Weihnachtsgeschichten aus Rußland
ERZÄHLUNGEN VON NIKOLAI GOGOL, FJODOR M. DOSTOJEWSKIJ, NIKOLAI LESKOW UND ANTON TSCH...
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Weihnachtsgeschichten aus Rußland
ERZÄHLUNGEN VON NIKOLAI GOGOL, FJODOR M. DOSTOJEWSKIJ, NIKOLAI LESKOW UND ANTON TSCHECHOW
ARTEMIS VERLAG ZÜRICH UND MÜNCHEN
DIE ERZÄHLUNGEN DIESES BANDES ENTSTAMMEN DEN IN DER WINKLER-DÜNNDRUCKBIBLIOTHEK DER WELTLITERATUR ERSCHIENENEN WERKAUSGABEN DER EINZELNEN AUTOREN.
EINBANDMOTIV UND ILLUSTRATIONEN IM INHALT: CELESTINO PIATTI. TEXTAUSWAHL: MARTIN MÜLLER. GESTALTUNG: PETER RÜFENACHT, ARTEMIS © I984 ARTEMIS VERLAG AG ZÜRICH PRINTED IN GERMANY ISBN 3 7608 0642 2
4 Erzählungen russischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, den diversen Winkler-DünndruckWerkausgaben
entnommen.
Ihre
zeitliche
Ansiedlung in der Weihnachtszeit bildet den Rahmen
für
stilistisch
und
inhaltlich
sehr
unterschiedliche Geschichten: Gogols aus der ukrainischen
Volksüberlieferung
schöpfende,
durch märchenhafte Züge und den Einbruch des Übernatürlichen in die Handlung gekennzeichnete Erzählung „Die Weihnacht“, 2 kurze Geschichten von Dostojewskij („Der Christbaum und die Hochzeit“), Tschechows „Zur Weihnachtszeit“ und Leskovs realistische Erzählung „Das Tier“.
Nikolai Gogol Die Weihnacht
Deutsch von Josef Hahn
DER LETZTE TAG vor dem Fest war vergangen. Eine kalte, helle Nacht brach herein. Es blinkten die Sterne. Der Mond zog majestätisch am Himmel auf, um den guten Menschen und der ganzen Welt zu leuchten, damit alle fröhlich Weihnachtslieder singen und Christum preisen könnten. Es fror stärker als am Morgen; aber dafür war es so still, daß das Krachen des Frostes unter den Stiefeln eine halbe Werst weit zu hören war. Noch hatte sich keine einzige Schar von Burschen unter den Fenstern der Hütten gezeigt; nur der Mond allein blickte verstohlen durch die Scheiben, als ob er die geputzten Mädchen auffordern wollte, rasch in den knirschenden Schnee hinauszulaufen. Da stiegen aus dem Schornstein einer Hütte dichte Rauchschwaden auf und wälzten sich als Wolke gegen den Himmel, und zugleich mit dem Rauch fuhr eine Hexe rittlings auf einem Besen heraus. Wäre in diesem Augenblick der
Sorotschinsker
Gerichtsassessor
in
seiner
von
Einwohnerpferden gezogenen Troika vorbeigefahren, die nach Ulanenart gemachte Mütze mit dem Lammfellbesatz auf dem Kopf, in dem blauen, mit schwarzem Lammfell gefütterten Pelz und mit der teuflisch geflochtenen Peitsche, mit der er gewöhnlich seinen Kutscher antrieb, dann hätte er sie
wahrscheinlich
bemerkt,
weil
dem
Sorotschinsker
Gerichtsassessor keine einzige Hexe auf der ganzen Welt entging. Er konnte nämlich jedem Frauenzimmer an den Fingern herzählen, wieviel Ferkel ihre Sau werfen werde und wieviel Leinwand in der Truhe liege und was namentlich ein braver Mann von seinen Kleidern und aus seiner Wirtschaft am nächsten Sonntag in der Schenke versetzen werde. Aber der Sorotschinsker Gerichtsassessor fuhr nicht vorbei, und was gingen ihn auch fremde Leute an, er hatte seine eigene Gemeinde. Die Hexe hatte sich indessen so hoch erhoben, daß sie nur noch als schwarzes Pünktchen oben schwebte. Wo sich aber dieses Pünktchen zeigte, dort verschwand ein Stern nach dem anderen vom Himmel. Alsbald hatte die Hexe deren einen ganzen Arm voll gesammelt. Nur drei oder vier blinkten noch. Plötzlich zeigte sich von der entgegengesetzten Seite ein anderes Pünktchen, wurde größer, dehnte sich aus und war bald kein Pünktchen mehr. Ein Kurzsichtiger hätte sich statt einer Brille die Räder von der Britschka des Kommissars auf die Nase setzen können und noch immer nicht erkannt, was es war. Von vorne sah es ganz wie ein Deutscher aus: das spitze, unaufhörlich zuckende und alles, was ihm unterkam, beschnüffelnde Schnäuzchen lief wie bei unseren Schweinen
in ein rundes Kopekenstück aus, die Beine waren so dünn, daß sie dem Dorfoberhaupt von Jarewskowo, hätte er die gleichen gehabt, beim ersten Kasatschok abgebrochen wären. Aber dafür sah es von hinten wie ein echter Gouvernementsfiskal in Uniform aus, weil es einen Schwanz hängen hatte, so spitz und lang, wie die Frackschöße an den neumodischen Uniformen; höchstens an dem Bocksbart unter der Schnauze, an den kleinen Hörnern, die aus dem Kopf ragten, und daran, daß es nicht weißer als ein Schornsteinfeger war, konnte man erraten, daß es sich nicht um einen Deutschen und nicht um den Gouvernementsfiskal handelte, sondern einfach um den Teufel, für den die letzte Nacht gekommen war, sich auf Gottes schöner Welt herumzutreiben und die guten Menschen das Sündigen zu lehren. Morgen, mit den ersten Glockentönen zur Frühmesse, mußte er spornstreichs, mit eingezogenem Schwanz, in seiner Höhle verschwinden. Mittlerweile hatte sich der Teufel verstohlen an den Mond herangeschlichen und streckte schon die Hand aus, um ihn zu packen, aber plötzlich riß er sie zurück, als ob er sich verbrannt hätte, lutschte an den Fingern, strampelte mit den Beinen und lief von der anderen Seite heran und sprang wiederum zurück und riß die Hand weg. Doch ungeachtet aller Mißerfolge ließ
der schlaue Teufel von seinen Streichen nicht ab. Er nahm einen Anlauf, packte plötzlich den Mond mit beiden Händen und warf ihn zappelnd und blasend aus einer Hand in die andere, wie ein Bauer, der mit bloßen Händen Feuer für seine Pfeife holt; schließlich steckte er den Mond geschwind in eine Tasche und lief, als ob nichts geschehen wäre, davon. In Dikanka hatte niemand bemerkt, daß der Teufel den Mond gestohlen hatte. Der Gemeindeschreiber freilich, der auf allen vieren aus der Schenke kam, hatte wohl gesehen, daß der Mond mir nichts, dir nichts am Himmel umhertanzte, und versuchte davon unter hochheiligen Beteuerungen das ganze Dorf zu überzeugen; aber die Leute schüttelten die Köpfe und lachten ihn sogar aus. Doch welchen Grund hatte der Teufel eigentlich, sich zu einem so gesetzwidrigen Werk zu entschließen? Folgenden: er wußte, daß der reiche Kosak Tschub vom Vorsänger zur Kutja eingeladen worden war, an der
außerdem
eingetroffener
das
Dorfoberhaupt,
Verwandter
des
ferner
Vorsängers
ein
soeben
aus
der
bischöflichen Sängerkapelle in einem blauen Rock und mit einer
unwahrscheinlich
tiefen
Baßstimme,
der
Kosak
Swerbyhus und noch dieser und jener teilnehmen sollten, und daß außer der Kutja noch Warenucha, auf Safran angesetzter
Wodka und vielerlei andere Leckerbissen bereitstanden. Indessen würde aber Tschubs Töchterlein, das schönste Mädchen im Dorf, allein zu Hause sein und zum Töchterlein wahrscheinlich der Schmied kommen, ein Kraftriese und Kindskopf, welcher dem Teufel widerwärtiger war als die Predigten des Vaters Kondrat. In seinen Mußestunden pflegte der Schmied sich nämlich mit der Malerei zu beschäftigen, und er galt als der beste Maler in der ganzen Umgebung. Der damals noch lebende Kosakenhetman L…ko hatte ihn eigens nach Poltawa kommen lassen, um sich von ihm den Bretterzaun vor seinem Haus streichen zu lassen. Alle Schüsseln, aus denen die Kosaken von Dikanka ihren Borschtsch schlürften, waren vom Schmied ausgemalt. Der Schmied war ein gottesfürchtiger Mann und malte oft Heiligenbilder: auch jetzt noch kann man in der Kirche von T… seinen Evangelisten Lukas finden. Aber der Triumph seiner Kunst war ein Bild, das er an die Kirchen wand in der rechten Vorhalle gemalt hatte und das den heiligen Petrus am Tage des Jüngsten Gerichts darstellte, wie er, mit den Schlüsseln in der Hand, den bösen Geist aus der Hölle vertreibt; der erschrockene Teufel rennt, sein Verderben ahnend, nach allen Seiten, aber die bislang in der Hölle
eingesperrten Sünder jagen und schlagen ihn mit Knuten, Holzscheiten und allem, was ihnen gerade in die Hände kommt. Schon während sich der Maler mit diesem Bilde plagte und es auf eine große Holztafel malte, hatte ihn der Teufel aus Leibeskräften zu stören versucht: er stieß ihn unsichtbar am Arm und holte aus der Schmiede Ruß und streute ihn über das Bild; aber trotz alledem wurde die Arbeit vollendet, die Tafel in die Kirche getragen und an der Wand der Vorhalle befestigt, und seitdem hatte der Teufel dem Schmied Rache geschworen. Nur eine Nacht war ihm noch verblieben, sich auf Gottes Welt herumzutreiben; und in dieser Nacht mußte er Mittel und Wege finden, an dem Schmied seine ganze Wut auszulassen. Deshalb hatte er beschlossen, den Mond zu stehlen, in der Hoffnung, daß der alte Tschub, faul wie er war, nicht leicht auf die Beine zu kriegen sein würde, zumal es von seiner Hütte bis zum Vorsänger nicht sehr nahe war: der Weg führte hinterm Dorf an den Windmühlen und am Friedhof vorbei und mußte einer Schlucht ausweichen. In einer Mondnacht hätten die Warenucha und der auf Safran angesetzte Wodka den alten Tschub vielleicht noch betören können, aber bei dieser Finsternis würde es wohl kaum jemand gelingen, ihn vom Ofen herunterzulocken und aus der Hütte zu bringen. Und der
Schmied, welcher schon lange nicht im besten Einvernehmen mit ihm lebte, würde es um keinen Preis wagen, zu seiner Tochter zu kommen, ungeachtet all seiner Kraft. Auf diese Weise geschah es, daß es im selben Augenblick, als der Teufel seinen Mond in die Tasche steckte, plötzlich so finster wurde auf der ganzen Welt, daß kaum jemand in die Schenke, geschweige denn zum Vorsänger gefunden hätte. Als die Hexe ringsum die Finsternis gewahrte, stieß sie einen Schrei aus. Da faßte sie der Teufel, der als kleiner Unhold dahergefahren kam, am Ellenbogen und begann ihr das nämliche ins Ohr zu flüstern, was die Männer gewöhnlich dem ganzen Weibergeschlecht ins Ohr flüstern! Gar seltsam ist es eingerichtet auf unserer Welt! Alles, was auf ihr lebt, strengt sich nach Leibeskräften an, die anderen nachzuahmen und nachzuäffen. Früher liefen in Mirgorod nur der Richter und das Stadtoberhaupt wintersüber in tuchbezogenen Schafpelzen herum, während die ganze kleine Beamtenschaft einfach gegerbte Schafpelze trug; jetzt haben sich auch der Gerichtsassessor und der Rentmeister neue Pelze aus feinstem Lammfell mit Tuchbezug anmessen lassen. Der Kanzlist und der
Gemeindeschreiber
haben
sich
vor
zwei
Jahren
Nankingstoff zu sechzig Kopeken die Elle gekauft. Der
Kirchendiener hat sich für den Sommer gar eine Pluderhose aus Nanking und eine Weste aus gestreiftem Kammgarn gemacht. Mit einem Wort, alle wollen zu den feinen Leuten gehören! Wann werden die Menschen nicht mehr eitel sein? Man könnte wetten, daß es vielen absonderlich vorkommen wird zu hören, daß der Teufel genau die gleichen Manieren annimmt.
Doch
am
ärgerlichsten
ist,
daß
er
sich
wahrscheinlich einbildet, ein schöner Mann zu sein, während er ein Gestell hat, daß man sich schämt, einen Blick zu riskieren. Seine Fratze ist, wie Foma Grigorjewitsch sagt, die Abscheulichkeit aller Abscheulichkeiten – und dennoch will auch er die Cour schneiden! Doch am Himmel und unter dem Himmel wurde es so finster, daß man nicht mehr sehen konnte, was zwischen den beiden weiter vorging. «Also, Gevatter, du bist noch nicht beim Vorsänger in der neuen Hütte gewesen?» sagte der Kosak Tschub, aus der Tür seiner Hütte tretend, zu einem hageren, baumlangen Bauern in kurzem Schafpelz, dessen struppiger Stoppelbart bekundete, daß ihn seit gut zwei Wochen nicht mehr das Sensenstück, mit dem sich die Bauern gewöhnlich in Ermangelung eines Barbiermessers das Kinn schaben, berührt hatte. «Dort wird schon die schönste Sauferei im Gange sein!» fuhr Tschub fort,
wobei sich sein Gesicht zu einem breiten Schmunzeln verzog; «daß wir nur nicht zu spät kommen.» Damit rückte Tschub seinen Gürtel zurecht, der seinen Schafpelz fest zusammenhielt, drückte sich die Mütze tiefer in die Stirn und nahm die Knute – die Angst und der Schrecken aller zudringlichen Hunde – fester in die Hand; doch als er nach oben blickte, blieb er stehen… «Ja zum Teufel! Schau doch, so schau doch, Panaß…» «Was denn?» sagte der Gevatter und hob ebenfalls seinen Kopf in die Höhe. «Was denn! Der Mond ist weg!» «Zum Kuckuck noch einmal! Tatsächlich, der Mond ist weg.» «Davon rede ich doch», sagte Tschub einigermaßen verärgert über die unerschütterliche Gleichgültigkeit des Gevatters. «Das schert dich wohl gar nicht!» «Was soll ich denn tun dagegen?» «Da hat es doch ausgerechnet jetzt», fuhr Tschub fort und wischte sich mit dem Ärmel seinen Schnurrbart, «so ein Teufel wieder nötig gehabt – daß er nie mehr, der Hundesohn, sein Gläschen Schnaps am Morgen zu trinken bekäme! –, sich in irgend etwas einzumischen! Wahrhaftig, wie zum Hohn… Als
ich in der Hütte saß, habe ich noch absichtlich zum Fenster hinausgeschaut: eine Nacht – wie ein Wunder! Hell, der Schnee blitzte im Mondlicht. Alles war zu sehen wie am Tag. Und man ist noch nicht zur Tür heraus, schon sieht man die Hand vor den Augen nicht mehr!» Tschub knurrte und schimpfte noch lange, dachte jedoch gleichzeitig darüber nach, wozu er sich entschließen sollte. Er hätte für sein Leben gern ein wenig über dies und das beim Vorsänger geplaudert, wo, ohne jeden Zweifel, schon das Dorfoberhaupt, der angereiste Baß und der Teersieder Mikita saßen, welch letzterer alle zwei Wochen nach Poltawa auf den Markt fuhr und solche Possen trieb, daß sich alle Leute im Dorf den Bauch vor Lachen hielten. Schon sah Tschub im Geiste die Warenucha auf dem Tisch stehen. Dies alles war höchst verlockend, aber die Finsternis der Nacht erinnerte ihn auch an jene Trägheit, die allen Kosaken teuer ist. Wie schön wäre es jetzt, mit eingezogenen Beinen auf der Ofenbank zu liegen, friedlich seine Pfeife zu rauchen und im berauschenden Halbschlaf die Koljadki und Lieder der lustigen Burschen und Mädchen zu hören, die sich in Scharen vor den Fenstern drängen würden. Er hätte sich ohne jeden Zweifel für letzteres entschlossen, wenn er allein gewesen wäre; aber jetzt, zu
zweit, war es nicht mehr so langweilig und schrecklich, durch die finstere Nacht zu gehen, und er wollte auch vor den anderen nicht faul oder ängstlich erscheinen. Als er mit dem Schimpfen fertig war, wandte er sich erneut an den Gevatter. «Der Mond, Gevatter, ist also nicht da?» «Nein.» «Seltsam, wirklich! Laß mich einmal schnupfen. Du hast immer einen so herrlichen Tabak, Gevatter! Woher hast du ihn?» «Den Teufel was ist er herrlich!» antwortete der Gevatter, indem er die Tabaksdose aus Birkenholz mit den eingeritzten Mustern wieder zuklappte. «Keine alte Henne bringt er zum Niesen.» «Ich erinnere mich», fuhr Tschub im gleichen Ton fort, «daß mir der verstorbene Schankwirt Susulja, Gott hab ihn selig, einmal einen Tabak aus Neschin mitgebracht hat. Ach, das war ein Tabak! Ein guter Tabak war das! Also, Gevatter, wie sollen wir es halten? Es ist finster hier draußen.» «Dann bleiben wir meinetwegen zu Hause», sagte der Gevatter und griff nach der Türklinke.
Hätte der Gevatter das nicht gesagt, so würde sich Tschub wahrscheinlich entschlossen haben, daheim zu bleiben, aber jetzt schien ihn geradezu etwas zu reizen, trotzdem zu gehen. «Nein, Gevatter, gehen wir! Das gibt’s nicht, wir müssen gehen!» Kaum hatte er das gesagt, war er schon wütend auf sich, es gesagt zu haben. Es war ihm sehr unangenehm, in einer solchen Nacht umherirren zu müssen; aber es tröstete ihn der Gedanke, daß er selber es so gewollt und gerade das Gegenteil von dem getan habe, was man ihm geraten hatte. Der Gevatter, dessen Gesicht nicht die kleinste Regung von Ärger bekundete, weil es ihm völlig gleichgültig war, ob er zu Hause saß oder sich außer Haus herumtrieb, schaute sich noch einmal um, kratzte sich mit dem Peitschenstiel die Schultern, und die zwei Gevattern machten sich auf den Weg.
Jetzt wollen wir zusehen, was Tschubs allein gebliebenes schönes Töchterlein macht. Oxana war noch keine siebzehn Jahre alt, als schier auf der ganzen Welt, sowohl auf der einen Seite von Dikanka als auch auf der anderen Seite von Dikanka, von nichts anderem als von ihr die Rede war. Die Burschen erklärten einstimmig, daß es ein schöneres Mädchen im Dorfe
noch niemals gegeben habe und niemals mehr geben werde. Oxana wußte und hörte alles, was über sie gesprochen wurde, und war kapriziös, wie ein schönes Mädchen eben ist. Wäre sie nicht in Kopftuch und Joppe gegangen, sondern in einem Kapot, hätte sie alle paar Wochen ihre Dienstmädchen und Zofen davongejagt. Die Burschen liefen ihr scharenweise nach, verloren jedoch allmählich die Geduld, blieben langsam aus und wandten sich anderen, nicht so verwöhnten Mädchen zu. Nur der Schmied blieb hartnäckig und gab seine Scharwenzelei nicht auf, ohne sich darum zu scheren, daß er kein bißchen besser behandelt wurde als die übrigen. Nachdem ihr Vater gegangen war, putzte und zierte sie sich noch lange vor dem kleinen Spiegel im Bleirahmen und konnte sich an ihrer Schönheit nicht satt sehen. «Was fällt den Leuten nur ein, überall herumzuschreien, daß ich schön sei?» sagte sie wie zerstreut, nur um einen Vorwand zu haben, über irgend etwas mit sich selber schwätzen zu können. «Die Leute lügen, ich bin überhaupt nicht schön.» Doch das im Spiegel aufleuchtende frische, lebhafte, kindlich junge Gesicht mit den blitzenden schwarzen Augen und dem unaussprechlich reizenden Lächeln, welches einem das Herz erwärmte, bewies das Gegenteil. «Sind denn meine schwarzen Brauen und
Augen», fuhr das schöne Mädchen, ohne vom Spiegel abzulassen, fort, «so schön, daß es ihresgleichen auf der Welt nicht gibt? Was ist da schön an dieser nach oben gebogenen Nase? und an den Wangen? und an den Lippen? Sollen meine schwarzen Zöpfe etwa schön sein? Hu! abends könnte man erschrecken vor ihnen: sie haben sich wie zwei lange Schlangen um meinen Kopf gewunden und geschlungen. Ich sehe jetzt, daß ich überhaupt nicht schön bin!» Und indem sie den Spiegel etwas weiter weg hielt, schrie sie auf: «Nein, schön bin ich! Ach, wie schön! Ein Wunder! Was für eine Freude werde ich dem ins Haus bringen, dessen Weib ich werde! Wie wird sich mein Mann an mir berauschen! Er wird nicht zu sich kommen. Er wird mich zu Tode küssen.» «Ein wunderbares Mädchen!» flüsterte der leise eintretende Schmied, «und keine Spur von Eitelkeit und Prahlerei! Seit einer Stunde steht sie da, schaut in den Spiegel und kann sich nicht satt sehen und lobt sich auch noch laut!» «Ja, ihr Burschen, gefalle ich euch so? Ihr schaut mir nach», fuhr die schöne Kokette fort, «wie ich geschmeidig dahingehe; mein Hemdchen ist mit roter Seide bestickt. Und was für Bänder ich auf dem Kopf habe! Euer Lebtag werdet ihr keine reicheren Goldborten sehen! All dies hat mir mein Vater
deshalb gekauft, damit mich der schönste Bursch auf der Welt heiratet!» Und lächelnd wandte sie sich auf die andere Seite und erblickte den Schmied… Sie schrie auf und blieb strenge vor ihm stehen. Der Schmied ließ die Arme sinken. Es ist schwer zu sagen, was das dunkle Gesicht des wunderbaren Mädchens ausdrückte: auch Strenge war zu bemerken, und durch die Strenge hindurch ein gewisser Spott über den verdutzten Schmied, und eine kaum wahrnehmbare Zornesröte ergoß sich über das Gesicht; und dies alles vermischte sich und machte sie so unbeschreiblich schön, daß man sie hätte millionenmal abküssen mögen… das war das Beste, was man in diesem Augenblick hätte tun können. «Weshalb bist du hergekommen?» begann Oxana. «Willst du vielleicht, daß ich dich mit der Ofenschaufel zur Tür hinaus jage? Sie verstehen es meisterhaft, sich an uns heranzumachen. Im Nu schnüffeln Sie aus, wann der Vater nicht daheim ist. Oh, ich kenne Sie! Nun, ist meine Truhe fertig?» «Sie ist bald fertig, mein Herzchen, nach den Feiertagen wird sie fertig. Wenn du wüßtest, was für Mühe ich mir gegeben habe: zwei Nächte lang bin ich nicht aus der Schmiede gekommen; dafür wird auch keine Popentochter eine solche
Truhe haben. Eisen für die Beschläge habe ich ein so gutes darangemacht, wie ich es nicht einmal für das Kabriolett des Hetmans genommen habe, als ich noch nach Poltawa in die Arbeit ging. Und wie schön bemalt sie erst sein wird! Auch wenn du die ganze Umgebung mit deinen weißen Füßchen abgehst, wirst du keine zweite solche finden! Über den ganzen Grund werden rote und blaue Blümchen verstreut sein. Leuchten wird sie wie Feuer. Ärgere dich nicht über mich! Erlaube mir wenigstens, mit dir zu reden und dich anzuschauen!» «Wer verbietet dir das? Rede und schau!» Damit setzte sie sich auf die Bank und schaute wieder in den Spiegel und begann die Zöpfe auf ihrem Kopf zu ordnen. Sie warf einen Blick auf den Hals, auf das neue, seidenbestickte Hemd, und ein angenehmes Gefühl der Selbstzufriedenheit spiegelte sich auf den Lippen und auf den frischen Wangen wider und leuchtete in ihren Augen auf. «Erlaube, daß ich mich neben dich setze!» sagte der Schmied. «Setz dich», sagte Oxana, ohne daß die Lippen und die Augen den selbstzufriedenen Ausdruck verloren hätten. «Wunderbare, herzallerliebste Oxana, gestatte mir, dich zu küssen!» sprach der ermutigte Schmied und drückte sie an
sich, in der Absicht, ihr einen Kuß zu rauben. Doch Oxana drehte ihr Gesicht weg, das sich schon in einem winzigen Abstand von den Lippen des Schmiedes befunden hatte, und stieß ihn weg. «Was du nicht alles möchtest! Kaum hat er den Honig, braucht er auch einen Löffel! Geh fort, deine Hände sind härter als Eisen. Außerdem stinkst du nach Rauch. Ich glaube, du hast mich ganz mit Ruß beschmiert.» Damit nahm sie den Spiegel zur Hand und begann sich vor ihm aufs neue zu verschönern. Sie liebt mich nicht, dachte der Schmied bei sich und ließ den Kopf hängen. Für sie ist alles nur Spielzeug; ich stehe wie ein Narr vor ihr und kann kein Auge von ihr wenden. Und ich möchte immer vor ihr stehen und mein Lebtag kein Auge von ihr wenden. Ein wunderbares Mädchen! Was würde ich dafür geben, wenn ich in Erfahrung bringen könnte, was in ihrem Herzen vorgeht und wen sie liebt! Aber nein, sie braucht ja überhaupt keinen. Sie liebt nur sich selber und quält mich Armen; und ich sehe vor Traurigkeit die Welt nicht mehr; aber ich liebe sie so, wie noch kein Mensch auf der Welt geliebt hat und jemals lieben wird.
«Ist es wahr, daß deine Mutter eine Hexe ist?» fragte Oxana und lachte; auch der Schmied spürte, daß in seinem Innern alles zu lachen begann. Ihr Gelächter schien auf einmal im Herzen und in den leise erschauernden Adern Widerhall zu finden; und mit alledem zog der Ärger in seine Seele ein, daß er nicht imstande war, ein so reizendes lachendes Gesichtlein zu küssen. «Was geht mich meine Mutter an? Du bist mir Mutter und Vater und alles, was es Teures auf der Welt gibt. Wenn mich der Zar rufen ließe und sagte: ‹Schmied Wakula, du darfst mich um alles bitten, was es Schönes in meinem Zarenreich gibt, ich will dir alles geben. Ich lasse dir eine goldene Schmiede bauen, und du wirst mit silbernen Hämmern schmieden.› – ‹Ich will›, würde ich dem Zaren antworten, ‹weder kostbare Edelsteine noch eine goldene Schmiede noch dein ganzes Zarenreich: gib mir lieber meine Oxana!›» «Da schau, so einer bist du also! Nur läßt sich mein Vater auch nicht foppen. Du wirst sehen, daß er deine Mutter heiratet», sagte Oxana und lächelte spöttisch… «Aber warum kommen die Mädchen nicht?… Was soll das bedeuten? Es ist höchste Zeit zum Koljadkisingen. Mir wird es allmählich langweilig.»
