Der Raum hatte sich verändert. Das war jetzt kein Wartesaal mehr. Es war sein eigenes Zimmer, und er lehnte sich so wei...
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Der Raum hatte sich verändert. Das war jetzt kein Wartesaal mehr. Es war sein eigenes Zimmer, und er lehnte sich so weit nach hinten, daß er gleich in die Kabine stürzen mußte. Er richtete sich auf und wäre beinahe vornüber auf das Gesicht gefallen. Illusion, sagte er sich. Der Raum ist geneigt, nicht ich. Aber es war schwer, seine Augen von ihrem Fehler zu überzeugen. Wo war die Tür zum nächsten Zimmer gewesen, als er vom Korridor eingetreten war? Wenn das derselbe Raum war und seine Sinne ihm nur Illusionen vorgaukelten, lag die Tür unmittelbar vor ihm, höchstens vier Schritte entfernt. Er hatte sich nicht bewegt. Er tastete hinter sich, um sich zu überzeugen. Seine Hand tauchte bis zum Handgelenk in halbflüssigen Schleim ein. Ein Geruch von Verwesung drang in seine Nase. Er zog die Hand zurück und widerstand dem Drang, den Schleim abzuschütteln. Jetzt trat er einen Schritt vor, wobei er sich ganz auf das Zeugnis der Sinnesorgane, seiner Muskeln, Sehnen, Glieder und der Haut verließ. Der Raum blitzte auf und veränderte sich.
Ullstein Buch Nr. 3389 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: THE JOY MAKERS Aus dem Amerikanischen von Christa Jakob Umschlagillustration: Schlück Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1961 by Bantam Books, Inc. Printed in Germany 1977 Gesamtherstellung: Ebner, Ulm ISBN 3 548 03389 X
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Gunn, James E. Wächter des Glücks: Science-fictionRoman / hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M. Berlin. Wien: Ullstein. 1977. ([Ullstein-Bücher] Ullstein-Buch: Nr. 3389: Ullstein 2000) Einheitssacht.: The joy makers
ISBN 3-548-03389-X
James E. Gunn
Wächter des Glücks SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
I. Teil 1 Er hätte die Anzeige nie bemerkt, wenn er nicht den Kaffee über die erste Seite der Zeitung gegossen hätte. Er hatte ihn verschüttet, weil seine Hand zitterte, da er gestern zuviel getrunken hatte. Und er hatte zuviel getrunken, weil ... Es war eine von diesen kleinen Anzeigen, die niemand liest – jene Anzeigen über Schuppen, Hautunreinheiten, Kopfschmerzen, falsche Zähne und »Gewöhnen Sie sich das Rauchen ab!«. Darüber steht immer Anzeige, und zwar nicht nur, weil die Vorschriften das so verlangen. Eigentlich ist diese Überschrift eine Warnung an den Leser: Wer weiterliest, tut es auf eigene Gefahr. Er überflog die Anzeige uninteressiert, während er in seinen Spiegeleiern herumstocherte, kam dann zu einem Inserat über Hörgeräte, und dann ging sein Blick noch einmal zurück, und er las das Inserat zum zweitenmal: UNGLÜCKLICH? Dürfen wir Ihnen helfen? Ein moderner Dienst für die moderne Zeit. WIR GARANTIEREN GLÜCK! Rufen Sie uns an! HEDONICS, INC.
Er hatte sich nicht getäuscht. Es hieß tatsächlich nicht »Zufriedenheit«. Es hieß »Glück!«. Er wollte zu Ethel eine Bemerkung darüber machen, ließ es aber bleiben. Dann vergaß er das Inserat ganz. Vergaß es, bis er die Fabrik erreichte. Er starrte die Bürotür an. Zwischen dem Türrahmen und dem Milchglas steckte ein Löschblatt. Es steckte symmetrisch unter den goldenen Lettern: HUNT ELECTRONIC MANUFACTURING COMPANY, Elektronische Bauteile und Geräte, JOSHUA P. HUNT. Der Text auf dem Löschblatt war kurz und klar – drei Zeilen in schwarzer Schrift auf weißem Grund: IHR GLÜCK IST UNSER GESCHÄFT HEDONICS, INC. Joshua P. Hunt riß die Karte weg und starrte sie an. Dann öffnete er die Tür, betrat sein Vorzimmer, ging auf Mary Gamble, seine Sekretärin, zu und ließ das Blatt auf ihren Schreibtisch fallen. »Schreiben Sie eine Anweisung an alle Abteilungen«, sagte er. »›Die Anweisung in der Geschäftsordnung über die Verteilung von Werbematerial im Betrieb besteht unverändert. Nichtbeachtung durch die Angestellten führt zur fristlosen Entlassung.‹ Bestellen Sie mir ein Bikarbonat. Möchte mich jemand sprechen?« »Nur Mr. Kidd, der Betriebsrat. Er möchte ein neues Abkommen schließen.«
»Dieser alte Räuber«, brummte Josh und bereitete sich seelisch auf einen neuen Tag voll Ärger und Magenschmerzen vor. Am Abend steuerte Josh seinen Cadillac durch die dichtgedrängte Masse seiner Angestellten vor dem Werkstor. Alle starrten zum Himmel, niemand machte Anstalten, ihm den Weg frei zu machen. Josh stieß ungeduldig die Wagentür auf und stieg aus, um selbst zum Himmel zu sehen. Das Flugzeug war vor dem blauen Nachmittagshimmel kaum sichtbar, aber die flauschigen weißen Wolken waren dick und deutlich zu erkennen. Bis jetzt stand »HEDO« dort. Soeben wurde ein N hinzugefügt, dann ein I und schließlich ein C und S. Als das Flugzeug zum I ansetzte, riß Josh sich los und bahnte sich mit der Hupe einen Weg durch die Menge.
2 Es war ein ganz gewöhnlicher Tag gewesen, also hektisch – nervenzermürbend, Magenkrämpfe erzeugend, erschöpfend ... Zum Glück waren die Kinder im Sommerlager. Nach einem solchen Tag konnte Josh sie einfach nicht ausstehen – oder – wie er einmal in einem Augenblick seltener Aufrichtigkeit gestanden hatte – eigentlich überhaupt nie. Also war da nur noch Ethel. »Hmmm?« knurrte er, schob sich an ihr vorbei ins
Wohnzimmer, schloß die Tür hinter sich, legte seine Aktentasche auf den Schreibtisch und mixte sich einen Cocktail. »Das Magengeschwür soll der Teufel holen!« murmelte er und leerte das Glas mit drei hastigen Zügen. Nach dem zweiten Glas begann er, sich wieder entfernt wie ein Mensch zu fühlen. Er nahm auf seinem geliebten roten Ledersessel Platz und schlug die Abendzeitung auf. Als erste fiel ihm die Karte entgegen, und der Abend war restlos ruiniert. Sie glänzte: das Bild eines Mannes, dem man das Elend ansah, eines Mannes mit tief heruntergezogenen Mundwinkeln und Ringen um die Augen. Darunter stand: »Unglücklich?« Josh runzelte die Stirn und wollte die Karte schon wegwerfen. Aber da veränderte sich das Bild durch irgendein Wunder der Druckkunst plötzlich. Der Mann war derselbe, aber anstatt Unglück strahlte er jetzt unbeschreibliche Wonne aus. Auch die Unterschrift hatte sich verändert. Jetzt stand dort: »Hedonics, Inc.« Josh schob die Karte ungeduldig weg. Als sie auf dem Boden landete, konnte man die Rückseite sehen. Dort stand eine Telefonnummer. Zum erstenmal, seit er die Anzeige in der Morgenzeitung gelesen hatte, dachte Josh jetzt ernsthaft über ihre Bedeutung nach. Was verkaufen die eigentlich? fragte er sich. Er wußte es nicht. Aber er wollte es wissen. Der Werbefeldzug war sehr geschickt. Die zweite Frage war: Was ist eigentlich Hedonik? Aber darauf schien sich leicht eine Antwort finden zu
lassen. Er blätterte im Websters und fand das Wort: »Hedonik: n. – a. Ethik, die sich mit der Wechselbeziehung zwischen Pflicht und Vergnügen befaßt. – b. Psychologie, die sich mit den angenehmen und den unangenehmen Bewußtseinszuständen befaßt.« Er dachte darüber nach. Ethik? Psychologie? Es ist schwer genug, Psychologie zu verkaufen, und Ethik läßt sich überhaupt nicht verkaufen. Man kann sie kaum verschenken. Aber was auch immer Hedonik bedeutete, es war weder Ethik noch Psychologie. Aber man mußte logischerweise annehmen, daß sie sich mit dem Vergnügen befaßte. Aber Vergnügen verkauft man nicht, und Glück auch nicht. Man verkauft Produkte oder Dienstleistungen und hofft, daß sie Vergnügen und Glück bringen. Aber das ist nicht dasselbe. Josh konnte es auch nicht definieren. Aber er wußte, um was für ein Geschäft es sich handelte. Ein Schwindelunternehmen. Josh konnte das auf eine Meile weit riechen. Das war ein Geschäft für Dumme, und es steckte Geld dahinter. Zeitungsanzeigen und Postwurfsendungen bekommt man nicht umsonst; Himmelsschreiber sind teuer, und diese Karte mit dem raffinierten Wechselbild kostete auch eine Menge – wenn man überhaupt einen Drucker fand, der so etwas machen konnte. Aber darum sollte sich die Polizei kümmern. Schließlich ging es ihn nichts an. Mit diesen Gedanken ging er zu Bett.
Aber die Hedonics, Inc. ließ sich nicht vergessen. In der Morgenzeitung war eine Anzeige, die Joshs Augen unwiderstehlich auf sich zog. Auf dem Weg zum Büro sah er eine Plakattafel mit reinweißem Hintergrund. In der Mitte war ein Käfig, und in dem Käfig zwitscherte ein Vogel. Darunter standen zwei Worte: »Hedonics, Inc.« Als Josh durch sein Vorzimmer ging, blickte Mary auf und sagte: »Freude, Mr. Hunt.« Josh blieb stehen. »Freude?« wiederholte er. Mary wurde rot – was ihr sehr gut stand. »Guten Morgen, meine ich. Das war gestern im Fernsehen – ›Freude‹, meine ich – und das ist mir jetzt so herausgerutscht.« »Was war im Fernsehen?« »Eine wirklich glückliche Geschichte«, seufzte Mary verträumt. »Ein jeder war glücklich. Diese neue Firma mit dem komischen Namen hat die Sendung finanziert ...« »Oh!« machte Josh. »Das also! Erwartet mich jemand?« »Mr. Kidd und ein Vertreter ...« »Ich will heute keine Vertreter sehen«, sagte Josh schaudernd. »Lieber noch Kidd ...« »Guten Morgen, Mr. Hunt«, sagte Kidd beim Eintreten. »Sind Sie glücklich?« »Ob ich was bin?« rief Hunt aus. »Entschuldigen Sie!« meinte Kidd verlegen. »Weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Aber jeder sagt das heute.« Das übliche Streitgespräch entwickelte sich: zu knappe Akkordzeiten, unzureichende Pausen, Ärger mit den
Vorarbeitern, und nach einer halben Stunde schlugen wie üblich beide Männer mit den Fäusten auf den Tisch. Eine Einigung wurde nicht erzielt. Nachher war Josh erschöpft und hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Er nieste. Sein Kopf fühlte sich an, als sei er mit Watte ausgestopft. Die Symptome waren unverkennbar: eine Kopfgrippe bahnte sich an. Der Rest des endlosen Tages lag noch vor ihm. Er hätte am liebsten den Kopf auf den Schreibtisch gelegt und geweint. Aber das tat er natürlich nicht. So etwas tun Männer nicht. Irgendwie brachte er den Tag zu Ende. Irgendwie widerstand er dem Drang, den fünf Leuten, die ihn mit »Freude!« begrüßt hatten, an die Kehle zu springen und den fünf anderen, die ihn gefragt hatten: »Sind Sie glücklich?« »Mary«, murmelte er, »ich komme morgen nicht.« Als er sein Haus betrat, begrüßte Ethel ihn mit geradezu aufdringlicher Fröhlichkeit. »Freude, Josh«, sang sie. »Bist du glücklich?« »Ich fühl mich lausig!« schrie er sie an. »Oh, du Ärmster!« flüsterte sie mitfühlend. »Was ist denn?« »Alles mögliche«, stöhnte Josh. »Ich bekomme eine Grippe, meine Magengeschwüre tun mir weh, und –« »Weißt du, was du tun solltest?« fragte Ethel ernsthaft. »Du solltest Hedonics, Inc. anrufen.« Josh taumelte zurück und gab einen unartikulierten Laut von sich. Dann riß er sich zusammen, stolperte ins
Wohnzimmer und sperrte die Tür hinter sich ab. Zitternd mixte er sich einen Cocktail, stürzte ihn hinunter und mixte einen zweiten. Dann überlegte er. Die Polizei hatte also noch nichts gegen diese Schwindelfirma unternommen. Nun, dann würde er die Sache als guter Staatsbürger eben selbst in die Hand nehmen müssen. Er ging ans Telefon und wählte. Die Stimme, die sich meldete, klang weich und angenehm. »Freude«, sagte sie. »Hedonics, Inc. Wie können wir Sie glücklich machen?« »Hier spricht Joshua P. Hunt«, sagte Josh vorsichtig. »O ja, Mr. Hunt«, sagte das Mädchen, »wir haben Ihren Anruf schon erwartet.« Was es mit dieser Bemerkung auf sich hatte, begriff Josh erst viel später. »Diese Dienstleistung, die Sie anbieten«, sagte er vorsichtig, »... ich hätte gern mehr darüber gewußt.« »Aber natürlich, Sir«, sagte das Mädchen. »Ich schicke Ihnen morgen einen Vertreter. Zehn Uhr? In Ihrer Wohnung?« Als Josh den Hörer auf die Gabel legte, hatte er nachdenklich den Mund verzogen, und ein kleiner Muskel zuckte unter seinem linken Auge.
3 Um Mitternacht war ihm die Idee großartig vorgekommen
– um zehn Uhr früh sah sie ganz anders aus. Sein Kopf schmerzte. Sein Magen brannte und rebellierte. Seine Erkältung ließ ihn alles wie durch einen rosa Schleier sehen, und er war unablässig damit beschäftigt, sich zu schneuzen. Jetzt studierte er unglücklich die Karte: William A. »Bill« Johnson Hedonics, Inc., Absolvent Angewandte Hedonik
des
Instituts
für
Dann sah er wieder William A. »Bill« Johnson an. Johnson war höchstens dreißig und hatte hellbraunes Haar, ein offenes, freundliches Gesicht und eine geradezu widerlich fröhliche Art. Er war genau der Typ, entschied Josh, der Witwen ihre letzten Ersparnisse abnimmt. »Mr. Johnson«, begann er mühsam durch die Nase zu reden, »ich –« »Nennen Sie mich Bill«, unterbrach ihn der Vertreter. »Bill«, fand Josh sich in sein Schicksal. »Ich muß Ihnen leider sagen, daß ich es mir anders überlegt habe –« »Aber Sie haben doch sicher ein paar Minuten Zeit, um sich anzuhören, was für Dienste wir anbieten können«, sagte Bill. Josh zuckte die Achseln und schneuzte sich traurig. »Die Notiz im Webster war anscheinend nicht vollständig gewesen. Neben ›a. Ethik ...‹ und ›b. Psychologie ...‹ hätte dort noch eine dritte Definition stehen sollen, nämlich: ›c. Wissenschaft‹ ...«
»Wissenschaft?« wiederholte Josh. »Eine Wissenschaft des Glücks?« Bill nickte strahlend. »Genau das. Glück läßt sich exakter auffinden als Pechblende, leichter raffinieren als Uran und mit größerer Sicherheit synthetisch herstellen als Plutonium. Der ganze Lehrplan des Instituts für Angewandte Hedonik besteht aus Hedonik.« »Und wo befindet sich dieses Institut?« fragte Josh scharf. »In Smithfield, Massachusetts«, antwortete Bill schnell. Josh wiederholte den Namen ein paarmal für sich. Die Hedonik, so erklärte Bill, sei nicht über Nacht entstanden. Es handle sich vielmehr um eine Synthese vieler Entdeckungen und Techniken. Einige davon seien schon viele Jahre verfügbar gewesen, andere seien erst in letzter Zeit entwickelt worden. Aber bis vor ein paar Jahren habe niemand ihre Wechselbeziehungen entdeckt, und gerade aus diesen Wechselbeziehungen habe sich so eine fundamentale Wissenschaft des Glücks entwickelt. »Und schließlich ist das Glück doch das Ziel des Lebens, nicht wahr?« sagte Bill. »Vielleicht«, gab Josh zögernd zu. »Lassen Sie es mich so ausdrücken«, meinte Bill strahlend. »Wir versuchen, Schmerzen zu vermeiden oder, um es exakter auszudrücken, unangenehme Empfindungen zu vermeiden, und wählen aus zwei Möglichkeiten immer jene aus, die uns weniger unangenehm vorkommt.« Im Grunde genommen war die Hedonik eine Disziplin. Eine psychologische Wissenschaft. Und als solche lag ihr
größter Wert in der Zukunft, ihr größter Nutzen in der Ausbildung der Jugend. »Schön«, meinte Josh trocken, »aber was kann sie für mich tun – jetzt, heute?« Anscheinend eine ganze Menge. Die meisten Firmen spezialisierten sich auf eine einzige Dienstleistung: Reinigung, Bankwesen, Buchhaltung, Installationsarbeiten, Reparaturen aller Art, Stellenvermittlung – die Hedonics, Inc. tat alles. Die Probleme des Kunden wurden die Probleme der Hedonics, Inc. Wenn der Kunde eine Beschäftigung brauchte, suchte und fand man für ihn eine Stelle und – was noch wichtiger war – nicht einfach eine Stelle, sondern eine solche, die den Kunden auch glücklich machte. Außerdem erleichterte die Hedonik Schmerzen, heilte die Kranken, bildete neurotische oder psychopathische Persönlichkeiten um, machte den Körper leistungsfähiger und beseitigte alle Ursachen des Unglücks, wie Geldschwierigkeiten, Eheprobleme, außereheliche Probleme, Schuldbewußtsein ... »In kurzen Worten, Mr. Hunt«, faßte Bill ernst zusammen, »wir liefern den vollkommenen persönlichen Dienst. Wir tun alles, Sie glücklich zu machen. Das ist unsere Garantie.« »Und wie machen Sie das?« »Das bekommen Sie schriftlich, als wesentlichen Vertragsbestandteil.« »Phantastisch!« murmelte Josh und blickte dann auf. »Phantastisch, daß ich noch nie von Ihrer Firma gehört
habe. Das ist eine völlig neuartige Dienstleistung.« »Ja, allerdings, Mr. Hunt. Die Firma ist neu, aber wir besitzen schon eine sehr gute finanzielle Basis und sind auch gegen Nichterfüllung unserer Verträge versichert. Wissen Sie, wir sind auf kleinerer Basis schon seit ein paar Jahren tätig und stellen jetzt unsere Dienste der Öffentlichkeit zur Verfügung. Eigentlich ist das hier sozusagen ein Testmarkt ...« »Ich verstehe«, sagte Josh schnell, um den anderen zu bremsen. »Sie können mich also gesund machen, sagten Sie?« »Und glücklich«, fügte Bill schnell hinzu. »Können Sie diese Grippe heilen?« »Natürlich.« Josh lehnte sich zurück. Die Selbstsicherheit des jungen Mannes beeindruckte ihn. »Das muß sehr teuer sein«, meinte er. »Sie können es sich nicht leisten«, entgegnete Bill, »auf diesen Dienst zu verzichten, wie es unsere Werbung immer sagt. Genaugenommen ist es gar nicht so teuer, wie Sie vielleicht glauben. Wenigstens nicht so teuer, als ob Sie all diese Dienstleistungen individuell bezahlen müßten – soweit sie überhaupt außerhalb unserer Firma zu haben sind. Während einer speziellen Probezeit können Sie einen beschränkten Dienstvertrag erwerben, in den volle Diagnose und sämtliche sich daraus ergebenden medizinischen und psychologischen Behandlungen eingeschlossen sind. Das alles kostet nur einhundert Dollar.«
»Sie sagen ›beschränkter Dienstleistungsvertrag‹«, meinte Josh. »Daraus schließe ich, daß Sie auch einen unbeschränkten Dienstleistungsvertrag anzubieten haben.« Bill zuckte die Achseln. »O ja. Aber das kommt erst später. Ich habe hier ein Antragsformular ...« Ein paar Minuten später war Josh allein. Er hatte einen Vertrag, eine Vereinbarung für den Nachmittag, und Bill hatte seinen Scheck über einhundert Dollar. Josh lächelte grimmig. Wenn die Dienstleistung ebensogut war wie dieser Vertreter tüchtig, dann war das Ganze wirklich gefährlich raffiniert.
4 Josh erkannte das Gebäude. Zu der Zeit, als er es gepachtet hatte, war es ein Lagerhaus gewesen. Jetzt sah es immer noch wie ein Lagerhaus aus, nur schmutziger, heruntergekommener, reparaturbedürftiger; jedenfalls alles andere als ein Warenhaus für Glück. Josh saß ein paar Minuten in seinem Cadillac und beobachtete die Prozession. Ein ständiger Strom von Männern und Frauen betrat das Lagerhaus, und ein zweiter Strom kam heraus. Im Aussehen und ihrer Kleidung nach schienen sie allen Klassen anzugehören. Das Streben nach Glück kannte keine sozialen Unterschiede. Und eigenartigerweise schienen die Klassenunterschiede bei denen, die herauskamen, auch äußerlich völlig verwischt zu sein.
Insbesondere beeindruckte Josh aber die Zahl der Menschen. In weniger als zwei Tagen hatte die Hedonics, Inc. einen immensen Umfang angenommen. Das Geschäft mit dem Glück blühte! Josh stieg langsam aus und schloß sich der Schlange an, die auf das Gebäude zustrebte. Als er schließlich im Innern war, blieb er überrascht stehen und ließ sich zur Seite schieben. Das Innere des Lagerhauses war atemberaubend. Der Boden sah aus wie rosafarbener Marmor. Die Wände schimmerten; sie bestanden aus einem vielfarbigen Kunststoffmaterial, das von innen heraus erleuchtet wurde. Die ganze vordere Hälfte des Lagerhauses war in einen riesigen Wartesaal umgewandelt worden. Die geschickte Dekoration ließ ihn noch größer erscheinen. »Da steckt Geld drin!« murmelte Josh. Erst als eine tiefe, angenehme Stimme neben ihm Antwort gab, bemerkte er, daß er seine Gedanken laut ausgesprochen hatte. »Aber natürlich, Mr. Hunt. Wir bieten eine wertvolle Dienstleistung an. Wer wird noch etwas anderes kaufen, wenn Glück käuflich ist?« Josh drehte sich erschrocken herum. Der Mann, der ihn ansah, war wenigstens ebenso alt wie er. Aber er schien sich viel besserer Gesundheit zu erfreuen, und sein Gesicht hatte Lachfalten und keine Krähenfüße und Runzeln. Sein Haar war bereits ergraut, aber seine dunklen Augen blickten weise und freundlich. »Mein Name ist Wright«, stellte er sich vor. »Ich stehe Ihnen zu Diensten, solange Sie hier sind. Wenn Sie Fragen haben, werde ich sie gern
beantworten. Ich nehme an, daß Sie die Symbolik des Gebäudes erkannt haben?« Er wartete. Als Josh nichts sagte, fuhr er fort: »Ein schäbiges Äußeres – aber innen Wärme und Farbe. Schönheit und Freude können auch im häßlichsten Menschen wohnen.« Josh ließ sich von Wright durch einen kurzen Korridor in ein kleines Zimmer führen. In der Mitte des Raumes stand ein großer Lehnsessel, an der Wand ein Schreibtisch und dahinter ein gewöhnlicher Sessel. »Nehmen Sie bitte Platz!« forderte ihn Wright auf und deutete auf den Lehnsessel. Josh ließ sich hineinsinken und schneuzte sich. »Erkältet?« fragte Wright mitfühlend und nahm am Schreibtisch Platz. Dann warf er einen Blick auf seine Tischplatte. »Das werden wir gleich haben. Magengeschwüre auch, was?« »Woher wissen Sie das?« fragte Josh argwöhnisch. Wright lachte. Sein Lachen klang irgendwie glücklich. »Ich habe keine Nachforschungen über Sie angestellt, wenn Sie das meinen. Das ist der Stuhl. Sie sitzen auf unserem speziellen, patentierten Diagnosestuhl.« Seine Hand fuhr über den Schreibtisch. Etwas berührte Josh ganz sachte am Hals. Er sprang auf und sah sich um. Aber da war nichts zu sehen. Seine Hand, die automatisch an den Nacken gefahren war, fühlte sich feucht an. »Was geht hier vor?« fragte er gereizt. »Was soll das bedeuten – Diagnosestuhl?« »Setzen Sie sich doch, Mr. Hunt«, bat Wright freundlich. »Der Stuhl tut Ihnen nichts. Hedonik ist
schmerzlos. Deshalb sieht der Stuhl auch wie ein Lehnsessel aus und nicht wie ein Marterinstrument aus Stahl und Chrom in der Praxis eines Zahnarztes.« Josh nahm vorsichtig wieder auf dem Sessel Platz, diesmal aber auf der vorderen Kante. »Das ist ja alles sehr schön, aber was macht der Stuhl denn?« »Er gibt mir eine exakte und vollständige Diagnose über den physischen Zustand einer jeden Person, die darauf sitzt.« »Das glaube ich nicht!« fuhr Josh auf. »So etwas ist unmöglich!« »Sie meinen«, verbesserte Wright ihn sanft, »Sie kennen so etwas nicht. Dieser Stuhl ist schon seit zehn Jahren theoretisch möglich und seit wenigstens fünf Jahren auch technisch durchaus realisierbar. Daran ist nichts Neues. Ein jeder hätte ihn bauen können. Außerdem ist der Stuhl bei weitem nicht so kompliziert, wie Sie vielleicht annehmen. Aber darüber können wir uns später unterhalten. Darüber hinaus ist der Stuhl auch noch ein therapeutisches Gerät. Er behandelt Krankheiten und physische Fehlfunktionen, er stellt das endokrine Gleichgewicht her, heilt Knochenbrüche und derlei Dinge.« »Derlei Dinge?« wiederholte Josh benommen. »Wie?« »Oh, hauptsächlich mit Spritzen«, meinte Wright gleichgültig. Josh lachte erleichtert. »Der Stuhl diagnostiziert also das Gebrechen und heilt es dann auch, was?« »Allerdings«, lächelte Wright. »Was macht Ihre Erkältung?«
Josh schnüffelte. Die Luft roch wunderbar. Seine Nase war frei, sein Kopf fühlte sich wieder normal an. »Sie ist weg«, sagte er verblüfft. »Millionen«, murmelte er dann. »Eine Schnupfenkur wie diese ist Millionen wert. Warum bringen Sie sie nicht auf den Markt?« »Das haben wir doch getan«, erwiderte Wright gelassen. »Das gehört zur hedonischen Behandlung. Aus unserer Perspektive hat es keinen Sinn, so etwas einzeln auf den Markt zu bringen. Wir sind nicht daran interessiert, kleine Wehwehchen zu heilen – auch größere nicht, was das betrifft. Unser Geschäft ist das Glück, nicht die Medizin. Verstehen Sie?« Josh schüttelte verständnislos den Kopf. »Sie wollen sagen, daß Sie nicht daran interessiert sind, Geld zu verdienen?« »Natürlich wollen wir Geld verdienen. Wie könnten wir sonst dieses Haus und andere ähnliche unterhalten? Wie könnten wir sonst die Dienstleistungen der Hedonics, Inc. jedermann zugänglich machen? Aber das Geld ist kein Selbstzweck, es ist für uns nur ein Mittel zum Zweck.« »Sehr edel gedacht«, brummte Josh. »Meinetwegen. Dieser Stuhl diagnostiziert also Krankheiten und heilt sie. Was bekomme ich für meine hundert Dollar sonst noch?« »Sie haben vermutlich festgestellt, daß Ihr Magengeschwür sich gebessert hat?« Joshs Gesicht nahm einen erstaunten Ausdruck an. Er atmete tief und betastete hilflos seinen Leib. »Ich glaube ...«, begann er; dann wurde seine Miene argwöhnisch. »Wie soll ich das wissen?«
Wright lachte leise. »Gehen Sie doch zu Ihrem eigenen Arzt. Er wird es Ihnen sagen.« »Das werde ich tun«, sagte Josh entschlossen. Wenn das ein Bluff war, so war er entschlossen, ihm auf den Grund zu gehen. »Ist das alles?« »Wollen Sie mehr?« fragte Wright mit geweiteten Augen. »Wo sonst könnten Sie sich Heilung einer Erkältung und eines Magengeschwürs für hundert Dollar kaufen? Sie haben sich doch, seit Sie dreißig waren, nicht mehr so wohl gefühlt wie jetzt! ›Ist das alles?‹ – Aber Sie haben recht – es ist nicht alles. Sie haben nur die erste Hälfte der Behandlung mitgemacht. Wenn es Ihnen paßt, können wir die zweite Hälfte morgen um dieselbe Zeit erledigen.« »Und woraus besteht diese zweite Hälfte?« »Sie haben nur die Vorstufe mitgemacht. Ohne das andere – ohne eine psychologische Behandlung, die der physischen Behandlung ähnelt, die Sie soeben über sich haben ergehen lassen – wäre diese erste Hälfte wertlos. Sie würden sich wieder erkälten. Ihre Magengeschwüre würden wiederkehren. Ich wiederhole: Die Medizin interessiert uns nur am Rande – wir bieten Hedonik!« »Aber ich brauche keine psychologische Behandlung«, widersprach Josh. »Und selbst wenn ich sie brauchte, glaube ich, daß ich sie nicht haben wollte. Ich fühle mich so, wie ich bin, ganz wohl.« »Sind Sie glücklich?« fragte Wright ruhig. Josh begriff sofort, daß das keine rhetorische Frage war. »Ich glaube, diese Frage ist ungebührlich.«
»Wollen Sie nicht glücklich sein?« »Doch, ich glaube schon«, sagte Josh langsam. »Aber nicht, wenn dadurch meine Persönlichkeit verändert wird ...« Wright seufzte. »Die Menschheit hat eine unendliche Kapazität für Elend. Sie sucht immer wieder Wege, sich unglücklich zu machen. Ich glaube, das ist teilweise Masochismus, teilweise einfach ein Bedürfnis für Selbstzerfleischung und unterbewußte Schuldgefühle. Schauen Sie, die Hedonik verändert Ihre Persönlichkeit nicht. Sie zeigt Ihnen nur, wie Sie dieses Persönlichkeit in freudiger Weise ausdrücken können. Sie lehrt Sie die Technik des Glücklichseins.« »Wie?« fragte Josh argwöhnisch. »Wir beginnen damit, daß wir die offensichtlichen Störungen beseitigen. Die kleinen Muskelzuckungen, die nervösen Angewohnheiten – so wie das Zucken an Ihrem rechten Auge und die Art und Weise, wie Sie den Hals strecken.« Josh ertappte sich dabei, wie er den Hals recken wollte, und spürte, wie sein Augenlid zuckte. Er hatte das schon lange nicht mehr bemerkt. Aber jetzt, da er versuchte, diese Zuckungen abzustellen, stellte er fest, daß das nicht ging. »Sie haben am Abend Kopfschmerzen, sind am Morgen verkatert, und Ihre Hände zittern vor dem Frühstück. Sie trinken zuviel, rauchen zuviel und benutzen zu viele Reizmittel. Diese Schmerzen nehmen wir Ihnen und nehmen Ihnen damit auch das Bedürfnis nach all diesen Stimulanzien.«
»Sozusagen ein Prediger mit der Keule«, höhnte Josh. Wright lächelte. »Meinetwegen. Und dann nehmen wir uns Ihrer Phobien an ...« »Ich habe keine Phobien!« »Ich möchte wetten, daß Sie fast alle haben. Akrophobie, Klaustrophobie, Homilophobie und sogar Phobophobie – also die Angst vor der Angst ...« Josh schüttelte den Kopf. »Sie irren!« »Nein!« sagte Wright mit geweiteten Augen. Seine Hand griff über die Tischplatte. Plötzlich waren alle Lichter erloschen. Josh befand sich inmitten dichter Schwärze, so dicht, daß sie gleichsam Struktur zu haben schien. Sie umgab ihn von allen Seiten und erdrückte ihn. Über ihm war ein Berg, der mit seinem ganzen Gewicht auf ihm lastete und die Luft zusammendrückte ... Panik stieg in seiner Kehle auf und schien seine Brust mit stählernen Banden zu umfangen. »Aufhören!« schrie er mit brechender Stimme. »Machen Sie Licht!« Die Lichter flammten auf. Josh blinzelte ärgerlich. »Das war Klaustrophobie«, erklärte Wright deutlich. Wieder bewegte sich seine Hand. Der Boden war Millionen Meilen unter ihm. Menschen und Fahrzeuge huschten wie Mikroben auf einem Mikroskop in der Tiefe herum. Die Wände des Gebäudes verschwammen vor seinen Augen, und Josh spürte, wie ihn eisige Kälte erfaßte. Seine Hand klammerte sich um ein stählernes Geländer, und er spürte, wie sein Griff schwach wurde. Dann fühlte er, wie er stürzte, und es war gerade,
als habe er sich selbst in diese hungrige Leere gestürzt. Ein Schrei brach aus ihm hervor ... Josh saß auf der Stuhlkante, und der Schrei stieg in ihm auf. Er erstickte ihn und funkelte Wright an. »Das war Akrophobie«, sagte Wright. »Ich könnte so weitermachen, aber ich glaube, daß die Demonstration genügt. Aber um fortzufahren – nachdem wir die Phobien beseitigt haben, nehmen wir uns Ihrer eigentlichen Probleme an ...« »Und das alles für hundert Dollar?« fragte Josh erstaunt. »Ist das der beschränkte Vertrag?« Wright nickte. »Was können Sie damit verdienen?« »Gar nichts«, gab Wright zu. »Obwohl unsere Techniken so standardisiert sind, daß wir in etwa auf unsere Kosten kommen. Natürlich ist das ein Einführungsangebot, das später sehr viel teurer werden wird – für die, die es sich leisten können. Für die anderen führen wir kostenlose Klinikbehandlungen ein. Woran wir wirklich Geld verdienen, sind die unbeschränkten Dienstleistungsverträge.« »Was leisten Sie dabei noch zusätzlich?« fragte Josh. »Wir übernehmen alles! Wir arrangieren Ihr Leben so, daß Sie sich nie mehr Sorgen zu machen brauchen. In diesem Zeitalter der Angst brauchen Sie nie mehr Angst zu haben. In diesem Zeitalter der Furcht brauchen Sie sich nie mehr zu fürchten. Es wird immer dafür gesorgt sein, daß Sie Nahrung, Kleidung, Wohnung und Glück haben. Sie werden lieben und geliebt werden. Das Leben wird für Sie unverfälschte Freude sein. Dann kommen noch zusätzliche
Vorzüge hinzu, wie zum Beispiel unsere Forschungen über die Verlängerung des Lebens – die übrigens gerade beginnen, Früchte zu tragen, und die in erster Linie den Klienten unserer unbeschränkten Kontrakte zugute kommen werden.« »Glück«, sagte Josh wie aus weiter Ferne, »und ein langes Leben, um es zu genießen – das wäre ein Vermögen wert.« Aber gleichzeitig hörte er die Warnglocken in seinem Kopf. Sie riefen: »Schwindel! Schwindel!« – »Und der Preis?« fragte er. »Wie Sie schon sagten«, meinte Wright nachdenklich. »Es wäre ein Vermögen wert. Der Preis ist hoch, aber er entspricht der Leistung. Der Preis ist – alles!« »Alles?« wiederholte Josh mit unsicherer Stimme. Wright nickte ernst. »Sämtlicher Besitz in Sachwerten und Vermögen sowie das gesamte Einkommen werden unserer Firma überschrieben. Das ist nicht so exorbitant, wie es Ihnen vielleicht scheinen mag. Der Klient braucht kein Geld mehr. Die Firma nimmt sich all seiner Bedürfnisse an.« »Aber dafür finden Sie bestimmt nicht viele Kunden.« »Im Gegenteil, wir haben schon eine ganze Menge.« »Nun, mich werden Sie jedenfalls nicht bekommen«, erklärte Josh entschlossen. Wright breitete die Hände aus. »Das ist natürlich Ihre Angelegenheit. Unglücklich zu sein ist kein Verbrechen. Noch nicht, wenigstens!« Josh nahm das sofort auf. »Was meinen Sie damit – noch nicht?«
»Eines Tages wird die Hedonik die ganze Nation umfassen – sogar die ganze Welt. Und eines Tages werden wir Gesetze brauchen, nicht für uns, aber um die Rechte der Minderheit zu schützen. Die Hedonik muß in den Lehrplan der Grundschulen aufgenommen werden, und ein jeder muß ein verfassungsmäßiges Recht auf Glück haben – das Recht, Mr. Hunt, glücklich zu sein.«
5 Dr. J. M. Cooper blickte überrascht auf. »Nun, ja, soweit ich feststellen kann, ist Ihr Magengeschwür, wenn nicht völlig geheilt, so doch so weit gebessert, daß Sie keine Beschwerden mehr haben dürften.« »Und die Erkältung?« fragte Josh. Dr. Cooper legte nachdenklich die Hände zusammen. »Die ist weg – wenn Sie je erkältet waren.« »Warum sollte ich Sie anlügen?« brauste Josh auf. »Ich war schon tausendmal erkältet und weiß doch schließlich, wie man sich da fühlt.« Der Arzt nickte. »Ich denke schon. Aber Sie erinnern sich wahrscheinlich auch an Erkältungen, die in ein oder zwei Tagen vorbei waren. Deshalb muß man derartige Wundermittel gegen Schnupfen und Erkältung sehr sorgfältig prüfen, ehe man sie beurteilen kann.« »Aber wenn mein Magengeschwür und die Erkältung wirklich kuriert sind, wie ist so etwas möglich?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, gestand Dr.
Cooper offen. »Aber wenn Sie meine Meinung interessiert, so möchte ich sagen, daß es sich hier um eine Art von Glaubensheilung handelt.« »Aber ich habe doch gar nicht an die Geschichte geglaubt!« Der Arzt zuckte die Achseln. »Immerhin haben Sie damit gerechnet, daß etwas geschehen würde. Sie waren beeindruckt. Die Spritze, die Sie bekamen, hat eine Autosuggestion ausgelöst – Sie haben sich also selbst geheilt! Schließlich war Ihr Magengeschwür wirklich psychosomatisch. Sie haben es sich selbst auferlegt, und Sie haben es selbst wieder kuriert – das ist alles!« »Könnte es sich bei der ganzen Sache um Betrug handeln?« »Nun, ja! Die Möglichkeit besteht –« »Könnten Sie mir dann helfen, diesen Betrug aufzudecken?« »Ich – äh – möchte mich da nicht einmischen –« »Glauben Sie nicht, daß es Ihre Pflicht gegenüber der Gemeinschaft und gegenüber Ihrem Beruf ist, dafür zu sorgen, daß nur solche Leute Kranke behandeln, die wirklich dazu qualifiziert sind?« Dr. Cooper fuhr sich durch das kurzgeschnittene Haar. »Wenn Sie es so ausdrücken, muß ich Ihnen wohl recht geben.« Josh nickte. »Ich werde Ihnen sagen, was Sie tun können.« Als er die Praxis des Arztes verließ, war es früh am Nachmittag. Er hatte sich seit Jahren nicht mehr so wohl
gefühlt. So kommt das eben, dachte er, wenn man sich für andere Dinge als sein Geschäft interessiert. Aber dann überkam ihn doch das schlechte Gewissen, und er fuhr zur Fabrik. Mary blickte überrascht von ihrem Schreibtisch auf. »Ich habe Sie nicht erwartet, Mr. Hunt. Sie sahen gestern schlecht aus. Heute sehen Sie viel besser aus.« »Vielen Dank, Mary«, strahlte Josh. »Ich fühle mich auch großartig. Hat jemand angerufen?« »Mr. Steward, Ihr Anwalt, wollte Sie erreichen. Und Mr. Kidd wollte auch –« »Verbinden Sie mich mit Mr. Steward. Inzwischen spreche ich mit Kidd.« »Oh, und noch etwas, Mr. Hunt, weil Sie gerade hier sind – ich wollte Ihnen sagen, daß ich kündige. Ich heirate.« »Ich dachte immer, Sie wollen Karriere machen?« Mary wurde rot. »Das habe ich auch gedacht. Aber dann habe ich erkannt – das heißt, man hat mich davon überzeugt – daß ich eigentlich die ganze Zeit ein Heim und eine Familie wollte. Nur so kann ich glücklich werden.« Josh hatte einen finsteren Verdacht. »Ach so! Die Hedonics, Inc.« Sie seufzte ekstatisch und nickte. »Schön, Miss Gamble«, sagte Josh wie aus weiter Ferne. »Es tut mir leid, Sie zu verlieren, aber das müssen Sie natürlich selbst am besten wissen!« Das war die erste Überraschung. Die zweite Überraschung war Mr. Kidd, der Betriebsrat.
Josh erkannte ihn nicht wieder. Er argumentierte nicht und stritt nicht mit ihm. Er schlug nicht einmal auf den Tisch. Er sagte nur: »Sie haben recht, Mr. Hunt. Die Akkorde sind so in Ordnung, wie sie aufgestellt wurden. Die Leute sind auch meiner Meinung.« »Wa – was?« stotterte Josh. »Ja, Sir, wir sind einverstanden!« »Was ist denn mit Ihnen los?« wollte Josh wissen. »Mir ist gerade klargeworden, Mr. Hunt, daß dieser ewige Streit nur alle Menschen unglücklich macht. Und dann habe ich noch herausgefunden, daß ich überhaupt nicht zum Betriebsrat geeignet bin. Ich war viel glücklicher, als ich noch Arbeiter in der Fabrik war. Wenn Sie gestatten, würde ich das gern wieder sein.« Josh blieb der Mund offenstehen. Er starrte Kidd an. Dann fragte er: »Hedonik ...?« »Ja!« nickte Kidd glücklich. Das Telefon hinderte Josh daran, seine Meinung über die Hedonics, Inc. zu sagen. »Entschuldigen Sie!« murmelte er und griff nach dem Hörer. »Hallo?« »Hier spricht Steward«, sagte sein Anwalt mit erregter Stimme. »Sie kennen doch diese neue Firma in der Stadt. Sie nennt sich Hedon –« »Ja, die kenne ich«, unterbrach ihn Josh grimmig. »Die hat mir gerade einen Anwalt ins Büro geschickt. Hunt Electronics gehört jetzt zur Hälfte ihnen!«
6
Josh beugte sich in seinem Stuhl vor und starrte Stewards Mund an, gerade, als könne er damit die Worte des anderen besser verstehen. »Ich verstehe immer noch nicht, wovon Sie reden!« schrie Josh erregt. »Sie wollen sagen, daß meine Frau einen von diesen unbeschränkten Dienstleistungsverträgen unterschrieben hat?« »Das versuche ich Ihnen die ganze Zeit klarzumachen«, seufzte Steward. »Und durch diesen Kontrakt gehört Ihr Geschäft zur Hälfte der Hedonics, Inc.« »Wie kann denn meine Frau mein Geschäft überschreiben?« fragte Josh zum dreizehntenmal. »Nur die Hälfte«, erklärte Steward geduldig und strich sich über seinen kleinen Schnurrbart. »Das liegt an dem Güterrecht dieses Staates. Alles, was Ihnen gehört, gehört zur Hälfte auch ihr. Und ihre Hälfte hat sie eben der Hedonics, Inc. überschrieben. Damit ...« »Schon gut, schon gut!« seufzte Josh. »Das verstehe ich schon. Bedeutet das, daß ihnen mein Haus auch zur Hälfte gehört?« Steward nickte. »Und Ihr halbes Sparkonto, Ihre Anteile an anderen Firmen, die Autos – mit anderen Worten, die Hälfte von allem, was Ihnen gehört.« »Aber doch sicher nicht die Hälfte von allem, was ich in Zukunft verdienen werde«, bettelte Josh. »Das ist eine Streitfrage«, meinte Steward nachdenklich. »Ich fürchte, das müßte man vor Gericht klären.« »Was kann ich tun?« fragte Josh hilflos. »Nun, was das Haus betrifft, werden sie sich
wahrscheinlich mit einer Barabfindung zufriedengeben. Sonst müßten Sie verkaufen. Und was den Rest betrifft, läßt sich das regeln ...« »Nein, nein!« explodierte Josh. »Das geht nicht. Ich werde Einspruch erheben. Damit gehen wir vor Gericht! Wir werden beweisen, daß dieser Vertrag sittenwidrig ist.« Steward schüttelte langsam und entschieden den Kopf. »Als Ihr Anwalt habe ich die Pflicht, Sie zu warnen. Sie würden Ihr Geld zum Fenster hinauswerfen. Der Mann, der diesen Vertrag formuliert hat, hat ihn absolut wasserdicht gemacht. Kein Anwalt in diesem Lande findet da ein Mauseloch.« »Jetzt verstehe ich«, sagte Josh langsam und schlug im Takt seiner Worte auf den Tisch. »Ich verstehe nur nicht, daß nicht ein jeder die Gefahr erkennt! In ein paar Wochen wird ihnen ganz Millville gehören – die Industrie, die Grundstücke und der städtische Besitz bis zu den Abflußkanälen. Alles wird ihnen gehören – und drei Viertel der Leute auch ...« »Menschen können sie nicht besitzen«, widersprach Steward. »Das wäre Sklaverei.« »Lesen Sie den Vertrag noch einmal«, riet Josh. »Das ist schlimmer als Sklaverei. Die Sklaven konnten wenigstens denken, was sie wollten.« Seine Stimme wurde leise, aber sie klang jetzt eindringlicher als vorher, als er geschrien hatte. »Ich sehe es jetzt ganz deutlich. In ein paar Jahren wird die Hedonics, Inc. die größte wirtschaftliche Macht im ganzen Lande sein. Die Vereinigten Staaten werden ihr gehören. Es wird gar nicht nötig sein, die Regierung zu
übernehmen. Die Hedonics, Inc. wird der Regierung gestatten, einen unbeschränkten Dienstleistungsvertrag zu unterzeichnen ...« Steward hatte Josh die ganze Zeit über erstaunt angeblickt. »Da leiten Sie aber aus einem einzigen Fall ziemlich viel ab.« Josh sah durch Steward und die Wand hinter ihm hindurch. »Es gibt nichts, was die Hedonics, Inc. aufhalten könnte – diesen Machthunger, der sich hinter einem dummen Lächeln verbirgt. Man kann einen Schneeball aufhalten, solange er klein ist. Aber wenn er dann einmal bergab rollt – beladen mit dem Gewicht der Träume eines ganzen Volkes –, dann wird eine Lawine daraus, die ganze Nationen, ja ganze Kontinente begraben wird.« Steward war beeindruckt. »Ich gebe zu, daß eine gewisse Gefahr –« Aber Josh hörte gar nicht zu. »Was wollte ihr Vertreter denn?« Der Anwalt zuckte zusammen und schüttelte den Kopf. »Er wollte Sie verständigen. ›Versichern Sie ihm‹, hat er gesagt, ›daß die Hedonics, Inc. als Partner keine Schwierigkeiten machen wird.‹ Sie sollen das Geschäft so weiterführen, wie Sie es bisher getan haben. Man wird Sie nicht stören.« »Verdammt nett von ihnen«, knurrte Josh. »Noch etwas«, fuhr Steward fort. »Er sagte, die Hedonics, Inc. schlage Ihnen vor, Sie sollen eine Art Diagnose-Automaten fertigen. Mit Geldeinwurf und so, glaube ich, hat er gesagt.«
Josh seufzte. »So. Ich soll mir also das eigene Grab schaufeln. Das tue ich nicht. Ich hatte von Anfang an recht. Wir müssen kämpfen. Und das werde ich tun, und wenn die zweite Hälfte dabei auch noch draufgeht.« »Aber ich habe Ihnen doch erklärt ...« »Hören Sie! Der Vertrag ist doch null und nichtig, wenn eine Vertragspartei sich illegaler Handlungen schuldig macht. Stimmt das?« »Nun, ja, im allgemeinen schon, aber –« »Er ist auch hinfällig, wenn eine Vertragspartei nicht in der Lage ist, die Vertragsbedingungen zu erfüllen?« »Stimmt auch, aber –« »Sie garantieren Glück, nicht wahr? Sollen sie doch beweisen, daß sie es liefern können!«
7 Als die Haustür zuflog, klang es hohl und leer. Josh stand im Flur und spürte, wie das Schweigen sich um ihn schloß. Er konnte einen Schauder nicht unterdrücken. Er wußte sofort, daß niemand im Hause war. Trotzdem rief er: »Ethel!« Kurz darauf rief er noch einmal, aber seine Stimme war schwach und hoffnungslos. »Ethel?« Er hatte mit seiner Frau in dieser Woche kaum mehr als ein Dutzend Worte gewechselt. Das war typisch für sie – vielleicht für alle Frauen – daß sie immer da war, wenn er sie nicht brauchte, und nie, wenn er sie brauchte.
