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Buch Die Vereinigten Königreiche von Wendar und Varre kommen nicht zur Ruhe. Denn während Liath, getrennt von Mann und Kind, auf der Suche nach ihrer wahren Bestimmung durch die Sphären wandelt, rüsten sich an allen Grenzen die zahlreichen Feinde zu einem neuen Angriff auf das Reich von König Henry: Da sind die Qumaner, die noch immer von Osten her das Land bedrohen, sowie Starkhand, der listige Anführer der Aikha, der es besser machen will als sein Vater Blutherz, und schließlich gibt es auch noch die geheimnisvolle Adica. Sie ist, mit Alain an ihrer Seite, dazu ausersehen, ihr Volk auf den bevorstehenden Kampf mit den Menschen vorzubereiten. Und während sich Prinz Sanglant den einfallenden Qumanern entgegenstellt, zieht sein Vater König Henry nach Süden: Sein Begehren ist trotz aller Bedrohungen, denen sein Reich ausgesetzt ist, auf den Thron von Aosta gerichtet ... Autorin Kate Elliott hatte bereits unter dem Namen Alis A. Rasmussen mehrere Science-Fiction-Romane veröffentlicht, bevor sie gemeinsam mit Melanie Rawn und Jennifer Roberson »Die Chronik des Goldenen Schlüssels« verfasste. »Sternenkrone« ist ihr erstes großes Soloprojekt in der Fantasy und wurde von Kritikern und Lesern begeistert aufgenommen. Von Kate Elliott bereits erschienen: STERNENKRONE: 1. Erben der Nacht. Roman (24742), 2. Im Namen des Königs. Roman (24743), 3. Auf den Flügeln des Sturms. Roman (24744), 4. Die Kathedrale der Hoffnung. Roman (24842), 5. Der brennende Stein. Roman (24843), 6. Das Rad des Schicksals. Roman (24844), 7. Kind des Feuers. Roman (24131), 8. Schatten des Gestern. Roman (24132), 9. Ins Land der Greife. Roman (24183), 10. Die magischen Tore. Roman (24139) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Kate Elliott
Kind des Feuers Schatten des Gestern Sternenkrone 7+8 Zwei Folgen in einem Band! Ins Deutsche übertragen von Susanne Gerold blanvalet Originaltitel: Crown of Stars, vol. 4, Child of Flame Originalverlag: DAW Books, Inc., New York Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. 1. Auflage Taschenbuchausgabe Februar 2007 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Copyright © der Originalausgabe 2000 by Katarina Elliott Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001 by Verlagsgruppe Random House GmbH Published in arrangement with the author c/o BAROR International, Inc., Armonk, New York, USA Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Luserke/Bondar UH • Herstellung: HN Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN: 978-3-442-24437-9 www.blanvalet-verlag.de
Kind des Feuers Vorbemerkung Ursprünglich war die Saga von der Sternenkrone auf sechs Folgen angelegt, denen eine zweite Staffel hätte
folgen sollen. Doch wie so oft beim Schreiben, hat sich alles ganz anders entwickelt - irgendwann habe ich festgestellt, dass ich mehr zu erzählen hatte, als mir am Anfang klar gewesen war. Einen Teil des Materials, den ich ursprünglich verwenden wollte, habe ich einfach herausgenommen und erst einmal beiseite gelegt, um ihn vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt zu verwenden; dazu gehört auch ein ganzer Handlungsstrang, der bei den Qumanern spielt. Der Rest fließt in eine einzige Serie, die insgesamt zehn oder sogar zwölf Einzelbände umfassen wird. Diese Lösung hat sich als die beste Variante herauskristallisiert, um angesichts der Stoffmenge die schriftstellerische Qualität zu erhalten und auch die Veröffentlichungsdaten nicht zu weit auseinander klaffen zu lassen. Natürlich behalte ich mir die Möglichkeit vor, zu einem späteren Zeitpunkt für eine weitere Saga zur Welt der Sternenkrone zurückzukehren. Denn eines Tages würde ich gerne die Geschichte von Kereka erzählen, der Tochter des qumanischen Oberhauptes, die ein Mann sein möchte. Prolog Unaufhörlich grollte im Südosten der Donner. In dem breiten Graben, in dem drei Jugendliche und zwei schwer verletzte Soldaten Schutz vor der Schlacht gefunden hatten, hatte der Regen jedoch barmherzigerweise etwas nachgelassen. Ein aus nördlicher Richtung kommender Wind vertrieb die Wolken, sodass der Vollmond unverhüllt am Himmel stand und sein wächsernes Licht auf die Welt fiel. Ivar lauschte den Geräuschen der Schlacht, die mit der Brise zu ihnen wehten. In der Hoffnung, ihren Feinden entkommen zu können, waren sie von dem Erdwall weiter oben in den Graben hinabgestiegen. Allerdings waren sie auf diese Weise hinter den feindlichen Linien gefangen, und so hatten sie nicht wirklich und dauerhaft Schutz gefunden, sondern sich höchstens ein bisschen Zeit verschafft. Früher oder später würden die qumanischen Krieger über den Erdwall kommen und sie niedermetzeln, ihnen die Köpfe abschneiden und sich diese dann als Trophäen an den Gürtel hängen. Zumindest war es wohl das, was Baldwin gerade dachte, denn er sprach höchst verwirrt von qumanischen Soldaten, die mit Fackeln in den Händen den riesigen Hügel durchstreiften. Ivar stand auf dem matschigen Grund des Grabens; er konnte die Fackeln nicht sehen. Ein sanftes Glühen ging von der Hügelkuppe aus, doch es sah ganz anders aus als jedes Fackellicht, das er bisher gesehen hatte. Manchmal, wenn man sich in einer wirklich schlimmen Situation befand und nichts dagegen tun konnte, war es besser, nichts zu wissen. »Vorsicht!«, flüsterte Ermanrich. »Hier ist Wasser. Himmel! Es ist kalt wie Eis!« »Komm schon, Dedi, komm mit, Junge«, drängte der ältere der 11 zwei verwundeten Löwen seinen jüngeren Kameraden, doch der Mann regte sich nicht. Vermutlich war er bereits tot. Ivar trat zum Wasser, formte eine Tasse aus seinen Händen und trank. Die kühle Flüssigkeit klärte seinen Kopf zum ersten Mal, seit er seine Finger verloren hatte, und schließlich konnte er sich zurücklehnen und sich einen Überblick darüber verschaffen, wie schlecht ihre Lage war. Der Mond goss sein weiches Licht über die Szenerie. Das Wasser hatte sich hier gesammelt, weil ein Stück weiter oben ein Bächlein einen steilen Abhang hinunterlief. Im Laufe unzähliger Jahre hatte das Wasser dabei zwei Felsbrocken freigelegt, die durch einen Deckstein verbunden waren. Mondlicht fing sich auf einem der Steine, enthüllte ein Relief, das unter dem Moos halb verborgen war. Ivar hangelte sich am Rand des Wasserlochs entlang, als wollte er vermeiden, nasse Füße zu bekommen - dabei war er schon längst vollkommen schlammverschmiert -, und fuhr die alten Linien nach: Es war eine menschliche Gestalt, die das Geweih eines Hirsches trug. »Sieh nur!« Baldwin schob den dichten Vorhang aus Moos beiseite, der vom Felssturz herabhing, und enthüllte einen Tunnel, der ins Innere des Hügels führte. Prinz Bayan und seine Verbündeten, auf deren Seite sie in den Kampf gezogen waren, hatten die Schlacht ohnehin verloren, und jetzt waren sie von ihm und dem sich zurückziehenden Heer abgeschnitten - und von jenen ihrer Kameraden, die noch am Leben waren. Wie konnte ein uralter Hügel da schlimmer sein als die Qumaner? Ivar zwängte sich durch die schmale Öffnung und betrat den Tunnel. Kaltes Wasser klatschte ihm gegen die Knie, sickerte in seine Stiefel, und seine Zehen pochten schmerzhaft. Er konnte nicht das Geringste sehen. Jemand trat neben ihn. »Ivar? Bist du das, Ivar?« »Natürlich bin ich es! Ich habe gehört, dass die Qumaner Angst vor Wasser haben. Vielleicht können wir uns hier verstecken, so lange es nicht zu tief wird.« Der Boden schien fest zu sein, und das 12 Wasser reichte nur bis zu seinen Knien. Ivar tauchte einen Arm ins Wasser, tastete den Boden ab, griff nach einem Stein und warf ihn nach vorn. Das Geräusch, das daraufhin zu hören war, klang hohl. Ein Stück weiter vorn tropfte unablässig Wasser. Aus der Tiefe des Hügelgrabs erklang ein leises Rascheln. »Was war das?«, zischte Baldwin und griff nach Ivars Arm. »Au! Du zwickst mich!« Es war zu spät. Ihre Stimmen hatten die ruhelosen Toten bereits erweckt. Ein wortloses Stöhnen hallte durch den pechschwarzen Tunnel.
»Oh Gott.« Ivar klammerte sich an Baldwin. »Es ist ein Hügelgrab. Wir sind in ein Grab hineinmarschiert und werden für immer verflucht sein!« Aber die Stimme formte Worte, die sie kannten, wenngleich die steinernen Wände und das tröpfelnde Wasser ihr einen seltsam verzerrten, hallenden Klang verliehen. »Ssseid ihr dass? Sssind dass Ermanrichss Freunde?« »Edelfrau Hathumod?«, stammelte Baldwin ungläubig. »Oh, der Herrin sei Dank!« Obwohl ihre Stimme so merkwürdig klang, war ihr die Erleichterung anzumerken. »Der arme Ssigfrid isst am Arm verwundet worden, und wir haben unss verirrt. Ich habe zzu Gott gebetet, unss ein Zzeichen zzu schicken. Und dann ssind wir hier reingefallen. Aber ess isst trocken hier, und ich glaube, der Tunnel zzieht ssich noch weiter in den Hügel hinein, aber ich hatte Angst, weiterzzugehen.« »Was tun wir jetzt?«, murmelte Baldwin. »Wir sollten die anderen holen und so tief wie möglich in den Hügel gehen. Die Qumaner werden es nicht wagen, uns durch dieses Wasser zu folgen. Nach ein oder zwei Tagen werden sie verschwinden, und dann können wir wieder rauskommen.« »Einfach so?«, fragte Baldwin. »Einfach so. Du wirst schon sehen.« Sie marschierten zum moosbehangenen Eingang zurück, wo Ermanrich zitternd und hustend auf dem Moos kauerte und wartete. 13 »Oh, Gott! Daseidihrja! Ich dachte schon, ihr wärt verschluckt worden.« Er seufzte etwas gehetzt, dann fuhr er mit leiser Stimme fort, versuchte aus seiner Angst und seiner Erleichterung einen Witz zu machen: »Hätte ja sein können, dass sogar der Hügel Baldwins Schönheit erlegen ist und ihn verspeisen wollte. Ich weiß allerdings nicht, was er mit einem seltsamen, rothaarigen Kerl wie dir gewollt hätte, Ivar. » »Die Erde muss blind sein, sonst kommst du da nie rein. Und jetzt komm.« Ivar trat zu dem Löwen, der noch bei Bewusstsein war. »Freund, kannst du gehen?« »Mehr oder weniger. Aber Dedi hier -« Die Stimme des alten Löwen klang plötzlich rau. »Wir werden ihn tragen«, erklärte Ivar hastig. »Aber wir sollten ihn vorher von dem Kettenhemd befreien. Ermanrich, kannst du mir mal helfen? Baldwin, du führst den Löwen in den Hügel hinein, und geh ein Stück voraus, für den Fall, dass es da irgendwelche Löcher gibt.« »Löcher? Und was ist, wenn ich in so ein Loch reinfalle?« »Baldwin, wir haben keine Zeit mehr! Hier.« Er hatte die Schwertscheide des bewusstlosen Löwen gefunden. »Nimm das Schwert; damit kannst du dich vorantasten.« Merkwürdigerweise gehorchte Baldwin, ohne weitere Einwände zu erheben. Er half dem alten Löwen auf die Beine und stützte ihn, dann verschwanden sie im Tunnel. Es war gar nicht so einfach, einem bewusstlosen Mann das Kettenhemd auszuziehen. »Ich glaube, er ist bereits tot«, flüsterte Ermanrich mehrere Male, aber schließlich hatten sie ihn aus der Rüstung geschält. Auch ohne Rüstung war es nicht einfach, ihn in den Tunnel zu zerren. Er war ein großer Mann mit kräftigen Muskeln und so schwer verletzt, dass sie sein ganzes Gewicht zu schleppen hatten. Glücklicherweise stieg das Wasser niemals höher als bis zu ihren Oberschenkeln, und dann stieg der Boden wieder an und führte sie auf trockenes Gebiet. Über ihnen dräute jetzt das Gewicht des 14 Hügels. Der scharfe Geruch von Unrat drang Ivar in die Nase, und seine verstümmelte Hand schmerzte fürchterlich. »Gott sei Dank«, sagte Baldwin in der Dunkelheit. Ivar und Ermanrich ließen den bewusstlosen Soldaten nicht gerade sanft zu Boden sinken, und Ivar richtete sich so rasch wieder auf, dass er sich den Kopf an der steinernen Decke stieß. Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen; am liebsten hätte er sich einfach nur hingesetzt und geweint, so grauenhaft erschien ihm alles. Er hatte wirklich geglaubt, sie würden die Schlacht gewinnen. Die Truppen von Prinz Bayan und Prinzessin Sapientia hatten so wunderbar ausgesehen, als sie gegenüber dem qumanischen Heer Aufstellung bezogen hatten, und auch die gefürchtete Markgräfin Judith war mit einer solch starken Streitmacht geritten, dass er niemals geglaubt hätte, ihre eigenen Linien könnten zerbrechen. Prinz Ekkehard war in dem Durcheinander verloren gegangen, seine Kameraden waren verschwunden oder tot. Sie waren die Einzigen, die übrig geblieben waren. Vermutlich waren sie auf dieser Seite des Flusses die Einzigen von Bayans Heer: zwei schwer verwundete Soldaten, vier Novizen und eine verschwundene Nonne. Die Schlacht hatte am späten Nachmittag begonnen, und jetzt senkte sich die Nacht herab. Zwei Stunden war es erst her, dass sie an ihrem herrlichen Platz vorne bei der rechten Flanke frohgemut darauf gewartet hatten, sich in die Schlacht zu stürzen. Nie hätten sie sich vorstellen können, dass sich alles noch mal ändern würde. Doch in der Zwischenzeit musste jemand zum Eingang des Tunnels zurückkehren und dafür sorgen, dass ihnen keine Qumaner folgen konnten. Frierend, nass und zitternd bereitete Ivar sich darauf vor, durch das Wasser zurückzuwaten, das die tiefer liegenden Teile des Tunnels überflutete. Seine Beinkleider hingen bereits wie eiskalte Flechten an seinem Körper, und seine Zehen waren vor Kälte ganz taub geworden.
Eine Hand kam in der Dunkelheit auf ihn zu und zupfte ihn am Ärmel. »Bist du ganz sicher, dass ich nicht mitkommen soll?«, fragte Baldwin leise mit heiserer Stimme. 15 »Ja. Es ist besser, wenn ich allein gehe. Falls mir etwas zustößt, musst du Ermanrich und Edelfrau Hathumod helfen, den verletzten Löwen zu tragen.« Baldwin beugte sich näher zu ihm. Trotz der vielen Wochen, die sie jetzt schon unter widrigsten Umständen reisten, trotz des Schreckens angesichts der Niederlage und der Verzweiflung, mit der sie sich durch die alten Erdwälle wühlten, war Baldwins Atem noch immer so süß wie der eines Edelmanns, der mitten in seinem wunderschönen Rosengarten saß und einen heißen, mit Minze gewürzten Molketrank zu sich nahm. »Lieber wäre ich tot, als ohne dich weiterzugehen.« »Wir werden alle tot sein, wenn die Qumaner die Rüstung finden; sie werden daraus schließen, dass wir uns in diesem Tunnel verstecken. Ich bitte dich, Baldwin, bleib einfach hier.« Hinter ihm, in der finsteren Schwärze, hob und senkte sich Sigfrids sanfte Stimme im melodischen Gebet. Irgendwie verfälschte die Dunkelheit die Zeit. War es nicht erst wenige Augenblick her, dass sie über diesen verborgenen Eingang gestolpert waren? Es schien bereits Stunden zurückzuliegen. Zusätzlich zu Sigfrids ruhigem Gebet hörte Ivar jetzt auch Hathumod sprechen; sie murmelte Worte, die er nicht ganz entziffern konnte. Der alte Löwe antwortete mit einsilbigen Grunzlauten, und Ermanrich reagierte, indem er leise Fragen stellte. Er konnte ihn nicht sehen, und auch Baldwin nicht, der direkt neben ihm stand. Doch er spürte sie; spürte, wie sie sich unter der dräuenden Last der Erde und des Felsens wie erschreckte Ratten zusammenkauerten. Er nahm Baldwin das Schwert ab, das dem bewusstlosen Löwen gehörte, und betastete mit seiner gesunden Hand das Heft, packte fest zu und entspannte dann seinen Griff, bis er das Gefühl hatte, dass es gut in der Hand lag. Mit zusammengebissenen Zähnen quälte er sich wieder ins Wasser; er zitterte am ganzen Körper, als der Tunnelboden sich wieder senkte und sich erneut eiskaltes Wasser um seine Beine schloss. Das Schwert fest gegen sein linkes Bein gedrückt, näherte er sich 16 dem Eingang möglichst lautlos. Er roch den schwachen Gestank des Schlachtfelds. In der Ferne schrien Nachtkrähen, machten ihre Verwandten auf das Festmahl aufmerksam. Ein Stein verrutschte unter seinem Stiefel, und er ächzte leise, bemüht, das Gleichgewicht zu halten. Mit der verletzten Hand ratschte er an der rauen Mauer entlang. Er unterdrückte mühsam einen Schmerzensschrei, als die Wunde aufplatzte und erneut zu bluten begann. Schmerzen breiteten sich jetzt in seiner ganzen Hand aus, doch er taumelte weiter vorwärts. Die Stümpfe der fehlenden Finger, die gleich beim zweiten Fingerglied abgehackt worden waren, griffen jetzt in ein weiches Bett aus Moos. Tränen strömten ihm aus den Augen, und seine Lippen schmeckten salzig. Nach einer Weile ließ der Schmerz so weit nach, dass er wieder nachdenken konnte. Er hatte den Eingang erreicht. Vorsichtig strich er mit den Fingern seiner gesunden Hand über das Moos, das den Eingang verdeckte. Er blieb vor dem Vorhang stehen und lauschte. Er konnte nicht das Geringste sehen, nicht einmal den Himmel. Draußen schien es genauso dunkel zu sein wie im Innern des Hügels. Der schwere Geruch von Feuchtigkeit, Erde und Moos machte ihn benommen. Doch er konnte das ferne Gemurmel eines sich in Bewegung befindlichen Heeres hören, Hufgetrappel, die Schreie einer armen gequälten Seele, das Knirschen von Geröll, das auf zwei Heere hindeutete, die sich voneinander entfernten, während die Schlacht versiegte und erstarb. Ganz in der Nähe hörte er ein Grunzen, ein leises, gekeuchtes Murmeln. Er rückte das Schwert in der Hand zurecht, bevor ihm klar wurde, dass er seine Position geändert hatte. Die abgelegte Rüstung des Löwen sprach mit jener Stimme, die allen Dingen aus Metall zu Eigen war: Es erklang ein leichtes Klirren, wenn Hände sie berührten. Es war, wie er befürchtet hatte: Ein qumanischer Soldat hatte das Kettenhemd gefunden. Er sprang durch den Vorhang. Der qumanische Soldat hatte 17 Schwingen auf dem kettenhemdgeschützten Rücken, und jetzt breiteten sie sich aus. Ivar duckte sich, um nicht von der Holzkonstruktion erfasst zu werden. In dem Augenblick, da der andere Mann herumwirbelte, stieß er zu. Das kurze Schwert traf den geflügelten Soldaten gleich unterhalb des mit Lederschuppen besetzten Hemdes. Ivar streckte seinen verwundeten Arm aus und schlang den Unterarm um den Nacken des Mannes, zerrte ihn sodann mit all seiner Kraft durch den Eingang. Das Holzgestell schrammte gegen den Sturz, als Ivar ins Wasser fiel und auf dem Qumaner zu liegen kam. Das Schwert drang bis zum Heft zwischen die Rippen des feindlichen Soldaten. Wasser berührte Ivars Lippen, als er den Mann nach unten drückte, ihn unter Wasser hielt. Der Mann stieß mit den Händen und trat mit den Füßen um sich, versuchte, den Kopf aus dem Wasser zu heben, aber Ivar begegnete seinen Versuchen, indem er sich auf den Griff des Schwertes stützte. Der Stahl prallte auf den Knochen, sodass der Soldat das Bewusstsein verlor und damit auch jeden Vorteil, den er einmal gehabt haben mochte. Seine schwarzen Haare trieben jetzt wie Moosfäden im Wasser. Ivar schmeckte Blut. Ganz plötzlich erschlaffte der Qumaner. Ivar schob den Mann tiefer in das Wasserloch und stand mühsam auf. Sein Körper schmerzte von der Kälte. Er
tauchte eine Hand ins Wasser, um sich das Gesicht zu waschen, es von dem Blut zu befreien, doch das Wasser um ihn herum schien von dem Leben, dass jetzt aus dem Körper des Toten sickerte, verseucht zu werden. Er schlüpfte vorsichtig durch den Moosvorhang wieder nach draußen und fand dort klares Wasser. Ein Blitz erhellte den Himmel, gefolgt von einem heftigen Donnerschlag. Ein Ruf erklang, wie auf der Suche nach etwas. Auf dem Erdwall weiter hinten zeichnete sich die Gestalt eines Mannes mit Flügeln gegen den Nachthimmel ab: ein weiterer Qumaner, auf der Suche nach seinem Kameraden. Da Ivar im Graben lag, inmitten des Schatten, den der Sturz warf, war er gut geschützt. Kurze Zeit später bewegte sich die Gestalt, verschwand außer Sichtweite. 18 Regentropfen nässten Ivars Wangen. In der Ferne war das anschwellende Gebrüll des wütenden Flusses zu hören, als hätten sich viele Stimmen auf einmal erhoben, doch Ivar konnte nichts erkennen, genauso wenig, wie er die Sterne über sich sehen konnte. Ein Regentropfen rann seine Nase hinunter, und da er ihn nicht abwischte, blieb er eine ganze Weile dort hängen - genauso reglos wie er, aus Angst, sich zu verraten. Schließlich legte er sein Schwert beiseite, rollte das Kettenhemd zusammen, klemmte es hinter seinen Gürtel und hängte sich den Helmriemen über die Schulter. Mit dem Schwert in der gesunden Hand tastete er sich zum Sturz zurück; seine verletzte Hand pochte währenddessen so schlimm, dass er Kopfschmerzen davon bekam. Grausige Flügel streiften seine Nase, und ein zerbrochenes Stück des Holzgestells schürfte seine Wange auf, während Federn seine Lippe kitzelten. Der Regen draußen war stärker geworden. Donner erklang in der Ferne. Wenn sie Glück hatten, würde der Regen jegliche Spuren verwischen, sodass sie ein oder zwei Tage in Sicherheit waren, bis die Qumaner weiterzogen. Dann konnten sie sich herausschleichen und versuchen, in nordwestlicher Richtung zu entkommen, dem sich zurückziehenden Heer von Prinz Bayan und Prinzessin Sapientia hinterher. Tief in seinem Innern wusste er, dass es eine dumme Hoffnung war. Die Qumaner verfügten über Kundschafter und Späher. Eine übel zugerichtete Gruppe von sieben Personen, von denen vier verwundet waren und die meisten nicht kämpfen konnten, würde niemals ungesehen hinter die qumanischen Linien gelangen. Aber sie durften die Hoffnung nicht aufgeben, wenn sie sich nicht gleich hinlegen und sterben wollten. Hätte Gott ihnen die Vision des Phoenix wirklich gewährt, wenn sie schon kurz darauf auf solch sinnlose Weise sterben sollten? Baldwin wartete dort auf ihn, wo der Boden wieder anstieg und er das Wasser endlich wieder verlassen konnte. »Komm mit, das musst du dir ansehen«, sagte Baldwin aufgeregt. »Gerulf hat ein Feuer gemacht.« 19 »Gerulf?« »So heißt der alte Löwe.« Baldwin zog ihn weiter mit sich, half ihm, das Gleichgewicht zu halten, als er taumelte. Müdigkeit erfasste Ivar. Er wurde von unregelmäßigen Krämpfen geschüttelt, völlig durchnässt, wie er war. Er wollte nichts weiter, als sich an Ort und Stelle hinlegen und schlafen, bis der Tod ihn überraschte, oder bis der Phoenix ihn holte oder der eine den anderen; es war schwierig, noch einen klaren Gedanken zu fassen, wo sich die Wände um ihn herum bewegten. Seltsame Zeichen waren in den hellen Fels gemeißelt; breite Steine, die aufrecht standen und mit Symbolen der Dämonen und alten Götter übersät waren, die in den früheren Zeiten die Leute geplagt hatten: vierseitige Rauten, Spiralen ohne Anfang und Ende, breite Schraffuren, die aussahen, als wäre Stroh kreuzweise in den Stein gedrückt worden. Doch wie kam es, dass er so tief im Herzen eines Hügelgrabes so gut sehen konnte? Mit Baldwins Hilfe stolperte er vorwärts, bis der Tunnel sich zu einer raucherfüllten Kammer öffnete, die von einem Feuer erhellt war. Er starrte die Kameraden an, die sich um eine Fackel gekauert hatten. Die Kammer war wie ein pechschwarzes Loch, dem das flackernde Licht etwas Unheimliches verlieh. Er konnte weder die Decke sehen noch die Wände, die sich in den Schatten verloren. Er nieste. Gleich hinter der qualmenden Fackel markierte eine Steintafel die Mitte des Raums. Eine Königin war hier vor langer Zeit zur Ruhe gebettet worden: Dort lagen ihre Gebeine, ein bleiches Skelett, das im Fackellicht schlief und dessen hohläugige Gestalt verwoben war mit Fasern von zerfallendem Stoff. Das Skelett glänzte in kostbarem Gold, das sich um den Schädel herum und in die Rippen ergoss. Goldgeweihe kamen in Sicht, als Gerulf die Fackel etwas anders hielt, um die Verletzung seines Freundes besser untersuchen zu können. »Du hättest in diesem Hügelgrab kein Feuer entfachen dürfen«, 20 schrie Ivar entsetzt. »Jeder weiß, dass ein Feuer die unheiligen Toten aufweckt!« Der zerbrechlich wirkende Sigfrid saß gleich neben dem Altar, bei dem bewusstlosen Löwen. In seinem Blick lag die Ruhe eines Menschen, der Gottes wundersam heilende Hände auf seinem Körper erfahren hatte. »Hab keine Angst, Ivar.« Schon allein die Stimme, die ihm ein Wunder wiedergegeben hatte, stand in höchstem Widerspruch zu Ivars Angst. »Gott wird uns beschützen. Diese arme, tote Frau hat nichts gegen uns.« Er deutete auf das halb enthüllte Skelett, dann beugte er sich vor, als der alte Löwe ihm leise etwas mitteilen wollte. Aber woher wollte Sigfrid das wissen? Ivar war im Norden aufgewachsen, wo noch immer die alten Götter hausten, voller Eifersucht darauf, dass der Glaube der Einigkeiten ihnen so viele Seelen entrissen hatte. Niemand konnte sagen, welche Bösartigkeit hier ruhte oder wann sie erwachen würde. Ermanrich und Hathumod saßen beieinander, die Hände in verwandtschaftlicher Manier verschränkt. Sie waren beide ziemlich abgemagert. Wie lang schien es her, dass die vier jungen Leute und Hathumod gemeinsam als
Novizen in Quedlingham gedient hatten ! Und doch war nicht mehr als ein Jahr vergangen, seit sie alle aus dem Konvent verwiesen worden waren, weil sie sich der Sünde der Ketzerei schuldig gemacht hatten. Balwin trat um den Steinaltar und die tote Königin herum und bückte sich leicht, um eines der Goldgeweihe anzufassen. Das Skelett reagierte schon auf die leiseste Berührung, und kostbare Bernsteinperlen verteilten sich auf den Gebeinen, fielen nacheinander herab. »Weck die Toten nicht auf!«, zischte Ivar. Aber Baldwin griff mit weit aufgerissenen Augen geradewegs in die Fäden des halb zerfallenden Wollgürtels, dessen mit kleinen Gerten aus grünlichem Metall versehene Enden sich um das Becken kringelten. Er schloss seine Hand fest um einen kleinen Gegenstand, der blau aufleuchtete. 21 »Sehr her!«, rief er, mit der anderen Hand einen Steinspiegel aus der Höhlung holend, die ihre Beckenknochen formten. Die polierte, schwarze Oberfläche glänzte noch immer. Als Ivar einen entsetzten Schritt nach vorn tat, um Baldwin von jeglicher weiteren Entweihung abzuhalten, sah er in diesem Spiegel seine Bewegung. »Oh Gott, ich fürchte, mein Neffe ist tot«, murmelte Gerulf. »Dabei habe ich meiner Schwester geschworen, ihn heil wieder zurückzubringen.« Andere Schatten bewegten sich in den Tiefen des Spiegels, von Dunkelheit verhüllte Gestalten. Sie traten aus den Alkoven, alte Königinnen, deren Augen so hell und scharf wie Klingen strahlten. Die Erste war jung, und ihre Gewänder leuchteten wie brennende Pfeile, doch ihr Mund war zu einem grausamen Lächeln verzogen. Die Zweite hatte den Leibesumfang einer Matrone und die generöse Haltung einer Edelfrau, der es niemals an Nahrung mangelte; in ihren Armen trug sie einen Korb, der von Früchten überquoll. Die Dritte hatte Knöchelchen in ihre Silberhaare geflochten, und die Falten in ihrem gealterten Gesicht wirkten so tief wie die Schluchten eines Berges. Ihre erhobenen Hände waren so filigran wie Spinnweben. Ihr Blick bannte ihn. Er konnte nicht sprechen, konnte die anderen nicht warnen, die nichts sahen und die Gefahr nicht spürten. Hathumod stockte der Atem. »Was liegt da?« Bei ihren Worten liefen Wellen durch die Geistererscheinungen, als würde eine Hand Algen aus einem zugewachsenen See fischen. Ivar fand seine Stimme wieder. »Baldwin! Leg das sofort weg, du Idiot!« Während Baldwin den Spiegel verwirrt sinken ließ, kroch Hathumod näher. Ihre Hand blieb auf etwas liegen, das so voller Schmutz und Schimmel war, dass ihre Hand ganz grün davon wurde. Flocken flogen überall herum, wirbelten auf, um sich mit dem Rauch der Fackel zu verbinden. Hathumod war entweder genauso dumm wie Baldwin oder genauso unempfänglich wie er. Sie 22 griff nach dem, was da lag. Sie bekam einen verblichenen Lederbeutel zu fassen, der in ihren Händen zu Staub zerfiel und nichts weiter hinterließ als einen von Rostflecken gezeichneten Nagel. Sie begann zu weinen, während Gerulf sich daran machte, Kleidungsstücke und Gegenstände zu entfernen, die ebenfalls zerfielen: ein rostendes Kettenhemd, ein Messer, ein Ledergürtel, ein schlichtes Untergewand, ein Überwurf mit Hinweisen auf einen schwarzen Löwen. »Ein armer Kamerad muss vor vielen Jahren hier hereingekrochen und gestorben sein«, sagte der alte Löwe. »Wer ist da?«, fragte Sigfrid und warf seinen Kopf in den Nacken, als hätte er etwas gehört. Baldwin, der noch immer den Obsidian-Spiegel umklammert hielt, schrie auf und sackte vornüber. Auf dem Boden zuckte Gerulfs toter Neffe, als wäre soeben ein Dämon in ihn gefahren. Die Kammer wurde von bläulichem, flackerndem Licht erhellt. Ivar schrie auf, aber er konnte seine eigene Stimme nicht hören. Seine Kehle war wie zugeschnürt, als er die Luft herauspresste. Das blaue Feuer blendete ihn. Der Boden verzog sich unter seinen Füßen, schleuderte ihn zur Seite, und er fiel auf die Knie, doch er bekam mit den Händen nichts zu fassen, woran er sich hätte festhalten können. Er fiel endlos weit, und seine Hände griffen ins Leere, während die junge Königin mit dem messerscharfen Lächeln über einen strahlenden Teppich aus Feuer auf ihn zuging, die Hände wie zum Willkommensgruß erhoben. Er streckte seine eigenen Hände nach ihr aus, als wäre sie eine Rettungsleine. Er berührte ihre Hände. Und verlor das Bewusstsein. Teil Eins Der Blumenpfad I Die Geweihte 1 Bei Sonnenuntergang verließ Adica das Dorf. Die Ältesten verneigten sich respektvoll vor ihr, hielten aber sicheren Abstand, während sie an ihnen vorbeiging. Väter zerrten ihre Kinder zur Seite. Frauen, die mit frischen Korngarben von den Feldern kamen, wandten ihr den Rücken zu, damit ihr Blick nicht auf den gerade erst geernteten Emmer fiel, aus dem sie ihr Brot backen würden. Selbst Weiwara, einst ihre geliebte Freundin, trat von der Türschwelle des Hauses zurück, in dem sie mit ihrer Familie lebte, um ihren hochschwangeren Bauch vor Adicas Blicken zu schützen. Die Dorfbewohner sahen sie jetzt anders an als früher. Das heißt, eigentlich sahen sie sie gar nicht an, jedenfalls sahen sie ihr niemals direkt ins Gesicht, seit die Geheiligte die zukünftige Pflicht Adicas - und damit ihr
Schicksal - verkündet hatte. Selbst die Hunde wichen vor ihr zurück, wenn sie an ihnen vorbeiging. Sie passierte das geöffnete Palisadentor und achtete nicht weiter auf die Holzplankenbrücke, die über den Graben führte, der sich um das Dorf zog. Die Sonnenstrahlen tauchten die Wolken in eine Mischung aus Rosa und Lila, so zart und hell wie blühender 27 Flachs. Die Felder entlang der Flussebene schimmerten golden, willkürlich, ohne einer bestimmten Ordnung zu folgen, gesprenkelt von den alten Häusern der Großmütter. Diese Häuser waren inzwischen verlassen, da das neue Dorf mehr Schutz bot. Die Großmütter hatten noch nicht in der ständigen Furcht gelebt, wie die Leute es heute taten. Als sie die andere Seite des Grabens erreicht hatte, reckte sie ihren Stab dreimal in die Luft und sprach einen Segen über das Dorf. Dann ging sie weiter. Am Fluss standen drei Männer und beugten sich über das Wehr. Als sie näher kam, richtete sich einer von ihnen auf; und sie erkannte Beors breite Schultern, seine entschlossene Art, das Kinn zu recken, wenn er verärgert war. Wie sehr hatte Beor protestiert und geklagt, als die Ältesten beschlossen hatten, dass sie nicht länger als Mann und Frau zusammenleben konnten! Und doch war das Leben mit ihm nie ruhig gewesen. Er hatte das Recht erworben, sie als seine Gefährtin zu betrachten - an dem Tag, da die Ältesten zugestimmt hatten, ihn zum Kriegssprecher des Dorfes zu ernennen, weil er sich im Krieg gegen die Verfluchten so hervorgetan hatte. Aber ihre eigene Wahl wäre sicher nicht auf ihn gefallen, hätte ihr das Gesetz, das sie zur Geweihten des Dorfes bestimmt hatte, die Möglichkeit gegeben, sich selbst einen Partner zu suchen. Auf eine gewisse Weise war sie daher sogar froh, ihn los zu sein. Doch im Laufe der Zeit, als immer mehr Tage und Monate verstrichen, vermisste sie in den Nächten zunehmend die Wärme seines Körpers. Beor machte eine Bewegung, als wollte er zu ihr gehen, sie einholen, aber sein Kamerad hielt ihn davon ab, indem er ihm eine Hand auf die Brust legte. Adica ging weiter allein den Pfad entlang. Sie erklomm das riesige Hügelgrab, folgte dem Pfad, der sich durch das Labyrinth aus Erdwällen emporwand. Als Geweihte, die das Dorf schützte, war sie schon viele Male hier hochgegangen, 28 doch niemals zuvor hatte sie sich so einsam gefühlt wie in diesem Augenblick. Es wuchs noch kein frisches Grün auf dem neu errichteten Erdwall, abgesehen von den Disteln, deren Blätter noch so zart waren, das man sie essen konnte. Weit unter ihr schwankten hohes Gras und ungeerntetes Korn wie Wogen im Wind, als jetzt eine Brise aufkam, während sich die Sonne über das Land der Toten senkte. Der Boden des leicht bergauf führenden Weges war noch immer weich von den vielen Baumstämmen, die benutzt worden waren, um die Steine zum heiligen Steinkreis oben auf dem Hügel zu schaffen. Sie schritt über einen schmalen Damm zwischen zwei riesigen Erdwällen und trat auf ein ebenes Feld, das die Steinkrone darstellte. Hier stand der Kreis der sieben Steine, der während der Lebensspanne von Adicas Lehrerin errichtet worden war. Und hier, im Osten des Steinkreises, markierten drei alte Grundmauern eine uralte Siedlung. Ihre Lehrerin hatte ihr erklärt, dass die umgestürzten Grundmauern zu der Halle der seit langem verstorbenen Königinnen Pfeilhell, Goldsau und Zahnlos gehört hatten, deren Magie aus dem großen Leib dieses Tumulus erstanden war und deren Gebeine und Schätze verborgen im gewölbten Bauch der Erde lagen. Auf halbem Weg zwischen den irdenen Toren und dem Steinwebstuhl, wo die im Westen untergehende Sonne ihre letzten Strahlen über die Schwelle schicken konnte, hatte Adica eine Hütte aus Stöcken und Fellen errichtet. Auf solch primitive Weise hatte die Menschheit lange Zeit Obdach gefunden, noch vor der Zeit, da die großen Königinnen und ihre geweihten Frauen den Südlandbewohnern die Magie der Samen, des Tons und der Bronze gestohlen hatten, noch bevor die Verfluchten gekommen waren und sie zu Sklaven und Opfergaben gemacht hatten. Sie sprach ihre Gebete - sie waren ihr so vertraut, dass sie dabei nicht einmal nachdenken musste - und verspritzte den letzten Rest ihres Biers in die vier Himmelsrichtungen: Norden, Osten, Süden und Westen. Dann lehnte sie ihren Stab gegen den Türsturz aus 29 schlanken Birkenstöcken und klatschte dreimal die Handgelenke gegeneinander. Die Kupferarmbänder, die ihren Status als Geweihte bezeugten, klirrten leise, als würde ein letztes Gebet in die Nacht entlassen. Die Sonne kroch hinter den Horizont. Sie trat über die Türschwelle. Im Innern des Zeltes zog sie ihr Kleid aus Bändern aus und legte es in eine stabile Zedernholzkiste, in der sie all ihre Habseligkeiten aufbewahrte. Schließlich wickelte sie sich in die Felle, die jetzt bei Nacht ihre einzige Gesellschaft waren. Einst hatte sie wie die anderen ihres Volkes gelebt, hatte in einem Haus im Dorf gewohnt und sich in der Gemeinschaft des Dorfes aufgehalten. Natürlich war ihr Haus mit Zaubersprüchen umgeben gewesen, und niemand außer ihrem Mann und ihren Mutterleib-Verwandten wäre eingetreten - aus Angst vor den Mächten, die in den Schatten und den Dachvorsprüngen lauerten. Aber sie hatte immer noch abends das Gebrüll des Viehs in den Ställen hören können, oder bei Morgenanbruch die fröhlichen Rufe der Kinder, die zum Spielen aufstanden. Einem Dorf, in dem eine Geweihte lebte, pflegten stets Glück und gute Ernten beschieden zu sein. Seitdem die Geheiligte sie zur Geweihten ernannt hatte, konnte sie jedoch nicht mehr im Dorf schlafen - aus
Angst davor, dass allein ihre Träume rücksichtslose und böse Geister anlocken könnten. Geister konnten den Tod riechen; alle wussten das. Also konnten sie auch bei ihr den Tod riechen. Sie schwärmten dorthin, wo das Schicksal besonders klar hervortrat. Der Schatten des Todes hatte sie berührt, und so fürchteten die Dorfbewohner, dass wer immer sie berühren würde, ebenfalls vom Kuss des Todes vergiftet werden würde. Sie sprach das Nachtgebet zur Bleichen Jägerin und lag still da, bis der Schlaf sie davontrug, doch er brachte keine Entspannung. Sie bewegte unruhig die Arme und wälzte sich immer wieder herum, träumte davon, einsam und klein in einem Schwindel erregenden Wind zu stehen, während der Tod nach ihr griff. War es möglich, dass das große Weben wirklich Erfolg hatte? Oder würde alles umsonst sein, trotz allem? 30 Sie wachte auf, drehte sich in den Schlaffellen herum, dachte an Beor, den sie einst als ihren Ehemann bezeichnet hatte. Seit sieben Nächten hatte sie immer wieder den gleichen Traum. Doch was ihr solche Furcht einflößte, dass sie immer wieder schweißgebadet aufwachte, war nicht der Tod. Sie legte ihre Stirn auf die zu Fäusten geballten Hände. »Ich bitte dich, Fette, die du barmherzig zu deinen Kindern bist, gewähre mir einen Gefährten. Ich fürchte den Tod nicht, wenn ich den langen Weg in die Dunkelheit nur nicht allein gehen muss.« Ein Wind kam auf. Die Zaubersprüche, die sie an die Pfähle gebunden hatte, erhoben ihre sanften Stimmen. Aus weiter Ferne hörte sie die bronzenen Blätter des geheiligten Kessels klirren, als die Brise ihn ergriff. Dann erstarb der Wind. Es war so ruhig, dass sie schon glaubte, das Atemholen der Sterne hören zu können. Sie schlüpfte nach draußen. Die kühle Nachtluft strich über ihre Haut. Über ihr schimmerten die Sterne in all ihrem Glanz. Der zunehmende Mond war bereits untergegangen. Über ihr blinkten das Schlangenauge und das Drachenauge, die Boten der Macht. Der Mahlstein ging unter. War das ein Zeichen? Die untergehende Konstellation, die sich Mahlstein nannte, würde sie zu Fallenders Heim bringen, und bei Anbruch des Abends würde der aufgehende Mahlstein sie mit Hilfe der Großzügigen - der umherschweifenden Tochter der Fetten -, wieder nach Hause holen. Die Fette sprach oft in Rätseln oder Falschheiten, und vielleicht war es diesmal auch so. Es gab einen Mann, an den sie oft dachte, einen Mann, der mutig genug wäre, an ihrer Seite zu bleiben. Sie kroch wieder in ihren Unterschlupf und durchwühlte ihre Zedernholzkiste auf der Suche nach einem Geschenk für Fallender. Sie entschied sich für eine Kupferstange und ein Elchgeweih. Schließlich fand sie ein Bernsteinhalsband, das sie einst Beor gegeben hatte, um ihre Übereinkunft zu besiegeln, aber natürlich war er von den Ältesten gezwungen worden, es ihr zurückzugeben. Dann kleidete sie sich an, wickelte sich das Kleid zweimal um die 31 Hüfte, zupfte ihr Miederoberteil herunter und hängte den Spiegel an einer Schlaufe an das Kleid. Sie steckte die Geschenke in einen kleinen Korb, zusammen mit einer Kette aus Knochenperlen, die sie als Freundschaftsgabe der Obfrau von Fallenders Dorf geben wollte, und kletterte ins Freie. Sie schlang sich den Korb mit einem Seil über die Schulter und hob ihren Stab. Ein Pfad wand sich durch das Gras zu dem Steinwebstuhl. Der Steinkreis wartete in erwartungsvoller Stille darauf, dass sie die Steine erweckte. Sie blieb auf dem Anrufungsboden außerhalb des Steinkreises stehen, einem staubigen Fleckchen aus Kalkstein, das hell im Sternenlicht erstrahlte. Sie hob den Spiegel und begann mit Gebeten, um die Steine zu erwecken: »Was sich im Osten öffnet - höre mich. Was sich im Westen öffnet - höre mich. Ich bitte dich, Fette, lass mich den Kettfaden deines himmlischen Webens führen, damit ich das Tor durchschreiten kann, das durch seinen Atem entsteht.« Sie verrückte den Spiegel so oft, bis das Licht der Sterne, die den Mahlstein bildeten, sich auf der glatten Oberfläche spiegelte. Derart vom Spiegel zurückgeworfen, würde die schreckliche Macht der Sterne sie nicht verbrennen. Mit ihrem Stab zog sie das gespiegelte Licht in den Webstuhl der Steine und wob sich einen lebendigen Durchgang aus Sternenlicht und Stein. Sie spürte durch die Fußsohlen hindurch die Totenklage der alten Königinnen, die in dem riesigen Webstuhl der Sterne geheimnisvolle Magie geweissagt hatten, von der nicht einmal die Verfluchten wussten. Fäden aus Sternenlicht verfingen sich in den Steinen und verflochten sich zu einer Architektur, die aus körperlosem Licht bestand, das in ein helles Tor gewebt worden war. Sie trat hindurch und in Regen hinein. Ihre Füße trafen auf matschigen Boden, hinterließen 32 feine Kalkspuren im Gras. Die Luft dampfte vor heißer, schwerer Feuchtigkeit. Es regnete. Sie prallte gegen einen Menhir, doch eine dichte Moosschicht um den Stein verhinderte, dass sie sich die Schulter schlimmer stieß. Es war offensichtlich unmöglich, irgendwelche Sterne zu sehen. Und sie konnte auch den Pfad nicht sehen. Aber Fallender hatte eine Behausung in der Nähe errichtet, und sie stolperte in der Dunkelheit weiter, bis sie gegen ein Strohdach stieß. Ein Haufen Stroh, der nach Schimmel roch, bot sich ihr als Sitzplatz an. Während sie wartete, arbeitete sie vor ihrem geistigen Auge immer wieder ihren Anteil an dem Muster der großen Arbeit durch. Sie
konnte das präzise Entfalten des Rituals niemals genug üben; ein Ritual, das nach generationenlangen Kriegen denen, die unter den Verfluchten litten, zurückzuschlagen gestatten würde. Als der Tag anbrach, ließ der Regen nach. Sie verließ den Hügel auf einem abwärts führenden Pfad, und wenn auch ihre Schultern trocken blieben, so waren ihre Füße doch völlig durchnässt. Marschland erstreckte sich rings um sie, ein Flickenteppich aus kleinen Flächen stehenden Wassers, kleinen Inseln und dichten Riedflecken. Fallenders Volk hatte einen Pfad angelegt, der durch das Marschland führte; er bestand aus geschnittenen, zerteilten und zu einem Gewebe verarbeiteten Haselnussschösslingen, sodass man auf einem federnden Streifen den sumpfigen Untergrund überqueren konnte. Während Adica den Pfad entlangschritt, brach die Wolkendecke auf, und die Sonne kam hervor. Auf einem Hügel in der Ferne wurde eine Gestalt sichtbar. Jemand schrie ihr ein lautes »Hallo« entgegen, und sie hob zur Antwort die Hand, ohne allerdings stehen zu bleiben. Der Weg zu den Hügeln am Rande des Marschlandes, wo Fallender und sein Stamm sich niedergelassen hatten, nahm gut und gern den ganzen Morgen in Anspruch. Vögel zwitscherten. Sie hielt einmal an, um die geronnene Milch zu sich zu nehmen, die sie mitgenommen hatte; einmal verließ sie den Pfad, um Beeren zu pflücken. Seetaucher und Enten 33 paddelten in den flachen Gewässern. Ein Schwärm Schwäne glitt majestätisch an ihr vorbei. Ein Reiher lauerte in seinem einzigartigen Glanz, königlich und voller Stolz. Dann rührte er sich plötzlich und erhob sich mit großen, langsamen Flügelschlägen in die Lüfte. Einen Augenblick später hörte sie einen entfernten, trompetenden Ruf; sie duckte sich sogleich auf dem Pfad und sah schweigend zu, wie eine riesige, geflügelte Gestalt am südlichen Horizont entlangglitt und dann verschwand: ein Guivre auf der Jagd. Schließlich führte der Pfad auf trockenes Land, das sich hügelan wand und allmählich selbst zu Hügeln wurde. Verlassene, von Unkraut überwucherte Felder gingen jetzt in Felder voller reifer Gerste und Emmer über. Frauen und Männer arbeiteten mit Flintsicheln daran, einen Streifen Emmer abzuernten. Ein paar von ihnen bemerkten sie und riefen es anderen zu; alle hielten inne, um sie anzusehen. Ein Mann blies in sein Hörn, benachrichtigte das Dorf weiter vorn. Schon bald war sie von einer Eskorte aus Kindern umringt, die alle in ihrer unverständlichen Sprache drauflosredeten, während sie an den vereinzelt stehenden Häusern entlangging, die alle zusammen das Dorf bildeten. Die Hänge waren von weiten Feldern bedeckt, und dahinter war Wald zu erkennen. Es war noch immer heiß und feucht, die heißeste Zeit im Spätsommer. Schweiß rann ihren Rücken hinab, als sie die Häuser erreichte. Zwei Kinder formten Lehm zu Töpfen, während ein drittes den Lehm zu einer flachen Oberfläche bearbeitete, auf der sie eine feinere Paste aus hellerem Lehm verrieb. Ein fertiger, noch nicht gebrannter Topf stand neben dem Mädchen; er trug das Zeichen eines geflochtenen Seils. Vier Männer schabten Felle. Zwei halbwüchsige Jungen kamen den Hang hoch, Borkeneimer voller Wasser in den Händen. Die Obfrau des Dorfes trat aus ihrem Haus. Adica bot ihr die Perlenkette aus dem Norden, ein angemessenes Geschenk, das ihren Stamm nicht entehrte; als Antwort darauf ließ die Obfrau von 34 einem Mädchen warme, mit Koriander gewürzte Gemüsesuppe und dickflüssigen Honigmet bringen. Dann erhielt sie mittels bestimmter, vertrauter Gesten die Erlaubnis, den Weg zu dem Haus von Fallender, dem Beschwörer des Stammes, weiter zu beschreiten. Wie sie gehofft hatte, war er nicht allein. Fallender war so alt, dass seine Haare schon ganz weiß waren. Er behauptete, das Fest der Sonne zweiundsechzigmal gefeiert zu haben, doch Adica konnte nicht recht glauben, dass er so viele Feste gesehen, und erst recht nicht, dass er sie gezählt hatte. Er saß mit gekreuzten Beinen da und schnitzte aus Knochen einen Speer zum Fischen. Weil er ein Beschwörer war - der Geweihte seines Stammes -, wob er Magie in den Speer, indem er Fischadler und langhalsige Reiher in die Längsseite der Klinge schnitzte: So versuchte er, dem Werkzeug mehr Erfolg beim Fischfang zu bescheren. Während der Arbeit pfiff er leise vor sich hin und wirkte damit einen zusätzlichen Zauber, der sich von allein in die Magie einarbeitete. Dorren saß rechts von Fallender. Er nahm mit seiner gesunden Hand Steine aus einem Lederbecher und brachte ein paar Kindern, die in einem ungleichmäßigen Halbkreis um ihn herum saßen, ein Zählspiel bei. Adica blieb hinter ihnen stehen und sah Dorren zu. Dorren blickte auf; er hatte ihre Anwesenheit gespürt. Er lächelte, schickte die Kinder weg und erhob sich. Dann streckte er ihr seine Hand entgegen, die übliche Begrüßung unter Verwandten. Sie wollte ihm ebenfalls die Hand reichen, doch dann zögerte sie und ließ sie wieder sinken. Seine von Falten übersäte Hand zitterte leicht, und es hatte den Anschein, als wollte er sie bewegen, doch dann lächelte er nur traurig und deutete auf Fallender, der immer noch mit seiner Schnitzerei beschäftigt war. »Niemand hat dich hier erwartet«, erklärte Dorren und trat ein paar Schritte beiseite, damit ihre Unterhaltung Fallender nicht beim Wirken seines Zaubers störte. Adica wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Wangen fühlten 35 sich heiß an. Sie war eine Närrin, wirklich. Aber er freute sich, sie zu sehen, oder nicht? Dorren war ein Weißhirsch-Mann aus Altfeste. Man hatte ihn zum Wandelnden des Stammes gewählt - die Wandelnden bereisten die Steinwebstühle um die Sprachen ihrer Verbündeten zu lernen. Als Wandelnder konnte er sich vor
Magie schützen. »Ich habe gehört, dass Beor dir in eurem Dorf Ärger bereitet hat«, sagte er schließlich, als sie nervös mit einem ihrer Kupferarmbänder spielte. »Du hast ihn lange Zeit ertragen. Für eine Frau und einen Mann, die nicht zueinander passen, ist es nicht leicht zusammenzuleben.« Er hatte unendlich sanfte Augen. Wegen seiner verkrüppelten Hand war er niemals in der Lage gewesen, zu jagen und zu schwimmen, wie andere Kinder es taten, aber er war gesund und stark geworden, und man schätzte ihn wegen seiner Klugheit und seiner Geduld. Deshalb hatten sie ihn auch zum Wandelnden erwählt. Er hatte viele Eigenschaften, die Beor ganz offensichtlich fehlten. »Einige scheinen besser dafür geeignet zu sein als andere«, fuhr er fort. Sicherlich vermutete er, dass sie ihn eine Zeit lang aus der Ferne beobachtet hatte. Ihr Herz klopfte verräterisch. Sein Blick war erstaunlich fest und schwankte nicht im Geringsten, obwohl er mittlerweile von dem Schicksal wissen musste, das auf sie und die anderen sechs Geweihten wartete. Angesichts seines Mutes begriff sie, dass sie von der Fetten hervorragend geleitet worden war. Er setzte erneut zum Sprechen an, zögerte kurz, um dann rasch fortzufahren. »Es muss dir so vorkommen, als würden die Tage rasch vergehen. Ich wollte dir sagen -« Er brach ab, errötete, als er auf den Pfad blickte, der zum Dorf führte. Ein paar Kinder trödelten auf dem Weg herum, verteilten sich im Wald, riefen sich etwas zu und kicherten. »Es gibt da eine Frau«, sagte er schließlich etwas hastig. Seine Wangen färbten sich rosa vor aufwallenden Gefühlen. »Sie heißt 36 Wren und ist die Tochter von Rotbauch und Lächelnde. Sie ist wie fließendes Wasser für mich, ein ewiger Segen. Sie hat gesagt, dass der männliche Anteil bei der Zeugung des Kindes, das in ihrem Bauch heranwächst, von mir geleistet wurde. Die Stammesältesten haben zugestimmt, dass ich zum Vater des Kindes erklärt werde und zusammen mit ihr in einem Haus im Dorf lebe, wenn ich sieben Jahreszeiten lang für sie arbeite.« Sie wusste nicht, was er in ihrer Miene las, aber er fuhr rasch fort, sprach jetzt nicht mehr von dem, was er wusste, sondern von dem, was er glaubte. Jedes Wort bereitete ihr weitere Herzensqualen, weitere Demütigung. »Du darfst nicht glauben, dass ich meine Pflichten als Wandelnder vernachlässige. Ich kenne meine Pflicht gegenüber meinem Volk. Aber es gibt keinen Grund, warum ich nicht beides tun könnte. Ich kann die Webstühle bewegen und hier arbeiten, denn sie ist eine gute Frau, meine Wren, und ich liebe sie.« Erschreckenderweise begann sie zu weinen; sie gab keinen Laut von sich, doch Tränen rannen ihr das Gesicht hinab, obwohl sie es hasste, beim Weinen gesehen zu werden. »Adica! Du hast das großzügigste und edelste Herz, das ich kenne, und auch das mutigste! Ich wusste, du würdest dich trotz deines eigenen Kummers über mein Glück freuen!« Er blickte auf Fallender und runzelte die Stirn, als würde er eine Entscheidung bedenken, die ihm Sorgen bereitete. »Und jetzt hör zu, Adica, denn du weißt, wie wertvoll du für mich bist. Ich weiß, es bringt Unglück, davon zu sprechen, fordert die Geister heraus. Doch du sollst wissen, dass wir das Kind, wenn es ein Mädchen und wohlauf ist, nach dir benennen werden. Dein Name wird weiterleben, nicht nur in den Liedern des Stammes, sondern auch in meinem Kind.« »Ich freue mich über dein Glück«, sagte Adica unter Tränen. »Adica!« Fallender sprach ihren Namen mit einiger Schärfe, als er von dem Fischspeer aufschaute; ihre Lüge hatte seine Aufmerksamkeit erregt. 37 Sie floh. Aufgrund des sie verbindenden Bandes, wenn sie zusammen das Weben übernahmen, konnte Fallender ihr geheimstes Inneres erschauen. Aber sie war auch gar nicht wirklich gekommen, um ihn zu sehen. Sie hatte sich einer wilden, unverantwortlichen Hoffnung hingegeben, hatte im Nachtwind ein falsches Rätsel gesehen, und jetzt hatte sie Zeit und Magie für eine närrische Reise, einen selbstsüchtigen Abstecher eingesetzt. Sie schämte sich. Sie rannte durch den Wald, wollte nicht im Dorf gesehen werden. Dorren rief hinter ihr her, aber sie beachtete ihn nicht. Sie kam zum Rand des Moors und marschierte mit schnellen Schritten durch die Preiselbeer-Sümpfe hindurch. Die Beeren schimmerten tiefrot, beinahe reif. Sie wurde bis zu den Oberschenkeln nass, aber es gelang ihr, den Pfad zu erreichen, ohne jemanden zu treffen - abgesehen von einem Jungen, der mit einer Angel auf Fischfang war. Ein Stück weiter den Pfad entlang zogen zwei Frauen ein Netz aus dem Wasser und riefen nach ihr, aber sie konnte ihre Worte nicht verstehen. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr langsam jeder Kontakt mit den anderen genommen, als wäre eine weitere Verbindung gelöst worden - ein weiterer warmer Händedruck, der sich wie so viele andere ihrem Griff entzog -, sodass sie sich schließlich der vielen Arbeit allein gegenüber fand, unterstützt nur von den anderen sechs: Fallender, Zweifinger, Shu-Sha, Spuckt-Zuletzt, Hörn und Helle-HörtMich. Sie waren jetzt sozusagen ein eigener Stamm, jene, die vom Rest der Menschheit getrennt worden waren. Sie stellten das Opfer dar, durch das die Stämme der Menschen von ihrer Angst befreit werden würden. Die Wolkendecke brach auf, und als sie endlich die Insel des Steinwebstuhls erreicht hatte, musste sie nur noch eine kurze Zeit bis Sonnenuntergang warten. Was immer Fallender über ihr Verhalten denken mochte, er war zu alt, um den Weg aus einer Laune heraus auf sich zu nehmen. Er würde ihr nicht folgen, um sie mit peinlichen Fragen zu belästigen. Würde Dorren ihr folgen? Wollte sie ihn denn überhaupt wissen lassen, dass ihr klar war,
38 dass er sein Glück mit einer anderen finden würde, während sie allein blieb? Nicht, dass sie ihm sein Glück neidete, ganz und gar nicht. Sie hatte lediglich gehofft, am Ende selbst ein bisschen davon zu bekommen. Aber die Dämmerung brach herein, und sie blieb allein. Wie immer hatte sie beim Weben gar nicht gemerkt, wie die Tage verstrichen waren. Als sie zum Himmel schaute und die Position der Großzügigen betrachtete, erkannte sie, dass sie beim letzten Gang zwei Tage verloren hatte, obwohl es ihr nur wie ein kurzer Augenblick vorgekommen war. Das war der Preis, den jene zahlten, die die Webstühle bewegten: dass ihnen Tage und manchmal auch Monate entrissen wurden, und zwar von dem Augenblick an, da sie in die Tore traten, die zwischen die Webstühle führten. Aber vielleicht war es auch gar nicht so schlecht, ein paar Tage Einsamkeit zu verlieren. Der Steinwebstuhl - sieben Steine, die in einem nicht ganz runden Kreis standen - wartete auf sie, als die Dunkelheit sich herabsenkte und die ersten Sterne am Himmel erschienen. Sie hob den Spiegel und fing das Licht der Großzügigen ein, der flinkfingrigen Herrin des Korns und der Gefäße, und wob sich einen Durchgang, der zurück zu ihrem eigenen Wohnort führte. Sie trat hindurch, und ihre Füße berührten vertrauten Boden; er war fest und trocken, unberührt von Regen. Sie ging langsam zu ihrer Hütte und legte die Geschenke beiseite, die sie Fallender doch nicht gegeben hatte. Sie hörte Stimmen vom Dorf her, die sich zum Gesang erhoben. Es dauerte etwas, ehe sie sich erinnerte, dass Mutter Orlas älteste Enkelin vor kurzem jene Schwelle überschritten hatte, die sie in die Geheimnisse der Frauen einweihte. Sie würde jetzt das Haus der Frauen verlassen, bereit, ihren Platz als Erwachsene im Dorf einzunehmen. Sie stand am Wall und lauschte dem Gelächter und den alten, vertrauten Melodien. Früher hätten die Dorfbewohner gewollt, dass sie die Feier weihte, aber jetzt würden sie ihre Anwesenheit nur als unangenehm 39 empfinden. Sie würden sich sorgen, dass böse Geister sich in ihrem Gefolge hineinschlängelten und das Glück der jungen Frau vergifteten, so wie solche Geister manchmal die süßen Quellen oder frisches Fleisch vergifteten. Die Furcht der Dorfbewohner war größer als ihre Zuneigung. Wieso hatten die Götter zugelassen, dass die Verfluchten die Menschheit heimsuchten? Hätten sie der Menschheit nicht einen anderen Weg weisen können, sich ihrer Feinde zu entledigen? War es so unmöglich, dass ihr ein bisschen Glück gewährt würde, als Gefährtin von Dorren mit seiner verkrüppelten Hand und seinem sanften Herzen? Wieso waren es immer die Geweihten, die die Opfer bringen mussten? Aber dann schüttelte sie den Kopf, ungeduldig über solche Gedanken, die ihr böse Geister durch den Nachtwind zutrugen. Ein kleiner Zauber, den sie laut aussprach und besiegelte, indem sie mit den Lippen scharfe Minze berührte, vertrieb sie. Nur die Geweihten besaßen jene Magie, mit der getan werden konnte, was notwendig war. So war die Aufgabe ihr zugefallen, ebenso wie den anderen Geweihten. Sie war schon als Kind auf diesen Pfad geführt worden. Sie hatte niemals ein anderes Leben als das einer geweihten Frau gekannt, auch niemals ein anderes gewollt. Sie hatte nur nicht erwartet, dass es ihr so schwer fallen würde, ihre Pflicht zu erfüllen. Als sie in dieser Nacht schlief, träumte sie nicht. 2 Sie erwachte abrupt, als sie den Ruf einer Eule hörte. Am Geruch des Taus und am entfernten Gesang der Vögel im Wald erkannte sie, dass die Dämmerung kurz bevorstehen musste - jene Zeit also, wo die Sonne wartend wie ein goldohriger Bär dalag, bereit, sich jeden Augenblick über den Horizont zu erheben. 40 Die Eule schrie wieder, ließ ein tiefes Buh-hu erklingen. Sie kämpfte sich auf die Füße. Nachdem sie sich angezogen hatte, öffnete sie die Zedernkiste und nahm ihre heiligen Regalien heraus. Sie legte ein Taillenband aus gehämmerter Bronze mit eingemeißelten Spiralen an, außerdem ein Halsband aus Bernstein, das sie eigentlich Dorren hatte geben wollen: Bernstein besaß seit ewigen Zeiten Macht, und ihre Lehrerin hatte ihr immer wieder eingeschärft, die Macht und den Erfolg ihres Stammes zu betonen, wenn es darum ging, sich mit ihren Verbündeten zu treffen. Sie stellte sich den Spiegel aus Hämatit auf die Knie, bevor sie vorsichtig den goldenen Kopfschmuck aus dem Leinen wickelte. Der Ring senkte sich sanft auf ihr Haupt. Das Geweih streifte kurz das gewölbte Dach, bevor sie sich zu einem stillen Gebet niederbeugte. »Lass deine Macht mit mir wandeln, bleiche Jägerin, die du die Königin des Wilds bist.« Sie schob den Spiegel hinter den Taillengürtel und kroch rückwärts auf Händen und Knien aus dem Zelt. Draußen richtete sie sich auf, groß wie ein Hirsch und mit einem goldenen Geweih, das so sehr leuchtete, dass sie beinahe glaubte, vor dem Hintergrund des Himmels die Spiegelung seiner Umrisse erkennen zu können. Derart in Macht gekleidet betrat sie den Pfad, der zu den Steinen führte. In der Mitte des Steinwebstuhls lag der Trittstein; er war so breit wie ihre ausgestreckten Arme, reichte aber nur bis zu den Knien. Der heilige Kessel ruhte auf der Steinplatte, wie er es schon getan hatte, seit ihre Lehrerin jung gewesen war. Hier war Adica vor Jahren niedergekniet, um die Macht von jener Frau zu empfangen, die sie
beinahe alles gelehrt hatte, was sie wusste. Sie weinte ein bisschen, als sie ein kleines Gebet im Angedenken an die Toten sprach. Später berührte sie die heiligen Vögel, die in die sanfte, braune Oberfläche des Bronzekessels eingraviert waren, und gab ihnen Namen: Vater Reiher, Mutter Kranich, Großmutter Rabe und Onkel Enterich. Sie küsste jedes Einzelne der kostbaren Bronzeblätter, schöpfte mit der einen Hand Wasser aus dem Kessel und nipp41 te daran, dann sprach sie einen Segen über das, was noch in der Handfläche verblieben war, und warf es in die Luft, damit es den Wind bestäuben konnte. Mit geschlossenen Augen kniete sie vor dem Kessel und atmete den Geruch der Morgendämmerung ein, lauschte ihren Geräuschen: das entfernte Rauschen des träge dahinfließenden Flusses, das verärgerte Meckern der Ziegen, die vielen Stimmen der Vögel, die der schon bald aufgehenden Sonne ihren Gruß entgegensandten. Sie hörte Flügelschlagen und spürte, wie die Eule sich auf dem Rand des Kessels niederließ, aber sie wagte nicht aufzuschauen, denn die Botin war eine mächtige Kreatur und besaß so viel magische Kraft, dass selbst ein kleiner Blick sich schon als unheilvoll erweisen konnte. Einen Augenblick später erklangen in der Ferne Huftritte auf einem Steinweg, die dann einen nadelbestreuten Pfad zu betreten schienen, da sie gedämpfter klangen, und schließlich raschelte der Taillen hohe Flachs, als ein großer Körper sich hindurchdrängte. Der warme Atem der Geheiligten brachte die Haare in ihrem Nacken in Bewegung. Ihr goldenes Geweih zitterte in dem süßen Wind, den die Geheiligte verströmte. »Du hast geweint, Adica.« Ihre Stimme klang wie die Melodie des Flusses, gleichzeitig hoch und tief. »Ich kann das Salz deiner Tränen riechen.« Waren sie nicht über Nacht getrocknet? Doch es war wohl unmöglich, vor einer Schamanin des Pferdevolkes etwas zu verbergen. »Ich bin einsam, Geheiligte. Es ist eine sehr einsame Straße, die ich beschreite.« »Hast du keinen Ehemann? Ich erinnere mich daran, wie unglücklich du gewesen bist, als die Ältesten deines Dorfes beschlossen haben, dass du ihn heiraten solltest.« »Sie haben ihn mir genommen, Geheiligte. Weil der Tod seinen Schatten auf mich gelegt hat, fürchten sie, dass alle, die ich berühre, ebenfalls vom Tod berührt werden.« »In der Tat, es liegt Weisheit in dem, was sie sagen.« 42 Stille trat ein, die nur vom Wind und vom kehligen Gurren einer Ringeltaube unterbrochen wurde. Sie blickte auf und sah, wie sich das Land unterhalb von ihr auftat, als die Sonne den Nebel über dem Fluss vertrieb. Segler flogen entlang der langsamen Strömung, tauchten immer wieder ins Wasser. Es arbeiteten bereits Menschen auf den Feldern, ernteten Gerste und Emmer. Ein Mädchen trieb Ziegen von den Feldern zum Wald. Die Worte entschlüpften ihr, noch bevor sie wusste, ob sie sie wirklich hatte sagen wollte. »Wenn ich nur einen Gefährten hätte, Geheiligte, dann wäre die Aufgabe nicht so schwer. Natürlich versage ich nicht, aber - ich werde die ganze Zeit allein sein, während ich auf das Ende warte.« Sie schluckte die anderen Worte hinunter, die sich ihrer Kehle entringen wollten, geboren aus einer Welle von Gefühlen des Verlassenseins und der Angst. »Ich bitte dich, Geheiligte, vergib mir meine raschen Worte. Ich kenne meine Pflicht.« »Und deine Pflicht ist leider schwer, Tochter. Doch es ist notwendig, dass sieben da sind, wenn die Zeit gekommen ist. Deshalb bist du auserwählt worden.« »Ja, Geheiligte«, flüsterte sie. Im Gegensatz zu den Dorfbewohnern, über die sie wachte, hatte Adica mit anderen Leuten aus fernen Ländern gesprochen. Sie wusste, dass das Land groß war und dass dort nur wenig Leute lebten - und noch weniger davon waren echte Menschen. Die grauen, nördlichen Meere waren eisig und windumtost, kalt genug, dass ein Mensch, der versuchte, darin zu schwimmen, umkam. Und doch lebten in diesen eisigen Gewässern Leute, deren Haare aus Aalen bestanden, und deren Zähne so scharf wie Obsidian waren. Weit im Osten hatte sie die Wälder aus Gras gesehen, wo der Stamm der Geheiligten lebte - Verwandte der Menschen und doch so ganz anders. Sie hatte sogar einen Hauch von den endlosen Wüsten der südlichen Stämme gesehen, wo die Leute so sprachen, als würden sie Steine in ihren Mündern rollen. Sie hatte die sagenhaften Städte der Verfluchten gesehen. Sie hatte ihre wundersa43 men Schiffe gesehen und kaum entkommen können, um davon zu berichten. Sie hatte gesehen, wie die Verfluchten Dörfer und unschuldige Stämme versklavt hatten, nur um ihre Gefangenen dazu zu bringen, sich vor ihren blutrünstigen Göttern tief zu verneigen. Sie hatte gesehen, was mit ihrer Lehrerin geschehen war, die sich dem Kampf gegen die Verfluchten angeschlossen hatte und von ihnen auf ihren Altären geopfert worden war. »Wir alle sind Sklaven der Verfluchten, so lange, bis der Krieg, den sie gegen uns führen, beendet ist.« Die Geheiligte rührte sich, verlagerte das Gewicht auf den Hufen, während sie sich erst nach hinten und dann wieder nach vorn neigte. Ihr gewaltiger Körper türmte sich hinter Adica auf. Früher einmal, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte Adica gesehen, wie das Volk der Geheiligten ein paar Späher der Verfluchten eingeholt und niedergetrampelt hatte; niemals hatte sie die schlichte Ehrfurcht vergessen, mit der sie als Kind ihre Größe und Macht bewundert hatte. So sehr sie die Magie der Verfluchten auch fürchtete, so froh war sie auch darüber, eine Verbündete des Pferdevolkes zu sein, derjenigen, die aus der Verbindung einer Stute mit einem Menschenmann entsprungen waren.
»Möglicherweise jedoch -« Die Geheiligte zögerte. In dieser Pause schlich sich Hoffnung in Adicas Herz, aber sie hatte Angst, sich ihr hinzugeben. »Möglicherweise gibt es einen Weg, jemanden zu finden, der bereits von der Hand des Todes berührt worden ist und dein Gefährte werden könnte. Auf diese Weise würdest du nicht allein sein, und er könnte nicht durch dein Schicksal vergiftet werden. Du bist die jüngste der Auserwählten, Adica. Die anderen haben ein langes Leben hinter sich. Du bist dazu ausersehen gewesen, deiner Lehrerin zu folgen - du solltest nicht ihren Platz beim großen Webstuhl einnehmen. Es überrascht mich nicht, dass es dir schwieriger erscheint, auf das Tor zuzugehen, das auf die Andere Seite führt.« Strich da gerade eine Hand über ihren Nacken, wenn auch nur kurz? »Ein solches Versprechen sollte nicht jenseits meiner Macht liegen.« 44 Die Hoffnung hämmerte jetzt so wild in ihrer Brust wie ein Vogel, der mit den Flügeln gegen die Stäbe seines Käfigs schlägt. »Kannst du so etwas wirklich zuwege bringen, Geheiligte?« »Wir werden sehen.« Sie war sehr schmerzhaft, diese Hoffnung. Daher verspürte sie auch ein bisschen Erleichterung, als die Geheiligte das Thema wechselte. »Gibt es beim Weißhirsch Volk ein Kind, dass dir nachfolgen könnte, Adica?« »Nein«, murmelte sie, und das Wort versetzte ihr einen solchen Stich in die Eingeweide, wie es nur ein Messer hätte zustande bringen können. »Und ich habe auch keine Zeit, einer Adeptin all das beizubringen, was sie wissen müsste.« »Verzweifle nicht, Kind. Ich werde dein Volk nicht im Stich lassen.« Ein scharfes, überraschtes Zischen erklang, gefolgt von dem schwachen Schrei einer Eule. »Ich werde gerufen«, sagte die Geheiligte plötzlich erstaunt. Und schon war sie verschwunden. War die Geheiligte wirklich durch das Tor der Steine gereist? Hatte sie in ihrer eigenen Gestalt hinter Adica gestanden? Oder war sie lediglich über den Pfad der Visionen gekommen und hatte Adica in ihrer spirituellen Gestalt aufgesucht ? Die Geheiligte war so mächtig, dass Adica es niemals wusste. Und sie wagte auch nicht, sie danach zu fragen. Es stimmte, dass die Menschen nur einen kleinen Teil der Macht auf dieser Erde besaßen. Doch wenn das so war, wieso führten die Verfluchten dann einen solch erbitterten Krieg gegen sie? Wieso hassten die Verfluchten sie so sehr? Der Wind ließ die Bronzeblätter des Kessels klappern. Einen Augenblick lang dachte sie, dass sie tatsächlich das Aufgehen der Blüten hören konnte, als die Sonne sich über den Horizont schob. Ein Hörn erklang: der Warnruf vom Dorf. Ohne große Sorgfalt hastete sie zurück zu ihrer Hütte, zog die heiligen Gewänder aus und rannte hinunter zu den Erdwällen. Sie erreichte das Palisadentor gerade in dem Augenblick, als ein schlankes Mädchen mit kräftigen Beinen und einem drahtigen Wachhund achtsam aufsprang. Das Mädchen warf Mutter Orla, 45 die dem Aufruf gefolgt und zum Tor gekommen war, Nachrichtenperlen vor die Füße. Mutter Orlas Hände waren so knotig, dass sie kaum die Nachrichtenperlen mit den Fingern abzählen konnte, während sie die Botschaft entschlüsselte. Sie trat zur Seite, damit Adica sich neben sie stellen konnte. In ihrem hohen Alter fürchtete Orla sich weder vor bösen Geistern noch vor dem Tod; von beiden wurde sie bereits geneckt. »Ein Scharmützel«, erklärte sie den Dorfbewohnern, die aus ihren Häusern herbeigelaufen waren. »Die Verfluchten haben wieder einen Raubzug unternommen. Von welchem Dorf kommst du, Rasch?« Ein Kind brachte Met, der so stark nach Mädesüß roch, dass Adica das Wasser im Munde zusammenlief. Die Rasch nippte vorsichtig daran, während sie Luft schöpfte. »Ich komme von Zweistrom, Kieferwipfel und Matschweg. Davor bin ich in Altfeste gewesen. Die Verfluchten haben eine Siedlung in der Nähe von Vierhausen angegriffen. Drei Leute sind getötet worden, zwei Kinder haben sie mitgenommen.« »Ist irgendwer von Vierhausen ihnen gefolgt?«, wollte Beor wissen, der sich jetzt nach vorn durchkämpfte. Er war schon früh aufgestanden, um zu jagen, und trug in der einen Hand eine Schlinge. Von der anderen hingen zwei Moorhühner, ein Rebhuhn und drei Enten, zusammengebunden an einem Seil. Der Wachhund stieß die toten Vögel mit der Schnauze an, aber die Rasch verjagte ihn, während ein anderes Kind dem Tier einen schönen Fleischknochen brachte. Der Hund legte sich sofort nieder und begann, daran zu nagen. »Nein«, sagte die Rasch, »niemand von Vierhausen hat die Verfluchten verfolgt, denn die Leute, die gestorben sind, waren vom Rothirsch-Stamm. Zwei Familien sind im letzten Winter in die Nähe von Vierhausen gezogen. Sie stammten aus dem Westen.« »Was spielt es für die Verfluchten für eine Rolle, ob sie das Rothirsch-Volk oder das Weißhirsch-Volk töten?« Beor war jetzt rich46 tiggehend wütend - auf jene Weise, die andere zu Taten anzuspornen pflegte. »Für die Verfluchten sind wir alle gleich, und wer kann sicher sein, dass sie nicht als Nächstes zum Weißhirsch-Stamm kommen, wenn sie erst das Rothirsch-Volk getötet oder gefangen genommen haben? Ich sage, wir müssen gemeinsam kämpfen, oder wir werden alle durch ihre Pfeile sterben.« Die Anwesenden murmelten zustimmend. Die jungen Männer blickten entweder nervös oder eifrig drein. »Was sagt die Geweihte?«, fragte Orla mit täuschend weicher Stimme.
Sofort schwiegen alle, während Adica nachdachte. Die Rasch trank ihren Met aus und griff dankbar nach der Schüssel Haferbrei, die einer der Jungen brachte - es war einer von denen, die sie letztes Jahr im Sommer bei den Rennen besiegt hatte. Er beäugte sie neidisch, betrachtete ihre schlanken Beine und den losen, weiten Hosenboden, der ihr genug Platz beim Laufen gewährte. Er sah aus, als hätte er am liebsten das Bernsteinhalsband und die Kupferarmbänder berührt, die das Mädchen trug, um ihren Status zu unterstreichen. Beim Sonnenfest des vergangenen Jahres, als alle Dörfer des Stammes zusammengekommen waren, um zu tauschen, umeinander zu werben und Auseinandersetzungen beizulegen, hatte dieses Mädchen die Rennen gewonnen und mit diesem Sieg auch das Recht erworben, den Namen »Rasch« zu tragen - damit war sie eine der bevorzugten Jugendlichen, die Nachrichten zwischen den Dörfern des Weißhirsch-Volkes hin und her trugen. »Die Geweihten der Menschen-Stämme haben sich bereits zusammengetan, und zu unseren Verbündeten gehört auch das Pferdevolk. Doch das Pferdevolk ist weniger menschlich als unsere Rothirsch-Verwandten, und wir freuen uns über die Allianz, die sie mit uns verbindet.« Adica brach ab; sie spürte die Unruhe der anderen. Die Rasch beendete ihr Mahl und hielt die Schüssel in der Hoffnung hoch, noch eine Portion zu bekommen. »Die nächste Sonnenzeit birgt die größte Gefahr. Wenn die Ver47 fluchten den Verdacht hegen, dass wir vorhaben, gegen sie vorzugehen, werden sie ihre Heere aussenden, um uns anzugreifen. Wir sind auf alle Verbündeten angewiesen, die wir finden können - sei es nun das Volk der Rothirsche, der Weißhirsche oder der Schwarzhirsche. Wir brauchen ihre Hilfe unabhängig davon, ob wir auf andere Stämme einen starken Eindruck machen. Wenn ihr nach der nächsten Dunkelzeit noch lebt, werdet ihr nichts mehr zu fürchten haben.« Orla machte das Zeichen, mit dem man böse Geister abwehrte, und spuckte auf den Boden, wie so viele andere auch. Beor tat es nicht. Die Jüngeren zogen sich zurück, um sich wieder ihren Arbeiten zu widmen oder ihre Bögen und Äxte zu überprüfen. Während sich die Dorfbewohner zerstreuten, blieben die Ältesten und der Kriegssprecher zurück. »Ich werde die Kriegstruppe begleiten«, erklärte Adica. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Sie ging zu ihrem alten Haus, um Heilkräuter und ihren Korb mit Zaubermitteln zu holen. Drinnen war alles staubig und verlassen. Sie fuhr mit den Fingern über die Dachgesimse. Von einem der Dachsparren tropfte noch immer ein bisschen Pech, und sie berührte es mit den Lippen, atmete seine Essenz ein. Draußen wartete Beor mit einer Gruppe von neun Erwachsenen, von denen er überzeugt war, dass sie standhalten und kämpfen würden, sollte es dazu kommen. Sie hatten sich mit Bögen bewaffnet, trugen Pfeile mit Obsidian-Spitzen und Äxte aus Feuerstein oder Kupfer. Agda hatte eine Steinaxt, aber Beor trug das beste Stück des ganzen Dorfes: eine Hellebarde mit einer echten Bronzeklinge, die an der rechten Seite am Schaft befestigt war. Er hatte sie einem toten Feind abgenommen. Als sie aufbrachen, sprang die Rasch - gefolgt von ihrem Hund - hinter ihnen her, nahm aber dann die Abzweigung, die sie weiter nach Quellwasser bringen würde, zu Dorrens Dorf. Sie sollte jetzt nicht an Dorren denken. Sicher konnte sie diesen flüchtigen Frieden genießen, während sie unter der strahlenden 48 Sonne und mit dem Wind in ihrem Rücken einherschritt. Es war nicht so heiß wie auf der Heimatinsel von Fallender. Sie ging als Letzte der Gruppe, immer nach nützlichen Pflanzen Ausschau haltend. Als sie ein Fleckchen Senf sah und den Pfad verließ, um das Gewächs zu untersuchen, blieb Beor stehen und wartete auf sie. Die anderen hielten ein Stück weiter vorn auf dem Weg an, außer Hörweite, aber nah genug für den Fall, dass sie angegriffen wurden. Sie versuchte, Beor nicht zu beachten, während sie so viel Senf erntete, wie sie mit einem langen Halm zusammenbinden konnte. Dann legte sie das Bündel in den Korb. Er kam jetzt zu ihr, als sie auf den Pfad zurückkehrte und weiterging. Sie blickte ihn nicht an, und die Art, wie er die Hellebarde schwang, brachte sie zu der Vermutung, dass auch er sie nicht ansah. Dennoch bereitete ihr die Tatsache, dass sie auf dem langen Weg von jemandem begleitet wurde, einen gewissen Trost. Weiter vorn setzten die anderen sich wieder in Bewegung, immer darauf bedacht, genügend Abstand zu ihnen zu halten. »Die Ältesten haben gestern mit mir gesprochen.« Seine Stimme klang etwas heiser, wie immer, wenn er erregt oder gereizt war. »Sie sagen, der Grund, weshalb es niemals ein Kind zwischen uns gegeben hat, liegt darin, dass deine Magie deinem Körper sämtliche Fruchtbarkeit entzogen hat. Sie sagen, dass ich, wenn ich nicht aufhöre, an dich zu denken, von den bösen Geistern ebenfalls ausgelaugt werde und dass ich dann auch nicht fähig bin, mit einer anderen Frau Kinder zu zeugen.« Sie setzte die Füße auf dem Boden auf, einen nach dem anderen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Die Sonne strahlte. Der Pfad schlängelte sich durch den Wald, wo die Blätter in der frischen Brise rauschten. »Ich habe niemals eine andere Frau so gewollt, wie ich dich gewollt habe. Aber das ist jetzt vorbei. So sei es. Die Ältesten sagen, dass Mutter Nahumias älteste Tochter drüben in Altfeste erst letzten Mond den Jagdbeutel ihres Mannes vor die Tür gehängt und 49 ihn zum Verlassen der Hütte aufgefordert hat. Sie wird also nach einem neuen Mann Ausschau halten.«
»Du müsstest nach Altfeste gehen«, sagte Adica; sie hatte den Eindruck, als müsste sie etwas sagen. »Du wirst dort leben müssen.« »Das stimmt. Aber es macht mir nichts aus, wegzugehen. Ich habe sogar daran gedacht, noch weiter nach Osten zu gehen, um für eine Jagdzeit mit unseren Schwarzhirsch-Verwandten zu jagen.« »Das ist ein weiter Weg«, sagte Adica. Sie hörte, wie ihre eigene Stimme zitterte; sie konnte nicht sprechen, ohne die Furcht in ihrem eigenen Herzen zu verraten. »So sei es«, stimmte er zu, und dann wartete er wieder. Möglicherweise wünschte er sich Anteilnahme von ihr, Bedauern oder den Versuch, ihn von dieser voreiligen Handlung abzubringen. Aber sie konnte ihm nicht noch mehr geben. Sie hatte bereits ihrem Volk ihr Leben gegeben, und die Magie hatte ihr nicht einmal ein Kind beschert, sodass ihr Name hätte weiterleben können. »Du bist ein guter Kriegssprecher, Beor«, sagte sie. »Das Dorf braucht dich. Kannst du noch so lange warten, bis meine Arbeit beendet ist? Dann spielt es vielleicht keine Rolle mehr, ob sie dich verlieren-« Hier brach sie ab. Es war verboten, laut von dem großen Weben zu sprechen, weil Worte Macht waren und man sie nicht achtlos in alle vier Winde verstreute - die Verfluchten konnten sie dann hören. »Warte wenigstens bis dahin.« Er schnaubte, antwortete aber nicht, und nach einer kleinen Weile beschleunigte er seinen Schritt, sodass sie die anderen schon bald eingeholt hatten. Da diese aber Angst hatten, mit ihr zu sprechen, und sie auch nicht ansahen, hätte sie genauso gut auch allein gehen können. Die Sonne hatte beinahe den Mittagsstand erreicht, als sie Vierhausen erreichten. Das Dorf bestand aus einer verstreuten Ansammlung von etwa einem Dutzend Hütten, Scheunen, Gruben50 häusern und vier beachtlichen Plätzen, an deren vier Ecken jeweils ein Rundhaus mit einem Strohdach stand; dazwischen befanden sich Lagerräume, die von Steinmauern begrenzt waren. Ein halbes Dutzend Erwachsener arbeitete an dem Graben, grub mit Geweihen in der Erde und schaffte sie in Eichenkörben weg. Vierhausen hatte eine Kriegssprecherin, eine kräftige Frau mit zwei Narben, die auf den Namen Ulfrega hörte und den Rock mit Bändern trug, der sie als Frau kennzeichnete, die alt genug war, sich einen Ehemann zu suchen. Den blassen Schwangerschaftsstreifen nach zu urteilen, die Ulfregas Bauch oberhalb der lang herabhängenden Schnüre schmückten, hatte sie bereits mehrere Kinder ausgetragen. Ulfrega führte sie hinab, am Fluss vorbei, durch den von Schweinen bevölkerten Wald und einen Wildpfad entlang, der sie zur Siedlung des Rothirsch-Volkes brachte. Zwei Rundhäuser und sechs Lagergruben lagen still unter der Sommersonne. Seltsamerweise war eines der Rundhäuser bis auf die halbe Steinmauer vollkommen niedergebrannt, während das andere so frisch und ganz aussah, als wäre es erst vor einem Monat errichtet worden und nur am vorherigen Tag bewohnt gewesen. Es gab außerdem einen Steinpferch und eine Heumiete und einen sehr ordentlichen Gemüsegarten voller reifem Gemüse. Fliegen summten. Eine Krähe flatterte träge davon, als sie sich näherten. Selbst die Dorfhunde waren von dem Ort des Blutbads geflohen. Das Dorf lag verlassen da. Nur eine einzige Leiche war zurückgeblieben. Die Rothirsch-Leute hatten ebenfalls bereits begonnen gehabt, einen Graben auszuheben, und er zog sich - genau wie der dazugehörige Wall - zur Hälfte um die Ansiedlung herum. »Zu wenig und zu spät«, sagte Ulfreda und deutete auf den halb fertigen Graben und den eingebrochenen und zum Teil verbrannten Erdwall. Überall lagen die Überreste des Kampfes herum: Pfeilspitzen, ein zerbrochener Speerschaft, ein Schwert der Verfluchten, ein flaches Holzstück, das mit Obsidian gespickt war, wenngleich das meiste davon mittlerweile abgesprungen war. Ul51 freda hob einen Pfeil auf und betastete die Obsidianspitze, bevor sie ihn in die Ledertasche steckte, die sie über der Schulter trug. »Auch ihr seid mit eurem Graben spät dran«, meinte Beor. Sie zuckte mit den Schultern und blickte gereizt drein. »Die anderen Raubzüge hatten immer zuerst Dreieichen und Quellwasser als Ziel.« »Das ist keine weite Reise, zumindest nicht für die Verfluchten.« »Hei!« Sie spuckte in Richtung der Leiche. »Im offenen Gelände mögen sie sich schnell fortbewegen, aber sie werden langsamer, wenn sie mit ihren Pferden in den Wald gehen. Und zwischen Dreieichen und hier gibt es eine ganze Menge dichtes Unterholz.« »Das hat diese Dorfbewohner aber nicht gerettet.« Die Übrigen von Beors Leuten schwärmten aus, um Obsidian-spitzen und reifes Gemüse einzusammeln. Sie hielten sich von der Leiche fern. »Ich werde den Geist verjagen«, erklärte Adica. Zweifellos hatten die Leute von Vierhausen darauf gewartet, dass sie diese Angelegenheit übernahm. Sowohl Beor als auch Ulfrega machten die entsprechende Geste, um böse Geister abzuwehren, und wichen zur Vorsicht vor ihr zurück. Adica wühlte in ihrem Korb und holte die kostbare Kupferschüssel hervor, die sie gewöhnlich für solche Aufgaben benutzte; sie war gerade groß genug, um in ihren zu einer Tasse geformten Händen Platz zu haben. Sie versprühte draußen an der Herdstelle Funken mit dem Feuerstein, den sie dann an ein getrocknetes Stück Pilz hielt, um ein Feuer zu entfachen. Dann goss sie zuvor gesegnetes Wasser aus ihrer Wasserhaut in die Schüssel und stellte diese auf einem behelfsmäßigen Dreifuß über die Flammen, um das Wasser zu erhitzen. Die anderen verschwanden im Wald, um Spuren der
Feinde zu suchen - oder um sich so lange zu verbergen, wie die Magie wirkte. Während das Wasser heiß wurde, starrte sie schweigend auf den Toten. Beim Sturz war ihm die hölzerne Luchsmaske vom Gesicht ge52 rutscht. Er hatte stolze Gesichtszüge und eine kupferfarbene Haut. Seine schwarzen Haare waren auf dem Kopf zu einem Knoten zusammengebunden, wie es bei Seinesgleichen üblich war, und über den ganzen Arm zogen sich verschiedene, ineinander verschränkte magische Symbole in blauem Waid und rotem Ocker. Doch in der Tat bedeutete seine geschlechtliche Zuordnung nur wenig: Er war ein Erwachsener und schon deshalb gefährlich, denn er konnte zeugen, und er konnte kämpfen. Seine Leiche war von keinerlei Aasfressern berührt worden. Die Verfluchten schützten ihre Geister mit mächtigen Zaubersprüchen, also würde sie sehr vorsichtig sein müssen. Glücklicherweise hatte niemand von Vierhausen versucht, den Körper zu entkleiden, obwohl er wahre Reichtümer bei sich trug. Eine Schicht aus gegossener Bronze mit so wunderbar eingravierten Tieren, dass sie das Kunstwerk einfach bewundern musste, schützte seine Brust. Über der Brustplatte schritt eine geierköpfige Frau majestätisch der grellen Sonne entgegen, während zwei Feuer speiende Drachen sich kampfeslustig anstarrten. Es war schwer, die Kreaturen, die die Menschheit so sehr verfolgten und terrorisierten, mit jenen in Einklang zu bringen, die so wunderschöne Dinge erschaffen konnten. Der mit einem Rosshaarschweif geschmückte Bronzehelm lag neben seinem Kopf im Dreck. Jemand war während des Kampfes auf den Helmbusch getreten, und es war noch immer ein Abdruck davon auf dem Boden zu erkennen. Ein Ledergürtel mit einer Kupferschnalle hielt seinen knielangen Rock zusammen, der aus einem Stück genäht worden war. Das Gewand schmiegte sich so weich und glatt an den Körper, dass sie unwillkürlich ihr eigenes grob gewebtes Oberteil und den Streifenrock berührte. Wenn die Verfluchten solche Reichtümer besaßen, wieso hatten sie es dann überhaupt nötig; die Menschheit anzugreifen? Aber betrachteten sie die Menschen nicht mit dem gleichen Blick, mit dem sie ihr Vieh ansahen? Vielleicht stimmte es ja, dass 53 die Menschheit früher, vor der Zeit der großen Königinnen, wie Tiere gehaust hatte, nicht anders als Tiere getrunken, gegessen, gejagt und sich vermehrt hatte. Jetzt stimmte das allerdings nicht mehr. Sie hängte sich zum Schutz ein Säckchen Wacholder um den Hals und nahm vier getrocknete Lavendelblätter, dann wandte sie sich nach Norden und zerkrümelte sie zwischen den Fingern. Der Staub verteilte sich auf dem Boden. Das Gleiche tat sie in östlicher, südlicher und westlicher Richtung und schuf so einen Schutzring. Dann stellte sie sich mit dem Gesicht nach Westen, hockte sich hin und legte die Handflächen um die Nase, um den nachlassenden starken, reinen Lavendelduft einzuatmen. In diese Hände sprach sie sodann Worte der Macht und des Schutzes. Das Wasser kochte. Mit Knochenzangen nahm sie die Kupferschüssel von der Flamme und stellte sie neben ihren Korb. Sie ließ eine alte Distel ins Wasser fallen und wartete, die Hände mit den Handflächen nach oben erhoben. Der Geist manifestierte sich in ihren Handflächen wie ein winziger Strudel. Dann sah sie, wie er sich vom Körper löste, glitschig und weiß. Er versuchte sich an den vier Ecken, aber er konnte nicht hindurch, denn der Zauber des Lavendels band ihn. Während er sich wie ein Wirbelwind drehte, grollte eine klägliche Stimme, wimmerte sodann und jaulte schließlich, und plötzlich sprang die Wolke des Geistes wie ein Schwärm wilder Mücken gen Himmel, entlang des Tunnels, den sie mit ihren vier Richtungszaubern gewirkt hatte. Sie sprang vor und tröpfelte etwas Lavendelstaub auf die Augen der Leiche, benetzte die Ohren, die Nase und die Lippen damit. Dann zog sie das Gewand hoch und strich etwas Lavendelpaste über sein männliches Teil, drehte die Leiche dann herum, damit sie auch die letzte Öffnung vollständig versiegeln konnte. Weit über sich hörte sie ein verzweifeltes Heulen. Sie klatschte dreimal in die Hände, stampfte mit den Füßen auf, und das Gefühl des in ihren Handflächen wirbelnden Strudels verschwand. Der 54 Geist war in die höhere Welt entwichen, die Weltachse empor, die der Schutzzauber geschaffen hatte. Und doch hatte er einen Schatz zurückgelassen: unter der Leiche lag ein Schwert aus Bronze. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingern an der Schneide entlang. Auch die Schneide besaß einen Geist, einen wilden und unerbittlichen sogar. Diese Klinge hatte viele Leben zerstört und viele Geister schreiend von ihren Körpern getrennt. Doch wer sollte ein solch gefährliches und mächtiges Wesen tragen? Niemand im Weißhirsch-Volk, das aus neun Dörfern bestand, besaß ein solches Schwert. Sie fand Eisenkraut in ihrem Korb, rollte ihn zwischen den Fingern und ließ ihn auf das Schwert fallen, um den rachsüchtigen Geist zu besänftigen und seine Blutgier einstweilen zu mäßigen. Zusätzlich zu der bronzenen Brustplatte, dem Helm, dem Schwert, dem Gürtel und der losen Leinentunika trug der Tote ein Messer und einen Beutel, der vier gewöhnliche Flusssteine enthielt, ein Säckchen mit Kräutern, eine Schneckenmuschel und einen kleinen Holzwürfel, in den magische Symbole geritzt waren. Nachdem sie die Leiche ausgezogen hatte, zog sie sie zum verbrannten Haus und bedeckte sie mit Feuerholz. Sie kennzeichnete die verunstaltete Schwelle mit Zaubersprüchen und warf den heiligen Beutel und die Kriegsmaske des Toten hinterher. Während sie heiße Kohlen auf das Stroh schichtete, begann der Scheiterhaufen zu brennen.
Als Ulfrega den Rauch sah, führte sie die anderen aus dem Wald heraus. »Niemand wird sich jemals wieder hier niederlassen«, bemerkte sie, bevor sie Beor folgte, um den Schatz zu untersuchen. »Berührt es nicht«, sagte Adica rasch. Rauch erhob sich vom Scheiterhaufen. »Die Magie der Verfluchten lebt in solchen Dingen.« »Aber ich benutze diese Hellebarde, und auch sie stammt von den Verfluchten.« Beor blickte das Bronzeschwert mit nackter Gier in den Augen an. 55 Die Vision traf sie so hart, dass es ihr beinahe den Atem verschlug. Beor rennt mit dem Schwert in der Hand; er führt eine Menge wild dr einblickender junger Leute an, rennt nach Osten, um gegen die eigene Art zu kämpfen, gegen Menschen, um ihre Heime niederzubrennen und ihre Kühe und ihre Ziegen zu stehlen. Dies war der Wahnsinn, den die Verfluchten in ihre Herzen gebracht hatten! Keuchend kauerte sie auf Händen und Knien. Alle waren vor ihr zurückgewichen. Sie schwitzte, obwohl eine Wolke die Sonne bedeckte. Sie weinte wider Willen, vor Schmerz und Trauer innerlich zutiefst zerrissen. Was würde aus dem WeißhirschVolk werden, wenn sie gegangen war? War denn niemand von ihnen stark genug, dem unerbittlichen Geist zu widerstehen, der in diesem Schwert lebte? War es das, was die Vision ihr versprochen hatte - dass ihr Volk von Wut und Gier verzehrt werden würde? War es dazu verdammt, durch jenes Erbe der Verfluchten, genannt Krieg, vergiftet zu werden ? Der unangenehme Geruch von brennendem Fleisch strömte über sie hinweg, und sie trieb auf diesem Geruch in eine noch vielschichtigere Vision, eine, die weder Anfang noch Ende hatte. Es würde Frieden und Krieg geben, Freundlichkeit und Grausamkeit. Es würde Ehre geben und Schande. All dies würde zur Menschheit gelangen. All das war bereits dort. Vielleicht war es sogar wahr, dass die Großmütter in einer Zeit des Friedens und einer liebevollen Güte gelebt hatten, wie sie dem Weißhirsch-Volk inzwischen unbekannt war. Vielleicht hatten ihre Ahnen auch ihre eigenen Kämpfe ausgefochten - schlichte wie Wut zwischen Freunden, verwickelte wie alte Feindschaften zwischen Stämmen. Was geschehen würde, würde geschehen. Sie konnte nur ihre Pflicht tun, hier und jetzt. So hatte die Geheiligte gesprochen. So 56 hatte sie zugestimmt, in dem Wissen, dass es der einzige Weg war, wie sie ihr Volk beschützen konnte. Die Vision verblasste. Zitternd erhob sie sich wieder und stellte fest, dass die anderen zurückgewichen waren; sie kauerten jetzt bei dem noch intakten Rundhaus und nagten an ihren Vorräten aus Trockenfleisch, darauf wartend, dass sie aus ihrer Trance erwachte. Sie musste sich niemals erklären. Sie ging zu dem nahe gelegenen Bach und schnitt Ried mit ihrem Steinmesser, dann flocht sie das Ried zu einem solch festen Seil, dass sie den einzigen Schatz des Toten binden und tragen konnte. Dieses Bündel hängte sie sich um die Schulter, befestigte den Korb an der Hüfte und ging nach Vierhausen zurück. Die anderen folgten ihr in sicherem Abstand; sie sprachen nur leise miteinander. Sie fürchteten sie, weil sie im Gegensatz zu ihnen Magie besaß und weil sie etwas sah, dass sie nicht sehen konnten. Das war die Weise, wie die Götter entschieden - denn einigen gaben sie die Fähigkeit zu sehen, die Übrigen verdammten sie dazu, blind zu bleiben. Doch manchmal, so dachte sie, war es barmherziger, blind zu sein. 3 Sie verbrachten die Nacht in Vierhausen. Die Leute eilten ihr aus dem Weg, sobald sie sich auch nur näherte. Väter zerrten ihre Töchter und Söhne hinter die Tore ihrer Grundstücke zurück, damit sie mit ihrem Blick nicht die überaus wertvollen kleinen Kinder verwunden oder verkrüppeln konnte. Niemand bat sie herein, und Beor war weise genug oder er hatte Angst genug vor dem, was sie tun mochte, wenn sie erzürnt war -, zusammen mit seiner Gruppe ebenfalls draußen zu bleiben, wo sie ihr Mahl gemeinsam mit den Erwachsenen von Vierhausen einnahmen. 57 Sie speisten gut: frisches Wildbret und Schwan, ein Malzbier, das beinahe dick genug war, um es mit dem Finger aufzuschlecken, Käse und Salat, der allerdings etwas faserig war. Die Leute von Vierhausen hielten ihre Hunde angebunden, damit sie in Ruhe essen konnten, ohne ständig von den bettelnden Tieren belästigt zu werden. In dieser Nacht schlief sie draußen, allein im Schatten einer der Heumieten. Doch sie konnte es nicht lassen, immer wieder über den glatten Stoff zu streichen, den einst der tote Verfluchte getragen hatte, musste einfach das weiche Material an die Wange halten. Doch es schenkte ihr keinen Trost. Am Morgen gingen sie zu ihrem eigenen Dorf zurück. Alle wollten das Bronzeschwert sehen, doch sie hielt es verborgen. Sein Geist weinte noch immer um seinen früheren Herrn; es war noch verärgert. Sie trug den Schatz den Hügel hinauf und wob einen Schutzbann aus Kräutern und Zaubern in ein altes Kuhfell. In dieses Fell wickelte sie dann Schwert und Rüstung. Ein flaches Loch außerhalb des Steinwebstuhls ergab ein passendes Grab.
Sie kniete lange Zeit neben diesem Loch nieder, aber es kamen keine Visionen. Schließlich ging sie zum Fluss und wusch das Leinenhemd, bis sie sicher war, dass nichts mehr von dem Verfluchten darin sein konnte. Sie kehrte zum Hügel zurück und fand einen Teller mit etwas zu essen vor ihrer Behausung, eine dicke Gemüsesuppe, die inzwischen kalt und fest geworden war, sowie einen Becher Bier, in den ein paar Pflanzenteile hineingeweht waren. Nachdem sie das Leinenhemd zum Trocknen aufgehängt hatte, aß sie etwas. Niemand lehnte Speisen und Getränke ab. Niemand sonst musste allein essen und trinken. Es war ein warmer, verheißungsvoller Sommerabend in sanftem Gold, doch ihr blieb nichts anderes übrig, als die Einsamkeit zu umarmen. Sie zog die geweihten Kleidungsstücke an und ging den vertrauten Pfad zu den Steinen entlang, während die Nacht hereinbrach. Sterne leuchteten über ihr wie Feuerstellen der Toten. War da 58 nicht ein neuer Stern unter ihnen, möglicherweise der Geist des Verfluchten, den sie gestern von der Erde verjagt hatte? Sie wusste es nicht. Mit bestimmten rituellen Gesten, die ihren Respekt bezeugten, betrat sie den Steinwebstuhl. Die großen Steine schienen sie zu beobachten. Sie kniete vor dem Kessel nieder, nippte an dem Wasser, bevor sie eine Hand voll in die Luft schleuderte, um den Wind mit der heiligen Substanz zu besamen. Die Arme vor der Brust gefaltet, atmete sie sich langsam in einen Zustand der Trance, der notwendig für die Arbeit war. Dann ging sie jeden einzelnen Schritt des großen Webens durch, damit sie, wenn die Zeit kam, ja keinen Fehler machte und die Fäden nicht durchtrennt würden. Als sie die Arbeit beendet hatte, die nur vor ihrem geistigen Auge stattfand, fing sie noch einmal von vorn an. Doch sie konnte nur eine gewisse Zeit in dem Trance-Zustand verharren. Nach einer Weile schüttelte sie ihn ab. Sie war erschöpft, aber nicht schläfrig. Sie neigte leicht den Kopf und wartete. Vielleicht wartete sie nur auf etwas Hoffnung oder Erlösung. Vielleicht wartete sie auch nur auf den Wind. Oder auf den Tod. Es war eine lange Nacht. Nebel kroch zwischen die Steine und verhüllte sie, kalt und weich zugleich. Die Sterne atmeten ein und aus, die Seelen seufzten um ihre verlorenen Heime. Eine Nachtigall sang. Eine Eule schrie. Sie schreckte aus ihrem Dämmerzustand auf. Ihre Knie schmerzten, ihr linker Fuß war eingeschlafen, und als sie sich rührte, um die Nadeln der bösen Geister zu vertreiben, die während ihres Nickerchens gekommen waren, um sie zu plagen, sah sie, wie die Eule geräuschlos auf ihren großen Schwingen herbeiglitt und sich auf dem Kessel niederließ. Rasch legte sie schützend eine Hand über die Augen. Die Morgendämmerung erhellte den östlichen Horizont. Der Nebel zog sich zurück, wie eine Kreatur, die ihre Krallen einzog, 59 bis nur noch die westlichsten Steine von ein paar Schwaden umgeben waren. Ein blauweißes Licht flackerte vor ihren Augen. Der Atem der Geheiligten kitzelte ihren Nacken, er roch nach Gras. Hufe klapperten auf dem Boden, während die Geheiligte davon tänzelte. Der Boden erzitterte, riss sie nach hinten zurück. Eine Kraft griff in ihre Eingeweide und riss sie in die eine Richtung, während sie gleichzeitig in die andere geschleudert wurde. Die Bewegung zerriss sie, und doch war sie ganz, wenngleich sie vor Erschöpfung und Angst keuchte. Ihre Zunge war geschwollen, und ihr Kopf schlug eine Myriade Schwindel erregender Purzelbäume, als würde sie der Länge nach einen steilen Hügel hinunterrollen, während sie doch reglos neben dem Kessel kauerte. Tief im Kosmos war etwas aufgegangen. Die Welt um sie herum murmelte, unruhig und neugierig, und sie hörte Vögel im Wald erwachen, hörte aus einiger Entfernung das Geheul von Wölfen. Der Atem der Sterne strich über ihren Nacken, brannte mit wilder Hitze auf sie herab, so unerbittlich wie die Seelen der Schwerter. Sie hörte ein Keuchen, und dann war alles still bis auf die Bewegungen der Geheiligten, die ruhige Worte murmelte. Und dann war da noch eine andere Stimme, leise und verwirrt. Und da war der widerliche Gestank von Blut und ein unbekannter Geruch, der sie fast zu ersticken drohte, bis sie begriff, was es war: der Geruch eines nassen Hundes. Verwirrt blickte sie auf und sah zwei riesige schwarze Hunde von der Größe halb ausgewachsener Kälber, die wachsam zu beiden Seiten des Trittsteins standen. Sie erhob sich neugierig, doch die Hunde machten keinerlei Anstalten, auf sie zuzugehen, und sie knurrten und bellten auch nicht. Ein nackter Mann lag auf dem Boden auf der anderen Seite des Kessels. Er hatte den schlanken, männlichen Körpers von jemandem, der zwar kein Jugendlicher mehr war, aber auch noch nicht lange erwachsen. Die Geheiligte wartete reglos eine Speerlänge von dem ausge60 streckten Körper entfernt. Ein Haufen blutverschmierter Kleider lag vor ihr. Adica ging neugierig um den Kessel herum, murmelte Worte des Schutzes. War dies ein Beschwörer, der mit seinen spirituellen Führern umherwandelte ? Die Hunde stießen den Körper an, als könnten sie Leben darin riechen, bevor sie sich zufrieden zu beiden Seiten des Mannes ausstreckten. Sie versuchten nicht, sie zu beißen, als sie zwischen sie trat und den Mann an der
Schulter berührte. Seine Haut war so weich wie eine Rosenblüte, wunderbar zart. Er war viel weniger behaart als die Männer der Hirsch-Clans, aber er hatte nicht den bronzefarbenen Teint, der die Verfluchten kennzeichnete. Seine Haut war blass und glatt; er war so ganz anders als alle anderen Personen, die sie bisher gesehen hatte. Sie fuhr die Linie seines Schulterblatts mit den Fingern nach; seine Haut fühlte sich warm unter ihrer Hand an. Er atmete langsam und gleichmäßig. »Hier ist der Ehemann, den ich dir versprochen habe, Adica«, erklärte die Geheiligte. »Er kommt aus der jenseitigen Welt.« Er roch so süß wie wilde Rosen. Die Windung seines Ohrs des einen, das sie sehen konnte - war so zart wie die einer kostbaren Seemuschel, die zum Tauschen aus dem Norden hergebracht wurde, und seine Lippen hatten den violetten Ton von Holunder, als wäre ihm kürzlich sehr kalt gewesen. Sie sprach leise, aus Angst, ihn zu stören. »Kommt er aus dem Land der Toten?« So, wie er dalag, war es schwer, die Beschaffenheit und Form seines Gesichts zu erkennen. »Es stimmt, er ist zum Land der Toten unterwegs gewesen. Aber jetzt ist er hier.« Ihre Hand blieb auf seiner Schulter liegen. Er hatte die Oberschenkel und das Gesäß eines jungen Mannes, aber sie konnte sich nicht überwinden, ihn wirklich als Mann anzuerkennen. Doch ihr Herz pochte heftig. Der Wind fuhr seufzend zwischen den Steinen hindurch, verteilte den Nebel, als die kräftige Sonne höher stieg. Es war schwer, etwas zu sagen, da die Hoffnung so heftig gegen 61 ihre Befürchtungen ankämpfte. Ihre Stimme zerbrach beinahe an den Worten, die sie schließlich herauspresste. »Wird er bis zu meinem Tod bei mir bleiben, Geheiligte?« »Ja, er wird bis zu deinem Tod bei dir bleiben.« Die ruhigen Worte trafen sie bis ins Mark, und ein Gefühl von Trauer stieg in ihr auf. Sie weinte, hockte sich auf die Fersen, um sich abzustützen, und bemerkte nicht, dass er sich rührte - erst, als er sich auf die Unterarme stützte und sie anblickte. Er wirkte nicht weniger verwirrt als sie, aber auch benommen, als hätte er einen Schlag auf den Kopf bekommen. Seine Haut hatte die Blässe von jemandem, der krank gewesen war. Ein kleiner, roter Fleck von der Form einer Rose war auf seiner linken Wange, ähnlich den Zeichen, die das Pferdevolk benutzte, um sein Vieh zu kennzeichnen. Trotz dieses Makels und seiner Blässe hatte er ein angenehmes Gesicht, ausdrucksvoll und offen. Bevor sie begriff, was er vorhatte, strich er mit einem Finger sanft über die Narbe auf ihrer Wange, die von einer Verbrennung herrührte, und wischte ihr eine Träne aus dem Gesicht. Das Gefühl der Nässe überraschte ihn so sehr, dass ihm ein Ausruf entfuhr und er unwillkürlich den Finger an die Zunge hielt, um zu sehen, ob es nach Salz schmeckte. »Wer bist du?«, fragte sie. »Wie heißt du, falls du mir das sagen kannst?« Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Er antwortete, aber die Worte, die aus seinem Mund kamen, klangen so ganz anders als die Sprachen, die sie bisher gehört hatte. Vielleicht war dies die Sprache, die man im Land der Toten sprach, unverständlich für jene, die in der Mittleren Welt lebten, der Welt der Lebenden. Er kämpfte sich unsicher auf Hände und Knie, hockte sich auf die Fersen und begriff plötzlich, dass er nackt war. Er griff nach dem zerrissenen Kleidungsstück, das eine Armlänge von ihm entfernt lag, aber als seine Finger den blutgetränkten Stoff berührten, schreckte er mit einem Schrei zurück, blickte sich um, als suchte er die Hilfe der Geheiligten. 62 Aber von der Geheiligten war nichts mehr zu sehen. Auch ihre Eule war verschwunden. »Komm«, sagte sie und streckte ihre Hände mit den Handflächen nach oben aus - das Zeichen des Friedens. »Hier wird dir nichts geschehen.« Die Hunde hatten sich nicht gerührt, und so setzte er sich wieder hin, die Beine gekreuzt, die Hände sorgsam in seinen Schoß gelegt. Um zu zeigen, dass sie eine menschliche Frau war, nahm sie das goldene Geweih ab, entfernte das bronzene Taillenband und legte beides neben ihn. Er sah ihr mit wachsamem Respekt zu, aber ohne jene Angst, die in jedem Blick der Dorfbewohner mitschwang, mit denen sie aufgewachsen war und bei denen sie beinahe ihr ganzes Leben verbracht hatte. Entweder war er immer noch benommen, oder er hatte einfach keine Angst. Doch wenn er den Pfad beschritten hatte, der in das Land der Toten führte, fürchtete er möglicherweise kein Schicksal mehr, das im Land der Lebenden über ihn kommen mochte. Der Geruch von Blut hing schwer in der Luft. Die Kleidungsstücke, die auf einem wirren Haufen im Gras lagen, waren mit dem hellroten Blut des Herzens getränkt, das erst jetzt zu trocknen und dunkel zu werden begann. Die Hunde zeigten keinerlei Anzeichen von Verletzungen, und der Mann hatte zwar eine frische, rosafarbene Narbe unterhalb der Rippen - die von einer ziemlich hässlichen Wunde stammte -, doch sie war eindeutig verheilt und blutete oder nässte nicht mehr. Woher stammte also das Blut? »Gehören diese Kleidungsstücke dir?«, fragte sie und streckte neugierig die Hand aus, um das nächstliegende zu berühren. Die Wolle schimmerte in einem hellen Goldton, und als sie sie schüttelte, erkannte sie unter den Blutflecken das Bildnis eines Geistes, der auf die goldene Kleidung gebannt worden war: Ein schlanker und mächtiger Löwe war aus schwarzen Fäden in das Gold gewebt worden. 63
Er schreckte vor dem Anblick zurück. Seine Miene war so lebhaft, als würde seine Seele nicht länger in einem tief verborgenen Winkel in seinem Innern schlummern, wie das bei den meisten Leuten der Fall war, sondern als würde sie sein gesamtes körperliches Sein durchdringen. Vielleicht war er ja gar keine Person, sondern die Seele höchstpersönlich, die sich auf der körperlichen Hülle manifestiert hatte, auf der Hülle des Kriegers, der einst diese Kleidungsstücke getragen hatte und in ihnen gestorben war. Vielleicht hatte er den Mann getötet, der sie getragen hatte, und er schreckte jetzt vor der Erinnerung an die Gewalt zurück. Sie untersuchte ein zweites Kleidungsstück aus ungefärbter Wolle, das sogar noch blutiger als das Stück mit dem Löwen war. Darunter lag ein Ledergürtel, in den kleine Löwen eingraviert waren, mit einer Bronzeschnalle, die wie ein fauchender Löwenkopf aussah. Ein Fußschutz, der aus weichem Leder gearbeitet und von atemberaubender Kunstfertigkeit war, lag bei den Kleidungsstücken und Lederstreifen, die, wie sie begriff, schöne Beinkleider darstellten. Wo hatte sein Volk nur solche Fertigkeiten erlernt ? Wieso waren sie nicht der Allianz der Menschen gegen die Verfluchten beigetreten ? Unter den Kleidungsstücken lag ein Teil, das aus winzigen Metallringen bestand, eine helle Farbe hatte, aber weder aus Silber, Zinn, Bronze noch Kupfer war. Es wog schwer. Die Ringe ertönten in tausend Stimmen, als sie sie hochhob. Sie hatten einen harten, unnachgiebigen Geruch. Wie der Löwenumhang hatte auch dieses Kleidungsstück Löcher, um den Kopf und die Arme hindurchzustecken, und es war lang genug, um bis auf die Knie zu fallen. Vielleicht bestand es auch gar nicht aus Metall, sondern war ein magischer Schutzbann, der körperliche Gestalt angenommen und sich zusammengerollt und verdichtet hatte, um einen Körper zu schützen. Ihre Schultern schmerzten von der Anstrengung, es hochzuhalten, und so legte sie es wieder hin und hob stattdessen das Messer auf, das darunter lag. 64 Kein Stein, kein Kupfer, keine Bronze: die metallische Substanz dieses Messers hatte nichts mit dem unerbittlichen Feuer des Bronzeschwerts zu tun, das sie der Leiche des Verfluchten abgenommen hatte. Es war matt, mit einer herzlosen Seele, die so kalt wie Winterschnee war, so rücksichtslos wie die großen Schlangen, die sich in den Tiefen des Meeres krümmten und die Curraghs - die Grundlage für den Handel des Fischervolks - in einem Stück verschlangen: sie fraßen, wenn sie hungrig waren, verzogen sich und kehrten zurück, wenn der Hunger größer wurde. Magie war das Blut dieser Kleidungsstücke. War es da noch eine Überraschung, dass sie überall so blutverschmiert waren? Sie blickte ihn an, in der Hoffnung - und zugleich auch voller Furcht -, in seiner Miene eine Antwort zu finden. Aber wie alle jungen Frauen, die zu lange kein Vergnügen genossen hatten, sah sie nur seinen Körper. Er war ganz offensichtlich kein Kind mehr, das im Sommer nackt herumlief. »Warte hier«, sagte sie und machte eine Geste, um ihm zu zeigen, dass sie weggehen und wiederkehren würde. Als sie sich erhob, glitt ihr Bänderkleid zur Seite und enthüllte ihre Oberschenkel; er errötete überall, was auf seiner hellen Haut nur zu leicht zu erkennen war. Sie blickte rasch weg, verbarg ihre Hoffnung. Fand er sie hübsch? Hatte die Geheiligte wirklich einen Ehemann zu ihr gebracht? Sie raffte ihre Regalien zusammen und eilte zu ihrem Unterschlupf, verstaute das Geweih und das Taillenband in der Truhe und kehrte zu ihm zurück, das Leinenhemd über den Armen. Er saß noch immer mit gekreuzten Beinen da, aber er hielt den Kopf geneigt, stützte ihn mit den Händen ab. Als er sie hörte, hob er den Kopf. Tränen rannen ihm übers Gesicht. Er war also tatsächlich nicht tot, denn Tote konnten nicht weinen. Sie legte das Leinenhemd vor ihm auf den Boden und trat ein paar Schritte zurück, drehte sich um, um ihn nicht zu stören - für den Fall, dass er irgendwelche Rituale zu befolgen hatte, bevor er 65 die Schwelle von der Nacktheit zur Zivilisation überschritt. Es war still, abgesehen vom Wind und dem Rauschen und Rascheln seiner Bewegungen. Dann hustete er, räusperte sich, und sie drehte sich um. Die Tunika hing lose über seiner Brust, fiel glatt bis knapp unter seine Knie. Seltsamerweise war er genauso groß wie Beor. Die südlichen Stämme und die Verfluchten waren gewöhnlich kleiner als die Leute der HirschClans. Nur die vom Pferdevolk, deren Körper halb menschlich und halb die eines Pferdes waren, waren größer. Mit Hilfe einer komplizierten und unbeholfenen Geste deutete er auf sich und sprach ein Wort. Sie versuchte es nachzusprechen, auf die eine oder andere Weise, und dann lachte er plötzlich äußerst süß, und sie blickte in seine Augen und lächelte ihn an. Sie musste als Erste ihren Blick abwenden. Feuer brannte in ihren Wangen; ihr Herz stand in Flammen. Er war nicht übermäßig hübsch. Er sah ganz anders aus als alle anderen Männer, die sie kannte. Sein Antlitz war eher schmal, seine Stirn etwas flacher, auf der Wange war der Fleck, und seine Haare waren beinahe so dunkel wie die der Verfluchten, aber so schön wie gesponnenes Flachs. Er sagte wieder seinen Namen, langsamer jetzt, und einer der großen Hunde bellte zur Antwort. »Haiahn«, sagte sie. »Alain«, stimmte er ihr gutmütig zu. »Ich heiße Adica«, sagte sie. »Ah-dicah.« Ihr Name war für ihn leichter auszusprechen, als seiner es für sie gewesen war. Als sie ihn diesmal anlächelte, war er es, der errötete und wegsah.
»Was müssen wir mit dem Schatz tun, den du mitgebracht hast?« Sie deutete auf den Haufen Kleidungsstücke. Ein kleiner Lederbeutel lag etwas abseits, aber die Schnalle war zerbrochen. Darunter war ein Stift, nicht länger als ein Finger, der an die Holzstifte erinnerte, mit denen sie die Verbindungsstücke an den Ecken 66 ihrer Häuser befestigten. Der Stift war mittels Magie aus demselben herzlosen Metall geschaffen worden, aus dem auch das Hemd aus Ringen bestand. Rostrotes, altes Blut befleckte den winzigen Nagel. Wie das Messer hatte auch er eine Seele, und sie war mürrisch und verschlagen, sogar ein bisschen quengelig - wie ein missratenes Kind. Er brachte einen erstickten Schrei hervor, taumelte nach hinten und fiel auf die Knie. Hatte er Angst vor der Seele des Nagels, oder hatte dieser Nagel ihn durch eine unsichtbare Bösartigkeit zu Fall gebracht? Sie steckte ihn rasch in ihren Beutel. Mit einiger Anstrengung rappelte er sich auf, trat dann schnell an den Rand des Webstuhls und klammerte sich an einen der Schutzsteine, die Schultern gebeugt, als würde ein übermächtiges Gewicht auf ihnen lasten. Sie raffte die Kleidungsstücke zusammen und versteckte sie in dem flachen Grab neben dem Bronzeschwert und der Rüstung, die sie dem Verfluchten abgenommen hatte. Schließlich kehrte sie zu ihm zurück. »Komm.« Er und seine Hunde folgten ihr gehorsam. Hin und wieder sprach er mit sanfter Stimme zu den Hunden. Er blieb neben der Hütte stehen, um den Unterschlupf aus jungen Bäumen und Blättern zu begutachten, die Fellwände, die Pflöcke und Lederriemen, die alles an Ort und Stelle hielten. »Hier schlafe ich«, sagte sie. Sein Lächeln hatte etwas so Entwaffnendes, dass sie wegschauen musste. Hatte die Geheiligte mitten in ihr Herz gesehen? Spontan neigte sie sich zu ihm und berührte mit ihrer Wange seine. Er roch leicht nach Blut, aber mehr noch nach erblühenden Rosen. Sein spärlicher Bart war so weich wie Blütenblätter. Verwirrt zuckte er zurück. Seine Wangen leuchteten rot, und sie war so überwältigt von ihrem eigenen Ungestüm, von der Geschwindigkeit, mit der sie sich von ihm angezogen fühlte, dass sie eiligst den nächstgelegenen Erdwall erklomm, um einen Blick auf das Dorf und die Felder zu werfen, auf den Fluss und den Wald 67 und den Urwald dahinter, der die Heimat von Ungeheuern, Geistern, Wölfen und jeder Art von wilden Tieren war. Die Hunde bellten. Sie blickte sich um und sah, wie sie nach Alains Fersen schnappten, ihn hinter ihr her trieben. Er gab ihnen hin und wieder einen leichten Klaps auf die Schnauze, ohne jede Furcht vor ihren riesigen Kiefern, aber dennoch folgte er ihr, blieb lediglich nach der Hälfte des Weges stehen, um die Neigung des Walls zu begutachten, die Erde zu mustern, die Beschaffenheit des Hügels und die Erdarbeiten, die ihn umringten. Dann blieb er neben ihr stehen und betrachtete das Dorf unter ihnen, das von einer niedrigen Palisade umgeben war. Sie sahen Menschen auf den Feldern arbeiten, den träge dahinfließenden Fluss und eine nur undeutlich zu erkennende Gruppe am Waldrand - das musste entweder Urta mit ihren Ziegen sein oder Deyilo, der die Schafe seiner Familie hütete. Er sprach ein paar hastige Worte, aber sie begriff nicht, was er meinte, abgesehen von seiner Aufregung, als er auf das Dorf deutete und hinuntermarschierte, vor Eile halb rutschend. Sie sah ihm zuerst nur zu, betrachtete die Art, wie er sich bewegte, wie er sich - sicher und anmutig hielt. Er war nicht so stämmig wie Beor, der ganz Kraft war und nicht die geringste Anmut besaß, und er hatte auch nicht die zurückhaltenden Bewegungen von Dorren, der aufgrund des Mangels all dessen, was für die Arbeit eines Erwachsenen unabdingbar war, bescheiden geworden war. Er war jung, und er war ganz, und sie wollte ihn, weil er keine Angst vor ihr hatte, weil er gut gebaut war, weil sie einsam war und weil da noch etwas anderes um ihn war, dieser Duft nach Rosen, den sie sich nicht erklären konnte. Hastig folgte sie ihm, und er war höflich genug, auf sie zu warten, aber vielleicht hatte er auch anhand der Regalien gesehen, dass sie die Geweihte dieses Stammes war und man ihr daher Respekt zu zollen hatte. Nie würde eine erwachsene Person die Geweihte eines Stammes achtlos beleidigen. Alle kamen herbeigelaufen, um zu schauen. Er starrte sie nicht 68 weniger erstaunt an, ihre Gesichter, ihre Kleider, er hörte ihre Fragen, die wie Wasser von ihm abperlten. Erwachsene verließen ihre Felder, um herbeizukommen und zuzusehen. Kinder krabbelten herum, so verwundert, dass sie in ihrer Eile sogar Adica anstießen, um einen Blick auf diesen Mann werfen zu können. Und nachdem sie anfangs noch sehr vorsichtig gewesen waren, näherten sie sich auch den riesigen Hunden. Erstaunlicherweise ließen sich die Tiere wie geduldige Ochsen nieder, einen Ausdruck verletzter Würde in ihren Augen. In dieses Chaos hinein rannte ein nacktes Mädchen Getsi, eine der Enkelinnen von Orla. »Geweihte! Du musst sofort kommen. Mutter Orla braucht dich im Geburtshaus!« Kalte Furcht ergriff Adicas Herz. Es gab nur eine Frau in diesem Dorf, die kurz vor dem Geburtstermin stand: Weiwara, ihre gleichaltrige Freundin. Sie fand ihren Cousin Urtan in der Menge. »Dieser Mann ist ein Freund unseres Stammes. Behandelt ihn mit der Gastfreundschaft, die wir einem jeden Fremden schulden.« »Natürlich, Geweihte.«
Sie lief mit Getsi weg. Die Streifen ihres Kleides schlugen gegen ihren Körper, hüpften auf und nieder, und die Bronzemanschetten an den Enden klirrten wie Glockenklänge, die Durcheinander tönten, um zu den Waffen zu rufen. Während sie rannte, betete sie zwischen keuchenden Atemstößen zu der Fetten: »Lass sie nicht sterben, Fette. Lass es nicht meine Verdammnis sein, auf diese Weise die Verdammnis in das Dorf zu tragen.« Das Geburtshaus lag außerhalb des Dorfes, stromaufwärts auf einer Erhöhung neben dem Fluss. Ein Zaun umgab es, um weidende Schafe, halsstarrige Ziegen und Kinder fern zu halten. Die Männer wussten, dass sie die Grenze, die den Zaun bildete, nicht überschreiten durften. Eine Gabe aus ungespaltenem Holz lag vor dem Tor. Adica warf einen Blick zurück zum Dorf und sah Weiwaras Ehemann kommen, zusammen mit anderen. Sie schloss das Tor hinter sich und stampfte vor der Tür des 69 Hauses dreimal mit jedem Fuß auf. Dann rüttelte sie an dem Riegel und trat über die Schwelle - sie machte einen großen Schritt über das Holz, als wollte sie unter allen Umständen vermeiden, es mit ihrem Fuß zu berühren. Nur die Tür und der Rauchabzug ließen etwas Licht herein. Weiwara saß auf dem Geburtsstuhl und war tief in die Geburtstrance versunken, die Augen halb geschlossen, während sie keuchte und stöhnte, der Hysterie nahe, obwohl Mutter Orla sie mit ihrem Gesang zu beruhigen versuchte. Weiwara hatte ihr erstes Kind drei Sommer zuvor geboren, und wie alle wussten, waren die zwei ersten Geburten die gefährlichsten. Wenn eine Frau die überstanden hatte, war es wahrscheinlich, dass die Götter ihr und ihrer Kraft ihren Segen gegeben hatten. Adica kniete sich neben die Reinigungsschüssel, die gleich hinter der Türschwelle stand, und wusch ihre Hände und ihr Gesicht mit dem Wasser, das nach Lavendelöl duftete. Sie stand wieder auf und vollführte einen Kreis, indem sie zu jeder Ecke des Geburtshauses ging. Sie sprach jedes Mal einen Segen und strich mit einem reinigenden Wacholderzweig über die Ecke, während Weiwara weiter keuchte, um sich stieß und Mutter Orla mit ihrer trockenen Stimme noch immer sang. Orlas älteste Tochter Agda hatte ihre Hände mit Fett eingeschmiert, das ebenfalls nach Lavendel duftete, um böse Geister abzuhalten. Agda winkte Adica mit dem angemessenen Respekt zu, und Adica kroch auf Knien neben die andere Frau. Getsi begann mit den Eintrittsritualen, sodass auch sie beobachten und als Hebamme wirken konnte, sobald ihre Altersgenossinnen Frauen wurden. Agda sprach mit leiser Stimme. Eine dünne Schicht aus Blut und Schaum verband sich mit dem Fett auf ihren Händen. »Ich danke dir, dass du gekommen bist, Geweihte.« Sie blickte Adica nicht direkt an, aber sie warf Weiwara einen Blick zu, um sicherzugehen, dass die Frau sie nicht hören konnte. »Als ich sie vor zwei Tagen untersucht habe, konnte ich den Kopf des Kindes unten auf ihrer Hüfte spüren. Aber als ich eben den Geburtskanal untersucht habe, musste ich feststellen, dass die Füße heruntergekom70 men sind. Sie ist früh dran. Und die Glieder des Kindes fühlen sich für mich nicht richtig an.« Sie neigte den Kopf, betrachtete ihre Hände und wagte es, Adica anzublicken. Das Licht, das durch den Rauchabzug fiel, verwandelte ihre Miene in eine Maske. »Ich glaube, das Kind ist bereits tot.« Agda spuckte sofort aus, damit die Worte nicht in ihrem Mund blieben. »Ich hoffe, du kannst seinen Geist binden, damit Weiwara nicht zusammen mit ihm auf die Andere Seite gezogen wird.« Weiwara mühte sich weiter ab; die ungebundenen Haare hingen ihr wie ein Umhang über die Schultern. Sie stöhnte. Orlas Gesang wurde lauter. »Es ist so weit«, keuchte Weiwara. Agda nahm wieder ihre richtige Position ein, zwischen Weiwaras Knien, und gab ihrer Mutter ein Zeichen; Orla packte daraufhin Weiwara bei den Schultern und veränderte den Rhythmus ihres Gesangs, sodass die Frau keuchen und pressen konnte, und wieder keuchen. Agda tastete vorsichtig den Geburtskanal ab, während Getsi hinter ihr alles beobachtete; sie stand wie ein Storch auf einem Bein, das Geburtstuch über der rechten Schulter. Adica erhob sich und trat zur Schwelle zurück, vorsichtig bemüht, der gebärenden Frau nicht den Rücken zu kehren. Ein Weidenkorb, um den Zaubersprüche gewirkt waren, hing vom Dachsparren. Weil das Geburtshaus selbst ein Durchgang von dieser Welt zu den anderen war, musste es stets mit Zaubersprüchen und Ritualen geschützt werden. Jetzt nahm Adica den Korb vom Haken; sie fand darin alles, was sie benötigte. Von draußen hörte sie den rhythmischen Klang von Axthieben, als Weiwaras Ehemann die Magie wirkte, die ihm als Mann möglich war; er spaltete Holz in der Hoffnung, das Kind so in einem sauberen Schnitt von der Mutter trennen zu können. Weiwara begann wie wahnsinnig zu stöhnen, und Agda sprach jetzt sehr ernst mit ihr. »Du musst den Atem anhalten und pressen, und dann wieder atmen. Richte dich nach Orla.« Adica fand einen winzigen Topf mit Ocker, und mit einem Pin71 sei aus Schweineborsten malte sie Spiralen auf ihre Handflächen. Sie schlüpfte neben Agda. »Gib mir deine Hände.« Agda zögerte, aber Orla nickte. Von Weiwaras Augen war jetzt fast nur noch das Weiße zu sehen, und sie wimmerte leise zwischen angehaltenen Atemzügen. Adica bestrich Agdas Handflächen schnell mit dem Zeichen
für die Mondhörner der Fetten, die Geburt symbolisierten, und mit dem Bogen der Königin des Wilds, die alle Dinge losließ. Sie malte auf ihrer eigenen Stirn den Stock der Alten Vettel, um den Tod auf sich zu ziehen, weg von jenen, die zum Leben vorgesehen waren. Mit einem Ebereschen-Zweig führte sie an allen vier Ecken des Hauses Zeichen der Macht aus. Sie hielt an der Schwelle an, zupfte eine Ecke der Felltür zur Seite, um nach draußen zu spähen. Weiwaras Mann hackte auf der anderen Seite vom Tor noch immer Holz; seine breiten Schultern glänzten in der Sonne. Schweiß rann ihm den Rücken hinab, während er arbeitete, die Arme geschmeidig, den Bauch angespannt. Ein Stück hinter ihm stand Alain; er blickte verdutzt drein. Als sie ihn so sah, sauber und blass und schlank, ganz anders als die Männer ihres Dorfes mit ihren breiteren Gesichtern, den stämmigen Schultern und der von der Sommerarbeit braungebrannten Haut, schreckte Adica abrupt aus ihrer Trance. Ihr Cousin Urtan hatte Alain eine Hand auf den Ellenbogen gelegt, als wolle er ihn zurückhalten, doch Alain setzte sich genau in dem Augenblick in Bewegung, als seine zwei schwarzen Hunde ihn mit den Schnauzen anstießen; allein durch die Kraft ihres Gewichts schoben sie Urtan beiseite. Sie waren so groß, dass sie es gar nicht nötig hatten, zu knurren oder die Zähne zu blecken. »Ahh!«, schrie Weiwara so laut, dass ihr Mann mit dem Holzhacken innehielt und die Männer einen Blick auf das verbotene Haus warfen, um dann rasch wieder wegzusehen. Adica trat entsetzt zurück, als Alain das Tor passierte. Als sie das Fell wieder losließ, damit es die Tür bedeckte, erklang ein Aufschrei aus der Menge, die jenseits des Tores wartete. 72 »Es ist geboren!«, sagte "Orla. »Da ist aber noch eins!«, schrie Weiwara, deren unter Schluchzen hervorgestoßene Worte mehr Furcht als Erleichterung verrieten. »Fette, bewahre uns!«, sagte Agda. »Hier kommt noch eins! Geweihte! Ich bitte dich, nimm das hier. Es ist kein Leben in ihm.« Adica nahm das Baby in ihre Arme und drückte seine kalten Lippen an ihre eigenen. Es rührte sich keine Seele darin. Das Baby hatte keinen Puls. Kein Herz führte Leben durch seinen Körper. Doch sie hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, was sie als Nächstes zu tun hatte - dass sie den Geist des toten Kindes finden und ihm den Pfad zeigen musste, der zur Anderen Seite führte -, denn in diesem Augenblick drängte ein glänzender Kopf zwischen Weiwaras Beinen nach draußen. Der Anblick verblüffte sie so sehr, dass sie einen Satz zurück machte und mit Alain zusammenstieß, der gerade das Geburtshaus betreten hatte. Er stützte sie, indem er ihr eine Hand gegen den Rücken hielt. Nur Getsi sah ihn in diesem Augenblick. Das Mädchen starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, zu schockiert, um sprechen zu können. Welchen Ruin hatte Adica über das Dorf gebracht, als sie ihn herbrachte? Das Baby in ihren Armen war blau wie Kornblumen, kränklich und irgendwie nicht richtig. Tot und verloren. Der Zwilling schlüpfte so rasch durch den Geburtskanal, wie ein Fisch durch nasse Hände glitt. Agda fing das Kind auf, und es begann sogleich aus kräftigen Lungen zu krähen. Weiwara begann, vor Erschöpfung zu weinen. Orla nahm ihre Hände von Weiwaras Schultern und bemerkte in diesem Augenblick die Gestalt, die hinter Adica stand. Sie zischte. »Was ist das für eine Kreatur, die uns da verfolgt?« Weiwara schrie und zitterte, als hätte ein Krampf sie erfasst. Agda hockte sich auf die Fersen und stieß einen lauten Schrei aus, der das Jaulen des Babys übertönte. »Welchen Fluch hat er über uns gebracht?« Alain achtete nicht auf ihre Worte, sondern nahm Adica sanft 73 das Baby aus den Armen und hob es hoch, um mit seinem Ohr dessen Brust zu berühren. Er lauschte intensiv, dann sagte er etwas mit leiser Stimme, aber sie wusste nicht, ob er mit dem toten Kind oder mit sich selbst sprach. Die Frauen sahen entsetzt zu, und der lebende Zwilling schrie, als wollte er protestieren, als Alain sich auf den Boden des Geburtshauses hockte und die Glieder des toten Babys mit den Händen rieb. »Was ist das für eine Kreatur?«, fragte Orla wieder. Adica versuchte zu antworten, doch ihre Stimme versagte; ihr war übel vor Furcht. Selbstsüchtig hatte sie sich in den letzten Tagen einen Gefährten gewünscht, und jetzt, da sie ihn hatte, brachte er Unheil über das Dorf. »Seht nur!«, flüsterte Weiwara. Das tote Baby rührte sich und quäkte. Farbe überzog seinen winzigen Körper. Das Blau verwandelte sich in Rosa, als das Leben in das Kind zurückkehrte. Alain betrachtete das Neugeborene mit nachdenklich gerunzelter Stirn, bevor er das kleine Mädchen hochhob, um es Weiwara in die Arme zu legen. Weiwara hatte den verblüfften Ausdruck eines zur Schlachtbank geführten Schafes im Gesicht. Lebende Zwillinge waren ein mächtiges Zeichen, das auf die Gunst der Fetten hindeutete. »Oh«, stöhnte sie, als der letzte Schmerz sie traf. Ohne groß nachzudenken, gab sie Alain das Kind zurück, bevor sie wieder den Stuhl umklammerte. Getsi wickelte das andere Neugeborene geschickt in Geburtstücher. Als die Nachgeburt herausgeglitten war und Agda ein Stück davon abgeschnitten hatte, damit Weiwara es hinunterschlucken konnte, drehten sich die Frauen um und blickten Alain an. Er wartete schweigend. Adica machte sich bereit. Doch die gefürchtete Sturzflut von Tadeln unterblieb; Orla schwieg. Agda saß still da. Die Nachgeburt lag in all
ihrem strahlenden Glanz auf der Geburtsplatte zu ihren Füßen und wartete darauf, gekocht zu werden. Niemand schalt ihn. Niemand machte die rituellen Zeichen, um 74 sich gegen das Gift zu schützen, dass er mit sich hereingetragen hatte - er, der an einen Platz gegangen war, der Männern verboten war. Doch obwohl es falsch war, ihn hier bleiben zu lassen, hatte Adica nicht die Kraft oder das Herz, ihn hinauszuschicken. Er hatte Licht mit hereingebracht, und wenn auch nur dadurch, dass er die Fellklappe angehoben hatte, die über der Schwelle hing. Die Fellklappe hatte sich an dem Korbhaken verhakt, der etwa in der Mitte des Rahmens angebracht war, und hing schief. Der rosafarbene Fleck auf seiner Wange wirkte jetzt besonders lebhaft, als strahle er geradezu. »Was für eine Kreatur ist das?«, fragte Mutter Orla noch einmal. »Das Kind ist tot gewesen«, sagte Agda. »Ich weiß, wie sich ein totes Wesen anfühlt.« Auch sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden, als wäre er eine Giftschlange - oder ein Wesen von großer Macht. »Was für eine Kreatur ist er, dass er aus dem Tod Leben erschaffen kann?« Kaum waren die Worte ausgesprochen, bot sich die Erklärung von alleine an. »Er ist ein Mann«, erklärte Adica, die ihn musterte, als er sie ansah. Er schien verwirrt und ein bisschen beschämt, hatte sich halb von Weiwara abgewandt, die von Getsi jetzt mit Wasser und einem Schwamm aus gebundenen Binsen gewaschen wurde. »Er war auf dem Weg zum Land der Toten, als die Geheiligte ihn mir als meinen Gefährten gebracht hat.« Weiwara war noch immer zu benommen von der Geburt, um antworten zu können, vielleicht hatte sie es nicht einmal gehört, aber Agda und Orla nickten lediglich und zupften an ihren Ohren, um sicher zu sein, dass keine bösen Geister im Gefolge einer solch herausfordenden Aussage hineingekommen waren. »So sei es«, sagte Orla. »Wenn die Geheiligte ihn dir gebracht hat, dann wird sie keine Angst davor haben, dass er etwas Schlechtes über dieses Dorf bringt.« »Wenn er wirklich auf dem Weg zum Land der Toten war«, 75 meinte Agda, »ist er vielleicht der Seele dieses Kindes begegnet, während sie verloren den Pfad entlangwanderte, und hat sie zu uns zurückgebracht.« Orla nickte zustimmend. »Es erfordert mächtige Magie, jemanden von dem Pfad zurückzuholen, der zur Anderen Seite führt. Vielleicht hat er die Andere Seite gesehen. Hat er etwas davon gesagt?« »Er kann in keiner Sprache sprechen, die ich kenne, Mutter Orla«, gestand Adica. »Nein, natürlich nicht«, pflichtete Agda ihr bei. »Niemand, der einen Blick auf die Andere Seite geworfen hat, kann noch in der Sprache der Lebenden sprechen. Alle wissen das! Wird er dein Ehemann werden, Adica?« Sie zögerte, bevor sie fortfuhr. »Wird er dir dorthin folgen, wohin dich dein Schicksal führt?« »Das hat die Geheiligte mir versprochen.« »Vielleicht sollte jemand, der wandelnde Geister sehen und einfangen kann - so wie bei diesem Kind hier -, vielleicht sollte so jemand in diesen unruhigen Zeiten bei uns im Dorf bleiben«, überlegte Orla. »Er wird die bösen Geister kommen sehen und kann sie verjagen. Dann können sie uns nichts mehr tun.« »Was meinst du damit, Mutter?« Agda blickte misstrauisch zu Alain hinüber. »Ich werde mit den Ältesten sprechen.« »Ich würde ihn jetzt gern nach draußen bringen«, sagte Adica rasch. »Dann werde ich dieses Geburtshaus reinigen, damit Weiwara hier wohnen kann, bis ihre Mondruhe vorüber ist.« Das Bett der neuen Mutter stand vorbereitet an der einen Wand: eine Holzpritsche mit Binsen, einer Schafshaut und der speziellen Wolldecke, an die Büschel von Wacholder gebunden worden waren, die einer neuen Mutter Erleichterung und Schutz gewährten. Vorsichtig berührte Adica Alain am Ellenbogen. Sein Blick, immer noch auf das Neugeborene in Weiwaras Armen gerichtet, fuhr zu ihr herüber. »Komm.«Sie deutete zur Tür. 76 Gehorsam folgte er ihr. Es schien, dass in der kurzen Zeitspanne das gesamte Dorf von dem männlichen Erwachsenen gehört hatte, der in das Geburtshaus gegangen war. Jetzt kauerten alle Dorfbewohner um den Zaun, in Erwartung dessen, was geschehen würde. Beor kämpfte sich bis nach vorn durch. Er nahm Weiwaras Mann die Axt aus der Hand und betastete drohend den Axtkopf, als er Alain aus dem Haus treten sah. Ähnlich den Bullen und Böcken erkannten Männer einen Rivalen auf eine Weise, wie Frauen es niemals verstehen konnten. »Ich werde mich um diesen Eindringling kümmern«, sagte Beor ruppig, als Adica sich dem Tor näherte. »Er steht unter meinem Schutz.« Die Hunde drängten durch die Menge hindurch auf ihren Herrn zu. Ihre Größe und ihr Furcht erregendes Aussehen brachten die Dorfbewohner rasch dazu, beiseite zu treten. »Und unter dem Schutz der spirituellen Führer, wie es scheint.« Einer der großen Hunde, das männliche Tier, stieß mit der Schnauze an Beors Oberschenkel und knurrte leise; es war eine Drohung, aber kein Angriff. Alain sprach energisch mit dem Hund, der sich daraufhin niederließ, und wartete dann. Er musterte Beors breite Schultern und betrachtete das Heft der Axt. Im Sonnenlicht war das rosafarbene Mal, das auf dem Hügel und im Geburtshaus so sehr geleuchtet hatte, nichts weiter als ein einfacher, gewöhnlicher roter Fleck. Urtan eilte herbei und sprach in gedämpftem Ton mit Beor, drängte ihn dazu, beiseite zu treten. Beor zögerte.
Adica konnte den Kampf sehen, der in seinem Innern tobte: Eifersucht, Wut, Stolz und Selbstgefälligkeit kämpften mit der grundlegenden Würde, die dem Weißhirsch-Volk zu eigen war - in dem Wissen, dass man Kompromisse schließen musste, wenn man zusammenleben wollte. »Es ist unnötig, Ärger zu verursachen«, sagte Urtan mit lauter Stimme. 77 »Ich bin nicht derjenige, der Ärger verursacht«, sagte Beor mit einem bitteren Blick auf Adica. »Wer ist dieser Fremde, der wie ein Verfluchter gekleidet ist? Er hat doch bereits Ärger über dieses Dorf gebracht!« »Geh in dein Haus, Beor!« Mutter Orla trat aus dem Geburtshaus. »An einem Tag, an dem die Fette dem Dorf lebende Zwillinge beschert hat, wird es keinen Kampf geben.« Nicht einmal Beor war dumm genug, gegen Mutter Orlas Befehl zu verstoßen - oder Blut an einem Tag zu vergießen, an dem die Fette ihnen ihre Gunst erwiesen hatte. Also nahm er seine Axt, mit der er am liebsten Alains Kopf gespalten hätte, und ging mit seinem Bruder und seinen Cousins davon, während die Dorfbewohner untereinander tuschelten und den fremden Mann anstarrten, der in ihre Mitte getreten war. Alain schwang ein Bein über den Zaun und verließ den verbotenen Boden so gemächlich, dass nur zu offensichtlich war, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass es einen Unterschied zwischen den beiden Seiten des Zauns gab. Er spürte es einfach nicht, im Gegensatz zu Adica, die es tief in ihren Knochen fühlen konnte, ob eine Handbreit Boden gottberührt, geweiht, verboten oder lediglich gewöhnlich und einfach war - ein Platz, an dem das Leben blühte und der Tod sich nährte. Die Menge trat nervös zur Seite, um eine Gasse für ihn zu bilden. »Du musst hier warten, Geweihte«, sagte Mutter Orla, als sie das Dorftor erreicht hatten. »Ich bitte dich darum, betritt das Dorf nicht, so lange die Ältesten nicht entschieden haben.« Sie rief die Ältesten zu einer Sitzung im Ratshaus zusammen, und schon bald sah Adica, wie sich der Versammlungsstab, in den die Gesichter der Ahnen geschnitzt waren, ein Stück durch das Dach emporschob - das Zeichen, das drinnen eine Beratung stattfand. Als Adeptin derjenigen, die vor ihr die Geweihte und Lehrerin gewesen war, hatte Adica gelernt, stillzusitzen, aber sie war überrascht, wie geduldig Alain neben ihr saß. Seine Hunde lagen mit heraushängenden Zungen neben ihm auf dem Boden; sie waren 78 still, aber wachsam, während er das Dorf musterte. Die Erwachsenen verstreuten sich und widmeten sich wieder ihren Arbeiten, die Kinder blieben jedoch und starrten ihn an - wobei die älteren darauf achteten, dass die kleineren, unvorsichtigeren ihm nicht zu nahe kamen. Es dauerte nicht wirklich lange. Schließlich wackelte der Versammlungsstab und wurde durch das Rauchloch wieder nach unten gezogen. Mutter Orla trat heraus, ehrfürchtig gefolgt von den anderen Ältesten. Die Dorfbewohner eilten zu den Toren, um zu hören, was sie zu verkünden hatte, bis auf Beor, der mit seinem Jagdspeer in den Wald gegangen war. Die Hunde stellten die Ohren auf. »Die Ältesten haben entschieden«, verkündete Mutter Orla. »Wenn Adica diesen Mann an sich bindet und ihn bei sich leben lassen will, kann sie wieder im Dorf wohnen, bis eingetreten ist, was kommen wird.« »So sei es«, murmelte Adica, und ihr Herz sang vor Freude. Die Dorfbewohner sprachen die rituellen Worte ihrer Einwilligung, und damit war es vorüber, besiegelt und akzeptiert. Die Geheiligte hatte ihr Versprechen erfüllt. Adica hatte ihre eigenen Pflichten, um die sie sich kümmern musste. Sie musste ihr altes Haus reinigen, das jetzt seit zwei Mondumläufen leer gestanden hatte, und sie musste auch das Geburtshaus reinigen, da ein Mann seinen Fuß hineingesetzt hatte. Frauen, die lebende Kinder geboren hatten, gingen ein und aus, während sie ihre Arbeit verrichtete. Sie brachten Weiwara Geschenke, etwas zu essen und zu trinken, was sie jetzt jeden Tag tun würden, bis ein ganzer Mondzyklus mit Auf- und Untergang vergangen war. Dann konnte die neue Mutter ihr gewohntes Leben wieder aufnehmen. Sobald Adica mit dem Reinigungsritual fertig war, stand es ihr frei, Alain zu beobachten. Sie achtete allerdings sorgfältig darauf, einen gewissen Abstand einzuhalten und es sich nicht anmerken zu lassen. Sie ging davon aus, dass Alain am Tor zum Dorf auf sie 79 wartete, schüchtern und zurückhaltend, wie Fremde sich gewöhnlich verhielten, wenn sie zum ersten Mal an einen neuen Ort kamen. Alain ließ sich jedoch von ein paar Kindern zuerst vom Brunnen zur Palisade schleppen, und von dem frisch ausgehobenen äußeren Graben zum Grubenhaus, wo die Dorfbewohner Korn lagerten. Er hockte sich neben die Erwachsenen, die mit der Herstellung von Töpfen beschäftigt waren, während Mädchen Körbe flochten, und untersuchte einen Kupferdolch, der erst kürzlich von Altfeste eingetauscht worden war, wo ein Beschwörer lebte, der die Magie der Metallarbeit kannte. Er lockte einen humpelnden Hund zu sich heran, sodass er ihm einen Dorn aus der Pfote ziehen konnte, und er schalt ein Kind, weil es einen Stein nach dem Tier geworfen hatte, obwohl er sicherlich wusste, dass das Kind kein Wort von dem verstand, was er sagte. Er betastete die Webstuhlgewichte, die draußen vor dem Haus von Mutter Orla und ihren Töchtern gestapelt worden waren, und wühlte in dem Schutt herum, der neben der Terrasse vom Steinarbeiter Pur lag. Er verbrachte eine beachtliche Zeit damit, die beiden Ards, die hölzernen Pflüge des Dorfes, zu untersuchen. Adica erinnerte sich an das große Staunen, mit dem ihr Großvater darüber gesprochen hatte, wie er als junger Mann geholfen hatte, zum ersten Mal die Felder mit diesen wundervollen Werkzeugen zu pflügen; seine gesamte Kindheit hindurch hatten die Dorfbewohner die Furchen noch mit geschärften Geweihen gezogen.
Alains Neugier ließ niemals nach. Es war beinahe so, als hätte er solche Dinge nie zuvor gesehen. Vielleicht war er in einem Stamm von Wilden aufgewachsen, deren Unterkünfte aus Fellhäuten bestanden und die angespitzte Stöcke als Waffen benutzten. Aber wieso trug er dann solch kunstfertige Kleidung? Sie beobachtete ihn, aber sie fürchtete sich davor, zu viel Interesse an ihm zu offenbaren. Sie fürchtete, dass sie ihm Angst einflößen und ihn verjagen könnte, wenn er bemerkte, dass sie ihm folgte. Sie fürchtete die Macht ihrer eigenen Gefühle, die so plötzlich und so stark über sie gekommen waren. Er war ein Fremder, 80 und doch hatte sie auf eine Weise, die sie nicht erklären konnte, das Gefühl, als hätte sie ihn schon immer gekannt. Er war ein See der Ruhe in der raschen Strömung, die das Leben im Dorf darstellte. Er stand abseits, und doch hatte seine Anwesenheit die Festigkeit jener Dinge, die wach und bewusst in der Welt lagen, die in das hineinragten, was heilig und was gewöhnlich war, die sich auf die gleiche Weise verbanden, wie ein Fluss sich aus vielen Bächen zusammensetzt. So ging es den ganzen Nachmittag; Alain erkundete das Dorf, gefolgt von einer Meute neugieriger Kinder, die er niemals anfuhr, obwohl sie ihn oft belästigten. Und so ging es auch den ganzen Abend; Leute stellten Speisen vor ihre Tür, als wollten sie sich dafür entschuldigen, dass sie sie all die Monate zuvor nicht beachtet hatten, und als wollten sie damit sie und ihren Gefährten willkommen heißen. Sie blickten ihr immer noch nicht in die Augen, aber die Kinder setzten sich neben Alain, und er zeigte ihnen, wie man auf der Erde ein Spiel aus gezogenen Linien und verrückbaren Steinen spielte - ein schlaues Hin und Her zwischen Ergreifen von Gebieten und Rückzug. Urtan machte eine aufwändige Schau daraus, sich direkt neben ihn zu setzen, als wären sie seit langer Zeit Kameraden, wie zwei, die zusammen den Ard bedienten oder einen Nachmittag damit verbrachten, träge ein paar Kindern beim Spielen in den Untiefen des Flusses zuzusehen. Beor war immer noch nicht von seinem einsamen Jagdausflug zurückgekehrt, aber die anderen Männer waren neugierig genug, und auch respektvoll genug gegenüber Urtans Position, dass sie ebenfalls näher kamen und dem Spiel aus Linien und Steinen zusahen. Alain hieß ihre Anwesenheit willkommen. Er schien mit allen gut auszukommen. Bis es Nacht wurde und sie ihn ins Haus drängte und ihm beizubringen versuchte, dass er mit ihr auf dem Bett schlafen konnte. Er blickte sofort sehr aufgeregt drein und sprach Worte, die eher leidenschaftlich als vernünftig klangen. Sie hatte ihn beleidigt. Errötet und grimmig schuf er sich ein Bett aus Stroh gleich 81 vor der Türschwelle, und da lag er dann, zu beiden Seiten ein Hund, als wären sie seine Wächter. Und während sie unruhig in ihrem Bett lag, nicht schlafen konnte und immer wieder nach ihm schaute, schien er in einen tiefen, friedlichen Schlaf gesunken zu sein. Eine Eule schrie, glitt durch die Nacht. Einer der Hunde jaulte im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite. Ein Kind schrie, beruhigte sich dann. Das Dorf schlief. Weit weg in ihren Städten schmiedeten derweil die Verfluchten ihre Intrigen, aber in diesem Augenblick schienen ihre Feindseligkeiten ziemlich unwichtig, verglichen mit dem leisen Atem des Mannes, der da vor ihrer Tür lag. Bei Anbruch der Morgendämmerung kam Urtan, um Alain mit zum Wehr zu nehmen, zu dem er mit seinen jungen Cousins Kel und Tosti aufbrechen wollte. Alain ging mit, und sie lachten die ganze Zeit freundlich über seine Versuche, die neuen Worte zu lernen. Die Hunde trotteten hinter ihm her. Es war erstaunlich, wie gutmütig er zu sein schien. Sie wollte sehen, wie er sich am Wehr machte, aber sie musste sich um ihre eigenen Aufgaben kümmern. Sie ging zu dem Geburtshaus, um die Schutzzauber dort zu erneuern, und fand Weiwara gerade dabei, wie sie das eine Kind stillte, während sie das andere, das in einer gewebten Wiege lag, mit Hilfe ihres Fußes hin und her schaukelte. Die Mutter musterte das schlafende Kind mit einem Blick, in dem vor allem Überraschung lag, als hätte sie eine Tür geöffnet und würde sich einem zahmen Bären gegenüber sehen. »Stimmt es, dass dieser Fremde die Erstgeborene wieder zum Leben erweckt hat?« »So hat es ausgesehen.« Adica hockte sich neben das schlafende Kind, aber sie war vorsichtig genug, es nicht zu berühren. »Ich habe dieses Baby in meinen Armen gehalten. Wie Agda habe ich gelauscht, aber ich habe keinen Geist darin ausmachen können. Er hat den Geist zurückgerufen.« »Glaubst du, er ist ein Beschwörer?« »Nein, das glaube ich nicht.« Die Wiege quietschte, als sie sie 82 hin und her schaukelte. Ein Tropfen klarer Flüssigkeit bildete sich auf einer Brustwarze und blieb dort einen Augenblick hängen, eher er Weiwaras Haut hinablief. »Ich habe gehört, dass er dein neuer Ehemann ist«, fügte Weiwara hinzu. »Ist er hübsch? Ich habe ihn gar nicht richtig gesehen.« »Nein«, entgegnete Adica rasch. »Er ist nicht wirklich hübsch. Er sieht nicht aus wie ein Hirsch-Mann.« »Aber.« Weiwara lachte. »Ich höre ein >Aber<. Ich höre, dass du gerade jetzt an ihn denkst.« Adica errötete. »Ich denke jetzt auch an ihn.« »Du hast niemals an Beor gedacht, wenn du nicht bei ihm warst. Ich denke, du solltest deine Hände mit diesem Mann verbinden lassen, damit er deine Absichten versteht. Wenn er von weit her kommt, möchte er vielleicht niemanden beleidigen. Er weiß sicherlich nicht, was hier verboten ist und was nicht. Wie sonst wäre es möglich,
dass er das Geburtshaus betreten hat? Du solltest Mutter Orla bitten, der Zeremonie beizuwohnen, damit er weiß, dass er für dich nicht verboten ist.« »Das werde ich tun. Ich muss ihm zeigen, was hier erlaubt ist und was nicht.« Sie ging langsam zum Dorf zurück und erreichte das Tor gerade in dem Augenblick, als Alain und Urtan und dessen Cousins einen Korb voller schlüpfriger Fische vom Fluss zurücktrugen; einen Fang, der eines Festtags würdig war. Alain lachte. Er hatte das Hemd von den Schultern gleiten lassen, und sein Oberkörper war nackt. Seine Schultern waren etwas rosa von der Sonne. Er hatte eine schlanke Taille, und er war bemerkenswert glatt auf der Brust und am Rücken, so ganz anders als die Hirsch-Männer. »Ich hätte niemals erwartet, die Geweihte so sehr im Bann einer anderen Person zu sehen«, sagte Mutter Orla, die plötzlich neben ihr stand. Sie hinkte leicht und stützte sich auf einen zerbrochenen Stock, der einst als Schaft einer Hellebarde gedient hatte. »Mutter Orla! Du hast mich erschreckt!« 83 »Das habe ich. Denn du hast ganz eindeutig neben dir gestanden.« Sie mussten zur Seite treten und Platz machen, damit die vier Männer mit ihrem schweren Korb die Plankenbrücke überqueren konnten, die über den Graben und ins Dorf führte. Alain erblickte Adica, und er lächelte. Sie war nicht ganz sicher, wie sie reagierte, denn in diesem Augenblick zwickte Mutter Orla sie kräftig in den Oberarm. »Da, Tochter!« Sie war so lange nicht berührt worden - abgesehen davon, als Alain ihr die Tränen von der Wange gestrichen hatte, um nachzusehen, ob sie echt waren -, dass sie vor Überraschung aufschrie. Dann schämte sie sich dafür, dass sie es getan hatte. Aber die Männer waren bereits vorüber, schleppten den großen Korb zum Ratshaus, wo der Inhalt unter den Familien des Dorfes verteilt werden würde. Mutter Orla hustete. »Einen Fremden, der im Haus einer Frau schläft, ohne ihr Versprechen auf eine Bindung mit ihm erhalten zu haben, kann ein Dorf nur schwer als einen der Ihren ansehen.« »Ich war zu eilig, Mutter Orla. Glaub mir, es war nicht sein Fehler. Ich habe ihn ins Haus eingeladen, ohne auf die richtige Zeremonie zu warten.« »Und er ist nicht eingetreten«, gab Mutter Orla anerkennend zu. »Das habe ich gehört.« »Ich hoffe, du wirst mich in dieser Sache beraten«, murmelte Adica demütig. »Ich habe keine Erfahrung mit so etwas. Du weißt, wie es bei Beor gewesen ist.« »Das war keine kluge Verbindung.« Mutter Orla spuckte aus, um sich von dem Unheil zu befreien, das mit dem Aussprechen einer solch unglückseligen Entscheidung verbunden war. »Wie auch immer, das ist jetzt vorüber. Beor wird feststellen, dass Eifersucht in diesem Dorf keinen Platz hat.« »Glaubst du, das ist so einfach?« »Wenn er einen neuen Mann in diesem Dorf nicht erträgt, kann er zu seinen Schwarzhirsch-Verwandten gehen, oder er kann die Tochter von Mutter Nahumia heiraten und nach Altfeste ziehen.« 84 »Ich glaube, es wäre besser, einen kräftigen Kämpfer wie Beor hier zu haben, bis ... bis der Krieg vorüber ist, Mutter Orla.« »Das mag sein. Aber wir brauchen hier keinen Stolz und keine Wut, die unsere Gemeinschaft in solchen Zeiten zerreißen. Es gibt in dieser Angelegenheit nichts mehr zu sagen.! »Wie du wünschst.« In gewisser Weise war es eine Erleichterung, dass sie mit ihr so gesprochen hatte, wie eine Tante es mit einer Nichte zu tun pflegte. Es war schwer, die ganze Zeit wie eine Älteste zu handeln, wenn man eigentlich noch sehr jung war. »Der Fremde soll im Männerhaus schlafen«, fuhr Mutter Orla fort. »Schließlich wirst du doch keinen Mann zum Ehemann wollen, der so wenig Selbstachtung hat, dass er nicht eine Zeit lang umworben werden will?« Adica lachte, weil die Bemerkung so unerwartet kam und so viel fröhliche Erwartung enthielt. Zuerst sah sie Alain beim Ratshaus gar nicht, aber schon bald entdeckte sie ihn bei den anderen, denn einer der Hunde folgte ihm treu ergeben. Eine Vision durchfuhr sie, die kurz, aber verwirrend war: Sie sah nicht Alain, sondern einen wilden Phoenix, der mit einer solchen Intensität leuchtete, wie sie nie zuvor etwas hatte leuchten sehen, sodass sie ihren Blick abwenden musste. »In der Tat«, fuhr Mutter Orla mit der Stimme einer Frau fort, die nichts Ungewöhnliches gesehen hatte, »die Geheiligte hat klug gewählt.« II Viele Treffen 1 Bei Nacht erstrahlten die Sterne in einer Helligkeit, wie Liath es niemals zuvor gesehen hatte. Sie schienen zu leben, als wären sie zuckende und sich bewegende Seelen, die in einer Sprache miteinander redeten, die aus Feuer statt aus Worten geboren war. Manchmal glaubte sie, sie verstehen zu können, doch dann verschwand das Gefühl wieder. Manchmal dachte sie auch, sie berühren zu können, aber die Himmel waren hier in diesem Land ebenso weit über ihr, wie sie es in dem Land ihrer Geburt gewesen waren. So viel gab es, das sie nicht begreifen konnte, besonders ihre eigene Vergangenheit. In diesem Augenblick lag sie auf dem Rücken auf einem Lager aus Blättern und Gras, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Sind die Sterne lebende Seelen?«
»Die Sterne sind Feuer.« Der alte Zauberer saß häufig noch spät mit ihr zusammen, manchmal stumm, manchmal auch gesprächig - ganz abhängig von seiner jeweiligen Stimmung. »Ob sie Seelen und ein Bewusstsein haben, weiß ich nicht.« »Was ist mit den Kreaturen, die mich hierher gebracht haben?« 86 Hier im Land der Aoi gab es keinen Mond, aber die Sterne strahlten so hell, dass sie auch so sehen konnte, wie er den Kopf schüttelte. »Diese Geister, die du meinst, brennen in der Luft mit Flügeln aus Flammen und Augen so strahlend wie Messerklingen. Sie bewegen sich auf den Winden des Äthers, und hin und wieder fällt ihr Blick wie ein Blitz auf die Erde unter ihnen. Dort versengt er alles, was er berührt, denn sie begreifen die Zerbrechlichkeit des irdischen Lebens nicht.« »Wenn sie nicht die Seelen der Sterne sind, was sind sie dann?« »Sie sind eine sehr alte Rasse. Ihre Körper sind anders als das, was wir darunter verstehen, sondern eher die Verbindung aus Feuer und Wind. Es ist, als würde in ihren Körpern der Atem der mächtigen Sonne mit dem Geist und dem Willen verschmelzen.« »Wieso haben sie mich dann Kind genannt?« Er stellte immerzu Seile her, oder er machte Körbe - ständig wob er etwas aus Fasern. Selbst in der Dunkelheit flocht er auf seinem Oberschenkel Pflanzenstränge zu einem Seil. »Die alten Rassen haben keinerlei Anteile von der Erde, sondern nur von den reinen Elementen. Wir sind insoweit ihre Kinder, als ein Teil von uns von diesen reinen Elementen stammt.« »So ist jedes auf der Erde geborene Geschöpf in gewisser Weise ihr Kind.« »Das kann schon sein«, sagte er und lachte dabei trocken. »Doch was dich angeht, so ist da mehr als deine menschliche Gestalt. Dass wir in diesem Augenblick so einfach miteinander sprechen können, ist ein Geheimnis, das ich nicht erklären kann, denn die Sprachen der Menschheit sind mir unbekannt, und du behauptest, dass du die Sprache meines Volkes nicht kennst. Dennoch haben wir uns mit Hilfe des Tors des Feuers getroffen, und vielleicht lastet die bindende Magie schwerer auf uns als jede Sprache, die nur aus Worten besteht.« »Mir kommt es so vor, als würde ich mit dir die Sprache sprechen, die bei meinem Volk als Dariyanisch bekannt ist.« »Und mir scheint, als sprächen wir in meiner eigenen Sprache. 87 Aber ich kann nicht glauben, dass diese zwei Sprachen die gleichen sind. Mein Volk ist schon viele Jahre von deinem Land getrennt, seit mehreren Generationen von Menschen. Und als wir auf der Erde wandelten, haben nur wenige Menschen die Sprache meines Volkes gesprochen. Wie kann es da also sein, dass du über die ganze Zeit hinweg die Sprache meines Volkes in Erinnerung behalten hast?« Es war eine gute Frage, und sie verdiente eine wohl überlegte Antwort. »Lange vor meiner Geburt hat es ein Reich gegeben, dessen Herrscher behauptet haben, die Abkömmlinge derer zu sein, die aus der Verbindung zwischen deiner Art und der Menschheit entstanden sind. Vielleicht haben sie deine Sprache als ihre eigene erhalten, und das ist der Grund, weshalb wir heute miteinander reden können. Aber ich weiß es wirklich nicht. Die Kaiserin und der Kaiser des alten Dariyanischen Reiches waren Halbblute, wie sie erklärt haben. Es gibt keine Aoi mehr auf der Erde. Sie existieren nur noch als Geister, eher wie Schatten denn lebende Geschöpfe. Einige behaupten sogar, es hätte niemals Aoi auf der Erde gegeben, und sie wären nur Geschichten aus den Anfängen der Menschheit.« »Es stimmt, Geschichten haben die Tendenz, sich zu verändern, um dem Erzähler zu gefallen. Wenn du wissen willst, was die Geister gemeint haben, als sie dich als >Kind< bezeichnet haben, musst du sie selbst fragen.« Die Sterne leuchteten so lebhaft, dass sie zu pulsieren schienen. Seltsamerweise konnte sie nicht eine vertraute Konstellation finden. Es war, als wäre sie in eine andere Existenz versetzt worden, doch der Boden unter ihren Füßen roch so, wie guter, weicher Boden gewöhnlich roch, und viele Pflanzen kannte sie noch aus ihrer Kindheit, als sie und Pa in jenen Landen umhergereist waren, deren südliche Grenze das große Mittlere Meer bildete: silberne Kiefer und weiße Eiche, Olive und Johannisbrotbaum, dorniger Wacholder und Rosmarin und Immergrün. Sie seufzte, atmete den Duft von Rosmarin tief ein, der seltsam beruhigend war, wie die wiederholte Erzählung einer Lieblingsgeschichte aus der Kindheit. C8 »Ich würde sie fragen, wenn ich sie erreichen könnte.« »Um sie zu erreichen, musst du lernen, in den Sphären zu wandeln.« Der Pfeil kam ohne Warnung. Er war so hell wie Elfenbein und grub seine Spitze in den Stamm einer Kiefer. Liath griff nach ihrem Köcher und rollte sich von dem Lager, um Deckung hinter einer tief hängenden Eiche zu finden. Der alte Zauberer blieb ruhig auf seinem Platz sitzen und flocht auf seinem Bein noch immer Flachs zu einem Seil. Er war nicht einmal zusammengezuckt. Hinter ihm hörte das Zittern des Pfeilschafts allmählich auf. Er hob sich weiß gegen die trockene Kiefernrinde ab. »Was war das?«, fragte sie, immer noch schwer atmend. In den vier Tagen, seit sie in dieses Land gekommen war, hatte sie keinerlei Hinweis auf andere Leute gesehen; es schien nur sie und ihren Lehrer zu geben. »Es ist ein Ruf. Wenn das Licht kommt, ist das die Aufforderung, zum Rat zu gehen.« »Was wird mit dir geschehen - und mit mir -, wenn dein Volk erfährt, dass ich hier bin?«
»Das werden wir sehen.« Sie schlief unruhig in dieser Nacht, wachte immer wieder auf, um festzustellen, dass er in einem tranceähnlichen Zustand schweigend neben ihr saß, vollkommen reglos, aber mit geöffneten Augen. Manchmal erwachte sie halb verwirrt aus einem Traum, an den sie sich nicht mehr erinnerte, der ihr jedoch Angst einflößte; wenn sie dann die Sterne betrachtete, glaubte sie mitunter, einen Augenblick die vertrauten Formen in den Konstellationen erkennen zu können, die ihr Vater ihr beigebracht hatte. Aber jedes Mal dauerte es nur einen Augenblick, ehe die Sterne ihre Position veränderten und sie auf einen völlig fremden Himmel starrte. Sie konnte nicht einmal den Lichtfluss sehen, der in ihrem eigenen Land die Himmel umspannte. In diesem Fluss schwammen die Seelen der Toten zur Kammer des Lichts, und einige von ihnen warfen einen Blick zurück auf die Erde, auf die geliebten Personen, 89 die sie jetzt zurückgelassen hatten. War Pa für sie verloren? Blickte sein Geist auf die Erde hinunter und wunderte sich, wohin sie gegangen war? Doch war sie so viel anders als er, wenn sie sich jetzt auch fragte, was aus denen geworden war, die sie zurückgelassen hatte? Pa hatte schließlich nicht vorgehabt zu sterben. Sie aber hatte jene, die sie zurückgelassen hatte, aus freien Stücken verlassen. Nachts fragte sie sich häufig, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Manchmal fragte sie sich sogar, ob sie sie wirklich liebte. Wenn sie sie wirklich liebte, hätte es ihr nicht so leicht fallen dürfen, sie zu verlassen. Das Zwielicht währte an diesem Ort nie lange. Der Tag kam schnell, ohne den dazwischen liegenden Trost der Dämmerung zu gewähren. Liath erwachte, als Licht auf ihr Gesicht fiel, und sah, wie die Miene des alten Zauberers sich veränderte; sie wechselte so weich vom Zustand der Trance in den des Wachseins, dass sie es kaum wahrnehmen konnte. Er erhob sich und reckte sich, um die Steifheit aus seinen Gliedern zu vertreiben, während sie sich aufsetzte und nachsah, ob ihr Bogen bereit und die Pfeile zugegen waren. Ihr Schwert lag griffbereit in der Nähe, und sie schlief ohnehin immer mit dem Messer an ihrem Gürtel. »Du musst zum Bach gehen«, sagte er. »Folge dem Blumenpfad bis zum Wach türm. Komm nicht heraus, ehe ich dich rufe, und du solltest auch nicht umhergehen, damit nicht andere auf dich aufmerksam werden. Sei stets vorsichtig und vermeide alles, womit du dich schneiden könntest oder was möglicherweise dazu führt, dass ein Tropfen Blut auf den Boden fällt.« Er machte sich daran, wegzugehen, blieb aber noch einmal stehen und rief ihr über die Schulter zu: »Nutze die Zeit gut! Du hast noch nicht alle Aufgaben gemeistert, die ich dir gestellt habe.« Dass diese Aufgaben über alle Maßen anstrengend waren, gehörte offenbar zu dieser Ausbildung. Sie gürtete ihr Schwert und hängte sich den Köcher über den Rücken. Sie hatte sich daran ge90 wohnt, eine ganze Weile nach dem Aufwachen nichts zu essen; es half, den Hunger zu vertreiben. Sie hängte sich den Wasserkrug über die Schulter, nachdem sie zuvor ein Seil durch den Griff gezogen hatte. Als sie den Pfad entlangschritt, fiel ihr wieder einmal auf, wie ausgedörrt der Boden war. Die Nadeln an den Kiefern waren trocken; etwa ein Viertel von ihnen wurde braun und starb ab. Nur wenig andere Bäume waren robust genug, um hier zu überleben: weiße Eiche, Olive, und immer häufiger: die silberne Kiefer. Wo abgestorbene Bäume umgestürzt waren, wuchsen Johannisbrotsträucher, und in deren Schatten Kreuzdorn, Klematis und stachelige Gräser. Sie sah kein einziges Nagetier. Trotz der Einsamkeit, in der sie hier lebten, hatte sie weder Hirsche noch Rehe gesehen, auch keine Auerochsen, Wölfe oder Bären überhaupt keine großen Tiere, die die Wälder durchstreiften. Nur selten hörte sie Vögel, sah sie eilig zwischen den trockenen Blättern davonfliegen. Das Land starb. »Ich sterbe«, sagte sie in die Stille hinein. Wie sonst hätte sie sich die Ruhe erklären können, das Gefühl der Erleichterung, das sich in ihr ausgebreitet hatte, seit sie im Land der Aoi eingetroffen war? Vielleicht war es nur Betäubung. Es war einfacher, nichts zu fühlen, als sich all den Ereignissen zu stellen, die sie an diesen Ort geführt hatten. Möglicherweise war ihr Herz genauso hart wie das von Anne, die gesagt hatte: »Wir dürfen nicht zulassen, dass Leidenschaft oder Hass unser Urteilsvermögen vernebeln.« Mit diesen Worten hatte Anne den Mord an ihrem Mann gerechtfertigt. Kein gesichtsloser Feind hatte den Geist aus Luft herbeigerufen und ihm befohlen, Bernard zu töten. Seine eigene Frau, die Mutter seines Kindes, hatte es getan. Anne hatte Pa verraten, und sie hatte Liath verraten, indem sie Pa nicht nur ohne einen Hauch von Reue getötet hatte, sondern deutlich gemacht hatte, dass sie von Liath erwartete, in genau der gleichen Weise zu verfahren. 91 Und hatte Liath nicht ihren eigenen Ehemann, ihr eigenes Kind verlassen? Sie hatte den brennenden Stein nicht aus eigenem Willen betreten, aber als sie erst einmal hier gewesen war, im Land der Aoi, hatte sie die Wahl gehabt, hier zu bleiben und bei dem alten Zauberer zu lernen - oder zu Sanglant und Gnade zurückzukehren. Hatte sie nicht ebenfalls ihre Urteilsfähigkeit über ihre Gefühle gestellt? Hatte sie nicht das Wissen der Liebe vorgezogen? War es nicht sogar sehr leicht gewesen, das zu tun? »Ich bin für Sanglant oder irgendwelche anderen Personen nicht von Nutzen, wenn ich nicht meine eigene Macht
beherrsche«, murmelte sie. »Ich kann Pa nicht rächen, so lange ich nicht weiß, was ich bin.« Ihre Worte schwebten mit der lautlosen Luft davon und verschwanden wie Geister in der unheimlichen Stille des ausgedörrten Landes. Selbst die Wut, die sie seit dem Augenblick gegenüber Anne empfand, da sie die Wahrheit über den Tod ihres Vaters herausgefunden hatte, fühlte sich kalt und leblos an, wie eine unförmige Statue aus Ton. Mit einem Seufzer ging sie weiter. Der Bach war einmal ein kleiner Fluss gewesen. Sie bahnte sich ihren Weg über Flusssteine hinweg, die von einer weißen Schicht getrocknetem Schaum umgeben waren, bis sie den schmalen Kanal erreichte, der als letzter Rest von dem Wasserlauf übrig geblieben war. Wasser tropfte über die Steine, strömte von den Hochlanden herunter, die über dem spärlichen Walddach zu sehen waren. Sie kniete nieder, um den Krug mit Wasser zu füllen, und stöpselte ihn dann sorgfältig zu. In diesem Land war Wasser kostbarer als Gold. Sie stemmte das volle Gefäß gegen die Hüfte und sprang von Stein zu Stein über den Bach auf die andere Seite. Algen formten im Wasser zarte Muster, wie grüne Farbe, die von den Steinen abgesplittert war. Gras hatte sich in das alte Flussbett vorgetastet, aber selbst das wurde braun. Sie erklomm das steile Ufer und fand 92 sich vor einer Weggabelung wieder. Der rechte Pfad schnitt durch ein Dickicht aus Kastanien direkt am Ufer, bevor er, jenseits des Kastanienhains, steil anzusteigen begann. Links führte ein bemerkenswerter Pfad durch eine flache Wiese, auf der die erstaunlichsten, schönsten Blumen blühten: Lavendel, gelbe Gartenraute, blutroter Mohn, zarte Levkoje, fette Pfingstrosen, helle Heckenrosen, lebhafte Ringelblumen, ganze Inseln von Schwertlilien, die wie erdgebundene Regenbogen in allen Farben schillerten, alles in einem Meer aus tiefblauen Kornblumen. Der Blumenpfad zog sich vom Fluss hoch wie ein Traum, unangekündigt, unerwartet und unaussprechlich prächtig in einem Land, das ansonsten so sehr in Brauntönen und verblichenen Goldtönen verblasste. Sie wäre am liebsten länger in dieser Oase aus Farben geblieben, und sie tat es auch eine Weile, aber schließlich musste sie doch weiterziehen. Die Wiese hörte abrupt auf, als ein Streifen aus Kiefern über den Hang führte. Die Dürre hatte auch hier ihren Tribut gefordert, und der Wald verwandelte sich schon bald in grasbewachsene Heide. Oben auf dem Hügel stand ein Haufen bearbeiteter Steine, die einst eine Art Aussichtsplatz gebildet hatten. Sie kletterte auf die höchste, noch sichere Stelle, ließ sich an einer Kante nieder und lehnte sich gegen das bisschen, was von der Felswand noch übrig war. Dann blickte sie über das Land. Der Hügel fiel steil ab, als hätte der Wachturm einst über einem Tal gethront, aber tatsächlich war unten nichts als Nebel zu sehen. Nach dem, was der Zauberer gesagt hatte, war dies die äußere Grenze des Landes. Hinter dem Nebel lag nichts. Lange Zeit starrte sie ihn einfach nur an. Am Himmel über ihr ging das unbarmherzige Blau des von Trockenheit gepeinigten Landes in ein seltsames Weiß über, das mehr Leere als Wolke war. Die Stille bedrückte sie. Hier draußen, am Rande der Welt, hörte sie nicht einmal Vögel, nichts außer einer einzigen Grille. Es war, als würde das Land langsam immer leerer, als würden Herz und Seele in die Leere entweichen. Wie ihr eigenes Herz. 93 Sie legte Köcher und Schwert beiseite und schlug die Beine übereinander. Sie klatschte einmal in die Hände - ein Geräusch, das die gewöhnliche Welt von jener trennte, in der Magie hauste. Zumindest hatte der alte Zauberer ihr das so beigebracht. Mit den Mustern, die er ihr gezeigt hatte, beruhigte sie ihren Geist, damit sie jenseits des Durcheinanders alltäglicher Gedanken dem Herzen der Welt lauschen konnte: dem Murmeln der Luft in ihrem Nacken, dem langsamen Verrutschen von Steinen, dem leisen Gurgeln des Wassers und, am meisten von allem, der in der Entstehung begriffenen Regung einer großen Macht, die wie eine aufgehende Blüte durch ihre ureigene Architektur in Schach gehalten wurde. »Die Menschheit hat sich durch ihre Hände verkrüppelt«, hatte der alte Zauberer gesagt. »Sie kam zu der Erkenntnis, dass die Kräfte der Welt sich der richtigen Handhabung ergeben müssten. Aber das Universum existiert auf einer Ebene, die für unsere Augen unsichtbar ist und von unseren Händen nicht berührt werden kann; wir können es nur durch unseren Geist und unser Herz verstehen. Das ist das Wesen der Magie, die keinen Schaden anrichten oder herrschen, sondern nur bewahren und transformieren will.« In jedem Gegenstand verbanden sich die reinen Elemente in verschiedenen Proportionen. Wenn sie ihre Atemzüge beruhigen konnte, wenn sie es schaffte, ihre Konzentration auf einen solch schmalen Punkt zu richten, dass sie zu einem Blick ins Unendliche wurde, konnte sie das Herz eines jeden Gegenstands erleuchten und aus ihm jene Elemente ziehen, die für ihre Zaubersprüche von Nutzen sein mochten. Auf diese Weise hatten die Daemonen, die Liath mit ihren Schwingen eingehüllt hatten, selbst aus Stein Feuer gerufen, ja sogar von den Bergen. Dies war die Magie, die den Aoi bekannt war. Aber sie musste noch einen weiten Weg zurücklegen, um sie zu meistern. Schließlich schritt sie durch die verschiedenen Ebenen ihres Be94
wusstseins und klatschte viermal in die Hände; ein scharfes Geräusch erklang, dass sie schlagartig in die gewöhnliche Welt zurückbrachte. Ein Fuß war eingeschlafen. Sie kratzte sich am Nacken, der von einem herabgefallenen Blatt juckte, und blinzelte ein Staubkorn aus dem Auge. Sie schlang sich den Köcher über den Rücken und kletterte wieder nach unten, jeden Stein vorsichtig ertastend, um jene zu vermeiden, die lose waren und hinunterpoltern könnten. Am Fuß des Turms, in seinem Schatten, trank sie einen kleinen Schluck und gestattete sich schließlich, etwas zu essen: ein paar gedörrte Beeren, ein grobkörniges flaches Brot, das in Olivenöl gebraten worden war, damit man es besser hinunterbrachte, die gesüßten, getrockneten Johannisbrotschoten, die sie jeden Tag sammelte, und die Leckerei des heutigen Tages, eine Paste aus Fischmehl und zerstoßenen Pastinaken, gewürzt mit Zwiebeln und zu Brei gerührten Wacholderbeeren. Jede Mahlzeit hatte hier etwas Verzweifeltes, und sie hatte rasch begriffen, dass der alte Zauberer sich weder von ihr beim Essen zusehen lassen noch ihr jemals zusehen würde. Nachdem sie sich auch den letzten Krümel von den Fingern geleckt hatte, wandte sie sich dem Seil zu. Die Fasern zu einem Seil zu flechten, war die mühsamste Aufgabe, die der alte Zauberer ihr gestellt hatte. Sie hatte schon ein gutes Stück zustande gebracht. Sie maß es an ihrem ausgestreckten Arm: vierzig Ellen. Es musste genügen. Sie band sich das eine Ende um die Taille, befestigte es und nahm ihre Waffen an sich, um dann zum Rand des Nebels zu gehen. Sie band das andere Ende des Seils an den Stamm einer Kiefer, zog daran, um den Knoten zu testen, bevor sie ihren Blick über den Hang schweifen ließ. Nichts rührte sich. Ein Käfer krabbelte vor ihren Füßen durch das trockene Gras; er war irritiert, denn sie bot den einzigen Hinweis auf Bewegung, abgesehen davon, dass die Bäume sich im sanften Wind wiegten. Sie trat vorsichtig in den Nebel. Fünf Schritte später war sie 95 praktisch blind. Sie konnte die Hand vor den Augen nicht erkennen, obwohl von ihren Fingern etwas Blau aufblitzte: der Lapislazuli-Ring, den Alain ihr gegeben hatte und der, wie er versprochen hatte, sie vor dem Bösen beschützen würde. Sie war sich nicht sicher, was sie zu erwarten hatte: den Rand des Abgrunds? Ein Hindernis? Ein totes Land, das in widerlichem Nebel ertrank? Nach weiteren fünf Schritten ging sie auf einem Grat weiter. Hinter ihr trieb die Wand aus Nebel. Gleich vor ihr wuchs ein dichtes Gewirr aus dornenbesetzten Büschen. Als sie zur Seite sprang, um ihnen auszuweichen, streifte sie mit der herabhängenden Hand einen Dorn. Ein roter Tropfen bildete sich auf der Haut. Sie legte ihre Lippen auf die Stelle und saugte daran. Eine Schlange kam zischend aus dem Schutz des Dornenbusches, und sie wich langsam zur Seite, während abergläubische Furcht sich in ihrem Innern ausbreitete. »Selbst ein einziger Tropfen Blut auf dem trockenen Boden wird Dinge aufwecken, die besser weiterschlafen sollten«, hatte der alte Zauberer gesagt, »sonst wird jede einzelne Seele in diesem Land wissen, dass du hier bist.« Es hörte auf zu bluten, und die Schlange glitt wieder tiefer in die Dornen zurück; Liaths Gedanken wanderten weiter. Er wollte sie weiterhin verborgen halten. Sie wusste nicht, ob er glaubte, dass sie eine Bedrohung für sein Volk war oder sein Volk eine für sie. Als sich der salzige Geschmack des Blutes mit dem Speichel auf ihrer Zunge vermischte, fragte sie sich, was geschehen würde, wenn ihre monatliche Regel in einem anderen Land kam, oder ob sie ohne den Einfluss des Mondes auf ihren Körper überhaupt eintreten würde. Der Wind brachte das Seil in Bewegung, das locker auf dem Boden hing. Die Sonne brannte heiß und schwer auf ihrem Rücken. Der Nebel hatte sie nicht zum Ende der Welt geführt, sondern nur an einen unbekannten Ort, der dem Hochlandwald ziemlich ähnlich war. 96 Sie stand am Rand eines steil abfallenden Hangs. Ein breites Tal, umgeben von Hochebenen, öffnete sich vor ihr. Am anderen Ende des Talkessels erhob sich ein zerklüfteter Gebirgszug. Hohe Gipfel ohne jeden Schnee ragten über dem weiten Tal auf. Eine Straße führte durch den Talboden unter ihr zu einer atemberaubenden Stadt, die am Ufer eines ausgetrockneten Sees lag. Es war die größte Ansammlung von Gebäuden, die sie jemals gesehen hatte, größer sogar noch als die kaiserliche Stadt Darre. Sie lag vor ihr wie ein Architekturmodell, das auf einem Tisch aufgebaut war, und sie musterte sie ausgiebig. Die Luft war so klar, dass sie die Schluchten der fernen Gipfel ebenso gut sehen konnte wie die Einzelheiten der prächtigen Stadt. Plätze, Pyramiden und Terrassen, große Höfe flankiert von Marktplätzen, Häuser, die wie Blumen um rechteckige Teiche arrangiert waren, und sie alle waren durch schlammige Wasserwege, die einmal Kanäle gewesen waren, miteinander verbunden. Terrassenförmig angelegte Steingärten und Inseln lagen einsam da, gesäumt von unbearbeiteten Feldern, Brücken verbanden die Buchten und schmalen Lagunen, die die Insel in einzelne Viertel unterteilten. Drei Straßen hatten einst in die Stadt geführt, leicht zu erkennen an den Dämmen, die sich durch den ausgetrockneten See zogen. Die Gebäude - ausgebleicht wie Knochen - waren in einem so harmonischen Arrangement verteilt, dass Liath sich fragte, ob die Stadt errichtet worden war, um sich den Untiefen und Buchten des Sees anzupassen, oder ob der See gegraben und so gestaltet worden war, dass er die Stadt noch stärker hervorhob. Von ihrer Position aus wirkte die Stadt verlassen, als würden leere Gebäude, in einem riesigen Ödland aus vertrocknetem, porösem
Boden stehen. In diesem Augenblick wurde sie auf eine einzelne Gestalt aufmerksam, die sich unterhalb von ihr langsam die Straße entlang bewegte. Sie blieb plötzlich stehen und drehte sich um, als hätte sie etwas hinter sich gespürt, einen Atem im Nacken, obwohl sie so 97 weit entfernt stand, dass sie außerhalb jeder Hörweite sein musste. Die Gestalt hatte die Hände erhoben und winkte sie zu sich, oder sie gestikulierte einen Fluch. Der Boden schwankte unter ihren Füßen. Sie taumelte rückwärts, zog sich an dem Seil langsam zurück in den Nebel. Weiß umhüllte sie, statisch und leer. Ihr Fuß stieß an einen Felsen, und sie wankte zur Seite, fand sich plötzlich bis zu den Oberschenkeln im Wasser wieder. Salzgischt brannte auf ihren Lippen. Wellen rauschten gegen ein kiesiges Ufer, brandeten und seufzten über den Felsen. Grasbewachsene Dünen krümmten sich hinter dem Strand. Eine Möwe schrie. Sie drehte sich um, riss kräftig an dem Seil und zog sich durch den blendenden Nebel zurück. Als sie auf den Hang des Hügels stolperte, sah sie den Wachturm vor sich in die Lüfte ragen, und sie fiel erleichtert auf die Knie. Sie keuchte. Wasser tropfte von ihren durchnässten Beinkleidern, wurde rasch von dem ausgedörrten Boden aufgenommen. »Du bist ein Narr, Ältester Onkel«, sagte eine Frau mit schroffer Stimme. »Du kennst die Geschichten. Sie können sich nicht selbst helfen. Sie hat bereits die kleinen Beschränkungen übertreten, die du ihr auferlegt hast. Sie hat bereits Wissen für ihr eigenes Volk gesammelt, das sie gegen uns benutzen kann.« Der alte Zauberer ließ ein kurzes Lachen hören. Obwohl er kein Zyniker war, war er ganz sicher auch nicht geduldig, wenn er sich etwas anhören musste, wobei es sich seiner Meinung nach um Unsinn handelte; das hatte sie in der kurzen Zeit, die sie bei ihm war, bereits gelernt. »Wie können sie das Wissen der Grenzen gegen uns verwenden, Weißfeder? Es gibt nur einen Menschen hier bei uns. Niemand außer ihr hat in all der Zeit das Tor durchschritten. Wieso nimmst du an, dass es auch andere tun werden? Nein, sie ist allein, wie ich schon gesagt habe. Sie ist von ihrem eigenen Volk verstoßen worden.« »Das möchte sie dich glauben machen.« »Du bist zu misstrauisch.« 98 »Sollte ich der Menschheit gegenüber nicht misstrauisch sein? Du bist zu vertrauensselig, Ältester Onkel. Jene, die den Menschen vertraut haben, haben damit den Weg eingeschlagen, der uns hierher geführt hat. Hätten wir nicht menschliche Magier in unsere Geheimnisse eingeführt, hätten sie nicht die Macht erringen können, einen solchen Schlag gegen uns zu führen, wie sie es getan haben.« »Nein.« Liath sah sie jetzt; sie standen an der Stelle in dem verfallenen Wachturm, wo auch sie gestanden hatte, und blickten auf sie herab wie Edelleute, die sich über ihre Untergebenen unterhalten. »Es waren die Shanaret'zeri, die die Menschheit verdorben haben, nicht wir.« »Sie hätten uns überwältigt, was immer auch wir getan hätten«, räumte die Frau ein. Sie trug über ihrer rechten Schulter einen schlichten Leinenumhang, der vom Alter verblichen war und ihr bis zu den Knien reichte. Darunter trug sie ein Hemd mit roten Rauten und Punkten. Ein Stirnband hielt die Haare aus dem Gesicht; hinten, wo die Haare locker über den Rücken fielen, war es mit einem kleinen Schild aus weißen Federn geschmückt. Ein schwerer Jadering war durch ihre Nase gezogen worden. »Die Menschen vermehren sich wie Mäuse und sterben wie Fliegen. Wir können ihnen nicht trauen. Du musst sie zum Ratsplatz bringen. Der Rat wird sein Urteil fällen.« Mit diesen Worten verschwand sie aus Liaths Blickfeld und kletterte von dem verfallenen Wachturm herunter. Auch der alte Zauberer begann mit dem Abstieg, doch als er schließlich am Fuß des Turms erschien, war Weißfeder nicht bei ihm. Liath erhob sich, um das Wasser aus ihren nassen Beinkleidern zu schütteln. »Sie traut mir nicht«, sagte Liath, überrascht über die starken, eindringlichen Gefühle dieser Frau. »Und ich glaube, sie mag mich nicht. Wird auch das Urteil des Rats so aussehen? Ich sehe keinen Grund, wieso ich mich ihnen stellen sollte, wenn sie ohnehin nur vorhaben, mich zu verurteilen und zu verdammen.« »Nicht einmal ich, der ich von uns allen der Älteste bin und als 99 einziger Erinnerungen an die große Umwälzung habe, könnte dir sagen, welches Urteil der Rat fällen wird.« »Wie kannst du dich an die große Umwälzung erinnern? Wenn die Berechnungen der Sieben Schläfer richtig sind, hat die Umwälzung vor zweitausendsiebenhundert Jahren stattgefunden, nach der Zeitrechnung der Menschen. Niemand kann so alt sein.« »So alt bin ich auch gar nicht, zumindest nicht nach der Zeitrechnung der Menschheit. Die Tage und Jahre werden hier anders gezählt als auf der Erde. Ich weiß, was ich durchlebt habe. Doch ich habe nur ein sehr bruchstückhaftes Wissen über das, was in der Zwischenzeit in der Welt meiner Geburt geschehen ist. Ich weiß lediglich, dass die Menschen das ganze Land überrannt haben, wie wir es befürchtet haben.« Nichts von alledem ergab für Liath viel Sinn. »Was ist dann mit dem brennenden Stein?« Sie würde nicht den gleichen Fehler machen, den sie bei den Sieben Schläfern gemacht hatte, als sie sich geduldig und ergebungsvoll hatte unterrichten lassen, ohne dass sie jemals zum Kern dessen gekommen wäre, was sie wirklich wissen wollte. »Wenn es ein Tor zwischen meiner und dieser Welt gibt, kannst du es dann mit deinem Willen rufen? Es wäre
möglicherweise für mich besser, zur Erde zurückzukehren, statt mich dem Rat zu stellen.« Er dachte gründlich über ihre Worte nach, bevor er antwortete. »Es ist nicht an uns, den brennenden Stein zu rufen. Er erscheint in bestimmten Abständen, die von den Strömungen bestimmt werden, die das Gewebe des Universums stören. Er ist ein Überbleibsel des großen Zauberbanns, den deine Ahnen auf uns ausgeübt haben, auch wenn ich nicht glaube, dass sein Erscheinen in ihrer Absicht gelegen hatte. Doch ein paar von uns haben inzwischen gelernt, ihn zu handhaben, wenn er erscheint.« »Wie könnte ich es lernen?« »Lerne, die Macht der Sterne und die Macht zu rufen, die im Innern eines jeden Gegenstands liegt. Was das Erste angeht, verfügst du bereits über etwas Wissen, glaube ich. Das Zweite ist keine Dis100 ziplin, die der Menschheit bekannt wäre.« Er schwieg und lächelte trocken. Schwache Narben waren um seinen Mund zu sehen, an den Ohrläppchen und auf seinen Händen - selbst an seinen Fersen waren ein paar alte, weiße Linien. »Fürchte nicht die Macht des Blutes, die alle Dinge bindet. Du musst lernen, sie zu benutzen, selbst wenn es schmerzhaft ist. Ich glaube nicht, dass du zurückweichen solltest. Es ist selten klug, wegzulaufen.« Schon allein dadurch, dass Anne diesen alten Zauberer und sein Volk als verschworene Feinde der Menschheit hingestellt hatte, fühlte Liath sich veranlasst, sich auf seine Seite zu stellen. Aber am Ende waren es seine Worte, die sie endgültig überzeugten. Er klang so anders als Pa, der es immer für klug gehalten hatte, wegzulaufen. Der ihr beigebracht hatte, wegzulaufen. »Ich gehe mit dir zum Rat«, erklärte sie schließlich. »Hah.« Das Schnauben verwandelte sich rasch in ein kurzes Lachen - seine Vorstellung von Erheiterung. »Das tust du also. Glaube nicht, dass ich nicht weiß, welche Ehre du mir damit zuteil werden lässt, indem du mir dein Vertrauen schenkst. Es ist lange her, dass jemand von deinem Volk meinem getraut hat.« »Oder dein Volk meinem« erwiderte sie. Die knappe Antwort gefiel ihm. Er mochte eine Herausforderung und störte sich nicht an scharfen Fragen. »Hole also, was du brauchst.« »Alles, was ich von der Erde mitgenommen habe, habe ich dabei.« Er wartete, bis sie das Seil zusammengerollt hatte. »Es ist gut gemacht.« Das Lob erwärmte sie, aber sie lächelte nur. Er selbst hatte für die Reise nur wenig dabei. Sie hatte sich inzwischen an seine Kleidung gewöhnt, an den Lendenschurz aus Perlen, die verzierten Arm- und Beinschienen, den mit Federn geschmückten Knoten auf dem Kopf, den er aus seinen schwarzen Haaren geformt hatte. Er war eher drahtig als dürr, obwohl er nicht im Geringsten gut genährt wirkte. Er nahm ihr das zusammengerollte Seil ab und schlang es sich über die eine Schulter, be101 vor er einen Pfeil aus ihrem Köcher zog. Wie immer betastete er die Eisenspitze einen Augenblick mit entrückter Miene. »Ich fürchte mich vor dem, was aus deinem Volk geworden ist«, sagte er scheinbar beifällig, »davor, dass sie Waffen wie diesen Pfeil und dieses Schwert machen können.« Er reichte ihr das gefiederte Ende des Pfeils. »Halte es fest. Und lass es nicht los, wenn wir in das Grenzland gehen.« »Sollten wir uns nicht an den Baum anbinden? Was ist, wenn wir vom Rand fallen? Du hast selbst gesagt, dass dieser Nebel den Rand deines Landes kennzeichnet.!« Er kicherte. »Eine gute Idee, die für dich spricht. Aber im Grenzland droht uns keine Gefahr. Wir sind Gefangene in unserem eigenen Land, weil alle Grenzen in sich selbst zusammenfallen.« »Bis auf die des brennenden Steins.« »Trotzdem.« Er führte sie durch den Nebel. »Wohin gehen wir?«, fragte sie, aber der Nebel dämpfte jedes Geräusch. Sie konnte den Zauberer nicht einmal mehr sehen, obwohl er ihr nur einen Schritt voraus war; sie wusste lediglich, dass er da war, weil sie den Pfeilschaft in ihrer Hand spürte. Er wusste, wohin er ging. Nach sechs Schritten stolperte sie gegen eine Steinstufe und stieß sich das Schienbein. Sie stand an einer Steintreppe, die von den Köpfen in Stein gemeißelter Ungeheuer gesäumt war; die Köpfe schienen sich jeweils aus einer Steinblume mit zwölf Blütenblättern zu erheben und sahen aus wie der Kopf einer Schlange oder einer großen, geschmeidigen Katze mit einem zahnstarrenden Grinsen, möglicherweise auch einer Mischung aus beidem; sie wusste es nicht. Einige der Köpfe waren in Rot und Weiß, andere hatten goldbraune Tüpfel und saftig grüne Zungen, schwarze, spitze Ohren oder goldblütige Blumen, die aus ihren runden Augen strahlten. Zu beiden Seiten der Treppe erstreckte sich eine gewaltige Pyramide, die aber zu steil war, als das man sie hätte erklimmen können; sie war von einem schlichten, blendenden Weiß, so rein wie Nebel. Hier und dort war 102 die Bemalung abgesprungen und enthüllte den grauen Stein darunter. Sie folgte dem alten Zauberer die Stufen hinauf. Am meisten beunruhigte sie die Treppe selbst, die sie sich hinaufquälten. Sie schien wie eine vertraute Erinnerung zu sein. Sie traten aus dem Nebel auf einen steilen Anstieg, der von den grässlichen, mächtigen Gesichtern umgeben war. Die Treppenstufen führten immer weiter, höher und höher, bis sie anhalten und Luft schöpfen musste. Sie
öffnete den Wasserkrug und trank einen Schluck, kühlte die trockene Kehle, aber der alte Zauberer lehnte das Wasser ab, als sie es ihm reichen wollte. Er wartete geduldig darauf, dass sie endlich wieder aufstand und weiterging. Schließlich erreichten sie die Spitze der Pyramide. Hinter ihr und unter ihr erstreckte sich dichter Nebel. Vor ihr lag eine andere Stadt, etwas kleiner als die großartige Stadt am See, aber mit ihren in schönster Ordnung und Harmonie angelegten Höfen und Terrassen nicht minder eindrucksvoll. Eine von Gebäuden gesäumte Allee führte vom Platz weg, der am Fuß der riesigen Pyramide lag, auf der sie jetzt standen. Jedes bisschen Steinfläche war mit hellen Wandgemälden versehen: riesige, gefleckte gelbe Katzen, schwarze Adler, goldene Phönixe, brennende Pfeile in den Kiefern roter Schlangen, die mit Federkopfschmuck versehen waren. Die Stadt leuchtete vor Farben und war so ruhig, dass sie schon glaubte, Geister würden weinend und jammernd durch die breiten Alleen treiben. Windböen strichen über ihre Haut. Wolken trieben über die Hügel, die den äußeren Rand der Stadt bildeten, und sie sah Blitze aufleuchten. Donner grollte, aber es fiel kein Regen. Sie konnte nicht einmal Regen riechen, nur den Staub im Wind, und sie spürte, wie eine Gänsehaut über ihre Haut kroch. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. »Es ist nicht sehr sicher hier oben, wo ein Blitz einschlagen könnte«, bemerkte der alte Zauberer. Er begann sofort, die Stufen hinunterzugehen, die so steil wa103 ren, dass sie ihm nur dadurch zu folgen wagte, indem sie sich umdrehte und rückwärts ging. Der Nebel hinter ihr schnitt kurzerhand jenen Teil der Stadt ab, der hinter der großen Pyramide lag -in einer solch geraden Linie, als wäre sie mit dem Messer gezogen worden. Donner dröhnte. Blitze trafen die Spitze der Pyramide, genau dort, wo sie gerade eben noch gestanden hatten. Ihre Zunge prickelte als Reaktion darauf. Ihr Fuß setzte endlich sicher auf dem Boden auf, der trocken und kühl war. Sie wusste, wo sie war. Vor langer Zeit, als sie noch ein Kind gewesen war, als sie und Pa aus dem brennenden Haus geflohen waren, hatte er sie durch eine alte Stadt geführt, in der der Wind ächzend durch die offenen Gebäude gestrichen hatte. Gewaltige Ruinen hatten sich in jede Richtung erstreckt und das Skelett einer Stadt geformt, die einst das Land beherrscht hatte. Entlang der Alleen hatte sie die verblichenen Überreste alter Fresken gesehen, die einst die langen Mauern geschmückt hatten. Wind und Regen und Zeit hatten die Farbe von der Oberfläche absplittern lassen, sodass nur die müde Maserung der alten Steinblöcke und ein paar Streifen von übrig gebliebenen Wandgemälden zu sehen waren, verblasst und kaum sichtbar. Die Ruinen hatten an der Uferlinie des Meeres so plötzlich geendet, als hätte ein Messer sie abgeschnitten. Pa hatte Worte gemurmelt, einen uralten Zauberbann, und für einen Augenblick hatte sie die Schattenform der alten Stadt sich mit den Wellen verbinden sehen, die Erinnerung an das, was einst gewesen war, nicht vom Meer ertränkt, sondern ganz und gar gegangen. Erstaunen ergriff sie, genau so, wie es an dem Tag vor so langer Zeit gewesen war. »Das ist die Stadt«, sagte sie laut. Der alte Zauberer war bereits weitergegangen; jetzt blieb er stehen. »Ich habe den anderen Teil dieser Stadt gesehen«, erklärte sie. 104 »Der Teil, der hier "gewesen ist -« Sie deutete auf die Nebelwand. »Aber die Ruinen waren so alt. Viel älter als die Städte, die von den Dariyanern errichtet worden sind. Das war das Seltsamste daran.« »Dass sie alt waren?« »Nein, nein.« Ihre Gedanken waren bereits weitergeschweift. »Dass die Ruinen so abrupt endeten. Als wäre das Land von der Erde weggeschnitten worden.« Er lächelte traurig. »Hat die Menschheit keine Erinnerung mehr an die Ereignisse jener Tage?« Sie konnte nur stumm den Kopf schütteln, so verblüfft war sie über seine Worte. »Komm«, sagte er. Am anderen Ende der Allee erhob sich ein zweites, monumentales Gebäude, das durch die Straße mit der Pyramide verbunden war. Plattformen erhoben sich in bestimmten Abständen zu beiden Seiten. Es war schwer zu erkennen, was für eine Art von Maschine oder Magie diese Stadt errichtet hatte. Die Leere verunsicherte sie. Sie konnte sich vorstellen, wie es ausgesehen hatte, als die Alleen noch bevölkert gewesen waren: Frauen und Männer in leuchtenden Kleidern, die sich getroffen hatten, um die Aufführungen zu sehen, die auf den Plattformen gezeigt worden waren, oder um zu beten, wenn ihre heiligen Fürsorger ihren Göttern von der gefährlich hohen Pyramide aus huldigten. Doch die Menge hatte keinerlei Spuren ihres Daseins hinterlassen, nicht einmal Geister. Es war ein langer Weg, und es wurde noch heißer, nachdem der Sturm vorbeigerauscht war und sich in der Nebelwand aufgelöst hatte. Nicht ein einziger Regentropfen fiel. Sie musste zweimal stehen bleiben, um etwas zu trinken, und jedes Mal lehnte es der alte Zauberer ab, ebenfalls einen Schluck zu nehmen. Der andere Tempel war ebenfalls eine vierseitige Pyramide, mit Treppenstufen an den Seiten und abgeflachter Spitze. Das Antlitz einer riesigen Steinschlange erhob sich dort oben, doch wo ihr Mund hätte sein sollen, war eine Öffnung, gesäumt von zwei dreieckigen Haufen aus aufgeschichteten hellen Steinen. 105
Flöten und Pfeifen durchdrangen die Stille. Waren die Geister der Stadt gekommen, um sie zu jagen? Ein farbiger Blitz war in der Ferne zu sehen und entpuppte sich als Prozession von Leuten, die in Federumhänge und Perlengewänder gekleidet waren. Die Farben der Gewänder leuchteten so sehr, dass sie vor jedem Hintergrund aufgefallen wären, obwohl sie von dem gewaltigen Anblick der Stadt und dem stürmischen Blau des Himmels beinahe verschluckt wurden. Am Kopf der Prozession hüpfte eine runde Standarte auf einem Stock, ein rundes, goldenes Banner, das mit leuchtend grünem Federschmuck gesäumt war, der so breit war wie die ausgestreckten Arme eines Mannes. Es wirbelte herum wie ein Rad. Seine Leuchtkraft brachte sie zum Taumeln. Die Prozession bewegte sich auf das Maul der Schlange zu und verschwand im Tempel. Sie kamen zu den Stufen, wo Ältester Onkel stehen blieb, während sie Luft holte und ihre Waffen überprüfte: ihr Messer, Lucians Schwert, ihren guten Freund, und ihren Bogen, Herzsucherin. Stimmengewirr drang aus dem Maul der Schlange, wie die Stimmen der Toten, die aus der Unterwelt heraufdrangen. »Sie werden nicht freundlich sein«, sagte er. »Sei gewarnt: sprich ruhig. Um die Wahrheit zu sagen, mein Kind, habe ich dich mitgenommen, weil ich fürchte, dass nur du und ich unsere Völker vor einer größeren Zerstörung bewahren können als jener, die zu erleiden wir bereits verdammt sind.« Seine Worte, so ruhig gesprochen, als hätte er eine Aussage zu einer interessanten architektonischen Entdeckung gemacht, ließen sie frösteln. Die lange Allee hinter ihr war von Dunst und Hitze eingehüllt. Wind wirbelte den Staub auf. Die große Pyramide schimmerte unheimlich in gewaltigem Glanz. »Ich habe es mit Hugh aufgenommen«, sagte sie schließlich. »Ich kann es mit jedem aufnehmen.« Sie erklommen die Stufen zum Kopf der Schlange. Kurz bevor sie ihn erreichten, erkannte Liath, dass die zwei kleinen Steinpyramiden zu beiden Seiten des Kopfes gar nicht aus Steinen bestanden. 106 Es waren Stapel von grinsenden Schädeln. »Wer sind die?«, fragte sie, und ihr Herz raste vor Entsetzen, während die leeren Augenhöhlen sie anstarrten. »Die Gefallenen.« Ein halbes Dutzend Bögen und Köcher lagen auf dem ebenen Stein vor dem Maul der Schlange, und ein Dutzend oder mehr Speere waren daran gelehnt. Alle diese Waffen hatten Steinspitzen. Das einzige Metall, das sie sah, stammte von den drei Messern, die aus Kupfer oder Bronze geschmiedet worden waren. »Leg deine Waffen hier auf den Friedensstein.« »Wollen wir unbewaffnet da hineingehen?« »An jenem Ort, wo der Rat sich trifft, sind keine Waffen gestattet. So ist es Brauch. Auf diese Weise wird im Herzen der Stadt kein Blut vergossen.« Sie zögerte, aber der Anblick so vieler anderer Waffen machte es einfacher, sich zu fügen. Sie kannte die Kraft der anderen nicht, aber sie konnte noch immer Feuer rufen, wenn es nötig war. Sie legte ihre Waffen ab, doch er hielt sie zurück, als sie die Schwelle übertreten wollte. »Auch Wasser ist verboten. Selbst ein einziger Schluck könnte als Versuch der Bestechung empfunden werden. Lass uns hier noch einen großen Schluck nehmen. Es kann Stunden dauern, ehe wir aus der Gruft der alten Mütter wieder auftauchen.« Das Wasser war jetzt brackig und von der Sonne warm geworden. Aber es war Wasser und daher unermesslich wunderbar, wenn man durstig war. Er nahm den halbleeren Krug und verbarg ihn zwischen den Schädeln. Ihre trockenen, grinsenden Gesichter hatten ihren Schrecken verloren. Sie waren nicht einmal Geister, nur die Erinnerung an das Volk, das einst hier gelebt und geblutet hatte. Welches Schicksal hatte ihnen dieses Ende beschert? »Komm.« Der alte Zauberer deutete jetzt auf den Mund der Schlange. Es schien sehr dunkel im Innern zu sein. Selbst das Flüstern der fernen Stimmen hatte, wie in Erwartung ihrer Ankunft, aufgehört. 107 Sie hatte es tatsächlich mit Hugh aufgenommen, sie hatte Mut bewiesen, aber dennoch murmelte sie leise ein Gebet. »Herr, wache jetzt über mich, ich bitte dich. Herrin, gib mir deine Kraft.« Irgendwo, an einem anderen Ort, fragte sich Sanglant sicherlich, was aus ihr geworden war, und vielleicht weinte Gnade auch, fühlte sich in den fremden Armen unwohl. Doch als sie in die dunkle Öffnung und damit in das Maul der Schlange trat, spürte sie ganz deutlich, dass sie noch einen langen Weg würde beschreiten müssen, bevor sie zu ihnen zurückkehren konnte. 2 Nördlich des Alfar-Gebirges stürzte das Land jäh ab und mündete in ein Gewirr aus Ausläufern und Flusstälern. Um diese Jahreszeit, da der Sommer in den Herbst überging, befanden sich die Straßen in bestem Zustand, und auch das Wetter blieb angenehm -sah man einmal von dem gelegentlichen Regenschauer ab, der sie alle immer wieder durchnässte. Sie hatten ein zügiges Tempo vorgelegt und reisten sechs Wegstunden pro Tag. Auf der Straße hielten sich genügend Tagelöhner auf, die sich als Erntehelfer bei den letzten Ernten verdingen wollten, dass ihre kleine Gruppe nicht allzu verdächtig erschien, so lange sie nicht bewusst die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Die Reise verlief zum größten Teil ruhig. Wenn sie Reisenden aus dem Norden begegneten, fragte Sanglant sie aus, doch die Ortsansässigen behaupteten - als er ihren Akzent erst einmal genug verstand -, nichts von dem König und seinem Verbleib zu wissen. Es gab auch gar keinen Grund, dass sie es hätten wissen
müssen. Doch eines Tages hörte er im Vorbeigehen von drei Geistlichen, dass der König und sein Gefolge in Wertburg erwartet worden waren, und so nahmen sie, kurz nachdem sie mit der Fähre über den östlichen Arm des Vierwald-Sees übergesetzt worden waren, an der nächsten Kreuzung die nordöstliche Ab108 zweigung, die sie durch üppige Felder des oberen Waylands in das Flusstal des Mainin führte. In dieser üppigen Landschaft waren mehr Leute auf den Straßen, die in ihren eigenen Angelegenheiten unterwegs waren. Dennoch war es eine Überraschung, als sie zwölf Tage nach der Feuersbrunst von Verna und weniger als sieben Tage nach der Überfahrt über den See um die Mittagszeit auf Kundschafter stießen - an einer Stelle, wo der Wald zugunsten einer gut gepflegten Obstwiese abrupt endete. »Halt!« Ein eifriger junger Bursche auf einer Stute mit deutlichem Senkrücken ritt zu ihnen und verstellte ihnen den Weg. Er hielt einen Speer in der einen Hand und musterte sie kritisch. Zweifellos boten sie einen seltsamen Anblick: ein großer, breitschultriger Mann, der wie ein gewöhnlicher Soldat wirkte und ein in Tüchern gewickeltes Baby auf dem Rücken trug, aber gleichzeitig einen edlen Wallach ritt, dessen Rasse und Zaumzeug einem Prinz angemessen gewesen wären, und eine Frau, bei deren fremdartigem Aussehen jeder Soldat innehalten würde. Das Pony und die Ziege waren dagegen weniger bemerkenswert. Glücklicherweise war Jer-na nicht zu sehen; sie war davon geschossen, um sich in den Ästen eines Apfelbaums zu verbergen. Der junge Bursche starrte sie einen Augenblick an - überwiegend die Frau - und fand schließlich die Sprache wieder. »Seid ihr als Bittsteller zum König unterwegs?« »Das sind wir«, erklärte Sanglant, der seine Stimme bewusst ruhig hielt, obwohl sein Herz aufgeregt pochte. »Ist der König in der Nähe?« »Der Hof ist in Angenheim, aber es gibt eine lange Wartezeit für Bittsteller. Viele sind gekommen -« »Hey, Matto, was sind denn das für zwei?« Der Dienst habende Feldwebel kam zu ihm geritten. Sein Schild trug in der Mitte das Wappen von Wendar: Löwe, Adler und Drache. Er war also ein Mitglied des persönlichen Gefolges des Königs. Der Mann hatte 109 einen Blick wie ein Terrier: Bereit, jederzeit die nächst beste Ratte in Stücke zu reißen. »Sie kommen die Straße entlang wie so viele andere«, protestierte Matto. »Auch der Teufel könnte das tun. Ihrem Aussehen nach könnten sie Verwandte des Feindes sein. Jedenfalls sehen sie ziemlich fremd aus, Junge, und ich wüsste zu gern, wie sie an das Pferd eines Edelmannes gekommen sind. Wir halten Ausschau nach Banditen, Matto. Du solltest wachsam sein.« »Gibt es ein Problem, Feldwebel?«, fragte ein anderer Soldat, der jetzt herangeritten kam. Es waren ein halbes Dutzend Männer zu sehen, die sich entlang der Straße verteilt hatten. Sanglant erkannte keinen von ihnen. Es mussten neue Rekruten sein, die man zur Wache eingeteilt hatte. Die Männer blickten gelangweilt drein. Langeweile bedeutete immer Ärger, und es waren nicht nur diese Soldaten, die gelangweilt wirkten. Sanglant warf einen Blick auf seine Mutter. Er befand sich jetzt bereits zwölf Tage in ihrer Gesellschaft, und noch immer strahlte sie etwas Beunruhigendes aus. Sie musterte den jungen Matto mit dem Blick eines Panthers, der seine nächste Mahlzeit betrachtet, und leckte sich sogar gedankenvoll die Lippen, als wäre ihr mit der Luft der Geschmack seines süßen Fleisches zugetragen worden. Sanglant war geübt darin, schnelle Entscheidungen zu treffen. Wenn er diese Männer nicht erkannte, dann waren sie vermutlich an den Hof gekommen, nachdem er und Liath vor mehr als einem Jahr so überstürzt aufgebrochen waren, und sie würden ihn ebenfalls nicht erkennen. Er wandte sich an den Feldwebel. »Bringt mich zu Hauptmann Fulk, und ich verspreche Euch, Ihr werdet eine Belohnung erhalten.« »Hah!«, schnaubte der Feldwebel verblüfft. »Woher wisst Ihr denn, dass Hauptmann Fulk zur Rundreise des Königs zurückgekehrt ist? Er ist erst seit vierzehn Tagen wieder dabei.« »Wir sind getrennt worden.« Sanglant beugte sich zur Seite, da110 mit der Mann das kleine, süße Gesicht von Gnade inmitten all der vielen Tücher auf seinem Rücken erkennen konnte. »Oh.« Der Feldwebel richtete sein Augenmerk jetzt auf Sanglants Mutter, doch er sah rasch wieder weg, als hätte etwas in ihrem Blick ihm Unbehagen bereitete. Was auch sehr gut möglich war. »Dann ist sie also Eure Frau?« Sanglant lachte schroff, nicht ohne eine Spur von Verärgerung. »Nein. Diese Frau ist -« Er konnte es nicht über sich bringen, einen Titel auszusprechen, den sie nicht verdiente. »Diese Frau ist eine Verwandte von mir, die mich begleitet. Sie ist eine Fremde, müsst Ihr wissen. Mein Vater ist wendisch.« »Und was ist mit Eurer Frau geschehen?« Der Kummer nagte noch immer an ihm. »Meine Frau ist... gegangen.« Die Miene des Feldwebels wurde etwas weicher, und er blickte wieder das Kind an. »Mögen der Herr und die Herrin über Euch wachen, Freund. Benötigt Ihr eine Eskorte? Ein Stück weiter die Straße entlang, ganz in der Nähe des Palastes, ist ein weiterer Wachposten. Danach müsst Ihr noch an der Befestigungsanlage des Palastes vorbei. Ich gebe Euch einen Soldaten mit, der sich dort für Euch einsetzen wird.«
»Ich nehme Euer Angebot dankbar an. Wenn Ihr mir Euren Namen nennen wollt, werde ich dafür sorgen, dass der König davon erfährt.« Der Feldwebel kicherte, während seine Männer ungläubige Blicke austauschten. »Ihr seid so sehr von Euch überzeugt wie der Hahn, der am Morgen kräht, was ? Nun denn, wenn Ihr also mit dem König speist, sagt ihm, dass Feldwebel Cobbo von Langbach Euch einen Gefallen getan hat.« Er klatschte sich auf den Oberschenkel, ganz aus dem Häuschen über seinen Witz. »Geht also. Matto, du begleitest ihn bis zu Hauptmann Fulk, ohne ihn an jemand anderen zu übergeben. Der Hauptmann wird wissen, was zu tun ist, falls sie uns doch angelogen haben sollten.« Matto war eine sehr redselige Seele. Es fiel Sanglant nicht 111 schwer, Informationen von ihm zu erhalten. Sie ritten über eine Obstwiese und gelangten in einen weiteren Wald, wo Jerna sich das getüpfelte Licht zu Nutze machte, um sich von den Bäumen fallen zu lassen und sich um Gnades Windeln zu legen. Er konnte ihre kühle Berührung an seinem Nacken spüren, konnte sogar den hellen Schimmer ihrer Bewegung aus dem Augenwinkel sehen, doch wie die meisten Menschen schien auch Matto sie nicht zu bemerken. Der junge Soldat plapperte munter drauflos, während Sanglant ihm weiterhin Fragen stellte. Mattos Mutter war die Verwalterin eines fürstlichen Guts. Sein Vater war vor vielen Jahren im Krieg gefallen, und seine Mutter hatte einen anderen Mann geheiratet. Matto wirkte noch jung, weil er jung war. Er und sein Stiefvater waren nicht gut miteinander ausgekommen, und als er gerade fünfzehn geworden war, hatte er sich aufgemacht, um in den Dienst des Königs zu treten. »Ich bin jetzt seit sechs Monaten bei der Rundreise des Königs« vertraute er Sanglant an. »Sie haben mich zuerst in den Ställen eingesetzt, aber selbst Feldwebel Cobbo sagt, dass ich gut mit Waffen umgehen kann, und so bin ich vor drei Monaten zur Wache versetzt worden.« Er warf einen Blick zurück auf Sanglants Mutter; vielleicht hoffte er, sie würde von seinem raschen Aufstieg beeindruckt sein, aber wie Sanglant herausgefunden hatte, interessierte sie nichts von dem, was die Menschen so Umtrieb. »Du sehnst dich danach, in einer Schlacht dabei zu sein, hab ich Recht, Junge?«, Sanglant fühlte sich unsäglich alt, während er neben diesem so leidenschaftlichen Jungen herritt, obwohl er nicht einmal alt genug war, um sein Vater sein zu können. Matto ergriff die Gelegenheit und hakte nach. »Ihr seid in einer Schlacht gewesen, nicht?« »Ja, das bin ich.« »Ich nehme an, Ihr gehört zu der Gruppe, die mit Prinzessin Theophanu nach Aosta geschickt worden ist. Es ist wirklich ein Wunder, dass Hauptmann Fulk so viele von ihnen vor dem Tod bewahrt hat. Was für ein Unglück!« 112 »Allerdings.« Sanglant wechselte das Thema, bevor Matto herausfinden konnte, dass er nicht den blassesten Schimmer hatte, was für ein Unglück Theophanus Expedition in Aosta befallen hatte. »Wieso hat man ein so weites Netz aus Wachposten gespannt?« Matto reckte sich; es gefiel ihm sichtlich, etwas zu wissen, was sein Begleiter nicht wusste. »Der Hof zieht Bittsteller an, und Bittstellerziehen Banditen an«, erklärte er mit stolzgeschwellter Brust. »Aber gehört dieses Land nicht Herzog Conrad? Ich dachte, er hätte dem Banditen-Unwesen ein Ende bereitet.« »Das hätte er auch, wenn er hier wäre. Aber er ist nicht einmal zum Fest des Königs erschienen! Der Adler, der nach Bederbor zu seiner Festung geschickt worden ist, hat ihn dort nicht angetroffen. Niemand weiß, wohin er gegangen ist!« Was hatte Conrad vor? Sicherlich war dem Herzog so gut wie alles zuzutrauen. Aber darüber konnte er mit diesem Jungen kaum sprechen. Sie erreichten einen Fluss und verlangsamten ihr Tempo, damit die Pferde einen passenden Weg auf die andere Seite suchen konnten. An einer Stelle, wo die Zweige einer Birke tief über dem Wasser hingen, ließ er Resuelto trinken, während er auf seine Mutter wartete. Obwohl sie das Pony zum Reiten besaß, weigerte sie sich, es auch als Reittier zu benutzen. Dennoch hatte sie ihn schnell eingeholt; nie zuvor hatte er jemanden so rasch und kräftig ausschreiten sehen wie sie. Die Ziege meckerte störrisch am Ufer, und seine Mutter musste sie ungeduldig über die felsigen Untiefen zerren. Ihre kräftigen Arme waren von straffen Muskeln überzogen. Sie hatte die Ärmel von Liaths Tunika aufgerollt, und die rote Schlange, die sich vom Handrücken die Arme hochwand, schien sich zu recken und zu zittern, als sie die Ziege zum anderen Ufer zerrte. Matto starrte sie an. Sanglant wusste nicht, ob der Junge von jener Leidenschaft gepackt worden war, die junge Leute so schnell wie der Blitz erfassen konnte, oder ob er plötzlich begriffen hatte, wie seltsam sie war. »Wie heißt Ihr?«, platzte Matto plötzlich heraus. Sie blickte ihn an, und er wurde blass und stammelte eine Ent113 schuldigung, obwohl gar nicht klar war, für was er sich entschuldigte. Ihre Antwort war kühl und klar. »Ihr werdet mich >Alia< nennen.« Sanglant lachte kurz, bevor er sein Pferd wendete und die Straße entlang weiterritt. >Alia< bedeutete >Andere< auf Dariyanisch. Alia gesellte sich zu ihm. Die Ziege hatte sich endlich entschieden, gefügig zu sein, und folgte jetzt sanftmütig dem Pony. »Wieso sagst du diesen Soldaten nicht, wer du bist?«, fragte sie mit leiser Stimme, wobei ihr starker Akzent ihren Worten etwas Stockendes verlieh. »Du könntest eine richtige Eskorte und die Ehre verlangen, die
dir gebührt.« »Da sie mich nicht kennen, würden sie mir niemals glauben, dass ich ein Prinz bin. Ohne ein Gefolge bin ich ja nicht einmal ein Edelmann, nichts weiter als ein Wanderer ohne Land und ohne Sippe, der als Bittsteller zum König geht.« Er hatte nicht gewusst, wie verbittert er war, und er wusste auch nicht, auf wen er am meisten wütend war: auf das Schicksal, auf seinen Vater oder auf die Frau an seiner Seite, die ihn vor vielen Jahren im Stich gelassen hatte. Gnade rührte sich auf seinem Rücken und gluckste, brabbelte Unverständliches vor sich hin. »Still, Liebes«, murmelte er. Resuelto schnaubte. »Da!«, rief Matto. Die Straße war breit genug, dass er problemlos an ihnen vorbeireiten konnte. Er hatte seine Hand am Gürtel, woran ein Messer, eine Lederbörse und das kleine, glänzende Hörn eines Widders hingen. Weiter vorn, wo der Boden in eine von Gebüsch übersäte Mulde abfiel, kam der Fluss der Straße wieder näher, bis sie ihn schließlich erneut kreuzte. In der Mitte der Furt stand eine Alte mit einem Stock. Zerfetzte Tuchstücke bedeckten ihren Kopf und ihre Schultern. Die ausgefransten Enden eines abgetragenen Kleides trieben in der Strömung, wanden sich um ihre Waden. »Eine Münze oder ein Stück Brot für eine alte Frau, deren Ehemann und Sohn im Osten mit Ihrer Königlichen Hoheit Prinzessin Sapientia kämpfen?«, krächzte sie. 114 Matto war schon dabei, abzusteigen, und fummelte an seinem Lederbeutel herum. Vielleicht war er ein gutmütiger Junge, vielleicht wollte er aber auch einfach nur Alia beeindrucken. Doch obwohl die Stimme der Alten hoch klang, hatte sie so gar nichts von einer Frau, etwas, von dem Sanglant durchaus Ahnung hatte. Er zügelte sein Pferd. Einen Augenblick später hörte er lautes Rascheln aus dem dichten Gebüsch, das am anderen Ufer wuchs. Der Pfeil traf Sanglant in die Schulter, und er taumelte zurück. Die Spitze bohrte sich genau in dem Augenblick in sein Kettenhemd, als ein zweiter Pfeil aus dem Gebüsch folgte. Er warf sich zur Seite, während Jerna sich entrollte und mit ihrem luftigen Wesen den Pfeil von seinem Kurs abbrachte. Er flog ohne Schaden anzurichten in die Zweige eines Baums. Alia hatte bereits ihren Bogen hochgerissen und einen Pfeil angelegt. Sie zischte, schoss, und aus dem Dickicht drang ein Schmerzensschrei. Die Alte umklammerte Mattos Bein und stieß den Jungen rückwärts ins Wasser. Bei der raschen Bewegung kamen die Schultern eines Mannes zum Vorschein, der sich mit den Fetzen verkleidet hatte. Mit einem lauten Schrei hob der Räuber den Stock und schlug damit auf Mattos ungeschützten Kopf ein. Der Junge versuchte, die Schläge mit den Armen abzuwehren. Noch mehr Pfeile flogen. Jerna sorgte dafür, dass zwei Pfeile mitten in der Luft vor Resueltos Nacken verharrten, während Sanglant den Wallach zur Seite trieb. Das Pferd stürzte sich eifrig in den Kampf. Es wusste, was geschah, und war wie sein Herr sein ganzes Leben lang darauf vorbereitet worden. Es machte einen Satz über den Bach, und Sanglant hieb nach rechts, trennte dem ersten Banditen die Hand ab, bevor der Mann weiter auf Matto einschlagen konnte. Alias zweiter Pfeil traf »die Alte« in den Rücken, als der Mann sich umdrehen und flüchten wollte. Laute Warnrufe erklangen, doch Sanglant war bereits ins Gebüsch vorgeprescht, brach durch das Blattwerk und stieß auf eine Senke, in der ein Haufen Männer bereitstand - bewaffnet mit Stö115 cken, Messern, einer Axt und einem einzigen Bogen. Sein Schwert traf mühelos Zweige und Fleisch. Ein Mann spannte den Bogen zum tödlichen Schuss, als Sanglant sich näherte. Jerna sprang vor, als befände sie sich auf einem Windstoß. Der Pfeil zuckte zur Seite, genau in dem Augenblick, als der Mann ihn abfeuerte. Auch der Bogen sackte dem Banditen aus den Händen, und er fuchtelte hektisch herum, bis er die Pfeilspitze in seinem Fuß fand und rückwärts in ein dichtes Gebüsch aus Riedgras und Farn taumelte. Winselte da jemand mit dünner, schwacher Stimme um Erbarmen? Sicher war es nur das Jammern einer Mücke. Sanglant schlug mit dem Schwert zu, und der Mann stürzte zu Boden, den Schädel gespalten wie eine Melone. Von der Straße hörte er einen weiteren Schmerzensschrei, gefolgt von einem wilden Geraschel, das immer schwächer wurde und auf zwei Überlebende hindeutete, die jetzt eine ganze Zeit lang einfach nur wegrennen würden. Leise erklang der Ruf eines Horns, und als es nach einer kurzen Pause erneut zu hören war, hatte es schon bedeutend mehr Kraft. Gnade jammerte. Ihre Stimme brachte ihn wieder zur Besinnung. Verwundert starrte er auf die Leichen: sechs Männer, in armselige Lumpen gehüllt und mit ärmlichen Waffen ausgerüstet. Er hatte nicht begriffen, dass es so viele waren. Er hatte gar nichts begriffen, sondern einfach nur gewütet und getötet. Ein Mann zuckte noch immer und stöhnte, aber seine Wunde war tief; er hatte einen Schwerthieb abbekommen, der durch Schulter und Lunge ging, und Blut quoll ihm aus dem Mund. Sanglant stieg ab und schnitt ihm in einem Akt der Barmherzigkeit die Kehle durch. Matto humpelte durch die Lücke im Dickicht, die Resuelto hinterlassen hatte, und blieb taumelnd stehen. »Bei unserem Herrn!«, fluchte er erstaunt. Das Hörn hing an einem Band um eines seiner Handgelenke. »Euer Arm ist gebrochen«, sagte Sanglant. Er wandte sich von den Leichen ab und führte Resuelto auf die
Straße. Das Pony stand 116 mit weit ausgestreckten Beinen da, um der Ziege zu widerstehen, die heftig an ihm zerrte, weil sie unbedingt zum Wasser wollte. Alia war verschwunden. Er hörte ihr Pfeifen, das keiner bestimmten Melodie folgte, und sah sie für einen kurzen Augenblick auf der anderen Straßenseite, wo sich eine weitere Gruppe von Banditen im Schutz schlanker Birken verborgen gehalten hatte. Alia war in dem Schatten kaum zu erkennen, als sie sich jetzt über einen am Boden liegenden Körper beugte. Sie zog an etwas, machte mit einem lauten Ächzen einen Satz zurück und hatte einen Pfeil in der Hand. Links von ihr hatte sich ein Bandit gleich hinter einem Baumstamm versteckt. Sein Körper war von einem Pfeil, der sich in seine Kehle gebohrt hatte, regelrecht an den Baum genagelt worden. Der Stamm war blutverschmiert. Doch das Unheimlichste von allem war, dass die Obsidian-Spitze des Pfeils aus dem Nacken des Mannes ragte, während sich die Befiederung in den Baum gegraben hatten. Es war, als hätte sich der Stamm geöffnet, um den Pfeil hindurchzulassen, und sich dann, nachdem die Spitze ihr Ziel gefunden hatte, wieder um den Schaft geschlossen. Matto stolperte auf den Pfad zurück; er hielt noch immer den gebrochenen Arm mit dem gesunden. Er versuchte angestrengt, nicht laut zu schluchzen. »Lasst es mich ansehen«, sagte Sanglant. Der Junge kam so vertrauensvoll wie ein Lamm. Er setzte sich dort nieder, wo Sanglant hindeutete, und lehnte sich gegen einen Stamm, während der Prinz den Gürtel des Jungen abnahm und die anderen Dinge zusammensuchte, die er benötigte: Moos und zwei feste Stöcke. Er hockte sich neben den Jungen und fingerte an der roten Schwellung herum, die sich über den halben Unterarm hinzog, während Matto zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch zischend den Atem ausstieß und ihm Tränen in die Augen traten. Es schien ein sauberer Bruch zu sein, bei dem sonst nichts verletzt worden war. Der Arm war noch gerade, und der Knochen hatte die Haut nicht durchtrennt. 117 »Es ist keine Schande, zu weinen, Junge. Ihr werdet noch Schlimmeres erleben, wenn Ihr bei Henrys Heer bleibt.« »Wenn ich darf, möchte ich gern bei Euch bleiben«, flüsterte der Junge mit einem ehrfürchtigen Leuchten in den Augen, das von den glänzenden Tränen noch verstärkt wurde. »Ich möchte lernen, so wie Ihr zu kämpfen.« Vielleicht drückte Sanglant den verletzten Arm etwas zu fest. Matto schrie auf und krümmte sich. Alia war plötzlich wieder da und packte die Schulter des Jungen, damit er sich still verhielt, während Sanglant die Schwellung mit Moos bedeckte und den Gürtel dazu benutzte, den Unterarm bis zur Hand mit den Stöcken zu schienen. Als er fertig war, gab er dem Jungen etwas zu trinken; dann erhob er sich und ging zur Mitte der Straße, wobei er den Kopf in den Nacken legte und lauschte. Die Banditen waren entweder alle tot oder geflohen. Ein Eichelhäher schrie. Der erste Aasfresser- eine Krähe - ließ sich auf einem Zweig etwa einen Steinwurf entfernt nieder. In der Ferne hörte er das Klirren von Geschirr, als Reiter sich näherten. Alia trat neben ihn. »Wer kommt da? Lassen wir den Jungen zurück?« »Nein. Es werden seine Leute sein, an denen wir gerade erst vorbeigekommen sind. Der Hornruf muss sie gewarnt haben. Wir werden auf sie warten.« Er löste die Schlinge, mit der seine Tochter an seinem Rücken festgebunden war, und drückte sie an seine Brust - sorgfältig darauf bedacht, dass ihre Wangen nicht von dem Kettenhemd verletzt wurden. Jerna spielte in der Brise über dem Kopf des Kindes -jetzt, wo die Gefahr vorüber war, war sie wieder sorglos. Gnade murmelte etwas und lächelte fröhlich, als sie das Gesicht ihres Vaters sah. »Da da«, sagte sie. »Da da.« Oh, Gott, sie wuchs so schnell. Sie war erst fünf Monate und sah schon doppelt so alt aus; erst am Tag zuvor hatte sie an der Feuerstelle die ersten eigenständigen Gehversuche unternommen. »Wie ist der Pfeil durch den Baum gegangen?«, fragte Sanglant 118 beiläufig, während er seiner Tochter in die flammend blauen Augen blickt. Seine Mutter zuckte mit den Schultern. »Bäume sind nicht fest, Sohn. Nichts ist fest. Wir alle sind Gitterwerk aus Erde und den Elementen Luft und Feuer und Wind und Wasser. Ich habe dem Wind, der den Pfeil trug, einen Zauber mitgegeben, der das Gitter in dem Baum teilte, sodass der Pfeil dort treffen konnte, wo man ihn am wenigsten erwartete.« Sie trat zu dem Baum und lehnte sich gegen ihn. Sie schien ihm etwas zuzuflüstern, wie einem Geliebten. Danach verschwamm seine Sicht etwas, als würde er durch Wasser blicken. Mit einem Ruck zog Alia den Pfeil aus dem Holz. Der Körper sackte zu Boden. Blut spritzte auf und verteilte sich auf dem Farn. Die Krähe schrie freudig, und zwei weitere ihrer Artgenossen ließen sich auf dem Zweig nieder. Feldwebel Cobbo kam mit seinen Männern. Sie ergingen sich über das Blutbad und beglückwünschten Sanglant von ganzem Herzen, während Matto einen unzusammenhängenden Bericht über den Überfall zusammenstotterte. »Ich erkenne jetzt, dass Hauptmann Fulk es sehr bedauert haben muss, Euch zurückgelassen zu haben«, sagte der Feldwebel mit deutlich mehr Respekt, als er zuvor gehabt hatte. Aber Sanglant empfand nichts als Abscheu und Mitleid, als er die toten Männer betrachtete. In Wahrheit verachtete er Berserker - jene, die zuließen, dass die blutdürstige Bestie in ihrem Innern die Oberhand gewann,
wenn sie in der Schlacht waren. Er war immer stolz auf seine Ruhe und Beherrschtheit gewesen. Er hatte immer seine Vernunft beibehalten und sich niemals dem Gemetzel hingegeben. Das war einer der Gründe, weshalb die Soldaten ihn respektierten, bewunderten und ihm folgten: Noch in der schlimmsten Situation in einer Schlacht und davon hatte es viele gegeben - hatte er niemals die Kontrolle über sich verloren. Aber Blutherz und Gent hatten ihre Spuren bei ihm hinterlassen. Er hatte gedacht, er hätte sich von Blutherz' Ketten befreit, 119 aber ihr Geist war noch da, ein zweites Selbst, dass sich in ihm eingenistet hatte, dass ihn in eine andere Form zu bringen versuchte. Er war manchmal so wütend, dass er regelrecht spürte, wie das Ungeheuer tief drinnen an ihm nagte, aber er wusste nicht, ob es die Wut war, die erwachte und die Bestie quälte, oder ob es die Bestie war, die seine Wut nährte. Das Schicksal hatte ihn verraten: Seine eigene Mutter hatte ihn benutzt und abgeschoben, sein Vater hatte ihn nur so lange geliebt, wie er seinen Zielen gedient hatte. Er hatte eingeschworene Feinde, von denen er nie zuvor gehört hatte, die ihn wegen seines Blutes hassten und ohne mit der Wimper zu zucken oder einen Finger zu rühren zugesehen hätten, wie seine geliebte Tochter verhungert wäre. Liath war ihm entrissen worden, und trotz Alias Erklärung, dass die Geschöpfe, die sie entführt hatten, Daemonen waren, also Feuerelemente, wusste er nicht wirklich, was mit ihr geschehen war, ob sie lebte oder tot war. Er wiegte noch immer Gnade in seinen Armen, während er zusah, wie Feldwebel Cobbos Männer den Banditen ihre Habseligkeiten und Kleider abnahmen und ein Loch gruben. Sie kamen schließlich zu dem Mann mit dem Bogen, und er hörte ihre beeindruckten Rufe, als sie sahen, mit welcher Kraft er ihm den Schädel eingeschlagen hatte. Immer wieder blickten sie mit verklärten, ehrfürchtigen Mienen in seine Richtung, verfielen aber glücklicherweise nicht in die gleiche stammelnde Verehrung, mit der Matto ihn fortan betrachtete. Sie hatten nicht gehört, wie der Mann mit dem Bogen um Erbarmen gewinselt hatte. Auch er hatte es nicht wirklich gehört. Er war einfach viel zu wütend und zu stürmisch gewesen, hatte blindlings alles getötet, was ihm in die Quere gekommen war oder Gnade zu bedrohen schien. Erst hinterher hatte er begriffen, was er gehört hatte. Und da war es bereits zu spät gewesen. Möglicherweise galt sein Mitleid nicht wirklich diesen armen, unglücklichen Toten. Sie hatten schließlich auch vorgehabt, ihn zu töten. Der Herr und die Herrin allein wussten, was sie mit Gnade 120 getan hätten, wäre sie ihnen in die Hände gefallen. Vielleicht galt sein Mitleid jener schwachen, unbeachteten Stimme in seinem eigenen Innern, die er zuvor gehört hatte. Die seine Hand zurückgehalten und dafür gesorgt hätte, dass seine Taten von Barmherzigkeit und nicht von Wut geleitet worden wären. Mit einem missmutigen Schnauben nahm er die schmeichelnden Bemerkungen der Männer entgegen, als sie auf die Straße zurückkehrten. Alia war bereit, weiterzureiten. Der Feldwebel half Matto auf seine Stute, während Sanglant Gnade einen Kuss gab und sie dann wieder auf dem Rücken befestigte. »Ich glaube, damit haben wir das Problem mit den Banditen gelöst«, erklärte Feldwebel Cobbo mit einem leichten Grinsen. Er hatte als Zeichen des Sieges die abgetrennte Hand des Anführers mitgenommen - desjenigen Mannes, der als alte Frau verkleidet gewesen war. »Wollt Ihr denn gar nichts ? Ihr habt das Recht des ersten Zugriffs auf die Beute.« »Nein.« Vielleicht war es Sanglants Gesichtsausdruck, vielleicht auch der Ton seiner Stimme - was es auch sein mochte, als sie jetzt eine Eskorte um ihn herum bildeten und weiterritten, stellte ihm niemand, nicht einmal Matto, mehr eine einzige Frage. Und die Stille tat ihm richtig gut. Der nächste Wachposten lag in Sichtweite des Palastes Angenheim. Feldwebel Cobbo übernahm das Reden und führte sie rasch an den Wachen vorbei. Zwei der Soldaten hatten ihn erkannt; er hatte es in ihren Gesichtern lesen können. Sie hatten ausgesehen, als hätten sie einen Bären in Menschengestalt gesehen. Aber Cobbo und seine Gruppe waren längst weitergeritten, bevor einer von ihnen etwas hatte sagen können. In der Hoffnung, vor den König oder einen seiner Verwalter gebracht zu werden, waren so viele Bittsteller gekommen, dass es auf den Feldern von Angenheim nur so von Menschen wimmelte. Der Gestank nach Schweiß, Exkrementen und verrottendem Essen hing schwer über dem Gelände. Das gewöhnliche Volk machte 121 rasch Platz, als Cobbo seine Gruppe durch die Menge der Zuschauer führte. Wie die meisten königlichen Stätten war auch Augenheim befestigt, obwohl es längst nicht so günstig lag wie Werlida, das auf einer Klippe oberhalb einer Flussbiegung lag. Immerhin konnte Augenheim mit Erdwällen und einem doppelten Ring aus Holzpalisaden aufwarten, die den niedrigen Hügel umgaben, auf dem der Palastkomplex errichtet worden war. Der Hofstaat war zu groß für die Befestigungen und dehnte sich darüber hinaus aus, bis zu den Feldern, wo die Bittsteller ihre Zelte und notdürftigen Unterstände errichtet hatten. Weiden hatten sich in Schmutz und Matsch verwandelt. Überall loderten Feuerstellen. Hausierer boten ihre Waren feil; Bettler streckten hustend ihre Schüsseln aus. Grubenhäuser, die bereits Generationen zuvor ausgegraben worden waren, waren gesäubert und von verschiedenen Fuhrleuten und jenen Bediensteten in Besitz genommen worden, die sich für die Zeit, die der König in Angenheim verbrachte, einen anderen Platz hatten suchen müssen. Ein kleines Kloster lag jenseits der Befestigungsmauern, doch auch das schien von dem Andrang der Besucher überschwemmt worden zu sein. Einen Augenblick lang bedauerte Sanglant die Brüder, die zweifellos von der Bürde, dem König und seinem
gewaltigen Hof gegenüber Gastfreundschaft walten zu lassen, völlig überfordert waren. Dann schließlich erreichten sie das letzte Tor. Wie das Glück es wollte, leistete Hauptmann Fulk an diesem Spätnachmittag selbst Wachdienst. Er trat vor und forderte Cobbo auf, anzuhalten; er tauschte ein paar scherzhafte Bemerkungen mit ihm aus, bevor sein Blick mitten im Satz auf Sanglant fiel. Sein Gesicht wurde augenblicklich aschfahl. Er sank auf die Knie, als hätte man ihn gefällt. Fünf andere Soldaten taten es ihm gleich. Sie gehörten zu den Männern, die in jener schicksalhaften Nacht vierzehn Monate zuvor Sanglant ihre Loyalität versichert hatten - damals, als der Prinz mit Liath von der Rundreise des Königs geflohen war. 122 »Ihr seid zurückgekehrt, Eure Hoheit.« Fulk begann vor Freude zu weinen. Sanglant stieg ab und bedeutete den Soldaten, wieder aufzustehen. »Ich habe Eure Treue mir gegenüber nicht vergessen, Hauptmann Fulk.« Als wäre es erst gestern gewesen, konnte er sich noch genau an die Namen und Heimatorte der Männer erinnern, die sie ihm in jener dunklen Nacht mitgeteilt hatten: Anshelm, Siegreich, Wracwulf, Sibold und Malbert. Er reichte Fulk die Zügel von Resuelto. »Ich möchte Euch jetzt bitten, für mein Pferd sorgen zu lassen. Und dieser Junge da benötigt einen Heiler.« »Natürlich, Eure Hoheit!« Sie sprangen eifrig auf, während Feldwebel Cobbo und dessen Männer mit offenem Mund dastanden. Matto sah sogar so aus, als würde er gleich vom Pferd fallen -sei es vor Schmerz oder vor Entzücken. Cobbo stellte jemandem in der Menge eine Frage, und eine Dienerin antwortete ihm verächtlich. »Du weißt nicht, wer das ist, Cobbo? Schäm dich!« »Wo ist mein Vater?«, fragte Sanglant den Hauptmann; er ignorierte das Gemurmel, das seine Ankunft ausgelöst hatte. »Beim Hochzeitsfest natürlich, Hoheit. Ich bitte Euch, lasst mich Euch hinführen.« Fulk reichte Sibold die Zügel und entdeckte erst jetzt Alia und das Baby, das auf Sanglants Rücken gebunden war. »Ich danke Euch.« Sanglant wirkte plötzlich besorgt, aber er musste weitergehen. »Ich möchte ihn sofort sehen.« Es dauerte einen Augenblick, ehe Fulk seine Verwunderung und Neugier abgeschüttelt hatte. Mit einem befangenen Lächeln und der Gehorsamkeit eines guten Soldaten führte er Sanglant zu der großen Halle in der Mitte des Palastkomplexes. Ein ständiger Strom von Bediensteten mit Tabletts voller Fleisch und Weinkelchen bewegte sich hinein und heraus, an der Menge der wartenden Bittsteller und der hoffnungsvollen Unterhalter vorbei, die sich um die Türen scharten. Die Menge teilte sich wie Butter unter einem Messer, als sie Fulk, Sanglant und Alia sahen. Aus irgendeinem Grund zog Alia 123 noch immer ihr Pony und die Ziege hinter sich her. Sofern sie ebenso nervös geworden war wie Sanglant, so war es ihr jedenfalls nicht anzumerken - weder am Gesichtsausdruck noch an der Haltung. Sie blickte allenfalls seltsam grimmig drein. Ihre kühle Miene betonte ihre nichtmenschlichen Gesichtszüge zusätzlich. Sanglant schritt durch die Tür und trat in das Dämmerlicht der Halle. Sogleich schlug ihm die Hitze der feiernden und lärmenden Menge entgegen, und es stank nach Feuchtigkeit. Da er mehr Zeit auf Feldzügen und in frischer Luft verbracht hatte als am Hof, hatte er fast vergessen, was es bedeutete, wenn fünfhundert Menschen sich dicht zusammengedrängt in einer Halle aufhielten, aßen, furzten, rülpsten und pinkelten. Angenheims Halle war so breit und hoch wie eine Kathedrale. An ihrem anderen Ende waren im oberen Teil der Wände Fenster eingelassen worden, die jetzt nicht verschlossen waren, sodass etwas Licht hereinfiel. Das Licht ergoss sich über den Tisch, an dem Henry saß, der über die Kunststücke dreier Jongleure lachte und sich einen Weinbecher mit einer hübschen jungen Frau teilte, die ein paar Jahre jünger als Sanglant zu sein schien. Sie trug eine Krone. Ein Banner hing an der Wand neben dem von Wendar: die Sonne von Aosta. »Wessen Hochzeit ist dies?«, wollte Sanglant von Fulk wissen, aber seine Frage war bei dem Lärm nicht zu verstehen. Er schritt weiter durch die Reihen von Bänken und Tischen, Fulk hinter sich. Kleine Windhunde wichen vor ihm zurück. Bedienstete sprangen zur Seite, schrien auf, als sie Alia hinter ihm entdeckten. Die Edelleute am Tisch waren stumm vor Verblüffung, als er an ihnen vorbeiging, aber vielleicht hatte Alia sie auch mit einem Bann belegt, der ihnen ihre Stimme genommen hatte. Gab es überhaupt etwas, das sie, die einen Pfeil dazu gebracht hatte, den Stamm eines Baums zu durchdringen, nicht zu Wege bringen konnte ? Stille breitete sich hinter ihnen aus. Eine freie Stelle war vor dem Platz des Königs geschaffen wor124 den, um den Unterhaltern die Möglichkeit zu geben, ihre Kunststücke vorzuführen. Die Bittsteller, die am Rand der freien Fläche kauerten, bemerkten ihn nicht, so sehr war ihre Aufmerksamkeit auf den König gerichtet. Sanglant konnte jetzt zum ersten Mal einen richtigen Blick auf ihn werfen, nur ab und zu von dem Treiben der Jongleure behindert. Henry blickte erstaunlich munter drein, errötete sogar ein wenig, als die junge Edelfrau neben ihm lachte, während Gold- und Silberbälle zwischen den drei Jongleuren aufblitzten. Sanglant benutzte seine Stiefel, um einen in Lumpen gekleideten Mann taktvoll aus dem Weg zu schieben. Der Mann blickte verblüfft auf und huschte zur Seite, verursachte damit eine Kaskade von
Bewegungen, als alle anderen Bittsteller gezwungen waren, ebenfalls ein Stückchen zur Seite zu rücken. Prinzessin Theophanu, die rechts vom König saß, bemerkte die Unruhe. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, wenngleich sie vielleicht ein wenig blass wurde und ihre Hände sich fester um den Becher schlössen, den sie gerade an den Mund führen wollte. Der Geistliche, der hinter ihr stand, taumelte, als hätte man ihm einen Stoß in die Kniekehle versetzt. Ein Pfad öffnete sich in der Menge, nur von den Jongleuren behindert, die weiterhin auf die Bälle konzentriert waren, die zwischen ihnen hin und her geworfen wurden. Sanglant duckte sich unter einem dieser Bälle, fing einen anderen mit der rechten Hand auf und warf ihn durch ihr unsichtbares Netz hindurch, als Fulk leise fluchte. Ein Ball traf den Hauptmann an der Schulter, fiel zu Boden und zerbrach auf dem kreisrunden Stück, das die Jongleure von Binsen befreit hatten, um ihre Kunststücke vorführen zu können. Das Pony, das bis hierher gezerrt worden war und aufgrund des Gestanks und der auf dem Boden ausgestreuten Binsen zu der Annahme gekommen sein musste, es wäre in einen Stall geführt worden, wählte genau diesen Augenblick, um lange und laut zu urinieren. Henry erhob sich mit vollendeter Anmut. Im gleichen Augen125 blick, da Henry ihn ansah, begriff Sanglant, dass sein Vater ihn bereits erkannt hatte, als er die Halle betreten hatte. Doch wie ein Hauptmann, der in einem Wald im Hinterhalt lag, um gegen räuberische Banditen vorzugehen, hatte auch der König beschlossen, es sich nicht anmerken zu lassen. »Prinz Sanglant«, sagte er mit einer kühlen Förmlichkeit, die Sanglant beinahe das Herz zerriss. »Du hast meine Frau noch nicht kennen gelernt, Königin Adelheid.« Offensichtlich war Henry noch immer wütend auf seinen ungehorsamen Sohn, denn dies war genau die Frau, die er so gern mit ihm hatte vermählen wollen. Sie war hübsch, sicherlich, aber wichtiger noch war die betörende Energie um sie, die gewöhnlich solchen Frauen zu Eigen war, die Gefallen an den Vorgängen im Bett fanden. Zweifellos war dies - abgesehen von der aostanischen Krone auf ihrem Haupt - auch der Grund für die leichte Röte auf den Wangen seines Vaters, für das Lächeln, das seine Lippen umspielte, während er den abtrünnigen Sohn betrachtete, der kaum besser als ein Bettler zurückgehumpelt kam. Wer legte da einen Hinterhalt für wen? Adelheid besaß die Unverfrorenheit und den Rang, ihn zu mustern, als wäre er einer ihrer Hengste. »Wirklich hübsch«, erklärte sie mit klarer Stimme, als hätte er sie mitten in einer Unterhaltung angetroffen, »aber ich habe keinen Grund, meine Entscheidung zu bereuen. Du hast viele Male bewiesen, wie sehr du dich als Herrscher eignest, Henry.« Henry lachte. Die Reaktion des Königs machte die Menge kühner, und einige der Anwesenden nahmen sich die Freiheit, nervös zu kichern, bis einige Männer sich ihren Weg durch die Menge gebahnt hatten und sich Sanglant zu Füßen warfen. »Hoheit!« »Prinz Sanglant!« Er erkannte Fulks Männer, die anscheinend dazu eingeteilt worden waren, an den Tischen zu bedienen oder in der Halle Wache zu halten. Heribert trat zu ihm, drängte sich durch den Haufen 126 von Bittstellern, die sich um den Tisch des Königs scharten, und kniete vor ihm nieder. Er ergriff Sanglants Hand und küsste sie. »Sanglant!«, rief er frohlockend, als wäre er außer Atem von zu hastigem Laufen. »Mein Prinz! Ich hatte schon gefürchtet -« »Nein, mein Freund«, sagte Sanglant. »Fürchte niemals. Ich bitte dich, erhebe dich und stell dich neben mich.« »Das werde ich tun«, erklärte der junge Geistliche, obwohl er etwas schwankte, als er wieder aufstand. »Wer sind diese Männer, die vorgetreten sind?«, fragte Henry. »Dient Bruder Heribert nicht Theophanu?« Theophanu hielt immer noch ihren Becher umklammert. Der alte Helmut Villam, der neben ihr saß, beugte sich zu ihr hinüber und flüsterte ihr etwas zu, aber sie hörte offensichtlich gar nicht hin. Sie nickte Sanglant lediglich ein einziges Mal kurz zu, bevor sie den Weinbecher abstellte. »Dies ist mein Gefolge, Eure Majestät«, sagte Sanglant schließlich. »Diese Männer haben mir ihre Treue geschworen.« »Ernähre ich sie denn nicht?«, fragte Henry mit liebenswürdiger Stimme. »Ich wusste nicht, dass du im Besitz der notwendigen Ländereien bist, um ein Gefolge unterhalten zu können, Sohn. Ganz sicher hast du jene gering geschätzt, mit denen ich dich hatte ehren wollen. Ich sehe nicht einmal einen Goldreif an deinem Hals, mit dem du dich als meinen Sohn ausweisen könntest.« Aber Sanglant hatte seine eigenen Waffen, und er wusste, wann er zum Gegenangriff ansetzen musste. Er trat beiseite und gab den Blick auf seine Mutter frei. Sie stand mitten in einem Lichtstrahl, der von den hohen Fenstern herabfiel. Ihre Haare, die zu einem Zopf geflochten waren, der so dick wie ihr Handgelenk war, schimmerten bronzefarben im Licht. Sie hatte die Ärmel von Liaths Tunika hochgerollt und trug wie alle anderen einen Gürtel um die Hüften, und obwohl ein Stück des Stoffes sich unter dem Gürtel verfangen hatte, bedeckte der bestickte Saum noch immer ihre Knöchel. Doch wenn sie auch solch gewöhnliche Kleidung trug, erstrahlte sie doch in einer Aura
127 des Fremdartigen, ähnlich wie ein geschmeidiger Leopard unter riesigen Auerochsen. Sie sagte nichts. Sie musste auch gar nichts sagen. »Alia!« Henry wurde sichtlich bleich. Aber er war schon zu lange König, um nicht zu wissen, wann Rückzug geboten war. Die steinerne Maske fiel über seine Miene und ließ die Fröhlichkeit in der Halle so durchdringend erstarren, als wäre Magie im Spiel gewesen. Die Ziege meckerte, gefolgt von absoluter Stille. Niemand schien den Windhauch zu bemerken, der durch die Gewänder und Umhänge der Edelleute strich, als Jerna die Halle erkundete. Schließlich sprach Alia. »Ich bin zurückgekommen, Henri«, verkündete sie, seinen Namen dabei auf salianische Weise aussprechend, »aber ich habe nicht den Eindruck, dass du dich so um das Kind gekümmert hast, wie du es mir versprochen hattest.« III Den Gürtel verdrehen 1 Da die Saat des Konflikts häufig zu seltsamen Zeiten Früchte trug, wurde nur zu leicht vergessen, dass sie schon vor langer Zeit gesät worden war und nicht plötzlich aus brachliegendem Boden erwuchs, wie es den Anschein haben mochte. Rosvita aus der Nordmark war seit zwanzig Jahren Geistliche und Beraterin des Hofes. Sie wusste, wann sie einen Schritt zurücktreten und den Dingen ihren Lauf lassen musste - und wann sie eingreifen musste, damit eine Krise nicht außer Kontrolle geriet. Obwohl König Henry sich erhoben hatte und stand, blieben die übrigen Anwesenden noch immer in verblüfftem - oder auch erwartungsvollem - Schweigen sitzen, während sich vor ihnen die Auseinandersetzung abspielte. Selbst der alte Helmut Villam, der links von Rosvita am Tisch des Königs saß, schien vor Erstaunen vollkommen reglos zu sein, den Mund leicht geöffnet, die Finger fest um den Fuß des Weinbechers geklammert, den er mit Prinzessin Theophanu teilte und den diese soeben erst wieder abgesetzt hatte. Rosvita bedeutete Bruder Fortunatus, ihren Stuhl zurückzuziehen, damit auch sie sich erheben konnte. Er eilte sofort zu ihr. Ob129 wohl er wie alle anderen kaum seinen Blick von dem Vater, der Mutter und dem Kind abwenden konnte, deren Auseinandersetzung sich auf dieser öffentlichen Bühne entwickeln würde, bewährte es sich jetzt, dass er von Rosvita persönlich ausgebildet worden war. Es gab viele Züge, die sie bei einem Geistlichen, der ihr diente, tolerieren konnte - Ungehorsamkeit gehörte jedoch gewiss nicht dazu. »Dies ist die Frau, von der wir so viel gehört haben!«, murmelte er ihr ins Ohr, als sie sich erhob. »Mögen Gott uns schützen!« Sein Blick heftete sich auf die Aoi-Frau. Er war nicht der Einzige in der Halle, der sie beäugte. Ihre Gesichtszüge waren beeindruckend, wenn auch nicht hübsch, und obwohl ihr Haar den Glanz von polierter Bronze hatte, trug sie es zurückgebunden in einem komplizierten Knoten, der ihr eher etwas Seltsames als etwas Königliches verlieh. Ihr Blick war wild und gebieterisch, beinahe streitlustig. Sie hatte keine Angst, Henry in die Augen zu sehen, und ihre stolze Haltung ließ vermuten, dass sie sich selbst als Herrscherin und Henry als ihren Untertan betrachtete. »Ich bin zurückgekommen, Henri«, verkündete sie, seinen Namen dabei auf salianische Weise, mit dem stimmlosen »h« und einem verstümmelten »ri«, aussprechend. »Aber ich habe nicht den Eindruck, dass du dich so um das Kind gekümmert hast, wie du es mir versprochen hattest.« »Ich bitte Euch, Eure Majestät«, sagte Rosvita weich in die Stille hinein, die dieser ungeheuerlichen Anklage folgte, »lasst Stühle herbeischaffen, damit Eure Besucher sich setzen und etwas zu sich nehmen können. Sie müssen eine weite Reise zurückgelegt haben. Der Anblick von Speisen und Getränken ist Reisenden stets willkommen. Ich selbst werde Prinz Sanglants Mutter meinen Stuhl anbieten und sie bedienen.« Angestrengt starrte Henry auf die fremdländische Frau, die er einmal »Geliebte« genannt hatte - und von der allgemein behauptet wurde, dass er sie geheiratet hätte, hätte er die Möglichkeit dazu gehabt. Schließlich erhob sich Königin Adelheid mit kühler, 130 sicherer Haltung und deutete auf Rosvitas Platz rechts von Helmut Villam. Das zählte zwar nicht wirklich zu ihren Vorrechten, aber Adelheid war weder eine Närrin noch feige. »Bringt einen Stuhl für Prinz Sanglant, damit er neben mir Platz nehmen kann«, sagte sie mit ihrer hohen, klaren Stimme. »Gewährt seiner Mutter die Ehre, die ihr zusteht und die unsere Pflicht ist, denn dieses Kind war ihr Geschenk an meinen Ehemann, durch das sein Recht als Herrscher von Wendar und Varre begründet wurde.« Sanglant trat vor. »Ich habe ein Kind.« Seine Stimme klang rau, als würde er unter großen Schmerzen leiden, aber das war schon immer so gewesen. Jahre zuvor hatte er sich im Kampf eine Verletzung an der Kehle zugezogen. Er löste das Bündel auf seinem Rücken, wickelte das Leinentuch auseinander und hielt einen Augenblick später ein kleines Kind in den Armen, das süßer war als alle, die Rosvita bisher gesehen hatte, mit runden Wangen, dunkler Hautfarbe und hellen, blauen Augen. »Da, da«, sagte Gnade in der typischen, anmaßenden Weise eines Kindes in diesem Alter. Sanglant stellte sie auf den Boden, und sie machte ein paar schwankende Schritte auf
den König zu, taumelte, verlor das Gleichgewicht und ließ sich auf den Hintern fallen. Sie hob die Hand, deutete auf Henry und meinte mit despotischer Inbrunst: »Bäh! Bäh!« Sanglant hob sie auf, schritt auf Henry zu, beugte sich über den Tisch und legte ihm das Kind in die Arme. Der König wehrte sich nicht einmal. Viele kleine Kinder hätten vor Wut oder Angst geschrien, aber das kleine Mädchen streckte lediglich die Hände aus, bekam den Bart des Königs mit den Fingern zu fassen und zupfte daran. »Bäh!«, rief Gnade erfreut aus. »Jongleure!«, rief Henry heiser. Er setzte sich hin und leerte den Weinbecher in einem Zug, während das Baby versuchte, auf seine Schulter zu klettern, um nach der glänzenden goldenen Krone zu greifen, die auf seinem Kopf lag - nicht die Königskrone 131 selbst, die zu schwer und zu formal für ein Fest war, sondern seine zweite Krone, ein schlanker Reif aus Gold, den er dann trug, wenn ein geringerer Grad an Formalität gefragt war. Prinz Sanglant lächelte, aber es war ein kühles Lächeln. Er drehte sich um und warf den Silberball dem nächststehenden Jongleur zu. Der arme Mann zuckte verblüfft zurück, doch seine Hand reagierte instinktiv, und es gelang ihm, den Ball aufzufangen. Die Halle erwachte in diesem Augenblick wieder zum Leben, als würde die Dämmerung einsetzen: Leute riefen nach Speisen, die Jongleure kehrten zurück, um ihre wagemutigen Kunststücke vorzuführen; die Soldaten, die ins Licht der Öffentlichkeit getreten waren und unwiderruflich ihre Loyalität gegenüber Prinz Sanglant kundgetan hatten, erhoben sich und warteten auf seine Befehle. Sanglant sprach leise mit Hauptmann Fulk, woraufhin der seine Männer freundlich, aber bestimmt wegschickte, die Zügel des Ponys und der Ziege in die Hand nahm und sich mit den beiden Tieren zurückzog. Sanglant trat indessen vor und nahm seinen Platz zur Linken von Adelheid ein. Der junge Geistliche, Heribert, der so mysteriös im AlfarGebirge aufgetaucht war, wich weiterhin nicht von Sanglants Seite. Er war es, der die Aufgabe übernahm, den Prinzen zu bedienen, obwohl er zuvor noch Theophanu bedient hatte. Die Miene der Prinzessin war so ausdruckslos wie Stein. Sie erhob sich und trat zu Sanglant, um ihm einen Kuss auf beide Wangen zu geben, und er zog sie etwas fester an sich und flüsterte ihr etwas zu, das erstaunlicherweise ein kurzes Lächeln auf ihr Gesicht zauberte - rasch und vergänglich wie das Flattern eines Schwalbenflügels. »Geht zu Prinzessin Theophanu«, sagte Rosvita mit gedämpfter Stimme zu Bruder Fortunatus. Er eilte davon und stellte sich hinter den Stuhl der Prinzessin, damit auch sie jemanden von angemessenem Rang hatte, der sie bedienen konnte jetzt, da Bruder Heribert offensichtlich zu ihrem Halbbruder übergewechselt war. Sanglant wandte seine Aufmerksamkeit der charmanten Adelheid zu, während Henry alle Hände voll mit dem unruhigen, temperamentvollen Kind zu tun hatte. Rosvita begriff, dass sich der 132 Prinz in den vierzehn Monaten, die er der Rundreise des Königs ferngeblieben war, grundlegend geändert hatte. Sie hatte gesehen, wie er sich auf dem Schlachtfeld verhielt, und sie hatte ihn auch bei den kleineren Geplänkeln gesehen, die auf dem glatten Parkett des Hofes stattfanden. Niemals zuvor jedoch hatte sie erlebt, dass Sanglant auf dem Feld der Politik taktisch vorgegangen wäre, wie er es jetzt ganz offensichtlich tat. Aber natürlich hatte er zuvor auch noch keine Frau und kein Kind gehabt. Wo war Liath überhaupt? »Euch will ich danken, Frau«, sagte diejenige, die als Alia bekannt war und jetzt neben sie trat. »Ihr seid eine von den Gottfrauen, ja?« Es dauerte einen Augenblick, ehe Rosvita den Ausdruck verstanden hatte. »Ja, ich bin eine Geistliche. Mein Dienst gilt Gott und König Henry. Ich bitte Euch, setzt Euch hierher. Lasst mich Euch Wein eingießen.« Doch die fremde Frau blieb stehen und musterte Rosvita mit einem Blick, unter dem sie sich so fühlte, wie sich ein Insekt fühlen musste, dass kurz davor stand, von jemandem totgeschlagen zu werden. Alia war kleiner als Rosvita und kräftig gebaut; sie hatte die gleiche, beherrschte Energie wie ein Krieger, der zum Stillsitzen gezwungen war. Alia lächelte nicht, aber ihre Miene änderte sich schlagartig. »Ihr habt wie die Ältesten gesprochen, als Ihr Euch erhoben habt, um uns Gastfreundschaft zu gewähren«, meinte sie. »In dieser kurzen Zeit wird es keinen Kampf zwischen Henri und seinem Sohn geben.« »Das hoffe ich«, pflichtete Rosvita ihr bei, aber in Wirklichkeit überraschte sie die Bemerkung. Sie wusste nicht, was sie von der Aoi-Frau zu erwarten hatte. Sie wusste in der Tat gar nichts über die Aoi, außer den Legenden, die in alten Manuskripten verborgen lagen, und den Geschichten, die nachts in den Langhäusern der gewöhnlichen Leute beim Feuer erzählt wurden. Wie so viele andere hatte auch sie zu glauben begonnen, dass die Aoi nur eine Legende waren, ein Traum, der von halb vergessenen Erinnerungen an die Zeit des alten Dariyanischen Reiches verstärkt wurde. Es 133 war jedoch unmöglich zu leugnen, was sie mit eigenen Augen sah. »Setzt Euch doch, ich bitte Euch.« In solchen Momenten bot es sich an, auf grundlegende Formalitäten zurückzugreifen. »Ich möchte Euch gern etwas Wein eingießen.« »Euch werde ich meinen Rufnamen geben, denn Ihr seid weise genug, ihn umsichtig zu benutzen«, sprach Alia, ohne irgendeinen Hinweis darauf zu geben, dass sie vorhatte, sich hinzusetzen. »Ich werde bei meinem Volk Uapeani-kazon-Ransi alari genannt, aber wenn das für Eure Zunge zu kompliziert ist, genügt auch Kansi-a-lari.«
Rosvita lächelte höflich. »Mit Eurer Erlaubnis werde ich Euch also Kansi-a-lari nennen. Gibt es auch einen Titel, der Euch angemessen ist? Ich bin mit den Gepflogenheiten Eures Volkes nicht vertraut.« »Kansi-a-lari ist mein Titel, wie Ihr es ausdrückt.« Mit diesen Worten ließ sie sich mit der vorsichtigen Anmut einer Leopardin nieder, die eine Kiste betrat, die auch ihr Käfig sein mochte. Das Fest ging weiter; Platten voll mit dampfendem Rindfleisch, Wildbret und Schweinefleisch wurden von den Küchen der Nebengebäude gebracht, und der Wein floss in Strömen. Bittsteller schlurften in Wellen vor und wurden mit einem Urteil oder einer Münze oder einem Happen vom Teller des Königs wieder auf den Weg geschickt. Ein Poet, der in der Hofkapelle des salianischen Königs ausgebildet worden war, gab ein langes Gedicht zum Besten, in dem er die Taten und den Ruhm des großen Kaisers Taillefer, der sich als König von Salia erhoben und nach der kaiserlichen Krone von Darre gegriffen hatte, rühmte. Kaiser Taillefer stand einer Reihe großer Prinzen und Fürsten vor, denn kein Herrscher in irgendeinem Land hatte in den hundert Jahren seit seinem Tod je wieder genug Macht gehabt, um es mit seinen Errungenschaften aufzunehmen. Jedenfalls nicht, bevor Henry durch die Heirat mit Adelheid sein Königreich von Wendar und Varre mit den Ländereien von Aosta verbunden hatte, in deren Grenzen auch die heilige Stadt Darre lag. Natürlich hatte der Poet den toten Kaiser Tail134 lefer auch deshalb gepriesen, um dem lebenden König, Henry, zu schmeicheln, dessen Ziel, sich selbst den Titel »Heiliger Dariyanischer Kaiser« zu verschaffen, kein Geheimnis am Hof war. Seht! Die Sonne erstrahlt nicht heller als der Kaiser, der die Erde mit seiner grenzenlosen Liebe und seiner großen Weisheit erleuchtet. Denn während die Sonne zwölf Stunden Dunkelheit kennt, scheint unser Herrscher ewig wie ein Stern. Wenn auch die Ankunft von Prinz Sanglant und seiner Mutter niemals in Vergessenheit geriet, wurde sie doch der vertrauten Heiterkeit des Festes einverleibt. Mehr noch, sie war eine Bereicherung des Gesprächsstoffs, während das Bankett weiterging und der Poet fortfuhr. Erführt die Gesellschaft an und macht den Weg frei, sodass alle folgen können. Mit schweren Ketten bindet er die Ungerechten, und mit einem steifen ]och belegt er die Stolzen. Schließlich war es der fünfte Tag des Festes, und selbst dem ausgelassensten Zecher mochte seine wachsende Unruhe nach endlosen Stunden des Vergnügens und der Gefräßigkeit vergeben werden. Auf seltsame Weise war Rosvita dankbar dafür, dass sie stehen konnte, statt sitzen zu müssen. Sie kümmerte sich so unaufdringlich wie möglich um Alia, als wollte sie sie weder erschrecken noch ihr einen Grund geben, sich beobachtet oder bedroht zu fühlen. Er ist der Quell der Anmut und der Ehre. Seine Errungenschaften haben ihn in allen vier Ecken der Erde berühmt gemacht. Die Aoi-Frau lud nicht gerade zur Konversation ein. Der junge Edelmann Fridebraht, der rechts von ihr saß, war offensichtlich aufgrund ihres seltsamen Äußeren und ihres stürmischen Blickes viel zu ängstlich, um auch nur ein einziges Wort herauszubringen. Selbst der alte Villam, der Alia in ihrer kurzen Zeit am Hof viele Jahre zuvor gekannt hatte und dem es bisher nie an Geist oder Mut gefehlt hatte, einer attraktiven Frau zu schmeicheln, rang sich nur ein paar wenige Bemerkungen ab, bevor er angesichts ihres offensichtlichen Desinteresses seine Bemühungen aufgab. Alia beobachtete den König, den Hof und gelegentlich auch 135 ihren Sohn. Sie aß und trank nur wenig. Auf diese Weise ging das Fest ohne größere Zwischenfälle weiter. Der Poet beendete schließlich seine Lobpreisung, und ein Geistlicher trat vor und sang mit wohlklingender Stimme »Das beste aller Lieder«, das Hochzeitslied, das aus dem alten heiligen Buch Essit stammte. Mein Geliebter gehört mir, und ich bin sein. Lass mich das Siegel deines Herzens sein und auch das Siegel deiner Hand. Der bevorzugte Adler des Königs, Hathui, winkte Rosvita zu. »Seine Majestät wird jetzt die Halle verlassen.« »Was haltet Ihr von dieser neuartigen Entwicklung?«, fragte Rosvita. Obwohl Hathui die Tochter von Gewöhnlichen war, besaß sie ein scharfes Auge und das Vertrauen des Königs. »Sie kommt unerwartet.« Hathui lachte angesichts der Absurdität ihrer eigenen Worte. Henry hatte Gnade inzwischen auf die Knie genommen und fütterte sie mit kleinen Happen von ihm höchstpersönlich zu Brei zermanschten Speisen von dem Teller, den er mit seiner Königin teilte. »Ich glaube, es wäre besser, wenn der König sich in seinen eigenen Gemächern mit der Sache beschäftigt - nicht hier in der Öffentlichkeit vor all den Anwesenden.« Als hätte er die Bemerkung des Adlers gehört, erhob sich Sanglant, um einen Toast auf das frisch vermählte Paar auszubringen. Trotz seiner gewöhnlichen Kleidung hatte er die Haltung eines Prinzen und das stolze Gesicht eines Mannes, der Loyalität und Gehorsamkeit von denen fordert, die ihm folgen. Er war es gewohnt, seine Stimme zu erheben, sodass sie trotz des Lärms der Menge zu hören war. »Lasst diese Verbindung von vielen Gnaden begleitet sein«, sagte er. Als die Hurra-Rufe abebbten, fuhr er fort. »Aber lasst mich eine ganz besondere Gnade erwähnen, eine Gnade, die unser gesegneter Herrscher und mein geliebter Vater, König Henry, in seinen Händen hält.« Stille breitete sich in der Halle aus. Die Wachen an den Türen
136 reckten sich, um besser verstehen zu können. Selbst die Bediensteten verharrten mitten in ihren Aufgaben. Beim Klang der väterlichen Stimme stellte sich das Baby auf Henrys Oberschenkel und krähte laut: »Da! Da!« und man konnte sich schon in diesem Augenblick vorstellen, dass diese Stimme einmal inmitten von Kampflärm erklingen würde. Henry lachte, während viele der Anwesenden anerkennend kicherten oder sich etwas zuflüsterten, gespannt auf das, was der Prinz vorhatte. Dass Bastarde Kinder zeugten, war nichts Ungewöhnliches, aber es war nicht üblich, ein solches Kind der Aufmerksamkeit des gesamten Hofes zu präsentieren. Eine Fliege summte aufdringlich an Rosvitas Ohr. Sie verjagte sie, während Sanglant weitersprach. »König Henry hält in seinen Armen meine Tochter, die ich Gnade genannt habe, wie es mein Recht als ihr Vater ist.« »Und eine Gnade ist sie in der Tat, Sohn«, erwiderte Henry. Obwohl ihn die plötzliche Ankunft von Sanglant und Alia überrascht hatte, war er unter dem Einfluss des Kindes etwas weicher geworden. Zumindest schien es so. Er war ein raffinierter Kämpfer, und unter solchen Umständen vergaß man nur zu leicht, dass sein Zorn, wenn er einmal entbrannt war, nur langsam wieder erlosch. »Es ist nur weise, wenn du jetzt, da du eine solche Verantwortung trägst, zu mir kommst und um Vergebung bittest. So, wie du gekleidet bist - als gewöhnlicher Soldat und sogar ohne Goldreif als Zeichen deiner königlichen Abstammung -, kannst du wohl kaum davon ausgehen, ein Gefolge kleiden und ernähren zu können. Ganz sicher hat deine Tochter etwas Besseres als das Leben eines Umherziehenden verdient.« Adelheids Lächeln wurde fast schroff, als sie Sanglant anblickte und darauf wartete, wie er auf diesen Hieb reagieren würde. Der Prinz leerte seinen Becher in einem Zug, und eine leichte Röte überzog seine bronzefarbenen Wangen. Als er sprach, lag eine leichte Schärfe in seiner Stimme. »Für mich erbitte ich gar nichts, Majestät. Ich dachte, das hätte ich deutlich gemacht, als ich 137 den Ehrengürtel zurückgegeben habe, den Majestät mir selbst an meinem fünfzehnten Geburtstag angelegt hat. Was ich jetzt trage, habe ich mir durch eigene Anstrengungen erworben. Nein, meine Rückkehr zum Hof dient nicht meinem eigenen Nutzen.« Sie waren wie zwei Hunde, die sich gegenseitig abschätzend anknurrten, bevor sie zubissen. »Wenn du nicht gekommen bist, um Vergebung von mir zu erbitten, warum bist du dann hier?«, verlangte Henry zu wissen. »Ich bin um meiner Tochter willen hier. Ich erbitte nicht mehr als das, was ihr als der letzten rechtmäßigen Nachfahrin von Kaiser Taillefer zusteht.« Taillefer. Hundert Jahre war er tot, und auch sein Geschlecht war seither ausgestorben. Er hatte kein Kind gezeugt, das nach ihm hätte herrschen können, und so war das Kaiserreich nach seinem Tod zerfallen. Rosvita verstand jetzt alles, was ihr bisher nicht klar gewesen war: das Rätsel der schwangeren Königin Radegundis, die nach dem Tod ihres Ehemannes Taillefer ins Kloster geflohen war, das Geheimnis von Mutter Obligatia und die kryptischen Worte von Bruder Fidelis; ganz besonders aber begriff sie den unerklärlichen Glanz, den Liath ausgestrahlt hatte und durch den sie den Eindruck vermittelt hatte, weit mehr zu sein als eine gewöhnliche Botin des Königs. »So viele verschiedene Menschen scheinen so viel Interesse an einem einfachen Adler zu haben«, hatte der König etwa ein Jahr zuvor gesagt, als sie vor ihn geführt worden war, um sein Urteil zu erwarten. Aber ein Kind aus dem Geschlecht des Kaisers hätte sicherlich ein bisschen von Taillefers legendärem Glanz und Ruhm behalten - von der Aura der Macht, die ihn stets eingehüllt hatte. Henry starrte seinen Sohn an. »Willst du damit andeuten, dass der Adler, mit dem du weggelaufen bist, von Taillefer abstammt?« Sanglant erhob die Stimme, als er antwortete, aber nicht, damit sein Vater ihn besser hören konnte, sondern damit sämtliche Edelleute und Bedienstete in der Halle ihn ebenfalls hören konnten. 138 »Wer hier ist bereit zu bezeugen, dass ich eine rechtmäßige und bindende Heirat mit der Frau namens Liathano eingegangen bin?« Die Soldaten, die neben der Tür gestanden hatten, traten jetzt vor. »Ich kann es bezeugen, Eure Hoheit!«, rief einer, und ein Zweiter, ein Dritter und ein Vierter taten es ihm gleich. Als ihre Rufe verklungen waren, kam Hauptmann Fulk näher. Seine Zuverlässigkeit war nur zu bekannt; er hatte Theophanu auf ihrem Weg nach Aosta begleitet und seine Taten während dieses Unternehmens - in dessen Verlauf sie unter anderem Adelheid aus den Fängen von Edelmann Eisenkopf befreit hatten - hatten ihm eine Menge Ruhm eingebracht. »Ich bezeuge, Eure Hoheit, dass Ihr aus freiem Willen vor Gott und freigeborenen Zeugen Eure Absicht erklärt habt, Euch durch die Eheschließung an die Frau Liathano zu binden«, rief er. »Dann gibt es also kein Hindernis«, sagte Sanglant triumphierend. »Liathano ist die Urenkelin von Taillefer und Radegundis, geboren aus einer rechtmäßigen Verbindung und daher selbst rechtmäßig und kein Bastard. Deshalb trägt auch sie jetzt den Goldreif, den einst ich getragen habe. Auf diese Weise ehre ich ihr königliches Geschlecht und ihr Recht, sich als Abkömmling von Taillefer zu bezeichnen.« Er blickte weder seine Mutter
noch seinen Vater an, als er dies sagte, sondern die Menge. Einige der Anwesenden hatten sich erhoben, um besser sehen zu können, was andere weiter hinten veranlasst hatte, sich auf die Bänke oder sogar auf die Tische zu stellen. Die Luft in der Halle schien zu knistern; die Stimmung der Menge bebte vor Energie, wie sie einem Gewitter vorauszugehen pflegt. Das Lächeln von Königin Adelheid hatte jetzt einen starren Ausdruck angenommen, und für einen Augenblick wirkte sie sogar verärgert. »Das ist unglaublich«, sagte Henry. »Taillefer ist gestorben, ohne einen rechtmäßig geborenen Sohn hinterlassen zu haben, der ihm hätte nachfolgen können, wie es in jenen Tagen in Salia üblich war. Er hat keine Nachfahren.« 139 »Königin Radegundis ist schwanger gewesen, als Taillefer starb.« Sanglant deutete auf den unglücklichen Poeten, der die feiernde Menge gerade erst mit Taillefers Heldentaten unterhalten hatte. »Ist das nicht so, Poet?« Der arme Mann konnte nur nicken, als Sanglant Zeilen in die Halle warf, die Rosvita einmal in ihrer kostbaren Vita von St: Radegundis gelesen hatte, die ihr durch Bruder Fidelis zugekommen war. »>Noch immer hochschwanger, kleidete Radegundis sich und ihre engste Kameradin, eine Frau namens Clothilde, in die Gewänder armer Frauen. Sie zog das Exil den Qualen der Macht vor.< Und sie hat Zuflucht im Kloster von Poiterri gefunden. Was ist aus dem Kind geworden, das Radegundis unter ihrem Herzen getragen hat, Majestät?« »Das weiß niemand«, sagte Hathui plötzlich anstelle des Königs. »Niemand weiß, was aus dem Kind geworden ist.« »Ich weiß es.« Rosvita trat vor. War es illoyal von ihr zu sprechen? Doch sie konnte weder lügen noch etwas zurückhalten, wenn es um so viel ging. Und wenn schon nicht aus anderen Gründen, so schuldete sie zumindest dem Gedenken an Bruder Fidelis die Wahrheit. »Ich weiß, was aus dem Kind geworden ist, das Radegundis und Taillefer geboren wurde, denn ich habe in der Stunde seines Todes in den Bergen oberhalb vom Kloster Herford mit ihm gesprochen. Er nannte sich Bruder Fidelis, und abgesehen von einem einzigen Jahr, in dem er sein Gelübde aus Liebe zu einer jungen Frau vernachlässigt hat, verbrachte er sein ganzes Leben als Mönch im Dienste Gottes. Fidelis hat diese Worte in seiner Lebensgeschichte von St. Radegundis, geschrieben: >Die Welt trennt jene, die einst kein Raum trennte.<« Sie hielt inne, um sicherzugehen, dass auch alle die Bedeutung ihrer Worte erfassten. »Und ist es nicht in der Tat so, dass ein Kind und seine Mutter von einem Körper, einem Stück sind, bis das Kind geboren wird? Was Gott bei der Geburt trennt, kann auch durch die Intrigen der Welt getrennt werden.« Als das Gemurmel in der Halle nachließ, fuhr sie fort. »Ich habe auch mit der Frau gesprochen, die er geheiratet hat und die ein von 140 seinem Samen gezeugtes Kind geboren hat. Sie ist jetzt eine alte Frau, und sie lebt im Verborgenen, aus Furcht vor jenen, die sie dieses Geheimnisses wegen suchen. Ich glaube, dass ihre Geschichte wahr ist, dass sie wirklich eine kurze Zeit mit Fidelis - dem Sohn von Taillefer und Radegundis - verheiratet gewesen ist und dass aus dieser Verbindung mit Fidelis eine Tochter hervorgegangen ist. Es ist möglich, dass diese Tochter überlebt hat und dass sie selbst ein Kind geboren hat.« »Sie hat in der Tat überlebt«, sagte Sanglant mit grimmiger Stimme. »Und sie hat in rechtmäßiger Ehe ein Kind geboren, das von einem in Unehre gefallenen Frater stammt, der die Überlieferungen der Mathematiki studiert hatte. Er hat das Kind Liathano genannt. Der Rest ist bekannt.« »Wo ist dann aber Liath?« Henry machte eine Geste, die die Halle umfasste, als erwartete er, dass sie aus dem Verborgenen hervortrat. »Wieso kehrst du mit diesem erstaunlichen Anspruch zu mir zurück - aber ohne sie?« In diesem Augenblick fielen all der Stolz, sein Ärger und sein Selbstvertrauen von ihm ab. Sanglant begann leise zu weinen, und ein paar Tränen rollten seine Wangen herab. Er unternahm jedoch keinerlei Anstrengung, sie wegzuwischen. Zu weinen war immerhin das Recht und die Pflicht eines Mannes. »Ich weiß nicht, ob sie tot ist oder lebt«, flüsterte er heiser. »Man hat sie mir weggenommen. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist.« 2 Als Liath die Treppe hinabstieg, verblasste das Licht rasch, doch so lange noch ein schwacher Schein vorhanden war, konnte sie die Wände und Stufen mit Hilfe ihrer Salamander Augen erkennen. Es war erstaunlich kalt. In bestimmten Abständen drang das Stimmengemurmel die Treppe herauf, wie ein Wind aus dem Abgrund. 141 Sie stiegen eine lange Zeit immer weiter hinab. Ab und zu blieb sie stehen und betastete das Mauerwerk auf der Suche nach den Fugen zwischen den Steinen, doch sie fand nur die rauen, gleichmäßigen Wände der ausgehöhlten Erde. Schließlich hörte die Treppe auf, und sie gingen einen kurzen, runden Tunnel entlang. Er öffnete sich zu einer breiten Kammer, deren Inneres durch eine kleine Öffnung weit oben beleuchtet wurde. Pflanzen waren durch diese Öffnung nach unten gewachsen; Wurzeln streckten sich in die Luft und reckten sich am Dach entlang, versuchten, an dem Felsen Halt zu finden. Staub wehte herab, bevor er in den Schatten verschwand. Der weiche Boden stieg zwei weitere Schritte in eine ovale Vertiefung hinab, die den Versammlungsplatz markierte, an dem die Ratsmitglieder sich versammelt hatten. Die Vielfalt ihrer seltsamen Kleider war sehr befremdlich: Hemden mit bunten Mustern, Federschmuck in ihren Haaren, mit Perlen und bunten Steinen
besetzte Arm- und Beinschienen. Die meisten trugen einen Umhang, der an einer Schulter befestigt war und bis zur Mitte des Oberschenkels herabhing. Die Frauen trugen einen schweren Jadering in ihrer Nase bis auf eine. Sie hatten exotische Gesichter, breite Wangenknochen und einen rötlich-bronzefarbenen Teint. Sie sahen überhaupt nicht wendisch aus, aber sie konnte Sanglants Herkunft in jedem einzelnen ihrer Gesichter erkennen. Es waren nicht mehr als dreißig, und sie warteten in einer Kammer auf sie, die ganz offensichtlich groß genug war, um eine Zuhörerschaft von mehreren Hundert aufzunehmen. Die Kammer wirkte jedoch auch so nicht leer, als würden die Schatten derer, die in der Vergangenheit hier gestanden hatten und die in der Zukunft hier stehen würden, den leeren Raum ausfüllen. Stille herrschte. Sie stand unterhalb der Schwingen eines Adlers, dessen Abbild aus dem Steinbogen über dem Tunneleingang gehauen worden war. Sämtliche Anwesende, ob sie standen oder saßen, musterten sie eingehend. Doch als Liath die ernsten und sogar feindseligen 142 Mienen mit dem giftigen Blick von Hugh verglich, breitete sich nicht das gleiche hilflose Entsetzen in ihr aus. Sie war durch das Feuer gegangen und hatte überlebt. Ältester Onkel rührte sich hinter ihr und hustete leise. In der Mitte des Ovals war ein Adler buchstäblich aus dem Steinboden gemeißelt worden. Darauf saß eine hochschwangere Frau mit einem herrlichen Federkleid als Umhang. Ihre Haare waren zu einem Knoten zusammengebunden. Als Einzige der Frauen trug sie keinen Jadering in der Nase. Hinter ihr stand das goldene Rad, das sich nicht länger drehte, denn in dieser steinernen Höhle wehte kein Wind. Die Smaragdfedern, die das Rad schmückten, glühten in einem ganz eigenen Licht. Federkleid hob eine Hand und winkte Liath heran. »Ich bin hier«, erklärte Liath als Antwort auf die gelassene Geste. Sie machte einen großen Schritt hinab, dann einen zweiten, bis sie auf gleicher Ebene mit den anderen stand. Sie hob ihre Hände und öffnete sie, um ihnen zu zeigen, dass ihre Handflächen leer waren. »Ich komme unbewaffnet, wie es bei euch Brauch ist. Ältester Onkel kommt mit mir, um zu zeigen, dass ich eurem Volk keinen Schaden zufügen will. In der Sprache meines Volkes werde ich Liathano genannt, und ich suche Wissen -« Sie erwachten zum Leben. »Sie soll ausgestoßen werden!«, rief Weißfeder, die Frau, die gekommen war, um Ältester Onkel aufzusuchen. »Wie kann sie es wagen, den Namen unseres alten Feindes in dieser Kammer auszusprechen?« Das Schild aus weißen Federn in ihren Haaren schwankte wie zur Antwort auf ihren Zorn; ihre Worte zogen andere nach sich, und es erhob sich ein Chor aus verschiedenen Stimmen, doch der Austausch ging zu rasch vonstatten, als dass Liath hätte erkennen können, wer welche Worte sprach. »Es ist Verrat! Tötet sie sofort!« »Nein, ich möchte sie erst sprechen hören!« »Wir können keinem Kind trauen, dass von einem Menschen abstammt —« 143 »Wir sind wenige, und sie sind viele. Wenn wir sie nicht jetzt zu verstehen suchen, werden wir alle untergehen.« »Ich möchte wissen, was Ältester Onkel vorhat, dass er sie ohne Erlaubnis des Rats hierher bringt. Die Menschenfrau hat keine Bedeutung für uns, wie schlimm ihr Name auch sein mag. Es ist Ältester Onkel, der sich unserem Urteil stellen muss.« Jetzt trat einer von ihnen streitlustig vor. Er war schwer zu übersehen, denn er war ein erstaunlich attraktiver Mann, gekleidet in einen raffiniert gebundenen Lendenschurz und einen schlichten, hüftlangen Mantel. Er trug eine Holzmaske, die eine fauchende Katze zeigte und die er jetzt zurückgeschoben hatte, sodass sie auf seinem kurz geschnittenen Haarschopf saß. Seine Stimme erklang in einem kraftvollen Bariton. »Ich sage euch, Schwestern und Brüder: Ihr Blut soll das Erste sein, das wir vergießen. Die Erinnerung an jene, die geholfen hat, uns den Untergang zu bringen, wird uns stärken, während wir uns darauf vorbereiten, wieder zurückzuholen, was einst uns gehörte.« »Still.« Sofort schwiegen alle. Federkleid blieb weiter auf ihrem steinernen Platz. Ihre überkreuzten Beine berührten ihren riesigen Bauch, der zur Hälfte durch den nach oben gereckten Kopf des steinernen Adlers verdeckt wurde. Der Federkleid-Umhang ergoss sich über die Schwingen des Vogels und gab der Frau den Anschein eines Wesens, das zugleich von Menschen und von Vögeln abstammte. Unter ihrem leichten Hemd zeichneten sich die für eine schwangere Frau typischen runden und vollen Brüste ab, und Liath wurde plötzlich von einem solchen Neid erfasst, dass sie Tränen zurückdrängen musste. Wo war Gnade jetzt? Wer kümmerte sich um sie? Federkleid fuhr mit einer Hand über ihren Bauch. »Vergesst nicht, dass dieses Kind das Erste sein wird, das seit unserer Verbannung auf der Erde geboren werden wird. Soll es geboren werden, um dann nichts als Krieg kennen zu lernen oder soll es auch Frieden kennen lernen?« »Du hast dir den Rat der Ungeduldigen zu Herzen genommen«, 144 fauchte Katzenmaske. »'Sie hat ihre Loyalität ihrem eigenen Volk gegenüber aufgegeben, um unter den Menschen zu wandeln. Du weißt, was sie dort getan hat!«
»Du bist nur wütend, weil sie deinen Speer aus ihrem Haus geworfen hat!«, rief ein anderer junger Mann und lachte unfreundlich. Er trug eine Maske in Form eines Echsenkopfes, verziert mit einer leicht gebogenen Schnauze. »Du bist sehr stolz auf diesen Speer, und der Gedanke ärgert dich, dass ein anderer Mann - nicht irgendein anderer Mann, sondern ein Mensch - möglicherweise die Erlaubnis erhalten hat, seinen Speer in ihr Haus zu tragen.« Diese Beleidigung provozierte ein spöttisches Gelächter bei einigen der Anwesenden, und es erklang ein Krachen, als ob zwei Widder mit der Stirn gegeneinander rennen würden, als die beiden Männer aufeinander losgingen; sie hörten erst dann auf, als ein kräftiger alter Mann zwischen sie trat. Er war gemäßigter gekleidet als die anderen Männer, und seine Brust war mit einer Tunika wie die der Frauen bedeckt. Er strahlte etwas Beunruhigendes aus, denn von seiner Brust hing eine Kette aus Unterkieferknochen, und seine Ohrringe hatten die Gestalt winziger Totenschädel. »Die Ungeduldige hat Verhandlungen dem Krieg vorgezogen.« Er legte den beiden jungen Männern einen Finger gegen die Brust und schob sie zurück, als würden sie nicht mehr als Kinder wiegen. »Wir können mit den Menschen nicht verhandeln«, wandte Weißfeder ein. »Was sollen wir tun?«, fragte eine ältere Frau mit täuschend süßer Stimme. »Wir haben uns geschunden. Wie viele Kinder sind uns geblieben, und wie viele unter uns sind noch in der Lage, ein Kind zu gebären oder zu zeugen? Während unsere Stämme einst ganze Städte bevölkert haben, fristen wir jetzt unser Dasein in den Bergen auf sterbenden Feldern. Von zehn ist jetzt noch eins vorhanden, und das ist sogar großzügig gezählt. Wir werden geschwächt sein, wenn wir wieder auf der Erde stehen. Wir müssen eine Unterkunft finden.« 145 Katzenmaske gab ein bellendes Lachen von sich, das seinen ganzen Ekel ausdrückte. »Sich helfen zu lassen ist etwas für Narren! Wir haben genügend Macht, um sie zu besiegen, auch wenn wir nur wenige und sie so viele sind.« »So spricht der Impulsive«, erwiderte die alte Frau. Sie hatte eine Narbe auf der linken Wange, vermutlich eine Verletzung aus einer Schlacht. Ihre kurze Tunika reichte nur bis zur Taille; darunter trug sie ein zerrissenes Hemd, das vielfach geflickt worden und mit Reihen von grünen Perlen behängt war. Kleine weiße Masken, allesamt grinsende Schädel, hingen von ihrem Gürtel. »Ich bitte dich, Die-Den Adler-Sitz-Innehat, lass die Menschenfrau vortreten und zu uns sprechen. Ich jedenfalls möchte gerne hören, was sie zu sagen hat.« »Tritt vor«, sagte Federkleid. Liath trat vorsichtig vor. Die Ratsmitglieder bewegten sich, als sie vorbeiging, verrückten ihre Position, sodass sie ihr weder zu nah kamen noch zu weit von ihr weg waren und immer die Möglichkeit hatten, ihr Gesicht zu betrachten. »Stell dich vor mich.« Federkleid blickte ernst drein, aber nicht feindselig. Liath hielt es für ungefährlich, ihr unter den gegenwärtigen Umständen zu gehorchen. »Näher. So.« Federkleid schloss die Augen und legte Liath eine Hand auf die Hüfte. Die Berührung hatte etwas Prüfendes, aber nichts Aufdringliches. Selbst durch den Stoff der Tunika hindurch spürte Liath die kühle, weiche Hand, als würde sie geradewegs in ihr Inneres hinein schmelzen. Schlagartig wurde sie in den Trancezustand geworfen, den sie von Ältester Onkel gelernt hatte. Sie glitt ohne jede Vorwarnung in ihn hinein, in den Ort, wo die Konstruktion ihrer Existenz sich auflöste und dadurch sichtbar wurde. Es war ein Tanz von Staubkörnern, umgeben von leerem Raum, doch jene Staubkörner befanden sich in vollendeter Ordnung zueinander, ein Gitterwerk des Seins, das in seinen Teilen sie war und doch, weil es für das bloße Auge unsichtbar war, nichts von dem zu sein schien, was sie 146 wirklich war. Vor ihrem geistigen Auge erschien die Stadt des Gedächtnisses auf dem Hügel im See, und in ihrem Zentrum brannte das blauweiße Feuer, das die Berge verzehrte. Federkleid zuckte nach Luft schnappend zurück und riss die Augen auf. »Sie ist nicht, was sie scheint! In ihr wirkt mehr als eine Essenz.« Ihr Blick fiel an Liath vorbei auf Ältester Onkel. »Da ist auch etwas von dir in ihr, Ältester Onkel. Wie ist das möglich?« Er zuckte nur mit den Schultern. »So häufig weigerst du dich, mir zu antworten!« Aber die gerunzelte Stirn von Federkleid deutete eher auf resignierte Erheiterung als auf Gereiztheit hin. Angesichts ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft konnte sich Liath nur zu gut vorstellen, dass die Aoi-Frau einfach erschöpft war. Sie wandte sich wieder Liath zu. »Also, Die-Du-Mehr Bist-Als-Du-Scheinst, wieso bist du gekommen?« Liath streckte ihr die leeren Handflächen entgegen. »Ich habe keine Geheimnisse bei mir. Ich bin gekommen, um zu erfahren, was ich bin.« »Was bist du?« »In meinem eigenen Land bin ich bekannt als das Kind von Mathematiki, von Zauberern, die das Licht der Sterne binden und wirken -« Nichts, nicht einmal die Reaktion auf ihren Namen, hätte sie auf den Aufruhr vorbereiten können, der diesen Worten folgte. »Tochter derjenigen, die uns verlassen haben!« »Erbin der Shana-ret'zeri, mögen sie verflucht sein.« »Tötet sie!«
»Ruhe!«, brüllte Federkleid. Einen Augenblick schien sie tatsächlich größer zu werden, anzuschwellen und die Gestalt des Adlers anzunehmen, sodass es ganz den Anschein hatte, als würde sie sich in eine Kreatur verwandeln, die die gesamte Kammer ausfüllte und all jene verschlang, die ihr nicht gehorchten. Stille senkte sich Schwingen gleich herab. Liath blinzelte. Im nächsten Augenblick schien Federkleid wieder nichts weiter zu 147 sein als die junge, schwangere Frau, deren Mund ihre Erschöpfung verriet und deren Stimme man anhören konnte, dass sie es gewohnt war, zu befehlen. »Was sagst du zu diesen Anschuldigungen?« »Um ehrlich zu sein, Geehrte, kenne ich die Geschichte eures Volkes nicht. Niemand von den Menschen kennt sie heute noch. Unsere Legenden sagen, dass euer Volk einmal auf der Erde gelebt hat, aber dass ihr wegen des Krieges gegen die Menschen weggegangen seid. Es heißt, dass ihr die Erde verlassen hättet, um eure Macht zu horten, damit ihr, wenn ihr wiederkehren würdet, die Menschen besiegen und zu euren Sklaven machen könntet.« Hastig machte sie eine Geste, um zu zeigen, dass sie noch nicht fertig war, denn Katzenmaske schien begierig darauf zu warten, ihr selbst ein paar Worte entgegenschleudern zu können. »Dies sind die Geschichten und Legenden, die mein Volk sich erzählt. Ich weiß nicht, wie viel Wahrheit in ihnen enthalten ist. Es ist alles vor so langer Zeit geschehen, dass uns die gesamte Erinnerung an die Wahrheit verloren gegangen ist.« »Aber nicht uns!«, rief Katzenmaske. »Wir erinnern uns noch erschreckend gut daran!« »Lass sie sprechen«, sagte Echsenmaske. Wie eine Echse pumpte er beim Einatmen seine Brust auf und stieß die Luft sodann langsam wieder aus. Kleine weiße Narben waren auf seiner dunklen Haut zu sehen, wie Linien, die die Phasen des Monds kennzeichneten. Ganz plötzlich begriff sie, warum die Männer sie so sehr an Sanglant erinnerten: Keiner von ihnen hatte einen Bart. »Wie kann man sich nicht erinnern?«, fragte Grünkleid. »Meine Mutter und meine Tanten haben während der Umwälzung sehr gelitten, und für mich ist es genauso leicht, die Geschichten von damals zu erzählen wie zu atmen. Wie kann so etwas vergessen werden? Wir haben seit Generationen gegen die Shana-ret'zeri und ihre menschlichen Verbündeten Krieg geführt. Das kann doch nicht alles so schnell aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden sein.« 148 Andere murmelten zustimmend. »Nein«, sagte Liath. »Aber wenn der Verlauf der Tage und Jahre hier anders ist als dort, dann ist für jene, die auf der Erde leben, mehr Zeit vergangen als in diesem Land. Nach den Berechnungen, die ich kenne, ist euer Volk seit beinahe zweitausendsiebenhundert Jahren nicht mehr auf der Erde gewesen. Das liegt mehr als hundert Generationen zurück, die Dauer eines Menschenlebens zugrunde gelegt. Alles, was wir aus dieser Zeit noch haben, sind alte, in Geschichten verpackte Erinnerungen, die für uns nicht sehr viel Sinn ergeben, und die Überreste dessen, was das alte Volk errichtet hat. Doch auch zerfallene Bauwerke können nicht sprechen.« »Einhundert Generationen!« Selbst die feindselige Weißfeder schien von dieser Tatsache beeindruckt. »Die Mutter meiner Mutter ist in der Trennung gestorben. Ich habe die Geschichte von meiner Tante und vom Bruder meiner Mutter gehört. Mehr Zeit ist hier seitdem nicht vergangen.« »Dann bitte ich euch, erzählt mir die Geschichte«, sagte Liath. »Erzählt mir, was in jenen Tagen geschehen ist und wie ihr in dieses Land gekommen seid.« »Seid vorsichtig mit dem, was ihr erzählt«, murmelte Schädelohrring. »Warst du nicht derjenige, der dazu geraten hat, bei den menschlichen Stämmen Unterkunft zu suchen?«, entgegnete Katzenmaske schadenfroh. »Eine Unterkunft zu suchen ja, aber nicht, sich zu ergeben! Deshalb haben einige von uns zugestimmt, als die Ungeduldige uns von ihrem Plan erzählt hat. Wenn wir aber der hier zu viel erzählen und es gegen uns verwandt werden könnte -« »Ich werde sprechen.« Federkleids Worte brachten die anderen wie immer zum Schweigen. »Wie kann uns die Wahrheit schaden? Ich kann nur die Taten der damaligen Zeit wiedergeben, wie meine Tante sie mir erzählt hat, die das Schlangenkleid getragen und unter dem Altar von Die-Keinen-Mann-Haben-Wird getanzt hat. 149 Nur Ältester Onkel ist noch übrig. Er hat es bezeugt. Vielleicht möchte er uns die Geschichte noch einmal erzählen.« Er zögerte. »Das ist nichts, an das ich mich gerne erinnere.« Er blickte Liath an, als er das sagte. »Doch Schlimmeres wird geschehen, wenn wir uns nicht erinnern.« Die Ratsmitglieder, selbst jene, die zuvor auf höchst feindselige Weise gesprochen hatten, traten respektvoll zurück, als er den Versammlungsplatz betrat. Hinter der Standarte, auf einer eckigen Steinsäule und bis zu diesem Augenblick vor Liaths Blicken durch eine Gruppe von stehenden Ratsmitgliedern verborgen, lag eine Steinmetzarbeit, die sehr dem Adler ähnelte, auf dem Federkleid saß. Diese hier ähnelte einer riesigen, löwenähnlichen Katze, deren Steinkleid von Linien zerfurcht war, die Sprenkel oder Verletzungen zu sein schienen. Der Kopf, der Schwanz und die Pfoten ragten aus dem Stein hervor, als wäre die Katze daran gehindert worden, sich ganz aus dem Fels zu erheben. Ältester Onkel kletterte auf seinen hohen Sitz und ließ sich mit gekreuzten Beinen auf dem geschwungenen Rücken nieder. Als alles ruhig ward; begann er zu sprechen.