«Gott mit Ihnen, meine Schönste!» «Warum nicht gar! Mit Ihnen werden sicher auch die Burschen kommen. Dann geht es los. Ich stelle mir schon vor, was für lustige Geschichten sie erzählen werden!» «Du findest es also lustig in ihrer Gesellschaft?» «Lustiger schon als mit dir. Ha! es hat jemand geklopft; wahrscheinlich kommen die Mädchen mit den Burschen.» Was soll ich noch länger warten? sprach der Schmied zu sich selber. Sie macht sich doch nur lustig über mich. Ich bin ihr ebensoviel wert wie ein verrostetes Hufeisen. Aber wenn es wirklich so ist, dann soll wenigstens kein anderer dazu kommen, über mich zu lachen. Wenn ich nur genau wüßte, wer ihr besser gefällt als ich; den würde ich lehren… Pochen an der Tür und eine schroff in die Kälte erklingende Stimme: «Aufmachen!» rissen den Schmied aus seinen Gedanken. «Bleib da, ich mache selber auf», sagte der Schmied und ging in den Flur hinaus, fest entschlossen, dem ersten ihm unter die Finger geratenden Menschen aus Ärger alle Rippen zu brechen. Der Frost hatte zugenommen, und in der Höhe war es so kalt geworden, daß der Teufel von einem Huf auf den anderen
hüpfte, sich in die Fäuste blies und nichts sehnlicher wünschte, als sich ein wenig die erfrorenen Hände aufwärmen zu können. Es war aber auch kein Wunder, wenn es ihn so fror, da er sich ja tagaus, tagein in der Hölle herumtrieb, wo es bekanntlich nicht so kalt ist wie bei uns im Winter und wo er mit einer weißen Mütze auf dem Kopf wie ein richtiger Küchenmeister vor dem Herd stand und die Sünder mit demselben Wohlbehagen briet, mit dem gewöhnlich die Weiber zu Weihnachten Würste braten. Auch die Hexe spürte, daß es kalt war, ungeachtet dessen, daß sie warm angezogen war; deshalb hob sie die Arme in die Höhe, schob ein Bein vor, nahm die gleiche Haltung an wie ein Mensch, der Schlittschuh laufen will, und fuhr, ohne ein Glied zu rühren, durch die Luft wie von einem steilen Eisberg herab, schnurstracks in den Schornstein. Der Teufel folgte ihr auf dieselbe Weise nach. Weil aber dieses Tier viel gewandter als jeder Geck in Seidenstrümpfen ist, war es kein Wunder, daß er gerade beim Eintritt in den Schornstein seiner Geliebten um den Hals fiel, und beide befanden sich in einem geräumigen Backofen zwischen den Töpfen.
Die Luftreisende schob vorsichtig das Ofenblech zur Seite und schaute nach, ob ihr Sohn Wakula keine Gäste in die Hütte gebeten hätte; als sie jedoch sah, daß niemand da war, ausgenommen ein paar Säcke, die mitten in der Stube lagen, kroch sie aus dem Ofen, warf ihren warmen Pelz ab, machte sich zurecht, und niemand hätte erkannt, daß sie noch vor einer Minute auf dem Besen geritten war. Die Mutter des Schmieds Wakula war nicht älter als vierzig Jahre. Sie war weder schön noch häßlich. Es ist auch schwierig, in diesem Alter noch schön zu sein. Dennoch verstand sie es, selbst die angesehensten und ehrbarsten Kosaken (denen es, nebenbei bemerkt, weniger um die Schönheit zu tun war) so zu behexen, daß sowohl das Dorfoberhaupt als auch der Vorsänger (freilich nur dann, wenn seine Vorsängerin nicht daheim war) als auch der Kosak Kornij Tschub und der Kosak Kasja Swerbyhus zu ihr gingen. Zu ihrer Ehre muß allerdings gesagt werden, daß sie mit allen ausgezeichnet umzugehen verstand. Nicht einem von ihnen wäre es in den Sinn gekommen, daß er einen Nebenbuhler hatte. Ging ein frommer Bauer oder ein Edelmann, wie sich die Kosaken selbst nennen, angetan mit Mantel und Kapuze, am Sonntag in die Kirche oder, wenn schlechtes Wetter war, in die
Schenke – warum sollte er nicht bei Solocha einkehren, ein paar fette Quarktaschen mit Rahm essen und in der warmen Stube mit der gesprächigen und gefälligen Hausfrau plaudern? Auch die Edelleute machten eigens zu diesem Zweck einen großen Umweg, bevor sie in die Schenke einfielen, und nannten dies – unterwegs einkehren. Wenn aber Solocha zuweilen an einem Feiertag in ihrem grellen Kopftuch und der Nankingschürze samt der blauen Joppe darüber, auf der hinten goldene Bänder aufgenäht waren, in die Kirche ging und sich gerade neben dem rechten Chor aufstellte, begann der Vorsänger sicherlich zu hüsteln und schielte unwillkürlich zur Seite; das Dorfoberhaupt strich sich den Schnurrbart, wickelte sich seine Kosakenlocke ums Ohr und sagte zu dem neben ihm stehenden Nachbarn: «Ach, ein gutes Weib! Ein Teufelsweib!» Solocha grüßte jeden, und jeder glaubte, daß sie nur ihn allein grüße. Doch jeder, der sich gerne in fremder Leute Angelegenheiten mischte, hätte sofort erkannt, daß Solocha am freundlichsten mit dem Kosaken Tschub tat. Tschub war Witwer. Acht Schober Getreide standen immer vor seiner Hütte. Zwei Paar fette Ochsen streckten ihre Köpfe durch den Flechtzaun des Schuppens auf die Straße hinaus und muhten, wenn sie eine vorbeigehende Gevatterin, eine Kuh, oder ihren
Onkel, den dicken Stier, erblickten. Ein bärtiger Ziegenbock kletterte hoch oben auf dem Dach herum und meckerte von dort mit barscher Stimme, just wie ein Stadthauptmann, herunter, um die auf dem Hof herumstolzierenden Truthähne zu reizen, oder er kehrte das Hinterteil hervor, wenn er seine Feinde, die Dorfbuben, erblickte, die sich über seinen Bart lustig machten. In Tschubs Kasten und Truhen lagen viele Ellen Leinwand, Schupane und altertümliche Kontuschen mit goldenen Borten: sein verstorbenes Eheweib war eine Putznärrin gewesen. Im Gemüsegarten wurden außer Mohn, Kraut und Sonnenblumen jedes Jahr noch zwei Beete Tabak angebaut. Dies alles erachtete Solocha keineswegs als unwürdig, ihrer eigenen Wirtschaft einverleibt zu werden, und sie überlegte schon im voraus, welche Ordnung sie einführen wollte, falls es in ihre Hände überginge, und verdoppelte ihr Wohlwollen gegen den alten Tschub. Damit sich aber ihr Sohn Wakula nicht irgendwie an dessen Tochter heranmachte und alles für sich einheimste und sie dann – wie es wahrscheinlich war – hinderte, sich in etwas einzumischen, nahm sie ihre Zuflucht zu dem gewöhnlichen Mittel aller vierzigjährigen Gevatterinnen und hetzte möglichst oft Tschub und den Schmied gegeneinander auf. Vielleicht waren eben diese ihre
Listen und Machenschaften schuld daran, daß die alten Weiber da und dort, besonders wenn sie bei einer fröhlichen Zusammenkunft ein Gläschen zu viel getrunken hatten, zu munkeln anhuben, daß Solocha wirklich eine Hexe sei, daß der Bursche Kisjakolupenko bei ihr hinten einen Schwanz nicht größer als eine Flachsspindel gesehen habe, daß sie erst vorvorigen Donnerstag in Gestalt einer schwarzen Katze über die Straße gelaufen sei, wie ein Hahn gekräht habe, sich die Priestermütze des Vaters Kondrat aufgesetzt habe und wieder davongelaufen sei. Der Zufall wollte es, daß gerade bei einer Gelegenheit, als die alten Weiber wieder einmal darüber tuschelten, ein Kuhhirte namens Tymisch Korostjawyj dazukam. Er versäumte nicht zu erzählen, daß er im Sommer, just vor Petrifasten, als er sich im Stall schlafen gelegt und ein Bündel Stroh unter den Kopf gebreitet hatte, mit eigenen Augen gesehen habe, wie eine Hexe mit aufgelöstem Zopf und im bloßen Hemd die Kühe zu melken angefangen habe; er dagegen habe sich nicht rühren können, weil er ganz verzaubert gewesen sei; und nach dem Kühemelken sei sie zu ihm gekommen und habe ihm die Lippen mit etwas so Widerlichem beschmiert, daß er noch einen ganzen Tag danach gespuckt habe. Doch dies alles ist
einigermaßen zweifelhaft, weil nur der Sorotschinsker Gerichtsassessor Hexen zu sehen vermag. Und so winkten denn auch alle angesehenen Kosaken verächtlich ab, wenn sie solche Reden vernahmen. «Sie lügen, die Hundeweiber!» war ihre gewöhnliche Antwort. Nachdem Solocha aus dem Ofen gekrochen und sich zurechtgemacht
hatte,
begann
sie
als
gute
Hausfrau
aufzuräumen und alles an seinen Platz zu stellen; nur die Säcke rührte sie nicht an. «Hat sie Wakula gebracht, soll er sie auch wieder hinaustragen!» Indessen hatte sich der Teufel, als er zum Schornstein hereinflog, zufällig umgeschaut und Tschub Arm in Arm mit dem Gevatter erblickt, schon weit von seiner Hütte entfernt. Augenblicklich fuhr er wieder aus dem Ofen hinaus, lief ihnen über den Weg und begann von allen Seiten Haufen gefrorenen Schnees aufzuwirbeln. Es erhob sich ein Schneegestöber. In der Luft wurde alles weiß. Der Schnee wirbelte vorne und hinten wie eine Wand empor und drohte den Fußgängern Augen, Mund und Ohren zu verkleben. Und der Teufel flog wieder in den Schornstein hinein, in der festen Überzeugung, daß Tschub mit dem Gevatter umkehren, den Schmied bei seiner Tochter antreffen und so traktieren werde,
daß er lange nicht imstande sein dürfte, einen Pinsel in die Hand zu nehmen und beleidigende Karikaturen zu malen.
Tatsächlich! Kaum daß sich das Schneegestöber erhoben und der Wind angefangen hatte, ihm gerade ins Gesicht zu schneiden, da bekundete Tschub auch schon Reue; er zog sich die Mütze tiefer über die Ohren und traktierte sich selber, den Teufel
und
den
Gevatter
mit
allerhand
kräftigen
Schimpfwörtern. Im übrigen war dieser Ärger nur geheuchelt. Tschub
freute
sich
höchlichst
über
das
plötzliche
Schneegestöber. Bis zur Hütte des Vorsängers war es immer noch das Achtfache der Strecke, die sie bis jetzt zurückgelegt hatten. Die Wanderer kehrten um. Der Wind blies ihnen jetzt zwar in den Nacken, aber durch den wirbelnden Schnee hindurch war nichts zu sehen. «Bleib stehen, Gevatter! Ich glaube, wir sind auf dem falschen Weg», sagte Tschub, nachdem sie ein Weilchen gegangen waren. «Ich sehe keine einzige Hütte. Äh, was für ein Schneegestöber! Schau doch ein wenig auf die andere Seite, Gevatter, ob du nicht den Weg findest; ich werde inzwischen hier suchen. Daß uns auch der Leibhaftige reiten mußte, bei so einem Schneesturm auszugehen! Vergiß nicht zu
schreien, wenn du den Weg findest. Ach, was für einen Batzen Schnee mir der Satan in die Augen geblasen hat!» Aber von einem Weg war nichts zu sehen. Der Gevatter, der auf die andere Seite gegangen war, irrte in seinen langen Stiefeln vor und zurück und stieß zu guter Letzt direkt auf die Schenke. Diese Entdeckung freute ihn dermaßen, daß er alles vergaß, den Schnee von sich klopfte und in den Flur hineinging,
ohne
sich
um
den
auf
der
Straße
zurückgebliebenen Gevatter im geringsten zu kümmern. Tschub glaubte indessen den richtigen Weg gefunden zu haben; er blieb stehen, begann aus Leibeskräften zu schreien, doch als er merkte, daß der Gevatter nicht zum Vorschein kam, beschloß er, allein weiterzugehen. Nach kurzer Zeit erblickte er seine Hütte. Berge von Schnee lagen ringsherum und auf dem Dach. Er schlug die in der Kälte erstarrten Hände gegeneinander, begann an die Tür zu klopfen und rief seiner Tochter gebieterisch zu, aufzumachen. «Was hast du da verloren?» schrie ihn der herauskommende Schmied grob an. Tschub, der die Stimme des Schmieds erkannte, trat einige Schritte zurück. Hm, nein, das ist nicht meine Hütte, sagte er sich, in meine Hütte verirrt sich der Schmied nicht. Doch wenn
ich sie mir genauer betrachte, so ist es auch nicht die Hütte des Schmieds. Wem könnte sie nur gehören? Aber natürlich! Daß ich sie nicht gleich erkannt habe! Das ist die Hütte des lahmen Lewtschenko, der unlängst eine junge Frau geheiratet hat. Lediglich seine Hütte sieht der meinen so ähnlich. Deshalb ist es mir zuerst auch ein wenig seltsam vorgekommen, daß ich so schnell daheim war. Aber der Lewtschenko sitzt doch jetzt beim Vorsänger, das weiß ich; weshalb also der Schmied?… Eh-hehe! er geht zu seiner jungen Frau. So ist es! Sehr schön… Jetzt habe ich begriffen! «Wer bist du, und weshalb treibst du dich vor fremden Türen herum?» sagte der Schmied noch gröber als vorher und trat auf ihn zu. Nein, ich sag es ihm nicht, wer ich bin, dachte Tschub, sonst verdrischt er mich gar noch, die verdammte Mißgeburt! Und die Stimme verstellend, sagte er: «Ich bin es, guter Mann! Bin gekommen, euch zum Vergnügen ein paar Koljadki zu singen vor den Fenstern.» «Scher dich zum Teufel mit deinen Koljadki!» schrie Wakula zornig. «Was stehst du noch da? Hörst du, scher dich augenblicklich von der Stelle!»
Tschub hatte schon selber diese vernünftige Absicht gehegt; aber es ärgerte ihn, daß er gezwungenermaßen den Befehlen des Schmiedes gehorchen sollte. Es war, als stieße ihn ein böser Geist vorwärts und nötigte ihn, etwas dagegen zu sagen. «Was schreist du denn so?» rief er mit der nämlichen Stimme. «Ich will singen und sonst nichts!» «Aha! Worte allein können dich also nicht zur Vernunft bringen…» Unmittelbar nach diesen Worten verspürte Tschub einen überaus schmerzlichen Hieb auf die Schulter. «Du willst also gleich zu raufen anfangen, wie ich sehe!» sagte er, einen Schritt zurückweichend. «Pack dich, verschwinde!» schrie der Schmied und versetzte Tschub einen zweiten Schlag. «Was machst du!» rief Tschub mit der nämlichen Stimme, in der Schmerz und Wut und Angst zum Ausdruck kamen. «Du haust wirklich nicht im Spaß zu, sondern haust recht schmerzlich zu!» «Pack dich, verschwinde!» schrie der Schmied und schlug die Tür zu. «Schau einer an, wie tapfer er tut!» sprach Tschub, als er auf der Straße allein war. «Trau dich nur und komm her! So einer bist du also! Tut wie ein großes Tier! Du glaubst wohl, daß für
dich kein Richter zu finden ist? Nein, mein Täubchen, ich gehe, gehe auf der Stelle zum Kommissar. Ich werde dir den Herrn zeigen! Was schert es mich, daß du ein Schmied oder ein Maler bist… Aber ich muß mir den Rücken und die Schultern ansehen: ich glaube, daß ich blaue Flecken habe. Er muß nicht schlecht zugeschlagen haben, der Räubersohn! Schade, daß es so kalt ist und ich meinen Pelz nicht ausziehen mag! Aber warte nur, du Satansschmied, daß dich der Teufel samt deiner Schmiede in Grund und Boden hauen möge, ich werde dich tanzen lassen! So ein verdammter Galgenstrick! Aber wenigstens ist er jetzt nicht zu Hause. Solocha, glaube ich, sitzt allein daheim. Hm… es ist nicht weit von hier; man könnte hingehen! Um diese Zeit wird uns niemand überraschen. Vielleicht wird es auch möglich sein… Auweh, hat mich der verdammte Schmied verdroschen!» Darauf kratzte sich Tschub den Rücken und schlug eine andere Richtung ein. Die Annehmlichkeiten, die seiner bei einem Wiedersehen mit Solocha schon im voraus harrten, verringerten seine Schmerzen etwas und ließen ihn sogar gegen den Frost unempfindlicher werden, der in allen Straßen krachte und nicht einmal vom Heulen und Pfeifen des Schneesturmes übertönt wurde. Von Zeit zu Zeit nahm sein
Gesicht, dessen Kinn und Schnurrbart das Schneegestöber flinker mit Schnee eingeseift hatte als jeder Barbier, der sein Opfer tyrannisch an der Nase packt, eine süßsaure Miene an. Wenn einem aber der Schnee nicht kreuz und quer vor den Augen herumgewirbelt wäre, hätte man noch lange sehen können, wie Tschub stehenblieb, sich den Rücken kratzte und vor sich hinmurmelte: «Gehörig verdroschen hat mich der verdammte Schmied!» und sich erneut auf den Weg machte. In dem Augenblick, als der pfiffige Galan mit Schweif und Bocksbart aus dem Schornstein hinausfuhr und dann wieder in den Schornstein hineinfuhr, blieb der an seiner Seite mit einer Schnur
befestigte
Schusterbeutel,
in
welchen
er
den
gestohlenen Mond hineingesteckt hatte, irgendwie unversehens am Ofen hängen, der Beutel ging auf – und der Mond, der sich diese Gelegenheit zunutze machte, flog durch den Schornstein von Solochas Hütte hinaus und stieg geschwind zum Himmel empor. Alles wurde hell. Das Schneegestöber war wie weggeblasen. Der Schnee leuchtete als großes, silbernes Feld auf und war von kristallenen Sternen übersät. Der Frost schien nachgelassen zu haben. Scharen von Burschen und Mädchen mit Säcken tauchten auf. Lieder erklangen, und es gab keine Hütte, vor deren Fenstern sich nicht Sänger gedrängt hätten.
Wundervoll glänzte der Mond! Es läßt sich schwer erzählen, wie schön es ist, in einer solchen Nacht mitten in einer Schar lachender
und
singender
Mädchen
und
Burschen
einherzuziehen, die zu allerlei Späßen und Streichen aufgelegt sind, wie sie nur eine fröhlich lächelnde Nacht eingeben kann. Unter dem dicken Pelz ist es warm; vom Frost glühen die Wangen noch frischer; und zur Ausgelassenheit scheint der Leibhaftige selbst die Gemüter hinterrücks anzuspornen. Scharen von Mädchen mit Säcken brachen in Tschubs Hütte ein und umringten Oxana. Geschrei, Lachen und allerlei Schnurren betäubten den Schmied. Alle beeilten sich, einander unterbrechend, der Schönen etwas Neues zu erzählen, kramten ihre Säcke aus und prahlten mit den Schinken, Würsten und Quarktaschen, deren sie für ihre Koljadki schon ziemlich viele eingeheimst hatten. Oxana schien überaus zufrieden und fröhlich zu sein, schwatzte bald mit der einen und bald mit der anderen und lachte ohne Unterlaß. Mit welchem Ärger und Neid betrachtete der Schmied diese ganze Fröhlichkeit und verfluchte er diesmal alle Koljadki, obwohl er sonst ganz versessen auf sie war. «He, Odarka!» sagte die lustige Dorfschönheit zu einem der Mädchen gewandt, «du hast neue Schuhe an! Ach, wie schön
die sind! Und mit Gold bestickt! Du hast es gut, Odarka, du hast jemanden, welcher dir alles kauft; aber mir bringt niemand so herrliche Schuhe.» «Gräme
dich
nicht,
meine
herzallerliebste
Oxana!»
unterbrach sie der Schmied, «ich werde dir Schuhe besorgen, wie kein Edelfräulein sie trägt.» «Du?» sagte Oxana rasch und blickte ihn hochmütig an. «Ich möchte doch sehen, wo du Schuhe hernimmst, die ich anziehen könnte. Vielleicht bringst du mir gar solche, wie unsere Zarin sie trägt?» «Sieh einer an, was sie haben möchte!» schrie lachend die ganze Mädchenschar. «Ja», fuhr die Schöne stolz fort, «ihr seid alle meine Zeugen: wenn mir der Schmied Wakula die gleichen Schuhe bringt, welche die Zarin trägt, so habt ihr mein Wort darauf, daß ich ihn sofort zum Manne nehme.» Die Mädchen zogen die kapriziöse Schöne mit sich fort. «Lach nur, lach nur!» sagte der Schmied, der hinter ihnen einherging. «Ich lache ja selber über mich. Ich denke und kann mir’s nicht denken, wohin mein Verstand gekommen ist. Sie liebt mich nicht, nun, Gott mit ihr! Als ob es nur Oxana allein auf der Welt gäbe. Gott sei Dank gibt es außer ihr noch viele
schöne Mädchen im Dorf. Was soll ich schon mit Oxana? Aus ihr wird doch niemals eine gute Hausfrau; sie versteht es nur meisterhaft, sich zu putzen. Nein, Schluß damit, es ist Zeit, mit der Narretei aufzuhören!» Doch im selben Augenblick, als der Schmied sich anschickte, einen festen Entschluß zu fassen, führte ihm irgendein böser Geist Oxanas lachendes Bild vor Augen, das spöttisch zu ihm sagte: «Bring mir die Schuhe der Zarin, Schmied, dann nehme ich dich zum Mann!» Sein ganzes Inneres geriet in Wallung, und er dachte nur mehr an Oxana. Scharen von Sängern, die Burschen allein und die Mädchen allein, eilten von einer Gasse in die andere. Nur der Schmied ging dahin, sah nichts und hörte nichts und beteiligte sich nicht an dem fröhlichen Treiben, das er einst mehr denn alle anderen geliebt hatte. Der Teufel wurde indessen allen Ernstes zärtlich zu Solocha: er küßte ihr mit denselben Grimassen die Hand wie der Gerichtsassessor der Popentochter, griff sich ans Herz, stöhnte und erklärte ihr geradeheraus, daß er, falls sie nicht gewillt sei, seiner Leidenschaft Genüge zu tun und ihn zu belohnen, wie es sich gehörte, zu allem entschlossen sei: sich ins Wasser zu stürzen und seine Seele schnurstracks zur Hölle fahren zu
lassen. Solocha war aber nicht so hartherzig, zumal der Teufel, wie uns bekannt ist, mit ihr zusammenarbeitete. Außerdem liebte sie es, einen ganzen Schwarm von Verehrern um sich zu sehen, und war selten ohne Gesellschaft; den heutigen Abend allerdings gedachte sie allein zu verbringen, weil alle angesehenen Dorfbewohner zur Kutja beim Vorsänger eingeladen waren. Doch es kam alles anders: der Teufel hatte kaum seine Forderungen gestellt, als sich plötzlich die Stimme des dicken Dorfoberhaupts vernehmen ließ. Solocha lief, um zu öffnen, während der pfiffige Teufel in einen der herumliegenden Säcke schlüpfte. Nachdem sich das Oberhaupt den Schnee von der Kapuze geschüttelt und aus Solochas Hand ein Gläschen Wodka getrunken hatte, erzählte er, daß er wegen des Schneegestöbers nicht zum Vorsänger gegangen sei; da er jedoch Licht in ihrer Hütte gesehen habe, sei er bei ihr eingekehrt, in der Absicht, den Abend mit ihr zu verbringen. Kaum hatte das Oberhaupt das gesagt, als sich an der Tür lautes Klopfen und die Stimme des Vorsängers vernehmen ließen. «Verstecke mich irgendwo», flüsterte das Oberhaupt. «Ich will jetzt mit dem Vorsänger nicht zusammentreffen.»
Solocha dachte lange nach, wo sie einen so vierschrötigen Gast verstecken könnte; schließlich verfiel sie auf den größten Kohlensack; die Kohlen schüttete sie in einen Zuber, und das dicke Oberhaupt kroch samt Schnurrbart, Kopf und Kapuze in den Sack. Der Vorsänger kam ächzend und die Hände reibend herein und erzählte, daß kein Mensch bei ihm gewesen sei und daß er diese Gelegenheit mit herzlicher Freude wahrgenommen habe, um ein wenig mit ihr zu scherzen, und daß er aus diesem Grund nicht einmal das Schneegestöber gefürchtet habe. Darauf trat er näher an sie heran, hüstelte, lächelte, berührte mit seinen langen Fingern ihren entblößten, vollen Arm und sagte mit einer Miene, die Arglist und Selbstzufriedenheit gleichzeitig ausdrückte: «Was habt Ihr denn da, großartige Solocha?» Und nach diesen Worten sprang er einige Schritte zurück. «Was soll es denn sein? Mein Arm, Osip Nikiforowitsch!» antwortete Solocha. «Hm! Der Arm! Hehehe!» sprach der mit diesem Anfang herzlich zufriedene Vorsänger und ging in der Stube auf und ab.
«Und was habt Ihr denn da, teuerste Solocha?» sagte er mit der gleichen Miene, indem er wieder an sie herantrat und mit dem Finger leicht ihren Hals berührte und auf die gleiche Art zurücksprang. «Als ob Ihr das nicht wüßtet, Osip Nikiforowitsch!» antwortete Solocha. «Den Hals, und um den Hals eine Kette.» «Hm! Um den Hals eine Kette! Hehehe!» und der Vorsänger ging wieder durch die Stube und rieb sich die Hände. «Und was habt Ihr denn da, unvergleichliche Solocha?» Es ist mir nicht bekannt, was der Vorsänger jetzt mit seinen langen Fingern berührt hatte, als an der Tür plötzlich das Pochen und die Stimme des Kosaken Tschub zu vernehmen waren. «Ach, mein Gott, eine fremde Person!» schrie der Vorsänger erschrocken. «Was soll geschehen, wenn man plötzlich eine Persönlichkeit meines Standes hier antrifft?… Es wird dem Vater Kondrat zu Ohren kommen!…» Aber die Ängste des Vorsängers waren anderer Art: er fürchtete noch viel mehr, daß seine bessere Hälfte davon erfahren könnte, die ohnehin schon mit schrecklicher Hand seinen dicken Zopf in den dünnsten weit und breit verwandelt hatte.
