gut, Dale, wenn du für dich so entschieden hast“, meinte Nina schließlich. „Ich
wünsche dir alles Gute.“ Sie beendete das Gespräch, verstaute das Handy wieder
in ihrer Handtasche und wandte sich Jameson zu. „Das war Dale. Der Abendkoch.
Er zieht nach Reno und will sein Glück am Spieltisch im Kasino versuchen.“
Jameson wusste, dass die Nachricht für Nina eine Katastrophe war. „Dale war
sowieso nicht besonders begabt“, versuchte er, sie zu trösten.
„Stimmt. Aber er war da. Meistens jedenfalls.“ Sie rieb sich die Stirn. „Wo soll ich
jetzt so schnell einen Koch herzaubern?“
Die Antwort kam Jameson leicht über die Lippen. „Ganz einfach. Ich koche.“
„Was?“
Er drückte ihr die Hand. „Ab sofort arbeite ich bei dir als Koch.“ .
Entschlossen zog sie die Hand fort. „Du kannst nicht tagsüber auf der Baustelle
schuften und abends am Herd stehen.“
„In einer Woche wird der Neubau abgenommen. Dann müsste ich mir sowieso
einen anderen Job suchen“, hielt er dagegen.
„Als Koch verdienst du nur die Hälfte deines jetzigen Lohns.“
„Ich brauche keinen Lohn.“
Nina seufzte auf. „Ich weiß einfach nicht, ob ich mit dir zusammenarbeiten
kann“, gestand sie ein.
„Ich werde dich nicht anrühren“, versprach er.
Nina war froh, dass er kein Miss Verständnis vorschützte. „Das brauchst du auch
gar nicht“, flüsterte sie, während ihr die Röte in die Wangen stieg.
Er musterte sie eindringlich. „Ich weiß. Wir schaffen es schon. Bitte, Nina, ich
würde es wirklich gerne tun.“
Zögernd stimmte sie zu. „Okay. Wir versuchen es.“
Jameson lächelte. „Danke. Ich freue mich.“
Nina senkte den Kopf und griff wieder nach ihrer Gabel. „Dale bleibt noch drei
Tage. Ich brauche dich also erst ab Freitag.“
„Gut. Ich sage dem Vorarbeiter Bescheid.“
Das Essen war kalt geworden. Lustlos stocherte Nina auf ihrem Teller herum. Sie
mochte kaum daran denken, was passieren würde, wenn sie den Abend allein mit
Jameson im Haus verbrachte.
Und Jameson schien ähnliche Gedanken zu verfolgen. Er schaute auf die Uhr.
„Vielleicht sollten wir noch ins Kino gehen.“
Das heißt nur, dass wir das Problem auf später verschieben, dachte Nina. „Nicht
heute Abend. Morgen ist das Cafe geöffnet. Ich möchte früh ins Bett“, erklärte
sie. „Lass uns nach Hause fahren.“
Jameson winkte die Kellnerin heran und zahlte. Seine Hand lag auf ihrem
Rücken, als Nina mit zitternden Knien aufstand und an seiner Seite das
Restaurant verließ.
Als sie zu Hause angekommen waren, stieg er aus und brachte sie zum Eingang,
ohne den Motor abzustellen. „Ich mache noch eine kleine Spritztour“, erklärte er,
rührte sich aber nicht von der Stelle.
Nina wusste, dass er auf ihre Zustimmung wartete. Oder auf eine Einladung. Sie
hatte die Wahl. Sicherheit oder wilde Leidenschaft. Er war bereit, beides zu
akzeptieren.
„Ich gehe jetzt besser rein“, meinte sie nach kurzer Überlegung. „Und ich freue
mich darauf, endlich mal wieder die ganze Nacht durchzuschlafen.“
Ohne den geringsten Vorwurf drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn, wartete, bis
sie im Haus verschwunden war, setzte sich dann in seinen Wagen und fuhr vom
Grundstück.
Am Sonntag vor Thanksgiving schickte Nina ihren Sohn in seine Spielecke, damit
sie mit Jameson ein paar Worte allein sprechen konnte. Das Cafe war leer, und
die meisten Aufräumarbeiten hatten sie schon erledigt. Jameson hatte sich ein Stück Rinderbrust gebraten, und sie wartete, bis er es gegessen hatte. „Deine Großmutter hat wieder angerufen“, begann sie dann. „Ich kann sie nicht länger hinhalten.“ Sie griff nach seinem Arm, als er aufstand. „Wann können wir uns mit ihr treffen?“ Jameson überlegte. „Demnächst findet doch die Gastronomiemesse statt. Kannst du für das Wochenende einen Ersatzkoch besorgen?“ Nina oder ihre Eltern waren jedes Jahr im Dezember zur Messe nach San Francisco gefahren. „Ich könnte Andrea bitten.“ „Nate und ich werden dich zur Messe begleiten. Auf dem Weg dorthin besuchen wir Lydia in Palo Alto.“ „Prima.“ Nina lächelte. „Ich rufe sie an.“ „Nein. Ich kümmere mich darum.“ „Außerdem ist es höchste Zeit, dass wir Nate informieren. Soll ich…“ „Nein. Das machen wir beide“, entschied Jameson, stand auf und zog sie in seine Arme. „Ich will nicht, dass Nate seine Großmutter mag. Findest du nicht auch, dass das kindisch ist?“ Nina bog den Kopf zurück, so dass sie ihn anschauen konnte. „Und wenn er sie liebt, wirst du es zulassen?“ Den Bruchteil einer Sekunde lang flackerte Wut in seinem Blick auf, dann nickte er knapp. Sie löste sich aus seiner Umarmung und schaute mit ihm zusammen nach Nate, der sein Interesse an Videos offensichtlich verloren hatte. Er saß mit seinen Buntstiften am Tisch und malte ein Bild. „Guck mal, Mommy“, sagte er lächelnd, als sie zu ihm traten. „Ich habe unsere Familie gemalt.“ Fünf gekritzelte Figuren neben einem riesigen Haus. „Hier bin ich und du. Das sind Grandma und Grandpa und Daddy.“ Sie spürte, wie Jameson vor Schreck erstarrte. „Würdest du…“, brachte er mühsam hervor. Nina begriff auf Anhieb, kniete sich neben Nate und erzählte ihm von seiner Urgroßmutter namens Lydia. Es verwunderte sie nicht, dass er vor Freude beinahe platzte, als er hörte, dass sie alle zusammen Lydia in ein paar Wochen besuchen wollten. Besuch bei den Großeltern bedeutete für ihn immer jede Menge Geschenke und Süßigkeiten. Nina überlegte kurz, ob sie ihn darauf vorbereiten sollte, dass Lydia möglicherweise anders war, entschied sich dann aber dagegen. Nate sollte das lieber allein herausfinden. Außerdem hatte sie die alte Dame nur ein paar Mal kurz am Telefon gesprochen und wollte nicht vorschnell urteilen. Während sie die restlichen Aufräumarbeiten erledigten, war Jameson immer noch wie betäubt, weil sein Sohn ihn ohne viel Aufhebens einfach „Daddy“ genannt hatte. Ängstlich forschte Nina in ihrem Herzen, ob sich vielleicht Spuren von Eifersucht eingenistet hatten, weil Nate seinen Vater endlich voll und ganz zu akzeptieren schien. Sie empfand jedoch nichts als Glück und Freude.
10. KAPITEL Kurz nach Mittag verließen sie Marbleville und bogen auf die Schnellstraße ein. Nina überlegte, ob sie wohl die gesamte Fahrt schweigend verbringen würden. Nachdem sie einen Hak zum Tanken eingelegt hatten und Nina mit Nate auf der Toilette gewesen war, stellte Jameson sogar seine einsilbigen Antworten auf ihre krampfhaften Versuche, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, ein. Nina legte ihm die Hand auf den Arm, und er warf ihr einen kurzen Blick zu, als sie ihn tröstend streichelte. Bald spürte sie, wie er sich etwas entspannte. „Bist du eigentlich deiner Großmutter schon einmal persönlich begegnet?“ „Ja. Ein Mal.“ Er seufzte tief auf. „Es war an dem Tag, an dem sie meinen Brüder abholten.“ „Und warst du bei ihr zu Hause?“ Jameson nickte. „Ich muss sieben Jahre alt gewesen sein. Aber ich habe sie nicht zu Gesicht bekommen.“ Er schloss seine Hände fester um das Lenkrad. „Meine Mutter war mit meinem Bruder schwanger. Mein Vater war für ein paar Tage weggefahren. Nach Reno, glaube ich. Also hat Mom sich einen Wagen geliehen und ist nach Palo Alto gefahren.“ Der Verkehr wurde dichter, als sie sich Sacramento näherten. „Mein Großvater wollte meine Mutter noch nicht mal ins Haus lassen. Sie stand vor der Tür, war hochschwanger, und er hat sie auf der Veranda angeschrien. Du machst dir keine Vorstellungen, welche Ausdrücke er in den Mund genommen hat.“ Die Kehle schnürte sich ihm zusammen. „Mein Vater war ein mieser Kerl, aber mein Großvater… Wenn mich die Erinnerung nicht trügt, war er sogar noch schlimmer. Du liebe Güte, was habe ich vor ihm gezittert.“ „Aber er ist tot.“ „Ja. Er ist gestorben, während ich in Folsom war.“ „Und dann kam der Tag, an dem sie deinen Bruder abgeholt haben…“ Jameson antwortete nicht gleich, sondern fädelte sich auf die Spur nach Sacramento ein. Dann fuhr er fort: „An jenem Tag waren sie beide da. Lydia hat kaum gesprochen. Ich kann mich erinnern, dass sie mich bedeutungsvoll angesehen hat, als mein Großvater von meinem Vater die Herausgabe meines Bruders verlangte. Ich war noch so erschüttert über den Tod meiner Mutter, dass ich die Ereignisse nur wie durch einen Schleier wahrgenommen habe. Und als mein Vater vorgeschlagen hat, dass sie doch lieber mich mitnehmen sollten, hat sie den Mund aufgemacht, als ob sie irgendetwas sagen wollte. In diesem Augenblick hat Großvater die Hand meines Bruders in ihre gedrückt, und sie sind alle zusammen aus dem Haus marschiert.“ „Und du hast nie wieder mit ihr gesprochen?“ „Erst vor ein paar Wochen, als ich unseren Besuch mit ihr vereinbart habe.“ Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. „Ich habe es nie gewollt.“ Nina hatte den Eindruck, dass Jameson all die Jahre über noch nicht mal in Erwägung gezogen hatte, seine Großmutter zu besuchen. „Es war möglicherweise gar nicht ihre Entscheidung, dich zurückzulassen.“ „Das spielt keine Rolle, solange sie nicht den Mund aufmacht.“ „An der Vergangenheit können wir nichts mehr ändern, Jameson“, bemerkte sie. „Lassen wir die Geschichte bitte ruhen. Wir beginnen ganz neu. Heute. Jetzt.“ Sie drückte ihm den Arm. „Denk doch mal nach. Wenn dein Großvater dich so sehr geängstigt hat, war auch deine Großmutter vielleicht von ihm terrorisiert. Jedenfalls so sehr, dass sie einen acht Jahre alten Jungen zurückließ, anstatt ihn zu sich zu nehmen.“ Nina beobachtete Jameson genau. Obwohl seine Miene immer noch wie
versteinert war, blieb ihr nicht verborgen, dass sie mit ihrer Bemerkung tatsächlich ins Schwarze getroffen hatte. Jameson schwieg zwar wieder, aber in seinen Augen blitzte ein Fünkchen Verständnis auf. Jameson hatte ihr zwar berichtet, dass seine Mutter aus einer wohlhabenden Familie stammte. Trotzdem staunte Nina nicht schlecht, ats sie das riesige Haus der Heaths zum ersten Mal sah. Die zweistöckige Villa im toskanischen Stil lag direkt an der Bucht. Drei Säulen prangten vor dem Portal. Die Wände waren in einem hellem Bronzeton gehalten, die Decken mit Stuck verziert und das Dach mit Ziegeln aus Ton gedeckt. Palmen und alte Eichen waren um die Villa herum gepflanzt. Von zwei Seiten führten breite Treppen auf die riesige Veranda, die sich vor dem Haus erstreckte. Nina blieb stehen und ließ ihren Blick über den Baumbestand in dem weiten Park schweifen. „Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass es hier direkt an der Küste so riesiges Bauland gibt.“ Jameson fuhr mit dem Wagen bis zur Treppe. „Die Villa hat mein Ururgroßvater erbaut. Im Jahre 1913.“ Nina entdeckte eine schmale, weißhaarige Frau, die zwischen den Säulen stand und wartete. Ein Mann im schwarzen Anzug kam die Treppe auf der linken Seite herunter. Nina schaute Jameson fragend an. „Bestimmt der Butler.“ Der Mann war unten an der Treppe angekommen. Seine Bewegungen wirkten wie einstudiert. Das grau melierte Haar und die gleichmäßigen eckigen Gesichtszüge machten es unmöglich, sein Alter zu schätzen. Es musste irgendwo zwischen dreißig und fünfzig liegen. „Mr. O'Connell? Darf ich mich um Ihr Gepäck kümmern?“ „Wir übernachten in der Stadt.“ Jamesons Ton war kühl und distanziert. „Gepäck brauchen wir nicht.“ Der Butler nickte und wandte sich wieder zur Treppe. „Hier entlang bitte.“ Nate hatte über zwei Stunden angeschnallt auf seinem Rücksitz gesessen und rannte jetzt vor ihnen die Treppe hinauf. Als Nina und Jameson mit dem Butler oben angekommen waren, hatte der Junge seine Urgroßmutter bereits erreicht. Es war die erste Begegnung zwischen Lydia und ihrem Urenkel, und sie studierte sein Gesicht ganz genau. Ihre blassblauen Augen glänzten vor Freude. Nina hatte sich gefragt, warum die alte Dame nicht selbst die Treppen heruntergekommen war, um sie zu begrüßen. Jetzt wurde ihr der Grund klar. Sie stand auf einen Gehstock gestützt, die Knöchel ihrer Hand waren knorrig und geschwollen, als ob sie unter Gicht litt, und ihre Haltung wirkte unsicher. Als Lydia ihren Urenkel erblickte, schien sie ihre körperlichen Gebrechen jedoch zu vergessen. Nate marschierte auf Lydia zu und baute sich stolz vor ihr auf. „Hallo, ich bin Nate. Und du? Bist du meine… meine Urgroßmutter?“ Lydia strahlte über das ganze Gesicht. „Ja, das bin ich, kleiner Mann.“ Neugierig fasste Nate ihren Gehstock aus Aluminium an. „Wozu brauchst du das?“ Nina verkniff es sich, den Jungen zurechtzuweisen, während Lydia sich zu Nate hinunterbeugte. „Das hilft mir beim Gehen. Meine Beine funktionieren nicht mehr so gut wie früher.“ Nate nickte verständnisvoll. „Du hast aber ein großes Haus.“ „Ja, das ist richtig.“ Lydia kniff Nate zärtlich in die Wange. „Und ich freue mich sehr, dass du mich besuchen kommst.“ Als Lydia wieder aufschaute, entdeckte Nina Tränen in den Augen der alten Dame. „Jameson, komm zu mir. Ich möchte dich begrüßen.“
Er zögerte. Schließlich ergriff er Ninas Hand und ging mit ihr zusammen zu seiner
Großmutter hinüber. „Hallo, Lydia.“
Sie stützte sich auf ihrem Stock ab, während sie ihm die Hand gab. „Wie schön,
dich zu sehen.“
„Ja. Ich freue mich auch“, erwiderte Jameson ernst.