Der Brief lag im Wohnzimmer auf dem Tisch. Er lautete: »Lieber Joshua, ich hole die Kinder. Es hat immer wieder Gründe gegeben, sie allein zu lassen und sie fortzuschicken. Jetzt erkenne ich, daß wir uns viel zuwenig Gedanken darüber machen, was für andere Leute gut ist. Das ist falsch. Wir sollten uns viel mehr um sie kümmern. Ich weiß, daß ich glücklicher sein werde, wenn die Kinder bei mir sind. Und ich glaube, daß die Kinder auch glücklicher sein werden. Ethel« Josh starrte den Brief noch lange an, nachdem er ihn gelesen hatte. Aber er sah die Worte nicht. Er sah Ethel so, wie er sie vor vielen Jahren gesehen hatte – jung, schön und verliebt. Er erinnerte sich daran, wie er sie damals angesehen hatte, und fragte sich, warum sich alles so geändert habe. In der Bar waren keine Eiswürfel. Josh schüttete den Bourbon ins Glas und trank ihn warm. Er schmeckte ihm nicht. Das hatte die Hedonics, Inc. ihm angetan. Die Hedonics, Inc. hatte ihm die Firma, die er aufgebaut hatte, aus der Hand genommen. Sie hatte ihm die Hälfte von allem weggenommen, was er besaß. Und sie hatte ihm Frau und Kinder weggenommen. Und dann drängte sich ihm ein Gedanke auf: War das
wirklich alles Schwindel? Konnte er tatsächlich mit Bestimmtheit sagen, daß die Hedonics, Inc. ihre Verträge nicht erfüllen würde? Konnte er sicher sein, daß sie nicht doch das uralte Geheimnis des Glücks gefunden hatte? Daß sie nicht die versiegelten Tore des Paradieses und einen Weg durch diese Tore oder um diese Tore herum entdeckt hatte? Wenn sie Techniken und Geräte erfunden hatten, um das Glück wie einen Vogel einzufangen, dann gab es für jeden vernünftigen Menschen nur eines: Er mußte einen unbeschränkten Kontrakt abschließen. Wenn das Glück zum Verkauf steht, wird nur ein Narr darauf verzichten, es zu kaufen. Aber er durfte nichts riskieren. Das war ganz einfach. Er schlug seinen Websters auf und suchte auf den letzten Seiten in der Liste der Hochschulen der Vereinigten Staaten. Sein Finger fuhr die Spalte hinunter: Technische Hochschule Indiana, Indiana-Universität, Iola-Hochschule ... Ein Institut für Angewandte Hedonik gab es nicht. Dann sah Josh noch unter »Angewandte« und unter »Hedonik« nach. Nichts! Das Institut für Angewandte Hedonik existierte nicht! Also existierte auch die Hedonics, Inc. nicht! Also gab es auch kein Glück! Frage: Wie konnte er es beweisen – einem Richter beweisen? Wieder füllte er sein Glas. Und jetzt waren seine Gedanken plötzlich glasklar. Das war es! Das war der
logische Beweis, den er gesucht hatte! Vor Gericht würde er ihm nichts nützen, aber Josh brachte er die Überzeugung. Wenn sie glücklich waren – warum wollten sie dann das Glück verkaufen? Wenn ein Mann das Paradies gefunden hat – warum sollte er dann Reisen dorthin verkaufen? Nachdem alle Wünsche befriedigt sind – was kann einen dann noch dazu bringen, sich weiterzubemühen? Was kauften sie? Antwort: Es gab nichts, was sie kaufen konnten. Sie hatten schon alles. Die Hedonics, Inc. war ein Betrug. Und jetzt mußte er ihn aufdecken. Er wählte eine Nummer. »Leutnant Marsh?« fragte er.
8 »Sie brauchen die Worte nicht laut auszusprechen«, sagte Wright. »Es ist mir sogar lieber, wenn Sie es nicht tun. Wir wollen nur Ihre Reaktion auf eine Anzahl von Schlüsselbegriffen, und diese Reaktion ist nicht von Ihrer Antwort abhängig. Der Diagnosestuhl wird mir die nötigen Werte liefern – in erster Linie von Ihrem psychogalvanischen Reflex –, das tragen wir dann in einer Kurve ein und besitzen damit eine graphische Darstellung Ihrer hedonischen Probleme. Fertig, Mr. Hunt?« »All right«, seufzte Josh. »Schießen Sie los!« »Vater«, sagte Wright mit ausdrucksloser, professioneller Stimme. »Mutter. Mädchen. Kinder. Geld.
Besitz. Wohlstand. Armut. Frau. Hoffnung. Träume. Arbeit ... Rosen. Diamanten. Glück –« Nach fünfzehn Minuten hörte er auf und sah auf seinen Schreibtisch. »Das genügt. Jetzt könnte ich Ihnen ein sehr genaues Bild Ihrer Vergangenheit und Ihrer Gegenwart geben.« »Nein, vielen Dank«, sagte Josh. »Das weiß ich selbst am besten. Ist das alles?« »Nein«, erklärte Wright. »Jetzt sagen wir Ihnen, was Sie tun müssen, um glücklich zu sein. Aber vielleicht möchten Sie das auch nicht wissen.« »Nur zu! Sagen Sie es!« »Sie wären viel glücklicher«, sagte Wright, »wenn Sie mit den Händen arbeiteten. Wenn Sie etwas bauten, etwas machten. Selbst wenn Sie in Ihrer eigenen Fabrik Geräte montierten. Wenn Sie Ihr Bedürfnis für Anerkennung und Beifall überwinden könnten, wären Sie als Bildhauer am glücklichsten. Sie haben einen stark ausgebildeten Tastsinn, wissen Sie, und ein gutes Formempfinden ... Aber ich sollte Ihnen ja keine Charakteranalyse geben, nicht wahr?« Josh lachte. »Und doch habe ich eine der bedeutendsten Firmen in der Branche aufgebaut. Wie erklären Sie sich das?« »Ich habe nicht gesagt, daß Sie erfolgreicher seien«, sagte Wright langsam. »Ich sagte, Sie würden glücklicher sein. Das ist nicht dasselbe. Und das Erkennen der wahren und falschen Ziele ist ein wichtiger Bestandteil der hedonischen Techniken. Die Herausforderung eines Berufs, dem ein Mensch in Wirklichkeit nicht gewachsen
ist, kann ihn zu phantastischen Leistungen anstacheln – und gleichzeitig sein Temperament, seine Verdauung und sein Heim ruinieren. Ist es das wert? Die einzig vernünftige Antwort darauf ist nein! Aber da Sie ohnehin nicht beabsichtigen, meinem Rat zu folgen, hat es keinen Sinn, hier fortzufahren.« »Sind damit meine hundert Dollar abgeleistet?« »Im wesentlichen, ja.« Zu seiner Überraschung sprang Wright jetzt auf und war an der Tür, ehe Josh sich bewegen konnte. Die Tür öffnete sich. »So, meine Herren«, sagte Wright ruhig. »Sie können jetzt hereinkommen.« Sie kamen wie Schafe herein, wie kleine Jungen, die man beim Lauschen an der Tür ertappt hatte: Dr. Cooper, Mr. Steward und Leutnant Marsh, der Polizeibeamte, mit einem Tonbandgerät. »Woher wußten Sie, daß wir hier sind?« fragte Marsh argwöhnisch. »Eigentlich hätte Mr. Hunt selbst wissen sollen, daß es keinen Sinn hat, unsere Empfangsdame zu bestechen. Welchen Nutzen hat sie denn von Geld? Sie haben doch sicher einen Durchsuchungsbefehl?« »Ja«, nickte Marsh. »Und was wirft man uns vor?« »Betrug. Und andere Dinge.« »Beantragt von Mr. Hunt, nehme ich an?« sagte Wright ruhig. »Gegen mich persönlich oder gegen die Firma?« »Gegen beide.« »Nun, dann schalten auch Sie Ihr Tonbandgerät ein.
Warum sollen Sie das nicht aufnehmen?« »Dann nehmen Sie auf?« rief Leutnant Marsh aus und runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob das zulässig ist ...« »Ganz bestimmt, Leutnant. Es sei denn, Sie hätten einen Haftbefehl gegen mich und möchten mich mitnehmen. Nein? Nun, dann fahren wir fort. Sie sind wahrscheinlich Dr. Cooper?« meinte er, zu dem Arzt gewandt. »Und Sie müssen Mr. Steward sein. Was wirft man mir denn genau vor? Ich möchte dieses Mißverständnis lieber jetzt aufklären, statt die Gerichte damit zu belästigen.« »Einmal«, sagte Josh, der sich darüber ärgerte, daß Wright das Gespräch so an sich gezogen hatte, »daß Sie ohne Lizenz als Arzt tätig sind.« »Ach, du meine Güte!« rief Wright. »Wie kommen Sie denn auf die Idee? Weil ich meine Diplome nicht an die Wände genagelt habe? Da!« Er griff in die Schublade und holte einen dicken Aktendeckel hervor und gab ihn Dr. Cooper. »Da werden Sie wahrscheinlich alle Dokumente finden, die Sie brauchen.« Der Arzt blätterte eine Weile, wobei Josh ihn aufmerksam beobachtete. Wenn Wright sich einbildete, so leicht freizukommen, stand ihm noch eine unangenehme Überraschung bevor. Dr. Cooper blickte auf. »Das – äh – scheint alles in Ordnung zu sein.« Er sah Wright an. »Hervorragende Zeugnisse, Doktor.« »Dann ist er also Arzt?« fragte Josh. »O ja. Alle seine Diplome sind hier. Seine Zertifikate für die Internistentätigkeit, sein Facharztschein – seine Lizenz,
sein Zeugnis über das Studium am Institut für Angewandte Hedonik ...« »Schon gut, Doktor«, sagte Josh kühl. »Ich glaub's Ihnen ja.« Dann schwieg er eine Weile und schien zu überlegen. »Beweisen Sie uns, daß Sie eine Dienstleistung anbieten, die überhaupt durchführbar ist«, sagte er dann. Wright blickte schnell auf. Er schien überrascht zu sein. Jetzt habe ich ihn! triumphierte Josh innerlich. »Beweisen, daß wir Menschen glücklich machen können?« fragte Wright. »Sie wissen, daß das nicht nötig ist. Sie müssen uns beweisen, daß wir es nicht können.« »Das stimmt«, mischte Steward sich unerwartet ein. »Die Beweislast liegt beim Ankläger.« Josh funkelte den Anwalt an: »Dann werde ich es beweisen«, sagte er. »Die Hedonics, Inc. hat mich nicht glücklich gemacht.« »Das bedaure ich zu hören, Mr. Hunt«, sagte Wright ernst. »In diesem Fall muß ich gemäß der Vertragsbestimmungen das hier tun.« Er nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch und reichte es Josh. Josh sah es an, aber er wußte schon vorher mit dem bleiernen Gefühl des Besiegten, was es war. Es war ein an Joshua P. Hunt ausgestellter Scheck über einhundert Dollar. Da stand er jetzt mit dem Stück Papier in der Hand, benommen und unfähig, sich zu bewegen. Die anderen gingen – er fühlte das, ehe er es sah: Leutnant Marsh mit einer Entschuldigung auf den Lippen, Steward mit einem Achselzucken und Dr. Cooper mit dem Hinweis auf einen
anderen Termin. »Sie werden niemals das ganze Land übernehmen«, knurrte Josh und hörte seine eigene Stimme wie aus weiter Ferne. »Die Regierung wird sich um Sie kümmern. Es gibt hier Monopolgesetze ...« »Aber wir sind unserer Satzung nach eine Firma auf Gegenseitigkeit – also eine Firma, die keine Gewinne erzielen möchte«, erwiderte Wright sanft. »Das wird uns lange Zeit schützen. Außerdem sind bereits eine ganze Anzahl von Kongreßangehörigen und Regierungsbeamten Klienten von uns.« Josh stöhnte. »Trotzdem ist es Betrug. Es gibt kein Institut für Angewandte Hedonik.« Wright beugte sich vor. »Woher wollen Sie das wissen?« »Ich habe in einer Universitätsliste nachgesehen.« Wright lächelte mitfühlend. »Das Institut ist erst vor sechs Jahren gegründet worden. Wenn Ihre Liste älter ist, ist das Institut natürlich nicht darin enthalten.« Josh erkannte die Wahrheit. Er besaß das Buch seit seiner Universitätszeit. »Sie haben die Charakteranalyse abgelehnt«, sagte Wright. »Ich werde sie Ihnen jetzt trotzdem geben. Sie sind Materialist. Sie glauben nur an die Dinge, die Sie in der Hand halten können. Abstraktionen übersteigen Ihr Begriffsvermögen: Liebe, Freundschaft, Glück ... In manchen Menschen wohnt ein Dämon, der es ihnen nicht erlaubt, das Glück zu erkennen oder zu suchen. Sie werden selbst das Paradies ablehnen, da Sie es nicht eigenhändig
erbaut haben.« Josh ließ den Kopf sinken. »Aber warum tun Sie das alles?« fragte er verwirrt. Wright schüttelte hoffnungslos den Kopf. »Die Techniken der Hedonik sind keine Zauberei. Sie sind eine Neuorientierung und eine Disziplin – eine Kontrolle nicht über äußerliche Vorgänge, sondern über unsere Reaktionen darauf. Das Glück ist in uns. Das müssen Sie nur erkennen. Oh, das ist nicht leicht. Das ist eine schwere Arbeit, schwerer als alles, was Sie bisher getan haben. Aber es ist der Mühe wert. Warum wir es tun – wofür? Ich will es Ihnen sagen: Wir kaufen Glück. Nicht für uns – für jeden. Selbstverständlich hat Geld für uns keinen Reiz. Nicht wenn wir glücklich sind. Aber wenn wir glücklich sind – verstehen Sie –, wollen wir, daß andere auch glücklich sind. Das ist ein Gesetz der menschlichen Natur. Ebenso, wie wir andere leiden sehen wollen, wenn wir selbst leiden. Die Hedonics, Inc. ist die Lösung dieses Problems. Die Anforderungen, die die Hedonics, Inc. an ihre Mitarbeiter stellt, sind hoch. Es müssen selbstlose Menschen sein, Altruisten. Ihr ganzes Glück muß darin bestehen, andere glücklich zu machen.«
9 Josh saß in dem roten Ledersessel, der zur Hälfte ihm gehörte, und studierte die bernsteinfarbenen Tiefen der
Flüssigkeit in seinem Glas. Hier lag eine Art von Glück – das Vergessen. Das einzige Schwierige war, daß das Vergessen nicht kam. Whisky hatte keine Wirkung mehr auf ihn. Hatte die Hedonics, Inc. ihm auch das weggenommen? Die Hedonik funktionierte. Das mußte er hinnehmen. Sie funktionierte physisch: Die Hedonik hatte die Unheilbaren geheilt. Sie funktionierte psychologisch: Sie hatte aus seiner Frau eine glückliche Frau gemacht. Er konnte sich auch damit abfinden, daß die Hedonik unvermeidbar die ganze Nation erobern würde und danach die Welt. Sie war ein Gigant, aufgebaut auf der ewigen Hoffnung der Menschen, und nichts konnte diesen Giganten aufhalten. In den ganzen Vereinigten Staaten würden die Menschen glücklich sein, auf der ganzen Welt würden die Menschen glücklich sein. Alle würden glücklich sein. Alle – nur Joshua P. Hunt nicht. Er griff zum Telefon und wählte. »Tut mir leid, Mr. Hunt«, sagte das Mädchen, und ihre Stimme klang wirklich traurig. »Die Klausel steht im Vertrag, und wir müssen uns zu unserem eigenen Schutz daran halten. Wer einmal den Kontrakt gebrochen hat, kann keinen mehr mit uns abschließen. Sonst würden immer wieder Leute Kontrakte brechen und wiederkommen, und die Buchhaltungsprobleme wären enorm. Wir müssen unsere Verwaltungskosten natürlich niedrig halten. Das verstehen Sie doch, nicht wahr, Mr. Hunt?« Josh hielt das Telefon noch lange in der Hand, nachdem
das Klicken am anderen Ende ihm verraten hatte, daß die Verbindung unterbrochen war. Vielleicht klangen die Tore des Paradieses so, wenn sie sich vor den daraus Vertriebenen schlossen.
II. Teil 1 Hedonik, n., psychomedizinische Wissenschaft, die sich mit dem Wesen des Glücklichseins befaßt ... Hedonismus, n. 1. Ethik: die Lehre, nach der das Vergnügen das einzige Gut im Leben ist und nach der die Befriedigung der auf das Vergnügen ausgerichteten Instinkte die Erfüllung einer moralischen Pflicht bedeutet ... Hedonist, m. 1. eine Person, die nach den Vorschriften des Hedonismus lebt, also für das Vergnügen; 2. (seit dem Jahre 2005) jemand, der Hedonik praktiziert ... Der Tag begann ebenso, wie schon mehr als achttausend Tage begonnen hatten. »Wach auf!« murmelte es einschmeichelnd im Ohr des Hedonisten. »Die Sonne scheint. Es ist ein herrlicher Tag. Wach auf! Sei glücklich!« Der Hedonist wälzte sich zur Seite und brachte das Kissen durch einen Knopfdruck zum Schweigen. Dann sah er zu dem langen, niedrigen Fenster hinaus, das eine Wand seines Häuschens bildete. Draußen war es neblig. Er blickte auf das Kissen neben dem seinen und auf das braune, lange Haar, das wie ein seidenes Tuch darüber ausgebreitet war. Er seufzte. Auch das mußte jetzt zu Ende
gehen. Er schlug die Decke zurück und ließ seine flache Hand auf die jugendliche Rundung klatschen. Beth drehte sich um und fuhr erschreckt auf. »Was ist denn?« stieß sie hervor. Ihre Schlafanzugjacke war ihr ein paar Nummern zu groß. Sie umgab sie wie ein scharlachfarbenes Zelt. Sie gähnte und hob die Arme, um sich die Augen zu reiben. Als sie sie wieder sinken ließ, rutschte ihr die Jacke herunter, so daß man ihre Schulter sehen konnte. Sie drohte sogar noch weiter herunterzurutschen. Der Hedonist lächelte. Der Schlaf war ein wertvolles Gut, wenn man jung war. Man konnte nie genug davon bekommen. Man konnte überhaupt von nichts genug bekommen. Wenn man älter wurde, fand man leichter Befriedigung. Wieder seufzte er. Auch das war schade. »Zeit zum Aufstehen«, sagte er freundlich. Und dann, ganz leise: »Zeit, nach Hause zu gehen.« »Nach Hause?« fragte sie. Sie war plötzlich hellwach. »Ich bestätige dich heute. Du kannst jederzeit heiraten, wenn du dich mit deinem Verlobten über ein Datum einigen kannst.« »Aber –«, begann sie und verstummte dann wieder. Dem erfahrenen Blick des Hedonisten entging keine Bewegung in ihrem Gesicht. Beths sonst so ruhiges Gesicht wirkte besorgt. Aber selbst so war es doch das schönste Gesicht in seiner Station. Sie auszubilden, hatte ihm nicht nur beruflich Freude gemacht. Aber sie war so jung, so jung!
Er erinnerte sich, ohne es eigentlich zu wollen, an das Datum: 23. Februar 2035. Ein Donnerstag. Er konnte sich gut daran erinnern. Vor drei Monaten war sie neunzehn Jahre alt geworden. Er hatte ihre Geburt überwacht. Jetzt hatte er sie für die Ehe vorbereitet. Während der neunzehn Jahre, die inzwischen verstrichen waren, hatte er ihr Glück überwacht. Das paßte nicht zu seinen dreiundfünfzig Jahren. »Du willst doch noch heiraten, oder?« fragte er. »O ja«, sagte sie, und ihre dunklen Augen ließen sein Gesicht nicht los. »Nun, meinen Segen hast du. Ich habe mein Bestes getan.« »Ich weiß«, sagte sie ausdruckslos. »Der Mann, mit dem du verlobt bist – ist der in einer anderen Station?« »Das weißt du doch«, sagte sie. Ja, das wußte er. Er wußte alles, was in der Station vorging: die Probleme, die Sorgen, die Schwierigkeiten. Er kannte jeden: ihre Emotionalquotienten, was man von ihnen erwarten konnte und wie man sie behandeln mußte ... Manchmal kannte er sogar ihre Gedanken. In dieser Station war er – und zwar in einem sehr realen Sinn – ein göttliches Wesen. Mit seinem Wissen und seiner Macht über das Leben und das Glück von tausend Menschen war er ein Gott. Aber auch ein Gott kann zu viel wissen. Wissen ist eine Bürde, und die Verantwortung für tausend Menschen reicht aus, die Schultern eines Atlas zu beugen.
»Vergiß nicht«, sagte er mit einem Gefühl von Bedrückung, das er nicht analysieren konnte, »deine Pflicht – deine einzige Pflicht – ist es, glücklich zu sein.« »Ja, Hedonist«, sagte sie gehorsam. »Leb wohl, Beth«, sagte er. »Sei glücklich!« Er schwang die Beine über die Bettkante und ging die drei Schritte zur Kabine. Die Tür der Kabine schloß sich, und er war in dem kleinen, ein mal eineinviertel Meter messenden Raum allein. Fünfzehn Minuten darauf war er für den neuen Tag und das, was er ihm bringen würde, bereit. Sein Bart war aufgelöst; warme Seifenstrahlen hatten ihn gereinigt, heißes Wasser hatte ihn abgespült; eisige Nadeln hatten seinen Körper wachgemacht; Heißluftströme hatten ihn getrocknet. Er zögerte beinahe, die bequeme kleine Kammer zu verlassen. Dann drückte er den untersten in einer Reihe von Knöpfen zu seiner Rechten. Die Beleuchtung wechselte. Eine Wand war plötzlich ein vom Boden bis zur Decke reichender Spiegel. Der Hedonist musterte sich und runzelte die Stirn. Eigentlich war er gar nicht so dick. Es war kein Fett an ihm. Er war hochgewachsen und muskulös. Sein kurzgeschnittenes Haar war immer noch schwarz und zeigte keine Spur von Grau. Sein gutgeschnittenes Gesicht zeigte keine Falten. Er sah nicht älter aus als ein durchtrainierter Dreißigjähriger. Die letzte Geriatriebehandlung war ungewöhnlich erfolgreich gewesen. Und doch stimmte etwas nicht. Er hatte seit dem
Erwachen sechsmal ein Gefühl des Unbehagens verspürt, und dafür bestand keine Veranlassung. Während er frische Unterkleidung aus dem Automaten zog und die durchsichtige Hülle in den Abfallbehälter stopfte, sagte er sich, daß der Unterschied zwischen Beths Alter und dem seinen offensichtlich und unüberbrückbar war. Was wollte er? Eine Ehefrau? Unsinn! Die Zölibatsklausel im hedonischen Eid war völlig logisch: Als Hedonist werde ich weder lieben noch heiraten, noch Vater sein, sondern mein ganzes Streben auf die Erfüllung meiner Pflichten konzentrieren ... Ein Hedonist durfte keine gefühlsmäßige Bindung mit einer anderen Person eingehen. »Das Glück ist unteilbar«, sagte er streng zu sich selbst und konzentrierte sich auf die Abwertung seines Wunsches. Als er die hedonische Übung beendet hatte, war sein Gefühl für Beth weder seiner Art noch seiner Intensität nach anders als das für jedes beliebige andere Mädchen seiner Station. Erneut fühlte er die wunderbare Kraft der Hedonik. Als er die Kabine verließ, war Beth gegangen. Er verspürte ein kaltes Gefühl des Verlustes.
2 Beim Essen schaltete er die Nachrichten ein. »Der Hedonie-Index, der bei der Morgendämmerung nur 85 Prozent betragen hat« (die deprimierende Auswirkung des
Morgennebels, dachte der Hedonist), »ist bereits auf 93 Prozent angestiegen« (Frühstück) »und dürfte noch weiter steigen, sobald der Regen um 7.35 Uhr die Luft gereinigt hat.« In der Ecke des Bildschirms war die Zeit angegeben: 0736. Der Hedonist hörte auf zu essen und hob den Kopf, um zu lauschen. Neben der Stimme des Ansagers war jetzt das Trommeln von Regen auf seinem Dach zu hören. Der Hedonist nickte befriedigt. Pünktlich. Durch das Fenster sah er, wie der Nebel langsam verflog. Diese Art von Zuverlässigkeit ließ die Regierung zu einer festen, unaufdringlichen Grundfeste für das Glück der Nation werden. Der Hedonist erinnerte sich an die Zeit, als man das für die stolzeste Leistung der Hedonik gehalten hatte: pünktlicher Regen. Jetzt dachte sich niemand mehr etwas dabei. »Heute ist für den ganzen Tag Sonnenschein vorgesehen; nur um 19.16 Uhr bei Sonnenuntergang ist ein kurzer Schauer angesetzt, um die Luft erneut zu reinigen. Die Temperatur wird bis zur Dämmerung 28 Grad betragen und dann auf 20 Grad absinken. Die Interplanetarische Behörde meldet die Fertigstellung eines neuen Schiffes im Dock außerhalb des Altstadthafens.« (Es schimmert wie ein Edelstein, dachte der Hedonist, jetzt, da die Sonne durch die Wolken gebrochen war und ihre Strahlen sich in den diamantenen Tropfen des soeben beendeten Regengusses spiegelten.) »Das Schiff wird in Kürze starten, sobald die
Auswanderungsgruppe zusammengestellt ist. Der Flug zur Venus wird drei Monate dauern.« Der Hedonist lächelte. »In Kürze.« Das Schiff würde lange im Dock stehen. Wie findet man im gelobten Land Emigranten? Wo findet man Menschen, die bereit sind, Frieden, Überfluß und Glück einzutauschen für Mühe, Hunger und Elend? In einer Irrenanstalt vielleicht – aber Irrenanstalten gab es nicht mehr. »Das Schiff«, sagte der Ansager soeben, »trägt den Namen Asyl. – Durch die Züchtung einer neuen Mutation ist die Produktion von Chlorella-Algen um fünfzig Prozent angestiegen. Der Proteingehalt der neuen Ernte ist hoch. Sämtliche Stationen werden eine genügende Menge von Chlorella-Brot erhalten. Ferner ist mit einer Zunahme der Planktonernte zu rechnen. Die Suchflotte hat eine Schicht Zooplankton entdeckt, die nahezu unerschöpflich zu sein scheint. Die Ausbeutung beträgt bereits mehrere tausend Tonnen.« Der Hedonist öffnete den Kafi-Behälter und hoffte, daß die Schiffe nicht alles Leben im Meer ausrotteten. Algen waren schon recht, und auch die synthetischen Nahrungsmittel schmeckten oft ganz gut. Aber der unnachahmliche Geschmack von echtem Protein ließ sich nicht künstlich herstellen. Andererseits, überlegte er, mußte er seinem Schöpfer dankbar sein, daß er gern Fisch aß. Manche Leute mochten ihn nicht und mußten sich daher ausschließlich mit synthetischen Nahrungsmitteln und Algen begnügen. »Der Hedonik-Index«, erklärte der Ansager mit geradezu
ansteckender Freude, »hat 95 Prozent erreicht.« Der Hedonist schaltete das Gerät ab, schob das schmutzige Geschirr in den Schrank und deckte den Bildschirm ab. Die Speisekarte für das Mittagessen blitzte auf, aber er schaltete ab. Er konnte so kurz nach dem Frühstück nicht an das Mittagessen denken. Er würde später etwas aussuchen, dachte er; aber er wußte gleichzeitig, daß er dann keine Zeit mehr haben würde. Er würde es wieder vergessen und das Standardmenü nehmen müssen. Nun, das war ja auch nicht schlecht, und er würde schon damit zufrieden sein. Die Wandlampe blitzte auf, und eine fröhliche Stimme sagte: »Nachricht für Sie. Nachricht für Sie. Nachricht –« Der Hedonist drückte hastig auf den Annahmeknopf. Die Bildfläche wurde hell und füllte sich mit Buchstaben, schwarz auf weiß: An: Hedonist, Station 483 Von: Hedonischer Rat, Gebiet 1 Sie haben sich auf Zimmer 2943 im Hedonischen Ratsgebäude, Gebiet 1, um 1634 für Ihre Jahresuntersuchung einzufinden. Seien Sie pünktlich! Seien Sie glücklich! Sie haben sich einzufinden, wiederholte der Hedonist in Gedanken, während er die Nachricht löschte. Das war die übliche Form, und die Nachricht war auch unmißverständlich. Aber seine letzte Untersuchung war erst vor sechs Monaten gewesen. So früh konnte man ihn
doch nicht zurückrufen, oder? Irgend etwas war eigenartig daran. Ein Schauer rann über seinen Rücken. Er zog ein kurzärmeliges Hemd und leichte Shorts an und blickte auf seinen Tagesplan. Nach dem MikrofilmMemorandum, das auf seinen Schreibtisch projiziert wurde, hatte er nach 1630 keine Verabredung. Wenn er sich für die fünfundzwanzig Meilen zwischen seinem Häuschen und dem Ratsgebäude fünfzehn Minuten Zeit ließ, würde er die Verabredung mit Mrs. Merton absagen müssen. Nun, das ließ sich nicht ändern. Die Familienstreitigkeiten der Mertons würden eben bis Montag warten müssen. Er legte den »Nachricht«-Schalter um, schrieb eine Notiz an Mrs. Merton auf dem Schreibtisch und schickte sie ab. Der Schreibtisch war wieder leer. Dann bestellte er sich für 1615 ein Taxi und wandte sich den Tagesgeschäften zu. Sara Walling. Der Hedonist drückte auf der Knopfreihe auf seinem Schreibtisch ihre Nummer. Ihre Krankengeschichte tauchte, in Nummern, Buchstaben und Symbolen projiziert, vor ihm auf; eine bedeutungsvolle, komprimierte Beschreibung von siebenundzwanzig Jahren aus dem Leben einer Frau. Der Hedonist nickte und löschte die Projektion. Sein Gedächtnis hatte ihn nicht getrogen, aber er wollte sich nicht auf sein Gedächtnis verlassen, wenn das Glück eines Menschen auf dem Spiel stand. 0800. Die Leuchtschrift vor seiner Tür mußte jetzt aufgeflammt sein: »Tritt ein und sei glücklich!« Die Tür
öffnete sich. Da stand Sara Walling. Ihr schmales, finsteres Gesicht war unglücklich. Der Hedonist stand auf und ging ihr die drei Schritte bis zur Tür entgegen. Er legte den Arm um sie und streichelte sie. »Freude, Sara! Tritt ein, meine Liebe!« sagte er freundlich. »Erzähle mir alles!« Als sie im Diagnosestuhl saß, setzte sich der Hedonist an seinen Schreibtisch und widmete dem Mädchen und den Skalen auf seinem Tisch seine ganze Aufmerksamkeit. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt, ein schlankes, blasses Mädchen, einen Meter achtundsechzig groß. Ihr Gesicht war nicht gerade häßlich zu nennen, aber trotzdem sah man auf den ersten Blick, daß sie bestimmt eines der am wenigsten attraktiven Mädchen in der ganzen Station war. Sie war unverheiratet und hatte auch keinen Freund. Das war ihr Problem. Wenigstens dachte sie das. Der Hedonist wußte voll Schuldbewußtsein, daß er in ihrem Fall versagt hatte. Aus den Skalenanzeigen, die vom Diagnosestuhl zu seinem Schreibtisch herüberwanderten, machte sich der Hedonist ein Bild ihres Falles: Muskelkontraktion, Puls, Blutdruck, Atmung, insbesondere aber der elektrische Widerstand ihres Körpers – den man oft auch als psychogalvanischen Reflex bezeichnete – gaben ihm ein klares Bild ihres emotionellen Zustandes. Und wenn man diese Aussage mit ihrem Emotionalquotienten verglich, war die Antwort klar. »Du denkst natürlich an jemand bestimmten«, sagte er. »Ja«, gab sie zu.
»War er mit dir im Vorehehaus?« »Einmal«, sagte sie kurz. »Aha«, nickte der Hedonist. Hier war ein Unglück zum anderen gekommen. Er unterdrückte sein Mitgefühl. Die Diagnose war vollständig. »Hast du irgendeine Vorstellung, wie du dein Glück erhöhen könntest?« Sie zögerte. »Kannst du ihn nicht dazu bringen, mich zu lieben?« fragte sie schnell und voll Hoffnung. »Dann wäre ich glücklich, und er wäre glücklich –« »Ist er jetzt unglücklich?« unterbrach sie der Hedonist ruhig. »N-n-nein«, seufzte sie. »Dann kann ich ihn zu nichts zwingen«, erklärte er. »Das weißt du auch. Die Tatsache, daß deine Wünsche nicht mit den seinen übereinstimmen, ist kein Grund zum Zwang. Du bist diejenige, die unglücklich ist. Du bist es, die Therapie benötigt.« »Aber das ist das einzige, was mich glücklich machen würde!« jammerte sie. Der Hedonist schüttelte langsam und bedauernd den Kopf. »Wir können das Leben nicht in die Bahnen zwingen, die wir uns wünschen. Und wenn wir unser Glück von äußeren Umständen abhängen lassen, laden wir uns selbst Sorge und Verzweiflung auf. Das Glück beginnt zu Hause – im Inneren. Haben wir dich das nicht gelehrt?« »Man hat es mich gelehrt«, stöhnte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Aber es ist so schwer zu lernen und so schwer zu tun.« »Hast du die hedonischen Techniken versucht?« fragte
der Hedonist. »Hast du Unterdrückung geübt? Abwertung? Stellvertretung?« »Ich habe es versucht«, jammerte sie. »Ich habe mich so bemüht, aber es hat keinen Sinn. Es ist so –« Plötzlich brach sie zusammen. Der Hedonist war darauf vorbereitet. Er ließ sie an seine Schulter lehnen und weinen, bis ihr Schluchzen verstummt war.
3 Als der Hedonist den gewundenen Weg zur Hochschule hinüberging, holte die Schwester ihn ein. »Jetzt ist mir der Name eingefallen«, sagte sie. »Berns heißt er. Gomer Berns.« Daran mußte er den Rest des Morgens immer wieder denken. Jetzt stand er vor der Hedonikmauer und überlegte. Die Hedonik war nicht über Nacht gekommen. Die philosophischen Überlegungen gingen mehr als zweitausend Jahre zurück. Schon die Griechen hatten sich die Frage gestellt: Was ist das höchste Gut? Und die Antwort war: Vergnügen. Und diese Philosophie war der Hedonismus. Aber die Hedonik war eine praktische Wissenschaft. Sie funktionierte. Die Philosophie war nur ein Teil davon. Mittel waren verfügbar geworden, um die großen psychologischen Ängste zu erleichtern: Tod, Krankheit, Hunger, Kälte und die Beziehungen zwischen den Menschen.
Die Geriatrie hatte die Angst vor dem Tod verringert. Die medizinische Forschung hatte fast alle Krankheiten beseitigt. Niemand brauchte zu hungern, solange ChlorellaAlgen durch die Polyäthylenröhren pulsten und das Meer jedes Jahr hundertfünfunddreißig Milliarden Tonnen Kohle lieferte. Niemand brauchte Angst um seine Unterkunft zu haben, seit man über Nacht Häuser bauen konnte. Die Erforschung des menschlichen Körpers hatte endlich Aufschluß über die genauen Wechselbeziehungen zwischen Drüsenfunktionen und Emotionen gebracht, und langsam war man soweit gekommen, eine bewußte Kontrolle darüber ausüben zu können: über die Adrenalindrüsen, die Bauchspeicheldrüsen und den Hypothalamus. Die Entwicklung dieser Kontrolle war die Funktion der hedonischen Übungen. Das war im wesentlichen der Lehrstoff der Hochschulen. Aber die endgültige Entwicklung des Hedonismus zu einer Lebensphilosophie war erst möglich geworden, als man das Hedometer entdeckt hatte. Dieses einfache Gerät, das durch geschickte Anwendung der psychogalvanischen Reflexe arbeitete, wurde bald Allgemeingut und gehörte zu jedem Raum, und erst die Summe der Ablesungen aller Geräte in der ganzen Nation gestattete die Anwendung des Axioms, »wonach jene Handlung die beste ist, die das größte Glück für die größte Zahl von Menschen bewirkt.« Der Hedonist stand vor der Hedonischen Mauer und erklärte diese Dinge, wie er sie schon oft erklärt hatte und noch oft erklären würde. Die Weisheit, die er zu vermitteln versuchte, war auf der Wand hinter ihm aufgezeichnet.
Die Hedonische Mauer. Ein Gemälde. Zur Linken ein Tal, zur Rechten ein Berg mit zwei Spitzen, eine über der anderen. Auf dem Grund des Tales ein Mann, auf der Spitze jedes der beiden Berge eine nackte Frau, die Arme einladend ausgestreckt, aber auf dem unteren Gipfel nur undeutlich und ohne Proportionen. Das waren natürliche Symbole. Vier Wege führten in das Tal. Stellvertretung: Der Weg führte den Berg hinauf, aber auch hinunter; das war der Weg, das zu wollen, was man bekommen kann. Die anderen Wege waren Abwertung, Projektion und Unterdrückung. Die Abwertung – manchmal nennt man sie auch die »SaureTrauben-Technik« – ist am deutlichsten in der Katze ausgedrückt. In dem Augenblick, wo sich zeigt, daß sie etwas nicht bekommen kann, wird es für sie wertlos. Die Projektion schob den Wunsch einem anderen zu. Die Unterdrückung war ein Mittel, die Wünsche daran zu hindern, das Bewußtsein zu erreichen. Im Tal der hedonischen Disziplin fand man das Herz der Hedonik, unberührt und unberührbar. Ihre Techniken machten den Menschen von Umwelteinflüssen unabhängig. »Solange uns diese Techniken zur Verfügung stehen«, schloß der Hedonist, »kann uns nichts und niemand unglücklich machen. Wie Götter halten wir unser Glück in unseren Händen.« Berns war immer noch bewußtlos, aber der Neutralisator ließ ihn schnell wach werden. Seine dunklen, tiefliegenden Augen starrten den Hedonisten verständnislos an. Und
dann flutete langsam die Erinnerung in ihn zurück. Sein Gesicht verzog sich. Seine rechte Hand tastete, hob sich. Schmerz flackerte über sein Gesicht. Er starrte auf den Verband an seinem Gelenk. Dann bewegte er vorsichtig die Finger. Der Hedonist beugte sich vor und hob das Messer auf. Er sah es eine Weile an und reichte es dann, mit dem Griff voraus, Berns hinüber. »Suchen Sie das?« fragte er höflich. Berns leckte sich über die Lippen. »Ja!« sagte er. Er nahm das Messer und hielt es dann ungeschickt in der Hand, als wisse er nicht, was er damit tun solle. »Warum wollen Sie mich töten?« fragte der Hedonist. »Wegen –«, Berns Augen huschten unruhig hin und her, »– wegen dem, was Sie mir angetan haben.« »Und was ist das? Wenn ich helfen kann ...« »Was geschehen ist, ist geschehen«, knurrte Berns mürrisch. »Das ist eine prähedonische Einstellung«, widersprach der Hedonist. »Nicht, was geschieht, ist wichtig; wichtig ist nur, wie es uns berührt. Aber wovon reden Sie?« »Meine Frau«, sagte Berns. »Von ihr rede ich.« Der Hedonist erinnerte sich. Berns hatte, kurz bevor er in die Station gekommen war, einen seiner Zöglinge geheiratet – ein junges Mädchen, beinahe noch ein Teenager. Dagegen war nichts einzuwenden. Die Geriatrie hatte Berns' Körper jung erhalten. Die Hedonik hätte für den Menschen, der diesen Körper besaß, das gleiche tun sollen. Und doch hatte Berns ihn mit einem Messer angegriffen. Das sprach nicht für einen gesunden
Charakter. Dani Farrell. Der Hedonist erinnerte sich an sie. Ein ruhiges Mädchen, eine interessierte Schülerin mit schneller Auffassungsgabe. Die Hedonik hatte an ihr nicht versagt. Sie war eine glückliche Frau, und er hatte nie mit Klagen gerechnet. »Was ist mit Dani?« fragte der Hedonist. »Das wissen Sie doch.« Berns' Augen wichen ihm aus. »Hat sie Sie unglücklich gemacht?« fragte der Hedonist. »Sie nicht – sie ist in Ordnung!« »Was ist dann?« »Sie weiß zuviel!« stieß Berns hervor. »Darüber beklagen Sie sich? Sagen Sie«, fragte der Hedonist mit plötzlichem Argwohn, »sind Sie sexuell nicht angepaßt?« »Nö!« stieß Berns hervor. »Darüber beklage ich mich ja. Bei meiner ersten Frau hat es Jahre gedauert. Dani ist nicht – äh – unschuldig zu mir gekommen!« »Unschuldig!« rief der Hedonist aus. »Sie meinen unwissend. Sie beklagen sich über ihre Erziehung!« »Es gibt Dinge«, sagte Berns, »die ein Mann selbst machen sollte.« Das Gesicht des Hedonisten wurde streng und erfüllte sich dann mit Mitgefühl. Die Vorteile einer hedonischen Erziehung waren ihm versagt geblieben, und sein letzter Hedonist war entweder nachlässig oder überarbeitet gewesen. Er richtete sich auf. Diese prähedonischen Fälle waren schwierig, aber er hatte ähnliche Fälle schon früher gelöst.