«Um Gottes willen, wohltätige Solocha», sagte er, am ganzen Leibe zitternd, «Eure Wohltaten, wie der Evangelist Lukas sagt, Kapitel dreizehn… drei… es klopft, bei Gott, es klopft! Ach, versteck mich irgendwo!» Solocha schüttete aus dem zweiten Sack die Kohlen in den Zuber, und der an Leibesumfang nicht sehr bedeutende Vorsänger kroch hinein und kauerte sich ganz auf den Boden des Sackes, so daß man auf ihn noch einen halben Sack Kohlen hätte draufschütten können. «Sei mir gegrüßt, Solocha!» sagte Tschub, als er die Stube betrat. «Du hast mich vielleicht nicht erwartet, he? Nicht wahr, du hast mich nicht erwartet? Vielleicht störe ich dich?» fuhr Tschub fort, indem er eine fröhliche und bedeutungsvolle Miene aufsetzte, die schon im voraus erkennen ließ, daß sein schwerfälliger Kopf sich anstrengte und anschickte, einen besonders witzigen und geistvollen Scherz von sich zu geben. «Vielleicht
hast
du
dich
gerade
mit
einem
anderen
unterhalten?… Vielleicht hast du schon jemand versteckt, he?» Und begeistert über seine Bemerkung, begann Tschub aus vollem Halse zu lachen, innerlich darüber triumphierend, daß sich nur er allein der Gunst Solochas erfreute. «Nun, Solocha, gib mir jetzt ein Gläschen Wodka zu trinken. Ich glaube, die
Kehle ist mir eingefroren von der verdammten Kälte. Daß uns Gott eine solche Weihnacht bescheren mußte! Geweht hat es, hörst du, Solocha, geweht hat es… ach, die Hände sind mir ganz steif geworden: ich kann nicht einmal den Pelz aufknöpfen! Wie der Schneesturm losging…» «Mach auf!» ertönte auf der Straße eine Stimme, begleitet von heftigem Pochen an der Tür. «Es klopft jemand», sagte Tschub und hielt in seiner Rede inne. «Mach auf!» schrie es noch lauter. «Das ist der Schmied!» rief Tschub und faßte sich an die Mütze. «Hör zu, Solocha, versteck mich, wo du willst; ich will mich um keinen Preis von dieser verdammten Mißgeburt sehen lassen. Daß ihm, dem Teufelssohn, unter beiden Augen Blasen so groß wie Heuschober auflaufen mögen!» Solocha erschrak selber, stürzte wie von Sinnen davon und gab Tschub ganz selbstvergessen ein Zeichen, in den gleichen Sack zu kriechen, in dem schon der Vorsänger saß. Der arme Vorsänger wagte es nicht einmal, durch ein Hüsteln oder Ächzen seinen Schmerz zu bekunden, als sich ihm der schwere Mann fast auf den Kopf setzte und ihm seine in der Kälte hartgefrorenen Stiefel gegen beide Schläfen drückte.
Der Schmied kam herein und ließ sich, ohne ein Wort zu sagen und ohne die Mütze abzunehmen, auf die Bank sinken. Er war offensichtlich in der schlechtesten Laune. Doch im gleichen Augenblick, als Solocha hinter ihm die Tür zumachte, klopfte wieder jemand. Das war der Kosak Swerbyhus. Diesen hätte sie nicht mehr in den Sack stecken können, weil ein solcher Sack nicht zu beschaffen gewesen wäre. Swerbyhus war an Leibesumfang mächtiger als das Dorfoberhaupt und an Körpergröße beachtlicher als Tschubs Gevatter.
Und
deshalb
führte
Solocha
ihn
in
den
Gemüsegarten, um von ihm alles zu erfahren, was er ihr mitteilen wollte. Der Schmied betrachtete zerstreut die Ecken der Stube und horchte von Zeit zu Zeit auf die in der Ferne erklingenden Koljadki; schließlich blieben seine Augen an den Säcken haften. «Weshalb liegen diese Säcke hier? Man hätte sie längst wegräumen müssen. Dieser dummen Liebe wegen bin ich ganz verblödet. Morgen ist Feiertag, und in der Hütte liegt noch immer allerhand Plunder herum. Ich muß sie in die Schmiede tragen!» Damit hockte sich der Schmied neben die riesigen Säcke, band sie fester zu und schickte sich an, sie auf die Schulter zu
nehmen. Doch man merkte, daß seine Gedanken weiß Gott wo herumspazierten, sonst hätte er hören müssen, wie Tschub aufzischte, als die Haare auf seinem Kopf in den Knoten des Stricks gerieten, mit dem der Sack zugebunden wurde, und wie das dicke Oberhaupt ziemlich laut vom Schluckauf geplagt wurde. «Will mir denn diese abscheuliche Oxana gar nicht aus dem Sinn?» sprach der Schmied. «Ich will nicht mehr an sie denken; und dennoch muß ich, wie zum Trotz, immer an sie denken. Weshalb ist es nur so, daß uns ein Gedanke gegen unseren Willen in den Kopf steigt? Zum Teufel, die Säcke scheinen schwerer geworden zu sein! Da liegt wahrscheinlich noch etwas anderes als Kohlen darin… Ich bin ein Narr! Ich habe ganz vergessen, daß mir jetzt alles schwerer vorkommt. Früher konnte ich einen kupfernen Fünfer und ein Hufeisen mit einer Hand zusammen- und auseinanderbiegen; aber jetzt bin ich nicht mehr imstande, ein paar Kohlensäcke aufzuheben. Bald wird mich der Wind umblasen. Nein», schrie er plötzlich, nachdem er einen Augenblick lang überlegt und sich Mut gemacht hatte, «was für ein Weib ich doch bin! Doch niemand soll lachen über mich. Und wenn es zehn solche Säcke wären, alle hebe ich sie auf.» Und trotzig warf er sich die Säcke, die
keine zwei starken Männer fortgetragen hätten, über die Schultern. «Den nehme ich auch noch», fuhr er fort und riß den kleinen Sack hoch, in dessen Zipfeln zusammengekauert der Teufel lag. «Da habe ich scheint’s mein Handwerkszeug hineingetan.» Darauf verließ er die Hütte und pfiff vor sich hin: «Laß das Streiten mit den Weibern!»
Immer lauter und fröhlicher erklangen auf der Straße die Lieder und das Gelächter. Die Scharen der umherziehenden Burschen und Mädchen wurden durch Ankömmlinge aus den Nachbardörfern noch vergrößert. Die Burschen tollten und tobten nach Herzenslust. Schon ließ sich des öftern zwischen den Koljadki ein lustiges Liedchen vernehmen, das soeben einer der jungen Kosaken aus dem Stegreif verfaßt hatte. Und auf einmal gab einer aus der Menge statt einer Koljadka ein Silvesterliedchen zum besten und brüllte aus vollem Halse:
«Silvester, du bester! Gebt Talken und Krapfen, Ein Schüsselchen Grütze, Dazu ein paar Würste!»
Übermütiges Gelächter belohnte den Spaßvogel. Die kleinen Fenster wurden emporgeschoben, und der dürre Arm einer Greisin, die allein mit dem gesetzten Hausvater daheimgeblieben war, streckte sich mit einer Wurst oder einem Stück Pirogge in der Hand heraus. Die Burschen und Mädchen hielten um die Wette ihre Säcke auf und haschten nach der Beute. An einer Stelle schlichen sich die Burschen von allen Seiten heran und umzingelten eine Schar Mädchen: Lärm, Geschrei, einer warf einen Schneeball, ein anderer raubte einen Sack mit allerhand ersungenem Zeug. An einer anderen Stelle haschten die Mädchen einen Burschen, stellten ihm ein Bein, und er flog samt seinem Sack kopfüber in den Schnee. Es war, als hätten sie vereinbart, die ganze Nacht hindurch ihren Unfug zu treiben. Und die Nacht schmolz geradezu vor Entzücken, und das Licht des Mondes erschien durch das Glitzern des Schnees noch heller. Der Schmied blieb mit seinen Säcken stehen. Er glaubte in einer Mädchenschar die Stimme und das feine Lachen Oxanas vernommen zu haben. Alle Fasern in ihm zuckten; er warf die Säcke zu Boden, so daß der Vorsänger, der zuunterst lag, von dem Aufprall schmerzlich aufstöhnte und das Dorfoberhaupt laut rülpste, dann warf er den kleinen Sack über die Schulter
und schloß sich den Burschen an, die hinter der Mädchenschar einhergingen, in welcher er Oxanas Stimme gehört zu haben glaubte. «Ja, das ist sie! Sie steht da wie eine Zarin und läßt ihre schwarzen Augen blitzen! Ein stattlicher Bursche erzählt ihr etwas; wahrscheinlich etwas Unterhaltsames, weil sie lacht. Aber sie lacht ja immer…»Unwillkürlich, ohne selbst zu begreifen wie, drängte sich der Schmied durch die Menge und stand plötzlich neben ihr. «Ah, Wakula, du bist hier! Sei uns gegrüßt!» sagte die Schöne mit dem gleichen Lächeln, das Wakula beinahe um den Verstand brachte. «Nun, hast du dir schon viel ersungen? Eh, was für ein kleines Säckchen! Und die Schuhe, welche die Zarin trägt? hast du sie schon? Besorge mir doch die Schuhe, dann nehme ich dich!» Und lachend lief sie mit der Mädchenschar davon. Wie angewurzelt stand der Schmied auf einem Fleck. «Nein, ich kann nicht mehr; ich bin mit meinen Kräften am Ende…», sagte er schließlich. «Aber, Herrgott im Himmel! warum ist sie nur so verteufelt schön? Ihr Blick und ihre Rede und alles brennt nur so in mir, brennt nur so und… Nein, ich kann mich nicht mehr überwinden! Es ist Zeit, daß mit allem Schluß
gemacht wird: so geh denn zugrunde, Seele, ich gehe und ertränke mich in einem Eisloch; dann denkt nach, wie ich geheißen habe!» Mit ausholenden Schritten eilte er vorwärts, holte die Schar ein, erreichte Oxana und sagte mit fester Stimme: «Leb wohl, Oxana! Such dir einen Bräutigam, wo du willst, und halte zum Narren, wen du willst; aber mich wirst du in dieser Welt nicht mehr zu Gesicht bekommen!» Die Schöne schien erstaunt zu sein, wollte etwas sagen, aber der Schmied machte eine wegwerfende Handbewegung und lief davon. «Wohin, Wakula?» riefen die Burschen, als sie den Schmied laufen sahen. «Lebt wohl, Brüder!» rief ihnen der Schmied als Antwort zu. «So Gott will, werden wir uns in jener Welt wiedersehen; aber in dieser werden wir nicht mehr mitsammen bummeln. Lebt wohl, gedenkt meiner nicht im Bösen! Sagt dem Vater Kondrat, daß er eine Totenmesse für meine sündige Seele singen soll. Die Kerzen zu den Ikonen des Wundertäters Nikolaus und der Gottesmutter habe ich Sünder weltlicher Dinge halber nicht mehr bemalen können. Alle Habe, die sich in meinem Kasten findet, gehört der Kirche! Lebt wohl!»
Nach diesen Worten lief der Schmied mit dem Sack auf dem Rücken wieder weiter. «Er ist verrückt geworden!» sprachen die Burschen. «Eine
verlorene
Seele!»
murmelte
andächtig
eine
vorübergehende Alte. «Ich muß es rasch erzählen, wie sich der Schmied erhängt hat!» Mittlerweile war der Schmied, nachdem er durch mehrere Gassen gelaufen war, wieder stehengeblieben, um Atem zu schöpfen. Wieso laufe ich eigentlich, dachte er, als ob schon alles verloren wäre? Ich will noch ein Mittel versuchen: ich gehe zu dem Saporoger Dickwanst Pazjuk. Er kennt, wie es heißt, alle Teufel und macht alles, was er will. Ich gehe, meine Seele ist ja so und so verloren! Bei diesen Worten begann der Teufel, der lange Zeit regungslos im Sack gelegen hatte, vor Freude zu hüpfen; aber der Schmied, der da meinte, irgendwie mit dem Arm am Sack hängengeblieben zu sein und diese Bewegung selbst verursacht zu haben, schlug mit seiner mächtigen Faust auf den Sack, schüttelte ihn auf der Schulter zurecht und begab sich zu dem Dickwanst Pazjuk. Dieser Dickwanst Pazjuk war tatsächlich einmal ein Saporoger Kosak gewesen; ob man ihn jedoch aus Saporoschje
verjagt hatte oder ob er selber davongelaufen war, das wußte niemand. Er wohnte schon lange, so an die zehn oder gar fünfzehn Jahre, in Dikanka. Anfangs lebte er wie ein echter Saporoger: arbeitete nichts, verschlief drei Viertel des Tages, aß für sechs Drescher und trank auf einen Zug schier einen ganzen Eimer aus; übrigens hatte der auch bequem Platz in seinem Bauch, weil Pazjuk trotz seiner kleinen Statur der Breite nach ziemlich ansehnlich war. Außerdem waren seine Pluderhosen so weit, daß man selbst beim größten Schritt, den er machte, überhaupt nichts von den Beinen bemerkte, sondern der Meinung war, da kollerte ein Branntweinzuber über die Straße. Vielleicht gab dieser Umstand auch den Anlaß, ihm den Spitznamen Dickwanst anzuhängen. Es war noch keine Woche seit seiner Ankunft im Dorf vergangen, als schon jedermann wußte, daß er ein Hexenmeister war. War einer erkrankt, ließ er sogleich Pazjuk holen; und Pazjuk brauchte nur einige Worte zu murmeln, und die Krankheit war wie mit der Hand weggewischt. Wenn ein gefräßiger Edelmann an einer verschluckten Fischgräte zu ersticken drohte, konnte ihn Pazjuk mit der Faust so geschickt auf den Rücken schlagen, daß sich die Gräte auf der Stelle dorthin begab, wo sie hingehörte, ohne der adeligen Kehle den geringsten Schaden
zuzufügen. In der letzten Zeit hatte man ihn selten zu Gesicht bekommen. Der Grund dafür war vielleicht seine Faulheit, vielleicht aber auch der Umstand, daß es ihm mit jedem Jahr schwerer fiel, durch die Tür zu kommen. Deshalb mußten die Dorfbewohner selbst zu ihm kommen, wenn sie seiner bedurften. Der Schmied öffnete die Tür nicht ohne Scheu und erblickte Pazjuk, wie er nach Türkenart auf dem Fußboden vor einem kleinen Fäßchen saß, auf dem eine Schüssel mit Knödeln stand. Diese Schüssel stand ausgerechnet vor seinem Mund. Ohne einen Finger zu rühren, neigte er den Kopf leicht über die Schüssel, schlürfte die Brühe und schnappte ab und zu mit den Zähnen nach einem Knödel. Nein, dachte Wakula bei sich, der ist noch fauler als Tschub: jener ißt wenigstens noch mit dem Löffel, während dieser nicht einmal mehr eine Hand rühren will! Pazjuk war offensichtlich stark mit seinen Knödeln beschäftigt, weil er scheint’s das Kommen des Schmiedes überhaupt nicht bemerkt hatte, der ihm, kaum daß er über die Schwelle getreten war, eine ganz tiefe Verbeugung machte. «Ich bin zu deiner Gnaden gekommen, Pazjuk!» sagte Wakula und verbeugte sich von neuem.
Der dicke Pazjuk hob den Kopf und begann wieder seine Knödeln zu vertilgen. «Es heißt, daß du, nimm es mir nicht übel…» sagte der Schmied und nahm seine ganze Courage zusammen, «ich spreche nicht deshalb darüber, um dir eine Kränkung oder Beleidigung anzutun, aber du sollst ein wenig mit dem Teufel verschwägert sein…» Kaum hatte der Schmied diese Worte gesagt, erschrak er auch schon, weil er dachte, sich immer noch allzu deutlich ausgedrückt und die kräftigen Worte nicht genügend gemildert zu haben; und in der Erwartung, daß Pazjuk das Fäßchen samt der Schüssel packen und beides geradewegs an die Adresse seines Kopfes schicken werde, trat er etwas zur Seite und hielt sich den Ärmel vor, damit ihm die heiße Knödelbrühe nicht das Gesicht vollspritzte. Doch Pazjuk schaute nur auf und begann wieder seine Knödel zu vertilgen. Der ermutigte Schmied beschloß fortzufahren: «Ich bin zu dir gekommen, Pazjuk, Gott schenke dir alles Gute in Hülle und Fülle und Brot in Proportion…» Der Schmied verstand es sehr wohl, gelegentlich ein neumodisches Wort in seine Rede einfließen zu lassen; diese Fertigkeit hatte er sich während seines Aufenthalts in Poltawa
angeeignet, als er dem Sotnik den Bretterzaun strich. «Ich sündiger Mensch bin verloren! Nichts in der Welt kann mir noch helfen! Mag sein, was will, ich muß den Teufel selber um Hilfe bitten. Sag mir, Pazjuk», fragte der Schmied, als er dessen beharrliches Schweigen bemerkte, «was soll ich tun?» «Wenn du den Teufel brauchst, dann geh zum Teufel!» antwortete Pazjuk, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und vertilgte weiterhin seine Knödel. «Deshalb bin ich ja zu dir gekommen», antwortete der Schmied und machte einen tiefen Bückling, «außer dir, glaube ich, kennt niemand auf der Welt den Weg zu ihm.» Pazjuk sagte kein Wort und aß die restlichen Knödel auf. «Erweise mir die Gnade, guter Mensch, versag dich nicht!» bedrängte ihn der Schmied. «Schweinefleisch, Würste, Buchweizenmehl, auch Leinwand, Hirse oder sonstiges, falls du Bedarf hast… wie es gewöhnlich unter guten Menschen der Brauch ist… ich werde nicht geizig sein. Aber sage mir nur, beispielsweise, wie man zu ihm hinfindet.» «Wer den Teufel auf den Schultern hat, braucht nicht weit zu gehen», sprach Pazjuk gleichgültig, ohne seine Stellung zu verändern.
Wakula starrte ihn an, als stände die Erklärung dieser Worte auf dessen Stirn geschrieben. Was hat er da gesagt? schien sein Gesichtsausdruck
wortlos
zu
fragen,
während
sein
halbgeöffneter Mund sich anschickte, das erste Wort Pazjuks wie einen Knödel zu verschlingen. Aber Pazjuk schwieg. Da bemerkte Wakula, daß sich weder die Knödel noch das Faß mehr vor ihm befanden; statt dessen standen zwei hölzerne Schüsseln auf dem Fußboden: die eine war mit Quarktaschen, die andere mit Rahm gefüllt. Seine Gedanken und Augen blieben unwillkürlich an diesen Speisen haften. Wollen wir doch zuschauen, sagte er zu sich selber, wie Pazjuk die Quarktaschen essen wird. Vorbeugen, um sie wie die Knödel einzuschlürfen, wird er sich wahrscheinlich nicht wollen, und es geht auch gar nicht: man muß die Quarktaschen zuerst in den Rahm tauchen. Aber kaum war er mit seinen Gedanken fertig, da riß Pazjuk den Mund auf, blickte auf die Quarktaschen und riß den Mund noch weiter auf. Im gleichen Augenblick schnellte eine Quarktasche aus der Schüssel, platschte in den Rahm, drehte sich auf die andere Seite, sprang in die Höhe und fiel ihm geradewegs in den Mund. Pazjuk verspeiste sie und riß wieder den Mund auf, und die nächste Quarktasche folgte auf die
nämliche Weise. Er selber nahm sich nur die Mühe, sie zu kauen und zu verschlucken. Das sind Wunder! dachte der Schmied und sperrte vor Verwunderung den Mund auf, und im selben Augenblick bemerkte er, daß eine Quarktasche auch in seinen Mund geflogen kam und schon die Lippen mit Rahm beschmierte. Er stieß die Quarktasche beiseite, wischte sich die Lippen ab und begann darüber nachzudenken, was für Wunder es auf der Welt gibt und auf welche Kunststücklein die unreine Macht den Menschen verfallen läßt, und kam zu der Einsicht, daß nur Pazjuk ihm helfen könnte. Ich werde mich noch einmal verbeugen, dann soll er mir alles schön erklären… Aber zum Teufel! Heute gibt es doch nur Fastenkutja, und er ißt Quarktaschen, Quarktaschen mit Fett! Was für ein Narr ich doch bin! da stehe ich und belade mich mit Sünden! Zurück! Und der fromme Schmied stürzte Hals über Kopf aus der Hütte. Der Teufel jedoch, der im Sack hockte und sich schon im voraus gefreut hatte, konnte es nicht ertragen, daß ihm eine so herrliche Beute entwischen sollte. Kaum daß der Schmied den Sack fallen ließ, sprang er heraus und setzte sich ihm rittlings auf den Nacken.
Dem Schmied lief es eiskalt über den Rücken; erschreckt und totenblaß, wußte er nicht, was er tun sollte; er wollte sich schon bekreuzigen… Aber da neigte der Teufel seine Hundeschnauze an Wakulas rechtes Ohr und sagte: «Ich bin es, dein Freund, ich tue alles für einen Genossen und Freund! Ich gebe dir Geld, soviel du willst», wisperte er ihm ins linke Ohr. «Oxana wird noch heute unser», flüsterte er und neigte seine Schnauze ans rechte Ohr. Der Schmied stand da und überlegte. «Mit Verlaub», sagte er schließlich, «um diesen Preis bin ich bereit, der Deine zu werden!» Der Teufel klatschte in die Hände und begann vor Freude auf dem Nacken des Schmiedes zu galoppieren. Jetzt ist mir der Schmied in die Falle gegangen! dachte er bei sich, jetzt werde ich dir, mein Täubchen, alle deine Schmierereien und Flunkereien, mit denen du die Teufel bedacht hast, in barer Münze heimzahlen! Was werden meine Genossen sagen, wenn sie erfahren, daß der frömmste Mann des ganzen Dorfes in meinen Händen ist? Der Teufel lachte vor Freude und stellte sich vor, wie er in der Hölle die ganze geschwänzte Brut necken würde und wie der hinkende Teufel, der sich, was
Einfälle und Streiche betraf, der Erste unter ihnen dünkte, vor Neid toben würde. «Nun, Wakula!» piepste der Teufel, der noch immer nicht von dessen Nacken herunterkroch, als befürchtete er, daß er ihm entfliehen könnte, «du weißt, daß ohne Vertrag nichts zu machen ist?» «Ich bin bereit!» sagte der Schmied. «Bei euch, habe ich gehört, wird mit Blut unterschrieben; verhalt dich still, ich hole einen Nagel aus der Tasche!» Damit griff er mit der Hand nach hinten – und packte den Teufel am Schwanz. «Ei, was für ein Spaßvogel!» schrie der Teufel lachend. «Nun, laß wieder los, genug der Possen!» «Halt, mein Täubchen!» schrie der Schmied, «und wie gefällt dir das?» Dabei machte er das Zeichen des Kreuzes, und der Teufel wurde so still wie ein Lämmlein. «Warte nur», sagte er und zerrte ihn am Schwanz zu Boden, «ich werde dir schon beibringen, gute Menschen und ehrliche Christen zum Sündigen zu verleiten!» Damit schwang sich der Schmied, ohne den Schwanz loszulassen, auf des Teufels Rücken und hob die Hand, um das Zeichen des Kreuzes zu machen.
«Erbarmen, Wakula!» stöhnte der Teufel kläglich, «alles, was du willst, alles will ich tun, nur laß meine Seele in Frieden: leg mir nicht das schreckliche Kreuz auf!» «Aha, jetzt singst du schon ein anderes Liedchen, verdammter Deutscher! Jetzt weiß ich, was zu tun ist. Laß mich sofort reiten auf dir! Hörst du, trage mich wie ein Vogel dahin!» «Wohin?» fragte der Teufel traurig. «Nach Petersburg, geradewegs zur Zarin!» Und der Schmied erstarrte vor Schreck, als er sich in die Luft emporgehoben fühlte. Noch lange stand Oxana da und dachte über die merkwürdigen Reden des Schmiedes nach. Schon ließ sich in ihrem Inneren eine Stimme vernehmen, daß sie ein wenig zu grob mit ihm umgegangen sei. Was, wenn er sich tatsächlich zu etwas Schrecklichem entschließt? Nichts ist unmöglich! Vielleicht hat er gar vor, sich aus Gram in eine andere zu verlieben, und fängt vor Ärger an, diese zur größten Schönheit des Dorfes zu erklären? Aber nein, er liebt mich. Ich bin doch so schön! Er wird mich um keinen Preis aufgeben; er treibt Possen und verstellt sich. Ehe zehn Minuten vergehen, steht er wahrscheinlich schon wieder da, um mich zu betrachten. Ich
bin tatsächlich grausam. Ich muß mich einmal, wenn auch so, als täte ich’s ungern, von ihm küssen lassen. Das wird ihn freuen! Und die leichtsinnige Schöne scherzte schon wieder mit ihren Gefährtinnen. «Bleibt einmal stehen», sagte eine von ihnen, «der Schmied hat seine Säcke vergessen; schaut nur, was für schreckliche Säcke! Er hat sich für seine Koljadki ganz andere Geschenke ersungen als wir: ich glaube, man hat ihm ein ganzes Hammelviertel hineingeworfen; und die Würste und Brote lassen sich wahrscheinlich überhaupt nicht zählen. Herrlich! daran kann man sich während der ganzen Feiertage überessen!» «Sind das die Säcke des Schmieds?» unterbrach sie Oxana. «Schleppen wir sie rasch zu mir in die Hütte, und schauen wir nach, was er alles hineingetan hat.» Alle stimmten diesem Vorschlag lachend zu. «Aber wir können sie nicht aufheben!» rief plötzlich die ganze Schar und strengte sich an, die Säcke aufzurichten. «Wartet einmal», sagte Oxana, «laufen wir schnell nach einem Schlitten und fahren sie auf dem Schlitten weg!» Und die ganze Schar lief nach einem Schlitten. Den Gefangenen war inzwischen das Herumsitzen in den Säcken höchst langweilig geworden, ungeachtet dessen, daß
sich der Vorsänger mit den Fingern ein beachtliches Loch gebohrt hatte. Wäre nicht soviel Volk herumgestanden, hätte er vielleicht ein Mittel gefunden hinauszukriechen; aber vor aller Augen aus einem Sack zu kriechen und sich dem Gelächter preiszugeben… das hielt ihn davon ab, und er beschloß zu warten und stöhnte nur mitunter leise unter Tschubs unhöflichen Stiefeln. Tschubs selber lechzte nicht minder nach der Freiheit, weil er spürte, daß unter ihm etwas lag, auf dem zu sitzen ganz entsetzlich unbequem war. Doch als er den Entschluß seiner Tochter vernommen hatte, beruhigte er sich und wollte nicht mehr hinauskriechen, zumal ihm einfiel, daß er bis zu seiner Hütte mindestens hundert Schritt, wenn nicht gar zweihundert, zu gehen hatte. Außerdem hätte er sich nach dem Hinauskriechen etwas herrichten, den Pelz zuknöpfen und den Gürtel neu binden müssen – o viel Arbeit! und auch seine Kapuze war bei Solocha liegengeblieben. Da sollten ihn doch lieber die Mädchen auf dem Schlitten nach Hause fahren. Es kam jedoch ganz anders, als es Tschub erwartet hatte. Während die Mädchen nach einem Schlitten liefen, trat der baumlange Gevatter verstört und in schlechtester Laune aus der Schenke. Die Schankwirtin hatte sich durchaus nicht entschließen können, ihm etwas anzuschreiben; er wollte
deshalb warten, ob vielleicht nicht ein frommer Edelmann käme, um ihn zu bewirten; aber wie zum Trotz blieben alle Edelleute zu Hause und aßen als ehrliche Christen die Kutja im Kreise der Ihrigen. Während nun der Gevatter über diese Sittenverderbnis und das steinerne Herz der Jüdin nachdachte, die den Schnaps verkaufte, stieß er auf die Säcke und blieb verblüfft stehen. «Schau an, was für Säcke da jemand auf die Straße geworfen hat!» sagte er und hielt nach allen Seiten Ausschau; «da muß Schweinefleisch drinnen sein. Was muß der für ein Glück gehabt haben, daß er sich so viele schöne Sachen ersingen konnte! Was für schreckliche Säcke! Nehmen wir an, daß sie nur mit Buchweizenkuchen und Schmalzfladen vollgestopft sind, auch das wäre gut. Selbst wenn sie lauter Brotlaibe enthielten, auch das wäre nicht schlecht: die Jüdin gibt für jeden Laib ein Achtel Wodka. Rasch weg mit ihnen, daß es niemand sieht.» Damit warf er sich den Sack mit Tschub und dem Vorsänger über die Schulter, merkte jedoch bald, daß er ihm zu schwer war. «Nein, einer allein kann ihn kaum tragen», sagte er, «aber da kommt ja wie gerufen der Weber Schapowalenko daher. Grüß dich, Ostap!» «Grüß dich», sagte der Weber und blieb stehen.