Nina musterte ihn aufmerksam und stellte fest, dass er es offenbar wirklich so
meinte. Dann trat sie auf Lydia zu. „Ich bin Nina.“
Lydias Hand fühlte sich weich und zittrig an. „Ich danke Ihnen sehr, dass Sie
mich angerufen haben. Dass Sie mir Nate und Jameson gebracht haben.“
Nina bemerkte, wie erschöpft Lydia wirkte. „Vielleicht sollten wir besser
hineingehen. Wir haben eine lange Fahrt hinter uns.“
„Natürlich.“ Lydia wandte sich an ihren Butler. „Devon, bitte helfen Sie mir
hinein.“
Jameson eilte zwischen den Säulen hindurch und öffnete der kleinen Gruppe die
Tür. Devon half Lydia in den Elektrorollstuhl, der in der Halle bereitstand.
Dankbar sank sie hinein.
„Devon, bitte servieren Sie den Tee. Im Frühstückszimmer.“
Nate beugte sich dicht an Lydias Ohr heran. „Grandma, ich finde Tee eklig“,
flüsterte er so laut, dass alle es mitbekamen.
Die alte Dame lächelte. „Und dazu eine Kanne Kakao, Devon.“
Der französische Balkon im Frühstückszimmer gab einen fantastischen Blick auf
die Bucht von San Francisco frei. Jameson griff nach Ninas Hand und zog sie ein
Stück zu sich heran. Sie schmiegte sich einen Augenblick an seine Schulter, und
er legte den Arm um sie.
Lydia war die intime Szene nicht entgangen. Sie beobachtete die beiden,
während sie Nate anlächelte und in die Ecke des Zimmers deutete. „Schau doch
mal, Nate. Ich dachte, du würdest dich freuen, wenn du hier ein bisschen spielen
kannst.“
Nate ließ sich nicht zwei Mal bitten. Er rannte zu der großen Holzkiste und öffnete
den Deckel. Die Kiste war bis zum Rand mit Spielzeug gefüllt. Einige Dinge waren
nagelneu, andere offensichtlich schon gebraucht.
Der Junge zog ein Feuerwehrauto heraus, das zu den älteren Sachen gehörte.
„Darf ich damit spielen?“
„Natürlich, dazu habe ich die Sachen ja hingestellt“, ermunterte Lydia ihn. „Nimm
das Auto mit auf die Terrasse, wenn du willst.“
„Warte mal, Nate“, schaltete Jameson sich ein. „Lass mich mal sehen.“
Nina sah, dass Jameson vollkommen durcheinander war, als er Nate das
Feuerwehrauto aus der Hand nahm. „Lydia, wem hat der Wagen gehört?“
Plötzlich wirkte Lydia unendlich traurig. „Sean.“
Warum tut es nur so verdammt weh, ging es Jameson durch den Kopf, während
er das Spielzeug anstarrte. Der Lack des Wagens war abgegriffen, und die
Verlängerung der ausfahrbaren Leiter fehlte. Einem der Feuerwehrleute, die vorn
im Wagen saßen, war der Arm abgebrochen, und die Scheinwerfer waren
schwarz angemalt worden.
Eigentlich dürfte es mir überhaupt nichts bedeuten, dachte Jameson weiter.
Schließlich hatte er seinen Bruder kaum gekannt. Er hatte ihn nur noch zwei Mal
gesehen, zuerst als Sean zehn Jahre alt gewesen war. Damals war er auf dem
Weg nach Kuwait über San Francisco gekommen. Ein paar Jahre später hatte
Sean seinen Bruder irgendwie ausfindig gemacht und ihn angerufen. Sean hatte
mitten in den wildesten Jahren der Pubertät gesteckt und Jameson in der Nacht
angerufen. Frech und unverschämt war er damals gewesen, wütend auf die
ganze Welt.
Jameson erinnerte sich nur zu gut an das schicksalhafte Wochenende mit Sean in Sacramento. Und jetzt ruhte Seans Asche in einer Urne in der hintersten Ecke des Schrankes. Jameson gab seinem Sohn das Feuerwehrauto zurück und stieß die Terrassentüren auf. Nate lächelte seinen Vater an, und Jamesons Herz zog sich einen Moment zusammen, als er Seans Gesichtszüge für den Bruchteil einer Sekunde im Gesicht seines Sohnes aufblitzen sah. In diesem Augenblick wünschte Jameson sich nichts sehnlicher, als vor seinen Gefühlen, den Erinnerungen und der Trauer einfach davonlaufen zu können. Aber das war unmöglich. Er musste einen Weg finden, die Vergangenheit zu akzeptieren. Das, was er getan hatte. Das, was er unterlassen hatte. Seine Entscheidungen, ob sie gut oder schlecht gewesen waren. Aber ich bin nicht allein, ging es ihm durch den Kopf. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Er war nicht mehr allein, weil Nina ihn auf seinem Weg begleitete. Jedenfalls so lange, bis sie in zwei Jahren wieder auseinander gingen. Aber selbst dann würde sie nicht von einem Tag auf den anderen aus seinem Leben verschwinden, weil er den Kontakt zu seinem Sohn aufrechterhalten wollte. Er starrte hinaus auf die Bucht von San Francisco. Zwei Jahre. Vierundzwanzig Monate, von denen zwei bereits verstrichen waren. Ein Leben ohne Nina konnte Jameson sich nicht mehr vorstellen, und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass sich in den verbleibenden zweiundzwanzig Monaten daran etwas ändern würde. Also blieb ihm nur eines. Er musste jeden Tag, den er mit Nina verbringen durfte, in vollen Zügen genießen, musste sich bei ihr anlehnen, ihre Weichheit und ihre Liebe nutzen, um seine eigene Schwäche auszugleichen. Im Laufe der Zeit würde er lernen, ohne sie zurechtzukommen. Jameson trat auf die Terrasse hinaus, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich in die Nähe seines Sohnes. Die Sonne ging langsam unter, während Jameson dem Jungen beim Spielen zusah. Er überließ sich der Vorstellung, dass Sean genauso gespielt hatte wie Nate. Nate öffnete ihm das Fenster zu einer Vergangenheit, die er gern gekannt hätte und die für immer verloren war. Als Jameson das Frühstückszimmer wieder betrat, bemerkte Nina überrascht, dass er zum ersten Mal seit langem ruhig und friedlich wirkte. Noch immer herrschte zwar eine gewisse Distanz zwischen ihm und seiner Großmutter, aber sein Zorn schien wie weggeblasen. Als Lydia dem Besuch vorschlug, doch bei ihr zu übernachten, anstatt in die Stadt zurückzufahren, überraschte er sie wieder, als er die Einladung dankbar annahm. Wenn Lydia sich wunderte, dass Jameson um getrennte Schlafzimmer bat, so ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Außerdem klang die Erklärung überzeugend: In einem fremden Haus sollte Nate besser bei seiner Mutter im Zimmer schlafen. Lydia war sofort einverstanden. Nina lag in einem breiten Bett und konnte kein Auge zutun, während Nate sich quer über die Matratze ausgebreitet hatte. Er schlief tief und fest. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Nach Mitternacht. In sieben Stunden wollte sie sich mit Jameson zum Frühstück treffen, damit sie rechtzeitig in die Stadt aufbrechen konnten. Wenn ich nicht bald einschlafe, dann bin ich morgen auf der Messe völlig gerädert, dachte sie, stand aber kurz entschlossen auf. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie Jeans und TShirt überstreifen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Wem sollte sie um diese Uhrzeit schon begegnen? Es lagen sowieso alle in ihren Betten. Bereits auf der Treppe entdeckte sie, dass in der Küche noch Licht brannte. Auch
im Esszimmer schimmerte ein blassgelbes Licht, und Nina nahm an, dass Devon die Beleuchtung für Lydia angelassen hatte, falls sie früh am Morgen mit dem Treppenlift in die Küche gelangen wollte. Ihr stockte der Atem, als sie Jameson in der Küche entdeckte. Das dämmrige Licht über dem Waschbecken ließ die Konturen seines Gesichts schärfer wirken. Er trug nur eine Jeans, seine breiten Schultern ließ er hängen, während er sich gegen den Kühlschrank lehnte und die Flasche Bier in seiner Hand betrachtete. Er sah Nina an, als sie die Küche betrat, und sie stellte fest, dass sein Blick wild und unruhig wirkte. Der Frieden, den er am Nachmittag noch empfunden hatte, war tiefer Verzweiflung gewichen. Sie zwang sich, auf ihn zuzugehen, blieb aber in einiger Entfernung stehen. „Ich konnte nicht schlafen“, begann sie. „Ich auch nicht.“ Er hob die volle Flasche und schaute Nina durch das getönte Glas hindurch an. „In jener Nacht hatte ich auch getrunken“, platzte er unvermittelt heraus. „Ein Bier. Im Bruchteil einer Sekunde war alles vorüber.“ Ein Schauder rann ihr über den Rücken, als ihr bewusst wurde, über welche Nacht er sprach. Über die Unfallnacht. Über die Ereignisse, die ihn ins Gefängnis geführt hatten. Bisher kannte Nina nur die Version, die die Klatschmäuler aus Hart Valley verbreitet hatten. Jameson war volltrunken gewesen hatte es geheißen, und er hatte zwei Menschen getötet. „Sean hatte sich vollkommen verändert“, fuhr Jameson fort, und Nina hörte gebannt zu. „Nicht nur, weil er viele Jahre älter geworden war. Er war… er war im Innersten vernichtet.“ Jameson stellte die Bierflasche auf die Arbeitsfläche, senkte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sean wirkte irgendwie total entrückt, als ich ihn in der Kneipe ausfindig machte. Keine Ahnung, ob er etwas eingenommen hatte, bevor er sich vier oder fünf Bier hinter die Binde gekippt hat. Mehr brauchte er jedenfalls nicht, um sich vollkommen auszuschalten.“ Am liebsten hätte Nina das grelle Neonlicht an der Decke angemacht oder irgendetwas anderes unternommen, damit die dunklen Schatten in den Ecken verschwanden. Aber sie zwang sich, ihm reglos zuzuhören. „Mir war klar, dass ich ihn nicht ans Steuer lassen durfte.“ Sein bitterer Ton sandte Nina einen Schauer über den Rücken. Jameson schloss die Augen und fuhr fort. „Der Crash kam so schnell, dass ich es zuerst gar nicht begriffen habe. Alles war vollkommen unwirklich. Es dauerte eine Ewigkeit und war doch in Sekundenschnelle vorüber.“ Langsam löste er seine verschränkten Arme. „Ich habe mir eingebildet, dass ich ihr Gesicht gesehen habe. Obwohl alle behauptet haben, dass mir die Scheinwerfer direkt in die Augen schienen und mich geblendet haben müssen. Und doch habe ich es gesehen.“ Er stockte. „Das kleine Mädchen.“ Jetzt hob er den Kopf und schaute Nina direkt in die Augen. „Ich habe die volle Verantwortung übernommen. Ich musste es tun. Der Anwalt hat vorgeschlagen, die Geschichte anders zu erzählen. Im Rahmen der Legalität. Aber ich konnte es nicht. Ich wollte es auch nicht. Weil Sean…“ Nina glaubte, dass sie begriffen hatte. Jameson hatte gewollt, dass Sean zu einem Mann aufblickte, der die Verantwortung für seine Handlungen übernahm. Ganz gleich, wie schrecklich sie ausfielen. „Hat es genützt?“ fragte sie sanft. „Ich meine, dass du dich vorbildlich verhalten hast. Hat er einen Drogenentzug gemacht?“ Es war, als hätte Jameson vollkommen vergessen, dass Nina ebenfalls in der Küche stand. Verständnislos starrte er sie an, bis er ihre Frage endlich begriffen hatte. Dann schüttelte er traurig den Kopf. „Nein. Die Drogen haben ihn
umgebracht.“ Wütend ballte er die Hände zu Fäusten. „Das Opfer war vergeblich.“ Das Opfer? Wieso Opfer? überlegte Nina. Er hat die Verantwortung für ein Verbrechen übernommen, das er begangen hat. Wie kann er das ein Opfer nennen? Weil er ein Vorbild für seinen Bruder hatte sein wollen, anstatt das Angebot des Anwalts anzunehmen? Das Opfer. Sie begriff nicht und wollte nachhaken. Doch sie hatte keine Zeit mehr, etwas zu sagen. Jameson hatte einen Schritt auf sie zu gemacht und schloss sie in seine Arme. Es fühlte sich wundervoll an, als er ihren Rücken durch das dünne Nachthemd hindurch streichelte und seine warme Haut sich an ihre schmiegte. Dann senkte er seine Lippen auf ihren Mund und küsste sie leidenschaftlich.
