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Weihnachtsgeschichten Die schönsten Weihnachtsgeschichten aus aller Welt von Charles Dickens bis Georges Simenon Herausgegeben von Christian Strich
Diogenes
Nachweis der einzelnen Erzählungen am Schluß des Bandes Umschlagmotiv: Erich Schmal ›Wien am Hof – Christkindlmarkt‹
Alle Rechte an dieser Auswahl vorbehalten Copyright © 1982 by Diogenes Verlag ag Zürich 100/82/24/I isbn 3 257 05029 1
Inhalt
Charles Dickens
Ein Weihnachtslied in Prosa
Guy de Maupassant
Weihnachtsgeschichte
Alphonse Daudet
Die drei stillen Messen
Michael Saltykow-
Ein Weihnachtsmärchen
Schtschedrin Adalbert Stifter Leo Tolstoi Selma Lagerlöf O. Henry
Bergkristall Wo Liebe ist, da ist Gott Die Heilige Nacht Das Geschenk der Weisen
Anton Čechov
Vanka
Thomas Mann
Weihnacht bei den Buddenbrooks
Ring Lardner
Der Eltern Weihhachtsfest
Bertolt Brecht
Das Paket des lieben Gottes
André Maurois Somerset Maugham
Die Kuckucksuhr Winter-Kreuzfahrt
Muriel Spark
Der Seraph und der Sambesi
Truman Capote
Eine Weihnachtserinnerung
Georges Simenon
Maigrets Weihnachtsfest Nachweis
Charles Dickens Ein Weihnachtslied in Prosa
Erste Strophe: Marleys Geist Marley war tot, damit wollen wir anfangen. Kein Zweifel kann darüber bestehen. Der Schein über seine Beerdigung ward unterschrieben von dem Geistlichen, dem Küster, dem Leichenbestatter und den vornehmsten Leidtragenden. Scrooge unterschrieb ihn, und Scrooges Name wurde auf der Börse respektiert, wo er ihn nur hinschrieb. Der alte Marley war so tot wie ein Türnagel. Versteht mich recht! Ich will nicht etwa sagen, daß ein Türnagel etwas besonders Totes für mich hätte. Ich selbst möchte fast zu der Meinung neigen, daß das toteste Stück Eisen auf der Welt ein Sargnagel sei. Aber die Weisheit unsrer Altvordern liegt in den Gleichnissen, und meine unheiligen Hände sollen sie dort nicht stören, sonst wäre es um das Vaterland geschehen. Man wird mir also erlauben, mit besonderem Nachdruck zu wiederholen, daß Marley so tot wie ein Türnagel war. Wußte Scrooge, daß er tot war? Natürlich wußte er’s. Wie sollte es auch anders sein? Scrooge und er waren, ich weiß nicht seit wieviel Jahren, Kompagnons. Scrooge war sein einziger Testamentsvoll7
strecker, sein einziger Verwalter, sein einziger Erbe, sein einziger Freund und sein einziger Leidtragender. Und selbst Scrooge war von dem traurigen Ereignis nicht so schrecklich mitgenommen, um nicht selbst am Begräbnistag ein vortrefflicher Geschäftsmann sein und ihn mit einem unzweifelhaft guten Handel feiern zu können. Nun bringt mich die Erwähnung von Marleys Begräbnistag wieder zu dem Ausgangspunkt meiner Erzählung zurück. Es gibt keinen Zweifel, daß Marley tot war. Das muß scharf ins Auge gefaßt werden, sonst kann in der Geschichte, die ich erzählen will, nichts Wunderbares geschehen. Wenn wir nicht vollkommen fest überzeugt wären, daß Hamlets Vater tot ist, ehe das Stück beginnt, so wäre durchaus nichts Merkwürdiges in seinem nächtlichen Spaziergang bei scharfem Ostwind auf den Mauern seines eigenen Schlosses. Nicht mehr, als bei jedem andern Herrn in mittleren Jahren, der sich nach Sonnenuntergang rasch zu einem Spaziergang auf einem luftigen Platz entschließt, zum Beispiel auf dem SanktPauls-Kirchhof. Scrooge ließ Marleys Namen nicht ausstreichen. Noch nach Jahren stand über der Tür des Speichers »Scrooge und Marley«. Die Firma war unter dem Namen Scrooge und Marley bekannt. Leute, die Scrooge noch nicht kannten, nannten ihn zuweilen Scrooge und zuweilen Marley; aber er hörte auf beide Namen, denn es galt ihm beides gleich. Oh, er war ein wahrer Blutsauger, dieser Scrooge! 8
Ein gieriger, zusammenkratzender, festhaltender, geiziger alter Sünder: hart und scharf wie ein Kiesel, aus dem noch kein Stahl einen warmen Funken geschlagen hat, verschlossen und selbstgenügsam und ganz für sich, wie eine Auster. Die Kälte in seinem Herzen machte seine alten Gesichtszüge starr, seine spitze Nase noch spitzer, sein Gesicht runzlig, seinen Gang steif, seine Augen rot, seine dünnen Lippen blau, und sie klang aus seiner krächzenden Stimme heraus. Ein frostiger Reif lag auf seinem Haupt, auf seinen Augenbrauen, auf dem starken struppigen Bart. Er schleppte seine eigene niedere Temperatur immer mit sich herum: in den Hundstagen kühlte er sein Kontor wie mit Eis, zur Weihnachtszeit machte er es nicht um ein Grad molliger. Äußere Hitze und Kälte wirkten wenig auf Scrooge. Keine Wärme konnte ihn wärmen, keine Kälte frösteln machen. Kein Wind war schneidender als er, kein Schneegestöber erbarmungsloser, kein klatschender Regen einer Bitte weniger zugänglich. Schlechtes Wetter konnte ihm nichts anhaben. Der ärgste Regen, Schnee oder Hagel konnten sich nur in einer Art rühmen, besser zu sein als er: sie gaben oft im Überfluß, und das tat Scrooge nie und nimmer. Niemals kam ihm jemand auf der Straße entgegen, um mit freundlichen Blicken zu ihm zu sagen: »Mein lieber Scrooge, wie geht’s, wann werden Sie mich einmal besuchen?« Kein Bettler sprach ihn um eine Kleinigkeit an, kein Kind fragte ihn, wie spät es sei, kein Mann und keine Frau hat ihn je in seinem Le9
ben nach dem Weg gefragt. Selbst der Hund des Blinden schien ihn zu kennen, und wenn er ihn kommen sah, zog er seinen Herrn in einen Torweg und wedelte dann mit dem Schwanz, als wollte er sagen: »Gar kein Auge, blinder Herr, ist besser als ein böses Auge.« Doch was kümmerte all das den alten Scrooge? Gerade das gefiel ihm. Allein seinen Weg durch die engen Pfade des Lebens zu wandern, jedem menschlichen Gefühl zu sagen: »Bleibe mir fern«; das war es, was Scrooge gefiel. Einmal, es war von allen guten Tagen im Jahr der beste, der Christabend, saß der alte Scrooge in seinem Kontor. Draußen war es schneidend kalt und neblig, und er konnte hören, wie die Leute im Hof, um sich zu erwärmen, prustend auf und nieder gingen, die Hände aneinanderschlugen und mit den Füßen stampften. Es hatte eben erst drei Uhr geschlagen, doch war es schon stockfinster. Den ganzen Tag über war es nicht hell geworden, und die Kerzen in den Fenstern der benachbarten Kontors flackerten wie rote Flecken auf der dicken braunen Luft. Der Nebel drang durch jede Spalte und durch jedes Schlüsselloch und war draußen so dick, daß die gegenüberliegenden Häuser des sehr kleinen Hofes wie ihre eigenen Geister aussahen. Wenn man die trübe, dicke, alles verfinsternde Wolke heruntersinken sah, hätte man meinen können, die Natur wohne dicht nebenan und braue en gros. Die Tür von Scrooges Kontor stand offen, damit 10
er seinen Kommis beaufsichtigen konnte, der in einem erbärmlich feuchten, kleinen Raum, einer Art Burgverlies, Briefe kopierte. Scrooge hatte nur ein sehr kleines Feuer, aber des Dieners Feuer war um so viel kleiner, daß es nur wie eine einzige Kohle aussah. Er konnte aber nicht nachlegen, denn Scrooge hatte den Kohlenkasten in seinem Zimmer, und jedesmal, wenn der Kommis mit der Kohlenschaufel in der Hand hereinkam, meinte sein Herr, es sei wohl nötig, daß sie sich trennten. Worauf der Kommis seinen weißen Schal umband und versuchte, sich an dem Licht zu wärmen, was aber immer fehlschlug, da er ein Mann von nicht sehr starker Einbildungskraft war. »Fröhliche Weihnachten, Onkel, Gott erhalte Sie!« rief da eine heitere Stimme. Es war die Stimme von Scrooges Neffen, der so schnell hereingekommen war, daß dieser Gruß das erste war, was man von ihm bemerkte. »Pah«, sagte Scrooge, »dummes Zeug!« Der Neffe war vom schnellen Laufen so warm geworden, daß er über und über glühte; sein Gesicht war rot und hübsch, seine Augen glänzten und sein Atem rauchte. »Weihnachten dummes Zeug, Onkel?« sagte Scrooges Neffe. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.« »Es ist mein Ernst«, sagte Scrooge. »Fröhliche Weihnachten? Was für ein Recht hast du, fröhlich zu sein? Was für einen Grund, fröhlich zu sein? Du bist arm genug.« 11
»Nun«, antwortete der Neffe heiter, »was für ein Recht haben Sie, grämlich zu sein? Was für einen Grund, mürrisch zu sein? Sie sind reich genug.« Scrooge, der im Augenblick keine bessere Antwort darauf bereit hatte, sagte noch einmal »Pah!« und brummte hinterher »Dummes Zeug!« »Seien Sie nicht böse, Onkel«, sprach der Neffe. »Was soll ich anderes sein«, antwortete der Onkel, »wenn ich in einer Welt voll solcher Narren lebe? Fröhliche Weihnachten! Der Henker hole die fröhlichen Weihnachten! Was ist Weihnachten für dich anderes, als eine Zeit, in der du Rechnungen bezahlen sollst, ohne Geld zu haben, eine Zeit, in der du dich um ein Jahr älter und nicht um eine Stunde reicher findest, eine Zeit, in der du deine Bücher abschließest und in jedem Posten durch ein volles Dutzend von Monaten ein Defizit siehst? Wenn es nach mir ginge«, setzte Scrooge heftig hinzu, »so müßte jeder Narr, der mit seinem ›Fröhliche Weihnachten‹ herumläuft, mit seinem eigenen Pudding gekocht und mit einem Stechpalmenzweig im Herzen begraben werden.« »Onkel!« bat der Neffe. »Neffe«, antwortete der Onkel erbost, »feiere du Weihnachten nach deiner Art und laß es mich nach meiner feiern.« »Feiern!« wiederholte Scrooges Neffe. »Aber Sie feiern es ja nicht.« »Laß mich ungeschoren«, brummte Scrooge. »Mag es dir Nutzen bringen! Es hat dir ja immer schon Nutzen gebracht.« 12
»Es gibt viele Dinge, die mir hätten nützen können und die ich nicht genutzt habe, das weiß ich«, antwortete der Neffe, »und Weihnachten ist eins davon. Aber ich weiß gewiß, daß ich Weihnachten, abgesehen von der Verehrung, die wir seinem heiligen Namen und Ursprung schuldig sind, immer als eine gute Zeit betrachtet habe, als eine liebe Zeit, als die Zeit der Vergebung und Barmherzigkeit, als die einzige Zeit, die ich in dem ganzen langen Jahreskalender kenne, da die Menschen einträchtig ihre verschlossenen Herzen auftun und die andern Menschen ansehen, als wären sie wirklich Reisegefährten nach dem Grabe und nicht eine ganz andere Art von Geschöpfen, die einen ganz andern Weg gehen. Und daher, Onkel, wenn es mir auch niemals ein Stück Gold oder Silber in die Tasche gebracht hat, daher glaube ich doch, es hat mir Gutes getan, und es wird mir Gutes tun, und ich sage ›Gott segne das Weihnachtsfest!‹« Der Diener in dem Burgverlies draußen applaudierte unwillkürlich; aber im Augenblick darauf fühlte er auch die Unschicklichkeit seines Betragens, schürte die Kohlen und löschte dadurch die letzten kleinen Funken unwiederbringlich. »Wenn Sie da drin mich noch einen einzigen Laut hören lassen«, sagte Scrooge, »so feiern Sie Ihre Weihnachten mit dem Verlust Ihrer Stelle. – Du bist ein ganz gewaltiger Redner«, fügte er dann hinzu, sich zu seinem Neffen wendend. »Es wundert mich, daß du noch nicht ins Parlament gekommen bist!« 13
»Seien Sie nicht böse, Onkel. Essen Sie morgen mit uns.« Scrooge sagte, daß er ihn erst verdammt sehen wolle; ja wahrhaftig, er sprach sich so deutlich aus. »Aber warum?« rief Scrooges Neffe. »Warum denn?« »Warum hast du dich verheiratet?« fragte Scrooge. »Weil ich mich verliebte.« »Weil er sich verliebte!« brummte Scrooge, als sei dies das einzige Ding in der Welt, das noch lächerlicher als eine fröhliche Weihnacht ist. »Guten Abend!« »Aber Onkel, Sie haben mich ja auch vorher nie besucht. Warum soll es da ein Grund sein, mich jetzt nicht zu besuchen?« »Guten Abend!« sagte Scrooge. »Ich brauche nichts von Ihnen, ich verlange nichts von Ihnen, warum können wir nicht Freunde sein?« »Guten Abend!« sagte Scrooge. »Ich bedaure wirklich von Herzen, Sie so hartnäkkig zu finden. Wir haben nie einen Zank miteinander gehabt, an dem ich schuld gewesen wäre. Aber ich habe den Versuch gemacht, Weihnachten zu Ehren, und ich will meine Weihnachtsstimmung bis zuletzt behalten. Fröhliche Weihnachten, Onkel!« »Guten Abend!« sagte Scrooge. »Und ein glückliches Neujahr!« »Guten Abend!« sagte Scrooge. Trotz allem verließ der Neffe das Zimmer ohne ein böses Wort. An der Haustür blieb er dann stehen, 14
um mit dem Glückwunsch des Tages den Kommis zu begrüßen, der trotz der Kälte dennoch wärmer war als Scrooge, denn er gab den Gruß freundlich zurück. »Das ist auch so ein Kerl!« brummte Scrooge, der es hörte. »Mein Kommis, mit fünfzehn Shilling die Woche und Frau und Kindern, spricht von fröhlichen Weihnachten. Ich gehe nach Bedlam ins Irrenhaus.« Der Kommis hatte, als er den Neffen hinausließ, zwei andere Personen eingelassen. Es waren zwei behäbige, wohlansehnliche Herren, die jetzt, mit dem Hut in der Hand, in Scrooges Kontor standen. Sie hatten Bücher und Papiere unterm Arm und verbeugten sich. »Scrooge und Marley, glaube ich«, sagte einer der Herren, indem er auf seine Liste sah. »Hab ich die Ehre, mit Mr. Scrooge oder mit Mr. Marley zu sprechen?« »Mr. Marley ist seit sieben Jahren tot«, antwortete Scrooge. »Er starb heute vor sieben Jahren.« »Wir zweifeln nicht, daß sein überlebender Kompagnon ganz seine Freigebigkeit besitzen wird«, sagte der Herr, indem er ihm sein Beglaubigungsschreiben überreichte. Er hatte ganz recht, denn sie waren wirklich zwei verwandte Seelen gewesen. Bei dem ominösen Wort Freigebigkeit runzelte Scrooge die Stirn, schüttelte den Kopf und gab das Papier zurück. »An diesem festlichen Tage des Jahres, Mr. Scroo15
ge«, sagte der Herr, eine Feder ergreifend, »ist es mehr als sonst wünschenswert, wenigstens einigermaßen für die Armen zu sorgen, die zu dieser Zeit in großer Bedrängnis leben. Vielen Tausenden fehlen selbst die notwendigsten Bedürfnisse, Hunderttausenden die notdürftigsten Bequemlichkeiten des Lebens.« »Gibt es keine Gefängnisse?« fragte Scrooge. »Überfluß an Gefängnissen«, sagte der Herr, die Feder wieder hinlegend. »Und die Armenhäuser?« fragte Scrooge. »Bestehen die noch?« »Allerdings«, antwortete der Herr, »aber doch wünschte ich, sie brauchten weniger in Anspruch genommen zu werden.« »Tretmühle und Armengesetz sind in voller Kraft?« sagte Scrooge. »Beide haben alle Hände voll zu tun.« »So? Nach dem, was Sie zuerst sagten, fürchtete ich, es halte sie etwas in ihrem nützlichen Gang auf«, sagte Scrooge. »Ich freue mich, das Gegenteil zu hören.« »In der Überzeugung, daß sie doch wohl kaum imstande sind, der Seele oder dem Leib der Armen christliche Stärkung zu geben«, entgegnete der Herr, »sind einige von uns zur Veranstaltung einer Sammlung zusammengetreten, um für die Armen Nahrungsmittel und Feuerung anzuschaffen. Und wir wählen diese Zeit, weil sie vor allen andern eine Zeit ist, da der Mangel am bittersten gefühlt wird und nur 16
der Reiche sich freut. Welche Summe darf ich für Sie aufschreiben?« »Nichts«, antwortete Scrooge. »Sie wünschen ungenannt zu bleiben?« »Ich wünsche, daß man mich in Ruhe läßt«, sagte Scrooge. »Da Sie mich fragen, meine Herren, was ich wünsche, so ist eben dies meine Antwort. Ich freue mich selbst nicht zu Weihnachten und habe nicht die Mittel, mit meinem Geld Faulenzern Freude zu machen. Ich trage meinen Teil zu den Anstalten bei, die ich genannt habe; sie kosten genug, und wem es schlecht geht, der mag dorthin gehen!« »Viele können nicht hingehen, und viele würden eher sterben.« »Wenn sie eher sterben würden«, sagte Scrooge, »so wäre es gut, wenn sie es täten und die überflüssige Bevölkerung dadurch verminderten. Übrigens, Sie entschuldigen, ich weiß nichts davon.« »Aber Sie könnten es wissen«, bemerkte der Herr. »Es kümmert mich nichts«, antwortete Scrooge. »Es genügt, wenn ein Mann sein eigenes Geschäft versteht und sich nicht in das anderer Leute mischt. Das meinige nimmt meine ganze Zeit in Anspruch. Guten Abend, meine Herren!« Da sie deutlich einsahen, wie vergeblich weitere Versuche sein würden, zogen sich die Herren zurück. Scrooge setzte sich wieder an die Arbeit mit einer erhöhten Meinung von sich selbst und in einer bessern Laune als gewöhnlich. Nebel und Dunkelheit hatten inzwischen so zuge17
nommen, daß die Leute mit brennenden Fackeln herumliefen, um den Wagen vorzuleuchten. Der alte Kirchturm, dessen brummende alte Glocke sonst unverwandt aus einem alten gotischen Fenster in der Mauer listig auf Scrooge herabsah, wurde unsichtbar in den Wolken und schlug die Stunden und Viertel mit einem zitternden Nachklang, als wenn in dem erfrorenen Kopfe droben die Zähne klapperten. Die Kälte wurde immer schneidender. In der Hauptstraße an der Ecke der Sackgasse wurden die Gasleitungen ausgebessert, und die Arbeiter hatten ein großes Feuer in einer Kohlenpfanne angezündet. Darum herum drängten sich einige zerlumpte Männer und Knaben, die über den Flammen behaglich blinzelnd sich die Hände wärmten. Aus der eisernen Pumpe, sich selbst überlassen, floß ungehindert Wasser aus, aber bald war es zu Eis erstarrt. Der Lichtschimmer der Läden, in deren Fenstern Stechpalmenzweige und Beeren in der Lampenwärme knisterten, rötete die bleichen Gesichter der Vorübergehenden. Die Gewölbe der Geflügel- und Materialwarenhändler sahen aus wie ein glänzendes, fröhliches Märchenland, und es schien fast unmöglich, damit den Gedanken von einer so langweiligen Sache wie Kauf und Verkauf zu verbinden. Der Lord Mayor gab in den innern Gemächern des Mansion House seinen fünfzig Köchen und Kellermeistern Befehl, Weihnachten zu feiern, wie es eines Lord Mayors würdig ist, und selbst der kleine Schneider, den er am Montag vorher wegen Trunkenheit und blutrünstiger Äußerungen in der Öffent18
lichkeit mit fünf Shilling gestraft hatte, rührte den Pudding für morgen in seinem Dachkämmerchen, während seine magere Frau mit dem Säugling auf dem Arm wegging, um das Roastbeef zu kaufen. Immer nebliger und kälter wurde es, durchdringend, schneidend kalt. Wenn der gute, heilige Dunstan die Nase des Gottseibeiuns nur mit einem Hauch von diesem Wetter gefaßt hätte, anstatt seine gewöhnlichen Waffen zu gebrauchen, dann hätte er wohl recht gebrüllt. Der Inhaber einer kleinen, jungen Nase, an der die hungrige Kälte biß und nagte, wie Hunde an einem Knochen, legte sich an Scrooges Schlüsselloch, um ihn mit einem Weihnachtsliede zu erfreuen. Aber beim ersten Ton des Liedes ergriff Scrooge das Lineal mit einer solchen Heftigkeit, daß der Sänger voll Schrecken entfloh und das Schlüsselloch dem Nebel und dem noch verwandteren Frost überließ. Endlich kam die Feierabendstunde. Unwillig stieg Scrooge von seinem Sessel und gab dadurch dem harrenden Kommis in dem Verlies stillschweigend die Einwilligung zum Aufbruch, worauf dieser sogleich das Licht auslöschte und den Hut aufsetzte. »Sie wollen morgen den ganzen Tag frei haben, vermute ich«, sagte Scrooge. »Wenn es Ihnen recht ist, Sir.« »Es ist mir durchaus nicht recht«, sagte Scrooge, »und es gehört sich auch nicht. Wenn ich Ihnen eine halbe Krone dafür abzöge, würden Sie denken, es geschähe Ihnen Unrecht, nicht wahr?« 19
Der Kommis antwortete mit einem gezwungenen Lächeln. »Und doch«, sagte Scrooge, »denken Sie nicht daran, daß mir Unrecht geschieht, wenn ich einen Tag Lohn bezahle für einen Tag Faulenzen.« Der Kommis bemerkte, daß es ja nur einmal im Jahr geschähe. »Eine armselige Entschuldigung, um an jedem fünfundzwanzigsten Dezember eines Mannes Tasche zu bestehlen«, murrte Scrooge, indem er seinen Überrock bis an das Kinn zuknöpfte. »Aber ich vermute, Sie wollen den ganzen Tag frei haben? Seien Sie dafür übermorgen um so früher hier!« Der Kommis versprach es, und Scrooge ging mit einem Brummen fort. Das Kontor war im Nu geschlossen, und der Kommis, dem die langen Enden seines weißen Schals um die Beine baumelten, schlitterte zu Ehren des Festes in einer Reihe von Knaben zwanzigmal Cornhill hinunter; dann lief er so schnell wie möglich in seine Wohnung in Camden Town, um dort Blindekuh zu spielen. Scrooge nahm sein einsames, trübseliges Mahl in seinem gewöhnlichen, einsamen, trübseligen Gasthaus ein, und nachdem er alle Zeitungen gelesen und sich den Rest des Abends mit seinem Bankjournal vertrieben hatte, ging er nach Hause zurück, um zu schlafen. Er wohnte in den Zimmern, die seinem verstorbenen Kompagnon gehört hatten. Es war eine düstere Flucht von Zimmern in einem niedrigen, dunklen Gebäude, das in seinen Hof so ganz und gar 20
nicht hineinpaßte, daß man fast hätte glauben mögen, es habe sich, als es noch ein junges Haus war und mit andern Häusern Versteck spielte, dorthin verlaufen und nicht wieder hinausfinden können. Jetzt war es alt und öde, weil niemand dort wohnte als Scrooge und alle andern Örtlichkeiten als Geschäftsräume vermietet waren. Der Hof war so dunkel, daß selbst Scrooge, der dort jeden Pflasterstein kannte, seinen Weg mit den Händen ertasten mußte. Der Nebel und der Frost ballten sich so dick und schwer um den schwarzen alten Torweg des Hauses, als hocke der Wettergeist in trübem Sinnen auf der Schwelle. Nun steht es fest, daß an dem Klopfer der Haustür ganz und gar nichts Besonderes war als seine Größe. Auch steht es fest, daß ihn Scrooge jeden Abend und jeden Morgen, seitdem er das Haus bewohnte, gesehen hatte und daß Scrooge so wenig Phantasie besaß, als irgend jemand in der City von London, mit Einschluß des Stadtrats – wenn das zu sagen erlaubt ist –, der Aldermen und der Zünfte. Man vergesse auch nicht, daß Scrooge, außer heute nachmittag, keine Sekunde an seinen vor sieben Jahren verstorbenen Kompagnon gedacht hatte. Und dann erkläre mir jemand, warum Scrooge, als er seinen Schlüssel in das Türschloß steckte, in dem Klopfer, ohne daß dieser sich vor seinen Augen verändert hätte, keinen Türklopfer, sondern Marleys Gesicht sah! Ja, Marleys Gesicht. Es war nicht von so undurchdringlichem Dunkel umgeben, wie die andern Gegenstände im Hof, sondern von einem unheimlichen 21
Licht, wie ein verdorbener Hummer in einem dunklen Keller. Es blickte ihm nicht wild entgegen, oder zürnend, sondern sah Scrooge an, wie ihn Marley gewöhnlich angesehen hatte, die gespenstige Brille auf die gespenstige Stirn hinaufgeschoben. Das Haar stand ihm seltsam zu Berg, wie von Atem oder heißer Luft gesträubt, und obgleich die Augen weit offen standen, waren sie doch ohne jede Bewegung. Dies und die leichenhafte Farbe machten das Gesicht schrecklich: aber diese Schrecklichkeit schien eher etwas dem Gesicht Aufgezwungenes zu sein, als ein Teil seines Ausdruckes. Als Scrooge fest auf die Erscheinung blickte, da sah er wieder einen Türklopfer! Es wäre eine Unwahrheit zu sagen, er sei nicht erschrocken oder sein Blut habe nicht ein grausendes Gefühl durchzuckt, das ihm seit seiner Kindheit unbekannt geblieben war. Aber gewaltsam faßte er sich, faßte mit der Hand abermals nach dem Schlüssel, drehte ihn um, trat in das Haus und zündete sein Licht an. Und doch zögerte er einen Augenblick, bevor er die Tür schloß, und spähte erst vorsichtig dahinter, als fürchte er wirklich, mit dem Anblick von Marleys Zopf erschreckt zu werden. Aber hinter der Tür war nichts als die Schrauben, die den Klopfer festhielten, und so sagte er: »Bah, bah«, und warf sie hinter sich ins Schloß. Der Schall klang wie ein Donner durch das Haus. Jedes Zimmer oben und jedes Faß in des Weinhänd22
lers Keller unten schien mit seinem besonderen Echo zu antworten. Scrooge war nicht der Mann, der sich durch Echos erschrecken ließ. Er schloß die Tür, ging über den Hausflur und die Treppe hinauf, und zwar langsam, langsam und beim Hinaufgehen das Licht heller machend. Man mag behaupten, daß sich’s mit einem Sechsspänner eine stattliche alte Treppenflucht hinaufoder mitten durch ein neues Parlamentsdekret hindurchsausen lasse; ich sage aber, daß man mit einem Leichenwagen, und zwar der Quere nach, mit der Deichsel nach der Wand und mit der Tür nach dem Geländer zu, diese Treppe hinaufgekommen wäre, und zwar ganz bequem. Und das ist vielleicht die Ursache, warum Scrooge glaubte, er sähe einen Leichenwagen vor sich hinaufdampfen. Ein halbes Dutzend Gaslampen von der Straße aus hätten den Eingang nicht hell genug gemacht, und so kann man sich denken, daß es bei Scrooges kleinem Talglicht ziemlich dunkel blieb. Scrooge aber ging hinauf und kümmerte sich keinen Pfifferling um all das. Dunkelheit ist billig, und das Billige liebte Scrooge. Aber ehe er seine schwere Tür zumachte, ging er durch die Zimmer, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei. Er erinnerte sich des Gesichts noch gerade genug, um das zu wünschen. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Rumpelkammer, alles war, wie es sein sollte. Niemand unter dem Tisch, niemand unter dem Sofa; ein kleines Feuer auf dem Rost, Löffel und Teller bereit und das kleine Töpf23
chen Haferschleim (Scrooge hatte den Schnupfen) auf dem Feuer. Niemand unter dem Bett, niemand im Alkoven, niemand in seinem Schlafrock, der auf eine ganz verdächtige Weise an der Wand hing. Die Rumpelkammer wie gewöhnlich. Ein alter Kaminschirm, alte Schuhe, zwei Fischkörbe, ein dreibeiniger Waschtisch und ein Schüreisen. Vollkommen zufriedengestellt, machte er die Tür zu, schloß sich ein und schob noch den Riegel vor, was sonst seine Gewohnheit nicht war. So gegen Überraschung sichergestellt, legte er seine Halsbinde ab, zog seinen Schlafrock an und die Pantoffeln, setzte die Nachtmütze auf und nahm dann vor dem Feuer Platz, um seinen Haferschleim zu essen. Es war wirklich ein sehr kleines Feuer, in einer so kalten Nacht so gut wie gar keins. Er mußte sich dicht daran setzen und sich darüber hinbeugen, um das geringste Wärmegefühl von dieser Handvoll Kohlen zu erhaschen. Der Kamin war vor langen Jahren von einem holländischen Kaufmann gebaut worden und ringsum mit seltsamen holländischen Fliesen mit Bildern aus der biblischen Geschichte belegt. Da sah man Kain und Abel, Pharaos Töchter, die Königin von Saba, Engel durch die Luft auf Wolken gleich Federbetten herabschwebend, Abraham, Belsazar, Apostel in See gehend auf Butterschiffen, Hunderte von Figuren, seine Gedanken zu beschäftigen, und doch kam das Gesicht Marleys wie der Stab des alten Propheten und verschlang alles andere. Wenn jede glänzende Fliese weiß gewesen wäre und 24
die Macht gehabt hätte, aus den vereinzelten Fragmenten seiner Gedanken ein Bild auf ihre Fläche zu zaubern, auf jeder wäre ein Abbild von des alten Marley Gesicht erschienen. »Dummes Zeug!« brummte Scrooge und schritt durch das Zimmer. Nachdem er einige Male auf und ab gegangen war, setzte er sich wieder. Als er den Kopf in den Stuhl zurücklegte, fiel sein Auge wie durch Zufall auf eine Klingel, eine alte, nicht mehr gebrauchte Klingel, die zu einem jetzt vergessenen Zwecke mit einem Zimmer im obersten Stockwerk des Hauses in Verbindung stand. Zu seinem großen Erstaunen und mit einem seltsamen, unerklärlichen Schauer sah er, wie die Klingel sich zu bewegen begann: erst bewegte sie sich so wenig, daß sie kaum einen Ton von sich gab, aber bald schellte sie laut und mit ihr jede andre Klingel seines Hauses. Das mochte eine halbe Minute gedauert haben, oder eine ganze, aber es kam ihm vor wie eine Stunde. Die Klingeln hörten gleichzeitig auf, wie sie gleichzeitig angefangen hatten. Dann vernahm man ein Rasseln tief unten, als ob jemand über die Fässer in des Weinhändlers Keller eine schwere Kette schleppe. Jetzt erinnerte sich Scrooge, gehört zu haben, daß Gespenster Ketten schleppen. Die Kellertür flog mit einem dumpf dröhnenden Knall auf, und dann hörte er das Klirren viel lauter auf dem Hausflur unten, dann wie es die Treppe herauf- und dann wie es gerade auf seine Tür zukam. 25
»Es ist ja dummes Zeug«, sagte Scrooge. »Ich glaube nicht dran.« Aber er wechselte doch die Farbe, als es nun ohne zu verweilen durch die schwere Tür und in das Zimmer kam. Als es hereintrat, flammte das sterbende Feuer auf, als riefe es: »Ich kenne ihn, Marleys Geist!«, und die Glut sank wieder zusammen. Dasselbe Gesicht, ganz dasselbe. Marley mit seinem Zopf, seiner gewöhnlichen Weste, den engen Hosen und hohen Stiefeln, deren Troddeln in die Höhe standen, wie sein Zopf, und ebenso seine Rockschöße und das Haar auf seinem Kopf. Die Kette, die er hinter sich herschleppte, war um seinen Leib geschlungen. Sie war lang, ringelte sich wie ein Schwanz und war (Scrooge betrachtete sie sehr genau) aus Geldkassen, Schlüsseln, Schlössern, Hauptbüchern, Kontrakten und schweren Börsen aus Stahl zusammengesetzt. Sein Leib war so durchsichtig, daß Scrooge durch die Weste hindurch zwei Knöpfe hinten auf seinem Rock sehen konnte. Scrooge hatte oft sagen gehört, Marley habe kein Herz, aber erst jetzt glaubte er es. Nein, er glaubte es selbst jetzt noch nicht. Obgleich er das Gespenst durch und durch und vor sich stehen sah, obgleich er den erkältenden Schauer seiner totenstarren Augen fühlte und selbst den Stoff des Tuches erkannte, das ihm um Kopf und Kinn gebunden war und das er früher nicht bemerkt hatte, war er dennoch ungläubig und sträubte sich gegen das Zeugnis seiner Sinne. 26
»Nun«, sagte Scrooge, scharf und kalt wie gewöhnlich, »was wollt Ihr?« »Viel!« Das war Marleys Stimme. »Wer seid Ihr?« »Fragt mich, wer ich war.« »Nun, wer wart Ihr?« sagte Scrooge lauter. »Für einen Schatten seid Ihr ja sonderbar.« »Als ich lebte, war ich Euer Kompagnon, Jacob Marley.« »Könnt Ihr Euch setzen?« fragte Scrooge und sah ihn zweifelnd an. »Ich kann es.« »So tut’s.« Scrooge fragte nur, weil er nicht wußte, ob sich ein so durchsichtiger Geist setzen könne, und er fühlte die Notwendigkeit einer unangenehmen Erklärung, wenn es ihm nicht möglich wäre. Aber der Geist setzte sich auf der andern Seite des Kamins nieder, als sei er es so gewohnt. »Ihr glaubt nicht an mich?« fragte der Geist. »Nein«, sagte Scrooge. »Welches Zeugnis, außer dem Eurer Sinne, wollt Ihr von meiner Wirklichkeit haben?« »Ich weiß nicht«, sprach Scrooge. »Warum glaubt Ihr Euern Sinnen nicht?« »Weil sie die geringste Kleinigkeit stört«, entgegnete Scrooge. »Eine kleine Unpäßlichkeit des Magens macht sie zu Lügnern. Ihr könnt ein unverdautes Stück Rindfleisch, ein Käserindchen, ein Stückchen schlechter Kartoffeln sein. Wer Ihr auch sein 27
möget, Ihr habt mehr vom Unterleib, als von der Unterwelt an Euch.« Es war nicht eben Scrooges Gewohnheit, Witze zu machen, auch fühlte er eben jetzt keine besondere Lust dazu. Die Wahrheit ist, daß er sich bestrebte lustig zu sein, um sich zu erleichtern und sein Entsetzen niederzuhalten; denn die Stimme des Geistes ließ ihn bis ins Mark erzittern. Diesen starren, toten Augen nur einen Augenblick schweigend gegenüberzusitzen, wäre teuflisch gewesen, das fühlte Scrooge wohl. Auch daß das Gespenst seine eigene höllische Atmosphäre hatte, war so grauenerregend. Scrooge fühlte sie nicht selbst, aber doch mußte es so sein; denn obgleich das Gespenst ganz regungslos dasaß, bewegten sich sein Haar, seine Rockschöße und seine Stiefeltroddeln wie von dem heißen Dunst eines Ofens. »Ihr seht diesen Zahnstocher«, sprach Scrooge, seinen Angriff aus dem eben angeführten Grunde sogleich aufs neue beginnend und von dem Wunsch beseelt, den starren, eisigen Blick des Gespenstes, wenn auch nur für einen Augenblick, von sich abzulenken. »Ja«, antwortete der Geist. »Ihr schaut ihn ja nicht an«, sagte Scrooge. »Aber ich sehe ihn trotzdem«, sprach das Gespenst. »Gut denn«, antwortete Scrooge. »Ich brauche ihn nur hinunterzuschlucken und mein ganzes übriges Leben hindurch verfolgen mich eine Legion Kobol28
de, die ich selbst erschaffen habe. Dummes Zeug, sag ich, dummes Zeug!« Bei diesen Worten stieß das Gespenst einen markerschütternden Schrei aus und ließ seine Kette so grauenerregend und fürchterlich klirren, daß sich Scrooge fest an seinen Stuhl halten mußte, um nicht ohnmächtig herunterzufallen. Aber wie wuchs sein Entsetzen, als das Gespenst das Tuch von dem Kopfe nahm, als wär es ihm zu warm im Zimmer, so daß der Unterkiefer auf die Brust herunterklappte. Scrooge fiel auf die Knie nieder und schlug die Hände vors Gesicht. »Gnade!« rief er. »Schreckliche Erscheinung, warum verfolgst du mich?« »Mensch mit dem irdisch-gesinnten Verstand«, entgegnete der Geist, »glaubst du an mich oder nicht?« »Ich glaube«, sagte Scrooge, »ich muß glauben. Aber warum wandeln Geister auf Erden, und warum kommen sie zu mir?« »Von jedem Menschen wird verlangt, daß seine Seele unter seinen Mitmenschen wandle, in die Ferne und in die Nähe«, antwortete der Geist; »und wenn die Seele dies während des Lebens nicht tut, so ist sie verdammt, es nach dem Tode zu tun. Man ist verdammt, durch die Welt zu wandern – ach, wehe mir! – und zu sehen, was man nicht teilen kann, was man aber auf Erden hätte teilen können und zu seinem Glück anwenden sollen.« Und wieder stieß das Gespenst einen Schrei aus 29
und schüttelte seine Ketten und rang die schattenhaften Hände. »Du bist gefesselt«, sagte Scrooge zitternd. »Sage mir, warum?« »Ich trage die Kette, die ich während meines Lebens geschmiedet habe«, sprach der Geist. »Ich schmiedete sie Glied für Glied und Elle für Elle; mit meinem eigenen freien Willen lud ich sie mir auf, und mit meinem eigenen freien Willen trug ich sie. Ihre Glieder kommen dir seltsam vor?« Scrooge zitterte mehr und mehr. »Oder willst du wissen«, fuhr der Geist fort, »wie schwer und wie lang die Kette ist, die du selber trägst? Sie war gerade so lang und so schwer wie diese hier, vor sieben Weihnachten. Seitdem hast du daran gearbeitet! Es ist eine schwere Kette.« Scrooge sah auf den Boden hinab, in der Erwartung, sich von fünfzig oder sechzig Ellen Eisenkette umschlungen zu sehen; aber er sah nichts. »Jacob«, sagte er flehend. »Jacob Marley, sage mir mehr. Sprich mir Trost zu, Jacob.« »Ich habe keinen Trost zu geben«, antwortete der Geist. »Er kommt von andern Regionen, Ebenezer Scrooge, und wird von andern Boten zu andern Menschen gebracht. Auch kann ich dir nicht sagen, was ich dir sagen möchte. Ein klein wenig mehr ist alles, was mir erlaubt ist. Nirgends kann ich rasten oder ruhen. Mein Geist ging nie über unser Kontor hinaus – merke wohl auf – im Leben blieb mein Geist immer in den engen Grenzen unsrer scha30
chernden Höhle; und weite Reisen liegen noch vor mir.« Scrooge hatte die Gewohnheit, wenn er nachdenklich wurde, die Hand in die Hosentasche zu stecken. Über das nachsinnend, was der Geist sagte, tat er es auch jetzt, aber ohne die Augen zu erheben oder vom Stuhl aufzustehen. »Du mußt dir aber viel Zeit gelassen haben, Jacob«, bemerkte er im Ton eines Geschäftsmannes, obgleich mit viel Demut und Ehrerbietung. »Viel Zeit!« wiederholte der Geist. »Sieben Jahre tot«, sagte sinnend Scrooge. »Und die ganze Zeit über gereist.« »Die ganze Zeit«, sagte der Geist. »Ohne Frieden, ohne Ruhe und mit den Qualen ewiger Reue.« »Du reisest schnell«, sagte Scrooge. »Auf den Schwingen des Windes«, sagte der Geist. »Du hättest eine große Strecke in sieben Jahren bereisen können«, sagte Scrooge. Als der Geist dies hörte, stieß er wieder einen Schrei aus und klirrte so gräßlich mit seiner Kette durch das Grabesschweigen der Nacht, daß ihn die Polzei mit vollem Recht wegen Ruhestörung hätte bestrafen können. »Oh, gefangen und gefesselt«, rief das Gespenst, »nicht zu wissen, daß Zeitalter von unaufhörlicher Arbeit unsterblicher Geschöpfe vergehen, ehe sich das Gute, dessen die Erde fähig ist, entwickeln kann. Nicht zu wissen, daß jeder christliche Geist dieses Erdenleben zu kurz finden wird, um alles Nützliche 31
zu tun, und wenn er auch in einem noch so kleinen Kreise wirkt. Aber ich wußte es nicht, ach, ich wußte es nicht!« »Aber du warst immer ein guter Geschäftsmann, Jacob«, stotterte Scrooge zitternd, der jetzt anfing, das Schicksal des Geistes auf sich selbst zu beziehen. »Geschäft!« rief das Gespenst, seine Hände abermals ringend. »Der Mensch wäre mein Geschäft gewesen! Das allgemeine Wohl wäre mein Geschäft gewesen! Barmherzigkeit, Versöhnlichkeit und Liebe, alles das wäre mein Geschäft gewesen! Alles, was ich in meinem Gewerbe tat, war nur ein kleiner Tropfen Wasser im weiten Ozean meines Geschäfts!« Er hielt seine Kette vor sich hin, als ob sie die Ursache seines nutzlosen Schmerzes gewesen wäre, und warf sie abermals dumpfdröhnend nieder. »Zu dieser Zeit des schwindenden Jahres«, sagte das Gespenst, »leide ich am meisten. Warum ging ich mit zur Erde gehefteten Augen durch die Schar meiner Mitmenschen und wendete meinen Blick nie zu dem gesegneten Stern empor, der die Weisen zur Wohnung der Armut führte? Gab es keine arme Hütte, wohin mich sein Licht hätte leiten können?« Scrooge hörte mit Entsetzen das Gespenst so reden und fing an gewaltig zu zittern. »Höre mich«, mahnte der Geist. »Meine Zeit ist bald vorbei.« »Ich höre«, hauchte Scrooge. »Aber mach es gnädig mit mir! Werde nicht hitzig, Jacob, ich bitte dich.« 32
»Wie es kommt, daß ich in einer dir sichtbaren Gestalt vor dich treten kann, das weiß ich nicht. Viele, viele Tage habe ich unsichtbar neben dir gesessen.« Das war kein angenehmer Gedanke. Scrooge schauderte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Es ist kein leichter Teil meiner Sühne«, fuhr der Geist fort. »Heute nacht komme ich zu dir, um dich zu warnen, da du noch die Möglichkeit hast, meinem Schicksal zu entgehen. Eine Möglichkeit und eine Hoffnung, die du mir zu verdanken hast.« »Du bist immer mein guter Freund gewesen«, murmelte Scrooge. »Ich danke dir.« »Drei Geister«, fuhr das Gespenst fort, »werden zu dir kommen.« Bei diesen Worten wurde Scrooges Angesicht fast so unglücklich wie das des Gespenstes. »Ist das die Möglichkeit und die Hoffnung, die du genannt hast, Jacob?« fragte er mit bebender Stimme. »Ja.« »Ich – ich möchte lieber nicht«, sagte Scrooge. »Ohne ihr Kommen«, sagte der Geist, »kannst du nicht hoffen, den Pfad zu vermeiden, dem ich nun folgen muß. Erwarte den ersten morgen früh, wenn die Glocke eins schlägt.« »Könnte ich sie nicht alle miteinander hinter mich bringen?« meinte Scrooge. »Erwarte den zweiten in der nächsten Nacht um dieselbe Stunde. Den dritten in der darauffolgenden 33
Nacht, wenn der letzte Schlag der zwölften Stunde verklungen ist. Schau mich an, denn du siehst mich nicht wieder; und schau mich an, damit du dich um deinetwillen an das erinnerst, was zwischen uns vorgefallen ist.« Als es diese Worte gesprochen hatte, nahm das Gespenst das Tuch vom Tisch und band es sich wieder um den Kopf. Scrooge merkte das am Geräusch der Zähne, als die Kinnladen zusammenklappten. Er wagte, die Augen zu erheben, und sah seinen übernatürlichen Besuch vor sich stehen, die Augen noch starr auf ihn geheftet und die Kette um Leib und Arme gewunden. Die Erscheinung entfernte sich rückwärtsgehend, und bei jedem Schritt öffnete sich das Fenster ein wenig, so daß es weit offen stand, als das Gespenst es erreicht hatte. Es winkte Scrooge, näher zu kommen, und er tat es. Als sie noch zwei Schritte voneinander entfernt waren, hob Marleys Geist die Hand und gebot ihm, nicht näher zu kommen. Scrooge stand still. Mehr aus Überraschung und Furcht als aus Gehorsam, denn wie sich die gespenstige Hand erhob, hörte er durch die Luft verwirrte Klänge schwirren und unzusammenhängende Töne der Klage und des Leides, unsäglich schmerzlich und reuevoll. Das Gespenst hörte eine Weile zu und stimmte dann in das Klagelied ein; dann schwebte es in die dunkle, kalte Nacht hinaus. Scrooge trat an das Fenster, von Neugier fast zur Verzweiflung getrieben. Er sah hinaus. 34
Die Luft war mit Schatten angefüllt, die in ruheloser Hast klagend hin und her schwebten. Jeder trug eine Kette wie Marleys Geist; einige wenige waren zusammengeschmiedet (wahrscheinlich schlechte Minister), keiner war ganz fessellos. Viele waren Scrooge während ihres Lebens bekannt gewesen. Ganz genau hatte er einen alten Geist in einer weißen Weste gekannt, der einen ungeheuren eisernen Geldkasten hinter sich herschleppte und jämmerlich schrie, einer armen, alten Frau mit einem Kind nicht beistehen zu können, die unten auf einer Türschwelle saß. Man sah es deutlich, ihre Pein war, sich umsonst bestreben zu müssen, den Menschen Gutes zu tun, und die Macht dazu auf immer verloren zu haben. Ob diese Wesen in dem Nebel zergingen oder ob sie der Nebel einhüllte, wußte er nicht zu sagen. Aber sie und ihre Gespensterstimmen vergingen gleichzeitig, und die Nacht wurde wieder so, wie sie auf seinem Nachhauseweg gewesen war. Scrooge schloß das Fenster und untersuchte die Tür, durch die das Gespenst eingetreten war. Sie war noch verschlossen und verriegelt wie vorher. Er versuchte zu sagen: »Dummes Zeug«, blieb aber bei der ersten Silbe stecken, und da er von der innern Bewegung, oder von den Anstrengungen des Tages, oder von seinem Einblick in die unsichtbare Welt, oder von der Unterhaltung mit dem Gespenst, oder der späten Stunde sehr erschöpft war, ging er sogleich ins Bett, ohne sich auszuziehen, und sank sofort in Schlaf.
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Zweite Strophe: Der erste Geist Als Scrooge wieder erwachte, war es so finster, daß er das Fenster kaum von den Wänden seines Zimmers unterscheiden konnte. Er bemühte sich, die Finsternis mit seinen Katzenaugen zu durchdringen, als die Glocke eines Turmes in der Nachbarschaft mit vier Viertelschlägen die volle Stunde ankündigte. Er lauschte, um die Stundenschläge zu hören. Zu seinem großen Erstaunen schlug die Glocke fort, von sechs zu sieben, von sieben zu acht und so weiter bis zwölf; dann schwieg sie. Zwölf! Es war zwei vorüber gewesen, als er sich zu Bett gelegt hatte. Das Uhrwerk mußte falsch gehen. Ein Eiszapfen mußte zwischen die Räder gekommen sein. Zwölf! Er drückte an die Feder seiner Repetieruhr, um die verrückte Glocke zu kontrollieren. Ihr kleiner, lebhafter Puls schlug zwölf und schwieg. »Was! Das ist doch nicht möglich«, sagte Scrooge. »Ich soll den ganzen Tag und tief in die andere Nacht hinein geschlafen haben? Es kann doch nicht sein, daß der Sonne etwas passiert und es mittags um zwölf ist?« Mit diesen unruhigen Gedanken beschäftigt, stieg er aus dem Bett und tappte nach dem Fenster. Er mußte das Eis erst wegkratzen und das Fenster mit dem Ärmel seines Schlafrockes abwischen, ehe er etwas sehen konnte; und auch nachher konnte er 36
nur sehr wenig sehen. Alles, was er bemerkte, war, daß es noch sehr neblig und sehr kalt war, und daß man nicht den Lärm hin und her eilender Leute hörte, was doch gewiß vernehmbar gewesen wäre, wenn Nacht plötzlich den hellen Tag vertrieben und von der Welt Besitz genommen hätte. Das war ein großer Trost, weil Bedingungen wie »Drei Tage nach Sicht bezahlen Sie diesen Primawechsel an Mr. Ebenezer Scrooge oder dessen Order« und so weiter bloße Vereinigte-Staaten-Sicherheiten wären, wenn es keine Tage mehr gab, um danach zu zählen. Scrooge legte sich wieder ins Bett und dachte darüber nach, konnte aber zu keinem Schluß kommen. Je mehr er nachdachte, desto verwirrter wurde er, und je mehr er sich bemühte nicht nachzudenken, desto mehr dachte er nach. Marleys Geist machte ihm viel zu schaffen. Immer, wenn er nach reiflicher Überlegung zu dem festen Entschluß gekommen war, das Ganze nur für einen Traum zu halten, flog sein Geist wie eine starke vom Druck befreite Feder wieder in die alte Lage zurück und legte ihm erneut dieselbe Frage vor, die er schon zehnmal überlegt hatte: »War es ein Traum oder nicht?« Scrooge blieb in diesem Zustand liegen, bis es wieder drei Viertel schlug. Da besann er sich plötzlich, daß der Geist ihm eine Erscheinung mit dem Schlag eins versprochen hatte. So beschloß er wach zu bleiben, bis die Stunde vorüber sei, und wenn man bedenkt, daß er ebensowenig schlafen als in den Him37
mel kommen konnte, war dies gewiß der klügste Entschluß, den er fassen konnte. Die Viertelstunde war so lang, daß es ihm mehr als einmal vorkam, er müsse unversehens in Schlaf gefallen sein und die Uhr überhört haben. Endlich vernahm sein lauschendes Ohr die Glocke. »Bim, bam!« »Ein Viertel«, sagte Scrooge zählend. »Bim, bam!« »Halb«, sagte Scrooge. »Bim, bam!« »Drei Viertel«, sagte Scrooge. »Bim, bam!« »Voll!« rief Scrooge freudig. »Und weiter nichts!« Er sprach das, ehe die Stundenglocke schlug, was sie jetzt mit einem tiefen, hohlen, melancholischen Klang tat. In demselben Augenblick wurde es hell im Zimmer, und die Vorhänge seines Bettes wurden geöffnet. Ich sage euch, die Vorhänge seines Bettes wurden von einer Hand weggezogen, und sich aufrichtend blickte Scrooge dem unirdischen Gast, der sie geöffnet hatte, in das Gesicht. So dicht stand er ihm gegenüber, wie ich jetzt im Geist neben euch stehe. Es war eine sonderbare Gestalt, gleich einem Kind, aber doch eigentlich nicht gleich einem Kind, sondern mehr wie ein Greis, der durch einen wunderbaren Zauber erschien, als sei er dem Auge entrückt und auf diese Weise so klein geworden wie ein Kind. Sein Haar, das in langen Locken auf seine Schultern 38
herabwallte, war weiß, wie vom Alter, und dennoch hatte das Gesicht keine einzige Runzel, und um das Kinn bemerkte man den zartesten Flaum. Die Arme waren lang und muskulös, die Hände ebenso, als läge in ihnen eine ungeheure Kraft. Seine Füße, zart und fein geformt, waren entblößt, gleich den Armen. Der Geist trug einen Talar vom reinsten Weiß; um seinen Leib schlang sich ein Gürtel von wunderbarem Glanz. Er hielt einen frisch-grünen Stechpalmenzweig in der Hand; aber in seltsamem Widerspruch mit diesem Zeichen des Winters war das Kleid mit Sommerblumen verziert. Das Wunderbarste aber war, daß von seinem Scheitel ein heller Lichtstrahl in die Höhe schoß, der alles ringsum erleuchtete, und der gewiß die Ursache war, daß der Geist bei weniger guter Laune einen großen Löschhut, den er jetzt unter dem Arm trug, als Mütze aufsetzte. Aber selbst dies war nicht seine seltsamste Eigenschaft. Denn wie der Gürtel des Geistes bald an dieser Stelle glänzte und funkelte und bald an jener, und wie das, was im Augenblick hell gewesen war, plötzlich dunkel wurde, so verwandelte sich auch die Gestalt selbst, man wußte nicht wie: bald war es ein Ding mit einem Arm, bald mit einem Bein, bald mit zwanzig Beinen, bald sah man nur zwei Füße ohne Kopf, bald einen Kopf ohne Leib; und wie einer dieser Teile verschwand, blieb keine Spur von ihm in dem dichten Dunkel zurück, das ihn verschlang. Und das größte Wunder dabei war: die Gestalt blieb immer dieselbe. 39
»Sind Sie der Geist, dessen Erscheinung mir vorhergesagt wurde?« fragte Scrooge. »Ich bin es.« Die Stimme war sanft und wohlklingend und so leise, als käme sie nicht aus dichtester Nähe, sondern aus einiger Entfernung. »Wer und was sind Sie?« fragte Scrooge, schon etwas mehr Mut fassend. »Ich bin der Geist der vergangenen Weihnacht.« »Einer lange vergangenen?« fragte Scrooge, seiner zwerghaften Gestalt gedenkend. »Nein, einer deiner vergangenen.« Vielleicht hätte Scrooge, wenn ihn jemand befragt hätte, nicht sagen können, warum, aber doch fühlte er ein ganz besonderes Verlangen, den Geist unter seinem Hut zu sehen; und er bat ihn, sich zu bedekken. »Was?« rief der Geist. »Willst du so bald mit irdisch gesinnter Hand das Licht, das ich spende, verlöschen? Ist es nicht genug, daß du einer von denen bist, deren Leidenschaften diese Mütze geschaffen haben und mich zwingen, durch lange, lange Jahre meine Stirn damit zu verhüllen?« Scrooge entschuldigte sich ehrfurchtsvoll, er habe nicht die Absicht gehabt, ihn zu beleidigen, und behauptete, nicht zu wissen, daß er irgend einmal in seinem Leben dem Geist Ursache gegeben habe, sich zu bedecken. Dann war er so frei, zu fragen, was ihn hierher führe? »Dein Wohl«, sagte der Geist. 40
Scrooge drückte ihm seine Dankbarkeit aus, konnte sich aber doch nicht des Gedankens erwehren, daß ihm eine Nacht ungestörten Schlafes mehr genützt hätte. Der Geist mußte ihn haben denken hören, denn er sagte sogleich: »Deine Besserung. Nimm dich in acht!« Er streckte seine starke Hand aus, als er dies sprach, und ergriff sanft seinen Arm. »Steh auf und folge mir.« Vergebens würde Scrooge eingewendet haben, Wetter und Stunde seien schlecht geeignet zum Spazierengehen, das Bett sei warm und das Thermometer ein gutes Stück unter dem Gefrierpunkt, er sei nur leicht in Pantoffeln, Schlafrock und Nachtmütze gekleidet und habe gerade jetzt den Schnupfen. Dem Griff, war er auch sanft wie der einer Frauenhand, war nicht zu widerstehen. Er stand auf; aber als er sah, daß der Geist nach dem Fenster schwebte, faßte er ihn flehend bei dem Gewand. »Ich bin ein Sterblicher«, sagte Scrooge, »und könnte fallen.« »Laß meine Hand dich hier berühren«, sagte der Geist, indem er die Hand auf das Herz legte, »und du wirst größere Gefahren überwinden, als diese hier.« Als er diese Worte gesprochen hatte, drangen die beiden durch die Wand und standen plötzlich im Freien auf der Landstraße, rings von Feldern umgeben. Die Stadt war ganz verschwunden. Keine Spur war mehr davon. Die Dunkelheit und der Nebel wa41
ren mit ihr verschwunden, denn es war jetzt ein klarer, kalter Wintertag und der Boden mit weißem, reinem Schnee bedeckt. »Gütiger Himmel!« rief Scrooge, die Hände faltend, als er um sich blickte. »Hier wurde ich geboren. Hier lebte ich als Knabe.« Der Geist schaute ihn mit milden Blicken an. Seine sanfte Berührung, obgleich sie nur leise und flüchtig gewesen war, bebte immer noch nach in dem Herzen des alten Mannes. Er fühlte, wie tausend Düfte die Luft durchwehten, jeder mit tausend Gedanken und Hoffnungen und Freuden und Sorgen verbunden, die lange, lange vergessen waren. »Deine Lippen zittern«, sagte der Geist. »Und was glänzt auf deiner Wange?« Scrooge murmelte mit einem ungewöhnlichen Mollton in der Stimme, es sei ein Wärzchen, und bat den Geist, ihn zu führen, wohin er wolle. »Erinnerst du dich des Weges?« fragte der Geist. »Ob ich mich seiner erinnere?« rief Scrooge mit Innigkeit. »Blindlings könnte ich ihn gehen!« »Seltsam, daß du ihn so viele Jahre hindurch vergessen hast«, sagte der Geist. »Komm!« Sie schritten den Weg entlang. Scrooge erkannte jedes Tor, jeden Pfahl, jeden Baum wieder, bis ein kleiner Marktflecken in der Ferne mit seiner Kirche, seiner Brücke und dem hellen Fluß erschien. Jetzt kamen einige Knaben, auf zottigen Ponnies reitend, auf sie zu, die anderen Knaben in ländlichen Wagen laut zuriefen. Alle waren gar fröhlich und laut, bis 42
die weiten Felder so voll heiterer Musik waren, daß die kalte, sonnige Luft lachte, sie zu hören. »Dies sind nur Schatten der Dinge, die da gewesen sind,« meinte der Geist, »sie wissen nichts von uns.« Die fröhlichen Reisenden kamen näher, und Scrooge erkannte sie jetzt alle und konnte sie alle beim Namen nennen. Warum freute er sich über alle Maßen, sie zu sehen, warum wurde sein kaltes Auge feucht, warum frohlockte sein Herz, als sie vorübereilten, warum wurde sein Herz weich, wie sie an den Kreuzwegen voneinander schieden und einander fröhliche Weihnachten wünschten? Was gingen denn Scrooge fröhliche Weihnachten an? Der Henker hole die fröhlichen Weihnachten! Welchen Nutzen hatte er wohl jemals davon gehabt? »Die Schule ist nicht ganz verlassen«, nahm der Geist wieder das Wort. »Ein Kind, eine verlassene Waise, sitzt noch einsam dort.« Scrooge sagte, er wisse es. Und er schluchzte. Sie verließen nunmehr die Heerstraße auf einem wohlbekannten Feldweg und erreichten bald ein Haus aus dunkelroten Backsteinen mit einem kleinen Türmchen auf dem Dach und einer Glocke drin. Es war ein großes Haus, aber jetzt vernachlässigt und ziemlich verwahrlost, weil die geräumigen Gemächer wenig gebraucht waren, die Wände feucht und grün, die Fenster zerbrochen, die Türen morsch und halb zerfallen. Hühner gluckten und scharrten in den Ställen, und der Wagenschuppen war mit Gras überwachsen. Auch im Innern war 43
nichts übriggeblieben von seiner alten Pracht, denn als sie in den verödeten Hausflur eintraten und durch die offenen Türen in die vielen Zimmer blickten, sahen sie nur ärmlich ausgestattete, kalte, große Räume. Ein erdiger, multriger Geruch lag in der Luft, eine frostige Unbehaglichkeit von allzu häufigem Aufstehen bei Kerzenlicht und nicht allzu reichlichem Essen. Der Geist ging mit Scrooge über den Hausflur nach einer Tür auf der Rückseite des Hauses. Sie öffnete sich vor ihnen und zeigte ihnen einen langen, kahlen, unbehaglichen Saal, den Reihen von einfachen hölzernen Bänken noch kahler und unbehaglicher machten. Auf einer davon saß einsam ein Knabe neben einem schwachen Feuer und las; und Scrooge setzte sich auf eine Bank nieder und weinte, als er sein eigenes, vergessenes Selbst sah, wie es in früheren Jahren war. Kein dumpfer Widerhall in dem Haus, kein Rascheln der Mäuse hinter dem Getäfel, kein Getröpfel des halbgefrorenen Brunnentrogs hinten im Hof, kein Seufzer in den blattlosen Zweigen einer verlassen trauernden Pappel, nicht das Knarren der vom Wind hin und her bewegten Tür des Vorratshauses im Hof, selbst nicht das Knistern des Feuers war für Scrooge verloren. Alles fiel auf sein Herz wie erweichende Töne und löste seine Tränen. Der Geist berührte seinen Arm und wies auf sein jüngeres, in ein Buch vertieftes Abbild. Plötzlich 44
stand draußen vor dem Fenster ein Mann in fremdartiger Tracht, mit einer Axt im Gürtel und einen mit Holz beladenen Esel am Zaume führend. »Was! Das ist ja Ali Baba!« rief Scrooge voller Freude aus. »Es ist der alte, liebe, ehrliche Ali Baba. Ja, ja, ich weiß es noch. Einst zur Weihnachtszeit geschah es, daß dieser verlassene Knabe ganz allein hier saß, und er zum ersten Male wirklich kam, gerade wie er dort steht. Der arme Junge! Und Valentin«, fuhr Scrooge fort, »und auch sein wilder Bruder Orson, dort gehen sie! Und wie heißt doch der, der mitten im Schlaf vor das Tor von Damaskus gesetzt wurde? Siehst du ihn nicht? Und der Stallmeister des Sultans, der von den bösen Geistern auf den Kopf gestellt wurde, dort ist er ja auch! Ha, ha, es geschieht ihm schon recht! Wer hieß es ihn auch, die Prinzessin heiraten wollen!« Scrooge mit vollem Ernst über solche Gegenstände reden zu hören und mit einer zwischen Lachen und Weinen schwankenden Stimme, dann auch sein vor Freude aufgeregtes Gesicht zu sehen: das wäre für seine Geschäftsfreunde in der City gewiß eine große Überraschung gewesen. »Da ist ja auch der Papagei«, rief Scrooge, »der mit grünem Leib und gelbem Schwanz, da ist er! Der arme Robinson, er rief ihn, als er von seiner Inselumsegelung wieder nach Hause kam ›Robinson Crusoe, wo bist du gewesen?‹ Er glaubte, er träume, aber das war der Papagei. Ha, dort läuft Freitag in der kleinen Bucht. Es gilt das Leben. Hallo, hoh, hallo!« 45
Dann sagte er mit einem schnellen Wechsel der Gefühle, der seinem gewöhnlichen Charakter sehr fremd war: »Der arme Knabe!«, und er weinte wieder. Dann wischte er sich mit dem Ärmelaufschlag die Augen, steckte die Hand in die Tasche und murmelte: »Ich wünschte, aber es ist jetzt zu spät.« »Was willst du?« fragte der Geist. »Nichts«, sagte Scrooge, »nichts. Gestern abend sang ein Knabe ein Weihnachtslied vor meiner Tür. Ich wünschte, ich hätte ihm etwas gegeben, weiter war es nichts.« Der Geist lächelte gedankenvoll und winkte mit der Hand. Dann sagte er: »Laß uns ein anderes Weihnachtsfest sehen.« Scrooges früheres Selbst wurde bei diesen Worten größer, und das Zimmer etwas finsterer und schwärzer, das Getäfel warf sich, die Fensterscheiben sprangen, Stücke des Kalkbewurfs fielen von der Decke und das bloße Lattenwerk zeigte sich: aber wie das alles geschah, wußte Scrooge ebensowenig wie ihr. Er wußte nur, daß alles stimmte und sich ganz so zugetragen habe, und daß er’s nun wieder sei, der dort allein sitze, während die anderen Knaben nach Hause gereist waren zur fröhlichen Weihnachtsfeier. Er las nicht, sondern ging wie in Verzweiflung im Zimmer auf und ab. Scrooge blickte den Geist an und schaute mit einem traurigen Kopfschütteln und in banger Erwartung nach der Tür. Da ging sie auf und ein kleines Mädchen, viel jünger als der Knabe, sprang herein, schlang die Arme 46
um seinen Hals, küßte ihn und begrüßte ihn als ihren »lieben, lieben Bruder«. »Ich komme, um dich mit nach Hause zu nehmen, lieber Bruder!« sagte das Kind, fröhlich mit den Händen klatschend. »Dich mit nach Hause zu nehmen, nach Hause, nach Hause!« »Nach Hause, liebe Fanny?« fragte der Knabe. »Ja!« antwortete die Kleine in überströmender Freude. »Nach Hause und für immer! Der Vater ist so viel freundlicher als sonst, daß es bei uns wie im Himmel ist. Eines Abends, als ich zu Bett ging, sprach er so freundlich mit mir, daß ich mir ein Herz faßte und ihn fragte, ob du nicht nach Hause kommen dürftest; und er sagte ja und schickte mich im Wagen her, um dich zu holen. Und du sollst jetzt dein freier Herr sein«, sagte das Kind und blickte ihn bewundernd an, »und nicht mehr hierher zurückkehren; aber erst sollen wir alle zusammen das Weihnachtsfest feiern und recht lustig sein.« »Du bist ja eine ordentliche Dame geworden, Fanny!«, rief der Knabe aus. Sie klatschte in die Hände und lachte und versuchte, bis an seinen Kopf zu reichen; aber sie war zu klein und lachte wieder und stellte sich auf die Zehen, um ihn zu umarmen. Dann zog sie ihn in kindlicher Ungeduld zur Tür, und er begleitete sie mit leichtem Herzen. Eine schreckliche Stimme im Hausflur rief: »Bringt Master Scrooges Koffer herunter!« Es war der Lehrer selbst, der Master Scrooge mit brutal47
hochnäsiger Herablassung anstierte und ihn in großen Schrecken setzte, als er ihm die Hand drückte. Dann führte er ihn und seine Schwester in ein feuchtes, fröstelnerregendes Empfangszimmer, an dessen Wänden Landkarten und in dessen Fenster die Erd- und Himmelsgloben vor Kälte glänzten. Hier brachte er eine Flasche merkwürdig leichten Wein und ein Stück merkwürdig schweren Kuchen herbei und regalierte die Kinder schonend sparsam mit diesen auserlesenen Leckerbissen. Auch schickte er eine hungrig aussehende Magd hinaus, um dem Postillion ein Gläschen anzubieten, wofür dieser aber mit den Worten dankte, wenn es von demselben Faß wie das vorige sei, möchte er lieber nicht kosten. Während dieser Zeit war Master Scrooges Koffer auf den Wagen gebunden worden, und die Kinder nahmen ohne Rührung von dem Schulmeister Abschied, setzten sich in den Wagen und fuhren so schnell zum Garten hinaus, daß der Reif und der Schnee wie Schaum von den immergrünen Gebüschen hinwegstob. »Sie war immer ein zartes Wesen, das von einem Hauch hätte verwelken können«, sagte der Geist. »Aber sie hatte ein großes Herz.« »Ja, das hatte sie«, rief Scrooge. »Ich will nicht widersprechen, Geist. Gott verhüte es.« »Sie starb als Frau«, sagte der Geist, »und hatte Kinder, glaube ich.« »Ein Kind«, antwortete Scrooge. »Ja«, sagte der Geist. »Dein Neffe.« 48
Scrooge schien unruhig zu werden und antwortete kurz: »Ja.« Obgleich sie die Schule kaum einen Augenblick hinter sich gelassen hatten, befanden sie sich doch plötzlich mitten in den lebendigsten Straßen der Stadt, wo schattenhafte Fußgänger vorübergingen, wo gespenstige Wagen und Kutschen um Platz stritten und wo das ganze wirre Leben einer wirklichen Stadt herrschte. Am Aufputz der Läden sah man, daß auch hier Weihnachten war; aber es war Abend und die Straßenlaternen brannten. Der Geist blieb vor dem Eingang eines Lagerhauses stehen und fragte Scrooge, ob er dies kenne. »Ob ich es kenne?« fragte Scrooge. »Hab ich hier nicht gelernt?« Sie traten ein. Beim Anblick eines alten Herrn in einer Stutzperücke, der hinter einem so hohen Pult saß, daß er mit dem Kopf hätte an die Decke stoßen müssen, wäre er zwei Zoll größer gewesen, rief Scrooge in großer Aufregung: »Ha, das ist ja der alte Fezziwig, Gott segne ihn, es ist Fezziwig, wie er leibt und lebt!« Der alte Fezziwig legte seine Feder hin und sah hinauf nach der Uhr, deren Zeiger auf sieben stand. Er rieb die Hände, zog seine geräumige Weste herunter, schüttelte sich vor heimlichem Lachen von Kopf bis Fuß und rief mit einer behäbigen, voll und doch mild tönenden heiteren Stimme: »Hallo, dort! Ebenezer! Dick!« Scrooges früheres Selbst, jetzt zu einem Jüngling 49
geworden, trat flink herein, begleitet von seinem Mitlehrling. »Dick Wilkins, wahrhaftig!« sagte Scrooge zu dem Geist. »Wahrhaftig, er ist es. Er war mir sehr zugetan, der Dick. Der arme Dick! Du meine Güte!« »Hallo, meine Burschen«, rief Fezziwig. »Feierabend heute. Weihnachten, Dick! Weihnachten, Ebenezer! Macht die Läden zu, schnell! Ehe einer Jack Robinson sagen kann.« So rief der alte Fezziwig, munter die Hände zusammenschlagend. Kaum zu glauben, wie rasch und munter die beiden Jungen darangingen. Sie liefen mit den Läden hinaus – eins, zwei, drei – hatten sie eingesetzt – vier, fünf, sechs – sie zugeriegelt und zugeschraubt – sieben, acht, neun – und kamen zurück, ehe man zwölf sagen konnte, außer Atem, wie Rennpferde. »Hussahoh!« rief der alte Fezziwig, mit wunderbarer Geschicklichkeit von seinem hohen Sessel herunterspringend. »Aufräumen, Jungens, und macht viel Platz! Hussahoh, Dick! Hallo, Ebenezer!« Aufräumen! Es gab nichts, was sie nicht wegräumen wollten oder wegräumen konnten, wenn der alte Fezziwig zusah. Es war in einer Minute geschehen. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde in die Winkel geschoben, als sei es für immer aus dem öffentlichen Dienste entlassen; der Flur wurde gekehrt und gesprengt, die Lampen geputzt, Kohlen auf das Feuer geschüttet, und der Laden war so behaglich, so warm und hell wie ein Ballsaal und wie man es nur an einem Winterabend verlangen konnte. 50
Jetzt trat ein Fiedler mit einem Notenbuch herein; er kletterte auf Fezziwigs hohen Stuhl, machte ihn zum Orchester und begann zu stimmen, als hätte er fünfzigfaches Bauchweh. Dann kam Mrs. Fezziwig, ein einziges behagliches Lächeln. Dann kamen die drei Miss Fezziwig, freudestrahlend und liebenswürdig. Dann kamen die sechs Jünglinge, deren Herzen sie brachen. Dann kamen die Burschen und Mädchen, die im Haus einen Dienst hatten: das Hausmädchen mit ihrem Vetter, dem Bäcker, die Köchin mit ihres Bruders vertrautem Freund, dem Milchmann. Dann kam der Bursche von gegenüber, von dem man sagte, er habe bei seinem Herrn knappe Kost; er versuchte, sich hinter dem Mädchen aus dem Nachbarhaus zu verstecken, der man nachwies, sie sei von ihrer Herrschaft an den Ohren gezogen worden. Sie kamen alle, einer nach dem andern; einige schüchtern, andere keck, einige mit Geschick, andere mit Ungeschick, die zerrend und jene stoßend. Dann ging es los, zwanzig Paare auf einmal, eine halbe Runde hin und zurück, dann die Mitte des Zimmers hinauf und wieder herab, dann in zärtlichen Gruppen sich drehend: das alte erste Paar immer an der falschen Stelle, das nächste erste Paar immer zur falschen Zeit, bis alle Paare erste waren und kein einziges mehr das letzte. Als sie so weit gekommen waren, klatschte der alte Fezziwig zum Zeichen, daß der Tanz aus sei, in die Hände und rief »Bravo!«, und der Fiedler senkte sein glühendes Gesicht in einen Krug Porter, der besonders zu diesem Zweck neben 51
ihm stand. Aber kaum war er wieder heraus, als er, obgleich noch keine Tänzer dastanden, wieder aufzuspielen begann, als sei der alte Fiedler erschöpft nach Hause getragen worden und er ein ganz frischer, entschlossen, den alten vergessen zu machen oder zu sterben. Dann folgten noch mehrere Tänze und Pfänderspiele und wieder Tänze. Dann kam Kuchen und Negus und ein großes Stück kalter Braten, und dann ein großes Stück kaltes Siedfleisch und Fleischpasteten und viel Bier. Aber der Glanzpunkt des Abends kam nach dem Siedfleisch, als der Fiedler (ein heller Kopf, er kannte sein Geschäft besser, als ihr oder ich es ihn hätten lehren können) den Großvatertanz »Sir Roger de Coverley« zu spielen begann. Da trat der alte Fezziwig mit Mrs. Fezziwig an, und zwar als das erste Paar. Sie hatten ein gutes Stück Arbeit vor sich, drei- oder vierundzwanzig Partner, Leute, mit denen nicht zu spaßen war, Leute, die tanzen wollten und keine Lust hatten, zu spazieren. Aber selbst wenn es zweimal, ja viermal soviel gewesen wären, hätte es der alte Fezziwig mit ihnen aufgenommen und auch Mrs. Fezziwig. Sie war im vollen Sinn des Wortes würdig, seine Tänzerin zu sein. Wenn das kein großes Lob ist, so sagt mir ein größeres und ich will es aussprechen. Von Fezziwigs Waden schien ein eigener Glanz auszugehen. Sie leuchteten in jedem Teil des Tanzes wie ein Paar Monde. Ihr hättet zu keiner Minute voraussagen können, was aus ihnen in der nächsten wird. Und als 52
der alte Fezziwig und Mrs. Fezziwig alle Touren des Tanzes durchgemacht hatten, sprang Fezziwig so geschickt, als zwinkere er mit den Beinen, und kam, ohne zu wanken, wieder auf die Füße. Mit dem Glockenschlag elf war dieser häusliche Ball zu Ende. Mr. und Mrs. Fezziwig stellten sich zu beiden Seiten der Tür auf, schüttelten jedem einzelnen der Gäste die Hand zum Abschied und wünschten ihm oder ihr fröhliche Weihnachten. Als alles, außer den zwei Lehrlingen, fort war, wünschten sie diesen das gleiche. So waren die heiteren Stimmen verklungen, und die Burschen gingen in ihr Bett, das sich unter einem Ladentisch hinten im Lagerraum befand. Während dieser ganzen Zeit hatte sich Scrooge wie ein Verrückter benommen. Sein Herz und seine Seele waren bei dem Ball und seinem früheren Selbst. Er bestätigte alles, erinnerte sich an alles, freute sich über alles und befand sich in der seltsamsten Aufregung. Nicht eher als bis die fröhlichen Gesichter seines früheren Selbst und das Antlitz Dicks verschwunden waren, dachte er daran, daß der Geist neben ihm stand und ihn anschaute, während das Licht auf seinem Haupt in voller Klarheit brannte. »Eine Kleinigkeit war’s doch«, meinte der Geist, »diesen närrischen Leuten solche Dankbarkeit einzuflößen.« »Eine Kleinigkeit!« gab Scrooge zurück. Der Geist bedeutete ihm, den beiden Lehrlingen zuzuhören, die sich gegenseitig mit Lobpreisungen 53
Fezziwigs überboten; und als Scrooge das getan hatte, sprach der Geist: »Nun, ist es nicht so? Er hat nur ein paar Pfund irdischen Mammons hingegeben; vielleicht drei oder vier. Ist das so der Rede wert, daß er solches Lob verdient?« »Das ist’s nicht«, sagte Scrooge, von dieser Bemerkung gereizt und wie sein früheres, nicht wie sein jetziges Selbst sprechend. »Das ist’s nicht, Geist. Er hat die Macht, uns glücklich oder unglücklich, unsern Dienst zu einer Lust oder zu einer Bürde, zu einer Freude oder zu einer Qual zu machen. Du magst sagen, seine Macht liege in Worten und Blicken, in so unbedeutenden und kleinen Dingen, daß es unmöglich ist, sie herzuzählen: was schadet das? Das Glück, das er bereitet, ist so groß, als wenn es sein ganzes Vermögen kostete.« Er fühlte des Geistes Blick und schwieg. »Was gibt’s?« fragte der Geist. »Nichts, nichts«, sagte Scrooge. »Aber doch etwas, wie?« drängte der Geist. »Nein«, sagte Scrooge, »nein. Ich möchte nur eben jetzt ein paar Worte mit meinem Kommis sprechen. Das ist alles.« Sein früheres Selbst löschte gerade die Lampen aus, als er diesen Wunsch aussprach, und Scrooge und der Geist standen wieder im Freien. »Meine Zeit geht zu Ende«, sagte der Geist. »Schnell!« Dieses letzte Wort war nicht zu Scrooge oder zu jemand, den er sehen konnte, gesprochen, aber es 54
wirkte sofort. Denn wieder sah Scrooge sich selbst. Er war jetzt älter geworden: ein Mann in der Blüte seiner Jahre. Sein Gesicht hatte noch nicht die schroffen, rauhen Züge seiner späteren Jahre, aber schon begann es Anzeichen der Sorge und des Geizes anzunehmen. In seinem Auge brannte ein ruheloses, habsüchtiges Feuer, das Zeugnis gab von der Leidenschaft, die dort Wurzel geschlagen hatte, und zeigte, wohin der Schatten des wachsenden Baumes fallen würde. Er war nicht allein, sondern saß neben einem schönen jungen Mädchen in Trauerkleidern. In ihren Augen standen Tränen, die in dem Licht glänzten, das von dem Geist vergangener Weihnachten ausströmte. »Es ist ohne Bedeutung«, sagte sie sanft, »und für Sie von gar keiner. Ein anderes Götzenbild hat mich verdrängt; und wenn es Sie in späterer Zeit trösten und aufrecht erhalten kann, wie ich es versucht hätte, so habe ich keine Ursache zu klagen.« »Welches Götzenbild hätte Sie verdrängt?« erwiderte er. »Ein goldenes.« »Dies ist die Gerechtigkeit der Welt!« sagte er. »Gegen nichts ist sie so hart wie gegen die Armut; und nichts tadelt sie unnachsichtiger als das Streben nach Reichtum.« »Sie fürchten das Urteil der Welt zu sehr«, antwortete sie sanft. »Alle Ihre andern Hoffnungen sind in der einen aufgegangen, vor diesem engherzigen 55
Vorwurf gesichert zu sein. Ich habe Ihre edleren Bestrebungen eine nach der andern verschwinden sehen, bis Sie ganz die eine Leidenschaft, die Gier nach Gold, erfüllte. Ist es nicht so?« »Und wenn es so wäre?« antwortete er. »Wenn ich soviel klüger geworden wäre, was dann? Gegen Sie bin ich nie anders geworden.« Sie schüttelte den Kopf. »Bin ich anders?« »Unser Bund ist alt. Er wurde geschlossen, als wir beide arm und zufrieden waren, unser Los durch ausdauernden Fleiß verbessern zu können. Sie haben sich aber verändert! Damals, als er geschlossen wurde, waren Sie ein anderer Mensch.« »Ich war ein Knabe«, sagte er ungeduldig. »Ihr eigenes Gefühl sagt Ihnen, daß Sie nicht so waren, wie Sie jetzt sind«, antwortete sie. »Ich bin noch dieselbe. Das, was uns Glück versprach, als wir noch ein Herz und eine Seele waren, muß uns Unglück bringen, da wir im Geiste nicht mehr eins sind. Wie oft ich und wie bitter dies gefühlt habe, will ich nicht sagen; es ist genug, daß ich es gefühlt habe und daß ich Ihnen Ihr Wort zurückgeben kann.« »Habe ich dies jemals verlangt?« »In Worten? Nein. Niemals.« »Wie dann?« »Durch ein verändertes Wesen, durch einen andern Sinn, durch andere Bestrebungen im Leben und durch andere Hoffnungen – in allem, was meiner Liebe in Ihren Augen Wert gab. Wenn alles Frühere 56
nicht zwischen uns geschehen wäre«, sagte das Mädchen, ihn mit sanftem, aber festem Blicke ansehend, »würden Sie mich jetzt aufsuchen und um mich werben? Gewiß nicht!« Er schien die Wahrheit ihrer Worte wider seinen Willen zuzugeben. Aber er tat seinen Gefühlen Gewalt an und sagte: »Sie glauben nicht?« »Gern glaubte ich es, wenn ich könnte«, sagte sie, »Gott weiß es. Wenn ich eine Wahrheit wie diese erkannt habe, weiß ich, wie unwiderstehlich sie sein muß. Aber soll ich glauben, daß Sie ein armes Mädchen wählen würden, wenn Sie heute oder morgen oder gestern frei wären, Sie, der selbst in den vertrautesten Stunden alles nach dem Gewinn mißt? Oder soll ich mir verhehlen, daß Sie gewiß einst sich getäuscht und bittere Reue fühlen würden, weil Sie für einen Augenblick Ihrem einzigen leitenden Grundsatz untreu wurden? Nein, und deswegen gebe ich Ihnen Ihr Wort zurück: willig und um der Liebe dessentwillen, der Sie einst waren.« Er wollte sprechen, aber mit abgewendetem Gesicht fuhr sie fort: »Vielleicht – der Gedanke an die Vergangenheit läßt es mich fast hoffen – wird es Sie schmerzen. Eine kurze, sehr kurze Zeit, und Sie werden dann die Erinnerung daran fallenlassen, wie die Gedanken an einen nichtigen Traum, aus dem zu erwachen ein Glück für Sie war. Möge Sie alles Glück auf dem gewählten Lebensweg begleiten!« Sie schieden. 57
»Geist«, sagte Scrooge, »zeig mir nichts mehr, führ mich nach Hause. Warum erfreust du dich daran, mich zu quälen?« »Noch einen Schatten«, rief der Geist aus. »Nein«, rief Scrooge. »Nein. Ich mag nichts mehr sehen. Zeig mir nichts mehr.« Aber der erbarmungslose Geist hielt ihn mit beiden Händen fest und zwang ihn, zu betrachten, was als nächstes geschah. Sie befanden sich an einem andern Ort, in einem Zimmer, nicht sehr groß oder schön, aber voller Behaglichkeit. Neben dem Kamin saß ein schönes junges Mädchen, das der, die Scrooge soeben gesehen hatte, so ähnlich war, daß er glaubte, es sei dieselbe, bis er diese, jetzt eine stattliche Matrone, der Tochter gegenüber sitzen sah. In dem Zimmer war ein wahrer Aufruhr, denn es befanden sich mehr Kinder darin, als Scrooge in seiner Aufregung zählen konnte; und hier betrugen sich nicht vierzig Kinder wie eins, sondern jedes Kind wie vierzig. Die Folge davon war ein Lärm sondergleichen; aber niemand schien sich darüber aufzuregen: im Gegenteil, Mutter und Tochter lachten herzlich und freuten sich darüber, und die letztere, die sich bald in die Spiele mischte, wurde von den kleinen Schelmen gar grausam mitgenommen. Was hätte ich darum gegeben, eines dieser Kinder zu sein, obgleich ich nie so ungezogen gewesen wäre! Nein, nein! Für alle Schätze der Welt hätte ich nicht diese Locken zerdrückt und zerwühlt; und diesen lieben, kleinen Schuh hätte ich nicht entwendet, 58
selbst um mein Leben zu retten. Im Scherz ihre Taille zu messen, wie die dreiste junge Brut tat, hätte ich nicht gewagt aus Furcht, mein Arm würde zur Strafe krumm und nie wieder gerade wachsen. Und doch, wie gern, ich gestehe es, hätte ich ihre Lippen berührt; wie gern sie ausgefragt, damit sie sich geöffnet hätten; wie gern hätte ich die Wimpern dieser niedergeschlagenen Augen betrachtet, ohne ein Erröten hervorzurufen; wie gern dieses wogende Haar gelöst, von dem eine einzige Locke ein unschätzbares Andenken gewesen wäre: kurz, wie gern hätte ich das kleinste Vorrecht eines dieser Kinder gehabt, mit der Bedingung, Manns genug zu bleiben, um seinen Wert zu fühlen. Aber jetzt wurde ein Klopfen an der Tür laut, was einen so allgemeinen Ansturm hervorrief, daß sie mit lachendem Gesicht und zerknülltem Kleid in der Mitte eines lärmenden Haufens nach der Tür gedrängt wurde, dem Vater entgegen, der nach Hause kam in Begleitung eines mit Weihnachtsgeschenken beladenen Mannes. Aber nun das Geschrei und das Gedränge und der Sturm auf den verteidigungslosen Träger! Wie sie an ihm auf Stühlen hinaufstiegen, in seine Taschen guckten, die Papierpäckchen raubten, an seiner Halsbinde zupften, an seinem Halse hingen, ihm auf den Rücken trommelten oder an die Beine stießen – alles in unwiderstehlicher Freude! Dann die Ausrufe der Verwunderung und des Frohlockens, mit denen der Inhalt jedes Päckchens begrüßt wurde! Die schreckliche Kunde, daß das 59
Kleinste ertappt worden sei, wie es die Puppenbratpfanne in den Mund gesteckt und wohl gar das hölzerne Huhn samt der Schüssel hinuntergeschluckt habe! Die große Beruhigung, als man entdeckte, daß es falscher Alarm gewesen war! Die Freude und die Dankbarkeit und das Entzücken! Dies alles übertrifft alle Beschreibung. Es muß genügen, zu wissen, daß die Kinder und ihre Freuden endlich aus dem Zimmer kamen und über eine Treppe in den obersten Stock hinaufgingen, wo sie zu Bett gebracht wurden und blieben. Und als Scrooge jetzt sah, wie sich der Herr des Hauses, die Tochter zärtlich an seine Seite geschmiegt, mit ihr und ihrer Mutter an seinem eigenen Herd niedersetzte; und wie er dachte, daß ihn ein solches Wesen ebenso lieblich und horfnungsfroh hätte Vater nennen und wie der Frühling im öden Winter seines Lebens hätte sein können, da wurden seine Augen wirklich trübe. »Belle«, sagte der Mann, sich lächelnd zu seiner Gattin wendend, »ich sah heut nachmittag einen alten Freund von dir.« »Wer war es?« »Rate mal.« »Wie kann ich das? Ach, jetzt weiß ich schon«, fügte sie sogleich hinzu, lachend, und auch er lachte. »Mr. Scrooge.« »Ja, Mr. Scrooge. Ich ging an seinem Kontorfenster vorüber; und da kein Laden davor war und Licht brannte, mußte ich ihn sehen. Sein Kompagnon liegt 60
im Sterben, hörte ich, und er war allein. Ganz allein in der weiten Welt, glaube ich.« »Geist«, rief Scrooge mit bebender Stimme, »führe mich weg von diesem Ort.« »Ich sagte dir, daß dies Schatten gewesener Dinge sind«, sagte der Geist. »Gib nicht mir die Schuld, daß sie sind, wie sie sind.« »Führe mich weg«, rief Scrooge aus. »Ich kann es nicht ertragen.« Er wandte sich dem Geist zu, und wie er sah, daß er ihn mit einem Gesicht anblickte, in dem sich auf eine seltsame Weise all die Gesichter zeigten, die er bisher gesehen hatte, rang er mit ihm. »Verlaß mich, führ mich weg. Verfolge mich nicht länger.« In dem Kampf, wenn es ein Kampf genannt werden kann, wie der Geist, ohne sichtbaren Widerstand seinerseits, von den Angriffen seines Gegners unberührt blieb, bemerkte Scrooge, daß das Licht auf seinem Haupt hoch und hell brannte, und in einem dunkeln instinktiven Gefühl, jenes Licht sei mit des Geistes Einfluß auf ihn verbunden, ergriff er den Löschhut und stülpte ihn auf des Geistes Haupt. Der Geist sank zusammen, so daß der Löschhut seine ganze Gestalt bedeckte; aber obgleich Scrooge ihn mit seiner ganzen Kraft niederdrückte, konnte er das Licht nicht ganz verbergen, das darunter hervorund mit hellem Schimmer über den Boden floß. Er fühlte sich erschöpft und von einer unüberwindlichen Schläfrigkeit befallen und wußte, daß er 61
in seinem eignen Schlafzimmer war. Er gab dem Löschhut einen letzten Druck und fand kaum Zeit, in das Bett zu wanken, bevor er in tiefen Schlaf sank.