»Hu-ah. Hu-ah. Lasst meine Worte angenehm für Jene-Die-Erschafft sein. In jenen Tagen nannten wir uns selbst Jene-Die-Begreifen. Unser Volk lebte an dem Ort, der als Wo-Überall-Gold-Ist bekannt war. Wir waren die Kinder der Vierten Sonne, die geboren wurde, nachdem die Wasser die Welt überflutet und die Dritte Sonne zerstört hatten. An diesem Ort namens Wo-Überall-Gold-Ist errichteten wir Städte und brachten den Göttern Opfergaben dar. Aber Er-Der-Brennt wurde wütend auf unser Volk. Er schickte seine Söhne aus, und sie brannten mit ihrem Feuer die Städte nieder. Danach gab es keinen Frieden mehr zwischen den Stämmen. Dreizehn der Clans bauten Schiffe und segelten kühn nach Westen über das große Wasser. Der Mond verbarg dreimal das Gesicht, bevor Land gesichtet wurde. Hier fanden sie viele Ziegen, 150 und auch die Bleichen, die wie Leute aussahen, aber wie Hunde handelten. >Dies ist kein gutes Land<, sagte Jene-Die-Zählt. Der Rat hörte auf ihre Worte, und sie verließen diesen Ort. Nach langem Wandern kamen die dreizehn Clans zum Mittleren Meer. Auch hier lebten die Bleichen, aber diese Bleichen handelten wie Menschen, nicht wie Tiere. Der Rat traf sich, und Jene-Die-Zählt, sagte zu ihnen: >Dies ist ein besseres Land.< Sie erbauten einen Hafen und errichteten Städte an dem Ort, der danach als Fülle-Ist-Uns-Sicher-Wenn-DieGötter Nicht-Ihre-Meinung-Ändern bekannt wurde. In diesem Land ließen die Clans sich nieder und gründeten neue Familien. Keine der Opfergaben wurde vergessen, und auf diese Weise fiel der Regen zur richtigen Zeit, und die Sonne schien zur richtigen Zeit. Es gab viele Kinder. In diesem Land nannten sich die Leute Jene-DieSich-Ein-Neues-Heim-Erschufen. Einige der Bleichen, die sich Menschen nannten, kamen als Freunde zu unserem Volk. Andere kamen aus dem Süden, und ihre Haut war so schwarz wie Kohle; die von anderen aus dem Osten hatte die Farbe von Lehm. Einige von den Menschen wandelten gemeinsam mit unseren Leuten und malten sich die Clan-Zeichen auf ihren Körper. Auf diese Weise wurden sie zu einem Teil der Clans, und ihr Blut und unser Blut vermischte sich. Viele Langjahre vergingen. Die Zählfrauen gingen zu den Tempeln und zählten die Auf- und Untergänge der Sterne. Am Ende eines jeden vierten Langjahrs, das ein Großjahr kennzeichnet, kamen sie den Sternenberg herunter und sahen zu, ob die Sechs-Frauen-Die-Flussaufwärts-Leben den Zenit überschreiten würden. Auf diese Weise konnten die Zählfrauen wissen, dass die Bewegungen der Himmel nicht aufgehört hatten und die Welt nicht zu einem Ende gekommen war. Hu-ah. Hu-ah. Lasst meine Worte angenehm für Jene-Die-Erschafft sein, während ich mit der Geschichte fortfahre. Die Zeit der vier Omen begann im Jahr 1-Berg. In der Jahres151 zeit Trockenlicht sahen die Leute ein seltsames Wunder. Eine Flammensäule erschien am Himmel. Wie eine große Wunde blutete Feuer auf die Erde, Tropfen für Tropfen. Die Leute schrien vor Erstaunen und vor Furcht wild durcheinander, und wie es ihre Gewohnheit war, hielten sie sich die Hand vor den Mund. Sie fragten die Zählfrauen, was es bedeuten könnte, und die Zählfrauen antworteten, dass die Sterne von einer großen Umwälzung gesprochen hätten, dem Aufgang der Fünften Sonne, unter dem die ganze Welt würde leiden müssen. In diesem Jahr gab es viele Opfergaben für die Götter. Im Jahr 12-Himmel lief bei Tagesanbruch ein Feuer wie ein Fluss den Himmel entlang. Es teilte sich in drei Teile, und die drei Teile wurden zu Wind. Ein Teil dieses Windes erhob sich auf den Sternenberg und zermalmte das Haus der Autorität. Die anderen beiden Teile peitschten das Wasser des Goldsees auf, bis es nur so brodelte. Die Hälfte der Häuser der Stadt fiel in die kochenden Wellen. Dann sank das Wasser an seinen rechtmäßigen Platz zurück. Im Jahr 9-Himmel erhob sich ein Wirbelwind aus Staub von der Erde, bis er den Himmel erreichte. Aus dem Wirbelwind kam die Stimme einer weinenden Frau: >Wir sind verloren! Lasst uns aus der Stadt fliehen. < Danach saugte der Himmel den Wirbelwind auf, doch die weinende Frau blieb zurück, und sie war noch oft mitten in der Nacht zu hören. Die-Den-Adler-Sitz-Innehat schickte die begnadetsten Seher und Zauberer aus, um herauszufinden, was geschehen war, aber wohin sie auch gingen, begegneten ihnen die menschlichen Nachbarn mit Steinen und Speeren, Gewalt und Kampf. Die Männer, die von Frieden sprachen, begaben sich unter die Menschen, aber sie wurden getötet. Die Shana-ret'zeri waren auf dem Vormarsch, und sie hatten sich mit den Stämmen der Menschen verbündet. Selbst jene, die wir unterrichtet und in unseren eigenen Städten aufgenommen hatten, wandten sich gegen uns. Die lange Feindschaft zwischen unseren Völkern konnte nicht beseitigt werden. Zu dieser Zeit en152 dete das Jahr 2-Himmel, und die Zählfrauen berechneten die Gaben von 1-Himmel. Dreizehn Mal war das volle Maß des Großjahrs zur Vollendung gekommen, was bedeutete, dass die Langzählung eine Runde vollendet hatte. Dies war die Zeit der größten Bedrohung, denn am Ende einer jeden Langzählung gewannen die Götter so viel Macht, dass sie die Sonne zerstören konnten. Es geschah, dass am hundertsten Tag von 1-Himmel zwei Fischer einen Reiher im See fingen. Der Vogel war so schön und seltsam, dass niemand von ihnen ihn beschreiben konnte, und so brachten sie ihn zu Die-Den-AdlerSitz-Innehat. Diese war bereits zur Nachthalle gegangen, um das Abendbankett zu feiern. Eine Sternenkrone wurde auf den Kopf des Vogels gesetzt. Die-Den-Adler-Sitz-Innehat sagte: >In der Krone
sehe ich einen Spiegel, und der Spiegel zeigt mir die Himmelssphären und den Nachthimmel. Im Spiegel sehe ich die Sterne, die wir die Sechs-Frauen-Die-Flussaufwärts-Leben nennen, aber sie brennen.< Jetzt hatte sie Angst, denn es schien, dass dies nicht nur seltsam und verwunderlich war, sondern vor allem ein schlechtes Omen. Sie blickte ein zweites Mal in den Spiegel. Sie sah die menschlichen Zauberer in ihren Steinwebstühlen stehen und einen Zauberspruch wirken, der größer war als jeder andere, den die Welt zuvor gekannt hatte. Und dann verstanden die Seher und die Zählfrauen meines Volkes plötzlich die Ziele der Shana-ret'zeri und ihrer menschlichen Verbündeten. Zu spät erkannten wir die Gefahr. Unsere Feinde hatten bereits das Netz gewirkt, um uns zu fangen.« Plötzlich konnte der alte Zauberer nicht mehr weitersprechen. Er sank in sich zusammen, verlor jede Kraft; sein Körper krümmte sich über den übereinander geschlagenen Beinen, als wäre er bewusstlos geworden. »Ich werde nicht von dem Leiden sprechen«, sagte er. Er flüsterte nur, aber es war dennoch im ganzen Raum zu hören. »Und ich spreche auch nicht von denen, die wir verloren haben. Nur so viel: Durch die Zaubersprüche, die die menschlichen Magier und ihre 153 Verbündeten gewirkt haben, wurde unser Land von der Erde fortgerissen. Wir haben uns hier im Exil aufgehalten. Das Land um uns stirbt, wie alle Pflanzen im Lauf der Zeit sterben, wenn sie entwurzelt werden. Wir sind geschrumpft. Wir werden sterben, wenn wir in diesem Exil bleiben müssen.« Er richtete sich auf. Das Feuer der Wut blitzte wieder in seinem Blick - die Dickköpfigkeit eines Mannes, der Schlimmeres als den Tod gesehen hatte, aber die Mittel besaß, länger zu leben als seine Feinde. Er blickte Liath jetzt direkt an. »Aber was aus Erde entstanden ist, wird zur Erde zurückkehren. Diese Wahrheit haben unsere Feinde nicht verstanden. Sie haben gedacht, uns für immer los zu sein, aber sie haben uns nur für eine bestimmte Zeit in die Verbannung geschickt.« »Wie kann das sein ?«, fragte Liath. »Wenn sie euch und eure Heimat von der Erde entfernt haben, müssen es doch sicherlich eure eigenen Zauberer sein, die euer Land zur Erde zurückbringen.« »Gib mir deinen Gürtel.« Sie löste ihren Ledergürtel und trat zu ihm. Die Ratsmitglieder verharrten jetzt in vollkommener Stille, doch ob aus Respekt vor Ältester Onkel und seinen Erinnerungen oder aus Kummer über das, was sie verloren hatten, konnte sie nicht sagen. Er nahm den Gürtel und hielt ihn an der Schnalle, sodass das andere Ende lose auf dem Boden baumelte. Er griff nach diesem Ende und hielt es so, dass es die Schnalle berührte. »Hier ist ein Kreis.« Er legte einen Finger auf die Schnalle. »Wenn ich auf der Oberfläche dieses Gürtels gehen würde, wo würde ich dann ankommen?« Er sah zu, wie sie mit dem Finger von der Schnalle über die Außenseite des Gürtels fuhr, bis sie wieder dort ankam, wo sie begonnen hatte. »So«, stimmte er zu, und sie nickte. »Stell dir diese Schnalle als die Erde vor. Als die menschlichen Zauberer ihren Zauber wirkten, hatten sie vor, mein Volk und das Land, in dem wir lebten, an einen anderen Ort zu verfrachten, so -« Er bewegte ihren Finger von der Schnalle weg auf deren Unterseite. »Jetzt ist das eine vom an154 deren getrennt. Wenn ich auf dieser Seite des Gürtels gehe, werde ich nicht zur Erde zurückkehren. Tu es.« Sie fuhr mit dem Finger an der Innenseite des Gürtels entlang, und obwohl sie sich der anderen Seite der Schnalle näherte, unter ihr vorbeikam, kehrte sie doch nie zu ihr zurück. Die beiden Seiten waren ewig getrennt, sie hatten keinen Verbindungspunkt. Er ließ das Ende des Gürtels wieder los, hielt nur die Schnalle fest. »Aber es scheint, als hätten sie eine wichtige Eigenschaft des Universums übersehen.« Er nahm das Ende des Gürtels, drehte es ein Mal herum und brachte es zur Schnalle. »Siehst du, wenn ich jetzt über den Gürtel fahre, bleibe ich bei der ersten Runde unter der Schnalle, doch bei der zweiten Runde kehre ich zur Schnalle zurück.« »Oh«, sagte Liat, plötzlich sehr neugierig geworden. Sie war die Oberfläche des Gürtels den ganzen Weg entlanggefahren, ohne den Finger von dem Leder zu nehmen, und beim zweiten Mal kam sie dort zur Schnalle zurück, wo sie begonnen hatte. »Daran habe ich nie gedacht!«, rief sie, verwundert und beeindruckt. »Das Universum hat eine Falte!« »Wie du siehst«, sagte Ältester Onkel anerkennend. »Obwohl unser Land von der Erde abgestoßen wurde, wird die Falte im Universum uns wieder dorthin zurückbringen, wo wir begonnen haben.« Er erhob sich unsicher, als würden seine Knie schmerzen. Er streckte den Arm aus und wandte sich an den Rat. »Auf der Erde vergeht der Lauf der Tage und Jahre anders als hier. Schon bald wird die Vollendung des Großjahrs zum dreizehnten Mal auf Erden abgeschlossen sein. Der Endpunkt wird zum Anfangspunkt, und wir werden nach Hause zurückkehren.« Katzenmaske schien kurz davor, eine Bemerkung von sich zu geben, doch bei dem Blick von Ältester Onkel blieben ihm die Worte im Hals stecken. Nachdenklich mühte sich Federkleid auf die Beine. Niemand rührte sich, um ihr zu helfen, bis Liath schließlich vortrat, aber von Schädelohrring zurückgehalten wur155 de. Der ältere Mann hob eine Hand, die Handfläche nach außen gerichtet, um zu zeigen, dass sie der schwangeren Frau, die den Adlersitz innehatte, nicht helfen durfte.
Federkleid keuchte ein bisschen, als sie sich aufrichtete und den Rat betrachtete. Im Stehen wirkte ihr Bauch sogar noch viel riesiger - so riesig, dass es ein Wunder schien, dass er nicht geplatzt war. »Wir werden nach Hause zurückkehren«, stimmte sie ihm zu. »Und doch bleibt eine Gefahr. Wir werden nach Hause zurückkehren, so lange die menschlichen Zauberer auf der Erde ihre Magie nicht dazu nutzen, einen zweiten Zauberspruch zu sprechen, wie sie es schon einmal getan haben. Dann könnten sie uns wieder zurück in den Äther stoßen, und wir würden sicher alle untergehen, zusammen mit unserem Land.« Schmerz bohrte sich in Liaths Bauch. Sie zuckte, krümmte sich instinktiv, aber der Schmerz verschwand so rasch, wie er gekommen war - es war nur die Erinnerung an ihre Geburtsschmerzen, an den Tag, als ihre Mutter ihr die Geschichte von der Großen Trennung und der Bedrohung aufgrund der Rückkehr der Aoi erzählt hatte. »Die Einzige, die sie aufhalten kann, bist du«, hatte Anne gesagt. Hatte Pa es die ganze Zeit gewusst? War dies das Schicksal, vor dem er sie hatte bewahren wollen - dass sie von Anne als Werkzeug benutzt wurde? Wieder kam ein Schmerz, aber dieses Mal war es einer aus Zorn. Pa hatte ihr gar nicht geholfen, indem er die Wahrheit vor ihr verborgen hatte. Er hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Die Unwissenheit hatte sie nicht geschützt, sondern sie nur schwächer und ängstlicher gemacht. »Magie auf eine solche Weise zu benutzen, scheint mir die Tat eines Ungeheuers zu sein«, sagte sie schließlich, ihre Worte vorsichtig abwägend und sich der Wut bewusst, die ein Loch in ihren Bauch zu brennen schien. »Aber ich habe eine Geschichte von meinem Volk gehört, aus einer Zeit, die als die Große Trennung bekannt ist, als die Aoi -« »Nenn uns nicht bei diesem Namen!«, rief Katzenmaske. 156 »Wenn du in Frieden kommst, wie du behauptest, wieso hörst du dann nicht auf, uns zu beleidigen?« »Ich habe nicht vor, euch zu beleidigen«, entgegnete Liath verletzt. »Das ist der Name, mit dem mein Volk euch benennt.« »Weißt du denn nicht, was er bedeutet?«, fragte Grünkleid. »Nein.« Katzenmaske spuckte die Worte geradezu aus. »Die Verfluchten.« »Und wie nennt ihr euch selbst?« Jetzt begannen alle auf einmal zu sprechen. Federkleid hob Ruhe gebietend die Hand. »In unserer alten Heimat nannten wir uns Jene-Die-Begreifen. Nachdem unsere Ahnen diesen Ort verlassen und die See überquert hatten, nannten wir uns Jene-Die-Eine-NeueHeimat-Haben. Jetzt nennen wir uns Jene-In-Der-Verbannung, Ashioi, was außerdem bedeutet Jene-DieVerflucht-Sind.« »Ashioi«, murmelte Liath; sie hörte das Wort »Aoi«, das sie kannte, darin. War das der Weg, wie altes Wissen überlebte, nur in Fragmenten wie der Textsammlung, die Pa im Laufe der Jahre zusammengestellt hatte? Sicher hatte Pa das wahre Ziel der Sieben Schläfer gekannt. Was hatte er in diesen Bemerkungen und den Schnipseln von magischem Wissen gesucht? Hatte er sich gewundert, dass ein Zauberspruch eine solche Macht gehabt hatte, um so etwas wie die Große Trennung zu bewirken? Sie musste sich eingehend damit beschäftigen, um alles zu verstehen. »Aber wenn ein solch riesiges Land wie dieses hier auf die Erde fällt, wird dann nicht ebenfalls eine schreckliche Umwälzung eintreten?« »Möglicherweise«, sagte Ältester Onkel. »Doch wenn dieses Land sich der Erde nähert und wieder von einem Zauberspruch von menschlichen Zauberern weggestoßen wird, wird auch das vielfache Zerstörung bewirken. Die Strömungen des Universums sparen keinen Gegenstand aus, denn selbst wenn Körper sich nicht berühren, beeinflussen sie sich gegenseitig. Wenn du in der Wirkungsweise der Sterne bewandert bist, verstehst du dieses Prinzip. 157 Kein Teil des Ufers ist sicher vor einer hohen Welle oder vor der Strömung der Ebbe. So oder so, die Erde wird leiden.« Die Dämmerung setzte plötzlich ein; durch das Loch im Dach kroch die Dunkelheit so rasch herein, dass die wirbelnden Staubfäden, die in Lichtstrahlen gefangen waren, jetzt einfach verschwanden, als die Schatten sich ausbreiteten. Für einen Augenblick war es so dunkel, dass nicht einmal Liath etwas erkennen konnte. Dann begannen der Adlersitz und der Jaguarsitz zu glühen und die beiden Gestalten zu erleuchten, die hinter ihnen standen: Federkleid und Ältester Onkel. In diesem Glanz nahmen die Perlen, die ihre Umhänge und Armschienen schmückten, neue Farben an, wechselten zwischen einem unruhigen Rot und Grün. Seine letzten Worte hatten wie ein Pfeil direkt auf ihr Herz gezielt. »Die einzige Frage ist, ob mein Volk völlig untergehen wird oder ob wir eine Chance zum Leben erhalten.« Vor ihrem geistigen Auge sah sie die zerstörte Stadt, die am Ufer so abrupt endete, als hätte ein Messer sie abgeschnitten. Nur ein Messer - oder ein gewaltiger Zauberspruch, dessen Macht ihre Vorstellungskraft überstieg und sie benommen machte - hätte das Land so abtrennen können, sauber abgeschnitten wie eine Scheibe Fleisch vom Braten. Allein das Nachdenken über die Macht eines solchen Zauberspruchs, über eine solche Trennung, bereitete ihr Übelkeit. Ihr wurde ganz heiß. Das Blut pochte in ihren Gliedern, und der heiße Geschmack von Feuer brannte auf ihren Lippen, während Wind in ihren Ohren dröhnte.
Wer würde untergehen, und wer würde leben? Wer hatte das Recht verdient, eine solche Entscheidung zu fällen? Der Raum flimmerte vor Hitze. Die Ratsmitglieder schrien auf, als Feuer aus dem Herzen des Adlersitzes aufschoss und Federkleid vollkommen verschlang. Liath taumelte angesichts seines Glanzes, doch inmitten der Wölbung der zuckenden Flammen krümmten sich Schatten. Hanna reitet im Zug eines besiegten Heers über eine grasbe158 wachsene Landschaft, die mit Bäumen und kleinen Hügeln gesprenkelt ist. Hugh sitzt beim Fest auf dem Ehrenplatz neben einem lachenden Mann, der eine Eisenkrone trägt, doch als sie rasch den Atem anhält, erschreckt darüber, Hughs wunderschönes Gesicht zu sehen, blickt er verwundert auf, als hätte er sie gehört. Er dreht sich um und spricht zu der verschleierten Frau rechts von sich. Wulfhere geht mit gebeugten Schultern einen Waldpfad entlang. Sie bildet seinen Namen mit den Lippen, und abrupt blickt er auf und spricht hörbar: »Liath?« Lampen brennen in einer Kammer, die mit üppigen Wandteppichen ausgestattet ist. Leute haben sich um König Henry versammelt - sie erkennt ihn sofort-, doch als würde ein Magnet an ihr zerren, wandert ihr Blick an ihm vorbei auf das, was sie am meisten sucht: Oh Gott, da ist Gnade! Das Baby weint, strampelt in Heriberts Armen und streckt die Arme nach seiner Mutter aus. »Ma! Mal«, schreit die Kleine. Gnade kann sie sehen! »Gnade!«, ruft sie. Dann sieht sie ihn, wie er sich aus dem Schatten einer Ecke löst. Es ist, als würde ihr Herz brechen, so sehr vermisst sie ihn. »Sanglant!« Er macht einen Satz nach vorn. »Liath!«Aber eine Gestalt reißt ihn zurück. Sie waren verschwunden. »Seht nur!«, rief Katzenmaske. Durch das schwächer werdende Feuer sah Liath einen schlafenden Mann. Sein Kopf war von ihr weggedreht, aber zwei schlafende Hunde lagen auf beiden Seiten von ihm, wie Wächter. Er rührte sich im Schlaf. Und dann lösten sich ganz rasch das Feuer und die Vision auf, und die Flammen legten sich nieder wie fallende Schwingen, offenbarten Federkleid, die unverletzt dastand. Liath sank auf den Boden; sie zitterte so sehr, dass sie nicht mehr stehen konnte. 159 »Lasst dies ein Zeichen sein«, sagte Federkleid ernst. »Wer von euch hat die Ungeduldige und den Mann, der ihr Sohn sein muss - der sowohl von unserem Blut als auch dem der Menschen ist -, gesehen?« Aber die anderen hatten die Vision aus Feuer nicht gesehen, und Liath war zu verwirrt, um sprechen zu können. »Sie muss gehen«, sagte Federkleid zu Ältester Onkel. »Sie trägt einen Namen mit schlechtem Omen. Ihre Macht ist zu groß, und wie alle Menschen versteht sie sie nicht. Ich habe gesprochen.« »So sei es«, sagte Ältester Onkel. Katzenmaske sprang vor. »Ihr Blut soll uns Kraft geben!« Sie alle begannen sofort zu streiten, als Liath aufsprang. »Ist es das, was ihr Gerechtigkeit nennt?«, schrie sie. »Ruhe!«, rief Federkleid mit einer so weichen, leisen Stimme, dass es mehr wie ein Ausatmen klang. Dennoch kehrte Stille ein. Draußen wehte ein Wind, sodass die Wurzeln am Dach raschelnd aneinander stießen. »Sie muss unverletzt bleiben. Ich möchte nicht riskieren, dass ihr Blut vergossen wird, so lange wir noch so schwach sind.« »Doch ich möchte, dass sie die Sphären wandelt, bevor sie geht«, sagte Ältester Onkel so freundlich, als hätte er einem sich verabschiedenden Freund einen letzten Becher Bier angeboten. Weißfeder zischte. Schädelohrring gab einen scharfen Protestlaut von sich, der von anderen wiederholt wurde. Nur Katzenmaske lachte. Federkleid blickte Liath kühl an. Ihre Augen waren so dunkel wie Obsidian, ihr Blick so durchdringend wie ein Messer. »Nur wenige können die Sphären wandeln. Niemand kehrt unverändert von dort zurück.« »Und doch weiß ich«, sagte Ältester Onkel, »dass wir ihr helfen müssen zu erkennen, was sie ist, wenn wir leben wollen.« Der Glanz, der den Adlersitz erleuchtete, erlosch jetzt ganz, bis er das leichte Leuchten einer Meermuschel hatte. Mit der Dämmerung kam ein scharfer Geruch nach trockener Erde und saurem 160 Schweiß, der schwache und beunruhigende Geruch von Wasser, der beißende Geschmack von Ingwer. Liath fühlte sich plötzlich müde, bis ins Mark getroffen durch das bisschen, was sie von Sanglant und Gnade gesehen hatte, als wäre die Hülle der Benommenheit zerplatzt und ihre blanke Haut offenbart worden. »Sie darf nie hierher zurückkehren«, sagte Federkleid, »aber wenn sie den Pfad der Sphären erklimmen kann, werden wir nicht einschreiten. Wenn ein Tag und eine Nacht vergangen sind, werde ich Katzenmaske und seine Krieger auf die Suche nach ihr schicken. Sollten sie sie in unserem Land finden, werde ich wegsehen, falls sie sich entscheiden, sie zu töten. Ich habe gesprochen.« »So sei es«, murmelte Ältester Onkel. Die anderen taten es ihm gleich, während Katzenmaske grinste. IV Hastiges Urteil
1 »Sie ist ganz und gar nicht so, wie ich sie in Erinnerung hatte.« König Henry stand mit seiner Enkelin auf dem Arm an einem geöffneten Fenster in den königlichen Gemächern, umgeben nur von Rosvita, Hathui, vier Verwaltern, sechs Wächtern und Helmut Villam. Prinzessin Theophanu und vier ihrer Frauen saßen im angrenzenden Zimmer und spielten Schach, stickten und diskutierten über das Traktat von der männlichen Keuschheit von St. Sotheris, das erst kürzlich von den Nonnen vom Kloster Korvei aus dem Arethusanischen ins Dariyanische übersetzt worden war. Ihre Stimmen klangen fröhlich; sie schienen offensichtlich keine Sorgen zu haben. Königin Adelheid hatte Alia und Sanglant nach draußen begleitet; sie zeigte ihnen den königlichen Garten mit seinen Rosenbeeten und den verschiedenen Kräutern und die Voliere, für die Angenheim berühmt war. Rosvita, die neben Henry beim Fenster stand und ihre Finger um das Fensterbrett krampfte, sah Adelheids leuchtendes Kleid zwischen den Rosen aufblitzen. Einen Augenblick später sah sie Sanglant bei einer der Kräuterparzellen auf den Knien hocken; er betastete gerade Schwarzwurzblüten. Neben ihm 162 kniete Bruder Heribert, und mit gebeugten Köpfen unterhielten sie sich angeregt miteinander. Der Kontrast zwischen den beiden Männern hätte gar nicht größer sein können: Sanglant hatte die riesige Gestalt und die Kraft eines Mannes, der an Waffen und Pferderücken und ein Leben unter freiem Himmel gewöhnt war, während Heribert die für einen Geistlichen typischen Gewänder trug, von schlanker Statur war und schmale Schultern hatte. Doch auch seine Hände zeigten die Spuren körperlicher Arbeit. Wie mochten die beiden sich begegnet sein? Was wusste Heribert, das er ihnen nicht erzählt hatte? »Sie ist ganz und gar nicht so, wie ich sie in Erinnerung hatte.« Henrys Miene wurde nachdenklich. »Es ist, als wäre die Zeit damals nur ein Traum gewesen, den ich mir mit meinem eigenen Verstand eingebildet hätte.« Gnade war an seiner Schulter eingeschlafen. »Vielleicht war es das auch«, bemerkte Rosvita. »Die Jugend fällt der Verführung leicht zum Opfer. Wir sind geübt darin, Paläste zu errichten, die nicht existieren.« »Ich bin sehr jung gewesen«, stimmte er zu. »Wirklich, Schwester, ich finde es verstörend. Ich erinnere mich so deutlich an meine leidenschaftlichen Gefühle, aber wenn ich sie jetzt ansehe, fürchte ich, einen Fehler gemacht zu haben.« Eine steife Brise bewegte die Blätter des Kräuterbeets neben dem Prinzen. Lachend erhob sich Sanglant, als Heribert verblüfft aufsprang. Die frische Luft und Heriberts Anwesenheit hatten dem Prinzen seine gute Laune wiedergegeben, doch jetzt blickte er hoch zu dem offenen Fenster, an dem sein Vater stand. Hatte er sie gehört? Sicherlich stand er zu weit weg, als dass er ihre Unterhaltung hätte mit anhören können. »War es denn ein Fehler, Eure Majestät?« Sie nickte in Richtung des Prinzen. »Nein, natürlich nicht. Vielleicht bin ich nur ein bisschen überrascht, dass mir mein Gedächtnis nicht so gut dient, wie Ihr es tut.« Er lächelte ganz wie ein Herrscher, der genau weiß, wann er 163 seiner Beraterin schmeicheln sollte, doch Rosvita spürte die Anspannung hinter den leichthin gesprochenen Worten. »Ihr seid sehr jung gewesen, Majestät. Gott gewähren uns all die Vorteile der Veränderung und des Wachsens, sofern wir sie nutzen. Ihr seid jetzt ein weiserer Mann als damals, zumindest habe ich so etwas gehört.« Er lächelte, dieses Mal mit aufrichtigem Vergnügen. Das Kind rührte sich; es wachte auf. Gnade gähnte, blickte sich um und meinte dann klar und deutlich: »Da!« Nach dieser eindeutigen Aussage blickte sie mit gerunzelter Stirn Henry an. Sie hatte ein schlaues, süßes Gesicht, mit bezaubernden, lebhaften Zügen. »Bäh!«, rief sie aus. Sie schien gar nicht anders als auf diese herrische Weise sprechen zu können. »Die Zeit vergeht für sie irgendwie anders«,sagte Henry. »Es dauert neun Monate, bis eine Frau ein Kind gebiert, und selbst Frühgeborene können erst nach sieben Monaten auf die Welt kommen, wenn sie am Leben bleiben wollen. Sanglant und dieser Adler sind vor vierzehn Monaten weggegangen, und doch wirkt dieses Kind, als wäre es mindestens ein Jahr, vielleicht sogar noch älter. Die Haut des Kindes ist aber so wie die des Adlers, wenn ich mich richtig entsinne.« »In diesem Fall könnt Ihr Eurem Gedächtnis ruhig vertrauen. Auch ich glaube, dass das Kind auf vielerlei Weise seiner Mutter ähnelt. Seht Euch nur die blauen Augen an! Aber Ihr habt Recht, Majestät. Selbst, wenn sie eine Frühgeburt war, könnte sie jetzt nicht älter sein als sieben Monate.« »Kommt.« Henry ging mit dem Kind nach draußen auf die Suche nach seinem Sohn, doch kaum hatte er den Garten betreten, lenkten die Herbstblätter und Blüten des Spätsommers Gnade ab. Rosvita sah zu, wie der König sich ihren herrischen Befehlen ergab: Immer wieder deutete Gnade auf etwas, das ihren Blick gefangen nahm, und gehorsam brachte er sie erst dorthin, dann hierhin, bückte sich, damit sie eine Blume berühren konnte, löste ihre Finger von einem dornigen Stängel, bewahrte sie davor, ein verwelk164 tes Eichenblatt in den Mund zu stecken, hob sie hoch, um ihr eine Schar Gänse zu zeigen, die über sie hinwegflog. Er war vernarrt in sie. Sanglant war zur Gartenmauer gegangen, wo er leise mit Bruder Heribert sprach. Welch eine Intrige sie wohl
ausheckten? Doch war Sanglant jemals an Intrigen interessiert gewesen? Er hatte immer einen äußerst gradlinigen Eindruck gemacht. Er machte allerdings keinerlei Anstalten, seinen Vater von Gnade zu erlösen, und das Kind fuhr fort, sich von Henry dieses und jenes zeigen zu lassen. Königin Adelheid war zum Vogelhaus gegangen. Rosvita bewunderte die junge Königin: Entweder war sie fest entschlossen, aus Alia eine Verbündete zu machen, oder sie bemühte sich, jedem Verdacht auf Feindseligkeit vorzubeugen, während sie insgeheim einen Plan ausheckte, wie sie ihre Rivalin loswerden konnte. Selbst jetzt, nach so vielen Monaten und gemeinsamen Erlebnissen, konnte Rosvita nicht sagen, was von beidem wahrscheinlicher war. Doch als Rosvita sah, wie Henry das Kind verhätschelte, wurde ihr das Herz schwer. Die Dämmerung trieb sie schließlich wieder ins Haus. Adelheid und ihre Begleiter kamen von den Seemöwen, Sanglant und Heribert aus dem Garten. Alia hielt sich noch draußen auf, um an den Rosen zu riechen. Niemand störte sie. Wie immer würde das Festmahl bis in die Nacht dauern, aber weder Henry noch sonst jemand aus seiner Gruppe schien erpicht darauf zu sein, zur großen Halle zurückzukehren. Zu vieles war noch unausgesprochen geblieben. Gnade ging sofort zu Sanglant. Sie war hungrig und wurde allmählich unruhig. Die Begleiter begannen eine geistreiche Diskussion über die Frage, ob sich die Milch einer Ziege oder einer Kuh besser zur Ernährung eines mutterlosen Kindes eignete. Sanglant brachte das Kind nach draußen. Rosvita trat ans Fenster. Mit der Dämmerung kam ein kühler Herbstwind auf, der sie zum Zittern brachte. Sanglant ging seiner 165 Mutter aus dem Weg und ließ sich außerhalb ihrer Sichtweite auf der anderen Seite des Walnussbaums nieder. Adelheid gesellte sich zu Rosvita. Die Königin roch ein bisschen nach den Seemöven, noch stärker jedoch nach dem Rosenwasser, mit dem sie sich gewöhnlich wusch. Sie hatte ein solch wunderbares, lebendiges Profil, dass ihre Gesichtszüge selbst in dem immer schwächer werdenden Licht verblüffend ausdrucksstark waren und so strahlten wie der zunehmende Mond, der sich über die Mauern und die Baumwipfel erhob. »Ihr habt Euch höchst würdevoll verhalten, Eure Majestät«, sagte Rosvita. »Habe ich das ? Glaubt Ihr denn, dass ich eifersüchtig auf die Leidenschaft bin, die er einst für sie empfunden hat? Das ist viele Jahre her. Ich weiß, sie sieht bemerkenswert jung aus dafür, dass sie schon sehr alt sein muss -, aber so lange sie nicht ihre Absichten erklärt, wüsste ich nicht, wieso sie etwas besitzen sollte, das er auch jetzt begehrt oder vermisst.« Der Ton der Königin hatte etwas Raues, als würde sie ihre Verärgerung verbergen. »Ihr hingegen besitzt so etwas?« »Das habe ich zumindest getan«, erwiderte sie bitter. »Wie Ihr nur zu gut wisst, Schwester Rosvita, denn Ihr habt mich zusammen mit meiner Cousine Theophanu in Vennaci aufgesucht. Aber Ihr habt auch gesehen, wie Henry die lebende Erbin von Taillefers großem Kaiserreich in seinen Armen gehalten hat. Wenn das stimmt, frage ich mich, aus welchem Grund Henry noch eine Königin von meinem Geschlecht brauchte?« »Was redet Ihr denn da, Eure Majestät? Der Anspruch Eurer Familie auf den aostanischen Thron ist unangefochten.« Adelheid lächelte leicht, sogar ein bisschen ironisch. »Es ist wahr, dass keine aostanische Familie einen besseren Anspruch auf den Thron hat. Sicher wird die Skopos mich unterstützen, wenn es ihr möglich ist, denn sie ist meine Tante. Doch wie sehr hat mir mein königliches Geschlecht nach dem Tod meiner Mutter und meines ersten Mannes - mögen Gott sie segnen - wirklich gehol166 fen? Welche Edelleute in Aosta sind gekommen, um mir zu helfen, als ich von Eisenkopf belagert wurde? Meine Landsleute haben mich seiner Barmherzigkeit ausgeliefert. Ich wäre seine Gefangene geworden und zweifellos auch seine unfreiwillige Frau, wäret Ihr und Prinzessin Theophanu nicht aufgetaucht. Was wäre geschehen, wenn Mutter Obligatia uns nicht aufgenommen hätte? Was, wenn sie Frater Hugh nicht erlaubt hätte, Zauberei anzuwenden, um unsere Flucht zu ermöglichen?« »Was wollt Ihr damit sagen?« Doch Sorgen, hatten sie erst einmal ein bestimmtes Maß erreicht, konnten sich lange und hartnäckig halten. »Bisher hatte ich keine Rivalen. Jetzt ist das anders.« »Henry hat rechtmäßige Kinder, das ist wahr.« »Von denen aber niemand behaupten kann, ein Abkömmling Kaiser Taillefers zu sein. Nein, Schwester Rosvita, es ist offensichtlich, dass Henry Sanglant bevorzugt. Hätte Henry damals seinen Willen durchgesetzt, wäre ich jetzt mit Prinz Sanglant verheiratet.« Da dies zutraf, sah Rosvita keinen Grund, Adelheid zu widersprechen, und so nickte sie lediglich zustimmend. »Wenn das so war, muss er gehofft haben, dass Sanglant durch die Heirat mit mir zum König von Aosta gekrönt werden würde. Es scheint mir offensichtlich, dass nur ein Herrscher, der so stark ist, dass er einen Anspruch auf den Thron von Aosta hat, auch hoffen kann, den Titel als Heiliger Dariyanischer Kaiser zu beanspruchen. Henry hat gehofft, Sanglant diesen Titel geben zu können. Zumindest vermute ich das.« »Henry hat niemals seine Ziele verborgen. Er hat gehofft, diesen Titel für sich selbst zu erhalten.« »Natürlich hat er jetzt das Recht, sich König von Aosta zu nennen, da er mein Ehemann ist. Aber Eisenkopf herrscht noch immer in Darre. Erkennt Ihr denn nicht, in welcher Lage ich mich befinde?«
Rosvita seufzte. Adelheid war jung, aber sicher nicht naiv. Und 167 doch brachte Rosvita es nicht über sich, etwas zu sagen, das Henry gegenüber illoyal gewesen wäre. »Ihr seid etwas durcheinander, Eure Majestät«, sagte sie stattdessen ausweichend und in der Hoffnung, dass Adelheid nicht weiter drängen würde. Aber diesen Fehler der Jugend, ungestüm und voreilig zu sein, hatte Adelheid noch nicht ganz unter Kontrolle. »Nehmen wir einmal als wahr an, dass dieses Kind hier Taillefers Enkelin ist und somit auch seine rechtmäßige Erbin. Ich habe Henry die Krone von Aosta gebracht. Sie allein ist aber weit weniger wert als Gnades Anspruch auf Aostas Thron und auf die Sternenkrone, die Taillefer als Heiliger Dariyanischer Kaiser getragen hat.« Rosvita warf einen Blick zurück in den Raum. Zwei Verwalter standen bei der Tür, blickten gelangweilt drein, während sie den Wein bewachten. Verschiedene Wandteppiche mit Motiven aus dem Leben von St. Thekla hingen an den weiß getünchten Wänden: die Bezeugung der Ekstase; die Unterredung vor der Kaiserin; das Schreiben einer berühmten Epistel an weit verstreute Gemeinschaften; der Erhalt des Stabs, der sie als Skopos kennzeichnete, als heilige Mutter der Kirche; die Stationen ihres Märtyrertums. Henry war mit Villam in die angrenzende Kammer gegangen, um beim Schachspiel zuzusehen, und Hathui hing an ihm wie ein Falke an einem Fußriemen. Villam stützte sich mit einer Hand auf die Stuhllehne, auf der eine von Theophanus bevorzugten Frauen saß, die kräftige Leoba. Noch immer hatte er stets einen Hang zur Liebäugelei. In der Tat war er zurzeit unverheiratet und trotz seines Alters zweifellos eine hervorragende Partie. Leoba überließ es ihm, eine Schachfigur für sie zu verrücken - der Turm, der den Adler nahm. Das Spiel brachte Rosvita zurück zu den Zügen, die hier und jetzt vollzogen wurden. »Eure Majestät, Ihr glaubt doch nicht etwa, dass König Henry Euch aufgrund solcher Geringfügigkeiten beiseite schieben würde?« Adelheid besaß genügend Anstand, um zu erröten. »Nein, 168 Schwester, haltet mich nicht für selbstsüchtig. Um ehrlich zu sein, ich fürchte nichts um meinetwillen. Ich mag Henry, und ich glaube, er mag mich. Er ist bekannt dafür, fromm zu sein und den Gesetzen der Kirche zu gehorchen. Er wird jetzt keinen Vertrag brechen, den er einmal geschlossen hat. Aber wenn Gott bereit sind und uns Ihren Segen geben, werde ich Kinder mit ihm haben. Was soll aus ihnen werden?« Jetzt endlich sah Rosvita die Linien, die gezogen worden waren. »Wie kann ich eine solche Frage beantworten, Eure Majestät? Ich kann bestenfalls hoffen, dass der König auf mich und meinen Rat hört. Ich spreche nicht für ihn.« »Ihr habt mein Leben und meine Krone gerettet, Schwester. Ich vertraue Euch, und ich weiß, dass Ihr das tut, was recht ist, nicht das, was angebracht ist. Ich weiß, dass Ihr mit aufrechtem Herzen dient und dass Ihr Euch nur um das kümmert, was Eurem Herrscher nützt, nicht um das, was Euch nützt. Deshalb bitte ich Euch darum, sorgfältig zu bedenken, was Ihr dem König ratet. Denkt an meine Position und an die der Kinder, die ich hoffentlich haben werde.« Sie lächelte lieblich und trat zur Tür, um Alia in Empfang zu nehmen, die gerade hereinkam. Sie winkte den Verwaltern zu, ließ einen Becher Wein für die Aoi-Frau kommen. »War das nun eine Bitte oder eine Warnung?« Rosvita sprang abrupt auf und fuhr mit einem Finger über den hölzernen Fenstersims. »Ihr habt mich erschreckt, Bruder. Ich habe Euch nicht zu uns treten sehen.« »Genauso wenig wie die Königin«, bemerkte Fortunatus. »Aber sie hat eine ganze Menge erkannt. Henry hat bereits erwachsene Kinder, die stets Rivalen der Kinder sein werden, die sie noch zur Welt bringen wird. Doch die anderen Kinder fürchtet sie bei weitem nicht so sehr, wie sie Sanglant fürchtet.« Rosvita legte ihre Hände wieder auf den Sims, dann stöhnte sie kurz auf, als ihr Finger zu schmerzen begann. »Ihr habt einen Splitter abbekommen«, sagte Fortunatus und nahm ihre Hand in seine. Seine Finger fühlten sich weich und 169 sanft an - die Hände eines Mannes, der viele Jahre nur mit Schreiben zugebracht hatte. Als er sich über ihre Hand beugte und den Splitter suchte, sprach sie mit gesenkter Stimme weiter. »Glaubt Ihr wirklich, dass sie Sanglant fürchtet?« »Würdet Ihr das nicht tun?«, fragte er liebenswürdig. »Ah! Da ist er.« Er zupfte den Splitter heraus und ließ ihre Hand los. Sie saugte kurz an der Wunde, während er fortfuhr. »Er hat überragende Fähigkeiten auf dem Schlachtfeld. Alle wissen das. Er kehrt erholt und kräftig zum Hof zurück, und augenblicklich knien Soldaten vor ihm nieder. Nur Gott weiß, wann sie ihm die Treue geschworen haben - ihm, der nichts besitzt, das er sein eigen nennen kann.« »Außer seinem Kind.« »Außer seinem Kind«, stimmte Fortunatus zu. Während der entbehrungsreichen Reise über das Gebirge nach Aosta und der anschließenden Flucht vor Eisenkopf war er um einiges dünner geworden. Die Magerkeit unterstrich seine scharfen Augen und den schlauen Mund und gab ihm etwas Mürrisches, obwohl er eigentlich ein Mann war, der Scherze und Gelächter trockenen Erklärungen vorzog. Da er in den letzten paar Wochen auf der Rundreise genügend Gelegenheit gehabt hatte, gut zu essen - wie er es bevorzugte -, nahm er jedoch allmählich wieder zu. Es stand ihm gut. »Und gerade das - dass er nur das Kind hat -, macht ihn umso gefährlicher. Er ist kein Mann, der etwas für sich selbst begehrt.«
»Den jungen Adler hat er für sich begehrt, gegen den Wunsch seines Vaters.« »Ich bitte Gott um Vergebung, Schwester, wenn ich jetzt sage, dass er sie sicherlich so begehrt hat, wie ein Hund in der Brunstzeit eine Hündin begehrt.« »Ihr habt Recht, es ist das Kind, das ihn verändert hat, nicht die Heirat. Und es stimmt auch, dass er nichts für sich, für sein eigenes Fortkommen begehrt. Was er aber für sein Kind begehrt, ist etwas anderes.« 170 »Glaubt Ihr, dass es zu einem Kampf zwischen ihm und Königin Adelheid kommen wird?« Sie runzelte die Stirn, während sie einen Blick auf das Herbstlaub warf. Wind peitschte die Zweige des Walnussbaumes, unter denen Sanglant mit Gnade saß, doch blieben die übrigen Bäume und Büsche im Garten davon unberührt. Dieser schroffe Gegensatz zwischen dem rauschenden Walnussbaum einerseits und der sonst herrschenden herbstlichen Stille andererseits verblüffte Rosvita. Plötzlich erhob sich der Prinz. Heribert, der neben ihm saß, schien darum zu bitten, das Kind nehmen zu dürfen, und nach kurzem Zögern - erkennbar an den steifen Schultern - reichte Sanglant es ihm. Gnade hatte ihre Glieder so von sich gestreckt, wie es typisch war für ein schlafendes Kind. Der Prinz und der Geistliche standen unter den zuckenden Zweigen und unterhielten sich miteinander, während das Kind friedlich schlief. Schließlich blickte Sanglant auf, und Rosvita hatte den Eindruck, als würde er eine Bemerkung gen Himmel richten. Doch sicherlich war es Zufall, dass die Brise, die die Zweige des Walnussbaumes aufgewühlt hatte, sich genau in diesem Augenblick legte. »Was kennt Prinz Sanglant anderes als Krieg? Hat Henry nicht gegen seine eigene Schwester gekämpft? Wieso sollten wir von der nächsten Generation etwas anderes erwarten?« »Es sei denn, gute Ratschläge und kluge Köpfe können sich durchsetzen«, murmelte Fortunatus. Hinter ihnen wurden Stimmen laut, und die Gesellschaft, die sich im angrenzenden Zimmer aufgehalten hatte, kehrte zurück und kam auf Rosvita und Fortunatus zu. Rosvita löste sich genau in dem Moment vom Fenster, als Hathui zu ihr trat. »Ich bitte Euch, Schwester Rosvita«, sagte der Adler. »Der König möchte, dass Ihr ihm aufwartet.« »Ich möchte allein mit dir reden«, sagte Alia zu Henry, während sie sich im Raum umblickte. Henry gab der kleinen Gruppe von Höflingen, Edelleuten und Bediensteten - alles in allem nicht mehr als fünfundzwanzig Leu171 te - einen Wink. »Mein lieber Markgraf Villam und Schwester Rosvita sind mit all meinen persönlichen Angelegenheiten vertraut und werden hier bleiben.« Dann streckte er wohl überlegt eine Hand aus, um Adelheid zu sich zu bitten. Sie trat vor und stellte sich neben ihn, die Wangen gerötet und ein freundliches Lächeln auf den Lippen, das sie jedoch rasch unterdrückte. »Königin Adelheid und meine Tochter, Theophanu, bleiben natürlich ebenfalls bei mir.« Er blickte jetzt auf, sah sich im Zimmer um. Sein Blick traf Hathui. Sie benötigte weder eine Einladung noch eine Entschuldigung; sie stand einfach wie immer ein paar Schritte hinter ihm. Die anderen zogen sich zu den Wänden zurück, wo sie versuchten, möglichst unauffällig zu sein. Henry beachtete sie nicht weiter. »Falls Sanglant hören will, was du zu sagen hast, wird er sicherlich hereinkommen.« »Du hast dich verändert, Henri«, erwiderte Alia. Es war eine Aussage, nichts weiter, ohne jeden Groll. »Du bist zu jenem Herrscher geworden, den ich damals in dir gespürt habe. Es tut mir nicht Leid, dass ich dich anstelle eines anderen ausgewählt habe.« Er zuckte zurück, als hätte er einen Schlag erhalten. Adelheids kleine, aber feste Hand schloss sich um seine. »Was meinst du damit, dass du mich anstelle eines anderen erwählt hättest? An wessen Stelle?« Sie schien über seinen Ausbruch verwundert. »Ist es nicht üblich unter den Menschen, Verbindungen aufgrund des Geschlechts, der Fruchtbarkeit und des Besitzes einzugehen? Ist es nicht das, was du selbst tust, Henri?« Sie deutete auf Adelheid. »Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal auf diese Welt zurückgekehrt bin, habe ich jenen gesucht, dessen Name bei meinem Volk bekannt ist. Es ist der Mann, den du Kaiser Taillefer nennst. Aber er war tot, als ich wieder auf der Erde wandelte, und er hat keine männlichen Nachfahren hinterlassen. Ich konnte aber keine Verbindung mit einem toten Mann eingehen. Ich musste nach den Lebenden Ausschau halten. Ich bin weit gereist auf der Suche nach den Lebenden. Von allen Fürsten dieser Lande war es das wendi172 sehe Geschlecht, in dem ich die größte Stärke gesehen habe. Deshalb habe ich damals geglaubt, dass dein Geschlecht das Gesuchte war.« Henrys Wangen waren - ein Zeichen seiner Verärgerung - gerötet, aber seine Stimme verriet nichts von der Gereiztheit, die kurz in seinen Augen aufblitzte, als er sie ein wenig zusammenkniff. »Ich scheine unsere Beziehung missverstanden zu haben. Ich hatte gedacht, es wäre gegenseitige Leidenschaft gewesen und dass du gütigerweise geschworen hast, dass das Kind, das wir zusammen gemacht haben, sowohl von mir als auch von dir stammt. Damit dieses Kind mein Recht besiegeln würde, als Herrscher die Nachfolge meines Vaters anzutreten. Wenn ich dich jetzt richtig verstehe, hast du aber ein anderes Ziel verfolgt? Demnach hast du mich oder irgendeinen anderen jungen Prinzen eines edlen Geschlechts - absichtlich gesucht und dich wegen der Stärke des Königreichs, das ich einst regieren würde, für mich entschieden?« »Ist es denn anders, wenn ihr hier Verbindungen eingeht?« Alia schien aufrichtig verblüfft. »Schließt ihr nicht für ein Unterfangen von großer Wichtigkeit Abkommen und Verträge, die euren Zielen am besten dienen?« Henry lachte scharf. »Hattest du denn ein Unterfangen im Kopf, als du damals in Darre zu mir gekommen bist,
Alia? Wie gut ich mich an diese Nacht erinnere!« Sie deutete auf den Garten, der jetzt bis auf das Licht, das der Mond und die Sterne spendeten, ganz dunkel war. In der Halle hatten die Verwalter damit begonnen, Lampen anzuzünden. Die vielen Bildnisse von St. Thekla auf den Wandteppichen schimmerten im goldenen Licht; ihre heiligen Kronen waren mit Silberfäden durchwirkt, und im Schein der Lampen erstrahlten sie wie Mondlicht. »Was für ein anderes Unterfangen, als das Kind zu machen? Entsprach das nicht unserer Vereinbarung?« »Sicher, das tat es. Ich wusste, dass ich ein Kind brauchte, selbst wenn mir meine Leidenschaft dir gegenüber wichtiger war, als die173 ses Kind zu zeugen. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass du das Kind ebenso sehr gewollt hättest wie ich.« Er klang verbittert. »Du hast uns beide nur allzu schnell verlassen. Wozu hättest du ein Kind wollen können, wenn du es noch im Säuglingsalter zurücklässt?« Sie trat in das Licht, das von den vier drachenköpfigen Lampen verbreitet wurde, die von den Haken an der Decke hingen und die Mitte des Zimmers beleuchteten. Trotz ihrer Tunika sah Alia eindeutig fremdländisch aus, seltsamer und wilder als die Menschen. »In ihm werden mein und dein Volk eins.« »Eins?« »Wenn es jemanden gibt, der sowohl mein als auch dein Blut in sich hat, kann es eine Hoffnung auf Frieden geben.« Fortunatus rührte sich neben Rosvita, und sie drückte kurz sein Handgelenk, um ihn zum Schweigen aufzufordern. Die anderen, die bei Henry standen, tuschelten leise miteinander. Wie konnte Alias Volk Frieden suchen, wenn es doch gar nicht mehr auf der Erde lebte, möglicherweise überhaupt nicht mehr am Leben war? Alia war die Einzige dieses legendenhaften Volkes, die vor etwa fünfundzwanzig Jahren unter ihnen gewandelt war, um dann ganz plötzlich zu verschwinden und viele Jahre später wiederzukehren, ohne auch nur ein bisschen gealtert zu sein. Aber an Henry hatten die Jahre sehr wohl ihre Spuren hinterlassen. Er zog ein rostfarbenes Stück Stoff hervor und streckte es ihr mit wütendem Triumph entgegen. Alia zuckte mit gequältem Gesicht zurück, als würde ihr der Anblick des Stoffes körperliche Schmerzen bereiten. »Ich habe dieses Stück die ganze Zeit über bei mir getragen, als Erinnerung an die Liebe, die ich für dich empfunden habe!« In diesen Worten spürte Rosvita den jungen Henry, der gerade seine Macht kennen gelernt und noch nicht genau gewusst hatte, wie er mit ihr umgehen sollte - ganz im Gegensatz zu dem erwachsenen Henry dieser Tage, der nie die Beherrschung verlor. »Du hast mich niemals geliebt, nicht wahr?« »Nein.« Henrys Ausbruch erinnerte an die aufspritzende 174 Schaumfontäne, die entstand, wenn eine Welle gegen eine Klippe klatschte. »Ich habe vor dem Rat meines eigenen Volkes einen Schwur abgelegt, dass ich mich für diese Pflicht opfern und ein Kind gebären würde, das das Blut unserer beiden Völker in sich trägt.« Schließlich, als wären die Worte endlich auch an seine eigenen Ohren gedrungen, bekam er seinen Gesichtsausdruck wieder unter Kontrolle und setzte jene hochmütige Miene auf, die eines Herrschers würdig war. »Zu welchem Zweck?« »Um eine Allianz zu schaffen. In einem Kind, das beiden Völkern entstammt, lebt die Hoffnung, dass es in beiden Stämmen leben könnte. Wir hoffen, dass der Junge die Brücke sein wird, die dein Volk zu einer Allianz mit meinem bringen wird. Da wir gewusst haben, dass du uns nicht trauen würdest, habe ich den Jungen bei dir gelassen, damit du und dein Volk ihn lieben lernen würdet. Ich habe gedacht, er würde dazu erzogen werden, nach dir zu herrschen, wie es bei den Menschen Sitte ist. Das hätte unsere Aufgabe erleichtert. Jetzt kehre ich jedoch zurück und finde ihn vom Hofe verbannt vor. Wieso hast du ihn nicht so behandelt, wie du es mir versprochen hast?« »Ich habe ihn als meinen Sohn erzogen!«, rief Henry entrüstet. »Kein anderer Mann hat seinen Sohn je besser behandelt! Aber er ist ein Bastard. Durch seine Geburt habe ich das Recht auf die Krone erhalten, aber er konnte nichts weiter bekommen als die Ehre, zum Hauptmann ausgebildet zu werden. Ich habe getan, was in meinen Kräften stand, Alia. Ich hätte ihn nach mir zum König gemacht, auch wenn alle gegen mich gewesen wären. Aber er hat mir alles, was ich ihm geboten habe, wegen dieser Frau vor die Füße geschleudert!« Er wurde jetzt sogar noch wütender, als er sich an das ungehorsame Verhalten seines Sohnes erinnerte. Sanglant kam vom Garten herein. Die Leute teilten sich rasch, um ihn hindurchzulassen. Er blieb zwischen dem König und der Aoi-Frau stehen, und plötzlich wurden die jeweiligen Ähnlichkeiten noch deutlicher: Die Stirn, das Kinn und die Größe hatte er 175 von seinem Vater, die hohen Wangenknochen, den Teint und die breiten Schultern hingegen von seiner Mutter beide Völker vermischten sich harmonisch in seinem Körper. Aber er hatte nichts von Alias nichtmenschlicher Haltung und ihrem kalten, schroffen Wesen. In Sprache und Gestik war er ganz und gar das Kind seines Vaters. »Liath ist die Urenkelin von Kaiserin Taillefer.« Ohne wirklich zu schreien, hatte Sanglant seine Stimme so sehr erhoben, dass sie überall in dem lang gestreckten Zimmer zu hören war. »Es stimmt, das Volk meines Vaters, das meiner Mutter und das von Kaiser Taillefer, dem größten Herrscher, den die Menschheit je gekannt hat, sind
in einer Person vereinigt. Und zwar in meiner Tochter Gnade.« Er deutete auf Bruder Heribert, der hinter ihn getreten war und Gnade hielt. »Ist es nicht so?« Henry hob leicht die Hand, doch die kleine Bewegung genügte, und sein Adler trat vor, um dem Prinzen eine Gegenfrage zu stellen. »Was für einen Beweis habt Ihr, dass das Kind Taillefers Geschlecht entstammt?«, fragte Hathui. »Wollt Ihr mich etwa der Lüge bezichtigen, Adler?«, fragte Sanglant leise. »Nein, Eure Hoheit«, erwiderte sie freimütig. »Aber Ihr könntet in die Irre geführt worden sein. Schwester Rosvita glaubt, dass Taillefers verlorenem Sohn eine Tochter geboren wurde. Jede Frau könnte daher behaupten, die Urenkelin von Taillefer zu sein.« »Wer würde auf die Idee kommen, so etwas zu behaupten?« Er schüttelte ungeduldig den Kopf. »Dieses Argument ist nicht sehr stichhaltig. Wenn Ihr einen Beweis braucht, werde ich Euch einen geben, und danach wird niemand mehr an Gnades Anspruch zweifeln.« »Sohn.« Wie seltsam es klang, wenn Alia dieses Wort sprach. Es ließ Sanglant mehr wie einen Fremden erscheinen, weniger als ein geschätztes Mitglied der Familie. »Es ist wahr, dass ich damals, als ich zum ersten Mal durch das Tor in dieses Land gekommen bin, die Absicht hatte, ein Kind zu machen, das ein Abkömmling von 176 Taillefer ist. Aber es sollte nicht sein. Dass du nun so etwas zustande gebracht hast -« Sie hatte eine eigenartige, ergebene Art, mit den Schultern zu zucken, als wollte sie damit sagen, dass ihre Götter gehandelt hatten, ohne sie um Rat zu fragen. »So sei es. Ich beuge mich dem Willen von Jene-Die-Erschafft. Zeige also den Beweis, wenn die Menschheit sich nicht anders von der Wahrheit überzeugen lassen will. Aber der Beweis wird nur von geringer Bedeutung sein, wenn ihr alle tot seid, weil nämlich die große Umwälzung auf euch hernieder kommen wird.« Die meisten schienen noch immer auf Gnade zu starren, die sich jetzt in Heriberts Armen rührte, kräftig gähnte und ihren kleinen Mund öffnete; sie machte kurz ein müdes Gesicht und schlief wieder ein. Doch Henry hatte gehört, was Alia gesagt hatte. »Von welcher Umwälzung sprichst du?« Er betrachtete sie eingehend. »Du kennst die alte Prophezeiung, die eine heilige Frau deines Volkes gemacht hat, nicht wahr? Ist darin nicht von einem großen Unheil die Rede?« Rosvita kam etwas in den Sinn, und sie meldete sich ungefragt zu Wort. »>Und es wird großes Unheil auf euch niederfahren, eine gewaltige Umwälzung, wie ihr sie nie zuvor erlebt habt. Das Wasser wird kochen, und die Himmel werden Tränen aus Blut vergießen, die Flüsse werden bergauf fließen und die Winde sich in Strudel verwandeln. Die Berge werden zu Meer werden, und das Meer wird zu Bergen werden, und die Kinder werden vor Entsetzen aufschreien, denn es gibt keinen Boden mehr, auf dem sie stehen könnten. Und sie werden diese Zeit die Große Umwälzung nennen.<« »Heißt das, du drohst meinem Königreich?«, fragte Henry mit sanfter Stimme. »Ganz und gar nicht«, erwiderte Alia mit einem seltenen Zeichen von Verärgerung. »Vor vielen Jahren - eurer Zeitrechnung nach - hat dein Volk meins vertrieben, und jetzt kehrt es zurück. Aber der Zauberspruch, der von euren Zauberern gewirkt wurde, wird dreifach auf euch zurückwirken. Die Umwälzung, die die Erde 177 damals befallen hat, ist nichts gegen das, was ihr in fünf Jahren bevorsteht, wenn das, was von ihr abgeschnitten wurde, an seinen Anfangspunkt zurückkehrt.« »Wie der Pfeil, den Liath gen Himmel schoss«, sagte Sanglant leise. Er schien mit sich selbst zu sprechen und eine Erinnerung zu bemühen, die niemand von den anderen teilen konnte. »Sie hat ihn gen Himmel geschossen, aber er ist zur Erde zurückgekehrt. Jeder Narr hätte gewusst, dass er das tun würde.« »Was willst du mit dieser Geschichte sagen?«, fragte Henry. »Weshalb bist du zu mir gekommen, Alia?« Alia deutete auf ihr Gesicht, auf den bronzefarbenen Teint und die ungewöhnlichen Gesichtszüge. »Einige von meinem Volk sind noch immer wütend, denn die Erinnerung an unsere Vertreibung lastet schwer auf uns. Sie wollen die Menschheit bekämpfen, wenn wir zur Erde zurückgekehrt sind. Aber andere von uns suchen Frieden. Deshalb bin ich gekommen.« Sie trat vor und legte eine Hand auf Sanglants Ellenbogen. »Dieses Kind ist meine Friedensgabe, Henri.« Henry lachte. »Wie kann ich deine wüsten Prophezeiungen glauben? Jede Wahnsinnige könnte derartige Phantastereien vom Ende der Welt von sich geben. Wenn eine solche Geschichte wahr wäre, wieso wissen dann meine gelehrten Geistlichen nichts davon? Schwester Rosvita?« Seine ausgestreckte Hand hatte die Kraft eines Speers, und sie fühlte sich von seinem Blick regelrecht festgenagelt. »Ich weiß es nicht, Eure Majestät«, sagte sie zögernd. »Ich habe seltsame Dinge gesehen und seltsame Geschichten gehört. Ich bin mir nicht sicher.« Schließlich sprach Theophanu. »Heißt das, Ihr glaubt diese hanebüchene Geschichte von der Großen Umwälzung, Schwester Rosvita? Ihr glaubt wirklich, dass die legendären Aoi durch Zauberei in die Verbannung geschickt wurden?« »Ich erinnere mich an Gemälde auf der Wand des Klosters von St. Ekatarina. Erinnert Ihr Euch nicht daran, Eure Hoheit?«
178 »Ich habe in dem Klöster nur ein einziges Wandgemälde gesehen, und zwar das in der Kapelle, dem wir gehuldigt haben«, erklärte Theophanu mit kühlem Abscheu. »Darauf war die gute Heilige persönlich, gekrönt von ihrem Ruhm.« »Ich glaube die Geschichte«, sagte Sanglant, »und es gibt noch andere, die sie ebenfalls glauben. Bischöfin Tallia, Kaiser Taillefers Tochter, hat ihr Leben lang damit zugebracht, Vorkehrungen für das zu treffen, von dem sie wusste, dass es geschehen würde.« »Sie ist von der Kirche beim Konzil von Narvone gemaßregelt worden«, stellte Theophanu klar. »Sei nicht albern, Theo«, entgegnete Sanglant. »Wann habe ich dich jemals angelogen?« Der Stachel saß, aber sie erholte sich rasch wieder davon, und ihr Gesicht verwandelte sich in eine leidenschaftslose Maske, als Sanglant fortfuhr. »Bischöfin Tallia hat die Frau unterwiesen, die Taillefers Enkelin aufgezogen und als Mathematiki unterrichtet hat. Taillefers Enkelin hat Liath geboren und arbeitet bereits an den Vorkehrungen, die Verlorenen erneut zu vertreiben und zu vernichten.« Henry streckte beide Arme aus. »Aber wieso hat Taillefers Enkelin sich den großen Fürsten dieses Reiches niemals vorgestellt? Wie kann sie so verborgen leben, dass wir niemals auch nur den kleinsten Hinweis auf ihre Existenz erhalten haben?« »Sie ist eine Mathematiki«, bemerkte Sanglant. »Die Kirche hat solche Zauberei beim Konzil von Narvone verdammt. Wieso hätte sie sich offenbaren sollen, wenn sie damit nur ihre Verdammung heraufbeschworen hätte?« Er nickte Theophanu zu. »Wo ist diese Frau jetzt?«, fuhr Henry unruhig fort. »Wo ist deine Frau, Sanglant?« »Oh, Gott«, fluchte Sanglant leise. »Um die ganze Geschichte zu erzählen ...« »Wie soll ich diese Geschichte jemals glauben, wenn ich nur einen Teil von ihr kenne?«, fragte Henry nicht ohne Logik. »Wein!« Er winkte, und ein Verwalter brachte zwei Stühle, einen für Henry und einen für Adelheid. »Ich werde geduldig zuhören, wie lang 179 deine Geschichte auch dauern mag, Sohn. Mehr kann ich dir nicht versprechen.« 2 Es gab kein richtiges Festessen mehr in dieser Nacht; dafür brachten die Bediensteten Köstlichkeiten aus der Küche, und die Anwesenden konnten essen, während Prinz Sanglant stockend seine Geschichte erzählte, immer wieder zu etwas zurückkehrte, das er vergessen hatte. Er war eher verstört als verärgert, ungeduldig auf die Weise eines Mannes, der es gewohnt war, dass seine Befehle augenblicklich befolgt wurden. Ein leichter Wind war inzwischen im Zimmer aufgekommen, strich um die Lampen, die daraufhin ein wenig schwankten. Schatten tanzten an den Wänden entlang und über die Wandteppiche, als wären sie Boote auf dem Wasser. Die Stille und die zuckenden Schatten verwandelten Sanglants Erzählung in etwas anderes, in eine Art Sage. Eine Frau, die sich Anne nannte, hatte sich Liath bei Werlida genähert und behauptet, ihre Mutter zu sein. Er und Liath waren mit Anne weggegangen. Sie waren auf verschiedene Weise gereist und hatten die Gesellschaft von Bediensteten genossen, die keine körperliche Gestalt, keinen irdischen Körper besaßen. Sie waren an einen Ort namens Verna gelangt, der verborgen im Herzen des Alfar-Gebirges lag. Dort hatte Liath die Künste der Mathematiki erlernt. »Verdammte Zauberei«, sagte Henry; sein einziger Kommentar bisher. »Es ist ihr Geburtsrecht«, erwiderte Sanglaut. »Du kannst dir ihre Macht nicht vorstellen, -« Er brach ab, als er in ihre Gesichter sah. Zu spät erinnerte er sich; Henry hatte es niemals vergessen. Henry hatte es Liath immer noch nicht verziehen, dass sie ihm den Sohn gestohlen hatte. »Der Rat von Autun hat Liathano, die einst als Adler in meinen 180 Diensten gestanden hat, unter der Leitung meiner Schwester Constanze exkommuniziert und aufgrund des Ausübens von Zauberei für vogelfrei erklärt«, sagte Henry mit sehr ruhiger und daher auch höchst gefährlicher Stimme. »Nach allem, was ich weiß, nehme ich an, dass sie dich verhext und zu mir zurückgeschickt hat, damit du mich mit Hilfe dieser Geschichte von Taillefers verlorener Urenkelin dazu bringst, ihrer Tochter Privilegien und eine Ehre zu gewähren, die sie nicht verdient hat.« Er blickte das schlafende Kind nicht an, als er dies sagte. »Was ist mit mir?«, fragte Alia, die ohne sichtbares Interesse zugehört hatte. »Ich bin keine Verbündete dieser Liathano, die ich weder getroffen habe noch sonst wie kenne. Ich bin auch keine Verbündete dieser Frauen, die Zauberinnen sind und meinem Volk Schaden zufügen wollen. Deshalb bin ich zu dir gekommen, Henri, damit wir uns gegen sie verbünden.« Henry leerte seinen Becher Wein und machte eine Geste, dass ihm neuer gebracht werden solle. Adelheid saß reglos wie eine Statue aus Stein neben ihm. Nur ihre Haare gerieten in Bewegung, von jener Brise aufgewirbelt, die sich um die Lampen an der Decke wand. »Ich könnte einen Botschafter zu deinem Volk schicken, damit mit den Verhandlungen begonnen werden kann.« Alias Kiefer wurde hart, und sie betrachtete ihn voller Missfallen. »Niemand von deinem Volk kann durch das Tor gehen, das zu unserem Land führt.« »Das behauptest du. Und dennoch bist du hier.« Sie öffnete ihre linke Hand mit der Handfläche nach oben und enthüllte eine alte, zackige Narbe. »Ich bin das,
was du eine Zauberin nennst, Henri.« »Sind denn nicht bereits Mathematiki unter uns? Sie könnten genauso reisen wie du. Wir sind nicht machtlos.« »Vater!«, protestierte Theophanu entsetzt, warf jedoch Adelheid einen Blick zu. »Du würdest doch nicht zulassen, dass von der Kirche verdammte Magie zu deinem Vorteil angewandt wird -?« Henry hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. Sie 181 brach ab, blickte Rosvita an, dann faltete sie die Hände in ihrem Schoß und schaute mit festem Blick auf die gegenüberliegende Wand - und den Wandteppich mit St. Thekla und dem Trank des Heiligen Wassers. »Du verstehst die Struktur des Universums nicht, Henri. Ich bin im Exil geboren, und aus diesem Grund kann ich im Äther reisen. Ich habe die Sphären bereist. Niemand von euch würde so etwas überleben.« Sanglants Lippen bewegten sich, doch er gab keinen Laut von sich. Henry schüttelte den Kopf. »Wie kann ich eine solch phantastische Geschichte glauben? Es könnte sich genauso gut um eine Sage handeln, die ein Poet in der großen Halle zum Besten gibt. Ich werde mit meinem guten wendischen Heer gen Süden nach Aosta marschieren, um Königin Adelheid ihren rechtmäßigen Thron zurückzugeben. Du kannst mit uns kommen, wenn du willst. An meinem Tisch ist immer ein Platz für dich frei, Alia.« Er wandte sich um und blickte Sanglant an, der mit geballten Fäusten und ungeduldiger Miene dastand. Genau darin lag die Gefahr, wenn man einem Mann bereits in jungen Jahren ein Kommando gab: Es dauerte nicht lange, bis er davon überzeugt war, dass sich ihm niemand widersetzen würde — nicht einmal sein Vater. »Du, Sohn, kannst dich ebenfalls meinem Heer anschließen, wenn du mich für deine Ungehorsamkeit um Verzeihung bittest. Ich werde deiner Tochter jede Ehre gewähren, die ihr als Enkelin meines Geschlechts zusteht. In meinem Heer gibt es einen Platz für dich. Wenn du mich darum bittest.« »Du glaubst nichts von dem, was ich gesagt habe«, sagte Sanglant leise. Henry nippte an seinem Wein, dann fingerte er an dem leeren Becher herum, während er seinen Sohn mit einem Blick musterte, als würde er einen rebellischen jungen Edelmann betrachten. »Wie kann ich eine solch abstruse Geschichte glauben? Ich bin Herrscher. Wir hatten diese Diskussion schon zuvor. Wenn du 182 meine Vergebung wünschst, musst du mich darum bitten. Aber du weißt, mit welchen Verpflichtungen das verbunden ist.« »Dann werde ich woanders Unterstützung suchen.« Die Worte trafen die Anwesenden wie ein Blitz. Villam trat vor. »Prinz Sanglant, ich bitte Euch, sprecht nicht so voreilig -« »Ich spreche nicht voreilig«, sagte Sanglant schroff. »Ihr habt nicht gesehen, was ich gesehen habe. Ihr begreift weder, welche Macht Anne hat, noch mit welcher Rücksichtslosigkeit sie sie einsetzt.« »Was meinst du damit, Bruder?«, fragte Theophanu. Sie hatte sich seit der Flucht aus St. Ekatarina vollständig von Rosvita entfernt, sodass die Schwester nicht einmal mehr ahnen konnte, was in ihrem Kopf vor sich ging. »Falls deine Worte und die deiner Mutter der Wahrheit entsprechen, versucht diese Anne doch nur, die Erde vor den Aoi zu schützen. Wenn du also derart gegen sie eingestellt bist, musst du für das Volk deiner Mutter Partei ergriffen haben. Möglicherweise ist das alles nur ein Ablenkungsmanöver, um ihnen zu helfen.« Gnade, noch immer in Heriberts Armen, erwachte und schrie. Sie wurde unruhig und ruderte mit Armen und Beinen, streckte aber die Hände nicht nach ihrem Vater aus, sondern nach der Mitte des Raums. Ihr Gesicht war vor Anstrengung verzerrt. »Ma! Ma!«, schrie sie und strampelte dabei so sehr, dass Heribert sie kaum auf den Armen halten konnte. Die Luft nahm Gestalt an. Nebel sammelte sich in der Mitte des Raums an der Stelle, die von den herabhängenden Lampen eingekreist war. Die hellen Schwaden hatten etwas von einem Rahmen, wie ein unverschlossenes Fenster. Rosvita taumelte; sie war ganz benommen davon, dass alles, was sie zu wissen und begreifen glaubte, plötzlich in Frage gestellt wurde, während alle anderen um sie herum einen Satz zurück machten oder in die andere Kammer flohen; einige schluchzten sogar vor Angst. Adelheid erhob sich. Henry blieb sit183 zen, umklammerte mit seinen Händen aber die Drachenköpfe, die in die Armlehnen seines Stuhls geschnitzt waren. »Ma!«, schrie das Kind. Eine Antwort erklang, schwach und aus so weiter Ferne, dass es auch ein Traum hätte sein können. »Gnade!« Etwas verändert und aufgrund von Schmerz oder Kummer heiserer als zuvor erscholl die körperlose Stimme erneut. »Sanglant!« Sanglant machte einen Satz nach vorn. »Liath!« Alia packte ihn kräftig am Ellenbogen und riss ihn zurück. Ihre Kraft war erstaunlich: Sanglant, der gut eineinhalb Köpfe größer war als sie, taumelte tatsächlich zurück. Gnade wand sich aus Heriberts Armen. Henry schrie eine Warnung, als sie fiel, und Sanglant stürzte auf das Kind zu, aber er war zu weit weg, um sie auffangen zu können. Irgendetwas war bereits unter ihr. Gnade versank in den Falten der Luft, die die Gestalt einer Frau annahmen, mit sinnlichem Mund, ausgeprägten
Wangenknochen, einer königlichen Nase, einer breiten, intelligenten Stirn sowie dichtem Haar. Sie war keine menschliche Frau, sondern eine Frau aus Luft und so fließend wie Wasser. Sie bestand nicht aus irdischer Substanz. Ein Schleier aus Nebel verhüllte jene Teile, die sie als Frau kennzeichneten, aber ansonsten war sie unbekleidet und besaß die vollen Brüste einer stillenden Frau. In ihren Armen beruhigte Gnade sich sofort, und sie drehte ihren Kopf herum, sodass sie an ihrer Brust trinken konnte. Henrys Gesicht wurde weiß vor Entsetzen, als er sich erhob. »Was für eine Obszönität ist das? Was für ein Geschöpf ernährt das Kind?« Sanglant stellte sich sofort schützend vor die Kreatur. »Liath war nach der Geburt zu krank, um Gnade stillen zu können. Sie hat sogar Ziegenmilch abgelehnt. Sie wäre gestorben, wenn Jerna nicht gewesen wäre.« »Was für ein Geschöpf ist das?«, murmelte Theophanu. Ihre 184 Frauen hatten sich verängstigt um sie geschart; sie blickten angeekelt drein, doch Theophanu betrachtete die Szene lediglich mit zusammengekniffenen Augen und einem wilden Stirnrunzeln. Bis auf Heribert waren alle zurückgewichen. Adelheids Hand zuckte leicht, und sie beugte sich nun im Gegensatz zu der Missbilligung ausstrahlenden Theophanu weiter vor, um das ätherische, stillende Wesen mit leicht geöffneten Lippen zu mustern. Hathui blieb gelassen und ungerührt hinter Henry stehen. »Ich glaube, es ist eine Daemonin«, sagte Rosvita. Fortunatus pfiff leise hinter ihr. Er hatte sie nicht verlassen. »Eines der Elementarwesen, die im Äther hausen, in den oberen Sphären.« »Haben solche Kreaturen Seelen?«, fragte Adelheid. »Die alten Schreiberinnen haben das bezweifelt«, murmelte Rosvita ohne Umschweife. Die sich an die Mauern drängenden Anwesenden schnappten deutlich hörbar nach Luft. Niemand sprach. Gnade nuckelte vernehmlich, während alle anderen sie anstarrten. Oh, Herrin! Was für eine Nahrung mochte von einer seelenlosen Daemonin kommen? »Es ist also wahr.« Die Maske aus Stein zerbrach und enthüllte Henrys wahre Gefühle. »Du bist verhext worden, Sanglant, so wie Judith und ihr Sohn es behauptet haben. Du bist nicht mehr Herr deiner eigenen Sinne oder Taten. Lavastin war Opfer eines Banns von Bischöfin Antonia. Und jetzt bist du eine Schachfigur in der Hand dieser Zauberin, die dich mir gestohlen hat. Wo ist Liathano? Was will sie?« »Ich bitte Euch, Eure Majestät«, rief Rosvita und trat vor. Sie wusste, wohin solche Anschuldigungen führen konnten. »Ihr solltet keine übereilten Entscheidungen fällen. Lasst einen Rat zusammentreten, damit jene, die in diesen Dingen am besten Bescheid wissen, die Situation mit kühlen Köpfen und weisen Herzen beurteilen können.« »Wie sie es in Autun getan haben?«, erwiderte Sanglant mit grimmiger Miene. Er löste Gnade vorsichtig aus dem Griff der Daemonin. Das Kind widersetzte sich lebhaft, bekam einen seiner 185 Finger zu packen und nuckelte daran, wobei sie ihn anstarrte. Die Daemonin entkräuselte sich - Rosvita konnte es nicht anders nennen -, die Daemonin entkräuselte sich also in der Luft und verschwand. Einfach so. Mit einem tiefen Atemzug machte Henry einen Schritt zurück und setzte sich hin. »Ich werde einen Rat einberufen, wenn wir Darre erreicht haben. Die Skopos höchstpersönlich soll über diese Angelegenheit urteilen.« »Und du erwartest von mir, dass ich so lange ruhig an deiner Seite bleibe?«, fragte Sanglant. »Es gab einmal eine Zeit, da hast du getan, was ich von dir verlangt habe, Sohn.« »Aber ich bin nicht mehr, was ich einst war. Du hast nicht verstanden, was aus mir geworden ist. Und du traust mir auch nicht mehr. Ich habe niemals dieses Königreich im Stich gelassen, und das werde ich auch niemals tun. Ich weiß, was getan werden muss, und wenn du mich nicht unterstützt, werde ich jene finden, die handeln werden, bevor es zu spät ist.« »Ist das eine Rebellion, Sanglant?« »Ich bitte Euch«, sagte Rosvita und trat vor, um sich zwischen die beiden Männer zu stellen; sie sah das Unheil kommen, spürte, wie es sich unwiderruflich entwickelte. »Nein, Schwester«, sagte Henry, »stellt Euch nicht zwischen uns.« Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als zu schweigen. Sie sah beim König bestimmte Anzeichen von Hilflosigkeit gegenüber dem Sohn, den er mehr liebte, als er seine anderen Kinder je geliebt hatte, sah es an der Art, wie seine Lippen ungebeten zuckten, an der Kraft, mit der seine linke Hand die Armlehne umklammerte, mit der sein rechter Fuß in raschem Stakkato auf den Boden trommelte. »Lasst ihn die Frage beantworten.« Doch schon immer hatte Sanglant den Worten Taten vorgezogen. »Heribert!« Er drückte seine Tochter fester an sich und schritt zur Tür, dicht gefolgt von Heribert. Als er die Tür erreichte, drehte er sich zu seiner Schwester um. »Theo?« 186 Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Sanglant. Du weißt nicht, was ich gesehen habe. Ich werde dir nicht folgen.« »Am Ende wirst du es doch tun«, sagte er leise. »Weil ich weiß, was geschehen wird.« Er ließ seinen Blick rasch über die anderen schweifen, verweilte nur bei Rosvita etwas länger, als er ihr ein kurzes Lächeln schenkte und ihr zunickte. »Seid weise in Euren Ratschlägen, Schwester«, sagte er leise. Dann verbeugte er sich vor Adelheid und ging hinaus. Die Lampen schwankten. Eine von ihnen verlosch abrupt und mit einem spöttischen Zischen, als wäre es ein
geräuschvoller Atemzug gewesen, und einen Augenblick später flackerte auch die zweite Flamme und verlosch. Alles verharrte. Aber es war nicht still. Sofort begannen alle, wild durcheinander zu reden. »Ich bitte Euch«, sagte Henry mit einer Stimme, die so gedehnt klang, dass es schien, als würde sie jeden Augenblick zerreißen. Sie schwiegen. »Du bist nicht mit ihm gegangen«, sagte Henry zu Alia. Sie stand an der Tür, die in den Garten führte. Sie lächelte, aber es war kein beruhigendes Lächeln. Sie hob die Hand und murmelte leise etwas, während sie eine bestimmte Geste vollführte. Sofort gingen die Flammen der Lampen wieder an. Während die Anwesenden angesichts solcher Zurschaustellung von Magie unruhig wurden, lächelte sie wieder auf jene stille Weise, mit der sich eine Katze putzen mochte, nachdem sie eine besonders fette und saftige Maus verdaut hat. »Er ist jung und hat ein hitziges Temperament. Doch ich begreife nicht, wieso du mir nicht zuhörst, Henri. Ist der Menschheit so viel Wissen verloren gegangen, dass du dich weigerst, mir zu glauben? Erinnerst du dich wirklich nicht mehr an das, was vor langer Zeit geschehen ist? Ich komme als - wie würdet ihr es nennen? -eine Botschafterin meines Volkes zu deinem. Um euch zu sagen, dass viele von uns Frieden wollen, keinen Krieg.« »Wo ist dein Volk? Wo hat es sich versteckt?« 187 Sie atmete zischend aus, ein Zeichen ihrer Enttäuschung. »Ich biete dir jetzt, da du eine Position der Stärke innehast, die Gelegenheit zu einer Allianz. Viele aus unserem Rat waren dagegen, aber weil ich etwas von meinem Wesen zur Erschaffung dieses Kindes beigesteuert habe, konnten sie mich von meiner Entscheidung, jetzt zu kommen, nicht abhalten. Ich habe mich dazu entschieden, dir diese Chance zu geben.« Sie schritt zur Tür und hielt an der Schwelle inne. »Wenn ich das nächste Mal vor dich trete, Henri, wirst du schwach sein.« Sie ging nach draußen. Niemand versuchte, sie aufzuhalten. Dann trat eine lange Stille ein. Fortunatus berührte Rosvita leicht mit der Hand am Ellenbogen. Irgendwo im Garten erscholl das Lachen einer Frau - die Sorglosigkeit, die es ausstrahlte, war nahezu unglaublich. Der sanfte Schimmer, der von den Lampen auf die Anwesenden fiel, erweckte den Eindruck, als handelte es sich um die Arbeit eines uralten Bildhauers mit nach Gutdünken verteilten Holzstatuen: Da saß der Herrscher mit seinen dunklen Augen, die in einem ansonsten ungerührten Gesicht stürmisch dreinblickten. Da stand die Königin, deren leichte Gesichtsröte selbst im goldenen Schimmer der Lampen zu erkennen war. Der alte Edelmann rieb sich gewohnheitsmäßig den leeren Ärmel der Tunika unterhalb des Ellenbogens, als würde ein Hauch von Zauberei ihm jeden Augenblick den verlorenen Arm zurückgeben können. Die Prinzessin hatte sich abgewandt und zeigte ihr Profil; Juwelen glänzten in ihrem Nacken, und eine Hand ruhte auf der Schulter einer ihrer Edelfrauen. Sie war gefangen in einem Augenblick vertraulichen Flüsterns. Der Adler des Königs hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte eher gedankenvoll als entsetzt, im Gegensatz zu allen anderen. Abgesehen von Henry, dessen Wut sich in den kalten Zorn eines Wintersturms verwandelt hatte. St. Thekla machte ihre Runden auf den Wandteppichen, für immer gefangen im Kreislauf ihres Lebens und Märtyrertums, eine ewig gegenwärtige Erinnerung an den Ruhm ihrer Botschaft. Villam hustete. 188 Der König erhob sich". Er blickte seinen Adler an und machte eine kleine, aber bedeutungsvolle Geste. Der Adler nickte leicht, als hätte er laut gesprochen; dann verließ Hathui das Zimmer, um sich einer unbekannten Aufgabe zu widmen. »Ich möchte mich zum Schlafen zurückziehen.« Henry machte zwei Schritte auf eine der inneren Türen zu, bevor er sich umdrehte und Adelheid anblickte, doch die junge Königin rührte sich nicht. »Haltet Ihr die Geschichte für unglaubwürdig, Schwester Rosvita?«, fragte sie. Zuerst fürchtete Rosvita, sie hätte vollkommen verlernt zu sprechen. Ihre Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum, bevor sie in der Lage war, sie zu ordnen. »Ich brauchte mehr Beweise. So fällt es mir wirklich schwer, es zu glauben.« »Das heißt aber nicht, dass es nicht wahr sein könnte.« Adelheid blickte in den Garten. Der kühle Wind der Herbstnacht drang in das Zimmer, und Rosvita fröstelte leicht. Was, wenn er eine andere Daemonin, einen anderen Daemon brachte? »Wir haben schon weit seltsamere Dinge gesehen, Schwester Rosvita. Wie kann uns das hier mehr verblüffen als all das, was wir bezeugt haben?« Sie nickte ihren Edelfrauen zu und folgte Henry in das andere Zimmer. »Ihr habt Königin Adelheids Loyalität errungen«, sagte Theophanu zu Rosvita. »Aber um welchen Preis? Und zu welchem Zweck?« »Eure Hoheit!« Theophanu antwortete nicht. Sie zog sich mit ihren Frauen in das Zimmer zurück, in dem sie zuvor Schach gespielt hatten und in dem jetzt Betten und Pritschen für die Nacht errichtet wurden. Wie hatte es nur dazu kommen können? »Macht Euch keine Sorgen, Schwester«, flüsterte Fortunatus hinter ihr. »Ich glaube nicht, dass Prinzessin Theophanu ewig auf Euch wütend sein wird. Sie leidet unter dem Stachel der Eifersucht. Er hat schon immer an ihr genagt.«
189 »Was meint Ihr damit, Bruder?« »Glaubt Ihr das etwa nicht?«, erwidert er, vor ihrer Reaktion überrascht. »Nun, vielleicht habe ich auch Unrecht. Sicherlich seid Ihr weiser als ich, Schwester.« Bedienstete und Wachen verteilten sich, eilten zu ihren jeweiligen Plätzen, aber Villam blieb noch und trat schließlich vor. Er machte Rosvita ein Zeichen, dass er mit ihr allein sprechen wollte, und so entfernte sich Fortunatus diskret und kümmerte sich um die Vorbereitungen für die Nacht. »Glaubt Ihr das, was sie erzählt haben?«, fragte Villam. Das Lampenlicht glättete sein Gesicht, sodass er jetzt wie sein jüngeres Ebenbild aussah, gesund und munter und gut aussehend genug, um das Interesse einer Frau nicht nur wegen seiner Titel und seiner Besitztümer auf sich zu ziehen. Hatte sie ihn nicht auch so angesehen, als sie - eine junge Frau noch - gerade erst zum Hof gekommen war und sich von seinem Glanz ganz überwältigt gefühlt hatte? Nur wenige Männer hatten sie in ihrem Leben in Versuchung geführt, denn Gott hatten ihre Leidenschaften immer fest im Griff gehalten, und Villam achtete Gott und die Kirche und ein klares »Nein«. Seit Jahren begegneten sie sich mit gegenseitigem Respekt. »Ich kann es nicht ganz von der Hand weisen, Villam. Aber es erscheint zu unmöglich, als dass man es geradewegs glauben könnte.« »Ihr gehört nicht zu denen, die irgendwelchen Einfällen allzu leichtfertig Glauben schenken, Schwester, und Ihr seid auch Gerüchten gegenüber kritisch. Was werdet Ihr dem König raten?« »Ich werde dem König raten, nicht voreilig zu handeln«, sagte sie mit einem bitteren Lachen. »Villam, ist es möglich, dass Ihr jetzt geht und mit Prinz Sanglant sprecht?« »Ich kann es versuchen.« Er verschwand. Der direkte Kreis um den König - Geistliche, Verwalter und Bedienstete - hatte das Recht, in seinen Gemächern zu schlafen, und Rosvita stand eine eigene Pritsche zur Verfügung. Trotz des be190 quemen Bettes verbrachte sie eine schlaflose Nacht, in der sie von Träumen gequält wurde. Eine schwangere Frau, die ein Federkleid trug und das Antlitz einer Aoi-Königin hatte, saß auf einem steinernen Platz, der so bearbeitet worden war, dass er die Form eines Adlers hatte. Hinter ihr donnerte ein goldenes Rad, zog sie in eine Höhle, deren Wände voller tropfendem Eis waren. Villams verlorener Sohn Berthold schlief auf einem Lager aus Juwelen, umgeben von sechs Begleitern, deren junge Gesichter den friedlichen Ausdruck zeigten, den Engel zu haben pflegten, wenn sie endlich Gottes Angesicht erblickten. Aber die goldene Ruhe, die sich über ihren Schlummer senkte, wurde jäh zerstört, als eine ausgemergelte Gruppe Soldaten in die Halle platzte, vor Furcht und Erstaunen laute Rufe ausstoßend. Oh, Gott, hatte einer dieser Männer das Gesicht von Ivar? Oder war es Amabilia, die endlich gekommen war, um sie wieder zu besuchen? Amabilia war tot. Doch wie war es möglich, dass sie noch immer ihre Stimme hörte? »Schwester, ich bitte Euch, wacht auf.« Fortunatus beugte sich über sie. Ein schwaches Licht säumte das offene Fenster und die offene Tür, die in den Garten hinausführte. Vögel gaben trällernd ihr Morgenlied zum Besten. Soldaten waren gekommen, um den König zu wecken. Henry tauchte mit schläfrigem Gesichtsausdruck aus seinem Schlafzimmer auf. Er war barfuss. Ein Diener machte sich hinter ihm zu schaffen, bot ihm einen Gürtel für seine hastig übergeworfene Tunika. »Eure Majestät! Prinz Sanglant ist soeben mit mehr als fünfzig bewaffneten Soldaten und Bediensteten davongeritten. Er hat die Straße nach Bederbor genommen, zur Burg von Herzog Conrad.« Henry blinzelte, dann blickte er Helmut Villam an, der in diesem Augenblick das Zimmer betrat. »Hat denn niemand den Versuch unternommen, ihn aufzuhalten?« Der Feldwebel zuckte hilflos mit den Schultern, aber Villam trat vor. »Ich habe mit ihm gesprochen.« 191 » Und?« Villam schüttelte den Kopf. »Ich rate, die Sache erst einmal auf sich beruhen zu lassen.« »Bringt mir mein Pferd«, sagte Henry. Noch bevor die anderen sich von ihren Lagern erhoben hatten, war er davon. Rosvita machte Anstalten, ihm zu folgen, und erreichte die Ställe gerade noch rechtzeitig, um sich ein Maultier geben zu lassen und hinter ihm herzureiten. Umgeben von einem Dutzend Soldaten ritt er neben Hathui, die er in eine angeregte Unterhaltung verwickelt hatte. Als Rosvita die Gruppe eingeholt hatte, blickte er sie an, sagte aber nichts, als sie sich dem Zug anschloss. Zuerst glaubte sie, er wolle seinen Sohn verfolgen, aber jenseits der Palasttore schlugen sie einen anderen Weg ein - einen, der an dem Kloster vorbei und in den Wald führte, einen schmalen Pfad entlang, der noch immer üppig bewachsen war. Der Pfad schlängelte sich durch den Wald. Erlen wuchsen um sie herum, und ihre Blätter färbten sich in der herbstlichen Nachtkühle silbern. Ein Netz aus Rinnsalen und Bächen durchzog die dichte Vegetation, tief hängende Weiden standen zwischen dornigen Brombeeren, Büscheln von Wundkraut und Riedgras. Ein Fuchs schoss unter dem Schutz von Hartriegel, der seine Blätter halb abgestoßen hatte, davon. Die Hufe der Pferde klangen gedämpft auf dem Lehmboden. Durch eine Lücke in den Zweigen sah sie einen Bussard über den
Baumwipfeln kreisen. Der Pfad öffnete sich abrupt zu einer Wiese, die durch einen leichten Anstieg gekennzeichnet war, wo mehrere behauene Steine in seltsamen Winkeln zueinander standen, sich abhängig von der Beschaffenheit des Bodens entweder nach rechts oder nach links neigten. Einer der Steine war umgestürzt. »Hier?«, fragte Henry. »Bis hier.« Hathui deutete auf den Steinkreis. »Sie ist hineingegangen und nicht wieder herausgekommen. Ich habe auch keinen Hinweis darauf, dass sie durch die Steine in den Wald dahinter ge192 gangen wäre. Dort ist kein Weg mehr, nichts als ein ziemlich überwucherter Wildpfad.« Henry winkte Rosvita zu sich. »Ihr seid damals mit Eurer Gruppe durch eines dieser Tore verschwunden, Schwester. Könnte es nicht sein, dass die Aoi sich in einem verborgenen Winkel der Erde versteckt halten und dort abwarten?« »Das könnte sein, Eure Majestät. Aber ich weiß nicht, mit welchen Mitteln der Zauberei das geschehen sein soll.« »Und doch gibt es Mathematiki unter uns, die uns so dienen könnten, wie der eine Adelheid gedient hat«, sinnierte er. Sie zuckte mit den Schultern, holte tief Luft, um ihn vor der Zauberei zu warnen, aber er wandte sich ab. Sie sagte nichts. Licht strömte langsam über die Wiese, weckte die Schatten auf, und die Strahlen krochen höher, bis der König vollständig erleuchtet war. Die Sonne krönte ihn mit ihrem Glanz, als er den schweigenden Kreis der uralten Steine anstarrte. Eine Brise zupfte an seinen Haaren, und sein Pferd stampfte einmal auf, schüttelte den Kopf und stieß mit einem Ohr nach einer lästigen Fliege. Der König wartete dort, still und wachsam, während Hathui ein letztes Mal die Steine umrundete. »Was für Neuigkeiten gibt es über die Berge?«, fragte er, als der Adler schließlich zu ihm trat. »Die meisten Berichte bestätigen, dass die Pässe noch immer frei sind. Es ist für diese Jahreszeit ungewöhnlich warm, und auf den Gipfeln liegt wenig Schnee. Wenn Gott wollen, haben wir noch einen Monat lang gutes Wetter. Genug, um das Gebirge zu überqueren.« Auf dem Weg zurück sang er, lud seine Soldaten ein, in sein Lied einzustimmen. Schließlich sprach er mit ihnen über ihre Familien und ihre letzten Feldzüge. Bei den Ställen wartete bereits ein Verwalter, der ihn sofort zur Kapelle führte, wo Adelheid und Theophanu mit ihren Gefolgschaften im Gebet warteten. Henry trat wie eine große, kräftige Flamme ein, und Adelheid erhob sich, um ihn mit einer ähnlichen Ausstrahlung zu begrü193 ßen. Theophanu wartete mit unendlicher Geduld am Rand, während der König sich Zeit ließ, seine hübsche, junge Königin zu begrüßen. Aber er vergaß nicht, seine Tochter zu beachten. Er küsste sie auf beide Wangen und zog sie zu sich, sodass alle Anwesenden - und inzwischen waren ziemlich viele in die Kapelle gekommen bemerken mussten, dass sie an seiner rechten Seite stand. »Theophanu, du wirst im Norden als meine Repräsentantin bleiben.« Er sprach mit jener Stimme, die er immer dann einsetzte, wenn etwas für die Öffentlichkeit gedacht war. Die Neuigkeiten wurden weitergereicht, drangen aus der Kapelle hinaus und in den Palasthof, wo sich Leute versammelt hatten, um zu sehen, wie Henry auf die Nachricht vom Aufbruch seines Sohnes reagieren würde. Rosvita konnte nicht erkennen, was für Gedanken Theophanu verbarg. War sie froh oder erzürnt darüber, dass sie zurückgelassen wurde? Sie nickte lediglich, die Augen halb geschlossen. »Wie du wünschst, Vater.« Henry streckte einen Arm aus und nahm Adelheids Hand in seine, zog sie zu sich heran, sodass sie an seiner linken Seite stand, wie es bei einer in Ehren gehaltenen Verbündeten üblich war. Er wandte sich mit scharfem Lächeln der Menge zu. »Morgen werden wir nach Süden marschieren«, erklärte er. »Nach Aosta.« 3 Das Licht gab der Stadt einen solch harten, strahlenden Glanz, dass Liath ihre Augen beschatten musste, als sie und Ältester Onkel aus der Höhle wieder in die Hitze und das Sonnenlicht traten. Vor ihr erstreckten sich die Steinbauten stumm wie Geister, und Farben leuchteten dort, wo die Mauern und Säulen mit Wandgemälden versehen worden waren. Sie holte ihre Waffen von dem Friedensstein und nahm auch den Wasserkrug von der Pyramide der Schä194 del. Ihre Hände waren noch immer etwas zittrig; ihre ganze Seele bebte. So viele Jahre waren sie und Pa weggelaufen, waren gejagt und am Ende gefunden worden. Sie war vom Hof des Königs verbannt worden, doch sie hatte bei ihrer Mutter keinen Frieden gefunden. Und jetzt war auch dieser Ort vor ihr verschlossen. Gab es überhaupt einen Platz, an dem sie jemals willkommen sein würde? Konnte sie jemals ein Heim finden, wo sie sich nicht gejagt, verfolgt und bedroht fühlen würde? Nicht heute jedenfalls. Das riesige Schlangenmaul lag leer da, doch sie konnte das unverständliche Gemurmel der Ratsmitglieder hören, gedämpft von den Windungen des labyrinthischen Gangs. Das alles war den Intrigen am Königshof nicht unähnlich: Auch dort dienten verschlungene Worte dazu, die wahren Ziele zu verschleiern. »Man hat mir einen Tag und eine Nacht gewährt«, sagte sie zu dem alten Zauberer. Sie hatte gelernt,
weiterzumachen, indem sie sich an praktischen Angelegenheiten orientierte. »Ist es möglich, in dieser Zeitspanne die Sphären zu durchschreiten?« »Kind, die Zeitspanne eines Tages, wie er auf der Erde bemessen wird, hat in Sphären keine Bedeutung. Du musst entweder zur Erde zurückkehren oder die Sphären durchschreiten.« »Oder hier warten und sterben.« Er kicherte. »Selbst mit meinen geringen Fähigkeiten im Vorhersagen kann ich dir sagen, dass dieses Schicksal dich sicher nicht befallen wird.« »Welches Schicksal wartet dann also auf mich?« Er zuckte mit den Schultern. Gemeinsam gingen sie durch die Stadt zurück zur Nebelbank. »Du hast deine Macht erst vor kurzem entdeckt«, sagte er schließlich. »Der Pfad, der zu den Sphären führt, ist möglicherweise für dich nicht geöffnet.« »Und der brennende Stein bleibt verborgen. Was dann? Wird Katzenmaske mich dann jagen?« »Das wird er sicherlich. Wenn er die Möglichkeit dazu hat.« 195 »Dann muss ich sicherstellen, dass er die Möglichkeit dazu nicht erhält.« In dem Schweigen, das über der verlassenen Stadt hing, erklang ihre Stimme wie das Geräusch von Mäusekrallen die über den Steinboden einer gewaltigen Kathedrale scharrten. »Ich könnte zur Erde zurückkehren.« »Das könntest du«, pflichtete er ihr bei. Er pfiff leise eine Melodie, die so klang wie durch Riedflöten treibender Wind. »Dann wäre ich wieder mit meinem Mann und meinem Kind vereint.« »Das wärst du dann allerdings.« »Meine Tochter wird größer. Wie viele Tage vergehen, während wir uns hier miteinander unterhalten? Wie viele Monate vergehen, ehe ich sie wieder sehe?« Ihre Stimme wurde lauter, wütender. »Wie kann ich hier warten, wie kann ich eine längere Zeit hier auch nur in Betracht ziehen, wenn ich weiß, dass Schwester Anne und ihre Kameradinnen und Kameraden sich auf das vorbereiten, was uns erwartet?« »Das alles sind schwer zu beantwortende Fragen.« Seine Ruhe tröstete sie. »Aber wenn dieses Land nicht wieder an seinen alten Platz zurückkehrt, könnte es natürlich andere unvorhersehbare Folgen geben; Folgen, die nicht so offensichtlich wie die große Umwälzung, aber gleichermaßen schrecklich sind.« »Das könnte sein.« »Aber niemand weiß, was geschehen wird.« »Nie weiß jemand, was geschehen wird«, erwiderte er, »nicht einmal jene, die die Zukunft erahnen können.« Sie blickte ihn an, aber sie konnte in seiner Miene nichts als Frieden erkennen. Er hatte ein Muttermal unter einem Auge, als wäre eine schwarze Träne dort erstarrt. »Du scheinst wild entschlossen, mir zuzustimmen.« »Tu ich das ? Vielleicht hast du einfach nur noch nichts gesagt, mit dem ich nicht einverstanden bin.« Sie gingen eine Weile schweigend weiter. Sie zog sich eine Ecke ihres Umhangs über den Kopf, um ihre Augen zu beschatten. Die 196 düsteren Stufen, die Plattformen mit den schädelähnlichen Köpfen und den gaffenden Mäulern oder den Prozessionen von Frauen in kostbaren Kleidern und aufwändigem Kopfschmuck, der Glanz der Sonne, all dies zerrte an ihr, bis hinter ihrer Stirn ein fürchterlicher, pochender Schmerz saß. Ihr Herzschlag pulsierte unangenehm in ihrer Kehle. Als sie zu der großen Pyramide kamen, sank sie an ihrem Fuß zu Boden, hielt sich an einem der monströsen Köpfe fest. Sie legte eine Hand auf das weiche, schlaue Schlangengesicht, das aus der Blüte der Steinblume herausragte. Schweiß rann ihr den Rücken hinab. Die Hitze war unangenehm. Sie hätte ihren Umhang abgelegt, aber sie brauchte ihn noch, um ihren Kopf bedeckt zu halten. Der alte Zauberer kauerte am Fuß der riesigen Treppe und rollte seinen Speer zwischen den Händen hin und her. »Habt ihr Magie benutzt, um diese Stadt zu errichten?«, fragte sie plötzlich. Sein gealtertes Gesicht verriet nicht das Geringste. »Ist die Bereitschaft, knochenschädigende Arbeit zu verrichten, eine Form von Magie? Sind die Berechnungen der in Geometrie und Astronomie ausgebildeten Priester eher Zauberei als Fähigkeit? Vielleicht. Was viele vermögen, scheint wie Magie zu wirken, sobald nur ein paar das gleiche Ausmaß an Arbeit zustande bringen.« »Ich bin müde«, sagte Liath, und das stimmte. Sie schloss die Augen, aber unter dem Mantel der Stille konnte sie keinen Frieden empfinden. Sie sah Sanglant und Gnade, wie sie sie durch die Vision im Feuer gesehen hatte: das Kind - so groß geworden! - war auf sie zugelaufen, und Sanglant hatte ihren Namen laut gerufen. »Ich bin so müde. Wie kann ich all das tun, was von mir erwartet wird?« »Wir sind immer mit der Erde verbunden, von der wir kamen; ob wir wollen oder nicht. Was aus dir geworden wäre, wenn du die Fähigkeit hättest, alle Gedanken und Überlegungen aus deinem Herzen und deinem Sinn zu verdrängen, ist nicht das, was aus dir werden wird, denn du kannst niemals deinen Verbindungen mit 197 jenen entfliehen, für die du Liebe und Verantwortung empfindest.« »Was ich bin, lässt sich nicht von denen trennen, mit denen ich in meinem Herzen verbunden bin.« Er ächzte. Sie öffnete die Augen gerade in dem Augenblick, als er nach dem Schaft seines Speers griff und sich
auf die Beine kämpfte. Ein Mann rannte mit der Geschmeidigkeit und den kräftigen Sprüngen eines Jägers die breite Allee entlang und kam direkt auf sie zu. Vor Entsetzen beschlich sie eine Gänsehaut. Er trug den schmuckvollen Lendenschurz und den kurzen Umhang, der für die männlichen Aoi typisch war, und er hatte kein menschliches Gesicht, sondern das eines Tieres. Dann erkannte sie die Gestalt: Katzenmaske. Er hatte seine Maske übers Gesicht gezogen, um sein Antlitz zu verbergen. In der rechten Hand hielt er einen kleinen, runden weißen Schild, in der linken ein mit Obsidiansplittern bestücktes Holzschwert. Sie sprang auf und machte einen Satz die Stufen hoch, packte ihren Bogen, riss einen Pfeil hervor und legte ihn in Richtung Katzenmaske an. Ältester Onkel sagte weder etwas, noch rührte er sich; er pfiff nur leise vor sich hin. Seltsamerweise spürte sie, wie der Wind sich veränderte, wie er kleinen Fingern gleich um sie herumstrich und an ihr zupfte. Katzenmaske wurde langsamer und blieb vorsichtig in einigem Abstand vor ihr stehen - anmutig wie eine Katze, die so tat, als würde sie sich von der Maus, die ihr entkommen war, abwenden. »Es ist mir verboten, dir an diesem Tag Schaden zuzufügen!«, schrie er. Die Maske dämpfte seine Worte. »Versuchst du damit, mein Vertrauen zu gewinnen?« Sie änderte ihre Haltung nicht. Nach einer Weile klemmte er den Schild zwischen Arm und Oberkörper und benutzte seine freie Hand dazu, die Maske zu heben, sodass sie sein Gesicht sehen konnte. Er musterte sie mit der verblüfften Miene eines Mannes, der plötzlich begriffen hat, dass die Frau vor ihm genau die Figur und Ausstrahlung besitzt, die sie 198 attraktiv und verführerisch macht. Sie senkte ihren Bogen nicht. Wind zupfte an ihrer Pfeilspitze, sodass der Pfeil auf und ab tanzte und sie ihn nicht ruhig halten konnte. Mit einem Ausruf der Verärgerung brachte sie Feuer in die Eisenspitze und entließ es. An der Pfeilspitze loderte eine Flamme auf. Katzenmaske machte einen höchst dramatischen Satz nach hinten. Ältester Onkel lachte lauthals und reckte seinen Speer. Die Glöckchen, die an der Spitze festgebunden waren, bimmelten fröhlich. »So antworte mir!«, rief er. Er runzelte die Stirn, als er Katzenmaske anblickte. »Wieso bist du uns gefolgt, Missmutiger?« »Um dich zur Vernunft zu bringen, alter Mann. Gib sie mir jetzt, und ich werde dafür sorgen, dass sie das Schicksal findet, das sie verdient. Die Menschheit ist nicht bereit für eine Allianz mit uns. Sie werden uns niemals vertrauen - und auch keiner anderen Person, die mit uns verwandt ist.« »Harte Worte«, sinnierte Ältester Onkel, während Liath ihren Blick und die brennende Pfeilspitze auf Katzenmaske gerichtet hielt. »Ist es besser, hier zu verenden? Glaubst du, dass deine Pläne und Intrigen Erfolg haben werden, selbst wenn unsere Rückkehr durch nichts aufgehalten wird? Sind wir denn genug, dass wir die Menschheit und ihre Verbündeten besiegen könnten - jetzt, wo sie so viele sind und wir so wenige?« »Sie bekämpfen sich gegenseitig. So lange sie uneins sind, können wir sie schlagen.« »Werden sie sich immer noch gegenseitig bekämpfen, wenn sie unseren Heeren gegenüberstehen? Vergiss nicht, wie sehr sie uns zuvor gehasst haben.« »Sie werden uns immer hassen!« Aber noch während er diese Worte sagte, blickte er Liath wieder an. Sie kannte den Ausdruck der Begierde bei einem Mann; sie hatte ihn oft genug gesehen, um ihn erkennen zu können. Katzenmaske kämpfte mit unausgesprochenen Worten, vielleicht auch mit Ekel angesichts seiner eigenen Verführbarkeit. Wie Sanglant hatte er das Aussehen eines Mannes, der wusste, wie man kämpft, und es auch tun würde. Er war 199 kaum so groß wie Liath, hatte aber ebenso breite Schultern wie Sanglant, was ihm eine mächtige, beeindruckende Statur gab. »Und wir werden sie immer hassen!« Bei seiner Miene zog sich ihr Herz zusammen, und sie musste unwillkürlich an Hugh denken - Hugh mit seinem hübschen Gesicht und dem unerbittlich festen Griff. »Hass macht dich schwach.« Ihre Worte verwirrten ihn genug, dass er sie zum ersten Mal direkt ansah. »Hass ist wie ein Strudel, und am Ende zieht er dich hinab in die Tiefe.« Mit jedem Wort sah sie die Knoten, die sie mit Hugh verbanden, die er sicherlich verstärkt hatte, die aber von ihr weiter festgezurrt worden waren. »Das, was du dir zu hassen gestattest, wird Macht über dich haben. Wie kannst du sicher sein, dass noch immer alle Menschen dein Volk hassen? Wie kannst du sicher sein, dass eine Gesandtschaft, die Frieden anbietet, nicht angehört werden wird?« Er schnaubte. »Du wirst niemals verstehen, wie sehr wir gelitten haben.« Die Flamme am Ende ihres Pfeils zuckte auf und versiegte dann, ließ die Eisenspitze glühend zurück. Unendlich langsam, um es wie eine Herausforderung aussehen zu lassen, senkte sie den Bogen. »Du hast keine Ahnung, was ich verstehen kann oder nicht. Du bist nicht der Einzige, der gelitten hat.« »Frag jene, die tot sind, ob sie Frieden mit den Menschen wünschen. Wie können wir denen trauen, die uns das angetan haben?« »Diejenigen, die euch das angetan haben, sind vor so langer Zeit gestorben, dass die meisten Menschen glauben, ihr alle wärt nur Figuren einer Sage, die man den Kindern als Gute-Nacht-Geschichte erzählt.« Er lachte, aber gewiss nicht freundlich, und trat einen Schritt vor. »Du verstehst es, mit Worten umgehen, Strahlende. Dennoch werde ich dein Blut bekommen - und mit ihm werde ich mein Volk stark machen.« Die Entschlossenheit machte sie kühn und rücksichtslos, und sie deutete mit Herzsucherin zum Himmel. »Fang
mich doch, Kat200 zenmaske. Willst du die Sphären an meinen Fersen durchschreiten, oder ziehst du es vor, mich zu erwarten, wenn ich von den Hallen der Macht zurückkehre und die geheime Sprache der Sterne erlernt habe?« Katzenmaske zischte überrascht oder auch missbilligend. Vielleicht hatte er sogar Angst. Ältester Onkel stellte seinen Speer mit einem dröhnenden Geräusch auf den Boden. »So sei es.« Er hob den Speer und schüttelte ihn, sodass die Glöckchen klingelten, als wollte er damit den Kreis schließen und die Unterhaltung beenden. »Geh«, sagte er zu Katzenmaske. Dass ein so kühner Krieger wie Katzenmaske auf dieses eine Wort hin augenblicklich gehorchte, war ein Zeichen des großen Respekts, den man ihm als dem letzten Überlebenden zollte, dem einzigen Ashioi, der die große Umwälzung selbst erlebt hatte. Sie sahen ihn die Allee entlang davongehen. Als er weit genug weg war, um keine direkte Bedrohung mehr darzustellen, setzte Ältester Onkel einen Fuß auf die Stufen. Liath folgte, benutzte ihren Bogen, um sich abzustützen, während sie immer weiter die Furcht erregend schmalen Treppenstufen emporkletterten. Sie schnappte nach Luft, als sie die breite Plattform erreicht hatten, die den höchsten Punkt markierte, bevor sie auf der anderen Seite wieder hinabstiegen, in den Nebel hinein und rasch durch das Grenzland hindurch, bis sie an dem einsamen Turm wieder auftauchten. Die unnatürliche Stille des spärlich bewachsenen Graslandes mit seinen dornigen Büschen und den langen, hellen Gräsern zerrte an ihren Nerven. Es war, als wäre das Land stumm, als könnte es nicht länger mit den vielen kleinen Stimmen reden, die auf der Erde so normal waren. Die Stille erdrückte sie. Licht färbte die Berge golden, während sie hinaufgingen und über die Höhe schritten, an dem Wachturm vorbei. Sie war dankbar, als sie den Schatten erreichten, den die Kiefern spendeten. Selbst der Wind war erstorben. Sie war völlig durchnässt von der Hitze. Die Hand, mit der sie ihren Nacken entlangfuhr, war pitschnass. 201 Sie hielt am Waldrand an - oder was sie dafür hielt -, wo die Kiefern in Gebüsch übergingen und schließlich jäh dem halluzinatorischen Glanz der blühenden Wiese Platz machten. Im Schatten der Kiefern steckte sie den Bogen wieder in den Köcher zurück und ließ sich von den Farben die Augen beruhigen. Ältester Onkel stand neben ihr, ohne zu sprechen oder sich zu rühren, abgesehen von dem leisen Pfeifen und einem gelegentlichen Klingeln der Glöckchen, wenn er den Speerschaft auf dem nadelübersäten Boden verrückte. »Wie kann ich die Sphären durchschreiten?«, fragte sie schließlich, als Ältester Onkel keinerlei Anstalten machte, weiterzugehen oder etwas zu sagen. »Wo finde ich den Pfad, der mich dorthin führt?« »Du hast ihn bereits beschritten.« Er deutete auf den Blumenpfad, der hinunter zum Fluss führte. »Was glaubst du, wieso ich ausgerechnet hier, an diesem Ort, bleibe? Dieser Platz ist wie eine Quelle - die letzte, die uns bekannt ist -, wo Wasser aus verborgenen Wurzeln strömt. Hier zieht das Land aus dem darunter liegenden Universum Leben, denn der Lichtfluss, der die Himmel umspannt, berührt an diesem Ort die Erde.« Wind brachte die Blumen in Bewegung. Die Kornblumen schwankten auf den langen Stängeln, und Schwertlilien nickten. Die Brise fuhr murmelnd durch die gekrümmten Reihen von Lavendel, der einen purpurfarbenen Streifen durch das Gewirr aus Heckenrosen und dicht stehenden leuchtenden Pfingstrosen zog. Ringelblumen standen am Rand des Pfads; sie wirkten so golden, als wäre das Sonnenlicht geradewegs in sie eingedrungen, um ihnen diese Farbe zu geben. Der Anblick demütigte sie. »Ich habe gedacht, du lagerst hier wegen des brennenden Steins.« Sie deutete auf den Fluss und die dahinter liegende Lichtung; dort war sie angekommen, als sie zum ersten Mal dieses Land betreten hatte. »Es gibt viele Plätze in unserem Land, an denen ein Tor sich in bestimmten, nicht vorhersagbaren Abständen öffnet. Es stimmt, 202 dass die Lichtung, an der ich warte und meditiere, einer davon ist. Aber es ist dieser Ort, den ich bewache.« »Wovor bewachst du ihn?« »Geh weiter. Du bist diesen Pfad in den letzten Tagen oft gegangen.« Der Wind kühlte den Schweiß auf ihrer Stirn und brachte die Blumen zum Tanzen; alles wurde zu einem einzigen, schwankenden Farbteppich. Wieso zögerte sie? Sie überprüfte ihre Ausrüstung, all die Dinge, die sie mitgebracht hatte und die alles waren, was sie besaß: ein Umhang und Stiefel, Tunika und Beinkleider, ein Ledergürtel, ein kleiner Lederbeutel, ein in einer Scheide steckendes Messer zum Essen, Lucians Schwert, ihr guter Freund, der Goldreif, der schwer an ihrem Hals hing, die Goldfeder, die Ältester Onkel ihr einst gegeben hatte und die jetzt an einem Pfeilschaft hing, der Greifenköcher, der voller Pfeile mit starken Eisenspitzen war, ihr Bogen, Herzsucherin, der Ring aus Lapislazuli, den Alain ihr einst als Zeichen seines Schutzes geschenkt hatte. Der Wasserkrug gehörte ihr nicht, und so stellte sie ihn auf den Pfad. Als sie einen Schritt nach vorn machte und vom Schatten ins Sonnenlicht trat, traf der grelle Schein sie so hart, dass sie taumelnd zurückwich und eine Hand hob, um ihre Augen zu schützen. Irgendetwas stimmte nicht. Hatte sie denn nicht mehr als das gelernt, selbst in der kurzen Zeit, die sie hier im Land der Aoi verbracht hatte? Eine Beschwörung, die aus der verborgenen Architektur des Universums vollführt wurde, musste korrekt begonnen und korrekt beendet werden, wie alle Dinge einen richtigen Anfang und ein
richtiges Ende hatten. Mit welchen Mitteln stieg ein Zauberer in die Sphären empor? Wie konnte jemand körperlich in die Himmelssphären aufsteigen, wo sie doch aus Äther bestanden, aus Licht, Wind und Feuer? Sterbliche Wesen waren nicht dazu gedacht, dort umherzuschreiten. Wie viele weitere Tage und Wochen, ja sogar Monate würde sie 203 studieren müssen, ehe sie die Sphären durchschreiten und den Kern ihrer wahren Macht suchen konnte ? Selbst wenn sie dazu gewillt gewesen wäre, sie konnte nicht länger warten. Auf der Erde vergingen mit jedem Atemzug, den sie hier tat, Tage und Wochen. In der anderen Welt wuchs ihr Kind heran, und ihr Mann wartete auf sie, Anne plante Intrigen, und Hugh erblühte, und Hanna ritt - der Gnade von Kräften ausgeliefert, die größer waren als sie selbst -, über große Strecken hinweg. Was war mit den Löwen, mit denen sie sich angefreundet hatte? Was war mit Alain, den sie beim letzten Mal taumelnd und halb tot in den Überresten eines Schlachtfelds gesehen hatte? Wo war er jetzt? Wie konnte sie all die anderen so zurücklassen, sie allein ihrem Kampf überlassen? Wie lange konnte sie sie noch warten lassen? In einem Tag und einer Nacht, nach der Zählung dieses Landes, würde Katzenmaske mit seinen Kriegern kommen und sie jagen. Es war Zeit für sie zu gehen. Doch wie gelangte man zum Himmel? Mit einer Leiter. Sie schloss die Augen. Wind strich durch ihre Haare, wie Pas Finger, wenn er sie gekämmt hatte, wenn er sie in den Schlaf gewiegt hatte. Oh, Gott, Pa hatte ihr genau das beigebracht, was sie brauchte. Wenn sie ihm nur geglaubt hätte! Sie kniete nieder, um ihre Handfläche gegen die Erde zu drücken. Während sie sie dort für die Zeit von sieben Atemzügen liegen ließ, leerte sie ihren Geist, wie Ältester Onkel es ihr beigebracht hatte. Der steinige Boden grub sich in ihre Haut. Als ihr Bewusstsein tatsächlich leer genug war, konnte sie den Puls des Landes durch ihre Hand hindurch spüren, dünn und zerbrechlich, zu einem Faden verkommen. Aber er war noch immer da. Das Land war noch, wenn auch nur schwach, am Leben. Mit einem Finger zeichnete sie die Rose des Heilens in den Boden, schob trockene Nadeln und Kieferrinde beiseite, sodass die Konturen sich deutlich auf dem Pfad abzeichnen konnten. Hitze 204 stieg von der Linie auf," und sie erhob sich rasch, um darüber hinweg und ins Sonnenlicht zu treten. Ihre Stimme klang zuerst zögernd und schwach, ein zerbrechliches Schilf auf dem Ozean des Schweigens, der über dem Land lag. »Über diese Leiter steigt der Weise empor: Zuerst zur Rose, deren Berührung heilend ist.« Sie machte zwei weitere Schritte, bevor sie sich hinabbeugte, um ein weiteres Zeichen auf den Boden zu malen. »Dann zum Schwert, das uns Stärke verleiht.« Drei Schritte ging sie jetzt voran, und entweder hatte die Hitze zugenommen, oder der kräftige Schein der Sonne machte sie leichtfertig, denn irgendeine seltsame Unruhe hatte die Luft um sie herum verändert, sodass die Luft sich ihrem Weiterkommen widersetzte, wie Haferbrei es tun mochte, der sich vom Himmel ergoss. Sie hockte sich hin und malte. »Die dritte Sprosse ist der Becher des grenzenlosen Wassers.« Als sie sich wieder aufrichtete, hatten die Blumen, die auf der einen Seite des Pfads erblühten, einen seltsamen Schimmer, einen unirdischen Glanz angenommen, als würden sie mit etwas erblühen, das von körperloser Substanz war. Mohnblumen erstrahlten in schier unglaublich scharlachrotem Reichtum. Flieder legte einen zarten, violetten Hauch über die sich wiegenden grünen Halme, verblasste zu den unscharfen Tönen, die bei Sonnenuntergang herrschten, obwohl die Sonne noch hoch am Himmel stand. Sie schob sich vier Schritte weiter, als ein dunstiger Glanz sich wie Nebel vom Pfad erhob. Durch diesen sanften Nebel griff sie hindurch, suchte den Boden neben ihren Füßen. Er war schwer zu erkennen, fühlte sich aber genauso an wie zuvor. Sie zeichnete das nächste Muster auf den kühlen Boden. »Die vierte ist der Feuerring des Schmieds.« Nebel wallte den Pfad entlang auf, wirbelte um ihre Knie, als sie fünf weitere Schritte machte. Vor sich, durch den Dunstschimmer hindurch, der jetzt über der Wiese lag, konnte sie den Fluss sehen. Eine Gestalt stand am anderen Ufer, gefangen in einem Augen205 blick der Unentschlossenheit zwischen den Felsen an der Furt. Selbst aus dieser Entfernung erkannte Liath den kräftigen Körper und das entschiedene Gesicht einer Ashioi, aber die Frau war so seltsam gekleidet, trug menschliche Gewänder und eine menschliche Ausrüstung. Sie starrte auf die Szene, die sich vor ihr entfaltete, und wirkte dabei einerseits völlig orientierungslos und zugleich auch so, als wäre ihr der Anblick vertraut. Der Duft der Rosen umhüllte Liath; er war so intensiv, dass ihr schwindlig davon wurde. Lag es am Schwindel? Oder trug die Ashioi-Frau tatsächlich Liaths andere Tunika, diejenige, die sie in den Satteltaschen von Resuelto verstaut hatte, kurz bevor sie und Sanglant und das Kind versucht hatten, aus Verna zu fliehen? Es war zu spät, um jetzt anzuhalten. Sie konnte nicht stehen bleiben, um die Antwort zu finden. Sie musste
weitergehen. Sie kniete nieder, und sie malte. Sie erhob sich wieder und sprach, während sie weiterging. »Der Thron der Tugenden folgt als fünfte.« Das Blumenfeld erstreckte sich um sie herum, als hätte die Lichtung die Grenzen, die es an die Erde banden, übertreten, sodass es jetzt tatsächlich begann, in den Himmel zu ragen. Kornblumen leuchteten mit einer hellen, blau flammenden Lumineszenz, flackernde Laternen, von denen jede Einzelne wie eine Scherbe des brennenden Steins zerbrach und sich über die Blumen ergoss. Durch dieses Gelände hindurch, das sie benommen machte, tat sie sechs Schritte. Es war schwer, auf dem Pfad zu bleiben, aber es war auch irgendwie unmöglich, ihn zu verlassen. »Das Zepter der Weisheit ist die sechste.« Sie hatte den Fluss beinahe erreicht. Vor ihr verschwamm der Blumenpfad und wurde eins mit dem Fluss selbst, aber der Fluss ähnelte längst keinem irdischen Fluss mehr, der einem Felsbett folgt. Wie der Himmelsfluss strömte er empor in den Himmel, eine tiefe Strömung, die bergauf floss, ganz blau und silbern. Dahinter oder darunter sah sie vage die Schatten all der Dinge, 206 die noch auf dem Land waren: eine blasse Gestalt, mehr Schemen denn Körper, algenbedeckte Felsen, deren chaotische Muster dennoch unausgesprochene Geheimnisse zu verbergen schienen, verkrüppelte Bäume, die so dunkel waren, dass kein Leben mehr in ihnen zu sein schien. Sie durfte nicht anhalten, um sich umzusehen. Ihre Füße berührten das Wasser, doch es war kein Wasser, was da um ihre Waden strich, als sie sieben Schritte machte. Sie watete in einem Fluss aus Äther, der flussaufwärts zu seinem natürlichen Heim floss. Als sie ihre Hand in seine Tiefen streckte, wirbelte das Wasser um sie herum, rasch und heiß. Sie malte die Konturen des letzten Zeichens, der Sternenkrone. Wo ihre Hand gemalt hatte, wogte die blausilbrige Substanz mit Blitzen aus goldenem Feuer davon. »Auf der höchsten Sprosse suche die Sternenkrone, und das Licht der Macht ist offenbart.« Sie kletterte den Lichtfluss empor. Der Pfad öffnete sich vor ihr, der große Fluss, über den so viele geschrieben hatten. War er die Naht, die die zwei Hemisphären der himmlischen Sphäre zusammenhielt, wie Theophrastus geschrieben hatte? Oder stimmte die Theorie von Posidonos, dass er auf seiner Reise durch die Himmel die Wärme in die kalten Gebiete des Universums brachte? Oder war er nur die Leiter, die die Sphären verband? Sie quälte sich hoch, und die Strömung drängte sie von hinten weiter. Unter ihr versank das Land in Dunkelheit. Über ihr schimmerten die Sterne, begannen gleichzeitig in eine neue Lumineszenz überzugehen, eine aus einem stählernen weißen Licht wie das einer großen, schimmernden Wand, die Grenze, die das Ende der tiefsten Sphäre bedeutete. Von weiter unten hörte sie eine unheimliche Musik, die mehr ein Puls denn eine Melodie war - wie das zarte Vibrieren von gezupften Harfenseiten. Rinnsale teilten sich vom Hauptstrom, sodass der Fluss selbst zu einem Labyrinth wurde, das sich hinaufwand. Auf den Strö207 mungen des Äthers nahmen körperlose Figuren vage menschenähnliche Gestalt an, waren aber aus keinem sterblichen Element; sie tanzten in den Feldern der Luft, durch die diese Rinnsale verliefen. Das waren die Daemonen der unteren Sphäre, die direkt unter dem Mond war. Wenn sie sie sahen, ließen sie es sich zumindest nicht anmerken. Sie waren ganz und gar von ihrem Tanz gefangen genommen, eingehüllt in die Musik der Sphären. Der dünne Bogen eines Tors nahm Gestalt in der schimmernden Wand an, die das Ende des Himmels bedeutete. Mit Schrecken, als würde sie ein geliebtes Familienmitglied wieder sehen, das sie lange für tot gehalten hatte, das aber noch lebte, erkannte sie den Ort. Sie hatte es die ganze Zeit über gewusst. Pa hatte ihr das über die Tore beigebracht, über den spiralförmigen Pfad, der immer weiter hinaufführte. Obwohl der Weg obskur und verschleiert vor ihr lag, hatte sie das Gefühl, als würde sie nach Hause kommen, während sie zum ersten Tor aufstieg - jenem Tor, dass sie so gut aus der Stadt des Gedächtnisses kannte, in deren Architektur Pa sie unterwiesen hatte. Hatte er gewusst, dass die Stadt des Gedächtnisses die wahre Struktur des Universums widerspiegelte wie ein dunstiges Bild in einem See? Oder hatte er ihr lediglich das beigebracht, was andere ihm beigebracht hatten, und ihr auf diese Weise das weitergegeben, was Generationen von Magi vor ihm verschlossen geblieben war? Es spielte keine Rolle. Sie wusste jetzt, wohin sie ging. Jedes Tor war Teil der Kreuzung, die die Welten miteinander verband. Als hätten ihre Gedanken die Kraft der Schöpfung, bildete sich ein Torbogen aus dem Äther, und Licht nahm fließend vor der schimmernden Wand Gestalt an. Davor stand ein Wächter, ein Daemon der Luft und bewaffnet mit einem blitzenden Speer, der so hell wie Eis war. »Zu welchem Ort begehrst du Einlass?« Seine Stimme war so weich wie der Fluss des Wassers, der durch einen grasbewachsenen Nebenkanal floss. 208
»Ich will in die Sphäre des Mondes eintreten«, erwiderte sie, entschlossen, vor diesem himmlischen Geschöpf nicht zu verzagen. »Wer bist du, dass du Einlass begehrst?« Sie kannte die Macht der Namen sehr gut. »Ich werde Strahlende genannt.« Er wich einen Schritt zurück, als hätten ihre Worte ihn wie ein Hieb getroffen, doch er hielt seinen Speer weiter auf das Tor gerichtet. »Kind des Feuers«, flüsterte er, »du hast zu viel sterbliche Substanz. Du bist zu schwer, um hindurchgehen zu können. Was kannst du mir geben, um deine Bürde zu erleichtern?« Noch während er sprach, spürte sie die Wahrheit seiner Worte. Ihre Besitztümer zerrten an ihr, und schon im nächsten Augenblick mochte sie auf die Erde stürzen - oder für immer in den Abgrund. Sie hatte keine Flügel. Rasch zog sie ihre Stiefel aus und löste den Umhang. Als er hinabfiel, erhob sie sich. Ein Hauch Äther nahm ihren Körper auf, und der Wächter unter ihr wurde blasser und schwächer, bis er nur noch wie die Spitze eines glänzenden Eisstücks aussah. Der Weg lag frei vor ihr. Sie blickte sich nicht um, als sie über die Schwelle trat. Teil Zwei Das Grab der Königin V Im Jenseits 1 Vermutlich war er tot. Aber der Fisch, der erst zuckte, dann aus seinen Händen glitt und wieder zurück in den Fluss sprang, verhielt sich ziemlich lebendig. Auch die Männer um ihn herum, die vor Lachen brüllten, wirkten recht lebendig, genauso wie der kräftige Mann am Tag zuvor, der auf höchst bedrohliche Art eine Axt vor ihm geschwungen hatte. Er wusste, wie der Tod sich anfühlte. Erst gestern hatte er ein Neugeborenes in den Händen gehalten, das schon blau angelaufen war, aber er hatte sich an einen Trick erinnert, den Tante Bei ihm beigebracht hatte - manchmal benötigten neugeborene Seelen einfach einen kräftigen Klaps, um ins Leben befördert zu werden. Erst in der vorigen Nacht war er über ein Schlachtfeld getaumelt, und sein eigenes Leben war in Strömen von Blut seinem Körper entwichen. Es war schwer vorstellbar, dass er immer noch am Leben sein sollte - selbst jetzt, wo er bis zur Hüfte im kalten Fluss stand, während die Strömung an ihm zerrte und versuchte, ihn mit sich zu ziehen. Es war leichter, sich vorzustellen, dass er tot war, auch 213 wenn die Fische sich in den Körben am Ufer wanden und zuckten und sich das Sonnenlicht auf ihren Schuppen brach. Sein Kamerad Urtan gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und sagte etwas; er verstand die Worte nicht, doch sie klangen fröhlich. Vielleicht war der Tod gar nicht so bedrückend, wenn Gott ihm einen solchen Kameraden zur Seite stellten. Die anderen Männer, Tosti und Kel, hatten begonnen, sich gegenseitig nass zu spritzen, sobald sie die letzte Fischreuse ins seichte Wasser gezerrt und von ihrem Inhalt befreit hatten. Jetzt verstopften sie die Reuse mit einem Stöpsel aus durchtränktem Holz und warfen sie zurück in den Fluss; dann schwammen sie ein bisschen herum, lachten und redeten und bedeuteten ihm wild gestikulierend, es ihnen gleichzutun. Er ließ zu, dass die Strömung ihn umriss, und fiel rückwärts ins Wasser. War dies nicht die Weise, wie der Tod seine Opfer beanspruchte? Vielleicht strömte er nur aufwärts zum Himmelsfluss, streifte auf dem Weg zur Kammer des Lichts eine Reihe von Stationen. Aber als das Wasser über seinem Kopf zusammenschlug, hörte er die Hunde bellen. Kaum hatte er sich wieder aus dem Nass erhoben, schoss Kummer auch schon in den Fluss, gebärdete sich wie wahnsinnig, während Rage ängstlich am Ufer stand und jaulte. »Nein, nein, Freund«, sagte er und zog Kummer an den Vorderbeinen zurück zum seichteren Teil. »Ich werde jetzt eine Weile an diesem Ort bleiben, wenn Gott so wollen.« Seine Kameraden kamen näher herangeschwommen; sie wussten nicht, was er vorhatte. Sie grinsten vorsichtig, als er seine nassen Haare schüttelte, dann lachten sie über Kummer, der ordentlich Wasser um sich versprühte, als er sich ebenfalls schüttelte. Das Dorf lag gleich hinter dem Fluss. Hinter dem Rasen und den Holzhäusern erhob sich der gewaltige Erdhügel mit den frisch errichteten Erdwällen und dem Steinkreis oben auf der abgeflachten Kuppe. Auf vielerlei Weise erinnerte ihn der Hügel an das Schlachtfeld, auf dem er gefallen war, aber der Fluss hatte dort ei214 nen anderen Weg genommen, und der Wald nach Norden und Westen hin war nicht so dicht gewesen, der Hügel selbst sehr alt. Und es hatte auch kein Dorf in seinem Schatten gelegen. Dies konnte nicht der gleiche Ort sein, an dem er gestorben war. »Aber es ist ein guter Ort«, versicherte er Kummer, die ihn tadelnd ansah. Rage kam herbei, um sich ein paar Streicheleinheiten abzuholen. »Aber kommt es dir nicht auch etwas seltsam vor, dass es im Jenseits keinerlei Eisen gibt? Sie tragen Dolche aus Feuerstein, und ihre Pflüge sind nichts weiter als die kräftigen Astgabeln eines Baums, die so gewachsen sind, dass sie die Erde umpflügen können. Es kommt mir seltsam vor, dass Gott das gewöhnliche Volk bestrafen, indem sie die alltägliche Arbeit im Jenseits noch schwerer gestalten!«
So hätte Tante Bei gesprochen. Aber natürlich war sie nicht mehr seine Tante; er hatte keine Familie, war das verwaiste Kind einer toten Hure. »Alain.« Urtan deutete auf die Körbe, die jeweils nur von zwei Mann gemeinsam getragen werden konnten. Vielleicht hatte er keine Familie, aber in diesem Land brauchte man ihn, wenn es auch nur um eine so bescheidene Aufgabe ging, wie einen Korb mit Fischen zum Dorf zu tragen. Hatte er nicht alles der Zentaurin gegeben? Vielleicht musste er an dieser Stelle auf dem Weg zur Kammer des Lichts lernen, das Leben zu vergessen, das er bisher gelebt hatte. Sie schleppten die Körbe den Hang hoch. Kinder schrien und ereiferten sich über den Fisch, und nach vielen gutmütigen Scherzen begriff er, dass es gar nicht so schwer war, ein paar Worte zu lernen: »Fisch«, »Korb«, »Messer« sowie ein Wort, das »Kind« bedeuten musste, das für Mädchen wie auch für Jungen benutzt wurde. Es war eine gute Idee, so viel wie möglich zu lernen, da er nicht wusste, wie lange er an diesem Ort bleiben oder wo er als Nächstes landen würde. Am Tor sah er Adica. Ohne das Goldgeweih und das spiralige Taillenband, das ihrer Erscheinung etwas Ehrfurcht gebietendes 215 gegeben hatte, sah sie aus wie jede andere junge Frau auch, abgesehen von der leuchtenden Brandnarbe auf der Wange. Sie sah zu, wie sie die Körbe durch das Tor trugen, und er lächelte, auf unerklärliche Weise erfreut, sie zu sehen. Das kurze Aufblitzen von Vergnügen erinnerte ihn jedoch an die vergangene Nacht, als sie ihm bedeutet hatte, zu ihr ins Bett zu kommen. Bei der Bewegung, die sie jetzt machte, als sie zurücklächelte, verrutschte ihr Kleid und enthüllte ihre bloßen Oberschenkel. Er errötete und schaute weg. Er hatte Tallia einen Eid geschworen, oder nicht? Selbst wenn er ihm abschwor, wenn er zugestand, dass er und Taillia nicht länger Mann und Frau waren, war er doch zuvor eigentlich der Kirche versprochen gewesen. Er durfte keine Frau bewundern. Doch als sie zu dem großen Haus kamen, das in der Mitte des Dorfes stand, warf er einen Blick zurück zum Tor. Adica stand noch immer neben der älteren Oberfrau, die Orla genannt wurde. Hatte er nicht all seine Schwüre und Versprechen, die Lügen und Geheimnisse abgegeben? Hatte die Zentaurin nicht sein altes Leben genommen und ihn nackt als neugeborenes Kind in einer neuen Welt zurückgelassen ? Vielleicht musste er erst noch lernen, wie man atmete wie das Kind am Tag zuvor. Vielleicht war das das Geheimnis dieser Reise, dass er an jeder Station eine neue Lektion lernen musste, bevor er weiter flussabwärts getrieben wurde, dem alles auslöschenden Licht Gottes entgegen. Kinder verschiedener Altersstufen schwärmten jetzt von allen Seiten herbei, und nach einem Muster, das er nicht ganz entschlüsseln konnte, verteilte Urtan den Fisch, bis eine kleine Portion für Tosti und Kel übrig blieb. »Komm schon«, sagte Kel, der offensichtlich bei der Geburt vom Stachel der Ungeduld gepiekst worden war. Er und Tosti waren fast im gleichen Alter, und sie ähnelten sich auch von ihrem Wesen her. Sie führten Alain durch das Dorf zu dem einzigen anderen großen Haus. Es hatte steinerne Grundmauern, Holzsäulen und 216 Balken, ein Strohdach sowie stechend riechende Ställe an der einen Seite, die jetzt leer waren und lediglich den Geruch von Vieh verströmten. Drinnen zeigte Kel ihm eine Vielzahl von Fellen und aus Schilf gewebte Matratzen, die auf hölzernen Plattformen unter den schrägen Wänden zusammengerollt lagen. Der junge Mann zeigte ihm einen Platz, machte eine Geste, die Schlafen bedeutete, und ließ Alain fünfmal das Wort für »schlafen« oder »Bett« wiederholen. Zufrieden führte er Alain dann wieder nach draußen. Sie nahmen den Fischen die Eingeweide für den Eintopf heraus und legten den gesäuberten Fisch zum Trocknen auf eine Matte aus Weidengeflecht. Es dauerte eine Weile, ehe Alain es heraushatte, wie man ein Messer aus Feuerstein richtig benutzte, aber schließlich gelang es ihm, und Tosti war zumindest geduldig genug, ihn in Ruhe üben zu lassen. Es gab andere Aufgaben zu erledigen. Wie Tante Bei immer zu sagen pflegte, »hört die Arbeit niemals auf, wohl aber unser kurzes Leben«. Die Arbeit half ihm, zu vergessen. Und er arbeitete bereitwillig, ob es darum ging, Fisch auszunehmen oder, wie heute, Bäume für eine Palisade zu fällen. Er hatte gelernt, eine Steinaxt zu benutzen, die nicht so gut und sauber schnitt wie das Eisen, an das er eigentlich gewöhnt war, aber nach einer Reihe von fehlgeschlagenen Versuchen wusste er, wie man ein Breitbeil aus Feuerstein anwandte. Wollten Gott möglicherweise die Menschheit daran erinnern, dass Krieg keinen Platz in der Kammer des Lichts hatte ? Der Krieg kam vom Eisen, aus dem alle Waffen gemacht waren. Und schließlich war es ein Eisenschwert gewesen, mit dem die Herrin der Schlachten den tödlichen Hieb ausgeführt hatte. Doch wenn diese Leute keinen Krieg kannten, wieso befestigten sie dann ihr Dorf? Kel wurde ungeduldig angesichts der Langsamkeit, mit der Alain die Rinde von dem gefällten Baum löste, und er bedeutete ihm, sich wieder um das Fällen der Bäume zu kümmern und ihm, Kel, das Entrinden zu überlassen. Tosti schalt Kel, aber Alain 217 tauschte gutmütig die Breitaxt gegen die andere Axt aus. Er und Urtan musterten eine prächtige Gruppe von jungen Birken und entschieden sich für vier besonders starke, gerade Bäume. Alain berechnete Fallweite und Winkel und machte sich an die Arbeit. Sein erster Schlag traf nicht richtig, und er schlug nur eine kleine Kerbe in den Baum, musste sogar zurückspringen, um nicht seine eigenen Beine zu verletzen. Ein Mann erschien plötzlich von hinten, trat an ihm vorbei und versetzte dem Baum mit einem lauten
Fluchen einen kräftigen Hieb. Holzsplitter stoben auf, und die Axt grub sich tief in den Stamm. Verblüfft zögerte Alain. Der Mann drehte sich um, blickte ihn mit herausfordernder, verächtlicher Miene an. Es war der Mann, der ihn am Tag zuvor bedroht hatte und der den Namen Beor trug. Er war so groß wie Alain und anderthalb mal so breit, und er hatte die Art von Händen, die aussahen, als würden sie Steine zermalmen können. Die Männer im näheren Umkreis wurden still; zwei weitere, deren Gesichter er erkannte, waren in den Wald gekommen. Alle warteten und beobachteten sie. Niemand rührte sich oder griff ein. Früher einmal, als seine Sinne durch die Verbindung mit Fünfter Sohn - der den Namen Starkhand angenommen hatte - geschärft gewesen waren, hätte er selbst schon das leiseste Knirschen unter Beors Füßen gehört, wenn dieser zum Schlag ausholte, und er hätte Beors Wut und seinen Neid geschmeckt, als wären sie wirkliche Substanzen gewesen. Aber jetzt spürte er, dass Starkhand nicht mehr in seinen Gedanken anwesend war, und er fühlte sich seltsam leer und schwach durch diesen Verlust. Hatte er auch die Blutsverbindung der Zentaurin übergeben, oder hatte er einfach nur die Verbindung mit Starkhand verloren, weil Blut nicht die Schwelle des Todes überschreiten konnte? Doch Neid und Wut waren auch so in der Haltung und der Miene einer Person zu erkennen. Rage trottete zu Alain und ließ sich neben ihm nieder. Sie knurrte leise. Alain trat vor und riss die Axt aus dem Baum. Er reichte sie 218 Beor, der sie ihm nach anfänglichem Zögern etwas barsch aus den Händen nahm. »Du kannst sehr gut mit dieser Axt umgehen«, sagte Alain mit trotziger Freundlichkeit, »ich dagegen tue mich schwer mit Werkzeug, an das ich nicht gewöhnt bin. Aber ich habe mir vorgenommen, diesen Baum zu fällen, und so werde ich es auch tun und wäre dir dankbar, wenn du zur Seite trittst.« Er wandte dem Mann absichtlich und langsam den Rücken zu. Das Gewicht ihrer Blicke machte seine ersten Hiebe etwas unbeholfen, aber er arbeitete hartnäckig weiter, selbst dann, als Beor anfing, offensichtlich beleidigende Kommentare über seinen mangelhaften Umgang mit der Axt abzugeben. Wieso hasste Beor ihn nur so? Die Männer hinter ihm gingen davon, widmeten sich wieder ihren eigenen Aufgaben. Nur Beor blieb noch, riesig und feindselig. Mit einem Schlag hätte er Alain von hinten niederschlagen, seinen Kopf zerschmettern oder ihn mit einem gut platzierten Hieb auf den Rücken zum Krüppel machen können. Es spielte keine Rolle. Alain machte einfach nur weiter, fiel schließlich in einen bestimmten Rhythmus, als die Kerbe immer breiter wurde, bis der Baum schließlich ächzte, stöhnte, und umstürzte. Beor war so versessen darauf gewesen, ihm zuzusehen, dass er einen Satz zurück machen musste, und Urtan gab eine bissige Bemerkung von sich, aber niemand lachte. Sie waren entweder zu ängstlich oder sie hatten zu viel Respekt vor Beor, um über ihn zu lachen. Es war wichtig, seine Feinde gut zu kennen, um sie einschätzen zu können. Deshalb hatte er Lavas an Jeoffrey verloren: Er hatte das Ausmaß von Jeoffreys Neid und seinem Hass nicht begriffen. Hätte er die Grafschaft behalten und Tallia für sich gewinnen können, wenn er sich anders verhalten hätte? Doch was machte es für einen Sinn, die alte Wunde aufzureißen, statt ihr die Möglichkeit zur Heilung zu geben? Die Grafschaft Lavas gehörte jetzt Edelmann Jeoffreys Tochter. Tallia hatte ihn aus freien Stücken verlassen. Er musste loslassen. 219 Kel begann, die frisch umgestürzte Birke zu schälen, und Alain machte sich am nächsten Baum zu schaffen. Schließlich zog sich Beor zurück, um sich seiner eigenen Arbeit zu widmen, obwohl Alain in bestimmten Abständen immer wieder seinen Blick wie einen vergifteten Pfeil auf seinem Rücken spürte. Aber er ehrte Beors Eifersucht niemals mit einer Antwort. Er arbeitete einfach nur weiter. Am späten Nachmittag spannten sie Ochsen an, um die geschälten und fertigen Stämme zum Dorf zu schleppen. Schweiß trocknete auf seinem Rücken, während er ging. Die anderen Männer trugen einfache Hosen aus Stoff oder Leder. Die Tunika, die Adica ihm gegeben hatte, ähnelte so gar nicht ihrer Kleidung. Sie war aus schönerem Gewebe und hatte eine Form, in der er leicht arbeiten und sich bewegen konnte, selbst dann, als er sie von den Schultern schob und mit einem Gürtel aus Bast an der Hüfte befestigte. Die Männer hatten kräftige Körper, gute Muskeln und waren stark behaart. Sie hatten scharfe, helle Gesichter und lächelten meistens leicht, aber sie ähnelten nicht im Geringsten irgendeinem der Völker, von denen er wusste oder die er gesehen hatte. Es war, als hätten sich Gott im Jenseits entschieden, die Menschheit ein bisschen anders zu gestalten. Anders als sein Sippengenosse Kel besaß Urtan die Gabe der Geduld, und er ließ sich zurückfallen, um neben Alain gehen und ihm ein paar neue Wörter beibringen zu können: die Namen von Bäumen, die Teile des Körpers, die unterschiedlichen Werkzeuge und die jeweiligen Steine, aus denen sie gemacht worden waren. Beor schritt am Anfang, umgeben von seinen Kameraden. Hin und wieder warf er einen zornigen Blick über die Schulter auf Alain. Aber im Unterschied zu einem Pfeil konnte ein Blick nicht verletzen, wenn man es nicht zuließ. Beor konnte in einem Anfall von Eifersucht jemanden verletzen, ja sogar töten, aber ansonsten konnte er kaum Schaden zufügen, weil er keinen Sinn für Feinheiten besaß. Die Dorfbewohner aßen an diesem Abend Fisch, Wild und eine 220 dicke Gemüsesuppe aus Gerstenbrei, die mit Kräutern und Blättern aus dem Wald gewürzt und mit Beeren
gesüßt war. Urtan aß mit seiner Frau Abidi und seinen Kindern, Urta und einem Kleinkind, das keinen verständlichen Namen zu haben schien. Alain blieb es überlassen, mit den unverheirateten Männern zu essen, die — abgesehen von Beor - kaum älter als Jugendliche waren. Adica aß allein, am Rande und ohne Gesellschaft, aber als Alain Anstalten machte, zu ihr zu gehen, packte Kel ihn am Ärmel und machte ihm mittels einiger Gesten klar, dass es verboten war. Adica hatte ihn beobachtet, und jetzt lächelte sie leicht und blickte zur Seite. Die Brandnarbe auf ihrer Wange ähnelte einem erstarrten Spinnennetz, wie sie von ihrem rechten Ohr die Kurve des Kinns hinunterlief, um sich kurz vor der Kehle aufzulösen. Ein Teil ihres rechten Ohrs fehlte, aber die Stelle war so gut verheilt, dass es einfach nur etwas missgestaltet aussah. Als die Dämmerung hereinbrach, erhob sich Beor plötzlich und begann, eine Rede zu halten. Er ließ sich Zeit, wie ein Mann, der eine Kriegsgeschichte erzählte. Brüstete er sich mit etwas? Kel und Tosti begannen zu gähnen, und Adica erhob sich mitten in der Geschichte und ging einfach hinaus. Alain wollte ihr folgen, aber er war nicht sicher, ob das jetzt erlaubt gewesen wäre. Schließlich beendete Beor seine Geschichte. Es war Zeit, schlafen zu gehen. Alains Freunde hatten ihm einen Platz am anderen Ende des Männerhauses gegeben, weit weg von Beor. Er war müde genug, um den Schlaf willkommen zu heißen, aber als er sich in den Fellen zusammenrollte, die man ihm gegeben hatte, drückten Steine gegen seinen Körper. Er griff danach und bekam die unangenehmen Steine zu fassen, doch es handelte sich gar nicht um Steine, sondern um eine Art Halskette. Sie war vorher nicht dagewesen. Als er bei Morgenanbruch aufwachte, eilte er nach draußen, um sie bei Licht genauer zu betrachten: Jemand hatte ihm eine Bernsteinkette gegeben. Kel, der schläfrig hinter ihm herschwankte, pfiff vor Bewunderung über das schöne Geschenk und teilte es den 221 anderen mit. Fröhlich zogen sie Alain gemeinsam auf, alle bis auf Beor, der wütend davonstapfte. Adica war bereits unten beim Dorftor und vollführte das Ritual, das sie jeden Tag beim Tor vollführte, möglicherweise eine Art Schutzzauber. Als hätte sie ihr Gelächter gehört, blickte sie auf. Er konnte ihr Gesicht nicht deutlich sehen, aber die Art, wie sie leicht gehemmt den Rücken streckte, sprach zu ihm, ihre gesamte Haltung die geschwungenen Brüste unter ihrem Miederoberteil, die Bänder ihres Kleids, die hin und her schwangen, als sie vom Tor zur Holzbrücke ging. Es war schwer, sich nicht von der Bewegung ihrer Hüften unter dem enthüllenden Kleid ablenken zu lassen. Kel und Tosti lachten aufrichtig und schlugen ihm auf die Schulter. Er konnte sich denken, was ihre Worte bedeuteten: Geschenke und Frauen und sehnsuchtsvolle Blicke. Manche Dinge änderten sich nie, auch nicht im Jenseits. Er hatte einen langen Weg zurückgelegt. Er trug den Ring nicht mehr, der ihn als Erben des Grafen von Lavas kennzeichnete. Er musste den Eid, den er Tallia geschworen hatte, nicht länger halten. Er diente der Herrin der Schlachten nicht mehr. Mit einem Lächeln hängte er sich die Kette um den Hals, obwohl seine Freunde lachten und scherzten. An diesem Tag setzten sie die Pfähle, die sie zuvor geschlagen hatten, an die entsprechenden Stellen in der Palisade. Einmal vergaß Beor, sie abzustützen, während Alain um einen gerade erst aufgerichteten Pfahl Erde anhäufte; zwei Pfähle stürzten um. Glücklicherweise wurde niemand verletzt, doch Beor wurde von einem der älteren Männer ernsthaft gescholten. Alain ging anschließend mit Kel und Tosti zum Fluss, um sich zu waschen. »Komm!«, rief Kel, bevor er untertauchte. »Gut!«, fügte er hinzu, als er wieder hochkam, um nach Luft zu schnappen. »Gutes Wasser. Wasser ist gut.« Alain war von dem Anblick des Hügels abgelenkt. Hier, oberhalb des Dorfes, floss der Fluss so dicht unter den Erdwällen hindurch, dass die Brustwehr sich regelrecht aus dem Wasser erhob, 222 abgesehen von dem schmalen Kieselstrand, von dem aus die Männer ins Wasser gingen. Er konnte den Steinkreis zwar nicht sehen, aber oben auf der Höhe glänzte etwas, gerade so, als wäre es Gold. Die sich verändernde Neigung der Erdwälle erinnerte ihn an die Schlacht, in der er gefallen war. Er hörte Thiadbolds Schreie, als hätte ihm ein Geist etwas ins Ohr geflüstert. Die Vergangenheit quälte ihn. Lagen da oben die Gebeine ihrer Feinde? Zwei Tage zuvor war er im Zustand der Benommenheit von der Anhöhe nach unten gegangen, hinter Adica her. Er hatte gar nicht richtig hingesehen. Von Neugier und einer Vorahnung getrieben, begann er, hinaufzuklettern. Seine Kameraden riefen etwas hinter ihm her, zunächst gutwillig, dann aber missbilligend und schließlich, als er über den ersten Erdwall geklettert war und auf den nächsten zuhielt, mit regelrechter Besorgnis. Doch niemand folgte ihm. Der Wind oben auf der Spitze nahm zu, und er hörte den Ruf einer Eule, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war. Wo sie im Westen versank, sammelten sich Wolken, und das Licht wurde trüber, verschwommener. Die Steine leuchteten. Er rannte, die Hunde neben ihm, denn er war sicher, dass er seine Kameraden sehen würde, die Löwen, die neben den qumanischen Feinden gefallen waren, deren Flügel zerschmettert und zerschmolzen von Wind und Sonne herumliegen würden. Kaum hatte er den Steinkreis betreten, sammelte sich Nebel, und er stolperte nach vorn. Erklangen da nicht in der Ferne die Geräusche der Schlacht? Wenn er weit genug ging, würde er dann zu dem Platz zurückfinden, von dem er gekommen war?
Wollte er das denn ? Er stürzte gegen den Altarstein, stieß sich die Oberschenkel und stützte sich an dem kalten Stein ab. Das Klirren hatte eine sanfte Stimme, es stammte ganz und gar nicht von Waffen, sondern war das Klappern der Blätter auf dem bronzenen Kessel. »Wieso kommst du zum Tor?«, fragte eine Stimme, die er aus seinem Traum kannte. 223 Er blickte auf, aber er konnte nur einen Schemen sehen, der sich im Nebel regte, und das Aufblitzen von blauem Feuer, das rasch erlosch. »Wieso bin ich hier? Wo bin ich?« »Du bist nicht weit gereist, was die Schritte anbelangt, nach denen die Menschen Entfernungen bemessen«, antwortete die Gestalt. »Ich habe dich vom Pfad weggebracht, der zur Anderen Seite führt. Hat man dir nicht gesagt, dass du der neue Ehemann der Geweihten dieses Stammes bist?« Er berührte das Bernstein-Halsband an seinem Nacken und erinnerte sich an die Art und Weise, wie Adica ihn eingeladen hatte, neben ihr zu schlafen. Er war damals verärgert gewesen, denn er hatte seine Begierde als schändlich empfunden. »Niemand hier spricht eine Sprache, die ich verstehen könnte, und sie können auch mich nicht verstehen. Wieso können wir miteinander sprechen, du und ich, wenn ich doch mit den anderen so spreche wie ein Fremder? Du bist nicht einmal menschlich.« »Durch meine Natur bin ich an das gebunden, was war, was ist und was sein wird, und so ist mein Verständnis lebendig in der Zeit, die kommt, wie auch in der Zeit, die ist und die gewesen ist.« Plötzlich änderte sich der Ton der Gestalt, als würde sie zu jemand anderem sprechen. »Höre!« Ihre Stimme wurde schwächer. Er hörte das sanfte Dröhnen ihrer Hufe auf dem Boden. »Ich werde gerufen. Adica kommt, um nachzusehen.« Ihre Stimme wurde noch schwächer. »Gib Acht. Bewache den Webstuhl. Die Verfluchten gehen!« »Kannst du mir nicht das Geschenk der Sprache gewähren?«, rief er noch, aber da war sie schon gegangen. »Alain!« Der Nebel verzog sich so schnell, wie er gekommen war. Adica beeilte sich, zu ihm zu kommen, während sich die Dämmerung auf die Steine herabsenkte. Er setzte sich hin, müde von der Arbeit und all den seltsamen Geschehnissen um ihn herum. Adica blieb vor ihm stehen und blickte ihn an, sowohl beunru224 higt als auch besorgt," und vielleicht auch ein bisschen gereizt. Sie war nicht wirklich hübsch, aber gut aussehend, und sie hatte einen scharfen Blick und einen festen Mund. Er genoss das Vergnügen, ihren Körper aus der Nähe genauer betrachten zu können: Sie hatte die angenehmen Kurven einer Frau, die gewöhnlich genug zu essen bekommt, aber da war noch etwas anderes, eine nicht greifbare Stärke, wie das Glühen eines verborgenen Feuers. Auf seltsame Weise erinnerte sie ihn an Liath, als hätte Magie einen Mantel über die Personen geschwungen, die sie ausübten, sodass sie im Schimmer der Macht erstrahlten. Ihre nächsten Worte klangen tadelnd, wenngleich er nicht wusste, weshalb sie ihn tadelte. Plötzlich sah sie, wie sich das Bernstein-Halsband unter seiner Leinentunika abzeichnete. Ihr tadelnder Blick verschwand. Sie strich mit dem Finger über den Rand der Bernsteinkette, dann errötete sie. »Du hast mir das gegeben, nicht wahr?«, fragte er, dabei die Kette mit einem Finger anhebend. Sie lächelte und antwortete mit einer Stimme, die halb zärtlich und halb schmeichlerisch klang. »Oh, Gott, ich wünschte, ich könnte dich verstehen«, rief er enttäuscht aus. »Stimmt es, dass ich dein Mann werden soll? Sollen wir heiraten, wo wir so wenig voneinander wissen? Und doch habe ich nichts von Tallia gewusst, an dem Tag, als wir das Hochzeitsbett hätten miteinander teilen sollen. Oh, Herrin, ich habe so wenig von ihr gewusst!« Er konnte noch immer den Nagel in seiner Hand spüren, den Beweis ihrer Bereitschaft, zu täuschen. Adica missdeutete seinen Schrei oder reagierte darauf, denn sie nahm seine Hand und zog ihn hoch. Einen Augenblick lang glaubte er, sie würde ihn küssen, aber das tat sie nicht. Schweigend führte sie ihn zurück zum Dorf. Der Druck ihrer Hand machte ihn ganz benommen, bis seine Gedanken schließlich zu den letzten Worten der Zentaurin zurückkehrten. Wer waren die Verfluchten ? Und was waren die Webstühle ? Und wie konnte er Adica davon erzählen, wenn sie keine gemeinsame Sprache besaßen? 225 2 »Steh auf, die Sonne scheint!« Kel stieß Alain an, um ihn zu wecken. »An die Arbeit!« Er machte eine ausschweifende Handbewegung, die ihn selbst, Tosti und Alain umschloss. »Wir müssen zur Arbeit.« Drei weitere Tage waren in dem Dorf vergangen. Es war ein wohlhabender, blühender Ort mit zwölf Häusern und ungefähr hundert Einwohnern. Sie hatten etwa ein Viertel der äußeren Palisade fertig gestellt und wollten an diesem Tag in den Wald zurückgehen, um weitere Bäume zu fällen. Bei solch einer Arbeit vergingen die Tage rasch. Während einer der Pausen beendete Kel die Arbeit an einem kräftigen Eichenstock, in dessen beide Enden er das Gesicht eines knurrenden Hundes geschnitzt hatte. Als Beor mit einer selbstsicheren und beinahe bedrohlichen Grimasse seine Axt neben Alain auf den Boden stieß, machte Kel regelrecht ein Schauspiel daraus, Alain den Stab zu reichen. Er brachte sogar Tosti dazu, sich hinzustellen und ihm zu zeigen, wie die knurrenden Hunde an
den zartesten Teilen eines Mannes »knabbern« konnten. Das Gelächter der Männer ging dieses Mal auf Kosten von Beor, doch er ertrug es mit einem Grunzen; wäre er einfach in den Wald davon gestapft, hätte er sich nur noch lächerlicher gemacht. An diesem Nachmittag ließ er Alain zwar grummelnd, aber in Ruhe weiterarbeiten. Als sie jedoch am Abend ins Dorf zurückkehrten, fanden sie eine ernste Stimmung vor. Im Laufe des Tages war ein Kind gestorben. Dem stoischen Blick der Familie des toten Kindes nach war das zu erwarten gewesen. Alain sah zu, wie die Frauen den winzigen Körper in ein grob gewebtes Tuch wickelten und den schlaffen Körper dann dem Vater reichten. Er legte es in einen in zwei Teile geteilten und ausgehöhlten Baumstamm. Nachdem die Mutter etwas Schmuck, Perlen, Federn sowie einen geschnitzten Holzlöffel 226 neben das tätowierte Handgelenk gelegt hatte, verschlossen andere Erwachsene den Deckel. Zusammen sangen sie Verse, die wie ein Gebet klangen. Eine seltsame, halb menschliche Kreatur tauchte aus Adicas Haus auf, mit goldenem Geweih, leuchtendem Rumpf und der Aura von Macht. Es dauerte ein paar Atemzüge, ehe Alain erkannte, dass es Adica war, die wie damals, als er angekommen war, auch jetzt die Gewänder der Macht trug. Sie segnete den Sarg, indem sie heiliges Wasser darüber sprenkelte und eine Reihe komplizierter Gesten ausführte und Lieder sang. Dann trugen ihn vier Männer aus dem Dorf hinaus, während Adica den Pfad hinter ihnen mit weiteren Zaubersprüchen und Liedern verschloss. Das gesamte Dorf marschierte in einer stummen Prozession zum Friedhof, der aus einem leicht verwilderten Feld bestand, auf dem sich kleine Hügel aus Erde befanden, einige davon frisch, andere bereits mit Nesseln und Hopfen bewachsen. Die männlichen Verwandten ließen den Sarg in das Loch hinunter. Die Mutter schnitt ihren Zopf ab und warf ihn auf den Sarg, dann kratzte sie sich an der Wange, bis Blut tropfte. Das Jammern und Wehklagen der anderen Frauen hatte etwas Rituelles, etwas, das man erwartete und das oft durchgeführt wurde. Die Mutter weinte nicht, sie seufzte nur. Sie blickte erschöpft und auf eine gewisse Weise erleichtert drein. Vielleicht war das Kind eine lange Zeit krank gewesen. Alain war sich sicher, dass er dieses Kind niemals mit all den anderen hatte herumlaufen und spielen sehen, auch nicht beim Verrichten irgendeiner Arbeit. Das Grab wurde gefüllt, und man begann damit, einen Hügel über dem toten Kind aufzuschichten. Paarweise und zu dritt kehrten die Leute zum Dorf zurück, das hinter der Flusskrümmung und damit außer Sichtweite lag. Alain blieb noch zurück, weil auch Adica bisher nicht gegangen war. Kummer und Rage hatten sich auf dem Boden niedergelassen. Die Dämmerung lastete schwer auf ihnen. Selbst in den fünf Ta227 gen, die er erst hier war, hatte er bemerkt, dass es jede Nacht früher dunkelte, da die Sonne sich vom Hochsommer verabschiedete und auf den Winterschlaf vorbereitete. Anhand des Fruchtstandes und des Wetters schätzte Alain, dass es Spätsommer oder Anfang Herbst sein musste. Ein paar Männer arbeiteten gleichmäßig weiter, brachten Gras in einer Schubkarre, die aus Holz, einer Achse, Rädern, Trägern und einer Bohle bestand. Er trat zu den anderen, um zu helfen, während Adica mit erhobenen Armen daneben stand und stumm den Himmel betrachtete oder demütig betete. In ihrem geweihten Gewand wirkte sie ebenso bedrohlich wie wunderbar - ein Geist, der aus der Erde auferstanden war, um jenen, die als Bittsteller zu ihm kamen, Hilfe zu bringen oder Schaden zuzufügen. Dämmerung tauchte die Landschaft in ein verschwommenes Grau. Andere Männer brachten Fackeln und befestigten sie auf kräftigen Pfählen, sodass die Arbeit weitergeführt werden konnte, während die Nacht hereinbrach und der Mond sich voll und strahlend erhob. Adica leuchtete regelrecht unter den Strahlen, eine Frau, die halb Tier und halb Mensch war, eine Gestaltwandlerin, die jeden Augenblick mit vier Beinen in den Wald entschwinden mochte. Und dann plötzlich, als das Sternenlicht Löcher in das tiefe Schwarz stach, das die Sterblichen schützte, sah er sie: Er sah die Geister und die Todgeweihten, halb sichtbare Gespenster, die sich um jene Lebenden versammelten, die die Toten beerdigen wollten. War das da die Seele Kindes, die um Erlösung oder Rückkehr bat? Die nach der Mutter schrie, weil sie vom Tod verführt worden war? Doch die Geister konnten die Lebenden nicht berühren, denn Adica hatte mit ihrer Aura aus Macht ein Netz ausgeworfen, um sie abzuhalten. Das Netz war so fein wie Spinnenseide und schimmerte im Mondlicht, als wäre es vom Tau benetzt, der von den wilden Sternen stammte. Kein hungriger Geist konnte durch dieses Netz hindurchschreiten. Im Innern des unsichtbaren Schutzes ar228 beiteten derweil die Männer weiter daran, den Grabhügel aufzuschichten; sie waren zwar angesichts der Dunkelheit ein bisschen nervöser, aber noch immer vertrauensvoll. Sie kannten Adicas Macht, die auch der Grund war, weshalb sie sie fürchteten. Kummer jaulte. Abrupt versiegte die Vision, doch Adicas Lippen bewegten sich noch immer, sprachen weitere Zaubersprüche. Der Mond stieg erst höher und begann dann zu sinken. Es war sehr spät, als der Hügel schließlich fertig war - ein kleiner Hügel, einsam und verloren in der tödlich stillen Nacht. Der Vater wischte sich über die Augen. Die Männer sammelten ihre Werkzeuge zusammen und eilten zurück zum Dorf, nicht ohne besorgte Blicke über die
Schultern zu werfen. Alain blieb und wartete. Adica schritt in einem ovalen Kreis um den winzigen Hügel herum, und ihr goldenes Geweih schnitt dabei durch die Himmelssphären. Hin und wieder klopfte sie mit den kupfernen Armbändern auf ihr spiralförmiges, bronzefarbenes Taillenband, und es erklang ein Geräusch, als wären Engel auf der Flucht. Doch was konnte Adica schon von Engeln wissen? Niemand hier trug den Kreis der Einigkeit. Er hatte ihre Altäre und Opfergaben gesehen, und sie hatten ihn an jene Gebräuche erinnert, mit denen die Frater und Diakonissinnen aufgeräumt hatten, denen aber bestimmte hartnäckige Seelen weiterhin anhingen. Ihre Rituale wirkten nicht wie die Werke des Feindes, obwohl er das vielleicht besser glauben sollte. Sie hörte auf zu sprechen, als sie an der westlichen Seite des frisch errichteten Hügels ankam. Und ganz plötzlich war sie wieder einfach nur Adica - die Frau mit der furchtbaren Narbe an der Wange, die Frau, die in seinem Traum die Zentaurin gefragt hatte, ob er ihr Mann sein würde. Sie hatte die Worte mit aufrichtigem Herzen gesprochen, aus schlichter Sehnsucht heraus. »Alain!« Sie schien überrascht zu sein, ihn hier zu sehen. Mit geübten Bewegungen nahm sie die Gewänder, die sie als Zauberin 229 trug, ab und wickelte sie mit dem Stab und dem Spiegel in eine Lederhaut. Dabei sprach sie bestimmte Zaubersprüche und ein Gebet, als wollte sie ihre magische Macht einschließen und versiegeln. Sie hängte sich das Bündel über den Rücken und begann, zum Dorf zurückzugehen. Alain marschierte neben ihr her, und die Hunde folgten hinter ihnen. Während sie so dahin schritten, überprüfte er mit seinem Stab die Beschaffenheit des Pfads, obwohl der Mond ihren Weg klar und hell beleuchtete. Sie betraten einen schmalen Waldgürtel, den sie westlich vom Dorf wieder verließen. Das Licht des Mondes färbte den Fluss silbern. Hinter dem Dorf erhob sich der Tumulus. Etwas näher beim Tor brannte ein Wachfeuer. Noch näher lag das Geburtshaus, aus dem die Schreie eines der beiden Säuglinge drangen. Eine Nachtigall sang und schwieg dann wieder. Am östlichen Horizont war der schmale Schimmer zu sehen, der den Morgen ankündigte, während der Mond im Westen unterging. Vögel erwachten und zwitscherten, und ein Schwärm Enten ließ sich mit rauschenden Flügelschlägen in den seichten Stellen des Flusses nieder. In der Ferne heulte ein Wolf. Adica nahm seine Hand. Sie beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn. Ihre Lippen waren süß und feucht, und als sie sich eng an ihn presste, antwortete sein Körper hungrig. Er fuhr mit der Hand zwischen den Streifen ihres Kleids hindurch, berührte ihre Haut. Eine kleine Stimme erwachte im hinteren Teil seines Kopfes. Hatte er nicht einen Eid geleistet? Hatte er nicht Tallia versprochen, enthaltsam zu leben, um Gott zu ehren? Sollte er sich nicht an das Versprechen seines Stiefvaters erinnern, das ihn an die Kirche mit all ihren Regeln band? Er ließ den Eichenstab zu Boden sinken und schlang seine Arme um Adica. Ihre Wärme und ihre Begierde umhüllten ihn. Er hatte alles weggegeben, als er in dieses Land gekommen war. Jetzt konnte er tun und lassen, was ihm gefiel, und in diesem Augenblick gefiel es ihm, diese Frau, die auch ihn begehrte, zu umarmen. 230 Früher einmal, in jenen lang zurückliegenden Tagen, als er in seinen Träumen mit Starkhand verbunden gewesen war, hätte Alain die Rufe vielleicht als Erster gehört. Jetzt jedoch, selbstvergessen in ihrer Umarmung, überraschte ihn der Hornruf so sehr, dass er erschreckt zusammenzuckte. Kummer und Rage bellten. Adica zog sich zurück und legte ihren Kopf in den Nacken, um zu lauschen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber ein erster Schimmer glänzte bereits auf der Hügelkuppel die östlich von ihnen lag. In der Ferne grollte Donner und verklang. Sie schrie laut auf, doch er verstand die Worte nicht. Als sie sich bückte, um ihr Bündel vom Boden aufzuheben, zischte ein Pfeil über ihren Rücken hinweg - er schoss genau dort durch die Luft, wo sie soeben noch aufrecht gestanden hatte. Er duckte sich und riss sie mit sich zu Boden. Ein wahrer Pfeilregen sauste jetzt über sie hinweg, ohne jedoch Schaden anzurichten, und die hellen Schäfte gruben sich hinter ihnen in den Boden. Gestalten sprangen aus dem Wald. Wieder erklang das Horri, und dann noch ein drittes Mal, schrill und drängend. Die maskierten Angreifer, die aus dem Wald brachen, schwärmten aus und wandten sich dem Geburtshaus zu, in dem Weiwara mit ihren zwei Kindern wohnte. Adica war bereits wieder auf den Beinen, den Stab in ihrer Hand. Sie ließ das Bündel einfach liegen und schoss davon. Kummer und Rage folgten ihr, ebenso Alain, als er endlich seinen Stab gefunden hatte. Obwohl sie so schnell rannte, wie sie konnte, erreichten die Banditen das Geburtshaus zuerst; Adica rief noch Weiwaras Namen, aber es war zu spät. Weiwara rief etwas. Es folgte ein Wutschrei, dann ein Geräusch, als ob etwas Schweres auf Holz prallte. Zwei Männer kamen aus dem Haus gerannt und flüchteten, jeder von ihnen mit einem Bündel in den Armen. Adica war nahe genug heran, um einen von ihnen mit dem Stab treffen zu können, und sie schlug ihm so kräftig gegen die Knie, dass er stolperte. Der andere rannte weiter, zu231 rück zum Wald, während der Erste sich umdrehte und mit dem Schwert fuchtelte; das Kind hatte er sich dabei zwischen Arm und Körper geklemmt. Im Licht der Morgendämmerung leuchtete das Metall wie Feuer, während
er um sich schlug. Adica sprang zur Seite. Das heller werdende Licht ließ das Gesicht des Mannes erkennen, der - im Gegensatz zu den beiden anderen - nicht maskiert war. Und er war auch kein Mensch: Er hatte einen dunklen Teint, schwarze Haare und bemerkenswerte Gesichtszüge, die Alain an Prinz Sanglant erinnerten. Noch jemand kam aus dem Geburtshaus heraus, diesmal eine junge Aoi-Kriegerin, die wie die anderen eine bronzene Brustplatte über der kurzen Tunika trug. Sie hatte Federn in ihre Haare geflochten, und ihre Maske war wie der geschwungene Schnabel eines Wanderfalken geformt. Sie war mit einem kleinen runden Schild und einem kurzen Speer bewaffnet. Alain schlug mit seinem Stab zu. Sie hatte kaum Zeit, zu parieren. Ihr Begleiter, der durch das Kind behindert wurde, schlug erneut zu, aber Adicas Reflexe waren zu gut. Sie sprang und schwang ihren Stab mit aller Kraft, wobei sie auf die Frau statt auf den Mann zielte, und versetzte der Aoi-Kriegerin eine harten Schlag gegen das Kinn. Blut spritzte, und die junge Kriegerin biss die Zähne gegen den Schmerz zusammen. Alain näherte sich ihr von rechts, versuchte, die zwei gegen die Wand des Geburtshauses zu drängen. Dann hörte er Schreie hinter sich, und kurz darauf kamen Kel und sein Bruder mit Steinspeeren herbeigerannt. Der Aoi-Mann ließ das Kind fallen und rannte auf die Bäume zu; er folgte seinem Kameraden. Alain versetzte der Frau, die ebenfalls fliehen wollte, einen Schlag, und sie stürzte. Adica machte einen Schritt zurück. Kel und Tosti schrien vor Freude, als die Aoi-Frau sich herumdrehte und den Schild hochriss, um sich zu schützen. »Nein!«, schrie Alain, denn sie war jetzt hilflos, und es wäre barmherziger gewesen, sie gefangen zu nehmen. Aber der Hass zwischen den beiden Völkern war zu groß. Alain zuckte zusam232 men, als Kel und Tos'ti sie mit wütenden Speerstößen an den Boden nagelten. Ihr Blut vermischte sich mit der Erde. Das Baby jammerte. »Weiwara!«, schrie Adica und rannte ins Innere. Er blickte von der sterbenden Kriegerin weg, die sich auf dem Boden wand. Tosti war Adica ins Haus gefolgt. Kel zog seinen Speer heraus und packte Alain bei der Schulter. Er rief etwas, deutete auf die Frau. Hinter ihnen blitzte Feuer auf und breitete sich auf dem Dach eines der Dorfhäuser aus. »Komm! Komm!« Kel bückte sich, um das schreiende Baby aufzuheben. Etwa zehn Aoi-Krieger in Bronzerüstungen und mit Waffen aus Metall in den Händen tauchten jetzt hinter der letzten Krümmung der Erdwälle auf. »Komm!«, schrie Kel mit deutlich mehr Nachdruck, deutete dabei auf das Dorf und das geschlossene Tor. Ein Mann lag ausgestreckt am äußeren Graben. Ein kleines Stück vom Graben entfernt kauerten fünf Feinde im Schutz einer zerstörten Hütte. Von ihrem Standort aus schössen sie Brandpfeile auf das Dorf; die niedrige Palisade bildete dafür kein Hindernis. Adica und Tosti erschienen an der Tür, zwischen sich Weiwaras schlaffen Körper. Blut lief ihr über das Gesicht, und eine hässliche Beule verunzierte ihre linke Wange, aber sie atmete noch. »Das andere Baby!«, schrie Alain. Er deutete auf das schreiende Baby und den Wald. »Nein!«, sagte Adica und deutete auf das Dorf, das jetzt direkt bedroht war. Das Hörn erklang erneut. Eine Gruppe Dorfbewohner kam waffenschwingend unter trotzigem Gebrüll aus dem Dorf gerannt. Beor führte sie an; Alain erkannte ihn an seiner Größe und seinen breiten Schultern, und an dem Bronzespeer, den er trug. Ein halbes Dutzend Dorfbewohner löste sich von der Hauptgruppe, um zum Geburtshaus zu eilen, darunter auch Weiwaras Ehemann und Urtan. 233 »Geh!«, sagte Alain, weil es ein Wort war, das er kannte, und weil Hilfe kam. »Ich hole das Baby.« Kel jauchzte vor Vergnügen und reichte Tosti das Kind. Er hob den Bronzespeer der toten Frau vom Boden auf. »Ich gehe mit!« Er schlug sich mit der geschlossenen Faust an die eigene Brust und versetzte dann Alain einen kleinen Schlag. »Wir gehen zusammen !« Es war keine Zeit zum Diskutieren. Diejenigen, die sie suchten, hatten bereits einigen Vorsprung, doch Alain würde nicht zulassen, dass sie dieses Baby stahlen, denn das Überleben dieser Zwillinge war der Beweis, dass Gott ihn an dem Tag, an dem er hier angekommen war, in dem Dorf willkommen geheißen hatten. Er griff nach dem Schild der Leiche und rannte auf den Wald zu, während hinter ihnen die Sonne über den Horizont kroch. Adica rief ihnen etwas hinterher, aber ihre Stimme ging im Kampflärm unter. Sie hielten auf die Bäume zu, und als sie an ihrem Rand stehen blieben, hob Alain Ruhe gebietend die Hand. Von weiter vorn hörten sie lautes Krachen und Rascheln; die beiden, die sie verfolgten, rannten noch immer blindlings davon. Rage verschwand zwischen den Bäumen, und sie folgten ihr. Alain sah die zwei Aoi, als er am Rand des Friedhofs aus dem Wald brach. Kummer und Rage hetzten hinter den Aoi her und hatten sie rasch eingeholt. Sie bekamen den hinkenden Mann zu fassen, und er brach unter ihnen zusammen. Kel erreichte ihn als Erster. Bevor Alain ihn noch um Barmherzigkeit bitten konnte, hatte Kel ihn schon getötet; er schrie triumphierend auf, als sich die bronzene Klinge in den Körper des Mannes grub. Das Geräusch ging Alain durch Mark und Bein, und Galle stieg in ihm auf. Er hatte schon seit langem gewusst, dass er der Herrin der Schlachten nicht durch Töten dienen konnte. Aber er konnte das Kind retten. Die Hunde folgten ihm auf Schritt und Tritt, während er hinter dem dritten Krieger herrannte - demjenigen, der
das schreiende Kind unter dem Arm hielt. Der Krieger wandte sich erst nach 234 links, dann nach rechts, als wollte er Pfeilen ausweichen. Als er einen Blick über die Schulter warf, sah er Alain und die Hunde, und er begann, noch schneller zu rennen, obwohl er wie ein Verrückter zu grinsen begann, als wäre seine Miene in einer Mischung aus Ekstase und Wut erstarrt. Aber auch Alain kannte die Wut, die in seinem Innern immer weiter anstieg, befeuert durch die Erinnerung an den winzigen Körper, der in seinen Händen wieder zum Leben erwacht war. Sie hatten sich inzwischen ein gutes Stück vom Fluss entfernt, aber ein Bach führte östlich vom Friedhof von einem Hügel hinunter. Als der andere Mann versuchte, den Wasserlauf zu umgehen, fand er sich zwischen dem Hügel und einem Kliff wieder, von dem ein Wasserfall herabstürzte; der Felsen war zwar nur zwei Mannshöhen hoch, aber so steil, dass er unmöglich erklommen werden konnte, ohne dass man die Hände zu Hilfe nahm. Der Krieger war kein Narr. Er hielt das Baby fest und schwang bedrohlich seinen Speer, während er einen Satz zurück machte und jetzt die Felswand im Rücken hatte. Das Baby hatte vor Verzweiflung einen Schluckauf bekommen und schwieg erschöpft von seinen eigenen Schreien. Alain hörte irgendwo hinter sich Kel rufen. Alain warf Schild und Stab beiseite, als Kummer und Rage neben ihn traten. »Gib mir das Kind oder schlag mich nieder. Es ist mir egal, für was du dich entscheidest.« Die Augen des Kriegers weiteten sich vor Angst - oder vor Wut - und blitzten hell auf; das war das Einzige, was hinter der grinsenden Hundemaske von seinem Gesicht zu sehen war. Alain machte einen weiteren Schritt auf den Mann zu. Er kehrte seine leeren Handflächen nach außen, hielt aber den Blick fest auf seinen Gegner gerichtet. »Gib mir nur das Kind zurück. Mehr will ich nicht von dir.« Der Krieger zog sich nervös noch weiter zurück; er hatte den Speer hoch erhoben und machte einen prüfenden Stoß in Alains Richtung. Der wich jedoch nicht zurück, sondern kam ihm einen weiteren Schritt entgegen. 235 »Wie du siehst, habe ich keine Angst vor dem Sterben, denn ich bin bereits tot. Nichts, was du tun könntest, kann mir Angst machen. Ich bitte dich, gib mir das Kind.« Vielleicht war es Kel, der laut rufend von hinten herbeigerannt kam. Vielleicht waren es die Hunde. Vielleicht hatte der Krieger auch einfach nur genug. Er setzte das Kind ab, drehte sich um und kletterte so gut es ging das Kliff empor. Alain sprang auf das Kind zu, genau in dem Augenblick, als der Krieger seinen Speer losließ, sodass er mit einem lauten Platschen in den Wasserfall stürzte. Er drehte sich, ritt über die Kaskade und verkantete sich zwischen zwei großen Steinen, während das Wasser über ihn hinwegdonnerte. Mit einem Fluch zog sich der Mann über den Rand und verschwand. Kiesel fielen von oben herab, und dann war auch der letzte Hinweis auf den Mann verschwunden. Kel trat frohlockend hinter Alain. Das Baby jammerte, aber es klang mehr wie ein Krächzen als wie ein Weinen. Kel holte den Speer und reichte ihn Alain. »Nein, ich will ihn nicht!«, blaffte Alain. Kel zuckte verwundert zurück. »Hier«,sagte Alain etwas freundlicher und reichte ihm den Schild des Mannes. Jetzt, wo er wieder eine Hand frei hatte, hob er seinen Eichenstab auf. Sie gingen rasch, aber vorsichtig zurück, machten dabei einen Bogen um die Leiche auf dem Friedhof und nahmen einen Pfad durch den Wald; sie wussten nicht, was sie im Dorf vorfinden würden, ob sie möglicherweise würden kämpfen müssen, wenn sie dort ankamen. Glücklicherweise fiel das Neugeborene schon bald in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung. Sie lösten sich aus dem Schutz des Waldes und sahen das Dorf in den ersten Strahlen der Morgensonne daliegen; Gestalten bewegten sich wie Ameisen hin und her, eilten von hier nach dort. Während sie zusahen und zu verstehen versuchten, was sie da sahen, schob sich eine Wolke vor die Sonne, und das Licht änderte sich. Donner grollte leise. Regen beschattete die Berge im Südosten. 236 »Beor!«, sagte Kelleise, dabei auf ihn deutend. Alain sah, dass Beor mit einem Speer in der Hand die Erdwälle hinabging. Mindestens fünfzehn Erwachsene begleiteten ihn, alle bewaffnet, einige hinkend. Rauchschwaden stiegen über dem Dorf auf und trieben gen Himmel, so dicht wie von einem gerade erst erstickten Feuer. Ein paar Leichen lagen herum, einige waren in Bronze gekleidet, andere waren offenkundig Dorfbewohner. Alain fand es höchst seltsam, dass die Angreifer zunächst so kraftvoll, entschlossen und rasch zugeschlagen hatten, nur um sich dann wieder zurückzuziehen - wie ein Gewitter, das sich voller Wut und Lärm über ihnen entladen und nach seinem Abzug frische Pfützen, abgebrochene Äste und umgestürzte Bäume zurückgelassen hatte. Auf halbem Weg vom Flusspfad zum Geburtshaus sah Alain einen Gegenstand auf dem Boden liegen. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er rannte zu der Stelle und fand - wie befürchtet - auf dem Boden Adicas geöffneten Lederbeutel; er lag noch genau dort, wo sie ihn hatte fallen lassen, als sie zu Weiwaras Haus gelaufen war. Er fand es nicht richtig, dass Regen auf das Goldgeweih fiel, und hob daher den Beutel auf. Darunter fand er ihren polierten Spiegel. Adica ging nie ohne ihren Spiegel irgendwohin. In diesem Augenblick ergriff ihn dieselbe Hilflosigkeit, die ihm auch damals den Atem geraubt hatte, als Lavastin hinter der verschlossenen Tür von Blutherz' Rache ereilt worden war.
Stimmen erklangen aus dem Dorf. Er schlang sich den Beutel über die Schulter und erhob sich genau in dem Augenblick, als Kel zu ihm eilte und ihn mit verängstigtem Blick ansah. »Nein. Nein«, wiederholte er wieder und wieder und deutete dabei auf den Beutel. Alain beachtete ihn jedoch nicht und eilte weiter. Er musste Adica finden. Weiwara war zum Ratshaus gebracht worden und lag auf Fellen, wie auch andere Verwundete. Es waren nicht mehr als sechs, aber sechs waren bereits zu viele. Als Alain ihr das verloren geglaubte 237 Kind in die Arme legte, brach sie in Tränen aus. Sowohl Urtan als auch Tosti zählten zu den Verwundeten. Urtan hatte einen Hieb auf den Kopf bekommen und lag bewusstlos da, während seine junge Tochter Urta ihm den Mund mit einem feuchten Tuch benetzte. Tosti trieb stöhnend in einem Dämmerzustand dahin; immer wieder erwachte er, um anschließend wieder in Bewusstlosigkeit zu versinken. Er hatte je eine Wunde an seiner rechten Schulter und an der linken Hüfte. Kel ließ sich neben ihm nieder, klagte und kratzte sich an der Brust, bis sie blutete. Mutter Orla schlurfte herein und stützte sich schwer auf ihren Gehstock, während sie die Verletzten betrachtete. Sie rief nach ihrer Tochter Agda, die Salben und Umschläge brachte. Erschöpfung schwappte über Alain hinweg, aber als er versuchte, zur Tür zu gehen, um Adica zu suchen, hielt Mutter Orla ihn mit grimmiger Miene zurück. Er hörte Stimmen draußen, doch es war Beor, der eintrat, nicht Adica. Kaum hatte Beor Alain gesehen, spuckte er auf den Boden. Mutter Orla höchstpersönlich musste eingreifen, und sie erhob ihren Gehstock, um ihn daran zu hindern, durch die Menge auf Alain zuzulaufen und ihn anzugreifen. Die draußen wartenden Hunde bellten bedrohlich. Obwohl Beor unglaublich wütend war, begnügte er sich mit einem harten Blick auf Alain, bevor er zu einer umfassenden und verzweifelten Geschichte ansetzte. Sicherlich war an diesem Tag etwas weit Ernsthafteres über das Dorf hereingebrochen als die Eifersucht eines einzelnen Mannes. Während Beor sprach, zeigten die Gesichtszüge von Mutter Orla nicht das geringste Zeichen von Schwäche - nicht einmal dann, als die anderen um sie herum und jene, die draußen warteten, bei seinen Worten laut aufstöhnten. Ein krachender Donnerschlag erschütterte die Luft und zog einen Augenblick Stille nach sich. Es begann zu regnen. »Wo ist Adica?«, wollte Alain wissen und stellte dabei den Beutel mit ihren heiligen Kleidern auf den Boden, damit alle sehen konnten, dass er sie in Sicherheit gebracht hatte. 238 Beor brüllte wie ein "verwundeter Eber, vollkommen von Wut übermannt. Die anderen wehklagten und schrien laut. Obwohl Alain nur wenige Worte verstand, dauerte es nicht lange, bis er begriffen hatte. Adica war weg. Sie war von den Banditen geraubt worden. VI Eine Gruppe von Disteln 1 Es fiel Zacharias, der auf den Straßen nördlich des Alfar-Gebirges der Spur des Prinzen folgte, nicht schwer, unschuldige Fragen zu stellen, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab. Auf der anderen Seite konnte er sich ebenso gut unauffällig verhalten, sobald es nötig war. Unglücklicherweise hatte er einen Umweg in Kauf nehmen müssen, um einem Rudel hungriger Wölfe zu entkommen, und dabei eine seiner zwei Ziegen verloren und sich eine unangenehme Entzündung in seinem linken Auge zugezogen. Schließlich jedoch fand er sich in einem Strom von Bittstellern und Pilgern wieder, die nach Norden wanderten, um den König zu sehen. Einige dieser demütigen Seelen berichteten von einem edlen Kämpfer, der ganz allein ein Rudel blutrünstiger Banditen besiegt hatte. »Wirklich, er muss ein wahrer Prinz gewesen sein«, sagte er mehr als einmal zu den Leuten, die er traf; dabei versuchte er stets, den Sarkasmus aus seiner Stimme fern zu halten. Schließlich bestätigte tatsächlich einer der Männer, dass er von einem nach Süden reitenden Verwalter gehört hatte, Prinz Sanglant wäre zur Rundreise des Königs zurückgekehrt. 240 Als Zacharias zum Palast von Angenheim kam und den Hof bei den letzten Vorbereitungen zur Abreise vorfand, hoffte er, mit der Menge der vielen Bittsteller, die um Almosen bittend oder sich Heilung oder Gerechtigkeit erhoffend zum König drängten, vorgelassen zu werden. Er sah nicht viel anders aus als all die ungepflegten Bettler und die armen Bauern, die auf den Feldern und im Wald vor den Befestigungsanlagen des Palastes lagerten. Zudem liebten die meisten Leute etwas Tratsch und Klatsch. Sicherlich würde niemand großartig Notiz von ihm nehmen, wenn er den Wachen ein paar unschuldige Fragen stellte. Aber da er sieben Jahre als Sklave bei den qumanischen Nomaden gelebt hatte und ein Jahr als Ausgestoßener durch das Land seines eigenen Volkes gereist war, hatte Zacharias vergessen, dass seine zerrissene Kleidung, sein unmögliches Äußeres und sein östlicher Akzent die Leute eher dazu verleiten würde, ihm zu misstrauen, als ihn einfach wieder wegzuschicken. Auf dieses Weise fand er sich schließlich unter denen wieder, die in die beeindruckende Befestigungsanlage und in den Palastbereich selbst gebracht wurden. Nachdem Wachen ihm seine Ziege weggenommen und seinen arg mitgenommenen Ledersack nach Waffen durchsucht hatten, führten sie ihn zu einer mit hübschen Schnitzereien
versehenen Tür vor einem der Gemächer der Edlen. Sie stießen ihn mit den Speerenden weiter, versuchten, ihn dazu zu bringen, vor einem ältlichen Edelmann niederzuknien, der mit einem Becher Wein auf einer Bank saß. Neben ihm saß eine hübsche junge Frau. Der alte Edelmann reichte ihr den Becher und blickte Zacharias stirnrunzelnd an, während er sich mit den Fingern auf sein Knie tippte. »Er weigert sich also, niederzuknien.« Auch in seiner Stimme war der Hauch eines östlichen Akzents, der jedoch durch die harten Endungen und die für die mittleren Herzogtümer typische Art, die Wortanfänge auszusprechen, fast völlig überdeckt wurde. »Ich habe nicht vor, irgendjemanden zu beleidigen«, beeilte Za241 charias sich zu sagen. »Ich bin ein Frater und habe geschworen, vor niemandem niederzuknien als vor Gott.« »Ein Frater seid Ihr?« Der Edelmann lehnte sich zurück, als ein schlanker Diener mittleren Alters zu ihm trat und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Sobald der Mann geendet hatte, beugte sich der Edelmann wieder vor. »Wisst Ihr, wer ich bin?« »Nein, das weiß ich nicht, aber ich kann an Eurer Stimme erkennen, dass Ihr einige Zeit im Osten verbracht habt.« Der Edelmann lachte, wenn auch nicht so laut wie seine junge Begleiterin, die auf das bestickte Banner deutete, das hinter einem Tisch voller Gold- und Silberteller an der Wand hing. Angesichts der vielen Speisen lief Zacharias das Wasser im Munde zusammen - Äpfel, Birnen, Brot, Käse, Lauch und Petersilie. Doch das Zeichen auf dem Banner jagte ihm einen kalten Schauer durch den Körper, und sein Mund wurde ganz trocken vor Furcht. Erst jetzt bemerkte er, dass der Edelmann nur einen Arm hatte; der eine Ärmel war zurückgesteckt worden, damit er ihn nicht behinderte. »Der silberne Baum ist das Zeichen des Hauses von Villam«, sagte Zacharias und verfluchte sich im Stillen dafür. Das war schon im Stamm der Pechanek sein Fehler gewesen: Er hatte zugelassen, dass jene, die Macht besaßen, auf ihn aufmerksam wurden, denn damals hatte er noch an Gott in Einigkeit geglaubt und es für seine Pflicht gehalten, den geistig Umnachteten - jenen, die in der Dunkelheit des Nichtwissens schwelgten - die Verehrung dieses Gottes nahe zu bringen. »Könnte es sein, dass Ihr Markgraf Villam seid? Ich bitte um Vergebung, denn er war schon in meiner Jugend ein alter Mann, so hieß es, und ich dachte, der alte Markgraf wäre längst tot, und das Markgrafentum wäre an seine Erben übergegangen.« »Ich bete zu Gott, dass du noch nicht tot bist«, sagte die Frau kühn zu dem Mann neben ihr. »Und ich gehe davon aus, dass noch so viel Jugend in dir steckt, dass du deiner Rolle in der Hochzeitsnacht gerecht wirst.« Villam lächelte aufrichtig. »Von einem Pferd behauptet man, dass es sterben kann, wenn es zu hart geritten wird.« 242 Sie gehörte glücklicherweise nicht zu denen, die albern kicherten, aber sie lachte auf eine Weise, die Zacharias Unbehagen bereitete, weil es ihn daran erinnerte, was Bulkezu ihm genommen hatte. »Ich hoffe, ich habe kein Reittier erwählt, dass leicht zusammenbricht.« »Nein, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, denn ich bin noch nicht senil.« Er nahm ihr den Becher Wein ab und bedeutete einem Diener, ihn neu zu füllen. »Ich bitte dich, Geliebte, lass mich mit dem Mann allein sprechen.« »Ist das hier etwa eine Intrige? Hast du Angst, ich könnte Theophanu davon erzählen?« Falls ihre jugendliche Neckerei ihn ärgerte, ließ er sich das jedenfalls nicht anmerken. »Ich wünsche, dass der König unter keinen Umständen gestört wird, da er morgen sehr früh aufbrechen will. Nur wenn ich d er einzige Mann bin, der diese Geschichte hört, kann ich sicher sein, dass sie nicht weiter gelangt als bis zu mir.« Sie sträubte sich noch immer, das Feld zu räumen. »Dieser Frater - wie er sich selbst bezeichnet - mag die Geschichte noch viel weiter tragen, als ich es jemals tun würde, Helmut. Er hat eine Zunge.« Die schreckliche Erkenntnis, dass jene, die die Macht dazu hatten, ihm das eine nehmen konnten, das er am meisten schätzte, traf Zacharias wie ein Hieb. Seine Beine gaben unter ihm nach, und er sank auf die Knie. Es war schwer, nicht um Gnade zu winseln. »So wie wir alle eine Zunge haben, Leoba«, erwiderte Villam geduldig. »Aber ich werde mich trotzdem allein und in Ruhe mit ihm unterhalten.« Obwohl Leoba offensichtlich eine Frau von edler Herkunft war, war sie jung genug, um Villams Enkelin sein zu können, und daher hatte sie sich auch - unabhängig von ihrem Status - der Autorität zu beugen, die ihm sein Alter gewährte. Sie erhob sich anmutig, küsste ihn sittsam auf die Wange und ging. Der alte Mann 243 sah ihr nach, als sie verschwand. Zacharias bemerkte das Glühen in seinen Augen. Die Sünde der Begierde, eine Schwäche für die Vergnügungen des Fleisches, überkam die Hochgeborenen ebenso wie die Gewöhnlichen. Kaum war sie gegangen, widmete sich der alte Markgraf sofort der vor ihm liegenden Angelegenheit. »Ich will nicht Euren Namen wissen, doch es ist mir zu Ohren gekommen, dass Ihr den Wachen Fragen über den Verbleib von Prinz Sanglant gestellt habt.« »Ihr scheint ein vernünftiger Mann zu sein, Markgraf. Da ich jetzt in die Höhle des Löwen geworfen worden bin, muss ich nicht länger ein Geheimnis aus meiner Suche machen. Ich suche tatsächlich Prinz Sanglant. Ist er hier?«
»Nein, das ist er nicht. Er hat sich König Henry widersetzt und damit fast so etwas wie rebelliert. Ich bin sicher, dass ein Mann von Eurer Ausbildung begreift, was für ein ernstes Vergehen das ist.« »Ah«, sagte Zacharias, für einen Augenblick sprachlos. Aber er hatte schon immer eine schlagfertige Zunge gehabt, und er wusste, wie er eine Frage stellen konnte, mit der er sich gleichzeitig schützte und Informationen erhielt. »Doch ein einzelner Mann, selbst wenn er ein Prinz ist, kann keinen Aufstand durchführen.« »Nein, das kann er wirklich nicht.« Villam kannte seine Rolle ebenfalls. »Wolltet Ihr seinem Gefolge beitreten?« »Nein, Markgraf. Ich bin ihm nicht mit diesem Ziel gefolgt, und ich hatte bis gerade eben auch nicht das Geringste von irgendeiner Rebellion gehört. Meine Interessen liegen nicht in irdischen Kämpfen, sondern gelten der Zusammensetzung und dem Aufbau der Himmel und dem Ruhm der Schöpfung. Genau genommen habe ich noch nie mit dem Prinzen gesprochen.« »Warum seid Ihr dann nach Angenheim gekommen und erkundigt Euch nach seinem Verbleib?« »Ich bin nur gekommen, um ihn um eine Gefälligkeit zu bitten.« Villam lachte fröhlich. »Ich werde unter Worten begraben. Und doch bereitet Ihr mir mit Eurem Gerede von den Himmeln Sorgen, Frater. Wisst Ihr, was für eine Art Mann Prinz Sanglant ist?« 244 »Was meint Ihr damit, Markgraf?« »Ich bitte Euch, tut nicht so unschuldig. Ihr wirkt nicht besonders einfältig, sondern sogar recht durchtrieben, und Ihr sprecht sehr klug. Prinz Sanglant ist kein reinblütiger Mensch, sondern ein Halbblut, das Kind eines menschlichen Vaters und einer Aoi-Mutter. Was für eine Art Hilfe könntet Ihr Euch von einem solchen Wesen wohl erhoffen?« Zacharias spürte, dass er sich auf gefährlichem Boden bewegte. Noch hatte Villam nichts darüber offenbart, ob er etwas über Kan-si-a-laris Verbleib wusste, obwohl Zacharias sich sicher war, dass sie mit ihrem Sohn nach Norden gegangen war. »Also gut«, erklärte er nach einer längeren Pause. »Ich werde Euch die Wahrheit sagen. Ich bin nach Osten gegangen, um den qumanischen Stämmen die Botschaft Gottes zu bringen, doch stattdessen wurde ich dort versklavt. Ich habe sieben Jahre bei ihnen gelebt und konnte schließlich fliehen. Dies ist die Geschichte, die ich Euch bringe: Die Qumaner versammeln ein Heer unter der Führung der Pechanek und ihrem Anführer Bulkezu und haben vor, tief in wendisches Gebiet einzudringen. Ihre Truppen überfallen bereits Dörfer und ermorden und verstümmeln unsere Landsleute. Ihr wisst, wie die Qumaner ihre Opfer behandeln. Ich habe viele Leichen ohne Kopf gesehen. Eure eigenen Ländereien sind in Gefahr, Markgraf.« »Prinzessin Sapientia ist bereits mit einem Heer aus unseren Soldaten und denen ihres Mannes Prinz Bayan von Ungria nach Osten gesandt worden.« »Das habe ich nicht gewusst, Markgraf.« »Wir haben jedoch keine Nachricht mehr von ihnen erhalten, also verläuft ihr Feldzug möglicherweise nicht so gut, obwohl ich bete, dass dem nicht so ist. Dieser Anführer, Bulkezu, hat schon zuvor wendisches Land verwüstet. Doch wieso Prinz Sanglant suchen? Hier weilt der König mit seinem Hof. Sicher wäre es besser, Ihr würdet Eure Bitte vor den König bringen.« »Das ist sicherlich wahr«, entgegnete Zacharias, der eine schnel245 le Auffassungsgabe besaß. »Aber ich habe während meiner Reisen viel darüber gehört, was der König in Aosta zu tun gedenkt. König Henry kann nicht gleichzeitig nach Süden und nach Osten marschieren. Außerdem habe ich viele Geschichten über den Heldenmut von Prinz Sanglant in der Schlacht gehört. Wurde der erstgeborene Sohn des Herrschers, der Bastard, nicht dazu erzogen, Hauptmann der Drachen des Königs zu sein? Wenn der König selbst nicht gegen die Qumaner zu Felde ziehen kann, dann könnte das vielleicht ein Heer, das von dem Mann befehligt wird, dessen Mut und Ruf nur von dem des Königs selbst übertroffen wird?« »Eine schöne Geschichte. Es stimmt, dass Ihr den Akzent der östlichen Grenzlande habt, und Ihr seht auch sicher so aus, als wärt ihr eine lange Strecke mit nichts als Euren Kleidern auf dem Leib gewandert - und, wie ich hörte, mit einer Ziege. Aber eine schöne Geschichte kann auch nichts weiter sein als ein hübsch gewebter Teppich, den man an die Wand gehängt hat, um eine hässliche Narbe darunter zu verbergen. Die Qumaner brandmarken ihre Sklaven mit einem Zeichen.« Zitternd erhob sich Zacharias. Er drehte sich um und zog das zerschlissene Gewand etwas herunter, um sein rechtes Schulterblatt mit dem Brandzeichen darauf zu zeigen; es war so schlecht verheilt, dass die Haut daneben ganz runzlig war. Das Zeichen besagte, dass er ein Sklave des Begh der Pechanek war. Er rückte den Stoff wieder an Ort und Stelle, drehte sich um und schaute dem Markgrafen ins Gesicht. »So sieht das Zeichen der Klaue der Schneeleoparden aus, Markgraf.« »Ein verzweifelter Mann könnte sich selbst ein solches Zeichen beibringen, um seiner Geschichte Glaubwürdigkeit zu verleihen«, bemerkte Villam freundlich. »Würde ein Mann sich auch auf solche Weise verstümmeln, nur um seiner Geschichte Glaubwürdigkeit zu verleihen?«, fragte Zacharias und hob mutig sein Gewand. Beim Anblick von Zacharias verstümmelten Genitalien schnapp246 te Villam regelrecht nach Luft, sein Gesicht wurde bleich, und er griff nach seinem Weinbecher. Er schluckte
den Wein hinunter und gab dem Diener, der noch bei der Tür stand, ein Zeichen. »Bring bitte Wein für diesen Mann. Er muss sehr durstig sein.« Zacharias trank gierig. Der Wein war sehr gut, und er sah keinen Grund, ihn zu verschwenden. Vielleicht würde der Schock über diese Verstümmelung Villam von seiner Spur abbringen. Aber der Markgraf war zu alt und zu gewitzt; er spielte das Spiel schon zu lange und ließ sich auch durch einen Streich von solcher Kraft nicht von seinem einmal eingeschlagenen Weg abbringen. Nachdem er einen zweiten Becher Wein bekommen hatte, machte er seinem Diener ein Zeichen. »Humbert, bring mir den Beutel des Mannes.« Resigniert sah Zacharias zu, wie Villam seinen Lederbeutel leerte und natürlich den einen Gegenstand hochhob, der jeden Menschen verdammen musste. Er hielt das Pergament mit dem Geschreibsel der Mathematiki - in Liaths Handschrift - in die Höhe. Zacharias leerte den Becher Wein und fragte sich, was er wohl zu trinken bekam, wenn er im Gefängnis der Skopos als Ketzer würde ausharren müssen. »Ihr haltet es falsch herum, Markgraf«, sagt er, nachdem Villam eine Zeit lang geschwiegen hatte. Villam drehte das Stück herum und studierte es erneut. »Auf diese Weise erkenne ich allerdings noch weniger.« Er blickte mit dem scharfen Blick eines Mannes auf, der eine Menge Trauer, Freude und Sorgen erlebt hatte. Jetzt wurde er sogar ungeduldig. »Seid Ihr ein Zauberer?« Eine solche Unterredung konnte kein glückliches Ende nehmen, aber Zacharias weigerte sich, vor Angst zusammenzubrechen, so lange seine Zunge noch sicher schien. »Nein, Markgraf, das bin ich nicht.« »Nein, Ihr kommt mir auch gar nicht so vor, denn ich habe immer gehört, dass ein Zauberer beachtliche Kräfte besitzt, dass er schlank und wohlhabend ist. Ihr, mein Freund, seid aber nichts von beidem. Wieso sucht Ihr den Prinzen?« 247 »Um herauszufinden, woher dieses Pergament stammt, Markgraf. Ich habe Grund zu der Annahme, dass er weiß, wer diese Zeichen auf das Pergament geschrieben hat. Die Person muss eine ganze Menge von der geheimen Sprache der Sterne verstehen. Ich habe kein Verlangen danach, ein Zauberer zu sein. Aber ich habe eine Vision des Kosmos erhalten.« Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme zitterte. Die Erinnerung an das, was er im Palast der Irrungen gesehen hatte, quälte ihn noch immer; er träumte nachts vom Kosmos, der von Staubwolken zerrissen war und von Sternen erleuchtet wurde, die so sehr strahlten, dass sie wie Engel einen Heiligenschein hatten. Dass er das Vertrauen in Gott der Einigkeiten verloren hatte, behinderte seinen Schlaf nicht mehr, denn sein Geist und sein Verstand waren inzwischen vollständig von dem Wunsch eingenommen, die Wirkungsweise des Universums zu verstehen - das verwirrende spiralförmige Rad aus Sternen, das in der Mitte einer gewaltigen Leere aufgehängt war. »Das ist alles, wovor ich mich jetzt fürchte, Markgraf: dass ich sterben könnte, bevor ich die Architektur des Universums begriffen habe.« Dass ich sterben könnte, bevor ich noch einmal einen Drachen gesehen habe. Aber diesen Gedanken wagte er nicht laut zu äußern. Villam starrte ihn eine lange Zeit an. Zacharias konnte seine Miene nicht deuten, und er begann, nervös zu zucken, während er auf die Antwort des Markgrafen wartete. Er hatte also schließlich die Wahrheit gesagt. Er musste nicht noch weiter zurückgehen und jene Sache enthüllen, die ihn am meisten verdammen würde: dass er als Diener mit der Aoi-Frau gereist war und ihre demütigende und Furcht einflößende Macht gesehen hatte. Hatten sie das erst herausgefunden, würden sie sich nicht davon beeinflussen lassen, dass sie ihn am Ende so achtlos weggeworfen hatte, wie man einen Gehstock wegwarf, den man nicht länger benötigte. »Ich bin auf Eure Gnade angewiesen, Markgraf«, sagte er schließlich, als er die Stille nicht länger ertragen konnte. »So sind wir wieder am Anfang«, murmelte Villam. »Könnte 248 das, was der Prinz von ihren Ahnen gesagt hat, wirklich wahr sein? Heißt es nicht von Kaiser Taillefer, dass >Gott ihm die Geheimnisse des Universums enthüllten< ? Die Tugenden der Eltern gehen oft auf das Kind über.« »Ich verstehe nicht ganz, Markgraf«, stammelte Zacharias abwartend. Er rechnete damit, dass Villam im nächsten Augenblick den Namen von Kansi-a-lari erwähnen und die Falle dann zuschnappen würde. »Tut Ihr das nicht?«, fragte Villam und blickte aufrichtig überrascht drein. »Hat Prinz Sanglant nicht die Frau geheiratet, die Liathano heißt?« Die Erleichterung traf ihn mit der Wucht eines Faustschlags mitten in die Magengrube. »Ich kenne sie nicht, Markgraf.« Villam lächelte trocken. »Wenn es doch so wäre - wenn Ihr sie gesehen hättet -, würdet Ihr Euch daran erinnern.« »Ach die! Sie war jung und hübsch, aber auf ungewöhnliche Weise, mit einem cremefarbenen, dunklen Teint? War sie schwanger, oder hatte sie ein Neugeborenes bei sich?« »Genau die.« Villam seufzte. Er musterte seinen Weinbecher und nahm sich eine Brotkruste, an der er zu nagen begann. »Was ist aus ihr geworden?«
»Das wisst Ihr nicht? Engel haben sie in die Himmelssphären enthoben.« »Engel?« »Wir könnten auch Daemonen zu ihnen sagen, Markgraf.« »Ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll«, sagte Villam gedankenvoll. Er blickte besorgt drein. »Ist sie eine Agentin vom Feind oder von Gott? Ist sie von niedriger oder von hoher Geburt? Hat sie den Prinzen verhext, oder bekräftigt die Gunst, die sie ihm gewährt, nur seine Fähigkeit zu herrschen?« »Markgraf«, sagte der Diener Humbert so scharf, dass Villam blinzeln musste; die Worte rissen ihn abrupt aus seinen Gedanken. »Der Adler des Königs wartet draußen. Sie hat eine Nachricht für Euch.« 249 Villam sagte eine Weile gar nichts und fuhr mit den Fingern nachdenklich über einen Apfel. »Ich werde einen Reiter benötigen, der meiner Tochter eine Nachricht überbringt«, sagte er schließlich. »Einen vertrauenswürdigen und loyalen Mann, möglichst einen von meinen eigenen Ländereien. Waldhar vielleicht. Sein Vater und sein Onkel haben mir gegen die Redarii hervorragend gedient, und seine Mutter ist eine gute Verwalterin der Arvi-Besitztümer. Er soll sich zur Abreise bereitmachen und dann zu mir kommen.« Der Diener nickte. Er hatte eine sehr korrekte Art, war tüchtig und forsch. »Benötigt Ihr einen Geistlichen, um die Nachricht auf Pergament niederschreiben zu lassen?« »Nein. Was ich zu sagen habe, ist nur für die Ohren meiner Tochter bestimmt. Waldhar soll eine Eskorte von drei Reitern bekommen.« »Angesichts der Neuigkeiten von den Überfällen der Qumaner würde ich zu sechs raten, Markgraf.« »Ja.« Villam war schon seit vielen Jahren Markgraf, und er war nicht nur daran gewöhnt zu befehlen, sondern auch daran, dass seine Bediensteten seine Befehle gewissenhaft ausführten. »Sorg dafür, dass der Frater etwas zu essen und zu trinken bekommt und schick ihn dann wieder los. Aber das muss in aller Stille geschehen.« »Es wird genau so geschehen, wie Ihr wünscht, Markgraf.« Humbert warf Zacharias einen Blick zu, der halb aus Neugier und halb aus Verachtung bestand. »Zieht Ihr es vor, dass jene, die ihm dabei helfen, schweigen, oder dürfen sie erzählen, welche Richtung der Prinz genommen hat, als er vor drei Tagen aufgebrochen ist?« »Leider neigen die Leute zum Tratschen. Deshalb behalte ich dich auch als Verwalter, Humbert, weil du so diskret bist.« »Ja, Markgraf.« Humbert deutete auf Zacharias. Er hatte kein besonders freundliches Gesicht, sah aber aus, als wäre er gerecht. »Kommt, Bruder. Ihr wollt sicher nicht noch länger am Hof des Königs bleiben. Schon bald wird es hier schwierig für Euch werden, wenn erst einmal bekannt wird, wen Ihr sucht.« 250 »Ich danke Euch für "Eure Gastfreundschaft, Markgraf«, sagte Zacharias, doch Villam hatte seine Aufmerksamkeit längst der Frau zugewandt, die gerade durch die Tür kam. Sie trug ordentliche Kleider und darüber einen rot gesäumten Umhang, der an der einen Schulter mit einer Messingschnalle in der Form eines Adlers befestigt war. Zacharias erkannte sie sofort: den vertrauten, stürmischen Ausdruck in ihrem Gesicht, die Hakennase, die Art, beim Gehen ganz leicht zu schlendern - was allerdings nur er bemerken konnte, weil er es wusste. Sie hatte sich diese Art zu gehen als kleines Kind nach einem Sturz vom Apfelbaum angewöhnt. Er drückte sich hastig in die Schatten an der Wand und hoffte, dass sein Gesicht von der Kapuze verdeckt sein würde. Einer guten Botin gemäß ließ sie ihren Blick rasch durch das Zimmer schweifen, um sich ein Bild von den Anwesenden zu verschaffen. Sie stockte einen Augenblick, als sie ihn sah, als wäre sie verblüfft über sein im Schatten liegendes Gesicht. Er kannte sie gut genug, um ihre Miene deuten zu können, denn es war jene, die sie schon als Kind gehabt hatte und die sie immer dann aufsetzte, wenn sie etwas sah, das sie zwar als vertraut empfand, aber nicht recht einordnen konnte. Sie spannte den Kiefer in einer Mischung aus Verärgerung und Neugier an und schien gerade zum Sprechen ansetzen zu wollen, als Villam die Stimme erhob. »Adler, bringt Ihr eine Nachricht vom König?« »Ja, Markgraf Villam«, antwortete Hathui; im Laufe der Jahre und durch das mit ihrem Amt als Adler verbundene Selbstvertrauen hatte ihre Stimme einen dunklen, angenehmen Klang angenommen. Sofort wandte sie dem Markgrafen ihre Aufmerksamkeit zu. Wie unterschiedlich ihre Schicksale doch gewesen waren, das des geliebten älteren Bruders und das der in ihn vernarrten kleinen Schwester. Sie war ein geachteter Adler geworden, wartete dem König auf, während er für immer als Sklave gebrandmarkt war, gejagt und verzweifelt. 251 Er schlüpfte durch die Tür, noch bevor sie ihm ihre Aufmerksamkeit wieder zuwenden konnte. Er fühlte sich so beschämt. Er wollte nicht, dass sie ihn erkannte, dass sie sah, was für eine armselige Kreatur aus ihm geworden war, nicht länger ein Mann, oft benutzt und abgeschoben. Er erinnerte sich daran, wie ihr Gesicht damals, vor vielen Jahren, vor Stolz geglüht hatte, als er ihr Dorf verlassen hatte, um als Missionar in den Osten zu gehen. Niemals durfte sie erfahren, was wirklich mit ihm geschehen war. Es war besser, wenn sie ihn für tot hielt. Er aß und trank, was man ihm anbot, nahm die Ziege und seinen abgetragenen Lederbeutel und verließ den Palastbereich, so schnell er konnte - für den Fall, dass sie vorhatte, zu ihm zu kommen, um ihre Neugier zu stillen. Nach Westen musste er gehen, hatte Humbert gesagt, auf der Straße, die nach Bederbor führte.
Und so ging er also dahin, allein und verzweifelt bis in sein tiefstes Inneres. Was er gesehen hatte, was ihm angetan worden war, worein er sich gefügt hatte - all das hatte eine Kluft zwischen ihm und seiner Familie geschlagen, die niemals mehr überbrückt werden konnte. Alles, was ihm geblieben war, war die geheime Sprache der Sterne, die leuchtenden Lichter, das silbergoldene Band, das sich zwischen den himmlischen Sphären hindurchwand, die Schönheit eines unbeschreiblichen Kosmos, in dessen Innern er sich möglicherweise verlieren konnte, wenn es ihm gelang, seine Mysterien zu verstehen. Entschlossen folgte er der Straße in westlicher Richtung auf der Suche nach dem Prinzen. 2 Sanglant benutzte einen kräftigen Stock, die Köpfe der Disteln abzuschlagen - eine ganze Kompanie lag aufgrund seiner wüsten Hiebe bereits auf dem Boden. 252 »Du hast ziemlich schlechte Laune«, bemerkte Heribert. Der schlanke Geistliche saß auf einem gefällten Baumstamm und war damit beschäftigt, die letzten Schnitte an dem Schaft eines Stabs anzubringen. In die Spitze hatte er den Turm einer Festung geschnitzt, umgeben von dem Kreis der Einigkeit. Hinter ihnen beaufsichtigte Hauptmann Fulk den Aufbau eines behelfsmäßigen Lagers zwischen den Steinen einer alten, längst zu Ruinen zerfallenen dariyanischen Festung, die durch eine kleine Gruppe von Erlen ihren Blicken entzogen wurde. »Der König hatte Recht.« Sanglant fuhr fort, Disteln zu köpfen, während er sprach. Er konnte es nicht ertragen, still zu sitzen, nicht jetzt, wo er so aufgewühlt und wütend war. Er fühlte sich so hilflos wie die Disteln, die unter seinen harten Hieben zu Boden fielen. »Wie soll ich ein Gefolge unterhalten, wenn ich über keinerlei Land verfüge?« »Herzog Conrads Kastellanin hat keinerlei Einwände erhoben und uns für volle fünf Tage in der Halle von Bederbor untergebracht und beköstigt.« »Aber Conrad ist nicht zurückgekehrt, und sie hat uns auch nicht gesagt, wann sie ihn zurück erwartet. Sie hat uns einfach uns selbst überlassen. Wir sind auf die Großzügigkeit anderer Edelleute angewiesen. Oder auf ihre Furcht.« »Oder auf ihren Respekt vor deinem Ruf, Sanglant«, sagte Heribert in ruhigem Ton. Sanglant hob seine freie Hand und machte eine abwehrende Geste. Er hörte nicht auf, Disteln zu köpfen. Sie boten sich gut als Feinde an, denn es gab sie in Hülle und Fülle, und sie waren leicht zu besiegen. »Auch mein Ruf kann mein Gefolge nicht für immer ernähren. Genauso wenig werden meine Verwandten und Kameraden mich ewig aushalten, wenn sie wissen, dass sie damit den Zorn meines Vaters auf sich ziehen. Er könnte ihnen vorwerfen, einen Rebellen zu unterstützen, und sie wegen mangelnder Loyalität anklagen.« »Dann wird seine Wut auf sie doppelt so groß sein, wenn sie auf 253 deine Worte hören. Was anderes gibst du denn von dir, wenn nicht rebellische Worte, mein Freund?« Diese Worte ließen ihn mitten in der Bewegung verharren. Die malträtierten Disteln schwankten noch eine Weile hin und her. Ja, was? Er drehte sich um und blickte Heribert an. »Was willst du eigentlich?«, fuhr Heribert fort. »Was hast du vor? Du weißt, ich werde dir folgen, egal, wohin dein Weg dich führt, aber es scheint mir, als solltest du ein bisschen genauer wissen, wohin du gehst, bevor du diese Straße noch länger entlang schreitest.« Sanglant ließ sich neben Heribert auf den Baumstamm sinken. »So werde ich an die Bürde des Herrschens erinnert«, bemerkte er bitter, während Heribert mit seiner Schnitzerei fortfuhr. »Es war leichter, einfach nur das zu tun, was man mir befohlen hat, damals, als ich noch Hauptmann der Drachen war.« »Es ist immer leichter, nur das zu tun, was man gesagt bekommt«, murmelte Heribert. Seine Hände verharrten in der Bewegung, und sein Blick wanderte zu den Bäumen, die in einigem Abstand von ihnen standen, doch er blickte auf eine Szene, die nur er allein sehen konnte. Sanglant hatte nicht die Geduld, sich in Selbstmitleid zu ergehen. Es machte ihn ruhelos. Er sprang auf und begann, auf und ab zu gehen. »Wenn ein Adler mit der Nachricht von einer großen Invasion gekommen wäre und mein Vater ihm nicht geglaubt hätte, wäre es doch an mir gewesen, dieser Invasion entgegenzutreten, nicht wahr?« Heriberts Blick wanderte zurück zum Prinzen. »Wäre es das? Wenn du einen geschützten Ort für dich und deine Leute finden würdest -« Sanglant köpfte sieben Disteln mit einem Schlag. Dann lachte er. »Nein, mein Freund, dafür kennst du mich zu gut. Wie kann ich ruhen, wenn Wendar in Gefahr ist? Ich habe geschworen, das Reich zu schützen sowie jede Menschenseele, die unter der Herrschaft meiner Familie lebt.« 254 Heribert lächelte sanft, sagte aber nichts. »Aber ich habe auch eine Pflicht dem Volk meiner Mutter gegenüber. Meine Mutter behauptet, die Aoi, die in die Verbannung getrieben worden sind, würden alle sterben, wenn sie nicht zur Erde zurückkehren. Und doch will Schwester Anne ihnen die rechtmäßige Rückkehr verweigern.« »Schwester Anne hat behauptet, dass der Rückkehr der Aoi eine große Umwälzung folgen wird.« »Schwester Anne hat vieles behauptet, aber sie hätte auch Gnade verhungern lassen. Sie hat Jahre damit verbracht, ihren Mann zu jagen, und am Ende hat sie ihn getötet, weil sie ihre Tochter zurückhaben wollte.
Niemand hat mir je zufrieden stellend erklären können, wieso ein Mann wie Bernard überhaupt mit Liath weggelaufen ist und warum er sie so verzweifelt versteckt hat. Was, wenn er etwas wusste, das wir nicht wissen? Nein, Schwester Anne kann vieles behaupten, und sie kann die Wahrheit so verdrehen, dass sie ihren eigenen Zielen dient. Und am Ende wissen wir nicht, was wahr und was falsch ist, nur dass sie herzlos ist, wenn es darum geht, andere für ihre eigenen Zwecke einzusetzen.« »Darüber werde ich mit dir gewiss nicht streiten«, murmelte Heribert. »Ich habe ihr eine schöne Halle gebaut, und doch bin ich sicher, dass sie mich sofort beiseite geschoben hätte, wenn es keine Verwendung mehr für mich gegeben hätte.« Er seufzte und schob das Messer zurück in die Scheide. Dann fuhr er mit den Fingern über den schön geschnitzten Turm, der jetzt seinen Eichenstab krönte - Zinnen und Schießscharten zierten das Holz und wirkten beinahe wie Stein, und in der Mitte erhob sich der Kreis der Einigkeit. »Alles zerstört, wie du gesagt hast«, sagte er leise und mit veränderter Stimme. »Alles. Die Halle hat wie Zunder gebrannt.« Sanglant senkte seinen Stock und legte Heribert eine Hand kameradschaftlich auf die Schulter. »Du kannst dir ihre Macht gar nicht vorstellen.« »Du meinst die Macht von Anne und den anderen?« »Nein, obschon ich sagen muss, dass Schwester Anne größere 255 Macht besitzt, als ich jemals zuvor gesehen oder begriffen habe. Nein, ich habe die Feuerdämonen gemeint, die Liath mitgenommen haben. Was immer ihr Blick berührt hat, ist in Flammen aufgegangen. Selbst die Berge haben gebrannt.« Die Worte kamen ungebeten. »Ich konnte nichts tun, um sie aufzuhalten.« Trauer färbte seine Stimme, aber andererseits klang sie nach der Verletzung, die er sich fünf Jahre zuvor in einer Schlacht zugezogen hatte, immer etwas heiser. Eine Brise hatte die Bäume erfasst. Er lauschte, konnte aber ihrem Rascheln nichts entnehmen: Es war wirklich nur der Wind, keine Geister aus Luft wie die, denen Anne befohlen hatte. Und doch erinnerte ihn der Klang des Herbstlaubs im Wind daran, dass er noch immer Hoffnung haben konnte. Im Palast von Angenheim hatte er durch ein Tor auf einen Ort geblickt, der durch die Macht, die Entfernung und die in der Architektur des Universums verborgenen Geheimnisse verschleiert gewesen war - so hätte es zumindest Liath gesagt. Er hatte ihre Stimme gehört. »Sie lebt noch«, flüsterte er. »Es ist erstaunlich, dass überhaupt jemand überlebt hat.« Sanglant hob den Stock in seiner Hand, wog ihn, betrachtete die geköpften Disteln und sich für Barmherzigkeit entscheidend -senkte ihn wieder. »Ich weiß, dass Schwester Anne den Strudel überlebt hat. Wie vielen von ihren Kameraden und Kameradinnen es ebenso ergangen ist, weiß ich nicht.« »Schwester Venia hat überlebt«, sagte Heribert grimmig. »Woher weißt du das?« »Sie überlebt immer, egal, was geschieht.« »Das wirst du sicher besser wissen als ich. Sie war deine Mutter und hat dich erzogen.« »Wie einen angeketteten Hund«, murmelte Heribert. Sanglant beobachtete interessiert, wie die glatte Schale der Freundlichkeit von dem Geistlichen abfiel und alter Groll zum Vorschein kam, den er seit vielen Jahren heimlich genährt hatte. Aber wie ein Hund schüttelte der junge Geistliche ihn nach einem 256 kurzen Augenblick ab und hüllte sich wieder in seinen Schleier. Seine Miene klärte sich, und er blickte Sanglant mit einem kühlen Lächeln an. »Wo könnten Zauberer wohl hingehen, wenn ihr Heim abgebrannt ist? Glaubst du, sie versuchen, Verna neu aufzubauen?« »Ich würde dort nicht bleiben, nachdem Daemonen von solcher Macht aufgetaucht sind. Das Ganze ist ein Rätsel, Heribert. Diese Daemonen haben Liath gesucht. Bernard ist vor Anne und ihrer Gruppe geflohen, weil er befürchtet hat, dass die Sieben Schläfer Liath für ihre Zwecke benutzen könnten. Aber er hat vielleicht auch die Daemonen gefürchtet. Nein, da gibt es noch viel, das ich nicht erklären kann. Eines aber weiß ich ganz gewiss: Anne wird nicht ruhen. Sie wird Liath suchen, und auch, wenn sie sie nicht finden kann, wird sie die Vertriebenen daran zu hindern versuchen, zurückzukehren. Sie hat gehofft, dass Liath die Aoi davon abhalten würde, aber nur weil Liath verschwunden ist, wird Anne nicht aufgeben. Ich muss Schwester Anne und ihre Leute aufhalten. Ich muss sicherstellen, das die Vertriebenen zurückkehren können« »Nun«, sagte Heribert und machte eine Handbewegung in Richtung des Lagers, das zwischen den Ruinen errichtet wurde. »Angesicht der Tatsache, dass du es mit einer mächtigen Zauberin wie Schwester Anne aufnehmen willst, hast du ein ziemlich schwaches Heer - siebzig Männer, einen exkommunizierten Geistlichen, ein Kleinkind und ein ätherisches Wesen!« »Das ist wahr.« Sanglant bückte sich und hob eine der abgeschlagenen Disteln auf, deren Köpfe gleich unterhalb der Blüte abgetrennt worden waren. Sie stach ihn in die Hand, aber der körperliche Schmerz dämpfte die Wut und die Bitterkeit, die ihm das Herz schwer machten. »Ich nehme an, so ähnlich fühlt sich ein treuer Hund, der von seiner Herrin am Wegesrand zurückgelassen wird. Ich habe wirklich gedacht, meine Mutter -« Er fluchte, schüttelte die Distel ab, als seine Haut von dem Schmerz zu pulsieren begann. »Ich habe tatsächlich gedacht -« 257 Es war ihm unmöglich, weiterzureden, und so stand er einfach nur da, bemüht, seine Fassung nicht zu verlieren,
während Heribert ihn teilnahmsvoll anblickte. Aus der Ferne war das Meckern der Ziege zu hören, dann erklang ein anderes, viel helleres Meckern. Die Stimmen in den Bäumen schienen ihn zu verspotten, auch wenn es nur der Wind war. »Ich bin ein Narr. Hat sie mich jemals anders behandelt als das Pony, das sie mit sich herumgeschleppt hat?« Heribert schien Einwände erheben zu wollen, besann sich aber eines Besseren. »Kaum war ich - nicht mehr von Nutzen für sie, hat sie mich wieder beiseite geschoben wie damals, als ich noch ein Kind war.« . ;»Nein, Sanglarit, du solltest noch nicht so hart über sie urteilen. Vielleicht hat der König sie davon abgehalten.« »Der König könnte eine Zauberin mit ihren Fähigkeiten niemals von irgendetwas abhalten. Sie hätte uns folgen können, wenn sie es gewollt hätte. Aber sie wollte es nicht. Ich bin für ihre Pläne nicht mehr nützlich -jetzt, wo ich, wie du gesagt hast, gegen die Autorität meines Vaters rebelliert habe. Das war alles, was sie gekümmert hat.« »Nein, mein Freund, ich bin sicher, dass du eine größere Rolle zu spielen hast - wenn diese Prophezeiung sich bewahrheitet.« »Aber werde ich wirklich die Rolle spielen, die sie mir zugedacht haben? Ich bin nicht mehr der Hauptmann der Drachen, den man wie eine Schachfigur nach Gutdünken hin und her schieben konnte.« Er runzelte plötzlich die Stirn und legte die Hand schützend vor die Augen, als er nach Westen zum Lager starrte. Unruhe war dort eingekehrt. Er hörte Stimmen, konnte aber keine Worte verstehen. Stritten sich da nicht zwei Ziegen, obwohl sie doch nur eine besaßen? Aber Hauptmann Fulk würde die Lage sicher im Griff haben. Er selbst hatte andere Schlachten zu schlagen. Der Entschluss kam rasch, und mit ihm ein süßer Beigeschmack. Das Wissen, was zu tun war und dass er es sein würde, der es tun musste, klärte seinen Kopf von Zweifeln und Verzweif258 lung. Ein Mann, der zweifelt, machte sich schlecht in einer Schlacht, und so hatte er schon vor langer Zeit gelernt, Zweifel beiseite zu schieben. »Die Sieben Schläfer müssen aufgehalten werden, Heribert. Wenn mein Vater mir keinen Glauben schenken will und nicht handelt, dann muss ich es tun.« Er wusste, dass er Recht hatte, genauso, wie er in einer Schlacht wusste, wann es an der Zeit war, zum Angriff blasen zu lassen. Er hatte sich nur ein einziges Mal geirrt, damals, als Blutherz' Illusionen ihn besiegt hatten. Er wollte nicht wieder einen Fehler machen. »Denk daran, was meine Mutter getan hat und warum ich überhaupt hier bin. Sie hat sich nie etwas aus Henry gemacht. Sie ist nicht aus Begierde oder Leidenschaft oder Liebe seine Geliebte geworden. Sie hat es getan, um mich zu gebären, damit ich eine Brücke zwischen seinem Volk und ihrem sein könnte. Nach unserer Flucht aus Verna sind wir zwölf Tage lang durch dieses Land gezogen, und wenn sie überhaupt gesprochen hat, hat sie mir von dem Rat der Aoi erzählt und davon, dass er in verschiedene Gruppen zersplittert ist. Einige der Aoi hassen die Menschen noch immer und hoffen, sämtliche menschlichen Reiche zu erobern, während andere nach einer Übereinkunft und Vereinbarungen streben.« »Leider sind nicht einmal die sagenhaften Aoi vor Intrigen geschützt.« »Selbst Tiere markieren ihr Gebiet und stellen klar, wer an erster und wer an letzter Stelle in ihrer Herde steht. Wenn diejenigen Aoi, die die Menschheit noch immer hassen, nach der Rückkehr an Macht gewinnen, werden sich einige Edelleute auf einen Krieg vorbereiten müssen. Wenn mein Vater das nicht tut, muss ich es tun.« Heribert hüstelte. »Mein Prinz. Mein guter Freund. Wenn du Anne nicht gestört hättest und sie in Ruhe ihre Zauberei hätte durchführen können, würden die Aoi gar nicht zurückkehren. Und Wendar würde der Frieden sicher sein.« Sanglant blickte weg. »Und alle meine Verwandten würden bald 259 tot sein. Nein, das kann ich nicht zulassen. Ich kann mich nicht gegen das Volk meiner Mutter stellen. Ich werde sie nicht alle sterben lassen.« »Willst du stattdessen das unwissentliche Werkzeug sein, mit dem sie die Menschheit versklaven ? Du hast selbst gesagt, dass sie herzlich wenig Interesse an dir gezeigt haben. Wirklich, Sanglant, du solltest deinen Vater lieber um Vergebung bitten und ihm helfen, Königin Adelheid den Thron von Aosta wiederzubeschaffen. Wenn er Aosta in seinen Händen hält, hat er genug Macht, um sich zum Heiligen Dariyanischen Kaiser krönen zu lassen, wie Taillefer vor ihm. Eine solche Macht würde ihm die Kraft geben, der Bedrohung durch die Aoi zu begegnen, sollten die Ereignisse, von denen du sprichst, wirklich eintreten.« Das Bild von Blutherz' Kette erschien vor Sanglants geistigem Auge. Diese Ketten lasteten noch immer schwer auf ihm, und sie würden es ewig tun. »Ich werde meinen Vater nicht um Vergebung bitten, weil ich nichts falsch gemacht habe - außer, dass ich gegen seinen Willen geheiratet habe.« »Hättest du Königin Adelheid geheiratet, wie dein Vater es von dir gewollt hat, wärst du jetzt König von Aosta und Erbe deines Vaters. Dann hättest du die Macht, zu tun, was getan werden muss.« Sanglant wandte sich wutentbrannt um, sah Heribert jedoch halb lachend aufspringen, so wie Leute es zu tun pflegen, wenn sie einen bewaffneten Mann beruhigen wollen, den sie unbeabsichtigt beleidigt hatten. Er kannte den Blick nur zu gut. Der Geistliche hielt den Stock vor sich, als wolle er sich verteidigen, obwohl er im Umgang mit Waffen überhaupt nicht geübt war.
»Ich sage nur die Wahrheit, Sanglant. Ich würde dir niemals etwas anderes sagen.« Sanglant fluchte laut. Den harten Worten folgte ein schroffes Lachen. »Das stimmt, und du tust gut daran, mich daran zu erinnern. Aber dennoch werde ich meinen Vater nicht um Verzeihung bitten.« 260 »In Ordnung«, erwiderte Heribert und ließ den Stab wieder sinken. »Ich weiß, wie es ist, nicht nachgeben zu können. Aber es ist gut, wenn du weißt, welchen Weg du beschreitest und was dich dazu gebracht hat, gerade ihn zu wählen.« »Still.« Sanglant hob die Hand, als er im Lager jemanden seinen Namen aussprechen hörte. »Komm.« Heribert beeilte sich, ihm zu dem Gemäuer zu folgen. Sie hatten gerade die Hälfte der Strecke geschafft, als Matto ihnen entgegenkam. »Da vorn siehst du eine Lektion, Heribert. Ich brauche Berater, die sich nicht von ihrer Bewunderung für meine Fähigkeiten blenden lassen.« Heribert lachte. »Du meinst von deiner Fähigkeit zu kämpfen. Vergib ihm, mein Prinz, denn er ist noch jung.« »Ich fürchte allerdings, wenn er darauf besteht, mir zu folgen, wird er auch nicht sehr viel älter werden.« »Das darfst du nicht sagen - mögen Gott dir vergeben!«, schalt ihn Heribert. »Wir können nicht wissen, was uns die Zukunft bringt.« Sanglant antwortete nicht, weil der Junge inzwischen beinahe vor ihnen stand. Sein gebrochener Arm hing noch immer in einer Schlinge, aber er schien nicht mehr allzu sehr zu schmerzen. Mattos Wangen waren vor Aufregung gerötet, und er schien kurz davor, sich vor Sanglant auf den Boden zu werfen, in der Hoffnung, ihm die Stiefel küssen zu dürfen. Glücklicherweise hatte er sich ein Beispiel an Fulks Verhalten und dem seiner Soldaten genommen. Er verkündete seine Botschaft so stolz, als wäre er ein Adler des Königs. »Eure Hoheit! Hauptmann Fulk bittet Euch, sofort zu ihm zu kommen. Ein Frater ist im Lager aufgetaucht und möchte Euch sprechen.« Als Sanglant das Lager betrat, sah er erst einmal nach Gnade; sie schlief in einer Tragschlaufe, die zwischen einer alten Steinsäule und einem neuen Holzpfosten befestigt worden war. Jerna ließ eine Brise aufkommen, die die Tragschlaufe sanft hin und her 261 schaukelte. Seit das Kind mehr und mehr feste Nahrung zu sich nahm und weniger von der Milch der Daemonin trank, versiegte auch Jernas Substanz immer mehr. Er konnte ihre weiblichen Formen nur noch als wässrigen Schimmer im Licht der Nachmittagssonne ausmachen, das sich über die Säule ergoss. Nun gut. Die weiblichen Kurven belästigten ihn genug in seinen Träumen, wenn er mitten in der Nacht aufwachte oder Grund hatte, innezuhalten und seine Gedanken umherstreifen zu lassen. Es war besser, wenn er sie gar nicht sah, als dass er auf solch unziemliche Weise in Versuchung geführt wurde. Es war eine Erleichterung, etwas Ablenkung zu bekommen. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Fremden zu. Es dauerte einen Augenblick, ehe er den zerlumpten Mann in den zerschlissenen Gewändern, die einmal einem Frater gehört haben mochten, erkannte. Der Mann hatte eine störrische Ziege bei sich, die in diesem Augenblick versuchte, die andere von einem besonders schönen Fleckchen mit saftigen Disteln zu vertreiben. Mehrere von Fulks Männer standen genau wie der Hauptmann selbst in angemessener Entfernung und sahen zu. »Ihr seid der Mann, der mit meiner Mutter gereist ist«, sagte Sanglant und ließ seinen Blick über den Mann schweifen. Er bot einen wenig angenehmen Anblick, war schmutzig und hatte ein entzündetes Auge. Er stank erbärmlich. »Sie hat gesagt, dass Ihr tot wärt.« »Vielleicht hat sie geglaubt, dass ich tot bin«, sagte der Mann. »Ihr müsst Prinz Sanglant ordnungsgemäß anreden«, mischte Hauptmann Fulk sich ein. »Für Euch ist er Eure Hoheit. Er ist ein Prinz, der Sohn von König Henry.« »Eure Hoheit«, sagte der zerlumpte Frater mit leichter Ironie. »Ich bin Bruder Zacharias.« Er warf einen Blick auf das Gefolge des Prinzen; inzwischen waren fast sämtliche Soldaten herbeigekommen und beobachteten den Neuankömmling - an diesem schönen Nachmittag gab es ohnehin nichts, was ihre Aufmerksamkeit hätte stärker fesseln können. Zacharias äußerte sich nicht 262 dazu, was er von diesem behelfsmäßigen Gefolge hielt, und Sanglant konnte seine Miene auch nicht deuten. Schließlich begegnete sein Blick wieder dem des Fraters. Der Mann hatte eine störrische Art, dreinzublicken, wirkte gleichzeitig aber auch müde. »Ich bin Euch gefolgt, Eure Hoheit.« »Was immerhin mehr ist als das, was meine Mutter getan hat«, erwiderte Sanglant und blickte dabei Heribert an, bevor er sich wieder dem Frater zuwandte. »Ihr seid mir also gefolgt. Was wollt Ihr denn von mir?« Zacharias zog eine verschmutzte Pergamentrolle aus einem verbeulten Kochtopf, der mit einem abgenutzten Lederstreifen an seinem Gürtel befestigt war. Er entrollte das Pergament vorsichtig und enthüllte einen abgegriffenen Fetzen, auf dem Nummern, Chiffren und Diagramme standen, ferner irgendwelche Verschrobenheiten und Epizyklen sowie Nadelstiche, die wohl Sterne darstellen sollten. Sanglant erkannte die ungeduldige Handschrift sofort. Er nahm dem Frater das Papier aus der Hand, ohne um Erlaubnis zu fragen, und der Mann protestierte auch nicht dagegen, stieß lediglich einen kleinen Überraschungsschrei aus, den er aber rasch unterdrückte, als er die Blicke der umstehenden Soldaten auf sich spürte.