11. KAPITEL Nina, Lydia und Nate saßen am Küchentisch. Sie genossen den Sonnenschein, der durchs Fenster schien und der den Rasen hinter der Villa in kräftigem Grün aufleuchten ließ. Sie hatten freundlich miteinander geplaudert, hatten aber die Familiengeschichte, die unter der Oberfläche lauerte, peinlichst gemieden. Lydia hatte sich nach dem Cafe erkundigt, und sie hatten sich über die Vor und Nachteile der Selbstständigkeit ausgetauscht. Außerdem interessierte Lydia sich sehr für Hart Valley, die kleine Stadt nahe der Berge, in der ihre Tochter Julia die letzten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Insgeheim wünschte Nina sich, sie hätte Lydia mehr über Jamesons Mutter erzählen können. Es war schon beinahe acht Uhr, aber Jameson war noch immer nicht aufgetaucht. Nina hatte sich gefragt, ob er inzwischen vielleicht die Flucht angetreten hatte, aber als sie am Morgen aus dem Haus geschaut hatte, parkte sein Wagen noch an der Treppe. Devon stand am Waschbecken. Er spülte die Pfanne ab, in der er die Pfannkuchen für Nate zubereitet hatte, und stellte die benutzten Teller in die Geschirrspülmaschine, Erwartungsvoll drehte er sich zu Lydia. Lydia lächelte ihren Urenkel an. „Nate, Devon möchte gern die Rosen im Garten schneiden und braucht deine Hilfe. Wärst du so nett?“ Devon schien nicht erstaunt, dass Lydia ihn als Babysitter einsetzte. Mit regungsloser Miene schob er den Jungen um den Tisch herum und versprach ihm, dass er seine Handschuhe anziehen und die große Schere ausprobieren dürfte. Hand in Hand verließen die beiden die Küche. Die alte Dame lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, nippte an ihrem Kaffee und stellte die Tasse langsam ab. „Ich kann den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht vergessen“, begann sie mit gepresster Stimme. „Die Traurigkeit. Die Angst. Die Hoffnungslosigkeit. Ich habe Schlimmes verdient, weil ich den kleinen Jameson damals zurückließ.“ „Aber Sie müssen doch gewusst haben, was für einem Kerl Sie den Jungen ausliefern!“ rief Nina wütend. „Ich habe es vermutet.“ Sie schaute Nina direkt an. „Julia hätte mich angerufen, wenn sie gewusst hätte, wann Garret außer Haus ist. Wir hätten geredet. All die Jahre hat sie mit ansehen müssen, wie ihr Vater mich behandelte. Vielleicht hat sie auch geglaubt, dass Männer einfach so sind.“ „Dann hat Ihr Mann Sie also auch geschlagen?“ „Das musste er gar nicht“, erwiderte Lydia verbittert. „Er kannte genügend andere Mittel und Wege, mich zu terrorisieren oder zu demütigen.“ Traurig schüttelte sie den Kopf. „Aber das rechtfertigt noch lange nicht meine Feigheit. Nichts, was Garret mir angetan hat, konnte schlimmer sein als das, was Jameson hat durchmachen müssen.“ Nina empfand Mitleid mit der alten Dame, rückte mit dem Stuhl näher an sie heran und legte ihre Hand auf Lydias knorrige Finger. „Sie müssen nach vorne blicken. Und einen neuen Anfang mit Jameson wagen. Es gibt noch eine Chance.“ Lydia seufzte tief auf. Das Gespräch schien sie beruhigt zu haben. Sie schwieg einen Moment lang und lächelte dann. „Und du, meine Liebe? Was ist das für eine Geschichte, die du da mit meinem Enkel angefangen hast? Ich habe nicht den Eindruck, dass du ihn aus Leidenschaft geheiratet hast. Jedenfalls nicht erklärtermaßen.“ Die Vermutung, die in Lydias Bemerkung steckte, passte Nina überhaupt nicht. „Wir respektieren einander.“ Die alte Dame schnaubte unwillig und gab wenig damenhaft zu verstehen, was
sie von Ninas schwachem Abwehrversuch hielt. „Nates Existenz beweist doch,
dass es zwischen euch um mehr ging als nur um Respekt. Bevor Jameson ins
Gefängnis kam. Aber du hast ihn nie in Folsom besucht. Ich hätte es erfahren.
Eure Beziehung kann also erst nach seiner Entlassung begonnen haben.“
„Wir haben keine Beziehung“, protestierte Nina.
Lydia lachte laut auf. „Ihr habt vielleicht keine haben wollen. Ich kann mir genau
vorstellen, wie es zu eurer Eheschließung kam. Mein Enkel hat herausgefunden,
dass er einen Sohn hat, und er hat darauf bestanden, dich zu heiraten. Zuerst
hast du dich geweigert, aber schließlich hat Jameson dich überzeugt.“
Nina ärgerte sich über den wachen Verstand der alten Dame. „Mir scheint, Sie
haben mich durchschaut.“
„Ja, das habe ich, meine Liebe“, meinte Lydia und strich über Ninas Hand. „Und
du? Hast du dich auch durchschaut?“
Lydias provozierende Frage hing noch in der Luft, als Nina Schritte hörte und sich
umwandte. Sie hatte Devon und Nate erwartet, stattdessen stand Jameson in der
Küchentür. Das Haar war noch nass von der Dusche, und er hatte sich das T
Shirt in die enge schwarze Jeans gestopft, die seine schmalen Hüften betonte.
Sie musste sich beherrschen, denn am liebsten wäre sie aufgesprungen und
hätte ihn umarmt.
Jameson sah seine Großmutter an und kam herein. „Guten Morgen, Lydia.“
„Guten Morgen, Jameson.“
Wie gerne hätte er Nina auf den Arm genommen und in sein breites Bett
getragen, in dem er sich die ganze Nacht über allein hatte herumwälzen müssen.
Stattdessen strich er ihr nur leicht über die Schulter. „Wir müssen los.“
Nina erhob sich hastig. „Ich hole Nate.“
„Nein, warte“, schaltete Lydia sich ein und stand langsam auf. „Ich habe eine
Idee. Warum lasst ihr Nate nicht den Tag über bei mir? Ich bin mir sicher, dass
er sich auf der Messe zu Tode langweilen wird.“
„Aber wir haben in der Stadt ein Hotel reserviert“, wandte Nina ein und schaute
Jameson fragend an. „Wir wollten die Nacht dort verbringen und morgen
Vormittag nach Hause fahren.“
Jamesons Großmutter strahlte über das ganze Gesicht. „Dann lasst den Jungen
doch bei mir übernachten. Und morgen kommt ihr auf dem Weg nach Hause bei
mir vorbei und holt ihn ab. Oh, ich würde mich riesig freuen, wenn ich mit
meinem Urenkel einen Tag allein verbringen dürfte! Und Devon wird mich nach
Kräften unterstützen.“
Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht allein mit Nina! ging es Jameson durch
den Sinn. Er liebte seinen Sohn, und er genoss jede Minute, die er mit ihm
verbrachte. Aber die seltenen Momente, in denen er Nina für sich haben konnte,
waren enorm kostbar. Und wenn er den ganzen Tag allein mit ihr verbringen
konnte, nur mit ihr allein – sie könnten in aller Ruhe über die Messe schlendern,
irgendwo zum Essen gehen, anschließend vielleicht noch ins Kino. Und sie
könnten endlich eine Nacht miteinander verbringen…
Reiß dich zusammen, mahnte er sich innerlich. Das ist verbotenes Territorium.
„Wir müssen Nate fragen“, erklärte er laut.
In diesem Moment kam Nate mit Devon im Schlepptau in die Küche zurück.
„Mommy, sie haben ein kleines Häuschen, das ganz aus Fenstern gebaut ist. Es
wachsen Erdbeeren darin. Devon hat mich welche probieren lassen.“ Er rieb sich
genüsslich über den Bauch.
Nate platzte beinahe vor Begeisterung, als seine Eltern ihm erklärten, dass er
über Nacht bei seiner Urgroßmutter bleiben durfte. Er tobte in der Küche herum
und stieß kleine Freudenschreie aus. Mit Devons Hilfe brachte Lydia ihren Urenkel
hinaus auf die Terrasse, während Nina und Jameson ihre Sachen packten. Schließlich versammelten sie sich auf der Veranda, um sich zu verabschieden. Nate drückte seinen Eltern schmatzende Küsse auf die Wangen und umarmte sie stürmisch, bevor er sich mit Devon wieder auf die Terrasse verzog. Nina umarmte Lydia vorsichtig, bevor sie zu dem Wagen eilte und dort auf Jameson wartete. Lydia umklammerte ihren Gehstock fest. „Es tut mir so Leid“, flüsterte sie. „Mir tut es auch Leid“, erwiderte Jameson leise. „Dass ich nicht… dass ich Sean nicht helfen konnte.“ „Du trägst keine Verantwortung“, erwiderte Lydia ernst. „Hör auf, dir Vorwürfe zu machen.“ Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete er sich von seiner Großmutter. Es war beinahe neun Uhr, viel später, als sie eigentlich hatten aufbrechen wollen. Aber ohne Nate konnten sie die Messe viel schneller hinter sich bringen und die verlorene Zeit wieder einholen. Während er seinen Wagen durch die exklusive Wohngegend auf die Schnellstraße lenkte, dachte Jameson über Lydias Worte nach. Die Frage brannte ihm förmlich auf der Zunge, aber er wartete, bis er sich in den dichten Verkehr eingefädelt hatte. „Wir haben zwei Zimmer reserviert. Sollen wir eins abbestellen?“ Nina räusperte sich, musterte ihn aufmerksam und nickte langsam. „Ja“, erwiderte sie leise. Heute Nacht, dachte Jameson insgeheim, diese Nacht werden wir im selben Bett verbringen. Und er bezweifelte, dass er einen klaren Gedanken würde fassen können, bis es endlich so weit war. Jameson hatte den Arm um Ninas Schultern gelegt und führte sie durch die Menge auf dem Messegelände. Hastig schaute er in den Ausstellerkatalog, bog dann ab und blieb vor dem Stand eines ProfiKüchenausstatters stehen, vor dem sich eine dichte Menschentraube gebildet hatte. Er drängte Nina nach vorn und zeigte ihr die modernen Edelstahltöpfe. In der Mitte der Auslagen prangte ein fünfzehn Liter großer Suppentopf, um den kleinere Behälter gruppiert waren. „Das ist genau die Größe, die du suchst,“ bemerkte Jameson begeistert. „Du könntest Suppe für die ganze Woche kochen und einfrieren, anstatt jeden Tag am Herd zu stehen!“ Nina riskierte einen Blick auf das Preisschild und zuckte zusammen. „So viel Geld will ich nicht ausgeben.“ „Brauchst du nicht. Ich zahle.“ Er griff nach seiner Brieftasche und reichte seine Kreditkarte an die Verkäuferin weiter. „Können Sie uns die Ware nach Hause liefern?“ Vor ein paar Minuten noch hatte Nina glücklich und zufrieden ausgesehen. Jetzt wirkte sie plötzlich besorgt. „Du hast das Haus gekauft, du zahlst unsere Einkäufe, und du schenkst Nate jedes Spielzeug, das er haben möchte. Mir scheint, dass du deinen gesamten Lohn für uns ausgibst.“ Jameson notierte der Verkäuferin die Anschrift des Cafes, legte den Arm wieder um Ninas Schultern und führte sie durch die Menge. „Höchste Zeit für das Mittagessen“, meinte er ablenkend. „Hast du Hunger?“ Sie schob seinen Arm fort. „Jameson, bitte antworte mir. Woher stammt das Geld? Ich möchte nicht, dass du dich unseretwegen in Schulden stürzt.“ Er lachte, aber es klang nicht besonders fröhlich. „Mach dir deswegen keine Sorgen.“ Nina griff nach seiner Hand und drückte sie zart. „Dann erzähl es mir. Was hat es mit dieser nie versiegenden Geldquelle auf sich?“
Jameson zögerte und wich ihrem Blick aus. „Lass uns ein Stück gehen“, meinte
er dann.
Zusammen verließen sie das Messegelände, überquerten die Market Street und
gingen geradeaus, bis sie beim Union Square angekommen waren, wo sie die
glitzernde Weihnachtsdekoration in den Schaufenstern betrachteten.
„Das Geld gehört meiner Großmutter“, erklärte Jameson schließlich. „Es liegt auf
einem Treuhandkonto.“
„Aber ich begreife nicht, warum du daraus ein Geheimnis gemacht hast.“
„Weil ich das Geld eigentlich nicht haben wollte“, stieß er ärgerlich hervor. „Nie.“
Er schwieg, bis sein Ärger verraucht war. „Eigentlich hat es meiner Mutter
gehört“, fuhr er dann mit ruhiger Stimme fort. „Es sollte ihr in ihrem dreißigsten
Lebensjahr ausgezahlt werden. Sie war aber sechsundzwanzig, als sie starb.“
Ein Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene raste an ihnen vorbei. Jameson
wartete, bis der Wagen vorüber war. „Nachdem meine Großeltern die
Vormundschaft für Sean übernommen hatten, haben sie ihm das Konto
überschrieben. Und als er starb…“
Jameson hastete ein paar Schritte weiter, setzte sich auf die Bank und stützte die
Ellbogen auf die Knie. „Mit Seans Geld konnte ich die Entlassung aus dem
Gefängnis finanzieren. Und das Haus kaufen. Und eines Tages werde ich Nates
Studium damit bezahlen. Streng genommen dürfte ich es gar nicht besitzen. Ich
sollte es zurückgeben…“
„Warum? Deine Großmutter findet es offensichtlich richtig, dass du es behältst.“
„Aber es gehört mir nicht. Ich habe nicht dafür gearbeitet. Ich habe es nicht
verdient. Lydia nutzt die Situation aus, um sich von ihrer Schuld reinzuwaschen.
Obwohl sie weiß, dass selbst das größte Vermögen der Welt dazu nicht in der
Lage wäre.“
„Welche Schuld? Weil sie dich bei deinem Vater zurückgelassen hat?“
„Das ist vorbei.“ Jameson schaute Nina an. „Wir haben damit abgeschlossen.
Beide. Weil wir die Chance auf einen neuen Anfang haben. Aber es gibt Dinge,
die kann man nicht rückgängig machen.“
Nina hielt den Atem an. „Du meinst die Frau, die bei dem Unfall gestorben ist.
Zusammen mit ihrer Tochter.“
Jameson nickte.
„Aber warum sollte deine Großmutter sich am Tod dieser Familie schuldig fühlen?
Sie hatte damit doch gar nichts zu tun.“
Er verharrte regungslos, suchte ihren Blick und hielt ihn gefangen. Irgendetwas
flackerte in seinen Augen auf. Plötzlich jedoch wandte er sich ab. „Keine
Ahnung.“
Es war nicht schwer zu durchschauen, dass Jameson ihr eine Lüge aufgetischt
hatte. Aber warum? fragte Nina sich, als er ihre Hände ergriff. „Lass uns gehen.
Ich will ins Hotel.“
Als sie seine Hand nahm, schienen ihre Nerven vor Aufregung wild
umherzutanzen. Das Herz pochte ihr bis zum Hals, und von diesem Augenblick an
war es ihr unmöglich, noch weiter über Jamesons Vergangenheit und seine
Geheimnisse nachzudenken. Sie wollte nur noch das Geheimnis seiner Lippen
erkunden und die Berührung seiner zärtlichen Fingerspitzen genießen.
Die Vergangenheit würde ihnen nicht weglaufen, aber jetzt wollte sie nichts
anderes als Jamesons Nähe spüren.