Dritte Strophe: Der zweite Geist Scrooge erwachte mitten in einem tüchtigen Geschnarche und setzte sich im Bett auf; um seine Gedanken zu sammeln. Diesmal hatte niemand nötig, ihm zu sagen, daß es gerade eins sei. Er fühlte, daß er just zu der rechten Zeit und zu dem ausdrücklichen Zweck erwacht sei, um eine Zusammenkunft mit dem zweiten an ihn durch Jacob Marleys Vermittlung abgesandten Boten zu haben. Aber bei dem Gedanken, welche seiner Bettgardinen das neue Gespenst wohl zurückschlüge, wurde es ihm ganz unheimlich kalt, und so schlug er sie mit seinen eigenen Händen zurück. Dann legte er sich wieder zurück und beschloß, genau aufzupassen, denn er wollte den Geist in dem Augenblick seiner Erscheinung anrufen und wünschte nicht überrascht und erschreckt zu werden. Leute von keckem Mut, die sich schmeicheln, es schon mit etwas aufnehmen zu können und immer an ihrem Platz zu sein, drücken den weiten Bereich ihrer Fähigkeiten mit den Worten aus: Sie wären gut für alles, vom Brotessen bis zum Menschenverschlingen, da zwischen beiden Extremen ohne Zweifel ziemlich viel Gelegenheit zur Betätigung ihrer Kräfte liegt. 62
Ohne gerade zu behaupten, daß es Scrooge so weit gebracht hätte, muß ich doch von dem Leser den Glauben fordern, daß er auf eine recht schöne Auswahl von Erscheinungen gefaßt war und daß ihn nichts zwischen einem Wickelkind und einem Rhinozeros allzusehr in Verwunderung gesetzt hätte. Eben weil er beinahe auf alles gefaßt war, war er nicht vorbereitet, nichts zu sehen; und daher überfiel ihn ein heftiges Zittern, als die Glocke eins schlug und keine Gestalt erschien. Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde vergingen, aber es kam nichts. Die ganze Zeit über lag er auf seinem Bett, dem Kern und Mittelpunkt eines rötlichen Lichtes, das sich darüber ergoß, als die Glocke die Stunde verkündete, und das, weil es nur Licht war, viel beunruhigender als ein Dutzend Geister war, da es ihn unmöglich erraten ließ, was es bedeute oder was es wolle. Ja, er fürchtete zuweilen, er könnte in diesem Augenblick ein merkwürdiger Fall von Selbstentzündung sein, ohne den Trost zu haben, es zu wissen. Endlich jedoch fing er an zu begreifen, daß die Quelle dieses geisterhaften Lichtes wohl in dem anliegenden Zimmer sei, aus dem es bei näherer Betrachtung zu strömen schien. Wie dieser Gedanke die Herrschaft über seine Seele bekommen hatte, stand er leise auf und schlich in den Pantoffeln nach der Tür. In demselben Augenblick, wo sich Scrooges Hand auf die Klinke legte, rief ihn eine fremde Stimme beim Namen und hieß ihn eintreten. Er gehorchte. Es war sein eigenes Zimmer. Daran ließ sich nicht 63
zweifeln. Aber eine wunderbare Umwandlung war mit ihm vorgegangen. Wände und Decke waren ganz mit grünen Zweigen bedeckt, daß es aussah wie eine Laube, in der überall glänzende Beeren schimmerten. Die glänzenden, starren Blätter der Stechpalme, der Mistel und des Efeus warfen das Licht zurück und erschienen wie ebenso viele kleine Spiegel. Eine so gewaltige Flamme loderte die Esse hinauf, wie sie dieses Spottbild eines Kamines zu Scrooges oder Marleys Zeit seit vielen, vielen Wintern nicht gekannt hatte. Auf dem Fußboden waren zu einer Art von Thron Truthähne, Gänse, Wildbret, große Braten, Spanferkel, lange Reihen von Würsten, Pasteten, Plumpuddings, Austerfäßchen, glühende Kastanien, rotbäckige Äpfel, saftige Orangen, appetitliche Birnen, ungeheure Stollen und siedende Punschbowlen aufgehäuft, die das Zimmer mit köstlichem Geruch erfüllten. Auf diesem Thron saß behaglich und mit fröhlichem Angesicht ein Riese, gar herrlich anzuschauen. In der Hand trug er eine brennende Fackel, fast wie ein Füllhorn gestaltet, und hielt sie steil in die Höhe, um Scrooge damit zu beleuchten, wie er in das Zimmer guckte. »Nur herein«, rief der Geist. »Nur herein, und lerne mich besser kennen.« Scrooge trat schüchtern ein und senkte das Haupt vor dem Geiste. Er war nicht mehr der hartfühlende, nichtsscheuende Scrooge von früher, und obgleich des Geistes Augen hell und mild glänzten, wünschte er ihnen doch nicht zu begegnen. 64
»Ich bin der Geist der diesjährigen Weihnachtsnacht«, sagte die Gestalt. »Sieh mich an.« Scrooge tat es mit ehrfurchtsvollem Blick. Der Geist war gekleidet in ein einfaches, dunkelgrünes Gewand, mit weißem Pelz verbrämt. Die breite Brust war entblößt, als verschmähe sie, sich zu verstecken. Auch die Füße waren bloß und schauten unter den weiten Falten des Gewandes hervor; und das Haupt hatte keine andere Bedeckung als einen Stechpalmenkranz, in dem hie und da Eiszapfen glänzten. Seine dunkelbraunen Locken wallten fessellos auf die Schultern. Sein munteres Gesicht, sein glänzendes Auge, seine fröhliche Stimme, sein ungezwungenes Benehmen, alles sprach von Offenheit und heiterem Sinn. Um den Leib trug er eine alte Degenscheide gegürtet; aber sie war von Rost zerfressen und kein Schwert steckte darin. »Du hast meinesgleichen nie vorher gesehen«, rief der Geist. »Niemals«, entgegnete Scrooge. »Hast dich nie mit den jüngern Gliedern meiner Familie abgegeben; ich meine (denn ich bin sehr jung) meine älteren Brüder, die in den vergangenen Jahren geboren worden sind?« fuhr das Phantom fort. »Ich glaube nicht«, sagte Scrooge. »Doch es tut mir leid, es nicht getan zu haben. Hast du viele Brüder gehabt, Geist?« »Mehr als achtzehnhundert«, sagte dieser. »Eine schrecklich große Familie, wenn man für sie zu sorgen hat«, murmelte Scrooge. 65
Der Geist der diesjährigen Weihnacht erhob sich. »Geist«, sagte Scrooge demütig, »führe mich, wohin du willst. Gestern nacht wurde ich durch Zwang hinausgeführt und mir wurde eine Lehre gegeben, die jetzt Wirkung zeigt. Heute bin ich bereit zu folgen, und wenn du mich etwas zu lehren hast, will ich gern hören.« »Berühre denn mein Gewand.« Scrooge tat wie ihm geheißen worden und hielt es fest. Stechpalmen, Misteln, rote Beeren, Efeu, Truthähne, Gänse, Spanferkel, Braten, Würste, Austern, Pasteten, Puddings, Früchte und Punsch, alles verschwand blitzschnell. Auch das Zimmer verschwand, das Feuer, der rötliche Schimmer, die nächtliche Stunde, und sie standen in den Straßen der Stadt, am Morgen des Weihnachtstages, wo die Leute – denn es war sehr kalt – eine rauhe, aber fröhliche und nicht unangenehme Musik machten, indem sie den Schnee von dem Straßenpflaster und den Dächern der Häuser zusammenfegten. Und daneben standen die Kinder und freuten sich und kreischten, wenn die Schneelawinen von den Dächern herunterstürzten und in künstliche Schneestürme zerstoben. Die Häuser erschienen schwarz und die Fenster noch schwärzer, verglichen mit der faltenlosen, weißen Schneedecke auf den Dächern und dem schmutzigeren Schnee auf den Straßen. Dort war er von den schweren Rädern der Wagen und Karren in tiefe Furchen gepflügt; Furchen, die sich hundert- und 66
aberhundertmal kreuzten, wo eine Straße abging, und die in dem dicken, gelben Schmutz und halberstarrten Wasser labyrinthische Gerinnsel bildeten. Der Himmel war trübe, und selbst die kürzesten Straßen schienen sich in einem dicken Nebel zu verlieren, dessen schwerere Teile in einem rußigen Regen niederfielen, als hätten alle Essen von England sich auf einmal entzündet und qualmten jetzt nach Herzenslust. Es war in der ganzen Umgebung nichts Heiteres, und doch lag etwas in der Luft, was die klarste Sommerluft und die hellste Sommersonne nicht hätten verbreiten können. Denn die Leute, die den Schnee von den Dächern schaufelten, waren lustig und mutwilliger Laune. Sie riefen von den Dächern einander zu und wechselten dann und wann einen Schneeball – ein Pfeil, der harmloser war als manches Wort – und lachten herzlich, wenn er traf, und nicht minder herzlich, wenn er fehlging. Die Läden der Geflügelhändler waren noch halb offen und die der Fruchthändler strahlten in heller Freude. Da sah man – als wären es Westen lustiger, alter Herren – große, runde, dickbäuchige Körbe mit Kastanien an den Türen lehnen oder in ihrem apoplektischen Überfluß auf die Straße rollen. Da sah man braune, umfangreiche, spanische Zwiebeln, in ihrer Fettigkeit spanischen Mönchen gleichend und mutwillig den Mädchen winkend, die vorübergingen und verschämt nach dem Mistelzweige schielten. Da sah man Birnen und Äpfel zu Pyramiden aufeinandergepackt, Trauben, die der Kaufmann 67
in seiner Gutmütigkeit recht augenfällig im Gewölbe hängen ließ, daß den Vorübergehenden der Mund gratis wässerte, Haufen von Haselnüssen, bemoost und braun, mit ihrem frischen Duft an vergangene Streifzüge im Wald durch das raschelnde, fußhohe, welke Laub erinnernd, Norfolk-Biffins, fett und kraus, mit ihrer Bräune von den gelben Orangen abstechend und gar dringlich bittend, daß man sie nach Hause trage und nach Tische esse. Ja, selbst die Gold- und Silberfische, die in einem Glase mitten unter den erlesenen Früchten standen, schienen zu wissen, daß etwas Besonderes los sei, obgleich sie von einem dick- und kaltblütigen Geschlecht waren, und schwammen um ihre kleine Welt in langsamer und leidenschaftsloser Bewegung. Ach die Kolonialwarenläden! Fast geschlossen waren sie, vielleicht ein oder zwei Laden vorgesetzt: aber welche Herrlichkeiten sah man durch diese Öffnungen! Nicht allein, daß die Waagschalen mit fröhlichem Klingklang auf dem Ladentisch rumorten, oder daß der Bindfaden so munter von seiner Rolle schnurrte, oder daß die Büchsen blitzschnell hin und her fuhren wie durch Zauberei, oder daß der Mischgeruch von Kaffee und Tee der Nase so wohl tat, nicht daß die Rosinen so wunderschön, die Mandeln so außerordentlich weiß, die Zimtstengel so lang und gerade, die andern Gewürze so köstlich, die eingemachten Früchte so dick mit geschmolzenem Zucker belegt waren, daß der kälteste Zuschauer entzückt wurde; nicht allein, daß die Feigen so saftig 68
und fleischig waren, oder daß die Brignolen in bescheidener Koketterie in ihren verzierten Büchsen erröteten, oder daß alles so gut zu essen oder so schön in seinem Weihnachtskleid war: das war es nicht allein. Die Kaufenden waren auch alle so eifrig und eilig in der Vorfreude auf das Fest, daß sie in der Türe gegeneinander rannten, wie von Sinnen mit ihren Körben zusammenstießen und ihre Einkäufe vergaßen und wieder zurückliefen, um sie zu holen, und tausend ähnliche Irrtümer in der bestmöglichen Laune begingen, während der Kaufmann und seine Leute so frisch und froh waren, daß die blanken Herzen, die ihre Schürzen hinten zusammenhielten, ihre eigenen hätten sein können. Aber bald riefen die Glocken nach den Kirchen und den Kapellen, und die Leute gingen in ihren besten Kleidern und mit ihren feiertäglichsten Gesichtern durch die Straßen. Und zu derselben Zeit strömten aus den Nebenstraßen und Gäßchen und namenlosen Winkeln zahllose Leute, die ihr Mittagessen in die Backstuben trugen. Der Anblick dieser Armen und doch so Glücklichen schien des Geistes Teilnahme am meisten zu erregen, denn er blieb mit Scrooge neben eines Bäckers Tür stehen, und während er die Deckel von den Schüsseln nahm, als die Träger vorübergingen, bestreute er ihr Mahl mit Weihrauch seiner Fackel. Und es war eine gar wunderbare Fackel, denn ein paarmal, als einige von den Leuten zusammengerannt waren und darüber heftige Worte fielen, besprengte er sie mit etlichen Tropfen 69
Tau daraus, und ihre gute Laune war augenblicklich wiederhergestellt. Denn sie sagten, es sei eine Schande, sich am Weihnachtstag zu zanken. Jetzt schwiegen die Glocken, und die Läden der Bäcker wurden geschlossen: und doch schwebte noch ein Schatten von allen diesen Mittagessen und dem Fortgang ihrer Zubereitung in dem getauten, nassen Fleck über jedem Ofen; und vor ihnen rauchte das Pflaster, als kochten selbst die Steine. »Ist eine besondere Kraft in dem, was deine Fackel ausstreut?« fragte Scrooge. »Ja. Meine eigene.« »Und wirkt sie auf jedes Mittagsmahl an diesem Tag?« fragte Scrooge. »Auf jedes, sofern es gern gegeben wird. Auf ein ärmliches am meisten.« »Warum auf ein ärmliches am meisten?« »Weil das meiner Kraft am meisten bedarf.« »Geist«, sagte Scrooge nach kurzem Nachdenken, »mich wundert’s, daß du von allen Wesen auf den vielen Welten um uns herum wünschen solltest, diesen Leuten die Gelegenheit eines unschuldigen Genusses zu rauben.« »Ich?« rief der Geist. »Du willst ihnen die Mittel nehmen, jeden siebten Tag zu Mittag zu essen, und doch ist das der einzige Tag, wo sie überhaupt zu Mittag essen können«, sagte Scrooge. »Ich?« rief der Geist. »Du willst doch Backstuben und ähnliche Plätze 70
am siebten Tag geschlossen halten – das kommt doch auf dasselbe heraus.« »Ich?« rief der Geist. »Verzeih mir, wenn ich unrecht habe. Es ist in deinem Namen geschehen oder wenigstens in dem deiner Familie«, sprach Scrooge. »Es gibt Menschen auf Eurer Erde«, entgegnete der Geist, »die uns kennen wollen und die ihre Taten des Stolzes, der Mißgunst, des Hasses, des Neides, des Fanatismus und der Selbstsucht in unserm Namen tun; die uns in allem, was zu uns gehört, so fremd sind, als hätten sie nie gelebt. Bedenke dies und schreibe ihre Taten ihnen selbst zu und nicht uns.« Scrooge versprach es, und sie gingen weiter in die Vorstadt, unsichtbar wie bisher. Es war eine wunderbare Eigenschaft des Geistes (Scrooge hatte sie bei dem Bäcker bemerkt), daß er, bei seiner riesenhaften Gestalt, doch überall leicht Platz fand und daß er unter einem niedrigen Dach ebenso schön und gleich einem übernatürlichen Wesen dastand, wie in einem geräumigen, hohen Saal. Vielleicht war es die Freude, die der gute Geist darin fühlte, diese Macht zu zeigen, vielleicht auch seine warmherzige, freundliche Natur und seine Teilnahme mit allen Armen, was ihn gerade zu Scrooges Kommis führte: denn er ging wirklich hin und nahm Scrooge mit, der sich an seinem Gewand festhielt. Auf der Schwelle stand der Geist lächelnd still und segnete Bob Cratchits Wohnung mit dem 71
Tau seiner Fackel. Denkt doch! Bob hatte nur fünfzehn ›Bobs‹* die Woche; er steckte sonnabends nur fünfzehn seiner Namensvettern in die Tasche, und doch segnete der Geist der diesjährigen Weihnacht sein Haus. Im Zimmer stand Mr. Cratchits Frau in einem ärmlichen, zweimal gewendeten Kleid, schön aufgeputzt mit Bändern, die billig sind, aber für sechs Pence hübsch genug aussehen. Sie deckte den Tisch, und Belinda, ihre zweite Tochter, half ihr dabei, während Master Peter mit der Gabel in eine Schüssel voll Kartoffeln stach und die Spitzen seines Ungeheuern Hemdkragens (Bobs Privateigentum, seinem Sohn und Erben zu Ehren des Festes geliehen) in den Mund nahm, voller Stolz, so schön angezogen zu sein, und voll Sehnsucht, sein weißes Hemd in den fashionablen Parks zur Schau zu tragen. Jetzt kamen die zwei kleinen Cratchits, ein Mädchen und ein Knabe, hereingesprungen und schrien, daß sie an des Bäckers Tür die gebratene Gans gerochen und gewußt hätten, es sei ihre eigene, und in freudigen Träumen von Salbei und Zwiebeln tanzten sie um den Tisch und erhoben Master Peter Cratchit bis in den Himmel, während er (aber gar nicht stolz, obgleich ihn der Hemdkragen fast erstickte) in das Feuer blies, bis die Kartoffeln hochquollen und an den Topfdeckel klopften, daß man sie herauslassen und schälen möge. * Shilling
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»Wo nur der Vater bleibt?« fragte Mrs. Cratchit. »Und dein Bruder Tiny Tim; und Martha kam vorige Weihnachten eine halbe Stunde früher.« »Hier ist Martha, Mutter«, sagte ein Mädchen, zur Tür hereintretend. »Hier ist Martha, Mutter«, riefen die beiden kleinen Cratchits. »Hurra, so eine Gans, Martha!« »Gott grüß dich, liebes Kind! Wie spät du kommst!« sagte Mrs. Cratchit, sie mehrmals küssend und ihr mit zutulichem Eifer Schal und Hut abnehmend. »Wir hatten gestern abend viel zurecht zu machen«, antwortete das Mädchen, »und mußten heute mit allem fertig werden, Mutter.« »Nun, es schadet nichts, da du doch da bist«, sagte Mrs. Cratchit. »Setz dich ans Feuer, liebes Kind, und wärme dich.« »Nein, nein, der Vater kommt«, riefen die beiden kleinen Cratchits, die überall zu gleicher Zeit waren. »Versteck dich, Martha, versteck dich!« Martha versteckte sich, und jetzt trat Bob herein, der Vater. Wenigstens drei Fuß, ungerechnet der Fransen, hing der Schal auf seine Brust herab, und die abgetragenen Kleider waren geflickt und gebürstet, um ihnen ein Ansehen zu geben. Tiny Tim saß auf seiner Schulter. Der arme Tiny Tim! Er trug eine kleine Krücke, und seine Glieder wurden von eisernen Schienen gestützt. »Nun, wo ist unsere Martha?« rief Bob Cratchit und schaute im Zimmer herum. 73
»Sie kommt nicht«, sagte Mrs. Cratchit. »Sie kommt nicht?« sagte Bob mit einem plötzlichen Absinken seiner fröhlichen Laune; denn er war den ganzen Weg von der Kirche Tims Pferd gewesen und in vollem Laufe nach Hause gerannt. »Sie kommt nicht zum Weihnachtsabend?« Martha wollte ihm keinen Schmerz verursachen, selbst nicht aus Scherz, und so trat sie hinter der Tür hervor und schlang die Arme um seinen Hals, während die beiden kleinen Cratchits sich Tiny Tims bemächtigten und ihn nach dem Waschhaus trugen, damit er den Pudding im Kessel singen höre. »Und wie hat sich der kleine Tim aufgeführt?« fragte Mrs. Cratchit, als sie Bob wegen seiner Leichtgläubigkeit geneckt und Bob seine Tochter nach Herzenslust geküßt hatte. »Wie ein Goldkind«, sagte Bob, »und noch besser. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber er wird jetzt so träumerisch vom Alleinsitzen und sinnt sich die seltsamsten Dinge zurecht. Heute, als wir nach Hause gingen, sagte er, er hoffe, die Leute sähen ihn in der Kirche, denn er sei ein Krüppel, und es wäre vielleicht gut für sie, sich am Christtag an den zu erinnern, der einst Lahme gehen und Blinde sehen machte.« Bobs Stimme zitterte, als er dies sagte, und zitterte noch mehr, als er hinzufügte, daß Tiny Tim stärker und gesünder werden würde. Man hörte jetzt seine kleine Krücke auf dem Fußboden, und ehe noch mehr gesprochen ward, war 74
Tim wieder da und wurde von seinem Bruder und seiner Schwester nach seinem Stuhl neben dem Feuer geführt. Während jetzt Bob, seine Rockaufschläge zur Schonung in die Höhe krempelnd – als ob es möglich gewesen wäre, sie noch mehr abzutragen –, in einer Bowle aus Gin und Zitronen eine heiße Mischung zubereitete und sie umrührte und wieder an das Feuer setzte, damit sie sich warm halte, gingen Master Peter und die zwei allgegenwärtigen kleinen Cratchits die Gans holen, mit der sie bald in feierlichem Zug zurückkehrten. Daraufhin erhob sich ein solcher Lärm, als wäre eine Gans der seltenste aller Vögel, ein gefiedertes Wunder, gegen das ein schwarzer Schwan etwas ganz Gewöhnliches ist: und wirklich war sie es auch in diesem Hause. Mrs. Cratchit ließ die Bratenbrühe aufwallen, Master Peter schmorte die Kartoffeln mit unglaublichem Eifer, Miß Belinda machte die Apfelsauce süß, Martha wischte die gewärmten Teller ab, Bob nahm Tiny Tim neben sich in eine behagliche Ecke am Tisch, die beiden kleinen Cratchits stellten die Stühle zurecht, wobei sie sich nicht vergaßen, und nahmen ihren Posten ein, den Löffel in den Mund steckend, um nicht nach Gans zu schreien, ehe die Reihe an sie kam. Endlich wurde das Gericht aufgetragen und das Tischgebet gesprochen. Darauf folgte eine atemlose Pause, als Mrs. Cratchit das Vorschneidemesser langsam von der Spitze bis zum Heft betrachtete und sich anschickte, es der Gans in die Brust zu stoßen. Aber, als sie es tat und sich der 75
langerwartete Strom der Füllung ergoß, ertönte um den ganzen Tisch ein freudiges Gemurmel, und selbst Tiny Tim, durch die beiden kleinen Cratchits in Feuer gebracht, schlug mit dem Heft seines Messers auf den Tisch und rief ein schwaches Hurra. Nie hatte es so eine Gans gegeben. Bob sagte, er glaube nicht, daß jemals eine solche Gans gebraten worden sei. Ihre Zartheit und ihr Fett, ihre Größe und ihre Billigkeit waren der Gegenstand allgemeiner Bewunderung. Mit Hilfe der Apfelsauce und der geschmorten Kartoffeln gab sie ein hinreichendes Mahl für die ganze Familie. Und als Mrs. Cratchit einen einzigen kleinen Knochen noch auf der Schüssel liegen sah, sagte sie mit großer Freude, sie hätten doch nicht alles aufgegessen! Aber jeder von ihnen hatte genug, und die kleinen Cratchits waren bis an die Augenbrauen mit Salbei und Zwiebeln eingesalbt. Jetzt wurden die Teller von Miß Belinda gewechselt, und Mrs. Cratchit verließ das Zimmer allein, denn sie war zu unruhig, Zeugen dulden zu können, wenn sie den Pudding herausnahm und hereinbrachte. Wenn er nicht ausgebacken wäre! Wenn er beim Herausnehmen in Stücke zerfiele! Wenn jemand über die Mauer des Hinterhauses geklettert wäre und ihn gestohlen hätte, während sie sich an der Gans erquickten – ein Gedanke, bei dem die beiden kleinen Cratchits vor Schrecken bleich wurden. Hallo, eine Dampfwolke! Der Pudding war aus dem Kessel genommen. Ein Geruch, wie an einem 76
Waschtag! Das war die Serviette. Ein Geruch wie in einem Speisehaus, mit einem Pastetenbäcker auf der einen und einer Wäscherin auf der andern Seite! Das war der Pudding. Nach einer halben Minute trat Mrs. Cratchit herein, aufgeregt, aber stolz lächelnd und vor sich den Pudding haltend, hart und fest wie eine gefleckte Kanonenkugel, in einem Viertelquart Rum flammend und in der Mitte mit der festlichen Stechpalme geschmückt. Oh, welch wunderbarer Pudding! Bob Cratchit erklärte mit ruhiger und sicherer Stimme, er halte das für das größte Kochkunststück, das Mrs. Cratchit seit ihrer Heirat geliefert habe. Mrs. Cratchit meinte, jetzt, da die Last von ihrem Herzen sei, wolle sie nur gestehen, daß sie wegen der Menge des Mehls gar sehr in Angst gewesen sei. Jeder hatte darüber etwas zu sagen, aber keiner sagte oder dachte, es sei doch ein zu kleiner Pudding für eine so große Familie. Das wäre offenbare Ketzerei gewesen. Jeder Cratchit würde sich geschämt haben, an so etwas nur zu denken. Endlich waren sie mit dem Essen fertig, der Tisch war abgedeckt, der Herd gesäubert und das Feuer geschürt. Das Gemisch im Krug wurde gekostet und für fertig erklärt, Äpfel und Apfelsinen auf den Tisch gesetzt und ein paar Hände voll Kastanien auf das Feuer geschüttet. Dann setzte sich die ganze Familie Cratchit um den Kamin in einem Kreis, wie es Bob Cratchit nannte, obgleich es eigentlich nur ein Halbkreis war, Bob in die Mitte und neben ihm der Glä77
servorrat der Familie: zwei Paßgläser und ein Milchkännchen ohne Henkel. Diese Gefäße aber hielten das heiße Gemisch aus dem Krug so gut, als wären es goldene Pokale gewesen, und Bob schenkte mit strahlenden Blicken ein, während die Kastanien auf dem Feuer spuckten und platzten. Dann schlug Bob den Toast vor. »Uns allen eine fröhliche Weihnacht, meine Lieben! Gott segne uns!« Die ganze Familie wiederholte den Toast. »Gott segne jeden von uns!« sagte Tiny Tim, der letzte von allen. Er saß dicht neben dem Vater auf seinem Stühlchen, Bob hielt seine kleine welke Hand in der seinigen, als ob er das Kind liebte und wünschte, es bei sich zu behalten, aber fürchte, es könnte ihm bald genommen werden. »Geist«, sprach Scrooge mit einer Teilnahme, wie er sie noch nie empfunden hatte, »sag mir, wird Tiny Tim am Leben bleiben?« »Ich sehe einen leeren Stuhl in der Kaminecke«, antwortete der Geist, »und eine Krücke ohne Besitzer, sorgfältig aufbewahrt. Wenn die Zukunft diese Schatten nicht ändert, wird das Kind sterben.« »Nein, nein«, drängte Scrooge. »Ach nein, guter Geist, sag, daß es am Leben bleiben wird.« »Wenn die Zukunft diese Schatten nicht verändert«, antwortete der Geist abermals, »wird kein anderer meines Geschlechtes das Kind noch hier finden. Was tut es auch? Wenn es sterben muß, ist es 78
besser, es tue es gleich und vermindere die überflüssige Bevölkerung.« Scrooge senkte das Haupt, da er seine eigenen Worte von dem Geist hörte, und fühlte sich überwältigt von Reue und Schmerz. »Mensch«, sprach der Geist, »wenn du ein menschliches Herz hast und kein steinernes, so hüte dich, so heuchlerisch zu reden, bis du weißt, was und wo dieser Überfluß ist. Willst du entscheiden, welche Menschen leben, welche Menschen sterben sollen? Vielleicht bist du in den Augen des Himmels unwürdiger und unfähiger zu leben, als Millionen gleich dieses armen Mannes Kind. O Gott! Solch Gewürm auf einem Blättlein reden zu hören über zuviel Leben unter seinen hungrigen Brüdern im Staub!« Scrooge nahm des Geistes Vorwurf demütig hin und schlug die Augen nieder, aber er blickte schnell wieder in die Höhe, als er seinen Namen nennen hörte. »Es lebe Mr. Scrooge!« sagte Bob, »Mr. Scrooge, der Schöpfer dieses Festes!« »Der Schöpfer dieses Festes, wahrhaftig!« rief Mrs. Cratchit mit glühendem Gesicht. »Ich wollte, ich hätte ihn hier. Ich wollte ihm ein Stück von meiner Meinung zu kosten geben, und ich hoffe, sie würde ihm schmecken.« »Liebe Frau«, sagte Bob beschwichtigend, »die Kinder! – Es ist Weihnachten.« »Freilich muß es Weihnachten sein«, sagte sie, 79
»wenn man auf die Gesundheit eines so niederträchtigen, geizigen, fühllosen Menschen, wie Scrooge ist, trinken kann. Und du weißt es, Robert, daß er so ist, niemand weiß es besser als du!« »Liebe Frau«, antwortete Bob mild, »es ist Weihnachten.« »Ich will auf seine Gesundheit trinken, dir und dem Feste zu Gefallen«, sagte Mrs. Cratchit, »nicht seinetwegen. Möge er lange leben! Ein fröhliches Weihnachten und ein glückliches neues Jahr! – Er wird sehr fröhlich und sehr glücklich sein, das glaub ich.« Die Kinder tranken nach ihr. Es war das erste, was sie an diesem Abend ohne Herzlichkeit und Wärme taten. Tiny Tim trank zuletzt, aber er gab keinen Pfifferling darum. Scrooge war das Schreckbild der Familie. Die Erwähnung seines Namens warf über alle einen düsteren Schatten, der volle fünf Minuten zum Verschwinden brauchte. Als er weg war, waren sie zehnmal lustiger als vorher, schon weil sie Scrooge los waren, den Schrecklichen. Bob Cratchit erzählte, daß er eine Stelle für Master Peter in Aussicht habe, die diesem ganze fünf und einen halben Shilling wöchentlich eintragen werde. Die beiden kleinen Cratchits lachten fürchterlich bei dem Gedanken, Peter als Geschäftsmann zu sehen; und Peter selbst blickte gedankenvoll zwischen seinen Kragenenden hervor in das Feuer, als überlege er, in welchen Aktien wohl am besten seine Ersparnisse anzulegen seien, wenn er 80
in Besitz dieser unglaublichen Summe käme. Martha, die bei einer Putzmacherin Gehilfin war, erzählte ihnen, was für Arbeit sie jetzt mache und wieviel Stunden sie in der guten Zeit arbeiten müsse und wie sie morgen früh auszuschlafen gedenke; denn morgen war für sie ein Feiertag. Auch erzählte sie, wie sie vor einigen Tagen eine Gräfin und einen Lord gesehen, und daß der Lord fast so groß wie Peter gewesen sei; bei diesen Worten zupfte Peter seinen Hemdkragen so in die Höhe, daß sein Kopf darin verschwand. Während dieser ganzen Zeit gingen Punsch und reife Kastanien um, und dazwischen sang Tiny Tim mit seiner klagenden Stimme ein Lied von einem Kind, das sich im Schnee verlaufen: und sang es recht hübsch. In alledem war nichts Besonderes. Es waren keine hübschen Gesichter in der Familie; sie waren nicht schön angezogen, ihre Schuhe waren nichts weniger als wasserdicht, ihre Kleider waren ärmlich, und Peter mochte wohl das Innere eines Pfandleiherladens kennen. Aber sie waren glücklich, voller Dank für ihre bescheidenen Freuden, einig untereinander und zufrieden: und als ihre Gestalten verblichen und in dem scheidenden Lichte der Fackel des Geistes noch glücklicher aussahen, verweilte Scrooges Auge immer noch auf ihnen und hing vor allem an Tiny Tim. Es war jetzt ganz dunkel geworden, und es fiel ein starker Schnee; und als Scrooge und der Geist durch die Straßen gingen, leuchtete der Glanz der lodernden Feuer in Küchen, Putzstuben und Gemächern 81
aller Art über alle Maßen wundervoll. Hier zeigte die flackernde Flamme die Vorbereitungen zu einem traulichen Mahl, die heißen Teller, wie sie sich vor dem Feuer durch und durch wärmten, und die dunkelroten Gardinen, bereit, Kälte und Nacht auszuschließen. Dort liefen alle Kinder des Hauses auf die verschneite Straße hinaus, ihren verheirateten Schwestern, Brüdern, Vettern, Basen, Onkeln und Tanten entgegen, um sie zuerst zu begrüßen. Hier zeigten sich an den Fenstern Schatten versammelter Gäste; dort eine Gruppe hübscher Mädchen in Pelzkragen und Pelzstiefeln, alle zugleich redend und mit leichten Schritten in eines Nachbars Haus eilend. Wehe dem Junggesellen, der sie dort strahlend eintreten sah – und sie wußten es, die durchtriebenen kleinen Hexen! Wenn man nach der Zahl der Leute hätte urteilen wollen, die zu freundschaftlichen Besuchen eilten, hätte man glauben mögen, es sei niemand da, sie zu bewillkommnen. Aber statt dessen erwartete jedes Haus Gäste, und in jedem Kamin loderte die Flamme. Wie sich der Geist freute! Wie er seine breite Brust entblößte und seine volle Hand auftat und dahinschwebte, freigebig seine heitere und harmlose Fröhlichkeit über alles in seinem Bereich ausschüttend! Selbst der Laternenanzünder, der durch die dunkeln Straßen rannte, um ihre trüben Nebel mit Licht zu erhellen, und der bereits herausgeputzt war, um den Abend irgendwo zuzubringen, lachte laut auf, als er den Geist vorüberschweben fühlte. 82
Und jetzt standen sie, ohne daß vorher der Geist etwas gesagt hätte, auf einer kahlen, öden Heide, wo ungeheure Felsblöcke verstreut lagen, als wäre hier eine Begräbnisstätte von Riesen. Und Wasser breitete sich aus, wo es nur Lust hatte – oder es hätte sich ausgebreitet, wenn es der Frost nicht gefangengehalten hätte; und nichts wuchs dort als Moos und Gestrüpp und hartes, spitzes Gras. Tief im Westen hatte die untergehende Sonne einen Streifen glühenden Rots gelassen, der einen Augenblick auf die öde Steppe niederschaute, wie ein zürnendes Auge, und immer tiefer und tiefer sank, bis er sich im Dunkel der tiefsten Nacht verlor. »Was ist das für ein Ort?« fragte Scrooge. »Ein Ort, wo Bergleute in den Tiefen der Erde arbeiten«, antwortete der Geist. »Aber sie kennen mich. Sieh!« Ein Licht strahlte aus dem Fenster einer Hütte, und sie schwebten schnell darauf zu. Hier fanden sie eine fröhliche Gesellschaft um ein wärmendes Feuer sitzen: ein alter, alter Mann und eine greise Frau mit ihren Kindern und Enkeln und Urenkeln, alle in festlichen Kleidern. Der Alte sang ein Weihnachtslied mit einer Stimme, die nur selten das Heulen des Windes auf der Einöde übertönte; es war schon ein sehr altes Lied gewesen, als er noch ein Knabe war; und von Zeit zu Zeit fielen sie alle im Chor ein. Und stets, wenn ihre Stimmen ertönten, wurde der Alte lebendig und laut; und immer, wenn sie aufhörten, sank seine Kraft wieder. Der Geist verweilte hier 83
nicht, sondern befahl Scrooge, sich an seinem Gewand zu halten. Sie schwebten über die Öde, aber wohin? Doch nicht aufs Meer? Aufs Meer! Zu seinem Schrecken sah Scrooge eine Reihe grausig steiler Klippen und hinter sich das Land verschwinden, und sein Ohr wurde betäubt von dem Donner der Wogen, wie sie unten in den grausenden Höhlen, die sie genagt hatten, heulten und brüllten und wüteten und mit wildem Grimm die Erde zu unterwühlen trachteten. Auf einer öden, halb im Wasser versunkenen Klippe, gewiß eine Meile vom Land entfernt, stand ein einsamer Leuchtturm. Das ganze trostlose Jahr hindurch umschäumten und umtosten ihn die Wogen. Große Haufen von Seekraut umgaben seinen Fuß, und Sturmvögel – man konnte glauben, daß sie vom Winde geboren waren wie das Seekraut von den Wellen – Sturmvögel hoben und senkten sich um seine Spitze, wie die wogenden Wellen unten. Aber selbst hier hatten die zwei Turmwächter ein Feuer angezündet, das durch das Guckloch in der dicken, steinernen Mauer einen hellglänzenden Streifen auf die nächtliche See warf. Die harten Hände sich über den Tisch hinreichend, an dem sie saßen, wünschten sie einander fröhliche Weihnachten und stießen mit den Grogbechern darauf an. Und einer der beiden, der ältere noch dazu, mit einem Gesicht von Sturm und Wetter gebräunt und gefurcht, wie die Galionsfigur eines alten Schiffes, stimmte ein mächtiges Lied an, das wie ein Sturmwind erdröhnte. 84
Immer noch schwebte der Geist über die dunkelwogende See dahin, immer weiter und weiter, bis sie, wie der Geist zu Scrooge sagte, fern jeder Küste, sich auf einem Schiff niederließen. Sie standen neben dem Steuermann an dem Rad, dem Ausguck vorn, neben den Offizieren, die gerade Wache hatten. Wie dunkle, gespenstige Gestalten standen diese auf ihrem Posten, aber jeder von ihnen summte ein Weihnachtslied, oder hatte einen Weihnachtsgedanken, oder sprach leise zu seinem Kameraden von einem früheren Weihnachtsabend und heimatlichen Hoffnungen, die sich daran knüpften. Und jeder einzelne an Bord, wachend oder schlafend, gut oder schlecht, hatte an diesem Tag ein herzlicheres Wort für seine Kameraden gehabt als an jedem andern Tag des Jahres und ihn wenigstens einigermaßen gefeiert; und hatte an die gedacht, die sich jetzt in der Ferne seiner erinnerten, und hatte gewußt, daß sie jetzt seiner freundlich gedächten. Eine große Überraschung war es für Scrooge – während er dem Stöhnen des Windes lauschte und darüber nachdachte, wie es doch schauerlich sei, durch die öde Nacht über einen unbekannten Abgrund dahinzugleiten, der Geheimnisse barg, so tief wie der Tod – eine große Überraschung war es für Scrooge sage ich, plötzlich ein herzliches Lachen zu vernehmen. Noch größer war Scrooges Überraschung, als er darin das Lachen seines eigenen Neffen erkannte und sich in einem hellen, behaglich warmen Zimmer wiederfand, während der Geist ah seiner 85
Seite stand und mit beifälligem, mildem Lächeln auf diesen Neffen herabblickte. »Haha!« lachte Scrooges Neffe. »Hahaha!« Wenn jemand durch einen sehr unwahrscheinlichen Zufall einen Menschen weiß, der glücklicher lachen kann als Scrooges Neffe, so kann ich nur sagen, ich möchte ihn auch kennenlernen. Stellt mich ihm vor, und ich werde mit ihm Freundschaft pflegen. Es ist doch eine gerechte und schöne Anordnung, daß, wie Krankheit und Kummer, auch in der ganzen weiten Welt nichts so unwiderstehlich ansteckend ist, wie Lachen und Fröhlichkeit. Als Scrooges Neffe lachte und sich den Bauch hielt und mit dem Kopf wackelte und die allermerkwürdigsten Gesichter schnitt, lachte Scrooges Nichte so herzlich wie er. Und die versammelten Freunde, nicht faul, fielen in den Lachchor ein. »Haha! Haha! Haha!« »Er sagte, Weihnachten sei dummes Zeug, so wahr ich lebe«, rief Scrooges Neffe. »Und er glaubt es auch.« »Die Schande ist um so größer für ihn, Fred«, sagte Scrooges Nichte entrüstet. Gott segne die Frauen! Sie tun nie etwas halb. Sie sind immer in vollem Ernst. Sie war hübsch, sehr hübsch. Sie hatte ein liebliches, schelmisches Gesicht, einen frischen vollen Mund, der zum Küssen gemacht schien – wie er es ohne Zweifel auch war; alle Arten lieber kleiner Grübchen um das Kinn, die ineinanderflossen, wenn 86
sie lachte, und das sonnenhellste Paar Augen, das je erblickt werden konnte. Ja, sie war reizend, liebenswürdig, bezaubernd. »Er ist ein komischer alter Herr«, sagte Scrooges Neffe, »das ist wahr, und nicht so angenehm, wie er sein könnte. Doch seine Fehler bestrafen nur ihn selbst, und ich habe keinen Grund, etwas gegen ihn zu sagen.« »Er muß doch sehr reich sein, Fred«, meinte Scrooges Nichte. »Wenigstens sagst du es immer.« »Und wenn schon, Liebste!« sprach Scrooges Neffe. »Sein Reichtum nützt ihm nichts. Er tut nichs Gutes damit. Er macht sich selbst nicht einmal das Leben damit angenehm. Er hat nicht einmal das Vergnügen, zu denken – hahaha – daß er uns am Ende damit eine Freude machen wird.« »Ich habe keine Geduld mit ihm«, bemerkte Scrooges Nichte. Die Schwester von Scrooges Nichte und alle die andern Damen waren derselben Meinung. »Oh, ich habe Geduld«, sagte Scrooges Neffe. »Mir tut er leid; ich könnte nicht böse auf ihn werden, selbst wenn ich’s versuchte. Wer leidet unter seiner bösen Laune? Er selber allein, sonst niemand. Jetzt hat er sich’s in den Kopf gesetzt, uns nicht leiden zu können, und will unsere Einladung zum Mittagessen nicht annehmen. Was ist die Folge davon? Er verliert nicht viel an unserm Essen.« »Nun, ich meine, er verliert ein sehr gutes Essen«, unterbrach ihn Scrooges Nichte. Die andern sagten 87
dasselbe, und man konnte ihr Urteil darüber nicht bestreiten, weil sie eben zu essen aufgehört hatten und jetzt mit dem Dessert bei Lampenlicht um den Kamin saßen. »Nun, es freut mich, das zu hören«, sagte Scrooges Neffe, »weil ich kein großes Vertrauen in diese jungen Hausfrauen setze. Was sagen Sie dazu, Topper?« Ganz klar war’s, Topper hatte ein Auge auf eine der Schwestern von Scrooges Nichte geworfen, denn er antwortete, ein Junggeselle sei ein unglücklicher, heimatloser Mensch, der kein Recht habe, eine Meinung darüber auszusprechen: Worte, bei denen die Schwester von Scrooges Nichte – die Runde mit dem Spitzkragen, nicht die mit der Rose im Haar – rot wurde. »Weiter, weiter, Fred!« sagte Scrooges Nichte, in die Hände klatschend. »Er bringt nie zu Ende, was er angefangen hat! Er ist ein so närrisches Kerlchen.« Scrooges Neffe schwelgte in einem andern Gelächter, und es war unmöglich, sich von der Ansteckung fernzuhalten, obgleich es die runde Schwester sogar mit Riechsalz versuchte; sein Beispiel wurde einstimmig nachgeahmt. »Ich wollte nur sagen«, meinte Scrooges Neffe, »daß die Folge seines Mißfallens an uns und seiner Weigerung, mit uns fröhlich zu sein, die ist, daß er einige angenehme Augenblicke verliert, die ihm nichts schaden würden. Gewiß verliert er angenehmere Unterhaltung, als ihm seine eigenen Gedanken in seinem dumpfigen alten Kontor oder in seiner 88
Wohnung bereiten. Ich versuche ihm jedes Jahr Gelegenheit dazu zu geben, mag es ihm nun gefallen oder nicht, denn er dauert mich. Er mag auf Weihnachten schimpfen, bis er stirbt, aber er muß doch endlich besser davon denken, wenn er mich jedes Jahr in guter Laune zu ihm kommen sieht, mit den Worten: ›Onkel Scrooge, wie geht es Ihnen?‹ – Wenn es ihm nur den Gedanken einflößt, seinem armen Kommis fünfzig Pfund zu hinterlassen, so ist das doch wenigstens etwas: und ich glaube, ich packte ihn gestern.« Jetzt war an ihnen die Reihe zu lachen bei dem Gedanken, daß er Scrooge gepackt hätte. Aber da er durch und durch gutmütig war und sich nicht viel darum kümmerte, worüber sie lachten, wenn sie überhaupt lachten, so stimmte er in ihre Fröhlichkeit mit ein und ließ die Flasche wacker herumgehen. Nach dem Tee kam Musik an die Reihe. Denn es war eine musikalische Familie, und sie wußten, was sie taten, wenn sie einen Glee oder Catch sangen, darauf könnt ihr euch verlassen, namentlich Topper, der den Baß nach Noten brummen konnte, ohne daß die großen Adern auf der Stirn anschwollen oder sich sein Gesicht rötete. Scrooges Nichte spielte die Harfe recht gut und spielte unter anderen Stücken auch ein kleines Liedchen (ein bloßes Nichts, ihr hättet es in zwei Minuten pfeifen gelernt), das jenes Kind oft gesungen hatte, von dem Scrooge aus der Schule geholt worden war, wie ihm der Geist der vergangenen Weihnachten gezeigt hatte. Als Scrooge 89
dies Liedchen hörte, trat alles, was ihm der Geist gezeigt hatte, abermals vor seine Seele: er wurde weicher und weicher und dachte, wenn er es vor Jahren hätte oft hören können, so hätte er die freundlichen Seiten des Lebens genießen können, ohne erst zu Marleys Geist seine Zuflucht um Belehrung nehmen zu müssen. Aber sie widmeten nicht den ganzen Abend der Musik. Nach einer Weile fingen sie Pfänderspiele an, denn es ist gut, zuweilen Kind zu sein, und vorzüglich zu Weihnachten, da der Urheber dieses Festes selbst noch ein Kind war. Doch halt, erst spielten sie Blindekuh. Und ich glaube ebensowenig, daß Topper wirklich blind war, wie ich glaube, er habe Augen in seinen Stiefeln. Ich vermute, die Sache war zwischen ihm und Scrooges Neffen abgekartet, und der Geist der diesjährigen Weihnachten wußte es wohl! Die Art, wie er die runde Schwester in dem Spitzenkragen verfolgte, war eine Beleidigung aller menschlichen Leichtgläubigkeit. Wo sie ging, ging auch er, die Feuereisen umstoßend, über Stühle stolpernd, an das Piano anrennend, sich in den Gardinen verwickelnd. Immer wußte er, wo die runde Schwester war. Wenn jemand gegen ihn gefallen wäre, wie es einige machten, oder sich vor ihn hingestellt hätte, würde er getan haben, als bemühe er sich, ihn zu ergreifen, wäre aber augenblicklich umgekehrt, der runden Schwester nach. Sie rief oft, das sei nicht ehrlich, und das war es auch in der Tat nicht. Aber endlich hatte er sie gefunden und ungeachtet ihres Sträubens zwängte er 90
sie in eine Ecke, aus der keine Flucht möglich war; und da wurde seine Aufführung ganz abscheulich. Denn sein Vorgeben, er kenne sie nicht, er müsse erst ihren Kopfputz anfassen und, um sie zu erkennen, einen gewissen Ring auf ihrem Finger und eine gewisse Kette um ihren Hals befühlen, war ganz, ganz abscheulich! Und gewiß sagte sie ihm auch tüchtig ihre Meinung darüber, denn als ein anderer Blinder an der Reihe war, tuschelten sie hinter den Gardinen sehr vertraut miteinander. Scrooges Nichte nahm nicht teil an dem Blindekuhspiel, sondern saß gemütlich in einer traulichen Ecke in einem Lehnstuhl mit einem Fußbänkchen davor, und der Geist und Scrooge standen dicht hinter ihr. Aber bei den Pfänderspielen tat sie mit und liebte ihre Liebe mit allen Buchstaben des Alphabets zur allgemeinen Bewunderung. Auch in dem Spiel ›Wie, Wann und Wo‹ war sie sehr tüchtig und stellte zur geheimen Freude von Scrooges Neffen ihre Schwestern gar sehr in den Schatten, obgleich sie auch ganz gescheite Mädchen waren, wie es uns Topper hätte versichern können. Es mochten ungefähr zwanzig Personen da sein, junge und alte, aber sie spielten alle, und auch Scrooge spielte mit; denn in seiner Teilnahme an den Vorgängen ganz vergessend, daß ihnen seine Stimme nicht hörbar war, gab er oft seine Antwort auf die Fragen ganz laut und riet auch oft ganz richtig. Dem Geist gefiel es sehr gut, ihn in dieser Laune zu sehen, und er blickte ihn so freundlich an, daß ihn 91
Scrooge wie ein Knabe bat, noch warten zu dürfen, bis die Gäste fortgingen. Aber der Geist sagte, dies könne nicht geschehen. »Es fängt ein neues Spiel an«, sagte Scrooge. »Nur eine einzige halbe Stunde, Geist.« Es war ein Spiel, das man ›Ja und Nein‹ nennt, wo Scrooges Neffe sich etwas zu denken hatte und die anderen erraten mußten, was; auf ihre Fragen brauchte er dann nur mit ja oder nein zu antworten. Die schnell aufeinanderfolgenden Fragen, die ihm vorgelegt wurden, ergaben denn endlich, daß er sich ein Tier gedacht hatte: ein lebendiges Tier, ein häßliches Tier, ein wildes Tier, ein Tier, das zuweilen brumme und zuweilen spreche und sich in London aufhalte und in den Straßen herumlaufe und nicht für Geld gezeigt und nicht herumgeführt werde und nicht in einer Menagerie sei und nicht geschlachtet werde, und weder ein Pferd, noch ein Esel, noch eine Kuh, noch ein Ochs, noch ein Tiger, noch ein Hund, noch ein Schwein, noch eine Katze, noch ein Bär sei. Bei jeder neuen Frage, die ihm gestellt wurde, brach Scrooges Neffe aufs neue in ein Gelächter aus und konnte gar nicht wieder herauskommen, so daß er vom Sofa aufstehen und mit den Füßen stampfen mußte. Endlich rief die runde Schwester mit einem ebenso unauslöschlichen Gelächter: »Ich habe es, Fred, ich weiß es, ich weiß es.« »Was ist es?« rief Fred. »Es ist Onkel Scrooge.« Und der war es auch. Verwunderung war das all92
gemeine Gefühl, obgleich einige meinten, die Frage: »Ist es ein Bär?« hätte mit ja beantwortet werden müssen, denn eine verneinende Antwort sei schon hinreichend gewesen, ihre Gedanken von Scrooge abzubringen, selbst wenn sie auf dem Wege zu ihm gewesen wären. »Nun, er hat uns Freude genug gemacht«, sagte Fred, »und so wäre es undankbar, nicht auf seine Gesundheit zu trinken. Hier ist ein Glas Glühwein dazu bereit. Es lebe Onkel Scrooge!« »Es lebe Onkel Scrooge!« stimmten alle ein. »Fröhliche Weihnachten und ein glückliches Neujahr dem Alten, sei er, wie er wolle!« sagte Scrooges Neffe. »Er wollte meinen Wunsch nicht annehmen, aber er soll ihn dennoch haben.« Dem Onkel Scrooge war es unmerklich so fröhlich und leicht zu Sinne geworden, daß er der von seiner Gegenwart nichts ahnenden Gesellschaft ihren Toast erwidert und mit einer unhörbaren Rede gedankt haben würde, hätte ihm der Geist Zeit dazu gelassen. Aber alles verschwand im Hauch vom letzten Wort des Neffen, und Scrooge und der Geist waren schon wieder unterwegs. Sie gingen weit und sahen viel und besuchten manchen Herd, aber immer spendeten sie Glück. Der Geist stand neben Kranken, und sie wurden heiter und hoffend; neben Wanderern in fernen Ländern, und sie träumten von der Heimat; neben solchen, die mit dem Leben rangen, und sie harrten geduldig aus; neben Armen, und sie wurden reich. Im Armenhaus und im Lazarett, im 93
Kerker und in jedem Zufluchtsort des Elends, wo der Mensch in seiner kurzen ärmlichen Herrschaft dem Geiste die Tür verschlossen hatte, spendete er seinen Segen und lehrte Scrooge seine Weise. Es war eine lange Nacht, wenn es nur eine Nacht war; aber Scrooge zweifelte daran, denn die Weihnachtsfeiertage schienen in die Zeit, in der sie miteinander verrannen, zusammengedrängt zu sein. Es war auch sonderbar, daß der Geist offenbar älter wurde, während Scrooge äußerlich ganz unverändert blieb. Scrooge hatte diese Veränderung zwar bemerkt, sprach aber nie davon, bis sie von einer Kinderweihnachtsgesellschaft weggingen, wo er bemerkte, daß des Geistes Haar schnell grau geworden war. »Ist das Leben der Geister so kurz?« fragte Scrooge. »Mein Leben ist sehr kurz auf dieser Erde«, sagte der Geist, »es endet noch in dieser Nacht.« »In dieser Nacht noch!« rief Scrooge. »Heute um Mitternacht. Horch, die Zeit nahet schon.« Die Glocke schlug drei Viertel auf zwölf. »Vergib mir, wenn ich nicht recht tue, zu fragen«, sagte jetzt Scrooge, scharf auf des Geistes Gewand blickend, »aber ich sehe etwas Seltsames unter deinem Mantel hervorblicken, was nicht zu dir zu gehören scheint. Ist es ein Fuß oder eine Klaue?« »Nach dem wenigen Fleisch, was darauf sitzt, könnte es schon eine Klaue sein«, gab der Geist traurig zur Antwort, und fuhr fort: »Sieh hier.« 94
Aus den weiten Falten seines Gewandes hervor erschienen jetzt zwei Kinder, elend, abgemagert, häßlich und mitleiderregend. Sie knieten vor dem Geiste nieder und hielten sich festgeklammert an dem Saum seines Gewandes. »O Mensch, sieh hier«, rief der Geist. »Sieh hier, sieh hier!« Es war ein Knabe und ein Mädchen. Fahlen Gesichtes, elend, zerlumpt und mit wildem, tückischem Blicke; aber doch auch ängstlich und gedrückt in ihrer Demut. Wo die Schönheit der Jugend ihre Züge hätte durchleuchten und mit ihren frischesten Farben kleiden sollen, hatte sie eine runzlige, abgelebte Hand, gleich der des Alters, berührt und versehrt. Wo Engel hätten thronen können, lauerten Teufel mit grimmigem, drohendem Blick. Keine Veränderung, keine Entwürdigung der Menschheit in allen Geheimnissen der Schöpfung hat so schreckliche und grauenerregende Ungeheuer aufzuweisen. Entsetzt fuhr Scrooge zurück. Da sie ihm der Geist auf solche Weise gezeigt hatte, versuchte er zu sagen, es wären schöne Kinder, aber die Worte erstickten ihm von selber, um nicht teilzuhaben an einer so ungeheuern Lüge. »Geist, sind das deine Kinder?« Weiter konnte Scrooge nichts sagen. »Es sind des Menschen Kinder«, erwiderte der Geist, auf sie herabschauend. »Und sie hängen sich an mich, vor mir ihre Väter anklagend. Dieses Mädchen ist die Unwissenheit. Dieser Knabe ist der 95
Mangel. Schau sie beide wohl an, und vor allem diesen Knaben; denn auf seiner Stirn seh’ ich geschrieben, was Verhängnis ist, wenn die Schrift nicht verlöscht wird. Leugnet es«, rief der Geist, seine Hand nach der Stadt ausstreckend. »Verleumdet alle, die es Euch sagen! Gebt es zu um Eurer Parteizwecke willen und macht es noch schlimmer! Und erwartet das Ende!« »Haben sie keine Stütze, keinen Zufluchtsort?« rief Scrooge. »Gibt es keine Gefängnisse?« sagte der Geist, das letztemal die eigenen Worte von Scrooge gegen ihn gebrauchend. »Gibt es keine Armenhäuser?« Die Glocke schlug zwölf. Scrooge sah sich um nach dem Geiste, aber er war verschwunden. Als der letzte Schlag verklungen war, erinnerte er sich an die Vorhersagung des alten Jacob Marley und sah, die Augen erhebend, ein grauenerregendes, tief verhülltes Gespenst auf sich zukommen, wie ein Nebel auf dem Boden dahinzurollen pflegt.
Vierte Strophe: Der letzte Geist Die Erscheinung kam langsam, feierlich, schweigend auf ihn zu. Als sie herangekommen war, fiel Scrooge auf die Knie nieder, denn selbst die Luft, durch die sich der Geist bewegte, schien geheimnisvolles Grauen um sich zu verbreiten. 96
Die Erscheinung war verhüllt in einem schwarzen, weiten Mantel, der nichts von ihr sehen ließ, als eine ausgestreckte Hand. Wäre diese nicht gewesen, es wäre einem schwer angekommen, die Gestalt von der Nacht zu trennen, die sie umgab! Als sie neben ihm stand, fühlte er, daß sie groß und stattlich war und daß ihn ihre geheimnisvolle Gegenwart mit einem feierlichen Grauen erfüllte. Er wußte weiter nichts, denn der Geist sprach und bewegte sich nicht. »Ich stehe vor dem Geist der zukünftigen Weihnacht?« fragte Scrooge. Der Geist antwortete nicht, sondern wies mit der Hand zur Erde hinab. »Du willst mir die Schatten der Dinge zeigen, die noch nicht geschehen sind, aber noch geschehen werden?« fuhr Scrooge fort. »Willst du das, Geist?« Der obere Teil der Verhüllung bauschte sich auf einen Augenblick in Falten, als ob der Geist sein Haupt neige; dies war die einzige Antwort, die Scrooge erhielt. Obgleich schon so ziemlich an gespenstische Gesellschaft gewöhnt, bangte Scrooge vor der stummen Erscheinung doch so sehr, daß seine Knie wankten und er kaum noch stehen konnte, als er sich ihr zu folgen bereit machte. Der Geist stand für einen Augenblick still, als bemerke er die Furcht seines Begleiters und als wolle er ihm Zeit lassen, sich zu erholen. Aber Scrooge befand sich dadurch noch schlech97
ter. Ein fremdes, unbestimmtes Grausen durchbebte ihn bei dem Gedanken, daß sich hinter diesem schwarzen Schleier gespenstische Augen fest auf ihn heften könnten, während er, obgleich er seine Augen aufs Äußerste anstrengte, doch nichts sehen konnte als die gespenstische Hand und eine große, schwarze Faltenmasse. »Geist der Zukunft«, rief er, »ich fürchte dich mehr als die Geister, die ich schon gesehen habe. Aber da ich weiß, daß es dein Zweck ist, mir Gutes zu tun, und da ich noch zu leben hoffe, um ein anderer Mensch zu werden, als ich bisher war, bin ich willens, dich zu begleiten, und tue es mit einem dankerfüllten Herzen. – Willst du nicht zu mir sprechen?« Die Gestalt gab ihm keine Antwort. Die Hand wies gerade vor ihm hin in die Ferne. »Führe mich«, bat Scrooge. »Führe mich, die Nacht schwindet schnell, und die Zeit ist für mich kostbar. Führe mich, Geist.« Die Erscheinung bewegte sich ebenso von ihm weg, wie sie auf ihn zugekommen war. Scrooge folgte dem Schatten ihres Gewandes, der ihn aufhob und von dannen trug. Es war kaum, als ob sie in die City träten; eher schien die City rings um sie her in die Höhe zu wachsen und sie zu umdrängen. Aber sie waren doch mitten in ihrem Herzen, auf der Börse unter den Kaufleuten, die geschäftig hin und her eilten, mit dem Geld in ihren Taschen klimperten, in Gruppen miteinander sprachen, nach der Uhr sahen und ge98
dankenvoll mit den großen, goldenen Petschaften an den Uhrketten spielten, wie Scrooge es schon so oft gesehen hatte. Der Geist blieb bei einer Gruppe von Kaufleuten stehen, und Scrooge sah, daß die Hand der Erscheinung darauf hinwies; daher näherte er sich ihnen, um ihr Gespräch zu belauschen. »Nein, ich weiß nicht viel davon zu sagen«, sagte ein großer fetter Mann mit einem Ungeheuern Doppelkinn. »Ich weiß nur, daß er tot ist.« »Wann starb er denn?« fragte ein anderer. »Vorige Nacht, glaub’ ich.« »Mein Gott, was hat ihm denn gefehlt?« mischte sich ein Dritter ein, der dabei eine große Prise aus einer sehr großen Dose nahm. »Ich dachte, der würde nie sterben.« »Weiß Gott«, sagte der erste und gähnte. »Was hat er mit seinem Geld angefangen?« fragte ein Herr mit einem roten Gesicht und einem Auswuchs an der Nasenspitze, der wie der Lappen eines Truthahns wackelte. »Ich habe nichts davon gehört«, sagte der Mann mit dem fetten Doppelkinn und gähnte abermals. »Hat es wahrscheinlich seiner Firma hinterlassen. Mir hat er’s nicht vermacht. Das weiß ich.« Dieser reizende Scherz wurde mit einem allgemeinen Gelächter begrüßt. »Es wird wohl ein sehr billiges Begräbnis werden«, fuhr der Dicke mit dem Doppelkinn fort; »denn so wahr ich lebe, ich kenne niemanden, der 99
mitgehen sollte. Wenn wir nun zusammenträten und freiwillig mitgingen?« »Ich tue mit, wenn für einen Lunch gesorgt wird«, bemerkte der Herr mit dem Truthahnlappen an der Nasenspitze. »Aber ich muß zu essen haben, wenn ich dabeisein soll.« Ein neues Gelächter. »Nun, da bin ich doch wohl der Uneigennützigste von euch«, meinte der erste Sprecher, »denn ich trage nie schwarze Handschuh und esse nie Lunch. Aber ich gehe mit, wenn sich noch andere finden. Wenn ich mir’s recht überlege, war ich am Ende sein vertrautester Freund; denn wir blieben stehen und sagten einander, wenn wir uns auf der Straße trafen: ›Guten Morgen, guten Morgen!‹« Sprecher und Zuhörer gingen fort und mischten sich unter andere Gruppen. Scrooge kannte die Leute und sah den Geist mit einem fragenden Blick an. Die Erscheinung schwebte weiter und hinaus auf die Straße. Ihre Hand wies auf zwei sich begegnende Personen. Und wieder hörte Scrooge zu, in der Hoffnung, jetzt die Erklärung zu finden. Denn er kannte auch diese Leute recht gut. Es waren Kaufleute, sehr reich und von großem Ansehen. Er hatte sich immer bestrebt, in ihrer Achtung zu bleiben, das heißt in Geschäftssachen, rein in Geschäftssachen. »Wie geht’s?« sagte der eine. »Wie geht’s Ihnen?« der andere. 100
»Gut«, erwiderte der erste. »Der alte Knauser ist endlich tot, wissen Sie es schon?« »Ich hörte es«, antwortete der zweite. »Es ist kalt heute, nicht wahr?« »Wie sich’s zu Weihnachten schickt. Sie sind wohl kein Schlittschuhläufer?« »Nein, nein. Habe an andere Sachen zu denken. Guten Morgen!« Kein Wort weiter. So trafen sie sich, so trennten sie sich. Scrooge war erst zu staunen geneigt, daß der Geist auf anscheinend so unbedeutende Gespräche ein Gewicht zu legen schien; aber sein Gefühl sagte ihm, daß sie eine verborgene Bedeutung haben müßten, und er zerbrach sich den Kopf, welcher Art diese sein könnte. Die Gespräche konnten sich nicht auf den Tod Jacobs, seines alten Kompagnons, beziehen, denn der gehörte der Vergangenheit an, und sein Führer war doch der Geist der Zukunft. Auch konnte er sich niemanden von den ihn näher Angehenden vorstellen, auf den er sie hätte beziehen können. Aber in der Gewißheit, daß für ihn doch eine wichtige Lehre darin liege, auf wen sie sich auch beziehen möchten, beschloß er, jedes Wort, das er hörte, und jede Szene, die er sah, treu in seinem Herzen aufzubewahren und vorzüglich seinen Schatten zu beobachten, wenn er erschien. Denn er erwartete von dem Benehmen seines zukünftigen Selbst die noch fehlende Aufklärung und die Lösung der Rätsel, die ihm jetzt so schwierig vorkam. 101
Schon auf der Börse sah er sich nach seinem Selbst um; aber ein anderer stand in seiner gewohnten Ekke, und obgleich die Uhr die Stunde zeigte, wo er gewöhnlich dort war, bemerkte er sich doch auch nicht unter den Scharen, die sich durch den Eingang hereindrängten. Das überraschte ihn indessen um so weniger, als er schon lange daran gedacht hatte, sein Geschäft aufzugeben; und nun glaubte und hoffte er, in diesen Erscheinungen schon die einstige Verwirklichung seines Planes zu erblicken. Regungslos und schwarz stand neben ihm das Gespenst mit seiner starr ausgestreckten Hand. Als er wieder von seiner nachdenklichen Stellung aufblickte, glaubte er (nach der Richtung der Hand zu urteilen), daß sich die unsichtbaren Augen fest auf ihn hefteten. Bei diesem Gedanken überlief ihn ein kalter Schauer. Sie verließen darauf die geschäftige Umgebung und gingen in einen abgelegenen Teil der Stadt, wo Scrooge nie vorher gewesen war, dessen Lage und schlechten Ruf er aber kannte. Die Straßen waren schmutzig und eng, die Läden und Häuser ärmlich, die Menschen halbnackt, betrunken, barfuß, häßlich. Gäßchen und Torwege strömten, wie ebenso viele Kloaken, abscheuerregende Gerüche und Schmutz und Menschen in die Straßen, und das ganze Viertel schien erfüllt von Verbrechen, Unrat und Elend. In einem der tiefsten Winkel dieses Zufluchtsorts der Sünde und des Verbrechens befand sich ein niedriger, dunkler Laden unter einem Wetterdach, in dem 102
Eisen, Lumpen, Flaschen, Knochen und Fleischabfälle verkauft wurden. Auf dem Fußboden lag ein Haufen verrosteter Schlüssel, Nägel, Ketten, Türangeln, Feilen, Wagen, Gewichte und altes Eisen aller Art. Geheimnisse, die zu enträtseln wenige verlangen würden, entstanden und verbargen sich in Bergen widerlicher Lumpen, Massen verdorbenen Fettes und ganzen Beinhäusern von Knochen. Mitten unter seinen Waren saß neben einem aus alten Kacheln zusammengesetzten Ofen ein grauhaariger, fast siebzigjähriger Schelm, der sich vor der Kälte draußen durch einen bauschigen Vorhang von allerlei auf eine Leine gehängten Lumpen geschützt hatte und seine Pfeife voll Behagen rauchte. Scrooge und die Erscheinung traten neben diesen Mann, als eine Frau mit einem schweren Bündel in den Laden schlich. Kaum war sie eingetreten, als ihr eine zweite Frau, auch mit einem Bündel, folgte, und dieser dicht auf den Fersen ein Mann in einem alten, schwarzen, abgetragenen Anzug, der nicht weniger vor dem Anblick der beiden erschrak, als diese voreinander erschrocken waren. Nach einigen Augenblicken wortlosen Staunens, an dem sich auch der Alte mit der Pfeife beteiligt hatte, brachen sie alle drei in ein lautes Gelächter aus. »Schau an, die Putzfrau ist die erste«, rief die zuerst eingetreten war. »Schau an, die Waschfrau ist die zweite, und der Sargträger ist der dritte. He, Joe, das ist ein Glücksfall! Wir treffen uns hier alle drei, ohne daß wir uns verabredet haben.« 103
»Ihr hättet euch an keinem bessern Ort treffen können«, sagte der alte Joe, die Pfeife aus dem Mund nehmend. »Kommt in den Salon. Ihr habt schon lange freien Zutritt dort, das wißt Ihr ja, und die anderen zwei sind auch keine Fremden. Wartet, bis ich die Ladentür zugemacht habe. Oh, wie sie knarrt! Ich glaube, es gibt kein so rostiges Stück Eisen in dem ganzen Laden, als die Türangeln; und ich weiß, es gibt keine so alten Knochen hier, wie meine. Haha, wir passen zu unserm Geschäft. Kommt in den Salon!« Der Salon war der Raum hinter dem Lumpenvorhang. Der Alte kratzte das Feuer mit einem alten Rouleaustab zusammen, schob den Docht seiner qualmigen Lampe, denn es war Abend, mit dem Pfeifenstiel in die Höhe und steckte diese dann wieder in den Mund. Während er damit beschäftigt war, warf die zuerst eingetretene Frau ihr Bündel auf den Boden und setzte sich mit kokettierender Frechheit auf einen Stuhl; dann legte sie die Hände auf die Knie und sah die beiden andern herausfordernd an. »Nun, was ist dabei, was ist schon dabei, Mrs. Dilber? Jeder hat das Recht, für sich zu sorgen. Und er tat es immer.« »Das ist wahr«, sagte die Waschfrau. »Keiner tat es eifriger.« »Na, warum gafft Ihr da einander an, als hättet Ihr Bange, wer der Schlauere sei? Wir wollen doch nicht einander die Augen aushacken, denk’ ich.« 104
»Nein, gewiß nicht«, sagten Mrs. Dilber und der Mann wie aus einem Munde. »Wir wollen es nicht hoffen.« »Na, gut denn«, rief die Frau, »das ist genug! Wem schadet’s, wenn wir so ein paar Sachen mitnehmen, wie die hier? Einer Leiche gewiß nicht.« »Nein, gewiß nicht«, lachte Mrs. Dilber. »Wenn er sie noch nach dem Tode behalten wollte, wie ein alter Geizhals«, fuhr die Frau fort, »warum war er nicht besser zu seinen Lebzeiten? Wäre er’s gewesen, dann hätte er auch jemanden um sich gehabt, als er starb, statt daß er mutterseelenallein seinen letzten Atem fahrenlassen mußte.« »Es ist das wahrste Wort, das je gesprochen wurde«, bestätigte Mrs. Dilber. »Es ist ein Gottesgericht.« »Ich wünschte, es wäre ein bißchen schwerer ausgefallen«, meinte die Frau, »und es wär’s auch, verlaßt euch drauf, wenn ich hätte mehr bekommen können. Mach das Bündel auf, Joe, und sag mir, was es wert ist. Sprich dreist heraus. Ich fürchte mich nicht, die erste zu sein, noch es die hier sehen zu lassen. Wir wußten ganz gut, daß wir für uns sorgten, ehe wir uns hier trafen. Das ist keine Sünde. Mach das Bündel auf, Joe.« Aber die Galanterie ihrer Freunde wollte das nicht erlauben; und der Mann in dem abgetragenen schwarzen Rock brachte seine Beute zuerst. Es war nicht viel los damit: ein oder zwei Petschafte, ein silberner Bleistift, ein Paar Hemdknöpfe und eine Bro105
sche von geringem Wert: das war alles. Die Gegenstände wurden von dem alten Joe untersucht und geschätzt, worauf er die Summe, die er für das einzelne bezahlen wollte, an die Wand schrieb und zusammenrechnete, als er fand, daß nichts mehr nachkam. »Das ist Eure Rechnung«, sagte Joe, »und ich gebe keinen Sixpence mehr, und sollte ich in Stücke gehauen werden. Wer kommt jetzt?« Mrs. Dilber war die nächste. Sie hatte Bett- und Handtücher, einige Kleidungsstücke, zwei altmodische silberne Teelöffel, eine Zuckerzange und einige Paar Stiefel. Ihre Rechnung wurde von Joe auf dieselbe Weise an die Wand geschrieben. »Damen gebe ich immer zuviel. Es ist meine Schwäche, und ich richte mich damit zugrunde«, sagte der alte Joe. »Hier ist Eure Rechnung. Wolltet Ihr einen Pfennig mehr dafür haben und es darauf ankommen lassen, so täte es mir leid, so nobel gewesen zu sein, und ich zöge Euch eine halbe Krone ab.« »Und nun mach mein Bündel auf, Joe«, drängte die erste. Joe kniete nieder, um bequemer das Bündel öffnen zu können, und nachdem er viele viele Knoten aufgemacht hatte, zog er eine große schwere Rolle von einem dunklen Stoff heraus. »Was ist das?« staunte Joe. »Bettgardinen!« »Ja«, rief das Weib lachend und sich vorbeugend. »Bettgardinen!« »Ihr wollt doch nicht sagen, Ihr hättet sie heruntergenommen, wie er dort lag?« sagte Joe. 106
»Ih, freilich«, sagte das Weib. »Warum auch nicht?« »Ihr seid geboren, Euer Glück zu machen, und Ihr werdet’s auch.« »Ich werde doch wahrhaftig meine Hand nicht leer einstecken, wenn ich sie nur auszustrecken brauche, um was zu kriegen, um so eines Mannes willen, wie der war. Wahrhaftig nicht, Joe«, antwortete das Weib ruhig. »Laßt kein Öl auf die Bettdecken tropfen.« »Seine Bettdecke?« fragte Joe. »Von wem soll sie denn sonst sein?« entgegnete das Weib. »Er wird auch ohne die nicht frieren, das behaupte ich.« »Er starb doch nicht etwa an etwas Ansteckendem?« fragte der alte Joe bedenklich, seine Beschäftigung unterbrechend und sie anblickend. »Das braucht Ihr nicht zu befürchten«, antwortete die Frau. »Ich hatte ihn nicht so lieb, daß ich dann bei ihm geblieben wäre um solcher Lumpen willen. Ha, Ihr könnt durch das Hemd gucken, bis Euch Eure Augen weh tun: Ihr findet kein Loch darin und keine dünne Stelle. Es ist das beste, was er hatte, und sein ist’s auch. Sie hätten’s verdorben, wenn ich nicht gewesen wäre.« »Was meint Ihr mit Verderben?« fragte der alte Joe. »Nun, ihm das Hemd in das Grab mitgeben, was sonst?« erwiderte die Frau lachend. »Es war da einer dumm genug, es ihm anzuziehen, aber ich zog’s ihm 107
wieder aus. Wenn Kattun zu so etwas nicht gut genug ist, weiß ich nicht, zu was er sonst gut wäre. Er steht einer Leiche ebensogut. Er kann nicht häßlicher aussehen, als er darin aussah.« Scrooge hörte das Gespräch mit Grausen an. Wie sie da um ihren Raub herum in dem kärglichen Lampenlicht des Alten saßen, betrachtete er sie mit einem Ekel und einem Abscheu, der nicht größer hätte sein können, wenn es scheußliche Dämonen gewesen wären, die um die Leiche selbst feilschten. »Ha, ha!« lachte dieselbe Frau, als der alte Joe, einen alten flanellnen Geldbeutel herauslangte und jedem den Preis des Raubes auf den Fußboden hinzählte. »Das ist das Ende von der Geschichte, seht Ihr! Er scheuchte jeden von sich, solange er lebte, um uns zu nützen, da er tot ist! Hahaha!« »Geist«, sagte Scrooge, vom Fuß bis zum Scheitel zitternd. »Ich verstehe dich. Das Los dieses Unglücklichen könnte das meinige sein. Mein Leben geht jetzt auf dieses Ziel zu. Gnädiger Himmel, was ist das?« Er fuhr entsetzt zurück, denn die Szene hatte sich verändert, und er stand dicht vor einem Bett, einem einsamen, unverhängten Bett, in dem unter einer groben Decke etwas Verhülltes lag, das, obgleich stumm, in einer grauenerregenden Sprache verkündete, was es war. Das Zimmer war sehr dunkel, zu dunkel, um etwas sicher erkennen zu können, obgleich sich Scrooge, einem geheimen Gefühl folgend, voll Begier um108
sah, um zu wissen, was für ein Zimmer es sei. Ein bleiches Licht, das von draußen hereinströmte, fiel gerade aufs Bett; und auf diesem, geplündert und beraubt, unbewacht und unbeweint, lag die Leiche dieses Mannes. Scrooge blickte die Erscheinung an. Ihre regungslose Hand wies auf das Haupt des Leichnams. Die Decke war so sorglos zurechtgelegt, daß das geringste Verschieben, die leiseste Berührung von Scrooges Fingern das Antlitz enthüllt hätte. Er dachte daran, empfand, wie leicht es geschehen könnte, und sehnte sich, es zu tun; aber er hatte ebensowenig die Kraft, die Hülle wegzuziehen, wie den Geist von seiner Seite zu entlassen. Oh, kalter, starrer, schrecklicher Tod, hier richte deinen Altar auf und umgib ihn mit den Schrecken, über die du verfügst, denn dies ist dein Reich! Aber dem geliebten und verehrten Haupt kannst du kein Haar krümmen, von ihm kannst du keinen Zug widerlich machen. Auch wenn die Hand schwer ist und herabsinkt, wenn man sie fallen läßt, auch wenn das Herz und der Puls schweigen; die Hand war offen und barmherzig, das Herz war offen und warm und gut und der Puls ein menschlicher. Töte, Schatten, töte! Und sieh, wie seine guten Taten aus der Todeswunde hervorströmen, um in der Welt ein unsterbliches Leben auszusäen! Es war nicht etwa eine Stimme, die diese Worte in Scrooges Ohren flüsterte, aber doch hörte er sie, während er auf das Bett starrte. Er dachte, wenn die109
ser Mann jetzt wieder erweckt werden könnte, was würde wohl sein erster Gedanke sein? Nur Geiz, Hartherzigkeit, habgierige Sorge. – Ein schönes Ende haben sie ihm bereitet! Er lag in dem düstern leeren Haus, und kein Mann, kein Weib, kein Kind war da, um zu sagen: »Er war gütig gegen mich in dem und in jenem, und dieses einen gütigen Wortes gedenkend will ich seiner warten.« Eine Katze kratzte an der Tür, und die Ratten nagten und raschelten unter dem Kamin. Was sie in dem Gemach des Todes wollten und warum sie so unruhig waren, wagte Scrooge nicht auszudenken. »Geist«, sagte er, »dies ist ein schrecklicher Ort. Wenn ich ihn verlasse, werde ich nicht seine Lehre vergessen, glaube mir. Laß uns gehen.« Immer noch wies der Geist mit regungslosem Finger auf das Haupt der Leiche. »Ich verstehe dich«, antwortete Scrooge, »und ich täte es, wenn ich könnte. Aber ich habe die Kraft nicht dazu, Geist. Ich habe die Kraft nicht dazu.« Wieder schien ihn der Geist anzublicken. »Wenn irgend jemand in der Stadt ist, der bei dieses Mannes Tod etwas fühlt«, bat Scrooge ganz erschüttert, »so zeige mir ihn, Geist, ich flehe dich an.« Die Erscheinung breitete ihren dunkeln Mantel einen Augenblick vor ihm aus wie einen Fittich; und wie sie ihn wieder wegzog, sah er ein taghelles Zimmer, in dem sich eine Mutter mit ihren Kindern befand. Sie wartete auf jemandes Kommen in ängstlicher 110
Hoffnung, denn sie ging im Zimmer auf und ab, erschrak bei jedem Geräusch, sah zum Fenster hinaus, blickte nach der Uhr, versuchte umsonst, sich zu beschäftigen, und konnte kaum die Stimmen der spielenden Kinder ertragen. Endlich vernahm sie das langersehnte Klopfen an der Haustür, und als sie hinausgehen wollte, kam ihr der Gatte entgegen. Sein Gesicht war abgehärmt und bekümmert, obgleich er noch jung war! Es zeigte sich jetzt ein merkwürdiger Ausdruck darin: eine Art ernster Freude, deren er sich schämte und die er zu verbergen bestrebt war. Er setzte sich zum Essen nieder, das man ihm am Feuer aufgehoben hatte; und als die Gattin ihn erst nach langem Schweigen fragte, was er für Nachrichten bringe, schien er um Antwort verlegen zu sein. »Sind es gute«, fragte sie, »oder schlechte?« »Schlechte«, gab er zur Antwort. »Sind wir ganz zugrunde gerichtet?« »Nein, noch ist Hoffnung vorhanden, Caroline.« »Wenn er sich erweichen läßt«, rief sie erstaunt, »dann ist noch Hoffnung da! Nichts ist hoffnungslos, wenn ein solches Wunder geschehen ist.« »Für ihn ist es zu spät, Erbarmen zu zeigen«, sagte der Gatte. »Er ist tot.« Wenn ihr Gesicht Wahrheit sprach, so war sie ein mildes und geduldiges Wesen; aber sie war doch dankbar dafür in ihrem Herzen und sprach es mit gefalteten Händen aus. Doch schon im nächsten Augenblick bat sie zu Gott, daß er ihr verzeihen möge, 111
und bereute es; aber das erste Gefühl war die Stimme ihres Herzens gewesen. »Was mir die halbbetrunkene Frau gestern abend meldete, als ich ihn sprechen und um eine Woche Aufschub bitten wollte, und was ich nur für einen bloßen Vorwand hielt, um mich abzuweisen, erweist sich jetzt als die reine Wahrheit. Er war nicht nur sehr krank, er lag schon im Sterben.« »Auf wen wird unsere Schuld übergehen?« »Ich weiß es nicht. Aber noch vor dieser Zeit werden wir das Geld haben; und selbst, wenn dies nicht einträfe, war es fast unwahrscheinlich großes Pech, in seinem Erben einen ebenso unbarmherzigen Gläubiger zu finden. Wir können heut’ nacht leichteren Herzens schlafen, Caroline.« Ja, sie mochten es verhehlen, wie sie wollten: ihre Herzen waren leichter. Die Gesichter der Kinder, die sich still um die Eltern drängten, um zu hören, was sie so wenig verstanden, erhellten sich, und alle wurden glücklicher durch dieses Mannes Tod. Das einzige von diesem Ereignis hervorgerufene Gefühl, das ihm der Geist zeigen konnte, war also eins der Freude. »Laß mich ein zärtliches, ein mit dem Tode verwandtes Gefühl sehen«, bat Scrooge, »oder mir wird dies dunkle Zimmer, das wir soeben verlassen haben, immer vor Augen bleiben.« Nun führte ihn der Geist durch mehrere Straßen, die er oft gegangen war; und indem sie vorüberschwebten, hoffte Scrooge sich hier und da zu erblicken, aber nirgends war er zu sehen. Sie traten in 112
Bob Cratchits Haus, dessen Wohnung sie schon früher besucht hatten, und fanden dort die Mutter mit den Kindern um das Feuer sitzen. Alles war ruhig, alles war still, sehr still. Die lärmenden kleinen Cratchits saßen stumm, wie steinerne Bilder, in einer Ecke und sahen auf Peter, der ein Buch vor sich hatte. Mutter und Töchter nähten. Aber auch sie waren still, sehr still. »Und er nahm ein Kind und stellte es in ihre Mitte.« Wo hatte Scrooge diese Worte gehört? Der Knabe mußte sie gelesen haben, als er und der Geist über die Schwelle traten. Warum fuhr der Leser nicht fort? Die Mutter legte ihre Arbeit auf den Tisch und führte die Hand gegen die Augen. »Die Farbe tut mir weh«, sagte sie. Die Farbe? Ach, der arme Tiny Tim! »Es geht jetzt wieder besser«, sagte Cratchits Frau. »Die Farbe tut mir weh bei Licht, und ich möchte nicht, daß Vater, wenn er heimkommt, meine roten Augen sieht. Es muß bald Zeit sein.« »Fast schon vorüber«, erwiderte Peter, das Buch schließend. »Aber ich glaube, Mutter, er geht jetzt etwas langsamer als früher.« Sie waren wieder sehr still. Endlich sagte sie mit einer ruhigen, heiteren Stimme, die nur ein einziges Mal zitterte: »Ich weiß, daß er mit – ich weiß, daß er mit Tiny Tim auf der Schulter sehr schnell ging.« »Ich auch«, rief Peter. »Oft.« 113
»Ich auch«, stimmten die andern ein. »Aber er war sehr leicht zu tragen«, fing sie wieder an, fest auf ihre Arbeit den Blick gerichtet, »und der Vater liebte ihn so, daß es keine Last für ihn war – keine Last. Doch horch: da kommt der Vater.« Sie eilten ihm entgegen, und Bob mit dem Schal – der arme Kerl hatte ihn nötig – trat herein. Sein Tee stand bereit, und sie drängten sich alle herbei, und jeder wollte ihn am meisten bedienen. Dann kletterten die beiden kleinen Cratchits auf seine Knie, und jedes Kind legte eine kleine Wange an die seine, als wollten sie sagen: »Gräm dich nicht, lieber Vater, sei nicht so traurig.« Bob war sehr heiter und sprach sehr munter mit der ganzen Familie. Er besah die Arbeit auf dem Tisch und lobte den Fleiß und den Eifer seiner Frau und Töchter. Sie würden lange vor Sonntag fertig sein, meinte er. »Sonntag!« wiederholte seine Frau. »Du warst also heute dort, Robert?« »Ja, meine Liebe«, antwortete Bob. »Ich wollte, du hättest auch hingehen können. Es würde dein Herz erfreut haben, zu sehen, wie grün es dort ist. Aber du wirst es oft sehen. Ich versprach ihm, sonntags hinzugehen. Mein liebes, liebes Kind!« meinte Bob. »Mein liebes Kind!« Er brach auf einmal zusammen. Er konnte nicht anders. Hätte er anders gekonnt, so wären er und sein Kind einander wohl weniger nahe gewesen als sie waren. 114
Er verließ die Stube und ging die Treppe hinauf in ein Zimmer, das hell erleuchtet und weihnachtsmäßig aufgeputzt war. Ein Stuhl stand dicht neben dem Kind, und man sah, daß vor kurzem jemand dagewesen war. Der arme Bob setzte sich nieder, und als er ein wenig nachgedacht und sich gefaßt hatte, küßte er das kleine kalte Gesicht. Er war versöhnt mit dem Geschehenen und ging wieder hinunter ganz heiter. Sie setzten sich um das Feuer und unterhielten sich; die Mädchen und die Mutter arbeiteten fort. Bob erzählte ihnen von Scrooges Neffen und seiner außerordentlichen Freundlichkeit, obwohl er ihn kaum ein einziges Mal gesehen habe. Er habe ihn heute auf der Straße getroffen, und als er bemerkt, daß er ein wenig niedergeschlagen aussähe, habe er ihn gefragt, was ihn bekümmere. »Hierauf«, sagte Bob, »erzählte ich es ihm, denn er ist der freundlichste junge Herr, den ich kenne. ›Ich bedaure Sie herzlich, Mr. Cratchit‹, sagte er, ›und auch Ihre gute Frau.‹ – Übrigens, wie er das wissen kann, möchte ich wissen.« »Was soll er wissen, mein Lieber.« »Nun, daß du eine gute Frau bist«, antwortete Bob. »Jedermann weiß das«, meinte Peter. »Sehr gut bemerkt, mein Junge«, rief Bob. »Ich hoffe, es ist so. ›Herzlich bedaure ich Ihre gute Frau‹, sagte er. ›Wenn ich Ihnen auf irgendeine Weise behilflich sein kann‹, setzte er hinzu, indem er mir seine Karte gab, ›hier ist meine Adresse. Kommen Sie nur 115
zu mir.‹ Nun ist es nicht gerade darum«, sprach Bob, »weil er etwas für uns tun könnte, sondern mehr wegen seiner herzlichen Weise, daß ich mich darüber so freute. Es schien wirklich, als habe er unsern Tiny Tim gekannt und fühle mit uns.« »Er ist gewiß eine gute Seele«, sagte Mrs. Cratchit. »Du würdest das noch sicherer erkennen, meine Liebe«, antwortete Bob, »wenn du ihn sähest und mit ihm sprächest. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er Peter eine bessere Stelle verschaffte. Denkt an meine Worte.« »Nun höre nur, Peter«, sagte Mrs. Cratchit. »Und dann«, rief eins der Mädchen, »wird sich Peter nach einer Frau umsehen.« »Ach, sei still«, antwortete Peter lachend. »Nun, das kann schon kommen«, sagte Bob, »doch bis dahin hat er noch eine Menge Zeit. Aber wie und wann wir uns auch voneinander trennen sollten, so bin ich doch überzeugt, daß keiner von uns den armen Tiny Tim vergessen wird oder diese erste Trennung, die wir erfuhren.« »Niemals, Vater«, riefen alle. »Und ich weiß«, sagte Bob, »ich weiß, meine Lieben, wenn wir daran denken, wie geduldig und wie sanft er war, obgleich er nur ein kleines Kind war, werden wir uns nicht so leicht zanken und den guten Tiny Tim vergessen, indem wir’s tun.« »Nein, niemals, Vater«, riefen wieder alle. »Ich bin sehr glücklich«, sagte Bob, »sehr glücklich.« 116
Mrs. Cratchit küßte ihn, seine Töchter küßten ihn, die beiden kleinen Cratchits küßten ihn, und Peter und er drückten sich die Hand. Seele Tiny Tims, du warst ein Hauch von Gott. »Geist«, sprach Scrooge, »etwas sagt mir, daß wir uns bald trennen werden. Ich weiß es, aber ich weiß nicht wie. Sag mir, wer war es, den wir auf dem Totenbett sahen?« Der Geist der zukünftigen Weihnacht führte ihn wie zuvor – doch zu verschiedener Zeit, wie es ihm vorkam, und überhaupt schien in den letzten abwechselnden Gesichtern keine Zeitfolge stattzufinden – an die Zusammenkunftsorte der Geschäftsleute, aber er sah sich selber nicht. Der Geist hielt sich nirgends auf, sondern schwebte immer weiter, wie nach dem Ort zu, wo Scrooge die gewünschte Lösung des Rätsels finden würde, bis ihn dieser bat, einen Augenblick zu verweilen. »Ja, dieser Hof, durch den wir jetzt eilen«, sagte Scrooge, »war einst mein Geschäft und war es lange Jahre hindurch. Ich erkenne das Haus. Laß mich sehen, was ich in den kommenden Tagen sein werde.« Der Geist stand still; die Hand zeigte anderswohin. »Das Haus ist dort«, rief Scrooge. »Warum zeigst du anderswohin?« Der unerbittliche Finger nahm keine andere Richtung an. Scrooge eilte nach dem Fenster seines Kontors und schaute hinein. Es war noch ein Kontor, aber 117
nicht das seinige. Die Möbel waren nicht dieselben, und die Gestalt in dem Stuhl war nicht die seine. Die Erscheinung zeigte nach derselben Richtung wie vorher. Er trat wieder zu ihr hin und nachsinnend, warum und wohin sie gingen, begleitete er sie, bis sie eine eiserne Pforte erreichten. Er stand still, um sich vor dem Eintreten umzusehen. Es war ein Kirchhof. Hier also lag der Unglückliche unter der Erde, dessen Namen er noch erfahren sollte. Der Ort war seiner würdig. Rings von hohen Häusern umgeben, überwuchert von Unkraut, entsprossen dem Tod, nicht dem Leben der Vegetation, vollgepropft von zu vielen Leichen, genährt von übersättigtem Genuß. Der Geist stand inmitten der Gräber still und deutete auf eins hinab. Scrooge näherte sich ihm bebend. Die Erscheinung war noch ganz so wie früher, aber ihm war es immer, als sähe er eine neue Bedeutung in der düstern Gestalt. »Ehe ich mich dem Stein nähere, den du mir zeigst«, sagte Scrooge, »beantworte mir eine Frage. Sind dies die Schatten der Dinge, die sein werden, oder nur deren, die sein könnten?« Immer noch wies der Geist auf das Grab hin, vor dem sie standen. »Die Wege des Menschen tragen ihr Ziel in sich«, murmelte Scrooge. »Aber schlägt er einen andern Weg ein, so ändert sich das Ziel. Sag, ist es so mit dem, was du mir zeigen wirst?« 118
Der Geist blieb so unbeweglich wie immer. Scrooge näherte sich schlotternd dem Grabe, und wie er der Richtung des Fingers folgte, las er auf dem Stein seinen eigenen Namen. »Ebenezer Scrooge.« »Bin ich es, der auf jenem Bett lag?« rief er, in die Knie sinkend. Der Finger zeigte von dem Grab fort auf ihn und wieder zurück. »Nein, Geist, o nein!« Der Finger wies unveränderlich dorthin. »Geist«, rief Scrooge, sich fest an sein Gewand klammernd, »ich bin nicht mehr der Mensch, der ich ehedem war. Ich will ein anderer Mensch werden, als ich vor diesen Tagen gewesen bin. Warum zeigst du mir dies, wenn alle Hoffnung geschwunden ist?« Zum ersten Male schien des Geistes Hand zu zittern. »Guter Geist«, fuhr er fort, »dein eigenes Herz legt bittend für mich Wort ein und bedauert mich. Sag mir, daß ich durch ein verändertes Leben die Schattenbilder, die du mir gezeigt hast, ändern kann!« Die gütige Hand zitterte. »Ich will Weihnachten in meinem Herzen ehren, ich will versuchen, es zu feiern. Ich will in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft leben. Die Geister von allen dreien sollen in mir lebendig sein. Ich will ihren Lehren mein Herz nicht verschließen. O sage mir, daß ich die Schrift auf diesem Stein tilgen kann!« 119
In seiner Angst ergriff Scrooge die gespenstige Hand. Sie versuchte, sich von ihm loszumachen, aber er war stark in seinem Flehen und hielt sie fest. Der Geist, noch stärker, stieß ihn zurück. Wie Scrooge die bebenden Hände zu einem letzten Flehen um Änderung seines Schicksals in die Höhe hielt, sah er die Erscheinung sich verändern. Sie wurde kleiner und kleiner und schwand zu einem Bettpfosten zusammen.