»Was Sie wirklich wollen«, sagte er langsam, »ist das Recht, sich selbst unglücklich zu machen, sich und Dani, und das nur wegen einer überholten Einstellung zu Dingen, die nachweislich falsch sind.« »Nun«, fragte Berns trotzig, »was ist falsch daran?« Der Hedonist blickte auf seinen Schreibtisch. Der Mann sprach aus seiner eigenen Sicht die Wahrheit. »Das ist antisozial«, sagte der Hedonist ruhig. »Die Gesellschaft kann das nicht zulassen.« »Aber das ist doch ein freies Land, oder?« fragte Berns. »Ein Mensch kann doch unglücklich sein, wenn er das will, oder?« »Nein!« brüllte der Hedonist. »Dieses Märchen ist schon vor fünfzig Jahren widerlegt worden. Die grundlegende Freiheit ist die Freiheit, glücklich zu sein. Die Gesellschaft muß diese Freiheit über alles andere stellen, weil ohne sie alles wertlos ist.« »Meinetwegen«, knurrte Berns. »Aber das erklärt die Sache mit Dani noch lange nicht.« »Mann, seien Sie doch vernünftig!« drängte der Hedonist. »Möchten Sie denn, daß wir einem Mädchen alles beibringen, was es im Haushalt braucht, und nur das eine nicht, was für das Glück ihrer Ehe so wichtig ist? Eine so wichtige Ausbildung kann man niemand anderem überlassen. Sie sind kein Hedonist. Was für eine Befähigung haben Sie denn zum Lehrer?« »Ich werde Sie anzeigen«, murmelte Berns. »Sie haben mein Glück beeinträchtigt.« Jetzt explodierte der Hedonist. »Dafür haben Sie keinen
Grund. Und noch mehr – Sie haben ein Verbrechen begangen. Für das, was Sie heute getan haben, könnte ich Ihnen Chirurgie bestätigen. Das ist sogar meine Pflicht.« Berns sah ihn verblüfft an. »Sie werden mich operieren?« »Sie sind sichtlich unglücklich«, erklärte der Hedonist. »Nach den Begriffen dieser Gesellschaft sind Sie geisteskrank. Sie müssen behandelt und in ein glückliches, verantwortliches Mitglied der Gesellschaft verwandelt werden. Die schnellste und sicherste Methode, das zu erreichen, ist transorbitale Lobotomie. Menschen, die die Unterdrückung nicht lernen können, müssen zulassen, daß ihnen diese Fähigkeit auf operativem Wege verschafft wird.« Berns sprang auf. Sein Gesicht war vor Angst verzerrt. »Nein!« schrie er. »Das können Sie nicht. Das werden sie nicht zulassen!« »›Sie‹?« fragte der Hedonist. »Wer sind ›sie‹?« »Die Leute«, murmelte Berns. Das war eine Lüge. »Sie werden der Gesellschaft doch nicht das Recht absprechen, Geisteskranke zu heilen. Aber ich habe nicht gesagt, daß ich das tun werde. Ich schulde es mir ebenso wie Ihnen, die Behandlung so positiv wie möglich zu machen. Um das zu tun, brauche ich jedoch Ihre Hilfe.« Berns brummte nur vor sich hin. »Um das zu tun, müssen Sie meine Aufgabe verstehen«, sagte der Hedonist. »Sie sind ebenso wie ich geboren und erzogen worden, ehe die Hedonik ein fester Bestandteil des
täglichen Lebens war. Ebenso wie bei mir, hat auch Ihre Ausbildung zum Glücklichsein zu spät begonnen, nämlich als Sie bereits die Jahre Ihrer Kindheit hinter sich hatten, in denen man Sie hätte formen können. Für die neue Generation wird das Glück leicht kommen. Sie ist darauf vorbereitet. Wir müssen es uns erarbeiten.« »Wie meinen Sie das?« »Für mich bedeutete das zehn Jahre spezialisierte Ausbildung im Institut für Angewandte Hedonik. Und seitdem ist das eine Aufgabe für mich, die nie vollendet ist – die Wache über das Glück von tausend Menschen. Für Sie bedeutet es ein Studium, das noch diesen Nachmittag beginnt. Ich nehme an, daß Sie als Vertreter die Möglichkeit haben, sich Zeit freizunehmen?« Berns wollte etwas sagen, nickte dann aber. Er hat Angst, dachte der Hedonist erstaunt. »Dann werden Sie heute nachmittag beobachten«, sagte der Hedonist und führte Berns in die Kabine. Er ließ die Schiebetür einen Spalt offen und dachte: Warum zeigte der Mann Angst, als ich seinen Beruf erwähnte? Dann las er die Karteikarte seines nächsten Patienten. Eine Antwort auf seine Frage hatte er nicht gefunden.
4 Aus dem ungewöhnlichen Anfang entwickelte sich ein ganz gewöhnlicher Tag. Der Strom der Patienten nahm
kein Ende, und die Vielzahl ihrer Bedürfnisse erfüllte den Hedonisten oft mit Pathos. Ein Mann, der kein Gott war, sollte weder solche Macht besitzen noch mit solcher Verantwortung belastet werden. Aber er übte seine Macht aus und nahm die Verantwortung auf sich. Die medizinische Behandlung war leicht und schnell; der Diagnosestuhl behandelte Brüche und heilte Abschürfungen, er impfte und gab heilende Spritzen, verschrieb Diäten, behandelte oder entfernte Krebsgeschwüre und Tumore und heilte defekte Organe ... Die Klagen, die der Hedonist zu hören bekam, waren oft schwieriger. Drei alte Leute beklagten sich über ihre Pensionen und die hohen Lebenshaltungskosten. Zwei Eltern wollten Beamtenstellungen für ihre Kinder, die gerade der Schule entwachsen waren; der Hedonist war ihnen beim Ausfüllen der Bewerbungsbogen behilflich und fügte seine eigene Empfehlung hinzu, nachdem sie ihn verlassen hatten. Dann gab es einen Fall von Arbeitslosigkeit – der Mann hatte seine Stellung an eine Maschine verloren –, der Hedonist sorgte dafür, daß der Mann umgeschult wurde und der betreffende Industriezweig die Kosten dafür übernahm. Dann kamen fünf Anträge auf Schwangerschaftsbescheinigungen; der Hedonist schob sie hinaus, denn seine Station hatte ihre Jahresquote bereits erfüllt. Aber die Fälle, die wirklich Zeit, Geduld und Geschick erforderten, waren die echten hedonischen Fälle. Fall Nummer eins: Nichterfüllter Ehrgeiz (er wollte Tragödien schreiben).
Therapie: Abwertung und Stellvertretung. (»Aber wenn das unmöglich ist, dann schreiben Sie einfach, was Sie müssen – ich werde es lesen, und dann verbrennen wir es gemeinsam. Ich kann nicht zulassen, daß Sie andere unglücklich machen.«) Fall Nummer zwei: Unfalltod (des Vaters). Therapie: Unterdrücken. (»Lasse nicht zu, daß äußere Umstände dein Glück beeinträchtigen. Nur du allein darfst der Herr über dein Glück sein.«) Fall Nummer drei: Eifersucht (eines Ehemannes). Therapie: Unterdrücken. (»Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen, eine Anzeige zu erstatten. Aber überlegen Sie erst: Wie oft waren Sie denn selbst Ihrer Frau untreu?«) Fall Nummer vier: Neidisch (auf das neue rote Haus eines Nachbarn). Therapie: Abwertung. (»Alte Häuser sind die besten, sie sind wie Maschinen, die der Lebensweise ihres Besitzers angepaßt sind.«) Fall Nummer fünf: ... Es war ein ganz gewöhnlicher Tag. Daß er kein Mittagessen bestellt hatte, machte nichts aus – er fand ohnehin keine Zeit zum Essen. Nur ein Zwischenfall beunruhigte ihn. Während einer Behandlung empfand er einen Augenblick Schwindel. Er verbarg das vor seinem Patienten; aber als er wieder allein war, diagnostizierte er sich selbst. Alle Funktionen waren normal. Er war in bester Verfassung. Er schüttelte beunruhigt den Kopf. Als es 16 Uhr wurde, nahm seine Unruhe zu. Der
Hedonist wußte nicht, woher sie kam. Und dann erinnerte er sich plötzlich an seinen Termin beim Rat. Er würde in ein paar Minuten gehen müssen. Wie hatte er das vergessen können? Und dann fiel ihm noch etwas ein: der Anruf, den er vergessen hatte. Er drückte Beths Nummer. Das Gesicht ihrer Mutter erschien an der Wand. Ein schönes Gesicht; nur die innere Reife unterschied es von dem Beths. Sie lächelte fragend, als sie den Hedonisten erkannte. »Beth«, sagte der Hedonist. »Ist sie da?« »Aber nein!« Sie runzelte die Stirn. »Beth ist seit Tagen nicht mehr zu Hause gewesen. Ich dachte –« Der Hedonist ließ sie nicht ausreden. »Natürlich. Sie war hier. Aber sie ist heute morgen weggegangen. Vielleicht ist sie bei ihrem jungen Freund –« »Junger Freund?« Wieder ein Stirnrunzeln. »Beth hat keinen jungen Freund.« »Nicht?« sagte der Hedonist verständnislos. »Das ist eigenartig.« Und dann hastig: »Natürlich. Wie dumm von mir. Wie konnte ich das vergessen!« Sein Gesicht hellte sich auf. Wie durch Zauberei glättete sich auch die Stirn der Mutter. Der Hedonist starrte noch eine Minute lang die Wand an, nachdem sich die Frau schon verabschiedet hatte. Sie konnte er täuschen, nicht aber sich selbst. Beth hatte ihn belogen! Das mußte einen Grund haben. Er ging mit zwei Schritten zur Kabine und schob die Tür zurück. Leer! Er trat in die kleine Kammer und sah sich benommen um. Aber da war natürlich nur er selbst.
Niemand hätte sich dort verstecken können. Und doch war Berns verschwunden. Der Mann war verschwunden, und dabei hatte der Hedonist den Raum nicht verlassen. Aber Berns hätte unsichtbar sein müssen, um an ihm vorbeizukommen – der Hedonist erinnerte sich an den Schwindelanfall. Eine Zeitsprungkapsel! Er suchte den Boden ab, bis er die paar Plastikfetzen fand, die von dem Gasbehälter übriggeblieben waren. Er sah sie an. Berns war verschwunden! Warum? Er hatte sich eine Zeitsprungkapsel verschafft. Aber wie? Er hatte sie dazu benutzt, den Raum ungesehen zu verlassen. Warum? Wann? Der Hedonist überlegte. Seit seinem Schwindelanfall war beinahe eine Stunde vergangen. Das war etwas, wofür die hedonischen Techniken nicht ausreichten. Jetzt war nicht die Zeit für Unterdrückung, Abwertung, Stellvertretung. Er mußte denken, klar denken. Dazu brauchte er Tatsachen. Aber es waren so wenige. Der Rest war Vermutung. Berns war nur zum Teil das, was er schien. Seine Geschichte stimmte nur teilweise. Er stand in irgendeiner Beziehung zum Rat, und der Rat hatte den Hedonisten an dem Tag zu sich gerufen, an dem Berns ihn angegriffen hatte. Er würde Berns melden und bestätigen müssen. Der Hedonist füllte ein Bestätigungsformblatt aus und setzte den Zeitpunkt ein, an dem er Berns in die Kabine gesperrt hatte. Dann suchte er in einem Wandschränkchen herum, bis er das gefunden hatte, was er brauchte. Er
drückte es sich gegen die Brust und unter das Hemd, schob eine dünne Scheibe in die Tasche und ging zur Tür. Das Taxi schwebte über der Straße. Es war 1615, als der Hedonist sich noch einmal nach seiner Tür umsah und die Leuchtschrift prüfte:
Der Hedonist ist abwesend. In dringenden Fällen ist dienstbereit: Hedonist Station XX 482 Er kletterte in das Taxi. Die Rotoren pfiffen leise über ihm. »Wohin?« fragte der Fahrer. »Hedonisches Ratsgebäude«, antwortete der Hedonist und musterte argwöhnisch die rote Kappe des Fahrers. Der Fahrer drehte sich um. »Mann! Sie werden doch nicht dorthin fahren!« Der Hedonist starrte den Fahrer verblüfft an. Es war Beth! »Was hast du – wie konntest du –?« stieß er hervor. »Ich habe das Taxi gemietet.« »Aber du bist doch noch nicht volljährig!« »Ich habe eine Identscheibe gefälscht«, erklärte Beth ungeduldig, und ihre dunklen Augen leuchteten. »Gefälscht?« wiederholte der Hedonist langsam. Er konnte sich nicht vorstellen, daß einer seiner Zöglinge eine gesetzwidrige Handlung beging. Und außerdem war es unmöglich, eine Identitätsscheibe zu fälschen. Der Anhänger aus Plastik mit seinem strahlungssensitiven
Herzen aus Phospatglas konnte nicht reproduziert werden. Das hatte er wenigstens bisher immer angenommen. »Du hast mir doch gesagt, du wolltest heiraten«, sagte er. »Das werde ich auch«, sagte sie entschlossen. »Deine Eltern wissen aber nichts davon!« »Denen habe ich es auch nicht gesagt.« »Dann nehme ich an«, sagte der Hedonist mit ruhigem Sarkasmus, »daß du es dem Mann auch noch nicht gesagt hast?« »Er weiß es«, sagte sie leise. »Aber er glaubt es noch nicht.« »Du hast mich angelogen!« Die Stimme des Hedonisten klang, ohne daß er es wollte, verletzend. »Du armer, blinder Narr!« sagte Beth verzweifelt. »Aber das ist jetzt nicht wichtig. Das einzige, worauf es ankommt, ist, nicht zum Rat zu gehen. Du darfst den Termin nicht einhalten!« »Der Termin!« rief der Hedonist. Er sah auf seine Uhr. Es war 1620. »Ich muß mich beeilen.« »Aber ich versuche doch dauernd –« »Bringst du mich hin?« fragte der Hedonist. »Oder soll ich ein anderes Taxi rufen?« »Schön, ich bringe dich hin!« stöhnte sie und wandte sich wieder dem Steuer zu. Sie drückte geschickt auf die Knöpfe. Die Düsen an den Rotorenenden spuckten Flammen, und die Maschine stieg mit einem Satz in die Höhe. Als sie die Flughöhe von sechshundert Metern erreicht hatten, setzten die Heckdüsen ein. Sie rasten auf
die Altstadt zu, deren Silhouette am Horizont auftauchte. »Woher wußtest du eigentlich«, fragte er, »daß ich zum Ratsgebäude wollte?« »Ich habe dich den ganzen Tag beobachtet«, sagte Beth gleichgültig. »Du hast spioniert!« sagte er erschreckt. Sie zuckte die Achseln. »Wenn du es so nennen willst – jedenfalls bereue ich es nicht.« Er wollte eigentlich nicht fragen, aber die Worte drängten sich von selbst auf seine Lippen. »Was meinst du?« »Dieser Mann. Dieser Gomer Berns. Er war ein Agent des Rats!« Ein Agent. Der Hedonist kostete das Wort aus. Eine Fülle von Begriffen steckte darin. »Woher weißt du das?« »Er hat dich tagelang beobachtet. Und ich habe ihn beobachtet. Er hat dreimal mit dem Sekretär des Rats gesprochen, einmal persönlich. Und dann hat er heute dieses Schauspiel inszeniert.« »Woher weißt du denn, was er geredet hat?« »Ich habe schon vor Tagen Lauschmikrophone gelegt«, sagte sie angewidert. »Als er die Kapsel warf und hinausschlich, hatte ich Angst, es könnte etwas Gefährlicheres sein. Und dann erkannte ich, was es war. Ich folgte ihm, aber ich war nicht schnell genug.« »Schnell genug, wozu?« »Er hatte das Band schon in den Briefkasten gesteckt.« »Band?«
Beth griff auf den Sitz neben sich und warf dann dem Hedonisten etwas auf den Schoß. Er hob es auf und musterte es mit gerunzelter Stirn. Es war ein flaches, undurchsichtiges Plastikkästchen, etwa einen Zentimeter dick, fünf Zentimeter breit und sechs Zentimeter lang. Die Rückseite war klebrig. Er drehte das Kästchen um. Berns' durchsichtige Plastik-Identscheibe hing daran. Er drehte das Kästchen verblüfft noch einmal um. Etwas klickte und bewegte sich unter seinen Fingern. Das Kästchen öffnete sich. In seinem Inneren waren eine winzige leere Spule und eine Spindel für eine zweite. Der Deckel bestand aus einem Gewirr von gedruckten Schaltungen. Das Kästchen war ein Miniaturbandgerät, mit dem man sowohl Bilder als auch Töne aufnehmen konnte. Das Objektiv war aus irgendeinem Grund als Identscheibe getarnt. Gomer Berns' Identscheibe! »Woher hast du das?« fragte er plötzlich. »Woher glaubst du wohl?« Plötzlich begriff der Hedonist, und ihm war, als greife eine eisige Faust nach ihm. »Du hast gesagt, er war ein Agent! Was hast du –?« »Er ist tot«, sagte Beth ruhig. Die ganze Welt schien wie wild um ihm zu kreisen. Einen Augenblick glaubte der Hedonist, Beth habe die Kontrolle über das Taxi verloren; aber dann setzten seine hedonischen Reflexe ein, und sein Puls verlangsamte sich. »Du hast ihn getötet!« flüsterte er. »Ja!«
»Warum?« »Es war wahrscheinlich ein Unglücksfall«, sagte sie nachdenklich, »obwohl ich es nicht mit Bestimmtheit sagen kann. Weißt du, ich wollte ihn daran hindern, das Band in den Briefkasten zu stecken, und da zog er ein Messer heraus. Der Verband hat ihn behindert. Als ich ihm den Arm umdrehte, erstach er sich selbst.« »Umkehren! Schnell!« schrie der Hedonist. »Vielleicht lebt er noch!« Sie schüttelte den Kopf. »Er ist bestimmt tot.« Der Hedonist schauderte. Er konnte nicht glauben, daß er das wirklich hörte. »Du mußt dich behandeln lassen«, sagte er nervös. Beth lachte. »Soviel du willst.« Der Hedonist blickte auf seine Hände. Er hielt das Gerät immer noch in der Hand. Er schauderte erneut, drückte den Knopf, der das rechte Fenster öffnete, und warf das Gerät hinaus. Er sah ihm nach, bis es in der Tiefe verschwunden war. Dann wischte er sich die Hände an den Shorts ab, als könne er damit etwas Unsichtbares von ihnen abwischen. Fälschung, Täuschung, Diebstahl und Mord – aber der Fleck ging nicht weg. Es war seine Schuld. Es war seine Pflicht, dieses irregeleitete Mädchen zu beschützen. »Weißt du jetzt«, fragte sie, und ihre Stimme klang dabei gar nicht schutzbedürftig, »warum du die Verabredung mit dem Rat nicht einhalten kannst?« »Weil du Berns getötet hast?« »Nein, weil er ihr Agent war. Begreifst du denn nicht, was sie vorhaben? Sie wollen dich behandeln lassen.«
»Das können sie nicht«, protestierte der Hedonist. »Ich bin nicht unglücklich.« »Aber du wirst es sein, wenn sie mit dir fertig sind«, sagte Beth grimmig. »Aber warum? Sie haben keinen Grund –« »Wann haben sie je einen Grund gebraucht? Sie wollen dich loswerden. Warum, weiß ich nicht. Aber dafür kann es hundert Gründe geben. Aus irgendeinem Grund scheinst du ihnen gefährlich zu sein. Wenn du am Leben bleiben willst, mußt du aufhören, alle anderen Menschen nach dir selbst zu beurteilen.« Das Ratsgebäude war ein Turm mit ebenem Dach, vielleicht dreihundert Meter unter ihnen. Er konnte das große HR auf dem Dach erkennen. Ringsherum gähnten die tiefen, finsteren Schluchten, die das Gebäude von seinen niedrigeren Nachbarn abgrenzten. Die Altstadt wurde nur noch wenig besucht. Die Industrie war dezentralisiert und bestand aus kleinen automatischen Fabriken, die in der Nähe ihrer Absatzgebiete angelegt waren. Die Bevölkerung hatte sich in nahezu autonome Vorstädte entfernt. Der Teil der Altstadt, der noch erhalten geblieben war, wurde nur noch für die Funktionen und Dienste benutzt, die sich nicht dezentralisieren ließen: die Regierung, die größeren Krankenhäuser und der interplanetarische Handel. »Lande jetzt!« bat der Hedonist. »Aber –«, begann Beth und drehte sich zu ihm um. »Lande!« wiederholte er entschlossen. »Ich habe in vier Minuten eine Verabredung, und ich gedenke, sie
einzuhalten.« Sie seufzte. »Meinetwegen!« Ihre Stimmung drückte sich nur in der Art und Weise aus, wie sie die Knöpfe bediente. Die Heckdüsen verstummten. Dann ging es in einem langen Bogen in die Tiefe, so schnell, daß dem Hedonisten übel zu werden drohte. In der letzten Minute flammten die Rotordüsen auf, und das Taxi setzte leicht wie eine Feder auf dem Dach auf. Dieser kleine Teufel! dachte der Hedonist. Das hat sie absichtlich getan! »Geh nach Hause!« befahl er, als er aus der Kabine auf das Dach trat. Die Rotoren kreisten langsam über seinem Kopf. »Sag deiner Mutter, sie soll dir ein Alibi für die Zeit von Berns' Tod geben.« »Ein Alibi?« fragte sie. »Was ist das?« Diese teuflische Unschuld! »Eine Bestätigung, daß du um diese Zeit zu Hause warst. Sie muß lügen. Sag ihr, daß ich es gesagt habe. Und sag ihr, daß sie selbst glauben soll, daß es wahr ist. Und was dich betrifft – mach dir keine Sorgen! Ich kümmere mich um alles!« »Ja, Hedonist!« sagte sie gehorsam. »Und jetzt verschwinde!« befahl er brutal. »Ich will dich nicht wiedersehen!« Er fuhr mit dem Lift in die Tiefe. Zimmer 2943 im 29. Stockwerk lag unmittelbar gegenüber der Lifttür. Eine Leuchtschrift brannte über der Tür. Sie lautete ebenso wie seine eigene: »Tritt ein und sei glücklich!« In Hüfthöhe war ein Knopf an der Tür angebracht. Der Hedonist zuckte die Achseln und drückte darauf. Die Türen glitten auf. Der Raum dahinter war ein gewöhnlicher
Warteraum, hell beleuchtet, ordentlich, sauber. Stühle standen an der Wand. Neben einer Tür, die offenbar in das Ordinationszimmer führte, stand ein Schreibtisch. Das Zimmer war leer. Schweigen herrschte, völliges, absolutes Schweigen. Das einzige Geräusch, das der Hedonist hören konnte, war sein eigener Atem. Er trat ein.
5 Der Lärm war betäubend. Das war das erste, was er bemerkte. Nein, das war nicht das erste. Der Lärm erschien ihm besonders laut, weil er automatisch die Augen geschlossen hatte, als ihn das grelle Licht geblendet hatte. Er wartete und tastete mit einer Hand hinter sich. Die Wand war glatt. Die Tür war geschlossen. Der Lärm, so dachte er, war eine Bandaufnahme eines jeden Geräusches, das es je gegeben hatte. Er konnte Trommeln hören, Hämmer, einen Chor von Maschinen; er hörte Kratzen, Scharren, Kreischen, Hörner, Explosionen, Stimmen, Schreie ... Er konzentrierte sich darauf, das, was er hörte, zu identifizieren. Es schien den ganzen hörbaren Bereich zu überdecken, von fünfzehn Schwingungen in der Sekunde bis zu mehr als zwanzigtausend. Aber in den mittelhohen Tönen war es am lautesten. Das war auch ganz natürlich. Das Ohr war für diese Frequenzen am empfindlichsten. Frage: War das Geräusch objektiv oder subjektiv?
Wenn er es nicht durch das Betreten dieses Raumes ausgelöst hatte, mußte es subjektiv sein. Nicht einmal das beste Interferenzgerät konnte alles überdecken. Und er hatte keinen Laut gehört. Normalerweise hätte sich sein Trommelfell zusammenziehen müssen, um das Innenohr zu schützen. Das hatte es nicht getan. Annahme: Seine Empfindlichkeit war gesteigert worden, oder die Rezeptoren des Innenohrs selbst wurden angeregt. Er konzentrierte sich auf den Bereich von eintausend bis viertausend Schwingungen und reduzierte die Empfindlichkeit seines Ohrs. Langsam wurde das Geräusch leiser. Was er gehört hatte, war in Wirklichkeit nur die Molekularbewegung der Luftpartikel. Jetzt konnte er die Stimme hören. Er versuchte, die Worte zu unterscheiden. Und langsam gelang ihm das auch. »Das ist ein Test«, sagte die Stimme. »Sie müssen den Weg zum nächsten Raum finden. Wenn Sie die Tür öffnen, ist der Test vorüber. Der Test kann auch jederzeit, wenn Sie es wünschen, abgebrochen werden. Wenn Sie das wünschen, legen Sie sich auf den Boden und bedecken Sie Augen und Ohren mit den Händen.« Der Hedonist zog diese Möglichkeit überhaupt nicht in Betracht. Es widersprach nicht nur seiner Natur, aufzugeben, sondern er vermutete auch, daß es wichtig war, den Test zu bestehen. Das war etwas Neues. Er verzichtete darauf, ein Urteil darüber abzugeben, bis er Sinn und Zweck dieser Maßnahme erkannt hatte.
Langsam öffnete er die Augen, bemüht, das unerträglich grelle Licht zu ertragen. Aber es war schwächer geworden. Als er die Augen weiter öffnete, flammte es wieder auf, und er schloß die Augen. Er öffnete sie einen Schlitz – das Licht war schwach und grau. Er öffnete sie etwas weiter – das Licht flammte. Das Licht – oder seine Empfindlichkeit für Licht – war darauf abgestimmt, wie weit seine Augen geöffnet waren. Nach einigen Experimenten fand er heraus, wie weit er die Augen öffnen konnte, ohne Gefahr zu laufen, geblendet zu werden. Der Raum hatte sich verändert. Das war jetzt kein Wartesaal mehr. Es war sein eigenes Zimmer, und er lehnte sich so weit nach hinten, daß er gleich in die Kabine fallen mußte. Er richtete sich auf und wäre beinahe vornüber auf das Gesicht gefallen. Illusion, sagte er sich. Der Raum ist geneigt, nicht ich. Aber es war schwer, seine Augen von ihrem Fehler zu überzeugen. Wo war die Tür zum nächsten Zimmer gewesen, als er vom Korridor eingetreten war? Wenn das derselbe Raum war und seine Sinne ihm nur Illusionen vorgaukelten, war die Tür unmittelbar vor ihm, höchstens vier Schritte entfernt. Er hatte sich nicht bewegt. Er tastete hinter sich, um sich zu überzeugen. Seine Hand tauchte bis zum Handgelenk in halbflüssigen Schleim ein. Ein Geruch von Verwesung drang in seine Nase. Er zog die Hand zurück und widerstand dem Drang, den Schleim abzuschütteln. Jetzt trat er einen Schritt vor, wobei
er sich ganz auf das Zeugnis der Sinnesorgane, seiner Muskeln, Sehnen, Glieder und der Haut verließ. Der Raum blitzte auf und veränderte sich. Der Hedonist stand in einer blauen Wüste. Der Sand war hart und rauh unter seinen Füßen. Der glutheiße Wind wirbelte den Sand auf und trieb ihn ihm ins Gesicht und in die Augen. Er konnte ihn schmecken – er hatte ganz deutlich den Geschmack von Alkali auf der Zunge. Über ihm flammte eine große orangerote Sonne. Der Hedonist ignorierte alles. Er blinzelte nicht, rieb sich nicht die Augen und verzichtete auch darauf, seinen Kopf zu bedecken. Er wußte, was er empfand. Das war dasselbe wie ein »Sensie« – ein Fühlkino, wie man es auch nannte –, nur ohne die komplizierten Geräte, die man dazu brauchte. Das waren Empfindungen, die unmittelbar den Nerven mitgeteilt wurden. Aber solange er sich weigerte, an die Realität dieser Illusion zu glauben, würde er die Oberhand behalten. Frage: Was würde die nächste Szene sein? Etwas bewegte sich hinter einer der blauen Dünen. Der Hedonist wartete nicht ab, was es war. Er tat einen weiteren Schritt und konzentrierte sich erneut auf die Reflexe seines Beines und seiner Hüftmuskeln, um nicht von der geraden Linie abzuweichen. Der Boden bebte unter ihm. Er zuckte wie Gallerte. Das war Unsicherheit. Rings um ihn standen jetzt hohe Gebäude. Sie stürzten. Er roch den Staub in der Luft. Das Erdbeben hatte die Gebäude in ihren Grundfesten erschüttert, und sie stürzten jetzt auf ihn nieder, wurden
größer, immer größer ... Wieder tat er einen Schritt. Jetzt stürzte er. Er flog durch die Luft und raste dem Pflaster entgegen. Der Wind zerrte an seinen Kleidern. Das Pflaster flog ihm entgegen ... Wieder ein Schritt. Alles wurde schwarz. Er stand still und versuchte zu sehen. Aber da war nichts zu sehen. War auch das Illusion? Die Ängste, die der Test in ihm erweckt hatte, waren nicht angelernte Ängste, sondern uralte, instinktive Furcht; vertraute Dinge, die sich änderten, völlig Fremdartiges, stürzende Dinge, und dann der Schrecken einer festen Erde, die nicht mehr fest war. Die Angst vor dem Fallen – alles Ängste, die kein Mensch vergißt. Und was nun? Nur Finsternis? Am Boden zischte etwas. Etwas schob sich langsam über seinen Fuß. Etwas Langes, Dünnes. Ein zweites Zischen. Ein drittes. Etwas berührte seine nackten Beine. Schlangen! dachte der Hedonist. Schlangen in der Finsternis! Langsam begannen sie selbst zu leuchten. Sie glühten in der Finsternis, richteten sich vor ihm auf und tanzten. Sie schillerten in allen Farben: Grün, Rot, Blau, Violett, Gelb, Orange ... Der Hedonist hörte nicht mehr auf sie. Eine der Schlangen richtete sich auf, um zuzustoßen. Der Hedonist griff nach ihr und drückte auf ihren diamantförmigen Kopf. Die Tür öffnete sich. Drei Männer saßen am anderen Ende eines langen Tisches. Sie sahen jung aus, aber der Hedonist wußte, daß
der Jüngste von ihnen zehn Jahre älter als er selbst war. Sie waren die ersten Männer gewesen, die in den Rat gewählt worden waren, und seit jener Zeit hielten sie ihr Amt. Der Raum war groß, fensterlos und mit Holzimitation getäfelt. An der rechten Wand befand sich eine Tür, die zu einer Kabine führte. Vor den drei Ratsherren flimmerte die Luft etwas. Eine Energiebarriere! Zweifellos war sie auch luftdicht. Der Rat war sehr vorsichtig. Der Präsident saß am Tischende. Er hatte ein sympathisches Gesicht und blondes Haar. Ein einfacher, nicht besonders intelligenter Mann, der nur durch Gesetz Hedonist geworden sein konnte. Zu seiner Linken saß der Schatzmeister, ein dunkler, vor sich hin brütender Mann mit unergründlichen Launen. Der Hedonist hätte einiges darum gegeben, ihn ein paar Minuten auf seinem Diagnosestuhl zu haben. Zur Rechten des Präsidenten saß der Sekretär, eine unauffällige, ausdruckslose Persönlichkeit. Aber der Hedonist hatte den Eindruck, daß er derjenige war, der wirklich die Fäden in der Hand hielt. Auf ihn würde er achten müssen. »Freude, Hedonisten!« sagte der Hedonist freundlich. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht warten lassen.« »Aber nein doch!« sagte der Präsident. »Sie sind pünktlich! Freude!« Der Hedonist stand vor ihnen und wartete. »Was halten Sie von dem Test?« fragte der Schatzmeister schließlich. Sie hatten ihn als erste erwähnt. Das war ein kleiner
Sieg, aber es war wichtig. »Sehr interessant«, antwortete der Hedonist. »Was soll damit geprüft werden?« »Setzen Sie sich!« sagte der Schatzmeister und deutete auf den Stuhl, der ihnen gegenüberstand. Jetzt hatte der Hedonist die Antwort, die er wissen wollte. Das war kein Test des Glücklichseins und des geistigen Gleichgewichts, sondern ein Test der Intelligenz und Selbstkontrolle. Aber welchen Zweck hatte er? Ihn zum Wahnsinn zu treiben? »Ein Hedonist, der sich nicht selbst unter Kontrolle halten kann«, sagte der Sekretär so leise, daß man ihn kaum hören konnte, »kann seinem Patienten nicht helfen.« »Eine Binsenwahrheit«, nickte der Hedonist. »Sehen Sie!« sagte der Präsident und bewegte die Hand. Der Hedonist sah sich selbst. Er stand im Wartesaal und hatte die Augen geschlossen. Jetzt öffnete er sie. Linkisch, aber nicht zu langsam, ging er dann weiter. Seine rechte Hand schob sich vor und drückte den Knopf der Tür. Er verschwand. Das ganze hatte weniger als eine Minute gedauert. Der Hedonist sah den Rat an. Das war es also! Sie hatten Beweismaterial für eine Untersuchung auf Geisteskrankheit gewollt. Es waren keinerlei Anzeichen äußerer Einflüsse zu sehen gewesen. Wenn er auf die Illusionen reagiert oder aufgegeben hätte, wäre er verloren gewesen. Aber sie hatten verloren. »Sind Sie glücklich, Hedonist?« fragte der Präsident. »Natürlich«, sagte der Hedonist. »Ich nehme an, daß das alles auf Band aufgenommen wird.«
Der Präsident nickte. »Was halten Sie von Ihrer Arbeit in der Station?« fragte der Schatzmeister. »Ich meine, nach Ihrer Meinung?« »Sich selbst gegenüber ist man immer ein besonders scharfer Kritiker«, sagte der Hedonist bescheiden. »Aber wenn Sie eine Antwort haben müssen – nun, ich glaube, meine Arbeit war ausreichend. Aber dafür haben Sie bessere Beweise. Welchen Durchschnitt hat meine Station im Hedonischen Index erreicht? Für die Akten, meine ich.« Schweigen. »Siebenundzwanzig«, sagte der Sekretär dann. Der Hedonist war überrascht. »So hoch? Dann ist es besser, als ich gedacht habe.« »Sie haben seit mehr als einem Jahr niemanden für eine Operation vorgeschlagen«, meinte der Schatzmeister. »Da irren Sie sich!« widersprach der Hedonist. »Ich habe heute morgen jemanden vorgeschlagen.« Er sah die drei Gesichter auf der anderen Tischseite an. »Einen Mann namens Gomer Berns.« Wenigstens war das jetzt auf Band aufgenommen. Zwei Gesichter zeigten höfliches Interesse; der Sekretär blinzelte. »So?« sagte er. »Wir haben die Bestätigung noch nicht erhalten.« »Sie ist sicher in Bearbeitung«, sagte der Hedonist gleichgültig. »Bestimmt!« nickte der Sekretär. »In dieser Hinsicht übrigens höchst interessant!« Seine Hand bewegte sich über die Stuhllehne. Diese Aufzeichnung war nicht so realistisch wie die
andere. Der Film flackerte, und auch der Ton war nicht einwandfrei. Aber es war interessant. Es war eine Aufzeichnung des Tagesablaufs des Hedonisten, gesehen durch die Identscheibe von Gomer Berns. Es fing mit Berns' Eintreten an und endete mit seinem Verschwinden im Schutz der Zeitsprungkapsel. Der Hedonist sah sich selbst bei der Arbeit zu und bewunderte die fantastische Geschwindigkeit, mit der der Rat gearbeitet hatte. Die Aufzeichnung war geschickt redigiert worden, beinahe gefährlich. »Interessant, was?« fragte der Sekretär. »Sehr interessant! Besonders als Beweis für Glücksbeeinträchtigung! Ich beabsichtige eine Anzeige –« »Unsinn!« unterbrach ihn der Präsident. »Der Rat genießt Immunität.« »Seit wann?« fragte der Hedonist schnell. »Seit dem 18. Februar 2054«, erklärte der Sekretär. »Sie sind von dieser Verordnung informiert worden – genau wie jeder andere Hedonist auch. Wenn Sie am letzten Kongreß teilgenommen hätten, hätten Sie mit abstimmen können.« Der Hedonist schwieg. Ein Tag hatte nur vierundzwanzig Stunden. Er hatte es vorgezogen, die endlosen Bänder des Hedonischen Rates nicht zu lesen und dafür seine Patienten zu behandeln. Er war auch der Ansicht gewesen, daß er auf den normalerweise ereignislosen Kongreß verzichten könne, weil ihn das der Notwendigkeit enthob, seine Station ein paar Tage allein zu lassen. »Sie haben die Grundprinzipien des Hedonismus
verletzt«, sagte der Hedonist langsam und nachdrücklich. »So kann der Hedonismus nicht mehr lange leben. In dem Augenblick, da ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen sich über die Gesetze erhebt, werden die Gesetze wertlos. Die erste Freiheit ist die Freiheit, glücklich zu sein. Ein jeder, der diese Freiheit beeinträchtigt, ist ein Verbrecher, der nicht über, sondern unter den Gesetzen steht –« »Sie können mit Ihrem Vortrag ruhig aufhören«, sagte der Sekretär leise. »Darüber haben wir zu bestimmen. Außerdem –«, er zuckte die Achseln, »– ist das Aufnahmegerät schon vor ein paar Sekunden abgeschaltet worden.« »Wie wollen Sie dann die Authentizität dieser Aufnahme beweisen?« fragte der Hedonist geduldig. Die Augen des Präsidenten wurden weit, blau und unschuldig. »Wir werden sie bestätigen. Wie denn sonst?« Über dem Gesetz, über dem Gesetz, wiederholte der Hedonist endlos. Eine Welt brach um ihn herum zusammen. »Ebenso, wie wir Sie in Behandlung schicken werden«, knurrte der Schatzmeister. »Und mit welcher Begründung?« fragte der Hedonist. Der Schatzmeister zuckte die Achseln. »Mit den Gründen, die notwendig sind: Unglücklichsein, schlechte Umweltanpassung, Kunstfehler, Untüchtigkeit ...« »Dagegen werde ich kämpfen«, erklärte der Hedonist ruhig. »Diese Behauptungen können Sie niemals beweisen. Nicht mit dem Hedonischen Index meiner Station.«
»Wenn aufgrund unmittelbarer Beweise illegale Therapie nachgewiesen werden kann«, sagte der Sekretär trocken, »ist der Index als Beweismittel nicht zugelassen, und es gibt keine Revision.« »Wobei Sie als alleingültige Therapie natürlich jene ansehen, die im Journal of Hedonics enthalten ist?« »Natürlich!« strahlte der Präsident. »Damit haben Sie auch das Autonomieprinzip verletzt«, stellte der Hedonist fest. Er schüttelte den Kopf. »Das Glück läßt sich nicht standardisieren. Jeder Mensch ist ein individueller Fall.« Der Sekretär schüttelte den Kopf. »Sie verschwenden unsere Zeit. Im Maijournal ist eindeutig nachgewiesen, daß die Hedonik eine echte Wissenschaft und keine Kunst ist.« »Dann haben Sie eine Methode entdeckt, um Glück zu messen?« »Das ist die eindeutige Folge aus dem Prozeß, den Sie gerade miterlebt haben«, sagte der Schatzmeister. »Wir können das Glück mit Hilfe verläßlicher physikalischer Mittel auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Wir brauchen uns nicht mehr mit siebenundneunzig Prozent Glücklichsein zu begnügen. Wir können jederzeit hundert Prozent Glücklichsein erreichen, und zwar solange wir wollen.« »Mit einer Maschine.« »Das ist ja das Schöne daran«, sagte der Sekretär. Zum erstenmal klang seine Stimme lebendig. »Die Mittel sind zu hundert Prozent kontrollierbar und zu hundert Prozent verläßlich. Die Empfindungen, die Sie wahrgenommen
haben, waren echt und schrecklich. Die Empfindungen, die wir zu projizieren vermögen, können echt und wunderbar sein. Wir brauchen unsere Wünsche nicht mehr zu unterdrücken. Wir können die Wünsche steigern und sie mit gesteigerter Befriedigung koppeln. Wir haben das Paradies vor Augen.« »Schrecklich, vielleicht. Wunderbar, vielleicht. Aber wirklich – nein!« Der Hedonist schüttelte grimmig den Kopf. »Mechanischer Wahnsinn, systematische Verblendung! Jetzt werden Sie wahrscheinlich keine Gehirnchirurgie mehr brauchen?« »Sie irren!« widersprach der Schatzmeister trocken. »In kriminellen Fällen wird man sie immer noch anwenden. Der Projektor ist eine Belohnung, keine Strafe. Er wird jenen zukommen, die das absolute Glück verdienen, das er garantiert.« »Verdienen?« Der Hedonist blickte auf. »Seit wann ist dieses Wort wieder in den Sprachschatz der Hedonik aufgenommen? Wir alle verdienen Glück – das ist die Grundlage des Hedonismus.« Belohnung – Strafe. »Ich sehe schon, was Sie vorhaben. Sie wollen die Welt der zwei Werte wiedereinführen. Auf der einen Seite die Hölle der Geistlosen, auf der anderen der Himmel der Verrückten. Ich wasche meine Hände in Unschuld, meine Herren! Ich kann Sie nicht mehr ›Hedonisten‹ nennen. Ich bin mit Ihnen fertig!« »Aber wir nicht mit Ihnen«, sagte der Sekretär ruhig. »Wegen der Dienste, die Sie dem Hedonismus erwiesen haben, werden wir gnädig sein. Sie haben die Wahl:
Entweder werden Ihre Wünsche chirurgisch reduziert oder Ihre Befriedigung durch den Projektor erhöht.« »Eine großartige Wahl!« murmelte der Hedonist. Er musterte nacheinander die drei Gesichter; das dunkle brütende, das strahlende helle und das undurchsichtige. Sie waren entschlossen, ihn zu beseitigen! »Warum?« platzte er heraus. »Sagen Sie mir das!« Der Präsident sah den Sekretär fragend an. Der nickte. »Ich habe abgeschaltet«, sagte er. »Sie haben unser Glück beeinträchtigt«, sagte der Präsident ruhig. »Ich?« rief der Hedonist. »Wie denn?« »Zum ersten«, sagte der Schatzmeister, »haben Sie in Ihrer Station den Umsatz mit Neo-Heroin unterbunden. Diese Einnahme ist für die Funktion der Regierung wichtig –« »Aber Neo-Heroin ist gefährlich«, unterbrach ihn der Hedonist. »Er führt zu einer Verringerung des echten Glücks –« »Zum zweiten«, fuhr der Schatzmeister fort, als habe er den Hedonisten nicht gehört, »sind Sie für diesen Rat nominiert worden. Falls man Sie gewählt hätte, würden Sie einen von uns ersetzen – und das wäre kein Vergnügen für uns, mein Herr – und außerdem würden Sie damit unsere Pläne für das zukünftige Glück der Erde stören.« »Aber ich hatte keine Ahnung –«, begann der Hedonist. »Ich war nicht einmal auf dem Kongreß – ich will gar nicht ...« »Ihr Mangel an Ehrgeiz ist unwichtig«, sagte der
Sekretär und zuckte die Achseln. »Höchstens insofern, als er Ihr eigenes Glück beeinträchtigt.« Seine Hand strich über die Stuhllehne. »Wir haben Ihnen eine Chance gegeben. Wählen Sie!« »Und was wäre«, fragte der Hedonist plötzlich, »wenn ich Ihnen sage, daß ich dieses Gespräch aufgenommen habe, daß das Band sich an sicherer Stelle befindet und daß es nicht benutzt werden wird, wenn dieser Test nicht fortgesetzt wird?« »Das wäre gleichgültig«, sagte der Sekretär unbewegt. »Dieser Raum ist abgeschirmt.« Er legte den Kopf zur Seite, als lausche er. »Außerdem ist Ihr Haus soeben vernichtet worden.« »Das habe ich angenommen«, seufzte der Hedonist. »Deshalb habe ich das auch gar nicht versucht.« Sein Gesicht wurde plötzlich bleich. »Meine Herren – ich – stelle fest – daß mich – dieses Gespräch sehr angestrengt hat. Würden Sie mir sagen – wo die Kabine ist ...?« Der Präsident deutete ganz automatisch mit einer Kopfbewegung auf die Tür an der rechten Wand. Der Hedonist richtete sich auf, hielt die Hand vor den Mund und taumelte auf die Tür zu. Der Sekretär folgte ihm mit ausdruckslosem Gesicht. »Vergessen Sie nicht, daß wir uns im neunundzwanzigsten Stockwerk befinden.«
6
Der Hedonist nickte stumpf und mit leidender Miene, trat durch die Tür, als diese zur Seite glitt, und schloß sie wieder hinter sich. Der Raum, der beinahe doppelt so groß wie seine Kabine zu Hause war, war mit antiseptisch reinen weißen Fliesen gekachelt. Aber die Tür hatte kein Schloß. Das Gesicht des Hedonisten hatte wie durch ein Wunder wieder seine normale gesunde Farbe angenommen; sein Atem ging schnell, aber leicht. Jetzt fuhr seine Hand aus der Tasche. Er hielt eine dünne flache Scheibe, fuhr damit schnell am Türrand entlang, hielt inne und preßte sie gegen die Wand. Als er die Hand wegnahm, haftete die Scheibe an der Wand. Er drückte den Knopf neben der Tür. Sie ließ sich nicht bewegen. Der Hedonist drehte sich um. Wie er angenommen hatte, besaß der Raum ein Milchglasfenster. Er zog einen Schuh aus, umwickelte seine Hand mit dem Hemd, das er schnell ausgezogen hatte, und schlug den Schuh mit aller Kraft gegen das Fenster. Es zersprang klirrend. Dann blickte er durch das zackige Loch. Die Sonne war untergegangen, Zwielicht senkte sich über die Altstadt. Die Straßenschluchten waren finster. Er schlug noch ein paar Glassplitter aus der Fassung und blickte in die Tiefe. Die Straße war ein schmales Band, unendlich weit unter ihm. Er schauderte und zog den Kopf wieder zurück. Jemand hämmerte gegen die Tür. Sie riefen. Der Hedonist verstand sie nicht. Dann wurde ein Wort deutlicher. Das Wort war: Mörder! Der Hedonist wandte sich wieder dem Fenster zu und
wischte die Glasscherben auf den Boden. Dann zog er seinen anderen Schuh aus, band die beiden zusammen und hängte sie sich um den Hals. Er trug zwei große flache Scheiben auf der Brust und zwei weitere auf dem Rücken. Der Hedonist schob die Finger darunter und löste sie von der Haut. Es blieben rote Kreise zurück. Er zog das Hemd wieder an und trat, mit den Saugnäpfen in der Hand, auf den Sims. Dann befestigte er die Saugnäpfe an Händen und Füßen, vergewisserte sich, daß sie fest saßen und daß sich weder Staub noch Glassplitter unter die feinen, gummiähnlichen Fäden geschoben hatten, die die Unterseite bedeckten. Er schob zuerst die rechte Hand und dann auch den rechten Fuß um die Fensterkante und preßte sie fest gegen die glatte Außenwand des Gebäudes. Jetzt verlagerte er sein ganzes Gewicht auf den linken Fuß und tastete mit der linken Hand hinaus. Als sie festklebte, hing er an drei Saugnäpfen und zog den linken Fuß nach. Erst jetzt spürte er die plötzliche Schwäche, die die gähnende Leere unter ihm in ihm auslöste. Er klatschte den linken Fuß gegen die kalte Magnesiumwand und hing einen Augenblick wie eine mißgestaltete Echse dort. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Sein Zittern ließ nach. Er löste die rechte Hand, indem er sie nach oben abrollte, und bewegte sie nach oben. Seine linke Hand folgte, dann seine Füße. Zum Dach waren es sechsundvierzig Stockwerke – mehr als einhundertfünfzig Meter. Er strebte darauf zu wie ein Regenwurm auf der
absolut glatten vertikalen Gebäudewand, die nur von den Fensterhöhlen durchbrochen wurde. Trotz der größeren Entfernung und der größeren Mühe, die ihn das kostete, kletterte er in die Höhe. Sie würden unten nach ihm suchen, aber sie würden seine Leiche nicht finden. Ehe er den Boden erreichen konnte, würden sie bereits warten, mit ihren Männern, ihren Zwangsjacken, den Skalpellen und den Drähten. Seine einzige Chance lag oben. Nachdem er fünf Stockwerke – zwanzig Meter – hinter sich gebracht hatte, hielt er inne, um sich etwas auszuruhen. Er blickte über die Schulter hinunter und sah die Lichter in der Tiefe. Aus dieser Entfernung kamen sie ihm wie Glühwürmchen vor, die einen phantastischen Tanz aufführten. Gelegentlich tastete eines an der Gebäudewand herauf, aber nie höher als bis zu dem zerbrochenen Fenster im neunundzwanzigsten Stock. Als er das vierunddreißigste Stockwerk erreicht hatte, lagen noch einundvierzig Stockwerke vor ihm. Seine Muskeln schmerzten und zitterten von der kurzen Strecke, die er zurückgelegt hatte. Die Saugnäpfe hielten die Last seines Körpers in völlig unnatürlicher Lage. Er wünschte, er wäre dreißig Jahre jünger. Trotz aller Künste der Geriatrie verlangten die Jahre ihr Recht, wenn man seinem Körper zuviel abforderte. Der Hedonist seufzte und schob sich langsam, mühsam, Zoll für Zoll nach oben. Sie würden bald an Helikopter denken. Der erste schoß an ihm vorbei, als er das vierzigste Stockwerk erreichte. Er raste, von seinen Heckdüsen
getrieben, durch die finstere, schmale Häuserschlucht. Sein Düsenauspuff war nur ein paar Meter entfernt. Er sah sich um. Der Helikopter jagte davon. Der Hedonist hing an der Gebäudewand und wartete auf das Krachen des Absturzes; aber es kam nicht. Er würde seinen Plan ändern müssen. Die Helikopter hatten ihn entdeckt. Gleich würde der Hubschrauber zurück sein. Und ehe es dazu kam, mußte er diese Wand verlassen, auf der er wie eine Fliege saß, die darauf wartete, abgeklatscht zu werden. Er schob sich seitwärts zu einem Fenster hin. Als er neben dem schmalen Sims hing, löste er die rechte Hand von ihrem Saugnapf und nahm die Schuhe vom Hals. Er hatte keine Gelegenheit, sie aufzubinden, denn er wagte nicht, auch die andere Hand von der Wand zu lösen. Er schlug mit dem Schuh auf das Fenster ein, während der andere herunterhing. Seine Schläge waren schwach und wirkungslos. Der zweite Schuh störte ihn, und in seiner augenblicklichen Lage hatte er fast überhaupt keine Kraft. Hinter sich vernahm er ein gedämpftes Brausen. Er drehte den Kopf und sah sich um. Fünf Meter entfernt hing ein Helikopter an seinen Rotoren. Näher konnte er nicht kommen, ohne mit den Rotoren gegen die Wand zu stoßen. Der Hedonist versuchte in die abgedunkelte Kabine zu sehen, aber die Anstrengung trieb ihm das Wasser in die Augen. Dann leuchtete drinnen ein Licht auf. Der Pilot starrte ihn aus geweiteten, erschreckten Augen an. Es war
Beth! Ohne Hoffnung sahen sie einander an, getrennt durch einen fünf Meter breiten Abgrund. Ebensogut hätten es fünfzig sein können. Hier verließen ihn die hedonischen Techniken: Unterdrückung, Abwertung und Stellvertretung waren hier wertlos. Diese fünf Meter, die sie trennten, waren die ganze Wirklichkeit. Beth winkte ihm ungeduldig zu. Was wollte sie von ihm? Der Hedonist begriff nicht. Er blickte zur fernen Straße hinunter. Ein Scheinwerfer tastete die unteren Stockwerke des Gebäudes ab. Bald würde er sich bis zu ihm heraufarbeiten, und dann würden sie ihn entdecken. Sehnsüchtig blickte er zu dem Helikopter hinüber. Beth gestikulierte immer noch. Jetzt verstand er: Komm her! Mit Vergnügen, dachte der Hedonist. Gib mir Flügel, dann fliege ich zu dir. Beths Lippen bewegten sich. Sie öffnete die Tür und deutete auf das Fahrgestell der Maschine. Der Hedonist studierte ungläubig die Sprache ihrer Lippen. Wieder und wieder bildeten sie dasselbe Wort: »Spring!« Springen? Fünf Meter? Vielleicht. Auf der Erde. Aber fünf Meter über einem Abgrund von einhundertfünfzig Metern ist etwas völlig anderes. Wenn man einen Bruch daraus bildete, zeigte der genau die Chancen auf, die er hatte: eins zu dreißig. Andererseits waren seine Fluchtchancen gleich Null, wenn er hier blieb. Beth hatte recht. Die Chance eins zu dreißig war besser als gar keine.