«Wohin gehst du?» «Ach, nur so, wohin mich die Füße tragen.» «Dann hilf mir, guter Mensch, die Säcke fortzuschleppen! Da hat jemand seinen Lohn für das Singen mitten auf die Straße geworfen. Wir wollen ihn redlich unter uns teilen.» «Die Säcke? Was ist in den Säcken? Knisch oder Brot?» «Ja, ich glaube, von allem genug.» Darauf rissen sie eilends Stöcke aus einem Flechtzaun, legten den Sack darauf und trugen ihn auf den Schultern fort. «Wohin sollen wir ihn denn tragen? In die Schenke?» fragte der Weber unterwegs. «Ich würde ja auch sagen: in die Schenke; aber die verdammte Jüdin wird uns nicht glauben und am Ende gar noch denken, daß wir ihn gestohlen hätten; obendrein komme ich gerade aus der Schenke. Wir tragen ihn am besten in meine Hütte. Dort stört uns niemand: mein Weib ist nicht daheim.» «Ist sie auch wirklich nicht daheim?» fragte der vorsichtige Weber. «Gott sei Dank sind wir ja noch bei klarem Verstand», sagte der Gevatter, «nur der Teufel könnte mich dort hinbringen, wo sie ist. Ich glaube, sie wird sich bei ihren Weibern bis zum Hell werden herumtreiben.»
«Wer da?» schrie das Weib des Gevatters, als sie im Hausflur den Lärm hörte, den die Ankunft der beiden Freunde mit dem Sack verursachte, und öffnete die Tür. Der Gevatter erstarrte. «Da haben wir’s!» stieß der Weber hervor und ließ die Arme sinken. Das Weib des Gevatters war eines jener Kleinodien, wie es deren nicht wenige auf Gottes schöner Welt gibt. Ebenso wie ihr Mann saß sie fast niemals zu Hause und trieb sich fast den ganzen Tag bei allerlei Gevatterinnen und wohlhabenden Greisinnen herum, lobte sie und aß mit großem Appetit und raufte lediglich des Morgens mit ihrem Mann, weil sie ihn nur um diese Tageszeit hin und wieder zu Gesicht bekam. Ihre Hütte war doppelt so alt wie die Pluderhosen des Gemeindeschreibers, das Dach war an mehreren Stellen ohne Stroh. Vom Zaun waren nur mehr Reste zu sehen, weil keiner, der von zu Hause fortging, einen Stock gegen die Hunde mitnahm, denn er hoffte am Gemüsegarten des Gevatters vorbeizukommen und sich dort den passenden aus dem Zaun herausreißen zu können. Der Ofen wurde oft drei Tage lang nicht geheizt. Alles, was die zärtliche Gemahlin bei guten Menschen zusammenbettelte, versteckte sie möglichst sicher
vor ihrem Mann und nahm ihm auch häufig eigenmächtig seine Beute ab, wenn es ihm noch nicht gelungen war, sie in der Schenke zu vertrinken. Trotz seiner unerschütterlichen Kaltblütigkeit wollte ihr der Gevatter doch nicht nachgeben und verließ deshalb das Haus fast jedesmal mit braun und blau geschlagenen Augen, während sich die teure Ehehälfte ächzend zu ihren alten Weibern trollte, um ihnen Märchen über die Liederlichkeit ihres Mannes und die von ihm erhaltenen Prügel zu erzählen. Jetzt kann man sich vorstellen, wie verblüfft der Weber und der Gevatter über diese unerwartete Erscheinung waren. Sie ließen den Sack zu Boden fallen, stellten sich davor und bedeckten ihn mit ihren Rockschößen; aber es war bereits zu spät: des Gevatters Weib sah zwar schon ziemlich schlecht mit ihren alten Augen, aber den Sack hatte sie trotzdem erblickt. «Das ist aber schön!» sagte sie mit einem Blick, in welchem die Raubgier eines Habichts zu erkennen war. «Das ist schön, daß ihr euch so viel ersungen habt! So machen es gute Menschen immer; nur glaube ich, daß ihr den Sack irgendwo mitgenommen habt. Zeigt mir sofort, hört ihr, zeigt mir sofort, was drin ist!»
«Ein glatzköpfiger Teufel wird es dir vielleicht zeigen, aber nicht wir», sagte der Gevatter und nahm eine würdevolle Haltung an. «Was geht es dich an?» sagte der Weber. «Wir haben es uns ersungen und nicht du.» «Nein, du wirst es mir zeigen, nichtsnutziger Säufer!» schrie das Weib, versetzte dem baumlangen Gevatter einen Faustschlag unter das Kinn und drängte sich an den Sack heran. Der Weber und der Gevatter verteidigten indes männlich ihren Sack und nötigten sie, den Rückzug anzutreten. Aber sie hatten sich noch nicht besonnen, als auch schon die Gemahlin mit der Ofengabel in der Hand in den Hausflur stürzte. Flink schlug sie ihren Mann auf die Hände, den Weber auf den Rücken und stand schon neben dem Sack. «Weshalb haben wir sie herangelassen?» sagte der Weber, als er wieder zu sich gekommen war. «Ja, weshalb haben wir sie herangelassen! Weshalb hast du sie denn herangelassen?» fragte der Gevatter kaltblütig. «Ihr habt scheint’s eine eiserne Ofengabel!» sagte nach kurzem Schweigen der Weber und kratzte sich den Rücken. «Mein Weib hat im vorigen Jahr auf dem Jahrmarkt eine
Ofengabel gekauft, fünfundzwanzig Kopeken hat sie gekostet, die ist besser… tut nicht so weh…» Mittlerweile hatte die triumphierende Gemahlin den Kahanez auf den Boden gestellt, den Sack aufgebunden und hineingeschaut. Aber ihre alten Augen, die so gut den Sack wahrgenommen hatten, trogen sie wohl diesmal. «Äh, da liegt ja ein ganzer Eber!» schrie sie auf und klatschte vor Freude in die Hände. «Ein Eber! Hörst du, ein ganzer Eber!» rief der Weber und stieß den Gevatter in die Seite. «Und an allem bist du schuld!» «Was tun?» sagte der Gevatter achselzuckend. «Was tun? Weshalb stehen wir da? Wir nehmen ihr den Sack ab! Nun, vorwärts! – Scher dich fort! Scher dich! Das ist unser Eber!» schrie der Weber und ging zum Angriff über. «Pack dich, pack dich, du Teufelsweib! Das ist nicht dein Eigentum!» sagte der Gevatter und rückte vor. Die Gemahlin griff wiederum nach der Ofengabel, doch in diesem Augenblick kroch Tschub aus dem Sack, blieb mitten im Flur stehen und streckte sich wie ein Mensch, der soeben aus einem langen Schlaf erwacht ist. Des Gevatters Weib schrie auf, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, und alle rissen unwillkürlich die Mäuler auf.
«Was redet die Närrin da: ein Eber? Das ist kein Eber!» sagte der Gevatter mit vorquellenden Augen. «Da schau, wen sie da in den Sack gesteckt haben!» sagte der Weber, vor Schreck zurückweichend. «Sag, was du willst, aber ich will platzen, wenn das ohne den Leibhaftigen zustande gekommen ist. Der da kann doch durch kein Fenster, geschweige denn in einen Sack kriechen!» «Das ist der Gevatter!» schrie der Gevatter, als er genauer hinblickte. «Was hast denn du geglaubt?» sagte Tschub lächelnd. «Da habe ich euch ein schlaues Stücklein geliefert, was? Und ihr wolltet mich schon als Schweinefleisch verspeisen? Aber halt, ich will euch eine Freude machen: im Sack liegt noch etwas, wenn nicht ein Eber, so doch wahrscheinlich ein Ferkel oder ein anderes Lebewesen. Unter mir hat sich fortwährend etwas gerührt.» Der Weber und der Gevatter stürzten sich auf den Sack, die Frau des Hauses klammerte sich auf der entgegengesetzten Seite fest, und die Rauferei hätte von neuem begonnen, wäre nicht der Vorsänger, als er merkte, daß er sich nirgends verstecken konnte, ebenfalls aus dem Sack gekrochen.
Des Gevatters Weib erstarrte und ließ entsetzt den Fuß los, an dem sie eben noch den Vorsänger hatte aus dem Sack ziehen wollen. «Da ist noch einer!» schrie der Weber entsetzt auf. «Der Teufel mag wissen, was auf der Welt vorgeht… Der Kopf schwindelt einem… Nicht Würste und nicht Brote, sondern Menschen werden als Sängerlohn in die Säcke geworfen!» «Das ist der Vorsänger!» rief Tschub, noch mehr verdutzt als die übrigen. «Da haben wir’s also! Ei, diese Solocha! Menschen in Säcke pferchen… Und ich wunderte mich noch, daß die Hütte voller Säcke war… Jetzt weiß ich alles: in jedem Sack hockten zwei Männer. Und ich dachte, daß sie nur mich allein… Da hast du also deine Solocha!»
Die Mädchen wunderten sich nicht wenig, als sie den einen Sack nicht mehr fanden. «Nichts zu machen, wir werden auch an dem anderen genug haben», schwatzte Oxana. Alle packten zu und wälzten den Sack auf den Schlitten. Das Dorfoberhaupt beschloß zu schweigen, denn es überlegte: Wenn ich schreie, mich hinauszulassen und den Sack aufzubinden, werden die dummen Mädchen davonlaufen
und glauben, daß der Teufel im Sack sitzt, und ich werde vielleicht bis zum Morgen auf der Straße liegen müssen. Die Mädchen flogen indes, einander einträchtig an den Händen haltend, wie der Sturmwind mit dem Schlitten über den knirschenden Schnee. Viele setzten sich mutwillig auf den Schlitten, manche suchten sich dazu das Oberhaupt selber aus. Das Oberhaupt beschloß, alles zu ertragen. Endlich kamen sie an, rissen die Tür zum Flur und die Stubentür sperrangelweit auf und schleppten den Sack lachend und kreischend hinein. «Schauen wir nach, was alles drin ist», schrien alle und stürzten sich auf den Sack, um ihn zu öffnen. In diesem Augenblick wurde der Schluckauf, welcher das Oberhaupt während der ganzen Zeit seines Aufenthaltes im Sack nicht zu quälen aufgehört hatte, so heftig, daß er aus vollem Hals zu schlucken und zu husten anfing. «Ach, da sitzt jemand drin!» schrien alle und stürzten erschrocken zur Tür hinaus. «Was zum Teufel! wohin rennt ihr denn wie die Verrückten?» sagte Tschub, der gerade zur Tür hereinkam. «Ach, Väterchen!» rief Oxana, «in dem Sack sitzt jemand!» «In dem Sack? Woher habt ihr diesen Sack?»
«Der Schmied hat ihn mitten auf die Straße geworfen», sagten alle auf einmal. Na also, habe ich es nicht gesagt? dachte Tschub bei sich. «Worüber seid ihr denn so erschrocken? Schauen wir hinein. Heda, Menschenskind, bitte sei nicht ungehalten, daß wir dich nicht bei deinem Vornamen und Vaternamen nennen, aber kriech aus dem Sack heraus!» Das Oberhaupt kroch heraus. «Ach!» schrien die Mädchen auf. «Auch das Oberhaupt ist hineingekrochen», sagte Tschub bestürzt vor sich hin und maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen, «sieh mal an!… he, he…!» Mehr konnte er nicht sagen. Das Oberhaupt war nicht weniger bestürzt und wußte nicht, was er tun sollte. «Draußen ist es wohl recht kalt?» sagte er zu Tschub gewandt. «Es friert ganz schön», antwortete Tschub. «Aber gestatte mir die Frage: Womit schmierst du gewöhnlich deine Stiefel, mit Talg oder mit Teer?» Er wollte das gar nicht sagen, er wollte fragen: Wie bist du, das Oberhaupt, in diesen Sack gekommen? verstand jedoch selber nicht, weshalb er etwas ganz anderes gesagt hatte.
«Mit Teer ist es besser!» sagte das Oberhaupt. «Nun, leb wohl, Tschub!» Und er zog sich die Kapuze über die Ohren und verließ die Hütte. «Weshalb habe ich so dumm gefragt, womit er sich die Stiefel einschmiert?» stieß Tschub hervor und blickte nach der Tür, durch welche das Oberhaupt hinausgegangen war. «Ei, diese Sochola! so einen Menschen in den Sack zu stecken!… Dieses Teufelsweib! Und ich Narr… Aber wo ist denn dieser verdammte Sack?» «Ich habe ihn in die Ecke geworfen, es ist nichts mehr drin», sagte Oxana. «Ich kenne diese Witze schon, nichts mehr drin! Bringt ihn wieder her: es sitzt noch einer drin! Schüttelt ihn nur ordentlich… Was, nichts mehr? So ein verdammtes Weib! Aber dem Aussehen nach wie eine Heilige – als ob sie nur Fastenspeisen zu sich nähme…» Doch lassen wir Tschub in aller Muße seinem Ärger Luft machen und wenden wir uns dem Schmied zu, weil es draußen sicherlich schon auf die neunte Stunde zugeht. Anfänglich kam es Wakula schrecklich vor, als er von der Erde weg in solche Höhen getragen wurde, daß er unten nichts mehr sehen konnte, und wie eine Fliege so dicht am Mond
vorbeiflog, daß er, wenn er sich nicht ein wenig gebückt hätte, mit der Mütze an ihm hängengeblieben wäre. Alsbald faßte er jedoch Mut und begann mit dem Teufel seine Kurzweil zu treiben. Es belustigte ihn außerordentlich, wie der Teufel nieste und hustete, wenn er sein Kreuzlein aus Zedernholz vom Hals nahm und es diesem unter die Nase hielt. Absichtlich hob er die Hand, um sich den Kopf zu kratzen, während der Teufel in der Meinung, daß er sich anschickte, das Kreuzzeichen zu machen, noch schneller zu fliegen begann. Alles war licht in der himmlischen Höhe. Die Luft in dem leichten silbernen Nebel war durchsichtig. Alles war zu sehen, und man konnte sogar erkennen, wie ein Zauberer, in einem Topf sitzend, wie der Wirbelwind an ihnen vorbeisauste; wie die Sterne, zuhauf versammelt, Blindekuh spielten; wie sich etwas abseits ein ganzer Geisterschwarm wolkenartig dahinwälzte; wie ein im Mondenschein tanzender Teufel die Mütze zog, als er den rittlings dahingaloppierenden Schmied erblickte; wie ein Besen,
auf
dem
Versammlungsort
scheint’s geritten
gerade war,
eine
allein
Hexe nach
zum Hause
zurückflog… und noch mancherlei ähnlichem Gesindel begegneten sie. Alle, die den Schmied gewahrten, verhielten einen Augenblick, schauten ihm nach und sausten wieder
weiter und setzten ihr Treiben fort. Der Schmied flog noch immer; und plötzlich blitzte vor ihnen Petersburg auf, ganz in Feuerschein gehüllt. Es fand gerade aus irgendeinem Anlaß eine Illumination statt. Der Teufel flog über den Schlagbaum, verwandelte sich in ein Pferd, und der Schmied erblickte sich auf einem feurigen Renner mitten auf der Straße. Mein Gott! Rasseln, Getöse, Licht; zu beiden Seiten türmten sich vierstöckige Mauern; Stampfen von Pferdehufen, Rasseln von Wagen donnerte und hallte von allen vier Seiten wider; Häuser wuchsen und schossen gleichsam auf Schritt und Tritt aus der Erde empor; Brücken zitterten; Kutschen flogen vorbei; Kutscher und Vorreiter schrien; der Schnee pfiff unter den Tausenden von allen Seiten vorbeiflitzenden Schlitten; Fußgänger
drängten
und
drückten
sich
an
die
von
Illuminationslampen übersäten Häuser, und ihre riesigen Schatten huschten über die Mauern und streiften mit dem Kopf Schornsteine und Dächer. Bestürzt blickte der Schmied nach allen Seiten. Es war ihm, als hefteten alle Häuser ihre zahllosen, feurigen Augen auf ihn und schauten. Herren in tuchüberzogenen Pelzen erblickte er so viele, daß er nicht wußte, vor wem er zuerst die Mütze ziehen sollte. Mein Gott, wieviel Herrschaften es hier gibt! dachte der Schmied. Ich
glaube, daß jeder, der in einem Pelz über die Straße geht, ein Gerichtsassessor, zumindest ein Gerichtsassessor ist und daß jene, welche in diesen seltsamen Britschen mit Fensterscheiben vorüberfahren, wenn nicht schon Stadthauptleute, so doch Kommissare oder vielleicht gar noch etwas Höheres sind. Diese Gedanken wurden von der Frage des Teufels unterbrochen: «Geradewegs zur Zarin?» Nein, das ist zu schrecklich, dachte der Schmied. Da sind doch, ich weiß nicht, irgendwo die Saporoger eingekehrt, welche im Herbst durch Dikanka fuhren. Sie reisten aus der Setsch mit Papieren zur Zarin; mit denen könnte ich mich immerhin beraten. «He, Satan, kriech mir in die Tasche und führe mich zu den Saporogern!» Der Teufel magerte im Nu ab und machte sich so klein, daß er mühelos in seine Tasche kriechen konnte. Und ehe sich Wakula dessen versehen hatte, befand er sich vor einem großen Haus, ging, ohne selber zu wissen wie, die Treppe hinauf, öffnete die Tür und prallte ein wenig zurück vor dem Glanz, als er das herrlich ausstaffierte Zimmer erblickte; doch er faßte ein wenig Mut, als er die nämlichen Saporoger, die durch Dikanka gereist waren, erkannte, wie sie auf seidenen Diwanen saßen, die mit Teer eingeschmierten Stiefel
untergeschlagen hatten und den allerstärksten Tabak rauchten, so man gewöhnlich Wurzelstrünke nennt. «Seid mir gegrüßt, ihr Herren! Helft euch Gott! Das ist ein Wiedersehen!» sagte der Schmied, indem er näher herantrat und sich bis zur Erde verbeugte. «Was ist das für ein Mensch?» fragte der unmittelbar vor dem Schmied Sitzende einen anderen, der etwas weiter weg saß. «Ja, erkennt ihr mich denn nicht?» fragte der Schmied. «Ich bin es, Wakula, der Schmied! Als ihr im Herbst durch Dikanka kamt, habt ihr fast zwei Tage lang, Gott schenke euch die beste Gesundheit und ein langes Leben, bei mir logiert. Und sogar einen neuen Reifen habe ich euch damals auf das Vorderrad eurer Kibitka aufgezogen!» «Ah!» sagte der nämliche Saporoger, «das ist derselbe Schmied, der so bedeutend malt. Sei uns gegrüßt, Landsmann, weshalb hat dich Gott hergeführt?» «Nur so, ich wollte mich nur ein wenig umsehen, man sagt…» «Nicht wahr, Landsmann», sagte der eine Saporoger, indem er eine würdevolle Haltung annahm, weil er zeigen wollte, daß er auch russisch sprechen konnte, «eine große Stadt?»
Auch der Schmied wollte sich nicht beschämen lassen und sich nicht als Neuling zeigen, außerdem beherrschte er selbst, wie zu sehen wir schon weiter oben Gelegenheit hatten, die russische Schriftsprache. «Eine ansehnliche Goubernie!» antwortete er deshalb kaltblütig. «Dagegen ist nichts zu sagen: graßmächtige Häuser, bedeutende Bilder hängen herum. Viele Häuser
sind
mit
Buchstaben
aus
Blattgold
bis
zur
Außerordentlichkeit bemalt. Nichts dagegen zu sagen: eine wundervolle Proportion!» Als die Saporoger den Schmied sich so flüssig und gewandt ausdrücken hörten, zogen sie daraus sehr vorteilhafte Schlüsse für ihn. «Später wollen wir uns mit dir, Landsmann, ausführlicher unterhalten, aber jetzt müssen wir sogleich zur Zarin fahren.» «Zur Zarin? Ach, seid doch freundlich, ihr Herren, und nehmt mich mit!» «Dich?» entgegnete ein Saporoger in einem Ton, wie etwa ein Kinderwärter mit seinem vierjährigen Zögling redet, der ihn bittet, ihn auf ein echtes, auf ein großes Pferd zu setzen. «Was willst du denn dort? Nein, das geht nicht.» Dabei nahm sein Gesicht eine gewichtige Miene an. «Wir müssen mit der Zarin über unsere Angelegenheiten verhandeln, Bruder!»
«Nehmt mich mit!» drängte der Schmied. «Bitte du sie!» flüsterte er dem Teufel leise zu, indem er mit der Faust auf die Tasche schlug. Kaum hatte er es gesagt, als schon ein anderer Saporoger ausrief: «Nehmen wir ihn trotzdem mit, Brüder!» «Sei es denn, nehmen wir ihn mit!» riefen die übrigen. «Zieh aber auch so ein Gewand an wie wir!» Der Schmied beeilte sich, einen grünen Schupan anzuziehen, als plötzlich die Tür aufging und ein mit Posamenten verzierter Mann hereinkam und sagte, daß es an der Zeit sei zu fahren. Abermals ward dem Schmied seltsam zumute, als er in der riesigen Kutsche dahinfuhr, die auf ihren Sprungfedern schaukelte, als an ihm zu beiden Seiten vierstöckige Häuser vorbeiliefen und das Pflaster von selbst, mit lautem Donnern, unter die Hufe der Pferde zu rollen schien. Mein Gott, was für eine Welt! dachte der Schmied bei sich. Bei uns ist es am Tag nicht so hell. Die Kutschen hielten vor einem Palast. Die Saporoger stiegen aus, betraten einen großartigen Hausflur und stiegen langsam eine blendend beleuchtete Treppe empor. «Was für eine Treppe!» flüsterte der Schmied vor sich hin. «Zu schade, um mit den Füßen auf ihr herumzutreten. Was für
Verzierungen! Da sagt man, die Märchen lügen! Den Teufel was lügen sie! Ach, du mein Gott, was für ein Geländer! Was für eine Arbeit! Da ist schon das Eisen allein auf fünfzig Rubel gekommen!» Auf der Treppe oben angelangt, durchschritten die Saporoger den ersten Saal. Schüchtern folgte ihnen der Schmied, bei jedem Schritt in Ängsten, auf dem Parkett auszurutschen. Sie durchschritten drei Säle, der Schmied hörte immer noch nicht auf, sich zu wundern. Als sie in den vierten kamen, ging er unwillkürlich auf ein an der Wand hängendes Bild zu. Es war die allerreinste Jungfrau mit dem Kind auf dem Arm. «Was für ein Bild! Was für eine wunderbare Malerei!» urteilte er. «Ganz, als ob sie reden wollte! Als ob sie lebendig wäre! Und erst das heilige Kind! Hat die Hände gefaltet und lächelt, das Ärmste! Und die Farben! Ach, du mein Gott, was für Farben! Da ist nicht für eine Kopeke Ocker verwendet worden, lauter Grünspan und Karmin; und das Blau, wie es leuchtet! Eine bedeutende Arbeit! Der Grund muß mit Bleiweiß gelegt worden sein. Aber so bewunderungswürdig diese Malereien auch sein mögen, diese kupferne Türklinke hier», fuhr er fort, indem er an die Tür trat und das Schloß betastete, «ist der Bewunderung noch würdiger. Ach, was für eine saubere
Ausführung! Das alles haben, glaube ich, deutsche Schmiede für sündteures Geld gemacht…» Vielleicht hätte der Schmied seine Betrachtungen noch länger fortgesetzt, wenn ihn nicht ein goldbetreßter Lakai mit dem Ellenbogen angestoßen und ermahnt hätte, nicht hinter den anderen zurückzubleiben. Die Saporoger durchschritten noch zwei Säle und blieben stehen. Hier wurde ihnen zu warten befohlen. Im Saale drängten sich einige Generale in goldbestickten Uniformen. Die Saporoger verbeugten sich nach allen Seiten und stellten sich dann nebeneinander auf. Einen Augenblick später trat in Begleitung einer ganzen Suite ein ziemlich beleibter Mann von majestätischem Wuchs in Hetmansuniform und gelben Stiefeln ein. Seine Haare waren zerzaust, ein Auge schielte ein wenig, auf dem Gesicht lag ein überheblicher Stolz, allen seinen Bewegungen war die Gewohnheit zu befehlen anzumerken. Alle Generale, die ziemlich aufgeplustert in ihren goldenen Uniformen auf und ab gingen, gerieten vor Aufregung ganz durcheinander und lauerten scheint’s auf jedes seiner Worte und selbst auf den kleinsten Wink, um ihm unter tiefen Bücklingen schleunigst nachzukommen. Aber der Hetman schenkte ihnen nicht die
geringste Aufmerksamkeit, nickte kaum mit dem Kopf und ging auf die Saporoger zu. Die Saporoger verbeugten sich bis zu den Füßen. «Seid ihr alle da?» fragte er gedehnt, die Worte ein bißchen durch die Nase aussprechend. «Ja, alle, Väterchen!» antworteten die Saporoger und verbeugten sich abermals. «Werdet ihr nicht vergessen, so zu sprechen, wie ich’s euch gelehrt habe?» «Nein, Väterchen, wir werden es nicht vergessen.» «Ist das der Zar?» fragte der Schmied einen der Saporoger. «Was denn für ein Zar! Das ist Potjomkin in eigener Person», antwortete dieser. Im Zimmer nebenan wurden Stimmen laut, und der Schmied wußte nicht, wo er seine Augen hintun sollte vor der Menge der
eintretenden
Damen
in
Atlaskleidern
mit
langen
Schwänzen und der Höflinge in goldbestickten Kaftanen und mit Zöpfen hinten. Er sah nur einen Blitz und weiter nichts. Die Saporoger warfen sich plötzlich alle zu Boden und schrien einstimmig: «Erbarme dich, Mütterchen, erbarme dich!» Der Schmied, der völlig geblendet war, warf sich allein mit voller Wucht seiner ganzen Länge nach zu Boden.