»Liath.« Sanglant hielt sich den Fetzen an die Wange, als würde irgendetwas von ihr in diesen hastig hingekritzelten Nummern und Kreisen stecken, ein Hauch von ihrer Seele, von ihrem Herzen, den er über seine Haut aufnehmen konnte. »Ihr wisst, wer diese Berechnungen niedergeschrieben hat, Eure Hoheit?«, fragte der Frater mit zunehmender Erregung. Seine Wangen röteten sich, und er blinzelte so rasch mit dem entzündeten Auge, dass Tränen über das geschwollene Lid rannen. Nach einer langen Stille ließ Sanglant das Pergament sinken. Es waren letztendlich doch nur Zeichen. Er kannte die Namen, die sie ihnen gegeben hatte, aber er wusste nicht wirklich, was sie bedeuteten. »Meine Frau.« 263 »Dann ist sie es, die ich suche!«, schrie der Frater triumphierend. Er streckte eine leicht zitternde Hand aus, um den Fetzen zurückzubekommen. Nach einigem Zögern gab Sanglant ihn zurück. »Ihr habt sicher gesehen, was aus ihr geworden ist. Sie ist von Feuerdaemonen geraubt worden.« Die Soldaten kannten die Geschichte bereits, aber jetzt, da sie die Worte so kühn ausgesprochen hörten, tuschelten sie leise miteinander. Von Zeit zu Zeit wunderte Sanglant sich darüber, dass sie mit ihm ritten obwohl er sich seinem Vater und König widersetzt hatte, und trotz des Rufes, den seine Frau genoss, die von einem Kirchenkonzil wegen des Verbrechens der Ausübung von Zauberei exkommuniziert worden und unter höchst rätselhaften Umständen von der Erde verschwunden war. Und trotz der nichtmenschlichen Daemonin, die sich ihm als Amme für seine Tochter zur Verfügung gestellt hatte. »Oh.« Zacharias betrachtete die Ziegen, die ihren Streit beendet hatten, indem sie jeweils die Grenzen der Seile ausreizten, während sie sich an einem Brombeerstrauch zu schaffen machten. Sein Profil schien Sanglant auf unbestimmte Weise vertraut, aber er konnte es nicht richtig einordnen. Hatte er ihn schon zuvor gesehen? Er glaubte es nicht, und doch erinnerte dieser Mann ihn tief in seinem Innern an jemanden. Der Frater hatte eine kühne Nase, eine Hakennase, wie manche wohl gesagt hätten, und eine leicht weibliche Kinnlinie, die weniger scharf als vielmehr voll war. Er war dünn, wie es üblich war für einen Mann, der lange Zeit wenig gegessen hatte, und ein Schopf dunkler Haare war in seinem Nacken zusammengebunden. Wie ein guter Kirchenmann hatte er keinen Bart. Aber sein Blick war klar und ohne Furcht. »Glaubt Ihr, sie ist für Euch verloren, Eure Hoheit?« »Ich werde sie finden.« Zacharias bedachte die Worte und auch den Tonfall, dann nickte er. »Darf Ich mit Euch reisen, mein Prinz?« Die Frage irritierte Sanglant. »Wieso sucht Ihr sie?« 264 »Damit sie mir diese Berechnungen erklären kann. Auch sie ist auf der Suche nach dem Verständnis der Architektur des Universums, genau wie ich. Sie muss etwas von der geheimen Sprache der Sterne wissen -« »Genug.« Der Mann sprach so sehr wie Liath, dass Sanglant es nicht ertragen konnte, ihm länger zuzuhören. Oh, Gott, es erinnerte ihn an das Gespräch, das er zwischen Liath und Schwester Venia mitangehört hatte: Hugh konnte lesen, er konnte den Nachthimmel deuten, konnte den Lauf des Mondes erklären; Hugh besaß eine Leidenschaft für das Wissen, und Sanglant nicht. Würde Liath die Gesellschaft von Zacharias bevorzugen? Sie lebte manchmal so sehr in ihrem Kopf, dass er sich fragte, ob sie überhaupt bemerkte, dass ihre Füße bei jedem Schritt den Boden berührten. Vielleicht berührten ihre Füße jetzt ganz und gar nicht mehr die Erde. Vielleicht hatten sich ihr in einer weit entfernten Sphäre sämtliche Geheimnisse der Sterne enthüllt, und sie brauchte nie wieder zur Erde zurückzukehren, auf der er lebte. Heribert hüstelte, und Sanglant begriff, dass alle auf eine Antwort von ihm warteten. »Ihr könnt mit uns reisen, Bruder, so lange Ihr Euch an meine Befehle haltet und keinen Ärger macht.« »Ich habe ein elendes Mundwerk, Eure Hoheit«, bekannte der Frater. »Es hat mich schon zuvor in Schwierigkeiten gebracht.« Bitterkeit schwang in seinen Worten mit, und er machte mit der Hand eine Geste, die auf seine Hüften deutete, die er dann aber jäh unterbrach, als hätte er sie gar nicht machen wollen. »Ein bisschen Tratsch ist bei Männern, die an das Soldatenleben gewöhnt sind, durchaus üblich, Bruder, aber ich lasse weder Lügen noch Verrat durchgehen. Und ich bestrafe Männer auch nicht dafür, dass sie die Wahrheit sagen.« »Dann seid Ihr ein sehr ungewöhnlicher Prinz, Eure Hoheit.« »Das ist er in der Tat«, mischte sich Fulk ein. Der gute Hauptmann betrachtete den schmutzigen Frater voller Argwohn. »Ich nehme an, Ihr werdet Euren Beitrag leisten, was die anfallende Arbeit im Lager betrifft?« 265 »Ich wurde als gewöhnlicher Mann geboren, Hauptmann«, erwiderte der Frater ein wenig schnippisch, »Ich fürchte harte Arbeit nicht, und ich habe bereits in der Vergangenheit meinen Anteil daran geleistet - mehr sogar. Ich habe sieben Jahre als Sklave bei den Qumanern gelebt.« Die Soldaten murmelten leise, als sie diese Prahlerei hörten. »Ist das wahr?«, fragte Sanglant. »Welcher Stamm hat Euch versklavt, und wie heißt sein Anführer?« Das Grinsen des Fraters hatte etwas vom Flug eines Adlers - es war nur kurz sichtbar und rasch wieder verschwunden. »Ich bin in den Osten gegangen, um den verlorenen Seelen das Licht Gottes zu bringen. Aber der Kirakit-Stamm, dessen Zeichen die Kurve eines Antilopen Horns ist, hat mich verschmäht. Man hat mich als
Teil eines Heiratsabkommens an den Pechanek-Stamm übergeben. Ihr könnt es auf meinem Rücken sehen, wenn Ihr wollt: das Zeichen der Kralle eines Schneeleoparden, das mich als Sklave ihres Begh Bulkezu kennzeichnet.« »Bulkezu«, echote Sanglant. Zacharias erzitterte, denn selbst leise gesprochen und aus solcher Entfernung hatten Namen noch Macht. Sanglant fuhr sich an die Kehle, spürte die Narbe der Wunde, die ihn hätte töten sollen, was aber nicht geschehen war. »Ich habe einmal gegen ihn gekämpft, aber keiner von uns hat den anderen besiegen können.« Er lächelte grimmig. »Ich werde Euch gerne bei uns aufnehmen, Bruder, denn es scheint mir doch, dass ein Mann, der sieben Jahre als Sklave bei den Qumanern überlebt hat, nicht so leicht zusammenbricht.« »Das tue ich sicher nicht«, stimmte der Frater ihm zu, »aber ich hatte gehofft, mich waschen zu können.« »Wer ist für das Wasser zuständig, Hauptmann?« Fulk hatte den Frater mit einer Mischung aus Überraschung und Bewunderung angesehen. Jetzt wandte er sich dem Prinzen zu. »Diese Angelegenheit hatte ich noch mit Euch besprechen wollen, Eure Hoheit. Die Ruinen bilden eine gute Verteidigungsanla266 ge, aber es gibt keinerlei Wasserquelle in der Nähe. Ich lasse die Männer Wasser in Eimern herschleppen, sodass wir für diese Nacht genug haben. Bruder Zacharias sollte am besten zum Fluss hinuntergehen.« »Nein, wartet einen Augenblick, Hauptmann.« Heribert trat vor. »Dies ist doch ein dariyanisches Fort, nicht wahr?« Er durchforstete die Ruinen mit den Blicken eines Mannes, der sich mit alten Gemäuern auskennt. Sanglant hatte schon zuvor in alten dariyanischen Festungen gelagert. Sie waren von stabiler Bauweise und hatten Zeit und Wetter meist so unbeschadet überstanden, dass ihre Mauern noch immer gute Möglichkeiten zur Verteidigung boten. Sanglant hatte so viele Jahre gekämpft, dass er selbst in friedlichen Gebieten ein Lager immer mit einem Blick auf Verteidigungsmöglichkeiten aufschlug. Dieses Fort war wie alle anderen rechteckig angelegt; es gab zwei Straßen, die sich kreuzten und das Gelände in vier Teile unterteilten, und vier Tore. Fulk hatte Wachen entlang den äußeren Mauern aufgestellt und das Lager im inneren Hof errichtet, der noch einmal von einer niedrigeren Mauer umgeben war. Heribert lief jetzt zu dieser Mauer und begann, an ihr entlangzugehen, bückte sich hin und wieder und wischte den Staub vieler Jahre von den Reliefs, die aus adlerköpfigen Soldaten und Frauen mit Schakalschnauzen bestanden, die als in Stein gehauene Parade den gesamten Hof umgaben. Plötzlich klopfte Heribert mit seinem Stock auf den Boden, dann rief er einen Soldaten herbei. Mit dem Blatt eines Speers und einer Schaufel gruben sie ein Loch, und dann plötzlich hoben sie einen Stein. Eine Staubwolke wirbelte auf. »Zauberei!«, murmelte einer der Soldaten. »Ein Wunder!«, meinte ein anderer. Heribert drehte sich gerade in dem Augenblick um, als die Bemerkung erklang. »Nein, das hat weder etwas mit Zauberei noch mit einem Wunder zu tun«, widersprach er leicht angeekelt. »Dariyanische Festungen sind alle nach demselben Prinzip errichtet 267 worden. Im Innenhof liegt immer eine Zisterne, gekennzeichnet durch eine Frau in einem Kleid und von Blitzen umgeben sowie mit einer Seerose in den Händen. In Festungen, die über längere Zeit hinweg bewohnt wurden, leitet gewöhnlich ein ganzes Netzwerk aus Regenlöchern und Kanälen das Regenwasser in diese zentrale Zisterne, und -« Weil er den Eindruck erweckte, als würde seine Leidenschaft ihn zu einem endlosen Monolog anregen, unterbrach Sanglant ihn etwas rüde. »Ich möchte das Wasser erst probieren.« Ein Seil und ein Eimer wurden gebracht. Als ein Soldat ihm den halb gefüllten Eimer brachte, tauchte Sanglant eine Hand in das kühle Wasser, nippte daran und prüfte seinen Geschmack. Er spürte keinerlei Hinweis auf Gift oder Fäulnis. Das Wasser schmeckte frisch, und es war so lang und so gut verschlossen gewesen, dass kein Tier hatte hineinfallen können, um es zu vergiften. »Es ist in Ordnung, Hauptmann.« »Wirklich, das wird uns eine Menge Arbeit ersparen, Bruder«, sagte Fulk. Er betrachtete Heribert jetzt mit neuem Respekt. Der Hauptmann und der Geistliche verschwanden im Innern, und Heribert begann verschiedene Aspekte der Festung herauszustellen. Zacharias verließ das Lager, um sich in Ruhe zu waschen. Gnade rührte sich und erwachte aus ihrem Schlaf, und Sanglant nahm sie aus der Tragschlaufe, während die Soldaten ein ordentliches Feuer entfachten und ihre Ausrüstung auspackten, da sie vorhatten, zerrissene Umhänge und Tuniken zu flicken. Die Köche brieten die sechs Stücke Wild, die sie im Laufe des Marschs an diesem Tag erlegt hatten. Auf diese Weise bereiteten sie sich für die Nacht vor. Sanglant gab Gnade einen Brei aus Hülsenfrüchten und Ziegenmilch zu essen, gesüßt mit etwas Honig, den der Soldat Sibold zwei Tage zuvor aus einem Bienenstock gestohlen hatte; der arme Mann hatte noch immer ganz geschwollene Finger - ein hoher Preis, den er dafür hatte zahlen müssen. »Dada!«, plapperte Gnade eifrig. »Damaba! Wa! Ge! Ge!« Sie 268 strampelte sich frei, kletterte von seinem Schoß und bekam seine Finger zu fassen. Sie wollte gehen. In den vergangenen zehn Tagen war sie immer sicherer auf den Beinen geworden, so dass sie jetzt schon ziemlich
schnell laufen konnte, und das tat sie auch, sobald er sie nicht festhielt oder sie nicht in ihrer Tragschlaufe lag. Sie war so an die Soldaten gewöhnt, dass sie sofort aufgeregt schreiend zu ihnen gelaufen kam, wenn ihr Vater sie einfangen wollte, und sich hinter ihren Beinen versteckte. Es war zu einer Art nächtlichem Ritual der ganzen Truppe geworden. Hatte sie die Männer erst einmal erschöpft, führte sie auf dem Schoß ihres Vaters den Vorsitz über den Gesang, der dem Essen folgte. Jeder kannte ein Dutzend oder zwanzig oder sogar hundert Melodien. Gnade kreischte ordentlich mit, und obwohl sie noch nicht richtig in die Hände klatschen konnte, um den Rhythmus anzugeben, wedelte sie lebhaft mit ihnen. Als sie schließlich gegen die Brust ihres Vaters sank und mit halb geschlossenen Lidern einschlief, rief Sanglant Bruder Zacharias herüber und befragte ihn näher zu Bulkezu und den Qumanern. Der Frater hatte es geschafft, sich den größten Teil des Schmutzes abzuwaschen, doch seine Kleider stanken noch immer. Er hatte den Akzent eines Mannes, der im Osten unter freien Bauern geboren und aufgewachsen war, unter jenen Leuten also, die sich im Tausch für eigenes Land und den Schutz des Königs in den Marklanden niedergelassen hatten. Das Wissen, das Zacharias von den Qumanern besaß, war das eines Sklaven und somit unvollständig und bruchstückhaft, aber er hatte sich Einzelheiten gemerkt und konnte sich verständlich ausdrücken. »Vielleicht ist es am besten, wenn wir nach Osten reiten«, sagte Sanglant schließlich, als auch Fulk und Heribert zuhörten. »Sapientia wird die Nachricht von der Heirat meines Vaters mit Königin Adelheid nicht gefallen.« »Es ist ein langer Weg nach Osten«, bemerkte Heribert. »Alle Wege sind lang.« Gnade war an seiner Brust eingeschlafen. Er legte sie in die Tragschlaufe, sodass kein auf dem Boden 269 krabbelndes Tier sie beißen konnte. Die anderen rollten sich in ihre Decken. Er hörte, wie die Wachen in einiger Entfernung ihre Runden machten; ihre Schritte klangen leicht auf dem Boden. Er konnte nicht schlafen. Seine Hand schmerzte noch immer von dem Stich der Distel. Jernas ätherische Gestalt flatterte neben ihm nieder, wie Wellen schlagendes Wasser. Sie wand sich wie ein beschützender Schleier um das schlafende Bündel in der Tragschlaufe. Vielleicht beschützte sie das Kind wirklich wie ein Amulett. Gnade war nicht ein einziges Mal krank gewesen, seit Jerna sie zu nähren begonnen hatte, und das Baby wurde auch nicht von Fliegen oder Mückenstichen gequält wie all die anderen. Die heiße Sonne verursachte ihr weder Sonnenbrand, noch schien ihr Kälte etwas auszumachen. Sie wuchs unglaublich schnell, und alle wussten, dass dies unheimlich und unnormal war, doch niemand sprach laut darüber. Vielleicht war er ein Narr, dass er sie von einem solchen Wesen nähren ließ. Vielleicht war es nicht sehr klug. Aber was hätte er sonst tun sollen? Er hatte die einzige Möglichkeit genutzt, die sich ihm dargeboten hatte. Nichts weiter. 3 Als sich König Henrys Heer mühsam über den Pass kämpfte, stellte Rosvita fest, dass sie nunmehr zum fünften Mal an diesem Tag hinter einem Wagen feststeckte. Der hier war mit seinen Rädern durch eine Eisschicht in den darunter liegenden Matsch eingebrochen. Fortunatus zügelte sein Maultier neben ihr und seufzte. »Haltet Ihr es für weise, dass König Henry das Gebirge noch so spät in diesem Jahr überqueren will?« »Sprecht nicht schlecht vom König, ich bitte Euch, Bruder. Er 270 marschiert auf Gottes Wunsch. Und Ihr seht, die Sonne scheint immer noch.« Das tat sie, auch wenn sich ihr Licht bei den dunklen Wolken, den kalten Bergen und einem schneidenden Wind nur schwach ausnahm. Soldaten und Bedienstete eilten mit Planken und Stöcken herbei, um den Wagen aus dem Schlamm zu hieven. Schon bald hatte sich ein Dutzend von ihnen um den festgefahrenen Wagen versammelt und diskutierte in einem Ton miteinander, der davon zeugte, dass ihre Geduld jenseits aller Grenzen strapaziert worden war. »Soll ich mit ihnen sprechen, Schwester?« »Nein, lasst sie nur gewähren, so lange es zu keinem Kampf kommt. Aber Ihr könntet die Zügel meines Maultiers nehmen, wenn ich darum bitten dürfte.« Wie immer, wenn sie derart zum Halten gezwungen waren, stieg sie ab und spendete den Soldaten Trost, die auf dem Wagen hinter ihr mit der Flux danieder lagen und zu schwach zum Gehen waren. »Lasst uns beten, Freunde«, sagte sie, als sie sich dem Wagen näherte, obwohl die meisten Soldaten viel zu sehr phantasierten, um sie überhaupt hören zu können. Der Wagen stank nach ihrer Krankheit, denn diese armen Seelen hatten längst nicht mehr die Kraft, vom Wagen zu steigen und sich an den Wegesrand zu stellen, um ihre Gedärme zu erleichtern. Sie brauchte etwa vier Schritte, um von ihrem Maultier zum Wagen zu gehen, und nur so lange kehrte sie dem Pfad, den das Heer sich empor kämpfte, den Rücken zu. Der Wagenfahrer hatte sein Gesicht mit einem Stück Stoff bedeckt, um sich vor dem Gestank der Kranken zu schützen, aber auch so sah Rosvita, wie sich seine Augen vor Entsetzen weiteten, als er an ihr vorbeiblickte. Sie hörte zunächst nur ein Rumpeln, ein krachendes, donnerndes Gebrüll, dass die Schreie und Warnrufe in der Ferne auslöschte. »Schwester!«, schrie Fortunatus. »Oh, Gott, wir werden überrascht !«
271 Sie drehte sich um. Sie hatte sich nur einen Moment abgewendet, aber in dieser kurzen Zeitspanne war die Sonne hinter einem Vorhang aus Weiß, der sich von den Bergen herunterbewegte, verschwunden. Für einen Augenblick war die Sicht so schlecht, dass sie schon glaubte, sie würden von einer Flut aus weißen Blüten überschwemmt. Der Schneesturm traf sie ohne jede Vorwarnung. Sie konnte sich gerade noch rechtzeitig an der Wagenseite festhalten. Fortunatus warf sich von seinem Reittier und riss an den Zügeln ihres Maultiers. Dann verschluckte ihn der Sturm, und er prallte gegen sie. Sie konnte nicht einmal mehr das Stöhnen der kranken Soldaten hören. Peitschender Wind und Schnee griffen nach ihr. Kieselsteine wurden von dem Wind mitgerissen und prasselten gegen ihren Rücken, als ob ein Riese sie auf seine Feinde schleudern würde. Sie tastete sich am Wagen entlang, bis sie hinter der massigen Gestalt des Ochsen Schutz fand. Glücklicherweise trug sie Handschuhe, aber selbst so versteiften sich ihre Finger, als sie Holz und Geschirr umklammerte. Sie musste dem Wind ihren Rücken zuwenden, um überhaupt atmen zu können. Eine schier endlose Zeit harrte sie einfach nur aus, während die Wärme aus ihrem Körper wich. Als der Wind endlich genug nachgelassen hatte, dass sie aufzuschauen wagte, trieb der Schnee knietief um ihre Beine, und ihre Füße waren ganz taub geworden. In dem stürmischen Schnee konnte sie kaum die Umrisse der anderen entlang der Straße ausmachen. Sie marschierten nicht mehr nach Süden, den Pass hinauf in Richtung Aosta. Jetzt flohen sie nach Norden, den Pass hinab und den Weg zurück, den sie gekommen waren. »Oh, Gott!«, fluchte der Wagenführer; er musste laut schreien, um bei dem kreischenden Wind gehört zu werden. »Ich muss sofort wenden, sonst bleiben die Räder im Schnee stecken!« Sie winkte drei Soldaten herbei, die sich mit dem Rücken zum Sturm hatten zurückziehen wollen. Mit ihrer Hilfe drehten sie den 272 Wagen um, was eine ziemlich mühselige Angelegenheit auf der schmalen Straße war; zur einen Seite fiel das Gelände jäh ab, auf der anderen erhob es sich steil in die Höhe. Sie hatten nicht die geringste Möglichkeit, dem anderen Wagen weiter vorn, der noch immer im Schlamm steckte, zu helfen. »Schwester!« Fortunatus hatte wunderbarerweise noch beide Maultiere an der Hand, obwohl er mittlerweile sehr nah am Rand stand. Er band die Leinen der Maultiere an den rückwärtigen Teil des Wagens; seine Finger waren ganz unbeholfen von der Kälte. Indem sie sich an den Tieren festhielten, folgten sie dem Wagen den Pass wieder hinunter. Der Sturm hatte die Welt in absolutes Weiß verwandelt. Gestalten stolperten an ihnen vorbei, und manchmal kamen sie an Gruppen von Soldaten vorbei, die angehalten hatten, um einem gestürzten Kameraden zu helfen. Der Wagen quälte sich die alte Straße entlang, und der frisch gefallene Schnee knirschte unter seinen Rädern. Der Wind trieb sie weiter, als wäre er froh, sie endlich los zu sein. Rosvita stolperte über Steine und stellte fest, dass sie von der Straße abgekommen war. Fortunatus zog sie wieder zurück, und mit zusammengepressten Lippen und stetig erlahmender Energie klammerte sie sich an ihren Steigbügel und konzentrierte sich darauf, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Ein neuer Ton mischte sich in das Heulen des Windes, der Hornruf, der das Vorbeikommen des Königs ankündigte. Schon bald überholte die Gruppe des Königs sie. Henry hatte es allein kraft seines Willens geschafft, auf seinem kräftigen Schlachtross sitzen zu bleiben. Königin Adelheid ritt mutig neben ihm, in einen Fellumhang gekleidet, der so voller Schnee war, dass sie aussah, als wäre sie von Eis eingehüllt. Der König rief seinen Soldaten ermutigende Worte zu, als er an ihnen vorbeikam. Trotz des Sturms erkannte er Rosvita und winkte ihr zu. »Schwester Rosvita! Benötigt Ihr einen Wagen?« »Nein, Eure Majestät. Die kranken Soldaten brauchen ihn dringender als ich.« 273 Er nickte. »Wir werden schon bald die Herberge erreichen, in der wir letzte Nacht übernachtet haben.« Er ritt weiter, verschwand schon nach wenigen Augenblicken im stetig fallenden Schnee. Nach einer schier unendlichen Weile, während der sie nichts anderes spürte als ihre sich bewegenden Beine, kamen sie an einen Felsvorsprung, der den Wind zum größten Teil aufhielt. Schnee wirbelte um sie herum, bedeckte weich und in Hülle und Fülle den Boden. Die Herberge hatte eine Haupthalle, die zwar etwas primitiv gebaut war, aber durchaus für eine große Gruppe von Kaufleuten reichte. Außerdem besaß sie genügend Ställe für etwa vierzig Tiere sowie ein halbes Dutzend Nebengebäude. Dennoch konnte sie nicht dem Heer eines Königs Schutz bieten. In der Nacht zuvor hatten sie im milden Herbstwetter ihr Lager unter freiem Himmel aufgeschlagen; es hatte nicht ein einziger Fingerbreit Schnee auf dem Boden gelegen, und sie waren zuversichtlich gewesen, dass das Wetter die nächsten fünf Tage so bleiben würde, die sie benötigt hätten, um den Pass bis zum Gipfel zu erklimmen und mit dem Abstieg nach Aosta zu beginnen. Der Wagenführer war kaum in der Lage, seine Zugtiere neben ein Dutzend andere zu lenken, die sich an den Straßenrand drängten. Die Schultern gegen die Kälte zusammengezogen, schwang er sich von seinem Platz. Ein Löwe eilte zu ihm und half ihm, den Ochsen eine Decke über den Rücken zu werfen. Dann kauerte er sich
zusammen mit seinen Kameraden im Windschutz des Wagens nieder. Es gab für die Bediensteten keinen anderen Ort. Soldaten und Geistliche wanderten unter den Kranken umher und halfen jenen, die noch gehen konnten, in die Ställe. Von dem Dutzend Männer, die im hinteren Teil des Wagens gelegen hatten, waren drei bereits tot. Rosvita murmelte ein kurzes Gebet mit Lippen, die vor Kälte vollkommen steif waren. »Ich fürchte, von diesen kranken Männern wird keiner die Kälte überleben«, erklärte Fortunatus traurig, während er neben sie trat. 274 »Wenn es Gottes Wille ist, werden diese armen Seelen überleben. Wenn nicht, werden sie eine gerechte Belohnung erhalten.« »Ja, so wird es sein«, bestätigte Fortunatus. Als alles gesagt war, gab es nichts mehr für sie zu tun. »Kommt«, sagte sie zu Fortunatus. »Gehen wir zum König.« Henry und seine Soldaten hatten Zuflucht in der Halle gefunden. Aufgrund der vielen Menschen war es ziemlich warm, obwohl in den beiden Herdstellen jeweils nur ein Feuer brannte. Der Rauch kratzte ihr im Hals. So viele Menschen hatten sich in die Halle gedrängt, um dem Sturm zu entkommen, dass es richtig schwierig war, den König zu erreichen. Henry hatte die bevorzugten Plätze vor den Feuerstellen bestimmten Hauptleuten und Edelleuten überlassen, die sich die Flux geholt hatten, sowie ein paar ihm bekannten Soldaten, Löwen oder Mitgliedern seiner Leibwache. Er selbst stand mit einem Kreis von Beratern in der Mitte der Halle und hielt dort Hof, diskutierte die verzweifelte Situation mit einer verhutzelten Nonne - der Mutter des Ordens, der die Herberge leitete. Während er Bier trank, lauschte er der alten Frau, deren Worte von einer zweiten Nonne übersetzt wurden. »Nein, Eure Majestät, wenn um diese Jahreszeit ein plötzlicher Sturm aufzieht, ist es höchst unwahrscheinlich, dass er schnell wieder verschwindet. Und wenn er doch nach ein oder drei Tagen aufhört, liegt der Schnee zu hoch, als dass man noch über den Pass ziehen könnte.« Helmut Villam stand beim König. Er blickte erschöpft drein, arg mitgenommen von dem Versuch, dem Sturm zu entfliehen. Erst eine Woche zuvor hatte er bei dem Verlobungsfest, das er mit seiner Braut, der jungen Leoba, gefeiert hatte, noch so ausgesehen, als wäre seine Jugend zurückgekehrt. Jetzt wirkte er so alt, wie er war, nämlich sechzig Jahre, als hätte die bittere Kälte ihn der jugendlichen Kraft beraubt, die ihn bisher ausgezeichnet hatte. »Aber heute Morgen war hier nur so wenig Schnee«, wandte er ein. »Wenn wir hier warten, können wir doch sicherlich noch ei275 nen Versuch unternehmen, den Pass zu überqueren, bevor der Winter richtig hereinbricht.« »Das könnt Ihr tun«, bestätigte die Nonne. »Das könnt Ihr sicherlich tun. Aber ich diene in diesem Teil der Welt seit nunmehr dreißig Jahren, Markgraf. Ich kenne diese Stürme. Ihr werdet das Gebirge nicht vor Ende des nächsten Frühlings überqueren können. Wenn Ihr es versucht, wird Euer Heer schwere Verluste hinnehmen müssen, Eure Majestät.« Henry trank noch etwas Bier, während er über die neue Lage nachsann. Plötzlich begannen Rosvitas Füße so schrecklich zu schmerzen, als würden tausend Messerklingen in ihre Fußsohlen schneiden, sodass sie taumelte und beinahe gestürzt wäre, wenn Fortunatus sie nicht aufgefangen hätte. Henry sah sie. Er schickte einen seiner Löwen los, um einen Stuhl zu beschaffen, auf den sie sich setzen konnte. Bier wurde gebracht, und dankbar trank sie. Eine Weile saß sie mit gebeugtem Kopf da, während das Gemurmel und die Gesprächsströme um sie herumwirbelten und sie versuchte, Luft zu schöpfen, und ihre Zähne zusammenpresste. Langsam ließ der Schmerz in ihren Füßen nach. Nach einer Weile wickelte ein Bediensteter ihr die Beinkleider ab und legte ihre Füße bloß. Ihre Zehenspitzen fühlten sich an, als wären sie erfroren. Fortunatus kniete vor ihr nieder und knetete sie mit seinen Händen, bis ihr Tränen die Wangen hinabrannen. Trotz des Nebels, den der Schmerz verursachte, hörte sie Henrys Worte. »Nein, wir können es nicht riskieren. Es ist zu spät im Jahr. Es bedeutet keine Unehre für uns, wenn wir von den Bergen besiegt werden. Wir können aber auch nicht hier bleiben, denn es gibt hier nicht genug Unterkunftsmöglichkeiten für alle. Wir müssen uns nach Bederbor zurückziehen und mit Hilfe von Conrads Freigebigkeit dort den Winter verbringen.« »Er wird sie grollend gewähren«, bemerkte Villam. »Das wird er«, stimmte Henry ihm zu. »Wir werden seine Gast276 freundschaft nutzen, ihn an die Loyalität zu erinnern, die er seinem König schuldet. Aber auf diese Weise bleibt die Stärke des Heers erhalten. Wenn die Pässe im nächsten Jahr wieder frei sind, werden wir nach Süden marschieren und Eisenkopf unerwartet angreifen. Doch sicherlich wirst du froh sein, einen weiteren Winter im Norden verbringen zu können, Helmut. Wir werden deine Braut kommen lassen; sie kann dir das Bett wärmen!« Gelächter folgte diesem Vorstoß, und die Stimmung in der Halle stieg beträchtlich. Das war die Macht des Königs. Rosvitas Füße prickelten so stark, als wären sie von hundert Bienen gestochen worden. »Ich bitte Euch, Bruder,
es genügt!« Fortunatus warf ihr ein grimmiges Lächeln zu. »Besser das, als Eure Zehen zu verlieren, Schwester! Könnt Ihr reiten?« Sie zog die Zehen hoch und stellte fest, dass ihre Füße zwar immer noch schmerzten, sie sie aber bewegen konnte; sie konnte sich sogar ohne allzu große Schmerzen hinstellen. »Das sind schlechte Nachrichten, wenn wir bis nächstes Jahr warten müssen, um nach Aosta zu marschieren«, sagte sie zu ihm. »Wo ist die Königin?« Henry war weggegangen, um seinen Hauptleuten aufzutragen, den Rückzug nach Bederbor vorzubereiten. Rosvita stand vorsichtig auf, aber ihre Füße waren jetzt wieder zu gebrauchen. Zwischen den vielen Menschen sah sie Adelheid in einer Ecke auf einem der Betten sitzen, die unter den Dachsparren aufgebaut worden waren. Sie erbrach sich gerade in eine Schüssel, die von einer Dienerin gehalten wurde. »Eure Majestät!« Rosvita eilte besorgt zu ihr. Erbrechen war das erste Anzeichen, dass die Flux ein Opfer befallen hatte. Aber als sie Adelheid erreicht hatte, richtete die Königin sich mit einem matten Lächeln auf und erlaubte einer Dienerin, ihr das Gesicht zu waschen. »Nein, es ist nichts Gefährliches.« Die Königin streckte die Hände nach Rosvita aus. Adelheids Hände waren warm, trotz des grausamen Sturms, der draußen tobte und dem sie eben erst entkom277 men war. Ihr Griff war unnatürlich kräftig, und in ihren Augen lag ein triumphierender Glanz, als sie an Rosvita vorbei ihren Mann ansah, der aus der Menge herausragte. »Ich glaube, ich bin schwanger.« 4 Ein dariyanisches Fort sah so aus wie das andere. Sanglant führte seine Männer durch Wayland und folgte dabei dem alten Pfad, den die Dariyaner bei ihrer Invasion hunderte von Jahren zuvor angelegt hatten. Die Festungen hatten mehr Bestand als das Kaiserreich selbst. An diesem Abend - wie an jedem Abend - ging Sanglant, nachdem er sicher war, dass Gnade eingeschlafen war, zum Rand des Lagers und begrüßte die Soldaten, die die erste Wache übernommen hatten. Ein kleiner Witz mit Sibold, eine Bemerkung über das Wetter bei Everwin, eine scharfsinnige Bemerkung über die Landschaft von Wracwulf, und er ging weiter. Als er schließlich zur Feuerstelle zurückkehrte, waren sowohl Zacharias als auch Heribert eingeschlafen; fest eingerollt in ihre Umhänge lagen sie geschützt von einem halb herabgefallenen Dach da. Heribert hatte ein paar Ziegel beiseite geschoben, um Platz für Sanglant zu schaffen, aber der Prinz war wie immer zu unruhig, um schlafen zu können. Brütend saß er am Feuer. Ein ruhiger Wind wehte sämtliche Wolken weg. Der klare Himmel brachte Kälte mit, vertrieb die letzen Reste des Sommers. Die Sterne erinnerten ihn an Liath, denn sie hätte eine Nacht wie diese geliebt, die so klar und kalt war, dass die Sterne doppelt so hell und hundertmal so zahlreich schienen wie sonst. Die drei Juwelen, Diamant, Zitrin und Saphir, glänzten über ihm, während die Königin das Guivre zum westlichen Horizont trieb. Der Seelenfluss strömte über den Zenit. Wandelte Liath jetzt dort oben? Konnte 278 sie ihn sehen? Aber er bekam keine Antwort, als er leise ihren Namen in die Brise sprach. Die Sterne behielten ihre Geheimnisse sorgfältig für sich. Nach einer Weile erhob sich der abnehmende Mond und überströmte den Himmel mit silbernem Licht. Er hörte sie, noch bevor die Wachen sie hörten: ein leiser Aufschrei, das Rascheln von etwas, das an trockenen Blättern entlang streifte, vielleicht ein Schwanz an einem Busch. Er sprang genau in dem Augenblick auf, als Jerna sich aus Gnades Schlinge befreite und in die Luft davonschoss. Mit dem Schwert in der Hand folgte er der Gestalt der Daemonin, die sich wie strahlende Schlieren vor dem Nachthimmel und der etwa brusthohen Festungsmauer abhob. Wracwulf begrüßte ihn kurz, wachsam genug, um zu bemerken, dass Sanglants Blicke argwöhnisch den Waldrand absuchten. Auch der Soldat machte sich jetzt daran, den Wald genauer zu beobachten. Drei Wölfe tauchten so leise, wie man es nur von wilden Tieren kannte, aus dem Unterholz auf. Die Wache zischte, doch Sanglant legte dem Soldaten beruhigend eine Hand auf den Arm. Ein vierter Wolf kam einen Steinwurf entfernt zur Linken geisterhaft aus dem Wald geglitten. Die Wölfe näherten sich, aber sie beobachteten nur. Ihre bernsteinfarbenen Augen glänzten im Mondlicht. Wracwulf hob seinen Speer. Eine Bogensehne dehnte sich sirrend ein Stück weiter weg an der Mauer, wo Sibold Wache hielt. »Nicht schießen!«, schrie Sanglant. Warnrufe erklangen. Die Wölfe verschwanden zwischen den Bäumen. Sanglant wirbelte herum, zog sein Schwert und rannte zurück zum Lager, wo die Soldaten in heller Aufregung waren und wie unruhige Bienen untereinander flüsterten. Sie hatten sich Gnades Tragschlaufe genähert, doch der ganze Wirbel störte das Kind nicht; es schlief ruhig weiter. »Eure Hoheit!« Hauptmann Fulk hielt seinen Speer auf eine dunkle Gestalt gerichtet, die neben dem schlafenden Kind stand. »Wer ist das?«, wollte Sanglant wissen; jetzt war er äußerst wütend - ein Gefühl, das von seiner tiefen Furcht genährt wurde. 279 Der Mann löste sich aus den Schatten. Seine Haare hatten denselben, silbrigen Ton wie das Mondlicht, das ihn in
einen sanften Glanz hüllte. »Als ich begriffen habe, dass Ihr es seid, Prinz Sanglant, musste ich das Kind sehen.« »Wulfhere!« Der alte Adler wirkte müde, und er hinkte beim Gehen. Sein Umhang und seine Kleidung waren noch einigermaßen ordentlich, aber die Stiefel waren schmutzig und abgestoßen. Ein übermäßig voll gestopfter Rucksack lag neben ihm auf dem Boden. »Eure Hoheit.« Er betrachtete die Soldaten rings um ihn mit einem so schwachen Lächeln, dass Sanglant nicht hätte sagen können, ob er amüsiert war oder kurz vor dem Zusammenbruch stand. »Ich fühle mich hier etwa so willkommen, als wäre ich in ein Distelbeet gesprungen.« Fulk senkte seinen Speer nicht. Die Spitze lauerte noch immer unruhig vor Wulfheres ungeschütztem Bauch. »Dieser Mann ist vom König verbannt worden.« »Stimmt das?«, fragte Sanglant freundlich. »Leider ja«, bestätigte Wulfhere fröhlich. »Ich habe den Hof des Königs ohne seine Zustimmung verlassen. Als mein Pferd lahmte, hatte ich keine Möglichkeit, ein anderes zu beschaffen.« »Setzt Euch.« Da Gnade nun keine unmittelbare Gefahr mehr drohte, konnte Sanglant die Ironie der Situation durchaus genießen. »Nur zu gern würde ich mir Eure Geschichte anhören. Auf jeden Fall scheint es so zu sein, als wärt Ihr jetzt in meinem Gewahrsam. Es ist nur gut für Euch, würde ich sagen, dass ich gegenwärtig ebenfalls nicht in der Gunst des Königs stehe.« »Nein, das tut Ihr wohl nicht. So viel habe ich an Straßentratsch mitbekommen.« Wulfheres Maske der weisen Distanz verschwand, als er weitersprach; jetzt lag eine bemerkenswerte Mischung aus Verärgerung und Erregung auf seinem gewöhnlich verschlossenen Gesicht. »Wo ist Liath?« »Hauptmann Fulk«, sagte Sanglant, »ich möchte, dass ein Feuer drüben bei der Quelle errichtet wird. Ich möchte mit dem Ad280 ler allein sprechen. Sorgt dafür, dass die Wache bei meiner Tochter verdoppelt wird.« Die meisten Soldaten legten sich wieder zum Schlafen nieder. Der Prinz führte Wulfhere zu einem frischen Feuer, das hell in einer Nische knisterte, die in der Steinmauer angebracht war und vielleicht einmal ein Götzenbild oder Waffen beherbergt hatte. Wulfhere seufzte laut, während er sich niederließ, dankbar für den Becher Bier und den Kanten Brot. »Ich bin es nicht gewöhnt, zu Fuß zu gehen«, sagte wie beiläufig. »Meine Füße schmerzen.« Als Sanglant sich auf einem umgestürzten Stein gegenüber von Wulfhere niederließ, kam Heribert herbei; er rieb sich die Augen. Wulfhere blickte ihn an, sah zuerst nur die Gewänder, blickte dann genauer hin. Langsam breitete sich die Erkenntnis auf seinem Gesicht aus, und es wäre beinahe komisch gewesen, wäre er nicht laut fluchend aufgesprungen und hätte dabei das kostbare Bier verschüttet. »Wie kommt er denn hierher?«, wollte er wissen. »Er ist mein Berater und Freund.« Sanglant bedeutete Heribert, neben ihm Platz zu nehmen. Weil Wulfhere sich nicht setzte, tat auch Heribert es nicht und blieb stattdessen neben Sanglant stehen - wie ein nervöser Vogel, bereit, jeden Augenblick davonzuflattern. »Ihr seid Euch bewusst, was für ein Mann er ist?«, fragte Wulfhere. »Sehr sogar. Ich würde ihm mein Leben anvertrauen. Und auch das Leben meiner Tochter.« »Er ist von einem Kirchenkonzil verdammt worden, weil er an schwarzer Magie teilgehabt hat! Er ist der Bastard von Bischöfin Antonia!« »Dann sollte ich wirklich der Erste sein, der ihn verdammt, wo ich doch selbst ein Bastard bin.« Sanglant grinste, doch als er einen Blick auf Heribert warf, sah er, dass der Geistliche sich versteift hatte wie ein Mann, der im nächsten Augenblick den tödlichen Schlag erwartet. »Das Argument hat keine Bedeutung für 281 mich, Wulfhere. Heribert hat mir schon vor langer Zeit die Wahrheit über seine Geburt und seine Herkunft mitgeteilt, obwohl ich gestehen muss, dass auch er nicht weiß, wer sein Vater ist.« Wulfhere setzte zum Sprechen an, doch Sanglant hob die Hand. »Versucht nicht, mich gegen ihn aufzuhetzen. Ich kenne Heribert und kann ihn, was sein Herz und seine Loyalität betrifft, wesentlich besser einschätzen als Euch!« Wulfheres gewöhnlich ruhige, gelassene Miene zerbrach sogar noch mehr und enthüllte Empörung und einen Hauch von Qual. »Stimmt es, dass Bischöfin Antonia zu Anne gegangen ist und von den Sieben Schläfern aufgenommen wurde?« »Das schwöre ich bei Unserer Herrin und Unserem Herrn«, murmelte Heribert. »Ich bin bei Bischöfin Antonia gewesen, als wir Eurem Gewahrsam entflohen sind, wie Ihr Euch bestimmt noch erinnern könnt. Nachdem wir über viele komplizierte Wege Verna erreicht hatten, hat Anne meiner Mutter das Versprechen abgenommen, als -« Er brach ab, um ein Kichern zu unterdrücken wie ein Kind es tun mochte, wenn es sich über das Ungemach eines verhassten Erwachsenen belustigte. »Als Siebte und Letzte ihres Ordens zu dienen«, vollendete er den Satz. In der Ferne heulte ein Wolf. Jerna flüsterte über dem Prinzen, ließ sich in der Brise herunter und schlang sich beschützend um seine Schultern. Ihre Berührung war sanft und kühl. Zwei Soldaten, die an der äußeren Mauer Wache standen, scherzten miteinander.
In diesem Augenblick begriff Sanglant. Als hätte Jerna seinen wachsenden Unmut gespürt, schlüpfte sie in die Lüfte davon. Er erhob sich langsam, baute sich zu seiner ganzen, beeindruckenden Größe auf. »Ihr kennt sie demnach, Anne und die anderen.« Er musste es nicht als Frage formulieren. »Ihr seid die ganze Zeit einer von ihnen gewesen. Ihr wart meinem Vater oder dessen Vater gegenüber niemals loyal. Ihr habt Euren Schwur als Adler niemals loyal ausgeübt.« Das war zu viel für Wulfhere. »Verspottet nicht, was Ihr nicht 282 begreift, mein Prinz! König Arnulf hat mir vertraut, und ich habe ihm bis zum Tage seines Todes gedient. Ich habe Wendar niemals verraten.« Erregt fuhr er mit erstickter Stimme fort, während er mit der Müdigkeit eines Mannes auf den Steinblock sank, der viele Wegstunden zurückgelegt hatte, nur um herauszufinden, dass sein geliebtes Heim bis auf die Grundmauern abgebrannt war. »Oh, Herrin! Dass es soweit kommen muss! Dass Anne bereit sein würde, böse Werkzeuge für ein gutes Ziel zu benutzen. Habe ich sie all die Jahre etwa falsch beurteilt?« »Überrascht Euch das etwa?«, forderte Sanglant ihn heraus. »Liath und ich sind mehrere Monate lang ihre Gefangenen gewesen. Mich überrascht das nicht.« »Ihr seid nicht ihre Gefangenen gewesen! Liath war -« An dieser Stelle brach Wulfhere ab und zog ein verärgertes Gesicht. Sanglant beendete den Satz für ihn. »Ihr Werkzeug. Selbst ihre Tochter war für sie nur ein Werkzeug. Hat Anne sie je geliebt?« Wulfhere bedeckte seine Augen mit einer Hand. Der Schmerz in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Nein, Anne hat sie niemals geliebt. Bernard war derjenige, der sie geliebt hat.« »Anne hat ihn getötet, um Liath zurückzubekommen.« »Bernard hat genommen, was ihm nicht gehört hat! Es mag sogar möglich sein, dass er es gut gemeint hat, aber er war auf schreckliche und gefährliche Weise irregeleitet und von sich überzeugt. Er hat niemals auf jemand anderen gehört als auf sich selbst. Er hat Liath Schaden zugefügt, indem er sie vor jenen verborgen gehalten hat, die begriffen hatten, was sie war und welche Macht sie durch ihre Geburt erworben hatte. Wir hatten keine andere Wahl, als alles zu tun, um sie zurückzubekommen!« Er erhob sich, die Hände in den Taschen, und ging zum Feuer, starrte in die Flammen, als könnte er darin Erinnerungen sehen. Schließlich blickte er auf. »Liath ist nicht hier, nicht wahr?« Es klang, als würde der alte Adler an den Worten ersticken. »Verna war verlassen, als ich dorthin kam, alles war zerstört. Anne war mit den Überlebenden bereits weggegangen.« 283 »Ihr seid ihr nicht gefolgt?« »Um diese Jahreszeit über das Gebirge? Ich habe nicht die Fähigkeit, so durch die Steine zu reisen, wie Anne es tut. Um Gottes Willen, Prinz Sanglant, wo ist Liath?« Sanglant schloss die Augen, um die Erinnerung zu verbannen. Er konnte nicht darüber sprechen; der Schmerz saß immer noch zu tief, und er wusste, er würde in Tränen ausbrechen, wenn er zu sprechen begann. Heribert berührte ihn kurz am Arm, bevor er einen Schritt vortrat. »Ich war bereits gegangen«, sagte er leise, »daher habe ich die Feuersbrunst nicht selbst gesehen. Prinz Sanglant hat mir jedoch erzählt, dass unirdische Geschöpfe mit Schwingen aus Flammen durch den Steinkreis in das Tal gekommen sind und Liath mitgenommen haben.« »Selbst der Stein hat gebrannt«, flüsterte Sanglant heiser. Der Anblick des in Flammen stehenden Gebirges hatte sich ihm tief ins Gedächtnis eingebrannt, sodass er es selbst mit geschlossenen Augen sah, nicht einmal dann Ruhe erhielt. Auf gleichzeitig strahlende und schreckliche Weise hatten die Geschöpfe Verna zerstört, dessen Anwesenheit sie anscheinend überhaupt nicht bemerkt hatten. »Oh, Gott.« Wulfheres Seufzer durchbrach die Stille. Er sackte wie eine Marionette zusammen, knickte ein, um sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden zu setzen, während das Feuer ein unruhiges Muster aus Licht und Schatten auf sein gefurchtes Gesicht und die hellen Haare warf. Sanglant wartete eine lange Zeit, aber Wulfhere sprach noch immer nicht. Schließlich rief der Prinz nach Matto und trug ihm auf, den leeren Becher mit Bier aufzufüllen. Wulfhere nahm das Bier dankbar an und leerte den Becher, bevor er einen zweiten Kanten Brot mit einem Stück Käse verspeiste. Nachdem Matto sich zurückgezogen hatte, ließ Heribert sich schließlich auch nieder. Seine Bewegung ließ Wulfhere die Worte aussprechen, die er bisher bewusst zurückgehalten hatte. 284 »Die ganzen Jahre über haben Anne und ich auf ein gemeinsames Ziel hin gearbeitet. Ich bin mit sechs Jahren meinen Eltern weggenommen worden, um ihr zu dienen. Ich dachte, ich würde sie besser kennen als alle anderen, sogar besser noch als Schwester Clothilde, die Annes Jugendträume und Wünsche nicht so kannte wie ich. Anne war immer viel reiner und begeisterter gewesen als wir übrigen. Ich hätte niemals gedacht, dass sie mit einer Malefica wie Bischöfin Antonia gemeinsame Sache machen könnte - mit einer Frau, die mit dem Blut Unschuldiger Galla aus den Steinen ruft, lebende Menschen an ein Guivre verfüttert und keinerlei Skrupel hat, ihre eigenen loyalen Geistlichen zu opfern, um ihren selbstbezogenen Zielen näher zu kommen.« Heribert zuckte bei diesen Worten zusammen, aber er sagte nichts, und Wulfhere - der ihn überhaupt nicht anblickte - fuhr fort.
»Wir sind nicht erzogen worden, um solche Mittel anzuwenden und um mit den Anhängern des Feindes gemeinsame Sache zu machen! Wie kann Anne eine solche Person nur ins Vertrauen gezogen haben, ihr sogar noch größere Macht gegeben haben?« »So binden die Ketten jene, die herrschen«, erwiderte Sanglant. »Die großen Herrscher benutzen jedes Schwert, das sich ihnen bietet. Sind das nicht einfach nur Ausflüchte ? Wenn Euer Plan Erfolg hat, werden ohnehin alle Aoi sterben. Was macht es Euch zu schaffen, welches Werkzeug sie benutzt, wenn Euer Ziel das Töten ist?« »Es ist wichtig, dass es um eine gerechte Sache geht. Es ist wichtig, dass unsere Feinde bösartig sind. Es ist wichtig, dass unsere Bemühungen ehrenvoll sind, und dass unsere Herzen sich nicht von der Heiligkeit abwenden.« »Dann wäre es also ehrenhaft und heilig, ein Kind zu ertränken? Ihr habt niemals bestritten, dass Ihr versucht habt, mich zu ertränken, als ich noch ein Säugling war.« »Ich habe getan, was zum damaligen Zeitpunkt das Richtige zu sein schien.« Sanglant lachte verärgert. »Es freut mich, Euch das sagen zu hö285 ren! Nur - wieso glaubt Ihr dann, dass ich Euch auch nur eine einzige Nacht neben meiner Tochter schlafen lasse - wer weiß, ob Ihr es nicht für richtig haltet, dieses Mal sie umzubringen? Anne hätte sie verhungern lassen. Seid Ihr so viel besser als sie? Ihr dürft gerne wieder gehen und zu Anne zurückkehren, die sicherlich erfreut sein wird, Euch zu sehen.« Das Mondlicht tauchte Wulfheres Gesicht in eine erschreckende Blässe. »Es war schwer genug, ein Kind zu ertränken, bevor ich wusste, was es bedeutete, eins zu lieben. Ihr müsst mir glauben, mein Prinz. Ich habe mich um Liath so viel gekümmert, wie ich durfte, als sie noch ein Kind war. Aber Anne fand es nicht richtig, dass wir sie liebten, dass wir uns oder sie auf diese Weise schwächten. Nur Bernard hat nicht auf sie gehört. Er hat niemals auf sie gehört.« Er wandte den Kopf abrupt zur Seite, als wäre er geschlagen worden. »Ich habe Anne alles gegeben, mein Leben, meine Loyalität. Ich habe niemals geheiratet oder Kinder gezeugt. Ich habe meine Familie nie wieder gesehen. Was hat das den treulosen Bernard gekümmert? Er hat all das gestohlen, was ich geliebt habe.« Sanglant, der Wulfhere aufmerksam musterte, konnte beim besten Willen nicht sagen, ob der alte Adler nur schauspielerte oder ob es ihm Ernst war. Passten seine innere Überzeugung und der äußere Schein wirklich zusammen? »Das ist ein rührseliges Bekenntnis, aber ich bin weder Geistlicher noch Frater und kann Euch dafür keine Absolution erteilen.« Sanglant ließ die Ironie eine Weile in seiner Stimme, während Wulfhere ihn ansah; er war jetzt ruhiger, da der Fluss der Worte versiegt war, aber noch immer erregt. »Man erzählt sich vieles über Euch, aber ich habe niemals gehört, dass Ihr leichtgläubig oder naiv wärt.« »Nein, doch ich bin der Leichtgläubigste von allen gewesen. Es hat mich beunruhigt, dass Anne keinerlei Anstalten machte, das Kind zu lieben, aber ich habe mich geweigert zu erkennen, wie viel es über ihr Herz aussagt. Doch jetzt fürchte ich, dass meine Zwei286 fei berechtigt gewesen sind. Anne ist nicht der Mensch, für den ich sie gehalten habe.« Der Prinz hob empört beide Hände, als wollte er sich ergeben, dann lachte er. »Ich bin machtlos gegen solche Vorstöße. Entweder Ihr seid der schamloseste Lügner, der mir je begegnet ist, oder Ihr seid endlich zu Sinnen gekommen und erkennt, dass man Anne nicht trauen kann. Ihr Plan ist falsch. Sie ist die Böse. Wie kann ich oder wie könnt Ihr wissen, was die Verlorenen vorhaben? Wollen sie Frieden oder Krieg? Arbeiten sie schon seit Jahren daran, ihre Rache zu bekommen, oder waren sie die ganze Zeit über die Opfer menschlicher Zauberei, wie meine Mutter behauptet? Anne arbeitet an einigen Zaubersprüchen, um sie zu besiegen. Erklärt mir, was sie vorhat.« Lange Zeit betrachtete Wulfhere den Mond. Sein Licht ergoss sich über die Mauer hinter ihnen, und die Wand schimmerte wie Marmor, enthüllte Flecken von roter, blauer und goldener Farbe sowie missgestaltete Figuren, die für alte dariyanische Festungen typisch waren: Wesen mit den Körpern von Frauen und den Köpfen von Adlern, Schlangen oder Löwen. Ein Wolf heulte in der Ferne, wie ein Kamerad, der einem anderen in Not einen Rat gab. »Das kann ich nicht. Ich habe nicht viele Fähigkeiten. Und ich bin auch nie bei den Ratssitzungen anwesend gewesen oder habe das volle Ausmaß der Künste der Mathematiki verstanden. Ich bin nicht von so edler Geburt wie Ihr, mein Prinz.« War das Sarkasmus oder lediglich die scharfe Klinge der Wahrheit? »Ich bin zum Dienen erzogen worden, nicht zum Herrschen.« »Wieso folgt Ihr dann mir statt Anne, nachdem Ihr gesehen habt, was in Verna vorgefallen ist? Was wollt Ihr von mir?« Wulfhere dachte schweigend über die Frage nach. Es war ein Zeichen seines Scharfsinns, dass man ihn nicht drängen konnte, obwohl Sanglant inzwischen den deutlichen Drang verspürte, auf und ab zu schreiten. Schließlich gab er ihm nach und machte zwei Schritte auf die Wand zu, fuhr die attraktiven Kurven eines in den Stein gemeißelten Frauenkörpers nach. Er hatte einen solchen Grad 287 von Erregtheit erreicht, dass jedes Steinkörnchen unter seiner Berührung zum Leben zu erwachen schien. Als er begriff, was er tat, dass seine Finger auf der weichen Rundung einer Brust ruhten, zog er seine Hand rasch
wieder zurück und verschränkte die Arme. Schließlich schüttelte Wulfhere sich wie ein Wolf, der aus dem Wasser kommt. »Ich weiß es nicht. Ich will Liath finden, Prinz.« »Das will ich auch. Aber was habt Ihr mit ihr vor, wenn Ihr sie gefunden habt? Wollt Ihr sie zu Anne zurückbringen? Ist es das, was Anne Euch aufgetragen hat?« »Nein. Ich hätte eigentlich Anne und den anderen von Verna aus folgen sollen, aber ich konnte es nicht über mich bringen, nicht nach dem, was ich gesehen hatte. So viel Zerstörung! Die Mönche bei der Herberge hatten einen Mann gesehen, auf den Eure Beschreibung passte und der nach Norden unterwegs war. Es war leicht, Euch und Eurer Mutter zu folgen, obwohl es nicht so einfach war, der Aufmerksamkeit der königlichen Soldaten zu entgehen, da König Henry mit seinem Heer nach Süden marschierte.« »Wohin ist Anne gegangen?« Wulfhere zögerte. Der Prinz machte einen Schritt auf ihn zu. Eine einzige Armlänge war jetzt alles, was die beiden Männer voneinander trennte: den alten Adler und den jungen Prinzen, der einst ein Drache gewesen war. »Sagt mir die Wahrheit, Wulfhere, und ich lasse Euch mit uns reisen, wenn das Euer Wunsch ist. Ihr könnt mir bei der Suche nach Liath behilflich sein, denn Ihr sollt wissen, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als sie zu finden.« Wulfhere musterte ihn. Der Schein des Feuers umspielte sein Gesicht; Licht und Schatten kämpften miteinander, doch es schien, als würde niemals das eine über das andere triumphieren. »Wie wollt Ihr nach Liath suchen, Prinz Sanglant, wo Anne und ich acht Jahre gebraucht haben, sie zu finden? Mit welcher Magie wollt Ihr eine Frau finden, die von unirdischen Kreaturen geraubt worden ist, die auf Flügeln aus Feuer fliegen?« »Wenn sie mich und das Kind liebt«, erwiderte Sanglant grim288 mig, »wird sie einen Weg zu uns zurück finden. Ist das nicht so? Ist das nicht die Prüfung für Liebe und Treue?« »Vielleicht. Aber was wollt Ihr in der Zwischenzeit tun? Ihr reitet nicht mit dem Heer Eures Vaters in Richtung Süden. Hättet Ihr das getan, hättet Ihr schon bald bemerkt, dass Anne und die anderen nach Darre unterwegs sind.« »Ah! Hat Anne Euch deshalb geschickt? Damit Ihr mich ausspioniert? Also gut. Ich werde die Herausforderung annehmen, denn ich habe vor, sie zu vernichten, jetzt, wo ich begriffen habe, was sie ist und was sie dem Volk meiner Mutter antun will.« Wie gewöhnlich wusste Sanglant inzwischen genau, was sein Plan war - ein Plan, der sich jetzt vor ihm entfaltete. »Ich brauche Greifenfedern und Zauberer, um mich ihrer Magie entgegenzustellen. Und ein Heer.« »Und all das wird keinen Nutzen haben, Prinz.« Wulfhere war viel zu alt und zu gerissen, um sich von der Aufregung über einen solch kühnen Plan mitreißen zu lassen; zweifellos erwartete er einen ausgewachsenen Adler, keinen gerade flügge gewordenen Vogel. »Ihr versteht ihre Macht nicht. Sie ist Taillefers Enkelin und dazu eine Mathematikus von unvergleichlichen Fähigkeiten und enormer Stärke.« »Ich respektiere ihre Stärke. Aber Ihr vergesst, dass ich mit ihrer Tochter verheiratet bin und dass ihre Enkelin in meiner Obhut ist. Gnade stammt zur Hälfte von mir ab. Ich habe selbst einen gewissen Rang und Macht.« »Ihr tragt den Goldreif nicht mehr, der Eure königliche Herkunft kennzeichnet.« »Liath trägt jetzt meinen Goldreif, wie es ihr zusteht. Meine Tochter trägt einen.« »Aber werdet Ihr wieder einen tragen? Oder habt Ihr dem, was Henry Euch gab, wie es sein Recht als Vater war, den Rücken gekehrt?« Die kühlen Worte reizten Sanglant. »Ich werde mir nehmen, was ich brauche und verdiene, wenn es soweit ist, nicht früher! 289 Mein Vater besitzt mich nicht.« Aber Gereiztheit ließ sich in etwas Nützliches verwandeln, so wie man schneller Holz hackte, wenn man wütend war. »Helft mir dafür zu sorgen, dass Taillefers Geschlecht seinen rechtmäßigen Platz wieder einnimmt, Wulfhere, als Vorbereitung auf die Rückkehr der Aoi. Dann können wir uns ihnen aus einer Position der Stärke entgegenstellen. Helft mir, Liath zu finden. Helft mir, Anne zu besiegen. Eure Erfahrung könnte sich in der Tat als sehr wertvoll für mich erweisen.« »Ihr würdet Eure kostbare Tochter der Gefahr meiner Nähe aussetzen, Prinz?« War da ein Hauch Verletztheit in der Miene des alten Adlers, als er sich jetzt vorbeugte, um das Feuer mit einem Stock zu schüren? Funken trieben langsam in den Nachthimmel empor, gingen flackernd aus, wo sie auf Stein prallten. »Ich kann Euch nicht trauen, das ist wahr. Möglicherweise ist dies eine Falle von Euch. Aber meine Tochter wird sehr gut von einem Wesen bewacht, das niemals schläft und das schon bald wissen wird, was für eine Gefahr Ihr darstellt. Und es scheint mir, mein Freund, dass Ihr Euch ungesehen in mein Lager geschlichen habt. Ihr wart meiner Tochter bereits nah genug und hättet sie töten können, wäre das Eure Absicht gewesen. Ein Messer im Dunklen bedeutet einen raschen Tod. Doch trotz meiner Nachlässigkeit lebt sie noch.« War da eine Träne auf Wulfheres Wange? Es war schwer zu sagen, und die Hitze des Feuers trocknete schon bald sämtliche Feuchtigkeit. Sanglant lächelte leicht und blickte Heribert an, der lediglich mit den Schultern zuckte, um zu zeigen, dass er in dieser Angelegenheit keinen Rat anzubieten hatte. »Reist mit mir und meiner Gruppe von Disteln, Wulfhere. Was für eine bessere Möglichkeit hättet Ihr? Ihr traut Anne nicht. König Henry hat Euch in Acht und Bann
erklärt. Zumindest kann ich Euch vor dem Zorn des Königs bewahren.« Wulfhere lächelte spöttisch. »Es ist nicht der Zorn des Königs, den ich fürchte«, sagte er, erhob aber keine weiteren Einwände. 290 VII Ein Todesurteil 1 Starkhand hatte in seinen Träumen gesehen, dass es eine Angewohnheit der Menschen war, ihre Feste zu einer Zurschaustellung von Ausschweifungen und Genuss zu machen. Sie ließen sich ihren Kopf durch fermentierte Getränke vernebeln. Sie aßen zu viel. Oft wurden sie lärmig, streitsüchtig und undiszipliniert, und sie verschwendeten ihre Mittel großzügig und auf eine Weise, als würden sich ihre Becher des Reichtums endlos füllen. Selbst die Anführer seines eigenen Volkes hatten es sich angewöhnt, nach jedem Sieg so zu feiern. Sie pflegten dann den Kriegern zu befehlen, mit ihren Schätzen vor ihnen aufzumarschieren, oder sie schlössen Wetten über Kämpfe zwischen Sklaven und Tieren ab. Mit solchen Mitteln und in der Gesellschaft ihrer Rivalen rühmten sie sich ihrer Stärke und Macht. Er selbst hatte keinen Bedarf an solchen Dingen. Die Schiffe seiner toten Rivalen waren an seinen Stränden an Land gezogen worden und verstärkten jetzt seine Flotte. Er hortete zahlreiche Waffen, und die Eisenschmiede von zwanzig oder mehr Stämmen hämmerten und schmiedeten auf seinen Befehl hin. Die Anführer von zwanzig Stämmen waren auf seinen Befehl nach Rikin-Fjord 291 gekommen, um ihm die Stäbe der Autorität zu Füßen zu legen. Sie hatten ihn als Herrscher über alle Stämme akzeptiert, einige von ihnen bereitwillig: ein Primus inter pares, wie die Menschen den Herrscher nannten, der über jene herrschte, die sich selbst Prinzen und Edelleute nannten. Er hatte sich den Namen Starkhand gegeben, kraft des Rechtes, das ihm die AltMutter seines Stammes verliehen hatte. Er war schließlich der erste Anführer, der sämtliche Stämme der FelsenKinder unter einem Befehl vereinigte. Aber das Gefühl von Macht und der Triumph der Siege versetzten ihn nicht in Ekstase. Er hatte keine Lust zu feiern. Er widmete sich stattdessen in seinem Herzen und in seinem Geist dem kühlen Messer des Ehrgeizes, besänftigte die kalte Leere, die er aufgrund der Abwesenheit desjenigen empfand, den er einst als Bruder gekannt hatte: Alain, Sohn von Henri, der jetzt völlig aus dem Land der Sterblichen verschwunden war. Starkhand träumte nicht mehr. Und der Verlust der Träume war für ihn ein steter Quell von Verbitterung und Kummer. Aber Träume waren nicht sein ganzes Leben. Er benötigte sie nicht wirklich. Er hatte über seine Begierden und Wünsche nachgedacht, mit aller ihnen zustehenden Aufmerksamkeit. Nicht einmal der Verlust seines Herzens würde ihn von seinen Zielen abbringen - ohnehin dienten Ehrgeiz und Willenskraft den Herzlosen am besten. Er saß mit dem Stab in der Hand auf seinem Stuhl und betrachtete die Versammlung: ein Heer von FelsenKindern verteilte sich auf dem sanft abfallenden Land, das hinunter zum Strand und zum Wasser führte. Zweiundzwanzig Stäbe lagen ihm zu Füßen, und die Anführer, die diese Stäbe seiner Autorität unterstellt hatten, warteten in respektvollem Abstand. Die Krieger des Rikin-Stammes standen hinter ihnen, vermischten sich mit jenen Kriegern, die mit ihren Kriegsführern zum Rikin-Fjord gesegelt waren. Mindestens achtzig Schiffe waren an Land gezogen worden oder vor Anker gegangen, jedes Einzelne davon mit mindestens fünfzig 292 Kriegern bemannt. Und doch stellte diese große Versammlung nur einen kleinen Teil des Heeres dar, das ihm jetzt unterstand. Sie waren viele, und weitere warteten in den Fjorden, die den anderen Stämmen gehörten. Aber die Menschen waren in ihrem eigenen Land noch immer zahlreicher als alle FelsenKinder zusammen. Das war es, was Blutherz und die alten Anführer niemals richtig begriffen hatten. Die Menschen mochten schwächer sein, was ihren Körper betraf, aber allein aufgrund ihrer bloßen Anzahl verfügten sie über eine unerbittliche Macht. Die Versammlung wartete. Wind war von einem fernen Fjell zu hören, wo die WeisMütter sich in jener Stille berieten, die das Vorrecht des Steins war. Hinter ihnen rührten sich die RaschTöchter unruhig. Sie besaßen nicht die Geduld ihrer Mütter und Großmütter. Nicht ihnen galt das langsame Verrinnen der Ewigkeit. Wie ihre Brüder und Cousins würden sie die Erde etwa vierzig Winter lang bewohnen und sich dann unter dem Druck der Zeit auflösen. Rikins AltMutter stand am Eingang zu ihrer Halle und beobachtete das, was geschah, wie es ihr Recht und ihre Pflicht war. Er spürte ihren Atem in seinem Nacken, obwohl sie weder etwas sagte noch sonst ein Zeichen von sich gab. Dies war sein Tag. Schließlich würde sie selbst dann, wenn sie das Messer der Autorität an die JungMutter weitergab und den langsamen Weg hinauf zum Fjell begann, noch viel länger leben als irgendeines ihrer Kinder. Seine großen Bemühungen mussten ihr wie die Wettkämpfe der Kleinen vorkommen, die rasch ausgetragen und rasch gewonnen wurden. Dennoch beabsichtigte er, so viel wie möglich daraus zu machen.
Als Letzter trat Hakonins Anführer vor und legte seinen Stab ganz oben auf den Stapel - er war deshalb der Letzte, weil Hakonins AltMutter die Erste gewesen war, die das Ausmaß seiner Ziele und Absichten begriffen und ihm ihre Unterstützung und Alli293 anz angeboten hatte. Dann trat auch der Hakonin-Anführer zurück und wartete; er stand in der ersten Reihe der Versammlung neben Zehnter Sohn des Fünften Wurfs, der Starkhands Steuermann und Hauptmann sowie sein eigener Wurfkamerad war. Starkhand erhob sich. Zuerst schnitt er in das Heft eines jeden Stabs den zweifachen Kreis, das Zeichen seiner Herrschaft. Dann färbte er die Schnitte mit Ocker, um sie sichtbarer zu machen. Niemand sprach, während er auf diese Weise seiner Autorität Nachdruck verlieh: Die Stäbe dieser Anführer würden auf ewig das Zeichen von Starkhands Oberherrschaft tragen. Als er damit fertig war und nachdem jeder Anführer vorgetreten und seinen Stab zurückerhalten hatte, starrte er über den Fjord. Das Wasser war kalt und ruhig. Nichts störte die stille Oberfläche. Nichts störte das Schweigen, das sich über die Versammelten gesenkt hatte. Sollten sie sich ruhig wundern über seinen Mangel an Ausdruckskraft. Sollten sie ihn fürchten, weil er nicht in Triumphgeheul ausbrach, wie sie es getan hätten. Wozu musste er heulen und schreien, jammern und brüllen ? Sollten jene, denen seine Schläge galten, schreien und wehklagen. Das Schweigen war sein Verbündeter, nicht sein Feind. Während sie ihm zusahen, trat er durch ihre Reihen hindurch zum Ufer. Er warf einen Stein ins Wasser. Der Stein schuf, wie jeder andere Gegenstand es getan hätte, kreisförmige Wellen. Was seine Verbündeten nicht wussten, war, dass dies ein zuvor vereinbartes Signal war. Augenblicklich brachen sie aus dem ruhigen Wasser hervor -mehr, als er zählen konnte. Die Merwesen krümmten und wölbten sich durch stetes, kräftiges Schlagen ihrer Hinterteile empor, drehten sich in der Luft und wirbelten wieder hinunter. Jene, die bei der Halle warteten, sahen nur ihre silbrigen Körper, sahen einen kurzen Schimmer von ihren Furcht erregenden Köpfen und Haaren, die sich in der Luft wanden und zuckten, bevor sie dann 294 mit einem gewaltigen Platschen wieder ins Wasser stürzten. Mit dem dumpfen Klatschen ihrer Schwänze verschwanden die Merwesen. Das Wasser wirbelte noch immer, beruhigte sich allmählich wieder und lag schließlich so still da wie zuvor, eine glatte Oberfläche, auf der die Spiegelungen der Bäume und eines einzelnen, kreisenden Adlers zu sehen waren. Eine Rauchsäule erhob sich in den Himmel: das Wachfeuer, das auf der Klippe an der Mündung von Rikin-Fjord errichtet worden war. Gemurmel geisterte durch die Reihen der Versammlung und erstarb dann wieder. Sie alle wussten, welches Ende sein letzter Feind, der mächtige Nokvi, genommen hatte. Nachdem er seine Hände und den Sieg verloren hatte, war er ins Meer geworfen worden, um vom Mervolk verschlungen zu werden. Es war kein rühmlicher Tod. Starkhand ging zurück zu seinem Stuhl und hob seinen Stab. Er machte sich nicht die Mühe, laut zu schreien: Jene in den letzten Reihen, denen der Wind seine Worte nicht zutrug, sollten sich ruhig etwas anstrengen, um ihn zu verstehen. »So hört meine Worte. Wir werden jetzt handeln. Meine Schiffe verfolgen bereits jene von uns, die sich weigern, sich auf unsere Seite zu stellen. Doch niemand darf ruhen, während die anderen die Arbeit erledigen. Wir müssen bauen und uns vorbereiten.« Auf den steilen Abhängen des bewaldeten Tals waren Breschen zu sehen, wo seine menschlichen Sklaven neues Land zum Beackern geschaffen hatten. Es war nicht viel, aber es würde genügen, um jeder Sklavenfamilie, die zu seinem ursprünglichen Sklavenbesitz gehörte, ein Fleckchen Land zu geben. Er hatte auch für sie Pläne. Krieg war nicht der einzige Weg, ein Reich zu erschaffen. Zehnter Sohn des Fünften Wurfes stellte die entscheidende Frage. »Auf was bereiten wir uns denn vor?« »Sollen wir den Baumzauberern von Alba, die gedacht haben, sie könnten unsere Anführer zu ihren Marionetten und Sklaven machen, den Rücken zukehren?« Starkhand ließ seinen Blick über 295 die Menge schweifen. »Jenen, der sich Nokvi genannt hat, haben sie zuerst zum Narren und dann zur Leiche gemacht. Sollen wir zulassen, dass diese Baumzauberer glauben, wir wären um nichts besser als Nokvi und seine Anhänger? Oder wollen wir uns für diese Beleidigung rächen?« Tausend Kehlen brüllten die Antwort heraus. Er wartete, bis es wieder ruhig war. Die ständige Anwesenheit von Rikins AltMutter hinter ihm lastete schwer auf seinen Schultern. »Geht nach Hause in eure Täler. Im Laufe dieses Herbstes und Winters bereitet ihr eure Schiffe vor und schmiedet eure Waffen. Wenn die Winterstürme ihre Wut herausgeblasen haben, werden wir auf Alba zuschlagen. Und im nächsten Sommer verlange ich das von euch: Schlagt hart zu, und tut es oft. Wo immer ihr könnt. Nehmt, was immer ihr wollt. Ein Sechstel der Beute übergebt ihr mir, und ihr unterrichtet mich davon, wenn ihr auf Baumzauberer gestoßen seid. Ich werde sie finden und ausrotten, wenn es an der Zeit ist, und die Insel Alba und ihre Reichtümer werden dann unserem Volk gehören. Dies ist der Anfang.« Sie bejubelten ihn laut und leidenschaftlich, mit jenem Geheul und Geschrei, das einem willigen und gefährlichen Heer zu eigen ist. Die Menge löste sich so rasch und reibungslos auf, wie es nur durch gründliche
vorherige Planung möglich war. Schon jetzt bewegten sie sich weniger wie eine tierische Herde, die es auf augenblickliche Befriedigung abgesehen hat, sondern wie denkende Wesen, die planen, handeln und triumphieren konnten. Er drehte sich um, wollte zur AltMutter gehen, doch sie war bereits zurück in ihre Halle gegangen. Ihre Tür war verschlossen. Sie hatte anscheinend nicht das Bedürfnis gehabt einzugreifen. Sie hatte ihre Verkündigung bereits an dem Tag von sich gegeben, als sie ihm gestattet hatte, sich einen Namen zu wählen: »Starkhand wird sich durch eigene Kraft erheben oder sterben.« Er machte eine Geste, und Zehnter Sohn trat vor. »Wenn unsere Verbündeten den Fjord verlassen haben, sollen jene, die als Plünderer eingeteilt sind, ins Land der Moerin gehen und dort 296 Raubzüge durchführen. Sie sollen sicherstellen, dass niemand von denen, die einst Nokvi unterstützt haben, am Leben bleibt. Ein paar Skiffe sollen an der Küste patrouillieren, und einige unserer Brüder, die ruhigen und gerissenen, sollen reisen, so weit sie können. Sie sollen zuhören. Es könnte sein, dass sogar von denen, die jetzt vorgeben, unsere Verbündeten zu sein, einige sich gegen uns wenden. Ich muss wissen, wer das ist.« »Es wird geschehen.« Zehnter Sohn winkte, und ein paar seiner vertrauenswürdigen Leutnants eilten herbei, um Starkhands Stuhl wegzuschaffen. »Gibt es welche, denen du weniger traust als anderen?« Starkhand dachte nach. »Isa, Ardanekas Anführer. Er ist erst zu mir gekommen, als er gesehen hat, dass alle anderen es auch getan haben. Wir müssen ein Moerin-Hündchen als Anführer der Reste finden, die noch von diesem Stamm übrig sind. Aber schicke auf diese Expedition nur solche, die mit offenen Augen marschieren.« Ein Gedanke kam ihm, doch er wendete ihn erst mehrere Male im Kopf, ehe er ihn laut aussprach. »Sklaven sollen mit ihnen gehen, solche, die sowohl stark als auch schlau sind. Von den Sklaven anderer Stämme lässt sich vieles besser erfahren.« Von seinem Volk hatte nur Zehnter Sohn aufgehört, sich darüber zu wundern, auf welch ungewöhnliche Weise Starkhand immer wieder seine Sklaven einsetzte. Zehnter Sohn neigte seinen Kopf zu einer Seite, wie ein Hund, der lauschte, und blickte gedankenvoll drein. »Es wird geschehen«, bestätigte er. »Es gibt noch einen anderen Weg, die Baumzauberer zu suchen. Wir können davon ausgehen, dass die Kaufleute, die von Hafen zu Hafen segeln, etwas über sie erfahren. Obwohl Blutherz Hundse verloren hat« - die Stadt, die die Menschen Gent nannten -, »hat unser Volk durch seine Bemühungen doch große Schätze erhalten. Mit einem Teil dieser Schätze könnten wir Handel treiben, und jene, die diese Aufgabe übernehmen, könnten dabei zuhören und versuchen, Neuigkeiten zu erfahren.« Die Worte trafen ihn mit der Kraft eines hellen Sonnenstrahls, 297 der zwischen Wolken hindurch ungehindert zur Erde fiel. Er hatte nicht erwartet, dass sein Bruder so schlau denken konnte. »Ich muss über das nachdenken, was du gesagt hast.« Die RaschTöchter zogen sich zurück, widmeten sich ihren eigenen Aufgaben, den Dingen, die am wichtigsten waren: der Sorge um das Weiterleben des Stammes. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie ihn allein und unbeachtet arbeiten ließen. In ihren Augen waren solche Unternehmungen wie Raubzüge und Plünderungen, Kämpfe und Eroberungen unbedeutend und geringfügig. Nach tausend weiteren Wintern würden die Felsen noch so sein wie immer, während seine Gebeine und seine Bemühungen schon längst zu Staub zerfallen sein würden. Den Stab in der Hand machte er sich auf den langen Weg zum Fjell empor. Langhallen machten verlassenen Sklaven-Scheunen Platz; nur wenige wurden noch von zerlumpten Sklaven bewohnt, die zu dumm waren, um ihr Gefängnis zu verlassen. Wenn er hier vorbeikam, roch er zunächst und sah dann auch mehr als ein halbes Dutzend von ihnen geistlos im Schmutz sitzen, wo sie sich vor und zurück wiegten. Die klapprigen Anbauten, in denen die Sklaven einst überwintert hatten, waren niedergerissen worden, und mit dem Holz und den Steinen waren ordentliche Hallen errichtet worden. Diakonissin Ursuline und ihre Leute waren in den Wochen, seit er Anführer von Rikin geworden war, sehr fleißig gewesen. Felder erstreckten sich überall entlang der niedrigen Abhänge, eingezäunt von flachen Steinmauern. Er hatte den menschlichen Sklaven, die einst seinen verschwundenen Brüdern gehört hatten, ein gewisses Maß an Freiheit gegeben, aber sie unterstanden der strengen Aufsicht seiner eigenen Krieger und jener Sklaven, denen er trauen konnte. Jetzt quälten sie sich damit, dort, wo sich der Boden dafür eignete, Korn anzubauen. Weiter oben hüteten halb ausgewachsene Kinder Herden aus Schafen, Ziegen und Vieh, von denen die FelsenKinder abhängig waren. Die Sklaven auf den Feldern und Weiden sahen ihn vorbeigehen, aber niemand von ihnen war so dumm, die Arbeit zu unterbrechen und ihn anzustarren. 298 Die Felder machten Weiden Platz, das Weideland wiederum einem kleinen Waldbestand aus Fichten, Kiefern und Birken. Als der Pfad sich höher wand, öffnete sich der Wald, die Kiefern und Fichten wurden weniger, bis nur noch Birken, einzelne Büsche und vom Wind flach gehaltene Heide zu sehen waren. Auch die letzten verkümmerten Bäume verschwanden, als er auf das hohe Fjell trat, jenes Land aus Fels und Moos und heulendem Wind. Der Wind zerrte an seinem Stab, sodass die am Kreuz befestigten Gebeine und die Eisenrute gefährlich hin und her schaukelten. Sein Zopf wirbelte hin und her, wand sich um seine Schulter, als enthielte er eine Erinnerung an das lebendige Haar, das den Merwesen wuchs. Eine Frostschicht bedeckte den Boden. Die jüngste WeisMutter war ein Stück weiter gekommen, seit er das
letzte Mal hier gewesen war. Er brachte ihr eine Gabe, wie er es immer tat: Dieses Mal war es die getrocknete Nachgeburt einer Sklavin. Sie sollte das Symbol für die Vergänglichkeit des Lebens sein - und für seine Ungeduld. Er blieb nicht, um mit ihr zu sprechen, denn auch ein kurzer Austausch hätte Stunden gedauert. Stattdessen schritt er weiter auf dem Pfad auf den Ring der WeisMutter zu. Zuerst sahen sie aus wie kräftige Säulen, aber als er näher kam, vorsichtig darauf bedacht, die geschlängelten Linien aus silbrigem Sand-die Spuren der tödlichen Eis-Wyrm - nicht zu betreten, nahmen die WeisMutter immer mehr Gestalt an. Obwohl sie vollkommen zu Stein erstarrt waren, blieben die Konturen ihrer Glieder und ihrer Köpfe doch erkennbar, ein Überbleibsel aus der Zeit, als sie sich noch bewegen konnten. Die WeisMutter standen in einem Kreis um den Rand des Nistbodens. Hier hielt er inne, prüfte die Steine, die er in seinem Beutel hatte, und betrachtete die weiche Kuhle aus Sand, die vor ihm lag. Nur die WeisMutter wussten, was sie unter diesem Sand ausbrüteten. Stein um Stein bahnte er sich vorsichtig seinen Weg zu dem Hügel, der sich in der Mitte der Mulde erhob. Die weiche, runde Kuppel verströmte Wärme und den schwachen Geruch von Schwefel, 299 und als er auf ihr stand, war er erst einmal sicher vor den Eis-Wyrm, die in der schimmernden Senke hausten. In dieser Einsamkeit, wo er wegen der gefährlichen Umgebung garantiert ungestört blieb, dachte er über den Pfad nach, den er bislang beschritten hatte, über den Ort, an dem er jetzt stand, und über die Reise, die noch vor ihm lag. Ein verirrtes Blatt flog über die Senke, kam zum Stillstand und legte sich sanft auf den Sand. Eine glänzende, durchsichtige Klaue tauchte an die Oberfläche empor, krallte sich das Blatt und riss es mit sich in die Tiefe. Dann war alles wieder still. Der Wind strich seufzend um seinen Körper. Er hörte ein schwaches Rumpeln wie von herabfallenden Felsen, das so weit weg war, dass es auch ein Traum hätte sein können. Doch als er die Augen schloss, um in eine dauerhafte Trance zu fallen, umgab ihn die gleiche stumpfe und graue Leere wie sonst auch. Alain war noch immer weg, ihre Verbindung war abgerissen. Er war vollkommen allein. Die Nacht brach herein. Unter dem Dach der Sterne stand er so still da wie ein uralter Stein. Er hörte die WeisMütter sprechen. Geh. Nach. Süden. Dränge. Nach. Osten. Verschiebe. Das. Teuer. Den. Strom. Des. Flusses. Nach. Westen. Zehn. Längen. Das Meer. Wasser. Wird. Sich. Erheben. Höre. Erde. Schreit. Nach. Erde. Was. Zerrissen. War. Kehrt. Zurück. Schaffe. Platz. Nicht nur er hatte neue Ideen. Auch andere von seinem Volk begannen nachzudenken. Die Worte von Zehnter Sohn fielen ihm ein: »Wir könnten Handel treiben. Wir könnten versuchen, in den Häfen der Menschen Neuigkeiten zu erfahren.« Vor langer Zeit, noch vor dem Aufkommen der sich bekriegenden Anführer in der Zeit von Blutherz' eigener Zeugung, hatten die FelsenKinder mit den menschlichen Stämmen Handel getrieben, und natürlich auch mit den Fischern. Die Kriege um die Vor300 machtstellung hatten das alles geändert. Durch die reiche Ernte, die durch Versklavung eingefahren worden war, die Freude am Plündern, die Lust an Überfällen hatten sich die Traditionen der alten Zeiten gewandelt. Wieso sollte man für etwas Handel treiben, wenn man es auch umsonst bekommen konnte? Doch jeder Stein, der in ruhiges Wasser fiel, verursachte Wellen. So wie die Stämme, die sich unaufhörlich bekriegten, niemals wirklich stark werden konnten, durfte ein Clan, der seine Macht einzig auf Plünderungen baute, keine wirkliche Hoffnung auf lang anhaltenden Erfolg hegen. Die Lager voller Reichtümer, die Blutherz angesammelt hatte, würden Starkhand dienen, doch an sich waren die Schätze nichts weiter als Gegenstände. Sie hatten nur den Wert, den andere ihnen beimaßen. Natürlich war dies eine Art von Wert, den er ausnutzen konnte. Der Krieg hatte seinen Nutzen, aber man konnte nicht alles allein mit seiner Hilfe erreichen. Er stand in der Mitte des Nistbodens und lauschte dem erwachenden Kreischen der Möwen. Der Horizont hellte sich auf. Die Lebensspanne eines jeden einzelnen Wesens bedeutete wenig angesichts des langen Laufs der Welt, deren Spanne sich anhand der Gespräche der WeisMütter und nicht nach den vergänglichen und rasch vergessenen Kämpfen bemaß, die so flüchtig waren wie Eintagsfliegen oder Sterbliche. Dass er nachdachte und Planungen anstellte, machte ihn nicht wichtiger als das geringste Geschöpf auf der Erde. Aber vielleicht erhielt er dadurch mehr Freiheit für sein eigenes Handeln. Ein Herrscher, der den Handel kontrollierte, kontrollierte den Ein- und Ausgang von Waren; er kontrollierte die Steuern, die auf diesen Waren lasteten, und er bestimmte, wer was bekam und was wohin gelangte. Es gab mehr als eine Art, die Hand der Herrschaft über die Untertanen auszustrecken. Bei Anbruch der Morgendämmerung verfielen die WeisMütter wieder in die Starre, die sie immer tagsüber befiel. Stein für Stein machte er sich an den Rückweg über den Sand des Nistbodens. Der Tag - jetzt im Laufe des Herbstes ohnehin viel kürzer - war halb
301 vorüber, als er wieder festen, sicheren Boden unter den Füßen hatte. Er holte seinen Stab aus dem Versteck in einer Felsspalte und begann, den Pfad hinunterzugehen, der vom Fjell weg und zum Tal führte. Als er an der jüngsten WeisMutter vorbeikam, legte er ihr einen Zweig Moos in ihre rauen Arme, dann ging er weiter. Ein Schwärm schreiender Wildgänse flog hoch über ihm zu einem Pfeil formiert vorbei. Ein Turmfalke schraubte sich in der Ferne in die Höhe. Starkhand verließ das Fjell, betrat den Birkenwald und dann den dichteren Wald aus Fichten und Kiefern. In der Ferne erklangen Axtschläge in einem gleichmäßigen Rhythmus. Das Hacken hörte auf, und ein Mann stieß einen Warnruf aus. Das Geräusch eines krachend umstürzenden Baums zerriss die Luft. Das Donnern seines Aufpralls hallte noch lange nach, während die gleiche Stimme Befehle von sich gab. Neugierig geworden nahm er den Seitenpfad, der zu den oberen Weiden führte. Auf einer Lichtung errichteten seine Sklaven ihre Kirche. Sie wuchs schnell. Einer von ihnen hatte eine schlaue Idee gehabt, wie man die Bäume des Nordens bearbeiten konnte, da die meisten von ihnen zu schlank waren, als dass man sie hätte spalten können. Die aus Stämmen bestehende Struktur war rechteckig und wirkte einigermaßen unbeholfen. Ein paar halbwüchsige Sklaven Schwachköpfe ihrem Aussehen nach - hingen am Rand der Lichtung herum und sahen einfach nur zu, dabei tierische Laute von sich gebend. Diese geistig minderbemittelten Tiere gerieten sogar jenen Arbeitern in den Weg, die dabei waren, Zweige von den gefällten Bäumen zu schlagen, die Rinde abzuschälen oder die Baumstämme mit Steinbeilen und Äxten abzuhobeln. Als Diakonissin Ursuline ihn sah, eilte sie zu ihm, gefolgt von dem Mann, der als Anführer der Sklaven galt, obwohl er sich selbst nur Papa Otto nannte. Eine Möwe kreiste über der Lichtung, zweifellos auf der Suche nach ein paar Nahrungsresten. Ihr Kreischen war schroff und keifend, und schon bald kam eine zweite Möwe in Sicht, blieb aber hinter der Baumlinie zurück. 302 »Mein Herr.« Ursuline benutzte Begriffe, die bei den Menschen üblich waren, und er akzeptierte sie. Obwohl sie nur ein Mensch war und deshalb nicht viel mehr galt als ein Tier, verdiente sie doch ein gewisses Maß der Autorität und Achtung, die er der AltMutter entgegenbrachte. Sie als Einzige von allen seinen Sklaven hatte längst keine Angst mehr vor ihm, und so sprach sie auch jetzt frei heraus. »Ihr habt uns gerecht behandelt, mein Herr, wie wir beide wissen. Obwohl Gott bestimmt haben, dass niemand als Sklave gehalten werden soll, wissen wir beide, dass sowohl bei den Aikha als auch bei den Menschen Sklaven existieren. Deshalb fügen wir, die wir Eure Gefangenen sind, uns noch immer Eurem Willen. Aber lasst mich Euch Folgendes fragen: War es Euer Wille, dass heute Morgen einige von uns weggeführt wurden, um mit den Rikin-Kriegstruppen zu ziehen?« »Das war es.« Obwohl Alain nicht mehr in seinen Träumen wohnte, beherrschte er noch immer die Fähigkeit, die Sprache, die er in diesen Träumen gelernt hatte, fließend zu sprechen. »Ein paar von euch, die stark und schlau sind, haben wir geholt, weil sie als Spione arbeiten sollen. Sie werden mit meinen Kriegern reisen, um herauszufinden, ob meine neuen Verbündeten anders reden, wenn ich nicht in der Nähe bin. Eure Leute können mit den menschlichen Sklaven der anderen Stämme sprechen, denn möglicherweise haben diese Sklaven - sofern sie genug Verstand besitzen - Dinge gehört, die andernfalls vor uns verborgen bleiben.« »Wieso sollten die Sklaven anderer Stämme die Wahrheit sagen?«, fragte Papa Otto. »Ich bin überzeugt, dass sich die Nachricht auf diese Weise verbreiten wird«, erklärte Starkhand. »Diese Sklaven werden die Hoffnung hegen, dass sie ebenso viel Freiheit erlangen können wie ihr, solange die Aikha unter meiner Herrschaft stehen.« »Es ist etwas Wahres an dem, was Ihr sagt«, meinte Ursuline. Sie blickte Otto an, und eine unausgesprochene Botschaft wechselte zwischen ihnen hin und her - etwas, das kein Wesen außer den Menschen selbst verstehen konnte. 303 »Wer sind die, die hier arbeiten?« Starkhand deutete auf die Leute, die in ihrer Arbeit innegehalten hatten, als er die Lichtung betreten hatte, die sich aber jetzt wieder ihren Aufgaben zuwandten. »Habt Ihr Grund zur Klage, was unsere Arbeit betrifft?«, fragte Ursuline sanft. »Ist irgendeine Arbeit, die Ihr oder Eure Hauptleute von uns gefordert habt, unverrichtet geblieben? Ist ein Tier nicht versorgt worden? Verwildern irgendwelche Felder? Gibt es nicht genug Feuerholz für den Winter oder Kohlen für die Schmieden?« »Du bist kühn«, sagte Starkhand, aber er bewunderte sie deswegen. Sie lächelte, als würde sie seine Gedanken kennen. »Ihr habt keine Klagen, denn wir arbeiten jetzt noch härter, seit Ihr Euren Anteil der Abmachung erfüllt habt, die wir getroffen haben.« »Und doch sorge ich mich über jene bei euch, die wie Tiere hausen und doch weder Arbeit noch Fleisch anzubieten haben. Sie sind lediglich eine Bürde. Wenn der harte Winter einsetzt, müssen wir sie loswerden.« »Wie sollen wir sie auswählen?«, fragte Papa Otto. »Tötet die, die wie Tiere sind. Ich sehe sie hier und dort im Tal; sie sind nicht besser als die Schweine, die im Wald leben, und um einiges schmutziger. Sie sind Abschaum. Sie sind von keinerlei Nutzen, weder für euch noch für mich.« »Sie sind keine Tiere, mein Herr«, widersprach Otto. Er war ein starker Anführer für die menschlichen Sklaven,
aber schwach, weil er das Töten fürchtete. »Sie werden von Euren Leuten nur wie Tiere gehalten, erzogen und behandelt. Sie haben längst vergessen, was es heißt, ein Mensch zu sein.« »Das macht sie für uns nutzlos, oder nicht?« »Nein, mein Herr«, sagte Ursuline rasch. Sie legte Otto eine Hand auf den Arm, eine Geste, die dazu diente, ihn zum Schweigen zu bringen. »Es mag sein, dass jene Sklaven, die seit Generationen in den Sklaven-Gehegen gelebt haben, ohne die Lehren der 304 Kirche niemals in der Lage sein werden, so wie wir zu arbeiten und zu sprechen. Aber sie sind dennoch von Nutzen für Euch.« »Auf welche Weise?« »Sie können zeugen. Ihre Kinder können von uns, die wir nicht durch die Sklaven-Gehege behindert sind, aufgezogen werden, und diese Kinder dienen Euch dann so gut, wie wir es tun. Solange Ihr sie so behandelt, wie Ihr uns behandelt. Vielleicht werden diese Kinder Euch sogar noch besser dienen als wir, denn sie werden nur die Loyalität und den Dienst Euch gegenüber kennen. Sie werden sich an kein anderes Leben erinnern, wie wir es tun.« Sie war wirklich eine schlaue Person. Er wusste, dass sie Worte dazu benutzte, etwas zu erzwingen oder herbeizureden. In seinen Träumen - als er noch welche gehabt hatte - hatte er gesehen, dass Lügen und Betrügen sehr üblich bei den Menschen war. Ein Messer ist immer noch ein Messer, ein Werkzeug, das sich zum Schneiden und zum Töten eignete. Es gab keine Notwendigkeit, ihm schöne Namen zu geben, nur um so zu tun, als wäre es etwas anderes als das, was es wirklich war. Doch vielleicht konnten sie nicht anders. Vielleicht waren sie wie das Vieh, das sein Futter wiederkaute, wenn sie Worte verdrehten und schmeichelten und betrogen. Vielleicht war es ein Teil ihres Wesens. »Was du sagst, mag sogar stimmen. Doch es scheint mir, dass da viele in den Sklaven-Gehegen sind, die nicht zeugen und gebären können und die niemals etwas lernen. Ich habe keine Verwendung für kaputtes Werkzeug. In zwei Monaten werden meine Männer die Herden für den Winter durchsuchen. Alle Sklaven, die bis dahin keine richtigen Worte sprechen können, werden zusammen mit dem Vieh aussortiert werden.« »Zwei Monate ist nicht sehr lang«, gab Otto zu bedenken. »Selbst in unserem eigenen Land spricht ein Kind erst nach zwei oder drei Jahren, und sicher vergehen fünf oder sechs Jahre, bevor ein Kind so wie ein erwachsener Mensch sprechen kann.« Otto hatte Feuer in sich, eine Leidenschaft für das Leben und für das, was die Menschen Gerechtigkeit nannten. Das war es, was Stark305 hand als Erstes auf ihn aufmerksam gemacht hatte. »Wenn wir sie lehren sollen, so zu sprechen wie wir und die einfachen Befehle zu befolgen, die sie bereits kennen, brauchen wir ebenso viel Zeit, wie ein Kind unseres Volkes braucht, um sprechen zu lernen.« »Ich bin diese Unterhaltung leid. Und jetzt hört zu, was ich befehle.« Er fuhr seine Krallen aus, ließ sie aus ihren Scheiden gleiten, und scharfe Spitzen zerteilten die Luft. »Der Rikin-Stamm wird keine nutzlosen Bürden mit sich herumschleppen. Wir müssen noch weit gehen, und alles, was wir mit uns nehmen, muss einen Nutzen haben. Ich werde keine Diskussion zu diesem Thema mehr gestatten.« Er schwieg, aber keiner der beiden antwortete. Otto war vom Alter gezeichnet. Tiefe Linien zerfurchten sein Gesicht. Der harte Winterwind und die grelle Sommersonne hatten seiner Haut zugesetzt. Selbst seine Haare hatten an Farbe verloren, das Braun war zu Weiß geworden, sodass er auf gewisse Weise seinen Aikha-Herren ähnelte, obwohl Starkhand begriffen hatte, dass dies die übliche Art war, wie sich bei den Menschen fortgeschrittenes Alter zeigte. Diakonissin Ursuline hörte einfach nur zu, das Gesicht beherrscht und still. »In zwei Monaten wird die Herde durchkämmt. Wenn ihr dann nicht eine Auswahl der Sklaven trefft, werde ich es tun. Meine Wahl wird weit umfassender sein, als wenn ihr es selbst tut, also akzeptiert die neue Verantwortung oder überlasst sie mir und fügt euch meiner Entscheidung.« Ursuline war so beharrlich wie geduldig. »Dann lasst mich Euch um einen Gefallen bitten, mein Herr.« Er war es leid zu handeln. Er war den Anblick der wimmernden und jammernden schmutzigen Sklaven leid, die für ihn von weniger Nutzen waren als die schmächtigsten Ziegen, das magerste Vieh, weil ihr Fleisch zu sauer war, als dass man es hätte essen können. Er schnitt ihre Worte mit einer schroffen Geste ab. Er drehte sich um, hob einen Fuß, um die Lichtung zu verlassen Gefangen hinter weißen Wänden, drängt es unruhig gegen sein 306 Gefängnis, aber es ist zu schwach, als dass es mehr tun könnte, als an die Gefängnismauern zu stoßen. Dann holt das Bad aus warmer Flüssigkeit, in dem es treibt, es zurück in die Mattigkeit. Bewusstsein flackert langsam auf. Hunger schwelt. Schatten - oder Gedanken - drehen sich und wirbeln in seinem Geist, bevor sie sich auflösen. Es erinnert sich an ein uraltes Feuer und an einen großen Brand. Ist es nicht das Kind des Feuers, das alle Geschöpfe fürchten? Stimmen wispern, aber es kann die Bedeutung nicht erfassen, die hinter diesen Geräuschen liegt, und innerhalb weniger Momente hat es vergessen, was eine Stimme ist. Die Erinnerung stirbt. Das Wasser der Vergessenheit schwankt unter ihm. Es schläft. Starkhands Fuß kam auf dem Boden auf und riss ihn wieder zurück in die Wirklichkeit. Er musste blinzeln, denn
die schwache Herbstsonne wirkte so grell, dass er seine Augen nicht an sie gewöhnen konnte. Großes Entsetzen durchströmte ihn, erfasste seinen Körper wie ein Welle. In den Laich-Tümpeln eines jeden Stammes reiften die Nester der FelsenKinder heran. Auch er war einmal ein geistloser Embryo gewesen, der in den Wassern der Vergessenheit badete, nichts weiter suchte als seine nächste Mahlzeit. In den Nestlachen lebten jene, die ihre Nestbrüder verschlangen, statt selbst verschlungen zu werden. Jene, die aßen, wuchsen zu Männern heran, und jene, die einfach nur überlebten, anstatt gefressen zu werden, blieben Hunde. Bevor Alain ihn aus Lavastins Käfig befreit hatte, war auch er wie seine Brüder ein Sklave der aufrichtigen Gier nach Töten, Krieg und Plünderungen gewesen, die noch immer die meisten seiner Art kennzeichnete. Wie dicht war er daran gewesen, ein Hund zu sein anstelle eines denkenden Mannes? Wie nah war ein jedes Geschöpf den nicht denkenden Tieren, vergaß dabei, was es einst selbst gewesen war? Mit einiger Mühe bezwang er seine Furcht. Er war nicht zu lange in jenen Wassern gebadet worden. Er hatte sich seinen Weg freigehauen. Alain hatte ihn aus seinem Käfig befreit, und er woll307 te so bleiben, wie er war. Er würde nicht zulassen, dass seine Erinnerung schlief und sein Instinkt ihn beherrschte. Langsam wurde die Welt um ihn herum wieder klarer, und er konnte wieder sehen. Er verstärkte den Griff um seinen Stab. Diakonissin Ursuline und Papa Otto hatten ihren Blick abgewendet, bemüht, nicht dabei ertappt zu werden, dass sie Zeugen seiner Schwäche gewesen waren. Doch sie blickten verblüfft drein, vollkommen verwundert. Sie durften nicht zu der Überzeugung gelangen, dass er sich geändert hätte, dass er beinahe zusammengebrochen wäre. »So lautet meine Entscheidung. Es stimmt, dass diese Schwachsinnigen für eure Familie das sind, was die Hunde, die um unsere Hallen schwärmen, für meine Brüder sind. Wenn ihr euch um die Schwachsinnigen kümmert und sie euch nicht bei eurer Arbeit behindern, werde ich sie nicht anrühren. Aber ich auferlege euch die gleichen Pflichten wie damals, als wir die Vereinbarung über euer Gotteshaus getroffen haben. Solange ihre Anwesenheit bei euch nicht die Aufgaben stört, die eure Herren für euch ausersehen haben, dürft ihr mit ihnen verfahren, wie ihr es für notwendig erachtet. Wenn ich aber unzufrieden bin, werde ich rasch handeln.« »Wir können nicht mehr verlangen als das«, sagte Diakonissin Ursuline bestrebt, die Abmachung schnell zu besiegeln. »Nein«, pflichtete er ihr bei, »das könnt ihr nicht.« Bevor er noch weitere voreilige Abmachungen treffen konnte, ging er davon, noch immer zittrig. Doch weil er ein scharfes Gehör besaß, konnte er hören, wie sie sich mit leisen Stimmen unterhielten. »Diese Sklaven haben bei den Aikha viele Jahre lang bestimmte Aufgaben verrichtet, wie das Reinigen der Aborte. Wir sollten die Arbeitskraft derjenigen, die schlau sind, nicht verschwenden, indem wir sie geistlose Arbeit verrichten lassen. Sie könnten auch andere Dinge tun, gerben zum Beispiel oder Gebäude errichten. Sicher finden wir für sie alle eine geeignete Aufgabe, selbst für die, die kaum besser als Hunde sind.« 308 Diakonissin Ursuline antwortete nicht sofort. Er hörte, wie sie Luft holte, als hätte man ihr einen Schlag in die Magengrube versetzt. Als der Pfad im Wald verschwand, blieb er stehen und lauschte. Ihre Worte trieben so schwach wie ein Seufzen zu ihm. »Ich habe in Saony einem Herrn gedient, der weniger gerecht war als der hier.« Papa Otto antwortete nicht darauf. Leise folgte Starkhand dem Pfad weiter in den Wald. Es lag Weisheit in dem, was Papa Otto gesagt hatte, sicher. Es würden alle einen Nutzen davon haben, wenn man die Starken von Aufgaben entband, die auch von den Schwachen erledigt werden konnten. Er hatte in der Angelegenheit der schwachsinnigen Sklaven zu voreilig gehandelt. Ein weiser Anführer gab jenen, die klug waren und sie gut nutzen konnten, genug Leine, und sicherlich würde er Zehnter Sohn mehr Leine geben müssen. Man durfte die Loyalen nicht zu fest binden; ihre Gehorsamkeit gründete sich auf Vertrauen, nicht auf Furcht. Seine Sklaven hatten ihn bisher noch nicht enttäuscht, selbst wenn sie hin und wieder an Rebellion und Freiheit dachten. Er musste nicht mehr sagen oder anders handeln, als er es gerade getan hatte. Sie wussten, welche Konsequenzen es haben würde, wenn sie ihn enttäuschten, und sie wussten, was geschehen würde, wenn seine Herrschaft über Rikin-Fjord endete. Es lag in ihrem Interesse, dass er seine starke Position behielt. 2 »Es ist wirklich unheimlich«, sagte Ingo in dieser Nacht, als sie an der Feuerstelle ihres Lagers saßen. Er hatte den Tonfall eines Mannes, der das Gleiche schon am Tag zuvor gesagt hatte und davon ausging, dass er sich auch am nächsten so äußern würde. »Der Re309 gen ist immer hinter uns, niemals vor uns. Aber immerhin sind meine Füße trocken.« »Es ist diese Wetterhexe«, sagte Folquin spontan. »Sie lässt es nur auf das qumanische Heer regnen.« Seine Kameraden brachten ihn rasch mit ein paar Gesten zum Schweigen; sie blickten sich argwöhnisch um, als
fürchteten sie, der Wind könnte ihre Worte zu der mächtigen Frau tragen, von der Folquin gesprochen hatte. Hanna hatte ihre Hände in dem verzweifelten Versuch, sie zu wärmen, um einen Becher gelegt; der aus Nordwest wehende Wind war zwar trocken, biss und brannte aber dennoch kalt wie Eis. »Pass auf, was du sagst, Folquin. Prinz Bayans Mutter hat einen Blick für gut aussehende junge Männer, besonders, was ihre Sklaventräger betrifft. Sie könnte Gefallen an dir finden, wenn sie erst einmal auf dich aufmerksam geworden ist.« Ingo, Leo und Stephen lachten über diesen Witz, aber Folquin schienen die Worte zu treffen - vielleicht, weil er nicht der Typ war, der von Mädchen umschwärmt wurde. »So, wie Prinz Bayan ein Auge auf dich geworfen hat, Adler?« »Genug jetzt, Jungs«, schalt Ingo. »Es ist wirklich nicht Hannas Schuld, dass die Ungrianer ihre hellen Haare für ein Zeichen des Glücks halten.« »Schon gut«, sagte Hanna rasch, als Folquin Anstalten machte, sich als Entschuldigung vor ihr auf den Boden zu werfen. »Wie auch immer, Prinz Bayan ist ein guter Mann -« »Und zweifellos wäre er ein noch besserer, wenn er seine Hände bei sich behalten könnte«, meinte Folquin mit einem beschwichtigenden Grinsen. »Wenn ein umherschweifender Blick sein schlimmster Fehler ist, dann ist er, so Gott wissen, besser als die meisten von uns«, erwiderte Ingo. »Ich kann nicht klagen, was seine Qualitäten als Anführer in einer Schlacht betrifft. Unsere Köpfe würden längst an den Gürteln der Qumaner hängen, hätte er letzten Monat an dem alten Hügel nicht bewiesen, dass er Nerven wie Stahl hat.« »Wenn Prinz Sanglant uns geführt hätte«, sagte der normaler310 weise wortkarge Leo, »hätten wir gewonnen, oder wir hätten uns gar nicht erst auf eine Schlacht eingelassen, bei der die Vorzeichen so ungünstig waren.« »Oh, Gott, Mann!«, rief Ingo mit dem höhnischen Grinsen eines Soldaten, der doppelt so viele Schlachten erlebt hatte wie sein starrsinniger Kamerad. »Wer hätte schon ahnen können, dass Markgräfin Judith so schnell sterben und ihre gesamte Linie zusammenbrechen würde? Ein Drittel der schweren Reiterei stand unter ihrem Kommando. Wir haben keine Chance gehabt, als ihre Leute das Weite gesucht haben. Prinz Bayan hat aus der Situation noch das Beste gemacht.« »Es hätte viel schlimmer kommen können«, pflichtete ihm auch Stephen bei, aber da er als Novize galt, der erst eine einzige richtige Schlacht erlebt hatte, wurde seine Bemerkung stillschweigend übergangen. Das Feuer knisterte. Die zu Asche verkohlten Zweige fielen zusammen, glommen noch einmal kurz auf, bevor Leo ein anderes Stück Holz ins Feuer legte. Um sie herum brannten und qualmten andere Feuerstellen - den ganzen Wagentross entlang, der sich auf dem Rückzug nach Handelburg befand. Der Anblick so vieler Feuerstellen gab Hanna trotzdem kein wirklich sicheres Gefühl. Sie nippte an dem heißen Apfelwein und wünschte sich, er würde die Kälte vertreiben, die ständig an ihrem Herzen zehrte. Ivar fehlte. Sie hatte ihn nirgendwo gesehen, nicht einmal eine Spur von ihm gefunden. Sie hatte auch niemanden gefunden, der ihn am Tag der Schlacht gesehen hatte, abgesehen von dem verletzten Prinzen Ekkehard. Doch der war so mitgenommen, weil er seinen Liebling Baldwin verloren hatte, dass er sich gar nicht die Mühe machte, darüber nachzudenken, wo und wann er Ivar zum letzten Mal gesehen haben könnte. »Nur Gott können den Ausgang einer Schlacht im Voraus wissen«, sagte sie schließlich mit einem Seufzen. »Es macht keinen Sinn, sich über etwas Sorgen zu machen, das bereits geschehen ist.« 311 »Passiert ist passiert«, sagte Ingo mit einem Lachen, doch er wurde rasch wieder ernst, als er ihren traurigen Gesichtsausdruck sah. »Hier, nimm noch etwas Apfelwein. Du siehst durchgefroren aus, Mädchen. Was gibt es für Neuigkeiten vom Lager des Prinzen?« »Prinzessin Sapientia hat Gefallen an Edelmann Wichman gefunden, der sich inzwischen von seinen Verletzungen erholt, und ihr wisst ja, dass Prinz Bayan ihr bei allem ihren Willen lässt. Aber dieser Wichman und seine edlen Freunde -« Sie zögerte, aber sie konnte an ihren Mienen sehen, dass ihre Bemerkungen hier niemanden entsetzen würden. »Wirklich, ich würde eher mit einem Rudel räudiger Hunde davonrennen. Manchmal glaube ich, die Prinzessin - nun, mögen Gott sie segnen, und ich äußere mich nie mehr dazu. Aber es wäre besser, wenn sie sich um ihren armen Bruder kümmern würde.« »Kann er seinen Speerarm noch immer nicht bewegen?«, fragte Ingo. »Soviel ich weiß, ist die Verletzung so schwer gewesen, dass er ihn wohl nie wieder benutzen können wird. Edelmann Wichman ist unerträglich genau, was das angeht, denn er war es, der Prinz Ekkehard vor dem qumanischen Prinzen gerettet hat, als dieser ihn gerade niedermachen wollte.« »Ich sage euch«, meinte Folquin mit leiser Stimme, »und ich will wirklich nicht schlecht von der Prinzessin sprechen, mögen Gott sie segnen, aber ich frage mich ernsthaft, ob sie weiß, was Prinz Ekkehard an den Abenden hier im Lager treibt... « »Was meinst du denn damit?«, fragte Hanna. Folquin zögerte. »Du solltest es ihr besser sagen«, meinte Ingo. »Es hat in den Reihen der Soldaten bereits ein paar Kämpfe deswegen gegeben, doch Auseinandersetzungen untereinander kann sich ein Heer in unserer Lage eigentlich
kaum leisten.« »Komm mit«, sagte Folquin zögernd. Hanna leerte ihren Becher und reichte ihn Ingo. Die vier Löwen 312 hatten ihr Feuer dort entfacht, wo die Wagen in Hufeisenform aufgebaut waren, um eine Barriere zwischen der Nachhut und den äußeren Wachposten zu bilden. Der Holzkarren gewährte ihnen ein bisschen Schutz vor den geflügelten Reitern, die sie auf ihrem Rückzug nach Norden unaufhörlich belästigten - einem Rückzug, auf dem sie dem erstaunlich schlechten Wetter immer knapp voraus waren. Stets hatten sie den Eindruck, als wäre ein richtiger Regenschauer hinter ihnen, und während Hanna Folquin folgte, konnte sie einen Sturm losbrechen hören. Wind und Regen wühlten den Wald hinter ihnen auf, aber der Regen fiel niemals auf Bayans Heer. Der trockene Boden unter ihren Füßen war hinter ihnen zu Schlamm geworden und behinderte ihre Verfolger so sehr, dass die Hauptstreitmacht des qumanischen Heers sie nicht einholen konnte. Das war die Macht von Prinz Bayans Mutter, einer großen Zauberin von beachtlichen Fähigkeiten und Prinzessin des gefürchteten kerayitischen Volkes. Doch obwohl ihre Magie sehr hilfreich war, hatten sie einen schlimmen Monat erlebt, seit Bayans Heer bei dem uralten Hügel besiegt worden war. Es gab ein Sprichwort bei den Ungrianern: Ein besiegtes Heer ist wie eine sterbende Blume, deren fallende Blütenblätter eine Spur hinterlassen. Jeden Morgen, wenn sie weiterzogen, ließen sie weitere frische Gräber mit Soldaten zurück, die an den Verletzungen der Schlacht gestorben waren. Die Gräber markierten ihren Weg. Nur Prinz Bayans fester Führung hatten sie es zu verdanken, dass alles nicht noch viel schlimmer gekommen war. Aber auch diese Führung hatte nicht genügt, um Ivar zu retten. Die Löwen bildeten die Nachhut, zusammen mit den stärksten Kompanien der übrig gebliebenen leichten Reiterei, die jetzt unter dem Kommando von Markgräfin Judiths zweiter Tochter und ihrer Kampftruppe standen. Edelfrau Bertha war die Einzige von Judiths Befehlshaberinnen aus Austra und Olsatia, deren Truppen einigermaßen ungeschoren davongekommen waren, als die Mark313 gräfin auf dem Schlachtfeld ihren Kopf verloren hatte. Es ging das beliebte und unauslöschbare Gerücht, dass Edelfrau Bertha ihre Mutter so wenig gemocht hatte, dass der Tod der Markgräfin sie eher aufgemuntert als entmutigt hatte. Es war ihr Lager, zu dessen Rand Folquin Hanna jetzt führte. Sechs Feuer brannten hell lodernd; sie waren in einem Kreis errichtet. In ihrer Mitte saß Edelfrau Bertha mit ihren bevorzugten Kameraden und Kameradinnen; sie tranken den restlichen Met, den sie zwei Tage zuvor von einem Salavi-Gut mitgenommen hatten. Gewöhnlich konnte Hanna sie den ganzen Tag über in den vordersten Reihen singen hören, denn sie waren eine äußerst trinkfeste und kräftige Truppe. Heute jedoch saßen sie still wenn auch ruhelos da; Edelfrau Bertha hatte ihnen zu schweigen befohlen, während sie Prinz Ekkehards Worten lauschte. »Er erzählt jede Nacht dieselbe Geschichte«, flüsterte Folquin. Ein Dutzend oder mehr Löwen waren gekommen, um ebenfalls zuzuhören; sie standen so, dass der Rauch, der in südöstliche Richtung davon geweht wurde, sie nicht belästigte. Diejenigen, die am nächsten standen, drehten sich verärgert um und machten ihm klar, dass er still sein sollte, damit sie zuhören konnten. Prinz Ekkehard war ein attraktiver Jüngling noch an der Schwelle vom Jungen zum Mann. Wie er so dastand, den rechten Arm in der Schlinge und die Haare vom kalten Wind zerzaust, war er durchaus eine beeindruckende Erscheinung. Wichtiger noch war, dass er die Stimme eines Barden hatte und so die Fähigkeit besaß, auch die unwahrscheinlichste Geschichte so glaubhaft zu erzählen, dass man fast glaubte, sie selbst erlebt zu haben. Seine Zuhörerschaft lauschte wie gebannt, bis er zum Ende kam. »Der Hügel aus Asche und Kohlen glomm wie eine Schmiede, und sicher war er auch eine Schmiede für Gottes Wunder. Er öffnete sich wie eine Blume in der Morgendämmerung. Aus der Asche erhob sich der Phoenix. Nein, wirklich, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Der Phoenix erhob sich in die Morgendämmerung. Blumen regneten auf uns herab, aber die Blütenblätter 314 verschwanden, sobald" sie den Boden berührt hatten. Ist es nicht ebenso bei jenen, die sich weigern zu glauben? Für sie ist der Blumenpfad mehr Illusion denn Wirklichkeit. Aber ich glaube, denn ich habe den Phoenix gesehen. Ich bin verletzt gewesen und durch ein Wunder vollkommen geheilt worden. Denn seht, als der Phoenix sich erhob, ließ er einen lauten, trompetenden Ruf erschallen, der bis in die Himmel zu hören war, und wir hörten auch, wie er beantwortet wurde. Da begriffen wir, was es war.« »Und was war es?«, fragte Edelfrau Bertha, die so aufmerksam der Geschichte lauschte, dass sie noch keinen Tropfen Met getrunken hatte; dafür hatte sie die peinliche Angewohnheit, an ihrem Schwertgriff entlangzustreichen, als wäre es ihr Geliebter. Ekkehard lächelte süß, und Hanna spürte einen kalten Schauer in ihrem Innern, als sie sah, welche Entschlossenheit in dem Blick lag, den er über seine Zuhörer schweifen ließ. »Es war das Zeichen des heiligen Daisan, der von den Toten auferstanden ist, um für uns alle das Leben zu werden.« Viele der Zuhörer lächelten nervös. »Ivars Ketzerei«, murmelte Hanna.
»Hat die Skopos nicht das gesamte arethusanische Volk und all ihre Vasallen-Staaten exkommuniziert, weil sie an die Erlösung glaubten?«, fragte Edelfrau Bertha. »Meine Mutter, möge sie in Frieden ruhen, hatte einen Arzt, der aus Arethusa kam. Der arme Bursche hatte als Junge im Palast des Kaisers seine Eier verloren, denn Eunuchen waren dort sehr beliebt; hier in Wendar hätte er beinahe seinen Kopf verloren, weil er sich zur arethusanischen Ketzerei bekannt hat. Es ist eine schöne Geschichte, die Ihr da erzählt, Prinz Ekkehard, aber ich mag meinen Kopf sehr und ziehe es vor, wenn ich ihn noch ein bisschen auf meinen Schultern tragen könnte, statt dass er als Zierde eines Pfahls vor dem Bischofspalast in Handelburg dient.« »Zu leugnen, was ich gesehen habe, wäre schlimmer als zu lügen«, sagte Ekkehard. »Und es haben auch nicht nur jene die Wahrheit erkannt, die das Wunder des Phoenix gesehen haben. 315 Andere haben die wahre Botschaft ebenfalls gehört und verstanden, und vielleicht haben sie genug Mut, um aufzustehen und Zeugnis abzulegen.« »Ist das so?« Edelfrau Bertha blickte jetzt sogar noch interessierter drein, als sie ihren Blick über den Kreis ihrer Vertrauten schweifen ließ. Nach einem Augenblick heftete sie ihn auf einen jungen Edelmann namens Dietrich. Hanna erinnerte sich sehr gut daran, wie viel Ärger er bereitet hatte, als sie im vergangenen Sommer von König Henry mit zwei Kohorten Löwen und einer Gruppe von anderen Kämpfern als Verstärkung für Sapientia in den Osten geschickt worden war. Ab einem bestimmten Zeitpunkt hatte er sein Benehmen plötzlich geändert, doch der rätselhafte Umschwung seines Herzens war ihr damals nicht so verblüffend vorgekommen, wie es jetzt der Fall war. Langsam erhob sich Edelmann Dietrich. Für einen ungeschlachten Kämpfer wirkte er seltsam scheu. »Ich habe Gottes Werk auf dieser Erde gesehen«, sagte er zögernd, als würde er seinen eigenen Worten nicht trauen. »Ich bin kein Barde und kann keine schönen Worte machen, damit es hübsch und angenehm klingt. Ich habe die Lehren gehört. Ich weiß tief in meinem Innern, dass es wahr ist, denn ich habe gesehen, wie -« erstaunlicherweise wischte er sich Tränen ekstatischer Freude aus dem Gesicht -»Ich habe Gottes heiliges Licht auf die Erde scheinen sehen. Ich habe mich an dem versündigt, der mein Lehrer geworden ist. Ich bin eine leere Hülle gewesen, nicht viel besser als eine verwesende Leiche. Begierde hatte mein Herz zerfressen, sodass ich gedankenlos von einem Tag zum nächsten lebte. Aber Gottes Licht hat mich wieder erfüllt. Ich hatte schließlich die Wahl, mich für eines der Lager zu entscheiden - für Gott oder den Feind. Da habe ich die Wahrheit über das Opfer und die Erlösung des heiligen Daisan begriffen -« Hanna packte Folquin am Arm und zerrte ihn weg. »Ich habe genug gehört. Das ist gottlose Ketzerei.« Das Licht der vielen Feuerstellen verlieh Folquins Gesicht einen 316 schwer zu deutenden Ausdruck. »Du glaubst nicht, dass es wahr sein könnte ? Wie sonst würdest du einen Phoenix erklären ? Und das Wunder, dass alle ihre Verletzungen geheilt worden sind?« »Ich gebe zu, dass etwas passiert ist, das Edelmann Dietrich verändert hat, denn ich erinnere mich noch gut daran, wie sehr ihr Löwen bei dem Marsch nach Osten im letzten Sommer über ihn geklagt habt. Ist es dieses Gerede, über das die Leute sich streiten?« »Ja. Einige kommen jeden Abend, um Prinz Ekkehard zu hören. Er predigt für alle, ob sie nun Hochgeborene oder Gewöhnliche sind. Andere sagen, er würde mit der Stimme des Feindes sprechen. Glaubst du das auch, Adler?« »Ich habe so viele seltsame Dinge gesehen -« Das Hörn erklang, wie jede Nacht. Die Wachen stießen Warnrufe aus. Ekkehards Zuhörerschaft löste sich auf, Soldaten griffen nach den Waffen, die neben ihnen bereit lagen. Jenseits der Wagenlinie lösten sich geflügelte Reiter aus dem Sturm und preschten auf die Nachhut zu, aber lediglich ein paar durchnässte Pfeile fanden den Weg ins Lager, ohne dabei irgendwelchen Schaden anzurichten, und dann konnten Edelmann Dietrich und seine Reiterei sie auch schon mit Speeren und einem Hagel surrender Pfeile in die Flucht schlagen. Als Prinz Bayan von der Vorhut herankam, um nachzusehen, was los war, hatte sich schon wieder alles beruhigt, bis auf den ständigen Wind und den niederprasselnden Regen im Südosten. Er ritt mit einem kleinen Kontingent seiner persönlichen Leibgarde, einem Dutzend ungrianischer Reiter, deren einst leuchtende Kleidung jetzt schmutzverschmiert war. Fußsoldaten beleuchteten ihnen den Weg mit Fackeln. Bayan hatte die Angewohnheit, auch unter solchen Umständen verhältnismäßig sauber zu bleiben - im Fackellicht konnte Hanna das intensive Blau seiner Tunika sehen -, und der Kontrast verlieh ihm etwas noch Beeindruckenderes; er war ein kräftiger intelligenter Mann im besten Alter, dem anscheinend kein Missgeschick etwas anhaben konnte. »Heute waren es weniger Angreifer«, sagte Edelfrau Bertha und 317 reichte ihm einen Pfeil, nachdem er abgestiegen war. »Möglicherweise sind sie so weit zurückgefallen, dass sie es aufgegeben haben, uns noch erwischen zu wollen. Oder aber sie wollen, dass wir selbstgefällig werden und uns sicher fühlen, damit sie uns überraschen und sich mit aller Macht auf uns stürzen können.« Prinz Bayan drehte den Pfeil in seinen Händen und betrachtete die nasse Befiederung. »Vielleicht«, sagte er skeptisch. »Mir gefallen diese Angriffe nicht, die jeden Abend zur gleichen Zeit stattfinden.« Edelfrau Bertha hatte den kräftigen Körperbau und die o-beinige Haltung einer Frau, die die meiste Zeit ihres Lebens in einer Rüstung auf einem Pferd verbracht hatte. Es war kein Wunder, dass sie frühzeitig gealtert war,
schließlich war sie durch die harte Schule der Grenzlande gegangen, wo Kämpfe an der Tagesordnung waren. »Ich habe drei Kundschafter zurückgeschickt, um herauszufinden, ob Bulkezus Heer uns noch immer folgt, aber keiner von ihnen ist zurückgekehrt.« Bayan nickte und zwirbelte die Enden seines langen Schnurrbarts. »Wir müssen nach Handelburg gehen. Wir müssen uns ausruhen, unsere Waffen und Ausrüstung reparieren, Essen und Wein beschaffen. Wenn wir sichere, feste Wände um uns herum haben, können wir einige Zeit ausharren, bis -« Er drehte sich zu seinem Übersetzer Breschius um, einem Geistlichen mittleren Alters, dem die rechte Hand fehlte. »Wie heißt dieses Wort? Bis weitere Truppen kommen.« »Verstärkung, mein Prinz.« »Ja! Verstärkung.« Er hatte Schwierigkeiten, das Wort auszusprechen, und grinste über seine Bemühungen. Edelfrau Bertha lächelte nicht. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die oft lachten, wenn sie es denn überhaupt jemals taten. »Sofern wir überhaupt eine Botschaft aus Handelburg herausschaffen können. Bulkezu hat uns vielleicht im Schutz dieses Sturms mit seinem Heer umzingelt.« »Nicht einmal ein qumanisches Heer kann an allen Orten zur 318 gleichen Zeit sein«, erwiderte Bayan. In diesem Augenblick fiel sein Blick auf Hanna; sie stand in der Menge, die sich versammelt hatte, um ihre Befehlshaber zu beobachten. »Schneefrau!« Sein Gesicht hellte sich mit einem kühnen Lächeln auf: »Hier verbirgt sich deine Helligkeit. Es ist so dunkel geworden an meinem Feuer!« Hanna spürte, wie ihr Gesicht vor Scham heiß wurde, aber glücklicherweise wurde Bayan von Bruder Breschius abgelenkt, der sich vorbeugte, um mit leiser Stimme mit dem Prinzen zu sprechen. »Ekkehard?«, rief Prinz Bayan; er wirkte verblüfft. Hannas Blick schweifte über den Ring aus Feuerstellen, aber Prinz Ekkehard war verschwunden. Sie packte Folquin am Ärmel und glitt davon, begierig darauf, aus Prinz Bayans Sichtweite zu kommen. Sie hatte mehr als einmal Sapientias Wut aushalten müssen; ohne Notwendigkeit wollte sie das nicht noch öfter erleiden müssen. Da sie von Sapientia die Erlaubnis bekommen hatte, weiterhin nach Informationen über Ivar zu suchen, konnte sie sich in den letzten Tagen des Marsches im Hintergrund halten, bis sie die Grenzfestung und Stadt Handelburg erreichten. Als sie die östlichen Hänge hinab in das Tal der Vitadi marschierten, konnte sie die von einer Mauer umgebene Stadt sehen, die auf drei durch Brücken miteinander verbundenen Inseln lag, zwischen denen die Arme der Vitadi dahinströmten. Im Westen lag die Mark der Villams, die sich bis zur Odar erstreckte. Im Osten breitete sich jenseits des spärlich bewohnten Grenzlandes die lockere Konföderation der halbzivilisierten Stämme aus, die man als Königreich von Polenie kannte. Die Flagge der Bischöfin flatterte vom hohen Turm und verkündete, dass sie trotz des drohenden Angriffs der Qumaner in ihrer Stadt geblieben war. Alle Tore waren jetzt verschlossen, und die wenigen Schuppen entlang der Flussufer - die Heime der Fischer und armen Arbeiter - waren leer, jedes Möbelstückes be319 raubt. Selbst das ungewöhnlichste Teil konnte in einer belagerten Stadt noch als Brennholz dienen. Die Felder waren abgeerntet und die Flussbänke von jeglichem Pflänzchen, das sich als Futter oder zum Herstellen von Betten eignen mochte, befreit: Ried, Stroh, Gras alles war als Vorbereitung auf einen Angriff der Qumaner abgerissen worden. Die Landschaft rund um Handelburg sah so aus, als hätte sich ein Schwärm Heuschrecken über sie hergemacht, sich ordentlich satt gefressen und dann das Gebiet wieder verlassen. Ein Bote kam von der Vorhut: Der Adler musste vorne reiten, da er das Ohr des Königs repräsentierte. Mit einigem Zögern verließ Hanna ihre lieb gewonnenen Kameraden und ritt nach vorne, um so unauffällig wie möglich ihren Platz neben Bruder Breschius einzunehmen. »Bleibt in meiner Nähe«, sagte er leise. »Ich tue mein Bestes, sie von Euch fern zu halten.« »Ich danke Euch, Freund.« Die Tore wurden geöffnet, und sie ritten in die Stadt. Die Stadtbewohner begrüßten Bayan und Sapientia und ihr Heer mit großem Jubel, doch Hanna bemerkte, dass die Straßen ansonsten nicht sehr bevölkert waren. Sie fragte sich, wie viele wohl nach Westen zur Mark der Villams geflohen waren. Bischöfin Alberada erwartete sie in der ganzen Pracht ihrer Amtsgewänder auf den Stufen zu ihrem bischöflichen Palast; sie trug einen Goldreif um den Hals, der ihre königliche Abstammung kennzeichnete. Eine Reihe von Edelfrauen und Edelmännern war bei ihr, darunter auch ein schneidiger Mann, der die Schirmmütze trug, die bei den Polensern üblich war. Die Bischöfin wartete, bis Prinzessin Sapientia abgestiegen war, dann kam sie die Stufen herunter, um sie und Prinz Ekkehard zu begrüßen. Mit solch genau festgelegten Begrüßungszeremonien kennzeichneten die Edelleute untereinander ihren Rang und ihr Gebiet. Wäre König Henry in Handelburg eingetroffen, hätte die Bischöfin ihn auf der Straße vor der Stadt willkommen geheißen. Hätte Markgraf 320 Villam ihr seine Hochachtung gezollt, wäre Alberada im Innern des Hauses geblieben, und er hätte zu ihr gehen müssen. Sapientia und Ekkehard küssten der Bischöfin die Hand, wie es ihrer heiligen Stellung angemessen war, und sie küsste ihr die Wangen als Zeichen der Verwandtschaft, die sie verband. Es war nicht leicht, eine Ähnlichkeit zwischen ihnen festzustellen. Alberada war älter als Henry, hatte bereits den Winter ihres Lebens betreten. In
dem Jahr, seit sie der Hochzeit von Sapientia und Bayan beigewohnt hatte, war sie sichtlich gealtert. Ihre Haare waren schlohweiß geworden. Ihre Schultern beugten sich unter dem Gewicht ihrer bischöflichen Gewänder. Sie wandte sich von ihrer Nichte ab und begrüßte Bayan sowie die anderen Edelleute, deren Rang ihre Aufmerksamkeit rechtfertigte. Hanna hätte nicht sagen können, ob sie die Absicht hatte, Bayans Mutter, die in ihrem Wagen verborgen war, zu begrüßen oder zu ignorieren, doch der Wagen wurde ohnehin nach einer kurzen, wortlosen Verständigung davon- und zum Gästeflügel gezogen. Falls Bischöfin Alberada diese Beleidigung bemerkte, ließ sie sich das jedenfalls nicht anmerken. »Kommt, gehen wir aus der Kälte. Ich wünschte, ich hätte bessere Neuigkeiten zur Begrüßung, aber wir bekommen von allen Seiten Ärger.« »Was sind das für Neuigkeiten?«, fragte Sapientia neugierig. Der lange Marsch hatte die Prinzessin sogar noch hübscher gemacht; was ihr an Weisheit mangelte, glich sie durch Leidenschaft und ein gewisses Leuchten in ihrem Gesicht wieder aus, sobald sie sich für irgendetwas interessierte. »Qumanische Heere haben die polensischen Städte Mimik und Girdst überfallen. Girdst ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden. Sowohl die königliche Festung als auch die neue Kirche sind zerstört worden.« »Das sind bittere Nachrichten!«, rief Edelfrau Bertha aus, die links von Sapientia stand. »Und es kommt noch schlimmer.« Es begann zu regnen; es war 321 ein feiner nebliger Nieselregen, der durch den schneidenden Wind noch kälter wurde. »Der polensische König ist tot, seine Frau, Königin Sfildi, ist eine Gefangene der Qumaner, und sein Bruder Prinz Woloklas hat Frieden mit den Qumanern geschlossen, um sein eigenes Leben und seine Ländereien zu retten. Das alles wissen wir von Herzog Boleslas -«, sie deutete auf den Edelmann, der am oberen Ende der Stufen stand, »- der mit seiner Familie in meinem Palast Schutz gesucht hat.« »Wer regiert jetzt das polensische Volk, wenn ihr König tot ist?«, fragte Bayan. Es war offensichtlich, dass Herzog Boleslas nicht genug Wendisch sprach, um eine Antwort geben zu können, denn Alberada antwortete für ihn. »König Sfiatslevs einziges überlebendes Kind ist eine Tochter, die nach Osten zu den heidnischen Starviki geflohen ist, um dort Hilfe zu erbitten. Soll ich fortfahren?« Bayan lachte. »Nur, wenn ich etwas Wein bekomme, um diese Neuigkeiten besser hinunterschlucken zu können. Wir haben seit einem Monat keinen Wein mehr gehabt.« »Gehen wir in die Halle!«, rief die Bischöfin; diese Aussage schien ihr mehr Entsetzen zu bereiten als die polensische Niederlage. Vielleicht wollte sie auch einfach nur aus dem Regen kommen, der mittlerweile in Strömen auf sie herabprasselte. Die Bediensteten eilten voraus, um ihre Vorbereitungen zu beenden. »Natürlich gibt es Wein.« »Dann fürchte ich mich nicht davor, Eure Nachrichten zu hören. Solange es noch Wein zu trinken gibt, ist der Krieg noch nicht verloren.« Bischöfin Alberada hatte ein Fest vorbereiten lassen, das ihrem Status als unehelichem Kind der Königsfamilie entsprach. Sie war mit der polensischen Königsfamilie verwandt und hatte dreißig Jahre zuvor die Erlaubnis bekommen, das Bistum Handelburg zu gründen; damals war sie noch eine sehr junge Frau gewesen, die erst kurz zuvor zur Kirche gekommen war. Eine von König Sfiatslevs Tanten war während der Kriege zwischen Wendar und Pole322 nie fünfzig Jahre zuvor gefangen genommen worden, und diese junge Edelfrau hatte man dem Jüngling Arnulf dem Jüngeren als erste Konkubine gegeben - eine königliche Mätresse, die seine jugendliche Lust stillen sollte, während er auf seine Verlobte Berengaria von Varre wartete, die das heiratsfähige Alter noch nicht erreicht hatte. In den vergangenen dreißig Jahren hatte Alberada die stetig wachsende befestigte Stadt Handelburg beaufsichtigt, und die edlen Familien von Polenie waren alle in richtiger, geordneter Weise zum daisanitischen Glauben übergetreten. Während Wein ausgeschenkt wurde und man den ersten Gang brachte, erinnerte die Bischöfin sie an ihre erfolgreichen Bemühungen der Bekehrung. »Deshalb habe ich Angst um Sfiatslevs Tochter, Prinzessin Rinka, denn die Starviki haben sehr störrisch an ihrer alten heidnischen Lebensweise festgehalten. Was ist, wenn sie sie zwingen, einen ihrer Prinzen zu heiraten? Sie könnte abtrünnig werden, oder noch schlimmer, sie könnte den Arethusanern in die Hände fallen, denn die Starviki sind dafür bekannt, dass sie mit den Arethusanern Felle und Sklaven gegen Goldnomias tauschen. Was gibt es für Neuigkeiten von König Henry, Sapientia? Ich hoffe, wir dürfen ihn schon bald hier im Osten erwarten, denn wir benötigen ihn sehr dringend.« Sapientia warf Hanna einen Blick zu, die zusammen mit dem Dienstpersonal etwas weiter hinten stand. »Dieser Adler hier hat die neuesten Nachrichten überbracht«, sagte sie in einem Ton, der nahe legte, dass der Inhalt der Nachricht, so schlecht er auch sein mochte, von Hanna zu verantworten war. »König Henry hat vor, nach Süden, nach Aosta zu reiten. Er hat ein kleines Kontingent von zweihundert Löwen und nicht mehr als fünfzig Reiter geschickt, obwohl ich ihm eindringlich habe ausrichten lassen, wie verzweifelt unsere Situation hier ist.« »Er strebt nach der Kaiserkrone«, sagte Alberada. »Ich frage mich, was die Kaiserkrone noch wert ist, wenn der Osten brennt«, sinnierte Bayan. »In diesen Zeiten gibt es mehr als nur einen Unruheherd.« Al-
323 berada gab ihrem Verwalter ein Zeichen, und die Becher am Tisch wurden nachgefüllt. »Die Kaiserkrone mag einem Land, das von den Einflüsterungen des Feindes heimgesucht wird, durchaus Stabilität und Ordnung bringen. Diese Raubzüge der Qumaner sind Gottes Urteil, die Antwort auf unsere Sünden. Täglich bringen mir meine Geistlichen mehr Geschichten aus der Grube der Korruption, in die wir gefallen sind -« Nachdem sie so viele Tage auf spärliche Rationen angewiesen gewesen waren, freute sich Hanna aufrichtig, zum Aufwarten eingeteilt worden zu sein, da es bedeutete, die Reste auf den Platten essen zu können. Einem Eintopf aus Aal folgten ein gebratener Schwan, verschiedene Sorten Fleisch und eine würzige Wildfleisch-Wurst. Obwohl die Bischöfin sich soeben ausführlich über die Sünde ausgelassen hatte, aßen die Edelleute mit sichtlicher Freude, und gewiss würde noch genug für die Bediensteten und die Hunde übrig bleiben. Prinz Bayan hatte die Unterhaltung schlau auf das Thema gelenkt, das ihn am meisten interessierte: der Krieg. »Wir müssen den Winter hier verbringen.« »Sicher wird der Winter den qumanischen Raubzügen ein Ende bereiten.« Ohne ihre Waffen und die schweren Reisegewänder wirkte Sapientia viel kleiner. Doch wenn sie auch nicht so groß oder breit in den Schultern war wie ihr Vater, hatte das monatelange Reiten ihr doch eine gewisse Stärke verliehen, die sie vor der Heirat nicht gehabt hatte. Bayan lachte. »Ist meine Löwenkönigin den Krieg leid?« »Bestimmt nicht!« Sapientia hatte die Angewohnheit, sich zu brüsten, wenn Bayan ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Sie konnte niemals genug von seinem Lob bekommen, und der Prinz hatte ein Gespür dafür, wann er seiner Frau schmeicheln musste. »Aber niemand kämpft im Winter.« »Das stimmt nicht, Eure Hoheit«, sagte Breschius so weich, als hätten er und Bayan den Wortwechsel eingeübt, »die Qumaner sind bekannt dafür, dass sie auch während des Winters angreifen, 324 wenn das Eis die Straßen trocknen lässt und Pfade aus den Bächen und Flüssen macht. Schnee hält sie nicht auf. Nichts außer fließendem Wasser hält sie auf. Doch selbst dafür haben sie ihre Gefangenen in ihrem Heer, ehemalige Baumeister, die Brücken für sie bauen und ihnen zeigen, wie man Furten und Fähren benutzt.« »Ich habe alles für eine Belagerung vorbereiten lassen«, sagte Alberada. »Aber eine Belagerung kann in vielerlei Gestalt daherkommen«, fügte sie missbilligend hinzu. Am anderen Ende des Tisches saß Edelmann Wichman und trank kräftig mit seinen Kameraden. Er hatte einen Platz neben Edelmann Dietrich bekommen, doch er kam weder mit kruden Witzen noch mit kruderen Anmaßungen an ihn heran; Dietrich machte einfach nicht mit, und er verlor auch nicht die Geduld. Da Wichman das Scharmützel verloren hatte, machte er sich daran, jede Dienerin zu belästigen, die in seine Reichweite kam. »Wenn euer Heer hier überwintert, Prinz Bayan, brauche ich Garantien, dass die Männer nicht das Leben meiner Stadtbewohner und Bediensteten durcheinander bringen.« »Es ist auch mein Heer!«, sagte Sapientia. »Ich gestatte keine Unverschämtheiten oder Unruhestifter.« »Natürlich nicht, Nichte«, erklärte Alberada mit solch beschwichtigend ruhiger Miene, dass Hanna wusste, sie würde weiter an Sapientia vorbeireden; wie alle anderen wusste sie, wer dieses Heer wirklich befehligte. »Ich erwarte von dir, dafür zu sorgen, dass die wendischen Streitkräfte sich benehmen, genauso, wie ich von Prinz Bayan erwarte, dass er für Ruhe unter seinen ungrianischen Landsleuten sorgt.« Bayan lachte. »Meine ungrianischen Brüder verursachen keinen Ärger, sonst lasse ich ihnen ihre Schwerter kürzen, auf meinen eigenhändigen Befehl hin.« »Ich billige solche Barbarei nicht«, sagte Alberada spröde, »aber ich hoffe, dass Eure Soldaten den Frieden eher halten als brechen.« Die Verwalter reichten ein wohlschmeckendes Gericht aus gekochten und gewürzten Birnen mit Fenchel, Galgant-Wurzel und Lakritze herum, als Verdauungshilfe für die Edelleute, die inzwi325 sehen ziemlich voll gestopft und übersättigt waren. Trotzdem zog sich das Fest noch weit in die Nacht hinein. Ein polensischer Barde aus Herzog Boleslas' Gefolge sang, und er hatte eine solch ausdrucksstarke Stimme und so viel Dramatik in seinen Gesten, dass die ganze Halle hingerissen dasaß und lauschte, wenngleich er in einer unverständlichen Sprache sang. Hannas Augen brannten von dem Rauch in der Halle. Sie war so lange draußen in frischer Luft marschiert, dass sie ganz vergessen hatte, wie dick die Luft in geschlossenen Räumen war, selbst in einer Halle, die so geräumig war wie die im Palast der Bischöfin. Trotz des Rangs und des Reichtums der Bischöfin war ihr Palast nicht so reich geschmückt, wie es bei den älteren Palästen Wendars üblich war. Diese Halle war erst zehn Jahre zuvor fertig gestellt worden und sah noch immer irgendwie unfertig aus, als wäre ihr Holz noch nicht von tausend Händen und Füßen abgenutzt worden und hätte noch nicht den Glanz des Alters. Die Säulen in der Halle starrten sie verdrossen an; sie waren den Gestalten mürrischer Heiliger nachempfunden, die zweifellos das Feiern und den Gesang missbilligten - die mit den Füßen stampfenden, grölenden Männer, die unter den Tischen nach Resten schnappenden Hunde, die Dienerinnen, die den Wein in Strömen ausschenkten und gleichzeitig neckenden Fingern auswichen. In der Tat verhielten sich Bayans Ungrianer besser als ihre wendischen Kameraden; vielleicht war Bayans witzig gemeinte Drohung gar kein Witz gewesen. Erst spät zogen sich die Edelleute zu ihren Schlafstätten zurück, während Bedienstete wie Hanna sich auf die
Suche nach einer geeigneten Pritsche machten. In einer so großen Halle waren viele Schlafstellen unter die Dachvorsprünge eingebaut, und als Sapientia keinerlei Geste machte, um Hanna zu sich in die Kammer zu rufen, in der sie etwas abgeschirmter schlief, fand Hanna ein gemütliches Plätzchen bei den Dienerinnen. Sie lagen eng beieinander, ein warmes Nest von halb nackten Frauen, die sich mit Fellen zugedeckt hatten und in der Dunkelheit tratschten. »Die Ungrianer stinken. Ich habe es dir gesagt.« 326 »Nicht mehr als drei wendischen Soldaten. Oh, Gott, hast du gesehen, wie sich die arme Doda die ganze Zeit vor Edelmann Wichman in Acht nehmen musste? Er ist ein Tier.« »Er ist der Sohn einer Herzogin. Ich nehme an, er kriegt, was er will.« Nervöses Gekicher folgte diesem Ausspruch. Eine Frau veränderte ihre Position. Eine andere seufzte. »Nicht im Palast der Bischöfin, Freundin«, erwiderte eine andere Stimme. »Bischöfin Alberada ist streng, aber gerecht, und so etwas gibt es in ihrer Halle nicht. Und jetzt seid bitte still, damit ich schlafen kann!« Aber sie waren nicht alle still. Hanna fiel in einen Schlummer, eingelullt von ihrem Geflüster und der seltsamen Art, wie sie die »P«s und die »T«s zischten, genauso, wie die Leute es in dem einsamen Dorf östlich von Machteburg getan hatten, wo eine qumanische Bande sie überfallen hatte. Dort hatte sie Ivar wieder gesehen, der sich so sehr von dem impulsiven, gutmütigen Jungen wegentwickelt hatte, mit dem sie aufgewachsen war. Er hatte das Wunder des Phoenix gesehen. War es wirklich möglich, dass die Geschichte wahr war? Hatten Gott ein Wunder des Heilens vollbracht und Ivar und seinen Kameraden und Prinz Ekkehard eine Vision der Wahrheit gegeben? Sie drehte den schweren Smaragdring herum, den König Henry ihr gegeben hatte. Hier, neben den anderen Frauen, fühlte sie sich warm und auch sicher, aber ihr Herz blieb rastlos. Sie kannte ihre Pflicht. Sie war zuallererst Henrys Dienerin, seine Botin, sein Adler, hatte sich zum Dienst ihm gegenüber verpflichtet, unabhängig davon, welcher Kirchendoktrin er anhing, ohne die Autorität derer in Frage zu stellen, die er als die rechtmäßigen Führer der Kirche anerkannte. Doch was war mit den Göttern ihrer Großmütter? Hatten sie nicht ihre Anhänger gerecht behandelt und ihnen gute Ernten beschert, auch wenn sie sich manchmal abgewendet und schlechte Zeiten gebracht hatten? Was war mit den vielen, die nicht im Kreis des Lichts lebten, sondern außerhalb ? Waren sie alle dazu verdammt, endlos in den Abgrund zu stürzen, weil sie ei327 nenn anderen Glauben anhingen? Wie würde Bruder Breschius, der den Zorn einer kerayitischen Königin überlebt hatte, eine solche Frage beantworten ? Sie sank in einen tiefen Schlaf und träumte. So leise wie eine Seuche kommt einer der Sklaven von Prinz Bayans Mutter in die Halle. Seine Haut ist so schwarz, dass sie ihn in der Düsternis der Halle kaum sehen kann; lediglich die glühenden Kohlen von zwei Herdfeuern, bewacht von dösenden Dienerinnen, spenden ein bisschen Licht. Doch er kann sehen, wo sie liegt, halb verborgen bei den anderen Frauen. Er winkt. Sie wagt nicht, sich seinem Ruf zu widersetzen, so wenig, wie sie sich jemals dem Willen des Königs widersetzt hätte. Sie weiß, wann sie jemandem mit Macht gegenübersteht. Sie erhebt sich, zieht die Wolltunika über ihr Unterhemd und trottet hinter dem Sklaven her. Er geht die mit Holztäfelungen versehenen Korridore des Palastes entlang, ohne eine Fackel zu benutzen, und doch verirrt er sich nie. Die groben Holzplanken schürfen ihre Sohlen auf, und einmal holt sie sich einen Splitter und muss stehen bleiben; sie zuckt zusammen und hält mühsam den Atem an, damit sie nicht die Soldaten aufweckt, die zu beiden Seiten des Korridors schlafen. Der Sklave bückt sich und nimmt ihren Fuß in seine warmen Hände, während sie sich an seiner Schulter festhält, sich die ganze Zeit über seines starken Körpers und des gleichmäßigen Atmens der schlafenden Soldaten um sich herum bewusst. Er untersucht den Fuß, greift zu und zieht den Splitter heraus. Sie will ihm danken, aber sie wagt es nicht laut zu sprechen, und vielleicht versteht er ihre Sprache auch gar nicht. Sie gehen weiter, und das Schweigen hängt schwer wie ein Nebel in der Luft. Schließlich öffnet er die Für und führt sie zu einer Kammer, die voller Seidenvorhänge ist- so viele, dass sie sich ihren Weg mühsam hindurchbahnen muss, bis sie schließlich alle hinter sich gelassen hat und in der Mitte des Zimmers steht. Es ist kalt hier. Es brennt kein Feuer in der leeren Herdstelle. 328 Der Wespenstich in ihrem Herzen brennt, als sie die verschleierte Gestalt anblickt, die Prinz Bayans Mutter ist. Die Stimme der Frau ist rau vom Alter, und vielleicht auch von der Erschöpfung, die das wochenlange Wirken von Wettermagie mit sich bringen muss. »Wohin gehst du?« Hanna glaubt nicht, dass sie etwas so Banales meinen kann, auf das eine gewöhnliche Antwort wie »zum Abort«, »nach Westen zum König«, »nach Hause« genügt. »Ich weiß es nicht«, antwortet sie wahrheitsgemäß. Die Kälte beißt an ihren Händen, bereitet ihr Schmerzen, und auch ihr Fuß tut weh, wo der Splitter in die Haut eingedrungen ist. »Keine Frau kann zwei Königinnen dienen, genauso, wie kein Mann zwei Herren dienen kann«, bemerkt die alte Frau. Eine ihrer alten rot bemalten Zofen eilt aus dem Schatten herbei, ein Tablett in den Händen. Darauf steht ein einzelner Keramikbecher, der mit solcher Fertigkeit geschaffen wurde, dass sein Rand dünn wie ein Blatt ist. Dampf steigt sanft von ihm auf. »Trink«, sagt die krächzende Stimme.
Der würzige Geruch brennt auf Hannas Lippen und in ihrer Kehle. Als sie die Flüssigkeit hinunterschluckt und den Kopf in den Nacken legt, sieht sie eine Szene, die im Boden des Bechers eingraviert ist: eine Zentaurin, die ein Menschenbaby an ihrer Brust säugt. »Am Ende«, fährt Bayans Mutter fort, »wirst du dich entscheiden müssen.« Vorsichtig lässt Hanna den Becher wieder sinken. Bayans Mutter sitzt ernst in einem Sessel; ihre knorrigen, faltigen Hände, die vom Alter ganz fleckig, aber ansonsten noch immer geschmeidig sind, ruhen in ihrem Schoß. Der Schleier verbirgt ihr Gesicht. Die Zofe wartet geduldig wie eine Statue mit dem Tablett in der Hand. Hanna sieht den Sklaven nicht mehr, der sie hergebracht hat. Sie sind allein, abgesehen von einem grüngoldenen Vogel, der in einem Käfig auf einer Stange sitzt und Hanna wachsam anstarrt, während sie den Becher zurück auf das Tablett stellt. Er hebt ei329 nen Fuß, stellt ihn zurück, dann hebt er den anderen in einem vorzüglichen, wenn auch leicht ängstlichen Tanz, und wartet auf ihre Antwort. Die Zofe zieht sich hinter die Vorhänge zurück, die rauschen, schwanken und dann wieder still herunterhängen. Das einzige Licht in der Kammer stammt von einer Lampe. Schatten huschen über die Wände, verändern sich, als hätten sie die Bewegung unsichtbarer Geister gesehen. »Es gibt nichts, zwischen dem ich mich entscheiden müsste«, sagt Hanna. Sie fühlt sich ein bisschen benommen. »Ich bin König Henrys Adler.« »Und Sorgatanis Glück.« Die Worte wirken wie ein schlechtes Omen. Hanna zittert. »Sorgatani hat vor vielen fahren gelebt. Sie ist tot.« Sie reibt sich nervös die Hände, erinnert sich daran, dass Bruder Breschius eine Hand verloren hat, als die kerayitische Prinzessin, die er geliebt hatte und der er als Sklave gedient hatte, gestorben ist. »Seelen sterben nie«, schimpft die alte Frau. »Ich hatte eine Cousine, die mir zweimal genommen wurde und jetzt tot ist. Das mag die Frau sein, von der du zu sprechen glaubst, diejenige, die den wendischen Priester als ihr Pura gewählt hat. Aber ein Name ist wie ein Schleier, er kann ab- oder angelegt werden. Er kann wieder benutzt werden. Du bist Sorgatanis Glück, denn so heißt meine Nichte. Am Ende wirst du dich entscheiden müssen.« Die Vorhänge bewegen sich, als würde ein Wind durch sie hindurchstreifen. In den schimmernden Tiefen glaubt sie, möglicherweise bis zu dem Land sehen zu können, wo die Kerayiten umherstreifen und im Gras leben, das so hoch ist, dass ein Mann auf einem Pferderücken nicht darüber hinwegsehen kann. Hier, in ihren Träumen, hat sie Greifen gesehen. Hier, in einer Ferne, die von dem Morgennebel, der dem feuchten Boden entströmt, ganz dunstig ist, sieht sie das Lager des Bwrvolkes, des gefürchteten Zentauren-Volkes. Helle Zelte biegen sich im Wind, Falltüren bauschen sich auf und fallen ins Innere, als wären sie selbst lebendi330 ge Kreaturen. Sie atmet den Geruch von geschmolzenem Metall im Wind. Ein Adler treibt träge über dem Lager, stürzt sich dann hinunter, gerät außer Sichtweite. Eine junge Frau wandert am Rand dieses Lagers entlang; sie ist in ein goldfarbenes Gewand gekleidet, das aus Sonnenlicht zu bestehen scheint. Über die Entfernung hinweg spricht Sorgatani. »Komm zu mir, Glück. Du bist in Gefahr.« Vielleicht könnte Hanna durch den Seidenvorhang treten und sich selbst in dem fernen Land wieder finden, in der Wildnis, an dem dunstigen Morgen. Aber sie rührt sich nicht. Sie spricht. »Ich habe dein Pura noch nicht gefunden. Ich habe keinen gut aussehenden Mann, den ich dir bringen kann.« Die Sonne erstrahlt über dem Nebel, steigt höher, und ihr Glanz blitzt in Hannas Augen auf. »Liath«, schreit sie. Sie hält es für unmöglich, dass sie Liath oben in der schillernden Luftsehen kann, in dem leuchtenden Farbenspiel, das wie Seide glitzert, als sie bei dem Versuch, nach Liath zu greifen, ihre Hände durch die Vorhänge stößt. Doch sie findet nur den Sklaven, der still neben einer geöffneten Tür gestanden hat. Er deutet auf die Tür und den mit schlafenden Soldaten gefüllten Korridor. Mit einer dunklen Vorahnung in ihrem Herzen, als hätte sie sich taub gegenüber einem Aufruf gestellt, den sie eigentlich hätte hören sollen, folgt sie ihm zurück in die Halle Hanna erwachte abrupt, als eine Hand nach ihr griff und sie unsanft berührte. Sie roch den Gestank des sauren Atems auf ihrer Wange und spürte das Gewicht eines Mannes auf sich. Sie trat hart und zielgenau zu. Mit einem wütenden Fluch taumelte die schattenhafte Gestalt, die sie belästigt hatte, zurück und prallte gegen eine andere Gestalt, die ebenfalls zu ihrer Schlafstelle gekommen war. Frauen schrien auf und fluchten. Die Felle zuckten, als plötzlich alle Frauen aufwachten. Eine von ihnen, die am Rand der Plattform geschlafen hatte, stieß erstickte Schreie aus, während sie gegen einen kräftigen Mann kämpfte, der sich auf sie gelegt hatte. 331 Verwalter und Bedienstete erschienen, einige hatten Fackeln mitgebracht. Das laute Schlurfen von unzähligen Füßen war zu hören. Ein paar Männer gingen zu Boden, bevor Prinz Bayan brüllend hereinkam; er war wütend, weil er aus dem Schlaf gerissen worden war. Ein paar ungrianische Soldaten, Männer, die ihn Tag und Nacht bewachten, drängten sich mit fröhlichen Flüchen in das Gewühl. Als die Bischöfin eintraf, von Verwaltern mit hübschen Keramiklampen in den Händen flankiert, war der Kampfplatz bereits abgesteckt: Die Dienerinnen kauerten auf der Pritsche und posaunten ihre Anklagen so laut heraus, dass Hanna schon glaubte, taub zu werden. Die Verwalter und Bediensteten standen ein wenig abseits und lecken ihre Wunden, während Edelmann
Wichman und sein Haufen räudiger Hunde - ein Dutzend narbenübersäter, großspuriger und ungestümer junger Edelmänner - trotzig am schwelenden Herdfeuer standen. »Wieso bin ich gestört worden?« Alberada hielt eine Lampe in Gestalt eines Greifen vor sich, an dessen Zunge die Flammen leckten. In diesem Augenblick - so wütend und doch voller Würde -sah sie ganz und gar nicht wie eine Frau aus, die man vielleicht nicht ernst nehmen musste. »Ihr besitzt tatsächlich die Frechheit, in meiner eigenen Halle meine Dienerinnen zu vergewaltigen, Wichman? Ist dies die Art, wie Ihr mir meine Gastfreundschaft zurückzahlt?« »Ich habe seit Tagen keine Frau mehr gehabt! Diese Frauen waren willig genug!« Wichman deutete wie beiläufig auf die Schlafstellen, und einen Augenblick wirkte einer seiner Kameraden, als wolle er einen erneuten Versuch starten. »Wir können uns nicht alle mit Schafen zufrieden geben, wie Eddo es tut.« Seine Kameraden kicherten. »Außerdem sind es doch nur Gewöhnliche. Wir werden Eure Geistlichen schon nicht anrühren.« Die Worte riefen neues Gelächter hervor. »Ihr seid noch immer betrunken und habt den Verstand eines Tieres.« Alberadas bissiger Tadel traf auf unsensible Ohren. Einer von Wichmans Kameraden kratzte sich tatsächlich am Schwanz, 332 vollkommen überwältigt von seiner Lust. Beim Anblick seiner pumpenden Hände überfiel Hanna ein Brechreiz. In der Zwischenzeit hatten sich viele bewaffnete Bedienstete hinter der Bischöfin aufgebaut. »Bringt sie zum Turm. Sie werden die Nacht dort verbringen, denn ich werde nicht gestatten, dass der Frieden in dieser Halle gestört wird. Morgen werden sie aufbrechen und zu Herzogin Rotrudis zurückkehren. Eure Mutter wird zweifellos barmherziger sein als ich, Wichman.« In diesem Augenblick merkte Hanna, dass Bayan sie gesehen hatte. Er blickte sie an, als hätte er es Edelmann Wichman nur zu gern gleichgetan. Dann lachte er wie über einen Witz, den nur er verstand, und begann, die Enden seines langen Schnurrbarts gedankenvoll zu zwirbeln. Er winkte Bruder Breschius zu sich und sprach leise mit ihm. »Ich bitte Euch, Euer Gnaden«, sagte Breschius. »Prinz Bayan schlägt vor, dass Ihr Edelmann Wichman bestraft, wie es in Eurem Ermessen steht, aber erst, wenn der Krieg vorüber ist.« Alberadas Blick war äußerst frostig. »Und wie, schlägt Prinz Bayan vor, soll ich in der Zwischenzeit meine Dienerinnen vor Vergewaltigung und Belästigung schützen?« Bayan betrachtete sie spöttisch. »In jeder Stadt leben Huren. Ich werde sie aus meiner eigenen Tasche bezahlen.« »Eine Sünde begleichen, indem eine neue begangen wird?« Er zuckte mit den Schultern. »Um gegen die Qumaner zu kämpfen, brauche ich Soldaten.« »Um gegen die Qumaner zu kämpfen«, begann Wichman, der sich in der typischen Weise betrunkener junger Männer belustigte, die nur an sich dachten, »brauche ich -« »Ihr seid jung und dumm«, blaffte Bayan, der schließlich am Ende seiner Geduld angelangt war. »Aber Ihr kämpft gut. Und nur deshalb brauche ich Euch noch. Ansonsten würde ich Euch den Wölfen vorwerfen.« Wichman hatte ein hohes, unangenehmes Lachen. »Wenn Ihr mich so sehr braucht, mein Prinz«, sagte er gedehnt, »werde ich 333 selbst einen Preis nennen und verlangen, dass er mir zehnfach bezahlt wird.« Er deutete mit obszönem Blick auf die Dienerinnen. Bayan bewegte sich rasch für einen Mann, der gerade erst aufgestanden war. Er packte Wichman am Kragen und hielt ihn fest. Wichman war ein bisschen größer und erst halb so alt wie Bayan, doch der ungrianische Prinz war jetzt ausnehmend wütend, und er hatte echte Autorität auf seiner Seite - er hatte große Heere auf dem Schlachtfeld befehligt und unzählige Schlachten überlebt. Wer es geschafft hatte, so lange am Leben zu bleiben wie er, musste schon ein sehr guter Soldat sein, und das wusste er. Und das wusste auch Wichman. »Fordere mich niemals heraus, Junge«, sagte Bayan leise. »Ich entledige mich der Hunde, wenn sie mir auf die Füße pinkeln. Ich weiß, wo ich den Sklavenmarkt finde, der immer auf der Suche nach jungen Männern ist. Ich fürchte den Zorn deiner Mutter nicht.« Wichmans Haut veränderte sich, nahm die Farbe eines schlecht gewordenen Brotteigs an. Jeder Mann hätte sich mit solchen Worten brüsten können, aber aus Bayans Mund trafen sie. »Zu den Unterkünften.« Bayan ließ Wichman wieder los. Die ungrianischen Wachen umstellten den jungen Edelmann und seine Kumpane. »Ich kann das nicht billigen«, sagte Alberada. »Diese Männer sollten bestraft und verbannt werden.« »Ich brauche sie«, sagte Bayan. »Ebenso wie Ihr und diese Stadt sie braucht.« »Dies ist genau die Art und Weise, wie der Krieg Böses gebiert, Prinz Bayan, denn sowohl das Gute als auch das Böse profitieren auf üble Weise, säen üblen Samen und vollführen üble Taten, getrieben von der Verzweiflung, die sie Notwendigkeit nennen.« »Ich habe keine Antwort auf Eure Worte, Eure Heiligkeit. Ich bin nur ein Mann, kein Heiliger.« »Es ist ziemlich offensichtlich, dass niemand von uns zu den Heiligen zählt,« meinte Alberada tadelnd. »Wären wir Heilige, 334 gäbe es keine Kriege, abgesehen von dem, der gegen Ungläubige und Ketzer geführt wird.«
»Doch sicherlich ist der Krieg nicht die Ursache unserer Sünden, Euer Gnaden«, wandte Breschius ein. »Ich würde sagen, dass Wichman nicht durch den Krieg verroht wurde, sondern durch sein eigenes rücksichtsloses und zügelloses Wesen. Nicht alle Männer verhalten sich so. Die meisten Soldaten, die heute hierher gekommen sind, haben es nicht getan.« »Ich bin nicht der einzige Sünder«, protestierte Wichman plötzlich. Er klang verletzt, als wäre er eines Verbrechens angeklagt worden, das er nicht begangen hatte. »Wieso erkennt keiner, was mein kleiner Cousin Ekkehard jede Nacht tut, jetzt, wo er seinen bevorzugten Lustknaben verloren hat?« Ein Pfiff entfuhr Bayan, heftig und wütend. Oh, Gott, Bayan hatte es die ganze Zeit über gewusst. Wieso hatte Hanna nur geglaubt, dass einem Befehlshaber mit einer Beobachtungsgabe, wie Bayan sie besaß, entgehen könnte, was in den Reihen seines eigenen Heeres geschah? Er hatte sich lediglich entschieden, es zu übersehen, auf die gleiche Weise, wie er Wichmans Angriff übersehen würde. Alles, was ihn interessierte, war der Sieg über die Qumaner. In Anbetracht ihrer gegenwärtigen Situation konnte Hanna nicht umhin, sein praktisches Denken zu bewundern. »Was meint Ihr damit, Wichman?« Bischof in Alberada hatte eine Art, ihren Kopf zur Seite zu neigen, die sie wenn auch nur kurz - einem Geier ähneln ließ, der darüber nachdachte, ob er mit dem weichen Bauch oder mit der klaffenden Kehle der zarten Leiche beginnen sollte. »Mit welcher Sünde hat der junge Ekkehard sich besudelt?« »Mit der Sünde der Ketzerei«, sagte Wichman. 335 3 Liath hatte das Gefühl, das Innere einer Perle zu betreten. Das Glühen, das von der Essenz des Mondes stammte, benebelte ihre Sicht; die milchige Substanz war leicht wie Luft, aber trüb, und sie konnte kaum den blauen Lapislazuli-Ring erkennen, den Alain ihr vor so langer Zeit geschenkt hatte und der jetzt ihr Leitlicht war, als sie die Hand ausstreckte. Ihre Ohren funktionierten besser. Sie hörte eine leise Bewegung, konnte sie im perlmuttartigen Äther aber nur vage sehen. Der Boden schien einigermaßen fest zu sein, obwohl sie sicher war, dass er keinerlei Ähnlichkeit mit der Erde besaß. Der gewundene Pfad, den sie entlangschritt, schlängelte sich wie ein silbernes Band spiralförmig immer weiter hinauf. Sie hatte keine feste Vorstellung davon gehabt, was sie erwarten würde, aber dieses perlmuttartige Licht, dieses Meer der Leere, das alles schien irgendwie - nun ja, es wirkte enttäuschend. Um sie herum wogten Schimmer wie körperlose Schleier, die in einer nicht spürbaren Brise flatterten. Hatte sie das Tor durchschritten, war sie jetzt im Mond? Eine Gestalt huschte vor ihr her, dicht genug, um ihr ihre Haare ins Gesicht zu wehen. Sie kitzelten an ihrem Mund. Die Gestalt verschwand im Äther, doch einen Augenblick später - oder auch eine Ewigkeit später huschte eine weitere Gestalt an ihr vorbei, dann eine dritte. Plötzlich waren es ganze Scharen, deren dunstige Gestalten so fließend wie Wasser waren. Wie Elritzen schössen und trieben sie vor ihr her. Sie tanzten. Dann erkannte sie, was sie waren: Verwandte von Jerna, aber viel glänzender und weniger blass; ganz sicher waren einige der Daemonen, die Anne als Bedienstete bei Verna gefangen gehalten hatte, aus der Sphäre des Mondes gekommen. Sie waren so unglaublich schön. Von ihrem Anblick ganz verzaubert blieb Liath stehen, um sie 336 zu beobachten. Rhythmische Klänge dröhnten durch den Äther. War dies die Musik der Sphären? Die hellen Töne von Erekes und die üppige Melodie von Somorhas klangen hurtig. Der Glanz der Sonne erinnerte an Hörnerklang, fand seinen Widerhall in den weichen Harfenklängen, die den geschäftigen Gang des Mondes zwischen Abnehmen und Zunehmen kennzeichneten. Jedus Bahn mischte einen kühnen, kriegerischen Rhythmus hinzu. Mok vermittelte eine erhabene Weise, gemächlich und ernst, und die weise Aturna klang wie ein heiterer Bass, der alles andere unterlegte. Sie drehten und wanden sich, stiegen auf und ab, wirbelten umher und verharrten. Ihre Bewegungen besaßen eine ganz eigene Schönheit, so wie alles, was von künstlerischer Fertigkeit war, eine wahre Freude darstellte. Auch Liath konnte tanzen. Sie hießen sie in ihrer unendlichen Bewegung des Universums willkommen, und als sie sich zu ihnen gesellte, entfaltete sich die geheime Sprache der Sterne vor ihr. In dieser Einfachheit manifestierte sich der Kosmos, ein Tanz, der ein Widerhall des größeren Tanzes war - jenes Tanzes, in dem sich das Rad der Sterne drehte, und das des Schicksals und des undurchdringlichen Rätsels um das Sein, ohne dass die Sterblichen jemals davon Kenntnis erhielten. Sie musste nur den Pfad verlassen. Es war einfacher zu tanzen, wenn sie sich im wolkigen Herzen des Universums verlor. »Liath!« Hannas Stimme riss sie zurück. War das ein Echo gewesen oder nur Einbildung? Sie stand am Rand des Abgrunds. Noch ein Schritt, und sie würde vom Pfad hinab in den Äther springen. Sie taumelte zurück, schwankte beinahe zur anderen Seite, bis sie schließlich ihr Gleichgewicht zurückgewonnen hatte. Sie war ganz außer Atem. Der Tanz ging dessen ungeachtet weiter. Gemessen an der glanzvollen Weite der Himmel war sie nicht von
Bedeutung. Ihr Sehnen mochte ihr ihren eigenen Untergang bescheren, aber nichts würde den Tanz aufhalten ganz egal, welche Entscheidung sie traf. Das war die Lehre der Rose, die Pflege benötigte, um ihre gan337 ze Schönheit zu entfalten. Sie trug die Dornen der gedankenlosen Sehnsucht, und ihr Stich galt derjenigen, die versuchte, sie zu pflücken, ohne genau hinzuschauen. Sie war so kurz davor gewesen, zu fallen. Mit einem bitteren Kichern kletterte sie weiter. Schließlich gabelte sich der Pfad vor ihr; das silberne Band verlief in beide Richtungen entlang einer hellen Eisenwand, von der sie nicht ermessen konnte, wie weit sie in die Höhe oder in die Tiefe reichte. Ein Riss schnitt durch die Wand, eine gezackte Träne, durch die sie auf eine gestaltlose Ebene blickte. War dies das Tor des Schwertes, das die Sphäre von Erekes ankündigte, dem raschen Planeten, der einst als Bote der alten, heidnischen Götter bekannt gewesen war? Als hätte ihr Gedanke sich in die Lüfte erhoben und aus dem wogenden Äther Gestalt angenommen, näherte sich ihr ein Wesen, ein Wachposten von einem Weiß, das an gebleichte Knochen erinnerte. Er hatte weder einen richtigen Mund noch Augen, vielmehr lediglich die Anmutung eines lebendigen Gesichtes. Die zarten Flügel flatterten lebhaft, als hätte eine Spinne ihre Fäden zwischen Knochen und Haut gewebt. Er versperrte den Pfad mit einem Schwert, das so sehr strahlte, dass es den Äther mit einem Zischen durchtrennte. Seine Stimme klang wie Eisen. »Zu welchem Ort begehrst du Einlass?« »Ich möchte die Sphäre des Erekes betreten.« »Wer bist du, dass du Einlass begehrst?« »Ich werde die Strahlende genannt oder auch Kind des Feuers.« Augenblicklich, als wäre es eine Antwort auf ihre Worte, stieß die Gestalt zu, und Liath machte einen Satz zurück. Instinktiv griff sie nach Lucians Freund, dem Schwert, das sie schon so lange bei sich trug. Sie zog es, parierte, und wo das gute, schwere Eisen von Lucians Freund das leuchtende Schwert des Wachpostens traf, blitzten Funken auf. Die Gestalt stieß erneut zu, und Liath blockte ab, sprang zurück, prüfte ihre Position auf dem Pfad und versuchte, an ihr vorbeizukommen. 338 Doch jetzt stand sie an einer Stelle, an der sie eben noch nicht gestanden hatte, das Schwert hoch erhoben. »Es ist zu viel Sterbliches in dir, um das Tor zu durchschreiten«, rief die Gestalt triumphierend; ihre Stimme klang wie das Dröhnen eines auf Eisen niederfahrenden Schmiedehammers. Der heiße Wind von Erekes' dunkler Ebene lastete schwer auf Liath. Sie war zu schwer, um hinüberzugehen. Aber sie würde sich nicht besiegen lassen. Sie würde nicht fallen, und sie würde jetzt auch nicht umkehren. »Nimm also dieses Schwert, wenn du etwas haben willst«, rief sie und warf dem Wachposten das Schwert entgegen. Es durchdrang die Gestalt. Sie löste sich in tausend glitzernde Fragmente aus leuchtendem Eisen auf. Unerwartet wurde Liath von einem starken Wind gepackt und stolperte kopfüber in das pechschwarze Reich von Erekes. 4 Die Verhandlung begann zwei Tage später, offensichtlich sehr zu Bayans Missfallen. Sapientia dagegen weigerte sich erstaunlicherweise, die Untersuchung ihrer Tante zu behindern, und während Bischöfin Alberada sich wenn auch zögernd - bereit gefunden hatte, die Frage der Sünde des Fleisches zu ignorieren, war sie doch fest entschlossen einzugreifen, was die Angelegenheit der Ketzerei betraf. Noch immer regnete es unaufhörlich, und so war es sowohl im Palastbereich als auch in den anderen Unterkünften feucht und ungemütlich. Der Gestank, der von dem Rauch der Herdstellen herrührte, wurde beinahe unerträglich, und im Heer grassierte eine Erkältungswelle, die mit Schmerzen, Mattigkeit und schniefenden Nasen einherging. Es wurde daher viel gehustet, geschnäuzt und geschnupft, als 339 der Rat der Bischöfin sich in der großen Halle versammelte. Alberada führte von ihrem bischöflichen Stuhl aus den Vorsitz, flankiert von Bayan und Sapientia zu ihrer Linken und von einem Dutzend schreibender Geistlicher zu ihrer Rechten. Ketzerei war ein solch ernster Vorwurf, dass Alberadas Geistliche einen Bericht über den Verhandlungsverlauf und über die Urteile verfassen würden. Dieser Bericht sollte sodann der Skopos überbracht werden, damit Mutter dementia über die Verdorbenheit im Bilde war, die ihre irdische Herde befallen hatte. Normalerweise hätte Alberada mindestens zwei andere Bischöfinnen kommen lassen, um so die Rechtmäßigkeit der Vorgänge zu bekräftigen. Doch angesichts der Jahreszeit und der hoffnungslosen Situation, in der sie sich befanden - täglich waren qumanische Patrouillen von den Stadtmauern aus zu sehen -, begnügte sie sich damit, dass die ortsansässige Äbtissin und der Abt, deren beachtliche Gefolgschaften innerhalb der Mauern von Handelburg Schutz gefunden hatten, Zeugen der Vorgänge wurden. Es waren gefällige, weltfremde Leute, die wenig geneigt waren, die Bischöfin herauszufordern, was immer sie auch sagen mochte. Als Adler des Königs wurde von Hanna erwartet, dass sie während des gesamten Verfahrens anwesend war, damit sie dem König in allen Einzelheiten von den Sünden seines Sohnes und von der rechtmäßigen Untersuchung berichten konnte, die die Bischöfin - Henrys ältere und uneheliche Stiefschwester - durchgeführt hatte. Ekkehard bekam eine gerechte Chance, sich zu den Anklagen zu äußern. Die anderen der Ketzerei angeklagten
Männer standen ihrem jeweiligen Rang entsprechend hinter ihm, während verschiedene Zeugen vorgeladen wurden. Nach stundenlangen, ermüdenden Befragungen verlas Alberada das Urteil. Ein Prinz hatte seinen Rang und Einfluss dazu benutzt, unglückselige Unschuldige mit der Seuche der Ketzerei zu infizieren. Wenngleich einige seiner Opfer rasch widerriefen, als sie sich dem Zorn der königlichen Bischöfin ausgesetzt sahen, hielten andere weiter hartnäckig an seinen gottlosen Lehren fest. 340 Ekkehard saß die ganze Zeit so voller Entrüstung da, wie es nur ein Junge von nicht einmal sechzehn Jahren tun konnte, den blankes Entsetzen, Unsicherheit und fanatische Entschlossenheit antrieben. Vielleicht war er zu jung und zu sehr von sich überzeugt, um wirklich Angst zu empfinden. Sechs seiner engsten Kameraden hatten die Schlacht am alten Hügelgrab überlebt. Es war offensichtlich, dass Bischöfin Alberada der Loyalität Respekt zollte, die zwischen einem Edelmann und seinem Gefolge bestand, denn niemals versuchte sie, jemanden dazu zu bringen, seinen Herrn zu verraten. Ihn mitten in der Hitze des Gefechts - als das auch diese Untersuchung bezeichnet werden konnte - zu verlassen, wäre eine stärkere Beleidigung gewesen, als es ihr geistiger Irrtum je sein konnte. Es war daher auch nur angemessen, wenn sie gemeinsam mit ihrem Herrn bestraft wurden. Viel mehr beunruhigte die Bischöfin die Unnachgiebigkeit von Edelmann Dietrich, seinem Gefolge und den rund zwanzig anderen Personen, die unterschiedlichen Ranges waren und verschiedene Absichten verfolgten. »Was für Untergebene des Feindes haben bloß ihre Klauen in Euch gegraben?«, wollte sie von Edelmann Dietrich wissen, nachdem der sich zum dritten Mal geweigert hatte, sich von der Doktrin des Opfers und der Erlösung loszusagen. »Die Mutter und der Vater des Lebens, die Gott in Einigkeit sind, brachten das Universum hervor. In diese Schöpfung stellten sie die vier reinen Elemente Licht, Wind, Feuer und Wasser. Über der Schöpfung ruht die Kammer des Lichts, darunter liegt der Feind, den wir auch die Finsternis nennen. Doch während die Elemente in Harmonie dahintrieben, kamen sie in Berührung mit der Finsternis, die aus den Tiefen aufgetaucht war. Sie vermischten sich miteinander. Das Universum schrie vor Ungemach über diese Vergiftung, und Gott haben daher als Erlösung die Botschaft des Gedankens geschickt, die wir auch Vernunft nennen. Gott haben diese Welt durch die Botschaft des Gedankens geschaffen, doch Finsternis bleibt darin vorhanden. Dies ist der Grund für das Böse und die Verwirrung in der Welt.« 341 »Der heilige Daisan hat uns erlöst«, unterbrach Ekkehard sie störrisch. Edelmann Dietrich besaß genug Verstand, zu schweigen. »Natürlich hat er das! Der heilige Daisan hat uns allen die Botschaft des Gedankens gebracht. Er hat sieben Tage und sieben Nächte gebetet, um für uns, die wir dem Glauben der Einigkeiten folgen und ins Licht gebracht werden, Erlösung zu erhalten. Am Ende dieser sieben Tage und Nächte führten Engel ihn in einem solch strahlenden Licht in den Himmel, dass auch St. Thekla, die seine Ekstasis beobachtet hatte, sieben mal sieben Tage lang nichts sehen konnte.« »Er ist geopfert worden! Ihm ist auf Befehl von Kaiserin Thaissania die Haut abgezogen worden, aber sein Blut hat Rosen hervorgebracht, und er hat wieder gelebt! Er ist von den Toten auferstanden!« »Schweigt!« Alberada stieß den Bischofsstab mehrmals kräftig auf den Boden. Das schroffe Geräusch brachte nicht nur ihn, sondern auch all jene zum Schweigen, die bei seinen Worten aufgeregt miteinander getuschelt hatten. Selbst der Geistliche, der Herzog Bolesla die Übersetzung der jeweiligen Äußerungen zuflüsterte, schloss seinen Mund. »Ihr habt Euch der Ketzerei schuldig gemacht, Prinz Ekkehard. Die Strafe für Ketzerei ist Exkommunikation und Verbannung oder Tod.« »Ich bin bereit zu sterben«, sagte Edelmann Dietrich nicht ohne Triumph. Er hustete in seine hohle Hand. »Ihr könnt mich nicht bestrafen«, erklärte Ekkehard beherzt. »Ich bin der Sohn des Königs, entstanden aus einer rechtmäßigen Ehe!« »Und ich bin hier in Handelburg die Kirche«, erwiderte Alberada, ohne den Hinweis auf ihre eigene unrechtmäßige Geburt zu beachten. »Nicht ich bestrafe Euch, Prinz Ekkehard. Es ist die Kirche, die Euch - und all jene, die Euch bei diesen ketzerischen Lehren folgen - bestraft. Aber es ist wahr, dass ihr einen besonderen Fall darstellt. Ich werde Euch zum Hof des Königs schicken müssen.« 342 »Zu meinem Vater?« Ekkehard blickte auf einmal viel jünger drein, wie ein Junge, der Unfug angestellt hatte, dabei erwischt worden war und erst jetzt begriff, dass er deshalb Ärger bekommen würde. Bayan schnaubte vor Wut. »Wie viele Soldaten muss ich ihm als Eskorte mitgeben? Wie viele werden dann noch auf den Mauern stehen, wenn die Qumaner angreifen?« »Könnt Ihr Ekkehard nicht einfach ins Kloster stecken, bis die Qumaner besiegt sind?« Sapientia legte Bayan eine Hand auf den Arm, als wollte sie ein wildes Tier besänftigen. »Er ist immerhin der Abt von St. Perpetua in Gent.« »Ich soll die heiligen Mönche seiner ketzerischen Seuche aussetzen? Schlimm genug, dass ich jede Woche Berichte darüber höre, wie sehr sich seine vergiftenden Worte in der Umgebung ausgebreitet haben. Nein, er geht entweder zum König, oder er bleibt hier im Gefängnis, bis die Qumaner besiegt sind und er mit einer entsprechend großen Eskorte reisen kann. So lange wird er keinerlei Zugang zu den Sakramenten erhalten, und eine Wache wird im Turm darauf achten, dass er mit keinem seiner Anhänger sprechen kann -« »Oh!« Bayan stieß seine Hände verzweifelt in die Luft. Er warf dem Hund, der sich quer über seine Füße gelegt
hatte, einen bösen Blick zu, schob ihn mit dem Fuß rüde zur Seite, griff nach seinem Becher und leerte ihn in einem einzigen Zug. Ein Bediensteter eilte herbei, um ihn nachzufüllen. »Ich brauche Männer, die auf den Mauern Wache stehen und gegen die Qumaner kämpfen. Es ist unmöglich, dass sie unsere eigenen Leute bewachen sollen.« »Ihr begreift den Ernst unserer Lage nicht, Prinz Bayan, was ich der Tatsache zuschreibe, dass Ihr erst vor kurzem zu unserem Glauben übergetreten seid. Ich darf dem Feind keinerlei Sieg zugestehen. Ich darf nicht zulassen, dass die arethusanische Vergiftung das Königreich und die heilige Kirche erfasst. Ich darf mich nicht einfach abwenden und zur Seite sehen, wenn durch Prinz Ekkehards Verfehlung alle bedroht werden.« 343 \ »Meiner Meinung nach sind es die Qumaner, die uns alle bedrohen«, sagte Bayan. »Besser, wir sind tot, als Ketzer!« Bayan zwirbelte gereizt die Enden seines Schnurrbarts, aber er antwortete nicht. Wie beim alten Hügelgrab erkannte er auch hier den Zeitpunkt, an dem ein strategischer Rückzug einer kompletten Niederlage vorzuziehen war. »Ich ziehe den Tod vor«, sagte Edelmann Dietrich. »Lasst meinen Märtyrertod Beweis dafür sein, dass ich die Wahrheit spreche.« Alberada blickte überrascht drein. »Ich bin nicht daran gewöhnt, Hinrichtungen anzuordnen, Edelmann Dietrich.« »Wenn Ihr Euch davor fürchtet, Euer Gnaden, müsst Ihr zugeben, dass ich Recht habe. Ich fürchte den Tod nicht, weil der heilige Daisan ihn willkommen geheißen hat, um die Menschheit von ihren Sünden zu befreien.« »Und ich fürchte ihn auch nicht!«, rief Ekkehard aus; er konnte nicht zulassen, dass er als weniger mutig erschien als ein einfacher Edelmann. Da er von keiner Erkältung heimgesucht worden war, hatte seine Stimme einen klaren und kräftigen Klang, frei von jedem Zweifel und jeder Teilnahmslosigkeit. »Ich heiße den Märtyrertod ebenfalls willkommen!« »Ich bezweifle, dass sich eine Hinrichtung gut auf die Moral der Soldaten auswirkt«, meinte Sapientia weise. Die Vorstellung vom möglichen Ableben ihres jüngeren Bruders schien sie ganz und gar nicht in Unruhe zu versetzen. Seit sie sich im bischöflichen Palast aufhielt - inzwischen insgesamt zwei Tage -, strahlte sie eine schmierige Zufriedenheit aus, die an den fauligen Geruch erinnerte, der einen sterbenden Menschen umgab. Es war beinahe, als hoffte sie, ihren Bruder loszuwerden. »König Henry muss davon erfahren«, begann Alberada in der Hoffnung, Zeit zu gewinnen. »Einen Prinzen von königlichem Geblüt, der den Goldreif trägt, kann man nicht so behandeln, als wäre er irgendein gewöhnlicher Unruhestifter.« 344 »Dann schickt meinen Adler zum König«, erwiderte Sapientia mit einem bösartigen, selbstgefälligen Lächeln. »Sie hat diese Reise schon zweimal unternommen. Sie kann dem König die Nachricht überbringen.« War das der Hieb, den Hanna schon seit Tagen erwartet hatte? Wollte sich Sapientia wirklich mit allen Mitteln von ihrer mutmaßlichen Rivalin trennen? Bayan sagte nichts. Bruder Breschius, der hinter dem Stuhl des ungrianischen Prinzen stand, beugte sich herunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr, aber Bayan schüttelte nur ungeduldig den Kopf, als hätte er nach seinem letzten Ausbruch beschlossen, sich aus der Sache herauszuhalten - egal, um was es auch gehen mochte. Von allen verlassen, wartete Hanna darauf, dass das Schicksal zuschlug. Donner dröhnte in der Ferne. Sie hörte es regnen, dann versiegte der Regen wieder, als wäre eine Tür geöffnet und geschlossen worden. Die Unterstützung kam von eher ungewöhnlicher Seite. »Ich soll einen Adler allein durch die Marklande schicken, während die Qumaner dort umherstreifen und wir uns hinter unseren Mauern verbergen?« Alberada betrachtete die Ketzer mit Abscheu. »Das ist ein Todesurteil, Sapientia.« »Aus dem Weg!« Eine Botin eilte herein; ihr tropfender Umhang hinterließ ein Rinnsal in der Halle, und ihre Füße, die lediglich in durchnässten, mit einem Band zusammengeschnürten Lederschuhen steckten, verursachten schmutzige Abdrücke auf den Teppichen. Bedienstete eilten herbei, um den Dreck wegzuwischen, solange er noch feucht war. »Euer Gnaden!« Die Botin sank auf die Knie. Sie blickte erleichtert drein, als wäre sie froh darüber, dass sie knien konnte und nicht mehr reiten oder gehen musste, sich noch dazu in einem solch sicheren Hafen befand. »Sind das Prinzessin Sapientia und Prinz Bayan? Dank sei Gott, Eure Hoheit. Ich bringe schreckliche Nachrichten. Machteburg wird von den Qumanern belagert. Die 345 Stadt Dirden ist niedergebrannt worden, und wer nicht tot ist, ist in die Sklaverei verschleppt worden.« Bayan erhob sich. »Das ist eine Frechheit.« Er streckte die Faust in die Luft, als wäre sie ein Stock. »Bulkezu verspottet mich.« Er blickte grimmig drein, und Hanna sah in seiner Miene den Geist seines toten Sohnes, der ihn unerbittlich aufforderte, Rache zu üben. Sie zitterte, als sie sich daran erinnerte, wie er einem qumanischen Gefangenen die Finger abgeschnitten hatte. Es war schwer, einen Mann, der oft so pragmatisch und fröhlich war, mit dem schroffen, unbarmherzigen Soldaten in Einklang zu bringen, der in ihm manchmal die Oberhand
gewann. »Euer Gnaden, es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um gute Soldaten gefangen zu halten. Wer immer in der Lage ist zu kämpfen, muss auch kämpfen.« »Die Qumaner sind nicht unsere einzigen Feinde, Prinz Bayan. Wenn wir die Untergebenen der Feinde erst einmal in unsere Herzen lassen, werden sie uns vernichten. Was sie uns bringen, ist schlimmer als der Tod.« Alberada ließ sich nicht umstimmen. Sie rief ihre Verwalter zu sich und sprach eindringlich mit ihnen. Kaum waren sie davongeeilt, um die angeordneten Vorbereitungen zu treffen, führten die Palastwachen Ekkehard, Dietrich, deren Gefolgschaften und das Dutzend anderer Ketzer zur Kirche. Auf Alberadas Befehl hin folgte auch der übrige Teil der Versammlung. Wie der großen Halle und den Palasträumen war auch der Kathedrale der Bischöfin - sofern Kathedrale das richtige Wort war -eine gewisse Unfertigkeit zu eigen. Es wurde noch immer an den Verzierungen im Innern und an der äußeren Fassade gearbeitet. Hier in den Marklanden war Holz leichter zu beschaffen als Stein, und selbst die Kathedrale nahm sich bescheiden aus gegenüber den alten kaiserlichen Gebäuden, die noch immer im Westen standen. Auch hier blickten griesgrämige Heilige auf die etwa hundert Menschen herab, die sich unsicher im Hauptschiff drängten. Die aus Eiche und Walnuss geschnitzten Statuen wirkten so deutlich unzufrieden, dass Hanna regelrecht erwartete, dass sie die unten 346 versammelten Sünder schelten würden. Vier Statuen waren noch unvollendet, lediglich kantige, vage Andeutungen - eine Hand, die aus dem Holz auftauchte, der Schwung einer halb geschnitzten Stirn, ein grinsender Mund in einem noch augenlosen Gesicht. Wandbehänge unterbrachen die Monotonie der Eichenwände, aber sie waren in solch düsteren Farben gewebt, dass Hanna gar nicht genau erkennen konnte, was auf ihnen abgebildet war - zu wenig Fenster ließen Licht herein. Das größte Fenster hinter dem Altar war nach Osten gewandt. Teile von altem, dariyanischem Glas waren zusammengesetzt worden, um ein Mosaik zu bilden, ein Abbild des Kreises der Einigkeit. Da es Nachmittag war, drang der größte Teil des Lichts, der das Hauptschiff erhellte, durch die offenen Türen. Kühle Luft wehte von außen herein, kalt und beruhigend. Hanna, die weiter vorne saß, spürte in der hitzigen, bedrückenden Atmosphäre des überfüllten Raums jedoch nur einen leichten Hauch auf ihren Lippen. Sie nahm den Geruch von Furcht und Besorgnis sowie rechtschaffenem Zorn wahr. Sämtliche Edelleute aus Bayans Heer waren erschienen; wären sie ferngeblieben, hätten sie möglicherweise Verdacht auf sich gezogen. Von ihrem Platz nahe beim Altar musterte Hanna die Menge, aber sie war nicht sehr groß, und so sah sie lediglich den Kopf von Hauptmann Thiadbold, den sie an seinen roten Haaren erkannte. Die Bischöfin hatte auch Löwen von höchstem Rang als Zeugen herbefohlen, damit sie den Soldaten, die unter ihrem Befehl standen, von den Vorgängen berichten konnten. Kein geistiger Angriff wog schwerer als die Ketzerei. Sie kam nahezu dem Verrat am Herrscher gleich. Aber Hanna konnte nur daran denken, dass sie ihren Kopf an eine qumanische Patrouille verlieren würde. Vielleicht wäre sie besser dran gewesen, wenn sie sich mit Hilfe von Magie hätte nach Osten befördern lassen. Vielleicht hätte sie Sorgatani gegenüber dem wenigen, das sie von Liath gesehen hatte, vorziehen sollen. Aber war das nicht nur ein Traum gewesen? Würde Bischöfin Alberada sie nicht exkommunizieren, wenn sie von dem Ausmaß, in 347 dem sie mit der Zauberei in Verbindung stand, erführe? Manchmal war es besser zu schweigen. Das war es auch, was sie an Ekkehard, Edelmann Dietrich und dem verschwundenen Ivar besonders verblüffte. Wieso verhielten sie sich so widerspenstig, was ihren Glauben betraf? Warum mussten sie beständig an der Kette zerren? Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Mutter. »Wieso eine Verabredung mit dem Ärger treffen«, pflegte sie zu sagen, »wenn der Ärger dir ohnehin nicht ausweicht, falls er dir auf dem Weg entgegenkommt?« Wie Prinz Bayan betrachtete auch Meisterin Birta die Welt mit einem Sinn fürs Praktische. Vermutlich war das der Grund, weshalb Hanna Prinz Bayan respektierte, trotz der lästigen Bewunderung, die er ihr gegenüber an den Tag legte und die ihr, auch wenn sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Stellungen im Leben kaum als Liebäugelei zu bezeichnen war, sehr wohl den Tod bringen konnte. Natürlich hatte Birta niemandem die Finger abgeschnitten, doch das hieß nicht, dass sie es nicht tun würde, wenn sie es für notwendig hielt. Eine mürrische Hymne näherte sich ihrem Ende. Hanna benutzte ihren Ellenbogen, um sich Platz zu verschaffen, und sie schubste einen von Sapientias Verwaltern etwas zur Seite, damit sie besser sehen konnte. Die Geistlichen schritten nach vorn, trugen jeweils eine angezündete Kerze, um den Kreis der Einigkeit zu symbolisieren, das Licht der Wahrheit. Sie ließen sich in einem Kreis um Ekkehard, Dietrich und die anderen nieder, die sich im vorderen Teil des Hauptschiffs zusammengedrängten. Die Lichter, die sie trugen, brannten so heiß, dass Hanna blinzeln musste; sie schälten die Mienen der geschnitzten Heiligen heraus - eine Lippe, die mitleidig heruntergezogen war, eine Hand, die mit zwei ausgestreckten Fingern erhoben war, um Gerechtigkeit zu üben, ein finsterer Blick unter schweren Augenbrauen, ähnlich denen bei der unvollendeten Kameradin. Sie sahen zu, und sie urteilten. Bischöfin Alberada trat die Stufen zum Podest hinauf, auf dem sich ihr Stuhl befand. Sie hob Ruhe gebietend die Hände. 348
»Lasst ungesüßten Essig bringen, damit die Angeklagten den bitteren Geschmack der Ketzerei schmecken können.« Ihre Bediensteten brachten Becher, die sich entsprechend dem jeweiligen Rang dessen, der ihn bekommen sollte, unterschieden: Ekkehard erhielt einen goldenen Becher, seine edlen Kameraden einen silbernen; auch Edelmann Dietrich erhielt einen silbernen und seine störrische Gefolgschaft einen aus Messing. Die Gewöhnlichen mussten mit einem Holzbecher auskommen, den sie untereinander weiterreichten. Einer von ihnen weigerte sich zu trinken und wurde dreimal gepeitscht, eher er es dann doch tat. Sie alle husteten und keuchten wegen des sauren Geschmacks -nur Edelmann Dietrich leerte den Becher, als wäre Honig darin. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper und hielt seinen trotzigen Blick die ganze Zeit auf die Bischöfin gerichtet. »Lasst allen den Kreis abnehmen, denn sie ruhen nicht länger in dem beschützenden Ring seines Lichts und seiner Wahrheit. Lasst ihnen die Haare schneiden als Zeichen ihrer Schande.« Einer von Ekkehards jungen Freunden war besonders stolz auf seine blonden Haare gewesen und weinte jetzt, während Ekkehard verloren dastand, ohne ihm helfen zu können, als die Geistlichen vortraten und ihnen mit Messern die Haare in ungleichmäßigen Büscheln abschnitten. Erst als Edelmann Dietrich zu dem Jungen trat und leise mit ihm sprach, beruhigte sich der, richtete sich auf und reckte das Kinn mit zittrigem Stolz, während eine griesgrämig dreinblickende Geistliche ihm seine schönen Haare abschnitt. »Sie sollen sehen, dass das Licht der Wahrheit nicht länger in ihren Herzen brennt.« Die Bischöfin trat von ihrem Podest herunter, umrundete den Kreis und löschte die Kerzen eine nach der anderen. Rauch stieg in geisterhaften Schwaden in die Höhe. »So seid ihr von der Kirche getrennt. So seid ihr exkommuniziert. So sind die heiligen Sakramente für euch verboten. So seid ihr für immer von der Gesellschaft aller Daisaniten ausgeschlossen.« Das Licht erstarb. Der Nachmittag ging in die Abenddämmerung über. Die Farben verblassten zu Grautönen. 349 »Alle, die ihnen helfen, sollen ebenfalls exkommuniziert werden, denn sie stehen nicht länger im Kreis des Lichts. Gott sehen sie nicht länger.« Ekkehard taumelte, als wäre er geschlagen worden. Einer seiner Kameraden wurde ohnmächtig. Andere schluchzten. »Ich habe keine Angst«, sagte Edelmann Dietrich. »Gott soll Ihren Willen bekannt machen. Ich bin Ihr bereitwilliges Gefäß.« Stille trat ein. Alberada schien auf ein Zeichen zu warten. Hinten in der Menge hüstelte ein Mann. Edelmann Dietrich zuckte plötzlich so stark, dass er aus dem Kreis gewirbelt wurde. Drei Kerzen rollten über den Boden, als er hinfiel. Er zuckte noch ein zweites Mal, stieß dann Arme und Beine wild von sich, als hätte ihn der Schlag getroffen. »Ihr seht«, rief Alberada triumphierend, »der Feind enthüllt seine Gegenwart. Ein böser Geist hat die Kontrolle über diesen Mann errungen. Dies ist das Schicksal, das alle erwartet, die der Ketzerei anhängen.« Der mutigste Kamerad von Edelmann Dietrich kniete sich neben ihn und bekam seine Glieder zu fassen, drückte ihn zu Boden, bis er seltsam reglos wurde. Schaumiger Speichel tropfte ihm von den Lippen. Ein einziger Blutstropfen bildete sich in seinem Nasenloch und lief seine erschlaffte Wange herab. Er zitterte noch ein letztes Mal, dann verdunkelte sich der Boden, und ein übler Geruch stieg von der Stelle auf, an der er seinen Darm entleert hatte. »Er ist tot«, sagte Ekkehard mit erstickter Stimme und wich vor der mit verrenkten Gliedern daliegenden Leiche zurück. In der entsetzten Stille klang Bischöfin Alberadas Stimme so klar wie ein Ruf zu den Waffen. »Führt die Exkommunizierten zu ihrem Gefängnis. Niemand soll mit ihnen sprechen, denn alle, die es tun, werden selbst exkommuniziert werden. Der Feind lauert tief in ihrem Innern. Morgen werden wir jene züchtigen, die noch übrig sind, denn nur so können wir den Feind aus ihren Körpern treiben.« 350 Niemand erhob Einwände. Sie hatten gerade erst den Feind bei seiner Arbeit gesehen. Die Kirche leerte sich rasch. Wachen schleppten die Leiche weg, und Bedienstete blieben zurück, um die Spuren zu beseitigen. Hanna wartete noch, da auch Sapientia sich nicht sofort rührte. Die Prinzessin wiederum wartete, weil Bayan am Altar kniete, als würde er beten. Irgendwie hatte Bruder Breschius einen der Silberbecher zu fassen bekommen, und als die Kirche sich bis auf Bayan, Sapientia und einige ihrer treuesten Anhänger geleert hatte, reichte er ihn Bayan. Bayan fuhr mit dem Finger über den Becherrand, leckte kurz daran, spuckte aus und verzog dabei das Gesicht. »Gift«, sagte er leise. Es blieb lange still. Hanna hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht und hoffte, dass niemand bemerkte, dass sie Zeugin dieser schrecklichen Enthüllung geworden war. Wenn sie überhaupt wahr war. »Wird sie Ekkehard vergiften?«, fragte Sapientia. »Sollten wir versuchen, sie aufzuhalten, wenn wir glauben, dass sie es vorhat?« Sie hatten Hanna noch immer den Rücken zugekehrt und untersuchten den Silberbecher und den rußigen Dreck am Boden, der von den umgestürzten Kerzen stammte. Sie glitt zur Seite in die Schatten. »Ekkehard ist keine Bedrohung für uns«, betonte Bayan.
»Noch nicht. Er ist noch jung. Aber er könnte eine Bedrohung werden. Und was ist mit der Kirche ? Sicher weiß meine Tante, was sie tut, wenn diese Ketzerei wirklich so schlimm ist. Wir sollten sie unterstützen.« Bayan schüttelte den Kopf, als Hanna gerade die Wandteppiche erreicht hatte. »Wenn wir Bulkezu nicht besiegen, enden wir tot oder als Sklaven. Erst einmal muss dieser Krieg beendet werden. Soll die Kirche hinterher über die Ketzerei diskutieren. Adler.« Alle bis auf Breschius fuhren zusammen und blickten überrascht und besorgt drein, als sie sich wie Verschwörer umdrehten 351 und Hanna ansahen. Der Wandteppich konnte sie nicht länger verbergen. Bayan hatte die ganze Zeit über gewusst, dass sie da war. »Adler«, wiederholte er, nun, da er ihre Aufmerksamkeit hatte. »Bei Morgenanbruch reitet Ihr nach Osten zu König Henry.« »Ja, Eure Hoheit«, sagte sie, kaum in der Lage, die Worte auszusprechen. Eine üble Vision von ihrem geschrumpften und geschwärzten Kopf am Gürtel eines qumanischen Kriegers quälte sie. Wollte Bayan sie opfern, weil sie zugehört hatte ? Oder war dies lediglich der Versuch, seine eifersüchtige Frau zu beschwichtigen, während sie ihre Pläne bezüglich der Nachfolge ausbrüteten? »Frau.« Er nahm Sapientias Hand in seine. Die Prinzessin hatte sich nicht gerührt. Eine ihrer Bediensteten hielt eine Keramiklampe in der Hand, einen krähenden Hahn, in dessen Schnabel eine Flamme brannte: Das Licht machte ihre Miene weicher, verlieh ihrem schwarzen Haar einen schönen, seidigen Schimmer. »Dich bitte ich um dieses: Ekkehard muss bei Morgenanbruch mit dem Adler reiten.« »Ist das weise?«, fragte Sapientia. »Er und die anderen Gefangenen müssen wegreiten. Wir können keine ... was ist das, Breschius, was unsere Gedanken von dem Krieg wegbringt?« »Ablenkungen, Eure Hoheit.« »Ja, eines dieser Worte, die ich mir nicht merken kann. Denk daran, wie verzweifelt unsere Lage ist. Die Bischöfin ist eine gottergebene Frau, das weiß ich. Aber sie glaubt, dass Gott vor dem Krieg kommen. Bulkezu wartet aber sicher nicht auf Gott.« Er deutete auf den Altar und auf den Ring aus Kerzen, die dort brannten - das Licht der Einigkeiten. »Aber wohin schicken wir Ekkehard?« »Er soll zur Mark der Villams gehen. Dort kann er kämpfen. Dort wird er sterben oder leben, wie Gott wollen. Er und sein Gefolge können den Adler begleiten, bis sie außer Gefahr ist. Sie muss zu Henry gehen und ihm von unseren Problemen berichten. Aber Ekkehard werde ich nicht in Handelburg dulden. Dass 352 er ein Gefangener ist, bringt Hader in unser Lager. Wir befinden uns in einer sehr schlechten Lage. Wenn König Henry keine Verstärkung schickt, wenn er nicht selbst nach Osten marschiert, wird Bulkezu das ganze Land hier brandschatzen. Dies ist die nackte Wahrheit. Vielleicht können wir uns eine Weile halten. Wenn wir keine Streitereien in unserem Heer haben. Wenn es keine Ab- ah! - Ablenkung gibt.« »Es ist ein guter Plan«, sagte Sapientia langsam, während sie über seine Worte nachsann. Das war die große Veränderung, die Bayan bei ihr bewirkt hatte; sie hatte gelernt, über die Dinge nachzudenken. »Ekkehard kann immer noch im Kampf gegen die Qumaner sterben, aber das wäre ein besserer Tod für ihn, als wegen Ketzerei hingerichtet zu werden. Als Gefangener stellt seine Anwesenheit für uns nur eine zusätzliche Schwierigkeit dar. Einige werden sicherlich mit seinem Los Mitleid haben. Er könnte den Wachen schlechte Worte zuflüstern, und möglicherweise sind im Heer welche, die ihm weiterhin glauben, aber bei der Verhandlung gelogen haben, weil sie nicht bestraft werden wollten.« Bayan nickte. »Aber wie kann ich ihn aus dem Turm meiner Tante befreien? Sie wird mich exkommunizieren, wenn ich ihm helfe.« Bruder Breschius trat vor. »Ihr seid die Erbin, Eure Hoheit. Ihr habt Eure Eignung als Herrscherin bereits bewiesen. Betrachtet das hier als Test für Eure zukünftige Herrschaft. Bischöfin Alberada würde König Henry nicht herausfordern, wenn er hier wäre und erklären würde, dass Prinz Ekkehard in sicheren Gewahrsam zur Festung von Villam geschickt werden muss - mit oder ohne große Eskorte -, weil man es sich in solch unruhigen Zeiten nicht leisten kann, eine große Anzahl von Männern als Wachen zu verlieren. Und sie wird auch Euch nicht herausfordern, die Ihr dazu bestimmt seid, nach Eurem Vater zu regieren, mögen Gott ihn mit einem langen Leben segnen.« Sapientia drehte die schöne, bestickte Kante ihrer Tunika in den Händen, zerdrückte die kleinen, runden Scheiben zwischen den 353 Fingern. Die Geste ließ sie ein bisschen wie eine Gänsemagd aussehen, die kurz davor stand, mit ihrem Liebsten zu schelten. Doch selbst eine gewöhnliche Gänsemagd konnte sich das Befehlen angewöhnen. Einen Augenblick lang erinnerte sich Hanna an das, was Hathui immer gesagt hatte: Gott lassen die Sonne auf Edelleute und Gewöhnliche scheinen, denn vor Gott sind alle Menschen gleich. Was trennte Hanna wirklich von Sapientia?
Sapientia ließ ihre Hände sinken. Sie hatte die Haltung einer Königin; in diesem Augenblick, in der düsteren Kirche, als die stummen Heiligen von oben auf sie herunterstarrten, konnte man das Glück des Herrschens auf ihrem Gesicht sehen. »Ich werde mit meiner Tante sprechen. Ekkehard wird bei Morgenanbruch abreisen, um den Adler zu begleiten, bis es sicher für sie ist, allein weiterzureiten.« Hanna lachte leise in sich hinein. Über sich. Gott hatten schon lange die Hochgeborenen von den anderen getrennt, egal, was Hathui auch dazu sagen mochte. Ein paar Worte wurden ausgetauscht, und Hannas Schicksal war besiegelt. »Adler.« Der Blick, mit dem Bayan sie jetzt betrachtete, war fest, noch immer ein bisschen bewundernd, aber auch endgültig, als wüsste er, dass er ihr zum letzten Mal Lebwohl sagte. »Wendet Euch auf keinen Fall nach Süden, bevor Ihr nicht westlich der Odar seid. Selbst dann müsst Ihr noch vorsichtig sein. Die Qumaner pflegen weit umherzustreifen.« »Ja, Eure Hoheit.« »Ekkehard ist jung und närrisch, Schneefrau«, fügte er hinzu. »Gebt auf ihn Acht.« »Komm, wir gehen«, sagte Sapientia scharf. Bayan ging gehorsam. Er warf nicht einmal einen Blick zurück. Seine stämmige, beeindruckende Gestalt verschwand in der Düsternis neben der Prinzessin. Hanna hörte sie weiterreden, aber sie konnte nicht mehr verstehen, was sie sagten. Breschius blieb noch. Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich, 354 bis sie vor dem Alfar stand. »Vertraut in Gott, Hanna.« Er vollführte das Zeichen des Segens über ihr. »Ich danke Euch, Bruder. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe Angst.« Er ging mit ihr weiter, hielt noch immer ihre Hand. Seine Berührung hatte etwas Beruhigendes, wie eine Rettungsleine. Als sie auf der Schwelle standen, hinter den heiligsten Bereichen, neigte er den Kopf und flüsterte ihr ins Ohr: »Vergesst niemals, dass eine kerayitische Prinzessin Euch als ihr Glück gekennzeichnet hat.« Die Stille und das Geheimnisvolle, der seltsame Ton seiner Stimme, in der Verdammnis mitschwang, ließen sie erschauern. Der Tod hatte sie mit seinen kalten, schwieligen Händen berührt. Sie brachen im kühlen Licht der Morgendämmerung auf, Hanna, Prinz Ekkehard, seine sechs edlen Begleiter und die zwanzig anderen Ketzer, die alle exkommuniziert worden waren. Sechzehn von ihnen marschierten zu Fuß, da Bayan nicht zu viele Pferde opfern wollte. Der Boden war hart gefroren und von einer dünnen Eiskruste überzogen, die von Hufen und Stiefeln schnell zerbrochen wurde. Als sie die westliche Brücke überquerte, drehte Hanna sich um und sah Edelmann Dietrichs Kopf auf einem Pfahl über dem Tor stecken. Danach brachte sie es nicht mehr über sich, noch einmal zurückzuschauen. Ivar war möglicherweise ohnehin schon tot. Sich umzuschauen würde ihn nicht wieder lebendig machen. Sie heftete ihren Blick auf Ekkehards Banner, das schwach in einer trägen Brise flatterte. Der Regen, der ihnen so lange gefolgt war, hatte inzwischen aufgehört. Sie ritten bei kaltem, unangenehmem Wetter, und die Sonne stand hoch am Himmel, doch es lag keinerlei Wärme in ihrem Licht. Hanna hatte nicht einmal die Erlaubnis bekommen, sich von ihren Freunden, den Löwen, zu verabschieden. Ekkehards hastiger Aufbruch hatte etwas Unangenehmes, und das lag nicht nur 355 an Edelmann Dietrichs grässlichem Tod und der Exkommunikation. Sie sahen keinerlei Hinweise auf qumanische Späher. Es war, als würde eine unheilvolle Drohung sie begleiten. VIII Unbekanntes Terrain 1 Alain bahnte sich seinen Weg durch die Menge hindurch nach draußen; die Dorfbewohner diskutierten inzwischen laut und heftig, ein paar jammerten und wehklagten. Vor dem Ratshaus pfiff er die Hunde zu sich und rannte zu Adicas kleinem Haus, das mit verschiedenen Zaubermitteln, Glöckchen und Kränzen gekennzeichnet war. Niemals hatte sie ihr Haus verlassen oder betreten, ohne an der Schwelle bestimmte Rituale zu vollführen, und noch nie hatte er eine andere Person die Hütte betreten sehen. Doch wenn ihre Götter oder der Rat wirklich vorhatten, ihn zu vernichten, konnten sie das genauso gut auch später tun. Er verstaute den Lederbeutel mit Adicas kostbaren Gegenständen in einer Holzkiste, damit die Sachen in Sicherheit waren. Dann griff er sich eines ihrer Schlaffelle und eilte nach draußen zu den Hunden. Kummer und Rage waren nicht allein; das halbe Dorf war hinter ihm hergelaufen, wenn ihm auch niemand in die Hütte gefolgt war. Die andere Hälfte wartete noch immer unsicher beim Ratshaus. Während die Hunde an dem Schlaffell schnüffelten, trat Kel vor 357 und machte Anstalten zu sprechen, doch Beor stieß ihn beiseite und hielt Alain seinen Speer an die Brust. Die Bronzeklinge blitzte bösartig auf. Alain packte den Schaft von Beors Speer, denn obwohl Beor eigentlich stärker war als er - er besaß wahre Bärenkräfte -, verlieh ihm die Wut ungeahnte eigene Kräfte. »Tritt zur Seite«, sagte er in seiner eigenen Sprache und starrte Beor eindringlich an. »Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es vielleicht noch, Adica zurückzuholen. Wenn es ihre Absicht gewesen wäre, sie zu töten, hätten sie das gleich hier tun können, aber da sie das nicht getan haben und sie stattdessen mitgenommen haben, bleibt
uns vermutlich ein bisschen Zeit. Um Gottes willen, haltet mich nicht davon ab, sie zu suchen.« Ein seltsamer Ausdruck huschte über Beors Gesicht. Die Dorfbewohner hinter ihm tuschelten leise. Beor trat zögernd zur Seite. »Ich gehe jetzt und suche Adica«, erklärte Alain, mühselig um die richtigen Worte ringend. Mutter Orla sagte etwas, und sofort rannten einige der Umstehenden zurück ins Dorf. Kel machte einen Satz nach vorn; er trug jetzt zusätzlich zu dem Bronzespeer, den er dem toten Eindringling abgenommen hatte, noch ein Bronzemesser. »Ich komme mit!«, rief er triumphierend. »Ich komme auch mit«, sagte Beor plötzlich. Nach und nach meldeten sich noch zwölf andere Erwachsene, doch eine so große Gruppe konnte sich weder rasch noch unauffällig bewegen. »Kel.« Alain zögerte einen Moment, dann nickte er. »Beor. Ihr beide kommt mit.« Sie machten sich sofort zum Aufbruch bereit. Alain hätte gerne sein Messer und sein Schwert mitgenommen, aber er wusste nicht, wo Adica die Waffen versteckt hatte, und es blieb ihm keine Zeit, danach zu suchen. So nahm er stattdessen ein Bronzemesser. Mutter Orla ließ Seil bringen, außerdem Wasserhäute mit Met, eine Holzröhre, die mit gebrannter Keramik ummantelt und mit hei358 ßen Kohlen gefüllt war, getrockneten Fisch, haltbares Brot, ein Bündel Lauch. Beor und Kel hatten sich Holzgestelle an den Rücken geschnallt, an denen jeweils ein Lederbeutel hing, in dem sie diese Vorräte verstauten. Selbst das kostete wertvolle Zeit. Alain führte die Hunde hinunter zum Geburtshaus. Urtans Tochter folgte ihm und zeigte ihm die Stelle, wo die Auseinandersetzung stattgefunden hatte; mit Händen und Füßen teilte sie ihm mit, was sie von dem Wachturm beim Tor aus beobachtet hatte. Urtan und seine Kameraden waren, als sie die Banditen vom Hügelgrab herbeilaufen gesehen hatten, sofort zu Adica und Tosti gerannt. Die Banditen - mindestens zwanzig an der Zahl hatten sich in zwei Gruppen aufgeteilt; die eine hatte sich das Dorf vorgenommen, die andere sich darangemacht, die Geweihte Adica gefangen zu nehmen. Die Hunde schnüffelten am Boden und trotteten dann auf einen Befehl von Alain zu dem Hügelgrab; sie schienen dabei einem Pfad zu folgen, den nur sie wahrnahmen. Alain hastete hinter ihnen her, gefolgt von Kel und Beor. Die Dorfbewohner versammelten sich am Tor und sahen ihnen nach; sie wirkten wie die Mitglieder einer Trauergemeinschaft. Dann schlössen sie das Tor. Die erst zur Hälfte errichtete äußere Palisade kam Alain äußerst dürftig vor, und er sah einen farbigen Fleck im Graben liegen: eine Leiche. Was waren das für Banditen, die da zugeschlagen hatten? Wieso sahen sie aus wie Verwandte von Prinz Sanglant? Alle wussten, dass die Aoi nicht länger auf der Erde weilten - es sei denn als Geister, gefangen im Fegefeuer zwischen Körper und Geist. Und wieso wollten sie ausgerechnet Adica? Beor und Kel hätten die Frage wahrscheinlich beantworten können, aber ihm fehlten die richtigen Worte, um sie zu stellen. Er konnte also nichts tun, als Adica zu folgen. Er vermutete, dass sie von Kummer und Rage zu dem Steinkreis geführt werden würden. Als die Hunde jedoch den höchstgelegenen Erdwall erreicht hatten, schlugen sie eine andere Richtung ein, 359 trotteten eine Weile in seinem Schatten entlang, um sich dann an der östlichen Seite wieder nach unten zu begeben. Als sie den größten Teil des Hügels wieder hinabgestiegen waren, sahen sie einen Steinsturz - der Eingang zu einem Tunnel, der in den großen Hügel hineinführte. Kel stöhnte vor Angst, als die Hunde an der Öffnung herumschnüffelten. Vor langer Zeit hatte jemand in die linke Säule eine menschenähnliche Statue gemeißelt, die die Haut und das Geweih eines Hirsches trug. Daneben lag eine Blumengabe, die inzwischen verwelkt war und zum Teil auf dem Boden verstreut umherlag. Tiere hatten ihre Notdurft dort verrichtet, wo er stehen geblieben war, um den Blumenkranz zu untersuchen; jetzt wurden die Hunde von diesem faszinierenden Gegenstand angezogen. Beor kniete sich hin. Als er wieder aufstand, hielt er eine bronzene Schuppe in der Hand, die vermutlich von einer Rüstung abgefallen war. Alain blickte sich suchend um, damit sie keinerlei Hinweise auf die Anwesenheit der Banditen übersahen. Ein Stein war vom Hügel herabgefallen und lag jetzt zwischen Kornblumen. Rainfarn hatte an der Seite einer Spalte, wo sich Wasser sammelte, Fuß gefasst. Das war alles. Kummer bellte und verschwand im Eingang. Kel war inzwischen kreidebleich. Beor grunzte nur, aber als er Alain anblickte, stand ein wildes Grinsen in seinem Gesicht - als wollte er den Fremden prüfen, ob er mutig genug war, weiterzugehen. Ein überflüssiger Gedanke. Ein halbes Dutzend Fackeln lag bereit, gleich hinter der Schwelle sorgsam aufbewahrt. Alain entzündete den mit Pech getränkten Kopf mit einem Funken. Eine Flamme flackerte auf. Er klemmte sich eine zweite Fackel zwischen Gürtel und Tunika und folgte Kummer in den Gang hinein, wobei er mit dem Stab den Boden abtastete, um Hindernisse frühzeitig zu bemerken. Beor und Kel führten einen kurzen Wortwechsel, der aber von den Steinen erstickt wurde. Alain musste sich bücken, um weiter gehen zu können. Ein Stück weiter vorn hörte er Kummer schnüf360
fein und keuchen. Von der Fackel stieg jetzt Qualm in die von Kragsteinen gestützte Decke auf. Dunstiges Licht enthüllte Verzierungen, die entlang des Ganges in den Stein gemeißelt worden waren: hauptsächlich Rauten und Spiralen, aber hier und dort auch seltsame stockähnliche Hände, die nach vier Linien griffen, die sich über ihnen trafen. Solche Symbole der Macht verrieten die Anwesenheit der alten Götter, aber Alain hatte keine Angst vor ihnen. Sie hatten keine Macht über jene, die auf die Herrin und den Herrn vertrauten. Die Decke schraubte sich weiter nach oben, und die dicken Steinwände wurden immer höher, bis er völlig unerwartet in einer großen Kammer stand. Eine Steinplatte lag in der Mitte der Kammer auf dem Boden. Kummer schnüffelte ungeduldig daran herum, als röche er eine Ratte. Alain hielt die Fackel hoch, während Beor ihm vorsichtig in die Kammer folgte, den Speer kampfbereit erhoben. Rage trottete hinterher. Von Kel war keine Spur zu sehen. Die Kragstein-Decke war jetzt so weit oben, dass das Fackellicht sie nicht mehr erreichte. Gegenüber von Alain und an beiden Seiten befanden sich Nischen; jeder dieser Alkoven war mit der Darstellung einer uralten Königin verziert. Hier, tief im Innern von Stein und Erde, war nicht einmal der Wind zu hören. Aber irgendetwas beobachtete sie. »Wo ist sie?«, fragte Alain die unsichtbare Anwesenheit. Die Fackel ging flackernd aus, als hätte ein Windstoß sie gelöscht. Zunächst zischte sie noch, verteilte ein qualmiges Licht, doch dann, von einer Sekunde zur nächsten, war es zu dunkel, um überhaupt noch irgendetwas sehen zu können. Alain nahm den Geruch von brennendem Teer wahr, der erst aufwogte und dann erstarb, bis er nur noch Erde, Feuchtigkeit und Kälte roch - und den beruhigenden Duft der Hunde. Beor fluchte leise, aber es klang mehr wie ein Stoßgebet als wie ein Fluch. Dann vergingen selbst diese Empfindungen, und Alain konnte weder etwas fühlen noch hören, nahm auch das Hecheln der Hun361 de oder den Stein unter seinen Füßen nicht mehr wahr. Er war allein, bis auf ein zittriges, keuchendes Seufzen um ihn herum, als hätte sich der Hügel selbst in eine lebendige Kreatur verwandelt, halb schlafend und halb wach. »Wo ist sie?«, rief er noch einmal. Die Vision traf ihn wie ein Lichtblitz und versengte ihm die Augen. Drei Königinnen stehen vor ihm, die eine nach Norden gewandt, die andere nach Süden, die Letzte nach Westen. »Wer bist du, dass du von uns etwas begehrst?«, schreit die Jüngste. Sie hält einen Bogen in ihrer Hand, der in seiner ganzen Länge mit goldenen Salamandern verziert ist, die wie Feuer brennen. Ihr Grab ist mit zwei Sphinxen geschmückt. Ihre schlauen Gesichter sind sowohl katzenhaft als auch fraulich, und sie leuchten, als wären sie mit Phosphor in Berührung gekommen. »Wer seid Ihr, Heilige?« Sie ist keine solche Heilige, wie sie der heilige Daisan kennt, aber Alain kann sie dennoch respektieren, denn sie ist eine Frau mit Macht, auch wenn sie tot ist. Ihre Stimme dröhnt durch ihn hindurch wie das wilde Donnern eines Gewitters. »Ich bin jene, die man Pfeilhelle nennt. Hast du noch nie von mir gehört? Bin ich nicht von der Löwenfrau aufgezogen worden, die mich die verborgenen Wege gelehrt hat, die nur die Bleiche Jägerin kennt?« »Es gibt vieles, was ich nicht weiß«, räumt er ein. »Was willst du?«, fragt die zweite Königin, die in Richtung Süden steht. Auf ihrem Grabmal befindet sich eine mit strahlendem Blattgold überzogene Sau, und sie selbst hat die füllige Gestalt einer wohlgenährten Frau, ist strahlend und geschmeidig. »Was willst du?« Nur ein voreiliger Mann erklärt sein wahres Ziel, bevor er genau weiß, mit wem oder was er es zu tun hat. Sie lacht. »Ich bin Goldsau. Durch meine Magie sind alle Frauen meines Stammes fruchtbar und ihre Kinder gesund gewesen. Ist es nicht das, was alle Leute wollen?« »Wie kommt es, dass der Tod dich gezeichnet hat, du aber den362 noch lebst?«, fragt "die dritte Königin. Ihre Stimme hat etwas Krächzendes, das ihm eine Gänsehaut verursacht. Ihr Steinhaufen steht im Westen, gegenüber dem Eingang. Er ist noch einfacher gehalten als die anderen und besteht nur aus einem schlichten Hügel aus verblichenen Steinen; die Steine sehen aus wie die abgenutzten Zähne einer riesigen Kreatur. Sie ist alt und zahnlos, aber ihre Augen glänzen wie Sterne. »Woher wisst ihr, dass ich lebe?«, erwidert er. »Nur was lebt, hat Wünsche«, erklärt Zahnlos freundlich. »Was kannst du uns als Gegenleistung für eine Antwort geben?« Er lacht. »Ich habe nichts, was ich euch geben könnte, denn ich bin nackt an diesen Ort gekommen.« »Sage nicht, dass du nichts hast«, tadelt Goldsau. »Du hast fugend und Lebenskraft. Du hast Leben.« »Du bist unberührt und wohlbehalten«, sagt Pfeilhelle. »Du bist noch Jungfrau wie alle, die der Bleichen Jägerin dienen.« »Es ist nicht die Bleiche Jägerin, der ich diene«, sagt er so respektvoll, wie es ihm möglich ist, denn es wäre nicht gut, Königinnen von solcher Macht zu beleidigen, schon gar nicht jene, die tot sind. »Du dienst der Herrin, wie wir alle es tun.« Zahnlos kommt einen Schritt näher. Der Geruch des Grabes umweht sie, als ihr aus Gras gewebter Umhang sich in einem Wind bewegt, den er nicht spüren kann. »Die Herrin
befiehlt über Leben und Tod« »Dann bin ich in Ihren Händen.« Er neigt den Kopf unter dem Gewicht einer größeren Anwesenheit, die hier lauert- in Gestalt einer mühelosen Stille, die die Kammer durchdringt, in ihr anschwillt und sich ausbreitet, um das gesamte Universum auszufüllen. Zahnlos lacht. »Es soll bezeugt werden.« »Ich weiß, wohin sie gegangen sind«, sagt Pfeilhelle plötzlich. »Aber niemand kann darüber etwas erfahren, ohne eine Gabe als Gegenleistung angeboten zu haben.« Er würde ihnen alles geben, wenn es nur Adica wieder in ihr Dorf zurückbrächte. Er hat so vieles verloren; er will sie nicht auch 363 noch verlieren. »Was habe ich, das ihr wollen könntet? Ich bin nackt gekommen -« Er weiß augenblicklich, was sie von ihm wollen, und er errötet sichtbar, während sich Hitze in seinem ganzen Körper ausbreitet. »Versprich uns das, was du schon so lange zurückgehalten hast. Wenn du sie findest, bring sie her und erfülle hier dein Versprechen.« »So sei es«, murmelt er. Kummer bellte. Alain taumelte, als würde der Boden, auf dem er stand, nachgeben. Beor fing die Fackel auf, bevor er stürzte. Er schien etwas sagen zu wollen, doch dann hörten sie ein gespenstisches Wimmern und drehten sich beide um, die Waffen erhoben. Kel taumelte in die Kammer, schwitzend vor Angst, aber mit einem entschlossenen Ausdruck auf seinem jungen Gesicht. Rage begann wild am Steinaltar zu scharren. Erde spritzte auf, befleckte die Wände, und kurz darauf enthüllte das tiefer werdende Loch eine kleine Holztür, die flach auf dem Boden angebracht war. Beor zog daran und öffnete sie. Eine Treppe war vor langer Zeit in den Fels gehauen worden. Sofort begann Kummer, hinabzusteigen. Kel murmelte leise etwas und gemahnte die anderen zur Vorsicht, aber als Alain dem Hund folgte, spürte er, dass auch der Junge hinter ihm war. Licht flackerte auf; Beor hatte eine zweite Fackel angezündet. Die Stufen waren so glatt, als wären sie poliert worden, und führten in sanftem Schwung immer tiefer hinab lang genug, dass Alain hätte die Nachtmette singen und den Sonnenaufgang bei der Prim sehen können. Statt die Stufen zu zählen, richtete Alain jedoch seine Aufmerksamkeit auf Kummer, damit sie nicht plötzlich unerwartet aus dem Dunkel angegriffen wurden. Einmal blieb er, als er ein Geräusch hörte, so abrupt stehen, dass Kel ihm in die Fersen trat. Alle kamen zum Stehen. Das Geräusch erklang wieder und wieder. Es war nur Wasser, das in eine unsichtbare Pfütze tropfte. 364 Fackellicht flackerte an den schlichten Wänden. Die Decke war so tief, dass er sie mühelos mit der Handfläche anfassen konnte. Wenn er seinen Arm hob, konnte er die Wände mit den Ellenbogen berühren. Der Fels hatte sie regelrecht umschlungen. Es war besser, nicht weiter darüber nachzudenken. Es war besser, nicht an die Gruppe von bewaffneten Kriegern zu denken, die möglicherweise ein Stück weiter vorn mit erhobenen Speeren darauf warteten, ihnen die Bäuche aufzuschlitzen. Es war besser, dankbar dafür zu sein, dass der Fels trocken war und keine Feuchtigkeit absonderte. Es war immer weise, Gott für kleine Barmherzigkeiten zu danken. Er lächelte grimmig, als Kummer wieder vor ihm in der Dunkelheit verschwand. Was hatte er noch zu fürchten, nachdem ihm bereits das Schlimmste geschehen war, was einem Sterblichen widerfahren konnte ? Sie gingen weiter, bis die Treppe plötzlich auf einem Absatz endete, der groß genug war, dass die zwei Hunde und die drei Männer gemeinsam darauf Platz fanden. Beor hob seinen Speer und klopfte an die Felsendecke. Zwei Tunnel öffneten sich vor ihnen. Ein Windhauch zupfte an Alains Gesicht, als hätte der Fels selbst seinen Atem ausgespuckt. Dann war alles still. Sie tranken einen Schluck Wasser, um ihre trockenen Kehlen anzufeuchten. Die Luft hatte sich verändert, hatte jetzt einen scharfen Geruch. Auch der Fels hatte sich verwandelt; er sah jetzt gar nicht mehr wie Fels aus, sondern hatte einen weichen, polierten Glanz, der im Fackellicht erzitterte. Kel flüsterte etwas von einem Hügel oder von etwas unter einem Hügel. Nein, von einem Volk, das unter dem Hügel lebte, wie es schien, denn er benutzte mehrere Male das Wort skrolin-sisi -oft genug, dass Alain in der Lage war, es unter all den anderen Worten herauszuhören. Gab es hier einen Stamm, der tief in der Erde lebte? Irgendjemand musste diese Tunnel schließlich in den Fels gehauen haben. Beor antwortete mit seiner polternden Stimme. Falls auch er Angst hatte, so war es Alain jedenfalls unmöglich, das zu erkennen. 365 Rage schnüffelte an den zwei schwarzen Öffnungen und wählte die rechte. Sie gingen weiter, aber schon bald teilte sich der Tunnel erneut, und dann noch zwei weitere Male. Wenn die Hunde nicht gewesen wären, hätten sie sich sicher verirrt, denn sie stolperten in einem Labyrinth umher, das sich ewig fortzusetzen schien. Doch die Steinwände blieben trocken und ohne Spuren, und sie fühlten sich seltsam warm und unnatürlich glatt an. Das machte es leicht für Alain, jedes Mal wenn sie eine neue Richtung nahmen, ein Zeichen aus Ruß auf die rechte Seite zu malen; er hoffte inständig, dass sie damit später ihren Weg zurück finden würden. Die Fackel war jetzt schon ziemlich heruntergebrannt und begann zu spucken. Sie hielten inne, um ein bisschen
Wasser und ein paar Happen getrockneten Fisch zu sich zu nehmen. Der dicke, nach Pech riechende Rauch strömte an Alain vorbei und brachte ihn zum Husten. Seine Augen tränten. Er schnappte nach Luft, atmete dabei aber nur noch mehr giftigen Rauch ein. In seinem Kopf drehte sich alles, und er musste sich an der Mauer festhalten, lehnte sich mit dem Kopf an den Stein in dem Versuch, aufrecht stehen zu bleiben. Lärm erscholl aus der Tiefe des Felsens, schien das Pochen seines Herzens noch zu übertönen: ein knirschendes Rumpeln, in das sich in rhythmischen Abständen ein entschiedener Klang mischte, wie die Hiebe eines gigantischen Schmiedehammers. Er schloss die Augen, um die Benommenheit abzuschütteln. Einen Augenblick lang hatte er Halluzinationen: Es war, als würde seine Wange nicht an der Wand, sondern auf blankem Stahl ruhen. Er fuhr mit der Hand an der Wand hinauf und begriff. Die Wände waren gar nicht aus Stein. Geschmiedetes Eisen ummantelte sie, so wie weiches Leder als Handschuh eine Hand umhüllt. Die Fackel erstarb. Er griff nach der anderen, die noch in seinem Gürtel steckte, wurde aber davon abgehalten, als sich eine große Hand um seine schloss. Beors feindselige Gestalt kauerte neben ihm. Nichts und niemand würde Beor aufhalten können, ihn hier und jetzt umzubringen, wenn er es wollte. Die Hunde knurrten nicht. 366 In der Stille versuchten Beor und Kel ebenfalls zu hören, was Alain zu hören schien: die schwachen Geräusche eines Handgemenges, die seltsam verzerrt durch das Labyrinth der Eisentunnel hallten. Beor drängte sich an Alain vorbei, um die Führung zu übernehmen, aber er war kaum mehr als zehn Schritte gegangen und hatte zwei Tunnelabzweigungen passiert, als er stehen blieb. Durch irgendeinen Trick des Labyrinths waren die Geräusche jetzt schwächer; einen Augenblick lang ging der Kampflärm sogar in dem Zischen von Beors Fackel unter. Der große Mann kehrte um, wollte einen anderen Tunnel nehmen, aber die Hunde und Alain drängten an ihm vorbei und schritten in der gleichen Richtung weiter. Die Kampfgeräusche klangen jetzt mal weit entfernt, mal ziemlich nah, je nachdem, wie der Gang sich wand. Obwohl sie rasch gingen, war Alain noch immer bemüht, jede Abzweigung zu markieren, damit sie zurückkehren konnten. Seine Sehfähigkeit hatte sich der Düsternis angepasst. Da Beors Fackel hinter ihm willkürlich auf und ab flackerte und Schatten und Lichtstreifen an die beinahe unheimlich gleichmäßige Wölbung des Tunnels warf, hatte er keine Probleme, seine Schritte zu setzen. Die Hunde stockten kein einziges Mal. Kel bildete die Nachhut. Alain hatte keine Probleme beim Gehen, bis er an einer Stelle, wo der Boden steil nach unten abfiel, ausrutschte. Er glitt in eine Kammer, die wie durch Zauberei von einem flackernden gelbweißen Licht erhellt wurde, das so hell leuchtete, dass er wie geblendet war. Einer der Hunde prallte gegen Alain, sodass er in den dunklen Bogengang des Tunnels taumelte und auf die Knie fiel. Es gelang ihm, im Fallen seinen Stab hochzureißen, aus Angst, möglicherweise niedergeschlagen zu werden, wenn er so hilflos war. Aber es kam kein Hieb. Weniger als vier Schritte vor ihm war ein Abgrund, in den er beinahe hineingestolpert wäre. Von da aus, wo er lag, konnte er nicht erkennen, wie tief der Spalt war. Waffengeklirr hallte in der ganzen Kammer wider und machte 367 es schwer, zu erkennen, wo der Kampf stattfand. Besonders seltsam war, dass er gar keine Stimmen hörte, als würde das Gefecht vollkommen schweigend ausgetragen. Die Hunde bellten nicht und gaben auch sonst keine Warnzeichen von sich. »Skrolin!«, flüsterte Kel, doch Beor brachte ihn mit einem Zischen zum Schweigen. Helles Licht flackerte wieder auf, verdüsterte sich rasch zu einem weichen Glühen, als hätte ein Riese plötzlich zehn Kerzen auf einmal ausgeblasen - bis auf eine. Das Licht genügte jedoch, dass Alain auf der anderen Seite des Spalts ein Handgemenge erkennen konnte. Mehr als ein Dutzend maskierter Krieger kämpfte gegen kleine, schlanke Kreaturen, die wie halbwüchsige Kinder aussahen, deren Haut so lange poliert worden war, bis sie den matten Glanz von Zinn hatte. Die Federn, die die Helme und Rüstungen der Krieger schmückten, wurden bei jeder Bewegung erschüttert. Viele hatten ihre Masken abgenommen, um bei dem schlechten Licht besser sehen zu können. Ihre Bronzespeere klirrten auf den runden Schilden, die die kleinen Leute in den Händen hielten Schilde, die mit seltsamen geometrischen Mustern verziert waren. In der linken Hand hielten die kleinen Kämpfer schlanke Schlagstöcke mit verdickten Köpfen, die für einen Kampf nicht besonders geeignet schienen. Plötzlich entdeckte Alain Adica. Sie wurde inmitten der Meute der Krieger festgehalten, die Hände gefesselt. Ein Mann, dessen Helm vollständig mit schneeweißen Federn geschmückt war, schob sie weiter zu den Soldaten, die dem Eingang zu einem noch größeren Gang am nächsten standen: dieser Gang musste ihr Fluchtweg sein. Beor stieß Alain an und deutete auf etwas. Eine Brücke spannte sich über die Kluft. »Ashioi«, fuhr Beor mit leiser Stimme fort. »Fe skrolin dAshioiket.« Die schmale Brücke bestand aus raffiniert gespannten, dicken Eisenseilen. Alain glitt rasch über sie hinweg, tief geduckt und dicht gefolgt von den Hunden und den anderen beiden Männern. 368 Die Brücke schwankte bei jedem Schritt. Noch hatte sie niemand auf der anderen Seite bemerkt; die Kämpfenden waren viel zu sehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben, während das Handgemenge vor und zurück wogte, ächzende Stimmen sich mit Husten und Keuchen mischten und einmal auch ein gequälter
Schmerzensschrei erscholl, der aber wie abgeschnitten abbrach. Das Licht veränderte sich wieder, wurde heller, als ein Blitz aufzuckte. Die Skrolin drängten gemeinsam vorwärts, um gegen ihre Feinde zu kämpfen. Jetzt konnte Alain sehen, dass die Waffen der Skrolin bösartiger waren, als es zunächst den Anschein gehabt hatte: feuchte Dornen ragten aus den Köpfen der Knüppel Schlangenfänge voller Gift, das im Zauberlicht glänzte. Sie schlugen mit den Schlaghölzern auf die Beine ihrer größeren Gegner ein und versuchten, sie so zu Boden zu reißen. Eine maskierte Kriegerin wurde auf die Knie gezwungen und befand sich Auge in Auge mit dem kleineren Krieger, dessen Knüppel jetzt unter ihrem Gewicht festgeklemmt war. Das Skrolin schmetterte seinen Schild gegen ihre wunderschöne Adlermaske, und Holz zerbarst, doch als es zu einem neuen Schlag ausholte, presste die kniende Kriegerin ihren Speerschaft gegen den Hals des Skrolin, um es gegen seinen eigenen Schild zu drücken. Der Druck des Speerschafts raubte dem Skrolin die Luft; die Augen traten hervor und sein Kopf zuckte, während es nach Luft zu schnappen begann. Sein Helm fiel zu Boden, rollte mit einem rhythmischen Klirren bis zur Kante und stürzte in das schwarze Loch. Alain sprang von der Brücke auf den sicheren Fels. Er schwang seinen Stab und traf die Kriegerin seitlich am Kopf, sodass sie umfiel. Das Skrolin strampelte und rollte sich zur Seite. Die Augenlider der Frau flatterten. Ihr Mund, durch die zerbrochene Maske hindurch einigermaßen sichtbar, war leicht geöffnet, wie im Tod. Hatte er sie getötet ? Aber sie stöhnte und versuchte aufzustehen, bevor sie noch immer benommen rücklings zu Boden sackte. Der am nächsten stehende maskierte Krieger rammte seinen Schild gegen das Skrolin, das ihm gegenüberstand, und zielte dann 369 mit einem kräftigen Hieb auf Alains Kopf. Alain parierte blitzschnell und trat nah an den Krieger heran, rammte ihm das Ende seines Stabes in den Unterleib und schickte ihn anschließend mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter zu Boden. Beor und die beiden Hunde drängten an Alain vorbei. Der weiß behelmte Hauptmann trat vor, um sich der neuen Bedrohung zu stellen. Rage und Kummer sprangen ebenfalls hinzu, wurden aber von einem Nebel aus Mücken belästigt. Kummer jaulte, brach auf dem Boden zusammen und kratzte sich wütend am Kopf, während Rage sich in den Schaft eines Speers verbiss. Die Kiefer fest in das Holz vergraben, schüttelte sie den Speer in dem Versuch, ihn dem Hauptmann aus der Hand zu reißen, wild hin und her. Beor nutzte den Vorteil, den Weißfeders Hilflosigkeit ihm gewährte, und zielte auf den ungeschützten Rücken des Mannes, doch der weiß behelmte Krieger ließ den Speer los und duckte sich, um dem Angriff auszuweichen. Blitzschnell sprang er wieder hoch und zog sein Bronzeschwert. Beor besaß keinen Schild, mit dem er die Klinge hätte abwehren können. Mit der Wut eines Berserkers oder auch nur aufgrund der raschen und realistischen Abschätzung seiner Chancen ließ Beor seinen Speer fallen, wich dem Hieb aus, packte den Hauptmann und begann mit ihm zu ringen. Kel hatte sich zu Alain gesellt, und gemeinsam parierten sie die Hiebe der anderen Krieger, versuchten, Verwirrung zu stiften. Versuchten, am Leben zu bleiben. Rage stürzte sich mitten ins das Gewühl, und Alain verlor sie aus den Augen. Kummer hatte sich in sicherem Abstand niedergelassen und leckte sich die Schnauze. Kel war mutig, hatte aber wenig Erfahrung. Sein Zögern hätten sie mehrfach beinahe teuer bezahlt, und nur die Anwesenheit der Skrolin bewahrte sie davor, von den Feinden überwältigt zu werden. Aber viele der Skrolin waren bereits gefallen. Alain konnte sie erkennen - die, die verwundet, und andere, die getötet worden waren. Diese Wahrnehmungsfähigkeit weitete sich aus, schien sich auf das gesamte Handgemenge auszudehnen, während er gleichzeitig versuchte, am Leben zu bleiben, seine Kameraden am Leben 370 zu erhalten und sich einen Pfad zu Adica zu bahnen. Die Herrin der Schlachten half ihm nicht. Er hatte kein Verlangen danach zu töten; allein der Gedanke daran bereitete ihm Übelkeit. Aber während er parierte und um sich schlug, Kel einen Hieb ersparte und einen gefallenen Skrolin mit dem Fuß aus dem Weg schob, gewann das Handgemenge an Schärfe und Klarheit, eine fast unheimliche Voraussagbarkeit, als wären all die anderen in einer durch Magie entstandenen Zeitlupe gefangen. Die Blößen, die sich seine Gegner gaben, wurden offensichtlich, den gegen ihn gerichteten Schlägen war leicht zu begegnen. Als Kind hatte er die Fresken an den Kirchenwänden heiß und innig geliebt, von ihnen geträumt: Der Fall der alten Stadt Dariya durch wilde Reiter. Die verhängnisvolle Schlacht bei Ausseiles, wo Taillefers Neffe und seine Männer ihr Leben verloren, aber das Kaiserreich gerettet hatten. Der ruhmvolle Sieg von König Henry dem. Ersten über die aumanischen Eindringlinge entlang der Eldar, wo sein unehelicher Enkel Conrad der Drache seine Reiterei direkt in die Mitte des schrecklichen Heeres aus qumanischen Reitern geschickt, ihre Reihen gesprengt und sie in ihre eigenen Lande zurückgejagt hatte. Das Schlachtfeld wurde selbst zu einer dieser Wandmalereien, war kein unentwirrbares Chaos mehr, sondern ein Gemälde, auf dem jeder Kämpfer und jede Kämpferin für ihn zu erkennen waren, als hätte sich in ihrem Geist ein Fenster geöffnet. Er wusste, wer verängstigt war und wer zögerte, wer zum ersten Mal in einer Schlacht war, wer aufgrund seiner Erfahrung oder Kaltblütigkeit gefährlich war. Er wusste, wer kurz davor stand, wegzulaufen, und wer bereit war, auch um den Preis des eigenen Lebens nicht zu weichen. Die Kriegerin vor ihm wollte nicht kämpfen; sie wollte nichts mit den Menschen zu tun haben und hatte es sowieso für höchst unklug gehalten, sich unter die Erdoberfläche zu begeben. Ein anderer Krieger, der Kel zusetzte, war jung und bereit, seinen Heldenmut unter Beweis zu stellen, und er fürchtete sich genug vor
371 den Menschen, dass er Kel gegenüber einen Vorteil hatte. Alain trat dazwischen, schlug einen Speer beiseite, der auf Kel zielte, dessen Aufmerksamkeit durch den sich am Boden wälzenden Beor abgelenkt worden war. Zur gleichen Zeit schwang die erfahrene Kriegerin ihren Speerschaft gegen seinen Kopf, doch er wehrte den Hieb mit seinem Stock ab. Er brachte das Ende seines Stabes hinter das Bein des jungen Kriegers, und mit einer raschen Drehung holte er ihn von den Beinen, während er der älteren Kriegerin einen Stoß gegen die Stirn versetzte. Auch sie stürzte zu Boden. Kel schrie laut auf. Die feindliche Linie zerbrach. Adica, von ihren Wachen befreit, duckte sich tief und verschwand entlang der Höhlenwand in den Schatten. Die Frau unter Alain versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Alain drückte ihr seine Hand auf das Brustbein, um sie am Boden zu halten. Ihre Augen weiteten sich: Sie blitzten grün auf, so hell und durchdringend wie Jade. Sanglant hatte solche Augen, die mit edelsteinähnlicher Intensität leuchteten. Er starrte sie an, und sie starrte ihn an - er vor Verwunderung über ihre Schönheit und ihr wildes Herz, sie vor Verwirrung, die sich in Überraschung und Respekt verwandelte. Ohne ein Wort gab Alain ihr die Erlaubnis wegzulaufen. Sie sprang auf und zog sich zurück, zerrte den stolpernden jüngeren Krieger hinter sich her. Rage trottete unverletzt aus dem Handgemenge hervor und gesellte sich an Alains Seite. Beor hatte nicht so viel Glück. Weißfeder traf ihn hart an der Schulter, stieß ihn zurück und sprang auf die Beine. Er rief etwas so laut, dass es lange in der Kammer widerhallte. Seine Krieger -einige von ihnen noch immer kämpfend, andere bereits im Rückzug begriffen - bildeten eine feste Linie, um die Verwundeten zu schützen. Wo war Adica? Die Skrolin, die eine grünliche Substanz absonderten, wenn sie bluteten, warteten in unheimlicher Stille - ganz so, als ob sie nicht sprechen wollten oder könnten. Alain spürte jedoch, dass sie einfach nur ihren Feind hinhalten wollten. Aber worauf warteten sie ? 372 Beor kam auf die Beine, rutschte auf seinem eigenen Blut aus und taumelte. Er blieb neben Kel stehen. Adica löste sich aus dem Dunkel und stolperte über Leichen hinweg zu ihnen. Mit wütenden Schreien griffen die maskierten Krieger die vier Menschen und das halbe Dutzend Skrolin an. Schlagartig breitete sich wieder Verwirrung aus. Mit gebundenen Händen griff Adica nach einem Speer, der auf den Boden gefallen war, doch er entglitt ihrer Hand. Beim zweiten Mal gelang es ihr, die Finger um den Schaft zu legen, und sie hob ihn gerade noch rechtzeitig genug hoch, um unbeholfen einen Hieb zu parieren. Ein Schwerthieb streifte Kels Rücken, als er sich verwirrt in die falsche Richtung drehte, doch das Holzgestell schützte ihn. Der Lederbeutel sackte nach unten, wurde von dem Schlag aufgeschlitzt, und Nahrungsmittel fielen heraus. Ein Krieger rutschte auf getrocknetem Fisch aus und stürzte schwer zu Boden. Die anderen drängten unter dem Befehl von Weißfeder weiter vorwärts, auf der Suche nach Adica. Kel stolperte rückwärts und prallte gegen Adica, die ebenfalls taumelte. Halb vornübergebeugt, ging Beor zum Angriff über; trotz seiner Verletzung war er noch immer eine Gefahr für seine Feinde. Wo war die Klarheit geblieben, die aus der Schlacht einen leuchtenden Wandteppich gemacht hatte ? Es schien so einfach gewesen zu sein, in jenen kurzen Momenten, die sich wie ein Faden in die ungebrochene Gegenwart erstreckt hatten. Jetzt war Alain kaum mehr in der Lage, einen Hieb des weiß behelmten Kriegers abzuwehren, der auf Adicas Kopf zielte; tief grub sich das Schwert des Hauptmanns in seinen Eichenstab. Kummer fehlte, und Rage war wieder außer Sichtweite. Klauen kratzten an seinen Waden. Vielleicht war es möglich, zweimal zu sterben. Der Gedanke verursachte mehr Verwunderung als Furcht. Dann zerbrach die Welt. Von einem zum nächsten Atemzug ging das Licht aus, und Dunkelheit hüllte sie ein, machte sie blind. Kel schrie vor Angst laut auf. Geräusche wie Donnerschläge krachten in Alains Ohren. Die Erde zerbarst zwischen seinem linken Fuß und seinem rechten. 373 Er packte Adica und zog sie mit sich zurück, aber er spürte, wie er auf Knien vorwärts rutschte, auf eine neue Spalte zu. Hitze brodelte Von der schwarzen Tiefe empor, unsichtbar, aber deutlich spürbar - ein schmaler Strudel bloßer Luft, von einem glühenden Wind getrieben. Als er den Mund öffnete, um eine Warnung herauszuschreien, verbrannte die Luft ihm schier die Zunge. Er konnte seine eigene Stimme bei dem lauten Wind nicht hören. Zähne packten ihn. Ein Kiefer schloss sich um seinen rechten Fuß. Die Hunde versuchten ihn daran zu hindern, weiter zu rutschen. Adica bemühte sich, irgendwo Halt zu finden. Ein Speer glitt an ihm vorbei. Sein kühler Schaft strich an seiner Wade entlang, fiel dann taumelnd hinunter, hinunter, hinunter - nie hörte er den Speer unten aufschlagen. Er schien eine Ewigkeit unerbittlich auf die Spalte zuzurutschen, während Adica neben ihm versuchte, sich nach oben zu kämpfen. Seine stark beanspruchte Hand, mit der er versuchte, sich an dem glatten Stein festzuhalten, rutschte über die Kante, und er fiel nach vorn; seine zusätzliche Fackel löste sich aus dem Gürtel, klebte dank der Wucht des Windes kurz an seiner Brust und stürzte schließlich in die Tiefe. Eine kleine Hand packte seine Leinentunika, dann seinen Gürtel. Hundert Hände berührten ihn, pieksten und drückten ihn überall, während sie ihn wieder hochzogen. Er war ihnen hilflos ausgeliefert, während sein Rücken über den Boden scheuerte.
Die Hände ließen ihn los, alle bis auf eine, die seinen Rumpf mit bösen, scharfen Stichen absuchte. Vom Schwefelgeruch beißender Atem kitzelte sein Gesicht. Die Klauen fuhren seinen rechten Arm entlang und zwickten ihn hart, drehten die Haut herum, bis er schrie. Blut trat hervor, wo eine Klaue seine Haut aufgescheuert hatte. Ein kühler Druck legte sich auf seinen Arm. Sofort waren die Hunde bei ihm, leckten ihn und stießen ihn an. Die Kreatur, die ihn angegriffen hatte, war verschwunden. »Adica?« Seine Kehle schmerzte, und auch sein Rücken tat weh. Vollkommene Dunkelheit umgab ihn. Er konnte immer noch nichts anderes hören als den Wind. 374 Eine Lampe flackerte". Adica lag neben ihm; sie wirkte benommen. Ihr Feind blickte von der anderen Seite der Spalte zu ihnen herüber; ein fürchterlicher Riss hatte sich gebildet, aus dessen Tiefe der beißende Wind hochstieg, der geradewegs zur nicht zu erkennenden Decke der Höhle emporschoss. Die Flamme zitterte und beruhigte sich wieder, als der Hauptmann sie mit einer Hand schützte. Es gab ein Dutzend Krieger, die noch immer kämpfen konnten. Sechs von ihnen hatten Bögen, die sie während der Dunkelheit bereitgemacht, mit Pfeilen versehen hatten. Weißfeder brüllte einen Befehl. Alain warf sich über Adicas ausgestreckten Körper. Sie schössen. Keiner der Pfeile schaffte es über die Spalte hinweg. Sie wurden vom Wind erfasst, stiegen in die Höhe und gerieten außer Sicht. »Ha! Ha!«, rief Kel; es klang wie ein Hilfeschrei. Alain sprang auf, wischte sich die Augen, die vom Wind tränten. Beor und Kel hingen am Rand des Spalts. Alain zog sie hoch. Auf eine seltsame Weise hatte der glühende Wind ihnen geholfen. Beor hatte seine Fackeln verloren, und seine verletzte Schulter blutete noch immer, aber er konnte gehen. Kels aufgeschlitzter Ledersack baumelte gefährlich hin und her. Sie hatten keine Waffen mehr, aber auf dem Absatz zwischen ihnen und der Brücke lagen ein paar Speere herum. Kel beeilte sich, einige von ihnen aufzusammeln, während Alain sich neben Adica kniete und das Seil durchtrennte, das ihre Hände fesselte. Sie schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht, dann erhob sie sich. Der Spalt zog sich quer über den Boden, sodass sie den größeren Tunnel, auf den sie eigentlich zugegangen waren, nicht mehr erreichen konnten. Stattdessen bot sich ihnen nur noch ein einziger, kleiner Tunnel als Fluchtmöglichkeit an. Weißfeder rief etwas, das sehr viel Ähnlichkeit mit einem Fluch hatte, aber es gab nichts mehr, was er und seine Leute hätten tun können. Sein stolzes Gesicht verzerrte sich vor unterdrückter Wut; eine böse Schnittwunde verlief von der Lippe zum Kinn, und sei375 ne linke Wange war ein einziger blauer Fleck. Blut rann aus einem Ohr, tropfte auf die Lederrüstung, die seine Schultern schützte. Er trug eine Brustplatte aus gehämmerter Bronze, in die eine geier-köpfige, wild und herrisch wirkende Frau eingraviert war. Mit einem Fauchen drehte er seinen Feinden den Rücken zu. Ein Bogenschütze, der die Maske eines Ebers trug, schoss einen zweiten Pfeil ab, aber der Wind packte den Pfeil, trug ihn immer höher, bis er in den düsteren Höhen verschwand. Es war unmöglich, über die Spalte zu springen. Zudem war die Kluft wie ein Dreizack in drei tiefe Spalten zerbrochen und machte so aus dem Höhlenboden winzige Inseln, die von Winden umgeben waren. Der wohl jüngste Krieger tat, als wollte er einen Pfeil nach ihnen schleudern, aber ein Kamerad hielt ihn davon ab. Nach einer kurzen Unterredung gingen sie vorsichtig über das bisschen Boden, das ihnen noch verblieben war, schleppten die drei Kameraden mit sich, die zu sehr verletzt waren, als dass sie noch hätten laufen können. Sie betraten einen kleinen Tunnel, der so niedrig war, dass sie sich ducken mussten, als sie eintraten. Kel fluchte wütend. Während das Lampenlicht schwächer wurde, sah Alain, dass die Brücke über den ersten Spalt in der Mitte zerbrochen war und dass beide Teile in den Abgrund hingen. Sie waren auf einem schmalen Kamm zwischen zwei Schluchten gefangen. Jetzt verschwand auch Weißfeder in dem schmalen Tunnel, und sein Licht mit ihm. Schwärze senkte sich wieder herab. Aus dem Abgrund ertönte ein Pochen, das an die hallenden Schritte eines Riesen erinnerte. Einen Augenblick später erstarb der Wind. Rage bellte, als wäre sie überrascht; dann war alles still und vollkommen dunkel. 376 2 Ihre Hände brannten, als das Blut wieder in sie zurückströmte. Sie bewegte sie, während sie in der Dunkelheit tief Luft holte. Sie war frei, aber noch nicht in Sicherheit. Doch es war immerhin besser, als von den Verfluchten gehängt zu werden. »Geweihte, kannst du sprechen?« »Beor, wie kommt es, dass ihr mir gefolgt seid? Was ist beim Dorf geschehen? Wen haben sie sonst noch geholt?« Er stand rechts von ihr und keuchte so, wie ein Krieger es zu tun pflegt, wenn er den Schmerz seiner Verletzungen bekämpfen will. »Sie haben einen von Weiwaras Säuglingen mitgenommen, aber der Fremde hat ihn zurückgeholt. Nein, Geweihte, es sind keine anderen mitgenommen worden. Nur du. Es ist alles nur ein
Ablenkungsmanöver gewesen.« »Um mich zu kriegen.« Er grunzte zustimmend. »Wir sind gefangen.« Kels Stimme klang krächzend; für einen Augenblick klang sie fast wieder so hell wie die eines Jungen, wurde dann wieder etwas tiefer. »Adica.« Sie konnte Alain nicht sehen, aber sie spürte ihn, so wie sie ein brüllendes Feuer gespürt hätte. Er stand etwa eine Armeslänge von ihr entfernt. Statt zu antworten, streckte sie die Hand in die Schwärze aus und suchte nach seinem Arm. Er drückte ihre Hand. Das war alles. Die Dunkelheit in der Höhle war so vollkommen, dass sie nicht einmal sein Gesicht sehen konnte. Oder doch? Sanftes Licht erglomm; es hatte den Schimmer von Magie. Zuerst konnte sie nicht erkennen, woher es kam. Kel fluchte. Alain glühte. Nein. Einen Augenblick später sah sie ein bronzefarbenes Armband, das dreimal um Alains Oberarm gewunden war. Es war die377 ser Gegenstand, der glühte. Seine Miene verriet, dass Alain ebenso überrascht war wie sie selbst. Er fingerte vorsichtig an dem Armband herum, drehte es leicht und verzog das Gesicht vor Schmerz, als es sich nicht abnehmen ließ. »Die Großmütter haben immer eine alte Geschichte erzählt«, sagte Beor mit merkwürdiger Stimme. »Danach machten die Weisen jenen, die ihnen helfen, kostbare Geschenke.« Alain wandte sich ab, verbarg sein Gesicht, während er das seltsame Armband untersuchte. Die Brise, die aus der Spalte aufstieg, war jetzt leicht und kühl und bewegte seine Tunika. Von hinten, mit den schönen, schwarzen Haaren und der schlanken Gestalt, hätte er auch ein Verwandter der Verfluchten sein können - aber das war er nicht. Er hatte sich für sie menschlich genug angefühlt, in den Momenten vor dem Überfall der Verfluchten, als sie ihn beim Geburtshaus umarmt und geküsst hatte. »Das Seil«, sagte Kel. Beim Klang seiner Stimme blickte sie zu ihm hin und sah ihn neben der herabgestürzten Brücke stehen; er starrte in die klaffende Spalte. Enttäuschung und Wut mischten sich auf seinem jungen Gesicht. Er hielt ein Stück Seil aus seinem Rucksack in der Hand. Mit den Augen maß er die Entfernung zwischen den Brückenpfählen auf den beiden Seiten der Spalte. Beor humpelte herbei, um die Festigkeit der Pfähle zu prüfen. Adica ging sofort zu ihm und zwang ihn dazu, sich zu setzen, damit sie seine Wunden untersuchen konnte. Er hatte eine ganze Reihe, Schnittverletzungen an beiden Beinen und eine tiefere Wunde in der linken Schulter. Jemand hatte daran gedacht, eine Kompresse und ein Stück Stoff in Beors Rucksack zu legen. Sie holte Kräuter aus ihrem eigenen Beutel, um einen kleinen Zauber zu wirken, den sie in die Kompresse und den Stoff einarbeitete. Er grunzte dankend. Kels schiefes Lächeln verriet Furcht, obwohl er sich bemühte, mutig dreinzublicken. »Werden die Weisen uns dafür töten, dass wir in ihr Gebiet eingedrungen sind?« »Wenn sie uns hätten töten wollen, hätten sie es schon längst 378 tun können«, sagte Beor. »Wieso haben sie mit der Gruppe gekämpft, die dich entführt hat, Geweihte?« »Ich weiß es nicht. Zuerst habe ich gedacht, der Weißgefiederte, der Anführer, wollte uns zum Webstuhl bringen.« Kel und Beor blickten entsetzt drein. »Die Verlorenen kennen die Magie der Webstühle doch sicherlich gar nicht«, sagte Kel und sprach damit aus, was Beor wohl wissend für sich behielt. »Ist es nicht die einzige Macht, mit der wir uns ihrer Herrschaft entziehen können?« »Das habe ich auch immer geglaubt«, murmelte Adica. »Wie auch immer, es ist noch eine andere Gruppe zu den Steinen gerannt, vielleicht als Köder. Weißfeder und seine Soldaten haben mich in die Gruft der Königinnen gezerrt, wo der Tunnel beginnt, den auch ihr gefunden habt; jene Weisen, die unter dem Hügel leben, haben ihn geschaffen.« Beor hustete verständnisvoll, wie jemand, der hinter einem bewaffneten Erwachsenen aus seinem Versteck tritt. »Ich habe niemals gehört, dass jenseits der Gräber der heiligen Königinnen Tunnel verlaufen.« »Ich auch nicht. Es könnte sein, dass die Weisen Weißfeder und seine Gruppe deshalb angegriffen haben, weil sie dort eingedrungen sind. Die Weisen sind keine Verbündeten, die uns helfen.« »Ich war mir bisher nicht einmal sicher, dass sie überhaupt existieren«, sagte Kel nervös. Sofort führte Adica einen komplizierten Zauberspruch in der Luft aus, um Unheil abzuwenden. »Sprich nicht so! Nur weil du etwas nicht gesehen hast, heißt das noch nicht, dass es nicht existiert! Hast du den Ozean gesehen, wie ich es getan habe? Nein, das hast du nicht. Hast du die Mutter deiner Mutter gesehen, möge ihre Seele in Frieden auf der Anderen Seite ruhen? Bedeutet es, dass sie nicht existiert hat, dass sie deine Mutter nicht geboren hat, die wiederum dich geboren hat? Die Älteren sind keine Narren, die sinnlose Geschichten erzählen. Lausche ihren Worten, und verschließe deine Ohren nicht vor dem, was sie zu sagen haben!«
379 Er beugte sich vor, berührte um Vergebung bittend mit der Stirn den Boden, voller Furcht vor den Geistern, die immerzu um sie herum waren; er konnte den Tod riechen. »Ich bitte um Vergebung, Geweihte. Verfluche mich nicht!« Er weinte beinahe. Sie fühlte sich unermesslich alt im Vergleich zu seinem jungen Gesicht, obwohl sie in der gleichen Jahreszeit, im gleichen Jahr wie er geboren worden war. Er war nicht einmal alt genug, um einen richtigen Bart zu haben, wenngleich feiner Flaum sein Kinn umrahmte. »Ich werde dich nicht verfluchen, Kel. Es war sehr mutig von dir, mich zu retten.« »Nein, das war nicht meine Idee«, sagte er. Dann fügte er trotzig hinzu: »Und es war auch nicht Beors. Es war Alains. Wir beide sind ihm lediglich gefolgt.« Alain gab seine Versuche, das Armband abzunehmen, auf, drehte sich um und hielt dann inne, als er begriff, dass die anderen ihn musterten. Adica kannte die vielen Geschichten, die die Großmütter über vergangene Zeiten erzählt hatten. Sie hatte immer angenommen, dass einiges davon stimmte und anderes nicht, und doch stand ihr jetzt Alain gegenüber und trug ein Armband, das aus Magie entstanden war. Sie hatte immer gewusst, dass die Weisen wirklich unter den Hügeln lebten, aber sie - die so vieles gesehen hatte! - hatte sie niemals gesehen oder den Geschichten über das große Ausmaß ihrer Magie Glauben geschenkt. Heute war sie Zeugin ihrer Magie geworden: Licht ohne Flamme und die Fähigkeit, Fels zu spalten. Was sie gesehen hatte, versetzte sie in aufrichtige Ehrfurcht, denn sie verstand die Wurzel dieser Macht nicht. Und da stand also Alain und trug ein Armband, das die Weisen geschmiedet und geformt hatten. Sie hatte ihn kämpfen sehen. Nichts hatte ihn berührt. Er hatte nicht gezögert. Und er schien auch jetzt keine Angst zu haben, sondern betrachtete sie mit verwirrtem Blick, als erwartete er, dass sie ihm eine Frage stellte. Das Licht des Armbands warf seltsame Schatten auf sein Gesicht, machte seine Augen noch heller und schöner. Vielleicht begriff sie jetzt, dass er nicht so war wie die anderen. 380 Irgendeine nicht zu benennende Eigenschaft trennte ihn vom Rest der Menschheit, vielleicht, weil er den Pfad beschritten hatte, der zum Land der Toten führte. Aber er hatte diesen Pfad wieder verlassen. Er war zurückgekehrt ins Land der Lebenden. Er war von einer Macht berührt worden, die über das hinausging, was sie verstehen konnte. Sie liebte ihn. Einer der Hunde strich an ihren Beinen entlang und lehnte sich so kräftig gegen sie, dass sie ein bisschen zur Seite stolperte, halb lachend, weil ihr Herz bereits so heftig pochte. Der andere Hund, der am Rand des Lichtkreises stand, jaulte leise und machte ein paar Schritte den Kamm entlang, der zur anderen Seite der Höhle führte, die in undurchdringlicher Schwärze verschwand. »Ich glaube, wir sollten den spirituellen Führern folgen.« Ihre Finger schmerzten noch immer, als sie die drei Speere und die zwei Pfeile vom Boden aufsammelte. Es war wirklich schwer, irgendetwas richtig anzufassen, aber ihre Beine funktionierten noch ganz gut. Als Alain sich bewegte, schwankte das Licht, und gemeinsam gingen sie vorsichtig dicht an der Wand entlang, so weit wie möglich weg von der Felskante. Die Hunde hatten eine Öffnung gefunden. Der Tunnel war niedrig, hatte für die Weisen und die Hunde durchaus eine angenehme Höhe, doch Alain musste sich bücken, um den Hunden hineinfolgen zu können. »Ich will da nicht reingehen«, sagte Kel. »Komm.« Alains Stimme hallte merkwürdig von den Steinen wider. Kel lächelte schwach und folgte ihm. »Geh«, sagte Adica zu Beor. »Du bist verwundet. Trag das, was du tragen kannst. Ich bringe den Rest mit.« Beor hatte viele Fehler, aber nicht den, sich zu streiten, wenn er verwundet und gemeinsam mit anderen gefangen war. Angeführt von den Hunden krochen sie durch den niedrigen Tunnel. 381 Der Tunnel war gerade, und nach einiger Zeit wurde er höher, und sie konnten aufrecht - wenn auch niemals nebeneinander -gehen. Als Beor müde wurde, machten sie eine Pause und teilten das, was sie noch zu trinken und zu essen hatten. Sie gingen ein weiteres Stück und machten erneut eine Pause. Der Verlust von Kels Vorräten traf sie schwer, sie hatten kaum noch etwas. Sie sprachen wenig. Beor hatte genug damit zu tun, weiterzugehen, und die Stille und die Dunkelheit jagten Kel zu viel Angst ein, als dass er sie mit Worten zerstört hätte. Hin und wieder pfiff Alain leise vor sich hin. In bestimmten Abständen rief er den Hunden etwas zu, aber ansonsten blieb auch er still. Adica machte sich Sorgen. Würden die Verfluchten hier in der Dunkelheit über sie stolpern? Wenn sie wussten, wer und was sie war, mussten sie ihre sechs Kameraden eigentlich auch entführt haben. Wenn der Zauberspruch nicht von sieben Menschen gewirkt wurde, würde er nicht funktionieren, und die Verfluchten würden sich in den Ländern der Menschen mittels ihrer Herrschaft des Blutes, der Opfer und der Sklaverei verbreiten. Noch schlimmer aber: Wussten sie, was die menschlichen Zauberer vorhatten? Hatten sie von dem Geheimnis der Webstühle erfahren? Die Menschheit konnte niemals siegen, wenn sie die Macht über die Webstühle verlor. Diese Sorgen lenkten sie ab. Sie hörte das Scharren hinter ihr erst, als es schon zu spät war. Ein Gegenstand fiel neben ihr schwer zu Boden, sodass sie nach vorn stürzte, dann fiel ein zweiter herab. Sie schrie auf, zur gleichen
Zeit, als Alain weiter vorn etwas rief. Ein Hund bellte, und Alains Licht verschwand. Sie fuchtelte mit dem Speer herum, den sie erhoben hatte, um der Bedrohung von hinten zu begegnen, doch in dem schwarzen Tunnel rührte sich nichts. Schließlich kniete sie nieder, während sie Beor eine Frage stellen hörte. Sie betastete den Boden und fand die verlorenen Fackeln - jene, die in den Spalt gefallen waren. Einen Augenblick später stellte sie fest, dass sie die Hand verschwommen vor den Augen sehen konnte. 382 »Geweihte! Wir haben einen Weg nach draußen gefunden!«, rief Kel von vorn. Sie sammelte die Fackeln ein und folgte dem Klang seiner Stimme. Kel half Beor dabei, einen schroffen Felsen zu erklimmen. Von oben strömte Licht durch die Baumwurzeln. Indem sie mit einem Fuß Halt suchte und sich mit der Hand an einer Wurzel festhielt, konnte sie sich selbst hochziehen. Oben angekommen, fand sie sich in einem dichten Wäldchen wieder. Das Licht schmerzte in ihren Augen, obwohl das Laub der Bäume etwas Schutz gewährte. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen musste es Mittag sein, doch sie waren so lange unter der Erde gewesen, dass sie annahm, ein ganzer Tag und eine ganze Nacht wären seit dem Überfall vergangen. Tief sog sie die kühle, frische Luft ein. Mit einiger Mühe schafften sie die Hunde nach oben und halfen auch Beor, den Felsen zu erklimmen. Schließlich lagen alle keuchend auf einer kleinen Erhebung im Schutz der Bäume. Sie hätte am liebsten vor Erleichterung gelacht, aber sie traute sich nicht. Möglicherweise lauerten ihre Feinde noch in der Nähe. Kel griff sich einen Speer und machte sich auf, die Gegend zu erkunden. Nach einer Weile kehrte er mit einer Eskorte von sechs erstaunt dreinblickenden Angehörigen des Weißhirsch-Stammes zurück. »Wir sind in der Nähe von Vierhausen!«, rief Kel aus, und begleitet von Ulfrega und ihren Kameradinnen marschierten sie in den Schutz des Dorfes. Eine Heilerin kümmerte sich um Beor. Eine Rasch wurde nach Königinnengruft gesandt, um die Nachricht zu überbringen, dass Adica gefunden worden war. Die Leute von Vierhausen wussten, wie man ein gelungenes Fest veranstaltete: frisch getöteter Eber und Wild, mit einer dicken Suppe vermischte Birnen und Äpfel, Brot und mit Honig gesüßter Gerstenbrei. Das Bier floss in Strömen, und die Geschichte wurde ein erstes Mal lang und breit wiedergegeben, dann ein zweites Mal, als die erfahreneren Krieger von Vierhausen nach mehr Einzelheiten verlangten. 383 Welche Waffen verwendeten die Verlorenen? Was war mit den Knüppeln, die die Weisen benutzten? Besaßen die Wesen unter dem Hügel Augen, oder waren sie blind? Stimmte es, dass sie nicht sprechen konnten? War der Fremde von den Weisen verzaubert worden, oder war er selbst ein Zauberer, der große Macht in sich trug? Konnte Vierhausen einen der Bronzespeere im Tausch für die Gastfreundschaft behalten, die man der Geweihten an diesem Tag erwiesen hatte? Beor wiederum schalt sie wegen der nicht fertig gestellten Palisade, und Kel fand sich in einem Kreis von Jugendlichen wieder, die ihn offensichtlich bewunderten und alles über seine heroischen Taten hören wollten. Alain saß schweigend daneben. Er war eine zu seltsame Gestalt, als dass man sich mit ihm beschäftigt hätte, und er schien sich auch nichts daraus zu machen, dass man ihn allein ließ, während er mit Essen beschäftigt war. Sicher hatte er sich daran gewöhnt, angestarrt zu werden. Hin und wieder stellte Adica fest, dass er sie beobachtete, und jedes Mal schlug ihr Herz ein bisschen heftiger bei dem Gedanken an das, was noch geschehen mochte. Sie selbst wartete mit wachsender Ungeduld auf die Rückkehr der Rasch. Das junge Mädchen kehrte am späten Nachmittag zurück: Eine große Eskorte würde am nächsten Tag von Königinnengruft kommen, um die Geweihte zu ihrem Dorf zurückzubringen. Außerdem wartete der Wandelnde namens Dorren zu Hause auf sie; er hatte eine Nachricht von Fallender. Sie verbrachte eine unruhige Nacht und ging am nächsten Morgen rastlos auf und ab, während Kel und Alain den Bewohnern von Vierhausen halfen, die Baumstämme ihrer Palisade aufzurichten. Beor ruhte sich aus. Schließlich traf die Eskorte ein, überglücklich, sie zu sehen, und außer sich vor Freude, ihr mitteilen zu können, dass niemand von den Leuten, die bei dem Angriff verletzt worden waren, gestorben war oder sich eine eiternde Wunde zugezogen hatte. Auf dem Marsch zurück nach Königinnengruft verging die Zeit wie im Fluge; das ganze Dorf - obwohl immer noch von dem Überfall gezeichnet - war mit Braten und Backen beschäftigt und 384 bereitete sich darauf vor, am nächsten Tag ein großes Fest zu geben. Dorren wartete auf der Bank im Ratshaus und nippte an einem Bier. Wie eifrig er sie begrüßte! »Geweihte!« Er konnte sie nicht berühren. Er stand neben dem Tisch, zufrieden damit, den Becher mit der gesunden Hand herumzudrehen, immer und immer wieder. »Ich bringe eine Nachricht von Fallender, aber ich fürchte, ich bin zu spät gekommen. Ich habe von dem Angriff gehört.« Er blickte an ihr vorbei und errötete, die Augen vor Überraschung weit aufgerissen, als Alain das Ratshaus betrat. »Das ist der Fremde. Genau wie Fallender vorhergesagt hat. Er hat ihn in einem Traum gesehen.« »Hat er das?« Ihr Magen zog sich zusammen. Fallender besaß die Gabe des prophetischen Traums, und sollte er sich zu Alains Ungunsten äußern, konnte selbst Mutter Orla ihre Zustimmung wieder zurückziehen, was seine Anwesenheit im Dorf anbelangte. »Er hat einen fremden Mann weinend durch ein Tor aus blauem Feuer stolpern sehen, begleitet von zwei Hunden. Es war ein Geschöpf mit flammenden Flügeln bei ihm, eine Dienerin der Götter. « »Er ist durch den Webstuhl gekommen. Die Geheiligte hat ihn hergebracht.«
»Fallender konnte nicht genau sagen, ob die Vision von der Vergangenheit oder von der Zukunft handelte. Er hat gesagt, dass ich hierher reisen muss, um mir diesen Fremden selbst anzusehen, und dass ich dir eine Nachricht überbringen soll.« Adica blickte Alain nicht an. Das war gar nicht nötig. Sie wusste genau, wo er stand, spürte, wie er den Becher Bier entgegennahm, den Mutter Orlas Enkelin Getsi ihm brachte; ja sie glaubte beinahe den Geschmack des Bieres auf seinen Lippen spüren zu können, als er einen Schluck davon trank »Um was für eine Nachricht handelt es sich?« Mit ruhiger Miene überbrachte Dorren die Worte. Adica sah in seinem Gesicht all die Eigenschaften, die sie immer so anziehend 385 an ihm gefunden hatte, Güte, Intelligenz und Verstand. Jetzt jedoch wirkte er irgendwie kleiner, sozusagen im Schatten eines anderen stehend, seit sie Alain getroffen hatte. Als Dorren sprach, tat er das mit dem üblichen Sing-Sang, den die meisten Wandelnden benutzten, wenn sie ihre auswendig gelernten Nachrichten übermittelten. Seine gesunde Hand webte kleine Gesten, während er sprach, jede Einzelne dazu gedacht, seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. »Fallender vom Stamm Fenn spricht diese Worte zu Adica vom Stamm Weißhirsch. ShuSha vom Stamm der Kupferleute schickt ihren Schwestern und Brüdern diese Warnung.« Seine Hand wedelte wie ein Kranich, der leicht dahinschwebt und wegen seines wachsamen Wesens nicht so leicht zu überraschen ist. »Die Verfluchten haben bemerkt, dass wir uns gegen sie verbündet haben. Sie können jederzeit und aus jeder Richtung zuschlagen. Sei wachsam.« Er machte das Zeichen eines Adlers, der unerwartet zuschlug. »Hörn glaubt, dass die Verfluchten das Geheimnis des Webstuhls kennen und es hüten, bis sie nacheinander gegen uns losschlagen, aber Helle-HörtMich widerspricht: Ein Mann mag heiliges Blut aus einer Frau kommen sehen, aber das heißt noch lange nicht, dass er es aus seinem eigenen Körper kommen lassen kann. Zweifinger hat Unruhen in den Tiefen gesehen. Seid stets vorsichtig, sowohl ober- als auch unterhalb der Erde, denn die Verfluchten haben die Macht, von jedem Ort aus zuzuschlagen. Befestigt eure Wohnstätten und verschließt eure Häuser. Zieht euch in die Wildnis zurück, oder umgebt eure Lager mit Zaubersprüchen. Benutzt die Webstühle nur, wenn es wirklich notwendig ist. Haben die Verfluchten das Geheimnis der Webstühle erst einmal entschlüsselt, ist niemand von denen, die sie benutzen, noch vor ihnen sicher. Wenn eine Nachricht befördert werden muss, schickt die Wandelnden. Seid wie die Greifen, die ihre Eier gegen den Löwen verteidigen: Schützt euch gut, bis der Tag kommt, an dem wir handeln werden.« Als er fertig war, ließ sie ihm ein bisschen Zeit, damit er etwas 386 trinken konnte, trat jedoch unruhig von einem Bein aufs andere, während sie darauf wartete, dass er den Becher Bier geleert hatte. Dann, als er sich erholt hatte, sagte sie: »Und doch haben die Verfluchten hier zugeschlagen. Wenn sie Sklaven hätten haben wollen, hätten sie entsprechend viele Leute mitgenommen, nicht nur mich.« »Dann ist das, was Shu-Sha fürchtet, also bereits eingetreten«, sagte Dorren. »Als ich das Moor verlassen habe, war noch nicht die Rede von Unruhen, aber aufgrund des Mondstands weiß ich, dass drei Tage vergangen sind, seit ich durch die Webstühle getreten bin.« »Du musst schnell zurückkehren und nachsehen, ob Fallender etwas zugestoßen ist. Erzähl ihm von dem, was hier passiert ist, und lass die Wandelnden diese Geschichte zu meinen Schwestern und Brüdern tragen, damit sie von der Gefahr hören, die uns erwartet.« »Diese Worte werde ich zurück zu Fallender tragen. Was ist mit unseren Verbündeten, dem Pferdevolk?« »Die Geheiligte besucht diesen Ort manchmal bei Vollmond. Ich werde also dort auf sie warten.« Dorren nickte. Sie wunderte sich über die Stille hinter ihr, drehte sich um und sah, dass Alain aufmerksam lauschte. Seine Miene brannte vor Enttäuschung, und er schüttelte den Kopf, setzte den Becher mit einer Grimasse ab. »Lass mich eine Weile mit ihm reden, bevor ich wieder aufbrechen muss«, sagte Dorren. »Ich kann ihm etwas von unserer Sprache beibringen. Die Wandelnden haben mir bestimmte Geheimnisse anvertraut, die mir geholfen haben, die Sprachen unserer Verbündeten schneller zu erlernen.« »Wenn du das tust, werde ich dir sehr dankbar sein.« Er blickte sie seltsam an. »Stimmt es, dass die Geheiligte ihn dir als Ehemann geschickt hat?« Sie musste den Blick abwenden. Getrocknete Fische und Kräuter hingen von den Balken, und Rauch sammelte sich zwischen den 387 Dachsparren. »Ich beuge mich dem Willen der Geheiligten.« Würden die anderen es als unziemlich erachten, wenn sie wüssten, wie schnell sie Alains Zauber erlegen war? Nicht alle trauten dem Pferdevolk und ihrer mächtigen Schamanin, aber sie tat es. Es hatte nichts mit Magie zu tun gehabt. Manchmal wurden die Leute einfach so von Leidenschaft überwältigt, die unerwartet wie ein Adler zuschlagen konnte. Dorren untersuchte sorgfältig das Ratshaus, bevor er sich respektvoll Mutter Orla näherte. »Wo ist meine Adeptin Dagfa? Sie ist nicht bei der Geweihten, wie sie es sein sollte.« »Ihre Mutter hat kurz nach Erntebeginn aufgehört zu atmen. Sie ist nach Matschweg zurückgekehrt, um dabei zu helfen, den Weg auszulegen, der den Geist ihrer Mutter zur Anderen Seite bringen wird. Dein alter Lehrer ist zu verkrüppelt, um den ganzen Weg von Altfeste zurücklegen zu können, und sein anderer Adept ist weggegangen,
um die Sprache des Schwarzhirsch-Stamms zu erlernen.« »Eine seltsame Zeit, das zu tun, wo doch immer einer bei der Geweihten sein sollte«, sagte Dorren mit einem Stirnrunzeln. »Schicke eine Rasch, die Dagfa zurückholen soll. Ihre Schwester kann die letzte Spirale selbst malen. Wenn ich weg bin, soll Dagfa den Fremden unterrichten, damit er unsere Sprache sprechen lernt. Fallender hätte nicht von ihm geträumt, wenn er nicht wichtig wäre. Was ist, wenn er eine Nachricht von der Anderen Seite für uns hat? Was ist, wenn die Götter durch ihn gesprochen haben, wir ihn aber nicht verstehen können?« »So sei es«, sagte Mutter Orla, die die Richtigkeit seiner Aussage durchaus erkannte. Doch Alain konnte sich verständlich machen, wenn auch nicht immer mit Worten. An diesem Abend, als Adica Dorren zum Webstuhl führte, begleitete Alain sie, obwohl kein gewöhnlicher Dorfbewohner es jemals wagte, Zeuge der Zauberei zu werden - aus Angst vor den Winden und Wirbeln, die die Magie hervorrufen mochte. 388 Sie hatte den Nachmittag mit dem Steinschläger Pur verbracht, der ihren Spiegel repariert hatte. Er hatte versprochen, ihr einen neuen zu machen, aber in der Zwischenzeit hatte er Klebstoff aus den Hufen von Auerochsen gebrannt und den alten Spiegel wieder zusammengesetzt - gut genug, dass sie in dieser Nacht den Webstuhl benutzen konnte. Als sie Dorren und Alain vor Sonnenuntergang wieder traf, begrüßte Alain sie mit hübschen Worten, obwohl es ihm eindeutig leichter fiel, diejenigen Worte nachzusprechen, die Dorren ihm beigebracht hatte, als ihre Antwort zu verstehen. Sie verließen das Dorf und gingen zwischen den Erddämmen hindurch zum Tumulus. »Ich erinnere mich daran, wie mein Vater sich mit diesen Dämmen abgeplagt hat«, sagte Dorren. »Er hat geglaubt, dass solche Befestigungen den Weißhirsch-Stamm vor den Beschwörungen der Verfluchten schützen würden, doch wie können sie das -jetzt, wo die Verfluchten gelernt haben, die Webstühle zu benutzen?« Sie blieben stehen, um einen Blick auf das unter ihnen liegende Dorf zu werfen; die Längsseiten der Häuser waren nach Süden ausgerichtet, um so viel Wärme wie möglich von der Wintersonne abzubekommen. Die Gärten waren leer bis auf die letzten, noch nicht abgestorbenen Rüben, die noch ihren Samen verteilen würden, und eine unruhige Schafherde, die sich für die Nacht dicht aneinander drängte. Erwachsene schwärmten um die äußere Palisade, richteten Baumstämme auf. »Jedes Dorf muss sich selbst schützen«, sagte Adica. »Bis zu dem Tag, an dem wir uns von den Verfluchten befreien.« Dorren blickte rasch weg; er erinnerte sich an das Schicksal, das ihr bevorstand. Alain kniete neben ihr nieder und schaufelte mit der Hand >Erde< auf. »Dies heißt >Erde<«, sagte er. Er deutete auf die nächste Biegung des Erdwalls. »Das nennt man >Erdwall<.« Dorren kicherte. »Mit einer guten Lehrerin wirst du rasch lernen.« 389 »Mit einer guten Lehrerin«, echote Alain und wischte sich die Hand am Gras ab. Sie erreichten den Webstuhl, als die Nacht anbrach. Der Steinkreis stand stumm da, wie er es immer getan hatte. Sie setzte ihren Fuß auf den geheiligten Boden. Dorren wusste, dass er rechts von ihr stehen musste, und nach einiger Zeit brachte sie Alain dazu, sich links von ihr hinzustellen, obwohl er den Eindruck erweckte, als wolle er geradewegs in den Webstuhl hineinmarschieren. Wolken bedeckten einen Teil des Himmels, was das Weben etwas komplizierter machte. Da der Mahlstein von Wolken verhüllt war, musste sie ein Tor mit Hilfe des Breitbeils und der Auerochsen weben, deren sperrige Schultern sie als Gewicht benutzen konnte, um das Tor zum Westen aufzustoßen. Adica hob den Spiegel und begann mit dem Gebet, um die Steine zu erwecken: »Das, was sich nach Osten öffnet - höre mich. Das, was sich nach Westen öffnet- höre mich.« Alain zitterte nicht, und er rannte auch nicht weg, wie es viele getan hätten, die Zeuge jener Zauberei wurden, die sie aus Sternenlicht und Stein webte. Der Hügel unter ihr erwachte. Das Bewusstsein der alten Königinnen griff nach ihrem Herzen, als würden ihre Hände durch Stein, Erde und Tod hindurch greifen, um ihre lebende Erbin zu packen, sie für ihre eigenen Zwecke zu ergreifen. Sternenlicht verfing sich in den Steinen, und sie webte daraus ein Tor aus Licht. Sie hörte kaum Dorrens gemurmeltes >Lebwohl<, bevor er seinen Platz an ihrer Seite verließ und in das Tor trat -und aus ihrem Blick verschwand. Alain machte zwei Schritte nach vorn, um ihm zu folgen. Adica hielt ihn zurück. »Nein. Folge ihm nicht.« Er ging nicht weiter, doch seine Miene war jetzt ausdruckslos, als er in das Tor aus Licht starrte, als hätte seine Seele seinen Körper verlassen und wäre in ein unbekanntes Land gegangen, wohin sie ihm niemals folgen konnte. Ihre Stimme zitterte. »Ich möchte nicht, dass du mich verlässt, Alain.« 390 Das Licht verschwand, das Tor zerbrach und fiel auseinander, und plötzlich musste sie weinen. Einer der Hunde jaulte. Sein Kiefer schloss sich sanft, aber fest, um ihre Hand, und zog daran, ohne dass Blut floss. Alain nahm ihr den Spiegel aus der Hand und steckte ihn hinter den Gürtel. Er tadelte den Hund leise, sodass er die Hand losließ, aber dann ergriff Alain sie stattdessen. »Komm«, sagte er sanft, aber entschlossen. »Ich muss den Nicht Atmenden etwas geben. Den ... den Königinnen.« Er bemühte sich, sich an die Worte zu erinnern, die Dorren ihn gelehrt hatte. »Ich muss den Königinnen ein Opfer bringen.«
Den Königinnen. Sie waren noch immer in ihr. Der Widerhall ihrer Anwesenheit pochte im Gleichklang mit dem Schlag ihres Herzens. Die Königinnen verlangten nur von jenen ein Opfer, die sie um ihre Hilfe gebeten hatten. Doch war der Handel einmal vollzogen, musste er auch erfüllt werden, egal, wie bitter der Preis auch auf den Schultern dessen wog, der den heiligen Boden betreten hatte. Selbst sie - gerade sie - konnte den Versprechen nicht entfliehen, die sie den heiligen Toten gemacht hatten. Wie ein Stück Holz, das in den Fluss geworfen worden war, ging sie dorthin, wohin die Strömung sie zog. Alain führte sie den östlichen Hang des Tumulus zu dem Steinsturz hinab, der den heiligen Eingang zur Gruft der Königinnen markierte -jenem heiligen Ort, nach dem das Dorf benannt war. Dort befand sich die Schwelle zu dem Tunnel, der in den geheimen Bauch führte, wo die alten Königinnen ruhten. Wolken zogen sich am Himmel zusammen, löschten nacheinander die Sterne aus. Alain streckte die Hand aus und fand eine Fackel. Adica schlug mit dem Feuerstein Funken und brachte sie zum Brennen. Die Fackel ließ Rauch zur Kragsteindecke hinaufsteigen, und die Symbole der Macht, die in den Stein gemeißelt worden waren, enthüllten sich: Schiffe, die die Sonne in die Unterwelt zogen, der Spiralweg, der die Toten zur Anderen Seite führte, die Hände jener Geheiligten, die schon zuvor gegangen waren und nach den vier Stäben des 391 Wissens griffen. Sie mussten sich zunächst ducken, doch dann konnten sie aufrecht gehen, als die Decke höher wurde, bis sie die niedrige Kammer erreichten, wo die Königinnen in drei Steingräbern ruhten, jede in ihrer eigenen Nische. Die Gräber waren jeweils mit Steinmetzarbeiten geschmückt, die die jeweilige Königin repräsentierten. Das Grab von Pfeilhelle, das im Westen lag, war mit zwei Sphinxen verziert: die Löwenfrauen aus der Wüste, von denen sie die geheimnisvollen Weisen der Jägerin gelernt hatte. In der südlichen Nische leuchtete Goldsaus Grab mit Blattgold aus Phoenix-Federn, das in der Gestalt einer heiligen Sau geformt war; die heilige Sau war die spirituelle Führerin der Königin, deren Magie alle Frauen ihres Stammes fruchtbar, ihre Kinder gesund gemacht hatte. Schließlich lag in nördlicher Richtung das Grab von Zahnlos, etwas primitiver als das der anderen, denn sie hatte in den Tagen geherrscht, als die Magie der Metallarbeiten bei den Menschen noch unbekannt war. Hier, tief im Innern von Fels und Hügel, war nicht einmal der Wind zu hören. Sie trat vor und sprach ein Gebet, doch Alain schob sie wieder zurück und trat an ihrer Stelle vor. Er stellte sich aufrecht und stolz hin, leuchtend und furchtlos, als er in seiner eigenen Sprache Worte sagte, die sie nicht verstand. Was erzählte er ihnen? Sie wusste, dass sie zuhörten, denn die Toten hörten immer zu. Die Fackel ging aus, und sie blieben in gewaltigem Schweigen zurück. Sie konnte weder Alains beruhigende Anwesenheit spüren, noch das Keuchen der Hunde hören. Die Vision traf sie wie ein Lichtblitz und blendete ihre Augen. Alain, gekleidet in etwas, das sie niemals zuvor gesehen hatte, steht neben einem Steingrab, das so bemerkenswert in der Form eines hingestreckten Mannes gemeißelt ist, dass sie schon glaubt, der Stein würde jeden Augenblick zum Leben erwachen und der Mann sich aufsetzen. Steinhunde liegen bei ihm, einer bei seinem Kopf und ein anderer bei seinen Füßen. Alain weint still in sich hi392 nein; Tränen rinnen seih Gesicht hinab. Eine Gruppe von Frauen betritt das Haus hinter ihm, nur ist es kein Haus, sondern eine hohe Halle von erstaunlicher Machart, die sich auf beinah unmögliche Weise gen Himmel reckt. Alain dreht sich zu derjenigen um, die die Gruppe anführt; die Königin ist so dünn und abgemagert, dass sie hässlich ist. Ihr hat die Fette ihren Segen wirklich nicht gegeben. Im Herzen dieser Königin liegt der vereitelte Frühling, verknotete Schlangen zucken und winden sich um einen zusammengeschrumpften Geist, der von Furcht befleckt ist. Aber Alain liebt sie. Die junge Königin bringt ihm nicht das Geringste entgegen, und doch liebt er sie. Adica weint bitterlich, und ihre Tränen waschen die Vision weg, bis sie auf den riesigen Wassern dahintreibt. Schaum leckt an ihr, als sie im Gefolge eines Tieres gefangen ist, das so glatt wie ein Drache und so schnell wie eine Schlange ist und sich durch die See wühlt. Zuerst hält sie es für eine lebendige Kreatur, geschmeidig und lang, aber dann sieht sie, dass es ein Schiff ist. Es ist so ganz anders als die tiefbäuchigen, aus Fellen gebauten Curraghs, in denen die Küstenstämme das Ufernach Fischen und Vögeln durchstreifen. Ein Drachenkopf aus Holz schmückt den Bug. Ein Wesen wie ein Mann, doch nicht einer der Menschen, steht am Bug, mit suchendem Blick, während sich der Nebel um ihn herum schließt. Was für ein Wesen ist das? Wonach sucht es? Aber sie weiß die Antwort, noch während sie sich wundert, denn in der Vision kann sie in die pumpende Fleischmasse sehen, die mit Stein gemasert ist und sein Herz darstellt. Auch er sucht nach Alain. Nebel schwebt wie eine Welle herbei, blendet sie. Die Ranken, die sich um sie herumwinden, brennen so hell, als wären sie aus lauter kleinen Feuerstückchen gemacht. Sie sieht in sie hinein und an ihnen vorbei, hinter sie. Es sind Geister, die in der Luft brennen, mit Flügeln aus Flammen und Augen, die so leuchtend wie Messer sind. Doch eine von ihnen sinkt, beschwert mit der Sterblichkeit. Diese eine fällt flam393 mend in eine Schwelle aus zuckendem blauen Feuer, das Tor zwischen den Welten. Durch dieses Tor sieht die fallende Frau in die Mittlere Welt, die Welt, die der Menschheit bekannt ist: Hier in der Mittleren Welt ruht ein
riesiger Tumulus, umgeben von halb verfallenen Erdwällen. Tote Krieger liegen zwischen den Erdwällen und Dämmen. Ein tödlicher Wind hat sie in alle Richtungen zerstreut. Wie Blätter liegen die Toten auf der Hügelkuppe um einen Ring aus umgestürzten Steinen, von denen einige in Stücke zerfallen, andere in zwei Teile zerbrochen sind. Adica betet um den Schutz der Fetten und den Mut der Königin des Wilds, obwohl ihr kein einziges Wort über die Lippen kommt -und wenn doch, so kann sie nichts davon hören. Sie kennt diesen Hügel und diese Erdwälle, die jetzt abgetragen sind, die unter der Hand einer unermesslichen Kraft, die sie nicht benennen kann, zermalmt werden. Sie erkennt den Kreis aus umgestürzten Steinen, der von Flechten bewachsen und vom Alter mitgenommen ist. Es ist Königinnengruft, aber nicht so, wie sie Königinnengruft kennt, mit frisch gegrabenen Erdwällen um den Königinnenhügel herum und einem zurzeit ihrer Eltern frisch errichteten Steinwebstuhl auf der Kuppe des Hügels. Hier ist Königinnengruft so gewandet wie die Zahnlose, die alte Vettel. Ihre fugend und ihre Zeit der Reife sind längst vom Zahn der Jahreszeiten und dem Wind und dem kalten Regen abgenutzt. Es ist, als würde sie einen Blick auf sich selbst werfen, als alte Frau - alt, verwelkt und vergessen. Doch ein Stein steht noch immer in dem Steinwebstuhl. Gekleidet in blauweißes Feuer beherbergt er einen sterbenden Krieger. Gekleidet in Metallringe, gegen den brennenden Stein gesackt, wartet der Krieger auf den Tod, umgeben von zwei Geistern in der Gestalt von Hunden. Die fallende Frau mit den flammenden Flügeln aus ätherischem Feuer wirbelt an Adica vorbei. Sie streckt die Hände nach dem sterbenden Krieger aus, und als sie nach ihm greift und ihn hinter sich herzieht, erkennt Adica, dass es sich bei ihm um Alain handelt. Aber der Griff der flammenden Frau löst 394 sich von seinen Schultern, und er ist verloren, wird von dem Pfad fortgerissen, der zum Land der Toten führt, sodass er weder in der Welt wandelt, in der er gelebt hat, noch auf dem Pfad, der ihn zur Anderen Seite führt. Für den Bruchteil eines Herzschlags ist er verloren, bis die Magie der Geheiligten, die bindende Macht des Pferdevolks, ihn einfängt und ihn mit sich zieht. Er landet, blutend, sterbend und verloren auf dem großen Grab der Königinnen. Sie erwachte aus der Vision und schnappte nach Luft, als seine Hand ihre Schulter fand und sich darum schloss. Er sprach ihren Namen und fiel hinter ihr auf die Knie; sein Gesicht fühlte sich in ihrem Nacken feucht an. »Alain«, flüsterte sie. Sie drehte sich zu ihm um, und jetzt ebenfalls auf die Knie gesunken klammerte sie sich an ihn, oder er sich an sie; es war schwer zu sagen, vielleicht klammerten sie sich auch aneinander, wie Strandgut, das in einer riesigen Welle von der See weggespült wird. Es kam ihr so vor, als würden sie nicht auf Stein, sondern auf einem Bett aus Gras knien, unter einem Sternenhimmel, der für eine Nacht der Geheimnisse wie geschaffen war. Bäume umgaben sie. In der Nähe ergoss sich ein Wasserfall über moosbedeckte Felsen. Sie wusste nicht, wie sie an diesen Ort gekommen waren, nur dass der Wind mit seinem weichen und verführerischen Flüstern in ihre Ohren geweht hatte. Er hielt sie fest, und als sie sich rührte, ihre Hände über seinen Rücken fuhren, fanden seine eigenen Hände bei ihr genügend Stellen, die erforscht werden konnten. Er murmelte leise etwas, aber seine Worte blieben ein Geheimnis für sie. Die Sprache eines Körpers benötigte keine Worte, um ihre Botschaft weiterzutragen. Er sprach auf andere, wortlose Weise: Ich sollte nicht, aber ich möchte. Ich bin unsicher, beunruhigt, doch meine Begierde ist stark. Dies war das Opfer. Und doch zögerte er. Sie war nicht Geweihte geworden, weil sie besonders schwerfäl395 lig gewesen war. Sie streckte die Hände nach ihm aus und fand das Band, mit dem seine Leinentunika in der Taille zusammengebunden war, und als er sie küsste, öffnete sie es, sodass der Stoff zu Boden fiel. Sie schlang ihre Finger in seine, verschränkte sie miteinander, und mit der freien Hand legte sie das Band um ihre gefalteten Hände, einmal, zweimal und ein drittes Mal. Sie kannte die Worte gut genug: Mit diesem Bündnis werden wir fest verbunden. Möge die Fette unsere Verbindung segnen. Möge der Grüne Mann uns Glück und alle guten Dinge bringen. Möge die Königin des Wilds enthüllen, was es bedeutet, zusammen zu wandeln. Wie Kohle in einem hohlen Holzscheit brannte er heiß und schüchtern. Aber am Ende bekamen die Königinnen, was sie wollten. Zweifellos träumten sie in ihren stillen Gräbern noch von dieser Verbindung, die so süß wie Weidenblumen war. Sie spürte, wie sie ihren Körper betraten, wie ihre Macht in ihr aufblitzte, gefangen in einer unnatürlichen Beschwörung von ganz eigener Art. Wirklich, welcher Mann konnte ihr an einem solchen Ort schon widerstehen? Er konnte es nicht. IX Eine Apfelscheibe 1 Der Winter brach herein, und mit ihm kam das schlechte Wetter. Drei Tage lang wehte ein böser, kalter Wind aus nördlicher Richtung, der die Ufer und die seichten Stellen der Veser mit Eis überzog. Jede Pfütze in den
Straßen von Gent war gefroren - doch das war in bestimmter Hinsicht gar nicht mal so schlecht, wie Anna fand. Es bedeutete nämlich, dass auch der Gestank gefror und dass sich Regenwasser, Schlamm und Abwasser in kleine Stückchen verwandelten, auf denen die kleine Helen mit Begeisterung herumsprang, weil es so schön krachte und knirschte. In solchen Zeiten erinnerte sich Anna an die Monate, als sie sich mit ihrem Bruder Matthias im Gerberviertel versteckt hatte: Die Stadt war sauberer gewesen, als die Aikha sie bewohnt hatten, aber vielleicht hatte das auch nur damit zu tun gehabt, dass sie damals zum größten Teil verwaist gewesen war. Das war sie jetzt gewiss nicht mehr. Selbst im tiefsten Winter schritten Leute über die gefrorene Allee, die an der frisch getünchten Mauer vom Palast des Bürgermeisters entlangführte. Die andere Seite der Allee wurde von Mauern begrenzt, die zu den Wohn- und Arbeitsstätten wohlhabender Kunsthandwerker und 399 Kaufleute gehörten. Ein Hausierer zog seinen Karren zu einer der Türen und rief etwas in der Hoffnung, eingelassen zu werden. Ein Dienstjunge tauchte an der Tür auf und ließ ihn nach einem kritischen Blick auf die schwere Wintertunika und die mit Stroh ausgestopften Stoffstiefel hinein. In solchen Zeiten war Anna über die Zeichen des Wohlstands verblüfft. Es war nicht einmal zwei Jahre her, seit die Flüchtlinge und Neuankömmlinge nach der Niederlage der Aikha nach Gent zurückgekehrt waren. Anna hatte gelernt, sich mit solchen Gedanken zu unterhalten, wenn sie bei der Erledigung ihrer Aufträge die kleine Helen mitnahm, denn immer wieder musste sie längere Wartezeiten in Kauf nehmen. Da sie mit Stoffen beladen war, war es ihr unmöglich, Helen einfach an die Hand zu nehmen und mit sich zu ziehen. Das kleine Mädchen verstand ihre Eile nicht, und sie schien auch die Kälte nicht zu spüren, während Annas Finger trotz der Handschuhe, die sie trug, bereits taub zu werden begannen. Helen trällerte wie ein kleines Singvögelchen kleine Melodien vor sich hin, die mit hübscher Genauigkeit auf und ab wogten, während sie mit den Füßen auf eine Ansammlung von besonders schönen, von dünnem Eis überzogenen Pfützen trat. Das Eis zerbarst krachend. »Nun, Kleine, das ist aber gar nicht das richtige Wetter, um draußen zu spielen.« Die Stimme kam von hinten. Helen sang und stampfte unbeirrt weiter, ohne auch nur einen einzigen Augenblick innezuhalten. Anna drehte sich um und sah Prior Humilicus mit mehreren Begleitern die Straße entlanggehen. Hinter ihm ragte der Turm der Kathedrale auf, der gleich an den Marktplatz grenzte, der wiederum nordwestlich vom Palast des Bürgermeisters lag. Der Anblick des Priors, der dem neuen Kloster vorstand, das St. Perpetua geweiht war, war in diesen Tagen nichts Ungewöhnliches -jedenfalls nicht seit jenen Monaten, da Prinz Ekkehard, der Abt des Klosters, mit Edelmann Wichman davongeritten war, um im Osten zu kämpfen. Jeden Tag suchte Humilicus die Bischöfin auf, egal, wie schlecht das Wetter auch war. 400 »Ah«, meinte er, als er Anna mit ihrer schweren Last sah. »Du bist die Nichte der Weberin.« Wie alle Edelleute hatte auch er die Angewohnheit, Dinge, die ihm nicht gehörten, ohne vorherige Einwilligung anzufassen. Er zog seine Schafswollhandschuhe aus und fingerte bewundernd an einem Stück Stoff herum. »Sehr schön, in der Tat. Ein kräftiges Scharlachrot. Hat Meistrin Suzan-ne diese Wolle selbst gefärbt?« Anna nickte. Helen hatte schließlich die letzte Pfütze erreicht und zerstampfte fröhlich das filigran gemaserte Eis. Das schmale Gesicht des Priors spannte sich an. »Du bist die Stumme, nicht? Gott haben deine Familie gleich zweimal heimgesucht.« Anna mochte die Art nicht, wie er Helen musterte; das schmutzige, vernachlässigte und halb verhungerte Kleinkind hatte sich inzwischen in ein hübsches, kleines Mädchen verwandelt und musste jetzt etwa fünf oder sechs Jahre alt sein. »Sie hat eine bemerkenswerte Stimme«, sagte er. »Ich frage mich, ob man sie nicht darin unterrichten könnte, Hymnen zu singen.« Sein Blick glitt an Helen vorbei. Früher einmal war die lange Mauer des Bürgermeister-Palastes mit lebhaften Szenen vom Leben und Tod des heiligen Daisan bemalt gewesen, doch vor drei Tagen war sie zum dritten Mal neu getüncht worden. Humilicus hob eine von einer dünnen Eisschicht überzogene Rose vom Boden auf und untersuchte die verwelkte Blume mit jenem kritischen Blick, den die meisten Menschen gewöhnlich für Maden erübrigten, die auf vergammeltem Fleisch herumkrochen. »Ich dachte, diese Sachen wären bereits letzte Woche weggeschafft worden.« »Das sind sie auch, Prior«, erklärte der älteste der Mönche, die ihn begleiteten. Seine schmale Nase war von der Kälte ganz blau. Ein Windstoß brachte das Banner, das auf der Palastmauer angebracht war, zum Flattern, und Annas Zähne klapperten. »Die Geistlichen der Bischöfin machen jede Woche einen Rundgang und sammeln Opfergaben ein. Gestern haben sie zwei Kränze, eine Schnitzerei und vier Kerzen gefunden.« 401 Helen schoss vor, riss Prior Humilicus die Rose aus der Hand und versteckte sich dann hinter Anna. »Also wirklich!«, schalt der schmalnasige Mann. »Nein, ist schon in Ordnung«, sagte Prior Humilicus. »Das Tünchen der Wand kann die Erinnerung nicht auslöschen. Wenn das Volk nach all der Zeit noch immer Opfergaben hier ablegt, wird auch die Bestrafung eines unwissenden Mädchens die Befleckung nicht von ihnen nehmen, die in sie gekrochen ist. Es war der Kräftige, der die Vergiftung hergebracht hat, er und sein stummer Komplize.« Trotz seines grimmigen Äußeren strahlte der Prior Milde aus. Er ließ sich Zeit, die Mauer mit einem ironischen Lächeln zu mustern. »Bruder Ermanrich war ein kluger und redegewandter Junge. Es übersteigt meine Vorstellungskraft, wieso Gott zugelassen haben, dass der Feind ein so geeignetes Gefäß für seine Arbeit findet.«
»Gottes Wege sind unergründlich, Prior«, pflichtete sein Begleiter ihm bei. »Es ist gut, dass diese jungen Mönche mit Prinz Ekkehard weggeritten sind.« Humilicus neigte den Kopf, als wollte er sich dem unergründlichen Willen Gottes unterwerfen. Die Mönche schritten weiter. Anna stampfte zweimal scharf auf, um Helens Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das kleine Mädchen folgte ihr fröhlich, hüpfte und sang, während sie zum Hof der Tuchwalker gingen. Die Meis-trin gestattete ihnen, sich auf ihren Umhängen am Herd niederzulassen, während sie jeden Stoffstreifen mit geübtem Blick eingehend auf Fehler hin untersuchte. Das Warten störte Anna nicht, denn dort, wo sie saß, war es warm. Sie hatte einen Spinnrocken und eine Spindel mitgenommen und begann jetzt damit, Fasern zu Garn zu spinnen. Helen zupfte sämtliche Dornen von der Rose und steckte sich die Blume dann als Schmuck hinters Ohr. Sie gähnte schläfrig. Ein paar Mädchen in ihrem Alter saßen oder standen in der Halle, obwohl die meisten Leute sich um diese Tageszeit draußen im Hof oder in dem Bereich unterhalb der Stadtmauer aufhielten, wo die Spannrahmen für die Stoffe standen. 402 »Das wird gehen«, sagte die Tuchwalkerin, die nur selten ein gutes Wort für jemanden übrig hatte. Dass sie keinen einzigen Fehler in den Stoffen der Weberin finden konnte, war ein großes Lob. »Ich möchte nicht, dass irgendjemand behauptet, wir würden die Waren beim Walken oder Spannen beschädigen.« Eine Arbeiterin nahm den Stoff und brachte ihn in den Hof. »Ich habe zwölf Längen fertig, die du zu deiner Tante zurückbringen kannst, aber ich sehe, du hast noch etwas zu erledigen, bevor du nach Hause gehst.« Sie deutete auf den scharlachroten Umhang, der bereits gewalkt und fertig gestellt war und den Anna neben sich auf die Bank gelegt hatte. Die Tuchwalkerin betastete den Stoff in der gleichen habgierigen Weise, wie Prior Humilicus es getan hatte. »Nicht viele bringen ein solch wunderbares Scharlachrot zustande. Hat Meistrin Suzanne die Wolle bereits gefärbt bekommen?« Anna gestattete sich ein schales Lächeln. Gewöhnlich hasste sie es, stumm zu sein. Der Verlust ihrer Stimme war wie der Verlust der Hände, den man gerade dann am meisten spürte, wenn man nicht darüber nachdachte und spontan den Gürtel festzurren oder nach einem Apfel greifen wollte. Doch gelegentlich hatte das Stummsein auch seine Vorteile. »Nun, du hast nichts zu sagen! Das ist auch gar kein Wunder. Deine Tante hat sich hier in Gent sehr gemacht, seit die Aikha nicht mehr da sind. Wenn ich nicht wüsste, dass du stumm bist, würde ich glauben, dass du einfach zu stolz bist, um mit jemandem wie mir zu sprechen!« Die Tuchwalkerin hatte eines dieser vollen, runden Gesichter, die sich beim Lächeln schnell in Falten zu legen pflegten, bloß dass sie fast niemals lächelte, sondern nur Missgunst kannte. »Aber du bist jetzt alt genug, um dich zu verloben, und du siehst auch aus wie eine, die am St. Oyas-Tag auf die Frauenbank wechselt. Hat Meistrin Suzanne schon einen Ehemann für dich gefunden?« Anna schüttelte den Kopf. Es störte sie nicht, dass ihr Körper sich veränderte; das war Teil des natürlichen Laufs der Dinge. Aber sie mochte die Art nicht, wie die Leute versuchten, sie mit Hei403 ratsangeboten zu locken. Für sie selbst schien sich überhaupt niemand zu interessieren. »Du hast eine seltsame Hautfarbe, das stimmt, aber du bist gesund und mit einer wohlhabenden Familie verbunden; eine Verbindung mit dir wäre für beide Haushalte ein Vorteil. Ich habe selbst einen geeigneten Neffen. Er ist ein guter Bursche, beinahe neunzehn Jahre alt -« Es schien, als wollte die Tuchwalkerin in einen längeren Monolog verfallen, doch Schreie erklangen vom Hof, gefolgt von verärgerten Stimmen. Sie erhob sich mit einem ungeduldigen Schnauben. »Gutta, gib der Nichte der Weberin den fertigen Stoff.« Zu Annas Erleichterung ging sie nach draußen auf den Hof, wo sie deutlich hörbar ihre Stimme erhob und zu einer wütenden Tirade ansetzte. Ein Mädchen, das nicht älter als Anna war, reichte ihr den gewalkten und getrockneten Stoff, kaum dass Anna den Spinnrocken und die Spindel wieder eingesteckt hatte. Sie legte den guten Scharlachumhang zwischen den anderen Stoff, um ihn zu schützen, und stampfte zweimal auf, um Helens Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie hielt jetzt ein Dutzend gefaltete Längen Stoff in den Armen, die Meistrin Suzanne entweder ins SchneiderViertel bringen oder selbst zu Umhängen und Winterkleidung verarbeiten lassen würde. Mit einem Seufzer der Befriedigung verließ sie den Hof der Tuchwalkerin. Wie immer hatte sie sich die beste Aufgabe bis zuletzt aufgehoben. Sie liebte es, den Palast des Bürgermeisters aufzusuchen. Die Wachen am Tor erkannten sie sogleich und ließen sie und Helen ein, ohne Fragen zu stellen. Einer jedoch, ein Junge von etwa zwanzig Jahren, neigte sich zu ihr herab, um mit ihr zu sprechen. »Ich bitte dich, Schwester, lege ein gutes Wort für mich bei der hübschen Frederun ein. Ich weiß, dass sie dich besonders gern hat, denn du bringst ihr immer so hübsche Stoffe.« Die andere Wache schnaubte. »Das Mädchen ist stumm, Ernust. Sie kann der hübschen Frederun nicht das Geringste sagen, und es 404 würde auch gar keine Rolle spielen, wenn sie es täte! Seit Edelmann Wichman weggeritten ist, hat sie keinen Mann mehr in ihr Bett gelassen. Geh also ruhig weiter, Mädchen. Vielleicht kühlen sich Ernusts unterirdische
Teile in der Kälte etwas ab!« Der Palastbereich war eine äußerst schöne Anlage, und es war einfach, sich darin zurechtzufinden. Die Ställe und Lagerräume lagen an der einen Seite, der Palast an der anderen; die Küchen befanden sich am entgegengesetzten Ende des in der Mitte gelegenen Innenhofs; so konnte ein möglicherweise ausbrechendes Feuer nicht auf die anderen Gebäude übergreifen. Trotz der Belagerung durch die Aikha war der Palast mehr oder weniger gut erhalten. Ein Flügel mit Ställen war noch immer zerstört, und drei Lagerräume waren bis auf die Grundmauern abgebrannt; sie waren inzwischen unterschiedlich weit wiederhergestellt worden. Das östliche Tor war vollkommen eingestürzt und lag in Form eines großen Steinhaufens auf dem Boden, aber bis jetzt war noch keine Zeit dafür gewesen, es wieder zu errichten. Bisher hatte man sich darum gekümmert, den Palast wieder bewohnbar zu machen. Erst diesen Winter hatte man nach Maschinenbauern in Kessal und Autun gesandt, die die Reparatur des Tores beaufsichtigen sollten. Der Palast selbst bestand aus einer großen Halle und verschiedenen Flügeln, von denen der eine ganze drei Stockwerke hoch war; die verschiedenen Etagen hatten sich im Laufe der vielen Jahre angesammelt. Anna ging zum Eingang der Fuhrunternehmer und wurde zur Halle der Bediensteten eingelassen, einer ansehnlichen Kammer, in der mehrere Frauen damit beschäftigt waren, Löcher in Leinen zu flicken, Medizin zu mischen oder kleine Säckchen mit aromatischen Kräutern zu binden, die dazu gedacht waren, den Geruch der im Winter verschlossenen Räume zu verbessern. Andere Frauen putzten die Silberplatte des Bürgermeisters, die bei der hastigen Flucht aus Gent gerettet worden war. Frederun war zur Leiterin jener Dienstmädchen bestimmt geworden, die im Palast arbeiteten; Edelmann Wichman hatte sie ausgewählt, als er nach dem großen Sieg über Blutherz und die 405 Aikha die Herrschaft von Gent übernommen hatte. Ihr gebührte der Vorsitz am großen Tisch, und als sie Anna sah, winkte sie sie zu sich. Sie nahm ihr den Umhang ab und breitete ihn vor sich mit erhobenen Händen aus. Die Arbeit in der Halle kam augenblicklich zum Erliegen. »Wirklich«, sagte Frederun, »Meisterin Suzanne hat sich dieses Mal selbst übertroffen!« Der Umhang hatte einen kräftigen, scharlachroten Ton und eine wunderschöne, mit Goldfäden gewirkte Zierleiste, die ein fröhliches Muster aus eleganten Drachen zeigte. »Der ist aber doch sicher nicht für dich, Frederun?«, wollte eine ältere Frau wissen, deren Gesicht eine unansehnliche Narbe - die Spur einer Aikha-Axt - trug. »Nein, er ist für Edelmann Hrodik bestimmt. Jetzt, wo Edelmann Wichman nicht da ist, fühlt er sich ganz wie der stolze Verteidiger der Stadt. Er wird den Umhang über der Rüstung tragen.« Die Frauen lachten. »Über der Rüstung seiner Schwester, meinst du wohl«, bemerkte die Frau mit der Narbe. »Er ist als Kämpfer nicht mal halb so gut, wie Edelfrau Amalia es war, mögen Gott ihren Namen segnen.« Rasch schlugen die Frauen den Kreis der Einigkeit vor der Brust und baten mit leisem Murmeln um Frieden. Viele von ihnen erinnerten sich noch gut an die Edelfrau, die nach der Schlacht um Gent, in der Graf Lavastin und König Henry den Sieg errungen hatten, ihren Verletzungen erlegen war. »Es bringt nichts, sich über den jungen Mann lustig zu machen, was für Fehler er auch haben mag«, schalt Frederun die anderen. »Die Ratten haben das Nest verlassen, und die Maus, die uns geblieben ist, führt sich als Herrscher sehr viel freundlicher auf als alle anderen zuvor.« »Das ist wohl wahr«, sagte die Frau mit der Narbe und legte dabei die Hand auf Frederuns Schulter. »Du hast die Hauptlast getragen. Keine von uns hat das je vergessen.« Frederun fuhr die Linien der Drachen nach, die an den Rändern 406 des kostbaren Stoffes aufgestickt waren. Ihre verträumten Augen waren von einem klaren Braun, und sie hatte den Blick jener, die eine geliebte Person ansahen. Die Augen brachten ihre hellen Haare wunderbar zur Geltung, und der Schal, mit dem sie sie zurückgebunden hatte, saß so locker, dass einzelne Haarsträhnen sich daraus gelöst hatten und ihr hübsches Gesicht einrahmten. Sie war, was niemand bestritt, die zweitschönste Frau von Gent. »Kommt jetzt«, sagte sie, ungeduldig ihre träumerischen Gedanken abschüttelnd und ohne auf die Bemerkung ihrer Kameradin einzugehen. »Die zwei Mädchen sind extra bei dem Wetter hergekommen, damit Edelmann Hrodik seinen Umhang genau dann bekommt, wann er ihn haben will. Die Kinder müssen frieren. Kommt her und trinkt ein bisschen heißen Apfelwein. Es ist kalt draußen, nicht? Setzt euch ans Feuer.« Sie nickte einer jüngeren Dienerin zu. »Gib ihnen eine Apfelscheibe, und sorge dafür, dass sie auch ein Stück Kuchen vom Tisch des Edelmannes bekommen.« Dann klatschte sie zweimal kräftig in die Hände. »Zurück an die Arbeit! Hier wird nicht geschlafen. Wir haben in diesen Monaten ohnehin nur wenig Licht. Fastrada!« Die Frau mit der Narbe hatte ihr den Umhang inzwischen abgenommen und faltete ihn jetzt wieder zusammen. »Ich bitte dich, kannst du dafür sorgen, dass der Umhang zu Edelmann Hrodik gebracht wird?« »Du weißt, dass er sich beklagen wird, wenn du ihn nicht selbst zu ihm bringst, Frederun.« Frederun seufzte laut, aber sie griff nach dem Umhang und faltete ihn mit geübten Händen weiter zusammen. Von den vielen Jahren harter Arbeit hatte sie kräftige Hände bekommen, obwohl sie sicherlich nicht älter als zwanzig sein konnte. »Wieso glaubt er nur, dass er jetzt ein Anrecht auf das hat, was Wichman sich zuvor
genommen hat?« Niemand schien Frederun zuzuhören; vielleicht taten die Frauen das nur deshalb nicht, weil ihnen solche Bemerkungen allzu vertraut waren. »Kannst du nicht mit Bischöfin Suplicia sprechen?«, fragte Fastrada schließlich. 407 »Sie ist mit der Familie von Edelmann Hrodik entfernt verwandt. Wieso sollte sie Mitleid mit einer Dienerin wie mir haben ? Schulde ich ihrem edlen Haus nicht meine Dienste?« »Ich dachte, du dienst im Palast des Bürgermeisters, nicht im Bett des Edelmanns.« »Du weißt so gut wie ich, dass Bürgermeister Werner der Letzte seiner Familie gewesen ist. Nein, Gent liegt jetzt in den Händen der Edelleute, und sie werden es nicht wieder hergeben.« Die ältere Frau runzelte verärgert die Stirn. »Also gut. Ich bringe ihm den Umhang und höre mir sein Gejammer an, wenn es sein muss.« Frederun senkte den Blick, als wäre sie erschöpft. »Ich danke dir.« Sie zupfte an einem ihrer Ärmel und wischte sich ein Stückchen Asche, das vom Herd hergeweht war, aus dem Augenwinkel. »Er hat sich sehr zu seinem Nachteil verändert -« »Vor allem, seit das Wetter ihn ans Haus fesselt und er nicht mehr auf die Jagd gehen kann. Er hat wirklich mehr Schwanz als Verstand!« »Kann man das nicht von den meisten Männern sagen?«, warf eine der jüngeren Frauen ein. Sie hatte einen hübschen Mund, helle Augen und Pockennarben auf den Wangen. »Gib mir den Umhang, Fastrada, ich werde zu ihm gehen. Er mag mich, und ich brauche ohnehin noch ein bisschen von seinem Honig, damit meine Familie ihn für die Mitgift meiner Schwester gegen Stoffe tauschen kann.« »Pass nur auf, Uota, dass du nicht geradewegs in ein Feuer läufst, dessen Glut dich verbrennt«, erwiderte Frederun ruhig. »Soviel ich weiß, bist du nicht so schüchtern gewesen, als Edelmann Wichman noch nicht damit angefangen hatte, dich zum Vergnügen zu schlagen«, erwiderte Uota mit aufkeimender Wut. »Wie es heißt, hast du dich ihm bereitwillig genug hingegeben, so lange er sich wie ein Edelmann verhalten hat.« »Schweig, Uota!«, schrie Fastrada, doch Frederun reagierte nicht auf das, was sie gesagt hatte; sie ließ sich einfach nur neben 408 Anna auf die Bank sinken. »Du bist noch nicht lange hier. Du kannst nicht wissen, was irgendeine hier hat erleiden müssen -« Uota nahm den Umhang und stürzte aus der Kammer. »Nun«, begann Fastrada, als die anderen Bediensteten sich rasch abwandten, um den Eindruck zu erwecken, als kümmerten sie sich jetzt wieder um ihre eigenen Dinge. Dabei war es in der Halle der Bediensteten ganz sicher unmöglich, Geheimnisse voreinander zu bewahren. »Frederun -« Die jüngere Frau hob die Hand, um jede weitere Bemerkung zu unterbinden, und kurz darauf ging Fastrada davon und gesellte sich zu den drei Frauen, die die Silberplatte polierten. Anna musterte Frederun interessiert und voller Mitleid. Es kam ihr so vor, als hätten sie etwas gemeinsam, sie und die Dienerin: Sie hatten beide harte Zeiten durchgemacht, führten jetzt jedoch ein angenehmes Leben; es ging ihnen gut, sie besaßen ein warmes Bett und erhielten zwei ordentliche Mahlzeiten am Tag. Trotzdem sah sie in Frederuns Miene den gleichen unzufriedenen Ausdruck wie bei sich selbst. Wieso konnte sie nicht einfach so zufrieden sein wie Matthias? Die kleine Helen blickte plötzlich auf, nahm die Rose, die hinter ihrem Ohr steckte, und reichte sie Frederun. »Oh, ich danke dir, mein Kind!« Tränen bildeten sich in Frederuns Augen. Sie hielt sich die Rose vor die Nase und roch daran. »Sie hat gar keinen Duft mehr. Wo hast du denn einen so schönen Schatz gefunden?« Anna gestikulierte, so gut sie konnte, und im Gegensatz zu anderen Leuten achtete Frederun sorgfältig auf ihre Hände, begierig darauf zu erfahren, was sie ihr mitteilen wollte. »An der Stadtmauer? Nein, an der Palastmauer. Ah, natürlich, sie ist eine der Gaben, die die Leute dort niederlegen.« Ihr Gesicht verschloss sich, sie wurde still und nachdenklich und berührte den Holzkreis, der um ihren Nacken hing. »Es gibt ein paar Dinge, die man nur schwer vergessen kann«, murmelte sie und strich über die getrockneten Blütenblätter der Rose, bevor sie sich mit einem Kopfschütteln 409 wieder sammelte. »Wird deine Tante auch einen so schönen Hochzeitsumhang für den Gerber machen, den sie im Frühjahr heiraten will?« Anna lächelte und nickte; der Ausdruck, der kurz über Frederuns Gesicht huschte, war jedoch schwer zu deuten: War es Schmerz? Sehnsucht? Neid? »Sie hat sich gut gemacht, deine Tante. Niemand weiß besser als ich, was sie in Stelesham durch Edelmann Wichman hat erleiden müssen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie sehr ich sie damals bedauert habe. Niemals hätte ich geahnt, dass ich einmal selbst an der Reihe sein würde.« Sie richtete sich mit einem Stirnrunzeln auf. »Es macht keinen Sinn, über das zu jammern, was geschehen ist, nicht wahr, kleine Schwester? Du musst mehr gelitten haben als ich, du armes Kind, dass du nicht mehr in der Lage bist, auch nur ein einziges Wort zu sprechen.« Sie wischte Helen einen Rußfleck von der zarten Wange. »Was soll nur aus diesem armen
Geschöpf werden? Ihr hübsches Gesicht wird sie all die Jahre noch furchtbar plagen.« Helen lächelte Frederun freundlich an, denn sie war ein überaus glückliches Kind, so lange sie regelmäßig etwas zu essen erhielt und einigermaßen sauber war. Ein Stich fuhr Anna mitten durchs Herz, als sie die Wahrheit von Frederuns Worten begriff. Wahrscheinlich würde Helen immer etwas seltsam im Kopf bleiben, und sofern sie auch als junge Frau noch so hübsch war wie jetzt, würde sie nur Kummer erleiden müssen. »Jetzt kommt«, sagte Frederun ein wenig schroff. »Esst auf und geht dann zurück nach Hause, sonst macht Meistrin Suzanne sich noch Sorgen um euch, wenn die Dämmerung einsetzt.« Sie hatte sich gerade umgedreht und wollte schon eine ihrer Frauen zu sich rufen, als die Tür aufgerissen wurde und zwei Wächter des Bürgermeisters mit eisbedeckten Barten hereinkamen. Ein kräftiger Windstoß begleitete sie. Sie rieben sich die Hände, um sie zu wärmen. »Hallo, Meistrin Frederun!«, rief einer mit einer Stimme, die 410 für diesen Raum eigentlich viel zu laut war, zumal der Wind sie noch weitertrug. »Ein Edelmann ist mit Soldaten eingetroffen und bittet Edelmann Hrodik um Gastfreundschaft.« »Und darum, sich aus der Waffenkammer bedienen zu dürfen«, fügte sein Kamerad gereizt hinzu. Frederun erstarrte, wie ein Kaninchen es tun mochte, wenn der Schatten einer Eule über es hinwegschwebte. »Wer könnte das sein? Ist Wichman etwa umgekehrt?« »Nein. Diese Gruppe kommt aus dem Westen, und sie ist unterwegs nach Osten, um gegen die Qumaner zu kämpfen. Ich habe bisher weder ein Banner gesehen, noch mit den Vorreitern gesprochen. Wenn du wissen willst, wer es ist, solltest du selbst in die Halle gehen und nachsehen.« Frederun blieb keine Zeit für eine Antwort, denn drei Diener eilten aufgeregt durch eine andere Tür in die Halle und übermittelten Befehle von Edelmann Hrodik. Anna griff nach dem letzten Stück Kuchen und verschlang es hastig, dann klemmte sie sich die Stoffe unter die Arme und schob Helen nach draußen. Der Wind blies ihnen kräftig ins Gesicht, als sie den Innenhof betraten. Männer riefen sich in den Ställen etwas zu, und im Hof wimmelte es von geschäftigen Menschen wie in einem Bienenstock. Zwei Vorreiter standen an der Seite und unterhielten sich mit dem Stallmeister, aber sie trugen kein Abzeichen, an dem Anna hätte erkennen können, welchem Edelmann oder welcher Edelfrau sie die Treue geschworen hatten. Niemand achtete auf sie, als sie mit Helen durch das westliche Tor verschwand, und sie sah auch keine Soldaten, als sie auf den Marktplatz zu marschierten, an der Kathedrale vorbeigingen und dann zur anderen Seite des Bürgermeister-Palastes kamen. Das östliche Tor war ein einziger Steinhaufen. Mehr als ein Kind hatte sich bereits ein Bein oder einen Arm gebrochen, als es darauf herumgeklettert war. Anna überquerte dicht gefolgt von Helen den Marktplatz und ging zu dem geöffneten Tor, durch das sie zu der Werkstatt gelangte, die jetzt ihr Zuhause war und die jener Frau gehörte, die alle als 411 ihre Tante Suzanne kannten. In Stelesham war Suzanne als Nichte von Meistrin Gisela bekannt gewesen, doch jetzt in Gent nannte man sie einfach nur die Weberin. Natürlich gab es in einer so großen Stadt, in der nach Aussagen der Bischöfin etwa fünftausend Menschen lebten, auch noch andere Weberinnen und Weber, aber die wurden nicht gebeten, für den Edelmann, der im Palast des Bürgermeisters wohnte, schöne Tuniken und Umhänge herzustellen. Draußen im Innenhof stand ein Esel geduldig beim Trog, das eine Bein leicht schräg gestellt. Seine Ohren zitterten bei jedem Windstoß. Raimar war damit beschäftigt, einen Baumstamm zu Planken zu zersägen. Er hatte seine hellen Haare mit einem Lederband zurückgebunden und sich bis auf seine Sommertunika entkleidet. Der leichte Stoff ließ seine breiten Schultern sichtbar werden. Sägemehl wirbelte auf, verstreute sich wie heller Goldstaub um seine Füße und sank auf den Boden. Der junge Autgar hielt das andere Ende der Säge fest. Er sang ein Lied, in dem er von seinem Herzschmerz berichtete, weil er die wunderschöne Schäferin drei Tage nicht mehr gesehen hatte - ein alles in allem seltsames Lied für jemanden wie Autgar, der seit zwei Jahren mit einer Weberin von Suzanne verheiratet war und bereits zwei Kinder hatte. Raimar pfiff laut, und sie legten die Säge nieder. Er drehte sich um und grinste die beiden Mädchen an. »Bring die Sachen in die Wollkammer, Anna. Suzanne hat gerade nach dir gefragt. Ich sehe, du hast noch Krümel am Mund. Ich habe ihr schon gesagt, dass du wahrscheinlich im Palast etwas isst!« Anna lächelte zurück, und Helen rannte zum köchelnden Färbetopf. An diesem Tag wurde ein kräftiges Gelb hergestellt. Anna ließ Helen draußen zurück und ging in die Werkstatt, einen langen, niedrigen Raum, der ziemlich rauchverhangen war. Vier Webstühle standen hier, und Suzannes drei Helferinnen waren mit ihrer Arbeit beschäftigt; jede hatte ein Mädchen an ihrer Seite, das gerade das Handwerk erlernte. Ein Kleinkind rannte 412 durch den Raum, schrie vor Vergnügen auf, während ein Säugling in einer Wiege lag und gelegentlich von einem der Mädchen geschaukelt wurde. Anna durchschritt die Kammer und trat durch eine Seitentür in einen anderen Raum, in dem Schaffelle, unverkaufte Stoffe, rohe und gewaschene sowie zu Strängen gesponnene Wolle gelagert wurden. Der schwere Geruch der Wolle, ein kräftiger und beißender Duft, tat ihr gut. Suzanne stand am Tisch und feilschte gerade mit
einem Bauern von Westhöfen über die Ellen Garn, die er ihr gebracht hatte. »Die Qualität ist diesmal nicht so gut wie beim letzten Mal. Ich kann Euch nicht so viel dafür geben.« Anna legte ihre Stoffe auf den Tisch und holte ihre Spindel heraus, sodass sie spinnen konnte, während sie darauf wartete, dass die Verhandlungen zum Ende kamen. Nach einiger Zeit nahm der Bauer die Stoffe, die er als Bezahlung für sein Garn bekommen hatte, und ging. »Du hast noch Krümel am Mund, Anna«, sagte Suzanne, während sie das Garn überprüfte. Den einen Teil legte sie in das eine Regal, den anderen in ein anderes, abhängig von der Qualität des Materials. »Ich hoffe, sie haben dir im Palast gut zu essen gegeben, denn wir können heute Abend hier nicht essen. Raimar hat Neuigkeiten von der Gerberei.« Sie betrachtete Anna mit einem Lächeln. Es war zweifellos dieses Lächeln, das sie schon zuvor in Schwierigkeiten gebracht hatte, denn ihr Gesicht wurde dabei wunderbar rosig und lieblich. »Nein, das soll Matthias dir lieber selbst sagen! Komm, hilf mir bei dem Garn. Du musst das, was auf dem Regal hinten liegt, etwas nach vorn ziehen. Ja, das da. Prior Humilicus ist vorbeigekommen. An St. Eusebe wird ein Dutzend Novizen erwartet, daher braucht er im Sommer genug Stoff für ein Dutzend Gewänder. Hast du gewusst, dass die Tochter von Sattler Hano im nächsten Herbst heiraten wird? Einen jungen Mann, der aus Osterburg kommt von so weit her! Es ist kaum vorstellbar.« In dieser kameradschaftlichen Weise fuhr sie fort, während sie 413 den Wollraum aufräumten. Stets versuchte sie, Anna das Leben möglichst angenehm zu machen. Nachdem alles in Ordnung war, kehrte Suzanne zu ihrem Webstuhl zurück, während Anna sich erst einmal um das Baby kümmerte, das aufgewacht war; so konnte seine Mutter die Reihe noch fertig stellen, bevor sie es stillen musste. Am Nachmittag - die winterliche Dämmerung hatte bereits eingesetzt - kam Matthias mit Raimar und Autgar von draußen herein. Er war jetzt größer als Suzanne, und er war aufgrund der regelmäßigen Mahlzeiten und der harten Arbeit auch breiter als früher. Er stank nach Gerberei, und während er sich den größten Gestank von den Händen wusch, verriet er die Neuigkeiten. »Anna, ich werde als Geselle bei den Gerbereien arbeiten!« Seine Worte berührten sie nicht sehr, doch sie brachte es fertig, ihn zu umarmen. Alle erwarteten, dass sie sich für ihn freute. Er sprach weiter, während er einen Schritt von Anna zurückwich und einen Blick mit seiner Verlobten tauschte, der jüngsten Weberin, die mit Suzanne aus Stelesham geflohen war. Sie war etwa in seinem Alter und hatte volle Wangen und geschickte Hände. »Ich werde jetzt bei den Gerbereien wohnen und jeden zweiten Himmelstag frei haben!« Ein aufgeregtes Gerede setzte ein, während sie sich auf die Himmelstags--Vorabendmesse vorbereiteten. Sie wuschen sich die Hände, brachten ihre Kleidung in Ordnung, rückten Haarbänder und Schals zurecht. Weil Anna sich an den Gesprächen nicht beteiligen konnte, wartete sie an der Tür wie ein verlorenes Kind, das kameradschaftlich beieinander sitzende Menschen beobachtet, ohne je wirklich zu ihnen zu gehören. Matthias würde einen neuen Lebensweg beschreiten. Nach allem, was sie zusammen durchgemacht hatten, würde er sie zurücklassen. Sie würde in seinem neuen Leben niemals mehr als ein flüchtiger Gedanke sein. Sie war auch jetzt nicht mehr als ein flüchtiger Gedanke in dem Leben der anderen, nicht wirklich jedenfalls, wie freundlich sie sie auch behandeln mochten. 414 Spontan fuhr sie mit dem Finger über den Kreis der Einigkeit -eine Geste, die ihre Mutter immer dann gemacht hatte, wenn sie Angst gehabt hatte oder traurig gewesen war. Was war aus dem Aikha-Prinzen geworden, der sie stumm beobachtet hatte, als sie in der Kathedrale zur Tür gekrochen waren, die sie zur Krypta geführt hatte ? Der Aikha-Prinz hatte sie einfach ziehen lassen und war mit den Fingern in gleicher Weise über den Kreis der Einigkeit gefahren, der um seinen Hals gehangen hatte. Nie hatte sie begriffen, aus welchem Grund dieser wilder Aikha einen Kreis getragen hatte, der immerhin das Symbol des Glaubens an die Einigkeiten war. Tränen füllten plötzlich ihre Augen, als ihr die bittere Erinnerung an den jungen Edelmann in den Sinn kam, der in Stelesham vor ihr gekniet und freundlich mit ihr gesprochen hatte. Sie hatte ihm keine Antwort gegeben, und gleich darauf hatte sie ihre Stimme verloren, als hätten Gott sie auf diese Weise für ihr Schweigen bestrafen wollen. »Nun, Anna«, sagte Suzanne, »ist das nicht ein schöner Tag für Matthias?« Mit einem Lächeln zog sie Anna hinter sich her und bedeutete den anderen, ihr ebenfalls zu folgen. »Du siehst gut aus, Mädchen. Du wirst uns nicht entehren, wenn wir so wie eine schöne und wohlhabende Familie in die Kirche gehen, nicht wahr?« Helen rührte sich auf Raimars Armen, und er lachte gutherzig, während er sich bemühte, ihr einen Rußflecken, den sie sich Gott weiß wo geholt hatte, aus dem Gesicht zu wischen. Die übrigen Mitglieder des Haushalts marschierten fröhlich hinter Suzanne durch die dämmrigen Straßen zur Kathedrale. Am Herrtag pflegten sich viele Leute zur Abendmesse in der Kathedrale zu versammeln, da am folgenden Tag Himmelstag war, der siebte und damit wichtigste Tag der Woche. Die Messe hatte bereits begonnen, als sie eintraten, und sie schlichen leise durch das Mittelschiff, bis sie unter einem Fenster standen, dessen Bemalung den heiligen Daisan beim Unterrichten seiner Schüler zeigte. Eine hässliche Narbe verunstaltete noch immer das bemalte Gewand des heiligen Daisan, wo eine Aikha-Waffe die Farbe beschädigt hatte. 415 Auch der Großteil der Säulen war während der Besetzung durch die Aikha beschädigt worden. Steinengel, Wasserspeier und in Stützpfeiler gemeißelte Adler trugen Spuren, als wären wiederholt Klauen einer mächtigen
Kreatur daran geschärft worden. Die Fliesen des Steinbodens waren so oft gescheuert worden, dass nur noch wenige Hinweise auf das Feuer zu sehen waren, das hier gewütet hatte. Die zerborstenen Fenster waren als erste wiederhergestellt worden, obwohl eines noch immer mit Brettern verdeckt war. Eine Geistliche stand am Altar und stimmte die Hymne des Siebten Tages an. »Glücklich sind jene, die Schutz in Gott gefunden haben! Der Altar war so lange gesäubert und poliert worden, bis er glänzte; ein heiliger Becher aus Gold stand darauf, zusammen mit dem in Elfenbein gebundenen Buch mit der Heiligen Botschaft, aus dem die Geistlichen und die Bischöfin die Messe lasen. Es gab jedoch einen Gegenstand, der der Apsis einen sehr seltsamen Anstrich verlieh: eine schwere Eisenkette, die am Grund des Altars an einem Eisenhaken befestigt war. Anna erinnerte sich an den unglückseligen Daemon, den Blutherz am Altar angekettet hatte. Suzanne sah, wie sie zitterte, und legte tröstend den Arm um sie. Aber nichts vermochte die Erinnerung zu vertreiben, die aufblitzenden Fetzen, die sie immer quälten, wenn sie zur Messe hierher kamen. »In der Krypta ist der Pfad, den ihr sucht«, hatte der Daemon mit seiner unklaren, heiseren Stimme gesagt. Über diesen Pfad hatten sie und Matthias aus Gent entkommen können. Doch es war der Aikha, der stumm zugesehen hatte, als sie geflohen waren. Matthias hatte es inzwischen vergessen, aber sie würde das niemals tun. Das Kleinkind war eingeschlafen, aber der Säugling war wach, schmatzte hin und wieder mit den Lippen und nährte sich an der Brust seiner Mutter, während die Geistlichen die Eröffnungshymnen sangen. »Wo Edelmann Hrodik nur bleibt?«, wunderte sich Raimar. Er 416 fing einen Blick von Anna auf und lächelte sie an. Er behandelte sie und Matthias immer gut und freundlich. Er hatte seine Familie durch die Aikha verloren, eine junge Braut, seine Eltern und drei Brüder, und wie Suzanne war er fest entschlossen dafür zu sorgen, dass er nach all dem ganzen Unglück das Leben auch etwas genießen konnte. Deshalb, und auch aus gegenseitiger Achtung heraus, waren die beiden einige Monate zuvor zu einer Vereinbarung gekommen und hatten anschließend ihre Verlobung verkündet. Im Frühjahr sollte die Hochzeit stattfinden. Suzanne reckte den Hals, um auf die vorderen Reihen sehen zu können. Der Platz des Edelmanns nahe beim Altar war leer. »Seit Edelmann Wichman die Stadt verlassen hat, hat Hrodik nicht eine einzige Messe am Vorabend von Himmelstag verpasst. Das muss jetzt acht Monate her sein.« »Nein, mein Schatz, einmal hat er die Messe versäumt, und zwar damals, als er in einen Sturm geraten ist und sich die Nase gebrochen hat.« Suzanne unterdrückte ein Kichern. In Stelesham hatte sie nicht viel gelacht. Niemand hatte in Stelesham viel gelacht, aber da Suzanne von ihrer Tante Gisela den Hunden zum Fraß vorgeworfen worden war, hatte sie noch weniger Grund zum Lachen gehabt als alle anderen. Doch im Laufe der Zeit hatte der zunehmende Wohlstand ihre Wunden geheilt. Sie wirkte sehr zufrieden. Anna wünschte sich, genauso zufrieden sein zu können, doch jede Nacht träumte sie von dem jungen Herrn, dem Erben von Graf Lavastin. Es gelang ihr nicht, sich an seinen Namen zu erinnern, doch sie hatte das Gefühl, dass er verloren war, und weinte um ihn, innerlich ganz zerrissen angesichts der Kränkungen und des Schmerzes, die jene erleiden mussten, die er geliebt hatte. Sicher hätte sie ihm helfen können, wenn sie nur gesprochen hätte. Das war wohl auch der Grund, weshalb Gott sie bestraften. Die Geistlichen stimmten jetzt eine neue Hymne an, während die Bischöfin vom Seitenportal hereinkam und ihren Platz auf dem hohen Sitz hinter dem Altar einnahm. 417 Wie ein trocknes und durstiges Land ohne Wasser suche ich Gott. Mit meinem von Sehnsucht gequälten Körper trete ich vor Gott in das Heiligtum. Zufrieden erhebe ich meine Hände zum Gebet, als erhielte ich ein Testmahl, und bei den Wachen der Nacht vertraue ich der Liebe, die mich schützt. Die Geistliche, die den Gesang anstimmte, verstummte plötzlich, und ihr Gesicht wurde aschfahl. Pst-Laute wogten von ganz hinten beim Eingang der Kathedrale wie eine große Welle nach vorn. Alle drehten sich neugierig um. Ein Edler stand im Eingang. Er war wie erstarrt, als könnte er es nicht über sich bringen, seinen Fuß in die Kathedrale zu setzen. Er war groß und breitschultrig, wirkte ungewöhnlich und fremdländisch: Sein Gesicht hatte einen bronzefarbenen Teint, er hatte hohe Wangenknochen und pechschwarze Haare, die ihm lose über die Schultern hingen. Seine Gesichtszüge wirkten auf Anna so beunruhigend, dass sie sofort einen trockenen Mund bekam. Er kam ihr vertraut vor, aber sie konnte das Gefühl nicht ganz einordnen. Edelmann Hrodik wartete unbeholfen hinter ihm; er starrte den großen Mann voller Ehrfurcht an. Suzanne begann zu schwanken, und Raimar stützte sie rasch. »Prinz Sanglant«, flüsterte sie leise.