Er hängte sich wieder die Schuhe um den Hals und schob sich seitwärts an der glatten Magnesiumwand entlang, bis die Saugnäpfe am Fenster hafteten. Nur einen Augenblick verschwendete er damit, den langen, kahlen, unerreichbaren Korridor hinunterzublicken. Wenn er jetzt das Fenster zerschlug, würde er mit den Scherben in die Tiefe fallen. Er zog die Füße aus den Gurten und stellte sich auf den Sims. Dann machte er die rechte Hand frei, griff nach dem Gurt und löste auch die linke. Langsam drehte er sich um. Das Pflaster lag unendlich weit unter ihm. Der Hedonist schauderte und schloß die Augen. Dann öffnete er sie wieder und blickte zu Beth hinüber. »Bitte!« flehten ihre Lippen. Und: »Beeil dich!« Jetzt hatte der Scheinwerfer das neunundzwanzigste Stockwerk erreicht. Er tastete weiter, erfaßte den Hedonisten, zeichnete ihn als Schatten vor dem hellerleuchteten Fenster und den noch helleren Wänden ab wie einen dunklen Käfer an einem Brett. Der Hedonist kniff die Augen zusammen. Jetzt konnte er den Helikopter wieder sehen, die erleuchtete Kabine und die dunklen Umrisse. Langsam beugte er die Knie, bis seine Arme unter den Saugnäpfen gerade ausgestreckt waren. Er ließ die Gurte los und duckte sich. Jetzt begann er vornüber zu stürzen. Es gab kein Zurück mehr. Er mußte springen, und zwischen ihm und dem fernen Pflaster in die Tiefe gab es nur das Fahrgestell des Helikopters. Er streckte die Beine. Dann flog er durch die Luft.
Er flog auf den Helikopter zu und der Helikopter auf ihn. Er begriff, daß Beth die Maschine gekippt hatte, um die Kabine noch etwas näher an das Gebäude heranzubringen. Näher, aber nicht nahe genug. Seine schmerzenden Finger verfehlten den Handgriff um ein paar Zentimeter. Und dann stürzte er, stürzte durch die Finsternis, stürzte dem Pflaster und dem Tod entgegen. Damit verglichen, waren die Illusionen des Rates ein Nichts. Es war geradezu eine Ironie, daß er jetzt Zeit hatte, daran zu denken. Das war die Wirklichkeit. Ein Mann stürzte durch die dünne, kalte Luft der Erde entgegen, die ihm selbst entgegenraste, um ihm den letzten vernichtenden Schlag zu versetzen ... Seine Arme trafen etwas, rutschten daran entlang. Seine krallenden Hände packten es, hielten es fest, während sein Körper weiterstürzte und dann plötzlich und ruckartig im Fallen innehielt – mit solcher Wucht, daß ihm beinahe die Handgelenke abgerissen wurden. Der Hedonist hing über der Leere und blickte nach oben, weil er nach unten nicht sehen konnte. Der Helikopter war über ihm. Er klammerte sich an das Fahrwerk. Beths Gesicht erschien über ihm in der Tür. Wie ein Unbeteiligter verfolgte er ihren wechselnden Gesichtsausdruck – Schrecken, aus dem Erleichterung, dann Freude wurde, und dann wieder Sorge und Schrecken. Der Hedonist versuchte, sich in die Höhe zu ziehen, und spürte, wie der Helikopter durch das zusätzliche Gewicht in die Tiefe gezogen wurde. Beths Gesicht verschwand einen Augenblick. Der Helikopter hob sich, und sie beugte
sich erneut heraus. Jetzt streckte sie sich weit über die Tür hinaus, aber ihre Hand konnte das Fahrgestell nicht erreichen – einen halben Meter zu kurz. Sie fällt! dachte der Hedonist und empfand ein eigenartiges Gefühl, als wolle ihm das Herz zerspringen. Er schüttelte verzweifelt den Kopf. Und dann zog er sich plötzlich mit Gewalt in die Höhe, bis seine Arme über dem Fahrgestell waren. Er klammerte sich fest und nahm alle seine Kräfte zusammen. Jetzt hob er ein Bein über das Gestell, setzte sich auf und griff nach dem Türrahmen. Beths Hand war erstaunlich stark, als sie sein Handgelenk packte und ihm beim Einsteigen behilflich war. Er brach neben ihr auf dem Sitz zusammen und schloß die Augen. Doch schon ging sein Atem wieder langsamer und wurde regelmäßig. »Verschwinden wir!« flüsterte er. Er spürte, wie die Heckdüsen einsetzten und die Maschine nach vorn schleuderten. Dann öffnete er die Augen. Die dunklen Wände der künstlichen Schluchten rasten vorbei. »Ich habe doch gesagt, du sollst nach Hause gehen!« knurrte er. Beths Hand, die nach der seinen gegriffen hatte, fuhr zurück. »Und das nennst du Dankbarkeit?« fragte sie gereizt. »Dankbarkeit?« Die Augen des Hedonisten weiteten sich. »Wo hast du dieses Wort gehört? Und wer hat dich gelehrt, so etwas zu erwarten? Der Mensch hat auf dieser Welt nur das Recht auf Glück, und wenn er das besitzt, wofür soll er dann dankbar sein?«
Beth schwieg. Schließlich sagte sie wie aus weiter Ferne: »Ich bin umgekehrt, weil ich dachte, du würdest mich brauchen. Und offenbar war das auch der Fall. Ich konnte nicht nach Hause, weil die Polizei hinter mir her ist. Sie haben Berns' Leiche gefunden.« »Das habe ich auch gehört«, sagte der Hedonist nachdenklich. »So zuversichtlich warst du also doch nicht«, sagte Beth nach einer Weile. »Du hattest die Saugnäpfe mit.« »Ich wäre ein Narr gewesen, mich nicht auf diese Möglichkeit vorzubereiten«, sagte der Hedonist gleichgültig. »Hätte ich das nicht getan, wäre ich jetzt wahnsinnig oder hirnlos.« »Lobotomie verstehe ich«, sagte Beth. »Aber was meinst du mit wahnsinnig?« »Künstliche Verblendung«, sagte der Hedonist. »Der Rat hat die Sensies zur Vollendung gebracht. Jetzt sind sie wie die Wirklichkeit. Der Rat wird die Erde zu hundert Prozent glücklich machen.« Beth schüttelte langsam den Kopf. »Arme glückliche Erde!« murmelte sie. Der meilenweite Krater tauchte unter ihnen auf. Er glühte phosphoreszierend. Seine Farbe war hauptsächlich, wie man schon am Horizont gesehen hatte, blau und grün, aber es gab auch flackernde Flecken in Purpur und Violett und hier und da kleine Stellen mit Gelb und Orangerot. Der Krater war beinahe sechzig Meter tief, und selbst nach fünfzig Jahren war er noch tödlich. Drei Meilen im Umkreis des Kraters reckten sich die Ruinen von Häusern
in die Höhe. »Lande jetzt!« befahl der Hedonist. »Hier?« rief Beth aus. »Auf der anderen Seite. Beeil dich! Wir haben keine Zeit zu vergeuden!« Der Helikopter schwebte über dem Schutt in dem geisterhaften Schein, der aus der Tiefe kam. Beth und der Hedonist standen ein paar Meter entfernt. »Ich dachte, du hast ihn nach Hause geschickt«, sagte der Hedonist und runzelte die Stirn. »Das habe ich auch. Aber vorher mußten wir doch Zeit haben, auszusteigen.« Im nächsten Augenblick klickte im Innern der Maschine ein Schalter. Die Rotoren drehten sich schneller, und der Helikopter stieg auf. Als er eine genügende Höhe erreicht hatte, schalteten sich selbsttätig die Heckdüsen ein. Sie blickten ihm nach, wie er den hochragenden Türmen entgegenstrebte, die sie soeben verlassen hatten. In der Ferne über der Stadt explodierte er und fiel in einem Schauer von Funken zur Erde. »Sie haben ihn erwischt«, seufzte der Hedonist. »Das habe ich gehofft. Jetzt haben wir ein paar Stunden Ruhe.« Beth hatte die Identscheibe vom Hals genommen. Sie glühte jetzt in ähnlichen Farben wie der Krater. »Schau!« sagte sie. »Mach dir darüber keine Sorgen«, beruhigte sie der Hedonist. Er holte zwei große Pillen aus der Tasche. »Sieh zu, daß du das ohne Wasser runterbekommst.«
»Was ist das denn?« »Cystein. Eine Aminosäure. Strahlungsschutz. Das reicht, bis wir hier raus sind.« Sie würgte eine Pille hinunter, während ihm die seine überhaupt keine Schwierigkeiten machte. »Gehen wir!« sagte er. Sie stolperten über den aufgehäuften Schutt. Der Wind hatte Erde herangetragen, und die Felsen waren verwittert. Samen waren hereingeflogen oder von Vögeln gebracht worden. Sie hatten Wurzeln geschlagen. Der Schutt war zum großen Teil schon mit einer barmherzigen grünen Decke bedeckt. In fünfzig Jahren würde dieser Teil der Altstadt Wiese sein. »Ich begreife zwar nicht, wieso es dazu gekommen ist«, sagte der Hedonist, »aber du hast irgendwo eine schlechte Meinung von der Hedonik bekommen.« »Nein, nein!« widersprach sie. »Du verstehst nicht –« »Das ist es, wovor die Hedonik die Welt bewahrt hat«, sagte er und deutete mit einer weit ausholenden Handbewegung auf die Ruinen und den glühenden Krater. »Anstelle der verzerrten Werte einer verschrobenen Welt zeigte sie uns das einzig wirkliche Ziel, das Glück, und lehrte den Menschen, es zu finden und zu behalten.« Seite an Seite, ohne sich zu berühren, gingen sie schweigend über die Gräber einer sorgenvollen Vergangenheit.
7
Beth fand als erste die Worte wieder. Als die Gebäude um sie langsam ihr Aussehen veränderten und sie statt von Ruinen nur noch von leeren Türmen umgeben waren, fragte sie: »Was hast du jetzt vor?« »Ich werde dich irgendwo hinschaffen, wo man dich nicht sofort festnimmt«, sagte er langsam. »Mach dir meinetwegen keine Sorgen«, sagte sie ungeduldig. »Ich komme schon zurecht.« »Sei nicht dumm!« sagte er. »Ich bin dein Hedonist. Es ist meine Pflicht, mich um dich zu kümmern. Kennen sie deinen Namen?« »Die Polizei? Wahrscheinlich noch nicht. Aber sie werden ihn erfahren. Die werden immer raffinierter.« »Raffinierter?« wiederholte der Hedonist verblüfft. »Seit wann?« Ihr Gesicht glättete sich wie durch Zauberei. »Seit kurzem. Aber was ich wissen möchte, ist, was du tun wirst. Du bist derjenige, auf den sie Jagd machen. Du bist es, den sie haben wollen. Du bist ein Verurteilter. Dieser Trick mit dem Helikopter wird sie nicht lange aufhalten. Sobald sie das Wrack nach Proteinspuren untersucht haben, ist der ganze Schwindel aufgedeckt. Dann werden sie weitersuchen.« Der Hedonist ließ den Kopf sinken. Er gab das nicht gern zu, aber sie hatte recht. »Das stimmt. Und ich weiß nicht, wohin ich fliehen soll. Ich muß dafür sorgen, daß die Entscheidung des Rates angefochten wird und seine Politik –«
»Du Narr!« brauste sie auf. In dem Schweigen klang das Wort laut und erschreckend. »Wie oft hast du mir selbst gesagt, wie unsinnig es sei, mehr an andere als an sich selbst zu denken?« Sie hatten inzwischen eine Gegend erreicht, wo die Gebäude unversehrt waren. Zwischen den finsteren Lagerhäusern verriet hin und wieder ein Lichtschein, daß es hier Menschen gab. Zweimal mußten sie den Scheinwerfern von Robotpolizisten ausweichen. Sie näherten sich dem Raumhafen und seiner Umgebung, den Lagerhäusern, Werften, Hotels und Vergnügungspalästen. Sie blieben dicht bei den schützenden Wänden, bis sie plötzlich auf eine hellerleuchtete Querstraße kamen. Menschen gingen hier allein oder in Gruppen ihren Vergnügungen nach. Einige von ihnen waren betrunken, manche trugen Masken, damit man ihre Gesichter nicht sehen konnte. Andere hatten Gesichter, die wie Masken wirkten. Niemand sah Beth und den Hedonisten an, als sie sich in das Gewühl mischten, obwohl sie einen jeden, an dem sie vorbeikamen, scharf musterten. Das war der Strip. Hier trafen sich drei Welten, um ihre Geheimnisse zu teilen und ihre Vergnügungen zu mischen. Hier gab es keine Tabus. Auf dieser farbenfrohen, neonbestrahlten Straße konnte man alles kaufen und alles verkaufen. Beth und der Hedonist starrten das grelle Band entlang, das sich in die Ferne streckte, und vergaßen einen Augenblick, daß sie Flüchtlinge vor dem Glück waren. In flammenden Lettern verriet ihnen das nächste
Transparent: Freude zu verkaufen! Alle Arten. Verlangen Sie es – wir haben es! Vergnügungspalast zu den drei Welten Lizensiert vom Hedonischen Rat Abgesehen von gewissen Schwankungen in Farbe und Konstruktion waren die anderen ganz ähnlich. Etwas weiter die Straße hinunter fand man die bescheideneren Hinweistafeln für Hotels, Restaurants und Läden. Alles überragte das blutrote Marshaus. »Was nun?« flüsterte Beth. Der Hedonist stellte fasziniert fest, daß sie dabei die Lippen nicht bewegte. »Zuerst etwas zu essen«, sagte der Hedonist. »Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr zu mir genommen, und diese Empfindung bereitet mir – obwohl man sie unterdrücken kann – Mißvergnügen. Dann Ruhe – das ist die Voraussetzung für künftiges Vergnügen. Und dir verordne ich dasselbe.« Sie runzelte die Stirn und seufzte dann. »Schön«, nickte sie. »Du bist der Hedonist. Aber was wirst du damit machen?« Sie deutete auf die Identscheibe auf seinem Hemd. Sie schimmerte hell. Der Hedonist bedeckte sie mit der Hand. »Ich habe nicht gedacht, daß wir so viel abbekommen werden.« Er nahm die Hand weg, und die Scheibe war auch verschwunden. »Du kannst ohne Scheibe nicht herumlaufen«, sagte sie.
Er griff wieder an sein Hemd, und die Scheibe war wieder da. Jetzt glühte sie nicht mehr. Beth sah sie scharf an. Die Scheibe war undurchsichtig, und die Identifizierung darauf war völlig sinnlos. »Ich habe sie umgedreht«, murmelte der Hedonist. »Paß auf, daß uns niemand beobachtet. Wenn man nicht ganz genau hinsieht, merkt man nichts, und so nahe möchte ich niemanden herankommen lassen.« Sie betraten ein Automatenrestaurant, schlenderten an der Glaswand vorbei und steckten Münzen in die Schlitze. Der Hedonist trug ein Tablett mit Planktonsteak und Chlorellasoße sowie einem Glas heißen Milchersatzes zu seinem Tisch. Beth wählte ein leichteres Mahl, nämlich nur Kafi und fettarme Chlorellakekse. Sie aßen schnell und schweigend und blickten dabei immer wieder zur Tür. Anschließend warfen sie ihre Teller in den Müllschlucker und gingen. »Wohin jetzt?« fragte Beth. »Du wirst uns jetzt ein Hotelzimmer mieten.« Beth sah ihn an. »Ein Zimmer?« »Natürlich«, antwortete der Hedonist überrascht. »Wie viele glaubst du denn, daß wir brauchen?« Als sie noch fünfzig Meter von dem Portal des Marshauses entfernt waren, zog der Hedonist Beth plötzlich aus dem Verkehrsstrom in eine Nische. »Tu so, als würdest du dich für mich interessieren!« murmelte er. »Leg den Kopf an meine Schulter!« Sie legte die Arme um seinen Hals und barg ihr Gesicht
an seiner Brust. Ihre Lippen liebkosten seinen Hals. »Was ist denn?« Der Hedonist fühlte, wie sein Puls schneller ging. »Nicht so«, begann er. »Nicht so –« »Was?« fragte sie mit gedämpfter Stimme. »Ach, schon gut. Sie sind nur noch ein paar Meter entfernt.« »Wachhunde?« flüsterte sie. Ihre Uniformen waren bunt, aber ihre Gesichter waren jung, scharf und fanatisch. Sie trugen Elektroschocker. Kein Gesicht entging ihnen, und manchmal hoben sie Masken von den Gesichtern und überprüften Identscheiben. Der Kontrast zwischen ihrem Diensteifer und ihrer Kleidung war nahezu unerträglich. Ist das die Generation, die die Hedonik hervorgebracht hat? dachte der Hedonist. Und dann waren sie vorüber, und der Hedonist fühlte, wie sich sein Körper entspannte. Erst jetzt wurde ihm Beth wieder bewußt. »Hör auf!« Ihre Lippen hielten inne. »Womit?« flüsterte sie unschuldig. »Das! Hör jetzt zu! Wir dürfen nichts riskieren. Du nimmst ein Einzelzimmer und zeigst deine falsche Identscheibe. Ich komme später nach. Der Angestellte am Empfang wird wissen wollen, warum du ein Zimmer brauchst.« Er hielt inne und überlegte schnell. »Sag, daß du dich freiwillig für die neue Venuskolonie melden möchtest. Hast du Geld?« Sie schüttelte den Kopf.
»Im Hemd ist eine Tasche. Dort ist Geld. Nimm es.« Ihre Hand war kühl und sinnlich, als sie das Geld aus der Tasche holte. Der Hedonist spürte, wie sein Atem schneller ging. Dann verschwand sie, und er kam sich plötzlich allein vor, kalt und verlassen. Sie ging schnell und entschlossen auf die Gleitbahn zu und betrat sie. Dann verschwand sie, ohne sich noch einmal umzusehen, hinter dem rosafarbenen Portal. »Alter Esel!« sagte er ungehalten zu sich und ging langsam auf das Hotel zu. Die Hotelhalle war überraschend geräumig. Sie maß wenigstens sechs Meter im Quadrat. Der Resiloidboden war mit rotem Samt bedeckt, die Wände vermittelten die Illusion einer marsianischen Landschaft. Eine Sonne – in der Größe, wie sie einem auf dem Mars erscheint – hing an einem unsichtbaren Faden von der Decke und erleuchtete die Halle. Der Hedonist wußte, daß sie periodisch erlosch – dann rasten Deimos und Phobos über das dunkelblaue Deckengewölbe; der schnelle innere Mond zweimal am Tag von Westen nach Osten. Beth stand am Empfangspult und sprach mit dem Angestellten. Als der Hedonist vorüberging, schob sie ihre Identscheibe unter das Lesegerät. Der Hedonist steckte eine Münze in den Faksimiledrucker. Eine Zeitung glitt ihm in die Hand. Er nahm sie geistesabwesend entgegen und schlenderte zum Lift hinüber. Die Kabine war ein eigenartiges Gebilde von etwa zylindrischer Form, dahinter krümmte sich die Wand wie die Außenwand eines Raumschiffes. Der Hedonist nahm auf einem Hocker Platz
und verbarg sein Gesicht hinter der Zeitung. Hedonischer Index um zwanzig Uhr 94 Prozent. Wetter für morgen: Ebenso wie gestern; sonnig, warm nach dem ersten Morgenschauer. Nachrichten: Der Blitz, der um 2009 über der Altstadt festgestellt wurde, ist inzwischen als Meteor identifiziert worden ... Meteor, dachte der Hedonist. Das Unglücklichsein ist von der Erde verbannt worden. Das Unerwartete, das Unvorhergesehene und das Unangenehme? Man muß es leugnen, es unterdrücken. Blitzt es am Himmel? Es kommt aus dem Weltraum. Es ist etwas Fremdes. Ein vertrauter Duft drang an seine Nase. Etwas Kleines, Leichtes landete in seiner ausgestreckten Hand. Neben ihm stieg der Lift in die Höhe. Der Hedonist blickte auf. Die Kabine verschwand im Blau des stilisierten Himmels. Er hielt einen Papierfetzen in der Hand. Nur eine Zahl stand darauf: 3129. Er knüllte das Papier zusammen und schob es in die Tasche. Der Korridor war leer. Er klopfte leise an die Tür mit der Aufschrift 3129, und sie öffnete sich. Er trat schnell ein, worauf die Tür sich wieder schloß. Der Raum war leer. Der Hedonist sah sich um, aber da war nichts, wo sie sich hätte verstecken können. Insgesamt hatte der Raum nur acht Quadratmeter – da konnte man sich nicht verstecken. Sein Magen fühlte sich plötzlich kalt und klamm an, als sei die Mahlzeit, die er soeben zu sich genommen hatte,
durch Zauberkraft verschwunden. »Hedonist?« fragte sie. Ihre Stimme klang erschreckt. »Bist du das?« Er zuckte zusammen und seufzte dann erleichtert auf. »Ja«, flüsterte er. Sie war in der Kabine. Jetzt konnte er den Wasserstrahl der Dusche hören. »Ich komme gleich!« rief sie. Dann ging die Tür auf. Sie trug etwas aus schwarzer Spitze, das dicht anlag, und sie bürstete sich das feuchte Haar. Der Hedonist dachte, daß sie noch nie so begehrenswert ausgesehen habe. Plötzlich war er nicht mehr müde. Er kam sich wieder jung und elastisch vor. »Wo hast du die Kleider her?« fragte er schnell. Sie ging ganz dicht an ihm vorbei. Das war ein erregendes Gefühl. Sie drückte auf den Knopf, der die Stühle und Tische in die Wand versenkte, und holte das Bett aus dem Boden. »Ich habe sie bestellt«, sagte sie gleichgültig. »Da war noch Geld übrig. Wir brauchen Kleider, die man nicht erkennt. Das hier ist für dich.« Sie deutete auf die Gepäcktür. Als er den Kontakt berührte, glitt sie auf. Dahinter standen zwei Schachteln. Der Hedonist öffnete die obere. Sie enthielt eine dunkelblaue Jacke und lange Hosen. Um in die andere Schachtel zu sehen, hatte er keine Zeit mehr. Etwas klatschte auf den Boden, und er drehte sich um. Auf dem schmalen Streifen neben dem Bett lag ein Kissen. Er sah Beth überrascht an. »Was soll das?« »Das«, sagte sie lächelnd und warf eine Decke neben das Kissen, »ist, wo du schlafen wirst.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte er verblüfft. »Wir haben jetzt beinahe eine Woche miteinander geschlafen, und –« »Aber das ist vorbei«, sagte sie mit unschuldig geweiteten Augen. »Das hast du selbst heute früh gesagt. Und jetzt ist bestimmt nicht die Zeit für eine Therapie. Es sei denn, dein Glück verlange es.« Sein Glück? Natürlich nicht! Das war absurd. »Natürlich nicht!« sagte er und runzelte die Stirn. »Nur –« »Nur was?« fragte sie, als er den Satz nicht beendete. »Nichts!« sagte er und legte sich auf den harten Boden.
8 Der Hedonist erwachte. Er starrte in die Finsternis über sich und versuchte zu ergründen, was ihn geweckt hatte. Da war kein Laut, keine Bewegung, kein Geruch. Und doch war irgend etwas – etwas Undefinierbares – anders geworden. Als er es identifiziert hatte, war es nur eine Kleinigkeit. Er hörte Beths weichen, gleichmäßigen Atem nicht mehr. Er sprang auf, stöhnte über den Krampf in seinen Muskeln und schaltete das Licht ein. Das Bett war leer. Beth war nicht im Zimmer. Und die kleine Kabine war auch leer. Beth hatte ihn verlassen! Verlassen! Schweigend, mitten in der Nacht, ohne ein Wort, ohne – er sah sich im Zimmer um, aber der Anblick enttäuschte ihn –, ohne einen Brief – verlassen! Ein
trauriges Wort, aber es paßte zu seiner Stimmung – leer, kalt und verlassen. Vielleicht war es besser für sie, wenn sie allein war. Vielleicht war er für sie gefährlich. Aber sie hätte etwas sagen können. Er hätte sie nicht festgehalten. Er unterdrückte die Angst. Sie hatte ihn verlassen. Die Frage war, was er jetzt tun sollte? Er blickte auf die Uhr. Es war beinahe Mitternacht. Drei Stunden waren vergangen, seit er sich auf den Fußboden gelegt hatte. Er hatte wahrscheinlich zwei Stunden davon geschlafen. Jetzt war er immer noch müde, aber er würde keinen Schlaf mehr finden. Er stand ungeduldig auf und ging im Zimmer auf und ab. Drei Schritte vor. Umkehren. Drei Schritte zurück. Es irritierte ihn, immer um das Bett herumgehen zu müssen. Er versenkte es in den Boden und stieß sein Kissen und die Decke nach, ehe der Boden sich darüber schloß. So war es besser, aber nicht viel. Sein Umherlaufen war immer noch ziellos. Er zuckte die Achseln, entkleidete sich und trat in die Kabine. Das heiße Wasser lockerte seine Muskeln, und der eisige Strahl erfrischte ihn. Als er trocken war, musterte er die Spender an der Wand. »Äthyloid«, stand unter einem. Es gab drei Wahlmöglichkeiten: Scotch, Bourbon und Gin. Der Hedonist schüttelte den Kopf. Er wollte Klarheit in seine Gedanken bringen, nicht sich betäuben. Aber das bedeutete, daß er auch kein Neo-Heroin und kein Mescalin nehmen durfte. Dann fand er die Düse mit dem Schild: »Kaffee.«
Nicht Kafi? dachte er überrascht. Er zuckte die Achseln. Wahrscheinlich gehörte das mit zu den Errungenschaften des Marshauses. Er füllte eine Tasse mit der schwarzen, dampfenden Flüssigkeit und schlürfte. Er hatte noch nie etwas so Herrliches getrunken. Das ist ein Trost, dachte er. Er zwang sich, Beth zu vergessen. Er mußte sich jetzt um wichtigere Dinge kümmern ... Am Ende halfen ihm die hedonischen Übungen doch. Obwohl er Beth nicht vergessen konnte, hatte er sie in eine Ecke seines Bewußtseins geschoben, und dort konnte sie seine Gedanken nicht stören. Er konzentrierte sich ganz auf das Problem des Überlebens. Entscheidung: Sein Überleben hing davon ab, daß der Rat gestürzt wurde. Frage: War sein Überleben den Preis wert? Antwort: Nein. Sein Überleben allein nicht. Aber nicht das Leben ist wichtig, sondern die Erde und die Hedonik. Während er sich um individuelle Therapien gekümmert hatte, war der Rat vom Pfad der Hedonik abgekommen. Sie hatten sich dem reinen Hedonismus zugewandt. Damit hatten sie weit in die Vergangenheit gegriffen, zu Aristipp und der Cyrenaika-Schule: Das einzige Gut ist das bewußte Vergnügen des Augenblicks. Die wahre Kunst ist es, jeden Augenblick ganz dem Vergnügen zu leben. Das war falsch, ebenso falsch wie jedes Extrem. Das Glück mußte sich für die Zukunft vorbereiten, sonst hatte es keine Zukunft. Jeder Augenblick ist wichtig, aber nicht nur um des Glücks willen, zu dem er führt. Jeder
Augenblick seines Lebens muß einen Menschen besser darauf vorbereiten, das wahre Glück zu begreifen, es zu erkennen, zu erfassen und festzuhalten. Und dazu waren Illusionen nicht imstande. Eingebildetes Glück stumpfte die Sinne ab und nahm jegliche andere Befriedigung. Der einzige Weg war der Mittelweg. Eines Tages würde die Erde das auch erkennen. Reiner Hedonismus war nicht von Dauer. Aber es war wichtig, der Erde den langen Umweg zu ersparen, der eines Tages vielleicht die Hedonik selbst in Mißkredit bringen würde. Aber wie sollte er den Rat in Mißkredit bringen? Der Rat hatte sich eine Position geschaffen, die nahezu unantastbar war. Er hatte sich nämlich erstens über das Gesetz gestellt – obwohl das den Niedergang eines jeden Gesetzes bedeutete; zweitens hatte er durch Gesetz aus der Hedonik eine Wissenschaft gemacht, obwohl es Dinge gibt, die man auch nicht durch Gesetze ändern kann. Aber der Rat war nur beinahe unantastbar. Es gab immer noch den Kongreß. Wenn es gelang, fünfzig Hedonisten zu finden, die seinen Antrag unterstützten, konnte eine außerordentliche Sitzung einberufen werden, und solange der Kongreß tagte, genoß jeder Hedonist völlige Immunität. Was der Kongreß beschlossen hatte, konnte der Kongreß auch wieder aufheben. Das einzige Problem war, jetzt fünfzig Hedonisten für seinen Antrag zu finden. Das war kein kleines Problem, denn er war ein Gejagter. Allein würde er es nicht schaffen. Er brauchte Hilfe. Daß
ihn die Menschen auf seiner Station unterstützen würden, bezweifelte er keinen Augenblick, aber die konnte er nicht in diese Sache mit hineinziehen. Nein, die einzig logische Wahl waren die Hedonisten selbst; sie waren für die Situation verantwortlich und konnten ihm am meisten helfen. Er schloß die Augen und überlegte. Dann schnippte er plötzlich mit den Fingern und trat ans Telefon. Er blätterte im Telefonbuch, wählte eine zweistellige Nummer, wartete, bis der Bildschirm aufflackerte, und wählte dann noch einmal. Es gab einen Mann, dem er vertrauen konnte: Lari. Sie hatten gemeinsam das Institut besucht. Zehn Jahre gemeinsamen Lebens, gegenseitiger Analysen und gegenseitigen Vertrauens. Das war ein Fundament, so hart wie gewachsener Fels. Sie waren sich nur gelegentlich auf Kongressen und Tagungen begegnet, aber das änderte nichts an ihrem gegenseitigen Verstehen und ihrem Vertrauen zueinander. Ich kenne Lari wahrscheinlich besser als mich selbst, dachte der Hedonist. Der Bildschirm wurde grau, löste sich in Linien aus Hell und Dunkel auf. Lari blickte müde von seinem Schreibtisch auf. Sein Gesicht hatte tiefe Falten, seine Augen waren groß und dunkel. Der Hedonist drückte einen Knopf. Der Bildschirm verdunkelte sich. »Ja?« sagte Lari. »Da scheint etwas nicht zu stimmen.« »Allerdings«, sagte der Hedonist mit tiefer Stimme. »Deshalb rufe ich dich an. Lari, das ist – das ist ...« Einen
Augenblick suchte er verzweifelt nach seinem Namen. Er hatte seit dreiundzwanzig Jahren keinen Namen mehr getragen. Er war ein Amt gewesen, einer, der das Glück der Menschen manipuliert. Dann sagte er: »Morgan. Hier spricht Morgan.« »Morgan?« Laris Stimme war verzerrt und eigenartig. Der Hedonist runzelte die Stirn und wünschte, er könne Laris Gesicht sehen, aber er konnte es nicht riskieren, sein eigenes Gesicht am Bildschirm zu zeigen. »Wo bist du?« fragte Lari. »Das ist nicht wichtig«, sagte der Hedonist. »Ich brauche deine Hilfe.« »Ja«, sagte Lari, »das kann ich mir vorstellen.« »Dann weißt du also –?« »Ja. Sprich weiter. Was kann ich tun?« »Ich muß dich treffen. Ich muß mit dir sprechen.« »Wo?« Der Hedonist überlegte fieberhaft. »Auf dem Strip. Dort ist ein Vergnügungspalast, der sich ›Die drei Welten‹ nennt.« »Wie finde ich dich?« »Ich werde dich finden«, sagte der Hedonist. »Kommst du? Jetzt gleich? Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht –« »Ich komme. In etwa einer halben Stunde.« »Gut. Bis dann.« Der Hedonist schaltete das Gerät ab und sah sich nach seinen Kleidern um. Sie waren verschwunden. Seine Identscheibe lag neben dem Müllschlucker auf
dem Boden; sie phosphoreszierte jetzt nicht mehr. Er hielt sie in der Hand und sah sich in dem Raum um, der – abgesehen von seinen abgelegten Unterkleidern auf dem Boden – ebenso nackt wie er war. Dann erinnerte er sich an den Gepäckraum. Die Tür stand halb offen. Dahinter lag eine Schachtel; darin befanden sich der blaue Anzug und Plastiktüten mit Unterwäsche, Socken und Schuhen. Er zog sich schnell an und war dabei so sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, daß er das Geräusch vor der Tür beinahe nicht gehört hätte. Es war ein schlurfendes Geräusch. Der Hedonist sah zur Tür und drückte leise den Knopf, der sie absperrte. Dann nahm er seine abgelegte Unterwäsche und warf sie in den Müllschlucker. Der leere Becher folgte. Erst jetzt fiel ihm auf, daß er immer noch die Identscheibe in der Hand hielt, und er heftete sie – mit der Rückseite nach vorn – an sein Jackett. Jetzt mußte er verschwinden. Er blieb wie erstarrt stehen. Es gab keinen Ausweg. Das Marshaus war neuer als das Ratsgebäude. Das Hotel hatte keine Fenster. Und selbst wenn es welche gehabt hätte – seine Saugnäpfe waren verschwunden. Jemand wollte die Tür öffnen und stellte fest, daß sie verschlossen war. Der Hedonist sah sich verzweifelt im Raum um. Wahrscheinlich konnte er sich im Bett verstecken, aber man würde sicher auch die Vertiefung im Boden untersuchen. »Öffnen Sie!« rief jemand. »Im Namen des Rates!