Fünfte Strophe: Das Ende Ja, und es war sein eigener Bettpfosten. Es war sein Bett und sein Zimmer. Und was das Glücklichste und Beste war: die Zukunft gehörte ihm, um sich zu bessern. »Ich will in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft leben«, wiederholte Scrooge, als er aus dem Bett kletterte. »Die Geister von allen dreien sollen in mir lebendig sein. Oh, Jacob Marley! Der Himmel sei dafür gepriesen und die Weihnachtszeit! Ich sage es auf meinen Knien, alter Jacob, auf meinen Knien.« Er war von seinen guten Vorsätzen so durchflammt und außer sich, daß seine bebende Stimme auf seinen Ruf kaum antworten wollte. Während seines Ringens mit dem Geist hatte er bitterlich geweint, und sein Gesicht war noch naß von den Tränen. »Sie sind nicht herabgerissen«, rief Scrooge, eine 120
der Bettgardinen an die Brust drückend, »sie sind nicht herabgerissen. Sie sind da, ich bin da, die Schatten der Dinge, die da kommen, können vertrieben werden. Ja, ich weiß es, ich weiß es gewiß.« Während dieser ganzen Zeit beschäftigten sich seine Hände mit den Kleidungsstücken: er zog sie verkehrt an, zerriß sie, verlegte sie und machte damit allerhand tolle Sprünge. »Ich weiß nicht, was ich tue«, rief Scrooge in einem Atem weinend und lachend und mit seinen Strümpfen einen wahren Laokoon aus sich machend. – »Ich bin leicht wie eine Feder, selig wie ein Engel, vergnügt wie ein Schulknabe, schwindlig wie ein Trunkener. Fröhliche Weihnachten allen Menschen! Ein glückliches Neujahr der ganzen Welt! Hallo! Hussa! Hurra!« Er war in das Wohnzimmer gesprungen und blieb jetzt drin ganz außer Atem stehen. »Da ist die Schüssel, in der der Haferschleim war!« rief Scrooge, indem er um den Kamin herumhüpfte. »Da ist die Tür, durch die Jacob Marleys Geist hereinkam, da ist die Ecke, wo der Geist der diesjährigen Weihnacht saß, da ist das Fenster, wo ich die ruhelosen Geister sah! Es ist alles richtig, es ist alles wahr, es ist alles geschehen. Hahahaha!« Für einen Mann, der so lange Jahre aus der Gewohnheit war, mußte man es wirklich ein vortreffliches Lachen nennen, ein herrliches Lachen. Es war der Vater einer langen, langen Reihe herrlicher Lachsalven! 121
»Ich weiß nicht, den Wievielten wir heute haben«, rief Scrooge. »Ich weiß nicht, wie lange ich unter den Geistern gewesen bin. Ich weiß gar nichts. Ich bin wie ein neugeborenes Kind. Es schadet nichts. Ist mir einerlei. Ich will lieber ein Kind sein. Hallo! Hussa! Hurra!« Er wurde in seinen Freudenausbrüchen von dem Geläut der Kirchenglocken unterbrochen, die ihm so fröhlich Zu klingen schienen, wie nie vorher. Bimbamm, kling-klang, bimbam. Nein, es war zu herrzlich, zu herrlich! Er lief zum Fenster, öffnete es und steckte den Kopf hinaus. Kein Nebel: ein klarer, lustig-heller, frischfroher Morgen, eine Kälte, die dem Blut einen Tanz vorpfiff, goldenes Sonnenlicht, ein himmlischer Himmel, lieblich-erquickende Luft, fröhliche Glokken. O, wie herrlich, wie herrlich! »Was ist denn heute für ein Tag?« rief Scrooge einem Knaben in Sonntagskleidern zu, der unterm Fenster stand. »Wie?« fragte der Knabe mit der allergrößten Verwunderung. »Was ist heut’ für ein Tag, mein Junge?« fragte Scrooge. »Heute?« antwortete der Knabe. »Nun, Christtag.« »Es ist Christtag«, sagte Scrooge zu sich selber. »Ich habe ihn also nicht versäumt. Die Geister haben alles in einer Nacht erledigt. Sie können alles, was sie wollen. Natürlich, natürlich. – Heda, mein Junge!« 122
»Was denn!« antwortete der Knabe. »Kennst du des Geflügelhändlers Laden in der zweitnächsten Straße an der Ecke?« fragte Scrooge. »I, warum denn nicht?« antwortete der Junge. »Ein gescheiter Junge«, nickte Scrooge. »Ein merkwürdiger Junge! Weißt du nicht, ob der Preistruthahn, der dort hing, verkauft ist? Nicht der kleine Preistruthahn, sondern der große.« »Was, der so groß ist wie ich?« entgegnete der Junge. »Was für ein lieber Junge!« lächelte Scrooge. »Es ist eine Freude, mit ihm zu sprechen. Freilich wohl, mein Prachtjunge.« »Der hängt noch dort!« antwortete der Junge. »Ist’s wahr?« sagte Scrooge. »Na, dann lauf und kaufe ihn.« »Hat sich was«, spottete der Junge. »Nein, nein«, sagte Scrooge, »es ist mein Ernst. Geh hin und kaufe ihn und sag, sie sollen ihn hierher bringen, daß ich ihnen die Adresse geben kann, wohin sie ihn tragen sollen. Komm mit dem Träger wieder her, und ich gebe dir einen Shilling. Kommst Du rascher als in fünf Minuten zurück, bekommst du eine halbe Krone.« Der Bengel verschwand wie ein Blitz. »Ich will ihn Bob Cratchit schicken«, flüsterte Scrooge, sich die Hände reibend und fast vor Lachen platzend. »Er soll nicht wissen, wer ihn schickt. Er ist zweimal so groß wie Tiny Tim. Einen Witz wie den hat’s noch nie gegeben.« 123
Als er die Adresse schrieb, zitterte seine Hand, aber er schrieb so gut es ging und stieg die Treppe hinab, um die Haustür zu öffnen und den Truthahn zu erwarten. Wie er dastand, fiel sein Auge auf den Türklopfer. »Ich werde ihn lieb haben, solange ich lebe«, rief Scrooge, ihn streichelnd. »Früher habe ich ihn kaum angesehen. Was er für ein ehrliches Gesicht hat! Es ist ein wunderbarer Türklopfer! – Da ist der Truthahn. Hallo! Hussa! Wie geht’s? Fröhliche Weihnachten!« Das war ein Truthahn! Er hätte nicht mehr lang lebendig auf seinen Füßen stehen können. Sie wären – knix – zerbrochen wie eine Stange Siegellack. »Was, das ist ja fast unmöglich, den nach Camden Town zu tragen!« sagte Scrooge. »Ihr müßt einen Wagen nehmen.« Das Lachen, mit dem er dies sagte, und das Lachen, mit dem er den Truthahn bezahlte, und das Lachen, mit dem er den Wagen bezahlte, und das Lachen, mit dem er dem Jungen ein Trinkgeld gab, wurde nur von dem Lachen übertroffen, mit dem er sich atemlos in seinen Stuhl niedersetzte und lachte, bis ihm die Tränen die Backen herunterliefen. Das Rasieren war keine Kleinigkeit, denn seine Hand zitterte immer noch sehr, und Rasieren verlangt große Aufmerksamkeit, auch wenn man nicht gerade währenddessen tanzt. Aber selbst wenn er sich die Nasenspitze weggeschnitten hätte, würde er ein Stückchen Pflaster darauf geklebt und sich damit zufriedengegeben haben. 124
Er zog seine besten Kleider an und trat endlich auf die Straße. Die Leute strömten gerade aus ihren Häusern, wie er es gesehen hatte, als er den Geist der diesjährigen Weihnacht begleitete; und mit auf dem Rükken zusammengeschlagenen Händen durch die Straßen gehend, blickte Scrooge jeden mit einem freundlichen Lächeln an. Er sah so unwiderstehlich freundlich aus, daß drei oder vier lustige Leute zu ihm sagten: »Guten Morgen, Sir, fröhliche Weihnachten!«, und Scrooge sagte oft nachher, daß von allen lieblichen Klängen, die er je gehört, dieser seinem Ohr am lieblichsten geklungen hätte. Er war nicht weit gegangen, als er denselben stattlichen Herrn auf sich zukommen sah, der am Tage vorher in sein Kontor getreten war mit den Worten: »Scrooge und Marley, glaube ich.« Es gab ihm förmlich einen Stich ins Herz, als er dachte, wie ihn wohl der alte Herr beim Vorübergehen ansehen würde; aber er wußte, welchen Weg er zu gehen hatte, und ging ihn. »Lieber Herr«, rief Scrooge, schneller laufend und den alten Herrn an beiden Händen ergreifend. »Wie geht es Ihnen? Ich hoffe, Sie hatten gestern einen guten Tag? Es war sehr freundlich von Ihnen. Ich wünsche Ihnen fröhliche Weihnachten, Sir.« »Mr. Scrooge?« »Ja«, sagte Scrooge. »So ist mein Name und ich fürchte, er klingt Ihnen nicht sehr angenehm. Erlauben Sie, daß ich Sie um Verzeihung bitte! Und woll125
ten Sie die Güte haben« – hier flüsterte ihm Scrooge etwas ins Ohr. »Himmel!« rief der Herr, als ob ihm der Atem ausgeblieben wäre. »Mein lieber Mr. Scrooge, ist das Ihr Ernst?« »Wenn es Ihnen beliebt«, sagte Scrooge. »Keinen Penny weniger. Es sind viele Rückstände dabei, ich versichere es Ihnen. Wollen Sie die Güte haben?« »Bester Herr«, sagte der andere, ihm die Hand schüttelnd. »Ich weiß nicht, was ich zu einer solchen Freigebigkeit sagen soll.« »Ich bitte, sagen Sie gar nichts dazu«, antwortete Scrooge. »Besuchen Sie mich. – Wollen Sie mich besuchen?« »Herzlich gern«, rief der alte Herr. Und man sah, es war ihm Ernst mit dieser Versicherung. »Ich danke Ihnen sehr«, sagte Scrooge. »Ich bin Ihnen sehr verbunden. Ich danke Ihnen tausendmal. Leben Sie recht wohl!« Er ging in die Kirche, ging durch die Straßen, sah die Leute hin und her laufen, klopfte Kindern die Wange, fragte Bettler und spähte hinab in die Küchen und lugte hinauf zu den Fenstern der Häuser: und er fand, daß ihm alles das Vergnügen bereiten könne. Er hätte es sich nie träumen lassen, daß ihn ein Spaziergang oder sonst etwas so glücklich machen könnte. Nachmittags lenkte er seine Schritte nach der Wohnung seines Neffen. Er ging wohl ein dutzendmal an der Tür vorüber, 126
ehe er den Mut hatte anzuklopfen. Endlich faßte er sich ein Herz und klopfte. »Ist dein Herr zu Hause, liebes Kind?« sagte Scrooge zu dem Mädchen. Ein nettes Mädchen, wahrhaftig! »Ja, Sir.« »Wo ist er, liebes Kind?« sagte Scrooge. »Er ist in dem Speisezimmer, Sir, mit Madame. Ich will Sie hinaufführen, wenn Sie erlauben.« »Danke, danke. Er kennt mich«, sagte Scrooge, mit der Hand schon auf der Türklinke. »Ich will gleich eintreten, liebes Kind.« Er machte die Tür leise auf und steckte den Kopf hinein. Sie betrachteten gerade den Speisetisch (der mit großem Aufwand gedeckt war); denn junge Hausfrauen sind immer sehr bedacht darauf und sehen gern alles in hübschester Ordnung. »Fred«, rief Scrooge. Heiliger Himmel, wie seine Nichte erschrak! Scrooge hatte in dem Augenblick vergessen, daß sie mit dem Fußbänkchen in der Ecke gesessen hatte, sonst hätte er es um keinen Preis getan. »Potztausend!« rief Fred, »wer kommt da?« »Ich bin’s. Dein Onkel Scrooge. Ich komme zum Essen. Willst du mich hereinlassen, Fred?« Ihn hereinlassen! Es war nur gut, daß er ihm nicht den Arm abriß. Er war in fünf Minuten wie zu Hause. Nichts konnte herzlicher sein, als die Begrüßung seines Neffen. Und auch seine Nichte empfing ihn nicht minder herzlich. Auch Topper, als er kam. 127
Auch die runde Schwester, als sie kam. Und alle, wie sie nach der Reihe kamen. Wundervolle Gesellschaft, wundervolle Spiele, wundervolle Eintracht, wundervolle Glückseligkeit! Aber am andern Morgen war Scrooge früh in seinem Kontor. Oh, er war gar früh da. Zuerst dort zu sein und Bob Cratchit beim Zuspätkommen zu erwischen! Das war’s, worauf sein Sinn stand. Und es gelang ihm wahrhaftig! Die Uhr schlug neun. Kein Bob. Ein Viertel nach neun. Kein Bob. Er kam volle achtzehn und eine halbe Minute zu spät. Scrooge hatte seine Türe weit offen stehen lassen, damit er ihn in das Verlies eintreten sähe. Bobs Hut war vom Kopf, ehe er die Tür öffnete, auch der Schal von seinem Hals. Im Nu saß er auf seinem Stuhl und jagte mit der Feder über das Papier, als wollte er versuchen, neun Uhr einzuholen. »Heda«, rief Scrooge, so gut es ging seine gewohnte Stimme nachahmend. »Was soll das heißen, daß Sie so spät kommen?« »Es tut mir sehr leid, Sir«, sagte Bob. »Ich habe mich verspätet.« »So?« sagte Scrooge. »Ja. Das kommt mir auch so vor. Hier herein, wenn’s gefällig ist.« »Es ist nur einmal im Jahr, Sir«, sagte Bob, aus dem Verlies hereintretend. »Es soll nicht wieder vorkommen. Ich war ein bißchen lustig gestern, Sir.« »Nun, ich will Ihnen etwas sagen, Freundchen«, sagte Scrooge, »ich kann das nicht länger mit ansehen. Und daher«, fuhr er fort, von seinem Stuhl 128
springend und Bob einen solchen Stoß vor die Brust gebend, daß er wieder in das Verlies zurückstolperte, »und daher will ich Ihr Salär erhöhen!« Bob zitterte und trat dem Lineal etwas näher. Er hatte einen kurzen Gedanken, Scrooge damit eins auf den Kopf zu geben, ihn festzuhalten und die Leute im Hof um Beistand und um eine Zwangsjacke anzurufen. »Fröhliche Weihnachten, Bob!« sagte Scrooge mit einem Ernst, der nicht mißverstanden werden konnte, indem er ihm auf die Achsel klopfte. »Fröhlichere Weihnachten, Bob, als ich Sie so manches Jahr habe feiern lassen. Ich will Ihr Salär erhöhen und mich bemühen, Ihrer Familie unter die Arme zu greifen. Wir wollen heut’ nachmittag bei einem dampfenden Weihnachtspunsch über Ihre Angelegenheiten sprechen, Bob! Schüren Sie das Feuer an und kaufen Sie eine andere Kohlenschaufel, ehe Sie wieder einen Punkt auf ein i machen, Bob Cratchit!« Scrooge war besser als sein Wort. Er tat nicht nur alles, was er versprochen hatte, sondern noch mehr, und für Tiny Tim, der nicht starb, wurde er ein zweiter Vater. Er wurde ein so guter Freund und ein so guter Mensch, wie nur die liebe alte City oder jedes andere liebe alte Städtchen oder Dorf in der lieben alten Welt je einen Freund und Menschen gesehen hat. Einige Leute lachten, als sie ihn so verändert sahen; aber er ließ sie lachen und kümmerte sich wenig darum, denn er war klug genug, zu wissen, daß nichts Gutes in dieser Welt geschehen kann, worüber 129
nicht von vornherein einige Leute lachen müssen: und da er wußte, daß solche Leute doch blind bleiben würden, so dachte er bei sich, es wäre besser, sie legten ihre Gesichter durch Lachen in Falten, als daß sie es auf weniger anziehende Weise täten. Sein eigenes Herz lachte, und damit war er vollauf zufrieden. Er hatte keinen ferneren Verkehr mit Geistern, sondern lebte von jetzt an nach dem Grundsatz gänzlicher Enthaltsamkeit; und immer sagte man von ihm, er wisse Weihnachten recht zu feiern, wenn es überhaupt ein Mensch wisse. Möge dies auch in Wahrheit von uns allen gesagt werden können. Und so schließen wir mit Tiny Tims Worten: »Gott segne jeden von uns.« (Deutsch von Richard Zoozmann)
Guy de Maupassant Weihnachtsgeschichte
Doktor Bonenfant kramte in seinem Gedächtnis und sagte ein paarmal halblaut: »Eine Weihnachtserinnerung …? Eine Weihnachtserinnerung …?« Und plötzlich rief er aus: »Ja, natürlich, da fällt mir eine ein, noch dazu eine recht merkwürdige; eine phantastische Geschichte. Ich habe einem Wunder beigewohnt! Ja, meine Damen, einem Wunder, in der Weihnachtsnacht. Es wundert Sie wohl, daß Sie mich, der völlig ungläubig ist, so reden hören. Und dabei ist es so: ich habe ein Wunder miterlebt! Ich habe es mitangesehen, sage ich, gesehen, mit eigenen Augen gesehen, wirklich und wahrhaftig gesehen. Hat es mich über die Maßen überrascht? Nicht eben; denn wenn ich auch nicht glaube, was Sie glauben, so glaube ich doch an den Glauben und weiß, daß er Berge zu versetzen vermag. Ich könnte Ihnen zahlreiche Beispiele dafür anführen; aber damit würde ich Ihren Unwillen erregen und mich überdies der Gefahr aussetzen, die Wirkung meiner Geschichte abzuschwächen. Ich möchte Ihnen zunächst bekennen, daß ich, wenn ich auch durch das Geschehene weder überzeugt noch bekehrt, so doch tief davon angerührt 131
worden bin, und ich will versuchen, Ihnen die Sache ganz naiv zu erzählen, als besäße ich die Leichtgläubigkeit eines Auvergnaten. Ich war damals Landarzt und wohnte in dem Flecken Rolleville, mitten in der Normandie. Der Winter in jenem Jahr war grauenhaft streng. Nach einer Woche Frost setzte Ende November Schneefall ein. In der Ferne zogen von Norden her dicke Wolken heran; und das weiße Niederschweben der Flocken setzte ein. Innerhalb einer Nacht war die ganze Ebene eingehüllt. Die einsam in ihren Hofvierecken hinter den Schutzwänden hoher, reifgepuderter Bäume liegenden Bauernhäuser schienen unter der Häufung des dicken, leichten Schaums zu schlafen. Über das reglose Land scholl kein Geräusch mehr. Nur die Krähenscharen beschrieben am Himmel lange Bogen, suchten vergeblich nach Fraß, ließen sich alle zugleich auf die fahlen Felder nieder und pickten mit ihren großen Schnäbeln in den Schnee. Nichts war zu hören als das undeutliche, beständige Rieseln jenes gefrorenen Staubs, der nach wie vor niederfiel. Das dauerte volle acht Tage; dann hörte der Schneesturz auf. Die Erde trug einen fünf Fuß dikken Mantel auf dem Buckel. Und danach dehnte sich dann drei Wochen lang tagsüber ein Himmel, der klar war wie ein blauer Kristall, und nachts so mit Sternen übersät, daß man 132
sie für Reif hätte halten können, so unerbittlich kalt wirkte die Raumesweite, die einförmige, hartgefrorene, schimmernde Fläche der Schneefelder. Die Äcker, die Hecken, die die Höfe umstehenden Ulmen, alles mutete erstorben an, vom Frost getötet. Weder Menschen noch Tiere wagten sich noch aus den Häusern heraus: nur die Schornsteine der in weiße Hemden gekleideten Hütten wiesen auf verborgenes Leben durch die dünnen Rauchfäden, die senkrecht in die eisige Luft stiegen. Von Zeit zu Zeit war zu hören, wie die Bäume krachten, als seien ihre hölzernen Gliedmaßen unter der Rinde zerbrochen; und manchmal löste sich ein dicker Zweig und fiel herab, weil der unüberwindliche Frost den Saft hatte erstarren und die Fasern zerreißen lassen. Die hier und dort über die Felder verstreuten Wohnstätten schienen an die hundert Meilen voneinander entfernt zu liegen. Die Leute lebten, wie sie konnten. Ich war der einzige, der sich hinauswagte, um meine nächstwohnenden Patienten aufzusuchen, wobei ich immerfort Gefahr lief, in irgendeinem Loch oder Graben unterzusinken. Bald wurde ich gewahr, daß ein geheimnisvolles Entsetzen über dem Dorf schwebte. Eine solche Heimsuchung, so wurde geglaubt, gehe nicht mit rechten Dingen zu. Es wurde behauptet, nachts seien Stimmen zu hören, schrille Pfiffe, wandernde Schreie und Rufe. Jene Schreie und Pfiffe rührten sicherlich von 133
Zugvögeln her, die um die Dämmerung auf die Reise gingen und in Schwärmen gen Süden zogen. Aber was hilft es, Leuten, die den Kopf verloren haben, Vernunft zu predigen! In sämtliche Hirne hatte sich Furcht eingenistet, und alles war auf ein ungewöhnliches Geschehnis gefaßt. Die Schmiede des alten Vatimel lag am Ende des Weilers Epivent an der großen Landstraße, die jetzt nicht mehr zu sehen und unbefahren und unbegangen war. Da den Leuten nun aber das Brot ausging, entschloß sich der Schmied, ins Dorf zu gehen. Da blieb er so etwa sechs Stunden und plauderte in den sechs Häusern, die den Kern des Dorfes bildeten, nahm sein Brot und Neuigkeiten in Empfang und verleibte sich auch einiges von der über der Gegend lagernden Furcht ein. Und dann machte er sich vor Dunkelwerden auf den Heimweg. Als er an einer Hecke entlangging, glaubte er plötzlich im Schnee ein Ei liegen zu sehen; tatsächlich, ein dort hingelegtes Ei; es war ganz weiß wie die übrige Welt. Er beugte sich nieder; es war tatsächlich ein Ei. Wo mochte es herkommen? Welches Huhn hatte aus dem Stall auskneifen und es an dieser Stelle legen können? Der Schmied staunte; die Sache war ihm unbegreiflich; doch er nahm das Ei an sich und brachte es seiner Frau mit. ›Da, Frau, ein Ei! Hab’ ich unterwegs auf der Landstraße gefunden.‹ Die Frau schüttelte den Kopf: 134
›Ein Ei auf der Landstraße? Bei diesem Wetter? Du bist wohl besoffen?‹ ›Ach was, Frau, es hat sogar unten an einer Hecke gelegen und ist noch dazu ganz warm gewesen, nicht gefroren. Da hast du es, ich habe es mir an den Magen gehalten, damit es nicht einfror. Du kannst es zu abend essen.‹ Das Ei wurde in den Topf getan, in dem die Suppe leise brodelte, und der Schmied fing zu erzählen an, was so in der Gegend geredet werde. Die Frau hörte zu und war dabei ganz blaß. ›Ganz bestimmt, ich habe neulich nachts ebenfalls Pfeifen gehört; es schien sogar aus dem Kamin zu kommen.‹ Dann setzten sie sich an den Tisch und aßen zunächst die Suppe, und während der Mann sich Butter auf die Brotschnitten strich, langte die Frau sich das Ei und musterte es mit mißtrauischen Blicken. ›Wenn nun was in dem Ei drin wäre?‹ ›Was soll denn drin sein?‹ ›Wie kann ich das wissen?‹ ›Dann iß es doch, sei nicht so blöd.‹ Sie klopfte das Ei auf. Es war wie alle Eier, und noch dazu ganz frisch. Sie machte sich zögernd daran, es zu essen; erst kostete sie davon, stellte es wieder hin, nahm es sich abermals vor. Der Mann fragte: ›Na, wonach schmeckt es denn, das Ei?‹ Sie gab keine Antwort und aß es zu Ende; dann jedoch starrte sie plötzlich ihren Mann aus verstör135
ten, wie närrisch wirkenden Augen an, hob die Arme, rang sie, wurde von Kopf bis Füßen von Zukkungen geschüttelt, rollte zu Boden und stieß entsetzliche Schreie aus. Die ganze Nacht hindurch wand sie sich in furchtbaren Krämpfen, ein erschreckender Schüttelfrost durchrüttelte sie; ihr Gesicht war von abscheulichen Verzerrungen entstellt. Der Schmied war nicht länger imstande, sie festzuhalten; er mußte sie fesseln. Und sie heulte pausenlos mit unermüdlicher Stimme: ›Ich habe ihn im Leibe! Ich habe ihn im Leibe!‹ Am nächsten Morgen wurde ich zu ihr gerufen. Ich verschrieb alle bekannten Beruhigungsmittel, erreichte damit aber nicht das mindeste. Sie war wahnsinnig geworden. Da lief trotz des hindernden hohen Schnees mit unglaubwürdiger Schnelligkeit die seltsame Nachricht von Hof zu Hof: ›Die Frau des Schmied ist besessen!‹ Und von überall her kamen sie herbei, wagten sich indessen nicht in das Haus hinein; von weitem waren die grausigen Schreie der Frau zu hören; sie wurden mit so lauter Stimme hervorgestoßen, wie man sie keinem menschlichen Wesen zugetraut hätte. Der Dorfpfarrer wurde benachrichtigt. Es war ein alter, gutgläubiger Priester. Er kam im Chorhemd, als wolle er einem Sterbenden beistehen, und sprach mit vorgestreckten Händen die bei Teufelsaustreibungen 136
angewandten Formeln; vier Männer hielten währenddessen die schäumende, sich windende Frau auf dem Bett fest. Aber der böse Geist wurde mitnichten verjagt. Und so rückte Weihnachten heran, ohne daß das Wetter sich geändert hätte. Am Morgen des Heiligen Abends kam der Priester zu mir: ›Ich möchte nur zu gern‹, sagte er, ›daß die arme Frau heute nacht der Messe beiwohnt. Vielleicht tut Gott an ihr ein Wunder in der Stunde, da er selbst von einem Weibe geboren worden ist.‹ Ich antwortete dem Geistlichen: ›Ich stimme Ihnen voll und ganz zu, Herr Abbé. Wenn die heilige Feier in ihren Geist eindringt (und nichts ist besser geeignet, sie zu erschüttern), dann kann sie vielleicht ohne andere Medikamente wieder gesund werden.‹ Der alte Priester sagte leise: ›Sie sind zwar nicht gläubig, Herr Doktor, aber Sie helfen mir doch, nicht wahr? Sie nehmen es auf sich, sie in die Kirche zu bringen?‹ Und ich versprach ihm meine Hilfe. Es wurde Abend, dann Nacht; und die Kirchenglocke fing zu läuten an und ließ ihre klagende Stimme durch die stumpfe Leere hallen, über die weiße, eisige Schneefläche. Dunkle Gestalten kamen langsam heran, in Gruppen, dem ehernen Ruf des Glockenturms gehorsam. Der volle Mond bestrahlte mit starkem, 137
bleiernem Licht die ganze Weite und machte die bleiche Trostlosigkeit der Felder noch deutlicher wahrnehmbar. Ich hatte mir vier handfeste Männer geholt und ging zur Schmiede. Die Besessene war auf ihrer Lagerstatt festgebunden und heulte noch immer. Trotz ihres verzweifelten Widerstrebens wurde sie sauber angezogen und weggetragen. Die Kirche war jetzt erleuchtet, kalt und voller Menschen; die Sänger stießen ihre monotonen Tonfolgen hervor; der Serpent schnarrte; das Glöckchen des Ministranten klingelte und regelte die Bewegungen der Gläubigen. Ich sperrte die Frau und ihre Hüter in die Küche des Pfarrhauses ein und wartete den Augenblick ab, den ich für günstig hielt. Ich hatte an den der Kommunion folgenden gedacht. Alle Bauern, Männer und Frauen, hatten ihren Gott empfangen, um seine Strenge zu erweichen. Tiefe Stille herrschte, während der Priester das göttliche Geheimnis vollendete. Auf meine Weisung hin wurde die Tür geöffnet, und meine vier Helfer brachten die Wahnsinnige herein. Sobald sie die Lichter wahrnahm, die kniende Menge, den strahlend erhellten Chor und das vergoldete Tabernakel, sträubte sie sich mit einer solchen Kraft, daß sie uns beinahe entwischt wäre, und stieß dabei so schrille Schreie aus, daß ein Schauer 138
des Entsetzens die Kirche durchrann; alle Köpfe hoben sich; manche Leute liefen davon. Sie sah kaum noch aus wie eine Frau; sie hatte sich in unsern Händen verkrümmt und verrenkt; ihr Gesicht war verzerrt, in den Augen der helle Irrsinn. Sie wurde bis an die Chorstufen gezerrt und dort kräftig zu Boden gedrückt. Der Priester war aufgestanden und hatte gewartet. Sobald er sah, daß sie sich nicht mehr rühren konnte, nahm er die mit goldenen Strahlen umgebene Monstranz mit der weißen Hostie in der Mitte zur Hand, trat ein paar Schritte vor, hob sie mit beiden ausgestreckten Armen hoch über seinen Kopf und bot sie den verwirrten Blicken der vom Teufel Besessenen dar. Sie heulte nach wie vor, die starren Augen auf die strahlende Monstranz gerichtet. Und der Priester stand so reglos da, daß man ihn für ein Bildwerk hätte halten können. Und das dauerte lange, lange. Die Frau schien von Furcht ergriffen; es war, als sei sie in einem Bann befangen; sie schaute starr auf die Monstranz; noch immer durchrüttelten sie entsetzliche Zuckungen, aber nur dann und wann; sie schrie noch immer; doch ihre Stimme klang nicht mehr so gellend. Und auch das dauerte noch lange. Es war, als könne sie den Blick nie wieder senken, als sei er unlöslich mit der Hostie verbunden; jetzt 139
ächzte sie nur noch; ihr steifer Körper erschlaffte, sank weich in sich zusammen. Alle knieten und neigten die Stirn zu Boden. Jetzt senkte die Besessene rasch die Lider, dann hob sie sie wieder, als sei sie außerstande, den Anblick ihres Gottes zu ertragen. Sie war verstummt. Und dann nahm ich plötzlich wahr, daß ihre Augen geschlossen blieben. Sie schlief den Schlaf der Nachtwandlerinnen; sie war hypnotisiert, Verzeihung: besiegt durch das beständige Anschauen der Monstranz mit den goldenen Strahlen, zu Boden geschmettert durch den siegenden Christus. Ohne ein Lebenszeichen zu bekunden, wurde sie weggetragen; der Priester stieg wieder zum Altar hinauf. Die tief erschütterte Gemeinde stimmte ein Tedeum an. Und die Frau des Schmieds schlief ununterbrochen vierzig Stunden lang; als sie danach aufwachte, hatte sie keinerlei Erinnerung an ihre Besessenheit und ihre Befreiung mehr. Das, meine Damen, ist das Wunder, dem ich beigewohnt habe.« Doktor Bonenfant schwieg; dann sagte er noch leicht verärgert: »Ich habe nicht umhin können, es schriftlich zu bestätigen.« (Deutsch von Ernst Sander)
Alphonse Daudet Die drei stillen Messen
I »Zwei getrüffelte Truthennen, Garrigou?« »Ja, Hochwürden, zwei prächtige Truthennen, mit Trüffeln vollgestopft. Ich kann etwas davon erzählen, habe ich doch mitgeholfen, sie zu füllen. Man hätte denken können, ihre Haut müßte beim Braten platzen, so war sie gespannt …« »Jesus, Maria! Und ich esse Trüffeln so gern … Schnell, gib mir mein Chorhemd, Garrigou … Und außer den Truthennen, was hast du noch in der Küche bemerkt?« »Oh, alles erdenkliche Gute … Seit Mittag haben wir nichts getan als Fasanen, Wiedehopfe, Feldhühner und Auerhähne zu rupfen. Die Federn flogen nur so herum … Dann hat man aus dem Teich auch noch Aale gebracht, Karpfen, Forellen und …« »Forellen, Garrigou, wie groß?« »So groß, Hochwürden, ganz prächtige Stücke!« »Mein Gott! Mir ist, als ob ich sie sähe! … Hast du den Wein in die Meßkännchen gefüllt?« »Ja, Hochwürden, ich habe den Wein in die Meßkännchen gefüllt … Aber weiß Gott, der ist gar nichts gegen den Wein, den Sie nach der Mitter141
nachtsmesse trinken werden. Wenn Sie das alles im Speisesaal des Schlosses sähen, alle diese Flaschen mit edlen Weinen, die in allen Farben schillern … Und das Silbergeschirr, die Tafelaufsätze, die Blumen, die Armleuchter! – Solch einen Weihnachtsschmaus hat man noch nie gesehen. Der Herr Graf hat alle Herrschaften aus der Nachbarschaft eingeladen. Es werden wenigstens vierzig Personen an der Tafel sein, Amtmann und Gerichtsschreiber nicht mitgerechnet. Ach, Sie haben es gut, daß Sie dabeisein können, Hochwürden … Unsereiner hat die schönen Truthennen nur riechen dürfen, und doch verfolgt mich der Duft der Trüffeln, wohin ich mich auch wenden mag … Ach!« »Nun, nun, mein Kind. Hüten wir uns vor der Sünde der Völlerei, zumal am heiligen Abend … Geh schnell und zünde die Kerzen an und gib das erste Glockenzeichen zur Messe; denn sieh, es ist bald Mitternacht, und wir dürfen uns nicht verspäten …« Dieses Gespräch fand statt an einem schönen Weihnachtsabend im Jahre des Heils eintausendsechshundert und so und so viel zwischen dem ehrwürdigen Herrn Balaguère, vormaligem Prior der Barnabiten, jetzt wohlbestalltem Schloßkaplan der Grafen von Trinquelage, und seinem kleinen Mesner Garrigou oder vielmehr derjenigen Person, welche er für seinen kleinen Mesner Garrigou hielt. Denn wohlgemerkt, für diesen Abend hatte der Teufel die runde Gestalt und die unbestimmten Züge des jungen Sakristans angenommen, um Hochwürden be142
quemer in Versuchung führen und zur abscheulichen Sünde der Völlerei verleiten zu können. Während also der angebliche Garrigou (hm, hm) die Glocken der gräflichen Kapelle ertönen ließ, legte Hochwürden in der kleinen Sakristei des Schlosses sein Meßgewand an und wiederholte während des Ankleidens für sich, mit seinen Gedanken ganz in jene gastronomischen Beschreibungen vertieft: »Gebratene Truthennen … Goldkarpfen … Forellen … und von solcher Größe!« Draußen blies der Nachtwind und trug die Glokkentöne in die Ferne, während da und dort an den Flanken des Ventoux, auf dessen Spitze sich die alten Türme von Trinquelage erhoben, Lichter durch das nächtliche Dunkel aufblitzten. Es waren die Familien von den Meierhöfen, die sich anschickten, die Mitternachtsmesse auf dem Schloß zu hören. Unter Gesang erklommen sie den Abhang, in Gruppen von fünf oder sechs, voran der Vater, die Laterne in der Hand, dann die Frauen, eingehüllt in ihre großen braunen Mäntel, in deren Falten die Kinder Schutz und Halt suchten. Trotz der späten Stunde und der Kälte marschierten die braven Leute lustig vorwärts in der zuversichtlichen Hoffnung, daß sie nach beendigter Christmette wie jedes Jahr unten in den Küchenräumen den Tisch gedeckt finden würden. Von Zeit zu Zeit ließ eine herrschaftliche, von Fackelträgern begleitete Karosse auf dem steilen Weg ihre Spiegelscheiben in den Strahlen des Mondes erglänzen, oder ein Maultier setzte vorwärtstrottend die 143
Glöckchen an seinem Hals in Bewegung, und beim Schein der von Nebel eingehüllten Stocklaternen erkannten die Meier ihren Amtmann und grüßten ihn, wie er vorbeiritt: »Guten Abend, guten Abend, Herr Arnoton.« »Guten Abend, guten Abend, meine Kinder.« Die Nacht war hell, die Sterne erzitterten in der Kälte, der Nordwind wehte scharf, und seine Eisnadeln, die von den Kleidern herabglitten, ohne sie zu befeuchten, hielten sich an die Überlieferung der »weißen« Weihnacht. Ganz oben erschien als Ziel das Schloß mit seiner gewaltigen Masse von Türmen und Giebeln, stach der Glockenturm seiner Kapelle in den schwarzblauen Himmel, und viele kleine Lichter, die sich hin und wieder bewegten, blitzten in allen Fenstern auf und glichen auf dem dunklen Hintergrund des Gebäudes den Funken, die in der Asche verbrannten Papiers aufleuchten. Nachdem man die Zugbrücke und das Falltor hinter sich hatte, mußte man, um nach der Kapelle zu gelangen, den ersten Hof durchqueren, der mit Karossen, Bedienten und Tragsesseln angefüllt und von den Flammen der Fakkeln und der Küchenfeuer taghell erleuchtet war. Man hörte das Geräusch der Bratenwender, das Klappern der Kasserolen, das Klirren der Kristallund Silbergefäße, die bei der Vorbereitung zu einem Mahl gebraucht werden; und der Duft gebratenen Fleisches und würziger Saucen, der über dem Ganzen schwebte, rief den Meiern wie dem Kaplan, wie dem Amtmann, wie allen andern zu: »Welch vor144
treffliches Weihnachtsmahl erwartet uns nach der Messe!«
II Kling-ling-ling! … Kling-ling-ling! Die Mitternachtsmesse beginnt. In der Schloßkapelle, einer Kathedrale im kleinen, mit Kreuzgewölben, eichenem Getäfel, die Wände bis oben hinauf mit Wandteppichen bespannt, alle Kerzen angezündet. Und wieviel Leute! Was für Toiletten! Da sitzen in den schöngeschnitzten Stühlen, welche den Chor umgeben, zunächst der Graf von Trinquelage in lachsfarbenem Taftgewand und neben ihm alle geladenen edlen Herren. Gegenüber, auf mit Sammet besetzten Betstühlen, hat, neben der alten GräfinWitwe in feuerrotem Brokatkleid, die junge Gräfin von Trinquelage sich niedergelassen, im Haar eine hohe, nach der letzten Mode des Hofes von Frankreich aufgebaute Spitzengarnitur. Weiter unten sieht man in Schwarz gekleidet, mit mächtigen Perücken und rasierten Gesichtern den Amtmann Arnoton und den Gerichtsschreiber Ambroy – zwei ernste Gestalten zwischen den glänzenden Seidengewändern und den gold- und silberdurchwirkten Damastkleidern. Sodann die fetten Haushofmeister, die Pagen, die Jäger, die Aufseher, Frau Barbe, alle Schlüssel an einer Kette von feinem Silber an ihrer Seite herabhängend. Im Hintergrund, auf Bänken, die nie145
dere Dienerschaft, die Mägde, die Meier mit ihren Familien, und endlich ganz hinten, dicht bei der Tür, die sie möglichst geräuschlos öffnen und schließen, die Herren Küchenjungen, die zwischen zwei Saucen ein wenig Messeluft atmen und ein wenig Duft des Weihnachtsschmauses in die Kirche mitbringen, in welcher die Menge der angezündeten Kerzen eine festliche Wärme ausstrahlt. Ist es der Anblick der weißen Küchenjungenbaretts, der Hochwürden so in Verwirrung bringt? Oder ist es vielleicht Garrigous Glöckchen, dieses rasende kleine Glöckchen, welches sich am Fuß des Altars mit wahrhaft höllischer Überstürzung bewegt und bei jeder Schwingung zu sagen scheint: »Eilen wir uns, eilen wir uns … Je früher wir hier fertig werden, desto früher kommen wir zur Tafel.« Tatsache ist, daß, sooft dieses Teufelsglöckchen erklingt, der Kaplan seine Messe vergißt und nur noch an den Weihnachtsschmaus denkt. Im Geist sieht er das Küchenpersonal in voller Tätigkeit, die Öfen, in denen ein wahres Schmiedefeuer glüht, den Dunst, der unter den Deckeln der Kasserolen hervordringt, und in diesem Dunst zwei prächtige Truthennen, zum Platzen vollgestopft und marmoriert mit Trüffeln … Er sieht auch wohl ganze Reihen kleiner Pagen vorüberziehen, beladen mit Schüsseln, die einen verführerischen Duft um sich verbreiten, und tritt mit ihnen in den großen Saal, der schon für das Fest bereitsteht. O Wonne! Da steht im vollen Lichterglanz die mächtige Tafel, ganz beladen: Pfauen, in ihr eige146
nes Gefieder gekleidet; Fasanen, die ihre braunroten Flügel ausbreiten; rubinfarbene Flaschen; Fruchtpyramiden, die aus grünen Zweigen hervorleuchten; die wunderbaren Fische, von denen Garrigou sprach (ja, ja, sehr gut, Garrigou!), ausgestreckt auf ein Lager von Fenchel, die Schuppenhaut so perlmutterglänzend, als kämen sie eben aus dem Wasser, mit einem Sträußchen wohlriechender Kräuter in ihrem monströsen Maul. So lebhaft ist die Vision dieser Wunder, daß es Dom Balaguère vorkommt, als seien diese prächtigen Gerichte vor ihm auf den Stickereien der Altardecke angerichtet, und daß er sich zwei- oder dreimal dabei überrascht, daß er die Worte »Dominus vobiscum« in »Benedicite« verkehrt. Abgesehen von diesen verzeihlichen Mißgriffen waltete der würdige Mann seines Amtes mit großer Gewissenhaftigkeit, ohne eine Zeile zu überspringen, ohne eine Kniebeugung auszulassen, und alles ging vortrefflich bis an das Ende der ersten Messe; denn wie bekannt, muß am Weihnachtstag derselbe Geistliche drei Messen hintereinander zelebrieren. »Das wäre eine!« sagte der Kaplan zu sich mit einem Seufzer der Erleichterung; dann, ohne eine Minute zu verlieren, gibt er seinem Mesner oder dem, den er dafür hält, das Zeichen und … Kling-ling-ling! … Kling-ling-ling! Die zweite Messe nimmt ihren Anfang, und mit ihr die Sünde Dom Balaguères. »Schnell, schnell, beeilen wir uns«, ruft ihm mit seiner dünnen, schrillen Stimme das Glöckchen Garrigous zu, und diesmal 147
stürzte sich der unselige Priester, sich ganz dem Dämon der Freßsucht hingebend, auf das Meßbuch und verschlingt die Seiten mit der Gier seines überreizten Geistes. Wie ein Wahnsinniger kniet er nieder und erhebt sich wieder, macht er die Zeichen des Kreuzes, die Kniebeugungen und kürzt alle diese Bewegungen ab, um möglichst bald zu Ende zu kommen. Kaum daß er bei der Verlesung des Evangeliums die Arme ausstreckt, daß er beim Confiteor an seine Brust schlägt. Zwischen ihm und seinem Mesner entspinnt sich ein förmlicher Wettstreit, wer am schnellsten fertig werde. Fragen und Antworten überstürzen sich. Die Worte, nur zur Hälfte ausgesprochen, ohne den Mund zu öffnen, was zu viel Zeit kosten würde, gehen in unverständliches Gemurmel über. »Oremus ps … ps … ps …« »Mea culpa … pa … pa …« Eiligen Winzern gleich, die im Kübel die Trauben austreten, waten beide im Latein der Messe herum, nach allen Seiten abgerissene Worte hervorsprudelnd. »Dom … scum!« sagt Balaguère. »… stutuo!« antwortet Garrigou, und immer ist das verdammte Glöckchen da, dessen schrille Stimme in ihren Ohren klingt wie die Schellen, die man an dem Geschirr der Postpferde befestigt, um sie zu rascherem Lauf anzufeuern. Daß bei solchem Gang eine stille Messe rasch erledigt ist, läßt sich leicht vorstellen. »Das wären zwei!« sagt der Kaplan ganz außer 148
Atem, dann stürzt er, ohne daß er sich Zeit nähme, wieder zu Atem zu kommen, rot im Gesicht, vor Eifer schwitzend, die Stufen des Altars hinunter und … Kling-ling-ling … Kling-ling-ling! Die dritte Messe beginnt. Nun sind es nur noch wenige Schritte bis zum Speisesaal; aber ach, je mehr der Weihnachtsschmaus naht, desto mehr fühlt sich der unglückliche Balaguère von wahnsinniger Ungeduld und Eßgier ergriffen. Seine Visionen verschärfen sich, die Goldkarpfen, die gebratenen Truthennen sind da, stehen vor ihm. Er berührt sie … Er … O Gott! … Die Gerichte dampfen, die Weine duften; und die immer schrillere Stimme des rasch geschwungenen Glöckchens ruft ihm zu: »Schnell, schnell, noch schneller!« Aber wie sollte es schneller gehen? Seine Lippen bewegen sich kaum. Er spricht die Worte nicht mehr aus. Will er wirklich den lieben Gott betrügen, ihm seine Messe stehlen? … Ja, wirklich, das tut er, der Unglückselige! … Er kann der Versuchung nicht widerstehen, zuerst überspringt er einen Vers, dann zwei. Dann ist die Epistel zu lang, er liest sie nicht zu Ende, er geht über das Evangelium hinweg, geht am Credo vorbei, überspringt das Vaterunser und stürzt sich so mit gewaltigen Sätzen und Sprüngen in die ewige Verdammnis, stets begleitet von dem niederträchtigen Garrigou (Vade retro, Satanas!), der ihm mit wunderbarem Verständnis sekundiert, ihm das Meßgewand aufhebt, immer zwei Blätter auf einmal umwendet, die Meßkännchen umstürzt und dabei 149
das Glöckchen immer stärker, immer schneller schwingt. Man muß die bestürzten Gesichter der Andächtigen sehen! Genötigt, nach der Mimik des Priesters der Messe zu folgen, von welcher sie nicht ein Wort verstehen, erheben sich die einen, wenn die anderen niederknien, setzen sich die ersten, wenn die letzten aufstehen, und sämtliche Phasen dieses sonderbaren Gottesdienstes fließen ineinander und finden ihren Ausdruck in den verschiedenartigsten Stellungen der Zuhörer auf den verschiedenen Bänken. Der Weihnachtsstern am Himmel auf seiner Bahn zum kleinen Stall erblaßt vor Schreck beim Anblick solcher Verwirrung. »Der Kaplan macht zu schnell … Man kann ihm nicht folgen«, murmelt die alte Gräfin-Witwe, indem sie ihre Haube aufgeregt hin und her stößt. Meister Arnoton, seine große Stahlbrille auf der Nase, sucht mit Verwunderung in seinem Gebetbuch und fragt sich, wie zum Teufel man da mitkommen soll. Aber im Grunde sind alle diese braven Leute, die ja ebenfalls an den Weihnachtsschmaus denken, gar nicht böse darüber, daß die Messe im Galopp vorangeht, und als Balaguère mit strahlendem Gesicht sich an die Anwesenden wendet und ihnen mit aller Kraft zuruft: »Ite, missa est«, da antwortet ihm die ganze Zuhörerschaft einstimmig mit einem so freudigen, so hinreißenden »Deo gratias«, daß man in Versuchung geriet, zu glauben, man befinde sich schon an der Tafel beim ersten Toast des Weihnachtsschmauses. 150
III Fünf Minuten später saß die ganze Schar der edlen Herren im großen Saal, der Kaplan mitten unter ihnen. Das Schloß, von unten bis oben erleuchtet, hallte wider von Gesängen, Schreien und Gelächter, und der ehrwürdige Dom Balaguère durchstach mit seiner Gabel den Flügel eines Feldhuhns und versuchte seine Gewissensbisse unter Fluten edlen Weines und guten Bratensaucen zu ersticken. Er trank und aß so viel, der arme fromme Mann, daß er in der Nacht einem entsetzlichen Anfall erlag, ohne auch nur die Zeit zur Reue zu finden. Am Morgen darauf kam er im Himmel an, noch ganz aufgeregt von den Festlichkeiten der Nacht. Und wie er dort empfangen wurde, könnt ihr euch selber denken. »Aus meinen Augen, du schlechter Christ«, sprach zu ihm der oberste Richter, unser aller Herr, »deine Sünde ist so groß, daß sie ein ganzes tugendhaftes Leben zunichte macht … Ah! Du hast mir eine Mette gestohlen … Nun wirst du mir dafür dreihundert zahlen und wirst nicht eher Eintritt ins Paradies erlangen, als bis du diese dreihundert Weihnachtsmessen in deiner eigenen Kapelle und in Gegenwart all derer zelebriert hast, die durch deine Schuld und mit dir gesündigt haben …« Das ist die wahre Legende von Hochwürden Balaguère, wie man sie im Lande der Oliven erzählt. 151
Heute existiert das Schloß Trinquelage nicht mehr, aber die Kapelle steht noch auf der Höhe des Ventoux, umgeben von einem Kranz grüner Eichen. Der Wind schlägt ihre zerfallenen Türen auf und zu, auf dem Boden wuchert das Unkraut, in den Winkeln des Altars und in den Ecken der hohen Fenster, deren gemalte Glasscheiben längst verschwunden sind, nisten die Vögel. Gleichwohl scheint es, daß jedes Jahr zu Weihnachten ein übernatürliches Licht durch die Ruinen irrt, und die Bauern haben oft auf dem Weg zur Mette und zum Weihnachtsschmaus die gespenstische Kapelle von unsichtbaren Lichtern erleuchtet gesehen, die in freier Luft und selbst in Schnee und Wind brennen. Du magst darüber lachen, wenn du willst; aber ein Winzer des Ortes, namens Garrigue, ohne Zweifel ein Nachkomme jenes Garrigou, hat mir versichert, daß er eines schönen Weihnachtsabends, als er gerade einen kleinen Rausch hatte, sich im Gebirge auf der Seite von Trinquelage verirrte, und was er dort sah, ist folgendes – bis um elf Uhr nichts. Alles war in Schweigen gehüllt, wie erloschen, leblos. Plötzlich gegen Mitternacht ertönte eine Glocke hoch oben vom Glockenturm, eine alte, eine so alte Glocke, daß ihr Ton aus zehn Stunden Entfernung herüberzutönen schien. Bald darauf sah Garrigue auf dem Weg, welcher zum Berg hinaufführt, Flämmchen aufleuchten und unbestimmte Schatten sich bewegen. Unter der Türe der Kapelle ertönten Schritte, man flüsterte: »Guten Abend, Meister Arnoton!« 152
»Guten Abend, guten Abend, meine Kinder!« Als alle in die Kapelle eingetreten waren, trat mein Winzer, der sehr tapfer war, vorsichtig und leise näher und erblickte durch die Spalten der zerbrochenen Tür ein sonderbares Schauspiel. All die Leute, die er hatte vorübergehen sehen, waren in dem zerfallenen Schiff der Kapelle um den Chor herum geordnet, als ob die alten Bänke noch vorhanden wären. Schöne Damen mit Spitzenhauben, geschniegelte Herren, Bauern in bunten Jacken, wie sie unsere Großväter trugen, mit alten, welken, staubigen, müden Gesichtern. Von Zeit zu Zeit umkreisten Nachtvögel, die eigentlichen Bewohner der Kapelle, durch alle diese Lichter aus dem Schlaf aufgestört, die Kerzen, deren Flamme gerade und undeutlich in die Höhe stieg, als brenne sie hinter einem Schleier. Und was Garrigue am meisten Spaß machte, war eine gewisse Person mit großer Stahlbrille, welche jeden Augenblick ihre hohe, schwarze Perücke schüttelte, auf welcher einer der Vögel saß, wie angewachsen, und schweigend die Flügel auf und nieder bewegte … Im Hintergrund lag ein kleiner Greis von kindlicher Gestalt in der Mitte des Chors auf den Knien und schwang verzweifelt ein Glöckchen ohne Klöppel und ohne Klang, während ein Priester in abgetragenem Meßgewand vor dem Altar hin- und herging, ständig Gebete murmelnd, von denen man nicht ein Wort hörte … Sicher war das Hochwürden Balaguère, der eben seine dritte stille Messe las. (Deutsch von Anton Friedrich)
Michael Saltykow-Schtschedrin Ein Weihnachtsmärchen
Eine wunderschöne Predigt hielt unser Dorfpfarrer heute zur Weihnachtsfeier. »Vor vielen Jahrhunderten«, sagte er, »kam an diesem Tage die Wahrheit auf die Welt. Die Wahrheit ist ewig. Von Anbeginn saß sie mit Christus, dem Menschenfreund, zur Rechten des Vaters, mit ihm ward sie Fleisch und entzündete ihre Leuchte auf Erden. Sie stand unter dem Kreuze und wurde mit Christus gemartert; sie saß in Gestalt des lichten Engels an seinem Grabe und sah seine Auferstehung. Und als der Heiland gen Himmel fuhr, ließ er die Wahrheit auf Erden zurück als lebendiges Zeugnis seiner unerschütterlichen Liebe zu dem ganzen menschlichen Geschlecht. Seitdem gibt es keinen Winkel in der ganzen Welt, wohin die Wahrheit nicht gedrungen wäre und den sie nicht erfüllt hätte. Die Wahrheit erzieht unser Gewissen, sie erwärmt unsere Herzen, sie belebt unsere Arbeit, sie zeigt das Ziel, auf das unser Leben gerichtet sein soll. Betrübte Herzen finden bei ihr eine sichere, allezeit offene Zuflucht, wo sie sich beruhigen und trösten können von allen zufälligen Kümmernissen des Lebens. Es irren jene, die behaupten, die Wahrheit hätte 155
jemals ihr Antlitz verhüllt oder wäre – noch schlimmer – jemals von der Unwahrheit besiegt worden. Nein, selbst in jenen trüben Augenblicken, da kurzsichtige Menschen glaubten, der Vater der Lüge triumphiere, auch in solchen Augenblicken triumphierte die Wahrheit. Sie allein ist nicht durch die Zeit beschränkt, sie allein schritt immer vorwärts, breitete ihre Flügel über der Welt aus und erhellte sie mit ihrem ewigen Licht. Der scheinbare Triumph der Lüge ward zunichte wie ein böser Traum, und die Wahrheit schritt siegreich weiter. Mit den Verbannten und Verfolgten stieg die Wahrheit in Keller und Höhlen hinab und verbarg sich in Felsenklüften. Sie bestieg mit den Märtyrern den Scheiterhaufen und trat mit ihnen vor das Antlitz des Tyrannen. Sie entfachte in ihren Herzen die heilige Flamme, bannte die Gedanken der Kleinmut und des Verrats, lehrte sie, das Leiden als Glück zu empfinden. Vergeblich wähnten die Knechte des Vaters der Lüge zu triumphieren, denn sie sahen den Sieg in äußern Dingen, wie Scheiterhaufen, Schwert und Tod. Die grimmigste Marter war nicht imstande die Wahrheit zu vernichten; im Gegenteil, sie verlieh ihr eine größere Anziehungskraft. Angesichts der Marter entflammten sich die schlichten Herzen, und in ihnen fand die Wahrheit neuen, fruchtbaren Boden für ihre Saat. Die Scheiterhaufen loderten und verschlangen die Leiber der Frommen, aber an der Flamme dieser Scheiterhaufen entzündeten sich unzählige Leuchten, wie in der Osternacht an der Flamme einer Kerze 156
sich im Nu Tausende von Kerzen entzünden, die die ganze Kirche mit ihrem Strahlenglanz erfüllen. Worin besteht denn die Wahrheit, von der ich mit euch rede? Auf diese Frage antwortet uns das Evangelium. Vor allem sollen wir Gott lieben und danach den Nächsten wie uns selbst. Dieses Gebot umfaßt trotz seiner Kürze die ganze Weisheit, den ganzen Sinn des Menschenlebens. Liebe Gott, denn er ist der Lebensspender und der Menschenfreund, denn in ihm ist die Quelle des Guten, des sittlich Schönen und der Wahrheit. In diesem Tempel, in dem Gott das unblutige Opfer gebracht wird, dienen wir unablässig der ewigen Wahrheit. Alle Mauern des Gotteshauses sind von Wahrheit durchtränkt, so daß ihr – auch die Schlechtesten unter euch – beim Betreten des Tempels fühlt, wie Frieden und Licht in eure Seelen einkehren. Hier, vor dem Angesicht des Gekreuzigten, werden eure Schmerzen gestillt; hier findet ihr Ruhe für eure verwirrten Seelen. Er ward gekreuzigt um der Wahrheit willen, deren Strahlen von ihm aus durch die ganze Welt drangen – wie könnt ihr da verzagen angesichts der Prüfungen, die euch treffen? Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Das ist das zweite Gebot des Heilands. Ich will nicht davon reden, daß ohne Liebe zum Nächsten ein Gemeinschaftsleben unmöglich ist; ich will nur klar und offen, ohne Winkelzüge, aussprechen: diese Liebe ist an sich, von allen Nebengründen abgesehen, die Zierde und Wonne unseres Lebens. Wir sollen den 157
Nächsten lieben, nicht um Gegenliebe zu gewinnen, sondern um der Liebe selbst willen. Wir sollen unbeirrt, selbstlos lieben, stets bereit, unsere Seele hinzugeben, wie der gute Hirte sein Leben hingibt für seine Schafe. Wir sollen bestrebt sein, unserm Nächsten zu helfen, ohne zu fragen, ob er uns den ihm erwiesenen Dienst lohnt oder nicht; wir sollen ihn vor Gefahren schützen, auch wenn die Gefahr uns selbst zu verschlingen drohte; wir sollen für ihn eintreten vor den Gewaltigen dieser Welt, sollen für ihn in den Kampf gehen. Dies Gefühl der Nächstenliebe ist der kostbare Schatz, den nur der Mensch besitzt und der ihn über alle andern Lebewesen erhebt. Ohne den belebenden Hauch der Liebe sind alle Menschenwerke tot, ohne sie verblaßt das eigentliche Ziel unseres Lebens und verliert seinen Sinn. Nur jene Menschen leben ein volles Leben, die von Liebe und Opfermut durchglüht sind; sie allein kennen die wahren Freuden des Lebens. So laßt uns denn Gott und den Nächsten lieben; das ist der Sinn der menschlichen Wahrheit! Laßt uns sie suchen und in ihren Spuren wandeln. Wir fürchten die Ränke der Lüge nicht, wir wappnen uns mit dem Guten und stellen dem Feinde die von uns errungene Wahrheit entgegen. Die Lüge wird geschlagen, die Wahrheit aber bleibt und durchglüht die Menschenherzen. So kehrt auch ihr jetzt in eure Häuser zurück und freuet euch des Festes der Geburt unseres Herrn und 158
Heilandes. Aber über euren Freuden vergeßt nicht, daß mit ihm die Wahrheit in die Welt gekommen ist, daß sie zu allen Tagen, Stunden und Minuten unter euch weilt und daß sie jenes heilige Feuer ist, das unser menschliches Leben erleuchtet und erwärmt.« Als der Pfarrer geendet hatte und der Chor anstimmte: »Der Name des Herrn sei gesegnet!«, da ging ein tiefes Seufzen durch die ganze Versammlung. Als wenn alle Andächtigen durch dieses Seufzen sagen wollten: »Ja, er sei gesegnet!« Aber von allen Leuten in der Kirche hörte keiner dem Pfarrer so aufmerksam zu wie Serjoscha Ruslanzew, der zehnjährige Sohn einer benachbarten Gutsbesitzerin. Hin und wieder geriet er in starke Aufregung. Tränen traten in seine Augen, seine Wangen glühten, er beugte sich mit dem ganzen Körper vor, als wolle er etwas fragen. Maria Sergejewna Ruslanzewa war eine junge Witwe und hatte ein winziges Gutshaus mitten im Dorf. Zur Zeit der Leibeigenschaft hatte es im Kirchspiel sieben Gutshäuser gegeben, die alle ganz nah beieinander lagen. Die Gutsbesitzer hatten durchweg wenig Land, Fedor Pawlowitsch Ruslanzew aber war einer von den ärmsten; er besaß nur drei Bauernhöfe und zehn Mann Hausgesinde. Da er aber immer wieder zu verschiedenen Ämtern gewählt wurde, so war es ihm gelungen, sich ein kleines Kapital zusammenzusparen. Als die Leibeigenschaft aufgehoben wurde, erhielt er als Kleingrundbesitzer die Abfindungssumme unter Vorzugsbedingungen 159
und konnte, wenn er auf dem ihm verbliebenen Grund und Boden weiter wirtschaftete, sich gerade noch durchschlagen. Maria Sergejewna hatte ihn lange nach der Bauernbefreiung geheiratet und war schon nach einjähriger Ehe Witwe geworden. Fedor Petrowitsch war in den Wald geritten, sein Pferd hatte gescheut und ihn aus dem Sattel geworfen, so daß er mit dem Kopf gegen einen Baum schlug. Zwei Monate danach hatte die junge Witwe einem Sohn das Leben geschenkt. Maria Sergejewna lebte sehr bescheiden. Die Feldbestellung hatte sie aufgegeben und das Land den Bauern verpachtet. Sie hatte nur das Gutshaus mit einem kleinen Stückchen Land zurückbehalten, auf dem sich der winzige Obst- und Gemüsegarten befand. Ihr ganzes lebendes Inventar bestand aus einem Pferd und drei Kühen, an Dienstboten hatte sie nur eine Familie früherer Leibeigener, zu der ihre alte Wärterin mit Sohn, Tochter und Schwiegertochter gehörte. Die Wärterin verwaltete das ganze Haus und zog den kleinen Serjoscha auf, die Tochter kochte, der Sohn und dessen Frau versorgten das Vieh, das Geflügel, bestellten den Garten und so weiter. Das Leben ging geräuschlos dahin. Not hatte man keine zu leiden; Brennholz und Nahrungsmittel brauchte man nicht zu kaufen, und an Dingen, die man hätte bezahlen müssen, hatte man so gut wie keinen Bedarf. Die Leute im Hause sagten: »Wir leben wie im Paradies!« Maria Sergejewna selbst hatte auch vergessen, daß es noch ein anderes Leben auf 160
der Welt gab. Sie hatte es nur flüchtig aus den Fenstern des Pensionats gesehen, in dem sie erzogen worden war. Nur Serjoscha machte seiner Mutter mitunter Sorge. Anfangs entwickelte er sich sehr gut, aber von seinem siebenten Lebensjahre an traten bei ihm Anzeichen einer krankhaften Empfindsamkeit zutage. Er war ein intelligenter, stiller, aber schwächlicher, kränklicher Knabe. Mit sieben Jahren lernte er lesen; erst unterrichtete ihn die Mutter selbst; als er neun Jahre alt geworden war, wurde der Pfarrer, Vater Pawel, aufgefordert, sich des Jungen anzunehmen. Serjoscha sollte auf das Gymnasium kommen, er mußte also mindestens mit den Anfangsgründen der lateinischen Grammatik vertraut werden. Die Zeit des Abschieds rückte immer näher heran, und Maria Sergejewna sah ihr mit großer Besorgnis entgegen. Die Trennung von dem Sohne war unvermeidlich, wenn er eine ordentliche Bildung erhalten sollte. Die Gouvernementsstadt lag sehr weit vom Gut entfernt, und bei einem Jahreseinkommen von sechshundert bis siebenhundert Rubel war es für Maria Sergejewna unmöglich, sich dort niederzulassen. Sie stand Serjoschas wegen bereits in Briefwechsel mit ihrem Bruder, der in der Gouvernementsstadt einen bescheidenen Beamtenposten innehatte. Vor einigen Tagen erst hatte sie einen Brief erhalten, in dem ihr Bruder sich bereit erklärte, Serjoscha in sein Haus aufzunehmen. Aus der Kirche zurückgekehrt, am Teetisch, zeigte Serjoscha sich immer noch sehr erregt. 161
»Ich möchte nach der Wahrheit leben, Mutter!« sagte er. »Ja, mein Kind, im Leben ist die Wahrheit die Hauptsache«, sagte die Mutter, »aber dein Leben hat noch kaum begonnen. Kinder leben nicht anders, können gar nicht anders leben, als nach der Wahrheit.« »Nein, so möchte ich nicht leben. Der Pfarrer hat gesagt, wer nach der Wahrheit lebt, muß seinen Nächsten vor Kränkungen schützen. So muß man leben, und lebe ich denn so? Vor kurzem hat man dem Iwan Bednyj seine Kuh weggenommen. Bin ich für ihn eingetreten? Ich habe nur zugesehen und geweint.« »Nun, in diesen Tränen kam eben dein Wahrheitsgefühl zum Ausdruck, mein Kind. Etwas anderes konntest du gar nicht tun. Die Kuh ist dem Iwan auf Grund des Gesetzes weggenommen worden, weil er eine Schuld nicht bezahlt hatte. Es gibt so ein Gesetz, das befiehlt, daß ein jeder seine Schulden bezahle.« »Iwan konnte nicht bezahlen, Mutter. Er hätte es gern getan, aber er konnte nicht. Die Wärterin sagt auch, er sei der ärmste Mann im ganzen Dorf. Wo ist denn da die Wahrheit?« »Ich sag’ es dir doch: das Gesetz befiehlt es, und dem Gesetz müssen alle gehorchen. Wenn die Menschen eine Gemeinschaft bilden, dürfen sie ihre Pflichten nicht vernachlässigen. Denke du lieber an deine Lektionen, das ist deine Wahrheit. Wenn du aufs Gymnasium kommst, sei fleißig und folgsam – 162
und das wird dann bedeuten, daß du nach der Wahrheit lebst. Ich habe es nicht gern, wenn du dich so aufregst. Alles, was du siehst und hörst, nimmst du dir gleich zu Herzen. Der Pfarrer hat ganz allgemein gesprochen; in der Kirche kann man nicht anders reden; du aber wendest das gleich auf dich an. Bete für deine Nächsten, mehr verlangt der liebe Gott gar nicht von dir.« Aber Serjoscha gab keine Ruhe. Er lief in die Küche, wo die Dienstboten beisammen saßen und, da es Feiertag war, Tee tranken. Die Köchin Stepanida stand vor dem Ofen und zog alle Augenblicke den Topf mit der fetten Kohlsuppe heraus, da er immer wieder überkochte. Der Duft von frischem Fleisch und Festtagskuchen erfüllte den ganzen Raum. »Ich möchte nach der Wahrheit leben!« sagte Serjoscha zu der alten Wärterin. »Schau, schau, wie früh du schon daran denkst!« lachte die Alte. »Nein, nein, ich habe mir das Wort gegeben! Ich sterbe für die Wahrheit, aber der Lüge und dem Unrecht füge ich mich nicht!« »Ach, du mein armer Junge, was dir nicht alles einfällt!« »Hast du denn nicht gehört, was der Pfarrer in der Kirche sagte? Für die Wahrheit muß man sein Leben hingeben. Für die Wahrheit muß ein jeder in den Kampf ziehen!« »Na ja, man weiß, was in der Kirche geredet wird! Dazu ist die Kirche doch da, daß man dort fromme 163
Reden hört! Aber, mein Lieber, du mußt zuhören und dein Teil dabei denken!« »Mit der Wahrheit muß man auch vorsichtig sein«, sagte der Arbeiter Grigorij bedächtig. »Warum trinken Mama und ich den Tee im Speisezimmer und ihr in der Küche? Ist denn das recht?« ereiferte sich Serjoscha. »Recht vielleicht nicht, aber es ist von alters her so Brauch. Wir sind einfache Leute, für uns ist auch die Küche gut genug. Wenn alle ins Speisezimmer gehen wollten, fänden sie gar nicht Platz.« »Ich will dir was sagen, Sergej Fedorowitsch«, mischte sich wieder Grigorij ins Gespräch, »wenn du groß bist, kannst du sitzen, wo du willst, im Speisezimmer oder in der Küche. Aber solange du noch klein bist, sollst du bei der Mama sitzen! Eine bessere Wahrheit gibt’s für euch kleinen Leute nicht! Wenn der Pfarrer zu Mittag kommt, wird er dir dasselbe sagen. Wir tun noch vielerlei, sorgen für das Vieh, graben in der Erde, die Herrschaften tun das alles aber nicht. So ist es!« »Aber das ist doch unrecht!« »Wir denken so: wenn die Herrschaften gut und freundlich sind, ist das ihre Wahrheit. Und wenn wir Arbeiter unserer Herrschaft treu dienen, sie nicht betrügen, fleißig schaffen, so ist das unsere Wahrheit. Es ist schon gut, wenn jeder sich an seine Wahrheit hält.« Ein minutenlanges Schweigen trat ein. Serjoscha wollte anscheinend etwas erwidern, aber die Darle164
gungen Grigorij s kamen aus so gutem Herzen, daß er schwankend wurde. »In unserer Gegend«, brach die Wärterin als erste das Schweigen, »wo die Frau Mama und ich her sind, lebte ein Gutsbesitzer Rassoschnikow. Erst lebte er so wie andere Leute auch, dann wollte er plötzlich nur noch nach der Wahrheit leben. Und was hat er schließlich gemacht? Hat sein Gut verkauft, sein Geld den Bettlern gegeben und ist selbst auf die Wanderschaft gegangen … Und seitdem hat ihn keiner mehr gesehen!« »Ach, Liebe, das war ein Mann!« »Und dabei hatte er einen Sohn, der war Offizier!« fügte die Wärterin hinzu. »Der Vater gibt seinen ganzen Besitz weg, und für den Sohn bleibt nichts übrig! Man sollte mal den Sohn fragen, wie ihm des Vaters Wahrheit gefällt!« sagte Grigorij. »Begriff der Sohn denn nicht, daß der Vater nach der Wahrheit gehandelt hatte?« rief Serjoscha. »Das ist’s ja eben, daß er’s nicht recht begriffen hat! Er versuchte dagegen Einspruch zu erheben! ›Warum hat er mich denn ins Regiment gegeben‹, sagte er, ›wenn ich jetzt nichts habe, womit ich meinen Unterhalt bestreite?‹« »Ins Regiment gegeben … Unterhalt bestreiten«, wiederholte Serjoscha mechanisch, ohne sich in dieser Gegenüberstellung zurechtzufinden. »Ich weiß auch noch einen Fall«, fuhr Grigorij fort. »Ein Bauer in unserm Dorf, Martin hieß er, 165
wollte es dem Rassoschnikow nachtun. Er verteilte auch all sein Geld unter die Bettler, ließ seiner Familie nur ihre Hütte, hängte sich selbst den Bettelsack an die Seite und ging nachts heimlich auf und davon. Aber er hatte sich keinen Paß ausfertigen lassen, und da wurde er nach einem Monat auf dem Etappenwege wieder heimgeschickt.« »Warum? Hatte er etwas Böses getan?« fragte Serjoscha. »Böses nicht, das sage ich nicht! Ich meine nur, daß man vorsichtig sein muß. Ohne Paß darf man nicht im Lande herumziehen, das ist die ganze Geschichte. Sonst laufen schließlich alle davon, lassen die Arbeit liegen, und man weiß nicht, wo man hin soll mit den Landstreichern.« Der Tee war ausgetrunken. Alle standen auf und beteten. »Nun wollen wir zu Mittag essen«, sagte die Wärterin, »geh zur Mama, mein Liebling, und sitze bei ihr; bald kommt wohl auch der Pfarrer mit seiner Frau.« In der Tat, gegen zwei Uhr erschien Vater Pawel mit seiner Gattin. »Ich will nach der Wahrheit leben, Hochwürden! Ich will für die Wahrheit kämpfen!« begrüßte Serjoscha die Gäste. »Das ist mir ein wackrer Kriegsmann! Drei Käse hoch und will schon kämpfen!« scherzte der Pfarrer. »Er läßt mir keine Ruhe«, sagte Maria Sergejewna, 166
»vom frühen Morgen an redet er von nichts anderem!« »Tut nichts, gnädige Frau. Er redet seine Zeit und vergißt’s dann wieder.« »Nein, ich vergesse es nicht!« sagte Serjoscha. »Sie haben vorhin selbst gesagt, man müsse nach der Wahrheit leben! Sie haben es in der Kirche gesagt!« »Darum ist doch die Kirche von Gott eingesetzt, daß in ihr die Wahrheit verkündet werde. Wenn ich, der Priester, meine Pflicht nicht erfülle, wird die Kirche selbst uns an die Wahrheit mahnen! Auch ohne mich ist jedes Wort, das in der Kirche gesprochen wird, Wahrheit. Nur ganz verhärtete Herzen können ihr gegenüber taub bleiben …« »Und wie soll man leben?« »Leben soll man nach der Wahrheit. Wenn du größer geworden bist, wirst du auch die Wahrheit voll erfassen; vorläufig aber laß dir genug sein an der Wahrheit, die deinem Alter angemessen ist. Liebe deine Mutter, sei ehrerbietig gegen ältere Leute, lerne fleißig, sei bescheiden – das ist deine Wahrheit!« »Und die Märtyrer … Sie sagten vorhin selbst …« »Es hat auch Märtyrer gegeben. Für die Wahrheit muß man auch leiden. Aber für dich ist es noch zu früh, dich mit solchen Gedanken abzugeben.« »Märtyrer … Scheiterhaufen …« flüsterte Serjoscha verwirrt. »Genug!« schrie ihn die Mutter ungeduldig an. Serjoscha verstummte. Während des ganzen Mittagessens war er nachdenklich. Bei Tisch sprach man 167
über alltägliche Dinge, eine Geschichte folgte der andern, und es ging keineswegs immer aus ihnen hervor, daß Wahrheit und Recht triumphiert hätten. Eigentlich konnte man von Recht oder Unrecht überhaupt nicht reden; es war das Alltagsleben in jenen Formen und auf jener Grundlage, an die wir alle von alters her gewohnt sind. Serjoscha hatte unzählige Male diesen Gesprächen zugehört und sie hatten ihn niemals besonders erregt. Aber heute war in sein Wesen etwas Neues gedrungen, was ihn anspornte und erregte. »Iß doch!« nötigte ihn die Mutter, die bemerkte, daß er fast gar nichts zu sich nahm. »In corpore sano mens sana«, fügte der Pfarrer seinerseits hinzu. »Gehorche der Mama, so beweisest du am besten deine Liebe zur Wahrheit. Man muß die Wahrheit lieben, aber sich ohne Grund für einen Märtyrer ansehen, das ist schon Eitelkeit und Ruhmsucht.« Die abermalige Erwähnung der Wahrheit gab Serjoscha einen Stoß. Er bückte sich über seinen Teller und versuchte zu essen, brach aber plötzlich in Tränen aus. Alle sprangen erschreckt auf und drängten sich zu ihm. »Hast du Kopfweh?« fragte die Mutter. »Ja«, erwiderte er mit schwacher Stimme. »Geh, leg dich zu Bett. Wärterin, bring ihn zu Bett!« Man führte ihn hinaus. Die Mahlzeit wurde für mehrere Minuten unterbrochen, denn Maria Sergejewna hatte es nicht aushalten können und war der 168
Wärterin gefolgt. Endlich kehrten beide zurück und meldeten, daß Serjoscha eingeschlafen sei. »Das ist gut. Er schläft sich aus und dann ist alles vorüber!« suchte Vater Pawel Maria Sergejewna zu trösten. Allein gegen Abend hatte der Kopfschmerz nicht nur nicht nachgelassen, sondern der Knabe hatte auch Fieber. Er richtete sich nachts mehrmals in seinem Bette auf und griff mit den Händen um sich, als suche er etwas. »Martin … ohne Paß … für die Wahrheit … Was heißt das?« stammelte er. »Von was für einem Martin redet er?« wandte sich die Mutter erstaunt an die Wärterin. »Erinnern Sie sich, in unserm Dorf war so ein Bauer, er ging mit dem Bettelsack fort, um Gott dem Herrn zu dienen … Vorhin erzählte Grigorij von ihm …« »Immer müßt ihr dummes Zeug reden!« ärgerte sich Maria Sergejewna, »man kann den Jungen gar nicht mit euch allein lassen.« Am nächsten Morgen nach der Frühmesse erbot sich der Pfarrer, den Arzt aus der Stadt zu holen. Die Stadt war vierzig Werst entfernt, so daß man den Arzt erst spät am Abend erwarten konnte. Der Arzt war ein alter Stümper; er kannte kein anderes Mittel als Opodeldok, das er seinen Kranken zu innerlichem wie äußerlichem Gebrauch verschrieb. In der Stadt sagte man von ihm: »An die Medizin glaubt er nicht, aber an Opodeldok glaubt er.« 169
Gegen elf Uhr nachts kam der Arzt. Er untersuchte den Kranken, fühlte ihm den Puls und erklärte, er habe »etwas Fieber«. Dann verordnete er Einreibungen mit Opodeldok und ließ Serjoscha zwei Pillen schlucken. »Er hat Fieber, aber Sie werden sehen: nach dem Opodeldok ist es im Nu verschwunden!« erklärte er würdevoll. Man gab dem Arzt zu essen und wies ihm sein Schlafzimmer an. Serjoscha aber warf sich die ganze Nacht auf seinem Bett hin und her und glühte … Einige Male wurde der Arzt geweckt, aber er gab dem Kranken wieder Opodeldok und versicherte weiter, daß am Morgen früh alles in Ordnung sein werde. Serjoscha phantasierte. Immer wieder sagte er: »Christus … die Wahrheit … Rassoschnikow … Martin …« Dabei griff er nach wie vor suchend um sich und murmelte: »Wo? Wo? …« Gegen Morgen beruhigte er sich und schlief ein. Der Arzt sagte: »Nun, sehen Sie!« und fuhr weg, da er, wie er behauptete, noch andere Kranke in der Stadt zu besuchen hatte. Den ganzen Tag schwebte man zwischen Furcht und Hoffnung. Solange es draußen hell war, fühlte der Kranke sich besser; er war aber so schwach, daß er fast gar nicht sprach. Mit der Dämmerung begann er wieder zu fiebern, und der Puls schlug schneller. Maria Sergejewna stand in stummem Entsetzen an seinem Bett; sie wollte begreifen und begriff nicht. 170
Auf den Opodeldok verzichtete man bald. Die Wärterin machte Serjoscha Essigumschläge um den Kopf, legte ihm Senfteig auf den Leib, gab ihm Lindenblütentee zu trinken – kurz und gut, sie wandte aufs Geratewohl alle Mittel an, von denen sie gehört hatte und die zur Hand waren. Am Abend begann die Agonie. Um acht Uhr ging der volle Mond auf, und da man in der Aufregung vergessen hatte, die Fenstervorhänge zuzuziehen, so zeigte sich an der Wand ein großer heller Fleck. Serjoscha richtete sich auf und streckte die Hände nach ihm aus. »Mutter!« flüsterte er, »sieh! Ganz in Weiß … das ist Christus … das ist die Wahrheit … Ihm nach! … Zu ihm!« Er sank auf sein Kissen zurück, schluchzte auf wie ein kleines Kind und starb. Die Wahrheit war ihm erschienen und hatte sein ganzes Wesen mit Seligkeit erfüllt; aber das noch nicht gekräftigte Herz des Knaben vermochte das Übermaß nicht zu ertragen und zerbrach. (Deutsch von Arthur Luther)
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Adalbert Stifter Bergkristall
Unsere Kirche feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen. Man kann sich kaum etwas Lieblicheres denken als Pfingsten und kaum etwas Ernsteres und Heiligeres als Ostern. Das Traurige und Schwermütige der Karwoche und darauf das Feierliche des Sonntags begleiten uns durch das Leben. Eines der schönsten Feste feiert die Kirche fast mitten im Winter, wo beinahe die längsten Nächte und kürzesten Tage sind, wo die Sonne am schiefsten gegen unsere Gefilde steht und Schnee alle Fluren deckt: das Fest der Weihnacht. Wie in vielen Ländern der Tag vor dem Geburtsfeste des Herrn der Christabend heißt, so heißt er bei uns der Heilige Abend, der darauffolgende Tag der Heilige Tag und die dazwischenliegende Nacht die Weihnacht. Die katholische Kirche begeht den Christtag als den Tag der Geburt des Heilandes mit ihrer allergrößten kirchlichen Feier, in den meisten Gegenden wird schon die Mitternachtsstunde als die Geburtsstunde des Herrn mit prangender Nachtfeier geheiligt, zu der die Glocken durch die stille, finstere, winterliche Mitternachtsluft laden, zu der die Bewohner mit Lichtern oder auf dunklen, wohlbekannten Pfaden aus schneeigen Bergen an bereiften Wäldern vorbei und durch knarrende Obst173
gärten zu der Kirche eilen, aus der die feierlichen Töne kommen und die aus der Mitte des in beeiste Bäume gehüllten Dorfes mit den langen beleuchteten Fenstern emporragt. Mit dem Kirchenfeste ist auch ein häusliches verbunden. Es hat sich fast in allen christlichen Ländern verbreitet, daß man den Kindern die Ankunft des Christkindleins – auch eines Kindes, des wunderbarsten, das je auf der Welt war – als ein heiteres, glänzendes feierliches Ding zeigt, das durch das ganze Leben fortwirkt und manchmal noch spät im Alter bei trüben, schwermütigen oder rührenden Erinnerungen gleichsam als Rückblick in die einstige Zeit mit den bunten schimmernden Fittichen durch den öden, traurigen und ausgeleerten Nachthimmel fliegt. Man pflegt den Kindern die Geschenke zu geben, die das heilige Christkindlein gebracht hat, um ihnen Freude zu machen. Das tut man gewöhnlich am Heiligen Abend, wenn die tiefe Dämmerung eingetreten ist. Man zündet Lichter, und meistens sehr viele, an, die oft mit den kleinen Kerzlein auf den schönen grünen Ästen eines Tannenoder Fichtenbäumchens schweben, das mitten in der Stube steht. Die Kinder dürfen nicht eher kommen, als bis das Zeichen gegeben wird, daß der Heilige Christ zugegen gewesen ist und die Geschenke, die er mitgebracht, hinterlassen hat. Dann geht die Tür auf, die Kleinen dürfen hinein, und bei dem herrlichen schimmernden Lichterglanze sehen sie Dinge auf dem Baume hängen oder auf dem Tische herumgebreitet, die alle Vorstellungen ihrer Einbildungskraft 174
weit übertreffen, die sie sich nicht anzurühren getrauen und die sie endlich, wenn sie sie bekommen haben, den ganzen Abend in ihren Ärmchen herumtragen und mit sich in das Bett nehmen. Wenn sie dann zuweilen in ihre Träume hinein die Glockentöne der Mitternacht hören, durch welche die Großen in die Kirche zur Andacht gerufen werden, dann mag es ihnen sein, als zögen jetzt die Englein durch den Himmel oder als kehre der Heilige Christ nach Hause, welcher nunmehr bei allen Kindern gewesen ist und jedem von ihnen ein herrliches Geschenk hinterbracht hat. Wenn dann der folgende Tag, der Christtag, kommt, so ist er ihnen so feierlich, wenn sie frühmorgens, mit ihren schönsten Kleidern angetan, in der warmen Stube stehen, wenn der Vater und die Mutter sich zum Kirchgange schmücken, wenn zu Mittag ein feierliches Mahl ist, ein besseres als in jedem Tage des ganzen Jahres, und wenn nachmittags oder gegen den Abend hin Freunde und Bekannte kommen, auf den Stühlen und Bänken herumsitzen, miteinander reden und behaglich durch die Fenster in die Wintergegend hinausschauen können, wo entweder die langsamen Flocken niederfallen oder ein trübender Nebel um die Berge steht oder die blutrote, kalte Sonne hinabsinkt. An verschiedenen Stellen der Stube, entweder auf einem Stühlchen oder auf der Bank oder auf dem Fensterbrettchen, liegen die zauberischen, nun aber schon bekannteren und vertrauteren Geschenke von 175
gestern abend herum. Hierauf vergeht der lange Winter, es kommt der Frühling und der unendlich dauernde Sommer – und wenn die Mutter wieder vom Heiligen Christe erzählt, daß nun bald sein Festtag sein wird und daß er auch diesmal herabkommen werde, ist es den Kindern, als sei seit seinem letzten Erscheinen eine ewige Zeit vergangen und als liege die damalige Freude in einer weiten nebelgrauen Ferne. Weil dieses Fest so lange nachhält, weil sein Abglanz so hoch in das Alter hinaufreicht, so stehen wir so gerne dabei, wenn Kinder dasselbe begehen und sich darüber freuen. In den hohen Gebirgen unseres Vaterlandes steht ein Dörfchen mit einem kleinen, aber sehr spitzigen Kirchturme, der mit seiner roten Farbe, mit welcher die Schindeln bemalt sind, aus dem Grün vieler Obstbäume hervorragt und wegen derselben roten Farbe in dem duftigen und blauen Dämmern der Berge weithin ersichtlich ist. Das Dörfchen liegt gerade mitten in einem ziemlich weiten Tale, das fast wie ein länglicher Kreis gestaltet ist. Es enthält außer der Kirche eine Schule, ein Gemeindehaus und noch mehrere stattliche Häuser, die einen Platz gestalten, auf welchem vier Linden stehen, die ein steinernes Kreuz in ihrer Mitte haben. Diese Häuser sind nicht bloße Landwirtschaftshäuser, sondern sie bergen auch noch diejenigen Handwerke in ihrem Schöße, die dem menschlichen Geschlechte unentbehrlich sind und die bestimmt sind, den Gebirgsbewohnern 176
ihren einzigen Bedarf an Kunsterzeugnissen zu dekken. Im Tale und an den Bergen herum sind noch sehr viele zerstreute Hütten, wie das in Gebirgsgegenden sehr oft der Fall ist, welche alle nicht nur zur Kirche und Schule gehören, sondern auch jenen Handwerken, von denen gesprochen wurde, durch Abnahme der Erzeugnisse ihren Zoll entrichten. Es gehören sogar noch weitere Hütten zu dem Dörfchen, die man von dem Tale aus gar nicht sehen kann, die noch tiefer in den Gebirgen stecken, deren Bewohner selten zu ihren Gemeindemitbrüdern herauskommen und die im Winter oft ihre Toten aufbewahren müssen, um sie nach dem Wegschmelzen des Schnees zum Begräbnisse bringen zu können. Der größte Herr, den die Dörfler im Laufe des Jahres zu sehen bekommen, ist der Pfarrer. Sie verehren ihn sehr, und es geschieht gewöhnlich, daß derselbe durch längeren Aufenthalt im Dörfchen ein der Einsamkeit gewohnter Mann wird, daß er nicht ungerne bleibt und einfach fortlebt. Wenigstens hat man seit Menschengedenken nicht erlebt, daß der Pfarrer des Dörfchens ein auswärtssüchtiger oder seines Standes unwürdiger Mann gewesen wäre. Es gehen keine Straßen durch das Tal, sie haben ihre zweigleisigen Wege, auf denen sie ihre Felderzeugnisse mit einspännigen Wäglein nach Hause bringen, es kommen daher wenig Menschen in das Tal, unter diesen manchmal ein einsamer Fußreisender, der ein Liebhaber der Natur ist, eine Weile in der bemalten Oberstube des Wirtes wohnt und die Berge 177
betrachtet, oder gar ein Maler, der den kleinen spitzen Kirchturm und die schönen Gipfel der Felsen in seine Mappe zeichnet. Daher bilden die Bewohner eine eigene Welt, sie kennen einander alle mit Namen und mit den einzelnen Geschichten von Großvater und Urgroßvater her, trauern alle, wenn einer stirbt, wissen, wie er heißt, wenn einer geboren wird, haben eine Sprache, die von der der Ebene draußen abweicht, haben ihre Streitigkeiten, die sie schlichten, stehen einander bei und laufen zusammen, wenn sich etwas Außerordentliches begibt. Sie sind sehr stetig, und es bleibt immer beim alten. Wenn ein Stein aus einer Mauer fällt, wird derselbe wieder hineingesetzt, die neuen Häuser werden wie die alten gebaut, die schadhaften Dächer werden mit gleichen Schindeln ausgebessert, und wenn in einem Hause scheckige Kühe sind, so werden immer solche Kälber aufgezogen, und die Farbe bleibt bei dem Hause. Gegen Mittag sieht man von dem Dorfe einen Schneeberg, der mit seinen glänzenden Hörnern fast oberhalb der Hausdächer zu sein scheint, aber in der Tat doch nicht so nahe ist. Er sieht das ganze Jahr, Sommer und Winter, mit seinen vorstehenden Felsen und mit seinen weißen Flächen in das Tal herab. Als das Auffallendste, was sie in ihrer Umgebung haben, ist der Berg der Gegenstand der Betrachtung der Bewohner, und er ist der Mittelpunkt vieler Geschichten geworden. Es lebt kein Mann und kein Greis in dem Dorfe, der nicht von den Zacken und 178
Spitzen des Berges, von seinen Eisspalten und Höhlen, von seinen Wässern und Geröllströmen etwas zu erzählen wüßte, was er entweder selbst erfahren oder von anderen erzählen gehört hat. Dieser Berg ist auch der Stolz des Dorfes, als hätten sie ihn selber gemacht, und es ist nicht so ganz entschieden, wenn man auch die Biederkeit und Wahrheitsliebe der Talbewohner hoch anschlägt, ob sie nicht zuweilen zur Ehre und zum Ruhme des Berges lügen. Der Berg gibt den Bewohnern außer dem, daß er ihre Merkwürdigkeit ist, auch wirklichen Nutzen; denn wenn eine Gesellschaft von Gebirgsreisenden hereinkommt, um von dem Tale aus den Berg zu besteigen, so dienen die Bewohner des Dorfes als Führer, und einmal Führer gewesen zu sein, dieses und jenes erlebt zu haben, diese und jene Stelle zu kennen, ist eine Auszeichnung, die jeder gerne von sich darlegt. Sie reden oft davon, wenn sie in der Wirtsstube beieinandersitzen, und erzählen ihre Wagnisse und ihre wunderbaren Erfahrungen und versäumen aber auch nie zu sagen, was dieser oder jener Reisende gesprochen habe und was sie von ihm als Lohn für ihre Bemühungen empfangen hätten. Dann sendet der Berg von seinen Schneeflächen die Wasser ab, welche einen See in seinen Hochwäldern speisen und den Bach erzeugen, der lustig durch das Tal strömt, die Brettersäge, die Mahlmühle und andere kleine Werke treibt, das Dorf reinigt und das Vieh tränkt. Von den Wäldern des Berges kommt das Holz, und sie halten die Lawinen auf. Durch die inneren Gänge und Lok179
kerheiten der Höhen sinken die Wasser durch, die dann in Adern durch das Tal gehen und in Brünnlein und Quellen hervorkommen, daraus die Menschen trinken und ihr herrliches, oft belobtes Wasser dem Fremden reichen. Allein, an letzteren Nutzen denken sie nicht und meinen, das sei immer so gewesen. Wenn man auf die Jahresgeschichte des Berges sieht, so sind im Winter die zwei Zacken seines Gipfels, die sie Hörner heißen, schneeweiß und stehen, wenn sie an hellen Tagen sichtbar sind, blendend in der finsteren Bläue der Luft; alle Bergfelder, die um diese Gipfel herumlagern, sind dann weiß; alle Abhänge sind so; selbst die steilrechten Wände, die die Bewohner Mauern heißen, sind mit einem angeflogenen weißen Reife bedeckt und mit zartem Else wie mit einem Firnisse belegt, so daß die ganze Masse wie ein Zauberpalast aus dem bereiften Grau der Wälderlast emporragt, welche schwer um ihre Füße herum ausgebreitet ist. Im Sommer, wo Sonne und warmer Wind den Schnee von den Steilseiten wegnehmen, ragen die Hörner nach dem Ausdrucke der Bewohner schwarz in den Himmel und haben nur schöne weiße Äderchen und Sprenkeln auf ihrem Rücken, in der Tat aber sind sie zart fernblau, und was sie Äderchen und Sprenkeln heißen, das ist nicht weiß, sondern hat das schöne Milchblau des fernen Schnees gegen das dunklere der Felsen. Die Bergfelder um die Hörner aber verlieren, wenn es recht heiß ist, an ihren höheren Teilen wohl den Firn nicht, der gerade dann recht weiß auf das Grün der Talbäume 180
herabsieht, aber es weicht von ihren unteren Teilen der Winterschnee, der nur einen Flaum machte, und es wird das unbestimmte Schillern von Bläulich und Grünlich sichtbar, das das Geschiebe von Eis ist, das dann bloßliegt und auf die Bewohner unten hinabgrüßt. Am Rande dieses Schillerns, wo es von ferne wie ein Saum von Edelsteinsplittern aussieht, ist es in der Nähe ein Gemenge wilder, riesenhafter Blöcke, Platten und Trümmer, die sich drängen und verwirrt ineinandergeschoben sind. Wenn ein Sommer gar heiß und lang ist, werden die Eisfelder weit hinauf entblößt, und dann schaut eine viel größere Fläche von Grün und Blau in das Tal, manche Kuppen und Räume werden entkleidet, die man sonst nur weiß erblickt hatte, der schmutzige Saum des Eises wird sichtbar, wo es Felsen, Erde und Schlamm schiebt, und viel reichlichere Wasser als sonst fließen in das Tal. Dies geht fort, bis es nach und nach wieder Herbst wird, das Wasser sich verringert, zu einer Zeit einmal ein grauer Landregen die ganze Ebene des Tales bedeckt, worauf, wenn sich die Nebel von den Höhen wieder lösen, der Berg seine weiche Hülle abermals umgetan hat und alle Felsen, Kegel und Zacken in weißem Kleide dastehen. So spinnt es sich ein Jahr um das andere mit geringen Abwechslungen ab und wird sich fortspinnen, solange die Natur so bleibt und auf den Bergen Schnee und in den Tälern Menschen sind. Die Bewohner des Tales heißen die geringen Veränderungen große, bemerken sie wohl und berechnen an ihnen den Fortschritt des Jahres. 181
Sie bezeichnen an den Entblößungen die Hitze und die Ausnahmen der Sommer. Was nun noch die Besteigung des Berges betrifft, so geschieht dieselbe von dem Tale aus. Man geht nach der Mittagsrichtung zu auf einem guten, schönen Wege, der über einen sogenannten Hals in ein anderes Tal führt. Hals heißen sie einen mäßig hohen Bergrücken, der zwei größere und bedeutendere Gebirge miteinander verbindet und über den man zwischen den Gebirgen von einem Tale in ein anderes gelangen kann. Auf dem Halse, der den Schneeberg mit einem gegenüberliegenden großen Gebirgszuge verbindet, ist lauter Tannenwald. Etwa auf der größten Erhöhung desselben, wo nach und nach sich der Weg in das jenseitige Tal hinabzusenken beginnt, steht eine sogenannte Unglückssäule. Es ist einmal ein Bäcker, welcher Brot in seinem Korbe über den Hals trug, an jener Stelle tot aufgefunden worden. Man hat den toten Bäcker mit dem Korbe und mit den umringenden Tannenbäumen auf ein Bild gemalt, darunter eine Erklärung und eine Bitte um ein Gebet geschrieben, das Bild auf eine rot angestrichene Säule getan und die Säule an der Stelle des Unglücks aufgerichtet. Bei dieser Säule biegt man von dem Wege ab und geht auf der Länge des Halses fort, statt über seine Breite in das jenseitige Tal hinüberzuwandern. Die Tannen bilden dort einen Durchlaß, als ob eine Straße zwischen ihnen hinginge. Es führt auch manchmal ein Weg in dieser Richtung hin, der dazu dient, das Holz von den höheren Gegenden zu der Unglückssäule herab182
zubringen, der aber dann wieder mit Gras verwächst. Wenn man auf diesem Wege fortgeht, der sachte bergan führt, so gelangt man endlich auf eine freie, von Bäumen entblößte Stelle. Dieselbe ist dürrer Heideboden, hat nicht einmal einen Strauch, sondern ist mit schwachem Heidekraut, mit trockenen Moosen und mit Dürrbodenpflanzen bewachsen. Die Stelle wird immer steiler, und man geht lange hinan; man geht aber immer in einer Rinne, gleichsam wie in einem ausgerundeten Graben hinauf, was den Nutzen hat, daß man auf der großen, baumlosen und überall gleichen Stelle nicht leicht irren kann. Nach einer Zeit erscheinen Felsen, die wie Kirchen gerade aus dem Grasboden aufsteigen und zwischen deren Mauern man längere Zeit hinangehen kann. Dann erscheinen wieder kahle, fast pflanzenlose Rücken, die bereits in die Lufträume der höheren Gegenden ragen und gerade zu dem Else führen. Zu beiden Seiten dieses Weges sind steile Wände, und durch diesen Damm hängt der Schneeberg mit dem Halse zusammen. Um das Eis zu überwinden, geht man eine geraume Zeit an der Grenze desselben, wo es von den Felsen umstanden ist, dahin, bis man zu dem älteren Firn gelangt, der die Eisspalten überbaut und in den meisten Zeiten des Jahres den Wanderer trägt. An der höchsten Stelle des Firns erheben sich die zwei Hörner aus dem Schnee, wovon eines das höhere, mithin die Spitze des Berges ist. Diese Kuppen sind sehr schwer zu erklimmen; da sie mit einem oft breiteren, oft engeren Schneegraben – dem Firnschrunde – um183
geben sind, der übersprungen werden muß, und da ihre steilrechten Wände nur kleine Absätze haben, in welche der Fuß eingesetzt werden muß, so begnügen sich die meisten Besteiger des Berges damit, bis zu dem Firnschrunde gelangt zu sein und dort die Rundsicht, soweit sie nicht durch das Horn verdeckt ist, zu genießen. Die den Gipfel besteigen wollen, müssen dies mit Hilfe von Steigeisen, Stricken und Klammern tun. Außer diesem Berge stehen an derselben Mittagseite noch andere, aber keiner ist so hoch, wenn sie sich auch früh im Herbste mit Schnee bedecken und ihn bis tief in den Frühling hinein behalten. Der Sommer aber nimmt denselben immer weg, und die Felsen glänzen freundlich im Sonnenscheine, und die tiefer gelegenen Wälder zeigen ihr sanftes Grün, von breiten blauen Schatten durchschnitten, die so schön sind, daß man sich in seinem Leben nicht satt daran sehen kann. An den andern Seiten des Tales, nämlich von Mitternacht, Morgen und Abend her, sind die Berge langgestreckt und niedriger, manche Felder und Wiesen steigen ziemlich hoch hinauf, und oberhalb ihrer sieht man verschiedene Waldblößen, Alpenhütten und dergleichen, bis sie an ihrem Rande mit feingezacktem Walde am Himmel hingehen, welche Auszackung eben ihre geringe Höhe anzeigt, während die mittäglichen Berge, obwohl sie noch großartige Wälder hegen, doch mit einem ganz glatten Rande an dem glänzenden Himmel hinstreichen. 184
Wenn man so ziemlich mitten in dem Tale steht, so hat man die Empfindung, als ginge nirgends ein Weg in dieses Becken herein und keiner daraus hinaus; allein diejenigen, welche öfter im Gebirge gewesen sind, kennen diese Täuschung gar wohl: in der Tat führen nicht nur verschiedene Wege und darunter sogar manche durch die Verschiebung der Berge fast auf ebenem Boden in die nördlichen Flächen hinaus, sondern gegen Mittag, wo das Tal durch steilrechte Mauern fast geschlossen scheint, geht sogar ein Weg über den obbenannten Hals. Das Dörflein heißt Gschaid, und der Schneeberg, der auf seine Häuser herabschaut, heißt Gars. Jenseits des Halses liegt ein viel schöneres und blühenderes Tal, als das von Gschaid ist, und es führt von der Unglückssäule der gebahnte Weg hinab. Es hat an seinem Eingange einen stattlichen Marktflekken, Millsdorf, der sehr groß ist, verschiedene Werke hat und in manchen Häusern städtische Gewerbe und Nahrung treibt. Die Bewohner sind viel wohlhabender als die in Gschaid, und obwohl nur drei Wegstunden zwischen den beiden Tälern liegen, was für die an große Entfernungen gewöhnten und Mühseligkeiten liebenden Gebirgsbewohner eine unbedeutende Kleinigkeit ist, so sind doch Sitten und Gewohnheiten in den beiden Tälern so verschieden, selbst der äußere Anblick derselben ist so ungleich, als ob eine große Anzahl Meilen zwischen ihnen läge. Das ist in Gebirgen sehr oft der Fall und hängt nicht nur von der verschiedenen Lage der Täler ge185
gen die Sonne ab, die sie oft mehr oder weniger begünstigt, sondern auch von dem Geiste der Bewohner, der durch gewisse Beschäftigungen nach dieser oder jener Richtung gezogen wird. Darin stimmen aber alle überein, daß sie an Herkömmlichkeiten und Väterweise hängen, großen Verkehr leicht entbehren, ihr Tal außerordentlich lieben und ohne dasselbe kaum leben können. Es vergehen oft Monate, oft fast ein Jahr, ehe ein Bewohner von Gschaid in das jenseitige Tal hinüberkommt und den großen Marktflecken Millsdorf besucht. Die Millsdorfer halten es ebenso, obwohl sie ihrerseits doch Verkehr mit dem Lande draußen pflegen und daher nicht so abgeschieden sind wie die Gschaider. Es geht sogar ein Weg, der eine Straße heißen könnte, längs ihres Tales, und mancher Reisende und mancher Wanderer geht hindurch, ohne nur im geringsten zu ahnen, daß mitternachtwärts seines Weges jenseits des hohen herabblickenden Schneeberges noch ein Tal sei, in dem viele Häuser zerstreut sind und in dem das Dörflein mit dem spitzigen Kirchturme steht. Unter den Gewerben des Dorfes, welche bestimmt sind, den Bedarf das Tales zu decken, ist auch das eines Schusters, das nirgends entbehrt werden kann, wo die Menschen nicht in ihrem Urzustände sind. Die Gschaider aber sind so weit über diesem Stande, daß sie recht gute und tüchtige Gebirgsfußbekleidung brauchen. Der Schuster ist mit einer kleinen Ausnahme der einzige im Tal. Sein Haus steht auf dem 186