12. KAPITEL Nina hielt sich mit dem Gepäck im Hintergrund der Hotellobby, während Jameson eincheckte. Ungeduldig wartete er, bis eine Gruppe von Geschäftsleuten in dunklen Anzügen abgefertigt worden war, und kam dann zu ihr. Am liebsten hätte sie sich ihm schon in der Lobby hingegeben. Jameson beugte sich zu ihr hinunter und drückte ihr einen leichten Kuss auf die Stirn. Es war nur eine kleine Geste, aber in diesem Augenblick erregte diese Geste sie mehr als die intimsten Berührungen. Nina war froh, dass er ihr den Arm anbot, als sie zusammen zum Fahrstuhl gingen, denn ihre Knie fühlten sich reichlich wackelig an. Schließlich standen sie vor ihrer Zimmertür, und Jameson öffnete. Sie betraten den Raum, warfen ihr Gepäck beiseite, fielen einander in die Arme und küssten sich, während sie auf das Bett zustolperten. Noch völlig angezogen ließen sie sich auf die Matratze fallen, und Jameson kam auf Nina zu liegen. Irgendwann beendete er den langen Kuss und lächelte sie an. „Fast so wie früher. Wir haben unsere Klamotten noch an.“ Sie strich ihm über das Haar. „Dabei sind wir ein paar Jahre älter geworden. Reifer. Vielleicht können wir es dieses Mal langsamer angehen.“ „Ich will dich nackt sehen“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Jeden Zentimeter deines wundervollen Körpers.“ Mit Schwung rollte er sich von der Matratze, kickte sich die Schuhe von den Füßen und zog das Hemd aus. „Langsam“, flüsterte sie ihm zu, als er sich wieder über sie beugte. Sie richtete sich auf, zog sich ebenfalls die Schuhe aus und legte die Handflächen sanft auf seinen Körper. Jameson stöhnte leise und griff nach ihren Schultern. „Das fühlt sich verdammt gut an.“ Nina streichelte seine erhitzte Haut. Sie genoss es, seine straffe Bauchmuskulatur zu spüren, die kräftigen Muskeln des Rückens und seine starken Schultern. Wenn es überhaupt einen perfekten Körper gab, Jameson besaß ihn. Ihr Blick fiel auf eine Narbe an seiner linken Seite. Er zitterte leicht, als sie mit der Fingerspitze darüber fuhr. „Wo hast du dir das geholt?“ „In Folsom“, keuchte er, als sie die Stelle erneut berührte. „Messerstecherei. Im Gelände.“ Sie wünschte sich, die Narbe mitsamt den schrecklichen Erinnerungen an die Geschehnisse im Gefängnis einfach ungeschehen machen zu können. Ändern kann ich das nicht mehr, dachte sie, aber vielleicht hilft meine Berührung. Ganz leicht fuhr sie über die dunklen Haare, die sich am Saum seiner schwarzen Jeans kräuselten. Mit einem hastigen Griff stoppte Jameson sie, als sie sich an seinem Hosenknopf zu schaffen machte. „Langsam“, bat er mit rauer Stimme. Sanft schob er ihre Hände beiseite, griff nach ihrem Sweatshirt, zog es ihr über den Kopf und warf es beiseite. Hingerissen und voller Verlangen wanderte sein Blick über ihre Brüste, und es erregte Nina zutiefst, dass ihre üppigen Formen seine Lust offensichtlich anfachten. Federleicht strich er mit den Fingern über die Spitzenkante ihres BHs, und Nina schmolz dahin. „Männer erzählen ihren Frauen immer, was für schöne Augen sie haben“, meinte Jameson mit einer Spur von Ironie. „Aber du hast wirklich schöne Augen.“ Er schob die Finger unter den Träger ihres BHs und schob ihn ihr von der Schulter. „Trotzdem, ich muss zugeben, dass deine Brüste mich mehr faszinieren.“ Jameson öffnete den Verschluss des BHs an Ninas Rücken und ließ ihn zur Seite
fallen. Mit den Handflächen strich er so leicht über ihre Brüste, dass sie glaubte, jeden Moment den Verstand zu verlieren. Stumm flehte sie ihn an, die Hände an die weichen Kurven ihres Körpers zu pressen, sie zu bedecken, sie zu küssen. „Langsam“, flüsterte er dennoch, als er ihren unbändigen Drang spürte. Er rutschte an den Rand der Matratze, drehte sie so zu sich, dass sie zwischen seinen Beinen saß, und barg das Gesicht zwischen ihren Brüsten. Mit den Händen strich er zärtlich an den Seiten ihrer Brüste entlang, fuhr mit der Zunge lustvoll über die unteren Rundungen und dann über ihre Knospen. Eine unbändige Welle der Lust schoss durch ihren Körper, und ihr Verlangen nach ihm wurde beinahe unerträglich. Nina stöhnte auf, als die Erregung jeden Winkel ihres Körpers durchdrang. Jameson öffnete den Knopf ihrer Jeans, zog den Reißverschluss herunter und streifte ihr die Hose über die Hüften. Er wartete, bis sie die Hose ganz ausgezogen hatte, und konzentrierte sich dann wieder auf ihre Brüste. Enttäuscht stellte Nina fest, dass er ihr den Slip nicht ausgezogen hatte, aber dann verwöhnte er die Knospe ihrer rechten Brust, bis sie vor Lust aufschrie. Jameson zog sich einen Moment lang zurück und senkte die Lippen dann über die andere Brust. Sie spürte, wie die Wärme zwischen ihren Beinen einer glühenden Hitze wich. Sie konnte sich nicht länger zurückhalten, schubste ihn sanft auf die Matratze und hockte sich mit gespreizten Beinen über ihn. Dann beugte sie sich vor, streifte mit den Brüsten genüsslich über seinen Oberkörper und küsste ihn. Nina senkte die Hüften so weit herunter, dass sie mit den Oberschenkeln gerade eben die Wölbung seiner Jeans berührte. Jameson stöhnte auf, und sie spürte, wie sein ganzer Körper vibrierte. Das Verlangen, sich den Slip auszuziehen und ihn in sich aufzunehmen, wurde unbändig, aber Nina rutschte zur Seite, weil sie den Genuss durch Verzögerung noch steigern wollte. „Langsam“, murmelte sie dicht vor seinem Mund. Jetzt fuhr er mit den Händen an ihren Hüften entlang. Am Saum ihres Slips hielt er inne, hakte dann mit dem Daumen dahinter und zog den Slip aufreizend herunter. Nina drehte sich auf die Seite, um ihm beim Ausziehen zu helfen, und schmiegte sich dann an ihn. Liegend knöpfte sie seine schwarze Jeans langsam auf und zog den Reißverschluss herunter. Sanft streichelte sie ihm über den Slip. Am liebsten hätte sie seine pulsierende Erregung sofort liebkost und seine weiche Haut umfasst. Aber ebenso genoss sie das Gefühl seiner starken Beine, seiner dunklen Behaarung, seiner schmalen und starken Hüften. Plötzlich jedoch zuckte sie erschrocken zusammen. „Was ist los?“ „Die Verhütung. Das habe ich vollkommen vergessen.“ „Ich nicht.“ Er angelte nach der Jeans auf dem Fußboden, holte ein kleines Päckchen aus der Tasche und legte es auf den Nachttisch. Anschließend schmiegte er sich wieder an sie und verteilte kleine Küsse auf ihrem Mund und über ihre Wangen. Er spielte mit der Zunge an ihrem Ohrläppchen und knabberte vorsichtig daran herum. Dann drehte er sie sanft auf den Rücken, küsste ihren Hals, ihr Schlüsselbein und glitt hinunter bis zu den zarten Schwellungen ihres Brustansatzes. Nina begann, seinen Körper zu erkunden und fuhr mit den Fingerspitzen über seinen Rücken. Sein Blick glühte vor Leidenschaft, als er sich aufrichtete und sie anschaute. Dann zog er mit einem Finger die Kurven ihrer Hüfte entlang und verlor sich zwischen ihren Oberschenkeln. Immer und immer wieder rieb er sanft und zart über den Haaransatz, bis ihr Herz vor Verlangen heftig klopfte. Dann
glitt er tiefer und zog kleine Kreise in ihrem weichen Haar, langsam, genüsslich und geduldig. Unwillkürlich öffnete sie ihre Schenkel, und ganz langsam tauchte er in sie ein, so langsam, dass sie vor Lust leise aufschrie. Er drückte ihr einen Kuss zwischen die Brüste und langte nach der Packung auf dem Nachttisch. Nachdem er sich den Schutz übergestreift hatte, rutschte er zwischen ihre Hüften, stützte sich mit den Ellbogen ab und schaute sie fragend an. „Willst du?“ „Ja“, wisperte sie. Unwillkürlich schloss sie die Augen. Die Empfindungen, die durch sie hindurchströmten, waren kaum zu beschreiben. „Okay?“ fragte er zärtlich. Sie öffnete die Augen und lächelte. „Mehr als das.“ Sein Gesicht wirkte angespannt. Sein Atem ging stoßweise, und seine Anspannung übertrug sich auf sie. Die Lust und das Verlangen drängten sie, aber gleichzeitig wollte Nina, dass es so lange wie möglich anhielt. Sie wollte seine langsamen Stöße spüren, wollte, dass es ewig dauerte, sie wollte, dass er schneller wurde und dass sie beide in der Lust versanken. Kurz darauf überließen sie die Führung und den Rhythmus ihren Körpern. Nina konnte nicht mehr denken, spürte nur noch Lust und Erregung, spürte, wie die Gefühle sich in ihrem Innern ausbreiteten. Die Leidenschaft hatte ganz von ihrem Körper Besitz ergriffen und ihren Verstand ausgeschaltet. Ihr Herz zersprang fast vor Glück, weil die Verbindung zu dem Mann, in dessen Armen sie lag, so stark war wie noch nie zuvor. Nina schrie auf, als der Höhepunkt durch sie hindurchflutete und sie wie in einen Strudel mit sich riss. Jameson folgte ihr mit einem ekstatischen Stöhnen. Sie presste sich eng an ihn und schnappte nach Luft, als eine zweite Welle der Lust durch sie hindurchströmte. Wie noch nie in ihrem Leben genoss sie die Flut der Gefühle. Jamesons Wangen ruhten an ihrem Hals. Er bewegte sich leicht, um sein Gewicht von ihr zu nehmen, aber sie hielt ihn umso fester. „Bleib hier. Du fühlst dich so gut an.“ „Ich muss mich kurz waschen“, murmelte er leise, löste sich von ihr und verschwand für ein paar Minuten im Bad. Nachdem er zurückgekommen war, schmiegte er sich eng an Nina und zog die Bettdecke über sie beide. Nina rollte sich auf die Seite, und er wärmte ihr mit seinem Körper den Rücken. Im Nachklang kehrte Ninas Vernunft langsam wieder zurück. Sie hatte sich nur für zwei Jahre auf die Ehe mit Jameson eingelassen, weil sie es sonst nicht hätte vor sich selbst rechtfertigen können, einen Mann zu heiraten, der ihr praktisch fremd war. Doch jetzt war er kein fremder Mann mehr. Er war ihr wichtig geworden, er gehörte zu ihrem Leben. Und zu Nates Leben. Sie hatte Jameson gestattet, intimste Augenblicke mit ihr zu teilen, die Schranken herunterzureißen, hinter denen sie sich und ihr Herz verbarrikadiert hatte. Plötzlich erinnerte sie sich an den Moment des Glücks und der Freude, den sie kurz vor dem Höhepunkt empfunden hatte. Das Glück war nicht verklungen. Es hatte sich in ein Gefühl verwandelt, das sie nicht länger leugnen konnte: Liebe. Erschrocken schloss sie die Augen, weil sie fürchtete, Jameson könnte in ihrem Gesicht lesen, was in ihrem Herzen plötzlich eindeutig klar geworden war. Sie wartete ab und lauschte seinen regelmäßigen Atemzügen. Und sie wartete auf seine Fragen. Wenn er sie direkt nach ihren Gefühlen gefragt hätte, wäre sie nicht in der Lage gewesen, ihm eine Lüge aufzutischen. Eine höllische Angst packte sie jedoch bei dem Gedanken, die Wahrheit einzugestehen. Sie warf einen
Blick auf Jameson. Er war eingeschlafen. Tränen machten ihr plötzlich den Hals eng. Bevor sie wusste, was sie tat, war sie aus dem Bett gesprungen, eilte auf Zehenspitzen ins Bad und schloss die Tür leise hinter sich. Der Schmerz in ihrem Innern schien zu explodieren, und sie krümmte sich über dem Waschbecken zusammen. Die Erinnerungen hatten sie wieder eingeholt. Die Erinnerungen an jene Nacht vor fünf Jahren, als sie in Jamesons Armen gelegen hatte. An den Funken des Glücks und der Freude, der damals in ihr aufgeglommen war. Und in diesem Moment begriff sie, dass sie ihn damals schon geliebt hatte. Wenn er damals bei ihr geblieben wäre, wenn er nicht an jenem Wochenende im Wagen seines Bruders gesessen hätte, wäre die Liebe aufgeblüht. Stumm und verzweifelt schluchzte sie in sich hinein. Wieder und wieder fragte sie sich, warum er damals fortgegangen war. Warum nur? So vieles hatte er aufgegeben. Nicht nur sie, sondern einen Teil seines Lebens, den er nie wieder würde einholen können. Nina war klar, dass es nicht aufrichtig war, wenn sie Jameson ihre Liebe gestand, ohne mit der Vergangenheit vollständig abgeschlossen zu haben. Sie würde nicht nur ihn, sondern auch sich selbst betrügen. Nur wenn sie seine Vergangenheit akzeptieren konnte, war sie in der Lage, ihn zu lieben, ohne ihn mit ihren Erwartungen zu erdrücken. Nina wusch sich das Gesicht, bis alle Tränenspuren verschwunden waren, und ging zurück ins Zimmer. Jameson schlief noch immer. Sie suchte ihre Sachen zusammen, zog sich leise an, holte ein Buch aus ihrem Rucksack, setzte sich ans Fenster und las. Weiterhin hielten die widersprüchlichsten Gefühle sie im Griff. Ihre Liebe zu Jameson wuchs von Minute zu Minute, aber auch die Angst, dass er sie wieder im Stich lassen würde. Eine Stunde später reichte die Nachmittagssonne kaum noch aus, um die Seiten des Buchs zu erhellen. Sie gab es auf, so zu tun, als würde das Buch sie interessieren. Es war viel schöner, den schlafenden Jameson zu betrachten. Jameson wachte auf und bemerkte sofort, dass Nina nicht neben ihm lag. Erschrocken richtete er sich auf, tastete mit der Hand nach ihr und sah sich dann im Zimmer um. Das Bett war leer, und es war so dämmrig geworden, dass er seine Kleidung kaum wiederfand. Entschlossen stand er auf und stolperte hilflos zwischen den Möbeln umher, bis er endlich den Lichtschalter gefunden hatte. Nina saß zurückgezogen in einem Sessel beim Fenster und schaute ihn erwartungsvoll an. „Ich muss unter die Dusche“, erklärte er abrupt. Sein Tonfall ließ sie frösteln. Die plötzliche Nähe hat ihn offenbar erschreckt, redete sie sich ein, das ist vermutlich alles. Schließlich hatte sie auch gerade eine Krise hinter sich gebracht, hatte die Vergangenheit verabschieden müssen und ihre Gefühle für Jameson genau befragt. Es gab aber noch so vieles zwischen ihnen, was unausgesprochen geblieben war. Sie brauchten beide Zeit, um die Dinge zu verarbeiten. Er hatte sich ein Handtuch um die Hüften geschlungen, als er aus dem Bad kam. „Jameson“, begann sie. Sofort wirkte er merkwürdig angespannt. Er griff nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein und drehte ihr seinen Rücken zu. „Jameson“, wiederholte sie eindringlich. „Ich bin müde“, erwiderte er mit dem Blick zum Fernseher. „Kann das nicht warten?“ Seine schroffe Art verletzte sie. „Wir müssen reden“, fuhr sie trotzdem fort.
„Über heute Nachmittag.“
„Wir haben miteinander geschlafen.“ Er schaltete die Fernbedienung aus. „Wie
vor fünf Jahren.“
„Dieses Mal war es anders. Und darüber müssen wir sprechen.“
Endlich drehte er sich um und sah sie an. Sein Blick war kalt und ausdruckslos.