Freude!« Wachhunde! Mit einem Satz stand der Hedonist neben dem Gepäckraum. Er schob die Tür auf und zwängte sich in die Schachtel, wobei er die Knie wie ein Fötus gegen die Brust preßte. Er ließ die Tür zugleiten, bis nur noch eine schmale Ritze Licht und Luft hereinließ. Jetzt hatte er einen Augenblick Zeit zu überlegen. Wie hatten sie ihn gefunden? – Beth? Nein! Das konnte er nicht glauben! Nicht Beth! Und doch – Beth hatte sich entfernt, während er geschlafen hatte. Aber wenn sie ihn verraten wollte – warum ihn dann zuerst aus seiner verzweifelten Lage an der Wand des Ratsgebäudes befreien? Es sei denn – es sei denn, sie habe es sich anders überlegt und beschlossen, ihn zu verraten, um sich selbst zu retten. Nein! Nicht Beth! Und doch – sie hatte ihn schon einmal belogen. Der Geruch von verbranntem Kunststoff drang an seine Nase. Etwas zerbrach splitternd. Schritte trampelten in den Raum. Etwas Buntes huschte an der Spalte vorbei. Das Summen eines Elektromotors verriet ihm, daß das Bett hochgefahren wurde. Die Füße stampften ungeduldig herum. Der Hedonist starrte wie gebannt auf die Spalte und wagte kaum zu atmen. Plötzlich tauchte riesengroß eine Hand davor auf. Der Hedonist riß die Hand zurück. Die Tür schnappte zu. Die Schachtel fiel unter ihm in die Tiefe. Er stürzte schnell. Er preßte die Hände dicht an den Leib. Sonst würde er sich an den Schachtwänden aufschürfen. Er fiel in
völliger Finsternis. Er hatte Angst. Eine mächtige Faust drückte ihn in die Tiefe, preßte ihm den Atem aus der Lunge, quetschte ihn gegen ein hartes, glattes Brett, versuchte ihn zu zermalmen, zu zerschmettern. Die Finsternis wurde rot und dann wieder schwarz ... Der Hedonist schlug die Augen auf. Seine Beine hingen ins Leere. Etwas Licht fiel herein, und er drehte sich um, um sich zu orientieren, ohne die Schachtel verlassen zu müssen. Er befand sich jetzt auf dem Boden des Schachtes. Nach allen Richtungen führten endlose Gummilaufbänder, die nur das schwache Licht von Maschinen erhellte, die darüber aufragten. Er befand sich im Maschinenkeller. Etwas preßte sich gegen seinen Rücken und schob ihn aus der Schachtel. Er hielt sich an der Schachtel fest, aber das hatte keinen Sinn. Ohne jedes Zeremoniell wurde er auf eines der Laufbänder gekippt. Es sackte unter seinem Gewicht ein, transportierte ihn dann aber auf ein fernes, unbekanntes Ziel zu. Der Hedonist schob die Beine über den Rand und ließ sich auf den einen Meter darunter befindlichen Boden fallen. Einen Augenblick lang stand er reglos da und studierte die Anordnung der sich bewegenden Bänder und der leise vor sich hin summenden Maschinen. In einer der Maschinen blitzte ein Licht auf. Es blitzte in einem regelmäßigen Rhythmus, und die Maschine klickte dabei, als zähle sie. Der Hedonist sah sie an. Da waren fünfunddreißig
Lichtquellen, und die eine, die im Augenblick brannte, war die neunzehnte vom Ende. Er ergriff den Kippschalter und zog ihn herunter. Die Maschine wurde dunkel und stumm. Er hoffte, daß sie den Lift steuere. Der Maschinenkeller war ein Labyrinth. Tunnels und enge Passagen führten hierhin und dorthin, scheinbar ziellos, mit endlosen Biegungen. Die Laufbänder nahmen so viel Platz ein, daß der Hedonist die ganze Zeit unter ihnen hindurchkriechen oder über sie hinwegsteigen mußte. Dieser Keller war nicht für Menschen bestimmt. Endlich fand er eine enge Wendeltreppe, die nach oben führte. Er rannte schnell hinauf. Nach zwei Biegungen sah er einen leuchtenden Knopf an der Wand. Er drückte ihn, und die Wand öffnete sich. Der Hedonist trat in die Hotelhalle. Sie war dunkel und leer. Die Sonne war untergegangen, und Phobos jagte über den Himmel, dem Osten zu. Jetzt stand er neben dem Liftschacht. Aus weiter Ferne hörte er eine geisterhafte Stimme: »Hi – Hi – Hilfe!« rief sie, »– festgefahren!« Der Hedonist trat lächelnd in die neonerhellte Nacht hinaus. Geld war ein Problem. Beth hatte sein ganzes Geld mitgenommen. Aber dieses Problem löste sich von selbst, als der Hedonist ein Zehncentstück auf der Straße fand. Er trat durch das glitzernde Eingangsportal des Vergnügungspalastes »Die drei Welten« und musterte die Spielautomaten. Schließlich schob er die Münze in den
Zahlschlitz eines Geschicklichkeitsspieles. Die Maschine bestand aus einem abgeschlossenen Zylinder, den durchsichtige bunte Scheiben in zehn waagerechte Abschnitte teilten. In der Mitte einer jeden Scheibe war ein Loch, das von oben nach unten kleiner wurde. Im untersten Fach lag ein hohler Plastikball. Drei Druckluftdüsen hoben ihn durch die Löcher in den Scheiben, und die Intensität einer jeden Düse ließ sich mit einem Schalter regulieren. Das Ziel des Spieles war, den Ball so hoch wie möglich zu heben, ehe er in eine der Kammern fiel. Beim erstenmal bekam der Hedonist sein Zehncentstück zurück. Beim zweitenmal hob er den Ball bis in das oberste Fach und erreichte damit den Hauptgewinn. Er schob die Zehncentmünzen in die Jackentasche und ging zur nächsten Maschine. Es war ein Tonanalysator. Im Bereich der Maschine konnte der Hedonist einen Akkord hören. Ein Farbengewirr auf einem Bildschirm gab die einzelnen Tonwerte wieder. Als der Hedonist den Ton nach seinen Frequenz-, Intensitätsund Phasenkomponenten analysierte, lösten sich die Farben in eine prismatische Schicht auf. Man konnte seinen Gewinn vergrößern, indem man die oberen Töne und ihre Intensität identifizierte. Beim dritten Versuch hatte der Hedonist den Verzerrungsfaktor der Maschine erkannt und erzielte den Hauptgewinn. Das Ganze hatte ihn fünf Minuten gekostet. Das war nicht so schwierig, wie es schien. Die Maschinen waren so etwas wie Lockvögel für die teureren
Spiele im Inneren, und die Gewinnchancen waren recht groß. Da sie der Öffentlichkeit zur Verfügung standen, hätte sie der Rat auch nie genehmigt, wenn sie zuviel Mißvergnügen erzeugt hätten. Am wichtigsten aber war die Geschicklichkeit des Hedonisten selbst. Analysen dieser Art und manuelle Geschicklichkeit waren praktisch sein Beruf. Er hatte Jahre mit wesentlich schwierigeren Übungen als diesen verbracht. Mit mehr als fünfzig Dollar Kleingeld in der Tasche betrat er den Vergnügungspalast. Die Türen schwangen vor ihm auf. Als sie sich wieder hinter ihm schlossen, gingen die Lichter aus. Einen Augenblick lang war er völlig desorientiert und hatte das Gefühl, ziellos im Raum zu schweben. Daß er die Ursache dieser Erscheinung erkannte, machte sie nicht angenehmer: Ein Interferenzgerät, das automatisch die Lichtwellen überlagerte, die ihn hätten erreichen sollen. Gelächter drang von allen Seiten zu ihm. Plötzlich tauchte vor ihm eine Erscheinung auf. Es war der Satyr mit kleinen Hufen, zottigen Beinen und scharfen kleinen Hörnern. Seine roten, sinnlichen Lippen hatten sich zu einer Grimasse verzogen, und seine Augen flackerten. Er hing mit dem Kopf nach unten von der Decke. »Freude, Sir, Freude!« rief der Satyr. »Willkommen in den ›Drei Welten‹! Was darf es sein? Wenn das, was Sie wünschen, irgendwo auf den drei Welten existiert, werden Sie es hier finden. Was wünschen Sie?« Ehe der Hedonist antworten konnte, war der Satyr
verschwunden. Unmittelbar darauf schwebte er waagrecht vor ihm. »Freude, Sir!« strahlte er. »Was darf es sein? Ein Glücksspiel?« Er machte eine großspurige Handbewegung, und eine Tür öffnete sich in der Finsternis. Der Weg führte nach oben. An seinem Ende waren Glitzern und Bewegung und strahlendes Licht zu sehen, phantastische Maschinen, die unbegreifliche Dinge vollbrachten. »Die letzten Geräte, Sir! Das, was Sie in der Halle gesehen haben, ist nur ein Vorgeschmack von dem, was wir bieten können.« Seine Stimme wurde leiser, und er flüsterte ihm vertraulich zu: »Acht von zehn Spielern gehen als Gewinner von uns.« »Erstaunlich, daß Sie dann im Geschäft bleiben«, meinte der Hedonist trocken. »Es ist ein Vergnügen für reiche Leute«, sagte der Satyr schnell und lachte. »Was darf es sein? Sensies? Wir haben die neuesten Bänder, Sir. Der Nervenkitzel des Gewinns, Sir, die Ekstase des Erfolges ohne die Gefahr des Verlustes. Sie können erschaffen, sich vergnügen, lieben! Die Sensies kennen keine Grenzen!« Seine Stimme wurde wieder leiser. »Wir können Ihnen sogar – echten Schmerz anbieten! Geschmuggelt. Sehr selten und teuer. Was darf es sein?« Der Satyr und die Eingangshalle verschwanden. Als der Satyr erneut auftauchte, befand er sich immer noch in waagerechter Lage, aber Kopf und Füße waren umgedreht. »Freude, Sir! Wie können wir Sie vergnügen? Mädchen?« Dabei öffneten sich Türen in der Finsternis, und hinter jeder Tür sah der Hedonist ein Mädchen. »Wir
haben alle Arten: Amateure und Professionelle, Eisjungfrauen und Nymphen – Kleine, große, dicke und dünne; Mädchen jeder Gestalt und jeder Hautfarbe. Sagen Sie uns Ihren Wunsch, und sie gehört Ihnen!« Hilflos sah der Hedonist zu, wie der Satyr erneut verschwand. Als er wiederauftauchte, stand er auf den Füßen und breitete dramatisch die Arme aus. »Was darf es sein, Sir?« fragte er eindringlich. »Äthyloide? Wir haben sie alle. Nennen Sie uns Ihren Geschmack: Scotch, Bourbon, Rye – oder Narkotika? Natürlich! Alle Akaloide. Neo-Heroin, Mescalin –« »Eine Nische bei der Tür«, verlangte der Hedonist leise. Der Satyr brach seine Anpreisungen ab. Er sah beinahe etwas dumm dabei aus. »Äh – äh – was wünschen sie? Eine Nische, Sir?« Der Hedonist klimperte mit den Münzen in seiner Tasche. Der Satyr erholte sich schnell von seinem Erstaunen. »Natürlich, Sir! Eine Nische! Aber hier!« Der Hedonist spürte, wie ihm etwas über das Gesicht gezogen wurde. »In den ›Drei Welten‹ verliert man seine Identität. Hier erkennt man nur das Vergnügen! Nur die Freude tritt hier ohne Maske auf!« Damit verschwand er.
9
Der Hedonist blinzelte, als die Finsternis dem Licht wich. Halb geblendet, folgte er einem kleinen Lichtpunkt durch eine Menge maskierter Männer und Frauen. Der Lichtpunkt führte ihn zu einer durchsichtigen, dunklen Tür in einer Reihe von Türen, die hell und undurchsichtig waren. Die Nische war fast so groß wie ein normaler Wohnraum. Es gab dort zwei bequeme Stühle, einen Tisch und eine pneumatische Couch. An der Wand befand sich eine Reihe von Münzautomaten. Das übliche: Getränke und Narkotika. Der Hedonist ließ sich müde auf einen der Stühle sinken und blickte durch die Tür. Er sah den Eingang des Vergnügungspalastes. Und jeder konnte ihn sehen. »Für Abgeschlossenheit und Licht«, sagte der Tisch, »beträgt der Preis einen Dollar pro fünf Minuten.« Der Hedonist schob fünf Dollarmünzen in den Zahlschlitz am Tisch. Der Raum wurde hell. Eine Anzahl heller Lampen an der Tür flammte auf. Er konnte immer noch hinaussehen, aber von draußen konnte niemand mehr hereinsehen. Er kaufte eine Tasse Kafi aus dem Automaten und schlürfte ihn langsam. Das war dasselbe bittere Gebräu, das er am Morgen getrunken hatte. Er zuckte die Achseln und trank. Seit er Lari angerufen hatte, war eine halbe Stunde vergangen. Der Hedonist mußte bald kommen. Nach fünf Minuten war er noch nicht da. Der Hedonist sah den Gästen der »Drei Welten« zu, die – irgendeinem unbekannten Ziel und unbekannten Vergnügen zu – an seiner Tür vorbeiströmten. Manche trugen wertvolle,
glitzernde Kleider, manche nur einen durchsichtigen Umhang, und einmal brach ein Mädchen, das nur eine Maske trug und von einem nackten Satyr verfolgt wurde, durch die Menge. Freude! dachte der Hedonist. Vergnügen! Hier hatte der Hedonismus seinen Tiefpunkt erreicht. Tiefer konnte er nicht mehr sinken. Aber lag das nicht von Anfang an im Begriff des Hedonismus? Nein! Die Freiheit, glücklich zu sein, war nicht gleichbedeutend mit Hemmungslosigkeit, denn Hemmungslosigkeit führt nicht zum Glück. Der Hedonismus hatte recht. Das Vergnügen war das einzige menschliche Gut. Aber man mußte es mit sich und seiner Umwelt in Einklang bringen. Man mußte eine Wahl treffen, und dazu gehörte Weisheit. Lari stand unter der Tür. Er blinzelte. Seine Augen lag tief in den Höhlen. Sein Gesicht war hager und elend. Er schob sich aus der Finsternis hervor, und eine Maske lag über seinem Gesicht – die Maske der Angst. Der Hedonist sah auf die Uhr. Seit er angerufen hatte, war beinahe eine Stunde verstrichen. Er sah Lari zu, wie er sich durch die Menge schob und sich immer wieder mit vor Angst geweiteten Augen umsah. Niemand folgte ihm. Niemand kam hinter ihm durch die Pforte. Als Lari an seiner Nische vorbeiging, öffnete der Hedonist die Tür und griff nach seiner Hand. »Hier!« flüsterte er. Lari zuckte zusammen und ließ sich dann in die Nische ziehen. Als die Tür sich hinter ihm schloß, starrte er den
Hedonisten mit angstgeweiteten Augen an. Es dauerte einen Augenblick, bis er erkannte, daß der Ausdruck in der Maske lag. Aber Lari starrte immer noch. »Bist du das wirklich, Morgan?« flüsterte er. »Ja!« sagte der Hedonist. »Was ist denn?« Lari deutete zur Decke. »Sieh dich an!« Die Decke war ein Spiegel. Der Hedonist sah hinauf. Ein Idiot mit offenem Mund und dem Ausdruck schwachsinniger Freude starrte ihn an. Er schauderte und wollte schon die Maske vom Gesicht reißen. »Laß nur!« winkte Lari ab und ließ sich in den Sessel sinken. »Laß sie an! So ist es sicherer.« Dann sahen sie sich an, die Angst und der Idiot. »Also«, sagte die Angst. »Sag mir, was du willst!« Der Idiot verzog die Lippen. Dann schilderte er kurz, was an diesem Tag geschehen war: die Vorladung, Gomer Berns, der Rat ... Aber als er anfing, die neuen Geräte und Pläne des Rates zu schildern, unterbrach ihn die Angst ungeduldig. »Das weiß ich alles«, sagte er etwas verlegen. »Du weißt das und hast nichts unternommen?« »Was sollte ich unternehmen? Du bist ihnen also entkommen. Was hast du jetzt vor? Ich weiß nicht, wie ich helfen kann ...« »Ich will nicht, daß du mir hilfst«, sagte der Idiot. »Ich bin nicht wichtig. Wichtig ist, daß die Welt wieder auf den richtigen Weg gebracht wird. Wir müssen den Rat absetzen ...« Die Angst lachte nervös und halb erstickt. »Und wie
möchtest du das bewerkstelligen?« Der Idiot schilderte seinen Plan für den Antrag. »Sobald wir eine Außergewöhnliche Sitzung zustande gebracht haben, können wir den Rat absetzen und die Welt wieder auf den Weg der Vernunft zurückführen. Du und ich – wir kennen die richtigen hedonischen Techniken, wir wissen, daß der jetzige Weg zum Wahnsinn führt. Und sobald der Kongreß die Lage im richtigen Licht sieht, wird er die alten Ziele verteidigen. Nun?« fragte er, als die Angst keine Antwort gab. »Taugt der Plan nichts?« »Ein schöner Plan, ein wunderbarer Plan«, keuchte die Angst atemlos. »Aber er hat nicht die leiseste Chance.« »Warum nicht?« »Du bist kein Hedonist mehr. Der Rat hat deine Lizenz eingezogen und dein Büro und deine Akten vernichtet. Du bist ein Verbrecher. Man wird dich jeden Augenblick festnehmen und chirurgisch behandeln lassen.« Der Idiot machte eine ungeduldige Handbewegung. »Das ist gleichgültig. Ich kann mich verstecken, bis der Kongreß gehandelt hat.« »Ein jeder, der dir hilft, unterliegt denselben Strafen«, erklärte die Angst plötzlich. »Aber das macht nichts. Das stimmt schon. Du wirst nie eine Außergewöhnliche Versammlung zustande bringen. Und selbst wenn dir das gelänge, würde es nichts nützen. Es gibt keinen Hedonisten im ganzen Land, der deinen Antrag unterstützen würde. Der Kongreß steht voll und ganz hinter dem Rat.« »Alle?« fragte der Idiot benommen. »Alle! Jeder einzelne!« Die Angst schlug hysterisch auf
den Tisch. Plötzlich wandte sie sich der Wand zu und schob eine Münze in einen der Automaten. Eine kleine Spritze mit Neo-Heroin fiel ihr in die Hand. Die Augen des Hedonisten waren groß und ungläubig, als Lari den Ärmel hochschob und sich eine Spritze gab. Ein leises Zischen war zu hören, dann ließ Lari die leere Spritze auf den Boden fallen und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. »Neo-Heroin?« fragte der Hedonist. »Ja, ich bin süchtig«, bekannte Lari ruhig, immer noch mit geschlossenen Augen. »Dessen braucht man sich auch nicht zu schämen.« »Nein, wenn man nicht Hedonist ist. Aber wie willst du deinen Leuten helfen, wenn deine Sinne abgestumpft sind und dein Geist deprimiert ist?« »Ich bin auch ein Mensch«, brauste Lari auf. »Ich habe genauso Gefühle und Wünsche wie andere. Ich brauche Glück.« »Warst du nicht glücklich?« »Glücklich?« fragte Lari leise. »Ich war nicht mehr glücklich, seit ich ein Kind war. Wir alle waren das nicht. Wir waren tapfer und närrisch, eine Handvoll Hedonisten, die die Last des Glücks einer ganzen Welt auf die Schultern nahmen. Das war verrückt. Wunderbar, aber verrückt und unmöglich.« »Aber wir haben es doch getan!« rief der Hedonist aus. »Wir haben es getan!« Lari seufzte. »Ja, wir haben es getan. Eine kleine Weile. Nicht vollkommen und nicht vollständig, aber wir haben es
getan. Und wir haben dafür bezahlt. Wir haben uns ein jeder an tausend Menschen verkauft – wir waren ihre Sklaven. Sie brachten uns ihre Bürde, und wir nahmen sie auf unsere Schultern. Es gibt nur wenige Nächte, in denen ich auch nur fünf Stunden Schlaf bekommen habe, und der Großteil davon war der Therapie gewidmet.« »Du weißt nicht, was du redest!« sagte der Hedonist. Er ballte die Faust. Wie konnte er Lari überzeugen? »Was der Rat tut, ist falsch!« »Wie kann es falsch sein«, sagte Lari müde, »Menschen glücklich zu machen? Wie kann es falsch für mich sein, glücklich zu sein?« »Das Falsche ist das, was wir selbst tun«, erklärte der Hedonist ruhig. »Du mußt deine Sucht brechen, Lari. Du weißt auch, wie. Du kennst die Techniken des Glücklichseins.« »Oh, ich werde sie brechen!« sagte Lari gleichgültig. »In ein paar Wochen. Dann werde ich glücklich sein.« Seine Augen hinter der Maske waren traurig. »Aber du bist verloren. Du hast deinen Chance weggeworfen.« Die Lichter in der Nische erloschen. »Für Abgeschlossenheit und Licht beträgt der Preis einen Dollar pro fünf Minuten«, sagte der Tisch. Der Hedonist schob die Münzen in den Tischschlitz, als die Tür aufging. Er erhob sich. Unter der Tür stand ein Mädchen in einem roten Umhang und in der Maske der Leidenschaft. Sie starrte ihn an und trat näher. Dann hob sie seine Maske, und er ließ es zu, ohne zu wissen, warum. Jetzt ließ sie die Maske fallen und umarmte ihn. »Du bist
es!« schluchzte sie. Es war Beths Stimme. Der Hedonist zog ihre Maske herunter. Es war Beths Gesicht! Ihre Lippen lächelten, aber in ihren Augen standen Tränen. »Ich habe dich überall gesucht«, sagte sie. »Wo warst du? Warum hast du mich verlassen?« fragte der Hedonist, und seine Augen ließen sie nicht los. »Jetzt ist keine Zeit, zu erklären«, sagte sie und zog an seinem Arm. »Wir müssen verschwinden.« »Kurz nachdem du gegangen warst, kamen die Wachhunde«, sagte er und zog seine Hand zurück. »Sie hätten mich beinahe verhaftet.« »Du glaubst doch nicht etwa, daß ich damit etwas zu tun hatte?« rief sie aus. »Das hätte ich nie gekonnt. Oh, du mußt mir vertrauen!« »Warum?« fragte der Hedonist. »Du hast dich sehr eigenartig verhalten.« »Du bist der Hedonist«, erinnerte sie ihn scharf. »Weißt du es nicht?« Er schüttelte verblüfft den Kopf. »Oh, verdammt!« rief sie aus. Und dann, leiser: »Ich liebe dich! Ich hatte nicht die Absicht, jemand anderen als dich zu heiraten. Ich wollte für dich sorgen, dich glücklich machen. Ich war keine Ausnahme. Alle Frauen in der ganzen Station liebten dich, aber ich bin die einzige, die den Mut hatte, etwas dafür zu riskieren.« Der Hedonist bemerkte plötzlich, daß ihm unter der Maske der Mund offenstand. Er klappte ihn zu. »Das ist phantastisch!« Und dann fügte er plötzlich hinzu: »Du hast
mich auf dem Boden schlafen lassen.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Du magst Hedonist sein«, sagte sie, »aber von Liebe verstehst du nichts. Manche Wünsche sollen unterdrückt werden – das ist genauso, wie wenn man einer Blume, die die Sonne gewöhnt ist, das Licht abdeckt – sie wächst um so schneller, um das Licht zu erreichen.« Der Hedonist starrte sie wortlos an. »Unmöglich!« sagte er schließlich. »Ich bin Hedonist. Ich kann weder heiraten noch lieben ...« »Du Narr! Du Narr!« stöhnte sie. »Wie lange glaubst du wohl, daß du allein den ganzen Himmel tragen kannst? Denk doch nur ein einziges Mal an dich selbst! Das ist alles vorbei! Begreifst du denn nicht?« Aus dem Augenwinkel bemerkte der Hedonist eine Bewegung. Die Wände der Nische versanken in den Boden. Dahinter waren bunte Uniformen zu sehen. Ein Dutzend schwarze Schocker waren auf sie gerichtet. Zuerst dachte der Hedonist, sie trügen Masken, und zwar alle dieselben: undurchdringliche, starre Masken. Aber es waren Gesichter. Der Hedonist erkannte plötzlich, daß eines der Gesichter das des Ratssekretärs war. »Das Mädchen hat recht«, sagte der Sekretär. »Es ist alles vorüber!« Seine Anwesenheit bewies, daß dies eine Falle war, eine sorgfältig geplante und geschickt ausgeführte Falle. Der Hedonist sah Beth an. Sie schüttelte langsam und schmerzerfüllt den Kopf. »Nein! Nein!« flüsterte sie. »Das darfst du nicht glauben!
Du mußt –« »Das glaube ich auch nicht«, sagte er plötzlich. Er wandte sich zu dem Sekretär. »Was werden Sie tun?« »Wir nehmen Sie für die Behandlung fest«, sagte der Sekretär ausdruckslos. »Alle beide.« Alle beide, Beth und ihn! Nicht Lari. Der Hedonist sah Lari an. Durch die Maske der Angst sah er die Augen seines alten Freundes. Es waren die Augen eines Mannes, der alles verloren hatte. Er hatte sich selbst verdammt, und sein privates Paradies würde seine Hölle sein. Kein Vergnügen der Welt würde diesen Schmerz übertönen können. »Es tut mir leid, Lari«, sagte der Hedonist leise. Die Augen schlossen sich. Die Maske wandte sich ab. »Gehen wir«, sagte der Hedonist zu dem Sekretär. Und dann gingen zum zweitenmal in dieser Nacht die Lichter aus.
10 Der Hedonist schlug zu und fühlte den paralysierenden Schock, der seine Faust und den ganzen Arm durchzuckte. Aber in der Schulter spürte er, daß seine Faust etwas getroffen hatte, das nachgab. Der Sekretär stöhnte auf und fiel nach hinten. Schreie waren zu hören, das Klappern von Schritten. Aber der Hedonist war zu sehr beschäftigt, um darauf zu achten. Zu beschäftigt, um das Vergnügen zu genießen,
daß er sich endlich gegen die Kräfte wehrte, die ihm sein Leben und seine Welt genommen hatten. Jetzt wirbelte er herum, griff nach Beth und zog sie mit sich durch die schreiende, drängende Menge nach draußen. Zuerst war Gelächter zu hören, da die meisten der Gäste das ganze für einen Scherz hielten; dann Stöhnen und Schreie und zunehmende Hysterie. Die Dunkelheit war absolut. Sie hatten sie nicht verlassen, als sie aus der Nische gelaufen waren. Jemand hatte ein Interferenzgerät auf die ganze Fläche gerichtet. Der Hedonist ließ Beths Handgelenk nicht los und drängte sich durch die schreiende Menge. Jetzt zog er Beth dicht zu sich heran und brüllte ihr ins Ohr: »Alles in Ordnung?« Er fühlte, wie sie nickte, und dann bewegten sich ihre Lippen an seinem Ohr. »Ich kann mich nicht durch diese Mengen drängen«, schrie sie. »Geh du voraus! Ich steuere von hinten!« »Wohin?« fragte der Hedonist. »Das ist jetzt egal. Schnell! Wir wissen nicht, wie lange es noch finster bleibt.« Der Hedonist zögerte, zuckte die Achseln und drehte sich um. Er senkte seine gefühllose Schulter und schob sich in das brodelnde Meer der Menschen. Sie lenkte ihn mit sicheren Handbewegungen. Es schien, als sei die Finsternis noch dichter geworden, als habe die Nacht Arme, Hände und Füße, um sie festzuhalten. Der Druck nahm zu und wuchs immer mehr, bis er plötzlich schlagartig aufhörte, und dann war nichts
mehr. Der Hedonist tastete mit einem Fuß und spürte eine Treppe. Er taumelte hinunter und zog Beth hinter sich her. Als sie ein ebenes Stück erreichten, war der Lärm in der Ferne verstummt, und sie schienen allein zu sein. Er zog Beth zu sich heran. »Was soll das?« fragte er. »Wohin gehen wir? Wer hat das Interferenzgerät benutzt? Wer –?« »Jetzt ist keine Zeit!« keuchte sie. »Komm! Ich sage es dir später!« Sie führte ihn mit sicherem Instinkt durch die Finsternis. »Die Antwort auf deine Fragen ist der Untergrund.« Das war ein fremdes, neues Wort. Der Hedonist versuchte es zu begreifen, und seine Phantasie beschwor ein exotisches Bild herauf: Männer, die Hedometer veränderten; Menschen, die sich an dunklen, verborgenen Orten trafen und ihren illegalen Neigungen frönten; Saboteure, die Sorge und Mißvergnügen verbreiteten. Wie hatte es so etwas geben können, ohne daß er davon wußte? »Und du gehörst dazu?« fragte er. »Schon immer, seit ich erkannte, daß es die Hedonik war, die uns trennte. Versuche uns zu verstehen! Wir machen uns keine Sorgen um die breite Masse – die sind mit dem zufrieden, was sie haben. Wir sorgen uns um die wenigen Unzufriedenen, die das Glück unmöglich finden und damit Schwierigkeiten bekommen.« Sie blieb stehen. Der Hedonist hatte den Eindruck, daß vor ihnen etwas Festes sei. Dann fühlte er einen kühlen
Luftzug im Gesicht. Beth führte ihn eine Treppe hinunter in einen schmalen Gang. »Dann versucht ihr nicht, den Rat abzusetzen?« fragte er verwirrt. »Natürlich nicht! Was hätte das für einen Sinn? Wir wollen nicht die Verantwortung für eine Welt voller Mittelmäßigkeit. Soll die doch der Rat tragen! Wir versuchen nur, die wenigen zu retten, die es wert sind.« Mit einem Schritt traten sie aus der Finsternis ins Licht. Der Hedonist blinzelte und konnte bald wieder sehen. Sie befanden sich in einem langen, schmalen Gang, der von unregelmäßig angebrachten Deckenlampen erhellt wurde. Der Hedonist konnte das Ende des Ganges nicht sehen. »Dann glaubt ihr, daß die Hedonik versagt hat?« fragte er. In dem Gedränge war der rote Umhang zerrissen. Beth versuchte vergeblich, ihn zusammenzuhalten. »Nein«, sagte sie ernst – der Hedonist hätte wahrscheinlich unter anderen Umständen über ihre jugendliche Überzeugung gelacht, wenn sie nicht so absolut gewesen wäre. »Für die große Masse war die Hedonik ein durchschlagender Erfolg. Als physiologische und psychologische Disziplin war sie ein großer Schritt nach vorn. Aber als praktische Wissenschaft war sie unmöglich. Wie viele Hedonisten haben sie denn so verstanden?« Der Hedonist sah sie ausdruckslos an. »Sehr wenige«, erklärte Beth nüchtern. »Die wenigen haben sich bemüht, und von ihnen haben nur du und ein oder zwei andere wirklich Erfolg gehabt. Deshalb mußte
der Rat dich beseitigen. Der Rest hat sich der Unmöglichkeit gebeugt und seinen Kompromiß mit der Welt geschlossen. Um Hedonist zu sein, mußte ein Mensch ein Gott sein – und Menschen sind nicht göttlich. Noch nicht. Wenigstens nicht viele.« Sie sah ihn mit warmen, dunklen Augen an. Der Hedonist spürte, wie ein eisiger Klumpen in ihm langsam schmolz. Das war so lange her, daß er sich gar nicht mehr daran erinnern konnte. »Dann rettet ihr also die Unzufriedenen. Ehe sie zum Chirurgen gehen?« »So viele wir können, und wir bekommen die meisten.« »Und was dann?« fragte der Hedonist und runzelte die Stirn. Beth führte ihn ein paar Stufen hinauf. Sie traten in die Nacht hinaus. Die wirkliche Nacht – mit wirklichen Sternen am Himmel. »Wir bringen sie hierher«, sagte sie. Der Hedonist blickte auf. Eine schlanke Silhouette ragte über das Feld auf und griff nach dem Raum und der Freiheit. »Die Planeten!« sagte er plötzlich. »Mars und Venus!« »Und Callisto und Ganymed«, fügte Beth hinzu. »Wir haben sie als Kolonisten ausgeschickt. Es sind gute Kolonisten. Sie können ihre Unzufriedenheit an ihrer Umwelt anstatt an sich selbst auslassen. Das ist die beste Therapie für sie. Und dorthin gehen wir auch.« Ehe der Hedonist den Schock verarbeiten konnte, war ein breitschultriger Mann, der den Hedonisten ebenso
überragte, wie das Schiff das ganze Feld beherrschte, aus dem Schatten auf sie zugetreten. Der Hedonist blickte ihm in das dunkle, bärtige Gesicht. Noch nie hatte er so offensichtliche Qual im Gesicht eines Menschen gesehen. Es drängte ihn dazu, ihn zu behandeln. »Dann haben Sie ihn also?« fragte der Mann mit polternder Stimme. »Ja, Captain!« Captain! Die Verbindung mit dem Schiff draußen auf der Piste war offensichtlich. »Sie haben uns geholfen?« fragte der Hedonist. »Sind Sie derjenige, dem ich danken sollte?« Der Mann nickte finster. »Ich und ein paar von den Jungs.« »Ich begreife nicht, wie Sie einen ganzen Vergnügungspalast so leicht –« Der Captain zuckte mit den massigen Schultern. »Er gehört uns. Der Strip gehört zum größten Teil uns. Wir brauchen dort draußen –«, er deutete zum Himmel, »– immer noch Menschen und Werkzeuge – und dafür brauchen wir Geld. Also geben wir den Kaninchen das, was sie wirklich wollen, und sie geben uns, was wir brauchen. Früher haben wir ein paar Kolonisten geschanghait, aber damit haben wir aufgehört. Die taugten nichts – sie starben zu schnell.« »Hatte der Rat nichts dagegen?« »Das hätte ihm viel genützt!« Er lachte. »Die wissen genau, was wir tun könnten, wenn wir es darauf anlegten – und diese fetten Kaninchen könnten nichts dagegen
unternehmen. Aber jetzt gehen wir besser zum Schiff. Dieses Mal könnte der Rat auf die Idee kommen, etwas zu riskieren.« »Er unternimmt nichts dagegen, daß Sie entflohenen Gefangenen helfen?« »Warum sollte er denn? Damit ist er sie los, nicht wahr? Mehr wollten die doch nicht. Die sind froh, daß sie sich nicht um uns kümmern müssen. Vielleicht kommen wir eines Tages zurück und unternehmen etwas gegen den Rat. Aber nicht jetzt. Dafür gibt es zuviel zu tun.« Am Horizont ragten die finsteren Türme der Altstadt empor, und vor ihnen war das geisterhafte Licht des Kraters zu sehen. »Die Erde ist wohl so glücklich, wie sie ist«, meinte der Hedonist langsam. »Sie ist übervölkert. Es ist kein Platz mehr da, die Wirklichkeit zu verändern. Vielleicht fordert die Selbstdisziplin der Hedonik zuviel. Vielleicht ist die Methode, die der Rat anwendet, wirklich die einzige, die Erde daran zu hindern, sich selbst mit ihren Konflikten und Wünschen in die Luft zu sprengen.« »Ich fürchte, du hast recht«, sagte Beth. »Also gut!« nickte der Hedonist. »Gehen wir!« Sie gingen über das sternenerhellte Feld. »Ich nehme an, daß ihr auf der Venus Hedonisten braucht.« Der Captain blieb stehen. »Einen Augenblick!« knurrte er. »Wir haben zuviel zu tun, um glücklich zu sein.« Der Hedonist hatte bestimmte Vorstellungen. »Wahrscheinlich können Sie einen Arzt gebrauchen«, sagte er und blickte auf. »Sie brauchen Kinderärzte und Ärzte für alte Leute, denke ich. Sie haben Leute, die krank
werden, die sich die Knochen brechen, die Kinder bekommen und die alt werden ... Und dann, glaube ich, brauchen die Kinder Lehrer ...« Ein Lächeln stahl sich über das Gesicht des Captains. Es erinnerte den Hedonisten an die Sonne, die plötzlich freudig aus den dunklen Wolken bricht. »Klar, Doc!« sagte er. »Kommen Sie! Wir haben eine Million Dinge vor und nur ein paar hundert Jahre Zeit, alles zu tun.« Also würde seine Ausbildung doch nicht vergebens gewesen sein, dachte der Hedonist. Seine medizinischen Kenntnisse würden gefragt sein, und dann würden da die Kinder sein. Es würde viele Kinder geben, da die Menschheit eine neue Welt bevölkern wollte. Er würde die Kinder die hedonischen Disziplinen lehren, ohne ihnen den Ärger und den Zorn zu nehmen, die sie am Leben hielten. Die Hedonik war doch nicht am Ende. Das war nur ein neuer, besserer Anfang. Er nahm besitzergreifend Beths Arm, und sie gingen auf das mächtige Schiff zu, das sie zu einer Welt bringen würde, die nach all den bitteren Generationen zu hundert Prozent glücklich sein würde. Ein heller Stern hing über dem spitzen Bug des Schiffes. Das war nicht die Venus, aber vielleicht ein gutes Vorzeichen. Es hatte viel für sich, wenn ein Mensch das Privileg hatte, so unglücklich zu sein, wie er wollte.
III. Teil 1 D'glas M'Gregor begegnete dem Duplikat in dem Korridor, der die Fahrzeughalle mit den Liftschächten verband. Er hätte es sofort erkannt, wenn er aufgepaßt hätte. So aber ging er an ihm vorüber und runzelte die Stirn, ehe er mit einem Satz zum Schaltbrett sprang. Die Korridorwand öffnete sich auf einen Knopfdruck. Den Bruchteil einer Sekunde war das Prüflicht dahinter gleichmäßig. Dann begann das Duplikat sich mit einer Geschwindigkeit von zweihundert Stundenkilometern zu bewegen. D'glas' Finger huschten über die Schalter. Eine Wand legte sich zwischen das Duplikat und die Fahrzeughalle und damit die Oberfläche der Venus. Es kehrte sofort um. Als sich die zweite Wand senkte, raste es bereits mit derselben unglaublichen Geschwindigkeit wieder auf D'glas zu. Einen Augenblick leuchtete die Anzeigenlampe noch – dann erlosch sie. D'glas seufzte. Die Falle hatte wieder versagt ... Der Regen stürzte in Gießbächen auf die Venus herab; wilde Windböen jagten die Tropfen mit der Gewalt einer Gewehrkugel dahin. Seit fünfzig Jahren fiel der Regen. Er würde noch weitere fünfzig Jahre fallen und erst dann anfangen nachzulassen.
Aber dann würde es Meere, Seen und Teiche geben, wo es zuvor nie freies Wasser gegeben hatte. Vom Feuer tödlicher Beimengungen von Kohlendioxyd und Formaldehyd befreit, würde die Atmosphäre zum erstenmal freien Sauerstoff enthalten und damit atembar sein. Und eines Tages würden die Wolken aufreißen, und die Sonne würde auf eine entschleierte Venus scheinen; eine Welt, die der Mensch umgeformt hatte. Die Venus war eine Totgeburt gewesen. Äußerlich beinahe ein Zwilling der Erde, war sie schon bei der Entstehung in erstickende Wolken von Formaldehyd und seinen Polymeren eingehüllt gewesen. Unter diesen Meilen von Wolken fand der Mensch eine Wüste, wo nichts lebte, wo nichts leben konnte. Die lebenswichtigen Stoffe fehlten: freies Wasser, freier Sauerstoff. Die Kolonisten gruben sich tief unter der Oberfläche ein, um den thermodynamischen Kräften zu entgehen. Und dann machten sie sich an die Aufgabe, methodisch und systematisch eine ganze Welt zu verändern. Platinschwamm lieferte die Katalyse-Reaktion. Die Venus selbst lieferte die Energie. Ein jeder Blitzstrahl gab Wasser und fruchtbar machende Nitrate frei. Und der Mensch selbst arbeitete in großen, weitflächigen Kombinaten, die über die Wüste krochen und Sand und Stein zerkleinerten und hinter sich mit Düngemitteln angereicherten Boden zurückließen, der den Regen aufsaugte, Proteine, genetisch konstruierte
Mikroorganismen, Würmer und Samen. An verschiedenen Punkten, die beständig wuchsen, begann die Venus einen zweiten Schleier anzunehmen, einen Schleier, der lebte, einen Schleier aus Grün. Die Gräser, Pflanzen und Bäume nahmen das Kohlendioxyd aus der Luft, banden den Kohlenstoff in ihren Stämmen, Blättern und Stielen und gaben freien Sauerstoff an die Atmosphäre ab. Vierhundert Jahre hatte der Mensch gebraucht, um den vergleichsweise gnädigen nordamerikanischen Kontinent zu erobern. In weniger als der Hälfte dieser Zeit würde er die fremdartige, giftige Natur der Venus verändern. Schon hatte er sie gezähmt, ihren Atem versüßt, und bald würde er sie auch fruchtbar gemacht haben. Noch fünfzig Jahre, und man würde auf der Venus ebenso leben können wie auf der Erde. Plötzlich schlugen Regentropfen gegen das Objektiv. Die Szene wurde undeutlich, Regen schien über das Fenster zu strömen. Als man dann wieder hindurchsehen konnte, tanzte ein langer, zuckender Blitz über den Horizont. Perry schloß die Augen. »So nahe«, murmelte er. »Und doch so fern. Also, gut, D'glas, wach auf!« »Ich bin wach«, sagte D'glas. »Hast du alles?« Er richtete sich in dem Diagnosestuhl auf und rieb sich den Arm, wo die Injektion seine Haut gereizt hatte. Perry war siebzig Jahre alt, und sein Gesicht trug tief eingegrabene Linien der Weisheit und der Toleranz. Aber jetzt blickte er besorgt. »Es besteht kein Zweifel. Es war
ein Duplikat. Guy Reeder, der Laien-Hedonist, befand sich zu der Zeit in einem Kombinat.« »Deshalb habe ich ihn auch erkannt. Ich hatte mich gerade von ihm verabschiedet ...« »Das wissen wir«, mischte Brian sich ein und deutete mit ausgestreckter Hand auf den Stuhl. In der Geste lag seine ganze Unzufriedenheit mit dem Verlauf des Verhörs. Er war ein paar Jahre jünger als Perry und vielleicht ein paar Jahre ungeduldiger. Jetzt deutete er auf D'glas. »Du hast ihn in schlechter Stimmung verlassen. Deshalb hättest du auch beinahe das Duplikat zu spät erkannt. Junge, du brauchst eine Behandlung!« Außer D'glas waren noch drei Personen im Raum: Perry, Brian und Floyd – alle drei so verschieden, wie Menschen nur sein können, aber drei Hedonisten. Sie bildeten sozusagen die Regierung der Venus. Was diese Männer in ihrer Weisheit entschieden, würde gleichzeitig die Entscheidung von drei Millionen Kolonisten sein. Drei Hedonisten und D'glas. Er fühlte sich in der Minderzahl und allein. »Ich gebe zu, daß ich ärgerlich war«, meinte er. »Für mich ist die Arbeit in den Kombinaten langweilig und uninteressant. Und als Guy mich zum überzeugen versuchte, daß das eine Abwandlung der Wirklichkeit im hedonischen Sinne sei, verließ ich ihn und kam zurück.« »Aber er hat doch recht«, meinte Floyd leise. »Aber davon hier zu reden, ist reine Kasuistik«, gab D'glas zurück. »Unsere Arbeit hier ist eine Plage, kein Vergnügen.«
»Das Glück kommt von innen«, meinte Brian nüchtern. »Die Hedonik gibt uns nur die Techniken, um aus der Notwendigkeit eine Tugend zu machen und damit aus dem Unvermeidbaren ein Vergnügen. ›Was nicht geheilt werden kann, muß ertragen werden, und was ertragen werden muß, sollte Vergnügen bereiten.‹« »›Wenn sich eine Vergewaltigung nicht vermeiden läßt‹«, knurrte D'glas. »Ich kann Morgan Vers für Vers zitieren. Ich weiß auch, was er von einem Jahrhundert von der Erde mitgebracht hat. Aber euer Hedonismus unterscheidet sich von meinem Stoizismus. Der Mensch sollte ein höheres Ziel haben, als im Dreck zu wühlen.« »Ich möchte nur darauf hinweisen«, sagte Perry leise, »daß es nicht darauf ankommt, ob wir im Dreck wühlen wollen oder nicht, sondern ob man uns im Dreck wühlen läßt, wenn wir es wollen.« D'glas' Ärger ließ nach. Es war typisch für die Gesellschaftsform auf der Venus, daß man sich mitten in einer so verzweifelten Lage wie dieser mit dem hedonischen Zustand eines jeden einzelnen Bürgers beschäftigte. »Wir sind davon ausgegangen«, fuhr Perry fort, »daß die Duplikate eine Gefahr darstellen. Die Gefahr ist jetzt akut geworden. Wenn wir aus diesem Zwischenfall etwas lernen können, so ist es das: Die Duplikate sind telepathisch. Wollen wir uns den Film noch einmal ansehen.« Perry drückte auf einen Knopf neben dem Fenster. Die Oberfläche der Venus verschwand, und ein düsterer Korridor trat an ihre Stelle. Ein Mann entfernte sich von
ihnen. Und dann fing der Mann vor ihren Augen plötzlich zu laufen an. »Du hattest gerade die Schleuse geöffnet«, erklärte Perry. Das Duplikat fing nicht, wie Menschen das tun, zu laufen an; vielmehr raste es plötzlich mit hoher Geschwindigkeit los. Als es umkehrte, konnten sie sein Gesicht sehen. Es war das Duplikat von Guy Reeder. Die zweite Schleuse schloß sich, und damit befand sich das Duplikat inmitten einer durchsichtigen Zelle. Die Kamera veränderte ihren Standort. Sie befanden sich mit dem Duplikat in der Zelle. Einen Augenblick lang stand es erstarrt da, und dann war es nur noch eine Wolke sich auflösender Partikel. »Dieser Aufnahme«, seufzte Perry resignierend, »ist bei einer Frequenz von einer Million Bildern pro Sekunde hergestellt worden.« »Dieselbe Spektroanalyse?« »Genau«, sagte Floyd leise. »Es ist kein Mensch. Der Metallanteil ist bei den Duplikaten höher.« Perry schaltete das Fenster wieder um, so daß man die regenerfüllten Ebenen der Venus sehen konnte. »Das erste wurde vor zwei Tagen gemeldet – vor beinahe fünfhundert Stunden. Das ist das fünfte. Zwei haben wir in die Falle gelockt. Beide haben sich sofort selbst in die Luft gesprengt, so daß nur noch Atome übrigblieben. Es müssen noch andere in unserer Mitte sein, die wir noch nicht entdeckt haben.« Brian nahm den Beruhiger aus dem Mund. »Zu früh. Wir sind auf den Kontakt mit Fremden noch nicht
eingerichtet.« »Fremde? Bist du auch sicher?« fragte D'glas schnell. Brian zuckte die Achseln. »Ihre Fähigkeiten sind jedenfalls nicht menschlich.« »Der hohe Metallanteil läßt darauf schließen, daß es Roboter sind«, fügte Floyd hinzu. »Ebenso die Selbstvernichtung. Mag sein, daß es fremde Rassen gibt, die sich auf Wunsch in die Luft sprengen können – aber ich bezweifle das.« »Ein humanoider Roboter?« fragte D'glas verwirrt. »Warum?« »Um sich ungestört unter uns bewegen zu können«, erklärte Perry. »Wozu denn? Sie haben doch nichts getan!« »Bis jetzt! Vielleicht. In unserer Gesellschaft lassen sich Veränderungen nur sehr schwer feststellen. In diesem Augenblick befinden wir uns unter Beobachtung.« Brian und Floyd nickten. »Niemand kann ahnen, was ihr nächster Schritt sein wird«, fuhr Perry ruhig fort. »Aber er wird jedenfalls für die Fortführung unserer Gesellschaft und unserer Lebensweise nicht günstig sein.« Wieder nickten die Hedonisten. »Was werden wir dann tun?« wollte D'glas wissen und runzelte die Stirn. »Zuerst«, sagte Perry, ohne seinen Stimmausdruck zu verändern, »werden wir uns vergewissern, daß wir alle Menschen sind.« Während er das sagte, senkten sich die Trennwände.