Der Edelmann ließ seinen Blick über die versammelte Menge schweifen. Einen unheimlichen Augenblick lang hatte Anna tatsächlich das Gefühl, dass er Suzanne länger als alle anderen anstarrte. Suzanne stieß ein kleines Geräusch aus - ob es ein Protest oder ein Gebet war, war allerdings schwer zu erkennen - und verbarg ihr Gesicht an Raimars Schulter. Als würde das unterdrückte Geräusch ihn vorwärts treiben, ging er das Mittelschiff entlang, ohne sich nach links oder rechts umzudrehen. Vor dem Altar blieb er abrupt stehen. Er starrte auf 418 die Kette, die zu einem Haufen zusammengelegt auf dem Steinboden lag, und seine Nasenflügel bebten wie bei einem unruhigen Pferd. Die Bischöfin sprang auf und eilte zu ihm, aber er ließ sich auf den Boden sinken, ohne sie zu begrüßen, und streckte die Hand nach der Kette aus, als wäre sie eine Giftschlange. »Mögen Gott uns retten!« Matthias packte Annas Arm so fest, dass es schmerzte. »Es ist der Daemon!« Anna schüttelte benommen den Kopf. Der Daemon, der hier bei Blutherz gefangen gewesen war, war kein Mensch gewesen; er hatte nur menschliche Gestalt angenommen, als er aus den Himmelssphären heruntergezwungen und von den irdischen Fesseln in seinem schmerzvollen Gefängnis festgehalten worden war. »Was wir damals in der Kathedrale gesehen haben, war gar kein Daemon«, fuhr Matthias atemlos fort. »Es war ein Edelmann, der Prinz, von dem sie alle gesprochen haben. Durch was für ein Wunder hat er bloß überlebt?« Der Prinz schwitzte jetzt und zitterte, als er sich vor dem Altar auf die Knie begab und den Eindruck erweckte, als wolle er sich nie wieder rühren. Edelmann Hrodik eilte vor, als wolle er ihm Vorwürfe machen, aber ein schlanker Geistlicher stellte sich zwischen die beiden Männer und winkte den jungen Edlen mit ausgestreckter Hand zurück. Bischöfin Suplicia war nicht leicht zu verblüffen, doch auch ihre Lippen zuckten einen Augenblick vor Überraschung. Sie bedeutete ihren Geistlichen, zurückzutreten, und nahm mit ihrem klangvollen Sopran den Gesang wieder auf. Langsam und stockend fielen die Geistlichen mit ein, obwohl viele von ihnen es nicht lassen konnten, den Mann in der kostbaren Tunika anzustarren, der gleich vor dem Altar auf die Knie gefallen war. Es war schwer zu sagen, ob er einfach nur außergewöhnlich fromm und ganz benommen von Gottes Barmherzigkeit war oder ob er sich verzweifelt bemühte, nicht zusammenzubrechen, denn seine Hände krampften sich um die Kette, bis seine Knöchel weiß wurden und ihm Blut über einen aufgeschrammten Finger lief. 419 Auf diese Weise folgten die Anwesenden - angeführt von einem besorgten Edelmann Hrodik - pflichtbewusst der Messe. Der Prinz sprach die ganze Zeit kein einziges Wort, und als die Bischöfin gegen Ende des letzten Gebets ihre Hände gen Himmel hob, fuhr er hoch, als wäre er kurz eingenickt. Schlagartig wie ein Windstoß vom Himmel lief er das Mittelschiff entlang auf den Eingang zu, dann plötzlich bahnte er sich einen Weg durch die Menge, die ihm ängstlich Platz machte. Anna schoss davon, benutzte ihre Ellenbogen, um sich ebenfalls durch die Menge zu kämpfen, die jetzt in heller Aufregung war; alle redeten wild durcheinander. Der Prinz duckte sich unter dem Eingang, der zur Krypta führte, und die Leute, die ihm gefolgt waren, zögerten. Die Krypta unterhalb von Gent war während der Besatzung durch die Aikha zu einem Schlachthaus geworden, und nur wenige trauten sich hier herunter. Aber Anna musste ihn finden, um herauszubekommen, ob er wirklich der Daemon gewesen war. Vielleicht verkleidete er sich nur als Mann, oder er war die ganze Zeit über ein Mann gewesen, aus einem anderen Material geformt als die meisten Menschen. Sie eilte die steile Treppe hinunter, erinnerte sich daran, wie plötzlich die Dunkelheit einsetzte. Der Lärm der Menge verstummte mit unerwarteter Plötzlichkeit, und sie erinnerte sich nur noch vage an das abrupte Ende der Stufen, als sie taumelnd unten ankam. Sie war so gut wie blind. »Liath?«, sagte er in der Dunkelheit. Die Stimme, die zu ihr wehte, war kaum mehr als ein Flüstern. Jetzt kehrte jedoch die Erinnerung zurück, als sie vor Furcht ganz benommen schwankte. Ihr Herz klopfte laut. Niemals würde sie diese Stimme vergessen, dieses heisere Kratzen darin! Natürlich antwortete sie nicht. Seine Stiefel scharrten über den Boden. Ein leiser Fluch kam über seine Lippen. Eine Hand streifte ihre Schulter. Dann packte er ihren Arm. »Wer bist du?« 420 Sie konnte nicht antworten. Er berührte ihr Gesicht, erkundete es mit seiner freien Hand, schnaubte, gab voller Abscheu auf und ließ sie los. Ein leichtes Glühen durchdrang die Düsternis, näherte sich beständig. Das Fackellicht brachte sie zum Blinzeln. Der schlanke Geistliche, der am Altar neben dem Prinzen gestanden hatte, hatte jetzt die letzte Stufe erreicht und näherte sich zögernd. »Sanglant?« Er streckte die Fackel erst in die eine, dann in die andere Richtung und hielt überrascht inne, als er Anna in dem rauchigen Licht sah. Hinter ihr stand der Prinz, von den Schatten verborgen, und starrte angestrengt in die Tiefe der Krypta. Jenseits des Fackellichts erstreckte sich eine undurchdringliche Schwärze. »Kennst du das Mädchen?«, fragte der Prinz. »Sie kommt mir bekannt vor, aber ich kann nicht genau sagen, woher ich sie kennen könnte.« Sie wollte es ihm sagen, doch sie konnte nicht sprechen.
»Wer bist du, Mädchen?«, fragte der Geistliche mit freundlicher Stimme und musterte sie. Sie konnte nur den Kopf schütteln, und er ging rasch an ihr vorbei, folgte dem Prinzen in das Grabgewölbe hinein, an den Grabsteinen der heiligen Toten vorbei, die einst Bischöfinnen und Diakonissinnen gewesen waren. Anna schritt hinter ihnen her, innerlich zerrissen von Neugier und Sehnsucht. Abgesehen davon wollte sie nicht allein in der Dunkelheit zurückbleiben. »Sie hat sie hierher gebracht«, sagte der Prinz zu seinem Kameraden. »Liath hat die Flüchtlinge in diese Krypta gebracht. Es heißt, es hätte einen Gang gegeben. Auf diese Weise konnten die Kinder vor dem Untergang Gents bewahrt werden.« Sie gingen noch weiter hinein, vorbei an den Grabgewölben, die sich in der außerhalb des Fackellichts herrschenden Dunkelheit verloren. Anna war zu erschreckt, um sie zu verlassen. Bei jedem Schritt rechnete sie damit, auf die Gebeine der toten Soldaten zu treten, die hier gelegen und bereits zu verwesen begonnen hatten, als sie und Matthias hier vorbeigekommen waren. Jetzt war jedoch 421 keine Spur mehr von ihnen zu sehen, nicht einmal ein Fingerknöchelchen, nicht einmal ein vergessenes Messer. Die beiden Kinder waren von dem wundersamen Licht von St. Kristine durch das Grabgewölbe zu dem geheimen Tunnel geführt worden, aber sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, welchen Weg sie genommen hatten, und sie konnte auch nicht den geringsten Orientierungspunkt erkennen. Der Prinz blieb neben einem frisch errichteten Grabstein stehen, auf dem das Bildnis einer Edelfrau in einer Rüstung zu sehen war. Ihr in Stein gemeißeltes Gesicht war gelassen, friedlich und vielleicht selbst im Tod etwas störrisch. »Das muss das Grab von Edelfrau Amalia sein. Sie ist bei dem Unternehmen gestorben, die Stadt zurückzuerobern.« »Komm, mein Freund«, sagte der Geistliche traurig. »Lass uns hier weggehen.« Er blickte Anna an. »Kannst du sprechen, Kind? Kennst du den Tunnel, von dem Prinz Sanglant spricht?« Sie traute sich nichts weiter, als den Kopf zu schütteln. Sie wusste, sie würde ihn nicht wieder finden. »Er ist für solche wie mich verschlossen«, sagte der Prinz verbittert. »Oh, Gott, Heribert, es zerreißt mir das Herz. Fünf Monate sind vergangen. Was ist, wenn ich in Angenheim nur eine Vision gesehen habe? Liath muss tot sein.« »Nein, sag das nicht. Wie können wir das wissen? Es gibt so viele Geheimnisse, die wir nicht verstehen.« Der Prinz warf den Kopf in den Nacken und heulte wie ein Hund. Das schreckliche Geräusch hallte durch die Krypta, wurde von den Grabgewölben und den vielen Kammern hin und her geworfen. Der Geistliche taumelte überrascht zurück, stieß gegen Anna und ließ fast die Fackel fallen. Der Prinz bebte am ganzen Leib und presste seine Hand gegen die Stirn. Das Licht, das von Heriberts Fackel stammte, erzitterte über ihm. »Hoheit?«, fragte der Geistliche leise. Prinz Sanglant ließ die Hand sinken. Er hatte einen grimmigen 422 und verärgerten Gesichtsausdruck, aber sein Blick war klar. »Ich muss dich um Vergebung bitten, mein Freund. Hier hat Liath einmal mit mir gestanden, an dem Tag, als Blutherz die Mauern gestürmt hat.« Er holte tief Luft und fuhr dann fort. »Der Herr helfe mir. Ich hätte nie gedacht, dass ich den Mut haben würde, diese Ketten noch einmal zu berühren.« »Komm«, sagte Heribert, »du hast für heute genug Mut bewiesen. Edelmann Hrodik hat versprochen, uns mit dem besten Wein von Saony zu verwöhnen.« »Das ist nicht das Einzige, was mich quält.« Er trat zum Rand des flackernden Lichtscheins und versuchte, in die Dunkelheit zu spähen. Da er Anna den Rücken zudrehte, konnte sie seine Miene nicht sehen. »Ich habe gehört, dass meine Drachen hier heruntergeworfen wurden, wo sie verrottet sind, aber ich sehe keine Spuren von ihnen.« Er stand eine Weile in Schweigen versunken da. Die Fackel knisterte, und Rauch kitzelte Anna an der Nase. Sie nieste heftig und schnäuzte sich. »Komm«, sagte der Prinz, als hätte das Geräusch ihn aus seiner Benommenheit gerissen. Er nahm dem Geistlichen die Fackel ab und führte sie zurück ins Licht. »Wieso bist du in die Krypta hinuntergegangen?«, fragte Suzanne sie später, als sie der Menge entkommen waren und zu Hause an dem noch immer brennenden Herdfeuer saßen. Das Feuer verströmte gerade genug Wärme, dass sie ihre Umhänge ausziehen und heißen Apfelwein trinken konnten, um ihre Mägen zu wärmen. Eine Dienerin, die zu Hause geblieben war, um auf das Haus aufzupassen, bediente sie, brachte ein paar Becher, bevor sie sich selbst mit der Schöpfkelle etwas nahm. »Es ist dunkel dort unten. Du hättest dich verletzen können.« Anna schwieg. Suzanne nippte an ihrem Apfelwein, doch die Frage ließ ihr keine Ruhe. »Was hat er zu dir gesagt?« Ihre Finger stellten eine neue Frage, 423 spielten befangen mit ihren Haaren. Sie blickte Raimar an, der sie mit nachdenklichem Blick betrachtete. »Wieso bist du dem Prinzen in die Krypta gefolgt?« Anna konnte nicht antworten, nicht einmal mit Hilfe der Zeichen, die sie gelernt hatte, um sich verständigen zu
können. Sie konnte nicht antworten, weil sie die Antwort nicht wusste. Es gab so viele Rätsel, die die Menschheit einfach nicht verstehen konnte. 2 Zu seiner großen Überraschung hatte Zacharias begonnen, in den Monaten, die sie nun gemeinsam von einem Gut zum nächsten in Richtung Osten reisten, den Prinzen zu bewundern. Prinz Sanglant war direkt, gerecht und aufrichtig, ein entschlossener Anführer, der niemals jemanden etwas tun ließ, das er selbst nicht ebenfalls zu tun bereit gewesen wäre. »Nein, ich habe mir niemals vorstellen können, aus freien Stücken im Gefolge eines Edelmanns zu reisen«, sagte Zacharias zu Heribert, als sie sich in der großen Halle im Bürgermeister-Palast in Gent eine Platte teilten. Der Wein floss in Strömen, und ein junger, noch in der Ausbildung befindlicher Barde verstümmelte eine Hymne, die die Begegnung zwischen der in die Jahre gekommenen Herodia von Jeshuvi und dem heiligen Daisan pries; bei dieser Begegnung war dem späteren Heiligen prophezeit worden, dass er der in Dunkelheit liegenden Welt das Licht bringen würde. »Und ich hätte nie gedacht, dass ich einmal mit einem gewöhnlichen Mann zusammen essen würde«, erwiderte Heribert gedankenvoll. Sanglant saß am hohen Tisch, er trank viel und sprach wenig, während Edelmann Hrodik sich mit einer Eber-Jagd brüstete, die vor kurzem stattgefunden hatte und bei der er sich die Nase gebrochen hatte. 424 »Es sind Männer wie du gewesen, derentwegen ich es vorgezogen habe, eher Frater als Mönch zu werden, denn in einem Kloster hätte ich mich vor einem Herrn von edler Geburt verbeugen müssen. Meine Großmutter hat die Edlen als Diebe und Rüpel bezeichnet und verachtet. Sie hat gesagt, sie würden von der Arbeit ehrlicher Bauern leben und ihren fremden Gott der Einigkeiten jenen aufzwingen, die es vorzogen, den alten Traditionen entsprechend zu leben.« »War sie eine Ungläubige?« »Das war sie in der Tat. Sie hat die alten Götter verehrt. Sie dankten ihr ihre Treue mit einem langen Leben, mit Wohlstand und vielen Enkelkindern.« Heribert seufzte. Der junge Geistliche hatte ein schmales, kluges und beinahe zartes Gesicht, und er hatte darüber hinaus die aristokratischsten Manieren, die Zacharias jemals bei einem Edelmann gesehen hatte. Allerdings hatte er in seinem Leben nicht sehr viele Edelleute getroffen. Zu seinem großen Kummer hatte er den größten Teil seines Erwachsenenlebens bei den barbarischen qumanischen Stämmen verbracht. »Was deiner Großmutter widerfahren ist, ist längst vorbei. Es ist deine Seele, um die ich mich sorge, Zacharias. Du betest nicht mit uns.« »Und doch bete ich auf meine eigene Weise, und auch nicht zu den Göttern meiner Großmutter. Ich bitte dich, lass uns nicht wieder davon anfangen, denn nichts, was du sagst, könnte mich umstimmen. Ich habe eine Vision gesehen -« »Wer kann behaupten, dass dir der Feind nicht einfach Staub in die Augen gestreut hat?« »Frieden, Freund. Ich weiß, was ich gesehen habe.« Heribert hob die Hand, als wollte er sich ergeben. Zacharias kicherte. »Ich werde deine Ohren nicht mit einer weiteren Beschreibung der Vision vergiften, die mir zuteil geworden ist. Zumindest davor bist du sicher.« »Sicherer jedenfalls als vor dem Gejammer dieses Barden.« 425 Zacharias schnaubte, denn der Barde war tatsächlich längst nicht so geübt, wie er es eigentlich hätte sein sollen oder er war betrunken. »Besser, der Barde singt, als dass Edelmann Hrodik prahlt. Gibt es auch nur einen einzigen Diener unter all den Bediensteten am hohen Tisch? Es sind alles Frauen, als wollte er sich damit brüsten, dass er sie jede Nacht mit in sein Bett nimmt.« Er hatte niemals den Abscheu seiner Großmutter gegenüber der Sklaverei abgelegt, und er konnte auch jetzt nicht den Abscheu aus seiner Stimme fern halten. »Ich nehme an, diese Bediensteten sind an ihn gebunden und können seinen Diensten nicht so einfach entsagen, nur weil sie es wollen.« Heribert blickte ihn überrascht an. »Wir alle sind auf die eine oder andere Weise gebunden. Auch der Herrscher und die Skopos sind Vasallen Gottes. Wieso ist das hier etwas anderes?« »Zwingen Gott den Herrscher und die Skopos, gegen ihren Willen Huren zu sein?« Ein bisschen abseits von den anderen Bediensteten stand eine besonders hübsche junge Frau, die anscheinend die Leitung innehatte und den Fluss der Speisen und Getränke beaufsichtigte; lediglich eine Narbe entlang ihrer Unterlippe verunzierte ihre hübschen Gesichtszüge - es war, als wäre sie kräftig gebissen worden. Edelmann Hrodik schien wild entschlossen zu sein, sich lächerlich zu machen, indem er sie immer wieder zu sich rief und viel Wirbel um ihre Anwesenheit machte, obwohl jeder Idiot sehen konnte, dass das arme Mädchen dem Zauber von Prinz Sanglants Charme verfallen war. »Oh, Herr«, sagte Heribert mit einem reuevollen Lächeln, »da ist mal eine Frau, die Sanglants Aufmerksamkeit errungen hat.« »Woher weißt du das ? Es scheint mir, als würde er sie nicht anders und auch nicht öfter ansehen als all die anderen.«
Heribert kicherte leise. »Scheint dir das so, ja? Und doch glaube ich, dass es bei ihr anders ist. Sie ist sowohl hübsch als auch wohlgeformt, und ich fürchte, dass unser Prinz gerade gegenüber Frauen wie ihr sehr empfänglich ist.« 426 »Sie ist in der Tat hübsch«, stimmte Zacharias ihm zu; er hatte nichts dagegen, gut aussehende Frauen zu bewundern, und in vergangenen Zeiten - vor seiner Verstümmelung - hatte er einige Male sein Gelübde gebrochen. »Vielleicht ist es deine eigene Enthaltsamkeit, auf die du achten solltest, mein Freund, nicht die des Prinzen.« Heribert errötete leicht. »Nein, mein Freund. Der Zauber der Frauen hat keine Macht über mich. Der arme Hrodik ist zu bedauern. Er verblasst sofort, wenn er neben Sanglant sitzt, um so mehr wegen seiner unaufhörlichen Prahlerei.« »Er hätte bei den qumanischen Stämmen nicht länger als einen Tag überlebt. Obwohl sie Wilde waren, hat keiner von ihnen es gewagt, sich mit seinen Taten zu brüsten, ehe er nicht ein richtiger Krieger und Jäger war.« »Die Mitglieder aus Edelmann Hrodiks Gefolge erklären übereinstimmend, dass er im letzten Monat einen Bock geschossen hat, also darf er sich vielleicht wirklich als Jäger bezeichnen.« Zacharias lachte, so ungewöhnlich war es, dass der wählerische Geistliche eine sarkastische Antwort gab. Prinz Sanglant drehte ihnen bei dem Geräusch den Kopf zu und erhob sich abrupt. Der Barde hielt verwirrt in seinem Vortrag inne und blickte sich verunsichert um, als fürchtete er, dass jeden Augenblick bewaffnete Soldaten in die Halle stürmen würden. »Ich bitte dich, Bruder Zacharias«, sagte der Prinz und wandte sich ihm über die ganze Länge von zwei Tischen hinweg zu. »Wenn du die Hymne an St. Herodia wiedergeben kannst, dann tu das bitte. Du kennst sie doch auswendig, oder nicht?« Zacharias erhob sich und reichte Heribert den Weinbecher. »Ich kann sie aufsagen, Hoheit, wenn es Euch gefällt.« »Es würde mir sogar sehr gefallen.« Sanglant verließ den hohen Tisch und setzte sich neben Heribert, auf den Stuhl von Zacharias. Er stürzte den letzten Rest Wein hinunter, der noch im Becher war. »Oh, Gott«, sagte er mit leiser Stimme, »ich habe keinerlei Geduld mehr für diesen schwanzwedelnden Welpen oder für den 427 Kriecher, der sich Barde schimpft.« Er blickte sich verzweifelt um, hob seinen Becher, und die hübsche Dienerin eilte herbei, um ihn nachzufüllen; sie schüttete den Wein durch ein silbernes Sieb, das den größten Teil des Satzes herausfilterte. Sanglant starrte sie direkt und unverblümt an, doch sie senkte ihren Blick nicht, und so war es dieses Mal der Prinz, der zuerst zur Seite blickte; er war etwas errötet, auch wenn man das bei seinem bronzefarbenen Teint kaum erkennen konnte. Edelmann Hrodik rief sie schroff zu sich, und sie beeilte sich, zu ihm zu gehen. »Oh, Herr«, murmelte der Prinz. »Ich bin nicht dazu gedacht, als Mönch zu leben.« »Unser Prinz benötigt etwas Zerstreuung«, raunte Heribert Zacharias zu. Als Zacharias jung gewesen war, hatte er einen Weg gefunden, wie er sich jene Hymnen und Verse, die er besonders liebte, am besten merken konnte - er stellte sie sich als Tiere vor, die in einem Stall untergebracht waren. Jedes Tier hatte seinen eigenen Stall, den ein Vogel oder eine Pflanze kennzeichnete - was ihn an das erste Wort, den ersten Satz erinnerte. Beim Aufsagen dieser Hymnen oder Verse ging er dann mit dem geistigen Auge diese Ställe entlang, fand zum Beispiel die Gestalt eines Geiers, der als Prophet bekannt war und eine Garbe Gerste trug, was auf Dariyanisch Hordeum hieß. Dieses Wort hatte genug Ähnlichkeit mit »Herodia«, sodass er sich - ausgehend vom ersten Wort - leicht an das zweite erinnern konnte. So benötigte er nur so viel Zeit, wie der Prinz brauchte, um einen weiteren Becher Wein zu leeren, um die ersten Worte auf seiner Zunge zu sammeln. »Lasset uns die erste Prophetin preisen, genannt Herodia, Die auf den Straßen und in den Tempeln von Jeshuvi umherging Und ihren Blick nicht von den menschlichen Schwächen abwandte. Und sie fürchtete sich auch nicht, hart mit jenen zu sprechen, die Gottes Gesetz übertreten hatten.« 428 Hatte er erst einmal begonnen, kamen die Worte fast von allein, eines verband sich mit dem nächsten in einer ununterbrochenen Kette. Das war die Fähigkeit, die, wie seine Großmutter behauptet hatte, die Götter ihm vermacht hatten. Der Frater, der die Botschaft der Einigkeiten in ihr Grenzdorf gebracht hatte, hatte ihn gelobt und ihm erklärt, dass er einen klugen Namen erhalten hätte, denn der Engel der Erinnerung, Zachriel, hatte ihm wirklich eine heilige Gabe geschenkt. »So soll die heilige St. Herodia ihren Segen über uns sprechen, Denn ihr Wort ist das Wort der Wahrheit.« Als er endete, hörte er den Prinzen etwas rufen, während Edelmann Hrodik aufsprang. »Seht her!«, schrie der junge Edle, als etwa ein Dutzend Stadtbewohner die Halle betraten und sich nervös umsahen. Unglückseligerweise war die junge Frau, die die Gruppe anführte und jenes Band über ihren Haaren trug, das ihren Status als geachtete Hausherrin verriet, noch hübscher als die Dienerin. Sanglant erhob sich mit dem Becher in der Hand und seinem üblichen einnehmenden Lächeln auf dem Gesicht. »Kommt, Meistrin Suzanne«, rief Hrodik ungeduldig aus, als sie und ihre Leute zögerten. »Ich habe Euch
herrufen lassen, um Euch zu ehren, nicht um Euch zu verschlingen.« Er kicherte über seinen eigenen Witz. Bestimmte Bedienstete gaben Geräusche von sich, als lachten sie, blickten dann den Prinzen an, um zu sehen, ob er die Bemerkung ebenso witzig fand wie Hrodik. Aber der Prinz hatte seinen Blick nicht von Meistrin Suzanne abgewandt, seit sie die Halle betreten hatte. Hrodik machte viel Aufhebens davon, seinen Platz am hohen Tisch zu verlassen und in die Mitte der Halle zu gehen, wo er schon allein aufgrund seines Ranges den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bilden würde. »Ihr müsst keine Angst haben, vor Prinz Sanglant zu treten, denn er ist wirklich ein edler Prinz. Es wird Euch kein Schaden zugefügt werden. Kommt, denn ich möchte Prinz Sanglant zeigen, wie wir ihm hier in Gent helfen können. Seine Soldaten sind für 429 dieses Winterwetter nicht ausreichend ausgestattet. Ich möchte ihn davon überzeugen, dass es ihm gut täte, eine Weile hier zu bleiben, während wir ihn mit Umhängen und Rüstungen versorgen, wie es seiner Stellung entspricht.« Er brachte sich beinahe um vor Eifer, als er dem hübschen Dienstmädchen winkte, das an der Seitentür erschien. »Komm, Frederun. Bring jetzt die Geschenke her, die ich dem Prinzen geben möchte, damit er später die große Gastfreundschaft rühmen kann, die er in meiner Halle vorgefunden hat.« Sanglant hielt seinen Blick noch immer auf Meistrin Suzanne gerichtet, aber sie wich ihm aus, abgesehen von dem flüchtigen Blick, den sie ihm zugeworfen hatte. Der Mann neben ihr hatte ihr seine Hand auf den Arm gelegt. »Nun«, murmelte Heribert, als Zacharias zur Seite trat und sich hinter seinen Stuhl stellte, »da ist ja mal eine, die genauso hübsch ist wie Liath.« Sanglant warf Heribert einen Blick zu; in seinem Lächeln lag eher Gereiztheit als Erheiterung. »Ich bin nicht mein Vater, Heribert.« »Nein«, pflichtete Heribert ihm kameradschaftlich bei. »Denn König Henry war bekannt dafür, dass er niemals den Pfad der Ausschweifungen beschritt, nicht einmal, nachdem seine Frau gestorben war.« »Wie kann sündenlose Vereinigung, wenn eine Frau und ein Mann sich aus freiem Willen zum gegenseitigen Vergnügen miteinander beschäftigen, als Ausschweifung bezeichnet werden? Der Herr und die Herrin haben die Heilige Botschaft zwischen sich empfangen, Bruder, ist das nicht so? Sind nicht das Universum und die Erde ihre Schöpfung, erschaffen durch Begierde?« »Durch die Vereinigung in rechtmäßiger Verbindung.« Sanglant lachte, und alle Anwesenden in der Halle drehten sich zu ihm um. »Wirklich, Heribert, es tut mir nicht gut, mit dir über die Kirchendoktrin zu streiten.« Er setzte sich abrupt wieder hin und senkte seine Stimme. »Aber ich schwöre dir, mein Freund, ich glaube nicht, dass ich noch viel länger enthaltsam bleiben kann.« 430 Edelmann Hrodik trat "auf Frederun zu, die einen schönen, scharlachroten Umhang in den Händen hielt. Hinter ihr trug ein junger Diener einen Gegenstand, der mit einem Leinentuch verdeckt war. Hrodik riss ihr den Umhang aus den Händen und schüttelte ihn aus; wohlverdiente Ausrufe der Freude und Bewunderung kamen von den Anwesenden. Der Umhang war meisterhaft gewebt und bestand aus einem Stoff, der in einem kräftigen Scharlachrot gefärbt worden war, zudem besaß er einen bestickten Saum, auf dem sich ineinander verschlungene goldene Drachen rankten. »Dies ist die Arbeit von Meistrin Suzanne, auf die ich Euch aufmerksam machen möchte, Eure Hoheit. Nehmt es von mir als Geschenk, denn es ist Euer wahrlich würdig.« Hrodik war ganz atemlos vor Aufregung, als er den Umhang Sanglant umlegte. Sein schmales, pickeliges Gesicht strahlte vor Stolz, als er die junge Weberin zu sich winkte. Sie kam nur zögernd seiner Aufforderung nach. »Eine sehr schöne Arbeit, wirklich«, sagte der Prinz in einem Ton, der andeutete, dass er die Frau ebenso sehr lobte wie den Umhang. Sie blickte ihn immer noch nicht an. »Wie viele Umhänge braucht Ihr für Eure Soldaten?«, fragte Hrodik. »Es müssen etwa sechzig Soldaten in Eurem Gefolge sein.« »Einundsiebzig«, erklärte Sanglant. Die Weberin erbleichte. »Mein Herr, ich kann Euch nicht mit so viel Kleidung in so kurzer Zeit versorgen!« »Nein«, rief Edelmann Hrodik überschwänglich, »es muss ja auch nicht in so kurzer Zeit sein. Sie können bei dieser Kälte ohnehin nicht nach Osten reiten, und auch nicht bei der Schneeschmelze. Ich sehe keinen Grund, wieso sie nicht zwei Monate oder gar länger hier bleiben könnten!« Die arme Weberin sah aus, als stünde sie kurz vor einer Ohnmacht, aber Zacharias hatte den starken Verdacht, dass es nichts mit der Kleidung zu tun hatte, sondern mit der Anwesenheit des Prinzen, der sie immer noch betrachtete, während er mit dem Fin431 ger über einen Drachen fuhr, der in feinem Goldfaden aufgestickt war. Edelmann Hrodik war ganz aus dem Häuschen in seinem Bemühen, den Prinzen zufrieden zu stellen. Jetzt bemerkte er Sanglants Faszination für die Drachenstickerei. Er machte einen Schritt nach vorn und riss dem Diener den verhüllten Gegenstand aus dem Arm, entfernte den Stoff und brachte einen wunderschönen Helm zum Vorschein; er war aus prächtigem Eisen gefertigt, mit Gold verziert und täuschte das stürmische Antlitz eines Drachen vor.
Prinz Sanglant sprang so abrupt auf, dass sein Stuhl nach hinten fiel und mit einem donnernden Knall auf dem mit Binsen bestreuten Boden landete. Er warf Heribert den Umhang zu und musste sich am Tisch festhalten, da seine Beine nachzugeben drohten. »Wo habt Ihr ihn her?« Hrodik war zwar verblüfft, wirkte aber angesichts von Sanglants Reaktion nicht im Geringsten verängstigt. »Er stammt aus der Krypta, Eure Hoheit. Wir haben eine ganze Menge Waffen und Rüstungen dort gefunden, nachdem der König und Graf Lavastin Gent wieder menschlicher Herrschaft unterstellt hatten. Edelmann Wichman hat diesen Helm wiederherstellen und polieren lassen, aber er hat niemandem gestattet, ihn zu tragen. Und er hat ihn auch nicht mitgenommen, als er nach Osten geritten ist, um gegen die Qumaner zu kämpfen.« Langsam richtete Sanglant sich auf. »Was ist mit den übrigen Sachen, die vorgefunden wurden?« Die beiläufigen Worte konnten den aufkeimenden Schmerz in seiner Stimme nicht verbergen, wenngleich seine Stimme immer etwas heiser klang. »Wichmans Kameraden haben das meiste unter sich aufgeteilt«, erklärte Hrodik, »und seine Mutter, Herzogin Rotrudis, hat den Rest wegschaffen lassen. Es war natürlich nichts darunter, was so kostbar gewesen wäre wie dieses Stück hier, aber alles war gut verarbeitet und -« Hier brach er ab, und Entsetzen stand in seinem Blick. Er stammelte unsinniges Zeug und legte den Helm auf den Tisch. 432 »Ich bitte Euch, vergebt mir, Eure Hoheit.« Seine Hände zitterten regelrecht. »Ich habe einen Fehler gemacht. Ich kann Euch diesen Helm gar nicht schenken, denn er hat einmal Euch gehört, nicht wahr? Als Ihr Hauptmann der Drachen gewesen seid.« Sanglaut zögerte, dann berührte er den Helm so vorsichtig, als wäre er eine Natter. Schließlich steckte er zwei Finger durch die Augenlöcher und hob ihn hoch, um ihn näher zu untersuchen, drehte ihn herum und musterte die Drachenarbeit darauf, die erhobenen Schwingen, die sich um den Helm wanden, das leuchtende Gesicht, das den Feind anstarrte. Zacharias konnte Sanglants Miene nicht deuten; zu viele Gefühle drängten sich unter der beherrschten Maske. Ohne ein weiteres Wort klemmte er sich den Helm in einer Geste, die er mehr aus körperlichem Reflex heraus als bewusst vollführte, unter den Arm und marschierte aus der Halle; weder blickte er irgendjemanden an, noch gab er eine höfliche Entschuldigung von sich. Er ging einfach davon, mit einem solch harten Gesichtsausdruck, wie ihn nur ein Mann haben konnte, der seine geliebten Kameraden einen nach dem anderen hatte fallen sehen, ohne jede Hoffnung, auch nur einen von ihnen retten zu können. Und so war es ja auch gewesen. Zacharias hatte von Fulks Soldaten die Geschichte von Gent gehört, aber sie wurde nur erzählt, wenn der Prinz außer Hörweite war. Doch war das nicht auch der Grund, weshalb ihm Soldaten mit ganzem Herzen folgten? Weil er ihnen auch sein Herz gab? Prinz Sanglant kannte den Namen und die Geschichte jedes einzelnen Mannes in seinem Gefolge. Nicht einer von ihnen zweifelte daran, dass ihr Prinz sie mutig anführen würde, dass er bis zum bitteren Ende mit ihnen kämpfen und über jeden Gefallenen trauern würde, dass er den Familien derjenigen, die - wenn Gott es so wollten - nicht überlebt hatten, großzügige Entschädigungen zahlen würde. »Komm mit«, sagte Heribert mit leiser Stimme. Das musste er Zacharias nicht zweimal sagen, doch an der Tür hielt er inne, um einen Blick zurück zu werfen; in diesem Augen433 blick schien Edelmann Hrodik aus seiner Starre zu erwachen und sprach mit einer schon fast hektischen Stimme. »Kommt, Meistrin. Wir müssen zu seinen Gemächern gehen und mit ihm über die Ausrüstung seiner Soldaten reden.« Die Weberin hatte eine angenehme Stimme, tief und melodisch, obwohl sie jetzt etwas zittrig klang. »Ich bitte Euch, Edelmann Hrodik, es scheint mir doch, dass der Prinz nicht in der Stimmung ist, von einer gewöhnlichen Frau wie mir gestört zu werden. Ich und die anderen Weberinnen in Gent werden Euch mit dem versorgen, was Ihr wünscht, wenn Ihr uns nur gestattet -« »Nein! Nein! Ich möchte, dass seine Wünsche exakt erfüllt werden! Noch bin ich Herr über diese Stadt. Ihr werdet tun, was ich Euch befehle!« »Ich bitte Euch, Bruder.« Das Flüstern kam vom Flur her. Zacharias drehte sich um und sah die Dienerin Frederun im Schatten neben der Tür stehen. Heribert war bereits verschwunden. Da alle Fenster entlang des Flurs verriegelt waren, war es zu dunkel, als dass er ihr Gesicht hätte erkennen können. »Kennt der Prinz diese Frau? Die Weberin?« »Ich bin erst seit fünf Monaten bei Prinz Sanglant. Ich weiß nur wenig von seiner Vergangenheit. Und doch muss ich Euch den Rat geben, Schwester, lasst Euch nicht von der Lust beherrschen. Ich weiß nicht, was Euch an diesen Ort bindet, aber Ihr begreift doch sicherlich, dass der Prinz weiterreiten wird und Ihr hier zurückbleiben werdet?« »Ich bin als Dienerin an diesen Platz gebunden, Bruder. Wollt Ihr mir raten, fromm zu akzeptieren, was Gott für jemanden wie mich beschlossen haben? Soll mir denn gar kein Glück beschieden sein?« »Nein, Schwester, ich bin nicht so, wie Ihr glaubt«, sagte er, getroffen von ihrem Ton. »Meine Familie ist nach Osten in die Marklande gegangen, um nicht unter der Knechtschaft eines Edlen leiden zu müssen. Doch fleischliches Verlangen folgt keinem anderen Zweck als sich selbst. Wirklich, Ihr solltet mehr auf Euch Acht
434 geben, bevor Ihr Euch den fleischlichen Genüssen hingebt. Was ist, wenn Ihr schwanger werdet?« »Ich musste sechs Monate als Edelmann Wichmans Hure herhalten«, sagte sie verbittert, »und trotzdem hat sich kein Kind in meinem Bauch entwickelt. Oh, Gott.« Sie seufzte verzweifelt. »Habt Ihr gesehen, wie er sie angesehen hat?« Mit diesen Worten verschwand sie den Flur entlang. Mit einem Stirnrunzeln kehrte Zacharias zu den Kammern zurück, die dem Prinzen zur Verfügung gestellt worden waren, aber der Anblick, der ihn dort erwartete, stimmte ihn nicht gerade froh. Prinz Sanglant stand in der Mitte des Zimmers; seine große, breitschultrige Gestalt wirkte mit dem außerordentlichen Drachenhelm, den er jetzt trug, irgendwie beängstigend. Sanglant drehte sich beim Klang von Zacharias' Schritten um und nahm den Helm ab, als wollte er nicht, dass ihn irgendjemand damit sah. »Ich fürchte, Edelmann Hrodik wird gleich hier auftauchen, Hoheit«, sagte Zacharias. »Der Herr bewahre mich davor«, murmelte der Prinz. Er neigte den Kopf leicht zur Seite, um zu lauschen. Er hielt den Helm in den Händen - zwei Finger durch die Augenschlitze gesteckt -, als wäre er ein angenehmes Gewicht. »Sie ist bei ihm.« »Wer ist siel«, fragte Heribert leise. Er blickte Sanglant offen an; ein teilnahmsvolles Lächeln lag auf seinem Gesicht. »Meistrin Gisela von Stelesham hatte eine hübsche Nichte, die Suzanne hieß. Sie war eine gute Weberin. Sie hat unter anderem Umhänge für die Adler des Königs gewebt. Meine Drachen und ich haben eine Woche lang sehr angenehme Tage und Nächte in Stelesham verbracht, während wir von den Waffenschmieden neu ausgestattet worden sind, als wir unterwegs nach Gent waren.« Er fluchte, lachte leise und warf den Helm Matto zu, der in dem Zimmer zurückgeblieben war, um auf die schlafende Gnade aufzupassen. Ihr kleiner Körper lag in der Mitte des großen Bettes, wo eigentlich Sanglant schlafen sollte. Matto fing den Helm auf, ächzte angesichts des schweren Ge435 wichts und fuhr ehrfürchtig mit den Fingern über die Goldeinlage. »Der Herr möge mich segnen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie ein so schönes Stück gesehen. Nicht einmal der König hat einen solch beeindruckenden Helm!« »Still, Matto«, sagte Sanglant, aber nicht unfreundlich. »Sprich nicht respektlos von König Henry, dem Gott Ihre Gunst erwiesen haben.« »Nein, Eure Hoheit«, sagte der Junge gehorsam. Inzwischen konnten alle hören, wie Edelmann Hrodik sich der Tür näherte; er rief einem seiner Verwalter in seiner schmeichlerischen, launischen Stimme Befehle zu: »Nun geh schon und lasse den Prinzen wissen, dass wir ihm zur Verfügung stehen.« Sanglant nahm auf dem einzigen Stuhl in seinem Zimmer Platz - einem reich mit Schnitzereien versehenen Stuhl, der auf einem dicken arethusanischen Teppich stand, in den ein Muster aus Blumen und Reben eingearbeitet worden war. Er bedeutete Matto, sich an die Tür zu stellen. Der Junge hatte kaum Zeit, seine Position einzunehmen, als ein eifriger Verwalter mit viel Aufhebens Edelmann Hrodik ankündigte. Indem Sanglant sich niedergelassen hatte, machte er die Kluft zwischen seiner Autorität und der Autorität des jungen Edelmannes offensichtlich. Er wusste, wie er seine Gegenwart und seine Größe Furcht einflößend einsetzen konnte, und das tat er jetzt, indem er sich nach vorn neigte und beide Hände auf die Knie stützte. Hrodik lächelte leicht geziert und stammelte etwas, und schließlich trat er zur Seite und ließ die junge Weberin vortreten. Ihre Wangen waren so gerötet, dass es aussah, als hätte sie Fieber. Sie weigerte sich noch immer, dem Blick von Prinz Sanglant zu begegnen. »Nun, es scheint, als wärt Ihr in dieser Stadt eine berühmte Weberin, Meistrin«, sagte er ohne jede Spur von Ironie. »Ja, Eure Hoheit.« Jetzt blickte sie ihn kühn an und sah sich dann im Zimmer um; sie bemerkte Heribert, Zacharias, den jungen Matto an der Tür, die drei jungen Hunde, die dem Prinzen als 436 Geschenk der Mönche von St. Gall überreicht worden waren und jetzt keuchend unter dem Tisch saßen, und schließlich auch das Bett. Sie wirkte verblüfft, und ihre Augen weiteten sich, während sie ein Stück zurückwich. »Ist das Euer Kind, Eure Hoheit?« »Das ist es«, bestätigte er. »Das ist meine Tochter Gnade.« Meistrin Suzanne schien schließlich den Teppich - verglichen mit dem Kind auf dem Bett - für einen faszinierenden Anblick zu halten. Zwischen den beiden verliefen solch starke Strömungen, dass Zacharias beinahe glaubte, sie aufspüren zu können, wenn er nur die Fähigkeit besäße, Emotionen als Licht zu erkennen. »Ein hübsches Kind, Eure Hoheit. Jedes Kind ist eine Gnade.« Sie brach ab, als hätte ein Peitschenhieb sie am Weiterreden gehindert. Ihr Gesicht wurde jetzt blass, aber ihre Stimme blieb kräftig. »Und doch wird nicht jedes Kind in gesegneten Umständen geboren. Einige von uns werden Schachfiguren derjenigen, Eure Hoheit, deren weltliche Macht ihre Furcht vor Gott übertrifft.« Sie warf zum ersten Mal einen Blick auf ihre eigene kleine Gefolgschaft, ihren gespannt wartenden Haushalt, der hinter ihr stand und den Prinzen in einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst anstarrte. Der Mann gleich hinter ihr nickte bestätigend in der Weise, wie es ein guter Kamerad zu tun pflegte, der mit ihr durch Vertrauen und Anteilnahme verbunden war. Er war längst nicht so
hübsch wie der Prinz, hatte die breiten Schultern und dicken Oberarme eines Arbeiters und einen grimmigen Fatalismus in seinem Blick, als er den Prinzen beäugte. Sein Rivale, dachte Zacharias spontan, und er wusste, dass er Recht hatte. Meistrin Suzanne fuhr fort, und mit jedem Wort, das sie sprach, schien ihr das Reden leichter zu fallen. »Nach dem Fall Gents bin ich gegen meinen Willen Edelmann Wichman übergeben worden, als er mit seinem Gefolge in Stelesham gelebt und die Aikha bekämpft hat. Als die Aikha vertrieben worden waren, habe ich meine Tante und Stelesham verlassen und bin nach Gent gegangen, um von vorn zu beginnen - und um Edelmann Wichman zu ent437 kommen. Ich war damals schwanger und habe nach einiger Zeit sein Kind geboren. Weil auch er sich in Gent niedergelassen hat, hatte ich Angst davor, ihn von meiner Anwesenheit in Gent wissen zu lassen, denn ich wollte nicht, dass er -« Es war zu viel; sie konnte den Satz nicht beenden. »So wie ich meinen Verwandten Wichman kenne«, sagte Sanglant leise, »verstehe ich nur zu gut, wieso Ihr nicht wolltet, dass er von Eurer Anwesenheit in Gent erfuhr.« Sie seufzte dankbar, nahm ihren ganzen Mut zusammen und sprach weiter. »Doch das Kind musste getauft werden, Eure Hoheit. Auf diese Weise kam die Angelegenheit Herzogin Rotrudis zu Ohren. Noch bevor das Kind sechs Monate alt war, kam eine Geistliche zu uns und brachte das Kind weg.« Sie wirkte noch immer gefasst. »Ich gestehe, dass ich dankbar war, als diese Bürde von mir genommen wurde. Ich bin sicher, die Herzogin kann dem Kind ein besseres Leben bieten, als ich es je vermocht hätte. Und um die Wahrheit zu sagen, ich hätte es auch niemals lieben können, angesichts der Erinnerung an die Umstände seiner Entstehung.« Sanglant konnte nie richtig still sitzen, doch auch wenn er mit dem einen Fuß unruhig auf den Teppich klopfte, war es ihm möglich, mit seiner ganzen Aufmerksamkeit zuzuhören. Seine Aufmerksamkeit wurde geradezu zu einer zweiten Gestalt im Zimmer - es war der Umhang der Macht, den er als Prinz immer mit sich führte. Selbst Hrodik wagte nicht, ohne Erlaubnis zu sprechen. Doch das Schweigen des Prinzen gab der Weberin die unausgesprochene Zustimmung, fortzufahren. »Mein Haushalt hat sich im Laufe der Zeit gut entwickelt, Eure Hoheit. Herzogin Rotrudis hat mich großzügig dafür entschädigt, dass ich ihr Enkelkind ausgetragen habe. Ich habe diese Entschädigungen dazu benutzt, meine Werkstatt zu verbessern. Ich bin bereits diesem Mann versprochen, Raimar. Mit unserem neuen Wohlstand waren wir in der Lage, vor der Bischöfin unseren Verlobungsschwur zu leisten. Wir werden im Frühling heiraten. Raimar konnte die Gerberei verlassen, in die er in den letzten Wochen 438 der Besatzung der Aikha als Sklave gesteckt worden war; er hatte vor der Invasion eine Ausbildung als Tischler gemacht. Mit unserem Diener Autgar hat er zwei neue Webstühle gebaut und einen neuen Wollraum errichtet; außerdem hat er für den Haushalt Regale und Betten sowie ein paar andere Sachen gebaut.« »Schon gut«, sagte Sanglant und hob die Hand. Sie brach ab und errötete wieder. »Ihr habt Euch den Wohlstand, den Ihr jetzt genießt, wirklich verdient. Ich werde Euch nicht länger stören und nichts weiter von Euch fordern, wenn Edelmann Hrodik dafür sorgt, dass ich zwanzig dicke Wollumhänge für meine Leute bekomme.« »Haltet mich nicht für undankbar, Eure Hoheit, ich bitte Euch.« Endlich hob sie ihren Blick und begegnete seinem. Bei seinen Worten hatte sie sich etwas entspannt. Das Licht spielte auf ihrem Gesicht und ließ die geschwungenen Lippen und den stillen Glanz ihrer Augen noch faszinierender erscheinen, sodass selbst Zacharias Begierde in sich aufsteigen fühlte. Sanglant gab ein lautes Seufzen von sich. »Glaubt nicht, dass ich nicht an die Rosen des Sommers denke, die niemals wieder beschafft werden können, auch wenn wir uns mit glühendem Herzen an ihren Geruch, ihre Süße und Schönheit erinnern«, sagte sie. »Ihr habt meine Erlaubnis, Euch zurückzuziehen«, erklärte der Prinz verunsichert. »Und Ihr auch, Hrodik.« Doch als sie sich gerade umdrehten und gehen wollten, hielt er sie zurück. »Nein, einen Augenblick noch. Wer ist das Mädchen?« Er deutete auf ein Mädchen, das bei Suzannes Gruppe stand. Das Mädchen hatte nichts Besonderes an sich, außer einem seltsamen dunklen Teint, als wäre sie in ein Gerberfass gefallen. Sie war kein Kind mehr, aber auch noch keine Frau, und trat jetzt furchtlos vor, um sich dem Prinzen zu stellen. Sie reichte dem Prinzen nicht einmal bis zur Schulter. »Ich kenne dich«, sagte er beinahe verträumt. Heribert trat vor. »Es ist das Kind, das dir in die Krypta gefolgt ist, Prinz.« 439 »Ja, das auch, aber ich kenne sie. Ich kenne sie. Wie lautet dein Name, Kind?« »Sie ist stumm, Eure Hoheit.« Meistrin Suzanne stellte sich schützend hinter das Kind, legte Anna eine Hand auf die Schulter. »Sie heißt Anna. Sie und ihr Bruder Matthias sind aus Gent geflohen, lange nachdem die Aikha die Stadt eingenommen hatten. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, dort all die Monate zu überleben, aber es gelang ihnen, mit Hilfe von St. Kristine aus Gent zu fliehen und nach Stelesham zu gelangen. Ich habe sie als Teil meines Haushalts nach Gent mitgenommen. Ihr Bruder Matthias ist mit einer meiner jüngeren Weberinnen verlobt. Er lernt jetzt in der Gerberei.« »Ihr seid der Daemon«, sagte das Mädchen plötzlich mit einer Stimme, die so kratzig klang wie das Schrappen über Sandpapier. Suzanne fuhr zusammen, und die Mitglieder ihres Haushalts begannen wild durcheinander zu reden. Sie beugte
sich vor, um das Mädchen zu berühren. »Oh, Gott«, sagte Suzanne unter Tränen. »Sie hat seit zwei Jahren kein einziges Wort mehr gesprochen.« »Sanglant?« Heribert eilte vor und legte dem Prinzen eine Hand auf den Arm. Auch Zacharias trat neben ihn, denn Sanglant blickte völlig benommen drein, als hätte ihn ein unerwarteter Schlag auf den Kopf getroffen. Gnade wachte auf und begann zu weinen, von all dem Lärm erschreckt. »Papa! Papa! Ich will zu Papa!« »Oh, Gott«, murmelte Sanglant. »Es ist also gar kein Traum gewesen. Diese beiden Kinder, der Junge mit dem Messer und das Mädchen mit dem hölzernen Kreis der Einigkeit um den Hals. Ich dachte, es wäre eine Illusion gewesen.« Gnade jammerte. Sie hatte die entsprechenden Lungen dafür, eine Stimme, die später einmal selbst im Schlachtenlärm noch zu hören sein würde. Das Mädchen - Anna - war zuerst bei ihr, hob sie hoch und brachte sie ihrem Vater. Sanglant nahm sie ihr ohne lange nachzudenken aus den Armen. Gnade verbarg ihr Gesicht 440 an seiner Schulter, und nach ein paar weiteren Schreien beruhigte sie sich rasch wieder. »Habt Ihr kein Kindermädchen für sie ?«, fragte Anna und blickte sich suchend im Zimmer um. Obwohl Zacharias das vertraute Knistern spüren konnte, an dem er Jernas Anwesenheit gewöhnlich erkannte, sah er die ätherische Daemonin nicht. Doch er spürte den Windhauch, den sie hinterließ, während sie sich im Zimmer bewegte. Der Wind wurde immer stärker und stärker, als hätte jemand mitten in einem Sturm die Fensterläden geöffnet. Ein unnatürlicher Wirbel aus milchiger Luft bildete sich in der Mitte des Zimmers. Jerna flatterte ein Stück über ihm. In den letzten Monaten, während Gnade mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit gewachsen war, immer mehr Haferbrei und Käse zu sich genommen hatte und weniger gestillt wurde, hatte Jerna sich verändert; sie hatte ihre frauenähnliche Gestalt, die ihr bisher mehr Körperlichkeit verliehen hatte, mehr und mehr verloren. Es war fast so, als hätte Gnades Bedürfnis nach Nahrung kurz nach ihrer Geburt Jerna geholfen, menschliche Gestalt anzunehmen. Jetzt ähnelte die Daemonin nur noch schwach dem blassen Frauengeschöpf mit der Konsistenz und der Farbe von Wasser. Der milchige Lichtkreis hatte jedoch nichts mit Jerna zu tun. Er war etwas ganz und gar anderes, eine magische Manifestation mitten in diesem Zimmer. Schreie und Rufe wurden laut, und die Leute wichen vor Furcht zurück. Zacharias hätte nicht sagen können, was ihnen mehr Angst einjagte: Jernas schmächtige Gestalt oder der seltsame Lichtwirbel, der die Kammer mit Helligkeit erfüllte. Gnade lehnte sich zurück und hielt sich die Ohren mit den Händen zu. Hrodiks Verwalter war ohnmächtig zu Boden gesunken, und der junge Matto versuchte, ihn wieder hochzuziehen, damit niemand über ihn stolpern konnte. Schließlich ertönte ein Geräusch, ein leises Murmeln, das aus dem Lichtwirbel drang. 441 »Sanglant.« »Still!«, schrie Sanglant mit der durchdringenden Stimme eines Mannes, der daran gewöhnt war, über den Lärm einer Schlacht hinweg Befehle zu erteilen. Sofort breitete sich Stille aus. Einen Augenblick lang war es so ruhig, dass Zacharias schon glaubte, er wäre taub geworden, doch dann hörte er Hrodik nervös kichern. Der Lichtwirbel sprach. »Sanglant. Gnade?« Gnade wand sich auf dem Arm ihres Vaters und griff nach dem wirbelnden Licht, das sich wie ein unverriegeltes Fenster zu einem Ort öffnete, der jenseits der Grenzen dieser Welt lag. »Mama! Mama komm!« »Oh, Gott!« Sanglants Stimme klang zerrissen vor Hoffnung und Schmerz. »Liath?« Er machte einen großen Schritt nach vorn. »Ich kann dich nicht sehen. Wo bist du?« Zacharias sah nicht das Geringste durch das Fenster aus Licht, außer einer harten, glatten Fläche. Es war, als würde man auf eine Eisfläche schauen, während die kalte Wintersonne einen blendete. War dies wirklich die Frau, die er suchte? Wo steckte sie nur? Die Stimme sprach wieder. »Sanglant, wenn du mich hören kannst, sollst du wissen, dass ich lebe, aber ich bin auf einer langen Reise, und ich weiß nicht, wie lange ich noch brauchen werde.« »Komm zurück zu uns, Liath!«, rief Sanglant verzweifelt. »Warte auf mich, ich bitte dich. Hilf mir, wenn du kannst, denn ich bin hier verloren. Jemand muss mich führen. Ist Jernada?« Ein dunkler Schatten bewegte sich durch den eisigen Glanz; sie hatte den einen Arm ausgestreckt und hielt sich den anderen vor die Augen. Ein blaues Licht flackerte und zuckte auf der ausgestreckten Hand, und auf Liaths Rücken hing ein Bogen, der nur deshalb sichtbar war, weil feuerrote Salamander an dessen innerer Seite auf und ab tänzelten. Liath streckte die Hände aus. Einen Augenblick lang schien es, als wollte sie geradewegs durch den Vorhang aus Licht treten. Zacharias keuchte und machte einen Satz zurück, 442 prallte gegen Heribert, während Sanglant vorsprang, um nach ihr zu greifen. »Nimm meine Hand, Liath!« Er fuhr mit der einen Hand durch die Luft. »Ja! Ich sehe dich!«, rief sie, genau in dem Augenblick, als Jernas silbrige Gestalt von der Decke herabkreiste, um sich schützend um Gnades Körper zu legen. »Komm her, wenn du willst, Jerna. Kehre nach Hause zurück.
Der Weg ist frei.« Die Daemonin floss wie Wasser um Gnades Körper, tauchte sie in Licht und in die ätherische Substanz ihrer luftigen Gestalt. Gnade schrie vor Überraschung und Vergnügen auf; kurz darauf krümmte Jerna sich zusammen, zuckte und verschwand durch das Fenster aus Licht. Der Strudel brach zusammen, während Sanglant noch hinter ihr hersprang. Er prallte hart auf den Teppich und wirkte einigermaßen lächerlich. Gnade lachte und klatschte in die Hände, als hätte das alles nur zu ihrer Erheiterung stattgefunden, doch der Mund ihres Vaters war blass und angespannt. Gnade wurde wieder ernst, und es schien, als würde sie sich fürchten, als sie den wütenden Gesichtsausdruck ihres Vaters sah. Heribert drängte sich an Zacharias vorbei und riss Sanglant das Kind aus den Armen. Als hätte diese Bewegung ihn befreit, wirbelte der Prinz herum, griff nach dem Stuhl und hob ihn hoch. Dann knallte er ihn mit aller Kraft auf den Boden. Das Holz zerbarst und flog in alle Richtungen. Meistrin Suzanne und ihr Haushalt flohen aus dem Zimmer. Selbst Edelmann Hrodik folgte ihr taumelnd. Zacharias machte einen Schritt auf den Prinzen zu, um ihn zu beruhigen, aber Heribert hielt ihn mit einer Geste davon ab. »Aber nicht für mich!«, schrie Sanglant. »Der Weg ist frei, aber nicht für mich! Bedeute ich ihr denn gar nichts, dass sie jemand anderen an meiner Stelle zu sich ruft?« Mit der rechten Hand schwenkte er, was von dem Stuhl noch übrig war, und machte sich bereit, auch diesen Rest zu zerschlagen, als Anna geradewegs auf 443 ihn zuging. Sie war nicht mit den anderen geflohen, und sie zeigte auch keinerlei Anzeichen von Furcht. »Seid Ihr wirklich der Daemon von den Himmeln?«, fragte sie mit kratziger Stimme. »Ist das der Grund, weshalb Ihr dorthin zurückkehren wollt?« König Henrys Wutausbrüche waren im ganzen Land bekannt. Die Edlen fürchteten seinen Zorn aus guten Gründen, obwohl es hieß, dass Henry sich meistens zurückhielt. Sicherlich war Prinz Sanglant noch der umgänglichste von allen Edlen - zumindest hatte Zacharias das bisher angenommen. Zum ersten Mal sah er den ganzen Zorn des Herrschers im Gesicht des Prinzen, abschreckend und Furcht erregend, sodass er rasch hinter Heribert trat, der besänftigend auf die schluchzende Gnade einsprach. Nie zuvor hatte sie ihren Vater so wütend erlebt. Anna stand einfach nur da und wartete. Sanglant öffnete seine Hand und ließ das Holzstück fallen, während er tief Luft holte. Es schlug mit einem lauten Knall auf dem Boden auf, prallte auf ein paar andere Holzstücke. Plötzlich war es sehr still. Die Kohlen in der Kohlenpfanne verrutschten, Asche verteilte sich, und das Feuer gab ein schnaufendes Geräusch von sich. Die Fackeln flammten wieder auf, als hätte Sanglant ihnen sämtlichen Brennstoff entzogen, um seinen Zorn zu nähren. Vielleicht war es aber auch nur der ätherische Wind gewesen, der in das Zimmer eingedrungen und ganz plötzlich wieder verschwunden war. Das Zimmer wirkte sehr gewöhnlich mit seinen zwei hübsch geschnitzten Truhen und den Wandbehängen, auf denen die üblichen Szenen der Edlen abgebildet waren: eine Jagd, ein Fest, eine Versammlung von Kirchenfrauen. Sanglant trat hinter das Mädchen und ging zum Beistelltisch. Er goss Wasser aus einem Krug in eine Kupferschüssel, schüttete sich dann etwas davon ins Gesicht und fuhr sich mit einer Hand über das bartlose Kinn. Ohne nachzudenken leckte er sich die Wassertropfen von der Hand. Sein Rücken war noch immer steif vor Wut oder Verzweiflung. »Nicht eine Stunde vergeht, ohne dass ich an 444 sie denke«, sprach er in die Schüssel hinein, »doch ruft sie nach mir? Sucht sie mich? Sie lebt, aber sie reist durch andere Gefilde. Genau wie meine Mutter.« »Habt Ihr ein Kindermädchen für das Kind?«, fragte Anna mit ihrer merkwürdigen Stimme. »Ich hatte eine«, sagte er verbittert, »aber meine Frau hat sie mir weggenommen.« »Ich kann mich um Kinder kümmern.« »Wir reiten nach Osten in den Krieg, Kind. Bei meinen Soldaten gibt es weder schöne Vorhänge noch warme Füße. Ich habe keine Verwendung für Leute, die uns aufhalten und beim geringsten Anzeichen von Gefahr davonlaufen.« Sie hatte einen festen Blick, wie ein junger Habicht. Auf gewisse Weise erinnerte sie Zacharias an Hathui: furchtlos, scharf, selbstsicher und aufreizend hartnäckig. »Ich habe einen Frühling und einen Sommer in Gent überlebt, als Blutherz dort geherrscht hat. Ich habe keine Angst.« Der Prinz betrachtete sie jetzt mit einem leichten Lächeln. Sie starrte ihn unverwandt an. Ihre Haare waren hinten zu einem Zopf geflochten, und sie trug eine gute Wolltunika, an deren Kragen zwei Rosen aufgestickt waren. Ein hölzerner Kreis der Einigkeit hing um ihren Hals. Matto räusperte sich. »Prinz Sanglant? Die Weberin ist zurückgekehrt und möchte mit Euch sprechen.« Meistrin Suzanne erschien an der Schwelle, das Gesicht angespannt und die Hände um den Stoff ihres Kleides gekrampft. Sie trat in die Kammer. »Eure Hoheit, ich - oh, Anna! Da bist du ja! Ich dachte schon, wir hätten dich verloren.« »Ich gehe nach Osten«, sagte Anna entschlossen. »Ich werde das Kindermädchen für die junge Prinzessin sein.« »Aber Anna -«
»Es ist ein Zeichen, erkennst du das denn nicht? Wieso hätten Gott mir gerade jetzt meine Stimme wiedergegeben?« »Ich bitte Euch, Meistrin Suzanne«, sagte Sanglant. »Stattet sie 445 mit dem aus, was sie benötigt, und schickt sie morgen früh zu mir zurück. Ich werde dafür sorgen, dass es ihr gut geht.« Selbst eine wohlhabende Weberin konnte sich dem Willen des Prinzen nicht widersetzen. Unterwürfig und gehorsam nahm Meistrin Suzanne daher das Mädchen mit sich und ging. »Will runter, will runter!«, rief Gnade beharrlich und kämpfte sich aus Heriberts Armen. Sie rannte zu ihrem Vater, suchte Trost bei ihm. Er nahm sie in die Arme. »Ich bitte dich, Matto«, sagte er, während er seine Tochter an sich drückte. »Der Helm muss neu wattiert werden. Sorge dafür, dass Hauptmann Fulk sich darum kümmert. Und ich brauche mehr Wasser zum Waschen.« Matto nickte und griff nach dem Krug und dem Helm, bevor er das Zimmer verließ. »Zacharias.« »Ja, Hoheit.« »Wir brauchen eine weitere Strohpritsche für das Mädchen. Feldwebel Cobbo soll sich darum kümmern.« Zacharias blickte Heribert an, aber der Geistliche zuckte nur verwirrt mit den Schultern. Mit einer Verbeugung verließ Zacharias das Zimmer und schickte sich an, den Auftrag auszuführen. Da er nicht an Paläste gewohnt war, verirrte er sich prompt, aber ein freundlicher Diener wies ihm den Weg zur Halle der Bediensteten. Er durchquerte die zum größten Teil verwaiste Halle und fand eine Tür, die nach draußen führte. Der Hauch des frühen Abends hing über dem Hof. Sterne glitzerten über ihm am Himmel. Eine hartnäckige Kälte kroch in seine Kleider und brachte seine Glieder zum Frösteln. Seine alten Narben schmerzten, und er musste plötzlich pinkeln. Er suchte nach einem stillen Ort, an dem niemand seine Misshandlung sehen konnte, und stolperte schließlich die Stufen zur Küche hoch, um dort nach den Aborten zu fragen. Der Rauch und Geruch von gebratenem Fleisch wehten ihm aus der Küche entgegen, zusammen mit einem schärferen Geruch, bei dem sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Im qumanischen Lager hatte er gelernt, beinahe lautlos zu gehen, weil Prinz Bulkezu es 446 bevorzugt hatte, dass seine Sklaven leise waren; einmal hatte er sogar einen Mann getötet, weil er während der Vorstellung eines Musikers geniest hatte. Ihre Stimme hatte die leichte Beschaffenheit von Luft. Als er in das verrauchte Innere schaute, sah er eine Frau an einem großen Tisch stehen. Sie hielt die Hände über einer Platte, die von vier im Quadrat aufgestellten Kerzen umrahmt war. Ein Apfel, der in kleine Scheiben aufgefächert worden war, lag auf der Holzplatte; die Flüssigkeit des feuchten Fruchtfleischs glänzte im Kerzenlicht, und Zacharias lief das Wasser im Munde zusammen. Außer der Frau war niemand in der Küche. »Ich beschwöre dich bei deinem Namen und deiner Macht und dem ruhmreichen Platz, an dem du verweilst, oh Prinz des Lichts, der den Feind in den Abgrund trieb. Lass deine Anwesenheit hier auf diesem Apfel ruhen und denjenigen, der ihn isst, mit Begierde nach mir erfüllt sein. Eine Flamme soll ihn ergreifen, die so mächtig ist wie das Feuer, in dem du, Heiliger, deine Stätte ausgewählt hast. Er soll mir die Tür öffnen, und er soll erst dann zufrieden sein, wenn er mich zufrieden gemacht hat -« Nein, da war noch jemand anders, drüben beim Spieß. Eine Frau mittleren Alters trat aus den Schatten. Obwohl das Licht schwach war, konnte Zacharias die hässliche Narbe auf ihrer rechten Wange sehen, aufgebläht und weiß. »Was für ein Wahnsinn ist das, Frederun?« Die hübsche Dienerin brach in Tränen aus. »Ich dachte, er wäre tot! Ich habe mich als seine Geliebte so glücklich gefühlt -« »Still!«, zischte ihre Kameradin und legte der jungen Frau eine Hand auf die Schulter. »Da ist jemand an der Tür.« Zacharias glitt rasch in die Schatten zurück. Der Wind drehte sich, und er roch die Aborte, die bei den Ställen ausgehoben worden waren. Es schmerzte ihn noch immer, zu urinieren, aber er war sich nicht mehr sicher, ob es wirklich der körperliche Schmerz war oder nur die Erinnerung an die Qual der ersten Wochen, nachdem er von Prinz Bulkezu derart misshandelt worden war. 447 Er fand Feldwebel Cobbo mit einem Dutzend anderer Soldaten in der Schneise zwischen den Ställen; sie sahen einem Schachspiel zu. Hauptmann Fulk hatte ein Schachbrett und die Figuren auf einem Fass aufgestellt und zwei Ballen Heu herbeigeschafft, die ihnen als Sitzgelegenheiten dienten. Der Drachenhelm lag auf seinen Knien, eine Hand schützte ihn. Als Zacharias sich näherte, nahm der Hauptmann gerade einen Löwen mit einem Adler. »Meine Bischöfin nimmt Euren Adler«, erklärte daraufhin sein Gegner. Es war der verbannte Adler, der sich Wulfhere nannte. Er hielt inne, hatte noch immer die Schachfigur in der Hand und blickte an Cobbo und den anderen Zuschauern vorbei auf Zacharias. »Gibt es Neuigkeiten vom Prinzen?« Der alte Mann hatte einen durchdringenden Verstand und blieb in jeder Situation derart ruhig, dass Zacharias ihm nicht recht traute.
Zacharias erklärte ihm, was zu tun war, und Cobbo bestimmte einen Mann, der am nächsten Morgen die notwendigen Dinge erledigen sollte. Die Soldaten lehnten sich zurück und tratschten angesichts dieser neuen Wendung miteinander. »Wollt Ihr mit ihm spielen, Frater?, fragte Fulk. »Ich kann ihn nicht schlagen.« »Nein, ich verstehe von solchen Spielen nichts. Sie sind für Edle und Soldaten gedacht, nicht für einfache Frater wie mich. Ich gehöre nicht zu denen, die in einem Spiel, in dem es um Macht geht, Figuren hin und her schieben.« Wulfhere kicherte. »Doch was für einen Schaden könntet Ihr schon nehmen, Freund, wenn Ihr einfach nur die Regeln lernen würdet, und sei es auch nur zu Eurem eigenen Schutz?« »Immer mit der Ruhe«, wandte Fulk ein. »In der Gesellschaft des Prinzen herrscht kein Streit.« »Ich streite mich doch gar nicht mit Wulfhere«, erklärte Zacharias. »Er ist ein ebenso gewöhnlicher Mann wie ich.« »Das bin ich in der Tat«, stimmte Wulfhere ihm freundlich zu, aber sein Lächeln war so scharf und klar wie das eines Wolfs. Er 448 war einst bevorzugter Berater von König Arnulf dem Jüngeren gewesen, ritt jedoch jetzt im Verborgenen im Gefolge von Prinz Sanglant. König Henry hatte ihn des Hofes verwiesen, ihn der Zauberei und des Verrats bezichtigt. Und doch war es dieser Mann, so hieß es, der Liath aus der Knechtschaft eines skrupellosen, als Edelmann geborenen Fraters befreit hatte. Und es war ein Mann, den Gnade zu mögen schien, und wen Gnade mochte, gegen den stellte sich auch der Prinz nicht. »Prinz Sanglants Frau ist uns in einer Vision erschienen«, sagte Zacharias plötzlich; er verspürte den dringenden Wunsch, dem alten Mann einen Stich zu versetzen, ihn erschreckt oder verblüfft zu sehen. Doch Wulfhere presste nur fest die Lippen zusammen, das war alles. Er drehte den Adler in seinen Händen, betastete mit dem Daumen die geschnitzten Flügel. Dann blickte er Zacharias ins Gesicht. »Das sind unerwartete Neuigkeiten. Wie ist sie Euch denn erschienen?« »In der Tat höchst unerwartet. Wirklich, Wulfhere, Ihr seid ein Mann, der hervorragend Schach spielt. Aber wenn Ihr Einzelheiten erfahren wollt, was diese Sache betrifft, müsst Ihr Prinz Sanglant selbst fragen. Ich traue mich nicht, mehr zu erzählen. Die Kirche lehnt jede Art von Zauberei ab.« Wulfhere lachte und stellte den Adler auf dem Brett ab, doch Hauptmann Fulk erhob sich, den Drachenhelm gegen die Hüfte gestemmt. »Könnt Ihr uns nichtrein bisschen mehr sagen, Frater? Wir haben schon eine ganze Reihe seltsamer Dinge gesehen, seit wir mit dem Prinzen reisen. Wir haben die Daemonin gesehen, die die junge Prinzessin nährt. Noch seltsamere Dinge haben wir in Aosta gesehen, als wir mit Prinzessin Theophanu unterwegs waren. Neuigkeiten wie diese könnten sehr wichtig für uns alle sein. Es scheint mir, dass Prinz Sanglant die Abwesenheit seiner Frau nicht sehr gut verträgt, und ich bete inständig darum, dass sie schon bald wieder vereinigt sein mögen.« 449 »Oder dass der Prinz mit einer anderen Frau vereinigt sein mag«, scherzte einer der Soldaten. »So etwas will ich nicht mehr hören, Sibold!«, schalt Fulk. »Wer von euch würde anders handeln? Es geht uns nichts an, ob der Prinz wie ein Geistlicher oder wie ein Mann leben will.« Wulfhere lächelte. »Nur zu wahr gesprochen, Hauptmann, und doch ist es richtig, dass Prinz Sanglant lange Zeit für seine Liebesabenteuer berühmt war. Habe ich Euch jemals von Markgraf Villams Tochter erzählt, seiner Erbin? Es hieß, dass sie in einer solchen Leidenschaft zu dem Prinzen entflammt war, dass sie -« Zacharias zog sich von den Männern zurück und betrat den Hof. Seine Hände, die im Winter stets kühl waren, wurden jetzt richtig kalt, aber dennoch blieb er noch etwas im Freien. Dass Prinz Sanglant von dem Laster der Begierde, einer anscheinend unstillbaren Gier nach den Vergnügungen des Fleisches, geplagt wurde, unterschied ihn nicht sehr von den meisten anderen Menschen. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Edlen und erst recht zu den qumanischen Kriegern, die sich sogleich, wenn sie den Drang verspürten, auch nahmen, was sie wollten, war Prinz Sanglant bemüht, seine Lust unter Kontrolle zu halten, und das nötigte Zacharias einen gewissen Respekt ab. Doch es war nicht der Prinz, über den er richtete. Nein, in Wirklichkeit spürte er ein sündiges Gefühl in seine eigene Brust schleichen: Er beneidete Wulfhere um sein Wissen. Der vom Hof verbannte Adler hatte stets einen klaren Kopf und einen verschlossenen Mund, und trotz Zacharias' zahlreicher Anspielungen gab Wulfhere niemals zu, jenes Wissen zu besitzen, von dem Zacharias tief in seinem Innern wusste, dass er es so fest an sich klammerte, wie ein verhungernder Mann einen Laib Brot umklammerte. War Zacharias unwürdig? Prinz Sanglant hatte Zacharias zum Teil deshalb aufgenommen, weil er Wissen über die Qumaner besaß, aber hauptsächlich, weil der Prinz hinter seiner eisernen Haltung und seiner kühnen Entschlossenheit ein weiches Herz ver450 barg. Er hatte Zacharias aufgenommen, weil der Frater von seiner Vision von Liath gesprochen hatte und weil Zacharias ihm einen Fetzen Pergament gebracht hatte, auf den seine geliebte und verschwundene Frau
irgendwelche unleserlichen Zeichen und Symbole gekritzelt hatte - eine Art Magie, die nur von Mathematiki zu lesen und zu verstehen war. Er berührte den Beutel an seinem Gürtel, spürte die harte Rolle, in der sich das Pergament befand - seine einzige Verbindung zu dem Wissen, das er suchte. Auch Liath hatte die Himmelssphären studiert. Sie hatte die gleichen Fragen gestellt wie er, und vielleicht, ja vielleicht würde sie mit Erstaunen und Faszination seiner Beschreibung der Vision des Kosmos lauschen, die ihm im Palast der Irrungen zuteil geworden war. Vielleicht hatte sie einige Antworten für ihn. Vielleicht war sie bereit zu suchen. Er stand unter dem erbarmungslos kalten Winterhimmel und betete, dass sie wieder zur Erde zurückkehren würde. Denn falls sie das nicht tat, gab es für ihn keinen anderen Ort, zu dem er sich hätte begeben können. Zitternd ging er zurück in die Halle der Bediensteten, und wie durch ein kleines Wunder fand er ohne Mühe den Flur, wo die Kammern des Prinzen lagen. Jemand war vor ihm eingetroffen. Er erkannte sie an der Art, wie das Kleid über ihren Körper fiel, wie der Schal zurückgerutscht war und ihre hellen Locken enthüllte. Er trat zurück und verbarg sich in den Schatten. Sie hatte ihn nicht gehört, oder sie achtete einfach nicht auf ihn, denn sie blieb wartend an der Tür stehen. Die Tür öffnete sich schließlich, und der Prinz erschien. »Prinz Sanglant«, sagte sie mit erstaunlich gelassener Stimme, »Ihr habt nach Wein und einer Erfrischung verlangt?« Sanglant hielt eine Kerze in der Hand, deren gelbliche Flamme die scharfen Linien seines Gesichts enthüllte. Das Licht fiel auch auf den sorgfältig aufgefächerten Apfel. Daneben stand ein Silberkrug. 451 »Nein, ich habe nach nichts verlangt«, sagte er, doch er schloss die Tür nicht, sondern stand einfach nur da. Nach einer Weile glitt sie an ihm vorbei ins Innere. Mit seinem unheimlichen sechsten Sinn, der so hervorragend arbeitete wie der eines Hundes, sah Sanglant Zacharias direkt in die Augen - obwohl er ihn eigentlich gar nicht hätte sehen können, da der Frater vollkommen in den Schatten verborgen war. »Ist etwas, Zacharias?«, fragte er leise. »Nein, mein Prinz.« Zacharias trat zwei Schritte zurück und hielt dann inne. »Alles ist so, wie Ihr es wünscht, Eure Hoheit. Ich werde jetzt gehen. Wulfhere hat versprochen, mir das Schachspielen beizubringen.« Während er wegging, hörte er, wie die Tür hinter ihm geschlossen und verriegelt wurde. X Hinter dem Schleier 1 Es war zu dunkel, als dass sie wirklich hätte erkennen können, wie die Sphäre des Erekes aussah. Sobald der Wind sich etwas legte, blieb Liath stehen. Sie vermisste ihren Umhang, mit dem sie ihren Körper hätte schützen können, und noch mehr vermisste sie ihre Stiefel. Der Boden, auf dem sie stand, schürfte ihre Fußsohlen auf, doch als sie beim Weitergehen auf etwas trat, das glatter aussah, versank ihr Fuß in einer derart kalten Flüssigkeit, dass ihre Zehenspitzen augenblicklich taub wurden. Sie zuckte zurück, taumelte, und einen Moment lang war es ihr unmöglich, mit dem Bein aufzutreten. Schließlich kehrte das Gefühl in ihren Fuß zurück, aber jetzt war es noch schlimmer, denn die Haut brannte maßlos. Sie humpelte zurück, bis sie an der windgeschützten Seite eines Felsens Schutz fand; hier konnte der Wind ihr nicht mehr zusetzen. Die Eisenwand und das Tor verschwanden. Sie lehnte sich gegen den Stein und holte tief Luft, doch die Kälte, die so durchdringend war wie schmelzendes Eis, brannte an ihren Fingern. Sie fuhr zusammen und stellte kurz darauf fest, dass der gleiche, giftige Schmerz jetzt ihre Hand emporkletterte. 453 Vollkommen unglücklich stand sie da, zwar ein bisschen vor dem Wind geschützt, aber mit einem pochenden Fuß und einer pochenden Hand. Währenddessen musterte sie die Gegend, das heißt das, was sie davon sehen konnte. Hinter der Uferlinie, die sie mehr erahnen als sehen konnte, erstreckte sich die Landschaft in weite Ferne, so glatt wie ein von Licht beschienenes Meer. Helle Finger schössen auf diesem Meer hin und her, trügerische Daemonen, die ihren unergründlichen Aufgaben nachgingen, aber sie konnte die Musik der Sphären über dem Jammern des ewig heißen Windes nicht hören. War es das Ausströmen der Sonne ? Aber warum schien die Sonne dann nicht auch hier? Eine erste Frage führt immer zu einer zweiten. Liath grübelte wieder über ihren kurzen Aufenthalt bei den Ashioi nach. Wie konnte die Zeit dort anders vergehen, als es die auf der Erde tat? Wieso tauchten Morgen- und Abenddämmerung in solch unregelmäßigem Rhythmus auf? Wieso ging kein Mond auf und unter, weshalb gab es keinen Mondlauf im Land der Ashioi? Reiste vielleicht auch er entlang der Sphären? Oder gab es innerhalb oder jenseits des Universums eine weitere Ebene der Existenz, die sie nicht begriff? Ältester Onkel hatte ihr den verdrehten Gürtel gezeigt, eine unbeholfene Darstellung des Weges, auf dem sich sein Volk wieder gefunden hatte, aber das hatte nicht erklären können, wo sie sich jetzt im Verhältnis zu Liath befanden. So viele Rätsel. Und es war wohl besser, nicht zu lange hier - über ihnen - zu verweilen. Dabei hätte sie für immer gedankenverloren so verharren können, abgesehen davon, dass ihr der heiße Wind ins Gesicht blies und der
Boden sich unangenehm rau und schroff unter den nackten Füßen anfühlte. Wie ihr Herz wurden jetzt auch ihre Hand und ihr Fuß taub. Kälte kroch wie Gift ihr Handgelenk empor. Der Wind stach ihr in die Augen. Sie konnte den rauen Sand unter den Füßen nicht mehr spüren, was ihr so sehr das Gefühl für Orientierung nahm, 454 dass sie schwer darum kämpfen musste, das Gleichgewicht zu halten. Es war Zeit, weiterzugehen. Der Pfad war deutlich markiert, wenn man erst danach suchte. Die hellen Blitze waren Trittsteine, die sich über das brodelnde Meer erstreckten, und jeder Einzelne von ihnen war etwa eine Armlänge dick. Die Herausforderung lag darin, mit einem tauben Fuß und ohne Stab zur Unterstützung des Gleichgewichts von einem Stein zum nächsten zu gelangen. Liath hielt den Bogen fest an ihren Körper gepresst und machte sich auf den Weg. Zunächst war sie vorsichtig, wurde sodann immer kühner, als sie begriffen hatte, wie sie den unbrauchbaren Fuß ersetzen und sich gegen den beständigen Wind zur Wehr setzen konnte, der ihr so kräftig ins Gesicht blies, dass ihre Augen tränten. Das dunkle Ufer hinter ihr verblasste, verschwand schließlich ganz, bis sie nur noch von Meer umgeben war. Und doch spürte sie die Anwesenheit der sich auftürmenden Gestalten um sich herum, die unmöglich zu unterscheiden waren. Der Wind roch nach bitterem Wermut. Irrlichter geisterten umher und verschwanden in der Ferne. Selbst in solcher Dunkelheit wirkte die Landschaft unglaublich trostlos. Schlagartig, zwischen dem einen Schritt und dem nächsten, drehte sich dann der Wind. Eben noch hatte er ihr seine Hitze ins Gesicht geblasen, dann plötzlich setzte er ihr von hinten mit arktischer Kälte zu. Dieser plötzliche Wechsel traf sie vollkommen unvorbereitet, und sie fiel beinahe von dem breiten Trittstein herab, auf dem sie gerade einigermaßen sicher hockte. Licht ergoss sich über die Landschaft. Sie blickte sich um. Die Sphäre des Erekes war ein Tal aus Eis, ein blendendes Meer aus Weiß. Sie hatte immer geglaubt, dass Erekes, der oft von dem Glanz der Sonne verborgen wurde, etwas von der Substanz der Sonne widerspiegelte: dass er verbrannt, verkohlt oder zumindest eine 455 Wüste war. Aber natürlich war dies die Schwäche der Mutmaßung. Erekes war ganz und gar nicht so, wie sie es erwartet hatte. Lautete nicht so die Lektion des Schwertes? Wenn man mit der Überzeugung in eine Schlacht ging, zu wissen, was einen erwartete, stiftete die Hand der Verwirrung stets Chaos und Tod in den eigenen Reihen. Doch wie hätte sie sich auf das hier vorbereiten können? Statt auf einen ordentlichen Pfad aus Leuchtfeuern, der sie weiterführte, starrte sie auf eine verwirrende Anordnung von Trittsteinen, die sich über das eisige Meer ergossen - viel zu viele, als dass sie sie hätte zählen können. Sie nahm einen Pfeil und streckte die Hand nach dem Stein aus, der direkt vor ihr lag. Der Pfeil sank durch den trügerischen Stein hindurch, zischte bei der Berührung mit dem giftigen Meerwasser und löste sich in Asche auf. Nur die Eisenspitze blieb zurück, trieb auf der eisigen Oberfläche dahin. Drei andere Trittsteine waren noch in Reichweite, und hinter ihnen lagen hunderte von anderen, die zu einem verwirrend nahen Horizont führten. Bei Tageslicht war es unmöglich zu sagen, welcher Trittstein real und welcher eine Illusion war. Das Meer aus Eis hatte keine Grenze - oder jedenfalls keine, die sie hätte sehen können -, und sie besaß nur noch siebzehn Pfeile. Lucians Freund, ihr Schwert, wäre jetzt außerordentlich hilfreich gewesen, denn es schien, als könnte die eisige Flüssigkeit Eisen nichts anhaben. Aber sie hatte das Schwert weggeworfen. Der messerscharfe Wind peitschte gegen ihren Rücken. Ihre Tunika flatterte ihr um die Knie. Der lange, am Rücken geflochtene Zopf schaukelte hin und her, lenkte sie ab, bis sie ihn schließlich über die Schulter legte, wo er dann gegen ihr Kinn schlug. Sie konnte den linken Arm jetzt bis zum Ellenbogen nicht mehr spüren, und ihr rechtes Bein war von den Zehenspitzen bis zum Knie taub. Ein heller Schatten flitzte vor ihr her, sorglos wie eine Brise. War dieser Daemon aufgetaucht, um sie zu ärgern? Oder wollte er sie führen? Konnte sie hoffen, von den Daemonen Hilfe zu erfahren? 456 »Gibt es hier welche, die bei Verna als Gefangene waren?«, rief sie. »Kennt ihr mich? Ich bin Liathano, die Tochter von Anne und Bernard, Ehefrau von Sanglant und Mutter von Gnade. Könnt ihr mir helfen?« Sie sah noch mehr von ihnen herumwirbeln und über die hell leuchtenden Eisschollen schweben. Ihre Bewegungen wirkten rein zufällig, schwankend und ziellos. Was kümmerte es sie, ob Liath triumphierte oder versagte? Das Gift breitete sich weiter in ihren Gliedern aus. Sie brauchte rasch jemanden, der sie führte, ein Wesen, das im Äther überleben konnte. Und sie wusste auch, wo sie ein solches Wesen finden würde. Sie musste nur schnell handeln. Auf der Erde hatte sie gelernt, wie sie Feuer zu einem Fenster verwandeln konnte. Das war hier nicht anders. Selbst in der Sphäre des Erekes mit seinem gefrorenen Eis konnte sie Feuer herbeirufen. Es flackerte mit einem hörbaren Krachen auf, gefolgt von einem rasselnden Gemurmel, als würden tausend Flügel gegen eine uneinnehmbare Mauer schlagen. Das Geräusch erstarb rasch wieder. Die Daemonen, die auf
den Eisschollen waren, die ihr am nächsten lagen, flohen vor der Hitze. Sie formte einen Bogen aus dem Feuer, ein Fenster, durch das sie hoffte, auf die weit entfernte Erde sehen zu können. »Sanglant«, rief sie, denn die Verbindung zu ihm war die stärkste Kette, die sie besaß. Sie hob die vergiftete Hand, um die Augen zu beschatten, und streckte die unversehrte zum Bogen aus Feuer aus - waren da die vagen Formen von Menschen? Das Meer um sie herum zischte. »Sanglant!«, schrie sie erneut. Der Körper eines kleinen Kindes nahm auf der anderen Seite des Bogens Gestalt an, so hell, dass er selbst in Erekes hineinschien und einen Schatten warf. »Gnade?« Ihre Stimme überschlug sich bei dem Namen des geliebten Kindes. Zu ihrem Entsetzen hörte sie eine Antwort. »Mama! Mama komm!« 457 Oh, Herrin! Gnade war so groß, und sie sprach schon wie eine Zweijährige. War bereits so viel Zeit in der anderen Welt vergangen, obwohl sie bei den Ashioi doch nur eine Hand voll von Tagen gelebt hatte? Sie wünschte sich Gnade so sehnlichst herbei, verhärtete jedoch ihr Herz angesichts des Wunsches. Wie einfach es war, das eigene Herz zu verhärten. »Sanglant, wenn du mich hören kannst, sollst du wissen, dass ich lebe, aber ich bin auf einer langen Reise, und ich weiß nicht, wie lange ich noch brauchen werde.« Um zu dir zurückzukehren. Sie brach ab. Er war nur ein Schatten, den sie über die große Entfernung, deren Länge niemand genau wusste, nur vage wahrnehmen konnte. Gnade leuchtete im Reich der Schatten, aber Liath wusste nicht genau, ob irgendjemand sonst sie hören oder auch nur die Spalte wahrnehmen konnte, die sie zwischen der Erde und der Sphäre von Erekes geöffnet hatte. »Warte auf mich, ich bitte dich. Hilf mir, wenn du kannst, denn ich bin hier verloren. Jemand muss mich führen. Ist Jerna da?« Wenn Gnade schon so groß war, dachte Liath, gab es wohl keinen Grund, sich schuldig zu fühlen, wenn sie Jerna zurückholte. Ein Kind von zwei Jahren konnte sich von Haferbrei und Weichkäse ernähren, von Fleisch, Brot und Ziegenmilch. Die silbrige Gestalt der Daemonin blitzte hinter dem Schleier auf. »Ja! Ich sehe dich!«, rief sie, genau in dem Augenblick, als Jernas silbrige Gestalt von der Decke herabkreiste, um sich schützend um Gnades Körper zu legen. Gnade schrie vor Überraschung und Freude auf, und der Klang ihrer süßen Stimme schnitt Liath tief ins Herz. Aber sie konnte jetzt nicht aufhören. Sie hatte keine Zeit, den Augenblick zu genießen. Das Gift hatte ihre linke Schulter und ihre rechte Hüfte erreicht. Wenn sie dem Meer aus Eis nicht entkommen konnte, würde sie sterben. »Komm her, wenn du willst, Jerna. Kehre nach Hause zurück. Der Weg ist frei.« Als sie in den Wirbel aus Licht griff, hatte sie das Gefühl, als 458 würde ihr der Wind die Hand in Fetzen reißen. Sie machte einen Satz zurück und schrie vor Schmerz auf, als der Bogen aus Feuer in hundert Scherben zerbrach, die auf dem Wirbelwind auf das Meer hinaustrieben. Sie neigte sich zurück, erinnerte sich zu spät daran, dass sie so in das giftige Wasser fallen würde. Aber sie tauchte nie in dessen Tiefen ein. Ein kühles Etwas umschlang sie und hob sie hoch. Im Äther blendete Jernas Lumineszenz. Sie hatte eine weiche Form und bot nur noch eine vage Erinnerung an die menschliche Gestalt, die sie auf der Erde angelegt hatte. »Komm«, sagte sie - ein Murmeln nur, das von dem Fließen ihres Körpers im ätherischen Wind verursacht wurde. Auf der Erde hatte Liath die Sprache der Daemonen nicht verstehen können, im Gegensatz zu Sanglant. Hier jedoch schien sie ihr wie ein offenes Buch zu sein. »Gnade benötigt mich nicht länger. Diese letzte Tat gewähre ich dir, ihrer Mutter, sodass ich mich von der Menschheit befreien kann.« Jerna stieg kreisend empor, auf einem nebligen Dunst, der zum Leben erwachte, je höher sie stieg. Liaths Arm und ihr Bein pochten schmerzhaft, und es fühlte sich an wie tausend Nadelstiche, als Jernas Wesen sich in einem heilenden Glühen um sie wand. Der Schmerz bereitete ihr Kopfweh, und die Spiegelung des Lichts von den Eisschollen sowie das weiße Meer hinter ihr blendeten sie, machten sie benommen, bis sie nicht mehr hätte sagen können, was oben war und was unten und ob die irdischen Himmelsrichtungen hier überhaupt von Bedeutung waren. Ein rosiges Glühen durchdrang die schneeweiße Glut von Erekes' entferntester Grenze. Seidige Daemonen sammelten sich entlang einer Reihe von Bögen, die nicht so sehr eine Mauer als vielmehr eine durchlässige, einladende Grenze formten, eine so sinnlich aus Details bestehende Arbeit, dass sie sich fragte, ob irdische Architekten diesen Ort möglicherweise in Fieberträumen vor sich sahen. »Jetzt kehre ich nach Hause zurück«, flüsterte Jerna. 459 Aber als sie die vieltorige Grenze erreichten, wurde Liath wieder von ihrem Gewicht nach unten gezogen. »Ich kann dich nicht hineintragen«, sagte Jerna. »Du trägst noch immer zu viel von der Erde mit dir, Strahlende. Um des Wohles der Gnade wegen, die ich nähren durfte, habe ich dich bis hierher mitgenommen, aber ich kann dich nicht länger halten.« Liath bekam furchtbare Angst, als sie Jernas Griff entglitt. Oh, Gott, sie würde in das giftige Meer fallen. Ihre
Finger tasteten unbeholfen nach der Gürtelschnalle. Als sie sie löste, glitt das Leder ihre Beine hinab, verfing sich kurz auf ihrem Fuß, und dann fielen der Gürtel und die Gegenstände, die daran befestigt waren - ihr Lederbeutel und das Essmesser aus Eisen, das in einer Scheide steckte -, hinab in die Tiefe. Jerna ließ sie los. Die vieltorige Mauer glitt an ihr vorbei, und sie taumelte in die Sphäre von Somorhas, deren warmes und rosiges Licht sie umfing. 2 Als sie in der ersten Nacht außerhalb von Handelburg in einer halb zerfallenen Festung ein wenig Schutz vor der unangenehmen Kälte fanden, schlug Hanna dem jungen Prinzen vor, dass er und die Übrigen sich die Köpfe schoren. Allen, denen sie begegneten, würden sie so erklären können, dass sie mit Läusen zu kämpfen hatten, und so gar nicht erst den Verdacht aufkommen lassen, sie könnten wegen Ketzerei exkommuniziert worden sein. Es mochte natürlich gut möglich sein, dass Hanna mit diesem Vorschlag riskierte, ebenfalls exkommuniziert zu werden, aber es war nun mal das Naheliegendste, was sie tun konnten. Hanna weigerte sich allerdings, auch ihren eigenen Kopf scheren zu lassen. Bis zu diesem Augenblick hatte sie gar nicht gewusst, ja nicht einmal darüber nachgedacht, wie sehr sie an ihren 460 weizenblonden Haaren hing. Vielleicht hatte sie die Aufmerksamkeit von Prinz Bayan gar nicht so sehr gestört, wie sie anderen und sich selbst hatte weismachen wollen. Vielleicht hatte Prinzessin Sapientia sie mit ihrer Eifersucht davor bewahrt, sich der Verführung hinzugeben. Gottes Wege waren seltsam. Als ein Schneesturm die Gruppe in einem befestigten Dorf etwa einen Fünftagesmarsch von Handelburg entfernt festhielt, sprach Ekkehard ein ernstes Wort mit seinen Leuten. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergehen wird, ehe wir uns wieder auf den Weg machen können«, sagte er, »aber bis dahin wird nicht gepredigt.« »Aber mein Prinz«, wandte Edelmann Benedict ein, der immer als Erster das Wort ergriff, wenn es darum ging, eine Meinung zu äußern, »es ist eine schlimmere Sünde zu schweigen, wenn wir mit dem Aussprechen der Wahrheit Leben retten können!« »Das ist wahr, aber ich habe Prinz Bayan versprochen, dass ich nicht predigen werde, bis der Krieg vorbei und Bulkezu geschlagen ist. Ich verliere mein Gesicht, wenn ich mein Versprechen nicht halte, und niemand wird mich dann noch respektieren. Wir reiten zu den Villams und kämpfen mit ihnen gegen die Qumaner.« Wie er mit seiner noch immer nicht richtig verheilten Schulter gegen die Qumaner kämpfen wollte, war allerdings eine Frage, die niemand zu stellen wagte. »Dann reiten wir also nicht zu Eurem Vater, Prinz?« Edelmann Frithuric war der größte von Ekkehards Kameraden, ein strammer Bursche, der etwas jünger als Hanna war. Ekkehard erzitterte. »Ich werde mich ganz gewiss nicht gerade jetzt der Gnade meines Vaters überantworten. Er ist wahrscheinlich noch immer wütend auf mich, weil ich Markgräfin Judith ihren Baldwin weggenommen habe.« Edelmann Lothar war der älteste der Jungen und in Hannas Augen auch derjenige, der ein bisschen Verstand besaß. »Aber Markgräfin Judith ist tot, Prinz. Ihre Tochter, Edelfrau Bertha, schert 461 sich keinen Deut um Edelmann Baldwin, abgesehen davon, was seine Mitgift betrifft.« »Das ist wahr«, erwiderte Ekkehard gedankenvoll. Er hatte die Eigenarten der besseren Barden, die zur Rundreise des Königs gekommen waren, so sehr angenommen, dass die Einflechtungen bestimmter Phrasen klangen, als hätte er sie aus irgendwelchen epischen Gedichten übernommen - träge Verkündigungen des Schicksals, weise Vermutungen, wütende Entgegnungen und edle Entschlüsse. »Wir dürfen nicht vergessen, was Bayan gesagt hat. Wir werden vor niemandem mehr predigen können, wenn wir den Krieg gegen die qumanischen Wilden verlieren. Gott würde von uns wollen, dass wir kämpfen, um Ihre Lande sicher für Ihre Wahre Botschaft zu machen.« »Wie wahr, Prinz«, pflichteten ihm jetzt alle bei - seine sechs edlen Kameraden, die zwei Cousins von Edelmann Dietrich und neunzehn weitere Jungen, die den fünf Tage währenden Ritt bisher überlebt hatten. Ein Bedauernswerter war bei der Überquerung eines Flusses ertrunken, und es hatte eine lange Diskussion darüber gegeben, ob dies ein Zeichen dafür war, dass sein Glaube an das Opfer und die Erlösung nicht stark genug gewesen war, um ihn überleben zu lassen. Hanna selbst dachte sich, dass er ertrunken war, weil er ausgerutscht und gestürzt und in Panik geraten war, da er nicht schwimmen konnte. Niemand war in der Lage gewesen, ihn rechtzeitig zu erreichen. »Erinnern wir uns alle an den Phoenix«, erklärte Ekkehard unheilvoll, während er mit der Hand über seine stoppeligen Haare fuhr, sich vorsichtig am Kopf kratzte, als könnten dort jeden Augenblick Disteln erblühen. »Der Phoenix erhebt sich in seiner eigenen Zeit. Wir müssen darauf vertrauen, dass wir andere Aufgaben zu erfüllen haben, bevor die Kirche bereit für die Wahrheit ist.« Und da jetzt eine Gruppe von achtundzwanzig Personen zusätzlich in einem Dorf war, das ursprünglich nicht mehr als sechzig Seelen zählte, die Hälfte Kinder, gab es in der Tat viele Aufgaben 462 zu erfüllen. Hanna wusste, wie sie sich nützlich machen konnte, und sie schlug vor, dass auch alle anderen ihren
guten Willen zeigen sollten, in Anbetracht dessen, was sie alles an Nahrung verzehren würden. Sie kämmte und spann Wolle, nähte, kochte, mahlte Korn, rührte Butter und verbrachte viele angenehme Stunden damit, die Haare ihrer neuen Freundinnen zu kämmen. Glücklicherweise waren die meisten der ausgestoßenen Soldaten ebenfalls praktisch veranlagt. Sie halfen dabei, das Dorf nach dem ersten und schlimmsten Schneefall auszugraben, reparierten jene Teile der Palisade, die sie durch die Schneewehen erreichen konnten, bauten Bänke und Tische, stellten aus Baumstämmen zwei Kanus her, fingen verloren gegangene Schafe wieder ein und suchten sich andere Beschäftigungen. Die beiden Cousins von Edelmann Dietrich kümmerten sich um die Pferde, obwohl die Anwesenheit von zwölf Pferden in einem solchen Dorf natürlich eine schreckliche Belastung für die Futtervorräte war. Wegen des vielen Schnees konnte Ekkehard seine Jungen nur zweimal mit auf die Jagd nehmen, aber zumindest brachten sie beide Male etwas mit, das den Nahrungsmittelvorrat ergänzte. Hanna hasste den Gedanken daran, welchen Hunger diese Dorfbewohner leiden würden, wenn der Winter sich zurückzog und der Frühling Einzug hielt, die Lager aber aufgrund der unerwartet aufgetauchten Besucher leer waren. Natürlich war es vorhersehbar, dass die friedliche Stimmung nicht ewig dauern würde, obwohl Ekkehard die Dorfbewohner jeden Abend mit einer fürstlichen Darstellung eines der vielen Epen unterhielt, die er auswendig kannte. Aber Gesang war kein gleichwertiger Ersatz für Nahrung, wenn einmal alles gesagt und getan war. Kleine Streitereien wuchsen sich zu Faustkämpfen aus. Ein Hausherrin klagte, dass ihr gesamter Vorrat an Äpfeln aufgegessen war, sodass Ekkehard ihr als Entschädigung ein goldenes Armband gab, um den Frieden aufrechtzuerhalten. Trotz seines religiösen Eides tat er sich mit einem Dorfmädchen zusammen, und weder sie noch ihre Mutter schienen unzufrieden darüber, ange463 sichts der Ringe und anderen kleinen Geschenke, die er ihr für ihre Gunstbezeugung zukommen ließ. Das Schicksal meinte es gut mit ihnen. Die Hauptstraße war an dem Morgen, als Edelmann Mähnegold mit der jungen Frau des Schmieds und ihrer jüngeren Schwester im Heu erwischt wurde, bereits wieder passierbar. Beinahe hätte es Mord und Totschlag gegeben, und die beiden Hitzköpfe Thiemo und Weif ließen sich nur deshalb davon abhalten, den wütenden Schmied aufzuspießen, weil seine ehebrecherische Frau sich schützend über ihren bäuchlings daliegenden Ehemann warf. In diesem Augenblick war es nur zu offensichtlich, dass sie in dem Dorf nicht länger willkommen waren. Prinz Ekkehard war wütend, als sie am Mittag aus dem Dorf ritten. »Wenn ich geahnt hätte, dass sie so willig war, hätte ich mich nicht mit Meistrin Aabbes Tochter abgegeben, die nur halb so hübsch ist.« »Ich hätte sie mir gern mit Euch geteilt«, erklärte Mähnegold. Er sah natürlich längst nicht so gut aus wie der berühmte Baldwin, aber er bot dennoch einen höchst angenehmen Anblick für ein Mädchen, das einen hübschen, blonden jungen Mann mochte, der aus einer edlen Familie stammte und nicht mit der Bürde belastet war, die Konsequenzen für sein Handeln tragen zu müssen. Sein schwarz werdendes Auge verstärkte nur sein verführerisches Aussehen. »Aber ich habe erst jetzt herausgefunden, wie bereitwillig sie war! Und erst diese Schwester! Man sollte nicht glauben, dass ein gewöhnliches Dorfmädchen so gut weiß, wie man solche Sachen macht!« Die Dorfbewohner versammelten sich mit Mistgabeln und Knüppeln bewaffnet am Haupttor, um sicherzustellen, dass der Prinz mit seiner Gruppe auch wirklich verschwand. Vier Soldaten führten die Gruppe an, machten den Weg frei. Edelmann Weif ritt direkt hinter ihnen, in der Hand das goldene und rote Schlachtenbanner von Ekkehard. Der zerrissene und oftmals geflickte Stoff war - ebenso wie Ekkehard selbst - vom Schlachtfeld beim Hügel464 grab geborgen worden, sodass es als Zeichen des Glücks galt und deutlich machte, dass ein Prinz unterwegs war. Auch wenn sein Gefolge noch so klein sein mochte. »Vielleicht, mein Prinz«, sagte Hanna zaghaft, »solltet Ihr und Eure Anhänger etwas vorsichtiger sein, was Eure Liebesunternehmungen betrifft. In diesen Marklanden ist der Schmied ein geehrtes Mitglied der Gesellschaft und darf nicht auf solch ernste Weise beleidigt werden.« »Ihr habt nicht das Recht, so mit mir zu sprechen!«, erwiderte Ekkehard empört. »Ich reite als Repräsentantin des Königs, mein Prinz. Die Dorfbewohner haben uns großzügig ihre Gastfreundschaft gewährt. Ich bin sicher, dass König Henry es für unweise halten würde, wenn ihre Großzügigkeit auf eine Weise erwidert wird, dass sie uns daraufhin hinauswerfen.« »Wieso sollte König Henry jemals davon erfahren, wenn ihm niemand davon erzählen kann?«, wollte Edelmann Thiemo wissen. Seine Hand ruhte bereits am Schwert. »Es ist Verrat, einen Adler des Königs zu töten«, erklärte der ältere Cousin von Edelmann Dietrich. »Genau so ist es«, blaffte Ekkehard. »Lasst sie in Ruhe.« »Wieso ist es schlimmer, ein Verräter zu sein als ein Ketzer?«, fragte Lothar. Er war aufrichtig verwirrt. Ekkehard konnte eine solch schwierige Frage nicht beantworten. »Es spielt ohnehin keine Rolle. Ich habe Prinz Bayan versprochen, diesen Adler sicher zur Wohnstatt der Villams zu bringen, und das werde ich auch tun. Danach ist sie auf sich allein gestellt, was ihre Weiterreise zum König betrifft.« Aber Hanna bemerkte, dass die Cousins von Edelmann Dietrich ein Stück zurückblieben und sich eingehend miteinander berieten, sobald die anderen sie nicht mehr hören konnten.
Eine warme Sonne verwandelte den Schnee schlagartig in Matsch, und Hanna bedauerte die Männer, die vorne zu Fuß gehen mussten, um den Weg für die Pferde freizuräumen. Das Wet465 ter blieb wechselhaft; nachts fror es, tagsüber war es manchmal warm und manchmal kalt mit gelegentlichen Schneeschauern. Ein Pferd rutschte aus und brach sich ein Bein, und so hatten sie in den folgenden Tagen Fleisch zu essen. Aber der Mann, der bei dem Unglück gestürzt war, hatte sich den Kopf so schwer gestoßen, dass er vollkommen das Bewusstsein verlor und schließlich an einem Anfall starb. Einem der Soldaten, die den Weg bahnten, fror der Fuß ab, und als die Entzündung zu stinken begann, bat er darum, getötet zu werden. Ekkehard brachte es jedoch nicht über sich. Stattdessen ließ er ihn in einem Weiler bei einer alten Frau zurück, die behauptete, sich mit Kräutern auszukennen. Hanna roch den Gestank von Hexenfähigkeiten an diesem Ort, aber es gab nichts, was sie gegen Ekkehards Befehl hätte unternehmen können. Sie hörte den Mann noch schreien, als sie schon viele Wegstunden entfernt waren und eigentlich längst außer Hörweite hätten sein müssen. In dieser Nacht verschwanden die Cousins von Edelmann Dietrich und sieben andere Männer. Am Morgen wollte Ekkehard die Wachen tadeln, doch waren es genau diese Männer, die sich davongemacht hatten. Sie folgten dem Pfad, auf dem die anderen geflohen waren - kühne Abdrücke auf jungfräulichem Schnee wiesen ihnen den Weg -, doch als sich der Tag in die Länge zog, wurde einer der Fußsoldaten schwer krank und musste von seinen Kameraden getragen werden. Sie fielen immer weiter zurück. Hier in den Marklanden war überall Wald, häufig unterbrochen von Wiesen, von Marschland und hohem Heideland. Sie verbargen sich in dieser Nacht in den Ruinen eines verlassenen Dorfes. Die meisten Gebäude waren eingestürzt oder verwüstet, doch eines besaß noch ein halbwegs dichtes Dach. Sie holten sich Stroh aus den Nebengebäuden, mit dem sich ein ordentliches Lager herrichten ließ, und es gab genügend Holz für ein Feuer. Ekkehard schritt ungeduldig am Rand des Feuerscheins auf und ab, während die Übrigen auf die Atemgeräusche des kranken Mannes lauschten. Auch Edelmann Lothar ging es nicht gut; sein Atem 466 rasselte, während er sich am Feuer zusammenkauerte. Hanna stand mit einem Fuß auf einem Mauerrest und schaute über das Land. Die Sterne schimmerten hinter einem Schleier aus Dunst, der seltsam erleuchtet war. Schneeverhüllte Bäume lagen in vollkommener Ruhe. Das Mondlicht schnitt die Umrisse des verlassenen Dorfes heraus, und ein- oder zweimal glaubte sie, den Schatten eines Bewohners über den Hof huschen zu sehen, aber einmal war es eine Eule, das andere Mal einfach nur eine Täuschung aus dem Augenwinkel. Der Schnee lag unberührt da, abgesehen von den Stellen, wo sie selbst gegangen waren. Eine Wache stand in den Ruinen eines Grubenhauses gleich am Waldrand und hustete. Die Pferde, die hinter ihr bei den Männern waren, um die Wärme zu verstärken, stampften unruhig auf. Sie strich sich mit den Händen über den Kopf. Der kalte Verdacht breitete sich in ihr aus, dass Bayan sie möglicherweise alle weggeschickt hatte, weil er wusste, dass sie sterben würden. War er ehrgeiziger, als es den Anschein hatte? Hatte er vor, alle auszuschalten, die Sapientias Herrschaft gefährlich werden konnten? War es wirklich möglich, dass Bayan so offensichtlich mit ihr scherzen konnte und sie dann auf eine so gefährliche Reise schickte? Die Qumaner konnten überall sein, obwohl sie bei diesem Wetter sicher nicht umherreiten würden. Nur ein Narr würde im Winter das Land durchqueren - ein Narr oder ein Adler, der eine Aufgabe im Auftrag des Königs zu erfüllen hatte. Aber Bayan hatte sie nicht zu einem Adler ernannt. Sie hatte die Position im Wissen um die damit verbundenen Gefahren angenommen. Jeder Mensch, der große Strecken zurücklegte, setzte sich gewissen Gefahren aus, und der Umhang und das Abzeichen des Adlers gaben ihr ein Ausmaß an Sicherheit, das die meisten Reisenden niemals erlebten. Nein, Bayan war nicht auf Rache oder Intrige aus. Die Wahrheit war, dass Prinz Ekkehard ein Störfaktor war, jung, unerfahren, kindisch und rücksichtslos. Und er war ein ebenso großer Narr wie Ivar, dass er sich so der Ketzerei hingab. An Bayans Stelle hätte sie 467 möglicherweise das Gleiche getan. Nur wünschte sie sich gerade in diesem Augenblick, dass sie in der Schlafnische von Bischöfin Alberadas Halle liegen könnte, statt hier draußen mitten in der Wildnis zu hocken. Dies war genau die Art von Plätzen, an denen eine kleine Gruppe wie die ihre angegriffen und überwältigt werden konnte. In der Ferne heulte ein Wolf, das einzige Geräusch in der einsamen Landschaft. Das Flüstern am Feuer erstarb, als die Männer innehielten und lauschten, aber es kam keine Antwort auf diesen einzelnen Ruf. Lediglich ein Zweig knackte am Waldrand. War das ein Schatten, was da zwischen den schneebeladenen Zweigen umherkroch? Waren das helle Flügel, die sich zwischen den Bäumen hindurch näherten? »Wer ist da?«, fragte die Wache mit zitternder Stimme. »Psst!« Ekkehard trat vor, das Schwert gezogen, und gesellte sich zu Hanna. »Was seht Ihr, Adler?«, flüsterte er. Seine Kameraden hinter ihm zogen ebenfalls ihre Schwerter, während die Soldaten sich bereitmachten, Speere
und Schilde zu heben. Mit zittrigen Händen hob Hanna ihren Bogen und legte einen Pfeil an. Doch da war nichts. Schnee fiel von einer allzu schwer beladenen Fichte, verhüllte die Schwingen, die sie zu sehen geglaubt hatte, und dann war alles wieder still. Das Mondlicht warf einen schläfrigen Glanz über den Wald. »Hei!«, schrie die Wache so erschreckt, dass ihr Speer laut klirrend auf den Steinboden fiel. Die Eule kam geräuschlos herbei und ließ sich mitten auf einem Fleck unberührten Schnees nieder. Trotz ihrer Größe hatte sie die harte Schneedecke nicht durchschlagen. Es war die größte Eule, die Hanna jemals gesehen hatte, mit buschigen Ohren, einem gesprenkelten Federkleid und einem weißen Streifen an der Brust. Die Eule blickte sie unverwandt an - gleichgültig, aber bereit, sie wie eine schmackhafte Maus zu verschlingen. »Das könnte ein leckeres Mahl geben«, murmelte Ekkehard und stieß Hanna an. »Schießt sie ab.« 468 »Nein, Prinz«, antwortete sie, plötzlich voller Furcht bei dem Gedanken, dieses bezaubernde Geschöpf töten zu müssen. »Es ist nur zu bekannt, dass das Fleisch einer Eule für Menschen giftig ist.« Ekkehard zögerte. In diesem Augenblick breitete die Eule ihre Schwingen aus und verschwand. »Verflucht, Adler! Uns bleibt nicht mehr viel zu essen, und wir wären sicherlich nicht wesentlich kränker geworden, als wir es ohnehin schon sind, wenn wir eine einzige Eule unter uns allen aufgeteilt hätten!« Er schien schon zu weiteren Schimpftiraden ansetzen zu wollen, als Edelmann Benedict zu ihm eilte. »Eure Hoheit, kommt schnell mit. Der kranke Mann spuckt Blut, und der alte Feldwebel glaubt, dass er sterben wird. Ihr solltet besser einen Segen über ihn sprechen, damit seine Seele in Sicherheit ist, wenn er zur Anderen Seite geht.« Der Mann starb tatsächlich, noch kurz vor Tagesanbruch. Hanna schritt die ganze Nacht auf und ab, eingehüllt in ihren Umhang. Ihr war zu kalt und sie war zu nervös, um schlafen zu können, während der Mond unterging und der Wald in noch tieferen Schlummer sank. Als Ekkehards Gruppe in unruhigen Schlaf fiel und hin und wieder von Edelmann Lothars Hustenanfällen aufgeschreckt erwachte, fragte sie sich, ob sie nicht besser drangewesen wäre, wenn die Deserteure sie gebeten hätten, mitzukommen. Sie fanden ihre Leichen am nächsten Tag. Sie hatten die restlichen acht Pferde am Morgen gesattelt und waren der Straße gefolgt, immer noch auf der Spur der anderen. Die Kälte hatte den Schnee mit einer gefrorenen Schicht überzogen, die hart genug war, dass sie das Gewicht eines Mannes einen Augenblick lang trug, ehe sie einbrach. Dadurch wurde das Reisen für die Menschen einfacher, für die Pferde jedoch anstrengender. Hanna sprang schon bald vom Pferd, um es an der Leine zu führen, und nach ein paar mühsamen Schritten taten es ihr die jungen Edelleute gleich. Sie waren keine Narren, wenn es um ihre 469 Pferde ging. Hanna hatte schon länger bemerkt, dass manche Edelleute sich mehr um ihre Hunde, Pferde und Adler scherten als um das gemeine Volk, das in ihren Diensten stand. »Seht her«, sagte Frithuric, der wie gewöhnlich die Gruppe anführte. »Da sind ein paar Spuren, die in den Wald führen. Zurück zu dem verlassenen Dorf. Sollen wir ihnen folgen ? Vielleicht ist einer der Deserteure zurückgekehrt, um nach uns zu sehen.« »Nein«, sagte Ekkehard ungeduldig. »Wir brauchen heute Nacht einen vernünftigen Unterschlupf, und ich habe keinerlei Absicht, Zeit mit diesen Leuten zu verschwenden. Schließlich sind sie es gewesen, die uns zurückgelassen haben.« Sie gingen weiter, und ihr Atem dampfte in der kalten Luft. Hanna begann zu schwitzen, aber ihre Füße blieben kalt, und ihre Zehen schmerzten unablässig. Sie waren dem Pfad mehr als eine halbe Stunde lang gefolgt, als Edelmann Frithuric, der noch immer voranging, einen unterdrückten Schrei ausstieß. Sie eilten rasch zu ihm und sahen ihn am Rande des Pfads bei einem Unterstand stehen. Frithuric verscheuchte Krähen. Edelmann Dietrichs Cousins und ihre sieben Kameraden hatten hier zum letzten Mal Stellung bezogen; vergeblich hatten sie versucht, die Wände als Schutz zu benutzen. Drei Männern fehlte der Kopf; die übrigen waren ebenfalls tot, ihrer Waffen und Rüstung beraubt. Natürlich fehlten auch die drei Pferde. Versengtes Stroh lag auf dem schneebedeckten Boden herum, so weit Hanna sehen konnte. Den Hufabdrücken nach zu urteilen, waren die Angreifer mindestens zu zwölft gewesen. Ein paar Federn, die halb im Schnee versunken waren oder unter den Leichen lagen, ließen keinen Zweifel daran, dass es sich bei den Angreifern um Qumaner gehandelt hatte. Niemand wagte zu sprechen, aus Angst, ihre Stimmen könnten in der klaren Winterluft über die Schneedecke und den kahlen Wald hinweg zu den wartenden Qumanern getragen werden. Sicherlich waren sie noch immer irgendwo da draußen. Sie hatten weder die Zeit noch die Kraft, in der gefrorenen Erde 470 Gräber auszuheben, und so überließen sie die Leichen einfach den Wölfen, errichteten nicht einmal einen Steinhaufen, wie sie es für den Mann getan hatten, der während der Nacht gestorben war. Als die anderen sich anschickten, weiterzugehen, folgte Hanna ein kurzes Stück der Spur, die die Qumaner hinterlassen hatten, um eine Vorstellung davon zu bekommen, welche Richtung sie genommen hatten. Und das war das Unheimlichste von allem: Die qumanischen Plünderer waren offensichtlich den Pfad zu dem verlassenen
Dorf zurückgeritten. Einer von ihnen hatte genug geblutet, um eine dünne Blutspur zu hinterlassen, die von seinen Kameraden rasch aufgewühlt worden war. Es schien - im Nachhinein -gut möglich, dass die einzelnen Hufabdrücke in der Nähe des verlassenen Dorfes von einem qumanischen Späher stammten und nicht von einem der Deserteure. War es also wirklich nur ein Traum gewesen, als sie in der Nacht zwischen den Bäumen helle Schwingen gesehen hatte? Natürlich musste es ein Traum gewesen sein. Wenn die Qumaner sie gesehen hätten, wären sie von ihnen angegriffen worden. Sie hatten sie nicht gesehen, und sie hatten nicht angegriffen. Streite niemals mit dem Schicksal, wie ihre Mutter sagen würde. Jedes Mal nervös zusammenzuckend, wenn ein Zweig knackte oder es unter ihren Füßen knirschte, kehrte Hanna zu den anderen zurück. Sie waren begierig, dem Anblick des Gemetzels so rasch wie möglich zu entkommen. »Haben sie nicht wenigstens einen Einzigen von ihnen getötet?«, fragte Edelmann Frithuric. »Ich dachte, die Cousins von Edelmann Dietrich wären gute Kämpfer gewesen.« »Vielleicht sind sie überrascht worden«, sagte Hanna, woraufhin alle schwiegen. Vielleicht war sie in ihrer Zeit als Adler schon unter wesentlich schlechteren Bedingungen geritten, aber sie konnte sich im Augenblick nicht an eine solche Situation erinnern. Die Stille wurde unerträglich. Kleine Streitereien über Unwesentliches flackerten 471 auf und die Angst ließ aus Gereiztheit andauernde Verärgerung erwachsen. Sie quälten sich weiter den Pfad entlang, der tiefer und tiefer in den Wald hineinführte - weit weg von den Waldrändern, wo sie sich bisher bewegt hatten, mitten hinein in das alte unberührte Herz des Waldes, ein riesiges Gebiet aus Bäumen und Stille. Es waren keine anderen lebenden Geschöpfe außer ihnen selbst zu sehen. Der Pfad war ihr einziger Wegweiser. Sie wateten durch knietiefen Schnee einen schmalen Pfad entlang, der von Bäumen gesäumt war. Abgesehen von ein paar Stellen, wo der Pfad sich um einen Steilabbruch oder eine Böschung wand oder hinab zur Furt eines Baches führte, verlief der Weg eigentlich ziemlich gerade durch den alten Wald. Zum Glück waren die Bäche alle zugefroren und daher leichter zu überqueren. Und sie holten sich zumindest keine nassen Füße. Das Schlimmste an diesem langen, kalten und nervenzermürbenden Tag war, dass es so schnell dunkelte und sie bei Einbruch der Dämmerung mitten im Wald ohne jeden Schutz festsaßen. Glücklicherweise hatte der alte Feldwebel Gotfrid Erfahrung darin, wie man im Wald überlebte. Er bemerkte eine dichte Gruppe von Fichten rechts des Pfades. In ihrer Mitte bildeten herabhängende Zweige eine Art natürliche Kuppel, und der Boden war voller Nadeln und beinahe schneefrei. Die Luft unter den überhängenden Zweigen war reglos, und auf seltsame Weise fühlte Hanna sich hier beschützt, als hätte sie ein altes Refugium betreten. Achtzehn Menschen und acht Pferde fanden Platz darunter, während zwei Männer als Wachen am Rand stehen blieben und den dunkler werdenden Wald beobachteten. Die Wolken hingen tief am Himmel, schienen beinahe die Baumwipfel zu berühren, und Schnee fiel wirbelnd und kreisend zu Boden. »Es ist wirklich schön«, murmelte sie dem alten Gotfrid zu. Er hatte gerade Wache, und sie war zu ihm gegangen, um sich einen Überblick über ihre Lage zu verschaffen. »Oder besser: Es wäre schön, sofern wir ein Feuer und etwas Met hätten.« »Und keine Qumaner, die uns wie hungrige Wölfe umkreisen«, 472 stimmte er ihr zu. Er war ein guter Mann, kräftig, schlau und zuverlässig, und hatte den größten Teil seines Lebens als Löwe verbracht. »Da ist etwas, das ich nicht verstehe, Gotfrid.« Sie warf einen Blick zurück, um sicherzustellen, dass die anderen sie nicht hören konnten. Ein paar Baumreihen trennten sie von dem verborgenen Unterschlupf, jede jeweils höher und breiter als die vorherige. »Wieso wirft ein praktisch veranlagter Mann wie Ihr alles für die Ketzerei weg?« Er kicherte, und wie sie es erwartet hatte, fühlte er sich durch ihre Frage nicht im Mindesten beleidigt. »Ihr glaubt, dass diese jungen Edelleute der Ketzerei anhängen, weil sie jung, übermütig und dumm sind, nicht wahr? Das hängt wohl damit zusammen, dass Ihr selbst eine praktisch veranlagte junge Frau seid, wie ich gesehen habe.« Es waren lobende Worte, ein Zeichen seines Respekts, den sie sich während dieser verzweifelten Reise erarbeitet hatte. Sie lächelte zufrieden über das Kompliment. »Aber es ist nicht nur eine Laune, gute Freundin.« Er brach ab, wurde plötzlich ernst. Schnee fiel leise herab, wie ein Mantel, der sich sanft über alles legte. Es war fast zu dunkel, um noch etwas sehen zu können. »Habt Ihr jemals eine Rose gesehen?«, fragte er schließlich. »Ja, ein- oder zweimal in meinem Leben. Ich habe den Rosengarten des Königs in Au tun gesehen.« »Nun, also dann.« Er zögerte wieder. Sie musterte ihn. Er war weder hübsch noch hässlich, und er hatte die breiten Schultern und die kräftigen Arme eines Soldaten. Er war vielleicht im gleichen Alter wie der König, aber das Leben als Fußsoldat hatte seine Spuren hinterlassen. Wenn er jetzt ins Stocken geriet, dann deshalb, weil er die Ausbildung eines Soldaten erhalten hatte und nicht die eines Geistlichen. »Stellt Euch vor, ganz plötzlich würde eine Rose in Eurem Herzen erblühen.« Er deutete auf den stillen Wald, der kühl und weiß vor ihnen lag, ein Meer aus Winter. »Stellt Euch vor, eine Rose würde dort im Schnee erblühen, wo Ihr 473
nie eine erwarten würdet. Wäre das nicht ein Wunder? Würdet Ihr nicht wissen, dass Ihr einem kleinen Hauch von Gottes Wahrheit begegnet seid?« »Das nehme ich an.« Er sprach so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte. »Ein Heiliger wandelt unter uns. Aber wir dürfen nicht darüber sprechen, denn Gott hat sich noch nicht entschieden, Ihren Boten bekannt zu machen. Aber die Rose ist in meinem Herzen erblüht, Adler. Ich kann es nicht besser erklären, wieso ich weiß, dass es die Wahrheit war, als ich die Predigten über das Opfer und die Erlösung gehört habe. Die Rose ist erblüht, und ich würde eher sterben, als ihr jetzt den Rücken zuzukehren. Ich würde eher sterben.« Es war absolut windstill. »Die Worte kommen mir etwas fehl am Platz vor, angesichts der Situation, in der wir uns befinden«, sagte Hanna schließlich, aber keineswegs unfreundlich. »Wir haben bisher wenig Glück gehabt, nicht wahr? Wir werden von Gott auf die Probe gestellt.« »Ja, das werden wir.« Die Kälte kroch in ihre Glieder. Sie rieb sich die Hände, um sie zu wärmen. »Aber Edelmann Dietrich ist gestorben, als er sich zur Ketzerei bekannt hat.« »Ich glaube, dass er von der Bischöfin vergiftet wurde.« Gotfrid sprach die Worte so ruhig aus, dass Hanna glaubte, der Himmel würde einstürzen, aber das tat er nicht. Sie hörte lediglich die unterdrückten Geräusche der Männer, die sich unter den Fichten verbargen: leises Gemurmel, das Stampfen und unruhige Schnauben der Pferde. Der Geruch eines Feuers stieg ihr in die Nase. Zweimal hörte sie das abgehackte Husten von Edelmann Lothar. »Das ist eine kühne Unterstellung«, sagte sie schließlich. »Ihr glaubt es aber auch«, entgegnete er grimmig. »Ansonsten hättet Ihr sie verteidigt. Ich glaube, sie hat ihn vergiftet, weil sie gesehen hat, dass er von seinem Glauben nicht abweichen würde. Er war von uns derjenige mit dem stärksten Glauben. Sie hat gehofft, dass wir Übrigen danach widerrufen würden.« Er beugte 474 sich zu ihr, so nah, dass sein Atem ihre Haare in Bewegung brachte. »Glaubt nicht, dass es in der Menge nicht noch andere gab, die den gleichen Glauben teilen. Sie bewahren die Wahrheit ebenfalls in ihren Herzen.« »Aber sie hatten nicht den Mut vorzutreten.« »Nun«, sagte er großzügig, »nicht alle sind bereit zu sterben. Jemand muss überleben, um die Wahrheit zu verbreiten, nicht wahr?« Sie kicherte; sie fand es amüsant, Fragen der Ketzerei zu diskutieren, während sie in diesem Tal aus Eis um ihr Leben kämpften. »Ich mag das Leben, und genau in diesem Augenblick würde mir ein schöner heißer Becher gewürzter Wein gefallen.« »Nun, Mädchen, das würde uns allen gefallen.« Doch als sie in ihren Unterschlupf zurückkehrten, fanden sie nichts als altes Brot vor. Es gelang ihr, eingerollt in ihren Umhang ein wenig zu schlafen, bis einer der Soldaten sie zur nächsten Wache weckte. Innerhalb des Schutzes der Bäume, wo sich so viele Menschen aneinander drängten, war es tatsächlich etwas erträglicher geworden, wenn auch nicht wirklich warm. Als sie sich ihren Weg durch die stechenden Zweige hindurch bahnte, spürte sie, wie die ganze Wärme von einer rauen Kälte aufgesaugt wurde, die so durchdringend war, dass sie einen Augenblick lang glaubte, sie würde auch ihr Herz ergreifen. Sie erreichte den Rand der dicht stehenden Bäume und stolperte sofort in eine hüfthohe Schneewehe, die aus neuem, pulvrigem Schnee bestand. Eiskalt legte sich der Schnee um ihre Beine. Sie taumelte zurück in den Schutz der Fichten und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Sie hörte und fühlte es mehr, als dass sie es sah, denn es war viel zu dunkel, um überhaupt etwas sehen zu können. Sie roch den Geruch, der immer dann in der Luft hing, wenn in kürzester Zeit viel Schnee fiel und wenn die Wolken äußerst tief hingen. Sie begriff, dass ein Schneesturm im Anzug war. Schneeflocken legten sich auf ihre Nase, auf ihre Wange und die Augenlider, wo sie dann schmolzen. 475 Oh, Gott! Wenn die Qumaner sie nicht töteten, würden sie vermutlich in dem bevorstehenden Sturm erfrieren. Schnee fiel von einem Ast rechts von ihr knapp an ihrem Ohr vorbei zu Boden. Sie erstarrte vollkommen, wie ein Kaninchen, das gerade den Schatten einer Eule gespürt hat. Da draußen war etwas. Hinter dem Schleier aus Schnee schössen geisterhafte Gestalten zwischen den Bäumen hin und her. Qumaner, Nein, es waren keine Qumaner. Wegen der bevorstehenden Morgendämmerung herrschte jetzt gerade genug Licht, dass sie die Umrisse der Kreaturen ausmachen konnte: Sie waren schlank und blass und gingen zu Fuß, statt zu reiten. Dunkle Kapuzen verdeckten ihre Gesichter, und als sie über den Schnee huschten, sanken sie weder ein noch hinterließen sie irgendwelche Spuren. Es waren Schatten. Geister. Einer von ihnen schob seine Kapuze zurück. Hanna sah deutlich sein Gesicht: ein Aoi-Gesicht, mehr Schatten als Substanz, mit den hohen Wangenknochen und den breiten Gesichtzügen, wie sie für Prinz Sanglants Ahnen typisch waren. Federn schmückten seine Haare, und der Bogen, den er in der Hand trug, glänzte sanft, als wäre
er nicht aus Holz gemacht, sondern aus mit Magie versehenem Elfenbein. Seine Augen waren so kalt wie ein Grab, als er jetzt innehielt und auf der Suche nach Beute in der Luft schnupperte. Es gab ein paar Dinge, die noch beängstigender waren als die Qumaner. Sie pfiff scharf. Das Geräusch verriet ihre Position. Bevor sie auch nur einen einzigen Schritt zurück zwischen die schützenden Fichten machen konnte, traf ein Pfeil sie am Ärmel. Er war so dünn wie eine Nadel und ohne jede Befiederung. Die Spitze hatte sich genau dort in den Stoff gegraben, wo er sich am Ellenbogen zusammenkräuselte; dann löste er sich in Rauch auf, verschwand ganz einfach. 476 Der Instinkt brachte sie dazu, sich genau zur rechten Zeit zu ducken. Ein zweiter Pfeil schoss dort vorbei, wo sie gerade noch gestanden hatte. Ein dritter verfing sich in der Fichte hinter ihr, zitterte und verschwand, noch während er zu Boden fiel. Ein Warnruf zerriss die Luft. Schreie und Rufe erklangen aus dem Unterschlupf bei den Fichten. Hanna kroch zurück zu den Fichten. Zweige zerkratzten ihr das Gesicht, zerrten an ihrem Umhang, rissen ihr die Kapuze vom Kopf. Ihr Zopf blieb an einem Zweig hängen. Als sie ihren Kopf zur Seite drehte, um ihn zu befreien, pfiff wieder ein Pfeil vorbei. Einer traf sie in die Ferse, aber der nadeldünne Pfeil konnte das Leder nicht durchdringen. Zumindest hoffte sie das. Sie stolperte weiter, denn sie hatte keine Zeit, nachzusehen. Sie stürmte auf den Platz unter den Fichten, wo es noch dunkel war, abgesehen von dem brennenden und sprühenden Feuer, das jemand mit Fichtennadeln zu ersticken versucht hatte. Sie holte tief Luft, um einen Warnruf auszustoßen, atmete jedoch nichts als Rauch ein. Um sich schlagend und mit brennenden Augen griff sie nach dem nächststehenden Pferd, schnappte sich die Zügel und warf Gotfrid einen Blick zu. Der alte Löwe hatte sich mit zwei Kameraden zusammengetan, um mit ihren Schilden eine kleine Schutzmauer für Prinz Ekkehard zu bilden. »Gott beschütze uns!«, rief jemand. »Meine Pfeile gehen geradewegs durch sie hindurch! Es sind Dämonen!« Die Stimme brach ab. Dann fiel ein Mann - möglicherweise der, der gerufen hatte - rückwärts auf das qualmende Feuer, dabei wie irrsinnig nach dem Pfeil greifend, der in seiner Kehle steckte. Im nächsten Augenblick brachen Ekkehard und die gesamte Gruppe in Panik aus. Hanna konnte kaum das Pferd festhalten, als Männer und Pferde an ihr vorbeidrängten. Der Rauch ließ ihre Augen tränen, sodass sie in das dichte Gewirr von Zweigen taumelte und dort stecken blieb. Ihr Gesicht war aufgeschürft, der eine Handschuh abgestreift, die Haare hatten sich aus dem Zopf gelöst. Die Zügel des Pferdes waren ihr entglitten, und es war ihr 477 unmöglich, weiterzugehen. Sie drehte sich um, weil sie nach den Zügeln suchte, und schrie beinahe laut auf. Ihr gegenüber stand eine bleiche Gestalt, die mehr Schatten als Körper war. Sie hatte die Figur einer Frau und das Gesicht eines Geiers, und auf dem Bruststück der glänzenden Bronzerüstung waren geierköpfige Frauen mit Speeren aufgeprägt. Hanna konnte sogar die schwachen Umrisse der Fichten durch ihren Körper hindurchschimmern oder, noch schlimmer, einzelne Zweige durch ihn hindurchstechen sehen, als wäre er gar nicht wirklich da. Die Gestalt senkte den Bogen und begann zu sprechen. »Ich rieche den Gestank unseres alten Feindes an dir, Mensch. Deshalb haben wir dich verfolgt.« Sie brachte ein langes, hässliches Messer zum Vorschein. Schieres Entsetzen bemächtigte sich Hannas. Die Gestalt würde sie töten. Da sie von Zweigen bedrängt wurde, war es ihr unmöglich, ihren Bogen zu fassen zu bekommen. Ihre Finger fanden den Griff ihres Essmessers, aber sie wusste, dass es hoffnungslos war und dass das kalte Eisen nichts anderes bewirken würde, als sich hinter dem Phantom in das Holz des Baumes zu graben. Dagegen würde eine verfluchte Geisterklinge auch durch die leiseste Berührung einem Menschen den Tod bringen. Die Gestalt würde sie töten. Das war ihr letzter Gedanke: Oh, Gott. Ich werde Liath nie wieder sehen. Die Eule erschien wie aus dem Nichts, ganz Flügelschlagen und schwungvoller Schnabel. Eine kleine Pause, nichts weiter. Ein kurzer Augenblick war alles, was Hanna benötigte. Sie ließ sich auf die Knie sinken und kroch wie eine Wahnsinnige weiter, fand unter dem Dach aus tief hängenden Zweigen und Ästen genügend Platz, um zu entkommen. Ihr Bogen schrabbte über Holz, und ein Pfeil verfing sich an einem Zweig, zerbrach, als sie weiter kroch. Das Bett aus trockenen Nadeln machte dem feinen Schnee Platz, und sie schob sich weiter durch tief hängende Zweige, fand sich in ei478 ner Schneewehe wieder. Sie verkroch sich zwischen zwei ausgebreiteten Zweigen, die auf dem Schnee ruhten, und krabbelte weiter. Alles, woran sie denken konnte, war wegzukommen. Es gab jetzt genug Licht, um etwas sehen zu können, obwohl noch immer Grautöne vorherrschten, als die Morgendämmerung die Nacht bekämpfte - keine einfache Aufgabe, da immer noch dichter Schnee fiel und eine feste Wolkendecke den Himmel bedeckte. Es war bitterkalt. Sie sah andere Gestalten im Schnee darum kämpfen, zu entkommen, und sie erspähte ein einsames Pferd. Mit einiger Mühe durchpflügte sie den Schnee und bekam die Zügel des Pferdes zu fassen. Es bäumte sich erschreckt auf, und beinahe wären ihr die Zügel erneut entglitten. Sie sah einen der jungen Edelmänner neben
sich im Schnee. Er riss ihr die Zügel aus der Hand und brachte das Pferd augenblicklich unter Kontrolle. An der Art, wie er den einen Arm bevorzugt einsetzte, erkannte sie, dass es Prinz Ekkehard war. Er drehte sich um und starrte sie an. Er wirkte blass, ängstlich und sehr, sehr jung. »Kommt, Adler. Lothar ist tot, Thiemo verschollen. Wir müssen hier weg.« Hinter ihnen schrie ein Mann fürchterlich. Sie drehte sich um, wollte ihm helfen, aber Ekkehard sprang vor, als hätte der Schrei ihn angetrieben, und sie wollte - mögen Gott ihr helfen - unter keinen Umständen allein zurückbleiben und sich diesen Kreaturen stellen müssen. Traurig quälte sie sich durch den Schnee, den Spuren des Prinzen folgend. Sie sah dünne, rote Schnitte an den Flanken des Pferdes, das Kennzeichen von Geistergeschossen. Ekkehards Umhang war zerrissen. Sie waren gerade einmal zwanzig anstrengende Schritte weit gekommen, als sie mit Hurrarufen empfangen wurden. »Mein Prinz!« Die Stimme klang abgehackt und beinahe stotternd vor Angst. Vier der Edelleute hatten hinter einer mächtigen, vollkommen kahlen Ulme Schutz gefunden. Sie hatten drei Pferde bei sich. Als sie sahen, dass Ekkehard in Sicherheit war, stürz479 ten sie los, keiner direkten Richtung folgend, sondern einfach nur weg von dem Unterschlupf, wo sie in der Nacht zuvor noch Schutz gefunden hatten. Hanna sah, wie sich in einiger Entfernung zu einer Seite des Pfads eine Hand voll weiterer Gestalten davonmachte. War das da Gotfrid? Sie war sich nicht sicher, und sie traute sich auch nicht, ihn zu rufen; jetzt war er ohnehin schon weg, verschwunden hinter dem Schleier aus Schnee und den Ranken des Immergrüns. Vielleicht hatte sie sich die Gestalten auch nur eingebildet. Vielleicht waren es die Geister, die sie in der Hoffnung umkreisten, ihnen woanders einen neuen Hinterhalt legen zu können. Einer der Jungen weinte. »Lothar ist tot. Lothar ist tot.« »Sei still, Mähnegold, sonst hören sie uns noch«, warnte Ekkehard leise. »Als würden wir nicht ohnehin viel Lärm veranstalten, als wären wir ein ganzes Heer«, murmelte Frithuric. Edelmann Weif hielt noch immer das Banner, doch der Schaft war zerbrochen, und der junge Mann war so kraftlos, dass er es lediglich durch den Schnee hinter sich her ziehen konnte, während er weiterstolperte. Dichter Schnee fiel um sie herum, leise und still, bis Hanna dachte, sie würden lebendig begraben werden. »Ich glaube, wir sind ihnen entkommen«, sagte Benedict schließlich. Sie alle blieben bei diesen Worten abrupt stehen, und ihr Atem stand in weißen Wölkchen vor ihrem Gesicht. Die Pferde schnaubten nervös. Frithuric hustete. Ekkehard zischte eine Warnung. Da standen sie nun, umgeben von den Bäumen, die in dem fallenden Schnee nur zum Teil sichtbar waren. Es war vollkommen still, bis auf die leisen Geräusche, die immer dann erklangen, wenn Schnee durch die Zweige und Äste rutschte, und bis auf das leise Flüstern des Windes in den Baumkronen. Wegen des dichten Schneefalls konnte Hanna in keine Richtung weiter als etwa einen Steinwurf weit sehen, und alles sah gleich aus: Schnee und Bäume, Bäume und Schnee. 480 »Wir sind verloren«, "sagte Edelmann Benedict schließlich mit angstvoller Stimme. »Wir werden erfrieren«, meinte Edelmann Weif. »Mein Fuß tut weh«, sagte Ekkehard; er klang überrascht. »Wir alle werden hier draußen erfrieren, wenn wir nicht weitergehen«, erklärte Hanna. »Wir dürfen uns nicht dem Glauben hingeben, dass wir diesen Geistern entkommen sind. Oder was immer sie sonst gewesen sein mögen.« »Es sind die Alten«, jammerte Mähnegold, halb irrsinnig vor Angst. »Sie sind verflucht, denn sie sind Ungläubige und üble Mörder, die ihre Kinder auf den Altären geopfert haben. Sie sind dazu verdammt worden, für alle Zeiten als Geister umherzuirren. Deshalb hassen sie uns. Mein altes Kindermädchen hat mir Geschichten erzählt -« »Nur ein Grund mehr, weiterzugehen«, blaffte Hanna, in der Hoffnung, die anderen durch energisches Verhalten zum Weitergehen bringen zu können. Und das funktionierte auch. Sie hatte diesen Trick von ihrer Mutter gelernt, die ihn immer dann angewandt hatte, wenn es Zeit war, die Betrunkenen aus der Schenke zu befördern und nach Hause zu schicken. Sie nahm dem Prinzen die Zügel aus den Händen und drängte weiter. Es war unwichtig, darüber nachzudenken, in welcher Richtung sie weitergehen sollten, solange es nur nicht die war, aus der sie gekommen waren. Sie vermutete, dass die Geister der Aoi keine Schwierigkeiten haben würden, sie aufzuspüren, egal, welches Wetter herrschte, aber sie wollte verflucht sein, wenn sie hier stehen blieb und darauf wartete, plötzlich von hinten angegriffen zu werden. Wenn sie sterben musste - gut, aber wie sie noch wenige Stunden zuvor zu Gotfrid gesagt hatte, zog sie es wirklich vor, bei den Lebenden zu bleiben, selbst wenn das nicht bedeutete, als Gegenleistung für ihre Mühe einen schönen heißen Becher gewürzten Wein zu bekommen. Ekkehard und seine Kameraden folgten ihr rasch. Obwohl sie 481 klagten und jammerten, waren sie allesamt junge und kräftige Männer, wohlgenährt und durch Reiten und Waffenübungen trainiert. Und auch so verängstigt, dass keiner von ihnen zurückbleiben wollte. Hannas Füße fühlten sich wie Eis an, und auch ihre Hände froren. Schneeflocken legten sich auf die Augenwimpern. Sie zuckte bei jedem Knistern und Rascheln der schneebeladenen Bäume zusammen, drängte
aber dennoch entschlossen weiter. Solange sie sich bewegten, waren sie nicht tot. Das war das Einzige, was sie in diesem Augenblick ganz sicher wusste. Die Bäume wirkten ein Stück weiter vorn noch viel dichter, obwohl das bei dem vielen Schnee wirklich schwer zu erkennen war. Eine so dichte Reihe aus Bäumen mitsamt Unterholz und Gebüsch deutete gewöhnlich auf eine Siedlung oder einen Fluss hin, und wenn es wirklich eine Siedlung war, würden sie dort Schutz finden. Wenn es aber ein Fluss war - möglicherweise sogar ein zugefrorener -, würde er sie vielleicht durch den Wald und zu einem Refugium führen. Sie erreichten die Baumreihe und fanden einen Wildtierpfad, der noch immer sichtbar war, weil der Schnee dort, wo er sich zwischen den Bäumen hindurchwand, eine Rinne bildete. War das Rauch, was sie da roch? Aber der Geruch war rasch wieder verflogen, nichts weiter als ein Wunschtraum, der sich wie Nebel unter der Morgensonne auflöste. Es begann stärker zu schneien. Wenn sie nicht bald einen Unterschlupf fanden, würden sie sterben. Der Pfad wand sich um eine Biegung. Durch einen Vorhang aus Zweigen sah sie eine Lichtung. »Wartet!«, schrie einer der jüngeren Edelleute hinter ihr. Zu spät fiel ihr ein, dass sie besser etwas vorsichtiger hätte sein sollen. Die Geister waren nicht die einzigen Feinde, vor denen sie davonliefen. Aber sie hatte bereits zu einem weiteren Schritt angesetzt. Ihr Fuß trat in eine Fußfalle, und sie flog der Länge nach zu Boden, traf auf einen großen Stein, rutschte aus und rollte hi482 nab, bis sie irgendwann langsamer wurde und schließlich benommen auf dem Rücken liegen blieb. Über sich sah sie den harten, kalten Himmel. Es hatte schlagartig zu schneien aufgehört. Die Speerspitze kam zuerst, schob sich direkt unter ihre Nasenspitze. Mit einiger Anstrengung, die Augen leicht verdreht, versuchte sie vor dem leichten, aber tödlichen Druck zurückzuweichen. Jemand hielt diesen Speer, jemand, der groß und sehr stark war, ganz und gar kein Geist, sondern erschreckend echt. Das Abscheuliche und höchst Bedrohliche an ihm war, dass er glänzende Eisenschwingen hatte, aber kein Gesicht, sondern nur ein flaches, eisengraues Visier mit Augenschlitzen. Mit etwas, das verdächtig nach einem Lachen klang, nahm er den Helm ab, ohne allerdings seinen Speer loszulassen. Glänzendes schwarzes Haar ergoss sich wie Seide über seine Schultern. Noch immer ganz benommen, starrte Hanna in das Gesicht des hübschesten Mannes, den sie jemals gesehen hatte. Sie starrte in das Gesicht eines qumanischen Kriegers, der die Schwingen eines Greifen trug. 3 Sie waren geradewegs in das Lager einer qumanischen Truppe gestolpert. Natürlich. Noch mehr Pech hätten sie gar nicht haben können. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, obwohl der Schnee in ihre Kleider drang und ihre Haut zu brennen begann. Männer riefen sich in einer unverständlichen Sprache etwas zu. Ein Pferd wieherte herausfordernd. War das das Geräusch eines Scharmützels? Oder nur der Klang von Kochtöpfen, die gegeneinander stießen? Sie lauschte in der Hoffnung, Ekkehards Stimme zu hören, aber da war nichts. Der Krieger nahm seinen Speer von ihrem Gesicht und reichte 483 ihn jemandem außerhalb ihres Blickfelds. Er fiel neben ihr auf die Knie, und mit dem Ausdruck erstaunter Freude streckte er die Hand aus, um ihre Haare zu berühren. Sie biss die Zähne zusammen, zwang sich, nicht zu reagieren, als er ihren Zopf ergriff und ihn betastete, als wäre er die kostbarste Substanz, die er jemals berührt hatte. Der Anblick des unerwartet hübschen Gesichts sowie die Gewissheit, dass ihr wahrscheinlich gleich die Kehle durchgeschnitten werden würde, machten sie regelrecht benommen. Der Qumaner hatte einen dunklen Teint, durchdringend dunkle Augen, einen kleinen Schnurrbart und einen Hauch von Bart, aber was ihn am meisten kennzeichnete, war die elegante Form seines Gesichts, das Grübchen in der linken Wange und der strahlende Ausdruck. Seine Haare waren so prächtig, dass sie den unsinnigen Wunsch hegte, sie zu berühren. Bis ihr Blick auf den grauenhaften Schmuck fiel, der an seinem Gürtel baumelte. Ein Schrumpfkopf schwankte dort gemächlich hin und her. Das abscheuliche Gesicht mit den verzerrten Zügen und der geschwärzten Haut schwang immer wieder aus ihrem Blickfeld. Es war etwas Ekel erregend Vertrautes daran, aber vielleicht rührte dieses Gefühl auch nur von dem Wissen her, dass es ein menschliches Gesicht war, das einst eine lebendige, atmende Person geschmückt hatte, ehe es als Schmuck eines Wilden diente. Die Haare an diesem Kopf hatten einen widerlichen orangebraunen Stich, als wären sie einmal genauso hell gewesen wie ihre, bevor man sie in ein giftiges Färbemittel getunkt hatte. Eine Stimme rief etwas. Der Qumaner erhob sich, wandte seine Aufmerksamkeit dabei so schnell von ihr ab, dass sie es riskierte, sich auf einen Ellenbogen zu stützen. Niemand lief zu ihr, um sie zu töten, und so hatte sie die Gelegenheit zuzusehen, wie der Prinz - wer sonst konnte er sein, mit den Greifenschwingen und dem stolzen Gang? - über die Lichtung schritt und sich seine Gefangenen anschaute. Sie hatten Ekkehard und seine vier verbliebenen Kameraden wie 484 Vögel zusammengeschnürt, die zum nächsten Kochtopf befördert werden sollten. Einer der qumanischen Soldaten warf dem Prinzen ein Stück Stoff zu. Zuerst verbargen die Schwingen ihn vor Hannas Blick. Von ihrer
Position aus sah sie deutlich, wie das Geschirr an der Rüstung befestigt worden war, die geschwungenen Holzflügel, die mit Greifenfedern befiedert worden waren. Breschius hatte ihr von den Greifenfedern erzählt. Nur die größten qumanischen Helden konnten sie tragen, denn man musste die Tiere selbst töten und sie ihnen eigenhändig ausrupfen. Der Prinz drehte sich zur Seite, um das Banner auszuschütteln. Als er Ekkehards Wappen sah - eine goldene Harfe und einen goldenen Löwen auf einem roten Feld -, lachte er. Er schien sich an den seltsamsten Dingen zu erheitern. Mit einem scharfen Pfeifen rief er einen Mann von unschätzbarem Alter zu sich, der jedoch die klassischen Gesichtszüge eines Wendaners hatte. Die beiden Männer sprachen miteinander, dann wandte sich der Wendaner mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln an die fünf Jungen. »Wem von euch gehört dieses Banner?« Ekkehard und seine Kameraden schwiegen störrisch. Der Wendaner spuckte in den Schnee. »Oh, um der Liebe des heiligen Daisan willen, wollt ihr etwa, dass euch der Schwanz abgeschnitten wird ? Sie werden nicht zögern, es zu tun, wenn ihr ihnen nicht etwas gebt, das sie zufrieden stellt. Glaubt nur nicht, dass ihr mit Seiner Pracht und Herrlichkeit handeln könntet.« Als er diese beleidigenden Worte sprach, verbeugte er sich mit deutlichem Respekt vor dem Mann mit den prächtigen Haaren. »Denn glaubt mir, es ist ein großes Glück, dass ihr nicht alle tot seid. Er möchte wissen, wem das Banner gehört und ob einer von euch das Recht hat, es zu tragen.« Prinz Ekkehard trat vor - so mutig und selbstbewusst, wie es das Seil um seine Handgelenke, der Zustand seiner Haare, seines Gesichts und die durch Risse und Flecken verunstaltete Kleidung zuließen. »Ich bin Ekkehard, Sohn von König Henry, königlicher Prinz von Wendar und Varre. Ich trage den Goldreif als Zeichen 485 meiner Verwandtschaft mit dem Königshaus. Schont unser Leben, und ich verspreche euch, dass mein Vater ein würdiges Lösegeld für uns zahlen wird.« Der Übersetzer, der bei dem Wort »Goldreif« besonders aufmerksam geworden war, besprach sich leise mit seinem Herrn. Der qumanische Prinz lauschte angestrengt. Er schien Hanna vergessen zu haben, oder aber er gehörte zu den Leuten, die sich nicht zwei Dingen gleichzeitig widmen konnten. Sie setzte sich vorsichtig auf. Das qumanische Lager bestand aus einem großen, runden Zelt, das zum Teil von einer Schneedecke bedeckt war, und einem Dutzend kleinerer, ebenfalls runder Zelte, in denen jeweils etwa vier Personen schlafen konnten. Eine lange und schlanke Standarte hing am Mittelpfosten eines jeden Zeltes, ein Stück weißer Stoff mit drei von Klauen gezogenen Streifen darauf. Langsam dämmerte es Hanna, was das sein musste: Es waren die Kratzer einer Klaue, das Zeichen des Pechanek-Clans. Das Schicksal lachte Hanna heute wirklich aus: Sie waren auf eine Truppe vom Stamm Bulkezus gestoßen, dem Anführer des qumanischen Heeres. Der Prinz trat vor. Er nahm Ekkehard den Umhang ab, zog mit der einen Hand die Tunika am Halsausschnitt nach unten und fuhr mit den Fingern der anderen Hand die geflochtenen Goldzöpfe des Goldreifs entlang. Einen Augenblick glaubte Hanna schon, er würde Ekkehard die Kehle aufschlitzen, weil das doch das war, was Wilde in ihrer Gier nach Gold taten. Aber der Prinz schnaubte nur und trat einen Schritt zurück, ohne Ekkehard weiter zu belästigen. Mit einer weit ausholenden Geste sagte er etwas und wartete dann darauf, dass der Wendaner die Worte übersetzte. »Seine Herrlichkeit sagen Folgendes: >Ihr seid dem Sohn meiner Schwester auf dem Schlachtfeld entkommen, aber jetzt halte ich Euer Leben in meinen Händen, wie es mein Ziel gewesen war, Bruder.« »Er ist derjenige, gegen den Ihr gekämpft habt?«, rief Benedict aus. »Er hätte Euch beinahe getötet!« 486 »Nein, das war ein anderer. Er hat nur die gleichen verfluchten Eisenflügel«, sagte Ekkehard, der zunehmend nervös dreinblickte. »Der Prinz hat das einfach nur so dahingesagt. Aber wieso nennt er mich >Bruder« Es war schwer, ruhig zu bleiben, wo all die ekligen Schrumpfköpfe von den Gürteln der Qumaner hingen. Hanna kämpfte sich auf die Knie. Es war seltsam, dass es keine Feuerstellen im Lager gab. Wie kochten sie die gehäuteten Tiere, die an den Ästen hingen? Und was war dort hinter den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung? Kalkfelsen? Sie konnte es nicht erkennen. »Prinzen sind doch Brüder, oder nicht?«, antwortete der Übersetzer sarkastisch. »Im Gegensatz zu uns armseligen Sklaven, die die Launen der Prinzen ertragen müssen und darum beten, den nächsten Sonnenaufgang erleben zu dürfen.« »Seid Ihr immer so unverschämt?«, fragte Frithuric. »Fürchtet Ihr denn nicht den Zorn Eures Herrn?« Das Lächeln des Übersetzers verschwand, und der Mann wurde ernst; er hatte eine Art, das Kinn vorzustrecken, die seinen Unmut verriet. »Nur ein Narr würde Prinz Bulkezus Zorn nicht fürchten, denn er verliert nur selten die Beherrschung, was ihn zu der schlimmsten Sorte von Tyrannen macht.« Er sprach weiter - selbst ein armseliger Tyrann, der froh über die Gelegenheit war, seinen Ärger an Leuten auszulassen, die noch hilfloser waren als er. Hanna schwankte, und auch Ekkehard und seine Kameraden taumelten, die Gesichter blass vor Sorge. Bulkezu. Oh, Gott, dieser herrliche Mann war Bulkezu? Und sie hatte geglaubt, es könnte gar nicht schlimmer kommen! »Wie auch immer«, fuhr ihr Übersetzer fort, »keiner dieser elenden Qumaner versteht unsere Sprache, daher kann ich sagen, was ich will. Ich könnte Seiner Arroganz jetzt sagen, dass Ihr seine Mutter beleidigt habt, und
dann würdet Ihr etwas zu sehen bekommen, das Ihr lieber nicht sehen würdet, nämlich wie Eure Eingeweide auf dem Boden verstreut herumliegen - bevor Ihr zu tot 487 seid, um es noch bemerken zu können.« Hämisch wandte er sich an Bulkezu und gab ein paar schroffe Sätze von sich. Ekkehard keuchte laut auf, aber dann beherrschte er sich wieder, als hätte er sich gerade daran erinnert, dass in den Epen die Helden immer ehrenvoll starben. Er sammelte sich und machte sich bereit, seinem Schicksal entgegenzutreten. Bulkezu lachte wieder. Er gab Ekkehard einen Klaps auf die Schulter und deutete auf das große Zelt. Der Übersetzer sprach jetzt mit spöttischem Unterton. »Prinz Bulkezu möchte mit seinem wendischen Bruder einen Becher Wein trinken, als Zeichen ihrer Verwandtschaft.« »Wird er mich vergiften?«, flüsterte Ekkehard, bemüht, mutig und kühl zu wirken. »Nein, mein Prinz, er wird genau das tun, was er angekündigt hat, nämlich einen Becher Wein mit Euch trinken, den er einigen armseligen, gottesfürchtigen Personen abgenommen hat, die jetzt tot und unbeerdigt irgendwo herumliegen, Futter für die Raben. Ich hoffe, Ihr genießt den Wein.« Hanna hatte den Eindruck, als würde keiner der im Lager anwesenden Qumaner auf sie achten. Wachen schien es nicht zu geben. Die meisten der zwei Dutzend Männer in der kleinen Lichtung standen einfach nur herum und betrachteten mit unterschiedlichen Mienen - manche heiter, manche ernster - das Zwischenspiel zwischen ihrem Prinzen und seinen Gefangenen. Rechts hinter den Zelten standen sieben Männer bei den Pferden. Die untersetzten Tiere wirkten etwas unbeholfen im Vergleich zu den größeren und hübscheren Tieren, die sie zusammen mit Ekkehard eingefangen hatten. Ein alter Mann mit einer Tätowierung im Gesicht und einem seltsamen Gewand, das aus Dutzenden zu einem Tuch zusammengenähten Bändern bestand, stand etwas abseits; er betastete die von den Geistergeschossen verursachten Wunden am Rumpf des Rotschimmels. Mit einem abwesenden, beinahe wahnsinnigen Lächeln schmierte er eine gelbliche Paste auf die Wunden, während ein anderer Mann den Kopf des Tieres festhielt. 488 Sie glitt auf den Knien etwas zur Seite, während Ekkehard sich darauf vorbereitete, sich dem Zelt des Prinzen mit so viel Würde zu nähern, wie ihm angesichts der gefesselten Hände möglich war. Jetzt, wo alle der kleinen Prozession zusahen, hatte sie vielleicht die Möglichkeit wegzulaufen. Aber was würde dann geschehen? Würde sie damit Ekkehards Hinrichtung heraufbeschwören? Konnte sie wirklich damit rechnen zu entkommen, wo sie zu Fuß war, die anderen jedoch Pferde besaßen? Würden die Geister nicht noch immer im Wald lauern? Doch was auch geschehen mochte, welche Folgen ihr Handeln auch haben würde, sie musste unbedingt versuchen, den König zu erreichen. Er musste darüber unterrichtet werden, dass qumanische Banden die östlichen Grenzen seines Königreichs überrannten. Hanna bekam einen Fuß auf die Erde, schob sich ein Stück hoch und sah, wie ein nadeldünner Pfeil gleich vor ihr über den Schnee glitt. Er löste sich in Rauch auf, schmolz im Schnee. Eine Wolke aus Dampf, die ihr beim Ausatmen aus Nase und Mund trat, verdeckte ihr kurz die Sicht, doch dann konnte sie die schemenhaften Formen der Verlorenen erkennen. Die alten Feinde waren zurückgekehrt, um sie zu jagen. Sie atmete ein, und der Dunst klärte sich wieder. Ein Dutzend Bögen waren auf das Lager gerichtet, als die Geister sich am Waldrand sammelten. Durch welche Hände starb es sich schlimmer? Wie Feuerbrände, die in Wasser ertränkt wurden, zischten und qualmten die Pfeile durch die kühle Luft. Zwei blieben dicht neben ihr im Schnee stecken. Winzige Spuren von Rauch erhoben sich dort, wo die Pfeile im Schnee schmolzen. Es schien unmöglich, dass etwas so Zartes so tödlich sein konnte. Ein Schrei erscholl über der ruhigen Lichtung. Ein qumanischer Soldat fiel nach hinten, fasste sich mit den Händen an den Kopf. Blut tropfte von den behandschuhten Fingern, als er taumelte und zu Boden stürzte, während sein Schrei noch lange nachhallte, sich zu dem Pochen ihres Herzens gesellte. 489 Sie kroch rückwärts. Ein Pfeil flog auf den qumanischen Prinzen zu. Er wirbelte herum, ob aus Glück oder aus Berechnung, und der Pfeil traf auf seine Greifenfedern. Ein Schauer aus Blitzen wie in einer Eisenschmiede erhellte jetzt die Dämmerung. Bulkezu rief Befehle aus, die Hanna nicht verstehen konnte. Diejenigen, die bei den Pferden gestanden hatten, drehten die Tiere jetzt um, benutzten sie als Schilde gegen den Geisterfeind. Ein paar Qumaner schössen ebenfalls Pfeile ab, aber sie waren schlecht gezielt, flogen zu hoch, und die Schemen hatten Schutz hinter Büschen oder Bäumen gesucht, ehe die qumanischen Pfeile ein Ziel trafen. Mehrere qumanische Soldaten schoben Prinz Ekkehard und seine Gruppe auf das große Zelt zu. Edelmann Weif fiel, obwohl Hanna nicht erkennen konnte, wo er getroffen worden war. Ein kräftiger Soldat packte ihn unter den Achseln und zog ihn mit zu den anderen. Der Mann mit dem geflickten Gewand stieß plötzlich einen Schlachtruf aus und tänzelte auf den Prinzen zu, der seinen Helm jetzt über das Gesicht gezogen hatte. Der Schamane streifte sein Gewand ab und enthüllte seinen nackten Oberkörper; Brust und Rücken waren mit herrlichen blauschwarzen Tätowierungen versehen. Während
er vor sich hin murmelte und weiter herumtänzelte, begannen die Muster - wilde und magische Tiere, Schlachtszenen, Himmelskörper - zu zucken und zum Leben zu erwachen. Hanna schüttelte heftig den Kopf; sie glaubte, sich das alles nur einzubilden, und fand Schutz hinter einem robusten Pony, das zu dumm war, um Angst zu haben. Sie konnte ihren Blick nicht von dem tanzenden Mann abwenden, von seinem untersetzten, haarlosen Körper, den muskulösen Beinen, den kräftigen Armen. An jedem Ohrläppchen hing eine Kette mit drei menschlichen Nasen. Die Nasenscheidewand war von einer goldenen Nadel durchstochen, an deren beiden Enden ein menschliches Ohr hing, getrocknet und geschrumpft. Seine Hände steckten in Handschuhen aus 490 menschlichen Füßen und seine Füße wurden von Häuten aus menschlichen Händen umhüllt. Bulkezu duckte sich, und wieder prallte ein Pfeilhagel gegen seine Schwingen. Er verbarg sich hinter dem gefangenen Rotschimmel. Aber der Schamane tanzte und sang sichtbar für alle weiter. Mit jedem Satz kauerte er sich tiefer und tiefer, bis Hanna schon glaubte, er wollte sich selbst in den Schnee eingraben. Weißer Dunst erhob sich hinter ihm, als würde Wind die oberste Schneeschicht aufwühlen, und seine Tätowierungen glitten tatsächlich vom Körper in den Schnee, wo sie wie tausend zuckende Würmer auf Bulkezu und das Pferd zukletterten, sie verteilten sich, wurden größer, bis zunächst ein halbes Dutzend Männer und dann ein ganzes Dutzend mit seinen Tätowierungen bedeckt war. Bulkezu stieg auf das Pferd und rief einen Befehl. Mit Pfeilen, Speeren und Schwertern drängten die Qumaner den Hügel hoch. Ein Pfeilhagel fiel zwischen sie, aber weder Bulkezu noch seine Soldaten wichen zurück. Als die Geisterpfeile auftrafen, verschlangen die auftätowierten Tiere und Krieger sie und verschluckten sie - und damit auch jedes Unheil, das sie hätten anrichten können. Weder Pferd noch Reiter konnten verwundet werden. Mit Bulkezu an der Spitze erklommen sie den Hang und stürzten sich auf die Geister. Der Kampf verlagerte sich in den Wald, als die Qumaner ihre Angreifer zurücktrieben. Prinz Bulkezu war nicht zu sehen; mehrere Männer eilten herbei, um die aufgescheuchten Pferde einzupferchen, und der Schamane, der sich jetzt aus dem Schnee erhob, zog sich wieder das Flickengewand an und machte sich mit einigen Helfern daran, sich um die Verwundeten zu kümmern, unter anderem um Edelmann Weif. Niemand achtete auf Hanna. Das Schicksal hatte eine seltsame Art, den Unglücklichen ihre Gunst zu erweisen. Hanna kam wie beim ersten Mal bis zur Baumreihe, wo sie seltsamerweise an der gleichen Stelle stolperte wie zuvor. Sie fiel so hart zu Boden, dass es ihr den Atem ver491 schlug. Ihr Kopf schmerzte, und ihre Hände waren taub geworden. Aber, bei Gott, sie würde hier rauskommen. Sie zwang ihre Ellenbogen, sich unter ihren Körper zu schieben, und begann sich aufzurichten. In diesem Augenblick griff jemand nach ihren Knöcheln. Sie fluchte hilflos, als ein Soldat sie zurück ins Lager zerrte. Sie konnte nichts weiter tun, als ihren Kopf über dem Boden zu halten, damit er nicht über den Schnee rutschte. Der Soldat ließ sie erst los, als sie den Eingang zu dem großen Zelt erreicht hatten. Dort gab er ihre Knöchel frei und rollte sie über die Schwelle - ein Stück Holz, gegen das sie schmerzhaft mit dem Arm und der Hüfte prallte - auf einen wunderbar weichen Teppich ganz ohne jeden Schnee. Dort lag sie nach Luft schnappend, während die Schneeflocken in den Falten ihrer Kleidung zu schmelzen begannen und ihre Haut taub machten. Sie hätte am liebsten geweint, aber diesen Luxus gestattete sie sich nicht. Nach einer Weile kämpfte sie sich auf Hände und Knie, taumelte leicht und stand dann vollends auf, sich durchaus der Tatsache bewusst, dass sich zahlreiche Männer im Zelt versammelt hatten und gespannt auf die Szene warteten, die sich vor ihnen entfalten würde. Bulkezu saß lässig auf einem Stuhl und beobachtete sie. Er trug noch immer seine Rüstung, hatte aber die Schwingen und den Helm zur Seite gelegt. Seine Haut und seine Kleidung zeigten keinerlei Spuren von den Tätowierungen, die ihn geschützt hatten. Sofern der Kampf ihm überhaupt zugesetzt hatte, war davon an seiner Haltung und Miene nichts zu erkennen. Er sprach kurz mit dem Übersetzer, der wie Hanna immer noch schwer atmete; auch er schien erleichtert darüber zu sein, dass er überlebt hatte. »Seine Anmaßung Prinz Bulkezu möchte Euch mit aller Höflichkeit nahe legen, nicht noch einmal einen Fluchtversuch zu unternehmen. Eure blonden Haare gefallen ihm sehr gut. Wenn Ihr Glück habt, mag er Euch so sehr, dass er Euch eine Zeit lang bei sich behält, bevor er Euch den Wölfen zum Fraß vorwirft.« »Ich frage mich, ob er nicht zumindest am Ton Eurer Stimme 492 hören kann, was für ein Scheusal Ihr seid«, antwortete Hanna. »Ich wäre Euch dankbar, Verräter, wenn Ihr Seine Gütigkeit Prinz Bulkezu wissen lassen würdet, dass er mich besser nicht anrührt. Ich bin ein Adler des Königs und damit unantastbar.« Der Übersetzer schnaubte nur, dann wiederholte er - wie sie hoffte - ihre Worte. Bulkezu lachte bloß, während er sich erhob und sich ihr näherte. Wie durch ein Wunder hatte sich ihr Umhang nicht gelöst, als sie über den Schnee gezerrt worden war. Bulkezu packte die Adler-Schnalle und riss sie mit einem kräftigen Ruck ab. Ihr Umhang glitt zu Boden und legte sich in einem unordentlichen Haufen um ihre Füße. Ihre leicht zerrissene Tunika verrutschte etwas und entblößte ein bisschen Haut. Bulkezu seufzte; er hob die Hand und streichelte ihre Haare.
»Es tut mir Leid, Euch sagen zu müssen«, meinte der Übersetzer, der nicht von seinem Platz neben dem Stuhl des Prinzen gewichen war, »dass die Qumaner helle Haare für ein Zeichen von Glück halten. Ich habe gesehen, wie ein Mann getötet worden ist, als er darum kämpfte, in den Besitz einer Bettsklavin mit hellen Haaren zu gelangen.« Sie war jetzt wirklich sehr verängstigt, und sie hatte keine Ahnung, wie schlimm sich diese Situation noch entwickeln würde. Ihre Furcht machte sie wütend. Sie hasste es, von Bulkezu berührt zu werden, als wäre sie ein Tier oder bereits seine Bettsklavin. Sie packte sein Handgelenk und riss seine Hand von ihren Haaren weg. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich ihm widersetzen würde, und abgesehen davon hatte sie ihr ganzes Leben hart gearbeitet und war nicht schwach. Zwei Atemzüge lang standen sie reglos da, während sie sein Handgelenk hielt und er sich anspannte, darauf vorbereitete, sich zu wehren. Sie hatten ungefähr die gleiche Größe. Aus dieser Nähe sah sie einen Schatten in seinen Augen aufblitzen, den Funken der Wut. Etwas in ihm veränderte sich, seine Haltung, die Kopfneigung, die Anspannung in seinen Schultern. Auch die Atmosphäre im Zelt veränderte sich vollkom493 men. Der Übersetzer gab einen unterdrückten Laut von sich, als versuchte er, seine Angst nicht zu zeigen. Bulkezu zwang ihre Hand langsam, sehr langsam nach unten. Es war nicht leicht für ihn, aber am Ende war er stärker als sie, obwohl sie bis zuletzt Widerstand leistete. Er drückte ihren Arm einfach herunter, gegen ihre Hüfte, um zu beweisen, dass sie in seiner Gewalt war, dass sie verloren hatte, dass sie durch nichts verhindern konnte, jetzt ihm zu gehören und tun zu müssen, was er wollte. Er hielt seinen Blick fest auf sie gerichtet, um sie in die völlige Unterwerfung zu treiben. Sie wich nicht vor ihm zurück. In diesem Wettbewerb konnte er sie töten, wenn er wollte, aber er würde niemals gewinnen. Sie weigerte sich, sich geschlagen zu geben. Und dann stieg eine Erinnerung in ihr hoch, genau in jenem Augenblick, ehe das Schlimmste geschehen konnte. Sie erinnerte sich an Bruder Breschius. Ohne den Blick von dem qumanischen Prinzen abzuwenden, erklärte Hanna laut und deutlich: »Ich bitte Euch, Verräter, sagt Eurem Herrn, dass er auf der Stelle tot sein soll, wenn er mich berührt, denn ich bin das Glück einer kerayitischen Prinzessin.« Sie sah, dass das Wort »kerayitisch« auf Bulkezu wirkte, als hätte sie einen Pfeil auf ihn abgeschossen. Sie sah es an seinen Augen. Sein Griff lockerte sich, wenn auch nur für einen Augenblick, aber dieses Zögern erwies sich als fatal für ihn. Mit einer kräftigen Drehung befreite sie sich aus seinen Händen. Der Übersetzer ließ ein würgendes Geräusch erklingen, als wäre ihm ein Knochen in der Gurgel stecken geblieben. Aber er sprach trotzdem. Prinz Bulkezu wich sofort einen Schritt von ihr zurück, beunruhigt und überrascht. Er blaffte in seiner eigenen Sprache einen Befehl. Es kam Hanna so vor, als würden sämtliche Männer im Zelt sie mit blassen oder geröteten Gesichtern anstarren, einer stürmte sogar aus dem Zelt. Kurz darauf kehrte er mit dem Mann in dem Flickenumhang zurück. Der Schamane griff in einen seiner Beutel aus Borkenrinde. Er 494 holte eine Hand voll Pulver heraus und streute es über sie. Hustend und mit Hilfe ihrer Hände wehte sie das Pulver weg, während es sich in ihren Haaren und auf ihren Schultern niederließ und langsam zu Boden sank. Der Gestank des Pulvers setzte ihr zu und weckte den Wespenstich in ihrem Herzen. Der Schamane riss die Augen auf. Er murmelte etwas in einer hohen, besorgten Stimme, machte eine Reihe von Zeichen, die wie jene Gesten aussahen, die die Hexen ausführten, wenn sie sich gegen etwas schützten. Er wurde immer hektischer, sabberte und spuckte, sodass die meisten Männer aus dem Zelt flohen. Sein Nasenring schwankte hin und her, als er zu taumeln und zu zucken begann. Schließlich sank er völlig erschöpft zu Boden. Und erschöpft musste er auch sein, da er ja zuvor schon die Geister mit seiner Magie bekämpft hatte. Dann herrsche Stille. Hanna begann sich zu fragen, wo Ekkehard war und ob er überhaupt noch am Leben war. Plötzlich lachte Prinz Bulkezu, als hätte er gerade den besten Witz seines Lebens gehört. Das heitere Lachen verschaffte Hanna jedoch ein eher unbehagliches Gefühl. Ihr Handgelenk tat weh, und ihr Bauch und ihre Brüste schmerzten noch immer davon, dass sie über den Boden geschleift worden war. Ihre Füße wurden abwechselnd von kalten und heißen Blitzen durchzuckt. Aber sie konnte es sich jetzt nicht erlauben, Schwäche zu offenbaren. Mit einem amüsierten Lächeln auf dem gut aussehenden Gesicht lehnte Bulkezu sich auf seinem Stuhl zurück und gab einige Befehle, die sie jedoch nicht verstand. Der alte Schamane schüttelte seine Benommenheit ab, erhob sich und eilte nach draußen, ohne jeden Hinweis darauf, dass er soeben einen Anfall gehabt hatte. Er kehrte mit einem Kupferkrug voll heißem Wasser und einer schönen Kupferschüssel zurück, in die Greifen eingraviert waren, die ein Wildtier verschlangen. Wo um alles auf der Welt bekamen sie in dieser gottverdammten Wildnis heißes Wasser her? Hanna hatte nicht eine einzige Feuerstelle gesehen, die Feinde auf ihre Position hätte aufmerksam machen können. 495 Er deutete auf einen Vorhang, während Bulkezu sie mit lebhaftem Interesse beobachtete. Mehrere Männer wurden nach draußen geschickt, um irgendeine Aufgabe zu erfüllen. Hanna ließ sich von dem Schamanen hinter den Vorhang führen. Kopfkissen und Felle bedeckten den Boden; es war die vornehme Schlafstelle eines
nomadischen Prinzen. Der Schamane bedeutete Hanna, sich zu waschen. Wieso auch nicht? Sie wusch sich ihre Hände und das Gesicht und säuberte den größten Teil ihrer Kleidung; dann, nach einem Augenblick, traute sie sich sogar, die Schuhe auszuziehen und die kalten Füße in dem abkühlenden Wasser zu baden. Vielleicht hatte sie bis zu diesem Augenblick niemals etwas als so wunderbar empfunden wie das Wasser, das jetzt über ihre Zehenspitzen floss. Sie nahm ihren Holzkamm aus dem Beutel, löste ihren Zopf und entwirrte die Haare, bevor sie sie erneut flocht. Der Schamane sah ihr interessiert und voller Respekt zu. Seltsamerweise flößte er ihr keine Angst ein, abgesehen von den grässlichen Ornamenten, die er trug. Er hatte sich mit gleicher Sorgfalt um seine eigenen Leute und um Edelmann Weif gekümmert, und er sah nicht so aus, als wollte er sie vergewaltigen. Und glücklicherweise hing von seinem Gürtel kein Schrumpfkopf, wie es bei den anderen der Fall war. So schrecklich die Nasen und Ohren auch waren, sie konnte sich doch immer noch einreden, dass es getrocknete Aprikosen waren, farblos und zu seltsamen Formen geschrumpft. Er sah vielleicht ein bisschen verrückt aus, aber auf eine sanfte Weise, als hätte er zu viel Rauch eingeatmet und zu viel zu den Göttern gesprochen. »Ich danke Euch«, sagte sie zu ihm, als sie fertig war. Sie wollte schon die Beinkleider wieder hochwickeln, als er ihr bedeutete, sie zu waschen und zum Trocknen aufzuhängen. Er stocherte in den Sachen herum, die dem Prinzen gehörten, und brachte ein atemberaubendes, silbernes Gewand zum Vorschein. Sie schüttelte den Kopf und spürte gleichzeitig, dass jemand durch einen Schlitz im Vorhang blinzelte. »Nein, ich danke 496 Euch. Ich werde meine eigenen Sachen tragen, wenn Ihr gestattet. Ich möchte nicht, dass Seine Hoheit Prinz Bulkezu auch nur einen Augenblick glaubt, ich hätte nachgegeben oder würde etwas von ihm annehmen, und möglicherweise daraus ableitet, ich würde mich ihm gegenüber verpflichtet fühlen.« Der Schamane lächelte glückselig; er nickte im Rhythmus ihrer Worte. Offensichtlich konnte er nicht ein einziges Wort von dem verstehen, was sie gesagt hatte. Sie erhob sich, ging zu dem Vorhang, zog ihn beiseite und sah Prinz Bulkezu persönlich auf der anderen Seite kauern. Er hatte seine Rüstung abgelegt und trug jetzt ein Seidengewand in üppigem Purpur, das seine Augen besonders gut zu Geltung brachte. Seine Haare waren gekämmt worden und ergossen sich jetzt in all ihrer Pracht über seine Schultern. Er hatte immer noch das gleiche, verunsichernde Lächeln auf seinem Gesicht. Hatte er geglaubt, heimlich zusehen zu können, wie sie sich auszog? Sie beschloss, ihn zu erwürgen, falls er es wagen sollte, in diesem Augenblick zu lachen. Doch er deutete lediglich auf einen kleinen Halbkreis von fellüberzogenen Kissen in der Mitte des Zeltes. Prinz Ekkehard und seine Kameraden saßen bereits dort und versuchten, so entspannt und normal wie möglich auszusehen, als würden sie jeden Tag im Zelt ihres Feindes speisen, bei dem Mann, den Bayan mehr als alle anderen auf der ganzen Welt hasste. Selbst Edelmann Weif, der aussah, als hätte er sich von der Verletzung bereits wieder erholt, saß bei ihnen - allerdings war er noch ziemlich blass. »Seine Mächtigkeit bittet Euch, ihn mit Eurer Anwesenheit zu beehren, Geehrte«, sagte der Übersetzer mit entschieden mehr Höflichkeit, als er zu Beginn an den Tag gelegt hatte. »Jetzt, wo die Verfluchten vertrieben sind, ist es an der Zeit, den Sieg zu feiern -und auch Eure zufällige Begegnung.« »Man könnte sich fragen, ob es nicht doch gut für uns war«, murmelte Edelmann Benedict. »Diese Schatten hätten uns vermutlich irgendwann eingeholt 497 und getötet, wenn wir nicht Prinz Bulkezu in die Hände gefallen wären«, sagte Ekkehard mürrisch zu seinen Kameraden. Er blickte den Übersetzer wieder an. »Soll der Adler bei uns sitzen, als wäre sie eine Edelfrau?« »Wäre ich an Eurer Stelle, mein süßer Prinz«, erwiderte der Übersetzer unverschämt, »würde ich meinen Mund halten, was sie betrifft.« »Will Prinz Bulkezu sie zur Konkubine nehmen? Ich habe Hübschere gesehen, aber ich nehme an, ihre Haare sind bezaubernd.« »Ihr seid ein ziemlich unwissender Säufer, nicht? Ihr wisst nicht, was sie ist, hab ich Recht?« »Sie ist ein verfluchter Adler, und sie verdient den Respekt, mit dem mein Vater sie geehrt hat. Ich erkenne den Ring an ihrer Hand, das Zeichen der Gunst meines Vaters. Ich kann es kaum glauben, dass Euer barbarischer Herr den Smaragd noch nicht von ihrem Finger abgeschnitten hat.« »Oder dass er Euch wegen Eurer Unverschämtheiten noch nicht den Kopf abgerissen hat«, fügte Edelmann Frithuric hinzu. Prinz Bulkezu räusperte sich vernehmlich, als er Hanna auf ein Kissen drängte und mit den Manieren eines Höflings auf ein weinfarbenes Kissen deutete, das mit aufeinander prallenden Adlern geschmückt war. Als auch sie mit gekreuzten Beine dasaß, sich äußerst unwohl dabei fühlte, als Gleichberechtigte mit wendischen Edelleuten zusammenzusitzen, nahm auch Bulkezu auf dem letzten noch freien Kissen zwischen Hanna und Ekkehard Platz. Er klatschte einmal kurz in die Hände, und seine Soldaten eilten mit einem schönen Holztablett zu ihm, in das filigrane Ranken geschnitzt waren. Die Becher waren aus grober, einfacher Keramik, fühlten sich jedoch warm an. Sie hätte beinahe laut gelacht, als ihr das Aroma in die Nase stieg: heißer, gewürzter Wein. Sie spürte einen Stich in ihrem Herzen. Was war mit Gotfrid und seinen Kameraden geschehen? Hatten sie entkommen können, oder lagen sie tot im Schnee?
Aber Gotfrid würde ihr sicher einen Augenblick der Entspan498 nung gönnen, nach allein, was sie durchgemacht hatte. Gotfrid wäre wahrscheinlich der Erste gewesen, der gesagt hätte, dass es in Ordnung war, etwas dann zu genießen, wenn man es hatte, da man niemals wusste, wie lange man es noch besitzen würde. Wie Bayan gesagt hatte: Kein Krieg war jemals verloren, so lange es noch Wein zum Trinken gab. Bulkezu betrachtete sie schweigend, während sie den Wein trank und auf den harten Korianderkeksen kaute. Ja, es war in mehr als einer Hinsicht ein Krieg im Gange, und sie nahm nicht an, dass er rasch vorüber sein würde. Schließlich war sie trotz ihrer Furcht vor den Kerayiten - immer noch seine Gefangene. Ein Soldat trat ein; er hatte eine seltsam aussehende, zweisaitige Laute. Er ließ sich an einer Seite nieder und brachte ihnen mit seiner nasalen, krächzenden Stimme ein Ständchen, das kein Ende zu nehmen schien. Nach einer langen Weile war er endlich fertig, und sie durften sich zum Schlafen hinlegen. Obwohl sie sehr dankbar war, dass sie Bulkezus Felle benutzen durfte, begab sie sich an die entgegengesetzte Seite des Zeltes ganz in der Nähe des Eingangs und wickelte sich fest in ihren Umhang. Sie war so erschöpft, dass sie sofort einschlief. Als sie erwachte, hörte sie jemanden schnarchen. Ohne den Kopf zu heben oder sich anderweitig zu verraten, sah sie sich in dem dunklen Zelt um. Prinz Ekkehard und seine Kameraden schliefen ganz in der Nähe, hatten sich ein wenig linkisch auf dem Boden ausgestreckt. Jeder der jungen Männer hatte einen Partner neben sich, einen qumanischen Soldaten, der ebenfalls aufwachen würde, wenn sein Gefangener es tat. Nur Hanna wurde nicht bewacht. Aber vielleicht wurde sie ja doch bewacht. Noch eine andere Person schlief nicht. In der Mitte des Zeltes, beleuchtet von einem Lichtschimmer, der von einer einzelnen, vom Mittelpfosten herabhängenden Lampe stammte, saß Prinz Bulkezu noch immer auf seinem mit Goldzöpfen versehenen Kissen. Er hatte eine lässige Haltung eingenommen, die Beine über499 kreuzt, den einen Ellenbogen auf das Knie gelegt, während er an dem Stiel einer schönen Keramikpfeife herumhantierte. Rauch stieg vom Kopf der Pfeife auf. Er nahm einen Zug und atmete langsam ein. Ein Schleier aus Rauch vernebelte die Luft um ihn herum, während er sie beobachtete. Wusste er, dass sie wach war? Der seltsam riechende Rauch füllte ihre Lungen, und sie hatte das Gefühl, als würde ihr Bewusstsein auf dunstigen Strömungen durch das Rauchloch treiben, sich über dem Lager erheben. Dort unter ihr lag das Zelt des Prinzen; es glühte in einem schwachen, goldenen Ring des Schutzes, und die anderen Zelte, die in einem Kreis darum standen, schienen noch von anderen Zaubersprüchen gekennzeichnet zu sein. Dort standen die Pferde, ruhelos in der kalten Nacht, und ihr treuer Wächter. Auf der einen Seite bemerkte sie, was sie vorher nicht gesehen hatte, einen Pferch, und innerhalb dieses Zauns sah sie den Flickenumhang des Schamanen. Er kochte Fleisch über einem Kessel voller Kohlen, und er blickte schlagartig auf, als hätte er sie gespürt. Aber ihr Bewusstsein war bereits an ihm vorbeigegangen, war jetzt bei den Wachen, die im Verborgenen warteten, bei den glitzernden hohen und niedrigen Fallstricken und bei einem Paar Falken, das auf einem Ast saß und auf die Morgendämmerung wartete. Was hinter Bulkezus kleinem Lager lauerte, bestürzte sie zutiefst. Als ihr Bewusstsein höher stieg, bewegt von einer ätherischen Brise, sah sie, dass Prinz Bulkezus Lager nur ein kleines von vielen anderen war - mehr, als sie in der Dunkelheit zählen konnte. Die Zelte der Qumaner lagen wie unzählige Kiesel im ganzen Wald verstreut. Dies war keine qumanische Bande. Dies war das qumanische Heer. Bulkezu hatte einen großen Bogen um Handelburg geschlagen. Er hatte Bayan und sein besiegtes Heer verlassen, sie in ihrem Versteck und im Osten gelassen, und hielt jetzt direkt auf das Herz von Wendar zu. Die Qumaner waren nicht die Einzigen, die in der kalten Nacht 500 warteten. Fürchterliche Kreaturen suchten die Erde heim, geduldig und zielstrebig. Hinter den Fallstricken und anderen Schutzzaubern lauerten die Geister, und ihr Zorn war wie das Dröhnen einer Trommel. Würde sie ihnen jemals entkommen? Wieso verfolgten sie sie - sie, die niemals zuvor solche Kreaturen gesehen hatte? Wieso hatte sie sie erzürnt? Hatten sie, wie die abscheulichen Galla, ihren Namen erfahren? Ein Hauch kalter Luft strich über ihre Lippen, wie ein Kuss, und sie stürzte wieder in ihren Körper zurück. Ihr Herz klopfte vor Furcht. Aber sie hatte sich nicht gerührt, und es hatte sie auch niemand angefasst. Der Nachtwind hatte die Zeltklappe geöffnet. Durch den Eingang sah sie nach draußen auf den freien Platz zwischen den Zelten. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Die Spuren der Schlacht lagen vergraben unter einer weißen und unverdorbenen Schneedecke. Die Eule glitt in Sichtweite und ließ sich auf dem unberührten Schnee nieder. Sie blinzelte einmal, und in diesem Augenblick begriff Hanna, dass sie sie direkt ansah. Sie hatte diese Eule schon einmal gesehen. Es war die Eule, die ihr erst zwei Nächte zuvor in dem verlassenen Dorf begegnet war, bevor das Unheil über sie hereingebrochen war. Es war die Eule, mit der Liath im Palast von Werlida gesprochen hatte, als hätte sie sie verstehen können. Sie wusste jetzt, was es für eine Eule war. Es war die Eule der Zentaurin, die Hanna in ihren Träumen gesehen hatte. Sie wartete, starrte mit goldenen Augen vor sich hin. Stille senkte sich wie Schnee herab. Bulkezu lachte. Er zog an seiner Pfeife, bevor er in verständlichem Wendisch sagte: »Nein, Gefürchtete. Ich
werde der Frau mit den eishellen Haaren nichts tun. Dazu fürchte ich deine Macht zu sehr. Aber jetzt gehört sie mir. Hol sie dir zurück, wenn du kannst.« XI Der Lärm ihres Erwachens 1 Nachdem Adica den ganzen Nachmittag des ersten Frühlingstages am Steinwebstuhl meditiert hatte, ging sie schließlich davon. Das wunderbare Wetter hatte ihr keineswegs geholfen, sich zu konzentrieren, der Gesang der Vögel hatte sie vielmehr abgelenkt, genauso wie die Primeln und der blühende Flachs, die den Boden mit hellem Gelb, Blau und Violett bedeckten. Sie überlegte, wo ihr Mann wohl gerade war, was er machte. Wie immer war es nicht schwer, ihn zu finden. Sie musste nur dem Klang des Gelächters folgen, das sie zum Fluss hinabführte. Dort hatte sich anscheinend der größte Teil der Dorfbewohner versammelt und sah irgendeinem lächerlichen Wettbewerb der Männer zu; die Leute jubelten und schrien vor Vergnügen. Der Frühling hatte eingesetzt, was natürlich auch bedeutete, dass die Männer wieder vom Übel des Grünen Mannes befallen wurden. Alain stand knietief im Fluss; er hatte die anderen zu einem Ringkampf herausgefordert. Adica kam gerade rechtzeitig an, um zu sehen, wie er den armen Kel ins tiefe Wasser warf, wo er kurz untertauchte. Prustend und vor Schock über das kalte Wasser lauthals schreiend kam Kel wieder an die Oberfläche. Sechs andere 502 Männer standen zitternd und nass am Ufer und stachelten ihre Kameraden an. »Wirf ihn rein!« »Zeig's ihm! Tauch ihn unter!« »Uuh! Ha! Das Wasser ist so kalt, dass der Sommer vorüber sein wird, bevor meine Frau wieder ihren Spaß an mir hat!« »Na dann«, ließ sich seine Frau aus der Menge vernehmen. »Die Händler vom Schwarzhirsch-Stamm kommen gewöhnlich um diese Jahreszeit vorbei. Ich werde mich dann also mit ihnen vergnügen.« Sie setzte grölend zu dem Lied »Mein Mann kann nicht einmal den Weg nach Hause geh'n« an, und die meisten anderen Frauen stimmten mit ein. Alain lachte, während er Kel aus dem Wasser half. Er hatte sich bis auf einen schlichten Lendenschurz vollkommen entkleidet; es war der erste Tag, an dem es warm genug war, um so etwas tun zu können. Obwohl Adica seinen Körper inzwischen sehr gut kannte, bewunderte sie noch immer seine schlanken Hüften und die breiten Schultern. Gewöhnlich kämmte und flocht sie seine Haare, aber jetzt fielen sie lose über seine Schultern. Ein Bart war ihm im Laufe des Winters gewachsen, und somit hatte er auch für die letzten Zweifelnden den Beweis erbracht, dass nicht ein einziger Tropfen vom Blut der Verfluchten in seinen Adern floss. Weiwara trat zu Adica. Sie hielt den älteren Zwilling, Blaubert, in ihren Armen. Adica sehnte sich danach, das Baby einmal halten zu dürfen, so hübsch und drall wie es war, aber sie traute sich nicht, danach zu fragen. »So wie du ihn ansiehst, könnte man glauben, ihr hättet gerade erst geheiratet, nicht schon letzten Herbst«, sagte Weiwara mit einem Kichern. »Schau, da ist Beor.« Kel trat - noch immer wimmernd - aus dem Fluss und griff nach einem Umhang, als Beor gerade das Ufer erreichte und seine knielange Tunika auszog. »Jetzt kannst du erleben, zu was ein richtiger Mann in der Lage ist«, grölte Beor. Die Unterschiede zwischen den beiden Männern waren verblüf503 fend: Alain war schlank und hatte eine glatte Haut, Beor dagegen hatte eine breite und reichlich behaarte Brust. Alain schien immer ein Lächeln auf den Lippen zu haben und sah aus wie ein Mann, der sich über nichts Sorgen machte, während Beor unter einer nagenden, gereizten Unzufriedenheit litt. Doch Beor war im Laufe des Winters weicher geworden. Er stritt längst nicht mehr so viel, wie er es früher getan hatte. Vielleicht lag es daran, dass der Winter mild gewesen war und die Dorfbewohner keinen Hunger hatten leiden müssen. Vielleicht herrschte jetzt, da Alain bei ihnen lebte, auch einfach mehr Frieden, trotz der ständigen Bedrohung durch die Verfluchten. »Ich habe gesagt, ich würde es mit allen Männern aufnehmen, nicht mit allen Bären«, erklärte Alain unter allgemeinem Gelächter. Beor hob seine Hände, als wollte er einen herumtrampelnden Bären nachahmen, und mit einem spöttischen Brüllen griff er Alain an. Ein Kind jauchzte vor Freude auf. Alain wich Beor aus, aber nicht schnell genug, und so bekam Beor eine Schulter von ihm zu packen. Sie rangen miteinander, dann drängte Beor Alain zurück, hob ihn hoch und warf ihn rücklings in die Strömung. Beor riss die Arme hoch und ließ einen Triumphschrei erklingen, der vom Tumulus endlos widerhallte. Adica lachte mit den übrigen Dorfbewohnern. Alain kam wieder zum Vorschein, durch und durch nass. »Friede!«, rief er. »Du hast gewonnen!« Er streckte die Hand aus. Als Beor sie nahm, um Alain hoch zu helfen, zog Alain so heftig, dass Beor neben ihm in das kalte Wasser stürzte. Inzwischen hatten die beiden schwarzen Hunde angefangen zu bellen, und als die zwei Männer prustend und lachend ans Ufer kamen, rannten die Hunde ins seichte Wasser, und in ihrer
Begeisterung stießen sie sie erneut um. »Mein Bauch tut schon ganz weh«, stöhnte Weiwara, und Tränen rannen ihr übers Gesicht, so sehr lachte sie. »Im Dorf wird es jetzt um einiges besser riechen«, rief Beors 504 Schwester Etora aus der Menge. »Oh! Seht nur, stromabwärts hat der Fluss jetzt eine ganz andere Farbe!« Adica fand Alains Wollumhang auf den Felsen. Sie breitete ihn über seinen Schultern aus, als er aus dem Wasser kam. Er hatte eine Gänsehaut. »Kalt«, erklärte er fröhlich, als sie den Umhang über seiner linken Schulter mit einer Bronzenadel befestigte. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. Seine Lippen waren so kalt wie der Tod. Sie erschauderte. »Adica.« Alain, der augenblicklich ihre veränderte Stimmung spürte, nahm ihre Hand. Seine Haut war so kalt wie die einer Leiche. Die Vision traf sie wie ein Schwall kaltes Wasser. Sechs Gestalten, die in der Dunkelheit nicht zu unterscheiden sind, sitzen in einer Steinkammer. Eine siebte ruht auf dem Boden, sie schläft, ist verletzt oder tot. Ein Löwe ist auf den Stoffseiner schweren Tunika gestickt. Am Rand des Lichtscheins, das von einer rauchenden Lackel stammt, liegt eine Steintafel. Auf diesem Altar ist eine Königin zur Ruhe gebettet worden. Ihre Gebeine sind mit Vorsicht und Respekt angeordnet worden, und über und neben ihren Knochen liegen die einer Frau von ihrem Status angemessene Kleidung und Perlen, ein Lapislazuli-Ring und Armbänder aus Gold. Eine der Gestalten hebt die Lackel, um besser sehen zu können, und sofort gerät das goldene Geweih in Sicht, das auf dem Schädel ruht. Es ist das heilige Geweih, das sie trägt, um ihren Platz als Geweihte zu markieren. »Adica.« Sie schwankte, klammerte sich an ihn. »Ich habe meinen toten Körper gesehen«, flüsterte sie heiser. »Ich habe mein eigenes Grab gesehen.« Er umarmte sie und zog sie eng an sich. »Sag nicht so etwas! Niemand wird dir etwas tun, meine Geliebte. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas Böses geschieht.« 505 »Ich liebe dich«, murmelte sie, den Mund in seinen Haaren vergraben. »Du wirst mich immer lieben«, sagte er stürmisch, als die Hunde hochsprangen, ihre kalten Nasen und das feuchte Fell gegen ihre Hüften drückten und versuchten, sich zwischen sie zu stellen. »Und ich werde dich immer lieben.« Sie hatte niemals den Mut gehabt, ihm die ganze Wahrheit über die Aufgabe zu sagen, die vor ihr lag. Es schmerzte zu sehr, daran zu denken, ihn zu verlassen. Das war das Geheimnis der Fetten, deren Gesicht ein zweifaches war, halb in Licht und halb in Schatten gehüllt. Sie war die Spenderin aller Dinge Schmerz und Tod wie auch Fülle und Vergnügen. War es ein Wunder, dass Adica sich für das Vergnügen entschied, wo doch Kummer und Tod gleich hinter ihrer Schwelle lauerten? In der Zwischenzeit hatten sich die Dorfbewohner in respektvollem Abstand versammelt; sie warteten darauf, dass sie ihnen ihre Aufmerksamkeit, schenkte. »Geweihte, Getsi hat wieder diesen Husten.« »Geweihte, die Fallstricke meines Mannes in den südlichen Wäldern sind von bösen Geistern verhext.« »Geweihte, wir haben das Dach, das beim Schneefall beschädigt worden ist, wieder repariert, und jetzt warten wir auf deinen Segen.« Alain lachte. Selbst wenn er angespannt war, lag noch ein freundlicher Glanz auf seinem Gesicht, doch wenn er lächelte, strahlte er regelrecht. Er hatte die leuchtendsten Augen, die sie jemals gesehen hatte. »Du bringst Leben in das Dorf, und so ist es an mir, dafür zu sorgen, dass du lebst und glücklich bist.« Es war einfach, Tod in der Welt zu finden, aber eine weit größere Magie bestand darin, Leben zu bringen. Er war ein Lebensspender. Er war gegen Ende des Sommers zu ihr gekommen, und die Tage und Monate waren entsprechend dem natürlichen Lauf vergangen, während der Mond zunahm und abnahm und wieder zunahm. Der 506 Herbst hatte den Sommer hinter sich gelassen, der Winter hatte sein weißes Tuch über die Welt gelegt, und im Laufe der Zeit hob der Grüne Mann seinen Kopf aus dem Winterschlaf. Und so ging es immer fort, und so würde es noch lange weitergehen, nachdem sie von der Erde verschwunden sein würde. Doch selbst in dem Wissen um das Schicksal, das sie erwartete, wenn sich das Rad des Jahres weiterdrehte, wenn die Jahreszeiten sich ablösten und schließlich ihr letzter Herbst einsetzen würde, war sie zufrieden. Die Heilige hatte weise entschieden. Genau in diesem Augenblick warteten die Dorfbewohner auf sie. Am späten Nachmittag beendete sie die Aufgabe, einen Schutzzauber um die Fallstricke in den südlichen Wäldern zu wirken, die von bösen Geistern heimgesucht wurden. Als sie zurückkehrte, hatte das Dorf sich zum letzten Tag des Festes zugunsten des neuen Frühlings versammelt. Sie ging in ihr eigenes Haus und legte mit entsprechenden Gebeten und Zaubersprüchen das Geweih und das Bronzetaillenband an. Mit dem Stab in der Hand führte sie die Dorfbewohner in einer Prozession den Tumulus empor, wo sie sich vor den Anrufungsboden
mit dem Steinwebstuhl stellten. Gemeinsam sahen sie zu, wie die Sonne sich leicht rechts von der Kerbe senkte, die den Frühling und den Herbst und damit das Äquinoktium markierte. Der Winter hatte sie verlassen. Jetzt konnten sie pflanzen. Sie sang. »Ich bete zu dir, Grüner Mann, lass den Samen Wurzeln fassen.« Sie drehte sich um, um den Vollmond zu begrüßen, der sich im Osten erhob. »Ich bitte dich, Fette, lass das Dorf erblühen. Lass deine Völle ein Zeichen des Wohlstands im nächsten Jahr sein.« Sämtliche Dorfbewohner hatten Gaben mitgebracht, ein Veilchensträußchen, ein Kupferarmband, eine Flintaxt, Perlen, Pfeilköpfe und Dolche. Während der Mond den Weg beleuchtete, marschierten sie in kreisförmigen Spiralen vom Tumulus hinunter und folgten dem Pfad zu der Marsch am östlichen Rand des Hügels. Adica kannte das Geheimnis der festen Grasbüschel, die 507 durch die Marsch zur heiligen Insel führten. Als ältester noch gesunder Mann hatte Pur, der Steinschläger, die Ehre erhalten, ihr die Gaben hinterher zutragen. Ein Fisch sprang hoch. Der Mond verlieh dem Wasser, das sich durch glitzerndes Ried und grasbewachsene Hügel hindurchwand, einen silbernen Glanz. Der Wind brachte vom Dorf den Geruch der Kochstellen - und den Duft eines bratenden Schweins - zu ihnen. Die heilige Insel selbst war kaum größer als zwei Mannslängen. Ein alter Steinaltar, in den Becher und Spiralen eingemeißelt worden waren, war hier in der Zeit der alten Königinnen errichtet worden. Adica kniete nieder und legte ihre Handflächen auf die zwei Mulden, die sich in den Stein gegraben hatten. Pur wartete geduldig. Er war gut darin, zuzuhören, beherrschte die Kunst, den Stein zu ihm sprechen zu lassen, und so fürchtete er die Dunkelheit der Nacht nicht so wie andere. Er erkannte die vertrauten Geräusche und begriff die Magie, die hier verborgen lag. Nach einer Weile hörte sie die alte Stimme des Steins, die mehr ein Dröhnen denn eine gesprochene Stimme war - und so wachsam, wie ein Stein nur jedes Vierteljahr sein konnte, wenn Sterne und Erde gemeinsam wirkten. Sie flüsterte ihm etwas zu, erzählte ihm von den Hoffnungen und Wünschen der Dorfbewohner wie auch von den verschiedenen kleinen Zeichen, die sie im Laufe des Winters gesehen hatten: als das erste Veilchen erblüht war, wie sich ein Wasserlauf im Wald einen neuen Weg gesucht hatte, wie sowohl Weiwara als auch ein Mutterschaf Zwillinge zur Welt gebracht hatten, wie im letzten Herbst einige Gänseschwärme auf dem Weg in den Süden über sie hinweg geflogen waren. Der Stein verstand die geheime Sprache der Erde, und er hielt das Leben des Dorfes in seinem undurchdringlichen Herzen. Als sie mit den Gebeten fertig war, legten sie und Pur die Gaben in die Marsch, wie sie es jedes Jahr beim Frühlingsfest taten - eine Opferdarbietung zugunsten eines guten Jahres. Danach musste sie nicht länger die Frau mit dem Geweih sein, die Vermittlerin, die sowohl mit den Menschen als auch mit den 508 Göttern sprechen konnte, mit hergestellten Dingen und Tieren. Pur wandte sich ab, um nichts Verbotenes zu sehen, und unter den Gebeten und Zaubersprüchen, die sie am besten kannte, wurde sie wieder zu Adica, während ihre Regalien in dem Lederbeutel verschwanden. Als sie wieder zurückgingen, quietschte und gluckste das Wasser auf den niedrigen, halb von der Marsch ertränkten Grashügelchen unter ihren Füßen. Eine Wasserschlange glitt durch das stille Wasser. Unkraut säumte die Marsch. In der schützenden Dunkelheit waren die Gespräche derer zu hören, die auf ihre Rückkehr warteten. »Den ganzen Winter sprecht ihr von dem Krieg gegen die Verfluchten«, sagte Alain. »Glaubt ihr, dass sie im Frühjahr angreifen?« »Natürlich werden sie angreifen.« Kel klang stets so, als hätte er brennendes Feuer unter den Füßen. »Sie hassen uns.« »Aber wieso? Wieso kann es keinen Handel oder Gespräche geben? Wieso kann es nur Hass geben?« Alain hatte immer so viele Fragen zu Dingen, die allen anderen so offensichtlich schienen. Der Wind blies ihr einen hellen Riedhalm ins Gesicht. Pur trat jetzt hinter sie, aber sie rührte sich nicht. Wo immer sie hinging, merkten die Leute stets, dass sie da war. Selten hatte sie die Gelegenheit zuzuhören, wie Leute sich unterhielten, ohne sich darüber Gedanken zu machen, was sie davon wohl mitbekam. Kel schnaubte. »Niemals können wir den Verfluchten trauen. Sie opfern die menschlichen Gefangenen, indem sie sie ihnen bei lebendigem Leib die Haut abziehen, und dann schneiden sie ihnen das Herz heraus und essen es!« »Hast du das gesehen, Kel?«, fragte Alain ruhig. »Nein! Aber alle wissen -« Urtan mischte sich ein. »Die Menschheit hat schon immer Krieg gegen die Verfluchten geführt, seit sie in ihren weißen Schiffen über das Wasser gekommen sind. Der Kampf ist jetzt einfach nur 509 etwas verzweifelter geworden, weil die Verfluchten Metallwaffen auf das Schlachtfeld bringen.« »Jetzt haben wir eine Möglichkeit, die Verfluchten zu vernichten«, erklärte Kel eifrig. »Deshalb haben sie versucht, die Geweihte zu entführen. Sie werden es wieder versuchen. Wir müssen Tag und Nacht auf der Hut sein - « »Still jetzt, Kel«, sagte Urtan ruhig. »Du weckst die Schlafenden auf. Deshalb müssen wir hier auf die Rückkehr
der Geweihten vom Opferboden warten. Früher ist sie allein zur Marsch gegangen, aber jetzt können wir es nicht mehr riskieren, sie allein zu lassen. Die Verfluchten werden nicht aufgeben.« »Ich werde sie beschützen«, sagte Alain in der störrischen Weise, die charakteristisch für ihn war. »Niemand kann sie beschützen«, sagte Kel, von Urtans Worten dazu verleitet, voreilig zu sprechen. »Es liegt ein Verhängnis über ihr - « Pur zischte verärgert hinter Adica. »Was meinst du damit?«, fragte Alain. Adica war sich plötzlich des Grases bewusst, das an ihren Fingern war. Eine Eule schrie. Ein plötzliches Platschen erklang, dann war Stille. Urtan erklärte: »Wenn deine Mutter heute noch leben würde, wäre es ihr sehr peinlich zu hören, dass du wie eine Krähe sprichst, nichts als lautes Geräusch und Großtuerei, ohne auch nur einmal nachzudenken. Du gehst mit Worten um, als wären es Kieselsteine, nimmst eine Hand voll von ihnen und wirfst sie einfach in die Luft. Nur weil du jetzt im Männerhaus schläfst, heißt das noch lange nicht, dass du bereits ein Mann bist und dir das Recht erworben hast, dass man deinem Rat lauscht.« »Ist schon gut«, meinte Alain beschwichtigend. »Nein, lass ihn gehen«, sagte Urtan, als Kel sich hinter die Büsche zurückzog. »Das nächste Mal denkt er erst mal nach, bevor er irgendetwas sagt.« »Aber was hat er damit gemeint, als er sagte -« 510 Pur hustete laut. »Still«, sagte Urtan. »Die Geweihte und Pur kommen zurück.« Adica machte ein lautes Geräusch, als sie die letzten zehn Schritte zu der Lichtung nahm; ein Dutzend Erwachsene wartete dort auf sie mit Speeren und Stäben in den Händen. »Kommt, lasst uns jetzt heimgehen und feiern.« Mutter Orla war bei der Sonnenwende am Lungenfieber gestorben und mitsamt ihrem goldenen Halsring, einhundert Bernsteinperlen, einem ganzen Eimer Bier und einem guten Flintdolch begraben worden. Die Dorfbewohner hatten einen Monat lang beraten -es gab sonst auch nicht viel zu tun im Winter - und schließlich eine neue Obfrau des Dorfes gewählt, die ihnen Glück und Wohlstand bringen sollte. Jetzt trat die junge Mutter Weiwara vor und reichte Adica eine hölzerne Schöpfkelle, die bis zum Rand voller Bier war, das aus Weizen, Preiselbeeren und Honig bestand und mit Sumpf-Myrte gewürzt worden war. Es brannte etwas, und obwohl es während der Lagerung im Winter ein wenig schwächer geworden war, hatte es noch immer einen kräftigen Geschmack, schmeckte weder säuerlich noch verdorben. Es war eine milde Nacht, so süß wie ein neugeborenes Kind. Sie aßen gebratenes Schweinefleisch mit Wiesenknöterich und Brennesselspitzen, flache Gerstenbrote, als Eintopf zubereiteten Igel und grüne Salate; dazu tranken sie so viel Bier, dass man damit gut zwei Flüsse hätte füllen können, während Weiwara erzählte, wie die alte Königin Zahnlos mit Hilfe der Magie den Hügel errichtet hatte. Urtan sang von der Jagd der jungen Königin Pfeilhell, die einen Drachen gefangen und dann freigelassen hatte. Als dann später, während der Abend sich hinzog und der Mond sein schwaches Licht über das Dorf ergoss, einige Frauen mit Männern, mit denen sie nicht verheiratet waren, in die Dunkelheit davongingen, kümmerte das niemanden. Der Grüne Mann würde in dieser Sache seinen eigenen Weg haben. 511 Adica saß neben ihrem Ehemann. Sie war zufrieden. Sie hatte seine Haare am Morgen mit nach Veilchen duftendem Wasser gewaschen; sie rochen immer noch danach. Er roch ständig nach Blumen. Auch er kannte Lieder, die er jetzt in der Sprache der Toten sang, die allerdings niemand von den Lebenden verstand. Die Toten feierten, liebten und kämpften noch immer auf der Anderen Seite. Natürlich würden sie Lieder benötigen, ebenso wie bestimmte Gaben. Adica und Alain saßen lange am Feuer, sahen den Flammen dabei zu, wie sie auf und ab züngelten, hörten das Knistern und Seufzen der rot glühenden Asche. Alle anderen waren inzwischen gegangen. Der Mond stand hoch am Himmel, und Adica wünschte sich, die Nacht würde nie zu Ende gehen, dass sie hier für immer gestrandet wären, unberührt vom Schicksal. Alain drückte sie fest an sich. Er strich ihr über den Bauch und flüsterte ihr etwas ins Ohr. »Wir machen ein Kind, ja?« Einer der Hunde, der links von ihm lag, knurrte. Sie strich mit einem Daumen über seine Wange, fand seinen Mund und küsste ihn. »Kein Kind.« Mehr Trauer konnte sie für ein Kind, das niemals geboren werden würde, nicht aufbringen. Wie ein abgeschossener Pfeil musste sie fest und starr bleiben, damit sie ihr Ziel treffen konnte. Die Geheiligte hatte ihr mehr gegeben, als sie jemals hätte erhoffen können, und sie würde sich jetzt nicht von Bedauern beeinflussen lassen. Er missverstand sie. »Kein Kind lebt bisher hier.« Seine Finger streichelten zärtlich ihre Haut. »Wir können ein Kind machen, ja?« Sie seufzte, wollte eigentlich gar nicht, dass er sie verstand. »Kein Kind, Geliebter.« »Ich werde niemals zulassen, dass dir oder einem Kind von uns etwas zustößt.« Er wurde plötzlich leidenschaftlich, beinahe ärgerlich, und lehnte sich etwas zurück, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Er hielt aber noch immer ihre Ellenbogen fest. »Du denkst, ich kann dich nicht beschützen, so, wie ich nicht -«
Die beiden Hunde knurrten und erhoben sich. »Der Webstuhl! 512 Jemand benutzt den Webstuhl!« Sie sprang auf und rannte zum Tor. Alain und die Hunde holten sie dort ein. Er hatte eine Fackel dabei, zündete sie aber nicht an. »Hörst du die Steine?« Sie wartete darauf, dass die Nachtwache das schmale Tor öffnete, und drängte sich hindurch, gefolgt von Alain. Als sie die Brücke überquerte, blickte sie zum Hügel. Fäden, die vom Webstuhl des Himmels gewebt und vom Weberschiffchen der Magie herabgezogen worden waren, hinterließen ein so schwaches Muster vor dem Hintergrund des Nachthimmels und dem Glanz des Vollmonds, dass nur ein in der Magie geübtes Auge es erkennen konnte. Die Steine lagen außerhalb ihrer Sichtweite auf der Hügelkuppe. »Sieh nur!«, rief Alain, und beide Hunde bellten. Eine Fackel flackerte oben bei den Steinen. Wer war da gekommen? Waren es wieder die Verfluchten? Die Nachtwache blies in ihr Hörn, um das Dorf zu warnen. Alain zog Adica durch das Tor und verschloss es hinter ihnen. Im Schutz der Palisade erklomm sie die Leiter, die zum Wachturm führte. Dort wartete sie und sah zu, wie das Fackellicht näher kam und Dorfbewohner sich mit Waffen in den Händen vor dem Gemeindehaus versammelten. Eine Frau, die sie nie zuvor gesehen hatte, trat jetzt zum Tor, die Fackel hochhaltend, um ihren Weg zu beleuchten. In der anderen Hand hielt sie einen Speer, der mit einer Flintspitze versehen war. Ihre Haare, in die Elfenbein und Muschelperlen eingeflochten waren, glänzten im Fackellicht, und ihre Haut war voller seltsamer Zeichen, wie von einer Schuppenkrankheit. Aber ihre Stimme klang kräftig und klar. »Lasst Frieden unter Verbündeten herrschen.« »Reicht jenen die Hände, die leiden«, rief Adica als Antwort. Sie machte der Nachtwache ein Zeichen. Während der Mann den Riegel des Tors zurückschob, kletterte sie von der Brustwehr hinunter; falls also die Botin böse Geister bei sich trug, wäre sie die Einzige, die dadurch Schaden nehmen würde. 513 Die Leute beim Gemeindehaus murmelten leise angesichts ihres Erscheinens, aber niemand sprach ein Wort. Auch sie warteten. Die Frau hatte keine Krankheit: Sie trug die Tätowierung, die bei dem Volk Spuckt-Zuletzt üblich war - jenem Volk, das sich selbst »Akka« nannte, das Volk der Alten Frau. Sie sprach die Sprache des Hirsch-Volkes mit einem so deutlichen Akzent, dass es Adica schwer fiel, sie zu verstehen. »Ich bin eine Wandelnde der Akka. Diese Nachricht bringe ich der Zauberin vom Hirsch-Volk von jenem, der fällt, wenn der Geist ihn besitzt.« »Ich bin die Geweihte vom Weißhirsch-Volk. Bringst du eine Nachricht von Fallender?« »Diese Nachricht bringe ich vom Zauberer der fällt, wenn der Geist ihn besitzt: Geh mit der Botin, die dir diese Nachricht überbringt. Gefährliche Zeit heute und morgen. Das Messer der Verfluchten zerfetzt unsere Kehlen. Sie wissen, wer wir sind. Komm zum Land des Akka-Volkes, das im Norden liegt. Komm schnell, schnell. Dort warte ich!« Die Worte ließen Adica frösteln. »Ich werde kommen.« Alain hatte jenen konzentrierten Blick im Gesicht, der bedeutete, dass er sich große Mühe gab, die Worte zu verstehen. Schlagartig begriff sie, wie lang es dauern würde, ehe sie ihn wieder sah. Das verlangten die Webstühle: Man konnte niemals vorhersagen, wie viele Tage oder Monate jede Überquerung dauern würde. Die Bürde des Webstuhls war ihr niemals so schwer vorgekommen wie in diesem Augenblick. Wie konnte sie ihm nur begreiflich machen, wie sehr es sie schmerzte, ihn verlassen zu müssen? Er sprach zuerst. »Ich komme mit dir und beschütze dich.« Er drehte sich sofort um, ohne auf ihre Antwort zu warten, und schickte Kel davon, damit er ihm seinen Stab, den Dolch und den Umhang holte. Die Erleichterung machte Adica sprachlos. Mutter Weiwara trat vor. »Der Winter zieht sich im Norden, wo 514 die Akka wohnen, erst spät zurück.« Sie schickte Dorfbewohner los, um Wasser und Reisebrot zu holen, außerdem Winterkleidung, Beinkleider aus Fell und Hemden, pelzbesetzte Umhänge mit kostbaren Kupfernadeln und eine komplizierte Konstruktion aus Gräsern und Leder, die die Füße vor bitterer Kälte schützen sollte. Alain winkte Beor zu sich. »Teile mehr Erwachsene zur Nachtwache ein. Lass alle Erwachsenen nur noch bewaffnet auf die Felder gehen. Wenn wirklich Gefahr droht und die Verfluchten einen Angriff planen, müsst ihr vorbereitet sein.« Beor wandte sich an Adica. »Gib mir das Bronzeschwert, das du versteckt hast. Wenn die Verfluchten uns angreifen und du nicht hier bist, um uns mit deiner Magie zu schützen, wird es schlecht für uns aussehen. Es ist nicht richtig, dass wir diese Waffe haben und sie nicht benutzen dürfen.« Die Erinnerung an ihre Vision blitzte kurz vor ihrem geistigen Auge auf; sie sah das Bronzeschwert in Beors Hand, sah, wie er damit um sich schlug. Es war eine schreckliche Entscheidung, und vielleicht eine ungerechte, aber weil sie keine Zeit hatte und weil der Fluss sie in seinem Griff hatte und sie mit sich riss, gab sie nach. »Also gut. Komm mit uns zum Webstuhl. Ich werde dir das Schwert geben.« Mit Stäben und Fackeln in den Händen und Reisebeuteln über der Schulter stiegen sie den Hügel hinauf. Beor bewunderte die Akka-Frau; Adica erkannte es an der streitlustigen Weise, wie er ihr zu schmeicheln
versuchte. Die Akka-Frau reagierte jedoch nicht auf seine Bewunderung. Sie beachtete ihn ganz und gar nicht. In der Tat schien sie am meisten an Alains schwarzen Hunden interessiert zu sein. Sie hatte die breiten Gesichtszüge, die bei den Akka üblich waren, und die breiten Schultern einer Frau, die eine ganze Menge Wildtiere erlegt hatte. Es war allerdings schwer zu sagen, ob sie die Hunde mit solch lebhaftem Blick musterte, weil sie fand, sie würden ihr hervorragend dienen können, oder weil sie sie am liebsten verspeist hätte. Adica ließ die anderen am Fuß des höchsten Walls warten, wäh515 rend sie selbst weiterging und das Bronzeschwert ausgrub. Sechs Monate hatte es in der Erde gelegen, und so war das Metall mit einem grünen Pelz besetzt, seine Seele eingeschlummert. Aber wo der Glanz des Sternenlichts die Klinge traf, schien sie unter ihrer Berührung zu erwachen. Krieg steht bevor. Das Schwert hatte eine verführerische Stimme. Befreie mich. Sie beherrschte keinen Zauberspruch, um seiner verärgerten Seele etwas entgegenzusetzen, nichts, was es hätte binden können, sodass es wieder in tiefen Schlummer fiel. Vielleicht hatte Beor Recht. Wenn der Krieg bevorstand, mussten sie sich verteidigen können. Es wäre nicht richtig, das Dorf mit weniger zurückzulassen, als die Verfluchten selbst getragen hatten. Vielleicht konnte der Beschwörer von Altfeste das Bronzeschwert begutachten und das Geheimnis seiner Herstellung herausfinden. Vielleicht konnte er mehrere solcher Schwerter machen. Dann wäre das Weißhirsch-Volk in einem Kampf nicht mehr so benachteiligt. Es war dennoch nicht einfach, Beor das Schwert zu geben. »Geh«, sagte sie zu ihm. »Ich will jetzt den Durchgang weben, und du musst zurück zum Dorf gehen.« Er zog sie zur Seite, blickte ruhelos drein. »Ich war dir ein guter Ehemann, Geweihte.« Er zupfte an seinem rechten Ohr, wie er es oft tat, wenn er nervös war. »Aber das hast du niemals gesagt.« Er fuhr fort, ohne auf eine Antwort von ihr zu warten. »Nicht, dass ich dir deinen Mann nicht gönne. Ich weiß, er ist nicht wie wir. Wenn die Geheiligte ihn dir gebracht hat, dann bin ich nicht derjenige, der ihre Wünsche verneint. Aber ich möchte nicht, dass jemand sagt, ich wäre dir kein guter Ehemann gewesen oder dass ich ohne jeden Widerstand gegangen wäre, als die Älteren bestimmt haben, dass du dein Haus verlassen sollst.« »Nein, du bist nicht ohne Widerstand gegangen«, murmelte sie. Das stellte ihn zufrieden und er ging; die Hellebarde und das Schwert hielt er triumphierend vor sich. Sie erschauderte. Licht blitzte an der Spitze des Bronzeschwerts auf, und einen Augen516 blick lang dachte sie, sie hätte Blut gesehen. Dann verlor sie ihn aus dem Blick. »Schnell, schnell«, sagte die Akka-Frau. »Stell dich hierhin, an die Seite.« Adica stellte sich auf den Anrufungsboden und musterte die Sterne. Der Durchgang zum Webstuhl der Akka war am einfachsten durchzuführen, wenn sich das Auge des Pflügenden Mannes im Osten erhob, aber es gab noch andere, weitschweifigere Wege zu jedem Webstuhl, so wie es viele Wege gab, Stoffe mit Mustern zu versehen. Es war zu spät am Abend, um die Fäden der Großzügigen und ihres raschen, scheuen Kindes Sechsschwingen zu fassen zu bekommen und halten zu können. Aber die Schwestern erhoben sich, und ihre Zwillingslichter konnten in die verstreuten Sterne gewoben werden, die als die Schamanen-Kopfbedeckung bekannt waren. Sie hob den Obsidianspiegel, fing darin das Licht der goldhaarigen Schwester auf und, indem sie den Spiegel etwas verlagerte, auch das silbrige Haar ihrer Zwillingsschwester. Licht verfing sich zwischen den Steinen. Als sie es mit den anderen Sternen verwob, erwachten die Fäden zwischen den abgeflachten ovalen Seiten der Steine zum Leben und bildeten einen Durchgang, der zu einem anderen Webstuhl führte. Adica nahm ihren Beutel und trat hindurch, gefolgt von den anderen. Schnee fiel so leicht wie Federn, ausgespuckt von schweren Wolken. Sie standen auf einer Hochebene, die hauptsächlich aus Felsklötzen bestand; die Felsen lagen wild verstreut da, waren mit Flechten und Moos und einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Auf der einen Seite des Felsplateaus waren goldene Steine zu sehen, die wie riesige Hügelgräber aufragten, unberührt von Schnee. Es gab keinerlei Bäume, die den schneidenden Wind hätten etwas abhalten können. Nur der Steinkreis und die glühenden kleinen Hügel widersetzten sich dem wirbelnden Schnee. Den östlichen Horizont säumte ein Gebirgszug. Der Himmel war bewölkt, das Licht grau, und da es kurz vor der Morgendämmerung war, wurde es bereits heller. Dennoch konnte Adica die Sonne nicht sehen. 517 Ihre Führerin schritt einen Pfad hinab, der sich kaum auf der spärlichen Erde abzeichnete und mehr aus Kies und Fels als aus richtiger Erde bestand; eine Kreidespur kennzeichnete ihn, die seltsamerweise ebenfalls unberührt vom Schnee war. Adica beeilte sich, ihr zu folgen. Alain bildete zusammen mit den Hunden die Nachhut, den Stab mit dem eingeschnitzten Hundekopf hoch erhoben. Der Pfad wand sich durch Felsen hindurch, bis sie schließlich steil unter sich ein Tal sahen, das inmitten von Bäumen lag und von Schnee bedeckt war. Der Winter hatte sich hier ausgebreitet. Nach einiger Zeit konnte Adica Lichtungen erkennen, die in den Wald geschlagen worden waren. Schweine und Wildtiere hatten ihre Spuren über diese schneebedeckten Lichtungen gezogen. Ansonsten war alles ein einziges, gestaltloses Weiß. Unten bei der Talmündung, ganz in der Nähe des Wasserarms, der auch die tiefsten Ecken des Tals miteinander verband, waren Rentiere in Steinpferche eingeschlossen. Drei Boote waren ein Stück vom Wasser entfernt umgedreht auf Stämmen aufgebockt worden. Mehrere kleinere und schlankere Boote waren auf den Felsstrand
gezogen worden. Eis hatte sich an den besonders seichten Stellen gebildet, doch wo das Wasser tiefer war, war es trotz der gnadenlosen Kälte nicht gefroren, sondern lag still wie Glas da. Hinter den Pferchen stand ein von Fackeln umgebenes Langhaus. Das Haus diente dem gesamten Stamm als Heim, Lagerplatz und Stall. Selbst ihre Zauberin Spuckt-Zuletzt lebte so eng mit ihren Leuten zusammen, dass sie niemals allein war. Immer noch wirbelten Schneeflocken vom Himmel. Obwohl der Wind oben auf dem Plateau äußerst kalt gewesen war, setzte ihr die Kälte im Zentrum des Tals noch mehr zu. Die niedrige Temperatur ließ sie zittern. Sie hielt inne, um Luft zu schöpfen. Alain legte einen Arm um sie, um sie zu wärmen. Seine Miene war ernst. »Dieses Land kennt mich«, sagte er in seiner typisch stockenden Weise. »Und ich kenne dieses Land. In diesem Land ist Fünfter Sohn des fünften Wurfes geboren worden, der später eine starke Hand geworden ist.« Er schüttelte den Kopf, versuchte, den Sinn 518 seiner Worte zu enträtseln. »Seine Hand ist stark. Ach! Ich kann den Namen nicht aussprechen. Es waren Kinder aus Felsen hier, aber ich sehe sie jetzt nicht. Viele Kinder aus Felsen haben hier gelebt, als ich hingesehen habe. Sie leben jetzt nicht hier.« »Ich verstehe nicht, was du mir mitteilen willst.« »Schnell!« Die Akka-Führerin winkte sie ungeduldig weiter. »Die Wandelnde vom Wasser-Volk ist tot oder auch nicht tot. Zu ihr müsst ihr sprechen.« Leute traten aus dem Langhaus und starrten sie an. Ein Junge löschte die Fackeln, als das Tageslicht heller wurde. Es war jedoch zu bewölkt, als dass Adica die Position des Sonnenaufgangs hinter den Felsen und Bergkämmen hätte erkennen können. Jenseits der Halle waren andere Strukturen zu erkennen, die von Grubenhäusern oder Grabhügeln. Sie hatte Spuckt-Zuletzt zuvor nur ein einziges Mal besucht, und auch da war alles vom weißen Schnee des Winters eingehüllt gewesen. Als sie das Langhaus betraten, wehte ihnen sogleich ein mächtiger Gestank entgegen. Drei Herdfeuer erhellten den langen, niedrigen Raum, der so verqualmt war, dass es schien, als würden kleine Partikel in der Luft leben. Adica konnte das Vieh und die Schafe riechen, die ein Stück weiter hinten angebunden waren. Der Geruch von verrottenden Holzäpfeln hing in der Luft, legte sich wie ein süßer Hauch über den schweren Geruch der vielen hier zusammengedrängten Körper. Alain sprach kurz mit seinen Hunden, die sich daraufhin zu beiden Seiten der Tür niederließen. Ihre Akka-Führerin bahnte ihnen mit Hilfe ihres Speerschafts einen Weg durch die Menge. Hände griffen nach Adica, versuchten, sie an den nackten Stellen ihres Körpers zu kneifen oder die Bänder ihres Kleides zu berühren, und wann immer sie sich der einen Person entzog, wartete schon eine andere auf sie. Die Leute hauchten ihr ihren Atem ins Gesicht, sprachen zu ihr in ihrer harten Sprache und stießen sie mit den Fingern an, als wollten sie sichergehen, dass es sich bei ihr um ein Lebewesen handelte. Beim zweiten Herdfeuer sah sie Fallender auf einer Pritsche lie519 gen, Seite an Seite mit einer toten Frau, die zum Teil mit Kiefernnadeln bedeckt war. Fallender hatte die Augen geschlossen. Einen Augenblick befürchtete Adica schon, dass auch er tot war, doch als sie neben ihm niederkniete und seine Hand berührte, öffnete er sofort seine Augen. Sie waren haselnussbraun, wie es bei seinem Stamm üblich war, und wenn sie auch wässrig vom Alter waren, so wirkten sie doch immer noch scharfsinnig und intelligent. »Adica!«, sagte er, und seine Freude über ihren Anblick war in seiner brüchigen Stimme zu hören. Sie half ihm, sich aufzusetzen. »Ich habe die Wandelnde vom Tanioinin-Volk vor zwölf Tagen losgeschickt, um dich zu holen. Leider hat dich der Webstuhl so spät hergebracht. Meine Verwandte ist inzwischen tot. Sie ist am frühen Abend gestorben.« »Was ist passiert?« Alain ließ sich neben der Frau nieder, und ohne einen Augenblick lang daran zu denken, dass er sich in Gefahr bringen oder ein Tabu brechen könnte, schob er die Kiefernnadeln beiseite und betastete mit einer Hand die sanfte Wölbung ihres Halses. Er lauschte. Fallender beobachtete ihn verwirrt. »Ist dies etwa der Mann, den die Heilige dir als Ehemann gebracht hat? Woher stammt er, dass er den Tod nicht fürchtet?« »Er war unterwegs auf dem Pfad zur Anderen Seite. Ich weiß nicht, wo er davor gewesen ist.« Die Leute, die sich neugierig hinter Alain gestellt hatten, wichen jetzt zurück, aus Angst, dass das Tote, das er berührt hatte, jetzt auch sie anstecken würde. Er schien sie aber gar nicht zu bemerken, als er jetzt mit Adica sprach. »Ihre Seele lebt nicht mehr in ihrem Körper.« »Du siehst also«, sagte Adica zu Fallender, »dass er weiß, wann ein Geist noch im Land der Lebenden wandelt. Wieso bist du hier, Fallender? Wieso hast du deinen Stamm verlassen? Eine solch lange Reise ist anstrengend für dich. Und es ist sehr gefährlich, die Webstühle zu benutzen, solange die Verfluchten uns jagen.« 520 Er hob Ruhe gebietend die Hand. Ein Kind brachte ihm einen Holzbecher, der bis zum Rand mit Met gefüllt war. Er nippte daran, bevor er seine Geschichte erzählte. Die Wandelnde der Akka übersetzte die Worte für ihre
eigenen Leute, die sich um sie versammelt hatten. »Die Schiffe der Verfluchten sind an unseren Küsten gelandet. Ein paar Kundschafter vom Ried-Volk, unsere Verwandten, haben sie gesehen. Man hat eine Läuferin geschickt, um uns zu warnen. Dann ist eine andere Läuferin gekommen. Die Schiffe sind in der Nähe der Nestböden der Guivren an Land gegangen. Die Guivren haben sich erhoben und sie gefressen.« Stimmengemurmel erklang. Man war froh über dieses grausame, aber wohlverdiente Schicksal. Die Akka-Frau wies ihre Leute zurecht, und sie verstummten, nicht ohne sich anzustoßen und Protest einzulegen, doch schließlich war es still genug, dass Fallender weiterreden konnte. »Wir sind glücklich, als uns diese Nachricht erreicht. Dann öffnet sich der Webstuhl. Diese Verwandte hier, eine Wandelnde unseres Volkes, fällt hindurch. Sie ist verwundet. Sie hat eine schreckliche Geschichte zu erzählen.« Während er sprach, entglitten ihm die Worte, die Vergangenheit wurde Gegenwart, und obwohl er sich Adicas Sprache im Laufe seines Lebens angeeignet hatte, sprach er jetzt deutlich holpriger und ungenauer. »Die Verfluchten greifen Horns Volk an. Sie brennen alle Häuser und Dörfer nieder.« Ein allgemeines Stöhnen breitete sich in der Menge aus, verstummte dann wieder aufgrund eines schroffen Befehls der Akka-Frau. »Selbst die Kinder töten sie, schneiden ihnen die Kehle durch.« Er unterstrich seine Worte mit einer eindeutigen Geste. Einige Kinder, die sich hinter ihm versammelt hatten, um besser zuhören zu können, wichen unter entsetzten Schreien zurück. »Horns Leute flüchten auf die Hügel. Hörn ist eine alte Frau. Sie ist nicht stark. Sie ist jetzt noch schwächer. Vielleicht stirbt sie. Aber sie schickt diese Wandelnde, die einmal meine Verwandte gewesen ist, 521 durch den Webstuhl. Sie schickt sie nach Hause, zusammen mit einer Warnung. Vielleicht ist Hörn bereits tot.« »Aber wenn Hörn stirbt, können wir den großen Zauber nicht wirken!«, rief Adica entsetzt. Alain legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen. »Diese Wandelnde überbringt keine Neuigkeiten mehr«, sagte Fallender und deutete dabei auf die tote Frau. »In der Heimat meines Stammes ist sie noch nicht tot, aber es gibt in meinem Volk keine Heilerin, die sie retten könnte. Daher habe ich sie hierher gebracht. Die Heilerin der Akka ist berühmt für ihre Fähigkeiten.« Adica blickte sich um, aber sie konnte die berühmte Heilerin der Akka - eine kleine Frau mit einem Umhang aus Adlerfedern - nirgends entdecken. »Selbst die Heilerin der Akka konnte sie nicht retten?« »Nein. Die Fette hat ihr Gesicht abgewendet. Nach einer halben Mondphase stirbt diese Wandelnde. Jetzt beten die Akka-Heilerin und unser Bruder Tanioinin zu den Ahnen, zu der alten Mutter ihres Stammes. Aber du, Adica. Du hast starke Beine. Ich bin zu alt, und Tanioinin kann nicht gehen. Sage mir: Wieso haben die Verfluchten das Volk von Hörn und mein Volk so rasch hintereinander angegriffen? Wieso haben sie versucht, dich zu rauben?« »Die Geheiligte hat uns gewarnt. Sie haben herausgefunden, dass wir gegen sie vorgehen wollen. Sie wollen uns töten, damit wir das große Weben nicht vollenden können.« »Ja. Wir müssen wissen, ob Hörn lebt. Wir müssen wissen, ob die Verfluchten auch unsere Verbündeten angreifen und ob Shu-Sha in Sicherheit ist. Die Wandelnden sind allein nicht stark genug, um das zu tun. Du hast starke Beine und besitzt starke Magie. Du musst die anderen warnen.« Sie deutete auf die Dachvorsprünge. »Der Himmel ist voller Wolken. Wir werden warten müssen, bis die Sterne wieder leuchten und das Wetter besser wird.« »Darauf können wir nicht warten.« Er sprach diese Worte so ernst, dass sie ihr einen großen Schrecken einjagten. Sie wusste, 522 dass die Geheiligte Macht über das Wetter besaß, und ihre Magie war alt und auf bestimmte Weise sogar noch erschreckender als die blutige Magie der Verfluchten. »Wir warten jetzt darauf, dass die anderen Akka-Zauberer kommen. Tanioinins Brüder und Schwestern und die Verwandten der Heilerin werden von ihren Häusern nördlich und südlich von hier zu uns kommen. Wenn sie kommen, werden sie das Ding herbeirufen, dass die Wolken wegbläst, damit du reisen kannst.« »Schnell, schnell«, sagte die Akka-Frau. Sie stampfte mit dem Fuß auf und klatschte in die Hände. Die Menge um sie herum wiederholte ihre Worte; die fremden Silben klangen seltsam. Jemand warf Kiefernnadeln und einen Regen aus getrockneten Kräutern und winzigen Kieselsteinen ins Feuer. Die Flammen zischten und spuckten, und eine dicke Wolke aus Rauch kochte auf, ertränkte Adica. Sie hustete kräftig, zuckte zurück, und Alain tastete nach ihr, fand sie schließlich und zog sie weg, während die Akka-Leute immer lauter und mit eher unharmonischen Stimmen ein Lied sangen, indem sie immer wieder die gleichen Worte wiederholten: »Nok nok ay-ee-tay-oo-noo nok nok.« Als sie genug geblinzelt hatte und wieder sehen konnte, waren die tote Frau und die Pritsche, auf der sie gelegen hatte, fort. War sie mittels Magie verschwunden oder einfach nur weggetragen worden? Es interessierte Adica nicht wirklich. Die Geheimnisse ihrer eigenen Götter und die ihrer eigenen Magie waren gefährlich genug. »Komm.« Mittels einer Art von Kommunikation, die ihr bisher fremd gewesen war, fand Alain eine Pritsche unter den Dachvorsprüngen, und dort legten sie sich zusammen nieder, nachdem sie ihre Beutel abgestellt hatten. Sie war zu müde, um irgendetwas anderes zu tun, als einfach nur in seinen Armen zu schlafen.