„Ja, dieses Mal war es anders. Weil es keine Konsequenzen haben wird.“
An seinen erhitzten Wangen erkannte Nina, dass er wusste, wie sehr er sie
verletzt hatte. Trotzdem schwieg er, warf die Fernbedienung achtlos von sich,
wickelte sich das Handtuch von den Hüften und legte sich mit dem Gesicht zur
Wand ins Bett.
Der Schmerz wird mich nicht umbringen, dachte Nina, obwohl er ihr fast das
Herz zerriss. Dieser Kerl dort im Bett war nicht Jameson, sondern ein Fremder.
Seine Worte hatten hart, distanziert und eiskalt geklungen. So grausam hatte sie
ihn noch nie erlebt.
Entsetzt rang Nina nach Luft, raffte ihre Sachen zusammen und hastete ins Bad.
Während sie sich die Tränen von den Wangen wusch und sich anschließend die
Zähne putzte, fasste sie den Entschluss, sich einen Weg durch das Labyrinth zu
bahnen, in dem Jameson sich versteckte. Nicht heute und nicht morgen, aber
eines Tages würde die Liebe den Sieg davontragen.
Eines Tages.
13. KAPITEL Am nächsten Morgen verhielt Jameson sich Nina gegenüber ausgesprochen freundlich und zuvorkommend. Er trug ihr Gepäck in die Lobby und fuhr den Wagen vor die Tür, damit sie nicht den verschlungenen Weg zum Parkplatz gehen musste. Nina sah ihm an, wie die harten Worte, die er ihr am Abend zuvor entgegengeschleudert hatte, ihm zu schaffen machten. Der verzweifelte Ausdruck in seinen Augen sprach Bände. Sie wusste, dass es ihm eine Riesenlast von den Schultern nehmen würde, wenn sie ihm verzieh. Sie wusste aber auch, dass im Grunde genommen nicht sie ihm verzeihen musste, sondern er sich selbst. An einem Imbiss ein paar Meilen außerhalb der Stadt legten sie eine Kaffeepause ein. Nina rührte die Pfannkuchen kaum an, und Jameson stocherte lustlos in seinem Omelett herum. Schließlich ließen sie die Teller stehen, setzten sich wieder in den Wagen und fuhren zu seiner Großmutter. Die Stunde, die sie in dem prächtigen Anwesen der Heaths noch verbrachten, schien endlos. Aber Nina war klar, dass Lydia der Schlüssel zu Jamesons Vergangenheit war. Wenn es ihm gelang, den Graben zwischen sich und seiner Großmutter zuzuschütten, dann würden auch seine eigenen Verwundungen heilen. Für Nina war es die einzige Chance, jemals eine richtige Ehe mit ihm zu führen. Auf dem Heimweg bemerkten sie dicke schwarze Wolken am Himmel. Sie waren kaum in Berkeley angekommen, als der Sturm losbrach und den Regen wild über das Land peitschte. Manche Schauer waren so heftig, dass die Scheibenwischer nicht gegen die Wassermassen ankamen. Jameson musste das Tempo verlangsamen, um durch die dichte Regenwand etwas sehen zu können. Eigentlich hätten sie bis Marbleville nur gute zwei Stunden gebraucht. Unter diesen Witterungsbedingungen waren sie jedoch vier Stunden unterwegs. Als sie Marbleville schließlich durchquert hatten und auf der Schnellstraße in Richtung Hart Valley fuhren, klingelte Ninas Handy. Sie suchte in ihrer Handtasche, fand das Gerät und meldete sich. „Nina?“ Die Stimme ihrer Mutter verlor sich. „Alles in Ordnung?“ „Mom, die Verbindung reißt ab“, rief Nina und wartete auf eine Antwort. Nichts. „Wir sind fast zu Hause.“ „… bald zu Hause?“ Nach ein paar Sekunden war Paulines Stimme wieder klar. „Der Deer Creek steht vollkommen unter Wasser. Die Leute treffen sich bei Mark und Beth Henley, um einen Deich aus Sandsäcken zu bauen. Hinter dem lmbiss.“ „Wir sind in zwanzig Minuten da.“ Sie legte auf und berichtete Jameson vom Anruf ihrer Mutter. Jameson war höchst besorgt. Er wusste genau, was es bedeutete, wenn kleine Bäche plötzlich über das Ufer traten. Vor fünf Jahren hatte es einen ähnlichen Vorfall gegeben, als sich ein Sturmtief über Hart Valley festgesetzt hatte. Der Wasserspiegel des Deer Creek war gefährlich hoch angestiegen. Hart Valley hatte sich die ganze Nacht über im Alarmzustand befunden. Das Unglück war dann allerdings im letzten Augenblick an ihnen vorübergegangen, weil der Sturm sich in die Sierras verzogen hatte. Er beugte sich näher zur Scheibe vor und entdeckte das Schild, das die Abfahrt nach Hart Valley anzeigte. Der Sturm schien noch stärker zu werden, als er abbog. „Wir müssen Nate bei deiner Familie abliefern.“ „Natürlich. Lass uns zuerst dorthin fahren.“ Der dichte Regen ließ die Fahrt zu Ninas Eltern endlos dauern, obwohl sie es in den versprochenen zwanzig Minuten schafften. Mrs. Russo umarmte Nina erleichtert, küsste Jameson auf die Wange und nahm ihren Enkel entgegen.
„Beth meinte, dass der Imbiss nicht in Gefahr sei, aber die Flut ist schon fast bei der Haustür der Gibbons angekommen. Arlene ist vollkommen außer sich vor Angst.“ Ironie des Schicksals, dachte Jameson auf dem Weg zurück in die Stadt, denn Arlene Gibbons war die giftigste unter den Tratschtanten der ganzen Stadt. Sie hatte ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er unerwünscht war – sowohl in Hart Valley als auch in Ninas und Nates Leben. Doch all das spielte jetzt keine Rolle mehr. Ganz gleich, wie lange Nina ihn in ihrem Leben dulden würde, er gehörte zu ihr. Und damit war er unauflöslich mit den Menschen in Hart Valley verbunden. Wenn Nachbarn in Not waren, dann würde er helfen. Ob es sich um die Gibbons oder die Henleys oder die Jarrets handelte, er würde zur Stelle sein. Er parkte seinen Wagen an der Main Street und bemerkte, dass die Beleuchtung im Cafe ausgeschaltet war. „Bestimmt sind alle hinter dem Imbiss beim Deichbau.“ „Dann lass uns helfen“, meinte Nina, öffnete den Wagen und stieg aus. Er folgte ihr über die Straße. Sie entdeckten die anderen Einwohner von Hart Valley auf dem Parkplatz hinter dem Hart Valley Inn. Keith Delacroix, der Besitzer der Baufirma, für die Jameson gearbeitet hatte, hatte eine Ladung Sand angeliefert und auf dem Parkplatz abgeladen. Mehrere Männer schaufelten den Sand in Säcke, die ihre Frauen oder Schwestern offen hielten. Über eine Menschenkette reichten sie die Säcke weiter und schichteten sie zu einer Mauer neben Gibbons Haus auf. Unablässig reichte Nina die gefüllten Säcke an den Anfang der Kette weiter und nahm selbst die Schaufel in die Hand, wenn die Wassermassen den Deich zu unterspülen drohten und Jameson gerufen wurde, um das Wasser abzuwehren. Als sie feststellte, dass genügend Hände am Werk waren, rannte sie quer über die Straße zum Cafe und kam mit der größten Thermoskanne voll Kaffee zurück, die sie hatte auftreiben können. Dann stellte sie sich zusammen mit Beth in die Küche des Imbisses und bereitete Sandwichs aus den Vorräten zu, die sie ebenfalls aus dem Cafe mitgebracht hatte. In diesem Augenblick sah alles danach aus, als wären ihre Anstrengungen vergeblich gewesen, denn das Wasser schwappte über die Deichkrone. Unbarmherzig prasselte der Regen auf die Säcke. Es schien, als würden die schwarzen Wolken jeden Tropfen Feuchtigkeit aus sich herauspressen wollen. Mit einem Sandsack unter jedem Arm kämpfte Jameson sich durch den inzwischen reißenden Fluss. Bei jedem Schritt wirbelten ihm kleine Felsbrocken sowie anderer Unrat um die Knöchel. Tom Jarrett und ihm gelang es gerade zur rechten Zeit, die Sandsäcke an den undichten Stellen zu platzieren. Und dann geschah das Wunder: Wenige Minuten später ließ der Regen spürbar nach. Als Jameson zum Sandhaufen zurückkehrte, bemerkte er, dass Arlene in seine Richtung schaute. Tränen rannen ihr über die zerfurchten Wangen. Taktvoll drehte er sich zur Seite, weil sie ganz sicher nicht wollte, dass er ihre Tränen bemerkte, griff dann zur Schaufel und spürte plötzlich eine Hand auf der Schulter. „Jameson O'Connell“, begann Arlene herrisch, obwohl ein leises Schluchzen in ihrer Stimme lag. Er stach die Schaufel zurück in den Sand. „Ja?“ Trotzig streckte sie ihm das Kinn entgegen, aber in ihren Augen blitzte ein Hauch von Freundlichkeit auf. „Danke.“ Damit drehte Arlene sich auf dem Absatz um und ging zu ihrem Haus. Nina kam zu ihm hinüber und brachte ihm einen Kaffee. Mit einer Kopfbewegung
deutete sie auf Arlene, die vor dem Haus auf dem durchweichten Rasen stand und sich gegen ihren Mann lehnte. „Mir scheint, du hast eine neue Freundin gewonnen.“ Er griff nach einem Sack und schüttete etwas Sand hinein. „Sie ist einfach nur dankbar, dass wir ihr Haus gerettet haben. Kann man sich leicht denken.“ Nina ergriff seinen Arm und hielt ihn davon ab, den Sack weiter zu füllen. „Warum denkst du nicht, was ich denke? Du bist kein schlechter Kerl. Du bist ein Mann, der schlimme Zeiten durchgemacht hat, aber am Ende völlig unbeschädigt daraus hervorgeht. Dein Charakter lässt sich nicht verderben.“ Jameson brachte es nicht fertig, ihr in die Augen zu schauen. Er zog sie mit sich fort. „Ich muss den Sack noch füllen.“ „Es regnet nicht mehr“, widersprach sie. „Der Wasserspiegel des Flusses sinkt bereits wieder.“ Sie zögerte. „Du kannst aufhören, dir selbst was vorzumachen.“ „Was mache ich mir denn vor?“ fragte er irritiert. „Dass du ein schlechter Mensch bist.“ Mit dieser Bemerkung machte Nina auf dem Absatz kehrt und marschierte erhobenen Hauptes davon. Jameson ließ die Schaufel fallen und wollte ihr folgen, obwohl er nicht die geringste Ahnung hatte, was er auf ihre Behauptung erwidern sollte. In diesem Augenblick kam Tom Jarrett über den Parkplatz zu ihm. „Ich glaube, die Schaufel gehört mir.“ Er überprüfte, ob das „J“ auf dem Holzgriff eingebrannt war. „Danke für deine Hilfe.“ Unschlüssig wechselte er die Schaufel von einer Hand in die andere. „Sieht so aus, als würde es zwischen dir und Nina ganz gut laufen.“ „Ja. Ganz gut.“ „Und wie gut genau?“ Tom musterte ihn aufmerksam. „Am besten, du richtest dich auf einen längeren Aufenthalt in unserer Stadt ein, O'Connell“, meinte er, machte sich auf den Weg zu seinem Pickup und wandte sich auf halber Strecke noch mal um. „Wenn du Lust hast, dann komm doch an deinem nächsten freien Tag zu uns zum Essen. Zusammen mit Nina und Nate. Wir würden uns freuen.“ Nachdem Tom den Pickup gestartet hatte und weggefahren war, eilte Jameson zum Imbiss hinüber. An der hinteren Tür stand der Bäcker, J. C. Archer, und grüßte ihn. „Gute Arbeit, Jameson.“ Nina saß im Imbiss am Frühstückstisch, hatte ihre Füße auf einen Stuhl gelegt und wärmte sich die Hände an einer Tasse Kaffee. Schweigend wartete er, bis sie ausgetrunken und die Tasse zum Abspülen in die Küche gebracht hatte. Nina griff nach ihrem Regenumhang. Gemeinsam verließen sie den Imbiss. Das Flutlicht war ausgeschaltet worden. Nur das dünne Mondlicht drang durch die Wolken und erhellte ihren Weg über die Straße zum Parkplatz. Jameson verstaute Ninas nassen Regenumhang zusammen mit seinem im Kofferraum und half ihr auf den Beifahrersitz. Es beruhigte ihn, ihre Hand zu spüren. Die Erschöpfung steckte ihm tief in den Knochen, aber er hätte alles für sie getan. Alles. Für ein einziges Lächeln. Schweigend fuhren sie nach Hause, obwohl Jameson wusste, dass er mit ihr reden musste. Er musste einen Weg finden, die Verletzung wieder gutzumachen, die er ihr in der vergangenen Nacht zugefügt hatte. Nichts, was ihm in den Kopf kam, schien jedoch passend zu sein. Nina hatte das Beste verdient. Und noch mehr. Trotzdem behandelte er sie oft schlecht. Schließlich brachte er die Worte heraus, die ihm immer wieder durch den Kopf gingen. „Nina, es tut mir Leid.“ Sie holte tief Luft und atmete dann ganz langsam wieder aus. „Danke.“ Ohne sie anzuschauen, griff er nach ihrer Hand, während er den Wagen die