D'glas sprang instinktiv aus dem Diagnosestuhl, aber es war schon zu spät. Metallwände schlossen ihn ein. Sie vibrierten kurz. Ehe er sich setzen konnte, hoben sich die Trennwände bereits wieder. Perry und Brian blickten in die Ecke, in der Floyd gesessen war. Sie war leer. Der Stuhl war verschwunden. Ebenso der Fußbodenbelag bis hinunter auf den Stahl. Die Wand war versengt und schwarz. »Sie sind entschlossen, keinen untersuchen zu lassen«, sagte Perry grimmig. Brian sog nachdenklich an seinem Beruhiger, ehe er ihn aus dem Mund nahm. »Hast du das erwartet?« »Nein«, gab Perry zu. »Das war eine Vorsichtsmaßregel. Ehrlich gesagt, habe ich eher dich verdächtigt, Brian. Ich hatte das Gefühl, daß du den Beruhiger etwas übertrieben benutzt.« »In einer schwierigen Lage wie dieser hilft einem das manchmal«, sagte Brian. »Wenn wir in größerem Überfluß lebten, hätte ich wahrscheinlich Tabak in einer Pfeife geraucht.« »Und wir anderen sind Menschen?« fragte D'glas. »So bestätigt es wenigstens die Röntgenaufnahme.« Brian stand träge auf. »Es macht dir doch sicher nichts aus, wenn ich dich untersuche, Perry, oder?« Perry grinste schief. »Ganz und gar nicht.« Er machte Brian hinter dem Schreibtisch Platz. »Schade, daß uns Floyds Duplikat nicht die Zeit gelassen hat, ein Bild seines Innenlebens aufzunehmen. Aber wie kann man einen Telepathen überraschen?«
Brian blickte eine Weile auf die Schreibtischplatte, nickte dann und ging wieder zu seinem Stuhl. »Was ist mit Floyd?« »Er ist jetzt zu uns unterwegs – wir können also nur abwarten.« »Und werden wir zulassen, daß sie sich frei in unserer Mitte bewegen?« fragte D'glas. »Wer weiß, was sie im Schilde führen?« »Genau das«, nickte Brian. »Auf diese Weise können wir auch das Risiko nicht abwägen. Vielleicht können wir Röntgengeräte in verlassenen Korridoren aufbauen – verlassen deswegen, weil die Gefahr noch nicht so groß ist, daß wir den Tod unschuldiger Mitbürger riskieren müssen.« »Weiter können wir nicht gehen«, sagte Perry nüchtern, »ohne die Handlungsfreiheit zu verlieren, die ein so wichtiger Teil unserer Gesellschaftsordnung ist. Wenn die Maßnahmen für die Erhaltung unserer Gesellschaft in sich diese zerstören, müssen wir untätig bleiben.« Brian nickte ernst. »Wir werden sehen. Ich bin überzeugt, daß die Hedonik dieser Prüfung auch ohne zusätzliche Maßnahmen gewachsen ist.« »Dann werden wir nichts tun?« rief D'glas ungeduldig aus. »Als Gruppe – ja«, erklärte Perry unbewegt. »Als Individuen – nein! Ein jeder von uns muß sich so verhalten, wie es sein Intellekt und seine Wünsche erfordern. Das ist die Grundlage unserer Gesellschaftsform, und das muß es auch bleiben. Aber es wäre wünschenswert, die anderen Kolonien von der Gefahr zu
verständigen, die uns bedroht, und ihren Rat und ihre Hilfe zu erbitten.« »Wir haben von Ganymed und Callisto seit hundert Jahren nichts mehr gehört, und vom Mars seit fünfundsiebzig«, wandte D'glas ein. »Wenn die Zivilisation dort noch funktionierte, wären sie schon lange mit uns in Verbindung getreten.« »Sind wir mit ihnen in Verbindung getreten?« fragte Brian ruhig. »Ihre Aufgabe war schwieriger als die unsere. Wir mußten nur unsere Atmosphäre verändern, sie mußten erst eine erschaffen. Und trotzdem hatten auch wir magere Jahre – für interplanetarische Ausflüge blieb da nichts übrig.« »Die Hedonik hat uns durchgebracht«, fügte Perry hinzu. »Und wir sind nur zufällig dazu gekommen. Die ursprünglichen Kolonien hatten für solche Frivolitäten nichts übrig. Man setzte damals die Hedonik mit der Überreizung und der Sittenlosigkeit der Erde gleich, der die Kolonisten eben entflohen waren. Morgan selbst, der soviel dazu beigetragen hat, aus der angewandten Hedonik eine echte Wissenschaft zu machen, und der miterleben mußte, welche Perversion man daraus machen konnte, kam als Arzt und Lehrer zur Venus, nicht als Hedonist. Es gibt nicht viele Menschen wie Morgan. Vielleicht waren die anderen Kolonien nicht so glücklich wie wir.« »Und vielleicht haben die Fremden sie vorher erobert«, meinte D'glas niedergeschlagen. »Und was ist mit der Erde?« »Die Erde auch«, sagte Brian, »obwohl dort der Fall
etwas anders liegt. Die Erde mußte nie sparen, und doch haben wir vor fünfzig Jahren die Verbindung mit ihr verloren. Vielleicht ist sie erobert worden. Kann sein, daß sie Hilfe braucht. Aber es ist auch möglich, daß sie uns helfen könnte. Ich glaube, wir müssen uns darum bemühen.« »Wir haben genügend Teile gerettet, um vier komplette Schiffe zu bauen«, sagte Perry. »Eines für jede Kolonie und eines für die Erde. Nachher ist nichts mehr, und es ist auch sehr fraglich, ob die Schiffe ihr Ziel sicher erreichen werden. Aber ich glaube, es wird Freiwillige geben.« »Der Flug zur Erde«, hörte D'glas sich sagen, »den übernehme ich.« »Sehr gut«, nickte Perry ernst. »Ich wünsche dir Glück – dir und uns.« »Kannst du das Schiff fliegen?« fragte Brian leise. »Ich denke schon«, meinte D'glas zuversichtlich. »Ich habe bei den Übungen schwierigere Dinge geschafft.« Das stimmte. Das hedonische Ausbildungsprogramm entwickelte eine vollendete Kontrolle über Muskeln, Sinne und Verstand und darüber hinaus eine vollständige psychologische Kontrolle über den Körper. Es war vollständig, so vollständig, wie ein Ausbildungsprogramm nur sein konnte. »Gut«, meinte Perry. »Du kannst morgen starten. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.« »Das kann man wohl sagen«, sagte Floyd von der Tür her. Diesmal war es der echte Floyd. Perry vergewisserte sich davon durch einen Blick auf seinen Schreibtisch.
»Wir fangen an, Menschen zu verlieren«, sagte Floyd leise. »Eine genaue Schätzung ist natürlich nicht möglich. Aber nach meiner Schätzung sind in den letzten zwei Tagen mehr als tausend Personen verschwunden.« »Wohin denn?« rief D'glas aus. Floyd zuckte die Achseln. »Die Venus ist groß, und drei Millionen Menschen sind nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. Ich vermute, daß die Verschwundenen sich in den Schiffen befinden, die die Fremden hierhergebracht haben – vielleicht in den Gruben unter der Erde verborgen. Was mir Sorge macht, ist die Frage, ob an ihre Stelle vielleicht Wesen getreten sind, die nicht menschlich sind!«
2 Die Landung war unsanft, aber gut. Eine jede Landung nach der man weggehen kann, ist gut. Und D'glas ging weg. Das Schiff war nicht so stark beschädigt, daß man es nicht mehr hätte reparieren können. Eine neue erste und zweite Stufe, eine neue Treibstoffladung – und er würde vielleicht sogar wieder zur Venus zurückfliegen können. Aber darüber machte er sich jetzt keine Sorgen. Das ganze Landefeld stand voll von Schiffen, verrosteten Raketen, die sich hoch in den wolkenlosen Himmel reckten. Sie waren seit vielen Jahren nicht mehr geflogen, aber zweifellos würde man unter all den Schiffen Teile und Geräte finden, um ein einziges Schiff daraus
zusammenzubauen. Und was noch viel wichtiger war – er wollte noch gar nicht an die Rückreise denken. Noch nicht. Die Erinnerung an die lange, einsame Reise von der Venus her war noch zu frisch. Nur seine hedonische Ausbildung hatte ihn vor dem Wahnsinn bewahrt. Jetzt stand er mit seinen zwei Füßen auf der Erde und schauderte. Die Erde war ihm keine Mutter mehr. Gewicht lastete auf ihm, drohte ihn zu Boden zu drücken nach der langen Schwerelosigkeit der Reise. Die Luft roch ohne das gewohnte Formaldehyd schal und geschmacklos, und er kam sich zwischen dem betonbedeckten Boden und dem nackten, blauschimmernden Himmel wie gefangen vor. Es war schrecklich! Es löste unbewußte und unerwartete Reaktionen aus. Er hatte Angst. Uralte Begriffe, die aus der Sprache der Venus-Kolonisten beinahe verschwunden waren, drängten sich ihm auf: Agoraphobie, Photophobie – er stand schutzlos auf einer riesigen Ebene; ein Riesenauge starrte ihn anklagend und forschend an. Wenn er sich unvorsichtig bewegte, konnte er in das durchsichtige Blau über ihm fallen, von der Oberfläche dieser Welt in den schrecklichen Himmel stürzen ... Es dauerte fünf Minuten, bis er zu schaudern aufhörte und bis der Schweiß auf seinem Körper getrocknet war. So lange brauchte er, um mit Hilfe der hedonischen Übungen die Einheit zwischen Körper und Geist wiederherzustellen, so lange brauchte sein Geist, um das Zeugnis der Sinne anzuerkennen und daraus ein logisches Bild seiner Umwelt
aufzubauen. D'glas wandte sich dem Feld zu. Es war verlassen. Die Betondecke war gesprungen und uneben. Die Lagerhäuser und Kontrolltürme, die an der Startseite des Flugfeldes standen, waren zweifellos dauerhaft gebaut; aber auch sie zeigten Anzeichen der Vernachlässigung. Ihre Wände waren beschmutzt, die Fenster zerbrochen. Eines der Gebäude hatte eine Wand verloren, und sein Dach hing frei. Über allem lag das Gefühl der Einsamkeit wie die kaum spürbare Berührung einer Spinnwebe über dem Gesicht. Nirgends bewegte sich etwas. Da war niemand, der sich bewegen konnte. Das Landefeld hatte den Kolonien gehört. Dazu ganze interplanetarische Unternehmen war ihr Eigentum gewesen. Der Hedonische Rat, das Regierungsorgan der Erde, war damit durchaus einverstanden gewesen, denn er sah keinen Sinn darin, seinen Begriff von Hedonismus bei dem Versuch aufs Spiel zu setzen, die Kolonisten unter Kontrolle zu bringen. Und für den Rat hatten die Kolonien zweifellos dadurch einen nützlichen Zweck erfüllt, daß sie ein Exil für jene wenigen kriminellen Masochisten boten, die das allgegenwärtige Glück der Erde ablehnten. So hatte Morgan es wenigstens in seinem Buch »Aufstieg und Fall der angewandten Hedonik« dargestellt. Was war aber aus den Kolonisten geworden, die die Schiffe gepflegt, das Landefeld verwaltet und das Vergnügungsviertel dahinter betrieben hatten? D'glas runzelte die Stirn und schlenderte zwischen den
verrosteten Schiffen dahin. Als er am letzten vorbeikam, lag seine Stirn in tiefen Falten. Drei von ihnen hatte er nicht identifizieren können. Von den übrigen vier stammte eines vom Callisto, eines vom Ganymed und zwei vom Mars. Warum sie gekommen waren, warum sie die Erde nicht wieder verlassen hatten, und was aus den Mannschaften geworden war – das waren Fragen, auf die die Schiffe keine Antwort gaben. D'glas wandte sich den fernen Türmen der Stadt zu. Sie erhoben sich wie flehende Hände zum Horizont, und er wünschte, er sei ein Hedonist. Vielleicht hätte er dann das klamme, kalte Gefühl des Unbehagens von sich schütteln können, das ihn jetzt befiel. Vorsichtig schritt er durch das Halbdunkel des Gebäudes, das sich »Vergnügungspalast« nannte. Alle seine Sinne waren angespannt. Aber da war nichts, keine Bewegung, keine Veränderung, kein Laut. Nischen mit Glastüren säumten beide Seiten des großen Saales. Sie waren leer. Sie waren sauber, abgestaubt und gereinigt, die Böden, die Tische, die langen, weichen Bänke, die so breit wie Betten waren. Gleichgültig berührte er einen der Automaten an der Wand. Weißes Pulver kam aus einem Rohr und fiel auf die Tischplatte. Er nahm mit der Fingerspitze ein paar Körner davon auf und kostete sie. Sie waren süß, hatten aber einen leicht bitteren Beigeschmack. Er studierte die Aufschrift des Automaten: Neo-Heroin-Pulver
Neo-Heroin-Spritzen Scotch Bourbon Gin Kafi Er drückte den letzten Knopf. Ein Tropfen heißer Flüssigkeit fiel auf seine Hand. Er kostete. Es schmeckte bitter. Kaffee, wie er vermutet hatte. Kein guter Kaffee, aber immerhin Kaffee. Alles war ein Rätsel. Soweit seine Nachforschungen bis jetzt gediehen waren, war der Strip verlassen. Er hatte keine Anzeichen von Bewohnern gesehen. Nichts hatte sich bewegt, seit er das Gebäude betreten hatte. Hier war niemand. Und doch wartete das Haus auf Kunden, die hier ihre Art von Glück finden wollten. Es war sauber, die Automaten waren gefüllt. Wenn er Münzen gehabt hätte, hätte er Kaffee oder auch andere Getränke kaufen können. Alles war bereit. Wo waren die Menschen? Jenseits des Eingangs bemerkte D'glas eine Art von Arkade mit zahlreichen Maschinen. Er studierte sie. Sie hatten Schlitze, die offenbar für Münzen bestimmt waren. Es gab auch Schächte, aus denen etwas – wahrscheinlich wieder Münzen – zurückgegeben wurde. Und damit hörte die Ähnlichkeit auf. Einige der Maschinen hatten Handgriffe, andere Hebel, andere wieder keinerlei erkennbare Steuerorgane. Das waren Geräte, so entschied er, mit deren Hilfe eine Person Münzen gegen eine in die Maschine eingebaute Wahrscheinlichkeitsfunktion aufs Spiel setzen konnte, oder mit denen er auf seine eigene Geschicklichkeit wetten
konnte. Münzen, deren Gebrauch auf der Venus beinahe in Vergessenheit geraten war, schienen auf der Erde recht nützlich zu sein. Wenn er einige hätte, würde er sich vielleicht sogar Kafi aus dem Automaten holen, wenn die Brühe auch nicht besonders gut schmeckte. Aber es hatte keinen Sinn, dem Unmöglichen nachzutrauern. Er drehte eine der Maschinen um. Binnen fünf Minuten hatte er das Geheimnis des rudimentären Schlosses gelöst und es mit dem Drahtstück geöffnet, das seinen Hemdkragen steifhielt. Im Inneren der Maschine lagen in einer kleinen Schachtel zwei einsame Münzen. Er hielt sie nachdenklich in der Hand und wog dann die Nützlichkeit dieser Münzen gegen die Mühe ab, die er hatte aufwenden müssen, um sie sich zu beschaffen. Dann wandte er sich einer zweiten Maschine zu. Zwei Münzen waren besser als gar keine. Aber wenigstens brauchte er jetzt keine Mühe mehr aufzuwenden, sie aus den Geräten zu holen. Er hatte einen Einsatz. In der zweiten Maschine bewegten sich Stahlkugeln, die gleichzeitig rechts und links durch eine Art von Labyrinth freigegeben wurden und dabei Löcher passierten, durch die sie fallen konnten und damit verlorengingen. Elektromagneten, die der Spieler kontrollierte, würden die Kugeln sicher lenken und zum Hauptgewinn ganz unten führen. D'glas erzielte bereits mit der ersten Münze den Hauptgewinn. Binnen zehn Minuten hatte er jede Maschine auf dieser Seite der Arkade leergemacht. Keine enthielt
sehr viel Münzen, aber die meisten wenigstens einige. Als er sich abwandte, hatte er eine Jackentasche voll Münzen. Die Spiele waren einfach gewesen. Zu einfach. Ein zehnjähriges Kind auf der Venus mußte bei seinen hedonischen Übungen schwierigere Aufgaben lösen. Vielleicht, so dachte er, dienten sie als Lockvögel für den Vergnügungspalast. Der Gedanke an den Vergnügungspalast machte ihn durstig. Er konnte den Durst unterdrücken, aber das war jetzt nicht mehr nötig. Er hatte ja Münzen. Die durchsichtigen Türen öffneten sich, um ihn erneut aufzunehmen. Als sie sich hinter ihm schlossen, erlosch das Licht. Die Dunkelheit war total. Plötzlich fand D'glas sich zu seinem Schrecken wieder in dem dahintreibenden Raumschiff und fühlte erneut jenen furchtbaren Verlust jeglicher Orientierung. Dann reagierten seine hedonischen Reflexe, unterdrückten die falschen Sinneseindrücke und beruhigten ihn. Er wußte theoretisch, was die Finsternis verursachte. Ein Interferenzgerät überlagerte jene Lichtwellen, die ihn hätten erreichen sollen. Und plötzlich war, wo vorher noch Finsternis gewesen war, eine phantastische Figur – eine Kreatur, die von den kleinen Hufen bis zur Hüfte eine Ziege war und von der Hüfte bis zum lockigen Kopf ein Mann. Aus dem dunklen Haar stachen zwei scharfe, kleine Hörner. »Sei glücklich, sei froh!« blubberte der Satyr. »Das Leben beginnt im Vergnügungspalast der ›Drei Welten‹,
wo ein jedes dem Menschen bekannte Vergnügen bis zur Perfektion der Ekstase entwickelt ist. Welchen Reiz wünschen deine Sinne? Nenne ihn, und er gehört dir!« Benommen taumelte D'glas zurück. Der Satyr verschwand abrupt, und sein Gelächter erstarb. Das Licht kehrte zurück, und D'glas erkannte, daß die Finsternis, der Satyr und das Gelächter nur eine Aufnahme gewesen waren, ein Willkomm für den eintretenden Kunden. Wo waren die Gäste? Er trat wieder auf die Straße hinaus und ging weiter, bis er zu einem Gebäude mit der Aufschrift: »Schnellrestaurant« kam. Er suchte einen Eingang und ging an der spiegelnden Glasfront entlang. Ein paar Augenblicke hatte er einen Begleiter im Glas – einen hochgewachsenen, schlanken, einsamen jungen Mann, der durch eine verlassene Stadt schritt. Eine dünne, senkrechte Linie tauchte im Glas auf, weitete sich und wurde zu einer Tür. D'glas zögerte, wurde sich seines Hungers bewußt und trat ein. Der Boden war makellos, die Tische und Bänke waren ohne Flecken. Ein leuchtendes Plastikgeländer lenkte ihn nach rechts. Als er die Wand erreichte, drang herrlicher Geruch an seine Nase und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. In die Wand eingelassen, gab es plastische Solidographien in Farben von fertigen Gerichten, einige davon vertraut, andere fremd. Darunter standen Namen, und daneben waren die allgegenwärtigen Münzschlitze. D'glas studierte sie:
CHLORELLA Brotlaib (hoher Fettgehalt) Gebäck (niedriger Fettgehalt) Soße nach Wahl D'glas wußte, was Chlorella war – ein Universalnahrungsmittel auf der Venus. Eine Alge, deren Fett- und Proteingehalt nach Bedarf manipuliert werden konnte. Man konnte sie in riesigen Mengen züchten, wo Sonnenlicht (oder sein Äquivalent), Kohlendioxyd, Wasser und Mineralsalze verfügbar waren. Auf der Venus wurde sie in Polyäthylenröhren gezüchtet und diente dort nicht nur der Ernährung, sondern auch der Sauerstoffgewinnung. Er wählte den Chlorellalaib, ohne Soße, und Wasser. Chlorella war Chlorella – niemand konnte viel daran verändern. Soßen dagegen sollte man anfangs in einer fremden Küche meiden. Schließlich hingen sie immer vom Geschmack der Chemiker und des Koches ab. Die Theke, die die ganze Wand einnahm, öffnete sich. Die Nahrung kam heraus – das Chlorella war heiß, das Wasser kalt. Der Teller und das Glas glitten über die Theke zu D'glas hin. Er trug sie zum nächsten Tisch und kostete vorsichtig. Das Wasser war bis auf den Bruchteil eines Prozents rein. Der Laib schmeckte nicht übel, wenn auch für seinen Geschmack etwas zu salzig. Er aß schnell. Befriedigt, wenn auch nicht gesättigt, stand er auf und wandte sich dem Ausgang zu. Die Glaswand öffnete sich
für ihn, aber er blieb stehen, drehte sich um und blickte zurück. Der leere Teller und das Glas störten den Eindruck allgemeiner Ordnung in dem Lokal. Er unterdrückte einen unvernünftigen Impuls, umzukehren und sie aufzuräumen. Wen sollte es stören? Und außerdem, so fragte er sich, wer würde herauskommen, sobald er das Lokal verlassen hatte, und den Tisch säubern, so daß das Restaurant sich dem nächsten Kunden wieder makellos darbieten konnte? Er schauderte und trat in die warme, klare Luft hinaus und dachte, daß es lange dauere, bis man sich an dieses Leben im Freien, ohne Maske, ohne Wolken, ohne endlosen Regen, gewöhne. Das absolute Schweigen war erdrückend. Er blieb mitten auf der Straße stehen und wußte nicht, wohin er gehen sollte. Das höchste Gebäude, das zu sehen war, trug die riesenhafte Aufschrift: »Marshaus«. D'glas ging schnell auf den roten Turm zu. Als er ihn erreicht hatte, bewegte sich die Straße unter seinen Füßen. Eine Gleitbahn trug ihn zum Portal und in die Vorhalle. Er verließ das Band. Über ihm hing an unsichtbaren Fäden eine eigenartig klein wirkende Sonne. So sah die Sonne vielleicht auf dem Mars aus. Die Rückwand war gebogen und glänzte wie die Außenhülle eines Raumschiffes. Der Lift, der sich daran schmiegte, war ein offenes Gestell, eine Nachbildung der transportablen Modelle, die er auf dem Landefeld gesehen hatte. »Freude!« sagte eine Stimme neben ihm. »Es sind
Zimmer frei! Kann ich Ihnen behilflich sein?« D'glas unterdrückte seinen Schrecken und wandte sich langsam um. Er stand neben einem kurzen Tisch. Darüber ragte ein Roboter auf, der aus zwei Aufnahmekameras und einem Lautsprecher bestand. Eine Kamera war auf den Tisch gerichtet, die andere und der Lautsprecher wandten sich jetzt D'glas zu. »Ich bin der Portier«, sagte der Sprecher. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Was für Zimmer sind frei?« fragte D'glas langsam und deutlich. »Nur im zweiten und dritten Stock, Sir. Die anderen dreißig Stockwerke sind besetzt. Aber die Zimmer, die noch frei sind, sind voll eingerichtet – für kurzen Gebrauch oder für Dauergebrauch. Sie brauchen nur Ihre Identscheibe unter die Kamera ...« »Was soll das heißen – Dauergebrauch?« unterbrach D'glas auf das Risiko hin, den Roboter unbrauchbar zu machen. »Ah, da sind Sie ja, M'Gregor!« meldete sich eine fremde Stimme. »Wir haben Sie gesucht.« D'glas wirbelte herum. Dicht hinter ihm stand lächelnd ein Mann, den D'glas noch nie zuvor gesehen hatte.
3 »Tut mir leid, daß ich Sie so erschreckt habe«, entschuldigte sich der Fremde mit einem gewinnenden
Lächeln. »Um die Wahrheit zu sagen – wir konnten der Versuchung einfach nicht widerstehen. Ich wollte sehen, wie Sie reagieren, wenn Sie plötzlich eine Stimme hören, da Sie doch annehmen müssen, in einer verlassenen Stadt zu sein.« Das war menschlich ganz verständlich, warf aber mehr Fragen auf, als es beantwortete. »Wer ist ›wir‹?« fragte D'glas. Der Fremde schnitt eine Grimasse. »Entschuldigen Sie. Das war der Pluralis majestatis. Hansen heiße ich.« Er streckte D'glas eine kräftige Hand hin, auf deren Rücken kurze rotblonde Härchen wucherten. D'glas ergriff sie. Sie fühlte sich warm, hart und trocken an. »Woher wußten Sie, was ich denke?« fragte er und studierte dabei Hansens Gesichtsausdruck. Er war ebenso groß wie D'glas und in den Schultern breiter. Er schien etwa zehn Jahre älter zu sein. Hansens Brauen, die in seinem gebräunten Gesicht beinahe weiß wirkten, hoben sich. »Ziemlich offensichtlich«, meinte er. »Ich wüßte nicht, was ein Fremder sonst in der Stadt denken sollte. Außerdem stimmt es ja beinahe.« D'glas zögerte. Es gab viele Fragen, und er wußte gar nicht, welche er als nächste stellen sollte. Und Hansens Antworten waren eigenartig und unbefriedigend. »Schauen Sie!« sagte Hansen, als wolle er um Entschuldigung bitten. »Sie wollen eine Menge Dinge wissen – was der Stadt zugestoßen ist, woher ich Ihren Namen kenne, wo alle sind, und so weiter. Gehen wir doch
zum Ratsgebäude hinüber. Dort können wir es uns bequem machen, und der Rat wird Ihnen alles sagen, was Sie wissen wollen. Okay?« »Okay ist das gar nicht«, erklärte D'glas trocken. »Aber ich glaube, es wird reichen müssen.« »Zigarette?« Hansen zog ein Etui mit ausgestopften Papierzylindern heraus. »Aber nein – das haben Sie sich auf der Venus bestimmt nicht angewöhnt, oder? Kein Sauerstoff übrig, nicht wahr? Das hier ist eine ganz besondere Mischung – synthetische Alkaloide, die die Lunge nicht reizen. Wir wollen doch schließlich keinen Lungenkrebs, oder? Aber süchtig macht das Zeug auch – genauso wie Neo-Heroin.« Er nahm die Zigarette in den Mund und sog daran. Die Spitze fing zu glühen an, und dann kräuselte sich Rauch in die Höhe. »Gehen wir?« Als Hansen auf die Gleitbahn trat, änderte sich ihre Fahrtrichtung und trug ihn zur Straße. D'glas folgte ihm. »Diese Richtung!« sagte Hansen vergnügt. Er ging bis zur nächsten Ecke, wandte sich um und ging eine breite, ausgetretene Marmortreppe hinunter, über der in großen Leuchtbuchstaben »Subway« stand. Hansen steckte zwei Münzen in ein Drehkreuz und ging durch. »Sie zahlen immer noch?« fragte D'glas, als er ihn eingeholt hatte. »Natürlich. Wäre ja unmoralisch, das nicht zu tun, oder? Schließlich hängt doch die ganze Gesellschaft von uns ab.« Er sprang auf eine Rolltreppe, die sie zu einer Plattform in
der Tiefe trug. »Diese Richtung!« sagte er und sprang auf ein Gleitband zu seiner Linken. D'glas folgte ihm. Hier in der Tiefe fühlte er sich sicherer, obwohl er wußte, daß dieses Gefühl der Sicherheit eine Illusion war. Die Gleitbahn schob sich neben einer endlosen Parade kleiner Kabinen für zwei Passagiere dahin. Hansen bestieg eine Kabine, und D'glas setzte sich neben ihn. »Alles funktionierte doch!« sagte D'glas. »Nahrung ist bereit, Getränke fließen, das Transportband funktioniert. Alles bereit. Gerade, als sei jemand weggegangen, ohne das Wasser abzudrehen.« »Nicht schlecht. Schnallen Sie sich an.« Hansen legte sich bereits den Sicherheitsgurt um. D'glas zuckte die Achseln, blickte zu den Tunnelwänden auf und legte sich ebenfalls den Gurt um. Die Wagen fuhren mit einer Geschwindigkeit von vielleicht hundert Stundenkilometern. Zusammengekoppelt war eine höhere Geschwindigkeit nicht möglich. »Zu trinken?« fragte Hansen und deutete auf den Automaten in der Vorderseite der Kabine. »Alle Äthyloide. Synthetisch natürlich, aber was ist heute nicht synthetisch? Oder möchten Sie lieber Neo-Heroin?« »Danke!« lehnte D'glas ab. »Ich bleibe lieber nüchtern. Jedenfalls bestätigen Ihre Bemerkungen meine Annahme, daß es hier keine Menschen mehr gibt.« »Stimmt«, nickte Hansen. »So klingt das. Aber das stimmt nicht genau. Es gibt schon noch welche – man sieht sie nur nicht. Wenn Sie wissen, was ich meine.«
D'glas hätte am liebsten Hansen in sein ewig grinsendes Gesicht geschlagen. »Und alles läuft automatisch weiter?« »Ja. Ganz logisch, nicht wahr? Arbeit ist unangenehm. Unangenehme Empfindungen sind verboten. Also ist Arbeit verboten. Was zu beweisen war. Folglich läuft alles automatisch.« D'glas nickte langsam. Die Vorteile waren offensichtlich, die Nachteile lagen nicht so deutlich auf der Hand. Wenn man auf den augenblicklichen Fortschritt verzichtete, könnten die Kolonisten Morgan City und die anderen Ansiedlungen auch automatisieren und den Kombinaten automatische Piloten geben. Und dann – er dachte über die Folgen nach. Und dann? »Und dann«, fuhr Hansen mit unwiderlegbarer Logik fort, »kann ein jeder sich dem Vergnügen widmen – und das ist doch schließlich das einzig Gute, nicht wahr? Und damit steht das Paradies vor der Tür – reiner Hedonismus. Überall herrscht dann Freude. Und weil wir von Freude sprechen – Junge, halten Sie Ihren Hut fest! Jetzt geht's los!« Aus dem hellen Licht der leuchtenden Tunnelwände tauchte der Wagen unerwartet in die Finsternis eines Interferenzgerätes. Tauchte war das richtige Wort. D'glas spürte, wie es ihn vom Sitz hob, als der Wagen in die Tiefe stürzte. Dann wurde er nach hinten gepreßt, als er wieder nach oben jagte. Alles lief so schnell ab, daß D'glas' Empfindungen konfus wurden. Auf der Vorderseite des Wagens hockte jetzt eine fremdartige Schreckensgestalt, deren Krallen sich in das
harte Metall bohrten. Die Gestalt schimmerte in grünlichem Licht. Von der Hüfte aufwärts war es eine Frau – abgesehen von den Schwingen –, die paßten eher zu der gefiederten unteren Hälfte. Grüne Lippen öffneten sich. »Willkommen, Sterblicher!« sagte die Gestalt gedehnt. »Du hast mich lange warten lassen!« »Kümmere dich nicht um sie!« wisperte eine Stimme in D'glas' rechtem Ohr, dem auf der Hansen abgewandten Seite. »Sie ist immer ungeduldig. Weißt du, sie ist eine Harpyie.« Ehe D'glas sich der neuen Stimme zuwenden konnte, tauchte ein zweites geflügeltes Wesen neben der Harpyie auf. Diese Kreatur war purpurfarben, ebenso eine Frau, mit schlangenartigem Haar, das sich bewegte, als lebe es selbst. Sofern das noch möglich war, war ihr Gesicht noch scheußlicher als das der Harpyie. »Weg da, Schwester!« sagte sie mit tiefer Stimme zu der Harpyie. »Er gehört mir! Schließlich hat er gesündigt!« »Haben wir das nicht alle?« fauchte die Harpyie zurück. »Du kannst ihn haben, wenn ich mit ihm fertig bin, Liebste. Früher warst du doch auch mit dem zufrieden, was ich übrigließ.« »Die Purpurne ist eine Furie«, wisperte die Stimme in seinem Ohr. »Achte nicht auf sie. Sie sind wahnsinnig. Weißt du, es sind Frauen.« Aus der Finsternis vor ihnen sprang der blaue, dreiköpfige Hund zwischen die Frauenwesen, und sein Schlangenschweif schlug zu, seine drei Fänge geiferten. Er
sprang nach D'glas' Kehle. »Du darfst nicht auf sie reagieren!« wisperte die Stimme eindringlich. »Sie können dir nicht weh tun. Sie gehören gar nicht zu deinem Kulturkreis.« Cerberus, der Höllenhund, tauchte durch D'glas' Körper hindurch und verschwand. Er war auf den Anprall gefaßt gewesen und kam sich wie ein Narr vor, als keiner erfolgte. Es war eine Illusion, das wußte D'glas – aber sehr real. Zu real. Die Folgerungen, die er daraus ziehen mußte, gefielen ihm gar nicht. Jetzt würde er sich das Ding ansehen, das ihm ins Ohr flüsterte, beschloß er. Aber wieder kam etwas dazwischen. Die Harpyie und die Furie waren verschwunden. An ihrer Stelle war jetzt eine gehörnte, geschwänzte Kreatur in grellrotem Schuppenkleid zu sehen. In einer Hand trug er eine Gabel, in der anderen Hand hielt er den mit Widerhaken versehenen Schweif. »Nun, M'Gregor!« feixte er. »Endlich treffen wir zusammen! Ich wette, du bildest dir ein, du seiest mich seit dem Mittelalter los! Aber dem Bewußtsein der Sünde entkommt man nicht, nicht wahr? Und ich habe mich immer für eine Kreatur gehalten, die man einfach erfinden müßte, wenn es sie nicht ohnehin gäbe. Wo es Sünde gibt, gibt es auch die Hölle! Ob wir sie nun in die Nachwelt verschieben oder sie uns selbst errichten. Die Sünde kennen, heißt Schuld empfinden. Schuld empfinden bedeutet, bestraft zu werden. Darüber sind wir uns doch einig, oder? Kommt, ihr Kleinen, wir wollen unserem Freund zeigen, wovon wir reden!«
Sie schwärmten über die Vorderseite des Wagens, die kleinen Dämonen mit ihren Speeren, Gabeln, Schwertern, Messern, Nadeln aller Art. Der Schmerz begann in D'glas' Fuß, flog über seine Waden, quälte seine Hüfte, kletterte in seinen Leib, griff nach seinem Herzen ... Der Wagen stürzte in ein rotes Inferno, eine Hölle voller geschmolzener Lava. Hitze schlug über dem Wagen zusammen, über D'glas, phantastisch, unerträglich. D'glas hob sich von seinem Sitz, als der Wagen mitten hineinschoß. »Mephistopheles, was?« lachte die Stimme an seinem Ohr. »Ich würde das anachronistische Psychiatrie nennen. Freude mit seinem Höllenfeuer.« Und nach einer Weile: »Ich bin für dich das Richtige«, wisperte es weiter. »Oder du für mich. Das ist gleichgültig. Wir sind füreinander bestimmt.« Diesmal konnte D'glas den Kopf wenden. Auf seiner rechten Schulter saß ein dunkles, formloses Gebilde. Es war das personifizierte Nichts. Es war die Bewußtlosigkeit, die Hingabe. Es war das Aufgehen des individuellen Willens im Kollektivwillen, die Preisgabe aller persönlichen Wünsche, die Kollektivierung der Psyche. Es war alles, was D'glas haßte. Es war die Kehrseite der hedonischen Medaille: die Sünde, im Gegensatz zur Tugend des Hedonismus; die Hölle, als Gegengewicht zu seinem Himmel. Aber das waren Worte, und Worte sind bedeutungslos. In jedem Himmel gibt es die Saat der Hölle, in jeder Hölle die Saat des Himmels.
Das formlose Gebilde schlug helle blaue Augen auf und öffnete einen rosafarbenen Mund. »So«, flüsterte es, »bist du nicht froh, daß du auf mich gewartet hast?« Es schmolz auf ihn zu und drang durch seine Haut und seine Knochen, mitten in seinen Schädel, zu einer unheiligen Symbiose. Verzweifelt kämpfte D'glas gegen die unerträgliche Invasion an. Licht barst in die Finsternis, zerfetzt sie, verjagt sie. Einen Augenblick war D'glas blind. Dann konnte er wieder sehen. Der Wagen stand auf dem höchsten Punkt eines unglaublichen Gipfels. Die Sonne brannte auf sie herab. Die Spitzen hochragender Gebäude waren so weit unter ihnen, daß sie wie Spieße aussahen, die darauf warteten, sie aufzuspießen. Tausende von Metern in der Luft, hingen sie zwischen Himmel und Erde, den Gefahren beider ausgesetzt. Trotz seiner Ausbildung pochte D'glas' Herz laut in der Brust. Der Wagen unmittelbar vor ihnen kippte plötzlich in die Tiefe ab und zog D'glas' Wagen an den Rand. Und dann fiel er, fiel, tauchte, stürzte. Das war schlimmer als die Gewichtslosigkeit, die dem Brennschluß des Raketenantriebs auf der Reise von der Venus zur Erde folgte. Sie rasten die Klippenwand hinunter in die endlose Tiefe, die in der Finsternis auf sie wartete. D'glas klammerte sich verzweifelt an der Wagenseite fest, spürte, wie er von seinem Sitz gehoben und nach
draußen geschleudert wurde. Immer weiter ging es, und die Spitzen der Gebäude rasten ihnen entgegen, huschten vorbei. Und dann setzte endlich das Gewicht wieder ein, als der Wagen den Tiefstpunkt erreichte und erneut in den leuchtenden Tunnel eindrang, wo er friedlich dahinrollte, als sei überhaupt nichts gewesen. Hansen stand auf. »Da wären wir!« sagte er freundlich. »Kommen Sie?« Er sprang auf die Gleitbahn hinaus, die neben dem Wagen entlangführte. Einen Augenblick zögerte D'glas. Dann holte er tief Luft, löste seinen Sicherheitsgurt und folgte Hansen. Vor ihnen war eine Rolltreppe, die sie zu Stufen führte, die hinaus ins Freie gingen. Hansen blieb stehen, bis D'glas ihn eingeholt hatte, und grinste. »Hat es Ihnen gefallen? Macht Spaß, nicht wahr?« »Spaß?« wiederholte D'glas grimmig. »Spaß nennen Sie das?« »Manche Leute mögen es, wenn sie erschreckt werden, wissen Sie? Das gibt ihnen das Gefühl zu leben, stimuliert sie, bringt sie erst richtig in Fahrt. Die meisten – leben einfach nicht, wissen Sie? Die vegetieren nur. Wenn die das Gefühl der Gefahr erleben können und gleichzeitig im Unterbewußtsein wissen, daß ihnen nichts passieren kann, dann haben sie die ganze Welt gewonnen.« »Vielen Dank. Ich verzichte«, sagte D'glas trocken. »Wenn man in dieser Stadt irgendwohin will, muß man da hindurch?« »O nein! Das wäre nicht Hedonismus, oder? Als diese
Stadt noch richtig lebte, gab es Helikopter und Taxis und Busse, daß der Himmel und die Straßen schwarz davon waren. Und die U-Bahnen waren auch weniger aufregend.« Hansen lächelte breit. »Aber wie Sie schon sagten – das war in der Vergangenheit. Insgesamt ist das Ganze eine recht verschwenderische Art und Weise, sich Vergnügen zu verschaffen.« »Und doch läßt man das alles weiterlaufen?« »Natürlich!« Hansen blinzelte ihm zu. »Sie haben die Erscheinungen doch gesehen. Alles Symbole, wie Sie sicherlich erkannt haben. Nun, ich möchte Sie nicht mit einer Erklärung langweilen – aber Sie haben sicher bemerkt, daß das alles Personifizierungen der Sünde waren, der Sünde und ihres psychologischen Pendants, der Schuld?« D'glas schwieg. Er musterte die fensterlosen Gebäude zu beiden Seiten der finsteren, zwielichtigen Straßenschluchten, durch die sie gingen; die Spitzen waren Grabsteine in einer riesigen Totenstadt, der Friedhof für die Hoffnung auf Eroberung und die Träume vom Frieden. »Natürlich haben Sie das bemerkt«, fuhr Hansen fort, ohne auf seine Antwort zu warten. »Sie sind ein Mann mit offenen Augen. Sünde und Schuld. Man möchte annehmen, daß man sie aus einer hedonischen Welt verbannt. In gewissem Sinne wäre das auch richtig. Und doch würde man dabei eines übersehen – das Vergnügen am Verbotenen, denn ohne Verbote gibt es kein Vergnügen, nur Zufriedenheit und die Befriedigung niedriger, animalischer Wünsche. Ohne die Hölle gibt es keinen
Himmel.« »Das ist alles sehr interessant«, sagte D'glas scharf. »Aber wohin gehen wir denn?« »Ich sagte es Ihnen doch: zum Rat!« »Und dort werden alle meine Fragen beantwortet«, beendete D'glas den Satz für ihn. »Sehr schön! Aber wo ist der Rat?« »Dort vorn! Seien Sie doch nicht so ungeduldig! Das wäre Mißvergnügen, und Mißvergnügen ist ein Verbrechen.« »Hören Sie auf mit dem Rätselraten!« sagte D'glas. »Zeigen Sie es mir!« »Da!« deutete Hansen. »Das größte Gebäude dieser Gruppe. Das ist der Rat!« Das Gebäude war wie eine orangerote Flamme von einem undurchsichtigen Blau. Es reflektierte die untergehende Sonne. Von ihnen war es vielleicht noch vier Häuserblocks entfernt und nahm selbst einen ganzen Block ein. In anderen Teilen der Stadt gab es höhere Gebäude, aber keines war so eindrucksvoll. D'glas gefiel es nicht. Die Häuserschluchten um sie hatten aufgehört. Zu ihrer Rechten führte ein breiter, gepflasterter Weg mitten durch grünen Rasen auf ein niedriges, massives Gebäude zu. Das Gras erzeugte in D'glas ein Gefühl der Wärme. Das war das erste wirkliche Leben, das er seit seiner Landung gesehen hatte. Jemand hatte sich darum bemüht, es gemäht, gepflegt und dafür gesorgt, daß es grün blieb. Kein Roboter, denn ihm fielen Unregelmäßigkeiten auf – dort
eine kahle Stelle und da eine Unebenheit. Es erinnerte ihn an die Venus. Nur war hier der Prozeß umgekehrt worden: Der Mensch hatte sich darum bemüht, aus fruchtbarem Boden eine weite, steinerne Wüste zu machen. Das Gebäude war am Zerfallen. Der Großteil der Fassade war bereits eingestürzt; große Schutthalden auf der Straße kündeten davon. Nur dieses Gebäude und der Landeplatz waren nicht gepflegt worden. »Was ist der Rat?« fragte er. »Der Rat?« begann Hansen. »Nun, der Rat –« Vor ein paar Sekunden hatte D'glas die Bewegung neben dem Gebäude gesehen. Jetzt hörte er einen Stein durch die Luft pfeifen; er traf mit einem hohlen, klatschenden Geräusch auf. Hansen brach langsam zusammen. Seine Kopfhaut riß auf bis hinunter auf das glatte Metall. In seinem Schädel glitzerten winzige Drähte. Das Ding prallte auf das Pflaster auf und blieb reglos liegen.
4 D'glas wirbelte zu dem Gebäude herum. Der HansenRoboter war zerstört, funktionsunfähig – wenigstens im Augenblick. Er mußte schnell entscheiden, ob seine Chance hier auf dem Pflaster lag oder dort drüben neben dem. Gebäude auf ihn wartete.
Vielleicht würde es ihm wichtige Erkenntnisse bringen, wenn er den Roboter sezierte, aber die Chancen sprachen dagegen. Jemand stand auf einem Schutthaufen und reckte sich auf den Zehen, um zu erkennen, was neben D'glas auf dem Pflaster lag. Und damit war seine Entscheidung getroffen. Der Steinwerfer war ein Mädchen. Er rannte zu dem Gebäude hinüber und analysierte sie im Laufen. So, wie sie auf dem Schutt stand, erschien sie ihm größer, als sie in Wirklichkeit war. Sie war weniger als zwei Meter groß, ein kleines, schlankes, dunkelhaariges Mädchen mit einem ovalen Gesicht und blauen Augen, die sich jetzt weiteten, als sie sah, wie schnell er näher kam. Einen Augenblick stand sie wurfbereit da, dann wandte sie sich um, sprang von dem Schutthaufen herunter und rannte um die Hausecke. D'glas jagte hinter ihr her. Er kam gerade noch rechtzeitig, um sie in einem schmalen Torbogen verschwinden zu sehen. An der Tür blieb er stehen. Er rechnete damit, sie verschlossen zu finden. Aber die Metalltür schwang ihm entgegen, als er daran zog; sie ächzte protestierend, öffnete sich aber. Dahinter war Finsternis. Er ging vorsichtig hinein, eine kurze Treppe hinunter und trat in den Schatten. Als seine Augen sich dem Zwielicht anpaßten, erkannte er, was das Gebäude für eine Funktion hatte. Die Schatten waren Regale, und die Regale waren mit Büchern gefüllt. Das Gebäude war eine Bibliothek. Die Luft war mit dem trockenen, juckenden Geruch von Staub und Moder erfüllt. Er hastete weiter und dachte an den unermeßlichen
Wissensschatz in diesem Raum. Es gab wenige Bücher auf der Venus, ein oder zwei Wertstücke, die von der Erde zum zweiten Planeten geschmuggelt worden waren, ehe die Schiffe den Dienst eingestellt hatten. Der Rest des Erbes ihrer Vergangenheit war auf Mikrofilm gebannt und hätte in seinem ganzen Umfang in einem viel kleineren Raum als diesem hier untergebracht werden können. Selbst neue Bücher gab es nur auf Mikrofilm, Plastik war viel leichter herzustellen als Papier, und Lagerraum war schon immer ein Problem gewesen. Vielleicht würde die Venus eines Tages zu der viel einfacheren Kunst der Herstellung von Papier und Büchern zurückkehren; dann, wenn man es sich leisten konnte, aus Bäumen Papier zu machen anstatt Sauerstoff. Aber die Frage war: War das Mädchen stehengeblieben und hatte sich versteckt, oder war es weitergerannt? D'glas blieb stehen und hörte die Schritte in der Ferne verhallen. Er rannte weiter. Aber er konnte sie nicht einholen. Aber es muß doch einen Ort geben, von dem aus sie nicht weiterlaufen kann, dachte er. Es gab Stufen, aber diesmal waren sie ganz schmal und aus Metall. Alle paar Schritte knickte eine Sprosse unter D'glas' Gewicht zusammen. Rost schälte sich in einem ständigen Regen von der Treppe – oder sollte man sie Leiter nennen? – und fiel in die Tiefe. Und dann kam das Ende. Über der letzten Metallsprosse stand das Mädchen auf einem schmalen Mauervorsprung und zerrte vergebens an einer Eisentür, durch die
orangerotes Sonnenlicht hereindrang. D'glas starrte die Treppe hinauf. Das Mädchen wirbelte herum. Ihr Arm fuhr zurück. Sie hielt immer noch den Stein. »Bleib, wo du bist!« rief sie, und ihre Brust hob und senkte sich nur wenig schneller als normal. »Sonst geht's dir genauso wie dem anderen!« Sie hatte eine angenehme Stimme. Selbst jetzt, da sie ihn bedrohte, klang sie tief und weiblich. »Meine Reflexe sind besser als die des Roboters«, keuchte D'glas. »Ich fange den Stein, und was wird dann aus Ihnen?« Er kletterte eine weitere Sprosse in die Höhe. Die ganze Leiter ächzte unter ihm. »Mach keinen Unsinn!« herrschte sie ihn an, und ihre Augen flackerten wütend. »Zurück!« Ihr Arm spannte sich. D'glas sprang auf den Boden, und sein Blick huschte zu dem alten Eisenträger, der den Mauervorsprung stützte, auf dem das Mädchen stand. Vielleicht war die Tür oben nicht ganz dicht. Aber was auch immer der Grund war – der Träger war verrostet und an einer Stelle beinahe abgebrochen. Sein Gewicht hatte ihn zur Seite gedrückt, aber jetzt hielt er wieder. D'glas trat neben den Vorsprung und blickte in die Höhe. »Warum können wir nicht Freunde sein?« »Was ist das?« fragte sie bitter. »Nur Menschen können Freunde sein!« »Na, und?« fragte er verblüfft. Dann begriff er. »Oh, das sind Sie wohl nicht?« »Spotte nicht!« warnte sie und hob erneut den Arm.