Was, wenn alles nichts nützte ? Was, wenn die Verfluchten ihre Pläne entdeckten ? Was, wenn die Verfluchten ihre blutige Magie dazu benutzten, die menschlichen Zauberer zu töten, die sie bedrohten? Wirklich, sie war bereit, sich zu opfern, in dem Wissen, 523 dass ihr Tod ihr Volk von der Angst befreien würde, aber jetzt schien es, als wollten die Götter sie verspotten. Ohne es selbst zu merken, begann sie zu weinen. »Schsch«, machte Alain und streichelte ihre Arme. »Schlaf jetzt, mein Liebes. Hab keine Angst vor dem, was kommen wird. Schlaf einfach.« Seine ruhige Stimme brachte ihr ein gewisses Maß an Frieden. Sie drückte ihn fest an sich und schlief ein. 2 Als Alain erwachte, hörte er ein Summen. Zuerst dachte er, es wäre Adica, von der er wusste, dass sie alle möglichen Geräusche machen konnte, wenn sie mit ihren Gebeten und Zaubersprüchen beschäftigt war. Er lächelte, fühlte sich so unendlich glücklich, dass er sich weigerte, die Augen zu öffnen. Wie seltsam die Vorstellung war, dass er erst alles hatte verlieren müssen, bevor er das erhalten hatte, was ihm am meisten bedeutete. Er legte seine Arme um sie und drückte sie fest an sich. Erst in diesem Augenblick erkannte er, dass der warme Körper, der neben ihm lag, gar nicht Adica war, sondern ein übel riechendes Kind. »Schscht!« Eine Frau in ölverschmiertem Seehundfell rüttelte Alain und das Kind wach und bedeutete Alain sodann mit einigem Nachdruck, ihr zu folgen. Er stieß sich den Kopf an dem Dachvorsprung, als er sich aus dem Bett schwang und allzu schnell aufstand - hier im Norden war alles für kleinere Leute gebaut worden. Das Langhaus war leer, kalt und still. Der Winter hatte den Feuerstellen die Wärme entzogen. Abgesehen von Kummer und Rage, die treu ergeben an der Tür lagen, waren nur sie drei zugegen. Er rieb sich den Kopf und folgte leise murmelnd der Frau und dem Kind nach draußen. Das Summen war auch hier zu hören, ein Klang, der durch den 524 Boden dröhnte und in seinem Kopf widerhallte. Kummer jaulte gereizt, doch Rage blieb ruhig. Die Frau rief wieder nach ihm, gab ihm zu verstehen, dass er ihr folgen sollte, aber Alain zögerte und hielt nach Adica Ausschau. »Ta! Ta!«, rief die Frau und gestikulierte wild. Sie schob das Kind weiter auf die Hügel zu, die sich wie eine Schafherde hinter dem Langhaus erstreckten. Alain folgte ihr. Einige Leute kauerten beim Eingang zu einem dieser Hügel. Als Alain sie erreichte, konnte er in einen niedrigen Tunnel blicken, der wie eine kleinere Version desjenigen aussah, der zum Königinnengrab in Adicas Dorf führte. Auch dieser Gang war von Steinen umrahmt, aber er hatte keine so schönen Kragsteine. Tief gebückt schob er sich vorwärts in eine Kammer, in der es nach Gemüse roch, das längere Zeit an einem kühlen Ort gelagert worden war. Es herrschte keinerlei Licht in der Kammer, doch es war wärmer als draußen. Körper drängten sich gegen ihn, und sie rochen alle nach ranzigem Öl. »Adica?« Sie antwortete nicht. Sie war gar nicht da. Er wusste es mit der gleichen Sicherheit, wie er wusste, dass eine Hand am Ende seines Armes war. Der Mond war ganze sieben Mal aufgegangen, seit er sich nackt neben dem Bronzekessel bei den Steinen wieder gefunden hatte, aber manchmal schien es ihm, als wären es bloß sieben Tage gewesen. Wie auch immer, er würde sich nicht hier verstecken, so lange er nicht wusste, wo Adica war. Er krabbelte zurück an die frische Luft. Das bewölkte Licht des Nachmittags zwang ihn zum Blinzeln. Das beständige Summen hielt noch immer an. Adica war in keinem der acht Hügel zu finden. Die Stammesmitglieder, die sich hier versammelt hatten, wirkten nervös, aber nicht hysterisch. Jedes Mal, wenn er einen Weg in eine der dunklen Kammern gefunden hatte, zogen ihn irgendwelche Hände weiter ins Innere des Hügels, und wenn er wieder ging, versuchten sie, ihn festzuhalten, ihn dazu zu bringen, bei ihnen zu bleiben. 525 Aber er musste Adica finden. Er rannte zum Langhaus zurück. Es war jetzt leer, und die Hunde schienen unfähig - oder unwillig -, ihre Spur aufzunehmen. Das Herdfeuer war fast heruntergebrannt. Wie verärgert Tante Bei immer gewesen war, wenn ein Feuer nicht regelmäßig geschürt wurde! Er nahm ein paar getrocknete Kuhfladen, warf sie in die Glut und fächelte dann mit einem Blasebalg aus Holz und Leder Luft zu. Das Quietschen des Blasebalgs vermochte jedoch nicht Rages leises Knurren zu übertönen. »Schnell! Schnell!« Er sprang auf. Die Akka-Frau, die sie hergeführt hatte, stand am Eingang zum Langhaus. »Du musst zu den Häusern aus Erde gehen. Die Drachen kommen.« Er pfiff nach den Hunden und trat neben die Frau. Jetzt, wo es hell war, bemerkte er die leuchtende Tätowierung auf ihrer Haut, die roten Zickzackleisten, die weißen Linien und die kleinen, schwarzen Kreise. Sie runzelte die Stirn und machte eine gereizte Geste. »Schnell, geh.« »Wo ist Adica?« »Sie wandelt über uns mit dem, der fällt, wenn der Geist ihn besitzt, und mit meinem Bruder, den wir Tanioinin nennen, was so viel bedeutet wie, dass er zuletzt spuckt. Sie sind unterwegs zum hohen Fjell.« Sie deutete auf den Pfad, den sie am Morgen herabgestiegen waren, der sich anschließend durch das Tal wand und schließlich
zwischen den Bäumen verschwand. Nebel lag schwer über dem Land weiter oben, als würde eine riesige Kreatur im Schlaf ihren dampfenden Atem verströmen. Dann deutete sie auf den Meeresarm, der still und reglos darunter lag. Ein Dutzend Boote waren am eisigen Ufer an Land gezogen worden, zweimal so viele, wie es bei Morgendämmerung gewesen waren. »Die anderen Zauberer meines Volkes kommen, wenn er sie ruft. Jetzt werden sie die Drachen aus ihrem Schlaf wecken, damit sie die Wolken wegblasen. Dann gehen wir zum Webstuhl und gelangen durch 526 ihn zum fernen Land derjenigen, in deren Gesicht ihr Gott leuchtet.« Nichts von dem, was sie sagte, ergab irgendeinen Sinn für ihn, und er wurde immer argwöhnischer. Er hatte seit Monaten nicht mehr an sein früheres Leben gedacht, aber als hätte ein Zauberblitz ihn angestachelt, erinnerte er sich bebend an die schreckliche Nacht, als eine verschlossene Tür ihn daran gehindert hatte, dem bedrängten Lavastin zu helfen. »Wo ist Adica?« Die Akka-Frau machte eine Geste, die eine Mischung aus Wut und Enttäuschung ausdrückte. »Sie geht mit den anderen Zauberern. Jetzt musst du Schutz suchen. Nur so wirst du vor dem Wind der Drachen in Sicherheit sein.« »Ich gehe auch nach oben.« »Es wäre dumm, den Zauberern zu folgen. Du musst Schutz suchen. Ja?« »Nein. Ich werde Adica folgen.« Sie blickten sich ein paar Atemzüge lang unverwandt an. Sie riss die Hände hoch, halb lachend, halb fluchend. »Komm.« Er packte sein Bündel und folgte mit Kummer und Rage dem Pfad, der zum Fjell führte. Die Akka-Führerin marschierte neben ihm her; die Änderung des Plans schien ihr nichts auszumachen. »Wieso suchst du keine Zuflucht?«, fragte Alain sie. Die Frau hatte eine derbe Art zu grinsen. Sie rüttelte an der Kette aus Bärenklauen und gelblichen Zähnen, die um ihren Hals hing. »Dieser Zauber schützt mich.« Alain begann zu keuchen, als der Pfad anstieg. »Ich weiß nicht, mit welchem Namen ich dich anreden soll.« »Ich bin die ältere Schwester von Spuckt-Zuletzt.« Sie ging in gleichem Tempo weiter, während sie sprach. Wie eine gute Wandelnde hatte sie die Ausdauer und Kraft eines Ochsen. »In der Sprache meines Volkes werde ich Laoina genannt.« Sie verließen jetzt das dichte Wäldchen aus Kiefern und Fichten, deren Zweige sich unter einer schweren Schneedecke beugten, und betraten spärlicher bewachsenes Waldland, das zum größten Teil 527 aus Birken bestand, die beständig dem Wind ausgesetzt waren. Ein Glühen säumte den östlichen Horizont, wie die Ankündigung der Dämmerung, doch es lag ein kräftiger bernsteinfarbener Glanz darin, der sich gegen den Schleier der Wolken über ihnen abgrenzte. Vom Himmel war nichts zu sehen, nur tief hängende, graue Wolken, die noch voller Schnee waren. Das Summen war hier noch lauter. Die Felsen schienen von dem Lärm geradezu zu vibrieren. Es wurde dunkler. Er hatte gar nicht gemerkt, wie lange er geschlafen hatte. Er hätte aufbleiben und über Adica wachen sollen. Er hasste es, von ihr getrennt zu sein. Er hatte Angst, dass ihr etwas zustoßen könnte. »Rasch. Die Drachen wachen auf.« Sie begannen zu laufen. Alain keuchte und schnaufte, aber mehr aus Besorgnis denn vor Erschöpfung. Er hatte natürlich Geschichten von Drachen gehört, aber alle wussten, dass sie nicht länger auf der Erde existierten. Sie waren schon vor langer Zeit in Stein verwandelt worden, wie der Drache am Osna-Sund, der zu dem Grat zwischen dem Dorf und dem inzwischen zerstörten Kloster geworden war. Aber all das Gerede von Drachen machte ihn dennoch nervös. Wenn diese Wesen nur eine Geschichte waren, wieso versteckten sich die Leute dann unter den Grabhügeln? Hier war so vieles anders. In sieben Monaten hatte er nicht ein einziges Stück Werkzeug aus Eisen gesehen. Die meisten Werkzeuge, die sie besaßen, bestanden aus Stein. Sie hatten Eimer aus Rinde, gruben Löcher mit Geweihen und schnitten Kanus aus ganzen Baumstämmen. Ihre Pflüge waren kaum mehr als ein weicher Holzstab, der die Erde nicht tiefer umgraben konnte, als ein Finger lang war, und es gab keine Pferde, obwohl sie diese Tiere kannten. Selbst das Korn und die Speisen waren anders: Es gab keinen Weizen, keinen Hafer, keinen Wein, nicht einmal Rüben und Kohl, doch dafür gab es reichlich Wild. Er hatte niemals zuvor so viel Auerochsenfleisch gegessen. Im Jenseits - wenn es das denn war - war Wein vielleicht verschwunden, aber Drachen existierten noch immer. 528 Er versuchte, sie sich vorzustellen, diese Kreaturen aus Erde und Feuer. Ihr Feueratem konnte den unklugen Reisenden verzehren, und der lässige Schlag ihres dicken Schwanzes konnte weiches Fleisch in den Boden stampfen. Adica war zum Fjell hinaufgegangen, um sie zu treffen. Er lief seiner Begleiterin jetzt sogar voraus, während die nervösen Hunde hinter ihm hertrotteten, als wollten sie sehen, wohin er sie führte. Als sie weiter zum Fjell hochstiegen, gerieten sie mitten in einen seltsam warmen Wind, der geradezu verführerisch angenehm war. Er sah den Steinkreis sofort. Aufrecht und in vollkommenster
Ordnung sah er ganz und gar nicht aus wie die Steinkreise, die er bisher gekannt hatte. Es kam ihm irgendwie nicht richtig vor, dass er so neu wirkte. Ein Dutzend menschlicher Gestalten standen in dem Steinkreis. Acht von ihnen trugen die Kleidung, die für die Akka so typisch war, verarbeitete Felle und Pelze. Diese acht trugen Steinschlegel, und mit diesen Schlegeln klopften sie in einem Rhythmus, den alle zu kennen schienen, auf die Steine. Die Steine sangen. Hohe und tiefe Töne erklangen von den Felsen, dröhnten durch die Luft, als erst ein Schlegel, dann ein zweiter und schließlich ein dritter durch die Luft geschleudert und weggeworfen wurde. Laiona blieb am Rand des Gerölls stehen und duckte sich in den Schutz eines überhängenden Felsens. »Wir warten hier.« Doch das Summen der Steine zog ihn weiter zum Steinkreis. In der Mitte des Kreises stand eine Frau in einem Adlerfederkleid hinter zwei Männern. Einer von ihnen, der die typischen Tätowierungen der Akka hatte, saß auf einer Sänfte. Sein schwacher Körper wippte vor und zurück, im gleichen Rhythmus, wie die Schläge der Schlegel auf die Steine erklangen. Hinter ihm betete ein alter Mann mit weißen Haaren und wettergegerbter Haut mit vors Gesicht geschlagenen Händen. Wo war Adica? Als Alain die Schwelle betrat, eine unsichtbare Linie über529 schritt, die das Innere des Steinkreises von dem Äußeren trennte, ging er von der einen Welt, die ganz mit dem pochenden Summen angefüllt war, in eine andere, in der Schweigen herrschte, bis auf das Gemurmel der beiden Zauberer - denn Zauberer mussten sie sein. Sie trugen eine unsichtbare Aura der Macht, wie auch Adica sie besaß: Es war die Macht der Geweihten, die wegen ihrer Fähigkeit, auf den Pfaden der Magie zu wandeln, von ihrem jeweiligen Stamm ausgewählt worden waren. Der alte Mann war Fallender, von dem Adica so oft und immer sehr freundlich gesprochen hatte. Der andere, Tanioinin, schien nicht viel älter als Adica zu sein, soweit Alain es erkennen konnte, aber er lebte in einer zerstörten Hülle. In Anbetracht der Sänfte schien er nicht einmal mehr laufen zu können. Schließlich sah Alain auch Adica, die auf der anderen Seite von Tanioinin am Boden kauerte. Die Hunde liefen an ihm vorbei zu ihr und stießen sie mit den Schnauzen an. Sie schreckte auf und sah ihn. Er eilte zu ihr. »Ich hätte nach dir geschickt, sobald die Gefahr vorüber gewesen wäre«, flüsterte sie. »Ich werde dich nicht allein lassen«, sagte er trotzig. »Bitte mich nicht zu gehen, denn das werde ich nicht tun.« Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es keinen Sinn hatte, mit ihm zu streiten, wenn er in diesem Ton sprach. Er deutete auf Tanioinin und beugte sich näher zu ihr, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Der Gesang der Steine verhinderte, dass andere außer ihr hören konnten, was er zu sagen hatte. »Wie kann das ein Zauberer sein? Kann er überhaupt gehen?« »Spuckt-Zuletzt ist der mächtigste Zauberer, der den menschlichen Stämmen geboren wurde.« Sie betrachtete Tanioinin mit einem Ausdruck von Respekt und vielleicht auch mit etwas Mitleid. »Seine Leute haben ihn genährt und großgezogen, weil er einen außerordentlich schlauen und tiefsinnigen Geist besitzt. Er hat ihnen viele Jahre als Zauberer gedient. Aber sein Körper ist so verkrüppelt, dass er in der Mittleren Welt hilflos ist. Er ist darauf an530 gewiesen, dass sich andere um ihn kümmern. Nur in der Geistigen Welt kann er sich wirklich frei wähnen. Deshalb ist er so stark.« Alain konnte an dem offenen Gesichtsausdruck des Mannes und an der Weise, wie er die Augen rollte, erkennen, dass er sich wirklich in die geistige Welt begeben hatte. Er rief nach den Drachen ... wo immer sie sein mochten. Adica zischte atemlos, packte Alains Handgelenk und deutete auf etwas. Die goldfarbenen Steinhügel am östlichen Horizont, die wie sechs riesige Grabhügel aussahen, bestanden gar nicht aus Stein. Sie glühten jetzt mit dem vollen Glanz von Bernstein und dem glänzenden Feuer von geschmolzenem Gold. Sie summten, und langsam, während er zu Boden sank - zu benommen, um einen erstaunten Ausruf von sich zu geben, erwachten sie. Zuerst hoben sie ihre großen Köpfe. Ihre Augen hatten das zuckende Fieber von heißem Feuer. Einige hatten Kämme an ihren Köpfen und Nacken, Fächer aus Gold, die sich entfalteten, während sie sich erhoben. Ein Schwanz peitschte Felsbrocken weg, die durch die Landschaft wirbelten, als wären es Kieselsteine. In diesem Augenblick begriff er, wie gewaltig sie waren - und wie weit entfernt. Der Lärm ihres Erwachens hallte von den Himmeln wider. Erst schnaufte der eine, dann ein zweiter. Blitze stoben von ihren Nüstern auf. Feuer brach aus und verblasste an Felsen und zwischen Moos und niedrig wachsendem Gebüsch, das in dem Fjell wuchs. Alain starrte wie gebannt hin. Rage und Kummer jaulten, obwohl es kaum möglich war, sie über den Lärm der erwachenden Drachen hinweg zu hören. Adica kämpfte sich auf die Beine. Sie umklammerte noch immer sein Handgelenk; vielleicht hatte sie vergessen, dass sie ihn festhielt. Steinschlegel krachten auf die Steine. Die Welt versank in Summen. Als würde sie in einen Traum hinab gezogen, ließ Adica Alains Handgelenk los und trat vor, an den zwei murmelnden Zauberern vorbei, und stellte sich mit erhobenen Armen auf die
531 Schwelle des schützenden Steinkreises, als sich gerade der erste Drache in die Luft erhob. Alain sprang hinter ihr her, aber er konnte sie nicht erreichen. Die Luftströmung der Drachenschwingen zwang ihn auf die Knie. Der schreiende Wind fuhr auf ihn nieder, als sich ein zweiter und dann ein dritter Drache gen Himmel erhob und seine gewaltigen Schwingen ausbreitete. Ihre Körper schimmerten wie Feuer, und ihre Schwänze peitschten durch die Luft. Eis löste sich von den Gipfeln im fernen Osten. Ein vierter und ein fünfter Drache erhoben sich jetzt. Alain, der von dem Wind niedergehalten wurde, bemühte sich noch immer, auf die Beine zu kommen. Ein heißer, beißender Wind strich über seinen Rücken. Seine Haare wurden angesengt, seine Hände und Lippen brannten unter der plötzlichen Wucht der Hitze, während all seine Tränen vertrockneten. Er krabbelte auf Adica zu. Sie stand bei dem Steinsturz, die Arme noch immer erhoben. Der Wind hatte sie nicht auf die Knie gezwungen - sie brauchte seine Hilfe nicht. Sie war die Geweihte ihres Stammes, so mächtig wie die Morgendämmerung und in der Lage, sich den großen Kreaturen, die sie erweckt hatten, zu stellen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zusammenzukauern und zu beten. Die Drachen erhoben sich in all ihrer Pracht, strahlten hell wie der Blitz. Der Wind, den sie verursachten, wurde zu einem Wirbelsturm, der stärker war als jeder gewöhnliche Sturm. Als die Drachen sich in die Lüfte erhoben, zerbrach die dicke Schicht aus Wolken und zerstob in alle Richtungen. Regentropfen zischten auf dem Stein. Eine einzeln Schneeflocke trieb herab und löste sich vor Alains Augen auf. Als die Drachen sich erhoben und ihre glänzenden Körper verschwanden, kam die Dämmerung. Sterne strahlten am Himmel, der jetzt frei war. Ein kühler Wind wehte von Norden herbei. Die Drachen hatten die Wolken weggeweht, und jetzt konnten die Zauberer Sternenlicht in dem Webstuhl weben. Zitternd erhob sich Alain. Seine nackte Haut brannte wie Feuer. 532 Adica wandte sich zu ihm um. »Du hättest warten sollen, bis wir dich rufen.« Seine aufgeschürfte Haut schmerzte, wo sie mit ihren Fingern darüber strich. Er zuckte zurück. »Mir geht es gut«, krächzte er. »Du weißt, dass ich dich niemals verlassen werde.« Ihre Miene wurde weicher. Sie trat an ihm vorbei zu Fallender, sprach mit leiser Stimme zu ihm. Alain schwankte, noch immer etwas benommen von dem, was er gesehen hatte. Er hätte sich niemals Wesen von solcher Kraft, solch schrecklicher Gelassenheit vorstellen können. Das Leben der Mittleren Welt, die flüchtige Spanne an Jahren, die ein Mensch zur Verfügung hatte, das alles war nichts verglichen mit ihnen, die hundert Jahre ruhen konnten, als wäre es nur eine einzige Nacht. Er sank auf den harten Boden. Rage und Kummer ließen sich neben ihm nieder. Die Frau mit dem Kleid aus Adlerfedern trat hinter ihn und rieb seinen brennenden Rücken mit einer beruhigenden Salbe ein. Die Schlegelschwinger hielten inne. Offensichtlich hatten ihre gewaltigen Fellhäute und die Kapuzen sie besser geschützt, als Alains Reisekleidung es vermocht hatte, oder auch sie waren in einen Umhang aus Macht gehüllt gewesen. Sie unterhielten sich leise miteinander, hoben die Sänfte von Spuckt-Zuletzt aus der Mitte des Steinkreises und trugen sie außerhalb des Kreises auf ein mit Kreide versehenes Fleckchen. Obwohl sein Körper schwach war, war sein Geist stark. Er war wachsam, und ganz plötzlich blickte er Alain an. Die ganze noch verbliebene Kraft von Spuckt-Zuletzt lag in diesem Blick. Selbst seine Arme waren so verschrumpelt, dass sie kaum dicker als Stöcke waren. Er schien kein Mitleid zu haben; vielleicht war er selbst zu sehr von Schmerzen gezeichnet, um Sympathie für jene zu empfinden, deren Schmerzen nur vorübergehend waren. Aber er schien Alain mit seinem Blick etwas sagen zu wollen. Seine Augen waren von einem unergründlichen Braun, die Augenbrauen dick-das einzig Robuste an ihm. Geheimnisse lagen hinter seiner verschleierten Miene. Es schien Alain, als könnte Spuckt-Zuletzt ge533 radewegs durch ihn hindurchsehen, all die Dinge erkennen, die Alain jemals richtig,, und jene, die er falsch gemacht hatte - eine Vision, die ihn durchdrang, ohne ein Urteil zu fällen. Denn das schlimmste Urteil ist das, das man über sich selbst fällt. Dann blickte Spuckt-Zuletzt zur Seite. Alain sackte zusammen, als wäre ihm sämtliche Atemluft entzogen worden. Mit großer Mühe hob Spuckt-Zuletzt einen Obsidian-Spiegel hoch. Der Spiegel war schmal, mit Dreiecken und Kreisen darauf. Er fing das gelbliche Licht vom stets wachsamen Auge des Guivre am nordöstlichen Horizont auf. Er zog den glänzenden Faden über die Kettenfäden der Steine im Südwesten, um sie mit den Fäden der Schlange zu verweben, die über den Sand der Wüste glitt. Ein strahlendes Tor aus Sternenlicht erschien. »Möge das Glück mit dir gehen«, sagte Fallender von ganz weit weg. Die Frau mit dem Kleid aus Adlerfedern stieß Alain einen Beutel in die Hand. Taumelnd kam er auf die Beine, genau in dem Augenblick, als Laoina seinen Ellenbogen packte, damit er nicht umfiel. Wo war sie hergekommen? »Rasch!« Sie drängte ihn weiter, bis er endlich stand. Hinter ihm rief Fallender: »Achtet auf Löwenkönigin!« »Wo ist Adica?«, keuchte er. »Ich bin hier!«, rief sie hinter ihm. Das Tor aus Licht wölbte sich vor ihnen. Er schüttelte Laoinas stützende Hand ab und trat hindurch in eine Hitze, die so durchdringend war wie die der Drachen. Die Sonne traf sie mit der Wucht eines Hammerschlags. Überall war Wüste, nichts als Sand.
Die Welt, das Licht, die endlosen Hügel aus Sand, all das erzitterte um ihn herum, als würde sie jemand schütteln. Aber vielleicht war nur es es, der taumelte. Er kam hart auf dem Boden auf, und wo seine Handflächen den Sand berührt hatten, spürte er Feuer. Alles brannte. Laoina und Adica schwankten aus dem Steinkreis. Der strahlende Bogen blitzte auf und verschwand. Adica fiel ohnmächtig vorn534 über in den heißen Sand. Er bekam sie zu packen, und mit einiger Mühe gelang es ihm, sie auf seine Schulter zu nehmen. »Wo sind wir?«, keuchte er. Um ihn herum war nichts als trostloses Elend, nichts als unfruchtbarer Sand, kein einziger Hinweis auf Leben abgesehen von dem Steinkreis. Hügel aus gestaltlosem Sand erhoben sich rings um sie. Laoina benutzte ihren Speer, um den Winkel zwischen zwei Steinen zu messen Schließlich gestikulierte sie. »Komm jetzt.« Sie griff nach Adicas Bündel und begann, davonzuschreiten. Alain stöhnte, aber er folgte ihr. Es dauerte eine Ewigkeit, die Hügelkuppe zu erklimmen, während die heiße Sonne auf ihn niederbrannte. Glücklicherweise war der Boden fest und kein Treibsand. Ein Felsbrocken stand auf der Kuppe, und als er oben angekommen war, strömte ihm Schweiß den Rücken hinab, und seine Hände, mit denen er Adicas Handgelenke umklammert hielt, waren ganz glitschig. In der Ferne erhob sich ein üppiger Garten aus dem unfruchtbaren Sand. Er roch Wasser und dachte, er würde sterben, wenn er keines bekäme. Sein Mund war unendlich trocken. Er konnte einfach keinen Schritt mehr gehen. Er sank in den Schatten, den der Felsen ihm gewährte, legte Adica auf den Boden und brach neben ihr zusammen. Er zitterte so stark, dass es ihm schwer fiel, seinen Wasserbeutel in die Hand zu nehmen. Der Boden erbebte unter ihm, und zuerst dachte er, es wäre sein eigenes Zittern, aber diese Vibration kam von der Erde selbst, die so erschüttert wurde, als würde ein riesiges Tier vorbeitrampeln. Ein heißer Windhauch brachte seine Haare in Bewegung. Die gewöhnlich gelassene und unerschütterliche Laoina schrie auf. Er sprang auf, und wirbelte herum, als Rage und Kummer wild zu bellen anfingen. Sie schritt wie eine Königin über den Sand, mächtig und schnell. Die fließenden, würdevollen Bewegungen verliehen ihr sowohl Schönheit als auch Schrecken. Vierfüßig wie eine Löwin, die mächtigen Klauen auf dem Sand ausgebreitet, damit sie nicht ein535 sinken konnte. Sie erinnerte in vielerlei Hinsicht an eine Löwin, mit ihrem lohfarbenen Fell und ihrem schlanken Körper, der zweimal so groß war wie der eines Bullen, aber sie hatte auch Schwingen, deren Federn wie Wachs glänzten, und der Kopf auf ihren breiten Schultern war der einer Frau, eher eitel als stolz, wild und mit einer seidenen Mähne aus Gold, die sich über ihre Schultern ergoss. »Maoisinu«, flüsterte Laoina. »Die Löwenkönigin.« In diesem Augenblick wusste er, dass er sich sehr weit von Osna entfernt hatte, weiter noch, als er es jemals für möglich gehalten hätte. Vielleicht war dies wirklich das Jenseits. Vielleicht war er in das Reich der Legenden gereist. Oder er war einfach nur an einem Ort, der so unverständlich war, ohne Eisen, ohne Rüben, ohne ordentliche Pflüge oder Schiffe und den Gott der Einigkeiten, dass er alles hinter sich gelassen haben musste, was er im Land seiner Geburt gekannt hatte. XII Tiefe Wasser 1 Das Handelszentrum von Sliesby konnte sich eines Geflechts von festen Holzplanken rühmen, die die Stadt wie kräftige Reben durchzogen und als Gehwege dienten; dadurch war es den eifrigen Kaufleuten möglich, sich vom Dock zu den Lagerhäusern zu begeben, ohne dass - bei schlechtem Wetter - ihre Füße nass wurden. Starkhand dachte bewundernd an ihre Geschäftigkeit, während die Stadtältesten zitternd vor ihm niederknieten. Wie ein riesiges Handelsnetzwerk verbanden die Gehwege den Hafen mit der Stadt, die Werkstätten mit den Lagerscheunen und den Trinkhallen. Selbst an diesem Tag zu Beginn des Frühlings, da ein kräftiger Regen über der Stadt herniederging und die Straßen in Matsch verwandelte, konnten die Kaufleute ungehindert umhergehen, sofern sie gute Umhänge besaßen. Der Regen prasselte auf Starkhands Rücken, während er die Leute beobachtete, die vor ihm knieten. Die meisten husteten und zitterten - sie stanken vor Entsetzen und Angst. Zehnter Sohn des Fünften Wurfes hatte den Angriff selbst angeführt, unterstützt von den Fischern, die wegen des Heringsfangs im vorherigen Jahr mit den Menschen von Sliesby im Streit gelegen hatten. 537 Draußen vor der landeinwärts gerichteten Seite der Stadtpalisade hob eine Abordnung von bewaffneten Soldaten ein Massengrab für ihre gefallenen Kameraden aus. Über den Geruch des Regens hinweg nahm Starkhand den schwachen Geruch von Blut und Eingeweiden wahr. Obwohl es ein kurzer Kampf gewesen war, hatten sich die Soldaten von Sliesby nicht leicht geschlagen gegeben. Hinter ihm lag die Bucht. Viele größere und kleinere Inseln befanden sich in der Meerenge, die allesamt erst vor kurzem in die Sphäre der menschlichen Zivilisation geführt worden waren. Eine dichte Regendecke hing über ihnen, doch im Süden hellte sich der Himmel bereits wieder auf. Die Stammesgeschichte besagte, dass dieses Land zwei Generationen zuvor unbewohnt gewesen war, bis auf die
Tiere und den gelegentlichen Besuch von Fischern, die für die Herstellung ihrer Körbe oder Netze nach Binsen und Hanf gesucht hatten. Einst hatte tief im Innern des Landes in einem Gebiet, das für seine Seen bekannt gewesen war, der östlichste Stamm der FelsenKinder die Halle der AltMutter errichtet. Von diesem Stamm namens Sviar war nichts mehr gehört worden, seit zwei Sviar-Schiffe zurzeit der Herrschaft von Blutherz' Vater plündernd in Richtung Süden gefahren waren. Nun, da die Raubzüge gegenüber den menschlichen Stämmen bevorstanden, die beinahe so gut bewaffnet, kräftig und streitlustig wie die FelsenKinder waren, kümmerte sich niemand von ihnen um den Verbleib ihrer Brüder. Aber er würde es vielleicht tun. Schließlich ließ eine Frau sich durch die lange Stille dazu verleiten, unter der Veranda hervorzutreten, die seinen Gefangenen nur spärlichen Schutz vor dem kräftigen Regenschauer gewährte. Im Gegensatz zu den meisten menschlichen Frauen trug sie einen leichten Schleier, der ihre Gesichtszüge verbarg. Ihr Umhang glänzte feucht. »Anführer«, sagte sie in der üblichen Sprache, die von allen Händlern benutzt wurde - eine Mischung aus Wendisch, Salianisch und altem Dariyanisch -, »was hast du mit uns vor? Wir haben nichts Böses getan und nur versucht, Handel zu treiben.« 538 Die anderen wichen zurück, drückten sich an die Wände der Stadthalle. Die Lücke zwischen ihnen und ihrer Kameradin wurde größer, als hofften sie, der Bestrafung entgehen zu können, die ihr wegen ihrer frechen Worte sicherlich drohte. »Wie heißt du?«, fragte Starkhand. »Welches Volk der Menschheit nennst du deine Mutter?« Sie hatte ausdrucksstarke Hände und breitete die Arme weit aus, als sie auf zwei dunkelhäutige und nervöse Männer in der Menge deutete; die Männer trugen spitze Hüte und mit Ornamenten versehene Ärmel, deren Enden sie in diesem Augenblick zwischen den Fingern drehten. »Wir sind die Kinder des Volkes, das in der Sprache Wendars Hessi und in unserer eigenen Essit genannt wird. Ich selbst bin Riavka, Tochter von Sarenha. Ich bin die heilige Mutter meines Volkes, das in diesem Hafen lebt und arbeitet. Ich trete als Bittstellerin vor dich, denn ich habe Geschichten über dich und über die Leiden derer gehört, die dem stürmischen Angriff deines Volkes zum Opfer gefallen sind.« Er grinste, und seine Zuhörerschaft konnte sehen, dass seine Zähne mit Edelsteinen besetzt waren. Sie war die Einzige, die nicht zusammenzuckte. »Ich habe nicht vor, anzugreifen, ich will nur diesen Hafen überwachen. Ein angemessener Anteil jeder Schiffsladung geht an mich, und ich werde dafür sorgen, dass ihr keinerlei weitere Störungen mehr erleben müsst. Klingt das nicht gerecht?« Die anderen murmelten leise miteinander und dann, als sie sich daran erinnerten, dass er sie hören konnte, versanken sie wieder in Schweigen. Sie waren so angespannt wie in die Enge getriebene Kaninchen, die darauf warteten, dass die Axt auf sie herabsauste. Der Regen ließ nach, als der Sturm sich verzog. »Was für einen Anteil verlangst du?« Entweder sie hatte ihn durchschaut und begriffen, dass er jene respektierte, die nicht vor ihm auf dem Boden krochen, oder sie fürchtete den Tod einfach nicht. »Dieser Hafen wurde von jenen gegründet, die in den südlichen Landen hohe Abgaben zu leisten hatten. Wenn du uns zu 539 viel auferlegst, kannst du nicht sicher sein, dass es nicht zu einem Aufstand gegen dich kommen wird.« »Dann werdet ihr alle sterben.« Einige Kaufleute warfen einen Blick zurück zur Palisade, die zum Teil von Gebäuden verborgen war. Sie wussten, welch furchtbare Arbeit dort vonstatten ging, dass die Toten in einem Massengrab beerdigt wurden. Ein beleibter Mann trat vorsichtig zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr, aber sie reagierte nicht auf ihn, sondern sprach einfach weiter. »Woher weißt du, dass wir nicht einfach diese Stadt verlassen, im nächsten Sommer wegsegeln und uns einen andern Ort suchen, an dem wir Handel treiben können?« Er betrachtete sie voller Neugier. »Hast du keine Angst, dass ich dich wegen deiner Unverschämtheiten töten könnte.« Ihre feuchten Finger fummelten am Ende ihres Schleiers herum, und er erhaschte einen kurzen Blick auf die Kuhle ihres Halses, bevor der Schleier wieder an seinen alten Platz rückte. »Wenn du uns hättest töten oder zu Sklaven machen wollen, hätten deine Soldaten das sicherlich sofort getan, als sie uns gestern angegriffen haben. Du triffst dich hier mit uns, weil du etwas anderes im Schilde führst.« »Welchen Anteil würdest du als gerecht empfinden, Riavka, Tochter von Sarenha?« Sie zögerte nicht. »Ein Zehntel.« »Ein Sechstel«, erwiderte er ebenso rasch. »Darüber hinaus wirst du einen Rat von sechs Ältesten gründen, der die Abgaben überwacht. Und ein Gouverneur von meinem Volk wird mit einer Garnison hier bleiben.« »So sei es.« Sie neigte den Kopf, um so ihre Zustimmung zu zeigen. Die anderen hinter ihr beeilten sich, ebenfalls zu nicken. »Das ist nicht alles«, fuhr er fort. »Ich werde an der Küste, wo mein Volk wohnt, einen weiteren Handelshafen wie diesen hier errichten. Ich habe mich bereits für einen Ort im Moerin-Land entschieden, im südlichen Teil des Landes meines Volkes. Es ist ein 540 geschützter Ort, und er bietet vom Meer her leichten Zugang, in Richtung Westen bis nach Alba, im Süden nach Salia und im Osten bis zu diesem Land hier. Gibt es hier welche, die unter meinem Schutz einen solchen Hafen
errichten möchten?« Der beleibte Mann hatte seine Sprache wieder gefunden und stammelte: »Es ist eine lange und sehr anstrengende Reise um diese Jahreszeit. Das Land der Aikha ist uns als ein zerklüftetes, ungastliches Land bekannt. Nur wenige werden sich dort niederlassen wollen.« »Dann werde ich welche bestimmen müssen.« Die versammelten Kaufleute blickten so erschreckt drein, dass es fast schon komisch war, und Starkhand musste den seltsamen Drang unterdrücken, laut aufzulachen - etwas, das er von Alain gelernt hatte, der keine Angst gehabt hatte, an den Schwächen der Menschen Vergnügen zu finden. Riavka deutete auf den jüngeren der beiden Hessi-Männer. »Ich werde meinen Sohn und seinen Haushalt schicken.« Ihre Worte erlösten die anderen aus ihrer Erstarrung. Sie begannen, alle auf einmal zu sprechen, und ein Lärm entstand, der Starkhand reizte. Ein Hörn erhob sich laut über ihren Stimmen. Er hob die Hand und fuhr die Krallen aus. Sofort verstummten die Ältesten, und Schweigen trat ein. Der Warnruf wurde auf dem Wasser wiederholt, das von dem nebligen Dunst ganz grau war. Wolkenschwaden umhüllten die Inseln in der Ferne. Eine karmesinrote Flagge wehte auf einem der Schiffe, entfaltete sich einmal, zweimal. Er trat zum Rand des Kais. Wasser schwappte gegen die Holzplanken. Regen fiel auf das Wasser und verschwand. Entlang des Kais lagen dickbäuchige, beladene Schiffe. Weiter draußen in der Bucht waren die Konturen seiner eigenen schlanken Kriegsschiffe auf dem unruhigen Wasser zu sehen, eingehüllt in Nebelschwaden. Die Wasseroberfläche der Bucht kräuselte sich an einer Stelle, 541 an der weder ein Schiff noch ein Felsenriff war. Der Wirbel wurde von einer unsichtbaren Gruppe von Merwesen erzeugt, die einem Ruf gefolgt waren. Starkhand wandte sich an Zehnter Sohn. »Hast du davon gewusst?« Zehnter Sohn reckte schroff das Kinn, was so viel wie »nein« bedeuten sollte. Glitzernde, gezackte Rücken glitten durch das Wasser und verschwanden wieder. Schwänze schlugen gegen die Wellen. Die Stadtbewohner schrien auf und wichen zurück, bis auf die verschleierte Frau, die erstaunlicherweise sogar ein Stück näher kam, um besser sehen zu können. Sie gab einen kleinen Laut von sich und streckte eine Hand mit der Handfläche nach oben aus, so als könnte sie über die Haut etwas von den Wesen aufnehmen. Ohne Vorwarnung hievte sich ein schwerer Körper vor ihm aus dem Wasser. Das flache Gesicht musterte die Umstehenden, obwohl Starkhand nicht sicher war, was diese harten, roten Augen wirklich erkennen konnten. Die Aale, die die Haare waren, zuckten wild umher, augenlose Schnauzen, die gedankenlos in der Luft herumfuhren. Das Wesen wirbelte zurück und traf mit solcher Wucht auf dem Wasser auf, dass die Gischt überall aufspritzte, ein weiterer Regenguss, salzig und mit dem Geschmack des Abfalls, den die Menschen so achtlos in ihre Häfen warfen. Er lachte schroff und schüttelte das Wasser ab. Die Hessi-Frau machte einen hastigen Schritt zurück, sammelte sich aber rasch wieder. Ihre Kameraden flüchteten erschreckt auf die Gehwege zurück. Ihre Stimmen klangen wie die von verängstigten Krähen. Ein Antlitz erhob sich aus dem Wasser, blass und lang gezogen, wurde von den rasiermesserscharfen Händen der Merwesen hochgehalten. Der Gegenstand steckte auf einem wassergetränkten Holm, und rebenähnliche Blätter rankten sich um etwas, das einem Gesicht nahe kam. Starkhand sprang zurück, als der große Holm mit einem kräftigen Stoß auf den Kai fiel und vor seinen Füßen liegen blieb. 542 Bei dem Holm handelte es sich um den Überrest eines Masts, der von den lebenden Schiffen eines der Baumzauberer stammte. Gefangen in seinem blättrigen Rückgrat ruhte ein Gegenstand, der so aufgedunsen und blass war, dass Starkhand ihn zunächst gar nicht erkannte. »Oh Herr, hab Gnade!«, schrie einer der Kaufleute mit brüchiger Stimme. »Es ist der Kopf eines Mannes!« Seewürmer schlängelten sich in den verwesenden Augenhöhlen. An einigen Stellen war die Haut bereits abgelöst, sodass der Glanz der Schädels darunter zum Vorschein kam. »Eins der Alban-Schiffe ist unseren Verbündeten nicht entkommen«, bemerkte Zehnter Sohn. Starkhand trat über den Holm und seine verrottende Krönung. Das Wasser kräuselte sich in kleinen Kreisen unter ihm. Der Regen hatte aufgehört, und die Wolken über den Inseln lichteten sich deutlich, als die Sonne versuchte, hindurchzudringen. »Das war unerwartet. Ich habe nicht vergessen, dass Alba auf uns wartet.« Er verstand seine geheimnisvollen Verbündeten nicht wirklich. Zuerst hatte er gedacht, sie wollten nur das Fleisch seiner Feinde, um sich davon zu nähren, aber sie wurden von größeren Zielen angetrieben, von Zielen, die ihre Intelligenz und einen langsamen, walfischähnlichen Plan verrieten, der von den Tiefen des Meeres verschluckt war, in Strömungen erzitterte, die nur das tiefe Wasser kannte. Was wollte das Mervolk? Verhandlungen blieben schwierig, denn sie sprachen nicht die gleiche Sprache. In der Tat schienen sie besser zu wissen, was er wollte, als er wusste, was sie sich von diesem Bündnis versprachen. Doch ganz sicher musste es etwas sein, von dem sie glaubten, dass nur er es ihnen beschaffen konnte. Er konnte sie nicht danach fragen. Er
wagte es nicht, seine Unkenntnis preiszugeben, denn Unkenntnis bedeutete Schwäche. Starkhand durfte niemals seine Schwäche offenbaren. Zu viele Messer warteten nur darauf, sich in seinen Rücken zu bohren. 543 Das Wasser wirbelte auf. Mehrere Schwänze glitten zuckend aus der Bucht und peitschten auf das Wasser ein als Tribut, als Befehl, als Frage oder einfach nur als Antwort. Er wusste es nicht. Die gezackten Rücken durchschnitten das Wasser, als sie sich von der Bucht entfernten. Gischt schäumte hinter ihnen auf, während sie hinter den letzten Schiffen verschwanden und in den tiefen Meeresgräben versanken. 2 Eine einzelne Lampe brannte in der Kapelle von St.Thekla, der Zeugin. Das Licht genügte jedoch nicht, die wunderschönen Fresken zu erleuchten, die vom Leben jener Heiligen berichteten, der diese Kapelle gewidmet war. Antonia konnte auch die einzelnen Säulen nicht richtig erkennen, die das innere Heiligtum umgaben, und noch weniger die Gesichter der Schüler und Schülerinnen, die dort hineingemeißelt worden waren. Still und mächtig standen die Marmorsäulen im düsteren Licht, das nur einen schwachen Blick auf die Gesichter von Matthias, Markus und Johanna zur Linken und von Lucia, Marianna und Peter zur Rechten gewährte. Hinten beim Haupteingang stand die Säule, auf der St. Thekla selbst abgebildet war; sie starrte direkt auf die achte Säule, die hinter dem Altar stand, aber ohne jede Verzierung war und nichts als einen Saum aus Rosetten am Fuß und am Kapitell besaß. Was für eine Notwendigkeit hätte es auch schon gegeben, die gemeißelten Gesichter auf den Säulen zu erkennen, wo doch die Lampe das Gesicht desjenigen erhellte, der vor dem Altar kniete? Er hatte die Keramiklampe auf den Marmorboden zwischen sich und dem Altar gestellt, und die Flamme tauchte sein Gesicht in ein sanftes Glühen, als hätten Gott ihn mit Ihrem heiligen Licht berührt. Wusste er, dass sie ihn beobachtete? Ahnte er, dass manchmal 544 Leute zur Galerie kamen und ihm während seiner langen Gebetsstunden im inneren Heiligtum zusahen? Wo sie ihn schön wie die Morgendämmerung, fromm wie einen Heiligen, erhaben in seinen Tugenden vorfanden? Der wunderschöne Hugh. Ich bin zu alt für so etwas, dachte sie, gleichzeitig gereizt darüber, dass ihre Gedanken eine solche Richtung nahmen. Sie war alt genug, dass sie seine Großmutter hätte sein können, wäre sie mit fünfzehn Jahren verheiratet worden; genau das hatte man mit ihren Schwestern und Kusinen gemacht, um Verbindungen mit anderen Familien zu schaffen. Aber sie hatte die Erlaubnis erhalten, ins Kloster einzutreten, nachdem der Ehemann, den man für sie ausgewählt hatte, in der Nacht vor der Hochzeit auf spektakuläre Weise ums Leben gekommen war. Sie hatte die Dosis falsch eingeschätzt. Sie hatte nicht gewollt, dass sein Tod so grauenhaft wurde, aber sie war ja auch erst vierzehn gewesen. Die Jahre, die sie in der Kirche verbracht hatte, waren sehr viel angenehmer gewesen. Ein einziger Fehler in vierzig Jahren, das war alles. Ein Fehler und eine einzige Fehleinschätzung, als sie geglaubt hatte, dass Sabella die Mittel und Möglichkeiten besaß, Henry vom Thron zu stürzen. Jetzt hatte sie sowohl ihren Sohn als auch ihre Stellung in der Kirche verloren. Sie hatte keinen Spielraum mehr für weitere Fehler. Es durfte keine weiteren Fehleinschätzungen, Fehlberechnungen mehr geben. Kein einziger falscher Schritt mehr. Unten neigte Hugh seinen schönen Kopf und ließ ihn auf die gefalteten Hände sinken. Sie wusste, dass er nicht betete. Er studierte das geheimnisvolle Buch, das die anderen »Bernards Buch« nannten, ein Buch der Geheimnisse. Hugh ließ es niemals aus den Augen, abgesehen von den Zeiten, da er es mit verschiedenen Schichten von Schutzzaubern in einer Kiste verschloss. Hier in der Kapelle ruhte es jetzt auf seinen Knien, aber er hatte sein Presbyter-Gewand darüber ausgebreitet. Sein Gewand hüllte ihn auf eine Weise ein, die ihn zu einem äußerst netten Anblick machte, ihn 545 sozusagen umrahmte. Ein Maler hätte einen pflichtbewussten und edlen Presbyter, den vertrauten Berater des Königs und Vertrauten der heiligen Mutter höchstpersönlich kaum treffender und schöner malen können. Er blickte plötzlich auf, als hätte er ihre Atemzüge wahrgenommen, aber er blickte nur auf die Kuppel, die sich über ihm ausbreitete. Seine Lippen bewegten sich. Er sagte etwas, aber es war eher ein Seufzen als das Aussprechen eines Wortes. »Liath.« Es lag etwas Schreckliches in der Art, wie er es sagte, als würde ein Vorhang beiseite gezogen und etwas enthüllt, das besser unsichtbar geblieben wäre. Er neigte erneut seinen Kopf, und dieses Mal glaubte sie, dass er wirklich betete, verzweifelt und leidenschaftlich. Die Glut, die seine fest gefalteten Hände vermuten ließen, die gequälte Haltung seiner Schultern, die gesamte eindringliche Ausstrahlung seines Wesens waren wie eine Flamme, die sie anzog. Wie das Galla, das sie herbeirufen konnte, wenn es nötig war, das sie mit frischem Blut locken konnte, saugte sie seine Qual auf -wenn es denn eine Qual war. Sie hatte starke Gefühle abgetötet, denn sie behinderten sie, aber sie hatte niemals deren Geschmack verloren, selbst wenn sie ihn nur durch andere erfuhr. Das arme Kind. Wie schrecklich es für ihn war, dass seine Brillanz von dieser einen Schwäche befleckt war,
dieser Obsession für etwas, das er nicht haben konnte. Aber wieso eigentlich nicht? Liath hatte sich anerkennend über Hughs Leidenschaft für das Wissen geäußert. Es bestand noch immer eine Verbindung zwischen ihnen, eine, die das Mädchen in Verna selbst zögernd zugegeben hatte. Auf eine gewisse Weise besaß Hugh sie, denn sie konnte ihn niemals vergessen oder ihm vergeben. Und in ihrem Herzen wusste Liath vermutlich, dass Hugh eine bessere Wahl für sie war als Prinz Sanglant. Schlurfende Schritte erklangen. Ein Presbyter in einem einfachen, aber kostbaren Gewand und einem langen, scharlachroten 546 Umhang trat vor und stellte sich in den Schatten hinter Hugh. Er schlug den Kreis vor seiner Brust, ein Zeichen des Respekts gegenüber dem heiligen Altar und dem goldenen Becher, der dort stand. Als Hugh sein Gewicht verlagerte und sich umdrehte, um ihn anzusehen, verneigte sich der Mann tief und mit offensichtlicher Ehrerbietung, bevor er mit leiser Stimme, die der Würde der Situation angemessen war, zu sprechen begann. »Euer Ehren, die Heilige Mutter ist aufgewacht und fragt nach Euch. Ihr wisst, dass Eure Anwesenheit ihr gut tut.« »Ich danke Euch, Bruder Ismundus. Es ist freundlich von Euch, dass Ihr Euren eigenen Schlaf in dieser Nacht unterbrecht.« »Sagt das nicht! Ich sollte um Gottes Gnade für ihre Gesundung beten, wie Ihr es tut, aber - ich besitze nicht Eure Stärke.« Hugh lehnte sich leicht zurück, als er den Kopf drehte und die unbearbeitete Säule anstarrte, deren glatte Marmorfläche die heilige Reinheit des heiligen Daisan wiedergab. Es gab keinen Grund, ein irdisches Gesicht dort einzumeißeln, wo der Körper des heiligen Daisan in einer Wolke von Gottes Ruhm emporgehoben und direkt zur Kammer des Lichts befördert worden war. »Es ist keine Stärke, sondern eine Sünde.« War er sich darüber im Klaren, wie wunderschön das Lampenlicht sein Profil beleuchtete? »Ich bitte Euch, Bruder Ismundus, schreibt mir keine Tugenden zu, die ich nicht besitze. Ich werde sofort kommen. Lasst mich nur noch die Psalmen beenden.« »Natürlich, Euer Ehren.« Ismundus verneigte sich erneut und zog sich aus der Kapelle zurück. Natürlich gab es für den alten Mann keine Verpflichtung, einen anderen Presbyter auf solche Weise zu ehren. Er hatte dreißig Jahre im Palast der Skopos gedient und war inzwischen zum Aufseher der heiligen Gemächer aufgestiegen. Eigentlich, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge, hätte ein junger Presbyter wie Hugh sich vor ihm verbeugen müssen, nicht umgekehrt. Aber in dieser Zeit war, wie sie sehr wohl wusste, nichts so, wie es eigentlich hätte sein sollen. In den vergangenen Jahren waren 547 Sünde und Ungehorsam über die Welt gekommen. Wenn alles, was sie im letzten Jahr gelehrt worden war, der Wahrheit entsprach, würde durch Gottes Hand - oder die Zauberei der Aoi - bald eine Katastrophe auf sie herniedergehen. Aus dem bevorstehenden Chaos musste sich ein starker Anführer erheben. Vielleicht war ihre Annahme, dass eine solche Führerschaft von Liath und Prinz Sanglant kommen könnte, nicht richtig gewesen. Es gab andere Anführer außer Sanglant, Männer mit großer Macht und kultivierterem Ehrgeiz. »Ich weiß, wo du bist«, sagte Hugh plötzlich in die Stille des Heiligtums hinein. Die Lampe flackerte, als sie erstarrte, und sie fragte sich, mit welcher Magie es ihm gelungen war, sie hier oben zu bemerken, wo sie sich in den tiefen Schatten versteckt hatte, um ihn zu beobachten. »Ich weiß, was du tust, mein Schatz. Ich kann dich jetzt sehen, ich kann den brennenden Stein herbeirufen und so ein Fenster in deine Reise schneiden, und ich schwöre dir, Liath, ich werde dir dort folgen.« Er neigte den Kopf und begann zu singen. Höre mein Flehen um Gnade, wenn ich nach dir rufe, wenn ich meine Hände deinem Heiligtum entgegenstrecke. Zähle mich nicht zu den Bösen und Üblen, die freundlich mit ihren Anhängern sprechen, während das Böse in ihren Herzen kocht. Belohne sie entsprechend ihrer Taten. Rühme jene, die in Gott vertrauen. Gesegnet seien Sie, die meiner Bitte um Gnade lauschen. Er wartete einen Augenblick in der Stille, nachdem er geendet hatte. Bedeutete das Flackern des Lampenlichts den Durchgang der Engel, die von seiner süßen Stimme angelockt worden waren? Aber falls er auf etwas wartete, so kam es nicht. Er erhob sich. Er schloss das Buch der Geheimnisse, band es mit einer roten Schlei548 fe zu, klemmte es sich unter den Arm und ging davon, verschwand unter den Bögen und durch die Tür. Die Lampe brannte noch immer. Es war so still, dass sie das Zischen des Dochts hören konnte. Sie blieb weiterhin in den Schatten auf der Galerie, die das innere Heiligtum umschloss. Es gab keinen Grund zu riskieren, dass sie so kurz nach Hughs Aufbruch beim Verlassen der Galerie gesehen wurde. Außerdem gefiel es ihr hier in St. Theklas Kapelle. Kaiser Taillefer hatte die königliche Kapelle von Autun nach diesem Heiligtum
entworfen, mit den acht Seiten, den doppelstöckigen Bogengängen, der gewölbten Kuppel. Heribert zufolge war die Kapelle von St. Thekla noch perfekter proportioniert als die Kopie von Autun, aber sicherlich erzeugte auch die königliche Kapelle von Autun Ehrfurcht und heilige Inbrunst. Liath war Taillefers Enkelin, die Erbin seines irdischen Ruhms und seiner Macht. Sie, die einst Bischöfin Antonia von Mainni gewesen war, jetzt aber überall nur Schwester Venia hieß, verstand das zarte Gleichgewicht der Macht, das im Palast der Skopos herrschte, während ein langer und fürchterlicher Winter in die langen Wochen des beginnenden Frühlings überging. Die heilige Mutter dementia lag im Sterben. Schon bald würde ihre Seele ihren Körper verlassen und durch die sieben Sphären zur Kammer des Lichts aufsteigen, während unten auf der Erde eine Edelfrau von angemessener Herkunft, entsprechendem Rang und heiliger Position ausgewählt werden würde, um ihre Stelle einzunehmen. »Unsere Herzen haben sich nicht verirrt«, murmelte sie. »Und wir sind Schritt für Schritt immer Eurem Pfad gefolgt.« 3 Liath schlummerte in der beruhigenden Umarmung von Somorhas. Es war wie ein luxuriöses Bad, dessen Wasser nach Rosenblüten roch und das weder zu heiß noch zu kalt war. Sie fühlte sich so 549 unglaublich wohl, dass sie sich am liebsten gar nicht mehr bewegt hätte und auch die Augen nicht öffnen wollte. Sie hatte keinerlei Schmerzen, nichts, das ihr Unbehagen bereitet hätte. Es gab keinen Grund, weiterzueilen. Sie war so lange unterwegs gewesen, dass es geradezu grausam erschien, nicht eine Weile hier zu verweilen. In der Ferne hörte sie leisen Gesang, als würde jemand zu der süßen Musik der Sphären singen. Es war eine schöne Vorstellung, einfach für immer hier liegen zu bleiben und in dem perfekten Kontrapunkt der Musik zu baden, die niemals endete, immer melodiös und von fehlerloser Harmonie war. Der Wind strich über ihr Gesicht. Die Berührung, die so sanft wie eine Feder war, kitzelte ihre Lippen. Ein kühle Brise rann ihre Kehle hinab, als hätte der Wind sich in ihren Körper eingeschmeichelt. »Durchschreite das gehörnte Tor von Somorhas, wenn du deinen Herzenswunsch kennen lernen willst.« Sie öffnete die Augen, denn diese süß klingenden, geschmeidigen Worte verblüfften sie. Wer hatte sie gesprochen? Sie hatten beinahe wie ihre eigene Stimme geklungen. Ohne zu begreifen, was sie vorhatte, erhob sie sich. Das angenehme Bett, auf dem sie sich ausgeruht hatte, war nichts als der rosenfarbige Boden, von dem dampfender Nebel aufstieg. Alabasterfarbene Türme erhoben sich am Horizont, als wären sie die unzähligen Speere eines gewaltigen Heeres. Ein riesiges, gewölbtes Gebäude aus Marmor stand zwischen ihr und dem Wald aus Türmen. Sie wusste augenblicklich, dass sie in diesem Gebäude eine Bibliothek finden würde, in der sich jedes Pergament und jedes Buch befand, dass sie jemals hatte lesen wollen. Die Türme verschwanden im Nebel, während sich die Kuppel vor ihr erhob, flaniert von Alleen aus Stein, die von übergroßen Statuen aller auf Erden und im Himmel bekannten Tiere gesäumt wurden: Raben und Pfauen, Panther und Bären, Steinböcke und Schlangen. Im Vorhof trafen sich die Alleen vor einer breiten Treppe, die von einem Bogengang überragt wurde - zwei Elfenbeinsäulen, verbunden durch Heckenrosen und Belladonna. 550 Während ihre Füße sie bis unter den Bogen trugen, ging ein Zittern durch ihren Körper, wie das Wasser in einem Trog, das zunächst Wellen warf und sich dann wieder beruhigte. Sie fand sich in einer riesigen Halle wieder, wo Kirchenmänner in scharlachroten Umhängen und Geistliche in weinfarbener oder baumgrüner Seide ihren Beschäftigungen nachgingen. Tische, von einer Fülle von Keramiklampen erhellt, standen in Reihen überall in der Halle verteilt. Gelehrte saßen hier, tief über uralte Pergamentrollen oder gerade erst fertig gestellte Kopien alter Handschriften gebeugt. Zwei junge Geistliche, eigentlich noch im Mädchenalter, flüsterten miteinander, während sie in einem alten Band etwas suchten. Auf einem Gestell in der Mitte der Halle lag ein dickes Buch. Liath schritt zwischen den Tischen hindurch und blieb davor stehen. Niemand warf ihr einen seltsamen Blick zu. Niemand fand ihre Anwesenheit bemerkenswert, obwohl sie nur eine Tunika und Beinkleider trug, einen Köcher mit einem Bogen und Pfeilen, den Goldreif, den Sanglant ihr gegeben hatte, und den Lapislazuli-Ring. Der Steinboden fühlte sich angenehm warm unter ihren bloßen Füßen an. Wie in Quedlingham lag auch auf diesem Gestell der Katalog der Bibliothek: Verschiedene Handschriften hatten sich über verschiedene Zeiten hinweg darin angesammelt. Als Liath den Katalog durchblätterte, konnte sie den Übergang der rechteckigen Dariyanischen Schrift, die nur aus Großbuchstaben bestand, in die rundere Schrift Acturia erkennen - die frühen Kirchenmütter hatten die Acturia bevorzugt. Schließlich wurden die kleinen Buchstaben eingeführt, das Zeichen der Herrschaft der salianischen Geistlichen unter dem Einfluss von Taillefers Gelehrtenschule. Zu Liaths Zeit herrschte die einfachere Schrift Gallica vor, die zugleich großartig und vornehm war. Welche Reichtümer der Katalog für sie bereithielt! Nicht nur Ptolomaias Tetrabiblos, sondern auch ihr maßgebliches Sammelwerk der Mathematiki, Virgilias Heleniade und auch ihre Dialo551 ge, verschiedene Geographien des Himmels und der Erde von diversen alten Gelehrten, die Erinnerungen von Alisa von Jarrow mit ihren ausführlichen Unterweisungen in der Kunst der Erinnerung, und viele Bände über die Geschichte der Natur und der Astronomie - mehr, als sie je zuvor an einem Ort gesehen hatte. Sie überschlug die
riesigen Bestandsaufnahmen der Schriften der Kirchenmütter und widmete sich den Seiten, die schwarz waren und zur Vorsicht gemahnten. Die zahlreichen Missbilligungen und Traktate gegen die verschiedenen Ketzereien waren weniger interessant, aber wie sie gehofft hatte, gab es auch verbotene Texte über Zauberei, wie Chaldeos' Die Taten der Magier und Das Geheime Buch von Alexandros, Sohn des Donners. Wie verwunderlich und seltsam war es doch, dass eine Bibliothek von diesem Ausmaß in der Sphäre von Somorhas existierte! Aber hatte die Stimme nicht gesagt, dass sie jenseits des Tores ihren Herzenswunsch finden würde? Eine leise Stimme drang nörgelnd aus ihrem Innern, so unangenehm wie ein Dorn. Ein leichter Schmerz pochte hinter ihrem rechten Auge. Hatte sie nicht irgendwo gelesen, dass in Somorhas nur Träume und Täuschungen lagen ? »Das kann nicht sein«, flüsterte ihre Stimme, beinahe so, als bestünde sie aus zwei Personen, von denen die eine sah, die andere sprach. »In der Stadt des Gedächtnisses steht in der dritten Sphäre eine große Bibliothek, wo der Becher des grenzenlosen Wassers herrscht, der Ozean des Wissens, der den Sterblichen zugänglich ist.« Das stimmte doch, oder nicht? Am besten, sie nutzte die Zeit, so lange sie konnte. Sie fand eine Aufzeichnung, aus der sie erfuhr, in welcher Kammer der Bibliothek sich St. Peter von Arons Die Ewige Geometrie befand. Als sie feststellte, dass andere hinter ihr geduldig darauf warteten, den Katalog ebenfalls benutzen zu können, eilte sie davon. Bei jedem Schritt erwartete sie, dass eine der Geistlichen zu ihr kommen und sie zur Rechenschaft ziehen würde. Was tust du hier? Wer bist du? Woher kommst du? 552 Niemand trat zu ihr." Dabei war es nicht einmal so, dass sie sie nicht sahen. Blicke fielen auf sie, wanderten dann weiter, als hätte man sie schon seit längerem erwartet. Sie war keine ungewöhnliche Person. Ganz und gar keine Fremde. Der Gang, von dem sie geglaubt hatte, dass er sie zum Raum der Astronomie bringen würde, führte sie höchst unerwartet zu einer Kapelle. Vergoldete Lampen hingen von den Dachbalken, beleuchteten Fresken, die das Leben von St. Lucia abbildeten, der Wächterin des Lichtes von Gottes Weisheit. Ihre Knie beugten sich, als hätten sie einen eigenen Willen, und so fand sie sich kniend hinter zwei Geistlichen wieder, die in weiße Gewänder und scharlachrote, bodenlange Umhänge gehüllt waren - in der Welt weit unter ihr die typische Kleidung der Presbyter, die im Dienste der Skopos standen. Es war seltsam, wie ihre Gedanken in alle Richtungen schweiften. Weil es ihr nicht gelang, ihren Geist zu beruhigen und ihre Gedanken Gott zuzuwenden, lauschte sie. Die beiden Geistlichen vor ihr fanden anscheinend ebenfalls keine Ruhe, denn sie unterhielten sich leise miteinander, während vorn in der Kapelle ein älterer Mann einen Chor aus Mönchen mit lieblichen Stimmen zur Sext anführte. »Hast du nicht gehört? Er hat Bruder Sylvestrius vor dem Auspeitschen bewahrt.« »Nein! Wie kann Bruder Sylvestrius jemanden beleidigt haben ? Er spricht doch kaum ein Wort, und manchmal habe ich sogar den Eindruck, als wüsste er nicht einmal, dass wir Übrigen existieren, so beschäftigt ist er immerzu mit seinen Büchern.« »Es ging auch gar nicht um etwas, das er gesagt hätte, sondern was er in den Annalen geschrieben hat.« »Aber doch nichts absichtlich Geringschätziges, oder? Das ist eher der Stil von Bischöfin Liutprand.« »Natürlich nicht. Aber er hat den Bericht von der Krönung eher nüchtern als schmeichelhaft gestaltet.« »Was Eisenkopf nicht ertragen konnte. Er hört natürlich lieber 553 einen der unseligen Poeten, die ihn rühmen, als wäre er der nächste Taillefer und nicht der, der er wirklich ist.« »Du weißt, wie wütend Eisenkopf werden kann.« »Sicher, ja, und ich habe noch die Narbe auf meiner Wange als Beweis dafür. Aber wie konnte Sylvestrius der Auspeitschung entgehen? Nein, nein, du brauchst es nicht zu sagen. Ich weiß schon, wer eingeschritten ist.« »So ist es, Bruder. Jetzt, wo die heilige Mutter - mögen Gott für ihre Heilung sorgen - krank danieder liegt, übt er als Einziger einen besänftigenden Einfluss aus. Er ist der Einzige, der zwischen Eisenkopfs hartem und barbarischem Vorgehen und dem Leben so vieler Unschuldiger steht.« Als würde dieser Gedanke sie an eine Vision von Gottes Gnade erinnern, beugten sie ihre Köpfe zum ernsten Gebet, während der alte Presbyter das Gloria anstimmte. Es war ein seltsames Gefühl zu spüren, dass ihr Körper nicht wirklich ihrer war. Sie erhob sich etwas unerwartet und drängte rückwärts aus dem Raum, aber es musste noch eine andere Tür in die Kapelle führen, die sie zuvor nicht gesehen hatte. Statt wieder auf den Gang zu gelangen, den sie zuvor entlang geschritten war, fand sie sich jetzt nämlich in einem düsteren, feuchten Flur wieder, der nur von einer einzigen, flackernden Fackel beleuchtet wurde. Das Licht war schlecht, aber mit ihren Salamander-Augen konnte sie drei Wachen bei einer robusten Holztür stehen sehen, die genauso aussah wie ein Dutzend anderer Türen, die hinter ihr vom Gang abgingen. Feuchtigkeit drang durch die Steinwände. Der Boden stank nach Erde und Kälte. Hier gab es keine schönen Decken, und es hatten sich auch keine Künstler die Mühe gemacht, diesen Ort zu verschönern, sodass es ein Vergnügen gewesen wäre, sich umzusehen oder den Gang entlangzuschreiten. »Oh, hier ist der Schlüssel«, sagte eine der Wachen. »Die armen Burschen. Ich hasse die Vorstellung, dass ihre Köpfe aufgespießt werden sollen, nur weil sie zu arm waren, um ein Stück Brot auf dem Markt kaufen zu können und es stehlen mussten.«
554 »Ein Stück Brot zu stehlen ist eine Sache«, wandte eine zweite Wache ein. »Das Brot des Königs zu stehlen ist jedoch etwas ganz anderes.« »Hah! Das Brot des Königs, in der Tat.« Die dritte Wache lachte rau. »Also bitte, der Korb war für das Hurenhaus des Königs bestimmt gewesen.« »Trotzdem, was für den König gedacht ist, ist für ihn gedacht, und nicht für zwei Bettler wie diese hier.« Es gelang ihnen, den Schlüssel im Schloss herumzudrehen, und mit einiger Mühe stießen sie die Tür auf. »Kommt schon, Leute«, sagte die dritte Wache. Die zwei Jungen, die nicht älter als vierzehn Jahre sein konnten, hatten den müden, abgehärmten Blick jener, die in beständigem Hunger lebten. Einer weinte. Sein Kamerad dagegen versuchte, mutig zu erscheinen. »Wir sind bloß hungrig gewesen«, jammerte der weinende Junge - ein vertrauter Spruch, der schon so oft erklungen war. »Nein, gib ihnen diese Befriedigung nicht«, zischte sein Kamerad. »Wir werden aufrecht in den Tod gehen -« »Allerdings werdet ihr das«, sagte die dritte Wache. »Ich habe den Befehl, euch zu begnadigen und freizulassen. Hier habt ihr eine Silber-Lusira. Nutzt sie weise und seht zu, dass ihr aus der Stadt verschwindet. Der König hat ein gutes Gedächtnis, wenn es darum geht, Leute wieder zu erkennen, die sich ihm widersetzt haben, und wenn er euch jemals irgendwo sehen sollte, wird er euch an Ort und Stelle den Kopf abschlagen.« Der eine Junge weinte jetzt hemmungslos. Der mutige Junge fiel auf die Knie, versuchte, die Hände der dritten Wache zu küssen, während er gleichzeitig die kostbare Silbermünze an seine Brust drückte. »Ich bitte dich, Freund, wie können wir dir danken? Gott werden dich für deine Barmherzigkeit segnen.« »Ich bin es nicht, dem ihr danken solltet. Ich hätte euch hängen lassen. Aber da ist jemand am Hof, der die Rose der Gnade über das Schwert der Gerechtigkeit stellt.« 555 »Oh, Herr und Herrin!«, hauchte der Mutige im Ton eines Kindes, das den Besuch eines Engels erlebt hatte. »War es der, den wir im Hof neben dem König sitzen sahen?« »Richtig, der war es. Vergesst niemals, dass einige näher bei Gott wandeln als wir übrigen Sünder. Du kannst ihm in deinen Gebeten danken.« Zwei der Wachen zogen gemeinsam die Tür wieder zu. Sie schleifte geräuschvoll über den Steinboden, und der Lärm hallte durch den Gang. Mit einem Schnauben führte die erste Wache die beiden Jungen weg. Liath rührte sich nicht, da auch die anderen noch verweilten. »Du hättest das Silber behalten und sie hängen lassen können«, flüsterte die zweite Wache. »Woher nimmst du den Mut, dich den Wünschen des Königs zu widersetzen?« »Der König wird den Zwischenfall schon in einer Woche vergessen haben. Es sind arme Jungs, sie haben nichts Böses getan. Ich erinnere mich noch gut daran, wie es ist, hungrig und verzweifelt zu sein. Aber denke ja nicht, dass ich jemals das Silber behalten hätte, Junge.« Die Stimme der dritten Wache wurde fester, als er den anderen tadelte. »Schließlich weißt du, dass er es mir gegeben hat, um es an die Jungen weiterzureichen. Als Wachen des Königs bekommen wir zwei Mahlzeiten pro Tag. Die Armen in den Straßen jedoch haben nichts, während der König die Steuern erhöht, um noch mehr Soldaten für sein Heer kaufen zu können.« »Wie hätte denn der, der es dir gegeben hat, jemals davon erfahren sollen, wenn du das Silber behalten hättest? Du hättest sie laufen lassen und es behalten können. Das ist ein ganzer Monatslohn !« »Hah! Er hätte es gewusst.« »Und hätte er dich bestraft?« »Ganz sicher wäre es schon eine Strafe, wenn ich zu ihm gerufen würde und ihm in die Augen blicken müsste ihm, der besser ist als jeder andere von uns. Ich habe nicht das Bedürfnis, vor ihm zu stehen und zu erleben, wie er mir vergibt, dass ich der Versu556 chung anheim gefallen bin. Natürlich würde er kein einziges Wort des Tadels sprechen, da er weiß, wie sündig die Menschen sind und wie schwer es uns fällt, gegen die böse Verführung anzukämpfen. Ich ziehe es jedenfalls vor, nicht zu sündigen, statt beschämt vor ihm zu stehen.« »Oh, ist das also der Grund, weshalb du im letzten Monat nicht mit in Parisas Bordell gegangen bist?« »So ist es, mein Freund, und ich werde auch nie wieder dorthin gehen. Ich werbe um eine junge Frau, die unten bei den Tigira-Docks als Wäscherin arbeitet. Ich will sie heiraten und ein gottgefälliges Leben führen.« »Wenn dieser Krieg vorüber ist.« »Wenn dieser verfluchte Krieg vorüber ist. Hast du schon das Neueste gehört?« Mit der einzigen Fackel in der Hand gingen sie jetzt den Gang entlang zur Treppe und verschwanden aus Liaths Blickfeld. Ihre Unterhaltung wurde bald von den Steinen und der Entfernung verschluckt. Ihre Beine trugen sie hinterher, aber als sie die Treppe endlich erreichte, sah sie nur das schwächer werdende Fackellicht. Sie kletterte rasch empor, während plötzlich ein rauer, kalter Wind einsetzte. Zwischen dem einen Atemzug und dem nächsten ging die Fackel aus, und Liath blieb in vollkommener Finsternis zurück. Sie erklomm die Stufen durch Tasten, indem sie mit den Fingern an den Steinen entlangfuhr, bis sie den Eindruck hatte, dass sie sich auf einer schmalen Stufe mit Holzwänden befand, mit einem Holzboden und einer so tief hängenden Decke, dass sie sie mit den Haaren berührte. Sie taumelte und bekam einen Riegel zu fassen. Doch ihre Finger zögerten, ihn zu
öffnen. Fragen schössen ihr durch den Kopf. Wo war sie? War sie unfreiwillig zur Erde zurückgekehrt? »Geh durch die Tür«, murmelte ihre Stimme, »und ich werde meinem Herzenswunsch einen Schritt näher sein.« Stimmte das denn nicht? Sicherlich stimmte es. Sie legte ihre Hand an den Riegel, als sie rechts von sich ein unterdrücktes Jammern vernahm. 557 Verwirrt zuckte sie zurück, als der Riegel von der anderen Seite bewegt wurde und aufsprang. Die Tür wurde aufgerissen. Eine hübsche junge Frau blinzelte in die Dunkelheit. Sie hatte eine frische Wunde an der Unterlippe und trug nichts als ein Unterhemd, dessen Stoff so schön und dünn gewebt war, dass Liath die Rötung ihrer Brustwarzen durch ihn hindurchsehen konnte. »Oh, der Herrin sei gedankt«, sagte sie, packte Liath bei den Handgelenken und zog sie hinein in eine helle Kammer, die von dem rosigen Licht erhellt wurde, das durch vier unverriegelte Fenster fiel. »Du hast sie in Sicherheit gebracht.« Das weiche Licht ergoss sich über den Parkettboden und hob die Fresken hervor, die derart obszöne Themen hatten, dass Liath errötete. Ihre neue Freundin drängte sich an ihr vorbei in den verborgenen Schrank - denn ein solcher war es - und half der weinenden Frau aus den Schatten ins Zimmer. Sie trug eine lange und eher formlose Wolltunika, die in Lehmrot gefärbt war und gewöhnlich vom normalen Volk getragen wurde. Darunter jedoch trug sie ein nicht der wendischen Mode entsprechendes Mieder und einen braunen Schurz. Ihre Haare waren nicht von einem Schal bedeckt, wie eine angesehene Wendanerin es zu tun pflegte, sondern zu einer Krone geflochten. Trotz des tränenverschmierten Gesichts und der verängstigten Miene konnte Liath erkennen, dass sie überaus hübsch war, mit schwarzen Haaren und jener Art von Augen, in die man sich stundenlang versenken konnte. Angesichts des riesigen Bettes und der seidenen Decke zuckte sie unvermittelt zusammen. »Ich werde mich nicht ohne Widerstand fügen!«, sagte sie mit einer Stimme, die vom vielen Weinen und Schreien ganz heiser war. »Er mag der König sein, aber ich bin eine verheiratete Frau und nur deshalb zur Kathedrale gekommen, um Gottes Gnade für mein armes, krankes Kind zu erbitten.« »Still«, zischte die hübsche Frau. »Er ist jetzt weg. Was hast du gesagt, wie ist dein Name?« »Man nennt mich Terezia. Oh, Herrin!« Sie begann wieder zu 558 schluchzen, überwältigt vor Erleichterung. »Ich bin gerade in der Frauenkapelle gewesen und habe gebetet, als er reingekommen ist und mich einfach rausgezerrt hat. Was hätte ich dem König sagen sollen? Ich hätte nie gedacht -« Sie begann wieder zu schluchzen, während die hübsche Frau im Unterhemd Liath einen Blick zuwarf, der ihr klar machte, dass sie diese Szene schon häufig erlebt hatte - ein Blick, in dem sich Mitleid und Abscheu mischten. »Ich hätte nie gedacht, dass er versuchen würde, mich zu vergewaltigen. Wenn nicht dieser heilige Mann gekommen wäre und dem ganzen ein Ende bereitet hätte -« »Ja, Freundin, wenn er nicht gewesen wäre!« »Ich dachte schon, der König würde ihn einfach beiseite schieben. Oh, Herrin, wie mutig er war!« Ihre Augen glänzten bei der Erinnerung daran. »Und so hübsch.« »Und ein heiliger Presbyter, Schwester, nicht für unseresgleichen geschaffen, also geh zu deinem guten Ehemann und deinem kranken Kind zurück. Rasch jetzt, denn der König könnte jederzeit zurückkehren.« Zwei Türen standen offen, die eine führte zu einem riesigen Korridor, die andere zu dem schmalen Gang für die Bediensteten. »Geh schon. Dort entlang wirst du zur Halle der Bediensteten kommen. Meine Freundin Teuda schafft dich dann aus dem Palast. Sie wartet am anderen Ende der Treppe.« »Was ist mit dir? Willst du nicht ebenfalls fliehen?« Die hübsche Frau lachte leise. »Nein, wir sind die Huren des Königs. Wir werden so gut bezahlt, dass wir bleiben werden.« »Aber du bist so hübsch.« Terezia sah aus, als würde sie gleich wieder zu weinen anfangen, und sie war kaum bis zur Tür gekommen, als sie sich an einem Stuhl festhalten musste. »Wieso geht er zur Kathedrale und missbraucht gottesfürchtige Frauen, die einfach nur dort sind, um zu beten, wenn er doch hübsche Dinger wie dich haben kann, um sein kaltes Bett wärmen zu lassen?« »Du Unschuldige«, sagte die Hure mit einem leisen Hauch von Verachtung. »Er tut es, weil er es kann. Und jetzt mach schon. Ich höre jemanden kommen.« 559 Terezia schoss den Gang der Bediensteten entlang. Noch bevor der Klang ihrer hastigen Schritte ganz verklungen war, warf sich die Hure mit einem Kichern auf das Bett. Sie rollte sich herum, griff nach einem silbernen Tablett, fand einen Kelch und richtete sich auf, um genüsslich an dem Wein zu nippen. »Oh, Herrin. Wenn ich an all diese armen Frauen denke, die tagaus, tagein ihr Leben mit Waschen oder Kochen oder einem Haufen lausiger Kinder in einer schmutzigen Hütte unten beim Sumpf verbringen, danke ich Gott dafür, dass du und ich hier in Seide gebettet liegen.« »Schönheit dauert nicht ewig«, sagte Liath. Was für einen Anblick sie in ihrer Tunika bieten musste, die in Ermangelung eines Gürtels frei herunterhing. Ihr Köcher hing noch immer an ihrem Rücken. Doch die Hure lächelte Liath so verführerisch an, als würde auch sie ihren herausragenden Status mit einem schönen Kleid unterstreichen, als teilten sie andere Intimitäten in diesem lichtdurchfluteten Raum, während sie auf den König warteten. Liath machte sogar einen Schritt nach vorn, als wollte sie sich auf das Bett neben die hübsche Hure
legen, als wollte ihr Körper tun, was ihm gefiel, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Es war, als versuchte sie, gegen ein störrisches Pferd zu kämpfen, doch dann bekam sie einen Stuhl zu fassen und ließ sich mit einem dumpfen Geräusch nieder. »Oh, rede nicht so mit mir«, sagte ihre Kameradin jetzt. »Ich habe gesehen, wie du ihn betrachtest, wenn er mit Eisenkopf auftaucht.« Sie lachte, allerdings nicht freundlich. »Eisen-Kopf, in der Tat. Er ist so elegant wie eine Axt, dieser König. Keuchen und stöhnen, das kann er. Ganz und gar nicht wie unser Presbyter, nicht wahr, Schätzchen? Herr im Himmel, das ist wirklich ein Mann, so strahlend und hübsch, und auch noch klug und freundlich. Seine Stimme ist so schön, dass man sich darin verlieren könnte, und er hat die Hände eines Heiligen. Hast du dich nicht auch schon in St. Theklas Kapelle geschlichen, um ihm beim Beten zuzuschauen? Ich habe es getan, und ich weiß, dass du es auch getan hast. Ich fra560 ge mich nur, wie es wohl wäre, wenn seine Hände sich um mich bemühen würden. Hast du dich das nicht auch gerade gefragt? Hast du es? Er ist so gewitzt und elegant, so aufmerksam und weise. Aber ich kenne den Blick in seinen Augen. Tief in seinem Innern steht er in Flammen, der Gottgewählte.« Sie seufzte so leidenschaftlich, bewegte sich so sinnlich auf dem Bett, dass Liath selbst beinahe in Flammen zu stehen schien, sich an die Ekstase erinnerte, die ihr Körper kannte. »Wünschst du dir nicht, von ihm erwählt zu werden?« »Doch«, flüsterte sie, nicht ganz sicher, welche Frage sie eigentlich beantwortete; sie wusste nur, dass ihre Erregung von Übelkeit bekämpft wurde, als ihre Gedanken sich einen Augenblick lang schärften. Sie musste hier raus. Sie sprang vom Stuhl hoch, sodass er zu Boden fiel, und stürzte zur Tür. Doch statt in den Schutz des Bedienstetenflurs zu taumeln, betrat sie ein Vorzimmer. Es war mit weichen Teppichen ausgestattet, sodass ihre bloßen Füße keinerlei Geräusche von sich gaben, als sie durch den Raum eilte, um zur einzigen, offen stehenden Tür zu gelangen. Ganz außer Atem lehnte sich sich gegen den Türrahmen, der mit einer Malerei von Kaiser Tianathano verziert war; der Kaiser fuhr darauf einen von Greifen gezogenen zweirädrigen Streitwagen. In der schwach beleuchteten Kammer dahinter las ein Mann laut aus den Heiligen Versen vor; seine Stimme klang so schön und melodiös, dass Liath wie ein Lamm an einem Holzgestell vorbei in ein riesiges Schlafzimmer gezogen wurde, das von kurz bevorstehendem Tod umhüllt war. »>In jenen Tagen<«, so die Stimme, »>gelangte die junge Savamial in den Dienst Gottes. Eines Tages erhielt sie die Aufgabe, neben dem heiligen Vorhang zu schlafen, der den Ruhm Gottes verbarg. Die Lampe, die neben dem heiligen Vorhang brannte, war noch nicht ganz erloschen, und während Savamial schlafend im Tempel lag, rief die Stimme Gottes sie. »Ich komme«, antwortete sie. Sie rannte zu der verschleierten Frau und sagte: »Hier bin ich. Du hast 561 mich gerufen.« Aber die verschleierte Frau antwortete: »Ich habe dich nicht gerufen. Geh wieder schlafen.«<« Die melodiöse Stimme ließ Liaths Herz schmerzhaft pochen. Eine einzelne Lampe brannte auf einem Dreifuß neben dem Bett. Ihr Schein fiel auf eine ältere Frau, die so zerbrechlich war, dass ihre auf der Bettdecke liegenden Hände so blass und dünn wie Pergament wirkten. Ihre Augen waren geschlossen. Dass sie lebte, war nur daran zu erkennen, dass ein bisschen Farbe in ihren Wangen war und dass hin und wieder das eine Augenlid flatterte, wenn der Vorleser seine Stimme erhob. Ein anderer Mann stand mit verzückter Miene hinten in den Schatten. Das Gesicht des Vorlesers war vor Liath verborgen, denn er drehte ihr den Rücken zu. Dafür sah sie, wie elegant sein Gewand von seinen Schultern fiel. Seine Haare glänzten golden im Lampenlicht, als er zu lesen fortfuhr. »>So ging sie zurück und legte sich wieder hin. Aber Gottes Stimme erklang ein zweites Mal. »Savamial!« Savamial erhob sich und rannte zu der heiligen Frau und sagte: »Hier bin ich. Du hast mich gerufen.«<« »Hugh«, hauchte Liath; ihre Lippen bewegten sich, obwohl sie keinen einzigen Laut hatte von sich geben wollen. Ein elender, schrecklicher Schmerz griff nach ihren Eingeweiden, und sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Er drehte sich um, um nachzusehen, wer gekommen war. »Wer ist da?«, fragte er leise. Sie wusste, dass sie weglaufen sollte, aber ihre Beine trugen sie weiter, hinein in den weichen Schimmer, den die Lampe ausstrahlte. Als er sie sah, blickte er überrascht und sogar etwas schüchtern drein. Errötete er etwa wie ein Junge, der einer Frau, für die er eine süße, arglose Leidenschaft hegte, zum ersten Mal begegnete? Es war schwer zu sagen, denn die Lichtquelle befand sich hinter ihm. Er schloss das Buch mit großer Sorgfalt und reichte es seinem Kameraden, der es ohne zu zögern nahm. Hugh erhob sich und stellte sich vor sie. Liath wurde von einer Flut neuer Gedanken beinahe überwältigt. 562 Sie hatte tatsächlich vergessen, wie wunderschön er war — keine oberflächliche Schönheit, die rasch aufblühte und nach einer Jahreszeit vorüber war, sondern eine tiefe, unergründliche Schönheit. Goldene Haare und eine bestimmte Gesichtsform allein sind es nicht, die ein angenehmes Gesicht erschaffen. Wieso hatten Gott es als angemessen betrachtet, ihn mit dieser Kombination aus Gesichtszügen, Zauber und Intensität auszustatten, deren Summe Schönheit war? »Liath! Ich -« Er brach ab, verwirrt und nervös. »Woher kommst du? Wieso bist du hier?« Er warf einen Blick zurück zu dem älteren Presbyter, der mit ernstem Gesicht am Bett der alten Frau stand und zusah, wie das
Lampenlicht über ihr blasses Gesicht zuckte. »Nein, komm mit. Gehen wir nach draußen, um uns zu unterhalten. Ich verstehe nicht, wieso du hergekommen bist.« Kaum hatten sie jedoch die Schwelle überschritten, die in das Vorzimmer führte, als ein Presbyter mittleren Alters eintrat; er hatte die kräftige Leibesfülle eines Mannes, der seit seiner Kindheit gut gegessen hatte. Ihre Lippen, die sich schon geöffnet hatten, um Worte zu sprechen, von denen sie gar nicht wusste, welche es sein würden, schlössen sich wieder. »Gedankt sei Gott, Euer Ehren. Ich habe gehofft, Euch hier zu finden. Wie geht es der heiligen Mutter?« »Ihr Zustand hat sich leider nicht verändert, Bruder Petrus. Mögen Gott Erbarmen haben. Ich habe ihr vorgelesen.« »Ja, ja.« Der kräftige Presbyter wurde ganz offensichtlich immer unruhiger, seine Hände zuckten nervös, und er trat von einem Bein aufs andere wie ein Kind, das pinkeln musste. »Ihr müsst sofort mitkommen. Der König -« »Natürlich komme ich mit.« Hugh blickte Liath an, öffnete seine Hände, als wollte er sagen: Was kann ich da tun? »Wirst du warten?«, fragte er leise. »Oder vielleicht, ich weiß ja nicht, ich kann mir nicht vorstellen, dass ... Nein, vielleicht willst du nicht warten.« Vielleicht war es Neugier, die sie anstachelte, selbst dann noch, 563 als ihr klar wurde, dass keinerlei Bedrohung von ihm ausging. »Ich komme mit, wenn ich darf«, sagte ihre Stimme. Er strahlte. Er lächelte süß, dann blickte er zur Seite, als wäre er beschämt über seine Reaktion. »Ich bitte Euch, Euer Ehren, ich fürchte, es wird Gewalt geschehen, wenn Ihr nicht sofort mitkommt -« »Habt keine Furcht, Bruder Petrus. Gehen wir.« Der eine überschwänglich ausgestattete Flur führte zum nächsten. Sie verloren sich in einem Gewirr aus Treppen und Torbögen, Säulengängen und Innenhöfen. Schließlich verließen sie einen Palasthof und betraten einen zweiten. Hier, wo die große Halle an einen langen Flügel der königlichen Gemächer stieß, traten sie nach draußen auf einen kleinen Innenhof, der von Feigen- und Zitronenbäumen gesäumt war. In der Mitte waren Soldaten auf einem staubigen Oval mit ihren Übungen beschäftigt. Doch in dem Ring, der von einem so seltsam hellen, rosigen Licht beschienen wurde, dass Liath keinerlei Ahnung hatte, welche Jahreszeit oder Stunde gerade war, stimmte irgendetwas nicht. Ein Mann mit einem Eisenhelm und einem kräftig wattierten Umhang war dabei, ein paar Jugendliche in den Schmutz zu werfen. Bruder Petrus war so außer Atem, dass er kaum eine Erklärung hervorbrachte. »Ihr wisst, wie das ist ... eine Frau war in der Kathedrale, um zu beten ... er hat sie gesehen ... und Begierde hat sich seiner bemächtigt ... Er hat sie zu sich bringen lassen ... aber dann ist er aus dem Zimmer gerufen worden ... als er zurückkehrte, war sie nicht mehr da. Er ist stinksauer. Ihr wisst, wie sehr er es hasst, wenn man sich ihm widersetzt.« Hughs Mund spannte sich an. Er fuhr mit dem Handrücken über seine Wange, als wäre er von einer unerwarteten und unerwünschten Erinnerung heimgesucht worden. Der eisenbehelmte Mann hatte ein stumpfes Holzschwert, aber er schlug damit so hemmungslos auf sein Opfer ein, als hätte er alles vergessen bis auf die reflexhafte Bewegung seines Schwertarmes, der immer 564 und immer wieder zuschlug. Der junge Mann schrie laut auf, bettelte um Gnade. Die Soldaten hielten sich unsicher zurück; niemand von ihnen versuchte, dazwischenzugehen. Hugh nahm seinen Gürtel ab und zog sein Presbyter-Gewand aus, sodass eine einfache Leinentunika und Beinkleider zum Vorschein kamen - es war die Art von Kleidung, wie sie der jüngere Sohn einer Edelfrau zu tragen pflegte, wenn er in der Gefolgschaft seines älteren Bruders ausritt. Er war groß, schlank und kräftig. Als er den Dienern ein Zeichen gab, eilte einer zu ihm und reichte ihm ein wattiertes Schwert. »Nein, mein König«, sagte er mit seiner klaren, tragenden Stimme, während er in das ovale Feld trat, »dieser Junge ist keine echte Herausforderung für Euch, oder? Ich möchte Euch stattdessen herausfordern.« Der König zögerte zwischen dem einen und dem nächsten Schlag und hob den Kopf. Liath fing einen brutalen Blick hinter dem Visier auf. Er sprach mit der Stimme eines Mannes, den ein Übermaß an schlechter Laune quälte. »Zweifellos seid Ihr es gewesen, der die Frau aus meinem Palast geschafft hat, mein treuer Berater.« »Sie ist eine verheiratete Frau, die nichts anderes vorhatte als zu Gott zu beten, um Heilung für ihr krankes Kind zu erhalten. Sie hat sowohl einen Vater als auch einen Ehemann in der Steinmetz-Gilde, mein König. Glaubt Ihr, es bringt Euch Nutzen, die Männer zu beleidigen, die die Stadtmauern errichten und ausbessern?« »Ich hätte sie unbeschädigt wieder zurückgegeben!« Als der König sah, dass Hugh keinen Helm trug, zog er seinen ab, bevor er einen Satz auf ihn zu machte. Hugh war darauf vorbereitet gewesen. Er hatte nicht die breiten Schultern eines Mannes, der immerzu eine Rüstung trug, aber er hatte sichtlich für den Krieg geübt. Und wieso auch nicht? Äbte und Kirchenmänner führten häufig Truppenkontingente in den Krieg. Ein solcher Mann musste stets bereit sein, notfalls auch mitten im Gebet dem Ruf seines Herrschers zu folgen. 565 Der König besaß noch weniger Anmut als ein Bulle. Er war stark und wütend und hatte Erfahrung, als er jetzt
zustieß, aber es war keine Freude, ihm zuzusehen. So elegant wie eine Axt, hatte seine Hure über seine Art, Liebe zu machen, gesagt, nichts als Keuchen und Stöhnen. Als Liath ihn kämpfen sah, konnte sie sehr gut verstehen, was sie gemeint hatte. Während sie Hugh betrachtete, bemerkte sie, wie er seinen Gegner maß, ihm geduldig zusetzte. Sie sah die Anmut seiner Bewegungen, die niemals zu vorsichtig oder zu kühn waren. Schweiß brach ihm am Nacken aus. Sie erinnerte sich: wie er eine dünne Schweißschicht dort und zwischen den Schulterblättern bekam. Wie seine Hände feucht wurden. Eine Schweißperle tropfte über die Stirn. Er wandte den Blick niemals von seinem Gegner ab; wie ein Liebhaber hatte er keinerlei Augen für etwas anderes. Nicht einmal für sie. Sie stellte fest, dass ihre Hände ihre Kehle berührten, und sie zitterte heftig und würgte. Der Tanz der Schwerter ging dessen ungeachtet weiter, blaue Flecken wurden ausgetauscht, eine Lippe platzte auf, Haare wurden feucht vom Schweiß. Der König hatte eine Narbe auf der einen Wange, die jetzt lebhaft leuchtete, je mehr er schwitzte. Er hatte einen Blick, der nahe legte, dass er weniger deshalb kämpfte, weil es ihm Spaß machte, sondern weil er gewinnen wollte. Hugh war unterlegen, was Größe und Können betraf, aber da er sich nicht ums Gewinnen scherte, konnte er sich ganz seiner Verteidigung widmen. Ihre Hände sanken herunter. Seltsam, dass sie so reagiert hatte. Sie hatte nichts zu befürchten. Schließlich trat der König zurück und warf keuchend sein Schwert beiseite. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und kicherte. »Gut gekämpft, Berater. Ich werde noch einen richtigen Krieger aus Euch machen.« »Das ist leider nicht möglich, mein König, denn Gott haben mich für eine andere Arbeit auserwählt. Ich muss zurückkehren und mich um die heilige Mutter kümmern.« 566 »Und ich muss zu den Unterkünften gehen und die neuen Truppen inspizieren. Ihr werdet mir heute Abend beim Essen Gesellschaft leisten.« »Wie Ihr wünscht, mein König.« Der König rief seine Hauptleute zusammen, und sie verließen gemeinsam das Feld. Hugh blieb noch zurück und unterhielt sich mit einem Verwalter; er stellte sicher, dass für die Behandlung des verletzten Mannes gesorgt wurde. Der Hof leerte sich, und schließlich standen nur noch Hugh und Liath da. Zwei Diener warteten unter dem Säulengang, bereit, auf seinen Befehl hin zu ihm zu eilen. Er wischte sich das Gesicht mit einem Lappen ab und trat zu ihr in den Schatten eines Feigenbaums. »Du bist gekommen, um das Buch zu holen. Ich bin überrascht, dass du allein gekommen bist. Du hast keinerlei Grund, mir zu trauen.« Nein, das habe ich nicht, dachte sie flüchtig, doch ihre Stimme erklärte: »Das Buch.« Er gestikulierte, bedeutete ihr, ein Stück mit ihm zu gehen. »Ich habe hier einen alten Gelehrten gefunden, der sich mit dem auskennt, was in der Mitte geschrieben steht.« Es war so viele Monate her, seit er Pas Buch der Geheimnisse gestohlen hatte, dass es einen Augenblick dauerte, ehe sie begriff, was er meinte. Pas Buch bestand eigentlich aus drei Büchern, die zusammengebunden waren. Das erste Buch, auf Pergament geschrieben, beinhaltete eine Zusammenstellung zu dem Thema Zauberei: Zitate und Berichte, die Pa im Laufe der Jahre aus anderen Büchern abgeschrieben hatte. Das dritte Buch war in der Art der Ungläubigen auf Papier geschrieben, eine Abschrift von al-Haithans großer astronomischer Abhandlung Über die Konfiguration der Welt. Sie war nie in der Lage gewesen, das mittlere Buch zu lesen. Es war auf Papyrus geschrieben, in einer ihr unbekannten Sprache verfasst und ihr stets ein Mysterium geblieben. Eine 567 andere Handschrift als die ursprüngliche hatte ein paar Bemerkungen in Arethusanisch verfasst, und einiges davon hatte sie enträtseln können, da Hugh ihr Arethusanisch beigebracht hatte. Hugh hatte es ihr beigebracht, in jenen schrecklichen Monaten, als sie in Friedleben seine Sklavin gewesen war. Sie blieb abrupt unter dem Säulengang stehen und wurde von Krämpfen geschüttelt, als die Erinnerung an jene Winternacht zurückkehrte. War sie vollkommen verrückt geworden, hier neben Hugh herzugehen, als wäre er ein ganz gewöhnlicher Mann? Er machte noch zwei weitere Schritte, bemerkte dann, dass sie stehen geblieben war, und drehte sich um. Er betrachtete sie zweifelnd. Als er ihre Miene sah, veränderte sich sein Ausdruck. »Ich bitte um Vergebung. Ich bin zu anmaßend gewesen. Einer meiner Diener wird dich sicher aus dem Palast herausbringen. Bitte glaube mir, dass du nichts mehr von mir zu befürchten hast.« »Ich fürchte dich nicht, ich hasse dich«, wollte sie sagen, aber ihre Stimme sagte: »Was meinst du?« Er blickte schüchtern zur Seite. »Ich kann unmöglich glauben, was ich in dem alten Text gelesen habe. Nichts, was ich jemals erwartet hätte, und ich gebe zu, dass ich gedacht - und gehofft - hatte, dort eine alte Abhandlung über Zauberei zu finden, über die Herrschaft des Wissens, die uns lange verborgen geblieben ist.« »Hast du das?«, fragte sie, unfähig, nicht wissen zu wollen, welche Geheimnisse der alte Text verbarg. »Was ich gelesen habe, hat mein Leben verändert. Gott haben mir gezeigt, wie sehr ich mich geirrt habe und wie ich mich verändern muss.« Die Schatten gaben seinem Ausdruck noch mehr Tiefe, seinen gut aussehenden Augen, dem geschwungenen Mund. Er runzelte die Stirn. »Nein, es hat schon vorher begonnen. Als Erstes war da die Frau, die dich aus Werlida weggeholt hat. Sie hat mich beschämt. Sie hat mich zum Nachdenken gebracht.
Veränderungen sind nicht leicht zu bewerkstelligen.« Ein sanfter Wind fuhr durch die Bogengänge und brachte die Glyzinien in Bewegung, die sich um die Steinsäulen wanden. Ein 568 schwacher Glockenklang ertönte, aber Liath konnte nicht sagen, woher er kam - er hätte von überall und nirgendwo herkommen können. Die beiden Diener warteten geduldig einen Steinwurf entfernt beim Bogengang, der nach draußen zu dem Hof führte, an dem sich die beiden Paläste trafen - der eine weltlich, der andere religiös, der eine der des Herrschers, der andere der der Skopos. Ich weiß, wo ich bin. Ich bin in Darre, der heiligen Stadt, dem Heim der heiligen Mutter, die der Kirche vorsteht. Sie konnte die alten Steine regelrecht einatmen, die Erinnerung des Reiches, das hier Jahrhunderte zuvor entstanden und dann zusammengebrochen war, zerstört durch die Plünderungszüge des Bwrvolkes und ihrer wilden Verbündeten, aber auch durch die eigene, innere Verdorbenheit. Wenn sie unter diesen Bogengang hindurchschritt, konnte sie davongehen, in die Stadt - aber sie konnte sich nicht rühren. »Wo ist das Buch?«, fragte ihre Stimme. Er blickte auf, und sein Gesicht strahlte bei dieser schlichten Frage. »Wenn du es willst.« Er deutete auf den Gang. »Ich habe meine eigenen Gemächer im Palast der Skopos. Natürlich leben alle Presbyter dort, abgesehen von jenen, die als Botschafter unterwegs sind.« Er kam nicht ins Stocken. Er war zu gebildet, zu beherrscht, zu erfahren in den glatten Umgangsformen des Hofes. »Da ist auch die Bibliothek. Oh, Gott, Liath! Du kannst dir diese Bibliothek gar nicht vorstellen! So vieles ist hier, von dem ich niemals gehofft hatte, es lesen zu können. Manchmal komme ich einfach nur her, setze mich zwischen die Bücher und atme ihren Geruch ein. Ich wünschte, ich könnte sie einfach an mich pressen, und die Stimme jeder einzelnen Verfasserin, jedes einzelnen Verfassers würde sich in meinen Körper einschmelzen.« War es plötzlich heißer geworden? Ihre Wangen brannten wie Feuer. »Weißt du, was ich hier gefunden habe?«, fragte er. Er ließ sie den Gang vorausgehen, der mit dicken, langen Vorhängen ausgestattet war, sodass sich gut jemand dahinter verbergen konnte. 569 Doch bevor sie fragen und er antworten konnte, kam ein Presbyter zu ihnen, ein schlanker Mann mit einem leichenhaften Gesicht. »Ich bitte Euch, Euer Ehren. Eine Delegation aus der Stadt ist eingetroffen. Es gibt wieder Ärger. Ihr wisst doch, wie das mit diesen Söldnern ist, die Eisenkopf angeheuert hat. Sie belästigen die Stadtbewohner, aber da die heilige Mutter krank ist, gibt es niemanden, der zwischen beiden Gruppen vermitteln könnte. Mit Eisenkopf kann man darüber nicht sprechen -« »Ich komme.« Hugh wandte sich an Liath. »Einer meiner Diener wird dir den Weg zur Bibliothek zeigen. Ich komme nach, sobald ich kann.« Wieder zögerte er. »Aber nur, wenn - nein, ich sage nichts mehr. Alles Gute.« Ihre Stimme antwortete: »Ich werde dort auf dich warten.« Schon bald stand sie wieder vor dem Katalog und fuhr mit den Fingern über das Pergament, musterte die Titel. Anmerkungen zum Traum von Cornelia von Eustacia. Artemisias Von den Träumen. Eine Abschrift von den Annalen von Autun lag unbeachtet auf dem Tisch neben ihr, eine vollständige Chronik über das Ende der Herrschaft von Arnulf dem Jüngeren, zusammen mit einer vollständigen Wiedergabe der Mondphasen und Bewegungen durch den Zodiak über eine Zeit von einhundertachtundsechzig Jahren hinweg. Ihre Hände blätterten träge die Seiten um, während ihr Geist versuchte, sich auf die Worte zu konzentrieren. Taillefers jüngste Tochter Gundara, die mit dem Herzog von Rossalia verheiratet worden war ..., aber sie blickte immer wieder zur Tür, fragte sich, ob der gerade eintretende Mann Hugh war, fragte sich, ob sie Hugh wohl in irgendeiner Halle oder einem offiziellen Zimmer finden würde, das man für solch heikle Verhandlungen bereitgestellt haben mochte. Immerhin war es der Versuch, den Frieden in einem unruhigen Königreich zu bewahren, wo ein Konflikt nur zu dem Tod von Unschuldigen führen konnte. Schließlich gab sie dem festen Griff nach, der an ihrem Verstand zerrte und ihren Körper bearbeitete. Sie setzte sich auf eine Bank 570 und ließ sich von der Anwesenheit so vieler Bücher trösten, atmete ihren Geruch ein. Konnten all diese Worte, die von so vielen Schreibern und Gelehrten verfasst worden waren, in der Luft schweben und in sie eindringen, mit ihrem Körper verschmelzen, eins mit ihr werden, für immer ein Teil von ihr? Es war immer leichter, einfach loszulassen und nachzugeben. Sie schlummerte. In ihren Träumen geht sie durch einen Rosennebel, versucht den Pfad zu finden. Aber sie ist verloren, und sie muss den Weg finden, der nach oben führt. Irgendjemand hat sie jedoch im Griff, denn an der Kehle ist sie mit einem Seidenband festgebunden, das durch ihren ganzen Körper gerutscht ist. Es ist ihr unmöglich, wegzugehen. »Liath.« Sie erwachte schlagartig; ihr Herz hämmerte, und sie fuhr vor seiner verhassten Berührung zurück. Aber während sie sich aufsetzte, den Schmerz von der harten Bank im Rücken und einen Knoten in der Hüfte spürte dort, wo ihr Köcher sich gegen ihren Knochen gedrückt hatte -, sah sie Hugh eine Armeslänge von sich entfernt stehen. Es war düster in dem großen Raum, als wäre die Sonne untergegangen. Zwei Diener standen hinter Hugh und trugen eine Lampe, um ihm den Weg zu beleuchten.
Er lächelte. »Ich hatte mir gedacht, dass ich dich beim Lesen finden würde.« »Ich bin eingeschlafen.« Gereiztheit flackerte kurz auf, legte sich aber rasch wieder und verschwand. »Ich bitte um Entschuldigung. Die Verhandlungen haben länger gedauert, als ich erwartet hatte. Und jetzt muss ich dich schon wieder um Vergebung bitten, denn ich werde zum Essen erwartet. Der König ist sehr ungeduldig, und wenn er betrunken ist, sollte jemand bei ihm sein, der seine Ausbrüche ein wenig mildern kann. Wenn du Hunger hast, kannst du in einem anderen Zimmer etwas essen.« »Nein«, sagte die Stimme. »Ich komme mit dir.« 571 Glänzte da Lust in seinen Augen? Begierde, ja. Er konnte es nicht ganz verbergen, obwohl er zurückhaltend die Stirn runzelte. »Wenn du andere Kleidung möchtest, etwas Passenderes vielleicht, könnte ich dafür sorgen, dass du etwas bekommst.« Die Berührung von Seide auf ihrer Haut erinnerte sie an die Zärtlichkeit einer Hand. Erinnerungen blitzten auf, scharf und bitter: seine Finger in ihren Haaren. »Nein«, platzte sie heraus, obwohl ein anderes Wort wie Galle in ihrer Kehle aufstieg: ]a. »Ich bleibe so, wie ich bin.« Der Köcher lag beruhigend auf ihrem Rücken, als sie aufstand. Diese armseligen Dinge gehörten ihr - die Tunika und die Beinkleider, der Köcher und der Bogen, der Goldreif und der Lapislazuli-Ring. Sie hing an ihnen, auch wenn sie nicht recht wusste, wieso. Er nickte gedankenvoll, von irgendetwas fasziniert - von ihren armseligen Habseligkeiten oder ihren stockenden Worten. Er trug wieder das Presbyter-Gewand aus heller Seide, kein strahlendes Weiß, sondern ein sanftes, mildes Elfenbein, wie der Glanz des Mondes. »Du bist sehr schön«, sagte sie; die Worte kamen einfach so aus ihr heraus. Aber es stimmte ja. Oder etwa nicht? Manche Dinge stimmten einfach, ob man das nun wollte oder nicht. Er errötete und wandte sich ab, sodass sie nur sein Profil sehen konnte. »Liath«, sagte er, doch seine Stimme brach, so sehr war er von seinen Gefühlen überwältigt. Was er als Nächstes hatte sagen wollen, blieb ungesagt. Er war beschämt oder schüchtern, verblüfft oder bescheiden; es war unmöglich, das zu entscheiden. Schließlich schüttelte er den Kopf, als wollte er die Gefühle abschütteln. »Der König wartet. Ich muss gehen.« Er streckte ihr die Hand entgegen, besann sich dann eines Besseren und steckte sie als Faust in die Tasche seines Gewandes. Sie gingen nebeneinander her, aber eine Armeslänge voneinander entfernt. Die Festhalle des Königs war doppelt so groß wie jede andere, die Liath zuvor gesehen hatte. Sie bestand ganz und gar aus Stein und war im alten dariyanischen Stil gestaltet. Möglicherweise handel572 te es sich aber auch um eine alte Halle, die noch in so gutem Zustand war, dass sie für Staatszwecke benutzt werden konnte. Wandteppiche und Vorhänge in den Farben des Feuers - golden und rot - bedeckten die Wände. Sie erinnerte sich an Feuer. Hier brannte keins. Abgesehen von den Lampen hatte sie nicht eine einzige Flamme gesehen, keine Feuerstelle und kein Herdfeuer. Aber natürlich war es in Aosta auch das gesamte Jahr hindurch wärmer. Vielleicht benötigte man hier nicht so viele Feuerstellen. Dennoch kam es ihr seltsam vor. Der König saß umgeben von seinen engsten Kameraden am hohen Tisch auf einem Podest; Hugh saß rechterhand von ihm. Johan Eisenkopf, König von Aosta, hatte nicht nur das lauteste Lachen und die ungeschliffenste Stimme, sondern auch den unanständigsten Blick von allen Leuten an diesem Tisch. Er trug eine Eisenkrone, vielleicht aus Spott über seine Position, von der alle wussten, wie er sie erlangt hatte - mit dem Schwert, nicht durch das Recht des Blutes. Vielleicht trug er sie aber auch, um sein Volk an seine Macht zu erinnern. Er hatte Königin Adelheids Schatz geraubt, und wer die königlichen Schatztruhen besaß, hatte genug Gold, um tun zu können, was immer er wollte. »Er hätte es vorgezogen, Königin Adelheid auch die anderen Schätze zu rauben«, sagte der Mann, der neben Liath am Tisch saß. Er kicherte. »Aber er konnte sie nicht kriegen. Deshalb trägt er die Eisenkrone. Er besitzt weder die königlichen Kronen noch die Siegel. Sie konnte mit ihnen entkommen.« »Wie kann er dann hier herrschen, wenn er keines der Siegel der Herrschaft besitzt?«, fragte Liath. Hugh saß zu ihrer Linken, der aostanische Herzog, der mit ihr sprach, zu ihrer Rechten. Der aostanische Herzog schnaubte. »Er hat zweitausend arethusanische und nakrianische Söldner in der Stadt, außerdem hält er fünfzig Kinder von Edlen als Geiseln.« Er deutete auf einen anderen Tisch, an dem Kinder unterschiedlichen Alters in angespanntem Schweigen saßen und aßen, was ihnen gebracht wurde. Eins von ihnen, ein blondes Mädchen von nicht mehr als dreizehn Jah573 ren, wurde jetzt hergebracht und musste links von Eisenkopf Platz nehmen. Der König gab ihr Wein zu trinken und betätschelte ihre Schulter. Sie hatte einen glasigen Ausdruck im Gesicht, während sie hoffnungslos in Hysterie abglitt. Sie war in seiner Gewalt, und das wusste sie, und er, der es natürlich auch wusste, genoss das. Liath blickte rasch zur Seite und stellte fest, dass Hugh sie beobachtete. Er bot ihr Wein von seinem Becher. Sie schüttelte benommen den Kopf und wandte sich ihrem anderen Tischnachbarn zu. »Die heilige Mutter hat Eisenkopf gekrönt und ihn zum König bestimmt«, fügte der aostanische Herzog hinzu. »Wie können wir ihr Wort anzweifeln?« »Liegt die Heilige Mutter nicht im Sterben?« »Das tut sie, mögen Gott Erbarmen mit ihr haben. Die Krankheit ist ganz plötzlich über sie gekommen. Einige behaupten, sie wäre vergiftet worden.«
»Was glaubt Ihr?« Er zuckte unsicher mit den Achseln. »Wieso sollte Eisenkopf ausgerechnet diejenige vergiften, die seine Herrschaft erst möglich gemacht hat?« »Was ist mit Hugh von Austra?« Er zwinkerte. Für einen Augenblick glaubte sie, er hätte sie nicht verstanden, als hätte sie plötzlich angefangen, jinnisch zu sprechen. »Presbyter Hugh? Dass sie so lange am Leben geblieben ist, ist einzig seiner Pflege zu verdanken. Als er zu ihrem Vertrauten geworden ist, hat sie neue Kräfte gesammelt, aber seit letzter Woche geht es ihr zunehmend schlechter.« »Sie ist nicht mehr jung.« »Nein, das ist sie wirklich nicht. Gott handeln, wie Sie es für angemessen halten. Wenn Sie sich entscheiden, die heilige Mutter zu sich zu holen, dann sei es so.« Ein Stück Fleisch wurde herumgereicht, aber sie konnte es nicht über sich bringen, davon zu essen. Sie hatte keinen Hunger. Eisenkopf wurde immer betrunkener und aggressiver. Er unterbrach die Poeten in ihren Lobeshym574 nen, rief streitlustig nach noch mehr Wein und zwang ihn dem armen Mädchen neben sich regelrecht auf. Sie begann jetzt zu weinen. Plötzlich sprang der König auf. »Ich habe einen Durst, den kein Wein stillen kann!«, brüllte er. Absolute Stille senkte sich über die Halle. Eisenkopf riss das Mädchen hoch und zerrte es aus der Halle. Bevor irgendjemand etwas tun konnte, war Hugh schon aufgesprungen und hinter den beiden hergeeilt. »Wenn irgendwer das Mädchen retten kann, dann Presbyter Hugh«, sagte der aostanische Herzog. »Möchtet Ihr etwas Wein?« »Nein, danke.« Ihr Köcher verfing sich an der Rückenlehne, als sie sich etwas zu rasch erhob. Als sie dann den breiten Flur betrat, der von der Halle zu den königlichen Gemächern führte, war nichts mehr vom König zu sehen, nur noch Hugh und das Mädchen, das schluchzend zu seinen Füßen lag. »Seid gesegnet, Euer Ehren. Er wollte mich vergewaltigen, und ich wusste nicht ... ich wusste nicht, wie ... es sind diese Gerüchte, die er aus dem Norden gehört hat, dass meine Mutter, die Edelfrau von Novomo, im letzten Jahr die Königin bei sich beherbergt hat. Ich wusste, dass er mich an ihrer Stelle bestrafen würde. Aber Ihr habt mich gerettet! Ihr seid der Einzige, der mutig genug ist, sich ihm zu widersetzen -« »Still jetzt, Kind.« Er half ihr auf und rief dann einen Diener zu sich. »Sorg dafür, dass sie in ihr Zimmer geführt wird und Ruhe hat. Und halte sie vom König fern.« »Natürlich, Euer Ehren.« »Das war eine edle Tat«, sagte Liath, als das Mädchen weggeführt wurde. Es war seltsam, dass die Worte, die eigentlich sardonisch gemeint gewesen waren, jetzt wie ein Lob klangen. »Es ist nicht richtig.« Eine Lampe warf einen goldfarbenen Schimmer auf Hughs Haare und sein Gewand. »Sie ist so jung, und sie wollte nicht.« Wut versengte die Ketten, die ihre Zunge im Zaum hielten. »Und ich, Hugh? Habe ich etwa gewollt?« 575 Seine Gesichtsfarbe veränderte sich. »Zu meiner Schande, nein«, murmelte er heiser. Und ganz schnell ging er davon - weg von ihr, von der Halle, in der das Singen und die Fröhlichkeit weitergingen, ungeachtet der Abwesenheit des verhassten Königs. Sie eilte hinter ihm her, konnte ihn aber irgendwie nicht erreichen, eilte durch die mit Teppichen ausgelegten Flure, die Treppen hinauf, in deren Geländer sich windende Drachen eingeschnitzt waren, und überquerte eine Brücke, die in den heiligen Bezirk des Palastes der Skopos führte. Schließlich blieb er an der Brustwehr stehen, von der aus er tief unter sich den Fluss und die entfernten Lichter des Hafens im Westen sehen konnte. Sie waren allein, abgesehen von einer Lampe, die in der sanften Brise schwankte und deren Flamme im Wind zuckte. Er wandte sich ihr zu. »Wieso folgst du mir? Kannst du mir vergeben, was ich dir angetan habe?« Es war, als würde man einen störrischen Esel schlagen, um Worte aus ihm herauszutreiben. »Wie kommst du auf die Idee, dass ich das könnte?« »Wieso bist du dann hergekommen? Wieso quälst du mich? Falls du mich allerdings auf diese Weise für die Schmerzen bestrafen willst, die ich dir angetan habe, hast du dich reichlich gerächt.« »Wie könnte ich dich quälen?« »Wenn ich nach so langer Zeit wieder deine Stimme höre und dein Gesicht sehe ? Wenn ich so nah bei dir stehe und dich nicht berühren darf? Ist das nicht Qual genug? Nein.« Er drehte sich plötzlich um und öffnete Türen, die sie bisher nicht gesehen hatte. »Ich sollte nicht von Qualen sprechen. Ich, der so schwer gesündigt und dir so viel Pein verursacht hat.« Ihre Stimme war wieder ihre eigene, aber ihre Glieder arbeiteten noch immer so, als gehorchten sie einem anderen Willen. Sie folgte ihm in ein einfach eingerichtetes Zimmer, in dem nur ein Bett, ein mit Büchern bedeckter Tisch, eine Bank und eine Truhe standen. Eine Lampe hing von der Decke. Die Vorhänge, die die 576 Wände etwas weicher erscheinen ließen, hatten kein Muster, waren nur in einem hellen Goldton, der so schön war wie der seiner Haare, wie das Echo der Sonne. Er stand neben dem Tisch, ohne sie anzublicken. Das Licht schälte sein Profil heraus. Wie die Sonne den Schatten.
Es kam einfach zu plötzlich. Die Worte strömten aus ihr heraus, während ihre Finger über ihren Nacken strichen. »Alles was dir gefiel, musstest du haben. Also musstest du auch mich haben.« Gereizt fingerte er an einem Pergament herum, das auf dem Tisch lag. Er fuhr mit einem Finger die säuberlichen Linien des Textes hoch und dann wieder nach unten, nach oben und wieder nach unten. »Du bist alles gewesen, was für mich wichtig war. Vom ersten Tag an, als ich dich getroffen habe, war es, als wäre ich geblendet worden, als würde ein Schleier über meinen Augen liegen. Ich konnte nur noch dich sehen.« Er verstummte, fuhr dann aber schließlich fort. »Ich kenne dein Geheimnis, ich weiß, was du bist. Aber ich werde dich niemals verraten.« »Was bin ich?« Jetzt sah er auf, und ihre Blicke begegneten sich; seiner war so eindringlich und glühend, dass sie sich wünschte, sie hätte beiseite gesehen. Es war besser, ihn nicht zu sehen, so verwundet und fehlerhaft, wie er war, aber immer noch so schön wie die Morgendämmerung, als er jetzt sozusagen nackt vor ihr stand und ihr seine Begierde offenbarte. »Feuer«, sagte er heiser. »Oh, Gott, Liath, geh. Geh. Ich begehre dich zu sehr. Ich kann mir nicht trauen, wenn du in meiner Nähe bist. Ich bemühe mich, ein würdiges Leben als Presbyter zu leben und Gott zu dienen.« »Ich gehe«, sagte sie, stolperte über die Worte, als Ketten wieder ihr seidenes Band um sie legten. Sie hatte eigentlich sagen wollen: Ich bleibe. »Aber du hast gesagt, dass du Pas Buch hast.« »Das Buch.« Er hob die Hand, um sein Gesicht zu verbergen. Wie erstarrt stand er einen Augenblick da, hielt dabei seine Gefühle vor ihr verborgen, und sie fühlte sich eine Zeit lang orientie577 rungslos, als würde die Welt sich unter ihren Füßen wild drehen und sie kurz vor einem Sturz stehen oder als würde sie endlos tief fallen und für immer durch die Sphären treiben, bis sie schließlich im Abgrund verloren ging. »Das Buch.« Er ließ die Hand sinken, und das Pergament raschelte. Ihr Blick wurde von den Zeichen darauf angezogen. »Was ist das?«, fragte sie. Die Fesseln wurden fester gezurrt, während sie sich so neben ihn stellte, dass sie nicht das Licht verdeckte. »Das ist ein Datum.« »Ein Datum? Ich habe versucht, die Zeichen zu enträtseln. Ich weiß nicht, was sie bedeuten, aber sicher steckt ein Muster dahinter. Kennst du es?« »Ja, ja«, sagte sie mit wachsender Erregung »Pa und ich haben eine Tontafel mit einer Schrift wie dieser in den Ruinen von Kartiako gesehen. Da war ein sehr alter Mann, ein Weiser, der behauptet hat, Wissen über die ganz frühen Zeiten seines Stammes zu besitzen. Natürlich kann ich diese Schrift aus Stöcken und Winkeln nicht entziffern, aber er erklärte, auf der Tafel wäre der Kurs von Somorhas aufgeschrieben. Wann sie am Abendhimmel erscheint und wann am Morgen.« »Und wann die Zeiten des Nichterscheinens sind?« »Ja, genau! Aber dies ist eine ganze Seite! Das andere waren nur Fragmente. Gibt es noch mehr?« »Dies ist die einzige Seite, die ich gesehen habe. Ich glaube, sie ist von einer noch älteren Quelle abgeschrieben worden, vielleicht von diesen Tontafeln, die du erwähnt hast. Hier, siehst du«, er deutete auf einen Schmutzfleck, »hier hat die Person, die es aufgeschrieben hat, einen Fehler gemacht und ihn korrigiert. Wie funktioniert das?« »Die alten Babaharshaner haben die Sterne tausend Jahre lang beobachtet. Sie erkannten, dass Somorhas sowohl der Abendstern als auch der Morgenstern ist und dass sie, wenn sie in den Schatten der Sonne fällt, eine Zeit lang verschwunden ist, manchmal acht Tage, manchmal auch fünfzig Tage.« 578 Er nickte erregt. »Aber Somorhas ist ein Teil von Gottes Schöpfung. Das Schicksal leitet ihre Bewegungen. Kehrt sie nicht alle acht Jahre an den Ort zurück, an dem sie schon einmal war?« »Ja, natürlich. Hier, sieh mal. Diese Zeichen sind ein Datum, wie der Weise von Kartiako gesagt hat. Er nannte es -« Es dauerte nur einen Augenblick, bis sie ihre Aufmerksamkeit auf die Stadt des Gedächtnisses gelenkt hatte. Sie schritt an den sieben Toren vorbei, an der Rose der Heilung, dem Schwert der Stärke, dem Becher des grenzenlosen Wassers, dem Ring aus Feuer, dem Thron der Tugenden, dem Zepter der Weisheit, schritt unter der Sternenkrone hindurch bis zur obersten Stelle der Stadt, wo die Halle der Astronomen lag, ein rundes Gebäude, umringt von kleineren, gewundenen Mauern. Hier in diesen Galerien hatte sie ihre Erinnerungs-Bilder an die Zyklen der Wandelsterne und das Fortschreiten der Tagundnachtgleichen niedergelegt. Hier fand sie, was sie gesucht hatte. »Er hatte es den Monat von >lshan< genannt. Diese Linien hier bedeuten Zahlen, das hier heißt also elf. Ich weiß nicht, wie man den Rest lesen muss, aber er hat gesagt, dass es der elfte Tag des Monats Ishan ist. Somorhas würde - nun, das ist die Frage, nicht wahr? Entweder ist es ihr erstes Erscheinen als Morgenstern für diesen Zyklus oder ihr Verschwinden in den Glanz der Sonne.« Sie brach ab, erinnerte sich, wie schnell andere sich langweilten, wenn sie von Zyklen und Epizyklen zu sprechen begann, von Konjunktionen und Voranschreiten, dem unendlich faszinierenden Wunder des Universums. »Weißt du«, sagte er langsam, während er wie abwesend über die Zeichen fuhr, »es hat hier Diskussionen unter den Astronomen gegeben, inwieweit Ptolomaias Ausgleichspunkt brauchbar ist. Natürlich behaupten einige, dass
sich die Himmelssphären nicht gleichzeitig bewegen können, wenn die Planeten sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegen, was, wie wir wissen, so sein muss. Aber ohne den Ausgleichspunkt können wir nichts über die Bewegungen der Planeten in den Himmeln aussagen.« 579 »Es sei denn, Ptolomaia hatte Unrecht, und die Erde ist nicht fest und starr.« Verblüfft starrte er sie an, während das Licht der Lampe zischte und eine Brise, die von der Brüstung herbeiwehte, die Papiere auf dem Tisch durcheinander wirbelte. Sie fuhr fort, mutig geworden durch die traumähnliche Art ihres Treffens, durch seine Überraschung, durch eine wilde Rücksichtslosigkeit, die sie überkam - hier, wo sie frei die verbotenen Worte aussprechen konnte, die den Mathematiki bekannt waren. »Was ist, wenn die Himmelssphären unbeweglich sind, und es die Erde ist, die sich von Westen nach Osten dreht?« Er beugte sich etwas hinab, stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab und schloss die Augen, während er darüber nachdachte. »Von Westen nach Osten«, murmelte er. »Das würde denselben Effekt hervorrufen. Oder, wenn sich sowohl die Himmelssphären als auch die Erde bewegen würden, die Himmelssphären von Osten nach Westen, die Erde von Westen nach Osten -« Er verstummte, zu sehr von dem Rätsel gefesselt, um fortfahren zu können, von der gleichen Leidenschaft für das Wissen gepackt wie sie. Hatte sie ihn falsch beurteilt? Hatte die Entwürdigung, die Anne ihm zugefügt hatte, ihn dazu geführt, in sein Innerstes zu schauen und zu verändern, was er dort vorgefunden hatte? War es nicht ihr Herzenswunsch, dass Hugh sich in eine andere Person verwandelte? Eine Tür wurde von der Brise erfasst und schlug sanft gegen die Mauer. Die Flamme flackerte auf und beleuchtete Hugh. Der Wind strich über sein Gesicht. Er war ihr unabsichtlich nahe gekommen, und seine Miene war unschuldig, sofern der Wunsch nach Wissen überhaupt unschuldig sein konnte. Er roch schwach nach Weinreben und Zypressen. Aus dieser Nähe spürte sie die Wärme seines Körpers nicht weniger mächtig als die Sehnsucht in ihrem Herzen. War das ihr Herz, das da so heftig klopfte? War es dies, wonach sie sich die ganze Zeit über gesehnt hatte? Nach je580 mandem mit der gleichen Leidenschaft, dem gleichen fragenden, unruhigen Geist? War es ihre Hand, die sich hob, um seine Brust dort zu berühren, wo sein Herz kräftig schlug? War sie es, die sich zu ihm hinabbeugte und seine Wangen mit ihren Lippen berührte? Er öffnete den Mund zu einem lautlosen Seufzen. Er drehte sich zu ihr um, suchte sie, küsste sie und wurde von ihr zurückgeküsst. Eine Zeit lang standen sie so da, ganz dicht aneinander gedrängt, dass es den Anschein hatte, als könnten ihre Körper - ähnlich den ätherischen Daemonen, die sich manchmal in Ekstase vereinigten ineinander verschmelzen. Es war, als könnten sie sich förmlich durchdringen und auf eine solche Weise eins werden, dass ihre Vereinigung jeden Vergleich mit einer irdischen Intimität ausschloss, was die Tiefe und Vollkommenheit ihrer Verbundenheit betraf. »Oh, Liath.« Er murmelte ihren Namen wie eine Liebkosung, als die Lampe hinter ihm aufloderte und ihn in einen hellen Schimmer tauchte. Eine leise Stimme aus der tiefsten und verstaubtesten Ecke ihres Geistes - beinahe zu schwach, um überhaupt gehört zu werden - sprach jetzt in ihrem Herzen. Ich werde aufwachen und mich in Hughs Bett wieder finden. In diesem Augenblick spürte sie den sich windenden Wurm wie ein richtiges Wesen in sich, und sie musste würgen. Er war ein lebendiges Seidenband, das sich in ihren Körper eingeschmeichelt hatte und jetzt seine ätherische Substanz tief in ihrem Körper versenkte, mit ihm verschmolz, bis ihr Arm - der nicht mehr ihrer war sich von ganz allein erhob und Hugh tröstete, bis sich ihr Körper gegen seinen presste, seine Berührung suchte und sie kurz davor stand, sich ihm aus freien Stücken hinzugeben ... Aber der Wurm war nicht sie. Lug und Trug. In der Sphäre von Somorhas herrschten Träume und Täuschungen. »Nein, Liath«, sagte er, als hätte sie ihre Gedanken laut ausge581 sprachen. »Dies ist die Wahrheit über deinen Herzenswunsch. Ich bin bei dir. Ich bin kein Traum. Hasse mich, wenn es sein muss, aber erkenne, dass wir beiden gleich sind, du und ich.« Stimmte es denn nicht? Unabhängig davon, was er jetzt war oder was er zuvor gewesen war? Hatte sie in ihm nicht eine verwandte Seele erkannt, die ihrer glich, die genauso leidenschaftlich und begierig war? Oh, Herrin, hatte sie ihn denn immer in gleichem Maße gehasst und geliebt? Nein, das war der Wurm, der da sprach. Der Daemon war so sorgfältig mit ihrem eigenen Wesen verbunden, dass es unmöglich war, ihre eigenen Gedanken von denen zu trennen, die er in ihrem Kopf sprach, die er mit ihrer Stimme äußerte. »Ich bin nicht wie du, Hugh«, sagte sie. Jedes einzelne Wort war ein Kampf, da der Daemon weiterhin versuchte, andere Worte über ihre Lippen zu schicken: Ich bleibe bei dir, ich liebe dich und nur dich. »Wenn du dich jetzt von mir abwendest, Liath, welche Möglichkeit habe ich dann, nicht wieder zu dem zu werden, der ich einmal gewesen bin? Du bist Feuer. Du kannst mich läutern. Deine Liebe kann mich reinigen. Bleibe bei mir, Liath.«
Teuer. Sie griff nach der Lampe, deren Flamme aufflackerte, als der Wind sich erhob. Seine Arme schlössen sich fester um sie. Sie rief Feuer herbei. Das Zimmer brach in Flammen aus. Hugh war weg, fortgerissen. Sie stand auf einer gestaltlosen Fläche, rosenfarbener Nebel wand sich um ihren Körper, der Nebel der Lügen und des Truges, der sie eingewickelt hatte. In diesem Nebel, ja in ihrem eigenen Körper, sah sie den hellen Glanz eines Daemons, der tatsächlich in ihrem Innern war, ein Teil ihres Körpers. Feuer raste über den Horizont, eine Wand aus Flammen, die das Tor der Sonne kennzeichnete. 582 Das Feuer verblasste, als die Turmkammer wieder in Sicht geriet und der Daemon sie erneut in den Traum, in die Lügen zurückriss. Sie machte einen Schritt auf die Sonne zu, dann einen zweiten schmerzhaften Schritt, als Hugh sich vor Qual wand und sie zu ihm gehen wollte, um ihm die Sorgen von der Stirn zu wischen und ihm zu zeigen, dass er wirklich ihr Herzenswunsch war. Niemand sonst. Niemand sonst passte zu ihr. Ein dritter Schritt, als würde sie auf Scherben gehen, und dann hatte sie die Ebene überquert. Das Inferno, das die Sphäre der Sonne war, begann ihr sogar die Kleider am Körper zu versengen. Reinige dich selbst. Sie hatte keine Angst vor dem Feuer. Sie hatte niemals Angst vor Feuer gehabt. Das Feuer fraß sich weiter, schmolz ihr das Fleisch von den Knochen, aber es war nicht wirklich ihr Fleisch, sondern vielmehr der Daemon, der sich wand, als das Feuer der Sonne ihn aus ihrem Körper drängte. Er floh einen langen, leuchtenden Faden entlang zurück zur Erde. »Verdammt.« Hughs Stimme ging beinahe in dem Knistern der Flammen unter, als die Feuerwand sich wie ein Tuch aus gleißender Helligkeit vor ihr erhob. War denn alles eine Lüge gewesen? Oder hatte sie in ihrem Innern, in den Tiefen ihres Selbst, Wahrheiten erkannt, die anzuerkennen sie bisher nicht hatte ertragen können? Stimmte es denn nicht, dass sie unter der Oberfläche die gleiche Leidenschaft teilten? Dass sie mit Hugh mehr gemeinsam hatte als mit Sanglant? Die Wahrheit war zu schrecklich, um sie in Betracht zu ziehen. Nackt warf sie sich der flammenden Sonne entgegen. 4 Zweifellos war das alte dariyanische Kaiserreich zum großen Teil aufgrund der Verderbtheit zusammengebrochen, die sich in das Königshaus geschlichen und schließlich in einer letzten Blütezeit 583 der Fäulnis zum Ausbruch gekommen war. Alte Bilder und obszöne, heidnische Schnitzereien verunstalteten noch immer bestimmte Ecken und vergessene Zimmer im Palast der Skopos. Nicht alles war zerstört oder durch heilige Gestalten ersetzt worden, die besser zu einem Land passten, von dem die Herrschaft der daisanitischen Kirche ausging. Noch immer streckte die Verderbtheit ihre Fühler ins Herz des irdischen Reiches aus, ob in das kirchliche oder das weltliche. Das jedenfalls wurde Antonia schmerzhaft bewusst, als sie beim Festmahl zu Ehren von St. Johanna der Botin in der Halle saß und König Johan zusah, der in aller Öffentlichkeit die Tochter der Edelfrau von Novomo belästigte; die Edelfrau hatte der flüchtigen Königin Adelheid im vergangenen Frühjahr Unterschlupf gewährt. Das Mädchen war noch nicht einmal voll entwickelt, sondern stand gerade erst am Anfang. Eisenkopf trank viel und verhielt sich in jeder Hinsicht wie der grobe Bastard, der er auch war, betatschte die kleinen Brüste des Mädchens durch das Kleid hindurch. Dass sie angesichts dieser Entwürdigung still vor sich hin weinte und ihr für alle sichtbar Tränen über ihre Wangen liefen, kümmerte ihn nicht weiter. Aber Hugh kümmerte es. Er rief einen Verwalter zu sich und flüsterte ihm Befehle ins Ohr. Schon bald darauf tauchten drei der mindestens zwölf Huren, die in den Gemächern des Königs lebten, zum Klang von Laute und Trommeln auf. Es waren hübsche, junge Dinger, die sehr geübt waren in der Kunst des lüsternen Tanzes - etwas, das eigentlich gar nicht für eine öffentliche Vorstellung geeignet war. Ihre Darbietungen hätten Antonia erröten lassen, wäre sie nicht aus recht starkem Holz geschnitzt gewesen. Sie verstand die körperliche Anziehungskraft zwischen Menschen, obwohl sie seit langem solche fleischlichen Gelüste in sich unterdrückt hatte. Doch ab und zu kamen sie wieder hoch. Presbyter Hugh war kein Narr. Er begriff, aus welch schwachem Holz Eisenkopf geschnitzt war. Kaum widmete der König seine 584 Aufmerksamkeit den obszönen Darbietungen der Tänzerinnen, schickte Hugh die Geisel weg und ließ eine der Huren ihren Platz einnehmen. Eisenkopf, der vollkommen unter dem Einfluss von Wein und Begierde stand, bemerkte das entweder gar nicht, oder aber er machte sich nichts daraus. Auf diese Weise schritt das Fest voran. Wo blieben die frommen Lesungen aus dem Buch von St. Johanna, die die Gläubigen an ihre apostolische Reise und ihr Martyrium erinnerten? Niemand erhob sich, um Psalmen zu singen oder aus den Heiligen Versen zu lesen. Als Antonia noch Bischöfin in Mainni gewesen war, waren Festtage immer mit dem ihnen zustehenden Ernst und einer gewissen Feierlichkeit begangen worden. Aber die
Skopos lag im Sterben und konnte Eisenkopfs Ausschreitungen nicht kontrollieren. Mitten während der Feier erhob sich Hugh plötzlich und verschwand. Antonia beeilte sich, ihm zu folgen. Er war nach draußen gegangen und stand jetzt unter dem Säulengang. Wolkenfetzen verwandelten den Himmel in einen Flickenteppich. Ein nebliger Regen fiel. Er war nicht allein. An dem schweren Geruch von Flieder erkannte sie, dass die Frau, die sich an ihn lehnte und ihn umarmte, eine von den Huren des Königs war. »Er wird niemals bemerken, dass ich diese Nacht weg bin«, erklärte die junge Frau mit atemloser Stimme. »Ich will Euch, seit ich Euch zum ersten Mal gesehen habe.« Er legte ihr seine Hände fest auf die Schultern und schob sie zurück. »Ich bitte um Vergebung, Tochter. Mein Herz gehört bereits einer anderen.« Sie zischte wie eine Katze, die kurz davor stand, ihre Krallen einzusetzen. »Wie heißt sie? Wo ist sie?« »Sie wandelt nicht auf dieser Erde.« Die Hure schniefte. »Ich hasse Gott, dass sie Euch gestohlen haben. Ihr solltet die Betten von Frauen wärmen und nicht auf kaltem Stein beten.« 585 »Und du solltest Gott nicht hassen«, sagte er sanft. »Bete um Heilung.« »Was brauche ich Heilung? Ihr könntet mich heilen, wenn Ihr bereit dazu wärt. Bin ich nicht hübsch? Alle behaupten das. Die anderen Männer begehren mich alle.« »Schönheit währt nicht ewig. Sobald die Männer dich nicht mehr begehren, wirft man dich auf die Straße. Was nützt dir mehr, Tochter? Die Lust der Männer oder die Liebe Gottes?« »Es ist einfach für Euch, fromm zu sein und von Gottes Liebe zu reden! Welchen anderen Beruf hätte ich schon ausüben können? Meine Mutter ist eine Hure gewesen. Es gibt mindestens fünf Presbyter im Palast der Skopos, die mein Vater sein könnten - jeder Einzelne von ihnen! Was soll ich tun? Was kann ein Mädchen wie ich, die uneheliche Tochter einer Hure, schon anderes tun, als selbst eine Hure zu sein? Das ist das einzige Leben, das ich kenne. Welcher ehrbare Mann würde schon jemanden wie mich wollen?« Er hielt dem Angriff ihrer vernichtenden Wut stand und wich nicht zurück. »Ich weiß zufällig«, sagte er ruhig, »dass es da einen ehrbaren Feldwebel der Wachen im Palast der Skopos gibt, dessen Bruder unten als Schneider in der Stadt lebt. Dieser Bruder hatte ein- oder zweimal Grund, den Feldwebel zu besuchen, und mehr als einmal hat er dich im Garten gesehen. Ich nehme an, er sucht sogar nach Ausreden, um seinen Bruder besuchen zu können, in der Hoffnung, einen Blick auf dich zu erhaschen. Aber natürlich ist er davon überzeugt, dass er als gewöhnlicher Schneider, der gegenüber der Seide und dem Wein aus den königlichen Gemächern wenig zu bieten hat, keine Chance haben wird.« »Seine Familie würde wissen, dass ich eine Hure war, und mich dafür hassen«, murmelte sie, aber der scharfe Zorn in ihrer Stimme hatte sich gelegt. Sie klang unsicher, als hätte sie Angst, sich einer Hoffnung hinzugeben. »Er ist vermutlich ohnehin ein hässlicher, lepröser, verhutzelter Zwerg, der sonst keine anständige Frau bekommt.« 586 »Nun ja. Ich weiß zufällig, dass er seinen Bruder jeden Herrintag besucht und sie zusammen die Messe in der Kapelle der Bediensteten besuchen.« »Ihr leitet diese Messe«, sagte sie überrascht. »Alle wissen, dass Ihr das tut. Sämtliche Bediensteten reden davon. Aber ich weiß, dass die Presbyter keine Huren in die Kirche lassen, diese alten Heuchler, die sich nachts bei ihnen herumdrücken und sie tagsüber als elende Sünderinnen beschimpfen.« »Wenn ich in der Kapelle der Bediensteten die Messe leite, wird niemand abgewiesen, egal, was er oder sie in der Vergangenheit auch gewesen ist oder getan hat.« Sie kniete plötzlich nieder und neigte den Kopf. »Ich bitte Euch, Vater, vergebt mir. Ihr wisst, ich würde alles tun als Dank für Eure Güte und Barmherzigkeit.« »So sei es, Tochter.« Er berührte sie an der Stirn - seine Art des Segens -, und sie unterdrückte ein Schluchzen, sprang auf und eilte davon. Es war zu dunkel, um sein Gesicht zu sehen. Er blieb so lange dort stehen, dass Antonia sich fragte, ob er überhaupt noch einmal zu den Feiernden zurückkehren würde. Die Glocke verkündete das Ende der Komplet, und sie erinnerte sich zu spät daran, dass sie noch andere Pflichten zu erledigen hatte. Aber sie wagte nicht, sich zu rühren, bis er sich endlich ebenfalls rührte und den Säulengang entlangging, um zum Palast der Skopos zu gelangen. Als sie seine Schritte nicht mehr hören konnte, folgte sie ihm auf dem gleichen Weg an der großen Halle vorbei und über den riesigen Hof, auf dem der König und die Skopos sich in unruhigen Zeiten zu treffen pflegten, wenn es galt, die Truppen zu überwachen. Ihre Füße verursachten leise Geräusche auf dem Kiesweg. Leichter Regen nässte ihre Haut. Ein Diener eilte an ihr vorbei zur Halle, trug eine Lampe und einen Korb bei sich, und zwei Presbyter hasteten von ihren Gebeten zu der erwarteten Fröhlichkeit des Festes, das bereits in vollem Gange war. Sie hatte noch immer die Worte der Hure im Ohr. Gaben sich 587 die frommen Presbyter tatsächlich nachts dem fleischlichen Genuss hin, während sie sich am nächsten Tag davon abwandten und die sündige Menschheit verurteilten? Wahrhaftig, Gottes Schöpfung war an den Rand des
Abgrunds gerutscht. Es war eine feste Hand nötig, um sie wieder auf heiligen Boden zurückzuziehen. Der Palast der Skopos war ein Gewirr aus Zimmern, das sich hervorragend für Intrigen eignete. Zumindest schien es Antonia so. Heribert hätte sie vielleicht berichtigt; er hatte einmal ein ganzes Jahr in Darre an der Gelehrtenschule verbracht und war mit vielen langweiligen Erklärungen darüber zurückgekehrt, wie der Palast aus den Überresten einer alten dariyanischen Königsresidenz errichtet worden war: erst ausgebaut, dann einer Feuersbrunst teilweise zum Opfer gefallen und wieder neu errichtet, schließlich während der Zeit von Taillefer noch einmal ausgebaut. Aber obwohl Anne Geheimnisse bewahren konnte, war sie nicht zum Palast der Skopos gegangen, um sich dort wie eine Diebin herumzudrücken. Sie hatte bereits Gemächer, die denen einer Geistlichen von höchstem Rang angemessen waren, und außerdem eine Schar von Bediensteten und geringeren Geistlichen in ihren Diensten. Zu der Zeit, da Antonia in der innersten Kammer von Annes Gemächern angekommen war - dort, wo die Sieben Schläfer sich jede Woche trafen, um die Entwicklung und ihr Vorgehen zu besprechen -, hatten die anderen bereits alle ihre Plätze eingenommen. Polierte Silberbecher glänzten unter dem Lampenlicht, und nachdem Bedienstete Wein eingegossen hatten, zogen sie sich lautlos zurück und verschlossen die Türen wieder, ließen Anne und ihre vier Kameradinnen und Kameraden allein, »Ihr kommt spät, Schwester Venia«, sagte die Caput Draconis, die Anführerin. Der abscheuliche Hund, der stets zu ihren Füßen lag, knurrte. »Ich bitte um Vergebung. Ich habe mich wieder verirrt.« »Das tun wir leider alle hin und wieder. Wenn Ihr Euch bitte setzen würdet, Schwester Venia, dann könnten wir endlich anfangen.« 588 Der Hund hob den Kopf und sah zu, wie Antonia auf der Bank neben Bruder Marcus Platz nahm. Marcus begrüßte sie mit einem leichten Hochziehen der Lippen, mehr nicht. Er trug das Gewand und den Umhang eines Presbyters; beides stand ihm ausgezeichnet. Abgesehen von Anne war es ihm am leichtesten gefallen, sich zu verstellen, als sie von den qualmenden Ruinen von Verna nach Süden geflohen waren. Antonia fand Darre noch immer sehr verwirrend, ein Labyrinth aus uralten Ruinen und modernen Holzgebäuden, Innenhöfen und Alleen, Weiden und gepflasterten Marktplätzen. Der Palast selbst war ein Gewirr aus Gängen, Zimmern und den Bedienstetenfluren, in denen sie sich selbst nach all diesen Monaten noch häufig verirrte. Marcus war hier aufgewachsen. Für ihn war der Aufenthalt im Palast der Skopos so selbstverständlich wie das Atmen. »Ich bin nicht sicher, ob er die richtige Person ist, die um Aufnahme bitten sollte«, meinte Severus. »Ich traue ihm nicht.« Marcus lachte scharf. »Traut Ihr ihm nicht, weil er zielstrebig ist oder weil Ihr eifersüchtig auf den Einfluss seid, den er auf die heilige Mutter und die Presbyter ausübt?« »Ich traue keiner Person, die Schönheit als Waffe einsetzt, um weiterzukommen«, erklärte Severus angesäuert. »Und Ihr solltet das auch nicht tun.« »Schönheit ist keine Waffe«, sagte Meriam leise von ihrer Couch aus. »Sie ist ein Geschenk Gottes. Es wäre eine Sünde, zu verschleiern, was Gott geschmiedet haben.« »Frauen verhalten sich immer wie Dummköpfe, wenn sie in die Gegenwart attraktiver Männer gelangen. Zumindest ist das mein Eindruck«, murmelte Severus. »Selbst wenn das wahr wäre«, erwiderte Antonia, erheitert über den Gegenstand ihrer Unterhaltung und besonders über Severus' Entrüstung, »wären wir immer noch erst sechs und nicht sieben. Hugh von Austra entstammt einer edlen Familie, er hat Bernards Buch, er studiert die Zauberei, und er wirkt fromm. Sollten wir diese Gelegenheit, unsere Anzahl zu erhöhen, wirklich beiseite 589 werfen, weil Ihr seinem hübschen Gesicht nicht traut, Bruder Severus?« Er schnaubte gereizt. »In meinem alten Kloster waren wir der Meinung, dass Eitelkeit eine Todsünde ist.« Anne hob Ruhe gebietend die Hand. »Die Zeit ist knapp, unsere Not dagegen groß.« Drei Lampen brannten in der reich möblierten Kammer - genug Licht, um den Tisch und die wunderschön geschnitzten Bänke zu beleuchten. Wandbehänge machten die Wände etwas weicher, aber das Lampenlicht schaffte es kaum, die Bilder des heiligen Martyriums von St. Agnes und St. Asella zu erhellen, den beiden jugendlichen Mädchen, die in der Anfangszeit der Kirche den Tod einer Heirat mit Nichtgläubigen vorgezogen hatten. »Ich habe letztes Jahr bei Werlida gesehen, wie viel versprechend Hugh ist. Deshalb habe ich ihn Bernards Buch nehmen lassen.« »Ihr habt das zugelassen?« Severus lehnte sich wutentbrannt zurück. Er hatte immer noch Narben von der Feuersbrunst bei Verna im Gesicht. Von ihnen allen hatte er - abgesehen von der armen, toten Zoe - die schlimmsten Verletzungen davongetragen. »Nach allem, was ich getan habe, um das Wissen auszulöschen, damit nur wir allein es besitzen?« »Natürlich. Ich hätte verhindern können, dass er mit dem Buch verschwand, aber ich habe mich anders entschieden. Jetzt, wo ich sehe, was er aus der Möglichkeit, sein Wissen zu bereichern, gemacht hat, weiß ich, dass ich richtig gehandelt habe. Er ist schlau, und er scheint seine Obsession für Liathano in den Griff bekommen zu haben. Das war es, was seine Fähigkeit, zu lernen und durch Wissen zu wachsen, bisher immer behindert hat.« Antonia war zu klug, um die aufschlussreiche Episode in der Kapelle von St. Thekla zu erwähnen. Ein
Geheimnis hütete man wie einen Schatz am besten bis zu dem Tag, an dem man es möglichst sinnvoll einsetzen konnte. »Das neue Jahr steht unmittelbar bevor«, fuhr Anne fort, »und die Regenfälle werden hier in Aosta bald aufhören. Dann wird es 590 wieder möglich sein zu reisen. Wir müssen bestimmte Aufgaben in Angriff nehmen.« Der Goldreif, das Zeichen ihrer königlichen Abstammung, blitzte an ihrem Hals auf, kaum sichtbar unter dem kostbaren, weinfarbenen Gewand, das ihren Status als Mitglied des innersten Zirkels von Vertrauten der heiligen Mutter kennzeichnete. Es störte Antonia, dass Anne im letzten Herbst einfach in den Palast der Skopos marschiert war und es durch Mittel, die Antonia nicht kannte, geschafft hatte, sich sofort an den Beratungstisch der Heiligen Mutter zu setzen - erst recht, da Antonia als einfache Geistliche der Gelehrtenschule zugeteilt worden war. »Schwester Meriam, Ihr müsst Eure Arbeit mit Hugh von Austra wieder aufnehmen.« »Das werde ich tun«, stimmte Meriam von der Couch aus zu. »Es ist immer ein Vergnügen, mit einem jungen Mann zu arbeiten, der ein vornehmes Benehmen und eine hohe Auffassungsgabe hat. Es dauert allerdings länger, denn er lässt das Buch niemals aus den Augen, und oft ist er mit anderen Dingen im Palast beschäftigt. Aber ich dränge auf jeden Fall zur Eile.« Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen. »Redet weiter«, sagte Anne nach einer angemessenen Pause. »Dieser Text in der Mitte von Bernards Band beweist nicht, was ich von ihm erwartet hatte. Wenn es so weitergeht, wie es begonnen hat - von dem bisschen zu urteilen, was wir bisher übersetzt haben -, könnte es sich als gefährlicher für uns erweisen, als wir erahnen.« »Doch was wir suchen, könnte noch immer darin stehen. Ihr müsst weitermachen, Schwester. Wenn wir nicht den Schlüssel zu den Aoi-Kronen finden, durch die sie ihre Magie weben, werden wir die Verlorenen nicht an ihrer Rückkehr hindern können.« »Ich werde weitermachen«, erklärte Meriam, deren zerbrechlicher Körper beinahe von den Schatten verschluckt wurde, da das Lampenlicht sie nicht ganz erreichte. »Was ist mit der anderen Angelegenheit? Was ist mit den Versprechungen, die meinem Sohn gemacht wurden?« 591 Anne runzelte die Stirn, als hätte sie vergessen, was sie als Nächstes hatte sagen wollen, aber der Ausdruck verschwand schnell wieder von ihrem Gesicht. »Das muss warten, bis wir erkennen können, wie es mit Eisenkopf weitergeht. Die Adler verbergen König Henry vor mir, und sein Geist bleibt mir verschlossen. Wir müssen erst sehen, welche Richtung die Ereignisse nehmen, bevor wir handeln. In der Zwischenzeit gibt es da noch eine andere ernste Angelegenheit, um die wir uns kümmern müssen. Bruder Lupus ist verschwunden.« »Glaubt Ihr, dass er tot ist?«, fragte Severus. »Hofft Ihr, dass er es ist?«, fragte Marcus mit einem leichten Grinsen. »Ihr habt Euch nie etwas aus Bruder Lupus gemacht.« »Aus einem Mann, der als Gewöhnlicher geboren wurde und keinerlei Familie hat, die für ihn eintreten könnte ? Und der keinen Respekt für jene von edler Geburt hat?« »Ich würde es wissen, wenn Bruder Lupus tot wäre«, sagte Anne und beendete damit den Austausch der beiden Männer. »Er ist verschwunden, und ich kann nicht sagen, wieso, aber ich kann ihn auch nicht finden, wenn ich durch Feuer oder Stein nach ihm suche. Bruder Marcus, Ihr müsst ihn finden. Befreit ihn, wenn es nötig sein sollte.« »Schon wieder reisen! Schwester Venia ist in bester körperlicher Verfassung, und sie kennt die nördlichen Königreiche besser als ich. Mein Wendisch ist unvollkommen. Sie sollte gehen.« »Schwester Venia ist in den nördlichen Königreichen noch geächtet und könnte erkannt werden. Ihr müsst es also tun, Bruder Marcus.« Er seufzte. »Also schön.« Anne nickte. Ihr ruhiger Gesichtsausdruck veränderte sich niemals. Wieso sollte er auch? Nie widersetzte sich jemand ihren Wünschen. »Und dann ist da noch die Sache mit meiner Mutter Lavrentia, die ich lange für tot gehalten habe. Jemand von uns muss zum Kloster St. Ekatarina gehen. Wir müssen sieben sein, um einen Daemonen an unseren Willen zu binden. Wenn uns das 592 nicht gelingt, haben wir nicht die Macht zu tun, was getan werden muss, wie wir es bei Bernard getan haben.« Da war er wieder, der Blick, dem niemand widerstehen konnte. »Deshalb müsst Ihr gehen, Schwester Venia.« Antonia seufzte, ein Echo des Missfallens, das Marcus angesichts der Tatsache geäußert hatte, dass er die mannigfaltigen Behaglichkeiten des Palastes aufgeben sollte. Sie hatte in dieser Nacht beim Festmahl zu Ehren von St. Johanna der Botin reichlich und gut gegessen. Aber sie war zu klug, um Einwände zu erheben. »Was soll ich dort tun?« »Gewinnt das Vertrauen der Schwestern. Betretet das Kloster als Gast. Findet so viel wie möglich heraus. Sobald sich die Gelegenheit ergibt, tötet meine Mutter.« Antonia hatte ihre Jagd nur aufgeschoben, nicht aufgegeben. Als sie sicher war, dass alle anderen sich zu Bett begeben hatten, machte sie sich auf den Weg zu den Gemächern, die der Skopos zur Verfügung standen. Das mit Teppichen ausgelegte Vorzimmer, das zum Schlafzimmer der Skopos führte, dämpfte ihre Schritte, und
so betrat sie lautlos den Raum. Sie verbarg sich hinter dem Holzgestell, das zur Abschirmung diente. Sie erkannte an dem Geruch, dass hier Magie gewirkt wurde, ein Duft wie der von Mandeln. Sie trug stets bestimmte Amulette bei sich, die sie gegen die Auswirkungen des Bindens und Wirkens schützten - was sie als gewöhnliche Magie bezeichnete und was sowohl von einer alten weisen Frau als auch von einem edlen Geistlichen erlernt werden konnte. Liebeszauber, Schlafzauber, Unsichtbarkeitszauber: Vor diesen hatte sie keine Angst, und der Geruch nach Mandeln schien ihr wie ein Schleier, der wie ein zweischneidiges Schwert zu ihren Gunsten arbeitete. Wenn Hugh wirklich gewöhnliche Magie benutzte, um seine Intrigen zu verbergen, war er vielleicht auch arrogant genug zu glauben, dass niemand im Palast der Skopos immun dagegen war. Außer Anne. 593 Sie spähte in den Raum. Der Presbyter, der bei Hugh saß, war in tiefen Schlaf gesunken und schnarchte leise in seinem Sessel. Hugh war allein mit der sterbenden Frau. Zuerst glaubte Antonia, dass er tatsächlich Mutter Clementias Seele aus ihrem alten, mitgenommenen Körper zog - ein heller Faden aus Licht, der sich in seinen Händen wand und schlängelte. Aber sie hatte bereits zu lange in Verna gelebt, um nicht die ätherische Form eines Daemons zu erkennen. Marcus hatte Recht gehabt: Hugh hatte einen Daemon gebunden und ihn benutzt, um die Skopos zu kontrollieren. Sie musste seine Kühnheit und seine Fähigkeit bewundern. Außerdem nutzte er seine Macht schließlich zum Guten. Was für eine Rolle spielte es da schon, welche Mittel er anwandte ? Mutter dementia stöhnte im Schlaf. Das Rosarot wich aus ihren Wangen, als Hugh den zappelnden Daemon in ein rotes Band verwandelte. Das Gesicht der Skopos wurde grau, dann aschfahl. Sie starb schnell. Nur der Daemon hatte sie noch so lange am Leben gehalten. Als Hugh fertig war, lehnte er sich zurück. Das rote Band in seinen Händen wand sich und flatterte wie ein lebendiges Wesen hin und her, und vielleicht war es das jetzt auch, da es den Daemon enthielt. Er verbarg das Band in seinem Ärmel und zog zu Antonias Überraschung das kostbare Buch unter dem Federbett der Skopos hervor. Antonia verbarg sich tiefer im Schutz des Holzschirms, als Hugh an ihr vorbei zur Tür schritt. Der Presbyter war jedoch so sehr in Gedanken versunken, dass er gar nicht auf die Idee kam, den Schatten genauer in Augenschein zu nehmen und sicherzustellen, dass er nicht beobachtet worden war. Er verschwand im Vorzimmer, entzog sich ihrem Blick. Sie hörte draußen leise Stimmen. Bruder Ismundus trat ein und nahm auf Hughs Stuhl Platz, während der schnarchende Presbyter langsam erwachte; er lächelte, als hätte er einen schönen Traum gehabt. Antonia schlüpfte unbemerkt aus dem Zimmer. Hugh hatte das 594 Vorzimmer bereits verlassen, aber sie konnte sich denken, wohin er gegangen war. Sie fand ihn in tiefem Gebet versunken in der Kapelle von St. Thekla. Dieses Mal gab sie sich mehr Mühe mit der Untersuchung der beiden Türschwellen, von wo aus man zu den Galerien gelangte. Hugh war weit über das bloße Zusammenbinden von Stoffen und getrockneten Kräutern hinausgegangen, womit das gemeine Volk seine Hühnerställe gegen Füchse schützte oder ahnungslose Angebetete in Liebe entbrennen ließ. Wie jede Schwelle im Palast der Skopos dazu gedacht war, Gott durch die Schönheit der Verzierung zu rühmen, waren auch diese Türstürze von Meisterhandwerkern geschaffen worden. Wie es sich für die Kapelle von St. Thekla schickte, stellten die lebhaften Schnitzereien Becher und Gewänder dar, ihre Siegel. Aber als Antonia mit einem Finger über einen dieser Becher streichen wollte, spürte sie die dort vorhandene Magie auf ihrer Haut prickeln. Hugh hatte die hellen Farben mit einer Glasur überzogen. Es stank nach Lavendel und Narzissen, den Vorboten des Schlafes und der Unaufmerksamkeit. Er hatte sie zu einer Paste verrührt und benutzte eine Schicht davon, um die Stimmung einer jeden Person zu beeinflussen, die möglicherweise die Galerie erklomm und ihn beobachten konnte. Aber Antonias Geist blieb klar. Sie nahm die engen Stufen langsam und achtete darauf, die elfte auszulassen, denn die quietschte etwas. Die Galerie war leer; alle schliefen oder befanden sich noch auf dem Fest. Aber sie war nicht ganz allein. Unten kniete Hugh, erleuchtet von einer einzelnen Lampe, den Kopf zum Gebet geneigt. Vielleicht begann sie, ein bisschen besessen von ihm zu werden. Sie würde vorsichtig sein müssen. Auf eine bestimmte Weise vermisste sie Heribert. Sie hatte immer jemanden gehabt, den sie hatte lenken und beeinflussen können, aber natürlich durfte sie nicht den Fehler machen zu glauben, Hugh wäre so lenkbar wie Heribert. Und auch Heribert hatte sich am Ende als nicht sehr lenkbar 595 erwiesen - was dem verfluchten Prinz Sanglant zu verdanken gewesen war. Unten flüsterte Hugh Worte, die zu leise waren, als dass sie sie hätte verstehen können. Das Band zuckte und wand sich in einem sinnlichen Tanz um seine Finger - in einem Tanz, der sie ganz kurz an die Liebelei erinnerte, an die drei Monate fleischlichen Vergnügens, das ebenso köstlich gewesen war wie Seide ... Schlagartig erschlaffte das Band. Der Daemon war ihm entwischt. Aber Hugh schrie nicht auf. Eine lange, lange Zeit kniete er in größter Konzentration, die Augen geschlossen. Hin und wieder erhaschte sie ein paar Wortfetzen, Geflüster, das so klang, als hätte er zu einem Kameraden gesprochen. »Veränderungen sind nicht leicht zu bewerkstelligen ... Ich sollte nicht von Qualen sprechen. Ich,
der so schwer gesündigt und dir so viel Pein verursacht hat ... Das Schicksal leitet ihre Bewegungen.« Dann warf er plötzlich den Kopf in den Nacken. Im Schein der Lampe sah sie einen Ausdruck von solchem Entzücken und solcher Wonne auf seinem Gesicht, dass sie ihn genauso gut auch mitten im Liebesakt hätte erwischen können. Oh, Gott, wenn sie nur wüsste, wie sie solche Gefühle zusammenbinden, wie sie sie an sich binden konnte. Die Leute waren so schwach und so einfach zu durchschauen. Selbst ein so kluger Mann wie Hugh verschwendete seine Substanz schließlich in den Zuckungen der Ekstase. Doch sein Sehnen war köstlich wie Sahne, und sie konnte nicht anders, als es gierig aufzusaugen, während seine Lippen sich teilten und er seufzte, wie ein Mann es zu tun pflegte, wenn er endlich seinen Herzenswunsch erfüllt bekam und die Vollendung seines drängendsten körperlichen Bedürfnisses. »Oh, Liath«, murmelte er, wie eine Liebkosung. Wie eine Vergewaltigung. Antonia leckte sich die Lippen. Er zuckte zurück, riss die Augen auf. Er blickte überrascht drein, beinahe verblüfft, aber der Augenblick ging rasch vorüber, 596 und mit einer Grimasse griff er wieder nach dem Band und schloss erneut die Augen, um sich zu sammeln. Das Band zuckte leicht in seinen Händen. Ein schwacher Faden aus ätherischem Licht schoss nach unten, als wäre er von den Himmelssphären gekommen, wand sich seinen Arm entlang und webte sich von allein zurück in das Band. Die Lampe flackerte auf, und er wand sich vor Schmerz. »Verdammt!«, fluchte er, als das Band zum Leben erwachte, sich wie eine Schlange wand und zuckte, in dem Versuch, ihm zu entkommen, aber er hatte es zu gut im Griff, während er Worte des Bindens sprach. Einen kurzen Moment lang konnte sie tatsächlich sehen, wie der gebundene Daemon innerhalb der Grenzen des Seidenbandes zuckte, bevor Hugh es wieder in seinen Ärmel steckte. Er zitterte, derart mitgenommen von der unsichtbaren Begegnung, dass er seine Umgebung gar nicht wahrnahm, als er sich das Buch unter den Arm klemmte und aus der Kapelle eilte, so als versuche er, einem Inferno zu entkommen. Er hatte gelernt, die Gefühle, die in seinem Innern tobten, vor anderen zu verbergen. Aber Antonia wusste, worauf sie schauen und lauschen musste, um genau die Geheimnisse zu finden, die ihr dann, wenn die Zeit zum Handeln endlich gekommen war, am besten dienen konnten. Trotz all ihrer Macht dachte Anne viel zu engstirnig. Sie dachte nur an die bevorstehende Umwälzung, nicht an das, was aus ihrer Asche entstehen konnte. Antonia hatte nicht vor, den gleichen Fehler zu machen, aber sie wusste, sie würde Verbündete benötigen, ob freiwillige oder unfreiwillige. Hugh kehrte nicht zu den Gemächern der Skopos zurück. Er schritt einen langen Gang entlang, der schließlich zu der Brustwehr auf der Klippe führte, dem höchsten Punkt des Amurrin-Hügels. Die zwei Paläste waren dort als Symbol der ewigen Spannung zwischen der geistigen und der weltlichen Herrschaft in Darre errichtet worden. Hier oben besaß die Nachtluft an den letzten Tagen des zu Ende 597 gehenden Jahres einen frischen Geruch, den Geruch der Veränderung. Die Regenfälle in Aosta näherten sich dem Ende. Mit dem Jahreswechsel würde die Regenzeit der langen Dürre Platz machen, die das Kennzeichen des Sommers und frühen Herbstes war. In der Zwischenzeit hatten die Lilien, Veilchen und Rosen, die in Blumentöpfen entlang des breiten Wehrgangs aufgestellt waren, zu blühen begonnen. Eine hoffnungsvolle Seele hatte Immergrün um die Dreifüße gehängt, auf denen die Lampen standen; das Lampenlicht wies allen, die so kurz vor der Morgendämmerung hier umhergingen, den Weg. Hugh marschierte zu einer der Ecken auf dem Wehrgang, beugte sich weit über die taillenhohe Holzbrüstung, als hätte er vor, seine Fähigkeiten im Fliegen zu testen. Wind brachte sein Gewand zum Flattern, erfüllte es mit Leben, aber vielleicht war es auch nur von einem Daemon erfüllt, der von den Sphären über ihnen heruntergezwungen worden war. Glockengeläut kündigte die Vigilien an, aber hier auf der Mauer schien es unwichtig, verglichen mit dem Anblick von Gottes prächtiger Schöpfung. Die Wolken waren weitergezogen und enthüllten den Himmel jetzt in all seiner Pracht. Sie blieb an einer Stelle stehen, wo Dunkelheit sie umgab, und schaute nach unten auf den Fluss, der am Fuß des Hügels vorbeiströmte. Der dunkle Fluss glänzte wie ein silbergraues Band im sanften Licht des untergehenden Mondes. Es war beinahe Vollmond, und Somorhas' helles Licht folgte hinter ihm. Antonia musterte die Sterne, erfreut darüber, dass es ihr jetzt sehr viel leichter fiel, die Konstellationen zu erkennen. Somorhas stand am Scheitelpunkt des Heilers und des Büßers, in ihrer leuchtenden Erscheinung als Morgenstern. Der Rote Jedu schien missgünstig über ihnen, gefangen in den Schwestern, die Missetaten planten, doch auch die feste Aturna erschien in deren Haus, brachte das Versprechen der Weisheit in ihre Pläne ein. Er sprach unerwartet, starrte währenddessen nach wie vor nach unten. »Nein, tretet nicht ins Licht. Ich weiß, Ihr kommt von 598 Schwester Anne. Der König kommt, und es ist besser, wenn er Euch nicht sieht.« Ihr Herz klopfte verräterisch, und für einen Augenblick fühlte sie sich wie eine Henne, die sich einem Fuchs
gegenüber sah. Hatte er möglicherweise die ganze Zeit gewusst, dass sie ihm folgte und ihn beobachtete? Sie berührte die Amulette, die um ihren Hals hingen, verborgen durch das Gewand, und atmete langsam ein und aus, um sich zu beruhigen. Nein, er hatte sie nicht mit Namen angeredet. Vielleicht hatte er sie gehört, aber er hatte ihr Gesicht nicht gesehen. Er war nicht sicher, wer genau sie war. Ihr Plan war nicht gescheitert, so lange Anne keinen Verdacht hegte. Schweigend blieb sie in den dunklen Schatten stehen. »Sagt bitte Schwester Anne, dass ich über das nachgedacht habe, was sie mir mitgeteilt hat. Aber sie muss verstehen, dass ich meinem König gegenüber loyal bin.« Hinter ihr erklangen schwere Schritte. Jemand kletterte die Stufen an der Außenmauer herauf. Sie drängte sich weiter in die Schatten. Die Glocke begann wieder zu läuten, sieben Mal, die Verkündung eines Todesfalls. Eisenkopf trat auf die Brustwehr. Er atmete schwer. »Mutter dementia ist tot!« Als er vor Hugh stehen blieb, stemmte er die Fäuste in die Hüften, als wäre Hugh daran schuld. »Was sollen wir jetzt tun? Ich brauche eine Skopos, die mich unterstützt! Ihr wisst, wie sehr mich die Edlen hassen!« »Mein König, es würde Euch besser anstehen, wenn Ihr nicht vor den Augen Eurer edlen Kameraden und einhundert Kirchenleuten ein dreizehnjähriges Mädchen missbraucht.« Eisenherz spuckte aus. »Ich werde niemals die Liebe dieser Edlen gewinnen, warum sollte ich mich also zurückhalten?« »Es stimmt, dass ein Bastard niemals Liebe zu erwarten hat«, pflichtete Hugh ihm bei. »Aber er könnte ein gewisses Maß an Respekt erringen.« »Wird Respekt mir denn die Unterstützung der neuen Skopos sichern, wer immer sie sein wird?« 599 »Sorgt Euch nicht darum, mein König. Es wird die richtige Person zur Skopos erwählt werden.« »Wird sie das? Ihr habt mir das schon zuvor versprochen.« »Habe ich nicht alles vollbracht, was ich Euch beim Kloster St. Ekatarina versprochen habe?« Eisenkopf schnaubte und schritt in einem engen Kreis, der von dem Geländer und den Stufen begrenzt wurde, hin und her. »Ihr habt mir versprochen, dass ich die Krone erhalten würde und dass Mutter dementia mir selbst das Diadem aufsetzen würde. Das ist geschehen.« »Was beunruhigt Euch dann, mein König?« »Ich habe genug Gold, um noch weitere tausend Söldner einzukaufen, aber auch König Henry besitzt Gold. Das Frühjahr steht bevor. Schon bald werden die Pässe begehbar sein. Wenn er nach Aosta marschiert, könnte er mein Heer mit wendischem Gold bestechen. Was könnte ich dagegen tun? Ohne die Unterstützung der Skopos kann ich Darre nicht halten und noch weniger den Rest von Aosta.« Er warf sich so heftig gegen das Geländer, dass Antonia regelrecht zusammenfuhr, aus Angst, das Holz würde bersten und er nach unten stürzen, auf die Dächer der Häuser fallen, die unten an den Fels gebaut waren. Aber das Geländer hielt. »Es gibt Gerüchte, dass Henry Adelheid geheiratet hat«, knurrte Eisenkopf. Das Glühen der Lampe milderte Hughs gedankenvolles Lächeln, als er auf die Stadt unter sich starrte. In der Ferne wiesen Fackeln auf den Hafen hin. »Ich habe Gerüchte gehört, dass in den tiefen Gewässern jenseits des Hafens Wasser-Wesen gesichtet worden sind, Menschen mit den Schwänzen von Fischen. Glaubt Ihr alles, was Ihr hört, mein König?« »Ich wäre ein Narr, wenn ich es tun würde, und noch ein größerer Narr, wenn ich nicht glauben würde, dass Adelheid sich Henry als Dank für seine Hilfe anbietet. Sie ist zuletzt in Novomo ge600 sehen worden, und es ist bekannt, dass sie mit den Resten ihres eigenen Gefolges und in der Begleitung von Prinzessin Theophanu nach Norden marschiert ist. Was ist, wenn die Edlen sich entschließen, sich zugunsten von Adelheid zusammenzutun? Was ist, wenn Henry aufgrund der Heirat mit Adelheid den Thron von Aosta für sich beansprucht?« Die Glocken verstummten. In der dumpfen Stille hörte Antonia nur das Wispern des Windes, der durch das Geländer und das Immergrün strich. Die Flamme in der Lampe flackerte auf, verblasste und erstarb. »Solange ich an Eurer Seite bin, mein König«, erklärte Hugh leise, »habt Ihr von König Henry nichts zu befürchten.« Danksagung Eine schlimme Sehnenscheidenentzündung hat die Arbeit an diesem Manuskript deutlich verzögert. Ich möchte den Leuten vom Verlag für ihre Geduld danken, M. J.Kramer dafür, dass er nicht nur einmal, sondern zweimal meine handgeschriebenen Veränderungen eingetippt hat, als ich es nicht konnte, und besonders meinem Agenten Russ Galen für seine außerordentliche Unterstützung. Wie immer möchte ich Jay Silverstein für seine Anregungen danken, ebenso den üblichen Verdächtigen: Jeanne Reames Zimmerman, Sherwood Smith, M. J. Kramer, Katharine Kerr, Constance Ash und meiner Lektorin Sheila Gilbert. Ich habe viele wunderbare und erhellende Stunden im Nationalmuseum in Kopenhagen, Dänemark, verbracht und ich nehme an, man wird erkennen, wo in diesem Buch diese Stunden Eindrücke hinterlassen haben. Wenn Adica außer meiner Einbildungskraft noch eine Vorläuferin gehabt hat, dann war es
das Egtved-Mädchen. Und an meine Leserinnen und Leser: danke fürs Warten.
Schatten des Gestern I Eine Vision aus einer längst vergangenen Zeit 1 Sie kennt die Königinnen der Wüste aus den Geschichten, die nachts am Herdfeuer erzählt werden. Die Wildnis, die die Menschen nicht zu betreten wagen, wird von vielen verschiedenen Kreaturen heimgesucht. Aber sie hätte nicht gedacht, dass sie sie einmal mit eigenen Augen sehen würde. Doch wenn sie sich in einem Traum befindet, wird ihr Blick dann deshalb auf die in der Wildnis umherstreifenden Kreaturen gelenkt, weil sie wirklich da sind, oder vielleicht nur, weil sie sie sehen möchte? Vielleicht handelt es sich um eine Vision aus längst vergangener Zeit, und als Nächstes sieht sie, wie die junge und gefährliche Königin Pfeilhelle auf dem Rücken einer Löwenkönigin in die Wüste hinausreitet, um die Geheimnisse der Jagd von denen zu erlernen, die sich schon lange als Meisterinnen in der Kunst der Jagd und des Tötens erwiesen haben. Es muss in der Tat eine Vision sein, denn plötzlich sieht sie eine kleine menschliche Gestalt aus dem Schutz eines großen Felsens treten; es ist ein Mann, und er hat die Hände in einer Geste des 9 Friedens weit ausgestreckt. Zwei schwarze Hunde, die im Vergleich zu den hoch aufragenden Sphingen geradezu winzig wirken, hocken zu seinen Füßen und knurren leise. »Alain!« Adica zuckte zusammen, doch eine Hand legte sich mit einigem Nachdruck auf ihre Schulter. »Still«, flüsterte Laoina. Adica lag in dem bisschen Schatten, den der Felsklotz spendete. Steine drückten schmerzhaft gegen Schulter und Hüfte, aber sie hatte nicht die Kraft aufzustehen. Sie betastete das Bündel, auf dem ihr Kopf ruhte, und stellte fest, dass es ihr eigener, zusammengerollter Umhang war. Direkt dahinter und somit noch in ihrer Reichweite lag ihre Tasche mit den kostbaren Regalien. Plötzlich keuchte Laoina laut auf. Der Boden erzitterte. Das Sonnenlicht stach Adica schmerzhaft in die Augen, als der Schatten des Felsklotzes plötzlich verschwand. Laoina sank in demütiger Haltung zu Boden. Adica rollte sich auf den Rücken und schaute auf -direkt in das Gesicht einer nichtmenschlichen Frau, die drohend über ihr aufragte. Die Löwenfrau hatte den Felsklotz mit einer Vorderpranke beiseite gerollt und beraubte somit die beiden, die sich hinter ihm versteckt hatten, seines Schutzes. Der Stein ruhte in ihrer Pranke wie ein Ball, der gleich über die Erde rollen würde. Ihre silbrige Mähne wehte, als würde Wind durch sie hindurchfahren. Bernsteinfarbene Augen starrten auf sie herab. Die geschlitzten Pupillen ließen die Löwenfrau weit weniger menschlich als das Pferde-Volk wirken; die Zentaurinnen besaßen zwar Pferdeleiber, aber ihre Oberkörper und Gesichter - und auch die Augen - glichen denen der Menschen. Das Gesicht der Löwenfrau hatte dagegen zwar eine menschliche Form, doch konnte Adica darin keinerlei Hinweis auf menschlichen Verstand entdecken. »Ich bitte dich«, erklang Alains Stimme. Er schien hinter der Sphinx zu stehen. »Wir kommen in Frieden. Wir haben nicht vor, dir und deinem Volk Schaden zuzufügen.« Die Löwenfrau warf den Felsklotz zur Seite. Er rollte polternd und knirschend den Hang hinunter, bis er an dessen Fuß liegen 10 blieb. Ein Stück dahinter schmiegte sich der Steinwebstuhl in eine breite Senke am Rand der Talsohle. Adica konnte sich nicht daran erinnern, wie sie von dort unten heraufgekommen waren. Die Luft flimmerte vor Hitze. Laoina hatte sich nicht gerührt, aber jetzt legte die Löwenfrau ihr die Pranke beiläufig auf den Rücken - wobei sie die Krallen eingezogen hatte - und drehte sie herum. Adica kämpfte sich auf die Knie. »Ich bitte dich, Königin.« Ihre völlig ausgedörrte Kehle ließ ihre Stimme zugleich heiser und piepsig klingen. »Wir suchen den Stamm der Menschen, der von der heiligen Frau HelleHört-Mich angeführt wird.« Die Löwenfrau legte den Kopf leicht schief, als würde sie einem Geräusch lauschen, das Adica nicht hören konnte, und ließ sich auf die Hinterbeine nieder. Sie hob die Pranke, mit der sie Laoina umgedreht hatte, und leckte sie nachdenklich. Sie besaß unglaublich viele scharfe, regelrecht bösartig aussehende Zähne. Nachdem sie sich quälend lange um ihre Pfoten gekümmert hatte, stand sie auf und schlenderte davon, als ob sie ihre Gefangenen vergessen hätte. Vielleicht war sie auch einfach nur nicht hungrig. Laoina erhob sich schwankend. Sie sagte etwas in ihrer eigenen Sprache - vielleicht war es ein Schwur -, bevor sie sich an Adica wandte. »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal eine so große Maoisinu sehen würde.« »Was war das?«, fragte Alain mit lauter Stimme und hockte sich neben Adica hin. »Oh Gott, wir müssen aus der
Sonne raus.« Stöhnend mühte Adica sich auf die Beine, wobei sie das Gesicht zu einer Grimasse verzog; sie war noch immer ganz benommen von den Nachwirkungen des Zauberspruchs, der die Drachen erweckt hatte. »Hast du die Steine berechnet?«, fragte sie Laoina. »Wo werden wir den Stamm von Helle-Hört-Mich finden?« Laoina musste nur auf die Oase deuten, die sich unterhalb des Abhangs in der Wüste erhob. »Wir sollten schnell gehen, sehr schnell.« Mit Alains Hilfe und auf Rages breiten Rücken gestützt, folgte Adica einem Weg den Hügel hinunter, dann weiter über die von 11 Sand und Kieselsteinen bedeckte Ebene, die von der gnadenlosen Sonne wie festgebacken war. Der Weg schien ewig zu dauern, als ob die Oase immer wieder vor ihnen zurückweichen würde. Die Löwenfrau war verschwunden. Vielleicht war sie auch nur eine Halluzination gewesen. Der Geruch von Wasser stieg ihnen in die Nase. Sie stolperten in den Schatten großer Bäume, deren Wedel sich in der Brise sanft wiegten. Hier, im Schutz der Pflanzen, war es deutlich kühler. Sie ruhten sich einen Augenblick aus und tranken ein bisschen Wasser, sammelten ihre Kräfte. Aus einem Lager, das vor ihren Blicken verborgen war, drangen die Geräusche einer menschlichen Siedlung zu ihnen: Gesang, Hammerschläge auf Metall, das Geschrei eines Esels und das empörte Meckern von Ziegen. »Seht nur!«, sagte Alain. Eine kleinwüchsige Gestalt, von Kopf bis Fuß in bauschige Gewänder gehüllt, kam vorsichtig auf sie zu. Sie hatte die Arme ausgebreitet und streckte ihnen in der Geste des Friedens die Handflächen entgegen, die mit verschiedenen Mustern in tiefblauer Farbe bemalt waren. Adica öffnete schnell ihre Hände, um zu zeigen, dass auch sie in friedlicher Absicht kamen. Sie folgten ihrer Führerin einen schmalen Pfad entlang, der zwischen Gärten voller dicht belaubter Büsche und Bäume hindurchführte, an denen ganze Trauben kleiner, grüner Früchte hingen. Purpurfarbene und weiße Blumen von der Größe einer Hand ließen die Köpfe hängen. Binsen säumten die Ufer eines Gewässers, das so schmal war, dass sie es mit einem einzigen Schritt überqueren konnten; die Binsen streiften dabei ihre Oberschenkel. Adica rann der Schweiß über den Rücken. Ihre Beine kribbelten vor Hitze. Sie überquerten ein zweites Gewässer. Es war breiter, und Adica war dankbar, dass sie hindurchwaten konnte, weil so zumindest ihre Füße etwas abgekühlt wurden. Schließlich erreichten sie den Mittelpunkt des Gartens. Hier befand sich ein Teich, dessen Durchmesser ungefähr der Entfernung entsprach, über die sie ei12 nen Stein werfen konnte. Das Ufer war felsig, und sechs Bäche oder Kanäle gingen wie die Speichen eines Rades von ihm aus. Rage und Kummer wateten ins Wasser, um zu trinken. Auf der anderen Seite der Quelle gab es noch weitere kleine Gärten, dicht bewachsen mit üppigem Grün, stark riechenden Kräutern, Schösslingen von Einkorn und Bäumen voller Früchte, die so rötlich waren wie Äpfel, aber dicker und runder. Auf kleinen Erdhügeln standen von Weinreben umrankte Pfähle. Jenseits der Gärten erhoben sich Zelte - so viele, dass Adica sie auf den ersten Blick nicht zählen konnte. Eines dieser Zelte war deutlich größer als die anderen, höher und breiter, und der Zeltstoff war so weiß und grell, dass sie ihre Augen abschirmen musste. Überall um sie herum arbeiteten Mitglieder des Stammes Essit. Die meisten von ihnen waren von Kopf bis Fuß in fließende Gewänder gehüllt, sodass nur ihre Augen und Hände zu sehen waren. Einige wenige, die sich mit kupfernen Armbändern schmückten, arbeiteten im hellen Sonnenlicht. Sie trugen Unterhemden und eine lockere Kopfbedeckung, und auf ihren Wangen waren Brandzeichen zu erkennen. Rinder rannten nackt herum; sie kreischten und kicherten, flüsterten miteinander und starrten die Fremden an, hielten aber immer einen bestimmten Abstand zu ihnen. Hinter dem Zeltlager stieg eine Kakophonie aus unterschiedlichsten Geräuschen auf; ein Hinweis auf die Schaf-, Ziegen- und Eselherden, die sich dort befanden. Ihre Führerin brachte sie zu dem heiligen Zelt. Im Schatten des gestreiften Vorzelts warteten weiche Kissen auf die Reisenden. Während sie sich entspannten, erschienen zwei Halbwüchsige mit goldenen Bechern voller Wein und einem Korb mit feuchten, braunen und Nuss-ähnlichen Früchten. Nur ihre Hände waren zu sehen - weiche, junge, mit Henna-Mustern bemalte Hände. Jemand spielte auf einer viersaitigen Harfe. Die braunen Augen, die dichten Wimpern und das fein geschnittene Gesicht verrieten nicht, ob es sich dabei um einen Jungen oder ein Mädchen handel13 te. Ein Bronzering zierte die Nase des - oder der - Spielenden, Armreifen schmückten die Arme, und ein Brandzeichen verunstaltete die Wangen. Im Schutz der dahinplätschernden Melodie beugte sich Alain nach vorn. »Eine Frau beobachtet uns vom Zelt aus.« »Wo? Ich kann niemanden sehen.« Adica biss in eine der nuss-braunen Früchte. Sie war süß und schmeckte überhaupt nicht nach Nüssen. Sie war köstlich. »Sie beobachtet uns«, wiederholte Alain. Rage und Kummer kamen vom Teich herübergetrottet. Wasser tropfte ihnen von den Lefzen, während sie sich an einem schattigen Fleckchen niederließen, den Kopf auf die Vorderbeine legten und sich zufrieden ausruhten. »Warum hast du den Stein berechnen müssen, um diesen Stamm zu finden? Der Webstuhl, an dem die Zauberin ihre Magie wirkt, wird sich doch wohl immer am
gleichen Platz befinden.« »Der Stamm von Helle-Hört-Mich lebt nicht in Häusern, wie mein Stamm das tut. In ihrem Land gibt es mehr als einen Webstuhl. Wenn sie weiterziehen, kennzeichnet die Geweihte den Webstuhl, der dem Lager des Stammes am nächsten ist, damit unsere Magie sich mit diesem Webstuhl verbinden kann. Die Steine sind so angebracht, dass die Linie, die man zwischen ihnen ziehen kann, auf die Wasserstelle deutet, an der der Stamm sein Lager errichtet hat.« Nachdem sie sich erfrischt und etwas erholt hatten, erschien eine andere Gestalt, ebenfalls in Gewänder gehüllt, und bedeutete Adica und Laoina mit einer Geste, das Zelt zu betreten. Als Alain aufstand, um sie zu begleiten, schüttelte Adica den Kopf. »Es ist einem Mann nicht gestattet, das Zelt von Helle-Hört-Mich zu betreten. So lautet das Gesetz in diesem Stamm.« »Bist du da drinnen denn in Sicherheit?«, fragte er mit gedämpfter Stimme. »Es gefällt mir nicht, dich allein da hineingehen zu lassen.« »Mach dir keine Sorgen, mein Herz. Hier droht mir keine Gefahr.« 14 Nach kurzem Zögern ließ er sich in die Kissen zurücksinken, doch es gelang ihm nicht, sich wieder zu entspannen. Es war nicht sonderlich düster im Zelt, denn dort, wo die Zeltwände auf das Dach trafen, waren weit aufklaffende Schlitze in die Stoffbahnen eingelassen, durch die Licht hereinfallen konnte. Der Fußboden bestand aus festgestampftem Sand. Sechs Pfosten waren in den Sand getrieben worden, an denen weitere Pfähle so angebracht worden waren, dass sie zwei einander überlappende Dreiecke bildeten. Durch diese Dreiecke woben sechs Frauen aus blauen, purpurnen und karmesinroten Fäden ein Stück Stoff mit kompliziertem Muster - auf die gleiche Weise, wie mittels der Steinwebstühle die Fäden aus Sternenlicht verwoben wurden. Eine Gestalt formte sich auf dem Stoff, doch Adica konnte nicht erkennen - noch nicht -, was es war. Die Frauen trugen hier keinen Schleier vor dem Gesicht, aber ein Schal bedeckte ihre Haare, und helle, weit fallende Gewänder verhüllten ihre Körper. Sie hatten einen dunklen Teint und erstaunliche, schwarzbraune Augen. Die Hände der Frauen waren mit Henna bemalt, enthüllten ähnliche Muster aus Punkten und Zickzack-Linien, wie sie es bei jenen gesehen hatten, die draußen warteten. Das Gemurmel ihrer Unterhaltung schwoll abwechselnd an und verebbte wieder, als ob es in den Stoff eingewebt werden sollte. Die jüngste der Frauen schaute auf und musterte Adica mit einem offenen, unerschrockenen Blick, doch sie senkte den Kopf sogleich wieder, als ihre Nachbarin sie am Oberschenkel anstieß. Ein weiterer Vorhang wurde von einer unsichtbaren Hand beiseite gezogen, und sie duckten sich, um das dahinter liegende Zimmer zu betreten. Eine alte Frau führte sie zu einem wunderbar gearbeiteten Kupferbecken, in dem sie sich die Hände waschen konnten. Die Einrichtung des Zimmers bestand aus Plüschteppichen, einem Haufen mit Blumen und Reben bestickter Kissen und zwei Truhen, in die zur Verzierung Löwenfrauen geschnitzt worden waren. Die Vorhänge an den Seiten waren aus blauen, purpurnen und karmesinroten Fäden gewoben, und auch sie zeigten die Lö15 wenfrauen in ihrer ganzen imposanten Erhabenheit. Die alte Frau zog an einem Glockenstrang, der neben dem Vorhang hing. Ein weiterer Vorhang, hinter dem sich das hinterste Zimmer verbarg, lüftete sich. Adica warf einen kurzen Blick in das schwach erleuchtete Innere dieses Zimmers: Ein aus Gold gearbeiteter Tisch und ein ebensolcher Stuhl standen auf dicken Teppichen; der hintere Teil des Zelts wurde von einem hauchdünnen Schleier aus feinstem Leinen verborgen. Eine Frau schlurfte durch ihr Blickfeld, von der schweren Last des Alters niedergedrückt. Sie trug die gleichen fließenden Gewänder wie die anderen Mitglieder ihres Stammes, aber im Gegensatz zu ihnen war auch ihr Gesicht vollkommen von einem Leinenschal verhüllt, nicht einmal ihre Augen waren zu erkennen. Da aber das Gewebe in Augenhöhe etwas dünner war, konnte sie vermutlich etwas sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Den Überzeugungen ihres Volkes entsprechend hatte sie das Antlitz ihres Gottes geschaut, und die göttliche Ausstrahlung leuchtete noch immer so grell in ihrem Gesicht, dass es andere Sterbliche töten würde, sie anzusehen. »Ich grüße dich, Helle-Hört-Mich«, sagte Adica respektvoll und wartete darauf, dass Laoina die Worte übersetzte. »Wichtige Angelegenheiten führen mich in dieses Land, das auf mich einen seltsamen und gefährlichen Eindruck macht.« Helle-Hört-Mich stotterte ein bisschen. Sie sprach etwas schwerfällig, und es lag ein tiefer Ernst in ihrer Stimme, als ob jedes Wort zuvor durch die Hände ihres Gottes gegangen wäre. »Auch ich grüße dich, Junge-Die-Zu-UnsGehört.« Dann verstummte sie, wartete in der Stille, die nur gelegentlich von dem leisen Singsang der Frauen im angrenzenden Zimmer unterbrochen wurde. Die Vorhänge und Wände dämpften die Geräusche von draußen. Schließlich sprach die alte Frau erneut: »Woher kommt dieser Mann, der noch nicht geboren ist?« »Aus dem Webstuhl«, antwortete Adica überrascht. »Die Geheiligte holte ihn von jenem Pfad, der ins Land der Toten führt, damit er mir bis zu meinem letzten Tag als Gefährte dienen kann.« 16 »Er kann nicht tot sein«, sagte die heilige Frau, »denn er ist noch gar nicht geboren.«
»Aber wie kann er dann hier sein, im Körper eines Mannes?« »Das ist ein Geheimnis. Seine Seele ist noch nicht dazu bestimmt, auf dieser Erde zu wandeln.« Adica fragte sich, ob Laoina die Worte der heiligen Frau richtig übersetzt hatte. Andererseits hatte tatsächlich noch keine der anderen Zauberinnen jemals das bloße Antlitz ihrer Götter geschaut, auch Adica nicht. Ganz gewiss musste so etwas einen Menschen verändern. Und ganz gewiss bedeutete es, dass solch ein Mensch Dinge sehen konnte, die für andere Sterbliche unbegreiflich blieben. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, was du da sagst.« Helle-Hört-Mich machte eine Pause, als ob sie lauschen würde - vielleicht ihrem Gott? »Vieles, was das Leben betrifft, bleibt ein Geheimnis. Selbst mir, die ich einen flüchtigen Blick auf das Antlitz Gottes erhascht habe, ist es nicht vergönnt, all das zu wissen, was geschehen wird. Erzähl mir, was in den anderen, weit entfernten Ländern vor sich geht.« Auf Adicas Anweisung hin berichtete Laoina von den Ereignissen, die zu ihrer Reise ins Lager von Helle-HörtMich geführt hatten. »Was sollen wir tun, wenn Hörn tot ist?«, fragte Adica und fürchtete sich sogleich vor der Antwort. Eine unbehagliche Stille breitete sich aus. Adica konnte das Gemurmel der Weberinnen nicht mehr hören; sie konnte überhaupt nichts mehr hören, noch nicht einmal das sanfte, seufzende Geräusch, mit dem sich die Zeltwände im Wind bewegten. War sie plötzlich taub geworden? Ein Scharren ertönte - es stammte von Laoina, die ihre Füße auf dem Teppich bewegt hatte. Ein helles Glöckchen erklang. Schließlich antwortete Helle-Hört-Mich. Ihre Stimme war nur ein Flüstern, und sie sprach so langsam, als würde sie Worte wiederholen, die ihr aus einer unsichtbaren Quelle zuflössen. »Wenn 17 unsere Gefährtin Hörn wirklich tot ist, müssen wir beginnen, unsere Kinder zu Kriegern zu erziehen. Es wird in jeder Generation Kämpfe geben, über unzählige Generationen hinweg, und die Kämpfe werden niemals aufhören, denn die Verfluchten sind unsere Feinde von dem Tag an, da sie zum ersten Mal unter uns gewandelt sind, und für alle Tage, die noch kommen werden. Einst sind die Mitglieder unseres Volkes ihre Sklaven gewesen. Der Gott unseres Volkes hat uns aus der Sklaverei herausgeführt, und wir sind in diese Wildnis gekommen. Hier haben uns die Diener Gottes, die den Körper eines Löwen, die Schwingen eines Engels und das Gesicht eines Menschen haben, vor dem Zorn der Verfluchten geschützt. Doch selbst jetzt bekommen wir die Magie der Verfluchten zu spüren. Jedes Jahr gibt es weniger Diener Gottes, denn die Verfluchten machen Jagd auf sie - zum Zeitvertreib und um sie zu opfern.« Sie hob eine Hand. Die Prophezeiung war zu Ende. Die Dienerin trat vor, einen Becher in der Hand. Er verschwand unter dem Schleier; die heilige Frau trank und gab den Becher leer zurück. Adica konnte jetzt wieder normale Geräusche hören: das Lachen eines Kindes, das Meckern der Ziegen, das Gemurmel der Weberinnen, die dahinplätschernde Melodie der Harfenspielerin. Helle-Hört-Mich sprach weiter. Diesmal jedoch in einem normalen Tonfall und auf die für sie typische, stockende Weise. »Geh ins Land der Steinriesen, dorthin, wo der Phoenix fliegt. Der mit den zwei Fingern wird dich führen. Du darfst auf keinen Fall den großen Webstuhl benutzen, um in Horns Land zu gelangen, denn dann würdest du den Verfluchten direkt in die Arme laufen. Nimm den geheimen Weg. Du bist die Junge. Wir vertrauen auf deine Stärke. Wir übrigen müssen warten. Wenn Hörn wirklich tot ist, bleibt uns nur die Hoffnung, dass jene, die sie zu ihrer Nachfolgerin ausgebildet hat, bereit ist, ihren Platz einzunehmen.« »Sofern sie den Angriff überlebt hat«, murmelte Adica. »Wir müssen siegen, sonst werden die Verfluchten uns alle versklaven.« 18 Mit diesen Worten waren sie entlassen. Draußen hatte es Alain schließlich doch geschafft, sich zu entspannen; die Hitze und die weichen Kissen hatten ihn in einen leichten Schlummer fallen lassen. Adica blieb wie angewurzelt unter der Zeltklappe stehen und starrte ihn an. In ihren Augen war er nie zuvor so schön gewesen wie in diesem Augenblick, da er erwachte und sie anschaute. Er strahlte, seine Augen leuchteten, selbst seine Haare schienen jetzt noch mehr zu glänzen, als ob er sie mit Eiweiß gewaschen hätte. Er gähnte und trank dann einen Schluck Wein. »Ich hatte einen seltsamen Traum«, sagte er schläfrig. Er hatte ein so ausdrucksvolles Gesicht; es wirkte offen und ehrlich, aber nicht im Mindesten einfältig. »Es hat Rosenblüten geschneit. Ein kräftiger Wind hat mir in den Rücken geweht, sodass ich schon dachte, es würde ein großes Lebewesen hinter mir stehen und kräftig mit den Flügeln schlagen.« Sie erschauderte, als ob ihr eine Spinne über den Rücken laufen würde. Sie erinnerte sich daran, was Helle-HörtMich über ihn gesagt hatte. Aber diesmal schien Alain ihre Besorgnis nicht zu bemerken. Er nahm eine Hand voll von den feuchten Früchten und streckte sie ihr entgegen, als wollte er ihr ein Opfer bringen. Als sie sich jedoch vorbeugte, um sie anzunehmen, schob eine der Dienerinnen mit einem Stock sanft Alains Hand beiseite, bevor ihre Hände sich berühren konnten. »Sie möchten, dass wir gehen«, sagte Laoina. Überrascht stellten sie fest, dass ein neuer Führer aufgetaucht war. Auch er war in ein schwarzes Gewand mit einer Kapuze gehüllt. Ihre Vorräte an Trinkwasser und Nahrungsmitteln waren aufgefüllt worden. Nachdem sie sich ihre Habseligkeiten auf den Rücken geschnallt hatten, gingen sie den Weg zurück, den sie gekommen
waren, vorbei an dem Teich und durch die wild wuchernden Pflanzen. Selbst im Schatten war es noch unglaublich heiß. Die Sonne stand im Zenit. Sie konnten unmöglich durch den Sand zurück zu dem steinernen Webstuhl laufen. Als sie im Schatten 19 der letzten Palme Halt machten, hob ihr Führer ein Widderhorn an seine Lippen. Er blies hinein, doch Adica konnte nicht den geringsten Laut hören. Auf einem in einiger Entfernung liegenden Grat bildete sich eine Staubwolke. In großen, eleganten Sätzen - die Schwingen halb ausgebreitet - kamen drei Löwenfrauen den Hang herunter und über die Ebene gelaufen. Prüfende Blicke aus nichtmenschlichen Augen, die umso unheimlicher wirkten, da sie sich in einem so menschenähnlichen Gesicht befanden, musterten Adica, Alain und die Akka-Frau; dann ließen sich die Wesen zu Boden sinken, wobei sie die Beine unter dem Körper zusammenfalteten. Der Führer deutete auf die Rücken der Sphingen. Laoina fluchte in ihrer eigenen Sprache. Adica war wie gebannt; sie wusste nicht, was schlimmer war - der heiße Atem der Sonne oder ihre Furcht. Alain trat vorsichtig einen Schritt vor. Die ungeheure Hitze schien sich wie eine Last auf ihn zu legen, als er aus dem Schatten ins Sonnenlicht trat. Er trat von einem Bein aufs andere, fluchte, weil der Sand so unerträglich heiß war, und huschte dann zu der Sphinx, die ihm am nächsten war. Während er unbeholfen ihren Rücken erklomm, kamen seine Hunde herangetrottet und schnüffelten am Hinterteil der riesigen Kreatur. Die Sphinx schlug einmal mit dem Schwanz, um sie dazu aufzufordern, einen respektvollen Abstand einzuhalten, und bewegte ihre Krallen im Sand. Gleichzeitig stieß sie ein knurrendes Geräusch aus, das sowohl sanft als auch bedrohlich klang. »Kommt.« Alain wirkte vollkommen entzückt, wie ein Kind, dessen Unschuld verhindert, dass es Furcht empfinden kann. Adica berührte Laoina am Ellbogen. »Komm«, sagte sie, denn sie konnte sehen, dass die Akka-Frau vor Entsetzen förmlich erstarrt war. »Du hast gesehen, wie die Drachen aufgestiegen sind. Diese Kreaturen hier sind ganz bestimmt nicht gefährlicher als Drachen!« »Ich tue das nur, weil wir gegen die Verfluchten Krieg führen«, murmelte Laoina und seufzte resignierend. »Das ist dann wohl 20 mein Beitrag zu dem Ganzen.« Sie vollführte eine komplizierte Geste - einen Schutz gegen böse Geister - und rannte ohne jede Vorwarnung zur zweiten Löwenfrau. Adica trat hinaus auf den brennend heißen Sand. Das Gras, das in ihre Fußbekleidung eingewoben war, zischte, als sie zur dritten Löwenfrau lief. Sie sprang hoch, kam bäuchlings über der Vorderkruppe der Löwenfrau zu liegen und schwang ein Bein hinüber, sodass sie schließlich rittlings auf ihr saß, wie sie es einst auf dem Rücken der Geheiligten getan hatte. Die Löwenfrau erhob sich und stieß ein tiefes, grollendes Schnurren aus, das Adica durch Mark und Bein ging. Etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, versuchte sie, irgendwo an den Schultern Halt zu finden. Schließlich schlang sie ihre Beine eng um die Schwingen, drückte sich gleichzeitig flach gegen den Nacken der Löwenfrau und hielt sich fest, so gut es ging. Es war jedoch längst nicht so schwierig, wie sie befürchtet hatte. Die Bewegungen der Löwenfrau waren sanft und geschmeidig; nur das raue Fell scheuerte die Haut ihrer Oberschenkel auf. Das Bündel mit den Regalien tanzte unangenehm auf ihrem Rücken herum, stieß immer wieder an der gleichen Stelle gegen ihre Wirbelsäule. Doch sie wagte es nicht, auch nur einen kurzen Moment eine Hand loszulassen, um das Bündel zurechtzurücken. Das Sonnenlicht hämmerte mit aller Kraft auf sie herab. Als sie über die Kuppe des Hügels kamen und ein Stück voraus der Steinkreis zu sehen war, wurde Adica von einem Schwindelanfall überwältigt. Die Luft schien regelrecht zu kochen, und es war, als würde der Sand sich abwechselnd heben und senken. Funken sprühten in der Mitte des Webstuhls auf, und ohne Vorwarnung wurden von dort Pfeile abgeschossen. Laoina schrie vor Schmerz auf. Die Sphinx, auf der Adica ritt, warf den Kopf zurück, als wollte sie aufschreien, doch es drang nicht das geringste Geräusch aus ihrem weit aufgerissenen Mund. Sie zog die Hinterbeine an und machte sich zum Sprung bereit - ganz geballte Kraft und grimmige Erwartung. Die Löwenfrau, auf der Alain saß, drehte jedoch im letzten Au21 genblick ab, als ein weiterer Pfeilhagel von den Steinen aus abgeschossen wurde. »Die Verfluchten!«, schrie Laoina. Gestalten mit menschlichen Körpern und den Gesichtern von Tieren lauerten hinter den Steinen. Ihre Federumhänge blitzten im grellen Sonnenlicht. Adicas Reittier taumelte, und sie begann zu rutschen, schaffte es gerade noch, ein Bein um eine Schwinge zu schlingen. Mühsam zog sie sich wieder hoch. Wenn sie jetzt hinunterfiel, war das ihr Todesurteil. Aus der Mitte des Steinkreises drang der trällernde Kriegsschrei der Verfluchten. Ein Dutzend von ihnen löste sich aus dem Schutz der Steine und stürmte heran. Die Sphingen wirbelten herum und rasten wieder zurück in die Wüste. Adica war so sehr damit beschäftigt, sich irgendwie festzuhalten, dass es ihr unmöglich war, auch nur einen Verwirrungszauber zu wirken. Die Schreie der Verfluchten wurden leiser. Wie aus weiter Ferne hörte Adica den durchdringenden Ton eines Widderhorns, scharf und drängend. Das Geräusch verschwand, als die Sphingen eine Hügelkuppe überquerten
und auf der anderen Seite zu einer Ebene hinabstiegen, die so flach und bar jeder Vegetation war, dass es aussah, als wäre sie von einem Brand gesäubert worden. Adicas Herz hämmerte unbarmherzig. Ein heißer Wind war aufgekommen, und ihr rann der Schweiß so heftig den Rücken hinunter, dass ihre Oberschenkel nass davon wurden. Sie spürte, wie ihre Haut von dem rauen Fell der Sphinx aufgescheuert wurde, während das Wesen weiter rannte, weiter und immer weiter, bis sie schließlich die Augen schloss. Sie hoffte innerlich auf eine Pause, sehnte sich nach einem Schluck Wasser. Die Verfluchten hatten das Geheimnis der Webstühle entdeckt. Die ganze Menschheit war dem Untergang geweiht. Wenn die Verfluchten in der Lage waren, die Webstühle zu benutzen, konnten die Menschen ihnen nichts mehr entgegensetzen - dann würden die Verfluchten den Krieg gewinnen. Schwindelanfälle schwappten in großen Wogen über sie hinweg. 22 Sie hatte inzwischen ein paar Stellen gefunden, wo das Fell der Sphinx weicher war und sie sich einigermaßen gut festhalten konnte. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Wie ein Spiegel warf die Erde die Hitze der Sonne zurück, bis alles in ihrem Blickfeld zu grauen Schemen verschmolz. Mühsam kämpfte sie sich wieder zurück ins Bewusstsein. Wie lange würde dieser Ritt noch dauern? Wo wollten die Löwenfrauen sie hinbringen? Würde sie es schaffen, sich so lange festzuhalten, bis sie dort ankamen? Als würde sie Adicas Fragen beantworten, verlangsamte die Sphinx ihr Tempo, schritt mit ihren Gefährtinnen in gemäßigterer Geschwindigkeit dahin. Sie breitete die Flügel zur Hälfte aus, schuf dadurch ein schimmerndes Zelt, das das Sonnenlicht filterte, dämpfte und ein wenig blasser machte. Als Adica einen Blick auf den Boden warf, begannen ihre Augen von dem grellen Licht und der Hitze sofort zu tränen, daher schloss sie sie sogleich wieder und barg ihren Kopf im Nacken der Löwenfrau. Im Schutz der Schwingen strömte die Luft in einer kühlen Brise an ihr entlang, während sie weitergingen, immer und immer weiter. Aber jetzt konnte Adica es aushalten. Jetzt würde sie durchhalten. Wenn sie nur irgendwie die Verfluchten loswerden konnten, wäre sie zu allem im Stande. 2 Alain hatte auch einige Zeit nach dem unerwarteten Angriff noch immer Herzklopfen, wenn er daran dachte, wie aus dem Steinkreis Pfeile auf sie zugeflogen und mit Federbüschen verzierte Helme aufgeblitzt waren. Vielleicht hatte Kel ja Recht. Vielleicht waren die Verfluchten lediglich blutrünstige Wilde, die auf Zerstörung und Krieg aus waren. Er leckte sich die Lippen, doch seine Zunge war staubtrocken. Instinktiv griff er nach der Wasserflasche, die an seinem Gürtel befestigt war, aber ein Pfeil hatte sie durchbohrt. 23 Die Sonne wanderte nach Westen. Schließlich erreichten sie eine Reihe steiler Felsklippen, die so aus der Erde aufragten, als hätte eine riesige Katze mit ihren Krallen den Boden aufgerissen. Die Sphingen trugen sie in den Schatten einer Klippe, wo sie vor der Sonne geschützt waren. Es gab sogar eine Quelle zwischen den Felsen. Alain ließ Kummer und Rage trinken, dann zog er sie zurück, bevor er seinen eigenen Durst stillte. Während er den Hunden Salbe auf die Pfoten schmierte, untersuchte Adica den Kratzer an Laoinas linker Hüfte, der zwar oberflächlich war, aber aufgrund irgendeines Gifts, mit dem die Verfluchten ihre Pfeilköpfe versehen hatten, eiterte. Mit dem Quellwasser und einer Lavendelpaste reinigte Adica die Wunde. Als sie damit fertig war, lehnte sich Laoina gegen den Felsen und ruhte sich aus. Alain hockte sich neben Adica und strich ihr über die Haare. Selbst wenn sie sich seltsam verhielt - was manchmal der Fall war -, war es immer eine Freude, ihr zuzusehen. Wie Spuckt-Zuletzt sprühte sie geradezu vor Lebendigkeit - welch ein Kontrast zu der Trauer, die so häufig in ihre Augen trat und ihn immer wieder versuchen ließ, sie zum Lachen zu bringen. Er lehnte sich gegen den Felsen, und sie schmiegte sich an ihn. Sie teilten sich einen Kanten Brot, doch er hatte das letzte Stückchen noch in der Hand, da war er schon eingeschlafen. Als er erwachte, war das Brot weg. Kummer und Rage saßen da, die großen Köpfe auf die Vorderpfoten gesenkt, und starrten ihn traurig in der Hoffnung auf mehr an. Die drei Sphingen saßen außerhalb des im Schatten liegenden Felsenstücks geheimnisvoll in der Sonne. Hin und wieder peitschten ihre Schwänze den Boden. Eine hatte die Pranken gekreuzt. Eine andere leckte sich eine Wunde am Vorderbein. Ihr Blick war auf ihre Schützlinge gerichtet und schwankte nicht ein einziges Mal. »Bestimmt fühlen sich Mäuse, kurz bevor sie verschluckt werden, so wie ich mich jetzt fühle«, murmelte Adica. Er lachte leise und legte ihr beruhigend den Arm um die Schultern. »Sie werden dich nicht fressen.« 24 Beruhigt schmiegte sie den Kopf an seine Brust und döste wieder ein. Er seufzte, zufrieden damit, ihr Gewicht an seinem Körper zu spüren. Es war ein Zeichen ihres Vertrauens. Und zählte das nicht am meisten im Leben? Sie würden noch viele Jahre zusammen verbringen, Kinder großziehen, einen besseren Pflug mit Pflugmesser und Streichbrett herstellen ... Irgendwie würde sich alles zum Guten wenden ... Er wurde von Husten geweckt. Zitternd schreckte er auf. Der Sonnenuntergang tauchte die Kammlinie in Rosa und Purpur. Es stand nicht das kleinste Wölkchen am Himmel. Die Linie zwischen Himmel und Erde war so deutlich zu sehen, als wäre sie von Menschenhand mit Kohle und Farbe gezogen worden. Er war allein. Nur Kummer saß in der Nähe und hielt Wache. Wer - oder was -hatte gehustet? Er spürte, dass er beobachtet wurde. Etwas musterte ihn, nicht in böser Absicht, sondern eher neugierig.
Er stand langsam auf. Sein Genick schmerzte, und er hatte einen ziemlich schlimmen Sonnenbrand an Händen, Knien und Waden; die Haut war an diesen Stellen rot und blasig und schmerzte schrecklich. Glücklicherweise sprudelte die zwischen den Felsen verborgene Quelle noch immer. Moos wuchs entlang der Quelle, und er benutzte eine Hand voll davon als Schwamm, um sich das Gesicht und die Arme zu waschen. »Wo ist Rage?«, fragte er Kummer. »Geh und such Adica.« Der Hund stand auf, gähnte ausgiebig, jaulte einmal leise und trottete dann still davon. Alain griff nach seinem Stab und folgte ihm. Felsnadeln ragten über ihnen auf, verloren sich in der Dunkelheit. Nur die Ostseite des Grats wurde noch von ein paar Sonnenstrahlen beschienen. Laoina kam ihm um die Klippe herum entgegen. »Komm schnell.« Sie deutete zum Himmel hinauf. »Die Nacht kommt. Die Sterne kommen.« Sie schnürten sich ihre Habseligkeiten auf den Rücken und machten sich dann daran, dem Pfad zu folgen. Die Oberfläche der 25 Klippe öffnete sich zu einem Hohlweg, der in Stufen nach unten führte. Die Luft roch nach Wasser. Zähe Pflanzen wuchsen an den Seitenwänden, selbst an den unmöglichsten Stellen. Einige von ihnen machten den Eindruck, als sollte man sie besser nicht anfassen, denn sie hatten recht stachelige Blätter. Andere wanden sich dicht am Felsen entlang, fanden Halt in winzig kleinen Spalten. Der Hohlweg endete an einer steilen Mauer. Hier hatte ein unbekannter Stamm einen eigentümlich geformten, steinernen Webstuhl errichtet - er bestand aus Säulen und nicht aus Megalithen. Adica bewegte sich zwischen ihnen hindurch, maß die Abstände und Winkel, in denen sie zueinander aufgestellt waren. Während es schnell dunkler wurde, schaute sie immer wieder zum Himmel empor. Die Säulen sahen aus, als ob sie aus Granit wären, fühlten sich aber wie zu Stein erstarrte Schlangenhaut an. Der obere Teil war wie der Torso einer Frau geformt, die die Arme flach an ihren grauen, schuppigen Körper presste. Bizarre Reliefs schmückten die Kapitelle, steinerne Schlingen und Reben, die zum Teil die pfiffigen Gesichter lächelnder Mädchen verdeckten. Es dauerte einen Augenblick, bis Alain klar wurde, dass diese Girlanden aus Schlingen und Reben in Wirklichkeit Schlangen darstellten. Ein goldenes Aufblitzen erregte seine Aufmerksamkeit. Er kniete am Fuß einer der Säulen nieder. Sand rieselte über seine Hand, als er ein goldenes Halsband aufhob, das aus kleinen, miteinander verbundenen Rechtecken bestand. Auf jedes dieser goldenen Rechtecke war das Abbild einer geflügelten Göttin geprägt, die in einen Rock aus mehreren Schichten gekleidet war, von zwei Löwen begleitet wurde und links und rechts von Rosetten umgeben war -ähnlich denen, die die Paläste der Verfluchten schmückten. Wie mochte das Halsband wohl hierher gekommen sein? Er hielt Adica das Schmuckstück an den Hals. »Erst jemand, der so schön ist wie du, bringt seine Schönheit richtig zur Geltung.« Die goldenen Rechtecke wirkten auf unheimliche Weise kühl auf ihrer Haut, kalt wie die Berührung des Todes, obwohl sie doch die ganze Zeit im warmen Sand gelegen hatten. 26 Schaudernd stieß sie seine Hände weg. »Das ist nicht für mich gedacht. Es ist voller alter Magie.« Von ihrer heftigen Reaktion überrascht, vergrub er das Halsband wieder im Sand. »Ich werde es nicht mitnehmen, wenn es uns nicht zusteht. Wo sind die Löwenfrauen?« Sie erhob sich und schaute zum Himmel empor. »Wir müssen den Webstuhl betreten. Komm mit.« Rage knurrte leise. Sie stand steif und wachsam vor einer Spalte in der Felswand, die das tiefer gelegene Ende des Hohlwegs verbarg und der ein bedrohlicher Geruch entströmte. Hinter ihnen pfiff Laoina eine leise Melodie. Kummer trottete zu Rage hinüber und nahm ebenfalls eine argwöhnische Haltung ein. »Schnell.« Laoina deutete mit ihrem Speer auf die Hunde. »Wir müssen gehen. Schnell, schnell. Es kommt etwas.« Am Himmel erschienen die ersten Sterne. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist«, sagte Adica. Sie trat ein Stück zurück, um eine Stelle zu finden, die es ihr ermöglichte, sich zu orientieren. »Könnt ihr den Mond sehen? Ich bitte dich, Fette, lass die Tage nicht zu schnell vergangen sein. Lass es noch nicht zu spät sein.« »Auf was muss ich achten?«, fragte Alain und stellte sich neben sie. »Zeige mir, wie ich dir beim Weben helfen kann.« »Das Land von Zweifinger liegt westlich von hier. Wenn wir nach Westen reisen wollen, muss ich nach Westen weben.« Sie musterte aufmerksam und entschlossen den Himmel, während sie den Spiegel an die Brust drückte. »In Bezug aufeinander bewegen sich die Sterne nicht. Doch wie hoch oder tief sie am Himmel stehen, kann sich ändern. Schau.« Sie deutete auf einen hellen Bogen aus Sternen, die in der klaren Wüstenluft flimmerten. »Bei unserem Dorf kriecht die Schlange dicht über dem Horizont über die Hügel. Hier, in den Wüstenlanden, hat sie unsichtbare Schwingen, die es ihr ermöglichen, in großer Höhe zu schweben. Der helle Stern da ... ja, der da ... ist ihr rotes Auge. Tritt jetzt einen Schritt zurück. Ich werde den ersten Faden weben -« 27 Sie streckte den Spiegel jetzt von sich weg und bewegte ihn so lange hin und her, bis das Licht des Sterns auf seine Oberfläche fiel. Kaum war sie in den Singsang ihres Zauberspruchs verfallen, hatte sie Alain auch schon vergessen. Sie hatte sich abrupt von ihm losgerissen, als hätte sich urplötzlich ein Abgrund zwischen ihnen
aufgetan. Aber was konnte er schon anderes tun, als staunend zuzusehen, wie sie ihre Magie wob? Sie richtete ihr Weben auf die Sterne, die das Halsband der Heiligen genannt wurden - und die immer noch hoch am Himmel standen und im Westen untergehen würden -, und wob so ein Tor zu den westlichen Landen. Noch nie zuvor hatte er es aus solcher Nähe gesehen. Er konnte sogar durch seine Fußsohlen hindurch den Gesang der Fäden spüren, fühlte ihn tief in seinen Knochen. In dem Augenblick, da das Tor sich zu bilden begann, jaulten die Hunde vor Furcht auf und wichen zurück. Alain hob seinen Stab hoch, als sie in seinen Blick gerieten. Es wurde dunkel. »Geh!«, schrie Adica, mitten im Labyrinth ihres Webens gefangen. Ein Zischen hallte von den Felswänden um sie herum wider. Eine weitere Aufforderung benötigte Laoina nicht: Sie sprang über die Schwelle. »Geh!«, schrie Adica, als Alain weiter zögerte. »Ich werde dir folgen!« »Ich lasse dich nicht allein!«, brüllte er. Die Hunde rasten auf das Tor zu, sprangen hindurch und ließen sie zurück. Was auf Erden konnte nur so schrecklich sein, dass es seine treuen Hunde auf diese Weise in die Flucht schlug? Mit einem schleifenden Geräusch schob sich hinter ihm etwas über die Felsen. Er wirbelte herum, hielt seinen Stab bereit und achtete darauf, dass er sich zwischen dem Spalt und Adica befand. Doch er konnte nur Schatten erkennen. Schwere Schritte erschütterten die Erde, als eine der Löwenfrauen in unheimlichem Schweigen an ihm vorbeitrottete. »Alain!« 28 Ein Zischen beantwortete Adicas Ruf. Eine schlangenähnliche Kreatur schob sich aus dem Spalt, wand sich zur Seite. Das Wesen bewegte sich wie eine Schlange - aber es war keine Schlange. Es hatte eine blasse Haut, den Körper einer Frau und das Gesicht eines Mädchens, dessen Weiblichkeit gerade erst erwacht war, zugleich übermütig und merkwürdig reserviert. Ihre Haare schlängelten sich um ihren Kopf, als würden sie von einem Luftwirbel bewegt, oder als ob die Haare selbst lebendig wären, ein Wirrwarr zischender Schlangen. »Alain!« Das Tor leuchtete schwach. Fäden rissen. Die Sphinx griff mit einem gewaltigen Satz an, und Alain hörte Adicas schwächer werdenden Schrei. Er sprang zurück durch Funken sprühende, zischende Fäden in einen Sandsturm, der ihn sofort blendete. Er versank im Sand, fuchtelte wild mit den Armen. Er bekam keine Luft. Hände packten ihn. Er stolperte, als sie ihn mit sich zogen. Von der Wucht des Sandsturms niedergedrückt, griff er nach einem Zipfel seines Umhangs, um sein Gesicht zu schützen. Sandkörner rieselten an seinem Kinn hinab. Trockene Teilchen sammelten sich in seinem Mund, und immer, wenn er schluckte, scheuerten Sandkörner in seiner Kehle, bis er glaubte, sie stünde in Flammen. Sie stolperten eine Ewigkeit lang über unebenen Boden. Sandkörner prasselten auf sie herab, scheuerten über nicht bedeckte Hautflächen. Natürlich konnte er absolut nichts sehen. Plötzlich spürte er, dass eine gewaltige Wand vor ihm aufragte. Jemand packte ihn mit festem Griff und zerrte ihn zur Seite, sodass er kopfüber einen sanften Hang hinabstürzte. Er stieß sich dabei die Knie an den Steinen. Weiter oben im Tunnel heulte der Wind. Er spuckte und keuchte und musste sich am Ende sogar erbrechender Sand würgte ihn so sehr, dass er von einem hilflosen Zittern erfasst wurde. Seine Augen schmerzten von den Sandkörnern, die auch seine Ohren verstopften. Jedes Mal, wenn er sich schüttelte, rieselten Sand und Dreck aus seinen Haaren. 29 Wo war Adica? War sie dem Sturm entkommen? Er kämpfte sich auf die Beine, genau in dem Augenblick, als ein Mann in einer ihm unbekannten Sprache das Wort an ihn richtete. Dann sagte er etwas in der Sprache des Weißhirsch-Stammes. Sein Akzent klang fast noch fremdartiger als der von Laoina, doch dafür schien er die Feinheiten der Sprache besser zu beherrschen. »Steh auf, Fremder. Komm bitte her. Wir haben einen Ort, an dem du baden kannst.« Alain blinzelte aus sandverklebten Augen. Vor ihm stand ein dunkelhäutiger Mann mit stolzem Gesicht und einer Adlernase, der ihn prüfend musterte. War es Mitleid, was ihn veranlasste, den Mund zu verziehen? Mit einer eleganten Geste deutete der Mann auf einen Tunnel, der von brennendem Öl in Keramik-Schalen erleuchtet wurde. Alain warf einen Blick zurück auf den Weg, den er gekommen war. Drei in lange Gewänder gehüllte Gestalten hockten, mit Speeren bewaffnet, am Eingang. Sie starrten hinaus in den Sturm - ein Mahlstrom aus Wind, Sand und Geistern, die in der Luft heulten. Er traute sich nicht, über das nachzudenken, was sie möglicherweise über den Sturm hinaus noch zu befürchten hatten - jedenfalls nicht, nachdem er das Gesicht dieser Schlangenfrau gesehen hatte. Nie hätte er gedacht, dass er einmal solch fremdartige Dinge sehen würde. Das alles erschien ihm beinahe wie Visionen aus einer weit entfernten Vergangenheit. In dem Wald um Burg Lavas herum gab es eine Herde Auerochsen, und man konnte auch zufällig, wenngleich kurz, einem Einhorn begegnen, und natürlich gab es Wölfe. Die großen Raubtiere jedoch, die den alten Legenden zufolge die Menschen früher heimgesucht hatten sumpfgeborene Guivres, die Drachen des Nordens oder die Greifen, die im Grasland lebten -, durchstreiften die Wälder des Nordens nicht. Tatsächlich wurden sie kaum einmal gesichtet, und so hielten die meisten Menschen sie für Fabelwesen, die man erfunden hatte, um die Kinder zu erschrecken.
Vielleicht waren ja auch die Verfluchten der Grund, weshalb die 30 drei Männer Wache hielten. Es schien ihm nur einfach unmöglich, dass sich jemand in diesem Sturm zurechtfinden konnte. »Wo ist die Geweihte?« »Sie ist vor dir angekommen, noch bevor der Sturm angefangen hat. Komm mit mir.« »Ich muss mich erst davon überzeugen, dass sie in Sicherheit ist.« Der Blick, den ihm sein Führer zuwarf, war so scharf und schneidend wie eine Messerklinge. »Sie hat mir gesagt, dass du so reagieren würdest. Sie ist schon unterwegs zu Zweifinger. Ich soll dir das hier zeigen, als Zeichen dafür, dass sie in Sicherheit ist.« Er öffnete die Hand und zeigte Alain einen von Adicas Kupferarmreifen. »Auch die Hunde sind wohlbehalten in unsere Hallen gelangt. Lass uns jetzt gehen.« Er drehte sich um und begann, den Tunnel hinabzugehen. Tonschalen waren in solchen Abständen aufgestellt worden, dass immer dann, wenn der schwache Lichtschimmer der Letzten gerade hinter ihnen verblasste, sich ein Stück voraus schon der der Nächsten abzeichnete. Auf diese Weise mussten sie sich nie in völliger Dunkelheit bewegen, gerieten allerdings auch nur gelegentlich in einen Lichtschein, der die Bezeichnung »Helligkeit« verdient hätte. In der Felsenfeste roch es leicht nach Anis. Alain verstreute immer noch bei jedem Schritt Sand. Wahrscheinlich würde er ihn nie wieder richtig loswerden. Dann öffnete sich der Tunnel zu einem großen Zimmer. Hier standen Zelte aus Tierhäuten, die man über straffe Seile gespannt hatte. Das Zimmer war leer. Eine Goldschmiedin war mitten in ihrer Arbeit unterbrochen worden; ihre Werkzeuge lagen auf einem flachen Felsstück verstreut, neben einem Halsband von unerhörter Feinheit, das aus Fayence bestand und in Form zweier einander anblickender Falken gearbeitet war. Zwei Webstühle standen verlassen da. Eine der Webarbeiten war fast fertig: ein Stück Stoff, in dem leuchtende Streifen in Gold, Blau, Schwarz und Rot einander abwechselten. Eine Lederarbeiterin hatte halb zuge31 schnittene Lederstücke auf einem Stuhl zurückgelassen. Ein Kinderwagen stand verlassen da; er neigte sich zu einer Seite, da ein Rad fehlte. Der Führer wartete geduldig, während Alain sich neugierig in dem Zimmer umschaute. Nach einiger Zeit jedoch deutete der Mann auf eine kleinere Öffnung, von der aus man in einen weiteren Tunnel gelangte. »Hier entlang, bitte.« Der zweite Tunnel war kürzer und besser ausgeleuchtet. Er mündete in ein kreisrundes Zimmer, das durch einen Vorhang geteilt wurde. Der Führer zog den Vorhang beiseite und deutete auf den dahinter liegenden Teich. Er zog sich jedoch nicht zurück, sondern sah vielmehr interessiert zu, wie Alain sich seiner Kleidung entledigte und vorsichtig die Temperatur des Wassers prüfte. Nachdem er festgestellt hatte, dass es herrlich warm war, tauchte er mit einem Seufzen mitsamt Kopf unter. Sand wirbelte um ihn herum, wurde von einer Strömung mitgerissen, die irgendwo unter dem Felsen nach draußen führte. »Du bist der Ehemann der Geweihten«, sagte der Mann, während er Alain einen groben Schwamm reichte. »Hast du keine Angst, dass ihr Schicksal dich verzehren könnte?« »Ich habe keine Angst. Ich werde sie beschützen.« Der Mann hatte einen Teint, der so dunkel war wie der von Liath, und verwegene, ausdrucksvolle Augenbrauen, die er jetzt zweifelnd in die Höhe zog. »Das Schicksal ist schon gewoben. Wenn der Kopfschmuck der Schamanin die Himmel krönt, werden die Sieben weben. Und nichts kann aufhalten, was ihnen dann geschehen wird - « Er berührte mit einem Finger seine Lippen, als wollte er sie versiegeln. »Wir sollten darüber nicht sprechen. Die Verfluchten hören alles.« »Adica wird nichts zustoßen«, beharrte Alain dickköpfig. Der Mann grunzte leise, doch anstatt zu antworten, wrang er Alains Kleider über dem Teich aus. Nachdem Alain auch so ziemlich die letzten Sandkörner aus seinen Ohren und zwischen den Zehen entfernt hatte, machte er sich 32 daran, seinen Körper zu untersuchen. Im Laufe des Winters war er schlank geworden, und die harte Arbeit hatte ihn gekräftigt. Um seine Hüften herum zogen sich rote Striemen, wo der Sand hinter den Gürtel gerutscht war und seine Haut aufgescheuert hatte; auch seine Fersen waren rot und wund. Doch der Sonnenbrand, den er sich in der Wüste geholt hatte, war völlig verschwunden; es gab noch nicht einmal das kleinste Fleckchen, auf dem sich die Haut schälte oder geschält hatte - gerade so, als ob in dem kurzen Augenblick, da er durch das Tor getreten war, ganze Tage oder gar Wochen vergangen wären. »Du bist ein tapferer Mann«, sagte der Führer feierlich und reichte Alain seine nassen, ausgewrungenen Kleider, die jetzt allerdings etwas weniger sandig waren. Alain lachte. Die Worte klangen so lächerlich. »Wer ist tapfer, mein Freund? Ich will doch nichts weiter, als dass der Frau, die ich liebe, nichts geschieht.« Er begann sich anzuziehen. Wasser tröpfelte aus seinen Kleidern, während er weitersprach. »Wie wirst du von deinem Volk genannt?« »Es ist üblich, mich Hani zu nennen. Wie darf man dich nennen?« »Ich heiße Alain. Lebt dein Volk immer in diesen Höhlen?«
»Nein. Wir haben hier nur Zuflucht vor den Angriffen der Verfluchten gesucht.« Das war ein Thema, mit dem Alain etwas anfangen konnte. Wann hatten die Verfluchten zum ersten Mal angegriffen? Wie oft erfolgten in diesen Tagen die Überfälle, und aus welchen Richtungen? Hani antwortete ihm, so gut er konnte. »Glaubst du, dass die Verfluchten die Webstühle benutzen?«, fragte Alain. »Es könnte sein. Vielleicht landen sie aber auch mit ihren Schiffen am Strand und verstecken sie dann irgendwo. Auf diese Weise könnten sie uns glauben machen, dass sie die Webstühle benutzen.« »Dann würdet ihr euch nicht nur vor ihren Überfällen fürchten, 33 sondern auch vor ihrem Wissen - weil ihr nicht wisst, wie viel sie wissen.« Hani schenkte Alain ein ironisches Lächeln, was auf seinem stolzen Gesicht irgendwie eigenartig wirkte. »Das ist meine Überzeugung, aber die Geweihten und Ältesten meines Volkes hören nicht auf mich.« Während sie miteinander sprachen - beide beherrschten diese Sprache nur stockend -, gingen sie zurück zur Haupthöhle. Sie schlüpften hinter einen Fellvorhang, von wo aus sie in einen weiteren Tunnel gelangten. Sie bogen um so viele Ecken, folgten so vielen Windungen, kreuzten andere Tunnel, dass Alain wusste, er würde ohne einen Führer niemals wieder hier herausfinden. Gelegentlich hörte er von irgendwoher aus dem Tunnelgewirr das Heulen des Sturms, der noch immer draußen tobte. Sand schwebte in der Luft, und seine Lippen waren schon wieder trocken geworden. Das Heulen verschwand, als der Tunnel sich zu einer kreisförmigen Öffnung absenkte, die aus dem Fels gehauen war. Alain trat mit einem großen Schritt über ein paar Felsbrocken, die im Tunnel lagen, und duckte sich gleichzeitig dabei, um sich nicht den Kopf an der niedrigen Decke zu stoßen. Dann betrat er eine in rotes Licht getauchte Welt mit ockerfarben bemalten Wänden. Hani verbeugte sich tief und murmelte ein Gebet. Ein schwerer, süßer Geruch hing in der Luft. Sie betraten einen in den Fels gehauenen Vorraum, der voller Treppen und Türen, Nischen und gestufter Decken war. Alles war in Rötlich-Orange gehalten. Es war, als würde man einen Mutterleib betreten, das älteste Heim der ältesten Mutter der Menschheit. Menschen warteten hier; sie saßen oder knieten und hatten sich einen Schal um den Kopf geschlungen. Laoina hockte mit gesenktem Kopf an der zweiten Tür, die in Nachahmung eines Türsturzes aus Stein gemeißelt war und einen Holzrahmen besaß. Sie beschattete die Augen mit der Hand, als wollte sie sie vor allzu grellem Licht schützen. Als Alain neben sie trat, blickte sie mit 34 erleichterter Miene auf. »Wir haben dich also nicht verloren! Warte hier mit mir.« Noch immer konnte Alain Adica nirgends entdecken. Er ignorierte Hanis bestürzte Einwände und trat über die Schwelle. Drinnen saßen - vom Licht einer Fackel beleuchtet - drei Personen, von denen zwei verschleiert waren. Die dritte war Adica. Eine Wolke aus Weihrauch brachte ihn zum Würgen. Kummer und Rage saßen zu beiden Seiten der Türschwelle; sie warteten dort auf ihn. Adica hockte schweigend mit leicht gesenktem Kopf da, während der verschleierte Mann ein Lied über einem eingewickelten Bündel in seinem Arm intonierte. Sein freier Arm hob und senkte sich immer wieder, untermauerte seinen Gesang mit weichen Bewegungen. An dieser Hand fehlten zwei Finger. Ein weißroter Kasten mit breiter Öffnung stand vor ihm, darauf waren Spiralen eingraviert, deren weiche Linien von knotigen Dornen durchbrochen waren, so wie die einer wilden Rose. Er bückte sich, um das Bündel in den Kasten zu legen, und in diesem Augenblick verschob sich der Stoff immerhin so weit, dass Alain das fahle und im Tod entspannte Gesicht eines kleinen Kindes erkennen konnte. Zweifinger verschloss den Kasten mit einem Deckel. Die zweite Erwachsene trat jetzt vor und stellte den Kasten auf das Regal in einer aus Fels gehauenen Nische, wo bereits ein Dutzend ähnlicher Kästen ordentlich aufgereiht standen. Dann zogen sich beide in die Mitte des Raumes zurück und widmeten sich wieder ihren Gebeten. Jetzt sah Adica Alain; ihr Blick war sanft und traurig zugleich, aber ein erleichtertes Lächeln kräuselte ihre Wangen, als sie einen Finger an die Lippen führte. Trotz ihres gelegentlich befremdlichen Verhaltens verstand er ihre Gesten ziemlich gut: Sie wollte ihm sagen, dass er bleiben sollte, wo er war, dass er die Zeremonie nicht stören sollte. Alain nickte und trat einen Schritt zurück, stellte sich zwischen Kummer und Rage. 35 Die Gebete verstummten. Schweigen breitete sich in der Kammer aus, so mächtig und dick wie der Weihrauch. Und doch war die Stille nicht vollkommen. Immer wieder vernahm er das an- und abschwellende Heulen des Windes. Einen Augenblick glaubte er gar das Weinen eines Säuglings hören zu können, aber das Schluchzen vermischte sich mit dem schwachen Geheul des Windes, das zu einem lang gezogenen, tiefen, unbestimmbaren Klang geworden war. Die Helferin von Zweifinger nahm ihren Schleier ab, und zum Vorschein kam ein junges Gesicht mit ernster Miene und wütend gerunzelter Stirn. Sie fingerte an einer Kette aus Steinen, Knöchelchen und polierten
Holzperlen herum, die leise klimperten. Alain hörte, wie die Leute im Vorraum sich erhoben und weggingen. Ein Vorhang aus glänzendem, blau gefärbtem Stoff wurde über die Schwelle gehängt; darauf waren metallisch glitzernde Fäden zu einem Muster aus goldenen Flügeln verwoben worden, die zusätzlich mit Perlen und Muscheln geschmückt waren. Zweifinger ließ seinen Schleier ebenfalls fallen. Er hatte ein ernstes, von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht und ein glatt rasiertes Kinn. Sein Alter war schwer zu schätzen, abgesehen von den Krähenfüßen an seinen Augen. Er sprach die üblichen Worte zur Begrüßung, hob dabei die Hand mit den drei Fingern, die Handfläche nach oben gekehrt. Dort, wo die anderen beiden Finger hätten sein sollen, war deutlich die Narbe einer sauber verheilten Wunde zu sehen; sie verlief zackig, als hätte ihm ein Tier die Finger abgebissen. »Wieso bist du gekommen, Tochter? Was für Neuigkeiten bringst du?« Adica berichtete ihm von der überstürzten und hastigen Reise. Zweifinger lauschte andächtig, während Hani und Laoina von ihrem Platz hinter dem Vorhang aus übersetzten. Er unterbrach sie hin und wieder, um Fragen zu stellen, die weiterer Klärung bedurften. »In der Tat steht das Schlimmste zu befürchten«, sagte Zweifin36 ger, als Adica zum Ende gekommen war. »Wir müssen an jedem Webstuhl Wachen aufstellen, weil die Verfluchten ihre Raubzüge ganz nach Belieben veranstalten.« »Haben sie das Geheimnis der Webstühle wirklich herausgefunden?«, fragte Alain. »Oder werden diese Banden nur ausgeschickt, um euch glauben zu machen, dass sie mehr wissen, als wirklich der Fall ist?« Zweifinger grinste. Sein Gesicht veränderte sich, wenn er lächelte, denn dann bildete sich ein Grübchen. »Ist das der Ehemann von Adica, der da spricht, oder mein Verwandter Hani ? Möglicherweise beauftragen sie die Banden, über viele Monde oder sogar Jahreszeiten hinweg die Gegend zu durchstreifen. Das haben sie bereits in der Vergangenheit getan, um die Menschheit zu belästigen. Es erscheint uns vielleicht wirklich nur so, als würden sie durch die Webstühle reisen, während sie sich in eine Magie hüllen, die wir gar nicht verstehen. Doch was spielt es für eine Rolle, wenn sie Hörn wirklich getötet haben und das Weben damit unmöglich wird?« »So etwas solltest du nicht sagen«, erwiderte Adica ernst. »Wir sind einen langen Weg miteinander gegangen. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie uns vernichten.« »Wir müssen Gewissheit darüber haben«, stimmte Zweifinger gedankenvoll zu. »Wie kann ich mit Alain und Laoina das Volk von Hörn finden, ohne dass wir in eine Falle laufen?« Zweifinger blickte nachdenklich drein. Alain starrte auf die vielen Kästen in der Nische und überlegte, ob wohl in jedem ein totes Kind liegen mochte. Möglicherweise war der kräftige Weihrauchgeruch dazu gedacht, den Gestank der Verwesung zu überdecken. Die rote Farbe zog sich wie eine Blutschicht über die Innenwand der Nische. Bilder von Frauen mit kräftigen Hüften und schwangeren Bäuchen, die die Fette darstellten, tanzten an den Nischenwänden auf und ab, feierten die unschuldigen Toten oder beschützten sie. Es war schwer zu sagen, was von beidem es war. 37 »Der Sturm kann noch Tage dauern. Einige in meinem Stamm glauben, dass die Verfluchten uns mit den harten Stürmen zusetzen, um unseren Geist zu brechen.« »Was glaubst du, Zweifinger? Die Verfluchten wissen viele geheime Dinge. Könnte es sein, dass sie auch das Wetter beeinflussen?« Er hob seine verstümmelte Hand in einer Geste der Ergebung. »Ich weiß nur wenig. Die Stürme werden von Jahr zu Jahr schlimmer, so scheint es zumindest. Aber ich bin nicht sicher, ob die Verfluchten wirklich über solch mächtige Magie verfügen, dass sie in der Lage sind, Stürme in einem Land zu erheben, das so weit weg von ihrem eigenen ist.« »Sie haben Schiffe.« »Die haben sie. Aber wenn sie auf See sind, würde ihnen ein Sturm doch nur dann nützen, wenn sie jeden einzelnen Windstoß beeinflussen können.« Wieder machte er eine abwehrende Geste und blickte dabei seine junge Helferin an. Die Frau runzelte ebenfalls die Stirn. Nichts schien ihre Konzentration stören, sie von ihrem Grübeln abhalten zu können. »Es spielt keine Rolle, denn schon bald wird sich alles entscheiden. Der Adiru nähert sich dem Ende. Jetzt steht die Sonne still -« »Ist so viel Zeit vergangen?«, erkundigte sich Adica ein wenig schroff. »Als wir unseren Stamm verlassen haben, war gerade der Frühling angebrochen!« War es bereits Sommer? Adica hatte ihm erzählt, dass die Zeit anders verging, wenn man die Webstühle benutzte, aber wie konnte das sein, wenn doch nur ein paar Tage vergangen waren? »So viel Zeit ist vergangen«, erwiderte Zweifinger mit einem ernsten Nicken. »Die Zeit des Webens wird nicht auf uns warten. Sie wird kommen, ob wir darauf vorbereitet sind oder nicht.« »Wir müssen aber darauf vorbereitet sein.« Auf Adicas Gesicht lag wieder jener störrische Ausdruck, den Alain inzwischen zu respektieren gelernt hatte. Zweifinger nickte. »Wenn wir Erfolg haben wollen, muss je38 mand in Horns Land reisen und nachsehen, ob sie noch lebt. Ich werde mit dir dorthin reisen.« »Es ist schlimm genug, dass ich mein eigenes Leben aufs Spiel setzen muss«, sagte Adica. »Du darfst dich nicht auch noch einer solchen Gefahr aussetzen.«
»Doch, denn ich habe Hehoyanah als meine Nachfolgerin.« Er deutete auf die junge Frau. »Sie wird meine Stelle einnehmen. Du aber kannst nicht ersetzt werden, denn du hast niemanden ausgebildet. Doch es stimmt, ein starker Geist begleitet dich.« Er deutete auf Alain, bedachte ihn mit einem scharfsinnigen Blick. Sein Grübchen erschien erneut, als er die Mundwinkel hochzog, aber das Lächeln verschwand rasch wieder. »Ich muss dafür sorgen, dass du wohlbehalten in dein eigenes Land zurückkehrst.« Adicas Schultern versteiften sich. Sie zupfte an dem Ärmel ihres Oberteils, wie sie es immer tat, wenn sie gereizt war. »So einfach opfern die Alten also die Jungen. Nimmt deine Helferin das Schicksal, das du ihr so unerwartet übertragen hast, fröhlich an?« Alain wollte schon einen Schritt nach vorn machen, um sie zu beruhigen, aber er besann sich eines Besseren, als die Helferin von Zweifinger den Schleier ein klein bisschen höher zog, um ihren Mund zu verbergen. Es war sinnvoller, nicht einzuschreiten. Dies hier entzog sich seinem Einfluss. Zweifinger blickte Adica freundlich an, als würde die in ihrem Innern brodelnde Wut wie Wasser von ihm abperlen. Doch seine Stimme klang nicht so sicher. »Glaubst du wirklich, die Alten beerdigen die Jungen fröhlich?« Er deutete auf die stummen Kästen, die in den angestrichenen Alkoven lagen. »Lass nicht zu, dass dein Blick sich bewölkt. Es tut mir Leid, dass die Jungen eine Bürde aufgelastet bekommen haben, die sie mit den Alten teilen müssen. Aber wir haben keine andere Wahl, wenn wir nicht zulassen wollen, dass die Verfluchten diesen Krieg gewinnen und die gesamte Menschheit versklaven.« Solche Worte machten Alain nervös. Wieso sprachen immer alle so hartnäckig von Schicksal und Tod? Sicherlich mussten alle 39 Menschen eines Tages sterben, manche auch frühzeitig. Aber Adica war so jung, sie hatte bestimmt noch viele Jahre zu leben. Und zwar mit ihm an ihrer Seite. Der Wind heulte in der Ferne; es klang wie das verlorene und schwache Klagen von Kindern, die der Mutterbrust entrissen worden waren. »Kommt.« Dieses Mal zeigte sich kein Grübchen, als Zweifinger lächelte. »Wir können nicht warten, bis der Sturm sich von allein gelegt hat. Wir müssen dem Pfad des Phoenix in das Land von Hörn folgen.« Er nahm eine ockerrote Paste aus einem Keramiktopf, der in einer der Nischen stand, und strich damit über Adicas Stirn, markierte sie dadurch. Nach kurzem Zögern machte er das Gleiche bei Alain. Dann verschleierte er sich wieder, bevor der Vorhang zur Seite gezogen wurde und er die Kammer verließ. In dem großen Raum befanden sich noch sechs Leute. Laoina blickte bei Adicas Anblick erleichtert drein und trat sofort neben sie. Zweifinger sprach mit seinen Stammesleuten, und bei den komplizierten und persönlichen Worten, die er nacheinander an sie richtete, schüttelte Laoina verwundert den Kopf. Hani trat neben Alain. »Auf diese Weise sagt der Geweihte Lebewohl zu seiner Familie.« So war es. Zweifinger verabschiedete sich: eine Hand an einer Braue, eine lange Reihe von Anweisungen, die Berührung zweier Stirnen, wie ein Kuss oder das Treffen des einen Geistes mit einem anderen. Schließlich verschränkte Hehoyanah ihre Hände mit ihm. Sie besaß jene Art von ausgeprägtem Stolz, der ihre Miene unverstellt erscheinen ließ, als wären sämtliche Schleier zwischen dem inneren Feuer und der äußeren Maske weggefegt worden. Kniend neigte sie den Kopf, um seinen Segen zu empfangen. Dann erhob sie sich und trat zu Adica. Sie hielt beide Hände hoch, die Innenflächen nach außen gewandt, und Adica drückte ihre eigenen Handflächen dagegen. Die Hände der anderen Frau waren kleiner, aber 40 sie wirkten stark genug, um einem jungen Mann, sollte er ihr gegenüber grob werden, den Hals umdrehen zu können. Auch ihr fehlten Finger, und sie hatte die gleichen zackigen Narben. »Auf diese Weise gehen wir also gemeinsam«, sagte die junge Frau. »Ich werde dich erkennen, wenn die Zeit gekommen ist, Adica.« »Mögen deine Götter und dein Volk dich segnen für das, was bevorsteht, Hehoyanah,« »Es gibt nur einen Gott«, erwiderte Hehoyanah »und der weilt überall und ist niemals zu sehen.« »Still!«, murmelte Laoina, während Hani eine Grimasse schnitt, als würde ein eigentlich geachtetes Stammesmitglied zum zehnten Mal zur Schilderung einer Jagd ansetzen, in der er ganz allein einen Auerochsen getötet hatte. »Wie kann man von einem Gott wissen, der niemals gesehen wird und an keinem richtigen Ort weilt?« »Ich bitte dich«, rief Alain erstaunt und trat vor. Erst, als ihn alle verwirrt anstarrten, begriff er, dass er Wendisch gesprochen hatte. Mit einiger Mühe suchte er nach den passenden Worten in der Sprache des WeißhirschStammes. »Weißt du von dem Gott, der aus zweien zu einem wurde?« »Gott ist nur einer!«, entgegnete Hehoyanah. »Gott ist nicht Fleisch, sondern Geist.« Zweifinger unterbrach die Diskussion mit einer schroffen Geste. »So spricht jene, deren Gesicht verschleiert bleiben muss, denn sie hat das Antlitz Gottes erschaut, und der Glanz der Geheiligten erstrahlt noch immer so hell in ihrem Gesicht, dass die Augen Sterblicher es nicht ertragen würden. Doch dies ist nicht die Zeit, Tochter, um über so etwas zu sprechen.« »Wenn ich nicht spreche, ist es, als würde ich die Abgötter selbst anbeten!« »Auf diese Weise werde ich dafür belohnt, dass ich dich ausgesandt habe, um bei einem fremden Volk zu leben! Tochter, du wirst mir in dieser Sache gehorchen. Ich tue, was die Götter mir
41 befehlen und was die Notwendigkeit erfordert. Meine Aufgabe ist es, die Menschheit von den Verfluchten zu befreien. Wenn die Menschheit unter die Peitsche der Verfluchten fällt, was kann dein Gott uns dann sagen, wie kann er uns dann retten?« »Gott rettet jene, die glauben«, erwiderte Hehoyanah. »Tue, was du zu tun geschworen hast, Tochter, denn ich habe dir meinen Unterricht als Gegenleistung für deinen Gehorsam angeboten. Wenn ich zurückkehre und du noch lebst, darfst du tun, was du für richtig hältst, denn dann werde ich nicht mehr mit dir darüber streiten. Kommt« Er verließ den Raum und schritt den Tunnel entlang. Adica und Laoina folgten ihm. Alain blieb noch zurück; er winkte Hani zu sich. »Ich bitte dich, Freund, sag ihr bitte, dass ich von dem Gott weiß, von dem sie spricht. Sie ist nicht die Einzige, die an ihn glaubt.« Hani blickte ihn seltsam an. »Ist dieser Gott so weit gereist wie der Weißhirsch-Stamm?« »Gott reist nicht.« »Wie kommt der Gott dann in den Norden? Wie kann der Gott in der Wüste und in der erstarrten Ödnis leben?« »Wie kommt die Sonne in den Norden? Wenn die Sonne überall scheinen kann, ist es für Gottes Anwesenheit leicht, ebenfalls überall zu leuchten.« »Oh.« Hani dachte darüber nach, wirkte aber nicht sonderlich überzeugt. Rage jaulte und trottete hinter Adica her. Doch Alain konnte es nicht über sich bringen zu gehen, ohne Hehoyanah wissen zu lassen, dass sie nicht allein mit ihrem Glauben war. »Bitte sage ihr, dass ich diesen Gott kenne. Dieser Gott ist auch meiner.« Er schlug das Kreiszeichen vor der Brust; die Erinnerung machte ihm die Bewegung leicht. Hehoyanah keuchte. Sie sprach leidenschaftliche Worte, auf die Hani etwas erwiderte, und ihr Gesicht strahlte einen Augenblick. Sie bückte sich, um Alains Füße zu berühren, und mit der gleichen 42 Hand berührte sie ihr eigenes Herz und ihre Stirn, verbeugte sich vor ihm, als schuldete sie ihm Gehorsam. Wie sich das gewöhnliche Volk einst vor ihm verbeugt hatte, als er noch der Erbe von Lavas gewesen war. Er fuhr zusammen, taumelte gegen die Felswand. »Nein, ich bitte dich«, sagte er in wendischer Sprache. »Erweise nicht jemandem Ehre, der sie nicht verdient hat. Nichts von dem alten Leben ist mir geblieben. Es ist eine Sünde, nach dem zu streben, das verboten für mich war, das niemals mir gehören sollte.« Als wäre sie beschämt, zog sie den Schleier wieder ganz vor das Gesicht, sodass nur noch die Augen zu sehen waren. Hani sah aus, als wüsste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte; der Ausdruck nahm sich seltsam aus auf seinem stolzen Gesicht. »Hehoyanah sagt, dass man an diesem Zeichen den Boten Gottes erkennen würde. Sie bittet dich um Vergebung, dass sie nicht sofort das Licht von Gottes Anwesenheit in deinem Gesicht erkannt hat.« Seine Stimme wurde leiser, und er trat vertraulich zu Alain, blickte jetzt ganz wie ein eitler Prinz drein, der gerade gemeinsam mit seinem edlen Kameraden die Unergründlichkeit der Frauen bedauerte. »Weißt du, wovon sie spricht, Freund? Sie ist ein bisschen verrückt, seit sie von ihrer Reise zurückgekehrt ist.« Die ganze Zeit über, seit er bei Adica wohnte, hatte er sich dahintreiben lassen, wie ein Blatt im Fluss, und war zufrieden mit den kleinen und angenehmen Dingen des täglichen Lebens gewesen. Das Meistern des Lebens an sich barg viele Freuden. Schließlich hatte er einen Blick auf die andere Seite des Lebens geworfen - den Tod -, und seither hatte das Leben einen sehr viel größeren Reiz. »Verspotte sie nicht«, sagte er leise. Er nahm Hehoyanahs Hand nd hielt sie hoch. Tränen schimmerten in ihren Augen, glänzten, ls sich das Licht in ihnen brach. Der Rest ihres Gesichts wurde on dem Schleier verdeckt. »Geh mit Gott. Möge dir Frieden vergönnt sein.« Er und Hani traten über die Schwelle, die die rot bemalte Halle 43 von den Fluren trennte, die bleich im rauchigen Licht der brennenden Ölpfannen lagen. Nach einigen Biegungen hatten sie Zweifinger, Adica und Laoina bei einer Kreuzung eingeholt, an der Fackeln und Rüstzeug ordentlich auf dem Boden lagen: eine Packung Nahrungsmittel, vier Wasserhäute, ein Paar Sandalen, ein Umhang aus gestreiftem Stoff, den Zweifinger anzog, und ein geschnitzter Stock, der nicht länger war als Adicas Arm. »Kommt schon«, sagte Zweifinger ungeduldig. Hani kniete nieder, um den Segen des heiligen Mannes zu empfangen, bevor er sich respektvoll vor Adica verbeugte. Er tauschte noch ein kurzes Lebewohl mit Laoina aus, ein kurzes Ritual, das bei den Wandelnden üblich war, und wandte sich schließlich Alain zu. »Ich hoffe, ich darf dich >Freund< nennen.« »Das darfst du, Freund.« Sie drückten sich die Hände. Dann drehte Hani sich um und ging davon. »Habt keine Angst.« Zweifinger nahm den Schleier von seinem Gesicht und machte sich daran, den Tunnel weiter entlangzuschreiten. Ganz in Schweigen versunken gingen sie in der Dunkelheit dahin. Das einzige Licht, das Alain erkennen konnte, stammte von der glänzenden Oberfläche von Zweifingers Umhang; die helleren Streifen leuchteten beinahe. Doch es war gar nicht der Umhang, der glühte; es war ein anderes Licht, körperlos und doch unerschütterlich, als würden Sonnenstrahlen den Stein durchdringen, um tief in der Unterwelt ein diffuses Netz auszulegen. Kleine Flecken von leuchtendem Pflanzenwuchs betüpfelten die Tunnelwände, beinahe so, als hätte eine aus hellem
Feuer bestehende Kreatur dort ihre Spuren hinterlassen. Alain leckte sich die Feuchtigkeit von den Lippen. Wurde diese Hitze von den glühenden Flecken an der Wand abgesondert, oder näherten sie sich etwas, das außerordentlich heiß war? Der Tunnel machte eine scharfe Biegung nach rechts und führte ein Stück hinab, dann wieder hinauf, und jetzt wurde die Hitze noch 44 stärker. Zweifinger zog eine Goldfeder aus einem Ärmel. Sie strahlte so hell, dass jeder Fleck auf seinen Händen wie ein herausgearbeitetes Relief wirkte - die weiße Narbe an den Stümpfen der fehlenden Finger, die faltige Haut über den Knöchelchen, eine Schwiele am Zeigefinger, der Fayence-Ring am rechten Mittelfinger. Er legte die Feder an die Lippen und blies sanft dagegen. Das Geräusch, das daraufhin ertönte, war keine Melodie oder Musik, auch kein Zischen, wie man es beim Ausatmen über einer Feder erwartet hätte, sondern ein unirdischer, nicht zu fassender Klang - wie das Flüstern von Sonnenstrahlen, die in der Morgendämmerung über einen Hügel fielen. Von weiter vorn erklang ein anderes Flüstern als Antwort. Ein ohrenbetäubender Schrei erscholl rings um sie herum. Kummer und Rage jaulten und drängten sich an Alains Beine. Der Schrei wiederholte sich nicht. Ein großes Tier raschelte weiter vorn, doch dann wurde das Geräusch langsamer, leiser, hörte schließlich ganz auf. Zweifinger führte sie weiter. Sie betraten eine schmale Höhle. Zahlreiche Säulen ragten wie Speere aus dem Boden auf und hingen von der Decke, als gehörten sie zu einem großen Heer. Silber und Narrengold glänzten, Schichten aus Orange und Grün waren zu sehen, außerdem große Flecken aus kristallinem Schaum, der wie die versteinerte Gischt eines Wasserfalls wirkte. Licht entströmte einem Phoenix, der sich zum Schlafen niedergekauert hatte. Vielleicht wirkte er nur deshalb unendlich groß, weil so wenig Platz in der Höhle war. Er hatte den Kopf, den Schnabel und den Körper eines riesigen Adlers. Die Federn glänzten wie Gold, abgesehen von den smaragdgrünen Schwanzfedern, die wie ein halb geöffneter Fächer aufragten und voller Augen waren - Augen, die alle im Schlaf geschlossen waren. Er hockte auf einem Nest aus Gras, Schilf, Stofffetzen und gebleichten Knochen, die zum Teil von Menschen zu stammen schienen. Ein schlüpfriges Bett aus augenlosen Schlangen zuckte und zischte unter seinem Körper. 45 Sie mussten an ihm vorbeigehen, um durch die Kammer zu gelangen. Alain zupfte die Hunde sanft an den Ohren, beugte sich zu ihren Köpfen hinab. »Geht mit Adica«, sagte er leise genug, dass die zischenden Schlangen es nicht hatten hören können. Er bewegte sich vorsichtig durch die Steinsäulen. Ein Gewirr von Gegenständen lag auf dem Fußboden der Höhle verstreut: Steine, zerbrochene Stöcke, ein Plankenstück, ein Speer, ein versengter Lederhelm, ein leerer, getrockneter und geschrumpfter Lederbeutel sowie schöne Hals- und Armbänder, die in mattem Gold erstrahlten. Als er nah genug stand, um im Notfall ein erstes Schnappen des Phoenix abwehren zu können, winkte er die anderen vorwärts. Das Zischen der Schlangen nahm stetig zu, und wenn auch die Augen des Phoenix geschlossen blieben, die Schwanzfedern fächerten sich leicht auf, und ein halbes Dutzend Augen darauf öffneten sich. Diese Augen bewegten sich schließlich, betrachteten die Eindringlinge. Obwohl Alain den drei anderen den Rücken zuwandte, spürte er an den Bewegungen dieser unheimlichen Augen -erst einmal, dann ein zweites und schließlich ein drittes Mal -, wie sie hinter ihm vorbeigingen. Der Phoenix murmelte im Schlaf. Sein Schwanz fächerte sich schließlich ganz auf, bis die grüngoldenen Federn die Decke berührten. Zweifinger blies ein zweites Mal auf seiner Feder. Der gleiche, leise Klang wie zuvor erfüllte die Höhle, nahm schließlich wieder ab, sodass nurmehr das Geräusch der zischenden Schlangen zu hören war. Gerade, als Alain sich daran machte, den anderen zu folgen, sah er etwas Goldenes aufblitzen, das vom Geröll halb verdeckt wurde. Er bückte sich und zog eine goldene Feder hervor. Ein Dutzend Federaugen öffneten sich mit einem Schlag. Er zuckte zurück, so überrascht war er angesichts ihres plötzlichen Erwachens. Eine Schlange wand sich aus dem stinkenden Nest und glitt zur Erde. Ihre Zunge prüfte die Luft. Sie suchte ihn. Er hob die Feder an den Mund und blies darauf. Der goldene 46 Schaft brachte ein leises Stöhnen hervor. Die Hälfte der geöffneten Federaugen schlössen sich wieder und fielen in Schlaf. Aber da war noch immer diese verfluchte Schlange. Er konnte sie in all dem Schutt nicht erkennen. Ein zerbrochener Becher rollte zur Seite. Alain drückte sich an den Rand und hielt dabei den Stab so, dass er damit nach unten schlagen konnte, falls es nötig werden sollte. Er ging weiter, bis er gegen Zweifingers Hand stieß. »Wir sollten rasch weitergehen.« Zweifingers Stimme klang, als stünde er kurz davor zu lachen. Und sie lachten auch, als sie erst einmal weit genug den Tunnel entlanggegangen waren und eine schmale Spalte gefunden hatten, die zum Teil von einem Felsen blockiert war. Hier konnten sie sich hinsetzen und einen Augenblick verschnaufen. Alain lachte sogar so sehr, dass ihm Tränen in die Augen traten, obwohl er versuchte, leise zu sein, damit das Echo nicht durch die Halle dröhnte.
»Du bist mutig«, meinte Laoina bewundernd. »Oder dumm«, fügte Zweifinger hinzu. Er zog einen Feuerstein und ein Stück getrockneten Pilz hervor, der als Zunder diente. Adica sagte nichts. Sie brauchte auch gar nichts zu sagen, denn die Hunde waren bei ihr, und die wussten, wie sehr er sie liebte. Sie musste ihn lediglich anlächeln. Ein schwaches Licht strömte von der Goldfeder aus und beleuchtete ihr Gesicht. Seltsamerweise brachte das Licht die alte Narbe noch stärker zum Vorschein. Sie streckte die Hand aus, um seine Wange zu berühren, fuhr mit ihrem Finger sanft über die Stelle, wo er - wie sie ihm einst in ihrem Spiegel gezeigt hatte - einen roten Flecken in Form einer Rose hatte. Ein überwältigendes Gefühl der Liebe durchströmte ihn, und im gleichen Augenblick begann der Zunder zu brennen. Aber vielleicht war es auch lediglich der Feuerstein gewesen. Die Fackel hätte jedoch kaum heller brennen können. Er beugte sich vornüber und küsste Adica kurz auf die Wange, bevor er Zweifinger folgte. 47 Der starke Qualm von der Fackel behinderte ihre Sicht, und der schmale Eingang wirkte jetzt sogar noch kleiner. Je weiter sie gingen, desto feuchter wurde die Luft; es tropfte von den Wänden, und das Geräusch von fließendem Wasser wurde lauter. Schließlich betraten sie eine lang gestreckte Höhle, die voller Wasser war, abgesehen von dem schmalen Weg, der sich entlang der Höhlenwand hinzog. Der unterirdische Fluss hatte seinen Ausgangspunkt am anderen Ende der Grotte, wo das Wasser aus einer Öffnung steil herabstürzte, dann die Höhle entlangplätscherte und schließlich in einem Durchlass wieder verschwand. Die Hunde trotteten zum Wasser, tranken und ließen sich dann nieder, während die anderen ihre Kehlen benetzten. Das Wasser hatte einen kräftigen, beinahe salzigen Geschmack, aber es war so kühl und erfrischend, dass Alain auch mit Met nicht zufriedener gewesen wäre. Mit einem Seufzen lehnte er sich gegen den kalten Stein und blickte sich in der Höhle um. Es glitzerte überall vor Feuchtigkeit. Flecken von blaugrünem Moos strahlten ein sanftes Glühen aus. Das Wasser selbst war klar, aber flach, kaum tiefer als eine Armeslänge. Irgendeine glitschige Substanz aus Gelb, Braun und Weiß lag auf dem Boden, und kleine, weiße Fische, Salamander und Aale schössen wild hin und her, als Zweifinger die Fackel näher hielt, um sie genauer betrachten zu können. »Hrm huum«, summte Zweifinger gedankenvoll, während er Alain musterte. Er hatte offensichtlich, was die Sprache des Weißhirsch-Stammes betraf, seinen gesamten Vorrat ausgeschöpft, denn jetzt benutzte er seine eigene Sprache und ließ Laoina übersetzen. Der Lärm des Wasserfalls machte es erforderlich, dass sie brüllen mussten, um sich verständlich machen zu können. »Wie bist du in den Besitz der Goldfeder gelangt?« »Ich habe sie auf dem Boden liegen sehen und aufgehoben.« Rage stand plötzlich auf und bellte kurz; der Laut übertönte sogar das Tosen des herabstürzenden Wassers. Kummer hatte geschlummert und erhob sich träge, aber er war rasch wieder ganz da und blickte aufmerksam in den Tunnel, der aus der Höhle heraus48 führte. Zweifinger löschte die Fackel, indem er sie ins Wasser tauchte. »Schsch!« Sie waren gerade dabei, sich in den Tunnel zurückzuziehen, aus dem sie eben erst gekommen waren, als zwei Gestalten am anderen Eingang auftauchten. Sie wurden von Fackellicht beleuchtet und hielten Speere kampfbereit ausgestreckt. Die Verfluchten. Rage bellte bedrohlich. Alarmiert zogen sich die beiden Kundschafter in ihren eigenen Tunnel zurück, aus dem sie gekommen waren, und ihre Warnrufe vermischten sich mit dem Tosen des Wasserfalls. »Kommt«, drängte Zweifinger. »Rasch, rasch«, echote Laoina. Ein Pfeil prallte gegen die Felswand. Laoina kratzte sich am Auge und taumelte, dann wurde sie von Zweifinger in den Tunnel gezerrt. Alain rief die Hunde zu sich, als eine Gruppe von Verfluchten mit Speeren und Schwertern in den Händen aus dem anderen Tunnel brach. Der Anführer sprang ins Wasser, durchquerte rasch den Bach und machte einen Satz auf Kummer zu. Alain wehrte den Speerstoß mit seinem Stab ab und versuchte, nach dem Krieger zu schlagen. Er war jedoch zu weit entfernt, um ihn treffen zu können. Als der Verfluchte vor dem Hieb zurückwich, stürzte er ins Wasser. Kummer wollte auf ihn losgehen, doch Alain rief ihn scharf zurück. »Zurück!« Die Verfluchten schrien siegesgewiss, als sie ins Wasser sprangen und ihre Waffen zogen. »Alain!«, schrie Adica hinter ihm. »Geh, Adica!« Alain hielt die Angreifer zurück, schlug auf ihre Köpfe ein, lenkte einen Speerstoß ab, während Rage sich zu Adica zurückzog und Kummer ein letztes Mal nach dem Fuß des gestürzten Anführers schnappte. Der Mann richtete sich jetzt in dem glitschigen Bach auf, musste aber noch einen letzten Hieb einstecken. In der 49 allgemeinen Verwirrung zog Alain sich mit Kummer zurück. Sie drängten in den Tunnel, während ein weiterer Pfeil gegen die Felswand prallte. »Wir gehen zurück zum Phoenix«, rief Laoina, die die Gruppe anführte. »Bist du verletzt?« Alain hielt in der Dunkelheit das Gleichgewicht, indem er sich beständig mit einer Hand an
der Wand entlangtastete. »Es ist nur Staub in meinen Augen, nichts weiter.« Aber was ihnen folgte, war mehr als nur Staub. Schreie und Geheul hallten von den Felsen wider. Licht flackerte hinter den Verfluchten auf, als sie sich Fackeln bringen ließen, um sich die Verfolgung zu erleichtern. Alain sah Adica ein Stück weiter voraus rennen, und noch etwas weiter vorn Laoina, die bereits einen Steinwurf von ihm entfernt war. Die Hunde waren schon vorausgelaufen und versuchten, sich an Zweifinger vorbeizudrängen, der sie durch die Dunkelheit führte. Sie kamen um eine Biegung, und das Licht verschwand. Alain blieb lang genug stehen, um sich umzudrehen und etwas zu rufen. »Halalalala!« Dann eilte er hinter den anderen her. Alle zehn Schritte rief er wieder zurück, in der Hoffnung, dass ihre Verfolger einen Augenblick stehen blieben und glaubten, er wolle sie aus der Dunkelheit heraus angreifen. Aber nach dem dritten Mal begannen sie zurückzurufen. Selbst mit Zweifingers Kenntnis der Tunnel gewannen die Verfluchten, die im Besitz von Fackeln waren, an Boden. Ein Glühen erhob sich weiter vorn. Streifen von goldenem Licht krochen über die Wände. Zweifinger blieb bei den umgestürzten Felsen stehen, wo sie noch kurze Zeit zuvor so sehr hatten lachen müssen. Hier verengte sich der Tunnel, sodass sie sich einzeln hintereinander hindurchzwängen mussten. Nachdem alle durch waren und Alain sich als Wache neben den Spalt gestellt hatte, hob Zweifinger die Goldfeder und blies darauf. Adica strich mit den Fingern über Alains Rücken, eine be50 schwichtigende, zärtliche Geste. Die Hunde drängten sich an sie, fegten mit ihren Schwänzen an der Felswand entlang. Zweifinger ließ die Feder sinken und zog sich vorsichtig zum Bau des Phoenix zurück, dicht gefolgt von Laoina. »Geh weiter«, murmelte Alain leise; er hatte Angst, lauter zu sprechen, denn er wollte die Verfluchten nicht warnen. Doch Adica verließ ihn nicht. Fackellicht fiel auf die Felsen, ließ die Kanten scharf hervorstehen. Eine Speerspitze schob sich durch die Spalte. Alain drückte die Speerspitze mit seinem Stab beiseite, und indem er die Felsen als Schutz benutzte, drehte er sich leicht herum schlug dem Krieger dabei so kräftig ins Gesicht, dass er gegen die anderen taumelte. »Lauf!« Alain drängte Adica vor sich her und floh mit ihr und den Hunden zur Höhle des Phoenix. Als sie über Knochen und Schutt vorwärts stolperten, sahen sie Zweifinger und Laoina gerade in den Tunnel verschwinden, durch den sie die Höhle ursprünglich betreten hatten. Die Schwanzfederaugen waren jetzt allesamt aufgewacht und beäugten die Höhle. Schlangen glitten aus dem Nest und fielen zwischen Schutt und Knochen. Das Geröll auf dem Boden geriet ins Rutschen, als die schwarzen Kreaturen sich durch die Abfallhaufen wühlten. Von hinten näherten sich die Verfluchten mit lautem Siegesgeschrei. Energisch schob Alain Adica weiter durch die Höhle. Am Tunnel wartete Zweifinger. Er hob die Feder an den Mund, als der Phoenix sich rührte und ein Auge öffnete. »Erwecke ihn!«, schrie Alain. Er riss Adica zu Boden und warf sich schützend über sie, genau in dem Augenblick, als ein Speer dort die Luft zerschnitt, wo er soeben noch gestanden hatte. Kummer und Rage rasten zu Zweifinger, flohen vor Schreck, als eine Hitzewelle den Raum erfüllte und der unruhige Phoenix seine Schwingen öffnete. Eine Schlange glitt kalt und sanft über Alains Hand. Sie hatte keine Augen, aber ihre Zunge fuhr unablässig umher, prüfte sei51 ne Haut mit ihrer brennenden Berührung. Eine Zweite, eine Dritte und eine Vierte folgten; er spürte ein Dutzend oder mehr auf seinen Beinen, spürte die flitzenden Stöße ihrer gespaltenen Zungen, als sie ihn untersuchten. Adica wimmerte leise. Er hatte sie niemals zuvor wirklich verängstigt gesehen. Doch als eine Schlange das Skrolin-Armband berührte, zischte sie und wurde von starken Krämpfen geschüttelt. Sofort ließen die blinden Schlangen von ihm ab und verzogen sich. Alain rappelte sich auf, packte Adica am Arm und schoss mit ihr hinter den Hunden her - gerade noch rechtzeitig, denn einen Augenblick später hagelte es Pfeile und Speere, und der Tunnel hinter ihnen hallte von Schreien und Rufen wider. Das Licht wurde heller, als der Phoenix ganz erwachte und vor Wut laut aufschrie. Zweifinger riss Adica in den Schutz des Tunnels, zerrte sie in einen Alkoven, der in den Fels geschlagen worden war. Der Glanz der unheimlichen Federn ließ die Steinwände förmlich erzittern. Alain kauerte sich an der schmalen Tunnelöffnung hin und schützte die anderen mit seinem Körper; um sich herum konnte er auch das letzte glühende Körnchen in den uralten Wänden wahrnehmen, die vor so langer Zeit aus dem Stein gehauen worden waren. Alain spürte den heißen Atem des Phoenix auf seinen Waden und hörte ihn vor Wut brüllen. Einen Augenblick später drangen alarmierte Schreie an ihre Ohren, als die Verfluchten in die Höhle traten und die Quelle des Lichts bemerkten. Der Phoenix brüllte erneut. Schreie erfüllten die Luft. »Wo der Phoenix seinen Bau hat, kann es keinen Angriff geben«, sagte Zweifinger geheimnisvoll; er war angesichts der Panik, die unter ihren Verfolgern ausgebrochen war, kaum zu verstehen. Was dann geschah, war schrecklich genug - noch schlimmer aber wurde es, als die Schreie und der Lärm verklangen, das Licht abnahm und der Phoenix den Verfluchten in den Tunnel folgte. Nach einer Weile hörten sie nur noch ein leises Zischen. Zweifinger zündete die Fackel wieder an. Alain tastete
sich vorsichtig in 52 die Höhle vor und stellte fest, dass der Boden heiß wie kochendes Wasser war. Sämtliche Schlangen hatten ihr Nest verlassen und bildeten ein einziges, wogendes Meer. Es gab keinen anderen Weg hinüber als den, der mitten durch sie hindurch führte. »Oh, Gnade!«, murmelte Laoina und wischte sich über das verletzte Auge. »Ich glaube, jetzt müssen wir sterben.« »Sie sind giftig«, erklärte Zweifinger. »Das ist sehr schlimm.« »Ich habe eine Idee.« Alain nahm sein Armband ab und befestigte es an seinem Stab. »Steckt die Fackeln an, sodass ihr alle eine in der Hand haltet, und geht dicht hinter mir. Ich sorge dafür, dass der Pfad frei ist.« So schritten sie dahin, Alain als Erster und Adica direkt hinter ihm, dann die Hunde mit Zweifinger und Laoina die tapfere Laoina - am Ende. Die Schlangen zuckten vor der Berührung des Armbands zurück, und er schob es immer wieder in ihre Mitte, während er sich einen Weg durch sie hindurch bahnte. Schlanke Zungen schnellten hervor, prüften die Luft. Das Zischen der Schlangen schwoll immer mehr an, bis es schließlich so laut war wie das Brüllen eines Wasserfalls. Hinter ihm stießen die anderen immer wieder mit den Fackeln um sich, schnitten Breschen aus Feuer, um die Schlangen fern zu halten. Rauch trübte die Sicht in der Höhle. Der kühnste ihrer Verfolger war beim ersten Angriff des Phoenix gefallen. Sein Bauch war aufgerissen worden, und die Eingeweide quollen heraus; die Schlangen hatten sich über ihn hergemacht. Seine staubige Haut war überall purpurfarben verfärbt und von ihrem Gift schrecklich angeschwollen. Es kostete einige Überwindung, über ihn hinwegzutreten, denn er begann bereits zu stinken. Endlich hatten sie den Tunneleingang erreicht. Alain schob Adica an sich vorbei, dann gab er den Hunden einen Klaps, damit sie ebenfalls weitergingen. Zweifinger traf ihn beinahe mit der Fackel, als er - gefolgt von Laoina an ihm vorbeisprang. Laoina hustete stark von dem vielen Rauch. Alain folgte ihnen rückwärts, stieß 53 dabei immer wieder mit dem Stock nach der glitschigen Masse aus Schlangenleibern, die sich inzwischen ganz über die Leiche hergemacht hatten und sie unter sich begruben. »Pass auf!«, schrie Laoina hinter ihm. Er trat mit der Ferse gegen etwas, stolperte und fiel gegen eine verstümmelte Leiche, die den Tunneleingang zum Teil versperrte. »Hah!«, schrie Laoina, trat neben ihn und stieß mit ihrer Fackel um sich. Er griff nach seinem Stab, der ihm aus den Händen geglitten und auf die Knie gefallen war. Seine andere Hand glitschte auf etwas Kühlem und Nassem aus, als er versuchte, sich zu erheben. Eine Schlange hatte sich bereits in dem Brustkorb des Toten eingenistet. Sie wand sich genau in dem Augenblick wieder ins Freie, löste sich aus der blutigen Masse, als Alain seine Hand auf dem Boden abstützte. Sie biss zu. Unaussprechlicher Schmerz schoss seinen Arm entlang. Laoina fuchtelte mit ihrer Fackel um Alains Füße herum. Schlangen wichen vor den Flammen zurück, als sie mit dem Speer zustieß, eine von ihnen in der Mitte traf. Mit einem wütenden Fluch schleuderte sie sie von der Speerspitze und beförderte sie in die Schwärze der Höhle. Alain rappelte sich auf und griff nach seinem Stab. Sie zogen sich hastig zurück, bis sie an der schmalen Spalte angekommen waren, wo ihre Kameraden bei noch grauenhafter zerfetzten Leichen warteten. »Die Schlange hat ihn gebissen«, erklärte Laoina sofort. Zweifinger packte Alains Handgelenk. Eine hässliche rote Schwellung verunstaltete bereits die Hand. »Ich habe nichts, was das heilen könnte«, erklärte er traurig. »Lass mich sehen.« Adica führte die gebissene Hand an ihren Mund, doch Zweifinger riss ihren Arm mit einer heftigen Bewegung zurück. »Nicht! Das Gift tötet dich, wenn es erst einmal in deinen Mund 54 gelangt ist. Aber er kann möglicherweise überleben, wenn es nur in seiner Hand ist. Wir müssen uns beeilen. Wenn der Phoenix zurückkehrt, werden wir alle sterben.« »Gehen wir«, erklärte Alain. Er biss sich kräftig auf die Unterlippe. Nur mit Hilfe dieses Schmerzes gelang es ihm, stehen zu bleiben. Das Feuer in seiner Hand hatte jetzt sogar seinen Kopf erreicht, und er hatte das Gefühl, als würde er jeden Moment vor Qual entzweigerissen. Aber Zweifinger hatte Recht. Obwohl er so stark zitterte, dass er seine Finger kaum dazu brachte, ihm zu gehorchen, löste er das Armband von seinem Stab und schob es über den verletzten Arm. Seltsamerweise ließ der Schmerz sofort ein bisschen nach - immerhin so weit, dass er wieder denken konnte. Der kleine Finger begann bereits abzuschwellen. »Ich werde überleben.« »Rasch, rasch«, sagte Laoina, die ihn beim Wort nahm. Hinter ihnen hörten sie ein Zischen, als die augenlosen Schlangen sich den Tunnel entlangwanden; sie tasteten sich mit ihren prüfenden, gespaltenen Zungen voran. Eine der Leichen versperrte die Spalte. Laoina schob sie aus dem Weg. »Folgt mir«, sagte Zweifinger. Sie löschten zwei der Fackeln und schritten im Licht der dritten den Pfad entlang, den sie bereits kannten. Am unterirdischen Bach lag ein weiterer Toter. Von seinen Armen und Beinen strömte Blut in kleinen Rinnsalen
zum Durchlass. Es war nicht einfach, durch das Wasser zu waten, das aufgrund der frei herumtreibenden Fleischfetzen und Innereien längst nicht mehr klar war. Sämtliche Fische und Salamander waren verschwunden. Schwache Goldstreifen glühten an der Wand - das Zeichen, dass der Phoenix hier vorbeigekommen war. Das kalte Wasser linderte den Schmerz in Alains Hand, obwohl jetzt ein zweiter Finger anzuschwellen begann. Zweifinger folgte der Spur des Phoenix durch den Tunnel, der jetzt so gerade wie die Flugbahn eines Pfeils verlief. Die Fackel erlosch, und er entfachte eine zweite. Sie gingen weiter und weiter, bis Alains Füße von dem harten, unnachgiebigen Stein zu schmer55 zen begannen. Er konnte drei Finger der verletzten Hand nicht mehr krümmen, aber er hielt es für besser, nicht darauf zu achten. Adica versuchte, mit ihm zu sprechen, doch er wies sie an, zu schweigen. Er befürchtete, dass sie aus Sorge um ihn zu langsam werden könnten. Die zweite Fackel hauchte ihr Licht aus, und Zweifinger entfachte die dritte. Sie gingen weiter. Schließlich ging der Steinboden in körnigen Sand über. Alain blieb stehen und holte tief Luft. »Salzwasser.« Der scharfe Geruch klärte seinen Kopf. Seine Kopfschmerzen ließen nach. Es war ihm unmöglich, seine Hand zu einer Faust zu ballen. Es fühlte sich an, als wäre sie zu doppelter Größe angeschwollen, aber als er sie im schwachen Licht betrachtete, wirkte sie nicht sehr viel anders als sonst. Zweifinger löschte die Fackel. Es war hell genug, um sehen zu können, dass er die zum Teil abgebrannte Fackel auf ein aus dem Fels gehauenes Regal legte, auf dem sich auch andere Fackeln befanden - einige noch ziemlich frisch, andere deutlich verbrauchter. Dann verließen sie den schmalen Tunneleingang und gelangten an einen Strand, der so lang war, dass Alain in der anbrechenden Dämmerung kein Ende erkennen konnte, weder in der einen noch in der anderen Richtung. Schwere Wolken hingen am Himmel -ein aufgewühlter Horizont, der noch von dem abziehenden Sturm gezeichnet war. Der Wind brachte seine Finger zum Brennen, und es war, als würde er erneut gebissen werden. Hässliche rote Streifen verliefen von seinem Unterarm bis zum Ellenbogen, doch da, wo sie an das Skrolin-Armband stießen, hörten sie so abrupt auf, als wären sie abgeschnitten worden. »Lass mich mal sehen«, sagte Adica jetzt etwas eindringlicher. Er streckte ihr seinen Arm hin. Ein übler Schmerz flackerte dort auf, wo ihre Finger sanft seine Haut abtasteten. Er wandte den Blick ab, denn er wollte nicht sehen, wie sich die hässliche Schwellung weiß verfärbte, wo sie sie berührte - ganz, als würde die Haut dort bereits verwesen. 56 Kummer und Rage rannten immer wieder den Strand entlang, um sich auszutoben. Es gab viele Tunneleingänge an dieser Klippe. Ein Schiff war auf den Sand gezogen worden; es wirkte schnell und schnittig und bestand aus hellem, glänzendem Holz. Als Adica seinen Blick bemerkte, unterhielt sie sich mit ihm, während sie ihn weiter untersuchte. Ihre sachliche Art lenkte ihn etwas von den Schmerzen ab, von der Furcht vor dem, was das Schlangengift in ihm bewirken mochte. »Nur die Verfluchten sind in der Lage, Schiffe zu bauen, die so herrlich wie die Sterne sind und robust genug, dass man mit ihnen weit hinaussegeln kann. In Schiffen wie diesem haben die Verfluchten den Weltozean überquert. Vor vielen Generationen, zurzeit der alten Königinnen, sind sie von Westen hergekommen und haben hier, im Land der Menschen, aus den Knochen und dem Blut der Menschen ein neues Reich errichtet.« »Oh Gott, sieh doch nur.« Er würgte und zuckte, als Adica auf die schmerzhafte Bissstelle drückte. Der Phoenix war vor ihnen hier gewesen. Das Schiff selbst war zwar nicht verbrannt, doch die Segel waren es. Die Planken waren versengt, aber noch intakt. Tote lagen wie Treibgut am Strand herum. Nicht einmal ein Feind verdiente einen Tod wie diesen - in Stücke gerissen, verbrannt, zerfetzt. »Ich werde eine Salbe herstellen«, erklärte Adica und ließ seinen Arm los. »Wo ist der Phoenix jetzt?«, fragte Laoina nervös, machte sich dann aber dennoch auf, am Ufer entlang Waffen von den Toten einzusammeln. Bewegte sich da nicht etwas im Sand? Alain eilte hin und kniete neben einer der zwei Dutzend herumliegenden Leichen nieder. Sie mussten schon eine Furcht erregende Gruppe gewesen sein, mit ihren Bronzeschwertern und Speeren, den Holzschilden, die mit einer Bronzeschicht überzogen und mit faszinierenden Kriegsszenen geschmückt waren. 57 In der Tat Furcht erregend, jetzt allerdings allesamt tot. Bis auf einen. Der Mann stöhnte. Der Helm war ihm halb vom Kopf gerutscht, die Wolfsmaske sauber abgetrennt. Die tödliche Wunde hatte er jedoch erhalten, als Klauen seine Lunge durchbohrt hatten. »Arme, leidende Seele«, murmelte Alain. Das stolze Gesicht erinnerte ihn auf traurige Weise an Prinz Sanglant: Er hatte den gleichen bronzefarbenen Teint, die hohen, ausgeprägten Wangenknochen, die tief in ihren Höhlen liegenden Augen. Allerdings hatten die Augen dieses Mannes eher das Braun eines Wildtieres. Trotz seiner Wunden brachte der Mann es fertig, die blutigen Lippen zu bewegen und einen Fluch zu zischen, als er Alain sich über ihn beugen sah. Auf seltsame Weise hatte Alain den Eindruck, als könnte er ihn verstehen, den Soldaten, der bis zum letzten Augenblick pflichtbewusst und trotzig war: »Du kannst mich besiegen, aber du wirst niemals mein Volk besiegen, Tierkind.« »Still jetzt«, sagte Alain. »Ich hoffe, du wirst Frieden finden, Bruder -«
Laoina trat neben ihn und stieß dem Mann den Speer in den Hals. »Sa'anit! So stirbt ein weiterer!« Sie spuckte dem Verfluchten ins Gesicht. Alain erhob sich. »Wieso musst du ihn so grausam behandeln, wenn er ohnehin im Sterben liegt?« »Wie kann ein rascher Tod grausam sein? Was ich ihm geboten habe, ist besser als der Tod, den sein Volk den Menschen bereitet.« »Das mag sein, aber das heißt nicht, dass wir so werden müssen wie sie! Wenn wir zulassen, dass sie aus uns Wilde machen, haben wir mehr als eine Schlacht verloren. Wenn wir die Barmherzigkeit verlieren, werden wir nur zu leicht zu Tieren!« Mit seiner gesunden Hand deutete er auf das Gemetzel, das der Phoenix hinterlassen hatte. Blut befleckte den Sand und strömte in kleinen Rinnsalen zum Wasser, wurde dort rasch von den Wellen verschluckt. Laoina stieß die Speerspitze mehrmals in den Sand, um sie von dem Blut zu reinigen. Als sie aufschaute und ihr Blick sich mit dem 58 von Alain kreuzte, lag Achtung in ihrer Miene. »Vielleicht ist etwas Wahres an dem, was du sagst. Dennoch müssen sie sterben.« Dann errötete sie, als sie seinen verwundeten Arm ansah. »Ich werde nicht sterben«, versprach er. Dann fiel ihm plötzlich Lavastin ein, und er dachte daran, wie Blutherz' Fluch ihn ganz langsam in Stein verwandelt hatte. Doch als Alain seine geschwollenen, heißen Finger berührte, stellte er fest, dass er die Haut, die Knochen und Muskeln noch immer spüren konnte. Zwar verursachte selbst die leiseste Handbewegung solche Schmerzen, dass ihm schwindlig wurde, aber er würde sich nicht in Stein verwandeln. Das Meer rauschte, als eine Welle nach der anderen auf den Strand rollte; Gischt sprühte über den Sand und floss langsam wieder zurück. »Hoah!« Zweifinger stand an der Klippe und zog einen Busch zur Seite, sodass der Eingang zu einer Höhle sichtbar wurde. Alain stand Wache, während die anderen ein schmales Boot mit einem tiefen Rumpf, einem Steuerrad, vier Rudern auf jeder Seite und einem einzigen Mast herauszogen und über den Sand ins Wasser schoben. Dann vertäuten sie ihre gesamte Ausrüstung an Bord und packten auch die eingesammelten Waffen als zusätzlichen Ballast dazu. Alain pfiff die Hunde herbei, die sich sogleich voller Tatendrang zu ihm gesellten. Am Steven waren acht dicke Seile an Haken befestigt; Zweifinger nahm die losen Tauenden und warf sie seitlich ins Meer. Er blieb am Bug stehen und zog eine Knochenflöte aus seinem Beutel, auf der er zu spielen begann, während das Boot auf den Wellen schaukelte. Zuerst waren es nur kleine, etwas ungewöhnlich aussehende Wellen. Dann schössen zwei Kreaturen aus den Wogen empor; schaumige Gischt troff von ihren glänzenden Körpern. Ihre Gesichter wirkten auf unbestimmte Weise menschlich, doch sie hatten scharfe, an Raubtiere erinnernde Zähne. Die Haut in ihrem Gesicht, an ihren Schultern und am Rumpf war glatt, glänzend 59 und so hell wie die von Maden. Das erste Wesen tauchte rasch wieder unter und peitschte mit dem muskulösen Schwanz das Wasser. Alain starrte die Kreaturen an. »Er hat die Merwesen gerufen! Ich hätte nie gedacht -!« Er taumelte, als das Boot auf den Wellen schwankte. Wie lange hatte er schon nicht mehr von Starkhand geträumt? Aber er war tot, oder nicht? Tote träumten nicht, und er hatte von Starkhand nicht mehr geträumt, seit die Zentaurin ihn zu Adica geführt hatte. Während er auf das Meer hinausstarrte, hatte er das Gefühl, als würde er wieder von Starkhand träumen. Wenn er bereits tot war, konnte er nicht noch einmal sterben - auch nicht an einem giftigen Schlangenbiss. Er lachte, packte Adica bei den Schultern und drehte sie so zu sich herum, dass er sie auf die Wange küssen konnte. »Vielleicht hat dir das Gift den Verstand geraubt«, murmelte Laoina. Adicas Besorgnis hing so greifbar in der Luft wie der Salzgeruch des Meeres, doch sie war zu praktisch veranlagt, als dass sie geweint oder gejammert hätte. Sie hockte sich ins Boot und begann, in ihrem Beutel herumzuwühlen, während Zweifinger weiter auf der Flöte spielte und die Merwesen herbeirief. Ein zweites Paar tauchte auf, dann ein drittes, und plötzlich ruckte und schwankte das Boot so heftig, dass Alain der Länge nach hinfiel und sich mit seiner gesunden Hand am Bootsrand festhalten musste. Sein Stab fiel ihm aus der Hand und polterte gegen den Achtersteven, aber es gelang ihm, ihn wieder aufzufangen, bevor er ins Wasser fiel. Die Hunde duckten sich und jaulten leise. Laoina murmelte vor sich hin, als würde sie beten; sie blickte verwundert und erschreckt drein, als die Merwesen die Seile in ihre Krallenhände nahmen und das Boot zur Melodie von Zweifingers Flöte aufs Meer hinauszogen. Ein viertes Paar tauchte auf, dann ein fünftes und ein sechstes, sodass es schließlich immer welche gab, die das Boot schleppten, und andere, die es umkreisten. Ihre glänzenden, gewölbten Rücken 60 zeichneten sich im dunklen Wasser ab. Der Strand und die Klippe wurden immer kleiner, bis von dem zerstörten Schiff nichts mehr zu sehen war. Alains Arm pochte unaufhörlich, bis hinauf zu der Stelle, wo das Armband saß. In seinen Ohren erklang ein Ton, und er fühlte sich fiebrig und zittrig, aber vielleicht kam das auch nur vom Wind und der kalten Gischt, die
immer wieder aufspritzte. »Trink das.« Adica setzte ihm den Lederbecher an die Lippen, und gehorsam trank er. Dann strich sie ihm eine kühlende Paste auf die Schwellung und umwickelte sie fest mit einem Stoffstreifen. Die Nacht brach herein. Alain konnte die Merwesen jetzt nicht mehr sehen, doch das Salzwasser brannte auf seinen Lippen und in seinen Augen; das Boot hob und senkte sich, während sie weiter dahinglitten. Seine Haare, seine Kleidung, seine Haut: Alles war voller Salz. Adica war unter ihrem Fellumhang eingeschlafen. Auch er döste ein, und als er wieder erwachte, fror er entsetzlich vor Kälte und Nässe. Sein Kopf lag unbequem auf Kummers riesigem Rücken. Zweifinger stand noch immer am Steven und spielte auf der Flöte. Alain konnte es erkennen, wenn ein Zauberbann gewirkt wurde. Falls Zweifinger zusammenbrach, war es gut möglich, dass die Merwesen sie mitten auf dem Meer verließen, sodass sie umhertreiben und schließlich verdursten würden obwohl sie von so viel Wasser umgeben waren. Alain fand eine Wasserhaut, aber er trank nur wenig, obwohl er inzwischen sehr durstig geworden war. Eine Weile saß er einfach nur schweigend in der dunklen Nacht. Seine Hand und der Arm schmerzten zu sehr, als dass er hätte schlafen können, während das Boot die Wellen zerteilte und durch das Wasser glitt. Die Merwesen gaben sanft klickende Geräusche von sich. Sie waren so leise, dass er zuerst dachte, es wären die Hunde, die mit ihren Pfoten über den Boden streiften. Aber die Tonlage der Klickgeräusche veränderte sich, ebenso wie die Entfernung, aus der sie an sein Ohr drangen: Es waren die Merwesen, die 61 sich auf diese Weise miteinander unterhielten, begleitet von dem wilden Tosen des hoch aufspritzenden Wassers. Er trieb zitternd im Dämmerzustand dahin, träumte, dass er ihre Unterhaltung verstehen konnte: »Nehmt ihnen ihre Hülle weg und zieht sie in die Welt hinein, damit wir sie essen können. Nein, die Königin gibt uns Befehle. Wir dürfen uns ihrem Gesang nicht widersetzen.« Manchmal, wenn sie die Richtung änderten, klatschten Wellen seitlich an den Rumpf, schwappten über die Bordwand. Jedes Mal, wenn kaltes Meerwasser um seine Knöchel strömte, zuckte er zusammen, und Rage und Kummer jaulten. Hier auf hoher See hatten die beiden Hunde kaum noch Ähnlichkeit mit den Furcht erregenden Wesen, die sie an Land waren. Für die Merwesen, die hier ganz in ihrem Element waren, würden die Hunde zweifellos nicht viel mehr als ein kleiner Leckerbissen sein. Und auch die menschlichen Passagiere würden kein Erbarmen zu erwarten haben. Er mochte gar nicht daran denken, was geschehen würde, wenn jemand über Bord gehen sollte. Der sanfte Rhythmus der gegen den Bootsrumpf klatschenden Wellen lullte ihn in einen Schlummer, während das Blut heiß in seiner Hand pulsierte. Er schlief unruhig, träumte davon, dass sich eine große Spalte in den Himmelssphären öffnete, während die Erde sich vor seinen Füßen auftat und ihn in einen tiefen Abgrund riss, der völlig bodenlos war ... Er hatte geschworen, sie zu beschützen, genauso wie er geschworen hatte, Lavastin zu beschützen. Und jetzt hatte er versagt. »Alain.« Er fuhr auf, weinte beinahe vor Erleichterung darüber, dass es Adica war und dass sie am Leben und gesund war. Sie wiegte ihn sanft in den Armen. Ihr Gesicht zeichnete sich wie ein Schatten gegen den Himmel ab, wie ein Geist ohne Augen, Nase und Mund. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, mein Liebling.« Sie berührte seine Lippen, fuhr mit den Fingern leicht über seine Stirn, maß den Puls an seiner Kehle. 62 »Es geht mir gut.« Er versuchte, die Hand zu bewegen, aber es ging nicht. Sie fühlte sich steif wie ein Brett an und doppelt so groß wie gewöhnlich. Dafür konnte er inzwischen, wenn auch nur langsam, den Ellenbogen beugen. Vorn am Steven hockte Laoina hinter Zweifinger und starrte hinaus aufs Meer. »Das solltest du sehen.« Ein merkwürdiger Ton lag in Adicas Stimme. Aus dem Wasser um sie herum ertönte eine fröhliche, geradezu unheimliche Weise. Es war, als würde der Meereswind durch hunderte von Pfeifen hindurchfahren. Licht erstrahlte vom Meeresboden. Alain kroch über die Netze, die über dem Ballast lagen, und blickte aufs Meer, während er sich an die Seile klammerte. Da war eine Stadt unten auf dem Meeresboden. Ein Lichtwirbel breitete sich in der Tiefe des Meeres wie eine riesige Muschel aus. Die Stadt schien sich endlos hinzuziehen, gekennzeichnet durch ein Gewirr von geschwungenen Mauern, Alabaster, hellen lebendigen Muscheln, deren Phosporüberzug im Einklang mit den Wellen pulsierte, sowie ein gleichmäßiges Ausströmen des Meeres, das ihm und allen anderen Kreaturen, die in der Welt außerhalb des Wassers lebten, bisher unbekannt gewesen war. Eine Gruppe von Merwesen stieg zur Wasseroberfläche empor und umschwärmte das Schiff. Auch sie schienen von der Magie, die Zweifinger mit der Flöte wirkte, ganz gefangen zu sein. Sie schwammen in engen Kreisen und Spiralen, tauchten unter dem Schiff hindurch und umrundeten es - es war ein Tanz, der gleichermaßen aus Unwillen wie auch Verzauberung heraus geboren zu sein schien. Magie besaß die Macht, zu binden. Sie waren machtlos gegen den Bann, den Zweifinger webte. Hin und wieder flitzten ein paar Merwesen herbei und nahmen den anderen die Seile ab; das erschöpfte Paar pflegte dann jeweils in der dunklen Tiefe zu verschwinden. Die klickenden Geräusche und das Singen der
Merwesen begleiteten ihre Reise, doch war es kein friedliches Wiegenlied, das sie da von sich gaben. »Was liegt 63 jenseits der Schnell? Wie kann uns Magie aus der dünnen Welt binden? Wir könnten sie fressen, wenn da nicht diese Hülle wäre. Atmen sie auch im Langsam?« Alain war so müde, dass sein träge dahintreibender Geist die Geräusche in verständliche Sprache übersetzte. Waren die Merwesen einfach nur Tiere? Starkhand hatte das nicht geglaubt. Starkhand hatte Abkommen mit ihnen geschlossen, Blut gegen Blut getauscht - er hatte jene Währung benutzt, die er am besten kannte. Sie hatten Anzeichen von Intelligenz gezeigt, und der Beweis dafür breitete sich jetzt deutlich vor Alain aus: in Form einer riesigen Stadt. Wie konnte er wissen, was Wahrheit und was ein falscher Anblick war, was nur äußere Hülle war, die das innere Herz verbarg? Wie konnte es nur jemals jemandem gelingen, die Schleier wegzureißen, die die Sicht behinderten und das Ohr betäubten? Schließlich wurde die Stadt immer kleiner und undeutlicher, und das umherschwärmende Meeresvolk blieb hinter ihnen zurück, als die Merwesen wieder zu ihren Heimen schwammen- bis auf jene, die das Boot zogen. Gelegentlich tauchte ein neues Paar auf, um an die Stelle der Erschöpften zu treten. So verging die Nacht, und endlich schlief Alain ein. 3 Bei Dämmerung wurde das Wasser von einem sanften Licht erhellt, und als die Sonne aufging, waren Vögel zu sehen, die von nahem Land kündeten. Treibholz schaukelte auf den Wellen, und Seetang glitt am Boot entlang. Drei Tümmler tauchten aus den Fluten auf und verschwanden dann wieder. Adica wandte ihren Blick von der reizvollen Szenerie ab und untersuchte Alains Hand und Arm. Obwohl die Haut noch immer geschwollen und hässlich gerötet war, sah sie nicht schlimmer aus 64 als am Tag zuvor. Falls das Gift wirklich die Macht besaß, ihn zu töten, hätte er inzwischen weit mehr leiden müssen. »Da!«, rief Laoina. Etwas Weißes blitzte am Horizont auf. War es Land? »Es ist ein Schiff«, sagte Alain. »Sie töten uns, wenn sie uns kriegen.« Laoina schlang ihre Arme um den Mast. Sie kletterte nach oben, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen, und rief: »Es ist ein Schiff der Verfluchten!« Zweifinger widmete sich noch immer seinem Spiel, obwohl er sichtlich erschöpft war. Die Merwesen schwammen weiter, durchpflügten die Wellen, während sich die Seile hinter ihnen strafften. Das Schiff ächzte und stöhnte, als es in unruhigeres Gewässer geriet. Adica machte sich an ihrem Beutel zu schaffen; ihre Hände waren vom Salzwasser jedoch ganz kalt, steif und klebrig. Sie hauchte ihre Finger an, um sie zu wärmen; erst dann versuchte sie vorsichtig, den Beutel zu öffnen. Er war von der Salzlake etwas aufgequollen. Darin fand sie ihr winziges Bündel mit dem kostbaren Königinbesen und einen Strang getrockneter Disteln. Sie verflocht den Königinbesen mit ihrem Oberteil, damit er nicht herunterfallen konnte, und mit einiger Anstrengung entfachte sie eine Flamme mit ihrem Feuerstein und brachte die getrockneten Disteln zum Brennen. Während sie brannten, sang sie eine Beschwörungsformel: Trenne nun, Diestel, Das Geringere vom Größeren, das Größere vom Geringeren. Lasse keine Begegnung zu und auch kein Blutvergießen. Gegen das Schwanken des Schiffes ankämpfend, schob sich Adica zum Steven. Das Schiff tauchte tief in ein Wellental, und sie prall65 te gegen den Achtersteven. Alain bekam sie mit seiner gesunden Hand gerade noch zu fassen, sonst wäre sie über Bord gegangen. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, sah sie zu, wie das Schiff in der Ferne sich hob und senkte und die Richtung änderte. Waren sie bemerkt worden? Rasch befestigte sie den Königinbesen am Achtersteven und wiederholte die Beschwörung, den scharfen Geruch der brennenden Disteln noch immer in der Nase. Nach einem kurzen Augenblick wurde offensichtlich, dass das andere Schiff sie nicht gesehen hatte. Es kam nicht näher und verschwand schließlich hinter dem Horizont. In der Ferne erhob sich das Ufer. Genau in dem Augenblick, da sie die erste Brandungslinie erreichten, erschlafften die Seile. Die Merwesen hatten sich davongemacht - nun mussten die Wellen das Boot ans Ufer tragen. Die Merwesen rekelten sich in den Wogen und beobachteten sie. Eines schwamm so dicht am Boot vorbei, dass Adica die winzigen Münder an den Haarspitzen aufschnappen sah, als handelte es sich um Aale. Perlenartige Augen musterten sie in gieriger Erwartung, bevor das Merwesen unter dem Bootsrumpf verschwand. Sein Rücken brachte das Boot zum Schaukeln, stark genug, dass Zweifinger sich am Steven festhalten musste, um nicht über Bord geschleudert zu werden. Schlagartig umschwärmten Merwesen bedrohlich das Boot, zogen sich aber rasch wieder zurück, als die Wellen sich in Brandung verwandelten. Alain machte schon Anstalten, inmitten der schäumenden Brandung aus dem Boot zu springen und das Schiff an
Land zu ziehen, doch Zweifinger hielt ihn zurück. »Bleib hier!« Laoina beeilte sich, zu übersetzen. »Hüte dich vor dem Wasser. Die Merwesen haben scharfe Zähne und sind uns nicht wohlgesonnen.« »Das ist nur zu wahr.« Die Merwesen blieben vor der Brandungslinie zurück, bis auf eines, das ihnen nachkam, sich aber gleich wieder umdrehte und von der zurückrollenden Welle ins Meer tragen ließ. Als das Schiff 66 schließlich den Grund berührte, sprang Alain auf den Strand, gefolgt von den Übrigen. Gemeinsam zogen sie es ans Ufer, außer Reichweite des Wassers. Die Hunde bellten und sprangen herum, jagten sich gegenseitig. Zweifinger watete bis zu den Knien ins Wasser und betrachtete das Meer. Das Wasser rauschte und strömte um seine Beine herum. Er hob beide Hände. »Danke, Schwestern und Brüder. Auch ihr habt euren Beitrag geleistet, wenn auch unfreiwillig. Ich gebe euch diesen Knochen wieder, der einst eurer Königin gehört hat.« Er warf die Knochenflöte weit ins Meer hinaus. Sie verschwand im Wasser. Ein Schwärm von Körpern wirbelte das Meer dort auf, wo sie aufgekommen war. Dann war urplötzlich jede Spur von den Merwesen verschwunden. Das Wasser schwappte an den langen Strand, und die Morgensonne trocknete den Sand, sodass er golden schimmerte. Es war nichts zu hören außer den Geräuschen des Meeres und dem perlenden Ruf eines Brachvogels. Weit draußen blitzte etwas auf. Ein einzelner, großer Schwanz geriet in Sicht und peitschte auf das Wasser. Dann war nichts mehr zu sehen. Die Merwesen waren verschwunden. »Also gut.« Laoina drehte sich um und blickte den Strand entlang. Er bestand mehr aus Kieselsteinen als aus Sand und zog sich endlos nach Osten, während er im Westen von einer niedrigen Landzunge begrenzt war. Dort wuchsen Immergrün, Büsche und Bäume, die der unablässige Wind ganz schief und krumm hatte werden lassen. Dahinter erhoben sich Hügel, die von flachen Höhlen durchzogen waren. »Wir müssen einen Unterschlupf und etwas zum Essen finden.« Zweifinger watete zurück ans Ufer. Sie zogen das Boot auf den Strand und versteckten es in einer Höhle, verstauten dort außerdem einen Großteil der Waffen - es waren zu viele, als dass sie alle hätten mitnehmen können. Dann versperrten sie den Eingang mit aufgeschichtetem Treibholz. Ein Pfad führte an den Muschelbänken vorbei, wo sich auch ein Schwärm verärgerter Austernfischer herumtrieb; die Vögel protestierten lautstark, als die vier Men67 sehen die Wasserlachen plünderten. An einer windgeschützten Stelle entdeckten sie eine Senke, in der sich Hinweise auf eine ehemalige Behausung fanden: eine Feuerstelle, ein Schuppen aus Zweigen, ein Stapel weggeworfener Feuerstein-Späne und zerbrochenes Werkzeug. Häufchen aus den Überresten von Schalentieren erhoben sich in Abständen entlang des Pfads. Nachdem sie genug Treibholz gesammelt hatten, entzündete Adica ein Feuer. Sie ruhten sich etwas aus und wuschen in einem nahen Bach das Salz aus ihren Kleidern und Haaren. Adica zog Alain beiseite, in den Schutz einer kleinen Gruppe niedriger Bäume. Sie war erfüllt von Begierde nach ihm. Es war ein Fluch, einen Menschen so sehr zu begehren, dass es keine Rolle spielte, dass er verletzt war. Alains Süße war jedoch wie heilsamer Nektar für sie. Er küsste sie begierig, wie ein Verdurstender - das tat er immer. Die Art, wie er den einen Arm benutzte, hatte etwas Unbeholfenes, aber stimmte es denn nicht, dass in den Augenblicken, wenn man sich aufrichtig liebte, die Gedanken von allen Schmerzen und Sorgen abgelenkt wurden? Zumindest war das bei ihr so gewesen. Danach schlummerte sie eine Weile ein. Es erschöpfte sie immer, wenn sie die Webstühle benutzte. Es erschöpfte sie auch, wenn sie dagegen ankämpfen musste, sich Sorgen zu machen, Angst zu haben und wütend auf ihr Schicksal zu sein. Lebe jetzt, in jedem Augenblick, in jedem Kuss. Laoinas Ruf weckte sie. Die Hunde kamen herbeigerannt, leckten Alain das Gesicht, schnüffelten an seiner geschwollenen Hand. Er lachte und schob sie weg. Zum ersten Mal konnte er die verletzte Hand wieder ein bisschen bewegen, und er küsste Adica so leidenschaftlich, dass Laoina schließlich kommen und sie mit einem Lachen und einem sanften Hieb ihres Speers daran erinnern musste, dass es Zeit war weiterzuziehen. Die Kleider waren inzwischen getrocknet und hingen über einem umgestürzten Baumstamm im Sonnenlicht. Es war ein heißer Tag, was sie rasch zu spüren bekamen, als sie weitergingen. 68 Sie folgten einem Pfad, der in dieser Jahreszeit offenbar häufiger benutzt wurde, denn er war zwar bewachsen, aber deutlich erkennbar. Die Landschaft, durch die sie schritten, bestand aus Eichen und Kiefern, zwischen denen sich immer wieder helle Lichtungen erstreckten. Efeu wand sich um die Eichen und das Unterholz, das an einigen Stellen sogar mannshoch wuchs. Die Hunde verschwanden immer mal wieder im Gebüsch oder zwischen den Bäumen. Das Rauschen der Blätter und das Gebell der Hunde bildete eine immer wiederkehrende Begleitmusik, und wenn die Tiere auch häufig außer Sichtweite waren, verloren sie doch nie Alains Spur. Krapp wuchs über dem Pfad, und allerorten war dichter Ginster zu sehen. Der Wald war völlig anders als der, den sie von zu Hause kannte. In dieser Nacht schlugen sie ihr Lager an einer Stelle auf, wo bereits Hütten aus gebogenen Zweigen und Strohdächern errichtet worden waren. Die Wolken hatten sich verzogen, und es war eine ungewöhnlich warme
und milde Nacht - keine, in der man sich in einem Unterschlupf verstecken musste. »Dies ist ein Winterlager«, erklärte Zweifinger, als er und Adica die Sterne betrachteten. Der Hase sprang hier im Süden höher. »Sieh dir nur die Schwestern und den Bullen an«, sagte sie. Laoina übersetzte für sie. »Kann es sein, dass hier Sommer ist? Wir haben unser Dorf zur Frühlings-Tagundnachtgleiche verlassen.« Doch was konnte sie dagegen tun? Es gehörte zum Fluch der Webstühle, dass sie das Leben jener, die sie benutzten, in großen Stücken verzehrten, so wie ein Wolf seine Beute fraß. Alles, was sie tun konnte, war das Leben zu leben, das ihr beschert wurde. Es musste genug für sie sein. Am Morgen häutete und briet Laoina drei Hasen, die im Laufe der Nacht in ihre Fallen gegangen waren, während Adica eine Paste aus Brombeerblättern und Schwarzwurz auf Alains Hand strich, um die Schwellung zu vertreiben. Danach brachten sie das Lager 69 wieder in Ordnung, vergruben ihre Hinterlassenschaften und machten sich erneut auf den Weg. Laoina hängte sich die abgezogenen Hasenfelle über die Schultern - wenn sie dahinschritt, sah es aus, als hätte sie zusammengefaltete Flügel auf dem Rücken. Sie kannte dieses Land gut genug, um immer wieder ein paar Bemerkungen darüber zu machen. Sie hatte einige Zeit hier verbracht, als sie die Sprache von Horns Volk erlernt hatte, und sie kannte die Namen und den Verwendungszweck der unterschiedlichsten Pflanzen, erinnerte sich an vielerlei Vogelgezwitscher. Nicht einmal Zweifinger wusste über dieses Land so gut Bescheid wie sie. Zwar hatte er als Junge selbst einmal bei Horns Volk gelebt und bei ihr — die bereits eine erwachsene Frau gewesen war - gelernt. Damals war er jedoch so sehr mit den Künsten der Alten und den Höhlen beschäftigt gewesen, in denen die Geheimnisse ihrer Vorfahren verborgen lagen, dass er häufig tagelang unterwegs gewesen war, ohne auch nur ein einziges Mal das Sonnenlicht zu sehen. »Und zu diesen Höhlen werde ich euch jetzt führen. Dort werden wir herausfinden, ob an den Worten der Wandelnden, von der du die schlimme Nachricht gehört hast, etwas dran ist.« Der Weg wurde steiler, wand sich wie ein Ziegenpfad die Schlucht hinauf, bis sie schließlich ein buschbestandenes Plateau erreichten. Drei Ziegen flohen in den Wald, als sie die beiden Hunde sahen. Zweifinger näherte sich vorsichtig einer vom Wetter arg mitgenommenen Wachstation, deren hölzerne Aufbauten eingestürzt waren. Eine Zisterne stand daneben. Er nippte am Wasser, und nachdem er es für gut befunden hatte, füllten sie ihre Wasserhäute auf. Alain hatte sich derweil daran gemacht, die höchste Stelle der Mauer zu erklimmen, und stellte fest, dass er wieder in der Lage war, seine verletzte Hand zu benutzen. Als er einen sicheren Aussichtspunkt gefunden hatte und die anderen zu sich winkte, kletterten sie zu ihm. Baumstümpfe übersäten den Hang im oberen Bereich und machten schließlich, nach unten hin, einem großen Olivenhain Platz. Noch weiter unten erstreckten sich bewässerte Felder, die 70 durch ein ausgeklügeltes Kanalsystem miteinander verbunden waren. Die Stadt selbst lag auf einer Anhöhe. Sie war von Erdwällen und einer Holzpalisade umgeben und wirkte uneinnehmbar, doch die Gestalten, die auf der Brustwehr auf und ab gingen, trugen Helme mit Helmbusch und Tiermasken, wie sie für die Soldaten der Verfluchten typisch waren. Einige Häuser lagen in Trümmern, waren bis auf die Grundmauern niedergebrannt oder geschleift, und ein paar Menschen arbeiteten gramgebeugt in den Gerbereien und auf den Feldern. Der Boden vor der Brustwehr war frisch aufgewühlt. Adica erschauderte: Sie wusste, dass die Verfluchten die Leichen ihrer getöteten Feinde als eine Art Opfergabe in Gruben zu werfen pflegten. Dadurch wurden die Seelen dieser Toten dazu verurteilt, auf ewig die Lebenden heimzusuchen, denn es war ihnen unmöglich, ohne die notwendige Zeremonie und Vorbereitung auf die Andere Seite zu gelangen. In nördlicher Richtung sah sie eine Gruppe von Hügeln, die sich aus dieser Entfernung wie Schafe ausnahmen. Dort - fast außer Sichtweite befanden sich die Hügelgräber dieses Stammes. Zumindest sie wirkten nicht zerstört. Aber in ihrer Mitte sah sie einen Steinwebstuhl aufragen -und winzige Gestalten, die Wache standen. Die Verfluchten besaßen die Kontrolle über den Weg in und aus Horns Land. »Ich nehme an, dass Hörn und ihr Volk Zuflucht in den Höhlen ihrer Vorfahren gesucht haben.« Das war die einzige Bemerkung, die Zweifinger angesichts der Zerstörung, die sie sahen, von sich gab. Sie musterten die zerstörten Mauern der Wachstation und zogen sich wieder in den Schutz des Eichenwalds zurück. Sowohl Zweifinger als auch Laoina kannten diesen Pfad gut, obwohl er bestens verborgen und sein weiterer Verlauf durch eine Reihe von Sackgassen, falschen Abzweigungen und Serpentinen zusätzlich getarnt war. Sie kamen schließlich zu einem auffälligen Kalksteinblock, der die Mündung einer Höhle teilweise verdeckte, doch Zweifinger führte sie an der einladenden Öffnung vorbei, einen felsigen Abhang hinunter, bis er mit seinem Speer die schweren 71 Zweige einer blühenden Klematis beiseite schob. Ein Riss ging durch den Fels, bildete eine kleine Öffnung, die kaum groß genug für einen erwachsenen Menschen war. Zweifinger ließ sich auf Hände und Knie sinken und kletterte ohne zu zögern hinein. Laoina wartete, bedeutete dann Adica und Alain, voranzugehen. Nachdem Alain den Hunden aufgetragen hatte, draußen zu warten, folgte er dem alten Mann in den Hügel hinein. Seine Zuversicht stieg wieder, da langsam das Gefühl in seine Hand zurückkehrte. Adica kroch hinter ihnen her. Der Felsen schloss sich über ihrem Kopf, und rasch umgab sie völlige Dunkelheit.