Auffahrt hinauflenkte. Er hatte immer noch Angst, dass sie seine Berührung zurückweisen würde, aber sie verschränkte die Finger mit seinen, und plötzlich empfand Jameson eine tiefe und ungewohnte Ruhe. Er stoppte den Wagen und schaltete den Motor ab. Gleich danach griff sie wieder nach seiner Hand und drückte ihm einen Kuss auf den Handrücken. „Die Menschen in Hart Valley haben dich heute willkommen geheißen. Du darfst sie nicht zurückstoßen.“ Es würde ihn nur noch mehr in Ninas Leben verstricken, wenn er sich in Hart Valley zu Hause fühlte. Aber er wusste, dass das eine ohne das andere nicht zu haben war. Und er wusste, dass er beides wollte. Das Leben mit Nina teilen und endlich in Hart Valley zu Hause sein. Sie holten ihr Gepäck aus dem Kofferraum und gingen ins Haus. Wortlos folgte Nina ihm in sein Schlafzimmer. Sie zogen sich aus, legten sich ins Bett und umarmten einander. Ninas Nähe erregte ihn, aber er hatte nicht die Kraft, seinem Verlangen zu folgen. Innerhalb weniger Minuten waren sie beide eingeschlafen. Als Nina am nächsten Morgen erwachte, war Jamesons Seite im Bett leer. Die Laken waren kalt, und außerdem verriet ihr auch der Kaffeeduft, dass er schon vor einiger Zeit aufgestanden sein musste. Im Haus war es jedoch so still, dass sie sogar den Wind durch die Kiefern pfeifen hören konnte. Der Deichbau war anstrengend gewesen. Jeder Muskel schmerzte, als sie aufstand, in ihr Zimmer ging und sich anzog. Auf dem Weg ins Wohnzimmer bemerkte sie, dass Jamesons Wagen draußen nicht zu sehen war. Dann entdeckte sie die Nachricht, die auf dem Küchentisch lag. Hole Nate ab. Insgeheim hatte Nina gehofft, dass sie den Tag mit Jameson allein würde verbringen können. Eigentlich schade, bedauerte sie, dass er den Jungen gleich in aller Frühe abholt, goss sich eine Tasse Kaffee ein und schlug die Tageszeitung auf. Sie hatte kaum das Titelblatt überflogen, als sie die Reifen auf dem Kiesweg knirschen hörte. Sekunden später kam Nate mit geröteten Wangen in die Küche gerannt. „Mommy! Daddy ist mit mir zum Creek gefahren! Er hat gesagt, dass der Bach gestern Nacht überflutet war.“ Jameson war im Türrahmen stehen geblieben. Nina konnte seinen Gesichtsausdruck nicht entziffern. „Hat Daddy dir auch erzählt, dass er geholfen hat, den Deich zu bauen?“ „Nein.“ Erstaunt schaute der Junge nun seinen Vater an. „Stimmt das, Daddy?“ Jameson gab Nate den kleinen Rucksack in die Hand. „Geh in dein Zimmer, und zieh dich um.“ Nate nahm den Rucksack und rannte weg. Jameson blieb im Türrahmen stehen. „Danke, dass du Nate abgeholt hast“, meinte Nina. „Du warst also schon in der Stadt.“ Endlich löste er sich von der Tür, machte aber einen großen Bogen um sie, als er zum Tisch kam und sich ebenfalls einen Kaffee einschenkte. „Nachher möchte ich gern im Cafe aufräumen.“ Er nahm einen Schluck Kaffee. „Die Spülstraße muss gewartet werden. Außerdem will ich endlich das zusätzliche Regal in der Vorratskammer anbringen.“ „Wir kommen mit. Ich habe ein paar Sachen in der Stadt zu erledigen, und Nate kann mit dem Regal sogar helfen.“ „Nein. Ich kann euch nicht gebrauchen.“ Warum nicht? fragte sie sich. Erschrocken stand sie auf und ging auf ihn zu. „Jameson, was ist los. Warum hast du dich am Samstagabend so plötzlich
zurückgezogen? Warum bist du so grausam zu mir?“ Sofort hatte das Schuldgefühl ihn im Griff. Sein Magen krampfte sich heftig zusammen. „Nina, ich kann das nicht.“ Sanft rieb sie ihm mit der Hand über die Schulter. „Stoß mich nicht zurück. Bitte nicht.“ Er brachte die richtigen Worte jedoch nicht über die Lippen. Andernfalls wäre er verloren. Er wäre dann so sehr verstrickt in Ninas Leben, dass es ihn umbringen würde, wenn sie ihn nach zwei Jahren doch verließ. Nein, dachte er, ich muss den Graben wieder aufreißen, den es zwischen uns gegeben hatte. Die Verbindung zertrennen, die sich jedes Mal herstellt, wenn sie mich berührt. Lautstark stellte er die Tasse auf dem Tisch ab. „Vielleicht komme ich heute Abend nicht nach Hause. Wartet nicht auf mich.“ Auf dem Weg in die Stadt fühlte Jameson sich krank. Der starke Kaffee auf leeren Magen machte ihm zu schaffen. Im Cafe muss ich zuerst etwas zu mir nehmen, dachte er, obwohl der Gedanke an Essen ihm sofort wieder Übelkeit verursachte. Kurze Zeit später parkte er den Wagen hinter dem Cafe und betrat das Lokal durch den rückwärtigen Eingang. Die Erschöpfung steckte ihm bleischwer in den Knochen und machte jeden Schritt mühsam. Er hatte keine Ahnung, woher er die Kraft nehmen sollte, auch nur die leichteste der Aufgaben zu erledigen, die er sich vorgenommen hatte. Die Glocke am Eingang klingelte. Wir haben geschlossen, dachte er und verließ die Küche, um nachzuschauen, wer das Cafe betrat. Sekunden später fiel ihm ein, dass es nur Nina sein konnte. Wer sonst hatte einen Schlüssel? Er entdeckte ihren Wagen vor dem Gebäude, und schon rannte Nate ihm entgegen und streckte die Arme aus. „Daddy, wir wollen dir helfen!“ Jamesons Herz machte vor Freude einen Satz, als er Nate umarmte. „Großartig. Ich freue mich, dass ihr gekommen seid.“ Er setzte seinen Sohn wieder ab und suchte Ninas Blick. Mit ihrem Lächeln riss sie die Barrieren ein, die er mit aller Macht wieder hatte aufrichten wollen. Sie kam auf ihn zu, und glücklich schloss er sie in die Arme.
14. KAPITEL Eine Woche nach dem Sturm war die Skisaison in vollem Gange. Ninas Cafe galt als Raststätte auf dem Weg zu den Skigebieten an der Nordküste des Lake Tahoe. Das Cafe war zum Platzen gefüllt, wenn die Wintersportler zusammen mit den Stammgästen am Samstagmorgen zum Frühstück erschienen. Nina hatte geglaubt, dass der vergangene Montag eine Wende in Jamesons Verhältnis zu ihr eingeläutet hätte. Wie eine richtige Familie hatten sie sich gefühlt, als sie gemeinsam im Cafe gearbeitet hatten. Nate hatte Jameson das Werkzeug für die verschiedenen Reparaturen gereicht. Sie selbst hatte die Kammer für die Trockenvorräte frisch gestrichen, nachdem sie den kleinen Raum mit Nates und Jamesons Hilfe geleert hatte. Während der erste Anstrich trocknete, hatten sie sich eine Pause mit ein paar üppigen Sandwichs gegönnt. Nachmittags hatten sie die Vorratskammer wieder eingeräumt und das Cafe gründlich geputzt. Anschließend waren sie nach Marbleville gefahren, hatten sich im Kino einen Film angeschaut und ein leichtes Essen eingenommen. Zu Hause hatten sie den erschöpften Nate ins Bett gebracht, und Nina hatte sich auf einen heißen Kuss in der Küche gefreut. Gewissermaßen als Vorspiel für eine leidenschaftliche Nacht. Jameson hatte sie jedoch zu ihrem eigenen Schlafzimmer begleitet, sie geküsst und ihr eine gute Nacht gewünscht. Im Laufe der Woche war Jameson dann immer schweigsamer geworden. Warum? fragte Nina sich wieder. Vielleicht will er sich jetzt schon von mir trennen, obwohl die zwei Jahre noch längst nicht vergangen sind. Vielleicht hat er einfach genug von mir und zieht es vor, den alten Graben wieder aufzureißen. Vielleicht will er uns verlassen? ging es ihr panisch durch den Kopf. Nina servierte die Bestellungen, die Jameson schweigend in der Küche vorbereitet hatte. Nachdem sie den letzten Teller auf dem Tisch abgestellt hatte, standen die ersten Gäste schon an der Kasse und wollten zahlen. Sie kassierte, füllte den vier Gästen am Tresen Kaffee nach und lehnte sich einen Moment am Durchgang zur Küche an. Nach und nach leerte sich das Cafe. Abgesehen von den Stammgästen am Tresen war nur noch ein großer Tisch besetzt, um den Lacey sich kümmerte. Aber Nina hatte kaum Zeit zum Durchatmen. Neuer Ärger stand ins Haus. Zusammen mit ihren drei Freundinnen marschierte Arlene Gibbons direkt auf sie zu. „Nina, ich möchte bitte deinen Mann sprechen“, verlangte Arlene erhobenen Hauptes. Beunruhigt warf Nina einen Blick in die Küche. Den ganzen Morgen über hatte Jameson seine untergründige Wut an ihr, Nate und Lacey ausgelassen. Es fehlten nur noch ein paar Gehässigkeiten aus Arlenes Mund, um ihn zum Platzen zu bringen. Sie beobachtete seinen Gesichtsausdruck und den gesenkten Blick, aber ihr wurde nicht klar, was in seinem Innern vorging. Entschlossen band er sich die Schürze ab. Es wirkte, als ob er sich die Ärmel zum nächsten Kampf aufkrempelte. Und Arlene gab mit keiner Spur zu erkennen, was sie im Schilde führte. Schulter an Schulter hatten sich Frida Wilkins, Harriet Mason und Georgia Haynes hinter der alten Frau aufgebaut. Wie in einem Western, dachte Nina amüsiert. Als wollten sie sich auf eine Schießerei vorbereiten. Jameson kam aus der Küche, stellte sich Arlene gegenüber auf die andere Seite des Tresens und stützte sich mit den Handflächen ab. „Sie wollen mich sprechen?“ Arlene streckte das Kinn noch höher. „Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen.“
Jameson hatte einen weiteren Übergriff von Arlene Gibbons erwartet, und er hatte sich bereits ein paar passende Antworten zurechtgelegt. Nun traf ihn fast der Schlag, als er hörte, dass sie sich entschuldigen wollte. Während er fieberhaft überlegte, was er darauf erwidern sollte, spürte er Ninas Hand auf seinem Arm. Sie unterstützte ihn, obwohl er es nicht verdient hatte, wenn er daran dachte, wie er die Woche über mit ihr umgesprungen war. „Du warst immer ein wilder Kerl“, fuhr Arlene fort. „Immer in Schwierigkeiten. Es lag natürlich auch an deinem Vater. Aber du kannst die Schuld nicht ihm allein geben. Obwohl er ein übler Kerl war, das gebe ich zu.“ Sie ist wieder die alte Giftspritze, dachte Jameson und trat ein paar Schritte zurück. „Ich habe zu tun.“ „Warte!“ Als er sich trotzdem zur Küche drehte, schickte Arlene ihrem Befehl ein hastiges „Bitte!“ hinterher. Nina zupfte ihn am Ärmel und bedeutete ihm mit einem Blick, der Frau weiter zuzuhören. Jameson blieb stehen. „Du hast dein Leben von Grund auf geändert“, verkündete Arlene, und jetzt klang ihre Stimme freundlicher. „Du bist Nina ein guter Ehemann und deinem Sohn ein guter Vater. Ich denke, es liegt am Einfluss deiner Mutter.“ Wieder unterdrückte er einen Wutanfall. „Was wissen Sie über meine Mutter?“ „Mehr, als du glaubst, Jameson O'Connell.“ Arlene neigte den Kopf zur Seite. „Ich bin eine Freundin deiner Großmutter, wusstest du das nicht? Wir waren zusammen auf der High School.“ Jameson fühlte sich plötzlich äußerst unwohl in seiner Haut. Auf keinen Fall wollte er hören, was die alte Frau ihm als Nächstes zu verkünden hatte. „Entschuldigung angenommen, Mrs. Gibbons. Jetzt muss ich aber zurück…“ Ninas Griff um seinen Arm wurde fester, und er erstarrte. „Ich habe Lydia angerufen, als du das erste Mal wieder in der Stadt aufgetaucht warst. Um sie zu warnen, dass du aus dem Gefängnis entlassen worden bist. Sie hat mir die ganze Geschichte erzählt.“ Überrascht schnappte Nina nach Luft, aber er spürte ihren Atem mehr, als dass er ihn hörte. Arlene sprach ungerührt weiter. „Ich weiß, was in jener Nacht geschehen ist. Wie du versucht hast, deinen Bruder zu retten. Verdammter Taugenichts, wenn du mich fragst.“ Dann wandte sie sich an Nina. „Jameson ist ein guter Kerl. Er braucht dich. Lass ihn nicht allein.“ Nina verschränkte nun die Finger mit seinen. „Nein. Niemals.“ Die alte Dame wandte sich an ihre Freundinnen. „Dieser Junge gehört hierher. Zu uns nach Hart Valley. Niemand hat das Recht, ihn schlecht zu behandeln.“ Die Frauen nickten zustimmend und zogen sich murmelnd an ihren Stammplatz am Fenster zurück. Jameson blieb am Tresen stehen. Nina schaute ihn erwartungsvoll an. Jeden Augenblick drohten die Fragen aus ihr hervorzusprudeln. „Komm mit mir nach hinten“, bat sie und ließ ihn los. Zusammen gingen sie in Nates Spielecke. Ihr Sohn saß ruhig am Tisch, malte ein
Bild und guckte gleichzeitig ein Video. Nina schaltete den Bildschirm aus. „Geh
nach vorn und frag Lacey nach einem Glas Milch“, sagte sie zu Nate. „Und lass
dir ein Stück vom Apfelkuchen geben.“
Nate sah Jameson an und begriff, dass seine Eltern in Schwierigkeiten steckten.
Nina wartete, bis Nate verschwunden war. „Erzähl mir alles“, bat sie dann sanft.
Jameson war die Kehle wie zugeschnürt. „Ich habe nicht am Steuer gesessen“,
presste er mühsam hervor.