«Steht auf!» erklang über ihnen eine gebieterische und zugleich angenehme Stimme. Einige Höflinge gerieten in Bewegung und stießen die Saporoger mit den Füßen an. «Wir stehen nicht auf, Mütterchen! Wir stehen nicht auf! Wir sterben lieber, als daß wir aufstehen!» schrien die Saporoger. Potjomkin biß sich auf die Lippen, schließlich ging er selber hin und flüsterte dem einen Saporoger gebieterisch etwas zu. Die Saporoger erhoben sich. Da wagte es auch der Schmied, den Kopf zu heben, und erblickte vor sich eine Frauensperson mittlerer Statur, sogar ein wenig beleibt, mit gepudertem Kopf und blauen Augen und zugleich mit jenem majestätisch lächelnden Gesichtsausdruck, der es so gut verstand, sich alles Untertan zu machen, und der nur einer Frau auf dem Zarenthron gehören konnte. «Durchlaucht hat versprochen, mich heute mit meinem Volk bekannt zu machen, das ich bisher noch nicht gesehen habe», sprach die Dame mit den blauen Augen und musterte neugierig die Saporoger. «Hat man euch hier gut untergebracht?» fuhr sie fort und trat näher. «Ja, vergelt’s Gott, Mütterchen! Die Verpflegung ist gut, obwohl die hiesigen Hammel bei weitem nicht so sind wie bei
uns daheim in Saporoschje… Warum sollte man nicht irgendwie leben können…?» Potjomkin runzelte die Stirn, als er merkte, daß die Saporoger keineswegs das sagten, was er sie gelehrt hatte… Ein Saporoger nahm eine würdevolle Haltung an und trat einen Schritt vor: «Erbarme dich, Mütterchen! Warum richtest du dein treues Volk zugrunde? Womit haben wir dich erzürnt? Haben wir etwa dem heidnischen Tataren die Hand gereicht? Haben wir etwa mit dem Türken gemeinsame Sache gemacht? Haben wir dich etwa in Gedanken oder durch Werke verraten? Weshalb denn die Ungnade? Zuerst hörten wir, daß du befiehlst, überall Festungen gegen uns zu bauen; dann hörten wir, daß du uns in Scharfschützen verwandeln willst; jetzt hören wir von neuem Unheil. Wodurch hat sich das Heer der Saporoger schuldig gemacht? Etwa dadurch, daß es deine Armee über Perekop geführt und deinen Generalen geholfen hat, die Krimtataren niederzuwerfen?» Potjomkin schwieg und putzte mit einem kleinen Bürstchen nachlässig seine Brillanten, mit denen seine Hände besät waren. «Was wollt ihr also?» fragte Katharina fürsorglich. Die Saporoger schauten einander vielsagend an.
Jetzt ist es Zeit! Die Zarin fragt, was wir wollen! sagte der Schmied zu sich selber und warf sich plötzlich zu Boden. «Eure zarische Majestät, befehlt nicht zu strafen, sondern befehlt zu genaden! Woraus sind, nehmt es mir nicht übel, Eure zarischen Gnaden, die Schuhe gemacht, die an Euren Füßen sind? Ich glaube, nicht ein Schuster in irgendeinem Zarenreich der Welt vermag so etwas zu machen. Ach, du mein Gott, wenn mein liebes Weib solche Schuhe anziehen könnte!» Die Herrscherin lachte. Die Höflinge lachten ebenfalls. Potjomkin trotzte, runzelte die Brauen und lachte zugleich. Die Saporoger stießen den Schmied mit den Ellenbogen an, weil sie dachten, er habe den Verstand verloren. «Steh auf!» sagte die Herrscherin freundlich. «Wenn du durchaus solche Schuhe haben willst, so ist das nicht so schwer zu machen. Bringt ihm auf der Stelle die teuersten Schuhe, die goldbestickten! Wahrlich, diese Einfalt gefällt mir sehr! Da habt Ihr», fuhr die Herrscherin fort, indem sie ihre Augen auf einen etwas abseits von den übrigen stehenden Mann mit vollem, doch etwas blassem Gesicht richtete, dessen bescheidener Kaftan mit großen Perlmutterknöpfen erkennen
ließ, daß er nicht zur Zahl der Höflinge gehörte, «da habt Ihr einen Eurer geistreichen Feder würdigen Gegenstand!» «Kaiserliche Majestät sind zu gnädig. Hier bedürfte es zum mindesten eines Lafontaine!» antwortete der Mann mit den Perlmutterknöpfen, indem er sich verbeugte. «Ich will Euch ehrlich sagen: ich bin noch ganz hingerissen von Eurem ‹Brigadier›. Ihr könnt erstaunlich gut vorlesen. Im übrigen», fuhr die Herrscherin fort und wandte sich erneut an die Saporoger, «habe ich gehört, daß bei euch in der Setsch niemand heiraten darf.» «Wie das, Mütterchen! Du weißt doch selber, daß ein Mann nicht ohne Weib leben kann», antwortete der nämliche Saporoger, der mit dem Schmied gesprochen hatte, und der Schmied wunderte sich, als er vernahm, daß dieser Saporoger, der so gut die Schriftsprache beherrschte, gerade mit der Zarin wie absichtlich in der gröbsten Mundart redete, die man gewöhnlich Bauernsprache nennt. Ein schlaues Volk! dachte der Schmied bei sich, das tut er sicherlich nicht ohne Absicht. «Wir sind doch keine Mönche», fuhr der Saporoger fort, «sondern sündige Menschen, der Fleischeslust verfallen wie die ganze ehrliche Christenheit. Es gibt bei uns nicht wenige, die ihre Weiber haben, nur leben diese nicht bei ihnen in der
Setsch. Es gibt welche, die ihre Weiber in Polen haben; es gibt welche, die ihre Weiber in der Ukraine haben; es gibt welche, die ihre Weiber sogar in der Türkei haben.» In diesem Augenblick wurden dem Schmied die Schuhe gebracht. «Ach, du mein Gott, was für eine Zier!» schrie der Schmied vor Freude und packte die Schuhe. «Eure zarische Majestät! Wenn Ihr solche Schuhe an den Füßen habt und wenn Euer Gnaden in ihnen, wie zu vermuten steht, gar noch über das Eis schlittern, wie müssen da erst die Füßchen selber sein? Ich glaube, zum wenigsten aus reinstem Zucker.» Die Herrscherin, die tatsächlich die zierlichsten und reizendsten Füßchen hatte, konnte sich eines Lächelns nicht enthalten, als sie ein solches Kompliment aus dem Mund eines einfältigen Schmieds vernahm, der in seinem Saporoger Gewand, ungeachtet des braunverbrannten Gesichts, als schöner Mann gelten konnte. Hocherfreut über diese wohlgeneigte Aufmerksamkeit, wollte der Schmied die Zarin gleich über alles ordentlich ausfragen: ob es wahr sei, daß die Zaren nur Honig und Speck äßen und dergleichen mehr; als er jedoch spürte, daß ihn die Saporoger in die Rippen pufften, beschloß er zu verstummen. Und als die
Herrscherin sich den Ältesten zuwandte und sie auszufragen begann, wie man in der Setsch lebe und was dort Sitte und Brauch sei, trat er zurück, neigte sich zu seiner Tasche hinab und sagte leise: «Bring mich so schnell wie möglich von hier fort!» Und plötzlich befand er sich hinter dem Schlagbaum.
«Er ist ertrunken! bei Gott, er ist ertrunken! Ich soll mich nicht mehr von der Stelle rühren können, wenn er nicht ertrunken ist!» schwatzte die dicke Weberin, die inmitten eines Haufens von Dikanker Weibern auf der Straße stand. «Was? Bin ich denn eine Lügnerin? Habe ich denn jemand eine Kuh gestohlen? Habe ich denn jemand behext, daß mir nichts geglaubt wird?» schrie eine Alte in einem Kosakenkittel und mit einer violetten Nase, indem sie wild mit den Armen fuchtelte. «Keinen Tropfen Wasser soll ich mehr trinken mögen, wenn die alte Perepertschicha nicht mit eigenen Augen gesehen hat, wie sich der Schmied erhängt hat!» «Der Schmied hat sich erhängt? Da haben wir es!» sagte das Oberhaupt, das gerade von Tschub kam und stehengeblieben war und sich an die keifenden Weiber herangedrängt hatte. «Sag lieber, daß du dein Lebtag keinen Tropfen Wodka mehr trinken möchtest, alte Säuferin!» antwortete die Weberin. «Da
müßte er ja genauso verrückt sein wie du, um sich aufzuhängen! Ertrunken ist er! Ertrunken im Eisloch! Das weiß ich so gewiß wie das, daß du soeben bei der Schankwirtin warst.» «Schandweib! da schau, wie sie mich verleumden möchte!» entgegnete wütend die Alte mit der violetten Nase. «Hättest du lieber geschwiegen, Nichtsnutzige! Als ob ich nicht wüßte, daß der Vorsänger jeden Abend zu dir kommt!» Die Weberin wurde brandrot vor Zorn. «Was tut der Vorsänger? Zu wem kommt der Vorsänger? Was lügst du über den Vorsänger daher?» «Der Vorsänger?» krähte die Vorsängerin, indem sie sich in ihrem Hasenpelz, der mit blauem Nankingtuch bezogen war, auf den Streitplatz drängte. «Ich werde euch gleich den Vorsänger zeigen! Wer sagt etwas über den Vorsänger?» «Da sieh, zu wem dein Vorsänger geht!» sagte die Alte mit der violetten Nase und zeigte auf die Weberin. «Also du bist es, du Hündin», sagte die Vorsängerin und ging auf die Weberin los, «also du bist es, du Hexe, die ihm einen Nebel vormacht und allerhand unheiliges Kraut zu trinken gibt, daß er zu dir kommt?»
«Weiche
von
mir,
Satanas!»
sagte
die
Weberin
zurückweichend. «Sieh einer die verdammte Hexe an; daß du doch deine Kinder nie mehr wiedersehen mögest, Nichtsnutzige! Pfui!» Dabei spuckte die Vorsängerin der Weberin mitten in die Augen. Die Weberin wollte dasselbe tun, spuckte aber statt dessen auf das unrasierte Kinn des Oberhaupts, das sich, um alles besser zu hören, mitten unter die Streitenden gestellt hatte. «Ach, du abscheuliches Weibsbild!» schrie das Oberhaupt, wischte sich mit dem Rockschoß das Gesicht ab und hob die Knute.
Diese
Bewegung
veranlaßte
alle,
schimpfend
auseinanderzugehen. «So was Ekelhaftes!» wiederholte er und wischte sich noch einmal ab. «Also der Schmied ist ertrunken! Ach, du mein Gott, und was für ein bedeutender Maler er war! Was für feste Messer, Sicheln und Pflüge er schmieden konnte! Was für eine Kraft er hatte! Ja», fuhr er nachdenklich fort, «solche Leute haben wir wenige im Dorf. Ich hab’s ja schon gemerkt, als ich in dem verdammten Sack saß, daß der arme Kerl gar nicht bei Laune war. Da haben wir nun den Schmied! Er war – und aus ist’s mit ihm! Und ich wollte noch meine scheckige Stute von ihm beschlagen lassen…»
Und solcher christlicher Gedanken voll, trottete das Oberhaupt langsam seiner Hütte zu. Oxana erschrak aufs tiefste, als die Gerüchte über das Ende des Schmiedes zu ihr drangen. Sie schenkte den Augen der Perepertschicha und dem Geschwätz der Weiber wenig Glauben; sie wußte, daß der Schmied viel zu fromm war, um den Entschluß zu fassen, seine Seele dem ewigen Verderben preiszugeben. Was aber, wenn er tatsächlich in der Absicht weggegangen
war,
niemals
wieder
in
das
Dorf
zurückzukehren? Und anderswo war ein so braver Bursche, wie der Schmied einer war, schwerlich zu finden! Er hatte sie so geliebt! Er hatte am längsten von allen ihre Launen ertragen! Die Schöne drehte sich die ganze Nacht unter ihrer Decke von der rechten Seite auf die linke und von der linken Seite auf die rechte – und konnte nicht einschlafen. Bald warf sie sich in ihrer berückenden Nacktheit, welche das nächtliche Dunkel sogar vor ihr selber verbarg, fast laut ihre Dummheit vor, bald verstummte sie und beschloß, an nichts mehr zu denken – und dachte weiter. Sie glühte wie im Fieber; und gegen Morgen war sie bis über beide Ohren in den Schmied verliebt.
Tschub äußerte über Wakulas Los weder Freude noch Trauer. Seine
Gedanken
waren
nur
mit
einer
Angelegenheit
beschäftigt: er konnte und konnte nicht den Treubruch Solochas vergessen und hörte auch im Traum nicht auf, sie zu beschimpfen.
Der Morgen brach an. Die ganze Kirche war schon vor dem Hellwerden voller Menschen. Bejahrte Frauen in weißen Kopftüchern und weißen Tuchkitteln bekreuzigten sich schon andächtig beim Kircheneingang. Die Edelfrauen in grünen und gelben Joppen und manche sogar in blauen Kontuschen mit goldenen Schleifen hinten standen vor ihnen. Die Mädchen, welche sich einen ganzen Kramladen voll Bänder um den Kopf und Perlen, Kreuze und Dukaten um den Hals gewickelt hatten,
trachteten
noch
näher
an
den
Ikonostas
heranzukommen. Doch am weitesten vorne standen die Edelleute und die gewöhnlichen Bauern mit Schnurrbärten, Haarschöpfen, dicken Hälsen und frischbalbierten Kinnen, fast alle in Kapuzenmänteln, unter denen ein weißer oder bei manchen auch ein blauer Kittel hervorschaute. Auf allen Gesichtern, wohin man schaute, war der Feiertag zu sehen. Das Oberhaupt leckte sich die Lippen, wenn er daran dachte, wie
gütlich er sich an den Würsten tun wollte; die Mädchen dachten darüber nach, wie sie mit den Burschen über das Eis schlittern würden; die alten Weiber murmelten inbrünstiger denn je ihre Gebete. Durch die ganze Kirche war zu hören, wie der Kosak Swerbyhus seine Verbeugungen machte. Nur Oxana stand völlig geistesabwesend da: sie betete und betete auch nicht. Ihr Herz bedrängten so viele unterschiedliche Gefühle, eins verdrießlicher als das andere, eins trauriger als das andere, daß ihr Gesicht nur eine starke Verwirrung ausdrückte; Tränen zitterten in ihren Augen. Die Mädchen konnten deren Ursache nicht begreifen und hatten keine Ahnung, daß sie dem Schmied galten. Doch war nicht nur Oxana allein mit dem Schmied beschäftigt. Alle Dorfbewohner fühlten, daß der Feiertag kein richtiger Feiertag war, daß sozusagen etwas fehlte. Zu allem Unglück hatte den Vorsänger nach seiner Reise im Sack auch noch die Heiserkeit befallen, und seine Stimme knarzte und quietschte wie ein schlecht geschmiertes Wagenrad; freilich meisterte der zugereiste Sänger gar prächtig den Baß, aber weitaus schöner wäre es gewesen, hätte man auch den Schmied zur Hand gehabt, der sonst immer, wenn das «Vaterunser» oder die «Himmlischen Heerscharen» angestimmt wurden, den Chor betrat und von dort beides mit derselben Melodie vortrug,
wie es in Poltawa gesungen wurde. Dazu versah er allein das Amt des Kirchenvorstehers. Schon war die Frühmesse aus; nach der Frühmesse war die Mittagsmesse aus… wohin war denn nur der Schmied verschwunden? Noch schneller flog in den letzten Stunden der Nacht der Teufel mit dem Schmied zurück. Und im Nu befand sich Wakula vor seiner Hütte. Da krähte der Hahn. «Wohin?» schrie der Schmied und packte den Teufel, der davonlaufen wollte, am Schwanz, «bleib stehen, Freundchen, das ist noch nicht alles: ich habe dir noch nicht gedankt.» Damit griff er nach einer langen Rute, versetzte ihm drei Hiebe, und der arme Teufel begann zu laufen wie ein Bauer, dem soeben der Gerichtsassessor tüchtig eingeheizt hat. Und so war der Feind des Menschengeschlechts, statt andere zu foppen, zu verfuhren und zu narren, selbst genarrt worden. Darauf ging Wakula in den Hausflur, vergrub sich ins Heu und schlief bis zum Mittagessen. Als er endlich erwachte, erschrak er nicht wenig, als er sah, daß die Sonne schon hoch am Himmel stand. «Ich habe die Frühmesse und die Mittagsmesse verschlafen!» Da verfiel
der
gottesfürchtige
Schmied
in
tiefe
Niedergeschlagenheit, denn er vermeinte, Gott habe ihm absichtlich, zur Strafe für sein sündhaftes Verlangen, seine
Seele der ewigen Verdammnis zu überantworten, einen Schlaf geschickt, der ihn verhinderte, an einem so hohen Feiertag die Kirche zu besuchen. Er beruhigte sich jedoch damit, in der kommenden Woche dem Popen alles zu beichten und von heute an ein ganzes Jahr lang täglich fünfzig Kniefälle zu machen. Dann warf er einen Blick in die Hütte; aber es war niemand da. Vermutlich war Solocha noch nicht aus der Kirche zurück. Behutsam zog er die Schuhe aus dem Busen und wunderte sich von neuem über die wertvolle Arbeit und über die seltsamen Ereignisse der vergangenen Nacht; er wusch sich, kleidete sich möglichst schön, zog das nämliche Gewand an, das er von den Saporogern bekommen hatte, nahm aus der Truhe die neue Lammfellmütze mit dem blauen Deckel heraus, die er seit der Zeit, da er sie während seines Aufenthalts in Poltawa gekauft, noch kein einziges Mal aufgehabt hatte, nahm auch einen neuen, bunten Gürtel heraus, wickelte alles, samt einer Nagaika, in ein Tuch und begab sich schnurstracks zu Tschub. Tschub traute seinen Augen nicht, als der Schmied bei ihm eintrat, und wußte nicht, worüber er sich mehr wundern sollte: darüber, daß der Schmied von den Toten auferstanden war, oder darüber, daß der Schmied es wagte, zu ihm zu kommen,
oder darüber, daß er sich in einen solchen Stutzer und Saporoger verwandelt hatte. Aber noch mehr staunte er, als Wakula das Tuch aufband und vor ihm eine funkelnagelneue Mütze und einen Gürtel, wie man seinesgleichen noch nie im Dorf gesehen hatte, auf den Tisch legte, während er selbst ihm zu Füßen stürzte und mit flehentlicher Stimme ausrief: «Erbarmen, Väterchen! Zürne mir nicht! Da hast du die Nagaika: schlag zu, soviel dein Herz begehrt, ich stelle mich selber; alles bereue ich; schlag zu, aber zürne nicht mehr! Du hast vor Zeiten mit meinem seligen Vater Brüderschaft geschlossen, ihr habt zusammen Salz und Brot gegessen und den Bund mit einem Umtrunk begossen.» Tschub sah nicht ohne heimliche Genugtuung, daß der Schmied, dem niemand im Dorf auch nur ein Schnurrbarthaar zu krümmen gewagt hätte, der mit einer Hand Fünfer und Hufeisen wie Pfannkuchen zusammendrückte, daß dieser selbe Schmied zu seinen Füßen lag. Um sich nicht noch mehr zu vergeben, nahm Tschub die Nagaika und schlug ihn dreimal über den Rücken. «Nun, das wird reichen, steh auf! Auf die alten Leute soll man stets hören! Vergessen wir alles, was zwischen uns war! So, und jetzt sag mir, was du willst!»
«Gib mir, Väterchen, Oxana zum Weib!» Tschub überlegte ein wenig und blickte auf die Mütze und den Gürtel: die Mütze war wunderbar, und der Gürtel stand ihr nicht nach; dann erinnerte er sich der treulosen Solocha und sagte entschlossen: «Gut! Schick die Brautwerber her!» «Ah!» schrie Oxana auf, als sie über die Schwelle trat und den Schmied erblickte, und richtete verblüfft und freudig ihren Blick auf ihn. «Schau her, was für Schuhe ich dir mitgebracht habe!» sagte Wakula, «genau dieselben, welche die Zarin trägt.» «Nein, nein! Ich brauche keine Schuhe!» sagte sie und winkte mit den Händen ab, ließ jedoch kein Auge von ihm. «Ich werde auch ohne Schuhe…» Weiter sprach sie nicht, sie errötete. Der Schmied trat näher und nahm sie bei der Hand; die Schöne schlug die Augen nieder. Noch niemals war sie so wunderbar schön gewesen. Der begeisterte Schmied küßte sie leise, ihr Gesicht errötete noch mehr, und sie wurde noch schöner.
Fuhr da einmal der Bischof seligen Angedenkens durch Dikanka, lobte die Gegend, in welcher das Dorf lag, und ließ, als er die Dorfstraße entlangfuhr, vor einer neuen Hütte halten. «Wem gehört denn diese bemalte Hütte?» fragte der Hochwürdigste eine schöne Frau, die mit einem Kind auf dem Arm vor der Tür stand. «Dem Schmied Wakula!» sagte mit einer Verbeugung Oxana, denn keine andere als sie war es. «Herrlich! Eine herrliche Arbeit!» sagte der Hochwürdigste und betrachtete die Türen und die Fenster. Alle Fenster waren nämlich ringsum mit roter Farbe angestrichen; auf der Tür waren überall Kosaken zu Pferde, mit Pfeifen zwischen den Zähnen, gemalt. Aber noch mehr lobte der Hochwürdigste Wakula, als man ihm berichtete, daß sich jener eine Kirchenbuße auferlegt und ganz unentgeltlich den linken Chor mit grüner Farbe und roten Blumen darauf gemalt habe. Das war aber noch nicht alles: an die Wand zur Linken, wenn du in die Kirche hineinkommst, hatte Wakula den Teufel in der Hölle gemalt, und zwar so abscheulich, daß alle ausspuckten, wenn sie vorübergingen; und die Weiber trugen ihre Kinder, wenn sie auf dem Arm zu weinen anfingen, vor das Bild und sprachen: «Da schau, was
da gemalt ist!» Und die Kinder hielten ihr Tranen zurück, schielten nach dem Bild und drückten sich an die Brust ihrer Mutter.
Fjodor M. Dostojewskij Der Christbaum und die Hochzeit Aus den Aufzeichnungen eines Unbekannten
Deutsch von Arthur Luther
KÜRZLICH
SAH ICH
eine Hochzeit… aber nein! Ich will lieber
von einem Christbaum erzählen. Die Hochzeit war schön; sie hat mir sehr gefallen, aber die andere Begebenheit ist schöner. Ich weiß nicht, wieso mir bei der Erinnerung an diese Hochzeit der Christbaum einfällt. Es trug sich so zu. Vor genau fünf Jahren wurde ich am Vorabend des Neuen Jahres zu einem Kinderball eingeladen. Der Gastgeber war eine bekannte Persönlichkeit mit Beziehungen, Bekanntschaften und Intrigen, so daß man annehmen konnte, daß dieser Kinderball nur ein Vorwand für die Eltern sei, um zusammenzukommen und gewisse
interessante
unbeabsichtigter
Weise
Dinge zu
in
harmloser,
besprechen.