Sie kam nur langsam voran, aber sie konnte vor sich die beiden Männer hören und hinter sich Laoina, und so war es nicht gar so schlimm. Als der Tunnel sich gabelte, nahmen sie den rechten Weg, und dann war plötzlich ein Pfeifen und Stöhnen zu hören. Schmale Schäfte ragten in die Höhe, bildeten Pfeifen für den Wind. Der Tunnel senkte sich zunächst leicht ab, führte aber schnell noch steiler abwärts. Am Fuß weitete er sich zu einer ebenen Stelle aus. Inzwischen war es stockfinster. Adica tastete mit der Hand umher, fand Alain und hielt sich an ihm fest, während Laoina hinter sie trat. Sie hatte noch nie in der Nacht Angst gehabt, auch nicht bei ihren Besuchen in der Gruft der alten Königinnen unter dem Hügel. Dieser Ort jedoch war beengend und feucht, und er vermittelte das Gefühl, als würde etwas Schweres auf ihm lasten, als hätte die Erde selbst ein Bewusstsein. »Kommt«, sagte Zweifinger. »Haltet euch aneinander fest und folgt mir. Da vorne ist eine Falle, die wir umgehen müssen.« »Glaubst du nicht, dass sie aufgrund des Angriffs noch andere Fallen aufgestellt haben?«, fragte Laoina. »Das ist schon möglich. Aber ich habe bestimmte Zaubermittel bei mir, die mich warnen werden.« Und so war es. Dreimal musste er anhalten. Einmal hörte Adica einen leisen Wortwechsel, dann wurde ihnen gestattet, durch eine Art Flaschenhals weiterzugehen, der so schmal war, dass sie sich nur seitwärts hindurchzwängen konnte. Eine Hand strich ihr 72 über den Kopf, tastete nach dem für die Verfluchten typischen Haarknoten auf dem Kopf, doch dann wurde sie ohne weitere Belästigung vorbeigelassen. Es war ein guter Platz für einen Hinterhalt. Sie war so blind wie ein Maulwurf und konnte nicht einmal die Hand vor Augen sehen. Es war für sie kaum nachvollziehbar, wie die anderen die nötige Zuversicht aufbrachten, um weiterzugehen - aber ähnelte nicht andererseits all die Arbeit, die sie als Geweihte verrichteten - das Erlernen der Geheimnisse des Großen Webens -, dem Umhertasten im Dunkeln? Kein Mensch wusste, welche Magie die Verfluchten besaßen. Sie konnten Feuer aus Steinen und Erde aus Wasser herbeirufen, konnten den Wind dazu bringen, sich aus der Flamme zu erheben, das Wasser dazu, aus der Luft zu sprudeln. Sie beherrschten die Macht der Verwandlung und konnten Elementarwesen dazu zwingen, ihre Verstecke zu verlassen und zu den gewöhnlichen Orten auf der Erde zu kommen. Für diese Macht zahlten sie einen Preis, und zwar nicht nur mit ihrem eigenen Blut, sondern auch mit dem ihrer Feinde. So hatte die Menschheit notgedrungen andere Magie erlernt - jene, die man mit den Händen wirken konnte: Schmiedekunst und Töpfern, Flechten und Weben, sowie die Künste des Wortes, der Melodie und des Tanzes. In diesen Formen erblühte die Magie der Menschen, und auf diese Weise hatten die alten Mütter und Väter das sich drehende Rad der Himmelssphären beobachtet, hatten erkannt, wie die Weberschiffchen - bekannt als die Wandelsterne -ein unsichtbares Gewebe durch jene Sterne wirkten, die niemals ihre Position zueinander veränderten. Jahrelang hatte Adica auf den Knien ihrer Lehrerin den großen Geheimnissen gelauscht, war schließlich in die Geheimnisse des großen Wirkens eingeweiht worden: demzufolge konnten die Sterne in den Himmelssphären über ihnen in einem riesigen Webstuhl gewebt werden, und die Macht ihrer Fäden konnte zur Erde herabgezogen werden und sich auf der Erde manifestieren. All dies hatte zu der Errichtung der Steinwebstühle geführt, die 73 jetzt im ganzen Land verstreut darauf warteten, benutzt zu werden. Sie lagen so weit voneinander entfernt, dass Adica wusste, sie würde niemals in der Lage sein, in ihrem Leben alle zu Fuß aufzusuchen. Aber jeder Webstuhl bildete, wenn er mit den lebenden Fäden der Sterne verwebt war, ein Tor, das mit den anderen Webstühlen in Verbindung stand; dieses Tor mochte in der einen Nacht - abhängig von der Stellung der Sterne - nach Osten und Süden führen, in einer anderen nach Norden und Westen. Doch die Geheiligte sagte, dass eine größere Hand die Webstühle der Himmel lenkte - eine Hand, die so groß war, dass die Menschen, deren Lebensspanne nur von kurzer Dauer war, die Veränderungen nicht bemerkten. Dies war das größte Mysterium von allen. Inmitten der Dunkelheit erstrahlte ein Licht. Es war verblüffend hell, obwohl es nur von einer kleinen Fackel aus gebündeltem Schilf stammte, das getrocknet und in Pech getaucht worden war. Zweifinger hielt die Fackel hoch, während sie auf einer schmalen Brücke aus Brettern eine Kluft überquerten. In dem Lichtschimmer sah Adica alte Wandmalereien: die in Rot gehaltenen Umrisse von Händen; massige, gefleckte Pferde mit langen, zotteligen Mähnen, die ihnen über die Schultern fielen; ein Hörn mit dreizehn Streifen. Sie konnte die anderen Menschen riechen, noch bevor sie sie hörte. Zweifinger löschte die Fackel, und in der Dunkelheit folgte sie ihm und Alain einen schmalen Gang entlang; einmal musste sie sogar bäuchlings ein kurzes Stück vorwärts robben, wobei sie den Stab vor sich hielt und die Tasche mit einem Fuß hinter sich herzog. Plötzlich weitete sich das Loch. Sie spürte die Anwesenheit von anderen - aber das hieß nicht notgedrungen, dass noch alle von ihnen unter den Lebenden weilten. Sie spürte die Berührung alter Geister und Wächter, hörte das Flüstern lebender Menschen. Eine Fackel flackerte auf, doch noch bevor Adica die Gestalten erkennen konnte, die sich hier in der Höhle versammelt hatten, wurde sie in eine Vision geschleudert: 74 Eine Herde von viehähnlichen Tieren, mit Hörnern und zotteligem Fell, donnert vorbei. Vögel brechen aus ihren grasbewachsenen Verstecken hervor, überfluten den Himmel, und in der Ferne trampelt ein riesiges Tier vorbei,
mit einer unglaublich langen und gewundenen Nase und Hörnern zu beiden Seiten des großen Mundes. Es führt andere von seiner Art zu einem unbestimmten Ziel. Sie sieht Leute am Rand eines Kiefernwäldchens vorbeigehen. Sie ähneln den Menschen, die sie kennt, aber sie sind in Häute gekleidet und sie tragen Werkzeuge aus Steinen und Knochen. Sie besitzen kein Metall und keine Töpfe. Vorzüglich geflochtene Körbe und Ketten aus Elfenbein, Muscheln oder Steinen schmücken ihre Kleidung. Wildtiere schwärmen vorbei, eine mächtige Herde, die sich über die Landschaft ergießt. Und dann stand sie wieder in der Höhle in der Mittleren Welt und starrte verwundert auf die Gemälde, die die Decke der Höhle schmückten. Sie war allein: Alain war bereits Zweifinger in die Mitte der Menge gefolgt, zu einem Felsstück in der Form zweier zotteliger Tiere; das eine hatte man an etwas höherer Stelle als das andere aus dem Fels gehauen. Sie folgte ihnen vorsichtig und musterte die Leute, die um sie herumstanden und warteten. War das alles, was von Horns Stamm übrig geblieben war? Es waren nicht mehr als zwanzig, und davon waren auch noch die Hälfte Kinder. Viele hatten Verletzungen erlitten, einige waren nicht einmal in der Lage zu sitzen. In der Mitte dieser Mitleid erregenden Gruppe stand eine aus Zweigen errichtete Pritsche. Darauf lag eine Gestalt, die so schwer mit Kupferschmuck beladen war, dass Adica sie kaum unter dem Kopfschmuck aus gehämmertem Kupfer erkennen konnte, unter dem breiten Bruststück, den Armbändern und Armreifen, dem breiten Taillenband, das in der Gestalt zweier sich treffender Axtköpfe gefertigt worden war. Schöne Hände ruhten auf der Brustplatte, schlössen sich um einen kleinen, goldenen Becher. Als Adica näher kam, roch sie den kräftigen Geruch einer Arznei, in der Anissamen waren. Roter Ocker 75 war über die geschlossenen Augenlider gestrichen worden, und ein Muster aus Halbmonden lag auf dem Gesicht der alten Frau. Hörn war nach der Form ihres missgestalteten Gesichts benannt worden. Wenn man sie von der einen Seite ansah, sah man eine Frau in fortgeschrittenem Alter, mit faltiger Haut, aber scharfem Blick. Wenn man sie von der anderen Seite betrachtete, sah man ein schlaffes, nach unten sackendes Gesicht, das regelrecht leblos wirkte, und ein abscheulich leeres Auge, das, wie Adica vermutete, mehr gesehen hatte, als für Menschen gut war. Sie kniete neben der alten Frau nieder, und ein Mädchen rückte zur Seite. »Lebt sie?«, fragte Adica, dann sah sie die Feder, die sich auf ihrer Lippe bewegte, als sie ganz leicht von dem Geist gestreift wurde, der noch immer in diesem zerbrechlichen Körper hauste. »Sie ist schwer verwundet«, übersetzte Laoina die Worte von Zweifinger. Er wandte sich ab, um mit dem Mädchen zu sprechen, das trotz ihrer Jugend die Helferin von Hörn zu sein schien. Sie trug eine Bluse aus gewebtem Stoff, die ihr bis zu den Knien fiel, und auch sie besaß Kupferschmuck, der jenen zu Eigen war, die sich den Ruhm einer Geheiligten erworben hatten. In ihre Haare waren helle Muscheln und Perlen geflochten, und sie trug ein so schweres Bruststück, dass ihre Schultern sich unter dem Gewicht neigten - aber vielleicht war es auch nur das Gewicht der Bürde, die auf ihr lasten würde, sollte Hörn sterben und nicht in der Lage sein, ihre Rolle bei dem großen Weben einzunehmen. Das Mädchen würde Horns Platz einnehmen müssen. Alain schritt am Rand des Fackelscheins herum und betrachtete die Wandgemälde. Als Adica ihn suchte, sah sie, wie er zögernd die verletzte Hand ausstreckte und auf die breite Handfläche eines erwachsenen Mannes legen wollte, die schon Generationen zuvor in roter Farbe aufgemalt worden war. Ein schwaches Stöhnen erklang neben ihr. Die Feder hob sich etwas, als würde sie von einem Luftstoß aufgewirbelt, und Hörn öffnete plötzlich die Augen. Einen Augenblick lang hatte Adica die 76 Vorstellung, dass die alte Frau mit ihrem leeren Auge Alain anstarrte. Urplötzlich ließ ihre linke Hand den goldenen Becher auf ihrer Brust los und griff zitternd nach Adicas Handgelenk. Ihre andere Hand, die faltig und schwach war, rollte mit dem Becher zur Seite; dabei ergoss sich die aromatische Flüssigkeit über ihre rechte Seite. Doch sie schien nicht zu bemerken, dass sie sich gerade verbrüht hatte. Hörn sprach in ihrer eigenen Sprache. Laoina beeilte sich, zu übersetzen, während Zweifinger sich auf der anderen Seite von Hörn niederließ. »Nehmt die stille Straße.« Die eine Hälfte ihres Mundes bewegte sich tatsächlich, wenn sie sprach, und sie lispelte ein bisschen, doch Laoina hatte anscheinend keine Schwierigkeiten, die verschwommenen Laute zu verstehen, was darauf hindeutete, dass sie mehrere Jahreszeiten an der Seite der alten Frau verbracht hatte. Zweifinger nahm Horns schlaffe, rechte Hand und zog sie an seine Brust. Er stellte den umgefallenen Becher aufrecht auf den Boden, wischte mit dem Zeigefinger über seinen Rand und führte den feuchten Finger vorsichtig an die Lippen der alten Frau. »Du bist krank«, sagte er. Laoina flüsterte Adica die Übersetzung zu. »Du bist nicht stark genug, mit dem Webstuhl zu weben.« Hörn leckte sich die Lippen, so gut sie konnte, und schmeckte die Flüssigkeit. »Ich bin schwer verletzt. Ich werde nicht mehr lange leben. Aber meine Helferin ist letztes Jahr gestorben, und diese junge hier -«, sie deutete mit einer Bewegung des guten Auges auf das Mädchen, »- weiß zu wenig.« »Ich werde hier bleiben«, sagte Zweifinger. »In meinem eigenen Land kann meine Nichte meinen Platz einnehmen.«
»So sei es«, flüsterte Hörn. Sie blickte Adica an. »Wie willst du beim Steinwebstuhl weben, wenn doch die Verfluchten unser Land beherrschen?« »Adica muss weiter zu Shu-Sha -«, begann Zweifinger, doch Hörn schnitt ihm das Wort ab. »Nein. Wir dürfen sie in jenem Land keinerlei Gefahr aussetzen.« Sie hustete, als wären so viele Worte eine zu große Anstrengung für sie - bei der wenigen Kraft, die sie noch besaß. Flüssigkeit rasselte in ihren Lungen, ein Geräusch, das von Tod kündete. Nach einer Pause, während der alle geduldig und besorgt gewartet hatten, fuhr Hörn fort. »Sie wird mit der Wandelnden Laoina, der Tochter meines Herzens, die stille Straße benutzen. Das Volk der Gebeugten wird sie auf seinen Wegen zurück nach Königinnengruft führen. Laoina muss unbedingt nach Hause zurückkehren und mir ihre stärksten Krieger bringen. Es sind zu wenig Erwachsene übrig, als dass wir die Verfluchten selbst angreifen könnten. Wir brauchen eine starke Streitmacht, um sie am Abend unseres großen Wirkens fern halten zu können, damit Zweifinger zum Webstuhl gehen und seinen Beitrag leisten kann. Nur dann werden wir in Sicherheit sein.« Hörn hustete wieder, zitterte. Sie wurde von Augenblick zu Augenblick schwächer. Alain ließ sich neben ihr nieder - wie ein Hund, der gekommen war, um neben seiner Herrin Platz zu nehmen. Er legte Adica die gesunde Hand auf die Schulter und betrachtete die alte Frau mit einem Blick, der nicht übermäßig betrübt, aber auch nicht kühl war. »Mögest du Frieden finden, Geheiligte«, erklärte er. Beim Klang seiner Stimme drehte Hörn ihren Kopf so weit herum, dass sie ihm jetzt das ganze, schlaffe Gesicht zuwandte. Sie schien Alain seltsamerweise mit dem leeren Auge anzustarren, als wäre es das einzige Auge, mit dem sie ihn richtig betrachten könnte. Ihre angestrengten Atemzüge waren eine unberechenbare Begleitung zu den anderen Geräuschen in der Höhle: dem Flüstern der Kinder, dem leichten, aber gleichmäßigen Schnarchen irgendwo in der Dunkelheit, den körperlosen Schritten unsichtbarer Tanzender und einem Pfeifen, das in einer alten Zeremonie für immer gefangen und unter der Felsendecke festgehalten worden war. Ein schwaches Hornsignal schien zu erklingen, aber dabei musste es sich um eine Täuschung gehandelt haben oder um das Echo eines kindlichen Seufzers. 78 Hörn sprach jetzt in verändertem Tonfall, der eigentlich zu kräftig für ihre mitgenommene Kehle klang. »Du gehörst nicht hierher, Wanderer«, sagte sie in der Sprache des Hirsch-Stammes. »Geh an deinen eigenen Ort zurück. Dein Vater weint um dich.« Alains Miene veränderte sich; aufrichtiges Mitleid machte Schmerz und Verwirrung Platz. »Ich habe kein Heim. Ich habe keinen Vater. Keine Mutter. Keine Verwandten. Ich bin allein und ohne irgendwelche Habseligkeiten von dem Ort gekommen, an dem ich zuvor gelebt habe. Ich werde nicht zurückgehen.« Er starrte entschlossen Horns leeres Auge an, bevor er sich an Adica wandte. Das Leuchten in ihrem Gesicht brachte sein Herz zum Jubeln. »Bei ihr habe ich ein Heim. Ich werde sie nicht verlassen.« Er umfasste Adicas Hände. Selbst der Griff seiner verletzten Hand war jetzt stark. »Es sind viele, die an jenem Ort auf dich warten«, erklärte Hörn störrisch. »Ich sehe deine Krone, die heller als die Sterne scheint. Du bist von dem Pfad abgewichen, der für dich bestimmt war, und du musst zurückkehren. Das ist dein Schicksal, Wanderer.« Während der mühsam vorgebrachten Worte wurde der Griff um Adicas Hand immer fester, bis ihre Finger schmerzten. Horns Worte taten ihr weh, sie schnitten in eine Narbe, die sich über ihrer Furcht vor dem Sterben geschlossen hatte. Sollte Alain ihr weggenommen werden ? Dabei war sie gar nicht mehr sicher, ob sie in der Lage war, ohne ihn an ihrer Seite mit den anderen einen Pfad zu beschreiten, von dem sie wusste, wohin er sie führte. Sie war davon abhängig geworden, dass er bei ihr war; er machte ihr die letzte Zeit erträglich. Alain wich nicht zurück. »Ich werde sie nicht verlassen.« In diesem Augenblick erkannte Adica in seiner Miene den schrecklichen Schmerz, den er zuvor erlitten hatte. Nicht nur sie hatte in ihrer Verbindung Schutz gefunden. Auch ihm erging es so. Hörn schnaubte, gab dann ein pfeifendes, kehliges Geräusch von sich, als ein starkes Zittern sie überfiel. Ihre Helferin eilte sogleich 79 zu ihr und betupfte ihr Gesicht mit dem Rest der Arznei, und das beruhigte die alte Frau wieder. Als ihr Körper aufhörte zu zittern, lag sie erschlafft da, und ihr gutes Auge schloss sich, während das leere an die Decke starrte, auf eine Reihe in hellen Farben gemalter Flötenspieler, die um einen Elch herumtanzten und ihn in die Falle lockten. Zuerst wusste niemand, was zu tun war. Man brachte ihnen Apfelwein und dazu fast schon gärenden, geschrumpften und geschmacklosen Salat, sowie in Schweineschmalz gebratenen Gerstenkuchen. Adica aß, was man ihr gab. Sie wusste, dass diese Leute, die aus ihrem Dorf und ihren Lagerstätten vertrieben worden waren, Gästen nur wenig anbieten konnten. Schlagartig erwachte Hörn wieder und begann in ihrer üblichen verschleierten Weise da anzuknüpfen, wo sie aufgehört hatte, als Alain sich neben sie gekniet hatte. »Laoina und die Akka-Krieger, die sie herbringt, werden hier bei meinem Volk Unterschlupf finden, bis die Zeit für das große Wirken gekommen ist. Danach können sie nach Hause zurückkehren. Jene von meinem Volk, die überleben, werden ein neues Dorf errichten, sodass wir nie wieder an einem Ort wohnen müssen, der von den Verfluchten vergiftet worden ist. Und jene, die sterben, werden mich auf dem Pfad einholen, der zur Anderen Seite führt. Mädchen, führe sie zum Volk der Gebeugten.
Ich habe noch immer die Macht des Feuers über sie, und sie schulden mir einen letzten Gefallen.« Sie fummelte mit ihrer gesunden Hand an einem Armband herum, doch ihre Finger rutschten immer wieder ab, als sie versuchte, es abzuziehen. »Bring dies zu den Gebeugten zurück. Sie werden in dieser Sache nach meinen Wünschen verfahren.« Hörn holte tief Luft, und beim Ausatmen sprach sie leise: »Und das soll das Ende sein.« Eine Feder schwebte aus der Dunkelheit herbei und legte sich auf Horns Lippen. Adica wartete darauf, dass sie wieder einatmete, dass die Feder sich bewegte, aber nichts geschah. Ihre Brust hob sich nicht. Ihr gesamter Körper war erschlafft. Der helle Streifen - ihr Geist - erhob sich aus ihrem Körper und nahm eine ähnliche 80 Form an wie die Frau mit dem großem Bauch auf der Felswand, die so ganz anders war als der/zerbrechliche, ältliche Körper, den sie bis jetzt bewohnt hatte. Plötzlich kam starker Wind auf. Die Fackeln erloschen, und Dunkelheit umgab sie alle. Das helle Etwas - Horns Geist - wand sich in der Luft, als der Wind ihn herumwirbelte. »Hört mich! Hört mich!« Er sprach mit einer neuen, tiefen und dröhnenden Stimme. »Sie ist entführt worden! Kommt schnell, sonst ist alles verloren. Die Geheiligte ist von den Verfluchten geraubt worden. Wir haben nicht genug Kraft, um sie zu retten. Kommt schnell, sonst ist alles verloren!« »Shu-Sha!«, schrie Zweifinger. Ein donnerndes Klopfen hallte durch den Raum. Adica sprang genau in dem Augenblick auf, als der schmächtige Geist in tausend glitzernde Lichter zersprang, die rasch wieder erloschen. Die Helferin jammerte laut vor sich hin. Eilig wurden die Fackeln wieder entfacht, aber Hörn war tot, ihr Geist in der Dunkelheit verschwunden. II Jedus wütende Höhle 1 Die Flammen reinigten sie. Sie nahmen ihr ihre Gefühle, ihre Vergangenheit, die Verbindung zu allem Körperlichen - abgesehen von dem Feuer, denn sie war Feuer. Vor langer Zeit hatte Pa in der Stadt ihres Gedächtnisses eine Zitadelle errichtet und mit einer Tür verschlossen, um vor ihr die Wahrheit über das zu verbergen, was sie wirklich war. Doch noch während sie vom Feuer der Sonne verzehrt wurde, brannte das reine Feuer ihres eigenen Innern heller als die Feuersbrunst der Sonne, bildete Hitzewellen und goldene Türme aus Flammen. Die Tür war an Ort und Stelle geblieben, aber jetzt war sie in der Lage, einen Blick durch das Schlüsselloch zu werfen und das, was da brannte und zuckte, zu begreifen. Es war das, was ihr Vater so lange vor ihr verborgen hatte: ihre geheime Seele, der blaurote Funke, der ihr Leben verliehen hatte und ihr Wesen durchdrang. Ich bin nur zur Hälfte ein Mensch. Sie brauchte keine Worte, keine Stimme, denn das Feuer selbst war ihre Stimme. Die Daemonen, die mich nach Verna gebracht haben, sind meine Verwandten. 82 Ich bin Feuer. Jubelnd und mühelos griff sie in das wütende Feuer der Sonne und formte es zu zwei Flügeln. Auf diesen Flügeln erhob sie sich zur Grenze der Sonne, dabei den Aufwind eines neuen Aufflackerns nutzend. Doch selbst jetzt hatte sie noch nicht alles hinter sich gelassen, wie sie überrascht feststellte. Vielleicht würde sie niemals alles hinter sich lassen. Sie hatte noch immer ihren Bogen und den Köcher mit den Pfeilen; sie hatte noch den Goldreif, der kalt an ihrem Nacken hing und sie mit Sanglant verband, und sie hatte den hellen Lapislazuli-Ring, den Alain ihr gegeben hatte. Ansonsten hatte sie nichts, nur das Feuer, das ihre äußere Erscheinung - ihren Körper - überflutete. Jedus unheilvoller Blick färbte den Horizont blutrot: die Heimat des Engels des Krieges. Die Tore wurden von einem Paar mürrischer und Furcht erregender Daemonen bewacht, die aus Kristallen geschnittene Speere trugen. Schädel hingen an ihren Gürteln, und aus ihren Gesichtern leuchtete die Blutlust. Liath spannte den Bogen und legte einen Pfeil an die Sehne, entfachte Feuer auf ihm. Sie lachten, als sie sahen, wie erbärmlich klein sie war. Obwohl sie Feuer war, fürchteten sie sich nicht vor ihr. Sie selbst waren so groß wie Burgen, ihre Oberschenkel waren so breit wie ein Haus und die Arme so kräftig wie Baumstämme. »Geh nur hindurch, geh nur hindurch«, riefen sie spöttisch, und ihre Stimmen dröhnten und donnerten dabei. »Nur zu gern sehen wir zu, wie du gejagt und getötet wirst, Strahlende.« »Ich danke euch«, sagte Liath; sie sah keinen Grund, zu bleiben und mit Kreaturen zu streiten, die aussahen, als wären sie jederzeit bereit, sie wie eine Mücke zu zerquetschen. Sie trat durch den Bogen, begleitet von ihren tiefen, dröhnenden Stimmen. »Geh, wie es dir gefällt, Kind des Feuers. Doch wirst du auf deinem Weg etwas von dir verlieren.« Stolpernd betrat sie Jedus wütende Höhle. 83 2 Bei Morgenanbruch befahl Bulkezu der Vorhut, über die Mauern von Echstatt zu schwärmen. Vielleicht fanden die unglückseligen Männer, Frauen und Kinder Gnade in der Kammer des Lichts, denn bei Bulkezu hatten sie ganz sicher keine Barmherzigkeit gefunden. Er benutzte seine Gefangenen auf kluge Weise, sofern man
Skrupellosigkeit klug nennen konnte. Indem er zuerst die Unbewaffneten gegen die Mauern trieb, stellte er sicher, dass die Verteidiger von Echstatt einen Großteil ihrer kostbaren Vorräte an Pfeilen, Wurfgeschossen und heißem Pech an jene verschwendeten, die ihnen wiederum nicht das Geringste tun konnten. Hanna bekämpfte mit aller Macht den Drang, zu weinen, während Bulkezu sie beobachtete. Er genoss es, sie zu beobachten. Und er genoss es, sie dazu zu zwingen, sich jeden einzelnen Angriff anzusehen, seit sein Heer sich immer tiefer ins Herz von Wendar bohrte. Ihre Verfolger hatten sie längst abgehängt. Jetzt versuchte Bulkezu, Hanna zu besiegen, ihre Mauern zu durchbrechen. Aber sie blieb hart. Gegen Mittag durchbrachen die Qumaner die Stadttore und steckten die Gebäude in Brand. Rauch und Flammen stiegen von den Häusern empor, von den Hallen und Hütten, und die dünne Schneedecke auf den Dächern begann rasch zu schmelzen. Hanna saß auf einem zotteligen qumanischen Pferd; sie wartete umgeben von Bulkezus Befehlsstab auf einem Hügel, von dem aus man eine gute Sicht auf die wohlhabende Stadt hatte. Verbittert sah sie zu, wie Bulkezus Truppen die Stadtbewohner besiegten. Verzweiflung durchdrang sie, legte sich wie Asche auf ihre Zunge, als die geflügelten Reiter mit ihrem üblichen Gemetzel begannen. Jenen, die ihre Ringe nicht schnell genug herausgeben wollten, wurden die Finger abgeschnitten, erwachsene Männer wurden auf die Straßen gezerrt und umgebracht, sobald sie Anstalten machten, sich zu wehren. 84 Die Feuersbrunst tobte, und Rauch wirbelte gen Himmel. Mehrere Reiter galoppierten aus der Kirche, die ebenfalls Feuer gefangen hatte. Flammen züngelten durch das Dach. Vier Männer hielten das bestickte Altartuch ausgebreitet vor sich; Gewänder, Goldgegenstände, Silberbecher und die blutverschmierte Stola der Diakonissin lagen auf einem Haufen in der Mitte. Kurz darauf zerbarst die Glasscheibe über dem Altar. In einer wohlhabenden Stadt wie Echstatt gab es außer Nahrungsmitteln, Vorräten und dem Kirchenschatz auch sonst viel zu erbeuten. Bulkezus Ziele und Absichten blieben Hanna jedoch ein Rätsel, denn er interessierte sich erstaunlich wenig für das Plündern. Allerdings erfreute es seine Truppen, sich immer wieder mit Trinkhörnern und Sklaven zu versorgen. Und dann, als die Qumaner die überlebenden Stadtbewohner vor die Tore und auf ihre zerstörten Felder trieben, begann der schlimmste Teil. Bulkezu machte eine Geste, und der Befehlsstab setzte sich in Bewegung. Hanna, die zwischen seinen Kriegern gefangen war, blieb gar nichts anderes übrig, als mit ihnen zu den Gefangenen zu reiten, die jetzt begutachtet werden sollten. Eine alte Frau humpelte, zog eine Blutspur hinter sich her. Ein junger Mann presste einen Säugling an seine Brust. Neben ihm stand seine hübsche Frau, deren Miene eine Mischung aus Entsetzen und hoffnungsloser Wut ausdrückte. Sie brachte mit ein paar Schlägen ein Kleinkind zum Schweigen, nur um gleich danach das verblüffte Kind fest an sich zu pressen, während ihr Tränen die Wange hinunterliefen. Kinder schluchzten. Ein Mädchen versuchte vergebens, ihren zerrissenen Ärmel zusammenzuhalten. Ein rundlicher Mann in der Kleidung eines Verwalters sank zu Boden und blieb hilflos stöhnend liegen, das Gesicht in der Erde vergraben. Der Rauch von den brennenden Häusern behinderte Hannas Sicht. Tränen brannten in ihren Augen. Die Stadtbewohner sahen jetzt, dass ein Adler bei den verhassten Qumanern ritt. Ein älterer Mann in einer vornehmen Tunika trat vor und hob 85 seinen Kaufmannsstab. »Ich bitte Euch, Adler«, rief er, »setzt Euch für uns ein -« Ein Qumaner schlug ihn zu Boden. Blut tropfte dem alten Mann von der Stirn, sickerte in die kleine Vertiefung, die der Krieger mit seinem Absatz auf der Erde hinterlassen hatte. Ein halbwüchsiger Junge mit einer Schnittwunde an der Wange schrie laut auf, und ein älteres Mädchen, das wohl seine Schwester war, hielt ihm mit der Hand den Mund zu. Eine schreckliche Stille trat ein. Die Stadtbewohner senkten den Blick und zogen die Schultern ein, als würden sie unsichtbar werden, wenn sie nicht hinsahen und sich kleiner machten. Bulkezu lachte. Der Helm dämpfte das Geräusch und warf es als unheimliches Echo zurück. Bulkezu machte eine Geste, und der Übersetzer trat vor, begierig darauf, etwas tun zu können. Er hatte zehn Tage zuvor einer Leiche eine neue Tunika gestohlen und erst vor kurzem aus den Ruinen einer abgebrannten Kirche eine Silberkette mitgenommen. Die schönen Dinge machten ihn eitel. Hanna hatte seinen Namen bisher nicht gekannt, aber jetzt, da er selbst ein halbes Dutzend Sklaven besaß, hatte er sich angewöhnt, sich »Edelmann Boso« zu nennen. Manchmal, wenn Bulkezu in wahrhaft großherziger Stimmung war, durfte Boso sich sogar eine Frau von den neuen Gefangenen nehmen - statt die, mit denen die Qumaner fertig waren. Bulkezu nahm seinen Helm ab. Boso übersetzte, was er sagte. »Seine Großzügigkeit spürt eine große Barmherzigkeit in seinem Herzen. Seid froh, dass ihr es nicht mit seinem Zorn zu tun bekommt. Da er heute guter Laune ist, wird er dem Adler gestatten, zehn von euch auszuwählen. Die Übrigen werden seine Gefangenen. Es wird ihr Glück sein, dass sie ihren qumanischen Herren dienen dürfen.« War das Barmherzigkeit? Hanna spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Die Stadtbewohner starrten sie an; sie schienen die Worte des Übersetzers nicht zu verstehen. Schon machten sich qumanische Krieger daran, zwischen den etwa dreihundert Gefangenen um86 herzugehen, und begannen zu prüfen, ob ihre Arme und Beine in Ordnung waren, oder die jungen Frauen in die Arme zu zwicken, um festzustellen, ob sie auch angenehm fett waren. Die wenigen Männer, die übrig geblieben und nicht beim ersten Angriff oder letzten verzweifelten Kampf getötet worden waren, rempelten sie an. Einige
von ihnen würden gute Sklaven abgeben; andere dagegen würden sich stets widersetzen. Bulkezu und seine Männer konnten den Unterschied erkennen. »Was wird mit denen geschehen, die ich auswähle?«, fragte Hanna. Bulkezu blieb vollkommen reglos, bis Boso ihre Worte übersetzt hatte. Die Antwort kam rasch und entschlossen. »Seine Reichlichkeit erklärt, dass sie zurückbleiben dürfen, ohne dass ihnen Schaden zugefügt wird. Der Adler soll wählen.« Der Ruf der kerayitischen Schamaninnen hatte sie bisher geschützt. Bulkezu hatte es unterlassen, Hand an sie zu legen, aber vielleicht versuchte er, ihre Achtung mit anderen Methoden zu gewinnen, mit Barmherzigkeit und Überredungskunst, sofern man Barmherzigkeit nennen konnte, was er tat. Sie betrachtete ihn argwöhnisch, aber er lächelte nur. Wie immer erweckte er den Anschein, als stünde er kurz davor, laut aufzulachen. Sie machte den Fehler, die Stadtbewohner noch einmal anzublicken. Sie waren erschöpft und verzweifelt, aber ein paar hatten Bosos Worte verstanden. So sehr sie sich auch bemühten, ihre Mienen ausdruckslos erscheinen zu lassen, sah Hanna doch Hoffnung in ihren Augen aufflackern - und Hass, weil sie die Möglichkeit erhalten hatte, über ihr Schicksal zu entscheiden. Das Mädchen mit dem zerrissenen Ärmel zischte leise. »Sklavin! Verräterin!« Sie hatte die Worte nicht zu Boso gesprochen. Die Stadtbewohner starrten Hanna an; sie glaubten zu wissen, was sie war, schließlich ritt sie mit den Qumanern. Das Geräusch fauchenden Feuers wehte von der Stadt heran, ein Echo der anklagenden Worte, die das Mädchen ausgestoßen hatte. Boso flüster87 te Bulkezu etwas zu, und der Prinz bellte einen Befehl. Das Mädchen wurde nach vorn gerissen und vor ihm auf die Knie geworfen. Sie begann zu schluchzen und zu weinen. Sie konnte kaum älter als dreizehn Jahre sein. Bulkezu zog sein Schwert. »Ich erwähle sie als eine der zehn«, sagte Hanna hastig. Dann wandte sie sich an die Stadtbewohner. »Ich bin auch eine Gefangene. Ich werde dazu gezwungen, mit ihnen zu reiten. Ich habe mir das nicht ausgesucht.« Doch die Leute glaubten ihr nicht. Aber sie hassten sie ohnehin, unabhängig davon, was sie glauben mochten. Immerhin besaß Hanna die Macht, über ihr Schicksal zu entscheiden, darüber zu entscheiden, wer frei sein und wer versklavt werden würde. Es war ein grausames Spiel, das mit ihnen gespielt wurde - das auch mit Hanna gespielt wurde. Aber die Hoffnung ist häufig grausam. Doch wenn sie niemanden erwählte, würden alle als Sklaven enden. Bulkezu lachte, als Hanna die Übrigen auswählte - das trotzige Mädchen, das junge Paar mit den beiden kleinen Kindern, einen Mann mit den kräftigen Armen eines Schmieds, eine Frau, die sie an ihre Mutter erinnerte, zusammen mit einem Mädchen, das sich an sie klammerte. Er lachte, weil zu dem Zeitpunkt, als nur noch zwei Personen auszuwählen waren, sämtliche Stadtbewohner darum baten und bettelten, zu ihnen zu gehören. Oder sie stießen ihre unschuldigen Kinder nach vorn, in der Hoffnung, wenigstens sie vor dem Joch der Qumaner bewahren zu können. Es waren so schrecklich viele. Der kalte Wind brannte auf Hannas Wangen, brachte ihre Augen zum Tränen. Die qumanischen Krieger schoben die verzweifelten Stadtbewohner zurück, weg von Hanna. Kinder weinten. Der Junge mit der Schnittwunde an der Wange zitterte, während seine Schwester ihn fest umklammerte, aber ihren Kehlen entrang sich kein einziger Schrei. Der Verwalter, der sich auf dem Boden krümmte und leise stöhnte, begann an der Erde zu scharren, als wollte er sich wie ein Maulwurf eingraben. 88 Ihm fehlten drei Finger. Die Vorderseite seiner Tunika war verdreckt und blutbeschmiert. »Es fehlen noch zwei«, schrie Edelmann Boso fröhlich. Die Angst der Stadtbewohner versetzte ihn regelrecht in Erregung. Sein Blick schweifte musternd über die Frauen, die noch übrig waren. In seiner Miene stand nackte Gier. Die Qumaner sahen mit ausdruckslosem Gesicht zu, abgesehen von Bulkezu, der die Szene wohl amüsant fand. Sie hasste ihn dafür, dass er lachte. Und sie hasste ihn umso mehr, weil sie wusste, dass es ihr leichter fallen würde, ihn zu hassen, wenn er hässlich wäre. Aber selbst dann, wenn er lachte, wenn er sich an ihrer Qual und der Verzweiflung seiner Gefangenen ergötzte und sein Gelächter zeigte, was für ein mitleidloses, kaltes Herz er hatte, war von diesem düsteren Zug nichts in seinem Gesicht zu sehen. Es stimmte also nicht, was die Kirchenleute predigten: dass das Äußere das Spiegelbild des Inneren war. Niemand durfte erfahren, dass sie tief in ihrem Innern weinte. Sie war ein Adler des Königs. Es war ihre Pflicht, zu bezeugen und so viel wie möglich zu bewahren. Sie wählte noch zwei Mädchen aus, die beide etwa im gleichen Alter waren wie das mit dem zerrissenen Ärmel. Sie waren alt genug, dass sie überleben konnten, wenn sie auf sich allein gestellt waren. Aber sie waren auch alt genug, dass sie von den Qumanern vergewaltigt und als Konkubinen gehalten werden würden, wenn sie bei ihnen blieben. Boso verfluchte sie, denn er hatte bereits ein Auge auf eine von ihnen geworfen. Bulkezu hörte endlich auf zu lachen. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er Hanna - nicht die zehn, die sie ausgewählt hatte und die jetzt in das brennende Echstatt zurückgetrieben wurden. Ein Hauptmann verkündete den Stand der Dinge. Ein Hornsignal erklang. Unter Weinen und Jammern wurden die übrigen Stadtbewohner von Echstatt zusammengetrieben, dem wartenden Heer entgegen.
Die Gefangenen stolperten vor sich hin. Ein Kleinkind fiel hinter den anderen zurück und blieb schluchzend auf der Erde liegen; 89 es wurde an Ort und Stelle getötet, als Mahnung für die Übrigen. Hanna, die mit dem Befehlsstab ritt, war schon bald ein gutes Stück von den Unglücklichen entfernt, aber ihre Schreie verfolgten sie noch lange. Ihr trauriges Schicksal vermischte sich schon bald mit dem grauenhaften Kummer, den das qumanische Heer umgab, das die Gefangenen wie Vieh und Ersatzpferde vor sich her trieb. Später am Nachmittag wiederholte sich die Szene, als die Vorhut ein Dorf erreichte. Soldaten trieben einen Teil der Gefangenen vorwärts, um sie die Wucht der ersten Attacke auffangen zu lassen. Als der erste Pfeilhagel auf sie niedergegangen war, griffen die qumanischen Truppen an, steckten die Palisade und die Häuser in Brand und umstellten die Gefangenen. Bulkezu forderte Hanna erneut auf, zehn von ihnen auszuwählen, um ihnen gegenüber Barmherzigkeit walten zu lassen. »Das tue ich nicht«, sagte sie. »Ihr spielt nur ein Spiel mit mir. Ihr schert Euch nicht im Geringsten um Barmherzigkeit.« Bulkezu lachte und sagte etwas. Boso übersetzte seine Worte. »Dann werde also ich die zehn auswählen, die für die Krähen zurückbleiben.« Dieses Mal wurde Hanna von einer Frau beschimpft und angespuckt; schlimmere Worte als »Sklavin« oder »Verräterin« erklangen. Die Frau musste für ihre Respektlosigkeit mit dem Leben büßen. Doch Hanna erklärte sich erneut bereit, zehn Personen auszuwählen, während die Dorfbewohner sich in stummer Hoffnungslosigkeit zusammenkauerten und sie anklagend anstarrten. »Barmherzigkeit ist Zeitverschwendung«, sagte Bulkezu, und Boso übersetzte. »Die Menschen verachten jene, die ihnen gegenüber barmherzig sind.« »Sie fühlen sich von mir verraten«, erwiderte Hanna. »Und vielleicht habe ich sie auch verraten.« Das Lager für den Befehlsstab wurde etwa eine Bogenschussweite entfernt vom zerstörten Dorf errichtet, und zwar an einer Stelle, an der der Wind aus einer Richtung wehte, die dem Tross 90 und, was besonders wichtig war, dem stinkenden Vieh und den Gefangenen - genau gegenüberlag. Doch Bulkezu liebte es, seinen Besitz anzusehen und zu überprüfen. Er liebte seinen Wohlstand, die Seidengewänder, die hübschen Trinkhörner, die wohlriechenden Frauen, die er so lange nicht schlecht behandelte, wie sie sich ihm nicht widersetzten. Doch das alles waren Dinge, die er jederzeit aufgeben konnte. Denn was er am meisten genoss - so weit Hanna das erkennen konnte -, war das Elend, das er verursachte und hinter sich zurückließ. Hanna musste ihn begleiten, als er, umgeben von den Nachtwachen, durch die Reihen seiner Soldaten ritt, immer wieder an einem Lagerfeuer anhielt und Zelte begutachtete. Schließlich erreichten sie die Gefangenen, einen wirren Haufen aus Menschen und gestohlenen Tieren - blökenden Schafen und meckernden Ziegen, in Käfigen flatternden, kreischenden Hühnern und Enten, allen möglichen Arten von Eseln und Pferden, mageren Maultieren und kräftigen Arbeitsponys - bis hin zu einem alten Schlachtross, auf dem vier kleine Kinder ritten. Selbst jetzt, da die Gefangenen aus Angst vor ihren neuen Herren vollkommen eingeschüchtert waren, verursachten sie noch so viel Lärm, dass sie Tote hätten aufwecken können. Hanna war nicht in der Lage, die Gefangenen zu zählen; in den vergangenen Tagen, seit das qumanische Heer immer weiter in die dichter bevölkerten Gebiete von Wendar eingedrungen war, hatte ihre Zahl noch weiter zugenommen. Es musste inzwischen doppelt so viele Gefangene wie Soldaten geben, schätzte Hanna. Der Winter war in den Frühling übergegangen, obwohl hier und da noch Schnee auf den Dächern lag oder an den Nordseiten der Bäume hing. Die Kälte und die Nässe machten das Reisen selbst für jene unangenehm, die unter einigermaßen guten Bedingungen reiten konnten. Für die Gefangenen jedoch, die zum größten Teil barfuss waren und von denen sich viele nicht einmal mit einem Mantel wärmen konnten, war der Frühling lebensgefährlich. Jeden Abend legten sich ein paar von ihnen nieder und standen am 91 nächsten Morgen nicht mehr auf. Kinder wimmerten leise, zu schwach zum Weinen. Ein Mann kratzte an den eitrigen Wunden, die seine Beine bedeckten. Eine Mutter drückte ihr abgemagertes Kind an ihre Brust, aber sie hatte keine Milch mehr. Hier und dort kauerten Leute beieinander, beschützten die kostbaren Vorräte an Nahrungsmitteln, die sie von Verwandten erhalten hatten, die auf die eine oder andere Weise unter den Schutz eines im qumanischen Heer dienenden Mannes gekommen waren - eine junge Frau, die seine Konkubine war, eine Mutter, die ihm das Fleisch und die Haferschleimsuppe kochte oder seine Sachen flickte, ein Junge, der seine Pferde versorgte oder seine Rüstung polierte. Während Hanna die Gefangenen betrachtete, kamen zwölf Soldaten herbeigeritten, um sie sich ebenfalls anzusehen. Die Wachen umstellten die Neuankömmlinge, die leicht zu erkennen waren, weil ihre erschreckten Blicke noch nicht ganz von Verzweiflung durchdrungen waren. Die Menschen wurden in Bulkezus Richtung getrieben, der die ganze Zeit zusah. Auf seinem Gesicht lag der typische, unangenehme Ausdruck, der mehr die Andeutung eines Lächelns als wirklich ein Lächeln war. An diesem Tag waren noch andere Dörfer überfallen worden. Hanna sah Leute, deren Gefangennahme sie nicht mit eigenen Augen verfolgt hatte - darunter eine hübsche junge Frau, die genau jene rundliche Figur besaß, die die qumanischen Männer so reizvoll fanden. Die Soldaten stießen sich gegenseitig an, um näher an sie heranzukommen, zwickten und pieksten sie, untersuchten
ihre Zähne und prüften die Qualität ihrer Haare. Schon bald brach die Frau hemmungslos in Tränen aus, voller Furcht, sich zu besudeln. Die Männer stießen sich gegenseitig aus dem Weg. Flüche erschollen hier und da, wurden immer wüster. Das Lächeln verschwand von Bulkezus Gesicht, als er sein Pferd weiterdrängte. Sofort hörte das Geschiebe auf, und die Männer zogen sich gehorsam zurück. Eine leichte Brise brachte seine Greifenschwingen zum Rauschen. Bulkezu regierte sein Heer mit eiserner Hand. Er gestattete es nicht, dass seine Truppen sich unter92 einander bekämpften. Edelmann Wichman und seine Anhänger hätten bei den Qumanern nicht einen einzigen Tag überlebt, so groß ihre Kühnheit und ihr Kampfesmut auch sein mochten. Bulkezu beugte sich aus dem Sattel und berührte die Haare der jungen Frau, ließ sie durch seine Finger gleiten, bevor er sie ein zweites Mal in die Hand nahm und ihr Gewicht und ihre Beschaffenheit prüfte. Die junge Frau war klug genug, mit dem Weinen aufzuhören, aber vielleicht war sie auch einfach nur viel zu erschreckt. Bulkezu beanspruchte die Frau für sich selbst. Er gab Befehle aus. Dann warteten alle mit jener schier unendlichen Geduld, die die Qumaner an den Tag legen konnten, während zwei der Nachtwachen zur Vorhut ritten. Bulkezu pfiff eine fröhliche Melodie vor sich hin, während er wartete; einige der Soldaten beschäftigten sich inzwischen mit anderen Frauen, zerrten sie von ihren Familien weg, während unter den neuen Gefangenen Schreie der Trauer und Angst erklangen. Die junge Frau stand starr und aufrecht da, nur ihr Blick schweifte umher, als wäre sie auf der Suche nach Hilfe oder Beistand es war schwer zu sagen. Hanna ließ ihr Pferd einen Schritt nach vorn machen, als die Nachtwachen mit Bulkezus fünf gegenwärtigen Konkubinen zurückkehrten und sie den Männern übergaben, die sich um die neue Frau gestritten hatten. Eine von ihnen - eine Blonde, die sich in einem Keller versteckt hatte, dort aber gefunden worden war - warf sich vor Bulkezu auf den Boden, schrie und bettelte, versuchte, seinen Stiefel zu packen und festzuhalten. Bulkezu lachte nur, trat ihr ins Gesicht und bedeutete einem Soldaten, sie wegzubringen. Hanna nutzte den Schutz, den die leichte Unruhe ihr gewährte, und näherte sich der Frau. Sie beugte sich kurz vornüber, als diese an ihr vorbeiging, und sprach rasch und leise zu ihr, in der Hoffnung, dass das Mädchen genug Verstand besaß, um zuzuhören. »Kein Schmeicheln. Kein Jammern. Keine Angst zeigen. Vor allem keine Tränen.« Dann war sie an ihr vorbei. Hanna traute sich nicht, sich umzu93 drehen und nachzusehen, wie die Frau reagierte. Die Blonde weinte noch immer, als einer der Soldaten - es war der, der den Kampf um die neue Frau begonnen hatte - sie wegzog. Die alten Gefangenen sahen einfach nur zu; sie waren zu krank und zu schwach - oder auch zu hoffnungslos und verzweifelt -, um zu reagieren. Ein paar wagemutige Kinder, die aufgrund der Umstände eine gewisse Schlauheit entwickelt hatten, drängten sich zu den Familien, die weggeschafft wurden. Sie wussten, wo es am ehesten etwas zu essen gab: bei jenen nämlich, die ihren Herren gefielen. Schließlich behandelten die Qumaner ihre bevorzugten Sklaven nicht schlechter, als die Gefangenen sich gegenseitig behandelten. »Männer, die um Frauen kämpfen, sind schwach«, erklärte Bulkezu plötzlich auf Wendisch, während er neben Hanna ritt. Sie waren jetzt weit genug von den Gefangenen entfernt, sodass niemand sie hören konnte. »Wieso nehmt Ihr so viele Gefangene, wenn ihnen nichts als das Leiden bleibt? Es bringt Euch doch gar nichts. Wofür braucht Ihr sie?« »Ich will sie haben, damit Wendar leidet.« »Was bringt Euch all die Zerstörung, all das Brandschatzen? Wie kann es Euch helfen, Euch reicher machen, wenn Ihr Wendar in Schutt und Asche legt? Hofft Ihr, dort herrschen zu können? Dann hättet Ihr besser versuchen sollen, eine Tochter des Königs zu heiraten.« Er spuckte aus. »Welcher Mann aus meinem Volk würde schon die Brut eines Barbaren heiraten wollen? Ich werde die Tochter des Königs zu meiner Bettsklavin machen, wenn ich will.« »Die Töchter des Königs besitzen eigene Heere. Sie sind nicht so einfach zu rauben wie diese armen Dorfbewohner und Städter, die sich nicht verteidigen können. Was für eine Ehre liegt darin, wenn ein großer Krieger solche Leute besiegt?« Sie deutete auf die Gefangenen. Seine Schwingen seufzten leise, als der Wind durch sie hin94 durchstrich. Einen Moment lang dachte sie, er hätte ihr nicht zugehört oder sie nicht verstanden. Seine Nachtwachen, die schweigend auf ihren Pferden saßen, warteten geduldig. In gewisser Weise war es, als wäre sie mit Bulkezu allein, weit weg von dem Heer, von den unglückseligen Gefangenen, seiner Leibgarde, von allen getrennt durch den gleichen unnatürlichen Nebel, der sie vor den Geistern beschützt hatte. Sie blickte sich um, erwartete halb, seinen Schamanen zu sehen. Doch alles, was sie sah, waren Soldaten, ihre Feuerstellen und Zelte und die riesige Menge an Gefangenen und Vieh, die sich ihren Weg bahnten, auf der Suche nach einem Platz, an dem sie sich zum Schlafen niederlassen konnten. Felder erstreckten sich zu beiden Seiten, und zarte Winterweizensprösslinge waren in den Matsch getreten worden. Etwas weiter entfernt waren Bäume und Büsche zu sehen; die Dorfbewohner hatten den Wald zurückgedrängt, weil sie Holz zum Bauen und
Feuermachen benötigt hatten. Die schwelende Glut der Brände und die letzten Flammen verliehen dem zerstörten und inzwischen verlassenen Dorf einen hellen Schimmer. Die zehn Glücklichen, denen sie die Freiheit geschenkt hatte, waren verschwunden; sie hatten vermutlich nicht ausprobieren wollen, ob die qumanische Barmherzigkeit auch am nächsten Morgen noch anhalten würde. »In meinem eigenen Land hasst man mich«, sagte Bulkezu schließlich leise. »Die Ältesten vom Clan der Pechanek sind schwach und feige geworden. Die Shatai haben uns von unseren Weiden verjagt, und das südliche Tarbagai ist uns wegen der Un-grianer verschlossen - wegen dieser Bastarde, deren Eier verrotten sollen. Jetzt ist der Sohn meiner Schwester der Bevorzugte der alten Begh. Dieser Hundesohn, der auch noch hübscher ist als ich.« Hanna betrachtete ihn, sah die weichen Wangen und die lebhaften, mandelförmigen Augen, die breiten Schultern unter der Rüstung, das hochgereckte Kinn, das die Aufmerksamkeit auf sein schönes Profil zog. Er hielt den Helm unter den Arm geklemmt, eine Geste, die auf beinahe unheimliche Weise an Prinz Sanglant 95 erinnerte und seine glänzenden schwarzen Haare enthüllte. »Wie ist das möglich?«, fragte sie, die ihn in den letzten Wochen ein bisschen besser kennen gelernt hatte. »Kann es wirklich jemanden geben, der hübscher ist, als Ihr es seid?« »Einen«, erwiderte er. »Ich habe ihn in einem Traum gesehen. Er hatte goldene Haare, die so aussahen, als wären sie aus Sonnenlicht gesponnen.« Er grinste, und es schien Hanna, als stünde er kurz davor, laut aufzulachen. »Frauen lieben hübsche Männer. Nun ja, sogar verheiratete Frauen haben ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um unter meine Felle zu kriechen. Wieso bist du so hartherzig? Ich würde dich zu meiner Hauptfrau machen.« »Ich dachte, qumanische Männer verheiraten sich nicht außerhalb ihrer eigenen Stämme.« »Jeder Mann, der das Glück einer kerayitischen Schamanin nicht heiraten würde, wenn sie sich ihm anbietet, wäre ein Narr.« »Die hier hat sich Euch nicht angeboten.« Er lachte. »Ja, du bleibst meinem Bett besser fern. Ich achte dich, aber das würde ich nicht mehr tun, wenn ich erst einmal deinen Körper erobert hätte.« »Was wollt Ihr?«, fragte sie, mittlerweile von seinen Spielchen gereizt. »Ich will siegen.« »Gegen wen?« »Gegen alle, die sich mir in den Weg stellen.« Ein Stück weiter weg erklang leise eine Trommel, erhielt Antwort von einer zweiten. Bulkezu neigte den Kopf leicht zur Seite und lauschte der Nachricht, die da übermittelt wurde. Er pfiff und zog sein Pferd herum; sofort taten die Nachtwachen es ihm gleich. Hanna hatte keine andere Wahl, als ihnen zu folgen; sie konnte ihrem Netz nicht entkommen. Die Dämmerung tauchte die Gefangenen in graues Licht, sodass die Farben immer dunkler erschienen, doch sie vermochte nicht den Geruch der Verzweiflung, den Gestank nach Durchfall und Krankheiten zu überdecken. Ein Kind schrie, hörte gar nicht mehr auf. Hanna verspürte schlagartig 96 Hunger, als der Wind den Geruch von gebratenem Fleisch herbeitrug. Der Duft drehte ihr jedoch schon bald den Magen um, als sie an den Gefangenen entlangritten, von denen die meisten weder an diesem Abend etwas essen würden noch am vorangegangenen oder dem davor etwas gegessen hatten. Hanna wusste, dass an diesem Abend, genau wie in den anderen Nächten zuvor, mindestens ein Kind den Hungertod erleiden würde, während sie mit den anderen speiste. Niemals zuvor hatte sie das Gewicht der Adlerbürde so schwer auf sich lasten gespürt wie in diesen letzten Monaten seit ihrer Gefangennahme. Doch sie musste alles bezeugen und sich einprägen, damit sie es zu gegebener Zeit dem König berichten konnte. Manchmal war das das Einzige, was sie aufrecht hielt: ihre tiefe Entschlossenheit, dem König alles zu berichten. Bulkezu ritt dem letzten Trupp entgegen, der gerade von einem Plünderungszug zurückkehrte. Sicher, es gab einige Dinge, die sie dem König nicht so leicht berichten konnte. Prinz Ekkehard und seine Kameraden hatten es sich angewöhnt, vornehme qumanische Rüstungen anzulegen, die aus den Rüstungen toter Männer zusammengeflickt worden waren - Fellkappen und gestohlene wendische Umhänge mit kostbaren Pelzbesätzen, weiche Lederhandschuhe, bemalte Schilde und alles andere, bis auf die Schwingen, denn die hatten sie sich nicht verdient. Und bis auf die Schrumpfköpfe, für die Ekkehard nicht den richtigen Magen besaß. Sie hatten Beute mitgebracht - und Neuigkeiten. Edelmann Boso wurde von der Vorhut herbeigerufen, um zu übersetzen, während Edelmann Weif Bericht erstattete. »Da keine Soldaten auf Hedos Festung waren, konnten wir sie problemlos einnehmen. Die Bediensteten sagten, sein Sohn wäre im letzten Herbst mit fünfzig Männern nach Westen gezogen, um in Saony zu kämpfen.« »Wer kämpft denn in Saony?«, fragte Hanna. »Die Kinder von Herzogin Rotrudis.« Mit der für Edelleute so 97 typischen Arroganz, den fleischigen Händen und der Narbe auf der Lippe kam Weif ihr wie ein offensichtlicher Idiot vor, besonders, weil er es kaum über sich brachte, ihr zu antworten - und das nur, weil sie eine
Gewöhnliche war. Er sprach bloß deshalb mit ihr, weil Bulkezu die Angewohnheit hatte, Leute auszupeitschen oder - was einmal vorgekommen war - zu kastrieren, die Hanna respektlos behandelten: etwa indem sie das Wasser, das sie zum Baden brauchte, nicht erwärmt hatten, ihr nicht schnell genug aus dem Weg gingen, wenn sie durch das Lager schritt, oder es wagten, ihr, die das Glück einer kerayitischen Schamanin war, in die Augen zu blicken. Die auf der Festung ergatterte Beute war reichlich: Goldgefäße, silberne Trinkbecher, Elfenbeinlöffel, zwei Wandteppiche. »Seine Prunkhaft bittet Euch, zu behalten, was Ihr Euch verdient habt«, übersetzte Boso die Worte Bulkezus. »Denn seid Ihr nicht Brüder? Seid Ihr nicht ehrenhaft, wie es edle Leute zu sein pflegen?« Es war Hanna ein Rätsel, wie Bulkezu es schaffte, so ausdruckslos dreinzublicken, besonders in Anbetracht der Beleidigungen, die Boso da aussprach. Es war eine seiner Scharaden, eines jener Spiele, die er unaufhörlich mit seinen Gefangenen spielte. Schließlich war auch Ekkehard, obwohl er mit dem Heer ritt und kämpfte, im Grunde nichts weiter als eine auf Hochglanz polierte Geisel, um die viel Aufhebens gemacht und die an der langen Leine gehalten wurde. Ekkehard besaß Frauen, Seidengewänder, Fleisch und Wein, und er hatte seine eigene Ehrenwache, die er ganz offensichtlich nicht als das erkannte, was sie wirklich war: seine Gefängniswärter. Wenn er sich erst durch die Teilnahme an Bulkezus Plünderungszügen genügend beschmutzt hatte, würde es zu spät für ihn sein, zur Halle und in den Machtbereich seines Vaters zurückzukehren. Zweifellos baute Bulkezu genau darauf. Er scherte sich nicht im Geringsten um Ekkehard. Er hatte einfach nur eine besonders witzige Weise gefunden, wie er ihn ruinieren konnte. 98 »Ich bin überrascht, mein Prinz«, sagte Hanna, »dass Ihr gegen die Leute vorgeht, die den Machtbereich Eures Vaters verteidigen. Ist das nicht Verrat?« Prinz Ekkehard machte sich nicht die Mühe, ihr zu antworten, aber Edelmann Benedict schluckte den Köder. »Edelmann Hedo hat es damals unterlassen, König Henry zu Hilfe zu kommen, als dessen Schwester, Edelfrau Sabella, sich gegen ihn erhoben hatte. Das hier ist die gerechte Strafe. Wir sorgen nur dafür, dass er für seinen Ungehorsam bestraft wird.« »Einem Feind dabei zu helfen, das Land Eures Vaters zu zerstören und dessen Menschen zu vernichten, scheint mir kaum die Tat von loyalen Untergebenen zu sein.« »Ihr werdet diese Worte noch bedauern«, erklärte Edelmann Weif hitzig. »Wenn kein Prinz mehr da ist, der Euch beschützen könnte.« Er nickte in Richtung Bulkezu. »Nein, ich brauche keinen Prinz zu meinem Schutz.« Sie hob ihre rechte Hand und zeigte ihren Smaragdring. »Ich bin ein Adler des Königs.« Ekkehard errötete, und seine Begleiter tuschelten leise miteinander und warfen Bulkezu Blicke zu. Sie versuchten, seine Stimmung abzuschätzen. Ekkehards Jungen mochten sie nicht. Sie mochte sie allerdings auch nicht; sie waren die wirklichen Verräter. Doch waren sie so anders als die meisten anderen Edlen, die ihre Kriege auf dem Rücken des gemeinen Volkes ausfochten? Bulkezu lachte, als Boso den Austausch zu Ende übersetzt hatte. Er lenkte sein Pferd neben Ekkehard und überschüttete ihn mit blumigen Komplimenten, die Boso in seiner sarkastischen Weise weiterreichte: wie gut er sich im Kampf machte, wie viele Frauen er als Sklavinnen bekommen hatte, wie schrecklich es war, dass seine Verwandten versucht hatten, ihn in ein Kloster zu sperren, wo doch sicherlich jeder Narr sehen konnte, dass er dazu geboren war, sich in Schlachten Ruhm zu erwerben. Ekkehard schmolz angesichts solcher Schmeicheleien dahin wie Butter in der Sonne. Er vergaß sogar Hanna, die sich hinter ihm befand und den Wespen99 stich des Wissens trug, denn sie erinnerte ihn immer wieder daran, dass er die Seiten gewechselt und sich Bulkezus Sache ergeben hatte. Ein Schrei erschütterte die schläfrige Dämmerung. Von einem Punkt in der Mitte der übermüdeten und lethargischen Gefangenen breitete sich hektische Bewegung aus, als würden Blätter von einem staubigen Wind aufgewirbelt. »Hexerei! Dämonen! Der Feind hat sich unter uns gemischt!« Panik brach aus, ähnlich einem Sturm. Die Gefangenen drängten und schoben sich wie wahnsinnig hin und her; sie hatten offensichtlich mehr Angst vor einer unsichtbaren Gefahr in ihren eigenen Reihen als vor den mürrischen Qumanern, die sie bewachten. Voller Entsetzen strömten einige von ihnen sogar über die unsichtbare Grenze und gelangten so in Reichweite der qumanischen Speere. Schon bald jedoch hatte sich das Tröpfeln der zunächst vereinzelten Gefangenen - ersten Regentropfen gleich, die einem heftigen Niederschlag vorausgingen in eine Flut hysterischer zerlumpter Menschen verwandelt, die verzweifelt darum kämpften, dem Schrecken in ihrer Mitte zu entkommen. Selbst die Pferde, die an Schlachtlärm gewohnt waren, scheuten bei der plötzlichen Unruhe. Ekkehards ohnehin unruhiger Wallach bäumte sich auf, keilte seitwärts gegen Bulkezus Pferd aus. Die Nachtwachen sahen ihren Anführer gefährdet und eilten augenblicklich zu ihm. Hanna erkannte ihre Chance. Sie trat dem Pferd kräftig in die Flanken und galoppierte auf die Bäume zu. Der Wald gab ihr nur spärlichen Schutz. Helle Baumstämme umgaben sie, und kahle Zweige und Äste raschelten im Wind. Sie hörte das hohe,
leichte Singen der Schwingen, das Trommeln von Hufen, als sie verfolgt wurde. Sie duckte sich, so tief es ging, drängte das Pferd in eine kleine Gruppe von Kiefern, überquerte einen flachen Fluss, der in drei Kanälen über den Waldboden strömte, und machte sich daran, einen riesigen Brombeerstrauch zu umrunden. Ihr Umhang verfing sich in den Dor100 nen, und sie riss ihn los, lenkte ihr Pferd um den Strauch herum. Als sie aufblickte, sah sie sich Bulkezu gegenüber. Selbst hier, wo der Wald und die sich herabsenkende Abenddämmerung nur wenig Licht offenbarten, konnte sie seinen Gesichtsausdruck erkennen. Er lachte. Aber er hatte seinen Bogen halb gespannt und einen Pfeil an die Sehne gelegt, und in Momenten wie diesem, da ein halb wahnsinniger Ausdruck auf seinem Gesicht lag und mehr als nur Lachen in seinen Augen erstrahlte, konnte sie nicht daran glauben, dass die Tatsache, dass sie Sorgatanis Glück war, sie wirklich vor Schaden bewahren würde. Sie atmete schwer, zügelte das Pferd, betrachtete ihn voller Abscheu und ergab sich in das Unvermeidliche. Er hob den Bogen, zielte und schoss in den Brombeerbusch, womit er zwei geflohene Gefangene aufscheuchte, die gehofft hatten, sich in dem dornigen Gestrüpp verstecken zu können. Es waren das Mädchen und ihr halbwüchsiger Bruder mit der Schnittwunde an der Wange, die aus Echstatt stammten. Der Junge schluchzte lautlos, versuchte, nicht in hysterische Panik zu verfallen, während seine Schwester ihn an den Schultern packte und einen trotzigen Blick zustande brachte. Bulkezu kicherte. Die Bewegung ließ den Schrumpfkopf an seinem Gürtel hin und her schwanken, und er prallte gegen seinen Oberschenkel. Er zog einen zweiten Pfeil aus dem Köcher und zielte auf den Jungen. »Lauf«, sagte er leise auf Wendisch. Sie rannten, flohen in den immer finsterer werdenden Wald. Das Kind stolperte. Mit einer lässigen Geste zielte Bulkezu auf den Rücken des Jungen. Hanna gab ihrem Pferd einen Tritt, trieb es gegen ihn, schrie auf, um seinen Schuss irgendwie zu behindern. Aber der Pfeil hatte sich bereits von der Sehne gelöst. Bulkezu pfiff. Das Mädchen schrie und klammerte sich an ihren Bruder, doch die Pfeilspitze grub sich in die Rinde einer schlanken Birke, weniger als eine Handbreit von dem taumelnden Jungen entfernt. Mit einem unterdrückten Schrei zerrte das Mädchen ihn tiefer in den Wald hinein. 101 Die Nachtwachen kamen herbeigeritten, doch ein knapper Befehl Bulkezus hielt sie davon ab, den fliehenden Kindern zu folgen. Tranen der Erleichterung liefen Hanna über das Gesicht, benetzten ihre Lippen. »Ihr habt nicht getroffen!« Er lachte, zeigte sein verfluchtes halbes Grinsen. Dann wurde er wieder ernst, nahm einen neuen Pfeil aus dem Köcher und drehte ihn zwischen den Fingern. Der Wind pfiff durch seine Schwingen; Hanna roch den schwachen Geruch von Verwesung, der vom Lager heranwehte. »Ich verfehle niemals ein Ziel.« Seine Miene veränderte sich. »Nur zweimal ist es passiert, und beide werden dafür büßen, wenn ich sie in die Finger kriege.« »Wer könnte Euch schon besiegen, Prinz Bulkezu?« Sie war zu wütend - auf sich selbst, auf das Schicksal, auf seine Arroganz -, als dass sie hätte ihre Zunge im Zaum halten und ihren Sarkasmus zügeln können. Obwohl sie wusste, dass es nicht sehr weise war. »Das eine Mal war es diese Ashioi-Hexe. Dann der redegewandte Priester.« »Ihr lasst Euch die ganze Zeit von Boso beleidigen. Ihr versteht jedes Wort, das er sagt.« »Boso ist ein Narr. Ein Hund würde einen würdigeren Edelmann abgeben. Es amüsiert mich, zu warten und ihn ein bisschen weitermachen zu lassen. Dieser Zach'rias dagegen war ein schlauer Mann. Er hat mit Worten gegen mich gekämpft. Ich hätte ihm seine Zunge abschneiden sollen statt seinen Schwanz. Ich habe ihn nicht gut genug verstanden, um zu begreifen, was ihn mehr verletzt hätte. Mein Pfeil hat also sein Ziel verfehlt.« Er bewegte sich im Sattel, hob die Hand und strich mit den Fingern über eine der Greifenfedern, die an seine hölzernen Flügel gebunden waren. Die Berührung brachte einen Blutstropfen auf seiner Haut hervor, doch der Wind wehte ihn davon. Ein dünner Schneeregen ergoss sich jetzt von einem Zweig, ein Schauer aus Weiß, der an Ort und Stelle schmolz, gleich da, wo er zu Boden gefallen war. »Aber indem sie versuchten, mich zu demütigen, haben sie mich 102 nur noch stärker gemacht. Jetzt bin ich von meinen Stämmen der einzige Mann, der zwei und nicht nur einen Greifen getötet hat.« Er lächelte nicht. Und er lachte auch nicht. »Ihr habt diese Schwingen nicht getragen, als Ihr gegen Prinz Bayan und Prinzessin Sapientia gekämpft habt.« Ein spitzbübisches Leuchten huschte über sein Gesicht, als dächte er an eine Missetat oder Grausamkeit, die er begangen hatte. »Ich wollte Bayan wissen lassen, dass ich ihn und seine edlen Verbündeten sogar ohne Schwingen besiegen kann.« Er lachte so lange, dass Hanna schon zu glauben begann, dass ihm etwas im Hals stecken geblieben war. Der Schrumpfkopf rollte an seinem Oberschenkel hin und her, starrte Hanna anklagend an. »Ich habe niemals zuvor eine Frau in einer Schlacht getötet«, fuhr er schließlich fort, »daher hielt ich es für das Beste, meinen alten Wächter gegen einen neuen auszutauschen.« Er lachte wieder ein bisschen, dann strich er über die Haare des Schrumpfkopfes und hob ihn hoch. »Kennst du sie?«
Galle stieg in Hannas Kehle hoch. Einen Augenblick lang glaubte sie, sich erbrechen zu müssen. Kein Wunder, dass der Kopf, so verzerrt, geschwärzt, runzlig und widerlich er jetzt auch war, ihr bekannt vorgekommen war. Sie wusste, wer in dieser Schlacht gestorben war. »Judith«, flüsterte sie. »Markgräfin von Olsatia und Austra.« Eine andere Nachtwache ritt herbei und erstattete Bericht. Bulkezu lauschte aufmerksam, und seine Augen zogen sich zusammen, während er sich konzentrierte. Er hatte den Kopf bereits wieder vergessen. Langsam änderte sich seine Miene. Das Einzige, was schlimmer war als sein Lächeln und sein Lachen, war sein Stirnrunzeln. Und genau jetzt runzelte er die Stirn, als die Nacht hereinbrach und eine warme Brise ihr den stinkenden Geruch vom Lager in die Nase trieb, sie zum Würgen brachte. Sie konnte es nicht über sich bringen, Bulkezu anzusehen, nicht, wo der Kopf von Markgräfin Judith an seinem Gürtel hing. Geschrei wurde laut, wie eine riesige Woge, die sich in der Dunkelheit auftürmte. 103 »Was geht da vor?«, fragte sie erschreckt. Es klang, als hätten die Qumaner sich gegen ihre hilflosen Gefangenen gewandt und begonnen, sie zu töten. »Was ist der Name für das, was in die Reihen der Gefangenen gekrochen ist, dieses Ding, das wir austreiben müssen, damit es meine Truppen nicht ansteckt?« Er dachte laut nach, geistesabwesend die Pfeilspitze betastend, während er den Kopf zur Seite neigte und dem Kampflärm in der Ferne lauschte. Schnee bedeckte seine schwarzen Haare, als ein letzter Schauer von der Kiefer herabregnete, unter der er sich befand. »Zuerst schlüpfen die Dämonen unsichtbar in den Körper. Dann wird der Körper grau und beginnt zu zittern. Schließlich brechen die giftigen Körperflüssigkeiten aus dem Mund heraus, aus Nase und Ohren und dem Arschloch. All der Rotz, das Blut, die Scheiße und der Speichel brechen hervor. Zach'rias hat mir den Namen dafür gesagt.« Sie wusste es bereits. Der kalte Wurm der Angst wand sich in ihrem Innern, betäubte sie. Sie hatte gedacht, nichts könnte Furcht einflößender sein als die Qumaner - außer den Verlorenen. Aber sie hatte sich geirrt. Er nickte, erinnerte sich an das Wort. »Die Pest.« Im Lager ging das Sterben weiter. 3 Als sie das Alfar-Gebirge verließen, fanden sie sich in einem so wunderschönen Sommer wieder, dass es Rosvita schien, als würde sich die Sonne selbst über die Landschaft ergießen. Im Norden war das Licht nie so kräftig und ausdrucksvoll. Gegen Mittag hielten sie an, um die Pferde und Ochsen zu tränken. Fortunatus zog seine Stiefel aus und tauchte seine Zehen in das kühle Bergwasser, das sich über die Felsen ergoss. 104 »Ah!«, rief er fröhlich", dabei mit den Zehen im Wasser wackelnd. »Ich hatte ganz vergessen, wie angenehm es ist, zur Abwechslung mal warme und trockene Füße zu haben. Nach dem langen und anstrengenden Winter habe ich kaum noch geglaubt, dass ich mich jemals wieder wohlfühlen würde.« Erleichtert stieg Rosvita von ihrem Maultier und suchte sich einen Felsen mit abgeflachter Spitze, auf dem sie sitzen konnte. Von dieser Stelle aus - die in der Tat nicht viel härter war als ihr Sattel - hatte sie einen guten Blick auf den Fluss, an dem die Geistlichen der Königlichen Schule ihre Gesichter wuschen, etwas tranken und sich reckten und streckten. Obwohl der König es vorzog, sie die ganze Zeit in seiner Nähe zu haben, hatte er ihr die Erlaubnis erteilt, mit der Schule zu reisen, um besser auf ihre kostbaren Bücher und die jungen Geistlichen Acht geben zu können. Bedienstete brachten Weichkäse von den Wagen herbei. Rosvita knabberte an der Köstlichkeit und sah währenddessen zu, wie die Tiere in kleinen Gruppen ein Stück stromabwärts zum Wasser geführt wurden; ein umgestürzter Baumstamm staute dort den Bach, sodass eine Stelle entstand, an der man sie leicht tränken konnte. Ein Falke schwebte hoch über ihnen am Himmel, drehte seine Kreise im Aufwind der Luftströmungen, die von den hohen Gipfeln herbeiwehten. Von den Gipfeln selbst war nichts mehr zu sehen, sie waren jetzt von Wald und Gebirgsausläufern verdeckt. Ein Specht hämmerte in der Nähe, und sie konnte seine weißen Federn immer wieder zwischen den Kiefernzweigen aufblitzen sehen. »Die Monate sind nicht wirklich nutzlos vorübergezogen, Bruder. Schließlich bin ich dadurch in der Lage gewesen, meine Geschichte des wendischen Volkes ein großes Stück voranzutreiben.« Er lächelte traurig, ohne den Blick von den Wirbeln und Wellen abzuwenden, die das Wasser um seine Füße bildete. »Das ist wahr, Schwester. Ich wünschte nur, Schwester Amabilia wäre hier, um Eure Worte in einer schöneren Handschrift abzuschreiben, als ich es vermag.« 105 »Ja«, bestätigte Rosvita, »ich wünschte auch, sie wäre noch bei uns. Ich vermisse sie.« Fortunatus seufzte. Er hatte niemals die kräftige Gesundheit wiedererlangt, die ihn immer so rundlich und lustig hatte erscheinen lassen; die Anstrengungen der dreimaligen Überquerung des Alfar-Gebirges in den letzten zwei Jahren hatten ihn gezeichnet. »Werden wir wohl jemals erfahren, was aus ihr geworden ist?«, fragte er wehmütig und versonnen. »Nur, wenn wir Träumen Glauben schenken können. Ich fürchte allerdings, dass sie genauso häufig lügen, wie sie die Wahrheit sagen.«
Nachdem Rosvita ihre Mahlzeit aus Käse und Brot beendet hatte, rief sie ihre Dienerin Aurea zu sich und bat sie, ihr den Reisesack von ihrem Lastesel zu holen. Aurea brachte ihr den Reisesack und den Reisetisch, der sich auf praktische Weise ausbreiten ließ und so eine feste Unterlage für die Geschichte bildete. Rosvita schlug die Seite mit ihrer letzten Eintragung auf, die sie drei Wochen zuvor an ihrem letzten Tag im Palast von Zur gemacht hatte - einem Herrschaftshaus, das ursprünglich in der Zeit der Dariyanischen Kaiserinnen errichtet worden war und jetzt eine Wegestation bildete, an der königliche Reisende ihre Reise für einen Tag oder auch eine Woche unterbrechen konnten. Einige behaupteten, dass an diesem Tag zweihunderttausend Rederii-Barbaren getötet wurden, die entweder dem Schwert zum Opfer fielen oder in der Marsch ertranken, als sie versuchten, sich zurückzuziehen. Danach führte der junge Markgraf Villam sein Heer gegen die oben erwähnte Stadt, doch die Stadtbewohner fürchteten sich jetzt davor, sich ihm zu widersetzen, und so legten sie die Waffen nieder und baten um sicheres Geleit. Auf diese Weise gelangten die Stadt und all ihr Reichtum und das Eigentum der Haushalte in den Besitz von König Arnulf dem jüngeren. Als der Markgraf mit seinen Kameraden nach Saony zurückkehrte, erwies König Arnulf ihnen seine Dankbarkeit und pries 106 ihren Sieg. Zu dieser Zeit kehrte der Lieblingsadler des Königs mit der Neuigkeit aus Arethusa zurück, dass der König erlangt hatte, was er am meisten ersehnte: Eine arethusanische Prinzessin würde sich mit seinem Sohn Henry vermählen, einem vorzüglichen jungen Mann von höchsten Fähigkeiten. Als die ruhmreiche Sophia mit ihrem glanzvollen Gefolge eintraf, wurde die königliche Hochzeit in aller Größe und Fröhlichkeit gefeiert. Henry und Sophia wurden folgende Kinder geboren: eine Tochter namens Sapientia, eine Frau von höchsten Verdiensten, die allen Menschen gleiche Wertschätzung entgegenbrachte und Bayan, den Prinzen von Ungria, heiratete, sowie eine Tochter namens Theophanu, die in allen Angelegenheiten klug handelte und von scharfem Verstand war, sowie einen Sohn namens Ekkehard, der als Abt von St. Perpetua in Gent eingesetzt wurde. Hier hatte sie aufgehört. Die Härten der Gebirgsüberquerung waren selbst bei dem schönem Wetter, das Gott ihnen schließlich nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen gewährt hatte, zu spüren gewesen, und so hatte sie während der Weiterreise bisher nichts mehr hinzufügen können. Aber immerhin hatte sie die unangenehmen Tage des langen Winters und sich hinziehenden Frühlings genutzt; da sie immer etwa zehn Tage an einem Stück in den verschiedenen Gütern und Palästen geblieben waren, hatte sie genügend Zeit zum Arbeiten gehabt. Was ihnen in Aosta bevorstand, wusste sie nicht genau, aber sie bezweifelte, dass der Krieg ihr viele friedliche Pausen gewähren würde, in denen sie die Möglichkeit hatte, ohne Unterbrechungen weiterzuarbeiten. In solchen Zeiten erinnerte sie sich daran, dass so viele ihrer geistlichen Schwestern - Frauen, die sich den Büchern hingegeben hatten - es vorzogen, in einem Kloster zu bleiben, statt als Teil des Gefolges ihrer edlen Verwandten durch die Lande zu ziehen. »Schwester Rosvita!« Sie blickte auf und sah am Wegesrand den Lieblingsadler von König Henry stehen. 107 »Wenn ich Euch bitten dürfte, Schwester Rosvita. Bruder Eudes ist wieder krank geworden, und der König erbittet Eure Anwesenheit.« Fortunatus kam barfuss herbei und nahm die ungebundenen Blätter vorsichtig vom Reisetisch, sodass Aurea ihn wieder zusammenklappen konnte. »Ich kümmere mich um die Aufzeichnungen, Schwester«, sagte er. Jemand brachte ihr das Maultier, und Rosvita stieg mit einer Grimasse wieder auf. Ihre Knochen ächzten und knarrten in letzter Zeit unaufhörlich. Begleitet von Hathui ritt sie an den Reihen entlang, passierte kleine Gruppen beieinander stehender Soldaten - Fußsoldaten und abgestiegene Berittene - sowie kleine Baumgruppen. Die Straße führte ein steiles Tal hinab und war von Felsen gesäumt, über die der Bach in sanften Kaskaden in die Tiefe stürzte. Kurzlebige Regenbögen schimmerten in den aufstiebenden Wassertröpfchen. Vorsichtig folgten sie dem Pfad, bis sie eine Stelle erreichten, wo sich das Tal verbreiterte. Hier hatte die königliche Gruppe Halt gemacht, um die Annehmlichkeit einer Wiese für die mittägliche Rast zu nutzen. Der König und die Königin warteten zufrieden, während die Bediensteten die Pferde tränkten und ihren Herrschern Bier, Käse und Brot brachten, ebenso grüne Salate aus Pflanzen und Kräutern, die an den Hügeln wuchsen. Adelheid saß auf einer Decke; ihr hochschwangerer Bauch war so dick, dass sie es wohl bequemer fand, auf dem Boden statt auf dem Thron zu sitzen. Henry ging ein Stück entfernt von ihr seinen Geschäften nach; er besprach sich mit seinen Hauptleuten, den Verwaltern und Gefährten. Er schlichtete Streitigkeiten, die im Tross aufgekommen waren. Gelegentlich trug er zwei Streithälsen auf, sich zu Adelheid zu begeben, und gewöhnlich beeilten sie sich, dem Befehl nachzukommen und vor ihr niederzuknien. Ein Verwalter eilte Rosvita entgegen, nahm ihr den Reisetisch ab und stellte ihn neben Henry auf. Sie nahm auf einem Stuhl Platz, machte die Feder 108 bereit und stellte die Tinte vor" sich hin, während Henry den Klagen eines Wagenführers lauschte, der wegen eines aus einer Bauernscheune geraubten Huhns mit einem Löwen in Streit geraten war. Der Streit hatte sich zu einer Messerstecherei entwickelt, in deren Verlauf beide Männer verwundet worden waren. »Aber was ist mit dem, was ihr der Hausherrin angetan habt?«, wollte der König wissen. »Immerhin war es ihr
Huhn, das ihr gestohlen habt. Habt ihr der Frau dafür eine Entschädigung gewährt?« »Nein, Eure Majestät. Es ist doch nur eine aostanische Frau gewesen. Keine von unserem Volk.« Über diesen Punkt waren die beiden Männer sich sehr einig. »Wenn sie also eine wendische Frau gewesen wäre, hättet ihr sie nicht so respektlos behandelt? Glaubt ihr, die Aostaner werden unsere Sache unterstützen, wenn wir sie so behandeln, als wären sie unsere Feinde? Sie dürfen nicht als unsere Feinde leiden, sondern es soll ihnen als unsere Untertanen Wohlergehen. Ihr werdet daher beide zu einer Wiedergutmachungsleistung ihr gegenüber verpflichtet. Ich werde einen Adler mit dem Bußgeld zu ihrem Dorf zurückschicken. Und was euch beide betrifft, so werdet ihr eine Woche lang Seite an Seite die Aborte ausheben, damit ihr lernt, zusammenzuarbeiten und euch zu vertragen.« Mit diesen Worten entließ er sie und winkte sodann einen Verwalter zu sich. »Hier ist Schwester Rosvita, Wito. Sie wird den Bericht jetzt aufnehmen.« Und Rosvita schrieb auf, was der Verwalter berichtete. Der königliche Tross hatte drei Wochen gebraucht, um die Berge zu überqueren, da sie pro Tag nicht mehr als fünf Wegstunden hatten zurücklegen können. Das Wetter war zum größten Teil gut gewesen, und sie hatten nur zwölf Pferde verloren, achtzehn Wagen und fünfundzwanzig Soldaten, siebzehn davon aufgrund eines Ausbruchs der Ruhr, die glücklicherweise auf die Nachhut beschränkt geblieben war. Als der Verwalter zum Ende gekommen war, traten Henrys 109 Hauptleute vor, um das weitere Vorgehen mit ihm zu besprechen. Rosvita sah indessen die sorgfältigen Einträge durch, die der unglückselige Bruder Eudes verfasst hatte. Eudes hatte in spärlichen Worten die Ereignisse der ersten misslungenen Gebirgsüberquerung im vergangenen Herbst niedergeschrieben, als das Wetter sie in den Norden zurückgetrieben hatte und sie einen unbarmherzigen Winter lang von einem Palast zum anderen gezogen waren, immer auf der Flucht vor Graupelschauern, Schnee, verdorbenen Futtervorräten und dem Mangel an Bier und Wein. Es war entweder zu kalt gewesen, um zu reisen, oder nicht so kalt, dass der allgegenwärtige Matsch hätte gefrieren können. So waren die Wege und Innenhöfe zu riesigen Schlammlöchern geworden. Das Heer hatte neunundsiebzig Pferde verloren und zweiundvierzig Stück Vieh aufgrund von Fußfäule, vierundneunzig Soldaten waren dem Lungenfieber oder der Ruhr zum Opfer gefallen, wobei die meisten beim ersten schrecklichen Ausbruch umgekommen waren. Bruder Eudes hatte diesen ersten Ausbruch selbst nur knapp überlebt und seitdem mehrere Rückfälle erlitten - den schlimmsten nach ihrem zweiten fehlgeschlagenen Versuch im Frühjahr. Henry schickte seine Hauptleute weg, und eine Zeit lang herrschte Frieden. Rosvita schloss die Augen und lauschte dem Gemurmel von Adelheids Gefährtinnen und dem Lachen von Henrys persönlichem Gefolge; die meisten waren zum Fluss hinuntergegangen, um sich Gesicht und Hände zu kühlen. Eine kurze Zeit war Rosvitas Gehör so scharf, dass sie Königin Adelheids Worte richtig verstehen konnte. »Doch ein Überfluss an Sonne verheißt nichts Gutes. Mir gefällt die goldgelbe Farbe des Grases nicht. Es hätte den Winter und Frühling über mehr Regen geben müssen. Ich sehe zu wenig Grün.« »Schwester Rosvita.« Henry sprach so leise, dass nur sie ihn verstehen konnte. »Was ist, wenn seine Frau wirklich die Urenkelin von Kaiser Taillefer ist? Sie könnte das Reich dann für sich beanspruchen.« Verblüfft ließ Rosvita die Feder sinken. Henry saß da, den Ellenbogen auf die Armlehne seines Throns gestützt, das Kinn auf der Hand. Er starrte in die Ferne - auf den Kiefernwald, vielleicht aber auch auf die Ängste und Zweifel in seinem Innern. Die Heirat mit Adelheid hatte die Spuren vieler Jahre aus seinem Gesicht gelöscht, aber sie bedeutete auch, dass er noch viel seltener allein war als in den Jahren als Witwer. Er hatte in letzter Zeit selten die Gelegenheit gehabt, ihr seine persönlichen Gedanken mitzuteilen. »Die junge Frau hat sich nicht gerade als jemand erwiesen, der zur Herrschaft geeignet wäre, Eure Majestät, und sie hat auch keinerlei Gefolge. Eine Königin ohne Gefolge kann wohl kaum eine Königin genannt werden.« »Doch meinen Adlern und anderen Boten zufolge ist Sanglant nach Osten geritten und versammelt ein Heer um sich.« »Die Qumaner sind im Osten. Glaubt Ihr etwa, er hat vor, sie zu Verbündeten zu machen?« Die Worte hatten gar nicht sarkastisch klingen sollen, doch Henry blickte sie scharf an, herausgerissen aus seiner Versunkenheit. »Nein, ich bezweifle sehr, dass überhaupt irgendein wendischer Edler Frieden mit den Qumanern schließen könnte. Ich nehme an, er will gegen sie kämpfen. Aber die Qumaner sind nicht die Einzigen im Osten, die über ein Heer verfügen. Es ist Monate her, seit wir etwas von Sapientia und Prinz Bayan gehört haben, und auch Markgräfin Judith hat weder eine Nachricht noch eine Botin an meinen Hof geschickt.« »Mit welcher Absicht würden sie wohl gegen Euch rebellieren wollen? Wie könnte Taillefers verlorene Urenkelin eine Gefahr für Euch sein ? Königin Radegundis hat sich keine Mühe gegeben, ihren Sohn auf irgendeinen Thron zu setzen. Sie übergab ihn dem Dienst an Gott, nicht den Versuchungen der Welt. Und auch sein Kind hat niemals irgendeinen Anspruch auf Taillefers kaiserlichen Thron erhoben, sofern es überhaupt die Kindheit überstanden hat.« »Aber Ihr glaubt, dass der Sohn von Taillefer und Radegundis ein Kind bekommen hat.« 111 »Ja, das glaube ich, Eure Majestät.« Er runzelte die Stirn und musterte wieder eingehend die Bäume. Rosvita begriff in diesem Augenblick den
Hauptunterschied zwischen Henry und Sanglant: Henry besaß die Gabe der Stille, während Sanglant niemals still sein konnte. »Das verheißt nichts Gutes«, sagte er leise. »Ich fürchte, dass Sanglant verhext worden ist.« »Das ist ein ernster Vorwurf, Eure Majestät, und noch dazu einer, den Prinz Sanglant bereits bestritten hat.« »Das muss er auch tun, wenn er unter einem Zauber steht. Wisst Ihr ganz sicher, dass er nicht verzaubert worden ist, weder von Blutherz noch von dieser Frau?« »Nein, Eure Majestät, Ihr müsst wissen, dass ich das nicht sicher sagen kann. Wir alle haben gesehen, dass Prinz Sanglant sich seit seiner Gefangenschaft in Cent sehr verändert hat. Es stimmt auch, dass diese Liathano irgendeine Macht über ihn hat, selbst wenn es nur die Macht der Lust ist.« »Dann haltet Ihr ihn also nicht für verhext?« Wie konnte sie ihm darauf antworten? Auch sie hatte die Daemonin das Kind säugen sehen. Sie zitterte, als sie sich an diesen schrecklichen Anblick erinnerte, und Henry lächelte leicht, obwohl sein Gesicht noch immer zu einer Grimasse verzogen war. Gerade, als er Anstalten machte, zu einer weiteren Bemerkung anzusetzen, eilte ein Verwalter herbei, gefolgt von einem Vorreiter. Der Mann war noch ganz staubig von der Straße. Er verbeugte sich erst vor Königin Adelheid und dann vor dem. König. Adelheid erhob sich mit Hilfe ihrer Bediensteten und trat neben Henry. »Ich komme von Lavinia, der Herrin von Novomo, und überbringe Euch ihre Grüße.« Der Mann sprach nur Aostanisch, doch Henry konnte diese Sprache einigermaßen verstehen, sofern sein Gegenüber sorgfältig und langsam sprach. »Sie wird Euch auf der Straße entgegenreiten und Euch die Ehre erweisen.« Henry erhob sich. Auf sein Zeichen hin begann das Heer mit 112 den mühevollen Vorbereitungen für den Aufbruch, wie ein riesiges Tier, das die Glieder unter den Körper schiebt, um sich erheben und davontaumeln zu können. Das Tal wurde jetzt zunehmend breiter, und schließlich erstreckte sich ein gerade verlaufender Geländestreifen vor ihnen, der so aussah, als wäre eine Riesin mit der Hand durch das bergige Land gefahren. Klippen verwandelten sich in Felskämme und Schluchten und vorspringende Felsnasen, überwuchert von größtenteils braunen, verdorrten Farnen und von trockenem Moos überzogen. Die weißen Blüten von Oleanderbüschen ergossen sich wie Wasserfälle über Felsspalten. Bauern hatten hier genug Platz gefunden, um Felder anzulegen und Obstbäume zu pflanzen, und die Landschaft verwandelte sich in ein buntes Muster aus Feldern, Ansammlungen von Hütten und prachtvollen Obstwiesen. Der Hauptmann der Vorhut stieß einen Warnruf aus, und sofort erklang ein Hornsignal. Ein Stück unterhalb von ihnen machte sich eine Gruppe auf, dem königlichen Tross entgegenzureiten. Fahnen flatterten golden und weiß in der steifen Brise, die von den Gebirgsausläufern heraufwehte; lediglich die hellen Banner und Fahnen im Heer des Königs konnten ihnen an Glanz und Anzahl das Wasser reichen. Adelheids persönliches Banner mit dem gekrönten, unter der königlichen Sonne von Aosta ruhenden Leoparden flatterte in der Mitte einer sechssternigen Konstellation von Wimpeln. Diese Wimpel trugen die Wappen der sechs Herzogtümer, die unter Henrys Herrschaft standen und somit sein Reich bildeten: den Hengst von Varingia, den Falken von Wayland, den Löwen von Avaria, den roten Adler von Fesse, den grünen Guivre von Arconia und den roten Drachen von Saony, jenem Herzogtum, von dem aus Henrys Großvater Arnulf der Ältere einst die Herrschaft über die Königreiche Wendar und Varre übernommen hatte. Hinter diesen Wimpeln waren die Banner jener edlen Gefährten zu sehen, die sich entweder aus eigenem Antrieb entschieden hatten, an diesem Unternehmen teilzunehmen, oder 113 dazu aufgefordert worden waren: Herzogin Liutgard von Fesse, Helmut Villam, Herzog Burchard von Avaria und eine Reihe anderer Edelleute. Das Heer reichte bis weit zurück in das Tal; das Ende des Trosses befand sich noch den Blicken entzogen hinter einer Biegung. Es war ein beeindruckender Anblick, wie es sich in Marschordnung die ganze Straße entlang erstreckte. Die Vorhut formierte sich zu einer Schutzmauer vor dem König, als Edelfrau Lavinia sich näherte und schließlich abstieg, um Henry und Adelheid zu Fuß entgegenzutreten. Sie sah aus, als wäre sie um zehn Jahre gealtert, seit Rosvita sie das letzte Mal gesehen hatte. Die Linie um ihren Mund war grimmig und schmal, und ihre Haare waren weiß geworden. Sie kniete sich in der Mitte der Straße auf den staubigen Boden und öffnete die Hände in der Art einer Bittstellerin. »Eure Majestät, ich bitte Euch, ich begebe mich mit all meinen Ländereien und ihren Bewohnern in Eure Hände. Meine Soldaten unterstehen Eurem Befehl. Ihr könnt von meinen Vorräten nehmen, was Ihr benötigt, doch sind wir von der Dürre schwer in Mitleidenschaft gezogen worden.« Henry schien schon zu einer Antwort ansetzen zu wollen, da machte Adelheid eine kleine Geste und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er nickte und überließ ihr das Wort. Vorsichtig stieg die junge Königin ab. Sie trat zu Lavinia und reichte ihr die Hand. »Ich bitte Euch, steht auf. Ihr dürft nicht vor mir im Staub knien. Wir sind gekommen, wie ich es versprochen habe.« Lavinia nahm ihre Hand, aber sie erhob sich nicht. Sie wirkte unfähig, mehr zu sagen, als wäre sie in irgendeinem Gefühl gefangen, das ihre Lippen verschloss. Nichts erinnerte mehr an die ruhige, entschiedene Frau, die Adelheid im letzten Frühjahr geholfen hatte. »Was bedrückt Euch, Lavinia?«, fragte Adelheid sanft.
»Ihr habt Euch sehr verändert.« Lavinias Stimme war heiser vor Wut. »Ihr wisst, dass Eisenkopf meine Tochter nach Darre gebracht hat, wo sie als Geisel für mein gutes Benehmen dient. Jetzt hat er sie gegen ihren Willen zu sei114 ner Konkubine gemacht. Sie ist erst dreizehn. Ich werde mich für diese Beleidigung meiner Familie rächen.« »Das sollt Ihr.« Es war immer wieder seltsam, Adelheids in solchen Augenblicken harte Stimme zu hören und gleichzeitig ihr liebliches, hübsches Gesicht zu sehen. Aber die junge Königin hatte eine harte Schule durchlaufen; sie hatte eine erzwungene Heirat überstanden, eine Belagerung, Eisenkopfs Verfolgung und eine Flucht, die nur mit Hilfe verbotener Magie möglich gewesen war. »Sie ist nicht die einzige Tochter von Edelleuten, die auf solch schändliche Weise festgehalten wird«, fuhr Lavinia fort. »Andere sind nach Novomo gekommen, als sie von Eurer bevorstehenden Ankunft erfahren haben. Wir bitten Euch darum, Euch unterstützen zu dürfen. Eisenkopf hat unseren Familien Unehre gebracht. Doch wir haben Schande auf uns geladen, indem wir uns nicht gegen ihn erhoben haben, als er Euch verfolgt hat, Eure Majestät. Ihr seht nun, dass wir die Strafe Gottes für unsere Sünden erhalten, denn in diesem Winter hat es nicht genügend Regen gegeben. Ich fürchte, es wird eine Hungersnot ausbrechen, wenn nicht bald Regen fällt.« Sie deutete auf die Obstwiesen und die Felder. Rosvita konnte sehen, dass der Winterweizen tatsächlich verkümmert war und gelblich aussah und dass sich die neuen Blätter der Birn- und Apfelbäume bereits kräuselten. »Ich habe König Henry von Wendar und Varre mitgebracht, wie ich es versprochen habe«, sagte Adelheid. »Wir haben geheiratet. Ich bin schwanger mit einem Kind, das das Blut von Wendar und Aosta in sich vereint.« Tränen rannen Lavinia über das Gesicht, als sie Adelheids Hand küsste. »Seid gesegnet, Eure Majestät.« »Kommt also, Lavinia. Erhebt Euch. Wir werden nicht auf den Knien nach Darre marschieren.« »Nein, das werden wir nicht.« Lavinia stand auf und trat vor, um Henrys Ring zu küssen und ihm ihre Unterstützung zu versichern, aber es war klar, dass ihr erster Blick Königin Adelheid galt. 115 »Wer erwartet uns in Novomo?«, fragte Henry, als Lavinias Pferd gebracht worden war und die Königin und die Edelfrau aufstiegen. Auf sein Zeichen hin setzte sich die Gruppe in gemächlichem Tempo wieder in Bewegung. Lavinias Gefolge teilte sich zu beiden Seiten der Straße, um sie hindurchzulassen, und eine Weile erstickten die Jubelrufe von Novomos Soldaten jeden Versuch, eine Unterhaltung zu beginnen. »Wer erwartet uns in Novomo?«, wiederholte Henry seine Frage, als Lavinias Gefolge sich hinter ihnen einreihte; es erhielt einen Ehrenplatz hinter Henrys Gefährten und seiner Kohorte von Löwen, aber noch vor den Geistlichen des Königs und der Schule sowie dem Rest seines Heeres. »Richildis, Marquise von Zuola. Gisla, Gräfin von Placentia, und Gisla, Herrin von Piata. Tedbald, Graf von Maroca, und seine Verwandte, die Rote Gisla. Herzog Lambert von Uscar, der alle Edlen seines Landes zusammenbringen kann, wenn er sie ruft.« »Das ist die Hälfte des Nordens«, sagte Adelheid. »Einige von ihnen haben sich geweigert, mir zu helfen, als mein erster Ehemann gestorben war. Wie kann ich ihnen jetzt trauen?« »Es stimmt, dass einige von ihnen Spione von Eisenkopf sein könnten, aber sie sind alle hergekommen, um ihre Unterstützung anzubieten. Sie mögen Eisenkopf genauso wenig wie ich. Die Dürre hat uns alle betroffen, und wir befürchten Schlimmeres, weil die Höchst Heilige Mutter dementia, die vor acht Jahren das Amt der Skopos übernommen hat, gestorben ist.« Rosvita schlug das Kreiszeichen vor der Brust und murmelte ein Gebet, um Gottes Gnade zu erflehen, wie es auch alle anderen taten, sogar - oder ganz besonders - der König. »Mögen Gott ihr Frieden gewähren«, sagte Adelheid. »Sie war meine Großtante.« »Ja, sie entstammte einer sehr edlen Familie«, pflichtete Lavinia ihr bei. Wieder überzog Wut ihr Gesicht. »Es gibt Gerüchte, dass Eisenkopf eine Verwandte als neue Skopos einsetzen will, obwohl sie nicht einmal eine Geistliche ist!« 116 Rosvita beugte sich über den Nacken ihres Maultiers nach vorn. »Gibt es irgendwelche Gerüchte von einem wendischen Frater, der sich unter Eisenkopfs Beratern aufhalten soll?« »Nein, Schwester Rosvita, aber es heißt, dass ein wendischer Presbyter großen Einfluss auf die kränkliche Skopos gehabt hat. Ich habe auch gehört, dass man sich heimlich erzählt, er hätte Magie angewandt, um sie am Leben zu erhalten, denn sie hat in den letzten Jahren unter den Folgen einer Lähmung gelitten. Niemand weiß, ob dieser Presbyter Eisenkopf unterstützt oder sich ihm widersetzt, doch es heißt, dass er sich große Mühe gibt, die jungen Mädchen vor Eisenkopfs rauen Händen zu bewahren. Aber ich bekomme nur Gerüchte zu hören. Edelleute, die nach Darre reisen, sind vor Eisenkopf nicht sicher. Niemand von uns traut sich, selbst dorthin zu gehen, aus Angst, dass er uns augenblicklich tötet. Ihr wisst natürlich, dass er seine Ländereien und seinen Titel erworben hat, indem er seinen Halbbruder umgebracht hat, und dass er seine Frau ermordet hat, als er sie nicht länger benötigte.« »Wie viele werden auf uns in Novomo warten?« Der Katalog von Eisenkopfs Sündenregister machte Henry ungeduldig. »Wer sonst wird mit uns reiten? Von wie vielen Fußsoldaten und Berittenen können wir ausgehen?« »Die Kriege haben uns einen hohen Tribut abverlangt, Eure Majestät. Vielleicht siebenhundert.«
Sie ritten eine Weile in Schweigen versunken weiter. Das Klirren des Geschirrs begleitete sie. Das dumpfe Rumpeln der Wagenräder hinter ihnen klang wie entfernter Donner, aber der Himmel blieb leuchtend blau und wolkenlos. »Sollen wir noch mehr Unterstützung anfordern, Eure Majestät?«, fragte Lavinia schließlich, als könnte sie die Stille nicht länger ertragen. »Nein«, sagte Adelheid stürmisch. »Wir sollten hart und sofort zuschlagen, bevor Eisenkopf die Zeit hat, auf uns zu reagieren und sein Heer aufzustellen.« Aber dann blickte sie Henry an. Es war schließlich sein Heer. 117 Henry starrte nach vorn. Sie waren mittlerweile in Sichtweite von Novomo gelangt, dessen Mauern und Türme sich dort erhoben, wo das Land in eine anmutige Landschaft aus sanften Hügeln und ausgedehnten Ackerflächen überging; zwischen den Feldern erstreckten sich immer wieder mit Obstbäumen oder Weinreben bepflanzte Geländestreifen. Sie waren jetzt so weit hinabgeritten, dass Rosvita, als sie gen Norden blickte, in der Ferne wieder die kalten, am Himmel kratzenden Gipfel der Berge sehen konnte. Jenseits von Novomo führte die Straße Richtung Süden ins Herz von Aosta. Als sie dorthin blickte, spielte das Licht oder die Perspektive ihr einen Streich, denn in der Ferne sah sie plötzlich einen abgeflachten Hügel voller dunkler Schatten, die sie erst für Schafe hielt. Sie zitterte, als eine dunkle Ahnung in ihr aufstieg und sie begriff, dass es Menhire waren. Durch diese Steine waren sie ein Jahr zuvor im Frühling mit Adelheid, Theophanu und den kümmerlichen Resten ihrer Heere getorkelt, als Hughs Magie sie in Sicherheit katapultiert hatte. Furcht ergriff ihr Herz. Sicher, sie waren Johan Eisenkopfs Heer entronnen; aber sie konnten nicht immer vor den Konsequenzen davonlaufen, die es haben musste, dass sie einen Mann, der der Zauberei angeklagt gewesen war, eine höchst gefährliche Magie hatten durchführen lassen - eine Magie, die die Kirche seit langer Zeit verdammte. Es war Rosvita unmöglich, den Daemon, den Hugh gebunden hatte, aus ihren Gedanken zu verbannen. Noch immer sah sie, wie er sich vor Wut wand, hörte sie den dröhnenden, hämmernden Bass seiner Stimme, spürte sie die verfluchte Kühle, die die Fäden des harten Lichts, die seinen Körper bildeten, zum Aufwogen brachte sofern die als Daemonen bekannten Kreaturen überhaupt richtige Körper besaßen. Sie hatte gesehen, was andere nicht gesehen hatten, und doch hatte sie geschwiegen. Aber sie wusste tief in ihrem Innern, dass die Konsequenzen der Entscheidung, die sie damals getroffen hatte, sie eines Tages einholen würden. »Ein Heer mit Pferden und kräftigen Soldaten könnte Darre in 118 zehn Tagen erreichen«, erklärte Lavinia, während sie sich den Toren Novomos näherten. In Darre lag, was Henry schon seit langem in seinen Besitz zu bringen wünschte: der Schlüssel zum kaiserlichen Thron. »Mögen Gott mit uns sein«, sagte Henry. »Adelheid hat Recht. Wir dürfen nicht warten. Lasst uns heute Nacht in Eurer Halle ein Festmahl abhalten. Morgen früh marschieren wir dann weiter nach Süden.« Es schien, als hätte sich die gesamte Bevölkerung von Novomo vorgenommen, sie zu begrüßen; Leute standen an der Straße, warteten in schmalen Gassen oder lehnten sich aus den Fenstern ihrer Häuser. Ihre Schreie und Jubelrufe stiegen zum Himmel auf. Als die Ankömmlinge die Stufen zu Lavinias Palast erreichten, legten zwei Dutzend Edelleute Adelheid und Henry ihre Schwerter zu Füßen. Das Festessen in dieser Nacht stand unter der gleichen fiebrigen Spannung wie ein Mensch, der krank daniederlag. Das Fest wurde immer wieder von dem Donner unterbrochen, der von draußen hereindrang. Rosvita hatte den Eindruck, als hörte sie ständig Wagen die Straßen entlangfahren. Einige Stunden vor der Morgendämmerung begann es zu regnen, und als das Heer bei Tagesanbruch seinen Marsch Richtung Süden fortsetzte, fiel ein ständiger, leichter Regen. Gott lächelten wieder auf Aosta herab. Am fünften Tag trafen sie auf Vorreiter, die durch die niedrigen Hügel streiften und auf der Suche nach ihnen waren. Die leichte Reiterei verscheuchte die Kundschafter jedoch, und gegen Mittag erreichte Henry mit seinem Gefolge einen Aussichtspunkt auf einem Kamm. Von dort konnte man die gesamte Ebene überblicken, die sich so weit nach Süden erstreckte, dass sie sich schließlich im warmen Dunst verlor. . Eisenkopf wartete auf sie. Sein Heer lagerte zu beiden Seiten der 119 Straße, einigermaßen geschützt von behelfsmäßigen Palisaden. Eisenkopf hatte keine Zeit vergeudet, und es war offensichtlich, dass er ein größeres Heer aufgestellt hatte als Henry - den Zelten und Bannern, Pferden und Wagen nach zu urteilen hatte er zweitausend oder gar noch mehr Berittene auf seiner Seite. »Er muss erfahren haben, dass wir kommen«, sagte Villam. »Obwohl es mir unmöglich erscheint. Selbst wenn ein Reiter Novomo so rasch wie möglich verlassen hat und durch häufiges Wechseln seines Pferdes schon drei Tage später bei ihm eingetroffen ist, kann er sein Heer kaum in so kurzer Zeit aufgestellt und den Fünftagesmarsch von Darre bis hierher so deutlich verkürzt haben.« »Es sei denn, er hat jemanden bei sich, der die Adlersicht beherrscht«, sagte Henry leise. Er blickte Hathui an, die rechts von ihm ritt. Villam hatte das zwar nicht gehört, aber Rosvita. »Wenn Eisenkopf die Loyalität eines Zauberers gewonnen hat, könnte er sich zu allem Möglichen im Stande sehen. Ganz sicher hat Eisenkopf nicht den Ruf eines ehrenhaften Mannes. Ich rate Euch dringend, vorsichtig zu sein, Eure Majestät.«
»Das werde ich.« Es war bereits ziemlich warm, und alles deutete darauf hin, dass es ein sehr heißer Tag werden würde, obwohl die Sommersonnenwende noch acht Tage in der Zukunft lag. Eine leichte Schweißschicht lag auf Henrys Stirn. Er nahm ein Stück Stoff, betupfte sich abwesend die Stirn und reichte es dann einem seiner Verwalter, der sich neben ihm befand. Hinter ihm warteten drei Hauptleute, von denen einer den Schild des Königs trug, einer seinen Helm und der Dritte den heiligen Speer von St. Perpetua, das Zeichen von Gottes Gunst. »Wo ist die Königin?«, fragte Henry und warf einen Blick über die Schulter. »Sie kommt sofort«, antwortete Hathui. In den letzten fünf Tagen war Adelheid aufgrund ihrer Schwan120 gerschaft immer schwerfälliger geworden. Sie sah aus, als würde sie jeden Augenblick platzen und konnte nur unter großen Schwierigkeiten und mit Hilfe einiger Bediensteter ab- und aufsteigen. Aber sie ritt noch immer selbst. »Was ist los?«, fragte sie, während die Reihen sich teilten, sodass sie mit ihren Frauen und Dienerinnen hindurchreiten konnte. Auch Rosvita lenkte ihr Maultier beiseite, um der Königin Platz zu machen. »Ah! Eisenkopf ist zu unserer Begrüßung gekommen.« »Es scheint, als würde sich die Angelegenheit eher früher als später entscheiden«, sagte Henry. Adelheid hatte den scharfen Blick eines Soldaten. Sie maß die Länge und Breite von Eisenkopfs Heer, musterte die Banner. »Er hat mehr Söldner als loyale Truppen bei sich. Könnte man sie mit Bestechungsgeldern dazu bringen, ihn zu verlassen?« »Schon möglich«, erklärte Villam, »aber Eisenkopf wird so etwas eingeplant haben, wenn er so schlau und gerissen ist, wie Ihr gesagt habt.« Henry blickte Adelheid an. Die Hitze hatte ihm nichts anhaben können; er saß aufrecht da wie ein junger Mann, ungebeugt von den Schmerzen des vorrückenden Alters, wie Rosvita sie verspürte, seit sie zweiundvierzig - oder vierundvierzig? - Jahre alt war, genauso alt jedenfalls wie der König. Es war schwer, immer auf dem Laufenden zu sein, was das Alter anging, aber es war auch nicht wirklich wichtig. Die Liebe jedoch besaß die Macht, einen Menschen wieder jünger zu machen, und Henry bewunderte seine hübsche, junge Königin tatsächlich sehr - so, wie er einst Sophia bewundert hatte, mit der er all die vielen Jahre zuvor verheiratet gewesen war, und auch mit jener großen Verliebtheit, die er als gerade Achtzehnjähriger Alia entgegengebracht hatte. Vielen Männern, die die Liebe der Lust vorzogen, erging es wie Henry. Aber bei ihm, dem das Glück des Herrschens lachte, wirkte es sich auch auf seine anderen Freundschaften aus. Er brachte seinen Gefährten und Gefährtinnen eine starke Zuneigung entgegen, die nur durch seine selte121 nen Wutausbrüche gemindert wurde, die - wenn sie denn erst einmal entfacht worden waren - kaum zu besänftigen waren. »Wenn es zu einem Kampf kommt, solltest du dich am besten zur Festung von Edelfrau Gisla zurückziehen, wo wir gestern übernachtet haben, meine Liebe«, sagte er jetzt und blickte seine schwangere Frau mit einem freundlichen Stirnrunzeln an. »Ich werde keinen einzigen Schritt vor Eisenkopf zurückweichen. Lieber reite ich selbst in die Schlacht, wenn es sein muss!« »Mein Herz, du hast dir das Leopardenbanner, das deine Familie trägt, sicher redlich verdient. Aber du weißt, dass eine Schlacht sich ausweiten kann, und die Freude über einen Sieg wäre sicher sehr beeinträchtigt, wenn du in die Fänge einer Flankenbewegung gerätst -« »Ich werde mich nicht zurückziehen.« Gereiztheit flackerte in Henrys Miene auf, aber Adelheids stur auf Eisenkopfs Lager gerichteter Blick, ihre Art, das Kinn zu recken, wenn sie wütend war, stimmten ihn wieder milder. »So sei es also. Wirst du den Angriff leiten, meine Königin?« Sie lachte, wohl wissend, dass sie überlistet worden war. Obwohl die Schwangerschaft ihre Gesichtszüge etwas geglättet hatte und die scharfen Linien weicher geworden waren, besaß sie noch immer die Fähigkeit zu jenem rasch wechselnden Mienenspiel, das ihr Gesicht so lebhaft erscheinen ließ. Sie strich mit einer Hand über das Kleid, wo zusätzliche Stoffbahnen eingenäht worden waren, um es ihrer Leibesfülle anzupassen. Ein Junge hielt die Zügel ihres Pferdes; er hatte sie knapp unterhalb des Zaumzeugs gepackt, sodass es keine plötzliche Bewegung machen konnte. »Ich würde es vorziehen, nicht den ganzen Weg zu Edelfrau Gislas Festung zurückreiten zu müssen. Ich habe unterwegs eine kleine Festung gesehen, die sich in gutem Zustand befindet und nicht mehr als eine Wegstunde zurück an der Straße liegt. Ich bin bereit, dort zu warten, damit dem Kind nichts geschieht.« »Mein König.« Hathui deutete auf die Ebene; eine kleine Gruppe von Reitern löste sich gerade aus Eisenkopfs Linie und kam auf 122 sie zugeritten. Sie führten drei Banner mit sich: das der Sonne von Aosta, das der Gelehrtenschule der Presbyter und ein weißes Banner mit dem Olivenzweig, das Zeichen für Waffenstillstandsverhandlungen. »Glaubt Ihr, dass Eisenkopf verhandeln will?«, fragte Villam skeptisch.
»Wir werden sehen.« Henry zog sich ein Stück von der vordersten Linie zurück. Bedienstete beeilten sich, den Thron aufzubauen, den er beim Reisen mitnahm; es war der Thron, dessen Rückenlehne in Form eines Adlerflügels gestaltet war, dessen Stuhlbeine Löwentatzen und dessen Armlehnen wilde Drachengesichter in kühnen Farben darstellten. Adelheid saß neben ihm auf einem schön gearbeiteten Stuhl, der mit Kissen und einem speziellen Rückenteil ausgestattet worden war, damit sie bequemer saß. Ihre Frauen brachten ihr die aostanische Krone, die zu tragen sie das Recht besaß; sie und die königlichen Siegel waren alles, was sie bei der Flucht vor einem Jahr hatte retten können. Henry wusste sehr gut, wie man sich eine Zeremonie richtig zunutze machen konnte. Seine Verwalter kleideten ihn rasch in seine Staatsgewänder, und Rosvita rieb ihm eilig etwas heiliges Öl auf die Stirn, bevor sie ihm die Krone von Wendar und Varre aufsetzte. In diesem Gewand, umgeben von seinem Hof und all den Edelleuten von Aosta, hatte er den Vorsitz über eine beachtliche Versammlung. Die Sonne brannte heiß auf sie hernieder. Der Wind strich durch die Banner und das hohe Gras. Das wendische Heer, das hinter ihnen wartete, gab tausend leise Geräusche von sich - die Pferde wieherten, Soldaten riefen sich etwas zu, Leder quietschte und Kleidung raschelte, während alle sich bereithielten, für den Fall, dass es sich um eine Falle handelte. Henry blieb sitzen, als Eisenkopfs Botschafter die ersten Reihen erreicht hatten und die Erlaubnis erhielten, sich dem König weiter zu nähern. Er blickte allerdings überrascht drein, als er den Mann 123 erkannte, der an ihrer Spitze ging, gekleidet in schöne Gewänder und den scharlachroten Umhang, wie er für Presbyter der Skopos typisch war. Er war so schön wie die Sonne. Es überraschte Rosvita jedes Mal, wenn sie ihn sah. Hugh. Doch Henry hätte nicht auf zwanzig Jahre erfolgreiches Regieren zurückblicken können, wenn er sich von Überraschungen so einfach überrumpeln ließe. Er rührte nur einen einzigen Finger, strich mit ihm über den geschnitzten Drachenkopf der Armlehne. Das war aber auch schon das einzige Zeichen, das auf Erstaunen hätte hindeuten können. Die Standarte der Reiche von Wendar und Varre entfaltete sich im Wind, sackte dann wieder in sich zusammen und verbarg die darauf aufgestickten leuchtenden Tiere, die Zeichen seiner Herrschaft, vor allen Blicken. Henry sprach so bedrohlich, wie es ihm als König möglich war. »Hugh von Austra, Sohn von Judith. Habe ich Euch nicht nach Aosta geschickt, um Euch dem Urteil der heiligen Skopos zu stellen, aufgrund der Tatsache, dass Ihr Eure Hände mit Zauberei beschmutzt hattet?« Hugh verbeugte sich mit genau dem Maß an Ergebenheit, dass es weder zu stolz noch zu demütig wirkte. »Das habt Ihr, Eure Majestät. Ich habe ihr Urteil erhalten und bin als unzulänglich erkannt worden, doch die Skopos ist barmherzig, möge ihre Seele in Frieden ruhen. Sie hielt es für angebracht, mich in ihre Dienste zu nehmen, sodass ich Gott und der Kirche dienen kann, um so für meine Sünden Buße zu tun.« »Doch wem dient Ihr wirklich, wenn Ihr nun als Gesandter Johan Eisenkopfs zu mir kommt?«, fragte Henry mit gefährlich leiser Stimme. »Ich diene natürlich Gott, Eure Majestät.« Henrys Lächeln war ebenso gefährlich wie sein Ton. »Weise Worte. Doch Ihr steht dort, und hinter mir stehen mein Heer und mein loyales Gefolge.« Hugh deutete auf seine Bediensteten, die ihm einen Korb brach124 ten. Sie stellten ihn auf den Boden. »Niemand kann zwei irdischen Herren gleichzeitig dienen, Eure Majestät. Das weiß ich nur zu gut, denn ich bin von meiner Mutter erzogen worden, die Euch immer treu unterstützt hat.« »Das hat sie.« »Ich bin immer Euer loyaler Untertan gewesen. Deshalb habe ich mir einen Platz an Eisenkopfs Hof erobert.« Es hieß, dass Gott die Tugendhaften begünstigten, und Hugh schien so fromm und tugendhaft - als könnte er kein Wässerchen trüben -, dass Rosvita vor düsterer Vorahnung zu zittern begann und sich neben den König stellte. Sie hoffte, den zauberischen Bann, den Hugh vielleicht über den König und die Königin werfen wollte, abwehren zu können, sollte es wirklich dazu kommen. Adelheid hielt sich eine Hand vor Mund und Nase; sie zog eine Grimasse. »Ich rieche etwas Schreckliches.« Auch Rosvita roch es, einen sauren, eisenhaltigen Geruch, der dem der Magie ähnelte. Sie berührte den König am Arm und beugte sich zu ihm herab, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. »Eure Majestät, ich bitte Euch -« Hugh war zu schnell für sie. Er gab ein Zeichen, und einer seiner Bediensteten zog den Stoff, der den Korb bedeckte, zur Seite. Adelheid schrie auf, würgte und schaffte es gerade noch, sich von dem Stuhl zu erheben, bevor sie sich erbrach. Eine ihrer Frauen stützte sie. Henry sprang auf. »Ich bitte um Vergebung, Königin Adelheid.« Hugh nahm dem Bediensteten das Tuch ab und legte es sanft wieder auf das grauenhafte Etwas, das in dem Korb auf einer Strohschicht lag. »Ich hatte niemanden aufregen wollen.« Doch das Bild hatte sich bereits in Rosvitas Kopf eingebrannt. Selbst, wenn sie die krumme Nase und die im Tod
verzerrten Gesichtszüge nicht erkannt hätte - die Eisenkrone, die Edelmann Johan getragen hatte, um seinen Feinden zu trotzen, und die jetzt im blutdurchtränkten Stroh lag, war unverwechselbar. 125 Adelheid trank einen Schluck Wein und drehte sich um; ihr Gesicht war bleich, doch in ihren Augen glühte ein düsteres Feuer. »Er hat bekommen, was er verdient. Steckt ihn auf eine Lanze. Johans Kopf ist das Banner, das uns den Weg nach Darre bereiten wird.« Der König ging zu dem Korb und schob den Stoff wieder beiseite. Henry war stets ein vorsichtiger Mann gewesen; er war zwar bereit, anderen zuzuhören, musste sich aber immer noch selbst vergewissern. Er packte den Kopf am Haarschopf und hob ihn hoch. Klumpen aus geronnenem Blut fielen von der Schnittwunde am Nacken auf das voll gesogene Stroh. Ein spitzer Metallgegenstand war durch Johans Schläfe getrieben worden. »Also gut«, sagte Henry und rief einen seiner Hauptleute zu sich. »Eisenkopf wird uns nach Darre vorausgehen.« Er ließ den Kopf zurück in den Korb fallen, der unter dem Aufprall erzitterte. Dann wandte er sich an Hugh. »Was ist mit seiner Leiche?« »Sie ist im Lager.« »Seine Söldner?« »Sind loyal aufgrund des Goldes, das er ihnen bezahlt hat, nicht gegenüber seiner Person. Ihr werdet feststellen, Eure Majestät, meine Königin, dass nur wenige seinen Tod bedauern.« »Und doch birgt ein solch großes Heer von bezahlten Soldaten eine Gefahr, wenn man sie zu lange sich selbst überlässt. Wir werden vorsichtig vorgehen müssen, damit wir am Ende nicht doch noch mitten in einer Schlacht stecken oder das Land von Plünderern heimgesucht wird.« Obwohl sie im vollen Licht der heißen Sonne standen, schien sie Hughs Gesicht nichts anhaben zu können; es schien sein natürliches Element zu sein, als wäre die Sonne eigens dafür geschaffen worden, sein Antlitz zu beleuchten. »Ihr werdet feststellen, dass die Hauptleute Frieden anstreben, Eure Majestät. Sie werden Euer Heer nicht belästigen.« »Ein schmachvolles Schicksal für einen Krieger«, sinnierte Henry, als der Korb weggetragen wurde. »Wie ist das geschehen?« Hugh zuckte mit den Achseln. »Man erntet, was man gesät hat. 126 Er hatte ein gewalttätiges "Wesen, mein König, und es sieht so aus, als hätte eine der von ihm vergewaltigten Frauen ihn im Schlaf umgebracht.« »So sei es also«, erklärte Adelheid. »Gott begünstigen die Tugendhaften.« »Gibt es sonst noch etwas?« Henry blickte sich um, musterte seinen Hof, der bei dem furchtbaren - und jetzt barmherzigerweise verhüllten - Anblick ganz still geworden war. Er sah Hathui an, schließlich Rosvita. Auch Hugh betrachtete sie, die eine Braue fragend hochgezogen. Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Das Sonnenlicht flackerte und machte sie benommen, als der Wind die Banner stürmisch aufwirbelte. Sie konnte nur stumm den Kopf schütteln. Bedienstete eilten vor, um Henry die Gewänder und die Krone wieder abzunehmen. »Kommt, Edelmann Hugh«, sagte der König, als ihm sein Pferd gebracht wurde. »Reitet neben mir.« 4 Dort, wo Odar und Floyar zusammenflössen, hatte Helmut Villam in seiner Jugend eine mächtige Festung errichtet. In den vierzig Jahren seit ihrer Gründung hatte sich Walburg zu einer bedeutenden Stadt entwickelt und war mittlerweile von zwei Mauern und Gräben umgeben; an der einen Seite wurde sie zusätzlich von der Odar, an der anderen von einer steilen Felsenklippe geschützt. Die Villams waren aufgrund der Beute, die sie in den Kriegen gegen die ungläubigen Rederii und Polenser errungen hatten, zu einigem Reichtum gelangt, und Helmut hatte nicht nur zwei Nonnenklöster und ein Mönchskloster gegründet, sondern auch den Bau einer Kathedrale in Auftrag gegeben. Trotz des Nieselregens konnte Zacharias den rechteckigen Turm dieser Kathedrale von ihrem Lager bei einem zerstörten Wach127 türm aus sehen. Von hier konnte man das ganze tief eingeschnittene Flusstal entlangblicken, und so sah er auch das qumanische Heer, das in der Flussebene vor Walburgs Palisade und den zwei Gräben lagerte. Sollten die Qumaner ihn ergreifen, würde er versuchen, rasch getötet zu werden. Furcht und Hass rangen in seinem Innern miteinander, ohne dass eines der beiden Gefühle die Oberhand gewann. Jetzt kam es nur noch darauf an, dass er nicht das Zeichen der Pechanek auf einem der Zeltpfähle entdeckte. Solange Bulkezu nicht in der Nähe war, würde er den Tag mit einem tapferen Herzen überstehen können. »Mein Prinz.« Hauptmann Fulk kam mit dem Abendbericht. »Everwin und Wracwulf haben einen weiteren qumanischen Kundschafter getötet und seine Schwingen mitgebracht.« Unter dem Schutz eines Vordachs, das zwischen den Mauern des alten runden Turms aufgespannt worden war, saß Prinz Sanglant auf einem Kissen, während er mit seiner Tochter und ihrer Zofe würfelte. Soldaten saßen um sie herum, schärften ihre Schwerter, polierten Helme, reparierten Rüstungen. Eine Hand voll junger Edelleute hatte ebenfalls in diesem einfachen Lager Platz genommen; diese Männer mochten an luxuriösere Feldzüge gewöhnt sein, doch Sanglant ritt ohne einen Tross aus Konkubinen, Trossfolgern und Versorgungswagen. Im Gegensatz zu den meisten Edlen lebte er unter den gleichen Bedingungen wie seine Soldaten. Das war einer der
Gründe, weshalb sie ihn so liebten. Man hatte ein paar Kohlepfannen aufgestellt, über denen Fleischstücke brieten; der Qualm brannte Zacharias in den Augen, als er zurückkehrte. »Dies ist jetzt schon die fünfte Gruppe, die wir zu Gesicht bekommen, und sicherlich auch die größte. Lässt sich bereits schätzen, wie viele es sind?« »Nicht mehr als zweihundert, Eure Hoheit.« Gnade sprang auf und lief zu Fulk, um ihm - den sie besonders gern mochte - zwei ihrer Würfel zu bringen. »Du bis' dran«, sag128 te sie nachdrücklich. Es war ein Befehl, und er klang so klar und deutlich, wie Zacharias selten zuvor einen gehört hatte. »Du bis' dran, Haubmann Fulk.« Er grinste. Wie die Übrigen der Kompanie wäre er für seine kleine Kaiserin - so nannten sie sie - durchs Feuer gegangen. »Das bin ich, Eure Hoheit, aber zuerst muss ich dem Prinzen diesen Bericht überbringen.« Gnade schaute ihren Vater an und stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf, wurde aber sofort still, als Sanglant sie finster anblickte. Mit einem deutlichen Ausdruck von Abscheu verschränkte sie die Arme vor der Brust und warf Sanglant ebenfalls einen finsteren Blick zu. »Ich bitte dich, Prinzessin, setz dich zu mir, während du wartest.« Die heisere Stimme der Zofe klang wie ein Echo von der des Prinzen. »Wir habe diese Wolle noch nicht gekämmt.« »Will ich auch nicht.« »Aber du wirst es tun«, sagte Sanglant. »Werd ich nicht!« »Dann tue ich es selbst«, erklärte die Zofe kurz und bündig, lehnte sich zurück und begann, die Wolle über dem Kamm zu krempeln. »Ich will es nämlich tun, aber ich will es nicht zusammen mit dir tun.« Das war zu viel für Gnade. Sie trapste auf ihren kurzen Beinen zu ihr hinüber und hockte sich hin, um einen Blick auf die Wolle zu erhaschen, biss sich dabei verärgert auf die Unterlippe. »Kann ich mal versuchen? Ja?« »Hier, du musst es so halten -« Zacharias wischte sich die Regentropfen von der Stirn und ließ sich neben Heribert nieder, der mit Wulfhere Schach spielte. »Ich kann nicht ein einziges Mal eine Runde um das Lager drehen, ohne dass sie einen Fingerbreit gewachsen ist, wenn ich wiederkomme«, sagte er und betrachtete das Mädchen unsicher. Sie hatte ihren Babyspeck verloren. Ihr Gesicht war schmaler geworden, und die blaugrünen Augen kamen jetzt noch mehr zur Geltung 129 43 als zuvor. Schwarze Locken ringelten sich um ihr Gesicht, wo immer sie sich aus dem Zopf gelöst hatten. Heribert blickte ihn an. »Es ist nicht ihr Werk.« »Das habe ich auch gar nicht gesagt. Aber du musst zugeben, dass es geradezu unheimlich ist, wie schnell das Kind wächst. Das ist unnatürlich. Sie wächst an einem Tag so viel wie andere in einer Woche.« »Ich habe gedacht, mit dem Verschwinden der Daemonin wäre es vorbei«, murmelte Heribert. Er blickte sich vorsichtig um, ob der Prinz zuhörte, aber Sanglant schien in ein Gespräch mit Hauptmann Fulk vertieft zu sein. »Aber Gott wissen, dass dem nicht so ist. Der Herr möge uns segnen. Sie ist am siebzehnten Avril geboren worden, am Festtag von St. Radegundis. Vor einem Jahr und drei Monaten. Und doch sieht sie aus wie eine gesunde Dreijährige.« »Ihr seid am Zug«, sagte Wulfhere geduldig. »Wisst Ihr, Adler«, meinte Zacharias gereizt. »Ich glaube, am wenigsten mag ich dieses einfältige Grinsen, das Ihr den ganzen Tag spazieren tragt. Ihr wisst weit mehr, als Ihr uns erzählt.« »Das tue ich, aber was das Kind betrifft, weiß ich genauso wenig wie Ihr.« »Geringschätzige Worte!« »Immer mit der Ruhe«, beschwichtigte Heribert. »Kein Grund, sich zu streiten. Wenn ich mit Wulfhere eine Art Frieden geschlossen habe, kannst du das auch tun.« »Ich will mich nicht streiten«, erwiderte Zacharias, der wütend auf sich selbst war, weil er sich von seinem Neid auf Wulfheres Wissen hatte mitreißen lassen. »Ich mag nur keine Geheimnisse. Ihr wisst sehr gut, Wulfhere, dass ich nur zu gern Euer Schüler wäre, was immer Ihr mich lehren würdet, wenn Ihr Euch nur dazu entschließen könntet. Aber Ihr habt klargestellt, dass Ihr weder mich noch sonst jemanden unterrichten wollt. Abgesehen von der abwesenden Liath natürlich, die ich, das schwöre ich, langsam zu hassen beginne, obwohl ich ihr niemals begegnet bin.« »Du eifersüchtiger Bastard«, sagte Heribert lachend. 130 »Ihr seid noch immer am Zug«, meinte Wulfhere. »Ich gehe.« Zacharias zog sich zurück, trat über die Seile, die an in den Boden gerammten Stöcken befestigt worden waren, um das Zeltdach an Ort und Stelle zu halten. Die Sommerdämmerung tauchte den westlichen Horizont in lebhafte Farben, die allerdings durch tiefhängende Wolken und Dunst etwas verhangen waren. Wind raschelte in den Bäumen, ein Geräusch, das sich mit dem trommelnden Regen vermischte. Vom Fluss her war
Nebel aufgestiegen, hüllte sowohl den Turm der Kathedrale als auch den der Festung in Weiß. Jenseits der Palisade und der Gräben erstreckten sich niedergetrampelte Felder - all das goldene Korn war von gehässigen Wesen, die sich an Zerstörung ergötzten, dem Erdboden gleichgemacht worden. Ein paar verlassene Hütten, die Heime von Fischern und Gerbern, ragten wie geschwärzte Ruinen heraus. Selbst die Obstbäume waren abgehackt worden, und so gab es nur innerhalb der Mauern noch unzerstörte Gärten mit Bäumen. Die Hauptstreitmacht des qumanischen Heeres lag in Wartestellung vor dem Haupttor, doch kleinere Lager verteilten sich im ganzen Tal in einem Muster, das Zacharias nicht deuten konnte. Er war kein Stratege. Er war niemals für eine Schlacht ausgebildet worden. Vielleicht versteckte sich Bulkezu in seinem Zelt und wartete nur darauf, ihm einen Hinterhalt legen zu können ... Nein, er durfte nicht zulassen, dass seine Gedanken eine solche Richtung nahmen. Angst konnte einen Menschen lähmen. Er musste sich davon befreien. Nur so würde er Bulkezu besiegen können. Er hatte andere Ängste, die er nähren konnte, um seine Gedanken von der Furcht vor den Qumanern fern zu halten. Wieso war Wulfhere so störrisch? Welchen Nutzen hatten seine Geheimnisse? Wissen war nur dann wichtig, wenn man es mitteilte; die Menschen sollten die Gelegenheit erhalten, zu lernen, statt in Unwissenheit gehalten zu werden. Der Gedanke, dass dieser alte Mann auf seinem Wissen saß, wie ein Drache sein Gold hortete, nagte an ihm. 131 »Ich will raus«, ertönte die Stimme der Kaiserin, und dann erschien Gnade mit ihrer Zofe und dem jungen Matto, ihren ständigen Begleitern. Sie hatte ein kleines Holzschwert in der linken Hand und schwenkte es leidenschaftlich hin und her. »Jetzt kämpfen wir! Jetzt kämpfen wir, Matto.« Als sie Zacharias sah und die Aussicht, die hinter der niedrigen Mauer lag, schoss sie zu ihm hinüber und sprang einige Male hoch, um einen Blick auf die andere Seite zu erhaschen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, ehe sie zu Zacharias zurückkehrte. »Heb mich hoch!« Er nahm sie auf die Arme und hob sie hoch; sie klammerte sich an ihn, starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Tal und versuchte dabei, sich auf seinen Arm zu stellen, um noch ein bisschen mehr an Höhe zu gewinnen. »Was ist das?« »Das ist Walburg, die Stadt von Markgraf Helmut Villam. Das Banner da auf dem Turm bedeutet, dass zurzeit seine Erbin dort weilt. Alle Menschen in der Stadt werden von dem qumanischen Heer belagert.« »Die Qumaner sind schlecht«, verkündete Gnade. »Ja, sie würden am liebsten in die Stadt stürmen und alles niederbrennen.« »Aber Papa lässt sie nicht. Papa wird alle töten und verjagen.« Weil Zacharias, dem die grauenhafte Angst die Kehle zuschnürte, nicht sofort antwortete, mischte sich Matto entrüstet ein. »Natürlich wird er das! Niemand kann sich gegenüber dem Prinzen behaupten.« »Natürlich nicht, Junge«, sagte Zacharias leise, während er auf das in der Ferne liegende Heer blickte; die hellen Zelte sahen aus, als hätte jemand tote Maden auf dem Erdboden verstreut. Gnade wand sich aus seinem Griff und machte sich daran, die Mauer zu erklimmen. Matto stellte sich dicht hinter sie und achtete darauf, dass sie nicht fiel, bis sie ihn schließlich empört anblickte: Sie wollte, dass er einen Schritt zurücktrat. »Lass sie ruhig ein paar Mal herunterfallen, Matto«, erklärte Anna, die das Kind beobachtete. Gnade war wild entschlossen, an 132 der Mauer hinaufzuklettern, obwohl sie kaum einen Halt für ihre Zehenspitzen fand. »Dann lernt sie es eher.« Zacharias kicherte. »Wo hast du denn solche Weisheiten her, Kind?« Anna presste die Lippen zusammen. Seit dem Tag, da sie herausgefunden hatte, dass er sich weigerte, zu Gott zu beten, traute sie ihm nicht mehr. Mit einem Seufzen wandte er sich ab. Der Regen hatte aufgehört, und eine dichte Feuchtigkeit ließ sich über allem nieder. Die Dämmerung setzte ein, und Unruhe ergriff ihn, und er wäre am liebsten umhergegangen, aber er wusste nicht, wohin er hätte gehen können. Er musste sich einfach in Geduld üben. Er hatte sieben Jahre als Sklave der Qumaner überlebt. Sicher würde er auch eine Nacht voller Zweifel und Warterei überstehen. Und er würde Wulfheres verfluchte Geheimniskrämerei überstehen. Er begab sich im gleichen Augenblick zurück unter das Zeltdach, als ein großspuriger, junger Soldat, vom Wind zerzaust und ziemlich schmutzig, von der anderen Seite eintrat und sich dem Hauptmann und dem Prinzen näherte. Sanglant setzte sich auf und stellte seinen Becher ab; er war augenblicklich wachsam geworden. »Sibold. Ich bin froh, dass Ihr wieder zurück seid. Was gibt es zu berichten?« Sibold hatte ein verwegenes Grinsen und trug die Narbe eines Messerstichs unter dem linken Ohr; er war einer jener tollkühnen jungen Männer, die sich freiwillig meldeten, wenn es darum ging, die qumanischen Reihen auszuspionieren. Jetzt trat er zu Sanglant. »Mein Prinz. Ich habe mich in den Gräben gut verstecken können; sie müssen die Qumaner ebenso hassen wie wir. Drei Banner stehen inmitten der Streitmacht der Qumaner. Der größte Teil der Belagerer befindet sich vor dem Haupttor, aber es gibt noch zwei kleinere Lager, eines im Südwesten am Ufer der Floyar, ein anderes im Nordosten jenseits der Fähre. Ich habe vier Gruppen von
Kundschaftern gesehen, die jeweils nicht mehr als sieben Mann stark sind.« 133 Sanglant blickte Wulfhere an, der noch immer ganz in das Spiel mit Heribert versunken war. »Wie es heißt, soll die Adlersicht äußerst scharf sein.« »Obwohl selbst Prinzen ihr nicht immer trauen«, murmelte Wulfhere, ohne vom Schachbrett aufzublicken. Der Prinz lächelte, enthielt sich aber einer Antwort. Er zog einen Ring vom Finger und reichte ihn dem jungen Soldaten. »Ihr habt Euer Leben riskiert, um uns diese Nachricht zu überbringen. Sie wird mir sehr viel nützen.« »Eure Hoheit.« Mit einem verstohlenen Lächeln zog Sibold sich in den Nieselregen zurück; zweifellos würde er vor seinen Kameraden mit seiner Belohnung prahlen. Sanglant hob den Würfel auf, der noch immer auf dem Teppich lag. »Morgen früh greifen wir an.« Seine edlen Gefährten erhoben sich. »Aber mein Prinz«, wandte Edelmann Hrodik ein. »Die Qumaner sind alle beritten. Alle dreihundert! Wir haben nur hundertdreißig Mann, auch wenn es alles Reiter sind.« Sanglant grinste. »Dann werden sie ja nicht sehr im Nachteil sein.« Der Prinz nahm dem Feldwebel den Drachenhelm aus der Hand, den der Mann poliert hatte, drehte ihn in den Händen und betrachtete eingehend das Furcht erregende Leuchten des Drachenkopfes. »Habt Ihr einen besseren Plan, Hrodik?« Derart herausgefordert erging sich der junge Edelmann in endlosen Entschuldigungen; Zacharias konnte das Gejammer und die unbeholfenen Schmeicheleien bald nicht mehr ertragen und verzog sich in die Ecke, die ihm zum Schlafen zugewiesen worden war. Dort rollte er sich in seinen Umhang und schlief rasch ein. Als er einige Zeit später wieder erwachte, spürte er Heriberts Wärme in seinem Rücken. Eine Brise trug die Schritte des Wachpostens zu ihm. Die kalte Nachtluft ließ ihn frösteln, und schon hatte die Furcht ihn wieder in ihrem Griff. Was, wenn die Qumaner das Lager überfielen? Was, wenn Prinz Sanglant die morgige Schlacht verlieren würde? Wäre es nicht besser, sich selbst das Le134 ben zu nehmen? Oder wäre er dann für immer verdammt? Würde er den Mut haben, sich einem qumanischen Pfeil oder Speer entgegenzuwerfen? Oder würden sie ihn mitschleppen und wieder zu ihrem Sklaven machen? Er zitterte, dachte an das Zeichen auf seiner Schulter. Was, wenn sie ihn gefangen nehmen, die Klaue des Schneeleoparden entdecken und ihn Bulkezu zurückgeben würden? Nein, dann wäre es besser, tot zu sein. Wenn er nur den Mut fände, ihn willkommen zu heißen. Es war eine dunstige Nacht, und die Sterne waren nur teilweise zu sehen. Das Lager lag still im Nebel. Ein Feuer brannte vor dem Zelt des Prinzen; zwei Männer saßen dort, ohne zu sprechen. Wulfhere wandte Zacharias den Rücken zu, die andere, schmächtigere Person saß dem Adler gegenüber. Diese andere Person war kein Mann; es war eine Frau, vom Alter gebeugt und so dünn, dass sie so körperlos wie ein Schatten wirkte. Zacharias stützte sich auf einen Ellenbogen. Einen kurzen Augenblick konnte er die andere Seite des Feuers sehen, ohne dass die Flammen und Funken seine Sicht behinderten. Dort saß niemand. Er schnappte nach Luft und ließ sich zurücksinken. Nebelschwaden verhüllten die Sterne. Tief im Wald heulte ein Wolf. Ein bisschen näher huschte ein Nachttier raschelnd über die Felsen. Wulfhere rührte sich nicht. So, wie Zacharias jetzt lag, konnte er wieder durch die Flammen sehen. Die Gestalt der Frau war noch immer dort - schwach, aber dennoch zu erkennen. Sie war ein Schatten. Er sah den Schatten einer Frau durch die Flammen. Er wollte sich gerade aufsetzen, als ein Mann sich leise neben ihm hinhockte und ihm die Hand auf die Schulter legte. »Nicht, Zacharias«, murmelte der Prinz. »Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.« »Und wann wird das sein?«, flüsterte Zacharias mit rauer Stimme. 135 Sanglant drückte ihn sanft, aber nachdrücklich zu Boden. »Wenn wir nicht mehr um unser Leben kämpfen müssen.« »Das bin ich! Das bin ich!«, schrie Gnade jubelnd, als ihr Vater in der Morgendämmerung aufbrach. Er sah beeindruckend aus mit seiner Rüstung, dem Überwurf, dem scharlachroten Umhang und dem atemberaubenden Drachenhelm sowie dem hinter ihm versammelten Heer. Seine Banner trugen kein Wappen; er ritt lediglich mit der schlichten, aus goldenem Stoff bestehenden Standarte, die seine königliche Herkunft - so fragwürdig sie auch sein mochte - sowie die kaiserliche Abstammung seiner Tochter verkündete. Seit Anna mit dem Prinzen und seiner Streitmacht ritt, war das Schlimmste für sie, auf das Ende des jeweiligen Gefechts warten zu müssen. Prinz Sanglant war ein großer Kämpfer, aber ein leichtsinniger Vater. »Kommt von der Mauer herunter, Eure Hoheit«, sagte Heribert nervös. »Ihr könntet fallen.« Gnade achtete nicht auf ihn, sondern hüpfte aufgeregt auf der zerstörten Mauer auf und ab, während sie den davonreitenden Soldaten hinterhersah. »Nächstes Mal kämpfe ich!« Sie schwang ihr Holzschwert, das kaum größer als ein Küchenmesser war, und schlug und stach und hackte damit auf den Wind ein. Kieselsteine klackerten und fielen von der Mauer, prallten auf dem Boden auf, während das Donnern der Hufe langsam verklang, je weiter der Prinz und seine Soldaten sich entfernten. Anna verlagerte besorgt ihr Gewicht, als Heribert Gnade einfach von der Mauer hob und zu dem halb zerstörten Wachturm trug. Gnade leistete keinerlei Widerstand, dazu war sie viel zu verblüfft. Sie mussten auf ihrem Weg
den Fallen ausweichen; die letzten beiden stellten Matto und Immersieg auf, sobald alle im Turm verschwunden waren. Das Lager lag jetzt still da - das Zeltdach, die Zelte, das ordentlich verstaute Reisegepäck. Alles, was einen Wert hatte, war in den Wachturm geschafft worden. Anna 136 krabbelte hinter Heribert die Stufen hoch und fand einen Platz ganz oben neben ihm, von wo aus sie das Tal überblicken konnte. Gnade lehnte ihren Kopf gegen Heriberts Schulter und gähnte kräftig. Nebel verhüllte das Tal, abgesehen von den Flammen, die oben auf den zwei Wachtürmen am Haupttor brannten und Symbole für Villams Widerstand waren. Die Mauern von Walburg wirkten kräftig und im Augenblick recht einladend, verglichen mit dem bröckeligen Wachturm und der kleinen Gruppe von nur sechs Männern, die, abgesehen von den Geistlichen und dem Adler, zurückgeblieben waren, um Gnade zu verteidigen. In solchen Zeiten bedauerte es Anna, dass sie Gent und den sicheren Alltagstrott von Meistrin Suzannes Werkstatt verlassen hatte. Närrin, Närrin, Närrin, schalt sie sich. Sie kämpfte gegen ein paar Tränen an, in dem Wissen, dass sich ihr sonst ein Schluchzen entringen würde, aber Matthias hatte sie gut erzogen. Wenn sie weinte, würden die Aikha sie möglicherweise hören. Sie hatte nie die Lektionen vergessen, die sie gelernt hatte, als sie sich in Gent vor den Aikha versteckt hatten. Sie wusste, dass sie ihre Angst herunterschlucken und sich still verhalten musste, egal, was auch geschah. Im Osten ging jetzt die Sonne auf, aber der Wind war zum Erliegen gekommen. Der Nebel wurde dünner, sodass nur noch Schlieren über den zwei Flüssen hingen. Schnelle, laute Trommelwirbel erklangen aus dem Innern der Burgwände. Dies war sicherlich nicht das Werk des Prinzen, der einen Angriff in aller Stille bevorzugte. Hörner fielen in das Getrommel ein, in ungleichmäßigen Stößen, die so gedehnt klangen wie das Jammern eines störrischen zweijährigen Kindes. Das Tor zwischen den Türmen, das aus kräftigen, mit dicken Eisenbändern versehenen Holzplanken bestand, schwang auf. Bewaffnete Krieger kamen heraus und formierten sich vor dem offenen Tor. Die Qumaner, deren Schanzen etwa eine Bogenschussweite entfernt waren, holten sich ihre Pferde. Sie erwarteten, dass die Verteidiger von Walburg jeden Augenblick angreifen würden. Für je137 den berittenen Krieger, der am Tor erschien, schoben sich fünf qumanische Reiter nach vorn, um sich ihm entgegenzustellen. Die Schwingen auf ihrem Rücken ließen sie noch übermächtiger und zahlreicher erscheinen, als sie es ohnehin schon waren. Schließlich erschien auch das Banner vor dem Tor; schlaff hing es in der unbewegten Luft an der Stange. Die Herrscherin der Festung ritt herbei und nahm ihren Platz vor der vordersten Linie ein; sie wandte sich den vier Dutzend berittenen Soldaten zu, die zu ihrer Streitmacht zählten, und kehrte den Qumanern den Rücken, als wollte sie sie zum Angriff auffordern. Doch die Qumaner formierten sich lediglich und warteten auf Befehle; vielleicht befürchteten sie eine Falle. Nach einer kurzen Zeitspanne wandte sich die Edelfrau von Walburg ihrem Feind zu und senkte die Lanze wie zum Gruß. Prinz Sanglant und seine Streitmacht hatten inzwischen den Fuß des bewaldeten Abhangs erreicht; sie brachen aus dem Wald und ritten in die Flussebene, näherten sich im Trab den Qumanern. Bisher waren sie noch durch Gebüsch und eine Obstwiese vor den Blicken der qumanischen Hauptstreitmacht vor dem Tor geschützt. Die Kundschafter, die einen Angriff von den Flanken her verhindern sollten, flohen zurück ins Lager; gelegentlich schössen sie Pfeile auf die Soldaten des Prinzen ab, in der Hoffnung, einen von ihnen in einem unachtsamen Augenblick zu erwischen. Es dauerte nicht lange, bis die Hauptstreitmacht der Qumaner die neue Bedrohung erkannt hatte. Ein qumanischer Anführer ritt zu der wartenden Horde. Er war leicht zu erkennen, denn seine Schwingen leuchteten, als würden sie aus Klingen aus poliertem Stahl bestehen. Die Hälfte der Streitmacht löste sich von dem übrigen Teil, drehte seitlich ab und ging zum Angriff über, als die Truppen des Prinzen die Obstwiese verließen. Im Galopp prallten die beiden Streitkräfte aufeinander. Zacharias, der neben Anna stand, ächzte leise, als wäre er selbst getroffen worden. Heribert murmelte ein Gebet. Gnade steckte 138 sich zwei Finger in den Mund und nuckelte daran, während sie die Landschaft weiter unten betrachtete; es war unmöglich zu erkennen, ob sie begriff, was dort unten vor sich ging. Anna beugte sich vor. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, und es war schwer, etwas zu erkennen. Der Prinz, den glänzenden Drachenhelm übergestülpt, führte den Angriff direkt gegen den eisenbeflügelten Qumaner. Pferd und Reiter verschwanden unter dem heftigen Aufprall; die leuchtenden Schwingen zerbarsten und verschwanden, als der Kampf über ihn hinwegwogte. Jetzt endlich machte sich auch Walburgs Reiterei auf, während sich hinter ihnen die Tore schlössen und ihnen den Rückweg versperrten. »Wie sieht es aus?« Sie war überrascht, Wulfheres Stimme zu hören. »Gut, denke ich. Reitet Ihr nicht mit dem Prinzen?« Wulfhere kicherte leise, während Zacharias ihn anstarrte. »Nein, Kind. Ich bin zu alt für die Schlacht.« »Seht nur«, sagte Heribert leise. »Sie haben sie in die Flucht geschlagen.« Auf dem Schlachtfeld herrschte jetzt vollkommenes Durcheinander. Wendische Soldaten verfolgten die Qumaner, die sich in alle Richtungen zerstreuten.
Sanglant teilte seine Streitmacht in drei Teile; er selbst verfolgte mit einer Gruppe die Qumaner, die zum Fluss flohen. Walburgs Streitmacht jagte ebenfalls Qumaner. Anna beobachtete Walburgs Anführerin, bis sie fast an der gleichen Stelle, an der Sanglant ursprünglich aufgetaucht war, hinter dem Abhang und Bäumen verschwand. »Qumaner!«, rief Matto warnend von unten. Eine Gruppe von vierzehn Qumanern brach zwischen den Bäumen hervor und preschte auf die Lichtung. Die Männer lenkten ihre Pferde zur Seite, als sie die unbewachten Zelte sahen, den zerfallenen Wachturm, die rechteckige, von einer Mauer umgebene Festung. Wulfhere zog sein Kurzschwert, kroch vorsichtig an die 139 Brustwehr und achtete darauf, nicht auf verrottete Planken und Lücken im Holzboden zu treten. Zacharias riss Anna neben sich zu Boden. Durch die Lücken im Fußboden sah sie Matto, Immersieg und den Mann, den alle Bärbeiß nannten, mit Speeren in den Händen den Boden im ersten Stockwerk des Turms bewachen, da auch dieser voller Löcher war. Den, Johannes und Lewenhardt konnte sie nicht sehen; sie mussten woanders stehen. Sie griff mit der Hand in eine Nische in der Mauer und zog das lange Messer heraus, das sie für den Notfall dorthin gelegt hatte. Zacharias und Heribert hatten Stöcke, aber jeder wusste, dass Heribert in einer Schlacht nutzlos war. Wie gut Zacharias kämpfen konnte, war für alle ein Geheimnis, doch beim Anblick seines verzweifelten Gesichts hatte sie beinahe Mitleid mit ihm. Heribert glitt zu Anna hinüber. »Mach dir keine Sorgen«, flüsterte er. »Sie werden das Lager plündern und dann wegreiten. Sie werden nicht mitbekommen, dass wir hier sind.« »Ich töte sie«, unterbrach ihn Gnade. Der Geistliche zischte leise und legte ihr zwei Finger auf die Lippen. Das kleine Mädchen seufzte angeekelt und schloss die Augen. Inzwischen waren die durch das unverteidigte Lager preschenden Pferde und die Männer, die sich in ihrer schroffen Sprache etwas zuriefen, gut zu hören. Stoff zerriss. Töpfe zerbarsten. Ein Pferd wieherte. Anna fand nur wenig Trost in Heriberts Worten. Sie schob das Messer in ihren Ärmel, damit ein Qumaner, sollte er ihr zu nahe kommen, sie erst einmal für unbewaffnet und leichte Beute halten würde. Sie fand nie heraus, was sie letztendlich verraten hatte. Vielleicht war auch nur einer der qumanischen Soldaten neugierig gewesen. Zunächst hörte sie es nur, denn sehen konnte sie - so zusammengekauert, wie sie dasaß - außer ihren Kameraden, der zerbröckelnden Brustwehr und dem Himmel nichts. Ein Soldat musste die Stufen untersucht haben, wo eine der Fallen aufgebaut worden war. Ein Schrei übertönte plötzlich die Geräusche der Plünderung. 140 Ein Körper stürzte mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Einen kurzen Augenblick blieb alles still, dann riefen sich die Qumaner etwas zu, und ein Pfeilhagel regnete über die Brustwehr. Ein Pfeil prallte ein Stück über Anna von der Mauer ab und fiel neben Heribert auf die Planke. Sie blinzelte über die Mauer. Der verrückte Lewenhardt hatte hinter einem Mauerstück Deckung gefunden, das an der einen Seite so abgebrochen war, dass es kaum zu erklimmen war. Er war der beste Bogenschütze in Sanglants Truppe und begann jetzt, Pfeile abzuschießen; dabei wählte er seine Ziele äußerst sorgfältig. Ein Qumaner näherte sich zu Fuß dem Turm; er zuckte zusammen und fiel hin, kroch dann mit einem in seinem Oberschenkel steckenden Pfeil wieder zurück. Ein weiterer Pfeilhagel folgte; Anna duckte sich. Durch die Löcher im Holzboden sah sie Immersieg an einem Seil ziehen, während im gleichen Augenblick Matto aufschrie. »Da vorn sind drei, in der linken Lücke!« Felsstücke polterten, als ein geflügelter Soldat sich hindurchzwängte, den Speer nach vorn gereckt. Er wurde entweder von den Felsen zermalmt, oder er war zurückgesprungen; sie wusste es nicht, denn Staub wirbelte auf und raubte ihr die Sicht. Bärbeiß hackte bereits auf die mittlere Lücke ein, focht mit einem unsichtbaren Feind. Rufe erklangen von Den und Johannes, als die Qumaner die andere intakte Treppe fanden, die nach oben zur Brustwehr führte. Sie hörte das scharfe Kling, als die letzte Falle ausgelöst wurde. Wulfhere rannte die Brustwehr entlang; er wollte nach unten, um den anderen zu helfen, aber er war kaum zehn Schritte weit gekommen, als ein Qumaner zwischen ihm und dem Turm auf die Brustwehr sprang. Der steinerne Bogen, das Einzige, was von der alten Tür übrig geblieben war, umrahmte seine Furcht erregende Gestalt. Seine Schwingen flatterten im wieder auffrischenden Wind; einzelne Federn, die sich beim Hochklettern gelöst hatten, trieben über die Mauer davon. Anna stieß einen Warnschrei aus und sprang auf, zog gleichzeitig ihr Messer. 141 Lewenhardts Pfeil traf den Mann in den Rücken. Er taumelte und fiel vornüber, gerade, als Wulfhere sich umdrehte und ihn niederschlug. Aber er war noch immer nicht tot. Anna rannte nach vorn, als er nach der Mauer tastete. Sie stieß seinen Speer weg, dann sprang sie zurück, während Wulfhere ihn umdrehte und ihm die Kehle aufschlitzte. »Wulfhere!«, rief Heribert verzweifelt. Anna drehte sich um und sah Matto die schmale Treppe hochrennen, die vom unteren Raum nach oben führte. Der Junge hatte seinen Speer in der Rechten und stieß immer und immer wieder nach unten, während er mit dem linken Arm Immersieg umklammerte und mit sich zog; der Soldat trat wild um sich, als versuche er, einen Feind von sich wegzustoßen.
»Verflucht«, sagte Wulfhere ungerührt. Er warf Anna den Speer des toten Mannes zu. »Mach dein Bestes draus, Kind.« Er drehte sich um, um Den und Johannes zu helfen, die, wie Anna jetzt sehen konnte, die andere Treppe hinaufgedrängt wurden. Heribert setzte Gnade ab und machte einen Satz auf Matto zu. Er nahm ihm Immersieg ab und zog ihn hoch. Das Kind war erstaunlicherweise eingeschlafen. Zacharias war nirgendwo zu sehen. Anna rannte hinüber und stellte sich neben Matto, der sich jetzt ebenfalls auf die Holzbohlen zog. Als Immersieg in Sicherheit war, drückte sie ihm den Speer in die Hände; dann brach sie mit Heriberts Hilfe lockere Steine aus der Mauer und begann, sie die Treppe hinunterzuwerfen. Schwingen zerbarsten. Männer fluchten. Die Wildheit, mit der die Felsbrocken von oben auf sie herabregneten, überraschte die Qumaner, sodass sie zunächst wie gelähmt waren. »Anna, Anna, gib mir das Kind!« Zacharias' Stimme erklang von unten, von irgendwo außerhalb des Wachturms. Anna rannte zu der Seite des Turms, von der aus sie den inneren Hof der kleinen Festung sehen konnte, und blickte hinab. Zacharias war tatsächlich über die Brustwehr geklettert und hatte 142 sich an der Außenseite der Mauer nach unten in den Innenhof hinabgleiten lassen, der nur durch eine bröckelige, rechteckige Mauer vor den Angreifern geschützt war. Drei qumanische Bogenschützen hielten Lewenhardt hinter seiner Mauerplatte in Schach. Den war verwundet; ein Pfeil ragte schräg aus seiner Schulter, und er hatte sich hinter Johannes und Wulfhere verkrochen, die sich Stufe um Stufe die Treppe hinauf vor einer überlegenen Zahl von Angreifern zurückzogen. Ein Pfeil prallte von Johannes' Helm ab, und er stolperte, wurde jedoch von Wulfhere mit einem kräftigen Ruck vor einem qumanischen Speer in Sicherheit gebracht. »Steine!«, schrie Immersieg. Zwei qumanische Reiter sprangen über die umgestürzte Mauer, die den Zutritt zum Hof behinderte, und blickten sich um. Zacharias schrie vor hilfloser Furcht auf und warf sich in einer Geste demütigster Unterwerfung auf den Boden. Es gab nichts, was Anna hätte tun können, um ihm zu helfen, wo er schon einmal so dumm gewesen war und den einzigen Zufluchtsort verlassen hatte, den sie besaßen. Aber sie konnte vielleicht noch immer Gnade retten. Als einer der Qumaner den Bogen spannte und auf den lang ausgestreckten Körper des Fraters zielte, biss Anna die Zähne zusammen und brach einen weiteren Stein aus der Mauer; sie schleuderte ihn auf den Helm jenes Qumaners, der jetzt versuchte, sich hochzuziehen. Matto jubelte schwach, als der Qumaner verschwand. Seine Beine bluteten, als er sich mit blassem Gesicht auf den Boden setzte; er war zu schwach, um noch kämpfen zu können. »Sie werden sie niemals kriegen«, rief Heribert und riss Matto den Speer aus den Händen. Ein Hörn erklang klar und süß. Die Qumaner riefen sich etwas zu. Dann verschwanden sie von einem Atemzug zum anderen, und Anna hörte, wie sie über die Steine kletterten, um zu ihren Pferden zu gelangen. Das Schwertgeklirr, das bisher aus Wulfheres Ecke gedrungen war, hörte ebenso plötzlich auf. Anna rannte zur Außenmauer, stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals 143 gerade rechtzeitig genug, um wendische Soldaten aus dem Wald brechen zu sehen. Die Herrscherin von Walburg und zwanzig kräftige Kämpfer waren eingetroffen. Guter wendischer Stahl machte kurzen Prozess mit den letzten Qumanern. Als alle tot waren und die Kundschafter sich verteilt hatten, um das Gelände zu sichern, nahm die Edelfrau ihren Helm ab. »Seid gegrüßt, Edelfrau Waltharia!«, rief Wulfhere von der Brustwehr. Zu Annas großer Überraschung grinste er - ein seltsamer Ausdruck auf seinem ansonsten so verschlossenen Gesicht. Er rief den anderen zu: »Wir gehen am besten runter und erweisen ihr Respekt.« Zacharias kam taumelnd aus dem Innenhof; er hatte keine schlimmeren Verletzungen erlitten als aufgeschürfte Knie und Hände. Nur Anna und Heribert hatten seinen schändlichen Fluchtversuch mitbekommen, und sofern Heribert sich nicht dazu äußerte, würde Anna ebenfalls den Mund halten. Bärbeiß wurde aus dem Geröll im ersten Stock ausgegraben; er hatte einen harten Schlag auf den Kopf erhalten und kam erst jetzt wieder zu Bewusstsein. Ansonsten schien er jedoch unverletzt. Die Übrigen kamen humpelnd, hinkend und fluchend, aber siegreich herbei. »Mögen Gott uns schützen«, sagte Edelfrau Waltharia, als sie die bunt gemischte Gruppe vor sich sah. »Ich habe noch niemals eine so erbärmliche Truppe gesehen. Wo ist das Kind?« Heribert trug Gnade, die schläfrig gähnte und mit einem Auge blinzelte. Sie verzog ihr Gesicht kurz zu einer fröhlichen Grimasse, entschied sich dann aber offensichtlich, weiterzuschlafen. Sie gähnte noch einmal herzhaft und schmiegte dann ihren Kopf an Heriberts Schulter, wo sie sofort wieder einschlief. Edelfrau Waltharia stieg ab und musterte das Kind, darauf bedacht, es nicht zu wecken. »Hübsches, kleines Ding. Obwohl es natürlich gar nicht anders sein konnte, schließlich hat sie den Prinzen zum Vater. Wer seid Ihr?« 144 »Ich bin Bruder Heribert. Bruder Zacharias und ich haben die Gelehrtenschule von Prinz Sanglant gegründet.«
Sie hatte ein angenehmes Lachen, freundlich und offen. »Eine Gelehrtenschule, ein Adler, ein Kind und dann noch dieses nuss-braune Geschöpf hier.« »Ich heiße Anna, Edelfrau«, sagte Anna trotzig. »Wenn du es sagst, wird das wohl so sein. Aber wieso auf Gottes Erden reitet ein Mädchen in deinem zarten Alter mit Sanglants Streitmacht?« »Ich bin die Zofe, Edelfrau.« »Aha. Wie gut, dass der Prinz seiner Tochter eine Zofe gibt, wenn er schon darauf besteht, sie zu seinen Schlachten mitzuschleppen. Bist du praktisch veranlagt? Erschreckst du dich leicht? Kannst du mit der Geschwindigkeit seines Heeres Schritt halten?« »Das sind viele Fragen, Edelfrau.« »Und du solltest sie auch nicht beantworten, wenn du klug bist. Da sind noch ein paar andere, die ebenfalls sehr jung aussehen«, fügte sie hinzu, während sie Matto und die anderen fünf Soldaten ausgiebig musterte. Sie war etwa dreißig Jahre alt, eine große Frau, die in ihrem Kettenpanzer und mit ihrem stolzen Gang noch beeindruckender wirkte. Sie hatte gerötete Wangen und hellbraune Haare, die zu einem Zopf zurückgebunden waren. Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. Eines ihrer Ohren hatte kein Ohrläppchen mehr, und wenn sie grinste, sah man, dass ihr ein Zahn fehlte. Sie winkte Wulfhere heran, der respektvoll zu ihr trat. »Soso, Adler, ich habe das Gerücht gehört, dass Ihr wieder einmal verbannt worden seid. Oder seid Ihr dem König davongelaufen? Es ist so schwer, Gerüchte von der Wahrheit zu unterscheiden, nicht wahr? Soll ich Euch jetzt mit der Breitseite meines Schwerts davonjagen oder einkerkern?« Wulfhere lächelte. Zu Annas Überraschung schien er diese Frau aufrichtig zu mögen. Er war sonst immer so reserviert, dass es wirklich auffällig war, ein echtes Gefühl in seiner Miene aufblitzen zu sehen. »Ich habe geschworen, dem Prinzen zu helfen, Edel145 frau Waltharia. Ich unterwerfe mich in dieser Angelegenheit daher seiner Gnade.« Sie schnaubte, offensichtlich erfreut über seine Antwort. »Der Gnade des Prinzen! Den Ihr zu ermorden versuchtet, als er noch ein wimmernder Säugling war, sofern die alte Geschichte wirklich stimmt. Mein Vater jedenfalls glaubt tatsächlich, dass sie stimmt, sonst hätte er sie mir sicherlich nicht erzählt.« Ein scharfes, dreimaliges Pfeifen erklang aus Richtung der Bäume. »Aber ich schätze, wir können ihn selbst befragen«, beendete sie die Angelegenheit und wandte sich bei dem Geräusch herannahender Reiter um. Gnade wachte augenblicklich auf, hob den Kopf und zappelte so heftig, dass Heribert schließlich entnervt aufgab und sie freiließ. »Papa!«, rief sie leidenschaftlich, als die goldenen Banner zwischen den Bäumen aufblitzten. Einen Augenblick später geriet der Prinz selbst in Sicht - er bot einen prachtvollen Anblick mit seinem goldenen Überwurf, dem scharlachroten Umhang, der leuchtenden Rüstung und dem Furcht einflößenden, mit Goldplättchen besetzten Drachenhelm, dessen Verzierung so gearbeitet war, dass man den Eindruck hatte, als würde der Drache selbst jeden Augenblick angreifen. Sanglant zügelte sein Pferd und stieg sofort ab; kaum hatte er den Helm abgenommen, bearbeitete Gnade ihn auch schon, forderte ihn auf, sie auf den Arm zu nehmen. »Still, meine Tochter«, sagte er lachend, als er sie hochhob. Er blickte Waltharia an, die bewundernd auf die gute Figur starrte, die er machte. »Es hat funktioniert.« »Es funktioniert immer.« Sie lächelte wie über eine alte Erinnerung und begegnete seinem Blick offen und direkt. »Papa, sieh mich an«, schalt Gnade, dann quietschte sie fröhlich, als er sie in die Nase zwickte. »Wie geht es Hedwig?«, erkundigte sich Wulfhere. Waltharia kicherte. »Sie hasst Euch immer noch, jedenfalls ent146 nehme ich das dem Strom von Flüchen, den sie gestern Abend losgelassen hat, als sie begriffen hat, dass Ihr mit dem Tross des Prinzen hergekommen seid.« »Ich werde mich bemühen, ihr aus dem Weg zu gehen«, murmelte Wulfhere leise. »Das solltet Ihr wirklich, sofern Euch Eure Knochen lieb und teuer sind.« Sie wandte sich wieder an Sanglant. »Der Zeitpunkt deines Besuchs ist zeitlich perfekt gewählt. Die Qumaner haben erst vor sechs Tagen mit der Belagerung von Walburg begonnen. Du hast gesehen, was sie mit den Feldern und den Obstwiesen gemacht haben. Es gibt ein Dutzend Bauern, deren Verbleib ungeklärt ist.« Sie ging zu ihm und fingerte kühn am Saum von Gnades Tunika herum, die vom Spielen schmutzig und zerrissen war. Das kleine Mädchen beäugte sie argwöhnisch. »Ich bin allerdings überrascht, dass du das Kind einer so großen Gefahr aussetzt, indem du es mit auf den Feldzug nimmst.« »Die Gefahr wäre größer, wenn ich es irgendjemandem überlassen würde.« Anna wusste, wie sehr er seine Tochter liebte. Sie konnte es auch jetzt an seiner Miene erkennen, als er Edelfrau Waltharia trotzig ansah, als würde ihre Meinung ihm etwas bedeuten. »Besser, sie stirbt mit mir, als dass sie ohne meinen Schutz leben muss.« »Und ihre Mutter -? Aha. Ich verstehe. Wir verschieben das Thema besser auf einen späteren Zeitpunkt. Ich werde deine Gelehrtenschule und die Kindertagesstätte dann also in die Sicherheit meiner Festung überführen.« »Ich danke dir«, sagte er steif. Er blickte noch immer gereizt drein. Dann gab er Gnade einen Kuss. »Geh mit
Anna, mein Liebling. Nein, keine Widerrede jetzt.« Er wartete gar nicht erst auf irgendeinen Protest, sondern gab Gnade in Annas Gewahrsam und verschwand wieder mit seiner Streitmacht, donnerte die Ebene hinunter, um die fliehenden Qumaner zu verfolgen und so viele wie möglich von ihnen zu töten. Edelfrau Waltharia begleitete sie tatsächlich nach Walburg, aber 147 sie überließ sie am Tor dem Schutz eines Verwalters, während sie selbst wieder davonritt, um ebenfalls den Feinden hinterherzujagen. Planken waren hastig über den äußeren Graben gelegt worden, um den Soldaten den Ausfall zu erleichtern. Anna ging auf ihnen zur anderen Seite; sie fühlte sich wohler, als ein Diener ihr Maultier führte. Die Holzplanken schwankten unter ihren Füßen, und sie musste die Arme ausbreiten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, bevor sie festen Boden erreichte. Die nächste Brücke lag direkt unter der Mauer. Wachtürme ragten an beiden Seiten auf, und in regelmäßigen Abständen fanden sich Todeslöcher. Stimmen murmelten hinter diesen Löchern, und Anna erhaschte ein paar Blicke auf etwas, das sich bewegte - Soldaten, die aus dem Schutz ihrer Festung heraus zusahen. Das Tor öffnete sich quietschend - und sie gelangten ins eigentliche Walburg. Für eine Stadt, die belagert wurde, war es erstaunlich ordentlich und sauber. Alleen wanden sich um den Hügel, auf dem die ursprüngliche Festung errichtet worden war. Von dem Platz vor der Kathedrale führten neuere Straßen weg, die alle mit Holzplanken versehen waren. Zelte waren auf dem Platz aufgestellt worden, um Flüchtlinge zu beherbergen, doch der größte Teil des unbebauten Geländes wurde für Obstbäume und Gärten benutzt, um Nahrungsmittel im Falle einer Belagerung zur Verfügung zu haben. Die Basilika von St. Walaricus, die kleiner war als die Kathedrale von Gent, wirkte äußerst ordentlich; alles war rechteckig ausgerichtet, die Türstürze waren mit ineinander verschränkten Spiralen und zu Girlanden verschlungenen Kreisen bemalt, und in den Turm war auf allen Seiten ein Baum eingemeißelt und silbern bemalt worden. »Das Wappen der Villams ist der Silberbaum«, erklärte Zacharias, als sie auf ihrem Weg zum Palast über den Platz der Kathedrale kamen. »So ist es«, pflichtete Heribert ihm bei, »und außerdem hat St. Walaricus den Märtyrertod erlitten, indem er von einem ungläubigen Prinzen an einem Baum aufgehängt wurde.« 148 »Dann war es sehr schlau von Villam, die Kathedrale Walaricus zu weihen, nicht wahr? Auf diese Weise konnte er beides haben.« Heribert wirkte überrascht. Anna mochte ihn sehr viel lieber als Zacharias, der in Gottes Angesicht gespuckt hatte, doch auch er verschaffte ihr manchmal ein unbehagliches Gefühl, weil er immer so ordentlich und sauber war, selbst unter den schwierigsten Bedingungen, unter denen sie im Lager leben mussten. Manchmal sah sie einfach keinen Sinn darin, so pingelig zu sein. »Glaubst du, dass Villam die Kathedrale St. Walaricus geweiht hat, damit er sein eigenes Wappen auf dem Kirchturm anbringen kann, ohne dass ihn deshalb jemand für anmaßend hält?« Zacharias lachte. »Glaubst du etwa nicht, dass es so ist? Er ist noch viel schlauer, mein Freund.« »Dann bete ich untertänigst darum, dass uns seine Intrigen erspart bleiben.« Zacharias lächelte lediglich. Anna traute ihm nicht, wenn er lächelte, so wenig, wie sie dem alten Adler Wulfhere traute, der den Eindruck erweckte, als wäre er wie ein Wolf jederzeit bereit, entweder zuzubeißen oder die Hand zu lecken. Die Soldaten, selbst Matto, wurden zu den Unterkünften geführt, doch Gnade und ihr persönliches Gefolge erhielten einen Raum im Turm des Palastes, von dem aus man einen schönen Blick auf den Fluss hatte. Es gab ein weiches Daunenbett, ein kleineres Bett auf Rollen mit einer dicken Federdecke, sowie vier Schlafpritschen an der Wand. Ein halbes Dutzend Kohlepfannen voller glühender Kohlen wärmten den kühlen Raum. Anna setzte sich im Schneidersitz auf den dicken Teppich, da Zacharias, Wulfhere und Heribert die Bank und den Stuhl für sich in Anspruch nahmen. Gnade entschied sich, auf dem Tisch Platz zu nehmen, gleich in der Mitte. Von hier aus konnte sie die Bediensteten herumkommandieren, die ein herzhaftes Mahl aus in Senf und Petersilie gebratenem Hühnchen, einer pikanten Suppe, in Butter gekochtem Lauch, mit einer Minzsoße übergossenem Fleisch und Honigklößen hereinbrachten. 149 Das reichhaltige Essen brachte Anna zum Rülpsen. Sie kauerte sich am Fuß des Bettes zusammen, plötzlich so schläfrig, dass sie nichts weiter wollte als schlafen. Ein Schrei weckte sie auf. »Papa! Papa! Guck mal, hier bin ich!« »Der Herr rette uns, Eure Hoheit!« Heribert wirkte erzürnt. »Du wirst dir noch das Genick brechen!« In der Zeit, als Anna sich vor den Aikha hatte verstecken müssen, hatte sie gelernt, rasch aufzuwachen und sofort hellwach zu sein. Sie sprang im gleichen Augenblick auf, als Wulfhere Gnade packte und vom Fensterbrett herunterzog. Das Mädchen schrie jetzt noch lauter, sofern das überhaupt möglich war, wand sich in Wulfheres Griff und biss ihn kräftig in die Hand. Er schrie auf und ließ los. »Nun, dieses Kind hat einen Geschmack, den ich bewundere.« Eine ältliche Frau mit dem Abzeichen eines Adlers trat durch die Tür, stützte sich dabei schwer auf einen Stock. Sie musterte die einzelnen Personen in der
Kammer mit einem festen Blick, der eher kühl als warm war. Selbst Gnade, die gerade Luft geholt hatte und zu einem neuen, lauten Schrei ansetzen wollte, verstummte plötzlich und starrte die Frau verwundert an. »Nun, Wulfhere, ich habe darum gebetet, dich niemals wieder zu sehen.« »Ich bitte um Vergebung, Hedwig«, sagte er. »Aus Respekt werde ich dir nicht den üblichen Gruß >Heil, Kameraden, seid gegrüßt< entgegenbringen.« »Ich hatte gedacht, du wärst inzwischen tot.« »Ich hatte gehört, du wärst es.« Sie schnaubte. »Es braucht mehr als fünf qumanische Pfeile, um mich zu töten.« »Ich hörte, es wären Banditen gewesen.« Sie lachte trocken. »Qumaner sind nicht die Einzigen, die versucht haben, mich zu töten. Die Banditen, von denen du sprichst, haben ihren Fehler schon bald bemerkt. Edelfrau Waltharia hat sie dafür am Kirchplatz aufgehängt. Sie haben da so lange gehangen, 150 bis die Krähen und Raben sie bis auf die Knochen abgenagt hatten.« Sie griff in ihren herabhängenden Ärmel und zog einige an einem Band aufgereihte Fingerknochen heraus. »Das ist alles, was von ihnen übrig geblieben ist.« »Eine hübsche Trophäe«, bemerkte Wulfhere. »Ich trage sie stets bei mir, damit sie mich daran erinnern, was jene zu erwarten haben, die mich wütend machen.« Er lachte, aber daran, wie sich seine Wangen röteten und er verschlagen mit den Augen blinzelte, erkannte Anna, dass er Meistrin Hedwig nicht mehr liebte als sie ihn. Anna eilte zu Gnade und brachte das Kind dazu, die Huldigung des alten Adlers freundlich anzunehmen. »Dies ist also das Kind.« Sie musterten einander, die verkrüppelte alte Frau und die junge Prinzessin. Gnades Haare hatten sich aus dem Zopf gelöst, und einzelne Locken umrahmten jetzt ihr kleines Gesicht. »Ich will sitzen«, verkündete Gnade. Sie setzte sich mitten auf den Teppich und deutete herrisch auf die Bank, die Zacharias rasch verließ, um Platz zu schaffen. »Du sollst sitzen.« »Ich danke Euch, Eure Hoheit, aber wenn ich mich jetzt hinsetze, wird es anderthalb Tage dauern, bis ich mit meinen alten Knochen wieder aufstehen kann. Edelfrau Waltharia hat mich gebeten, Euch nach unten zum Festmahl zu bringen. Sie möchte Euch und Euren Vater so vorzüglich bewirten, wie es einer Markgräfin, die einen königlichen Prinzen zu Gast hat, zukommt.« »Ich dachte, Helmut Villam wäre hier Markgraf«, murmelte Zacharias. Die Bemerkung brachte ihm einen scharfen Blick von der alten Hedwig ein. Wulfhere beeilte sich, eine Erklärung abzugeben. »Edelfrau Waltharia ist in jeder Hinsicht, außer dem Namen nach, Markgräfin.« »Ihr Vater ist noch nicht tot! Er kam mir verdammt lebendig vor, als ich das zweifelhafte Glück hatte, ihm vorgestellt zu werden!« 151 Heribert zuckte mit den Achseln. »Die Geheimnisse von König Henrys internem Hofzirkel sind mir verborgen. Ich bin nur ein niederer Geistlicher von der Gelehrtenschule von Mainni.« Wulfhere schnaubte, halb amüsiert über den eleganten Protest des Geistlichen. »Was denkt Ihr denn, wieso der alte Villam mit dem König reitet? Er und seine Tochter respektieren einander, aber sie verstehen sich nicht sehr gut. Sie ist durchaus in der Lage, die Marklande zu regieren, und er kann nicht ewig leben. Er geht ihr aus dem Weg. Es ist eine Möglichkeit, sich zur Ruhe zu setzen, da es nicht seine Art ist, sich ins Kloster zurückzuziehen. Und das ist -« Er blickte Hedwig an. Als ihre Blicke sich trafen, war es, als würden Schläge ausgeteilt. »Und das ist für alle Betroffenen viel besser als Rebellion. Es kommt durchaus vor, dass eine unruhige Erwachsene gegen einen Elternteil rebelliert, wenn es keine Aussicht auf ein unabhängiges Leben oder gar Fortkommen gibt. Villam ist ein weiser Mann, und er hat es besser geschafft als manch anderer, eine Erbin großzuziehen, die so weise ist wie er.« »Dass du sie so respektierst, wie sie es verdient hat, ist das einzig Gute, was ich über dich sagen kann«, bemerkte Hedwig. »So sei es.« Wulfhere hob die Hand, als wollte er sich unterwerfen. »Lass uns keine alten Wunden aufreißen, ich bitte dich.« »Ihr sollt nicht streiten!«, befahl Gnade, die Fäuste in die Taille gestemmt, während sie sie anstarrte. Sie hatte eine solch wilde Art, ihr Gesicht zu verziehen, dass es beinahe unmöglich war, über sie zu lachen. In einem Jahr würde es jedenfalls nicht mehr sehr lustig sein. »Wie Ihr wünscht, Eure Hoheit«, sagte Hedwig mit ausdrucksloser Miene. »Wenn Ihr mich dann bitte begleiten würdet.« Anna bewunderte die festen Schritte, mit denen Hedwig die Treppen hinunterstieg, obwohl jeder einzelne Schritt ihr Schmerzen zu bereiten schien. Die Treppe führte durch den Turm nach unten. Sie hatte noch nie einen so großen Steinturm gesehen, abgesehen von dem der Kathedrale in Gent, und der war rechteckig gewesen. Dieser hier war kalt, trocken und dunkel, aber sobald 152
man seinen Fuß erreicht hatte, trat man durch einen Torbogen, in den eine Tür eingesetzt war, deren beide Flügel jeweils mit einem Eisenriegel verstärkt waren. Von dort gelangte man auf einen recht großen Hof, auf dem sich zahlreiche Soldaten aufhielten. Anna roch Blut und Erregung, der schwere Geruch eines errungenen Sieges, der wie ein Parfüm in der Luft hing. Ein großer Stapel Holzschwingen lag auf einem Haufen an der Seite. Federn schwebten in der Luft, wie dünner Schnee. Prinz Sanglant stand an einem der Tröge. Er hatte beinahe alles ausgezogen und schüttete sich jetzt Wasser über die nackte Brust und die Arme, um sich das Blut abzuwaschen. Gnade holte tief Luft, um einen Freudenschrei auszustoßen, doch als sie Hedwig anblickte, besann sie sich schlagartig eines Besseren. Stattdessen versuchte sie, sich von Anna loszureißen, um schneller vorwärts zu kommen. Soldaten machten ihnen Platz, riefen ihren Namen, als sie sich auf ihren Vater zubewegte. Als sie hinter ihn traten, sprach er, ohne sich umzudrehen. »Nein, mein Liebling, ich habe jetzt keine Zeit zum Spielen.« Manchmal, so wie jetzt, schien der Prinz sich so inbrünstig zu waschen, dass selbst Heriberts pingelige Art in den Schatten gestellt wurde. Anna hatte nie zuvor eine Person sich so hart abschrubben sehen, wie er es tat, wenn er in einer solchen Stimmung war. Aber sie erinnerte sich daran, wie er vor zwei Jahren in Gent ausgesehen hatte, als er in der Kathedrale angekettet gewesen war. Vielleicht konnte er all den Schmutz und Dreck niemals abwaschen, zumindest nicht in seinem Herzen. Edelfrau Waltharias Soldaten sprachen leise miteinander; sie sahen dem Prinzen beim Waschen zu. »Nein, das hätte ich niemals gedacht. Diese Qumaner wären auch vor ihm geflohen, wenn er allein gewesen wäre.« »Ich habe niemals einen Mann so mutig kämpfen sehen wie ihn.« »Ich habe gehört, dass er fast wahnsinnig geworden ist, als sein Bannerträger gefallen ist.« 153 »Stimmt es, dass er niemals König werden kann?«, fragte jemand mit noch leiserer Stimme. Plötzlich wurde es totenstill, als Edelfrau Waltharia in Begleitung eines breitschultrigen Edelmannes den Hof betrat. Er war noch immer bewaffnet, und seine Wangen glühten, als wäre er gerannt. Getrocknetes Blut klebte an seinen kurz geschnittenen blonden Haaren, die ein beinahe rechteckiges Gesicht einrahmten. Waltharia hatte bereits ihr Kettenhemd abgelegt, aber das gefütterte Untergewand war um den Hals herum und unter den Armen voller Schweißflecken, und winzige, hellere Stellen zeigten sich dort, wo die Kettenglieder in den Stoff gepresst worden waren. Sofort brachen die Soldaten in Jubelschreie aus. Sie hob beschwichtigend die Hand. »Bringt Prinz Sanglant alle Ehre entgegen, die ihm gebührt. Ohne ihn würden wir immer noch belagert werden.« Während die Soldaten sich in Hurra-Rufen und lautem Geschrei ergingen, kam Matto mit Sanglants festlicher Tunika herbeigelaufen. Der Prinz zog sie über, obwohl seine Haare noch feucht waren, eine schöne Wolltunika in einem sanften Orange, bestickt mit gelben und weißen Drachen, die sich wie Schlangen den Saum und die Ärmel entlang wanden. Er bat nicht eigens um Ruhe, aber Ruhe kehrte ein, kaum dass er die Tunika über der Hüfte gegürtet hatte. »Freut euch nicht zu sehr.« Obwohl er nicht zu schreien schien, war seine heisere Stimme gut zu hören. »Trinkt heute Abend, so viel ihr wollt, aber vergesst nicht, dass wir noch weitere Schlachten zu schlagen haben. Dies ist nur ein kleiner Teil des qumanischen Heeres gewesen. Ihr Anführer ist noch nicht tot, und sie sind auch nicht wie geprügelte Hunde nach Osten geflüchtet. Was sie aber noch tun werden.« Die Soldaten liebten solche Worte. Sie riefen seinen Namen, dann den ihrer Herrin und ihres Mannes, Edelmann Druthmar. Die Feier trug sie in die große Halle. Prinz Sanglant hob seine Tochter auf seine Schultern, wo sie, so gut es ging, mit ihnen um 154 die Wette rief und schrie; ihre helle Stimme erhob sich über das übrige Geschrei. Anna glaubte schon, sie selbst würde niedergetrampelt werden, aber Matto und Hauptmann Fulk waren dicht hinter ihr und gaben auf sie Acht. Die vergangenen Monate waren nicht so nett zu Anna gewesen, wie sie es Matto gegenüber gewesen waren, denn der war eine Handbreit größer und breiter in den Schultern geworden. Obwohl sie niemals richtig hungrig war, war sie dünner geworden. Das ganze Fett, das sie bei Meistrin Suzanne angesetzt hatte, war unter den Härten des Feldzuges wieder verloren gegangen. Gefangen in der Meute rauer und kampfbereiter Soldaten, kam sie sich wie ein Stock vor, den man gerade in einen von der Frühlingsflut angeschwollenen Fluss geworfen hatte. Es war schwer, beim Fest etwas zu verstehen, bei all dem Gesang und den Hochrufen, dem dumpfen Gebrüll der zufriedenen, triumphierenden Menschen. Anna stand wie immer hinter Gnade. Hin und wieder nahm sie ein bisschen von den Köstlichkeiten, die auf ihrer Platte lagen. Ein Gang nach dem anderen wurde aufgetischt: geröstete Gans mit Petersilie und einer Brotfüllung; ein Fleischeintopf mit Rosenblüten und gesüßt mit eingemachten Kirschen; Austern; mit Fenchel und Kümmel gewürztes Brot; Rinderbrühe mit Dill und Lauch; eine Suppe aus geriebenen Haselnüssen, Mehl und Holunderblüten; außerdem wieder Honigklöße. Die siegreichen Soldaten tranken viel. Edelfrau Waltharia goss Prinz Sanglant den Wein durch einen goldenen Sieblöffel, den sie, wie sie behauptete, als Teil ihres mütterlichen Erbes erhalten hatte - von jener Frau, die Villams dritte und seine Lieblingsfrau gewesen war. Edelmann Druthmar schien ein gefestigter Mann zu sein, offen, aufrichtig und gutherzig, und nicht ein bisschen
verärgert über die höhere Autorität, die seine Frau besaß. »Wir haben Berichte gehört, denen zufolge Bulkezu Prinz Ekkehard gefangen genommen haben soll.« »Hat Bulkezu ein Lösegeld verlangt?« Sanglant verscheuchte einen Windhund, der versuchte, Fett von dem Stück grünen Leinen 155 zu lecken, das über seinen Beinen lag. »Oder glaubt Ihr, er hat ihn getötet?« Edelfrau Waltharia saß zwischen den beiden Männern. Anna beeilte sich, Gnade davon abzuhalten, den zurückgewiesenen Windhund mit einer Portion Fleisch zu füttern. »Es ist nur ein Gerücht, dass die Qumaner Ekkehard gefangen genommen haben«, erklärte Waltharia. »Prinz Bayan und Prinzessin Sapientia überwintern in Handelburg. Wir haben gehört, dass Prinz Ekkehard dort gefangen genommen wurde, aber er konnte dem Gewahrsam der Bischof in entfliehen. Er ist zum letzten Mal im Winter gesehen worden, und da sind die Straßen kalt und schwer zugänglich. Ich vermute, dass er tot ist.« Sanglant nippte gedankenvoll an seinem Wein. »Das ist eine unglaubwürdige Geschichte. Ihr kennt Bayan so gut wie ich. Wie könnte ein Junge wie Ekkehard nicht nur der Aufmerksamkeit Bayans, sondern auch der von Bischof in Alberada entkommen?« Er schüttelte den Kopf. »Welches Vergehen wurde ihm überhaupt zur Last gelegt?« Gnade ließ den Elfenbein-Löffel fallen. Anna bückte sich gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass der widerspenstige Windhund die Reste der Brühe ableckte. Sie zischte, und der Hund verzog sich, wirbelte dabei die Binsen auf. Halb unter dem Tisch verborgen, die Hände in den Binsen und einen abgenagten Knochen unter ihrem Knie, hörte sie Edelfrau Waltharias gelassene Antwort. »Ketzerei.« Wurde es wirklich still in der Halle, oder waren es nur der dicke Tisch und das schwere, bis auf den Boden hängende Tischtuch, die den Lärm der feiernden Menge dämpften? Edelmann Druthmar lachte über einen Witz, den ihm der Edelmann rechts von ihm erzählte. Edelfrau Waltharia hatte die Aufmerksamkeit des Prinzen ganz für sich. »Es heißt, dass diese Ketzer böse Magie eingesetzt hätten, um Anhänger zu gewinnen. Es heißt außerdem, dass Ekkehard durch Gott Hilfe erhalten hätte. Du hast die Wahl.« 156 »Ich überlasse es den Kirchenleuten, über Religion zu streiten.« Sie kicherte und rief nach mehr Wein. Anna hielt es für sicher, wieder unter dem Tisch hervorzukommen, und kämpfte sich hoch. Als sie stand, wischte sie den Löffel an ihrer Tunika ab, bis er sauber genug war, dass sie ihn Gnade zurückgeben konnte. Bittsteller traten vor, um von Edelfrau Waltharia die Erlaubnis zu erhalten, zu ihren Höfen zurückkehren zu dürfen, da die Bedrohung durch die Qumaner ja nun vorüber war. Ein Barde bat darum, sie mit dem Lied unterhalten zu dürfen, das er erst heute Abend zu Ehren ihres Sieges komponiert hatte. Gnade ließ den Kopf sinken, ihre Augenlider flatterten, sie gähnte und versuchte, auf den Schoß ihres Vaters zu klettern und zu schlafen. »Ich bringe sie ins Bett.« Sanglant stand auf, Gnade in seinen Armen. Ein lauter Ruf erhob sich von den versammelten Soldaten; sie jubelten ihm zu, und zum ersten Mal, seit er aus der Schlacht zurückgekehrt war, lächelte er, nahm er den Tribut entgegen, den sie ihm zollten. Er hob die Hand, und es wurde still, als alle darauf warteten, dass er sprach. »Trinkt und genießt den heutigen Abend«, rief er. »Morgen jagen wir Qumaner.« Begleitet von den Jubelrufen der Soldaten folgte Anna ihm nach draußen durch die dunklen Gänge, die nicht sofort zum Turm führten, sondern zu den Soldaten-Unterkünften - einem langen Raum, der sich über den Ställen erstreckte. Mit Hanf und Stroh bestreute Pritschen bildeten behelfsmäßige Betten, aber sie waren immer noch weicher als der Holzfußboden. Sie konnte die Pferde unten riechen und durch die Lücken in den Holzlatten sogar einen Blick auf sie erhaschen. Es war still in den Unterkünften; die meisten Männer feierten noch immer in der großen Halle. Jene, die in der Schlacht verwundet worden waren, hatte man hierher gebracht, um sich zu erholen - oder um zu sterben. Seine Tochter auf den Armen, suchte der Prinz jeden einzelnen der verwundeten Männer auf, tauschte Scherze mit ihnen aus, prüfte die Salbenverbände oder befragte sie genauer über das, was 157 sie in der Schlacht gesehen und getan hatten. Ein paar waren zu schwer verletzt, um sprechen zu können, doch einer von ihnen konnte immerhin die Hand des Prinzen ergreifen. Ein Mann hatte ein graues Gesicht, als wäre sämtliches Leben aus ihm gewichen. Anna kannte all ihre Namen - Chustaffus, Fremen, Liutbald. Auch der leichtsinnige Sibold lag hier. Er hatte eine ernste Brustverletzung erlitten, doch als er den Prinzen sah, begann er lebhaft zu scherzen. Vielleicht würde er nicht sterben. Es war ein Wunder, dass es nur drei Tote gegeben hatte, die man aus der Schlacht zurückgeschleppt und jetzt mit Tüchern zugedeckt hatte. Einer der Toten war der treue Wracwulf, der an diesem Tag die Ehre erhalten hatte, das goldene Banner des Prinzen zu tragen. Sanglant kniete eine lange Zeit neben seiner Leiche, während Gnade leise in seinen Armen schnarchte. Nach einer Weile erschien Hauptmann Fulk und nahm seinerseits den Platz bei den Toten ein. Erst jetzt brachte Sanglant seine schlafende Tochter zum Turmzimmer, wo ihr Bett auf sie wartete. Anna trug eine Lampe, die ihnen den Weg leuchtete. Drinnen hängte sie sie an einen an der Wand angebrachten
Eisenhaken, dann half sie dem Prinzen, Gnades Hände zu waschen, die von Fett und Honig ganz klebrig waren, sie bis auf das Unterhemd auszuziehen und in das Bett mit den Rollen zu stecken. Er beugte sich über seine Tochter und betrachtete sie mit der gleichen Aufmerksamkeit, die er zuvor den verwundeten Soldaten entgegengebracht hatte. »Du bist ein gutes Mädchen, Anna«, sagte er plötzlich. Mit einem Stock stocherte er in der Kohlenpfanne herum, die Gnade am nächsten war. »Was denkst du? Soll ich sie hier in Walburg unter dem Schutz Waltharias zurücklassen, wenn ich weiter nach Osten reite? Doch wem kann ich trauen? Kann ich überhaupt jemandem trauen?« »Mir könnt Ihr trauen, mein Prinz.« Er blickte sie an und grinste schief; es war ein charmantes Lächeln. Sie wäre in diesem Augenblick, wenn er sie darum gebeten hätte, auf der Stelle aus dem Fenster gesprungen; er besaß jene Art 158 von Ehre, die so hell strahlte, dass sie manchmal regelrecht glaubte, sie wie einen Heiligenschein aufleuchten zu sehen. Doch sie wusste, dass das alles nur ihrem Herzen entsprang, das ihn ebenso liebte, wie seine Soldaten ihn liebten. »Ja, das kann ich«, bestätigte er, und ihr Herz machte einen Sprung vor Freude darüber, dass sie sein Vertrauen gewonnen hatte. Er war lange Zeit reglos geblieben. Jetzt begann er, auf und ab zu gehen, das Zimmer entlangzuschreiten, es in Muster zu zerlegen, Rechtecke, Sterne und Kreise, bis sie ganz benommen davon wurde, ihm zuzusehen. Sie zog ihre Schuhe aus und legte sich neben Gnade auf das Rollbett. Die Federn waren so weich, dass sie glaubte, darin für immer zu versinken. Sie war müde, und sie hatte nicht mehr in solch einem bequemen Bett geschlafen, seit sie Meistrin Suzanne verlassen hatte. Aber sie behielt ein Auge offen, um zu sehen, was der Prinz tat. Er war bei der Tür stehen geblieben und lauschte, die Hand einen Fingerbreit vom Riegel entfernt. Der Riegel quietschte und bewegte sich. Der Prinz sprang zurück, sodass die Tür ihn verbarg, als sie sich öffnete. Edelfrau Waltharia betrat das Zimmer; sie war allein. Sie blieb nach ein paar Schritten stehen, betrachtete mit einem ironischen Lächeln das leere Bett, die stummen Pritschen, den Tisch, auf dem ein Krug mit drei Silberbechern stand, und das schlafende Kind. Sie machte einen Satz, als sich die Tür hinter ihr geräuschvoll schloss, und wirbelte herum. Sanglant lachte leise hinter ihr. Sie kicherte und strich sich die schwarzen Haare zurück. Irgendwie hatte sich zwischen der Halle und diesem Zimmer ihr Zopf gelöst, und die Haare fielen ihr - vom Flechten noch ganz gelockt - über die Schultern bis zur Taille. »Du hast dich nicht verändert«, sagte sie, während sie zu seinem Bett ging und sich auf die Bettkante setzte. Sie schob die überhängende Decke zurück, damit sie ihr nicht im Weg war. »Habe ich das nicht?«, fragte er, ohne sich von seinem Platz neben der Tür wegzubewegen. 159 »Du hast einmal zu mir gesagt, dass du niemals heiraten würdest.« »Nur, weil mein Vater es mir verboten hatte. Ich war damals Hauptmann der Drachen des Königs. Ich hatte nicht das Recht zu heiraten. Damals.« »Vielleicht irre ich mich«, bemerkte sie, stand dabei auf und trat ans Fenster, dessen Laden noch nicht geschlossen war. »Du bist nicht mehr der, der du einmal warst.« Sie lehnte sich an das Fensterbrett, die Hände auf den Holzrahmen gestützt, der in die Steine eingelassen worden war. Anna konnte von ihrem Bett aus nicht sehen, auf was Waltharia starrte, wenn sie überhaupt irgendetwas anderes sah als den Himmel und die Sterne. Draußen war es möglicherweise wärmer als drinnen. Die Steinwände hatten die Eigenart, die Feuchtigkeit und Kühle im Raum zu halten. »Wie ist sie? Deine Frau, meine ich.« »Bist du neidisch auf sie?« Sie wandte sich um. »Ich nehme an, früher wäre ich es gewesen. Aber du hättest zu viel Unruhe bedeutet, selbst wenn ich dich hätte haben können. Mein Vater hatte Recht, was das betraf. Ich habe einen willfährigeren Ehemann gebraucht.« Weil er nichts sagte, grinste sie fröhlich und setzte sich auf das Fensterbrett. Der Wind spielte mit ihren Haaren. »Druthmar ist ein guter Mann. Gut genug.« »Er hat sich heute als sehr fähig erwiesen.« »Das hat er. Aber er ist nicht wie du. Du bist der beste Hengst im Stall des Königs. Ich muss diesen gut aussehenden Körper einfach bewundern. Besonders, wenn ich feststelle, dass er halb nackt vor meinem Trog steht.« Er lachte. »Ich musste mich waschen.« »Du kannst dich hier waschen. Ich kann dir Wasser bringen lassen.« »Du bist diejenige, die sich nicht geändert hat.« »Vielleicht habe ich das auch nicht. Vor langer Zeit, noch bevor die Kirche der Einigkeiten meine Ahnen vor dem Abgrund geret160 tet hat, sollen bestimmte Priesterinnen sich mit Hengsten vereinigt haben, um dem Stamm Glück zu bringen. Ich stamme vermutlich von ihnen ab.«
Er löste sich schließlich von der Tür und warf sich auf das Bett, legte sich mit beiläufiger Anmut auf den Rücken und betrachtete sie. Von ihrem Platz aus konnte Anna im Schein der Lampe seine Umrisse sehen. Das weiche Licht verlieh seinen zerzausten Haaren einen seidenen Schimmer. Waltharia blieb am Fenster sitzen. »Du hast eine Frau geheiratet, die behauptet, die Urenkelin von Kaiser Taillefer zu sein, und die außerdem wegen des Vorwurfs der Zauberei exkommuniziert und verbannt worden ist. Seit sie Werlida in deiner Gesellschaft verlassen hat, ist sie nicht mehr gesehen worden. Tatsächlich ist nichts von ihr übrig als das Kind. Das Gleiche könnte man von deiner Mutter sagen, denke ich.« Er verzog die Lippen, allerdings nicht zu einem Lächeln. »Was du so alles weißt.« »Findest du? Es scheint mir doch eher, dass die Person, die glaubt, viel zu wissen, meist nur sehr wenig weiß.« »Ein weiser Spruch.« »Mein Vater hat mich gut unterrichtet.« Sie ging zu dem Tisch, um sich einen Becher Apfelwein einzugießen, hielt den Rand des Bechers einen Augenblick an die Lippen, während sie ihn darüber hinweg anstarrte. »Was ist mit deiner Frau geschehen? Hast du sie verlassen?« Seine Miene verhärtete sich. »Es ist eher so, dass sie mich verlassen hat. Ich habe Grund zu der Annahme, dass sie noch lebt. Ich weiß nicht, ob sie daran denkt, zu mir und dem Kind zurückzukehren. Aber du hast Recht. Das Gleiche könnte man von meiner Mutter sagen. Wie kommt es, dass du so viel erfahren hast, hier draußen in den Marklanden?« »Ich habe vor ein paar Wochen eine Nachricht von meinem Vater erhalten.« Sie machte eine viel sagende Pause und senkte den Becher. Anna setzte sich beinahe auf, so begierig war sie zu erfah161 ren, was als Nächstes kam. Sie erinnerte sich jedoch rechtzeitig daran, dass sie eigentlich den Eindruck erweckte, als würde sie schlafen. »Er schlägt vor, dass ich dich unterstütze, so gut ich kann.« »Was meint er damit?« »Was glaubst du denn, was er meint? Wieso hast du den Hof deines Vaters verlassen und dich seinem Machtbereich entzogen?« »Weil er mir nicht zuhören wollte. Es kommt eine Umwälzung auf uns zu, und wir müssen uns darauf vorbereiten.« »Die Leute, die auf meinen Gütern arbeiten, halten die qumanischen Überfälle für umwälzend genug.« Sie setzte sich mit dem Becher in der Hand hin und betrachtete ihn eine Weile stumm. Anna musterte ihr Profil: ein kräftiges Gesicht, so stolz, wie es das der Erbin eines Markgrafen wohl sein musste, aber auch sauber wie unbeflecktes Linnen. Sie hatte schwach erkennbare Narben unterhalb des verstümmelten Ohrs, und in der Kuhle am Hals war ein weinfarbener Leberfleck zu sehen. Es lag nichts Böses in ihrem Gesicht, kein verborgener Hass, keine armselige Eifersüchtelei. Sie wusste, was sie besaß, und sie hatte keine Angst, über das zu herrschen, was ihr gehörte. »Natürlich bin ich geneigt, dir jede Unterstützung zukommen zu lassen, Sanglant.« »Bist du das?« Er war entweder sehr betrunken oder sehr müde. Ihr Lächeln war ganz und gar nicht weich. »Wir leben in Zeiten größter Unruhen. Die Aikha plündern dieses Land von Norden her, während die Qumaner vom Osten kommen. Machteburg ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden, hast du das gewusst? Schon zwei Jahre hintereinander hat es in den Marklanden schlechte Ernten gegeben. Ein Hagelsturm hat in diesem Frühjahr eine Kirche südlich von hier zerstört. Auf den Ländereien von Herzogin Rotrudis wurde ein zweiköpfiges Lamm geboren. Hier in Walburg ist ein Kind mit sechs Fingern zur Welt gekommen. Entlang der Nordküste sind tausend Vögel ans Ufer gespült worden, allesamt tot. Die Hälfte der Frater, die in meinem Land umherreisen, spricht von Ketzerei statt von Wahrheit, und die Leute hören 162 ihnen zu. In einer Zeit solcher Unruhen benötigt das Land einen starken Führer.« »Mein Vater ist ein starker Führer.« »Das ist er, aber er denkt zu viel an Aosta und die Krone Taillefers. Wir brauchen hier in Wendar und in den Marklanden einen starken Führer. Sapientia ist schwach, Theophanu ist kalt, Ekkehard ist jung und allen Berichten zufolge närrisch, wenn nicht bereits tot. Aber wir Markgrafen und Markgräfinnen haben nicht vergessen, dass Henry noch ein anderes Kind hat.« Sanglant hatte seinen Kopf bisher auf den Händen ruhen lassen, aber jetzt richtete er sich auf. »Was für eine Intrige heckt Villam da aus?« »Mein Vater liebt Henry. Niemand liebt den König mehr als er. Aber am meisten liebt mein Vater Wendar.« Sie fummelte in ihrem Ärmel herum, brachte einen Goldreif zum Vorschein und hielt ihn empor. Das Metall glänzte stark, und Lichtstrahlen brachen sich auf der geflochtenen Oberfläche. »Du trägst deinen Goldreif nicht mehr, mein Prinz. Aber das solltest du.« Er zischte scharf, verblüfft über das kostbare Stück, das sie so beiläufig in der Hand hielt. »Ich bitte dich«, fuhr sie fort, und ihre Stimme nahm bei diesen Worten einen Klang an, als sie den Goldreif von ihren Fingern baumeln ließ. »Lass mich sehen, wie er dir steht.« Anna war alt genug, um zu wissen, was zwischen Männern und Frauen geschah. Dass Sanglant erregt war, war offensichtlich; seine geröteten Wangen hatten sicher nicht nur mit dem Wein zu tun. Frauen waren feinsinniger,
aber nicht unbedingt schwerer zu durchschauen. Nur ein Narr oder ein Kind würde nicht wissen, was Waltharia in diesem Augenblick durch den Kopf ging. Gnade seufzte im Schlaf, drehte sich herum und schmiegte sich an Anna, die ihre Augen geschlossen hielt und sich verzweifelt bemühte, still liegen zu bleiben, obwohl Gnade ihr den Ellenbogen in die Rippen stieß. »Wir haben in Gent überwintert.« Das heisere Kratzen gab sei163 ner Stimme etwas Nostalgisches - aber andererseits hatte seine Stimme schon immer so geklungen. »Es war eine Frau dort, eine Bedienstete des Palastes. Frederun. Sie hat geweint, als ich gegangen bin.« »Bei dem Gedanken an all die Geschenke, die sie jetzt nicht mehr von dir bekommen würde.« »Nein. Es hat ihr aufrichtig Leid getan, dass ich gegangen bin.« »Das tut es mir auch, Sanglant.« Sie sprach die Worte neckend, aber er antwortete nicht in der gleichen Weise. »Das meine ich nicht. Es schien mir irgendwie nicht richtig, sie auf diese Weise zu benutzen. Es kam mir so vor, als hätte ich ihr etwas geboten, was sie sich sehnlichst gewünscht hatte, und es ihr dann wieder aus der Hand gerissen.« »Ich verstehe dich nicht«, sagte Waltharia ungeduldig. »Ich bin eine Frau, genau wie sie. Du weißt sehr gut, welche Wirkung du auf uns hast; oder zumindest hast du es einmal gut genug gewusst, um unser Seufzen und unsere Angebote zu ermutigen. Ich weiß auch, dass du selbst niemals mangelndes Interesse gezeigt hast. Sie hatte Glück, dass du ihr überhaupt so viel Aufmerksamkeit entgegengebracht hast.« »Hatte sie das?«, murmelte er, doch Waltharia hörte es anscheinend nicht oder antwortete einfach nicht darauf. Sanglant seufzte schwer. Gnade schnarchte leise wie zur Antwort, drehte sich wieder weg von Anna und stieß dabei den einen Arm wild von sich. Sie hatte sich zu einer bemerkenswert unruhigen Schläferin entwickelt. Anna lag still da und riskierte es, ein Auge zu öffnen. Sanglant saß noch immer auf dem Bett. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, als brauchte er etwas, das er mit den Händen tun konnte. »Wo ist meine Gelehrtenschule?«, fragte er schließlich. »Sie haben von mir die Erlaubnis erhalten, in dieser Nacht beim Herd in der Halle zu schlafen.« Schließlich erhob er sich und ging zum Fenster, blickte hinaus 164 in den Nachthimmel, wie Waltharia es zuvor getan hatte. Seine bestickte Tunika brachte seine breiten Schultern zur Geltung, den nach unten schmaler werdenden Oberkörper. Anna war alt genug, um zu begreifen, dass Männer hübsch waren. Manchmal warf sie Matto heimlich einen Blick zu, beobachtete die Veränderungen, die seinen jugendlichen Körper überkamen, aber sie hatte niemals daran gedacht, dass sich auch der Prinz in einem solchen Zustand befinden könnte. Er war zu alt, und er stand zu weit über ihr. Die Nachtbrise fuhr durch seine Haare, zupfte an den schwarzen Strähnen in seinem Nacken. »Es wäre Verrat, wenn ich mich gegen meinen Vater erheben würde«, sprach er in den nächtlichen Himmel. »Walburg ist eine starke Festung, Hoheit. Ich bezweifle nicht, dass ich hier Sicherheit bieten kann, trotz des Krieges und trotz der Hungersnot. Aber es wird meinem Volk nicht gut gehen, und wenn es leidet, was für eine Herrscherin bin ich dann? Wird für meine Kinder noch etwas übrig sein, über das sie herrschen können, und für die Kinder meiner Kinder? Ich darf das nicht geschehen lassen.« »Ich bin zu einem solch kühnen Schritt nicht bereit.« »Warte nicht zu lang, Sanglant.« Ihre Stimme wurde rauer, nicht nur vor Leidenschaft. »Dein Kind ist kostbar, aber Kinder gehen in solchen Zeiten leicht verloren.« Er drehte sich verblüfft um und sah sie an. Tränen schimmerten in ihren Augen. »Unsere Tochter war erst zwei Jahre alt, als sie starb.« »Davon habe ich nichts gewusst. Man hat mir gesagt, sie würde in ein Nonnenkloster kommen. Mein Vater hat es so geregelt, soweit ich weiß.« »Und das stimmt auch«, sagte sie verbittert. »Ist die Kirche nicht der geeignete Ort für ein uneheliches Kind?« »Was ist geschehen?« Anna hatte beinahe Angst zu atmen, als sie sah, wie reglos der Prinz dastand; sie wusste, wie gut er hören konnte. Nach einer Weile fuhr Waltharia fort. »Banditen haben die 165 Gruppe überfallen, die sie zum Kloster nach Warteshausen bringen sollte. Ich habe sie verfolgen und hängen lassen; ihre Leichen sind auf der Mauer verrottet. Aber das bringt das Kind nicht zurück.« Sie lächelte tapfer, wischte sich übers Gesicht und trank einen weiteren Schluck Apfelwein. »Siehst du«, meinte sie und stellte den Becher wieder ab. Es gab einen hellen Ton. »Ich hatte schon genug getrauert, bis du mich jetzt wieder daran erinnert hast. Es ist vor vier Jahren geschehen, nicht erst gestern. Ich habe meinen zweiten Sohn vor zwei Wintern verloren, und ich bete jeden Morgen und jeden Abend zu Gott, dass ich die anderen drei nicht auch noch verlieren werde.« Die Wut ließ ihre Tränen jetzt rasch trocknen. »Ich werde nicht zulassen, dass Villams Ländereien und alles, was er sonst noch meiner Obhut überlassen hat, in Gefahr geraten, nur damit Henry nach Aosta laufen kann, um der trügerischen Krone eines fremden Landes nachzujagen.« »Du riskierst Henrys Zorn, wenn du zur Rebellion rätst. Du könntest alles verlieren, selbst dein Leben.« Der Anfall war vorüber. Sie war wieder ruhig und genau die Frau, die selten die Kontrolle verlor, und das auch
nur, wenn sie es wirklich wollte und auf die Folgen vorbereitet war. Sie brachte erneut den Goldreif zum Vorschein, fuhr mit dem Finger sanft über das Zopfmuster. Sanglant erbebte und schloss die Augen. Seine Hände, die auf dem Fensterbrett lagen, ballten sich zu Fäusten. Sie lächelte, als würde sie eine Herausforderung annehmen. »Wir Herrscher in den Marklanden müssen auf alles vorbereitet sein.« Er bewegte sich leicht, öffnete die Augen. »Ist das eine Einladung oder eine Aufforderung?« »Es ist das, was du darin sehen willst. Wirst du den Goldreif tragen, mein Prinz?« 166 5 Die Aikha-Flotte verließ die Rikin-Meerenge bei gutem Wind; es waren zweihundertdreiundzwanzig Langschiffe und sechsundvierzig Koggen, dickbäuchige Handelsschiffe, die die Nordmeere befuhren. Hinter ihnen folgten acht Schiffe verschiedener Formen und Größe, die von menschlichen Verbündeten kommandiert wurden. Diese Kapitäne - überwiegend junge Männer aus den Handelskolonien - zollten jetzt Starkhand Tribut, rücksichtslos darauf bedacht, sich selbst zu bereichern, indem sie Albas wohlhabende Städte und die Tempel der Ungläubigen plünderten. Zunächst war ihnen das Wetter wohlgesonnen, aber kaum sahen sie die Küstenvögel über sich hinwegfliegen, kaum vernahmen sie von den ersten Schiffen den Ausruf, dass die grünen Hügel von »Alba in Sicht gekommen waren, erhob sich ein Sturm aus Südwesten und versprengte die Flotte nach Norden und Osten. Starkhand befahl seinen Männern, die Segel zu reffen, und sie überstanden den Sturm ohne größere Probleme. Doch es dauerte sechs Tage, bis die mit ihnen verbündeten Merwesen die versprengten Schiffe aufgespürt hatten und zurück zum Treffpunkt bei den Schnatterinseln geleiteten. Die Schnatterinseln lagen vor *der Südostküste von Alba, weit weg von den südlichen Landen, wo sich die meisten wohlhabenden Städte, Felder und Tempel befanden. Starkhand traf sich mit seinen Befehlshabern beim Knicknas-Fels. Sie hatten ihre Boote an Land gezogen, auf einen schmalen Strand voller rauer Steine, die so körnig wie Bimsstein waren. Der Knicknas-Fels lag in der Mitte der Felseninseln - eine steinerne Faust, die sich trotzig aus dem Wasser erhob. Als Starkhand den zerfurchten und zerklüfteten Felsen, dessen Spalten und Höhlungen voller Wasser waren, erklommen hatte und oben auf der Spitze stand, konnte er die im aufgewühlten Wasser vor Anker liegende Flotte sehen; die meisten Schiffe waren ein gutes Stück von den 167 Felseninseln entfernt. Gischt spritzte auf. Die Brandung peitschte gegen die kleineren Felsen, die sich wie Kinder um den Fuß des Knicknas-Fels scharten. Dunkle Wolken ließen den Himmel bleiern erscheinen. Im Westen gingen heftige Regenschauer nieder und gaben nur hin und wieder den Blick auf ein am Horizont aufblitzendes, helles Vorgebirge frei. Bei einigen seiner Verbündeten hatte der Sturm große Furcht ausgelöst. »Was ist, wenn dieser Sturm tatsächlich von den Alba-Baumzauberern entfacht wurde?«, fragte Isas Anführer. »Unsere Priester verfügen nicht über die Macht, Wind herbeizurufen und Wellen zu erschaffen, die so groß wie Berge sind.« Starkhand stellte seine Standartenstange in die Mitte der versammelten Anführer. Er ließ seinen Blick umherschweifen, zwang die anderen, ihm in die Augen zu sehen. Niemand blickte weg. Dafür besaßen sie zu viel Stolz. Aber er wusste, dass er nicht allen trauen konnte. »Ich habe von den Alba-Baumzauberern nichts zu befürchten. Sie müssen vielmehr mich fürchten, obwohl sie vielleicht dumm genug sind, es nicht zu tun.« Nach einer Pause, in der die Anführer unruhig an ihren Speeren herumfingerten und einige ihn sogar mit einem Blick anstarrten, als hielten sie es für eine gute Idee, ihn genau in diesem Augenblick zu erstechen, erhob Zehnter Sohn seine Stimme. Er stammte aus dem gleichen Wurf wie Starkhand selbst und brachte jetzt den erwarteten Einwand vor - genau wie die beiden es zuvor besprochen hatten. »Es ist dumm, die nicht zu fürchten, die mächtige Magie besitzen.« »Ich bin gegen ihre Magie geschützt.« Starkhand hob seine Standarte. Federn schmückten sie, Knochen waren mit Drähten daran festgebunden und klapperten leise gegen Ketten aus Perlen und Lederfetzen, die in der Brise wehten, wobei sie immer wieder an der Haut einer verwesten Schlange entlangstreiften. Ketten aus dem gesponnenen und geflochtenen Haar der Rasch Töchter - Ei168 sen und Gold, Zinn und Silber - bimmelten sanft. Die Knochenpfeifen, die vom Querbalken herabhingen, klapperten leise und seufzten, als der Wind durch sie hindurchstrich. »Du bist vielleicht geschützt, aber was ist mit uns ?«, fragte Sku-mas Anführer, ein riesiger Krieger mit Händen von der Größe einer Schaufel und einer Haut, die so bleich wie Arsen war. »Wer unter meinem Schutz steht, kann nicht durch Magie verletzt werden, die gegen mich gerichtet ist.« »Und was ist mit Speeren und Pfeilen?« Starkhand grinste, und die Juwelen in seinen Zähnen blitzten auf. »Nicht einmal ich kann eure traurigen Häute vor schlichtem Eisen schützen. Sind welche unter euch, die einen solchen Schild im Kampf wünschen? Fürchtet ihr euch davor zu kämpfen?« Sie mussten ihre Antwort regelrecht herausbrüllen, als der Wind durch ihre Standarten strich und ein
ohrenbetäubender Lärm anhob. Nach einer Weile legte sich der Wind wieder, und auch ihr Geschrei ließ nach, sodass Starkhand weitersprechen konnte. »Jene Getreuen, die mir folgen, stehen unter meinem Schutz. Jene, deren Herzen mir gegenüber nicht loyal sind, tun das nicht.« Er deutete auf die Flotte, zählte dann seine Befehlshaber. »Fehlt da nicht jemand? Wer hat kehrtgemacht und flieht zurück nach Hause?« Von all den Schiffen, die sich acht Tage zuvor auf den Weg gemacht hatten, fehlten acht Langschiffe und zwei Koggen. Eine Kogge hatten sie verwaist im Wasser treibend gefunden, doch hatte niemand es gewagt, an Bord zu gehen, aus Angst, dass die Baumzauberer sie mit ihrer Magie vergiftet haben könnten. »Sie hat Ardanekas Banner getragen«, sagte der Hakonin-Anführer. »Ich sehe jetzt kein einziges Schiff von Ardaneka mehr.« Einige der Anführer beäugten nervös das entfernte Ufer. Eine Nebeldecke hatte sich über das Land gelegt, und einzelne Schwaden wagten sich auf das offene Meer hinaus, wo sie vom Wind in Stücke gerissen wurden. Ein Warnpfiff gellte schrill und laut. Am äußeren Rand der Versammelten, nahe der Stelle, wo der Fels steil 169 zum Wasser abfiel, kauerten Starkhands menschliche Verbündete. Sie hatten sich - in dem vergeblichen Versuch, sich vor dem harten Wind zu schützen - in ihre Umhänge eingemummt, aber jetzt schrien sie laut und deuteten nach Nordosten. Ein Langschiff näherte sich, tanzte in der Dünung auf und ab. Der Mast war auf halber Höhe abgebrochen, und Fetzen des Segels lagen überall auf dem Deck verstreut. Seetang hing vom Vordersteven. Ein halbes Dutzend Ruder hatten das Unglück heil überstanden, aber es war keine einzige Leiche zu sehen. Tiefe Rillen zerfurchten den Rumpf, Risse zogen sich durch die rote und gelbe Bemalung und enthüllten das nackte Holz darunter. Die Takelage wurde hinterher geschleift - wie unzählige Schlangen, die sich durch das Wasser wanden -, abgesehen von den zwei Seilen, die vor dem Schiff zu sehen waren. Die Merwesen zogen das verkrüppelte Schiff dem Land entgegen. Vier Merwesen tauchten in der Nähe des Strandes auf, schoben eine aufgeblähte Leiche vor sich her. Die Leiche erhielt einen letzten Stoß von zweien der Merwesen und schwappte mit einer Woge auf den Strand, rollte über die Kiesel, bis sie mit dem Gesicht nach oben liegen blieb. Die Aikha sahen schweigend zu, wie die Wellen an der Leiche zerrten, wenn sie zurück ins Meer strömten, und wie sie sie ans Ufer zu schieben versuchten, wenn sie auf den Strand rollten. Obwohl sie sich hoch oben auf dem Knicknas-Fels befanden, konnten sie die Leiche gut erkennen. Wie alle Anführer trug auch der der Ardaneka bestimmte Zeichen auf seinem Körper. Meerwasser und Krabben hatten bereits einen Teil der dreiköpfigen gelben Schlange vernichtet, die auf seine Brust gemalt worden war, doch auch wenn sich jetzt Meerwürmer in dem verwesenden Oval tummelten, das einmal sein Gesicht gewesen war, war noch genug übrig, um ihn erkennen zu können. Hakonins Anführer zischte höhnisch. »Ardanekas Herr hat dir seine Kehle erst nach der Schlacht von Kjalmarsfjord entgegenge170 streckt - nachdem er gesehen hatte, dass niemand sonst die Kraft besaß, sich dir zu widersetzen. Es scheint, dass sein Vertrauen in dich nicht stark genug war, um ihn vor dem Sturm der Baumzauberer zu beschützen.« »Das war es wohl wirklich nicht«, bemerkte Starkhand. Sie waren sich schnell einig darüber, dass Ardanekas Anführer heimlichtuerisch und verschlagen und auf Gold und Silber aus gewesen war, dass er aber gleichzeitig gezögert hatte, seine eigenen Leute in den vorderen Reihen aufzustellen, wo sie vielleicht die volle Wucht eines Angriffs abbekommen hätten. Seine Seemannskunst war nichts, dessen er sich hätte rühmen können, und er hatte immer nur dort geplündert, wo es leicht gewesen war, Beute zu machen, und niemals dort, wo er mit wirklichem Widerstand hätte rechnen müssen. »Er ist schwach gewesen«, erklärte Starkhand schließlich, »und er ist nicht loyal gewesen.« Er musterte seine Hauptleute in aller Ruhe, bleckte die Zähne zu einem Grinsen, das die Unsicheren unter ihnen aus ihrer Deckung locken sollte. »Dieser Sturm war nur ein Vorgeschmack auf die Magie, die die Baumzauberer uns entgegenschleudern werden. Aber ich fürchte sie nicht. Fürchtet ihr sie?« Niemand rührte sich. Niemand wagte es, jetzt wo sie gesehen hatten, was die Magie der Baumzauberer anrichten konnte, Schwäche zu zeigen oder zu zaudern. Vielleicht waren die Baumzauberer wirklich in der Lage, einen Sturm von dieser Größenordnung zu entfachen, obwohl Starkhand das bezweifelte. Er war überzeugt davon, dass die Alba-Zauberer eine Gefahr für jene darstellten, die unvorbereitet mit ihnen zu tun bekamen, aber er hatte selbst gesehen, dass ihre Magie nur dort wirksam werden konnte, wo sie sich selbst befanden - und vielleicht noch ein kleines Stück darüber hinaus: Sie konnten Nebel aufwallen lassen, für kurze Zeit einen Sturm entfachen, der die zur Schlacht aufgestellten Schiffe durcheinander wirbelte, oder das Bewusstsein von Männern trüben, die sich von Macht und Arglist 171 leiten ließen. Der Sturm jedoch, der seine Flotte in alle Himmelsrichtungen verstreut hatte, hatte einen riesigen Streifen des Nordmeers umfasst, wie er selbst bemerkt hatte, als sein Schiff den wütenden Böen entkommen war - und wie ihm auch seine loyalen Hauptleute erklärt hatten, nachdem sie sich zu den Schnatterinseln hatten durchkämpfen können.
Vielleicht hatten die Baumzauberer den Sturm ja tatsächlich heraufbeschworen, als sie seine Flotte vor dem Ufer ihres Landes bemerkt hatten. Aber ob ihn nun ihre Magie oder das Meer hervorgebracht hatte - Starkhand war schon immer gut darin gewesen, günstige Gelegenheiten, die ihm der Wind in den Schoß geweht hatte, beim Schopf zu packen. Nur aus diesem Grund hatte er nach dem Sturm den Merwesen aufgetragen, sämtliche Schiffe von Ardaneka zu jagen und zu zerstören. Und ihm die Leiche des ertrunkenen Anführers zu bringen. Sollten doch die Wankelmütigen befürchten, die Nächsten zu sein, die unter der kalten Klaue der Magie leiden würden. Weit unter ihnen neigte sich das rot und gelb bemalte Schiff zur Seite. Das Meerwasser schwappte über das Deck, und mit einem Seufzen versank das Schiff in den Fluten, riss die Seile mit in die Tiefe, bis schließlich nichts mehr zu sehen war außer ein bisschen Treibgut. Noch immer zerrten die Wogen an der aufgeblähten Leiche. Einer der bereits halb verwesten Arme riss an der Schulter ab, rollte beiseite wie eine leblose Schnecke. Eine Welle änderte plötzlich ihren gleichmäßigen Kurs; ein mit einer schmalen Finne versehener Rücken erschien. Aale zuckten, Münder schnappten in augenlosen Gesichtern, als eines der Merwesen seinen Furcht erregenden Kopf hob und blitzschnell den halb verwesten Arm ergriff. Gemeinsam verschwanden Gliedmaß und Mermann im graublauen Meer. Die Landzunge tauchte aus dem tief hängenden Nebel auf. Kreidefelsen erstrahlten einladend im Licht der Sonne. Die Wolken verzogen sich nach Norden. Möwen schrien. Starkhand hob erneut seine Standarte. Der Schaft summte in 172 seiner Hand, als würde ein ganzer Bienenstock darin leben, aber es war nur die Stimme der Magie, die immerzu da war, immerzu wachsam. Immerzu wach. Die Magie, die ihn beschützte, schlief niemals, und sie träumte niemals. »Der Sommer vergeht«, sagte er so leise, dass seine Befehlshaber sich anstrengen mussten, um ihn angesichts der gegen die Felsklippen donnernden Brandung und dem beständig brausenden Wind zu verstehen. »Alba wartet. Und nichts kann uns aufhalten.« 6 Es geschah alles so schnell: Henrys und Adelheids triumphaler Einzug in Darre, Adelheids Wehen und die Geburt einer gesunden Tochter in Anwesenheit von zwölf Zeugen am sechzehnten Cinter, kaum zwanzig Tage nach ihrer Ankunft. Die Königin war zu erschöpft, als dass man sie an einen anderen Ort hätte bringen können; die Strapazen der Gebirgsüberquerung hatten sie in ihrem hochschwangeren Zustand arg mitgenommen. Henry hingegen konnte nicht allzu lange warten, und Adelheid bat ihn auch nicht darum, im Palast zu bleiben, während sie sich erholte. So kam es, dass Rosvita nur einen Monat später erneut an der Spitze eines Triumphzugs in Darre einzog. König Henry hatte eine kurze Rundreise durch die nördlichen Grafschaften und Herzogtümer von Aosta gemacht, hatte die Töchter und Söhne, die Eisenkopf als Geiseln festgehalten hatte, zu ihren Eltern zurückgebracht und den Edelleuten gestattet, sein beeindruckendes Heer zu unterhalten. Sie alle öffneten ihm ihre Tore und gewährten ihm Einlass, doch es war keineswegs sicher, dass wirklich alle - jeder Graf, jede Herzogin, sämtliche Edelleute hocherfreut darüber waren, dass Königin Adelheid ihren Thron mit Hilfe des wendi173 schen Königs zurückgewonnen hatte. Aber die Edelleute der nördlichen Lande hatten nicht vor zu kämpfen. »Sofern sie dieses Jahr nicht kämpfen wollen, können wir für die Zeit, die Henry zur Festigung seiner Macht im Süden braucht, auf Frieden hoffen«, sagte Villam, als sie eine Bogenschussweite vor den riesigen Toren Darres anhielten. Rosvita fühlte sich angesichts der Größe und Pracht Darres noch immer überwältigt. Die Stadt war auf fünf Hügeln errichtet worden, wobei die beiden Paläste, die die geistliche und die weltliche Macht repräsentierten, auf dem Amurrin thronten. Die Stadtmauern stammten noch aus der Zeit des alten Kaiserreiches und waren mehr oder weniger intakt; sie waren im Laufe der vier Jahrhunderte, die vergangen waren, seit die letzte Kaiserin bei der Verteidigung ihres Throns gegen die eindringenden Bwr-Horden gestorben war, mehrmals ausgebessert und erneuert worden. Die Bwr hatten die Mauern heil gelassen und stattdessen die Tempel niedergerissen, um ihrem Hass auf die blutrünstigen Götter des Kaiserreiches Ausdruck zu verleihen. Die Mauern bestanden aus riesigen Steinquadern, die man mühsam hierher geschafft hatte, und erhoben sich bis zur zehnfachen Höhe eines Mannes; es hieß, dass ein Mensch fünf Wegstunden lang auf der Brustwehr entlanggehen konnte, ohne das Ende zu erreichen. Auch Villam bewunderte die Mauern, aber er hatte sich noch nicht dazu geäußert. »Eine gute Ernte, ein milder Winter, und dann sind auch noch die Jinna-Banditen aufs Meer zurückgetrieben worden - all das wird die aostanischen Edelleute friedlicher stimmen, als eine Schlacht es je könnte.« »Das wollen wir hoffen«, erwiderte Rosvita, »denn wenn die Berichte stimmen, werden sich die südlichen Grafschaften nicht so einfach fügen. Wartet dort vorn die Königin, um uns zu begrüßen?« Henry ließ den Blick begierig über die Menge schweifen, die sich am Tor versammelt hatte, aber er wurde enttäuscht. »Es sind alles Geistliche«, meinte Villam; er war so überrascht
174 über diese Tatsache, dass er seinem Erstaunen Ausdruck verleihen musste. Hathui ritt voraus, um die Willkommensgruppe auf halbem Weg zu treffen. Presbyter in roten Umhängen und Geistliche in weißen Gewändern sangen mit kräftigen Stimmen eine Lobeshymne. Weihrauchschwaden stiegen aus goldenen Rauchfässern auf, waren sogar aus dieser Entfernung zu riechen. Der schwere Geruch machte Rosvita ganz benommen, aber vielleicht kam das auch nur von der sengenden Hitze der Sommersonne. Sie hatte sich daran gewöhnt, wie die aostanischen Geistlichen einen breitkrempigen Hut zu tragen, aber auch das war allenfalls ein spärlicher Schutz vor der Hitze. Fortunatus hatte sie mehrere Male darauf hingewiesen, dass nicht einmal die Fliegen sie noch belästigten, so heiß war es. Der Adler kehrte zurück - in Begleitung eines Mannes, der äußerst kostbare Gewänder trug, unter anderem einen scharlachroten Umhang, dessen Kragen mit Edelsteinen besetzt war. Die sengende Sonne hätte nicht strahlender scheinen können als seine goldenen Haare. Er kniete auf dem schmutzigen Boden vor dem König nieder. »Eure Majestät, Ihre Höchstheilige Majestät Königin Adelheid hat mich geschickt, um Euch zu empfangen und zu ihr zu geleiten. Sie erwartet Euch im Elfenbein-Pavillon.« »Ich hatte eigentlich angenommen, dass sie mich selbst an den Toren unserer Stadt begrüßen würde«, erklärte Henry mit gefährlich leiser Stimme. »Ich bin nicht ihretwegen durch ganz Aosta marschiert, um mich wie einen gewöhnlichen Prinzen zu ihr führen zu lassen und ihr Respekt zu zollen.« Hugh trug keinen Hut. Schweiß glänzte auf seiner Stirn, doch ansonsten blickte er kühl und beherrscht drein. Er senkte jetzt die Stimme und fuhr in einer Lautstärke fort, die sicherstellte, dass nur der König und seine engsten Vertrauten seine Worte hören konnten. »Der Königin geht es gut, mein König, aber die Leibärzte raten ihr wegen der anstrengenden Geburt, bei dieser Hitze nicht nach draußen zu gehen. Sie hat etwa zehn Tage nach der Ge175 burt zwei Ohnmachtsanfälle gehabt, und die Ärzte befürchten, dass die Hitze noch einen weiteren bewirken könnte.« Henry besaß genug Anstand, die Farbe zu wechseln, und während er zuvor die Lippen verärgert zusammengepresst hatte, erschien jetzt ein besorgter Ausdruck auf seinem Gesicht. »Bringt mich sofort zu ihr.« Unter dem Jubel der Bevölkerung und von Girlanden überschüttet ritten sie in die Stadt. Adelheid hatte in dem Monat, den Henry nicht da gewesen war, ganz eindeutig die Liebe der Stadtbewohner errungen. Und sie priesen den wendischen König - den Ausländer, der er nun einmal war - dafür, dass er sie von Eisenkopfs Tyrannei befreit hatte. Aber Villam beugte sich zu Rosvita hinüber. »Seht Ihr, wie sie nach >Frater Hugh< verlangen? Schaut Euch ihre Gesichter an. Die Blumen sind für den Presbyter, nicht für den König«, sagte er leise zu ihr. Doch Hugh schritt bescheiden genug neben dem König her. Er führte Henrys Pferd, als wäre er sein Diener. Er ging erstaunlicherweise barfuss, wie es einem bescheidenen Frater entsprach -aber er trug natürlich seine kostbaren Kleider. »Glaubt Ihr wirklich?«, flüsterte Rosvita. Wie konnte sie es wissen, während Girlanden auf die Allee herabregneten - Unmengen von Lilien und Rosen, Mohnblumen und Narzissen -, die dem siegreichen König einen wunderbaren Teppich bescherten? Villam kniff ein Auge zu und blickte skeptisch drein. Seit wann war er so misstrauisch? Die nach Norden führende Straße schnitt mitten durch das Zentrum der Stadt, wo die beiden Paläste lagen. Im unteren Teil des südlichen Hangs verdeckten riesige Mauern die Sicht auf den Amurrin, doch im Nordwesten fiel gleich hinter der Brustwehr eine felsige Böschung steil zum Fluss ab. Die Straße wand sich den Hügel hinauf, unterstützt von einer komplizierten Reihe aus Bögen. Als sie den Vorhof erreicht hatten, stiegen sie ab und übergaben die Pferde den Stallburschen. 176 In dem Monat, den sie nicht in Darre gewesen waren, waren sämtliche Spuren von Eisenkopf, seinen Huren und seinen Möbeln verschwunden. Arethusanische Teppiche waren jetzt in den Gängen ausgelegt. Messinghaken waren in die Wände eingelassen worden und trugen Öllampen in der Gestalt von Tieren: Hähne und Adler, Greifen und Drachen, zwei Phönixe, ein Schwärm goldener Schwalben. Jeder Fensterladen war geöffnet worden, und alle Räume und Kammern waren lichtdurchflutet. Eine Reihe Bediensteter klopfte den Staub aus den Teppichen. Drei Mädchen polierten die Messingbeschläge an den Türen. Der Elfenbein-Pavillon war nicht die großartigste Halle des Palastes, aber die persönliche Atmosphäre und die kostbare Möblierung verliehen ihm eine Herrlichkeit, mit der sich viele der anderen, riesigen Hallen nicht messen konnten. Schmale Fensterschlitze erlaubten der Brise, den Raum zu durchlüften, doch ansonsten gewährten die dicken Steinwände den Besuchern etwas Schutz vor der Hitze, genauso wie die Schatten spendenden Zypressen zu beiden Seiten des alten Gebäudes. Sie traten über eine Veranda ein, von der aus eine Tür ins Innere führte; diese Tür bestand aus einem so raffinierten Muster ineinander verschlungener Scheiben, dass man von innen hindurchblicken und erkennen konnte, wer sich draußen näherte und um Einlass bat. Die Kammer war so düster, dass zusätzliche Beleuchtung notwendig war: sechs schöne Lampen in der Gestalt von Leoparden, aus deren fauchenden Mäulern eine Flamme zischte, übernahmen diese Aufgabe. Die Wandvertäfelung bestand ganz aus Elfenbein, wobei jede Platte eine eigene Szene darstellte: Kämpfe, das Martyrium der Heiligen, die Reise von Helen und die Gründung der alten Stadt Dariya, Geschichten über die
Königinnen und Könige von Aosta und die Prüfungen der Heiligen Mütter der Kirche, Seite an Seite mit Erzählungen über heidnische Götter und Magie. Königin Adelheid hatte es sich auf einem Sofa im alten Dariyanischen Stil bequem gemacht. Sie aß Trauben und trank Wein, während sie sich mit einer Frau unterhielt, deren Haare so hell wie das 177 Mondlicht waren. Rosvita hätte sie für eine einfache Kirchenfrau gehalten, wäre da nicht ihr äußerst kostbares weißes Seidengewand gewesen, auf dem mit rotgoldenen Fäden Adler und glitzernde Kreise aufgestickt waren. Eine Zofe kümmerte sich um das Kind. Die beiden Frauen - die eine jung und hübsch, das Alter der anderen unmöglich zu schätzen - blickten im gleichen Augenblick auf, als Henry und seine Begleiter die Kammer betraten. Rosvita sah es sofort. Auch Hathui hielt vernehmlich den Atem an. Natürlich trug Adelheid keinen Goldreif als Zeichen ihrer königlichen Herkunft, denn das war ein wendischer und salianischer Brauch, der sich niemals südlich des Alfar-Gebirges ausgebreitet hatte. Abgesehen davon konnte sich Aosta auch gar keiner wirklichen Königslinie rühmen. Tatsächlich konnte jede edle Familie von Aosta den Thron für sich beanspruchen, wenn sie nur stark genug war. Aber am Hals der Frau, die bei Adelheid zu Gast war, glänzte das weiche Gold eines wahrlich meisterhaft gearbeiteten Reifs. Die Enden des geflochtenen Goldzopfes waren wie ein Engelsgesicht gestaltet. Die Frau erhob sich nicht, als Henry näher kam. Aber Adelheid tat es. »Henry! Ich bitte dich, vergib mir, dass ich dich nicht am Tor empfangen habe. Meine Ärzte sagen -« Er küsste sie herzlich auf beide Wangen, bevor er sie drängte, sich wieder zu setzen. »Ruh dich aus, mein Herz«, sagte er nachdrücklich, darauf bedacht, dass sie es sich wieder bequem machte. Dann winkte er der Zofe. »Da ist ja meine süße Mathilda. Wie geht es ihr?« Die schlafende Mathilda sah gesund aus, mit ihren roten Apfelbäckchen, ihren pummeligen Armchen und Beinchen und dem flaumigen Haarschopf, der so dunkel wie der ihrer Mutter war. »Es geht ihr gut«, sagte Adelheid stolz. »Sie isst gut und wächst rasch.« »Aber nicht so schnell wie Eure Enkelin«, sagte die Geistliche, die neben Adelheid auf der Couch saß. 178 Henry übergab das Baby wieder der Obhut der Zofe und richtete seinen Blick auf die Frau, die ihm nicht die geringste Ehrerbietung entgegengebracht hatte. König und Geistliche musterten einander. Die Erschwernisse der letzten Zeit - die Warterei während des schweren Winters und Frühlings in Wayland, bis die Pässe passierbar waren, die fürchterliche Überquerung der Berge, die einen ganzen Monat dauernde Reise, während der er die aostanischen Edlen entweder für sich gewonnen oder in Furcht versetzt hatte -hatten Henry nicht allzu sehr ermüdet, da seine junge Frau, sein Kind und der neue Thron ihm Kraft verliehen hatten. Er hatte mehr silbrige Fäden in seinen Haaren als zuvor, doch wie eine Krone verliehen sie ihm etwas Edles. Es mochte durchaus sein, dass ein nur halb so alter Mann glücklich darüber gewesen wäre, so viel Lebenskraft zu besitzen wie der König. Sicherlich hatte Adelheid keinen Grund, sich über sein Verhalten im Bett zu beschweren, und selbst jetzt blickte sie ihn bewundernd an, als sie sah, welch gute Figur er in der kostbaren Tunika machte, die Haare vom Ritt noch ganz zerzaust. Aber auch die Geistliche verströmte Kraft. Sie strahlte jene selbstverständliche Arroganz aus, die eine edle Herkunft und die Erwartung verriet, dass andere sich vor ihrer Autorität zu verneigen hatten. Und sie war in der Lage, ruhig und gelassen zu sein. Sie saß da, die Hände im Schoß gefaltet, und betrachtete den König mit einem gedankenvollen Blick, der jeglicher Gefühle bar zu sein schien. Sofern sie etwas wie Furcht, Ärger oder Freude verspürte, war davon in ihren Augen jedenfalls nichts zu erkennen. »Wer seid Ihr, dass Ihr sitzen bleibt, während ich stehe?«, fragte er geradeheraus. »Ich bitte dich, Henry«, begann Adelheid und griff nach seiner Hand. In diesem Augenblick machte Hugh einen Schritt nach vorn. »Eure Majestät, wenn ich die Erlaubnis hätte -« »Nein, Hugh«, wandte Adelheid sich in recht beiläufiger Weise an ihn. »Ich muss es hinter mich bringen, und zwar rasch.« Sie 179 wandte sich an Henry. »Wir haben eine Nachricht aus dem Süden erhalten. Eisenkopfs Verwandter hat ein Heer aufgestellt, um ihn zu rächen. Jinna-Banditen sind sowohl in Navlia als auch in Tratanto an Land gegangen. Der arethusanische Kaiser beansprucht die gesamte Provinz Aelia, und der Graf von Sirriki bittet uns um unsere Unterstützung im Kampf gegen die Piraten, die seine Häfen belagern. Sechs Edelmänner im Norden weigern sich, meiner Aufforderung Folge zu leisten und am Hof zu erscheinen, um sich mir zu unterwerfen. Regen bedroht die Weinernte in Idria, und die Roggenlager hier in Darre sind alle von Fäulnis befallen. Zwei Diakonissinnen in Fiora sind vom Blitz getroffen worden und tot. Es geht das Gerücht, dass sich im Nordosten Ketzerei ausbreitet. Und schließlich ist der Thron der Skopos noch immer nicht besetzt, obwohl Mutter dementia inzwischen seit über drei Monaten tot ist.« »Sicherlich werden die Presbyter sich versammeln und beraten, wie es ihrer Tradition entspricht«, begann Rosvita. »Es kann sein, dass der Rat der Presbyter monatelang diskutiert«, erklärte Hugh ruhig, bevor er den Kopf neigte
und die weiteren Geschehnisse abwartete. Adelheid warf Hugh einen Blick zu, als erwartete sie, dass er fortfuhr, doch er hielt den Blick bescheiden auf den Boden gesenkt - einen Parkettfußboden aus zweierlei Holzarten, einer hellen und einer ebenholzfarbenen in einander abwechselnden Karos. Wie das Gute und das Böse - den beiden miteinander streitenden Neigungen, die in jeder menschlichen Seele vorhanden waren. »Die Presbyter stricken an ihren eigenen Intrigen, die nichts mit der Sicherheit von Aosta zu tun haben«, fuhr Adelheid leidenschaftlich fort. Sie nahm wieder Henrys Hand. »Viele von ihnen achten nicht darauf, so zu handeln, dass es der Wiedererrichtung des Kaiserreiches nützt. Doch genau die gleichen Geistlichen werden nicht unbedingt gegen eine starke Hand vorgehen, die den Kaiser wieder einsetzt.« »Was willst du damit sagen?«, fragte Henry. 180 Aber Rosvita wusste es bereits, mit jenem plötzlichen, sicheren Instinkt, der einen Hund dazu brachte, sich zu verkriechen, und der Vögel veranlasste, in der Stunde vor einem Erdbeben aufgeregt zu zwitschern. Sie hatte Sanglants Zeugnis gehört. Man musste nicht sehr weise sein, um zwei und zwei zusammenzuzählen und auf vier zu kommen. »Ihr seid Schwester Anne vom Nonnenkloster St. Valeria.« »Liaths Mutter«, murmelte Hathui, die direkt hinter dem König stand. »Ich sehe keinerlei Ähnlichkeit.« Henry erkannte rasch, was Rosvitas Worte bedeuteten. »Seid Ihr die Frau, die von sich behauptet, die Enkelin von Kaiser Taillefer zu sein?« Anne erhob sich nicht. Sie hob nur eine Hand, wie eine Ruhe gebietende Königin. »Aus welchem Grund sollte ich so etwas behaupten, wenn es doch die Wahrheit ist? Wieso sonst würde ich den Goldreif als Zeichen meiner königlichen Herkunft tragen?« Dieses Argument setzte Henry schachmatt, doch Villam konnte sich nicht zurückhalten. »Jede Frau, jeder Mann könnte sich einen Goldreif um den Hals legen und alles Mögliche behaupten. In den Marklanden ziehen manchmal Betrüger durch die Dörfer und behaupten, Geistliche zu sein, oder Edelleute oder ungläubige Zauberer mit der Macht, Vögel zum Sprechen zu bringen und das Wasser der Flüsse in Gold zu verwandeln. Was für einen Beweis habt Ihr für Eure Behauptung?« Anne war weder erheitert noch verärgert. Ihre Ruhe war so tief wie der Ozean. »Was für einen Beweis wünscht Ihr denn? Ist es denn nicht offensichtlich?« Sie pfiff, ein Laut, der so gar nicht zu dem alterslosen, beherrschten Gesicht zu passen schien. Ein riesiger schwarzer Hund kam hinter einem geschnitzten Holzschirm hervor. Die Bediensteten stoben auseinander, während der Hund gemächlich zu Anne trat und sich unterwürfig zu ihren Füßen hinlegte. »Er sieht aus wie einer der Hunde von Lavastin«, sagte Henry. Er musterte den Hund mit dem Interesse eines Mannes, der einen 181 großen Hundezwinger besitzt und die Namen all seiner Hunde kennt. »Ich dachte, sie wären alle tot.« »Ich weiß nicht, woher dieses Tier stammt«, erwiderte Anne. »Er ist mir eines Tages zugelaufen und hat sich mir unterworfen. Ich glaube, dass dieser Hund von den schwarzen Hunden abstammt, die einst Taillefer gegenüber loyal waren. Es wird in Gedichten von ihnen gesprochen, und ich habe sie auf Wandbehängen abgebildet gesehen.« »In Taillefers Kapelle in Autun ist einer in Stein gemeißelt, treu im Leben wie im Tod«, erklärte Rosvita. Sie konnte eine gewisse Ähnlichkeit nicht leugnen, aber seit der Herrschaft Taillefers war zu viel Zeit vergangen, um hier und jetzt wirklich wissen zu können, ob dieser Furcht erregende Hund ein Abkömmling der berühmten Hunde des Kaisers war. »Nein, Eure Majestät.« Villam hockte sich hin, um das Tier besser betrachten zu können - ohne ihm allerdings allzu nahe zu kommen. »Dies ist in der Tat einer von Lavastins Jagdhunden. Ich erkenne ihn. Die Ohren. Die Größe. Die breite Brust. Er könnte genauso gut ein Fass verschluckt haben. Ich habe vor diesen Hunden viel zu viel Achtung gehabt, um jetzt nicht einen von ihnen wieder zu erkennen.« »Was wollt Ihr?«, fragte Henry. »Gott dienen«, sagte Anne. »Nichts weiter.« »Schwester Anne könnte zur Skopos gekrönt werden. Wenn die Königin und der König zustimmen, kann niemand etwas dagegen unternehmen«, erklärte Adelheid. Anne lächelte nicht. »Wenn ich Skopos bin, kann ich nicht mit Euch um den kaiserlichen Thron ringen, der mir rechtmäßig zusteht.« Henry lächelte kühl. Er entzog Adelheid seine Hand und gab seinen Bediensteten einen Wink. Zwei Verwalter waren bereits zu ihm geeilt, und sie stellten jetzt hastig den Reisethron mit den Drachenarmlehnen, der Adlerschwingen-Rückenlehne und den Stuhlbeinen in Form von Löwenbeinen auf. Er setzte sich hin, 182 stützte den Ellenbogen auf ein Knie und das Kinn auf die Faust; er musterte Anne eher neugierig als unfreundlich. »Mit welchem Heer würdet Ihr denn um den kaiserlichen Thron streiten?« »Gottes Gunst und das Recht der Geburt sollten mir Heer genug sein. So habt auch Ihr Euren Anspruch begründet, wie ich glaube.« Er blickte Hathui an, die nachdenklich an der Adlerbrosche herumfingerte. Ihre Miene war wie versteinert. Was
mochte sie denken? Was würde Henry tun? Wie ein guter Befehlshaber versuchte er es mit einem Flankenangriff. »Stimmt es, dass die Frau namens Liathano Eure Tochter ist? Wisst Ihr, was aus ihr geworden ist?« »Darüber weiß ich nicht mehr als das, was ich über das weitere Schicksal Eures Bastards Sanglant weiß.« »Der Euch nicht traut und ein höchst vernichtendes Urteil über Eure Macht und Eure Absichten abgegeben hat. Ihr seid eine Zauberin, wie ich vermute, eine Mathematika. Er sprach von einer Umwälzung, die uns schon bald heimsuchen wird. Die Rückkehr der Verlorenen. Ein Krieg möglicherweise oder irgendein anderes Unheil.« »Ich bitte Euch, König Henry, verspottet nicht, was Ihr nicht versteht.« Während ihrer Unterhaltung war es draußen dunkel geworden; auch in der Kammer herrschte jetzt ein weit düstereres Licht als zuvor. Der Wind fuhr raschelnd durch die Zypressen. Adelheids Banner, das an der Wand hinter den Sofas hing, geriet in Bewegung, der Stoff hob und senkte sich seufzend, als würde die unsichtbare Hand eines Daemons damit spielen. Niemand hatte die Lampen entfacht; selbst die Bediensteten verharrten in stummer Erwartung, während der König sich mit der Geistlichen maß. Sogar die Bediensteten begriffen, dass etwas äußerst Bedeutsames vorging. Bedienstete konnten das berauschende Gebräu eines stummen Machtkampfes meist früher riechen als alle anderen. »Also gut«, sagte Henry in mildem Ton. »Es stimmt, dass ich von praktischen Angelegenheiten mehr verstehe als von Zauberei. Ich weiß, dass eine Frau nicht als Königin in Salia herrschen kann. 183 Wenn Ihr allerdings tatsächlich Taillefers Enkelin seid, könntet Ihr genügend Anhänger finden, um Aosta in einen langen Streit um die Krone zu verwickeln - einen Streit, den niemand von uns wünschen kann. Eure Absichten klingen insofern vernünftig, Schwester Anne. Doch was hätte ich davon, wenn ich Euch helfe, zur Heiligen Mutter und Skopos über die gesamte Kirche gewählt zu werden? Von welchem Nutzen könntet Ihr mir sein?« Anne hielt ihre Hände vor sich hin, als wollte sie aus der hohlen Hand trinken. Ein silbriges Licht erwachte knapp über den Handflächen zum Leben. Villam murmelte leise ein Gebet. Adelheid schnappte nach Luft, wie eine Frau im höchsten Moment der Lust. Henry sah schweigend zu. Anne hob die Arme, warf die Hände hoch, wie eine Frau, die Rosenblätter im Wind verstreut. Die silbrige Kugel löste sich in Funken aus weiß glänzendem Licht auf, jeder einzelne davon ein durch die Kammer flatternder Schmetterling. Die geflügelten Lichtpünktchen verliehen den Szenen auf der Elfenbein-Täfelung etwas Relief artiges: eine Edelfrau mit ihrem Falken; das Begräbnis von St. Asella; die schöne Helen auf den Mauern von Ilios, wie sie die Streitkräfte zur Schlacht ruft; die in atemberaubenden Einzelheiten dargestellten Qualen von St. John von Hamby. Anne erhob sich. Jeder weiße Schmetterling erblühte jetzt in leuchtenden Farben - Rubin, Saphir, Smaragd, Karneol, Aquamarin, Amethyst und Rosenquarz, streifiger Chalzedon, schillernder Opal -, jeder einzelne strahlte wie ein Edelstein. Sie wirbelten in ihrem Tanz durch die ganze Kammer, bescherten Rosvita gleichermaßen Kopfschmerzen wie auch innere Freude. Henry erhob sich langsam, starrte die Schmetterlinge an, die um seinen Kopf schwirrten und über seiner Stirn eine Krone aus leuchtenden Sternen formten. Eine Weile glühte er regelrecht, gekrönt von strahlendem Glanz. Die Funken verschwanden, ließen den beständigen Glanz eines magischen Lichts und eine kühle, blasse Frau von gewaltiger 184 Macht und mittlerer Größe zurück. Die Bediensteten machten sich halb vor Furcht und halb vor Ehrfurcht leise flüsternd daran, die Lampen zu entzünden, als sich das magische Licht zu zarten Fäden verwob und schließlich in Nichts auflöste - einfach immer schwächer wurde, bis es ganz und gar verschwunden war. »Ein Trugbild«, murmelte Villam. Hughs Blick glitzerte ebenso hell, wie jene tanzenden Funken es getan hatten. Seine Miene kündete von unersättlichem Hunger. Königin Adelheid wirkte kaum anders, genauso benommen und süchtig nach mehr. Sogar Henry. Mögen Gott ihn beschützen, sogar Henry. »Was wollt Ihr?«, fragte Henry erneut; seine Stimme klang jetzt so heiser wie die eines ausgehungerten Mannes, der gerade ein Festmahl auf dem Tisch vor sich erspäht hat. Villam berührte sanft Rosvitas Hand, ein Zeichen, das sie nicht so recht deuten konnte. Und sie konnte ihn jetzt auch nicht fragen, nicht einmal leise mit ihm flüstern, nicht jetzt, da eine derart tiefgründige Stille um sie herum herrschte, als wäre ein Mantel des Schweigens über den Anwesenden ausgebreitet worden. Können wir ihr trauen? Rosvita zweifelte nicht länger an Annes Recht, den Goldreif zu tragen. Sie war die Enkelin von Taillefer und Radegundis, die Tochter von Fidelis und dem Waisenkind Lavrentia - eine Mathematika von beachtlicher Macht. Eine solche Frau konnte man nicht ignorieren. Anne bückte sich, um vom Boden eine Glasscherbe aufzuheben, die so blau wie Lapislazuli war. Sie hielt sie in der geöffneten Hand vor sich, blies sanft darauf, und ein wunderschöner blauer Schmetterling öffnete seine Flügel und flog rasch in die Dunkelheit davon. Sie lächelte nicht, als sie sich an den König wandte. Eine Frau von solcher Macht hatte es nicht nötig, zu lächeln oder die Stirn zu runzeln.