Fassungslos starrte sie ihn an. „Du meinst, in der Nacht… in der die Frau ums
Leben kam?“ Er nickte. „Ist… ist Sean gefahren?“ Eigentlich hätte Jameson erleichtert aufatmen müssen. Doch stattdessen verspürte er einen Anflug von Übelkeit, als er mit dem Geständnis fortfuhr. „Sean hat den Wagen gelenkt. Aber ich bin ebenso schuld.“ Nina schüttelte den Kopf. „Das verstehe ich nicht.“ „Ich hätte ihn davon abhalten müssen, sich hinters Steuer zu setzen“, erklärte Jameson. „Immerhin hatte ich ihm die Schlüssel in der Bar abgenommen. Aber ich hatte nicht mit den Ersatzschlüsseln in seiner Brieftasche gerechnet.“ Die Erinnerungen überfluteten ihn. Sean war auf die Toilette verschwunden. Viel zu lange. Dann heulte plötzlich der Motor seines frisierten Wagens auf. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis Jameson bei Seans Auto angekommen war. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich konnte ihn nicht mehr stoppen. Nur in letzter Sekunde konnte ich mich auf den Beifahrersitz schwingen. Mein Fußgelenk… ich habe es mir dabei verstaucht.“ Plötzlich brach die ganze Geschichte hemmungslos aus ihm heraus. Wie sein Bruder mit Gewalt verhindert hatte, dass er den Motor abstellte. Wie Sean vom Parkplatz gerast war. Wie Jameson immer wieder ins Lenkrad gegriffen hatte, um die Spur zu halten, während Sean aufs Gaspedal getreten hatte und die Straße entlanggerast war. Der Faustschlag, mit dem sein Bruder ihn für Sekunden außer Gefecht gesetzt hatte. Genügend Zeit für Sean, den Wagen mit voller Geschwindigkeit in den entgegenkommenden Verkehr zu lenken. Ein Bild hatte sich Jameson besonders ins Gedächtnis eingebrannt. Bis heute hatte er es nicht abschütteln können. Das Gesicht der Mutter, als der frisierte Wagen auf sie zuraste. Die Erinnerung verfolgte ihn seit damals. Der Albtraum benebelte Jameson die Sinne. Es dauerte einen Moment, bis er merkte, dass Nina ihm sanft über die Wangen strich. „Du kannst nichts dafür“, sagte sie sanft. „Du hast alles getan, um die Katastrophe zu verhindern.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hätte ihn aufhalten müssen. Deshalb… es war richtig, dass ich die Schuld auf mich genommen habe. Weil ich mich um Sean hätte kümmern müssen. Ich hätte ihm die Schwierigkeiten vom Hals halten müssen. Das Kind und seine Mutter mussten sterben, weil ich das nicht geschafft habe.“ Nina beugte sich zu ihm hinüber. „Die Frau musste sterben, weil dein Bruder im Vollrausch Auto gefahren ist. Du hast alles getan, um das zu verhindern.“ Sie umfasste seine Schultern und schüttelte ihn heftig. „Du hast alles getan, was du konntest!“ „Ich… ich glaube, er wollte gar nicht gerettet werden.“ Diese Einsicht schmerzte Jameson im Grunde am meisten. Nina nahm seine Hände und presste sie gegen ihre Lippen. „Wie kam es, dass du aus dem Gefängnis entlassen wurdest?“ „Mein Bruder…“ Mühsam unterdrückte Jameson die Tränen. Seit dem Tod seiner Mutter hatte er nicht mehr geweint. „Er hatte Aids, weil er sich mit einer gebrauchten Nadel infiziert hat. Er hat es niemandem erzählt und sich um nichts gekümmert. Großmutter hat ihn in die Klinik geschickt, als er eine Lungenentzündung bekam. Aber es war viel zu spät. Erst kurz vor seinem Ende hat er es ihr erzählt.“ „Und dann hat sie für deine Entlassung gesorgt.“ Jameson erschrak, als er feststellte, dass die Abneigung gegen seine Großmutter sich einfach aufgelöst hatte. „Sie hat einen Anwalt engagiert und meinen Bruder in einer Klinik untergebracht. Meine Unschuld war erwiesen, und innerhalb eines Monats war ich draußen.“
„Jameson, sie liebt dich. Das musst du anerkennen. Und…“ Nina hauchte ihren warmen Atem in sein Ohr, rückte ein wenig von ihm ab und schaute ihn mit ernster Miene an. „Ich muss es dir sagen.“ Plötzlich empfand er eine unvorstellbare Angst. Niemals würde sie bei ihm bleiben. Eines Tages würde sie ihn aus ihrem Leben verbannen. Und aus Nates. Er wollte ihr den Mund zuhalten, aber bevor er etwas unternehmen konnte, sprach sie weiter. „Jameson, ich liebe dich.“ Ihre Worte ließen ihm das Blut in den Adern gefrieren. Er konnte nicht mehr klar denken. Grauenhafte Angst umklammerte sein Herz. Nina war in unerreichbare Ferne gerückt. Blind vor Angst und Tränen stolperte er aus Nates Spielecke und hastete zum hinteren Ausgang des Cafes. Nina rief seinen Namen, während er zum Wagen stürmte und einstieg. Mit zitternden Händen steckte er den Zündschlüssel ein und fuhr los. Erst auf der Main Street wurde ihm bewusst, dass er unwillkürlich den Weg nach Hause eingeschlagen hatte. Jahrelang war er vor den Schlägen seines Vaters davongerannt. Es gab eine Reihe von Verstecken, die er kannte und in die er sich hätte flüchten können. Aber die unerklärliche Angst vor Ninas Worten trieb ihn zu dem Ort zurück, den sie sich gemeinsam aufgebaut hatten. Ein Ort, der sich nach und nach mit Liebe zu füllen begonnen hatte. Es gab keine andere Zuflucht. Sondern nur Angst und Einsamkeit. Als Kind hatte er es ertragen können, weil er es nicht anders kannte. Und jetzt? Welche Ausreden hast du jetzt zu bieten? schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Jameson parkte den Wagen vor der Bäckerei und suchte im Handschuhfach nach seinem Handy. Entschlossen wählte er Ninas Nummer. „Jameson?“ rief sie atemlos. Beim Klang ihrer Stimme schlug sein Herz noch schneller, aber es gelang ihm, sich unter Kontrolle zu behalten. „Ich brauche ein bisschen Zeit.“ Sie zögerte und bemühte sich dann um einen sachlichen Tonfall. „Der Mittagstisch beginnt erst in einer Stunde.“ „So lange brauche ich nicht.“ Er beendete das Gespräch und legte das Handy zurück ins Handschuhfach. Zwei Möglichkeiten gab es für ihn. Entweder er besiegte seine Angst vor Ninas Liebe, auch dann, wenn er sie nicht erwidern konnte. Oder er ersparte allen eine Menge Ärger und machte sich aus dem Staub. Die erste Möglichkeit schien ihm ausgeschlossen, aber über die zweite mochte er noch nicht mal nachdenken. Unwillkürlich musste er an Nate denken. An die unschuldigen braunen Augen, wie sie ihn vertrauensvoll anblickten. Vielleicht ist es besser, wenn ich aus ihrem Leben verschwinde, dachte er. Was, wenn sich herausstellt, dass ich meinem Vater doch ähnlicher bin, als ich es im Moment für möglich halte? Was, wenn ich meinen Sohn eines Tages auch misshandle? Allein der Gedanke verursachte ihm Übelkeit. Jameson lenkte den Wagen wieder auf die Main Street und fuhr nach Hause. Am Samstag würde er den Anwalt sicher nicht mehr erreichen, aber er wollte ihm wenigstens eine Nachricht aufs Band sprechen. Er hatte ohnehin 'geplant, Nate das Geld seiner Großmutter zu überschreiben. Das Beste ist, ich leite die Angelegenheit jetzt gleich in die Wege, überlegte er. Dann bin ich frei zu gehen, wenn ich meine Entscheidung getroffen habe. Um Viertel nach elf saß Nina mit Nate in der Ecke vorn neben dem Fenster und kümmerte sich um die Abrechnung der Morgeneinnahmen. Nate schaute sich ein Bilderbuch an. Lacey hockte am Tresen, hatte die Füße auf einen Stuhl gelegt und blätterte in einer Zeitschrift. Das Cafe war leer.
Jemand schlug die hintere Tür zu. Erleichtert und zugleich irritiert stand Nina auf.
„Du kannst hier sitzen bleiben, bis Lacey den Tisch für Gäste braucht.“
Nate entdeckte Jameson im Durchgang zur Küche und runzelte die Stirn. „Ist
Daddy immer noch böse?“
„Wenn er immer noch böse ist, dann ist das nicht deine Schuld. Er muss nur ein
paar Probleme klären“, meinte Nina. „Mommy wird ihm dabei helfen.“
Sie ging hinüber zu Jameson, legte ihm die Hand auf die Brust und drängte ihn
zurück in die Küche. Dort nahm sie die Jacken vom Haken, zog ihn hinaus und
schloss die Tür. „Lass uns einen Spaziergang machen“, schlug sie vor und
deutete auf den Kiesweg südlich der Main Street.
Nina wollte Klarheit, und sie wollte den schlimmsten Fall ausschließen. Das Herz
klopfte ihr bis zum Hals, während sie den Gedanken zu einer Frage formte.
„Jameson… willst du uns verlassen?“ flüsterte sie schließlich.
„Nein.“
Sie wusste, dass sie ihn drängen musste, mehr zu sagen als nur ein flüchtiges
Wort. Aber sie hatte Angst vor der Antwort.
„Was du heute gesagt hast…“
„Ich werde es nicht zurücknehmen.“
„Ich sollte das Gleiche sagen… Ich sollte in der Lage sein…“
„Ja, du solltest“, unterbrach sie ihn und nahm seine Hand. „Sollen allein zählt
nicht. Ich habe es gesagt, weil ich es musste. Ich konnte es nicht länger für mich
behalten.“
„Du und Nate, ihr seid mein Ein und Alles“, begann Jameson. „Aber manchmal
weiß ich nicht, was ich denken und fühlen soll.“
Sein Blick ging in die Ferne. „Mein Vater… wenn ihm irgendwas nicht in den Kram
gepasst hat, wenn er wütend oder traurig war, dann…“
„… dann hat er seine Fäuste zu Hilfe genommen.“
„Erst hat er meine Mutter verprügelt und dann mich. Du weißt, was Psychologen
über misshandelte Kinder sagen.“
Nina blieb stehen und schaute ihn an. „Niemals würdest du Nate oder mich
schlagen. Da bin ich mir absolut sicher.“
„Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich kurz davor stehe.“ Er schloss die
Augen, um den Gedanken zu verjagen. „Es ist besser, wenn ich gehe.“
Sie wurde nervös. „Du meinst, du willst für eine Weile allein sein, um in Ruhe
nachdenken zu können?“
Er öffnete die Augen und schaute sie an. „Ja, das habe ich gemeint.“
„Solange du zurückkommst, ist das kein Problem.“
Jameson blieb stehen und schaute sie lange und eindringlich an. Es schien, als
wollte er sich ihr Gesicht genau einprägen, um sich später daran erinnern zu
können. Dann zog er sie in seine Arme und hielt sie fest. Er senkte seinen Mund
auf ihren und küsste sie heiß und leidenschaftlich.
„Lass uns das Cafe heute nicht zu spät schließen“, flüsterte er schließlich dicht
neben ihrem Ohr.
„Ja“, flüsterte sie zurück. Aber trotzdem beschlich sie das untrügliche Gefühl,
dass irgendetwas ganz gewaltig nicht stimmte.
15. KAPITEL Jameson musste die letzten Gäste beinahe aus dem Cafe jagen. Er brachte ihnen die Rechnung schon mit dem Essen an den Tisch und räumte ab, kaum dass sie aufgegessen hatten. Hastig schloss er hinter ihnen ab und putzte die Küche in Rekordzeit, während Nina die Kasse machte. Nate war aufgeregt, weil es früh nach Hause ging, und er hatte seinem Vater das Versprechen abgerungen, ihm zwei Gutenachtgeschichten vorzulesen. Als Nate im Bett war, stellte Nina ihm ein Glas Wasser auf den Nachttisch, und Jameson deckte ihn zu. Sie setzte sich einen Augenblick zu ihrem Sohn auf die Bettkante. „Liebling, falls du nachts aufwachst, ich bin in Daddys Zimmer.“ „Okay.“ Er drehte sich zur anderen Seite und kuschelte sich in die Decken. „Gute Nacht.“ Nina schaltete das Licht aus und verließ das Zimmer. Zusammen mit Jameson ging sie in dessen Schlafzimmer. Kaum hatten sie die Tür hinter sich geschlossen, als er sie auch schon in seine Arme zog. Die kleine Lampe in der Ecke des Zimmers, die er angeknipst hatte, zeichnete die Konturen ihres Gesichts in weichem Licht. Den ganzen Nachmittag und den ganzen Abend über hatten sie sich verlangende Blicke zugeworfen und sich der Nacht entgegengesehnt. Nina hatte damit gerechnet, dass sie wild übereinander herfallen würden, aber jetzt schaute Jameson sie nur eindringlich an. Einen Moment lang wirkte er traurig, dann war der Ausdruck wieder verschwunden. „Jameson“, flüsterte sie. „Was ist…“ Er senkte seinen Mund auf ihren und unterbrach sie mit einem Kuss. Mit einer Hand fuhr er durch ihr Haar, mit der anderen umfasste er ihre Hüfte. Zärtlich sog er an ihrer Lippe und drängte mit seiner Zunge sanft in ihren Mund. Sein Griff um ihre Hüfte war nicht zupackend, sondern tastend, als ob sie aus kostbarem Porzellan wäre. Dieses Mal war es anders als im Hotel in San Francisco, wo sie sich von Minute zu Minute in eine heftigere Leidenschaft gesteigert hatten. Jameson schien eher den Eindruck zu haben, dass die Glut schnell erlöschen könnte, wenn er nicht vorsichtig genug war. Nina zog sich zurück und umfasste seine Wangen mit den Handflächen. „Jameson“, flüsterte sie in die Dunkelheit, „was ist los mit dir?“ Er antwortete nicht sofort, und ihr Herz schlug so aufgeregt, dass sie befürchtete, er könnte sie hören. „Ich will dich nicht verlieren“, sagte er schließlich. „Ich verlasse dich nicht“, erwiderte sie. „Niemals.“ „Ich habe dir das Versprechen gegeben, dich nach zwei Jahren gehen zu lassen.“ „Dann entbinde ich dich hiermit feierlich von deinem Versprechen.“ Sie hatte erwartet, dass seine Anspannung sich nun lösen würde, aber stattdessen versteifte er sich nur noch mehr. „Ich würde ihn niemals im Stich lassen. Niemals.“ „Natürlich nicht. Das hätte ich auch nie für möglich gehalten.“ „Ich will nicht sein wie mein Vater.“ Die Kehle fühlte sich immer noch an wie zugeschnürt. „Schon deshalb nicht.“ Nina begriff nicht ganz, was er ihr damit sagen wollte. Sofort wurde sie aufmerksam. „Unsere Ehe ist nicht auf Sand gebaut. Sie kennt keine Grenzen. Es gibt keinen Grund für dich, uns zu verlassen.“ Wieder schwieg er eine Weile. Dann drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn. „Keine Grenzen.“ Er begann, sie sanft und zärtlich zu streicheln. Die Fragen, die Nina im Kopf hatte, blieben unbeantwortet und verflüchtigten sich, als das Verlangen und die Leidenschaft aufs Neue aufloderten.