Platze in Gschaid, wo überhaupt die besseren stehen, und schaut mit seinen grauen Mauern, weißen Fenstersimsen und grün angestrichenen Fensterläden auf die vier Linden hinaus. Es hat im Erdgeschosse die Arbeitsstube, die Gesellenstube, eine größere und kleinere Wohnstube, ein Verkaufsstübchen, nebst Küche und Speisekammer und allen zugehörigen Gelassen; im ersten Stockwerke, oder eigentlich im Räume des Giebels, hat es die Oberstube oder eigentliche Prunkstube. Zwei Prachtbetten, schöne geglättete Kästen mit Kleidern stehen da, dann ein Gläserkästchen mit Geschirren, ein Tisch mit eingelegter Arbeit, gepolsterte Sessel, ein Mauerkästchen mit den Ersparnissen, dann hängen an den Wänden Heiligenbilder, zwei schöne Sackuhren, gewonnene Preise im Schießen, und endlich sind auch Scheibengewehre und Jagdbüchsen nebst ihrem Zubehöre in einem eigenen, mit Glastafeln versehenen Kasten aufgehängt. An das Schusterhaus ist ein kleineres Häuschen, nur durch den Einfahrtsschwibbogen getrennt, angebaut, welches genau dieselbe Bauart hat und zum Schusterhause wie ein Teil zum Ganzen gehört. Es hat nur eine Stube mit den dazugehörigen Wohnteilen. Es hat die Bestimmung, dem Hausbesitzer, sobald er das Anwesen seinem Sohne oder Nachfolger übergeben hat, als sogenanntes Ausnahmestübchen zu dienen, in welchem er mit seinem Weibe so lange haust, bis beide gestorben sind, die Stube wieder leer steht und auf einen neuen Bewohner wartet. Das Schusterhaus hat nach rückwärts Stall und Scheune; denn jeder Talbe187
wohner ist, selbst wenn er ein Gewerbe treibt; auch Landbebauer und zieht hieraus seine gute und nachhaltige Nahrung. Hinter diesen Gebäuden ist endlich der Garten, der fast bei keinem besseren Hause in Gschaid fehlt und von dem sie ihre Gemüse, ihr Obst und für festliche Gelegenheiten ihre Blumen ziehen. Wie oft im Gebirge, so ist auch in Gschaid die Bienenzucht in diesen Gärten sehr verbreitet. Die kleine Ausnahme, deren oben Erwähnung geschah, und die Nebenbuhlerschaft der Alleinherrlichkeit des Schusters ist ein anderer Schuster, der alte Tobias, der aber eigentlich kein Nebenbuhler ist, weil er nur mehr flickt, hierin viel zu tun hat und es sich nicht im entferntesten beikommen läßt, mit dem vornehmen Platzschuster in einen Wettstreit einzugehen, insbesondere, da der Platzschuster ihn häufig mit Lederflecken, Sohlenabschnitten und dergleichen Dingen unentgeltlich versieht. Der alte Tobias sitzt im Sommer am Ende des Dörfchens unter Holunderbüschen und arbeitet. Er ist umringt von Schuhen und Bundschuhen, die aber sämtlich alt, grau, kotig und zerrissen sind. Stiefel mit langen Röhren sind nicht da, weil sie im Dorfe und in der Gegend nicht getragen werden; nur zwei Personen haben solche, der Pfarrer und der Schullehrer, welche aber beides, flicken und neue Ware machen, nur bei dem Platzschuster lassen. Im Winter sitzt der alte Tobias in seinem Stübchen hinter den Holunder-Stauden und hat warm geheizt, weil das Holz in Gschaid nicht teuer ist. 188
Der Platzschuster ist, ehe er das Haus angetreten hat, ein Gemsenwildschütz gewesen und hat überhaupt in seiner Jugend, wie die Gschaider sagen, nicht gut getan. Er war in der Schule immer einer der besten Schüler gewesen, hatte dann von seinem Vater das Handwerk gelernt, ist auf Wanderung gegangen und ist endlich wieder zurückgekehrt. Statt, wie es sich für einen Gewerbsmann ziemt und wie sein Vater es zeitlebens getan, einen schwarzen Hut zu tragen, tat er einen grünen auf, steckte noch alle bestehenden Federn darauf und stolzierte mit ihm und mit dem kürzesten Lodenrocke, den es im Tale gab, herum, während sein Vater immer einen Rock von dunkler, womöglich schwarzer Farbe hatte, der auch, weil er einem Gewerbsmanne angehörte, immer sehr weit herabgeschnitten sein mußte. Der junge Schuster war auf allen Tanzplätzen und Kegelbahnen zu sehen. Wenn ihm jemand eine gute Lehre gab, so pfiff er ein Liedlein. Er ging mit seinem Scheibengewehr zu allen Schießen der Nachbarschaft und brachte manchmal einen Preis nach Hause, was er für einen großen Sieg hielt. Der Preis bestand meistens aus Münzen, die künstlich gefaßt waren und zu deren Gewinnung der Schuster mehr gleiche Münzen ausgeben mußte, als der Preis enthielt, besonders da er wenig haushälterisch mit dem Gelde war. Er ging auf alle Jagden, die in der Gegend abgehalten wurden, und hatte sich den Namen eines guten Schützen erworben. Er ging aber manchmal allein mit seiner Doppelbüchse und mit Steigeisen fort, 189
und einmal sagte man, daß er eine schwere Wunde am Kopf erhalten habe. In Millsdorf war ein Färber, welcher gleich am Anfange des Marktfleckens, wenn man auf dem Wege von Gschaid hinüberkam, ein sehr ansehnliches Gewerbe hatte, mit vielen Leuten und sogar, was im Tale etwas Unerhörtes war, mit Maschinen arbeitete. Außerdem besaß er noch eine ausgebreitete Feldwirtschaft. Zu der Tochter dieses reichen Färbers ging der Schuster über das Gebirge, um sie zu gewinnen. Sie war wegen ihrer Schönheit weit und breit berühmt, aber auch wegen ihrer Eingezogenheit, Sittsamkeit und Häuslichkeit belobt. Dennoch, hieß es, soll der Schuster ihre Aufmerksamkeit erregt haben. Der Färber ließ ihn nicht in sein Haus kommen; und hatte die schöne Tochter schon früher keine öffentlichen Plätze und Lustbarkeiten besucht und war selten außer dem Hause ihrer Eltern zu sehen gewesen, so ging sie jetzt schon gar nirgends mehr hin als in die Kirche oder in ihrem Garten oder in den Räumen des Hauses herum. Einige Zeit nach dem Tode seiner Eltern, durch welchen ihm das Haus derselben zugefallen war, das er nun allein bewohnte, änderte sich der Schuster gänzlich. So, wie er früher getollt hatte, so saß er jetzt in seiner Stube und hämmerte Tag und Nacht an seinen Sohlen. Er setzte prahlend einen Preis darauf, wenn es jemand gäbe, der bessere Schuhe und Fußbekleidungen machen könne. Er nahm keine anderen Arbeiter als die besten und drillte sie noch sehr 190
herum, wenn sie in seiner Werkstätte arbeiteten, daß sie ihm folgten und die Sache so einrichteten, wie er befahl. Wirklich brachte er es jetzt auch dahin, daß nicht nur das ganze Dorf Gschaid, das zum größten Teile die Schusterarbeit aus benachbarten Tälern bezogen hatte, bei ihm arbeiten ließ, daß das ganze Tal bei ihm arbeiten ließ und daß endlich sogar einzelne von Millsdorf und anderen Tälern hereinkamen und sich ihre Fußbekleidungen von dem Schuster in Gschaid machen ließen. Sogar in die Ebene hinaus verbreitete sich sein Ruhm, daß manche, die in die Gebirge gehen wollten, sich die Schuhe dazu von ihm machen ließen. Er richtete das Haus sehr schön zusammen, und in dem Warengewölbe glänzten auf den Brettern die Schuhe, Bundstiefel und Stiefel; und wenn am Sonntage die ganze Bevölkerung des Tales hereinkam und man bei den vier Linden des Platzes stand, ging man gerne zu dem Schusterhause hin und sah durch die Gläser in die Warenstube, wo die Käufer und Besteller waren. Nach seiner Vorliebe zu den Bergen machte er auch jetzt die Gebirgsbundschuhe am besten. Er pflegte in der Wirtsstube zu sagen, es gäbe keinen, der ihm einen fremden Gebirgsbundschuh zeigen könne, der sich mit einem der seinigen vergleichen lasse. »Sie wissen es nicht«, pflegte er beizufügen, »sie haben es in ihrem Leben nicht erfahren, wie ein solcher Schuh sein muß«, daß der gestirnte Himmel der Nägel recht auf der Sohle sitze und das gebüh191
rende Eisen enthalte, daß der Schuh nach außen hart sei, damit kein Geröllstein, wie scharf er auch sei, empfunden werde, und daß er sich von innen doch weich und zärtlich wie ein Handschuh an die Füße lege. Der Schuster hatte sich ein sehr großes Buch machen lassen, in welches er alle verfertigte Ware eintrug, die Namen derer beifügte, die den Stoff geliefert und die Ware gekauft hatten, und eine kurze Bemerkung über die Güte des Erzeugnisses beischrieb. Die gleichartigen Fußbekleidungen hatten ihre fortlaufenden Zahlen, und das Buch lag in der großen Lade seines Gewölbes. Wenn die schöne Färberstochter von Millsdorf auch nicht aus der Eltern Hause kam, wenn sie auch weder Freunde noch Verwandte besuchte, so konnte es der Schuster von Gschaid doch so machen, daß sie ihn von ferne sah, wenn sie in die Kirche ging, wenn sie in dem Garten war und wenn sie aus den Fenstern ihres Zimmers auf die Matten blickte. Wegen dieses unausgesetzten Sehens hatte es die Färberin durch langes, inständiges und ausdauerndes Flehen für ihre Tochter dahin gebracht, daß der halsstarrige Färber nachgab und daß der Schuster, weil er denn nun doch besser geworden, die schöne, reiche Millsdorferin als Eheweib nach Gschaid führte. Aber der Färber war dessenungeachtet auch ein Mann, der seinen Kopf hatte. Ein rechter Mensch, sagte er, müsse sein Gewerbe treiben, daß es blühe und vorwärtskomme, er müsse daher sein Weib, seine Kinder, sich und sein 192
Gesinde ernähren, Hof und Haus im Stande des Glanzes halten und sich noch ein Erkleckliches erübrigen, welches letztere doch allein imstande sei, ihm Ansehen und Ehre in der Welt zu geben; darum erhalte seine Tochter nichts als eine vortreffliche Ausstattung, das andere ist Sache des Ehemanns, daß er es mache und für alle Zukunft es besorge. Die Färberei in Millsdorf und die Landwirtschaft auf dem Färberhause sei für sich ein ansehnliches und ehrenwertes Gewerbe, das seiner Ehre willen bestehen und wozu alles, was da sei, als Grundstock dienen müsse, daher er nichts weggebe. Wenn einmal er und sein Eheweib, die Färberin, tot seien, dann gehöre Färberei und Landwirtschaft in Millsdorf ihrer einzigen Tochter, nämlich der Schusterin in Gschaid, und Schuster und Schusterin könnten dann damit tun, was sie wollten. Aber alles dieses nur, wenn die Erben es wert wären, das Erbe zu empfangen; wären sie es nicht wert, so ging das Erbe auf die Kinder derselben, und wenn keine vorhanden wären, mit Ausnahme des lediglichen Pflichtteils, auf andere Verwandte über. Der Schuster verlangte auch nichts, er zeigte im Stolze, daß es ihm nur um die schöne Färberstochter in Millsdorf zu tun gewesen und daß er sie schon ernähren und erhalten könne, wie sie zu Hause ernährt und erhalten worden ist. Er kleidete sie als sein Eheweib nicht nur schöner als alle Gschaiderinnen und alle Bewohnerinnen des Tales, sondern auch schöner als sie sich je zu Hause getragen hatte, und Speise, Trank und übrige Behandlung mußten besser und rück193
sichtsvoller sein, als sie das gleiche im väterlichen Hause genossen hatte. Und um dem Schwiegervater zu trotzen, kaufte er mit erübrigten Summen nach und nach immer mehr Grundstücke so ein, daß er einen tüchtigen Besitz beisammen hatte. Weil die Bewohner von Gschaid so selten aus ihrem Tale kommen und nicht einmal oft nach Millsdorf hinübergehen, von dem sie durch Bergrücken und durch Sitten geschieden sind, weil ferner ihnen gar kein Fall vorkommt, daß ein Mann sein Tal verläßt und sich in dem benachbarten ansiedelt (Ansiedlungen in großen Entfernungen kommen öfter vor), weil endlich auch kein Weib oder Mädchen gerne von einem Tal in ein anderes auswandert, außer in dem ziemlich seltenen Falle, wenn sie der Liebe folgt und als Eheweib und zu dem Ehemann in ein anderes Tal kommt: so geschah es, daß die schöne Färberstochter von Millsdorf, da sie Schusterin in Gschaid geworden war, doch immer von allen Gschaidern als Fremde angesehen wurde, und wenn man ihr auch nichts Übles antat, ja, wenn man sie ihres schönen Wesens und ihrer Sitten wegen sogar liebte, doch immer etwas vorhanden war, das wie Scheu oder, wenn man will, wie Rücksicht aussah und nicht zu dem Innigen und Gleichartigen kommen ließ, wie Gschaiderinnen gegen Gschaiderinnen, Gschaider gegen Gschaider hatten. Es war so, ließ sich nicht abstellen und wurde dutch die bessere Tracht und durch das erleichterte häusliche Leben der Schusterin noch vermehrt. 194
Sie hatte ihrem Manne nach dem ersten Jahre einen Sohn und in einigen Jahren darauf ein Töchterlein geboren. Sie glaubte aber, daß er die Kinder nicht so liebe, wie sie sich vorstellte, daß es sein solle, und wie sie sich bewußt war, daß sie dieselben liebe; denn sein Angesicht war meistens ernsthaft und mit seinen Arbeiten beschäftigt. Er spielte und tändelte selten mit den Kindern und sprach stets ruhig mit ihnen, gleichsam so, wie man mit Erwachsenen spricht. Was Nahrung und Kleidung und andere äußere Dinge anbelangte, hielt er die Kinder untadelig. In der ersten Zeit der Ehe kam die Färberin öfter nach Gschaid, und die jungen Eheleute besuchten auch Millsdorf zuweilen bei Kirchweihen oder anderen festlichen Gelegenheiten. Als aber die Kinder auf der Welt waren, war die Sache anders geworden. Wenn schon Mütter ihre Kinder lieben und sich nach ihnen sehnen, so ist dieses von Großmuttern öfter in noch höherem Grade der Fall; sie verlangen zuweilen mit wahrlich krankhafter Sehnsucht nach ihren Enkeln. Die Färberin kam sehr oft nach Gschaid herüber, um die Kinder zu sehen, ihnen Geschenke zu bringen, eine Weile dazubleiben und dann mit guten Ermahnungen zu scheiden. Da aber das Alter und die Gesundheitsumstände der Färberin die öfteren Fahrten nicht mehr so möglich machten und der Färber aus dieser Ursache Einsprache tat, wurde auf etwas anderes gesonnen, die Sache wurde umgekehrt, und die Kinder kamen jetzt zur Großmutter. Die Mutter brachte sie selber öfter in einem Wagen, öfter 195
aber wurden sie, da sie noch im zarten Alter waren, eingemummt einer Magd mitgegeben, die sie in einem Fuhrwerke über den Hals brachte. Als sie aber größer waren, gingen sie zu Fuße entweder mit der Mutter oder mit einer Magd nach Millsdorf, ja, da der Knabe geschickt, stark und klug geworden war, ließ man ihn allein den bekannten Weg über den Hals gehen, und wenn es sehr schön war und er bat, erlaubte man auch, daß ihn die kleine Schwester begleite. Dies ist bei den Gschaidern gebräuchlich, weil sie an starkes Fußgehen gewöhnt sind und die Eltern überhaupt, namentlich aber ein Mann wie der Schuster, es gerne sehen und eine Freude daran haben, wenn ihre Kinder tüchtig werden. So geschah es, daß die zwei Kinder den Weg über den Hals öfter zurücklegten als die übrigen Dörfler zusammengenommen, und da schon ihre Mutter in Gschaid immer gewissermaßen wie eine Fremde behandelt wurde, so wurden durch diesen Umstand auch die Kinder fremd, sie waren kaum Gschaider und gehörten halb nach Millsdorf hinüber. Der Knabe Konrad hatte schon das ernste Wesen seines Vaters, und das Mädchen Susanna, nach ihrer Mutter so genannt, oder, wie man es zur Abkürzung nannte, Sanna, hatte viel Glauben zu seinen Kenntnissen, seiner Einsicht und seiner Macht und gab sich unbedingt unter seine Leitung, geradeso, wie die Mutter sich unbedingt unter die Leitung des Vaters gab, dem sie alle Einsicht und Geschicklichkeit zutraute. 196
An schönen Tagen konnte man morgens die Kinder durch das Tal gegen Mittag wandern sehen, über die Wiese gehen und dort anlangen, wo der Wald des Halses gegen sie herschaut. Sie näherten sich dem Walde, gingen auf seinem Wege allgemach über die Erhöhung hinan und kamen, ehe der Mittag eingetreten war, auf den offenen Wiesen auf der andern Seite gegen Millsdorf hinunter. Konrad zeigte Sanna die Wiesen, die dem Großvater gehörten, dann gingen sie durch seine Felder, auf denen er ihr Getreidearten erklärte, dann sahen sie auf Stangen unter dem Vorsprunge des Daches die langen Tücher zum Trocknen herabhängen, die sich im Winde schlängelten oder närrische Gesichter machten, dann hörten sie seine Walkmühle und seinen Lohstampf, die er an seinem Bache für Tuchmacher und Gerber angelegt hatte, dann bogen sie noch um eine Ecke der Felder und gingen in kurzem durch die Hintertür in den Garten der Färberei, wo sie von der Großmutter empfangen wurden. Diese ahnte immer, wenn die Kinder kamen, sah zu den Fenstern aus und erkannte sie von weitem, wenn Sannas rotes Tuch recht in der Sonne leuchtete. Sie führte die Kinder dann durch die Waschstube und Presse in das Zimmer, ließ sie niedersetzen, ließ nicht zu, daß sie Halstücher oder Jäckchen lüfteten, damit sie sich nicht verkühlten, und behielt sie beim Essen da. Nach dem Essen durften sie sich lüften, spielen, durften in den Räumen des großväterlichen Hauses herumgehen oder sonst tun, was sie wollten, 197
wenn es nur nicht unschicklich oder verboten war. Der Färber, welcher immer bei dem Essen war, fragte sie um ihre Schulgegenstände aus und schärfte ihnen besonders ein, was sie lernen sollten. Nachmittags wurden sie von der Großmutter schon, ehe die Zeit kam, zum Aufbruche getrieben, daß sie ja nicht zu spät kämen. Obgleich der Färber keine Mitgift gegeben hatte und vor seinem Tode von seinem Vermögen nichts wegzugeben gelobt hatte, glaubte sich die Färberin an diese Dinge doch nicht so strenge gebunden, und sie gab den Kindern nicht allein während ihrer Anwesenheit allerlei, worunter nicht selten ein Münzstück und zuweilen gar von ansehnlichem Werte war, sondern sie band ihnen auch immer zwei Bündelchen zusammen, in denen sich Dinge befanden, von denen sie glaubte, daß sie notwendig wären oder daß sie den Kindern Freude machen könnten. Und wenn oft die nämlichen Dinge im Schusterhause in Gschaid ohnedem in aller Trefflichkeit vorhanden waren, so gab sie die Großmutter in der Freude des Gebens doch, und die Kinder trugen sie als etwas Besonderes nach Hause. So geschah es nun, daß die Kinder am Heiligen Abend schon unwissend die Geschenke in Schachteln gut versiegelt und verwahrt nach Hause trugen, die ihnen in der Nacht einbeschert werden sollten. Weil die Großmutter die Kinder immer schon vor der Zeit zum Fortgehen drängte, damit sie nicht zu spät nach Hause kämen, so erzielte sie hierdurch, daß die Kinder gerade auf dem Wege bald an dieser, 198
bald an jener Stelle sich aufhielten. Sie saßen gerne an dem Haselnußgehege, das auf dem Halse ist, und schlugen mit Steinen Nüsse auf oder spielten, wenn keine Nüsse waren, mit Blättern oder mit Hölzlein oder mit den weichen, braunen Zäpfchen, die im ersten Frühjahre von den Zweigen der Nadelbäume herabfielen. Manchmal erzählte Konrad dem Schwesterchen Geschichten, oder wenn sie zu der roten Unglückssäule kamen, führte er sie ein Stück auf dem Seitenwege links gegen die Höhen hinan und sagte ihr, daß man da auf den Schneeberg gelange, daß dort Felsen und Steine seien, daß die Gemsen herumspringen und große Vögel fliegen. Er führte sie oft über den Wald hinaus, sie betrachteten dann den dürren Rasen und die kleinen Sträucher der Heidekräuter; aber er führte sie wieder zurück und brachte sie immer vor der Abenddämmerung nach Hause, was ihm stets Lob eintrug. Einmal war am Heiligen Abende, da die erste Morgendämmerung in dem Tale von Gschaid in Helle übergegangen war, ein dünner trockener Schleier über den ganzen Himmel gebreitet, so daß man die ohnedem schiefe und ferne Sonne im Südosten nur als einen undeutlichen roten Fleck sah, überdies war an diesem Tage eine milde, beinahe laulichte Luft unbeweglich im ganzen Tale und auch an dem Himmel, wie die unveränderte und ruhige Gestalt der Wolken zeigte. Da sagte die Schustersfrau zu ihren Kindern: »Weil ein so angenehmer Tag ist, weil es so lange 199
nicht geregnet hat und die Wege fest sind und weil es auch der Vater gestern unter der Bedingung erlaubt hat, wenn der heutige Tag dazu geeignet ist, so dürft ihr zur Großmutter nach Millsdorf gehen; aber ihr müßt den Vater noch vorher fragen.« Die Kinder, welche noch in ihren Nachtkleidchen dastanden, liefen in die Nebenstube, in welcher der Vater mit einem Kunden sprach, und baten um die Wiederholung der gestrigen Erlaubnis, weil ein so schöner Tag sei. Sie wurde ihnen erteilt, und sie liefen wieder zur Mutter zurück. Die Schustersfrau zog nun ihre Kinder vorsorglich an, oder eigentlich, sie zog das Mädchen mit dichten, gut verwahrenden Kleidern an; denn der Knabe begann sich selber anzukleiden und stand viel früher fertig da, als die Mutter mit dem Mädchen hatte ins reine kommen können. Als sie dieses Geschäft vollendet hatte, sagte sie: »Konrad, gib mir wohl acht: weil ich dir das Mädchen mitgehen lasse, so müsset ihr beizeiten fortgehen, ihr müsset an keinem Platze stehenbleiben, und wenn ihr bei der Großmutter gegessen habt, so müsset ihr gleich wieder umkehren und nach Hause trachten; denn die Tage sind jetzt sehr kurz, und die Sonne geht gar bald unter.« »Ich weiß es schon, Mutter«, sagte Konrad. »Und siehe gut auf Sanna, daß sie nicht fällt oder sich erhitzt.« »Ja, Mutter.« »So, Gott behüte euch, und geht noch zum Vater und sagt, daß ihr jetzt fortgeht.« 200
Der Knabe nahm eine von seinem Vater kunstvoll aus Kalbfellen genähte Tasche an einem Riemen um die Schulter, und die Kinder gingen in die Nebenstube, um dem Vater Lebewohl zu sagen. Aus dieser kamen sie bald heraus und hüpften, von der Mutter mit einem Kreuze gesegnet, fröhlich auf die Gasse. Sie gingen schleunig längs des Dorfplatzes hinab und dann durch die Häusergasse und endlich zwischen den Planken der Obstgärten in das Freie hinaus. Die Sonne stand schon über dem mit milchigen Wolkenstreifen durchwobenen Wald der morgendlichen Anhöhen, und ihr trübes rötliches Bild schritt durch die laublosen Zweige der Holzäpfelbäume mit den Kindern fort. In dem ganzen Tale war kein Schnee, die größeren Berge, von denen er schon viele Wochen herabgeglänzt hatte, wurden damit bedeckt, die kleineren standen in dem Mantel ihrer Tannenwälder und im Fahlrot ihrer entblößten Zweige unbeschneit und ruhig da. Der Boden war noch nicht gefroren, und er wäre vermöge der vorhergegangenen langen regenlosen Zeit ganz trocken gewesen, wenn ihn nicht die Jahreszeit mit einer zarten Feuchtigkeit überzogen hätte, die ihn aber nicht schlüpfrig, sondern eher fest und widerprallend machte, daß sie leicht darauf fortgingen. Das wenige Gras, welches noch auf den Wiesen und vorzüglich an den Wassergräben derselben war, stand in herbstlichem Ansehen. Es lag kein Reif und bei näherem Anblicke nicht einmal ein Tau, was 201
nach der Meinung der Landleute baldigen Regen bedeutet. Gegen die Grenzen der Wiesen zu war ein Gebirgsbach, über welchen ein hoher Steg führte. Die Kinder gingen auf den Steg und schauten hinab. Im Bache war schier kein Wasser, ein dünner Faden von sehr stark blauer Farbe ging durch die trockenen Kiesel des Gerölles, die wegen Regenlosigkeit ganz weiß geworden waren, und sowohl die Wenigkeit als auch die Farbe des Wassers zeigten an, daß in den größeren Höhen schon Kälte herrschen müsse, die den Boden verschließe, daß er mit seiner Erde das Wasser nicht trübe, und die das Eis erhärte, daß es in seinem Innern nur wenige klare Tropfen abgeben könne. Von dem Stege liefen die Kinder durch die Gründe fort und näherten sich immer mehr den Waldungen. Sie trafen endlich die Grenze des Holzes und gingen in demselben weiter. Als sie in die höheren Wälder des Halses hinaufgekommen waren, zeigten sich die langen Furchen des Fahrweges nicht mehr weich, wie es unten im Tale der Fall gewesen war, sondern sie waren fest, und zwar nicht aus Trockenheit, sondern, wie die Kinder sich bald überzeugten, weil sie zugefroren waren. An manchen Stellen waren sie so überfroren, daß sie die Körper der Kinder trugen. Nach der Natur der Kinder gingen sie nun nicht mehr auf dem glatten Pfade neben dem Fahrwege, sondern in den Gleisen, und versuchten, ob dieser oder jener Furchenaufwurf sie 202
schon trage. Als sie nach Verlauf einer Stunde auf der Höhe des Halses angekommen waren, war der Boden bereits so hart, daß er klang und Schollen wie Steine hatte. An der roten Unglückssäule des Bäckers bemerkte Sanna zuerst, daß sie heute gar nicht dastehe. Sie gingen zu dem Platze hinzu und sahen, daß der runde, rot angestrichene Balken, der das Bild trug, in dem dürren Grase liege, das wie dünnes Stroh an der Stelle stand und den Anblick der liegenden Säule verdeckte. Sie sahen zwar nicht ein, warum die Säule liege, ob sie umgeworfen worden oder ob sie von selber umgefallen sei, das sahen sie, daß sie an der Stelle, wo sie in die Erde ragte, sehr morsch war und daß sie daher sehr leicht habe umfallen können; aber da sie einmal lag, so machte es ihnen Freude, daß sie das Bild und die Schrift so nahe betrachten konnten, wie es sonst nie der Fall gewesen war. Als sie alles – den Korb mit den Semmeln, die bleichen Hände des Bäckers, seine geschlossenen Augen, seinen grauen Rock und die umstehenden Tannen – betrachtet hatten, als sie die Schrift gelesen und laut gesagt hatten, gingen sie wieder weiter. Abermals nach einer Stunde wichen die dunklen Wälder zu beiden Seiten zurück, dünnstehende Bäume, teils einzelne Eichen, teils Birken, und Gebüschgruppen empfingen sie, geleiteten sie weiter, und nach kurzem liefen sie auf den Wiesen in das Millsdorfer Tal hinab. Obwohl dieses Tal bedeutend tiefer liegt als das 203
von Gschaid und auch um so viel wärmer war, daß man die Ernte immer um vierzehn Tage früher beginnen konnte als in Gschaid, so war doch auch hier der Boden gefroren, und als die Kinder bis zu den Loh- und Walkwerken des Großvaters gekommen waren, lagen auf dem Wege, auf den die Räder oft Tropfen herausspritzten, schöne Eistäfelchen. Den Kindern ist das gewöhnlich ein sehr großes Vergnügen. Die Großmutter hatte sie kommen gesehen, war ihnen entgegengegangen, nahm Sanna bei den erfrorenen Händchen und führte sie in die Stube. Sie nahm ihnen die wärmeren Kleider ab, sie ließ in dem Ofen nachlegen und fragte sie, wie es ihnen im Herübergehen gegangen sei. Als sie hierauf die Antwort erhalten hatte, sagte sie: »Das ist schon recht, das ist gut, es freut mich gar sehr, daß ihr wieder gekommen seid; aber heute müßt ihr bald fort, der Tag ist kurz, und es wird auch kälter, am Morgen war es in Millsdorf nicht gefroren.« »In Gschaid auch nicht«, sagte der Knabe. »Siehst du, darum müßt ihr euch sputen, daß euch gegen Abend nicht zu kalt wird«, antwortete die Großmutter. Hierauf fragte sie, was die Mutter mache, was der Vater mache, und ob nichts Besonderes in Gschaid geschehen sei. Nach diesen Fragen bekümmerte sie sich um das Essen, sorgte, daß es früher bereitet wurde als ge204
wöhnlich, und richtete selber den Kindern kleine Leckerbissen zusammen, von denen sie wußte, daß sie eine Freude damit erregen würde. Dann wurde der Färber gerufen, die Kinder bekamen an dem Tisch aufgedeckt wie große Personen und aßen nun mit Großvater und Großmutter, und die letzte legte ihnen hierbei besonders Gutes vor. Nach dem Essen streichelte sie Sannas unterdessen sehr rot gewordene Wangen. Hierauf ging sie geschäftig hin und her und steckte das Kalbfellränzchen des Knaben voll und steckte ihm noch allerlei in die Taschen. Auch in die Täschchen von Sanna tat sie allerlei Dinge. Sie gab jedem ein Stück Brot, es auf dem Wege zu verzehren, und in dem Ränzchen, sagte sie, seien noch zwei Weißbrote, wenn etwa der Hunger zu groß würde. »Für die Mutter habe ich einen gutgebrannten Kaffee mitgegeben«, sagte sie, »und in dem Fläschchen, das zugestopft und gut verbunden ist, befindet sich auch ein schwarzer Kaffeeaufguß, ein besserer, als die Mutter bei euch gewöhnlich macht, sie soll ihn nur kosten, wie er ist, er ist eine wahre Arznei, so kräftig, daß nur ein Schlückchen den Magen so wärmt, daß es den Körper in den kältesten Wintertagen nicht frieren kann. Die anderen Sachen, die in der Schachtel und in den Papieren im Ränzchen sind, bringt unversehrt nach Hause.« Da sie noch ein Weilchen mit den Kindern geredet hatte, sagte sie, daß sie gehen sollten. »Habe acht, Sanna«, sagte sie, »daß du nicht 205
frierst, erhitze dich nicht; und daß ihr nicht über die Wiesen hinauf und unter den Bäumen lauft. Kommt etwa gegen Abend ein Wind, da müßt ihr langsamer gehen. Grüßet Vater und Mutter und sagt, sie sollen recht glückliche Feiertage haben.« Die Großmuttter küßte beide Kinder auf die Wangen und schob sie durch die Tür hinaus. Nichtsdestoweniger ging sie aber auch selber mit, geleitete sie durch den Garten, ließ sie durch das Hinterpförtchen hinaus, schloß wieder und ging in das Haus zurück. Die Kinder gingen an den Eistäfelchen neben den Werken des Großvaters vorbei, sie gingen durch die Millsdorfer Felder und wendeten sich gegen die Wiesen hinan. Als sie auf den Anhöhen gingen, wo, wie gesagt wurde, zerstreute Bäume und Gebüschgruppen standen, fielen äußerst langsam einzelne Schneeflokken. »Siehst du, Sanna«, sagte der Knabe, »habe ich es gleich gedacht, daß wir Schnee bekommen; weißt du, da wir von Hause weggingen, sahen wir noch die Sonne, die so blutrot war wie eine Lampe bei dem Heiligen Grabe, und jetzt ist nichts mehr von ihr zu erblicken, und nur der graue Nebel ist über den Baumwipfeln oben. Das bedeutet allemal Schnee.« Die Kinder gingen freudiger fort, und Sanna war recht froh, wenn sie mit dem dunkeln Ärmel ihres Röckchens eine der fallenden Flocken auffangen konnte, und wenn dieselbe recht lange nicht auf dem 206
Ärmel zerfloß. Als sie endlich an dem äußersten Rand der Millsdorfer Höhen angekommen waren, wo es gegen die dunkeln Tannen des Halses hineingeht, war die dichte Waldwand schon recht lieblich gesprenkelt von den immer reichlicher herabfallenden Flocken. Sie gingen nunmehr in den dicken Wald hinein, der den größten Teil ihrer noch bevorstehenden Wanderung einnahm. Es geht von dem Waldrande noch immer aufwärts, und zwar bis man zur roten Unglückssäule kommt, von wo sich, wie schon oben angedeutet wurde, der Weg gegen das Tal von Gschaid hinabwendet. Die Erhebung des Waldes von der Millsdorfer Seite ist sogar so steil, daß der Weg nicht gerade hinangeht, sondern daß er in sehr langen Abweichungen von Abend nach Morgen und von Morgen nach Abend hinanklimmt. An der ganzen Länge des Weges hinauf zur Säule und hinab bis zu den Wiesen von Gschaid sind hohe, dichte, ungelichtete Waldbestände, und sie werden erst ein wenig dünner, wenn man in die Ebene gelangt ist und gegen die Wiesen des Tales von Gschaid hinauskommt. Der Hals ist auch, wenn er gleich nur eine kleine Verbindung zwischen zwei großen Gebirgshäuptern abgibt, doch selbst so groß, daß er, in die Ebene gelegt, einen bedeutenden Gebirgsrücken abgeben würde. Das erste, was die Kinder sahen, als sie die Waldung betraten, war, daß der gefrorene Boden sich grau zeigte, als ob er mit Mehl besät wäre, daß die Fahne manches dünnen Halmes des am Wege hin 207
und zwischen den Bäumen stehenden dürren Grases mit Flocken beschwert war und daß auf den verschiedenen grünen Zweigen der Tannen und Fichten, die sich wie Hände öffneten, schon weiße Fläumchen saßen. »Schneit es denn jetzt bei dem Vater zu Hause auch?« fragte Sanna. »Freilich«, antwortete der Knabe, »es wird auch kälter, und du wirst sehen, daß morgen der ganze Teich gefroren ist.« »Ja, Konrad«, sagte das Mädchen. Es verdoppelte beinahe seine kleinen Schritte, um mit denen des dahinschreitenden Knaben gleichbleiben zu können. Sie gingen nun rüstig in den Windungen fort, jetzt von Abend nach Morgen, jetzt von Morgen nach Abend. Der von der Großmutter vorausgesagte Wind stellte sich nicht ein, im Gegenteile war es so stille, daß sich nicht ein Ästchen oder Zweig rührte, ja, es schien sogar im Walde wärmer, wie es in lockeren Körpern, dergleichen ein Wald auch ist, immer im Winter zu sein pflegt, und die Schneeflocken fielen stets reichlicher, so daß der ganze Boden schon weiß war, daß der Wald sich grau zu bestäuben anfing und daß auf dem Hute und den Kleidern des Knaben sowie auf denen des Mädchens der Schnee lag. Die Freude der Kinder war sehr groß. Sie traten auf den weichen Flaum, suchten mit dem Fuße absichtlich solche Stellen, wo er dichter zu liegen 208
schien, um dorthin zu treten und sich den Anschein zu geben, als wateten sie bereits. Sie schüttelten den Schnee nicht von den Kleidern ab. Es war große Ruhe eingetreten. Von den Vögeln, deren doch manche zuweilen im Winter in dem Walde hin und her fliegen, und von denen die Kinder im Herübergehen sogar mehrere zwitschern gehört hatten, war nichts zu vernehmen, sie sahen auch keine auf irgendeinem Zweige sitzen oder fliegen, und der ganze Wald war gleichsam ausgestorben. Weil nur die bloßen Fußstapfen der Kinder hinter ihnen blieben und weil vor ihnen der Schnee rein und unverletzt war, so war daraus zu erkennen, daß sie die einzigen waren, die heute über den Hals gingen. Sie gingen in ihrer Richtung fort, sie näherten sich öfter den Bäumen, öfter entfernten sie sich, und wo dichtes Unterholz war, konnten sie den Schnee auf den Bäumen liegen sehen. Ihre Freude wuchs noch immer; denn die Flocken fielen stets dichter, und nach kurzer Zeit brauchten sie nicht mehr den Schnee aufzusuchen, um in ihm zu waten; denn er lag schon so dicht, daß sie ihn überall weich unter den Sohlen empfanden und daß er sich bereits um ihre Schuhe zu legen begann; und wenn es so ruhig und heimlich war, so war es, als ob sie das Knistern des in die Nadeln herabfallenden Schnees vernehmen könnten. »Werden wir heute auch die Unglückssäule sehen?« fragte das Mädchen. »Sie ist ja umgefallen, und 209
da wird es daraufschneien, und da wird die rote Farbe weiß sein.« »Darum können wir sie doch sehen«, antwortete der Knabe. »Wenn auch der Schnee auf sie fällt, und wenn sie auch weiß ist, so müssen wir sie liegen sehen, weil sie eine dicke Säule ist und weil sie das schwarze eiserne Kreuz auf der Spitze hat, das doch immer herausragen wird.« »Ja, Konrad.« Indessen, da sie noch weiter gegangen waren, war der Schneefall so dicht geworden, daß sie nur mehr die allernächsten Bäume sehen konnten. Von der Härte des Weges oder gar von Furchenaufwerfungen war nichts zu empfinden, der Weg war vom Schnee überall gleich weich und war überhaupt nur daran zu erkennen, daß er als ein gleichmäßiger weißer Streifen in dem Walde fortlief. Auf allen Zweigen lag schon die schöne weiße Hülle. Die Kinder gingen jetzt mitten auf dem Wege, sie fürchten den Schnee mit ihren Füßlein und gingen langsamer, weil das Gehen beschwerlich ward. Der Knabe zog seine Jacke empor an dem Halse zusammen, damit ihm nicht der Schnee in den Nacken falle, und er setzte den Hut tiefer in das Haupt, daß er geschützter sei. Er zog auch seinem Schwesterlein das Tuch, das ihm die Mutter um die Schultern gegeben hatte, fester zusammen und zog es ihm mehr vorwärts in die Stirne, daß es ein Dach bilde. Der von der Großmutter vorausgesagte Wind war noch immer nicht gekommen; aber dafür wurde der 210
Schneefall nach und nach so dicht, daß auch nicht mehr die nächsten Bäume zu erkennen waren, sondern daß sie wie neblige Säcke in der Luft standen. Die Kinder gingen fort. Sie duckten die Köpfe dichter in ihre Kleider und gingen fort. Sanna nahm die Riemen, an welchem Konrad die Kalbfelltasche um die Schulter hängen hatte, mit den Händen, hielt sich daran, und so gingen sie ihres Weges. Die Unglückssäule hatten sie noch immer nicht erreicht. Der Knabe konnte die Zeit nicht ermessen, weil keine Sonne am Himmel stand und weil es immer gleichmäßig grau war. »Werden wird bald zu der Unglückssäule kommen?« fragte Sanna. »Ich weiß es nicht«, antwortete der Knabe, »ich kann heute die Bäume nicht sehen und den Weg nicht erkennen, weil er so weiß ist. Die Unglückssäule werden wir wohl gar nicht sehen, weil so viel Schnee liegen wird, daß sie verhüllt sein wird und daß kaum ein Gräschen oder ein Arm des schwärzen Kreuzes hervorragen wird. Aber es macht nichts. Wir gehen immer auf dem Wege fort, der Weg geht zwischen den Bäumen, und wenn er zu dem Platze der Unglückssäule kommt, dann wird er abwärts gehen, wir gehen auf ihm fort, und wenn er aus den Bäumen hinausgeht, dann sind wir schon auf den Wiesen von Gschaid, dann kommt der Steg, und dann haben wir nicht mehr weit nach Hause.« »Ja, Konrad«, sagte das Mädchen. 211
Sie gingen auf ihrem aufwärts führenden Wege fort. Die hinter ihnen liegenden Fußstapfen waren jetzt nicht mehr lange sichtbar; denn die ungemeine Fülle des herabfallenden Schnees deckte sie bald zu, daß sie verschwanden. Der Schnee knisterte in seinem Falle nun auch nicht mehr in den Nadeln, sondern legte sich eilig und heimlich auf die weiße schon daliegende Decke nieder. Die Kinder nahmen die Kleider noch fester, um das immerwährende allseitige Hineinrieseln abzuhalten. Sie gingen sehr schleunig, und der Weg führte noch stets aufwärts. – Nach langer Zeit war noch immer die Höhe nicht erreicht, auf welcher die Unglückssäule stehen sollte und von wo der Weg gegen die Gschaider Seite sich hinunterwenden mußte. Endlich kamen die Kinder in eine Gegend, in welcher keine Bäume standen. »Ich sehe keine Bäume mehr«, sagte Sanna. »Vielleicht ist nur der Weg so breit, daß wir sie wegen des Schnees nicht sehen können«, antwortete der Knabe. »Ja, Konrad«, sagte das Mädchen. Nach einer Weile blieb der Knabe stehen und sagte: »Ich sehe selber keine Bäume mehr, wir müssen aus dem Walde gekommen sein, auch geht der Weg immer bergan. Wir wollen ein wenig stehenbleiben und herumsehen, vielleicht erblicken wir etwas.« Aber sie erblickten nichts. Sie sahen durch einen trüben Raum in den Himmel. Wie bei dem Hagel über die weißen oder grünlich gedunsenen Wolken 212
die finsteren fransenartigen Streifen herabstarren, so war es hier, und das stumme Schütten dauerte fort. Auf der Erde sahen sie nur einen runden Fleck Weiß und dann nichts mehr. »Weißt du, Sanna«, sagte der Knabe, »wir sind auf dem dürren Grase, auf welches ich dich oft im Sommer heraufgeführt habe, wo wir saßen und wo wir den Rasen betrachteten, der nacheinander hinaufgeht, und wo die schönen Kräuterbüschel wachsen. Wir werden da jetzt gleich rechts hinabgehen.« »Ja, Konrad.« »Der Tag ist kurz, wie die Großmutter gesagt hat und wie du auch wissen wirst, wir müssen uns daher sputen.« »Ja, Konrad«, sagte das Mädchen. »Warte ein wenig, ich will dich besser einrichten«, erwiderte der Knabe. Er nahm seinen Hut ab, setzte ihn Sanna auf das Haupt und befestigte ihn mit den beiden Bändchen unter ihrem Kinn. Das Tüchlein, welches sie umhatte, schützte sie zu wenig, während auf seinem Haupte eine solche Menge dichter Locken war, daß noch lange Schnee darauf fallen konnte, ehe Nässe und Kälte durchzudringen vermochten. Dann zog er sein Pelzjäckchen aus und zog dasselbe über die Ärmelein der Schwester. Um seine eigenen Schultern und Arme, die jetzt das bloße Hemd zeigten, band er das kleine Tüchlein, das Sanna über der Brust, und das größere, das sie über den Schultern gehabt hatte. Das sei für ihn 213
genug, dachte er, wenn er nur stark auftrete, werde ihn nicht frieren. Er nahm das Mädchen bei der Hand, und so gingen sie jetzt fort. Das Mädchen schaute mit den willigen Äuglein in das ringsum herrschende Grau und folgte ihm gerne, nur daß es mit den kleinen eilenden Füßlein nicht so nachkommen konnte, wie er vorwärts strebte, gleich einem, der es zur Entscheidung bringen wollte. Sie gingen nun mit der Unablässigkeit und Kraft, die Kinder und Tiere haben, weil sie nicht wissen, wieviel ihnen beschieden ist und wann ihr Vorrat erschöpft ist. Aber wie sie gingen, so konnten sie nicht merken, ob sie über den Berg hinabkamen oder nicht. Sie hatten gleich rechts nach abwärts gebogen, allein, sie kamen wieder in Richtungen, die bergan führen. Oft begegneten ihnen Steilheiten, denen sie ausweichen mußten, und ein Graben, in dem sie fortgingen, führte sie in einer Krümmung herum. Sie erklommen Höhen, die sich unter ihren Füßen steiler gestalteten, als sie dachten, und was sie für abwärts hielten, war wieder eben, oder es war eine Höhlung, oder es ging immer gedehnt fort. »Wo sind wir denn, Konrad?« fragte das Mädchen. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Wenn ich nur mit diesen meinen Augen etwas zu erblicken imstande wäre«, fuhr er fort, »daß ich mich danach richten könnte.« Aber es war rings um sie nichts als das blendende 214
Weiß, überall das Weiß, das aber selber nur einen immer kleineren Kreis um sie zog und dann in einen lichten streifenweise niederfallenden Nebel überging, der jedes Weitere verzehrte und verhüllte und zuletzt nichts anderes war als der unersättlich fallende Schnee. »Warte, Sanna«, sagte der Knabe, »wir wollen ein wenig stehenbleiben und horchen, ob wir nicht etwas hören können was sich im Tale meldet, sei es nun ein Hund oder eine Glocke oder die Mühle, oder sei es ein Ruf, der sich hören läßt, hören müssen wir etwas, und dann werden wir wissen, wohin wir zu gehen haben.« Sie blieben nun stehen, aber sie hörten nichts. Sie blieben noch ein wenig länger stehen, aber es meldete sich nichts, es war nicht ein einziger Laut, auch nicht der leiseste außer ihrem Atem zu vernehmen, ja, in der Stille, die herrschte, war es, als sollten sie den Schnee hören, der auf ihre Wimpern fiel. Die Voraussage der Großmutter hatte sich noch immer nicht erfüllt, der Wind war nicht gekommen, ja, was in diesen Gegenden selten ist: nicht das leiseste Lüftchen rührte sich an dem ganzen Himmel. Nachdem sie lange gewartet hatten, gingen sie wieder fort. »Es tut auch nichts, Sanna«, sagte der Knabe, »sei nur nicht verzagt, folge mir, ich werde dich doch noch hinüberführen. – Wenn nur das Schneien aufhörte!« Sie war nicht verzagt, sondern hob die Füßchen, 215
so gut es gehen wollte, und folgte ihm. Er führte sie in dem weißen, lichten, regsamen undurchsichtigen Räume fort. Nach einer Weile sahen sie Felsen. Sie hoben sich dunkel und undeutlich aus dem weißen und undurchsichtigen Lichte empor. Da die Kinder sich näherten, stießen sie fast daran. Sie stiegen wie eine Mauer hinauf und waren ganz gerade, so daß kaum ein Schnee an ihrer Seite haften konnte. »Sanna, Sanna«, sagte er, »da sind die Felsen, gehen wir nur weiter, gehen wir weiter.« Sie gingen weiter, sie mußten zwischen die Felsen hinein und unter ihnen fort. Die Felsen ließen sie nicht rechts und nicht links ausweichen und führten sie in einem engen Wege dahin. Nach einer Zeit verloren sie dieselben wieder und konnten sie nicht mehr erblicken. So, wie sie unversehens unter sie gekommen waren, kamen sie wieder unversehens von ihnen. Es war wieder nichts um sie als das Weiß, und ringsum war kein unterbrechendes Dunkel zu schauen. Es schien eine große Lichtfülle zu sein, und doch konnte man nicht drei Schritte vor sich sehen; alles war, wenn man so sagen darf, in eine einzige weiße Finsternis gehüllt, und weil kein Schatten war, so war kein Urteil über die Größe der Dinge, und die Kinder konnten nicht wissen, ob sie aufwärts oder abwärts gehen würden, bis eine Steilheit ihren Fuß faßte und ihn aufwärts zu gehen zwang. »Mir tun die Augen weh«, sagte Sanna. »Schaue nicht auf den Schnee«, antwortete der 216
Knabe, »sondern in die Wolken. Mir tun sie schon lange weh; aber es tut nichts, ich muß doch auf den Schnee schauen, weil ich auf den Weg zu achten habe. Fürchte dich nur nicht, ich führe dich doch hinunter ins Gschaid.« »Ja, Konrad.« Sie gingen wieder fort; aber wie sie auch gehen mochten, wie sie sich auch wenden mochten, es wollte kein Anfang zum Hinabwärtsgehen kommen. An beiden Seiten waren steile Dachlehnen nach aufwärts, mitten gingen sie fort, aber auch immer aufwärts. Wenn sie den Dachlehnen entrannen und sie nach abwärts beugten, wurde es gleich so steil, daß sie wieder umkehren mußten, die Füßlein stießen oft auf Unebenheiten, und sie mußten häufig Büheln ausweichen. Sie merkten auch, daß ihr Fuß, wo er tiefer durch den jungen Schnee einsank, nicht erdigen Boden unter sich empfand, sondern etwas anderes, das wie alter gefrorener Schnee war, aber sie gingen immerfort, und sie liefen mit Hast und Ausdauer. Wenn sie stehenblieben, war alles still, unermeßlich still; wenn sie gingen, hörten sie das Rascheln ihrer Füße, sonst nichts; denn die Hüllen des Himmels sanken ohne Laut hernieder, und so reich, daß man den Schnee hätte wachsen sehen können. Sie selber waren so bedeckt, daß sie sich von dem allgemeinen Weiß nicht hervorhoben und sich, wenn sie um ein paar Schritte getrennt worden wären, nicht mehr gesehen hätten. Eine Wohltat war es, daß der Schnee so trocken 217
war wie Sand, so daß er von ihren Füßen und den Bundschühlein und Strümpfen daran leicht abglitt und abrieselte, ohne Ballen und Nässe zu machen. – Endlich gelangten sie wieder zu Gegenständen. Es waren riesenhaft große, sehr durcheinander liegende Trümmer, die mit Schnee bedeckt waren, der überall in die Klüfte hineinrieselte und an die sie sich ebenfalls fast anstießen, ehe sie sie sahen. Sie gingen ganz hinzu, die Dinge anzublicken. Es war Eis – lauter Eis. Es lagen Platten da, die mit Schnee bedeckt waren, an deren beiden Seitenwänden aber das glatte grünliche Eis sichtbar war, es lagen Hügel da, die wie zusammengeschobener Schaum aussahen, an deren Seiten es aber matt nach einwärts flimmerte und glänzte, als wären Balken und Stangen von Edelsteinen durcheinandergeworfen worden, es lagen ferner gerundete Kugeln da, die ganz mit Schnee umhüllt waren, es standen Platten und andere Körper auch schief oder gerade aufwärts, so hoch wie der Kirchturm in Gschaid oder wie Häuser. In einigen waren Höhlen eingefressen, durch die man mit einem Arme durchfahren konnte, mit einem Kopfe, mit einem Körper, mit einem ganzen großen Wagen voll Heu. Alle diese Stücke waren zusammen- oder emporgedrängt und starrten, so daß sie oft Dächer bildeten oder Überhänge, über deren Ränder sich der Schnee herüberlegte und herabgriff wie lange weiße Tatzen. Selbst ein großer, schreckhaft schwarzer Stein, wie ein Haus, lag unter dem Else und war emporgestellt, 218
daß er auf der Spitze stand, daß kein Schnee an seinen Seiten liegenbleiben konnte. Und nicht dieser Stein allein – noch mehrere und größere staken in dem Else, die man erst später sah und die wie eine Trümmermauer an ihm hingingen. »Da muß recht viel Wasser gewesen sein, weil soviel Eis ist«, sagte Sanna. »Nein, das ist von keinem Wasser«, antwortete der Bruder, »das ist das Eis des Berges, das immer oben ist, weil es so eingerichtet ist.« – »Ja, Konrad«, sagte Sanna. »Wir sind jetzt bis zu dem Else gekommen«, sagte der Knabe, »wir sind auf dem Berge, Sanna, weißt du, den man von unserem Garten aus im Sonnenscheine so weiß sieht. Merke gut auf, was ich dir sagen werde. Erinnerst du dich noch, wie wir oft nachmittags in dem Garten saßen, wie es recht schön war, wie die Bienen um uns summten, die Linden dufteten und die Sonne von dem Himmel schien?« »Ja, Konrad, ich erinnere mich.« »Da sahen wir auch den Berg. Wir sahen, wie er so blau war, so blau wie das sanfte Firmament, wir sahen den Schnee, der oben ist, wenn auch bei uns Sommer war, eine Hitze herrschte und die Getreide reif wurden.« »Ja, Konrad.« »Und unten, wo der Schnee aufhört, da sieht man allerlei Farben, wenn man genau schaut, grün, blau, weißlich – das ist das Eis, das unten nur so klein ausschaut, weil man sehr weit entfernt ist, und das, wie 219
der Vater sagte, nicht weggeht bis an das Ende der Welt. Und da habe ich oft gesehen, daß unterhalb des Eises die blaue Farbe noch fortgeht, das werden Steine sein, dachte ich, oder es wird Erde und Weidegrund sein, und dann fangen die Wälder an, die gehen herab und immer weiter herab, man sieht auch allerlei Felsen in ihnen, dann folgen die Wiesen, dann kommen unsere Wiesen und Felder, die in dem Tale von Gschaid sind. Siehst du nun, Sanna, weil wir jetzt bei dem Else sind, so werden wir über die blaue Farbe hinabgehen, dann durch die Wälder, in denen die Felsen sind, dann über die Wiesen, die schon grün sind, und dann durch die grünen Laubwälder, und dann werden wir in dem Tale von Gschaid sein und recht leicht unser Dorf finden.« »Ja, Konrad«, sagte das Mädchen. Die Kinder gingen nun in das Eis hinein, wo es zugänglich war. Sie waren winzige kleine wandelnde Punkte in diesen ungeheuren Stücken. Wie sie so unter die Überhänge hineinsahen, gleichsam, als gäbe ihnen ein Trieb ein, ein Obdach zu suchen, gelangten sie in einen Graben, in einen breiten tiefgefurchten Graben, der gerade aus dem Else hervorging. Er sah aus wie das Bett eines Stromes, der aber jetzt ausgetrocknet und überall mit frischem Schnee bedeckt war. Wo er aus dem Else hervorkam, ging er gerade unter einem Kellergewölbe heraus, das recht schön aus Eis über ihn gespannt war. Die Kinder gingen in dem Graben fort und gingen in das Gewölbe hinein und immer tiefer hinein. 220
Es war ganz trocken, und unter ihren Füßen hatten sie glattes Eis. In der ganzen Höhlung aber war es blau, so blau, wie gar nichts in der Welt ist, viel tiefer und viel schöner blau als das Firmament, gleichsam wie himmelblau gefärbtes Glas, durch welches lichter Schein hineinsinkt. Es waren dickere und dünnere Bogen, es hingen Zacken, Spitzen und Troddeln herab, der Gang wäre noch tiefer zurückgegangen, sie wußten nicht wie tief, aber sie gingen nicht mehr weiter. Es wäre auch sehr gut in der Höhle gewesen, es war warm, es fiel kein Schnee, aber es war so schreckhaft blau, die Kinder fürchteten sich und gingen wieder hinaus. Sie gingen eine Weile in dem Graben fort und kletterten dann über seinen Rand hinaus. Sie gingen an dem Else hin, sofern es möglich war, durch das Getrümmer und zwischen den Platten durchzudringen. »Wir werden jetzt da noch hinübergehen und dann von dem Else abwärts laufen«, sagte Konrad. »Ja«, sagte Sanna und klammerte sich an ihn an. Sie schlugen von dem Else eine Richtung durch den Schnee abwärts ein, die sie in das Tal führen sollte. Aber sie kamen nicht weit hinab. Ein neuer Strom von Eis, gleichsam ein riesenhaft aufgetürmter und aufgewölbter Wall, lag quer durch den weichen Schnee und griff gleichsam mit Armen rechts und links um sie herum. Unter der weißen Decke, die ihn verhüllte, glimmerte es seitwärts grünlich und bläulich und dunkel und schwarz und selbst gelblich und 221
rötlich heraus. Sie konnten es nun auf weitere Strekken sehen, weil das ungeheure und unermüdliche Schneien sich gemildert hatte und nur mehr wie an gewöhnlichen Schneetagen vom Himmel fiel. Mit dem Starkmute der Unwissenheit kletterten sie in das Eis hinein, um den vorgeschobenen Strom desselben zu überschreiten und dann jenseits hinabzukommen. Sie schoben sich in die Zwischenräume hinein, sie setzten den Fuß auf jedes Körperstück, das mit einer weißen Schneehaube versehen war, war es Fels oder Eis, sie nahmen die Hände zu Hilfe, krochen, wo sie nicht gehen konnten, und arbeiteten sich mit ihren leichten Körpern hinauf, bis sie die Seite des Walles überwunden hatten und oben waren. Jenseits wollten sie wieder hinabklettern. Aber es gab kein Jenseits. So weit die Augen der Kinder reichen konnten, war lauter Eis. Es standen Spitzen und Unebenheiten und Schollen empor wie lauter furchtbares überschneites Eis. Statt ein Wall zu sein, über den man hinübergehen könnte und der dann wieder von Schnee abgelöst wurde, wie sie sich unten dachten, stiegen aus der Wölbung neue Wände von Eis empor, geborsten und geklüftet, mit unzähligen blauen geschlängelten Linien versehen, und hinter ihnen waren wieder solche Wände, und hinter diesen wieder solche, bis der Schneefall das Weitere mit seinem Grau verdeckte. »Sanna, da können wir nicht gehen«, sagte der Knabe. 222
»Nein«, antwortete die Schwester. »Da werden wir wieder umkehren und anderswo hinabzukommen suchen.« »Ja, Konrad.« Die Kinder suchten nun von dem Eiswalle wieder hinabzukommen, wo sie hinaufgeklettert waren, aber sie kamen nicht hinab. Es war lauter Eis, als hätten sie die Richtung, in der sie gekommen waren, verfehlt. Sie wandten sich hierhin und dorthin und konnten aus dem Else nicht herauskommen, als wären sie von ihm umschlungen. Sie kletterten abwärts und kamen wieder in Eis. Endlich, da der Knabe die Richtung immer verfolgte, in der sie nach seiner Meinung gekommen waren, gelangten sie in zerstreutere Trümmer, aber sie waren auch größer und furchtbarer, wie sie gerne am Rande des Eises zu sein pflegen, und die Kinder gelangten kriechend und kletternd hinaus. An dem Eisessaume waren ungeheure Steine, sie waren gehäuft, wie sie die Kinder ihr Leben lang nicht gesehen hatten. Viele waren in Weiß gehüllt, viele zeigten die unteren schiefen Wände sehr glatt und fein geschliffen, als wären sie daraufgeschoben worden, viele waren wie Hütten und Dächer gegeneinandergestellt, viele lagen aufeinander wie ungeschlachte Knollen. Nicht weit von dem Standorte der Kinder standen mehrere mit den Köpfen gegeneinandergelehnt, und über ihnen lagen breite gelagerte Blöcke wie ein Dach. Es war ein Häuschen, das gebildet war, das gegen vorne offen, rückwärts und an den Seiten aber geschützt war. Im 223
Innern war es trocken, da der steilrechte Schneefall keine einzige Flocke hineingetragen hatte. Die Kinder waren recht froh, daß sie nicht mehr in dem Else waren und auf ihrer Erde standen. Aber es war auch endlich finster geworden. »Sanna«, sagte der Knabe, »wir können nicht mehr hinabgehen, weil es Nacht geworden ist und weil wir fallen oder gar in eine Grube geraten könnten. Wir werden da unter die Steine hineingehen, wo es so trocken und so warm ist, und da werden wir warten. Die Sonne geht bald wieder auf, dann laufen wir hinunter. Weine nicht, ich bitte dich recht schön, weine nicht, ich gebe dir alle Dinge zu essen, welche uns die Großmutter mitgegeben hat.« Sie weinte auch nicht, sondern nachdem sie beide unter das steinerne Überdach hineingegangen waren, wo sie nicht nur bequem sitzen, sondern auch stehen und herumgehen konnten, setzte sie sich recht dicht an ihn und war mäuschenstille. »Die Mutter«, sagte Konrad, »wird nicht böse sein, wir werden ihr von dem vielen Schnee erzählen, der uns aufgehalten hat, und sie wird nichts sagen; der Vater auch nicht. Wenn uns kalt wird – weißt du –, dann mußt du mit den Händen an deinen Leib schlagen, wie die Holzhauer getan haben, und dann wird dir wärmer werden.« »Ja, Konrad«, sagte das Mädchen. Sanna war nicht gar so untröstlich, daß sie heute nicht mehr über den Berg hinabgingen und nach Hause liefen, wie er etwa glauben mochte; denn die 224
unermeßliche Anstrengung, von der die Kinder nicht einmal gewußt hatten, wie groß sie gewesen sei, ließ ihnen das Sitzen süß, unsäglich süß erscheinen, und sie gaben sich hin. Jetzt machte sich aber auch der Hunger geltend. Beide nahmen fast zu gleicher Zeit ihre Brote aus den Taschen und aßen sie. Sie aßen auch die Dinge – kleine Stückchen Kuchen, Mandeln und Nüsse und andere Kleinigkeiten –, die die Großmutter ihnen in die Tasche gesteckt hatte. »Sanna, jetzt müssen wir aber auch den Schnee von unseren Kleidern tun«, sagte der Knabe, »daß wir nicht naß werden.« »Ja, Konrad«, erwiderte Sanna. Die Kinder gingen aus ihrem Häuschen, und zuerst reinigte Konrad das Schwesterlein vom Schnee. Er nahm die Kleiderzipfel, schüttelte sie, nahm ihr den Hut ab, den er ihr aufgesetzt hatte, entleerte ihn vom Schnee, und was noch zurückgeblieben war, das stäubte er mit einem Tuche ab. Dann entledigte er auch sich, so gut es ging, des auf ihm liegenden Schnees. Der Schneefall hatte zu dieser Stunde ganz aufgehört. Die Kinder spürten keine Flocke. Sie gingen wieder in die Steinhütte und setzten sich nieder. Das Aufstehen hatte ihnen ihre Müdigkeit erst recht gezeigt, und sie freuten sich auf das Sitzen. Konrad legte die Tasche aus Kalbfell ab. Er nahm das Tuch heraus, in welches die Großmutter eine Schachtel und mehrere Papierpäckchen gewik225
kelt hatte, und tat es zu größerer Wärme um seine Schultern. Auch die zwei Weißbrote nahm er aus dem Ränzchen und reichte sie beide an Sanna: das Kind aß begierig. Es aß eines der Brote und von dem zweiten auch noch einen Teil. Den Rest reichte es aber Konrad, da es sah, daß er nicht aß. Er nahm es und verzehrte es. Von da an saßen die Kinder und schauten. So weit sie in die Dämmerung zu sehen vermochten, lag überall der flimmernde Schnee hinab, dessen einzelne winzige Täfelchen hie und da in der Finsternis seltsam zu funkeln begannen, als hätte er bei Tag das Licht eingesogen und gäbe es jetzt von sich. Die Nacht brach mit der in größeren Höhen gewöhnlichen Schnelligkeit herein. Bald war es ringsherum finster, nur der Schnee fuhr fort, mit seinem bleichen Lichte zu leuchten. Der Schneefall hatte nicht nur aufgehört, sondern der Schleier an dem Himmel fing auch an, sich zu verdünnen und zu verteilen; denn die Kinder sahen ein Sternlein blitzen. Weil der Schnee wirklich gleichsam ein Licht von sich gab und weil von den Wolken kein Schleier mehr herabhing, so konnten die Kinder von ihrer Höhle aus die Schneehügel sehen, wie sie sich in Linien von dem dunkeln Himmel abschnitten. Weil es in der Höhle viel wärmer war, als es an jedem anderen Platze am ganzen Tag gewesen war, so ruhten die Kinder enge aneinander sitzend und vergaßen sogar die Finsternis zu fürchten. Bald vermehrten sich die Sterne, jetzt kam hier einer zum Vorscheine, jetzt 226
dort, bis es schien, als wäre am ganzen Himmel keine Wolke mehr. Das war der Zeitpunkt, in welchem man in den Tälern die Lichter anzuzünden pflegt. Zuerst wird eines angezündet und auf den Tisch gestellt, um die Stube zu erleuchten, oder es brennt auch nur ein Span, oder es brennt das Feuer auf der Leuchte, und es erhellen sich alle Fenster von bewohnten Stuben und glänzen in die Schneenacht hinaus – aber heute erst – am Heiligen Abende –, da wurden viel mehr angezündet, um die Gaben zu beleuchten, welche für die Kinder auf den Tischen lagen oder an den Bäumen hingen, es wurden wohl unzählige angezündet; denn beinahe in jedem Hause, in jeder Hütte, jedem Zimmer war eines oder mehrere Kinder, denen der Heilige Christ etwas gebracht hatte und wozu man Lichter stellen mußte. Der Knabe hatte geglaubt, daß man sehr bald von dem Berge hinabkommen könne, und doch, von den vielen Lichtern, die heute in dem Tale brannten, kam nicht ein einziges zu ihnen herauf; sie sahen nichts als den blassen Schnee und den dunkeln Himmel, alles andere war ihnen in die unsichtbare Ferne hinabgerückt. In allen Tälern bekamen die Kinder in dieser Stunde die Geschenke des Heiligen Christ: nur die zwei saßen oben am Rande des Eises, und die vorzüglichsten Geschenke, die sie heute hätten bekommen sollen, lagen in versiegelten Päckchen in der Kalbfelltasche im Hintergrunde der Höhle. Die Schneewolken waren ringsum hinter die Berge 227
hinabgesunken, und ein ganz dunkelblaues, fast schwarzes Gewölbe spannte sich um die Kinder, voll von dichten brennenden Sternen, und mitten durch diese Sterne war ein schimmerndes, breites, milchiges Band gewoben, das sie wohl auch unten im Tale, aber nie so deutlich gesehen hatten. Die Nacht rückte vor. Die Kinder wußten nicht, daß die Sterne gegen Westen rücken und weiterwandeln, sonst hätten sie an ihrem Vorschreiten den Stand der Nacht erkennen können; aber es kamen neue und gingen die alten, sie aber glaubten, es seien immer dieselben. Es wurde von dem Scheine der Sterne auch lichter um die Kinder; aber sie sahen kein Tal, keine Gegend, sondern überall nur Weiß – lauter Weiß. Bloß ein dunkles Horn, ein dunkles Haupt, ein dunkler Arm wurde sichtbar und ragte dort und hier aus dem Schimmer empor. Der Mond war nirgends am Himmel zu erblicken, vielleicht war er schon frühe mit der Sonne untergegangen, oder er ist noch nicht erschienen. Als eine lange Zeit vergangen war, sagte der Knabe: »Sanna, du mußt nicht schlafen, denn weißt du, wie der Vater gesagt hat, wenn man im Gebirge schläft, muß man erfrieren, so, wie der alte Eschenjäger auch geschlafen hat und vier Monate tot auf dem Steine gesessen ist, ohne daß jemand gewußt hatte, wo er sei.« »Nein, ich werde nicht schlafen«, sagte das Mädchen matt. Konrad hatte es an dem Zipfel des Kleides geschüttelt, um es zu jenen Worten zu erwecken. 228
Nun war es wieder stille. Nach einer Zeit empfand der Knabe ein sanftes Drücken gegen seinen Arm, das immer schwerer wurde. Sanna war eingeschlafen und war gegen ihn herübergesunken. »Sanna, schlafe nicht, ich bitte dich, schlafe nicht«, sagte er. »Nein«, lallte sie schlaftrunken, »ich schlafe nicht.« Er rückte weiter von ihr, um sie in Bewegung zu bringen, allein, sie sank um und hätte auf der Erde liegend fortgeschlafen. Er nahm sie an der Schulter und rüttelte sie. Da er sich dabei selber etwas stärker bewegte, merkte er, daß ihn friere und daß sein Arm schwerer sei. Er erschrak und sprang auf. Er ergriff die Schwester, schüttelte sie stärker und sagte: »Sanna, stehe ein wenig auf, wir wollen eine Zeit stehen, daß es besser wird.« »Mich friert nicht, Konrad«, antwortete sie. »Jaja, es friert dich, Sanna, stehe auf«, rief er. »Die Pelzjacke ist warm«, sagte sie. »Ich werde dir emporhelfen«, sagte er. »Nein«, erwiderte sie und war stille. Da fiel dem Knaben etwas anderes ein. Die Großmutter hatte gesagt: »Nur ein Schlückchen wärmt den Magen so, daß es dem Körper in den kältesten Wintertagen nicht frieren kann.« Er nahm das Kalbfellränzchen, öffnete es und griff so lange, bis er das Fläschchen fand, in welchem die Großmutter der Mutter einen schwarzen Kaffeeab229
sud schicken wollte. Er nahm das Fläschchen heraus, tat den Verband weg und öffnete mit Anstrengung den Kork. Dann bückte er sich zu Sanna und sagte: »Da ist der Kaffee, den die Großmutter der Mutter schickt, koste ihn ein wenig, er wird dich warm machen. Die Mutter gibt ihn uns, wenn sie nur weiß, wozu wir ihn nötig gehabt haben.« Das Mädchen, dessen Natur zur Ruhe zog, antwortete: »Mich friert nicht.« »Nimm nur etwas«, sagte der Knabe, »dann darfst du schlafen.« Diese Aussicht verlockte Sanna, sie bewältigte sich so weit, daß sie fast das eingegossene Getränk verschluckte. Hierauf trank der Knabe auch etwas. Der ungemein starke Auszug wirkte sogleich, und zwar um so heftiger, da die Kinder in ihrem Leben keinen Kaffee gekostet hatten. Statt zu schlafen, wurde Sanna nun lebhafter und sagte selber, daß sie friere, daß es aber von innen recht warm sei und auch schon in die Hände und Füße gehe. Die Kinder redeten sogar eine Weile miteinander. So tranken sie trotz der Bitterkeit immer wieder von dem Getränke, sobald die Wirkung nachzulassen begann, und steigerten ihre unschuldigen Nerven zu einem Fieber, das imstande war, den zum Schlummer ziehenden Gewichten entgegenzuwirken. Es war nun Mitternacht gekommen. Weil sie noch so jung waren und an jedem Heiligen Abende in höchstem Drange der Freude stets erst sehr spät entschlummerten, wenn sie nämlich der körperliche 230
Drang übermannt hatte, so hatten sie nie das mitternächtliche Läuten der Glocken, nie die Orgel der Kirche gehört, wenn das Fest gefeiert wurde, obwohl sie nahe an der Kirche wohnten. In diesem Augenblicke der heutigen Nacht wurde nun mit allen Glocken geläutet, es läuteten die Glocken in Millsdorf, es läuteten die Glocken in Gschaid, und hinter dem Berge war noch ein Kirchlein mit drei hellen klingenden Glocken, die läuteten. In den fernen Ländern draußen waren unzählige Kirchen und Glocken, und mit allen wurde zu dieser Zeit geläutet, von Dorf zu Dorf ging die Tonwelle, ja, man konnte wohl zuweilen von einem Dorf zum andern durch die blätterlosen Zweige das Läuten hören: nur zu den Kindern herauf kam kein Laut, hier wurde nichts vernommen; denn hier war nichts zu verkündigen. In den Talkrümmen gingen jetzt an den Berghängen die Lichter der Laternen hin, und von manchem Hofe ertönte das Hausglöcklein, um die Leute zu erinnern; aber dieses konnte um so weniger herauf gesehen und gehört werden, es glänzten nur die Sterne, und sie leuchteten und funkelten ruhig fort. Wenn auch Konrad sich das Schicksal des erfrorenen Eschenjägers vor Augen hielt, wenn auch die Kinder das Fläschchen mit dem schwarzen Kaffee fast ausgeleert hatten, wodurch sie ihr Blut zu größerer Tätigkeit brachten, aber gerade dadurch eine folgende Ermattung herbeizogen: so würden sie den Schlaf nicht haben überwinden können, dessen verführende Süßigkeit alle Gründe überwiegt, wenn 231
nicht die Natur in ihrer Größe ihnen beigestanden wäre und in ihrem Innern eine Kraft aufgerufen hätte, welche imstande war, dem Schlafe zu widerstehen. In der ungeheuren Stille, die herrschte, in der Stille, in der sich kein Schneespitzchen zu rühren schien, hörten die Kinder dreimal das Krachen des Eises. Was das Starrste scheint und doch das Regsamste und Lebendigste ist, der Gletscher, hatte die Töne hervorgebracht. Dreimal hörten sie hinter sich den Schall, der entsetzlich war, als ob die Erde entzweigesprungen wäre, der sich nach allen Richtungen im Else verbreitete und gleichsam durch alle Äderchen des Eises lief. Die Kinder blieben mit offenen Augen sitzen und schauten in die Sterne hinaus. Auch für die Augen begann sich etwas zu entwikkeln. Wie die Kinder so saßen, erblühte am Himmel vor ihnen ein bleiches Licht mitten unter den Sternen und spannte einen schwachen Bogen durch dieselben. Es hatte einen grünlichen Schimmer, der sich sachte nach unten zog. Aber der Bogen wurde immer heller und heller, bis sich die Sterne vor ihm zurückzogen und erblaßten. Auch in andere Gegenden des Himmels sandte er einen Schein, der schimmergrün sachte und lebendig unter die Sterne floß. Dann standen Garben verschiedenen Lichtes auf der Höhe des Bogens wie Zacken einer Krone und brannten. Es floß Helle durch die benachbarten Himmelsgegenden, es sprühte leise und ging in sanftem Zucken durch lange Räume. Hatte sich nun der Gewitter232
stoff des Himmels durch den unerhörten Schneefall so gespannt, daß er in diesen stummen herrlichen Strömen des Lichtes ausfloß, oder war es eine andere Ursache der unergründlichen Natur. Nach und nach wurde er schwächer und immer schwächer, die Garben erloschen zuerst, bis es allmählich und unmerklich immer geringer wurde und wieder nichts am Himmel war als die tausend und tausend einfachen Sterne. Die Kinder sagten keines zu dem andern ein Wort, sie blieben fort und fort sitzen und schauten mit offenen Augen in den Himmel. Es geschah nun nichts Besonderes mehr. Die Sterne glänzten, funkelten und zitterten, nur manche schießende Schnuppe fuhr durch sie. Endlich, nachdem die Sterne lange allein geschienen hatten und nie ein Stückchen Mond an dem Himmel zu erblicken gewesen war, geschah etwas anderes. Es fing der Himmel an, heller zu werden, langsam heller, aber doch zu erkennen; es wurde seine Farbe sichtbar, die bleichsten Sterne erloschen, und die anderen standen nicht mehr so dicht. Endlich wichen auch die stärkeren, und der Schnee vor den Höhen wurde deutlicher sichtbar. Zuletzt färbte sich eine Himmelsgegend gelb, und ein Wolkenstreifen, der in derselben war, wurde zu einem leuchtenden Faden entzündet. Alle Dinge waren klar zu sehen, und die entfernten Schneehügel zeichneten sich scharf in die Luft. »Sanna, der Tag bricht an«, sagte der Knabe. 233
»Ja, Konrad«, antwortete das Mädchen. »Wenn es nur noch ein bißchen heller wird, dann gehen wir aus der Höhle und laufen über den Berg hinunter.« Es wurde heller, an dem ganzen Himmel war kein Stern mehr sichtbar, und alle Gegenstände standen in der Morgendämmerung da. »Nun, jetzt gehen wir«, sagte der Knabe. »Ja, wir gehen«, antwortete Sanna. Die Kinder standen auf und versuchten ihre erst heute recht müden Glieder. Obwohl sie nicht geschlafen hatten, waren sie doch durch den Morgen gestärkt, wie das immer so ist. Der Knabe hängte sich das Kalbfellränzchen wieder um und machte das Pelzjäckchen an Sanna fester zu. Dann führte er sie aus der Höhle. Weil sie nach ihrer Meinung nur über den Berg hinabzulaufen hatten, dachten sie an kein Essen und untersuchten das Ränzchen nicht, ob noch Weißbrote oder andere Eßwaren darinnen seien. Von dem Berge wollte nun Konrad, weil der Himmel ganz heiter war, in die Täler hinabschauen, um das Gschaider Tal zu erkennen und in dasselbe hinunterzugehen. Aber er sah gar keine Täler. Es war nicht, als ob sie sich auf einem Berge befänden, von dem man hinabsieht, sondern in einer fremden seltsamen Gegend, in der lauter unbekannte Gegenstände sind. Sie sahen heute auch in größerer Entfernung furchtbare Felsen aus dem Schnee emporstehen, die sie gestern nicht gesehen hatten, sie sahen das Eis, sie 234
sahen Hügel und Schneelehnen emporstarren, und hinter diesen war entweder der Himmel, oder es ragte die blaue Spitze eines sehr fernen Berges am Schneerande hervor. In diesem Augenblick ging die Sonne auf. Eine riesengroße blutrote Scheibe erhob sich an dem Schneesaume in den Himmel, und in dem Augenblicke errötete der Schnee um die Kinder, als wäre er mit Millionen Rosen überstreut worden. Die Kuppen und die Hörner warfen sehr lange grünliche Schatten längs des Schnees. »Sanna, wir werden jetzt da weiter vorwärts gehen, bis wir an den Rand des Berges kommen und hinuntersehen«, sagte der Knabe. Sie gingen nun in den Schnee hinaus. Er war in der heiteren Nacht noch trockener geworden und wich den Schritten noch besser aus. Sie wateten rüstig fort. Ihre Glieder wurden sogar geschmeidiger und stärker, da sie gingen. Allein, sie kamen an keinen Rand und sahen nicht hinunter. Schneefeld entwickelte sich aus Schneefeld, und am Saume eines jeden stand allemal wieder der Himmel. Sie gingen dessenungeachtet fort. Da kamen sie wieder an das Eis. Sie wußten nicht, wie das Eis dahergekommen sei, aber unter den Füßen empfanden sie den glatten Boden, und waren gleich nicht die fürchterlichen Trümmer wie an jenem Rande, an dem sie die Nacht zugebracht hatten, so sahen sie doch, daß sie auf glattem Else fortgingen, sie sahen hier und da Stücke, die immer mehr 235
wurden, die sich näher an sie drängten und die sie wieder zu klettern zwangen. Aber sie verfolgten doch ihre Richtung. Sie kletterten neuerdings an Blöcken empor. Da standen sie wieder auf dem Eisfelde. Heute bei der hellen Sonne konnten sie erst erblicken, was es ist. Es war ungeheuer groß, und jenseits standen wieder schwarze Felsen empor, es ragte gleichsam Welle hinter Welle auf, das beschneite Eis war gedrängt, gequollen, emporgehoben, gleichsam als schöbe es sich nach vorwärts und flosse gegen die Brust der Kinder heran. In dem Weiß sahen sie unzählige vorwärts gehende geschlängelte blaue Linien. Zwischen jenen Stellen, wo die Eiskörper gleichsam wie aneinandergeschmettert starrten, gingen auch Linien wie Wege, aber sie waren weiß, und waren Streifen, wo sich fester Eisboden vorfand oder die Stücke doch nicht gar so sehr verschoben waren. In diese Pfade gingen die Kinder hinein, weil sie doch einen Teil des Eises überschreiten wollten, um an den Bergrand zu gelangen und endlich einmal hinunterzusehen. Sie sagten kein Wörtlein. Das Mädchen folgte dem Knaben. Aber es war auch heute wieder Eis, lauter Eis. Wo sie hinübergelangen wollten, wurde es gleichsam immer breiter und breiter. Da schlugen sie, ihre Richtung aufgebend, den Rückweg ein. Wo sie nicht gehen konnten, griffen sie sich durch die Mengen des Schnees hindurch, der oft dicht vor ihrem Auge wegbrach und den sehr blauen Streifen einer Eisspalte zeigte, wo doch früher alles weiß gewesen war; 236
aber sie kümmerten sich nicht darum, sie arbeiteten sich fort, bis sie wieder irgendwo aus dem Else herauskamen. »Sanna«, sagte der Knabe, »wir werden gar nicht mehr in das Eis hineingehen, weil wir in demselben nicht fortkommen. Und weil wir schon in unser Tal gar nicht hinabsehen können, so werden wir gerade über den Berg hinabgehen. Wir müssen in ein Tal kommen, dort werden wir den Leuten sagen, daß wir aus Gschaid sind, die werden uns einen Wegweiser nach Hause mitgeben.« »Ja, Konrad«, sagte das Mädchen. So begannen sie nun in dem Schnee nach jener Richtung abwärts zu gehen, welche sich ihnen eben darbot. Der Knabe führte das Mädchen an der Hand. Allein, nachdem sie eine Weile abwärts gegangen waren, hörte in dieser Richtung das Gehänge auf, und der Schnee stieg wieder empor. Also änderten die Kinder die Richtung und gingen nach der Länge einer Mulde hinab. Aber da fanden sie wieder Eis. Sie stiegen also an der Seite der Mulde empor, um nach einer anderen Richtung ein Abwärts zu suchen. Es führte sie eine Fläche hinab, allein die wurde nach und nach so steil, daß sie kaum noch einen Fuß einsetzen konnten und abwärts zu gleiten fürchteten. Sie klommen also wieder empor, um wieder einen anderen Weg nach abwärts zu suchen. Nachdem sie lange im Schnee emporgeklommen und dann auf einem ebenen Rücken fortgelaufen waren, war es wie früher: entweder ging der Schnee so steil ab, daß sie 237
gestürzt wären, oder er stieg wieder hinan, daß sie auf den Berggipfel zu kommen fürchteten. Und so ging es immer fort. Da wollten sie die Richtung suchen, in der sie gekommen waren, und zur roten Unglückssäule hinabgehen. Weil es nicht schneit und der Himmel so helle ist, so würden sie, dachte der Knabe, die Stelle schon erkennen, wo die Säule sein solle, und würden von dort nach Gschaid hinabgehen können. Der Knabe sagte diesen Gedanken dem Schwesterchen, und dieses folgte. Allein auch der Weg auf den Hals hinab war nicht zu finden. So klar die Sonne schien, so schön die Schneehöhen dastanden und die Schneefelder dalagen, so konnten sie doch die Gegenden nicht erkennen, durch die sie gestern heraufgegangen waren. Gestern war alles durch den fürchterlichen Schneefall verhängt gewesen, daß sie kaum einige Schritte vor sich gesehen hatten, und da war alles ein einziges Weiß und Grau durcheinander gewesen. Nur die Felsen hatten sie gesehen, an denen und zwischen denen sie gegangen waren: allein, auch heute hatten sie bereits viele Felsen gesehen, die alle den nämlichen Anschein gehabt hatten wie die gestern gesehenen. Heute ließen sie frische Spuren in dem Schnee; aber gestern sind alle Spuren von dem fallenden Schnee verdeckt worden. Auch aus dem bloßen Anblicke konnten sie nicht erraten, welche Gegend auf den Hals führe, da alle Gegenden gleich waren. Schnee, lauter Schnee. Sie gingen aber doch immer fort und 238
meinten, es zu erringen. Sie wichen den steilen Abstürzen aus und kletterten keine steilen Anhöhen hinauf. Auch heute blieben sie öfter stehen, um zu horchen; aber sie vernahmen auch heute nichts, nicht den geringsten Laut. Zu sehen war auch nichts als der Schnee, der helle weiße Schnee, aus dem hie und da die schwarzen Hörner und die schwarzen Steinrippen emporstanden. Endlich war es dem Knaben, als sähe er auf einem fernen schiefen Schneefelde ein hüpfendes Feuer. Es tauchte auf, es tauchte nieder. Jetzt sahen sie es, jetzt sahen sie es nicht. Sie blieben stehen und blickten unverwandt auf jene Gegend hin. Das Feuer hüpfte immer fort, und es schien, als ob es näher käme; denn sie sahen es größer und sahen das Hüpfen deutlicher. Es verschwand nicht mehr so oft und nicht mehr auf so lange Zeit wie früher. Nach einer Weile vernahmen sie in der stillen blauen Luft schwach, sehr schwach etwas wie einen langen anhaltenden Ton aus einem Hirtenhorne. Wie aus Instinkt schrien beide Kinder laut. Nach einer Zeit hörten sie den Ton wieder. Sie schrien wieder und blieben auf der nämlichen Stelle stehen. Das Feuer näherte sich auch. Der Ton wurde zum drittenmal vernommen, und dieses Mal deutlicher. Die Kinder antworteten wieder durch lautes Schreien. Nach einer geraumen Weile erkannten sie auch das Feuer. Es war kein Feuer, es war eine rote Fahne, die geschwungen wurde. Zugleich ertönte das Hirtenhorn näher, und die Kinder antworteten. 239
»Sanna«, rief der Knabe, »da kommen Leute aus Gschaid, ich kenne die Fahne, es ist die rote Fahne, welche der fremde Herr, der mit dem jungen Eschenjäger den Gars bestiegen hatte, auf dem Gipfel aufpflanzte, daß sie der Herr Pfarrer mit dem Fernrohre sähe, was als Zeichen gälte, daß sie oben seien, und welche Fahne damals der fremde Herr dem Herrn Pfarrer geschenkt hat. Du warst noch ein recht kleines Kind.« »Ja, Konrad.« Nach einer Weile sahen die Kinder auch die Menschen, die bei der Fahne waren, kleine schwarze Stellen, die sich zu bewegen schienen. Der Ruf des Hornes wiederholte sich von Zeit zu Zeit und kam immer näher. Die Kinder antworteten jedesmal. Endlich sahen sie über den Schneeabhang gegen sich her mehrere Männer mit ihren Stöcken herabfahren, die die Fahne in ihrer Mitte hatten. Da sie näher kamen, erkannten sie dieselben. Es waren der Hirt Philipp mit dem Hörne, seine zwei Söhne, dann der junge Eschenjäger und mehrere Bewohner von Gschaid. »Gebenedeit sei Gott«, schrie Philipp, »da seid ihr ja. Der ganze Berg ist voll Leute. Laufe doch einer gleich in die Sideralpe hinab und läute die Glocke, daß die dort hören, daß wir sie gefunden haben, und einer muß auf den Krebsstein gehen und die Fahne dort aufpflanzen, daß sie dieselbe in dem Tale sehen und die Böller abschießen, damit die es wissen, die im Millsdorfer Walde suchen, und damit sie in 240
Gschaid die Rauchfeuer anzünden, die in der Luft gesehen werden, und alle, die noch auf dem Berge sind, in die Sideralpe hinab bedeuten. Das sind Weihnachten!« »Ich laufe in die Alpe hinab«, sagte einer. »Ich trage die Fahne auf den Krebsstein«, sagte ein anderer. »Und wir werden die Kinder in die Sideralpe hinabbringen, so gut wir es vermögen, und so gut uns Gott helfe«, sagte Philipp. Ein Sohn Philipps schlug den Weg nach abwärts ein, und der andere ging mit der Fahne durch den Schnee dahin. Der Eschenjäger nahm das Mädchen bei der Hand, der Hirt Philipp den Knaben. Die anderen halfen, wie sie konnten. So begann man den Weg. Er ging in Windungen. Bald gingen sie nach einer Richtung, bald schlugen sie die entgegengesetzte ein, bald gingen sie abwärts, bald aufwärts. Immer ging es durch Schnee, immer durch Schnee, und die Gegend blieb sich beständig gleich. Über sehr schiefe Flächen taten sie Steigeisen an die Füße und trugen die Kinder. Endlich nach langer Zeit hörten sie ein Glöcklein, das sanft und fein zu ihnen heraufkam und das erste Zeichen war, das ihnen die niederen Gegenden wieder zusandten. Sie mußten wirklich sehr tief herabgekommen sein; denn sie sahen ein Schneehaupt recht hoch und recht blau über sich ragen. Das Glöcklein aber, das sie hörten, war das der Sideralpe, das geläutet wurde, weil dort die Zusammenkunft 241
verabredet war. Da sie noch weiterkamen, hörten sie auch schwach in der stillen Luft die Böllerschüsse herauf, die infolge der ausgesteckten Fahne abgefeuert wurden, und sahen dann in die Luft feine Rauchsäulen aufsteigen. Da sie nach einer Weile über eine sanfte schiefe Fläche abgingen, erblickten sie die Sideralpe. Sie gingen auf sie zu. In der Hütte brannte ein Feuer, die Mutter der Kinder war da, und mit einem furchtbaren Schrei sank sie in den Schnee zurück, als sie die Kinder mit dem Eschenjäger kommen sah. Dann lief sie herzu, betrachtete sie überall, wollte ihnen zu essen geben, wollte sie wärmen, wollte sie in vorhandenes Heu legen; aber bald überzeugte sie sich, daß die Kinder durch die Freude stärker seien, als sie gedacht hatte, daß sie nur einiger warmer Speise bedurften, die sie bekamen, und daß sie nur ein wenig ausruhen mußten, was ihnen ebenfalls zuteil werden sollte. Da nach einer Zeit der Ruhe wieder eine Gruppe Männer über die Schneefläche herabkamen, während das Hüttenglöcklein immer fortläutete, liefen die Kinder selber mit den anderen hinaus, um zu sehen, wer es sei. Der Schuster war es, der einstige Alpensteiger, mit Alpenstock und Steigeisen, begleitet von seinen Freunden und Kameraden. »Sebastian, da sind sie«, schrie das Weib. Er aber war stumm, zitterte und lief auf sie zu. Dann rührte er die Lippen, als wollte er etwas sagen, sagte aber nichts, riß die Kinder an sich und hielt sie lange. Dann wandte er sich 242
gegen sein Weib, schloß es an sich und rief: »Sanna, Sanna!« Nach einer Weile nahm er den Hut, der ihm in den Schnee gefallen war, auf, trat unter die Männer und wollte reden. Er sagte aber nur: »Nachbarn, Freunde, ich danke euch.« Da man noch gewartet hatte, bis die Kinder sich zur Beruhigung erholt hatten, sagte er: »Wenn wir alle beisammen sind, so können wir in Gottes Namen aufbrechen.« »Es sind wohl noch nicht alle«, sagte der Hirt Philipp, »aber die noch abgehen, wissen aus dem Rauche, daß wir die Kinder haben, und sie werden schon nach Hause gehen, wenn sie die Alpenhütte leer finden.« Man machte sich zum Aufbruche bereit. Man war auf der Sideralphütte nicht gar weit von Gschaid entfernt, aus dessen Fenstern man im Sommer recht gut die grüne Matte sehen konnte, auf der die graue Hütte mit dem kleinen Glockentürmlein stand; aber es war unterhalb eine fallrechte Wand, die viele Klafter hoch hinabging und auf der man im Sommer nur mit Steigeisen, im Winter gar nicht hinabkommen konnte. Man mußte daher den Umweg zum Halse machen, um von der Unglückssäule aus nach Gschaid hinabzukommen. Auf dem Wege gelangte man über die Siderwiese, die noch näher an Gschaid ist, so daß man die Fenster des Dörfleins zu erblicken meinte. Als man über diese Wiese ging, tönte hell und 243
deutlich das Glöcklein der Gschaider Kirche herauf, die Wandlung des heiligen Hochamtes verkündend. Der Pfarrer hatte wegen der allgemeinen Bewegung, die am Morgen in Gschaid war, die Abhaltung des Hochamtes verschoben, da er dachte, daß die Kinder zum Vorscheine kommen würden. Allein endlich, da noch immer keine Nachricht eintraf, mußte die heilige Handlung doch vollzogen werden. Als das Wandlungsglöcklein tönte, sanken alle, die über die Siderwiese gingen, auf die Knie in den Schnee und beteten. Als der Klang des Glöckleins aus war, standen sie auf und gingen weiter. Der Schuster trug meistens das Mädchen und ließ sich von ihm alles erzählen. Als sie schon gegen den Wald des Halses kamen, trafen sie Spuren, von denen der Schuster sagte: »Das sind keine Fußstapfen von Schuhen meiner Arbeit.« Die Sache klärte sich bald auf. Wahrscheinlich durch die vielen Stimmen, die auf dem Platze tönten, angelockt, kam wieder eine Abteilung Männer auf die Herabgehenden zu. Es war der aus Angst aschenhaft entfärbte Färber, der an der Spitze seiner Knechte, seiner Gesellen und mehrerer Millsdorfer bergab kam. »Sie sind über das Gletschereis und über die Schründe gegangen, ohne es zu wissen«, rief der Schuster seinem Schwiegervater zu. »Da sind sie ja – da sind sie ja – Gott sei Dank«, antwortete der Färber, »ich weiß es schon, daß sie oben waren; als dein Bote in der Nacht zu uns kam 244
und wir mit Lichtern den ganzen Wald durchsucht und nichts gefunden hatten – und als dann das Morgengrauen anbrach, bemerkte ich an dem Wege, der von der roten Unglückssäule links gegen den Schneeberg hinanführt, daß dort, wo man eben von der Säule weggeht, hin und wieder mehrere Reiserchen und Rütchen geknickt sind, wie Kinder gerne tun, wo sie eines Weges gehen – da wußte ich es – die Richtung ließ sie nicht mehr aus, weil sie in der Höhlung gingen, weil sie zwischen den Felsen gingen, und weil sie dann auf dem Grat gingen, der rechts und links so steil ist, daß sie nicht hinabkommen konnten. Sie mußten hinauf. Ich schickte nach dieser Beobachtung gleich nach Gschaid, aber der Holzknecht Michael, der hinüberging, sagte bei der Rückkunft, da er uns fast am Else oben traf, daß ihr sie schon habet, weshalb wir wieder heruntergingen.« »Ja«, sagte Michael, »ich habe es gesagt, weil die rote Fahne schon auf dem Krebssteine steckt und die Gschaider dieses als Zeichen erkannten, das verabredet worden war. Ich sagte euch, daß aus diesem Wege da alle herabkommen müssen, weil man über die Wand nicht gehen kann.« »Und knie nieder und danke Gott auf den Knien, mein Schwiegersohn«, fuhr der Färber fort, »daß kein Wind gegangen ist. Hundert Jahre werden wieder vergehen, daß ein so wunderbarer Schneefall niederfällt und daß er gerade niederfällt, wie nasse Schnüre von einer Stange hängen. Wäre ein Wind gegangen, so wären die Kinder verloren gewesen.« 245
»Ja, danken wir Gott, danken wir Gott«, sagte der Schuster. Der Färber, der seit der Ehe seiner Tochter nie in Gschaid gewesen war, beschloß, die Leute nach Gschaid zu begleiten. Da man schon gegen die rote Unglückssäule zukam, wo der Holzweg begann, wartete ein Schlitten, den der Schuster auf alle Fälle dahin bestellt hatte. Man tat die Mutter und die Kinder hinein, versah sie hinreichend mit Decken und Pelzen, die im Schlitten waren, und ließ sie nach Gschaid vorausfahren. Die anderen folgten und kamen am Nachmittage in Gschaid an. Die, welche noch auf dem Berge gewesen waren und erst durch den Rauch das Rückzugszeichen erfahren hatten, fanden sich auch nach und nach ein. Der letzte, welcher erst am Abende kam, war der Sohn des Hirten Philipp, der die rote Fahne auf den Krebsstein getragen und sie dort aufgepflanzt hatte. In Gschaid wartete die Großmutter, welche herübergefahren war. »Nie, nie«, rief sie aus, »dürfen die Kinder in ihrem ganzen Leben mehr im Winter über den Hals gehen.« Die Kinder waren von dem Getriebe betäubt. Sie hatten noch etwas zu essen bekommen, und man hatte sie in das Bett gebracht. Spät gegen Abend, da sie sich ein wenig erholt hatten, da einige Nachbarn und Freunde sich in der Stube eingefunden hatten und dort von dem Ereignisse redeten, die Mutter 246
aber in der Kammer an dem Bettchen Sannas saß und sie streichelte, sagte das Mädchen: »Mutter, ich habe heute nacht, als wir auf dem Berge saßen, den Heiligen Christ gesehen.« »O du mein geduldiges, du mein liebes, du mein herziges Kind«, antwortete die Mutter, »er hat dir auch Gaben gesendet, die du bald bekommen wirst.« Die Schachteln waren ausgepackt worden, die Lichter waren angezündet, die Tür in die Stube wurde geöffnet, und die Kinder sahen von dem Bette auf den verspäteten, hellleuchtenden, freundlichen Christbaum hinaus. Trotz der Erschöpfung mußte man sie noch ein wenig ankleiden, daß sie hinausgingen, die Gaben empfingen, bewunderten und endlich mit ihnen einschliefen. In dem Wirtshaus in Gschaid war es an diesem Abende lebhafter als je. Alle, die nicht in der Kirche gewesen waren, waren jetzt dort, und die anderen auch. Jeder erzählte, was er gesehen und gehört, was er getan, was er geraten und was für Begebnisse und Gefahren er erlebt hatte. Besonders aber wurde hervorgehoben, wie man alles hätte anders und besser machen können. Das Ereignis hat einen Abschnitt in die Geschichte von Gschaid gebracht, es hat auf lange den Stoff zu Gesprächen gegeben, und man wird noch nach Jahren davon reden, wenn man den Berg an heiteren Tagen besonders deutlich sieht oder wenn man den Fremden von seinen Merkwürdigkeiten erzählt. Die Kinder waren von dem Tage an erst recht das 247
Eigentum des Dorfes geworden, sie wurden von nun an nicht mehr als Auswärtige, sondern als Eingeborene betrachtet, die man sich von dem Berge herabgeholt hatte. Auch ihre Mutter Sanna war nun eine Eingeborene von Gschaid. Die Kinder aber werden den Berg nicht vergessen und werden ihn jetzt noch ernster betrachten, wenn sie in dem Garten sind, wenn wie in der Vergangenheit die Sonne sehr schön scheint, der Lindenbaum duftet, die Bienen summen und er so schön und so blau wie das sanfte Firmament auf sie herniederschaut.