»Wendet Euch nicht von mir ab, Henry, Gebieter über Wendar und Varre«, erklärte sie ungerührt von den erregten Strömungen, 185 die um sie herum aufwirbelten. »Denn ohne meine Hilfe werdet Ihr kein Kaiserreich mehr haben, über das Ihr herrschen könntet.« 7 Jede Seele, die von der zur Sterblichkeit verurteilten Erde berührt wurde, ist von Schatten und dunklen Abgründen befleckt; eine solche Seele ist auf höchst unerwartete Weise gefangen: durch Liebe und Hass, Ängste und Leidenschaften, Neid und Wut, Lügen und Wahrheiten. Niemals wird eine auf der Erde geborene Seele frei davon sein. Und wie stürmisch das reinigende Feuer auch wüten mag, niemals wird sie reines Feuer sein. Sie wird stets in ihrem Körper gefangen sein. Sie traf mitten im Lauf auf dem Boden auf, halb in der Hocke, den Bogen gespannt. Hier, in der Sphäre von Jedu, fiel leichter Schnee. Sie rannte über eine Ebene, die von hunderten kleinen Felsauswüchsen, umgestürzten Felsbrocken, Steinhaufen und ungleichmäßigen Gesteinsfalten übersät war; jeder einzelne Stein, jede Erhebung lag unter einer Schneedecke verborgen. Kalte Schneeflocken schmolzen auf ihren Lippen, wirbelten um ihren nackten Körper. Nur an ihrem Rücken gab es eine warme Stelle, dort, wo der Köcher die Haut ein bisschen vor Wind und Schnee schützte. Ihre Zehenspitzen waren vor Kälte bereits ganz taub, und jeder Schritt war eine Qual, als würde sie auf Nadeln gehen. Dies war kein guter Ort, wenn man nichts anzuziehen hatte. Und es war kein guter Ort, wenn man in einem Körper gefangen war. Liath blickte zurück, aber sie sah kein Tor, keinen Eingang, nur ihre Fußstapfen, die noch kurz von der Wärme dampften, die sie beim Gehen hinterließ. Doch auch dieser Dampf wurde in der bitterkalten Luft rasch weggeweht. Ihr blieb nichts anderes übrig, als weiterzugehen. Aber so war es immer, nicht wahr? Nie konnte sie zurückgehen. 186 Sie strich sich den Schnee von den Haaren, spürte, wie er auf ihren Lidern und ihrer Nasenspitze kitzelte. Ihre Ohren brannten vor Kälte. Obwohl sie steife Finger hatte, hielt sie ihren Bogen erhoben, einen Pfeil an der Sehne. In Jedus wütender Höhle konnte alles geschehen. Sie musste mit dem Schlimmsten rechnen. Es dauerte nicht lange, da hatte das Schlimmste sie gefunden. Donner grollte und dröhnte in der Ferne. Blitze flackerten auf, leuchtende Funken am Horizont. Sie blieb stehen, doch sie konnte keinerlei Sturmwolken erkennen, lediglich das gleichmäßige Grau eines unergründlichen Himmels. Es war auch gar kein Sturm. Zuerst wirkte die Gestalt äußerst klein, auf beinah unmögliche Weise. Dann jedoch schwoll sie in der Zeit, die Liath für zwei heftige Atemzüge benötigte, auf doppelte Größe an, und ihre dröhnenden Schritte ließen die Luft erzittern. Als Liath nach Luft schnappte, füllte die Gestalt ihr gesamtes Blickfeld aus, so riesig war sie inzwischen. Der Engel des Krieges. Der Engel des Krieges war weiblich. Anstelle der Augen besaß sie glänzende Spiegel. Der Mund war riesig und wild, so rot wie Mohnblumen. Die schwarzen Haare waren so wirr wie ein Brombeerstrauch, und zwei abscheuliche Hörner ragten daraus hervor, jedes mit Blut befleckt. Als Rüstung trug sie Masken, die zu hunderten, zu tausenden ihren riesigen Körper bedeckten. An ihren Schultern trug sie Masken mit Spiegelaugen. An jedem Ellenbogen hing ein weiteres solches Gesicht mit Spiegelaugen, und auch an ihren Knien hingen solche Masken, deren Gesichter bei jeder Bewegung, die sie machte, glitzerten und schimmerten. Selbst an ihrem Bauch und ihrem Rücken waren Masken, erstarrt zu einem lüsternen Grinsen oder einer Grimasse. Es war, als könnte sie in alle Richtungen gleichzeitig blicken. Sie trug einen Speer und ein Schwert bei sich, aber keinen Schild. Die Masken - die Spiegelaugen - waren ihr Schild. Wo der Engel des Krieges dahinschritt, erwachte der Boden zum Leben. Schnee erzitterte. Was Liath für Felsen und Steine gehal187 ten hatte, verwandelte sich jetzt in lebende Wesen. Sie schritt gar nicht über eine leere Ebene, sondern über ein Schlachtfeld, das sich in jede Richtung unendlich weit erstreckte. Es war eine Ebene voller Leichen, ein Trümmerfeld des Krieges. Sie sahen jetzt ganz und gar nicht tot aus. Sie erhoben sich aus dem Schnee, und sie waren alle bewaffnet. Der nächstliegende Gedanke war, wegzulaufen. Aber kaum hatte sie zwei holprige Schritte getan, da wurde ihr klar, dass Weglaufen nichts nützen würde. Die Toten waren überall. Donner dröhnte. Jedu rückte bedrohlich näher, füllte den ganzen Himmel aus. Ihr Gesicht trug jenen Ausdruck unbeherrschter Wut, der ein hübsches Gesicht in eine scheußliche Grimasse zu verwandeln pflegte. Tausende von riesigen Spiegelaugen starrten Liath an, doch sie schienen sie nicht wahrzunehmen. In jedem dieser glitzernden Facettenaugen sah sie nicht sich selbst, sondern Sterbende auf dem Schlachtfeld, den Todesstoß, die tödliche Verletzung, den letzten Atemzug und den letzten Blutschwall. Es gab mehr als genug qualvoll gestorbene Tote, sodass die gesamte, riesige Ebene von ihnen erfüllt war. Auf dem Feld der verwesenden Leichen und zerbrochenen Waffen erschienen nebelumwogte Figuren. Zuerst
waren sie körperlos, nahmen dann aber immer mehr Gestalt an, Wachsfiguren gleich. Zu ihrer Linken bezog eine Phalanx von hundert Kriegern Stellung; die Männer waren mit riesigen Lanzen bewaffnet, die doppelt so lang waren wie die Lanzen, die sie kannte. Sie erinnerte sich an diese Krieger - sie hatte sie auf Wandbehängen und Fresken gesehen, mit ihren gehämmerten Brustpanzern, den mit Helmbüschen versehenen Helmen und den Sarissas genannten Lanzen. Es waren die Soldaten, die das Banner des alten dariyanischen Kaiserreiches trugen. Andere Gruppen von Kämpfern versammelten sich auf der Ebene. Einige der Kohorten erkannte sie - Aoi, Qumaner, Aikha. Andere kannte sie lediglich aus Geschichten oder Träumen, Zentaurinnen, Männer auf Kamelen oder riesigen Elefanten, ein 188 wilder Jäger mit Doggen, Guivren und sich in die Lüfte erhebenden Greifen. Geräusche erklangen - Befehle in tausend verschiedenen Sprachen, das Gebrüll der Tiere, das Klirren der Rüstungen. In der Sphäre Jedus war immer Krieg. Die Heere bewegten sich, langsam zunächst, aufeinander zu. Die Phalanx zu ihrer Linken näherte sich Schritt für Schritt, und ihr Wald aus Sarissas war auf sie gerichtet - nein, nicht auf sie, sondern auf eine Gruppe von Elefanten, die sich rechts von ihr formierten. Ein deutlicher hörbares Trompetensignal läutete den Beginn der Schlacht ein. Der Boden erzitterte unter dem Gewicht der Elefanten, die sich jetzt auf die Phalanx - und damit auch auf Liath - zu bewegten. Pfeile, Wurfspieße und Speere bedeckten den Himmel, als tausende von einzelnen Gefechten ausbrachen. Das Geschoss einer Steinschleuder prallte von ihrem Oberschenkel ab. Sie stürzte und schlug sich die Knie blutig. Die Elefanten donnerten weiter, und die Männer in der Phalanx rüsteten sich zum Angriff. Eines der riesigen grauen Tiere kam direkt auf Liath zu, trampelte alles mit seinen breiten Füßen nieder. Sie wich zurück und schoss einen Pfeil ab, kaum dass das Tier in Reichweite gekommen war. Das schlanke Geschoss glitt zwischen zwei Teilen des Plattenpanzers hindurch, der seine Kehle schützte, bohrte sich in den Körper und verschwand. Das Tier brüllte vor Schmerz laut auf; da auch andere Elefanten Todesschreie ausstießen, war es, als würde sein Gebrüll endlos widerhallen. Dann, nach drei weiteren Schritten, brach der Elefant zusammen. Zwei Männer wurden aus der Sänfte auf seinem Rücken geworfen; der eine brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit, der andere wurde unter dem Rumpf des Tieres eingeklemmt, das sich jetzt auf die Seite drehte und ein letztes Mal schwach trompetete. Dann drängten auch die übrigen Elefanten an ihr vorbei und krachten in die Lanzen. Die Phalanx löste sich auf, als ihre gewaltigen Körper Lanzen und Knochen gleichermaßen brachen. Elefanten, deren Beine und Nacken von Lanzen durchbohrt waren, 189 gebärdeten sich wie wahnsinnig, stürzten sich auf ihre Reiter, auf ihre Feinde, auf alles, was irgendwie in Reichweite war. Blut befleckte den Schnee. Hinter den Elefanten tauchten Soldaten mit großen Äxten in den Händen auf; ihnen oblag es, die zerstörte Phalanx endgültig zu vernichten. Liath wusste nicht, ob die anderen sie sehen konnten, aber sie wollte lieber nicht warten, bis sie es herausfand. Sie erhob sich und schoss auf jedes Wesen, das sich ihr zu nähern drohte. Schließlich waren sie ja nicht wirklich da. Sie tötete sie nicht wirklich, denn sie waren ja bereits tot. Sie schützte nur sich selbst. Sie schoss zehn Pfeile ab, und zehn Männer fielen tot oder sterbend zu Boden. Jedus Miene verzerrte sich, und die Wut verwandelte sich in sadistische Freude. Liath griff nach ihrem Köcher, um einen weiteren Pfeil herauszuholen. Es waren nur noch zwei übrig. Oh, Herrin. Diese Krieger waren so sehr die Opfer von Jedus Zorn wie sie selbst. Sie konnte hier bleiben, gefangen in der Agonie des Krieges, oder sie konnte das Tor suchen, dass zur Sphäre von Mok führte. Es kostete sie einige Mühe, sich an ihre Flügel zu erinnern, während der Kampf um sie herum weitertobte. Sie rief Feuer herbei, brachte an ihrem Rücken Schwingen zum Brennen und erhob sich über die Schlacht. Die Pfeile, die auf sie zuflogen, fingen Feuer, und ihre Asche regnete auf das Gemetzel hinab. Männer schrien. Pferde stürzten zu Boden, traten um sich. Das Töten ging weiter und weiter und weiter. Es musste ein Ende haben. Sie legte einen Pfeil an die Sehne und spannte Herzsucherin ein weiteres Mal, zielte diesmal auf Jedus grauenhafte Grimasse. Sie schoss. Das glückselige Grinsen der Freude verschwand von dem abscheulichen, schönen Gesicht, machte erneut der Wut Platz. Jedu öffnete das Maul und entblößte dabei tausend dolchähnliche Zähne; in dieser dunklen Höhle verlor sich der Pfeil sofort. Mit klopfendem Herzen und zischenden Schwingen, die die 190 Luft peitschten, um sie nicht zu Boden stürzen zu lassen, griff Liath nach dem letzten Pfeil. Ihre Finger berührten etwas Seidiges -die Goldfeder, die sie von Ältester Onkel erhalten und mit der sie den letzten Pfeil befiedert hatte. Noch bevor sie den Pfeil aus dem Köcher ziehen konnte, stieß Jedu einen schrillen, durchdringenden Schrei aus, der sämtliche Geschöpfe auf der Ebene zum abrupten Innehalten veranlasste. Liath taumelte auf der Böe dieses Schreis zurück, kämpfte darum, nicht die Kontrolle über ihren Flug zu verlieren, als die Worte des Engels über das Schlachtfeld dröhnten.
»Stirb eine Million Tode. Leide bis in alle Ewigkeit. Niemand, Tochter des Feuers, betritt Jedu unerlaubt. Niemand entkommt meinem Griff.« Dann hob Jedu die Brust und atmete tief ein. Liath kämpfte mit aller Macht darum, höher zu steigen, aber sie wurde trotz ihrer Bemühungen nach unten gezogen. Die Spiegelaugen wurden größer, und tief in ihnen sah sie die Getöteten und ihre Mörder. Oh Gott. Einige kannte sie. Da war das Guivre, getötet von Alain. Da war ein Aikha-Anführer, gefallen durch Lavastins Schwert. Ein qumanischer Soldat, von Ivar ertränkt. Eisenkopfs hübsche Konkubine, die dem schlafenden König einen spitzen Gegenstand in den Kopf trieb. Ein Edelmann mit Kettenhemd und Helm fiel taumelnd von seinem Pferd, von einem Speerstoß aus dem Sattel gehoben. Dem Mann, der das getan hatte, erging es nicht viel besser; die Wucht seines eigenen Hiebs brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und er fiel vom Pferd, landete hart auf dem Boden, verlor dabei seinen Helm. Derweil tobte das Gefecht weiter um ihn herum; das schräg in das Spiegelauge einfallende Licht ließ alles dunstig erscheinen. Voller Entsetzen starrte sie in das Auge. Es war Sanglant, aber er war noch jung, kaum älter als ein JungeDer Gestank eines Schlachthauses schlug ihr entgegen und 191 machte sie benommen, als der Engel den Mund noch weiter aufriss und sie voll und ganz verschlang. Sie wand sich, streckte die Hände nach Sanglant aus, trieb wirbelnd im Spiegelauge herum, den Armen ihres Geliebten entgegen. Sie landete auf einem weichen Kissen aus hohem, grünem Gras. Das grelle Sonnenlicht blendete ihre Augen, aber immerhin war es hier warm. Doch sie war Jedus Wut noch immer nicht entkommen. Ihr Pferd sprang über sie hinweg, galoppierte davon, und der Kampf lärm erklang noch immer in ihren Ohren. Sie war nicht sie selbst. Sie lag in den Armen eines Mannes, des Edelmanns von Hesbaye und Neffen der Gräfin, der eine Rebellion angezettelt hatte, weil nach dem Tod seiner Mutter das Erbe an seine Tante und nicht an ihn gegangen war. König Henry hatte ihn und seine Rebellion so wenig ernst genommen, dass er seinen halbwüchsigen Jungen gegen ihn ins Feld geschickt hatte, ein Kind von gerade mal fünfzehn oder sechzehn Jahren, das selbst mit einem älteren, weiseren Hauptmann an seiner Seite für diese Aufgabe zu unerfahren und somit ungeeignet war. Wie war es dann möglich, dass der Junge ihn vom Pferd geholt hatte? Ein Körper prallte gegen ihn, drückte ihn ins Gras. Oh, Herrin, es war Sanglant, der seinen Helm verloren hatte. Die Haare fielen ihm über das Gesicht. Er war so jung, geschmeidig und gertenschlank; er hatte noch nicht die breiten Schultern und die Größe eines Erwachsenen. Und doch fühlte er sich fest und zuversichtlich an, als er sich so gegen sie lehnte. »Sanglant«, flüsterte sie, denn sie bekam nicht genug Luft, um laut zu rufen. »Ich bin es, Liath!« Er schob einen Arm über ihren Brustkorb, in der Faust ein Breitmesser, das er jetzt an ihren Hals hielt. Mit einer raschen, geschmeidigen Bewegung schnitt er ihr die Kehle durch. Ihre Worte erstickten und ertranken schon im Blut, während sie noch bemüht war, etwas zu sagen. Das Leben strömte mitsamt dem Blut aus ih192 rem Körper. Sie griff sich in dem verzweifelten Versuch an die Kehle, das Blut aufzuhalten, aber er drückte ihre Arme mit Hilfe seines Gewichts zu Boden. Keuchend blickte sie in seine grünen Augen, doch alles, was sie sah, war Jedus Wut. Sonnenstrahlen schmolzen Löcher in ihr Blickfeld, und düstere Flecken löschten Sanglants Gesicht aus. Die Welt verengte sich, die Geräusche verklangen, und alles wurde schwarz. Das Klirren der Waffen und der kräftige Ruck ihres Pferdes weckten sie wieder auf, gerade so, als hätte sie nur geschlafen. Der Begh an ihrer linken Seite drängte ihre Reihen vorwärts; Furcht erregende Greifenfedern leuchteten an den Flügeln, die an seiner Rüstung befestigt waren, und das Eisenvisier verlieh seinem Gesicht etwas Maskenhaftes. In der steifen Brise entfaltete sich seine Standarte, auf der die zupackende Klaue eines Schneeleoparden prangte, das Zeichen der stolzen Krieger vom Clan der Pechanek. Sie griffen an, und sie senkte ihre Lanze, ebenso wie ihr Anführer. In der Mitte der vielen berittenen Wendaner und Ungrianer erhob sich das Banner der Drachen, drängte ebenfalls vorwärts, dem Zusammenprall der beiden Heere entgegen. Die Drachen des Königs führten den Angriff an. Sanglant, inzwischen älter, hielt mit erhobener Axt auf ihren Anführer zu. Mit einer geschmeidigen Bewegung der Spitze brachte der Greifenreiter seinen Speer um Sanglants Schild herum und traf den Prinzen genau dort, wo eine winzige Lücke in seiner Rüstung seine Kehle entblößte. Der junge Prinz fiel rücklings von seinem Schlachtross, doch irgendwie gelang es ihm, sich wieder hochzuziehen. Er klammerte sich an den Sattel, während aus der Wunde Blut über den Drachenüberwurf lief. Das Pferd preschte durch die Menge und auf die Nachhut der qumanischen Streitmacht zu. Die Drachen erhoben ihre Stimmen zu lauten, wütenden Warnrufen. Liath drängte ihr Pferd zurück, um Sanglant zu folgen. Sein Helm saß jetzt schief auf seinem Kopf, und er war so blass, als wäre durch die schreckliche Wunde sämtliches Blut aus ihm gewichen. 193 Er hing wie ein Toter über dem Widerrist des Pferdes. Tränen strömten ihr aus den Augen, als sie ihn anrief und ihr Pferd neben seines lenkte. Er wurde von einem Krampf geschüttelt, als wollte er seinen Tod ausspucken, und bäumte sich dann auf, um mit der Geschwindigkeit einer Schlange zuzuschlagen.
Ein vernichtender Schlag fuhr krachend auf ihren Kopf nieder. Einen Augenblick lang konnte sie tatsächlich an beiden Seiten der Axt vorbeisehen, die aus ihrer Stirn ragte, doch alles, was sie wirklich sah, war der verzweifelte Blick in den Augen ihres Geliebten. Rote Schlieren verfärbten ihr Blickfeld. Sie glitt kraftlos aus dem Sattel. Sie rutschte im Blut und Kot eines Kameraden aus, bemüht, auf dem Steinboden Halt zu finden. Das MannWesen hatte hundert kleine Wunden erhalten, und hundert blutige Rinnsale waren zu sehen. Der Geruch seines Bluts machte sie wild vor Hunger. Sie stieß die anderen beiseite, biss sich durch sie hindurch, bis sie ihr Platz machten. Dann trat sie auf seine Brust, nagelte ihn am Boden fest. Ein Hauch von Empfindung blitzte in ihrem winzigen Bewusstsein auf. War dieses Mann-Wesen ein Teil ihrer Meute? Aber Hunger zerrte an ihrem Magen, und er roch so süß. Sie setzte zum tödlichen Biss an. Er war zu schnell für sie. Er packte sie unter der Kehle und biss ihr die Luftröhre durch, als wäre er ein Hund. Zuckend und um sich tretend spürte sie, wie der Atem aus ihr wich, wie sie erstickte, wie der volle Geruch nach Blut und Tod schwächer wurde, sie umnebelte, bis die Welt nur noch aus kaltem Eisen bestand. Einen Augenblick lang erinnerte sie sich an das Wasser ihrer Geburt, wie es über ihr zusammenschlug. Dann verschwand auch diese Empfindung. Und sie floh aus Cent mit den anderen FelsenKindern, jagte hinter Isas Banner her, doch eine Gestalt, die nach Gefangenschaft roch, holte sie ein und trennte ihr mit jener Kraft, die der Wahnsinn verlieh, den Kopf von den Schultern. 194 Und dann hatte sie keinen Körper - nicht hier, wo der Duft von Fleisch und Blut sie durstig machte, ein quälender, zerreißender, rauer Schmerz. Sie hatte nicht hierher kommen wollen. Von den Hallen des Eisens weggerissen, trieb sie auf den heißen Windstößen dahin und seufzte den Namen desjenigen, den sie suchte. »Sanglant.« Sein Blut würde sie erlösen, und sie würde nach Hause zurückkehren können. Nur das wusste sie. Doch als sie sich mit ihrer Schwester-GaHo weiter vorwärts bewegte, schmeckte sie sein Blut im Wind, und dann griff er an, durchbohrte sie mit der Spitze einer Greifenfeder. Die Zauberei, die sie an die Hallen der Erde gebunden hatte, verbrannte und zerbrach, und sie stürzte in tiefe Agonie. Und zuckte vor Entsetzen zurück, als der Berittene durch ihre bunt gekleideten Kameraden drängte, sie niederschlug, als wären sie nichts weiter als Schilfrohre. Sie schrie, winselte um Gnade, als ihr letzter Pfeil unwirksam zu Boden torkelte. Oh, Herr, wieso hatte sie das Haus ihrer Mutter nur verlassen? Sie war eine Närrin gewesen, dass sie sich mit ihrem Bruder gestritten hatte, und noch närrischer, weil sie sich von ihrer Wut hatte beherrschen lassen und weggelaufen war. Am dümmsten aber war gewesen, dass sie Drogo gestattet hatte, sie davon zu überzeugen, dass sie Reichtümer erlangen, dass sie zu essen haben würde, wenn sie unglückliche Reisende überfiel. Aber sie war damals schon zu verzweifelt gewesen, und auch zu stolz, um nach Hause zurückzukehren. Sie war so hungrig gewesen, und Drogo hatte ihr Brot angeboten, wenn sie sich dazu bereit erklärte, seinem erbärmlichen Haufen von Banditen beizutreten. Salbei und Farnkraut hielten ihren Sturz auf. »Gnade!«, schrie sie. Dann war er bei ihr, und der Tod blitzte in seinen Augen auf. Sanglant. Sein Schwert fuhr herunter, und der Schmerz löschte alles andere aus. »Nein, Weif!«, rief Ekkehard, ihn mit der Spitze seiner Lanze aufhaltend. »Du wirst mich jetzt nicht verlassen.« 195 Sie weinte in dem jungen, männlichen Körper. Sie hatte nicht gewusst, dass Furcht so sehr schmerzen konnte. »Ich werde Euch niemals verlassen, mein Prinz. Das wisst Ihr. Aber es ist nicht recht, dass wir auf der Seite der Qumaner gegen unsere eigenen Landsleute kämpfen. Es ist Verrat.« Ekkehard errötete. »Wir haben unsere Hände schon zu sehr befleckt, um noch umkehren zu können. Es ist besser, in der Schlacht zu sterben, als am Galgen zu hängen.« Sie warteten, während die wehenden Goldbanner ihrer Feinde näher kamen. Frithuric und Mähnegold warteten mit unerschütterlicher Geduld, aber er - und auch sie - konnte die Verzweiflung in ihren Augen sehen. Wie hatten sie alle nur so dumm sein können? Wie hatten sie sich von Bulkezu verführen lassen können? Es war gut, dass seine Mutter ihn jetzt nicht sehen konnte - den Sohn, der den Familiennamen entehrt hatte. Trommeln und ein Hornsignal kündeten den Angriff an. Weif drängte vorwärts, als ihre Pferde vom Schritt in den Trab wechselten, vom Trab zum Galopp, und ein Grollen wie Donnerklang erfüllte seine Ohren. Er drängte sein Pferd am Prinzen vorbei, sodass er die größte Wucht der Attacke abbekam. Eine Lanze traf ihn gleich über dem Herzen. Als er stürzte, hörte er einen Schrei der Trauer und der Wut, und die heisere Stimme eines Mannes rief überrascht Ekkehards Namen. Oh, Herr, es war Prinz Sanglant! Er prallte gegen den Boden, und das Letzte, was er sah, waren die Hufe seines Pferdes, die auf seinen Kopf zukamen. Wenn sie sich still verhielt, mochten sich ihre Federn mit dem silbrigen Gras vermischen, und nur ein scharfes Auge würde sie erspähen können. Sanglant war wild auf ihren Gefährten, einen silbrigen Greifen, der auf dem sonnenbeschienenen Stein schlief. Der Prinz hielt seinen Speer so, als wollte er gleich zustoßen. Seine Augen
schätzten den nächsten Schritt ab, wie auch ihre es taten. Sie würde nicht zulassen, dass er ihren Gefährten tötete. Sie ging auf ihn los, und er wirbelte zu ihr herum, doch der Vor196 teil war auf ihrer Seite. Der Schaft seines Speers zerbarst unter ihrem Angriff, und ihr Gewicht drückte ihn zu Boden. Ihr Gefährte erwachte von dem Lärm, hörte ihren Triumphschrei. Mit einem schrillen Kreischen schüttelte er den Schlaf ab und sprang auf, um ihr beim Todesstoß zu helfen. Ihre Klauen drückten die Schultern des Prinzen nach unten. Aber er hatte nicht aufgegeben. Seine Knie bohrten sich in ihren Bauch, doch sie würde ihn nicht freilassen. Sie konnte ihn nicht wieder töten lassen. Sie neigte den großen Kopf zur Seite, um einen besseren Blick auf ihn werfen zu können, und erkannte die Narbe an der Kehle, die er vor langer Zeit erhalten hatte und die durch den geflochtenen Goldreif halb verdeckt war. Sie hatte ihn für tot gehalten, schon einmal, und hatte ihren Fehler mit dem Leben bezahlt. Sie schrie gellend auf vor Wut. Jedu, Engel des Krieges, tanzte am Rand ihres Blickfelds. Ihr rasiermesserscharfer Schnabel würde das Fleisch leichter zerteilen, als es irgendein Schwert vermochte. Sie würde nicht wieder durch seine Hand sterben. Immer und immer wieder. Ein Knurren bildete sich in seiner Kehle, als er alle Muskeln anspannte, um sie wegzuschieben. Er bekam mit einem Ruck einen Arm frei und griff verzweifelt nach ihrem Hals, ignorierte das Blut, das aus einem Dutzend Schnitten an seinen Fingern strömte, als er sich in ihren Eisenfedern festkrallte. Sie zielte auf die verletzlichen Augen. Das Letzte, was sie hörte, war sein Schrei, als sie von den Spiegeln freikam, herumwirbelte und in den stürmisch-heißen Ofen taumelte, der der Wind des Krieges war. Oh, Gott, sie hatte Sanglant getötet. Sie griff sich an die Kehle. Er hatte im letzten Augenblick versucht, sie zu erwürgen, und so dachte sie, dort eine schmerzende Stelle zu finden. Stattdessen stellte sie fest, dass ihr Goldreif fehlte. Er war weg. Mit einem Schrei der Wut erhob sie sich auf ihren Schwingen aus Feuer gen Himmel, um einen Lichtstrahl zu erreichen, der 197 ähnlich der Mondsichel weit über ihr hing. Die Welt unter ihr war weiß geworden - ein Sturm aus Schnee und Zorn tobte unter ihr und verbarg die Ebene vor ihrem Blick, sodass die Toten und jene, die sie getötet hatten, unter einem Mantel aus Weiß verschwanden. Ein zerbrochener Speer rollte über die eisige Fläche, von der kalten Hand des Windes getrieben. Spiegel blinkten wie Blitze, die halb von Sturmwolken verborgen waren. Ein wildes Gelächter dröhnte wie Donner, verblasste in der Ferne. »Jetzt bist du getroffen. Wer hat gewonnen, und wer hat verloren?« »Ich bin dir entkommen«, rief Liath triumphierend, während sie sich der silbrigen Grenze näherte und eine Lücke in der glänzenden Hülle sah, die die Sphäre von Mok kennzeichnete. Aber Jedus Gelächter hatte sich bereits in ihrem Herzen eingenistet. Und sie konnte noch immer das Blut und das Leben aus ihrer unverletzten Kehle weichen fühlen. III Die Adlersicht 1 Bulkezu und sein Heer schlugen eine Schneise aus Elend und Zerstörung in den südlichen Teil des Herzogtums von Avaria, bevor sie sich gegen Ende des Sommers nach Norden wandten. Doch erst an dem Tag, als die Vorhut von Bulkezus plünderndem und mordendem Heer die Ruinen von Aigensberg erreichte, erlebte Hanna, dass Prinz Ekkehard Tränen um das verwüstete Königreich seines Vaters vergoss. Der junge Prinz begann stumm zu weinen, als der verlassene Palast in Sicht kam, inzwischen nur noch von Unkraut, Insekten und zwei Rothirschen bevölkert, die sofort in den Wald flüchteten. War er dabei gewesen, als Liath den Palast in Flammen hatte aufgehen lassen - verzweifelt darum bemüht, Hugh zu entkommen? Hanna konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sie konnte sich nur an die schrecklichen Flammen erinnern, an die grauenhafte Hitze, die ihr die Haut angesengt hatte, als sie Liath aus dem Inferno gezerrt hatte. Wo mochten Folquin, Leo, Stephen und ihr guter Freund Ingo jetzt sein? Hatten sie den Winter in Handel199 bürg überlebt? Würde sie ihnen am Ende auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen? Würde sich überhaupt irgendwann ein wendisches Heer Bulkezu entgegenstellen, oder würde er ganz nach Belieben immer weiter durch das Land ziehen und dabei Tod, Verderben und Schrecken verbreiten? Bulkezu ließ anhalten. Seine Soldaten und Sklaven machten sich daran, ein Lager für die Nacht zu errichten; sie führten die Pferde und das Vieh zu den üppig bewachsenen Weiden. Das gesamte Gelände lag vollkommen verlassen da. Der Wald begann bereits, sich den freien Platz um den Palast herum zurückzuerobern. Es war ein wunderschöner Ort, ruhig und friedlich - zumindest, so lange nicht gemordet wurde. Hanna hatte inzwischen so viel Mord und Totschlag gesehen, dass es für zehn Leben gereicht hätte. Jeder Tod hinterließ eine neue Narbe in ihrem Herzen - eine unendliche Anzahl von Wunden, die niemals wirklich verheilten, sondern mit der Zeit lediglich verschorften. »Setzt Euch zu mir, mein Prinz.« Edelmann Weif führte Ekkehard zu einem Stuhl, den eine seiner Konkubinen
hastig aufgestellt hatte. Das blonde Mädchen hatte den verhuschten Blick eines in die Enge getriebenen Kaninchens und machte sich daran, mit einem Stoffstreifen Ekkehards Gesicht von den Tränen zu reinigen. In der Zwischenzeit waren hinter ihm Sklaven damit beschäftigt, eines der runden qumanischen Zelte aufzubauen und das Vordach aufzuspannen, damit er vor der Nachmittagssonne geschützt sein würde. Es war ein heißer Tag. Hanna saß im Schatten eines Baums und genoss die Berührung des Grases, das an ihren Handgelenken kitzelte. Sie lehnte sich zurück. Rechts und links von ihr warteten, geduldig wie Steine, die stets anwesenden Wachen. Sie waren zwar nicht so nah, dass sie sie wirklich belästigten, doch auch nicht so weit weg, dass sie hätte davonlaufen können; sie würde kaum weiter als zehn Schritte kommen, bevor sie sie wieder eingeholt hätten. Einer kaute auf einem Grashalm und musterte die Vögel, die über ihnen im Baum zwitscherten. Die anderen beiden standen gelangweilt da wie 200 dumme Schafe, doch Hanna wusste, dass dieser Eindruck täuschte - was ein Blick in ihre Augen rasch bestätigte. Bulkezu trat fröhlich pfeifend aus seinem Zelt, das als Erstes errichtet worden war. Neben ihm ging die hübscheste all seiner Konkubinen, eine junge, rundliche Frau mit schwarzen Haaren, die fast ebenso üppig waren wie seine eigenen und bis zur Taille fielen. Es war Agnetha, die Bulkezu an jenem schrecklichen Abend ausgewählt hatte, als die Pest unter den Gefangenen ausgebrochen war. Sie war eine der wenigen, die die schreckliche Nacht überlebt hatte, und erstaunlicherweise hatte sie es geschafft, ein Dutzend Verwandte ebenfalls vor dem Tod zu bewahren. Bulkezu brachte sie zu Ekkehard und bedeutete ihr, vor dem jungen Prinzen niederzuknien. Hanna erhob sich hastig und schritt zu ihnen. Boso kam ebenfalls herbei, arrogant wie ein stolzer Hahn. »Seine Herrlichkeit kann es nicht ertragen, Euch wie ein krankes Kind schniefen und jammern zu sehen, Eure Hoheit. Um Eure Stimmung zu heben - und Euren Schwanz -, überlässt er Euch eine seiner viel benutzten Mösen.« Hanna hatte sich schon lange an Bosos derbe, hochnäsige Sprache gewöhnt, doch sie fragte sich häufig, was Bulkezu wohl wirklich zu seinem Übersetzer gesagt hatte und wie sehr der wendische Mann die Worte seines Herrn wohl verdreht haben mochte. Die arme Agnetha erhaschte einen Blick auf Hanna, die hinter Edelmann Frithuric stand, und warf ihr einen flehentlichen Blick zu. Sie war glücklicherweise klug genug, den Mund zu halten, geschweige denn Einwände zu erheben oder zu weinen, als sie derart weitergereicht und der Gnade eines anderen überlassen wurde. Wie immer das Angebot auch formuliert gewesen sein mochte, es trocknete tatsächlich Ekkehards Tränen. Er hatte natürlich keinen Mangel an Frauen, doch Agnetha besaß außer ihrem berauschenden Duft noch etwas anderes: sie war die bestaussehende Frau, die zurzeit beim Heer weilte, und noch dazu hatte sie bisher Bulkezu gehört. In Ekkehards Augen war es ein äußerst großzügiges Geschenk, und so bedankte er sich überschwänglich, während 201 die junge Frau stumm vor ihm niederkniete und sich bemühte, keine Miene zu verziehen. Während Ekkehard munter weiterplapperte und Boso übersetzte, blickte Bulkezu immer gelangweilter drein. Er machte eine heimliche Geste mit der Hand, und rasch wurden dem qumanischen Prinzen Pferde gebracht jeweils eins für sich, für seine Leibwächter und für Hanna. Selbst Boso blieb zurück, als die kleine Gruppe aufsaß und auf die Hügelkuppe zuritt, um den zerstörten Palast in Augenschein zu nehmen. Hanna konnte keinerlei Hinweise darauf entdecken, dass er - oder auch nur ein Teil davon - wieder aufgebaut worden wäre. Das Feuer hatte ihn wohl zu sehr zerstört, als dass man noch etwas hätte retten können. Im Laufe von zwei Jahren hatten Wind und Wetter dafür gesorgt, dass von der Ascheschicht nichts mehr übrig geblieben war, doch noch immer erinnerten geschwärzte Pfosten an den Palast, der einst die Hälfte der Hügelkuppe eingenommen hatte. Die Steinmauern der Kapelle standen zum Teil noch, zeigten aber deutliche Spuren der Feuersbrunst. Die Fenster, in denen früher Glasscheiben gewesen waren, waren leer, und das Dach war eingestürzt. Ziegel lagen im Mittelgang. Bulkezu stocherte mit einem Speer zwischen ihnen herum, aber er fand nichts, was sein Interesse erregt hätte, abgesehen von einer bronzenen Gürtelschnalle, die zwar einmal in Gestalt eines springenden Hirsches angefertigt worden war, sich durch die gewaltige Hitze jedoch verformt hatte. Er lachte leise. »Ich wünschte, ich hätte solche Macht.« Er blickte auf; irgendetwas an Hannas Schweigen hatte ihn aufmerksam gemacht, und er musterte sie mit durchdringendem Blick. »Weißt du, wie das geschehen ist?« Er machte eine ausschweifende Handbewegung, die den ganzen Hügel umfasste. Sie presste die Lippen fest aufeinander. Er lächelte. »Eine zerbrochene Lampe, vergossenes Öl, Zauberei?« In solchen Momenten pflegte eine wilde Wut sie zu überwältigen, der Wunsch, ihre Faust mitten in dieses gut aussehende Ge202 sieht zu schlagen und dann in die Freiheit davonzugaloppieren. Aber seit ihrem letzten Fluchtversuch waren noch mehr Wachen um sie herum. Er badete in ihrer Wut. Er nährte sich daran, und sie brachte ihn zum Lachen. Obwohl ihn natürlich alles zum Lachen bringen konnte. »Zauberei«, erwiderte er voller Befriedigung, als hätte sie ihm geantwortet. Vielleicht hatte sie das auch.
Er pfiff. Nach einer Weile kam sein Schamane Cherbu auf einer scheckigen Stute herbeigeritten; ihr geflecktes Fell hatte eine vage Ähnlichkeit mit dem Flickenmuster seines Umhangs und seiner Hose. Die beiden Männer wechselten ein paar Worte. Danach stieg der Schamane ab und ließ sich auf Hände und Knie sinken; er schnüffelte wie ein Hund und nahm eine unsichtbare Fährte auf, die ihn durch die Ruinen führte. Bulkezu folgte ihm auf dem Rücken seines Pferdes. Er sang dazu in dem aufreizenden nasalen Ton, den die Qumaner bei bestimmten, bevorzugten Liedern anwandten. Hanna erkannte das Lied; er hatte es einmal für sie übersetzt: »Hat jemand so viel Unglück erlebt wie ich? Wer bedauert die Waise, den kleinen Vogel, der aus dem verlassenen Nest gefallen ist? Es ist besser, tot zu sein als mutterlos. Aber das Schicksal hat bereits sein Lied angestimmt. So hätte ich doch keine Freude dran, würde meine Mutter sich jetzt von ihrem Krankenlager erheben und mich küssen.« Er hielt inne. Der Schamane war verschwunden. Hanna blickte sich rasch um, aber weder zwischen den eingestürzten Balken noch auf der unfruchtbaren Erde war eine Spur von Cherbu oder seinem Umhang mit dem Flickenmuster zu sehen. Der Lärm, der vom Lager heraufdrang, wirkte jetzt irgendwie gedämpft. 203 Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben und gewährte ihnen etwas Erholung von dem grellen Licht. Nur ein einzelner, dünner Lichtstrahl glitt wie eine Schlange durch die Ruinen. Eine Eule schrie. Hanna sah im Augenwinkel etwas Weißes aufblitzen und drehte sich gerade in dem Moment um, als eine riesige Eule sich auf der höchstgelegenen Stelle der Mauer der abgebrannten Kapelle niederließ. »Ich bin hier«, flüsterte sie und fragte sich, ob sie die Eule möglicherweise vor der Anwesenheit der Qumaner warnen konnte, indem sie ihren Willen auf einen einzigen Punkt bündelte, ihn auf einen einzigen Gedanken konzentrierte, den sie dann wie einen Pfeil abschoss. Sofort breitete die Eule wie zum Gruß die Flügel aus. Eine der Wachen spannte den Bogen und zielte mit einem Pfeil auf den großen Vogel, doch Bulkezu sprach drei sanfte Worte zu ihm. Eine aufgeblähte Wolke aus Asche wirbelte von den Ruinen auf und brachte Hannas Augen zum Brennen. Sie blinzelte heftig und beschattete die Augen mit einer Hand, doch als sie sie wieder zu öffnen wagte, war die Eule bereits verschwunden. Der Schamane, dessen Umhang von einer weißen Ascheschicht bedeckt war, stand mitten in den zerstörten Soldaten-Unterkünften, in denen einst fünf Löwen gestorben waren. »Hier«, sagte Bulkezu. »Hier hat das Feuer begonnen. Er kann sie riechen.« »Wen kann er riechen?« »Die Magie.« »Wieso folgt er Euch, wenn er so mächtig ist? Was gebt Ihr ihm, dass er so weit reitet?« Bulkezu lachte. Wie sehr sie dieses Lachen inzwischen hasste! »Cherbu ist mein Bruder. Unsere Mutter hat ihm befohlen, mir zu dienen. Ist das wendische Volk so unzivilisiert, dass ihr eurer eigenen Mutter nicht gehorcht? Es stimmt also, dass ihr euch eher selbst bekämpft, als dass ihr Krieg gegen andere führt?« Diese Vorstellung gefiel ihm so gut, dass sein Gelächter sogar 204 noch zunahm und er sich tatsächlich ein paar Tränen aus den Augen wischen musste. Während sie noch immer sehr erregt war, sich sogar mehr und mehr in ihre Wut hineinsteigerte, sah sie, wie Cherbu ein paar halb verrottete Planken und Holzsäulen begutachtete. Kalte Schlacke zerbröckelte unter seinen Händen, als er eine Stelle auf dem Boden mit Ruß markierte und dann einen seltsamen Tanz aufführte. Er sang mit dünner Stimme dazu, wurde hin und wieder sogar außerordentlich leise. Doch dann entrang sich seiner Kehle ein Wort, das Hanna kannte. Es klang fremdartig aufgrund seines Akzents, doch sie hätte es unmöglich überhören können. »Liathano.« Sie zuckte zusammen - und hatte sich verraten. Bulkezu pfiff. Cherbu schüttelte sich, klatschte mit der Hand gegen den Boden und kehrte zurück. Er summte leise vor sich hin. Er hatte die Angewohnheit, andere nur aus einem Auge zu betrachten, wobei er den Kopf so schief legte wie ein Vogel. Bulkezu befragte ihn ausführlich, aber der Schamane antwortete nur mit knappen Sätzen und beendete die Unterhaltung schließlich mit einem Schulterzucken. »Wohin ist dieses Wesen gegangen, das Liathano heißt?«, wollte Bulkezu mit einem Stirnrunzeln von Hanna wissen. »Mein Bruder behauptet, sie wäre eine Frau, aber er kann sie nicht aufspüren. Wohin ist sie gegangen?« Schließlich lächelte Hanna. Jetzt erblühte ihre Wut erst richtig. »Wieso sollte ich es Euch sagen?« Ihr kühler Trotz provozierte ihn, wie leicht zu erkennen war, denn seine Nasenflügel bebten, und sein Pferd, das seine Stimmung aufgenommen hatte, wurde unruhig. Aber sein Zorn machte sie nur noch störrischer. Sie starrte ihn an, als sein Grübchen aufblitzte. Er lachte nur, strich über die Haare seiner Trophäe, als wollte er sie liebkosen. Sein Bruder sprach mit ihm, blickte einmal kurz zu Hanna, und Bulkezu zuckte zusammen, als wäre er ge205 schlagen worden. Ohne ein Wort lenkte er sein Pferd herum und ritt zum Lager hinunter. Die Haltung seiner Schultern verriet seine Wut. Die Hälfte seiner Wachen folgte ihm. Die andere Hälfte blieb mit ausdruckslosen
Mienen bei ihr zurück. Doch Hanna, deren Wangen vor Befriedigung gerötet waren, lachte darüber, dass sie endlich einen kleinen Sieg errungen hatte. Cherbu schnalzte mit der Zunge und schüttelte so heftig den Kopf, dass seine Ohrringe hin und her schwankten. Sie konnte zwar die Worte nicht verstehen, die er sprach, doch den Ton kannte sie auch von ihrer Mutter, wenn sie während der Messe mit ihren zwei Brüdern getuschelt hatte und dafür gescholten worden war. »Du bist eigentlich zu schlau für ein solches Verhalten ....« »Ich weiß, mein Freund«, sagte sie. Überrascht stellte sie fest, dass sie ihn nicht wirklich als Feind betrachtete, trotz der grauenhaften Ornamente, die er trug. Aber sie hatte ihn noch nie eine Waffe erheben oder einen bösen Zauber wirken sehen, nicht ein einziges Mal. Sein magischer Mantel schützte Bulkezu vor fremder Magie, das war alles. Er betrachtete sie mit einem verwirrten Grinsen, da er kein Wort von dem verstand, was sie gesagt hatte. »Ich weiß, ich sollte ihn nicht wütend machen. Aber im Augenblick ist das die einzige Waffe, die ich besitze.« Allerdings eine sehr zerbrechliche Waffe, um sich zu wehren -ganz besonders dann, wenn es gar keinen Sinn machte, sich zur Wehr zu setzen. Wäre sie nicht Sorgatanis Glück, wäre sie ohnehin längst tot. Die untergehende Sonne tauchte den freien Platz vor dem Palast in ein goldenes Licht, warf ihre letzten Strahlen auf die gequälten Seelen, die sich mit dem Vieh im Gras niedergelassen hatten. Es mussten etwa zwei- oder dreihundert Gefangene sein, aber da das Sonnenlicht Hanna blendete, fiel es ihr schwer, sie zu zählen. Bulkezu hatte hunderte von ihnen getötet, um die Pest auszurotten, aber das hatte nicht bedeutet, dass er aufgehört hatte, Gefangene zu machen. Mit ihrer Wut legte sie ihm nicht gerade ein großes Hindernis 206 in den Weg, aber manchmal musste man mit dem wenigen zurechtkommen, das man noch besaß. Als sie schließlich ins Lager zurückkehrte, schien Bulkezu den Zwischenfall vergessen zu haben. Ein Festmahl wurde abgehalten, mit Käse und frisch gebackenem Brot von dem kleinen Gut, das sie am Morgen überfallen hatten, außerdem gab es geröstetes Wildbret und Stutenmilch. Bulkezu trank nie viel Wein oder Bier; er zog es vor, Ekkehard und seinen Kameraden dabei zuzusehen, wie sie sich bis zur Besinnungslosigkeit betranken. Im Großen und Ganzen waren die qumanischen Soldaten eher mürrisch und langweilig; ihre Festlichkeiten konnten es kein bisschen mit den Zechgelagen aufnehmen, an die Hanna sich gewöhnt hatte, seit sie mit wendischen oder ungrianischen Edlen reiste. Immerhin bekam sie schon bald die Gelegenheit, kurz das Fest zu verlassen und das bisschen Zurückgezogenheit zu genießen, das man ihr zugestand - angesichts der drei Soldaten, die sie in einer Entfernung von nicht mehr als zehn Schritten unablässig begleiteten. Die Qumaner hatten nicht die Angewohnheit, Gräben als Aborte auszuheben, aber immerhin erwählten sie - wie gut abgerichtete Hunde - ein bestimmtes Gebiet für diese Bedürfnisse, sobald sie irgendwo ihr Lager aufgeschlagen hatten. Sie blieb am Rand des Lagers stehen und betrachtete die am Himmel blinkenden Sterne. Wo war Liath jetzt? Sie hatte keine Ahnung, wo sie nach ihr hätte suchen sollen. Sie wagte es nicht, ihre Adlersicht zu benutzen, aus Angst, dass Bulkezu ihre Fähigkeit bemerken würde. Es handelte sich zwar nicht wirklich um Magie, aber es war Zauberei genug, dass er sie zwingen mochte, sie zu seinen Gunsten einzusetzen. Eine Frau eilte aus dem Festzelt; erstickte Geräusche entrangen sich ihrer Kehle. Sie fiel ein paar Schritte von Hanna entfernt auf die Knie und erbrach sich - hauptsächlich Wein. Der saure Geruch hing kurz in der Luft, verflüchtigte sich sodann. 207 Hanna ließ sich neben ihr nieder. »Geht es dir gut?« Es war Agnetha. Sie ergriff Hannas Hände. »Er ist nicht zufrieden mit mir«, flüsterte sie aufgeregt. »Ich habe getan, was Ihr gesagt habt. Keine Schmeicheleien. Kein Jammern. Kein Weinen. Aber er hat schlechte Laune. Hört doch nur.« Ekkehard hatte irgendwie eine Laute in die Finger bekommen und begann zu singen; offensichtlich war er betrunken. Er hatte eine klare, hohe Stimme und das Talent eines Barden, was die Wahl der Worte betraf. »Einst in dieser strahlenden Festhalle fiel mein Blick auf die schönste Frau von allen. Doch jetzt kehre ich zurück und sie ist fort, die Mauern sind gefallen, der Herd ist stumm, es klirren keine Becher, es ertönt kein Lied, um mein Herz zu erfreuen. Der Tod hat alles beiseite gefegt, was mir teuer gewesen ist.« »Was soll ich nur tun?«, flüsterte Agnetha. Sie würgte wieder, doch es kam nichts mehr heraus. Sie presste die Hände gegen den Bauch. »Oh, Gott, er hat gesagt, er würde mich den Wölfen vorwerfen, den gewöhnlichen Soldaten. Sagt mir, was ich tun soll, Adler, ich flehe Euch an.« »Herrin, beschütze sie«, murmelte Hanna. Ein einfaches Dorfmädchen wie Agnetha hatte nicht die leiseste Vorstellung davon, was es bedeutete, eine Konkubine zu sein. Wie hätte sie es auch wissen sollen? Hanna hatte
in der Schenke ihrer Mutter gelernt, zu verhandeln und zu beobachten; diese Fähigkeiten hatten ihr auch am Hofe viel genützt. »Du kannst nicht jeden Mann gleich behandeln. Was Bulkezu gemocht hat, ist nicht unbedingt das, was der Prinz will. Den Prinzen musst du umschmeicheln. Sag ihm alles, solange es wie ein Lob klingt. Wenn er dich wirklich wegschickt, bitte ihn, zu einem seiner Kameraden gehen zu dürfen. 208 Mähnegold ist eitel und oberflächlich. Weif ist aufbrausend, aber er schämt sich für das, was sie tun. Benedict ist scharfsinnig. Er wird deine Schmeichelei durchschauen, und er liebt es, Frauen zu schlagen. Frithuric mag Männer ebenso wie Frauen und möchte am liebsten getätschelt und umhegt werden. Aber er ist immerhin einigermaßen anständig.« Agnethas Gesicht zeichnete sich wie ein heller Fleck unter den Bäumen ab. »Woher wisst Ihr das alles? Seid Ihr ihre Hure gewesen, bevor Ihr zu Bulkezu gegangen seid?« »Ich bin keines Mannes Hure, und ich bin es auch früher nie gewesen! Aber ich habe viel Zeit am Hof verbracht. Ein Adler muss lernen, die Augen offen zu halten und jene zu kennen, denen er dient.« Agnetha wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Das leichte Unterhemd, das sie trug, bedeckte ihren Körper nur spärlich, und so war von ihren cremeweißen Brüsten viel zu viel zu sehen - daran änderten auch die langen, seidigen schwarzen Haare nichts, die ihr bis zur Taille fielen. Selbst die sonst eher unbeteiligten Wachen beäugten sie, oder vielmehr das wenige, das von ihr im Schatten eines Baumes und beim Licht des Viertelmondes zu sehen war. Vielleicht hatten auch sie um sie gestritten, ehe Bulkezu sie für sich in Anspruch genommen hatte. »Herrin, behüte uns«, murmelte sie unsicher. »Wann wird es jemals vorbei sein?« »Ich weiß es nicht.« Sie gab sich alle Mühe, nicht zu weinen. »Ich strenge mich doch so an. Ich habe noch meine Mutter und vier Geschwister, einen Onkel und seine drei Kinder und zwei weitere Verwandte. Ich bin alles, was sie vor dem Tod bewahrt.« Sie bebte. »Und ich habe es immer noch besser als die meisten anderen. So viele sind tot. Aber manchmal weiß ich einfach nicht, wie ich es noch einen einzigen Tag länger aushalten soll.« Sie atmete tief ein, doch der Gestank brachte sie zum Husten. Sie erhob sich, reckte die Schultern. »Ich muss es irgendwie schaffen. Ich muss es irgendwie schaffen.« Sie machte schon Anstalten, sich umzudrehen, um ins Zelt zu209 rückzukehren, legte dann aber Hanna besänftigend die Hand auf den Arm. »Zumindest bin ich nicht mehr bei Bulkezu. Er hat mich zwar nicht geschlagen, aber er ist manchmal so kalt und unnatürlich. Und er ist so hässlich.« »Hässlich?« Hanna hätte fast gelacht, besann sich dann aber eines Besseren. »Seine Augen stehen so schräg, und seine Hautfarbe erinnert mich immer an Schlamm. Edelmann Mähnegold wirkt neben ihm wie die Sonne neben einem schrecklichen Kobold. Und genau das ist dieses Tier.« Da Hanna glaubte, dass Edelmann Mähnegold sogar noch öder war als der berühmt-berüchtigte Baldwin - und dabei nicht annähernd so hübsch -, enthielt sie sich lieber einer Antwort. »Zumindest ist es für mich wohl auch nicht so schlimm wie für Euch.« »Für mich?« Voller Scham wich sie vor der anderen Frau zurück. Was konnte sie schon erlitten haben, verglichen mit all den Gefangenen, die sie hatte schreien hören, als sie von den Qumanern niedergemetzelt worden waren ? »Er sieht Euch die ganze Zeit an. Ich weiß, dass Ihr schon länger als jede andere seine Mätresse seid. Ich verstehe nicht, wie Ihr das aushalten könnt, wie Ihr so ruhig und würdevoll dabei bleiben könnt. Ihr seid so stark! Ich nehme an, dass Ihr Euch deshalb nicht als seine Hure fühlt.« Vielleicht war es den Menschen manchmal einfach unmöglich, die Wahrheit zu ertragen; dann war es natürlich auch sinnlos, es immer wieder zu erklären. »Ihr seid nicht einmal hübsch. Ich nehme an, er vergewaltigt Euch, weil Ihr der Adler des Königs seid. Es ist für ihn wahrscheinlich so, als würde er auf diese Weise dem König etwas antun. Er versucht, durch Euch den König zu entwürdigen. Ich bewundere Euch dafür, dass Ihr Euch niemals entwürdigen lasst.« Vielleicht konnten Menschen die Wahrheit aber auch einfach nur nicht erkennen. 210 Licht schimmerte, als eine Lampe auf und nieder hüpfte, sich vom Festmahl entfernte. Sie sah Bulkezu näher kommen, begleitet von einer seiner Nachtwachen. Aber er suchte lediglich nach ihr. Sie war zu lange weggeblieben. »Ich danke dir«, sagte sie zu Agnetha. »Ich hatte ganz vergessen, wie die Worte zu diesem Lied lauteten.« Agnetha sah Bulkezu. Ihre steinerne Maske hätte König Henry stolz gemacht. Sie war kein dummes Mädchen, sondern lediglich unschuldig und darum bemüht, zu überleben. »Mein Herr«, sagte sie und verneigte sich tief, um ihm ihre Ehrerbietung zu erweisen. Als er nichts darauf erwiderte, schritt sie mit hoch erhobenem Kopf zum Festmahl zurück: keine Schmeichelei, keine Furcht, kein Jammern. »Sing mir das Lied vor«, flüsterte Bulkezu. Er lachte nicht. Es war ein harter Tag gewesen, und noch immer war sie von einem gewissen störrischen Mut erfüllt. Vorsichtig trat sie unter den Bäumen hervor und ging auf ihn zu. Sie hatte sich schon immer schnell auf neue Situationen einstellen können, wie ihre Mutter oft bestätigt hatte.
»Mein Prinz«, sagte sie weich. »Ich hatte nicht damit gerechnet, Euch hier zu treffen.« Sie hatte schon eine rüde Bemerkung auf den Lippen, schluckte sie aber hinunter. »Nur ein altes Lied, das ich früher gesungen habe, wie Mädchen es so tun. Ich hatte die erste Strophe vergessen. Es geht etwa so.« Sie hatte eine angenehme Stimme, konnte den Ton halten und war in der Lage, eine ganze Schenke zu unterhalten; niemals hätte sie jedoch daran gedacht, wegzulaufen und als Bardin am Hof zu bleiben. »>Golden ist sein Haar und süß seine Stimme; ich will ihn nicht lieben, aber mir bleibt keine Wahl.<« Sie lachte, sah das Grübchen aufblitzen, das ein erstes Anzeichen für sein Lachen, aber auch für seine Wut sein konnte. Hass loderte in ihr auf. »Ich habe ihn gesehen, den Mann, der hübscher ist, als Ihr es seid. Er ist es wirklich.« Seine rechte Hand zuckte einmal kurz, verharrte dann. »Wieso 211 gibst du dir so viel Mühe, mich wütend zu machen? Ich habe dich nicht angefasst.« »Ihr habt meinen Körper nicht angefasst. Aber Ihr habt meinem Herzen und meiner Seele Gewalt angetan.« Er betrachtete sie eine Weile stumm. Hinter ihr hatte Ekkehard glücklicherweise damit begonnen, ein fröhlicheres Lied zu singen, angetrieben von Agnethas glucksenden Lobpreisungen. »Wo ist Liathano?«, fragte er schließlich. »Führe mich zu ihr, und ich werde dich freilassen.« »Sie hat bereits einen Ehemann.« »Und ich habe bereits vier Frauen. Und das Glück einer kerayitischen Schamanin.« »Oder ihren Fluch.« Das brachte ihn zum Lachen, doch das Lachen erreichte seine Augen nicht. »Mach mich nicht wütend«, sagte er schließlich, bevor er ihr bedeutete, mit ihm zum Festmahl zurückzukehren. Sie folgten dem Nebenfluss in Richtung Norden. Drei Tage und sieben Dörfer später erreichten sie die Stelle, wo er sich mit der Veser vereinigte. Die ersten Hinweise auf Kundschafter erhielten sie gegen Mittag, als ein Späher getötet wurde. Bulkezu schickte ein paar größere Gruppen aus, und als sie mit ihren Berichten zurückkehrten, befahl er die Marschroute zu ändern. Wie immer, wenn sie sich einem befestigten Ort näherten, wurden die Gefangenen nach vorn getrieben, während sich das Heer noch durch den Wald quälte. »Oh, Gott«, sagte Ekkehard, als sie schließlich auf einem Grat anhielten, von dem aus man einen guten Blick über die Veser hatte. »Das ist die Festung Barenberg. Wir befinden uns jetzt im Herzogtum meiner Tante Rotrudis.« Seine Kameraden betrachteten stumm die in einiger Entfernung gelegene Festung. Der Fluss schlängelte sich in nördlicher Richtung durch reife Felder und Obstwiesen. Dies war wirklich ein fruchtbares Land. 212 »Ich kann nicht gegen sie kämpfen«, flüsterte Ekkehard und warf dabei einen verstohlenen Blick auf Bulkezu, der an den Rand des Grats geritten war. Der Wind sang ein süßes Lied auf seinen Greifenschwingen. Da er seinen Helm mit dem Visier trug, konnte Hanna seine Miene nicht erkennen. »Wessen Banner weht auf dem Turm?«, fragte Benedict. Ekkehard gab einen unterdrückten Laut von sich, und sämtliche Farbe wich aus seinem Gesicht. Bulkezu wendete das Pferd und kehrte zu ihnen zurück. »Es sind zwei Banner«, erklärte Hanna, und Hoffnung blitzte in ihr auf. »Es ist die Seide des Herrschers und Waylands Falke. Es sieht so aus, als wären wir auf Prinzessin Theophanu und Herzog Conrad gestoßen, Eure Hoheit.« 2 Obwohl ihm durch Wulfhere die Adlersicht zur Verfügung stand, waren Sanglant und seine Streitmacht drei Wochen lang gezwungen, hinter Prinz Bayan und Prinzessin Sapientia herzureiten, die kreuz und quer durch die Marschlande von Olsatia und Ostfall zogen. Er holte ihr Heer schließlich in den Ruinen der Festung Machteburg ein, wo gerade eine Sklavenauktion stattfand. Es war leicht zu erkennen, dass Bulkezus Heer nur zwei Monate zuvor ebenfalls hier gewesen war: vor der äußeren Mauer lagen haufenweise die zum Teil bereits verwesten Leichen der Gefangenen. Man hatte sie anscheinend genau dort liegen lassen, wo sie gefallen waren - getötet von ihren eigenen, erschreckten Landsleuten, die allen Grund gehabt hatten zu glauben, sie hätten es mit der qumanischen Vorhut zu tun. Sanglant fand Bayan inmitten der ausgebrannten Ruinen; er stand im mittleren Turm und rührte mit einem Speer in der Asche. Der ungrianische Prinz wirkte raubeinig und so gut in 213 Form wie immer und auch nicht weniger gut gekleidet als sonst. Er blickte auf und sah Sanglant auf sich zukommen. Um seine Augen erschienen unzählige Fältchen, als er sich lächelnd durch sein Gefolge drängte. »Mein Freund!« Bayan gab Sanglant einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, bevor er ihn herzlich umarmte. Dann küsste er ihn auf beide Wangen, wie es unter Verwandten üblich war. Schließlich ließ er ihn wieder los. »Leider treffen wir uns in unruhigen Zeiten.« »In ziemlich unruhigen, das ist wahr.« »Was ist das für ein Stirnrunzeln, mein Bruder? Ich kenne diesen Blick; es ist der Blick eines Mannes, der sich nicht genug im Bett austobt.« Sanglant lachte. »Sind das die unruhigen Zeiten, von denen du sprichst? Ich dachte, du hättest den Krieg gegen die Qumaner gemeint.«
Aber Bayan ließ sich nicht so schnell von seinem Gedanken abbringen. »Wie ist das möglich? Es scheint noch alles heil und ganz zu sein. Finden die Frauen dich nicht mehr hübsch genug?« Unerwarteterweise ärgerte sich Sanglant über die Frage. »Ganz und gar nicht, die Frauen belästigen mich mehr als genug. Es ist einfacher, in den Herzogtümern zu reisen. In den klösterlichen Gästehäusern habe ich mich nachts sehr sicher gefühlt, in den Schlaf gewiegt von der unbefleckten Musik Gottes. Aber hier in den Marklanden bittet mich jede Nacht ein anderes süßes Mädchen, ihrer Familie die Ehre meines königlichen Samens zu erweisen.« »Nur ein süßes Mädchen jede Nacht? Nicht zwei? Ich kann dich allerdings nicht bedauern, wenn du sie wirklich wegschickst, ohne eine Kostprobe genommen zu haben. Im letzten Winter habe ich fünf hübsche Sklavenmädchen auf dem Markt von Handelburg gekauft. Ich musste sie allerdings zum Arbeiten in die Küche schicken. Und ich darf auch nie meine geliebte Schneefrau erwähnen, die ich in den Tod geschickt habe, um den Frieden in meinem Bett 214 zu bewahren.« Er seufzte, warf Sanglant dann einen reuevollen Blick zu. »Ist denn nicht diese Frau bei dir, die du gegen den Wunsch deines Vaters geheiratet hast?« Der Schmerz einer Verletzung pflegte gewöhnlich nach einiger Zeit nachzulassen, wenn auch die Mischung aus Trauer, Hoffnung und Wut niemals vollständig vergehen mochte. Die spätsommerliche Hitze legte einen dunstigen Schleier über die ausgebrannte Festung. Glücklicherweise waren sie erst einige Wochen nach den Ereignissen eingetroffen, als der grauenhafte Gestank zum größten Teil wieder nachgelassen hatte. Doch noch immer stieg Sanglant hier und da der Geruch von Verwesung in die Nase, wenn irgendeinem Totenhaufen eine Gasblase entwich. »Wir sollten die Toten begraben«, erwiderte er kurz angebunden. Bayan hatte die Angewohnheit, die rechte Augenbraue hochzuziehen, wenn er vorhatte, eine unerwünschte Frage zu stellen, aber jetzt hielt er sich zurück. »Wir haben erfahren, dass in Avaria die Pest ausgebrochen ist. Als hätten wir nicht so schon genug Probleme. Ich habe meine Männer daher bereits angewiesen, genügend Gräber für all diese unschuldigen Leute auszuheben. Allerdings sollte man eine Leiche vielleicht gar nicht als unschuldig bezeichnen, wenn Maden und Fliegen in ihrem Körper herumkrabbeln.« »Dein Wendisch hat sich sehr verbessert.« »Deine Stimmung aber nicht. Was ist mit deiner Frau passiert?« Sanglant nahm Bayan ungeduldig den Speer aus der Hand, stocherte damit an etwas herum, das in der Asche schimmerte, aber alles, was er fand, war ein weiterer Schädel. Er bückte sich, um ihn aufzuheben. Der Schädel hatte sich von dem zugehörigen Körper gelöst. Der Unterkiefer war eingeschlagen, vermutlich von einem herabgestürzten Stein. Ein paar Fleischfetzen und ein paar rötliche Haarsträhnen hingen noch an der Schädeldecke, aber ansonsten hatten das Wetter und die Insekten ihn gesäubert. »Ich habe nicht die Kraft, die Geschichte noch einmal zu erzäh215 len. Du wirst aber feststellen, dass meine treuen Soldaten und die schlauen Gelehrten sehr gut Bescheid wissen.« »Vater! Papa!« Gnade war Heribert und Zacharias wieder einmal davongelaufen und kam jetzt in die Ruinen gerannt, mit der nussbraunen Anna ihr dicht auf den Fersen. Sie stieß mit ihrem Holzschwert immer wieder gegen die eingestürzten Mauern. »Ich will einen Mann haben, Papa. Ich habe einen gesehen, den ich haben will.« Sie rannte zu ihm, fuhr sich mit der Hand über das rußige Gesicht, das davon allerdings nur noch schmutziger wurde. Dann baute sie sich vor Bayan auf, stützte die Hände in die Hüften und blickte ihn direkt an. »Du bist ein Prinz«, erklärte sie, während sie noch darüber nachdachte, was das bedeutete. »Kannst du mir den Mann beschaffen?«, fragte sie ihn dann mit einem vertraulichen Unterton. »Wer ist dieses zauberhafte Kind?«, rief Bayan erheitert. »Wieso trägt sie einen Goldreif?« »Ich bin Gnade, Erbin von Kaiser Taillefer.« Sie besaß den Hochmut einer Kaiserin, und er hatte unverzüglich das Gefühl, als hätte er nur sich selbst etwas vorzuwerfen. Es war, als wäre er ihr sogleich rettungslos verfallen. Zweifellos war es nur Annas ernster und kühler Art zu verdanken, dass Gnade überhaupt so etwas wie Selbstbeherrschung besaß. Denn Anna war durch nichts zu ängstigen, nicht einmal durch Gnades schlechte Laune. »Welchen Mann wünscht sich denn die junge Prinzessin?«, fragte Bayan, bemüht, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. »Ich habe einen Mann in Ketten gesehen. Ich will ihn haben. Und ich habe Durst.« »Ich nehme an, dass wir zusammen noch ein Bier trinken, Kind. Aber zuerst kümmern wir uns um den Mann in Ketten.« Er winkte sein Gefolge zu sich, ein Dutzend ungrianischer Edelleute und Soldaten, die Gnade mit einer Mischung aus Erheiterung und Neugier beäugten, was Sanglant gleichermaßen reizte wie gefiel. »Sanglant? Begleitest du uns? Ein paar wendische und polensische Kaufleute lagern hier; unter anderem haben sie auch Sklaven bei 216 sich. Einige Gefangene sind wohl bei den Schlachten gegen die Qumaner dabei gewesen und geflüchtet. Sie werden uns einiges über das qumanische Heer erzählen können.« Gnade hatte seit einiger Zeit eine Abneigung dagegen entwickelt, getragen zu werden, und so verlangsamte
Sanglant seinen Schritt, damit sie neben ihm hergehen konnte. Sie überquerten den Hof der Festung. Verbrannte Dachziegel lagen zerbrochen auf dem Pflaster. Ein totes Pferd war von Geiern bis auf die Knochen abgenagt worden. Eine blassblaue Tunika, die im Schlamm lag, verlieh dem düsteren Bild der Zerstörung einen unpassenden Farbtupfer. »Was hat Bulkezu vor?«, wollte Sanglant von Bayan wissen. »Das habe ich mich auch schon oft gefragt. Aber wie soll ich denken können wie ein schmutziger Qumaner?« Bayan spuckte aus. »Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich den ganzen Winter hinter den Mauern von Handelburg verkrochen und meine Wunden geleckt habe. Dann, im Frühling, bin ich aus meinem Versteck wieder hervorgekrochen. Da war er jedoch schon lange nach Westen geritten.« Er spuckte erneut aus, blickte inzwischen richtiggehend böse drein; offenbar hegte er einen echten Groll gegen Bulkezu. Er machte eine ausschweifende Geste über die Ruine von Machteburg, einst eine stolze Grenzfestung, die jetzt nur noch Schutt und Asche war. »Was könnten die Qumaner schon wollen außer Sklaven, Gold - und Elend verbreiten?« Sanglant stand in der Zitadelle zwischen den umgestürzten Steinen des ehemaligen Tores und warf einen Blick auf die Odar, die weit unter ihm nach Norden floss. Sie floss auf Walburg zu, wo er Waltharia mit einer kleinen Garnison und einem Goldreif zurückgelassen hatte. Ihr Ehemann Druthmar stand neben ihm; er besprach sich leise mit Hauptmann Fulk. »Er muss etwas anderes im Sinn haben. Oder aber er wird von etwas getrieben, von dem wir nicht die geringste Ahnung haben.« Er grinste plötzlich und hob Gnade auf einen Steinklotz, damit sie besser sehen konnte. »Wo ist meine Schwester?«, fragte er dann. »Ah.« Bayans Grinsen wirkte ein bisschen ironisch. »Wo wir ge217 rade vom Treiben reden. Komm mit. Sie ist mit meiner Mutter unten beim Sklavenmarkt.« Sanglants Heer hatte nördlich von Machteburg am östlichen Flussufer Halt gemacht. Um den Sklavenmarkt zu erreichen - eine bunte Ansammlung von argwöhnischen Kaufleuten und nervösen, gemieteten Wachen, die ihre Wagen zu einer Wagenburg formiert hatten -, ritten er und Bayan am westlichen Ufer entlang in Richtung Süden, kamen dabei durch die Reihen des Heeres, das unter dem Kommando von Bayan und Sapientia stand. Die Wendaner hatten Cent nicht vergessen. Bayan jubelten sie glücklich zu, aber beim Anblick von Sanglant erhob sich ein unglaubliches Gebrüll. Schon bald war der Pfad auf beiden Seiten von hastig herbeieilenden Löwen, anderen Fußsoldaten und jungen Edelleuten mitsamt Gefolge gesäumt, die ihn aufmuntern wollten. Selbst Bayans Ungrianer zollten dem Prinzen angemessenen Tribut, und die Pfiffe, die aufgellten, waren so schrill, dass er schon glaubte, ihm müssten die Ohren abfallen. Zumindest Gnade hielt sich die Ohren zu, um den Lärm etwas zu dämpfen. Sapientia hörte sie kommen. Als sie sich schließlich trafen, hatte sie offensichtlich die Zeit genutzt, sich auf die Begegnung vorzubereiten, denn sie stand außerhalb des Marktes an der Stelle, wo sich das inzwischen zerstörte Tor der alten Hügelfestung leicht nach unten neigte. Sanglant stieg ab; er musste den Hügel erklimmen, um sie zu begrüßen. Sie hingegen konnte sich gnädig zu ihm herabbeugen, um sich - wie es unter Verwandten Brauch war - auf beide Wangen küssen zu lassen. »Schwester«, sagte er fröhlich, obwohl er in ihrer Miene nicht die geringste Herzlichkeit entdeckte. »Hat Vater endlich Unterstützung geschickt?«, fragte sie nur. »Nein, er ist in den Süden geritten, nach Aosta -« »Immer geht es um Aosta!« Bayan setzte schon zum Sprechen an, doch Sanglant reckte kurz das Kinn, um ihn davon abzuhalten. »Er ist nach Aosta geritten, weil dort andere Gefahren drohen -« 218 »Was könnte uns wohl mehr bedrohen als Bulkezu und sein Heer? Hast du von der Pest in Avaria gehört? Wir haben mit eigenen Augen die Spur der Zerstörung gesehen, die das qumanische Heer hinterlassen hat gebrandschatzte Dörfer und zertrampelte Felder. Du kannst die Toten noch mit eigenen Augen sehen, die er einfach vor den Mauern liegen gelassen hat. Die Leute, die hier in der Umgebung leben - die noch leben -, sagen, dass die Festung jetzt von den ungerächten Toten verflucht ist. Der Geist eines Kindes wandelt in der Nacht umher, es weint und schreit und sucht nach seiner Mutter.« »Viele Kinder schreien nach ihrer Mutter«, sagte Sanglant, ihren letzten Satz lässig aufgreifend. »Aber wenn wir die Qumaner besiegen wollen, hilft es uns nicht, um das zu jammern, was wir nicht haben. Sieh her, Sapientia, das hier ist meine Tochter Gnade, deine Nichte.« Tante und Nichte beäugten einander. Sapientia hatte ihren ersten langen Feldzug gut überstanden. Sie war fülliger geworden, hatte Farbe bekommen, und ihre Bewegungen strahlten mehr Selbstvertrauen aus. Aber als sie jetzt Gnade musterte, sah Sanglant in ihrem Blick den alten Tanz des Neides, der mit ihrer Neugier rang. »Ich habe mir gedacht, dass sie dir ähnlich sieht. Aber sie kann unmöglich das Kind dieses Adlers sein. Sie ist viel zu alt. Hast du irgendeine Konkubine geschwängert, bevor du in Cent gefangen genommen worden bist?« Er hatte gelernt, sich diesen Fragen zu stellen. Manchmal war es am besten, mit der reinen Wahrheit zu antworten. »Vergiss nicht, dass in ihren Adern Magie fließt. Ich habe keine vernünftige Erklärung dafür, dass sie so schnell wächst. Sie ist letztes Jahr im Frühjahr geboren.« »Sie sieht aus wie ein gesundes Mädchen von drei oder vier Jahren«, wandte Sapientia ein. »Gar nicht wie ein Kleinkind von fünfzehn oder sechzehn Monaten.« »Ich weiß.« Er hatte gelernt, seine Furcht zu verbergen. Er verstand nicht, was mit seiner Tochter geschah.
Zuerst hatte er ge219 glaubt, dass die unirdische Milch, die Jerna ihr gegeben hatte, der Grund für das unnatürliche Wachstum gewesen war, und vielleicht stimmte das ja auch. Aber obwohl Jerna sie verlassen hatte, wuchs Gnade noch immer weit schneller, als sie es eigentlich hätte tun sollen. Er hatte die unangenehme Ahnung, dass sich das nicht eher ändern würde, als bis Liath zurückkehrte - als wäre die Verbindung zwischen Liath und Gnade so fest, dass alles, was der einen geschah, auf die andere zurückwirkte. Falls Liath das wusste - musste sie dann nicht zu ihrer Tochter zurückkehren, um sie zu retten? Sie würde es tun, sofern sie sich auch nur ein bisschen was aus ihnen machte. In solchen Augenblicken fragte er sich auch, warum seine eigene Mutter weggegangen war. Auch Alia hatte ihn verlassen - nun bereits zum zweiten Mal. »Du bist eine Prinzessin.« Gnade war ziemlich lange still geblieben. Sapientia ließ sich nicht anmerken, ob sie durch diese Aussage in irgendeiner Form verwirrt war. »Ich bin König Henrys Erbin.« »Oh«, meinte Gnade anerkennend; sie war diesen feinen Unterschieden gegenüber blind. »Ich mag ihn. Er ist mein Großvater.« Aber weil sie ein Kind war, das sich nicht die Mühe gab, sich zu beherrschen, fuhr sie unbekümmert fort. »Und ich bin die Erbin von Kaiser Taillefer.« »Sagt sie das zu jedem?«, fragte Bayan, als Sapientia missbilligend die Lippen schürzte. Es hatte ganz den Anschein, als wollte sie dem Kind mit einer unangemessenen Bemerkung antworten. »Nur zu denen, die es verdienen«, sagte Sanglant. »Komm, mein Schatz, wo ist der Mann, den du gesehen hast?« Gnade packte seine Hand, und nach kurzem Überlegen ergriff sie auch die von Bayan. »Hierher!« Selbst Sapientia musste jetzt lachen. »Sie ist in der Tat Henrys Enkelin.« »Wenn du eine Prinzessin bist«, sagte Gnade, während sie ihre 220 Begleiter hinter sich herzog, »kannst du mir dann helfen, dass ich den Mann bekomme?« Wut spiegelte sich kurz auf Sapientias Gesicht, wich aber rasch der Erheiterung. »Sie gehört wohl nicht zu denen, die anderen zuhören - wie wichtig deren Bedürfnisse auch sein mögen. Aber wir könnten ein paar Männer im Heer brauchen, und auch ein paar Frauen, wenn sie kräftig und dazu bereit sind.« »Eine exzellente Idee«, rief Bayan fröhlich aus. »Meine Löwenkönigin hat ein scharfes Auge für das, was wesentlich ist. Du selbst solltest die auswählen, die kämpfen und dienen können.« »Findest du?«, fragte sie. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen, als sie ihren Mann ansah. Sanglant hatte bereits zuvor Frauen gesehen, die ganz vernarrt in einen Mann gewesen waren, und genauso sah jetzt auch seine Schwester aus. Obwohl sie sich redlich bemühte, ihre vornehme Würde zu bewahren, als sie zusammen zum Markt schritten. Sanglant hatte sich bisher nie besondere Gedanken über die Kaufleute gemacht, die mit Sklaven handelten. Das Reich der ungläubigen Jinna und die handwerklich begabten Arethusaner hatten einen unersättlichen Appetit auf Sklaven, besonders auf Jungen, die sie zu Eunuchen machen konnten. Und auch wendische Kaufleute scheuten nicht davor zurück, gefangene ungläubige Stammesleute aus dem Osten als Dienstpersonal in den zivilisierten Westen zu verkaufen. Diese Kaufleute hielten auch andere Waren feil: Leinen und Wollstoffe, Felle aus dem Norden, Salzfässer, Löffel aus Holz, Elfenbein oder Zinn, Sicheln, Sensen und Eisenbeile, Huren sowie Kräuter und Gewürze. Doch nach einem Jahr Gefangenschaft bei Blutherz konnte Sanglant das Leiden der menschlichen Ware nicht mehr so einfach übersehen. Gnade zerrte ihn und Bayan zu einer Gruppe von zerlumpten Gefangenen, denen die Hände und Füße gebunden waren. Sie hatten den gleichen Blick, den er von besiegten Soldaten kannte, von jenen Unruhestiftern, die man zusammenschnüren musste, damit sie auf dem langen Marsch nicht fliehen konnten. 221 Ein polensischer Kaufmann eilte herbei, schritt unruhig auf und ab, als er die beiden Edlen sah, den Wendaner und den Ungrianer. Er trug den für Polenser typischen Hut, eine spitze Lederkappe mit gefalteter Krempe. »Eure Exzellenzen«, rief er in einigermaßen gutem Wendisch, »ich habe kräftige Männer, die auf dem Weg nach Süden zu den Sklavenmärkten von Arethusa sind. Aber vielleicht habt Ihr ja Lust, sie jetzt und hier zu erwerben? Ich könnte Euch einen guten Preis machen.« Gnade marschierte zu dem jüngsten Gefangenen, einem Burschen von höchstens sechzehn Jahren mit einem blauen Auge, bloßen Füßen und den Narben von Frostbeulen an Nase und Ohren. »Ich habe doch gesagt, dass ich zurückkommen würde.« Sie wandte sich mit energischer Miene an den Kaufmann. »Thiemo gehört mir.« »Prinzessin -«, begann der Kaufmann und warf einen Blick auf Sanglant; er hatte nicht vor, die Tochter eines Prinzen zu beleidigen. Der Junge begann zu weinen, doch es schien, dass er die Tränen aus aufkeimender Hoffnung vergoss. »Ist das wahr? Seid Ihr gekommen, um mich und meine Kameraden freizukaufen?« Dann fiel auch sein Blick auf Sanglant und Bayan. »Eure Hoheit!«, rief der Junge und errötete. Die anderen fünf Männer, die bei ihm waren, sanken auf die Knie. Obwohl eine dicke Schmutzschicht ihre Kleidung bedeckte, erkannte Sanglant, dass es sich um die Überwürfe von Löwen handelte.
»Gott mögen uns behüten«, murmelte Bayan. »Die Ketzer.« Sapientia trat neben Bayan. Sie runzelte die Stirn, und als sie in ihrer typischen Weise die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenzog, konnte man förmlich sehen, wie sie nachdachte. »Ist das denn möglich ? Sind dies die Ketzer, die nach der Verhandlung in Handelburg verbannt wurden? Wie kommen sie hierher? Wo sind die anderen?« »Tot«, sagte der älteste der Löwen. »Das heißt hoffentlich tot, wenn ich daran denke, was uns zugestoßen ist. Eure Hoheit.« Er verneigte sich hochachtungsvoll vor Sanglant. »Ich weiß, dass Ihr 222 Prinz Sanglant seid. Es heißt, Ihr wärt ein gerechter Mann. Ich bitte Euch daher -« »Papa, ich will ihn haben.« »Ich weiß nicht recht.« Sapientia rieb sich die Hände. »Bischöfin Alberada hat sie wegen des Vorwurfs der Ketzerei exkommuniziert. Wie können wir uns gegen das Urteil der Kirche wenden? Wir könnten ebenfalls exkommuniziert werden. Es war Gottes Urteil, dass sie als Strafe für ihre Sünden in die Sklaverei verkauft wurden.« Aber sie war sich nicht sicher. Sanglant sah, wie sie Bayan anblickte, darauf wartete, was er sagen würde. Sie hatte Angst, die Entscheidung selbst zu treffen. Sanglant wandte sich an den Kaufmann. »Diese Männer sind Löwen von König Henry. Ich werde sie Euch gegen eine gerechte Summe abkaufen.« »Pro Stück ein Nomia«, erklärte der Kaufmann sofort. Sanglant lächelte warnend. »Ihr solltet nicht vergessen, dass ich ein Heer habe, Ihr aber nur zwanzig Wachen«, erwiderte er. »Ich könnte sie Euch genauso leicht einfach wegnehmen, statt sie zu kaufen. Da wir uns auf wendischem Grund und Boden befinden und sie Henry die Treue geschworen haben, ist es außerdem mein Recht, ihnen ihre Freiheit zurückzugeben.« »Sie haben ihm abgeschworen«, wandte Sapientia ein, »wegen der Ketzerei -« »Solange sich das qumanische Heer auf wendischem Boden befindet, ist es mir egal, ob es sich um ketzerische, ausländische, zweiköpfige oder blau bemalte Soldaten handelt - solange sie dem König gegenüber loyal sind und für ihn kämpfen.« Er wandte sich an den alten Löwen. »Wie ist dein Name?« »Gotfrid, mein Prinz. Wir alle sind dem König gegenüber loyal. Was Gott uns enthüllt hat, beeinträchtigt nicht im Geringsten die Tatsache, dass wir ergeben für ihn kämpfen werden.« Sanglant rief Heribert herbei, der mit dem Rest des Gefolges weiter hinten geblieben war. »Gib diesem Kaufmann zehn Skeattas für seine Mühen.« 223 »Möge Gott Euch segnen, Eure Hoheit«, sagte Gotfrid. »Wir werden Euch gut dienen, das schwöre ich. Und das schwören auch die anderen hier.« Die anderen beeilten sich, ihren Treueeid zu leisten, verkündeten ihre Dankbarkeit und ließen deutlich werden, wie ernst sie es meinten. Nur der Kaufmann wirkte nicht sehr glücklich, aber er war zu klug, um Einwände zu erheben. Bayan trat vor und sprach leise mit den ausgelösten Gefangenen. »Was ist mit dem Adler? Wo ist Prinz Ekkehard?« Edelmann Thiemos Kleidung mochte zwar schmutzig sein, aber Schnitt, Farben und der kostbare Stoff zeugten eindeutig davon, dass es sich um die Gewänder eines vornehmen Mannes handelte. Als er sich jetzt erhob, legte er die leicht vornüber gebeugte Haltung eines jungen Mannes an den Tag, der den größten Teil seines Lebens im Sattel verbracht hatte. »Tot«, antwortete er mit brüchiger Stimme. »Ist das wahr?«, fragte Bayan. »Ich fürchte, das ist es, mein Prinz«, sagte der alte Löwe. »Es war Winter. Es hat so heftig geschneit, dass wir zu ertrinken glaubten. Und wir sind von Geistern angegriffen worden.« Seine Stimme wurde zu einem leisen Wispern, und er blickte sich um, als erwartete er, dass sie wie aus dem Nichts auftauchten. »Von den Verlorenen.« Er errötete und bemühte sich, die Erinnerung an das Erlebte zu unterdrücken, die Furcht zu verdrängen. Seine Kameraden tuschelten miteinander, kauerten sich zusammen, als würde allein die Erwähnung dieser Wesen genügen, einen Schneesturm herbeizurufen. Gotfrid fuhr fort: »Ich habe nie erfahren, was mit den anderen geschehen ist. Ich weiß nur, dass zwei meiner Männer im Wald von Geistergeschossen getroffen wurden. Wir sind zerstreut worden. Edelmann Thiemo haben wir im Wald getroffen« - bei diesen Worten nickte er dem Jungen zu - »und dann haben wir versucht zu entkommen. Schließlich sind wir von Banditen gefangen ge224 nommen worden. Sie waren barmherzig genug, uns zwar unsere Waffen, die Umhänge und Gürtel zu nehmen, aber sie haben uns nicht getötet, sondern als Sklaven verkauft.« Er wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Dieser Adler war eine gute Frau. Es macht mich sehr traurig, dass wir sie verloren haben.« Bayan murmelte leise etwas, und Sanglant begriff, dass diese Worte nicht einmal für seine Ohren bestimmt waren. »Mich auch.« »Ekkehard ist tot?«, fragte Sapientia. »Dieser dumme Junge.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge, als hätte sie dem alten Löwen die Geste abgeschaut. »Mir ist etwas anderes zu Ohren gekommen«, erklärte Sanglant. »Hoch im Norden bei Walburg geht das
Gerücht, dass Ekkehard sein Mäntelchen gewechselt hat und jetzt an Bulkezus Seite reitet.« Edelmann Thiemo sprang auf. »Das ist nicht wahr! Ekkehard würde niemals zum Verräter werden! Er würde nie seinen König verraten. Wenn sein Vater ihm nur gegeben hätte, was er verdient ...« »Aufhören!« Gnades Stimme unterbrach die lautstarke Rede des Jungen mit der Heftigkeit eines Peitschenschlags. »Schrei meinen Papa nicht an. Ich mag das nicht.« Augenblicklich sank der Junge vor ihr auf ein Knie und beugte gehorsam den Kopf. »Jawohl, Prinzessin.« Niemand kicherte oder grinste auch nur, als Gnade die Hand ausstreckte, um sie ihm leicht auf den Kopf zu legen. »Steh auf, Edelmann Thiemo«, befahl sie. »Aber schrei nicht mehr so herum.« »Ich glaube nicht, dass diese Gerüchte stimmen«, erklärte Bayan. »Vielleicht ist er gefallen, und irgendein qumanischer Anführer hat ihm seine Rüstung abgenommen und trägt sie jetzt.« »Ich glaube, dass es stimmt«, murmelte Sapientia. »Oder zumindest, dass es stimmen könnte. Wenn man Ekkehard nur genügend Annehmlichkeiten bietet und ihm genug schmeichelt, ist er zu allem in der Lage.« 225 »Selbst dazu?«, fragte Sanglant. »Du kennst ihn nicht so gut wie ich.« Ein verärgerter Zug umspielte ihren Mund, Zeichen jener Schwäche, die sie ihr ganzes Leben lang verfolgt hatte. Es war schwer zu glauben, dass sie wusste, wovon sie sprach, denn sie selbst hatte beinahe ständig Angst, dass jemand am Tisch neben ihr ein größeres Stück vom Kuchen bekommen könnte als sie. »Auf denn, Sapientia«, erklärte Bayan hastig. Er schien die Stimmungen seiner Frau gut zu kennen. »Du solltest die Entscheidung darüber treffen, welche Gefangenen in unserem Heer dienen sollen.« »Auf denn! Auf denn!«, echote Gnade und sprang von einem Bein aufs andere. »Ich will es sehen.« Sie wartete nicht auf die anderen, sondern rannte voraus, rasch gefolgt von Anna und - mit leichter Verzögerung - auch Edelmann Thiemo. »Was ist das?«, schrie das Mädchen und deutete auf die Mauer der alten Festung, wo zwischen verschiedenen Wagen und Ständen hindurch der Palankin aufblitzte, in dem sich Bayans Mutter aufhielt. Ihre vier Sklaventräger hockten daneben und warteten. Da die Vorhänge zugezogen waren, war aus dieser Entfernung unmöglich zu erkennen, was die kerayitische Schamanin anstarrte, aber Sanglant war sicher, dass sie etwas musterte, das ihr Interesse geweckt hatte. Von Bayan und Sapientia begleitet, rannte er hinter seinem Kind her. Seine Kameraden folgten. In diesem Teil des kleinen Markts gab es bei den Sklaven auch qumanische Gefangene, die zusammengebunden oder angekettet waren. Selbst die Kinder galten als so gefährlich, dass man sie festgebunden hatte. Als sie sich näherten, begann der arme Zacharias sich nervös die Handgelenke zu reiben, als erinnere er sich an seine eigenen Fesseln. Er zwinkerte heftig mit dem rechten Auge, je näher sie den Gefangenen kamen. »Sie stinken fürchterlich«, sagte Heribert; er hielt sich ein Tuch vor die Nase, als sie sich den Wagen näherten, die einer wendischen Kauffrau gehörten - einer kräftigen Frau mit dem Blick ei226 nes Wiesels, das gerade ein unberührtes Nest mit Eiern erspäht hat. »Gibt es eine Möglichkeit, sie zu säubern?« Zacharias' Kichern wurde zu einem hysterischen Anfall, den er kaum unter Kontrolle bekam. »Werft sie in den Fluss. Sie hassen Wasser.« Er wischte sich über die Stirn und sah aus, als würde er am liebsten jeden Augenblick selbst in den Fluss springen. »Nur Mut, Bruder Zacharias«, sagte Sanglant leise. Zacharias blickte ihn überrascht an, und mit einiger Mühe gelang es ihm, ruhiger zu atmen und die Schultern zu recken, wie ein Mann, der sich auf eine Schlacht vorbereitet. Die Kauffrau eilte auf sie zu, um sie zu begrüßen. »Mein Prinz, ich heiße Euch an diesem schrecklichen Ort willkommen und hoffe, dass Ihr unter meinen Waren findet, was Ihr sucht. Ich bin Meistrin Otlinde und stamme aus Osterburg, wo Eure edle Tante, Herzogin Rotrudis, ihre Untertanen mit fester Hand regiert. Edelmann Druthmar! Ich habe mehrere Male eine höchst lohnenswerte Zeit im schönen Walburg verbracht. Vielleicht erinnert Ihr Euch an den feinen Silberdamast, den Edelfrau Waltharia für den Namenstag Eures jüngsten Sohnes bei mir erworben hat?« »Leider erinnere ich mich nicht daran«, erwiderte Druthmar mit einem freundlichen Lächeln. Meistrin Otlinde schien zu jenen Kaufleuten zu gehören, die sich auch an den kleinsten Handel erinnerten, den sie gemacht hatten - ganz zu schweigen von der genauen Anzahl der Eier, die sie ausgesaugt hatte. »Ich bitte Euch, lasst Euch von meinem Sohn mit Bier versorgen. Womit kann ich Euch sonst dienen?« Sanglants Aufmerksamkeit war ganz von seiner Tochter in Anspruch genommen, die von Bayan weggerannt war und begonnen hatte, den Palankin und die vier männlichen Sklaven zu untersuchen. Ohne Vorwarnung zog sie sich an der Kante der Sänfte hoch und machte sich daran, durch die hauchdünnen Vorhänge, die die Frau verbargen, ins Innere zu schlüpfen. Anna schrie auf. Die Ungrianer riefen in einer Mischung aus Entsetzen und Ungläubigkeit laut durcheinander, und Bayan ver227 suchte, Gnades kleinen, eingewickelten Fuß zu packen, doch er verpasste ihn, und sie verschwand im Innern des Palankins. Die Sklaven sprangen augenblicklich auf die Beine, so nervös wie Hühner, die im Schlaf von einem Fuchs überrascht worden waren. Bayan fluchte auf Ungrianisch. Er berührte den Vorhang, zuckte zusammen, als
wäre er gestochen worden, und sprang zurück, das Gesicht kreidebleich. »Mögen Gott Barmherzigkeit haben!«, rief Sapientia, nicht ganz ohne Befriedigung. Sie blickte Sanglant an und gestikulierte wild. »Sieh nur, was für einen Ärger dieses Kind schon jetzt angezettelt hat! Wie können wir es je wieder gutmachen, dass wir eine kerayitische Schamanin beleidigt haben?« Vielleicht hoffte sie, dass er beschämt zugeben würde, die Macht einer kerayitischen Schamanin nicht zu kennen. Aber Sanglant war bereits zuvor mit Bayan geritten, und wo Bayan ritt, war auch seine Mutter nicht weit. Er lief auf den Palankin zu, doch Bayan streckte den Arm aus und hielt ihn zurück. »Nein, mein Freund, ich bitte dich, mach es nicht noch schlimmer.« »Meine Tochter -«, begann Sanglant. »Bitte, Papa, kannst du warten?« Gnades Stimme war zu hören; sie klang so fröhlich wie ein sonniger Sommertag. »Ich unterhalte mich mit der alten Frau.« Bayan stand der Schweiß auf der Stirn. Er wischte sich über die Augen und rief nach einem Becher Bier. Bruder Breschius, sein Übersetzer, zog ihn beiseite und verwickelte ihn in eine leise Unterhaltung, bis ein Soldat mit einem Becher und einem Krug zu ihnen eilte. Der Becher wurde unter den versammelten Edelleuten herumgereicht, geleert und nachgefüllt. Es war beinahe totenstill, während sie tranken, bis auf das Klicken und Klacken der Perlen, die hin und her schwankten, als die Träger des Palankins ihre Position wieder einnahmen. Wegen der Sommerhitze waren die vier Sklaven kaum bekleidet, und so musste Sanglant unwillkürlich daran denken, wie sehr Waltharia 228 sie bewundert hätte. Es war eine seltsame Vorstellung, dass eine alte Frau wie Bayans Mutter etwas mit Villams Erbin gemein haben könnte, selbst wenn es nur der genüssliche Blick für den männlichen Körper war. Nicht viele Frauen - und auch nicht viele Männer - besaßen Waltharias natürliche Autorität, ihre unverblümte Art, dem gesunden Menschenverstand Ausdruck zu verleihen, und ihre geradezu spielerische Gerissenheit. Wie oft hatte er sich in den letzten Wochen dabei ertappt, dass er Waltharia mit Liath verglich? Liath hatte keine von Waltharias gewinnenden Eigenschaften: Sie war verschlossen, ernst und kein bisschen daran gewöhnt, über etwas anderes oder andere zu herrschen als sich selbst. Aber sie war dennoch die herrlichste Frau, der er jemals begegnet war, und allein der Gedanke an sie machte ihn krank vor Sehnsucht. Doch dachte sie überhaupt noch an ihn und das Kind, dort, wo sie jetzt war? Er hörte Gnades plappernde Stimme und ein gelegentliches Murmeln als Antwort, aber es war ihm unmöglich, ihre Worte zu verstehen - mochte das nun an den Vorhängen des Palankins liegen oder möglicherweise an einem Schleier aus Magie, den die kerayitische Schamanin errichtet hatte. Die Stimme und der Tonfall seiner Tochter ließen jedenfalls eindeutig erkennen, dass es ihr gut ging und sie die Plauderei genoss. Aber was auf Erden konnte sie schon mit der alten Schamanin zu besprechen haben? Es fiel ihm schwer, noch länger geduldig zu warten, und so begutachtete er die Waren, die Meistrin Otlinde auf Regalbrettern ausgestellt hatte: gestreiftes Leinen und rautengemusterter Köper aus dem Inselreich Alba, Marder-, Biber- und Fuchspelze von den Starviki-Stämmen, ein paar kleine Wandvorhänge, auf denen die Zerstörung des dariyanischen Kaiserreiches durch die Bwr-Horden dargestellt war. Irgendwo hatte sie vierzig Qumaner aufgegriffen, hauptsächlich Frauen mit zerzausten, fettigen Haaren und dürre Kinder, die an ihren eitrigen Wunden und Flohstichen kratzten und erbärmlich im Schmutz kauerten. Sie hatten wohl schon 229 längst jede Hoffnung auf Flucht oder Hilfe aufgegeben. Aber unter ihnen war auch ein gutes Dutzend qumanischer Männer, die sich mit scheinbar trägen Blicken schützten - ähnlich wie Bayans Mutter, die sich hinter ihren Vorhängen verbarg. Sanglant kannte diesen Blick; er hatte ihn schon bei anderen Gefangenen - den gefährlichsten von allen - gesehen. Jeder Einzelne von ihnen würde ihm sofort die Augen auskratzen, sofern er sie nur nah genug an sich heranließe. Zacharias schob sich neben ihn; er zitterte leicht und sprach mit leiser Stimme. »Sie sind vom Shatai- Stamm. Der Mann da trägt auf seiner Schulter das entsprechende Zeichen - den gespaltenen Huf des Rothirschs.« »Sind sie Verbündete der Pechanek?« »Nein, und sie waren es auch früher nie. Es hat in den vergangenen Jahren Kämpfe im Karkaihi-Weideland gegeben. Das liegt fast beim Bittermeer.« Sanglant musterte die Gefangenen. Sie beäugten ihn stumm, ließen sich weder Furcht noch Hass anmerken. Er bewunderte die grimmige Zurückhaltung, mit der sie ihr Schicksal ertrugen. Er hatte die Qumaner niemals gehasst, im Gegensatz zu Bayan. Zwar hatte Bulkezu ihm einige Jahre zuvor die Stimme ruiniert und eine ganze Reihe von Sanglants Soldaten getötet - viel zu viele -, aber die Qumaner hatten ihm nicht mehr Schaden zugefügt als die meisten anderen Feinde. Und sie hatten ihm auch nicht mehr Schaden zugefügt als er ihnen. »Ein qumanischer Krieger kommt mit Not und Elend ebenso gut zurecht wie jeder andere Soldat. Wie kann ich ihre Loyalität erringen?« Zacharias brach der Schweiß auf der Stirn aus. »Was wollt Ihr von ihnen, mein Prinz?« »Wenn sie bereit sind, mir und meiner Sache die Treue zu schwören, könnte ich sie doch sicherlich in mein Heer aufnehmen?« »Mein Prinz!« 230
Auch Hauptmann Fulk hatte Sanglants Frage gehört, ebenso wie Edelmann Druthmar, Edelmann Hrodik und einige andere Edelleute. »Haltet Ihr es wirklich für weise, Qumaner in unsere Reihen aufzunehmen, Prinz Sanglant?«, fragte Druthmar. »Wie sollen wir sie davon abhalten, uns eines Nachts in unseren Zelten zu ermorden, während sie an der Reihe sind, Wache zu halten?« »Also, Bruder Zacharias«, sagte Sanglant. »Wie kann ich qumanische Soldaten dazu bringen, unter meinem Befehl und in meinem Heer zu reiten, ohne ständig einen Blick über die Schulter werfen zu müssen?« »Nehmen sie Gold?«, wollte Edelmann Hrodik wissen. Zacharias lachte. »Ja, sie werden es nehmen und Euch umbringen und nachsehen, ob Ihr irgendwo noch mehr davon habt.« »Sind sie fähig, wie ein guter Wendaner einen bindenden Eid zu schwören?«, fragte Hauptmann Fulk. »Sie werden genauso leicht einen Eid schwören, wie sie Euch ins Gesicht spucken, bevor sie Euch den Kopf abschlagen.« »Sind es denn solche Wilden, dass man ihnen ganz und gar nicht vertrauen kann?«, verlangte Druthmar zu wissen. Er war ein fähiger Mann und recht angenehmer Kamerad auf dem Feldzug, aber Sanglant hatte herausgefunden, dass es ihm an Ehrgeiz und Vorstellungskraft mangelte. Zacharias lachte; es war ein unterdrücktes Geräusch, und es verärgerte Sanglant. »Ich bitte Euch, vergebt mir«, sagte Zacharias schließlich zitternd. »Greifenfedern, mein Prinz.« »Greifenfedern! Ähnlich wie die, mit denen meine Mutter in Verna die Geschöpfe abgeschossen hat, die uns angegriffen haben?« »Genau. Das waren Bulkezus Federn.« Ein hässlicher Ausdruck huschte über Zacharias' Gesicht, als er sich an einer Erinnerung erfreute. »Ich erinnere mich daran, wie sie ihn besiegt hat.« »Wirklich, eine bemerkenswerte Tat. Wenn sie nur etwas länger geblieben wäre, um mir und meiner Sache einige ihrer Fähigkei231 ten zur Verfügung zu stellen. Aber sie hat mir nie gesagt, dass sie Bulkezu besiegt hat.« Zacharias lächelte trocken. Schließlich war auch er von Alia verlassen worden, als sie ihn nicht länger gebraucht hatte. Er machte sich jedenfalls keinerlei Illusionen, was ihre Loyalität anging. »Nein, mein Prinz, glaubt nicht, dass sie Euch getäuscht hat. Ich bezweifle, dass sie seinen Namen wusste oder dass es sie gekümmert hätte. Aber ganz sicher hat er sie nicht so leicht vergessen wie sie ihn.« »Vermutlich stimmt das.« »Er ist ein Wahnsinniger, mein Prinz. Nein. Schüttelt nicht den Kopf, als wäre ich ein Barde, der sich mit Prahlerei sein Abendessen verdienen will. Ich meine es ernst. Er ist wahnsinnig.« »Das war ich auch eine Zeit lang. Aber er ist nicht zu wahnsinnig gewesen, um einen Greifen jagen und töten zu können.« Heribert hatte ihnen zugehört. »Es scheint mir doch, dass jemand sehr wahnsinnig sein muss, um einen Greifen zu jagen. Willst du damit wirklich sagen, Zacharias, dass die Qumaner einem Mann folgen, nur weil er Greifenschwingen trägt, selbst wenn er sonst nichts zu bieten hat? Was ist mit Loyalität? Notwendigkeit? Familienehre?« »Hast du jemals einen Greifen gesehen, Heribert?«, fragte Zacharias. »Nein, das habe ich nicht.« »Dann würdest du diese Frage auch nicht stellen.« Er schnaubte, aber nicht wirklich verachtend. »Jeder Mann in einem qumanischen Stamm kann seinem Begh den Rücken kehren und mit seinem Zelt, seinen Herden und seiner Familie hinaus in die Steppe ziehen. Jeder von ihnen kann leben wie ein Prinz, und seine Frau kann leben wie eine Königin, wenn er sich entscheidet, den Stamm zu verlassen. Wenn ihn die Einsamkeit nicht stört und er mit einer kleinen Herde zufrieden ist, für die er und seine Familie allein sorgen können.« »Willst du damit sagen, dass sie ganz und gar treulos sind?«, 232 fragte Druthmar. »Nicht einmal so ehrenvoll, dass sie einen Eid ablegen und ihn dann auch halten?« »Sie sind die treuesten Soldaten, die ich jemals gesehen habe. Niemals würde ein qumanischer Reiter sich über irgendwelche Härten beklagen. Er würde eher sterben als ein Wort gegen den Begh ausstoßen, dem er folgt.« Edelmann Hrodik hatte eine Zuneigung zu Druthmar entwickelt und kam ihm jetzt zu Hilfe. »Wieso seid Ihr ihnen denn weggelaufen, Frater, wenn Ihr sie so sehr liebt? Ihr rühmt sie ja, als wären es Könige!« Dabei sah er aus, als hätte er die hilflosen Gefangenen am liebsten angespuckt. »Ich hasse sie«, antwortete Zacharias. »Zweifelt nicht daran. Sie haben mich wie einen Hund behandelt - nein, schlimmer noch als einen Hund.« Seit einiger Zeit bemerkte Sanglant hin und wieder einen bestimmten Ausdruck auf Zacharias' Gesicht, eine bestimmte Art und Weise, die Nase zu rümpfen, so als hätte er etwas Unangenehmes gerochen, oder als versuchte er, nicht verächtlich zu fauchen - oder nicht vor Angst zu wimmern. Auch jetzt hatte er wieder diesen Blick. Der Frater musterte die Gefangenen von oben bis unten, ging sogar zwei vorsichtige Schritte auf sie zu; er achtete jedoch sorgfältig darauf, dass er außer Reichweite blieb, für den Fall, dass sie versuchen sollten, nach ihm zu treten. Die Qumaner beäugten ihn mit ihren unnatürlich leeren Blicken, sahen dann plötzlich zur Seite. Aber Zacharias war noch nicht fertig mit ihnen. Worte strömten ihm über die
Lippen, rasch und flüssig. Die qumanischen Sklaven gaben ihre Zurückhaltung so schnell auf, dass der arme Edelmann Hrodik vor Schreck laut aufschrie, zusammenzuckte und ein paar Schritte zurückwich. Die Sklaven knurrten, fluchten und spuckten. Einer von ihnen riss so heftig an seinen Fesseln, dass der tief in den Boden getriebene Pfosten, an dem sie befestigt waren, bedrohlich zu schwanken begann. Druthmar zog sein Schwert. Bayans ungrianische Wachen kamen herbeigelaufen. Sanglant lachte; er verspürte ein lang vertrautes Gefühl, als sein Herz klopfte und die Aufregung durch seinen Körper strömte. 233 Meistrin Otlindes angeheuerte Wachen eilten mit ihren Stöcken herbei und begannen, die Gefangenen mit Schlägen zum Gehorsam zu zwingen. Es war kein hübscher Anblick. Die Qumaner, die Zacharias Flüche entgegengeheult hatten, kauerten sich zusammen und steckten die Schläge ein, ohne mit der Wimper zu zucken. Auf eine höchst schreckliche Weise war es eine eindrucksvolle Zurschaustellung ihrer Stärke. Aber es war Verschwendung. »Um Gottes willen«, sagte Sanglant harsch und trat zwischen die angeheuerten Wachen, um den schlimmsten von ihnen wegzuzerren; wie ein Irrer schlug der Mann auf den Qumaner ein, der jetzt auf die Knie gesunken war. »Haltet ein!« Der Mann wirbelte herum und dachte anscheinend kurz daran, jetzt auf den Prinzen einzuschlagen. Sanglant packte jedoch seinen Arm mitten in der Bewegung und hielt ihn fest, während er ihn finster anstarrte. Nach einer Weile ließ der Mann von seinem Vorhaben ab, rief seine Kameraden zu sich, und dann zogen sich alle mit finsteren Gesichtern in sichere Entfernung zurück. Sein Opfer spuckte ein paar Zähne aus und wischte sich Blut vom Kinn. Der Qumaner taumelte leicht, als er aufstand, das Kinn hob und Sanglants Blick begegnete. Am Ende war es der Qumaner, der nach einem langen Kampf zuerst beiseite sah. »Was war denn das?« Sanglant packte Zacharias an der Schulter und wirbelte ihn herum. Der Frater atmete schwer, als wäre er schnell gelaufen, und Schweiß strömte ihm übers Gesicht. »Das Ganze hätte mich mehr erheitert, wenn ich wüsste, welchem Ziel es dient, sie besinnungslos zu schlagen.« »Vergebt mir, mein Prinz.« Zacharias konnte kaum sprechen, denn er atmete noch immer viel zu hastig. Er errötete und stammelte beinahe. »Ich wünschte nur, Bulkezu wäre an ihrer Stelle so angekettet. Meine Mutter hat immer gesagt, dass ich mit meiner Zunge besser bewaffnet bin als andere Männer mit Speer und Schild.« »Wenn sie nicht angekettet gewesen wären, hätten sie dich in 234 Stücke gerissen«, bemerkte Heribert, der ein paar Schritte zurückgetreten war und Edelmann Druthmars breite Schultern als Deckung benutzt hatte. Zacharias sprach wieder, aber seine Stimme klang heiser, und er schnappte noch immer nach Luft. »Greifenschwingen, mein Prinz. Sie würden niemals einem Mann mit Greifenschwingen in den Rücken fallen.« Mit einem zittrigen Seufzer schritt er davon und verschwand in der Menge. »Nein, Heribert«, sagte Sanglant ruhig, noch bevor der Geistliche hinter ihm herlaufen konnte. »Er hat seine eigenen Dämonen zu bekämpfen. Lass ihn jetzt einfach in Ruhe. Aber ich würde zu gerne wissen, was er zu ihnen gesagt hat.« Die qumanischen Sklaven hatten sich jetzt alle erhoben, zuckten die verletzten Schultern und leckten sich das Blut ab, das aus ihren Nasen lief. Es waren unbeholfene Gesten, denn die Hände waren ihnen fest auf dem Rücken zusammengebunden. Bayan und Sapientia eilten herbei; sie hatten mitbekommen, dass bei den Qumanern etwas vor sich gegangen war. »Belästigen sie dich?«, fragte Bayan. »Ich kann meine Männer beauftragen, sie alle zu töten, aber zuerst muss ich warten, was meine Mutter will. Sie mag es manchmal, einen von denen« - er spuckte dem Nächststehenden vor die Füße, die Schultern gespannt und eine Hand am Schwertgriff, als hätte er ihnen am liebsten höchstpersönlich die Kehle durchtrennt - »als Sklaven zu nehmen. Aber solche Maden wie die hier sind es nicht einmal wert, Sklaven zu sein.« »Ich glaube, sie sind nicht wirklich Menschen«, sagte Druthmar leise. »Man könnte meinen, sie hätten nicht die geringsten Schmerzen. Es ist doch keine Schande, zu sagen, dass es schmerzt, wenn man sich eine Wunde ehrenhaft verdient hat oder wenn sie unehrenhaft zugefügt wurde.« Auch er blickte zu den angeheuerten Wachen hinüber - einem kunterbunten Haufen von Söldnern, die vermutlich zwei Monate zuvor noch Banditen gewesen waren und es auf unschuldige Reisende abgesehen hatten. 235 »Nein, das ist keine Schande«, pflichtete Sanglant ihm bei. Er winkte Bruder Breschius zu sich. »Könnt Ihr mir vielleicht sagen, was mein Frater zu ihnen gesagt hat? Ich weiß, dass Ihr einige Erfahrung mit diesen Stämmen habt.« »Nein, Prinz Sanglant«, erwiderte Breschius. »Ich bin ein Sklave der kerayitischen Stämme gewesen, nicht der qumanischen. Ich kann ein paar Worte Qumanisch, das stimmt, und in der Tat glaube ich, dass er ein paar Bemerkungen über ihre Mütter gemacht hat, aber darüber hinaus habe ich nicht verstanden, was er gesagt hat.« »Was kümmert es dich, was der Frater zu ihnen gesagt hat?«, wollte Sapientia verächtlich wissen. »Es sind nur Qumaner. Mehr Tiere als Menschen.« »Es sind Soldaten. Und wir brauchen Soldaten, würde ich sagen. Wenn sie nicht zum Pechanek-Clan gehören, gibt es keinen Grund, weshalb wir sie nicht in unser Heer aufnehmen und in der Schlacht gegen Bulkezu
einsetzen sollten.« Bayan versteifte sich, als hätte man ihn angespuckt; dann drehte er sich abrupt um und verschwand im Marktgetümmel. Sapientia wandte sich verärgert Sanglant zu. »Du weißt, wie sehr er die Qumaner hasst. Schließlich waren es Qumaner, die seinen Sohn getötet haben. Wie kannst du es wagen, auch nur den Vorschlag zu machen, dass wir qumanische Truppen einsetzen sollen.« »Ich setze alles ein, was nötig ist, um Bulkezu zu vernichten. Hier und jetzt geht es um mehr, Sapientia, um weit mehr als um das. Aber das werde ich dir erzählen, wenn wir ein bisschen mehr unter uns sind. Ich werde alle in mein Heer aufnehmen, die bereit sind, für mich zu kämpfen, egal ob Mann oder Frau. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir uns darüber streiten, welche Männer wir für uns kämpfen lassen, während die Sieben Schläfer nach Belieben handeln. Wenn Bulkezu nicht bald besiegt wird, wird es uns nicht viel besser ergehen als diesem armen Jungen, und wir werden in Ketten abgeführt werden.« Er deutete auf Edelmann Thie236 mo, der wie ein treuer Hund in angemessener Entfernung vom Palankin auf Gnade wartete. »Nein. Wenn es so weit kommen sollte, wären wir glücklich, wenn wir Sklaven wären. Aber vermutlich wären wir tot, und das Königreich unseres Vaters wäre vernichtet.« Die Kraft seiner Worte verunsicherte Sapientia. Er konnte es in ihren Augen sehen: Sollte sie ihm glauben? Sollte sie Einwände erheben? Weggehen? Jemanden um Hilfe bitten? Einen Befehl erteilen ? Er erinnerte sich an den Ausdruck auf Waltharias Gesicht, in jener Nacht, als sie ihm den Goldreif angeboten hatte. »Um zu herrschen, musst du führen, Schwester«, sagte er leise. »Oder du musst beiseite treten.« Ärger flackerte in ihrer Miene auf. »Wo ist dein Goldreif, Bruder?« »Ich habe ihn bei meiner Frau gelassen.« »Die nicht mit dir reitet, wie ich sehe.« »Die nicht mit mir reitet, wie du siehst.« »Herrin hilf uns, hat sie dich und das Kind verlassen? Genauso, wie deine Mutter dich verlassen hat?« Sie schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Es ist ein Jammer, aber du und dein Vater, ihr habt Euch beide der Gnade wankelmütiger Frauen überlassen.« Sanglant wusste, wie er dieses Spiel spielen musste. »Ich bitte dich, Schwester, sprich nicht so beleidigend von deiner eigenen, gesegneten Mutter, Königin Sophia. Sie ist immer nett zu mir gewesen, auch wenn alles andere, was man über sie gesagt hat, stimmen mag.« Sapientia errötete heftig. Sie rief ihren Gefährtinnen etwas zu und schritt hinter Bayan her. Heribert trat neben ihn. »Ich fürchte, das war ein fruchtloser Sieg.« »Wohl wahr. Und noch dazu unrechtmäßig erworben - möge Königin Sophia mir vergeben, denn sie war wirklich immer freundlich zu mir. Es waren die wendischen Geistlichen, die ihr niemals getraut haben, weil sie eine Arethusanerin war.« 237 Gnades kindliches Gekicher drang zu ihnen, und dann glitt sie unter den Vorhängen hervor, fiel auf die Knie und rappelte sich auf, bevor Anna sie erreichen konnte. Sie ließ sich von Anna den Staub von den Beinkleidern klopfen und die Ärmel glatt streichen, aber sie kam nicht dazu, irgendetwas zu sagen, bevor Sanglant sie hochhob. »Das war etwas voreilig, meine Tochter!« Ihr süßes kleines Gesicht zitterte, ihre Mundwinkel fielen herab, und der Schreck über seinen aufrichtigen Ärger füllte ihre Augen mit Tränen, als sie ihn überrascht anstarrte. Aber sie musste lernen. »Du hättest deine Hand genauso gut in ein Wespennest stecken können, statt da hineinzukrabbeln, was ich ausdrücklich verboten habe!« »Aber —« »Nein, ich will jetzt nichts mehr von dir hören, Gnade. Du bist dort hingegangen, obwohl es dir nicht gestattet war, und ohne um Erlaubnis zu bitten. Deshalb wirst du heute nicht mehr im Lager umherwandern. Anna, bring Gnade zu meinem Zelt zurück und sorge dafür, dass sie den restlichen Tag dort bleibt. Matto kann dir dabei helfen. Edelmann Thiemo, Ihr werdet sie bewachen. Und erinnert Euch bitte daran, dass Ihr von mir Befehle entgegennehmt, nicht von meiner Tochter, die schließlich immer noch kaum mehr als ein Kleinkind ist.« »J-ja, mein Prinz«, stammelte Thiemo; er hatte immerhin genug Anstand, um zu erröten. Gnade begann laut protestierend aufzuheulen, brach dann in herzzerreißendes Schluchzen aus, das von einem heftigen Schluckauf unterbrochen wurde, als Sanglant sie brüsk in Annas Obhut übergab. »Aber Papa -« Er packte eine ihrer kleinen Hände und hielt mit der anderen ihr Kinn hoch, sodass sie gezwungen war, ihn anzusehen. »Schreitet die Erbin von Kaiser Taillefer weinend wie ein hilfloses Kind, das im Krieg gefangen genommen wurde, durch das Lager? Du 238 wirst die Strafe auf dich nehmen, die du verdienst, und du wirst sie stolz auf dich nehmen.« Sie schluckte mehrmals schwer, kämpfte gegen die Tränen an. Wut stieg in ihr auf, wie unschwer an dem Schmollmund zu erkennen war, den sie jetzt zog. Sie unterdrückte ein paar Widerworte, und schließlich wand sie sich aus Annas Griff und schritt mit steifem Rücken und vor Wut geballten Fäusten davon. Anna und Thiemo
eilten hinter ihr her. »Lass mich mitgehen«, sagte Heribert leise neben ihm. »Nein, mein Freund, sie wird dich nur dazu bringen, ihr die Strafe zu versüßen. Ich kann dir nicht trauen, wenn sie in dieser Stimmung ist. Sobald sie zu schluchzen beginnt, rennst du davon und holst ihr Honigkuchen und alles, was ihr die Strafe erleichtern kann. Ich behalte dich lieber hier, für den Fall, dass man mir etwas versüßen müsste.« »Nun«, sagte Sapientia, die mit einem nur schlecht verborgenen Grinsen auf dem Gesicht herbeigeschlendert kam. Sie hatte die heftige Auseinandersetzung gesehen und kehrte jetzt mit Bayan im richtigen Augenblick zurück, um genüsslich mitzuerleben, wie das Mädchen getadelt wurde. »Ich nehme an, wir haben hier mehr gesehen, als wir jemals sehen wollten.« Sie wandte sich an ihren Mann. »Es gibt so ungefähr zwanzig Sklaven auf dem ganzen Markt, deren Befreiung sich lohnen könnte. Ich habe meinen Verwaltern die Angelegenheit übertragen. Ich gehe davon aus, dass wir die anderen in ihren Ketten verrotten lassen.« Sie deutete auf die Qumaner. »Stimmst du mir da nicht zu, Sanglant?« Bayan verhielt sich still; er sagte kein Wort, und er zeigte nicht die geringste Gefühlsregung - abgesehen davon, dass er beide Hände zu Fäusten geballt hatte. Sanglant hielt es für klüger, in dieser Angelegenheit nachzugeben. »Wir haben eine lange Reise vor uns, wenn wir Bulkezu jagen wollen«, stimmte er milde zu. Sapientia reckte ihr Kinn und betrachtete Sanglant mit einem Blick, den sie offensichtlich als Ausdruck königlicher Herrschaft verstand. »Da du mit deinen Truppen hergekommen bist, um uns 239 zu helfen, kannst du morgen Abend am Kriegsrat teilnehmen. Am Tag danach werden wir Machteburg verlassen.« Sie winkte ihren Begleiterinnen zu und schritt dann mit Bayan durch die Menge davon. Die Umstehenden - hauptsächlich Soldaten, die zum Lager der Kaufleute gekommen waren und einen Blick auf ihre Befehlshaber werfen wollten - machten ihr rasch Platz. Ein Junge drängte sich in entgegengesetzter Richtung durch die Menge. Als er Sanglant sah, änderte er seine Richtung. »Was ist los, Matto?«, fragte Sanglant, als der Junge zu ihm gelaufen kam. »Der alte Mann möchte dringend mit Euch sprechen, mein Prinz. Er sagt, er hätte Neuigkeiten gesehen.« Bei dieser Bemerkung begann Sanglants Herz zu rasen. Er hatte einen ungeheuren Sinn für dräuende Geschehnisse, für den Augenblick, kurz bevor ein Sturm losbricht. Sie verließen den Markt. Ein Fährfloß brachte sie über den Fluss zum ordentlich errichteten Lager, wo Sanglants Soldaten - ganze dreihundert Berittene und eine Reihe anderer Kämpfer - ihre Zelte aufgebaut hatten. Der Graben, der um das Lager herum ausgehoben wurde, war beinahe fertig, eine einfache Verteidigungsmaßnahme gegen einen Überraschungsangriff von berittenen Qumanern, die möglicherweise in den Wäldern lauerten. Wulfhere wartete im Schatten seines Vorzelts auf Sanglant. Gnade war ins Zelt gegangen und schmollte. Er konnte hören, wie ihre Begleiter leise mit ihr sprachen; Edelmann Thiemo schien ihr eine Geschichte von einem Phoenix zu erzählen. Das war wohl ziemlich harmlos und mochte helfen, sie für diesen Abend von weiterem Unfug abzuhalten. »Was gibt es für Neuigkeiten?«, fragte er Wulfhere. Sie entfernten sich vom Zelt, um bei ihrer Unterhaltung ungestört zu sein. Nur Heribert und Druthmar begleiteten sie. Die Übrigen warteten unruhig unter dem Vorzelt und nippten am Met. »Ich habe Hanna gefunden«, sagte Wulfhere mit besorgter Miene. »Ich habe in den vergangenen Monaten immer wieder durch 240 Feuer und Wasser nach ihr gesucht. Da ich sie nicht finden konnte, habe ich sie für tot gehalten -« »Wer ist Hanna?«, fragte Heribert. »Der junge Adler, mit dem ich geritten bin, als wir Euch über die Berge gebracht haben«, blaffte Wulfhere. »Erinnert Ihr Euch nicht mehr an sie?« Heribert war schlau genug, nicht zu antworten, obwohl seiner verblüfften Miene zu entnehmen war, dass er sich wirklich nicht mehr an sie erinnerte. Aber für Sanglant brachte der Name eine ganze Kaskade von Erinnerungen hervor: wie er Liath zum ersten Mal während eines Ausfalls vor den Mauern Gents gesehen hatte; die Art, wie ihr Zopf über ihren Rücken hing, sinnlich und einladend, obwohl sie nicht die Art Frau war, die einladend sein wollte, nicht nach dem Leben, das sie gelebt hatte, und nicht nach den Misshandlungen, die sie durch Hugh von Austra erlitten hatte. Hanna hatte Liath als dumm bezeichnet, weil sie ihn geheiratet hatte. »Sie kam mir wie eine kluge und aufrichtige junge Frau vor«, sagte er schließlich und stellte überrascht fest, dass er lächelte. Es war lange Zeit her, dass er bei einem Gedanken an Liath gelächelt hatte. Wulfheres Lächeln als Antwort war so sanft wie ein zarter Kuss. »Ja, wie ich herausgefunden habe, ist Hanna mehr, als sie scheint. Sie ist nicht tot, sondern wird von qumanischer Zauberei festgehalten und verborgen.« Sanglant wirbelte herum. »Qumanische Zauberei!« »Bulkezu hat sie gefangen genommen.« »Oh, Herr. Ein böses Schicksal, in der Tat. Ist auch Ekkehard bei Bulkezu gewesen?« »Ich habe ihn nicht gesehen, mein Prinz. Ich habe sie nur deshalb kurz gesehen, weil -« Es passte so gar nicht zu Wulfhere, zu zögern, irgendeine Unsicherheit zu offenbaren, sodass Sanglant dem alten Adler eine Hand auf den
Arm legte, um ihn zum Weiterreden zu ermuntern. Druthmar besaß die Geduld eines Ochsen, und er hatte von Hedwig offensichtlich so viele schreckliche 241 Dinge über Wulfhere gehört, dass er den alten Mann faszinierend fand - auf die gleiche Weise, wie man in Sicherheit auf einer Bank stehend einem Skorpion beim Durchschreiten des Raumes zusieht. Schließlich seufzte Wulfhere. »Wegen der Eule.« »Wegen der Eule?« »Viele Augen können sehen«, bemerkte Wulfhere kryptisch. »Aber ich habe deutlich erkannt, was dort war, wo die Eule die Nebel aufgelöst hat. Es war der königliche Palast von Aigensberg, der inzwischen niedergebrannt ist und in Schutt und Asche liegt. Dort habe ich Hanna gesehen. Ich habe sie nur kurz gesehen, denn sie war schnell wieder fort, aber es war eindeutig sie, umgeben von qumanischen Soldaten. Das bedeutet, dass Bulkezu und sein Heer am östlichen Ufer eines Seitenarms der Veser nach Norden reiten.« »Mögen Gott uns behüten«, sagte Druthmar. »Bulkezu ist nach Wendar eingedrungen. Ich dachte, er würde noch immer in den Marklanden umherstreifen.« »Herzog Burchard hat eine Streitmacht nach Aosta geführt, um Henry zu unterstützen«, sagte Sanglant. »Es ist niemand da, um Bulkezu davon abzuhalten, die ganze Veser entlang bis nach Osterburg zu reiten.« »Wie kann er hoffen, die Stadt von Herzogin Rotrudis einzunehmen?«, fragte Druthmar. »Er müsste sie monatelang belagern.« »Ja, das ist wahr. Vielleicht sehen wir das alles aber auch nicht ganz richtig. Wieso sollte er eine Belagerung auf sich nehmen, wenn er einfach um die Stadt herumreiten kann? Wieso sollte er nach Norden, nach Osterburg ziehen, wenn er genauso gut im Westen in Fesse und Saony einmarschieren kann? Herzogin Liutgard ist ebenfalls mit meinem Vater nach Süden geritten. Wer ist noch da, um Wendar zu beschützen?« Doch in der nächsten Nacht beim Kriegsrat kreiste ihre Debatte immer wieder um die Glaubwürdigkeit von Wulfheres Aussage statt um die Bedrohung durch Bulkezu und sein Heer. 242 »Du hast keinen Beweis, dass Bulkezu in Avaria ist und an der Veser entlang nach Norden reitet«, sagte Sapientia schon zum dritten Mal, während einige ihrer Begleiter zustimmend nickten. »Ich kann nicht glauben, dass du diesen Adler Wulfhere mit dir reiten lässt, nachdem der König ihn für vogelfrei erklärt hat. Das ist genauso, als würdest du direkt gegen Vaters Autorität rebellieren -« »Was ich nicht getan habe, Schwester.« Wie eine schlecht erzogene Jagdhündin kehrte Sapientia immer wieder zu dem bereits angenagten Knochen zurück, statt dem Pfad auf der Suche nach frischem Fleisch zu folgen. »Aber er hat mir gut gedient. Ich hätte dich und Bayan niemals gefunden, wenn ich nicht seine Adlersicht zur Verfügung gehabt hätte.« »Teuer erkauft«, entgegnete sie, »wenn es bedeutet, Vaters Vertrauen zu verlieren.« »Wie viel Vertrauen können wir den Worten eines Geächteten entgegenbringen?«, fragte Edelfrau Brigida, Sapientias Vertraute, eine blühende Frau mit mehr Haaren als Verstand, wie Heribert einmal gemurmelt hatte. Die Edelleute hinter Sapientia murmelten zustimmend zu Brigidas Einwand. Selbst Thiadbold, der narbige, rothaarige Hauptmann der zwei Löwenkohorten, der mit der Prinzessin marschierte, neigte unsicher den Kopf. »Außerdem frage ich mich, was für Meldungen Vater in Aosta von uns erhält«, sinnierte Sapientia. »Sicher hat er Darre inzwischen wohlbehalten erreicht. Könnte dein Adler dir das nicht sagen?« »Sein Heer ist in Darre angekommen, wie es scheint. Die Adlersicht ist nicht perfekt, und es gibt bestimmte Zauber und Amulette, die diese Sicht verschleiern können.« Gemurmel erhob sich unter den Versammelten, als sie von Zauberei hörten. »Und wir haben auch lange nichts mehr von Prinzessin Theophanu gehört«, wandte Edelfrau Bertha ein, die obwohl sie die 243 Halbschwester von Hugh von Austra war - in Sanglants Augen die verständigste der Edlen in Sapientias Gefolge war. »Es ist kein Bote angekommen - falls sie überhaupt in der Lage gewesen ist, uns jemanden zu schicken.« »Umso mehr Grund, zum Kern der Angelegenheit - zu Bulkezus Heer - zurückzukehren.« Sanglant hob den Becher und stellte zu seinem Ärger fest, dass er ihn bereits geleert hatte. Bayans ungrianische Bedienstete, unter ihnen zwei Eunuchen, waren so gut ausgebildet wie seine Soldaten. Ein Mann mit glatten Wangen eilte sogleich mit einem Krug Wein herbei, einem starken Gebräu, das Sanglants Kopf bereits jetzt benebelte. Die Ungrianer streckten den Wein nicht mit Wasser. »Wenn Bulkezu vorhat, nach Osterburg zu marschieren«, sagte Sapientia, »wird er monatelang in einer Belagerung festsitzen.« Sanglant seufzte, und zum ersten Mal blickte er Bayan, der noch kein Wort gesprochen hatte, seit der Rat tagte, direkt und flehentlich an. »Wenn das alles stimmt ...«, sagte Bayan schließlich. Er hielt inne. Alle im Raum schwiegen. Es war leicht zu erkennen, wer wirklich das Heer befehligte, obwohl dem Recht und Privileg nach die wendischen Soldaten eindeutig zu Sapientia gehörten. »Wenn es stimmt, dass wir der Sicht dieses Adlers trauen können, wer sagt uns dann, dass nicht monatelang ein Mantel aus Zauberei über dem Land liegt und Bulkezu verdeckt. Aber ich kenne die Macht der Magie. Niemand kennt sie besser als ich! Vielleicht teilen sich die Wolken, und der Adler kann
einen Blick darauf erhaschen. Nun. Wenn es stimmt, dass Bulkezu entlang der Veser nach Norden reitet, was hält ihn dann davon ab, einen großen Bogen um diese Stadt zu machen und fröhlich weiterzuziehen, wie Prinz Sanglant sagt? Bulkezu kann eine kleine Streitmacht vor den Mauern lassen, und mit dieser Streitmacht kann er Herzogin Rotrudis täuschen, sodass sie glaubt, ihre Stadt würde belagert. Und dann, wenn sie es glaubt, wird sie ihm so lange nicht zusetzen, bis es für sie und Saony zu spät ist.« 244 »Und er kann so viel Schaden anrichten, wie er will«, stimmte Sanglant ihm zu. »Oder er könnte sich nach Westen wenden, noch bevor er Osterburg erreicht, und sich nach Kessal oder ins Rhaune-Kernland bei Autun begeben. In einem solchen Fall wäre es das Beste, wenn er nach Westen marschiert, bis er das Meer erreicht, und seine Wut an Salia auslässt.« »Was sollen wir Eurer Meinung nach tun, Prinz Sanglant?«, fragte Hauptmann Thiadbold, der hinter den Edelleuten stand. »Ich schlage vor, wir marschieren so schnell es geht nach Osterburg und versuchen, es vor ihm zu erreichen.« »Unmöglich«, wandte Edelfrau Brigida ein. Sie kicherte, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war. Lampen erleuchteten das Innere des geräumigen Zeltes. In dem flackernden Licht sah Sanglant die Gesichter der anderen; die meisten betrachteten ihn voller Interesse und mit zunehmender Aufregung. Auf dem Tisch, um den herum sie saßen, lagen noch die Reste des abendlichen Mahls auf Messing- und Zinnplatten: Hühnchen- und Gänseknochen; eine ausgehöhlte Brotsüßspeise, von der nur noch die gebackenen Ränder und der angebrannte Boden übrig waren; gebratene Pfannkuchen; kleine, süße Honigplätzchen; mit Minzsoße gewürzte Beeren - die Art von Speisen, die sich auf dem Feldzug leicht zubereiten ließen. »Denn selbst, wenn Bulkezu nach Westen marschiert, werden wir bis zum Herbstregen und den Winterschneefällen, wenn die Wege unpassierbar werden, in der Lage sein, ihn zu verfolgen.« Die Soldaten nickten. Von den Edelleuten kam zustimmendes Gemurmel. Bayan hustete; er räusperte sich. »Ich muss pinkeln!«, sagte er fröhlich und erhob sich. »Aber ich hasse es, allein zu pinkeln! Prinz Sanglant, willst du mich nicht begleiten?« Sanglant lachte. »Ah, mein Freund, welcher Mann könnte ein solches Angebot ablehnen?« Er erhob sich, leerte seinen Becher, und stolperte ein wenig, als er sich zwischen den Anwesenden hindurchschob und Bayan nach draußen folgte. 245 Bayans lärmende Fröhlichkeit verschwand, kaum dass sie draußen waren. Seine treuen ungrianischen Wachen sahen aufmerksam zu, wie ihr Prinz zu den Pferden schritt. Die Wachen zählten zu jenen harten, aber herzlichen Männern, die lautstark mit einem Becher starkem Bier in der Hand einen Trinkspruch auf jemanden ausbringen konnten, um ihn im nächsten Augenblick zu Brei zu schlagen, weil er ihren Herrn beleidigt hatte. Bayan verrichtete zügig sein Geschäft und wartete leise vor sich hin pfeifend darauf, dass auch Sanglant fertig wurde. »Nun, mein Freund«, sagte er ruhig. »Wir müssen uns unterhalten.« »Ah, unterhalten. Welche Art Unterhaltung meinst du denn?« »Du bist nicht dumm, mein Freund. Also werde ich dich nicht beleidigen, indem ich dir Lügen erzähle, sondern dir die Wahrheit sagen.« »Du machst mir Angst, Bayan. Willst du mir erklären, dass ich mit Edelfrau Brigida schlafen muss, damit sie nicht ihr Gefolge nimmt und wütend nach Hause zurückkehrt? Ich würde eher mit Bulkezu schlafen als mit ihr. Oder vielleicht mit ihrem Schlachtross.« Bayan schnaubte erheitert, aber dann schüttelte er nachdenklich den Kopf und schritt zum Ende der Pferdekoppel, gefolgt von Sanglant und immer darauf bedacht, nicht in Pferdemist zu treten. Der Nachthimmel war bewölkt, aber es war angenehm warm. Nur wenige Wachfeuer erhellten die Dunkelheit; hinzu kamen noch ein Dutzend Lampen, die in einigem Abstand um das königliche Zelt herum angebracht worden waren, und der etwas weiter entfernte, rötlich flackernde Scheiterhaufen, auf dem die Überreste der Toten von Machteburg verbrannt wurden. Im Süden auf der Anhöhe, wo sich der alte Festungsring befand, konnte Sanglant vereinzelt Feuerstellen im Lager der Kaufleute sehen. »Also.« Bayan besaß nicht Sanglants Größe, aber er war genauso breit in den Schultern, ohne - im Gegensatz zu vielen anderen Edelleuten seines Alters - fett geworden zu sein. Er drehte sich zu 246 Sanglant um und sah ihn direkt an. In dem düsteren Licht konnte Sanglant seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. »Stimmen wir darin überein, dass Bulkezu Wendar bedroht?« »Natürlich.« »Da ist noch diese andere Umwälzung, die du erwähnt hast. Aber ich kann sie nicht sehen. Die Feuerstellen von Bulkezus Heer brennen zu hell vor meinen Augen. Was für eine Rolle spielen die Intrigen deiner Zauberer, wenn wir alle nichts weiter als Schrumpfköpfe an den Gürteln der Qumaner sind?« »Nur zu wahr. Hast du mich aus dem Zelt geholt, um mir das zu sagen?« »Lass uns offen miteinander sprechen. Sie hat nicht dein Charisma. Sie hat nicht deine Fähigkeiten auf dem Feld und auch nicht deine Intelligenz. Aber du bist ein Bastard, und ich bin Sapientias Mann. Henry hat sie als Erbin bestimmt, nicht dich. Was ist, wenn du dein Schwert erhebst und verlangst, das Heer zu führen? Vielleicht hast du nicht einmal das Ziel, ihre Soldaten dazu zu bringen, sich um dein Banner zu scharen, aber wenn du es tun
solltest, beschämst du sie. Wenn du sie beschämst, wird sie keine andere Wahl haben, als sich zurückzuziehen. Und ich werde es auch tun, mein Freund.« »Ich bin nicht daran gewöhnt, von jemand anderem als dem König Befehle anzunehmen.« Bayan zuckte mit den Schultern. »Nun. Wenn es darüber kein Einvernehmen zwischen uns gibt, werden wir unsere Heere teilen müssen.« »Wir haben eine größere Chance, Bulkezu zu besiegen, wenn wir ihn mit vereinten Streitkräften angreifen. Du weißt das genauso gut wie ich.« »Das tue ich.« »Und du weißt auch, dass wir, falls der Adler die Wahrheit sagt, gut daran tun, nach Westen zu marschieren und Osterburg als unsere Basis zu benutzen, um Bulkezus Heer zu schlagen.« »Das tue ich. Aber ich bin derjenige, der mit der Erbin von Wen247 dar und Varre verheiratet ist. Ich habe sie nicht geheiratet, um zurückzutreten und zuzulassen, dass ein Bastard mir Befehle gibt. Ich will weder deine Mutter noch dich beleidigen, das weißt du. Ich sage dir die Wahrheit, weil ich dich respektiere. Ich kenne dich gut, Sanglant. Du wirst tun, was das Beste für das Reich deines Vaters ist.« Die Wirkung von zu viel starkem Wein machte Sanglant waghalsig und dreist. »Weißt du, Bayan, dass mein Vater von mir gewollt hat, dass ich Adelheid von Aosta heirate und die Königskrone in Darre nehme?« »Dein Vater ist ein kluger Mann. Du hättest gut daran getan, seinen Worten zu gehorchen, statt mit einer Hexe davonzulaufen. Dann würdest du jetzt in Aosta kämpfen, und Henry wäre hier und würde die Qumaner vertreiben.« »Nein, mein Freund, ganz so einfach ist es nicht. Es ist nur ein kleiner Schritt vom Herrschen als König in Aosta zum Herrschen als Erbe des Heiligen Dariyanischen Kaisers.« »Das ist doch nur eine Geschichte. Außerdem bist du nicht mit Adelheid verheiratet. Dein Vater ist es. Du bist nicht in Aosta, um die Königskrone zu erhalten. Dein Vater ist es. Damit sind wir beide, du und ich, immer noch hier, in dieser schönen Sommernacht, und pinkeln gemeinsam bei den Pferden.« Er trat vorsichtig um einen Haufen Pferdemist herum, so leichtfüßig wie stets. Sanglant erinnerte sich, dass Bayan kein Mann war, den man zu einem Trinkwettbewerb herausfordern sollte. »Sag mir, was du vorhast, Sanglant. Wirst du die Autorität deiner Schwester anfechten? Oder wirst du dich ihr unterstellen?« »Oh, Gott! Du verlangst zu viel!« Sie waren weit genug gegangen, dass ein nahes Wachfeuer Bayans Gesicht erhellte; es zeigte ein trockenes Lächeln, gemischt mit einem Hauch von Verärgerung. »Wendischer Stolz.« Ein Riss in den Wolken enthüllte den Viertelmond, der sich über die Baumwipfel erhob. Der SchlachthausGestank vom Scheiterhaufen wurde herangeweht, als der Wind drehte, und verschwand dann wieder. Sanglant schüttelte den Kopf, doch so sehr er auch 248 versuchte, sich daran zu erinnern, wie es damals gewesen war, als er Hauptmann der Drachen des Königs gewesen war und mit seinem Leben für Wendars Sicherheit gebürgt hatte - er konnte nicht nachgeben, jetzt nicht mehr. »Was du sagst, ist sehr vernünftig, aber du verlangst zu viel von mir. Soll ich mich verbeugen, wo ich mich mein ganzes Leben lang vor niemandem außer meinem Vater verbeugt habe? Das kann ich nicht einmal für dich tun, Bayan, und es gibt nur wenig Menschen auf dieser Welt, die ich so sehr respektiere wie dich.« Das angedeutete Lächeln verschwand nicht. Bayans Mundwinkel zuckten kurz, wie in einem leichten Anfall von Verärgerung, aber er verlor nicht die Beherrschung. »Ich werde von dir nicht verlangen, deinen edlen Kopf zu beugen, nicht einmal vor mir, obwohl du das dem Recht nach tun müsstest. Aber wenn unsere Heere sich vereinen sollen, kann nur eine Person die Befehlsgewalt haben. Und das kann nur Sapientia sein.« »Mögen Gott barmherzig sein, Bayan, aber wir sollten nicht die Tatsachen verdrehen. Diese eine Person mag dem Namen nach Sapientia sein, aber in Wirklichkeit wirst du es sein. Wie es jetzt schon ist.« »Was sorgst du dich dann? Du kannst sie genauso gut beeinflussen wie ich.« Sanglant lachte schroff. »Ich schlafe nicht in ihrem Bett, mögen Gott mir vergeben, dass ich an so etwas auch nur denke.« »Es ist nicht leicht zu lernen, den Kopf vor jemandem zu beugen, das gebe ich zu. Dann lass uns hier und jetzt übereinkommen, dass wir gemeinsam Bulkezu besiegen. Danach trennen sich unsere Wege. Sapientia ist auch Markgräfin von Ostfall, wie du dich erinnerst. Wenn sie Königin geworden ist, kann ich sie dazu bringen, dir die Markgrafschaft Ostfall zu übergeben. Ich möchte, dass Bulkezu stirbt. Ich will die Qumaner zurück in den Osten treiben, wo sie hingehören. Und das willst auch du, Sanglant. Wenn das nicht so wäre, wärst du jetzt nicht hier.« Sie hatten das Ende der Pferdekoppel erreicht und schritten jetzt, ohne ausdrücklich darüber zu 249 sprechen, auf die erste Reihe der Wachen zu. »Aber ich werde deinen wendischen Stolz nicht vergessen.« »Und ich nicht deinen verfluchten ungrianischen Dünkel.« »Henry hat Ungrias Angebot angenommen, nicht das von Salia, als er auf der Suche nach einem Mann für sein ältestes, rechtmäßiges Kind war.« Die Nachtluft hatte schließlich die Spinnennetze aus Sanglants Verstand verjagt. Er blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken, um die Wolken zu betrachten, die sich jetzt wieder vor den Mond schoben. »Es ist das erste
Mal, dass ich ein Kind habe«, sagte er leise. »Also - verstehst du mich?« Bayan trat näher zu ihm und betrachtete ebenfalls den Mond, der sich wieder von den Wolken befreite - ein zuckendes Licht hinter dunstigen Wolkenstreifen. »Ein Kind von meinem Blut wird auf den Thron von Wendar und Varre gelangen. Achte darauf, welche Worte du deine kleine Tochter lehrst, Prinz Sanglant. Der große Kaiser Taillefer ist seit langer Zeit tot. Seine-Macht ist mit ihm zu Grabe getragen worden. Aber nur wenige, denke ich, vergessen das Festmahl der Edlen, das er leitete. Ich bitte dich, sei vorsichtig damit, ein Kind zur Schau zu stellen, das die lieblichen Worte >Ich bin die Erbin von Kaiser Taillefer< zu sagen gelernt hat. Die Wölfe sind immer hungrig.« 3 Es war der arme Mähnegold, ein eitler und oberflächlicher Junge, der Bulkezus Standarte tragen musste, als sie vom Kamm hinab zur Verhandlung ritten. Edelmann Mähnegold sah ganz so aus, als wäre er am liebsten tot gewesen, da nützten auch die aufmunternden Worte nichts, die Ekkehard ihm zuflüsterte. Dann wurde der Prinz weggeführt; er sollte im Schutz einer Ehrengarde - für den Fall, dass er zu fliehen versuchte - im Lager warten. 250 Es hatte einen ganzen, unerträglich langen Tag gedauert, bis beide Seiten sich zu Waffenstillstandsverhandlungen bereit erklärt hatten; die Vorverhandlungen waren zunächst von Kundschaftern durchgeführt worden, dann von Botschaftern, die immer wieder mit neuen Forderungen, Angeboten und Kompromissen hin und her geschickt worden waren. Bulkezu trug seine Kriegsrüstung, während er sich zum vereinbarten Treffen begab, und seine Schwingen leuchteten im grellen Sonnenlicht. Einhundert ausgewählte Reiter folgten ihm. Edelmann Mähnegold ritt voran, die Standarte hoch erhoben, an seiner Seite Hanna, deren Hände zusammengebunden waren, um deutlich zu machen, dass sie eine Gefangene war. Boso hatte die kostbarste Kleidung angezogen, die er hatte ergattern können; er wirkte darin so lächerlich wie ein mit den Gewändern und Juwelen eines Edlen ausgestatteter Hund, der seinem Meister nicht von der Seite wich. Etwa in der Mitte zwischen dem Grat und der äußeren Festungspalisade stand ein großer Pavillon, dessen Seiten wie Flügel erhoben waren, um stets eine frische Brise durchzulassen. Dies war der neutrale Boden, auf dem sich die beiden Parteien treffen würden. Ein Stück hinter dem Pavillon wartete eine Streitmacht von hundert Berittenen. Prinzessin Theophanu war bereits eingetroffen. Ihr Gesicht war so ausdruckslos wie das glatte Visier von Bulkezus Helm. Nur die leicht angespannten Mundwinkel verrieten einen Hauch innerer Beteiligung; deren Bedeutung war allerdings schwer zu erkennen, während sie sich näherten und in den Schatten der Zeltflügel traten. Die Prinzessin besaß Henrys scharfen Verstand. Sie saß auf einem Stuhl, der beinahe ebenso hervorragend gearbeitet war wie der Reisethron ihres Vaters, und forderte Bulkezu dadurch dazu auf, wie ein Bittsteller vor sie zu treten. Herzog Conrad der Schwarze stand hinter ihr; er zappelte unruhig mit jener ruhelosen Energie, die auch Prinz Sanglant kennzeichnete und davon 251 kündete, dass er lieber kämpfte, statt stillzustehen. Außerdem waren zwei weitere Edle anwesend, drei Verwalter, die darauf warteten, Weinkelche zu verteilen, sowie ein in kostbare Kleidung gehülltes Mädchen von etwa zehn oder zwölf Jahren. Sie stand hinter einem leeren Stuhl, der neben Theophanu aufgestellt worden war. Bulkezus Reiter blieben in genau dem gleichen Abstand zum Pavillon stehen wie Theophanus Reiterei - nur in der entgegengesetzten Richtung. Er selbst ritt weiter, zu seiner Rechten begleitet von Hanna und Boso, zu seiner Linken von drei Hauptleuten. Cherbu ritt hinter ihm. Der Wind strich seufzend durch die Schwingen seiner Reiter. Lichtreflexe flackerten am Eisengestänge seiner Greifenschwingen auf, als die Brise durch sie hindurchfuhr und eine verführerische Melodie erklingen ließ. Bulkezu musterte die Positionen der beiden Truppen sowie den Standort seines Stuhls, der in zehn Schritt Entfernung zu dem aufgestellt worden war, auf dem Theophanu saß. Da er noch immer den Helm trug, war es unmöglich, sein Gesicht zu erkennen. Er blickte zurück zu Cherbu, und der Schamane vollführte eine kaum wahrnehmbare Geste mit der Hand. Zufrieden zog Bulkezu den Helm vom Kopf und warf ihn einem seiner Hauptleute zu, der ihn auffing und sich unter den Arm klemmte. Theophanu blieb still. Conrad beobachtete das Geschehen; er verlagerte unentwegt das Gewicht, während Bulkezu abstieg und Hanna und Boso bedeutete, es ihm gleichzutun. Der zweite Hauptmann nahm ihnen die Zügel ab und führte die Pferde zur Seite. Hanna begegnete kurz Conrads scharfem Blick, in dem sich die ganze Kraft seines Körpers zu spiegeln schien. Er hatte dunkle, beinahe schwarze Augen - ein Erbe seiner Mutter, die aus Jinna stammte. Das Mädchen legte eine Hand auf die Stuhllehne, während sie Bulkezu mit dem gleichen verächtlichen Blick anstarrte wie der Herzog. Der Hautfarbe und den Gesichtszügen nach musste sie seine Tochter sein. 252 Boso trat vor. »Seine Herrlichkeit Prinz Bulkezu hört sich Eure Bitten mit Interesse und einem freundlich gesonnenen Herzen an; aufgrund seiner Großzügigkeit und Freigebigkeit hat er sich entschieden, Euch erst anzuhören, statt sofort Euer Heer anzugreifen und zu vernichten.« »Er will Gold«, murmelte Conrad düster.
Theophanus Miene änderte sich nicht. »Ich bitte Euch, Prinz Bulkezu, nehmt Platz, und lasst Euch Wein bringen.« Boso übersetzte, während Bulkezu seinen Blick auf eine Stelle zwischen Conrad und Theophanu richtete; er verstand es vorzüglich, einen Ausdruck vollkommener Verständnislosigkeit auf sein Gesicht zu zaubern. Als Boso geendet hatte, machte Bulkezu eine Geste, und sofort wurde ihm ein zusammenklappbarer Stuhl gebracht. Bulkezu hatte den Holzstuhl aus der Kammer der Äbtissin eines brennenden Klosters mitgenommen; er hatte seine Aufmerksamkeit erregt, weil die Armlehnen in geschnitzten Greifenköpfen ausliefen und er darüber hinaus mit Gold verziert war. Auf diesem Stuhl ließ Bulkezu sich nun nieder. Seine Schwingen raschelten, als er sich setzte. Als ihm ein Diener mit steinerner Miene einen silbernen Kelch mit Wein brachte, winkte er ab. Boso nahm das Getränk an seiner Stelle an, leerte es vielleicht ein bisschen zu rasch. Schließlich ließ sich Conrad auf dem Stuhl neben Theophanu nieder. Die drei beäugten sich stumm. Auf Bulkezus Gesicht lag ein leichtes Grinsen. Nach einiger Zeit sprach Theophanu. »Sagt Eurem Herrn, dass wir offen verhandeln wollen. Wir werden ihm zweitausend Pfund Silber anbieten, wenn er Wendar und Varre verlässt.« Hanna konnte inzwischen ein paar Worte erkennen, als Boso jetzt übersetzte, aber es waren wirklich nur ein paar. Bulkezu machte sich nicht die Mühe, den Gefangenen seine Sprache beizubringen, und so hatte Boso einige Macht über die Sklaven erlangt, da er der einzige Vermittler war. Als Boso geendet hatte, hob Bulkezu die Hand. Sein dritter Hauptmann trat zu ihm und reichte 253 ihm einen goldenen Becher, der bis zum Rand mit geronnener Stutenmilch gefüllt war. Er nippte gedankenverloren daran, bevor er antwortete. Boso übersetzte. »Seine Grässlichkeit Prinz Bulkezu wünscht Euch begreiflich zu machen, dass Euer edler Bruder Prinz Ekkehard genau in diesem Augenblick als Gefangener bei seinem Heer weilt. Hier sind sein Ring und sein Banner.« Der Ring wurde zum Vorschein gebracht, das Banner kurz entrollt und wieder weggepackt. Herzog Conrad murmelte leise vor sich hin, und seine Tochter klopfte ihm auf die Schulter und beugte sich hinab, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Es war eine so vertrauliche und liebenswerte Geste, dass Hanna augenblicklich eine tiefe Sehnsucht nach ihrem eigenen Vater verspürte. Theophanu verzog ihre Miene nicht im Geringsten. »Man kann einen Ring und ein Banner auch einer Leiche abnehmen.« Boso war im Besitz einer kurzen Peitsche, die er bei seinen Huren und widerspenstigen Sklaven benutzte. Es war seine einzige Waffe. Er gab Hanna jetzt einen Stoß mit dem Peitschenstiel - genau deshalb hatte man sie mitgenommen. Sie machte einen Schritt nach vorn. »Ich nehme an, Ihr kennt mich, Prinzessin. Ich bin westlich von Handelburg zusammen mit Prinz Ekkehard und vier seiner Kameraden gefangen genommen worden. Dies ist Edelmann Mähnegold, der zu seinem Gefolge gehört.« Da ihre Hände gefesselt waren, deutete sie mit einer kurzen Kopfbewegung auf Mähnegold. »Ich schwöre Euch bei meiner Ehre als Adler des Königs, dass Prinz Ekkehard lebt und sich in Prinz Bulkezus Händen befindet.« Theophanu sagte leise etwas zu ihren Verwaltern, die daraufhin vortraten, um ein weiteres Mal Wein anzubieten, doch Bulkezu lehnte wieder ab, und erneut leerte Boso den Becher. »Dreitausend Pfund Silber und einhundert Goldnomias als Gegenleistung für Euren Abmarsch und die Freilassung von Ekkehard und seinen Kameraden.« Zum ersten Mal ließ Theophanu erkennen, dass sie 254 Hanna gesehen hatte – durch einen Blick, der so leicht und flüchtig war wie eine Feder. »Und die des Adlers.« Boso sprach. Bulkezu antwortete. »Seine Ruhmreichheit wird den Adler nicht austauschen. Fünftausend Pfund Silber und die gleiche Menge in Gold für den Prinzen. Und die Tochter von Herzog Conrad für sein Bett.« Conrads Kopf fuhr herum, während seine Tochter sich versteifte und gleichermaßen entrüstet und verängstigt dreinblickte. Plötzlich begann der Übersetzer laut zu stöhnen, und ohne ein Wort oder eine Entschuldigung von sich zu geben, stürzte er davon. Er war kaum mehr als hundert Schritte weit gekommen, als er vornüber fiel und zu würgen begann. Bulkezu nippte an seiner Stutenmilch. An der Art, wie sein Grübchen immer wieder auftauchte und verschwand, konnte Hanna erkennen, dass er sich sehr zwingen musste, nicht zu lachen. »Herr im Himmel«, sagte Conrad, den geplagten Übersetzer betrachtend. »Ich habe Gerüchte darüber gehört. Glaubt Ihr, er hat die Pest mitgebracht?« »Ihr solltet es in Betracht ziehen, Conrad«, erwiderte Theophanu. »Ein Grund mehr, es so kurz wie möglich zu machen. Das Mädchen als Tausch gegen ihren Abmarsch.« Conrad erhob sich drohend, und seine dunklen Wangen wechselten die Farbe. »Heiratet ihn doch selbst, Theophanu. Ihr sucht doch schon seit langem einen Mann.« »Wenn mein Vater zurückkehrt -« »Falls Euer Vater zurückkehrt.« Sie fuhr fort, ohne seinen Einwand zu beachten. »Wenn mein Vater zurückkehrt, werde ich meine Pflicht tun, wie er es befiehlt. Es ist schon lange überfällig, dass Ihr die Eure tut und Eure Tochter dort einsetzt, wo sie von Nutzen ist. Wir leben in schwierigen Zeiten, wie Ihr wisst.«
»Und sie werden umso schwieriger werden, wenn ich meine Unterstützung zurückziehe.« Je wütender er wurde, desto lauter sprach er; sie hatten rasch aufgegeben, zu flüstern, seit sie stritten. 255 »Wieso sollte ich Euch helfen, Theophanu? Wieso sollte ich überhaupt Wendar helfen, wo es doch so aussieht, als wäre Euer Vater wild entschlossen, uns im Stich zu lassen, um stattdessen kaiserlichen Festlichkeiten in Aosta hinterherzurennen? Er hat Wendar seines Heeres beraubt, meine Vorräte und Waffenkammern geleert mit was also wollt Ihr gegen die Eindringlinge kämpfen -« »Um Himmels willen, Prinzessin«, schrie Hanna, »er versteht jedes Wort, das Ihr sagt!« Sie hatte nicht gewusst, dass sich jemand so schnell bewegen konnte. Er schlug ihr so heftig ins Gesicht, dass sie bewusstlos wurde. Von dem, was zwischen dem Schmerz des Schlages und dem Aufprall auf dem Boden passierte, bekam sie nichts mit. Ihre Kehle brannte, als hätte sie Säure getrunken. Sterne tanzten vor ihren Augen. Sie konnte ihre Beine nicht spüren. Aus der Ferne hörte sie Bosos jämmerliches Husten, als er sich wieder und immer wieder erbrach. »Ich würde das nicht tun, Herzog Conrad«, sagte Bulkezu freundlich. »Ich bin durch einen Mantel, den mein Bruder gewebt hat, vor Schaden geschützt. Aber ich werde nicht zögern, das verabredete Signal zu geben, wenn es hier Schwierigkeiten geben sollte. Dann könnte ich Euch Prinz Ekkehards Kopf sofort bringen lassen« - er schnippte mit den Fingern, um seine Aussage zu unterstreichen - »wenn Ihr das wünscht. Vielleicht habt Ihr die Kameradin noch nicht gesehen, die mich auf diesem Marsch begleitet und mir ihre Kraft leiht. Erkennt Ihr Judith von Austra denn nicht?« Hanna konnte ihre Glieder immer noch nicht bewegen, aber immerhin war ihr Gehör wieder schärfer geworden. »Oh, mein Gott«, entfuhr es Conrad. »Um Himmels willen, Milo«, fuhr er dann leiser fort, »bringt meine Tochter sofort zurück in die Festung.« Hanna hörte, wie sich nach einem unterdrückten Protestschrei Schritte entfernten. »Ich würde den Tod meines Bruders beweinen«, sagte Theopha256 nu weich, als wäre bisher nicht das Geringste geschehen, als hätten sie und Conrad nicht Geheimnisse vor ihm verraten, als hätte Bulkezu sie nicht mit dem einfachsten Trick der Welt hereingelegt. Als wäre die innere Zerstrittenheit der Wendaner nicht ihre größte Schwäche, wie Bulkezu einmal behauptet hatte. »Wie ich auch um Markgräfin Judith trauere. Aber leider, Prinz Bulkezu, da sollten wir uns richtig verstehen, ist er nur König Henrys drittes Kind.« »Doch sicherlich sein viertes? Oder ist eins der beiden älteren gestorben?« Das Gefühl kehrte in Hannas Finger zurück. Sie schob ihre zusammengebundenen Hände unter den Körper und richtete sich auf. Ihr Kopf drehte sich, und sie musste sich beinahe erbrechen, als sie auf die Knie kam. Conrad und Theophanu waren plötzlich vier, dann acht, schließlich wieder zwei Personen. »Ich nehme an, wir haben Euch mehr als genug gesagt«, erklärte Theophanu, »auch wenn wir dafür keine Gegenleistung erhalten haben. Gebt mir den Adler. Sie ist für Euch ohnehin nicht von Nutzen.« »Woher wollt Ihr wissen, was oder wer für mich von Nutzen ist?« Er gab in seiner eigenen Sprache einen Befehl. Ihr rechtes Auge war bereits zugeschwollen, und die ganze rechte Gesichtshälfte pulsierte schmerzhaft. Staub wirbelte ihr ins Gesicht, als sie hustete und blutigen Speichel ausspuckte. Sie wurde von Händen gepackt und unbarmherzig auf die Beine gerissen. Die schnelle Bewegung war zu viel. Sie erbrach sich, doch der Mann, der sie festhielt, kannte kein Erbarmen und zerrte sie einfach weiter. Die Welt wurde immer dunkler, während sie gegen die Bewusstlosigkeit ankämpfte. Hatte Theophanu gerade mit ihrer leidenschaftslosen Stimme darum gebeten, den Adler ausgehändigt zu bekommen? Das Einzige, was sie vernahm, als Licht ihre Sicht verschleierte und sie nach Luft schnappte, war Bulkezus verhasste Stimme. »Fünftausend Pfund Silber und eintausend Pfund Gold, und ich 257 werde mit meinem Heer an Barenberg vorbeireiten und die Stadt und das umliegende Land unberührt lassen.« Sie verlor das Bewusstsein. Als sie erwachte, spürte sie, wie ihr jemand eine Salbe auf die pochende Wange schmierte. Die kühle Paste roch nach Senf und brannte. Sie öffnete ein Auge, bemühte sich, auch das andere zu öffnen, und geriet in Panik. Dann begriff sie, dass das andere Auge nur zugeschwollen und nicht herausgerissen worden war. Cherbu saß neben ihr und summte leise. Er hielt ihr einen Becher an den Mund. Der Dampf einer warmen Flüssigkeit stieg ihr in die Nase. Der Geruch besänftigte ihre Kopfschmerzen. Sie nippte daran, und es gelang ihr, ein bisschen von der heißen Brühe hinunterzuschlucken, ohne dass ihr gleich übel wurde. Sie war sogar in der Lage, sich aufzusetzen und auch den Rest zu trinken. Das Licht in dem kleinen Zelt war in Dutzende von Farben zersplittert. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sie auf einem Schaffell im Flickenzelt des Schamanen lag. Der Boden unter ihr schwankte gewaltig, und auch das Zeltdach schwankte, als sie sich in Bewegung setzten. Cherbu schlüpfte durch die Zeltklappe nach draußen und sprang hinunter. Hanna erhaschte einen Blick auf berittene Männer, einen vorbeitreibenden Baum, die Sonne, die durch die Blätter schien, bevor die Zeltklappe wieder an Ort und Stelle rutschte. Obwohl der Wagen ruckelte und holperte, fiel sie in einen unruhigen
Schlummer, wurde jedoch immer wieder wach, wenn sie wegen eines Lochs oder eines Steines auf die eine oder andere Seite geschleudert wurde. In bestimmten Abständen kehrte Cherbu zurück, um neue Salbe aufzutragen oder ihr eine frische heiße Suppe zu bringen. Seltsamerweise fühlte sie sich trotz der unbequemen Reise zunehmend besser, je weiter der Tag voranschritt. Schließlich konnte sie sogar das rechte Auge öffnen. Sie verspürte tatsächlich so etwas wie Zuversicht, als der Wagen abrupt stehen blieb und sie die vertrauten Geräusche hörte, als die 258 Männer sich daranmachten, das Lager zu errichten. Sie rieb sich die Salbe aus dem Gesicht, bevor sie vorsichtig vom Wagen kletterte. Sie musste pinkeln, und sie wollte sich umsehen. Ihre Arme und Beine gehorchten ihr wieder. Ihr Gesicht schmerzte noch immer, aber sie konnte das Auge jetzt wieder öffnen und schließen und damit blinzeln, ohne dass es allzu schmerzhaft war. Sie fand vor der Vorderseite des Wagens ein Plätzchen, wo sie sich in Ruhe erleichtern konnte, dann musterte sie das Gelände, die ausgedehnte, von einem Wald umgebene Lichtung, auf der sich das Heer, die Feuerstellen und die Gefangenen befanden. Vielleicht hatte man sie vergessen. Vielleicht auch nicht. Cherbu kam mit einem Becher dampfender Brühe, die sie dankbar trank. Sie verspürte Hunger, und ihr Bauch knurrte leise. herbu bedeutete ihr, ihm zu dem runden Zelt zu folgen, über dem das Banner der Pechanek hing. Bulkezu trat mit einem Grinsen auf dem Gesicht aus dem Zelt; in seinen Augen glomm ein kaltes Licht, und erstaunlicherweise war Boso an seiner Seite. Der Übersetzer sah aus, als würde es ihm wieder besser gehen, was sehr erstaunlich war, da er sich beim letzten Mal, als sie ihn gesehen hatte, heftig erbrochen hatte. Vielleicht strahlte er aber auch nur deswegen so sehr, weil er sich auf ihre bevorstehende Bestrafung freute. »Ihr dürft Euch fürchten, Frau. Seine Grässlichkeit hat genug von Eurem Ungehorsam und Euren respektlosen Worten.« War es wirklich möglich, dass Boso nicht begriffen hatte, was während der Waffenstillstandsverhandlungen geschehen war? Wusste er nicht, dass Bulkezu ihn verstehen konnte? Oder war sie die Närrin, weil sie die ganze Zeit geglaubt hatte, dass Boso nichts davon ahnte ? Sie begann zu taumeln. In ihrem Kopf drehte sich alles, während sie darum kämpfte, das Gleichgewicht zu bewahren -und ihre Würde. »Er ist mit seiner Geduld am Ende, weil Ihr ihn sehr wütend gemacht habt.« 259 Eine kalte Furcht erfasste ihre Eingeweide, als die Stille sich noch länger hinzog. Ein paar Sklaven blieben stehen und starrten sie an, aber Bulkezus Wachen verjagten sie. Er mochte keine öffentlichen Szenen, im Gegensatz zu den wendischen Edlen, die es genossen, ihre bevorzugten Lieblinge mitten im Hof vor aller Augen zu erheben und auch wieder fallen zu lassen. Bulkezu war ein Mann, der seinen Groll für sich behielt. Boso wieherte regelrecht; er war angesichts ihres bevorstehenden Falls so erregt, dass er sogar vergaß, sarkastisch zu sein. »Ihr könnt Eure Kleidung und den Umhang der Adler mitnehmen, damit niemand vergisst, wer Ihr seid. Aber jeden anderen Schutz entzieht Euch Prinz Bulkezu.« Sie fand ihre Stimme wieder, so heiser sie auch klang. »Ihr meint, er wird mich Prinzessin Theophanu übergeben?« Boso brach in schallendes Gelächter aus, kicherte dann hilflos. Bulkezus Miene änderte sich nicht im Geringsten. Vier Wachen traten vor. Wenn sie gegen sie kämpfte, würden alle sehen, wie verzweifelt und verängstigt sie wirklich war. Würde es sie jetzt nicht mehr schützen, Sorgatanis Glück zu sein? Würde die kerayitische Schamanin nicht über sie wachen? Sie blickte zu Cherbu, aber er war bereits zwischen den Bäumen verschwunden. Hatte sie wirklich daran geglaubt, dass sie ohne Bulkezus Zustimmung von jemandem gerettet werden könnte? Dass sie nicht durch und durch von seiner Stimmung abhängig war, die sich jetzt in reine Kälte verwandelt hatte ? »Ihr habt Euch für etwas Besseres als die anderen gehalten«, sagte Boso. »Nicht mehr, als Ihr es tut«, murmelte sie, aber sie brachte die Worte kaum heraus. Es schmerzte, zu sprechen. Die unbeteiligt dreinblickenden Wachen umstellten sie jetzt, die Lanzen erhoben. Sie machte einen Schritt rückwärts, errötete und bekam einen Schweißausbruch, als die Sonne hinter den Wolken hervorbrach und auf sie niederbrannte. Die Wachen kamen näher, und sie wich zurück, Schritt für 260 Schritt, bis sie begriff, dass sie wie eine Kuh oder ein Schaf zu den unglückseligen Gefangenen getrieben wurde, die wie verwelkende Blumen auf der Lichtung verteilt waren. Sie war nicht länger Bulkezus bevorzugte Geisel, seine Vorzeigegefangene. Sie war nun nichts weiter als eine unglückliche Gefangene, die im Schlepptau des Heeres mitlaufen musste, den Lanzen der Nachhut einen kurzen Schritt voraus. Die meisten Gefangenen lagen erschöpft im Gras und versuchten, ihre Köpfe vor der grellen Sonne zu schützen. Nur wenige hatten die Nacht des Gemetzels überstanden, und vielleicht war das der Grund, weshalb die Pest nicht wieder in Bulkezus Tross aufgetaucht war. Er war davongerannt, hatte die Pest hinter sich gelassen. Aber er machte noch immer Gefangene, zerrte sie zu seiner Erheiterung mit, um sie bei einem Angriff einzusetzen, um sie zu sonst einem kranken Zweck zur Verfügung zu haben - falls es überhaupt einen anderen Grund gab außer dem, große Zerstörung anzurichten.
Ein paar Gefangene schienen durch die Tortur noch nicht so geschwächt zu sein, dass sie an nichts anderes mehr denken konnten als an den nächsten Schluck Haferschleim. Diese Leute erhoben sich jetzt und sahen zu, wie Hanna zu ihnen gebracht wurde. Was ihr am meisten auffiel, war der Gestank der vielen ungewaschenen Körper, der offenen Wunden, der Pfützen voller Durchfall, Urin und Erbrochenem, die jene umgaben, die zu krank waren, um wegzukriechen. Es war ein einziger Abgrund der Verzweiflung. Fliegen surrten überall, taten sich an entzündeten Augen und dreckverkrusteten Händen gütlich. Ganz sicher lauerte hier die Pest und wartete nur darauf, erneut ausbrechen zu können. Oh, Gott, die Wahrheit war, dass sie mehr Angst vor der Pest hatte als vor Bulkezu. Ein Mann mit einem schwarzblauen Auge und schlaffen Wangen kämpfte sich vom Boden hoch und spuckte sie an. »Hure! Jetzt hast du endlich bekommen, was du verdienst! Ich hoffe, es hat dir 261 ordentlich Vergnügen bereitet, was der Dämon dir gegeben hat, denn hier wirst du nicht viel Vergnügen finden!« Sein Kamerad, ein großer Mann, dem die Kleider in Fetzen vom Leib hingen, machte einen Satz auf sie zu und streckte die Arme nach ihr aus. »Ich würde gern den Rest probieren!« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie bückte sich, fand wie durch ein Wunder einen festen Stock im Gras und verpasste ihm damit einen Schlag mitten ins Gesicht. Er war ein gutes Stück größer als sie, aber sie hatte gut zu essen bekommen, er dagegen nicht. Er taumelte zurück und sackte schwer zu Boden. Schmerz zuckte durch ihre Wange, doch sie traute sich nicht, Schwäche zu zeigen. Aber niemand lachte, und es protestierte auch niemand. Eigentlich reagierte überhaupt niemand. Die meisten waren viel zu krank oder zu erschöpft, um sich um sie zu scheren. Die qumanischen Wachen waren davongegangen, hatten sie allein in der Mitte der anderen zurückgelassen, mit pochenden Kopfschmerzen und einem geschwollenen Gesicht. »Ich bin ebenso eine Gefangene wie ihr, eine einfache Frau aus Wendar. Ich bin ein Adler des Königs und im Osten in Gefangenschaft geraten -« Auch ein verhungernder Mensch kann sich vom Hass nähren, wenn er nichts anderes mehr besitzt. »Hure und Verräterin«, sagte eine der Frauen matt. Sie drückte ein Bündel schmutziger Wäsche an ihre Brust, und erst, als sie sich erneut bewegte, sah Hanna, dass sie ein krankes Kind in den Armen hielt. Seine Augen waren mit getrocknetem Eiter verkrustet. Fliegen krabbelten dem Kind über das blasse Gesicht, doch weder es selbst noch die Mutter hatte die Kraft, sie zu verscheuchen. In der Ferne war das Rauschen eines Flusses zu hören. Hanna roch das Wasser, obwohl Bäume den Blick versperrten. Die meisten Gefangenen blickten sie jetzt an. Es waren gute, wendische Leute, genau wie sie. Der große Mann hustete und schlang die Arme um sich, wäh262 rend er nach Luft schnappte. Als er grinste, sah sie, dass ihm sämtliche Zähne fehlten. »Auch du wirst einmal schlafen müssen.« Sie sprach mit den anderen. »Begreift ihr denn nicht? Je mehr wir untereinander streiten, desto leichter wird er uns besiegen!« Niemand antwortete. Nach einer Weile verzogen sich der große Mann und sein Kamerad wieder zum Rand der Gruppe. Die anderen waren zu müde, zu hungrig und zu apathisch, um irgendetwas anderes zu tun, als sich auf den Boden zu legen und die Augen zu schließen. Die qumanischen Wachen hielten sie nicht auf, als sie Gras sammelte und nach einigen misslungenen Versuchen einen flachen Korb zu flechten begann und ihn mit Blättern auslegte. Sie beschatteten sie allerdings, als sie durch den Wald zum Flussufer ging und dort an einer seichten Stelle niederkniete. Flussaufwärts war nichts als Wald zu sehen, aber flussabwärts sah sie eine Rauchsäule gen Himmel steigen. Hatte Bulkezu von Theophanu Lösegeld bekommen und war dann weitergeritten, an Barenberg vorbei? Heute hatte es keine Schlacht gegeben, und dieser Fluss wirkte so breit, dass es sich gut um die mächtige Veser handeln konnte, die nach Norden zum Bernsteinmeer floss. Der Korb hielt das Wasser lange genug, dass sie es zu denen tragen konnte, die zu erschöpft waren oder zu viel Angst vor den Qumanern hatten, um selbst zum Fluss zu gehen. Am besten war es, sie begann bei den Schwachen. Sie würden nicht die Kraft haben, sie anzuspucken, und vermutlich dankbar sein, wenn sie ihnen Wasser brachte. Als sie mit ihrem Korb zu der Mutter mit dem kranken Kind ging, warf diese ihr zunächst einen argwöhnischen Blick zu. »Was willst du von mir, Hure?«, fragte die Frau und wich zurück, so gut es ging. »Bin ich von dem Tier noch nicht genug gestraft worden?« »Ich bin eine Gefangene wie du«, erklärte Hanna noch einmal. »Es stimmt, dass ich besser behandelt wurde, besser ernährt wur263 de und reiten durfte. Aber nicht, weil ich die Hure des Prinzen gewesen wäre —« »Des wendischen Prinzen?« Der Ärger schien der Frau innere Stärke zu verleihen. »Einige sagen, es ist der Sohn des Königs, der mit dieser Bestie reitet. Ist das wahr?«
Dies war wohl kaum der richtige Weg, die armen Seelen davon zu überzeugen, dass sie keine Verräterin war, aber Hanna sah keinen Grund, sie anzulügen. »Ja, es ist Ekkehard, der Sohn von Henry.« Die Frau spuckte aus. Vielleicht war sie von den Qumanern in Ruhe gelassen worden, weil sie eine Warze auf der Nase hatte und ihre Haare verlaust waren, oder sie war einfach nur eine jener unglückseligen Dorfbewohnerinnen, die während eines Angriffs vergewaltigt worden waren. »Ein Königssohn sollte eher tot sein als ein Verräter.« Aber sie nahm dankbar einen Schluck Wasser. Auch das Kind trank, doch der Junge konnte die Augen nicht öffnen. Sein Wimmern zerriss Hanna beinahe das Herz. »Hier, ich befeuchte ein Stück Stoff, dann können wir vielleicht sein Gesicht reinigen.« »Wenn du willst«, sagte die Frau mit matter Stimme. »Aber er wird so oder so sterben. Mein armes Kind. Nichts kann uns jetzt noch retten. Wenn die Bestie und seine Männer uns nicht töten, tut es der Hunger. Oder die Pest. Ich habe gehört, dass südlich von uns überall die Pest ist. Vielleicht ist das Gottes Gnade dafür, dass wir ein so gottgefälliges Leben geführt haben.« »Wie kannst du so etwas sagen?«, fragte Hanna entsetzt. »Es ist besser, zu verhungern oder die Kehle durchgeschnitten zu bekommen, als an der Pest zu sterben. Hast du gesehen, wie die Toten aussehen? Meine Cousine hat es mir erzählt. Sie hat einmal einen Mann gesehen, vor zwei Jahren. Er ist vor ihrem Dorf gestorben, und sie haben ihn den Hunden zum Fraß vorgeworfen. Niemand wollte ihn anfassen, nicht einmal die Diakonissin. Sie hat gesagt, man fängt an zu zittern und wird grau, und die Sterbenden 264 schreien vor Schmerzen, weil sie bei lebendigem Leib von innen aufgefressen werden. Dann spuckt der Dämon in deinem Innern alles aus, durch den Mund und die Nase und die Augen, durch die Haut und das Arschloch. Alles kommt raus, Blut und Rotz und Scheiße und alles andere, was er von dir gefressen und mit seinem stinkenden Gift vermengt hat -« »Das reicht!«, sagte Hanna scharf. Andere Leute waren näher gekrochen, um zuzuhören, einige hatten vor Angst zu stöhnen begonnen. »Es ist unsinnig, sich den Tod zu holen, indem wir draußen auf den Schnee warten, dessen Erscheinen wir ohnehin nicht beeinflussen können. Das hat zumindest meine Mutter immer gesagt.« »Ist deine Mutter noch am Leben?«, fragte eine der Gefangenen. »Ich hoffe es. Sie lebt in der Nordmark -« »Ah«, meinte ein dünner, alter Mann, in dessen Gesicht noch ein Rest Neugier zu erkennen war. »Das erklärt deinen Akzent und die hellen Haare. Wie bist du zu den Adlern gekommen?« »So wie alle anderen, nehme ich an. Sie haben welche gesucht, und ich war gerade da.« Das brachte ihr ein bisschen Gekicher ein, während sie fortfuhr, dem Kind das Gesicht zu waschen, und versuchte, die Kruste um seine Augen zu befeuchten, damit sie sie abwischen konnte, ohne ihm wehzutun. »Wie bist du gefangen genommen worden?«, fragte die Mutter. Etwa fünfzig Leute hatten sich mittlerweile um sie herum versammelt und lauschten. Auch die beiden Männer, die sie zuvor angegriffen hatten, gesellten sich jetzt dazu, starrten sie verbittert und mit erbarmungslosem Hass an, als wäre sie verantwortlich für alles, was sie erlitten und verloren hatten. »Ich bin im letzten Winter im Osten gewesen und war auf dem Weg zurück nach Wendar. Auf Befehl von Prinzessin Sapientia, der Erbin von König Henry, habe ich Handelburg verlassen, um ihm von dem qumanischen Einmarsch zu berichten. Im Wald wur265 de ich dann von einem Schneesturm überrascht und von den Qumanern gefangen genommen.« »Du bist die ganze Zeit mit diesem Tier zusammen gewesen?« Sie konnte nicht erkennen, wer diese Frage gestellt hatte. »Ja, das bin ich«, gab sie zu, befeuchtete erneut den Zipfel ihres Umhangs und versuchte, die verschorfte Kruste wegzuwischen. Der große Mann drängte sich jetzt durch die Menge. Er hatte ebenfalls einen Stock gefunden, aber er benutzte ihn nur, um sich darauf zu stützen. »Und du behauptest, dass du die ganze Zeit über nicht mit dem Tier im Bett gewesen bist? Wieso bist du dann so fett und sauber, Adler? Woher hast du diesen Ring?« Er schlug schneller zu, als sie es für möglich gehalten hätte. Sein erster Schlag traf sie seitlich am Kopf. Sie stürzte, und die Mutter schrie auf. Sie versuchte, den Sturz mit den Armen abzufangen, und der Ruck ließ einen stechenden Schmerz durch ihr verletztes Auge zucken. Ihr Kopf brannte wie Feuer, und sie tastete nach ihrem Stock, fand ihn und brachte ihn gerade rechtzeitig hoch, um den nächsten Hieb abwehren zu können. Ihr Stock zerbrach, und sie taumelte wie eine Krabbe zurück, während er mit seinem Stock erst rechts, dann links von ihr auf den Boden schlug. Er hob ihn erneut. Heiße Wut stieg in ihr auf. Sie stürzte auf ihren Peiniger zu und riss ihn zu Boden. Sie rangen. Ein Dorn stach sie im Rücken, und sie riss den Mann herum und schlug ihm das Gesicht auf die Stelle. Er schrie auf, zitterte und lag dann still da. Sie war dankbar für die vielen Kämpfe mit ihrem ältesten Bruder Thancmar. Sie war dankbar, dass ihr Gegner vom Hunger so geschwächt war. Sie atmete schwer, griff nach seinem unzerbrochenen Stock und erhob sich, den Blick fest auf seinen zitternden Kameraden gerichtet. Ein Stück entfernt standen die qumanischen Wachen und sahen mit verschränkten Armen teilnahmslos zu. Ihr Gesicht pochte.
Was war mit dem Versprechen, das Bulkezu der Eule gegeben hatte - dass ihr kein Schaden zugefügt werden würde? Blut tropf266 te ihr von der Schläfe, wo der Stock sie getroffen hatte, und ihr Ohr klopfte grauenhaft. »Ich bin ein Adler des Königs, verflucht noch mal«, sagte sie schroff. »Ich habe diesen Ring von König Henry höchstpersönlich erhalten, als Anerkennung für meine Dienste ihm gegenüber. Wenn ihr mir etwas antut, ist es, als würdet ihr dem König selbst etwas antun.« »Wo ist denn der König jetzt?«, hielt der Kamerad des großen Mannes ihr entgegen. Jetzt, da er stand, konnte sie an der Art, wie ihm die Tunika um den Leib schlotterte, erkennen, wie stark er abgenommen hatte. »Wieso ist der König nicht gekommen, um uns zu helfen?« Seine Worte wurden von anderen Gefangenen wiederholt, und noch mehr drängten näher, um zu erfahren, was dieser Aufruhr bedeutete. »Wo ist der König, während wir hier leiden?« »Ich weiß es nicht«, gestand sie. Sie konnte sich gut vorstellen, wo er war, aber die Geschichte wollte sie diesen Leuten nicht erzählen. Die Krone von Kaiser Taillefer würde ihnen nur als ein trauriger Schatz erscheinen, schließlich hatten sie selbst alles verloren. Ihre Heime waren gebrandschatzt, ihre Felder zertrampelt worden, man hatte ihre Töchter und Schwestern vergewaltigt und ihre Nachbarn niedergemetzelt. »Ich weiß es nicht. Aber eines weiß ich genau, meine Freunde: Wir werden alle sterben, wenn die Stärksten von uns nicht den Schwächsten helfen.« »Das ist für dich leicht zu sagen, schließlich hast du gegessen wie eine Königin und unter der Seide dieses Tiers geschlafen. Vielleicht hat er dich jetzt rausgeworfen, aber das ändert nichts an dem, was du vorher gewesen bist.« Sie deutete mit dem Stock auf ihn, legte die Spitze gegen sein Brustbein und übte genug Druck aus, dass er einen halben Schritt zurückwich. Niemand lachte oder sprach auch nur ein Wort. Sie alle schwiegen. »Es ist wahr, ich habe das gegessen, was er mir gegeben hat, und es war besser als alles, was ihr bekommen habt. Aber ich habe niemals unter seiner Seide geschlafen. Er hat mich 267 nie vergewaltigt.« Sie ließ den Stock sinken, hielt ihn aber weiterhin bereit, für den Fall, dass sie erneut zuschlagen musste. Dann drehte sie sich so herum, dass alle das Adlerzeichen sehen konnten, das sie trug. »Er hat es nicht gewagt, mich zu berühren.« Sie zögerte. Auf den Mienen der Umstehenden stritten Hoffnung und Zynismus miteinander. Was wussten diese Leute schon von kerayitischen Frauen und Schamaninnen, deren Körper eine Mischung aus dem einer Frau und dem einer Stute war? »Er hat es nicht gewagt, mich zu berühren, weil er sich nicht getraut hat, König Henry zu beleidigen. Denn was er mir antut, ist so, als würde er es dem König selbst antun. Er weiß, dass der König sich schließlich rächen wird. Dass er mich rächen wird. Uns alle.« Und das würde auch sie tun, bei Gott. In diesem Augenblick wusste sie, was sie zu tun hatte. Bulkezu hatte eines vergessen, als er sie aus seinem Zelt geworfen hatte. »Aber der König braucht unsere Hilfe. Und ich brauche eure.« Die Wachen hielten sie nicht auf, als sie am Waldrand Feuerholz sammelte, auch wenn es ihnen möglicherweise etwas verrückt erschien, dass sie an einem solch heißen Tag ein Feuer entfachen wollte - noch dazu, wo sie gar nichts besaß, was sie hätte braten können. Während sie die Zweige aufschichtete, brach die Dämmerung herein. Aus Wollfäden, die sie vom Ärmel ihrer Tunika abriss, fertigte sie eine Sehne, nahm einen biegsamen Zweig als Bogen, und als Zunder dienten Holzschnipsel und trockene Blätter. Ein mit einer Vertiefung versehenes Stück Holz bildete die Unterlage. Sie schlang die Sehne um einen Stock, schob das Stockende in den Zunder und drillte, bis die Reibung erst Hitze erzeugte, dann Rauch und schließlich Feuer entfachte. Flammen züngelten in die Höhe. Um sie herum hatten sich Gefangene versammelt- all jene, die noch stehen konnten und somit in der Lage waren, den Qumanern die Sicht auf das Feuer und Hanna zu nehmen. Der alte Mann begann, eine Geschichte zu erzählen. 268 »Beginnen wir mit der Geschichte von Sigisfrid, der das Gold der Hevelli errungen hat. Er wurde von einer Wölfin und einem Krieger geboren -« Hanna saß mit gekreuzten Beinen vor dem Feuer und ließ die Geschichte an sich vorüberziehen, trieb auf dem Fluss der Worte dahin. Unter Bulkezus ständigen Blicken hatte sie es nicht gewagt, die Adlersicht anzuwenden. Aber hier, bei den Gefangenen, hatte sie die Möglichkeit dazu. »Sieh nichts, nicht einmal die Flammen«, hatte Wulfhere ihr gesagt. »Es ist die Ruhe, die im Innern aller Dinge liegt, die uns verbindet.« »Liath«, flüsterte sie. Das Feuer waberte, und einen Augenblick lang sah sie die schwachen Schemen von Männern in Rüstungen, hörte sie das Klirren der Waffen. Der Anblick verlor sich jedoch rasch wieder im Fauchen der Flammen. Liath blieb vor ihr verborgen. War sie tot? Waren alle, die ihr etwas bedeuteten, tot? »Oh, Gott«, flüsterte sie, »wieso kann ich dich nicht finden, Ivar? Wohin bist du gegangen?« Ein neues Holzscheit ließ das Feuer wieder aufflackern, und blauweiße Flammen loderten heiß und hell. Bewegten sich da Frauen in den Flammen? Königinnen gingen unter einem Hügelgrab umher, die eine jung, die
andere alt, eine so golden wie die Sonne, aber sie streckten ihre leeren Hände aus, und an dem harten Glanz in ihren Augen erkannte sie, dass es die alten Göttinnen waren, die Jägerin, die Fette und die Zahnlose, die die Fäden des Lebens durchtrennt. Ivar war für sie verloren. Eine Weile saß sie in Kummer versunken da, während jemand anderer das Feuer nährte, sodass die Flammen wieder höher schlugen, sich wanden und prasselten. Sie ist die Eule, gleitet über die Baumwipfel und sucht nach derjenigen, die sie verloren hat. Der rauschende Wind trägt sie weit nach Osten, in das Land, wo das Gras so hoch steht wie ein 269 Mensch. Zwei Greifen jagen am Rande der Wüste, stürzen sich auf ihre Beute. Zelte leuchten in der Lerne, aber es ist die am Rand der Wüste entlang schreitende Lrau, die ihre Blicke anzieht. Hier, beim Volk der Bwr, benötigt Sorgatani keinen Schleier und auch keine andere Verhüllung. Während sie geht, unterhält sie sich lebhaft mit ihrer Gefährtin. Hanna hat niemals zuvor eine Bwr-Schamanin so deutlich gesehen: das glänzende graue Leu der Stute und die cremefarbene Haut der Lrau. Ihr Gesicht und der obere Teil ihres Körpers sind mit grüner und goldener Larbe bemalt. Die Ohren laufen spitz zu, und auf ihnen wachsen Büschel aus dicken, schwarzen Haaren; sie ragen aus den offen herabfallenden Haaren hervor, die sich wie silbernes Wasser bis zu der Stelle ergießen, wo ihr Rumpf von den Hüften einer Lrau in die Schultern einer Stute übergeht. Sie hält einen Bogen in den Händen; in das geschwungene Hörn sind blasse Drachen eingraviert. »Wieso können wir nicht angreifen?«, fragt Sorgatani stürmisch und gestikuliert dabei wild mit den Händen. »Er spuckt auf uns, indem er sie gefangen hält.« »Sie hatte die Gelegenheit, zu dir zu kommen«, erwidert ihre Gefährtin. »Jetzt erleidet sie das Schicksal, für das sie sich entschieden hat.« »Gibt es denn keine Möglichkeit, sie zu retten? Ist unsere Magie von so geringem Nutzen?« »Vergiss nicht, dass auch ihn Magie schützt.« Sie schüttelt den Kopf, wie es eine Geistliche beim Anblick der Ruinen ihrer einst prachtvollen Kirche tun mochte. »Wir sind nicht mehr, was wir waren. Die Pest hat unsere Anzahl deutlich verringert, jetzt ist die Zeit unserer größten Schwäche, also müssen wir vorsichtig sein. Wir dürfen uns nicht zu schnell enthüllen. Aber hab keine Angst-« Sie blickte auf, und ihr Blick war so scharf wie ein Pfeil. »Wer beobachtet uns?« In dem kurzen Augenblick, den sie benötigt, um tief ein- und 270 wieder auszuatmen, sieht Hanna Wulfhere, der sie mit gerunzelter Stirn durch die Flammen hindurch anstarrt. Er ist verschwunden, als hätte eine Hand ihn von einer Tafel gewischt. Lampen brennen, leuchtende Lichtpunkte innerhalb des tänzelnden Feuers. Eine vertraute Stimme spricht. Sie hat sie so oft gehört, dass es einige Zeit dauert, bis sie sich von der Überraschung erholt hat, nach all diesen Monaten Prinz Bayan sprechen zu hören. »Wenn es stimmt, dass Bulkezu entlang der Veser nach Norden reitet, was hält ihn dann davon ab, einen großen Bogen um diese Stadt zu machen und fröhlich weiterzuziehen, wie Prinz Sanglant sagt? Bulkezu kann eine kleine Streitmacht vor den Mauern lassen, und mit dieser Streitmacht kann er Herzogin Rotrudis täuschen, sodass sie glaubt, ihre Stadt würde belagert. Und dann, wenn sie es glaubt, wird sie ihm so lange nicht zusetzen, bis es für sie und Saony zu spät ist.« Dunstverschleierte Gestalten, zu undeutlich, als dass sie sie hätte erkennen können, bewegen sich im Feuer. Sie kann ihre Gesichter nicht ausmachen, aber den Mann, der jetzt spricht, erkennt sie augenblicklich. Es ist Sanglant. »Und er kann so viel Schaden anrichten, wie er will. Oder er könnte sich nach Westen wenden, noch bevor er Osterburg erreicht, und sich nach Kessal oder zum Rhaune-Kernland bei Autun begeben. In einem solchen Lall wäre es das Beste, wenn er nach Westen marschiert, bis er das Meer erreicht, und seine Wut an Salia auslässt.« »Was sollen wir Eurer Meinung nach tun, Prinz Sanglant?« Wieso haben sie sich versammelt? Wie viele sind es? Diese Stimme gehört ganz sicher Hauptmann Thiadbold von den Löwen. Aber andere verdecken die Sicht auf ihn, eine Horde grimmig dreinblickender Krieger, die einen Kriegsrat abhalten. Das Lampenlicht schießt grelle Lanzen quer durch ihr Blickfeld, und sie sieht nichts mehr, kann sie nur noch hören. »Ich schlage vor, wir marschieren so schnell es geht nach Osterburg und versuchen, es vor ihm zu erreichen.« 271 Seine Worte verklingen, als eine Hand sie an der Schulter packt und nach hinten zerrt. Kurz, ganz kurz nur, sieht sie ein schwarzhaariges Kind auf einem Bett aus Fellen schlafen, und es scheint, als würde eine Flamme im Herzen des Kindes brennen, blauweiß und beinahe ein lebendes Wesen, zuckend und zischend. »Liath«, flüsterte sie, schlagartig aus der Trance gerissen, als das Zischen lauter wurde. Sie fiel nach hinten, stützte sich mit den Händen ab. Cherbu saß auf der anderen Seite des Feuers und blies das Feuer mit einem Pfeifen aus. Flammen rollten sich zusammen und erstarben, verwandelten sich in rot glühende Kohlen. Asche senkte sich hernieder. Ein kühler Wind strich durch den Wald. In der Ferne war das verzweifelte Heulen eines Wolfs zu hören. »Ah.« Bulkezu kroch hinter sie und hielt sie an der Schulter fest. Dieses Mal würde er sie nicht gehen lassen,
bevor er nicht bekommen hatte, was er wollte. »Wo ist sie?« Die Gefangenen hatten sich zurückgezogen oder gaben vor zu schlafen. Hanna konnte es ihnen kaum übel nehmen, dass sie sie jenen überließen, denen sie nichts entgegenzusetzen hatten. Zweifellos waren sie glücklich, selbst einer Bestrafung entronnen zu sein. Die Nachtwachen standen ein Stück abseits, halb in der Dunkelheit verborgen. Dass sie sie überhaupt sehen konnte, lag nur an dem zunehmenden Viertelmond, der hoch über den Wipfeln am Nachthimmel stand. Unter dem nächststehenden Baum hing eine Vogelscheuche, schaukelte sanft hin und her. Nein, keine Vogelscheuche - ein Mann. Sie erkannte ihn an seiner Kleidung: Es war Boso. Man hatte ihn gehängt. Eine Eule rief, aber obwohl Hanna ihre Blicke suchend über die Umgebung des Gehängten schweifen ließ, fand sie keinerlei Hinweis auf den Vogel. Vielleicht war das Geräusch nur eine Halluzination gewesen, ein Nachhall der Vision, die sie durch das Feuer gesehen hatte. Vielleicht war es die Mischung aus Angst und Hoffnung, die 272 jene Halbwahrheiten sichtbar machte, durch die das Leben erträglicher wurde, wenn man ansonsten nur die Wahl hatte, sich niederzulegen und zu sterben. Bulkezu sprach wieder, und dieses Mal packte seine Hand fester zu. Sein Atem, durch Minze süß, strich an der Wange vorbei, die er zuvor geschlagen hatte. »Wo ist Liathano, die Zauberin, die ein solches Feuer hervorbringen kann, dass ein ganzer Palast niederbrennt?« Gefangen. Geschlagen. Vielleicht war alles nur ein Trick gewesen, um sie dazu zu bringen, das bisschen Macht zu enthüllen, das sie besaß, das Wissen, das man Adlersicht nannte. Sie beugte sich vornüber, um das Gesicht in ihren Händen zu verbergen. Sie wusste, dass ihre Schultern zitterten und bebten. Sie betete, dass er glaubte, das Bewusstsein der völligen Niederlage würde sie überwältigen. Sie bemühte sich, an Ivar zu denken, an die Art, wie er über seine eigenen Witze gelacht hatte, an die vielen Male, die sie in den Ästen der Liebeseiche gehockt und einen Korb Fichtennadeln über ihrem Bruder Thancmar und seiner Freundin ausgeschüttet hatten, an die Expedition zum Haus des alten Johan, wo sie die rotgrauen Hühner wieder eingefangen hatten, an die endlosen Wettrennen auf der Wiese, an das erste und einzige Mal, als er sie geküsst hatte, bevor Liath gekommen war, bevor Liath ihn unwissentlich in ihren Bann gezogen hatte. Als sie genug Tränen hatte, ließ sie die Hände sinken. »Osterburg«, flüsterte sie. »Sie ist in Osterburg.« IV In die Dunkelheit 1 Hörn war tot, und ihr Geist war in der Dunkelheit verschwunden. Als großes Jammern und Wehklagen ausbrach, bemühte sich Adica, ruhig zu bleiben. Hatte sie wirklich gesehen, wie Horns Seele sich himmelan gewunden hatte? Hatte sie tatsächlich Shu-Shas dröhnende Stimme vernommen? Hatten sie überhaupt irgendeine Chance, die Verfluchten zu besiegen, wenn die Geheiligte ihre Gefangene war? Alain kniete neben Horns Leiche, doch bevor er den schlaffen Körper berühren konnte, stieß ihre junge Nachfolgerin seine Hand weg. »Shu-Sha erbittet unsere Hilfe«, sagte Zweifinger. »Aber wie ist es möglich, dass sie uns über eine so große Entfernung hinweg durch Horns Körper gerufen hat?« Sie hatten keine Zeit, darüber nachzudenken. »Wir müssen uns beeilen, wenn wir die Geheiligte noch retten wollen«, sagte Adica. »Hörn sagte, es gäbe einen Pfad, den wir benutzen könnten.« Zwei von Horns Leuten traten vor und sprachen leise mit Laoi274 na. »Kommt«, sagte die Akka-Frau. Sie führte sie in einen Tunnel, an dessen Seiten Fackeln brannten. Zweifinger untersuchte Alains verletzte Hand im Licht der Flammen. Er schüttelte den Kopf und wölbte verwundert eine Augenbraue. »Sie heilt«, sagte er, bevor er sich zu Adica umdrehte und ihre Hand in seine nahm. »Webe gut, kleine Schwester.« Schon war er weg, und das Licht verschwand mit ihm. Vermutlich würde sie ihn niemals wieder sehen. Sie schnappte nach Luft. Die Dunkelheit war wie Klauen, zerrte an ihr, setzte sie der Furcht aus, die sie die ganz Zeit so energisch beiseite geschoben hatte. Sie bemühte sich, sie zu bekämpfen, sie wegzuschließen, damit sie sie nicht verraten konnte. In der Dunkelheit sprach Laoina in der Sprache von Horns Volk, und ein Mann antwortete. Sie übersetzte. »Diese Person ist gekommen, um uns zu führen. Wir müssen in das Herz der Erde hinabklettern. Dort liegen Pfade, die der Menschheit unbekannt sind, wo die Gebeugten leben. Das sind diejenigen, die uns auf unseren unsichtbaren Straßen zur Festung von Shu-Shas Stamm führen können.« Ein weiterer hastiger Dialog entspann sich, und Laoina fuhr fort. »Dieser Mann sagt, dorthin, wo wir hingehen, dürfen keine Hunde folgen. Wir müssen die Hunde zurücklassen.« Alain sprach, ohne seine Stimme zu heben. »Ich werde sie nicht zurücklassen.« Laoina seufzte tief, als der unsichtbare Mann antwortete. »Er sagt, dann musst du hier bleiben.« Würde Alain mit den Hunden zurückbleiben ? Adica verwarf den unangenehmen Gedanken sogleich. »Ich werde auch nicht gehen, wenn er es nicht tut. Wir müssen einen Weg finden, wie wir die Hunde mitnehmen können.«
Ein Streit entbrannte. Andere Stimmen beteiligten sich, flüsternde Stimmen, die die Dunkelheit zerschnitten. »Ihnen gefällt unsere Hartnäckigkeit nicht«, erklärte Laoina. »Sie sagen, sie kennen die Bergstraßen, du aber nicht. Sie fragen, ob du vorhast, alle zukünftigen Generationen der Menschheit zu 275 gefährden, nur um des Wohles zweier Hunde und dieses Mannes willen?« »Wer kann behaupten, dass sie nicht wichtiger sind, als wir beide es annehmen?« Ihre eigene Lehrerin hatte in diesem befehlenden Ton gesprochen, und viele Menschen in den Hirsch-Stämmen hatten es ihr übel genommen, hatten sie gleichzeitig deshalb gefürchtet. Adica hatte einen anderen Weg gewählt, doch jetzt griff sie auf das zurück, von dem sie wusste, dass es Erfolg haben würde. »Sollen wir einen Mann zurücklassen, der von einem Auge gesehen werden kann, das der sterblichen Welt gegenüber blind ist? Wenn er nur mit seinen spirituellen Führern gehen kann, dann ist das eben so. Findet einen Weg, wie es möglich ist, und findet ihn möglichst rasch.« Stille kehrte ein, gefolgt von Laoinas leiser Übersetzung. Schritte verklangen, unsichtbar. »Sie bitten um Vergebung, Geheiligte. Wir müssen hier warten, während sie das holen, was wir benötigen.« Alain legte seine Arme um sie. Sie ließ ihren Kopf an seine Brust sinken und schloss die Augen. Wenigstens für einen kurzen Augenblick wollte sie Frieden spüren. Er sagte nichts; er brauchte nichts zu sagen. Er würde bei ihr bleiben, bis zum Ende. Das war es, was die Geheiligte versprochen hatte. Kummer und Rage drängten sich gegen sie, schoben ihre feuchten Nasen zwischen die Perlenschnüre, sodass ihre Haut nass wurde. Laoina bewegte sich, klopfte mit dem Ende des Speers auf den Boden, während sie wartete. Der ungleichmäßige Rhythmus beruhigte Adica. Alains Körper fühlte sich so fest an. Er summte leise, geduldig wie der Wind. Wenn sie doch nur ewig in diesem einen Augenblick verweilen könnte, wenn doch nur alles, was vorher war, und alles, was nachher war, nicht existieren würde, sondern nur das Jetzt. Sie schlummerte ein, oder sie glitt in eine Vision; in der Dunkelheit war es schwer zu sagen. Sie betritt eine grelle Halle voller Licht. Menschen in farbenfrohen Kleidern drängen durch die Halle. Es sind so viele, dass sie sie 276 nicht zählen kann, weit mehr als all die zusammengenommen, die in ihrem Dorf leben. Wie kann ein einzelnes Gebäude so groß sein, dass es so viele Leute beherbergen kann? Ihre Sprache, ihre Lieder, die Teller, von denen sie essen, die Speisen, die in die Halle herein "und wieder hinaus getragen werden, all das überwältigt sie. Sicherlich ist sie in die Halle der Letten gefallen, die voller Überfluss ist. Sie hätte niemals gedacht, dass sie so verwirrend aussehen würde, ein Pfad ohne jeden Orientierungspunkt, mit dem sie etwas hätte anfangen können. Doch da wandert noch eine andere wie eine verlorene Seele durch die Halle, unsichtbar für alle anderen, die an diesem Festmahl teilnehmen. Zuerst glaubt sie, es ist eine andere Trau, nackt bis auf den Bogen, den sie in der Hand hält, und einen einzelnen Pfeil, der mit einer Phoenix-Leder befiedert ist. Nackt bis auf ihre Haare, die ihr wie ein Schleier über den Körper fallen. Ein Ring blitzt in blauweißem Feuer an ihrer Hand auf. Dann erkennt sie ihren Fehler. Es ist keine Frau, sondern ein Wesen aus Flammen, in dessen Herzen ein blaues Feuer brennt, das so leuchtet wie der lodernde Ring. Dann erkennt sie ihren Fehler. Die Fremde ist Frau und Feuer zugleich; beides kann nicht voneinander getrennt werden. Das warnende Gebell von Kummer weckte sie. Ihr linker Fuß war eingeschlafen. Sie trat kräftig auf, bis er aufhörte, zu kribbeln, dann dachte sie über den Traum nach. Sie konnte keine verborgene Bedeutung finden. Am besten war es wohl, ihn erst einmal ruhen zu lassen. »Kommt«, sagte Laoina. Sie gingen ohne Zuhilfenahme eines Lichts den Tunnel entlang, der sich gleichmäßig nach unten wand. Ein schwacher Schimmer glänzte an den Mauern - Pilze, die auf Felsbrocken wuchsen. Sie spendeten gerade genug Licht, dass sie ihre Füße und Hände sowie die Schemen der anderen sehen konnte. Ihr Führer war ein Mann, leicht bekleidet und gertenschlank. Der Tunnel endete abrupt am Rand eines Abgrunds, wo eine Leiter in der Spalte verschwand. 277 »Wie bekommen wir die Hunde da hinunter?«, fragte Laoina. Der Führer zündete zwei Fackeln an, bevor er ein Seil zum Vorschein brachte. Verschiedene Absätze unterbrachen die gewaltige Felswand, und sie waren durch eine Reihe von Leitern miteinander verbunden. Im schwachen Licht der Fackeln schien sich die Höhle noch weit über den erhellten Bereich hinaus auszudehnen. Es war eine mühsame Aufgabe, die Hunde von einem Absatz zum nächsten hinunterzulassen, insbesondere, da sie ihren Weg mit den Fackeln beleuchten mussten, die am Ende des Seils hingen und von denen in ungleichmäßigen Abständen brennende Aschefunken sowie Pechstücke herabfielen. Alain erledigte den größten Teil der Arbeit, und niemals klagte er über den Schmerz, den er in seiner noch nicht ganz verheilten Hand spüren musste. Adica half ihm, hielt das Seil fest, gab ihm Leine, nahm die großen Körper entgegen und ließ sie auf den schmalen Absatz hinunter. Einige von ihnen waren so schmal, dass keine zwei Personen nebeneinander stehen konnten. Ihre Arme taten weh, und ihr Rücken war ein einziger Gürtel aus Schmerz, als sie schließlich unten ankamen. Heiße Asche war ihr aufs Auge gefallen und brannte auf dem Lid. Immerhin waren die Hunde, die ihre missliche Lage möglicherweise spürten, so sanft wie Lämmer. Wenn sie nur auch so wenig gewogen hätten. Aber Alain hätte seine Hunde niemals zurückgelassen. Und er würde auch sie niemals verlassen.
Sobald sie alle sicher unten angekommen waren, löschte der Führer besorgt die Fackeln, als wäre Licht hier ein verbotener Luxus. Laoina murmelte ein Gebet, und Alain sprach leise in seiner eigenen Sprache mit den Hunden. Tief im Innern der Erde trocknete der Schweiß auf ihrem Körper, und sie zitterte, als eine Brise über ihr Gesicht strich. Sie war warm wie der Atem eines Drachen und auch so schwefelhaltig, und sie machte Adica schwindelig. Wenn sie auch nur einen einzigen Augenblick an den Berg dachte, der über ihnen war, würde sie in Panik ausbrechen. Wie konnte die bloße Luft den schweren Fels halten, das Gewicht all dieser 278 ganzen Erde? Sicherlich würde alles über ihr zusammenbrechen. Ihr Kopf fühlte sich ganz benebelt an. Lichtblitze erschienen vor ihr und verwirrten sie. Als einer dieser leuchtenden Blitze die Dunkelheit erhellte, sah sie in der Ferne den Führer vor dem Felsen knien, als würde er beten. Er machte eine seltsame Geste mit einem Arm. Glockenschläge erklangen, hoch und süß. Licht überflutete die Spalte. Sie beschattete die Augen und blinzelte heftig. So abrupt, wie es gekommen war, verschwand das Licht auch wieder. Die Hunde bellten. Jemand prallte gegen sie. »Geheiligte.« Der Ehrentitel klang in jeder Sprache ähnlich, selbst wenn er so voller Furcht ausgestoßen wurde, wie das jetzt der Fall war. Er schob ihr ein Armband über Hand und Ellenbogen, bis hinauf zum Oberarm. »Er sagt, du musst es der Kreatur geben, die aufgrund der Beschwörung auftauchen wird, und ihr von Horns Wünschen erzählen.« Laoinas Stimme zitterte, als sie übersetzte. Adica hatte sie niemals so ängstlich erlebt. »Dann müssen sie das tun, was Hörn gewollt hat. So lautet die Abmachung.« »Was für eine Kreatur -?« Er eilte davon, ohne ihr eine Antwort zu geben. Sie hörte ihn die Leiter hinaufklettern. »Er hat uns verlassen«, flüsterte Laoina heiser. »Wovor hat er Angst?«, fragte Alain in der Dunkelheit. Die Luft um sie herum begann zu wirbeln, als unsichtbare Dinge, die in Bewegung gesetzt worden waren, sich manifestierten. Der schwefelhaltige Atem des unterirdischen Windes blies ihr heiß ins Gesicht, und sie hustete, bis ihre Augen tränten. Licht erblühte. Der Glanz kam teilweise von dem Armband, das sie trug - das gleiche wie das, welches sanft an Alains Arm glänzte. »Skrolin«, flüsterte sie. »Seht nur!« Laoina stand deutlich sichtbar im weichen Licht. Die Perlen in ihren Zöpfen glitzerten unheimlich. Sie deutete auf 279 einen niedrigen Tunnel, dessen Oberfläche so glatt wirkte und der so vollkommen eiförmig war, dass Adicas blanke Furcht ihr regelrecht einen Schlag in die Magengrube versetzte. Dies war kein natürlicher Tunnel. Jemand hatte ihn geformt. Kummer und Rage knurrten; sie standen steif da, die Ohren wachsam aufgestellt. Licht drang aus dem Tunnel. Doch es war kein Mensch, der eine Lampe hielt, und es war auch keine Flamme, die den Menschen oder ihren Geweihten bekannt gewesen wäre, was da in der Kugel leuchtete, die dem Wesen vom Gürtel hing. Laoina ließ sich auf die Knie fallen. Die Hunde wollten schon einen Satz machen, aber Alain packte sie an den Halsbändern und riss sie mit aller Kraft und fluchend zurück. Adica hatte so viele Wunder gesehen, dass auch eines mehr sie nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen vermochte. Seit sie ein Kind gewesen war, wusste sie, dass viele seltsame und unbekannte Wesen die Erde bevölkerten und dass die Menschen noch nicht lange hier existierten. Sie hatte ein Skrolin gesehen, als sie entführt worden war, aber sie war ihm niemals so nah gekommen wie jetzt. Die groteske Gestalt blieb vor ihnen stehen. Sie war gebeugt und knotig, und sie hatte keine Haut, wie sie bei Menschen üblich war. Sie hatte aber auch nicht die Haut von Echsen und Schlangen, die auf dem Boden herumkrochen. Ihre Haut glänzte auf die gleiche Weise, wie Granit glänzte, wenn das Sonnenlicht darauf fiel; lepröses Wachstum, das kristallinen Felsen oder Salzkegeln ähnlicher war als einer schuppigen Flechte, hatte die Haut befallen. Die hellen Ausbuchtungen, die seine Augen sein sollten, wurden abwechselnd dunkler und heller, als würden Nebel in ihnen wallen. Die Gestalt trug eine Reihe von Glöckchen und Amuletten mit sich herum, die leise klangen und klirrten, als die sphärische Lampe am Ende der Kette hin und her schwankte. Sie fand ihre Stimme wieder. »Wir kommen von meiner Schwester, die als Hörn bekannt ist.« Sie streckte die Hand aus, um das Armband zu zeigen. Ohne jede Erklärung drehte sich die Kreatur um und ging mit schaukelnden Schritten zurück in den Tunnel. 280 »In diesem Land lebt so viel, das mir unbekannt ist«, murmelte Alain. Als das Licht schwächer wurde, folgten sie dem Wesen in den Tunnel mit der glatten Oberfläche. Adica hatte noch nie einen Weg gesehen, der so gerade verlief und so leicht zu bewältigen war. Die Kreatur, die sie führte, blickte kein einziges Mal zurück. Sie gingen lange so weiter, bis ohne jede Vorwarnung der Tunnel an einem mit einem Geländer versehenen Absatz endete und sie gezwungen waren, abrupt stehen zu bleiben. Nichts in ihrem Leben, keine ihrer Erfahrungen, nicht einmal der eine Blick, den sie Jahre zuvor auf die große Stadt der Verlorenen geworfen hatte, hätte sie auf diesen Anblick vorbereiten können. Die Skrolin lebten
keineswegs in dumpfen, dunklen Höhlen unter der Erde, sondern in einer Stadt, die so gewaltig und raffiniert war, dass die großen Tempel, Paläste und Gärten der Verlorenen wie die unbeholfenen Modelle von Kindern wirkten. So, wie Mäuse ein Tunnelgewirr in einen runden Hartkäse knabberten und das Herz des Käses auf diese Weise öffneten, hatten auch die Skrolin ihre Stadt aus und in dem Fels selbst errichtet, der das Herz der Erde bildete. Ihr Führer fingerte an einer Reihe von Höckern und Furchen herum, die in das Geländer eingelassen worden waren; ein Tor schwang auf und enthüllte eine Treppe, die in den Fels gehauen war. Sie stiegen diese Stufen hinab in ein Labyrinth aus Säulen und Bögen, die mit Edelsteinen verkleidet waren. Kavernen reihten sich aneinander, als hätte eine uralte Hand eine Kette aus Höhlen gewebt. Es gab keine einzige Oberfläche, die nicht poliert gewesen wäre, und in jede senkrechte Wand waren so viele Muster und Markierungen eingraviert, dass sie es für eine Sprache hielt, die mit den Fingern gelesen werden konnte. Und in der Tat behielt der Führer stets mit einer Hand Kontakt mit der Oberfläche, und in einem verzwickten Muster rieb er mit seinen Fingern daran und klopfte darauf. Sie waren noch nicht weit gegangen, da wurden sie zu einem Gefäß geführt, das wie eine riesige Muschel aussah, blank gescheuert 281 und mit wie Perlen schimmernden Bänken ausgestattet. Sie mussten alle drei mit anpacken, um die Hunde hochzuhieven, dann kletterte Adica unsicher hinterher. Ihr Führer hüpfte mit unerwarteter Anmut über den hohen Rand und nahm am Stiel des Gefäßes Platz. Das Gefäß hob vom Boden ab. Laoina entfuhr vor Überraschung ein leiser Schrei. Alain keuchte heftig, als er sich an seinen Hunden festhielt. Adica presste die Lippen zusammen, damit kein Laut über sie dringen konnte; sie wollte ihren Führer nicht auf den Gedanken bringen, dass sie, eine heilige Frau, voller Ehrfurcht vor ihrer Magie erstarrte. Aber das tat sie: Sie war benommen und sogar etwas erschreckt, als das Gefäß durch die höhlenreiche Stadt trieb. Sie schien sich endlos hinzuziehen; gewundene Korridore wechselten sich mit langen, dunklen Tunneln ab, die sich immer wieder in Abständen zu Höhlen öffneten, die aus tausenden von prickelnden Lichtern bestanden oder von Gold- und Kupferadern durchzogen waren. Hier präsentierten sich Mysterien und Macht in einem solch gewaltigen Ausmaß, dass sie es gar nicht begreifen konnte. Wie hatte sie jemals die Verfluchten für mächtig halten können? Sie waren wie Kinder, verglichen mit dem hier. Der Führer richtete seine Augen - wenn es denn Augen waren - noch immer nicht auf sie. Nicht einmal ihre Ehrfurcht interessierte ihn. Dennoch fühlte Adica sich beobachtet. Die vielen Verzierungen, die kleinen Metallstücke, die silbernen Stangen, die goldenen Plättchen, die immer wieder aufblitzten und strahlten, wenn irgendein Licht auf sie fiel, schienen irgendwie auf der Hut zu sein. Adica spürte Magie in ihnen, ein stummes Leben, das zwar ein Bewusstsein besaß, aber nicht sprechen konnte. Ein paar der Skrolin, an denen sie vorbeikamen, hielten inne und betrachteten sie wie eine Kuriosität, aber die meisten eilten weiter, ohne sich um sie zu kümmern. Sie sah niemanden von ihnen einer Arbeit nachgehen, die sie gekannt hätte: Niemand schabte Felle, nahm Fisch aus, flocht Körbe, formte Töpfe oder schnitzte Werkzeuge aus Obsidian. Sie sah nichts, was der Magie der Schmiede geähnelt 282 hätte, die mit brausendem Feuer arbeiteten, während sie Zauberei in Kupfer und Zinn verwandelten. Sie sah keine Felder, keine Herden, aber als sie schließlich an einen riesigen Fluss gelangten, dessen Ufer aus dem Fels geschnitten worden waren, sah sie etwas, das sie endlich einordnen konnte, etwas, das sie kannte. Aber es besaß solche Ausmaße, dass es ihr den Atem verschlug. »Wirklich«, murmelte Laoina; sie drückte ihre Hände so kräftig aneinander, dass die Knöchel weiß wurden. »Es gibt wesentlich mehr auf dieser Welt, als ich mir jemals hätte träumen lassen.« Adica wusste sofort, wann sie einen Marktplatz vor sich hatte. Der Holzmarkt war der Umschlagplatz für alle Stämme des Hirsch-Volkes; dreimal im Jahr trafen sie sich zu den großen Festen. Hausierer und Kaufleute konnten tagelang oder sogar ganze Wochen beim Sonnenfest ausharren, wenn die Leute von der Arbeit auf den Feldern oder bei den Herden befreit waren und Zeit zum Handeln hatten. Einmal, als Adica noch ein Kind gewesen war, waren die Leute vom Pferde-Volk zum Mittsommernachts-Markt gekommen. Ihre Zelte und Wagen hatten einen riesigen Markt gebildet, wie sie noch nie einen gesehen hatte, exotisch und farbenprächtig, und die Leute waren sehr lange dort geblieben, länger noch als die üblichen sieben Tage. Doch kurz danach hatten die Überfälle und Plünderungen der Verlorenen begonnen, und das Pferde-Volk war nie wieder so weit nach Westen gereist. Adica hatte außerdem den lebhaften Markt von Shu-Shas Stadt gesehen, bevor sie von den Verlorenen in Brand gesteckt worden war, und sie hatte, aus der Ferne, den großen Sklavenmarkt gesehen, wo die Verfluchten menschliche Sklaven kauften und verkauften. War es möglich, dass all jene Märkte lediglich ein Abglanz dieses einen Marktes waren? Hier, entlang des Flusses, erstreckte sich ein aus Stein gehauener Markt, eine lange Allee, die an der einen Seite an eine raffiniert gepflasterte Straße grenzte und an der anderen an den Fluss. Denn der Fluss selbst war ebenfalls eine Straße, und zwar für jene, die darauf oder darin so einfach reisten, wie die Menschen Straßen und Wege benutzten. 283 Die Skrolin handelten mit dem Mervolk. Konnte es sein, dass die Skrolin und das Mervolk ohne jede Erkenntnis
dessen lebten, was jenseits des Wassers und der Höhle war? Sie konnte nicht sehen, was für Waren von einer Hand in die andere gelangten; das Gefäß verlangsamte seine Fahrt nicht, es sei denn, um der Menge auszuweichen, die immer wieder die Straße überquerte, auf der noch andere Gefäße vorbeiglitten. Ein langer Kai, an der Flussseite mit Muscheln und Mosaiken geschmückt, an der Landseite voller Bögen und Säulen in Form von Drachen, kennzeichnete die Stelle, wo beide Völker sich trafen. Rinnen waren in den Kai geschnitten worden, in denen sich die Merwesen aufhalten konnten. Die aalähnlichen Haare wanden sich lässig um ihre Köpfe. Die Skrolin, die gegenüber den schlanken, feuchten Gestalten der Merwesen ziemlich trocken und verkrustet wirkten, hockten auf ihren platten Beinen bequem an niedrigen Tischen und Becken, auf und in denen die Waren präsentiert wurden, wie es schien. Das einzige Licht, das diese Szenerie erhellte, stammte von dem Stein selbst, und es war so diffus und kalt, dass es sich trüb anfühlte, als würde man durch Wasser sehen. Auf eine gewisse Weise wirkte die Szenerie durch das verschleierte Licht mehr wie ein Traum denn wie Realität; ebenso wie die Stadt, die sie unter Wasser gesehen hatten, war das alles zu seltsam, als dass sie es hätten begreifen können. Adica hätte den Marktplatz unmöglich entlanglaufen können, ohne danach vollkommen erschöpft zu sein, aber schließlich kam er zu einem Ende. Alain hatte kein einziges Wort gesagt; er starrte nur vor sich hin, während Laoina leise Verwünschungen und Gebete ausstieß. Das einzige Geräusch, das der Skrolin-Führer verursachte, war das Klingeln des Schmucks, der von seinem Körper hing. Schließlich wandten sie sich vom Fluss ab und gelangten zu ruhigeren Orten, hielten dann an einer Stelle an, die von dunklen Schatten umgeben war. Ihr Führer stieg vor einem einfachen, lang gestreckten Steingebäude aus. Ein zweites Skrolin trat aus dem 284 Gebäude. Die beiden unterhielten sich, indem sie sich gegenseitig auf den Körper klopften, aber es ging so rasch, dass Adica bei dem schlechten Licht die einzelnen Bewegungen ihrer Finger nicht ausmachen konnte. Dann scheuchte ihr Führer sie aus dem Gefäß, beinahe wie verhasste Ratten, die man aus einem sauberen Haus fegt, bevor er wieder hineinkletterte und in der Dunkelheit verschwand. »Ihr seid die Tiere, die in der Blendung leben.« Die Stimme des Skrolin knirschte wie Steine, die aneinander gerieben wurden. Die Worte kamen unbeholfen heraus, und obwohl das Wesen in der Sprache von Horns Volk sprach, hatte Laoina große Mühe, es zu verstehen. Aber keine Wandelnde hatte auf Dauer Erfolg, wenn sie nicht ein gutes Gehör besaß. Welche Angst, welche Ehrfurcht Laoina auch verspürte, sie tat, was von ihr erwartet wurde. »Wir sind keine Tiere, sondern Menschen, genauso wie ihr.« Adica zeigte ihm das Armband, dann berührte sie die anderen Edelsteine, die sie trug, um ihm zu zeigen, dass auch ihr Volk die Fähigkeit besaß, Dinge herzustellen. »So lautet unsere Abmachung - dass wir euch wegen des Kindes, das verloren war, helfen müssen.« Mit einer zierlichen Klaue strich das Wesen über das Armband. »Was wollt ihr von uns? Sagt es mir rasch, und wir geben euch, was ihr braucht, damit ihr uns wieder verlassen könnt.« »Wir benötigen Durchgang zum Land des Stammes von Shu-Sha, das an das Land der Verfluchten grenzt.« Ohne Vorwarnung drehte das Skrolin sich um und schlurfte in das Steinhaus. Als Adica ihm folgen wollte, schlug ihr die Tür vor der Nase zu, und es war kein Riegel oder Griff zu sehen, an dem sie sie hätte öffnen können. Die Oberfläche war so glatt wie Holz und hatte gleichzeitig die Körnigkeit von Felsgestein, aber sie vermutete, dass es weder das eine noch das andere war. »Mit solchen Verbündeten könnten wir die Verfluchten sicherlich besiegen«, sagte sie. »Ich habe von all dem hier nicht das Geringste gewusst«, wie285 derholte Laoina wie benommen. »Und ich dachte, ich würde so viel wissen! Wie mächtig ihre Götter sein müssen, dass sie über einen solchen Platz wachen!« »Es gibt nur einen Gott, der weiblich und männlich in Einigkeit ist«, erklärte Alain. »Sie sind es, die alle Wesen und alle Orte erschaffen. Selbst diesen hier.« Laoina schnaubte. Es war ein alter Streit, einer, den die beiden schon häufiger geführt hatten. »Ich habe diesen Gott noch nicht gesehen. Wo hast du ihn, oder sie? In deiner Tasche? In deinem Ärmel?« »Gott sind überall. So, wie Gott ein Teil von jedem und jeder von uns und der Welt sind, sind wir in der Welt ein Teil von Gott.« Bevor Laoina darauf antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen, und das Skrolin winkte sie zu sich. »Kommt.« Mit seinem schlurfenden Gang führte er sie in das Haus und eine Treppenflucht hinab. Schon bald wurde es so dunkel, dass sie sich ihren Weg die Stufen hinunter ertasten mussten; Alain, der den Hunden half, fiel etwas zurück. Das Skrolin schien nicht sehr geneigt, sein Tempo an ihre Unbeholfenheit anzupassen, aber gerade, als Adica sein Schlurfen und Keuchen nicht mehr hören konnte, blieb es stehen, damit sie es einholen konnten. Sie hatte die Stufen nicht mitgezählt und wusste nur, dass ihre Oberschenkel und Knie schmerzten, als sie unten angekommen waren. Sie standen in einer riesigen Kammer, in der lautes Dröhnen zu hören war. Ein heißer Windstoß fuhr ihr ins Gesicht. Sie war vollkommen blind. Eine Klauenhand strich über ihren Arm und drängte
sie dann unerwartet vorwärts. Sie prallte gegen eine glatte Wand, stieß sich die Knie an einer Bank und setzte sich ruckartig hin. Laoina stieß gegen sie und fluchte. Dann begannen die Hunde zu bellen. »Alain!« Lautes Dröhnen und Klirren erstickten seine Antwort. Die Wände summten. Ein Ruck ließ sie gegen die Wand prallen. Einer der Hunde versuchte, auf sie zu klettern, grub seine Pfote in ihren Oberschenkel. Mit Mühe konnte sie den Hund von sich weg286 stoßen. Sie tastete mit der Hand umher, packte Laoina an der Achselhöhle und versuchte sich zu erheben, plötzlich in Panik. Dann fand Alain sie und sank neben ihr auf die Bank. Er nahm sie fest in den Arm. »Das Armband ist weg«, flüsterte sie. »Sie haben es mitgenommen.« »Ich habe meins noch, aber es geht kein Licht davon aus.« Nach einer Weile, während sie stumm warteten, begriffen sie, dass sich nichts geändert hatte. Der Boden schwankte leicht und gleichmäßig, als ob sie auf einem Boot wären, aber sie hörten keine Wellen schlagen. Es war zu dunkel, um irgendetwas sehen zu können. »Sind wir auf dem Meer?«, fragte Laoina schließlich leise. »Ich glaube nicht.« Adica versuchte, etwas über ihre Umgebung in Erfahrung zu bringen, indem sie sie mit den Händen ertastete. Sie mochten sich genauso gut im Innern einer riesigen Eichel befinden; sie fand nicht die geringste Spur von einer Tür, einem Gatter, einem Dachbalken oder einem Fußboden. Sie spürte lediglich, dass die Wände aus unbekanntem Material bestanden und ebenso unbekannte Muster trugen. »Wir sitzen in der Falle.« »Nein, sag das nicht«, wandte Alain ein. »Wir sollten warten. Wir können ein bisschen schlafen und dafür sorgen, dass wir unsere Kräfte zurückerlangen. Vielleicht erkennen wir dann deutlich, was uns jetzt dunkel erscheint.« »Ein guter Ratschlag«, stimmte Laoina zu. »Auch wenn er von einem Mann kommt, dessen Gott in seinem Ärmel steckt.« Alain lachte. Sein Gelächter machte die Dunkelheit leichter erträglich, auch wenn sie sich nicht wirklich veränderte. Sie teilten das Wasser und den restlichen Proviant unter sich auf. Danach versuchte Adica möglichen Geräuschen zu lauschen, während Laoina sich hinlegte, um etwas zu schlafen. Die Atemzüge der Akka-Frau wurden langsamer und tiefer. Die Hunde hechelten noch eine Zeit lang und begannen dann zu schnarchen. Geheimnisse lauerten verborgen im Dunkel, wo sie eitern und 287 verrotten konnten. War es nicht besser, bei der Wahrheit zu bleiben, so hart sie auch war? »Ich werde sterben«, murmelte sie. Sie fand Alains Körper und zog ihn an sich. »Nein, das wirst du nicht! Die Geheiligte hat mich geschickt, um dich zu beschützen. Ich werde dafür sorgen, dass du das hier sicher überstehst und das große Weben durchführen kannst, von dem du mir erzählt hast. Glaubst du nicht, dass ich das kann?« Ihre Wange ruhte an seiner Schulter, gleich unterhalb der Kehle. Tränen traten ihr in die Augen und liefen über seine Haut. »Natürlich glaube ich das, mein Liebling. Natürlich kannst du das.« Sie konnte nicht weitersprechen. Die Trauer erstickte sie. Seine Hände tasteten nach den Knoten, die ihr Oberteil zusammenhielten, und fanden sie. Dunkelheit und Stille verliehen ihren Berührungen eine ganz besondere Intensität, genau wie es auch Wut und Trauer taten: Wut auf das Schicksal, das ihr ein Leben mit ihm unmöglich machte; Trauer über den Verlust, den sie erleiden würde. Es war nicht der Tod, um den sie sich Gedanken machte, sondern das Wissen, ihn zu verlieren. Sie hatte gelernt, sich allein zu fühlen, auch in der Zeit, als sie noch mit Beor verheiratet gewesen war. Aber wie einsam ihr Leben wirklich gewesen war, hatte sie erst begriffen, als Alain zu ihr gekommen war. Seine Finger fanden und liebkosten ihre Brust, als sie ihm die Tunika über die Schenkel schob und seine Beine spreizte. Sie schwankten auf und ab, verfielen in den pulsierenden Rhythmus des unter ihnen erzitternden Bodens. Kleidung schob sich zusammen und fiel zu Boden, während sie sich bewegten. Sie packte seine Haare und bog seinen Kopf nach hinten, um ihn zu küssen. Könnte der Augenblick doch ewig verweilen. In ihren Träumen sieht sie wieder die Feuer-Frau sich nach vorn drängen, drängen, drängen. Sie versucht, sich durch die glitzernde, goldschimmernde Menge hindurchzuzwängen, die wie summende und stechende Bienen um sie herumschwärmt. 288 »Lasst mich vorbei!«, ruft die Feuer-Frau wie wahnsinnig. »Ihr dürft ihr das Zepter der Skopos nicht geben. Ihr dürft ihr nicht trauen!« Aber sie kommt nicht durch. Sie bemerken nicht einmal, dass sie da ist, was ziemlich erstaunlich ist, angesichts der Art, wie sie brennt. Die Halle, in der sie stehen, erstreckt sich in schier unmöglicher Weise in die Länge und Höhe. Auf einer leicht erhöhten Plattform am anderen Ende der Halle stehen in goldene Stoffe gehüllte Gestalten; sie wirken, als wären sie nur halb so groß wie normale Menschen. Aber das könnte auch eine Täuschung des Lampenlichts sein. Vielleicht ist alles eine Täuschung. Träume und Visionen können ebenso falsch wie wahr sein. Aber Adica weiß tief in ihrem Innern, dass es eine wahre Vision ist. Doch sie weiß nicht, wieso es eine Rolle spielen könnte oder
wo genau in der Mittleren Welt sie sich befindet - sofern sie sich überhaupt in der Mittleren Welt befindet. Sie ist überrascht, dass sie ihren Stab in der Hand hält, und hebt ihn hoch. »Komm, Schwester«, ruft sie, »verzweifle nicht.« Der besorgte Ausdruck auf dem Gesicht der Feuer-Frau berührt sie zutiefst. Auch sie hat Sorgen und Einsamkeit erfahren. »Es gibt gewöhnlich auf alles eine Antwort, wenn man nur weiß, wo und wie man suchen muss.« Augen, die so blau wie reiner Lapislazuli sind, weiten sich erschreckt. Dieses Mal dreht die Feuer-Frau sich um, und sie sieht sie. 2 In der sechsten Sphäre gab es immer reichlich zu essen, und alles erstrahlte im goldenen Licht des Überflusses eine höfliche Geste der Kaiserin der Freigebigkeit, die vor langer Zeit als Göttin Mok bekannt gewesen war. Liath jedoch wurde vom ersten Augenblick an, da sie die Festhalle des weltlichen Herrschers im Palast von 289 Darre betreten hatte, von Verzweiflung erfasst. König Henry erhob sich gerade, als sie eintraf, und brachte einen Toast auf jene Frau aus, die eine Woche später die Position und die Gewänder der neuen Skopos - der Heiligen Mutter aller gläubigen Daisaniten -übernehmen würde. »Beten wir also zu Gott und danken wir ihnen, dass sie uns eine Skopos bescheren, die wegen ihrer Weisheit, Frömmigkeit und edlen Herkunft geachtet wird.« Wie konnten sie nur Anne zur Skopos krönen ? Wie konnten sie ihr nur trauen, wo sie doch die größte Gefahr von allen darstellte ? Und wie konnte sie sie aufhalten, wo doch nicht eine einzige Seele in der Halle ihre Anwesenheit spürte? Sie drängte sich durch die feiernde Menge hindurch an die Seite von Schwester Rosvita, die früher einmal für sie eingetreten war. Aber obwohl die gute Geistliche eher nachdenklich als erfreut dreinblickte, eher besorgt als fröhlich, konnte Liath nichts tun, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der Geistliche neben Rosvita, der immer wieder sarkastische Bemerkungen von sich gab, strich nur kurz mit der Hand über die Schulter, als wollte er eine Fliege verscheuchen, als Liath an seinem Gewand zupfte. Sie wagte es nicht, zum hohen Tisch zu gehen, wo Hugh einen Ehrenplatz zwischen Königin Adelheid und der neuen Skopos eingenommen hatte. Hugh würde ihr keine Beachtung schenken; er hatte schon Adelheid und Henry umgarnt. Offensichtlich war er Annes bevorzugter Verbündeter geworden - obwohl Anne wusste, wie schlimm er war, denn sie hatte gesehen, wie ihre eigene Tochter von ihm missbraucht worden war. Hatte Anne möglicherweise absichtlich zugelassen, dass er Pas Buch der Geheimnisse stahl? Hatte sie die ganze Zeit über geahnt, was aus ihm werden konnte, und vorgehabt, ihn für ihre eigenen Zwecke zu benutzen ? Oder war es Hugh, der Anne benutzte? Spielte es überhaupt eine Rolle? Hughs Ziele jedenfalls konnte Liath verstehen: Er wollte Wissen und Macht. Alles, was für Anne Bedeutung hatte, war die Vernichtung der Ashioi. 290 Liath wusste nicht, wie sie es schaffen sollte, sie ohne Verbündete aufzuhalten. »Komm, Schwester. Verzweifle nicht. Es gibt gewöhnlich auf alles eine Antwort, wenn man nur weiß, wo und wie man suchen muss.« Sie drehte sich um. Die Frau, die ihr gegenüberstand, war offensichtlich menschlich, nicht sehr groß, aber auch nicht besonders klein. Sie hatte schwarze, ordentlich geflochtene Haare, ein breites Gesicht und einen üppigen Mund, und an ihrer einen Wange war eine bleifarbene Brandnarbe zu sehen. Aber sie war äußerst primitiv gekleidet, trug ein eng sitzendes Oberteil aus Kuhleder mit einem bestickten Ausschnitt und Ärmeln, die bis zu den Ellenbogen reichten, ferner einen Rock aus gerippten Bändern, der ihre Oberschenkel enthüllte, wenn sie sich bewegte. An den Handgelenken trug sie Kupferarmbänder, in die ein Hirschkopf eingraviert war. Das Metall glänzte und blinkte, wenn das Lampenlicht darauf fiel, und Liath musste blinzeln, erkannte die Frau schließlich. »Ich habe dich vor einem Kessel knien sehen. Wo ist Alain? Lebt er, oder ist er tot?« Die Frau zitterte, als eine kühle Brise an ihr vorüberstrich, dann machte sie eine komplizierte Geste über der Brust. Sie wirkte einen Zauber, um die bösen Geister fern zu halten. »Er lebt. Er ist mein Mann.« »Er lebt!«, murmelte Liath, und Hoffnung glomm in ihr auf. »Zumindest ist er frei und lebt.« »Die Geheiligte hat ihn mir vom Land der Toten gebracht. Ist das hier dieses Land?« Die Frau deutete auf die vielen Leute, die sich zum Festmahl versammelt hatten und die bevorstehende Amtseinsetzung feierten. »Nein«, sagte Liath verbittert. »Dies ist das Land unter dem Mond, aber ich kann es nicht erreichen. Ich kann sie nicht davon abhalten, etwas zu tun, das sie nicht tun dürfen.« »Ich verstehe nicht«, gestand ihre Kameradin. Sie trat näher zu ihr heran. »Ich dachte, dies hier wäre das Reich der Fetten.« 291 »Ein solches Land kenne ich nicht.« »Natürlich kennst du es. Die Fette ist die Spenderin aller Dinge - Schmerz und Tod, Reichtum und Vergnügen. Siehst du ihre Hand nicht ebenfalls an diesem Ort, der halb im Licht und halb im Schatten liegt?« »Wer bist du? Woher kommst du? Wo ist Alain jetzt?« »Ich heiße Adica und bin die Geheiligte des Hirsch-Volkes. Ich komme aus dem Land der Lebenden, aber jetzt
wandle ich im Land der Träume und Visionen, ebenso wie du. Alain schläft neben mir im Herzen des SkrolinLandes, tief unter der Erde.« »Jetzt bin ich diejenige, die nicht versteht«, erwiderte Liath. Ein Hornsignal erklang. Die Halle erzitterte wie sich sanft im Wind wiegende Vorhänge, als ein volles, goldenes Licht sich über die Szenerie ergoss und dann zusammenbrach, als würden die Tage in sich zusammenfallen. War die Welt untergegangen? Drehte sich der Gürtel? Liath taumelte benommen, hielt sich an der Hand ihrer neuen Kameradin fest; still wie Geister standen sie in der schlichten, mit dunklem Holz getäfelten Halle, die voller Leute war. Der leere Thron der Heiligen Mutter stand auf einem kleineren Podest aus mit Edelsteinen verziertem Elfenbein, das sich wiederum auf einem größeren Holzpodest in Gold und Rot befand. Eine Prozession bahnte sich ihren Weg durch die Menge: Presbyter in Seidenumhängen, Rauchfässer schwenkende Geistliche; die in Wolken aufsteigenden stechenden Weihrauchdämpfe bereiteten Liath Kopfschmerzen, Bouquets aus Rosen und Lilien umrankten den Fuß der Stehlampen und schmückten die geschlossenen Fensterläden. Anne trat nach vorn, begleitet von Hugh und drei anderen Presbytern, die deutlich älter waren als er. Sein Glanz stellte sie ebenso in den Schatten wie die Sonne den Mond. »Oh, Gott«, sagte Liath verzweifelt. »Ich darf nicht zulassen, dass sie einen solchen Fehler machen. Aber ich bin hier gefangen, denn ich wandle in den Sphären und bin nicht wirklich in Aosta. Ich kann sie jetzt nicht aufhalten.« 292 Adica hatte zwar ein ernstes Gesicht, aber ihre Miene war so freundlich, dass Liath über ihre nächsten Worte regelrecht entsetzt war - so liebenswürdig sprach sie sie aus. »Aber wenn sie dich und dein Volk bedroht, musst du alles Nötige tun, um sie aufzuhalten. Kannst du sie nicht töten?« »Selbst wenn ich die Macht dazu hätte, könnte ich es nicht«, flüsterte sie. »Es wäre unnatürlich.« Als Anne die Stufen erreichte, die zum ersten Podest führten, traten ihre vier Begleiter beiseite. Nur die Skopos durfte den Fuß auf die Elfenbeinstufen setzen, die zum Stuhl der Heiligen Mutter führten. Als sie die oberste Stufe erreicht hatte, drehte sie sich um und ließ ihren Blick über die Menge schweifen. Liath sah deutlich die Ähnlichkeit ihres ernsten Gesichts mit der Totenmaske ihres Großvaters, die in der Kapelle von Autun zu sehen war. Wer immer Taillefers liegende Statue gesehen hatte, kam nicht umhin, die Ähnlichkeit zu bemerken. Hier stand seine verlorene Erbin in Fleisch und Blut, Kind seines Sohnes, der im Verborgenen aufgezogen worden war, um ihm einen vermutlich tödlichen Wettstreit um den kaiserlichen Thron zu ersparen. Wenn Anne jetzt Skopos, also das Oberhaupt der heiligen Kirche war, wer von ihnen war dann mächtiger Henry oder Anne ? »Ist das Töten so unnatürlich, wenn wir Hirsche jagen, um uns zu ernähren ? Ist das Töten so unnatürlich, wenn wir versuchen, unsere Kinder vor dem zu beschützen, was ihnen Schaden zufügen könnte? Ist das Töten unnatürlich, wenn wir uns gegen Feinde wehren, die unsere Dörfer brandschatzen und uns versklaven wollen?« »Das habe ich nicht gemeint.« Die Anwesenden in der Halle waren jetzt in eine solch tiefe Stille verfallen, während sie darauf warteten, dass Anne Platz nahm, dass Liath schon die verrückte Vorstellung hatte, sie wäre taub. Aber ihre Stimme funktionierte noch. »Sie ist meine Mutter.« »Deine Mutter? Aber du hast ein Herz aus Feuer.« Adica berührte Liath über dem Herzen und schloss die Augen. 293 Mit geschürzten Lippen und konzentrierter Miene neigte sie den Kopf hin und her, als suche sie etwas, als lausche sie. Dann schlug sie die Augen auf. Doch es war keine Iris zu sehen, sondern nur das Weiße. Speichel tropfte ihr in einem dünnen Faden über das Kinn. Sie sprach in einem rauen Flüsterton, der ganz und gar nicht der festen Stimme ähnelte, die sie zuvor gehabt hatte - als hätte ihre innere Sicht eine eigene Stimme aus Rauch und Asche geformt. »Kind des Feuers, blicke in dich hinein. Sie ist nicht deine Mutter.« Der Ring an Liaths Hand flackerte in einem blendend blauen Licht. Kälte erfasste ihren Finger, schoss ihren Arm hoch, traf sie ins Herz. Sie schrie. Aus weiter Ferne hörte sie die dröhnenden Stimmen derer, die sie »Kind« nannten. Sie wusste, dass es die Wahrheit war, denn die Wahrheit schmerzt mehr als die Lüge. »Hat Alain dich geschickt, um mich zu beschützen?«, rief sie, als sie wieder sprechen konnte. »Um mich zu führen?« Sie verstand jetzt die Falle von Mok, erkannte das Hindernis, das vor ihr lag: Es war die Falle der falschen Verpflichtung. Sie hatte blindlings geglaubt, ohne ihrer eigenen Urteilskraft, ihrer Weisheit und ihrem Instinkt zu vertrauen. »Wenn ich nicht die Erbin Taillefers bin, bin ich von seinem Schatten und seiner Bürde befreit. Dann steht es mir frei zu tun, was ich tun muss.« Sie zog den Ring ab und legte ihn in Adicas Hände. »Ich bitte dich, Schwester, behalte diesen Ring. Gib ihn Alain als Gegenleistung für die Hilfe, die er mir gegeben hat. Er soll ihn beschützen, wenn er in Gefahr ist, so wie er mich beschützt hat. Sollte er mich jemals brauchen, werde ich zu ihm kommen.« »Wohin gehst du?« Liath ließ ihre Flammenflügel zum Leben erwachen, aber als sie die andere Frau vor Ehrfurcht einen Schritt
zurückweichen sah, bereute sie es sogleich. »Zur Sphäre von Aturna, dem Roten Ma294 gier, der mit dem Zepter der Weisheit herrscht. Ich muss meine Mutter finden.« Jetzt, da sie nicht länger durch den Ring an Moks Reich gebunden war, konnte Liath sich mit Leichtigkeit auf einem weihrauchgeschwängerten Luftstrom erheben, während Anne unter ihr auf dem Thron der Heiligen Mutter Platz nahm und das juwelenbesetzte Zepter der Skopos der Kirche der Einigkeiten ergriff. 3 Tiefes Schweigen und Reglosigkeit weckten Alain. Er lag auf dem Boden; sein linker Arm wurde von Adica nach unten gedrückt, und Kummer leckte ihm das Ohr. Spitze Kiesel bohrten sich in seinen Oberkörper. Er ächzte und schob sich unter Adica heraus, setzte sich auf und rieb sich die Hand. Sie schmerzte noch immer, wenn er sie berührte, aber sobald das schmerzhafte Kribbeln etwas nachließ, war er immerhin in der Lage, sie zu einer Faust zu ballen. Das Schlangengift hatte ihn weder getötet noch verkrüppelt; er hörte lediglich noch ein schwaches Klingeln. Staubflocken trieben in einem Lichtstrahl dahin, der durch die Höhlenöffnung fiel. Sein Stab, ihre leeren Vorratsbeutel und Adicas Sack mit den heiligen Regalien lagen in der Nähe. Rages Jaulen wehte durch die düsteren Nischen der Höhle; sie scharrte mit den Pfoten an dem Fels, der den hinteren Teil verschloss. Laoina stocherte an der Felswand herum, als wollte sie Schlangen aufscheuchen. Adica schlief, die Hände zu Fäusten geballt. Kummer schnüffelte an Adicas Ohr, ließ sich dann neben der Geweihten nieder und legte den riesigen schwarzen Kopf auf die Vorderbeine. Der Hund blickte ihn mit traurigen Augen an, und Alain rieb ihm mit den Knöcheln den Kopf, sodass er ein zufriedenes Brummen von sich gab. Rage jaulte und kam herüber getrapst, wollte ebenfalls getätschelt werden. 295 »Wo sind wir?«, fragte Alain, während er seinen Stab aufnahm. Er untersuchte die Größe der Höhlenöffnung und betrachtete abschätzend die umgestürzten Felsblöcke. Sie konnten hinausklettern, aber es würde schwierig werden, die Hunde hinauszubekommen. Laoina drehte sich um. »Ich glaube, es ist nur gut, dass diese Gebeugten keine Menschen als Sklaven einsetzen. Ich habe den Eindruck, dass sie über sehr mächtige Magie verfügen. Sie müssen Schiffe besitzen, die in der Lage sind, durch Fels zu segeln. Wie sonst wären wir hierher gekommen? Irgendeine Zauberei hat uns unter der Erde hindurch zum Land von Shu-Shas Volk gebracht. Als ich bei den Wandelnden gelernt habe, bin ich einem Mann begegnet, der den ganzen Weg von Shu-Shas Stamm bis zu dem von Hörn zu Fuß gegangen ist. Das war zu der Zeit, als die Verlorenen den Steinwebstuhl und die schöne Stadt von Shu-Shas Volk zerstört hatten. Dieser Mann ist beim zunehmenden Viertelmond aufgebrochen, und er hat ganze drei Monde gebraucht, um Horns Stamm zu erreichen. Es ist also ein ziemlich langer Weg. Ich weiß nicht, mit welcher Magie die Gebeugten uns dazu gebracht haben, so tief zu schlafen, aber ich glaube nicht, dass in dieser Zeit drei Mondphasen vergangen sind!« »Es ist ein langer Weg«, pflichtete Alain ihr bei; er überlegte, ob Laoina vielleicht den Verstand verloren hatte oder verwirrt war. Ihre Art zu sprechen hatte sich geändert: das Abgehackte und die Pausen waren verschwunden, als würde ihr die Sprache des Hirsch-Volkes jetzt viel leichter über die Lippen gehen. Davon einmal abgesehen hätte er das, was sie in der Stadt der Skrolin gesehen hatten, auch nicht besser erklären können. »Woher weißt du, wo wir jetzt sind?« Sie deutete auf die Öffnung, die sich hinter ihm befand. Er rappelte sich auf, schürfte sich dabei die Knie auf. Schmutz regnete von Wurzelfasern auf seinen Kopf, als er sich ein Stück hochzog, um besser sehen zu können. Zuerst war das Licht viel zu grell, als dass er überhaupt etwas hätte erkennen können, doch nach und 296 nach verwandelten sich die Muster aus Licht und Schatten in eine zerklüftete Schlucht, die jäh abfiel. Der breite Abhang war mit stacheligen Büschen übersät, die sich verzweifelt an die steile Felswand klammerten. Auf dem gegenüberliegenden Grat sah er eine mächtige Mauer aufragen, wie ein Drache, der gerade erwacht. Laoina zupfte ihn am Fuß. »Komm wieder zurück, schnell. Diese Festung gehört den Verfluchten.« Alain ließ sich wieder nach unten fallen. Adica schlief noch immer. Rage schnüffelte an den Höhlenwänden. »Ich dachte, du hättest gesagt, wir wären im Land von Shu-Shas Stamm.« »Das sind wir auch. Aber die Verfluchten haben die meisten von ihrem Volk getötet oder versklavt und die Übrigen gezwungen, sich zu verstecken.« »Wieso hassen die Verfluchten die Menschen so sehr?« Sie betrachtete ihn mit einem seltsamen Blick. »Sie brauchen Blut, damit sich ihre Götter nicht gegen sie wenden. Und vielleicht ähneln sie auch dem alten Joa, der zehn Felle und sechs Steinaxtköpfe im Boden vergraben hatte, damit niemand sie kriegen sollte. Als er dann starb und ein Mädchen zwei Monate später durch Zufall auf das Versteck stieß, waren die Felle nicht mehr zu gebrauchen. Er hat sie also nur deshalb für sich behalten, um sie für alle anderen unbrauchbar zu machen. Es gibt Leute, die immer mehr als die anderen haben wollen - ein zusätzliches Stück Hirschfleisch, obwohl sie bereits genug haben, eine Hand voll zusätzliche Speerspitzen, auch wenn das bedeutet, dass eine andere Person deshalb zu kurz kommt.« »Du glaubst, die Verlorenen sind ebenso egoistisch?« »Haben sie denn nicht schon genug?« »Ich weiß es nicht«, gestand er und seufzte. »Wenn dies hier nicht das Land der Toten ist, wo sind wir dann?«
»Im Land von Shu-Shas Stamm -« Aber sie brach ab, als sie begriff, dass er etwas anderes gemeint hatte. »Ich habe Drachen gesehen, einen Phoenix und Löwenfrauen. Ich habe eine große Stadt gesehen - unter Wasser, auf dem Mee297 resgrund -, in der das Mervolk lebt. Ich habe ein Land unter der Erde gesehen, wo jene wohnen, die sich Skrolin nennen. Ich habe die Verfluchten gesehen, und ich glaube, dass sie einem Mann sehr ähneln, den ich unter dem Namen Prinz Sanglant kenne.« Er fingerte an dem Kopfstück seines Stabs herum, rieb mit dem Daumen über die fauchende Hundeschnauze, betastete jeden einzeln herausgearbeiteten Zahn. »Ich habe das Tal, in dem dein Volk lebt, in meinen Träumen gesehen. Aber es haben andere Leute dort gelebt. Sie haben sich FelsenKinder genannt, und ihre Mütter waren wie lebende Steine.« Laoina blickte besorgt drein. »Ich habe solche Wesen, wie du sie beschreibst, noch nie gesehen, mein Freund. Und ich habe auch noch nie von einem Volk gehört, das sich selbst Kinder der Felsen nennt. Was das andere betrifft - nun, ich bin eine Wandelnde, daher habe ich mehr gesehen als die meisten anderen. Ich gebe zu, dass die Stadt der Gebeugten und die Wasserstadt des Mervolks mich verwirren, denn wie kann es sein, dass sie so viel Magie besitzen, wir aber so wenig von ihnen wissen?« »Sie leben im Fels und im Wasser. Wie könnten wir von ihnen wissen, wenn sie dort leben, wo wir es nicht können?« »Wieso zeigen sie sich uns dann nicht? Nein, es gibt bereits eine Antwort. Was ist, wenn sie sich nichts aus denen machen, die woanders leben? Vielleicht brauchen sie uns nicht - im Gegensatz zu den Verfluchten. Vielleicht haben wir nichts, was sie wollen könnten.« »Ich habe in meinen Träumen Merwesen gesehen«, murmelte Alain. Er dachte an Starkhand. »Aber sie waren wie Tiere. Solche Wesen hätten nie eine große Stadt erbauen können.« Er kniete neben Adica nieder und strich ihr über die Haare, um sie sanft aufzuwecken. »Im Augenblick zählt jedoch nur, dass ich Adica beschütze. Aber manchmal verstehe ich einfach nicht, wo ich bin.« »Vielleicht ist das auch besser so«, sagte Laoina sanft, aber als er überrascht über das Mitleid in ihrer Stimme aufblickte, hatte sie sich schon umgedreht, um ihre Miene zu verbergen. 298 Adica rührte sich noch immer nicht, aber sie atmete gleichmäßig. Er knetete ihre zu Fäusten geballten Hände, konnte sie jedoch nicht öffnen, klopfte ihr auf die Knie, streichelte sie mit der Hand unterm Kinn. Sie reagierte auf keine seiner Bemühungen. Schließlich hockte er sich auf die Fersen. »Sie ist in Trance.« Er hatte es schon zuvor bei ihr gesehen; die Trance - die Krämpfe, die Zuckungen, das lange Schlafen - zählte zu den Dingen, die sie zu einer Geweihten machten. »Wie kommen wir aus dieser Höhle hinaus?« Laoina machte ein Zeichen gegen böse Geister, dann spuckte sie aus. Danach kroch sie neben Alain und blickte Adica teilnahmslos an. Da ihr jüngerer Bruder der Geweihte des Akka-Stammes war, musste sie an all das Gezucke und Gesabber gewöhnt sein, an den leeren, starren Blick und den Schlaf, aus dem man anscheinend nicht aufgeweckt werden konnte. »Zuerst müssen wir warten, bis es Nacht wird.« Möglicherweise gab es anstrengendere Methoden, in eine Schlucht hinabzusteigen, als dies in einer mondlosen Nacht mit einer bewusstlosen Frau auf dem Rücken zu tun. Alain fiel allerdings keine andere ein, denn zudem wurde die Schlucht von einer Festung ihrer unbarmherzigen Feinde überragt, und ihn quälte das Wissen, dass er seine zwei treuen Kameraden in der kleinen Höhle hatte zurücklassen müssen. Sie würden vor Durst sterben, wenn er aus irgendeinem Grund nicht innerhalb von zwei Tagen zurückkehren konnte. Laoina befand sich knapp unter ihm und gab ihm Hinweise: Ein Absatz rechts war breit genug, dass er seinen Fuß darauf setzen konnte; da gab es ein Stück Schiefer, dem er ausweichen sollte; dort wuchs eine kräftige Wurzel aus der Felswand, an der er sich festhalten konnte. Es war besser, sich blind zu stellen, dachte er. Seine Arme schmerzten grauenhaft, und seine heilende Hand hatte begonnen, wie Feuer zu brennen. Seine Finger waren aufgeschürft, und er at299 mete unaufhörlich den Staub ein, den er selbst aufwirbelte. Adica war nicht besonders schwer, aber sie war vollkommen bewusstlos, und die Seile, mit denen sie auf seinem Rücken festgebunden war, schnitten ihm in Brust und Hüfte. Ihr Atem kitzelte ihn im Nacken, aber sie reagierte nicht im Geringsten. Vielleicht würde sie nie wieder aufwachen. Nein, es war besser, so etwas nicht zu denken. Er hatte geschworen, sie zu beschützen, und das würde er auch tun. Laoina verfügte über viele Fähigkeiten und Kenntnisse. Auch sie war schwer beladen. Das Einzige, was sie bei den Hunden zurückgelassen hatten, waren die letzten Nahrungsvorräte und sämtliches Wasser, das sie in eine kleine Vertiefung im Felsen geschüttet hatten. Sie war eine geduldige Kletterin und eine gute Führerin, als sie jetzt den steilen Hang hinabkletterte. Es war eine andere Welt als die, die er kannte - und auch als die, die er in Königinnengruft kennen gelernt hatte. Die kräftigen Büsche rochen anders, harzig oder äußerst aromatisch, und ihre Blätter hatten schmale Spreiten. Viele Pflanzen hatten Dornen, an denen er sich immer wieder stach oder in denen sich Adicas Bänderrock verfing. Einmal kamen sie an einer kleinen Höhle vorbei, in der sich ein großer Vogel ein Nest gebaut hatte; jetzt war es leer. Hier erholte er sich in einer Mulde inmitten einer Mischung von Zweigen, Gras, Haaren, Hautfetzen und den Knochen von kleinen Tieren, mit denen die Jungen gefüttert worden
waren. »Wenn wir Krieg führen«, sagte er zu Laoina, die neben ihm hockte, »ist das dann nicht dasselbe, als würden wir die Knochen unserer Kinder an unseren Feind - und an uns selbst - verfüttern?« »Sie essen unsere Kinder, ob wir nun gegen sie kämpfen oder nicht.« Wind fuhr seufzend über den Abhang, rauschte durch die Büsche um sie herum. »Ich jedenfalls ziehe es vor zu kämpfen.« »Das habe ich nicht gemeint -« Über den heulenden Wind hinweg hörte er das hohe, scharfe Lachen eines Mannes. Sie verhielten sich vollkommen still, obwohl sie wussten, dass 300 sie bei dem schwachen Sternenlicht vermutlich von oben nicht zu sehen waren. »Komm«, flüsterte Laoina. »Unten am Bach gibt es bessere Möglichkeiten, sich zu verstecken.« Den letzten Abhang rutschten sie beinahe hinunter, statt dass sie gingen; unten in der Talsohle durchschnitt ein Bach den Fels. Alain hatte viele aufgeschürfte Stellen, aus denen das Blut sickerte. Der Schmerz in seiner verletzten Hand war in ein dumpfes Pochen übergegangen. Laoina schob Zweige zur Seite, während sie sich durch den dichten Vorhang aus Bäumen quälten, um endlich zu dem Bach zu kommen, dessen Wasser gurgelnd über vorspringende Felsen floss. Trotz ihrer Hilfe wurde er immer wieder von den Zweigen zerkratzt. Sie half ihm schließlich dabei, Adicas schlaffen Körper von seinem Rücken zu nehmen und ihn sich wie einen Sack Rüben über die Schulter zu hängen; vermutlich wäre aber selbst ein Sack Rüben leichter zu schleppen gewesen. Es war ein hartes Stück Arbeit, in der Dunkelheit flussabwärts zu marschieren, obwohl Laoina jeden Schritt vor ihm prüfte und er seinen Stab hatte, um das Gleichgewicht zu halten. Einmal glitt Alain auf einem Felsbrocken aus, der sich zur Seite geneigt hatte, kaum dass er ihn betreten hatte. Der Stab rutschte von einem Stein ab, und Alain stürzte so hart auf die Knie, dass ihm vor Schmerz die Tränen in die Augen traten - warme, salzige Tränen, die in das kalte Quellwasser strömten. »Ich kann sie eine Zeit lang tragen«, flüsterte Laoina. »Nein. Ich schaffe das. Sie ist keine Last für mich.« Die Geräusche von Wind und Wasser begleiteten sie; ansonsten war es still. Wohin war der lachende Mann gegangen? Sterne blinkten am Himmel. Das Schwert der Königin stand im Zenit, beinahe direkt über ihnen. Adica hatte einen anderen Namen für das Schwert. Sie sagte Reiher dazu und hatte ihm gezeigt, wie die Sterne seine breiten Schwingen nachzeichneten, den zwischen die Schultern zurückgezogenen Kopf, die nach hinten gestreckten Beine. 301 Er stützte sich auf den Stab und kämpfte sich mit einem Ächzen wieder auf die Beine. Adica stöhnte leise, flüsterte unhörbare Worte. Grillen zirpten. Ein flatterndes Insekt strich an seinem Gesicht vorbei. Vor Überraschung fuchtelte er mit den Armen herum, genau in dem Augenblick, als Laoina scharf zischte und ihn am Arm packte. Er hörte wieder das Lachen des Mannes, näher dieses Mal. Eine zweite Stimme. Ein Rauschen ging durch die Bäume. Er hörte ein Stöhnen aus der gleichen Ecke, aus der das Gelächter gekommen war, einen Schmerzensruf, der rüde unterbrochen wurde und in ein schreckliches Gurgeln überging. Kehlen wurden aufgeschlitzt. Männer starben lautlos. Ein Kind schwang sich genau vor ihnen durch die Zweige und landete benommen im Strom. Sie - oder er - hielt einen Bogen in der einen Hand und gestikulierte ungeduldig mit der anderen. Ein Stück weißer Stoff hing dem Kind um die Hüften, ansonsten war es nackt bis auf die Sandalen und die dunklen Streifen, die auf die schmächtige Brust gemalt worden waren. »Komm«, flüsterte Laoina. Sie bahnten sich ihren Weg durch das Unterholz, wobei Alain auf dem unebenen Boden immer wieder stolperte, während er Laoina und dem Kind folgte. Sie waren nicht mehr als hundert Schritte gegangen, als ein Dutzend Gestalten ihnen den Weg versperrten, allesamt mit runden Schilden und Kurzschwertern bewaffnet. Da sie alle dunkle Streifen auf ihrer nackten Brust und im Gesicht hatten, waren sie in der Dunkelheit kaum zu erkennen, verschmolzen dank der Mischung aus Schatten und Licht auf ihrer Haut mit dem Unterholz und der Nacht. Ihr Anführer war ein kräftiger junger Mann, der jetzt leise mit Laoina sprach. »Du hast unseren Ruf gehört.« »Das haben wir. Wo ist die Geheiligte?« »Das weiß niemand. Aber es ist unbestritten, dass die Verfluchten sie gefangen genommen haben. Das PferdeVolk hat sich aufgemacht.« »Was sollen wir also tun?« 302 »Ihr müsst euch beeilen. Die Königin braucht die Kraft eines Hirsch-Mädchens.« Er nickte in Adicas Richtung, blickte sie genauer an und ging dann hastig zu ihr, um sie zu untersuchen. »Sie ist in einer Vision gefangen«, sagte er zu Laoina. Er ignorierte Alain. »Wir müssen sie sofort zu Königin Shuashaana bringen.« Ohne um Erlaubnis zu fragen, begann er, die Seile zu lösen, mit denen Adica an Alains Schultern festgebunden war. »Die anderen können sie jetzt tragen«, sagte Laoina zu Alain, der schon Einwände erheben wollte. »Du bist müde.«
»Die Hunde.« Wie ein Pfeil, der auf ein bestimmtes Ziel abgefeuert worden war, hatte er seine gesamte Konzentration auf diesen einen Punkt gerichtet. »Ah.« Sie drehte sich zu ihrem Führer um und besprach sich eindringlich mit ihm. Alain war zu müde, um ihnen zuzuhören. Doch schließlich wandte sich Laoina wieder an ihn. »So sei es«, sagte sie, als drei der Männer sich von den anderen trennten, nachdem sie mit ihnen bestimmte Beutel ausgetauscht hatten. »Wenn die Verfluchten die Leichen ihrer Patrouillen finden, wird es in dieser Schlucht wie in einem Hornissennest zugehen. Du musst deine Hunde jetzt sofort holen, noch bevor die Sonne aufgeht, sonst wirst du sie nie mehr kriegen. Wir bringen die Geweihte in Shu-Shas Lager. Diese Männer werden dir helfen, die Hunde zu holen. Der da« - sie deutete auf einen Mann mittleren Alters, der eine Halskette aus Gagatperlen trug - »ist als Wandelnder ausgebildet und kann für dich sprechen. Ich werde gehen, um die Worte für die Geweihte zu sprechen. Du wirst uns dann später folgen.« »Ich kann Adica nicht allein lassen!« Laoina schnitt ihm das Wort ab. »Dann musst du deine Hunde zurücklassen. Entweder das eine oder das andere. Wir werden jetzt so schnell wie möglich zu Shu-Shas Lager gehen. Die Geweihte wird dort bei diesen Kriegern in Sicherheit sein, bis du kommst.« Er sah sie an und kam zu dem Schluss, dass Laoina vermutlich Recht hatte. Das Dutzend Krieger - drei von ihnen waren Frauen -wirkte kräftig, entschlossen und unbarmherzig. Er hasste es, Adi303 ca allein zu lassen, denn er wusste, dass die Verfluchten sie immer noch angreifen konnten, aber diese Leute kannten die Gegend sicherlich sehr viel besser als er, und er wusste bereits, dass sie in der Lage waren zu töten. Ihr jetzt zu folgen, würde bedeuten, Rage und Kummer im Stich zu lassen. »Also gut. Es muss wohl so sein. Ich werde die Wasserhäute nehmen.« Er drückte Adica einen Kuss auf die Wange, dann sah er zu, wie einer der Männer sie sich auf den Rücken schwang. Sie zeigte keinerlei Reaktion. Ihre Fäuste blieben geballt, und es war schwer, in der Dunkelheit ihre Gesichtszüge auszumachen. Sie war nichts weiter als ein verschwommener, unklarer Schatten. So verschwand sie also allmählich - hilflos über dem Rücken des Mannes hängend - in der Dunkelheit; schließlich konnte er nichts mehr von ihr sehen. Die Angst um sie trieb ihm die Tränen in die Augen und nagte an seinen Eingeweiden, aber er zwang sich, ruhig zu bleiben und ihre dunkle Energie in seine schmerzenden Arme und Beine zu schicken. Er würde sie in ShuShas Lager wieder sehen. Wenn er nur fest genug daran glaubte, würde es auch geschehen. Er wandte sich zu seinen neuen Kameraden um, die ihn interessiert anstarrten. Zwei von ihnen sahen sich so ähnlich, dass er einen Augenblick lang glaubte, doppelt zu sehen. Wie er trugen sie ordentlich gestutzte Barte, aber ihre Haare waren derb und borstig. »Wir sollten Wasser mitnehmen. Die Hunde müssen durstig sein. Ich heiße Alain.« Der Mann mit den Gagatperlen blickte ihn von oben bis unten an. Er war dunkelhäutig, und sein Bart war von Silberfäden durchsetzt. »Ich bin Agalleos. Die beiden hier sind die Söhne meines Bruders; sie sind zusammen geboren worden. Maklos und Shevros. Du solltest dich beeilen.« Die Zwillinge teilten die Büsche und stellten sich flussaufwärts und flussabwärts hin, während Alain die vier Wasserhäute füllte. »Wie kommt es, dass ihr uns gefunden habt?«, fragte er. »Die Königin hat euch in einer Vision gesehen. Sie hat uns ge304 schickt. Die Verfluchten haben hier eine Festung. Die Königin hat befürchtet, dass sie euch gefangen nehmen könnten. Das wäre das Ende gewesen. Ihr wärt zurückgeschickt worden und hättet in den Sphären wandeln müssen. Skau!« Er zischte das Wort regelrecht heraus und fuhr sich dabei mit einer schroffen Geste über die Kehle, als würde sie aufgeschlitzt werden. »Was heißt das, in den Sphären wandeln?« Der Satz brachte irgendetwas in ihm zum Klingeln, aber er konnte sich nicht recht erinnern, wo er ihn gehört hatte. »Beeil dich«, drängte Agalleos. »Wir müssen bis Morgenanbruch mit den spirituellen Führern wieder zurück sein.« Sie wateten durch den Bach zurück. Alain roch den Tod, bevor er ihn sah. Glücklicherweise waren die auf einen Haufen geworfenen Leichen in der Dunkelheit kaum zu sehen. Es waren fünf Soldaten, die noch unter der Platane lagen, wo Agalleos Gruppe sie angegriffen hatte. Sie waren bloß ein paar hundert Schritte hinter Alain und Laoina gewesen, als sie niedergemacht worden waren. Maklos pfiff leise wie ein Vogel und deutete auf die Bresche, die dort, wo Alain und Laoina vom Hang heruntergekommen waren, durch das Unterholz geschlagen worden war. Der abnehmende Viertelmond ging gerade auf. Agalleos schaufelte Schlamm aus dem Bachbett und strich ihn Alain auf Arme, Beine und Gesicht. Als sie weitergingen, übernahm Shevros die Führung. Die Zwillinge hatten Erfahrung darin, zerklüftete Felsen zu erklimmen. Sie bewegten sich so rasch voran, dass Alain, der weit weniger gut darin war, rasch und sicher geeignete Stellen für seine Hände und Füße zu finden, sie schließlich bitten musste, etwas langsamer zu werden. Der Mond stieg höher. Sie hielten bei dem verlassenen Nest einen Moment an und kletterten weiter, nachdem sie einen Blick hinüber zu der Festung geworfen hatten, die sich düster auf dem Grat erhob. Sie hatten nicht wirklich Angst, aber sie waren angespannt wie ein Bogen kurz vor dem Schuss. Wie gut konnten die Wachen der Verfluchten sehen?