Ich
scheinbar war
ein
Außenstehender; Gesprächsstoff hatte ich keinen, und so verbrachte ich den Abend ziemlich ungestört. Es war noch ein Herr da, der scheint’s weder Namen noch Rang hatte und gleich mir nur zufällig in dieses allgemeine Familienglück geraten war… Er stach mir vor allen anderen in die Augen. Er war ein großer hagerer Mann, sehr ernst, sehr gut gekleidet. Aber man sah ihm an, daß ihm wenig an dem Vergnügen und Familienglück gelegen war; wenn er in eine Ecke ging, hörte er sofort auf zu lächeln und runzelte die dichten, schwarzen
Brauen. Bekannte hatte er außer dem Hausherrn keine lebende Seele auf dem Ball. Man sah ihm an, daß er sich schrecklich langweilte, aber daß er tapfer bis zum Schluß die Rolle eines animierten und glücklichen Menschen spielte. Ich erfuhr später, daß dieser Herr aus der Provinz sei, der irgendeine entscheidende,
halsbrecherische
Angelegenheit
in
der
Hauptstadt zu erledigen habe, unserem Gastgeber einen Empfehlungsbrief gebracht habe, dieser ihn keineswegs gerne unterstütze und ihn nur aus Höflichkeit zu einem Kinderball eingeladen habe. Karten wurden nicht gespielt, Zigarren wurden ihm nicht angeboten, ins Gespräch ließ sich niemand ein mit ihm, da man den Vogel vielleicht schon von weitem an den Federn erkannte, und so blieb dem Herrn nichts weiter übrig, als den ganzen Abend, um die Hände irgendwie zu beschäftigen, seinen Backenbart zu streichen. Backenbart hatte er tatsächlich einen sehr schönen. Aber er strich ihn mit einer Sorgfalt, daß man, wenn man ihn beobachtete, tatsächlich annehmen konnte, es sei zunächst nur dieser Backenbart dagewesen und erst später ein Herr dazu geschaffen worden, um ihn zu streichen. Außer dieser Gestalt, die in der oben beschriebenen Weise an dem Familienglück des Hausherrn teilnahm, der fünf dicke
muntere Knaben hatte, gefiel mir noch ein anderer Herr. Dieser war jedoch von ganz anderem Typ. Er war eine Persönlichkeit. Er hieß Julian Mastakowitsch. Vom ersten Augenblick an konnte man sehen, daß er ein geachteter Gast war und zum Hausherrn in demselben Verhältnis stand wie dieser zu dem Herrn, der sich den Backenbart strich. Der Hausherr und dessen Frau sagten ihm eine Menge Liebenswürdigkeiten, bemühten sich um ihn, nötigten ihn zum Essen und Trinken, stellten ihm zur Empfehlung ihre Gäste vor, während sie ihn selber niemandem vorstellten. Ich bemerkte, wie im Auge des Gastgebers eine Träne erglänzte, als Julian Mastakowitsch sagte, er habe seine Zeit selten auf so angenehme Weise verbracht wie heute. Mir wurde die Gegenwart einer so hochgestellten Persönlichkeit nachgerade unheimlich, und daher ging ich, nachdem ich mich eine Weile über die Kinder gefreut hatte, in den kleinen Salon, der völlig menschenleer war, und setzte mich in den Efeuwinkel der Hausfrau, der fast die Hälfte des Zimmers einnahm. Die Kinder waren lieb bis zur Unwahrscheinlichkeit und wollten entschieden nicht den «Großen» ähnlich sein, ungeachtet
aller
Vorstellungen
der
Gouvernanten
und
Muhmen. Sie hatten im Nu den Christbaum bis zum letzten
Konfekt geplündert und bereits Zeit gefunden, die Hälfte der Spielsachen zu zerbrechen, ehe sie überhaupt wußten, welches ihnen gehörte. Besonders hübsch war ein schwarzäugiger Knabe mit einem Lockenkopf, der mich fortwährend mit seinem Holzgewehr zu erschießen drohte. Doch am meisten fiel mir seine Schwester auf, ein Mädchen von etwa elf Jahren, lieblich wie ein Amor, ein stilles, nachdenkliches, blasses Kind mit großen träumerischen, etwas vorstehenden Augen. Die Kinder hatten es irgendwie gekränkt, und deshalb zog es sich in denselben kleinen Salon zurück, in dem ich saß, und machte sich in einem Winkel mit seiner Puppe zu schaffen. Die Gäste zeigten respektvoll auf einen reichen Branntweinpächter, ihren Vater,
und
jemand
bemerkte
flüsternd,
daß
schon
dreihunderttausend Rubel Mitgift für sie zurückgelegt seien. Ich sah mich um und konnte feststellen, wer sich so für diese Angelegenheit interessierte. Mein Blick fiel auf Julian Mastakowitsch, der, die Hände auf dem Rücken verschränkt und den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, dem Geschwätz dieser Herrschaften mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte. Dann konnte ich nicht umhin, die Weisheit der Gastgeber zu bewundern, die in der Verteilung der Geschenke unter die Kinder zum Ausdruck kam. Dies Mädchen, das schon eine
Mitgift von dreihunderttausend Rubel hatte, bekam eine äußerst kostbare Puppe. Dann folgten wertmindere Geschenke – genau im Verhältnis zum verminderten Rang der Eltern aller dieser glücklichen Kinder. Schließlich bekam das letzte Kind, ein etwa zehnjähriger, magerer, kleiner, sommersprossiger, rothaariger Junge, nichts als ein Buch mit Geschichten, in denen von der Größe der Natur, von Tränen der Rührung und ähnlichen Dingen die Rede war, ohne Bilder, ja sogar ohne Titelvignette. Es war der Sohn der Gouvernante der Kinder unseres Gastgebers, einer sehr armen Witwe, ein äußerst verschüchterter und ängstlicher Knabe. Bekleidet war er mit einer Jacke aus armseligem Nankingstoff. Als er sein Buch erhalten hatte, ging er lange um die anderen Geschenke herum; er hätte schrecklich gerne mit den anderen Kindern gespielt, getraute sich aber nicht; man sah ihm an, daß er seine Lage schon fühlte und verstand. Ich beobachte Kinder sehr gerne. Sehr interessant ist ihre erste selbständige Betätigung im Leben. Ich bemerkte, daß der rothaarige Junge so sehr von den reichen Geschenken der anderen Kinder bezaubert war, vor allem vom Theater, bei dem er durchaus irgendeine Rolle spielen wollte, daß er sogar zu kriechen beschloß. Er lächelte und spielte mit den anderen Kindern, er schenkte seinen Apfel
einem dicken Knaben, der einen ganzen Sack voll Naschwerk hatte, und ließ sogar einen auf seinem Rücken reiten, nur damit man ihn nicht vom Theater wegtreibe. Aber eine Minute später wurde er von einem unartigen Schlingel gründlich verprügelt. Das arme Kind wagte nicht zu weinen. Da erschien die Gouvernante, seine Mutter, und befahl ihm, die anderen Kinder beim Spielen nicht zu stören. Das Kind begab sich in denselben Salon, in welchem das Mädchen war. Es ließ ihn zu sich heran, und beide begannen mit Eifer die kostbare Puppe zu putzen. Ich saß schon seit einer halben Stunde in dem Efeuwinkel und war über dem Geschwätz des rothaarigen Jungen und der Schönen mit den dreihunderttausend Rubel Mitgift fast eingeschlafen, als Julian Mastakowitsch ins Zimmer trat. Er hatte sich die skandalöse Zankerei der Kinder zunutze gemacht und war leise aus dem Saal geschlichen. Ich hatte bemerkt, daß er eine Minute vorher mit dem Vater der künftigen glänzenden Partie sehr lebhaft gesprochen hatte. Er hatte den Herrn eben erst kennengelernt und unterhielt sich mit ihm sehr eingehend über den Vorzug des Dienstes in einem Ressort gegenüber dem in einem anderen. Jetzt stand er sinnend da und schien etwas an den Fingern abzuzählen.
«Dreihundert… dreihundert…» flüsterte er. «Elf… zwölf… dreizehn… sechzehn! Noch fünf Jahre! Nehmen wir vier Prozent an – zwölf mal fünf ist sechzig; zu diesen sechzig kommen also… sagen wir in fünf Jahren – vierhundert. Also… aber er rechnet ja nicht mit vier Prozent, der Schuft! Er nimmt vielleicht acht, wo nicht gar zehn Prozent. Nun, also fünfhunderttausend werden es sicher; dazu kommt dann ein kleiner Überschuß als Nadelgeld… Hm…» Es brach seine Betrachtung ab, schneuzte sich und wollte schon aus dem Zimmer gehen, als er plötzlich das kleine Mädchen erblickte und stehenblieb. Mich sah er hinter den Pflanzenkübeln nicht. Er schien mir sehr erregt zu sein. Ob nun die Ergebnisse seiner Berechnungen so auf ihn wirkten oder etwas anderes – er rieb sich die Hände und konnte nicht ruhig stehen. Diese Erregung stieg bis zum non plus ultra, als er stehenblieb und einen zweiten entschiedenen Blick auf die künftige Partie warf. Dann wollte er einen Schritt vorwärts machen, sah sich aber erst im Zimmer um. Dann ging er auf den Zehenspitzen, wie wenn er sich schuldig fühlte, auf das Kind zu. Er lächelte die Kleine an, beugte sich über sie und küßte sie auf den Scheitel. Sie war auf den Überfall nicht gefaßt gewesen und schrie erschreckt auf. «Was machen Sie
denn hier, mein liebes Kind?» fragte er flüsternd, sich umschauend und der Kleinen die Wange tätschelnd. «Wir spielen…» «Ah! Mit dem da?» Julian Mastakowitsch warf einen schrägen Blick auf den Knaben. «Du solltest doch in den Saal gehen, mein Lieber», sagte er zu ihm. Der Knabe schwieg und sah ihn mit weitgeöffneten Augen an. Julian Mastakowitsch sah sich wieder im Kreis um und beugte sich zu dem kleinen Mädchen. «Was haben Sie denn da, mein liebes Kind? Wohl eine Puppe?» fragte er. «Eine Puppe», sagte die Kleine und runzelte etwas verlegen die Stirn. «Eine Puppe… Und wissen Sie, liebes Kind, woraus diese Puppe gemacht ist?» «Ich weiß nicht», sagte das Mädchen leise und mit traurig gesenktem Köpfchen. «Aus Lappen, mein Herzchen. Du solltest doch in den Saal zu deinen Kameraden gehen, mein Junge», sagte Julian Mastakowitsch und sah das Kind streng an. Das Mädchen und
der Knabe machten erschrockene Gesichter und faßten sich an den Händen. Sie wollten sich nicht trennen. «Und wissen Sie, warum man Ihnen die Puppe geschenkt hat?» fragte Julian Mastakowitsch, die Stimme immer mehr senkend. «Ich weiß nicht.» «Deshalb, weil Sie die ganze Woche ein liebes und artiges Kind gewesen sind.» Hier sah sich Julian Mastakowitsch in höchster Aufregung wieder um und fragte, die Stimme noch mehr senkend, ganz leise, kaum hörbar, zitternd vor Erregung und Ungeduld: «Und werden Sie mich auch liebhaben, gutes Kind, wenn ich zu Ihren Eltern auf Besuch komme?» Nachdem Julian Mastakowitsch das gesagt hatte, wollte er das liebe Mädchen noch einmal küssen, aber der rothaarige Knabe, der sah, daß es anfangen wollte zu weinen, faßte es an der Hand und fing aus reiner Teilnahme für sie auch zu weinen an. Julian Mastakowitsch wurde ernsthaft böse. «Geh fort, geh fort von hier, geh fort!» rief er dem Knaben zu. «Geh in den Saal! Geh hin zu deinen Kameraden!»
«Nein, nicht nötig, nicht nötig! Gehen Sie fort!» sagte das Mädchen, «lassen Sie ihn in Ruhe! Lassen Sie ihn in Ruhe!» sagte sie, nun schon fast weinend. Jemand erschien in der Tür. Julian Mastakowitsch richtete sofort seinen majestätischen Korpus auf und erschrak. Aber der rothaarige Knabe erschrak noch mehr als Julian Mastakowitsch. Er ließ das Mädchen stehen und schlich leise an der Wand entlang aus dem Salon ins Speisezimmer. Um keinen Verdacht zu wecken, begab sich Julian Mastakowitsch ebenfalls ins Speisezimmer. Er war rot wie ein Krebs, und als er einen Blick in den Spiegel warf, schien er sich vor sich selbst zu schämen. Es war ihm vielleicht peinlich, daß er so hitzig und so ungeduldig gewesen war. Vielleicht hatte ihn beim Abzählen an den Fingern das Ergebnis so verblüfft, so bezaubert und begeistert, daß er bei all seiner Würde und Solidität beschloß, wie ein Bube zu handeln und seine Beute ohne weiteres zu apportieren, obgleich diese Beute ihm frühestens in fünf Jahren wirklich zufallen konnte. Ich folgte dem ehrenwerten Mann ins Speisezimmer und gewahrte ein seltsames Schauspiel. Julian Mastakowitsch, ganz rot vor Wut und Ärger, drang auf den armen Knaben ein, der vor
Angst nicht wußte, wo er hinsollte, und sich immer weiter zurückzog. «Geh weg! Was machst du hier? Geh weg, du Taugenichts! Du willst wohl Obst stehlen, wie? Hinaus mit dir, du Taugenichts,
hinaus,
du
Rotznase!
Geh
zu
deinen
Kameraden!» Der entsetzte Knabe entschloß sich in seiner Angst zu einem verzweifelten Mittel und versuchte unter den Tisch zu kriechen. Da zog sein Verfolger in äußerster Wut sein langes Batisttuch aus der Tasche und trieb den Jungen damit unter dem Tisch hervor. Es muß gesagt werden, daß Julian Mastakowitsch etwas dick war. Er war ein satter, rotbackiger, rundlicher Mann mit einem netten Bäuchlein und dicken Oberschenkeln, festgefügt wie eine kräftige Walnuß. Er war in Schweiß geraten, ganz rot im Gesicht und schnaufte. Schließlich geriet er fast in Raserei, so groß war in ihm das Gefühl der Empörung und vielleicht auch (wer weiß es?) seiner Eifersucht! Ich fing aus vollem Hals zu lachen an. Julian Mastakowitsch drehte sich um und geriet, ungeachtet seiner ganzen Würde, in Verlegenheit. In diesem Augenblick kam aus der gegenüberliegenden Tür der Hausherr. Der Knabe kroch unter dem Tisch hervor und wischte sich Knie und Ellenbogen.
Julian Mastakowitsch beeilte sich, sein Taschentuch an die Nase zu halten, das er an einem Zipfel in der Hand hielt. Der Hausherr sah uns drei etwas befremdet an; doch als Mann von Welt, der das Leben kennt und es von einem ernsten Standpunkt aus betrachtet, nutzte er sofort die Gelegenheit aus, daß er seinen Gast allein antraf. «Das ist jener Knabe», fing er an, auf den kleinen Rotkopf zeigend, «für den Sie zu bitten ich die Ehre hatte…» «Ah!» sagte Julian Mastakowitsch, der noch nicht ganz zu sich gekommen war. «Der Sohn der Erzieherin meiner Kinder», fuhr der Hausherr in bittendem Ton fort, «eine arme Frau, Witwe, Gattin eines ehrenwerten Beamten; und daher… wenn es irgend möglich ist, Julian Mastakowitsch…» «Ach nein, nein», schrie Julian Mastakowitsch hastig, «nein, entschuldigen Sie, Filipp Alexejewitsch, aber das geht wirklich nicht. Ich habe mich erkundigt, es sind keine Vakanzen vorhanden, und wenn es auch eine gäbe, so sind doch schon ein Dutzend Kandidaten da, die viel mehr Rechte darauf haben als er… Bedaure sehr, aber…» «Schade», sagte der Hausherr, «es ist ein so stiller, bescheidener Knabe…»
«Ein ziemlicher Schlingel, wie ich bemerkt zu haben glaube», sagte Julian Mastakowitsch, und sein Mund verzog sich hysterisch. «Geh zu deinen Altersgenossen, Knabe, was stehst du da!» sagte er, sich an das Kind wendend. Hier konnte er sich anscheinend nicht mehr beherrschen und schielte mit einem Auge zu mir herüber. Ich konnte mich auch nicht beherrschen und lachte ihm schallend ins Gesicht. Julian Mastakowitsch drehte sich sofort weg und fragte den Hausherrn ziemlich laut, so daß ich es hören konnte, wer dieser sonderbare junge Mensch sei. Sie fingen an zu flüstern und gingen zusammen aus dem Zimmer. Ich sah dann, wie Julian Mastakowitsch dem Hausherrn mit ungläubiger Miene zuhörte und den Kopf schüttelte. Nachdem ich mich sattgelacht hatte, ging ich in den Saal zurück. Da stand der große Mann, umringt von Vätern und Müttern, dem Hausherrn und seiner Gattin, und redete eifrig auf eine Dame ein, der man ihn eben vorgestellt hatte. Die Dame hielt das kleine Mädchen an der Hand, mit dem Julian Mastakowitsch vor zehn Minuten die Szene im Salon gehabt hatte. Jetzt erging er sich in entzückten Lobpreisungen der Schönheit, der Talente, der Grazie und der Wohlerzogenheit des lieben Kindes. Er bewarb sich ganz offenkundig um die
Gunst der Mama. Die Mutter hörte ihm fast mit Tränen der Rührung zu. Die Lippen des Vaters lächelten. Der Hausherr freute sich über die allgemeine Freude. Sogar alle Gäste bekundeten ihre Teilnahme, selbst die Spiele der Kinder stockten, um die Unterhaltung nicht zu stören. Die ganze Luft war mit Ehrerbietung durchtränkt. Ich hörte später, wie die bis ins tiefste Herz gerührte Mama des interessanten Mädchens Julian Mastakowitsch in den gewähltesten Ausdrücken aufforderte, ihrem Haus die Ehre seines hochgeschätzten Besuches zu erweisen; ich hörte, mit welcher unverhohlenen Freude Julian Mastakowitsch die Einladung annahm und wie dann die Gäste, dem Anstand gehorchend, nach verschiedenen Seiten auseinandergingen, sich in ergreifenden Lobreden auf den Branntweinpächter, seine Frau, das kleine Mädchen und besonders Julian Mastakowitsch überschlugen. «Ist dieser Herr verheiratet?» fragte ich beinahe laut einen meiner Bekannten, der ganz nahe bei Julian Mastakowitsch stand. Julian Mastakowitsch warf mir einen prüfenden, zornigen Blick zu. «Nein!» erwiderte mein Bekannter, tief betrübt über die Ungeschicklichkeit, die ich mit voller Absicht begangen hatte.
Kürzlich ging ich an der Kirche zu vorüber; die Menge und die Wagen setzten mich in Erstaunen. Ringsum wurde von einer Hochzeit gesprochen. Es war ein trüber Tag, es begann schon zu frieren; ich drängte mich mit der Menge in die Kirche hinein und erblickte den Bräutigam. Es war ein kleiner, rundlicher,
satter
Mann
mit
einem
Bäuchlein
und
ordenbehangen. Er lief umher, tat geschäftig und gab Weisungen. Endlich erhob sich ein Gemurmel: die Braut kam angefahren. Ich drängte mich durch die Menge und erblickte eine zauberhafte Schönheit, für die kaum der erste Frühling angebrochen war. Aber die Schöne war bleich und traurig. Sie blickte zerstreut um sich; es schien mir sogar, als wären ihre Augen noch feucht von den soeben vergossenen Tränen. Die antike Strenge jeder Linie ihres Gesichts verlieh ihrer Schönheit eine ganz besondere Würde und Feierlichkeit. Aber durch diese Würde und Feierlichkeit, durch diese Wehmut schimmerte noch die ursprüngliche kindliche, unschuldige Wesensart;
es
sprach
daraus
etwas
unsagbar
Naives,
Ungefestigtes, Junges, das durch sich selbst, ohne Worte, um Erbarmen zu flehen schien. Es hieß, sie sei erst sechzehn Jahre alt. Ich sah den Bräutigam genauer an und erkannte plötzlich Julian Mastakowitsch, den
ich seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich warf einen Blick auf die Braut… Mein Gott! Ich beeilte mich, aus der Kirche hinauszukommen. In der Menge wurde davon geredet, daß die Braut sehr reich sei, daß sie eine Mitgift von fünfhunderttausend
Rubel
erhalte…
dazu
noch
ein
beträchtliches Nadelgeld… Die Rechnung hat also glänzend gestimmt! dachte ich, als ich mich auf die Straße gedrängt hatte…
Nikolai Leskow Das Tier
Deutsch von Wilhelm Plackmeyer
1
MEIN
VATER
WAR
zu
seiner
Zeit
ein
bekannter
Untersuchungsrichter. Viele wichtige Verfahren wurden ihm anvertraut, und so kam es, daß er seine Familie oftmals allein lassen mußte; zu Hause blieben dann nur meine Mutter, ich und die Dienstboten zurück. Mein Mütterchen war damals noch sehr jung und ich ein kleiner Junge. Zur Zeit jener Begebenheit, von der ich jetzt berichten will, zählte ich ganze fünf Jahre. Winter war es, und zwar sehr strenger Winter. Es herrschte eine Kälte, daß nachts die Schafe in ihren Ställen erfroren und Spatzen und Dohlen erstarrt auf die frostharte Erde herabfielen.
Meinen
Vater
hielten
damals
dienstliche
Obliegenheiten in Jelez fest, und er konnte uns nicht einmal versprechen, zu Weihnachten nach Hause zu kommen; meine Mutter schickte sich daher an, zu ihm zu fahren, damit er an diesem schönen und fröhlichen Fest nicht allein zu sein brauchte. Wegen der furchtbaren Kälte wollte sie mich nicht mit auf die weite Reise nehmen, sondern brachte mich lieber zu ihrer Schwester, meiner Tante, die im Kreis Orjol mit einem
Gutsbesitzer verheiratet war, dem ein trauriger Ruhm vorausging. Er war steinreich, alt und grausam. Sein ganzes Wesen strotzte von Bösartigkeit und Unerbittlichkeit, was ihn keineswegs anfocht, im Gegenteil, er brüstete sich sogar mit diesen Eigenschaften, die nach seiner Meinung Ausdruck männlicher Kraft und unbeugsamer Willensstärke waren. Zu Mut und Willensstärke wollte er auch seine Kinder erziehen, von denen ein Junge so alt war wie ich. Alle hatten Angst vor dem Onkel und ich am meisten, weil er auch meinen «Mut entwickeln» wollte und mich einmal, als ich gerade drei Jahre alt war, während eines überaus heftigen Gewitters, vor dem mir immer sehr bange war, auf den Balkon gesperrt und die Tür abgeschlossen hatte, um mir mit dieser Lektion die Gewitterfurcht abzugewöhnen. So ist es nur allzu verständlich, daß ich im Haus eines solchen Herrn nur sehr ungern und mit nicht geringer Angst zu Gast weilte; aber, wie gesagt, ich war damals erst fünf Jahre alt, und meine Wünsche wurden angesichts der Umstände, in die es sich zu schicken galt, nicht berücksichtigt.
2
Auf dem Anwesen des Onkels stand ein großes Steinhaus, das einem Schloß ähnelte. Es war ein pompöses, jedoch unschönes, ja sogar häßliches einstöckiges Bauwerk mit einer runden Kuppel und einem Turm, von dem haarsträubende Dinge erzählt wurden. Einst hatte dort der wahnsinnige Vater des jetzigen Besitzers gehaust, später war in dessen Räumen eine Apotheke eingerichtet worden. Auch das fand man aus irgendeinem Grunde furchtbar, aber am furchtbarsten war eine leere Fensterwölbung hoch droben, in die man Saiten gespannt hatte, eine sogenannte Äolsharfe. Wenn der Wind über die Saiten dieses eigentümlichen Instruments strich, gaben diese unerwartete und oftmals auch sonderbare Laute von sich, die von einem verhaltenen, dumpfen Surren in ein rastloses, unharmonisches
Gewinsel
und
hysterisches
Geheul
übergingen. Es klang, als flögen ganze Heerscharen gehetzter, von Grauen gepackter Geister dort oben vorbei. Jeder im Hause haßte diese Harfe und glaubte, sie habe dem gestrengen Herrn etwas zu sagen, dem er sich nicht zu widersetzen wage, und daher werde er immer unbarmherziger und grausamer…
Man hatte auch sehr wohl bemerkt, daß jedesmal, wenn nachts der Sturmwind heulte und die Harfe am Turm so laut tönte, daß der Klang über Teiche und Park bis ins Dorf hinüber drang, der Herr keinen Schlaf fand, am Morgen mißmutig und finster
aufstand
und
sogleich
eine
seiner
grausamen
Anordnungen traf, die die Herzen seiner zahlreichen Knechte erzittern ließen. Zu den Bräuchen des Hauses gehörte es, daß dort niemals jemandem eine Verfehlung vergeben wurde. Das war eine Regel, von der nie abgewichen wurde und die nicht nur für die Menschen, sondern auch für alle großen und kleinen Tiere galt. Der Onkel wollte von Barmherzigkeit nichts wissen und tat sie geringschätzig ab, denn er sah sie als Schwäche an. Von unbeugsamer Strenge hielt er mehr als von Nachsicht. Daher herrschte auch in seinem Hauswesen und in all den weitverstreuten Dörfern, die diesem reichen Gutsbesitzer gehörten, stets eine freudlose, gedrückte Stimmung, die von Mensch und Tier geteilt ward.
3
Mein seliger Onkel war ein leidenschaftlicher Liebhaber der Jagd mit Hunden. Zu diesem Zweck hielt er sich Windhunde, mit denen er Wölfe, Hasen und Füchse hetzte. Außerdem gab es in seiner Meute besondere Hunde, die sogar Bären angingen. Diese Hunde wurden «Blutegel» genannt, weil sie sich derart in das Tier verbissen, daß man sie unmöglich losreißen konnte. Es kam zwar vor, daß ein Bär, in dem sich ein Blutegel festgebissen hatte, ihn mit einem Schlag seiner schrecklichen Pranke tötete oder in Stücke riß, doch nie geschah es, daß ein Blutegel lebend von dem Tier abgelassen hätte. Heute, da die Jagd auf Bären nur noch als Treibjagd oder mit dem Jagdspieß ausgeübt wird, ist diese Hunderasse in Rußland wohl gänzlich ausgestorben; in jener Zeit hingegen, von der ich berichte, gehörte sie in jede gut zusammengestellte große Meute. Bären waren damals in unserer Gegend sehr zahlreich, und die Bärenjagd galt als erlesene Lustbarkeit. Wenn es einmal gelang, eine ganze Bärenhecke aufzustöbern, dann wurden die Jungen aus dem Lager genommen und ins
Haus gebracht. Man sperrte sie gewöhnlich in ein großes steinernes Stallgebäude mit ein paar kleinen Fenstern dicht unter dem Dach. Diese Fenster hatten keine Scheiben, sondern starke Eisengitter. Mitunter kletterten die jungen Bären, immer einer über dem anderen, zu ihnen hinauf und hielten sich mit ihren kräftigen, krallenbewehrten Tatzen an den Eisenstäben fest. Nur so konnten sie einmal einen Blick aus ihrem Verlies in Gottes freie Natur hinaus werfen. Wenn wir vor Tisch zum Spaziergang geführt wurden, gingen wir am liebsten zu diesem Stall, um zu sehen, wie die kleinen Bären ihre putzigen Schnäuzchen durch die Gitterstäbe steckten. Unser deutscher Erzieher Kolberg verstand es, ihnen an der Spitze seines Spazierstockes Brotstückchen zu reichen, die wir beim Frühstück für diesen Zweck beiseite legten. Pflege und Fütterung der Bären oblagen einem jungen Wärter namens Ferapont; die dieser Name dem einfachen Volk aber nur schwer von der Zunge ging, wurde er «Chrapon» oder noch häufiger «Chraposchka» genannt. Ich kann mich noch gut an ihn erinnern: Chraposchka war ein mittelgroßer Bursche, äußerst flink, stark und wagemutig, er mochte fünfundzwanzig Jahre alt sein. Er galt als sehr hübsch – sein Gesicht sah aus wie Milch und Honig, das lockige Haar war tiefschwarz, und
ebenso schwarz waren auch seine großen, ein wenig hervorstehenden Augen. Überdies war er ein ungewöhnlicher Draufgänger. Er hatte eine Schwester, Annuschka, die Gehilfin der Kinderfrau war und uns immer die ergötzlichsten Geschichten von der Kühnheit und Verwegenheit ihres Bruders erzählte und seiner Freundschaft mit den Bären, bei denen er sommers wie winters im Stall schlief, wobei sie ihn von allen Seiten umringten und ihre Köpfe auf ihn legten wie auf ein Kissen. Vor dem Haus des Onkels lag, umzäunt von einem kleinen, hübsch bemalten Gitter, ein großes, rundes Blumenbeet; dahinter tat sich das breite Einfahrtstor auf, und diesem gegenüber war inmitten des Blumenbeetes ein hoher, gerader, entrindeter Baumstamm eingelassen, der «Mast» hieß. An der Spitze hatte dieser Mast einen kleinen Holzverschlag, den man «Laube» nannte. Aus der Zahl der gefangenen jungen Bären wurde immer ein «Schlaukopf»
ausgesucht,
der
den
gelehrigsten
und
sanftmütigsten Eindruck machte. Dieser wurde von seinen Gefährten getrennt und lebte in Freiheit, das heißt, er durfte Hof und Park durchstreifen, sollte aber hauptsächlich Wachtposten an dem Pfahl vor dem Tor sein. Hier hielt er sich
auch meistens auf, entweder lag er im Stroh unmittelbar am Fuß des Mastes, oder er kletterte zur «Laube» empor, wo er dann saß oder schlief und vor zudringlichen Menschen und Hunden verschont blieb. Nicht alle Bären ließ man ein so freies Leben fuhren, nur besonders kluge und zahme, und auch die nicht zeit ihres Lebens, sondern nur, solange sich ihre Raubtierinstinkte nicht regten, das heißt, solange sie sich friedfertig benahmen und Hühnern, Gänsen, Kälbern und Menschen nichts zuleide taten. Ein Bär, der den Frieden der Hausbewohner störte, wurde unverzüglich zum Tode verurteilt, und vor diesem Urteil konnte ihn nichts auf der Welt bewahren.