Am Sonntagvormittag fuhren sie ins Cafe, nachdem sie Nate bei seinen Großeltern abgeliefert hatten. Ninas Mutter hatte sich vorgenommen, ihn nach Marbleville zu Weihnachtseinkäufen mitzunehmen. Zweifellos würde Nate mit einem oder zwei verfrühten Geschenken zurückkehren. Am Spätnachmittag war Nina müde. Gähnend schaute sie auf die Uhr. Noch war das Cafe fast leer war, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Dinnergäste auftauchten. Im Grunde genommen sehnte sie sich jedoch danach, den Laden zu schließen, zu Hause in aller Ruhe mit ihrem Mann und ihrem Sohn zu essen und danach ins Bett zu fallen. Jameson kam aus der Küche und setzte sich zu ihr auf die Bank. Es blieb gerade genügend Zeit für einen kurzen Kuss, als die Glocke schellte und Nate hereinstürzte. In einer Hand trug er einen Plastikkoffer, in der anderen einen riesigen Malblock. Seine Großmutter folgte ihm und lächelte vergnügt. „Mommy, guck mal, was Grandma mir gekauft hat!“ Er knallte den Malblock auf den Stapel Kreditkartenbelege, von denen einige zu Boden flatterten. „Vorsicht, Nate“, mahnte Jameson. „Heb bitte Mommys Papiere wieder auf.“ „Entschuldigung, Mommy.“ Der Junge krabbelte auf dem Boden herum, sammelte die Belege ein und legte sie wieder auf den Tisch. Dann öffnete er den kleinen Plastikkoffer, begutachtete die Buntstifte und die Zeichenkohle, kniete auf einen Stuhl und begann mit einem Kunstwerk. „Ihr müsst mich entschuldigen“, meinte Ninas Mutter, „aber manchmal raubt euer Junge mir den letzten Nerv.“ Nachdem Pauline sich auf den Weg nach Hause gemacht hatte, setzte Jameson sich wieder zu Nina. Er betrachtete seinen Sohn, nahm Nina bei der Hand und küsste sie. „Du bist mein Leben“, sagte er so leise, dass sie es kaum hören konnte. Nina zog ihre Hand fort und schaute ihn an. Es dauerte einen Moment, bis er ihren Blick erwiderte. „Ich liebe dich, Jameson“, sagte sie ganz fest. Er wollte den Blick abwenden, aber sie ließ es nicht zu. „Was auch immer du empfindest, für uns wird es reichen. Ich weiß es. Du musst es nicht Liebe nennen. Unsere Verbindung wird deshalb nicht weniger stark sein.“ „Ich wünschte, ich könnte mir genauso sicher sein wie du.“ Er küsste ihre Hand und zog sich dann zurück. „Gleich fünf. Höchste Zeit, dass ich wieder in die Küche gehe.“ Nina erhob sich ebenfalls. „Ich komme mit.“ Nate stöhnte unwirsch auf. Mit der schwarzen Zeichenkohle malte er dicke Striche über sein Bild, bis es vollkommen verunstaltet war. Dann riss er das Blatt vom Block ab und ließ es zu Boden segeln. Nina beugte sich hinunter. „Was stimmt denn nicht mit dem Bild?“ Ihr Sohn befasste sich bereits mit dem nächsten Kunstwerk. „Ich finde es doof.“ Jameson hatte den Eindruck, dass es genauso gut war wie alle anderen Bilder, die Nate gemalt hatte. „Du hättest es vielleicht noch retten können.“ „Nein.“ Mit dem roten Stift strich er über das Papier. „Ich muss noch mal ganz von vorn anfangen.“ Noch mal ganz von vorn anfangen. Die Worte hallten Jameson durch den Kopf. Wenn ich das doch auch könnte, sagte er sich insgeheim. Einfach das Blatt abreißen und noch mal ganz von vorn anfangen. Die hässlichen Seiten ausradieren. Wie Nate es mit dem Kohlestift gemacht hatte. Plötzlich tauchte vor seinem geistigen Auge das Bild der trostlosen Hütte auf, in der er aufgewachsen war. Das Symbol seiner einsamen und traurigen Kindheit. Wie viele Tränen ich in dieser Hütte geweint habe, erinnerte er sich. Wie schwer die Sorgen mich belastet haben. In mancher Hinsicht waren die Mauern der Hütte
schlimmer gewesen als die Gefängnismauern von Folsom. Noch mal ganz von vorn anfangen. Gibt Ninas Liebe mir nicht die Chance dazu? Und unser gemeinsames Zuhause? Und Nate? Bin ich mit diesem Kind nicht vollkommen neu geboren? Fast fünf Jahre im Leben seines Sohnes waren ohne ihn vergangen. Aber er hatte die große Chance, dessen Zukunft mitzugestalten. Mit einem Mal stand ihm glasklar vor Augen, was er tun musste, um die Vergangenheit zu verabschieden, um seine Seele von ihren Qualen zu befreien. Der einzige Weg war, die Liebeserklärung zu erwidern, die Nina ihm gemacht hatte. In seinen Gedanken formte sich das Bild einstürzender Mauern. Die Angst, die ihn bis zu diesem Augenblick fest im Griff hatte, begann zu verschwinden. Er hatte den Eindruck, dass es in seinem Inneren plötzlich hell und klar wurde und dass die bedrohlichen Schatten sich langsam auflösten. Er legte Nate eine Hand auf die Schulter. „Ja. Manchmal ist es das Beste, noch mal ganz von vorn anzufangen.“ An der Verwunderung in ihrem Blick bemerkte Jameson, dass sie seine innere Verwandlung beobachtet hatte. Er band sich die Schürze ab. „Ich habe etwas Dringendes zu erledigen. Kannst du eine halbe Stunde lang ohne mich auskommen?“ „Natürlich. Was ist denn los?“ Er hastete durch die Küche zum Hintereingang. „Erklär ich dir später!“ rief er und war kurz darauf schon bei seinem Wagen angekommen. Jameson wusste, dass sein ehemaliger Chef Keith Delacroix den Sonntag zu Hause verbrachte. Er wohnte ungefähr zehn Meilen außerhalb der Stadt. Es passte Jameson nicht, seinen Exboss an seinem einzigen freien Tag zu belästigen, aber seine Firma würde ihm die Geräte zur Verfügung stellen, die er für seinen Plan unbedingt brauchte. Auf der Fahrt hatte er den Eindruck, dass sich irgendetwas in seinem Inneren aufbaute. Vorsichtig und sehr zerbrechlich. Er wollte sich nicht zwingen, sondern das Gefühl allein wachsen lassen. Denn wenn die Mauern erst mal niedergerissen waren und er das Licht hereingelassen hatte, dann war die Wahrheit nicht mehr zu leugnen. An jenem Abend fiel Jameson eine ungeheure Last von den Schultern. All das, was ihn jahrelang gequält hatte, war vorüber. Es war nicht besonders viel Betrieb im Cafe gewesen, so dass sie eine Stunde früher schließen konnten. Sie gönnten sich eine Pizza und holten zwei Filme aus der Videothek. Einen Familienfilm und einen Film für Erwachsene, den sie im Kino verpasst hatten. Nachdem Nate zu Bett gegangen war, schmiegte Nina sich auf dem Sofa neben Jameson und schaute sich mit ihm den zweiten Film an. Als der Film halb vorbei war, konzentrierten sie sich nur noch aufeinander und küssten sich leidenschaftlich. Nina hatte nur noch wenige Stücke ihrer Kleidung am Leib, als Jameson sie in sein Schlafzimmer trug, und es dauerte nicht lange, bis sie nackt auf der Matratze lagen. Stunden später war sie eingeschlafen. Plötzlich tauchte ein Albtraum auf. Sie befand sich an einem dunklen Ort und rief nach Nate, doch der antwortete nicht. Sie suchte und suchte und hatte den Eindruck, dass sie immer im Kreis lief, rief nach Nate und nach Jameson, aber niemand antwortete. Die Angst überwältigte sie fast, und in diesem Augenblick erwachte sie. Die Sonne schien ihr mitten ins Gesicht. Im Haus war es verdächtig ruhig. Das Herz hämmerte Nina in der Brust. Es war das einzige Geräusch, das sie hörte. Hastig streifte sie sich das TShirt über, das Jameson in der vergangenen Nacht achtlos zu Boden geworfen hatte, und rannte aus dem Zimmer.
„Jameson? Nate?“ Das Kaminfeuer im Wohnzimmer brannte, aber niemand war zu sehen. Nates Bett war leer. Panisch rannte sie nach draußen, um nach Jamesons Wagen zu schauen. Nichts. Ihr eigenes Auto hatte sie am Abend zuvor hinterm Cafe stehen lassen, weil sie mit Jameson gemeinsam nach Hause hatte fahren wollen. Sie sind bestimmt nur in die Stadt gefahren, beschwichtigte sie sich selbst und unterdrückte die lächerliche Panikattacke. Vielleicht hat Jameson den Servicetechniker für die Spülstraße für heute bestellt. Nina zog sich an, kochte sich einen Kaffee und stellte entsetzt fest, dass die beiden auch in der Küche keine Nachricht hinterlassen hatten. Irgendwann griff Nina nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer des Cafes. Sie wartete den Ansagetext des Anrufbeantworters ab und legte dann wieder auf. Es war fast zehn Uhr. Kurz entschlossen rief sie Jamesons Handy an. Es klingelte im Schlafzimmer. Er hatte es vergessen. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer des Hart Valley Inn. Beth nahm nach dem ersten Klingeln ab, sie plauderten kurz und dann fragte Nina: „Hast du Jameson und Nate heute schon gesehen?“ „Nein, warum fragst du? Mark meinte, dass sie ihm heute früh in Marbleville über den Weg gelaufen sind. Sie sind zur Bank gegangen.“ Zur Bank? Nina konnte sich nicht erklären, was das zu bedeuten hatte. Sie ging zurück ins Wohnzimmer und stellte sich an das Feuer, das Jameson entfacht hatte. Der Vormittag verging nur langsam. Sie trank einen Kaffee nach dem anderen und starrte die Nachrichten im Fernsehen an, ohne dass sie begriff, was dort vor sich ging. Als das Telefon klingelte, raste sie sofort in die Küche und griff nach dem Hörer. „Jameson?“ „Ist Mr. O'Connell zu Hause?“ fragte eine unbekannte männliche Stimme. „Nein.“ Ihr wurde unwohl. „Kann ich ihm etwas ausrichten?“ „Mrs. O'Connell?“ „Ja.“ „Ich bin der Anwalt Ihres Mannes. Er hat mich angerufen, weil er Fragen bezüglich seines Treuhandkontos hatte.“ „Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.“ Sie warf einen Blick auf die Uhr. Fast Mittag. „Er hat mir nicht viel davon erzählt.“ „Wenn Sie ihm nur zwei Dinge ausrichten würden. Das Vermögen gehört nicht in die Ehegemeinschaft. Sie haben keinen Zugriff darauf. Und zweitens… was die Übertragbarkeit angeht…“ „Wie bitte?“ „Mr. O'Connell schien sich Gedanken darüber zu machen, ob er auf das Vermögen zugreifen kann, wenn er sich nicht mehr in der Gegend aufhält. Sie können ihm ausrichten, dass er das Vermögen jederzeit transferieren kann. Wohin er will.“ Der Anwalt hinterließ seine Telefonnummer, aber sie hörte nicht mehr hin. Plötzlich schrie es in ihrem Innern auf, sie ließ den Hörer aus der Hand fallen und rannte in Nates Zimmer. Der Rucksack des Jungen fehlte. Zusammen mit seinem weißen Tiger und den Holzautos, die Jameson für ihn geschnitzt hatte. Sie riss die Kommode auf, konnte aber nicht feststellen, ob irgendetwas fehlte oder nicht. Wenn Jameson seinen Sohn entführen wollte, dann hatte er es nicht nötig, irgendetwas mitzunehmen. Er konnte sich unterwegs alles kaufen, was er brauchte. Nein. Er darf mir Nate nicht wegnehmen. Er kann es nicht. Sie wollte es einfach nicht glauben. Was hatte er neulich Nacht verkündet? Ich würde ihn niemals im
Stich lassen. Niemals. Hat er damit sagen wollen, dass er Nate mitnimmt, wenn er verschwindet? fragte sie sich. Die Knie versagten ihr den Dienst. Nina brach zusammen. Mühsam versuchte sie zu atmen. Mit aller Kraft weigerte sie sich, in den grauenhaften Abgrund zu stürzen, der sich vor ihr auftat. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so zusammengekauert auf dem Boden gehockt hatte, als sie plötzlich das Knirschen der Reifen auf dem Kiesweg hörte. Anschließend vernahm sie, wie Nate die Treppe zur Veranda hinaufrannte, und sie sprang auf, rannte ihm entgegen und riss die Tür auf. „Hi, Mommy!“ grüßte er fröhlich und rannte an ihr vorbei in den Flur. Auf dem Rücken trug er den Rucksack mit dem weißen Tiger. Nina warf sich Jameson in die Arme. „Ich dachte, du hättest mich verlassen.“ Er zog sie eng an sich. „Nina, um Himmels willen, nein, wie könnte ich?“ „Du hast dich merkwürdig verhalten… Und als ihr beide heute Morgen einfach verschwunden wart…“ Jameson trat zurück und schaute sie direkt an. „Du hast geglaubt, dass ich ihn dir wegnehme?“ „Ich konnte es nicht glauben. Und wollte es nicht.“ Die Tränen rannen ihr über die Wangen. „Aber dann hat dein Anwalt angerufen. Wegen des Kontos.“ Er schob sie ins Haus und schloss die Tür. „Ich wollte wissen, ob ich dich extra als verfügungsberechtigt eintragen muss, damit ich sicher sein kann, dass du jederzeit und an jedem Ort auf das Geld zugreifen kannst.“ Sanft strich er ihr über die Wangen. „Nina… als ich den Anwalt das erste Mal angerufen hatte, hatte ich tatsächlich darüber nachgedacht, mich aus dem Staub zu machen. Ich dachte, dass es das Beste wäre… für dich und für Nate.“ Sie legte ihre Hände fest auf seine Hüften. „Es ist das Beste für uns, wenn du bei uns bleibst.“ „Das habe ich inzwischen auch begriffen“, flüsterte er und lehnte seine Stirn gegen ihre. „Und bin nicht geflüchtet.“ „Und wo hast du heute Morgen gesteckt? Mit Nate? Warum hast du keine Nachricht hinterlassen?“ „Weil ich ein Idiot bin. Ich habe es einfach vergessen. Tut mir Leid.“ Er küsste sie auf die Stirn. „Wir waren bei der Bank und dann bei Delacroix Constructions. Bei der Firma, bei der ich nach der Haftentlassung gearbeitet habe. Für Nate habe ich Spielzeug eingepackt, damit er sich nicht langweilt.“ Er führte sie zum Sofa, und sie setzten sich. „Danach haben wir noch einen Spaziergang gemacht. Bestimmt erinnerst du dich an die heruntergekommene Hütte, in der ich aufgewachsen bin. Die fünf Hektar Land, auf der sie stand, gehören mir. Das einzig Wertvolle, was mein Vater mir hinterlassen hat.“ „Und dort warst du heute Morgen?“ Er nickte. „Nate und ich haben nach einem Platz gesucht, wo ich die Urne meines Bruders beerdigen kann. Ich möchte neue Erinnerungen mit diesem Ort verknüpfen. Bessere und schönere Erinnerungen. Die Beerdigung der Urne schien mir genau das Richtige zu sein. Für den Anfang.“ In seinem Blick entdeckte Nina eine Offenheit und Klarheit, die sie früher nicht gesehen hatte. „Jameson, ich liebe dich.“ Er strich ihr über die Wange. „Als du mir zum ersten Mal eine Liebeserklärung gemacht hast, hatte ich unglaubliche Angst, dass ich irgendetwas zerstöre. Ich dachte, wenn ich mich zurückhalte, dann kann ich deine Liebe bewahren. Für später.“ „Wie solltest du meine Liebe zu dir denn zerstören können?“ Ein dicker Kloß saß ihr im Hals. „Selbst wenn es dir niemals gelingt, meine Liebe zu erwidern.“
„Doch, Nina.“ Sein Blick wurde weich. „Ich liebe dich. Mit jeder Faser meines Herzens. Und ich möchte für immer bei dir sein.“ „Für immer“, stimmte sie zu, schmiegte sich eng an ihn und erwiderte seinen Kuss. Vor fünf Jahren hatten sie ihren gemeinsamen Weg begonnen. Mit einer Nacht voller Hitze und Leidenschaft, in der sie ihren Sohn gezeugt hatten. Und jetzt, in diesem Augenblick, waren sie felsenfest davon überzeugt, dass sie auch die kommenden Stürme überstehen würden. Mit einer Liebe, die ihnen jeden Tag den Himmel auf Erden bescherte. ENDE