Leo Tolstoi Wo Liebe ist, da ist Gott
In einem einfenstrigen Stübchen im Erdgeschoß wohnte der Schuster Martin Awdejewitsch; das Fenster ging auf die Straße. Durch das Fenster konnte man sehen, wie die Leute vorübergingen. Obgleich nur die Füße zu sehen waren, erkannte Martin Awdejewitsch die Menschen an den Stiefeln. Seit langer Zeit lebte er hier und hatte eine große Bekanntschaft, es gab nur wenige Stiefel in der Nachbarschaft, die nicht ein- oder zweimal in seinen Händen gewesen wären. Oft sah er aufwärts bei seiner Arbeit durchs Fenster. Er hatte viel zu tun, denn seine Arbeit war dauerhaft, er nahm gutes Material, sein Preis war mäßig, und er hielt Wort: vermag er den bestimmten Termin nicht einzuhalten, so sagt er’s im voraus. Ein guter Mensch war er stets gewesen; wie er älter wurde, begann er mehr als früher an seine Seele zu denken und sich Gott zu nähern. Als er noch bei einem Meister arbeitete, war seine Frau gestorben. Sie hatte ihm ein Kind hinterlassen, einen Knaben von drei Jahren; die älteren Kinder waren früher gestorben. Martin wollte das Söhnchen in das Dorf zu seiner Schwester schicken, er dachte aber: »Meinem Kapitoscha wird es schwerfallen, in fremder Familie aufzuwachsen, ich lasse ihn bei mir.« Und Awdeje249
witsch ging von dem Meister fort und wohnte mit dem Söhnlein zur Miete. Gott aber gab Awdejewitsch in seinen Kindern kein Glück. Als der Knabe heranwuchs und dem Vater zu helfen begann, daß es eine wahre Freude war, befiel ihn eine Krankheit – er fieberte ein Wöchelchen, und dann starb er. Martin begrub den Sohn und fiel in Verzweiflung. Und so wild war seine Verzweiflung, daß er auf Gott murrte; so eine Wehmut kam über ihn, daß er immer und immer wieder Gott um den Tod bat; daß er Gott vorwarf, statt des einzigen geliebten Sohnes nicht ihn, den alten Mann, zu sich genommen zu haben. Er ging sogar nicht mehr in die Kirche. Einst sprach bei Awdejewitsch ein Landsmann vor, ein alter Mann, der schon das achte Jahrzehnt pilgerte und eben vom Trotzkij-Kloster kam. Im Laufe des Gespräches klagte Awdejewitsch seinen Kummer. »Die Lust zum Leben ist mir sogar vergangen, nur um eins bitte ich Gott – zu sterben. Ich bin ein nutzloser Mensch.« Der Landsmann entgegnete: »Du sprichst nicht gut, Martin. Gottes Tun zu beurteilen, geziemt uns nicht. Nicht Menschenverstand, es gebeut Gottes Wille allzeit. Gott hat beschlossen, dein Sohn solle sterben, dich aber ließ er am Leben – also ist es besser so. Und wenn du verzweifelst, so ist es deshalb, daß du leben willst zu deiner Freude.« »Wozu leben?« seufzte Martin. Der Alte sagte: »Für Gott, Martin, muß man le250
ben. Er gibt dir das Leben, für ihn muß man auch leben. Wenn du für ihn lebst, wirst du über nichts trauern, und alles erscheint dir leicht.« Nach kurzem Schweigen ließ sich Martin vernehmen: »Aber wie lebt man für Gott?« »Christus hat es uns gezeigt. Kannst du lesen, so kaufe dir das Evangelium und lies: du wirst erkennen, wie man für Gott lebt.« Diese Worte fielen in das Herz Awdejewitschs. Noch am selben Tag kaufte er das Neue Testament mit großer Schrift und begann zu lesen. Er wollte nur an Feiertagen lesen; aber das heilige Buch gab ihm solchen Frieden, daß er jeden Abend las. Manchmal vertiefte er sich so, daß er sich nicht losreißen konnte, wenn auch die Lampe schon im Verlöschen war. Und je mehr er las, je klarer wurde es ihm, was Gott von ihm wolle und wie man für Gott leben müsse; und er fühlte sich leichter und leichter auf dem Herzen. Vordem, wenn er sich niederlegte, stöhnte er und gedachte Kapitoschas; jetzt aber sagte er: »Dir sei Preis, Herr, Dein Wille geschehe.« Seit dieser Zeit war das ganze Leben Awdejewitschs verändert. An Feiertagen kehrte er früher manchmal im Kruge ein, trank Tee, ab und zu nahm er auch ein Schnäpschen. Mit einem Bekannten trank er zusammen – war er auch nicht gerade betrunken, so trat er doch stets aus dem Kruge mit einem leichten Rausch und sprach nichtige Worte: fand alles zu tadeln und beurteilte lieblos seinen Nächsten. 251
Jetzt aber war eine Wandlung vor sich gegangen. Er führte ein ruhiges und freudiges Leben. Morgens ging er an die Arbeit und schaffte rüstig den Tag über. Dann nimmt er die Lampe vom Haken, stellt sie auf den Tisch, holt vom Regal das Buch, schlägt es auf und setzt sich nieder zum Lesen. Je mehr er liest, je mehr begreift er; klarer, heiterer wird es ihm auf der Seele. Wieder einmal hatte sich Martin bis spät in die Nacht in sein Lesen vertieft. Er las im Evangelium des Lukas das sechste Kapitel und kam an die Verse: »Und wer dich schlägt auf eine Backe, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem wehre nicht auch den Rock. – Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, da fordere es nicht wieder. – Und wie ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, also tut ihnen gleich auch ihr.« Weiter las er die Verse, wo der Herr spricht: »Was heißet ihr mich aber Herr, Herr und tut nicht, was ich euch sage? – Wer zu mir kommt und höret meine Rede, und tut sie, den will ich euch zeigen, wem er gleich ist. – Er ist gleich einem Menschen, der ein Haus bauete und grub tief und legte den Grund auf den Fels. Da aber Gewässer kam, da riß der Strom zum Hause zu, und mochte es nicht bewegen; denn es war auf den Fels gegründet. – Wer aber höret und nicht tut, der ist gleich einem Menschen, der ein Haus bauete auf die Erde ohne Grund; und der Strom riß zu ihm zu, und es fiel bald, und das Haus gewann einen großen Riß.« 252
Awdejewitsch las diese Worte, und es wurde ihm so heiter auf der Seele. Er nahm die Brille ab, legte sie auf das Buch, lehnte sich an den Tisch und wurde nachdenklich. Und er begann sein Leben diesen Worten anzupassen. Ist mein Haus auf Stein oder Sand gebaut? denkt er bei sich. Gut, wenn es auf Stein ruht – und es läßt sich so leicht an, wenn man allein ist, dann scheint es, als ob man alles verrichtet habe, wie Gott befohlen. Zerstreut man sich aber, so sündigt man von neuem. Ich will sterben, des Höchsten Willen zu tun. Es ist zu schön. Gott helfe mir! Mit diesen Gedanken wollte er sich niederlegen, aber es tat ihm leid, sich von dem Buche loszureißen, und er begann das siebente Kapitel zu lesen. Er las von des Hauptmanns Knecht, dem Jüngling zu Nain, er las die Antwort, welche Jesus den Jüngern Johannes des Täufers gab, er las die Stelle, wo der reiche Pharisäer den Herrn bat, daß er mit ihm äße, wie Er die Sünderin rechtfertigte, die seine Füße salbte und mit Tränen benetzte – und er kam bis zum vierundzwanzigsten Vers und las: »Und er wandte sich zu dem Weibe und sprach zu Simon: ›Siehest du dies Weib? Ich bin gekommen in dein Haus: du hast mir nicht Wasser gegeben zu meinen Füßen; diese aber hat meine Füße mit Tränen genetzet und mit den Haaren ihres Hauptes getrocknet. – Du hast mir keinen Kuß gegeben; diese aber, nachdem sie hereingekommen ist, hat sie nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. – Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbet; sie aber hat 253
meine Füße mit Salben gesalbet.‹« Er las diese Verse und dachte: Die Füße hat er nicht mit Wasser benetzt, keinen Kuß hat er gegeben, das Haupt nicht gesalbt … Wieder nahm er die Brille ab, legte sie auf das Buch und vertiefte sich in seine Gedanken. Der Pharisäer war, wie ich vermute, wohl ein ebensolcher wie ich – daran denke ich: daß ich meinen Tee habe, daß ich gewärmt bin, daß ich mich pflege; aber auf meinen Nächsten achte ich nicht. Mich vergesse ich nicht, aber für den Gast treffe ich keine Sorge. Und wer ist der Gast? Der Herr selber. Kehrte er bei mir ein – würde ich so handeln? Er stützte seinen Kopf auf beide Hände und bemerkte nicht, daß er einduselte. »Martin!« hörte er plötzlich ganz leise neben sich rufen. Schlaftrunken reckte sich Martin und fragte: »Wer da?« Er blickte sich um, sah auf die Tür – niemand war da. Wieder duselte er ein. Deutlich vernahm er die Worte: »Martin, Martin! Blicke morgen auf die Straße, ich werde kommen.« Martin erwachte, stand vom Stuhl auf und rieb sich die Augen. Er wußte nicht: hatte er diese Worte im Traum oder in Wirklichkeit gehört? Nachdem er die Lampe ausgelöscht hatte, legte er sich schlafen. Früh am Morgen erhob sich Awdejewitsch, betete, heizte an, schob Kohlsuppe und Grütze in den Ofen, stellte die Teemaschine auf, band seine Schürze vor und setzte sich an das Fenster zum Arbeiten. Bei der 254
Arbeit denkt er an das, was er am Abend durchlebt. Hörte er die Stimme im Traum oder erklang sie ihm in Wirklichkeit? Er blickt mehr durch das Fenster, als daß er arbeitet. Kommt jemand vorüber in unbekannten Stiefeln, so beugt er sich weit vor, um nicht die Füße allein, sondern auch das Gesicht zu sehen. In neuen Filzstiefeln ging der Hausknecht vorüber, dann kam der Wasserträger, und bald stellte sich der alte Nicolajewsche Soldat in ganz alten geflickten Filzstiefeln, eine Schaufel in den Händen, vor das Fenster. An den Filzstiefeln erkannte ihn Awdejewitsch. Den Alten nannte man Stepanitsch. Er aß bei einem Kaufmann das Gnadenbrot und mußte dem Hausknecht Hilfe leisten. Stepanitsch fing an, vor dem Fenster Schnee zu schaufeln. Awdejewitsch sah ihm zu, dann nahm er wieder seine Arbeit auf. Ganz närrisch bin ich auf meine alten Tage geworden, lachte Awdejewitsch sich selbst aus. Stepanitsch schaufelt Schnee, und ich denke, Christus kommt zu mir. Ich bin wahrhaftig ein närrischer alter Kauz. Nachdem er an zehn Stiche gemacht, drängt es ihn, wieder durch das Fenster zu blicken: Stepanitsch hatte die Schaufel an die Wand gelehnt – er wärmt seine Hände oder ruht sich aus. Ein alter, gebrochener Mann, er scheint nicht mehr die Kraft zum Schaufeln zu haben. Awdejewitsch dachte: Soll ich ihm nicht Tee geben? Die Teemaschine fängt schon an überzulaufen. Er steckte die Ahle ein, erhob sich, stellte die Teemaschine auf den 255
Tisch, machte Tee und klopfte an das Glas. Stepanitsch sah sich um und näherte sich dem Fenster. Awdejewitsch winkte ihn zu sich und ging, die Tür aufzumachen. »Komm herein, wärme dich – dir ist wohl sehr kalt?« fragte er. »Christus stehe uns bei! Die Knochen schmerzen«, entgegnete Stepanitsch. Er trat ein, schüttelte sich den Schnee ab und wischte sich die Füße; sein Gang war unsicher. »Mühe dich nicht ab, deine Füße zu reinigen«, rief ihm Awdejewitsch entgegen, »setze dich, trinke Tee.« Awdejewitsch goß zwei Gläser ein, schob das eine dem Gast zu, von seinem Tee goß er auf die Untertasse und begann zu blasen. Stepanitsch trank sein Glas leer, stellte es hin, mit dem Boden nach oben, legte das Stück Zucker, das er beim Trinken benagt hatte, auf den Tisch und dankte. Wie indes zu bemerken war, hätte er gern noch ein Glas gehabt. »Trinke«, forderte Awdejewitsch den Stepanitsch auf und goß sich und dem Gast ein. Awdejewitsch trank seinen Tee und blickte dabei auf die Straße. »Du erwartest jemand?« erkundigte sich der Gast. »Ob ich jemand erwarte? Ich muß mich schämen zu sagen, wen ich erwarte. Ich warte auf etwas, und ich warte auch nicht … aber ein Wort ist mir in die Seele gefallen … ich hatte eine Erscheinung … ach, ich weiß selber nicht. Siehst du, Brüderchen, gestern habe ich das Evangelium vom Herrn Christus gele256
sen, wie er auf Erden ging. Du hast’s doch wohl gehört?« »Gehört wohl. Aber wir sind dunkle Leute, können nicht lesen.« »Nun, ich habe eben gelesen, wie er auf Erden ging … wie er zu dem Pharisäer kam, weißt du, und der empfängt ihn ohne Feier. Und ich denke, während ich lese, daß er den Herrn Christus nicht mit aller Ehre empfangen habe: geschähe es mir, denke ich, ich wüßte gar nicht, was alles ich tun sollte, um ihn zu empfangen. Ich dachte darüber nach und duselte ein. Und wie ich duselte, höre ich mich beim Namen rufen; ich erhebe mich, und es ist mir, als höre ich flüsternde Worte: ›Warte, ich komme morgen.‹ Und so geschah es zweimal. Ich muß mich selber auslachen – aber dennoch erwarte ich den Herrn.« Stepanitsch sagte nichts, trank seinen Tee aus und legte das Glas hin, Awdejewitsch aber stellte es wieder auf und goß ein. »Trinke zur Gesundheit. Ich meine, daß unser Herr, als er auf Erden wandelte, keinen verachtete und zumeist mit einfachem Volk umging. Aus unsereinem nahm er am liebsten seine Jünger, aus Arbeitsleuten, aus solchen, wie wir sind. Wer sich erhebt, sagte er, der soll erniedrigt werden, und wer sich erniedrigt, der soll erhöht werden. Ihr, so redete er, nennt mich den Herrn, und ich werde euch die Füße waschen. Wer der Erste sein will, soll allen ein Diener sein. Selig sind die Armen, die Demütigen, die Sanftmütigen, die Milden.« 257
Stepanitsch dachte nicht an sein Glas, er war ein alter weichgestimmter Mensch. Er sitzt, hört zu, und über sein Gesicht fließen Tränen. »Trinke noch«, sagte Awdejewitsch, aber Stepanitsch bekreuzte sich, danke, schob sein Glas fort und stand auf. »Ich danke dir, Martin Awdejewitsch, du tatest mir wohl, hast mir Seele und Körper gesättigt.« »Kehre ein andermal wieder bei mir ein, Stepanitsch.« Stepanitsch ging fort. Martin goß sich den letzten Tee ein, trank aus, räumte das Geschirr auf und machte sich daran, einen vertragenen Schuh zurechtzuflicken. Während der Arbeit blickte er durch das Fenster – er wartet auf Christus, denkt immer an ihn, an seine Reden und Taten. Zwei Soldaten gingen vorüber, einer in Regimentsstiefeln, der andere in seinen eigenen; dann kam, in sauber geputzten Galoschen, der Wirt des Nachbarhauses; ein Bäcker mit einem Korbe folgte. Bald kam ein Weib in wollenen Strümpfen und Dorfschuhen. Sie blieb am Fensterpfeiler stehen. Awdejewitsch blickte auf; er sieht ein fremdes Weib, schlecht gekleidet, ein Kind auf dem Arm; sie stellt sich an die Wand, mit dem Rücken gegen den Wind, und wikkelt das Kind ein – und hat doch nichts zum Einwikkeln. Durch das Fenster hört Awdejewitsch das Kind schreien; sie will es beruhigen und kann es gar nicht beruhigen. Awdejewitsch ging zur Tür und rief von der Treppe aus: »Gute Frau, gute Frau!« Das Weib sah sich um. 258
»Was stehst du da mit dem Kindchen in der Kälte? Komm in die Stube, in der Wärme wirst du es besser einwickeln können. Da – hierher.« Verwundert sah ihn das Weib an – ein alter Mann mit einer Schürze und einer Brille auf der Nase ruft sie zu sich. Sie folgte ihm in die Stube, und der Alte führte sie zum Bett. »Hierher setze dich, gute Frau, näher zum Ofen; erwärme dich und stille das Kind.« »Hab’ keine Milch in der Brust, seit dem Morgen habe ich nichts gegessen«, sagte das Weib, legte aber dennoch das Kind an die Brust. Bedauernd schüttelte Awdejewitsch den Kopf, ging zum Tisch, holte Brot und einen Napf, öffnete die Ofentür, goß in den Napf Kohlsuppe und nahm auch den Topf mit der Grütze heraus; da dieselbe aber noch nicht gar war, goß er nur Suppe ein und stellte sie auf den Tisch. Auch nahm er vom Haken das Handtuch und breitete es aus. »Setz dich«, sagte er, »und iß, gute Frau. Mit dem Kinde werde ich inzwischen sitzen. Ich habe eigene Kinder gehabt und verstehe sie zu warten.« Das Weib bekreuzte sich, setzte sich an den Tisch und begann zu essen. Awdejewitsch setzte sich auf das Bett zu dem Kinde. Er schmatzt und schmatzt – aber es schmatzt sich schlecht, denn er hat keine Zähne. Das Kind hörte nicht auf zu schreien. Da dachte sich Awdejewitsch aus, den Schreihals mit dem Finger zu beruhigen – er führt einen Finger gerade zu dessen Munde und wieder zurück; aber in 259
den Mund gibt er ihm den Finger nicht, denn derselbe ist von Pech ganz schwarz. Und das Kind betrachtete den Finger, beruhigte sich und fing sogar an zu lachen. Awdejewitsch freute sich darüber. Und das Weib ißt und erzählt, wer sie ist und wohin sie gegangen war. »Ich bin eine Soldatenfrau«, sagte sie, »vor acht Monaten hat man meinen Mann fortgebracht, weit von hier, und seit dieser Zeit erhielt ich kein Lebenszeichen von ihm. Während ich einen Dienst als Köchin hatte, kam ich nieder. Mit dem Kinde wollte man mich nicht behalten. Schon den dritten Monat schlage ich mich ohne Stelle durch, habe alles fortbringen müssen, was ich hatte. Ich wollte als Amme dienen, aber man nimmt mich nicht – ich sei zu mager, sagt man. Eben war ich zu einer Kaufmannsfrau gegangen; bei der dient ein Weib aus unserem Dorfe; man hatte versprochen, mich zu nehmen, und ich dachte, ich würde gleich dableiben können; aber sie befahl mir, in der nächsten Woche zu kommen, und sie wohnt so weit, ich bin ganz abgemattet, und auch das Kind ist so geschwächt. Gott sei Lob, daß die Wirtin Mitleid hat – sie hält uns um Christi willen im Quartier, sonst wüßte ich nicht, wie zu leben.« Awdejewitsch seufzte und sagte: »Du hast wohl auch keine warme Kleidung?« »Wie sollte ich warme Kleidung haben, Väterchen. Gestern mußte ich das letzte Tuch für einen Dwugriwennyj (20 Kopeken) versetzen.« Sie ging zum Bett und nahm das Kind. Awdeje260
witsch stand auf und holte von der Wand einen alten Halbrock. »Nimm«, sagte er. »Zwar ist es ein schlechtes Stück, aber zum Einwickeln wird es noch taugen.« Das Weib sah auf das Kleidungsstück und auf den Alten, nahm den Halbrock und weinte. Awdejewitsch duckte sich auf die Diele, schob den Kasten unter dem Bett vor, wühlte darin und setzte sich wieder zu dem Weibe. »Christus beschütze dich«, hub sie an. »Er hat mich wohl an dein Fenster geschickt, Väterchen. Ohne dich würde mein Kind erfroren sein. Als ich fortging, war es warm, und jetzt ist die Kälte gekommen. Er, der Herr, hat dich gelehrt, durch das Fenster zu blicken und mit mir Elender Mitleid zu haben.« Lächelnd entgegnete Awdejewitsch: »Er hat es mich gelehrt, gute Frau. Nicht, um den Tag dem lieben Herrgott zu stehlen, blicke ich durch das Fenster.« Und Martin erzählte auch der Soldatenfrau seinen Traum: wie er die Stimme gehört und der Herr versprochen, noch heut zu ihm zu kommen. »Es kann so geschehen«, meinte das Weib, stand auf, nahm den Halbrock, wickelte das Kind darin ein, verbeugte sich zum Dank, und immer wieder dankte sie. »Nimm um Christi willen«, sagte Awdejewitsch und reichte ihr, damit sie das Tuch einlöse, einen Dwugriwennyj. Sie bekreuzte sich, auch Awdejewitsch bekreuzte sich und geleitete sie hinaus. 261
Als das Weib gegangen war, aß Awdejewitsch seine Kohlsuppe, räumte ab und setzte sich wieder zur Arbeit. Und während der Arbeit denkt er immer an das Fenster. Wie es zu dunkeln beginnt, späht er hinaus, wer wohl vorüberginge. Bekannte und Fremde gingen vorüber – nichts Besonderes war dabei. Jetzt bleibt gerade vor seinem Fenster ein altes Hökerweib stehen. Sie trägt einen Korb mit Äpfeln; es waren nur wenig geblieben; sie hatte fast alle verkauft; über der Schulter hängt ihr ein Sack mit Spänen – wahrscheinlich hatte sie dieselben auf einem Bau gesammelt, und nun geht sie nach Hause. Aber der Sack drückte ihr wohl die Schulter ab; sie wollte ihn über die andere Schulter hängen, weshalb sie ihn auf das Trottoir niederließ; auch den Korb mit den Äpfeln setzte sie ab und schüttelte die Späne im Sack. Währenddes rannte ein Junge mit zerrissener Mütze herbei, griff aus dem Korb einen Apfel und wollte fortlaufen. Die Alte bemerkt ihn, dreht sich um und faßt den Jungen am Ärmel. Der Junge duckt sich, will entschlüpfen, die Alte aber packt ihn fester, wirft ihm die Mütze ab, zaust ihn am Haar. Der Junge schreit, das Weib schimpft. Awdejewitsch hatte nicht Zeit, die Ahle einzustekken, er wirft sie auf die Diele und springt zur Tür hinaus, wobei er stolpert, so daß die Brille abfällt. Wie er auf die Straße kommt, hat die Hökerin den Jungen gerade am Schopf, sie schimpft und will ihn zur Polizei führen. Der Junge müht sich aus Leibeskräften, um loszukommen. 262
»Ich habe nichts genommen«, plärrt er. »Weshalb schlägst du mich? Laß mich los.« Awdejewitsch versucht, sie auseinanderzubringen, er faßt den Jungen bei der Hand und sagt: »Laß ihn, Mütterchen, verzeihe ihm um Christi willen.« »Ich werde ihm so verzeihen, daß er’s braun und blau haben soll. Der Lümmel muß auf die Polizei.« Awdejewitsch bat: »Laß ihn laufen, Mütterchen, er wird’s in Zukunft nicht wieder tun. Gib ihn frei um Christi willen.« Die Alte ließ ab, der Junge wollte sich fortmachen, aber Awdejewitsch hielt ihn zurück. »Bitte das Mütterchen um Verzeihung, und künftig tu’s nicht wieder. Ich habe gesehen, wie du den Apfel genommen hast.« Der Junge weinte und bat um Verzeihung. »So ist’s recht, hier hast du einen Apfel.« Und Awdejewitsch nahm aus dem Korb einen Apfel und gab ihn dem Jungen. »Ich werd’ ihn dir bezahlen«, sagte er dabei. »Verwöhnst sie, diese Taugenichtse«, rief die Alte. »Man muß ihn so belohnen, daß er eine Woche lang nicht sitzen kann.« »Eh, Mütterchen, Mütterchen, so würde es sein, wenn es nach uns ginge. Aber nach Gottes Willen ist es nicht so. Was sollte wohl, wenn man ihm wegen eines Apfels die Rute gäbe, mit uns geschehen für unsere Sünden?« Und er erzählte der Alten das Gleichnis, wie der Gutsherr dem Zinsbauern die ganze Schuld erließ, 263
und der Zinsbauer ging hin und begann, seinen Schuldner zu würgen. Die Alte horchte auf, auch der Junge hörte zu. »Gott befahl, zu vergeben«, sagte Awdejewitsch, »sonst wird auch uns nicht vergeben werden. Allen muß man verzeihen, und dem Unvernünftigen um so mehr.« Die Alte nickte und seufzte: »Jaja, aber sie sind zu unbändig geworden.« »So müssen wir, Alte, sie belehren.« »Auch ich sage ja so. Hatte selbst sieben Kinder – nur meine Tochter ist mir geblieben.« Die Alte erzählte, wo und wie sie bei ihrer Tochter lebt, wie viele Enkel sie hat. »Wenn ich auch nicht mehr viel Kraft habe, so mühe ich mich doch noch ab. Die Enkel tun einem leid, es sind gute Kinder; so herzig wie sie ist keiner zu mir. Besonders Aksjutka läßt gar nicht von mir ab. Großmutter, traute Großmutter …« Die Alte wurde ganz weich. »Es ist ja nur eine Kinderei mit dem Jungen da. Gott mit ihm.« Bei diesen Worten wirft sie den Sack über die Schulter. Der Junge springt herzu und sagt: »Laß mich den Korb tragen, Großmütterchen, wir haben denselben Weg.« Nebeneinander gingen sie jetzt auf der Straße. Die Alte hatte vergessen, das Geld für den Apfel zu fordern. Awdejewitsch sah ihnen nach und hörte, wie sie zusammen sprachen. Als sie fortgegangen waren, kehrte Awdejewitsch zurück, fand die Brille auf der Treppe nicht zerbro264
chen, nahm die Ahle und setzte sich wieder an seine Arbeit. Er arbeitete ein wenig, die Dunkelheit hatte sich schon recht bemerklich gemacht. Der Anstecker ging vorüber und steckte die Laterne an. Es ist Zeit, Licht anzuzünden, dachte Awdejewitsch, machte sein Lämpchen zurecht, hängte es auf und arbeitete wieder. Einen Stiefel machte er fertig, beguckte ihn von allen Seiten und sah, daß er gut war. Er legte seine Instrumente zusammen, fegte aus, stellte die Lampe auf den Tisch und holte vom Regal das Evangelium. Wo er gestern einen Saffianschnitzel eingelegt hatte, wollte er das Buch aufmachen, aber es schlug sich an einer anderen Stelle auf. Und wie das heilige Buch aufgeschlagen vor ihm lag, entsann er sich des gestrigen Traumes. Und da war es ihm plötzlich, als höre er hinter sich Schritte. Er schaute sich um und sieht: Menschen stehen in der dunklen Ecke, aber er vermag sie nicht zu erkennen. Und eine Stimme flüstert ihm ins Ohr: »Martin, Martin! Hast du mich nicht erkannt?« »Wen?« fragte Awdejewitsch. »Mich«, sagte die Stimme. »Ich bin es.« Und es trat aus der dunklen Ecke Stepanitsch – er lächelte und zerrann wie ein Wölkchen. »Das bin ich auch«, sagte die Stimme, und aus der dunklen Ecke trat das Weib mit dem Kindchen – das Weib lächelte und zerrann wie ein Wölkchen. »Das bin ich auch«, sagte die Stimme, und es näherte sich die Alte mit dem Knaben – der Knabe hielt den Apfel,beide lächelten und verschwanden. 265
Fröhlich war es Awdejewitsch auf der Seele, er bekreuzte sich, setzte die Brille auf und las im Evangelium, wo es aufgeschlagen war. Oben auf der Seite las er Matthäus 25: »Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeiset. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränket. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherberget.« Und unten auf der Seite las er noch: »Wahrlich, ich sage euch: ›Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.‹« Und Awdejewitsch begriff, daß der Traum ihn nicht betrogen, daß zu ihm an diesem Tage sein Heiland gekommen war und er ihn empfangen hatte. (Deutsch von August Schulz)
Selma Lagerlöf Die Heilige Nacht
Es war an einem Weihnachtstag, alle waren zur Kirche gefahren, außer Großmutter und mir. Ich glaube, wir beide waren im ganzen Hause allein. Wir hatten nicht mitfahren können, weil die eine zu jung und die andere zu alt war. Und alle beide waren wir betrübt, daß wir nicht zur Mette fahren und die Weihnachtslichter sehen konnten. Aber wie wir so in unserer Einsamkeit saßen, fing Großmutter zu erzählen an. »Es war einmal ein Mann«, sagte sie, »der in die dunkle Nacht hinausging, um sich Feuer zu leihen. Er ging von Haus zu Haus und klopfte an. ›Ihr lieben Leute, helft mir!‹ sagte er. ›Mein Weib hat eben ein Kindlein geboren, und ich muß Feuer anzünden, um sie und den Kleinen zu wärmen.‹ Aber es war tiefe Nacht, so daß alle Menschen schliefen, und niemand antwortete ihm. Der Mann ging und ging. Endlich erblickte er in weiter Ferne einen Feuerschein. Da wanderte er in diese Richtung und sah, daß das Feuer im Freien brannte. Eine Menge weißer Schafe lagen rings um das Feuer und schliefen, und ein alter Hirt wachte über die Herde. Als der Mann, der Feuer leihen wollte, zu den 267
Schafen kam, sah er, daß drei große Hunde zu Füßen des Hirten ruhten und schliefen. Sie erwachten alle drei bei seinem Kommen und sperrten ihre weiten Rachen auf, als ob sie bellen wollten, aber man vernahm keinen Laut. Der Mann sah, daß sich die Haare auf ihrem Rücken sträubten, er sah, wie ihre scharfen Zähne funkelnd weiß im Feuerschein leuchteten und wie sie auf ihn losstürzten. Er fühlte, daß einer von ihnen nach seinen Beinen schnappte und einer nach seiner Hand und daß einer sich an seine Kehle hängte. Aber die Kinnladen und die Zähne, mit denen die Hunde beißen wollten, gehorchten ihnen nicht, und der Mann litt nicht den kleinsten Schaden. Nun wollte der Mann weitergehen, um das zu finden, was er brauchte. Aber die Schafe lagen so dicht nebeneinander, Rücken an Rücken, daß er nicht vorwärts kommen konnte. Da stieg der Mann auf die Rücken der Tiere und wanderte über sie hin dem Feuer zu. Und keins von den Tieren wachte auf oder regte sich.« So weit hatte Großmutter ungestört erzählen können, aber nun konnte ich es nicht lassen, sie zu unterbrechen. »Warum regten sie sich nicht, Großmutter?« fragte ich. »Das wirst du nach einem Weilchen schon erfahren«, sagte Großmutter und fuhr mit ihrer Geschichte fort. »Als der Mann fast beim Feuer angelangt war, sah der Hirt auf. Es war ein alter mürrischer Mann, der unwirsch und hart gegen alle Menschen war. Und als 268
er einen Fremden kommen sah, griff er nach einem langen, spitzen Stabe, den er in der Hand zu halten pflegte, wenn er seine Herde hütete, und warf ihn nach ihm. Und der Stab flog zischend gerade auf den Mann zu, aber ehe er ihn traf, wich er zur Seite und sauste an ihm vorbei, weit über das Feld.« Als Großmutter so weit gekommen war, unterbrach ich sie abermals. »Großmutter, warum wollte der Stock den Mann nicht treffen?« Aber Großmutter ließ es sich nicht einfallen, mir zu antworten, sondern fuhr mit ihrer Erzählung fort. »Nun kam der Mann zu dem Hirten und sagte zu ihm: ›Guter Freund, hilf mir und leih mir ein wenig Feuer. Mein Weib hat eben ein Kindlein geboren, und ich muß Feuer machen, um sie und den Kleinen zu wärmen.‹ Der Hirt hätte am liebsten nein gesagt, aber als er daran dachte, daß die Hunde dem Mann nicht hatten schaden können, daß die Schafe nicht vor ihm davongelaufen waren und daß sein Stab ihn nicht treffen wollte, da wurde ihm ein wenig bange, und er wagte es nicht, dem Fremden das abzuschlagen, was er begehrte. ›Nimm, soviel du brauchst‹, sagte er zu dem Mann. Aber das Feuer war beinahe ausgebrannt. Es waren keine Scheite und Zweige mehr übrig, sondern nur ein großer Gluthaufen, und der Fremde hatte weder Schaufel noch Eimer, worin er die roten Kohlen hätte tragen können. 269
Als der Hirt dies sah, sagte er abermals: ›Nimm, soviel du brauchst!‹ Und er freute sich, daß der Mann kein Feuer wegtragen konnte. Aber der Mann beugte sich, holte die Kohlen mit bloßen Händen aus der Asche und legte sie in seinen Mantel. Und weder versengten die Kohlen seine Hände, als er sie berührte, noch versengten sie seinen Mantel, sondern der Mann trug sie fort, als wären es Nüsse oder Äpfel.« Aber hier wurde die Märchenerzählerin zum drittenmal unterbrochen. »Großmutter, warum wollte die Kohle den Mann nicht brennen?« »Das wirst du schon hören«, sagte Großmutter, und dann erzählte sie weiter. »Als dieser Hirt, der ein so böser, mürrischer Mann war, dies alles sah, begann er sich zu wundern: ›Was kann dies für eine Macht sein, wo die Hunde nicht beißen, die Schafe nicht erschrecken, die Lanze nicht tötet und das Feuer nicht brennt?‹ Er rief den Fremden zurück und sagte zu ihm: ›Was ist dies für eine Macht? Und woher kommt es, daß alle Dinge dir Barmherzigkeit zeigen?‹ Da sagte der Mann: ›Ich kann es dir nicht sagen, wenn du selber es nicht siehst.‹ Und er wollte seiner Wege gehen, um bald ein Feuer anzünden und Weib und Kind wärmen zu können. Aber da dachte der Hirt, er wolle den Mann nicht ganz aus dem Gesicht verlieren, bevor er erfahren habe, was dies alles bedeute. Er stand auf und ging ihm nach, bis er dorthin kam, wo der Fremde daheim war. 270
Da sah der Hirt, daß der Mann nicht einmal eine Hütte hatte, um darin zu wohnen, sondern er hatte sein Weib und sein Kind in einer Berggrotte liegen, wo es nichts gab als nackte, kalte Steinwände. Aber der Hirt dachte, das arme, unschuldige Kindlein würde vielleicht dort in der Grotte erfrieren, und obgleich er ein harter Mann war, wurde er davon ergriffen und beschloß, dem Kind zu helfen. Und er löste sein Ränzel von der Schulter und nahm daraus ein weiches, weißes Schaffell hervor. Das gab er dem fremden Mann und sagte, er möge das Kind darauf betten. Aber in demselben Augenblick, in dem er zeigte, daß auch er barmherzig sein konnte, wurden ihm die Augen geöffnet, und er sah, was er vorher nicht hatte sehen, und hörte, was er vorher nicht hatte hören können. Er sah, daß rund um ihn ein dichter Kreis von kleinen, silberbeflügelten Englein stand. Und jedes von ihnen hielt ein Saitenspiel in der Hand, und alle sangen sie mit lauter Stimme, daß in dieser Nacht der Heiland geboren sei, der die Welt von ihren Sünden erlösen solle. – Da begriff er, warum in dieser Nacht alle Dinge so froh waren, daß sie niemandem etwas zuleide tun wollten. Und nicht nur rings um den Hirten waren Engel, sondern er sah sie überall. Sie saßen in der Grotte, und sie saßen auf dem Berge, und sie flogen unter dem Himmel. Sie kamen in großen Scharen über den Weg gegangen, und wie sie vorbeika271
men, blieben sie stehen und warfen einen Blick auf das Kind. Es herrschte eitel Jubel und Freude und Singen und Spiel, und das alles sah er in der dunklen Nacht, in der er früher nichts zu gewahren vermocht hatte. Und er wurde so froh, daß seine Augen geöffnet waren, daß er auf die Knie fiel und Gott dankte.« Aber als Großmutter so weit gekommen war, seufzte sie und sagte: »Aber was der Hirte sah, das könnten wir auch sehen, denn die Engel fliegen in jeder Weihnachtsnacht unter dem Himmel, wenn wir sie nur zu gewahren vermögen.« Und dann legte Großmutter ihre Hand auf meinen Kopf und sagte: »Dies sollst du dir merken, denn es ist so wahr, wie daß ich dich sehe und du mich siehst. Nicht auf Lichter und Lampen kommt es an, und es liegt nicht an Mond und Sonne, sondern was not tut, ist, daß wir Augen haben, die Herrlichkeit Gottes zu sehen.« (Deutsch von Marie Franzos)
O. Henry Das Geschenk der Weisen
Ein Dollar und siebenundachtzig Cent. Das war alles. Und sechzig Cent davon bestanden aus Pennystücken. Pennies, die man zu jeweils ein oder zwei Stück dem Krämer, Gemüsehändler oder Metzger abgehandelt hatte, bis man mit schamroten Wangen den unausgesprochenen Vorwurf der Knauserigkeit spürte, den solches Feilschen mit sich brachte. Dreimal zählte Delia das Geld nach. Ein Dollar und siebenundachtzig Cent. Und morgen war Weihnachten. Da blieb allerdings nichts anderes übrig, als sich auf die schäbige kleine Couch zu werfen und zu heulen. Das tat Delia denn auch. Was zu der philosophischen Betrachtung anreizt, daß das Leben aus Schluchzen, Seufzen und Lächeln besteht, wobei das Seufzen überwiegt. Während die Verzweiflung der Hausfrau allmählich in das zweite Stadium abklingt, wollen wir uns das Heim betrachten. Eine möblierte Wohnung für acht Dollar die Woche. Nicht daß sie in ihrer Armseligkeit jeder Beschreibung spottete, aber weit entfernt davon war sie sicher nicht. An der Eingangstüre unten befanden sich ein Briefkasten, in den niemals Briefe geworfen wurden, und ein elektrischer Klingelknopf, dem kein Sterbli273
cher je einen Laut entlocken konnte. Dazu gehörte noch eine Karte mit dem Namen ›Mr. James Dillingham Young‹. Das ausgeschriebene ›Dillingham‹ hatte während einer früheren Periode des Wohlstandes vornehm wirken sollen, als der Besitzer des Namens noch dreißig Dollar in der Woche bekam. Doch jetzt, da das Einkommen auf zwanzig Dollar zusammengeschrumpft war, schienen die Buchstaben des Namens ›Dillingham‹ so verschwommen, als gedächten sie ernsthaft, sich zu einem bescheidenen und anspruchslosen ›D‹ zusammenzuziehen. Jedesmal aber, wenn Mr. James Dillingham Young nach Hause kam und seine Wohnung betrat, wurde er von Frau James Dillingham Young, Ihnen schon als Delia bekannt, ›Jim‹ gerufen und stürmisch umarmt. So weit, so gut. Delia hörte auf zu weinen und machte sich mit der Puderquaste über ihre Wangen her. Sie stand am Fenster und sah bedrückt einer grauen Katze zu, die im grauen Hinterhof einem grauen Zaun entlangschlich. Morgen war Weihnachten, und sie hatte nur einen Dollar und siebenundachtzig Cent, um Jim ein Geschenk zu kaufen. Seit Monaten hatte sie jeden Penny gespart, und das war der Erfolg. Mit zwanzig Dollar in der Woche kommt man nicht weit. Die Ausgaben waren größer gewesen, als sie gerechnet hatte. Sie sind es ja immer. Nur ein Dollar siebenundachtzig, um ein Geschenk für Jim zu kaufen. Für ihren Jim. Manch glückliche Stunde hatte sie damit 274
verbracht, sich etwas Hübsches für ihn auszudenken. Etwas Schönes, Seltenes, Gediegenes – etwas, das beinahe der Ehre würdig gewesen wäre, Jim zum Besitzer zu haben. Zwischen den Fenstern des Zimmers befand sich ein Pfeilerspiegel. Vielleicht haben Sie schon einmal einen Pfeilerspiegel in einer Achtdollarwohnung gesehen. Nur eine sehr schlanke und bewegliche Person kann, wenn sie ihr Spiegelbild in einer raschen Folge von Längsstreifen zu betrachten versteht, einen einigermaßen zuverlässigen Eindruck ihres Aussehens bekommen. Da Delia schlank war, verstand sie sich darauf. Plötzlich wandte sie sich vom Fenster ab und stellte sich vor den Spiegel. Ihre Augen glänzten hell, aber ihr Gesicht hatte innerhalb von zwanzig Sekunden jede Farbe verloren. Schnell löste sie ihr Haar und ließ es in seiner ganzen Länge herabfallen. Nun gab es zwei Dinge im Besitz der Familie James Dillingham Young, auf die beide mächtig stolz waren. Eines davon war Jims goldene Uhr, die schon seinem Vater und Großvater gehört hatte. Das andere war Delias Haar. Hätte in der Wohnung jenseits des Lichtschachtes die Königin von Saba gewohnt, Delia hätte ihr Haar eines Tages zum Trocknen aus dem Fenster gehängt, nur um die Juwelen und Geschenke Ihrer Majestät in den Schatten zu stellen. Und wäre König Salomon mit all seinen im Kellergeschoß aufgestapelten Schätzen der Pförtner des Hauses gewesen, Jim hätte jedesmal im Vorbeigehen seine 275
Uhr gezückt, nur um ihn vor Neid seinen Bart raufen zu sehen. Da fiel also Delias schönes Haar wie ein brauner Wasserfall glänzend und sich kräuselnd an ihr herab. Es reichte ihr bis unter die Knie und umhüllte sie fast wie ein Kleid. Mit nervöser Hast steckte sie es wieder auf. Einen Augenblick noch zögerte sie, während eine oder zwei Tränen auf den abgetretenen roten Teppich fielen. Dann schlüpfte sie in ihre alte braune Jacke und setzte ihren alten braunen Hut auf. Mit wehendem Rock und dem immer noch glänzenden Leuchten in den Augen huschte sie zur Tür hinaus, die Treppe hinunter, auf die Straße. Sie blieb erst vor einem Schild stehen, auf dem zu lesen war: ›Mme Sofronie, Haare aller Art.‹ Delia rannte eine Treppe hoch und sammelte sich, nach Luft ringend. Madame, massig, zu weiß gepudert, sehr kühl, sah kaum so aus, als könne sie Sofronie heißen. »Wollen Sie mein Haar kaufen?« fragte Delia. »Ich kaufe Haar«, sagte Madame. »Nehmen Sie Ihren Hut ab und zeigen Sie, wie es aussieht.« Herunter rieselte der braune Wasserfall. »Zwanzig Dollar«, sagte Madame und wog die Haarflut mit geübter Hand. »Schnell, geben Sie mir das Geld«, sagte Delia. Oh, und die nächsten zwei Stunden tänzelten vorbei auf rosigen Schwingen. (Entschuldigen Sie die verhunzte Metapher!) Sie durchstöberte die Läden nach einem Geschenk für Jim. 276
Endlich fand sie es. Sicher war es für Jim und keinen anderen gemacht. Nichts kam ihm gleich in all den anderen Läden, die sie durchwühlt hatte. Es war eine Uhrkette aus Platin, schlicht und edel in der Ausführung; ihr Wert war nur am Material und nicht an protzigem Zierat zu erkennen – was ja bei allen echten Dingen der Fall sein sollte. Diese Kette war es sogar wert, die Uhr aller Uhren zu tragen. Sobald Delia sie sah, wußte sie, daß sie Jim gehören mußte. Sie war wie er. Vornehmheit und Wert – diese Bezeichnungen trafen auf beide zu. Einundzwanzig Dollar nahm man ihr dafür ab, und mit den siebenundachtzig Cent eilte sie nach Hause. Mit dieser Kette an seiner Uhr konnte Jim in jeder Gesellschaft, so eifrig er wollte, nach der Zeit sehen. Denn so prächtig die Uhr auch war, er schaute oft nur verstohlen darauf, weil sie, statt an einer Kette, an einem alten Lederriemen hing. Als Delia zu Hause ankam, wich ihr Freudenrausch ein wenig der Besinnung und Vernunft. Sie holte ihre Brennschere hervor, zündete das Gas an und machte sich daran, die Verwüstungen wiedergutzumachen, die Freude am Schenken und Liebe angerichtet hatten. Und das, liebe Freunde, ist immer eine ungeheure Aufgabe – eine Mammutaufgabe. Nach vierzig Minuten war ihr Kopf mit winzigen, eng anliegenden Löckchen bedeckt, die ihr ganz das Aussehen eines die Schule schwänzenden Lausbuben gaben. Sie besah sich lange, sorgfältig und kritisch im Spiegel. »Wenn Jim mich nicht umbringt«, sagte sie 277
zu sich selbst, »bevor er mich eines zweiten Blickes würdigt, so wird er sagen, ich sehe aus wie ein Tanzgirl von Coney Island. Aber was konnte ich tun – oh, was konnte ich tun mit einem Dollar und siebenundachtzig Cent?« Um sieben Uhr war der Kaffee fertig, und die heiße Bratpfanne stand hinten auf dem Ofen, bereit, die Kotelettes aufzunehmen. Jim kam nie zu spät. Delia nahm die Uhrkette zusammengelegt in die Hand und setzte sich auf die Tischecke bei der Tür, durch die er immer hereinkam. Bald vernahm sie seinen Schritt weit unten auf den ersten Stufen, und für einen Augenblick wurde sie ganz weiß. Sie hatte die Gewohnheit, im stillen kleine Gebete für die einfachsten Alltagsdinge zu sprechen, und so flüsterte sie auch jetzt: »Lieber Gott, mach, daß er mich immer noch hübsch findet!« Die Tür ging auf, Jim trat ein und machte sie hinter sich zu. Er sah schmal und ernst aus. Armer Kerl, erst zweiundzwanzig und schon mit einer Familie beladen! Er brauchte einen neuen Mantel und hatte keine Handschuhe. Jim blieb an der Türe stehen, bewegungslos wie ein Setter, der eine Wachtel wittert. Seine Augen waren auf Delia gerichtet und hatten einen Ausdruck, den sie nicht deuten konnte und der sie erschreckte. Es war weder Zorn noch Überraschung, weder Mißbilligung noch Entsetzen, überhaupt keines der Gefühle, auf die sie gefaßt war. Er starrte sie ganz ein278
fach an, mit jenem sonderbaren Ausdruck auf seinem Gesicht. Delia rutschte vom Tisch herunter und ging auf ihn zu. »Jim, Liebster«, rief sie, »schau mich nicht so an. Ich ließ mein Haar abschneiden und verkaufte es, weil ich Weihnachten einfach nicht überstanden hätte, ohne dir etwas zu schenken. Es wird wieder nachwachsen – du bist nicht böse, nicht wahr? Ich mußte es einfach tun. Und meine Haare wachsen ja unheimlich schnell. Sag ›Fröhliche Weihnachten‹, Jim, und laß uns glücklich sein. Du weißt ja gar nicht, was für ein schönes – ja, wunderschönes Geschenk ich für dich habe.« »Dein Haar hast du dir abgeschnitten?« fragte Jim mühsam, als hätte er trotz der härtesten geistigen Anstrengung diese offensichtliche Tatsache noch nicht erfaßt. »Abgeschnitten und verkauft«, sagte Delia. »Magst du mich nicht trotzdem genauso gern? Ich bin doch auch ohne das Haar immer noch dieselbe, nicht wahr?« Jim schaute sich forschend im Zimmer um. »Du sagst, dein Haar ist fort?« sagte er mit fast idiotischem Ausdruck. »Du brauchst nicht danach zu suchen«, sagte Delia. »Verkauft ist es, sag ich dir, verkauft und fort. Es ist Heiliger Abend, mein Junge. Sei lieb zu mir, ich habe es ja für dich getan. Es mag ja sein, daß die Haare auf meinem Kopf gezählt waren«, fuhr sie fort mit plötzlich ernsthafter Zärtlichkeit, »aber niemand 279
könnte jemals meine Liebe zu dir zählen. Soll ich jetzt die Kotelettes aufsetzen, Jim?« Nun schien Jim schnell aus seinem Trancezustand zu erwachen. Er schloß Delia in die Arme. Wir wollen daher zehn Sekunden lang mit diskreter Genauigkeit einen belanglosen Gegenstand in entgegengesetzter Richtung betrachten. Acht Dollar in der Woche oder eine Million im Jahr – was ist der Unterschied? Ein Mathematiker oder ein geistreicher Kopf würde uns eine falsche Antwort geben. Die drei Weisen aus dem Morgenlande brachten kostbare Geschenke, aber jenes schönste Geschenk war nicht darunter. Diese dunkle Andeutung wird sich später aufklären. Jim zog ein Päckchen aus seiner Manteltasche und warf es auf den Tisch. »Täusche dich nicht in mir, Dell«, sagte er. »Ich glaube, kein Haarschneiden, Scheren oder Waschen könnte mich dazu bringen, mein Mädchen weniger zu lieben. Aber wenn du dieses Päckchen aufmachst, wirst du sehen, warum ich zuerst eine Weile außer Fassung war.« Weiße Finger zogen behende an Schnur und Papier. Ein entzückter Freudenschrei; und dann – o weh – ein schneller echt weiblicher Umschwung zu jähen Tränen und Klagen, welche den Herrn des Hauses vor die augenblickliche Notwendigkeit stellten, mit ganzer Kraft Trost zu spenden. Denn da lagen sie, die Kämme – die ganze Garnitur von Kämmen, seitlich und hinten einzustecken, die Delia so lange schon in einem Schaufenster am 280
Broadway bewundert hatte. Herrliche Kämme, aus echtem Schildpatt, mit juwelenverzierten Rändern – genau von der Farbe, die zu dem verschwundenen Haar gepaßt hätte. Es waren teure Kämme, das wußte sie, und ihr Herz hatte sie voller Sehnsucht begehrt, ohne im entferntesten zu hoffen, sie je zu besitzen. Und jetzt gehörten sie ihr, aber die Flechten, die diese heißersehnten Schmuckstücke hätten zieren sollen, waren fort. Doch sie drückte sie ans Herz, und endlich konnte sie aus verweinten Augen aufblicken und lächelnd sagen: »Meine Haare wachsen ja so rasch, Jim.« Und dann sprang Delia wie eine kleine, angesengte Katze in die Höhe und rief: »Oh, oh!« Jim hatte ja sein schönes Geschenk noch gar nicht gesehen. Sie hielt es ihm eifrig auf offener Hand entgegen. Das mattglänzende, kostbare Metall schien aufzuleuchten und ihre innige Freude widerzuspiegeln. »Ist sie nicht ein Prachtstück, Jim? Ich habe die ganze Stadt abgejagt, bis ich sie gefunden habe. Du mußt jetzt hundertmal am Tag nach der Zeit sehen. Gib mir deine Uhr. Ich möchte sehen, wie sie sich daran ausnimmt.« Anstatt Folge zu leisten, ließ sich Jim auf die Couch fallen, faltete die Hände hinter dem Kopf und lächelte. »Dell«, sagte er, »wir wollen unsere Weihnachtsgeschenke wegpacken und eine Weile aufheben. Sie 281
sind zu schön, als daß wir sie jetzt gleich benützen könnten. Ich habe die Uhr verkauft, um das Geld für deine Kämme zu bekommen. Und jetzt, glaube ich, wäre es Zeit, die Kotelettes aufs Feuer zu stellen.« Die Heiligen Drei Könige waren, wie Sie wissen werden, weise Männer – wunderbar weise Männer –, die dem Kindlein in der Krippe Geschenke brachten. Sie erfanden die Kunst des weihnächtlichen Schenkens. In ihrer Weisheit wählten sie sicher Geschenke, die für den Fall, schon auf dem Gabentisch vertreten zu sein, umgetauscht werden konnten. Und da habe ich Ihnen nun mit unbeholfener Feder die recht ereignislose Geschichte von zwei närrischen Kindern in einer Wohnung erzählt, die einander, gar nicht sehr weise, ihre größten Schätze geopfert haben. Aber in meinem Schlußwort an die Weisen unserer Tage möchte ich sagen, daß von allen, die schenken, diese beiden am weisesten waren. Von allen, die schenken und beschenkt werden, sind ihresgleichen am weisesten. Das gilt für immer und überall. Sie sind die Könige. (Deutsch von Theo Schumacher)
Anton Čechov Vanka
Vanka Žukov, ein neunjähriger Junge, den man vor drei Monaten zu dem Schuster Aljachin in die Lehre gegeben hatte, legte sich in der Weihnachtsnacht nicht schlafen. Er wartete ab, bis die Meistersleute mit den Gesellen zur Frühmesse gegangen waren, und holte dann aus dem Schrank des Meisters ein Fläschchen mit Tinte und einen Federhalter mit einer verrosteten Feder. Dann breitete er ein zerknittertes Blatt Papier vor sich aus und begann zu schreiben. Bevor er den ersten Buchstaben malte, schaute er sich mehrmals ängstlich nach der Tür und dem Fenster um, schielte nach dem dunklen Heiligenbild, zu dessen beiden Seiten sich Regale mit Schuhleisten hinzogen, und seufzte tief. Das Papier lag auf der Bank, er selbst kniete davor. »Lieber Großvater Konstantin Makaryč!« schrieb er. »Ich schreibe Dir einen Brief. Ich gratuliere Euch zu Weihnachten und wünsche Dir vom lieben Gott alles Gute. Ich habe ja keinen Vater und keine Mutter mehr, nur Du allein bist mir geblieben.« Vanka ließ den Blick zu dem dunklen Fenster schweifen, in dem sich der Schein der Kerze spiegelte, und stellte sich lebhaft seinen Großvater Kon283
stantin Makaryč vor, der bei den Herrschaften als Nachtwächter in Diensten steht. Er ist ein kleiner, hagerer, aber ungewöhnlich beweglicher Greis von fünfundsechzig Jahren, hat ein ewig lachendes Gesicht und die Augen eines Trinkers. Tagsüber schläft er in der Gesindeküche oder schäkert mit den Köchinnen herum, nachts aber geht er, in einen weiten Bauernpelz gehüllt, um den Gutshof herum und schlägt an sein Klopfholz. Hinter ihm trotten mit gesenktem Kopf die alte Hündin Kaštanka und der junge Rüde Vjun, der ein ganz schwarzes Fell hat und dessen Körper so lang wie der eines Wiesels ist. Dieser Vjun benimmt sich ungewöhnlich respektvoll und freundlich, und er schaut die eigenen Leute ebenso lieb an wie die Fremden, aber er genießt keinen guten Ruf. Hinter seiner Ergebenheit und Demut verbirgt sich eine ausgesprochen jesuitische Tücke. Niemand vermag sich besser anzuschleichen und einen am Bein zu packen, in den Erdkeller einzudringen oder einem Bauern ein Huhn zu stibitzen als er. Man hat ihm schon mehrmals fast die Hinterbeine entzweigeschlagen, zweimal hat man ihn aufgehängt, jede Woche halbtot geprügelt, aber immer wieder ist er auf die Beine gekommen. Jetzt steht der Großvater wohl am Tor, blinzelt zu den grellroten Fenstern der Dorfkirche hinüber und schwatzt mit dem Hofgesinde, wobei er in seinen Filzstiefeln von einem Bein aufs andere tritt. Sein Klopfholz hat er an den Gürtel gebunden. Er 284
klatscht in die Hände, kichert greisenhaft und zwickt bald das Stubenmädchen, bald die Köchin. »Wollen wir nicht ein bißchen Tabak schnupfen?« sagt er und hält den Frauen seine Tabaksdose hin. Die Frauen nehmen eine Prise und niesen. Der Großvater gerät in unbeschreibliches Entzücken, schüttelt sich vor Lachen und schreit: »Reiß ab, sonst friert’s an!« Man läßt auch die Hunde Tabak schnuppern. Kaštanka niest, verzieht die Schnauze und geht beleidigt weg. Vjun jedoch niest aus Ehrerbietung nicht und wedelt mit dem Schwanz. Das Wetter ist prächtig, die Luft still, durchsichtig und frisch. Die Nacht scheint dunkel, aber man sieht das ganze Dorf mit seinen weißen Dächern und den Rauchfahnen, die aus den Schornsteinen emporsteigen, die vom Reif versilberten Bäume, die Schneewehen. Der ganze Himmel ist besät mit fröhlich blinkenden Sternen, und die Milchstraße zeichnet sich so deutlich ab, als habe man sie vor dem Fest gewaschen und mit Schnee abgerieben. Vanja seufzte auf, tauchte die Feder ein und schrieb weiter: »Gestern hab ich Prügel bekommen. Der Meister hat mich an den Haaren auf den Hof gezerrt und mich mit dem Spannriemen verprügelt, weil ich nämlich sein Kind in der Wiege schaukeln sollte und dabei eingeschlafen bin. Und vorige Woche befahl mir die Frau, einen Hering zu putzen, da habe ich am Schwanzende angefangen, da hat sie den Hering ge285
nommen und ihn mir in den Mund gestopft. Die Gesellen necken mich immer, sie schicken mich in die Kneipe nach Vodka und verlangen von mir, daß ich der Meisterin Gurken stehle, und der Meister schlägt mit allem zu, was ihm gerade in die Hände kommt. Das Essen ist auch nichts. Morgens gibt es Brot, zu Mittag Grütze und zum Abend ebenfalls Brot, und was Tee ist oder Kohlsuppe, die essen die Meistersleute selber. Schlafen muß ich auf dem Flur, und wenn das Kind weint, kann ich gar nicht schlafen, da muß ich die Wiege schaukeln. Lieber Großvater, sei um Gottes willen so gut und hol mich wieder nach Hause ins Dorf, hier kann ich es nicht aushalten … Ich bitte Dich auf den Knien, ewig will ich für Dich zu Gott beten, hol mich fort von hier, sonst sterbe ich …« Vanka verzog den Mund, rieb sich mit seiner schwarzen Faust die Augen und schluchzte. »Ich will für Dich Tabak reiben«, fuhr er fort, »ich will zu Gott beten, und wenn was ist, dann kannst Du mich windelweich schlagen. Und wenn Du denkst, ich habe keine Stelle, dann will ich um Christi willen den Verwalter bitten, daß ich ihm die Stiefel putzen darf, oder ich will für Fedka als Hirtenjunge gehen. Lieber Großvater, hier kann ich es nicht aushalten, es ist einfach mein Tod. Ich würde ja zu Fuß ins Dorf laufen, aber ich habe keine Schuhe, und ich fürchte mich vor dem Frost. Aber wenn ich groß bin, dann will ich dafür Dich ernähren und keiner darf Dich beleidigen, und wenn Du stirbst, will ich 286
für Dein Seelenheil beten, genauso wie für mein Mütterchen Pelageja. Moskau ist eine große Stadt. Die Häuser sind alle herrschaftlich und Pferde sind viele da, aber Schafe gibt es keine, und die Hunde sind nicht böse. Mit dem Stern gehen die Kinder hier nicht, und keinen läßt man im Kirchenchor singen, und einmal sah ich in einem Laden im Fenster Haken für alle Arten Fische, gleich mit der Angelschnur, sehr nützlich, und ein solcher Haken hält einen Wels von einem Pud aus. Dann hab ich Läden gesehen, wo es allerlei Flinten gibt, wie die Herren welche haben, so für hundert Rubel das Stück … Und in den Fleischerläden sind Birkhühner und Haselhühner und Hasen, aber wo sie geschossen werden, davon erzählen die Verkäufer nichts. Lieber Großvater, wenn die Herrschaften einen Tannenbaum mit Naschwerk haben, dann nimm für mich eine vergoldete Nuß und leg sie in den grünen Kasten. Bitte das Fräulein Olga Ignatjevna und sag, es ist für Vanka.« Vanka seufzte krampfhaft und starrte wieder zum Fenster. Ihm fiel ein, daß der Großvater ihn immer mitgenommen hatte, wenn er nach einem Tannenbaum für die Herrschaften in den Wald gegangen war. Das war eine lustige Zeit! Der Großvater ächzte, der Frost ächzte, und wenn Vanka das so sah, ächzte er auch. Bevor der Großvater die Tanne umlegte, rauchte er ein Pfeifchen, schnupfte ausgiebig Tabak, und er lachte den verfrorenen Vanka aus … 287
Die jungen reifbedeckten Tannen standen regungslos und warteten darauf, welche von ihnen sterben mußte. Ehe man sich’s versah, sauste ein Hase wie ein Pfeil durch die Schneewehen … Der Großvater konnte nicht anders, er mußte schreien: »Halt ihn, halt ihn fest! Ach, dieser kurzschwänzige Teufel!« Der Großvater schleppte die geschlagene Tanne in das herrschaftliche Haus, wo man sich daran machte, sie zu schmücken … Am meisten hatte das Fräulein Olga Ignatjevna zu tun, Vankas Liebling. Als Vankas Mutter Pelageja noch lebte und bei den Herrschaften Stubenmädchen war, da fütterte Olga Ignatjevna Vanka mit Kandiszucker, und aus Langeweile brachte sie ihm Lesen und Schreiben bei, lehrte ihn bis hundert zählen und sogar Quadrille tanzen. Als aber Pelageja starb, wurde die Waise Vanka zum Großvater in die Gesindeküche abgeschoben und aus der Küche dann zum Schuster Aljachin nach Moskau. »Komm, lieber Großvater«, schrieb Vanka weiter, »ich bitte Dich um Christi willen, nimm mich fort von hier. Hab Mitleid mit mir unglücklichem Waisenkind, sonst haut man mich bloß immer, und ich möchte gern richtig essen, und ich habe solche Sehnsucht, daß man es gar nicht sagen kann, und ich weine immerzu. Neulich hat mich der Meister mit dem Schuhleisten auf den Kopf geschlagen, so daß ich hingefallen bin und nur mit Mühe wieder zu mir gekommen bin. Mein Leben ist hin, ich lebe schlimmer als jeder Hund … Und grüße noch Alëna und den 288
einäugigen Egorka und den Kutscher, und gib niemandem meine Harmonika. Immer Dein Enkel Ivan Žukov, komm doch, lieber Großvater.« Vanka faltete das beschriebene Blatt viermal und steckte es in den Umschlag, den er am Vortag für eine Kopeke gekauft hatte … Er überlegte einen Augenblick, tauchte die Feder ein und schrieb als Adresse: »An den Großvater im Dorf.« Darauf kratzte er sich, dachte nach und fügte hinzu: »Konstantin Makaryč.« Zufrieden, daß man ihn beim Schreiben nicht gestört hatte, setzte er seine Mütze auf, und ohne sein Pelzmäntelchen überzuwerfen, rannte er, nur im Hemd, auf die Straße … Die Verkäufer aus dem Fleischerladen, die er am Vortag danach fragte, hatten ihm gesagt, daß man Briefe in Briefkästen steckt, von wo aus sie in Posttrojkas mit betrunkenen Kutschern und klingenden Glöckchen über die ganze Erde verteilt würden. Vanka rannte bis zum ersten Briefkasten und steckte den kostbaren Brief durch den Schlitz. Von süßen Hoffnungen gewiegt, schlief er eine Stunde später bereits fest … Er träumte von einem Ofen, darauf saß der Großvater, baumelte mit den nackten Beinen und las den Köchinnen den Brief vor. Vor dem Ofen lief Vjun auf und ab und wedelte mit dem Schwanz. (Deutsch von Gerhard Dick)
Thomas Mann Weihnacht bei den Buddenbrooks
Schnee fiel, es kam Frost, und in der scharfen, klaren Luft erklangen durch die Straßen die geläufigen oder wehmütigen Melodien der italienischen Drehorgelmänner, die mit ihren Sammetjacken und schwarzen Schnurrbärten zum Feste herbeigekommen waren. In den Schaufenstern prangten die Weihnachtsausstellungen. Um den hohen gotischen Brunnen auf dem Marktplatz waren die bunten Belustigungen des Weihnachtsmarktes aufgeschlagen. Und wo man ging, atmete man mit dem Duft der zum Kauf gebotenen Tannenbäume das Aroma des Festes ein. Dann endlich kam der Abend des 23. Dezembers heran und mit ihm die Bescherung im Saale zu Haus, in der Fischergrube, eine Bescherung im engsten Kreise, die nur ein Anfang, eine Eröffnung, ein Vorspiel war, denn den Heiligen Abend hielt die Konsulin fest in Besitz, und zwar für die ganze Familie, so daß am Spätnachmittage des 24. die gesamte Donnerstagstafelrunde, und dazu noch Jürgen Kröger aus Wismar sowie Therese Weichbrodt mit Madame Kethelsen, im Landschaftszimmer zusammentrat. In schwerer, grau und schwarz gestreifter Seide, mit geröteten Wangen und erhitzten Augen, in einem zarten Duft von Patschuli, empfing die alte Dame die 291
nach und nach eintretenden Gäste, und bei den wortlosen Umarmungen klirrten ihre goldenen Armbänder leise. Sie war in unaussprechlicher stummer und zitternder Erregung an diesem Abend. »Mein Gott, du fieberst ja, Mutter!« sagte der Senator, als er mit Gerda und Hanno eintraf … »Alles kann doch ganz gemütlich vonstatten gehen.« Aber sie flüsterte, indem sie alle drei küßte: »Zu Jesu Ehren … Und dann mein lieber seliger Jean …« In der Tat, das weihevolle Programm, das der verstorbene Konsul für die Feierlichkeit festgesetzt hatte, mußte aufrechterhalten werden, und das Gefühl ihrer Verantwortung für den würdigen Verlauf des Abends, der von der Stimmung einer tiefen, ernsten und inbrünstigen Fröhlichkeit erfüllt sein mußte, trieb sie rastlos hin und her – von der Säulenhalle, wo schon die Marien-Chorknaben sich versammelten, in den Eßsaal, wo Rieckchen Severin letzte Hand an den Baum und die Geschenktafel legte, hinaus auf den Korridor, wo scheu und verlegen einige fremde alte Leutchen umherstanden, Hausarme, die ebenfalls an der Bescherung teilnehmen sollten, und wieder ins Landschaftszimmer, wo sie mit einem stummen Seitenblick jedes überflüssige Wort und Geräusch strafte. Es war so still, daß man die Klänge einer entfernten Drehorgel vernahm, die zart und klar wie die einer Spieluhr aus irgendeiner beschneiten Straße den Weg hierher fanden. Denn obgleich nun an zwanzig Menschen im Zimmer saßen und standen, war die Ruhe größer als in einer Kirche, und 292
die Stimmung gemahnte, wie der Senator ganz vorsichtig seinem Onkel Justus zuflüsterte, ein wenig an die eines Leichenbegängnisses. Übrigens war kaum Gefahr vorhanden, diese Stimmung möchte durch einen Laut jugendlichen Übermutes zerrissen werden. Ein Blick hätte genügt, zu bemerken, daß fast alle Glieder der hier versammelten Familie in einem Alter standen, in welchem die Lebensäußerungen längst gesetzte Formen angenommen haben. Senator Thomas Buddenbrook, dessen Blässe den wachen, energischen und sogar humoristischen Ausdruck seines Gesichtes Lügen strafte; Gerda, seine Gattin, welche unbeweglich in einen Sessel zurückgelehnt und das schöne weiße Gesicht nach oben gewandt, ihre nahe beieinanderliegenden, bläulich umschatteten, seltsam schimmernden Augen von den flimmernden Glasprismen des Kronleuchters bannen ließ; seine Schwester, Frau Permaneder; Jürgen Kröger, sein Cousin, der stille, schlicht gekleidete Beamte; seine Cousinen Friederike, Henriette und Pfiffi, von denen die beiden ersteren noch magerer und länger geworden waren und die letztere noch kleiner und beleibter erschien als früher, denen aber ein stereotyper Gesichtsausdruck durchaus gemeinsam war, ein spitziges und übelwollendes Lächeln, das gegen alle Personen und Dinge mit einer allgemeinen medisanten Skepsis gerichtet war, als sagten sie beständig: ›Wirklich? Das möchten wir denn doch fürs erste noch bezweifeln‹ …; schließlich die arme, aschgraue Klothilde, deren Gedanken wohl 293
direkt auf das Abendessen gerichtet waren: – sie alle hatten die Vierzig überschritten, während die Hausherrin mit ihrem Bruder Justus und seiner Frau gleich der kleinen Therese Weichbrodt schon ziemlich weit über die Sechzig hinaus war und die alte Konsulin Buddenbrook, geborene Stüwing, sowie die gänzlich taube Madame Kethelsen sich schon in den Siebzigern befanden. In der Blüte ihrer Jugend stand eigentlich nur Erika Weinschenk; aber wenn ihre hellblauen Augen – die Augen Herrn Grünlichs – zu ihrem Manne, dem Direktor, hinüberglitten, dessen geschorener, an den Schläfen ergrauter Kopf mit dem schmalen, in die Mundwinkel hineingewachsenen Schnurrbart sich dort neben dem Sofa von der idyllischen Tapetenlandschaft abhob, so konnte man bemerken, daß ihr voller Busen sich in lautlosem, aber schwerem Atemzuge hob … Ängstliche und wirre Gedanken an Usancen, Buchführung, Zeugen, Staatsanwalt, Verteidiger und Richter mochten sie bedrängen, ja, es war wohl keiner im Zimmer, dem diese unweihnachtlichen Gedanken nicht im Sinne gelegen hätten. Der angeklagte Zustand von Frau Permaneders Schwiegersohn, das Bewußtsein der gesamten Familie von der Gegenwart eines Mitgliedes, das eines Verbrechens gegen die Gesetze, die bürgerliche Ordnung und die geschäftliche Ehrenhaftigkeit geziehen und vielleicht der Schande und dem Gefängnis verfallen war, gab der Versammlung ein vollständig fremdes, ungeheuerliches Gepräge. Ein Weihnachtsabend der 294
Familie Buddenbrook mit einem Angeklagten in ihrer Mitte! Frau Permaneder lehnte sich mit strengerer Majestät in ihren Sessel zurück, das Lächeln der Damen Buddenbrook aus der Breiten Straße ward um noch eine Nuance spitziger … Und die Kinder? Der ein wenig spärliche Nachwuchs? War auch er für das leis Schauerliche dieses so ganz neuen und ungekannten Umstandes empfänglich? Was die kleine Elisabeth betraf, so war es unmöglich, über ihren Gemütszustand zu urteilen. In einem Kleidchen, an dessen reichlicher Garnitur mit Atlasschleifen man Frau Permaneders Geschmack erkannte, saß das Kind auf dem Arm seiner Bonne, hielt seine Daumen in die winzigen Fäuste geklemmt, sog an seiner Zunge, blickte mit etwas hervortretenden Augen starr vor sich hin und ließ dann und wann einen kurzen, knarrenden Laut vernehmen, worauf das Mädchen es ein wenig schaukeln ließ. Hanno aber saß still auf seinem Schemel zu den Füßen seiner Mutter und blickte gerade wie sie zu einem Prisma des Kronleuchters empor … Christian fehlte! Wo war Christian? Erst jetzt im letzten Augenblick bemerkte man, daß er noch nicht anwesend sei. Die Bewegungen der Konsulin, die eigentümliche Manipulation, mit der sie vom Mundwinkel zur Frisur hinaufzustreichen pflegte, als brächte sie ein hinabgefallenes Haar an seine Stelle zurück, wurden noch fieberhafter … Sie instruierte eilig Mamsell Severin, und die Jungfer begab sich an den Chorknaben vorbei durch die Säulenhalle, zwi295
schen den Hausarmen hin über den Korridor und pochte an Herrn Buddenbrooks Tür. Gleich darauf erschien Christian. Er kam mit seinen mageren krummen Beinen, die seit dem Gelenkrheumatismus etwas lahmten, ganz gemächlich ins Landschaftszimmer, indem er sich mit der Hand die kahle Stirne rieb. »Donnerwetter, Kinder«, sagte er, »das hätte ich beinahe vergessen!« »Du hättest es …«, wiederholte seine Mutter und erstarrte … »Ja, beinah vergessen, daß heut’ Weihnacht ist … Ich saß und las … in einem Buch, einem Reisebuch über Südamerika … Du lieber Gott, ich habe schon andere Weihnachten gehabt …«, fügte er hinzu und war soeben im Begriff, mit der Erzählung von einem Heiligen Abend anzufangen, den er zu London in einem Tingeltangel fünfter Ordnung verlebt, als plötzlich die im Zimmer herrschende Kirchenstille auf ihn zu wirken begann, so daß er mit krausgezogener Nase und auf den Zehenspitzen zu seinem Platze ging. »Tochter Zion, freue dich!« sangen die Chorknaben, und sie, die eben noch da draußen so hörbare Allotria getrieben, daß der Senator sich einen Augenblick an die Tür hatte stellen müssen, um ihnen Respekt einzuflößen – sie sangen nun ganz wunderschön. Diese hellen Stimmen, die sich, getragen von den tieferen Organen, rein, jubelnd und lobpreisend aufschwangen, zogen aller Herzen mit sich 296
empor, ließen das Lächeln der alten Jungfern milder werden und machten, daß die alten Leute in sich hineinsahen und ihr Leben überdachten, während die, welche mitten im Leben standen, ein Weilchen ihrer Sorgen vergaßen. Hanno ließ sein Knie los, das er bislang umschlungen gehalten hatte. Er sah ganz blaß aus, spielte mit den Fransen seines Schemels und scheuerte seine Zunge an einem Zahn, mit halbgeöffnetem Munde und einem Gesichtsausdruck, als fröre ihn. Dann und wann empfand er das Bedürfnis, tief aufzuatmen, denn jetzt, da der Gesang, dieser glockenreine A-cappella-Gesang die Luft erfüllte, zog sein Herz sich in einem fast schmerzhaften Glück zusammen. Weihnachten … Durch die Spalten der hohen, weißlackierten, noch fest geschlossenen Flügeltür drang der Tannenduft und erweckte mit seiner süßen Würze die Vorstellung der Wunder dort drinnen im Saale, die man jedes Jahr aufs neue mit pochenden Pulsen als eine unfaßbare, unirdische Pracht erharrte … Was würde dort drinnen für ihn sein? Das, was er sich gewünscht hatte, natürlich, denn das bekam man ohne Frage, gesetzt, daß es einem nicht als eine Unmöglichkeit zuvor schon ausgeredet worden war. Das Theater würde ihm gleich in die Augen springen und ihm den Weg zu seinem Platze weisen müssen, das ersehnte Puppentheater, das dem Wunschzettel für Großmama stark unterstrichen zu Häupten gestanden hatte und das seit dem ›Fidelio‹ beinahe sein einziger Gedanke gewesen war. 297
Ja, als Entschädigung und Belohnung für einen Besuch bei Herrn Brecht hatte Hanno kürzlich zum ersten Male das Theater besucht, das Stadttheater, wo er im ersten Range an der Seite seiner Mutter atemlos den Klängen und Vorgängen des ›Fidelio‹ hatte folgen dürfen. Seitdem träumte er nichts als Opernszenen, und eine Leidenschaft für die Bühne erfüllte ihn, die ihn kaum schlafen ließ. Mit unaussprechlichem Neide betrachtete er auf der Straße die Leute, die, wie ja auch sein Onkel Christian, als Theaterhabitues bekannt waren, Konsul Döhlmann, Makler Gosch … War das Glück ertragbar, wie sie fast jeden Abend dort anwesend sein zu dürfen? Könnte er nur einmal in der Woche vor Beginn der Aufführung einen Blick in den Saal tun, das Stimmen der Instrumente hören und ein wenig den geschlossenen Vorhang ansehen! Denn er liebte alles im Theater: den Gasgeruch, die Sitze, die Musiker, den Vorhang … Wird sein Puppentheater groß sein? Groß und breit? Wie wird der Vorhang aussehen? Man muß baldmöglichst ein kleines Loch hineinschneiden, denn auch im Vorhang des Stadttheaters war ein Guckloch … Ob Großmama oder Mamsell Severin – denn Großmama konnte nicht alles besorgen – die nötigen Dekorationen zum ›Fidelio‹ gefunden hätte? Gleich morgen wird er sich irgendwo einschließen und ganz allein eine Vorstellung geben … Und schon ließ er seine Figuren im Geiste singen; denn die Musik hatte sich ihm mit dem Theater sofort aufs engste verbunden … 298
»Jauchze laut, Jerusalem!« schlossen die Chorknaben, und die Stimmen, die fugenartig nebeneinander hergegangen waren, fanden sich in der letzten Silbe friedlich und freudig zusammen. Der klare Akkord verhallte, und tiefe Stille legte sich über Säulenhalle und Landschaftszimmer. Die Mitglieder der Familie blickten unter dem Drucke der Pause vor sich nieder; nur Direktor Weinschenks Augen schweiften keck und unbefangen umher, und Frau Permaneder ließ ihr trocknes Räuspern vernehmen, das ununterdrückbar war. Die Konsulin aber schritt langsam zum Tische und setzte sich inmitten ihrer Angehörigen auf das Sofa, das nun nicht mehr wie in alter Zeit unabhängig und abgesondert vom Tische dastand. Sie rückte die Lampe zurecht und zog die große Bibel heran, deren altersbleiche Goldschnittfläche ungeheuerlich breit war. Dann schob sie die Brille auf die Nase, öffnete die beiden ledernen Spangen, mit denen das kolossale Buch geschlossen war, schlug dort auf, wo das Zeichen lag, daß das dicke, rauhe, gelbliche Papier mit dem übergroßen Druck zum Vorschein kam, nahm einen Schluck Zuckerwasser und begann, das Weihnachtskapitel zu lesen. Sie las die altvertrauten Worte langsam und mit einfacher, zu Herzen gehender Betonung, mit einer Stimme, die sich klar, bewegt und heiter von der andächtigen Stille abhob. »Und den Menschen ein Wohlgefallen!« sagte sie. Kaum aber schwieg sie, so erklang in der Säulenhalle dreistimmig das »Stille Nacht, heilige Nacht«, in das die Familie im Land299
schaftszimmer einstimmte. Man ging ein wenig vorsichtig zu Werke dabei, denn die meisten der Anwesenden waren unmusikalisch, und hie und da vernahm man in dem Ensemble einen tiefen und ganz ungehörigen Ton … Aber das beeinträchtigte nicht die Wirkung dieses Liedes … Frau Permaneder sang es mit bebenden Lippen, denn am süßesten und schmerzlichsten rührt es an dessen Herz, der ein bewegtes Leben hinter sich hat und im kurzen Frieden der Feierstunde Rückblick hält … Madame Kethelsen weinte still und bitterlich, obgleich sie von allem fast nichts vernahm. Und dann erhob sich die Konsulin. Sie ergriff die Hand ihres Enkels Johann und die ihrer Urenkelin Elisabeth und schritt durch das Zimmer. Die alten Herrschaften schlossen sich an, die jüngeren folgten, in der Säulenhalle gesellten sich die Dienstboten und die Hausarmen hinzu, und während alles einmütig »O Tannebaum« anstimmte und Onkel Christian vorn die Kinder zum Lachen brachte, indem er beim Marschieren die Beine hob wie ein Hampelmann und albernerweise »O Tantebaum« sang, zog man mit geblendeten Augen und einem Lächeln auf dem Gesicht durch die weitgeöffnete hohe Flügeltür direkt in den Himmel hinein. Der ganze Saal, erfüllt von dem Dufte angesengter Tannenzweige, leuchtete und glitzerte von unzähligen kleinen Flammen, und das Himmelblau der Tapete mit ihren weißen Götterstatuen ließ den großen Raum noch heller erscheinen. Die Flämmchen der 300
Kerzen, die dort hinten zwischen den dunkelrot verhängten Fenstern den gewaltigen Tannenbaum bedeckten, welcher, geschmückt mit Silberflittern und großen, weißen Lilien, einen schimmernden Engel an seiner Spitze und ein plastisches Krippenarrangement zu seinen Füßen, fast bis zur Decke emporragte, flimmerten in der allgemeinen Lichtflut wie ferne Sterne. Denn auf der weißgedeckten Tafel, die sich lang und breit, mit den Geschenken beladen, von den Fenstern fast bis zur Türe zog, setzte sich eine Reihe kleinerer, mit Konfekt behängter Bäume fort, die ebenfalls von brennenden Wachslichtchen erstrahlten. Und es brannten die Gasarme, die aus den Wänden hervorkamen, und es brannten die dicken Kerzen auf den vergoldeten Kandelabern in allen vier Winkeln. Große Gegenstände, Geschenke, die auf der Tafel nicht Platz hatten, standen nebeneinander auf dem Fußboden. Kleinere Tische, ebenfalls weiß gedeckt, mit Gaben belegt und mit brennenden Bäumchen geschmückt, befanden sich zu den Seiten der beiden Türen: Das waren die Bescherungen der Dienstboten und der Hausarmen. Singend, geblendet und dem altvertrauten Raume ganz entfremdet umschritt man einmal den Saal, defilierte an der Krippe vorbei, in der ein wächsernes Jesuskind das Kreuzeszeichen zu machen schien, und blieb dann, nachdem man Blick für die einzelnen Gegenstände bekommen hatte, verstummend an seinem Platze stehen. Hanno war vollständig verwirrt. Bald nach dem 301
Eintritt hatten seine fieberhaft suchenden Augen das Theater erblickt … ein Theater, das, wie es dort oben auf dem Tische prangte, von so extremer Größe und Breite erschien, wie er es sich vorzustellen niemals erkühnt hatte. Aber sein Platz hatte gewechselt, er befand sich an einer der vorjährigen entgegengesetzten Stelle, und dies bewirkte, daß Hanno in seiner Verblüffung ernstlich daran zweifelte, ob dies fabelhafte Theater für ihn bestimmt sei. Hinzu kam, daß zu den Füßen der Bühne, auf dem Boden, etwas Großes, Fremdes aufgestellt war, etwas, was nicht auf seinem Wunschzettel gestanden hatte, ein Möbel, ein kommodenartiger Gegenstand … war er für ihn? »Komm her, Kind, und sieh dir dies an«, sagte die Konsulin und öffnete den Deckel. »Ich weiß, du spielst gern Choräle … Herr Pfühl wird dir die nötigen Anweisungen geben … Man muß immer treten … manchmal schwächer und manchmal stärker … und dann die Hände nicht aufheben, sondern immer nur so peu à peu die Finger wechseln …« Es war ein Harmonium, ein kleines, hübsches Harmonium, braun poliert, mit Metallgriffen an beiden Seiten, bunten Tretbälgen und einem zierlichen Drehsessel. Hanno griff einen Akkord … ein sanfter Orgelklang löste sich los und ließ die Umstehenden von ihren Geschenken aufblicken … Hanno umarmte seine Großmutter, die ihn zärtlich an sich preßte und ihn dann verließ, um die Danksagungen der anderen entgegenzunehmen. Er wandte sich dem Theater zu. Das Harmonium 302
war ein überwältigender Traum, aber er hatte doch fürs erste noch keine Zeit, sich näher damit zu beschäftigen. Es war der Überfluß des Glückes, in dem man, undankbar gegen das einzelne, alles nur flüchtig berührt, um erst einmal das Ganze übersehen zu lernen … Oh, ein Souffleurkasten war da, ein muschelförmiger Souffleurkasten, hinter dem breit und majestätisch in Rot und Gold der Vorhang emporrollte. Auf der Bühne war die Dekoration des letzten Fidelio-Aktes aufgestellt. Die armen Gefangenen falteten die Hände. Don Pizarro, mit gewaltig gepufften Ärmeln, verharrte irgendwo in fürchterlicher Attitüde. Und von hinten nahte im Geschwindschritt und ganz in schwarzem Sammet der Minister, um alles zum besten zu kehren. Es war wie im Stadttheater und beinahe noch schöner. In Hannos Ohren widerhallte der Jubelchor, das Finale, und er setzte sich vor das Harmonium, um ein Stückchen daraus, das er behalten, zum Erklingen zu bringen … Aber er stand wieder auf, um das Buch zur Hand zu nehmen, das erwünschte Buch der griechischen Mythologie, das ganz rot gebunden war und eine goldene Pallas Athene auf dem Deckel trug. Er aß von seinem Teller mit Konfekt, Marzipan und Braunen Kuchen, musterte die kleineren Dinge, die Schreibutensilien und Schulhefte, und vergaß einen Augenblick alles übrige über einem Federhalter, an dem sich irgendwo ein winziges Glaskörnchen befand, das man nur vors Auge zu halten brauchte, um wie durch Zauberspiel eine weite Schweizerlandschaft vor sich zu sehen … 303
Jetzt gingen Mamsell Severin und das Folgmädchen mit Tee und Biskuits umher, und während Hanno eintauchte, fand er ein wenig Muße, von seinem Platze aufzusehen. Man stand an der Tafel oder ging daran hin und her, plauderte und lachte, indem man einander die Geschenke zeigte und die des anderen bewunderte. Es gab da Gegenstände aus allen Stoffen: aus Porzellan, aus Nickel, aus Silber, aus Gold, aus Holz, Seide und Tuch. Große, mit Mandeln und Sukkade symmetrisch besetzte Braune Kuchen lagen abwechselnd mit massiven Marzipanbroten, die innen naß waren vor Frische, in langer Reihe auf dem Tische. Diejenigen Geschenke, die Frau Permaneder angefertigt oder dekoriert hatte, ein Arbeitsbeutel, ein Untersatz für Blattpflanzen, ein Fußkissen, waren mit großen Atlasschleifen geziert. Dann und wann besuchte man den kleinen Johann, legte den Arm um seinen Matrosenkragen und nahm seine Geschenke mit der ironisch übertriebenen Bewunderung in Augenschein, mit der man die Herrlichkeiten der Kinder zu bestaunen pflegt. Nur Onkel Christian wußte nichts von diesem Erwachsenenhochmut, und seine Freude an dem Puppentheater, als er, einen Brillantring am Finger, den er von seiner Mutter beschert bekommen hatte, an Hannos Platz vorüberschlenderte, unterschied sich gar nicht von der seines Neffen. »Donnerwetter, das ist drollig!« sagte er, indem er den Vorhang auf- und niederzog und einen Schritt zurücktrat, um das szenische Bild zu betrachten. 304
»Hast du dir das gewünscht? – So, das hast du dir also gewünscht«, sagte er plötzlich, nachdem er eine Weile mit sonderbarem Ernst und voll unruhiger Gedanken seine Augen hatte wandern lassen. »Warum? Wie kommst du auf den Gedanken? Bist du schon mal im Theater gewesen? … Im ›Fidelio‹? Ja, das wird gut gegeben … Und nun willst du das nachmachen, wie? nachahmen, selbst Opern aufführen? … Hat es solchen Eindruck auf dich gemacht? … Hör mal, Kind, laß dir raten, hänge deine Gedanken nur nicht zu sehr an solche Sachen … Theater … und so was … Das taugt nichts, glaube deinem Onkel. Ich habe mich auch immer viel zu sehr für diese Dinge interessiert, und darum ist auch nicht viel aus mir geworden. Ich habe große Fehler begangen, mußt du wissen …« Er hielt das seinem Neffen ernst und eindringlich vor, während Hanno neugierig zu ihm aufsah. Dann jedoch, nach einer Pause, während welcher in Betrachtung des Theaters sein knochiges und verfallenes Gesicht sich aufhellte, ließ er plötzlich eine Figur sich auf der Bühne vorwärts bewegen und sang mit hohl krächzender und tremolierender Stimme: »Ha, welch gräßliches Verbrechen!«, worauf er den Sessel des Harmoniums vor das Theater schob, sich setzte und eine Oper aufzuführen begann, indem er, singend und gestikulierend, abwechselnd die Bewegungen des Kapellmeisters und der agierenden Personen vollführte. Hinter seinem Rücken versammelten sich mehrere Familienmitglieder, lachten, schüttelten den 305
Kopf und amüsierten sich. Hanno sah ihm mit aufrichtigem Vergnügen zu. Nach einer Weile aber, ganz überraschend, brach Christian ab. Er verstummte, ein unruhiger Ernst überflog sein Gesicht, er strich mit der Hand über seinen Schädel und an seiner linken Seite hinab und wandte sich dann mit krauser Nase und sorgenvoller Miene zum Publikum. »Ja, seht ihr, nun ist es wieder aus«, sagte er; »nun kommt wieder die Strafe. Es rächt sich immer gleich, wenn ich mir mal einen Spaß erlaube. Es ist kein Schmerz, wißt ihr, es ist eine Qual … eine unbestimmte Qual, weil hier alle Nerven zu kurz sind. Sie sind ganz einfach alle zu kurz …« Aber die Verwandten nahmen diese Klagen ebensowenig ernst wie seine Späße und antworteten kaum. Sie zerstreuten sich gleichgültig, und so saß denn Christian noch eine Zeitlang stumm vor dem Theater, betrachtete es mit schnellem und gedankenvollem Blinzeln und erhob sich dann.