4
Es war Chrapons Aufgabe, einen «gelehrigen Bären» auszusuchen. Da er sich am meisten mit den jungen Bären abgab und überhaupt als großer Bärenkenner galt, versteht es sich von selbst, daß allein er das tun mußte. Chrapon wäre allerdings auch für eine mißglückte Auswahl verantwortlich gewesen, indes hatte er gleich beim ersten Mal für diese Rolle
einen erstaunlich befähigten und klugen Bären ausgesucht, dem man einen ganz ausgefallenen Namen gegeben hatte. In Rußland heißen Bären allgemein «Mischka», dieser jedoch bekam den spanischen Namen «Sganarel». Er lebte schon fünf Jahre in Freiheit und hatte noch niemals «Possen getrieben». Hieß es aber von einem Bären, er «treibe Possen», so bedeutete dies, bei irgendeinem Streich war seine Raubtiernatur zutage getreten. Dann warf man den «Possenreißer» erst einmal eine Zeitlang in die «Grube», die man auf einer großen Waldwiese zwischen einem Getreideschober und dem Waldessaum angelegt hatte; einige Zeit später wurde er auf die Wiese hinausgelassen (er mußte auf einem Balken herauskriechen) und mit «jungen Blutegeln», halbwüchsigen Bärenhunden, gehetzt. Wenn diese Hunde den Bären nicht zu packen vermochten und Gefahr bestand, daß das Tier in den Wald entwich, stürzten sich aus einem Hinterhalt zwei der besten Jäger mit einer ausgewählten, erfahrenen Hundemeute auf das Tier, und damit fand die Angelegenheit ein schnelles Ende. Wenn diese Hunde sich aber so ungeschickt anstellten, daß es dem Bären gelang, nach der «Waldinsel» durchzubrechen, die in die weiten Brjansker Wälder überging, dann trat ein
besonderer Schütze auf den Plan, der aus einem langen, schweren Kuchenreuter-Stutzen, aufgelegt zielend, dem Bären die todbringende Kugel nachsandte. Es war noch nie geschehen, daß ein Bär all diesen Fährnissen entronnen wäre, und schrecklich war allein der Gedanke, dies könne sich einmal ereignen; denn dann hätten alle, die daran schuld waren, tödlicher Strafen gewärtig sein müssen.
5
Sganarels Verstand und Artigkeit hatten bewirkt, daß es schon fünf Jahre lang keine Belustigung der soeben geschilderten Art, das heißt keine Bärenhinrichtung, mehr gegeben hatte. Mittlerweile war Sganarel zu einem stattlichen Tier von ungewöhnlicher
Kraft,
Schönheit
und
Gewandtheit
herangewachsen. Das Besondere an ihm waren seine runde, kurze Schnauze und sein wohlgeformter Körper, der eher an einen riesigen Pinscher oder Pudel als an einen Bären erinnerte. Sein Hinterteil war schmal und mit kurzem, glänzendem Fell bedeckt, während Schultern und Nacken kräftig ausgebildet und von langen, zottigen Haaren bedeckt
waren. Er war auch klug wie ein Pudel und beherrschte mehrere für ein Tier seiner Art bemerkenswerte Kunststücke. Er konnte beispielsweise vortrefflich und ohne alle Mühe auf den Hinterbeinen gehen, wobei er sich mit dem ganzen Körper voranschob; er konnte trommeln und mit einem großen, gewehrähnlich zurechtgeschnitzten Stock einherstolzieren; gern, ja mit dem größten Vergnügen schleppte er den Bauern die schwersten Säcke zur Mühle, und urkomisch sah es aus, wenn er sich mit eigenartigem Chic eine hohe spitze Bauernmütze mit einer Pfauenfeder oder einem Strohbüschel an Stelle eines Federbusches auf den Kopf stülpte. Aber auch ihm schlug die Schicksalsstunde – die Natur des Raubtiers forderte von Sganarel ihren Tribut. Kurz bevor ich im Haus des Onkels eintraf, hatte sich der sanftmütige Sganarel gleich mehrerer Vergehen schuldig gemacht, von denen eines immer schwerer wog als das andere. Sganarels Sündenregister war das aller anderen Bären: Zuerst griff er nach einer Gans und riß ihr einen Flügel aus, dann legte er seine Pranke einem Fohlen, das seiner Mutter nachlief, auf den Rücken und zerschmetterte ihm das Rückgrat, und schließlich erregten ein blinder Greis und dessen Begleiter sein Mißfallen. Sganarel nahm sie sich vor und wälzte sie im
Schnee hin und her, wobei er ihnen arg auf Armen und Beinen herumtrat. Der Blinde und sein Begleiter wurden ins Krankenhaus gebracht,
aber
Chrapon
erhielt
den
Befehl,
Sganarel
fortzubringen und in die Grube zu stecken, aus der heraus es nur einen Weg gab, den zur Hinrichtung… Als Anna am Abend mich und meinen damals ebenso kleinen Vetter auskleidete, erzählte sie uns, was für rührende Szenen sich abgespielt hätten, als Sganarel zur Grube abgeführt werden sollte, in der er seiner Exekution zu harren hatte. Chrapon hatte Sganarel nicht den schmerzhaften Ring durch die Nase gezogen und nicht die geringste Gewalt gegen ihn gebraucht, sondern nur gesagt: «Komm, mein Tier!» Der Bär hatte sich erhoben, war losgetrabt, und das komischste war, er hatte seinen Hut mit dem Strohbüschel mitgenommen
und
Chrapon
auf
dem
ganzen
Weg
umschlungen gehalten, so daß sie wie zwei Freunde aussahen. Und in der Tat, sie waren Freunde.
6
Chrapon war es um Sganarel sehr leid, doch konnte er sein Los in keiner Weise erleichtern. Ich erinnere daran, daß man dort, wo sich dieses zutrug, noch nie jemandem eine Verfehlung nachgesehen hatte und daher auch der schuldbeladene Sganarel für seine Streiche unbedingt eines grauenhaften Todes sterben sollte. Die Bärenhatz wurde als Nachmittagsunterhaltung für die Gäste angesetzt, die sich alljährlich zu Weihnachten beim Onkel einfanden. Diese Anordnung traf der Onkel schon in dem Augenblick, da er Chrapon den Befehl erteilte, den schuldigen Sganarel aus dem Haus zu schaffen und in die Grube zu stecken.
7
Es war ein leichtes, die Bären in die Grube zu werfen. Diese wurde mit ein paar dünnen Holzstangen, Reisig und Schnee abgedeckt. So getarnt, konnte der Bär die Falle unmöglich
erkennen. Man führte das gehorsame Tier ganz nahe an die Stelle heran und ließ es dann vorangehen. Noch ein oder zwei Schritte, und es stürzte in die tiefe Grube, aus der es kein Entkommen gab. Hier saß der Bär bis zu dem Augenblick, da die Jagd auf ihn beginnen sollte. Dann ließ man einen etwa sieben Arschin langen Balken schräg in die Grube hinab, an dem der Bär hinaufkletterte. Darauf setzte die Hetzjagd ein. Wenn ein Tier das Unheil witterte und nicht herauskommen wollte, zwang man es dazu, indem man mit langen Stangen, deren Enden durch scharfe Eisendorne verstärkt waren, nach ihm stach, brennendes Stroh hinabwarf oder aus Gewehren und Pistolen Blindschüsse auf das Tier abgab. Als Chrapon Sganarel fortgebracht und in der geschilderten Weise eingekerkert hatte, kehrte er wütend und traurig nach Hause zurück. Zu seinem Unglück erzählte er seiner Schwester, wie «zärtlich» das Tier unterwegs zu ihm gewesen sei und wie es sich, nachdem es durch das Reisig in die Grube hinabgestürzt
war,
dort
Vorderpfoten
wie
Hände
auf
den
Boden
zusammengelegt
gewimmert habe, als ob es weinte.
gesetzt, und
die dabei
Chrapon bekannte Anna auch, daß er eiligst von der Grube fortgelaufen sei, um Sganarels klägliches Wimmern nicht zu hören, denn dieses Wimmern war für ihn unerträgliche Qual. «Gott sei Dank», setzte er hinzu, «daß nicht ich, sondern andere Befehl haben, auf ihn zu schießen, wenn er sich zur Flucht wendet. Gäbe man mir diesen Befehl, würde ich eher die größten Qualen auf mich nehmen als auf ihn schießen.»
8
Anna erzählte uns das, und wir erzählten es unserem Erzieher Kolberg,
der,
in
dem
Bestreben,
dem
Onkel
etwas
Unterhaltendes zu berichten, es diesem hinterbrachte. Der hörte es sich an und sagte: «Ein trefflicher Bursche, dieser Chraposchka.» Darauf klatschte er dreimal in die Hände. Dies war das Zeichen für seinen Kammerdiener Ustin Petrowitsch,
einen
alten
Franzosen,
der
1812
in
Gefangenschaft geraten war. Ustin Petrowitsch, eigentlich Justin, erschien in seinem reinlichen lila Frack mit Silberknöpfen, und der Onkel teilte ihm seinen Befehl mit, daß bei der morgigen Hetzjagd auf
Sganarel als Schützen für das Versteck Flegont, ein Meisterschütze, dessen Kugel nie fehlte, und Chraposchka zu benennen seien. Es war offensichtlich, daß sich der Onkel am Widerstreit der Gefühle des armen Burschen weiden wollte. Gäbe Chraposchka keinen Schuß auf Sganarel ab oder verfehlte er ihn absichtlich, würde er schwer dafür büßen müssen, während Sganarel trotzdem von Flegont mit dem zweiten Schuß zur Strecke gebracht würde, denn dieser traf sein Ziel unfehlbar. Ustin entfernte sich mit einer Verbeugung, um den Befehl zu überbringen. Wir Kinder merkten, daß wir Unheil angerichtet hatten und sich etwas Entsetzliches anbahnte, von dem Gott allein wissen mochte, wie es ausgehen würde. Nach diesem Vorfall konnten wir weder dem Weihnachtsessen, das erst gereicht wurde, als schon die Sterne am Himmel standen, und zugleich Mittagsmahl war, gebührend zusprechen, noch vermochten wir uns über die zur Nacht eintreffenden Gäste zu freuen, von denen einige auch ihre Kinder mitgebracht hatten. Uns tat Sganarel leid und auch Ferapont, und im Grunde wußten wir nicht einmal genau, wen wir mehr bedauerten. Wir beide, das heißt mein gleichaltriger Vetter und ich, warfen uns lange in unseren Betten herum. Beide schliefen wir
erst spät ein, und auch dann waren wir unruhig und schrien wiederholt auf, weil uns im Traum der Bär erschien. Als die Kinderfrau uns beruhigen wollte und sagte, wir brauchten keine Angst mehr vor dem Bären zu haben, weil er ja jetzt in der Grube säße und ihm morgen der Garaus gemacht würde, ergriff mich noch größere Unruhe. Ich wollte sogar von der Kinderfrau wissen, ob ich nicht für Sganarel beten dürfte. Doch diese Frage ging über das religiöse Vorstellungsvermögen der alten Frau, und sie entgegnete gähnend und ein Kreuz schlagend, darüber wisse sie nicht Bescheid, denn danach habe sie den Geistlichen noch nie gefragt, immerhin sei auch der Bär eine Kreatur Gottes und mit auf der Arche Noah gewesen. Die Erwähnung der Arche Noah brachte mich auf den Gedanken, daß Gottes grenzenlose Barmherzigkeit sich eigentlich nicht allein auf die Menschen, sondern auch auf alle übrigen Geschöpfe Gottes erstrecken müsse, und daher kniete ich mich voll kindlicher Gläubigkeit in meinem Bettchen hin, preßte mein Gesicht ins Kissen und flehte Gottes Allmacht an, mir meine heiße Bitte nicht zu verübeln und Sganarel zu schonen.
9
Der Weihnachtstag brach an. Wir alle waren feiertäglich herausstaffiert und begaben uns mit Erziehern und Bonnen zum Tee. Im Saal hatte außer einer Vielzahl von Verwandten und Gästen auch die Geistlichkeit Aufstellung genommen: der Priester, der Diakon und zwei Meßdiener. Beim Eintritt des Onkels stimmten die Kirchenmänner «Christ ist geboren» an. Dann wurde der Tee serviert, kurz darauf ein kleines Frühstück, und bereits um zwei Uhr folgte das Festmahl. Gleich nach dem Essen sollte die Jagd auf Sganarel beginnen. Es galt, keine Zeit zu verlieren, denn in dieser Jahreszeit bricht die Dunkelheit früh herein, und im Finstern ist eine Hetzjagd ein Ding der Unmöglichkeit, wenn man bedenkt, wie leicht der Bär außer Sicht geraten kann. Alles verlief wie vorgesehen. Gleich nach Tisch wurden wir umgezogen, damit wir auch zur Hetzjagd auf Sganarel fahren konnten. Wir wurden in unsere Hasenpelze und in zottige Ziegenfellstiefel mit Rundsohle gesteckt und dann in die Schlitten verstaut. Auf den Zufahrtswegen zu beiden Seiten des Hauses wartete schon eine große Zahl langer breiter
Troikaschlitten, die mit bunten Teppichen ausgelegt waren. Hier standen auch zwei Reitknechte, die des Onkels Pferd, einen englischen Fuchs namens «Modedame», am Zügel hielten. Der Onkel trat aus dem Haus im Fuchspelzrock und mit einer spitzen Mütze aus dem gleichen Fell. Sobald er im Sattel saß, über dem ein schwarzes Bärenfell lag, das am Schweif und an der Brust des Pferdes von Riemen gehalten wurde, die mit Türkisen und Drachenkopfmuscheln reich verziert waren, setzte sich unser riesiger Zug in Bewegung und war zehn oder fünfzehn Minuten später bereits am Ort der Bärenhatz angelangt. Alle Schlitten hatten am Rande des weiten, ebenen, schneebedeckten Feldes gewendet und einen Halbkreis gebildet: das Feld war von einer Kette berittener Jäger umzingelt und grenzte in der Ferne an den Wald. Am Waldessaum standen, vom Gebüsch verdeckt, die Ansitze, und dort mußten sich jetzt Flegont und Chraposchka befinden. Die Ansitze waren nicht zu sehen, allerdings deuteten einige Anwesende auf ein paar kaum wahrnehmbare «Gabeln», mit deren Hilfe die Schützen Sganarel besser aufs Korn nehmen konnten, um ihn zur Strecke zu bringen.
Auch von der Grube, in der der Bär saß, war nichts zu erkennen, und daher galten unsere Blicke zwangsläufig den schmucken Reitersleuten mit ihren verschiedenen schönen Waffen über der Schulter: da waren schwedische Strabuser, deutsche Morgenröther, englische Mortimer und Warschauer Colets. Der Onkel, hoch zu Roß, hatte sich vor der Jägerkette postiert. Man reichte ihm eine Leine, an der zwei der schärfsten «Blutegel» zusammengekoppelt waren, und legte ein weißes Tuch vor ihn auf den Sattelknauf. Die Zahl der jungen Hunde, um deren Übung willen der schuldbeladene Sganarel sein Leben lassen sollte, war sehr groß, und aus ihrem siegesgewissen Gebaren sprach eigentlich nur heißblütiger Übermut, aber keine wahre Zucht. Sie winselten, bellten und wirbelten an ihren Leinen um die Pferde herum, auf denen die livrierten Hundewärter saßen und unablässig mit den langen Jagdpeitschen knallten, um die vor Ungeduld außer Rand und Band geratene Meute zur Räson zu bringen. Alles brodelte vor Verlangen, sich auf das Tier zu stürzen, dessen Nähe die Hunde mit ihrer feinen Nase längst gewittert hatten.
Es war an der Zeit, Sganarel aus der Grube herauszulassen, damit das mörderische Treiben seinen Lauf nehmen konnte. Der Onkel winkte mit dem weißen Tuch, das auf seinem Sattel lag, und sagte: «Los!»
10
Aus der Jägerschar, die des Onkels Hauptgefolge bildete, lösten sich etwa zehn Mann und schritten querfeldein. Nach ungefähr zweihundert Schritt blieben sie stehen und holten unter dem Schnee einen langen, nicht sonderlich dicken Balken hervor, den wir bislang nicht hatten sehen können. Dies spielte sich zwar unmittelbar an der Grube ab, in der Sganarel saß, allein auch diese war von unserem entfernten Standort aus nicht zu erkennen. Man hob den Balken an und ließ ihn sofort in die Grube hinab, und zwar so flach, daß das Tier mühelos, fast wie auf einer Leiter daran emporklettern konnte. Das andere Ende des Balkens wurde auf den Grubenrand gelegt, über den es noch um eine Elle hinausragte.
Aller Augen verfolgten diese letzten Vorbereitungen, die den aufregendsten Augenblick immer näher rücken ließen. Man glaubte, Sganarel werde sogleich am Grubenrand auftauchen, doch er hatte wohl das Spiel durchschaut und wollte um keinen Preis herauskommen. Nun begann man, ihn mit Schneeklumpen und spitzen Stangen in der Grube hin und her zu treiben; ein Gebrüll erscholl, aber das Tier kam nicht heraus. Etliche Blindschüsse peitschten direkt in die Grube hinab, doch Sganarels Gebrüll wurde nur wütender, und sehen ließ er sich nach wie vor nicht. Da tat sich die Kette der Jäger auf, und ein Pferd mit einem einfachen Lastschlitten galoppierte hindurch, auf dem ein Haufen trockenes Roggenstroh lag. Es war ein hochbeiniges, klappriges Pferd, eines von denen, die nur noch auf dem Viehhof Verwendung finden, um aus der Scheune Futter heranzuschaffen; doch trotz seines Alters und seiner Magerkeit flog es mit erhobenem Schweif und gesträubter Mähne nur so dahin. Allerdings ließ sich schwer sagen, ob seine jetzige Munterkeit Rest einstigen jugendlichen Ungestüms oder Ausgeburt der Angst und Verzweiflung war, die die Nähe des Bären dem alten Pferd einflößte. Man mußte letzteres annehmen, denn das Pferd war nicht nur mit der
eisernen Kandare aufgezäumt, sondern auch mit einer scharfen Schnur, die seine angegrauten Lefzen bereits blutig gescheuert hatte. Das Pferd raste dahin und wollte mit so verzweifelter Anstrengung seitlich ausbrechen, daß der Stallknecht alle Hände voll zu tun hatte, ihm den Kopf an der Schnur hochzureißen und mit einer starken Peitsche unbarmherzig zuzusetzen. Aber sosehr das Pferd auch an der Grube des Bären scheute, man schaffte es, das Stroh auf drei Haufen zu verteilen, die eiligst angezündet und brennend von drei Seiten in die Grube hinabgeworfen wurden. Nur die Seite, an der der Balken lehnte, blieb von den Flammen verschont. Ein ohrenbetäubendes, rasendes Gebrüll ertönte, eine Mischung aus Wut und Qual, aber… der Bär kam wiederum nicht zum Vorschein. Zu uns drang die Kunde, Sganarel sei ganz «versengt», halte sich die Augen mit den Pfoten zu und habe sich in eine Ecke verzogen, aus der «man ihn nicht herausbekomme». Das Lastpferd vom Viehhof mit den aufgescheuerten Lefzen preschte wieder zurück… Alle dachten, es solle eine neue Fuhre Stroh holen. Inzwischen wurden unter den Zuschauern vorwurfsvolle Stimmen laut. Warum hatten die Jagdherren
nicht rechtzeitig daran gedacht, so viel Stroh bereitzulegen, daß es jetzt in ausreichender Menge vorhanden war? Der Onkel wurde wütend und schrie etwas. Bei dem allgemeinen Stimmengewirr, das sich erhoben hatte, und dem immer lauter werdenden Hundegewinsel und Peitschengeknall konnte ich jedoch seine Worte nicht verstehen. Allenthalben fehlte die rechte Zucht und Ordnung, wenn auch alles seinen Gang ging; das alte Pferd kam schon wieder unter Schnaufen und Ausbruchsversuchen zu Sganarels Grube zurückgaloppiert, dieses Mal aber ohne Stroh, mit Ferapont auf dem Schlitten. In seiner Wut hatte der Onkel verfügt, Chraposchka in die Grube hinabzulassen, damit er selbst seinen Freund von dort zur Hetzjagd treibe.
11
Ferapont war zur Stelle. Er machte einen sehr erregten Eindruck,
ging
aber
dennoch
mit
Umsicht
und
Entschlossenheit ans Werk. Ohne sich dem Befehl seines Gebieters auch nur im geringsten zu widersetzen, nahm er ein Seil vom Schlitten, mit dem kurz vorher das Stroh
zusammengebunden war, und schlang ein Ende des Seils um eine Kerbe im oberen Teil des Balkens. Ferapont hielt sich an dem Seil fest und ließ sich in die Grube hinab. Sganarels furchteinflößendes Gebrüll verstummte und wich einem tiefen Brummen. Es mutete an, als beklage sich das Tier bei seinem Freund, daß die Menschen so grausam mit ihm umgingen, dann hörte auch das Brummen auf, und völlige Stille trat ein. «Er umarmt Chraposchka und leckt ihn!» rief einer der Männer, die an der Grube standen. Einige der Leute auf dem Schlitten seufzten, manche runzelten die Stirn. Vielen tat der Bär leid, ihnen verhieß die Jagd kein sonderliches Vergnügen. Da bot sich im raschen Ablauf des Geschehens plötzlich ein neuer Anblick, der die Zuschauer noch mehr überraschte und abermals in Rührung versetzte. In der Öffnung der Grube tauchte, wie aus der Unterwelt, Chraposchkas Lockenkopf mit der runden Jägermütze auf. Ferapont kam in gleicher Weise herauf, wie er hinabgestiegen war, das heißt, er lief auf dem Balken entlang und zog sich an dem festgebundenen Seil in die Höhe. Aber Ferapont kam nicht allein, mit ihm zusammen, ihn fest an sich drückend, die
zottige Pranke um seine Schulter gelegt, kam auch Sganarel heraus… Der Bär war übel gelaunt und wirkte wahrhaftig nicht draufgängerisch. Zermürbt und abgezehrt, und das wohl nicht so sehr von körperlichem Leiden als vielmehr von heftiger seelischer Erschütterung, gemahnte er stark an König Lear. Zorn, Gereiztheit und Mißtrauen funkelten aus seinen blutunterlaufenen Augen. Wie auch Lear war er struppig und an mehreren Stellen versengt, hier und da hingen Strohhalme in seinem Fell. Außerdem hatte Sganarel, gleich jenem unglücklichen Gekrönten, zufällig auch eine Art Krone behalten. Vielleicht aus Liebe zu Ferapont, vielleicht auch nur zufällig, trug er unter der einen Vorderpranke jenen Hut, den Chraposchka ihm einst geschenkt und den er auch bei sich hatte, als dieser ihn gezwungenermaßen in die Grube hinabstürzen ließ. Der Bär hatte die Freundesgabe bei sich behalten, und jetzt, da er den Freund umarmen konnte und sein Herz für kurze Zeit Trost fand, holte er, oben angelangt, sogleich den arg zerdrückten Hut hervor und setzte ihn auf… Dieses Kunststückchen fanden zwar viele höchst komisch, aber so manchem bereitete der Anblick rechte Pein. Einige wandten sogar den Blick schnell ab, um das grausige Ende
nicht mit ansehen zu müssen, das man dem Tier jetzt bereiten wollte.
12
Während sich all das zutrug, heulte und tobte die Hundemeute wie von Sinnen, auch der letzte Rest von Gehorsam war dahin. Selbst die Peitsche hatte ihre sonst so unfehlbare Wirkung eingebüßt. Junge und alte Blutegelhunde richteten sich, als sie Sganarels ansichtig wurden, mit heiserem Geknurr auf, wobei ihnen die weißgegerbten Lederhalsbänder fast die Luft abschnürten. Inzwischen jagte Chraposchka auf seinem einspännigen Gefährt schon wieder dem Versteck am Waldesrand zu. Sganarel war abermals allein und machte heftige Bewegungen mit der einen Pfote, um die sich zufällig das an dem Balken verknotete und von Chraposchka liegengelassene Seil geschlungen hatte. Das Tier war offensichtlich bemüht, das Seil schnell von seiner Pfote zu wickeln oder es zu zerreißen, um seinen Freund einzuholen, aber die Geschicklichkeit des Bären war bei all seiner leichten Auffassungsgabe doch nur die eines Bären, und so gelang es
Sganarel nicht, die Schlinge abzustreifen, sondern sie zog sich nur noch fester um seine Pranke. Als Sganarel sah, daß es nicht so ging, wie er wollte, zerrte er an dem Seil, um es zu zerreißen, doch es war ein starkes Seil, das nicht riß, nur der Balken tat einen Sprung und stand nunmehr aufrecht in der Grube. Sganarel sah sich danach um, und in diesem Augenblick waren zwei Hunde, die man als erste losgelassen hatte, bei ihm, und der eine grub gleich mit der vollen Wucht des Anpralls seine scharfen Zähne in Sganarels Nacken. Sganarel war so mit dem Seil beschäftigt gewesen, daß er mit derartigem keineswegs rechnete, und er schien im ersten Augenblick über diese Dreistigkeit mehr verblüfft als wütend zu sein, dann aber, einen Herzschlag später, als der Blutegel sein Maul kurz öffnete, um sich noch tiefer zu verbeißen, holte er aus und schleuderte ihn mit aufgeschlitztem Bauch weit von sich. Die hervorquellenden Eingeweide färbten den Schnee im Nu rot, während Sganarel den anderen Hund im selben Augenblick mit seiner Hintertatze zermalmte… Weitaus entsetzlicher und unerwarteter war aber, was unterdessen mit dem Balken geschah. Als Sganarel nämlich mit einem gewaltigen Schwung seiner Pranke den Blutegel von sich
schleuderte, riß er ruckartig den fest mit dem Seil verbundenen Balken aus der Grube, der waagrecht ein Stück durch die Luft flog. Dadurch straffte sich das Seil, und der Balken wirbelte um Sganarel wie um seine eigene Achse; da das eine Ende im Schnee schleifte, traf er gleich bei der ersten Umdrehung nicht nur zwei oder drei Hunde, sondern das ganze herbeigeeilte Rudel. Ein Teil der Meute wühlte sich winselnd aus dem Schnee hervor, die anderen überschlugen sich und streckten alle viere von sich.
13
Lag es nun daran, daß das Tier alsbald begriff, was für eine vortreffliche Waffe ihm da plötzlich zur Verfügung stand, oder daran, daß das um seine Pfote verschlungene Seil schmerzhaft einschnitt, jedenfalls stieß der Bär ein Gebrüll aus und nahm das Seil erst richtig in die Pranke, so daß der Balken mit einem Satz in die Höhe flog, mit der Pranke, die das Seil hielt, eine horizontale Linie bildete und dabei ein Sausen wie ein rasend rotierender, gigantischer Kreisel erzeugte. Alles, was ihm in die Quere käme, würde unweigerlich zerschmettert werden.