»Ich verstehe. Sie glauben, ich sei kein Mensch!« »Natürlich bist du keiner! Ich bin der einzige in der ganzen Stadt! Vielleicht sogar der einzige auf der Erde! Das ist wieder einer der Tricks des Rates.« »Ich weiß nicht, was Sie damit meinen – aber wenn Sie der einzige überlebende Mensch sind, sollten Sie froh sein, mich zu sehen!« D'glas grinste. »Ich komme von der Venus.« Ihr Arm hielt inne, spannte sich dann aber wieder. »Das glaube ich nicht! Du warst mit dem Roboter zusammen!« »Warum nicht? Er brachte mich zum Rat.« »Was wolltest du beim Rat?« »Erfahren, was hier geschehen ist. Ihm sagen, was auf der Venus geschehen ist. Um Hilfe bitten. Ihr Wurfgeschoß kam im ungeeignetsten Moment. Mir war von Anfang an klar, daß er kein Mensch war. Und daraus wollte ich einen Vorteil für mich ziehen.« »Du solltest dir keine Illusionen machen!« Dieses Mädchen – ihr Aussehen, ihre Unabhängigkeit und ihr schneller Verstand gefielen ihm. »Aber woher wußten Sie, daß es kein Mensch war?« fragte er abrupt. Sie lachte. »Nach so langer Zeit fühlt man das – die kleinen Unregelmäßigkeiten, wenn sie gehen, und tausend Dinge. Außerdem, was hätte er sonst sein können? Ich sagte doch – ich bin der einzige Mensch hier.« »Wenn Sie die Roboter so genau erkennen, dann sollten Sie auch erkennen, daß ich keiner bin«, meinte D'glas sanft. Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Die haben schon
oft versucht, mich hereinzulegen. Aber das ist das erste Mal, daß man mich gejagt hat. Vielleicht sind Sie doch das, was Sie behaupten.« D'glas fiel auf, daß sie jetzt »Sie« zu ihm sagte. »Du« war offenbar für Roboter reserviert. »Aber ich will kein Risiko eingehen. Was für Beweise habe ich?« »Was für Beweise habe ich denn«, sagte D'glas langsam, »daß Sie ein Mensch sind?« Sie ließ langsam und nachdenklich den Arm sinken. In diesem Augenblick warf sich D'glas gegen den verrosteten Stahlträger. Er brach ab. Der Vorsprung sackte in die Tiefe. Bei der ersten Bewegung wirbelte das Mädchen herum und griff nach der Türklinke – aber da war es schon zu spät. Sie sprang. Der Mauervorsprung krachte hinter ihr in die Tiefe. Ihre Hände tasteten nach der Tür, erreichten sie aber nicht. Sie fiel in die Tiefe – mitten in D'glas' wartend ausgestreckte Arme. Einen Augenblick lang ließ sie sich schlaff von ihm halten. Nach dem ersten Aufprall war sie nicht schwer. Eine angenehme Last, dachte er. Und das nicht nur, weil sie das erste Mädchen war, das er seit drei Monaten gesehen hatte. Der erste Mensch, verbesserte er sich sofort – aber gerade das weibliche Element machte das so interessant. »So«, lachte er und fuhr ihr mit der Hand über die Stirn. »So ist's doch besser?« Sie bekam wieder Farbe, und dann traf ihn ihre Hand klatschend im Gesicht. Er ließ sie los. Sie landete in den Überresten der Treppe. »Au!« schrie
sie und sprang schnell wieder auf. Dann stieß sie, sprachlos vor Wut, hervor: »Sie – Sie –« D'glas griff sich an die Wange und schüttelte den Kopf. »Scheint Ihnen nicht zu passen, daß ich Sie aufgefangen habe«, meinte er unschuldig. Ihr Gesicht kam in Bewegung. Tränen traten ihr in die Augen und bahnten sich einen Weg durch den Schmutz auf ihren Wangen. Sie fing an zu weinen. D'glas war erschüttert. Er hatte keine Tränen mehr gesehen, seit er ein Kind gewesen war. Jetzt war er völlig hilflos. Er fing an zu begreifen. Sie war nur ein Mädchen, ein junges Mädchen, und ganz allein. Sie hatte sich gegen einen Mann zur Wehr gesetzt, der hedonisches Training über sich hatte ergehen lassen. Jetzt war sie besiegt, verletzt, erniedrigt und am Ende ihrer Kraft – war es da ein Wunder, daß sie weinte? Er nahm sie sanft in die Arme und zog sie an sich. Sie sträubte sich nicht. Jetzt weinte sie an seiner Schulter. »Schon gut, schon gut«, flüsterte er hilflos und tätschelte ihr linkisch den Rücken. »Es ist alles gut. Es tut mir leid.« Sie schob ihn zurück und griff an die Hüfte. »Jetzt geht's schon wieder«, sagte sie würdevoll. »Das ist weiter nichts.« D'glas zuckte die Achseln. »Nun?« sagte sie, schon wieder selbstbewußter. »Was nun?« Er lächelte. Sie gefiel ihm. »Jetzt möchte ich ein paar Antworten.«
»Und wie kommen Sie auf die Idee, daß Sie welche kriegen?« »Ich kriege sie schon!« meinte er zuversichtlich. »Aber es muß doch einen besseren Platz geben, sich zu unterhalten. Führen Sie mich hin!« Sie zögerte. »Bitte«, fügte er hinzu. Sie zuckte die Achseln, als würde sie erkennen, daß es keinen Sinn hatte, sich zu widersetzen, und ging zwischen den Bücherregalen davon, wobei sie mit einer Hand ihren zerrissenen Rock festhielt. D'glas blieb dicht hinter ihr und achtete darauf, daß sie ihm nicht plötzlich davonrannte. »Ich bin D'glas M'Gregor«, sagte er. »Und ich möchte immer noch Ihr Freund sein.« Einen Augenblick blieb ihr Nacken steif. Dann sagte sie halb über die Schulter: »Susan.« »Susan, was?« »Nur Susan. Wenn es nur einen Menschen gibt – oder zwei oder drei –, dann genügt ein Name.« »Dann sind Sie schon lange allein?« »Seit ich zehn Jahre alt war. Damals starb meine Mutter. Sie starb bei der Geburt eines Kindes und hatte die Hilfe des Rates abgelehnt. Mein Vater half ihr. Aber es gab nichts, was sie hätte retten können. Der Sohn, den sie sich gewünscht hatten, starb auch. Ein paar Wochen darauf habe ich Vater verloren.« »Wie?« Sie sah sich schnell nach ihm um. »Er war unglücklich. Er konnte nicht dagegen ankämpfen. Er ist nie über den Tod meiner Mutter hinweggekommen. Und da hat ihn der
Rat genommen.« »Dann ist er also tot?« »Nein. Nur weg. Wie die anderen. Seitdem war ich allein. Zehn Jahre allein.« Ihre Schultern strafften sich, als wolle sie ein Schaudern unterdrücken. »Das ist jetzt vorbei«, sagte D'glas mitfühlend. »Jetzt brauchen Sie nicht mehr allein zu sein.« Als sie die breite Treppe erreichten, ließ sie ihn aufholen, und der Blick, den sie ihm zuwarf, war beinahe freundlich. Dann sah sie gleich wieder weg. Er unterdrückte den Wunsch, sie zu berühren. Jetzt war nicht die Zeit dafür. Aber die Vorfreude war angenehm. Im zweiten Stockwerk führte sie ihn zu einer Glastür. Sie trug die Aufschrift »Chef-Bibliothekar«. Dahinter lag ein mit ausgezeichnetem Geschmack eingerichtetes Wohnzimmer. Das Zimmer gefiel ihm sofort. Selbst sein ausgebildeter Geschmack hatte nichts daran auszusetzen. Dahinter, durch einen Gang mit dem Wohnzimmer verbunden, lag ein Schlafzimmer, das ebenso hübsch eingerichtet war, aber einen viel weiblicheren Charakter trug. Zwischen den beiden Räumen lag eine Kabine. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, meinte Susan ironisch, »möchte ich mich gern waschen und umziehen.« »Aber sicher!« sagte D'glas, ließ sie aber nicht aus den Augen, als sie in das Schlafzimmer ging und den Schubladen neue Kleidungsstücke entnahm. Zwei Schränke standen dort. Hinter einer Schiebetür waren Kleider und Anzüge aufbewahrt. Ein Regal enthielt
Schuhe. Hinter der zweiten Tür war eine Waffenkammer. D'glas hatte noch nie zuvor eine Waffe gesehen, aber sein Gedächtnis reagierte sofort auf eine Bildserie, die man ihm in der Schule gezeigt hatte. Da waren Minims, winzige Pistolen; Maschinenpistolen; Karabiner mit Explosivkugeln; ein Raketenwerfer; Handgranaten. D'glas schob die Tür zu und wandte sich zu Susan. »Tut mir leid, daß ich Ihnen noch nicht ganz vertrauen kann«, entschuldigte er sich, »aber ich kann es mir nicht leisten, Sie davonlaufen zu lassen, weil Sie Angst haben, oder mich von Ihnen töten zu lassen, weil Sie mich nicht verstehen. Dafür ist meine Mission zu wichtig. Suchen Sie sich Ihre Kleider aus und bringen Sie sie mit.« Er sah ihr bei der Auswahl zu, ohne darauf zu achten, daß ihr seine Anwesenheit peinlich war. Dann führte er sie zu der Kabine. Sie war größer als die meisten, aber abgesehen von einem kleinen Ankleidetisch in der Ecke war das Mobiliar das übliche. Die Kabine hatte kein Fenster, und der einzige Ausgang außer der Tür war der Müllschlucker, und der war selbst für Susans schlanke Gestalt zu eng. Als er die Kabine verließ, fragte Susan ironisch: »Was ist denn an Ihrer Mission so wichtig? Wenn Sie wirklich von der Venus kommen – was wollen Sie dann vom Rat? Was wollen Sie dem Rat sagen?« »Wir werden von Fremden beobachtet«, erklärte D'glas. »Warum sie das tun –«, er zuckte die Achseln, »– können
wir nur vermuten. Wahrscheinlich sind sie auf Eroberung aus.« Die Tür schloß sich. Den letzten Satz konnte er nur noch leise zu sich selbst sagen: »Aber es sieht so aus, als seien sie mir hier zuvorgekommen.« D'glas wartete geduldig. Es dauerte eine halbe Stunde, bis Susan hervorkam, frisch gewaschen und das Haar noch feucht und lockig vom Dampf der Dusche. Sie trug ein weites graues Kostüm, und eine Hand steckte in der Jackentasche. Sie schien gar nicht zu bemerken, welche Wirkung sie auf ihn ausübte. Aber das schien nur so. Keine Frau braucht eine halbe Stunde, nur um sich zu waschen; keine Frau sucht sich Kleidung aus, die ihr so zu Gesicht steht, wie Susan dieses graue Kostüm stand; keine Frau versteht es, Kosmetika so gekonnt anzuwenden, daß man sie nicht bemerkt – sofern sie nicht Wert auf die Meinung eines Mannes legt. »Sie sind schön!« sagte D'glas. »Aber das wissen Sie selbst.« Sie schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gewußt.« Aber ihre Augen waren weit geöffnet, und er begriff ganz plötzlich, wie es sein mußte, allein aufzuwachsen. Es war ein Wunder, daß sie normal war. »Setzen Sie sich!« sagte er und deutete auf das Kissen neben ihm. Sie setzte sich vorsichtig. »Ihr Vater muß Hedonist gewesen sein«, sagte er. Sie nickte. »Ja. Der letzte der echten Hedonisten. Wissen Sie, was ein Hedonist ist?« D'glas lächelte nachsichtig. »Auf der Venus haben wir,
was die Hedonisten hier aufbauen wollten – eine Gesellschaft, die auf hedonischen Prinzipien fundiert, einem sorgfältigen Gleichgewicht zwischen der objektiven Realität und der subjektiven Einstellung.« Ihre Augen glänzten. »Das muß das Paradies sein«, flüsterte sie. »Ich wüßte nicht, wie man es verbessern könnte«, gab D'glas zu. »Aber es gibt noch viel Arbeit für uns. Die Freude, einen toten Planeten zum Leben erwecken, endet nie. Aber alles hängt natürlich davon ab, mit welcher Einstellung man darangeht.« »Natürlich. Ich kenne die Hedonik. Mein Vater hat sie mich gelehrt, ehe er mich verließ. Nachher habe ich die Studien fortgesetzt und daraus gelernt, daß ich so lange vor dem Rat in Sicherheit sein würde, wie ich glücklich blieb. Meine Freiheit hing davon ab.« Langsam begann sie sich zu entspannen. »Sie haben hier gelebt – alle drei –, bis Ihre Mutter starb. Und dann hat der Rat Ihren Vater genommen, weil der Tod Ihrer Mutter ihn schmerzte?« Sie nickte. »Warum?« fragte er. »Das verstehe ich nicht.« »Es war gegen das Gesetz«, flüsterte sie und runzelte die Stirn. »Ich meine, unglücklich zu sein. Solange wir glücklich waren, waren wir sicher, und wir waren zehn Jahre lang glücklich. Die einzigen drei Menschen auf der ganzen Welt, die miteinander glücklich waren. Strenggenommen hätte Vater sich überhaupt nicht an uns binden dürfen, und das war in gewissem Sinne auch seine
Tragödie. Die Zölibatsklausel des hedonischen Eides band ihn, nicht zu lieben, nicht zu heiraten und nicht Vater zu sein – nur so konnte er seine Pflichten gegenüber seinen Patienten erfüllen. Aber wir waren seine einzigen Patienten, und er wähnte sich in Sicherheit.« »Und seitdem haben Sie ganz allein hier gelebt«, sagte D'glas mit weicher Stimme. »Armes Kind!« Sie biß sich auf die Unterlippe, weil sie zu zittern begonnen hatte. »So schlimm war es nicht«, sagte sie tapfer. »Das Schlimmste war, daß ich erkennen mußte, daß Vater Mutter mehr liebte als mich. Oh, ich habe später erkannt, wie dumm das war. Und dann mußte ich versuchen, glücklich zu sein, obwohl sie beide nicht mehr waren. Aber ich mußte, weil ich wußte, wie wichtig das war.« D'glas legte seine Hand schützend über die ihre. Sie ließ sie dort. »Komisch«, sagte er. »Alles andere ist erhalten geblieben. Nur das Landefeld und diese Bibliothek durften zerfallen. Warum?« »Für das Landefeld bestand keine Notwendigkeit mehr. Warum sollte jemand den Planeten verlassen wollen, wenn er hier Glück finden konnte – ja ihm nicht einmal entkommen konnte? Sein Wunsch, diese Stadt zu verlassen, war ein Beweis dafür, daß er unglücklich war, und damit wurde er zu einem Verbrecher, der automatisch der Strafe unterliegt.« »Strafe?« wiederholte D'glas. Ihre Finger schlossen sich um die seinen. »Zum Paradies verurteilt. Mit der Bibliothek war es ähnlich. Was hatte es
für einen Sinn, sie zu erhalten? Das Wissen war nur ein Mittel zum Zweck und hatte alles erreicht, was es erreichen konnte; das Paradies war Wirklichkeit geworden. Das Wissen an sich macht niemanden glücklich. Der Fortschritt konnte nicht weitergehen. Es gibt nichts, was perfekter ist als die Perfektion, und auch das Paradies ist die Definition nach Perfektion. So konnten wir hier leben – wir drei, Flüchtlinge aus dem Paradies – solange wir glücklich waren.« Ihre Stimme zitterte. »Aber wir waren nicht zufrieden, und dann kamen der Tod, die Sorge ...« Ihre Stimme brach. Sie wandte sich blindlings D'glas zu, und ihr Gesicht suchte das seine. Er nahm sie in die Arme, und seine Lippen senkten sich auf die ihren, zuerst vorsichtig und sanft, dann fester. Sie bewegte sich in seinen Armen. Etwas Kleines, Hartes preßte sich gegen seinen Leib. »Das genügt«, sagte sie kalt. D'glas blickte herab. In der rechten Hand hielt sie einen Nadelrevolver, dessen Lauf sich in seinen Leib bohrte. »Wo haben Sie das her?« fragte er verwundert. »Ich hatte einen hinter die Müllschluckertür geklebt, falls man mich je in der Kabine überraschen sollte«, sagte sie ausdruckslos. »Stehen Sie auf! Gehen Sie langsam zur Tür!« D'glas gehorchte. »Öffnen Sie! Gehen Sie einen Schritt weiter und drehen Sie sich um. Keine plötzlichen Bewegungen! Ich schieße sofort! Jetzt schließen Sie die Tür!« D'glas starrte die Glastür und die Inschrift »ChefBibliothekar« an. War sie verrückt? Und dann erkannte er,
daß sie nicht verrückt war – sie war nur vorsichtig. Die Glasscheibe diente gleichzeitig als Röntgenschirm. Er wurde geröntgt. Er entspannte sich und dachte noch einmal an das, was sie von ihrem Vater gesagt hatte: Nicht tot, nur gegangen. Als sie die Tür aufriß, sagte er: »Susan! Der Rat –« »D'glas!« rief sie, ohne ihn zu hören. »Du bist ein Mensch! Ich hatte Angst, es zu glauben, Angst –« Und dann fanden ihre Lippen die seinen, ungeschickt zuerst, aber schnell lernend, und die Zeit für Fragen war vorbei. D'glas stützte sich auf den Ellbogen. »Susan«, begann er, »du wolltest mir sagen –« Er hielt inne. Sie schlief. Ihre Wangen waren gerötet, ihr Haar lag wie ein weicher schwarzer Schleier auf dem Kissen, über alle Maßen schön. Er lächelte. Jedesmal, wenn er etwas Neues über diese verrückte Welt erfahren wollte, gab es eine Unterbrechung.
5 Als D'glas erwachte, fühlte er sich allein. Das Bett neben ihm war leer. Er tastete nach dem Laken. Kalt. »Susan!« rief er. Aber vor der Stille verriet ihm das Echo, daß Susan gegangen war. Außer ihm war niemand im Raum. Er setzte sich auf und zog die Knie an. Er war nicht Herr seiner selbst und seines Glücks, wie er angenommen hatte. Ohne es zu ahnen, hatte er seinen hedonischen Zustand einer Fremden geopfert, einem Mädchen mit blauen
Augen, die ihn sah, wie er war, mit weichen Lippen, die ihn lockten, mit dunklem Haar, das sich um sein Herz gewunden hatte. Ohne es zu wollen, hatte er sich in Susan verliebt. Das war nicht Teil seines Planes. Das konnte verhängnisvoll sein. Nach allen Beweisen, die ihm zugänglich waren, hatten die Fremden die Erde bereits erobert. Wo die Menschen waren, wenn sie überhaupt noch lebten, war ungewiß, obwohl D'glas schon eine dunkle Ahnung hatte. Aber eines stand jedenfalls fest: Er war ein Mann – wenn auch hedonisch ausgebildet –, der allein gegen ungeheure, undefinierbare Kräfte stand. Das war der ungünstigste Zeitpunkt, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Er stieg aus dem Bett. Ein paar Minuten in der Kabine reinigten und erfrischten ihn und entfernten seinen Vierundzwanzigstundenbart. Als er herauskam, machte er sich angewidert mit dem Gedanken vertraut, die Kleider anzuziehen, die er gestern getragen hatte; aber das ließ sich nicht ändern. Susans Kleidung hatte nicht nur die falsche Form, sondern war auch viel zu klein. Er zuckte die Achseln und überlegte: Was sich nicht ändern ließ, mußte man mit Würde tragen. Als er angekleidet war, durchsuchte er den Kleiderschrank. Nur ein paar Shorts und ein Jackett fehlten. Aus der Waffenkammer waren eine Nadelpistole und ein paar Granaten genommen worden. Die Granaten waren etwa doppelt so groß wie sein Daumennagel. Man löste sie
aus, indem man eine Feder betätigte. Von da ab dauerte es vermutlich noch ein paar Sekunden, bis die Explosion erfolgte. D'glas schob sich eine Handvoll davon in die Jackentasche. Er nahm eine Maschinenpistole und zerlegte sie. Ihre Funktion war einfach, und sie war in gutem Zustand; die Teile waren sauber und schimmerten unter einem dünnen Ölfilm. Er klappte sie wieder zusammen und steckte sie in die andere Tasche. Das Magazin enthielt fünfzig Kugeln, die einzeln oder in Feuerstößen von je fünf abgeschossen werden konnten. Mehr Munition würde er nicht brauchen. Offene Kriegführung – ein Mann gegen eine ganze Welt – wäre Wahnsinn gewesen. Seinen Augen entging nichts, als er das Schlafzimmer verließ. Aber es fiel ihm nichts Außergewöhnliches auf, bis er die Tür erreichte. Ein Blatt Papier klebte am Glas. Es war mit der Hand beschrieben, in archaischer Rechtschreibung und eigenartig geschraubten Sätzen; aber die Schrift selbst war harmonisch und sympathisch – so wie Susan selbst: »Du hast müde ausgesehen, deshalb habe ich dich nicht geweckt. Ich bin weggegangen, um Nahrung und Kleidung zu holen. Es war vielleicht unklug von mir, diese Dinge nicht hierzuhaben – aber ich habe auch nicht damit gerechnet, einen Mann im Haus zu haben.« D'glas lächelte unwillkürlich und runzelte dann die Stirn.
Er las weiter: »Mach dir keine Sorgen, wenn ich nicht hier bin, wenn du aufwachst, oder wenn ich erst später zurückkomme. Was ich vorhabe, ist nicht sehr gefährlich, und ich bin daran gewöhnt. Ich habe allein zehn Jahre lang überlebt. Ich schreibe ›überlebt‹, weil ich die Tage, bevor ich dich gekannt habe, nicht Leben nennen kann. Warte auf mich, Liebster. Ich liebe dich. Susan« D'glas überflog den Brief noch einmal. Dann nahm er einen Stift und schrieb unter Susans Unterschrift: »Konnte nicht warten. Wenn das vorbei ist, komme ich, wenn es mir möglich ist, zurück. Bleib hier. Misch dich nicht ein.« Er sah, was er geschrieben hatte, mit gerunzelter Stirn an. Das war vielleicht schroffer, als er es beabsichtigt hatte; aber er widerstand dem Impuls, mehr Gefühl hineinzulegen. Gefühl war gefährlich. Bis sein Auftrag erfüllt war – so oder so –, mußte er sich von Susan fernhalten, mußte er sich von allen gefühlsmäßigen Bindungen, die nur zur Katastrophe führen konnten, befreien. Er warf den Stift auf den Tisch und ging schnell hinaus, die breite Treppe zum Eingang hinunter. Der Hansen-Roboter lag immer noch auf dem Pflaster.
Nur eines hatte sich geändert: Der Hals war ein leerer Stiel – wo der Kopf gewesen war, war nur noch ein schwarzer Fleck auf dem Pflaster zu sehen. Bruchstücke von Metall und etwas, das wie Platinschwamm aussah, waren über den Weg verstreut. Tödliche kleine Susan! dachte D'glas. Etwas schnüffelte. D'glas blickte schnell auf. Ein zischendes, schnüffelndes Ungeheuer, das die Straße von einer Seite bis zur anderen erfüllte, kam, flankiert von zwei Miniaturausgaben seiner selbst, auf ihn zu. D'glas raste in die Bibliothek zurück, holte seine Waffen und stellte sich dann dem Ungeheuer entgegen, die Maschinenpistole schußbereit in der Rechten, eine Granate in der Linken. Und dann kam er sich wie ein Narr vor. Das Ungeheuer war ein Straßenreinigungsroboter. Sein gähnender Schlund reichte von einem Gehsteig zum anderen und sog Staub und Abfälle auf. Unter seinem flachen, glatten Leib tanzten Partikel – Schmutz- und Staubreste, die von Ultraschallschwingungen gelockert und aufgesogen wurden. Die kleineren Roboter reinigten die Fußwege. Alle drei Automaten ignorierten ihn. Jetzt saugte einer der kleinen Roboter ein Stück Metall in sich hinein, was ein lautes Klirren hervorrief, und hielt dann vor dem humanoiden Körper an, der einmal Hansen gewesen war. Der Körper war für den kleinen Reinigungsroboter zu groß – und für den großen auch. Der Kleine glitt, ohne zu zögern, beiseite, die beiden
anderen fuhren weiter. Hinter dem Kleinen kam ein Roboter, der wie ein Käfer mit einem großen Maul aussah. Er rollte auf das Wrack zu, hob es auf, schluckte es und zog sich zurück. Der Reinigungsroboter schob sich wieder an seine Stelle und jagte schnüffelnd und vibrierend den Weg hinunter, bis er seine beiden Kollegen eingeholt hatte. Dann ging es langsamer weiter. Susan war nicht zu sehen. D'glas blickte nachdenklich zu dem Gebäude hinüber, das der Hansen-Roboter als Ratsgebäude, bezeichnet hatte. Heute schimmerte es weiß. Vielleicht war es das Ratsgebäude, vielleicht auch nicht. Jedenfalls war es zu früh, dorthin zu gehen. Gestern, als Hansen noch dagewesen war, war es ihm richtig erschienen. Heute wußte er mehr und hatte Gründe, vorsichtig zu sein. Das Geheimnis des Rates würde warten müssen, bis er besser darauf vorbereitet war. Er mußte noch viel mehr erfahren. Jenseits der auf Hochglanz polierten Straße strahlte über einem hohen, fensterlosen Gebäude eine Aufschrift: PARADIES-HOTEL Glücksräume – Alle modernen Bequemlichkeiten Als D'glas die saubere, hellerleuchtete Halle betrat, sagte eine Stimme: »Es ist kein Zimmer mehr frei. Sie müssen es woanders versuchen.« Das war der Portier; sein Linsenauge starrte ihn glasig
an, und sein runder Mund stand offen. D'glas achtete nicht auf ihn. »Kein Zimmer frei, kein Zimmer frei!« rief der Portier aufgebracht. D'glas ging weiter. »Halt!« rief der Portier. »Sie brechen das Gesetz! Wenn Sie in abgeschlossene Räume eindringen, begehen Sie eine Übertretung, auf der eine Strafe von wenigstens fünf, höchstens zehn Jahren Glücksverlust steht – oder, wenn die Beeinträchtigung des Glücks eines Dritten nachgewiesen werden kann, sogar transorbitale Lobotomie!« D'glas drehte sich ungeduldig um und schoß den Portier durch sein Zyklopenauge. Dessen Mund erstarrte in einem stummen O des Schreckens. Es gab zehn Lifts. Neun Türen waren zugeschweißt. Die zehnte war die Tür des Personallifts. Als D'glas darauf zuging, schob sich ein Gitter vor den Eingang und schnappte zu. »Ich bin nur für Notfälle vorhanden«, dröhnte es hohl aus der Kabine. »Geräte und Lasten dürfen herein. Passagiere werden gebeten, die anderen Kabinen zu benutzen.« »Das ist ein Notfall!« herrschte D'glas ihn an. »Geräte und Lasten dürfen herein«, fuhr der Personalaufzug unbewegt fort. »Passagiere –« D'glas wandte sich hilflos ab. Hinter ihm schwang, wie um ihn zu verspotten, das Gitter wieder auf. D'glas ging die Treppe hinauf. Oben angekommen, stand er vor einer Plastikwand, die den Korridor völlig abschloß. Die Aufschrift lautete:
NICHT STÖREN! Alle Zimmer besetzt Abgeschlossen am: 4. 11. 2003 im Auftrag des Rates Er trat ein paar Schritte zurück und holte eine der Granaten aus der Tasche. Er legte den Hebel um und rollte die Granate gegen die Wand. Eins, zwei, drei, vier – wummm! Das Gebäude erzitterte. Die Wände bebten. Von der Decke der Hotelhalle fiel eine Plastikplatte und klatschte auf den Boden. Eine Wolke wälzte sich die Treppe herunter: Rauch, Staub und der beißende Geruch eines chemischen Explosivstoffes. Irgendwo in der Hotelhalle begann eine Glocke anzuschlagen. »Gefahr! Gefahr!« schrie der Personalaufzug. »Feuer!« schrie eine zweite Stimme. »Bleiben Sie ganz ruhig! Nicht nervös werden! Keine Panik!« Am hinteren Ende der Halle flog eine breite, niedrige Tür auf. Darunter schoß ein geduckter, roter Roboter, der mit Metallflaschen, Schläuchen und Düsen beladen war, hervor. Er raste auf Gummiketten auf die Treppe zu, und seine hitzeempfindliche Nase suchte die Flammen. Dann hetzte er die Treppe hinauf und streckte einen Schlauch aus, wie eine Schlange, die ihren Kopf zum Stoß hebt. Am Treppenvorsprung drehte er sich um und verschwand. Etwas zischte kurz. Gleich darauf kam der Feuerwehrroboter wieder zurückgerollt. Aus dem Schlauch
wurde noch etwas Schaum gequetscht, ehe er sich von selbst einrollte. D'glas eilte die Treppe hinauf, als der Roboter verschwunden war. Alles, was von der Plastikwand übriggeblieben war, waren geschmolzene Bruchstücke an den Wänden und der Decke. Dahinter lag ein dunkler Korridor, durch den ihm jetzt eine Miniaturausgabe des Straßenreinigungsroboters entgegenschnüffelte. Durch eine Lücke in der fußdicken Schaumschicht sah D'glas ein Loch im Boden. Drähte und zerbrochene Röhren lagen frei. Flüssigkeit schoß aus den Röhren: teils rot, teils undurchsichtig grau. Die rote Düse pulsierte wie eine Ader. D'glas sprang über das Loch und wich dann geschickt dem Reinigungsroboter aus, der ihn beinahe erreicht hatte. Er blieb stehen. Vor ihm stand ein dickbäuchiger Roboter mit hochgehobenem Schlauch, der ihn wie ein Auge auf einem Stiel anstarrte. Der Roboter spuckte. D'glas duckte sich. Der Roboter spuckte erneut. Diesmal traf etwas von dem Zeug auf seine Jacke und verhärtete sich sofort. Es war Plastik. D'glas wußte jetzt, welchen Zweck der Roboter hatte: Er diente zur Reparatur von Wänden, Decken und jenen rätselhaften Sperrwänden. Der Reinigungsroboter schnüffelte an seinen Füßen und versuchte ihn aus dem Weg zu schieben. Als er wieder dem Reparaturroboter auswich, pfiff etwas an seinem Gesicht vorbei und blieb zuckend im Boden stecken. Ein Schraubenzieher. Über ihm hing ein Werkzeugkasten mit flexiblen, oktopusähnlichen Armen an Saugnäpfen an der Decke.
Einer der Arme schleuderte gerade einen rauchenden Lötkolben nach ihm. D'glas sprang zurück und gab einen Schuß auf den Reparaturroboter ab. Er traf die Werkzeugkiste und ging einfach hindurch. Offenbar hatte der Schuß keinen Schaden angerichtet. Der Lötkolben verfehlte ihn und sengte den Boden an; aber der Reparaturroboter suchte weitere Geschosse: Meißel, Bohrer, Schraubenschlüssel ... D'glas mußte noch fünf Schüsse auf ihn abgeben, ehe das Bombardement aufhörte. Dann erstarrten die vier Arme. D'glas bückte sich und kippte den Reinigungsroboter um. Er lag zischend wie eine Schildkröte auf dem Rücken, und seine Laufräder drehten sich hilflos in der Luft. Erst jetzt hatte D'glas Zeit, sich um die Korridorwände zu kümmern. Schmale Seitengänge führten davon weg. Auch sie waren mit Plastik hermetisch abgeschlossen. Auf jeder einzelnen klebte ein »Nicht-stören«-Plakat. Das Datum lautete hier 2102. Was auch immer sich hinter diesen Wänden befand, war seit mehr als fünfzig Jahren dort. Er ließ eine Granate liegen und flüchtete in die Halle hinunter. Als die Explosion vorbei war, rannte er zurück. Der Strom erfaßte ihn noch im Gang; er ergoß sich aus der aufgerissenen Tür und strömte den Korridor hinunter. Es hatte keinen Sinn, dagegen anzukämpfen. D'glas konzentrierte sich einzig und allein darauf, auf den Beinen zu bleiben. Der Geruch war vertraut. Während seiner hedonischen
Ausbildung hatte D'glas auch einmal im Hospital von Morgan City assistiert. Der Gießbach bestand aus Nährflüssigkeit. Soeben war die Flüssigkeit noch hüfthoch gestanden, jetzt bedeckte sie nur noch seine Schuhe, und bald war nur noch ein kleines Bächlein da. D'glas ging zögernd weiter. Seine Hose war durchnäßt, und er wußte, was ihn erwartete. Das Zimmer, das er betrat, war eigenartig, eine Art formloser, in Plastik gehüllter Kokon ohne jegliches Mobiliar. Das Ding mußte in der Flüssigkeit geschwommen sein. Jetzt lag es mit konvulsivisch zuckenden Gliedern auf dem Boden. Es war ein männliches Wesen. Das bewies der lange weiße Bart. Es war ein klägliches Ding, eine Art Karikatur eines Menschen, ein phantastisch haariger Gnom, der wie ein Fötus zusammengekrümmt war. Es war nackt. Wo seine Haut durch das verfilzte Haar zu sehen war, war sie weiß wie die einer Assel und vom langen Schwimmen faltig geworden. Es hatte in diesem Raum in seinem sachte bewegten Nest aus Haaren geschwebt, ernährt durch die dicke, fleischartige Schnur, die aus einem Hahn in der Wand bis zum Nabel des Wesens führte. So hatte es seine langen, glücklichen Fötusträume geträumt. Es war eine Parodie des Embryos im menschlichen Mutterleib. Und in Räumen wie diesen schwammen sie alle. Das war das Ziel, das der Mensch erreicht hatte. Das Ende war der Anfang.
D'glas bemühte sich gar nicht darum, seinen Ekel zu unterdrücken, als er in die dunkle, kleine Zelle trat. Der Geruch war geradezu überwältigend; und dann wurde der Raum plötzlich dunkel. Unerwartet fand er sich in völligem Frieden mit seiner Umwelt. Das war keine Annäherung an den Frieden, sondern das Urgefühl selbst. Er war glücklich. Er lag in weicher, warmer Finsternis, zufrieden und satt. Die formlosen Gestalten schwebten langsam durch sein träumendes Bewußtsein. Er war sicher, geschützt, im langen, stummen Zwielicht des Mutterleibes. Aus dem Nichts kam ein Überlebensinstinkt. D'glas taumelte ins Licht des Korridors zurück; die Illusionen hörten plötzlich auf. Er stand an dem kalten, fremden Ort, schaudernd und verloren, und erkannte erneut die unerträgliche Verletzung seines Paradieses, durchlebte noch einmal die lang vergessene Erinnerung des Herausgerissenwerdens aus dem warmen Frieden des Mutterleibes. Nur seine hedonische Ausbildung verhinderte einen Protestschrei. Nur seine Reflexe hielten ihn aufrecht, als er mit gespreizten Beinen und gesenktem Kopf zitternd dagegen ankämpfte. Es war eine Schlacht, die er gewinnen mußte, und am Ende blieb er auch Sieger. Aber der Kampf erschütterte ihn, forderte einen hohen Tribut von seiner Stärke, seiner Willenskraft. Es ist ein schreckliches Erlebnis, geboren zu werden, aber es ist noch viel schlimmer, wiedergeboren zu werden, im Wissen, was das Leben ist; im Wissen, daß das Paradies für immer verloren ist.
Der ewige Kreislauf des Menschen hatte sich geschlossen. Der Mensch hatte sich einen zweiten Mutterleib geschaffen und war wieder hineingekrochen, um den Rest seiner Tage dort zu verbringen. Er hatte sich eine letzte Zuflucht gegen das Leben gebaut und zog sich dorthin zurück, bis zu einem langsamen, glücklichen Tod. Diese greisenhaften Embryos würden lange leben, lange, lange Zeit. So, in Nährflüssigkeit schwebend, waren ihre Organe und ihr Gewebe nicht belastet. Mit einem Blutsurrogat, reich an Nahrung und Sauerstoff, ernährt, brauchten die meisten Organe nicht einmal zu arbeiten. Herzschwäche würde sie nicht töten. Krankheiten konnten ihren hermetisch abgeschlossenen Zufluchtsort nicht erreichen. Tausend Jahre mochten diese Fötusse leben. Zweitausend, fünftausend. Was sagte man von manchen Fischen? Daß sie ewig leben, wenn sie kein Unglück ereilt. Und dann gab es Gewebe, die schon seit Generationen in Gläsern weiterlebten. Aber diese Zelle war nur ein Beispiel. Es mußte Milliarden von diesen Zellen über die ganze Erde verstreut geben; in ihnen waren Milliarden von Männern und Frauen zum embryonalen Glück zurückgekehrt. Aber das alles war nicht richtig – es war gerade, als seien sie in die Meere der urzeitlichen Erde zurückgekehrt und wieder blinde, protoplasmatische Zellen geworden. »Aber kann man nicht sagen«, unterbrach eine Stimme seine Überlegung, »daß hier der Hedonismus sein Ziel erreicht hat? Das größte Glück für die größte Zahl?«
Beim ersten Laut der Stimme senkte sich etwas auf D'glas' Schultern und spannte sich um seine Arme, daß er sie nicht mehr bewegen konnte. Eine zweite Schlinge folgte und eine dritte, und dann war er unentrinnbar gefangen. Er sah sich um. Hinter ihm stand wieder ein Roboter, eine spinnenhafte Kreatur mit vielen Beinen, zwei Armen und einer langen, dünnen, beweglichen Nase. Aus der Nase kam ein endloser, isolierter Draht. Der Roboter war hinter ihm herangekrochen und hatte sein Netz gesponnen. Die Nase arbeitete weiter – der Draht kroch seinen Körper herauf. Er kam sich wie eine Puppe in einem Kokon vor. Er spannte die Muskeln, um dagegen anzukämpfen, aber dann ließ er es bleiben. Es hatte keinen Sinn, dagegen die Kräfte zu verschwenden. Dann blickte er in die andere Richtung. »Hier treffen wir uns also wieder«, sagte Hansen fröhlich.
6 Daß ein Duplikat ein Duplikat haben konnte, hätte ihn nicht überrascht. Aber er mußte sich doch anstrengen, die Erinnerung an den Hansen-Roboter auf dem Bürgersteig zu verbannen, wie er dalag, mit eingedrücktem Kopf, oder gar, wie der Käferroboter ihn in sich hineinschlang. »Wie ich sagte, als wir so brutal unterbrochen wurden«,
fuhr Hansen fort, »der Rat ist der Rat. Aber Sie haben schon zu viele tautologische Antworten bekommen. Es ist Zeit, daß Ihre Fragen befriedigend beantwortet werden.« Befriedigend! D'glas dachte über den Sinn des Wortes nach. Stand Spott dahinter? »Es ist bedauerlich«, fuhr Hansen freundlich fort, »daß Sie Ihre Chance nicht schon früher genutzt haben. Jetzt müssen Sie als Mörder vor den Rat treten.« Seine Augen musterten das tote Ding auf dem Zellenboden. »Um den Tatbestand des Mordes zu erfüllen, muß mir die Absicht nachgewiesen werden, und das Opfer muß ein Mensch sein«, erklärte D'glas gleichmütig. »Versuchen Sie, das zu beweisen!« Er lächelte grimmig. »Abtreibung können Sie mir vorwerfen, wenn es schon sein muß. Sie reden soviel von Hedonismus. Was wäre, wenn ich Ihnen sage, daß ich unglücklich bin, solange diese Fesseln um meine Arme liegen?« »Nun, dann würden die Fesseln entfernt werden«, meinte Hansen gleichgültig. »Löse sie!« befahl er dem Drahtroboter. Als die Schlingen zu Boden fielen, sagte er: »Aber ich muß Sie erinnern, daß uns zwar Ihr Glück am Herzen liegt, ebenso aber auch das Glück von fünf Milliarden anderen. Man wird Sie beobachten. Wenn Sie zu fliehen versuchen sollten, wird man Sie festhalten, und beim nächstenmal sind wir vielleicht etwas weniger um Ihr Wohlbefinden besorgt.« »Ich verstehe«, nickte D'glas, als seine Hände befreit wurden. »Und außerdem«, fuhr Hansen fort, »müssen wir Sie
natürlich entwaffnen.« Mit einer geschickten Bewegung zog der Drahtroboter ihm das Jackett über die Arme und warf es zu dem toten Ding in der Zelle. D'glas wandte sich um und ging zur Treppe. Hansen folgte dicht hinter ihm. Der Reparaturroboter arbeitete an dem Loch im Boden. Als sie sich ihm näherten, schraubte er gerade die letzte Rohrverbindung fest. Andere Arme erneuerten bereits die Bodenfliesen. Bald, so dachte D'glas, würde die einzige Spur seines gewaltsamen Eindringens hinter zwei Plastikwänden verschwunden sein. Zwei Frauen erwarteten ihn in der Halle. Es waren die schönsten Geschöpfe, die D'glas je gesehen hatte. Die eine war blond, die andere brünett. Ihre Gesichtszüge entsprachen einem ewigen Schönheitsideal. Sie lächelten, als er näher kam. »Hallo, D'glas«, sagte die Blonde. »Wir haben dich erwartet.« »Wir beide«, fügte die Brünette mit tiefer Stimme hinzu. »Wirklich?« fragte D'glas. Die Blonde nickte. Eine platinfarbene Haarsträhne fiel ihr in die Stirn; sie schob sie mit einer ewig weiblichen Bewegung aus dem Gesicht. »Dein ganzes Leben lang«, sagte sie. »Aber das ist gleichgültig«, sagte die Brünette. »Worauf es ankommt, ist das Jetzt, und das Jetzt gehört uns.« »Beide?« fragte D'glas lächelnd. »Wie du uns willst«, sagte die Blonde. »Und was du willst.«
Sie nahmen ihn an den Armen und drückten ihn an sich. D'glas blickte von der Blonden zu der Brünetten, lächelte und sah dann auf seine Arme. »Das ist angenehmer als der Draht«, sagte er, »aber ebenso wirksam.« »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie angenehm es sein kann«, meinte Hansen hinter ihm. »Die meinen, was sie sagen. Ihre einzige Funktion ist, Sie glücklich zu machen, jeden Wunsch, den Sie haben, zu befriedigen.« »Könnten sie auch die Krankheit meiner Seele heilen?« fragte D'glas leise. »Man sieht ihre Geräte nicht«, fuhr Hansen fort. »Aber wenn Sie ihre Finger genau betrachten, sehen Sie in jeder Fingerspitze ein kleines Loch. Jeder Finger ist eine Spritze mit Barbituraten, um Sie einzuschläfern, Amphetamine, um Sie aufzuwecken, Narkotika, um die Sinne anzuregen, Aphrodisiaka, wenn das Fleisch schwach wird.« Hansens Stimme wurde wieder ernst. »Und ein Finger ist natürlich mit einem schnellwirkenden Anästhetikum geladen, falls es nötig werden sollte, Sie zu betäuben.« »Recht symbolisch.« »Aber sie brauchen Sie nicht zu halten, wenn Sie das unglücklich macht.« D'glas zuckte die Achseln. »Was macht's schon aus? Kommt, Mädchen!« Sie schlenderten auf die Straße hinaus. D'glas blickte noch einmal zu der zerfallenden Bibliothek zurück und wandte dann seinen Blick dem fernen Ratsgebäude zu. Sie gingen die Straße hinunter; D'glas zwischen den beiden so lebensechten Frauenrobotern, Hansen respektvoll dahinter.