Ring Lardner Der Eltern Weihnachtsfest
Tom und Grace Carter saßen am Vorabend des Weihnachtstages in ihrer Stube. Manchmal unterhielten sie sich, manchmal taten sie, als läsen sie etwas, und die ganze Zeit dachten sie an Dinge, an die sie eigentlich nicht denken wollten. Ihre beiden Kinder, Junior, neunzehn Jahre alt, und Grace, zwei Jahre jünger, waren im Laufe des Tages eingetroffen, um die Weihnachtsferien zu Hause zu verbringen. Junior war an der Universität, im ersten Semester, und Grace besuchte eine höhere Internatsschule. Junior und Grace waren zwar ihre Taufnamen, aber sie hatten sich umgetauft; Junior hieß jetzt Ted, und Grace hieß Caroline, und sie bestanden darauf, so genannt zu werden, auch von ihren Eltern. Das gehörte zu den Dingen, an die Tom und Grace die Ältere dachten, als sie am Heiligen Abend in der Stube saßen. Andere junge Semester aus der Gegend waren am einundzwanzigsten nach Hause gekommen, an dem Tag, wo die Ferien eigentlich begannen. Ted hatte telegraphiert, er komme drei Tage später, es sei da noch eine Sonderprüfung, und wenn er die bestehe, habe er es nächstes Semester bedeutend leichter. Er war dann so bleich, übernächtig und fahrig, als er nach 307
Hause kam, daß seine Mutter sich fragte, ob es von gutem sei, sich geistig so anzustrengen, während der Vater insgeheim hoffte, das Zeug sei nicht gesundheitsschädlich gewesen. Caroline war ebenfalls verspätet eingetroffen mit der Erklärung, ihre Wäsche sei ihr abhanden gekommen und sie habe die Nachforschung danach unmöglich andern übertragen können. Tom und Grace hatten sich Mühe gegeben, ihre Enttäuschung über die verspätete Heimkehr zu verbergen, und hatten weiterhin ihre Vorkehrungen für ein Weihnachtsfest getroffen, das den Kindern und damit auch ihnen selbst zum Erlebnis werden sollte. Sie hatten eine Menge Geschenke gekauft, die zweioder dreimal so viel gekostet hatten, wie das Jahreseinkommen von Toms Vater seinerzeit betragen hatte, oder wie sein eigenes Einkommen noch vor einem Jahr, bevor General Motors seine wetterfeste Farbe erworben hatte, was ihm zu diesem Haus in der Vorstadt und anderen Annehmlichkeiten verhalf, wie seine eigenen Eltern und die seiner Frau sich nie hätten träumen lassen. Auch hatte er damit Ted und Caroline Erleichterungen verschaffen können, auf die er und seine Frau hatten verzichten müssen. Hinter der verschlossenen Tür des Musikzimmers stand der kunstvoll geschmückte Baum. Das Klavier, die Klavierbank und der Boden um den Baum herum waren mit hübsch verschnürten Paketen von jeder Größe und Form bedeckt, eines davon angeschrieben mit Tom, ein anderes mit Grace, ein paar für die 308
Hausangestellten, und alle andern für Ted und Caroline. Eine mächtige Schachtel enthielt einen Mantel aus Seehundfell für Caroline, einen Mantel, der so viel gekostet hatte, wie die Carters früher im Jahr Miete gezahlt hatten. Noch kostbarer war eine ›Garnitur‹ von Schmuckstücken, die aus einer Opalbrosche, einer Spange mit Opalen und Goldfiligran und einem mit Brillanten besetzten Opalring bestand. Grace hatte immer eine Vorliebe für Opale gehabt, doch jetzt, wo sie sich welche hätte leisten können, hinderte sie etwas daran, sie für sich selber zu kaufen; es bereitete ihr mehr Freude, sie an ihrer hübschen Tochter zu sehen. Dann waren da Schachteln mit Seidenstrümpfen, Wäsche, Handschuhen und Taschentüchern. Und für Ted eine Uhr zu dreihundert Dollar, eine Luxusausgabe der Werke von Balzac, ein kostbarer Köcher mit funkelnagelneuen Golfschlägern, und das letzte, was es an Plattenspielern gab. Aber die große Überraschung für den Jungen stand in der Garage eingeschlossen, eine schwarze Limousine, ein neueres Modell und viel gefälliger als Toms Wagen vom vorigen Jahr, der daneben stand. Ted konnte den Wagen in den Ferien einfahren, wenn der Winter weiterhin mild blieb, und freute sich sicher, in den Frühjahrs- und Sommerferien damit herumzufahren, an der Universität bestand nämlich ein Verbot für Studenten, ein eignes Auto zu besitzen oder zu fahren. Seit sechzehn Jahren, das heißt, seit Ted dreijährig 309
und Caroline einjährig war, hatten die Carters an dem alten Brauch festgehalten, am Heiligen Abend die Strümpfe der Kinder aufzuhängen, gefüllt mit wohlfeilem Krimskrams. Tom und Grace hatten sich gesagt, es wäre lustig, diesen Brauch auch weiterhin zu pflegen; der Inhalt der Strümpfe – ein NegerTanzpüppchen zum Aufziehen, Musikdosen, ein Kätzchen, das miaute, wenn man an einer bestimmten Stelle drückte, und so weiter – das würde den ›Kindern‹ sicher Spaß machen. So ermahnte denn Grace die beiden gleich nach ihrer Ankunft, sie sollten früh zu Bett gehen, um den Weihnachtsmann nicht zu verscheuchen. Aber es stellte sich heraus, daß sie nicht versprechen konnten, so furchtbar früh zu Bett zu gehen. Beide hatten sie Verabredungen außer Hause, die schon vor längerer Zeit getroffen worden waren. Bei Caroline war es ein Abendessen und Theaterbesuch mit Beatrice Murdock und deren neunzehnjährigem Bruder Paul, der sie um halb sieben mit seinem Wagen abholen würde. Ted war eingeladen, mit zwei Kameraden, Herb Castle und Bernard King, den Hockeymatch Zu besuchen. Er wollte dazu den Wagen seines Vaters haben, aber Tom schützte vor, die Bremsen seien nicht in Ordnung; Ted durfte doch bis morgen nicht in die Garage. Am Nachmittag hatten Ted und Caroline sich etwas hingelegt und waren dann miteinander in Paul Murdocks schnittigem Sportwagen weggefahren, nachdem sie versprochen hatten, bis Mitternacht 310
oder etwas später zurück zu sein und den Weihnachtsabend dann zu Hause zu verbringen. Und jetzt saßen Vater und Mutter also da und warteten auf sie, weil die Strümpfe nicht gefüllt und aufgehängt werden konnten, bis die Kinder richtig im Bett waren, und dann auch, weil man unmöglich einschlafen kann, wenn man aufgeregt ist. »Wie spät ist es denn?« fragte Grace und schaute auf von der Seite drei eines Buches, das sie nach dem Essen angefangen hatte. »Halb drei«, erwiderte ihr Gatte. (Er hatte dieselbe Frage seit Mitternacht alle fünfzehn oder zwanzig Minuten beantwortet.) »Es wird doch nichts passiert sein«, bemerkte Grace. »Wenn etwas passiert wäre, hätten wir es erfahren«, beschwichtigte sie Tom. »Es ist ja nicht wahrscheinlich«, meinte Grace, »aber sie könnten doch irgendwo einen Unfall gehabt haben, wo niemand in der Nähe war, um zu telephonieren oder so. Wir wissen ja nicht, wie dieser junge Murdock fährt.« »Er ist gleich alt wie Ted. Junge Leute in diesem Alter fahren vielleicht etwas schnell, aber meistens nicht schlecht.« »Woher weißt du das?« »Ach, ich hab schon welchen zugesehen.« »Ja, aber nicht allen.« »Ich glaube nicht, daß es jemand gibt, der schon jeden neunzehnjährigen Autofahrer gesehen hat.« 311
»Die Jungen haben heutzutage gar keinen Sinn für Verantwortung mehr.« »Ach, mach dir keine Sorgen! Wahrscheinlich haben sie ein paar Freunde getroffen und sind noch etwas essen gegangen oder so.« Tom erhob sich und trat mit gespielter Gleichgültigkeit ans Fenster. »Es ist schön draußen«, bemerkte er. »Man sieht jeden Stern am Himmel.« Aber er sah nicht nach den Sternen. Er suchte die Straße nach dem Licht von Scheinwerfern ab. Es waren aber keine zu sehen, und nach einer Weile kehrte er wieder zu seinem Sessel zurück. »Wie spät ist es jetzt?« fragte Grace. »Zweiundzwanzig vor«, sagte er. »Vor was?« »Vor drei.« »Deine Uhr ist wohl stehengeblieben. Vor fast einer Stunde hast du gesagt, es sei halb drei.« »Meine Uhr geht richtig. Du wirst eingenickt sein.« »Ich habe kein Auge zugetan.« »Es wäre aber an der Zeit. Warum gehst du nicht schlafen?« »Warum gehst du nicht?« »Ich bin nicht müde.« »Ich auch nicht. Aber wirklich, Tom, es hat keinen Sinn, daß du aufbleibst. Ich bleibe ja bloß auf, damit ich die Strümpfe richten kann und weil ich so wach bin. Aber du brauchst deswegen nicht um deinen Schlaf zu kommen.« 312
»Ich könnte auf keinen Fall einschlafen, bevor sie da sind.« »Das ist doch Unsinn. Es besteht kein Grund, sich aufzuregen. Sie machen sich eben einen vergnügten Abend. Du warst auch einmal jung.« »Das ist es ja gerade. Als ich jung war, da war ich jung.« Er nahm die Zeitung zur Hand und suchte den Schiffsnachrichten etwas abzugewinnen. »Wie spät ist es?« fragte Grace. »Fünf Minuten vor drei.« »Vielleicht übernachten sie bei den Murdocks.« »Dann hätten sie uns benachrichtigt.« »Sie wollten uns nicht stören mit dem Telefon.« Um zwanzig nach drei fuhr ein Wagen vor dem Haus vor. »Das sind sie!« »Ich hab dir ja gesagt, wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.« Tom trat ans Fenster. Er konnte Murdocks Sportwagen knapp erkennen, aber das Licht schien nicht zu funktionieren. »Er hat keine Beleuchtung«, sagte Tom. »Vielleicht geh ich mal raus, um zu sehen, ob ich es reparieren kann.« »Du bleibst da«, bedeutete ihm Grace. »Er kann sie selber reparieren. Wahrscheinlich will er nur die Batterie schonen.« »Warum kommen sie denn nicht herein?« »Wahrscheinlich machen sie noch Pläne.« 313
»Das können sie auch hier drin. Ich geh hinaus und sag ihnen, daß wir noch auf sind.« »Du bleibst da«, sagte Grace nochmals scharf, und Tom blieb folgsam am Fenster stehen. Es war beinahe vier, als die Scheinwerfer aufleuchteten und der Wagen wegfuhr. Caroline kam herein; vom Licht geblendet, blinzelte sie die Eltern an. »Du meine Güte, seid ihr noch auf?« Tom wollte etwas sagen, aber Grace kam ihm zuvor. »Wir sprachen davon, wie es früher an Weihnachten war«, erklärte sie. »Ist es schon sehr spät?« »Keine Ahnung«, sagte Caroline. »Wo ist Ted?« »Ist er denn nicht da? Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit wir ihn am Sportplatz absetzten.« »Also, dann leg dich schlafen«, sagte die Mutter. »Du bist sicher todmüde.« »Ja, schon. Wir sind nach der Vorstellung noch tanzen gegangen. Wann wird gefrühstückt?« »Um acht.« »Ach Mutter, geht es nicht auch um neun?« »Meinetwegen. Früher konntest du an Weihnachten nicht früh genug aufstehen.« »Ich weiß, aber –« »Wer hat dich nach Hause gebracht?« fragte Tom. »Ach, Paul Murdock – und Beatrice.« »Du siehst zerknittert aus.« »Ich mußte im Notsitz fahren. Im Knittersitz.« Sie lachte über ihr Wortspiel, wünschte gute Nacht 314
und ging nach oben. Nicht einmal auf Handreichweite hatte sie sich ihren Eltern genähert. »Feine junge Leute, die Murdocks«, bemerkte Tom, »daß sie einen Gast im Notsitz fahren lassen.« Grace schwieg. »Geh doch auch zu Bett«, sagte Tom. »Ich warte auf Ted.« »Du kommst mit den Strümpfen nicht zurecht.« »Ich versuch’s gar nicht erst. Dazu ist am Morgen immer noch Zeit. Ich meine, später heute morgen.« »Ich geh erst schlafen, wenn du auch gehst.« »Also, dann gehen wir eben beide. Es kann ja nicht mehr lange dauern, bis Ted kommt. Vermutlich bringen ihn seine Freunde nach Hause. Wir hören es dann schon, wenn er kommt.« Es war gar nicht anders möglich, als ihn zu hören, als er zehn Minuten vor sechs nach Hause kam. Offenbar hatte er seine Weihnachtseinkäufe spät getätigt und hatte schief geladen. Grace war um halb acht wieder unten, um den Hausangestellten mitzuteilen, das Frühstück sei auf neun Uhr verschoben. Sie nagelte die Strümpfe neben dem Kamin an, ging ins Musikzimmer, um zu sehen, ob noch alles in Ordnung sei, und hob im Flur Teds Hut und Mantel vom Boden auf, wo er sie sorgfältig hingehängt hatte. Tom erschien kurz vor neun Uhr und meinte, die Kinder sollten geweckt werden. »Ich geh sie wecken«, sagte Grace und begab sich nach oben. Sie machte bei Ted die Tür auf, schaute 315
hinein und machte sie leise wieder zu. Dann trat sie ins Zimmer ihrer Tochter und fand diese im Dämmerzustand. »Muß ich schon aufstehen? Ich möchte wirklich noch nichts essen. Sag doch Molla, sie möchte mir etwas Kaffee bringen. Ted und ich sind bei den Murdocks zum Frühstück eingeladen, auf halb eins, da könnte ich doch noch eine Stunde oder zwei schlafen.« »Aber Liebling, weißt du denn nicht, wir haben um eins unser Weihnachtsmahl.« »Schade, Mutter, aber ich dachte, das findet am Abend statt.« »Willst du denn nicht deine Geschenke sehen?« »Doch, sicher, aber das hat doch Zeit.« Grace wollte schon in die Küche gehen, um der Köchin zu sagen, das Weihnachtsmahl finde um sieben Uhr statt, nicht um eins, aber dann fiel ihr ein, daß sie Signe den Nachmittag und den Abend freigegeben hatte, da ein einfaches, kaltes Essen nach dem schweren Weihnachtsmahl vollkommen genügte. So frühstückten denn Tom und Grace allein und saßen dann wiederum in der Stube, mit einem Buch in der Hand, das sie nicht lasen. »Du solltest mit Caroline sprechen«, meinte Tom. »Ja, aber nicht heute. Nicht am Weihnachtstag.« »Und ich habe im Sinn, Ted ins Gebet zu nehmen.« »Ja, das mußt du. Aber nicht heute.« »Heute abend sind sie wahrscheinlich wieder fort.« 316
»Nein, sie haben versprochen, zu Hause zu bleiben. Es wird ein netter, gemütlicher Abend werden.« »Damit würde ich lieber nicht rechnen«, meinte Tom. Um die Mittagszeit traten die ›Kinder‹ in Erscheinung und erwiderten den Gruß ihrer Eltern fast mit der gebührenden Wärme. Ted lehnte eine Tasse Kaffee ab, und beide, Ted und Caroline, entschuldigten sich, daß sie mit den Murdocks eine Verabredung zum ›Frühstück‹ getroffen hatten. »Wir dachten beide«, erklärte Ted, »das Essen sei um sieben, wie üblich.« »An Weihnachten war es noch immer um eins«, sagte Tom. »Ich hatte vergessen, daß Weihnachten ist.« »Die Strümpfe da dürften deinem Gedächtnis nachhelfen.« Ted und Caroline warfen einen Blick auf die vollgestopften Strümpfe. »Haben wir denn keinen Baum?« fragte Caroline. »Doch, natürlich«, sagte die Mutter. »Aber zuerst kommen die Strümpfe.« »Wir haben nicht viel Zeit«, drängte Caroline. »Wir kommen sowieso schon viel zu spät. Können wir den Baum nicht jetzt sehen?« »Meinetwegen«, sagte Grace und ging voran ins Musikzimmer. Die Hausangestellten wurden herbeigerufen, der Raum wurde betrachtet und angestaunt. »Du mußt deine Geschenke aufmachen«, forderte Grace ihre Tochter auf. 317
»Alle kann ich jetzt nicht aufmachen«, erklärte Caroline. »Sag mir, wo was Besonderes drin ist.« Das Papier wurde von der mächtigen Schachtel entfernt, und Grace hielt den Mantel in die Höhe. »Ach, Mutter!« sagte Caroline. »Seehundsfell!« »Zieh ihn mal an«, meinte der Vater. »Nicht jetzt. Wir haben keine Zeit.« »Dann schau dir noch das an«, sagte Grace und klappte das Schmuckkästchen auf. »Ach, Mutter! Opal!« sagte Caroline. »Mein Lieblingsstein«, bemerkte die Mutter bedächtig. »Wenn niemand was dagegen hat«, erklärte Ted, »dann verschiebe ich meine Bescherung, bis wir zurück sind. Ich bin sicher, mir gefällt alles, was ihr mir geschenkt habt. Aber wenn wir keinen Wagen haben, der in Ordnung ist, muß ich ein Taxi bestellen, um zur Bahn zu kommen.« »Du kannst den Wagen nehmen«, sagte der Vater. »Funktionieren die Bremsen wieder?« »Ich glaube. Komm in die Garage, da werden wir’s sehen.« Ted nahm Hut und Mantel und gab der Mutter einen Abschiedskuß. »Mutter«, sagte er, »du verzeihst mir doch, daß ich für dich und Vater keine Geschenke habe. Ich hatte ja die letzten drei Tage so’n Betrieb! Und ich dachte, ich könnte nach der Ankunft gestern noch was kaufen, aber da wollte ich möglichst schnell nach Hause. Gestern abend war schon alles zu.« 318
»Schadet nichts«, meinte Grace. »Weihnachten ist für die Jugend. Dein Vater und ich, wir haben alles, was wir brauchen.« Die Hausangestellten hatten ihre Geschenke gefunden und entfernten sich, überströmend von Dankbarkeit. Caroline und ihre Mutter blieben allein übrig. »Mutter, wo hast du den Mantel her?« »Lloyd und Henry.« »Die haben doch alle möglichen Pelzwaren, nicht?« »Gewiß.« »Wäre es dir schrecklich, wenn ich das hier umtauschen würde?« »Ach, wo. Such dir irgend etwas aus, und wenn es etwas mehr kostet, das spielt keine Rolle. Wir können ja morgen oder übermorgen in die Stadt gehen. Aber willst du denn die Opale nicht tragen, zum Besuch bei den Murdocks?« »Nein, lieber nicht. Ich könnte sie verlieren oder so. Und dann – weißt du, Opale sind nicht –« »Sie können sicher auch umgetauscht werden«, sagte Grace. »Geh jetzt nur und mach dich bereit.« Caroline ließ sich das nicht zweimal sagen, und Grace blieb eine Weile allein, was ihr nicht unlieb war. Tom schob die Garagentür auf. »Ach, du hast ja zwei Wagen!« rief Ted überrascht. »Der neue gehört nicht mir.« »Wem denn?« »Dir. Es ist das neue Modell.« 319
»Das ist ja wunderbar, Vater. Aber er sieht ganz wie der alte aus.« »Nun, dem alten fehlt eigentlich nichts. Aber deiner ist doch besser. Du wirst das beim Fahren schon merken. Setz dich rein und fahr los. Den Tank habe ich füllen lassen.« »Ich glaube, ich möchte lieber mit dem alten fahren.« »Warum?« »Ja, weißt du, was ich eigentlich wollte, das ist ein Sportwagen, so ein Roadster, wie der von Paul Murdock, nur anders in den Farben. Und wenn die Limousine da noch ungefahren ist, wird sie vielleicht zurückgenommen oder an Tausch.« Tom schwieg, bis er seiner Stimme sicher war. Dann sagte er: »Gut, mein Sohn. Nimm meinen Wagen, und ich werde sehen, was sich mit dem andern machen läßt.« Während Caroline auf Ted wartete, kam ihr etwas in den Sinn. »Mutter«, rief sie, »hier ist, was ich für dich und Vater besorgt habe. Es sind zwei Karten für ›Die lustige Lola‹, das Stück, das ich gestern sah. Es gefällt dir bestimmt!« »Für wann sind die Karten?« erkundigte sich Grace. »Heute abend.« »Aber, Liebling«, bemerkte die Mutter, »heute gehen wir doch nicht aus, wo du versprochen hast, zu Hause zu sein.« »Das Versprechen wird gehalten«, erklärte Caroline, »nur – vielleicht kommen die Murdocks und 320
bringen noch ein paar Freunde mit, und dann tanzen wir und spielen Platten. Ted und ich, wir dachten beide, ihr möchtet vielleicht lieber nicht dabei sein, damit euch der Lärm nicht stört.« »Das war sehr nett von euch«, versicherte Grace, »aber dein Vater und ich, wir haben beide nichts gegen Lärm, solange es euch Spaß macht.« »Es ist sowieso an der Zeit, daß ihr auch einmal etwas Schönes seht.« »Das schönste wäre ein gemütlicher Abend mit euch beiden.« »Die Murdocks haben sich gewissermaßen selber eingeladen, und ich konnte sie nicht abwimmeln, nachdem sie so nett zu uns gewesen waren. Und ich bin sicher, Mutter, das Stück wird dir gefallen!« »Seid ihr wenigstens zum Abendessen da?« »Ziemlich sicher, aber wenn wir uns verspäten sollten, wartet lieber nicht auf uns. Nehmt den Sieben-Uhr-zwanzig, damit ihr nichts verpaßt. Der erste Akt ist eigentlich der beste. Hungrig werden wir wahrscheinlich nicht sein, aber sag der Köchin, sie soll uns etwas bereitstellen, falls wir doch Hunger haben.« Tom und Grace setzten sich an die reichhaltige Weihnachtstafel, taten ihr aber keinen großen Abbruch. Selbst wenn sie Eßlust verspürt hätten, wäre dem sechzehnpfündigen Truthahn nicht viel anzumerken gewesen, nachdem sie sich daran sattgegessen hatten. Die Unterhaltung war sporadisch und bezog sich hauptsächlich auf die Tüchtigkeit der Kö321
chin und die Milde des Winters. Von den Kindern und von Weihnachten war kaum je die Rede. Tom machte den Vorschlag, da es ein Feiertag sei und sie Theaterkarten hätten, sollten sie den SechsUhr-zehn nehmen und im Metropol essen. Seine Frau sagte nein, Ted und Caroline könnten nach Hause kommen und enttäuscht sein, die Eltern nicht vorzufinden. Tom schien etwas bemerken zu wollen, besann sich aber eines andern. Dieser Nachmittag war der längste, den Grace je erlebt hatte. Um sieben waren die Kinder noch immer nicht da, und die Eltern fuhren mit dem Taxi zur Bahn. Während der Fahrt wurde nicht viel gesprochen. Was das Stück betraf, von dem Caroline gesagt hatte, es werde ihrer Mutter bestimmt gefallen, das stellte sich als ein Mischmasch aus zwei früheren Reißern heraus, von denen es das Schlechteste übernommen hatte. Als es aus war, sagte Tom: »Und jetzt lade ich dich ein in den Cove-Klub. Du hast kein Frühstück gehabt und auch kein Mittagessen und kein Abendessen, und ich kann dich doch an einem Festtag nicht verhungern lassen. Zudem habe ich außer Hunger auch einen Durst.« Sie bestellten das Feiertagsessen und gaben sich alle Mühe, damit zu Rande zu kommen. Tom genehmigte sechs Glas Whisky-Soda, aber die übliche Wirkung wollte sich nicht einstellen. Grace nahm einen Whisky und einen Likör zu sich, die sie eine Weile mit einer behaglichen Wärme erfüllten. Leider 322
verflüchtigten sich Behagen und Wärme, noch bevor der Zug halbwegs angelangt war. In der Stube sah es aus, als wären die Russen dagewesen. Ted und Caroline hatten ihr Versprechen bis zu einem gewissen Punkt eingehalten. Sie hatten einen Teil des Abends zu Hause verbracht, und die Murdocks hatten offenbar alle ihre eigenen Freunde und dann noch die aller andern mitgebracht, nach dem Ergebnis zu urteilen. Auf den Tischen und auf dem Boden lagen leere Gläser, Asche und Zigarettenstummel umher. Die Strümpfe waren von den Nägeln heruntergerissen und ihr Inhalt, mehr oder weniger beschädigt, überall verstreut. In den Teppich, für den Grace eine Vorliebe hatte, waren zwei beträchtliche Löcher gebrannt worden. Tom nahm seine Frau am Arm und geleitete sie ins Musikzimmer. »Du bist ja nicht einmal dazugekommen, dein eigenes Geschenk aufzumachen«, sagte er. »Und für dich ist auch eins da«, bemerkte Grace. »Sie waren gar nicht hier drin«, setzte sie hinzu. »Offenbar ist nicht viel getanzt oder Musik gemacht worden.« Tom fand, was ihm Grace zugedacht hatte – ein Paar Manschettenknöpfe, mit Brillanten besetzt, für festliche Gelegenheiten. Er seinerseits hatte Grace einen Opalring gekauft. »Ach Tom!« sagte sie. »Wir müssen morgen ausgehen, damit ich diese da einweihen kann«, erklärte ihr Gatte. 323
»Dann wollen wir aber gleich zu Bett, damit wir morgen ausgeschlafen sind.« »Mal sehen, wer zuerst oben ist«, sagte Tom. (Deutsch von Fritz Güttinger)
Bertolt Brecht Das Paket des lieben Gottes
Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter an den Ofen und vergeßt den Rum nicht. Es ist gut, es warm zu haben, wenn man von der Kälte erzählt. Manche Leute, vor allem eine gewisse Sorte Männer, die etwas gegen Sentimentalität hat, haben eine starke Aversion gegen Weihnachten. Aber zumindest ein Weihnachten in meinem Leben ist bei mir wirklich in bester Erinnerung. Das war der Weihnachtsabend 1908 in Chicago. Ich war Anfang November nach Chicago gekommen, und man sagte mir sofort, als ich mich nach der allgemeinen Lage erkundigte, es würde der härteste Winter werden, den diese ohnehin genügend unangenehme Stadt zustande bringen könnte. Als ich fragte, wie es mit den Chancen für einen Kesselschmied stünde, sagte man mir, Kesselschmiede hätten keine Chancen, und als ich eine halbwegs mögliche Schlafstelle suchte, war alles zu teuer für mich. Und das erfuhren in diesem Winter 1908 viele in Chicago, aus allen Berufen. Und der Wind wehte scheußlich vom Michigansee herüber durch den ganzen Dezember, und gegen Ende des Monats schlossen auch noch eine Reihe großer Fleischpackereien ihren Betrieb und warfen eine ganze Flut von Arbeitslosen auf die kalten Straßen. 325
Wir trabten die ganzen Tage durch sämtliche Stadtviertel und suchten verzweifelt nach etwas Arbeit und waren froh, wenn wir am Abend in einem winzigen, mit erschöpften Leuten angefüllten Lokale im Schlachthofviertel unterkommen konnten. Dort hatten wir es wenigstens warm und konnten ruhig sitzen. Und wir saßen, solange es irgend ging mit einem Glas Whisky, und wir sparten alles den Tag über auf für dieses eine Glas Whisky, in das noch Wärme, Lärm und Kameraden mit einbegriffen waren, all das, was es an Hoffnung für uns noch gab. Dort saßen wir auch am Weihnachtsabend dieses Jahres, und das Lokal war noch überfüllter als gewöhnlich und der Whisky noch wäßriger und das Publikum noch verzweifelter. Es ist einleuchtend, daß weder das Publikum noch der Wirt in Feststimmung geraten, wenn das ganze Problem der Gäste darin besteht, mit einem Glas eine ganze Nacht auszureichen, und das ganze Problem des Wirtes, diejenigen hinauszubringen, die leere Gläser vor sich stehen hatten. Aber gegen zehn Uhr kamen zwei, drei Burschen herein, die, der Teufel mochte wissen woher, ein paar Dollars in der Tasche hatten, und die luden, weil es doch eben Weihnachten war und Sentimentalität in der Luft lag, das ganze Publikum ein, ein paar Extragläser zu leeren. Fünf Minuten darauf war das ganze Lokal nicht wiederzuerkennen. Alle holten sich frischen Whisky (und paßten nun ungeheuer genau darauf auf, daß ganz korrekt eingeschenkt wurde), 326
die Tische wurden zusammengerückt, und ein verfroren aussehendes Mädchen wurde gebeten, einen Cakewalk zu tanzen, wobei sämtliche Festteilnehmer mit den Händen den Takt klatschten. Aber was soll ich sagen, der Teufel mochte seine schwarze Hand im Spiel haben, es kam keine rechte Stimmung auf. Ja, geradezu von Anfang an nahm die Veranstaltung einen direkt bösartigen Charakter an. Ich denke, es war der Zwang, sich beschenken lassen zu müssen, der alle so aufreizte. Die Spender dieser Weihnachtsstimmung wurden nicht mit freundlichen Augen betrachtet. Schon nach den ersten Gläsern des gestifteten Whiskys wurde der Plan gefaßt, eine regelrechte Weihnachtsbescherung, sozusagen ein Unternehmen größeren Stils, vorzunehmen. Da ein Überfluß an Geschenkartikeln nicht vorhanden war, wollte man sich weniger an direkt wertvolle und mehr an solche Geschenke halten, die für die zu Beschenkenden passend waren und vielleicht sogar einen tieferen Sinn hatten. So schenkten wir dem Wirt einen Kübel mit schmutzigem Schneewasser von draußen, wo es davon gerade genug gab, damit er mit seinem alten Whisky noch ins neue Jahr hinein ausreichte. Dem Kellner schenkten wir eine alte, erbrochene Konservenbüchse, damit er wenigstens ein anständiges Servicestück hätte, und einem zum Lokal gehörigen Mädchen ein schartiges Taschenmesser, damit sie wenigstens die Schicht Puder vom vergangenen Jahr abkratzen könnte. 327
Alle diese Geschenke wurden von den Anwesenden, vielleicht nur die Beschenkten ausgenommen, mit herausforderndem Beifall bedacht. Und dann kam der Hauptspaß. Es war nämlich unter uns ein Mann, der mußte einen schwachen Punkt haben. Er saß jeden Abend da, und Leute, die sich auf dergleichen verstanden, glaubten mit Sicherheit behaupten zu können, daß er, so gleichgültig er sich auch geben mochte, eine gewisse, unüberwindliche Scheu vor allem, was mit der Polizei zusammenhing, haben mußte. Aber jeder Mensch konnte sehen, daß er in keiner guten Haut steckte. Für diesen Mann dachten wir uns etwas ganz Besonderes aus. Aus einem alten Adreßbuch rissen wir mit Erlaubnis des Wirtes drei Seiten aus, auf denen lauter Polizeiwachen standen, schlugen sie sorgfältig in eine Zeitung und überreichten das Paket unserm Mann. Es trat eine große Stille ein, als wir es überreichten. Der Mann nahm das Paket zögernd in die Hand und sah uns mit einem etwas kalkigen Lächeln von unten herauf an. Ich merkte, wie er mit den Fingern das Paket anfühlte, um schon vor dem Öffnen festzustellen, was darin sein könnte. Aber dann machte er es rasch auf. Und nun geschah etwas sehr Merkwürdiges. Der Mann nestelte eben an der Schnur, mit der das ›Geschenk‹ verschnürt war, als sein Blick, scheinbar abwesend, auf das Zeitungsblatt fiel, in das die interessanten Adreßbuchblätter geschlagen waren. Aber da 328
war sein Blick schon nicht mehr abwesend. Sein ganzer dünner Körper (er war sehr lang) krümmte sich sozusagen um das Zeitungsblatt zusammen, er bückte sein Gesicht tief darauf herunter und las. Niemals, weder vor- noch nachher, habe ich je einen Menschen so lesen sehen. Er verschlang das, was er las, einfach. Und dann schaute er auf. Und wieder habe ich niemals, weder vor- noch nachher, einen so strahlend schauen sehen wie diesen Mann. »Da lese ich eben in der Zeitung«, sagte er mit einer verrosteten, mühsam ruhigen Stimme, die in lächerlichem Gegensatz zu seinem strahlenden Gesicht stand, »daß die ganze Sache einfach schon lang aufgeklärt ist. Jedermann in Ohio weiß, daß ich mit der ganzen Sache nicht das geringste zu tun hatte.« Und dann lachte er. Und wir alle, die erstaunt dabeistanden und etwas ganz anderes erwartet hatten und fast nur begriffen, daß der Mann unter irgendeiner Beschuldigung gestanden und inzwischen, wie er eben aus diesem Zeitungsblatt erfahren hatte, rehabilitiert worden war, fingen plötzlich an, aus vollem Halse und fast aus dem Herzen mitzulachen, und dadurch kam ein großer Schwung in unsere Veranstaltung, die gewisse Bitterkeit war überhaupt vergessen, und es wurde ein ausgezeichnetes Weihnachten, das bis zum Morgen dauerte und alle befriedigte. Und bei dieser allgemeinen Befriedigung spielte es natürlich gar keine Rolle mehr, daß dieses Zeitungsblatt nicht wir ausgesucht hatten, sondern Gott.
André Maurois Die Kuckucksuhr
General Bramble hatte mich gebeten, Weihnachten bei ihm auf dem Lande zu verbringen. »Ich lade heuer nur meinen Schwager, Lord Tullock, und meine Schwägerin dazu ein. Es wird also nicht besonders unterhaltsam werden. Aber wenn Sie weder die Einsamkeit noch den englischen Winter scheuen, würden wir uns sehr freuen, Sie bei uns zu sehen, um von der guten alten Zeit zu plaudern.« Ich wußte, daß meine Freunde im Lauf des Jahres ihre Tochter von 18 Jahren verloren hatten. Sie taten mir sehr leid. Ich wollte sie gerne wiedersehen und nahm ihre Einladung an. Frau Brambles Gesicht war von Tränen zerfurcht, aber sie sprach mit mir nicht von ihrem Verlust. Nur am ersten Abend blieb sie, als wir uns zum Schlafengehen zurückzogen, in dem Zimmer neben dem meinigen stehen und sagte: »Das war ihr Zimmer.« Am Weihnachtsabend saßen wir in der Bibliothek. Im Kamin brannte ein großes Holzfeuer. Der General rauchte seine Pfeife, Frau Bramble beschäftigte sich mit einer Handarbeit. Lord Tullock sprach über die Christnacht: »Noch vor 50 Jahren«, erzählte er, »glaubten viele der alten Bauern in meiner Grafschaft, daß in dieser Nacht die Tiere mit Menschen331
stimmen reden.« – »Meine Vorstellung von der Heiligen Nacht«, sagte ich, »deckt sich eher mit der Shakespeares, der behauptet, daß in dieser Nacht kein Geist umgehe, daß Friede herrsche und keine Hexe Zaubermacht habe.« »Wir wissen, daß Shakespeare da unrecht hat«, meinte Lady Tullock sehr ernst. »Edward, mein Lieber, möchtest du nicht unser Erlebnis von Schloß Tullock erzählen?« »Ich würde es gerne hören«, sagte ich. »Well«, begann Lord Tullock, »es ist genau fünf Jahre her, daß ich mir in der Christnacht, da ich Kopfschmerzen hatte, gegen Mitternacht ein wenig die Beine im Freien vertreten wollte. Vor dem Parktor schlug ich einen schmalen Weg ein, der von hohen Hecken eingerahmt ist und an diesem Abend durch die volle Flut des Mondlichts erhellt war. Nachdem ich eine halbe Meile gegangen war, nahm ich in einiger Entfernung auf dem Weg eine dunkle Spur wahr. Als ich näher kam, erkannte ich überrascht, daß es Blut war, und als ich suchte, von wo das dünne Rinnsal herkam, entdeckte ich, daß die Hecke an dieser Stelle eine rechteckige Einbuchtung bildete und in ihrem Schatten regungslos ein Körper lag. Ich trat näher heran: Es war eine Leiche. Ich lief zum Haus zurück und alarmierte die Dienstboten. Die einen schickte ich fort, um die Polizei zu benachrichtigen, den anderen befahl ich, Fackeln zu holen und mit mir zu kommen. Wir schlugen den gleichen Weg ein und gingen 332
lange – zu lange, wie es mir schien, aber nichts war zu sehen, und ich suchte vergeblich die Blutspur. Schließlich, nach wenigstens drei Kilometern, sagte ich: ›Ich war ganz bestimmt nicht so weit. Wir müssen an der Stelle vorbeigelaufen sein. Gehen wir zurück!‹ Das taten wir denn auch. ›Komisch‹, sagte ich, ›dabei ist die Stelle doch leicht zu finden. Es ist genau dort, wo die Hecke eine Einbuchtung bildet.‹ Niemand konnte sich erinneren, die von mir beschriebene Stelle gesehen zu haben. Wir folgten erneut der Hecke, aber so weit wir auch gehen mochten, fanden wir sie vollkommen gerade.« Lord Tullock schwieg einen Augenblick. Nichts war im Zimmer zu hören als das leise Knistern des Feuers. »Sie hatten wohl eine Halluzination?« fragte ich. »Ich glaubte es lange Zeit«, erwiderte Lord Tullock. »Dann befragte ich vergeblich die Polizei und die Nachbarn. Keinerlei Verbrechen war in dieser Nacht auf dem Weg von Tullock begangen worden. Kein Unfall war geschehen … Vier Jahre vergingen, und ich hatte mich seit langem damit abgefunden, in jener Nacht das Opfer einer Sinnestäuschung gewesen zu sein, als ich von einem alten Freund, einem Archäologen, einen Brief erhielt, der mir große Freude bereitete. ›Heute morgen‹, so hieß es darin, entdeckte ich im Verlauf von Nachforschungen, die ich im Britischen Museum mache, eine merkwürdige Tatsache, die offenbar mit der seltsamen Geschichte zusammenhängt, 333
die Sie mir das letzte Mal erzählt haben. Als ich auf Grund meiner Nachforschungen alte Zeitungen aus Ihrer Grafschaft durchstöberte, las ich, daß am 24. Dezember 1860, sechshundert Meter von Schloß Tullock entfernt, der katholische Adelige Sir John Lacy, der allein zur Mitternachtsmesse gegangen war, von Straßenräubern überfallen wurde. Die Wegelagerer hatten sich, um dem Vorüberkommenden aufzulauern, hinter der Hecke versteckt, die zu jener Zeit an verschiedenen Stellen zurückspringende Einbuchtungen bildete. Dort versteckten sie die Leiche, nachdem sie ihr Opfer ausgeplündert hatten. Auf Grund dieses Vorkommnisses ordnete der Oberrichter der Grafschaft die Entfernung dieser Einbuchtungen an. Seitdem verläuft die Hecke längs der Straße geradem« »Glauben Sie, daß der Tote am hundertsten Jahrestag seiner Ermordung wieder auf diese Erde zurückgekehrt war?« warf ich ein. »Glauben Sie es denn nicht?« erwiderte Lord Tullock gekränkt. Der General und Frau Bramble sahen mich so vorwurfsvoll an, daß ich verstummte. Ich stand auf und bat um die Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen. In meinem Zimmer brannte ein großes Tannenholzfeuer. Als ich das Licht ausgelöscht hatte, tanzte der Widerschein der Flammen im Kamin an den Wänden. Ich konnte nicht einschlafen. Plötzlich schlug im Nebenzimmer eine Kuckucksuhr zwölf. Ich hörte den Kuckuck bis zum Morgengrauen alle Stunden melden, bis ich endlich einschlief. 334
Als ich am Morgen etwas verspätet zum Frühstück hinunterkam, fragte mich Frau Bramble, wie ich die Nacht verbracht hätte. »Um ehrlich zu sein«, sagte ich, »habe ich wenig geschlafen. Aber es war nicht weiter schlimm, und der Kuckuck hat mir Gesellschaft geleistet.« »Wie?« meinte der General betroffen. »Sie haben einen Kuckuck gehört? Was sagst du dazu, Edith?« fragte er mit Nachdruck, wobei er sich an seine Frau wandte. »Aber … bestimmt«, sagte ich, erstaunt über den Ton, mit dem er diesen Satz ausgesprochen hatte, den längsten, den ich jemals aus seinem Mund gehört hatte. Dann bemerkte ich, daß mich Frau Bramble mit gerührter Aufmerksamkeit anblickte, die Augen voll Tränen. »Ich schulde Ihnen eine Erklärung«, sagte sie. »In dem Zimmer neben dem Ihrigen gibt es tatsächlich eine Kuckucksuhr. Meine Tochter, die sie als Kind geschenkt bekam, hat sie auch später sehr geliebt und selbst jeden Abend das Uhrwerk aufgezogen. Seit dem Tode unseres Lieblings hat niemand mehr die Kuckucksuhr angerührt und niemand wird das mehr tun, so daß wir glaubten, sie wäre nun für immer stumm. Aber gestern abend, verstehen Sie, lieber Freund, gestern abend war die Weihnachtsnacht …« (Deutsch von Hans B. Wagenseil)
Somerset Maugham Winter-Kreuzfahrt
Kapitän Erdmann kannte Miss Reid nur flüchtig, bis die ›Friedrich Weber‹ Haiti erreichte. Sie war in Plymouth an Bord gekommen, aber da hatte er bereits eine Anzahl von Passagieren aufgenommen, Franzosen, Belgier und Leute aus Haiti, von denen viele schon früher mit ihm gereist waren, und sie erhielt einen Platz am Tisch des Ersten Ingenieurs. Die ›Friedrich Weber‹ war ein Frachter, der regelmäßig von Hamburg nach Cartagena an der kolumbischen Küste fuhr und auf dem Weg einige westindische Inseln anlief. Sie brachte Phosphate und Zement aus Deutschland und nahm Kaffee und Bauholz mit zurück, aber ihre Besitzer, die Gebrüder Weber, waren jederzeit bereit, sie einen Umweg machen zu lassen, wenn es sich für eine Ladung irgendwelcher Art lohnte. Die ›Friedrich Weber‹ war darauf eingestellt, Vieh, Maultiere, Kartoffeln oder sonst etwas aufzunehmen, wenn dabei nur die Möglichkeit bestand, einen Pfennig ehrlich zu verdienen. Sie nahm auch Passagiere auf. Sechs Kajüten waren auf dem Oberdeck und sechs unten. Die Einrichtung war nicht luxuriös, aber das Essen war gut, einfach und reichlich und das Fahrgeld niedrig. Die Rundreise nahm neun Wochen in Anspruch und kostete Miss Reid nicht mehr als fünfundvierzig 337
Pfund. Sie freute sich nicht nur darauf, viele interessante Gegenden von historischer Bedeutung kennenzulernen, sondern sich auch viel Wissenswertes anzueignen, das ihren Geist bereichern konnte. Der Agent hatte sie darauf vorbereitet, daß sie bis zur Ankunft in Port-au-Prince in Haiti die Kajüte mit einer anderen Dame teilen müsse. Miss Reid störte das nicht; sie hatte Gesellschaft gern, und als der Steward ihr sagte, daß Madame Bollin ihre Reisegefährtin sei, dachte sie sofort, dies würde eine willkommene Gelegenheit sein, ihr Französisch aufzufrischen. Sie geriet nur leicht aus der Fassung, als sie entdeckte, daß Madame Bollin kohlschwarz war. Sie sagte sich, daß man das Gute und Schlechte ineinanderrechnen müsse und daß allerlei Sorten nötig seien, um eine Welt zu bilden. Miss Reid war seefest, wie es nicht anders erwartet werden konnte, da ihr Großvater Marineoffizier gewesen war, aber nach einigen stürmischen Tagen wurde das Wetter gut, und bald kannte sie ihre sämtlichen Reisegefährten. Sie fand leicht Kontakt mit den Leuten. Das war eine der Ursachen, daß sie in ihrem Geschäft erfolgreich gewesen war: sie besaß eine Teestube in einem berühmten Erholungsort im Westen Englands, und sie hatte für jeden Gast, der hereinkam, ein Lächeln und ein freundliches Wort. Im Winter schloß sie, und die letzten vier Jahre hatte sie immer eine Kreuzfahrt unternommen. Man treffe dabei so interessante Menschen, meinte sie, und man lerne immer etwas. Die Passagiere auf der ›Friedrich Weber‹ waren zwar 338
nicht von so guter Klasse wie jene, die sie im Jahr zuvor auf ihrer Mittelmeerfahrt getroffen hatte, aber Miss Reid war kein Snob, und obwohl die Tischmanieren von einigen Leuten sie schockierten, war sie doch entschlossen, die gute Seite von allem zu sehen und sich mit ihnen abzufinden. Sie las sehr gern und freute sich, als sie bei der Durchsicht der Schiffsbücherei viele Bücher von Philip Oppenheim, Edgar Wallace und Agatha Christie entdeckte. Aber da es so viele Leute zum Plaudern gab, fand sie gar keine Zeit zum Lesen und beschloß, damit zu warten, bis sich das Schiff in Haiti leeren würde. »Schließlich«, sagte sie, »ist die menschliche Natur wichtiger als die Literatur.« Miss Reid hatte immer im Ruf gestanden, gute Konversation zu machen, und während der vielen Tage auf See stellte sie mit Genugtuung fest, daß die Tischgespräche dank ihrer Bemühung kein einziges Mal stockten. Sie verstand die Leute auszufragen, und jedesmal, wenn ein Thema erschöpft schien, hatte sie eine Bemerkung bereit, um es wieder zu beleben, oder ein neues Thema lag ihr schon auf der Zungenspitze, um die Konversation wieder in Gang zu bringen. Ihre Freundin, Miss Price, Tochter des verstorbenen Vikars von Campden, die sie in Plymouth ans Schiff begleitet hatte – denn sie wohnte dort –, hatte oft zu ihr gesagt: »Weißt du, Venetia, du hast einen männlichen Geist. Du bist nie in Verlegenheit, was du sagen sollst.« 339
»Nun, ich glaube, wenn du dich für jedermann interessierst, wird sich auch jedermann für dich interessieren«, erwiderte Miss Reid bescheiden. »Übung macht den Meister, und ich habe die unendliche Fähigkeit, mich zu bemühen, von der Dickens sagte, daß sie Genie bedeute.« Miss Reid hieß nicht wirklich Venetia; ihr Name war Alice, aber da er ihr nicht gefiel, hatte sie schon als junges Mädchen den poetischen Namen angenommen, der ihrer Meinung nach so viel besser zu ihrer Persönlichkeit paßte. Miss Reid hatte viele interessante Gespräche mit ihren Mitreisenden, und sie bedauerte es aufrichtig, als das Schiff endlich Port-au-Prince anlief und die letzten von ihnen an Land gingen. Die ›Friedrich Weber‹ lag zwei Tage dort, so daß Miss Reid die Stadt und die Umgebung besichtigen konnte. Als sie wieder abfuhren, war sie der einzige Passagier. Das Schiff fuhr an der Küste der Insel entlang und legte in verschiedenen Häfen an, um Ladung zu löschen oder an Bord zu nehmen. »Hoffentlich geraten Sie allein mit so vielen Männern nicht in Verlegenheit, Miss Reid«, sagte der Kapitän scherzhaft, als sie sich zum Mittagessen niederließen. Sie hatte ihren Platz zu seiner Rechten, und am Tisch saßen außerdem noch der Erste Maat, der Erste Ingenieur und der Arzt. »Ich bin eine Frau von Welt, Kapitän. Ich habe immer gefunden, wenn eine Dame wirklich eine 340
Dame ist, dann benehmen sich Herren auch wie Herren.« »Wir sind nur rauhe Seemänner, Madam, Sie dürfen nicht zuviel erwarten.« »Gütige Herzen sind mehr als Adelskronen und schlichter Glaube mehr als Normannenblut, Kapitän«, erwiderte Miss Reid. Er war ein kleiner, untersetzter Mann mit glattrasiertem Kopf und einem roten, glattrasierten Gesicht. Er trug ein weißes Trikothemd, das aber außer bei den Mahlzeiten aufgeknöpft war und seine behaarte Brust zeigte. Er war ein jovialer Bursche. Er konnte nur polternd reden. Miss Reid hielt ihn für ein Original, aber sie hatte einen ausgesprochenen Sinn für Humor und war bereit, ihm dies zugute zu halten. Sie nahm die Konversation in die Hand. Sie hatte auf der Hinreise sehr viel über Haiti erfahren und noch mehr während der zwei Tage, die sie dort verbracht hatte, aber sie wußte, daß Männer lieber sprechen als zuhören, und darum stellte sie ihnen eine Reihe von Fragen, zu denen sie die Antworten schon kannte; seltsamerweise aber kannten sie sie nicht. Zuletzt sah sie sich gezwungen, einen richtigen kleinen Vortrag zu halten, und bevor das Mittagessen zu Ende war, hatte sie ihnen eine Menge interessanter Informationen übermittelt: über die Geschichte und die wirtschaftliche Lage der Republik, die Probleme, denen die Regierung zu begegnen hatte, und ihre Zukunftsaussichten. Sie sprach ziemlich langsam, mit vornehmer Stimme, und ihr Wortschatz war reich. 341
Bei Einbruch der Nacht gingen sie in einem kleinen Hafen vor Anker, wo sie dreihundert Säcke Kaffee laden sollten, und der Agent kam an Bord. Der Kapitän forderte ihn auf, zum Abendessen dazubleiben, und bestellte Cocktails. Als der Steward damit kam, glitt Miss Reid in den Salon. Ihre Bewegungen waren gelassen, elegant und selbstsicher. Sie behauptete immer, daß man am Gang einer Frau sofort erkennen könne, ob sie eine Dame sei. Der Kapitän stellte ihr den Agenten vor, und sie setzte sich. »Was trinken denn die Herren?« fragte sie. »Einen Cocktail. Wollen Sie einen haben, Miss Reid?« »Das wäre gar nicht übel.« Sie trank ihn, und der Kapitän fragte sie etwas zögernd, ob sie noch einen haben wolle. »Noch einen? Nun, der Kameradschaft wegen – ja.« Der Agent, der viel weißer war als manche andere, aber zugleich auch sehr viel dunkler als viele andere, war der Sohn eines früheren Gesandten von Haiti am deutschen Hof, und da er lange Jahre in Berlin gelebt hatte, sprach er gut Deutsch. Er hatte tatsächlich aus diesem Grund den Posten bei einer deutschen Schiffahrtsgesellschaft bekommen. Dies veranlaßte Miss Reid, ihnen beim Abendessen die ganze Geschichte einer Rheinreise zu erzählen, die sie einmal gemacht hatte. Nachher saß sie mit dem Agenten, dem Kapitän, dem Arzt und dem Maat um einen Tisch herum, und alle tranken Bier. Miss Reid hielt es für ihre 342
Aufgabe, den Agenten auszuholen. Die Tatsache, daß sie Kaffee luden, erweckte in ihr den Gedanken, es müsse interessant für ihn sein, wie der Tee auf Ceylon angebaut wurde; ja, sie war auf einer Kreuzfahrt in Ceylon gewesen, und die Tatsache, daß sein Vater Diplomat war, machte sein Interesse für die königliche Familie von England zur Gewißheit. Sie verbrachte einen äußerst angenehmen Abend. Als sie sich endlich zur Ruhe begab, denn es wäre ihr nie eingefallen zu sagen, daß sie ins Bett gehen wolle, sagte sie zu sich selber: »Es besteht kein Zweifel darüber, daß Reisen eine große erzieherische Wirkung hat.« Es war wirklich ein Erlebnis, mit all diesen Männern alleine zu sein. Wie sie zu Hause lachen würden, wenn sie nach ihrer Heimkehr alles darüber erzählte! Sie würden sagen, daß so etwas nur Venetia passieren könne. Sie lächelte, als sie den Kapitän auf Deck mit seiner starken, dröhnenden Stimme singen hörte. Die Deutschen waren so musikalisch. Er hatte eine drollige Art, mit seinen kurzen Beinen auf und ab zu stolzieren, während er Wagnersche Melodien zu Worten eigener Erfindung sang. Es war aus ›Tannhäuser‹, was er jetzt sang (dieses entzükkende Lied vom Abendstern); doch da Miss Reid kein Deutsch verstand, konnte sie sich nur wundern, was für seltsame Worte er dazu fand. Das war auch gut. »Oh, welche Pest ist dieses Weib, ich bringe es um, wenn das so bleibt!« Dann ging er zu Siegfrieds 343
Schwertlied über. »Furchtbar, furchtbar, furchtbar ist sie! Ich werfe sie in die See!« Und das traf natürlich auf Miss Reid zu. Sie war entsetzlich, geradezu erstaunlich und qualvoll langweilig. Sie redete mit steter Eintönigkeit, und es hatte keinen Zweck, sie zu unterbrechen, denn dann fing sie nur wieder von vorn an. Sie hatte einen unstillbaren Durst nach Belehrung, und keine flüchtige Bemerkung konnte über den Tisch hinüber gemacht werden, ohne daß sie unzählige Fragen daran knüpfte. Sie träumte sehr lebhaft, und sie berichtete diese Träume mit unerträglicher Langatmigkeit. Es gab keinen Gegenstand, über den sie nicht etwas Banales zu sagen wußte. Sie hatte einen Gemeinplatz für jede Gelegenheit bereit. Sie zielte auf das Abgedroschene, wie ein Hammer den Nagel in die Wand hineintreibt. Sie tauchte im Augenfälligen unter, wie ein Zirkusclown durch den Reifen springt. Schweigen konnte sie nicht beschämen. Diese armen Männer, so weit von ihren Heimen und dem Trippeln kleiner Füße entfernt, und Weihnachten vor der Türe, kein Wunder, daß sie in gedämpfter Stimmung waren; sie verdoppelte ihre Bemühungen, ihr Interesse zu erwekken und sie zu unterhalten. Sie war entschlossen, ein wenig Frohsinn in ihr trübes Dasein zu bringen. Denn das war das Schreckliche an der Sache: Miss Reids Absichten waren gut. Sie unterhielt sich nicht nur selber gut, sie wollte, daß alle sich gut unterhielten. Sie war überzeugt, daß alle sie so gern hatten, wie sie selber sie gern hatte. Sie fühlte, daß sie ihr Teil 344
dazu beitrug, der Gesellschaft zum Erfolg zu verhelfen, und sie war naiv glücklich bei dem Gedanken, daß ihr dies gelang. Sie erzählte ihnen alles von ihrer Freundin, Miss Price, und wie oft diese zu ihr gesagt hatte: »Venetia, niemand hat eine langweilige Minute in deiner Gegenwart.« Es war die Pflicht des Kapitäns, einem Passagier gegenüber höflich zu sein, und wenn er ihr auch noch so gern gesagt hätte, sie solle ihren törichten Mund halten – er konnte es nicht. Selbst wenn er seine Meinung frei hätte äußern dürfen, wußte er doch, daß er sie niemals so hätte kränken können. Nichts hemmte ihren Redestrom. Er war so unwiderstehlich wie eine Naturgewalt. Einmal begannen sie, in ihrer Verzweiflung deutsch zu sprechen, aber Miss Reid machte dem sofort ein Ende. »Nein, das kann ich nicht dulden, daß Sie etwas sagen, das ich nicht verstehe. Sie sollten alle Nutzen daraus ziehen, daß Sie mich alleine für sich haben und sich im Englischen üben können.« »Wir sprachen von technischen Sachen, die Sie nur langweilen würden, Miss Reid«, sagte der Kapitän. »Ich langweile mich nie. Und darum, auch wenn Sie mich für ein klein wenig eingebildet halten mögen, bin ich nie langweilig. Sehen Sie, ich weiß gerne Bescheid. Alles interessiert mich, und man kann nie wissen, wann ein bißchen Kenntnis einem von Nutzen sein könnte.« Der Doktor lächelte trocken. »Der Kapitän hat das nur gesagt, weil er verlegen 345
war. Er hat nämlich eine Geschichte erzählt, die für die Ohren einer unverheirateten Dame nicht geeignet war.« »Ich bin zwar eine unverheiratete Dame, aber ich bin auch eine Frau von Welt; ich erwarte nicht, daß Seeleute Heilige sind. Sie brauchen nie ängstlich zu sein, was Sie vor mir sagen, Kapitän, ich werde nicht entsetzt sein. Ich möchte Ihre Geschichte sehr gerne hören.« Der Doktor war ein Mann von sechzig Jahren, mit dünnem grauem Haar, einem grauen Schnurrbart und kleinen, scharfen blauen Augen. Er war ein schweigsamer, verbitterter Mann, und so sehr sich Miss Reid auch bemühte, ihn ins Gespräch zu ziehen, war es doch fast unmöglich, ein Wort aus ihm herauszubekommen. Aber sie war nicht die Frau, die ohne Kampf nachgab, und eines Morgens auf offener See, als sie ihn mit einem Buch auf Deck sitzen sah, zog sie ihren Stuhl neben den seinen und ließ sich neben ihm nieder. »Lesen Sie gerne, Doktor?« fragte sie munter. »Ja.« »Ich auch. Und ich vermute, daß Sie wie alle Deutschen musikalisch sind.« »Ich höre Musik gern.« »Ich auch. Als ich Sie zum erstenmal sah, dachte ich sofort, daß Sie klug aussehen.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu, verzog die Lippen und las weiter. Dies schreckte Miss Reid nicht ab. 346
»Aber lesen kann man natürlich jederzeit. Ich ziehe immer ein gutes Gespräch einem guten Buch vor. Sie nicht?« »Nein.« »Das ist sehr interessant. Sagen Sie mir nur, warum?« »Ich kann Ihnen keinen Grund nennen.« »Das ist sehr merkwürdig, nicht? Aber ich finde die menschliche Natur überhaupt sehr merkwürdig. Ich interessiere mich schrecklich für Menschen, wissen Sie. Ärzte habe ich immer gern, sie wissen so viel über die menschliche Natur, aber ich könnte Ihnen einige Dinge erzählen, die sogar Sie erstaunen würden. Man erfährt viel über die Leute, wenn man wie ich eine Teestube leitet, das heißt, wenn man die Augen offenhält.« Der Doktor erhob sich. »Ich muß Sie bitten, mich zu entschuldigen, Miss Reid. Ich muß jetzt einen Patienten besuchen.« »Jedenfalls ist es mir gelungen, das Eis zu brechen«, dachte sie, während er sich entfernte. »Ich glaube, er war nur schüchtern.« Ein paar Tage später fühlte sich der Doktor gar nicht wohl. Er hatte ein inneres Leiden, das ihn von Zeit zu Zeit plagte, aber er war daran gewöhnt und nicht geneigt, darüber zu reden. Wenn er einen seiner Anfälle hatte, wollte er nur allein gelassen werden. Seine Kajüte war klein und dumpf; darum legte er sich auf Deck in einen Liegestuhl und schloß die Augen. Miss Reid spazierte gerade auf und ab, um 347
sich wie jeden Morgen und Abend eine halbe Stunde Bewegung zu machen. Er dachte, wenn er sich schlafend stellte, würde sie ihn nicht stören. Als sie aber ein halbes Dutzend Mal an ihm vorbeigekommen war, blieb sie vor ihm stehen. Obwohl er die Augen geschlossen hatte, wußte er, daß sie ihn betrachtete. »Kann ich etwas für Sie tun, Doktor?« fragte sie. Er zuckte zusammen. »Warum, was denn?« Er schaute sie an und bemerkte ihren tiefbekümmerten Blick. »Sie sehen schrecklich krank aus«, sagte sie. »Ich habe große Schmerzen.« »Ich weiß. Das kann ich sehen. Kann man nichts dagegen tun?« »Nein, es geht nach einiger Zeit vorbei.« Sie zögerte einen Augenblick und ging dann fort. Nach einer Weile kam sie zurück. »Sie sehen so unbehaglich aus, ohne Kissen oder irgend etwas. Ich habe Ihnen mein Reisekissen gebracht, das ich immer mitnehme. Lassen Sie es mich Ihnen doch unter den Kopf schieben.« Er fühlte sich im Augenblick zu elend, um zu protestieren. Sie hob seinen Kopf sanft auf und schob das weiche Kissen darunter. Es war wirklich bequemer für ihn. Sie strich ihm mit der Hand, die kühl und weich war, über die Stirn. »Armer Mann«, sagte sie. »Ich weiß, wie Ärzte sind. Ärzte haben keine Ahnung, wie sie sich selber behandeln sollten.« 348
Sie verließ ihn, kam aber nach wenigen Minuten mit einem Stuhl und einem Beutel zurück. Als der Doktor sie bemerkte, zuckte er gequält zusammen. »Nun werde ich Ihnen nicht erlauben zu sprechen; ich werde nur neben Ihnen sitzen und stricken. Ich finde, es ist immer tröstlich, wenn man sich nicht wohl fühlt, jemand in der Nähe zu haben.« Sie setzte sich, zog einen angefangenen Schal aus ihrem Beutel und begann emsig die Nadeln zu handhaben. Sie sprach kein Wort. Und merkwürdigerweise empfand der Doktor ihre Gegenwart als Trost. Niemand an Bord hatte überhaupt bemerkt, daß er krank war; er hatte sich einsam gefühlt, und die Teilnahme dieser hoffnungslos langweiligen Person war wohltuend für ihn. Es beruhigte ihn, sie da schweigend arbeiten zu sehen, und bald schlief er ein. Als er wieder aufwachte, arbeitete sie noch. Sie sah ihn mit einem leichten Lächeln an, sagte aber nichts. Der Schmerz war vergangen, und er fühlte sich viel wohler. Er ging erst am Spätnachmittag in den Salon. Dort fand er den Kapitän und Hans Krause, den Maat, die zusammen Bier tranken. »Setzen Sie sich, Doktor«, sagte der Kapitän. »Wir halten eben Kriegsrat. Sie wissen, daß übermorgen Heiliger Abend ist.« »Natürlich.« Der Weihnachtsabend bedeutet den Deutschen viel, und sie hatten sich schon alle darauf gefreut. Sie hatten den ganzen Weg von Deutschland her einen Weihnachtsbaum mitgebracht. 349
»Beim Essen heute war Miss Reid gesprächiger denn je. Hans und ich haben beschlossen, daß etwas dagegen geschehen muß.« »Sie hat heute vormittag zwei Stunden schweigend neben mir gesessen. Da hat sie wohl das Versäumte nachholen wollen.« »Es ist schlimm genug, gerade jetzt von zu Hause weg zu sein, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als das Beste draus zu machen. Wir wollen unseren Heiligen Abend genießen, und wenn wir wegen Miss Reid nichts unternehmen, ist das ausgeschlossen.« »Wir können es nicht gemütlich haben, wenn sie dabei ist«, sagte der Maat. »Sie würde todsicher alles verderben.« »Was schlagen Sie vor, um sie loszuwerden, wenn wir sie nicht über Bord werfen können?« sagte der Doktor lächelnd. »Sie ist keine üble Seele; alles, was ihr fehlt, ist ein Liebhaber.« »In ihrem Alter?« rief Hans Krause. »Gerade in ihrem Alter. Diese ausschweifende Redseligkeit, diese Sucht nach Auskünften, die zahllosen Fragen, die sie stellt, ihre Banalitäten, die Art, wie sie kein Ende findet – das ist alles ein Zeichen ihrer rebellierenden Jungfräulichkeit. Ein Liebhaber würde ihr Frieden bringen. Ihre überreizten Nerven würden sich entspannen. Sie hätte dann wenigstens eine Stunde lang gelebt. Die tiefe Befriedigung, die ihr Wesen verlangt, würde durch diese gereizten Sprachzentren fließen, und wir hätten Ruhe.« 350
Es war immer etwas schwer, festzustellen, wieviel der Doktor von dem, was er sagte, wirklich meinte und wann er sich lustig machte. Aber die blauen Augen des Kapitäns funkelten übermütig. »Na, Doktor, ich setze großes Vertrauen in Ihre Diagnosen. Das Rezept, das Sie vorschlagen, ist sicher einen Versuch wert, und da Sie Junggeselle sind, ist es klar, daß seine Anwendung Ihnen obliegt.« »Verzeihen Sie, Kapitän, es ist meine berufliche Pflicht, den Patienten, die mir auf diesem Schiff anvertraut sind, Arzneien zu verordnen, aber nicht, sie ihnen persönlich zu verabreichen. Außerdem bin ich sechzig.« »Ich bin ein verheirateter Mann mit erwachsenen Kindern«, sagte der Kapitän. »Ich bin alt und dick und asthmatisch; es ist klar, daß mir eine solche Aufgabe nicht zugemutet werden kann. Die Natur hat mich für die Rolle eines Ehemannes und Vaters bestimmt, nicht für die eines Liebhabers.« »In diesen Dingen ist Jugend eine Voraussetzung und gutes Aussehen von Vorteil«, sagte der Doktor ernst. Der Kapitän schlug mit der Faust krachend auf den Tisch. »Sie denken an Hans. Sie haben ganz recht. Hans muß es sein.« Der Maat sprang auf die Füße. »Ich? Niemals.« »Hans, du bist groß, hübsch, stark wie ein Löwe, tapfer und jung. Wir werden noch dreiundzwanzig Tage auf See sein, bevor wir nach Hamburg kom351
men. Du willst doch deinen vertrauten alten Kapitän in solcher Notlage nicht im Stich lassen, oder deinen guten Freund, den Doktor?« »Nein, Kapitän, das ist zuviel von mir verlangt. Ich bin noch kein ganzes Jahr verheiratet, und ich liebe meine Frau. Ich kann es kaum erwarten, nach Hamburg zurückzukommen. Sie sehnt sich ebenso nach mir wie ich mich nach ihr. Ich will ihr nicht untreu werden – vor allem nicht mit Miss Reid.« »Miss Reid ist gar nicht so übel«, sagte der Doktor. »Manche Leute würden sie sogar hübsch finden«, sagte der Kapitän. Und wirklich, wenn man Miss Reids Züge einzeln betrachtete, war sie keineswegs unschön. Wohl hatte sie ein langes, dummes Gesicht, aber ihre braunen Augen waren groß, sie hatte sehr dichte Wimpern; ihr braunes Haar war kurz geschnitten und lockte sich recht gefällig im Nacken; ihre Haut war nicht schlecht, und sie war weder zu dick noch zu dünn. Sie war nach heutigen Begriffen nicht alt, und wenn sie gesagt hätte, sie sei vierzig, so hätte man das ohne weiteres geglaubt. Das einzige, was an ihr auszusetzen blieb, war, daß sie hausbacken und langweilig war. »Muß ich also weitere dreiundzwanzig Tage die Weitschweifigkeit dieser lästigen Person ertragen? Muß ich noch geschlagene dreiundzwanzig Tage ihre törichten Fragen beantworten und ihre albernen Bemerkungen anhören? Muß ich alter Mann mir 352
meinen Heiligen Abend, den schönen Abend, auf den ich mich gefreut hatte, durch die Gesellschaft dieser unerträglichen Jungfer verderben lassen? Und nur, weil niemand gefunden werden kann, der ein wenig Galanterie, ein wenig menschliche Güte, einen Beweis von Mildtätigkeit einer einsamen Frau gegenüber aufbringen kann! Ich werde das Schiff auflaufen lassen.« »Es bleibt immer noch der Funker«, sagte Hans. Der Kapitän stieß einen lauten Schrei aus. »Hans, mögen die zehntausend Jungfrauen von Köln sich erheben und dich segnen. Steward«, donnerte er, »sag dem Funker, daß ich ihn sprechen will.« Der Funker kam in den Salon und stand stramm. Die drei Männer betrachteten ihn schweigend. Er überlegte beunruhigt, ob er etwas angestellt habe, wofür er nun zur Rechenschaft gezogen werden sollte. Er war mehr als mittelgroß, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, kerzengerade und schlank; seine gebräunte, glatte Haut sah aus, als habe ein Rasiermesser sie nie berührt, er hatte große, auffallend blaue Augen und eine Mähne von lockigem, goldblondem Haar. Er war ein Prachtexemplar junger teutonischer Männlichkeit. Er war so gesund, so kräftig und voller Leben, daß man selbst auf eine gewisse Entfernung die Vitalität spürte, die von ihm ausstrahlte. »Wie alt bist du, mein Junge?« sagte der Kapitän. »Einundzwanzig, Herr Kapitän.« »Verheiratet?« 353
»Nein, Herr Kapitän.« »Verlobt?« Der Funker kicherte. Es lag etwas anziehend Knabenhaftes in seinem Lachen. »Nein, Herr Kapitän.« »Du weißt, daß wir einen weiblichen Passagier an Bord haben?« »Ja, Herr Kapitän.« »Kennst du sie?« »Wenn ich sie auf Deck treffe, sage ich ihr guten Morgen.« Der Kapitän nahm seine offiziellste Haltung an. Seine Augen, die meistens vor Humor zwinkerten, waren jetzt streng, und er legte einen bellenden Ton in seine tiefe, volle Stimme. »Obwohl dies ein Frachtdampfer ist und wir wertvolle Ladung mitführen, nehmen wir auch die Passagiere auf, die wir kriegen können, und das ist eine Abteilung unseres Geschäftes, an deren Entwicklung der Gesellschaft sehr viel liegt. Die Weisungen an mich lauten dahin, alles nur Mögliche für die Zufriedenheit und das Behagen der Passagiere zu tun. Miss Reid benötigt einen Liebhaber. Der Doktor und ich sind zu der Überzeugung gekommen, daß du geeignet bist, den Anforderungen von Miss Reid zu entsprechen.« »Ich, Herr Kapitän?« Der Funker wurde feuerrot und begann dann zu kichern, beherrschte sich aber gleich wieder, als er die entschlossenen Mienen der drei Männer ihm gegenüber sah. 354
»Aber sie ist alt genug, um meine Mutter zu sein.« »In deinem Alter hat das gar nichts zu sagen. Sie ist eine vornehme Dame und mit allen großen Familien in England verwandt. Wenn sie Deutsche wäre, so wäre sie mindestens eine Gräfin. Daß du für diesen verantwortungsvollen Posten auserwählt worden bist, bedeutet eine Ehre, die du hoch einschätzen solltest. Außerdem ist dein Englisch mangelhaft, und hierdurch wirst du eine glänzende Gelegenheit haben, es zu verbessern.« »Das ist allerdings wahr«, sagte der Funker. »Ich weiß, daß es mir an Übung fehlt.« »Es kommt im Leben nicht so oft vor, daß man Vergnügen mit geistiger Entwicklung verbinden kann, und du darfst dir zu diesem Glücksfall gratulieren.« »Aber wenn ich diese Frage stellen darf, Herr Kapitän: warum benötigt Miss Reid einen Liebhaber?« »Es scheint eine alte englische Sitte zu sein, daß unverheiratete Frauen von hohem Rang sich zu dieser Jahreszeit den Umarmungen eines Liebhabers hingeben. Die Gesellschaft wünscht dringend, daß Miss Reid genauso behandelt wird, wie das auf einem englischen Schiff der Fall gewesen wäre, und wenn sie zufrieden ist, dürfen wir damit rechnen, daß sie bei ihren aristokratischen Beziehungen vielen ihrer Freunde diese Schiffahrtslinie empfehlen wird.« »Herr Kapitän, ich bitte, mich zu entschuldigen.« »Dies ist keine Bitte, die ich ausspreche, sondern 355
ein Befehl. Du wirst dich heute abend um elf Uhr bei Miss Reid in ihrer Kajüte melden.« »Was soll ich tun, wenn ich dort bin?« »Tun?« donnerte der Kapitän. »Tun? Dich natürlich benehmen.« Er winkte mit der Hand und entließ ihn. Der Funker schlug die Hacken zusammen, salutierte und ging hinaus. »Jetzt trinken wir noch ein Bier«, sagte der Kapitän. Beim Abendessen war Miss Reid ganz auf der Höhe. Sie war wortreich. Sie war neckisch. Sie war vornehm. Es gab keinen Gemeinplatz, den sie nicht ausgesprochen hätte. Es gab keine abgedroschene Redensart, die sie vermieden hätte. Sie bombardierte alle mit törichten Fragen. Das Gesicht des Kapitäns wurde immer röter bei der Bemühung, seine Wut zu unterdrücken; er fühlte, daß er ihr nicht länger mit Höflichkeit begegnen konnte, und wenn das Rezept des Doktors nicht half, würde er sich eines Tages vergessen und ihr nicht nur ein wenig, sondern restlos die Meinung sagen. »Ich werde meinen Posten verlieren«, dachte er dabei, »aber ich glaube fast, daß es sich lohnen würde.« Am nächsten Tag saßen sie schon alle am Tisch, als sie zum Mittagessen hereinkam. »Morgen ist Weihnachtsabend«, sagte sie munter. Dieser Hinweis entsprach ihr durchaus. Sie fuhr fort: »Nun, was haben Sie alle heute vormittag getrieben?« Da sie jeden Tag genau das gleiche taten und sie 356
genau wußte, was das war, wirkte diese Frage aufreizend. Der Kapitän verlor den Mut. Er sagte dem Doktor kurz, was er von ihm hielt. »Jetzt aber bitte kein Deutsch«, sagte Miss Reid schalkhaft. »Sie wissen, daß ich das nicht gestatte, und warum, Kapitän, haben Sie den armen Doktor so verdrießlich angesehen? Es ist doch Weihnachtszeit, bedenken Sie, Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Ich bin schon ganz aufgeregt im Gedanken an morgen. Werden an dem Weihnachtsbaum Kerzen sein?« »Natürlich!« »Wie wunderbar! Ich finde immer, daß ein Weihnachtsbaum ohne Kerzen kein Weihnachtsbaum ist. Ach, übrigens, denken Sie nur: ich hatte gestern abend ein so komisches Erlebnis. Ich kann es gar nicht verstehen.« Eine betroffene Stille trat ein. Alle blickten gespannt auf Miss Reid. Ausnahmsweise hingen sie einmal an ihren Lippen. »Ja«, fuhr sie in dem ihr eigenen monotonen und gezierten Ton fort, »ich wollte mich gestern abend gerade zur Ruhe begeben, als es an meine Tür klopfte. ›Wer ist da?‹ sagte ich. ›Der Funker‹, war die Antwort. ›Was gibt es?‹ fragte ich. ›Kann ich Sie sprechen?‹ sagte er.« Sie hörten mit atemloser Aufmerksamkeit zu. ›»Nun, ich will schnell einen Morgenrock anziehen‹, sagte ich, ›und die Tür aufmachen.‹ Also zog ich den Morgenrock an und öffnete die Tür. Der 357
Funker sagte: ›Entschuldigen Sie, Miss, aber wollen Sie nicht vielleicht eine Funkbotschaft senden?‹ Nun, ich fand es schon sehr komisch, daß er um diese Stunde kam, um mich zu fragen, ob ich eine Funkbotschaft senden möchte; ich lachte ihm gerade ins Gesicht, denn es regte meinen Sinn für Humor an, wenn Sie verstehen, was ich damit meine, aber ich wollte ihn nicht kränken, darum sagte ich: ›Vielen Dank, aber ich glaube nicht, daß ich eine Funkbotschaft senden will.‹ Er stand da und sah so komisch aus, als sei er ganz verlegen, darum sagte ich: ›Vielen Dank trotzdem für das Angebot‹, und dann sagte ich: ›Gute Nacht und angenehme Träume‹ und schloß die Tür.« »Der verdammte Narr«, rief der Kapitän aus. »Er ist noch jung, Miss Reid«, warf der Doktor ein. »Das war übertriebener Eifer. Wahrscheinlich dachte er, daß Sie gern Ihren Freunden Glückwünsche schicken möchten, und da wollte er Ihnen den Vorteil einer verbilligten Gebühr vermitteln.« »Ach, es hat mir gar nichts ausgemacht. Ich habe diese komischen kleinen Erlebnisse auf Reisen gern. Ich lache nur herzlich darüber.« Sobald das Essen vorüber war und Miss Reid sie verlassen hatte, ließ der Kapitän den Funker kommen. »Du Esel, warum in aller Welt hast du Miss Reid gestern abend gefragt, ob sie einen Funkspruch senden wolle?« »Herr Kapitän, Sie haben mir gesagt, ich solle 358
mich natürlich benehmen. Ich bin Funker. Ich dachte, es sei natürlich, wenn ich sie frage, ob sie einen Funkspruch senden wolle. Ich wußte nicht, was ich sonst sagen sollte.« »Gott im Himmel!« schrie der Kapitän. »Als Siegfried Brünhilde auf dem Felsen liegen sah und ausrief: ›Das ist kein Mann!‹« (der Kapitän sang die Worte zwei- oder dreimal, weil er seine Stimme gern hörte, bevor er fortfuhr), »hat Siegfried sie dann, nachdem sie erwachte, gefragt, ob sie einen Funkspruch senden möchte, um vielleicht ihrem Papa mitzuteilen, daß sie sich von ihrem langen Schlaf erhoben habe und jetzt wach sei?« »Ich möchte Sie respektvoll darauf aufmerksam machen, daß Brünhilde Siegfrieds Tante war. Miss Reid ist mir völlig fremd.« »Er hat nicht darüber nachgedacht, daß sie seine Tante war. Er wußte nur, daß sie eine schöne und wehrlose Frau war, allem Anschein nach aus guter Familie, und er benahm sich so, wie jeder Gentleman es getan hätte. Du bist jung und hübsch, die Ehre Deutschlands liegt in deiner Hand.« »Zu Befehl, Herr Kapitän. Ich werde mir Mühe geben.« An diesem Abend wurde wieder an Miss Reids Tür geklopft. »Wer ist da?« »Der Funker. Ich habe eine Funknachricht für Sie, Miss Reid.« »Für mich?« Sie war erstaunt, aber es fiel ihr so359
fort ein, daß einer ihrer Mitreisenden, der in Haiti an Land gegangen war, ihr einen Weihnachtsgruß geschickt haben konnte. »Wie freundlich sind doch die Menschen«, dachte sie. »Ich bin zu Bett. Legen Sie es vor die Tür.« »Es ist mit Rückantwort. Zehn Worte vorausbezahlt.« Dann konnte es kein Festgruß sein. Ihr Herzschlag stockte. Es konnte nur eins bedeuten: ihr Geschäft war bis auf den Boden niedergebrannt. Sie sprang aus dem Bett. »Schieben Sie es unter der Türe durch, dann schreibe ich die Antwort und schiebe es Ihnen zurück!« Der Umschlag wurde unter der Türe durchgeschoben, und als er auf dem Teppich erschien, hatte er wirklich ein unheilvolles Aussehen. Miss Reid nahm ihn rasch und riß ihn auf. Die Worte schwammen ihr vor den Augen, und sie konnte ihre Brille nicht gleich finden. Dies war es, was sie las: Fröhliche Weihnachten stop Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen stop Sie sind sehr schön stop Ich liebe Sie stop Ich muß mit Ihnen sprechen stop Unterzeichnet: der Funker. Miss Reid las es zweimal durch. Dann nahm sie langsam ihre Brille ab und versteckte sie unter einem Schal. Sie öffnete die Tür. 360
»Kommen Sie herein«, sagte sie. Am nächsten Tag war Weihnachtsabend. Die Offiziere waren heiter und ein wenig sentimental, als sie sich zum Mittagessen setzten. Die Stewards hatten den Salon mit tropischen Schlingpflanzen geschmückt, als Ersatz für Stechpalme und Misteln, und der Weihnachtsbaum stand auf dem Tisch; seine Kerzen sollten beim Abendessen angezündet werden. Miss Reid kam erst herein, als die Offiziere schon saßen, und als sie ihr guten Morgen wünschten, neigte sie nur schweigend den Kopf. Alle schauten sie neugierig an. Sie sprach dem Essen mit gutem Appetit zu, sagte aber kein Wort. Ihr Schweigen war unheimlich. Endlich konnte der Kapitän es nicht mehr aushalten und sagte: »Sie sind heute sehr still, Miss Reid.« »Ich denke nach«, erwiderte sie. »Und wollen Sie uns Ihre Gedanken nicht mitteilen, Miss Reid?« fragte der Doktor scherzend. Sie warf ihm einen kühlen, beinahe hochmütigen Blick zu. »Ich ziehe vor, sie für mich zu behalten, Doktor. Ich hätte aber gerne noch etwas von dem Ragout, ich habe einen sehr guten Appetit.« Sie beendeten das Mahl unter wohltuendem Schweigen. Der Kapitän stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Dazu war eine Mahlzeit da: zum Essen, nicht zum Schwatzen. Als sie fertig waren, ging er auf den Arzt zu und drückte ihm die Hand. »Es ist etwas geschehen, Doktor.« 361
»Es ist geschehen. Sie ist wie verwandelt.« »Aber wird es andauern?« »Man kann nur das Beste hoffen.« Miss Reid zog für die Feier ein Abendkleid an, ein ganz schlichtes schwarzes Kleid mit künstlichen Rosen an ihrem Busen und einer langen imitierten Jadekette um den Hals. Das Licht war gedämpft, und an dem Weihnachtsbaum brannten die Kerzen. Es war ein wenig wie in der Kirche. Die jüngeren Offiziere speisten an diesem Abend auch im Salon, und sie sahen sehr flott aus in ihren weißen Uniformen. Es gab Sekt auf Kosten der Schiffahrtsgesellschaft und nach dem Abendessen Punsch. Sie zogen an Knallbonbons. Sie sangen Lieder zur Grammophonbegleitung: ›Deutschland, Deutschland über alles‹, ›AltHeidelberg‹ und ›Lang, lang ist’s her‹. Sie schmetterten die Melodien kräftig hinaus, die Stimme des Kapitäns übertönte alle andern, und Miss Reid fiel mit einer angenehmen Altstimme ein. Der Doktor beobachtete, daß Miss Reids Augen von Zeit zu Zeit auf dem Funker ruhten, und er las in ihnen den Ausdruck einer leichten Verwirrung. »Ein hübscher Bursche, nicht wahr?« sagte der Doktor. Miss Reid drehte sich um und schaute ihn kühl an. »Wer?« »Der Funker! Ich dachte, Sie hätten ihn eben betrachtet.« »Welcher ist es?« »Die Doppelbödigkeit der Frauen«, brummte der 362
Doktor vor sich hin, erwiderte aber mit einem Lächeln: »Er sitzt neben dem Ersten Ingenieur.« »Ach, natürlich, jetzt erkenne ich ihn wieder. Wissen Sie, ich finde nie, daß es so wichtig ist, wie ein Mann aussieht. Ich interessiere mich so viel mehr für den Geist eines Mannes als für sein Äußeres.« »Oh«, sagte der Doktor. Sie hatten alle einen kleinen Schwips, auch Miss Reid, aber sie verlor dabei nichts von ihrer Würde, und als sie ihnen gute Nacht sagte, geschah es in ihrer allerbesten Form. »Ich habe einen ganz reizenden Abend verbracht. Ich werde niemals meinen Weihnachtsabend auf einem deutschen Schiff vergessen. Es war sehr interessant. Ein richtiges Erlebnis.« Sie ging aufrecht zur Türe, und das war ein gewisser Triumph, denn sie hatte den ganzen Abend hindurch Zug um Zug mit ihnen ihr Glas geleert. Sie waren am nächsten Tag alle ein wenig mitgenommen. Als der Kapitän, der Doktor und der Erste Ingenieur zum Mittagessen herunterkamen, saß Miss Reid schon am Tisch. Vor jedem Gedeck lag ein kleines, mit rosa Band umwickeltes Päckchen. Auf jedem stand geschrieben: ›Fröhliche Weihnachten‹. Sie schauten Miss Reid fragend an. »Sie sind alle so freundlich zu mir gewesen, deshalb wollte ich jedem von Ihnen ein kleines Geschenk machen. Es gab nicht viel Auswahl in Portau-Prince, Sie dürfen nicht zu viel erwarten.« Für den Kapitän waren es zwei Pfeifen aus Rosen363
holz, für den Doktor sechs seidene Taschentücher, ein Zigarrenetui für den Maat und zwei Krawatten für den Ersten Ingenieur. Sie nahmen die Mahlzeit ein, und Miss Reid zog sich in ihre Kajüte zurück, um auszuruhen. Die Offiziere schauten einander unbehaglich an. Der Maat spielte mit dem Zigarrenetui, das sie ihm gegeben hatte. »Ich schäme mich ein bißchen«, sagte er endlich. Der Kapitän war nachdenklich; offenbar fühlte auch er sich etwas unsicher. »Ich frage mich, ob wir Miss Reid diesen Streich hätten spielen dürfen«, sagte er. »Sie ist eine gute Seele, und sie ist nicht reich; sie ist eine Frau, die sich ihren Unterhalt verdient. Sie hat sicher annähernd hundert Mark für diese Geschenke ausgegeben. Ich wollte beinahe, wir hätten sie in Ruhe gelassen.« Der Doktor zuckte die Achseln. »Sie wollten, daß sie verstummen sollte, und ich habe sie zum Schweigen gebracht.« »Wenn man es näher überlegt, hätte es uns nichts geschadet, ihrem Geschwätz noch weitere drei Wochen zuzuhören«, sagte der Maat. »Ich bin ihretwegen nicht ganz glücklich«, fügte der Kapitän hinzu. »Ich finde ihr Schweigen unheimlich.« Sie hatte während der ganzen Mahlzeit kaum ein Wort gesagt. Sie schien kaum darauf zu hören, was sie sprachen. »Meinen Sie nicht, daß Sie sich bei ihr erkundigen sollten, ob sie sich ganz wohl fühlt, Doktor?« schlug der Kapitän vor. 364
»Natürlich fühlt sie sich wohl. Sie hat einen Wolfsappetit. Wenn Sie Erkundigungen einholen wollen, sollten Sie sich lieber an den Funker wenden.« »Vielleicht haben Sie es noch nicht bemerkt, Doktor, aber ich bin ein Mann von großem Zartgefühl.« »Ich habe selber auch ein Herz«, sagte der Doktor. Während der restlichen Fahrt verwöhnten diese Männer Miss Reid in ganz übertriebener Weise. Sie behandelten sie mit der Rücksicht, die sie einer von langer gefährlicher Krankheit Genesenden entgegengebracht hätten. Obwohl ihr Appetit glänzend war, bemühten sie sich, sie mit neuen Gerichten zu verlocken. Der Doktor bestellte Wein und bestand darauf, daß sie die Flasche mit ihm teilte. Sie spielten Domino mit ihr. Sie spielten Schach mit ihr. Sie spielten Bridge mit ihr. Sie zogen sie ins Gespräch. Aber es unterlag keinem Zweifel, daß sie, obwohl sie dem Entgegenkommen höflich begegnete, innerlich für sich blieb. In ihrem Blick lag beinahe etwas wie Verachtung; man hätte fast denken können, daß diese Männer und ihre liebenswürdigen Bemühungen ihr angenehm lächerlich erschienen. Sie sprach selten, wenn sie nicht angeredet wurde. Sie las Detektivromane und saß abends auf Deck und betrachtete die Sterne. Sie lebte ein Leben für sich. Endlich nahte das Ende der Reise. Sie dampften an einem ruhigen, grauen Tag den Ärmelkanal hinauf; sie erblickten Land. Miss Reid packte ihre Koffer. Um zwei Uhr nachmittags legten sie im Dock von Plymouth an. Der Kapitän, der Maat und der 365
Doktor kamen herbei, um sich von ihr zu verabschieden. »Nun, Miss Reid«, sagte der Kapitän in seiner herzhaften Weise, »es tut uns leid, Sie zu verlieren, aber wahrscheinlich freuen Sie sich, nach Hause zu kommen.« »Sie sind sehr freundlich zu mir gewesen, sie alle sind sehr freundlich gewesen. Ich weiß gar nicht, wodurch ich das verdient habe. Ich war sehr glücklich bei Ihnen. Ich werde Sie nie vergessen.« Sie sprach ein wenig zittrig, sie versuchte zu lächeln, aber ihre Lippen bebten, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Der Kapitän wurde dunkelrot. Er lächelte verlegen. »Darf ich Ihnen einen Kuß geben, Miss Reid?« Sie war um einen halben Kopf größer als er. Sie beugte sich herunter, und er drückte ihr einen dicken Kuß auf die eine nasse Wange und einen weiteren dicken Kuß auf die andere. Sie wandte sich zu dem Doktor und dem Maat. Und beide küßten sie. »Was für eine alte Närrin bin ich«, sagte sie. »Alle sind so gut.« Sie trocknete sich die Augen und ging dann langsam, in ihrer graziösen, leicht komischen Art den Laufsteg hinunter. Der Kapitän hatte feuchte Augen. Als sie den Kai erreichte, blickte sie in die Höhe und winkte jemandem auf dem Bootsdeck. »Wem winkt sie?« fragte der Kapitän. »Dem Funker.« Miss Price wartete am Kai, um sie willkommen zu 366
heißen. Als sie den Zoll passiert hatten und Miss Reid ihr großes Gepäck losgeworden war, gingen sie zu Miss Price und tranken dort einen frühen Tee. Miss Reids Zug fuhr erst um fünf Uhr. Miss Price hatte Miss Reid viel zu berichten. »Aber es ist schlimm von mir, so ins Reden zu geraten, wenn du gerade erst nach Hause gekommen bist. Ich habe mich schon so darauf gefreut, alles über deine Reise zu hören.« »Ich fürchte, daß es gar nicht viel zu erzählen gibt.« »Das kann ich nicht glauben. Deine Reise ist doch gelungen, oder nicht?« »Sehr gelungen. Es war sehr nett.« »Und es war dir nicht unangenehm, mit all diesen Deutschen zusammen zu sein?« »Natürlich sind sie nicht wie Engländer. Man muß sich an ihre Art gewöhnen. Sie tun manches, was – nun, was Engländer nicht tun würden, weißt du. Aber ich finde immer, daß man die Dinge nehmen muß, wie sie kommen.« »Was meinst du damit?« Miss Reid blickte ihre Freundin gelassen an. Ihr langes, dummes Gesicht hatte einen milden Ausdruck, und Miss Price bemerkte das eigentümlich mutwillige Blinken in ihren Augen nicht. »Eigentlich nur ganz bedeutungslose Ereignisse. Einfach komische, unerwartete, recht nette Erlebnisse. Zweifellos wirkt Reisen wunderbar bildend.« (Deutsch von Helene Mayer)
Muriel Spark Der Seraph und der Sambesi
Vielleicht habt ihr mal von Samuel Cramer gehört, einem Dichter und Journalisten, der mit einer Tänzerin namens Fanfarlo zu tun hatte. Aber wenn ihr nicht von ihm gehört habt, dann schadet’s auch nichts, wie ihr schon noch merken werdet. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war er in Paris sehr auf der Höhe, und als ich ihn 1946 kennenlernte, war er immer noch auf der Höhe, doch diesmal auf andere Art. Es war der gleiche Mann, aber gemäßigter. Damals zum Beispiel, vor mehr als hundert Jahren, hatte Cramer mehrere Jahrzehnte hindurch in aller Harmlosigkeit darauf bestanden, daß er ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt sei. Als ich ihn dagegen kennenlernte, befand er sich offensichtlich in seiner Zweiundvierzigerphase. Zu jener Zeit besaß er eine Tankstelle, und zwar vier Meilen südlich vom Sambesi, wo der Fluß in den Viktoriafällen über Felsklippen stürzt. Cramer hatte ein paar Gastzimmer, in denen er, wenn das Hotel besetzt war, Touristen unterbrachte, die zu den Fällen wollten. Ich wurde an ihn verwiesen, weil ich im Hotel keinen Platz bekommen konnte, denn es war in der Woche vor Weihnachten. Ich traf ihn draußen vor seiner Wellblechgarage an, 369
wo er gerade am Anlasser eines großen, plumpen Mercedes herumprobierte, und auf den ersten Blick hielt ich ihn für einen Belgier aus dem Kongo. Er sah mir teils nördlich, teils südlich aus – hatte helles Haar und eine lederfarbene Haut. Später erzählte er mir, sein Vater sei Deutscher und seine Mutter Chilenin. Dieser Bescheid war es – und nicht so sehr das ›S. Cramer‹ über der Gartentür –, der mich auf den Gedanken brachte, ich müßte schon von ihm gehört haben. Die Regenzeit war sehr dürftig ausgefallen, und in jenem Dezember herrschte eine sengende Hitze. Am dritten Abend vor Weihnachten saß ich auf der Veranda vor meinem Zimmer und blickte durch das zerrissene Drahtnetz des Moskitofensters auf das ferne Wetterleuchten. Wenn die Atmosphäre längere Zeit eine übermäßig hohe Temperatur beibehält, scheint mit den natürlichen Umweltgeräuschen etwas vor sich zu gehen. Der Ton vermag seine übliche Fülle nicht mehr zu tragen, sondern er dringt wie eingezwängt und geknebelt an unser Ohr. An jenem Abend waren die Weihnachtskäfer, die sonst auf jeder Veranda mit lautem ›Teckteck‹ auf den Rücken fallen, anscheinend mit Stoßdämpfern versehen. Ich sah einen hinfallen, und der leise Aufprall war erst um einen winzigen Zeitbruchteil später vernehmlich. Die Geräusche der kleineren wilden Tiere im Busch klangen auch alle wie vertuscht. Ja, als die Geräusche im Busch alle gleichzeitig abbrachen, wie es häufig der Fall ist, wenn ein Leopard sich nähert, merkte ich erst, daß vorher ein Geräusch dagewesen war. 370
Das allgemeine erstickte Gesumm wurde von Cramers Sonnenuntergangsgesellschaft übertönt, die am andern Ende der Veranda ihren Fortgang nahm. Die Hitze verzerrte jedes Wort. Die Gläser ließen ein Klimpern hören, das nicht mehr an Gläsernes erinnerte, sondern an in Seidenpapier gewickelte Flaschen. Manchmal hing ein Schrei oder eine Lache stumpf in der Luft, doch es waren unwirkliche Laute, wie aus einem fernen Land projiziert – wie Taschenlampen im Londoner Nebel. Cramer kam zu mir auf meinen Verandaanteil und forderte mich auf, bei seiner Gesellschaft mitzumachen. Ich sagte, ich würde gerne kommen, und meinte es ehrlich, obwohl ich auch gern allein gesessen hätte. Eine so beharrliche und heftige Hitze saugt jeden Willen auf. Fünf Leute saßen in Korbstühlen da, tranken ihren Highball und knabberten gesalzene Erdnüsse. Ich erkannte einen rothaarigen Reiter aus Livingstone, der frisch aus England gekommen war, und zwei von Cramers Gästen, einen Tabakpflanzer und seine Frau aus Bulawayo. Wie es dortzulande Brauch ist, wurden die andern beiden mit ihrem Vornamen vorgestellt. Mannie, ein kleiner dunkler Mann von gedrungenem Wuchs und Gesicht, konnte meiner Ansicht nach ein Portugiese von der Ostküste sein. Fanny, die Frau, zupfte kleine Enden aus ihrem ausgefransten Korbstuhl, und als sie ihr Glas hob, zitterte ihre Hand ein wenig, so daß ihre Armbänder klirrten. Sie mochte etwa fünfzig sein, eine gepflegte 371
Frau und sehr adrett. Ihr graues, leicht blau getöntes Haar säumte als Franse ein Gesicht, das von Malaria zerfurcht war. Wie man so mit Fremden in jener Gegend die Zeit zu verbringen pflegt, tauschte ich mit den Tabakleuten die Namen von Bekannten aus, die innerhalb von sechshundert Meilen im Umkreis wohnten, wobei wir die Liste auf gemeinsam bekannte Namen beschränkten. Der Reiter seinerseits steuerte Neuigkeiten aus der Gegend zwischen Lusaka und Livingstone bei. Unterdessen war eine Diskussion zwischen Cramer, Fanny und Mannie im Gange, und Fanny schien den Sieg davonzutragen. Wie es den Anschein hatte, sollte am Heiligen Abend ein Spiel oder ein Konzert aufgeführt werden, an dem die drei teilnahmen. Ein paarmal hörte ich Worte wie »Engelschar«, »Hirten«, »lächerlicher Preis« und »meine jungen Mädchen« – Worte, um die es sich bei der Auseinandersetzung hauptsächlich zu drehen schien. Plötzlich unterbrach sich Fanny mitten im Sprechen, da sie einen vom Reiter erwähnten Namen aufgefangen hatte, und wandte sich an uns. »Sie gehörte zu meinen jungen Mädchen«, sagte sie. »Ich habe ihr drei Jahre lang Unterricht gegeben.« Mannie stand auf, um sich zu verabschieden, und bevor Fanny ihm folgte, holte sie eine Karte aus ihrer Handtasche und reichte sie mir mit spitzen Fingern. »Falls sich eine Ihrer Bekannten dafür interessiert …« sagte Fanny obenhin. Während sie mit ihrem Mann wegfuhr, betrachtete 372
ich die Karte und las über einer Adresse etwa vier Meilen stromaufwärts das Folgende: Madame La Fanfarlo (Paris, London) Tanzlehrerin. Ballett. Tanzsaal. Auf Wunsch wird für Transportmöglichkeit gesorgt. Am nächsten Tag stieß ich auf Cramer, der sich immer noch bemühte, die Ursache der Panne am Mercedes zu entdecken. »Sind Sie der Mann, über den Baudelaire geschrieben hat?« fragte ich ihn. Mit der Miene schwergeprüfter Geduld blickte er an mir vorbei auf das weite, öde Veldt. »Ja«, erwiderte er. »Was hat Sie darauf gebracht?« »Der Name Fanfarlo auf Fannys Karte«, sagte ich. »Sie kannten sie doch – damals in Paris?« »Ach ja«, sagte Cramer, »aber die Zeiten sind vorbei. Sie hat Manuel de Montaverde geheiratet – also den Mannie. Vor etwa zwanzig Jahren haben sie sich hier angesiedelt. Er hat einen Kaffern-Laden.« Nun fiel mir ein, daß es Cramer im Zeitalter der Romantik beliebt hatte, zwischen der Betätigung als Dichter und als Literat zu schwanken und solchen Betätigungen entsprechend zu leben. Ich fragte ihn: »Haben Sie Ihre literarische Laufbahn aufgegeben?« »Als Laufbahn, ja«, antwortete er. »Es war eine Besessenheit, und ich war froh, als ich sie los war.« 373
Er strich über die klobige Kühlerhaube des Mercedes und fuhr fort: »Die größte Dichtung ist Gelegenheitsdichtung: Einfall des Augenblicks.« Wieder blickte er über das Veldt, wo ein unsichtbarer grauer Haubenpapagei »Go’way, go’way!« kreischte. »Wichtig ist einzig das Leben«, schloß Cramer. »Und verfassen Sie jetzt Gelegenheitsdichtung?« fragte ich. »Wenn die Gelegenheit es verlangt«, sagte er. »So habe ich gerade ein Weihnachtsspiel geschrieben. Am Heiligen Abend wollen wir es dort drin aufführen.« Er deutete auf die Garage, wo ein paar Eingeborene schon dabei waren, Benzinkanister und Autoreifen umzustellen. Da sie weder zu den Schauspielern noch zu den Zuschauern gehörten, ließen sie sich Zeit. Nahebei war ein Stoß Faltstühle abgeladen worden. Als ich am Vormittag des Heiligen Abends ziemlich spät von den Fällen zurückkehrte, sah ich draußen vor der Garage eine Schar streitender Eingeborener, und mitten unter ihnen Cramer, der laut und wüst fluchte. Er hielt einen zornigen Mann am Hemdsärmel gepackt, während er mit der andern Hand seine Schimpfworte in die heiße Luft malte. Ein paar Missionseingeborene waren hergeschickt worden, um beim Errichten der Bühne behilflich zu sein, und mit ihrem mittelmäßigen Schulenglisch, den gewaschenen Gesichtern und den weißen Drellshorts hatten sie, ohne es zu wollen, Cramers simple zerlumpte Boys gegen sich aufgebracht. Cramers Be374
handlungsart, die im Wort »Polizei« gipfelte, gelang es dann, sie wieder an die Arbeit zu schicken, wobei sie einander noch immer trommeldunkle Kehllaute zuriefen. Die Bühne bestand aus Kisten mit darüber genagelten Brettern: sie befand sich im Hintergrund der Garage, und von dort führte ein Türchen zum Hof, zum Abort und zu den Eingeborenenhütten. Der Raum zwischen Tür und Bühne war durch mehrere an einer Leine aufgehängte schwarze Regierungsdekken abgetrennt worden und sollte das Ankleidezimmer sein. Ich willigte ein, am Abend herüberzukommen, um bei der Beleuchtung, beim Schminken und beim Anstecken der Engelsflügel zu helfen. Die Tanzschülerinnen der Fanfarlo sollten als Engelchor singen und tanzen, während sie selbst als Jungfrau Maria ein Ballettsolo vorführen wollte. Weil ihr Mann nur sehr gebrochen Englisch sprach, hatte er als Hirt eine stumme Rolle bekommen, und drei weitere Hirten waren ihm aus dem gleichen Grund zugeteilt worden. Cramers Rolle war die wichtigste, denn er hatte am meisten zu sprechen, da er der Erste Seraph war. Man war sich einig, daß er die langen Stellen am besten vortragen könne, weil er ja das Stück verfaßt hatte. Wie ich hörte, war es aber bei den Proben zu Reibereien gekommen, denn Fanny hatte einen zu großartigen Bühnenaufbau verlangt, den man ihren jungen Mädchen schuldig sei. Die Vorstellung sollte um acht Uhr beginnen. Ich erschien Viertel nach sieben hinter der Bühne und 375
fand dort die in Ballettröckchen gekleideten Engel mit Flügeln aus verschiedenfarbigem Kreppapier. Die Fanfarlo trug ein langes, durchsichtiges, weißes Gewand mit einem flitterbestickten Oberteil. Ich half gerade den Weisen aus dem Morgenland beim Befestigen der Bärte, als ich Cramer erblickte. Er trug eine Art Toga, ein Gewand aus mehreren Schichten Moskitotüll, die aber nicht dicht genug waren, sondern seine weißen Shorts sehen ließen. Er hatte schon sehr früh die Schminke aufgetragen, und in der zunehmenden Hitze begann sie zu schmelzen. »Immer werd’ ich nervös, wenn es soweit ist«, sagte er. »Ich muß noch mal meine Eröffnungsrede üben.« Ich hörte, wie er auf die Bühne stieg und deklamierte. Lauter als die Stimmen der aufgeregten Kinder schlug mir der Rhythmus seiner Stimme ans Ohr. Voller Eifer half ich der Fanfarlo, Schminke auf die Gesichter der Mädchen aufzutragen. Es schien unmöglich. Sobald wir die Schminkstifte auch nur in die Hand nahmen, schmolzen sie schon. Es wurde wirklich ganz außergewöhnlich heiß. »Macht doch die Tür auf!« schrie die Fanfarlo. Die Hoftür wurde geöffnet, und eine Schar neugieriger Eingeborener drängte sich um den Eingang. Ich überließ es der Fanfarlo, sie wegzuscheuchen, denn ich wollte irgendwie auf die Vorderseite gelangen, um Luft zu schöpfen. Ich stieg auf die Bühne und überquerte sie schon, als mir rechter Hand eine mächtige Hitzewelle entgegenschlug. Ich blickte mich um und 376
sah Cramer, der offenbar jemanden anfauchte, ungefähr wie am Morgen, als er die Eingeborenen beschimpfte. Doch wegen des Hitzestroms konnte er nicht näher vordringen. Und wegen der Hitze konnte ich auch nicht gleich erkennen, mit wem Cramer so schalt: es war eine Art Hitze, die einem auf die Augen schlug. Doch als ich an den vorderen Rand der Bühne trat, sah ich, was drüben stand. Es war eine lebendige Erscheinung. Das Auffallendste an ihr war ihre Unwandelbarkeit: sie schien den Gesetzen der Perspektive nicht unterworfen, denn immer blieb sie gleich groß, ob ich näher kam oder mich zurückzog. Und sehr zum Unterschied von andern Lebensformen machte sie einen fertigen Eindruck. Kein Teilchen war in Entwicklung begriffen; den Umrissen fehlte es an jener Wirrnis und Gärung, die doch sonst Merkmale lebender Wesen sind, und gerade das war die Ursache ihrer Schönheit. Die Augen nahmen fast den größten Teil des Gesichts ein und reichten weit über die Backenknochen hinaus. Am Hinterkopf saßen zwei kräftige Flügel, die von Zeit zu Zeit über die Augen fächerten und dabei einen glühend heißen Luftwirbel hervorriefen. Ein Hals war kaum vorhanden. Unterhalb der Schultern breitete sich ein zweites kräftiges und geschmeidiges Flügelpaar aus, und ein drittes Paar entfaltete sich an den Waden und schien den Körper zu tragen. Die Füße sahen zu zerbrechlich aus, um eine so konzentrierte Daseinsform zu stützen. In Afrika lebende Europäer fühlen sich meistens 377
unwiderstehlich gedrängt, alles Fremdartige in der Kaffern-Umgangssprache anzureden. »Hamba!« schrie Cramer, und das bedeutet: »Geh fort!« »Geh du jetzt von der Bühne herunter und sei ruhig!« sagte die Erscheinung friedfertig. »Wer zum Teufel bist du?« keuchte Cramer in der heißen Luft. »Der gleiche wie im Himmel«, kam die Antwort. »Also ein Seraph.« »Das kannst du anderen erzählen«, schnaufte Cramer. »Seh ich wie ein Esel aus?« »Nein. Aber auch nicht wie ein Seraph«, sagte der Seraph. Die Hitze, die der Seraph ausstrahlte, erfüllte die ganze Garage. Cramer lief die Schminke in die Augen, und er wischte sie auf sein Tüllgewand. Er trat zurück, bis zu einer weniger heißen Stelle, und rief von dort aus: »Ein für allemal …« »Sehr richtig«, sagte der Seraph. »… ist das hier meine Aufführung.« »Seit wann?« fragte der Seraph. »Von Anfang an«, keuchte Cramer ihm zu. »Und mein ist sie von Anbeginn«, sagte der Seraph, »und der Anbeginn ist der wahre Beginn.« Cramer kletterte von der heißen Bühne herunter, blieb mit seinem Seraph-Gewand an einem Nagel hängen und zerriß es. »Hör mal«, sagte er, »ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß eine Abnormität wie du ein echter Seraph ist!« 378
»Sehr richtig«, sagte der Seraph. Mittlerweile hatte mich die Hitze zum vorderen Eingang getrieben. Cramer trat neben mich. Eine Anzahl Eingeborener hatte sich eingefunden. Die Zuschauer waren schon in ihren Wagen eingetroffen, und die andern Schauspieler waren vom Hof her um das Gebäude herumgekommen. Es war wegen der Hitze des Seraphs unmöglich, weit hineinzuschauen, und es war unmöglich, wieder hineinzugehen. Cramer ereiferte sich immer noch von der Türe her gegen den Seraph, und unter den Neuankömmlingen erhoben sich allerlei Mutmaßungen, welcher von den drei Kategorien die gegenwärtige Schwierigkeit zuzuschreiben sei: den Eingeborenen oder Whitehall oder den Leoparden. »Das hier ist mein Anwesen«, rief Cramer, »und die Leute haben ihre Plätze bezahlt. Sie sind hergekommen, um sich ein Mysterienspiel anzuschauen.« »In dem Falle will ich abkühlen«, sagte der Seraph, »dann können sie kommen und sich ein Mysterienspiel anschauen.« »Mein Mysterienspiel«, sagte Cramer. »O nein – meins!« sagte der Seraph. »Deins genügt nicht.« »Gehst du jetzt, oder soll ich die Polizei rufen?« sagte Cramer entschlossen. »Für mich gibt es keine Wahl«, sagte der Seraph noch entschlossener. Draußen hatte es sich herumgesprochen, in der Garage sei ein rasender Leopard. Die Leute stiegen 379
wieder in ihre Wagen und parkten in sicherer Entfernung; der Tabakpflanzer ging fort, um sein Gewehr zu holen. Eine Anzahl junger Reiter hatte den Einfall, den rasenden Leoparden mit Benzin zu blenden: sie hatten ein paar Eingeborene dazu angestiftet, Benzinkanister an der Tanksäule zu füllen und sie von Hand zu Hand bis zur Garage wandern zu lassen. »Dann ist er erledigt«, sagte einer. »Das ist recht!« sagte Cramer von seinem Platz an der Tür. »Gebt’s ihm nur!« »Das solltet ihr nicht tun«, sagte der Seraph. »Dann entsteht ein Brand.« Die erste Portion Benzin, die in die Hitze geschleudert wurde, loderte auf. Zuerst verbrannten die Sitze. Dann begann sogar die Luft innerhalb der Blechwände zu brennen, bis das ganze Innere ein Feuermeer war. Eine weitere Wagenladung mit Reitern traf ein und ließ sofort von den Eingeborenen leere Kanister mit Wasser füllen. Allmählich löschten sie das Feuer. Etwas weiter straßaufwärts zählte die Fanfarlo ihre Engel. Sie versuchte die Eltern zu beruhigen und gleichzeitig zu beobachten, was vor sich ging, und sie war wütend, daß sie nun nicht tanzen konnte. Einem Engel, dessen Eltern in England waren, knuffte sie derb in den Rücken. Es dauerte einige Stunden, bis das Feuer gänzlich gelöscht war. Solange die Wellblechwände noch glühten und sich krümmten und aufrollten, konnte man unmöglich erkennen, was mit dem Seraph ge380
schehen war, und als sie nicht mehr glühten, war es zu dunkel und auch zu heiß, um weit genug in die Trümmer hineinzuspähen. »Sind Sie versichert?« erkundigte sich einer von Cramers Freunden. »O ja«, erwiderte Cramer. »Meine Police schließt alles ein – nur nicht höhere Gewalt, und das bedeutet Blitzschlag oder Überschwemmung.« »Er ist hinreichend versichert«, erzählte Cramers Freund einem andern Freund. Viele Leute waren nach Haus gegangen, und die übrigen waren im Begriff aufzubrechen. Die Reiter fuhren ab und sangen dabei: »Der gute König Wenzel …«, und die Missionsboys liefen die Straße hinab und sangen: »Freut euch, ihr wackern Christenleut!« Es war gegen Mitternacht und immer noch sehr heiß. Die Tabakpflanzer schlugen eine Fahrt zu den Fällen vor, wo es kühl wäre. Cramer und die Fanfarlo schlossen sich uns an, und wir rumpelten über den holprigen Weg von Cramers Garage bis zur Überlandstraße. Dort ist der Fahrdamm nur in Längsstreifen für Autoräder asphaltiert. Wir hörten das Donnern der Fälle, als wir noch etwa zwei Meilen davon entfernt waren. »Nach all meiner Arbeit für das Spiel und alles übrige!« sagte Cramer. »Ach, hören Sie auf!« rief die Fanfarlo. Und gerade da sah ich im Licht unsrer Scheinwerfer noch einmal den Seraph, wie er mit etwa siebzig Kilometern Stundengeschwindigkeit den Asphalt381
streifen entlangschwebte, wobei zwei seiner sechs Flügel sich geschwind bewegten, zwei sich über sein Gesicht falteten und zwei seine Füße bedeckten. »Da ist er!« rief Cramer. »Den bekommen wir noch!« Wir ließen den Wagen in der Nähe des Hotels stehen und folgten einem Treck durch die dichte Vegetation des Regenwaldes, auf den fortwährend der Gischt der Fälle niederstäubt. Der zarte Sprühregen war wie eine Genesung nach der Fieberglut. Der Seraph war weit voraus, und zwischen den Bäumen konnte ich erkennen, wie seine Hitze den Gischt in Dampf verwandelte. Wir kamen zum Rand der Felsklippen, wo uns gegenüber und auf der gleichen Höhe der Fluß mit voller Wucht in die Schlucht hinuntertost. Vom Seraph war keine Spur zu sehen. War er tief unten im brodelnden Abgrund – oder wo sonst? Dann bemerkte ich, daß über dem eine Meile langen Kamm des Wasserfalles der Gischt höher als sonst aufstieg. Ich hielt es für Dampf, den die Hitze des Seraphs hervorgerufen hatte. Ich hatte recht, denn gleich darauf, beim stummen Flackern des Wetterleuchtens, sahen wir ihn über den Sambesi ziehen, fort von uns, zwischen den Felsen hindurch, die wie Krokodile aussehen, und zwischen Krokodilen hindurch, die wie Felsen aussehen. (Deutsch von Elisabeth Schnack)
Truman Capote Eine Weihnachtserinnerung
Stellt euch einen Morgen gegen Ende November vor! Das Heraufdämmern eines Wintermorgens vor mehr als zwanzig Jahren. Denkt euch die Küche eines weitläufigen alten Hauses in einem Landstädtchen. Ein großer schwarzer Kochherd bildet ihren wichtigsten Bestandteil, aber auch ein riesiger runder Tisch und ein Kamin sind da, vor dem zwei Schaukelstühle stehen. Und gerade heute begann der Kamin sein zur Jahreszeit passendes Lied anzustimmen. Eine Frau mit kurzgeschorenem weißem Haar steht am Küchenfenster. Sie trägt Tennisschuhe und einen formlosen grauen Sweater über einem sommerlichen Kattunkleid. Sie ist klein und behende wie eine Bantam-Henne; aber infolge einer langen Krankheit in ihrer Jugend sind ihre Schultern kläglich verkrümmt. Ihr Gesicht ist auffallend: dem Lincolns nicht unähnlich, ebenso zerklüftet und von Sonne und Wind gegerbt; aber es ist auch zart, von feinem Schnitt, und die Augen sind sherryfarben und scheu. »Oho«, ruft sie aus, daß die Fensterscheibe von ihrem Hauch sich beschlägt, »FrüchtekuchenWetter!« Der, zu dem sie spricht, bin ich. Ich bin sieben. Sie ist sechzig und noch etwas darüber. Wir sind Vetter 383
und Base, zwar sehr entfernte, und leben zusammen seit – ach, solange ich denken kann. Es wohnen noch andere Leute im Haus, Verwandte; und obwohl sie Macht über uns haben und uns oft zum Weinen bringen, merken wir im großen und ganzen doch nicht allzuviel von ihnen. Wir sind jeder des andern bester Freund. Sie nennt mich Buddy, zum Andenken an einen Jungen, der früher mal ihr bester Freund war. Der andere Buddy starb in den achtziger Jahren, als sie noch ein Kind war. Sie ist noch immer ein Kind. »Ich wußte es, noch eh’ ich aus dem Bett stieg«, sagt sie und kehrt dem Fenster den Rükken. Ihre Augen leuchten zielbewußt. »Die Glocke auf dem Gericht hallte so kalt und klar. Und kein Vogel hat gesungen; sind vermutlich in wärmere Länder gezogen. O Buddy, hör auf, Biskuits zu futtern, und hol unser Wägelchen! Und hilf mir meinen Hut suchen! Wir müssen dreißig Kuchen backen.« So ist es immer: jedes Jahr im November dämmert ein Morgen herauf, und meine Freundin verkündet – wie um die diesjährige Weihnachtszeit feierlich zu eröffnen, die ihre Phantasie befeuert und die Glut ihres Herzens nährt –: »Früchtekuchen-Wetter! Hol unser Wägelchen! Hilf mir meinen Hut suchen!« Der Hut findet sich: ein Wagenrad aus Stroh, geschmückt mit Samtrosen, die in Luft und Licht verblaßten; er gehörte einmal einer eleganteren Verwandten. Zusammen ziehen wir unser Wägelchen, einen wackeligen Kinderwagen, aus dem Garten und zu einem Gehölz von Hickory-Nußbäumen. Das 384
Wägelchen gehört mir, das heißt, es wurde für mich gekauft, als ich auf die Welt kam. Es ist aus Korbgeflecht, schon ziemlich aufgeräufelt, und die Räder schwanken wie die Beine eines Trunkenbolds. Doch ist es ein treuer Diener; im Frühling nehmen wir es mit in die Wälder und füllen es mit Blumen, Kräutern und wildem Farn für unsere Verandatöpfe; im Sommer häufen wir es voller Picknicksachen und Angelruten aus Zuckerrohr und lassen es zum Ufer eines Flüßchens hinunterrollen; auch im Winter findet es Verwendung: als Lastwagen, um Feuerholz vom Hof zur Küche zu befördern, und als warmes Bett für Queenie, unsern zähen kleinen rotweißen rattenfangenden Terrier, der die Staupe und zwei Klapperschlangenbisse überstanden hat. Queenie trippelt jetzt neben uns einher. Drei Stunden darauf sind wir wieder in der Küche und entkernen eine gehäufte Wagenladung HickoryNüsse, die der Wind heruntergeweht hat. Vom Aufsammeln tut uns der Rücken weh: wie schwer sie unter dem welken Laub und im frostfahlen, irreführenden Gras zu finden waren! (Die Haupternte war schon von den Eigentümern des Wäldchens – und das sind nicht wir – von den Bäumen geschüttelt und verkauft worden.) Krick-kräck! Ein lustiges Krachen, wie lauter Zwergen-Donnerschläge, wenn die Schalen zerbrechen und der goldene Hügel süßen, fetten sahnefarbenen Nußfleisches in der Milchglasschüssel höher steigt. Queenie bettelt um einen Kosthappen, und hin und wieder gönnt meine 385
Freundin ihr verstohlen ein Krümchen, wenn sie auch beteuert, daß wir’s nicht entbehren können. »Wir dürfen’s nicht, Buddy! Wenn wir mal damit anfangen, nimmt’s kein Ende. Und wir haben fast nicht genug. Für dreißig Früchtekuchen!« In der Küche dunkelt es. Die Dämmerung macht aus dem Fenster einen Spiegel: unsre Spiegelbilder, wie wir beim Feuerschein vor dem Kamin arbeiten, mischen sich mit dem aufgehenden Mond. Endlich, als der Mond schon sehr hoch steht, werfen wir die letzte Nußschale in die Glut und sehen gemeinschaftlich seufzend zu, wie sie Feuer fängt. Das Wägelchen ist leer, die Schüssel ist bis zum Rande voller Nußkerne. Wir essen unser Abendbrot (kalte Biskuits, Brombeermus und Speck) und besprechen den nächsten Tag. Morgen beginnt der Teil der Arbeit, der mir am besten gefällt: das Einkaufen. Kandierte Kirschen und Zitronen, Ingwer und Vanille und BüchsenAnanas aus Hawaii, Orangeat und Zitronat und Rosinen und Walnüsse und Whisky und, oh, was für eine Unmenge Mehl und Butter, und so viele Eier und Gewürze und Aroma – wir brauchen wohl gar ein Pony, um das Wägelchen nach Hause zu ziehen! Doch ehe die Einkäufe gemacht werden können, muß die Geldfrage gelöst werden. Wir haben beide keins, abgesehen von kläglichen Summen, mit denen uns die Leute aus dem Haus gelegentlich versehen (ein Zehner gilt schon als sehr viel Geld), oder von dem, was wir auf mancherlei Art selbst verdienen, indem wir einen Ramsch-Verkauf veranstalten oder 386
Eimer voll handgepflückter Brombeeren und Gläser mit hausgemachter Marmelade, mit Apfelgelee und Pfirsichkompott verkaufen oder für Begräbnisse und Trauungen Blumen pflücken. Mal haben wir auch bei einem nationalen Fußballtotto den neunundsiebzigsten Preis gewonnen: fünf Dollar! Nicht etwa, daß wir auch nur eine blasse Ahnung vom Fußball hätten! Es ist vielmehr so, daß wir einfach bei jedem Wettbewerb mitmachen, von dem wir hören. Augenblicklich richtet sich all unsre Hoffnung auf das große Preisausschreiben, bei dem man fünfzigtausend Dollar für den Namen einer neuen Kaffeesorte gewinnen kann (wir schlugen A. M.* vor, und nach einigem Zaudern – denn meine Freundin fand es möglicherweise frevelhaft –, den Slogan A. M. = Amen!). Unser einziges wirklich einträgliches Unternehmen war, um die Wahrheit zu gestehen, das Unterhaltungs- und MonstrositätenKabinett, das wir vor zwei Jahren in einem Holzschuppen auf dem Hof eröffnet hatten. Die Unterhaltung lieferte ein Stereoptikon mit Ansichten aus Washington und New York, das uns eine Verwandte geliehen hatte, die dort gewesen war (als sie entdeckte, weshalb wir es geborgt hatten, wurde sie wütend); in der Monstrositäten-Abteilung hatten wir ein Küken mit drei Beinen, das eine von unsern eigenen Hennen ausgebrütet hatte. Jeder aus der ganzen Gegend wollte das Küken sehen: wir verlangten * a. m. = ante meridiem = vormittags.