Und falls das Seil an einer Stelle gar schadhaft war und riß, dann würde der zentrifugal davonsausende Balken Gott weiß wohin fliegen und alles Leben auf seiner Bahn auslöschen. Alle Menschen, alle Pferde und Hunde, ob nun in der Zuschauerreihe oder in der Jägerstaffel, schwebten in äußerster Gefahr, und jeder von uns bangte natürlich um sein Leben und wünschte nur, daß das Seil, an dem Sganarel seine Riesenschleuder schwang, nicht riß. Was für ein Ende mochte das alles nehmen? Mit Ausnahme einiger Jägersleute und der beiden Schützen in ihren Verstecken am Waldesrand verspürte keiner mehr das Verlangen, darauf zu warten. Das übrige Publikum, das heißt alle Gäste und Familienangehörigen des Onkels, die dieser Lustbarkeit als Zuschauer beiwohnen wollten, fanden an dem, was sich jetzt ereignete, nicht mehr den geringsten Spaß. In höchster Angst befahlen alle ihren Kutschern, die gefahrvolle Stätte schleunigst zu verlassen, und bald jagte alles in heilloser Unordnung, sich stoßend und einander überholend, dem Hause zu. Bei dieser übereilten und ungeordneten Flucht ereigneten sich mehrere Zusammenstöße und Stürze, es wurde zaghaft gelacht, und alle trugen einen gehörigen Schrecken davon. Die aus dem Schlitten Gefallenen vermeinten schon, das Sausen des vom
Seil abgerissenen Balkens über ihren Köpfen und hinter sich das ihnen nachstellende rasende Tier zu hören. Aber während die Gäste, zu Hause angelangt, sich beruhigen und von dem Schrecken erholen konnten, mußten die wenigen, die am Ort der Bärenjagd zurückgeblieben waren, viel Schlimmeres mit ansehen.
14
Es wäre höchst unklug gewesen, noch mehr Hunde auf Sganarel zu hetzen, denn jedermann sah ein, daß er, bewaffnet mit dem schrecklichen Balken, die ganze riesige Meute bezwingen konnte, ohne selbst den geringsten Schaden zu erleiden.
Unterdessen
schritt
der
Bär,
seinen
Balken
schwingend und selbst hin und her taumelnd, geradewegs dem Wald zu, wo der Tod auf ihn lauerte, denn hier saßen ja Ferapont und der niemals das Ziel verfehlende Flegont im Hinterhalt. Ein gutgezielter Schuß hätte allem rasch und gefahrlos ein Ende bereitet.
Aber das Schicksal waltete in wunderbarer Weise über Sganarel, als wolle es ihn jetzt, da es sich einmal ins Leben des Tieres eingemischt hatte, auf keinen Fall im Stich lassen. In dem Augenblick, als Sganarel in die Nähe der Schneeverstecke gelangte, aus denen Chraposchkas und Flegonts auf ihn gerichtete Kuchenreuter-Stutzen herausragten, riß plötzlich das Seil mit dem schwingenden Balken, und so wie sich der Pfeil vom Bogen löst, flog der Balken davon, während der Bär, das Gleichgewicht verlierend, hinfiel und kopfüber in die entgegengesetzte Richtung rollte. Vor den Augen der auf dem Feld Zurückgebliebenen stand ein neues grausiges Bild: Der Balken hatte die Gewehrstützen zerschmettert und den Schneehaufen, hinter dem Flegont lag, zerstört, machte einen Satz darüber hinweg und bohrte sich in eine entfernte Schneewehe. Sganarel verlor keine Zeit. Nachdem er sich drei- oder viermal überschlagen hatte, lief er ausgerechnet zu dem Schneewall, hinter dem Chraposchka lag… Sganarel erkannte ihn augenblicklich, er keuchte ihm seinen heißen Atem ins Gesicht und machte Anstalt, ihn zu lecken; doch da krachte von dort, wo Flegont saß, ein Schuß, der Bär
floh in den Wald, Chraposchka aber brach besinnungslos zusammen. Man hob ihn auf und untersuchte ihn; die Kugel hatte ihm den Arm durchschlagen, doch fand man auch etwas Bärenwolle in der Wunde. Flegont verlor seinen Ruf als Meisterschütze nicht, allerdings hatte er den Schuß aus dem schweren Stutzen zu hastig abgegeben und ohne Unterlage, die ein besseres Zielen ermöglicht hätte. Außerdem dämmerte es bereits, und der Bär und Chraposchka waren eins gewesen. Unter diesen Umständen mußte auch dieser Schuß, der nur um Haaresbreite sein Ziel verfehlte, als Meisterleistung angesehen werden. Dennoch war Sganarel fort. Seine Verfolgung noch an diesem Abend aufzunehmen war ein Ding der Unmöglichkeit, am nächsten Morgen aber hatte eine ganz andere Stimmung das Gemüt jenes Mannes erhellt, dessen Wille hier allen Gesetz war.
15
Als die mißlungene Jagd zu Ende war, kehrte der Onkel nach Hause zurück, finsterer und unwirscher als sonst. Noch ehe er an der Treppe vom Pferd stieg, ordnete er an, das Tier bei Tagesanbruch unverzüglich aufzuspüren und so zu umzingeln, daß es nicht wieder entkommen konnte. Eine
weidmännisch
richtig
abgehaltene
Jagd
hätte
selbstverständlich zu ganz anderen Ergebnissen fuhren müssen. Nunmehr erwartete man seine Anordnungen, was mit dem verwundeten Chraposchka zu geschehen habe. Alle waren der Meinung, ihn werde eine furchtbare Strafe treffen, denn seine Schuld bestand zumindest darin, daß er versäumt hatte, sein Jagdmesser Sganarel in die Brust zu stoßen, als dieser neben ihm auftauchte und ihn dann unversehrt aus seiner Umarmung entließ. Außerdem geriet Chraposchka in den starken und wohl auch vollauf begründeten Verdacht, er habe etwas vorgetäuscht und im entscheidenden Augenblick die Hand absichtlich nicht gegen seinen zottigen Freund erhoben, um ihn auf diese Weise entkommen zu lassen.
Das wohlbekannte innige Verhältnis zwischen Chraposchka und Sganarel machte diese Vermutung sehr wahrscheinlich. Dieser Ansicht waren nicht nur die an der Jagd unmittelbar Beteiligten, sondern inzwischen auch alle Gäste. Wir lauschten natürlich gespannt den Gesprächen der Erwachsenen, die sich gegen Abend in dem großen Saal einfanden, wo zu dieser Stunde ein reich geschmückter Weihnachtsbaum für uns angezündet wurde, und teilten die allgemeinen Mutmaßungen und die allgemeine Angst vor dem, was Ferapont erwartete. Zunächst gelangte allerdings aus dem Vorzimmer, das der Onkel auf dem Weg von der Treppe zu «seinem Flügel» durchschritten hatte, nur die Kunde in den Saal, daß bezüglich Chraposchkas keinerlei Befehl ergangen sei. «Hoffentlich ist das ein gutes Zeichen», flüsterte jemand, und inmitten der trübseligen Stimmung, die auf allen lastete, drang dieses Flüstern in jedermanns Herz. Auch Vater Alexej, der alte Dorfpriester mit dem Bronzekreuz aus dem Jahre 1812, hatte es vernommen. Der alte Mann seufzte ebenfalls und sprach genauso flüsternd: «Laßt uns beten, zu Christ, dem Neugeborenen.»
Mit diesen Worten bekreuzigte er sich, und alle, die wir hier versammelt waren, Erwachsene und Kinder, Herren und Knechte, taten ein Gleiches. Es war der rechte Augenblick; denn kaum hatten wir die Hände sinken lassen, da ging die Tür auf, und herein trat der Onkel, einen Stock in der Hand. Begleitet wurde er von seinen beiden Lieblingshunden und dem Kammerdiener Justin. Letzterer trug ihm auf einem silbernen Tablett sein weißes Seidenschnupftuch und seine runde Tabatiere mit dem Bildnis Pauls I. nach.
16
Vor dem Weihnachtsbaum stand inmitten des Raumes auf einem kleinen Perserteppich ein Voltairesessel für den Onkel. Wortlos nahm er in diesem Sessel Platz, und wortlos ließ er sich von Justin sein Schnupftuch und seine Tabatiere reichen. Die beiden Hunde legten sich sofort ihm zu Füßen und streckten ihre spitzen Schnauzen auf dem Boden aus. Der Onkel trug einen blauen Seidenrock mit gestickten Schnüren, die mit weißen Filigranschnallen und großen Türkisen reich verziert waren. In der Hand hielt er seinen
dünnen, aber haltbaren Spazierstock aus echtem kaukasischem Kirschbaumholz. Dieser Spazierstock war für ihn jetzt unentbehrlich, hatte doch bei dem Tumult, mit dem die Bärenhatz ausgegangen war, auch die tadellos zugerittene «Modedame» den Kopf verloren, war ausgebrochen und hatte dabei ein Bein des Reiters heftig gegen einen Baum gedrückt. Der Onkel verspürte große Schmerzen in diesem Bein und lahmte sogar ein wenig. Dieser neue Umstand war natürlich erst recht nicht dazu angetan, in seinem verärgerten und zornigen Sinn freundliche Regungen zu wecken. Außerdem war es auch unklug von uns, daß wir alle beim Eintritt des Onkels verstummten. Wie die meisten mißtrauischen Menschen konnte er das nicht vertragen, und Vater Alexej, der ihn gut kannte, beeilte sich, das unheilvolle Schweigen zu brechen, um die Lage zu retten, so gut er es vermochte. Und da gerade wir Kinder in der Nähe des Geistlichen standen, stellte er uns die Frage, ob wir auch den Sinn des Liedes «Christ ist geboren» verstanden hätten. Da erwies es sich, daß nicht nur wir, sondern auch die Älteren ihn kaum begriffen hatten. Der Priester hob nun an, uns die Bedeutung
der Wörter «lobpreiset», «rühmet» und «erhebet euch» zu erläutern, und als er zu besagtem letzten Wort kam, «erhob» er sich förmlich selbst mit Herz und Verstand. Er sprach über die Gabe, die auch jetzt, wie in «alter Zeit», jeder Geringe dem Christkind in seiner Krippe darbringen könne, und zwar noch kühner und würdiger als die Weisen aus dem Morgenland Gold, Myrrhe und Weihrauch darbrachten. Unsere Gabe sei unser Herz, das nach Seiner Lehre geläutert sei. Der alte Mann sprach von Liebe, Vergebung und der Pflicht eines jeden, Freund und Feind «in Christi Namen» zu trösten… Und ich glaube, seine Worte hatten zu jener Stunde die Kraft der Überzeugung. Wir alle verstanden, wem sie galten, und lauschten sonderbar ergriffen, gleichsam betend, daß diese Worte ihr Ziel erreichten, und an so mancher Wimper zitterten gute Tränen… Plötzlich fiel etwas zu Boden. Es war der Stock des Onkels… Man hob ihn auf, doch der Onkel griff nicht danach. Er saß da, ein wenig zur Seite geneigt, die eine Hand hing schlaff über die Armlehne hinab, und in dieser Hand hielt er einen großen Türkis von einer seiner Rockschnallen, er schien ihn ganz vergessen zu haben… Da ließ er auch diesen fallen, doch diesmal sprang niemand eilfertig hinzu, ihn aufzuheben.
Aller Augen waren auf sein Gesicht gerichtet. Etwas Erstaunliches geschah: Er weinte! Behutsam bahnte sich der Priester einen Weg durch die Kinderschar, trat an den Onkel heran und segnete ihn schweigend. Der Onkel sah zu ihm auf, ergriff die Hand des Greises, küßte sie unversehens vor aller Augen und sprach leise: «Danke!» Gleich darauf wandte er sich zu Justin und befahl, Ferapont herbeizurufen. Jener erschien, bleich, den einen Arm verbunden. «Stell dich hierher!» befahl ihm der Onkel und wies mit der Hand auf den Teppich. Chraposchka trat näher und fiel auf die Knie. «Steh auf… Erhebe dich», sagte der Onkel. «Ich vergebe dir.» Wieder warf sich Chraposchka ihm zu Füßen. Mit unsicherer, erregter Stimme sagte der Onkel: «Du hast ein Tier geliebt, wie nicht jeder die Menschen liebt. Du hast mich damit gerührt und an Großmut übertroffen. Du sollst daher einer Gnade teilhaftig werden: Ich entlasse dich aus meiner Dienstbarkeit und gebe dir hundert Rubel mit auf den Weg. Geh, wohin du willst.»
«Ich danke Euch, aber ich will nicht fort!» rief Chraposchka aus. «Wie das?» «Ich gehe nicht fort», wiederholte Ferapont. «Was willst du denn?» «Für Eure Gnade will ich Euch aus freien Stücken ergebener dienen, als ich es in der Knechtschaft und aus Furcht könnte.» Der Onkel blinzelte, mit der einen Hand führte er sein weißes Schnupftuch an die Augen, mit der anderen umarmte er, sich vorbeugend, Ferapont, und wir alle merkten, daß wir uns zu erheben hatten, und auch wir bedeckten unsere Augen. Deutlich empfand es ein jeder, daß sich hier etwas zum Ruhme des allerhöchsten Gottes vollzog und Schrecken und Finsternis in Christi Namen einem lichten Frieden wichen. Ein Abglanz davon fiel auch auf das Dorf, wohin man Kessel mit Dünnbier geschickt hatte. Freudenfeuer loderten auf, alle waren guter Dinge, und scherzend sagte es einer dem anderen: «Heute haben wir erlebt, wie ein wildes Tier in die heilige Nacht hinausgegangen ist, um Christus in der Stille zu preisen.» Von Sganarels Verfolgung wurde abgesehen. Ferapont, wie versprochen freigelassen, trat bald beim Onkel an Justins
Stelle; er war ihm nicht nur ein ergebener Diener, sondern auch ein treuer Freund bis ans Ende seiner Tage. Er drückte dem Onkel die Augen zu, und er begrub ihn in Moskau auf dem Wagankowsker Friedhof, wo das Grabmal bis zum heutigen Tag unversehrt steht. An der gleichen Stelle liegt ihm zu Füßen auch Ferapont. Blumen bringt ihnen jetzt freilich niemand mehr, aber dort, wo in Moskau das Elend haust, erinnert man sich heute noch eines weißhaarigen alten Herrn, der immer auf wundersame Weise in Erfahrung zu bringen wußte, wo wahres Leid herrschte, um sich dort zur rechten Zeit einzustellen oder seinen wackeren Diener mit den etwas hervorstehenden Augen zu entsenden, und niemals mit leeren Händen. Diese beiden guten Menschen, von denen sich noch vieles erzählen ließe, waren mein Onkel und Ferapont, den der alte Herr scherzhaft immer den «Tierbändiger» nannte.
Anton Tschechow Zur Weihnachtszeit
Deutsch von Gerhard Dick
1
«WAS SOLL ICH schreiben?» fragte Jegor und tauchte die Feder ein. Wassilissa hatte ihre Tochter schon vier Jahre nicht mehr gesehen. Nach der Hochzeit war die Tochter Jefimja mit ihrem Mann nach Petersburg gefahren, hatte zwei Briefe geschickt und war dann wie vom Erdboden verschluckt – sie ließ nichts mehr von sich hören. Und ob die Alte am frühen Morgen die Kuh melkte, ob sie den Ofen heizte, ob sie nachts schlaflos dalag – immer dachte sie nur an das eine, wie es Jefimja dort gehe und ob sie noch lebe. Man müßte ihr einen Brief schicken, aber der Alte konnte nicht schreiben, und sie hatten niemand, den sie hätten darum bitten können. Nun aber war Weihnachten gekommen, Wassilissa konnte es nicht länger aushalten und ging in die Schenke zu Jegor, dem Bruder der Wirtin, der, seitdem er aus dem Militärdienst heimgekehrt war, immer zu Hause in der Schenke saß und nichts tat. Es hieß von ihm, er könne gut Briefe schreiben, wenn man ihn anständig dafür bezahle. Wassilissa sprach in
der Schenke erst mit der Köchin, dann mit der Wirtin und dann mit Jegor selbst. Sie einigten sich auf fünfzehn Kopeken. Und nun saß Jegor am zweiten Feiertag in der Küche der Schenke am Tisch und hielt den Federhalter in der Hand. Nachdenklich stand Wassilissa vor ihm, auf ihrem Gesicht malten sich Sorge und Kummer. Mit ihr war Pjotr gekommen, ihr Mann, ein sehr hagerer, hochgewachsener Alter mit einer gebräunten Glatze; er stand da und schaute starr geradeaus, als sei er blind. Auf dem Herd in einer Kasserolle brutzelte der Schweinebraten; er zischte und schnaufte, als wolle er sagen: flju-flju-flju. Es war schwül. «Was soll ich schreiben?» fragte Jegor wieder. «Was denn!» sagte Wassilissa und schaute ihn böse und mißtrauisch an. «Hetz doch nicht so! Du schreibst doch nicht umsonst, sondern für Geld! Nun, schreib. Unserem lieben Schwiegersohn, Andrej Chrissanfytsch, und unserer einzigen geliebten Tochter, Jefimja Petrowna, in Liebe herzliche Grüße und den elterlichen Segen auf ewig unwandelbar.» «Fertig. Schieß weiter!» «Wir gratulieren auch noch zum Feiertag von Christi Geburt, wir leben und sind gesund, was wir auch für euch vom Herrn… dem himmlischen Herrscher… erflehen.»
Wassilissa überlegte und sah sich nach dem Alten um. «Was wir auch für euch vom Herrn… dem himmlischen Herrscher… erflehen», wiederholte sie und fing an zu weinen. Mehr konnte sie nicht sagen. Vorher, als sie nächtelang überlegt hatte, schien ihr, nicht einmal zehn Briefe würden ausreichen, um alles zu schreiben. Seit die Tochter mit ihrem Mann weggefahren war, war viel Wasser ins Meer geflossen, die Alten lebten wie Waisen, und nachts seufzten sie tief, als hätten sie die Tochter beerdigt. Und was hatte sich in dieser Zeit im Dorf nicht alles ereignet, wie viele Hochzeiten und Todesfälle hatte es gegeben! Wie lang waren die Winter gewesen, wie lang die Nächte! «Es ist heiß hier!» sagte Jegor und knöpfte die Weste auf. «Es werden wohl siebzig Grad sein. Was weiter?» fragte er. Die alten Leute schwiegen. «Was macht dein Schwiegersohn dort?» fragte Jegor. «Er war Soldat, mein Lieber, das weißt du doch», antwortete der Alte mit schwacher Stimme. «Er ist zur gleichen Zeit wie du vom Militärdienst zurückgekommen. Er war Soldat, und jetzt ist er nämlich in Petersburg in einer Wasserheilanstalt. Der Doktor nimmt Wasser für die Kranken. Da ist er nämlich Pförtner bei dem Doktor.»
«Hier steht’s geschrieben…» sagte die Alte und holte aus ihrem Tüchlein einen Brief. «Von Jefimja haben wir ihn bekommen, weiß Gott, wann das war. Vielleicht leben sie gar nicht mehr.» Jegor überlegte ein wenig und begann eilig zu schreiben. «Heutzutage», schrieb er, «wo das Schicksal Sie für den Militärdienst
bestimmt
Dissiplinarordnung
und
hat, in
raten das
wir
ihnen,
in
die
Militärstrafgesetzbuch
hineinzuschauen, und Sie werden in jenem Gesetz die Ziwilsazion der Angehörigen der Militärbehörde erkennen.» Er schrieb und las dann das Geschriebene laut vor, Wassilissa aber dachte bei sich, man müßte schreiben, was für eine Not im vergangenen Jahr geherrscht, daß das Getreide nicht einmal bis Weihnachten gereicht und daß man die Kuh hatte verkaufen müssen. Man müßte um Geld bitten, man müßte schreiben, daß der Alte häufig kränkele und wohl bald seine Seele aushauchen werde… Wie sollte man das aber mit Worten ausdrücken? Was sollte man zuerst sagen und was nachher? «Lenken Sie ihre Aufmärksamkeit», schrieb Jegor weiter, «auf Band 5 der Kriegsartiekel. Soldat ist eine allgemeine
Bezeichnung, ein berümter Name. Soldat heißt der Erste General und der letzte Gemeine…» Der Alte bewegte die Lippen und sagte leise: «Die Enkelkinder einmal sehen, das wäre nicht schlecht.» «Was für Enkelkinder?» fragte die Alte und sah ihn böse an. «Ja, vielleicht sind gar keine da!» «Enkel? Vielleicht haben wir doch welche. Wer soll das wissen!» «Und danach können Sie beurteilen», fuhr Jegor eilig fort, «welches der Ausländische Feind ist und welches der Innere. Unser erster Innerer Feind ist: Bachus.» Die Feder kratzte und malte Schnörkel aufs Papier, die wie Angelhaken aussahen. Jegor beeilte sich und las jede Zeile mehrmals vor. Er saß auf einem Hocker, satt, gesund, breitschnäuzig und rotnackig, die Beine unter dem Tisch weit gespreizt. Es war die Gemeinheit selbst, die hier hockte, grob, anmaßend, unüberwindlich und stolz darauf, daß sie in der Schenke geboren und aufgewachsen war; Wassilissa begriff sehr wohl, daß dies die Gemeinheit war, aber sie konnte das nicht in Worten ausdrücken, sondern schaute Jegor nur böse und
mißtrauisch
an.
Von
seiner
Stimme,
seinen
unverständlichen Worten, von der Hitze und der stickigen Luft
begann ihr der Kopf zu schmerzen, ihre Gedanken verwirrten sich, und sie sagte und dachte nichts mehr, sondern wartete nur darauf, daß er zu kratzen aufhörte. Der alte Mann blickte zuversichtlich drein. Er vertraute seiner Frau, die ihn hierhergebracht hatte, und auch Jegor; und als er vorhin die Wasserheilanstalt erwähnte, da merkte man seinem Gesicht an, daß er auch an die Anstalt und die heilende Kraft des Wassers glaubte. Als Jegor mit Schreiben fertig war, stand er auf und las den ganzen Brief noch einmal vor. Der Alte begriff nichts, aber er nickte zustimmend. «Nichts dagegen zu sagen, sehr flüssig…» meinte er, «Gott schenke ihm Gesundheit. Nichts dagegen zu sagen…» Sie legten drei Fünfkopekenstücke auf den Tisch und verließen die Schenke, der Alte blickte wie ein Blinder starr geradeaus, und auf seinem Gesicht malte sich volles Vertrauen. Wassilissa aber hob, als sie aus der Schenke kamen, die Hand gegen einen Hund und sagte böse: «Oh, du Kröte!» Die ganze Nacht konnte die Alte nicht schlafen, die Gedanken ließen sie nicht zur Ruhe kommen; in der Morgenfrühe stand sie auf, betete und ging zum Bahnhof, um den Brief abzuschicken. Bis zum Bahnhof waren es elf Werst.
2
In Doktor B. O. Moselweisers Heilanstalt wurde am Neujahrs tag genauso wie an gewöhnlichen Tagen gearbeitet, und nur der Portier Andrej Chrissanfytsch trug eine Uniform mit neuen Litzen, seine Stiefel glänzten ganz besonders, und er wünschte jedem, der kam, viel Glück zum neuen Jahr. Es war Morgen. Andrej Chrissanfytsch stand an der Tür und las die Zeitung. Genau um zehn Uhr kam ein bekannter General, einer von den ständigen Besuchern, und nach ihm der Postbote. Andrej Chrissanfytsch nahm dem General den Mantel ab und sagte: «Viel Glück zum neuen Jahr, Euer Exzellenz!» «Danke, mein Lieber. Das wünsche ich dir auch.» Während der General die Treppe hinaufstieg, wies er mit dem Kopf auf eine Tür und fragte (er fragte jeden Tag, vergaß es aber immer wieder): «Und was ist in diesem Zimmer?» «Das Massagekabinett, Euer Exzellenz!» Als die Schritte des Generals verklungen waren, sah Andrej Chrissanfytsch die eingegangene Post durch und fand dabei einen Brief auf seinen Namen. Er öffnete ihn, las einige Zeilen und ging dann gemächlich und in die Zeitung blickend in sein
Zimmer, das ebenfalls unten, am Ende des Korridors lag. Seine Frau Jefimja saß auf dem Bett und nährte ein Kind; ein zweites Kind, das älteste, stand neben ihr und hatte seinen Lockenkopf auf ihre Knie gelegt, ein drittes schlief im Bett. Als Andrej das Zimmer betrat, gab er seiner Frau den Brief und sagte: «Wahrscheinlich aus dem Dorf.» Dann ging er wieder hinaus, ohne den Blick von der Zeitung zu heben, und blieb im Korridor unweit der Tür stehen. Er hörte, wie Jefimja mit zitternder Stimme die ersten Zeilen las. Weiter kam sie nicht – ihr genügten schon diese Zeilen; sie brach in Tränen aus, umarmte ihren Ältesten, küßte ihn und fing an zu sprechen, und man wußte nicht, ob sie weinte oder lachte. «Das ist vom Großmütterchen, vom Großväterchen…» sagte sie. «Von zu Hause… Himmelskönigin, o ihr Heiligen! Dort hat es jetzt den Schnee bis unters Dach geweht… die Bäume sind alle ganz weiß. Die Kinder fahren auf niedlichen kleinen Schlitten… Und der kahlköpfige Großvater liegt auf dem Ofen… und das gelbe Hündchen… Meine Lieben daheim!» Als Andrej Chrissanfytsch dies hörte, fiel ihm ein, daß seine Frau ihm drei- oder viermal Briefe gegeben und ihn gebeten hatte,
sie
abzuschicken,
aber
irgendwelche
wichtigen
Angelegenheiten hinderten ihn daran, er hatte sie nicht abgeschickt, die Briefe waren irgendwo liegengeblieben. «Und auf den Feldern laufen die Häschen herum», wehklagte Jefimja tränenüberströmt und küßte ihren Jungen. «Der Großvater ist still und gütig, die Großmutter ist auch gütig und mitleidig. Sie leben in Eintracht auf dem Lande und fürchten Gott… Und ein Kirchlein steht im Dorf, die Bauern singen auf dem Chor. Die Himmelskönigin müßte uns von hier wegholen, die Beschützerin!» Andrej Chrissanfytsch kehrte in sein Zimmer zurück, um zu rauchen, bis jemand käme; Jefimja verstummte plötzlich und wischte sich die Augen, nur ihre Lippen zuckten. Sie hatte große Angst vor ihm, so große Angst! Sie zitterte und wurde von Schrecken ergriffen, wenn sie seine Schritte hörte, wenn er sie ansah, und sie wagte in seiner Gegenwart kein einziges Wort. Andrej Chrissanfytsch rauchte sich eine Zigarette an, aber gerade in diesem Augenblick wurde oben geläutet. Er drückte die Zigarette aus und eilte mit sehr ernstem Gesicht zur Eingangstür. Von oben kam der General herunter, rosig und frisch vom Bad.
«Und was ist in diesem Zimmer?» fragte er und zeigte auf eine Tür. Andrej Chrissanfytsch stand stramm, die Hände an der Hosennaht,
und
antwortete
mit
Charcotdusche, Euer Exzellenz!»
lauter
Stimme:
«Die