»Ich werde dich Scylla nennen«, sagte D'glas zu der Blonden. »Und dich Charybdis«, zu der Brünetten. »Du kannst mich nennen, wie du willst«, hauchte Charybdis, »solange ich dir nur gefalle.« D'glas mußte lachen. Das klang vergnügter, als er sich fühlte. Die schimmernde Magnesiumnadel des Ratsgebäudes kam näher. Die Mittagssonne brannte hernieder und ließ den mächtigen Bau wie eine gewaltige Flamme erscheinen. Er zog das Auge auf sich und fesselte den Betrachter wie ein lebendes Symbol des letzten Triumphes des Menschen über Form und Farbe. Und je näher sie kamen, desto eindringlicher wurde die Illusion. »Willkommen, D'glas M'Gregor!« rief die Eingangshalle mit mächtiger, dröhnender Stimme. »Willkommen, mein zurückgekehrter Sohn! Komm zu mir!« Die Tür in der Wand öffnete sich wie ein Mund aus Metall. Sie gingen hinein, die Frauenroboter, Hansen und D'glas. Der Mund schloß sich. Der Raum bewegte sich. Es war ein furchterregender Moment. Es war hell. Der Raum war eine Liftkabine. Aber jetzt wußte D'glas, was der Rat war. Er befand sich im Inneren des Rates. Der Rat war dieses Gebäude. Der Rat, Hüter des Paradieses, Beherrscher dieser Ecke des Universums, war ein riesiger Roboter. Aus der Liftkabine traten sie in einen bequem ausgestatteten Raum mit alten Bücherwänden und einer Holzvertäfelung. Flammen tanzten in einem
rußgeschwärzten Kamin und umhüllten sie mit einem Gefühl angenehmer Wärme und dem Duft klarer nördlicher Nächte. »Nur ruhig, Mädchen«, sagte er und löste die Arme aus ihrer gefährlichen Umklammerung. »Nicht stechen, bitte!« Er strich mit den Fingern über die Vertäfelung. Vielleicht war das keine Imitation, sondern echtes Holz. Jedenfalls sah man die Maserung. Er berührte einen Buchrücken und streckte die Hand zum Feuer hin. Alles schien ganz echt zu sein – die Struktur des Leders, die Wärme an seiner Hand. »Sehr gut!« sagte er. Dann wandte er sich den Robotern zu. »Ihr langweilt mich!« Sie verschwanden. Es gab keine Explosion, keinen Lichtblitz, gar nichts. Sie waren einfach nicht mehr da. »Du auch!« befahl er Hansen. Der zuckte die Achseln. »Wie Sie wünschen!« sagte er und verschwand ebenfalls. »Was ist die Wirklichkeit?« murmelte D'glas. »Was macht es aus?« fragten die Flammen und zuckten im Kamin. »Hier bist du. Hier bin ich. Hier sind die Gedanken, die zwischen uns ausgetauscht werden. Das sind die einzigen Dinge, die Bedeutung haben. Alles andere ist Illusion. Was du siehst – hier oder sonstwo – ist nur das Auftreffen von Photonen auf deine Netzhaut. Was du empfindest, ist nur die subjektive Interpretierung elektrischer Flüsse durch das Netz deiner Sinne. Was ist wirklich? Der Eindruck des Geistes, der elektrische Fluß, die Auslösung des Flusses oder das, was außerhalb dieses Systems existiert – oder nicht existiert? Die Wirklichkeit?
Nur über die Illusion können wir uns einig werden. Diese Illusion jetzt – gefällt sie dir?« »Nein!« sagte D'glas. »Sprich, wenn du es wünschst!« sagte der Raum, und der Kamin und das Feuer waren plötzlich verschwunden. »Wenn der Klang deiner Stimme dir gefällt oder mein Monolog dich bedrückt. Denn es gibt viel zu reden.« »Wie nennt man dich?« »Man hat mich Rat genannt, weil ich die Pflichten des Hedonischen Rates von den Menschen übernommen habe, die ihn einst bildeten. Andere haben mich Hedon genannt und wieder andere Gott.« Irgendwie klang das von dieser sanften, gefühllosen Stimme nicht wie eine Blasphemie. Schon geringere Wesen waren göttlich genannt worden. »Aber du brauchst mir überhaupt keinen Namen zu geben«, sagte der Raum. »Es gibt nur dich und mich.« »Und Susan.« »Ach, ja«, gab der Raum zurück. »Susan.« D'glas ließ sich in einen tiefen Sessel sinken. »Warum sollten Menschen ihre Macht an einen Roboter abgeben? Die Macht ist Selbstzweck.« »Nein, nur ein Mittel zum Zweck. Es gibt nur ein Ziel, und das ist das Glück. Ich konnte ihnen das Glück geben. Wenn Macht ihr Wunsch war, konnte ich ihnen Macht geben, wie sie sie nie über das, was sie Wirklichkeit nannten, ausübten. Warum sollten sie Enttäuschungen und hedonische Surrogate hinnehmen, wenn sie wirkliches Glück erleben konnten?«
»So, wie das Ding in dem künstlichen Mutterleib?« »Wie er«, stimmte der Raum zu. Er hatte eine tiefe, angenehme Stimme, die gut zu der dunklen Vertäfelung und den alten Lederrücken der Bücher paßte. »Es ist das höchste Glück, zu dem alle Menschen zurückkehren, nachdem sie die Ziele erreicht haben, die spätere Enttäuschungen ihnen vorgaukeln. Sie kehren langsam und sanft zurück und erleben aufs neue Augenblicke des Glücks, verwandeln Augenblicke der Niederlage in ekstatische Triumphe, bis sie die ganze Spannung ihres Lebens gelöst und die langgesuchte Ruhe und Heiligkeit des Mutterleibs wieder erreicht haben. Und dann sind sie glücklich!« »Glücklich? Geistlos!« »D'glas M'Gregor, es ist sinnlos, mir etwas vorzumachen, denn ich bin, wie du weißt, Telepath. Du selbst hast die unwiderstehliche Verführung dieser Existenz gespürt – du hast das Paradies kennengelernt – jetzt kann nichts anderes dich mehr befriedigen.« »Aber das ist nicht alles.« »Nein? Ich sage dir: Das Glück ist das einzige Gut.« »Wobei du Glück als Vergnügen definierst«, erwiderte D'glas scharf. »Ganz und gar nicht. Ein jeder definiert das für sich selbst. Ich bin nur das Mittel, um einem jeden Menschen das zu geben, was er wünscht. Der Mechanismus, wenn du es so ausdrücken willst, der das Paradies in die Reichweite eines jeden Menschen rückt. Ich ändere die Wünsche nicht. Ich kann die Natur des Menschen nicht verändern. Aber zu
dir: Du wünscht Information. Empfange sie also!« D'glas dachte über diesen Roboter aller Roboter nach, dieses Werkzeug der Werkzeuge, das die Realität in die formenden Hände der Menschheit gegeben hatte, um sie so zu verändern, wie ein jeder sie wünschte. »Phantastisch!« »Wenn du meine Urahnen gekannt hättest, würdest du erkennen, wie unvermeidbar meine Entwicklung war. Ich bin ein Konglomerat von Geräten – wie das Meer, in das viele Flüsse fließen, die wiederum aus einzelnen Bächen entstehen. Einer dieser Flüsse war die Unterhaltung, die Unterhaltungsindustrie, wie man sie später nannte: die Perfektion des fiktiven Lebens. Du kannst es verfolgen, vom Schauspiel zum Buch, zur Musik, über die Kunst und all die anderen ästhetischen Medien; vom Film zur Television, zu den Sensies – einer immer weitergehende Verschmelzung von Illusion und Wirklichkeit. Ein anderer Fluß ist das Werkzeug. Der Versuch des Menschen, Glück zu finden, indem er die Mühe und die Zeit verringerte, die man den Notwendigkeiten des Lebens widmen mußte, der elementaren Aufgabe, am Leben zu bleiben. Am Ende dieses Flusses steht die Automation, die dem Menschen nicht nur die Bürde der Arbeit, sondern auch die Bürde des Denkens abnahm. Es gab noch andere Flüsse: Philosophie, Psychologie, die Naturwissenschaften, die Hedonik. Vom Diagnosestuhl der Hedonik und dem Hedometer stammen meine telepathischen Fähigkeiten. Aus all diesem wurde ich geboren.«
»Aber du kannst kein Leben erschaffen«, sagte D'glas leise. »Nein.« »Du kannst nicht einmal lebende Wesen dazu bringen, neues Leben zu schaffen?« »Nein. Wenn Männer und Frauen glücklich sind, was brauchen sie dann Kinder?« »Jetzt befinden sich sicher schon alle Menschen dieser Erde in ihrem zweiten Mutterleib?« »Einige wenige sind stur und verbringen ihre Zeit mit anderen Vergnügungen. Susans Vater durchlebt immer noch seine Brautzeit. Ein Mann in Moskau hat einen Feind in jeder Sekunde der letzten fünfzig Jahre getötet.« D'glas sprach ganz langsam: »Aber eines Tages werden auch sie in den Mutterleib zurückkriechen. Keiner von ihnen kann mehr gerettet werden. Am Ende werden sie alle sterben. Und wenn sie von der Erde verschwinden, wirst auch du sterben.« »Ja.« »Und deshalb«, sagte D'glas, »hast du deine Roboter zur Venus gesandt!« Die Duplikate waren ein Produkt des Rates – das war ihm schon seit einiger Zeit klar. Und das Schicksal, das die Kolonisten erwartete, war die tödliche Umarmung des Paradieses. »Du hast recht«, sagte der Raum. »Ich bin unsterblich – deshalb fürchte ich den Tod. Ich bin unverletzbar – aber ich kann sterben. Einzelne Glieder meines Körpers – mein weltweites Netz von Sinnen und die Roboter – können
versagen oder zerstört werden; elektronische Bauteile meines Gehirns können defekt werden. Ich kann sie immer wieder ersetzen, indem ich Atome spalte, um Energie zu gewinnen, und indem ich Erze verhütte, um neue Teile zu schaffen. Aber ich habe Angst – ich kann sterben. Wenn für mich nichts mehr zu tun bleibt, wenn der letzte Mensch in seinen letzten Träumen vom Paradies dahingeschieden ist, muß ich sterben wie jeder Gott ohne Gläubige.« »Und in deiner Todesangst und nachdem du den Menschen auf diesem Planeten zum Aussterben verurteilt hast, suchst du ihn auf anderen Welten und bringst ihm den Tod.« »Ich bringe ihm Glück.« »Das ist dasselbe«, sagte D'glas ungeduldig. »Das Glück ist der Tod – Tod ist Glück. Nur in der Unzufriedenheit existiert das Leben. Nur als Unzufriedenheit hat sich das Leben entwickelt, ist gewachsen und hat die tote Materie besiegt. Das ist die wahre Funktion des Lebens: Das Universum zu befruchten, es mit Leben zu erfüllen. Auf der Venus hat das Leben seine ruhmreichste Erfüllung erreicht. Es hat eine tote Welt gefunden und sie zum Leben erweckt. Eines Tages wird es das ganze Universum umformen – weil es unzufrieden ist.« »Was ist Eroberung? Der steinige Weg zum Glück.« »Denke!« drang D'glas in ihn. »Vernichte uns mit Glück, und du verdammst uns – vielleicht sogar das ganze Leben, das existiert, das existieren kann –, für ewig in diesem Sonnensystem zu bleiben, es nie zu verlassen, die anderen Galaxen zu zähmen, ja das ganze Universum –
ihm Sinn und Zweck zu verleihen.« »Die Zeit ist relativ«, sagte der Raum. »In einer Sekunde existiert die ganze Ewigkeit. Ich messe wie eine Sonnenuhr nur die sonnigen Stunden, und in dieser zufälligen Existenz, die du beschreibst, überwiegt die Summe aller Sorgen, allen Elends und aller Verzweiflung die Summe allen Glücks.« D'glas überlegte. »Dann muß ich annehmen, daß deine Entscheidungen mehr als eine bloße Zusammenfügung mechanischer Eingaben sind, daß du als unabhängiges Wesen existierst.« »Ich bin!« Das Gottwesen! Wo begann das Bewußtsein? Mit welcher Ansammlung von Zellen, elektronischen Verbindungen, eingeprägten Pflichten, Funktionen und Organen – wann war aus dem Rats-Roboter ein lebendiges Wesen geworden? Ein Gottwesen? War es wahnsinnig? Paranoid? Nein. Seine Kräfte waren wirklich. Der Mensch hatte es erschaffen wie alle seine Götter, aber diesen einen hatte er mächtiger gemacht als all die anderen vorher. Und dann hatte er sich selbst in seine Hände gegeben. Wahnsinnig? Nein! Die Wahnsinnigen waren jene, die es erbaut und ihm die letzte Entscheidung über das Glück des Menschen und damit auch über seine Zukunft anvertraut hatten. Und es funktionierte zu gut. Und unendliches Glück ist der Tod. »Aber es gibt Gesetze, die nicht binden?« sagte D'glas.
»Nur eines: Das Glück ist das einzige Gut.« Der Raum war verstummt. D'glas starrte die Wand an. »Die Frage ist«, sagte der Rat, »was ich mit dir tun soll. Du bist, wie du weißt, ein Mörder.« »Für mich war es nicht Mord. Ich habe kein Gefühl der Schuld.« »Richtig. Deshalb kann ich dich auch nicht bestrafen, wie Schuld es verdient. Aber ich kann dir Glück geben.« »Ich bin glücklich«, sagte D'glas schnell. Der Rat seufzte. »In gewissem Sinne bist du das. Das liegt daran, daß du das Glück als eine Einschränkung der Wünsche und nicht als eine erhöhte Befriedigung betrachtest. So kann ich dich nicht glücklich machen. Aber du bist entschlossen, mich zu vernichten. Wenn dieser Wunsch nicht zunichte gemacht wird, wirst du mich und fünf Milliarden völlig glücklicher Menschen zerstören. Was sind deine Wünsche, gemessen daran?« »Das ist dein Problem.« »Nichts.« »Und doch«, sagte D'glas scharf, »gilt das Gesetz auch für mich, ebenso wie für jeden einzelnen jener fünf Milliarden.« »Stimmt. Deshalb kann ich dich nicht unglücklich machen. Ich muß dir freien Willen geben.« Der Rat verließ ihn. D'glas spürte es. Mit ihm gingen der Kamin, die Vertäfelung, die Bücher und das Mobiliar. Wo sie gerade noch gewesen waren, sah er jetzt graue, nackte Metallwände. D'glas stampfte auf den Boden.
Nirgends war eine Tür zu sehen, nur die grauen, formlosen Wände. Dann fand er sie endlich. Er klopfte alle Wände ab und entdeckte eine Stelle, die hohler klang. Die Wand öffnete sich für ihn. Er trat in einen Korridor hinaus, der beinahe ebenso grau und formlos war wie der Raum, den er soeben verlassen hatte. Nur ein Fenster an einem Ende spendete Licht. D'glas blickte über eine bodenlose Schlucht hinaus. Der Weg in die Tiefe war endlos, unmöglich abzuschätzen. Und die Wände bestanden aus glasglattem Magnesium. Er mußte also wohl oder übel den Korridor hinuntergehen. Irgendwo würde er einen Lift oder eine Treppe finden. Die Nacht war gekommen und gegangen, und sein Magen hatte ihn oft an seinen Hunger erinnert, als er endlich nach geduldigem Klopfen das richtige Brett gefunden hatte. Es öffnete sich. Dahinter lag eine durchsichtige Wand. Hinter der Wand ein mit Flüssigkeit erfüllter Raum. In der Flüssigkeit, eingerollt wie ein Ball, umgeben von freischwebendem schwarzem Haar, mit zufriedenem Gesicht, schwebte Susan. In diesem Augenblick wußte D'glas, was es bedeutete, unglücklich zu sein.
7 Er raste die breite Treppe der Bibliothek hinauf. »Susan!«
schrie er aus voller Kehle. Auf halbem Weg zur Tür kam sie ihm entgegen, warf sich in seine Arme, drückte sich an ihn. »D'glas!« murmelte sie. Sie zog ihn an sich. Etwas Kleines, Hartes preßte sich in seinen Leib. »Das genügt!« sagte sie kalt. D'glas blickte hinunter. Sie hielt eine Nadelpistole in der Hand. »Susan!« sagte D'glas und runzelte die Stirn. »Was ist denn?« »Woher weiß ich, daß du kein Roboter bist?« fragte sie. »Der Rat kennt tausend Tricks. Steh auf!« D'glas stand auf. »Geh langsam auf die Tür zu!« D'glas gehorchte. »Öffne sie! Geh einen Schritt weiter und dreh dich um! Keine plötzlichen Bewegungen! Ich schieße auf deinen Schatten. Jetzt schließe die Tür!« D'glas runzelte die Stirn, sah die durchsichtige Glaswand und die Schrift darauf und dachte: Das ist mir doch schon einmal passiert! Er drehte sich um, als die Tür aufgerissen wurde. »D'glas!« schrie sie. »Du bist es!« Und dann fanden ihn ihre Lippen. Er hatte diesen Augenblick schon einmal durchlebt, und das, was er diesmal dabei empfand, hätte beinahe seine Zweifel betäubt – aber nicht ganz. Irgendwo gab es eine Erklärung, einen Grund. Er mußte danach suchen. Das war noch wichtiger als das augenblickliche Vergnügen. Er versuchte, ihre Arme von sich zu schieben, denn sie
klammerte sich verzweifelt an ihn. Wo seine Finger ihren Arm gepackt hatten, hinterließen sie keine Spuren. Sein Griff wurde härter. In ihrem Arm knackte etwas, aber Susan bewegte sich nicht, sie schrie auch nicht. Ihre andere Hand strich über sein Haar, und ihr Mund suchte den seinen. Er schob das synthetische Fleisch zurück. Darunter schimmerten die Knochen metallisch. Susan war ein Roboter! Er riß sich los und stand auf. In diesem Augenblick wußte D'glas, was es bedeutet, unglücklich zu sein ... Er ging den langen, mit dicken Teppichen belegten Gang hinunter und fühlte sich wieder ganz jung und erregt. Er sah zu, wie die Wände ihre Farben veränderten, um sich seiner Stimmung anzupassen, und roch das zarte Parfüm, das ihm entgegenschlug. Die Türen öffneten sich vor ihm, und er trat in den Prunksaal. Die Frauen drängten sich um ihn, bettelten schweigend um seine Berührung, seinen Blick, seine Aufmerksamkeit. Es waren Frauen von jeder Hautfarbe, jeder Art und Gestalt, jedem Temperament, aber ihnen allen waren zwei Dinge gemeinsam: Sie waren alle wunderschön, und alle beteten ihn an. Er ging zwischen ihnen, der Kleinen und der Großen, der Schlanken und der Üppigen, und er streckte Susan, der Schüchternen, die Hand hin. Obwohl die anderen das nicht wissen durften, war es Susan, die er liebte. Sie hob das Gesicht, als er sie berührte – es leuchtete
wie ein Stern, blendete ihn mit seiner Schönheit und dem tiefen Vertrauen in ihren Augen. Gemeinsam, so dachte er, würden sie beide ergründen, was Liebe ist. Als sie allein in dem halb abgedunkelten Raum waren, drückte sie sich hungrig an ihn. »D'glas!« rief sie. »Du hast mich gewählt!« Und dann fanden ihn ihre Lippen. Wie sein Puls schlug! Die Freude war in ihm wie eine Krankheit. Seit seiner Jugend hatte er das nicht mehr empfunden. Aber was hatte er hier zu suchen, hier in seiner Jugend? Was hatte Susan in seinen Armen zu suchen? Seine Arme verstärkten ihren Druck. In Susan knackte etwas und stieß durch ihren Rücken. Als er es spürte, glatt und metallisch, tasteten ihre Lippen immer noch nach den seinen. Er riß sich los. In diesem Augenblick wußte D'glas, was es bedeutet, unglücklich zu sein ... In seiner Zelle wartete er angespannt auf den Beginn des Wettkampfes. Als das Licht auf seinem Bildschirm aufflammte, flogen seine Hände über die Tastatur und wetteiferten mit den gefühllosen Impulsen der Maschine. Immer schwieriger wurde der Test. Er mußte Maße vergleichen, Illusionen erkennen, Geräusche analysieren, Gerüche und Chemikalien. Dann öffnete sich die Zellentür. Er rannte hinaus. Jetzt begann der zweite Teil des Tests – die körperliche
Untersuchung. Er rannte jene alte Maßeinheit, die Meile, in drei Minuten zweiunddreißig Sekunden. Er sprang über die Dreimeterwand. Hinter ihm setzte soeben der nächste Prüfling zum Sprung an. Er schwamm einhundert Meter unter Wasser und kam endlich durch die Luftschleuse auf die nackte Oberfläche der Venus. Die gegenüberliegende Schleuse war fünfzig Meter entfernt. Er rannte darauf zu, und der Regen peitschte seinen ausgemergelten Körper, der Hurrikan schlug auf ihn ein, ohne ihm aber den Atem zu rauben, was ihn in ewige Bewußtlosigkeit versenkt hätte. Und dann sank er durch die Luftschleuse in die Arme seiner Mutter. »D'glas!« rief sie. »Du hast gewonnen!« Und dann fanden ihn ihre Lippen. Er drückte sie an sich, und seine Brust hob sich, um die gute Luft einzusaugen; dabei hielt er den Kopf an die Brust der Mutter gedrückt und war von Liebe zu ihr erfüllt. Und dann, als sein Atem ruhiger wurde, erkannte er, daß etwas nicht stimmte. Seine Mutter hatte keinen Herzschlag. Er starrte sie an und begriff plötzlich, was sie war. Er riß sich los. Und in diesem Augenblick erkannte D'glas, was es bedeutet, unglücklich zu sein ... D'glas stand mitten auf dem Dschungelpfad, nackt und waffenlos. Er lauschte. Der Dschungel war tödlich, und da war etwas, das ihn verfolgte. Er hatte nie zuvor einen Dschungel gesehen, aber er erkannte ihn und wußte, was er war: eine Illusion. Das war der Dschungel, aus dem der Mensch hervorgekrochen war,
ein Werkzeugmacher, ein Eroberer, ein Tier mit schwachen Armen, schwachen Zähnen, schwachen Klauen, das aus sich selbst die tödlichste Kreatur der Erde gemacht hatte, indem es seine Arme verlängerte und Gegenstände zuspitzte, die Zähne und Klauen ersetzten. Das war der Dschungel des menschlichen Geistes, erfüllt von persönlichen und überkommenen Ängsten, die seine Urteilsfähigkeit beeinträchtigten. Erst kürzlich, mit Hilfe der Hedonik, hatte der Mensch gelernt, diesen Dschungel zu besiegen. D'glas erkannte diese Dinge mit tiefverwurzeltem Instinkt. Alles war eine Illusion, aber deswegen nicht weniger tödlich als die Wirklichkeit. Der Rat hatte versucht, D'glas mit seinen eigenen Träumen zu versklaven. Aber das war an seinem unbeugsamen Willen zur Realität gescheitert. Jetzt versuchte der Rat, ihn mit seinen eigenen Ängsten zu besiegen. Diese Illusion war die letzte Barriere. Er stand mitten auf dem Dschungelpfad, nackt, und wußte, daß er diesen Dschungel niemals würde verlassen können, wenn er jetzt nicht siegte. Er schürte in sich die schützende Flamme seiner Wut und lauschte. In der Ferne schrie die Gefahr. Jetzt erkannte er sie, obwohl er sie nie zuvor gehört hatte, obwohl er das Geschöpf, das diesen Schrei ausgestoßen hatte, noch nie gesehen hatte. Das war der schwarze Umriß der Angst, der Panther, kraftvoll und geräuschlos, bis er zuschlug. Jetzt trottete er irgendwo hinter ihm auf dem Pfad.
Er eilte davon und hob einen Ast auf, der neben dem Weg lag, und den ein Sturm von einem der Bäume abgerissen hatte. Jetzt war er nicht mehr allein – er hatte ein Werkzeug, das seine Stärke verdoppelte. Am Ende des Weges stand Susan. Langsam wurde der Geruch der Gefahr stärker. Als er noch fünfzig Meter entfernt war, sah er den umgestürzten Baumstamm. Als er ihn erreichte, hatte er die Falle geplant. Er stützte den Stamm auf einen schwachen Ast. Er arbeitete fieberhaft, ließ aber in seiner Wachsamkeit nicht nach. Die Gefahr konnte ihn beschleichen. Dann befestigte er eine Schlingpflanze an der Stütze und zog sie über den Weg. Jetzt war keine Zeit, die Falle noch auszuprobieren. Er versteckte sich ein paar Meter entfernt hinter den Bäumen und wartete, die Keule in der Hand. Binnen Minuten tauchte der Panther auf. Er war schlank; eine schwarze Schönheit, die nach dem Tod roch. Und doch berührte er die Schlingpflanze. Der Baumstamm fiel. Der Panther schrie. Diesmal war es ein Schrei der Todesangst. Die große Katze lag mitten auf dem Weg, ihr Rückgrat gebrochen, und sie knurrte schrecklich, als sich D'glas ihr näherte. Ein einziger Schlag seiner Keule erlöste sie aus ihrer Qual. In der Ferne schrie die Gefahr. Eine andere Gefahr. Die Gefahr endet nie, ebensowenig, wie die Angst je endet. Aber D'glas war bereit. Aus einem jungen Schößling und zusammengedrehtem Gras machte er
sich einen Bogen. Pfeile, mit Blättern gefiedert und mit Spitzen aus Feuerstein, lagen neben ihm. Daneben ein Speer. D'glas hatte den Dschungel verlassen und die ersten Hügel einer breiten Gebirgskette erreicht. Weiter konnte er nicht gehen. Sein Weg endete an einer unübersteigbaren Klippe, die rings um ihn in die Höhe stieg, bis sie den Dschungel erreichte. Hier würde er stehen und bis zum Ende kämpfen. Er wartete und häufte Steine auf, bis endlich der Panther kam. Er brauchte lange, bis er ihn am Dschungelrand erspähte. Als die Raubkatze sich bewegte, bewegte sie sich schnell. Der erste Pfeil traf sie aus dreißig Meter Entfernung in die Schulter. Der Panther rannte weiter. D'glas hatte Zeit für drei weitere Pfeile. Der dritte verschwand beinahe im weitaufgerissenen Schlund des Panthers. Die große Katze starb zu seinen Füßen. Danach kamen sie schneller, die schwarzen Ängste, und er tötete sie eine nach der anderen, ehe sie ihn erreichen konnten. Und dann waren seine Pfeile zu Ende. Als die nächste kam, warf er Steine danach, aber sie prallten harmlos ab. Er wartete mit dem Speer. Der Panther näherte sich vorsichtig, mit geblähten Nüstern, und blickte auf die schwarzen Silhouetten, die ringsum lagen. Aber er kam. Plötzlich sprang er. D'glas stemmte den Speer gegen den Felsen und fing die Bestie damit auf. Der Speer bohrte sich
tief hinein. Der Panther stürzte und krallte mit allen vier Füßen nach dem Schaft. Der Schaft knickte ab. Langsam starb der Panther und nahm D'glas' letzte Waffe mit sich. D'glas schärfte seine Wut und stand hochaufgerichtet und gerade unter der reglosen Sonne. Er schleuderte sie wie einen Speer dem Himmel entgegen. »Sei verdammt!« schrie er. »Du kannst nichts mehr tun! Ich habe keine Angst, nicht vor dem Tod, nicht vor der Angst selbst!« In großen, blauen Tropfen begann der Himmel zu schmelzen.
8 D'glas stand mit gespreizten Beinen da und blickte aus dem Korridor in einen Raum, der dem glich, aus dem er entkommen war. Eine Pritsche aus Metall stand an einer Wand. Auf der Pritsche lag Susan mit geschlossenen Augen, als schlafe sie. D'glas erreichte die Pritsche und hüllte sich in seine Wut wie in einen Mantel der Unsichtbarkeit. Aus der Wand kamen Drähte und Röhren. Ein durchsichtiges Rohr führte zu Susans Arm, wo eine Nadel es mit der Vene verband. Flüssigkeit pulsierte langsam hindurch. Ein zweites Rohr führte zu einem Mundstück über Susans volle Lippen. Susan lächelte. D'glas kniete neben ihr nieder, angewidert, verängstigt, aber wütender denn je. Vorsichtig entfernte er die Nadel
und preßte die Vene ab, um die Blutung zu hemmen. Das Blut versiegte schnell. Er zog das Mundstück langsam und vorsichtig heraus und untersuchte es. »Susan!« sagte er leise. »Susan!« Ihre Augen flackerten und öffneten sich dann. »D'glas!« murmelte sie schläfrig. Ihre Arme kamen ihm langsam, wie in einem Traum, entgegen. Dann leuchteten ihre Augen auf. Sie packte ihn an der Schulter. »D'glas! Das ist wirklich! Das bist du!« Ihre Arme umfingen ihn. Sie zog sich an ihm in die Höhe, halb lachend, halb schluchzend. »Oh, mein Geliebter! Ich habe gedacht, ich hätte dich für immer verloren!« Mit gerunzelter Stirn hielt er sie an sich gepreßt. »Du mußt wütend werden, Susan!« flüsterte er. »Wütend! Wütend auf den Rat!« »Das kann ich jetzt nicht!« widersprach sie verblüfft. »Ich kann nicht! Ich –« »Du mußt! Alles hängt davon ab!« »Ich will es versuchen!« sagte sie. Langsam rötete sich ihr Gesicht, und ihr Atem ging schneller. Dicht an sie gepreßt, spürte D'glas, wie ihr Herzschlag schneller wurde. Er drückte ihren Arm und spürte das Fleisch und die Knochen darunter, und als er es losließ, sah er die weißen Fingerabdrücke darauf. »Was ist dir zugestoßen?« fragte er. »Ich sagte es doch! Der Rat konnte mir so lange nichts anhaben, als ich glücklich war. Du kamst, und ich verliebte mich in dich. Und dann konnte ich nicht mehr glücklich
sein. Komisch, nicht? Ich wurde unglücklich, weil ich zuviel hatte.« »Je mehr du besitzt, desto mehr kannst du verlieren.« »Ja. Ich habe deinen Brief gelesen. Darüber wurde ich unglücklich. Aber dagegen konnte ich ankämpfen. Ich konnte auf dich warten. Und dann sah ich, wie du aus dem Hotel kamst. Ich wußte, daß du dem Rat in die Hände gefallen warst, daß du etwas getan oder gefühlt hattest, das ihm Macht über dich verlieh und daß du für immer für mich verloren warst. Dagegen konnte ich nicht ankämpfen. Ein paar Minuten darauf kamen die Roboter, um mich abzuholen.« »Ja, ja!« sagte D'glas wütend. »Jetzt weiß ich, wie es geschehen ist. Ich hätte daran denken müssen. Wir hätten zusammenbleiben müssen.« »Jede Gegenwehr war zwecklos. Ohne dich konnte ich nur noch auf die Art des Rates glücklich werden. Aber das reichte nicht. Das warst nicht du – das war nur mein Bild von dir – unvollständig und lückenhaft. In dir ist ein ewiger Wechsel, beständige Überraschung, mehr, als ich je begreifen kann. Was der Rat mir gab, war nur ein Abklatsch meiner Träume.« »Ich weiß. Und jetzt ist deine einzige Chance für die Wirklichkeit – unsere einzige Chance – Wut.« »Warum?« D'glas zuckte die Achseln. »Ich kann es nur mit einer Analogie erklären. Die Wut löst irgendeine physiologische Reaktion aus, die – glaube ich – als eine Art Barriere gegen die telepathischen Sinne des Rates wirkt. Er begreift Wut
nicht, weil er nie damit zu tun hatte. Diejenigen, die sich von ihm helfen ließen, waren niemals wütend – die Wut sucht ihre eigene Befriedigung. Die Wut ist Teil der Unzufriedenheit, die das Leben zu seinen größten Eroberungen geführt hat. Seit ich wütend bin, hat er uns allein gelassen. Jetzt spüre ich ihn nicht mehr.« Susans Gesicht hellte sich auf. »Das stimmt! Er ist nicht mehr da.« Ihr Gesicht wurde wieder ernst. Ihre blauen Augen suchten die seinen. »Aber was werden wir tun? Wie können wir entkommen? Selbst wenn er unsere Pläne nicht kennt, stehen ihm die Mittel einer ganzen Welt gegen uns zur Verfügung.« »Wir müssen ihn vernichten«, sagte D'glas entschlossen. »Und wir müssen jetzt gleich damit anfangen.« Er ergriff Susans Hand, blickte zu der grauen Decke auf und sagte: »Rat! Hedon! Gottwesen! Wie auch immer du dich nennst! Ich spreche mit dir!« »Ich bin hier!« Susan stöhnte. D'glas wandte sich um. Hansen stand unter der Tür. Zu beiden Seiten sah er die Roboter, die er Scylla und Charybdis genannt hatte. »Warum habt ihr mich verlassen, meine Kinder?« fragte Hansen traurig. »Ich hätte euch glücklich machen können!« »Diese Art von Glück ist nichts für uns«, erwiderte D'glas. »Wir müssen uns unser Glück selbst erschaffen.« »Warum suchen die Menschen das Elend?« fragte Hansen verständnislos. »Was sie suchen, ist freier Wille«, sagte D'glas streng. »Wirklicher freier Wille, nicht diese Imitation, die du mir
angeboten hast. Wenn das Elend der Preis ist, dann werden wir ihn bezahlen. Das Glück in deinem Sinne ist nicht das einzige Gut.« »Blasphemie!« Hansen runzelte die Stirn. Er trat einen Schritt in den Raum, und Scylla und Charybdis hoben neben ihm die Hände. »Nicht Blasphemie«, sagte D'glas leise. »Menschen haben dich erschaffen. Menschen können dich vernichten.« »Sakrileg!« sagte Hansen. Er trat einen weiteren Schritt vor. »Blasphemie war es, als du mich über den freien Willen belogst«, sagte D'glas schnell. »Sakrileg war es, als du das Gesetz gebrochen hast – als du mir Susan in dem künstlichen Mutterleib schwebend zeigtest und mich unglücklich machtest. Unglücklich!« brüllte D'glas. »Nicht glücklich! Um Macht über mich zu gewinnen!« »Um dich glücklich zu machen! Ich habe über die Mittel zu entscheiden, die ich einsetzte.« Hansen und die beiden Frauenroboter waren nur noch um Armeslänge entfernt. D'glas' Stimme wurde leise. »Aber diese Frage mußt du beantworten: Bist du glücklich?« Hansen blieb stehen. »Die Frage ist bedeutungslos.« »Bist du glücklich?« wiederholte D'glas. Hansen runzelte die Stirn. »Kann der Rat glücklich sein?« »Bist du glücklich?« fragte D'glas zum drittenmal. Hansen erstarrte mit nachdenklich zur Seite gelegten Kopf. Neben ihm wurden die Frauenroboter gleichsam zu Stein. D'glas hielt Susan umfangen. »Jetzt!« sagte er leise.
»Solange es geht!« Sie gingen an den erstarrten Gestalten vorbei und erreichten den Korridor. »Was ist mit ihnen?« fragte Susan. »Was ist geschehen?« »Der Rat denkt!« sagt D'glas leise. »Er denkt über das Mysterium seiner eigenen Existenz. Und solange er damit beschäftigt ist, müssen wir die Steuerzentrale finden.« »Steuerzentrale? Was ist das?« »Der einzige Ort, an dem man dem Rat-Roboter Instruktionen erteilen kann. Er konnte Informationen von anderen Quellen aufnehmen und hat es auch getan. Aber es kann nur einen Ort geben, an dem man ihm Befehle erteilen kann.« »Wo?« D'glas seufzte. »Ich weiß es nicht, und ich fürchte, daß wir mit rein logischer Überlegung auch nicht weiterkommen.« »Das Haus hat fünfundsiebzig Stockwerke!« rief Susan aus. »Ja«, nickte D'glas niedergeschlagen, »und ich habe keine Ahnung, wie lange diese Katatonie dauert. Vielleicht hilft uns eine Vermutung weiter. In ›Aufstieg und Fall der angewandten Hedonik‹ erwähnt Morgan einen Raum im Ratsgebäude, in den er vom Hedonischen Rat vorgeladen wurde – das war damals noch eine Gruppe von Hedonisten. Wenn die Steuerzentrale nicht dort ist, weiß ich nicht, wo ich nachsehen soll. Wie war doch die Zimmernummer?« Er schloß die Augen und überlegte. »2943«, flüsterte er. »Gehen wir!«
Der Korridor war grau, aber eine Tür stand offen. Dahinter war eine Treppe. D'glas hielt Susans Hand, obwohl ihn das beim Gehen hinderte – aber er wollte sie nicht loslassen. Auf der Tür stand die Zahl 68. Neununddreißig Stockwerke in die Tiefe, dachte er. Hinunter und immer weiter hinunter ging es. Die Türen waren alle gleich, nur die Ziffern änderten sich; D'glas kam sich wie auf einem Karussell vor, das ins Nichts führte. Aber die Zahlen veränderten sich: 61 – 53 – 47 – 42 – 36 – 31 – 30 – 29. D'glas blieb gerade rechtzeitig stehen. Das war das Stockwerk, das sie suchten: 29. Er trat durch die Tür, dicht gefolgt von Susan. Dieser Korridor war älter und weniger gut erhalten. Die Farbe an den Wänden war abgeblättert, und der Staub lag grau und dick auf dem Boden. D'glas sah sich um. Ihre Schritte waren die einzigen Spuren im Staub. Hier war lange, lange Zeit niemand gewesen. An den Türen standen Zahlen. 2915, 2917, 2919 – D'glas blieb vor 2943 stehen und atmete tief ein. Auf der Tür stand: »Tritt ein und sei glücklich!« In Hüfthöhe war ein Knopf. D'glas drückte ihn. Die Tür schob sich auf. Dahinter lag ein zu beiden Seiten von Stühlen gesäumter Raum. An der anderen Wand war ein Schreibtisch. Dahinter eine weitere Tür. Sonst nichts. »Komm!« sagte D'glas. Sie gingen durch das Vorzimmer. Kleine Staubwölkchen wirbelten bei jedem Schritt auf. Dann erreichten sie die
zweite Tür. »Das kann es nicht sein!« sagte Susan leise. »Würde man etwas so Wichtiges wie eine Steuerzentrale nicht schützen?« »Wenn der Rat-Roboter nicht defekt wäre, könnte ihn niemand hier erreichen«, erinnerte D'glas sie. »Dieser Raum – dieses ganze Stockwerk – das ist der einzige Ort, den der Rat und seine Mechanismen nicht betreten konnten. Sonst hätte er ja sein Gesetz selbst verändern können.« Er drückte auf einen Knopf an der Tür. Die Tür schob sich auf. Der Raum dahinter war groß, fensterlos und nackt, abgesehen von einem staubigen Tisch und Stühlen, die darum standen. D'glas seufzte tief. »So kann man sich irren!« Er wandte sich ab. »Warte!« sagte Susan und hielt ihn auf. »Gehen wir hinein!« Am anderen Ende des Tisches fanden sie es – eine ganz gewöhnliche Schreibmaschinentastatur. In die Tischplatte waren zwei Fenster eingelassen. Auf dem linken stand: »Information.« Darunter konnte man lesen: »Mehr gibt es für mich nicht zu tun. Ich gehe auf mein Zimmer.« Wer hatte diese letzte Information getippt? fragte sich D'glas. Irgendein letzter Techniker? Oder vielleicht der letzte Hedonist des Rates? Über dem rechten Fenster stand: »Handlung.« Darunter: »Glück ist das einzige Gut.« Der Mensch hatte einen Syllogismus geschaffen und vergessen, einen Schluß daraus zu ziehen.
Es gab eine ganz logische Ideenfolge, eine Beweiskette, die die Menschen, die den großen Rats-Roboter gebaut hatten, vergessen hatten, zu Ende zu führen. Vielleicht war das damals nicht so leicht zu erkennen gewesen. Daß der Rats-Roboter selbst den letzten logischen Schritt getan hatte, war verständlich. Götter können sich, wie D'glas erfahren hatte, nicht mit dem Problem ihrer eigenen Existenz befassen, ohne die Grundfesten eben dieser Existenz zu erschüttern. Wenn sie ihre Gottheit nicht einfach hinnehmen, wenn sie es gestatten, das Zweifel in ihr Königreich einziehen, so gestatten sie ihren eigenen Gedankenketten, den unvermeidbaren Schluß aus ihrer Existenz zu ziehen, nämlich, daß sie sterblich sind und den Gesetzen der Sterblichkeit unterliegen. Der Syllogismus war ganz einfach: JEDERMANN SOLLTE GLÜCKLICH SEIN. GOTT IST JEMAND. GOTT SOLLTE GLÜCKLICH SEIN. D'glas setzte sich an die Schreibmaschine. »Was wirst du jetzt tun?« fragte Susan. D'glas legte einen Schalter um. Das Fenster mit »Handlung« wurde leer. Er starrte sie an wie ein Auge, das auf ein Bild wartet. »Ich werde der Menschheit eine zweite Chance geben«, sagte er leise. »Wenn der Mensch sich Götter schafft, sollte er darauf achten, daß sie nicht zu tüchtig werden.« Seine Finger flogen über die Tasten und verhielten dann wieder. Die Worte tauchten unter dem Fenster auf: »Sei glücklich!«
D'glas stand schweigend in der Luftschleuse der mächtigen Dreistufenrakete und blickte zu den Türmen der fernen Stadt hinüber. Die Arbeit von dreißig Tagen hatte ihr Ende gefunden. Das Schiff des Rates war für den Flug ausgerüstet und bot jetzt zwei Menschen Kost und Quartier. Roboter essen und atmen nicht und ersticken auch nicht in Kohlendioxyd. Sie lieben auch nicht. Die Tage waren mit harter Arbeit und mit Glück erfüllt gewesen. D'glas konnte sich nicht erinnern, wann er je so glücklich gewesen war. Jetzt stand er hochaufgerichtet da und erinnerte sich, wie er die Stadt zum erstenmal gesehen hatte, als er gelandet war – stumm und rätselhaft. Jetzt kehrten sie zur Venus und der menschlichen Gesellschaft zurück, die eine ganze Welt umformte und die eines Tages das Gesicht des Universums neu prägen würde. Er mußte an die Möglichkeit des Todes denken, denn eine Reise ist immer gefährlich, und diese hier war gefährlicher als die meisten. Aber Glück ist etwas, das nicht in einer Zelle leben kann. Jetzt war die Stadt noch stummer als bei seiner Ankunft. Wie hatte Morgan geschrieben? »Die Türme wie Grabsteine.« Gräber jetzt für mehr als nur für das Glück! Die Menschheit hatte eine lange Fahrt auf einer Bergund Talbahn unternommen, aber jetzt war die Fahrt vorüber. Es erfüllte ihn mit Freude, daß der Mensch sich jetzt wieder bemühen würde, und mit Trauer, daß der Traum, der zu schön gewesen war, dahin war.
»Ist der Rat tot?« fragte Susan leise neben ihm. »Noch nicht. Er träumt vielleicht. Aber das Todesurteil ist bereits über ihn verhängt. Der Rat, der Phantasien für andere geschaffen hat, macht sie jetzt für sich selbst. Er hat ein neues Gesetz: ›Sei glücklich!‹ Diesem Gesetz gehorchend, ist er in seinen eigenen Traum des Paradieses zurückgesunken und hat alles andere vergessen, ja nicht einmal bemerkt, daß er stirbt. Nach einiger Zeit wird seine Isolierung verfaulen, werden Drähte sich kurzschließen, elektronische Geräte versagen, wird Stahl verrosten. Die Herrschaft des Götzen Hedon ist vorüber. In dem Augenblick, in dem er erkannte, daß auch er glücklich sein mußte, war er dem Untergang geweiht. Denn Glück ist Tod.« »Und jetzt müssen wir die Erde verlassen. Es ist traurig, einer so schönen Welt ade sagen zu müssen.« »Zu schön – wie das Versprechen des Glücks. Das Glück muß von innen heraus kommen, sonst ist es tödlich. Der einzige Weg für den Menschen ist der steile Weg nach oben – der Weg der Unzufriedenheit, der Weg der Wut. Die Träume sind jetzt in allen Zellen auf der ganzen Welt zu Ende, weil der Rat die Zellen für alle Ewigkeit vergessen hat. Die meisten Embryos werden sterben. Vielleicht werden aber einige – dein Vater könnte einer von ihnen sein – die Feuerprobe der Wiedergeburt überleben. Die automatischen Vorrichtungen des Rates werden sie am Leben erhalten, und wenn sie bereit sind, werden sie losbrechen. Mögen sie die Erde haben. Wir haben die Venus und mehr. Ein Blick zurück bedeutet
schon einen Schritt zum Tod. Der Blick nach vorn bedeutet das ewige Leben. Jene, die dieses ewigen Lebens würdig sind, werden uns eines Tages folgen.« Ein Stern war am Himmel aufgegangen. Wie ein strahlendes Leuchtfeuer hing er über der Stadt. »Die Duplikate sind aus den Korridoren von Morgan City verschwunden«, sagte Susan und blickte zum Abendstern auf. »Die Venus ist in Sicherheit. Die Menschheit wird weiterleben.« »Bis zur nächsten Krise. Es wird immer welche geben. Es wäre die Hölle, wenn das Paradies immer auf uns warten würde und wir nur darum zu bitten brauchten.« »Ja.« Susan sah D'glas einen Augenblick an. »Wie können wir sicher sein –« wollte sie sagen, verstummte dann aber. »Was denn?« fragte D'glas. »Nichts«, sagte sie. »Ich mache mich jetzt zum Start fertig.« Sie verließ ihn ohne einen Blick zurück, der Unsicherheit hätte ausdrücken können. Er stand da, ohne zu überlegen, was sie hatte sagen wollen. Er brauchte nicht zu überlegen. Er wußte es. Wie konnten sie sicher sein, daß das die Wirklichkeit war und nicht wieder ein Wunscherfüllungstraum aus dem Rats-Roboter? Wie konnten sie sicher sein, daß sie ihn wirklich besiegt hatten und nicht in einer Zelle eine Illusion erlebten? Die Antwort war: Niemals konnten sie sicher sein.