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von Erwachsenen einen Nickel und von Kindern zwei Cent und nahmen gute zwanzig Dollar ein, ehe das Kabinett infolge Ablebens seiner Hauptattraktion schließen mußte. Irgendwie jedoch sparen wir jedes Jahr unser Weihnachtsgeld zusammen, in einer FrüchtekuchenKasse. Wir bewahren das Geld in einem Versteck auf: in einer alten, perlenbestickten Geldbörse unter einer losen Diele unter dem Estrich unter dem Nachttopf unter dem Bett meiner Freundin. Die Geldbörse wird selten aus dem sicheren Gewahrsam hervorgeholt, es sei denn, um eine Einlage zu machen oder, wie es jeden Samstag vorkommt, um etwas abzuheben; denn samstags darf ich zehn Cent haben, um ins Kino zu gehen. Meine Freundin ist noch nie in einem Kino gewesen und hat auch nicht die Absicht, je hinzugehen. »Lieber laß’ ich mir die Geschichte von dir erzählen, Buddy! Dann kann ich’s mir viel schöner ausmalen. Außerdem muß man in meinem Alter mit seinem Augenlicht schonend umgehen. Wenn der Herr kommt, möcht’ ich Ihn deutlich erkennen.« Aber nicht nur, daß sie nie in einem Kino war: sie hat auch nie in einem Restaurant gegessen, ist nie weiter als zehn Kilometer von zu Hause fort gewesen, hat nie ein Telegramm erhalten oder abgeschickt, hat nie etwas anderes gelesen als das Witzblatt und die Bibel, hat sich nie geschminkt, hat nie geflucht, nie jemandem etwas Böses gewünscht, nie absichtlich gelogen und nie einen hungrigen Hund von der Türe gescheucht. Und nun 388
ein paar von den Dingen, die sie getan hat und noch tut: mit einer Hacke die größte Klapperschlange totgeschlagen, die man jemals hierzulande gesehen hat (mit sechzehn Klappern), nimmt Schnupftabak (heimlich), zähmt Kolibris (versucht’s nur mal!), bis sie ihr auf dem Finger balancieren, erzählt Geistergeschichten (wir glauben beide an Geister), aber so gruselige, daß man im Juli eine Gänsehaut bekommt, hält Selbstgespräche, geht gern im Regen spazieren, zieht die schönsten Japonikas der Stadt und kennt das Rezept für jedes alte indianische Hausmittel, auch den Warzenzauber. Jetzt, nach beendetem Abendbrot, ziehen wir uns in einen abgelegenen Teil des Hauses in das Zimmer zurück, in dem meine Freundin in einem eisernen Bett schläft, das in ihrer Lieblingsfarbe, Rosa, gestrichen und mit einer bunten Flickerlsteppdecke zugedeckt ist. Stumm und in Verschwörerwonnen schwelgend, holen wir die Perlenbörse aus ihrem geheimen Versteck und schütten ihren Inhalt auf die Flickerldecke: Dollarscheine, fest zusammengerollt und grün wie Maiknospen; düstere Fünfzig-Cent-Stücke, schwer genug, um einem Toten die Lider zu schließen; hübsche Zehner, die munterste Münze, eine, die wirklich silbern klingelt; Nickel und Vierteldollars, glattgeschliffen wie Bachkiesel; aber hauptsächlich ein hassenswerter Haufen bitter riechender Pennies. Im vergangenen Sommer verpflichteten sich die andern im Haus, uns für je fünfundzwanzig totgeschlagene Fliegen einen Penny zu zahlen. Oh, welch Gemetzel im August: 389
wieviel Fliegen flogen in den Himmel! Doch es war keine Beschäftigung, auf die man stolz sein konnte. Und während wir jetzt dasitzen und die Pennies zählen, ist es uns, als ob wir wieder Tote-FliegenTabellen aufstellten. Wir haben beide keinen Zahlensinn: wir zählen langsam, kommen durcheinander und müssen wieder von vorn anfangen. Auf Grund ihrer Berechnungen haben wir zwölf Dollar dreiundsiebzig. Auf Grund meiner genau dreizehn Dollar. »Hoffentlich hast du dich verzählt, Buddy! Mit dreizehn können wir nichts anfangen. Dann gehen uns die Kuchen nicht auf. Oder jemand stirbt daran. Wo es mir doch nicht im Traum einfallen würde, am Dreizehnten aufzustehen!« Es ist wahr: den Dreizehnten jeden Monats verbringt sie im Bett. Um also ganz sicherzugehen, nehmen wir einen Penny und werfen ihn aus dem Fenster. Von den Zutaten, die wir für unsere Früchtekuchen brauchen, ist Whisky am teuersten, und er ist auch am schwierigsten zu beschaffen. Das Gesetz verbietet den Verkauf in unserem Staat. Doch jedermann weiß, daß man bei Mr. Haha Jones eine Flasche kaufen kann. Und am folgenden Tag, nachdem wir unsere prosaischeren Einkäufe gemacht haben, begeben wir uns zu Mr. Hahas Geschäftslokal, einem nach Ansicht der Leute »lasterhaften« Fischrestaurant und Tanzcafe unten am Fluß. Wir sind schon früher dort gewesen, und um das gleiche zu besorgen; doch in den voraufgegangenen Jahren hatten wir mit Hahas Frau zu tun, einer jodbraunen Indianerin 390
mit messinggelb gebleichtem Haar, die stets todmüde ist. Ihren Mann haben wir noch nie zu Gesicht bekommen, obwohl wir gehört haben, daß er auch ein Indianer ist. Ein Riese mit tiefen Rasiermessernarben auf beiden Backen. Er wird Haha genannt, weil er so düster ist – ein Mann, der nie lacht. Je mehr wir uns seinem Café nähern (einer großen Blockhütte, die innen und außen mit grellbunten Ketten nackter elektrischer Birnen bekränzt ist und am schlammigen Flußufer steht, im Schatten von Uferbäumen, durch deren Zweige die Flechten wie graue Nebel wehen), um so langsamer werden unsere Schritte. Sogar Queenie hört auf zu springen und geht bei Fuß. In Hahas Café sind schon Leute ermordet worden. Aufgeschlitzt. Den Schädel eingeschlagen. Im nächsten Monat wird wieder ein Fall vor Gericht verhandelt. Natürlich ereignen sich solche Vorfälle in der Nacht, wenn die bunten Lämpchen verrückte Muster bilden und das Grammophon winselt. Am Tage ist Hahas Café schäbig und öde. Ich klopfe an die Tür, Queenie bellt, und meine Freundin ruft: »Mrs. Haha, Ma’am? Ist jemand da?« Schritte. Die Tür geht auf. Das Herz bleibt uns stehen. Es ist Mr. Haha Jones persönlich! Und er ist tatsächlich ein Riese; er hat tatsächlich Narben; er lächelt tatsächlich nicht. Nein, aus schrägstehenden Satansaugen stiert er uns finster an und begehrt zu wissen: »Was wollt ihr von Haha?« Einen Augenblick sind wir zu betäubt, um zu sprechen. Dann findet meine Freundin ihre Stimme 391
wieder, bringt aber nicht mehr als ein Flüstern zustande: »Bitte schön, Mr. Haha, wir möchten gern einen Liter von Ihrem besten Whisky!« Seine Augen werden noch schräger. Nicht zu glauben: Haha lächelt! Er lacht sogar! »Wer von euch beiden ist denn fürs Trinken?« »Wir brauchen den Whisky für Früchtekuchen, Mr. Haha. Zum Trinken?« Das ernüchtert ihn. Er zieht die Augenbrauen zusammen. »Ist doch keine Art, guten Whisky zu verwenden!« Trotzdem verzieht er sich in das schattige Café und erscheint ein paar Sekunden darauf mit einer Flasche butterblumengelben Alkohols ohne Etikett. Er läßt den Whisky im Sonnenlicht funkeln und sagt: »Zwei Dollar!« Wir zahlen – mit Nickeln und Zehnern und Pennies. Plötzlich wird sein Gesicht weich, und er klimpert mit den Münzen in seiner Hand, als ob’s eine Faust voll Würfel wäre. »Ich will euch was sagen«, schlägt er uns vor und läßt das Geld wieder in unsere Perlbörse rutschen, »schickt mir statt dessen einen von euren Früchtekuchen!« »Nein, wirklich«, sagt meine Freundin auf dem Heimweg, »was für ein reizender Mann! In seinen Früchtekuchen tun wir eine ganze Tasse Rosinen extra!« Der schwarze Herd, der mit Kleinholz und Kohle gefüttert wird, glüht wie eine ausgehöhlte Kürbislaterne. Schneebesen schwirren, Löffel mahlen in Schüsseln voll Butter und Zucker, Vanille durchduf392
tet die Luft, Ingwer würzt sie; schmelzende, die Nase kitzelnde Gerüche durchtränken die Küche, überschwemmen das ganze Haus und schweben mit den Rauchwölkchen durch den Kamin in die Welt hinaus. In vier Tagen haben wir die Arbeit geschafft. Einunddreißig Kuchen, mit Whisky befeuchtet, lagern warm auf Fensterbrettern und Regalen. Für wen sind sie? Für Freunde. Nicht unbedingt für Nachbarn. Nein, der größte Teil ist für Leute bestimmt, die wir vielleicht einmal, vielleicht auch nie gesehen haben. Leute, die unsere Phantasie beschäftigen. Wie der Präsident Roosevelt. Wie Ehrwürden und Mrs. J. C. Lucey, Baptisten-Missionare auf Borneo, die im vergangenen Winter hier einen Vortrag hielten. Oder der kleine Scherenschleifer, der zweimal jährlich durchs Städtchen kommt. Oder Abner Packer, der Fahrer vom Sechs-Uhr-Autobus aus Mobile, der uns tagtäglich zuwinkt, wenn er in einer Staubwolke vorüberbraust. Oder die jungen Winstons, ein Ehepaar aus Kalifornien, deren Wagen eines Tages vor unserer Haustür eine Panne hatte und die eine Stunde lang so nett mit uns auf der Veranda verplauderten (Mr. Winston machte eine Aufnahme von uns, die einzige, die es von uns beiden gibt). Kommt es wohl daher, weil meine Freundin vor jedermann mit Ausnahme von Fremden scheu ist, daß uns die Fremden, flüchtige Zufallsbekannte, als unsre wahren Freunde erscheinen? Ich glaube, ja. Und die Sammelbücher, in die wir die Danksagungen auf Re393
gierungsbriefpapier und hin und wieder eine Mitteilung aus Kalifornien oder Borneo und die PennyPostkarten vom Scherenschleifer einkleben, geben uns das Gefühl, mit ereignisreicheren Welten verbunden zu sein, als es die Küche mit dem Blick auf einen abgeschnittenen Himmel ist. Jetzt schabt ein dezemberkahler Feigenbaumzweig gegen das Fenster. Die Küche ist leer; die Kuchen sind fort. Gestern haben wir die letzten im Wägelchen zur Post gefahren, wo der Ankauf von Briefmarken unsre Börse umgestülpt hat. Wir sind pleite. Ich bin deswegen ziemlich niedergeschlagen, aber meine Freundin besteht darauf, zu feiern, und zwar mit einem zwei Finger breiten Rest Whisky in Hahas Flasche. Queenie bekommt einen Teelöffel voll in ihren Kaffeenapf (sie nimmt ihren Kaffee gern stark und mit Zichorie gewürzt). Das übrige verteilen wir auf zwei leere Geleegläser. Wir sind beide ganz ängstlich, daß wir unverdünnten Whisky trinken wollen; der Geschmack zieht uns das Gesicht zusammen, und wir müssen uns grimmig schütteln. Aber allmählich fangen wir an zu singen, und gleichzeitig singen wir beide zwei verschiedene Lieder. Ich kann die Worte meines Liedes nicht richtig, bloß: »Kommt nur all, kommt nur all, in der Niggerstadt ist Stutzerball!« Aber ich kann tanzen. Steptänzer im Film, das will ich nämlich werden. Mein tanzender Schatten hüpft über die Wände, von unseren Stimmen zittert das Porzellan, wir kichern, als ob unsichtbare Hände uns kitzelten. Queenie wälzt sich 394
auf dem Rücken, ihre Pfoten trommeln durch die Luft, eine Art Grinsen verzerrt ihre schwarzen Lippen. Innerlich bin ich so warm und feurig wie die zerbröckelnde Glut der Holzscheite und so sorglos wie der Wind im Kamin. Meine Freundin walzt um den Kochherd und hält den Saum ihres billigen Kattunrocks zwischen den Fingerspitzen, als ob er ein Ballkleid wäre. »Zeig mir den Weg, der nach Hause führt«, singt sie, und ihre Tennisschuhe quietschen über den Fußboden. »Zeig mir den Weg, der nach Hause führt!« Es treten auf: zwei Verwandte. Sehr empört. Allgewaltig mit Augen, die schelten, mit Zungen, die ätzen. Hört zu, was sie zu sagen haben und wie die Worte in zorniger Melodie übereinanderpurzeln: »Ein kleiner siebenjähriger Junge! Der nach Whisky riecht! Bist du von Gott verlassen? Einem Siebenjährigen so etwas zu geben! Mußt verrückt geworden sein! Der Weg, der ins Verderben führt! Hast wohl Base Kate vergessen? Und Onkel Charlie? Und Onkel Charlies Schwager? Schande! Skandal! Demütigend! Kniet nieder und betet, betet zum Herrn!« Queenie verkriecht sich unter dem Herd. Meine Freundin starrt auf ihre Schuhe, ihr Kinn zittert, sie hebt den Rock, schnaubt sich die Nase und läuft in ihr Zimmer. Lange nachdem die Stadt schlafen gegangen und das Haus verstummt ist und nur noch das Schlagen der Turmuhr und das Wispern der erlöschenden Glut verbleibt, weint sie in ihr Kissen hinein, das schon so naß ist wie ein Witwentaschentuch. 395
»Weine doch nicht!« sage ich zu ihr. Ich sitze am Fußende ihres Bettes und zittere meinem Flanellnachthemd zum Trotz, das noch nach dem Hustensaft vom vorigen Winter riecht. »Weine doch nicht«, bitte ich sie und kitzle sie an den Zehen und an den Fußsohlen, »du bist zu alt dafür!« »Das ist’s ja«, schluchzt sie, »ich bin Zu alt. Alt und komisch.« »Nicht komisch. Lustig. Mit keinem ist’s so lustig wie mit dir. Laß doch! Wenn du nicht aufhörst mit Weinen, bist du morgen so müde, daß wir nicht fortgehen und den Baum abhacken können.« Sie richtet sich auf. Queenie springt aufs Bett (was sie sonst nicht darf) und leckt ihr die Wangen. »Ich weiß eine Stelle, Buddy, wo es wunderschöne Bäume gibt. Und auch Stechpalmen. Mit Beeren, so groß wie deine Augen. Weit weg im Wald, weiter, als wir je gewesen sind. Papa hat dort immer unsern Weihnachtsbaum geholt und auf der Schulter nach Hause getragen. Das war vor fünfzig Jahren. Ach, ich kann’s gar nicht mehr abwarten, bis es morgen früh ist.« Am andern Morgen. Das Gras funkelt im Rauhreif. Die Sonne, rund wie eine Orange und orangerot wie Heißwettermonde, tänzelt über den Horizont und überglüht die versilberten Winterwälder. Ein wilder Truthahn ruft. Im Unterholz grunzt ein ausgerissenes Schwein. Bald sind wir am Rand eines knietiefen, schnellfließenden Wassers und müssen das Wägelchen stehenlassen. Queenie watet zuerst 396
durch den Bach, paddelt hinüber und bellt klagend, weil die Strömung rasch ist und das Wasser so kalt, um Lungenentzündung zu bekommen. Wir folgen und halten unsre Schuhe und unsere Ausrüstung (ein Beil und einen Jutesack) über den Kopf. Noch fast zwei Kilometer weiter: strafende Dornen, Kletten und Brombeerranken verhäkeln sich in unsern Kleidern; rostrote Kiefernnadeln leuchten mit grellbunten Schwämmen und ausgefallenen Vogelfedern. Hier und dort erinnert uns ein Aufblitzen, ein Flattern und ein schrilles Aufkreischen daran, daß nicht alle Vögel gen Süden gezogen sind. Immer wieder windet sich der Pfad durch zitronengelbe Sonnentümpel und pechdunkle Rankentunnel. Dann ist noch ein Bach zu überqueren: von einer aufgescheuchten Armada gesprenkelter Forellen schäumt das Wasser um uns her, und Frösche von Tellergröße üben sich im Bauchsprung; Biber-Baumeister arbeiten an einem Damm. Am andern Ufer steht Queenie, schüttelt sich und zittert. Auch meine Freundin zittert, aber nicht vor Kälte, sondern vor Begeisterung. Als sie den Kopf hebt, um die kiefernduftschwere Luft einzuatmen, wirft eine von den zerlumpten Rosen auf ihrem Hut ein Blütenblatt ab. »Wir sind gleich dort, Buddy! Riechst du ihn schon?« fragt sie, als ob wir uns einem Ozean näherten. Und es ist wirklich eine Art Ozean. Duftende Bestände von Festtagsbäumen, stachelblättrige Stechpalmen. Rote Beeren, die wie chinesische Ballonblumen blinken: schwarze Krähen stoßen krächzend 397
auf sie nieder. Nachdem wir unseren Jutesack so mit Grünzeug und roten Beeren vollgestopft haben, daß wir ein Dutzend Fenster bekränzen können, machen wir uns daran, einen Baum zu wählen. »Er soll zweimal so groß wie ein Junge sein«, sagt meine Freundin nachdenklich. »Damit ein Junge nicht den Stern stibitzen kann.« Der Baum, den wir schließlich auswählen, ist zweimal so hoch wie ich. Ein wackerer, schmucker Geselle, hält er dreißig Beilhieben stand, bevor er krachend mit durchdringendem Schrei umkippt. Dann beginnt der lange Treck nach draußen: wir schleppen ihn wie ein Stück Jagdbeute ab. Alle paar Meter geben wir den Kampf auf, setzen uns hin und keuchen. Aber wir haben die Kraft siegreicher Jäger; das und der starke, eisige Duft des Baumes beleben uns und spornen uns an. Auf der Rückkehr zur Stadt, bei Sonnenuntergang die rote Lehmstraße entlang, begleiten uns zahlreiche Komplimente; doch meine Freundin ist listig und verschwiegen, wenn Vorübergehende den in unserem Wägelchen thronenden Schatz loben: was für ein schöner Baum, und woher er käme. »Von da drüben«, murmelt sie unbestimmt. Einmal hält ein Wagen, und die träge Frau des reichen Mühlenbesitzers lehnt sich hinaus und plärrt: »Ich geb’ euch ’n Vierteldollar für den schäbigen Baum!« Im allgemeinen sagt meine Freundin nicht gern nein; aber diesmal schüttelt sie sofort den Kopf: »Auch nicht für ’n Dollar!« Die Frau des Mühlenbesitzers läßt nicht locker: »’n Dollar? Ist ja verrückt! Fünfzig Cent – 398
das ist mein letztes Wort. Meine Güte, Frau, ihr könnt euch ja ’n andern holen!« Anstatt einer Antwort spricht meine Freundin sanft und nachdenklich vor sich hin: »Da hab’ ich meine Zweifel. Zweimal das gleiche: das gibt’s nicht auf der Welt.« Zu Hause. Queenie sackt vor dem Kamin zusammen und schläft, laut wie ein Mensch schnarchend, bis zum nächsten Morgen. Ein Koffer in der Bodenkammer enthält: einen Schuhkarton voller Hermelinschwänze (vom Opernumhang einer merkwürdigen Dame, die mal im Haus ein Zimmer gemietet hatte), Ketten zerfransten Lamettas, das vor Alter goldbraun wurde, einen Silberstern und eine kurze Schnur mit altersschwachen, bestimmt gefährlichen, kerzenförmigen elektrischen Birnen. Ausgezeichneter Schmuck, soweit vorhanden, und das ist nicht viel: meine Freundin möchte, daß unser Baum strahlt »wie ein Baptisten-Fenster« und daß er die Zweige unter Schneelasten von Schmuck niederhängen läßt. Doch die Made-in-Japan-Herrlichkeiten des Einheitspreis-Ladens können wir uns nicht leisten. Daher machen wir, was wir immer gemacht haben: wir sitzen mit Schere und Bleistift und Stapeln von Buntpapier tagelang am Küchentisch. Ich mache Skizzen, und meine Freundin schneidet sie aus: eine Menge Katzen, auch Fische (weil sie leicht zu zeichnen sind), ein paar Äpfel, ein paar Wassermelonen, ein paar Engel mit Flügeln, die wir aus aufgespartem Silberpapier von Hershey-Riegeln zurechtba399
steln. Wir benutzen Sicherheitsnadeln, um unsre Kunstwerke am Baum zu befestigen. Um ihm den letzten Schliff zu geben, bestreuen wir die Zweige mit zerschnittener Baumwolle (die wir zu diesem Zweck im August selber gepflückt haben). Meine Freundin betrachtet die Wirkung prüfend und schlägt die Hände zusammen. »Nun sag mal ehrlich, Buddy: sieht’s nicht zum Fressen schön aus?« Queenie versucht, einen Engel zu fressen. Nachdem wir Stechpalmengirlanden für sämtliche Vorderfenster geflochten und mit Bändern umwunden haben, besteht unsere nächste Aufgabe im Fabrizieren von Geschenken für die Familie. Halstücher für die Damen aus Schnurbatik, für die Herren ein hausgemachter Sirup aus Zitronen, Lakritzen und Aspirin, einzunehmen »bei den ersten Symptomen einer Erkältung« sowie nach der Jagd. Aber als es an der Zeit ist, unsre gegenseitigen Geschenke vorzubereiten, trennen wir uns, um im geheimen zu arbeiten. Kaufen würde ich ihr gern: ein Messer mit Perlmuttergriff, ein Radio, ein ganzes Pfund Kirschpralines (wir haben mal ein paar gekostet, und seither beteuert sie: »Davon könnt’ ich leben, Buddy, weiß Gott, das könnt’ ich – und hab’ Seinen Namen damit nicht unnütz in den Mund genommen!«). Statt dessen baue ich ihr einen Drachen. Und sie würde mir gern ein Fahrrad kaufen. (Sie hat’s mir schon millionenmal gesagt: »Wenn ich’s nur könnte, Buddy! ’s ist schlimm genug, wenn man im Leben auf etwas verzichten muß, was man selbst gern ha400
ben möchte; aber was mich, zum Kuckuck, richtig verrückt macht, ist, wenn man einem andern nicht das schenken kann, was man ihm so sehr wünscht! Doch eines Tages tu’ ich’s, Buddy! Ich verschaffe dir ein Rad! Frag mich nicht, wie. Vielleicht stehl’ ich’s.«) Statt dessen, davon bin ich ziemlich überzeugt, baut sie mir wahrscheinlich auch einen Drachen – ebenso wie voriges Jahr und das Jahr davor: und ein Jahr noch weiter davor haben wir uns gegenseitig Schleudern gebastelt. Was mir alles sehr recht ist. Denn wir sind Champions im Drachensteigenlassen und studieren den Wind wie die Matrosen; meine Freundin, die mehr Talent hat als ich, kann einen Drachen in die Lüfte schicken, wenn nicht mal so viel Brise da ist, um die Wolken zu tragen. Am Heiligen Abend kratzen wir nachmittags einen Nickel zusammen und gehen zum Metzger, um Queenies herkömmliches Geschenk, einen guten, abnagbaren Rindsknochen, zu kaufen. Der Knochen wird in lustiges Papier gewickelt und hoch in den Baum gehängt, in die Nähe des Silbersterns. Queenie weiß, daß er da ist. Sie hockt am Fuß des Baumes und starrt, vor Gier gebannt, nach oben: als es Schlafenszeit ist, weigert sie sich, von der Stelle zu gehen. Ihre Aufregung ist ebenso groß wie meine eigene. Ich zerwühle meine Bettdecken und drehe das Kopfkissen herum, als hätten wir eine sengendheiße Sommernacht. Irgendwo kräht ein Hahn: irrtümlicherweise, denn die Sonne ist noch auf der anderen Seite der Erde. 401
»Buddy, bist du wach?« Es ist meine Freundin, die von ihrem Zimmer aus ruft, das neben meinem liegt; und einen Augenblick drauf sitzt sie auf meinem Bettrand und hält eine Kerze in der Hand. »Ach, ich kann kein Auge zumachen«, erklärt sie. »Meine Gedanken hüpfen wie Kaninchen herum. Buddy, glaubst du, daß Mrs. Roosevelt unsern Kuchen zum Weihnachtsessen auftragen läßt?« Wir kuscheln uns im Bett zusammen, und sie drückt mir die Hand »Hab-dich-lieb«. »Mir scheint, deine Hand war früher viel kleiner. Ach, mir ist’s schrecklich, wenn du älter wirst! Wenn du groß bist – ob wir dann noch Freunde sind?« Ich antworte: »Immer!« – »Aber ich bin so traurig, Buddy! Ich wollte dir so gern ein Fahrrad schenken. Ich hab’ versucht, die Kameenbrosche zu verkaufen, die Papa mir geschenkt hatte. Buddy …« Sie stockt, als sei sie zu verlegen. »Ich hab’ dir wieder einen Drachen gemacht!« Dann gestehe ich, daß ich ihr auch einen gemacht habe, und wir lachen. Die Kerze brennt so weit herunter, daß man sie nicht mehr halten kann. Sie geht aus, und der Sternenschimmer ist wieder da, und die Sterne kreisen vor dem Fenster wie ein sichtbares Jubilieren, das der Anbruch des Tages langsam, ach, so langsam zum Verstummen bringt. Vielleicht schlummern wir ein bißchen; aber die Morgendämmerung spritzt uns wie kaltes Wasser ins Gesicht: wir sind auf, mit großen Augen, und wandern umher und warten, daß die andern aufwachen. Mit voller Absicht läßt meine Freundin einen Kessel auf den Küchenfußboden fal402
len. Ich steptanze vor verschlossenen Türen. Eins ums andere tauchen die Familienmitglieder auf und sehen aus, als ob sie uns am liebsten umbringen würden; aber es ist Weihnachten, daher können sie’s nicht. Zuerst gibt’s ein großartiges Frühstück; es ist einfach alles da, was man sich nur vorstellen kann: von Pfannkuchen und Eichhörnchenbraten bis zu Maisgrütze und Wabenhonig. Was alle in gute Laune versetzt, mich und meine Freundin ausgenommen. Offen gestanden können wir vor Ungeduld, daß es endlich mit den Geschenken losgehen soll, keinen Bissen essen. Leider bin ich enttäuscht. Das wäre wohl jeder. Socken, ein Sonntagsschulhemd, ein paar Taschentücher, ein fertig gekaufter Sweater und ein Jahresabonnement auf eine fromme Zeitschrift für Kinder: ›Der kleine Hirte‹. Ich platze vor Ärger. Wahrhaftig! Meine Freundin macht einen besseren Fang. Ein Beutel mit Satsuma-Mandarinen – das ist ihr bestes Geschenk. Sie selbst ist jedoch stolzer auf einen weißwollenen Schal, den ihre verheiratete Schwester ihr gestrickt hat. Aber sagen tut sie, ihr schönstes Geschenk sei der Drachen, den ich ihr gebaut habe. Und er ist auch sehr schön, wenn auch nicht ganz so schön wie der, den sie mir gemacht hat, denn der ist blau und übersät mit goldenen und grünen Leitsternen, und außerdem ist noch mein Name, Buddy, draufgemalt. »Buddy, der Wind weht!« Der Wind weht, und alles andere ist uns einerlei, bis wir zum Weideland hinter dem Haus gerannt 403
sind, wo Queenie hingerast ist, um ihren Knochen zu vergraben (und wo sie selbst einen Winter drauf begraben wird). Dort tauchen wir in das gesunde, gürtelhohe Gras, wickeln an unsern Drachen die Schnur auf und fühlen, wie sie gleich Himmelsfischen an der Schnur zerren und in den Wind hineinschwimmen. Zufrieden und sonnenwarm lagern wir uns im Gras, schälen Mandarinen und sehen den Kunststückchen unsrer Drachen zu. Bald habe ich die Socken und den fertig gekauften Sweater vergessen. Ich bin so glücklich, als hätten wir beim Großen Preisausschreiben die fünfzigtausend Dollar für den Kaffeenamen gewonnen. »Ach, wie dumm ich auch bin«, ruft meine Freundin und ist plötzlich so munter wie eine Frau, der es zu spät einfällt, daß sie einen Kuchen im Ofen hat. »Weißt du, was ich immer geglaubt habe?« fragt sie mit Entdeckerstimme und lächelt nicht mich an, sondern über mich hinaus. »Ich hab’ immer gedacht, der Mensch müßte erst krank werden und im Sterben liegen, ehe er den Herrn zu Gesicht bekommt. Und ich hab’ mir vorgestellt, wenn Er dann käme, wär’s so, wie wenn man auf das Baptisten-Fenster schaut: schön wie farbiges Glas, durch das die Sonne scheint, und solch ein Glanz, daß man nicht merkt, wenn’s dunkel wird. Und es ist mir ein Trost gewesen, an den Glanz zu denken, der alles Spukgefühl fortjagt. Aber ich wette, daß es gar nicht so kommt. Ich wette, zuallerletzt begreift der Mensch, daß der Herr sich bereits gezeigt hat. Daß einfach alles, wie 404
es ist (ihre Hand beschreibt einen Kreis, der Wolken und Drachen und Gras und Queenie einschließt, die eifrig Erde über ihren Knochen scharrt), und eben das, was der Mensch schon immer gesehen hat – daß das ›Ihn-Sehen‹ war. Und ich – ich könnte mit dem Heute in den Augen die Welt verlassen.« Es ist unser letztes, gemeinsames Weihnachten. Das Leben trennt uns. Die Alles-am-besten-Wisser bestimmen, daß ich auf eine Militärschule gehöre. Und so folgt eine elende Reihe von Gefängnissen mit Signalhörnern oder grimmigen, von Reveilleklängen verpesteten Sommerlagern. Ich habe auch ein neues Zuhause. Aber das zählt nicht. Zu Hause ist dort, wo meine Freundin ist, und ich komme nie dorthin. Und sie bleibt dort und kramt in der Küche herum. Allein mit Queenie. Dann ganz allein. (»Liebster Buddy«, schreibt sie in ihrer wilden, schwer leserlichen Schrift, »gestern hat Jim Macys Pferd ausgeschlagen und Queenie einen schlimmen Tritt versetzt. Sei dankbar, daß sie nicht viel gespürt hat. Ich hab’ sie in ein feines Leinentuch eingewickelt und im Wägelchen zu Simpsons Weideland hinuntergefahren, wo sie nun bei all ihren vergrabenen Knochen ist.«) Ein paar Novembermonate hindurch fährt sie noch fort, alleine Früchtekuchen zu backen; nicht so viele wie früher, aber einige, und natürlich schickt sie mir immer das »Pracht-Exemplar«. Sie fügt auch in jedem Brief einen dick in Toilettenpapier eingewickelten Zehner bei: »Geh in einen Film und erzähl mir im 405
nächsten Brief die Geschichte!« Aber allmählich verwechselt sie mich in ihren Briefen mit ihrem andern Freund, mit dem Buddy, der in den achtziger Jahren starb. Immer häufiger ist der Dreizehnte nicht der einzige Tag des Monats, an dem sie im Bett bleibt. Und es kommt ein Morgen im November, der Anbruch eines blätterkahlen, vogelstummen Wintermorgens, an dem sie sich nicht aufraffen kann, um auszurufen: »Oho, Früchtekuchen-Wetter!« Und als das geschieht, weiß ich Bescheid. Der Brief, der es mir mitteilt, bestätigt nur die Meldung, die eine geheime Ader schon erhalten hat und durch die ein unersetzbares Teil meines Selbst von mir getrennt und freigelassen wird wie ein Drachen an einer gerissenen Schnur. Deshalb muß ich jetzt an diesem bestimmten Dezembermorgen, während ich über den SchulCampus wandere, immer wieder den Himmel absuchen. Als ob ich erwarte, ein verirrtes Drachenpaar zu sehen, das, fast zwei Herzen gleichend, gen Himmel eilt. (Deutsch von Elisabeth Schnack)
Georges Simenon Maigrets Weihnachtsfest
I Es war jedesmal dasselbe. Beim Zubettgehen hatte er seufzend gesagt: »Morgen werde ich mich ordentlich ausschlafen.« Und Madame Maigret hatte ihn beim Wort genommen, als hätte sie in all den Jahren nichts gelernt, als wüßte sie nicht, daß man derartigen Bemerkungen keinerlei Bedeutung beimessen durfte. Auch sie hätte lange schlafen können. Sie hatte keinen Grund gehabt, früh aufzustehen. Dennoch war es noch nicht ganz hell gewesen, als er gehört hatte, wie sie sich vorsichtig im Bett bewegte. Er hatte sich nicht gerührt und sich gezwungen, regelmäßig und tief zu atmen wie jemand, der schläft. Das Ganze glich einem Spiel. Es war rührend, wie sie sich mit der Behutsamkeit eines Tiers der Bettkante näherte und nach jeder Bewegung innehielt, um sich zu vergewissern, daß er nicht aufgewacht war. Es gab einen Augenblick, auf den er immer wartete: wenn sich die Sprungfedern des Betts, von dem Gewicht seiner Frau befreit, mit einem leisen, seufzenden Geräusch dehnten. Dann nahm sie ihre Kleider vom Stuhl, brauchte 407
eine Ewigkeit, um die Badezimmertür zu öffnen, und in der weiter entfernten Küche bewegte sie sich dann endlich normal. Er war wieder eingeschlafen. Nicht sehr tief, nicht für lange. Trotzdem lange genug für einen verworrenen und bewegenden Traum. Hinterher gelang es ihm nicht mehr, sich daran zu erinnern, aber er wußte, daß es bewegend gewesen war, und irgendwie befand er sich danach in sentimentaler Stimmung. Durch die Vorhänge, die sich nie ganz zuziehen ließen, schimmerten die ersten blassen Lichtstrahlen hindurch. Er blieb noch einen Augenblick auf dem Rücken liegen, die Augen geöffnet. Der Kaffeeduft stieg ihm in die Nase, und als er hörte, wie sich die Wohnungstür öffnete und wieder schloß, wußte er, daß Madame Maigret eilig hinuntergegangen war, um warme Hörnchen für ihn zu holen. Er aß morgens nie etwas, sondern trank nur schwarzen Kaffee. Aber auch das war ein Ritus, eine Idee seiner Frau: An Sonn- und Feiertagen wurde von ihm erwartet, daß er bis in die späten Morgenstunden im Bett blieb, während sie für ihn an der Ecke der Rue Amelot Hörnchen holte. Er stand auf, zog seine Pantoffeln an, schlüpfte in seinen Morgenmantel und öffnete die Vorhänge. Er wußte, daß er das nicht tun sollte, daß es sie traurig machen würde. Um ihr eine Freude zu machen, wäre er zu großen Opfern bereit gewesen, nur im Bett bleiben, wenn er dazu keine Lust mehr hatte, das konnte er nicht. 408
Es schneite nicht. Es war lächerlich, noch enttäuscht zu sein, er, ein Mann jenseits der Fünfzig, nur weil an einem Weihnachtsmorgen kein Schnee fiel. Aber ältere Leute sind nie so ernsthaft, wie es die jungen Leute glauben. Der bedeckte, scheußlich weiße Himmel schien auf den Dächern zu lasten. Der Boulevard Richard-Lenoir war wie leergefegt, und auf der anderen Straßenseite über der großen Toreinfahrt wirkten die Buchstaben der Inschrift ›Entrepôts Legal, Fils & Cie‹ pechschwarz. Das E sah, Gott weiß warum, traurig aus. Er hörte seine Frau wieder in der Küche hin und her gehen, sich auf Zehenspitzen ins Eßzimmer schleichen, weiterhin darauf bedacht, leise zu sein, ohne zu ahnen, daß er schon am Fenster stand. Er sah auf seine Uhr auf dem Nachttisch und stellte fest, daß es erst zehn Minuten nach acht war. Am Abend zuvor waren sie ins Theater gegangen. Sie hätten gerne, wie alle anderen, hinterher im Restaurant einen Happen gegessen, aber überall waren die Tische für das Weihnachtsessen vorbestellt gewesen, und so waren sie Arm in Arm zu Fuß nach Hause gegangen. Es war kurz vor Mitternacht gewesen, als sie zu Hause ankamen, fast auf die Minute genau, um mit der Bescherung zu beginnen. Für ihn gab es, wie immer, eine Pfeife. Sie bekam das neueste Modell einer elektrischen Kaffeemaschine, die sie sich gewünscht hatte, und traditionsgemäß ein Dutzend fein gestickter Taschentücher. Er hatte mechanisch seine neue Pfeife gestopft. Ei409
nige Häuser auf der anderen Seite des Boulevards hatten Jalousien vor den Fenstern, andere nicht. Nur wenige Menschen waren noch wach gewesen. Hier und dort hatte Licht gebrannt, wahrscheinlich, weil einige Kinder in aller Frühe aufgestanden waren, um zum Weihnachtsbaum und zu ihrem Spielzeug zu stürzen. Sie würden zusammen in ihrer ruhigen Wohnung einen friedlichen Vormittag verbringen. Maigret würde, ohne sich zu rasieren, lange im Morgenmantel herumtrödeln, er würde in der Küche mit seiner Frau plaudern, die währenddessen das Mittagessen zubereiten würde. Er war nicht traurig. Nur hatte sein Traum – an den er sich immer noch nicht erinnern konnte – in ihm ein Gefühl äußerster Empfindsamkeit hinterlassen. Und vielleicht war es im Grunde nicht sein Traum, sondern das Weihnachtsfest. An diesem Tag mußte man vorsichtig sein und seine Worte genau abwägen, so wie Madame Maigret ihre Bewegungen kontrolliert hatte, um aus dem Bett zu steigen. Denn auch sie war in einer viel rührseligeren Stimmung als gewöhnlich. Ach was, man durfte nicht daran denken. Nichts sagen, was daran erinnern könnte. Nicht zu oft auf die Straßen schauen, gleich, wenn die Kinder sich draußen ihr neues Spielzeug zeigen würden. In den meisten, wenn nicht sogar in allen Häusern lebten Kinder. Man würde kreischende Trompeten, Trommeln und Pistolen hören. Kleine Mädchen wiegten bereits ihre Puppen in den Armen. 410
Vor ein paar Jahren hatte er, etwas leichthin, gesagt: »Warum sollte man zu Weihnachten nicht einmal eine kleine Reise machen?« »Wohin?« hatte ihm seine Frau mit ihrem unbestechlichen Sinn für Realität geantwortet. Zu wem hätten sie fahren sollen? Sie hatten nicht einmal Angehörige, die sie hätten besuchen können, außer ihrer Schwester, die zu weit weg wohnte. In einer fremden Stadt im Hotel absteigen? Oder in einem Gasthof, irgendwo auf dem Lande? Ach was, es war Zeit, daß er seinen Kaffee trank, und danach würde er sich wohler fühlen. Bevor er nicht seine erste Tasse Kaffee getrunken und seine erste Pfeife geraucht hatte, war ihm nie wohl in seiner Haut. Gerade in dem Moment, als er seine Hand zur Tür ausstreckte, wurde diese geräuschlos geöffnet, und Madame Maigret erschien mit einem Tablett, sah auf das leere Bett und schaute dann enttäuscht ihren Mann an, so, als wollte sie im nächsten Augenblick anfangen zu weinen. »Du bist aufgestanden!« Sie hatte sich bereits gewaschen und frisiert und hatte eine saubere Schürze umgebunden. »Und ich hatte mich so darauf gefreut, dir dein Frühstück ans Bett zu bringen!« Er hatte schon hundertmal versucht, ihr vorsichtig klarzumachen, daß das kein Vergnügen für ihn war, daß es ihm vielmehr Unbehagen bereitete und ihm 411
das Gefühl gab, krank oder körperbehindert zu sein. Trotzdem blieb für sie ein Frühstück im Bett weiterhin der vollkommene Sonn- oder Feiertag. »Möchtest du dich nicht wieder hinlegen?« Nein! Ihm fehlte dazu der gute Wille. »Na gut, dann … Frohe Weihnachten!« »Frohe Weihnachten! … Bist du mir böse?« Sie waren im Eßzimmer. Das Silbertablett stand auf dem Tisch, die Kaffeetasse dampfte, die goldbraunen Hörnchen waren mit einer Serviette zugedeckt. Er legte seine Pfeife weg und aß ihr zuliebe ein Hörnchen, blieb jedoch stehen und bemerkte, während er aus dem Fenster schaute: »Es schneit ein wenig.« Es war kein richtiger Schnee, was da wie feiner, weißer Staub vom Himmel fiel und ihn daran erinnerte, wie er als kleiner Junge die Zunge herausgestreckt hatte, um ein paar solcher Körnchen zu erhaschen. Sein Blick blieb auf der Tür des gegenüberliegenden Hauses links neben den Lagerhallen haften. Zwei Frauen verließen gerade ohne Hut das Haus. Die eine von ihnen, eine Blondine von etwa dreißig Jahren, hatte sich einen Mantel um die Schultern gelegt, während die andere, die ältere von beiden, in ein Umschlagtuch gehüllt war. Die Blonde schien zu zögern und war nahe daran, wieder umzukehren. Die Dunkelhaarige, die sehr klein und mager war, bestand darauf weiterzugehen, 412
und Maigret schien es, als deutete sie auf die Fenster seiner Wohnung. Hinter ihnen erschien die Concierge im Türrahmen, die der Mageren anscheinend zu Hilfe kam. Nun entschloß sich die junge Frau zum Überqueren der Straße, nicht, ohne sich noch einmal unsicher umzudrehen. »Was siehst du?« »Nichts … Frauen …« »Was machen sie?« »Es sieht so aus, als kämen sie zu uns.« Beide nämlich blickten vom Boulevard aus direkt zu ihm herauf. »Man wird dich doch hoffentlich nicht am Weihnachtstag stören. Ich bin nicht einmal mit dem Haushalt fertig.« Darauf wäre niemand gekommen, denn außer dem Tablett lag nichts herum, und auf den polierten Möbeln war kein Stäubchen zu sehen. »Bist du sicher, daß sie hierher kommen?« »Wir werden ja sehen.« Für alle Fälle zog er es vor, sich zu kämmen, die Zähne zu putzen und schnell das Gesicht zu waschen. Er war noch im Zimmer und zündete sich gerade seine Pfeife wieder an, als es an der Tür läutete. Madame Maigret war wohl sehr abweisend, denn erst nach geraumer Zeit kam sie zu ihm ins Zimmer zurück. »Sie wollen dich unbedingt sprechen«, flüsterte sie. »Sie sagen, es sei vielleicht wichtig, und sie brauchten einen Rat. Ich kenne eine von ihnen.« 413
»Welche?« »Die kleine Dünne, Mademoiselle Doncœur. Sie wohnt in der gleichen Etage wie wir im Haus gegenüber und arbeitet den ganzen Tag in der Nähe des Fensters. Sie ist eine sehr ordentliche Person, die für ein Modehaus am Faubourg Saint-Honoré feine Stickereien anfertigt. Ich frage mich schon eine Weile, ob sie nicht in dich verliebt ist.« »Warum?« »Weil es oft genug vorkommt, daß sie aufsteht und hinter dir herschaut, wenn du weggehst.« »Wie alt ist sie?« »Zwischen fünfundvierzig und fünfzig. Ziehst du dir keinen Anzug an?« Warum sollte er nicht das Recht haben, sich im Morgenmantel zu zeigen, wenn er schon am Weihnachtsmorgen um halb neun gestört wurde? Dennoch zog er darunter eine Hose an und öffnete dann die Tür zum Eßzimmer, wo die beiden Frauen standen. »Entschuldigen Sie bitte, Mesdames …« Vielleicht hatte Madame Maigret tatsächlich recht. Mademoiselle Doncœur errötete nämlich nicht, sondern wurde blaß, lächelte, blickte sodann ernst, lächelte wieder, öffnete den Mund, ohne sofort die richtigen Worte zu finden. Die Blonde dagegen hatte sich völlig in der Gewalt und gab unwirsch zu verstehen: »Ich wollte gar nicht kommen.« »Möchten Sie sich nicht setzen?« 414
Er bemerkte, daß die Blonde unter ihrem Mantel ein Hauskleid trug und keine Strümpfe anhatte, während Mademoiselle Doncœur angezogen war, als begebe sie sich zur Messe. »Sie fragen sich vielleicht, woher wir die Kühnheit nehmen, uns an Sie zu wenden«, begann Mademoiselle Doncœur, wobei sie nach jedem Wort suchte. »Wie jeder hier im Viertel wissen wir natürlich, mit wem wir als Nachbarn die Ehre haben …« Jetzt errötete sie leicht und starrte das Tablett an. »Wir halten Sie davon ab, zu Ende zu frühstükken.« »Ich war schon fertig damit. Worum geht es?« »Heute morgen, oder besser gesagt, heute nacht, geschah in unserem Haus etwas so Merkwürdiges, daß ich es für unsere Pflicht hielt, mit Ihnen darüber zu sprechen. Madame Martin wollte Sie nicht stören. Ich sagte ihr …« »Sie wohnen ebenfalls gegenüber, Madame Martin?« »Ja, Monsieur.« Man sah ihr an, daß sie nicht glücklich über diesen Schritt war, zu dem man sie gedrängt hatte. Mademoiselle Doncœur dagegen war in Schwung gekommen. »Wir wohnen auf derselben Etage, Ihrer Wohnung genau gegenüber.« (Sie errötete aufs neue, als hätte sie ein Geständnis gemacht.) »Monsieur Martin befindet sich oft auf Geschäftsreise, er ist nämlich Handelsvertreter. Seit zwei Monaten liegt die kleine 415
Tochter der Martins infolge eines dummen Unfalls im Bett.« Höflich wandte sich Maigret der Blonden zu. »Sie haben eine Tochter, Madame Martin?« »Das ist nicht ganz richtig. Es ist nicht unsere Tochter, sondern unsere Nichte. Ihre Mutter ist vor etwas mehr als zwei Jahren gestorben, und seitdem lebt das Kind bei uns. Sie hat sich auf der Treppe das Bein gebrochen und hätte nach sechs Wochen wieder gesund sein müssen, wenn es keine Komplikationen gegeben hätte.« »Ihr Mann ist zur Zeit nicht in der Stadt?« »Er müßte sich in der Dordogne aufhalten«, mischte sich Mademoiselle Doncœur ein. »Ich bin ganz Ohr, Mademoiselle Doncœur.« Madame Maigret hatte einen Umweg durch das Badezimmer gemacht, um in die Küche zu gelangen, wo man sie nun mit Kochgeschirr hantieren hörte. Hin und wieder blickte Maigret zum grauen Himmel. »Heute morgen bin ich wie gewöhnlich früh aufgestanden, um zur ersten Messe zu gehen.« »Sind Sie hingegangen?« »Ja. Ich bin gegen halb acht wieder nach Hause gekommen, da ich drei Messen besucht habe. Dann habe ich mir mein Frühstück gemacht. Sie hätten Licht in meinem Fenster sehen können.« Er gab ihr zu verstehen, daß er darauf nicht geachtet hatte. »Ich beeilte mich, um Colette ein paar Süßigkeiten 416
zu bringen, weil es für die Kleine doch ein so trauriges Weihnachtsfest ist. Colette ist die Nichte von Madame Martin.« »Wie alt ist sie?« »Sieben Jahre. Nicht wahr, Madame Martin?« »Sie wird im Januar sieben.« »Um acht Uhr habe ich an die Wohnungstür geklopft.« »Ich war noch nicht aufgestanden«, sagte die Blonde. »Manchmal schlafe ich ziemlich lange.« »Nun, ich habe also geklopft, und Madame Martin hat mich einen Augenblick warten lassen, um sich einen Morgenrock überzuziehen. Ich hatte beide Hände voll und fragte sie, ob ich Colette meine Geschenke überreichen könne.« Er merkte, daß die Blonde sich unterdessen genau im Zimmer umgesehen hatte, wobei sie ihm von Zeit zu Zeit einen scharfen Blick voller Mißtrauen zuwarf. »Wir haben zusammen die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet.« »Hat das Kind ein eigenes Zimmer?« »Ja. Die Wohnung besteht aus zwei Zimmern, einer Toilette, einem Eßzimmer und einer Küche. Aber ich muß Ihnen dazu sagen … Nein! Ich werde gleich darauf zurückkommen. Wo war ich stehengeblieben? … Ach ja, wir öffneten die Zimmertür. Da es im Zimmer dunkel war, knipste Madame Martin das Licht an.« »War Colette schon wach?« 417
»Ja. Man sah gleich, daß sie schon länger wachlag und wartete. Sie wissen doch, wie Kinder am Weihnachtsmorgen sind. Wenn sie sich nicht das Bein gebrochen hätte, wäre sie sicherlich aufgestanden, um nachzuschauen, was der Weihnachtsmann ihr gebracht hatte. Ein anderes Kind hätte vielleicht gerufen. Aber sie ist bereits eine junge Dame. Man merkt, daß sie viel nachdenkt, daß sie weiter ist als andere Kinder in ihrem Alter.« Madame Martin schaute nun ebenfalls aus dem Fenster, und Maigret versuchte herauszubekommen, welche ihre Wohnung war. Es mußte die auf der rechten Seite ganz am Ende des Hauses sein, wo zwei Fenster erleuchtet waren. Mademoiselle Doncœur fuhr fort: »Ich wünschte ihr ein frohes Weihnachtsfest. Wörtlich sagte ich zu ihr: ›Schau, mein Liebling, was der Weihnachtsmann bei mir für dich abgegeben hat.‹« Die Finger von Madame Martin wurden unruhig, verkrampften sich. »Und wissen Sie, was sie mir geantwortet hat, ohne das, was ich ihr mitgebracht hatte – es waren übrigens nur ein paar Kleinigkeiten –, anzusehen? ›Ich hab ihn gesehen.‹ ›Wen hast du gesehen?‹ ›Den Weihnachtsmann.‹ ›Wann hast du ihn gesehen? Und wo?‹ ›Hier, heute nacht. Er ist in mein Zimmer gekommen.‹ Genau das hat sie uns gesagt, nicht wahr, Madame 418
Martin? Bei einem anderen Kind hätte man darüber gelächelt, aber ich habe Ihnen ja gesagt, daß Colette bereits eine junge Dame ist. Sie meinte es ernst. ›Wie konntest du den Weihnachtsmann sehen? Es war doch dunkel!‹ ›Er hatte eine Lampe.‹ ›Hat er das Licht angeknipst?‹ ›Nein, er hatte eine Taschenlampe. Schau, Mama Loraine …‹ Ich muß dazu sagen, daß die Kleine Madame Martin Mama nennt, was ganz natürlich ist, da sie keine Mutter mehr hat und Madame Martin diesen Platz jetzt einnimmt …« Maigret bekam so langsam Ohrensausen von all dem konfusen Gerede. Er war noch nicht dazu gekommen, seine zweite Tasse Kaffee zu trinken. Soeben war seine Pfeife ausgegangen. »Hat sie tatsächlich jemanden gesehen?« fragte er zweifelnd. »Jawohl, Herr Kommissar. Und aus diesem Grund habe ich darauf bestanden, daß Madame Martin mit Ihnen spricht. Wir haben nämlich den Beweis dafür. Die Kleine schlug mit einem verschmitzten Lächeln ihre Bettdecke zurück und zeigte uns eine wunderschöne Puppe, die sie fest im Arm hielt. Gestern befand sich diese Puppe noch nicht im Haus.« »Sie haben ihr keine Puppe geschenkt, Madame Martin?« »Ich wollte ihr eine schenken, nicht eine so schöne, die ich gestern nachmittag in den Galeries Lafay419
ette gekauft habe. Ich hielt sie hinter meinem Rücken versteckt, als wir in das Zimmer gingen.« »Das heißt also, daß irgend jemand heute nacht in Ihre Wohnung eingedrungen ist?« »Das ist noch nicht alles«, beeilte sich Mademoiselle Doncœur zu sagen, die jetzt so richtig in Fahrt war. »Colette ist ein Kind, das sich weder irrt noch lügt. Wir haben sie genau ausgefragt, ihre Mama und ich. Sie ist sicher, jemanden gesehen zu haben, der wie ein Weihnachtsmann angezogen war, mit einem weißen Bart und einem weiten, roten Mantel.« »Wann genau ist sie aufgewacht?« »Sie weiß es nicht. Irgendwann im Laufe der Nacht. Sie öffnete die Augen, weil sie glaubte, ein Licht zu sehen. Und tatsächlich brannte ein Licht im Zimmer, wodurch ein Teil des Bodens gegenüber dem Kamin beleuchtet wurde.« »Ich weiß nicht, was das bedeuten soll«, seufzte Madame Martin. »Vielleicht weiß mein Mann weiter …« Mademoiselle Doncœur ließ sich nicht ablenken. Man merkte, daß sie es war, die das Kind ausgefragt hatte, ohne auf das geringste Detail zu verzichten, genauso wie sie es war, die daran gedacht hatte, zu Maigret zu gehen. »›Der Weihnachtsmann‹, sagte Colette, ›bückte sich und schien sich, auf dem Boden hockend, mit irgend etwas abzumühen.‹« »Hatte sie keine Angst?« »Nein. Sie beobachtete ihn, und heute morgen 420
sagte sie uns, er habe versucht, ein Loch in den Fußboden zu bohren. Sie glaubte, er wollte durch dieses Loch zu den Leuten, den Delormes, gelangen, die unter uns wohnen. Die Delormes haben einen kleinen Jungen von drei Jahren. Sie fügte hinzu, daß der Kamin sicherlich zu eng dafür sei. Der Mann muß sich beobachtet gefühlt haben. Anscheinend stand er auf und kam ans Bett, auf das er eine große Puppe setzte, wobei er den Finger auf den Mund legte.« »Hat sie ihn hinausgehen sehen?« »Ja.« »Durch den Fußboden?« »Nein, durch die Tür.« »In welches Zimmer führt diese Tür?« »Sie geht direkt auf den Flur. Das Zimmer ist früher vermietet worden. Es ist sowohl mit der Wohnung als auch mit dem Hausflur verbunden.« »War das Zimmer nicht abgeschlossen?« »Natürlich war es das«, schaltete sich Madame Martin ein. »Ich lasse das Kind doch nicht in einem Zimmer schlafen, das nicht abgeschlossen ist.« »Ist die Tür aufgebrochen worden?« »Wahrscheinlich. Ich weiß es nicht. Mademoiselle Doncœur hat sofort vorgeschlagen, zu Ihnen zu gehen.« »Haben Sie ein Loch im Boden entdeckt?« Madame Martin zuckte mit den Achseln, als wäre sie am Ende ihrer Weisheit, aber das ältere Fräulein antwortete für sie. 421
»Nicht gerade ein Loch, aber man sieht sehr genau, daß die Dielen hochgehoben worden sind.« »Sagen Sie, Madame Martin, haben Sie eine Ahnung, was sich unter diesen Dielen befunden haben könnte?« »Nein, Monsieur.« »Wie lange wohnen Sie schon in dieser Wohnung?« »Seit meiner Heirat vor fünf Jahren.« »Gehörte das Zimmer damals schon zur Wohnung?« »Ja.« »Wissen Sie, wer vor Ihnen dort gewohnt hat?« »Mein Mann. Er ist achtunddreißig Jahre alt. Als ich ihn heiratete, war er bereits dreiunddreißig und hatte eine eigene Wohnung; wenn er von seinen Reisen nach Paris zurückkam, wollte er in seinen eigenen vier Wänden wohnen.« »Meinen Sie nicht, daß er Colette überraschen wollte?« »Er befindet sich sechs- oder siebenhundert Kilometer weit weg von hier.« »Wissen Sie, wo er ist?« »Höchstwahrscheinlich in Bergerac. Seine Reisen werden im voraus geplant, und es kommt selten vor, daß er sich nicht daran hält.« »In welcher Branche arbeitet er?« »Er ist Vertreter für Zenith-Uhren in Zentral- und Südostfrankreich. Es ist ein bedeutendes Unterneh422
men, wie Sie sicherlich wissen, und er hat eine ausgezeichnete Stellung.« »Er ist der beste Mann der Welt!« rief Mademoiselle Doncœur und verbesserte sich dann errötend: »Nach Ihnen!« »Also, wenn ich Sie richtig verstehe, ist heute nacht jemand, als Weihnachtsmann verkleidet, bei Ihnen eingedrungen!« »Jedenfalls behauptet das die Kleine.« »Sie haben nichts gehört? Liegen Ihr Zimmer und das des Kindes weit auseinander?« »Dazwischen befindet sich das Eßzimmer.« »Lassen Sie die Verbindungstüren nachts nicht auf?« »Das ist nicht nötig. Colette ist nicht ängstlich, und gewöhnlich wacht sie nicht auf. Wenn sie mich rufen möchte, kann sie eine kleine Kupferglocke benutzen, die auf ihrem Nachttisch steht.« »Sind Sie gestern abend weggegangen?« »Nein, Herr Kommissar«, antwortete sie schroff und beinahe ärgerlich. »War niemand bei Ihnen?« »Gewöhnlich empfange ich in Abwesenheit meines Mannes keinen Besuch.« Maigret blickte kurz zu Mademoiselle Doncœur hinüber, deren Gesicht unbewegt blieb. Also mußte das wohl der Wahrheit entsprechen. »Sind Sie spät zu Bett gegangen?« »Gleich nachdem das Radio die Mitternachtsmesse gesendet hatte. Bis dahin hatte ich gelesen.« 423
»Sie haben nichts Ungewöhnliches gehört?« »Nein.« »Haben Sie die Concierge gefragt, ob sie für einen Fremden die Tür geöffnet hat?« Wiederum mischte sich Mademoiselle Doncœur ein: »Ich habe mit ihr gesprochen. Sie behauptet, nein.« »Und heute morgen fehlte nichts bei Ihnen, Madame Martin? Sie haben nicht das Gefühl, daß jemand im Eßzimmer war?« »Nein.« »Wer ist jetzt bei dem Kind?« »Niemand. Sie ist es gewohnt, allein zu sein. Ich kann nicht den ganzen Tag über im Haus sein. Ich muß einkaufen, auf den Markt gehen …« »Ich verstehe. Colette ist Waise, nicht wahr?« »Ihre Mutter ist tot.« »Ihr Vater lebt also noch? Wo ist er? Wie heißt er?« »Er ist der Bruder meines Mannes, Paul Martin. Wo er allerdings ist …« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung. »Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?« »Das ist jetzt mehr als einen Monat her. Es war in der Zeit um Allerheiligen herum. Er beendete gerade eine mehrtätige Klausur.« »Pardon?« Sie antwortete etwas ungehalten: »Da wir jetzt ohnehin in unserer Familienge424
schichte herumwühlen, kann ich Ihnen das auch sofort erzählen.« Man merkte, daß sie Mademoiselle Doncœur böse war, die sie für die Situation verantwortlich machte. »Der Lebenswandel meines Schwagers ist, vor allem seit dem Tod seiner Frau, nicht mehr einwandfrei.« »Was wollen Sie damit genau sagen?« »Er trinkt. Er hat schon vorher getrunken, aber nicht so übermäßig und nicht derart, daß er deswegen Dummheiten machte. Er arbeitete regelmäßig. Er hatte sogar eine ziemlich gute Stellung in einem Möbelgeschäft am Faubourg Saint-Antoine. Seit dem Unfall …« »Sie meinen den Unfall seiner Tochter?« »Ich spreche von dem Unfall, der zum Tod seiner Frau geführt hat. An einem Sonntag hatte er sich in den Kopf gesetzt, das Auto eines Kollegen zu leihen, um mit seiner Frau und dem Kind aufs Land zu fahren. Colette war noch ganz klein.« »Wann genau war das?« »Vor ungefähr drei Jahren. Sie fuhren zum Essen in ein Ausflugslokal in der Nähe von Mantes-laJolie. Paul konnte sich nicht zurückhalten und trank Weißwein, und der ist ihm zu Kopf gestiegen. Auf der Rückfahrt nach Paris sang er aus vollem Halse. Der Unfall ereignete sich nahe der Brücke von Bougival. Seine Frau war sofort tot. Er selbst erlitt einen Schädelbasisbruch, und es ist ein Wunder, daß er noch lebt. Colette blieb dabei unverletzt. Seitdem ist 425
er kein Mensch mehr. Wir haben die Kleine zu uns genommen. Wir haben sie praktisch adoptiert. Von Zeit zu Zeit besucht er sie, aber nur, wenn er mehr oder weniger nüchtern ist. Danach trinkt er gleich wieder weiter …« »Wissen Sie, wo er sich aufhält?« Eine unbestimmte Geste. »Überall. Einmal sahen wir ihn an der Bastille, wie einen Bettler. Er konnte kaum gehen. Manchmal verkauft er auf der Straße Zeitungen. Ich erzähle das vor Mademoiselle Doncœur, weil leider das ganze Haus darüber Bescheid weiß.« »Glauben Sie nicht, daß es ihm in den Sinn gekommen sein könnte, sich als Weihnachtsmann zu verkleiden, um seine Tochter zu besuchen?« »Genau das habe ich gleich zu Mademoiselle Doncœur gesagt. Sie hat trotzdem darauf bestanden, mit Ihnen darüber zu sprechen.« »Weil er keinen Grund gehabt hätte, Fußbodendielen hochzuheben«, gab diese etwas spitz zurück. »Wer weiß, ob Ihr Mann nicht früher als vorgesehen nach Paris zurückgekommen ist, und ob …« »Irgend sowas wird es sicher sein. Mich beunruhigt das auch nicht. Wäre Mademoiselle Doncœur nicht gewesen …« Schon wieder! Sie hatte den Boulevard sicher nicht aus freien Stücken überquert! »Können Sie mir sagen, in welchem Hotel Ihr Mann aller Wahrscheinlichkeit nach abgestiegen ist?« »Im Hôtel de Bordeaux, in Bergerac.« 426
»Haben Sie nicht daran gedacht, ihn anzurufen?« »In unserem Haus haben nur die Leute in der ersten Etage ein Telefon, und die lassen sich nicht gerne stören.« »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich im Hôtel de Bordeaux anriefe?« Sie willigte zunächst ein, zögerte dann jedoch: »Er wird sich fragen, ob etwas passiert ist.« »Sie können selbst mit ihm sprechen.« »Gewöhnlich rufe ich ihn nicht an.« »Sie möchten lieber im Ungewissen bleiben?« »Nein. Wie Sie meinen. Ich werde mit ihm sprechen.« Er nahm den Hörer ab und meldete das Gespräch an. Zehn Minuten später war er mit dem Hôtel de Bordeaux verbunden. Er reichte Madame Martin den Hörer. »Hallo! Ich möchte mit Monsieur Martin sprechen, bitte … Monsieur Jean Martin, ja … Das macht nichts … Wecken Sie ihn …« Sie erklärte, die Hand auf der Hörmuschel: »Er schläft noch. Man holt ihn.« Sie legte sich offensichtlich die Worte zurecht. »Hallo! Bist du’s? … Wie bitte? … Ja, Fröhliche Weihnachten! … Es ist alles in Ordnung, ja … Colette geht es sehr gut … Nein, ich rufe dich nicht nur deswegen an … Aber nein! Nichts Unangenehmes, mach dir keine Sorgen …« Sie wiederholte die letzten Worte, indem sie jede einzelne Silbe betonte: 427
»Ich sagte, du sollst dir keine Sorgen machen … In der letzten Nacht ist etwas Seltsames vorgefallen … Jemand war, als Weihnachtsmann verkleidet, in Colettes Zimmer … Aber nein! Er hat ihr nichts getan … Er schenkte ihr eine große Puppe … Puppe, ja … Und er hat sich am Boden zu schaffen gemacht … Er hob zwei Dielen hoch, die er dann eilig wieder an ihren Platz legte … Mademoiselle Doncœur wollte, daß ich mit dem Kommissar von gegenüber spreche … Ich rufe aus seiner Wohnung an … Du verstehst das nicht? … Ich auch nicht … Soll ich ihn dir geben? … Ich frag ihn mal …« Und, zu Maigret gewandt: »Er möchte mit Ihnen sprechen.« Maigret hörte am anderen Ende der Leitung eine angenehme Stimme, die Stimme eines besorgten und offenbar ratlosen Mannes. »Sind Sie sicher, daß meiner Frau und der Kleinen nichts passiert ist? … Das ist so verwirrend! … Wenn es nur die Puppe wäre, würde ich an meinen Bruder denken … Loraine wird Ihnen von ihm erzählen … Das ist meine Frau … Fragen Sie sie nach Einzelheiten … Aber er hätte die Fußbodendielen nicht hochgehoben … Glauben Sie, es wäre besser, wenn ich sofort nach Hause käme? Ich könnte den Nachmittagszug gegen drei Uhr nehmen … Wie bitte? … Ich kann mich darauf verlassen, daß Sie auf sie aufpassen? …« Loraine nahm den Hörer wieder. »Siehst du! Der Kommissar ist zuversichtlich. Er versichert, daß nicht die geringste Gefahr besteht. 428
Es lohnt sich nicht, daß du deine Reise unterbrichst, gerade jetzt, wo du vielleicht nach Paris versetzt wirst …« Mademoiselle Doncœur schaute sie unverwandt an, und es lag nicht viel Zärtlichkeit in ihrem Blick. »Ich verspreche dir, dich anzurufen oder dir ein Telegramm zu schicken, wenn es etwas Neues geben sollte. Sie ist ruhig und spielt mit ihrer Puppe. Ich bin noch nicht dazu gekommen, ihr das Geschenk zu geben, das du ihr geschickt hast. Ich gehe sofort zu ihr …« Sie legte auf und sagte: »Sehen Sie!« Und dann, nach einem kurzen Schweigen: »Bitte entschuldigen Sie, daß wir Sie gestört haben. Es ist nicht meine Schuld. Ich bin sicher, es handelt sich um einen üblen Scherz oder um einen Einfall meines Schwagers. Wenn er getrunken hat, weiß man nie genau, was ihm durch den Kopf geht.« »Werden Sie ihn heute nicht sehen? Glauben Sie nicht, daß er seine Tochter besuchen wird?« »Das kommt drauf an. Wenn er getrunken hat, nein. Er ist darauf bedacht, sich ihr in diesem Zustand nicht zu zeigen. Wenn er kommt, nimmt er sich zusammen, um so anständig wie möglich zu erscheinen.« »Darf ich Sie um die Erlaubnis bitten, ein wenig mit Colette zu plaudern?« »Ich kann Sie nicht daran hindern. Wenn Sie glauben, es sei nützlich …« 429
»Ich danke Ihnen, Monsieur Maigret«, rief Mademoiselle Doncœur mit einem vertraulichen und gleichzeitig dankbaren Blick. »Es ist ein so interessantes Kind! Sie werden sehen!« Rückwärtsgehend gelangte sie zur Tür. Wenige Augenblicke später sah er die beiden hintereinander den Boulevard überqueren, wobei Mademoiselle Doncœur dicht hinter Madame Martin herging und sich noch einmal umdrehte, um einen Blick auf die Fenster des Kommissars zu werfen. In der Küche wurden Zwiebeln gebraten. Madame Maigret kam heraus und sagte liebenswürdig: »Bist du zufrieden?« Er durfte nicht einmal so tun, als verstünde er. Man ließ ihm an diesem Weihnachtsmorgen nicht die Muße, an das alte Ehepaar, das sie waren, zu denken, das niemanden hatte, den es verwöhnen konnte. Es war Zeit, sich zu rasieren, um Colette zu besuchen.
II Mitten in seiner Morgentoilette, als er gerade dabei war, seinen Rasierpinsel naßzumachen, hatte er beschlossen, zu telefonieren. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, seinen Morgenmantel überzuziehen, sondern saß im Pyjama in dem Sessel des Eßzimmers, in seinem Sessel nahe dem Fenster, und wartete 430
auf die Verbindung, während er den Rauch beobachtete, der langsam aus den Schornsteinen emporstieg. Das Läuten des Telefons dort am Quai des Orfèvres hatte für ihn nicht denselben Klang wie das anderer Telefone. Er meinte, die großen, leeren Korridore, die offenen Türen der leeren Büros und den Telefonisten zu sehen, der Lucas mitteilte: »Der Chef ist am Apparat.« Er kam sich ein wenig vor wie eine Freundin seiner Frau, für die das höchste Glück – das sie fast jeden Tag genießen konnte – darin bestand, bei geschlossenen Fenstern, zugezogenen Vorhängen und beim sanften Licht einer Nachttischlampe den Vormittag im Bett zu verbringen und auf gut Glück die eine oder andere ihrer Freundinnen anzurufen. »Wie, es ist zehn Uhr? Wie ist draußen das Wetter? Es regnet? Waren Sie schon draußen? Haben Sie eingekauft?« So versuchte sie, am Telefon etwas vom bewegten Treiben draußen zu erfahren, während sie sich immer behaglicher in ihr leicht verschwitztes Bett kuschelte. »Sind Sie’s Chef?« Maigret hatte ebenfalls Lust, Lucas zu fragen, wer mit ihm zusammen Dienst machte, was sie so trieben, und wie es heute morgen im Haus aussah. »Gibt’s etwas Neues? Viel Arbeit?« »Fast nichts. Das Übliche …« »Könntest du einige Erkundigungen für mich einziehen? Ich glaube, du kannst das telefonisch erledigen. Besorge dir zunächst die Liste aller Häftlinge, 431
die in den letzten zwei Monaten, oder besser in den letzten drei Monaten, freigelassen wurden.« »Aus welchem Gefängnis?« »Aus sämtlichen Gefängnissen. Kümmere dich nur um diejenigen, die eine Strafe von mindestens fünf Jahren verbüßt haben. Versuche herauszubekommen, ob einer darunter ist, der irgendwann einmal am Boulevard Richard-Lenoir gewohnt hat. Hast du verstanden?« »Ich notiere.« Lucas war bestimmt verblüfft, aber er ließ sich nichts anmerken. »Noch etwas: Wir müssen einen gewissen Paul Martin ausfindig machen, einen Alkoholiker ohne festen Wohnsitz, der sich häufig im Viertel der Bastille herumtreibt. Nicht festnehmen oder behelligen! Finde heraus, wo er die Weihnachtsnacht verbracht hat. Die Kommissariate werden dir dabei helfen können.« Im Gegensatz zu besagter Freundin war es ihm eigentlich gar nicht recht, zu Hause im Pyjama in seinem Sessel zu sitzen, unrasiert, ein vertrautes und unbewegliches Bild mit rauchenden Schornsteinen vor Augen, während der brave Lucas am anderen Ende der Leitung seit sechs Uhr morgens im Dienst war und seine Butterbrote wohl bereits ausgewickelt hatte. »Das ist noch nicht alles, alter Freund. Ruf bitte Bergerac an. Im Hôtel de Bordeaux wohnt ein Geschäftsreisender namens Jean Martin. Nein! Jean! Das ist nicht derselbe. Es ist der Bruder. Ich möchte 432
gerne wissen, ob er im Lauf des gestrigen Tages oder während der Nacht einen Anruf aus Paris oder ein Telegramm bekommen hat. Und laß selbstverständlich auch noch nachforschen, wo er den Abend verbracht hat. Ich glaube, das ist alles.« »Soll ich zurückrufen?« »Nicht sofort. Ich muß noch weg. Ich werde dich wieder anrufen.« »Ist in Ihrem Viertel etwas passiert?« »Ich weiß es noch nicht. Vielleicht.« Madame Maigret kam ins Badezimmer, um mit ihm zu sprechen, während er seine Toilette beendete. Angesichts der rauchenden Schornsteine zog er sich keinen Mantel über. Denn wenn man die Schornsteine mit dem aufsteigenden Rauch betrachtete, der sich langsam im Himmel verlor, stellte man sich hinter den Fenstern überheizte Wohnräume vor. Er würde einige Zeit in engen Wohnungen verbringen müssen, wo man ihn nicht dazu auffordern würde, es sich bequem zu machen. Daher zog er es vor, lediglich seinen Hut aufzusetzen und so den Boulevard zu überqueren. Wie das Haus, in dem er wohnte, war auch das Haus gegenüber alt, aber sauber und ein wenig düster, vor allem an diesem grauen Dezembermorgen. Er vermied es, bei der Concierge stehenzubleiben, die ihm etwas unwillig nachsah. Während er die Treppe hinaufging, wurden hinter ihm einige Türen geräuschlos einen Spalt geöffnet, und er hörte gedämpfte Schritte und Flüstern. 433
Auf dem Flur in der dritten Etage erwartete ihn Mademoiselle Doncœur, die ihm vom Fenster aus aufgelauert haben mußte; sie war einerseits verschüchtert, andererseits jedoch aufgeregt, als handele es sich um ein Rendezvous zweier Verliebter. »Kommen Sie, Monsieur Maigret. Sie ist vor einer Weile weggegangen.« Er hob die Augenbrauen, was sie sofort bemerkte. »Ich sagte ihr, daß das nicht richtig sei, weil Sie jeden Moment kommen würden, und daß sie besser zu Hause bleiben solle. Sie antwortete, daß sie gestern nicht eingekauft und deshalb nichts mehr im Hause habe und daß später alle Geschäfte geschlossen seien. Kommen Sie herein!« Sie stand vor der hinteren Tür, die in ein ziemlich kleines und recht dunkles Eßzimmer führte, in dem jedoch Sauberkeit und Ordnung herrschte. »Ich paß auf die Kleine auf, während sie weg ist. Colette freut sich darauf, Sie zu sehen. Ich hab ihr nämlich von Ihnen erzählt. Sie hat nur Angst, daß Sie ihr die Puppe wieder wegnehmen.« »Wann hat sich Madame Martin dazu entschlossen, wegzugehen?« »Gleich, nachdem wir von Ihnen wiederkamen. Sie hat sich sofort angezogen,« »Hat sie sich richtig zurechtgemacht?« »Ich verstehe nicht, was sie meinen.« »Nun, ich nehme an, daß sie sich, um im Viertel einzukaufen, anders kleidet, als wenn sie in die Stadt geht.« 434
»Sie hat sich herausgeputzt, ihren Hut aufgesetzt und Handschuhe angezogen. Ihre Einkaufstasche hat sie auch mitgenommen.« Bevor Maigret sich um Colette kümmerte, ging er in die Küche, wo die Reste vom Frühstück herumstanden. »Hatte sie gefrühstückt, bevor sie zu mir kam?« »Nein. Ich habe ihr keine Zeit dazu gelassen.« »Hat sie hinterher gegessen?« »Auch nicht. Sie hat sich nur eine Tasse Kaffee gemacht. Ich habe Colette das Frühstück gebracht, während Madame Martin sich anzog.« Auf der Brüstung des Fensters, das zum Hof zeigte, stand ein Vorratsschrank, den Maigret sorgfältig untersuchte. Er fand dort kalten Aufschnitt, Butter, Eier, Gemüse. Im Küchenschrank fand er zwei frische, noch nicht angeschnittene Brote. Colette hatte Schokolade getrunken und dazu Hörnchen gegessen. »Kennen Sie Madame Martin gut?« »Wir sind Nachbarn, wissen Sie. Seit Colette im Bett liegen muß, sehen wir uns häufiger, da sie mich oft bittet, auf die Kleine aufzupassen, wenn sie weggeht.« »Geht sie sehr oft weg?« »Ziemlich selten. Nur, um einzukaufen.« Als er hereingekommen war, war ihm etwas aufgefallen, was er näher zu bestimmen versuchte, etwas, das an der Atmosphäre lag, an der Anordnung der Möbel, an der Ordnung überhaupt, die hier herrschte, oder auch sogar am Geruch. Als er Mademoiselle 435
Doncœur ansah, wußte er, was es war, oder glaubte zumindest, es zu wissen. Man hatte ihm vorhin gesagt, daß Martin die Wohnung schon vor seiner Hochzeit bewohnt hatte. Und obwohl Madame Martin nun schon seit fünf Jahren hier wohnte, war es eine Junggesellenwohnung geblieben. Zum Beispiel hingen im Eßzimmer an beiden Seiten des Kamins zwei vergrößerte Porträtfotos. »Wer ist das?« fragte er und zeigte darauf. »Der Vater und die Mutter von Monsieur Martin.« »Gibt es keine Fotos von Madame Martins Eltern?« »Ich habe noch nie etwas von ihnen gehört. Ich nehme an, sie ist Waise.« Selbst dem Schlafzimmer fehlte ein Schuß Koketterie, die weibliche Note. Er öffnete einen Kleiderschrank. Neben sorgfältig weggehängter Herrengarderobe sah er Damenkleidung, hauptsächlich Kostüme und sehr schlichte Kleider. Er wagte nicht, die Schubladen zu öffnen, aber er war sicher, daß sie keine Kinkerlitzchen enthielten, keinen wertlosen Kleinkram, den Frauen normalerweise sammeln. »Mademoiselle Doncœur!« rief eine ruhige Kinderstimme. »Gehen wir zu Colette«, entschied Maigret. Auch das Zimmer des Kindes war schmucklos, fast kahl. In einem zu großen Bett lag ein kleines Mädchen mit einem ernsten Gesicht und fragenden, aber vertrauensvollen Augen. 436
»Sind Sie der Kommissar, Monsieur?« »Der bin ich, mein Kind. Hab keine Angst.« »Ich habe keine Angst. Ist Mama Loraine noch nicht zurück?« Das überraschte ihn. Hatten die Martins ihre Nichte nicht gewissermaßen adoptiert? Und doch sagte das Kind nicht einfach Mama, sondern Mama Loraine. »Glauben Sie wenigstens, daß es der Weihnachtsmann war, der mich heute nacht besucht hat?« »Davon bin ich überzeugt.« »Mama Loraine glaubt es nicht. Sie glaubt mir nie.« Sie hatte ein müdes Gesicht, lebhafte Augen und einen durchdringenden Blick. Der Gips bedeckte das eine Bein bis hinauf zum Oberschenkel und bildete einen kleinen Hügel unter der Bettdecke. Mademoiselle Doncœur blieb im Türrahmen stehen und sagte taktvoll, um die beiden alleine zu lassen: »Ich geh mal schnell zu mir, um nachzusehen, ob nichts angebrannt ist.« Maigret, der sich nahe ans Bett gesetzt hatte, wußte nicht so recht, wie er anfangen, welche Frage er eigentlich stellen sollte. »Hast du Mama Loraine sehr gern?« »Ja, Monsieur.« Sie antwortete zurückhaltend und ohne Begeisterung, jedoch nicht zögernd. »Und deinen Papa?« 437
»Welchen? Ich habe nämlich zwei Papas, wissen Sie, Papa Paul und Papa Jean.« »Wie lange hast du Papa Paul nicht mehr gesehen?« »Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht ein paar Wochen. Er hat mir versprochen, mir zu Weihnachten ein Spielzeug zu schenken, aber er ist noch nicht gekommen. Er muß wohl krank geworden sein.« »Ist er oft krank?« »Oft, ja. Wenn er krank ist, besucht er mich nicht.« »Und dein Papa Jean?« »Er ist unterwegs, aber er wird zu Neujahr nach Hause kommen. Vielleicht wird er dann nach Paris versetzt und muß nicht mehr wegfahren. Er wäre froh darüber, und ich auch.« »Kommen dich viele Freunde besuchen, seitdem du im Bett liegen mußt?« »Welche Freunde? Die Mädchen aus der Schule wissen nicht, wo ich wohne. Und wenn sie es wissen, dürfen sie nicht ganz alleine kommen.« »Und die Freunde von Mama Loraine oder von deinem Papa?« »Es kommt nie jemand.« »Nie? Bist du sicher?« »Nur der Gasmann oder der vom Elektrizitätswerk. Ich höre sie, weil die Tür fast immer offensteht. Ich kenne sie. Nur zweimal ist jemand anderes gekommen.« »Wie lange ist das her?« 438
»Das erste Mal war es am Tag nach meinem Unfall. Ich erinnere mich daran, weil der Arzt gerade gegangen war.« »Wer war es?« »Ich habe ihn nicht gesehen. Ich habe gehört, wie er an die andere Tür klopfte und etwas sagte. Mama Loraine hat dann sofort die Tür zu meinem Zimmer geschlossen. Sie haben eine ganze Weile leise miteinander gesprochen. Nachher hat sie mir erzählt, daß er sie mit einer Versicherungssache gelangweilt hat. Ich weiß nicht, worum es ging.« »Und ist er wiedergekommen?« »Vor fünf oder sechs Tagen. Diesmal kam er abends, als in meinem Zimmer das Licht schon ausgemacht worden war. Ich schlief noch nicht. Ich hörte, wie es klopfte und wie sie leise miteinander sprachen, wie beim ersten Mal. Ich wußte genau, daß es nicht Mademoiselle Doncœur war, die abends manchmal kommt, um Mama Loraine Gesellschaft zu leisten. Später hatte ich das Gefühl, daß sie miteinander stritten. Ich hatte Angst und rief, Mama Loraine kam, um mir zu sagen, daß es wieder wegen dieser Versicherung sei und daß ich schlafen solle.« »Ist er lange geblieben?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich bin dann eingeschlafen.« »Du hast ihn beide Male nicht gesehen?« »Nein. Aber ich würde seine Stimme wiedererkennen.« »Auch dann, wenn er leise spricht?« 439
»Ja. Eben weil er immer leise spricht, was sich so anhört wie eine dicke Hummel. Ich kann die Puppe behalten, nicht wahr? Mama Loraine hat mir zwei Schachteln Bonbons und Nähzeug gekauft. Sie hat mir auch eine Puppe geschenkt, aber eine viel kleinere als die vom Weihnachtsmann, weil sie nicht so reich ist. Sie hat sie mir heute morgen gezeigt, bevor sie wegging, hat sie dann aber wieder in die Schachtel zurückgetan. Ich brauche sie nicht mehr, weil ich ja diese hier habe. Das Geschäft wird sie zurücknehmen.« Die Wohnung war überheizt, die Zimmer eng und stickig, aber trotzdem überkam Maigret ein Gefühl der Kälte. Das Haus sah von außen wie das aus, in dem er wohnte. Warum erschien ihm die Welt hier drin kleiner, schäbiger? Er bückte sich zum Fußboden hinunter, zu der Stelle, an der die beiden Dielen hochgehoben worden waren. Er sah nur einen staubigen, leicht feuchten Hohlraum, wie er sich unter allen Dielen befindet. Einige Kratzer im Holz wiesen darauf hin, daß man einen Meißel oder etwas Ähnliches benutzt hatte. Er untersuchte die Tür und fand dort ebenfalls Spuren. Es war eine stümperhafte Arbeit, die außerdem leicht zu machen gewesen war. »Wurde der Weihnachtsmann nicht böse, als er sah, daß du ihm zuschautest?« »Nein, Monsieur. Er war damit beschäftigt, ein Loch in den Boden zu machen, um den kleinen Jungen aus der zweiten Etage zu besuchen.« 440
»Hat er nichts zu dir gesagt?« »Ich glaube, er hat gelächelt. Ich bin mir nicht sicher, wegen seines Bartes. Es war nicht sehr hell. Aber ich weiß genau, daß er einen Finger auf den Mund gelegt hat, damit ich nicht rief, weil die Großen ihm nicht begegnen dürfen. Haben Sie ihn schon einmal getroffen?« »Das ist schon lange her.« »Als Sie noch klein waren?« Er hörte Schritte im Flur. Die Tür wurde geöffnet. Es war Madame Martin, im grauen Kostüm, ein Einkaufsnetz in der Hand und einen kleinen beigen Hut auf dem Kopf. Ihr war offensichtlich kalt. Die Haut ihres Gesichtes war gespannt und sehr weiß; aber sie hatte sich wohl beeilt und war schnell die Treppe heraufgekommen, denn auf ihren Wangen waren zwei kleine rote Flecken zu sehen, und ihr Atem ging kurz. Sie lächelte nicht und fragte Maigret: »War sie artig?« Dann, indem sie ihre Jacke auszog: »Entschuldigen Sie, daß ich Sie habe warten lassen. Ich mußte noch einmal weggehen, um verschiedene Dinge einzukaufen. Später wären die Läden geschlossen gewesen.« »Haben Sie niemanden getroffen?« »Was wollen Sie damit sagen?« »Nichts. Ich dachte nur, daß jemand versucht hätte, mit Ihnen zu sprechen.« Sie hatte genug Zeit gehabt, um viel weiter als nur zur Rue Amelot oder zur Rue du Chemin-Vert zu 441
gehen, wo die meisten Geschäfte des Viertels lagen. Sie hätte sogar ein Taxi oder die Metro nehmen können, um zu fast jedem Punkt in Paris zu gelangen. Bestimmt lagen im ganzen Haus die Mieter auf der Lauer. Mademoiselle Doncœur fragte, ob sie gebraucht würde, und Madame Martin wollte sicherlich schon verneinen; aber Maigret antwortete: »Es wäre mir lieb, wenn Sie bei Colette blieben, während ich nach nebenan gehe.« Sie begriff, daß sie die Aufmerksamkeit des Kindes ablenken sollte, während er sich mit Madame Martin unterhielt. Diese verstand das wohl ebenfalls, ließ sich jedoch nichts anmerken. »Treten Sie bitte ein. Gestatten Sie, daß ich die Sachen abstelle?« Sie ging in die Küche und stellte die Lebensmittel dort hin, setzte dann ihren Hut ab und richtete ein wenig ihre blonden, glanzlosen Haare. Als sie die Zimmertür wieder geschlossen hatte, sagte sie: »Mademoiselle Doncœur ist sehr aufgeregt. Welch glücklicher Zufall für eine alte Jungfer, nicht wahr? Besonders für eine alte Jungfer, die Zeitungsartikel über einen ganz bestimmten Kommissar sammelt, der sich nun endlich in ihrem eigenen Haus befindet! Sie gestatten?« Sie nahm eine Zigarette aus einem silbernen Etui, klopfte leicht mit dem Ende auf den Tisch und zündete sie mit einem Feuerzeug an. Vielleicht war es diese Geste, die Maigret veranlaßte, ihr eine Frage zu stellen. 442
»Sie arbeiten nicht, Madame Martin?« »Es wäre schwierig für mich, zu arbeiten und mich um den Haushalt und obendrein noch um die Kleine zu kümmern, auch wenn sie zur Schule geht. Übrigens erlaubt mein Mann nicht, daß ich arbeite.« »Aber Sie haben gearbeitet, bevor Sie ihn kennenlernten?« »Selbstverständlich. Ich mußte mir meinen Lebensunterhalt verdienen. Wollen Sie sich nicht setzen?« Er setzte sich in einen rustikalen Sessel mit Korbgeflecht, während sie sich an den Tisch lehnte. »Sie waren Stenotypistin?« »Das war ich.« »Wie lange?« »Ziemlich lange.« »Waren Sie es auch noch zu dem Zeitpunkt, als Sie Martin kennenlernten? Entschuldigen Sie bitte, daß ich Ihnen diese Fragen stelle.« »Das ist Ihr Beruf.« »Sie haben vor fünf Jahren geheiratet. Wo haben Sie zu der Zeit gearbeitet? Einen Augenblick … Darf ich Sie nach Ihrem Alter fragen?« »Dreiunddreißig. Ich war also damals achtundzwanzig Jahre alt und arbeitete bei Monsieur Lorilleux im Palais-Royal.« »Als Sekretärin?« »Monsieur Lorilleux hatte ein Schmuckgeschäft, oder genauer gesagt, er handelte mit Souvenirs und 443
alten Münzen. Sie kennen sicher diese alten Geschäfte im Palais-Royal. Ich war gleichzeitig Verkäuferin, Sekretärin und Buchhalterin. Ich führte das Geschäft, wenn er nicht da war.« »War er verheiratet?« »Ja, außerdem Vater von drei Kindern.« »Sind Sie dort weggegangen, als sie Martin heirateten?« »Nicht sofort. Jean wollte nicht, daß ich weiter arbeitete, aber er verdiente nicht gerade sehr viel, und ich hatte eine gute Stellung. In den ersten Monaten bin ich dort geblieben.« »Und dann?« »Dann geschah etwas, was zugleich einfach war und unerwartet. An einem Morgen um neun Uhr erschien ich wie gewöhnlich vor dem Geschäft, dessen Tür jedoch verschlossen war. Ich wartete, da ich glaubte, Monsieur Lorilleux habe sich verspätet.« »Wohnte er woanders?« »Er wohnte mit seiner Familie in der Rue Mazarine. Um halb zehn wurde ich unruhig.« »War er tot?« »Nein. Ich rief seine Frau an, die mir sagte, daß er die Wohnung wie gewöhnlich um acht Uhr verlassen habe.« »Von wo aus riefen Sie an?« »Vom Handschuhgeschäft nebenan. Ich wartete den ganzen Vormittag. Dann kam seine Frau. Wir gingen zusammen aufs Polizeirevier, wo man die Sache übrigens nicht tragisch nahm. Man fragte seine 444
Frau lediglich, ob er herzkrank war, ob er ein Verhältnis hatte usw. Er wurde nie wieder gesehen und ließ nichts mehr von sich hören. Das Geschäft wurde an mehrere Polen verkauft, und mein Mann bestand darauf, daß ich keine Arbeit mehr annahm.« »Wie lange waren Sie damals verheiratet?« »Vier Monate.« »Hatte Ihr Mann da bereits im Südwesten Frankreichs zu tun?« »Er bereiste dasselbe Gebiet wie jetzt.« »War er in Paris, als Ihr Chef verschwand?« »Nein. Ich glaube nicht.« »Hat die Polizei die Geschäftsräume durchsucht?« »Es war alles in Ordnung, genauso wie am Vortag. Nichts war verschwunden.« »Wissen Sie, was aus Madame Lorilleux geworden ist?« »Sie hat einige Zeit von dem Geld aus dem Verkauf des Ladens gelebt. Ihre Kinder sind jetzt sicher erwachsen und wahrscheinlich verheiratet. Sie hat ein kleines Kurzwarengeschäft nicht weit von hier, in der Rue du Pas-de-la-Mule.« »Hatten Sie weiterhin Kontakt mit ihr?« »Manchmal ging ich in ihren Laden. Auf diese Weise erfuhr ich überhaupt erst, daß sie Kurzwarenhändlerin geworden war. Zunächst habe ich sie gar nicht wiedererkannt.« »Wie lange ist das jetzt her?« »Ich weiß es nicht genau. Ungefähr sechs Monate.« 445
»Hat sie Telefon?« »Das weiß ich nicht. Warum?« »Was für ein Mensch war Lorilleux?« »Meinen Sie äußerlich?« »Ja, zunächst einmal äußerlich.« »Er war groß, größer als Sie, und noch breiter. Er war dick und dabei schwammig. Sie wissen, was ich damit meine. Er war keine sehr gepflegte Erscheinung.« »Wie alt?« »Ungefähr fünfzig. Ich weiß es nicht genau. Er trug einen kleinen graumelierten Schnurrbart, und seine Anzüge waren ihm immer zu weit.« »Kannten Sie sich in seinen Gewohnheiten aus?« »Er ging jeden Morgen zu Fuß ins Geschäft und war etwa eine Viertelstunde vor mir da, so daß er bereits die Post durchgesehen hatte, wenn ich ankam. Er sprach nicht viel, war eher mürrisch. Er verbrachte den größten Teil des Tages in dem kleinen Büro hinter dem Laden.« »Keine Frauengeschichten?« »Nicht daß ich wüßte.« »Machte er Ihnen nicht den Hof?« Sie erwiderte kühl: »Nein.« »Hing er sehr an Ihnen?« »Ich glaube, ich war ihm eine wertvolle Hilfe.« »Hat Ihr Mann ihn gekannt?« »Sie haben nie miteinander gesprochen. Jean wartete manchmal am Ausgang des Ladens auf mich, 446
hielt sich jedoch in einiger Entfernung. Ist das alles, was Sie wissen wollen?« In ihrer Stimme schwang Ungeduld, vielleicht ein wenig Zorn mit. »Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, Madame Martin, daß Sie es waren, die zu mir gekommen ist.« »Weil diese verrückte Alte sich auf die Gelegenheit gestürzt hat, Sie aus der Nähe zu sehen, und mich fast gewaltsam zu Ihnen geschleppt hat.« »Mögen Sie Mademoiselle Doncœur nicht?« »Ich mag keine Leute, die sich in Angelegenheiten mischen, die sie nichts angehen.« »Tut sie das?« »Wir haben das Kind meines Schwagers bei uns aufgenommen, wie Sie ja wissen. Ob Sie mir glauben oder nicht, ich tue für Colette alles, was ich kann, ich behandle sie wie meine eigene Tochter …« Maigret konnte sich die Frau, die ihm gegenübersaß und sich soeben eine neue Zigarette angezündet hatte, noch so genau ansehen: aus einem unbestimmten, unsicheren Gefühl heraus gelang es ihm einfach nicht, sie sich als Mutter vorzustellen. »Nun, unter dem Vorwand, mir helfen zu wollen, mischt sie sich andauernd in meine Angelegenheiten. Wenn ich für ein paar Minuten weggehe, steht sie mit zuckersüßer Miene im Flur und sagt: ›Sie wollen Colette doch wohl nicht ganz alleine lassen, Madame Martin? Lassen Sie mich bei ihr bleiben!‹ Ich glaube fast, sie vergnügt sich in meiner 447
Abwesenheit damit, in meinen Schubladen herumzuwühlen.« »Trotzdem ertragen Sie sie.« »Weil ich es eben muß. Colette verlangt nach ihr, vor allem, seitdem sie im Bett liegt. Auch mein Mann mag sie sehr, weil er, als wir noch nicht verheiratet waren, eine Rippenfellentzündung hatte und sie ihn gepflegt hat.« »Haben Sie die Puppe, die Sie für Colette zu Weihnachten gekauft hatten, wieder zurückgebracht?« Sie hob die Augenbrauen und blickte zur Verbindungstür. »Sie haben sie also ausgefragt. Nein, ich habe sie nicht zurückgebracht, aus dem einfachen Grund, weil ich sie in einem großen Warenhaus gekauft habe und die Warenhäuser geschlossen sind. Möchten Sie sie sehen?« In ihren Worten lag Herausforderung; er ließ sie sich, entgegen ihren Erwartungen, zeigen und untersuchte den Karton, auf dem noch der Preis stand, der sehr niedrig war. »Darf ich Sie fragen, wohin Sie heute morgen gegangen sind?« »Ich hab Einkäufe gemacht.« »In der Rue du Chemin-Vert? Oder Rue Amelot?« »In der Rue du Chemin-Vert und in der Rue Amelot.« »Ich möchte nicht neugierig sein, aber was haben Sie eingekauft?« 448
Sie ging wütend in die Küche, holte die Einkaufstasche und knallte sie fast auf den Eßzimmertisch. »Sehen Sie selbst nach!« Die Tasche enthielt drei Dosen Sardinen, Schinken, Butter, Kartoffeln und Lattich. Sie sah ihm unfreundlich und unbeweglich ins Gesicht, zitterte jedoch nicht, und in ihrem Blick lag mehr Gereiztheit als Angst. »Haben Sie noch weitere Fragen?« »Ich wüßte gerne den Namen Ihres Versicherungsagenten!« Man sah, daß sie nicht sofort verstand. Sie strengte ihr Gedächtnis an. »Mein Versicherungsagent …« »Jawohl. Derjenige, der Sie besucht hat.« »Entschuldigen Sie bitte! Das hatte ich ganz vergessen. Sie sprachen nämlich von meinem Versicherungsagenten, so als hätte ich tatsächlich etwas mit ihm zu tun. Das hat Colette Ihnen also auch erzählt! In der Tat ist jemand gekommen, zweimal, einer von denen, die von Tür zu Tür gehen, und bei denen man seine liebe Mühe hat, sie loszuwerden. Zuerst glaubte ich, er wollte elektrische Staubsauger verkaufen. Es ging um eine Lebensversicherung.« »War er lange bei Ihnen?« »So lange, wie ich brauchte, um ihn rauszuwerfen, um ihm klarzumachen, daß ich keinerlei Lust hatte, eine Police für mich oder meinen Mann zu unterzeichnen.« »Von welcher Gesellschaft kam er?« 449
»Er hat sie mir genannt, aber ich habe den Namen vergessen. Irgend etwas mit ›Gegenseitig‹ …« »Er hat es noch einmal versucht?« »Das stimmt.« »Zu welcher Uhrzeit muß Colette schlafen?« »Um halb acht mach ich das Licht aus, aber manchmal erzählt sie sich eine Weile noch leise irgendwelche Geschichten.« »Das zweite Mal ist der Versicherungsagent also nach halb acht abends bei Ihnen gewesen?« Sie hatte die Falle bereits bemerkt. »Das ist möglich. Ich war tatsächlich gerade dabei, das Geschirr abzuwaschen.« »Haben Sie ihn hereingelassen?« »Er hatte den Fuß zwischen die Tür gestellt.« »Hat er sich auch an andere Mieter des Hauses gewandt?« »Davon weiß ich nichts. Ich nehme an, daß Sie sich danach erkundigen werden. Weil ein kleines Mädchen den Weihnachtsmann gesehen hat oder glaubt, ihn gesehen zu haben, verhören Sie mich seit einer halben Stunde, so als hätte ich ein Verbrechen begangen. Wenn mein Mann hier wäre …« »Hat Ihr Mann eigentlich eine Lebensversicherung abgeschlossen?« »Ich glaube. Höchstwahrscheinlich.« Als er seinen Hut vom Stuhl nahm und zur Tür ging, rief sie überrascht: »Sind Sie fertig?« »Ja, das ist alles. Im Fall, daß Ihr Schwager Sie be450
suchen kommen sollte, so wie er es anscheinend seiner Tochter versprochen hat, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie es mich wissen ließen, oder wenn Sie ihn zu mir schickten. Jetzt würde ich gerne ein paar Worte mit Mademoiselle Doncœur wechseln.« Mademoiselle Doncœur folgte ihm in den Flur, ging ihm dann voraus, um die Tür zu ihrer Wohnung zu öffnen, die nach Kloster roch. »Treten Sie ein, Herr Kommissar. Ich hoffe, es ist nicht zu unordentlich.« Es war keine Katze zu sehen, kein kleiner Hund, keine Deckchen auf den Möbeln, auch keine Nippesfiguren auf dem Kamin. »Wohnen Sie schon lange in diesem Haus, Mademoiselle Doncœur?« »Fünfundzwanzig Jahre, Herr Kommissar. Ich gehöre zu den ältesten Mietern, und ich erinnere mich daran, daß Sie bereits gegenüber wohnten, als ich hier einzog. Sie trugen einen langen Schnurrbart.« »Wer wohnte nebenan, bevor Martin dort einzog?« »Ein Ingenieur vom Straßenbauamt. Ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen, aber ich könnte ihn herausfinden. Er wohnte dort mit seiner Frau und seiner Tochter, einer Taubstummen. Es war ziemlich traurig. Sie verließen Paris, um sich auf dem Land niederzulassen, im Poitou, wenn ich mich nicht irre. Der alte Herr ist jetzt wohl schon tot, da er damals bereits im Rentenalter war.« »Ist es in der letzten Zeit vorgekommen, daß Sie 451
von einem Versicherungsvertreter behelligt wurden?« »In letzter Zeit nicht. Seit mindestens zwei Jahren hat niemand mehr bei mir geklingelt.« »Sie mögen Madame Martin nicht?« »Warum?« »Ich frage Sie, ob Sie Madame Martin mögen oder nicht.« »Ja, wissen Sie, wenn ich einen Sohn hätte …« »Sprechen Sie weiter!« »Wenn ich einen Sohn hätte, wäre ich nicht glücklich darüber, sie zur Schwiegertochter zu haben. Vor allem, wo Monsieur Martin so liebenswürdig ist, so zuvorkommend!« »Glauben Sie, daß er mit ihr nicht glücklich ist?« »Das will ich nicht sagen. Ich hab ihr eigentlich nichts vorzuwerfen. Sie hat das Recht, so zu sein, wie sie ist, nicht wahr?« »Wie ist sie denn?« »Ich weiß es auch nicht. Sie haben sie gesehen. Sie kennen sich besser darin aus als ich. Sie benimmt sich nicht so wie eine Frau. Sehen Sie, ich wette, daß sie noch nie in ihrem Leben geweint hat. Sie erzieht die Kleine recht anständig, das ist richtig. Aber sie würde ihr nie ein liebes Wort sagen, und wenn ich Colette Märchen erzählen möchte, merke ich, daß sie sich darüber aufregt. Ich bin sicher, sie hat ihr gesagt, daß es den Weihnachtsmann nicht gibt. Glücklicherweise glaubt ihr das Kind nicht.« »Sie mag sie auch nicht?« 452
»Sie gehorcht ihr und gibt sich Mühe, ihr Freude zu machen. Ich glaube, sie ist froh, wenn sie alleine gelassen wird.« »Geht Madame Martin oft weg?« »Nicht oft. Man kann ihr nichts vorwerfen. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Man merkt, daß sie ihr eigenes Leben lebt, verstehen Sie? Sie kümmert sich nicht um andere. Sie spricht auch nie von sich. Sie benimmt sich immer korrekt, schon zu korrekt. Sie hätte ihr Leben in einem Büro verbringen sollen, wo sie es mit Zahlen oder mit der Beaufsichtigung von Angestellten zu tun gehabt hätte.« »Ist das auch die Meinung der anderen Mieter?« »Sie nimmt so selten am Leben der Hausgemeinschaft teil. Sie sagt nur so eben ›Guten Tag‹, wenn sie jemandem auf der Treppe begegnet. Kurz und gut, wir kennen sie erst etwas besser, seit Colette bei ihr wohnt, da man sich ja für ein Kind immer etwas mehr interessiert.« »Sind Sie ihrem Schwager schon einmal begegnet?« »Im Flur. Ich habe nie mit ihm gesprochen. Er geht mit gesenktem Kopf an einem vorbei, als schäme er sich, und man hat immer den Eindruck, daß er in seinen Kleidern geschlafen hat, obwohl er sich wohl bemüht, sie auszubürsten, bevor er hierher kommt. Ich glaube nicht, daß er es gewesen ist, Monsieur Maigret. Er ist nicht der Mann, der so etwas tut. Oder er hätte schon ganz und gar betrunken sein müssen.« 453
Maigret hielt sich noch bei der Concierge auf, wo es so dunkel war, daß den ganzen Tag über das Licht brennen mußte. Es war gegen Mittag, als er den Boulevard überquerte, und in den Fenstern des Hauses, das er verlassen hatte, bewegten sich sämtliche Gardinen. Auch an seinem Fenster bewegte sich die Gardine. Madame Maigret hielt nach ihm Ausschau, um zu wissen, ob sie das Hühnchen in den Ofen tun konnte. Er winkte ihr von unten zu. Fast hätte er die Zunge herausgestreckt, um eine dieser kleinen Schneeflocken zu erhaschen, die in der Luft trieben und an deren wäßrigen Geschmack er sich noch erinnerte.
III »Ich frage mich, ob die Kleine drüben glücklich ist«, seufzte Madame Maigret, indem sie vom Tisch aufstand, um den Kaffee aus der Küche zu holen. Sie merkte wohl, daß er ihr nicht zuhörte. Er hatte seinen Stuhl zurückgeschoben und stopfte seine Pfeife, während er den leise summenden Ofen mit den kleinen, regelmäßigen Flammen, die am Sichtfenster leckten, betrachtete. Zur eigenen Genugtuung fügte Madame Maigret hinzu: »Ich kann es mir nicht vorstellen, bei dieser Frau.« Er lächelte ihr zerstreut zu, so als wüßte er nicht, was sie gesagt hatte, und vertiefte sich dann wieder in die Betrachtung des Ofens. Es gab mindestens zehn 454
ähnliche Öfen im Haus, die genauso summten, zehn Eßzimmer mit demselben Sonntagsgeruch, und wahrscheinlich war es in dem Haus gegenüber ebenso. Jedes Nest enthielt sein träges Leben, das sich im Verborgenen abspielte, mit Wein auf dem Tisch, Kuchen, mit der kleinen Likörflasche im Büfett, und alle Fenster ließen das graue, unfreundliche Licht eines sonnenlosen Tages herein. Vielleicht war es das, was ihn unbewußt seit dem Morgen verwirrte. In neun von zehn Fällen führte ihn eine richtige Untersuchung von einer Stunde zur anderen in eine neue Umgebung, und er mußte sich mit Leuten auseinandersetzen, deren Welt er gar nicht oder nur wenig kannte, mußte alles kennenlernen, bis hin zu den kleinsten Angewohnheiten und den Schrullen einer sozialen Schicht, in der er sich nicht auskannte. In diesem Fall, der keiner war, da er ja offiziell mit nichts beauftragt worden war, lagen die Dinge ganz anders. Zum ersten Mal passierte etwas in einer ihm bekannten Welt, in einem Haus, das sein eigenes hätte sein können. Die Martins hätten auf seinem Flur wohnen können statt in dem Haus gegenüber, und wahrscheinlich hätte Madame Maigret auf Colette aufgepaßt, während ihre Tante abwesend war. Im Stockwerk über ihm wohnte eine alte Dame, die fast das Ebenbild von Mademoiselle Doncœur war, nur dicker und blasser als diese. Die Rahmen der Fotos von Vater und Mutter Martin glichen haargenau den Rah455
men der Fotos von Maigrets Eltern, und die Vergrößerungen stammten vermutlich aus demselben Fotolabor. War es das, was ihn störte? Es schien ihm, als fehle ihm der Abstand zu den Menschen und den Dingen, als betrachte er sie nicht kühl, nicht unbelastet genug. Er hatte seiner Frau während des Essens – eines guten Festessens, das ihn träge gemacht hatte – von seinen Gesprächen berichtet, und sie hatte, peinlich berührt, unaufhörlich zu den Fenstern gegenüber hingeschaut. »Ist die Concierge sicher, daß niemand von draußen hereinkommen konnte?« »Sie ist sich dessen nicht mehr ganz so sicher. Sie hatte bis halb eins Besuch von Freunden. Danach ist sie schlafen gegangen, und es sind viele Leute ein und aus gegangen, wie in jeder Weihnachtsnacht.« »Glaubst du, daß noch etwas passieren wird?« Diese kleine Bemerkung ließ ihn nicht los. Zunächst einmal hatte Madame Martin ihn nicht von sich aus, sondern auf Drängen von Mademoiselle Doncœur hin aufgesucht. Wäre sie früher aufgestanden und hätte sie als erste die Puppe entdeckt und die Geschichte vom Weihnachtsmann gehört, hätte sie dann nicht Stillschweigen bewahrt und dem Mädchen befohlen, ebenfalls den Mund zu halten? Dann hatte sie die erstbeste Gelegenheit wahrgenommen, um wegzugehen, obwohl sie noch genug Lebensmittel für den Tag im Hause hatte. Zerstreut, 456
wie sie war, hatte sie sogar Butter eingekauft, obwohl noch ein Pfund im Vorratsschrank war. Er stand auf, setzte sich in seinen Sessel neben dem Fenster und hob den Telefonhörer ab, um den Quai des Orfèvres anzurufen. »Lucas?« »Ich habe getan, worum Sie mich gebeten haben, Chef, und habe hier die Liste aller Häftlinge, die in den letzten vier Monaten freigelassen worden sind. Es sind nicht so viele, wie man meinen könnte. Soweit ich sehe, ist keiner dabei, der zu irgendeinem Zeitpunkt am Boulevard Richard-Lenoir gewohnt hat.« Das war jetzt nicht mehr wichtig. Maigret hatte diese Vermutung fast schon wieder fallengelassen. Übrigens war das nur so eine Idee. Jemand, der in der Wohnung gegenüber gewohnt hatte, hätte dort die Beute eines Diebstahls oder eines anderen Verbrechens verstecken können, bevor er geschnappt worden war. Wieder auf freiem Fuß, wäre es natürlich seine erste Sorge gewesen, den Schatz wieder in seinen Besitz zu bringen. Nun mußte aber Colette aufgrund ihres Unfalls ständig im Bett bleiben, und so war das Zimmer zu keiner Tages- oder Nachtzeit leer. Es wäre gar nicht so dumm gewesen, den Weihnachtsmann zu spielen und so fast gefahrlos in das Zimmer zu gelangen. In diesem Fall hätte Madame Martin jedoch nicht gezögert, ihn aufzusuchen. Auch hätte sie dann nicht unter einem Vorwand das Haus verlassen. 457
»Soll ich jeden Fall einzeln untersuchen?« »Nein. Hast du etwas von Paul Martin gehört?« »Das war nicht schwer. Er ist auf wenigstens vier oder fünf Polizeirevieren zwischen der Bastille, dem Rathaus und dem Boulevard Saint-Michel bekannt.« »Weißt du, was er heute nacht gemacht hat?« »Zuerst hat er auf dem Schiff der Heilsarmee gegessen. Wie alle Stammgäste geht er jede Woche an einem bestimmten Tag dahin, und an diesen Abenden ist er nüchtern. Man hat ihnen ein kleines Festessen gegeben, wofür sie ziemlich lange Schlange stehen mußten.« »Und dann?« »Gegen elf Uhr abends ist er ins Quartier Latin gegangen und hat vor einem Nachtlokal den Leuten die Wagentür geöffnet. Er muß genug Geld bekommen haben, um zu trinken, denn um vier Uhr morgens hat man ihn, hundert Meter von der Place Maubert entfernt, total betrunken aufgelesen und aufs Revier mitgenommen. Heute morgen um elf Uhr war er immer noch dort. Er war gerade weggegangen, als ich die Auskunft bekam, und man hat mir versprochen, ihn herzubringen, sobald man ihn aufgreifen würde. Er hatte noch ein paar Francs in der Tasche.« »Und was ist mit Bergerac?« »Jean Martin nimmt den ersten Nachmittagszug. Er schien ziemlich überrascht und beunruhigt über den Telefonanruf von heute morgen zu sein.« »Hat er nur den einen bekommen?« 458
»Heute morgen, ja. Aber er ist gestern abend angerufen worden, als er gerade an der Gästetafel zu Abend aß.« »Weißt du, wer ihn angerufen hat?« »Die Hotelangestellte, die das Gespräch angenommen hat, versichert, daß es eine Männerstimme war, die nach Monsieur Jean Martin fragte. Sie hat ihn von einer Kellnerin holen lassen, und als er an den Apparat kam, war niemand mehr am anderen Ende der Leitung. Das hat ihm den Abend verdorben. Ein paar Handelsvertreter hatten eine Party in irgendeinem Nachtlokal der Stadt organisiert. Es sollen auch einige hübsche Mädchen dabeigewesen sein. Martin hatte, um mit den anderen mitzuhalten, ein paar Gläser getrunken und sprach anscheinend die ganze Zeit von seiner Frau und seiner Tochter, denn die Kleine ist für ihn wie seine Tochter. Dennoch ist er mit seinen Freunden bis drei Uhr morgens weggeblieben. Ist das alles, was Sie wissen wollten, Chef?« Lucas konnte nicht umhin, neugierig hinzuzufügen: »Ist in Ihrem Viertel ein Verbrechen passiert? Sind Sie noch zu Hause?« »Bis jetzt ist es nur eine Geschichte vom Weihnachtsmann und von einer Puppe.« »Ach!« »Einen Augenblick noch. Könntest du versuchen, die Adresse des Direktors der Firma Zenith in der Avenue de l’Opéra zu bekommen? So etwas muß auch an einem Feiertag möglich sein, und außerdem 459
kann man annehmen, daß er bei sich zu Hause ist. Rufst du zurück?« »Sobald ich es herausbekommen habe.« Madame Maigret brachte ihm einen Pflaumenschnaps, den ihre Schwester ihr von Zeit zu Zeit aus dem Elsaß schickte; er lächelte ihr zu und war für einen Augenblick versucht, nicht mehr an diese alberne Geschichte zu denken und vorzuschlagen, den Nachmittag ganz ungestört im Kino zu verbringen. »Welche Farbe haben ihre Augen?« Er mußte sich bemühen, um zu verstehen, daß sie das kleine Mädchen meinte, welches das einzige war, was Madame Maigret an dem Fall interessierte. »Mein Gott, das könnte ich noch nicht einmal sagen. Braun sind sie sicher nicht. Sie hat blonde Haare.« »Nun, dann sind sie blau.« »Vielleicht. Sehr hell jedenfalls. Und ganz besonders ruhig.« »Weil sie die Dinge nicht so wie ein Kind betrachtet. Hat sie gelacht?« »Sie hatte keine Gelegenheit dazu.« »Ein richtiges Kind findet immer einen Anlaß zum Lachen. Es genügt, wenn es Zutrauen gefaßt hat und wenn man es in seiner Welt läßt. Ich mag diese Frau nicht.« »Ist dir Mademoiselle Doncœur lieber?« »Sie ist zwar eine alte Jungfer, aber ich bin sicher, daß sie besser mit der Kleinen umgehen kann als diese Madame Martin. Sie ist mir in den Geschäften begegnet. Sie gehört zu den Frauen, die beim Auswie460
gen aufpassen und mit mißtrauischem Blick das Geld Stück für Stück aus dem Portemonnaie nehmen, als wenn alle Welt versuchen würde, sie zu betrügen.« Sie wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen, fand aber noch die Zeit, zu wiederholen: »Ich mag diese Frau nicht.« Es war Lucas, der die Adresse von Monsieur Arthur Godefroy, Generalvertreter von Zenith-Uhren in Frankreich, durchgab. Er wohnte in einer großen Villa in Saint-Cloud, und Lucas hatte sich versichert, daß er zu Hause war. »Paul Martin ist hier, Chef.« »Hat man ihn zu dir gebracht?« »Ja. Er fragt sich, warum. Warten Sie, ich schließe die Tür. So! Jetzt kann er mich nicht mehr hören. Zuerst dachte er, seiner Tochter wäre irgend etwas zugestoßen, und er fing an zu weinen. Jetzt ist er wieder ruhig und hat einen fürchterlichen Kater. Was mache ich mit ihm? Soll ich ihn zu Ihnen schicken?« »Kann ihn jemand zu mir begleiten?« »Torrence ist gerade gekommen und wird nichts lieber tun, als etwas frische Luft zu schnappen. Ich glaube, auch er hat heute nacht tüchtig gefeiert. Brauchen Sie mich noch?« »Ja. Setz dich mit dem Kommissariat im PalaisRoyal in Verbindung. Vor ungefähr fünf Jahren ist ein gewisser Lorilleux spurlos verschwunden. Er hatte ein Geschäft, in dem er mit Schmuck und alten Münzen handelte. Ich möchte alle greifbaren Einzelheiten über diesen Fall wissen.« 461
Als Maigret seine Frau sah, die ihm gegenübersaß und zu stricken begonnen hatte, mußte er lächeln. Diese Untersuchung spielte sich wirklich in einem äußerst familiären Rahmen ab. »Soll ich zurückrufen?« »Ja. Ich werde wohl kaum weggehen.« Fünf Minuten später hatte er Monsieur Godefroy an der Strippe, der mit einem sehr ausgeprägten Schweizer Akzent sprach. Als von Jean Martin die Rede war, dachte er zuerst, daß seinem Handelsvertreter etwas zugestoßen sei, da man ihn an einem Weihnachtstag störte, und er erging sich in herzlichen Lobesreden über ihn. »Er ist ein so aufopfernder und fähiger junger Mann, daß ich ihn im nächsten Jahr, das heißt also in zwei Wochen, als Stellvertretenden Direktor bei mir hier in Paris behalten will. Kennen Sie ihn? Haben Sie einen wichtigen Grund, sich mit ihm zu beschäftigen?« Er brachte einige Kinder im Hintergrund zum Schweigen. »Entschuldigen Sie bitte. Die ganze Familie ist beisammen und …« »Sagen Sie, Monsieur Godefroy, wissen Sie, ob sich in den letzten Tagen jemand an Ihr Büro gewendet hat, um den Ort zu erfahren, an dem Monsieur Martin sich zur Zeit aufhält?« »Sicher.« »Können Sie mir Genaueres darüber sagen?« »Gestern morgen hat jemand im Büro angerufen 462
und mich persönlich verlangt. Ich war wegen der Feiertage sehr beschäftigt. Er hat wohl einen Namen genannt, aber ich hab ihn vergessen. Er wollte wissen, wo man Jean Martin wegen eines dringenden Telefongesprächs erreichen konnte, und ich hab keinen Grund gesehen, nicht zu sagen, daß er in Bergerac ist, wahrscheinlich im Hôtel de Bordeaux.« »Sind Sie noch etwas gefragt worden?« »Nein. Er hat sofort wieder aufgelegt.« »Ich danke Ihnen.« »Sind Sie sicher, daß nichts faul ist an der Sache?« Die Kinder klammerten sich wohl an ihn, und Maigret nutzte die Gelegenheit, um sich schnell zu verabschieden. »Hast du gehört?« »Das, was du gesagt hast, habe ich natürlich gehört, aber nicht das, was er geantwortet hat.« »Gestern morgen hat ein Mann im Büro angerufen, um herauszubekommen, wo Jean Martin ist. Sicher hat derselbe Mann abends in Bergerac angerufen, um sich zu vergewissern, daß er noch immer dort war, sich also in der Weihnachtsnacht nicht am Boulevard Richard-Lenoir aufhalten konnte.« »Und das ist der Mann, der in das Haus eingedrungen ist?« »Aller Wahrscheinlichkeit nach. Das beweist immerhin, daß es nicht Paul Martin war, denn der hätte diese beiden Telefonanrufe nicht nötig gehabt. Er könnte sich ohne weiteres bei seiner Schwägerin erkundigen.« 463
»So langsam begeisterst du dich dafür. Gib zu, du bist froh, daß diese Geschichte passiert ist.« Und, als er sich entschuldigen wollte: »Schon gut, das ist ganz natürlich! Ich interessiere mich doch auch dafür. Wie lange, glaubst du, muß die Kleine noch das Bein in Gips halten?« »Ich hab nicht gefragt.« »Ich frage mich, welche Komplikationen auftreten konnten.« Damit hatte sie, ohne es zu wissen, Maigret wieder auf eine neue Spur gebracht. »Was du da sagst, ist gar nicht so dumm.« »Was hab ich denn gesagt?« »Nun, da sie ja bereits seit zwei Monaten im Bett liegt, hat sie gute Aussichten, nicht mehr lange in Gips liegen zu müssen, falls nicht noch wirklich schwere Komplikationen auftreten.« »Wahrscheinlich wird sie anfangs mit Krücken gehen müssen.« »Darum geht es nicht. In einigen Tagen, oder spätestens in einigen Wochen, wird die Kleine also ihr Zimmer verlassen. Manchmal wird sie mit Madame Martin Spazierengehen. Das Feld wird frei sein, und jedermann wird mühelos in die Wohnung gelangen können, ohne sich als Weihnachtsmann zu verkleiden.« Die Lippen von Madame Maigret bewegten sich, da sie ihrem Mann zuhörte, ihn ruhig ansah und gleichzeitig ihre Maschen zählte. »Die Anwesenheit Colettes in dem Zimmer hat 464
den Mann zu einer List gezwungen. Sie liegt jetzt seit zwei Monaten im Bett. Er wartet vielleicht schon fast zwei Monate. Ohne die Komplikation, die die Genesung verzögert hat, hätte er bereits seit ungefähr drei Wochen an die Dielen herankommen können.« »Worauf willst du hinaus?« »Auf nichts. Ich meine nur, daß der Mann nicht länger warten konnte, daß er zwingende Gründe hatte, unverzüglich zu handeln.« »In einigen Tagen wird Martin von seiner Geschäftsreise zurück sein.« »Das stimmt.« »Was konnte man unter dem Fußboden wohl finden?« »Hat man tatsächlich etwas gefunden? Wenn der Besucher nichts gefunden hat, bleibt das Problem für ihn genauso dringend, wie es gestern war. Er wird also erneut handeln.« »Wie?« »Ich weiß es nicht.« »Sag mal, Maigret, hast du keine Angst um die Kleine? Glaubst du, daß sie bei dieser Frau drüben in Sicherheit ist?« »Ich könnte es sagen, wenn ich wüßte, wohin Madame Martin heute morgen unter dem Vorwand einzukaufen gegangen ist.« Er hob den Telefonhörer ab und rief noch einmal die Kriminalpolizei an. »Ich bin’s noch einmal, Lucas. Diesmal mußt du dich um Taxis kümmern. Ich möchte wissen, ob ein 465
Taxi heute morgen zwischen neun und zehn Uhr in der Nähe vom Boulevard Richard-Lenoir einen weiblichen Fahrgast aufgenommen hat, und wohin es gefahren ist. Warte! … Ja. Ich denke daran. Sie ist blond, wirkt etwas älter als dreißig, ist eher schlank, aber dabei kräftig. Sie trug ein graues Kostüm und einen kleinen beigen Hut. Sie hatte eine Einkaufstasche bei sich. Heute morgen waren bestimmt nicht sehr viele Wagen unterwegs.« »Ist Martin bei Ihnen?« »Noch nicht.« »Er wird nicht lange auf sich warten lassen. Was den anderen betrifft, diesen Lorilleux, so sind die Leute im Palais-Royal dabei, in den Archiven nachzuforschen. Sie werden die Auskunft jeden Augenblick bekommen.« Zu dieser Stunde nahm Jean Martin in Bergerac den Zug. Hielt die kleine Colette wohl ihren Mittagsschlaf? Hinter den Gardinen konnte man die Gestalt von Mademoiselle Doncœur erahnen, die sich wahrscheinlich fragte, womit sich Maigret gerade beschäftigte. Aus den Häusern kamen Leute, vor allem Familien mit Kindern, die ihr neues Spielzeug auf den Gehsteigen mit sich herumschleppten. Sicher stand man vor den Kinos Schlange. Ein Taxi fuhr vor. Dann waren Schritte auf der Treppe zu hören. Madame Maigret öffnete die Tür, bevor es geläutet hatte. Die laute Stimme von Torrence fragte: »Sind Sie da, Chef?« 466
Er schob einen Mann unbestimmbaren Alters ins Zimmer, der mit gesenktem Blick bescheiden an der Wand stehenblieb. Maigret holte zwei Gläser aus dem Schrank und füllte sie mit Pflaumenschnaps. »Zum Wohl«, sagte er. Der Mann, dessen Hand zitterte, zögerte und blickte erstaunt und beunruhigt auf. »Auf Ihr Wohl, Monsieur Martin. Ich bitte Sie um Entschuldigung, daß ich Sie hierher kommen ließ, aber nun sind Sie ganz in der Nähe, um Ihre Tochter zu besuchen.« »Ist ihr nichts passiert?« »Aber nein. Ich habe sie heute morgen gesehen, sie spielte ganz lieb mit ihrer neuen Puppe … Du kannst gehen, Torrence. Lucas hat bestimmt Arbeit für dich.« Madame Maigret war mit ihrem Strickzeug hinausgegangen und hatte sich im Schlafzimmer auf die Bettkante gesetzt, wobei sie immer noch ihre Maschen zählte. »Setzen Sie sich, Monsieur Martin.« Der Mann hatte sich nur die Lippen befeuchtet und dann sein Glas auf den Tisch gestellt, warf aber von Zeit zu Zeit einen unruhigen Blick darauf. »Machen Sie sich vor allem keine Sorgen, und sagen Sie sich, daß ich Ihre Geschichte kenne.« »Ich wollte Colette heute morgen besuchen«, seufzte der Mann. »Ich hatte mir geschworen, früh ins Bett zu gehen und rechtzeitig aufzustehen, um zu 467
ihr zu gehen und ihr ein frohes Weihnachtsfest zu wünschen.« »Auch das weiß ich.« »Es ist immer dasselbe. Ich schwöre mir, nur ein Glas zu trinken, gerade soviel, um mich zu stärken …« »Sie haben nur einen Bruder, Monsieur Martin?« »Jean, ja, er ist sechs Jahre jünger als ich. Zusammen mit meiner Frau und meiner Tochter ist er der einzige Mensch auf der Welt, den ich liebe.« »Ihre Schwägerin mögen Sie nicht?« Überrascht und verlegen zuckte er zusammen. »Ich kann nichts Schlechtes über Loraine sagen.« »Sie haben ihr Ihr Kind anvertraut, nicht wahr?« »Ja, das heißt, als meine Frau starb und ich anfing, den Halt zu verlieren …« »Ich verstehe. Ist Ihre Tochter glücklich?« »Ich glaube, ja. Sie beklagt sich nie.« »Haben Sie nicht versucht, wieder auf die Beine zu kommen?« »Jeden Abend gelobe ich mir, mit diesem Leben aufzuhören, und am nächsten Tag geht alles wieder von vorne los. Ich bin sogar zu einem Arzt gegangen, und er hat mir Ratschläge gegeben.« »Haben Sie sie befolgt?« »Ein paar Tage. Als ich wieder zu ihm ging, war er sehr in Eile. Er sagte mir, daß er keine Zeit habe, sich mit mir zu befassen, und ich solle besser in eine Spezialklinik gehen …« Zögernd streckte er die Hand nach seinem Glas 468
aus. Um ihm die Hemmungen zu nehmen, leerte Maigret ein volles Glas. »Ist es nie vorgekommen, daß Sie bei Ihrer Schwägerin einen Mann angetroffen haben?« »Nein. Ich glaube nicht, daß man ihr in dieser Beziehung etwas vorwerfen kann.« »Wissen Sie, wo Ihr Bruder sie kennengelernt hat?« »In einem kleinen Restaurant in der Rue de Beaujolais, in dem er seine Mahlzeiten einnahm, wenn er zwischen seinen Geschäftsreisen in Paris war. Es war ganz in der Nähe seines Büros und des Geschäfts, in dem Loraine arbeitete.« »Waren sie lange verlobt?« »Das weiß ich nicht genau. Jean war zwei Monate unterwegs, und als er zurückkam, kündigte er mir seine Hochzeit an.« »Waren Sie Trauzeuge bei Ihrem Bruder?« »Ja. Und Loraine hatte ihre damalige Hauswirtin als Trauzeugin. Sie hat keine Verwandten in Paris. Zu der Zeit war sie bereits Waise. Ist irgend etwas Schlimmes passiert …?« »Ich weiß es noch nicht. Ein Mann hat sich heute nacht, als Weihnachtsmann verkleidet, in Colettes Zimmer eingeschlichen.« »Hat er ihr nichts getan?« »Er hat ihr eine Puppe geschenkt. Als sie ihre Augen öffnete, war er gerade dabei, zwei Dielen aus dem Fußboden hochzuheben.« »Glauben Sie, daß ich anständig genug aussehe, um sie zu besuchen?« 469
»Einen Augenblick noch. Wenn Sie wollen, können Sie sich hier rasieren und kämmen. Ist Ihr Bruder jemand, der irgend etwas unter dem Fußboden verstecken würde?« »Er? Nie im Leben.« »Auch wenn er etwas vor seiner Frau zu verbergen hätte?« »Er verbirgt nichts vor ihr. Sie kennen ihn nicht. Wenn er nach Hause kommt, legt er ihr Rechenschaft ab wie einem Chef, und sie weiß genau, wieviel Taschengeld er hat.« »Ist sie eifersüchtig?« Der Mann antwortete nicht. »Sie täten gut daran, mir zu sagen, was Sie denken. Es geht nämlich um Ihre Tochter.« »Ich glaube nicht, daß Loraine so sehr eifersüchtig ist, aber sie ist selbstsüchtig. Wenigstens hielt meine Frau sie dafür. Meine Frau mochte sie nicht.« »Warum?« »Sie sagte, sie habe zu dünne Lippen, sie sei zu kühl, zu glatt und immer in Abwehrstellung. Ihrer Meinung nach hat sie sich Jean an den Hals geworfen wegen seiner Stellung, seiner Möbel, seiner Zukunftsaussichten.« »War sie arm?« »Sie spricht nie über ihre Familie. Nichtsdestoweniger haben wir herausbekommen, daß ihr Vater starb, als sie noch sehr klein war, und daß ihre Mutter Putzfrau war.« »In Paris?« 470
»Irgendwo im Quartier de la Glacière. Darum spricht sie nie von dem Viertel. Sie ist eine Person, die weiß, was sie will, wie meine Frau sagte.« »War sie Ihrer Ansicht nach die Geliebte ihres ehemaligen Chefs?« Maigret schüttete ihm etwas Schnaps ein. Der Mann sah ihn dankbar an, zögerte aber trotzdem, wohl wegen des Besuchs bei seiner Tochter, wegen seines Atems. »Ich werde Ihnen eine Tasse Kaffee kochen lassen. Ihre Frau hat sich wohl auch darüber ihre Meinung gebildet?« »Woher wissen Sie das? Glauben Sie, sie sprach nie schlecht über andere Leute. Aber gegen Loraine hatte sie eine fast körperliche Abneigung. Wenn wir meine Schwägerin treffen mußten, flehte ich meine Frau an, ihr Mißtrauen oder ihre Antipathie nicht zu zeigen. Es ist seltsam, daß ich mit Ihnen darüber spreche, so wie die Dinge jetzt liegen. Vielleicht war es nicht richtig, Colette bei ihr zu lassen? Manchmal mache ich mir Vorwürfe. Aber was hätte ich sonst tun können?« »Sie haben noch nicht meine Frage nach Loraines ehemaligem Chef beantwortet.« »Ja. Meine Frau meinte, daß sie sich wie Eheleute benahmen und daß es für Loraine praktisch war, einen Mann zu heiraten, der die meiste Zeit unterwegs ist.« »Wissen Sie, wo sie vor der Hochzeit gewohnt hatte?« 471
»In einer Straße, die auf den Boulevard Sébastopol führt, die erste Straße rechts, wenn man von der Rue de Rivoli zu den Boulevards geht. Ich erinnere mich daran, weil wir sie am Hochzeitstag mit dem Wagen dort abgeholt haben.« »Rue Pernelle?« »Genau. Das vierte oder fünfte Haus auf der linken Seite ist eine Pension, die ruhig und anständig wirkt. Dort wohnen vor allem Leute, die in dem Viertel arbeiten. Ich erinnere mich auch an ein paar Schauspielerinnen vom Châtelet.« »Wollen Sie sich rasieren, Monsieur Martin?« »Ich schäme mich. Und trotzdem, jetzt, da ich im Haus gegenüber meiner Tochter bin …« »Kommen Sie mit.« Er führte ihn durch die Küche, um das Schlafzimmer zu umgehen, in dem sich Madame Maigret aufhielt, gab ihm alles, was er brauchte, einschließlich einer Kleiderbürste. Als Maigret das Eßzimmer betrat, öffnete seine Frau die Tür einen Spalt und flüsterte: »Was macht er?« »Er rasiert sich.« Wieder einmal hob er den Telefonhörer ab, um den tüchtigen Lucas anzurufen, dem er weitere Arbeit für den Weihnachtstag auftrug. »Bist du im Büro unabkömmlich?« »Nicht, wenn Torrence hierbleibt. Ich habe die Informationen, um die Sie mich gebeten haben.« »Sofort. Du wirst in die Rue Pernelle sausen, wo 472
sich eine kleine Pension befinden muß. Ich habe sie, glaub ich, schon einmal gesehen, in einem der ersten Häuser zum Boulevard Sébastopol hin. Ich weiß nicht, ob die Besitzer in den letzten fünf Jahren gewechselt haben. Vielleicht treibst du jemanden auf, der vor fünf Jahren dort gearbeitet hat. Ich möchte alles über eine gewisse Loraine wissen …« »Loraine, und wie weiter?« »Einen Augenblick. Daran habe ich nicht gedacht.« Durch die Badezimmertür hindurch erkundigte er sich bei Martin nach dem Mädchennamen seiner Schwägerin. »Boitel!« rief dieser ihm zu. »Lucas? Es handelt sich um Loraine Boitel. Die Wirtin der Pension war Trauzeugin bei ihrer Hochzeit mit Martin. Loraine Boitel arbeitete zu der Zeit bei Lorilleux.« »Der vom Palais-Royal?« »Ja. Ich möchte wissen, ob sie ein Verhältnis miteinander hatten und ob er sie manchmal im Hotel besuchte. Das ist alles. Beeil dich. Es ist vielleicht dringender, als wir meinen. Was wolltest du mir noch sagen?« »Es betrifft den Fall Lorilleux. Er war ein merkwürdiger Mensch. Nach seinem Verschwinden hat man Nachforschungen angestellt. In der Rue Mazarine, wo er mit seiner Familie wohnte, galt er als ein ruhiger Kaufmann, der seine drei Kinder vorbildlich erzog. In seinem Geschäft im Palais-Royal gescha473
hen seltsame Dinge. Er verkaufte nicht nur Andenken von Paris und alte Münzen, sondern auch obszöne Bücher und Bilder.« »Das ist eine Spezialität dort.« »Ja. Es ist sogar nicht unbedingt sicher, daß sich dort nicht noch andere Dinge abgespielt haben. Es war die Rede von einer breiten Couch mit rotem Rips, die in dem Büro hinter dem Laden stand. Es gab keine Beweise, und man hat die Sache nicht weiter verfolgt, um so weniger, da man der Kundschaft, die zum großen Teil aus mehr oder weniger bedeutenden Personen bestand, keine Unannehmlichkeiten bereiten wollte.« »Und Loraine Boitel?« »Von ihr ist in dem Bericht kaum die Rede. Als Lorilleux verschwand, war sie bereits verheiratet. Sie wartete den ganzen Morgen über an der Ladentür. Es sieht nicht so aus, als hätte sie ihn am Vorabend nach Ladenschluß noch gesehen. Ich wollte gerade in dieser Angelegenheit telefonieren, als Langlois von der Finanzabteilung in mein Büro kam. Beim Namen Lorilleux wurde er hellhörig. Er sagte, er erinnere sich an etwas, und ging weg, um in seinen Akten nachzusehen. Sind Sie noch dran? Es ist nichts Bestimmtes. Nur, daß Lorilleux damals in den Akten geführt wurde, weil er häufig die Schweizer Grenze überschritt. Das war in der Zeit, als das Goldgeschäft blühte. Man behielt ihn im Auge. Er wurde zweioder dreimal an der Grenze durchsucht, ohne daß man etwas bei ihm finden konnte.« 474
»Geh schnell in die Rue Pernelle, mein lieber Lucas. Ich glaube mehr denn je, daß es eilig ist.« Paul Martin stand mit glattrasiertem Kinn im Türrahmen. »Ich bin ganz durcheinander. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.« »Sie gehen jetzt zu Ihrer Tochter, nicht wahr? Ich weiß nicht, wie lange Sie gewöhnlich bei ihr bleiben und wie Sie an die Sache herangehen. Was ich möchte, ist, daß Sie nicht von ihrer Seite weichen, bis daß ich Sie wieder abhole.« »Aber über Nacht werde ich wohl nicht bleiben können?« »Tun Sie das, wenn es sein muß. Richten Sie es irgendwie ein.« »Besteht eine Gefahr?« »Ich weiß es nicht, aber Ihr Platz ist bei Colette.« Der Mann trank gierig seine Tasse Kaffee und ging dann ins Treppenhaus. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, kam Madame Maigret ins Eßzimmer. »Er kann seine Tochter am Weihnachtstag nicht mit leeren Händen besuchen.« »Aber …« Maigret wollte wohl gerade antworten, daß sich hier im Hause keine Puppe befände, als sie ihm einen kleinen glänzenden Gegenstand reichte, einen goldenen Fingerhut, der seit Jahren in ihrem Nähkasten lag und den sie nie gebrauchte. »Gib ihm das. So etwas gefällt einem kleinen Mädchen immer. Beeil dich …« 475
Er rief von oben durch das Treppenhaus: »Monsieur Martin! … Monsieur Martin! … Einen Augenblick, bitte!« Er drückte ihm den Fingerhut in die Hand. »Sagen Sie ihr vor allen Dingen nicht, woher Sie ihn haben.« Maigret blieb auf der Schwelle zum Eßzimmer stehen und seufzte dann mürrisch: »Wann wirst du endlich damit aufhören, mich zum Weihnachtsmann zu machen!« »Ich wette, das wird ihr genauso gut gefallen wie die Puppe. Das ist nämlich ein Gegenstand für Erwachsene, verstehst du?« Man sah, wie Martin den Boulevard überquerte, einen Augenblick vor dem Haus stehenblieb, sich zu den Fenstern von Maigrets Wohnung umdrehte, als wollte er sich Mut machen. »Glaubst du, daß er wieder gesund wird?« »Ich zweifle daran.« »Wenn dieser Frau, dieser Madame Martin, etwas zustieße …« »Ja?« »Nichts. Ich denke an die Kleine. Ich frage mich, was aus ihr würde.« Mindestens zehn Minuten vergingen. Maigret hatte eine Zeitung aufgeschlagen, seine Frau hatte ihren Platz ihm gegenüber wieder eingenommen und strickte, wobei sie ihre Maschen zählte. Er stieß eine Rauchwolke aus und murmelte: »Dabei hast du noch nie mit ihr gesprochen!« 476
IV Später sollte Maigret in der Schublade, in die Madame Maigret alle herumliegenden Papiere stopfte, einen alten Briefumschlag wiederfinden, auf dessen Rückseite er im Lauf dieses Tages die Ereignisse mechanisch festgehalten hatte. Erst bei der Gelegenheit fiel ihm an der Untersuchung, die er fast von Anfang bis Ende von seiner Wohnung aus geführt hatte, etwas auf, was er später noch oft als Beispiel zitieren sollte. Im Gegensatz zu dem, was sonst so oft geschieht, gab es keinen eigentlichen Zufall, keine wirklich überraschende Wendung. So etwas spielte hier keine Rolle, aber das Glück hatte seine Hand nichtsdestoweniger, und sogar wiederholt, im Spiel, und zwar in dem Sinn, daß jede Information zur rechten Zeit und auf einfachstem, natürlichstem Wege eintraf. Es kommt vor, daß Dutzende von Inspektoren Tag und Nacht arbeiten, um eine Information von geringer Bedeutung zu bekommen. Zum Beispiel hätte Monsieur Arthur Godefroy, der Generalvertreter von Zenith in Frankreich, ebensogut in seine Geburtsstadt Zürich fahren können, um die Weihnachtsfeiertage dort zu verbringen. Er hätte ganz einfach nicht zu Hause sein können. Oder es wäre auch gut möglich gewesen, daß er von dem Telefongespräch, das am Vortag in seinem Büro wegen Jean Martin geführt worden war, nichts erfahren hätte. 477
Als Lucas etwas nach vier Uhr mit vor Kälte gespannter Haut und roter Nase ankam, hatte ein solch glücklicher Umstand mitgespielt. Gerade hatte sich ein dichter, gelblicher Nebel über Paris gelegt, was ziemlich selten vorkommt, und in allen Häusern brannte Licht; die Fenster längs des Boulevards sahen aus wie ferne Schiffslaternen; die Einzelheiten der Wirklichkeit waren so sehr verwischt, daß man darauf gefaßt war, das Nebelhorn wie am Meeresufer tuten zu hören. Aus dem einen oder anderen Grund – wahrscheinlich wegen einer Kindheitserinnerung – gefiel dies Maigret, genauso wie es ihm gefiel zu sehen, wie Lucas zu ihm hereinkam, seinen Mantel auszog, sich setzte und seine eiskalten Hände über den Ofen hielt. Lucas war fast eine Kopie von ihm, er war einen Kopf kleiner, hatte halb so breite Schultern und ein Gesicht, dem er nur mit Mühe einen strengen Ausdruck geben konnte. Nicht aus Wichtigtuerei, sondern durch Anpassung oder aus Bewunderung hatte er schließlich, vielleicht ohne sich dessen bewußt zu sein, seinen Chef in den kleinsten Gesten, in Haltung und Ausdrucksweise nachgeahmt, was hier noch mehr auffiel als im Büro. Selbst seine Angewohnheit, vor dem Trinken an dem Glas mit dem Pflaumenschnaps zu riechen … Die Wirtin der Pension in der Rue Pernelle war vor zwei Jahren bei einem Unfall in der Metro gestorben. Das hätte die Untersuchung behindern 478
können. Das Personal in solchen Häusern wechselt häufig, und es bestand wenig Hoffnung, dort jemanden zu finden, der Loraine aus jener Zeit vor fünf Jahren gekannt hätte. Doch das Glück war auf ihrer Seite. Lucas war auf den ehemaligen Nachtwächter, der jetzt die Pension führte, gestoßen, und der Zufall wollte es, daß dieser früher einmal mit der Sittenpolizei in Berührung gekommen war. »Es war einfach, ihn zum Sprechen zu bringen«, sagte Lucas und zündete sich eine Pfeife an, die für ihn viel zu groß war. »Es überraschte mich, daß er das Geld besaß, um von einem Tag auf den anderen das Haus zu kaufen, aber er dient, so erklärte er mir schließlich, als Strohmann für eine hochgestellte Persönlichkeit, die ihr Geld in derartige Geschäfte steckt, selbst aber nicht in Erscheinung treten will.« »Was für ein Haus ist das?« »Es sieht ordentlich aus. Ziemlich sauber. Im Zwischenstock befindet sich ein Büro. Einige Zimmer werden monatlich, andere wöchentlich vermietet. In der ersten Etage kann man auch Zimmer stundenweise mieten.« »Erinnert er sich an die junge Frau?« »Ziemlich gut, denn sie wohnte mehr als drei Jahre in dem Haus. Ich habe gemerkt, daß er sie nicht mochte, da sie furchtbar geizig war.« »Erhielt sie von Lorilleux Besuch?« »Bevor ich mich in die Rue Pernelle begab, ging ich im Kommissariat des Palais-Royal vorbei, um ei479
ne Fotografie von ihm aus den Akten mitzunehmen. Ich zeigte sie dem Pensionsinhaber, und er erkannte ihn sofort.« »Besuchte Lorilleux sie oft?« »Im Durchschnitt zwei- oder dreimal im Monat, immer mit Gepäck. Er kam gegen halb zwei morgens und ging um sechs Uhr wieder weg. Ich fragte mich zunächst, was das bedeuten könnte. Ich überprüfte den Zugfahrplan. Es fiel mit den Reisen zusammen, die er in die Schweiz machte. Für die Rückfahrt nahm er den Zug, der mitten in der Nacht ankommt, und ließ seine Frau in dem Glauben, er habe den Zug genommen, der um sechs Uhr morgens ankommt.« »Noch etwas?« »Nichts, außer daß Loraine geizig mit Trinkgeldern war und daß sie, obwohl es verboten war, abends in ihrem Zimmer auf einem Spirituskocher kochte.« »Keine anderen Männer?« »Nein. Abgesehen von der Sache mit Lorilleux führte sie ein geordnetes Leben. Als sie heiratete, bat sie die damalige Hauswirtin, ihre Trauzeugin zu sein.« Maigret hatte darauf bestanden, daß seine Frau im Schlafzimmer blieb, wo sie sich ganz still verhielt, so als wollte sie ihre Anwesenheit in Vergessenheit geraten lassen. Torrence lief draußen im Nebel von einem Taxistand zum anderen. Die beiden Männer warteten geduldig, jeder in seinem Sessel versunken, jeder die 480
gleiche Körperhaltung, ein Glas in Reichweite, und Maigret begann schläfrig zu werden. Mit den Taxis war es wie mit allem anderen. Manchmal stößt man sofort auf das Taxi, das man sucht; ein anderes Mal hat man mehrere Tage lang keinen Anhaltspunkt, vor allem, wenn es sich nicht um einen Wagen von einem Unternehmen handelt. Einige Fahrer haben keine feste Arbeitszeit und fahren auf gut Glück herum, und sie lesen nicht unbedingt die Mitteilungen der Polizei in der Zeitung. Nun, vor fünf Uhr rief Torrence von Saint-Ouen an. »Ich habe eins der Taxis gefunden«, verkündete er. »Wieso eins? Handelt es sich um mehrere?« »Ich habe allen Grund, das anzunehmen. Dieses Taxi hat die junge Dame heute morgen an der Ecke Boulevard Richard-Lenoir und Boulevard Voltaire aufgenommen und sie zur Rue de Maubeuge in die Nähe der Gare du Nord gefahren. Sie hat das Taxi nicht warten lassen.« »Ist sie in den Bahnhof hineingegangen?« »Nein. Sie ist vor einem Geschäft für Reiseartikel stehengeblieben, das an Sonn- und Feiertagen geöffnet hat. Der Chauffeur hat sich nicht mehr weiter um sie gekümmert.« »Wo ist er jetzt?« »Hier. Er ist eben zurückgekommen.« »Schickst du ihn zu mir? Er kann seinen eigenen Wagen oder einen anderen nehmen, aber er soll so 481
schnell wie möglich herkommen. Du mußt noch den Chauffeur finden, der sie zurückgebracht hat.« »In Ordnung, Chef. Ich werde nur eben einen Kaffee mit Schuß trinken; es ist nämlich verdammt kalt.« Maigret warf einen Blick auf die andere Seite der Straße und bemerkte einen Schatten am Fenster von Mademoiselle Doncœur. »Versuch doch mal, im Telefonbuch ein Geschäft für Reiseartikel zu finden, das gegenüber von der Gare du Nord liegt.« Lucas brauchte dafür nur wenige Minuten, und Maigret rief dort an. »Hallo! Hier Kriminalpolizei. Bei Ihnen muß heute morgen kurz vor zehn Uhr eine Kundin etwas gekauft haben, wahrscheinlich einen Koffer. Eine blonde, junge Frau in einem grauen Kostüm, mit einer Einkaufstasche in der Hand. Erinnern Sie sich an sie?« Machte vielleicht die Tatsache, daß das alles an einem Weihnachtstag passierte, die Dinge so einfach? Der Verkehr war weniger lebhaft, und es wurde kaum etwas gekauft. Darüber hinaus neigen die Menschen dazu, sich mit größerer Genauigkeit an Ereignisse zu erinnern, die an einem Tag passieren, der sich von den anderen Tagen abhebt. »Ich selbst habe sie bedient. Sie erklärte mir, daß sie dringend zu ihrer kranken Schwester nach Cambrai fahren müsse und darum keine Zeit habe, bei sich zu Hause vorbeizugehen. Sie verlangte einen bil482
ligen Koffer aus Kunststoff, einen von denen, die wir an beiden Seiten der Eingangstür aufgestapelt haben. Sie nahm die mittlere Ausführung, zahlte und ging in die Bar nebenan. Etwas später stand ich in der Ladentür und sah sie mit dem Koffer in Richtung Bahnhof gehen.« »Sind Sie allein in dem Geschäft?« »Ich habe einen Verkäufer angestellt.« »Können Sie sich auf eine halbe Stunde freimachen? Springen Sie in ein Taxi, und kommen Sie zu mir nach Hause!« »Ich nehme an, Sie werden die Fahrt bezahlen? Soll ich das Taxi warten lassen?« »Ja, lassen Sie es warten.« Den Notizen auf dem Briefumschlag zufolge war es fünf Uhr fünfzig, als der Fahrer des ersten Taxis kam. Er war etwas überrascht, daß er in einer Privatwohnung empfangen wurde, da es sich ja um eine Angelegenheit der Polizei handelte. Aber er erkannte Maigret und schaute sich neugierig im Zimmer um, sichtlich an dem Rahmen interessiert, in dem der berühmte Kommissar lebte. »Sie gehen jetzt in das Haus genau gegenüber in den dritten Stock. Wenn die Concierge sie am Eingang anhält, sagen Sie ihr, Sie gehen zu Madame Martin.« »Madame Martin, in Ordnung.« »Sie klingeln an der Tür am Ende des Flurs. Wenn Ihnen eine blonde Frau die Tür öffnet, die Sie wiedererkennen, erfinden Sie irgendeine Ausrede. Sagen 483
Sie ihr, daß Sie sich in der Etage geirrt haben, oder sonst irgend etwas. Wenn jemand anders öffnet, verlangen Sie Madame Martin persönlich.« »Und dann?« »Nichts. Sie kommen hierher zurück und bestätigen mir, daß das die Person ist, die Sie heute morgen in die Rue de Maubeuge gefahren haben.« »In Ordnung, Kommissar.« Als die Tür geschlossen wurde, hatte Maigret, ohne es zu wollen, ein Lächeln auf den Lippen. »Beim ersten wird sie unruhig werden. Beim zweiten, sofern alles gutgeht, wird sie Panik ergreifen. Beim dritten, falls Torrence ihn ausfindig macht ….« Nun gut! Es klappte alles wie am Schnürchen. Torrence rief an: »Ich glaube, ich habe ihn gefunden, Chef. Ich habe einen Chauffeur ausfindig gemacht, der an der Gare du’Nord eine junge Frau aufgenommen hat, auf die die Beschreibung paßt; aber er hat sie nicht zum Boulevard Richard-Lenoir zurückgefahren. Sie hat sich an der Ecke Boulevard Beaumarchais/Rue du Chemin-Vert absetzen lassen.« »Schick ihn schnell zu mir.« »Aber er hat einige Gläser drin.« »Egal. Wo bist du?« »Am Taxistand Barbès.« »Dann ist es für dich kein zu großer Umweg, wenn du an der Gare du Nord vorbeigehst. Du sprichst bei der Gepäckaufbewahrung vor. Leider wird nicht derselbe Angestellte da sein wie heute 484
morgen. Sieh nach, ob sich dort ein neuer, kleiner Kunststoffkoffer befindet. Er kann nicht schwer sein und wurde heute morgen zwischen halb zehn und zehn Uhr aufgegeben. Schreib die Nummer auf. Ohne Vollmacht wird man ihn dir nicht geben. Aber frage nach dem Namen und der Adresse des Angestellten, der heute morgen Dienst hatte.« »Was soll ich dann machen?« »Ruf mich an. Ich warte auf deinen zweiten Chauffeur. Wenn er angetrunken ist, schreib ihm meine Adresse auf ein Stück Papier, damit er den Weg nicht verfehlt.« Madame Maigret war in die Küche gegangen, wo sie gerade das Abendessen zubereitete. Sie hatte nicht zu fragen gewagt, ob Lucas mit ihnen essen würde. War Paul Martin immer noch gegenüber bei seiner Tochter? Hatte Madame Martin versucht, ihn loszuwerden? Als es an der Tür klingelte, war nicht nur ein Mann auf dem Flur, sondern zwei, die sich nicht kannten und sich erstaunt ansahen. Der erste Taxifahrer kam bereits vom Haus gegenüber zurück und traf im Treppenhaus von Maigret den Besitzer des Koffergeschäftes. »Haben Sie sie wiedererkannt?« »Nicht nur ich habe sie wiedererkannt, sondern auch sie hat mich wiedererkannt. Sie ist blaß geworden und hat schnell eine Tür zugemacht, die zu einem Zimmer führte. Dann hat sie mich gefragt, was ich von ihr wolle.« 485
»Was haben Sie geantwortet?« »Daß ich mich in der Etage geirrt hätte. Ich merkte, daß sie überlegte, ob sie mich bestechen sollte, und ich ließ ihr lieber keine Zeit dazu. Von unten hab ich gesehen, daß sie an ihrem Fenster stand. Sie hat sicher gesehen, daß ich hier hineingegangen bin.« Der Besitzer des Geschäfts für Reiseartikel verstand nichts. Er war ein Mann mittleren Alters mit Glatze und von heuchlerischer Freundlichkeit. Als der Taxifahrer gegangen war, erklärte ihm Maigret, was er zu tun hatte. Er brachte Einwände vor und wiederholte mehrmals: »Das ist eine Kundin, verstehen Sie? Es ist sehr heikel, eine Kundin zu hintergehen.« Schließlich erklärte er sich dazu bereit, aber aus Vorsicht schickte Maigret ihm Lucas hinterher, denn er hätte unterwegs seine Meinung ändern können. In weniger als zehn Minuten waren sie wieder zurück. »Ich möchte bemerken, daß ich nur auf Ihren Befehl hin und unter Zwang gehandelt habe.« »Haben Sie sie wiedererkannt?« »Werde ich unter Eid aussagen müssen?« »Höchstwahrscheinlich.« »Das wird meinem Geschäft schaden. Die Leute, die im letzten Moment Gepäckstücke kaufen, wollen manchmal nicht, daß man über ihr Kommen und Gehen spricht.« »Vielleicht wird man sich in diesem Fall mit Ihrer 486
Aussage vor dem Untersuchungsrichter zufriedengeben.« »Nun gut! Sie ist es. Sie ist zwar etwas anders gekleidet, aber ich habe sie wiedererkannt.« »Hat sie Sie auch wiedererkannt?« »Sie hat mich sofort gefragt, von wem ich komme.« »Was haben Sie geantwortet?« »Ich weiß es nicht mehr. Ich war sehr verlegen. Daß ich mich in der Tür geirrt hätte …« »Hat sie Ihnen etwas angeboten?« »Was meinen Sie damit? Sie hat mich nicht einmal aufgefordert, mich zu setzen. Das wäre noch unangenehmer gewesen.« Während der Taxifahrer nichts verlangt hatte, bestand dieser hier, dessen Geschäft wahrscheinlich sehr gut ging, auf einer Entschädigung für die verlorene Zeit. »Jetzt warten wir noch auf den Dritten, mein lieber Lucas.« Madame Maigret wurde unterdessen langsam nervös. Sie gab ihrem Mann von der Tür aus unauffällige Zeichen, ihr in die Küche zu folgen. Dort flüsterte sie: »Bist du sicher, daß der Vater immer noch gegenüber ist?« »Warum?« »Ich weiß nicht. Ich verstehe nicht so ganz, was du im Sinn hast. Wenn ich an die Kleine denke, hab ich etwas Angst …« 487
Die Nacht war schon hereingebrochen. Einige Familien waren wieder nach Hause gekommen. Nur wenige Fenster im Haus gegenüber blieben dunkel, und man konnte immer noch den Schatten von Mademoiselle Doncœur am Fenster erkennen. Maigret, der noch immer ohne Schlips und Kragen war, zog sich fertig an, während er auf den zweiten Taxifahrer wartete. Er rief Lucas zu: »Bediene dich. Hast du keinen Hunger?« »Ich bin vollgestopft mit Sandwichs, Chef. Ich habe nur einen Wunsch, wenn wir weggehen: ein Glas Bier, frisch vom Faß.« Der zweite Taxifahrer tauchte um zwanzig nach sechs auf. Um sechs Uhr fünfunddreißig kam er mit lüsternem Blick aus dem anderen Haus zurück. »Im Morgenrock sieht sie noch besser aus als im Kostüm«, sagte er schmierig. »Sie hat mich genötigt hineinzugehen und hat mich gefragt, wer mich zu ihr schicke. Da ich nicht wußte, was ich ihr antworten sollte, hab ich ihr gesagt, ich käme vom Direktor der Folies Bergère. Sie wurde wütend. Trotzdem, sie ist eine Klassefrau. Ich weiß nicht, ob sie ihre Beine gesehen haben …« Es war schwierig, ihn loszuwerden, und es gelang erst, nachdem er ein Glas von dem Pflaumenschnaps bekommen hatte, zu dem er gierig hinschielte. »Was wollen Sie tun, Chef?« Selten hatte Lucas erlebt, daß Maigret so vorsichtig handelte und seinen entscheidenden Schlag so sorgfältig vorbereitete, als rüste er sich für einen har488
ten Kampf. Dabei handelte es sich nur um eine Frau, um eine Kleinbürgerin von unauffälligem Äußeren. »Glauben Sie, daß sie sich noch verteidigen wird?« »Bis zum Letzten … Und dazu eiskalt.« »Worauf warten Sie?« »Auf den Anruf von Torrence.« Der Anruf kam pünktlich. Das Ganze war wie eine genau festgelegte Partitur. »Der Koffer ist hier. Er muß fast leer sein. Wie Sie vorausgesehen haben, wollen sie ihn mir nicht ohne Vollmacht geben. Was den Angestellten angeht, der heute morgen Dienst hatte: er wohnt in einem Vorort in der Nähe von La Varenne-SaintHilaire.« Man hätte meinen können, daß die Sache diesmal einen Haken hatte, daß es auf jeden Fall eine Verzögerung geben würde. Aber Torrence fuhr fort: »Nur lohnt es sich nicht, dorthin zu fahren. Nach Feierabend spielt er nämlich Trompete in einem Tanzlokal in der Rue de Lappe.« »Geh und hol ihn her.« »Soll ich ihn zu Ihnen nach Hause bringen?« Vielleicht hatte schließlich auch Maigret nichts gegen ein frisches Glas Bier. »Nein, komm mit ihm ins Haus gegenüber in die dritte Etage, zu Madame Martin. Ich werde dort sein.« Diesmal nahm er seinen dicken Mantel vom Haken, stopfte sich eine Pfeife und sagte zu Lucas: »Komm mit.« 489
Madame Maigret lief ihm nach, um ihn zu fragen, wann er zum Essen käme. Er zögerte mit der Antwort und lächelte dann. »Wie gewöhnlich«, sagte er nicht gerade beruhigend. »Paß gut auf die Kleine auf!«
V Abends um zehn Uhr hatten sie noch kein greifbares Ergebnis erhalten. In dem Haus schlief bestimmt noch niemand. Nur Colette war schließlich eingeschlafen, bewacht von ihrem Vater, der immer noch in der Dunkelheit am Kopfende ihres Betts saß. Um halb acht war Torrence zusammen mit dem Angestellten der Gepäckaufbewahrung angekommen, und der Mann, der nach Dienstschluß als Musiker auftrat, hatte, genau wie die anderen, ohne zu zögern erklärt: »Das ist sie. Ich sehe sie noch, wie sie den Aufbewahrungsschein nicht in ihre Handtasche, sondern in ihre Einkaufstasche aus grobem Leinen steckte.« Die Tasche wurde aus der Küche geholt. »Genau die ist es. Jedenfalls ist es die gleiche Form und die gleiche Farbe.« In der Wohnung war es sehr warm. Sie sprachen halblaut, so als hätten sie sich wegen der Kleinen, die nebenan schlief, abgesprochen. Niemand hatte gegessen oder auch nur daran gedacht, es zu tun. Bevor Maigret und Lucas hinaufgegangen waren, hatten sie 490
jeder zwei Halbe in einem kleinen Café auf dem Boulevard Voltaire getrunken. Nach dem Besuch des Musikers hatte Maigret Torrence in den Flur gezogen und ihm leise seine Anweisungen gegeben. Anscheinend gab es in der ganzen Wohnung keine einzige Ecke und keinen Winkel, der nicht untersucht worden war. Sogar die Bilderrahmen von Martins Eltern waren abgehängt worden, um sich zu vergewissern, daß der Gepäckaufbewahrungsschein nicht unter die Pappe geschoben worden war. Das Geschirr war aus dem Schrank genommen worden und türmte sich nun auf dem Küchentisch, und selbst den Vorratsschrank hatte man ausgeräumt. Madame Martin war immer noch im hellblauen Morgenrock, wie die beiden Männer sie angetroffen hatten. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen, und zusammen mit dem Rauch der Pfeifen bildete das eine dicke Wolke, die sich um die Lampe legte. »Es steht Ihnen frei, nichts zu sagen und auf keine Frage zu antworten. Ihr Mann wird um elf Uhr siebzehn ankommen, und vielleicht sind Sie in seiner Gegenwart gesprächiger.« »Er weiß nicht mehr als ich.« »Weiß er genausoviel wie Sie?« »Es gibt nichts zu wissen. Ich habe Ihnen alles gesagt.« Sie hatte sich damit begnügt, alles abzustreiten. In einem einzigen Punkt hatte sie nachgegeben. Als die Sprache auf das möblierte Zimmer in der Rue Per491
nelle kam, hatte sie zugegeben, daß ihr ehemaliger Chef sie zwei- oder dreimal zufällig während der Nacht besucht hatte. Dennoch behauptete sie, daß zwischen ihnen nie intime Beziehungen bestanden hätten. »Mit anderen Worten, er kam um ein Uhr morgens geschäftlich zu Ihnen?« »Er stieg aus dem Zug und hatte oft große Geldsummen bei sich. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß er manchmal mit Gold handelte. Ich habe nichts damit zu tun. Sie können mich deswegen nicht belangen.« »Hatte er eine große Summe in seinem Besitz, als er verschwand?« »Das weiß ich nicht. Er weihte mich nicht immer in diese Geschäfte ein.« »Trotzdem kam er nachts in Ihr Zimmer, um mit Ihnen darüber zu sprechen?« Was ihr Kommen und Gehen während des Vormittags anging, so leugnete sie noch immer, obwohl die Tatsachen gegen sie sprachen, und behauptete, die Personen, die Maigret zu ihr geschickt hatte, die zwei Taxifahrer, den Kofferhändler und den Angestellten der Gepäckaufbewahrung, noch nie gesehen zu haben. »Wenn ich tatsächlich an der Gare du Nord ein Gepäckstück zur Aufbewahrung gegeben habe, müssen Sie den Schein finden.« Maigret war fast sicher, daß man ihn nicht im Haus finden würde, auch nicht in Colettes Zimmer, 492
das er durchsucht hatte, bevor die Kleine eingeschlafen war. Er hatte sogar an den Gips gedacht, der das Bein des Kindes umschloß, jedoch in letzter Zeit nicht erneuert worden war. »Morgen«, sagte sie unfreundlich, »werde ich eine Klage einreichen. Meine Nachbarin hat das alles durch ihre Boshaftigkeit heraufbeschworen. Ich hatte allen Grund, ihr heute morgen zu mißtrauen, als sie mich unbedingt zu Ihnen schleppen wollte.« Sie warf häufig einen ängstlichen Blick auf den Wecker, der auf dem Kamin stand, und dachte offensichtlich an die Rückkehr ihres Mannes; aber trotz ihrer Ungeduld vermochte keine Frage sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Geben Sie zu, daß der Mann, der in der letzten Nacht hier war, nichts unter dem Fußboden gefunden hat, weil Sie das Versteck gewechselt haben!« »Ich weiß nicht einmal, ob sich jemals etwas unter dem Fußboden befunden hat.« »Als Sie erfuhren, daß der Mann hier gewesen war und das, was Sie verstecken, wieder in seinen Besitz bringen wollte, haben Sie an die Gepäckaufbewahrung gedacht, wo Ihr Schatz in Sicherheit sein würde.« »Ich bin nicht zur Gare du Nord gefahren. Es gibt Tausende von blonden Frauen in Paris, auf die meine Beschreibung paßt.« »Was haben Sie mit dem Aufbewahrungsschein gemacht? Er ist nicht hier. Ich bin überzeugt davon, 493
daß er nicht hier in der Wohnung versteckt ist, aber ich glaube, ich weiß, wo wir ihn finden werden.« »Sie sind sehr schlau.« »Setzen Sie sich an diesen Tisch!« Er reichte ihr ein Blatt Papier und einen Füllfederhalter. »Schreiben Sie!« »Was soll ich schreiben?« »Ihren Namen und Ihre Adresse.« Sie tat es, nicht ohne zu zögern. »Heute nacht werden alle Briefe, die in diesem Viertel in den Kasten geworfen wurden, untersucht, und ich wette, daß sich darunter einer mit Ihrer Schrift befindet. Wahrscheinlich haben Sie ihn an sich selbst adressiert.« Er beauftragte Lucas, mit dem Inspektor zu telefonieren, um Untersuchungen in dieser Richtung zu veranlassen. In Wirklichkeit versprach er sich keinen Erfolg davon, aber der Schlag hatte gesessen. »Wissen Sie, meine Liebe, das ist klassisch!« Zum ersten Mal nannte er sie so, wie er es am Quai des Orfèvres getan hätte, und sie warf ihm einen wütenden Blick zu. »Geben Sie zu, daß Sie mich hassen!« »Ich gestehe, daß ich für Sie keine sehr starken Sympathien empfinde.« Sie waren jetzt alleine im Eßzimmer, in dem Maigret mit langsamen Schritten herumging, während sie am Tisch sitzenblieb. »Wenn es Sie interessiert, möchte ich noch bemer494
ken, daß mich nicht das, was Sie getan haben, so sehr erschüttert, sondern Ihre Kaltblütigkeit. Mir sind schon viele Männer und Frauen über den Weg gelaufen. Wir sind nun schon seit drei Stunden zusammen, und man kann wohl sagen, daß Sie seit heute morgen das Gefühl haben müssen, am Ende zu sein. Sie haben noch nicht einmal Ihre Beherrschung verloren. Ihr Mann wird heimkommen, und Sie werden versuchen, das Opfer zu spielen. Dabei wissen Sie, daß wir früher oder später unweigerlich die Wahrheit herausbekommen werden.« »Wozu soll Ihnen das nützen? Ich habe nichts getan.« »Warum verheimlichen Sie dann etwas? Warum lügen Sie?« Sie antwortete nicht, sondern dachte nach. Sie verlor nicht die Nerven, wie es bei den meisten der Fall war. Ihr Verstand versuchte einen Ausweg zu finden und wog das Für und Wider ab. »Ich werde nichts sagen«, erklärte sie schließlich und setzte sich in einen Sessel, wobei sie ihren Morgenrock über ihre Knie zog. »Wie Sie wollen.« Er ließ sich bequem ihr gegenüber in einen anderen Sessel fallen. »Wie lange gedenken Sie bei mir zu bleiben?« »Auf jeden Fall bis zur Rückkehr Ihres Mannes.« »Werden Sie ihm von den Besuchen von Monsieur Lorilleux in der Pension erzählen?« »Wenn es sein muß.« 495
»Sie sind ein Scheusal! Jean weiß nichts, er hat nichts mit dieser Sache zu tun.« »Er ist unglücklicherweise Ihr Mann.« Als Lucas wieder heraufkam, saßen sich die beiden schweigend gegenüber und warfen sich unauffällig Blicke zu. »Janvier kümmert sich um den Brief, Chef. Ich habe Torrence unten getroffen. Er sagte mir, daß der Mann bei dem Weinhändler zwei Häuser weiter gewesen sei.« Sie sprang auf. »Welcher Mann?« Und Maigret antwortete ungerührt: »Derjenige, der in der letzten Nacht hierher gekommen ist. Ich nehme an, daß Sie darauf gefaßt waren, daß er wiederkommen würde, da er nichts gefunden hat. Vielleicht wird er diesmal in einer anderen Stimmung sein?« Entsetzt schaute sie auf die Uhr. Es blieben nur noch zwanzig Minuten bis zur Ankunft des Zuges aus Bergerac. Wenn ihr Mann ein Taxi nahm, konnte sie alles in allem mit einer Frist von nicht mehr als vierzig Minuten rechnen. »Wissen Sie, wer es ist?« »Ich ahne es. Ich könnte hinuntergehen, um mich zu vergewissern. Es ist natürlich Lorilleux, der darauf brennt, sein Geld wieder in seinen Besitz zu bringen.« »Das ist nicht sein Geld.« »Nehmen wir an, daß er es, zu Recht oder zu 496
Unrecht, als sein Geld betrachtet. Dieser Mann muß wohl auf dem trockenen sitzen. Er hat sie zweimal besucht, ohne das zu bekommen, was er wollte. Er ist, als Weihnachtsmann verkleidet, wiedergekommen, und er wird noch einmal wiederkommen. Er wird sehr überrascht sein, Sie in unserer Gesellschaft anzutreffen, und ich bin überzeugt davon, daß er gesprächiger sein wird als Sie. Entgegen der allgemeinen Annahme sprechen die Männer viel leichter als die Frauen. Glauben Sie, daß er bewaffnet ist?« »Ich weiß es nicht.« »Meiner Meinung nach ist er es. Er hat lange genug gewartet. Ich weiß nicht, was Sie ihm erzählt haben, aber letztlich glaubt er es Ihnen nicht. Er ist übrigens ein übler Kerl, dieser Herr. Es gibt nichts Brutaleres als diese Feiglinge, wenn sie zu etwas wild entschlossen sind.« »Hören Sie auf!« »Sollen wir uns zurückziehen, damit Sie ihn alleine empfangen können?« In Maigrets Notizen konnte man lesen: »Zehn Uhr achtunddreißig – sie spricht.« Aber von dieser ersten Aussage wurde kein Protokoll angefertigt. Es waren abgehackte Sätze, die sie mechanisch hervorbrachte, und oft sprach Maigret, manchmal auf gut Glück, an ihrer Stelle weiter, während sie nicht widersprach oder sich damit begnügte, ihn zu verbessern. »Was wollen Sie wissen?« 497
»Ist Geld in dem Koffer, den Sie bei der Gepäckaufbewahrung aufgegeben haben?« »Banknoten. Etwas weniger als eine Million.« »Wem gehört diese Summe? Lorilleux?« »Sie gehört genausowenig Lorilleux wie mir.« »Gehört sie seinen Kunden?« »Einem gewissen Julien Boissy, der oft ins Geschäft kam.« »Was ist aus ihm geworden?« »Er ist tot.« »Wie ist er gestorben?« »Er ist ermordet worden.« »Von wem?« »Von Monsieur Lorilleux.« »Warum?« »Weil ich ihn habe glauben lassen, daß ich mit ihm weggehen würde, wenn er über eine große Summe verfügte.« »Waren Sie da schon verheiratet?« »Ja.« »Lieben Sie Ihren Mann nicht?« »Ich verabscheue Mittelmäßigkeit. Ich war mein ganzes Leben lang arm. In meinem ganzen Leben habe ich nur von Geld und von notwendigen Entbehrungen sprechen hören. In meinem ganzen Leben wurde um mich herum nur gerechnet, und auch ich mußte rechnen.« Sie griff Maigret an, als wäre er verantwortlich für ihre Schwierigkeiten. »Wären Sie mit Lorilleux weggegangen?« 498
»Ich weiß es nicht. Vielleicht für eine gewisse Zeit.« »Um ihm dann sein Geld abzunehmen?« »Ich hasse Sie!« »Wie ist der Mord begangen worden?« »Monsieur Boissy war Stammkunde im Geschäft.« »Ein Liebhaber erotischer Bücher?« »Er war verdorben, wie die anderen, wie Monsieur Lorilleux, wie Sie wahrscheinlich auch. Er war Witwer und wohnte alleine in einem Hotelzimmer; aber er war sehr reich, auch sehr geizig. Alle reichen Leute sind geizig.« »Trotzdem sind Sie nicht reich.« »Ich wäre es geworden.« »Wenn Lorilleux nicht zurückgekommen wäre. Wie ist Boissy gestorben?« »Er hatte Angst vor einer Geldentwertung und wollte Gold haben, wie jeder damals. Monsieur Lorilleux handelte damit und fuhr zu diesem Zweck regelmäßig in die Schweiz. Er ließ sich im voraus bezahlen. Eines Nachmittags brachte Monsieur Boissy eine große Summe in das Geschäft. Ich war gerade nicht dort. Ich war einkaufen gegangen.« »Absichtlich?« »Nein.« »Und Sie ahnten nicht, was passieren würde?« »Nein. Versuchen Sie nicht, mir das in den Mund zu legen. Sie vergeuden nur Ihre Zeit damit. Nur, als ich zurückkam, war Monsieur Lorilleux gerade dabei, die Leiche in einer großen Kiste zu verstauen, die er zu diesem Zwecke gekauft hatte.« 499
»Haben Sie ihn erpreßt?« »Nein.« »Wie erklären Sie die Tatsache, daß er verschwand, nachdem er Ihnen das Geld gegeben hatte?« »Ich habe ihm Angst gemacht.« »Indem Sie ihm mit einer Anzeige drohten?« »Nein. Ich habe ihm nur gesagt, daß Nachbarn mich etwas seltsam angeschaut hätten und daß es vielleicht ratsamer wäre, das Geld für einige Zeit in Sicherheit zu bringen. Ich erzählte ihm von einer Diele im Fußboden meiner Wohnung, die man leicht hochheben und wieder an ihren Platz tun könnte. Er dachte, es wäre nur für einige Tage. Zwei Tage später schlug er mir vor, mit ihm über die belgische Grenze zu gehen.« »Haben Sie abgelehnt?« »Ich habe ihm eingeredet, daß ein Mann, der auf mich den Eindruck eines Polizeiinspektors gemacht habe, mich auf der Straße angehalten und mir Fragen gestellt habe. Da hat er es mit der Angst bekommen. Ich habe ihm einen kleinen Teil des Geldes gegeben und ihm versprochen, ihm nach Brüssel nachzukommen, sobald die Gefahr vorüber wäre.« »Was hat er mit Boissys Leiche gemacht?« »Er hat sie in ein kleines Haus gebracht, das er auf dem Land an der Marne besaß, und dort, so vermute ich, hat er sie vergraben oder in den Fluß geworfen. Er ist mit einem Taxi dorthin gefahren. Später hat niemand mehr von Boissy gesprochen. Niemand hat sich über sein Verschwinden beunruhigt.« 500
»Haben Sie es fertiggebracht, Lorilleux alleine nach Belgien zu schicken?« »Das war einfach.« »Und Sie konnten ihn fünf Jahre von hier fernhalten?« »Ich schrieb ihm postlagernd, daß er gesucht würde und daß die Zeitungen nichts darüber schrieben, weil man ihn in eine Falle locken wolle. Ich teilte ihm mit, daß ich ständig von der Polizei verhört würde. Ich hab ihn sogar nach Südamerika geschickt …« »Vor zwei Monaten ist er wieder zurückgekommen?« »Ungefähr. Er war am Ende.« »Haben Sie ihm kein Geld geschickt?« »Sehr wenig.« »Warum?« Sie antwortete nicht, sondern schaute auf die Uhr. »Werden Sie mich festnehmen? Wie lautet die Anklage? Ich habe nichts gemacht. Ich habe Boissy nicht getötet. Ich war nicht da, als er starb. Ich habe nicht geholfen, seine Leiche zu verstecken.« »Machen Sie sich über Ihr Schicksal keine Sorgen! Sie haben das Geld behalten, weil Sie Ihr ganzes Leben Jang etwas besitzen wollten, nicht um es auszugeben, sondern um sich reich zu fühlen, vor Armut geschützt.« »Das ist meine Sache.« »Als Lorilleux zu Ihnen kam und Sie bat, ihm zu helfen oder Ihr Versprechen, mit ihm zu fliehen, zu 501
halten, haben Sie Colettes Unfall als Vorwand benutzt, nicht an das Versteck herankommen zu können. Ist das richtig? Sie haben versucht, ihn wieder dazu zu bewegen, ins Ausland zu gehen.« »Er hat sich in Paris versteckt.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem seltsamen, unfreiwilligen Lächeln, und sie konnte es nicht unterlassen zu murmeln: »Dieser Dummkopf! Er hätte jedem seinen Namen sagen können, ohne Angst haben zu müssen!« »Nichtsdestoweniger hatte er die Idee mit dem Weihnachtsmann.« »Nur, daß das Geld nicht mehr unter dem Fußboden war. Es war hier, vor seiner Nase, in meinem Nähkasten. Er hätte nur den Deckel hochheben müssen.« »In zehn oder fünfzehn Minuten wird Ihr Mann hier sein, und Lorilleux, der sich gegenüber aufhält, weiß das wahrscheinlich, da er sich erkundigt hat; er weiß, daß Martin in Bergerac war, und er wird wohl den Fahrplan studiert haben. Sicherlich ist er damit beschäftigt, sich Mut zu machen. Es würde mich wundern, wenn er nicht bewaffnet wäre. Möchten Sie auf die beiden warten?« »Nehmen Sie mich mit! Ich brauche mir nur ein Kleid überzuziehen …« »Und der Gepäckaufbewahrungsschein?« »Postlagernd am Boulevard Beaumarchais.« Sie ging ins Schlafzimmer, ließ die Tür offen und zog ohne die geringste Scham ihren Morgenrock aus, 502
setzte sich auf die Bettkante, zog die Strümpfe an und nahm ein Wollkleid aus dem Schrank. Zuletzt nahm sie eine Reisetasche und stopfte ungeordnet einige Toilettensachen und Wäsche hinein. »Gehen wir schnell!« »Und Ihr Mann?« »Der Dummkopf ist mir sch…egal.« »Und was ist mit Colette?« Sie antwortete nicht, zuckte nur mit den Achseln. Die Tür von Mademoiselle Doncœur bewegte sich, als sie vorbeigingen. Als sie unten waren und auf den Bürgersteig hinaustreten wollten, bekam sie Angst, drängte sich zwischen die beiden Männer und blickte forschend in den Nebel. »Fahr sie zum Quai des Orfèvres, Lucas. Ich bleibe hier.« Es war weit und breit kein Taxi zu sehen, und man merkte, daß der Gedanke, nur von dem kleinen Lucas begleitet durch die Dunkelheit zu gehen, sie erschreckte. »Haben Sie keine Angst! Lorilleux ist gar nicht hier in der Nähe.« »Sie haben gelogen!!! …« Maigret ging in das Haus zurück. Die Unterhaltung mit Jean Martin dauerte zwei lange Stunden, und die meiste Zeit war sein Bruder dabei. Als Maigret gegen halb zwei morgens das Haus verließ, blieben die beiden Männer zusammen in der 503
Wohnung. Unter der Tür von Mademoiselle Doncœur schien Licht hindurch; sie wagte es aber nicht, wahrscheinlich aus Verlegenheit, die Tür zu öffnen, sondern begnügte sich damit, den Schritten des Kommissars zu lauschen. Er überquerte den Boulevard und ging in seine Wohnung, wo er seine Frau antraf, die in einem Sessel neben dem Eßzimmertisch, auf dem sein Gedeck stand, eingeschlafen war. Erschreckt sprang sie auf. »Bist du alleine?« Und als er sie erstaunt und belustigt ansah: »Hast du die Kleine nicht mitgebracht?« »Nicht heute nacht. Sie schläft. Morgen früh kannst du sie herholen, nur wirst du sehr nett zu Mademoiselle Doncœur sein müssen.« »Wirklich?« »Ich werde dir zwei Krankenschwestern mit einer Bahre schicken lassen.« »Aber dann … Werden wir …?« »Nicht doch! … Nicht für immer, verstehst du? Es kann sein, daß Jean Martin darüber hinwegkommt … Es kann auch sein, daß sein Bruder wieder ein gesunder Mensch wird und eines Tages wieder heiratet …« »Sie wird uns also nicht gehören?« »Uns nicht, nein. Nur leihweise. Ich dachte mir, das sei besser als nichts und du würdest dich darüber freuen.« »Natürlich freue ich mich darüber … Aber … aber …« 504
Sie verzog den Mund, suchte ein Taschentuch, fand keines und verbarg ihr Gesicht in ihrer Schürze. (Deutsch von Hans-Joachim Hartstein)
Nachweis
Charles Dickens (7. Februar 1812, Portsea – 9. Juni 1870, Gadshill) Ein Weihnachtslied in Prosa. Aus: Ein Weihnachtslied in Prosa, in revidierter Übersetzung von Richard Zoozmann, mit Zeichnungen von Tatjana Hauptmann, Diogenes Verlag, Zürich 1982. Guy de Maupassant (5. August 1850, Miromesnil/Seine Inférieure – 7. Juli 1893, Paris) Weihnachtsgeschichte. Aus: Gesamtausgabe der Novellen und Romane, Bd. 2. Copyright © 1963 by Wilhelm Goldmann Verlag, München. Alphonse Daudet (13. Mai 1840, Nîmes – 16. Dezember 1897, Paris) Die drei stillen Messen. Aus: Œuvres complètes illustrées, Librairie de France, Paris 1930. Michael Saltykow-Schtschedrin (27. Januar 1826, Spas-Ugol – 10. Mai 1889, St. Petersburg) Ein Weihnachtsmärchen. Aus: Geschichten und Märchen, herausgegeben von Arthur Luther, Leipzig o. J. 507
Adalbert Stifter (23. Oktober 1805, Oberplan im Böhmerwald – 28. Januar 1868, Linz) Bergkristall. Aus: Bunte Steine, erstmals erschienen 1853. Leo Tolstoi (9. September 1828, Jasnaja Poljana – 20. November 1910, Astapowo) Wo Liebe ist, da ist Gott. Aus: Russische Weihnacht, Weihnachtserzählungen aus Rußland, herausgegeben von Alexander Simon. Copyright © 1965 by Peter Schifferli, Verlags ag Die Arche, Zürich. Selma Lagerlöf (20. November 1858, Mårbakka/Värmland bis 16. März 1940 ebd.) Die Heilige Nacht. Aus: Christuslegenden. Copyright © 1948 by Nymphenburger Verlagshandlung GmbH, München. O. Henry, Ps. für William Sidney Porter (11. September 1862, Greensboro/North Carolina – 5. Juni 1910, New York) Das Geschenk der Weisen. Aus: Die klügere Jungfrau, Diogenes Verlag, Zürich 1981. Anton Čechov (29. Januar 1860, Taganrog – 15. Juli 1904, Badenweiler) Vanka. Aus: Gespräch eines Betrunkenen mit einem nüchternen Teufel, Diogenes Verlag, Zürich 1976. 508
Thomas Mann (6. Juni 1875, Lübeck – 12. August 1955, Kilchberg bei Zürich) Weihnacht bei den Buddenbrooks. Aus: Buddenbrooks, 8. Kap. Copyright © 1922 by S. Fischer Verlag ag, Berlin. Ring Lardner (6. März 1885, Niles/Michigan – 25. September 1933, East Hampton/Long Island) Der Eltern Weihnachtsfest. Aus: Geschichten aus dem Jazz-Zeitalter, Diogenes Verlag, Zürich 1974. Bertolt Brecht (10. Februar 1898, Augsburg – 14. August 1956, Berlin) Das Paket des lieben Gottes. Aus: Gesammelte Werke Band 5. Copyright © 1967 by Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. Andre Maurois, Ps. für Emile Herzog (26. Juli 1885, Elbeuf/Seine-Maritime – 9. Oktober 1967, Neuilly-sur-Seine) Die Kuckucksuhr. Aus: Süddeutsche Zeitung Nr. 287, 1.12.1966. Copyright © der Übersetzung by Hans B. Wagenseil. Somerset Maugham (25. Januar 1874, Paris – 16. Dezember 1965, Saint-Jean, Cap-Ferrat) Winter-Kreuzfahrt. Aus: Winter-Kreuzfahrt. Gesammelte Erzählungen Band IX. Diogenes Verlag, Zürich 1976.
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Muriel Spark (1. Februar 1918, Edinburgh, lebt in der Toscana) Der Seraph und der Sambesi. Aus: Portobello Road, Diogenes Verlag, Zürich 1982. Truman Capote (30. September 1924, New Orleans, lebt in New York) Eine Weihnachtserinnerung. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Limes Verlag Niedermayer und Schlüter GmbH, Wiesbaden und München. Georges Simenon (13. Februar 1903, Liège, lebt in Lausanne) Maigrets Weihnachtsfest. Aus: Maigret-Geschichten, Diogenes Verlag, Zürich 1980.