305 Shevros erreichte die Höhle zuerst. Leises Knurren drang heraus. Alain krabbelte neben den jungen Mann, schob sich über den Rand der Öffnung und glitt ins Innere der Höhle. Kummer und Rage stießen ihn regelrecht um vor Freude. Als sie sich etwas beruhigt hatten, gab er ihnen zu trinken. Agalleos erschien neben ihm, entzündete eine Fackel und ging dann tiefer in die Höhle hinein, wobei er die Hunde vorsichtig im Auge behielt. »Sind deine spirituellen Führer zu schwer, um sich Flügel wachsen zu lassen?« »Sie haben keine Flügel. Aber wir haben Seile.« Agalleos hielt sich sorgsam von den Hunden fern und untersuchte die Höhle; er beleuchtete jede Spalte und jedes Loch in der Kalksteinwand. »Es waren die Gebeugten, die euch hergebracht haben? Mit was für einem Schiff oder Tier seid ihr gereist?« »Ich weiß es nicht.« Alain bemühte sich sehr, die Reise zu beschreiben, gab dann aber auf, denn Maklos, der nach ihnen die Höhle betreten hatte, schnaubte laut und skeptisch, als Alain von dem großen Marktplatz erzählte, auf dem die Skrolin und die Merwesen ihre Waren tauschten. »Frieden«, mahnte Agalleos ernst. Maklos hatte eine großspurige Art, das Kinn zu recken, wie junge Männer es zu tun pflegten, die - mit einiger Berechtigung - glaubten, dass sie von den jungen Frauen, die sie kannten, immerzu bewundert wurden. »Er und sein Bruder lernen gerade, Wandelnde zu sein. Deshalb glaubt der Sohn meines Bruders, mehr zu wissen als er tatsächlich weiß.« Sein Ton änderte sich, als er sich jetzt an den jungen Mann wandte. »Vergiss nicht die Lektion deines Verwandten, der sich für klüger als die Übrigen gehalten hat und als Krähenfutter endete!« Kummer trapste zu Maklos und schnüffelte an ihm herum. Der junge Mann verhielt sich vollkommen still; lediglich die Hand an seinem Schwertgriff zuckte unaufhörlich. »Ist schon gut, es ist nicht so wichtig«, sagte Alain beschwichtigend und pfiff Kummer zurück. »Ich habe vieles gesehen, das ich 306 selbst kaum glauben konnte. Hast du die Gebeugten mit eigenen Augen gesehen?« »Ich nicht.« Agalleos schüttelte den Kopf. »Und ich kenne auch niemanden, der sie gesehen hätte. Es klingt für mich wie eine gute alte Geschichte, die man sich beim Feuer erzählt. Aber unsere große Königin Shuashaana kennt viele Dinge, die einfache Männer wie du und ich nicht begreifen können. Sie ist eine Frau, nicht wahr? Sie ist eine Wortarbeiterin, eine Künstlerin - so sagt ihr doch in der Sprache des Hirsch-Volkes? Sie ist die Erbin von Aradousa, die die Mutter unseres Volkes war, die Tochter der helläugigen Akhini.« Er war mit der Untersuchung der Höhle fertig, hatte ihre Ausmaße inzwischen ergründet. »Dieser Berg ist voller Höhlen. Mein Großvater hat sie die >Münder der Alten< genannt, und er hat gesagt, dass sich Leute darin verirren können und nie wieder herausfinden.« Maklos schnaubte. »Die Träume eines alten Mannes, aus dem Rauch geboren.« Agalleos blickte ihn scharf an. »Du kannst über die alten Geschichten sagen, was du willst. Mein Großvater ist ein weiser Mann gewesen. Ich werde seine Weisheit nicht achtlos beiseite schieben.« Dann grinste er Alain an. »Wie gut, dass du ein Wandelnder bist. Das macht es einfacher, sich mit dir zu unterhalten.« »Ich bin kein Wandelnder.« »Wie kommt es dann, dass du unsere Sprache sprichst?« »Ich kenne nur die Sprache des Hirsch-Volkes und die meines eigenen Landes.« Agalleos musterte die Hunde und dann Alain. »Das ist ein Rätsel«, gab er zu, »denn ich habe nur in meiner eigenen Sprache zu dir gesprochen, und es scheint mir, dass du mich sehr gut verstanden hast.« »Wie ist das möglich?«, fragte Alain, von Agalleos' Aussage alarmiert und verwirrt. Ein Hornsignal, das Soldaten in die Schlacht rief, drang zu ihnen. Shevros krabbelte jetzt ebenfalls in die Höhle und trat zu seinem 307 Bruder. Die Ähnlichkeit der beiden war geradezu unheimlich. Alain konnte sie nur deshalb auseinander halten, weil Shevros eine Narbe auf dem Bauch hatte und Maklos seinen Leinenkilt - das einzige Kleidungsstück, das sie abgesehen von den Sandalen am Körper hatten - etwas tiefer über der Hüfte trug als die anderen beiden und so ein größeres Stück von seinem festen Bauch offenbarte. »Die Verfluchten kommen«, sagte Shevros. »Das Hornsignal ist in der Festung erklungen. Sie haben die Toten gefunden.« Agalleos runzelte die Stirn. »Das ist schlecht. Jetzt werden sie wie Heuschrecken in die Schlucht schwärmen. Der Weg zurück durch die Talsohle ist uns versperrt.« »Sind wir dann hier gefangen?«, wollte Alain wissen. »Es gibt einen anderen Weg zurück, aber der ist länger. Wir müssen rasch aufbrechen, bevor das Tageslicht anbricht.« Es war nicht leicht, die Hunde aus der Höhle zu schaffen, und auch nicht, sie in die richtige Position zu bringen. Alain trug Kummer auf seinen Schultern; es war eine schwere Last. Der tapfere Maklos nahm Rage. Shevros kletterte voraus, zunächst hinauf zu dem Grat oberhalb von ihnen. Agalleos folgte als Letzter. Wolken trieben vor der Mondsichel dahin, und doch spürte Alain das Prickeln unsichtbarer Blicke auf seinem Rücken, als sie
emporstiegen. Das Hornsignal erklang noch drei weitere Male. Der Wind trug Rufe und Schreie zu ihnen. Als sie den Grat erreicht hatten, setzten sie die Hunde wieder ab und ließen sich auf die Steine sinken, um sich etwas auszuruhen. In diesem Augenblick erwachte entlang der Festungsmauern eine Reihe von Fackeln zum Leben; es sah so aus, als strömten sie durch das unsichtbare Tor, verteilten sich wie herabfallende Funken die steile Schlucht hinunter. Agalleos sah Kummer und Rage ernst an. »Wir kennen nur zwei Wege, auf denen wir von hier wohlbehalten zum Lager unserer Königin zurückkehren können. Den kürzeren der beiden können die Hunde jedoch nicht gehen.« »Auch nicht mit Seilen und unserer Hilfe?«, fragte Alain. »Auch damit nicht. Es ist ein Kriechpfad, der ein Stück unter der 308 Erde und unter Wasser verläuft. Wir können es nicht riskieren. Wir müssen nach Norden gehen und einen Bogen um den Fluss machen.« Maklos zischte scharf. »Wir sollten uns beeilen«, sagte Shevros. »Seht doch nur.« Die Fackeln hatten den Grund der Schlucht erreicht, und einige ihrer Verfolger suchten nach einer Möglichkeit, wie sie auf dieser Seite wieder heraufklettern konnten, während die Übrigen dem Flusslauf folgten. Die Verfluchten ergossen sich in alle Richtungen, so zahlreich wie ein Nest gerade erst ausgeschlüpfter Spinnen. Der östliche Horizont war vom Morgenrot rosa gefärbt. »Wird Adica das Lager von Shu-Sha auch sicher erreichen?«, flüsterte Alain, entsetzt darüber, dass er sie hatte wegtragen lassen. Er hätte mit ihr gehen sollen, um dafür zu sorgen, dass sie in Sicherheit war. Doch Kummer neben ihm jaulte leise, und Rage leckte ihm die Hand. »Nichts ist sicher«, erwiderte Agalleos. »Aber sie haben den sichersten und schnellsten Pfad gewählt. Oshidos ist ein guter und starker Kämpfer, und sie werden ohnehin durch das Labyrinth gehen. Die Verfluchten haben noch nie jemanden von uns im Labyrinth zu fassen bekommen.« Mit einiger Anstrengung verdrängte Alain seine Angst. Von welchem Nutzen wäre er noch für Adica, wenn er jetzt seinen Tod durch die Verfluchten heraufbeschwor, weil er sich zu viele Sorgen um sie machte? »Also gut. Nördlich vom Fluss, wenn das der einzige Weg ist. Diese Kameraden hier haben mich ein langes Stück Weg begleitet, und ich werde sie jetzt nicht zurücklassen.« »Verrückter Ausländer«, murmelte Maklos. »Ich erkenne, dass sie mächtige spirituelle Führer sind. Die Götter haben ein Geheimnis um dich gewebt, Kamerad.« Agalleos stemmte sich hoch. Er war bereit, weiterzugehen. »Um aus dem Dornental zu gelangen, müssen wir an den Gellenden Felsen vorbei. Shevros, du führst uns. Maklos, du folgst als Letzter. Du musst die Falle aufstellen und uns über die Leiter folgen.« 309 Maklos schien zufrieden damit, den gefährlichen Teil zugewiesen bekommen zu haben. Alain konnte sich vorstellen, wie er später vor seinen Bewunderinnen damit prahlen würde. Sofern sie jemals heil und sicher zurückkehrten. Sie marschierten weiter. Zunächst folgten sie der Kammlinie, benutzten Felsbrocken und Büsche als Deckung, dann ließen sie sich in die nächste Schlucht hinab, einem Steilabbruch mit erodierten Kalksteinsäulen entgegen, der den wilden Pflanzenbewuchs ablöste. In der Tat war der Name Dornental sehr passend gewählt, denn es handelte sich um ein von steilen Wänden umgebenes Tal, das gänzlich mit buschigem Unterholz bewachsen war -Unterholz mit Dornen von der Länge von Hundeklauen. Es gab keine Möglichkeit, da durchzukommen. Shevros verschwand in einer der kleinen Höhlen, die sich in den Säulen befanden. »Geht«, sagte Agalleos und warf einen Blick zurück. Auf dem Kamm hinter ihnen erschien erst eine, dann eine zweite Fackel. In der Höhle, die geschickt durch einen Felsklotz verborgen war, der wie zufällig dorthin gerollt am Abhang lehnte, begann ein Tunnel. Shevros war bereits ein gutes Stück hinuntergeklettert; Alain konnte den Schild sehen, der auf seinem Rücken aufblitzte. Er wollte ihm schon folgen, aber Agalleos hielt ihn zurück. »Er muss erst die Falle auslösen, damit wir hindurch können.« In der Höhle roch es nach Aas - stark genug, dass die Hunde darauf aufmerksam wurden und die Quelle des Geruchs ausfindig machen wollten. Schlagartig verschwand Shevros' Schild. Alain kletterte ihm in den staubigen Tunnel hinterher, der erst nach unten führte, dann wieder anstieg und schließlich in eine höhlenähnliche Mulde mündete, die sich mitten im Dornengestrüpp befand. Er konnte durch das Gewirr der Zweige hindurch kaum den Himmel über sich sehen; ein Verlorener jedoch, der möglicherweise auf dem Kamm stand, würde sie hier im Unterholz ganz sicher nicht bemerken. Abgebrochene Dornen zerbröckelten unter Alains Füßen, als er Shevros einen düsteren Tunnel entlang folgte, der in 310 das Gestrüpp hineingehauen worden war. Sie warteten, bis die anderen sie eingeholt hatten. »Die Falle ist wieder versiegelt«, erklärte Agalleos. Sie gingen weiter, achteten dabei darauf, sich nicht ihre Hände und Schultern an den Dornen aufzureißen, während der Pfad steiler wurde. Schließlich ging es tief hinunter zur Sohle der Schlucht. Alain hatte einige Mühe, dafür zu sorgen, dass die Hunde nicht in die spitzen Dornen stolperten. Nachdem Maklos mehrere Male
den Durchgang durch eine schmale Stelle leichter gemacht hatte, beschloss Rage, sich mit dem großspurigen jungen Mann anzufreunden; sie ging sogar so weit, ihm das Gesicht zu lecken, woraufhin Maklos die Miene verzog und ausspuckte. Agalleos bildete jetzt das Schlusslicht und verschwand immer wieder hinter Biegungen. Wie viel Arbeit musste es Shu-Shas Stamm gekostet haben, dieses Labyrinth unter den Dornen zu erschaffen ? Shevros hielt an der nächsten Kreuzung an und wartete auf sie, und als hätte er Alain die Verwunderung am Gesicht ablesen können, antwortete er ihm »Die Magie der Königin ist äußerst stark.« Dann kämpfte er sich weiter, hastete vornübergebeugt wie ein alter Mann an der Gabelung nach rechts. Alains Hand begann wieder zu schmerzen, aber er biss die Zähne zusammen und ging weiter. Der Dornentunnel fand ein Ende, als sie an einer Senke entlang kletterten, die um einen riesigen Felsen eingegraben war, und so zu einem verwirrenden Haufen von Felsbrocken und Gebüsch gelangten. Der Durchmesser dieses Gebiets betrug mehr als eine Bogenschussweite - es handelte sich um das Ende einer gewaltigen Lawine, die den westlichen Abhang hinuntergedonnert war und das Dornendach durchschlagen hatte. Alain erwartete, dass der Wind heulend durch den Fels streichen würde, dass er überhaupt irgendetwas hören würde, doch alles, was er vernahm, war das Schlurfen von Agalleos Füßen, als der Mann weiterging, um sich das Ausmaß der Zerstörung anzusehen. Es war noch immer Vormittag, so früh, dass der östliche Abhang des Tals noch im Schat311 ten lag. Die Rufe und Antworten der Verfluchten erklangen in der Luft, während sie ihre Suche am östlichen Kamm fortsetzten. Das Sonnenlicht kroch beständig die breite, westliche Talseite hinab und würde sie schon bald erreichen. Die Hitze, die bereits jetzt von den Felsen ausstrahlte, versprach einen gnadenlos heißen Tag. »Kommt.« Agalleos winkte sie zu sich. Die Mischung aus herabgefallenen und zerbrochenen Felsstücken, losem Schiefer und Schneisen von faustgroßen Steinen gestaltete das Gehen sehr schwierig. Es war nicht einfach, ruhig zu sein, während sie über knirschende Kiesel gingen, ein Feld von Felsbrocken überwanden, die so groß wie Schafe waren, oder sich durch Lücken zwängten, die durch gegeneinander gestürzte Felsstücke entstanden waren. Shevros kannte die gewundenen, staubigen Schneisen gut; er führte sie unbeirrbar weiter, ohne auch nur ein einziges Mal zu zögern. Hatte er sein ganzes Leben hier verbracht, von Kindheit an, in dieses Spiel um Leben und Tod verwickelt und den Verfluchten immer nur einen Schritt voraus? Alain musste an das Kind denken, das sich beim Bach zu ihnen hinunter geschwungen hatte, ohne zu zittern. Es war so jung und wurde bereits in den Kampf geschickt, für den Krieg ausgebildet. Zwischen den Felsen wuchs nichts außer ein paar Flechten. Es flatterten auch keine Vögel umher, die seine Aufmerksamkeit hätten erregen können. Aber es gab ein Zeichen menschlicher Eingriffe: Hier und da, unter überstehenden Kanten versteckt und nur aus einer ganz bestimmten Perspektive kurz sichtbar, lagen im offenen Gelände verteilt menschliche Knochen, von Aasfressern abgenagt, von Wind und Erosion verstreut oder von den Frühlingsbächen mitgerissen, die jetzt vollkommen ausgetrocknet waren. Die Sonne stieg höher, und die Felsen fühlten sich heiß an, wenn man sie berührte. Sie folgten weiter dem Weg schräg den Hang hinauf. »Wieso heißen sie Gellende Felsen?«, fragte Alain schließlich, als sie im Schatten einer schräg stehenden Felsplatte kurz anhielten, um Luft zu schöpfen. Es sah aus, als wäre ein riesiger Finger von den Kalksteinsäulen über ihnen abgebrochen. Alain ließ die 312 Hunde Wasser aus seinen Händen schlürfen, spürte ihre begierigen Zungen auf seiner Haut. »Ich dachte, es würden Pfeifen in den Felsen sein, die ein natürliches Geräusch erzeugen.« Agalleos lächelte. Shevros war vorausgegangen, um Wache zu stehen. Alain sah eine Ecke seines Kilts in der Brise hoch wirbeln, ansonsten war von dem jungen Mann nichts zu sehen. Maklos wartete hinter ihnen. »Nicht der Wind hat hier geschrien. Als mein Vater jung war, haben die Verfluchten die große Stadt meines Volkes, die in der Zeit von Königin Aradousa erbaut worden war, in Brand gesteckt. Zwischen diesen Felsen hat ein Kampf gewütet, tagelang. Männer haben geschrien, Männer, die niedergestochen wurden, die man verletzt den Skorpionen und Krähen überlassen hat und die in der gnadenlosen Sonne vor Durst umkamen, weil niemand zu ihnen gelangen konnte.« »Wer hat gewonnen?« Agalleos hob einen Fingerknochen auf und ließ ihn in seiner Handfläche hin und her rollen. »Der Tod hat gewonnen. Mein Vater ist irgendwo zwischen diesen Felsen gestorben. Seine Leiche wurde niemals gefunden. Wie du gesehen hast, haben ihn viele Kameraden bei der Reise zur anderen Seite begleitet. Die Verfluchten mögen diesen Ort nicht. Königin Shuashaana sagt, sie mögen ihn nicht, weil sie immer noch die Schreie der Geister hören können, die niemals zur Ruhe gebettet werden konnten.« Alain hörte nichts als die kleinen Geräusche, die sie selbst verursachten: Rages Schnüffeln, Agalleos über den Boden rutschender Fuß, als er sich anders hinsetzte. Ein goldener Adler glitt über ihnen am Himmel entlang. Der Wind nahm zu, wehte ihm Steinchen ins Gesicht. »Komm«, sagte Agalleos. »Wir sind beinahe da.« Als sie das andere Ende des Geländes erreichten, waren sie den westlichen Hang schon ein gutes Stück hinaufgeklettert. Oberhalb von ihnen traf er auf ein lang gezogenes, finsteres und bedrohlich wirkendes Gelände, das sich das gesamte restliche Stück der brei-
313 ten Schlucht entlang erstreckte. Jenseits des Felsrutsches wuchsen Dornen in Hülle und Fülle. Es war schwer zu erkennen, wo der Weg von dort aus weiterführen würde. Maklos holte sie ein; er grinste wie ein Junge, der bereit war, seinem Rivalen einen Streich zu spielen. Die Sonne hatte inzwischen den Zenit erreicht und brannte so hell und heiß, dass ihr Licht beinahe wie eine Last wirkte. Alain war klatschnass geschwitzt, und die Hunde hechelten. Seine Hand schwoll wieder an. Er kauerte sich in jeden Schatten, den er finden konnte - die meisten waren allerdings zu klein -, und beschattete seine Augen, um einen Blick über das Tal zu werfen. Bewegte sich da etwas am östlichen Kamm? Es war schwer zu sagen. Agalleos deutete in die gleiche Richtung. »Es sind zwanzig oder sogar mehr von ihnen.« Nach einer Weile glaubte Alain, eine rasche Bewegung am Rand des weit entfernten Dornengewächses erkennen zu können, hinten am östlichen Hang, doch dann erhob sich ein Vogel in den Himmel. Ein Hornsignal erklang. Hatten die Verfluchten ihre Spur gefunden oder gaben sie auf? »Es ist alles in Ordnung«, erklärte Shevros und trat aus einem im Schatten liegenden Spalt, einem natürlichen Kamin, der von unbekannten Kräften vor langer Zeit errichtet worden war. »Wir müssen die Hunde anleinen, für den Fall, dass wir sie hochziehen müssen«, sagte Agalleos. Alain schlang ein aus Seilen geknüpftes Geschirr um den Brustkorb, den Rücken und den Bauch der Hunde, sodass sie nicht ersticken konnten. Er führte sie in den Spalt hinein; obwohl es noch immer drückend heiß war, gewährte der Schatten doch ein bisschen Erleichterung. Die Erbauer hatten das von der Natur vorgegebene Gefälle zu ihrem Vorteil genutzt, als sie die Stufen eingemeißelt hatten. Doch es war harte Arbeit, die Stufen zu erklimmen, denn sie waren sehr ungleichmäßig. Wer immer sie aus dem Fels gemeißelt hatte, hatte lediglich mit dem gearbeitet, was bereits vorhanden gewesen war, und so mussten Alain und seine Be314 gleiter manchmal nur winzige Stufen überwinden, andere Male jedoch riesige Abstände zwischen ihnen erklimmen. Es dauerte nicht lange, und er keuchte heftig. Shevros, der wieder voranging, schien dagegen ganz und gar nicht außer Puste zu sein, gerade so, als würde er jeden Morgen vor dem Frühstück solch Schwindel erregende Höhen erklimmen, Nach etwa hundert Schritten kamen sie zu der Falle, die aus einer schwankenden Brücke aus Seilen und Zweigen sowie einem Haufen Steine bestand, die im horizontal verlaufenden Spalt eines überstehenden Felsens von einem Gittertor zurückgehalten wurden. Soldaten, die die Falle im Gang auslösten, würden zermalmt werden, sobald sie die Brücke betreten hatten, und war die Brücke erst einmal zerstört, würde es ihnen unmöglich sein, dem Pfad weiter zu folgen. Maklos wartete, während die anderen die Brücke untersuchten. Die Hunde jaulten nervös angesichts des sich bewegenden Bodens, und so musste Alain sie einzeln hinüberführen. »Wie wird Maklos uns folgen?« »Es gibt eine in den Fels gehauene Leiter. Da vorn kann man den Anfang sehen.« »Er will den Felsen hochklettern?« »Es sind Griffe für Hände und Füße vorhanden. Man kann sie von hier aus aber nicht erkennen.« Maklos stand unten; er pfiff und grinste noch immer. »Hat er eine Freundin? Ich bin sicher, er wird ihr seine wagemutige Tat in allen Einzelheiten schildern.« Agalleos kicherte. »In diesem Falle gibt es eine Zuhörerschaft von zehn oder zwölf Personen.« Sie kletterten weiter, ruhten sich häufig aus. Ein- oder zweimal mussten sie die Hunde über steile Passagen tragen, aber schließlich hatten sie die Spitze erreicht. Alain taten die Beine weh, und seine verletzte Hand pochte schmerzhaft. Hier oben wuchsen Büsche, wenn auch nur spärlich und verstreut; der zerklüftete Kamm selbst bestand fast nur aus Fels. Sie gingen wieder zum Rand zurück, von 315 wo aus sie einen Schwindel erregenden Blick auf das Dornental und das Gebiet dahinter hatten. Eine überaus schroffe Felslandschaft präsentierte sich ihnen von hier oben. Im Süden und Osten hörte die markante Bergkette mit ihren tiefen Schluchten jedoch abrupt auf, und jenseits des jäh abfallenden Steilabbruchs erstreckte sich dunstiges Flachland, das in der Sommerhitze golden schimmerte. Shevros spuckte aus. »Das ist das Land der Verfluchten. Mögen sie alle verrotten.« Es war der längste Satz, den er je von sich gegeben hatte. »Wieso hasst du sie so sehr?«, fragte Alain. Shevros warf ihm einen geringschätzigen Blick zu, drehte sich zur Seite und zog sich anmutig in den Schutz der Felsen zurück. »Wir sind von den Verfluchten aus unserer Heimat vertrieben worden«, erklärte Agalleos. »Sie haben unsere Städte zerstört. Viele von unserem Volk mussten sterben. Viele von uns, die aus den zerstörten Städten entkommen sind, sind nach Osten in das Gebiet unserer Verwandten gezogen, zu den Stämmen der Ilios, um dort Zuflucht und eine neue Heimat zu finden, sofern so etwas möglich ist. Natürlich hassen wir sie.« »Ich bin auch aus meiner Heimat vertrieben worden.« »Hasst du jene denn nicht, die dich gezwungen haben zu gehen?« Alain dachte an Jeoffrey und schüttelte den Kopf. »Er hat nicht begriffen, was er getan hat. Er hat es für richtig gehalten und geglaubt, dass er sich nur zurückholt, was ihm zusteht.«
»Nun«, sagte Agalleos, »du bist noch jung. Komm jetzt.« Eine Zisterne lag zwischen den Felsen verborgen; es war genug Wasser darin, um davon zu trinken und sich den Staub von Gesicht und Händen zu waschen. Zu Alains Überraschung saß Maklos da und plauderte mit seinem Zwillingsbruder. Er wirkte sehr zufrieden mit sich. »Sie haben unsere Spur verloren«, sagte er zu Agalleos. »Sie sind nicht weiter als bis zu den verwitternden Säulen gekommen.« »Gut.« Agalleos schüttete sich Wasser über den Kopf, ließ es in Strömen über sein Gesicht fließen. »Wir werden also diesen Pfad 316 heute nicht verlieren. Morgen könnte er andere von uns retten.« Er maß den Stand der Sonne, die jetzt zur Hälfte den westlichen Horizont hinabgewandert war. »Wir werden bei Einbruch der Dämmerung weitergehen. Ich möchte den Kalkweg in der Nacht überqueren.« Alain begrüßte die Möglichkeit, etwas schlafen zu können. Er erwachte, roch Rauch und gebratenes Fleisch. Agalleos hatte tief zwischen den Felsen versteckt ein Feuer entfacht; trockener Zunder und viele Rauchlöcher verbargen seine Anwesenheit. Kummer und Rage kauten bereits an ein paar Knochen. Shevros hatte ein Dutzend kleiner Felsrebhühner gefangen, die die hungrigen Reisenden rasch verschlangen. Als die Sonne den westlichen Horizont berührte, schulterten sie ihre Sachen und wandten sich nach Nordwesten, wo der Bergkamm in ein großes Felsmassiv auslief. Es war noch genügend Licht vorhanden, um auf dem Kamm rasch voranzukommen. Als es zu dunkel wurde, um noch weitergehen zu können, hatten sie das hohe Plateau erreicht, von dem alle Schluchten, Täler und Kämme ausgingen. »Werden die anderen jetzt in Sicherheit sein?«, fragte Alain, als sie anhielten, um die Hunde an einer anderen Zisterne trinken zu lassen. »Schon lange«, erwiderte Agalleos. »Wir ruhen uns jetzt bis zum Mondaufgang hier aus. Danach müssen wir sehr leise sein, wenn wir weitergehen. Wir dürfen auf keinen Fall sprechen.« Alain erhielt die Erlaubnis zu schlafen, während die anderen Wache hielten. Zweifellos verstanden sie besser als er, worauf sie zu achten hatten. Im Gegensatz zu ihm kannten sie dieses Land, die Verletzung seiner Hand benebelte ihn etwas, und die Erschöpfung übermannte ihn. Er schlief, zutiefst dankbar für die Großzügigkeit seiner Kameraden. Sie weckten ihn bei Mondaufgang. Da der Himmel klar war, verströmte der abnehmende Mond noch immer genug Licht, sodass sie den felsigen Untergrund auf ihrem Weg zum Kiefernwald t erkennen konnten. Vögel und Insekten schwirrten durch die 317 Nacht. Der von der Hitze des Sommers ausgetrocknete Boden knirschte unter seinen Füßen. Hin und wieder ragten Felsvorsprünge wie ungleichmäßige Gesteinsblasen in die Höhe. Von einigen zähen Gräsern abgesehen waren sie bar jeder Vegetation. Es war leicht, die Sterne durch das dünne Blattwerk hindurch zu sehen. Der Fluss der Seelen strömte hell über den Himmel. Hatte er bereits angefangen, die Namen der Konstellationen zu vergessen, die Diakonissin Miria ihn gelehrt hatte? Der Reiher kämpfte sich auf dem Weg nach Westen nach oben; der Adler begann, in westlicher Richtung den Zenit zu verlassen. Doch welcher davon war der Name aus seinem alten Leben und welcher der, den Adica ihn gelehrt hatte ? Spielte das überhaupt noch eine Rolle ? Dies hier war jetzt sein Leben. Er hatte als Tausch für sein Leben alles aufgegeben; alles, was jetzt noch eine Rolle spielte, war hier. Das Wissen, dass am Ende dieses langen Weges Adica auf ihn warten würde, gab ihm Kraft. Ein Hauch von Furcht flatterte kurz auf, wie eine Fledermaus in der Nacht. War sie inzwischen aus ihrer Trance erwacht? Was, wenn ihre Vision sie immer noch gefangen hielt? Was, wenn sie nie mehr erwachte? Er schob seine Angst beiseite. Er hatte geduldig neben ihr gesessen, als sie im letzten Winter weit schlimmere TranceZustände durchlitten hatte; das war die Bürde, die damit verbunden war, eine Geweihte zu sein. Solange er über sie wachte, würde sie sicher sein. Je eher er zu ihr zurückkehrte, desto sicherer würde sie sein. Der Kalkpfad schimmerte hell vor ihnen, zog sich wie eine Linie aus Macht in grellem Weiß gerade durch den Wald. Sie näherten sich vorsichtig, lauschten auf andere Reisende, aber es blieb still. Am östlichen Horizont wurde der Himmel bereits grau. Die Morgendämmerung stand kurz bevor. Der Kalk kennzeichnete einen Weg, der breit genug war, dass zwei Personen nebeneinander hätten reiten können. Er führte nach Osten und nach Westen, so weit er nur sehen konnte - eine an keiner Stelle unterbrochene Linie aus Kalk, die mitten durch den unebenen Waldboden zu beiden Seiten führte. 318 Sie machten direkt vor "ihr Halt. Agalleos zog einen Beutel aus seinem Gepäck und ließ Samen, Spreu, Kräuter und Blütenblätter in seine Hand gleiten. »Bleibt zusammen. Geht schnell. Wir müssen so rasch wie möglich hinübergehen, während ich dies hier hochwerfe, sonst wissen die Verfluchten, dass wir diesen Weg genommen haben.« »Wie ist das möglich?« Alain packte Kummers Halsband noch fester; er ließ zu, dass Maklos Rage festhielt. »Der Kalkpfad markiert die Grenze der Länder, die die Verfluchten als ihre eigenen betrachten. Dieser Pfad spürt alle auf, die auf ihm gewandelt sind. Haben ihre Kundschafter erst einmal die Stelle gefunden, an der wir die Linie überquert haben, können sie uns noch Tage später aufspüren, nur aufgrund des Kalks an unseren Füßen. Die Magie von Königin Shuashaana wird uns jedoch schützen. Und jetzt geht.«
Er warf die Samen und die Spreu in die Luft. Sie hasteten quer über den Pfad, als die Mischung zu Boden schwebte und wie Funken um sie herum aufleuchtete, stolperten keuchend in den dürftigen Schutz der dahinterliegenden Bäume. Agalleos und seine Kameraden rannten weiter, begierig darauf, schnell von der Straße wegzukommen, doch Alain drehte sich um und warf einen Blick zurück. Dort, wo sie den Pfad überquert hatten, waren keinerlei Fußspuren zu sehen. Er sah überhaupt keine Spuren, die darauf hingedeutet hätten, dass sie dort gewesen waren. Selbst die Samen und die Spreu waren verschwunden. Eine letzte, leicht wie eine Daunenfeder herabschwebende Blüte leuchtete hell auf, als sie sich in eine auflodernde Flamme verwandelte und einen Fingerbreit von dem verräterischen Kalkpfad entfernt in Nichts zerfiel. Sie reisten den ganzen Tag über Land, rasteten in der Nacht in einer zerstörten Stadt, die zwar schon seit langem verlassen war, aber an den umgestürzten Wänden noch immer Spuren von Ruß 319 aufwies. Hier verspeisten sie eine Mahlzeit aus Wildbret und bröckeligem Wegebrot, das mit Anis gewürzt war und säuerlich schmeckte. »Dieser Weg ist länger, als ich gedacht hatte«, meinte Alain, als er sich auf einem Bett aus Blättern ausstreckte. Wolken verbargen die Sterne, doch es fiel kein Regen. »Wie weit sind wir gekommen? Wie weit müssen wir noch gehen?« Agalleos kniete neben ihm; er errichtete eine Feuerstelle aus Steinen und Ziegeln. Shevros und Maklos waren gegangen, um Fallen aufzustellen. Es war leicht, Vögel in dieser Wildnis zu fangen, die der Krieg aus diesem Land gemacht hatte. »Königin Shuashaanas Magie ist so mächtig, dass nicht einmal die Verfluchten sie besiegen können. Deshalb ist sie hier geblieben, während die meisten Überlebenden unseres Volkes weggegangen sind, um woanders neue Heime zu errichten. Die Berge in diesem Land sind von unzähligen Höhlen und Tunneln durchzogen, denn sie bestehen nur aus weichem Felsgestein. Die Königin hat das Labyrinth mit ihrer Magie versiegelt. Sie hat ein Tor gewebt, durch das man vom Land der Verfluchten in den Webstuhl vor ihrem Lager gelangen kann. Aber wenn man zu Fuß gehen muss, dauert es mehrere Tage. Wir müssen uns erst in Richtung Norden halten und dann nach Südwesten wenden.« »Abgesehen von dem Kriechpfad, von dem du gesprochen hast.« Agalleos grinste. »Das stimmt. Der Kriechpfad führt durch den Hügel hindurch in das Labyrinth. Dadurch erspart man sich drei Tage Zeit. Aber der Kriechpfad ist nur etwas für junge Männer.« Er lehnte sich zurück und betätschelte seinen Bauch. Er hatte nicht viel Fett auf den Rippen, war aber zweifellos stämmiger als seine jungen Begleiter; er hatte die typische Leibesfülle eines älteren Mannes. »Ich fürchte, ich bin zu rund geworden, um noch einen Kriechpfad entlangzurobben, obwohl ich es sehr gut konnte, als ich ein Junge war.« Er hob ein paar Ziegel auf. »Nein, Freund. Gönne deiner Hand etwas Ruhe. Ich kann das selbst machen.« Der Ruf einer Wachtel erklang in der Dunkelheit, und er beantwortete ihn 320 leise und sanft. Shevros tauchte auf, ein paar Rebhühner und zwei Fasane in der Hand. »Du musst Geduld haben«, erklärte Agalleos, während er weiter die Feuerstelle vorbereitete. »Es hilft uns, Vorsicht walten zu lassen. Nur noch drei Tage.« In der Morgendämmerung aß Alain eine gute Portion saftiges Fleisch, und noch immer war genug übrig, das sie als Tagesproviant mitnehmen konnten. Schon bald nachdem sie sich wieder auf den Weg gemacht hatten, kamen sie an einem Wachturm vorbei, der auf einem kleinen Hügel lag. Vom Schutz der Bäume aus konnte Alain die Wachen auf der Mauer sehen. »Dieser Turm hat einst Narvos' Clan gehört«, murmelte Maklos mit einem Blick, der vermuten ließ, dass er unter dem Verlust noch immer litt. »Die Verfluchten haben ihn eingenommen, als ich noch ein Junge war.« »All dies ist einmal unser Land gewesen«, erklärte Agalleos. »Und das wird es auch wieder sein«, bemerkte Maklos. Sie blickten sich an, und irgendetwas an ihren veränderten Mienen, ihrem grimmigen Stirnrunzeln verursachte Alain eine Gänsehaut, als hätte ein kühler Windhauch ihn berührt oder ein böser Geist ihm seine kühlen Lippen mitten aufs Herz gedrückt. Sie gingen tiefer in den Wald hinein, nach Norden in das zerstörte Land. Gegen Mittag erreichten sie den Fluss. Er war so ganz anders als alle Flüsse, die Alain aus dem Norden seiner Heimat kannte, gar nicht wie die Rhaune oder Veser mit ihren breiten Ufern und ihrer gleichmäßigen Strömung. Diesen Fluss hätte noch nicht einmal ein Aikha-Schiff bezwingen können; er war zu felsig, zu flach, zu reißend. Die Furt wurde von einem Außenposten der Verfluchten bewacht, der aus einer Palisade, einem Steinturm und zwei konzentrischen Gräben bestand, die ihn vor Angriffen schützen sollten. Eine steingepflasterte Straße führte nach Norden, ein Meisterwerk alter Wegebaukunst. »Sie bringen ihre Heere jetzt nach Nordwesten«, flüsterte Agalleos. »Sie wollen gegen das Pferde-Volk kämpfen.« 321 Alain erzählte ihnen von der Gruppe, die die Königinnengruft überfallen und Adica entführt hatte. »Glaubst du, sie können die Webstühle benutzen? Sind sie auf diese Weise hierher gekommen?« Agalleos strich sich nachdenklich über den Bart, als verschaffte ihm dieses Thema Unbehagen. »Ich habe davon gehört. Ich habe es nie gesehen, aber wieso sollte ich auch? Ich bin kein Geweihter, dem es gestattet wäre, einen Hauch der Magie der Himmel zu erhaschen. Die Verfluchten haben kräftige Beine, und ihre Heere werden
immer größer. Sie haben Straßen und ihre eigene verfluchte Magie. Wieso sollten sie uns das Wenige, was wir besitzen, stehlen?« »Um uns zu versklaven«, meinte Maklos. »Sie könnten uns alles nehmen bis auf den Tod. Und selbst den könnten sie uns nehmen und ihren Göttern geben. Dies ist noch nicht einmal ihr Land. Ich wünschte, sie würden auf ihre Schiffe zurückkehren, und das Meer würde sie verschlucken.« »Aber haben die Geweihten denn nicht irgendein großes Weben geplant?«, fragte Alain. »Genügt ihre Magie denn nicht, um sie zu vernichten und -« Agalleos schlug ihm mit der Hand kräftig auf den Mund. »Sprich nicht von dem, was verboten ist. Wir sind keine Geweihten. Es ist uns nicht erlaubt, von solchen Geheimnissen zu hören oder auch nur ihre Existenz zu erwähnen.« Shevros starrte Alain an, als wären ihm plötzlich Hörner an Stelle von Ohren gewachsen. Rage knurrte, und Agalleos blickte die Hunde nervös an, wich hastig einen Schritt zurück. Maklos, der dem Waldrand am nächsten war, zischte leise. »Onkel, schau dir das an.« Alains Gesicht brannte noch immer von dem unerwarteten Schlag. Sein Herz raste, und doch fühlte er auch Scham in sich aufsteigen. Welches Recht hatte er, in den Geheimnissen herumzustöbern, die Adica und ihre Kameradinnen bewahrten? Derentwegen sie gelitten hatten und gestorben waren, deren Beherrschung 322 sie solange hatten erlernen müssen? Doch je mehr er wusste, desto eher würde er Adica helfen können. Groll breitete sich in ihm aus. Welches Recht hatte die Geheiligte, ihn in eine Welt zu stoßen, die er nicht verstand, ihn aufzufordern, seinen Teil beizutragen, ohne ihm jemals die Wahrheit zu sagen? Er hatte so viele Fragen. Wieso konnte er seine Kameraden verstehen? Weil es das Leben im Jenseits war? Aber er war nicht in der Lage gewesen, Zweifinger zu verstehen, genauso wenig wie das Volk in der Wüste oder die Akka. Vielleicht war dies nicht das Jenseits, sondern einfach nur ein anderes Leben. In der Tat wirkten die Leute hier nicht so sehr anders, auch wenn ihm ihre Gewohnheiten und Geheimnisse nicht vertraut erschienen. Kummer leckte ihm die Hand. Wie auch immer, sie waren in Shu-Shas Land gekommen, um die Geheiligte zu retten - nur deswegen waren sie hier. Hatten sie sie erst einmal gerettet, würde sie seine Fragen beantworten können. »Schsch!« Agalleos winkte Shevros zu sich. »Siehst du die Standarte? Was ist das für ein Zeichen?« Alain schlich zu ihnen, um ebenfalls etwas sehen zu können. Besucher waren beim Außenposten angekommen; es waren mindestens zweihundert Leute, hauptsächlich Soldaten in Bronzerüstungen mit Helmen und langen Speeren, die - wie er inzwischen wusste - typisch für die Verfluchten waren. »Das Blutmesser.« Shevros hatte die schärfsten Augen. Alain konnte die Insignien auf der weißen Standarte nicht ganz ausmachen, die aus einem schmalen Stoffstreifen bestand, der an einem Schaft befestigt war. »Seht nur. Es sind die Federn des Hohepriesters.« Shevros' Worte ließen die anderen verstummen. Sie beobachteten die Gruppe von ihrem Versteck aus, während sie durch das Tor trat und hinter der Palisade verschwand. Sie alle hatten einen Blick auf die Gestalt werfen können, die einen beachtlichen Kopfschmuck aus schillernden blaugrünen Federn trug. 323 Mit schwerer Stimme ergriff Agalleos das Wort. »Es kann nur einen Grund geben, weshalb der Hohepriester von Schlangenrock seinen Tempel in der Stadt der Schädel verlassen würde. Er muss die Rückkehr einer wichtigen Gefangenen überwachen. Oder sie töten.« Sie blickten sich jetzt an, der Onkel und seine beiden jungen Neffen. Sie sprachen nicht mit Worten, sondern mit ihren Mienen. Fragen wurden gestellt, eine Entscheidung wurde getroffen, und Alain begriff noch immer nicht, was eigentlich vor sich ging. Aber sie taten es. »Ich gehe zurück zum Lager«, erklärte Shevros. »Ich kenne den Kriechpfad am besten.« Er grinste ein bisschen, als er seinen Zwillingsbruder ansah. »Ich kenne dich, Maklos. Du wirst unzufrieden sein, wenn du nicht weitergehst. Ich wünsche dir all den Ruhm, den es dir bringen kann. Aber pass auf, dass du nicht getötet wirst.« Er packte seinen Bruder bei den Schultern und gab ihm einen Kuss auf beide Wangen. »Was geht hier vor?«, erkundigte sich Alain. Sie blickten ihn an, als hätten sie ganz vergessen, dass er da war. Agalleos' Worte waren eindringlich genug gewesen, um ihm die Unterhaltung in Erinnerung zu rufen, die er in den letzten Augenblicken, bevor er weggegangen war, mit Laoina geführt hatte. Rage jaulte. Am nördlichen Tor erschien wieder der Priester mit seiner Eskorte, unterstützt von einem Dutzend Männern vom Außenposten, die jetzt zur Furt marschierten und begannen, den Fluss zu überqueren. »Du glaubst, diese Gruppe will die Geheiligte von dem Ort holen, an dem man sie gefangen hält.« »Wir müssen ihnen folgen«, erklärte Agalleos. »Wir können es nicht riskieren, ihre Spur zu verlieren. Shevros wird über den Kriechpfad zum Lager zurückkehren und die Königin warnen. Dann kann sie zumindest bis hierher eine Gruppe von Kämpfern schicken. Auf diese Weise können wir die Geheiligte vielleicht zurückholen. Ansonsten -« Er zuckte mit den Schultern und machte eine Geste, als würde ihm die Kehle durchtrennt. 324 »Ich muss zum Lager zurückkehren, zu Adica.« »Wenn du das tun musst, dann geh.« In Agalleos Worten schwang weder Wut noch Anklage mit. »Aber wenn du
Shevros begleiten willst, musst du es sofort tun, und du musst deine spirituellen Führer bei uns lassen. Wir werden auf sie aufpassen, so gut es geht. Wir werden sie dir sicher und wohlbehalten zurückbringen, wenn das irgendwie möglich ist.« Shevros war bereits dabei, seine Sachen abzulegen; er behielt lediglich ein Messer, zwei Wasserhäute und einen Beutel mit Nahrung bei sich. Schild und Speer ließ er jedoch zurück, ebenso wie das Schwert. »Oh, Gott«, murmelte Alain, dem die Wehmut schier das Herz zerriss. Die Hunde musterten ihn geduldig. Tränen traten ihm in die Augen. Shevros, mittlerweile zum Aufbruch bereit, blickte ihn erwartungsvoll an. Er wartete auf eine Antwort. »Wieso ist die Geheiligte so wichtig?«, fragte Alain schließlich. Er konnte hören, wie sich die Worte aus seinem Mund drängten, und fühlte sich wie ein Mann, der über einem Abgrund an einer Felskante hing und nach einem kleinen Zweig griff. »Ohne die Schamanin des Pferde-Volks können die Geweihten ihre Magie nicht wirken«, sagte Agalleos, »jedenfalls habe ich das so gehört. Mehr weiß ich nicht.« Er blickte ungeduldig zur Furt; die Hälfte der Gruppe um den Priester hatte sie bereits durchquert. Ein Floß war dem Mann mit dem Federkopfschmuck gebracht worden. »Das ist auch schon alles, was ich wissen muss. Ich unterstehe in diesem Krieg gegen die Verfluchten ihren Befehlen.« »Die Geheiligte hat mich hergebracht«, murmelte Alain. »Sie hat mir das Leben gerettet.« Er hatte nicht wirklich eine Wahl. Er hatte eine Schuld zu begleichen. Die Ehre verpflichtete ihn dazu. Und außerdem konnte er die Hunde nicht schon wieder allein lassen. »Ich werde bei euch bleiben.« 325 4 Sie träumte. Sieben Juwelen leuchten an den sieben Spitzen von Taillefers Krone, entschwinden. Aber vielleicht ist es auch sie, die sich zurückzieht, zurück und empor, sodass schon bald zwischen den einzelnen, Licht verströmenden Juwelen ein Band der Dunkelheit liegt, als befänden sich tausend Wegstunden Land zwischen ihnen. Es ist eine riesige Sternenkrone, die sich über dem Land ausbreitet. Doch das blinkende Licht dreht sich wie ein unruhiges Tier, als sie die mit Schätzen angefüllte Höhle betritt. Der junge Berthold, Villams verlorener Sohn, schläft friedlich auf einem Bett aus Gold und Silber. Sechs Kameraden liegen schlummernd um ihn herum. Ihr Atem bildet einen feuchten Nebel, und durch diesen Nebel sieht sie auf eine andere Szenerie, in der eine Frau mit Schwingen aus Feuer durch ein kaltes, unfruchtbares Land wandert. Die geflügelte Frau wendet ihr Gesicht ab, doch sie ist überzeugt davon, dass sie sie kennt; sie muss sicher nur sprechen, sie berühren »Schwester, ich bitte Euch, wacht auf.« Abrupt erwachte sie. Um sie herum herrschte Dunkelheit. Eine Lampe schwankte über ihr, von den unruhigen Händen ihrer Bediensteten Aurea gehalten. »Schwester.« »Was ist los, Bruder Fortunatus?« Er saß auf der Bettkante und hielt ihre Hand. Sie spürte, wie kalt ihre Hand sich anfühlte, wie warm dagegen seine. »Geht es Euch heute besser? Glaubt Ihr, Ihr könnt aufstehen?«, fragte er und warf gleichzeitig einen besorgten Blick zur Tür, die noch immer im frühmorgendlichen Schatten lag. Aurea setzte die Lampe ab und blickte den Geistlichen stirnrunzelnd an. Rosvita vermutete schon seit einiger Zeit, dass Aurea eine gewisse Zuneigung zu Fortunatus entwickelt hatte, doch der Geistliche hatte sein Leben der Kirche gewidmet und blieb seinem 326 Gelübde der Enthaltsamkeit und Hingabe zu Gott treu - im Unterschied zu einigen seiner Brüder. »Ich habe Euch doch gesagt, dass Ihr meine Herrin nicht belästigen sollt«, erklärte Aurea. »Auch wenn es stimmt, dass es ihr heute schon viel besser geht.« »Ihr seid doch selbst krank gewesen, Fortunatus«, sagte Rosvita. »Das Sommerfieber hat viele von uns erwischt, Schwester«, räumte er ein. »Mir geht es aber ziemlich gut.« »Ihr seid zu dünn. Und Ihr seht noch immer ziemlich müde aus.« »Das hier duldet aber keinen Aufschub, Schwester.« Sie setzte sich auf. Sie war etwas benommen, fühlte sich ansonsten aber einigermaßen kräftig, verspürte sogar Hunger. »Wenn Ihr meint, Bruder. Gewährt mir nur ein bisschen Zeit.« Er zog sich hastig zurück und wartete draußen in der Halle. Drei junge Geistliche eilten zu Rosvita und wuselten eifrig um sie herum, während Aurea ihr bei der morgendlichen Ankleideprozedur half. »Schwester Rosvita! Wie gut Ihr heute ausseht!« Die Stimme gehörte der jungen Schwester Heriburg, einer kleinen, stämmigen Frau mit einem glatten, freundlichen Gesicht und engelsgleichen Händen, was das Schreiben betraf. »Schwester Hospitalia hat erklärt, dass letzte Nacht nicht eine einzige Seele gestorben ist.« Schwester Ruoda schritt zum Fenster und stieß die Läden auf. Als die furchtsame Schwester Gerwita protestierend aufschrie, winkte Ruoda ab. »Ach was! Wenn die Ansteckungsgefahr dieses Gifts nachlässt, ist auch die Luft nicht länger verseucht, und ich muss sagen - ich bitte um Vergebung, Schwester Rosvita -, dass es hier drin ganz schön
stinkt!« Rosvita lachte, während Aurea missbilligend die Augen verdrehte und die Lippen zusammenpresste. Aber die jungen Frauen waren selbst wie ein Hauch frischer Luft, wie es die Alten vor langer Zeit ausgedrückt hätten. Rosvita sah zu, wie sie geschäftig ihren Aufgaben nachgingen und verschiedene Dinge wieder an Ort 327 und Stelle rückten: Sie strichen die Decken glatt, schlössen die beiden Bücher, in denen Rosvita gelesen hatte, wischten Sand vom Tisch, säuberten die Feder, die Rosvita am Abend zuvor vergessen hatte. Sie hatte so lange an ihrer Geschichte gearbeitet, dass die Müdigkeit sie regelrecht überrumpelt und direkt ins Bett getrieben hatte. Die Schwestern waren so jung, so klug. Und so voller Energie. Rosvita erinnerte sich daran, dass sie selbst einmal so leidenschaftlich gewesen war, überwältigt vom Ruhm und Glanz der Königlichen Schule. »Da es Euch wieder besser geht«, sagte Schwester Heriburg, die nicht ganz so kühl war, wie es auf den ersten Blick schien, »werde ich die Bediensteten veranlassen, unsere Pritschen zurückzubringen. Ihr müsst nicht mehr alleine schlafen.« »Selbst in der Küche wird darüber geredet, dass letzte Nacht niemand gestorben ist«, bemerkte Aurea, während sie Rosvita beim Ankleiden half. »Die Leute hier behaupten, dass ein Morgen ohne Tote ein Zeichen dafür ist, dass das Fieber sich verausgabt hat und der Herbst nicht mehr lange auf sich warten lässt.« »Es wäre wahrlich ein Segen.« Rosvita saß geduldig da, während Aurea ihre zerzausten Haare kämmte, flocht und im Nacken zusammensteckte und dann eine juwelenbestickte Stoffkappe darauf setzte. Fortunatus, der offensichtlich sehr unruhig war, kam wieder ins Zimmer geschlichen und setzte sich auf das Bett, da Rosvita den einzigen Stuhl genommen hatte. »Worüber sorgt Ihr Euch so, Bruder?« »Gewisse Nachrichten. Ich habe einen Adler herreiten sehen. Sie kommt aus dem Norden von Prinzessin Theophanu. Aber man hat sie nicht zu Königin Adelheid geführt, sondern zu Presbyter Hugh.« »Vielleicht hat die Königin geschlafen. Wegen des Kindes ist sie nachts häufig auf.« Sie zögerte, als sie seine zweifelnde Miene sah. »Es gibt doch sicher keine Gerüchte über unziemliche Vertraulichkeiten zwischen der Königin und dem Presbyter?« »Nein.« Er grinste, und einen kurzen Augenblick huschte der 328 vertraute Schalk über sein Gesicht, der immer dann zum Vorschein kam, wenn er Unsinn im Kopf hatte. »Jedenfalls keine, die Ihr nicht selbst ausgesprochen hättet.« Ruoda konnte nicht älter als achtzehn sein, und sie hatte noch nicht gelernt, ihre Zunge im Zaum zu halten. »Sie sind ein hübsches Paar, wenn sie zusammen Hof halten - was sie ja nun tun, da König Henry im Süden unterwegs ist.« »Königin Adelheid ist dem König ergeben!«, protestierte Heriburg entrüstet. »Sicher, und das wäre ich auch, wenn er mir den Thron zurückgegeben und mein Kind gezeugt hätte.« »Still, Kinder«, schalt Fortunatus so sanft wie möglich. Es war deutlich unruhiger und tumultartiger geworden, seit sie wieder Zuwachs bekommen hatten, aber ebenso wie Rosvita genoss er es. Er wandte sich an die ältere Schwester, »Nicht eine einzige Seele in Darre verliert jemals ein schlechtes Wort über Presbyter Hugh. Wieso auch? Es gibt keinen Menschen mit einem sanfteren Benehmen oder einer edleren Haltung als ihn.« Hatten seine Lippen gerade vor Sarkasmus gezuckt? Diesmal konnte sie es nicht erkennen. »Er ist hübsch«, erklärte Aurea unerwarteterweise. Sie ging gewöhnlich nicht mit ihren Ansichten hausieren, und Rosvita war auch nicht daran gewöhnt, sie um ihre Meinung zu fragen. »Aber ich habe nicht vergessen, was damals in Werlida geschehen ist, die Sache mit Prinz Sanglant und dem gottlosen Adler. Wie meine Mutter immer gesagt hat - Eisenhut ist eine schöne Pflanze, aber auch so tödlich wie verrottetes Fleisch.« »Ein hübscher Vergleich«, murmelte Fortunatus mit einem Kichern. Er sah die Bedienstete an, als hätte er sie nie zuvor gesehen. Sie errötete. Aurea war alt genug, um innerlich gefestigt zu sein, aber sie war auch noch jung genug, um ans Heiraten denken zu können - sofern sie einen Ehemann fand, der ihr genügend Sicherheit bieten konnte, dass es sich für sie lohnen würde, die Rundreise des Königs zu verlassen. Bisher hatte sie einen solchen Ehe329 mann noch nicht gefunden. Und Bruder Fortunatus bot sich da ganz sicher nicht an. Rosvita fragte sich, ob sie das der jungen Frau nicht einfach schonend beibringen sollte. Hier in Darre, wo so viele Presbyter beisammen waren, hatte sie viele Mätressen gesehen, die in kleinen Häusern in der Nähe des Amurrin lebten. Es war für Frauen tatsächlich einfacher, sich den Verlockungen der Versuchung zu widersetzen, denn sie waren weniger empfänglich für voreiliges, spontanes Handeln. Aber selbst so schenkten zu viele Geistliche der verführerischen Stimme des Feindes Gehör. Die Menschheit war schwach, was immer der heilige Daisan auch gepredigt hatte. Es war immer ein Kampf. »Ich bitte dich, Aurea, bring mir etwas Brot, sofern welches da ist.« »Natürlich, Schwester Rosvita.« Die eine Hand erhoben, um das errötete Gesicht zu verbergen, verließ Aurea das Zimmer. »Schwester Gerwita, da es mir jetzt wieder besser geht, wünsche ich später wie gewöhnlich die Anwesenheit von Bruder Eudes und Bruder Ingeld.« Die junge Geistliche nickte gehorsam und verschwand. Rosvita betrachtete schweigend Heriburg und Ruoda; beide erwiderten ihren Blick. Sie stammten aus dem Kloster Korvei und waren
noch ziemlich jung, aber Mutter Otta hatte sich persönlich dafür eingesetzt, dass sie in Rosvitas Dienst treten konnten. Sie seufzte angesichts der unausweichlichen Erkenntnis, dass sie Verbündete benötigen würde, und wandte sich wieder Fortunatus zu. »Fahrt fort, Bruder. Wir sind jetzt unter uns, und ich gehe davon aus, dass wir nicht belauscht werden können.« Er blickte sich noch einmal prüfend um, als erwartete er, irgendwo einen Spion oder eine Spionin zu sehen, doch den beiden Mädchen vertraute auch er. Es drang inzwischen genug Licht von draußen herein, dass die bemalten Wände immer deutlicher zu erkennen waren: geometrische Figuren, deren Ränder von Blumen umrahmt waren und in deren Innern sich Wandmalereien mit Darstellungen vom Tod der Märtyrer befanden: St. Asella, die lebendig in einer Einsiedel-Zelle eingemauert worden war; St. Kristine 330 von den Messern; St. Gregory, der von Hunden zerfleischt worden war; St. Sebastian, der von hundert Pfeilen durchbohrt worden war. »Erinnert Ihr Euch an das Kloster St. Ekatarina?«, fragte Fortunatus. »Wie könnte ich jemals vergessen, was dort geschehen ist? Immerhin vertraut Königin Adelheid Hugh jetzt aufgrund der Hilfe, die er uns damals geleistet hat.« »Eine Hilfe durch Zauberei.« Heriburg fuhr zusammen, sagte aber nichts. Ruoda beugte sich begierig nach vorn; der Schal glitt ihr vom Kopf und enthüllte ihre honigfarbenen Haare. »Das stimmt«, räumte Rosvita ein. »Und wir alle sind dadurch befleckt. Wir wissen, welche Macht er besitzt, aber wir dürfen es nicht sagen, weil wir zugelassen haben, dass er sie benutzt hat, um uns die Flucht vor Eisenkopf zu ermöglichen.« »Ich bitte Euch, geht nicht so hart mit Euch ins Gericht, Schwester.« Er hielt inne, wie ein Fuchs, der kurz davor stand, ein Ei zu stehlen, dann fuhr er mit der Hand in den Ärmel des anderen Arms. Sie hörte etwas rascheln. »Erinnert Ihr Euch an die junge Laienschwester Paloma?« »Das junge Täubchen? Das arme Kind! Von der harten Arbeit wird sie schon bald ganz verkümmert und vertrocknet sein, noch dazu gebunden an einen solch einsamen Ort.« »Sie ist hier.« »In Darre?« »Still, Schwester.« Stand da etwa Schweiß auf seiner Stirn? Hatte er wirklich so viel Angst? Eine Brise strich durch den stickigen Raum - genug, um den schlimmsten Teil der schlechten Luft hinauszubefördern. Sie war einige Tage hier eingesperrt gewesen, um sich von dem Fieber zu erholen. »Ich habe sie zwar nicht erkannt, aber sie wusste genau, wer ich bin. Sie bat mich, sie nach den Vigilien draußen bei den Hecken zu treffen, wo ich gewöhnlich bis Laudes umhergehe. Sie sagte, sie wäre auf Anord331 nung von Mutter Obligatia hier und hätte eine Nachricht für Euch, doch wegen Eurer Krankheit konnte sie Euch nicht selbst aufsuchen.« »Sie hätte auch zu uns kommen können!«, rief Ruoda. »Ihr seid aber in St. Ekatarina nicht dabei gewesen«, erwiderte er. »Sie kennt euch doch gar nicht.« Er wandte sich wieder an Rosvita. »Sie hat mir das hier gegeben.« Er zog ein fein zusammengerolltes Pergament aus dem Ärmel und reichte es Rosvita so vorsichtig, als handle es sich um eine schlafende Schlange, die jederzeit zubeißen konnte. Sie breitete das Pergament auf dem kleinen Tisch aus, der neben dem nach Osten zeigenden Fenster stand. Die Sonne schob sich jetzt über den Horizont und verströmte ihr Licht auf dem Tisch, sodass die Linien auf dem Pergament deutlich zu sehen waren. »Eine Karte.« Fortunatus erhob sich und trat neben sie. Er beugte sich über den Tisch. Ruoda und Heriburg standen dicht hinter ihm. Sie alle hatten bereits in den Bibliotheken der Klöster und in der Gelehrtenschule von Autun Karten gesehen, allerdings hatten die meisten davon aus der Zeit des dariyanischen Kaiserreiches gestammt. Kaiser Taillefer hatte Kartenzeichner damit beauftragt, die Grenzen seines heiligen Reiches aufzuzeichnen, aber das, was von diesen Karten übrig war, wirkte grob und unsauber im Vergleich zu den Bemühungen der alten Gelehrten. Die große Bibliothek im Palast der Skopos enthielt ebenfalls eine Reihe zerknitterter Karten aus längst vergangenen Zeiten, meist aus zerbrechlichem Papyrus, das bei jeder Berührung zu zerfallen drohte. Diese Karte hier war unbeholfen und erst vor kurzem gezeichnet worden, allem Anschein nach sogar hastig; die Tintenflecke waren nicht weggekratzt worden, und die Küstenlinie von Aosta - von Seefahrern und Kaufleuten des alten Reiches gut kartographiert - war kaum erkennbar. Außerdem war die große Insel jenseits der Westküste nur durch ein einfaches Oval mit dem Namen »Alba« gekennzeichnet, obwohl Rosvita in Autun eine Karte gesehen hatte, auf 332 der die südliche Küste verzeichnet war, hergestellt in der Zeit von Taillefers Großvater, der seinen jüngeren Sohn mit einer Königin von Alba verheiratet hatte. »Was sind das für Zeichen?« Fortunatus deutete auf ein paar Kratzer, die wie Hühnerspuren aussahen und hier und dort auf dem Land verteilt waren - unstet, aber mit Zahlen versehen. »Einige der Zahlen wiederholen sich. Was könnten sie bedeuten?«
Rosvita hätte sie erkannt, auch ohne sich an ihren Traum zu erinnern. Sie hatte nie vergessen, was sie in der Chronik der heiligen Schwestern im Kloster St. Ekatarina gelesen hatte. Und sie hatte auch nie die Unterhaltung vergessen, die sie an diesem schicksalhaften Tag geführt hatte. »Wie Mutter Obligatia mir gesagt hat, glaubte ihre Vorgängerin daran, dass die Steinkronen Tore wären.« »Als was sie sich ja auch erwiesen haben«, meinte Fortunatus. »Aber das erklärt noch nicht -« »Nein, Bruder, seht, was sie hier geschrieben hat.« Er runzelte die Stirn. »Ich fürchte, mein Arethusanisch ist noch nie sonderlich gut gewesen, Schwester. Ihr kennt meine Schwächen. Was steht da?« »Heriburg, würdest du das bitte lesen?« Rosvita hätte es natürlich genauso gut selbst lesen können, aber sie hielt es für besser, den jungen Frauen hin und wieder die Möglichkeit zu geben, ein bisschen zu glänzen. Die junge Geistliche errötete, blickte aber zufrieden drein. Sorgfältig las sie die arethusanischen Worte vor. »Wir haben getan, was wir tun konnten. Gibt es ein Muster?<« »Was soll das bedeuten?«, fragte Ruoda, die unfähig war, längere Zeit zu schweigen. »Das hier sind Steinkreise. Diese Zahl kennzeichnet die Anzahl der Steine, die jeweils in dem Kreis stehen. In Alba gibt es zwei Steinkronen, von denen die eine aus sieben und die andere aus neun Steinen besteht. Hier ist die Küste von Salia. Südlich von Salia liegen die Länder, in die die jinnischen Ungläubigen einge fal333 len sind. Südlich von Salia sind Varre und Wendar. Das ist die Nordmark; von dort komme ich. Sie grenzt ans Bernsteinmeer.« »Was ist das hier für ein Land?« Fortunatus deutete auf eine schwache Linie, die nördlich vom Bernsteinmeer verlief. »Das muss das Ufer des Aikha-Landes sein. Südlich von Wendar liegen die Marklande, und noch weiter südlich - nein, hier ist nichts mehr eingezeichnet, wie ich sehe. Dort ist nichts als Wildnis.« »Das Land der Finsternis«, murmelte er. »Richtig. Das Alfar-Gebirge liegt südlich von unserer Heimat, und das hier ist Aosta. Hier, entlang der Küste des Mittleren Meeres, liegt Arethusa.« »>Hütet euch vor den Geschenken der Arethusaner!< Ich sehe keine Steinkronen in den Ländern der Ketzer.« »Ich auch nicht. Aber es ist schwer zu sagen, ob wirklich keine da sind oder ob die guten Schwestern von St. Ekatarina einfach, nichts davon wussten. Sie konnten nur die eintragen, von denen sie gehört hatten, und sicherlich gehen sie nicht davon aus, alles zu wissen.« »Nur wenige tun das.« Sie lächelte über seinen vertrauten, freundlichen Humor. »Gibt es ein Muster, das man erkennen könnte?« Seine Lippen zuckten. »Es gibt keinen Kreis, der aus nur einem einzigen Stein besteht.« »Oder auch aus zweien. Das wäre eine schöne philosophische Frage für die Gelehrtenschule der Skopos, nicht wahr?« »Der Geometer St. Peter hätte sicher einiges zu der Frage zu sagen, wie viele Punkte nötig sind, um von einem Kreis sprechen zu können«, meinte Ruoda. »Eine solche Diskussion würde ich dich führen lassen, Ruoda«, meinte Rosvita erneut lächelnd. Ruoda besaß Anmut genug, zu erröten, doch Rosvita wollte die jungen Geistlichen, die unter ihrer Aufsicht standen, gar nicht wirklich dafür tadeln, dass sie das Lernen möglicherweise ein bisschen zu sehr liebten. Das Alter 334 würde sie schon früh genug demütig werden lassen, wie sie von ihrem eigenen schmerzenden Rücken wusste, von den Kopfschmerzen, die ein Überbleibsel des Sommerfiebers waren, das ihr noch immer zusetzte. Auch Heriburg und Ruoda waren erkrankt, hatten sich aber rasch wieder erholt; sollten sie ruhig glauben, dass die Jugend und eine robuste Gesundheit sie noch ein Weilchen länger schützten. Die Welt würde sie ohnehin bald eines Besseren belehren. Fortunatus schritt plötzlich zum Fenster und beugte sich hinaus, als wollte er sicherstellen, dass sich keine Vögel zum Lauschen auf dem Fensterbrett niedergelassen hatten. Schließlich drehte er sich wieder um. »Die kleine Taube hat auch eine mündliche Nachricht für Euch, Schwester. Ich soll sie morgen nach den Vigilien treffen, um ihr Eure Antwort zu überbringen.« »Kann sie denn nicht selbst zu mir kommen?« »Sie befürchtet, schon dadurch Aufmerksamkeit auf sich gelenkt zu haben, dass sie nach Euch gefragt hat. Ich weiß nicht, wovor sie so viel Angst hat, aber ich habe ihr versprochen, ihre Bitte zu respektieren. Sie scheint mich vertrauenswürdig zu finden.« Rosvita lächelte. »Seht nicht so niedergeschlagen drein, Bruder Fortunatus. Ein Lob wegen guten Benehmens ruiniert zwar Euren Ruf als Verworfener, aber ich bin sicher, Ihr werdet Euch im Laufe der Zeit davon erholen.« Ruoda gluckste. Als Fortunatus ebenfalls kicherte, wenn auch deutlich leiser, fuhr sie fort. »Bitte sagt mir, welche Nachricht Mutter Obligatia mir zukommen lässt.« »Eine sehr rätselhafte, würde ich meinen. Eine Frau ist auf der Suche nach Zuflucht im Kloster erschienen. Sie ist vorläufig im Gästehaus untergebracht, möchte aber als Nonne aufgenommen werden. Sie nennt sich selbst Schwester Venia und behauptet, sie hätte einen Teil ihrer Ausbildung in der Gelehrtenschule von Mainni erhalten, einen weiteren Teil in St. Hillary in Karrone. Ihrem Akzent und Verhalten nach glaubt die gute Mutter,
dass sie aus einer edlen Familie stammt, entweder aus dem südlichen Varre oder dem Königreich Karrone. Die gute Mutter möchte wissen, 335 ob Ihr von ihr gehört habt. Sie ist eine alte Frau, freundlich, an körperliche Arbeit nicht gewöhnt, aber sehr gebildet.« »Ich kenne keine solche Frau.« Sie sah die beiden Mädchen an, die lediglich die Schultern zuckten. Sie waren mit Rosvita und dem König in den Süden gekommen und wussten noch weniger als sie. »Gibt es noch mehr?« »Das ist alles, was das Mädchen mir gesagt hat. Um aufrichtig zu sein, Schwester Rosvita, ich wundere mich etwas darüber, dass Mutter Obligatia es nicht begrüßt, weitere Nonnen aufzunehmen. Ihr Kloster schrumpft doch immer mehr. Es ist sicherlich nicht leicht, Novizinnen an solch einen ungastlichen Ort zu locken.« »Leider müssen wir in diesen Zeiten sehr argwöhnisch sein. Ich sage Euch ganz offen, ich würde mich nicht einmal hier im Palast bei den Geistlichen nach dieser Frau erkundigen, aus Angst, dass ich wie Paloma die Aufmerksamkeit auf mich ziehen würde.« »Aber wir könnten es tun«, meinte Ruoda. »Diese eleganten aostanischen Geistlichen halten uns ohnehin für wendische Barbarinnen. Wenn wir vorsichtig vorgehen, wird niemand sich etwas bei unseren Fragen denken.« »Besonders dann nicht, wenn die Frage nach Schwester Venia nur eine von vielen ist«, murmelte Heriburg. Dafür, dass sie eigentlich eine so ordentliche, ruhige Seele war, trat hin und wieder ein verblüffend schelmischer Glanz in ihre Augen. Rosvitas Vater, Graf Harl, hatte seine temperamentvollsten Hunde in einer ganz bestimmten Weise abgerichtet: indem er ihnen mit jeder Lektion ein bisschen mehr Freiheit gewährte, statt sie mit Schlägen zur Unterwerfung zu zwingen. »Also gut, aber Ihr dürft nicht -« Die Tür öffnete sich ohne Vorwarnung. Rosvita schlug ihre Hände auf das Pergament, obwohl es eine vergebliche Mühe war, es zu verbergen. Aurea trat mit einem Tablett ein, auf dem sich Brot und Wein befanden. Ihr Gesicht war gerötet, als wäre sie zu schnell gelaufen. »Schwester Rosvita! Eben ist ein Presbyter von Edelmann Hugh 336 eingetroffen. Die Königin erwartet Euch.« Sie wollte das Tablett schon auf den Tisch stellen, doch als sie das Pergament sah, hielt sie inne. Rosvita rollte es zusammen. »Kein Wort davon zu irgendjemandem, Aurea. Hast du mich verstanden?« »Ja, Schwester Rosvita.« Sie stellte niemals Fragen, wenn es nicht erwünscht war. Das war der Grund, weshalb Rosvita sie so lange in ihren Diensten hielt. »Fortunatus, ich muss Euch bitten, das hier noch eine Weile bei Euch zu behalten.« Sie reichte ihm das zusammengerollte Pergament. Nach kurzem Zögern schob er es in seinen Ärmel zurück. »Geht und seht nach, was Ingeld und Eudes tun.« Als er gegangen war, setzte sie sich wieder hin, während Aurea Wein in ihren Silberbecher goss und ein Stück Brot abbrach. Ihr Magen knurrte zum ersten Mal seit Tagen wieder. »Lass ihn herein, Ruoda.« Der Bote von Edelmann Hugh war ein stämmiger, schüchterner Presbyter, etwas älter als Rosvita, mit sanftem Benehmen und gepflegten Händen. »Schwester Rosvita, die Königin wünscht Eure Anwesenheit.« Er wartete einen Augenblick, dann sprach er langsam weiter, sodass es ihr leicht fiel, ihn zu verstehen. »Es freut ich zu sehen, dass Ihr wieder Appetit habt, Schwester. Alle wissen, wie schwer das Sommerfieber Euch mitgenommen hat. Es trifft die aus dem Norden immer am stärksten, wie es scheint.« »Ich danke Euch, Bruder - Petrus, nicht wahr?« »Es ist freundlich von Euch, dass Ihr Euch an mich erinnert, Schwester Rosvita.« Wollte Hugh einfach nur nett sein, indem er den erfahrenen Presbyter Petrus schickte, als wäre er nichts weiter als ein gewöhnlicher Verwalter? Oder zollte er ihr damit jenen Respekt, der ihr aufgrund ihres Status als Henrys geschätzte Beraterin zustand? »Lasst mich nur erst zu Ende essen, Bruder Petrus.« Sie hatte die Mahlzeit - gemeinsam mit den jungen Geistlichen - rasch eingenommen; Aurea würde das essen, was sie übrig gelassen hatten. Gewöhnlich nahm Rosvita erst nach der Sext et337 was zu sich, aber da sie krank gewesen war, wusste sie, dass sie häufiger essen musste, um rasch wieder zu Kräften zu kommen. Die Mädchen aßen natürlich, wann immer sie konnten. Petrus gehörte zu den stillen Menschen. Er faltete die Hände, neigte den Kopf und schloss die Augen. Seine Lippen bewegten sich im stummen Gebet. Seine stille Frömmigkeit reizte sie auf unerklärliche Weise. Wieso sollte sie Hugh nicht trauen? Er hatte sowohl seinem König als auch Gott in den Wochen, seit sie in Aosta waren, nichts als vollkommene Loyalität entgegengebracht. Tatsächlich behaupteten einige sogar - auch wenn sie das nie in Hughs Hörweite taten -, dass Henry und Adelheid mit weit mehr Widerstand zu rechnen gehabt hätten, hätte Hugh nicht Eisenkopfs Söldnertruppen bezwungen. Fortunatus tauchte auf, den Rest ihres Gefolges im Schlepptau: die zaghafte Gerwita, den ernsten Eudes, die Brüder Jehan und Jerome aus Varingia und schließlich den noch sehr jungen Ingeld, der ihr von Bischöfin Constanze höchstpersönlich anempfohlen worden war. Gestärkt durch die Anwesenheit dieser Personen, die ihr folgten, als wären sie ihre auserwählten Krieger und sie selbst eine Edelfrau, ließ Rosvita sich von Bruder Petrus
führen. Sie durchquerten die Halle der Tiere und schritten draußen die Arkade entlang, die von einer Prozession anmutig in Marmor gehauener Heiliger gesäumt war. Hugh empfing sie noch vor den Gemächern der Königin. »Ich hoffe, Ihr bringt gute Laune mit, Schwester Rosvita. Es gibt Nachrichten aus Wendar, doch da Prinzessin Mathilda noch immer etwas fiebert, sind sie ein wenig unpassend.« Die Männer mussten draußen warten. Nicht einmal Hugh betrat die Privatgemächer der Königin. Rosvita fand Adelheid im Bett sitzend vor, während eine ihrer Bediensteten damit beschäftigt war, ihre vollen, schwarzen Haare zu bändigen und den geflochtenen Zopf schließlich mit einer goldenen Schleife zu versehen. Ein mit Saphiren besetztes, aus Goldfäden gewirktes Netz schmückte ihr Haar. 338 Neben ihrem Bett saßen zwei Edelfrauen auf Stühlen. Rosvita erkannte die beiden Gislas, Nachbarinnen aus der Region von Ivria. Es war offensichtlich, dass sie heftig gestritten hatten. »So kann das nicht weitergehen«, sagte Adelheid gerade mit fester Stimme. »Die Küste ist jetzt zum dritten Mal in diesem Sommer von jinnischen Piraten angegriffen worden, doch statt diesen Überfällen ein Ende zu bereiten, streitet Ihr lieber um ein Stück Land.« »Aber, Eure Majestät -!«, begann diejenige, die wegen ihrer leuchtend roten Haare Gisla die Rote genannt wurde. »Nein, ich habe mein Urteil gefällt. Ihr beide habt abgesehen von Euren Erben noch andere Kinder im heiratsfähigen Alter. Euer zweiter Sohn heißt Flambert, nicht wahr?« »Ja, das stimmt, Eure Majestät«, erwiderte Gisla die Rote, »aber -« Adelheid wandte sich an die andere Gisla. »Flambert wird Eure dritte Tochter Roza heiraten. Sie ist dreizehn Jahre alt, nicht wahr?« »Aber, Eure Majestät -!«, wandte jetzt auch die andere Gisla ein. »Sie erhalten das umstrittene Land, und ihren Kindern übertrage ich den Titel >Grafen von Ivria<. Dadurch habt Ihr beide Anteil an einem Land, das nie wirklich einer von Euch gehört hat, das jedoch aufgrund der Angriffe der Jinna ohne Führung war.« Gisla die Rote neigte den Kopf. »Ein gerechtes Urteil, Eure Majestät.« Hatte sie möglicherweise die ganze Zeit über so etwas angestrebt? Rosvita kannte sie nicht gut genug, um das beurteilen zu können. Die andere Gisla hatte mehr Einwände, aber sie war zu klug, sie jetzt zu erheben. »Ich beuge mich in dieser Angelegenheit Euren Wünschen, Eure Majestät, aber ich erwarte, dass Ihr uns mit Vorräten und Truppen unterstützt, damit wir in der Lage sind, die Piraten zu vertreiben.« »Ihr werdet die Truppen und die Vorräte bekommen.« Adelheid gab ihren Bediensteten ein Zeichen, und sie traten vor, um ihr 339 beim Aufstehen zu helfen. Die beiden Edelfrauen zogen sich zu den anderen Höflingen zurück und wurden sofort - jede für sich - von Leuten umzingelt, die ihre ganz persönliche Version des Streits hören wollten. Adelheids Frauen kleideten sich entsprechend der Sitte der Südländer in ein am Halsausschnitt reich besticktes Überkleid mit dreiviertellangen Ärmeln, das von einem golddurchwirkten und mit Cabochons besetzten Stoffgürtel zusammengehalten wurde. Adelheid ließ sich auf den Stuhl sinken, der nur ihr als Königin vorbehalten war, und winkte Rosvita zu sich. »Schwester Rosvita.« »Eure Majestät.« Sie kniete nieder, und ihre drei Geistlichen beeilten sich, ihrem Beispiel zu folgen. Bei all ihrer Schüchternheit besaß Gerwita eine besonders anmutige Art, sich zu bewegen - was ihr am Hofe sehr nützen würde. »Ich hoffe, Prinzessin Mathilda befindet sich auf dem Weg der Besserung?« »Das tut sie. Die Leibärzte sagen, sie wird in der nächsten Woche wieder gesund sein. Sie hat noch etwas Fieber, aber sie trinkt wieder gut.« »Gepriesen seien Gott, Eure Majestät. Was für Neuigkeiten gibt es aus Wendar?« Adelheid runzelte die Stirn, und die Linien auf ihrer Stirn traten hervor - Vorboten des Alters. Sie war immer noch zu dünn. Durch die Geburt, die zwei Monate vor dem Fieber stattgefunden hatte, war sie doch wesentlich geschwächter gewesen, als öffentlich zugegeben wurde. Aber sie besaß eine gesunde Gesichtsfarbe. »Deshalb habe ich Euch kommen lassen, Schwester. Ich benötige Euren Rat.« Sie machte eine Geste, und aus der Menge dicht beisammen stehender Frauen löste sich ein Adler. Die Frau schien von der Reise noch recht mitgenommen zu sein. »Ich bitte Euch, Adler, wiederholt der guten Schwester Eure Nachricht«, sagte Adelheid. Die Frau war etwa im gleichen Alter wie Aurea und ungewöhnlich groß. Sie hatte kräftige, schwielige Hände und überraschend feine Gesichtszüge, allerdings eine wettergegerbte Haut. »Wie Ihr 340 wünscht, Eure Majestät«, erklärte sie gehorsam und schloss die Augen, um sich die Worte wieder in Erinnerung zu rufen, die sie auswendig gelernt hatte. Ihre Stimme klang hoch und schien so gar nicht zu ihrer Größe und ihren breiten Schultern zu passen. »Ihre Hoheit Prinzessin Theophanu grüßt ihren verehrten Vater, König Henry von Wendar und Varre, und ihre geliebte Verwandte, Königin Adelheid von Aosta. Unheil sucht das Land heim. Es hat Berichte vom Auftreten der Pest im Süden gegeben. Varingia litt im Herbst unter einer schlechten Ernte, und in diesem Frühling plagt
Dürre das Land. Ein qumanisches Heer hat sich in westlicher Richtung durch die Marklande gekämpft und ist bei Echstatt in Avaria gesichtet worden. Die Qumaner brandschatzen und plündern alles, was ihnen in die Quere kommt, hinterlassen nichts als Schutt und Asche. Von Sapientias Heer gibt es seit letztem Herbst keine Nachricht, nur Gerüchte, dass eine Schlacht stattgefunden hätte. Ich mache mir große Sorgen um die Marklande und, falls diese Entwicklung ungehindert weitergeht, auch um das Kernland von Wendar. Deshalb habe ich Bischöfin Constanze als Regentin in Autun zurückgelassen, während ich mit allen Truppen, die ich aufbringen kann, nach Osten reite. Doch es mangelt mir an Kämpfern, da so viele in den Süden nach Aosta aufgebrochen sind. Herzogin Rotrudis ist erkrankt, und ihre Kinder streiten sich um ihre Anteile, bis auf ihren Sohn Wichman, der in den Osten geritten und mit Sapientias Heer verschwunden ist. Prinz Ekkehard hat Gent gemeinsam mit Wichman verlassen und ist ebenfalls von den Kämpfen im Osten verschluckt worden. Herzogin Yolande behauptet, dass der salianische Krieg um die Nachfolge ihre Streitmacht ausgeblutet hätte, da viele ihrer Edelleute gezwungen gewesen wären, ihre Grenzen gegen die Abtrünnigen zu verteidigen, die von den Kämpfen nach Osten gedrängt worden waren. Herzog Conrad hat Hilfe zugesagt, doch es gibt zusätzliche Informationen, die seine Glaubwürdigkeit in Frage stellen. Er hat Prinzessin Tallia geheiratet; deshalb ist er im letzten Winter auch nicht in Bederbor gewesen. Das Ganze vollzog sich, während Con341 stanze ihre Rundreise durch Arconia machte. Als sie zurückkehrte, hatte Edelfrau Sabella Tallia bereits in Conrads Obhut gegeben. Es heißt, dass das Mädchen jetzt schwanger wäre. Ich bitte zutiefst darum, dass die Angelegenheiten in Aosta rasch zu einem Ende kommen. Wir benötigen das Heer dringend hier im Norden.« Obwohl Rosvita viele Fragen auf der Zunge lagen, schwieg sie noch ein paar Atemzüge, für den Fall, dass der Adler noch nicht fertig war. Sie war klug genug, die Frau nicht zu unterbrechen; eine Störung zum falschen Zeitpunkt hätte die gesamte Nachricht vernichten können. »Was denkt Ihr?«, fragte Adelheid schließlich. Eine Bedienstete brachte dem Adler einen Becher Wein, und die Frau zog sich dankbar auf eine Bank zurück. Die vielen schlechten Nachrichten machten Rosvita ganz benommen. »Ich denke, dass König Henry nicht sehr froh sein wird, von der Verbindung zwischen Conrad und Tallia zu hören. Conrad hätte Henry um seine Zustimmung zur Hochzeit bitten müssen, da er - als Ersatz für ihre unfähige Mutter Sabella - Tallias Vormund ist.« »Sabella wird doch in Autun festgehalten«, meinte Adelheid nachdenklich. Bis vor sechs Monaten hatte sie sich nicht das Geringste aus den wendischen Intrigen gemacht. »Weil sie eine Rebellion gegen ihren Bruder angezettelt hat.« »So ist es.« »Ist diese Verbindung von Vorteil für uns?« Rosvita schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nein. Tallia hat Anspruch auf den Thron von Wendar, genau wie Conrad. Jemand könnte behaupten - wie es die Edelleute von Varre getan haben, die Sabella gefolgt sind -, dass Tallias Anspruch auf den Thron größer ist als der von Henry.« »Ihr haltet Herzog Conrad also für ehrgeizig.« »Das tue ich in der Tat, Eure Majestät. Er ist außerdem sehr willensstark und von einiger Dreistigkeit.« »Und schlechter Urteilsfähigkeit?« 342 »Das ist schwer zu sagen. Ohne Grund spreche ich nur ungern schlecht von einem Mann, der so mächtig ist wie er. Und bisher hat er mir noch keinen Grund geliefert.« »Wird er Theophanu zu Hilfe kommen?« Eine Bedienstete trat mit einem Tablett ein, um ihr Wein anzubieten. Der Becher war von der gleichen atemberaubenden Schönheit wie Adelheid: Er bestand aus Sardonyx und war mit einem Gitter aus Golddraht überzogen, in das Cabochons eingesetzt waren; die Steine bildeten eine Entsprechung zu jenen, die sich am Gürtel der Königin befanden. Wie Adelheid wirkte auch der Becher äußerst zerbrechlich. Aber Adelheid wurde nur zu leicht wegen ihrer jugendlichen Schönheit unterschätzt. »Es wäre dumm, die Qumaner frei im Königreich herummarschieren zu lassen«, gab Rosvita zur Antwort. »Werden sie nicht bei Einbruch des Winters einfach in ihre Heimat zurückkehren? Kann man sie nicht kaufen?« Adelheid nippte an ihrem Wein, bevor sie den Becher unruhig abstellte. »Wenn man nur darauf vertrauen könnte, dass diese Überfälle leicht zu ersticken sind. Wie können wir Truppen aus Aosta abziehen? Die Situation hier ist nach wie vor nicht gefestigt. Selbst in Darre gibt es noch immer Unruhen auf der Straße, Leute, die danach rufen, dass eine andere Geistliche anstelle von Mutter Anne zur Skopos ernannt werden sollte. In Tarveni herrschen Banditen, und die edlen Häuser von Calabardia weigern sich, Repräsentanten zu schicken, die unserem Herrscher die Treue schwören. Henry kämpft im Süden, aber noch immer befindet sich die Hälfte der südlichen Provinzen in den Händen arethusanischer Diebe. Ich habe soeben Truppen versprochen, damit meine Untertanen sich von den jinnischen Piraten befreien können, die unsere Küste heimsuchen. Wenn Henry jetzt nach Wendar zurückkehrt, könnte das alles zusammenbrechen.« Ihr leidenschaftlicher Blick hätte einem Mann das Herz brechen können. »Als Kind von Edlen weiß ich, wie es ist, auf die Gnade von Verwandten und ihren Ehrgeiz angewiesen zu sein. Als ich schwanger wurde, habe ich geschworen, dass mein 343 Kind niemals erleiden sollte, was ich erlitten habe, als man mich in jungen Jahren den Wölfen vorgeworfen hat.
Ich habe mir geschworen, sie würde erben, was ihr rechtmäßig zusteht, in einem Land des Friedens. Was soll ich tun, Schwester Rosvita? Was ratet Ihr mir?« »Schickt den Adler zu König Henry, Eure Majestät.« »Ich könnte selbst zu ihm gehen!« »Nein, Ihr tut gut daran, in Darre zu bleiben, Eure Majestät, während der König umherreist und die Beziehungen zu unseren Verbündeten festigt.« Und ein paar zögerliche Köpfe zurechtstutzt oder sie so in Angst versetzt, dass sie ihm die Treue schwören. »Ihr müsst Eure Macht hier festigen, damit der König auf sicheren Boden zurückkehren kann. Wenn Ihr weggeht, könnte Darres Unterstützung bröckeln. Niemand stellt Euer Recht, als Königin zu herrschen, in Frage.« »Nein, das tut niemand«, stimmte Adelheid zu. Sie war jetzt ruhiger geworden. »Gibt es Neuigkeiten vom König, Eure Majestät? Wie Ihr wisst, habe ich mich soeben erst vom Krankenlager erhoben.« Sie hielt es nicht für notwendig zu sagen, dass ihre Geistlichen sie jeden Tag mit Klatsch und Tratsch versorgten. Zweifellos ahnte die Königin so etwas ohnehin. »Sie haben Navlia belagert. Edelmann Gezo hatte bestimmte Verträge mit Eisenkopf geschlossen und weigert sich jetzt, den größeren Teil des Schatzes, den er als Gegenleistung für die Versorgung der Söldner erhalten hat, zurückzugeben. Herzogin Liutgard ist während des Kampfes leicht verletzt worden. Und es war die Rede davon, dass sie wieder heiraten will.« Etwas in Adelheids Miene machte Rosvita argwöhnisch. »Hat sie das? Wird es offene Bewerbungen geben, oder hat die Herzogin jemand Bestimmten im Sinn?«, hakte sie vorsichtig nach. Adelheid besaß die Höflichkeit zu erröten. »Ich habe Henry erklärt, dass Prinz Sanglant ein geeigneter Kandidat für eine Frau von Liutgards Rang und Herkunft wäre.« 344 »Oh.« Rosvita versuchte, die wild auf sie einstürzenden Gedanken rasch wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie faltete die Hände und neigte den Kopf, starrte auf das schwarzweiße Zickzackmuster des Fußbodens, auf dem das Kissen lag, auf dem sie kniete. Rosvita war überzeugt, dass weder Liutgard noch Sanglant eine solche Partie begrüßen würden, aber sie traute sich nicht, es laut auszusprechen. Liutgard war früh Herzogin geworden und würde keinen Mann dulden, der versuchen könnte, sie zu beherrschen oder für sie zu herrschen. »Jede Geste, die den Pfad der Versöhnung öffnet, ist eine willkommene Geste, Eure Majestät. In der Nachricht von Prinzessin Theophanu war von Prinz Sanglant gar nicht die Rede.« Adelheid lächelte schwach. »Das stimmt. Einige behaupten, der König wäre zu nachsichtig mit seinem Sohn umgegangen.« Ihre Augen glänzten im hellen Morgenlicht, das durch die nach Osten weisenden Fenster hereinfiel und die hübsch bemalten Mauern auf der gegenüberliegenden Seite erleuchtete. Es waren Bilder aus alten Erzählungen - die Ballade von Helen etwa und die Eroberungen von Alexandros, dem Sohn des Donners. »Einige behaupten sogar, dass Henrys Heirat mit Sophia von Arethusa niemals als rechtsgültig hätte anerkannt werden dürfen. Diese Leute sagen außerdem, dass auch Sophias Kinder keinen rechtmäßigen Anspruch auf den Thron erheben können.« 5 Drei Tage lang reisten sie durch den spärlich bewachsenen Wald, weit genug von der Straße entfernt, damit sie nicht gesehen werden konnten. Sie verloren das Banner mit dem Blutmesser nur selten aus den Augen. Da die Sicht auf die Straße gut war, wussten sie immer recht genau, wo der Hohepriester sich befand. Er war zudem dank der verblüffenden Kopfbedeckung, die er trug - üppi345 ge Federn, die so aussahen, als wären sie von Regenbogen durchwebt -, leicht zu erkennen. Hin und wieder mussten sie einen Bogen um ein Dorf oder dessen Felder machen, um nicht gesehen zu werden. Als sie das erste Mal einem dieser Dörfer auswichen, erkundigte sich Alain, wieso sie nicht anhielten. »Die Leute werden uns doch sicherlich helfen, wenn sie die Verfluchten so sehr hassen.« Maklos deutete auf die Leute, die auf den Feldern arbeiteten. Es dauerte einen Augenblick, ehe Alain begriff, dass Menschen und Verfluchte Seite an Seite arbeiteten. Sie waren jedoch aufgrund ihrer Hautfarbe und Größe die Verfluchten waren im Allgemeinen kleiner als die Menschen - deutlich voneinander zu unterscheiden. Einige Menschen hatten ihre Haare zu den typischen Knoten hochgebunden. »Sie sind Sklaven«, sagte Agalleos. »Sie sind Hunde, die unseren Feinden die Füße lecken«, fügte Maklos hinzu. Er spuckte aus, um seinen Abscheu zu zeigen. »Sie kommen mir aber ziemlich einträchtig vor. Da. Siehst du nicht, wie sie lachen? Diese Frau da - ein Mensch wie du und ich -bleibt stehen und berührt den Mann, als wäre er ihr eigener Bruder -« »Er ist kein Mann.« Maklos spuckte wieder. »Er ist ein Verfluchter. Möge er verrotten -« »Still«, sagte Agalleos. »Mein Freund«, wandte er sich dann an Alain, »du bist ein Fremder und verstehst nicht, was du siehst. Es ist durchaus möglich, dass Sklaven sich nur deshalb verneigen und lächeln, weil sie hoffen, dadurch einem Peitschenhieb zu entgehen. Auch die Magie kann einem Menschen so den Kopf verdrehen, dass er Farben sieht, die gar nicht da sind. Und jetzt komm. Wenn wir noch länger hier bleiben, verlieren wir ihre Spur.« Vielleicht war es so. Es gab so vieles, was er nicht verstand. Hier in diesem Land waren sogar die Häuser anders; sie bestanden aus hellen Steinen und Holzschindeln. Doch als sie weiterreisten, sah er andere Dörfer, in denen
Menschen und Verfluchte ebenfalls ge346 meinsam arbeiteten und lebten. Die einzigen Orte, an denen die Verfluchten für sich waren, waren die kleinen Festungen, die jeweils etwa einen Tagesmarsch voneinander entfernt lagen und in denen der Hohepriester und seine Eskorte jede Nacht Unterkunft fanden. In dieser dritten Nacht, als sie in einem Kiefernwald in Sichtweite der Erdwälle ihr Nachtlager aufschlugen, konnte Agalleos sehen, dass die Angelegenheit ihn noch immer beschäftigte. »Du hast ihre Dörfer nicht besucht, mein Freund. Du bist nicht in den Ruinen gewesen, die die Verfluchten aus der Stadt gemacht haben, in der ich als Junge gelebt habe. Und du musst zugeben, dass du den Hohepriester und seine Eskorte lediglich aus der Ferne gesehen hast. Du hast ihm weder in die Augen geblickt, noch kennst du sein Gesicht. Wir sind zu weit weg, um von diesen Leuten etwas anderes als die Farben ihrer Umhänge erkennen zu können. Und die verraten uns nicht das Geringste darüber, wie es in ihrem Innern aussieht.« Sie machten kein Feuer in dieser Nacht, denn die örtlichen Gegebenheiten hatten sie gezwungen, sich der Straße zu nähern, sodass sie sich in Sichtweite des niedrigen Erddamms und des hölzernen Wachturms befanden. Maklos übernahm die erste Wache. Einige Zeit später weckte Agalleos Alain zur letzten Wache und legte sich neben Maklos nieder. Rage und Kummer schliefen beide, und Alain hielt es für besser, sie liegen zu lassen. Sie hatten den ganzen weiten Weg bisher ohne jegliches Klagen mitgemacht -gute Kameraden, die sie waren. Alain lehnte sich gegen den Stamm einer Kiefer und lauschte den Geräuschen der Nacht: Eine Eule schrie, Insekten zirpten, und Maklos schnarchte leise. Nach einer Weile begab sich Alain vorsichtig an den Waldrand. Rund um die kleine Festung war der Wald auf einer Länge von etwa einer Bogenschussweite abgeholzt worden es musste ein immenses Stück Arbeit gewesen sein. Wachfeuer brannten zu beiden Seiten des Tors und erleuchteten die rechteckigen Schilde, die 347 wie eine Palisade entlang des Erdwalls aufgestellt worden waren. Der Mond schien in dieser Nacht zwar nicht, aber die Sterne leuchteten so hell, dass er für einen Augenblick den seltsamen Wunsch verspürte, vor Freude über ihre Schönheit zu weinen. Eine einzelne Gestalt schritt an den Wachfeuern vorbei, beleuchtete den Weg mit einer Lampe. Sie kam langsam auf die Stelle zu, an der Alain sich versteckte. Der Mann schwang die Lampe hin und her, suchte den Boden ab. Zweimal bückte er sich und sammelte Pflanzen ein, die sich am besten in einer mondlosen Nacht pflücken ließen; sein Messer blinkte dabei immer wieder im Lampenlicht auf. Alain wagte es nicht, sich zu rühren. Irgendetwas an der Gestalt kam ihm vertraut vor, wie ein unablässiger Schmerz, eine Unruhe stiftende Erinnerung, aber er hätte nicht sagen können, was es war. Das Gesicht des Mannes lag im Schatten, doch als er näher kam, konnte Alain erkennen, dass er seltsame Kleidung trug, nicht mehr als einen Lendenschurz, der locker über der Hüfte verknotet war, und einen hüftlangen Umhang aus weißem Stoff über der nackten Brust. Perlenbesetzte Arm- und Beinschützer bedeckten seine Unterarme und Waden. Steckte da eine Feder in seinen Haaren? Sie war nur hin und wieder zu sehen, immer dann, wenn das Lampenlicht gerade darauf fiel. Der Mann hockte sich jetzt hin, um ein paar Blätter im Gras zu untersuchen, und hielt dabei die Lampe in einem solchen Winkel, dass Alain plötzlich seine Gesichtszüge deutlich erkennen konnte. Es war der Geisterprinz. Aber er trug jetzt nicht die Kriegsrüstung eines Prinzen, und ganz sicher war er kein Geist. Er hatte diesen Mann in den Ruinen oberhalb von Burg Lavas gesehen und sich mit ihm unterhalten, während um sie herum eine geisterhafte Festung niedergebrannt war. Dieser Mann hatte einen Tross von Flüchtlingen an Thiadbolds Löwenkohorte vorbeigeführt, nachdem Alain einen hastigen Waffenstillstand hatte vereinbaren können - sofern es zwischen Geistern und Menschen überhaupt eine richtige Verständigung geben konnte. Vielleicht schnappte Alain nach Luft. 348 Vielleicht erblühte auch - wie eine Blume mit messerscharfen Blütenblättern - in seinem Innern die Erkenntnis. Wenn der Geisterprinz wirklich lebte, war Alain ganz sicher nicht im Jenseits, denn Geister existierten auf der Anderen Seite nicht - ansonsten wären sie ja nicht als Geister auf der Erde gefangen. »Wer ist da?«, fragte der Mann und hob den Kopf. Er löschte die Lampe, aber er hatte - ähnlich wie Prinz Sanglant - die Angewohnheit, den Kopf in den Nacken zu legen, als würde er in der Luft schnüffeln und versuchen einen Geruch aufzunehmen. Eine Wache kam vom Wachfeuer herbei, überquerte rasch die Lichtung. »Stimmt etwas nicht, Sucher?« Der Prinz wartete ein paar Atemzüge lang und lauschte noch immer. Alain war sich schmerzhaft der knarrenden Bäume bewusst, des seufzenden Windes, der durch das üppige Blattwerk strich, des leisen Schnarchens von Kummer, der nur einen Steinwurf entfernt von ihm schlief und träumte. »Nur ein Tier.« »Du solltest dich lieber nicht hier draußen aufhalten, Sucher«, fuhr der Soldat mit ernster Miene fort. Er umklammerte seinen Speer noch fester. »Es gibt hier immer noch Banditen; du weißt ja, was für Tiere diese Bleichen sein können. Sie reißen dich in Stücke und essen dich roh. Genau das haben sie mit meinem Verwandten gemacht. Ich hoffe, wir werden sie alle töten.« »Auch die Leute in den Dörfern, an denen wir vorbeigekommen sind? Auch die Frau vom Hasen-Clan, die auf dem Westlichen Markt Weihrauch verkauft? Sogar die Seeleute an Bord der Weißen Blume, deren Kapitän ein
Halbblut ist?« Der Soldat deutete auf die Wachfeuer und die Erdwälle; er war bestrebt, wieder in ihren Schutz zurückzugelangen. »Man kann wilden Hunden ein paar Tricks beibringen, aber man kann sie nicht zähmen. Und sie werden dich beißen, wenn du versuchst, sie zu füttern.« »Hu-ah«, sagte der Prinz leise, »welch rasches Urteil, und was für ein hartes noch dazu.« Er führte Daumen und Zeigefinger an 349 die Lampe, und Licht flackerte auf, so plötzlich und unerwartet, dass Alain einen Satz zurück machte und sich dabei den Kopf an einem Baum stieß. »Was war das?« Der Soldat hob drohend seinen Speer und machte einen Schritt auf den Waldrand zu. »Ein Tier. Komm jetzt, lass uns zurückgehen.« Der Prinz verknotete die Ecken des Stoffes, in dessen Mitte Blätter und Halme lagen, über Kreuz miteinander; so konnte er seinen Schatz besser tragen. »Ich habe gefunden, was ich gesucht habe.« Beim ersten Anzeichen der Morgendämmerung weckte Alain seine Kameraden; kurz darauf erklang ein leises, zittriges Hornsignal. Maklos griff hastig nach den Waffen. »Sie sind heute früh unterwegs.« »Kein Grund zur Eile«, meinte Agalleos sanft und streckte sich, um die Verspannungen in seinem Körper zu lösen, die das Schlafen auf unebenem Boden verursacht hatte. »Ah! Wenn ich doch wieder jung wäre!« Er schnitt eine Grimasse. »Ich werde diese Knoten in meinem Nacken nie wieder loswerden! Es gibt nur einen Weg, also können wir sie nicht verlieren. Wir erreichen die Spinnenfeste am Nachmittag. Ich gehe fest davon aus, dass sie dort die Nacht verbringen werden.« »Wie kommst du darauf?«, wollte Maklos wissen. »Sind sie denn nicht in Eile?« »Es gibt eine Kreuzung dort, mein Junge. Der Pfad nach Nordwesten führt zur Grenze des feindlichen Landes. Wenn sie sich nach Südosten wenden, können sie den Aasweg nehmen und den Kalkpfad beim Hellen Fluss überqueren. Von dort ist es nur ein Tagesmarsch bis zur Stadt der Inseln. Dort können sie eine Gefangene ebenso gut opfern wie in der Schädelstadt.« »Was ist ein Sucher?«, fragte Alain. Als Agalleos ihn seltsam anblickte, erklärte er die Begegnung, die er gehabt hatte. »Beherrschst du denn auch die Sprache der Verfluchten?«, frag350 te Agalleos überrascht. Maklos war bereits ein Stück vorausgegangen und winkte ihnen jetzt von den Bäumen bereits halb verborgen ungeduldig zu. Alain hob seine Sachen auf - den Beutel, den Stab und den Schild, den er von Shevros bekommen hatte - und versuchte, angesichts all der unverständlichen Dinge einen klaren Kopf zu bewahren. »Ich habe es dir schon einmal gesagt: Ich verstehe nur die Sprache des Hirsch-Volkes und die meines eigenen Landes.« Sie blickten sich an, und jeder von ihnen sah Besorgnis und Verwunderung in der Miene des anderen. Rage jaulte und stieß Alain an, drängte ihn, endlich aufzubrechen. »Komm«, sagte Agalleos. »Zweifellos haben deine spirituellen Führer dir eine Gabe verliehen, derer du dir nicht bewusst bist.« Zweifellos. Doch seine Gedanken waren so durcheinander, dass er an diesem Morgen dreimal über Wurzeln stolperte und einmal sogar gegen einen Baumstamm lief. »Still!« Maklos lief zu ihm zurück und schüttelte ihn. »Pass endlich besser auf! Du wirst uns noch alle umbringen!« Es war, als würde er aufgebrachten Gänsen hinterher jagen. Aus irgendeinem Grund begann seine Hand - die, die gebissen worden war - wieder zu pochen, obwohl sie seit dem Tag, als sie den Kalkpfad überquert hatten, nicht mehr geschmerzt hatte. Da war die eine Gans, die er schon zuvor gejagt hatte: Wieso konnte er Agalleos und Maklos verstehen ? Wieso konnte er die Sprache der Verfluchten verstehen ? Und dann wurde seine Aufmerksamkeit auf eine andere gelenkt: Der Prinz war kein Geist. Er lebte. In der Welt, die Alain einst gekannt hatte, war er jedoch ein Geist gewesen, eine Vision aus längst vergangener Zeit. Zu was machte ihn das jetzt? Die Spinnenfeste war auf den Ruinen einer anderen Stadt erbaut worden; dicke Steinmauern erhoben sich auf einem niedrigen Hügel zu einer Festung. So viele alte, zerbröckelte Mauern erstreck 351 ten sich auf dem grasbewachsenen Land um die hoch aufragenden Wachtürme und massiven Mauern, dass man den Eindruck einer in ihrem Nest hockenden, vieläugigen Spinne hatte. Es waren viele Soldaten dort; man hatte sogar ein Lager südöstlich vor den Mauern auf der flachen Ebene aufgeschlagen: runde Pavillons aus weißem Stoff, die von dem Licht der untergehenden Sonne jetzt in ein sanftes Gold getaucht wurden. Auf dem nach Osten weisenden Abhang trieben Soldaten Pfähle im rechten Winkel in den Boden, als wollten sie eine Verteidigungsanlage gegen Berittene errichten. »Glaubst du, sie haben die Geheiligte bereits hier?« Maklos grinste. »Ich könnte mich in das alte Gemäuer schleichen und einen Blick hineinwerfen.« »Nein, ich muss gehen«, sagte Agalleos. »Als ich in deinem Alter war« - er nickte Maklos zu - »habe ich hier ein
paar Monate als Soldat verbracht.« Er spuckte aus, als wollte er sich von einem schlechten Geschmack befreien. »Schon damals haben wir den Krieg verloren. Die Verfluchten haben ihr Netz von Jahr zu Jahr weiter gesponnen. So weit sind sie jetzt gekommen.« »Nein, ich bin derjenige, der gehen muss.« Als die anderen beiden zu protestieren begannen, hob Alain die Hand. »Ich kann ihre Sprache verstehen. Könnt ihr das auch?« »Es ist wahr«, räumte Agalleos ein. »Ich verstehe ihre Sprache nicht.« Maklos verschränkte die Arme vor der Brust und zog eine Grimasse; er hasste es, auf eine Möglichkeit, eine wagemutige Tat zu begehen, verzichten zu müssen. »Selbst wenn ich nicht nah genug an die Festung herankomme, um einen Blick hineinwerfen zu können, kann ich wenigstens das Gerede der Wachen verstehen. Was wisst ihr über diese alten Mauern? Gibt es einen Weg, der sich besonders eignet, um hineinzukommen?« »Am nördlichen Hang ist der Boden übersät mit alten Baumstämmen und umgestürzten Mauern. Auf diesem Weg kannst du dich der Festung nähern.« Agalleos malte mit einem Stock etwas auf den Boden. »Die Festungsmauern erheben sich am schmalen 352 Hügelende wie ein Schiffsbug.« Er zog eine tiefe Linie, die diagonal zu den Mauern verlief, die er vorher gezeichnet hatte. »Halte dich entlang dieser Spalte auf. Links von dir wirst du eine alte Terrasse sehen, die einmal ein Kräutergarten war. Es hat dort eine alte Treppe gegeben, die durch die Magie der Königin verborgen war, bevor die Soldaten die Festung verlassen mussten. In der Ecke des Gartens, wo drei Mauern aufeinander stoßen, musst du nach einer in Stein gehauenen Löwenfrau Ausschau halten. Durch sie kannst du das Weben in Gang bringen, und du wirst hineingelassen.« Er zeigte Alain, wie er die Hände auf Mund und Auge der Statue legen musste. »Geh zur Treppe. Dort gibt es ein Versteck, von dem aus du einen Blick in die Festung werfen kannst.« »So werde ich es machen«, sagte Alain. Er aß, trank und beschäftigte sich ein wenig mit den Hunden, um die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit zu überbrücken. Er nahm nur seinen Stab mit, dazu noch ein Messer und einen Wasserbeutel; den Schild, den Speer und das Schwert, die Maklos ihm reichen wollte, lehnte er hingegen ab. »Ich werde keine Waffen außer dem Stab benutzen«, erklärte er, »und ein Schild wird mir nur im Weg sein.« Agalleos holte ein kleines, verschlossenes Fläschchen aus seinem Beutel und öffnete es. »Wir haben nicht viel davon, aber dies ist ein guter Zeitpunkt. Öffne deine linke Hand.« Er schüttete Alain etwas Öl auf die Handfläche. »Und jetzt reib es dir von rechts nach links auf das Gesicht und sprich diese Worte: >Möge der rasche Gott Erekes seine Hand auf meine Stirn legen und mich für alle meine Feinde unsichtbar machen.<« Alain zögerte. Das Öl roch schwach nach Lilien, aber gleichzeitig auch beißend und unangenehm. »Dies ist Menschen-Magie«, sagte Agalleos. »Und nun verreib es und sprich die Worte.« Alain begann an seinem Ohr, schmierte sich das Öl auf das Gesicht, während er die Worte vor sich hin murmelte. Das Öl kitzelte auf seinen Lippen, aber er fühlte sich nicht anders als sonst. 353 Als es richtig dunkel geworden war, kam der zunehmende Mond heraus; er stand bereits tief im Westen, gewährte aber zusammen mit den Sternen genug Licht, dass Alain das Versteck verlassen und sich auf das offene Gelände wagen konnte. Der Boden war überwiegend flach, aber hier und da befanden sich Rillen und Geröll. Dennoch fiel es ihm nicht allzu schwer, dieses Gebiet zu durchqueren, und das Risiko, gesehen zu werden, war nicht sehr groß -gleichgültig, ob die Magie nun wirkte oder nicht. Kleine Feuer brannten auf den Mauern über ihm. Er hörte die Geräusche des Lagers - Männer, die von Schiffen und Meer sangen, was in kuriosem Kontrast zu dem Staub stand, der gelegentlich unter seinen Füßen wegrutschte, zu den Grasbüscheln, an denen er sich immer wieder festhalten musste, und zu dem Fenchel, der vor ihm wuchs. Einmal musste er sich flach auf den Boden pressen, als eine Patrouille vorbeischritt. Vielleicht verbarg ihn der Zauber, vielleicht waren es aber auch nur die Schatten. Er richtete sich auf, sobald die Wachen vorüber waren, und kroch gebückt weiter, eilte von der Deckung des Grabens in den Windschatten einer umgestürzten Mauer, wobei er sich die Knie an dem rauen Stein aufschürfte und den Geruch der ausgedörrten Erde einatmete. Der Boden stieg steil an. Über ihm brannten Fackeln, deren flackerndes Licht alle Sterne im näheren Umkreis auslöschte. Gestalten bewegten sich auf den Mauern, doch ihre Blicke waren in die Ferne gerichtet, über die offene Fläche hinweg auf das dahinter liegende Waldgebiet. Er kämpfte sich durch den Schutt der umgestürzten Mauern, die einmal diesen unteren Teil des Hügels umgeben hatten. Auf eine bestimmte Weise hatte er den Eindruck, als würde er noch immer über seine alten, geschärften Sinne verfügen, die er durch die Träume von Starkhand verliehen bekommen hatte. Gras seufzte unter der Berührung des Windes. Insekten verkrochen sich. Eine Eule glitt über ihm vorbei und stieß eine Warnung aus, die niemand außer ihm hören konnte: »Pass auf! Pass auf!« Er zog sich einen brusthohen Erddamm hoch und rollte sich auf einen offenen Absatz. Eine Duftwolke hüllte ihn ein, der schwere 354 Geruch von Lavendel und wucherndem Rosmarin, Raute und Salbei. Der Mond sank dem Horizont entgegen. Er kroch auf Händen und Füßen durch den wild wuchernden Garten und fand die Stelle, an der sich die drei Mauern trafen; zwei gehörten zu den alten Ringmauern, die dritte, noch niedrigere, zu einem uralten Fundament, das der
Hügel fast schon wieder verschluckt hatte. Da es dunkel war, musste er mit den Händen nach der in Stein gemeißelten Sphinx tasten, fand schließlich ihre geschwungenen Flügel, die mächtigen Vorderbeine, die gestreckten Hinterbeine. Er legte den Daumen in den Mund und den Zeigefinger ans Auge der Statue und berührte mit dem kleinen Finger der anderen Hand eine Spalte unter dem Flügel. Ein muffiger, kalter Luftzug streifte ihn. Der Mond hatte jetzt den westlichen Horizont erreicht; er sank schnell. Alain stolperte vorwärts und stieß sich die Knie an den Stufen, die in den Hügel geschlagen und wegen der Dunkelheit nicht gut zu sehen waren. Er kroch weiter, nahm Stab und Hände zu Hilfe - es war ein mühsames Stück Arbeit, weil es so finster war. Nach siebenundneunzig Stufen - er zählte jede Einzelne von ihnen - sah er rechts von sich ein rötliches Licht flackern und schwanken. Eine Mauer versperrte ihm den Weg geradeaus, und er musste sich nach rechts wenden und einem schmalen Durchgang folgen, der voller Gesteinsbrocken und gerade breit genug war, dass er sich hindurchzwängen konnte. Fünfzehn weitere gleichmäßige Stufen brachten ihn zu einer in den Fels gehauenen Schießscharte, einem verborgenen Alkoven, von dem aus er einen guten Blick auf den breiten Vorhof hatte, der sich vor dem Haupttor mit seinen zwei rechteckigen Türmen erstreckte. Soldaten hatten sich hier versammelt, zum Abmarsch bereit. Ihre Fackeln tauchten den Hof in ein Unheil verkündendes Licht, ein einziges Flackern aus Rauch und Feuer, glitzernden Bronzehelmen und Schilden. Die Standarte des Blutmessers flatterte in ihrer Mitte. Eine schlanke Gestalt bahnte sich ihren Weg durch die Reihen der Soldaten, um mit dem Standarten-Träger zu sprechen. 355 Alain erkannte ihn sofort: Es war der Prinz, den die Wache »Sucher« genannt hatte. Die beiden unterhielten sich, während die Soldaten schweigend warteten. Dann eilte der Prinz davon, verschwand in einer niedrigen Tür und entzog sich so Alains Blicken. Von einer anderen Seite des Vorhofs - die Alain nicht sehen konnte - kam der Hohepriester herbei; sein Federkopfschmuck leuchtete im Licht von zwei Fackeln, die links und rechts von ihm in die Höhe gereckt wurden. Speerreihen neigten sich zur Seite, bildeten einen Zaun um die Gefangene, die zwischen zwei kleinen Wagen gefangen war. Wegen ihres Pferdekörpers war sie einen Kopf größer als diejenigen, die sie gefangen hielten, aber sie hielt den stolzen und wunderschönen Kopf gesenkt, und man hatte ihr die Augen verbunden. Ihre dichten Haare hingen ihr zerzaust und schmutzig über die Schultern. Ihr nackter Rumpf war mit blauen Flecken und unverheilten Schnittwunden übersät, und sie schien zu humpeln; zumindest war sie unfähig, das rechte Vorderbein normal zu belasten. Die Arme, die hinter dem Rücken zusammengebunden waren, ruhten auf dem Widerrist. Seile waren um Bauch und Rücken geschlungen und hielten sie zwischen den zwei Wagen gefangen, einem vor und einem hinter ihr. Es war ihr weder möglich auszutreten noch sich aufzubäumen. Sie kam abrupt zum Stehen, als die Wagenführer die Zügel anzogen. Das Tor wurde entriegelt, und Männer beeilten sich, es zu öffnen. Sie hatten nicht vor, auf das Tageslicht zu warten, um sie wegzuschaffen. Ihr schönes, einst schwarz glänzendes Fell war jetzt schmutzig und blutverschmiert und von einer Ascheschicht bedeckt. Sie verlagerte das Gewicht, schonte ihr verletztes Bein. Einer der Wagenführer ließ seine Peitsche mit einem hellen Geräusch gegen ihre Kruppe knallen. Sie sprang auf das verletzte Vorderbein und schrie vor Schmerz laut auf. Soldaten lachten, als sie sie leiden sahen. Die schweren Torflügel donnerten gegen den Wachturm. Der Weg für die Truppe des Hohepriesters war frei. 356 Alain taumelte zurück; er stolperte beinahe, als er die Stufen erreichte. Das rauchige Licht der Fackeln hatte ihn geblendet. Er zählte die Stufen, und da er sich den Weg mit Händen und Füßen ertasten musste, kam er nur langsam voran. Stammte das Klirren und Quietschen, das er jetzt hörte, etwa von der aufbrechenden Truppe ? Konnte er tatsächlich hören, wie die Wagenräder über den staubigen Torweg knirschten? Oder war es nur der Wind, der ächzend durch die Ritzen zwischen den Steinen fuhr? Oder das Geflüster sich leise unterhaltender Männer? Siebenundneunzig Schritte führten ihn zurück zu dem verborgenen Eingang. Seine Hände suchten die Flügel der Sphinx, die für immer in Stein gehauen schlief. Er hielt an der Stelle, an der die drei Mauern aufeinander stießen, inne und blieb im Schatten stehen, als er auf dem schmalen Absatz oberhalb des wuchernden Kräutergartens ein fahles Licht sah. Dort stand ein Soldat mit dem Rücken zu ihm; er trug einen spitz zulaufenden Helm und einen hüftlangen, weißen Umhang. Bronzene Beinröhren schützten seine Waden. Der Wind fuhr unter den Umhang, wirbelte ihn hoch und enthüllte auf diese Weise einen schön geformten Harnisch mit einem Lederschurz, der dem Mann bis zu den Oberschenkeln reichte. »Du irrst dich«, sagte er, wobei er sich umdrehte und mit jemandem sprach, der dichter an der Mauer stand und daher von Alain nicht gesehen werden konnte. »Wir werden sie besiegen, denn unsere Heere sind stärker als ihre. Sie sind nichts weiter als ein Rudel wilder Hunde.« Das fahle Licht schälte sein Profil aus der Dunkelheit: Es war der Prinz, aber er trug jetzt die Kleidung eines Soldaten - die gleiche Kleidung wie damals, als Alain ihn als Geist in den Ruinen oberhalb von Lavas gesehen hatte. Wie seltsam, dass er sich so rasch umgezogen hatte. »Dann unterschätzt du sie«, sagte sein unsichtbarer Gefährte. Die leise flüsternden Stimmen klangen einander sehr ähnlich. »Genau deshalb kämpfen wir noch immer.« 357
Der Prinz lachte schroff. »Dieser Krieg wird erst vorüber sein, wenn die bleichen Hunde und die Shana-ret'zeri aufhören, uns zu jagen, und das werden sie niemals tun. Sie können nicht friedlich leben, denn sie sind Tiere. Und sie werden auch uns niemals in Frieden leben lassen.« »Das sind die Worte eines Soldaten.« »Verspotte mich nicht, Bruder. Du weißt, dass sie unsere Feinde sind.« »Ich weiß, dass es so lange keinen Frieden geben wird, so lange unsere Führer nur Tiere in ihnen sehen.« »Sag mir nicht, du hättest nicht vor Freude geweint, als der Blutmesser-Herr die Botschaft erhalten hat, dass die Hexe, die sich Li'at'dano nennt, gefangen genommen worden ist!« Bei diesem Namen rutschte Alain vor Überraschung aus. Kieselsteine knirschten unter seinen Füßen. Doch der Mann, den er nicht sehen konnte, sprach bereits wieder; keiner der beiden schien ihn gehört zu haben. »Dabei ist sie nicht einmal die Gefährlichste von denen, die sich uns widersetzen. Aber zumindest haben auch unsere Feinde nichts mehr von ihrer Macht, wenn sie geopfert worden ist.« »Wir brauchen keine Magie, um sie zu besiegen.« »Wenn du das glaubst, bist du ein Narr.« »Du hast zu viel auf das Gemurmel der Himmel-Zählenden gelauscht. Wir haben genug Speere und Schwerter.« »Wieso willst du niemals zuhören, älterer Bruder? Speere und Schwerter werden nicht genügen.« »Was für eine große Magie können die bleichen Hunde denn schon besitzen? Wie wollen sie sich erheben und Federkleid und ihre Zauberer besiegen? Worauf warten sie? Die Hexenstute wird zum Tempel von Er-DerBrennt gebracht, und sie wird zwischen den Sphären wandeln. So werden wir sie los. Die Übrigen werden sterben, sich ergeben oder fliehen.« Wie war es nur möglich, dass dieser Mann, der hier lebte und kein Geist war, von Liath wusste? Wandelte sie denn nicht bereits 358 zwischen den Sphären? Oder" sprach er gar nicht von Liath? Immerhin war sie keine »Hexenstute«. »Das ist es, wovor ich Angst habe«, sagte der andere Mann, als er schließlich in Alains Blickfeld geriet. Er hielt das fahle Licht in der Hand, eine einfache Öllampe, die im nächtlichen Wind flackerte; jetzt streckte er den Arm etwas aus, um das Gesicht des Prinzen zu beleuchten. »Ich fürchte, dass die bleichen Hunde ihre Magie wirken, während wir unsere Heere zur Grenze schicken und unsere Städte ohne Schutz zurücklassen. Auf diese Weise könnten sie uns einen schweren Schlag versetzen. Genau deshalb haben die Himmel-Zählenden Plünderungstruppen in alle vier Windrichtungen geschickt.« »Um von Guivren gefressen, von Sphingen zerfetzt und unter Sandstürmen begraben zu werden!« Der Mann mit der Lampe verlagerte sein Gewicht, und auf einmal fiel der Lichtschein auf sein Gesicht. Es sah genauso aus wie das des Soldaten. Hier war wieder der Sucher, in ein schlichtes Gewand gekleidet und mit Federn geschmückt. Möglicherweise entfuhr Alain vor Schreck ein kleiner unbeabsichtigter Aufschrei. Vielleicht rutschte er auch aus. Das Nächste jedenfalls an das er sich erinnerte, war die Lanze, die direkt auf seinen Bauch zielte; der Soldat musste blitzschnell herumgewirbelt sein. »Wer ist da?«, rief er und blinzelte in die Dunkelheit. »Tu nichts Unüberlegtes.« Der Sucher legte seinem Bruder beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Ich kenne diesen Geruch.« Er hob die Lampe in Schulterhöhe. Er hatte ein junges Gesicht, das hübsch und stolz, aber nicht grausam war. Federn wippten in seinen Haaren, als er das Kinn reckte. »Komm her. Du sitzt in der Falle.« Mit dem Stab in der rechten Hand trat Alain vorsichtig ins Licht. »Ich bin allein«, sagte er ruhig, »und ich verstehe diesen ganzen 359 Krieg nicht. Wäre es nicht besser für alle, wenn ihr Frieden schließen könntet?« Der Soldat zischte. Er hielt die Lanze vor sich, stieß aber nicht zu. »Willst du den bleichen Hund nicht endlich erstechen und seinem Gebell ein Ende bereiten?«, fragte der Sucher mit einiger Erheiterung. Wie sie jetzt so nebeneinander standen, konnte Alain bestimmte Unterschiede zwischen ihnen ausmachen, was Haltung und Gesichtsausdruck betraf - der Soldat war angespannter und etwas dünner, so grimmig wie der Tod, während in der Miene des Suchers etwas Spitzbübisches war; hinzu kam ein gewisser sardonischer Zug um den Mund. Ansonsten waren sie - bis auf die Kleidung - völlig identisch. »Was tust du hier?«, fragte der Soldat, die Lanzenspitze noch immer auf Alains Bauch gerichtet. »Wie bist du hierher gekommen, ohne von den Wachen und Patrouillen gesehen zu werden?« Alain fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, doch das Öl, das Agalleos ihm gegeben und das er sich in die Haut gerieben hatte, war nicht mehr zu spüren und auch nicht mehr zu riechen; Wind und Wetter hatten es davongetragen. Bevor er antworten konnte, hörte er in der Ferne Gebell. Es klang, als wären die Hunde schlagartig aus dem Schlaf gerissen worden. Gleich darauf ertönte im Osten das Blöken von Trompeten-schneckenhörnern, und die Dunkelheit erwachte zum Leben. Ein Rumpeln, das wie entfernter Donner klang, ließ die Erde erzittern. Fackeln flackerten am Waldrand auf. Alarmschreie erhoben sich von den Festungsmauern, und Männer schrien wild durcheinander, als am gesamten nördlichen Waldrand Lichter auftauchten und sich in den Händen von schattenhaften Gestalten auf die Festung zubewegten.
»Was sagst du jetzt, Bruder?«, rief der Soldat. »Glaubst du, sie kommen, um uns die Goldfeder des Friedens zu überbringen? Oder um Botschafter mit Achtungsbeweisen zu schicken? Nein, sie greifen wie Wölfe mitten in der Nacht an.« Er stieß zu. Alain 360 sprang zur Seite, während der Prinz sich zu einem neuen Stoß bereit machte. »Halt ein!«, rief der Sucher. »Das ist das Pferde-Volk, das die Hexe holen will. Der hier gehört überhaupt nicht hierher.« »Dann sollten wir zusehen, dass wir ihn loswerden.« Der Soldat stieß erneut zu. Alain schlug die Lanzenspitze mit seinem Stab beiseite und sprang zur Mauer zurück, während der Prinz weiter auf ihn eindrang. »Bruder! Hinter dir!« Zwei gewaltige Kreaturen kämpften sich den Hang hoch. Die eine war geschmeidig und leichtfüßig und näherte sich schneller als die andere. Die Lampe in der Hand des Suchers flackerte, als die erste Zentaurin in den Kräutergarten einbrach, den hüfthoch stehenden Lavendel niedertrampelte. Der Soldat wirbelte zu ihr herum. Oh, Gott. Sie war so schön wie die Geheiligte. Die langen, schwarzen Haare wurden vom Wind nach hinten geweht und enthüllten volle Brüste, die wie perfekte Monde im hellen Licht schimmerten. Sie hielt eine mit Spitzen besetzte Keule in den Händen, die sie nach dem Prinzen schwang, als sie einen Satz auf ihn zu machte. Er wich nicht zurück, sondern stieß zu, traf sie zwischen den Brüsten. Der Schwung ihrer eigenen Bewegung ließ sie sich selbst aufspießen; die Speerspitze trat am Rücken wieder aus, während der Soldat rückwärts gegen die niedrige Mauer taumelte, die den Absatz umgab. Jetzt erst, als sie mit ihrem Mörder zusammenprallte, krachte die Keule auf den Speerschaft und zersplitterte ihn. Gemeinsam taumelten sie über die Mauer und verschwanden aus Alains Blickfeld. Die zweite Zentaurin ließ einen durchdringenden Schrei ertönen, als sie merkte, dass sie ihre Gefährtin nicht mehr retten konnte. Sie griff den Sucher an, der mal hierhin, mal dorthin tänzelte; er befand sich leicht im Vorteil, da er sich rascher bewegen konnte als sie mit ihrem wuchtigen Körper. Doch schließlich trieb sie ihn neben Alain in die Enge. Sie besaß nicht die geschmeidige 361 Schönheit ihrer toten Kameradin; sie hatte breite Schultern, und die Brüste fielen bei den muskulösen Armen und dem wuchtigen Brustkorb kaum auf. Sie bäumte sich auf, trat mit den Vorderbeinen um sich und hob die Keule zum tödlichen Schlag. Alain schwang seinen Stab hoch, fing die Keule am Scheitelpunkt ihrer Bewegung ab. Die Zentaurin wirbelte herum, stieß Alain mit ihren Vorderhufen zu Boden und bäumte sich erneut auf, um auf ihn einzuschlagen. Er schob jedoch seinen Stab zwischen ihre Hinterbeine und warf sich mit seinem ganzen Körper dagegen. Das Holz brach nicht. Sie taumelte zurück, fiel auf die Seite. Er war mit einem Satz an ihrer Schulter und drückte sie mit seinem Körpergewicht zu Boden, wobei er ihr seinen Stab in den Nacken presste. »Wir müssen die Geheiligte retten!«, schrie er. »Ich bin Sos'ka.« Sie drehte den Kopf, um einen Blick auf den Sucher zu werfen, der stocksteif an der Mauer stand. »Bar'ha und ich sind hierher geschickt worden, um den zu finden, der Alain genannt wird. Wieso kämpfst du gegen mich, wenn du derjenige bist?« Der Sucher hatte sein Messer gezogen, griff jedoch nicht an. Erstaunlicherweise hatte er immer noch die Öllampe in der Hand. Alain stützte sich auf den Stab und erhob sich. Sos'ka holte sich ihre Keule zurück, bekam irgendwie ihre vier Beine unter den Körper und stellte sich mit einiger Mühe aufrecht hin. Als sie den Sucher sah, flackerte Hass in ihrem Gesicht auf. Sie hob die Keule und machte einen Schritt auf ihn zu. Alain trat dazwischen. »Nein. Kein Töten mehr.« Sie schüttelte den Kopf und machte ein Geräusch, das mehr nach einem Wiehern klang denn nach einem Wort. Wo ihre schwarzen Haare zurückgebunden waren, kamen ihre Ohren zum Vorschein, spitz und mit Haarbüscheln an den Spitzen. Sie musterte Alain kurz aus ihren senkrecht geschlitzten Augen, deren Farbe in der Nacht unmöglich zu erkennen war. »Komm«, sagte sie schließlich und warf einen letzten raschen Blick auf den Sucher, der sich bisher nicht gerührt hatte. 362 Vielleicht würde dieser junge Prinz, der dem anderen auf so unheimliche Weise ähnelte, heute nicht sterben. Vielleicht war sein Bruder bereits ein Geist geworden, oder er würde bald einer werden, für immer gefangen in den Schatten der Welt. »Rasch.« Sos'ka griff mit einem kräftigen Arm nach Alain und half ihm, auf ihren Rücken zu steigen. Er richtete sich auf, klemmte sich den Stab unter den Arm, während sie sich umdrehte, leichtfüßig von der Mauer sprang und dann den Abhang halb hinunterglitt und halb hinuntergaloppierte. Um nicht herabzufallen, musste er sich an der Mähne festhalten, die über ihr ganzes Rückgrat bis hinab zum Widerrist verlief. Obwohl sie so trittsicher wie eine Ziege war, war es ein harter Ritt. Alain warf einen Blick zurück und sah, wie der Sucher einen Gegenstand vom Boden aufhob. Er leuchtete golden in der Nacht, beinahe so hell wie die Öllampe. Als Alain mit der Hand über seine Tunika fuhr und nach der Phoenix-Feder tastete, entdeckte er unterhalb des Absatzes den Prinzen, der gerade versuchte, sich von der toten Zentaurin zu befreien. Sofort sprang der Sucher hinunter, um seinem Bruder zu helfen. »Pass auf!«, schrie Sos'ka, und er klammerte sich mit aller Kraft an ihr fest, als sie über einen Graben sprang und hart auf der anderen Seite aufkam. Er tastete wieder nach seiner Brust, aber die Phoenix-Feder war weg, im Kampf verloren gegangen. Es war zu
spät, um jetzt noch umzukehren. Vor ihnen schälte sich eine Schlacht aus der Dunkelheit. Alain hielt sich an Sos'ka fest, die jetzt das schlimmste Stück des zerklüfteten Bodens hinter sich brachte und in weitem Bogen um die Kämpfe herumgaloppierte, die im Lager ausgebrochen waren. Die Zelte brannten; die Feuer erhellten die Szenerie mit einem Ekel erregenden Glühen. Verfluchte fielen, Zentaurinnen stolperten, wurden niedergehauen. Schreie durchschnitten die Luft. Der entsetzliche Geruch von verbranntem Fleisch stach ihm in die Nase und brachte ihn zum Würgen. Fackeln umzingelten die Fes363 tung. Brennende Pfeile malten Bögen aus Licht an den Nachthimmel. »Zur südöstlichen Straße!«, rief er, keuchte die Worte beinahe heraus. Sie schrie etwas - eigentlich war es eher ein Wiehern -, und etwa vier Dutzend Zentaurinnen brachen den Angriff ab, um ihr zu folgen. Die Hälfte von ihnen trug Fackeln. Sie donnerten auf die Straße zu; ihre Hufe ließen Funken von den Steinen aufstieben. Die Pflastersteine, die Früchte der berühmten Wegebaukunst der Verfluchten, bildeten eine so glatte und ebene Straße, dass sie jetzt noch rascher vorankamen, ohne Angst haben zu müssen, dass sie stürzen könnten. Und er konnte an ihrer Wut erkennen, dass sie nicht zulassen würden, dass sich ein Hindernis -und sei es die Dunkelheit - zwischen sie und diejenige schob, die sie suchten. Nicht jetzt, wo sie ihr so nahe waren. Die Gruppe des Hohepriesters war gut vorangekommen. Aber nun stieß ihre Nachhut Warnschreie aus, und die Hälfte der Truppe - etwa drei Dutzend Mann - hielt an, um sich der Bedrohung zu stellen. Sie fächerten sich zu einer Linie auf, die Speere gesenkt, während der übrige Teil der Truppe weitereilte. Das Blutmesser-Banner entfernte sich schwankend in die Dunkelheit; zwei Fackeln warfen Licht auf das Symbol. Die beiden Wagen, zwischen denen die Geheiligte festgebunden war, ruckelten weiter. Der Angriff der Zentaurinnen traf die Linie der Speerträger wie eine Sturmflut und überrannte sie förmlich. Vier Zentaurinnen fielen, doch die Übrigen strömten an ihnen vorbei, noch während die Soldaten, die nicht zuckend am Boden lagen, ihnen ihre Speere hinterherschickten. Eine Zentaurin machte einen Satz nach vorn und brach dann, an der Hüfte verwundet, zusammen. Alain musste wegsehen, als eine Gruppe von Soldaten auf sie zurannte und auf sie einstach. Als die übrigen Soldaten sahen, dass sie immer noch verfolgt wurden, hielten sie an und stellten sich den Zentaurinnen entgegen. Sos'kas Fell war glitschig vor Schweiß. Schaum stand ihr vor dem Mund, als sie wie eine Wahnsinnige Kampfschreie ausstieß 364 und die neue Linie angriff. Alain presste seine Knie kräftiger gegen ihren Widerrist, verzweifelt bemüht, nicht herunterzufallen, und hielt seinen Stab wie eine Lanze. Die Verfluchten formierten sich zu einer letzten Verteidigungslinie, die Speere bereit, die Schwerter erhoben. Als sie durch die Linie brachen, stieß Alain einen Speer beiseite und schlug dem Soldaten ins Gesicht, sodass er ruckartig zu Boden fiel. Sos'kas Keule fuhr knapp an Alains Kopf vorbei, als sie ihn auf den Helm eines Verfluchten krachen ließ. Die Kraft des Hiebes bebte durch ihren Körper, während ihre Keule den Schädel des Mannes zerschmetterte. Der sterbende Soldat versetzte ihr mit dem Schwert eine oberflächliche Wunde an der Schulter und traf Alain am Oberschenkel, bevor er zwischen ihre Hufe fiel. Nachdem sie durchgebrochen war, wurde Sos'ka mit einiger Mühe langsamer, tänzelte zur Seite und wandte sich um, um sich weiteren Soldaten entgegenzustellen. Sie schwang ihre Keule in großen Bögen von einer Seite zur anderen. Die Hälfte der Zeit verbrachte Alain damit, sich zu ducken, aber es gelang ihm trotzdem, zwei Gegner außer Gefecht zu setzen. Sos'ka bäumte sich auf, als ein Soldat auf ihre Beine einschlug, und Alain rutschte von ihrem Rücken. Erstaunlicherweise landete er auf den Füßen und fand schnell genug sein Gleichgewicht, um vorwärts zu springen und das Schwert des Soldaten mit seinem Stab abzufangen. Da das Schwert noch immer im Holz vergraben war, schlug er seinem Eigentümer die flache Seite der Klinge ins Gesicht, sodass der Mann benommen war. Dann riss er seinen Stab los und versetzte dem Mann einen Hieb, der ihn zu Boden schleuderte. Die Wagen waren inzwischen zum Stehen gekommen; die Wagenführer kämpften darum, die Kontrolle über die in Panik geratenen Pferde zu behalten. Der Hohepriester, der seinen regenbogenfarbigen Kopfschmuck achtlos beiseite geworfen hatte, sprang aus dem ersten Wagen und rannte mit einem hässlichen Obsidian-Messer in der Hand auf Li'at'dano zu. Die Schamanin war noch immer fest angebunden, gefangen und hilflos, und sie warf den 365 Kopf zurück und wieherte. Die Verfluchten kämpften wie wahnsinnig, um ihre Befreierinnen aufzuhalten. Sie mussten nur lang genug standhalten, um dem Priester genug Zeit zu verschaffen, sie zu ermorden. Egal, wie sehr sich Alain auch bemühte - für jeden Soldaten, den er niederschlug, sprang ein anderer herbei und nahm dessen Platz ein. Der Priester rief laut. »Möge Er-Der-Brennt diese Gabe annehmen!« Er stieß zu. Die Zentaurinnen schrien vor Angst und hilfloser Wut auf. Licht strömte in Wellen vom Himmel herab. Auf den brennenden Blitz folgte ein explosives Krachen, das alle zu Boden warf. Dann war es still, für den Zeitraum von zwei oder vielleicht auch zweihundert Atemzügen. Es war unmöglich zu sagen, wie lange es gedauert hatte, weil seine Haut so sehr prickelte, dass die Empfindung sämtliche anderen Sinne auslöschte. Blut tropfte ihm aus einem Ohr, als er wieder etwas sehen konnte, und er kämpfte sich auf die Knie. Seine Haare waren lebendig geworden, wanden sich wie die der Merwesen.
Nur die Geheiligte stand noch immer aufrecht da. Sie konnte gar nicht zusammenbrechen, weil die Seile sie noch immer festhielten. Ihr Körper war verbrannt, und ihr schwarzes Haar, ihre Mähne und das Fell waren versengt. Der Priester war zwanzig Schritte weit weggeschleudert worden; sein verbrannter und verrenkter Körper qualmte noch. Kleine Flämmchen tanzten am Saum seines Umhangs entlang und erstarben. Das Obsidian-Messer lag zu Füßen der Zentauren-Schamanin; es war zu einer Pfütze aus rauchendem Glas geschmolzen. Alain kam genau in dem Augenblick taumelnd auf die Beine, als die Wagenführer von den Wagen fielen; ihre Kleider brannten, und sie stolperten auf die Wälder zu, die ihnen Sicherheit gewähren würden. Eines der Pferde hatte sich in seinem Geschirr verfangen; es versuchte sich zu erheben, schaffte es aber nicht. Alain trat einen Soldaten zu Boden, der versuchte aufzustehen. Er schaffte es gerade noch zu Li'at'dano. Als er die Seile zerschnitt, 366 brach sie anmutig zusammen und sank zu Boden. Zentaurinnen mühten sich auf, die Mähnen und Haare gesträubt wie bei verängstigten Katzen. Sos'ka war nicht unter ihnen. Die Verfluchten erhoben sich langsamer. Einige krochen weg. Andere wurden von den Zentaurinnen getötet, die sich als Erste wieder erholt hatten, doch Alain konnte nichts tun, um ihnen zu helfen, keinem von ihnen. Alles, was er tun konnte, war, der Schamanin zu helfen, sich zu erheben. Aus der Nähe sahen die blauen Flecken auf ihrem Körper noch viel schlimmer aus, genau wie die Spuren der Peitschenhiebe und der Stumpf eines Ohrs, dem die Spitze abgeschnitten worden war. Schließlich tauchte Sos'ka neben ihm auf, angesengt, aber noch am Leben. »In den Wagen«, sagte sie. Es war nicht leicht, Li'at'dano in den Wagen zu schaffen, und noch anstrengender, sie in ein Bett zu legen, das eigentlich für zweibeinige Geschöpfe und ihr Gepäck gedacht war. Als sie es endlich geschafft hatten, hatten andere Zentaurinnen bereits die benommenen Pferde von dem Geschirr befreit und sich selbst an ihrer Stelle angeschirrt. »Was hat sie getan?«, fragte Alain und lehnte sich gegen den Wagen, um Luft zu schöpfen. Seine Haare legten sich langsam wieder. Mitten auf der Straße war ein riesiger dunkler Fleck zu sehen. »Li'at'dano beherrscht die Wettermagie«, erklärte Sos'ka. »Sie hat einen Blitz herbeigerufen.« Eine neue Herde von Zentaurinnen galoppierte herbei, schwenkte ihre Fackeln wie Keulen. Sie verteilten sich oder töteten die übrigen Verfluchten. Erst jetzt konnte Alain in der Ferne die Geräusche des Kampfes bei der Festung vernehmen, die allerdings verklangen, als der Wind sich in der Dunkelheit erhob und durch die Bäume rauschte. Er hörte näher kommendes Hundegebell. Sos'ka pfiff, und eine Zentaurin mit gebräunter Haut und einem glänzenden Fell trottete herbei. Sie hielt einen Bogen in der Hand, und über ihrer Schulter hing ein Köcher mit Pfeilen. »Er wird reiten müssen, wenn er mit uns kommen will«, sagte Sos'ka. »Das wird er nicht«, erwiderte Graufell. »Seine Kameraden 367 kommen auf den Rücken von Ni'ats Fohlen. Sie müssen diese Neuigkeiten ihrer eigenen Herde überbringen.« »Bringt ihn zu mir.« Die Stimme der Geheiligten klang weich und angestrengt, aber vor allem lieblich. Alain drehte sich um. Die Schamanin hob suchend den Kopf; sie schien blind zu sein, obwohl ihre Augen geöffnet waren. »Hier bin ich«, sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen. »Ja.« Sie bekam seine Finger zu fassen; ihr Griff war unangenehm fest. »Da bist du. Und was möchtest du mich fragen?« Woher wusste sie das? »Bist du diejenige, die man Liathano nennt?« Er verhaspelte sich bei der Aussprache des Namens und versuchte es erneut. »Li' at' dano.« »Ich werde Li'at'dano genannt.« Ein dünnes Lächeln huschte über ihre Lippen. »Aber es gibt eine, die wird meinen Namen in einer zukünftigen Zeit erhalten.« »Oh, Gott.« Ihre Worte bebten durch ihn hindurch wie das Läuten einer Glocke. Er blickte sich unter den auf und ab schreitenden Zentaurinnen um, die ungeduldig darauf warteten, endlich aufbrechen zu können; sie wollten die gerettete Schamanin an einen sicheren Ort bringen, wo sie sich erholen konnte. Aber er hatte noch immer so viele Fragen. »Wo bin ich wirklich?« »Du bist hier.« »Wo war ich vorher? Wo war ich, als ich gelebt habe?« »Du lebst jetzt.« »Wo ist dieses Jetzt?« Die Worte verfingen sich auf seiner Zunge, die merkwürdig schwerfällig war. Er konnte kaum sprechen. »Wann ist jetzt?« Ein Dutzend Zentaurinnen kamen herbei gedonnert, und Agalleos und Maklos hingen auf den Rücken zweier rötlich brauner Pferdefrauen. Agalleos blickte grimmig drein. Maklos schien beim Absteigen mit der hübschen Kreatur, die ihn gerade hierher getragen hatte, zu liebäugeln. Fackeln schwankten und flackerten in der Dunkelheit, als noch mehr zusammenkamen, sich aus der Schlacht bei der Festung zurückzogen. 368 Und er erinnerte sich: Der Prinz war nicht gestorben. Er war kein Geist. Er war noch am Leben, so wie er selbst am Leben war. »Oh, Gott. Ich bin nicht im Jenseits, nicht wahr?«
»Nein«, sagte sie traurig. »Das bist du nicht. Ich habe dich nur gefunden, weil jene, die du Liathano nennst, dich von dem Pfad gezerrt hat, der zur Anderen Seite führt.« »Du meinst, ich war wirklich am Sterben.« Bitterkeit erfasste ihn, als die nächsten Worte aus ihm heraussprudelten. »Ich habe der Herrin der Schlachten gedient, wie sie mich gebeten hat. Ich bin auf dem Schlachtfeld gestorben.« »Du bist nur deshalb nicht gestorben, weil das Feuerkind dich von dem Pfad gezerrt hat. Ich habe dich an der Kreuzung der Welten gesehen, an dem Ort, wo sich alles berührt - all das, was war und was ist und was jemals sein wird. Dort habe ich dich aufgelesen und hierher gebracht. In diese Zeit. Zu Adica.« Schmerz verzerrte ihr Gesicht, aber sie war in der Lage, weiterzusprechen. »Die dich braucht.« Oh, Gott. Adica! Plötzlich waren Rage und Kummer da. Sie waren furchtlos durch die Herde der Zentaurinnen getrabt und über die Leichen geklettert. Jetzt sprangen sie an ihm hoch, um ihm das Gesicht zu lecken. »Halt! Halt!«, rief er beinahe lachend. Beinahe weinend. Graufell hob eine Trompetenmuschel an ihre Lippen und blies hinein. Sie beugte sich vor, um respektvoll einen Huf der Schamanin zu berühren. »Wir müssen gehen. Unsere Nachhut kann die Verfluchten nicht ewig aufhalten. Du musst ein gutes Stück weit weg sein, wenn sie erst in voller Stärke losziehen.« »Ja«, stimmte Li'at'dano ihr zu. »Ich bin ihnen einmal in die Falle gegangen. Ich werde das nicht noch ein zweites Mal tun.« Sie ließ ihren Kopf sinken und schloss mit einem unruhigen Atemzug die Augen. Alain ließ den Wagen genau in dem Augenblick los, als das Gefährt sich von zwei kräftigen Zentaurinnen gezogen in Bewegung 369 setzte. Fackeln säumten die Straße, und ein unheimliches Pfeifen erhob sich unter den noch anwesenden Zentaurinnen, als der Wagen ihre Reihen passierte. »Komm«, sagte Agalleos zu Alain und packte ihn am Arm. »Wir müssen mit ihnen gehen.« »Aber wir müssen zurück zu Adica!« »Die Straße hinter uns ist jetzt für uns unpassierbar. Nach dem, was hier geschehen ist, werden die Verfluchten sich überall herumtreiben. Die Straße ist nicht sicher.« »Aber -« Sos'ka trottete herbei. »Hier ist meine Verwandte«, sagte sie und deutete dabei auf eine stämmige Zentaurin, die eine beachtliche Ähnlichkeit mit Sos'ka besaß: Schultern von der Breite Beors und muskulöse Arme. Wie alle anderen war auch sie nackt, trug nicht das kleinste bisschen Stoff. »Sie wird dich den ersten Teil des Weges tragen.« »Komm«, sagte Agalleos. Rage und Kummer stießen ihn an, leckten ihm die Hände. Aus der Ferne hörten sie einen Schrei von der Spinnenfeste. Der größte Teil der Zentaurinnen war bereits dem Wagen gefolgt, und Fackeln verblassten in der Ferne, als sie ihre Geschwindigkeit erhöhten. Allein konnte er nicht durch das unbekannte Land zu Shu-Shas Lager zurückfinden; zudem würde die Gegend von wütenden Soldaten auf der Suche nach Feinden nur so wimmeln. In gewisser Weise schien es ihm, als wäre es ein schlechtes Omen, dass er die Phoenix-Feder verloren hatte. Wut und Furcht rangen miteinander, bis er sich an die leisen Worte der Geheiligten erinnerte, als sie über Adica gesprochen hatte: »Die dich braucht.« Was auch immer als Nächstes geschehen würde - er würde einen Weg zu ihr zurück finden. V Gift 1 Zwanzig Tage lang marschierten die beiden Heere von Sapientia und Sanglant nach Westen, dann tauchten allmählich die ersten, vermutlich übertriebenen Berichte über eine große qumanische Streitmacht auf. Diese Streitmacht, so hieß es, bewegte sich angeblich entlang der Veser in nördlicher Richtung auf Osterburg zu genau wie sie. Der Gedanke daran, Bulkezu zu begegnen, bereitete Zacharias so viel Übelkeit, dass er kaum noch etwas essen konnte. Die Gerüchte verbreiteten sich rasch unter den Soldaten, wurden nicht selten von Faustkämpfen begleitet. Wer würde den Oberbefehl hab en, wenn die allseits ersehnte Schlacht bevorstand? Henry hatte erklärt, dass er Prinzessin Sapientia zu seiner Erbin ernennen wollte, argumentierten ihre Soldaten; aber er hatte es nur erklärt, sie noch nicht wirklich ernannt, entgegneten Sanglants treue Anhänger. Sie hatten gehört, dass der König ihm Aosta und die Krone angeboten hatte. Bedeutete das denn gar nichts? Nicht, wenn er sie verweigert hatte, lautete die Antwort. Er war immer noch ein Bastard, selbst wenn er ein großartiger Kämpfer und Anführer war. 371 Niemand konnte diesen Einwand zufrieden stellend entkräften: Er war immer noch ein Bastard. Es ging das Gerücht, dass Prinzessin Sapientia schwanger war. Als sich schließlich die Meldung verbreitete, dass die Entscheidung, wer in der bevorstehenden Schlacht den Befehl haben würde, durch einen Wettstreit gelöst werden sollte, wussten alle, dass Sapientia ihren Ehemann teilnehmen lassen würde. Die Kirche benutzte manchmal solche Verfahren, um bei einem unversöhnlichen Streit zu bestimmen, wen Gott zum Sieger oder zur Siegerin erklärten. Nur einer von beiden konnte gewinnen und würde das Recht haben, die vereinten Heere zu
befehligen, die inzwischen aus dreitausend Berittenen bestanden. Während des Marsches nach Westen stießen täglich zahlreiche kirchliche und weltliche Anhänger zu ihnen, sodass die riesige Streitmacht immer mehr an Kraft und Entschlossenheit gewann. Die Straße in Saony war eigentlich kaum mehr als eine Fahrspur für Wagen. Immerhin hatten die örtlichen Anwohner in den Dörfern und auf den Landgütern genug über die Scheußlichkeiten gehört, die das qumanische Heer im Süden angerichtet hatte, dass sie nicht lange zögerten, dem Heer etwas aus ihren frisch aufgefüllten Vorratskammern abzugeben. An diesem Tag schlugen sie schon früh ihr Lager auf - an einer Stelle im Wald, an der drei grasbewachsene Wiesen nebeneinander lagen. Hirten weideten hier Schafe und Vieh. Die Befehlshaber ordneten an, die Hälfte dieser Tiere zur Nahrungsmittelversorgung zu beschlagnahmen; die übrigen Tiere wurden weggeschafft, damit nicht hungrige Soldaten dazu ermutigt wurden, im Schutz der Dunkelheit nach Belieben weitere Tiere zu stehlen. Die beiden Heere versammelten sich noch vor der Dämmerung auf der mittleren Wiese, die sanft zu einem Fluss hin abfiel. Gras wuchs hier in Hülle und Fülle. Die Soldaten ließen sich auf dem Hang nieder, während Bedienstete sich daran machten, am Bachufer einen Pavillon für jene Edelleute zu errichten, die privilegiert genug waren, um Prinzessin Sapientia aufzuwarten: Bayans un372 grianisches Gefolge, Edelmann Wichman, der polensische Herzog Boleslas, Hrodik und Druthmar, Brigida mit ihrem Aufgebot aus Avaria, eine Edelfrau aus Fesse und verschiedene andere Edelleute aus den Marklanden, die sich ihnen angeschlossen hatten, um sich für den Schaden zu rächen, den die Qumaner ihrem Land zugefügt hatten. Prinz Bayans Mutter war in ihrem Palankin ebenfalls hergeschafft worden, aber natürlich bekam niemand sie zu sehen. Wie immer waren die Vorhänge zugezogen. Sie besaß einen neuen Sklaven - es war einer von denen, die sie in Machteburg gekauft hatte: ein gut gebauter qumanischer Jüngling, der jetzt neben einer der Tragstangen stand. Wie die drei anderen sah er den Geschehnissen so reglos zu, als wäre er taub und stumm. Hatte die alte Frau womöglich alle verzaubert, die ihr dienten? Hatte sie einen Liebeszauber über Sapientia verhängt, dass die Prinzessin so verliebt in ihren Ehemann war? »Ich finde es jedenfalls seltsam, dass Prinz Bayan ihr Heer befehligt, auch wenn er offiziell nicht als Befehlshaber gilt«, sagte Zacharias zu Heribert, nachdem er sich vorsichtig umgeschaut hatte, um sicher zu gehen, dass ihnen niemand zuhörte. Sie standen hinter dem Stuhl, der für Gnade gedacht war und sich links von dem für Sapientia befand. »Findest du? Das erstaunt mich überhaupt nicht. König Henry hat sicherlich schon immer gewusst, dass der Mann, den Sapientia einmal heiratet, ihr nicht untergeben sein wird, sondern als ihr Partner herrscht. Bayan ist ein guter Mann, wenn er auch kein Wendaner und erst recht kein Daisanit ist. Doch wie kann Henry glauben, dass die wendischen Edelleute weniger stolz sind als Herzog Conrad und zulassen werden, dass ein fremder König über sie herrscht?« Ein Stück hinter ihnen quietschte Gnade vergnügt. Sie hockte am Rand des Bachs und war halb in den Binsen verschwunden, die das Ufer säumten; sie warf Steine ins Wasser, während Anna, Matto und Edelmann Thiemo darauf achteten, dass sie nicht hineinfiel. 373 Zacharias lächelte spöttisch. »Frag mich nicht, Bruder. Ich bin nur ein gewöhnlicher Frater.« »Das bist du«, stimmte Heribert ihm freundlich zu. »Aber viel sauberer als damals, als wir dich getroffen haben. Was sowohl dein Äußeres als auch dein Inneres betrifft. Ich schätze deine Kenntnisse sehr.« »Ich habe aber gar nichts Bedeutsames zu dem Thema zu sagen. Ich mache mir nichts aus der Königlichen Rundreise und den höfischen Intrigen - ganz wie es meiner Position entspricht.« Ein Ruf erhob sich von den Heeren. Gnade sprang auf, trappelte etwas wackelig am Ufer entlang und wurde von Thiemo in Empfang genommen, der sie zurück zum Pavillon brachte. Sie kletterte auf ihren Stuhl und stellte sich auf den Sitz. »Nun, nun, Hoheit«, sagte Heribert leicht tadelnd, als sie sich an seine Schultern klammerte, um einen noch besseren Blick auf die Wiese zu bekommen. »Erinnert Euch an Eure Pflicht, Anstand zu wahren.« »Seht nur!« Die Worte von Edelmann Thiemo wurden von jenen Edelleuten wiederholt, die sich im Schatten des Pavillons versammelt hatten. »Da kommen sie.« Er deutete auf die zwei Reiter, die sich dem Pavillon näherten der eine von Norden, der andere von Süden. Beide Pferde wurden an den Zügeln geführt, was ihrem Auftritt jene Würde verlieh, die dem Ernst der Situation angemessen war. »Wieso Wulfhere?«, fragte Zacharias. Er spürte den vertrauten Stich des Neides in seinen Eingeweiden, als er sah, wie der alte Adler Prinz Sanglants Pferd führte. Heriberts Lächeln war bittersüß. »Das ist nicht leicht für ihn, wie du weißt. Aber dadurch ist gleich von Anfang an klargestellt, wie weit er sich von der Gunst des Königs entfernt hat.« Es dauerte einen Augenblick, ehe Zacharias begriff, dass Heribert nicht von Wulfhere gesprochen hatte. Bayan und Sanglant waren beide in ihre Rüstungen gekleidet, aber sie trugen keine Helme. Sanglant hatte sich das Schwert über 374 die Schulter gehängt, wie Reisende es zu tun pflegten, während Bayan sein Schwert gegürtet hatte. Er trug einen
Überwurf aus schneeweißem Leinen mit einem in Rot aufgestickten doppelköpfigen Adler - das Wappen Ungrias - und bis zu den Knien herunterhängenden, abwechselnd roten und weißen Zipfeln, Sanglant trug einen schlichten, goldfarbenen Überwurf ohne Wappen. Sein einziger Schmuck war der wunderbare Drachenhelm, den er sich unter den Arm geklemmt hatte. Sapientia trat mit drei Edelfrauen näher; die eine hielt ein Tablett hoch, auf dem zwei Silberbecher standen, die andere trug einen Krug. Die dritte Frau, eine Geistliche, stand ein bisschen abseits. »Sie sieht aber gar nicht schwanger aus«, murmelte Edelmann Thiemo. »Still«, sagte Anna scharf, als würde sie einen ungeratenen Bruder schelten. »Eine Frau kann zunehmen, ohne richtig rund zu sein. Es heißt, sie hätte seit drei Monaten keine heiligen Fetzen mehr verbrannt. Wenn eine Frau nicht blutet, muss sie schwanger sein. Das haben sie jedenfalls in Cent immer gesagt.« »Ich habe Fälle erlebt, in denen Frauen nicht geblutet haben und trotzdem nicht schwanger waren -«, begann Zacharias, doch Thiemo unterbrach ihn. »Nein, Anna hat Recht. Es war nicht richtig von mir, so etwas zu sagen.« Er blickte sie an, und sie blickte ihn an. Es war eine seltsame Freundschaft, wenn man es genau bedachte: der junge Edelmann und das nussbraune gewöhnliche Mädchen, das beinahe eine Frau war. Zacharias wurde das Gefühl nicht los, dass mehr im Spiel war als nur die gemeinsame Hingabe an Gnade. Selbst Matto, der hinter ihnen stand, war in diesen festen Kreis eingeschlossen, der sich um das kleine Mädchen gebildet hatte. Die beiden Wettstreiter machten zehn Schritte voneinander entfernt Halt. Sanglant nahm von Wulfhere die Zügel entgegen und reichte ihm seinen Helm. Bayan tauschte mit seinem ungrianischen Stallburschen Helm gegen Zügel. Dann schlugen beide einen Viertelkreis und rückten näher zusammen, bis sie Seite an 375 Seite auf ihren Pferden saßen, als würden sie sich für ein Rennen postieren. Ihre Blicke begegneten sich nicht. Die Geistliche hob die Arme. »Möge der Wettstreit beginnen.« Sapientia goss Bier in die beiden Becher. Drei Edelleute aus jedem Heer begutachteten die Becher und bezeugten, dass sie die gleiche Menge Flüssigkeit enthielten. Vorsichtig wurden die Becher an Bayan und Sanglant weitergereicht. Die ganze Zeit über klammerte sich Gnade an Heriberts Schulter, ohne ein einziges Wort zu sagen. Sie starrte nur mit weit aufgerissenen Augen auf das, was da vor sich ging. Diejenigen, die zu Fuß waren, traten jetzt zurück und überließen das Feld den Duellanten. Hauptmann Thiadbold von den Löwen trat vor und führte ein Hörn an die Lippen. Das Signal ertönte. Von beiden Heeren ertönten Jubelschreie und Pfiffe, als die beiden Reiter ihre Pferde vorwärts drängten; beide hielten in der einen Hand die Zügel, in der anderen Hand den vollen Becher. Kopf an Kopf rasten sie über die Wiese, erreichten den Waldrand, wendeten geschickt ihre Pferde und galoppierten wieder zurück. Noch immer Kopf an Kopf passierten sie die Geistliche und hielten an. Die Menge wurde augenblicklich still, als sie ihre Becher der Geistlichen reichten und der verbliebene Rest Bier gemessen wurde. Die Geistliche hob einen Becher hoch. »Der Sieger heißt Prinz Bayan!« Rufe und Gelächter erstickten alles Übrige, als Bayan lachend nach einem frisch gefüllten Becher Bier verlangte. Auch Sanglant nahm einen vollen Becher entgegen; er leerte ihn in einem Zug. Doch obwohl er lächelte, blieb seine Miene grimmig. Gnade begann zu weinen. »Er hat verloren«, klagte sie. »Er hat absichtlich verloren«, fügte sie dann leiser und wütender hinzu. »Nein, Süße«, sagte Heribert ernst, »er hat nicht verloren. Er hat getan, was für das Königreich richtig war. Du darfst niemals etwas anderes denken. Der Sieg über die Qumaner zählt im Augenblick mehr als irgendetwas anderes.« 376 Sie war nicht wirklich getröstet, aber sie vergrub ihren Kummer jetzt still in ihrem Innern, wie ihr Vater es ihr an diesem Tag bereits eingeschärft hatte. Sie barg ihren Kopf an Heriberts Schulter. Sie wurde so schnell groß. Und genauso rasch verstand sie die verwickelten Intrigen, die die Edelleute plagten. Zacharias blickte zu Thiemo und Anna, die leise miteinander tuschelten, während auf dem Feld weiter gefeiert wurde und die Heere sich zu ihren Zelten zurückzogen. Er wusste, dass sie kein Liebespaar waren. Anna war eigentlich auch noch gar nicht alt genug für so etwas; sie konnte nicht älter als dreizehn oder vierzehn sein. Abgesehen davon hätte Prinz Sanglant so etwas nie gestattet - ein Hauch von scheinheiligem Verhalten, das Zacharias eher erheiterte. Es war gut zu wissen, dass selbst der meistbewunderte Mann hin und wieder der Schwäche erlag. Bei diesem Gedanken fühlte Zacharias sich etwas besser; seine eigenen Schwächen kamen ihm so dreist und öde vor. Und er hatte so viele davon. Gnade wischte ihr Gesicht an Heriberts Ärmel ab, wand sich aus seinen Armen und sprang auf den Boden. Heribert runzelte die Stirn und griff nach dem Lederband, das er seit kurzem um den Hals trug. »Es gefällt dir nicht«, sagte Zacharias leise, als er seinem Blick folgte; er richtete sich auf die Leute, die noch immer die beiden Wettstreiter umgaben. Sanglant hatte inzwischen schon seinen vierten Becher Bier geleert. »So etwas hätte vielleicht der Hauptmann der Drachen getan«, erwiderte Heribert, »aber er ist nicht mehr Hauptmann der Drachen.«
»Nein, Bruder, du weißt sehr gut, dass die Qumaner gar nicht die größte Bedrohung sind. Das hast du mir zumindest erzählt.« »Und das ist auch wahr.« Heribert sah Wulfhere durch die Menge auf sich zukommen. »Schwester Anne ist die größte Bedrohung. So sei es.« Er trat Wulfhere entgegen, um ihn zu begrüßen. Heribert und Wulfhere waren in letzter Zeit enge Freunde geworden; sie redeten und schmiedeten Pläne mit Sanglant, während 377 Zacharias wie immer draußen in der Kälte stand und so unwissend blieb wie das hungernde Kind eines Bettlers. Der Neid machte ihn benommen, als er die beiden Männer sah - den eleganten Geistlichen und den älteren Gewöhnlichen - und beobachtete, wie sie Worte austauschten. Vertrauten sie ihm denn nicht? Äußerte Wulfhere sich schlecht über ihn? Hielt man Zacharias für weniger loyal als den Adler, der die Seiten gewechselt hatte? Es war ziemlich unsinnig, seine kleine Fehde mit Wulfhere fortzusetzen, aber er konnte nicht anders: Es war eine weitere seiner Schwächen, dass er sich an seinen Groll klammerte wie ein ertrinkender Mann an eine Spiere, auch wenn sie ihm nicht mehr von Nutzen war. Er war nicht einmal so gut wie dieser Pöbel, den sie vor einigen Monaten in der zerfallenen Festung vor Walburg zurückgelassen hatten. Niemand hatte dem Prinzen von Zacharias' beschämendem Verhalten berichtet. Niemand hatte es verraten, obwohl sie alle gesehen hatten, wie er davongerannt war, bereit, das Kind im Stich zu lassen, für das sie kämpften. Kein Wunder, dass sie ihm nicht trauten. In seinen Albträumen - und er hatte viele davon -, sah er immer noch die beiden qumanischen Soldaten vor sich, wie sie näher kamen und sich anschickten, ihn mit einem Pfeil zu durchbohren. Manchmal wünschte er, sie hätten es getan. Hinter ihm packte Gnade gerade Annas Hand und führte sie zurück zum Bach, während sie mit ihrer durchdringenden Stimme munter drauflos plapperte. »Erzähl mir noch mal die Geschichte von dem Phoenix.« Wulfhere und Heribert senkten die Köpfe, unterhielten sich eindringlich miteinander, und Heriberts Stirnrunzeln vertiefte sich. Zacharias schlich näher an sie heran, aber sie sprachen so leise, dass er lediglich ein paar bruchstückhafte Sätze und einzelne Wörter verstehen konnte - nichts, was irgendeinen Sinn ergeben hätte. Nach einer Weile kam der Prinz auf sie zu. Dass er so viel getrunken hatte, war ihm zunächst gar nicht anzumerken, aber ein Blick in sein Gesicht verriet es. Er hatte zwar eine freundliche Mie378 ne aufgesetzt, aber seine Augen waren vor Wut zusammengekniffen. Er packte Wulfhere an der Schulter. »Sagt mir ehrlich, Wulfhere, zeigt diese Adlersicht nun die Wirklichkeit oder nur eine Illusion?« »Leider hat sie mich noch nie betrogen, mein Prinz.« »Dann ist Eure Sicht also glaubwürdiger als Eure Zunge, Adler. Anne ist mit dem Segen meines Vaters zur Skopos ernannt worden!« Er blickte in Bayans Richtung. Der ungrianische Prinz nahm, jovial wie immer, die Glückwünsche der verschiedenen Edlen aus dem Gefolge von Sapientia entgegen. Niemand nahm ihm seinen Sieg übel; er hatte sich als würdig erwiesen, auch wenn er ein Fremder war. »Bete zu Gott, Heribert.« Sanglant blickte sich um und sah Zacharias. »Und Ihr auch, Zacharias, egal, was Ihr jetzt glaubt. Betet zu Gott, dass Sie mir die Geduld gewähren, die ich um des Wohles des Königreichs willen aufbringen muss, und dass Sie mir den Verstand gewähren, den ich benötige, um mich in die Welt der Intrigen einzufühlen.« Er lachte rau und zog seine kleine Gefolgschaft von der Menge weg, auf der Suche nach seiner Tochter, die fröhlich im Bach planschte und so tat, als wäre sie ein Vogel, der sich aus dem Wasser erhob. »Blutherz war ein guter Lehrmeister, obwohl er sicher niemals vorgehabt hat, mir etwas Gutes zu tun. Wenn es seinen Hunden in Cent schon nicht gelungen ist, mir die Kehle zu zerfetzen, schaffen es diese Hunde am Hof sicherlich auch nicht. Oh, Gott, wenn ich nur daran denke, dass mein Vater mir das Königreich angeboten hat und ich es ausgeschlagen habe!« »Eure Hoheit!«, sagte Wulfhere überrascht. »Was meint Ihr damit?« »Das spielt keine Rolle.« Sanglant schritt weiter, entfernte sich von den anderen, während er nach seiner Tochter rief. Er trug ein Lederband um den Hals, das er jetzt herauszog und seine Hand fuhr über das daran hängende, runde Silberstück mit den darin eingravierten Zeichen. »Mein Vater hätte Anne nicht zur Skopos ernannt und wäre nicht ihr Opfer geworden, wenn ich an seiner 379 Seite gewesen wäre und ihn beraten hätte. Sie hätte niemals so viel Einfluss erlangen können, wäre ich an seiner Stelle mit Adelheid als meiner Königin nach Aosta geritten.« Er blieb stehen, als seine Tochter triumphierend aufschrie, weil sie Thiemos Bemühungen, sie zu fangen, entkommen konnte. Er wandte sich an Wulfhere. »Möglicherweise habt Ihr Anne aber auch alles erzählt, was Ihr erfahren habt, seit Ihr zusammen mit mir reist. Und möglicherweise verheimlicht Ihr mir, was sie Euch mitteilt.« »Das wäre in der Tat möglich, Eure Hoheit. Ich könnte auch Eure Tochter töten, während sie schläft. Edelmann Thiemo ist ein guter Junge, aber kein Gegner für mich.« »Der alte Wolf ist weise und verschlagen. Sagt mir, Wulfhere, wie wird man mit Intrigen vertraut?« »Mit welcher Art von Intrigen möchtet Ihr denn vertraut werden?« »Mit den Intrigen des Königshofs. Es heißt, Ihr wärt der bevorzugte Berater meines Großvaters Arnulf gewesen. Ihr, ein Gewöhnlicher. Die Leute müssen Euch dafür gehasst haben, dass er auf Eure Worte mehr Wert gelegt hat als auf die aller anderen.« »Das haben sie. Und ganz besonders Euer Vater.« »Wirklich? Ich dachte, er hätte
Euch dafür gehasst, dass Ihr versucht habt, mich zu ertränken.« »Nun, das hat es nicht besser gemacht. Aber Henry hat mich schon lange vorher gehasst. Er hat mir meinen Platz an der Seite von König Arnulf nicht gegönnt. Junge Männer verfallen häufig dem Neid und seltsamen Phantasien, mein Prinz. Doch Arnulf war sich Henrys Wert immer bewusst. Er hegte niemals einen Zweifel daran, welches seiner Kinder zum König geboren war.« »Was ist mit Henrys Kindern?« Sanglant betrachtete die Edlen, die sich um Bayan versammelt hatten und seinen Sieg feierten. Sapientia stand strahlend neben ihrem Mann; sie sah gut aus und wirkte glücklich, doch neben dem ungrianischen Prinzen nahm sie sich leichter aus als eine Feder, als könnte sie schon beim gerings380 ten Windstoß davonschweben. Sie schien keinerlei Gewicht zu haben. »Oh.« Wulfhere lächelte; er bleckte die Zähne, wie ein Wolf es tun mochte, wenn er knurrte. »Welche Kinder meint Ihr denn? Vergesst nicht, dass er jetzt noch ein anderes Kind hat, die kleine Mathilda, die Adelheid geboren hat. Es ist ein kräftiges, gesundes Kind, auch wenn sie noch ein Säugling ist.« »Was wollt Ihr damit sagen?« »Dass die Kinder, die Henry mit Sophia gezeugt hat, nicht die Einzigen sind, die Anspruch auf den Thron erheben könnten, Eure Hoheit. Es gibt noch zwei andere. Die neugeborene Mathilda. Und Euch.« Sanglant blickte Wulfhere an, bis der alte Adler sich unbehaglich zu fühlen schien. Er wurde unruhig unter den eindringlichen Blicken des Prinzen, der ganz offensichtlich wütend und traurig war. »Findet meine Frau, Adler. Wieso lässt Eure Adlersicht Euch dabei im Stich? Hat sie sich vor Euch versteckt? Wohin ist sie gegangen?« Auf diese Frage konnte Wulfhere ihm keine Antwort geben. »Ich bitte dich, mein Prinz«, sagte Heribert rasch. »Es wirkt wie Gift, wenn du zu viel daran herumfingerst. Und du solltest es auch nicht so offen zeigen.« Sanglant fuhr zusammen, blickte auf das silberne Medaillon in seiner Hand und schob es zurück unter seine Tunika. Erst jetzt, da die drei Männer zusammenstanden, erkannte Zacharias, dass alle drei - der Prinz, der Geistliche und der Adler - die gleichen Amulette unter ihrer Kleidung verborgen hatten: einen Schutz gegen Zauberei. 381 2 Wie lang war es her, seit sie das letzte Mal genügend Muße gehabt hatte, um sich ins Skriptorium zurückzuziehen und ungestört an ihrer Geschichte des wendischen Volkes arbeiten zu können! Die gesegnete Königin Mathilda, die ihr stets in ruhmreicher Erinnerung geblieben und der diese Arbeit gewidmet war, war schon vor langer Zeit gestorben, ohne dass sie die vollendete Arbeit je gesehen hätte. In diesen Tagen fragte sich Rosvita allerdings, ob das Werk überhaupt jemals vollendet werden würde. Sie schritt durch das sonnenbeschienene Skriptorium und betrachtete die geschäftig an ihren Arbeiten sitzenden Geistlichen der Königlichen Schule. Die Männer und Frauen schrieben Kapitel, Urkunden und Dokumente ab, aber auch Briefe, die sich mit den Geschäften des Königs hier und im Norden beschäftigten. So viele gebeugte Rücken, so viele eifrige Hände. Hin und wieder schaute eine Geistliche von ihrer Arbeit auf, nickte ihr zu oder bat um einen Ratschlag. Es war mehr Zufall als beabsichtigt, dass sie inzwischen für die Leitung von Henrys Schule verantwortlich war. Königin Adelheid hatte ihre eigene Schule, die aus Geistlichen von Aosta bestand und von Hugh geleitet wurde, der als offizieller Botschafter der Heiligen Mutter bei der Königin diente. »Schwester Rosvita, sollen wir dieses Urkundenregister, das die Grafschaft von Ivria begründet, ebenfalls abschreiben? Sollte das nicht eigentlich in der Gelehrtenschule der Königin erledigt werden?« »Nein, Bruder Eudes, wir müssen König Henrys Recht und Pflicht, in diesen Ländern zu herrschen, verankern, damit niemand Einwände erheben kann, wenn die Skopos sich bereit erklärt, ihn zum Kaiser zu krönen. Eine wie auch immer geartete Bewilligung muss daher von Henry und Adelheid gemeinsam erfolgen.« Sie ging weiter, bis ein Lichtstrahl vor ihr den Parkettboden in Gold tauchte. 382 »Schwester, es gibt einen Bericht über einen weiteren Vorfall von Ketzerei, diesmal von Bischöfin Odila in Mainni. Wie sollen wir antworten?« »Geduld, Schwester Elsebet. Die Skopos hat bereits angedeutet, dass sie nächstes Jahr in dieser Angelegenheit ein Konzil einberufen wird. Schreibt Bischöfin Odila, dass sie jene einsperren soll, die nicht widerrufen wollen, damit sie nicht die Unschuldigen anstecken können, aber sie soll unter keinen Umständen voreilig handeln. Bis zu diesem Konzil soll sie um jeden Preis eine öffentliche Verhandlung vermeiden, denn es liegt in der Natur dieser Leute, sich zu Märtyrern zu machen, wann immer sie können. Wir sollten uns davor hüten, Märtyrer aus diesen Ketzern zu machen. Könnt Ihr das in Euren eigenen Worten wiedergeben, Schwester?« Elsebet war jetzt seit zehn Jahren bei der Königlichen Schule; sie gehörte zu jenen Geistlichen, die bessere Arbeit leisteten, wenn man ihnen etwas mehr Freiraum ließ. Sie lächelte. »Natürlich, Schwester Rosvita. Ich bin froh, dass Euch die Aufsicht über die Schule zugefallen ist. Um ehrlich zu sein, sind die Geistlichen der Skopos und ihre Presbyter für meinen Geschmack ein bisschen zu hart. Die Gewohnheiten hier in Aosta sind doch anders als bei uns im Norden.« Ein Stück weiter saßen Ruoda und Heriburg nebeneinander; die eine hatte sich einen weißen Schal um den Kopf geschlungen, die andere einen hellblauen. Sie waren aufmerksam mit einer Abschrift beschäftigt.
»Wie geht es voran?«, fragte Rosvita leise, als sie bei ihnen stehen blieb. Die Lebensgeschichte von St. Radegundis lag aufgeschlagen vor ihnen auf dem Pult. Heriburg fuhr dort fort, wo Schwester Amabilia aufgehört hatte, und Ruoda hatte eine zweite Abschrift begonnen. Rosvita hoffte, sie zur Sicherheit nach Korvei schicken zu können. »Ganz gut.« Ruoda hatte einen Klecks neben ein Wort gemacht 383 und war jetzt damit beschäftigt, die überschüssige Tinte mit dem Schreibmesser wegzuschaben. Heriburg linierte gerade ein leeres Stück Pergament. Sie blickte nicht von der Arbeit auf, als sie jetzt antwortete, und ihre Stimme klang so leise, dass Rosvita sich regelrecht hinabbeugen musste, um sie verstehen zu können. »Wir wollten heute Morgen nicht darüber sprechen, Schwester, denn es waren zu viele Besucher in Eurem Zimmer. Aber wir haben mehr Gerüchte gehört, als Euch möglicherweise lieb sein wird -« »Unterschätze niemals, wie sehr Gerüchte dem König nützen können, Heriburg. Erzähl weiter.« Ruoda lächelte, aber sie blickte nur kurz auf, um die nächste Zeile aus der Vita zu lesen und ihre Feder in die Tinte zu tauchen. »Es heißt, dass eine Schwester Venia im vergangenen Sommer mit dem Zug der Heiligen Mutter Anne zum Palast gekommen ist. Sie soll eine ältere Frau mit weißen Haaren und einem angenehmen, runden Gesicht sein, sprachgewandt, gebildet, von gutem Benehmen und aus edler Familie. Sie hat wohl nur gesagt, dass sie aus einem vornehmen Haus in Karrone stammt. Schon bald darauf soll ein Presbyter erklärt haben, dass sie seine Verwandte ist, die Großtochter der karronischen Fürstenfamilie; sie wäre demnach Bischöfin geworden, hätte aber wegen Schwarzer Magie diese Position aufgeben müssen. Der Presbyter ist kurz danach an einem Schlaganfall verstorben und konnte seine Behauptung somit nicht beweisen. Es hat ihn ohnehin wohl niemand gemocht. Auf jeden Fall hat Schwester Venia sich anscheinend keine Feinde gemacht, solange sie hier war.« »Solange sie hier war?« Heriburg musterte das mit frischen Linien versehene Pergament und runzelte die Stirn, als sie den Raum zwischen den Linien betrachtete; sie dachte darüber nach, wie sie die Zeilen am besten füllen und die Wörter verteilen konnte. Sie hatte etwas Platz für eine Illustration gelassen, aber diese Arbeit würde Bruder Je-han übernehmen. 384 »Sie ist verschwunden/Schwester. Zuletzt wurde sie in den unruhigen Tagen nach dem Tod der Heiligen Mutter dementia gesehen - gesegnet sei sie - und vor der Ankunft von Königin Adelheid und König Henry.« »Da ist noch etwas«, murmelte Ruoda, während sie ihre Feder aufs Neue anspitzte. »Wir hatten den Eindruck, dass alle diese Frau vergessen hatten und sich erst wieder an sie erinnerten, als wir nach ihr gefragt haben.« »Ich hoffe, ihr habt nicht zu viel Aufmerksamkeit auf euch gezogen.« Heriburg blickte auf; ihr Gesicht war so sanft und weich wie ein Pudding, aber ihr Blick so stechend wie Nadeln. »Ist Euch jemals die Ähnlichkeit der dariyanischen Worte für >Vergebung< und >Gift< aufgefallen? >Venia< und Venenk Viele im Palast wundern sich noch immer über Eisenkopfs Tod und auch über den Tod der Heiligen Mutter dementia - mögen Gott Erbarmen mit ihr haben. Es ist nur eine leichte Veränderung der Lippen notwendig, um das andere Wort auszusprechen, und Geistliche sind sicher besonders schlimm im Verbreiten von Gerüchten, wenn sie nur entsprechend ermutigt werden.« »Habt ihr Bruder Fortunatus von diesen Neuigkeiten erzählt? Er wartet noch immer darauf, sich mit der Laienschwester von St. Ekatarina zu treffen.« »Wir haben ihn letzte Nacht informiert, Schwester. Er wollte sich noch vor der Laudes mit der Laienschwester treffen.« »Ich danke euch beiden. Das habt ihr gut gemacht.« Ruoda grinste, als hätte sie das Lob erwartet, aber Heriburg senkte bescheiden den Blick. Ein Edelstein und ein Juwel, wie Mutter Otta ihre besten Novizinnen oft genannt hatte, durchaus würdig, der Krone des Herrschers zu dienen. »Und jetzt zurück an eure Arbeit. Es ist nicht gut, wenn die anderen euch so lange mit mir sprechen sehen.« Weiter vorn stand das Schreibpult, das für ihren persönlichen Gebrauch bestimmt war. Mit einem Seufzer der Erleichterung und der Hoffnung ließ sie sich auf dem dazugehörigen Stuhl nieder, 385 bereitete vier Federn vor und betrachtete die Worte, die sie am Morgen von ihrer Wachstafel abgeschrieben hatte: die letzten Tage von Arnulf dem Jüngeren. In dieser Zeit, als sowohl Wendar als auch Varre ganz seiner Kontrolle unterstanden, wurde er von seinem Heer als Herr, König und Beschützer von allem bezeichnet. Sein Ruhm verbreitete sich in alle Lande, und viele Edelleute aus anderen Reichen statteten ihm Besuche ab, in der Hoffnung, Gnade vor seinem Auge zu finden, denn man sagte wahrhaftig von ihm, dass er seinen freunden nichts abschlug und gegenüber seinen Feinden kein Erbarmen kannte. Nachdem er schließlich auch die östlichen Stämme unterworfen und die Aikha-Plünderer zurück ins Meer getrieben hatte, verkündete er seine Absicht, eine Pilgerfahrt zur heiligen Stadt Darre zu unternehmen, um dort zu beten. Doch binnen einer Woche nach dieser Verkündigung nahm seine Gebrechlichkeit derart zu, dass er sich in sein Bett begeben musste. Er rief die führenden Edlen seines Reiches zusammen und ernannte in ihrer Gegenwart Henry zum Herrscher.
Seinen anderen Kindern versprach er Ehren und wertvolle Ländereien wie auch einen Teil des Königsschatzes, doch wurde Henry zum Herrscher über seine Schwestern und Brüder und König von Wendar und Varre und den Marklanden. Nachdem sein Wille rechtmäßig geworden war und alle Versammelten Henry als König anerkannt hatten, starb dieser große Edelmann, der es vollbracht hatte, Wendar und Varre zu vereinigen, der allen anderen in jenen Eigenschaften und Tugenden, die Geist und Körper leiteten, weit voraus war, der sich zum größten aller bisherigen Herrscher in diesen Landen erhoben hatte. Er hatte achtzehn Jahre geherrscht und erreichte das Alter von fünfundvierzig Jahren. Er wurde in Quedlingham vor dem Herdfeuer der Herrin begraben. An diesem Tag wurde viel geweint und noch mehr getrauert. Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Die Erinnerung an diesen bitteren Tag, den sie als junge Frau miterlebt hatte, besaß noch immer Macht über sie. Sie raute das Pergament mit Bimsstein auf, bevor sie das Messer und die Feder aufnahm und weiterzuschreiben begann. Hier endet das Erste Buch über die Taten der großen Pursten. Sie musste den ersten Buchstaben wegkratzen und von vorne beginnen, aber schließlich lehnte sie sich mit einem stillen Seufzen zurück und betrachtete den Schlusssatz. Es war schwer zu glauben, dass sie diesen Teil - endlich abgeschlossen hatte. Doch für die Sündhaften gab es nicht wirklich Ruhe: Sie musste immer noch den zweiten Teil schreiben, die Chronik von Henrys Herrschaft. Manchmal schien es ihr, als wollte die Arbeit niemals enden. Immer gab es mehr zu erzählen, als sie Platz hatte, um es mitzuteilen. Sie tauchte ihre Feder in das Tintenfass. Hier beginnt das Zweite Buch »Schwester Rosvita.« Fortunatus trat hinter sie. Er beugte sich herab, als wollte er das Pergament begutachten, und sprach leise mit ihr. »Ich habe Paloma heute Morgen nicht angetroffen. Sie ist sicher geduldig gewesen, aber ich schwöre, dass sie gestern einen sehr verängstigten Eindruck auf mich gemacht hat. Ich habe sie davon überzeugen können, noch einen Tag länger hier zu bleiben ... aber jetzt fürchte ich -« Er brach ab, als ein Mann im roten Umhang eines Presbyters das Skriptorium betrat. Als er Rosvita sah, kam er geradewegs durch den Mittelgang auf sie zu. »Wir sprechen später darüber, Bruder.« Wegen seines gewölbten Daches war das Skriptorium ein recht luftiger und lichter Ort. Während Bruder Petrus sich näherte, betrachtete Rosvita die aufgemalten Friese am anderen Ende des 386 387 Raums: Märtyrer und Heilige erhielten darauf von den Engeln die Kronen des Ruhms. »Schwester Rosvita.« Er neigte den Kopf. Sie verbarg ein Lächeln und musterte ihn ernst. Sie besaß das Vertrauen des Königs, den Respekt der Gelehrtenschule und das Ohr der Königin. Ein Presbyter wie Petrus, so edel er von Geburt auch sein mochte, hatte nicht so viel Einfluss wie sie, und das wusste er. »Ich bin von Edelmann Hugh geschickt worden, um Eure Anwesenheit in den Gemächern der Skopos zu erbitten.« Rosvita seufzte, legte das Messer nieder und reichte die noch feuchte Feder an Fortunatus weiter. Er konnte lediglich enttäuscht und hilflos dreinblicken, als sie die Geschichtsschreibung in seine Obhut gab. Sie verließen den Palast der weltlichen Herrscher und traten in den goldfarbenen Korridor des Palasts der Skopos. Schweigen herrschte hier, da nur einige Presbyter, Geistliche und Bedienstete die Hallen entlangeilten, um ihren Aufgaben nachzugehen. Hier war keine Wand kahl: Wandmalereien, Friese, Gemälde oder Wandbehänge schmückten jede Einzelne von ihnen. Säulen waren mit winzigen Ziegeln besetzt oder in hellen Farben bemalt. Skulpturen füllten die Innenhöfe und säumten die Säulengänge, unter denen sie in barmherzigem Schatten einherschritten, während die Sonne heiß auf die leeren, kiesbestreuten Pfade des Hofes niederbrannte. Zu dieser Jahreszeit hielt sich wegen der großen Hitze niemand in der Sonne auf, selbst dann nicht, wenn der Nachmittag sich bereits der Abenddämmerung näherte. Es war so ruhig, als würde ein Bann über dem Palast liegen. Als Rosvita einmal kurz anhielt, um durch eine Lücke in der Mauer einen Blick auf die Stadt zu werfen, bemerkte sie, wie sehr der Fluss blendete, der auf seinem Weg zwischen den Straßen hindurch viermal von einer Brücke überquert wurde. Ein matter Dunst hing über Darre. Waren selbst die Gebäude eingeschlafen? Sie betete zu Gott, dass der Herbst bald einsetzen und mit ihm kühleres Wetter kommen würde. Sie schwitzte so sehr, dass sie 388 sich mit dem Ärmel die Stirn abwischen musste. Schließlich erreichten sie das Innere des Palastes und kamen zu einer Tür, an der das Siegel der Skopos angebracht war, das private Audienzzimmer. Bruder Petrus blieb neben der Tür stehen. Rosvita trat allein ein. Glücklicherweise war das Zimmer dunkel und kühl, umgeben von dicken Wänden, die mit hellen Kacheln geschmückt waren; es hieß, sie folgten einem geometrischen Muster, das dem Pfad der Seele auf ihrem Weg durch die sieben Sphären zur Kammer des Lichts entsprach. Die Skopos saß auf einem einfachen Stuhl, der für seine hohe Rückenlehne berühmt war; diese Lehne wies ein Muster ineinander verschlungener Kreise auf. Zu Füßen der Skopos lag der riesige schwarze Hund, der jetzt leise knurrte, als Rosvita sich näherte, ohne jedoch den Kopf zu heben. Der Stuhl befand sich auf einem leicht erhöhten Podest, das von fünf Reihen im Halbkreis
aufgestellter Bänke umgeben war. Ein Tisch stand zwischen den ersten Bänken und der Stufe. Nur fünf Personen hielten sich in der Kammer auf: die Skopos, Hugh, eine Bedienstete in einem schlichten, hellen Kleid, das mit einem Seil gegürtet war, und zwei ältliche Personen in den Gewändern von Geistlichen. Eine lag auf einem Sofa, halb verborgen im Schatten und still. Hugh und der andere Mann standen am Tisch, auf dem eine Schriftrolle ausgebreitet worden war. Ein Lampe stand jeweils an den Seiten der Karte, doch es schien Rosvita, dass ihr Licht eher Hughs hübsches Gesicht als die verblassten Zeichen auf der Schriftrolle beleuchtete. »Tretet näher, Schwester Rosvita«, erklärte die Skopos mit ihrer kühlen Stimme und streckte die rechte Hand aus. Rosvita ging vorsichtig auf sie zu; sie war sich nur zu sehr bewusst, dass der große Hund ihr mit einem einzigen Biss die Hand abbeißen konnte. Das Tier reagierte jedoch nicht, knurrte höchstens leise, als sie auf den Stufen niederkniete, um Annes Ring - ihr Amtssiegel - zu küssen. »Heilige Mutter, Ihr ehrt mich mit Eurer Einladung.« 389 Nicht einmal der Hauch eines Lächelns huschte über das Gesicht der Skopos - sie hätte genauso gut eine Skulptur aus Stein sein können. Es war schwer vorstellbar, dass man auf diesem Stuhl mit einer noch königlicheren Haltung und Ausstrahlung sitzen konnte, als sie es tat. Henry war klug gewesen, als er ihr den Thron der Skopos angeboten hatte. Auf diese Weise konnte sie ihm niemals den irdischen Thron streitig machen. »Wenn ich Euch bitten dürfte, Schwester, seht Euch diese Schriftrolle an.« Hugh trat beiseite, um ihr Platz zu machen. Er nickte ihr zu und lächelte sie - wie es schien - aufrichtig an, als sie neben ihn an den Tisch trat. Der andere Mann, der älter war und ein ernstes, von altem Groll und einer kürzlich erlittenen Krankheit gezeichnetes Gesicht hatte, musterte sie missbilligend. »Es ist Papyrus«, sagte sie. »Und es scheint sehr alt zu sein. Diese Symbole an den Rändern der Karte sind nicht daisanitischen Ursprungs. Ich würde sagen, dass sie von Ungläubigen stammen und wahrscheinlich die Götter der Ungläubigen oder vielleicht die sieben himmlischen Körper darstellen sollen. Es ist eine Karte.« Sie berührte sie zögernd, denn irgendetwas daran brachte in ihrem Kopf etwas zum Klingeln. »Hier sind Berge, ein Fluss, ein Wald, das Meer.« Sie deutete jeweils auf das, was sie meinte. »Es scheint, als würde die Karte die Lage von sieben Stätten aufzeigen, möglicherweise von Städten oder Tempeln. Es ist schwer zu sagen. Sechs liegen in gleicher Entfernung von der Siebten verstreut im Land; die Siebte liegt in der Mitte, umgeben von Bergen. Jede einzelne Stätte wird durch sieben Zeichen gekennzeichnet, die wie Speerspitzen aussehen und das größere Muster widerspiegeln: jeweils sechs bilden einen Ring um eine Siebte in der Mitte.« »Was bildet diese Karte ab, Schwester Rosvita?«, fragte Anne. Der ältere Mann schnaubte, Hugh trat einen Schritt vom Tisch zurück. Rosvita hatte in einer harten Schule gelernt, es sich nicht anmerken zu lassen, wenn sie überrascht war. Das tat sie auch jetzt nicht, als eine leise Ahnung in ihr aufstieg, was es wohl sein könn390 te, auf das sie da starrte. »Vielleicht ist es der Kontinent Novaria, Heilige Mutter. Dieses Meer könnte das Nördliche Meer sein, und hier könnte das Mittlere Meer sein und das hier das Alfar-Gebirge. Es ist eine unbeholfene Wiedergabe, wenn es denn wirklich eine ist, aber ich habe Karten von Seefahrern gesehen, auf denen eine ähnliche Küstenlinie eingezeichnet war. Ich habe das Alfar-Gebirge selbst dreimal überquert und weiß, dass es sich etwa an dieser Stelle befinden muss.« »Was wisst Ihr über die bevorstehende Umwälzung, Schwester?«, fragte die Heilige Mutter. »Über den Angriff der Verlorenen, die ihre Herrschaft aufs Neue errichten und die gesamte Menschheit versklaven wollen ?« »Nichts weiter als das, was ich gehört habe, Heilige Mutter. Prinz Sanglant hat von einer Umwälzung gesprochen, wie auch seine Mutter, als sie im letzten Frühjahr kurz zur Rundreise des Königs gestoßen sind. Aber sie sind beide rasch wieder abgereist, als es den Anschein hatte, dass der König nicht willens war, ihren Worten Glauben zu schenken.« »Schenkt Ihr ihnen denn Glauben?« »Ich brauchte mehr Beweise, Heilige Mutter. Ich gestehe, dass die Geschichte schwer zu glauben ist. Ich habe im Laufe meines Lebens viele Chroniken gelesen. Oftmals haben gute Seelen die Herrschenden mit lauter Stimme vor einem bevorstehenden Unheil gewarnt, um dann zu entdecken, dass sie sich im Lesen der Sterne geirrt hatten, in den Omen oder sogar den Heiligen Versen selbst. Das Buch Gottes ist für Sterbliche nur schwer zu entziffern.« »Seid Ihr in der Astronomie bewandert, Schwester?« »Ich muss gestehen, dass ich mich in diesen Angelegenheiten so gut wie gar nicht auskenne. Ich habe nicht mehr gelernt als das, was jede fähige Schülerin in einem Nonnenkloster lernt. Ich erkenne die Konstellationen, und ich kann die Wandelsterne am Himmel benennen.« Sie lächelte leicht. »Ich erinnere mich, dass Aturna achtundzwanzig Jahre benötigt, um den Zodiak zu um391 kreisen, während Mok zwölf Jahre dazu braucht, aber ich bekenne, an die Zeitläufe der anderen kann ich mich nicht entsinnen. Somorhas und Erekes liegen zwischen der Erde und der Sphäre der Sonne, daher gehen sie häufig im Glanz der Sonne unter. Somorhas erscheint sowohl als Morgen- wie auch als Abendstern, aber niemals zur gleichen Zeit, und manchmal sogar gar nicht. Ich bitte um Vergebung, Heilige Mutter. Schon früh in meinen Studien war ich von der Geschichte fasziniert, und ich habe die anderen Künste zu ihren Gunsten
vernachlässigt.« »So scheint es«, sagte Skopos. Es klang ganz und gar nicht tadelnd, sondern lediglich wie eine Feststellung bezüglich dessen, was sie gehört hatte. Eine Glocke ertönte leise. Die Bedienstete eilte zur Tür, sprach dort mit einem nicht zu sehenden Diener und kehrte zur Heiligen Mutter zurück. »Der Botschafter von Salia, Eure Exzellenz.« »Lass ihn herein.« Ein beleibter Mann, dessen Gesicht von der Hitze gerötet war, kniete auf den Stufen nieder, um den Ring der Skopos zu küssen. »Heilige Mutter.« Er betupfte sich das Gesicht mit einem Taschentuch, aber es konnte auch die Angst vor dem Hund sein, die ihn so zum Schwitzen brachte. »Ich stehe Euch zu Diensten.« »Das hier ist Bruder Severus«, erklärte Anne dem Botschafter und deutete auf den ältlichen Geistlichen. »Ihr werdet ihn persönlich mit nach Salia nehmen, wenn Ihr dorthin zurückkehrt, und dafür sorgen, dass seine Wünsche erfüllt werden. Er ist mein persönlicher Repräsentant.« »Ich füge mich Eurem Befehl, Heilige Mutter.« Er sprach Dariyanisch mit einem leichten salianischen Akzent. »Ich weiß nicht, ob wir so spät im Jahr den Pass noch überqueren können. Ich habe die Nachricht erhalten, dass es an den nördlichen Pässen bereits schwere Schneefälle gegeben hat.« »Aber Ihr habt nichts von den westlichen Pässen gehört, Bruder. Ich bin sicher, dass Ihr eine erfolgreiche Reise haben werdet, wenn Ihr sofort aufbrecht.« 392 Er beäugte sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Besorgnis. Vielleicht hatte er die Gerüchte gehört, dass sie eine mächtige Zauberin war und damit zu jenen Personen zählte, deren Aktivitäten noch vor hundert Jahren beim Konzil von Narvone verdammt worden waren. Aber das wurde natürlich niemals laut ausgesprochen, und schon gar nicht ihr gegenüber. Vielleicht hatte er aber auch einfach nur Angst davor, dass der schwarze Hund auf ihn zuspringen und ihm das Gesicht zerfetzen könnte. »Wie Ihr wünscht, Heilige Mutter. Wir können morgen früh aufbrechen, wenn das Euer Wunsch ist.« »Das ist es.« Anne entließ ihn, und die Bedienstete begleitete ihn zur Tür. Nachdem es eine Weile ganz still geblieben war, erhob sich Anne und kam mit dem Hund auf den Fersen zum Tisch, strich mit der Hand über den alten Papyrus. Er war vom Alter vergilbt und an den Rändern schon leicht zerfetzt. »Was für einen Beweis braucht Ihr, Schwester Rosvita, um von der Gefahr überzeugt zu sein, die uns alle erwartet, wenn wir nicht handeln?« »Vielleicht ist es unmöglich, mich zu überzeugen, Heilige Mutter, so lange ich keine handfesten Beweise erhalte. Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht erkennen könnte, dass es sehr wohl einen Sinn ergibt, sich auf eine solche Möglichkeit vorzubereiten, falls es jemals dazu kommen sollte. Doch wieso sollte Sanglants Mutter zu Henry gehen und ihm ein Bündnis anbieten, wenn ihr Volk nur im Sinn hätte, uns zu versklaven und zu beherrschen? Könnte man denn nicht miteinander sprechen?« »Mit wem denn? Wo ist die Aoi-Frau jetzt, Schwester? Wo ist Prinz Sanglant?« »Ich weiß auf beide Fragen keine Antwort.« »Die Aoi-Frau ist zu ihrem Volk zurückgekehrt, um ein Heer zusammenzustellen, jetzt, da sie gesehen hat, dass die Menschen nicht kämpfen wollen. Prinz Sanglant ist ebenfalls weggegangen und stellt ein Heer zusammen.« »Woher wisst Ihr das? Und zu welchem Zweck tut er es?« 393 »Sicherlich habt Ihr von der Fähigkeit gehört, die man gemeinhin als >Adlersicht< bezeichnet? Adler sind jedoch nicht die Einzigen, die sie beherrschen.« Der Docht von einer der Lampen zischte, als das Öl sich dem Ende zuneigte. Die Bedienstete beeilte sich, den Bauch der Lampe neu aufzufüllen, während Rosvita ihre Gedanken sammelte. Sie war so erschreckt, dass sie nicht einmal einfache Freundlichkeiten von sich geben konnte, um den unangenehmen Augenblick zu überspielen. Wenn Anne die Adlersicht benutzen konnte, konnte sie jeden und jede beobachten. Jede. Doch nicht einmal Anne konnte unablässig jemanden beobachten, und dann auch immer nur eine Person nach der anderen, wenn sie diese Methode anwandte. Es war bekannt, dass eine Skopos Spione hatte, Geistliche, die durch den Palast von Darre eilten oder sich an den Höfen der weit verstreuten Herrscher aufhielten, um der Heiligen Mutter zu melden, was sie gesehen hatten. War dies hier so viel anders ? »Wo ist Prinz Sanglant jetzt, Heilige Mutter?« Es war seltsam und beunruhigend, über das ansonsten so beherrschte Gesicht die scharfen Krallen der Verärgerung zucken zu sehen. »Gut verborgen«, erklärte Anne, bückte sich und kraulte ihrem Hund die Ohren, um so ihren Gesichtsausdruck besser verbergen zu können. »Zweifellos mit Hilfe der Magie seiner Mutter. Wieso sollte er sich verstecken, wenn er nichts zu verbergen hat?« »Ja, wieso?« Rosvita wandte ihren Blick zur Seite und sah, wie Severus die Karte musterte, während Hugh mit offensichtlichem Interesse zuhörte. »Ich habe jedoch den Adler nicht vergessen, den Prinzessin Theophanu geschickt hat. Die Frau hat davon gesprochen, dass Unruhen das Land heimsuchen, unter anderem qumanische Plünderer.« Als Anne sich aufrichtete, waren ihre Gesichtzüge wieder zu einer Maske erstarrt. »Seid versichert, dass ich
danach gesucht habe, Schwester Rosvita. Ich habe kein qumanisches Heer gesehen.« 394 »Ihr glaubt demnach nicht, dass Prinz Sanglant ein Heer aufstellt, um gegen die Barbaren zu kämpfen?« »Ich kenne die Gedanken von Prinz Sanglant nicht. Wendar wird in dieser Zeit von vielen Unruhen heimgesucht, die in verschiedenen Verkleidungen daherkommen. Ein kluger Kopf erkennt diese Unruhen als Zeichen der bevorstehenden Umwälzung, denn die Erde selbst verschiebt sich und erzittert in dem Wissen um das furchtbare Schicksal, das sie erwartet, wenn die Verlorenen ihre schreckliche Magie einsetzen, um ihre Rückkehr zu erzwingen.« »Es ist schwer, gegen Euch zu argumentieren, Heilige Mutter, in Anbetracht dessen, welches Ausmaß und welche Tiefe Euer Wissen besitzt.« »So ist es«, stimmte Anne ihr zu. Sie hob die Hand. Sofort lösten sich einige Bedienstete, die bisher nicht zu sehen gewesen waren, aus den Schatten. Die liegende Geistliche hatte, wie sich jetzt herausstellte, auf einer Trage gelegen, was es den vier Bediensteten einfach machte, sie aus dem Zimmer zu schaffen. Selbst jetzt konnte Rosvita keinen richtigen Blick auf die Person erhaschen; sie sah lediglich, dass sie klein und dunkel aussah. Wie seltsam, dass sie das alles beobachtet hatte, ohne jemals ein Wort zu sprechen oder angesprochen worden zu sein. Doch jetzt war es zu spät, um herauszufinden, wer sie war. Bruder Severus zog sich mit einem Lächeln und einer Verbeugung zurück, ebenso wie Hugh, und als Letzte ging die Bedienstete. Sie zog die Tür hinter sich zu. Der schwarze Hund gähnte und entblößte dabei ein Furcht einflößendes Gebiss. »Würdet Ihr mir jetzt bitte erzählen, Schwester, wieso Ihr Euch so hartnäckig weigert, mir zu trauen?«, fragte Anne. Sie blickte Rosvita direkt an. »Ich diene erst einen Monat in meinem Amt als Heilige Mutter. Habe ich Euch beleidigt? Habt Ihr irgendetwas über mich gehört, das Euch zu der Annahme verleitet, ich würde etwas Böses im Schilde führen?« Einen Augenblick wurde Rosvita von Panik überwältigt, doch sie war es gewohnt, schnell zu denken. »Nur dieses, Heilige Mut395 ter. Hugh von Austra ist nach Süden geschickt worden, um sich dem Vorwurf zu stellen, dass er seine Hände mit schwarzer Magie beschmutzt habe. Jetzt steht er als Vertrauter im Rat der Königin, und Ihr habt ihm außerordentliche Macht über die Presbyter verliehen.« »Die er sich bereits durch eigene Mühen während der letzten Tage meiner Vorgängerin dementia - möge ihr Andenken gesegnet sein - verdient hatte. Liegt es an meinem Vertrauen in Hugh, dass Ihr mir nicht traut?« Es war schwer, Annas Alter zu schätzen. Sie konnte um die vierzig Jahre alt sein, so wie Rosvita, aber auch zehn Jahre älter. Die Zeit hatte auf ihrem glatten Gesicht keine Spuren hinterlassen, aber sie sah auch nicht wirklich jung aus; das Gewicht von Zeit, Weisheit und Rang umgab sie. Sie hatte Macht, weit reichende, handfeste Macht, und wenn sie sich entschied, Henry zu unterstützen, gab es vermutlich nichts, was er nicht zuwege bringen konnte. Deshalb war Rosvita bereit, ihr einiges zu vergeben, sofern Anne wirklich vorhatte, Henry zu unterstützen, und ihn nicht einfach für ihre eigenen Ziele missbrauchte - nämlich die Rückkehr der Verlorenen zu verhindern. Rosvita war zu klug, um solche Gedanken laut zu äußern. Es gab noch so viele andere Fragen, die beantwortet sein wollten, jetzt, wo sie die Gelegenheit hatte, sie zu stellen. »Ich bin Geschichtsschreiberin, Heilige Mutter. Die gute Äbtissin von Korvei, bei der ich meine Ausbildung erhalten habe, hat gesagt, ich würde durch meine Neugier sowohl gerettet als auch verdammt werden. Ich bekenne freimütig, dass ich die Chroniken gelesen habe und dass ich Eure Abstammung nicht ganz verstehe. Ich bitte um Entschuldigung, wenn Euch das, was ich sage, unverschämt erscheint. Bitte glaubt mir, dass es nur die Sünde der Neugier ist, die mich zu der Frage veranlasst.« »Ihr bezweifelt, dass ich eine Nachfahrin von Kaiser Taillefer bin?« War da gerade Verärgerung über ihr Gesicht gehuscht? Oder war es Erheiterung gewesen? Es war schwer zu sagen. Der Hund 396 knurrte jetzt lauter als zuvor. Er schlug mit dem Schwanz einmal gegen ein Tischbein, brachte den Tisch beinahe ins Wanken. »Ich bin im Besitz der Vita von St. Radegundis, wie Ihr wisst, Heilige Mutter.« Es war nicht leicht, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen, nicht, während der riesige Hund sie so anstarrte. »Ich habe sie gesehen.« Wie kühl sie diese Worte aussprach, obwohl doch die Vita von ihrem eigenen Vater geschrieben worden war, einem Mann, dem sie niemals begegnet war. »Wenn Eure Geistlichen mit den Kopien fertig sind, die sie gerade verfassen, würde ich ein solch heiliges Werk gern hier in die Bibliothek stellen, Schwester.« Rosvita wusste, wie sie mit dem Gefühl des Bedauerns umgehen musste, auch wenn es schmerzte. »Das ist nur angemessen, Heilige Mutter. Aber obwohl ich von Gott als das Gefäß erwählt wurde, durch deren Hände die Vita den Weg zu Euch finden wird, bin ich doch verwirrt über die Umstände von Fidelis' Heirat. Ich kann verstehen, dass er im Kloster versteckt und zum Mönch erzogen worden ist. Ich kann auch verstehen, dass er sich im Herbst seiner Jahre der Versuchung ergab, und tatsächlich bemitleide ich ihn, denn trotz seines hohen Alters und seiner großen Weisheit schien es mir, als hätte er noch immer voller Zuneigung an die Frau gedacht und bis ans Ende seines Lebens das Ungemach bedauert, das ihr aufgrund seiner Schwäche widerfahren sein mag.« Es war eine
lange Rede, die sie da gehalten hatte, und noch dazu eine sehr gewundene. Sie musste ihre Worte mit Bedacht wählen. »Aber ich habe die Identität Eurer Mutter - das, was später mit ihr geschehen ist - niemals ganz verstanden. Wie seid Ihr erzogen worden, in welcher Verborgenheit seid Ihr aufgewachsen? Welche Bildung habt Ihr erhalten, dass Ihr Euch zwar Eurer Abstammung bewusst wart, aber all jenen unbekannt geblieben seid, die die Chroniken ihr Leben lang studiert haben?« »Ich bin von Schwester Clothilde aufgezogen worden, der Zofe von St. Radegundis und späteren Dienerin von Bischöfin Tallia, meiner Tante. Meine Mutter hieß Lavrentia. Sie war das uner397 wünschte Kind einer edlen Familie aus Varre. Es ist üblich, dass Familien ihre ungewollten Kinder in die Kirche stecken.« Rosvita lächelte bitter bei der Erinnerung an ihren Bruder Ivar, der zwar keine Liebe oder Neigung für die Kirche verspürt hatte, aber dennoch dort untergebracht worden war. Graf Harl war kein Mann, der rasch vergab, und zweifellos hatte der unbesonnene und impulsive junge Ivar ihm einmal zu viel Schwierigkeiten gemacht. »So ist es, Heilige Mutter. Wir können nur beten, dass alle, die in Gottes Dienste treten, mit einem ehrlichen und reinen Herzen kommen.« Die Skopos murmelte einen Segen als Antwort, flüchtig und gedankenlos, eine Gewohnheit für jemanden, der in der Umgebung von Geistlichen aufgewachsen war. »Sie ist gestorben, als sie noch sehr jung war, gerade erst fünfzehn Jahre alt. Schwester Clothilde hat sehr wohl gewusst, welche Unruhen in Salia ausgebrochen wären, wenn es sich herumgesprochen hätte, dass noch eine rechtmäßige Nachfahrin von Taillefer am Leben ist. Sie wusste, dass die Salianer Frauen lediglich als Mitregierende herrschen lassen, niemals jedoch allein, und sie wusste auch, dass irgendein mächtiger salianischer Edelmann mich als Geisel genommen, aufgezogen und mit seinem Sohn verheiratet hätte, damit dieser Sohn durch mich den Königsthron von Salia hätte beanspruchen können.« »Wohl wahr«, murmelte Rosvita. »Eine barbarische Tradition.« »Die sich nicht allzu sehr von König Henrys Heirat mit Königin Adelheid unterscheidet.« Das saß. »Adelheid ist zu Henry geflohen und hat ihn um Hilfe gebeten, Heilige Mutter. Es stimmt, dass ihre Heirat aufgrund politischer Erwägungen zustande kam, aber es herrschen auch aufrichtige Zuneigung und Achtung zwischen ihnen.« Der Hund knurrte und bellte einmal kurz, aber bedrohlich. Die Skopos trat die Stufen hoch und setzte sich hin; sie legte die Hände auf die Stuhllehnen, die ohne jede Verzierung waren, abgesehen von dem polierten Blattgold, das das Holz umgab. Sie gab einen leisen Befehl von sich, und der Hund ließ sich sofort neben ihr 398 nieder. »Manchmal frage ich mich, Schwester Rosvita, wer in Eurem Herzen zuerst kommt - Gott oder der König?« »Ich diene den Herrschern von Wendar und Varre, wozu ich erzogen worden bin, Heilige Mutter.« »Und ich diene der Menschheit, wozu ich erzogen worden bin. Bischöfin Tallia und Schwester Clothilde haben von der Bedrohung erfahren, die die Verlorenen darstellen, also wurde ich dazu erzogen, in ihre Fußstapfen zu treten, um die Menschheit zu retten, indem die Verlorenen zurück in den Abgrund geworfen werden. Werdet Ihr mir helfen, oder werdet Ihr Euch mir in den Weg stellen, Schwester? Der König hört auf Euch. Ihr seid sehr geachtet, und es ist offensichtlich, dass die Gelehrtenschule des Königs und ein großer Teil seines Hofes Eurer Meinung folgen werden, solltet Ihr Euch entscheiden, Eure Stimme zu meinen Gunsten zu erheben. Oder gegen mich.« Rosvita betete zu Gott, dass ihr Gesicht und ihre Stimme sie nicht verrieten. Sie betete zu Gott, dass nicht der kleinste Hauch von Verdacht auf sie fiel. »Dann seid Ihr also deshalb in den Künsten der Mathematiki ausgebildet worden, Heilige Mutter. Und deshalb sind sie auch Eurer Tochter beigebracht worden. Doch diese Künste werden von der Kirche, der Ihr jetzt vorsteht, noch immer verdammt.« »Verdammt aus Neid auf meine Tante, Bischöfin Tallia, eine überaus weise und selbstlose Frau. Doch ich verstehe, was Ihr meint, Schwester Rosvita. Ich muss vorsichtig vorgehen, um nicht Wut und Angst zu erwecken. Wir kämpfen diesen Kampf schon seit vielen Jahren im Verborgenen, während man geglaubt hat, wir würden schlafen, doch wir waren hellwach. Es ist unser Schicksal und unsere Pflicht, uns vorzubereiten, während die Menschheit schläft und der herannahenden Gefahr gegenüber blind ist.« Neugierig, aber niemals eine Lügnerin. Rosvita war all die Jahre stolz auf ihre Ehrlichkeit gewesen, aber hieß es nicht in der Heiligen Botschaft, dass die Stolzen als Erste fallen würden? »Das ist ein ernster Vorwurf, Heilige Mutter. Bitte verdächtigt mich nicht, 399 dem Pfad der Rechtschaffenheit jemals Hindernisse in den Weg zu legen.« Anne wölbte eine Augenbraue, aber es war schwer zu sagen, ob sie überrascht, zufrieden oder skeptisch war. »Solange wir als Verbündete zusammenarbeiten, besteht also Harmonie zwischen uns. Ihr dürft gehen. Steht bitte zur Verfügung, wenn ich Euch das nächste Mal rufen lasse. Die Angelegenheit der Ketzerei im Norden muss bedacht werden. Ein Konzil muss einberufen werden, und ich habe vor, Euch den Vorsitz zu übertragen.« »Ich stehe zu Eurer Verfügung, Heilige Mutter.« Sie bekam den heiligen Ring angeboten. Mit einiger Mühe erklomm sie das Podest und küsste ihn. Dieses Mal knurrte der Hund nicht, aber sie konnte das Gewicht seiner
Anwesenheit neben sich spüren. Während sie allein zur Tür ging, dankte sie im Stillen der Herrin für die kleinen Barmherzigkeiten und freute sich, als sie feststellte, dass sie noch alle Finger besaß. Hugh wartete draußen im Vorzimmer; er lehnte an einem Fensterbrett und betrachtete den Innenhof, einen kleinen Garten, der von der sommerlichen Hitze gelb geworden war. Aus einem Springbrunnen in Gestalt eines Phoenix in der Mitte des Gartens tropfte Wasser; an jeder Ecke wuchs ein Obstbaum. Birnen, Feigen und Äpfel hingen an den tief herabhängenden Ästen, warteten auf den Herbst. Hugh drehte sich zu ihr um und lächelte freundlich. »Schwester Rosvita. Ich wollte gerade zum Palast zurückkehren. Darf ich Euch begleiten?« »Es wäre mir eine Ehre.« Sie schritten durch die schattigen Arkaden. Bruder Petrus folgte ihnen im Abstand von zehn Schritten; er trug eine nicht entzündete Lampe bei sich. »Es tut mir Leid, dass Ihr Ihre Majestät gestern nicht begleiten konntet. Wir haben die Stadt verlassen und der Weinlese auf den königlichen Weingütern beigewohnt.« »Es tut Königin Adelheid gut, etwas hinauszukommen«, erklärte Rosvita. »Ich bin froh dass sie sich endlich wieder erholt.« 400 Sie sprachen eine Weile über unwichtige Dinge: über Prinzessin Mathilda, die aostanische Architektur, die Rituale bei der Weinlese. Welches Spiel spielte Hugh? Doch manchmal, so wie in diesem Augenblick, fragte sie sich, ob er sich nicht vielleicht wirklich geändert hatte. Allen Berichten zufolge und auch ihrer eigenen Beobachtung entsprechend war er fromm, zurückhaltend, gütig, beredt, aber sanft, ernst in seiner Autorität und doch so bescheiden wie ein Bettler; er war freundlich zu allen Personen und hatte ein solch vornehmes Benehmen, dass er niemals gewöhnlich wirkte. Wenn er unwiderruflich von einer Neigung zum Bösen befleckt gewesen wäre, hätte sich das doch sicher irgendwie in seinem Äußeren zeigen müssen. Aber das tat es nicht. Es war in der Königlichen Schule mittlerweile zu einer Art Scherz geworden, dass die Leute, wenn sie sich versammelten, sobald die Königin und der Presbyter miteinander durch die Straßen von Darre ritten, ihre Autorität priesen und seine Schönheit rühmten. Sie verließen die Kolonnade und überquerten den Innenhof auf einem Kiespfad; die weißen Steine knirschten unter ihren Schritten. Die Nachmittagssonne warf lange Schatten auf den sauber geharkten Garten und die kreuz und quer verlaufenden Wege. Hinter den Dächern des Palastes erhoben sich die Wälle. »Die Heilige Mutter möchte Euch die Leitung des Konzils übertragen, das sich der Ketzerei annehmen soll, die den Norden heimsucht.« »So hat sie mich wissen lassen. Ich fürchte jedoch, ich bin nicht dazu ausgebildet, eine solche Untersuchung zu leiten.« »Nein, Schwester, sagt das nicht. Ihr werdet von allen respektiert. Es ist nur zu bekannt, dass Ihr Eure Entscheidungen ungeachtet Eurer eigenen, persönlichen Neigungen trefft. Ich kann mir keine andere Person in der Kirche vorstellen, der so viel Vertrauen entgegengebracht wird wie Euch.« Sie betraten den Säulengang, der den Eingang umgab - drei riesige Bögen, die vom Palast der Skopos zum Vorhof des königlichen Palastes führten. Rosvita hatte sich noch immer nicht an die Geschwindigkeit gewöhnt, mit 401 der die Sonne hier im Süden unterging; es gab keine lange Dämmerung, wie sie sie von den Sommertagen im Norden gewohnt war. Die Dunkelheit senkte sich bereits herab, ertränkte sie im Schatten zwischen den schweren Bögen. Sie konnte kaum die länglichen Gestalten der Heiligen erkennen, die in die Fassade gemeißelt worden waren, helle Gestalten, die sich über ihnen erhoben und sie ernst, aber barmherzig anblickten. »Ich bin beunruhigt, Schwester«, sagte Hugh leise. Bruder Petrus achtete gehorsam darauf, immer gerade so viel Abstand zu halten, dass er außer Hörweite war. Hinter ihnen im Vorhof flackerten Lichter auf, als die Fackeln, die ringsum an Leuchtern angebracht waren, entzündet wurden. Mehrere Stallburschen eilten vom Tor herbei, das den Eingang zum Stallhof bildete. In der Ferne, von der Straße her, die in die Stadt führte, waren Rufe und Jubelschreie zu hören. Sie sagte nichts, sondern wartete geduldig, und nach einer Weile fuhr Hugh fort. »Was würdet Ihr tun, wenn Ihr ein altes Schriftstück finden würdet, in dem Ihr eine Zusammenfassung jener ketzerischen Worte entdeckt, die gerade jetzt das Königreich vergiften?« »Was wollt Ihr damit sagen? Es ist bekannt, dass die arethusanische Kirche sich im Irrtum über bestimmte Fragen der Doktrin befindet. Zumindest eine von ihnen - der Streit über die Natur des Menschen und des göttlichen Wesens des heiligen Daisan - ist Teil des ketzerischen Gedankenguts. Nach allem, was ich gehört habe, kommt die Ketzerei aus dem Osten.« Wie er so dastand, im düsteren Licht nur als Schatten sichtbar, wirkte er wie ein Mann, der zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten gefangen war. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich glaube, ich habe einen Bericht gefunden, in dem St. Thekla persönlich das Häuten und die Erlösung des heiligen Daisan beschreibt, genau so, wie es angeblich in der vergifteten Ketzerei der Fall ist.« »Eine Fälschung.« Aber sie brachte die Worte kaum heraus. 402 Dass eine solche Aussage ausgerechnet von Hugh kam, warf sie ziemlich aus dem Gleichgewicht. Sie war
entweder eine Närrin oder er ein vollendeter Schauspieler, aber er kam ihr tatsächlich beunruhigt vor. »Ich habe daran gearbeitet, genau das zu beweisen, aber ich fürchte -« »Macht Platz für König Henry!« Soldaten eilten herbei und bezogen im geräumigen Vorhof Aufstellung. Beifallsrufe stiegen von der tiefer liegenden Stadt auf, als der König und sein Gefolge sich dem Tor näherten. »Damit habe ich nicht gerechnet.« Sie musste schreien, um sich bei dem Lärm verständlich zu machen. »Kommt.« Er zog sie am Arm mit sich. Königin Adelheid erschien jetzt zwischen den riesigen Bronzetüren, die zum Eingang der großen Halle führten; sie tauchte genau in dem Augenblick auf, als die ersten Reiter auf den Vorhof ritten. Sie trugen die Banner von Henry und Adelheid bei sich. Hinter ihnen folgte der König mit seinen engsten Vertrauten: Herzog Burchard von Avaria, Herzogin Liutgard von Fesse, Markgraf Villam, ein paar aostanische Edle und natürlich sein bevorzugter Adler Hathui. Niemand, weder Mann noch Frau, vermochte Henrys Wirkung zu übertreffen. Er wirkte gesund und munter, und der Feldzug in Aostas unbarmherziger Hitze schien kaum Spuren bei ihm hinterlassen zu haben. Er stieg ab, reichte die Zügel einem Stallburschen und eilte zu Adelheid, um sie zu begrüßen. Dann, als er schon sein Gefolge in die Halle führen wollte, fiel sein Blick auf Rosvita. »Meine gute Beraterin!« Da er sie gerufen hatte, kämpfte sie sich durch die Umstehenden zu ihm vor. Hugh schritt bescheiden hinter ihr her. »Kommt, Schwester, Ihr werdet heute beim Essen zu meiner Linken sitzen.« Das Essen wurde serviert, nichts Besonderes, aber für Soldaten, die gerade vom Feldzug zurückkamen, dennoch eine Köstlichkeit. Adelheid saß rechts von Henry in wunderschönen Gewändern, die 403 sie gerade zufällig getragen hatte - als hätte sie gewusst, dass er kommen würde. Vielleicht hatte sie es auch gewusst. Der König konnte einen Kurier geschickt haben. Allerdings fragte sich Rosvita, wieso sie und die Schule nichts davon mitbekommen hatten, wenn das wirklich der Fall gewesen war. Hatte Hugh sie beim Säulengang abgefangen, damit sie die Ankunft des Königs miterlebte und begriff, dass sie weniger Macht besaß, als er ihr in seinen anmutigen Worten zuerkannt hatte? Nein, wies sie sich zurecht, sie war einfach zu misstrauisch. Ein Verwalter brachte eine Schüssel Wasser und ein Stück Stoff, damit Henry sich den Staub der Straße von Gesicht und Händen wischen konnte. Bedienstete eilten mit einer klaren Suppe herbei und brachten danach geröstete Wildhühner in Minzsoße. Als der gröbste Hunger gestillt war, erhob sich Adelheid mit einem Becher in der Hand. »Lasst uns von den siegreichen Ereignissen des Sommerfeldzugs hören!«, rief sie, sogleich unterstützt von allgemeiner Zustimmung. Hathui gab einen detaillierten, wenn auch wenig dramatischen Bericht über die Erfolge des Heeres zum Besten: Drei Gruppen von Jinna-Banditen waren niedergemacht worden; sieben Belagerungen waren friedlich aufgelöst worden, wobei Edelmann Gezo noch immer in Navlia ausharrte; ferner berichtete sie von Botschaftern von arethusanischen Potentaten, die nicht begierig darauf waren, gegen das Heer des wendischen Königs zu kämpfen, aber im Süden Länder besetzten, die der aostanischen königlichen Familie gehörten, sowie von Festmahlen und Siegesparaden in etlichen Städten im mittleren Teil Aostas. Henry blieb während des gesamten Berichts trübsinnig und verließ das Fest recht früh. Er nahm nur seine engsten Vertrauten mit, als er seine privaten Gemächer aufsuchte. Sie hielten kurz an, um die schlafende Prinzessin zu betrachten. Als Henry sich über Mathildas Bett beugte und bewundernd feststellte, wie rasch sie wuchs, beugte sich Rosvita zu ihm herab, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. 404 »Ich spüre, dass nicht alles zu Eurer Zufriedenheit ist, Majestät. Seid versichert, dass ich bereit bin, zuzuhören, solltet Ihr den Rat einer Vertrauten benötigen.« Er strich Mathilda sanft über die weichen, braunen Haare. Das Baby rührte sich, steckte den Daumen in den Mund und sank mit einem leisen Schnarchen wieder in den Schlaf zurück. »Aosta ist ein Dornenbusch, und auch die Neuigkeiten aus Wendar haben mich nicht gerade erfreut. War es falsch von mir, dass ich es Theophanu überlassen habe, sich dort um alles zu kümmern?« »Ihr konntet doch nicht wissen, dass die Qumaner einmarschieren würden, Eure Majestät.« »Jage ich einem Traum hinterher, Schwester?« Er strich über das geschwungene Ohr der Kleinen, und obwohl seine Hände von den vielen Jahren des Krieges schwielig geworden waren, war es eine äußerst sanfte Berührung. »Nein, Eure Majestät. Wenn es stimmt, was die Heilige Mutter sagt, benötigen wir in den kommenden Jahren einen starken Führer. Im Namen von Taillefers Krone könnten so viele vereinigt werden, die sich ansonsten weigern würden, dem wendischen Banner zu folgen.« »Wenn die Berichte stimmen, herrscht in Salia Bürgerkrieg. Wenn ich nur Aosta sichern könnte, wäre es mir möglich, als Nächstes mein Augenmerk nach Westen zu richten.« Diese Worte verblüfften und beunruhigten sie. »Ihr würdet in Salia immer als Besatzer gelten, Eure Majestät. Vergebt mir, wenn ich das sage. Ich muss Euch raten, zunächst Eure Position in Aosta zu stärken - und Ihr dürft auch die Unruhen im Norden nicht außer Acht lassen.« Sein scharfer Blick und seine nachdenkliche Miene erinnerten sie daran, dass er häufig im Stillen die Dinge gegeneinander abwog, ohne dass andere es bemerkten. »Was denkt Ihr? Soll ich nach Wendar zurückkehren?« »Um ehrlich zu sein, Eure Majestät, fürchte ich, dass Ihr zwischen der Lanze und dem Speer gefangen seid.
Wenn Ihr Aosta 405 jetzt verlasst, kann alles, was Ihr bisher erreicht habt, zerfallen. Wenn Ihr nicht nach Wendar zurückkehrt, könnte noch Schlimmeres geschehen.« »Ich hatte angenommen, ich würde ein friedliches Reich zurücklassen«, sagte er nicht ohne Bitterkeit, »aber ich erkenne, dass dem nicht so ist. Doch ich danke Euch für Eure ehrlichen Worte, Schwester.« Er richtete sich auf und lächelte, als er Adelheids Hand nahm und sie zu sich heranzog. »Und nun zu Bett, meine Freunde.« Es wurde viel gescherzt und gelacht, als sie den König und die Königin bis zu ihrem Bett begleiteten, die beiden schließlich allein ließen und sich zurückzogen. Die Höflinge zerstreuten sich rasch, um sich ihren eigenen Belustigungen zu widmen, doch bevor Rosvita zu ihren Gemächern zurückkehren konnte, wurde sie von Helmut Villam aufgehalten. »Ich bitte Euch, Schwester, auf ein Wort.« Sie lächelte, aufrichtig erfreut, ihn zu sehen. »Ihr seht gut aus, Markgraf. Ihr habt die Sommerhitze besser überstanden als ich.« »Wir waren auch nicht zwischen Stadtmauern eingesperrt. Und ich muss zugeben, Schwester, dass ich die Frauen von Aosta als höchst entgegenkommend kennen gelernt habe.« Sein Lächeln verzog sich zu einem Stirnrunzeln, als er sie in eine kleine Nische zog, die von einem raffinierten Marmorspringbrunnen in Gestalt eines Medusen-Kopfes verdeckt wurde; jedes Haar dieses Kopfes war eine Schlange, und aus jedem Schlangenmund tropfte Wasser, als wäre es durchsichtiges Gift. »Ich bin beunruhigt über die Berichte, die ich über Wendar und die Marklande gehört habe.« »Ein Adler ist vor einigen Wochen im Auftrag von Theophanu nach Darre gekommen. Habt Ihr schon neuere Nachrichten gehört?« »Ein Bote von Jeoffrey von Lavas hat uns erreicht, und es hat mir das Herz gebrochen, dem Burschen zuzuhören. >Bei der Liebe, die Ihr mir gegenüber hegt, und bei der Ehre, die Ihr mir erwiesen habt, indem Ihr meine Tochter zur rechtmäßigen Gräfin 406 von Lavas ernannt habt.< Er hat Henry gebeten, nach Hause zu kommen. Es gibt Unruhen, Dürren und Hungersnöte, und Banditen kommen von Salia in den Norden und machen die Straßen unsicher. Es gibt sogar Gerüchte, dass die Schatten der Verlorenen gesichtet worden sind. Sie wagen sich aus den tiefen Wäldern hervor, um die Leute mit ihren Geschossen zu plagen.« »Das sind in der Tat schlechte Nachrichten.« Villam war noch nicht fertig. »Ich hatte gehofft, eine Nachricht von meiner Tochter zu bekommen, aus Walburg, aber ich habe nichts gehört. Sagt mir, Schwester, sollte Henry in Aosta bleiben oder nach Wendar zurückkehren? Es ist mir völlig klar, dass er und Königin Adelheid Aosta bereits jetzt so weit unter Kontrolle haben, dass ihnen die königlichen Kronen bestimmt auch ohne Kampf überreicht werden.« »Sicher könnten sie die Kronen einfach nehmen. Niemand wetteifert mit ihnen darum.« »Das ist das Risiko, nicht wahr? Wenn Henry sich krönen lässt, während in Aosta noch Unruhen herrschen, während Jinna-Piraten und arethusanische Diebe noch immer die Hälfte des Landes unter Kontrolle haben ...« Er wandte sich ab und streckte die Hand aus, um das Wasser aus einem der Schlangenmünder darüber laufen zu lassen und sich die Stirn zu benetzen. Es war so dunkel in der Nische, in der sie sich aufhielten, dass Rosvita nur seine Bewegungen sehen konnte, nicht aber sein Gesicht. »Doch wenn Henry sich nach Wendar zurückzieht, könnte dieser Ausflug nach Aosta als Niederlage gewertet werden«, erklärte sie. »Das ist wahr. Jene, die die Unruhen schüren, könnten Gerüchte in Gang setzen, dass er das Glück des Herrschers verloren hat.« Etwas in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. »So etwas wird doch wohl kaum gesagt, oder?« »Ich mag Aosta nicht, und noch weniger mag ich die Intrigen der aostanischen Edlen. Sie haben etwas an sich, das wenig Vertrauen einflößend ist. Nein, Schwester, ich denke, wir gehen ein 407 großes Risiko ein, wenn wir den Norden sich selbst überlassen. Deshalb werde ich dem König wohl auch dazu raten, so bald wie möglich zurückzukehren.« »Das wird zum Teil davon abhängen, ob die Pässe über die Berge frei sind. Einige könnten bereits zugeschneit sein.« »Wenn das so ist, müssen wir bis zum nächsten Frühling hier aushalten.« »Ich habe gehört, dass die westlichen Pässe noch frei sind«, sagte sie. »Welche nach Salia führen. Das ist kein Weg für einen wendischen König und sein Heer.« »Wenn Ihre Majestäten dagegen hier bleiben, könnten sie bis in den Winter hinein noch Reisen durch das Land unternehmen. Möglicherweise fügt sich Aosta dieser Zeit dem Schicksal, noch bevor irgendeine Entscheidung darüber, wann es zurück gen Norden geht, gefällt werden muss.« »Das können wir nur hoffen, Schwester.« Aber als er sich von ihr verabschiedete, wirkte er nicht sehr optimistisch. Jetzt endlich hatte sie die Gelegenheit, ebenfalls in ihre Gemächer zurückzukehren, wo sie Heriburg und Ruoda
geduldig am Fenster wartend vorfand. Sie unterhielten sich leise miteinander, während Aurea um das Bett herum fegte. Die beiden jungen Gesichter, so voller Eifer und Leben, erinnerten sie an ihre eigene Jugend, an die ersten Monate an König Arnulfs Hof. Wie seltsam und wunderbar ihr die Königliche Rundreise damals erschienen war! Doch trotz der Bürde, die das Alter und die Autorität mit sich brachten, erwachte sie jeden Morgen voller Eifer, dem König zu dienen. Annes Worte hallten in ihrem Kopf wider. Dem König, oder Gott? Wem galten ihre Treue und Loyalität als Erstes? »Fortunatus ist mit Schwester Gerwita weggegangen«, sagte Ruoda und erhob sich, um Rosvitas Hand zu küssen. »Gerwita hat etwas gefunden ... Ich weiß nicht, was es ist. Er hat dies bei mir zurückgelassen.« Sie zog die Pergament-Karte aus ihrem Ärmel, die Paloma ihm gegeben hatte. 408 »Sorge dafür, dass uns niemand stört, Aurea«, sagte Rosvita. »Und wenn Fortunatus kommt, lass ihn herein.« »Ja, Schwester.« Sie nahm den Besen mit nach draußen, um den Korridor zu kehren. »Ich bitte dich, Heriburg, roll es auseinander und halte es geöffnet.« Jetzt endlich konnte sie die Karte mit der vergleichen, die sie im Kachelzimmer gesehen hatte. »Hier, seht ihr, Mädchen«, sagte sie mit wachsender Erregung. »Es gibt etwa fünfzig Steinkronen im ganzen Land, aber nur sieben mit sieben Steinen.« Sie passten mehr oder weniger mit den sieben Stellen zusammen, die sie auf der anderen Karte gesehen hatte. »Sieben Kronen mit sieben Steinen. Was könnte das bedeuten?« »Sieben Juwelen in Taillefers Krone«, erklärte Ruoda prompt. »Eine in der Mitte und sechs in gleichem Abstand darum herum.« »Sieben Sterne in der Konstellation, die >die Krone< genannt wird«, sagte Heriburg. »Aber sie sind alle durcheinander, und man braucht schon scharfe Augen, um die Siebte zu sehen. Mir ist das nie gelungen.« »Sieben Schläfer«, murmelte Rosvita. »Teufel erscheinen in der Verkleidung von Gelehrten und Magi... wenn ich nur bereit wäre, ihnen zu erzählen, was ich über das Geheimnis der Sieben Schläfer weiß.<« »Das stammt aus der Kirchengeschichte von St. Eusebe!«, rief Ruoda aus. »Vielleicht sind die Sieben Schläfer auch nur eine Erfindung, die die Gläubigen in ihrem Glauben bestärken soll. Was haben sie mit dieser Karte zu tun?« »Still«, flüsterte Heriburg. »Sie denkt nach.« »Sie hat mich angelogen«, sagte Rosvita. »Lavrentia ist nicht tot. Oder sie war zumindest letztes Jahr nicht tot. Lavrentia ist zu Obligatia geworden. Obligatia hatte zwei Kinder, als sie noch Lavrentia war - ein Mädchen, das mit Taillefers einzigem rechtmäßigen Sohn gezeugt wurde, und einen Sohn. Was hat sie noch gesagt?« Sie legte eine Hand über die Steinkrone in der Mitte, deckte sie damit zu. »Sie kam zu einem Gut namens Bodfeld. Dort hat sie den 409 Neffen der Hausherrin kennen gelernt, und nach einiger Zeit haben sie geheiratet, und sie hat ein Kind geboren. Das sie Bernard genannt haben!« Der Triumph darüber, dass ihre Erinnerung sie nicht im Stich gelassen hatte, gab ihr neue Kraft, trotz der herrschenden Hitze. Sie wandte den Blick von der Karte ab und ging zur Schießscharte, beugte sich hinaus, sodass die Brise über ihr Gesicht streichen konnte. Die Stadt war nicht zu sehen, abgesehen von der einen oder anderen Fackel, die gelegentlich die dunklen Straßen entlangschwankte, und abgesehen von den Leuchtfeuern, die die Außenmauer umgaben. War das möglich? Bernard war aber doch kein ungewöhnlicher Name. Sie musste nachdenken, nachdenken, sich an die wenigen Male erinnern, da sie Liath getroffen hatte. An die Zeit, als sie ihr beim Jagdhäuschen nach draußen gefolgt war und sich gewundert hatte, dass ein gewöhnlicher Adler so gebildet war, dass er fließend dariyanisch lesen konnte. Woher kam sie? Rosvita folgte dem Pfad ihrer Erinnerung und fand, was sie suchte. Liath selbst hatte die verdammenden Worte gesprochen. Rosvita drehte sich um und blickte Ruoda und Heriburg an, die sie mit weit aufgerissenen Augen und verblüfften Mienen anstarrten. Das Lampenlicht flackerte über ihre jungen Gesichter. »>Man sagte mir, ich hätte Verwandte in Bodfeld! < Wie konnte ich das nur vergessen! Bodfeld!« »Habt Ihr Verwandte in Bodfeld, Schwester?«, fragte Ruoda. »Ich dachte immer, Ihr würdet aus der Nordmark kommen. Ich wusste nicht, dass die Grafen der Nordmark im östlichen Saony Verwandte haben.« »Nein, das haben sie auch nicht, mein Kind.« »Schsch!«, zischte Heriburg in Ruodas Richtung. »Sie denkt immer noch nach.« »Nach dem Tod ihres Mannes wurde ihr das Kind weggenommen und einem Kloster übergeben, wo es aufwachsen sollte. Und das Mädchen namens Lavrentia wurde nach Süden geschickt - von Wulfhere gefunden und nach Süden geschickt! -, und so kam sie 410 durch Zufall oder Gottes Fügung nach St. Ekatarina. Möglicherweise war das der einzige Ort, an dem sie in Sicherheit war.« »Wieso in Sicherheit?«, fragte Ruoda. Heriburg versetzte ihr einen Tritt gegen das Schienbein. »Das ist das schreckliche Geheimnis, das ihre Position vernichten kann. Das würde den Rat der Presbyter dazu zwingen, ihr den Ring wieder zu entziehen.«
»Oh, mein Gott«, sagte Heriburg, als würden sich die Worte mit aller Macht aus ihr herausdrängen. »Ihr sprecht von der Heiligen Mutter.« Jetzt erst erkannte Rosvita, dass die beiden jungen Geistlichen sie entgeistert anstarrten. »Töchter, ihr dürft zu niemandem davon sprechen. Ihr wisst sicherlich, wie böse und zerstörerisch Gerüchte sein können. Ich habe keinen Beweis. Ich habe nur meine Vermutungen. Ich kann auch falsch liegen.« »Falsch in welcher Hinsicht?«, wollte Ruoda wissen. »Was ist das für ein schreckliches Geheimnis?« »Oh, Herrin«, murmelte Rosvita. »Der Sünde folgt die Sünde. Morgen, meine Kinder, muss ich Euch bitten, etwas Schreckliches zu tun. Ihr müsst Euch mit dem Binden und Weben von -« »Zauberei?«, fragte Ruoda begierig. »Wir alle müssen Amulette haben, die uns schützen und tarnen.« Ein kräftiges Klopfen an der Tür ließ sie alle zusammenfahren, als wären Gott in Ihrer Verkleidung als Ewige Richterin gekommen, um über ihre sündigen Gedanken zu richten. Heriburg schrie sogar auf und ließ die Karte los, die sich mit einem Schnappen wieder zusammenrollte. Aber es war nur Fortunatus, der sich den Schweiß von der Stirn wischte. Er war völlig außer Puste und äußerst bestürzt. Er eilte herein, blieb abrupt stehen und blickte sie der Reihe nach an. »Was ist geschehen?«, fragte er. »Was ist los?« Nun, da sie so weit gegangen war - und obwohl sie wusste, dass es Anne oder einer ihrer Schülerinnen möglich war, sie genau in diesem Augenblick zu beobachten -, musste sie sprechen. 411 »Schwester Clothilde ist tot, und auch Fidelis, und der unglückliche Neffe von Bodfeld. Auch alle anderen, die etwas damit zu tun hatten, sind tot. Nur Anne und Lavrentia - und Wulfhere - sind noch übrig. Deshalb suchen sie sie. Um sicherzugehen, dass niemand erfährt, dass Liaths Vater Annes Halbbruder war.« »Inzest!«, flüsterte Ruoda im Ton eines Gärtners, der dankbar dafür ist, dass alle seine Rosen in schönster Blüte stehen. »Mögen Gott Barmherzigkeit haben«, murmelte Fortunatus. »Das ist an sich schon schlimm genug«, fuhr Rosvita fort. »Es ist sogar schrecklich. Aber es fehlt noch immer ein kleines Stück. Wieso hat Schwester Clothilde ein unwichtiges Mädchen aus einem Nonnenkloster in der Nähe vom Sitz der Grafen von Lavas entfernen lassen? Wieso bereitet mir das Sorgen? Vielleicht ist es nur ein Zufall.« Fortunatus griff nach der Karte und ließ sie in seinen Ärmel gleiten, als erwartete er, dass die Wachen im nächsten Augenblick hereinstürmen und sie wegen Verrats verhaften könnten. »Die Hunde. Dieser Hund, den die Skopos bei sich hat. Sieht er nicht genauso aus wie einer der Hunde von Graf Lavastin? Haben die LavasHunde nicht genauso ausgesehen wie die, die in den Gedichten über Kaiser Taillefer beschrieben werden?« »Man sieht sie auf allen Wandteppichen«, sagte Ruoda. »Ich habe mir bisher keine Gedanken darüber gemacht, aber dieser Hund, den die Skopos bei sich hat, ähnelt sehr den berühmten schwarzen Hunden des Kaisers.« »>Er und seine Tochter führen ihre schwarzen Hunde an Leinen, und in ihrer Aufregung schnappen die Hunde nach jeder Person, die in ihre Nähe kommt, abgesehen von ihrem Herrn und dessen Kindern, denn selbst die Hunde in ihrer dumpfen Loyalität verneigen sich vor den strahlenden, echten Edlen.<« Heriburg errötete, als die anderen drei sie anstarrten. »Ich bitte um Vergebung. Ich kannte das gesamte Gedicht auswendig, als ich ins Nonnenkloster eingetreten bin.« »Nein.« Rosvita löste sich von ihrem Platz am Fenster. »Wir 412 stellen die falsche Frage. Wir sollten uns nicht fragen, wie der schwarze Hund zur Heiligen Mutter Anne gekommen ist, der Enkelin von Kaiser Taillefer. Wir sollten uns fragen, wie und wann diese Hunde in den Besitz der Grafen von Lavas gelangt sind.« Ein Kratzen war an der Tür zu hören, und Aurea blinzelte ins Zimmer. »Schwester!« »Oh, Gott«, fluchte Fortunatus. »Ich habe Schwester Gerwita vergessen. Sie war ganz außer Atem.« Er schwitzte - sofern das möglich war - sogar noch mehr als sonst. »Ihr habt Neuigkeiten, Bruder«, sagte Rosvita. Sie benötigte keine Antwort. Sein Gesichtsausdruck war Antwort genug. Aurea öffnete die Tür ganz, um die erschreckte Gerwita einzulassen, die in der Tat so schwer keuchte, dass Rosvita sich beeilte, ihr zum Bett zu helfen. »Gott im Himmel, Kind. Ich hoffe, du wirst nicht krank.« »Nein, Schwester, es waren nur die Treppen und die Hitze. In Wahrheit leide ich unter dem vielen Leid, das ich gesehen habe. Und wir können nur so wenig für sie tun.« Sie wischte sich eine Träne - oder einen Schweißtropfen - von der Wange. Das Lampenlicht verwandelte ihr schmales, blasses Gesicht in Elfenbein. »Leider, Schwester, müssen wir solche Dinge ertragen. Bruder Fortunatus hat Euch unterrichtet ... nicht wahr?« »Nein, dazu hatte er noch keine Gelegenheit.« »Wir haben sie gefunden, Schwester.« Gerwita seufzte schwer und ließ die Schultern sinken. »Gerwita hat sie gefunden«, sagte Fortunatus ernst. Er mochte es nicht, ein Verdienst für sich einzuheimsen, das ihm nicht gebührte. »Sie war die Einzige, die keine Angst hatte, die Pesthäuser aufzusuchen, die Armenhäuser und die Hospitale. Sie hat mich nur mitgenommen, um sie zu identifizieren.« »Mögen Gott Barmherzigkeit haben«, hauchte Rosvita atemlos. Es war allzu deutlich, wohin dies führen würde. »Sprecht weiter.«
»Wen gefunden?«, fragte Ruoda. Gerwita machte eine ausschweifende Bewegung mit der Hand, 413 unfähig, zu sprechen. Fortunatus fuhr an ihrer Stelle fort. »Paloma, die Laienschwester vom Nonnenkloster St. Ekatarina. Sie ist am Sommerfieber gestorben, sagen die Schwestern vom Hospital St. Asella. Aber sie hatte gar keine typischen Flecken auf den Wangen. Ihre Augen waren auch nicht eingesunken. Ihr wisst, wie sie aussehen. Ich glaube, sie ist ermordet worden, Schwester, denn als ich sie gestern vor der Laudes gesehen habe, war sie noch genauso gesund wie ich.« 3 Es war offensichtlich, dass die Mauern von Osterburg sich in einem ziemlich schlechten Zustand befanden. Dennoch war es den Gefangenen, die mit der Peitsche vorwärtsgetrieben wurden, unmöglich, sie einzunehmen, denn die wild entschlossenen Verteidiger ließen heißes Öl und einen Hagel von Pfeilen auf die unglückseligen Angreifer niederregnen. Die meisten Gefangenen starben qualvoll am Fuß der Mauern, während Bulkezu und sein Heer schweigend zusahen; die Stille wurde nur vom leisen Wispern ihrer Schwingen unterbrochen, wenn die gleichmäßige Herbstbrise durch sie hindurchfuhr. Hanna konnte nichts tun, um das Morden aufzuhalten und die Gefangenen zu retten. Nicht das Geringste. Am dritten Tag wurden behelfsmäßige Belagerungsmaschinen aufgestellt. Die Verteidiger hatten derweil die Lücken in der Mauer mit Geröll zugestopft und in aller Hast Palisaden errichtet. Hanna kam es so vor, als hätten sie sämtliche Häuser niedergerissen, um Balken und Holzplanken vor die Schwachpunkte stellen zu können, aber natürlich war das aus der Entfernung schwer zu beurteilen. Sie konnte nur beten, dass Osterburg nicht allzu schnell fallen würde. Sie konnte nur beten, dass das, was sie zwei Wochen zuvor 414 mit Hilfe ihrer Adlersicht gesehen hatte, eine richtige Vision gewesen war. »Adler.« Agnetha, die Konkubine von Prinz Ekkehard, hatte geweint. Sie wischte sich über die Augen, als sie zu Hanna trat, die auf dem Hang zwischen dem Zelt des Beghs und dem des Prinzen stand. Die Wachen warfen ihr einen kurzen Blick zu, täuschten Desinteresse vor. »Sagt mir, was ich tun muss, Adler. Gestern haben sie meinen Onkel rausgeschickt. Nur mit Mühe ist es mir gelungen, seine Söhne vorerst davor zu bewahren.« Zwei dunkelhaarige, zerlumpte Jungen knieten auf dem Boden vor Ekkehards Zelt, die Köpfe zum Gebet oder in Trauer gesenkt. »Aber meinen Onkel haben sie beim Angriff eingesetzt. Ich weiß, dass er wahrscheinlich tot ist.« Sie begann wieder zu weinen. »Ich hätte an seiner Stelle gehen sollen. Seht doch nur, wie viele bereits tot sind, während ich in Sicherheit bin. Ich bin nicht einmal hungrig!« »Es gibt nichts, was du hättest tun können«, beruhigte Hanna sie. Aber ihre Worte klangen hohl und leer - so, wie sie sich auch fühlte. »Gar nichts.« Auch wenn sie darum gebeten hätte, wieder zu den Gefangenen gehen zu dürfen, um gemeinsam mit ihnen von den Soldaten zum Angriff getrieben zu werden, hätte Bulkezu es nicht gestattet. Die eine Nacht, die sie bei den Gefangenen verbracht hatte, war nur eine Falle gewesen, um herauszufinden, welche Magie sie verbarg. Danach hatte er die Leine wieder eingerollt; jetzt behielt er sie stets in seiner Nähe. Sie hatte bisher nicht gewusst, dass Hass wie ein Fieber in ihr lodern konnte, dass er sie verzehren konnte, bis nichts weiter als eine bloße Hülle übrig war. Sie hatte so viele sterben sehen, so viel Grausamkeit gesehen, dass sie sich fragte, ob ihr Herz nicht auf ewig gebrochen sein würde. Sie hasste sich dafür, dass sie Bulkezu jemals für einen gut aussehenden Mann gehalten hatte. Äußere Schönheit bedeutete gar nichts, wenn das Herz im Innern missgestaltet und scheußlich war. Bulkezus Pavillon und das Hauptlager befanden sich auf einer leichten Anhöhe, die sich im Westen über dem Flusstal erhob. Die 415 Veser floss breit und gewaltig nach Norden, traf hier auf einen Nebenfluss, der von Osten durch eine zerklüftete Landschaft herangerauscht kam; an dieser Stelle war die befestigte Stadt errichtet worden, um sich den Vorteil einer guten Verteidigungsposition zu sichern. Das qumanische Heer hatte die Felder niedergetrampelt, die sich außerhalb der Stadtmauern am westlichen Flussufer befanden, doch die meisten schienen bereits abgeerntet zu sein. »Sie müssen gut gefüllte Kornspeicher haben«, sagte Agnetha plötzlich und verriet damit, dass sie eigentlich ein praktisch veranlagtes Bauernmädchen war. Nicht einmal die Kleider, in die Ekkehard sie steckte, konnten ihre kräftigen, schwieligen Hände verbergen. Zweifellos hatte sie so manches Feld beackert und so manchem Huhn den Hals umgedreht, bevor sie gezwungen worden war, das Privileg anzunehmen, einem gefangenen Prinzen das Bett zu wärmen. »Und sie haben Zugang zum Wasser, da an zwei Seiten Flüsse vorbeiführen. Solange die Mauern halten, wird die Stadt nur schwer einzunehmen sein.« Hanna blickte sie überrascht an. »Du hast einiges über den Krieg gelernt.« »Es ist mir nichts anderes übrig geblieben«, erwiderte Agnetha verbittert. »Prinz Ekkehard und seine Kameraden reden von nichts anderem.« Obwohl sie ohnehin nicht laut sprach, beugte sie sich jetzt näher zu Hanna und flüsterte so leise, dass Hanna sich regelrecht anstrengen musste, um sie zu verstehen. »Er hat Angst. Dies ist die
Stadt seiner Tante, und das Banner teilt uns mit, dass sie und seine Verwandten hier sind. Seit den letzten drei Tagen betet er ständig zu Gott, dass man ihn nicht zwingt, Verrat an seiner eigenen Familie zu begehen.« »Es scheint mir etwas spät, sich jetzt Gedanken darüber zu machen.« »Das mag sein, aber was hätte er als Gefangener schon tun können?« »Er hätte sich weigern können, für Bulkezu zu kämpfen.« »Und sich stattdessen umbringen lassen sollen? Seine Familie 416 hat ihn auch nicht gerade mit Respekt behandelt. Wieso sollte er ihnen das nicht übel nehmen?« »Hat er dir das erzählt?«, fragte Hanna. »Wieso sollte er es mir nicht erzählen? Wer sonst würde ihm zuhören?« Hanna musterte die hübsche junge Frau. Nicht einmal die roten, geschwollenen Augen konnten das Versprechen ihrer vollen Lippen und der noch volleren Brüste beeinträchtigen oder die Pracht ihrer dichten, dunklen Haare mindern. Bei allen Fehlern, die Ekkehard besaß, blieb er doch stets ein Prinz aus einem Königshaus, hatte gute Manieren, eine gute Figur und ein bisschen von dem Charisma, das Henry umgab. Agnetha, deren Schicksal durch die schrecklichen Umstände mit seinem verbunden war, hatte einen Weg gefunden, ihn zu besänftigen, wenn er allzu erregt war; sie hatte begriffen, dass er möglicherweise seinen Schutz auch auf ihre übrige Familie ausdehnen konnte. Nein, Hanna konnte es nicht über sich bringen, Agnetha vorzuwerfen, dass sie sich jetzt in gewisser Weise als seine Verteidigerin gebärdete. Sie alle mussten zusehen, wie sie überleben konnten. Sämtliche flussaufwärts gelegenen Fähren und Furten über die Veser befanden sich in qumanischer Hand, und zweifellos hatte Bulkezu bereits Soldaten ausgeschickt, um auch die Fähren flussabwärts in Besitz zu nehmen. Das Heer breitete sich am östlichen Ufer der Veser aus, drang nach Osten in das bewaldete Gebiet vor, das sich zwischen den beiden Flüssen erstreckte. Sie erkundeten und brandschatzten die gesamte Gegend, töteten jede arme Seele, die die Warnsignale unglücklicherweise nicht gehört hatte und sich nicht in den Schutz von Osterburgs altersschwachen Mauern zurückgezogen hatte. Die Hauptmacht des Heers wartete vor der Stadt, zu einem weiteren Angriff bereit, sobald die Belagerungsmaschinen ihren Zweck erfüllt hatten. »Es sind so viele«, flüsterte Agnetha hoffnungslos. »Niemand wird sie jemals besiegen können.« Trotz allem hegte Hanna noch immer eine wilde Hoffnung. »Sie 417 haben eine bestimmte Art, auszuschwärmen, deshalb glauben wir, es wären so viele. Sieh nur.« Sie deutete auf die drei Feuerstellen, die einen Steinwurf von Bulkezus Pavillon entfernt brannten. »Siehst du nicht, wie sie sich mit Hilfe von Rauchzeichen absprechen?« Einer der Jungen, die vor Ekkehards Zelt kauerten, sprang plötzlich auf und rannte zu ihnen. »Du musst mitkommen.« Er zupfte Agnetha am Ärmel. »Seine Herrschaft möchte dich sprechen.« Mit einem letzten Blick und einem Wort auf den Lippen, das Hanna nicht verstand, eilte Agnetha davon. Noch während sie wegging, erzitterte die Luft unter dem lauten Dröhnen der beiden abgeschossenen Katapulte. Hanna hielt den Atem an; sie versuchte, der Flugbahn der erst aufsteigenden und dann wieder fallenden Geschosse mit den Blicken zu folgen. Eine Staubwolke stieg jenseits der Mauern auf, gefolgt von Rauchschwaden, als die brennenden Lumpen die Strohdächer in Brand setzten. So ging es den ganzen Morgen und auch den Nachmittag hindurch. In gewissen Abständen stieg immer wieder Rauch auf, doch die Flammen wurden jedes Mal erstickt. Hanna ging auf und ab, begleitet von den stets anwesenden vier Wachen. Prinz Ekkehard und seine Kameraden blieben in ihren Zelten und beteten. Hin und wieder erhaschte sie einen Blick auf Bulkezus Greifenfedern weiter unten, als er zur Fähre ritt, zu den Katapulten übersetzte und schließlich nördlich der Stadt verschwand. Ein paar erbärmliche Gefangene flohen blutend und humpelnd in die Wälder jenseits der Felder, doch qumanische Kundschafter ritten hinter ihnen her, umzingelten sie und trieben sie zum Lager zurück. Schließlich ging Hanna mit gequältem Herzen zu den Gefangenen, die in einem behelfsmäßigen Pferch untergebracht waren und von ganz jungen, noch unerfahrenen Qumanern bewacht wurden, die jedes Anzeichen von Unruhe mit drastischen, übereilten Maßnahmen ahnden würden und damit die gefährlichsten Wachen überhaupt darstellten. Sie half den Gefangenen, so gut es ging, brachte ihnen Wasser, 418 versorgte ihre Wunden. Ihre vier Wachen beobachteten sie dabei ohne jedes Interesse und machten keinerlei Anstalten, sie davon abzuhalten. Sie wussten, dass all diese Dinge nutzlos waren. Aber Hanna musste sie tun, um im Einklang mit sich selbst weiterleben zu können, um in der Nacht noch schlafen zu können. Sie musste sich ihre Geschichten anhören, damit sie dem König Bericht erstatten konnte. Sicherlich würde der König genauso entsetzt sein wie sie, wenn er hörte, dass seine treuen Untertanen mit Speerspitzen gezwungen wurden, die erste Wucht des Angriffs auf sich zu nehmen - und nur die Wahl hatten zwischen dem sicheren Tod, sofern sie nicht angriffen, und dem wahrscheinlichen Tod, wenn sie es doch taten. Ein Mann war unter den Sterbenden begraben worden und hatte die ganze Nacht dort ausgeharrt, umgeben von ihren Schreien und ihrem Stöhnen. Noch während er darüber sprach, schlug er die Hände vor die Ohren, als würde er noch immer ihre Schreie hören. Ein anderer Mann war durch ein Meer aus Blut gekrochen; seine Haut war ganz klebrig davon, und noch immer bröckelte getrocknetes Blut von seinen Händen, wenn er sie zu Fäusten ballte. Eine Frau hatte gesehen, wie ihr eigener Sohn von einem Pfeil ins Auge getroffen und getötet worden war; in der Nacht hatte sie
voller Verzweiflung unter den Toten nach ihm gesucht, bis ihr Bruder sie schluchzend weggezerrt hatte, damit nicht auch sie von den Verteidigern auf der Mauer oder den Qumanern getötet werden würde. Agnethas Onkel war unter denen, die das Gemetzel überlebt hatten, nirgends zu finden. Dass die Aufmerksamkeit ihrer Wachen nicht mehr ihr selbst galt, bemerkte Hanna erst, als sie auf die Bäume und die Flaggen des Lagers deuteten, die wegen des dichten Blattwerks allerdings kaum zu sehen waren. Die Rauchzeichen hatten sich geändert. Drei fette Kugeln aus Qualm erhoben sich in die Luft und lösten sich auf. Eine der Wachen pfiff laut, winkte sie zu sich und schlug mit der flachen Hand gegen den Peitschengriff. Es war klar, dass jemand anderer dafür würde büßen müssen, wenn sie nicht sofort gehorchte. 419 Sie erreichten Bulkezus Zelt gerade in dem Augenblick, als er begleitet von einem Dutzend seiner bevorzugten Hauptleute herbeigeritten kam. Sein Blick fiel kurz auf Hanna, aber er kümmerte sich nicht weiter um sie, sondern rief seinen Bruder zu sich. Die beiden tauschten sich aus, doch da sie sehr rasch miteinander sprachen und die Worte zu sehr ineinander übergingen, verstand Hanna nicht einen einzigen, gewöhnlichen Begriff. Bis auf einen Namen. Bayan. Cherbu druckste herum. Er runzelte die Stirn und spuckte aus. Er kratzte sich im Schritt und zog einen winzigen Stein aus seiner Schuhsohle. Bulkezu wollte anscheinend, dass er etwas tat, was er eindeutig nicht tun wollte. Am Ende fügte er sich und schritt vor sich hin murmelnd davon. Er hatte sich wegen der Hitze beinahe vollkommen entkleidet, und die Tätowierungen auf seinem Körper schienen dort, wo Schweiß glänzte und die dunkle Haut hinablief, zu beben und sich zu bewegen. Bulkezu widmete seine Aufmerksamkeit wieder den Kundschaftern, die nach und nach herbeigeritten kamen und Bericht erstatteten. Hanna war zu nervös, um auch nur ein einziges Wort zu verstehen. Um sie herum begannen die Männer, die Zelte und Pavillons abzubauen. Cherbu schritt um das Lager herum, hüpfte dabei von einem Bein aufs andere, während er immer wieder Staub auf den Boden streute. Sein Singsang vermischte sich jedes Mal, wenn ein neuer Kundschafter eintraf, mit Bulkezus Gelächter. Was ging da vor? Brachen sie die Belagerung ab? Hatte Prinz Bayan sie schließlich aufgespürt? Oh, Herr. Vielleicht war Ivar bei ihm. Vielleicht war Ivar gar nicht wirklich tot. Prinz Ekkehard tauchte aus seinem Zelt auf, begleitet von seinen vier treuen Kameraden. Es traf sie vollkommen unvorbereitet, und sie blieben abrupt stehen, als zwei qumanische Soldaten angeritten kamen und Bulkezu die Leiche eines Wendaners zu Füßen warfen; der Mann trug die leichte Rüstung eines Kundschafters 420 und das Abzeichen von Prinzessin Sapientia. Ekkehard riss Weif das Schlachtenbanner aus der Hand und schleuderte es zurück ins Zelt. So, wie er jetzt mit seinen Freunden dastand, konnte ihn niemand mehr als königlichen Prinzen von Wendar erkennen. Bulkezu hob die Hand, um für Ruhe zu sorgen. Er hatte seinen Helm abgenommen. Der Wind strich durch seine schönen Haare, die sich wie Schlangen um seine Schultern ringelten. Weiter unten zog sich das qumanische Heer von den Mauern zurück. Gruppen von zehn oder zwanzig qumanischen Reitern kehrten von ihren weitflächigen Überfällen zurück und erreichten das östliche Flussufer; auf dem Weg zurück zum Lager taten sie sich zu größeren Kohorten zusammen. »Rüstet Euch zur Schlacht, Prinz Ekkehard«, sagte Bulkezu. »Die Zeit des Kampfes ist bald da.« Schließlich sah er Hanna direkt an. »Sobald ich ihr Heer vernichtet und ihre Stadt niedergebrannt habe, wirst du mich zu der Hexe führen, die sich Liathano nennt.« 4 An diesem Tag, dem neunten Setenter und Festtag von St. Maria der Weisen, kehrten sechs der zehn Kundschafter, die dem Heer weit vorausgeschickt worden waren, nicht mehr zurück. An diesem Abend berief Prinz Bayan einen Kriegsrat ein, damit alle Edelleute und Befehlshaber hören konnten, was die vier Überlebenden zu sagen hatten. Doch bevor Prinz Sanglant sein persönliches Gefolge zu der Versammlung führte, wies er den Adler zurecht was Zacharias im Stillen genoss. »Es hat aber bei Hedwig sehr gut funktioniert.« »Das ist es doch, was ich Euch die ganze Zeit zu erklären versuche, Eure Hoheit.« Wulfhere schwitzte, aber es war auch ein für die Jahreszeit ungewöhnlich warmer Abend. Die schwüle Luft deutete auf ein bevorstehendes Gewitter hin, das sich am Horizont 421 zusammenbraute. »Prinzessin Theophanu hatte drei Adler in ihrem Gefolge, und die einzige Frau, die die Gabe der Adlersicht besessen hat, ist nicht mehr bei ihr. Ich könnte mit meiner Adlersicht nachsehen, wo die Prinzessin ist -« »In Ouedlingham. Nicht hier, wo sie sein sollte.« »- aber so lange ich nicht mit einem Adler Verbindung aufnehmen kann, der ebenfalls die Adlersicht beherrscht, werde ich nichts darüber erfahren, wieso sie dort ist oder was sie vorhat - ich erfahre nicht einmal, wie groß das Heer ist, das sie bei sich hat.« »Was ist mit dem fehlenden Adler?« »Wie ich Euch gesagt habe. Sie ist nach Aosta geritten. Schon bald darauf habe ich ihre Spur verloren.«
»Ihr habt ihre Spur verloren?« »In der Tat, Eure Hoheit. Wir sind nicht die Einzigen, die danach trachten, sich zu verbergen.« Einer von Sapientias Verwaltern kam herbei, und Heribert ging dem Mann ein paar Schritte entgegen, um mit ihm zu sprechen. »Was vermutlich erklären würde, wieso Ihr nicht gesehen habt, dass das qumanische Heer bei Osterburg auf uns wartet? Oder weshalb Ihr, wie ich gehört habe, nicht in der Lage wart, Liath und mich zu sehen, als wir in Verna gelebt haben. In der Tat, ich erkenne jetzt die Grenzen Eurer Adlersicht, die doch sehr leicht durch Zauberei benebelt werden kann.« Wulfhere hob die Hände in einer ergebenen Geste. »Tatsächlich erfährt nur einer von fünf Adlern überhaupt auch nur einen Hauch der Adlersicht. Es ist ein Geheimnis, das wir hüten -« »Oder horten.« »- und eines, das nicht alle Adler meistern können, - oder sollten.« »Nun«, sagte der Prinz. Er winkte Heribert heran, der zu ihm kam und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Sanglant lächelte säuerlich. »Wir müssen gehen; man wartet nur noch auf uns.« Er blickte sich im Lager um; Feuer erwachten zu Leben, während das Zwielicht seine Schwingen über das Heer ausbreitete: Es gab ein paar Stoff422 zelte, aber die meisten Männer legten sich einfach nur auf ihre Umhänge. Da sie wussten, dass die Qumaner ganz in der Nähe waren, behielten sie die Rüstung an, legten die Waffen und den Helm in Reichweite. Sie waren den ganzen Tag durch lichtes Waldland marschiert, aber sie hatten nichts entdecken können. Es war ein leichter Marsch gewesen. Es war ein zu leichter Marsch gewesen. Die qumanischen Kundschafter durchstreiften das Gebiet gründlich und in großem Bogen; sie sahen alles - alle wussten das. Man konnte davon ausgehen, dass Bulkezu bereits wusste, wo sie waren und über wie viele Soldaten sie verfügten. Er spielte lediglich mit ihnen, ließ dem von seinen Kundschaftern ausgeworfenen Netz vier Feinde entkommen, um sie in Sicherheit zu wiegen. Zacharias kam inzwischen immer häufiger der Gedanke, in die Wälder davonzulaufen, aber er wusste, dass er dann nur von einem qumanischen Kundschafter aufgegriffen und zurück zu Bulkezu geschleppt werden würde. Aber vermutlich würden sie ohnehin alle sterben. Er konnte lediglich hoffen, dass es schnell ging. »Ihr seht blass aus, Bruder Zacharias«, sagte der Prinz. »Ihr kommt am besten mit uns. Ihr müsst uns sagen, was Ihr über den Pechanek-Clan wisst. Niemand kennt ihn so gut wie Ihr.« Er brachte nicht einmal eine Antwort zustande, konnte nur mit dem Kopf schütteln; die Furcht schnürte ihm die Kehle zu, als Sanglant die Befehlshaber auswählte, denen er am meisten vertraute: Edelmann Druthmar, Hauptmann Fulk, Feldwebel Cobbo, selbst den Schoßhund Hrodik, der immerhin Vernunft genug besaß, Befehlen zu gehorchen. Bayan und Sapientia hielten in ihrem riesigen Zelt Hof. Die Seiten waren an den Bäumen aufgehängt worden, und so war es eher ein offener Pavillon, in dem die wichtigen Edelleute sich versammeln konnten. Die Menge teilte sich, um Sanglant durchzulassen. Er nahm den Ehrenplatz rechter Hand von Bayan ein, und gab Heribert und Zacharias die Erlaubnis, sich hinter ihn zu stellen, während seine Hauptleute sich einen Platz in der Menge suchten. Gna423 de saß wie immer auf dem Schloss ihres Vaters. Sie hielt einen Stock in der Hand, der wie ein Schwert geschnitzt war, doch sie hatte in den letzten Tagen gelernt, still zu sein und sich in Geduld zu üben. So lag der Stock auf ihren Knien, während sie mit einem Stirnrunzeln auf dem kleinen Gesichtchen lauschte und zusah, wie Bayan die Versammelten zum Schweigen brachte und die überlebenden Kundschafter zu sich rief. Es waren drei Ungrianer und ein drahtiger Markländer aus Olsatia, ein Soldat von Edelfrau Bertha. Nicht einer von Prinzessin Sapientias wendischen Kundschaftern war zurückgekehrt. Die Markländer hatten einen Mann in wendischer Rüstung an einem Baum hängen sehen; ihm hatte der Kopf gefehlt, aber sie hatten sich nicht die Zeit genommen, ihn näher zu untersuchen. »Die Hauptmacht des Heeres liegt am Westufer der Veser«, sagte Bayan, nachdem die Berichte abgegeben worden waren. »Wir werden morgen die Veserain überqueren und uns durch das raue Land zwischen den beiden Flüssen hindurch nach Westen begeben.« »Wäre es nicht besser, wenn wir entlang der Veserain nach Nordwesten gingen, wo das Gelände einfacher ist?«, fragte Herzog Boleslas von Polenie, unterstützt von seinem Übersetzer. »Dann könnten wir direkt weitergehen und die Belagerung von Osterburg beenden.« Bayan schüttelte den Kopf. »Die Qumaner stützen sich überwiegend auf ihre Bogenschützen. Wenn wir uns durch das zerklüftete Land nähern, haben sie weniger Möglichkeiten, unsere Reihen mit Pfeilen aufzubrechen. Wenn wir hingegen das Flusstal entlangmarschieren, bieten wir ihnen leichte Ziele.« Prinz Sanglant sagte wenig, während Bayan die Marschordnung bekannt gab. Es gab auch wenig zu sagen, dachte Zacharias. Bayan war ein erfahrener Soldat. Er wusste, was er tat. In der Nacht fiel zeitweise ein dunstiger Regen, genug, um die Hitze etwas zu dämpfen, aber nicht so stark, dass sie sich alle unwohl gefühlt hätten. Am nächsten Morgen machte sich das Heer 424 zum Abmarsch bereit, ein Prozess, der einige Zeit in Anspruch nahm, während jede einzelne Legion oder
Kohorte wartete, bis sie an der Reihe war und losmarschieren konnte. Wegen des feuchten Bodens wirbelten sie nur wenig Staub auf, was für jene, die weiter hinten gingen eine echte Barmherzigkeit war. Es bedeutete außerdem, dass sie sich nicht so schnell verraten würden, obwohl die Qumaner inzwischen sicherlich wussten, wo sie sich befanden. Es war der zehnte Setenter, der Festtag von St. Penelope der Wandernden, und es war warm und schwül, als würde es bald ein Gewitter geben. Doch während sie marschierten, die Sonne sich in den Zenit erhob und die Bäume die letzten Regentropfen auf ihre Köpfe fallen ließen, erlöste kein Gewitter sie von der Hitze. Zacharias ritt zwei Reihen hinter Prinz Sanglant und betete, dass er sich nicht aus purer Angst würde erbrechen müssen. Ihm drehte sich der Magen um, denn er war genauso unruhig wie die Luft und der Wind, in Erwartung des bevorstehenden Sturms. Einmal waren Rufe zu hören, und ein Bote galoppierte die Reihen entlang, hielt inne, um mit Prinz Sanglant zu sprechen, kehrte dann zurück zu Prinz Bayan und seinen Ungrianern. Gerüchte gelangten zu der Gruppe um Zacharias. Vorreiter waren mit qumanischen Kundschaftern zusammengestoßen. Es hatte kleinere Gefechte gegeben. Die Qumaner zogen sich in Richtung Veser zurück, die noch immer einige Wegstunden entfernt war. Es war schwer zu sagen, was der Wahrheit und was falschen Hoffnungen entsprach. Sie überquerten die Veserain am Nachmittag bei einer Furt, die von einem Kontingent Löwen kontrolliert wurde, das unter Prinzessin Sapientias Befehlsgewalt stand. Ihre drei Legionen und sie selbst in ihrem Wagen hatten die Furt als Erste durchquert, und sie hatte Soldaten zurückgelassen für den Fall, dass qumanische Reiter den Fluss überquerten und versuchen würden, sie von den anderen Truppen zu trennen. Die zurückgebliebenen Löwen, die die Furt bewachen sollten, verschanzten sich bereits, riefen sich gegenseitig etwas zu, während sie arbeiteten. 425 »He, Folquin, du Idiot! Pass auf, dass der Stamm nicht auf meinen Kopf knallt.« »Bei den Titten der Herrin, Ingo, steh mir nicht immer im Weg rum, sonst verpasse ich deinem hübschen Gesicht noch eine Narbe, dass dich kein Mädchen mehr will. Nicht einmal die Qumaner würden dann deinen Kopf abschneiden und als Trophäe benutzen!« Es war erstaunlich, wie schnell sich eine behelfsmäßige Palisade errichten ließ, wenn man von der Peitsche der Furcht angetrieben wurde. Seltsamerweise scherzten die Leute ununterbrochen, während sie arbeiteten. Zacharias hatte das Gefühl, als könnte er kaum noch sprechen, als hätte man ihm die Zunge rausgeschnitten. Wie würde Bulkezu es tun? Wo würde er das Messer ansetzen? Das Wasser, das an seine Beine klatschte, riss ihn in die Gegenwart zurück, und benommen klammerte er sich fest, während sich das Pferd in den Fluss stürzte. Die Strömung floss an ihm vorbei, versuchte, ihn herunterzuziehen, und er musste all seine Kraft einsetzen, während das Pferd auf das gegenüberliegende Ufer zumarschierte. Um diese Jahreszeit war der Fluss breit und flach, das Wasser schlammig grün-braun. Ein Ast wirbelte an ihm vorbei, dann, seltsamerweise, eine zerfetzte Nelke. Schließlich kämpfte sich das Pferd das andere Ufer hoch, und er wurde sofort nach rechts dirigiert. Er hinterließ eine Spur aus Wassertropfen, während er den anderen auf einem schmalen Pfad durch den Wald folgte, der hier, entlang des Flusses, ziemlich licht war und zum größten Teil aus Eichen und Weißbuchen bestand. Eine dichte Schicht aus Krokussen, Nieswurz und Wilderdbeeren bedeckte den Boden. Ein Stück nördlich der Furt war vor einigen Jahren eine Lichtung in den Wald geschlagen worden; dort gruppierten sie sich neu. Eine alte Hütte lag eingestürzt da; sie würde lediglich noch als Feuerholz dienen können. Insgesamt, so schätzte Zacharias, während sie sich in Gruppen aufteilten, waren es etwa fünfhundert berittene Soldaten: Sanglants Legion, die aus seiner eigenen, persön426 liehen Gefolgschaft bestand, den Freischärlern aus Cent und Waltharias ausgehobenen Truppen. »Wir werden hier, mit dem Fluss im Rücken, unser Lager aufschlagen«, erklärte der Prinz. Edelmann Druthmar und Edelmann Hrodik eilten davon, um ihren Hauptleuten die entsprechenden Befehle zu erteilen. Bayan und seine Ungrianer hatten den Fluss soeben überquert, als ein Kundschafter zu Sanglant geritten kam. »Kommt schnell, Prinz Sanglant. Es gibt Neuigkeiten. Die Belagerung ist aufgehoben worden!« Jubel erhob sich unter den Männern, die in der Nähe standen, wurde von anderen, die weiter weg waren, aufgenommen, während sich die Nachricht immer weiter verbreitete. Sanglant hingegen runzelte die Stirn. »Ich komme«, sagte er und hob seine Tochter wieder zu sich in den Sattel. »Heribert! Edelmann Thiemo. Zacharias. Wulfhere. Fulk. Edelmann Druthmar. Ihr begleitet mich. Die Übrigen sorgen dafür, dass wir stets zum Kampf bereit sind. Wir müssen jederzeit mit einem Angriff rechnen.« Inzwischen waren Herzog Boleslas und seine Polenser dabei, die Furt zu überqueren; hinter ihnen wartete der Versorgungstross, den Zacharias allerdings nicht sehen konnte, da er sich noch auf der anderen Seite der Veserain durch den Wald schlängelte. Sanglant ritt mit seinen Leuten flussaufwärts, wo Bayans Ungrianer ihr Lager gleich neben Sapientias wendischen Legionen errichtet hatten. Die Prinzessin und Bayan hielten an einer Stelle Hof, an der drei Baumstämme auf eine Weise umgestürzt waren, dass man Planken darauf legen und Stühle auf diese Plattform stellen konnte. Als sie sich näherten und Sanglant Hauptmann Fulk die Zügel seines Pferdes reichte, brach ein Streit zwischen den beiden Edelleuten aus, die direkt vor der behelfsmäßigen Plattform standen. Den einen hatte Zacharias noch nie gesehen, der andere war der berüchtigte Edelmann Wichman, der zweite Sohn von Herzogin Rotrudis von Saony, der im Heer wegen seiner eindrucksvollen
427 Heldentaten ebenso bekannt war wie wegen seines abscheulichen Wesens. Manche behaupteten, dass er nicht getötet werden konnte, denn viele hatten es versucht, und nicht alle von ihnen waren Feinde Wendars gewesen. »- mir geschworen, dass du sie nicht belästigen würdest, aber dann habe ich herausgefunden, dass du sie nicht nur einmal, sondern dreimal gezwungen hast, bevor du Cent verlassen hast!«, rief der andere Edelmann, ein kräftiger Mann mit einer kahlen Stelle am Hinterkopf und einem fleischigen Gesicht. »Wer kann schon behaupten, dass ich sie gezwungen habe«, erwiderte Wichman spöttisch, »und dass sie nicht darum gebeten hat, weil sie endlich einmal einen Bullen statt einen Ochsen wollte?« Der andere Edelmann fluchte heftig, machte einen Satz auf Wichman zu und drückte ihm mit seinen dicken Händen die Kehle zu. Prinz Bayans Gesicht färbte sich rot vor Wut, und er sprang auf, aber bevor er eingreifen konnte, hatte Sanglant sich schon durch die Menge geschoben und riss den anderen Mann von Wichman zurück. »Ich bitte Euch, hört auf, Euren Bruder zu erwürgen!« Seine raue Stimme erhob sich über dem zunehmenden Lärm. »Er mag es durchaus verdient haben, aber wir brauchen ihn noch gegen die Qumaner.« Gelächter verbreitete sich in den Reihen der anwesenden Edelleute. Ein guter Familienstreit löste jede Anspannung. Bayan beugte sich zu Sapientia und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Wichmann hustete und rieb sich die Kehle, er spuckte auf den Boden, dabei darauf bedacht, nicht den Prinzen zu treffen. »Oh, Herr! Sie war doch nur seine Konkubine, eine Gewöhnliche. Er hätte mit Leichtigkeit eine andere haben können, wenn sie ihm nicht mehr gefallen hat.« Der Bruder kämpfte gegen Sanglants festen Griff an, aber selbst einem so kräftigen, breitschultrigen Mann wie ihm konnte es nicht gelingen, sich zu befreien. »Sie hat mir gut genug gefallen, bevor du sie ruiniert hast!« 428 »Bei den Eiern des Herrn", Zwentibold, das ist doch - wie lang? -zwei Jahre her! Sie hat dich inzwischen sicher längst vergessen -« »Sie ist tot! Sie hat sich erhängt, nachdem du sie vergewaltigt hast!« Die Menge war ein gutes Stück von den Brüdern zurückgewichen, aber Zacharias wusste nicht, ob die Edelleute so entsetzt über die Geschichte waren oder nur Angst hatten, dass einer der beiden sein Schwert ziehen und unbeabsichtigt einen der Umstehenden damit verletzen könnte. Sapientia erhob sich jetzt unerwarteterweise, bedeutete Bayan, wieder Platz zu nehmen. »Ich bitte dich, Sanglant, lass unseren Verwandten Zwentibold los.« Sie nahm einem gleich unterhalb der Plattform stehenden Fußsoldaten den Speer aus der Hand und trieb die Spitze zwischen den beiden Streitenden in den Boden. »Legt beide die rechte Hand an den Schaft«, befahl sie herrisch. Nicht einmal Herzogin Rotrudis' Söhne, die beide den Goldreif als Zeichen ihrer königlichen Abstammung trugen, wagten es, einen öffentlich ausgesprochenen Befehl der Erbin des Königs zu missachten - schon gar nicht, wenn so viele ausgewählte Soldaten ihres Mannes zugegen waren und - die Speere in den Händen -grimmig lächelten. »Und jetzt schwört bei Unserem Herrn und Unserer Herrin«, sagte sie, während beide Männer den Schaft umfassten und sich mit hasserfülltem Blick anstarrten - ihr Hass war so greifbar wie das bevorstehende Gewitter. »Schwört, dass Ihr Euch keinerlei Schaden zufügen werdet, bis die Qumaner besiegt sind, zum Wohle des Friedens in unseren Reihen und zum Wohle des Reiches.« So den Blicken all der anderen Versammelten ausgesetzt, blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als zu schwören. Sapientia war der Triumph leicht anzusehen. In diesem Augenblick sah sie wirklich so aus, wie eine Erbin auszusehen hatte: kühn, entschlossen, bereit zum Herrschen. Aber es war Bayan, der neben sie trat und seine Stimme erhob. »Edelmann Zwentibold hat uns wertvolle Nachrichten über429 bracht: Das qumanische Heer hat heute Morgen die Belagerung von Osterburg aufgegeben.« Jubel erscholl, erstarb aber, als Bayan die Hand hob. »Edelmann Zwentibold war daher in der Lage, mit drei ganzen Kohorten Berittenen die Stadt zu verlassen und zu uns zu stoßen. Aber wenn Bulkezu seine Soldaten zurückgezogen hat, dann nur, um sich auf uns vorzubereiten. Wir wissen nicht genau, wie viele Qumaner es sind, und ihre Anzahl ist ohnehin immer schwer zu schätzen, weil sie die Angewohnheit haben, sich weit zu zerstreuen und rasch zu bewegen. Glaubt nicht, dass sie einfach zu besiegen wären, nur weil Gott mit uns sind.« Die laute Ansprache rief neuen Jubel hervor, während Bayan Sapientia etwas ins Ohr flüsterte. Als der Jubel nachließ, nahm sie den Speer wieder an sich und rief: »Lasst alle Anführer schwören, Frieden zu halten und sich gegenseitig zu helfen. Morgen ist der Festtag der Engel, da die himmlischen Heerscharen vom Ruhme Gottes singen. Wir werden im Namen Unseres Herrn und Unserer Herrin kämpfen, und Sie werden mit uns reiten. Zweifelt nicht daran, dass wir die Qumaner für immer und alle Zeiten besiegen werden.« 5 An diesem Morgen erhob sich Antonia früh von ihrem Lager, betete und schritt im Zimmer auf und ab. Sie wusste, dass es nötig war, bei Kräften zu bleiben. Zur angemessenen Zeit wartete sie mit gebeugtem Kopf und gefalteten Händen am Eingang zu den Gästequartieren, der durch einen Vorhang gekennzeichnet war. Sie bot einen Anblick vollkommener Gelassenheit, doch in ihrem Innern kochte sie regelrecht angesichts der armseligen Beleidigungen und schweren Verfehlungen, die die Mutter Äbtissin und die Nonnen vom Kloster St. Ekatarina ihr angetan hatten.
Drei Monate war sie nun schon hier, verhielt sich still wie eine Maus, war bescheiden wie ein Spatz, ein ganz gewöhnlicher Gast. 430 Und doch beharrte Mutter Obligatia darauf, sie wie eine Feindin zu behandeln. Eine Frauenstimme, die mit herzzerreißender Schönheit ein Gebet sprach, war zu hören: »Die Sehnsucht des Geistes ist unerfüllbar.« Und schon war sie wieder dahin: ein Luftzug in den staubigen Korridoren vielleicht, oder die Sängerin hatte unbeabsichtigt den Kopf gedreht, sodass ihre Stimme nicht mehr so weit trug. Ein Glöckchen bimmelte leise. Antonia vermutete, dass es verborgene Gucklöcher gab, durch die man sie beobachtete. Als Kind von Edelleuten, die mit dem Königshaus verwandt waren, war sie allerdings an ständige Beobachtung gewöhnt. Auch in den Jahren, in denen sie in der Kirche gelernt hatte und während ihrer Zeit als Bischöfin in Mainni, war sie bis auf die Augenblicke, die sie in ihren Gemächern hatte verbringen dürfen, niemals allein gewesen. All das hatte ihre Fähigkeiten vervollkommnet und sie gelehrt, der Welt stets die glatte Maske der Demut zu präsentieren. Und dennoch misstraute Mutter Obligatia ihr. Das Scharren über Stein schlurfender Sandalen erregte ihre Aufmerksamkeit. »Schwester Venia?« Von der anderen Seite des Vorhangs erklang die kratzige Stimme der Laienschwester Teuda. »Ich bin bereit.« Drei Monate lang befolgten sie nun schon diese lächerliche Routine. Teuda führte sie die leeren, in den Fels gehauenen Korridore entlang, an der Kapelle vorbei zu der kleinen Bibliothek, wo sie in den Stunden zwischen Terz und None lesen durfte. Gegen Mittag begleitete Schwester Carita mit dem unansehnlichen Buckel sie zur Messe der Sext und dann zurück zur Bibliothek. Nach der kurzen Andacht der None führte Teuda sie schließlich zurück zum Gästezimmer, wo sie sich bis zur Vesper aufhielt - der einzigen weiteren Messe, die sie mit den anderen Schwestern hören durfte. Selbst die Mahlzeiten wurden ihr ins Gästezimmer gebracht, wo sie alleine aß. 431 Eine Schwester auf solche Weise zu behandeln war die Verspottung jeglicher Nächstenliebe. Sie vertrauten ihr nicht. Schwester Petra arbeitete bereits; sie verfasste eine Abschrift der Chronik des Klosters St. Ekatarina. Sie nickte Antonia zu, als sie eintrat, aber sie begrüßte sie nicht. Tatsächlich verhielten sich alle anderen Nonnen außer Mutter Obligatia und der schwachsinnigen Schwester Lucida so, als würden sie in Anwesenheit von Antonia einem Schweigegelübde unterliegen. Nur Teuda als Laienschwester durfte mit ihr sprechen, doch auch sie sprach so wenig wie möglich. Von der Terz bis zur Sext studierte Antonia einige interessante und obskure Arbeiten über Theologie und Philosophie: das Buch der Weisheit von Königin Salome, die als Verfasserin allerdings in Zweifel stand; eine vollständige Kopie - an die nur schwer heranzukommen war - des ketzerischen und höchst skandalösen Bankett der arethusanischen Bischöfin Arina, ein Buch, das die Herkunft des heiligen Daisan aus der göttlichen Substanz Gottes zum Thema hatte; die Katechismus-Reden von Macrina von Nyssa. Aber als sie nach der Mittagsandacht zurückkehrte, nahm sie den letzten und daher unvollendeten Band der Kloster-Chronik zur Hand. Sie würde sie heute beenden, und dann würde es keinen Grund mehr geben, ihren Auftrag hinauszuschieben. Das Licht, das durch die in den Fels gehauenen Schächte in langen Streifen auf die vier Schreibtische fiel, wanderte weiter, als die Stunden sich hinzogen. Die Stille wurde nur von dem kratzenden Geräusch unterbrochen, das Schwester Petras Feder verursachte, und von dem gelegentlichen Knistern, wenn Antonia eine Seite umblätterte. Ansonsten war es, als wären sie lebendig begraben und erlitten die Ekstase des Vergessens. Der Geruch von gekochten Rüben stieg ihr für einen kurzen Moment in die Nase. Seltsam, dachte sie, als sie die letzten Einträge las. Im ]ahr 729: Die Königin suchte zusammen mit bestimmten Edelleuten aus Wendar in den Armen von St. Ekatarina Zuflucht vor jenen, die 432 sie verfolgten. Eine Gruppe von Geistlichen aus Wendar blieb eine Woche im Gästetrakt. Ein Fluch vernichtete die Weizenernte in der Umgebung von Floregia. finnische Banditen töteten alle Mitglieder des Hauses Harenna, ließen den Palast und die Festung in Trümmern zurück und ihre Ländereien ohne Herrschaft. Der Palast von Thersa, acht Steine, und Ruinen. Zwei Jahre zuvor hatte Königin Adelheid hier Zuflucht gesucht, als sie vor Eisenkopf geflohen war. Zwei Jahre zuvor hatte auch Frater Hugh hier Obdach gefunden und durch einen Akt der Zauberei Adelheid zur Flucht verholfen. Im fahr 730: Edelmann fohan, genannt Eisenkopf, wurde zum König von Darre gekrönt. Jetzt war Eisenkopf tot, und Adelheid war Königin. Antonia musste einen Kopf, der so subtil arbeitete wie der von Frater Hugh, einfach bewundern. Er hatte sich einen gewundenen Pfad ausgedacht, der häufig durch falsche Türen verstellt war, und war ihm dann bis zum Ende gefolgt. Die restlichen Einträge des vergangenen Jahres interessierten sie nicht; sie bestanden aus einem Bericht über bestimmte Unglücksfälle, so genannte Omen, die einzelne Bauerngemeinschaften befallen hatten. Zweifellos hatten die Leute auf eine ernste Weise gesündigt und wurden von Gott dafür bestraft, wie sie es verdient hatten. Das war der übliche Grund für Hungersnöte, Dürren, die Pest und den Fluch der Lepra. Niemand hatte bisher die wichtigen Ereignisse des gegenwärtigen Jahres 731 niedergeschrieben: den Tod der
Skopos und die Ernennung von Anne; Adelheids triumphale Rückkehr und Wiedereinsetzung als Herrscherin von Aosta. Wahrscheinlich würde es auch in Zukunft niemand mehr tun. Teuda, die Laienschwester, erschien an der Tür. Ihre Zeit war vorüber. Als Antonia den Band zurück auf das Regal stellte, die Ecken glättete und eine Staubfussel von der Ecke des Buches daneben wischte, fragte sie sich, ob sie in der Lage sein würde, diese Chronik aus dem sicherlich bald folgenden Chaos zu retten. Es wa433 ren wichtige, wertvolle Informationen darin niedergeschrieben, und es war offensichtlich, dass die Äbtissinnen von St. Ekatarina weit mehr gewusst hatten, als sie sich hatten anmerken lassen. Wieso sonst sollten sie so offen die über den gesamten Kontinent verstreuten Steinkronen erwähnen? Auf ihre eigene Weise ergaben sie eine Karte. Sie wussten, dass die Kronen ein Schlüssel waren. Aber Antonia war sich nicht sicher, ob sie wussten, was diese Schlüssel freilassen konnten. Mit einem Lächeln für Schwester Petra, die gerade eine neu zurechtgemachte Feder niederlegte und sich die Tinte von den Fingern wischte, um sich auf die Andacht vorzubereiten, verließ Antonia die Bibliothek und kehrte pflichtbewusst zum Gästetrakt zurück. Sie machte sich zurecht, stärkte sich mit etwas Wein, der zu diesem Zweck dort bereit gestellt war, und ging dann, um in dem kleinen Zimmer zu beten, in dem ein Altar stand. In diesen Altar war eine Art verdecktes Fenster eingearbeitet, von einem Alkoven verborgen, sodass eine Beobachterin auf der anderen Seite in die winzige Kapelle blicken konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Sie hatte das bereits in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft entdeckt und konnte jetzt erkennen, ob jemand hinter dem versteckten Fenster lauerte und sie beobachtete. Jetzt war niemand dort; sie waren vermutlich alle beim Gebet. Sie verbrachte eine Weile damit, sicherzustellen, dass alles bereit war. Dann kniete sie vor dem Altar nieder und betete. Und wartete. Gott würden ihr ihren Triumph gewähren. Wer sonst würde dafür sorgen, dass Gottes Werk auf Erden ordnungsgemäß ausgeführt wurde, wenn nicht sie? Sie bat natürlich um Vergebung. Manchmal musste das Blut Unschuldiger vergossen werden, um des größeren Wohles der Menschheit willen. Zu gegebener Zeit tauchte, wie immer, Schwester Lucida auf, um Antonia zum Essen zu geleiten. Ein zögernder Schritt erklang, gefolgt von einem schlurfenden Geräusch, als sie ihren Stock über 434 den Boden zog; die Geräusche kündigten ihre Ankunft an dem Steinbogen an, der die winzige Kapelle von dem eigentlichen Gästezimmer trennte. Als die Einfältige Atem holte, erklang ein glucksendes, schnarchendes Geräusch. Sie atmete schwer und blinzelte sich die Tränen aus den Augen. Das Licht im Gästezimmer brachte Schwester Lucida immer zum Weinen, als hätte sie in den Lichtstrahlen Engel erblickt. Sie schaute sich ziellos um, neigte den Kopf. Es fiel ihr schwer, etwas zu erkennen. Schließlich fiel ihr Blick auf Antonia, und sie kam zu ihr gehumpelt. Sie grinste und entblößte dabei die etwa zehn Zähne, die sie noch nicht verloren hatte. Ihre Stimme klang wie eine Mischung aus dem Schreien einer Gans und dem Schnauben eines Schweins. »E-Essen. Gepriesen seien Gott!« »Bitte kniet einen Augenblick neben mir nieder, während ich meine Gebete beende«, sagte Antonia mit weichem Lächeln. Sie half Schwester Lucida bei der schwierigen Aufgabe, sich hinzuknien, packte sie fest bei den Schultern. Dann zog sie ein Messer aus dem Gürtel an ihrer Taille und stieß es ihr gezielt und rasch zwischen den Rippen hindurch ins Herz. Während sie es dort festhielt, pulsierte es zum stürmischen Herzschlag der Nonne. Lucidas ungleiche Augen weiteten sich vor Angst und Entsetzen. Sie öffnete den Mund, aber es kam kein Laut heraus, nur ein ersticktes Krächzen. »Seid still, Schwester Lucida, oder Ihr werdet ganz sicher noch in diesem Augenblick sterben. Doch so lange meine Hand das Messer hält, werdet Ihr am Leben bleiben.« Ein Wimmern entrang sich Lucidas Lippen, nichts weiter. Eine einzelne Träne löste sich von ihrem rechten Auge und lief langsam ihr pockennarbiges Gesicht hinab. Antonia schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Die vertrauten Silben glitten ihr so leicht wie Sahne über die Lippen. Sie verstand sie natürlich nicht, weil sie aus den uralten Ritualen stammten, die den Babaharshan-Priestern bekannt gewesen waren, doch ihre Wirksamkeit stand außer Zweifel. 435 »Ahala shin ah rish amurru galla ashir ah luhish. Dieses Blut möge die Kreatur aus der anderen Welt herbeiziehen. Komm hervor, Kreatur, denn ich binde dich mit unlösbaren Fesseln. Dieses Blut, das du schmecken musst und das ich vergossen habe, unterstellt dich meinen Befehlen. Ich beschwöre dich im Namen der heiligen Engel, deren Herzen in Rechtschaffenheit verweilen, komm heraus und tue, was ich dir befehlen werde.« Der Geruch von geschmiedetem Eisen stach ihr in die Nase. Der Atem seines Seins, das jetzt zitternd in ihren Blick taumelte, wirbelte ihre Haare auf. Ein Galla schwankte am Rand ihres Blickfelds, eine dunkle, hoch aufragende Gestalt, wie hohes, vom Boden bis zur Decke reichendes Ried. Als Lucida sie sah, zuckte sie vor Entsetzen zusammen. Das Messer in ihrer Brust glitt zur Seite. Blut strömte aus ihrem Herzen, ein scharlachroter Strahl, der ihre Gewänder beschmutzte und sich auf den Steinboden ergoss.
Antonia - das Gesicht angesichts des Schmutzes vor Abscheu zu einer Grimasse verzogen - ließ sie auf den Boden sinken. Sie machte einen Schritt zurück, als der Schatten des Galla an ihr vorbeistrich, den vollen Geruch des unschuldigen Blutes roch. Wo sein Wesen über sie hinwegstrich, hörte sie schwach seinen gequälten Schrei; es klang, als würde man durch dicke Mauern das Heulen eines wütenden Sturmes hören. Die mittlere Welt war eine einzige Qual für das Galla. Deshalb waren sie auch so leicht zu kontrollieren, wenn sie erst einmal hier waren. Obwohl es schwankte und winzige Ranken ausstreckte, um den blühenden See aus Blut zu berühren, konnte es dem, was es an ihren Willen binden würde, nicht widerstehen. Es trank. Sie musste ihre Nase mit dem parfümierten Ärmel bedecken, um den Geruch des Blutes und den Gestank der Kreatur ertragen zu können. Schon bald war das Galla fertig. Lucida war, erstaunlich genug, noch immer am Leben, noch immer bei Bewusstsein. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten ins Leere, die eine Hand zuck436 te. Das Leben wich rasch aus' ihr. Ein letztes Wimmern war zu hören, als ihre Seele sie verließ. Antonia war erleichtert, dass die schwachsinnige Nonne so ruhig gestorben war. Nicht alle taten das. Dennoch war es anstrengend, die Hände zu heben, um den letzten Befehl zu erteilen. »Ich beschwöre dich, Kreatur. Dies ist deine Aufgabe, und du wirst tun, was ich dir sage. Töte die Frau, deren wirklicher Name Lavrentia ist, die Mutter von Anne.« Gehorsam ihrem Willen gegenüber, zitterte die dunkle Gestalt und machte sich sogleich von dannen, dabei mit glockenähnlicher Stimme den Namen seines Opfers verkündend. Das Galla glitt durch den Fels und verschwand aus ihrem Blick, aber wenn sie sich konzentrierte, konnte sie mit seinen Sinnen sehen, wie es sich auf den Weg zu seiner Beute machte. Mutter Obligatia - einst bekannt als Novizin Lavrentia -, versammelte sich derweil höchst ahnungslos mit ihren Nonnen im Refektorium, um ein einfaches Mahl einzunehmen. Jetzt endlich gestattete sich Antonia, zu der in den Fels gehauenen Steinbank zu wanken, die sich hinter ihr beim Ausgang befand. Sie ließ sich darauf niedersinken, grauenhaft zitternd, als sämtliche Kraft aus ihren Gliedern wich. Es mochte Stunden dauern, bis sie sich wieder erholt haben würde, und die Verbindung, die sie an jene Kreatur band, die sie herbeigerufen hatte, zehrte noch immer an ihrem Herzen. Als sie noch jung gewesen war, hatte Zauberei sie nicht so in Anspruch genommen. Das Alter hatte sie geschwächt. Tatsächlich würde sie, sofern sie nicht das göttliche Geheimnis der Unsterblichkeit fand, nicht mehr viele Jahre vor sich haben, bevor sie zu schwach sein würde, um der Kirche noch ihren Willen aufdrücken zu können. Sie schloss die Augen und ruhte sich aus, bat um Kraft und Gesundheit und ein langes Leben, um weiterhin Gottes Werke auf Erden fortführen zu können. Auf dem Boden neben ihr wurde Lucidas Körper derweil kalt und steif. VI Das Feld des Blutes 1 Anna fiel es schwer zu schlafen, besonders, da sie der vertraulichen Beratung lauschte, die noch spät an diesem Abend abgehalten wurde. Prinz Sanglant und Prinz Bayan berieten sich unter einem Vordach, das zwischen drei Bäumen aufgespannt worden war, lediglich begleitet von zwei Hauptleuten ihres Vertrauens. Sapientia saß neben Bayan, aber eigentlich sprach sie kaum, sondern hörte überwiegend zu. Sie schien so nervös wie eine Ratte zu sein, die in einer Kiste gefangen war. »Du kennst die Kinder von Herzogin Rotrudis«, sagte Bayan. »Sind Wichman und Zwentibold die besten von ihnen? Oder sind sie die schlimmsten?« »Zwentibold fehlt es nur an Vorstellungskraft«, erwiderte Sanglant. »Die Schwestern sind so schlimm wie Wichman, auf ihre eigene Weise. Und dann gibt es noch einen jüngeren Bruder.« »Mögen Gott uns beschützen!«, murmelte Bayan, offensichtlich ohne jede Ironie. Gnade war bereits eingeschlafen. Sie rührte sich und schnarch438 te, als sie sich umdrehte. Anna schloss fest die Augen, in der Hoffnung, dass die Prinzen nicht bemerken würden, dass sie noch wach war. Als Bayan weitersprach, blinzelte sie wieder; sie sah die Silhouetten der Gestalten im Lampenlicht, während das Vordach über ihnen, vom Nachtwind bewegt, leicht schwankte. »Können wir dann den Neuigkeiten, die Zwentibold uns gebracht hat, überhaupt Glauben schenken?«, fragte Bayan. »Seine Mutter liegt im Sterben. Conrad reitet unter einem fadenscheinigen Vorwand nach Wayland, oder, wie wir sagen würden, auf einem lahmen Pferd.« »Es liegt in Conrads Interesse, die westlichen Provinzen vor dem Bürgerkrieg in Salia zu schützen.« »Das Pferd hinkt noch immer«, erwiderte Bayan mit einem Blick auf Sapientia. »Mit süßen Worten kann er in alle drei Richtungen singen, und wenn sie sich genug gegenseitig bekämpft haben und schwach darnieder liegen, marschiert er ein und nimmt nach Belieben Gebiete in Besitz.« »Kennst du Conrad gut?«, erkundigte sich Sanglant. »Ich kenne seinen Ruf.« »Aha.«
»Du stimmst mir nicht zu?« Bayan lachte. »Gerüchte behaupten, dass Conrad den Thron von Wendar für sich selbst will. Außerdem habe ich gehört, dass er Henrys Nichte geheiratet hat, diese Tallia, die auch den Goldreif trägt. Ihre Mutter ist die ältere Schwester von Henry, nicht wahr? Was hat Conrad vor?« »Es stimmt, dass Conrad sein eigener Herr sein möchte, der niemandem verpflichtet ist. Er wartet möglicherweise, bis wir uns verausgabt haben und unsere Männer die Qumaner vertrieben haben, um dann Kundschafter auszusenden und herauszufinden, was übrig geblieben ist. Ich weiß es nicht. Was mir mehr Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass Theophanu sich nach Quedlingham zurückgezogen hat.« »Sie fürchtet die Qumaner«, sagte Sapientia. Sanglant verlagerte ungeduldig sein Gewicht auf dem Stuhl und 439 hob den leeren Becher, um nach mehr Wein zu verlangen. »Nur wer dumm ist, fürchtet die Qumaner nicht«, sagte er und fuhr sich dabei mit der Hand an die Kehle. »Theophanu mangelt es nicht an Mut, Schwester. Aber es mangelt ihr an einem Heer, und in einem solchen Fall wäre es dumm von ihr gewesen, sich Bulkezu auf dem Schlachtfeld zu stellen. Zwentibolds Bericht zufolge hat sie sich nach Westen gewandt, bevor irgendwer hier wusste, dass wir kommen würden. Ich nehme an, sie ist nach Quedlingham gegangen, um es zu schützen -« »Du stellst dich immer auf ihre Seite«, sagte Sapientia plötzlich, schwieg aber sogleich wieder, als Bayan ihr eine Hand auf den Arm legte. »- oder um eine Basis zu haben, von der aus sie den Qumanern zusetzen kann, für den Fall, dass Bulkezu Osterburg einnehmen und sich anschließend entscheiden sollte, sich nach Westen ins Herz von Saony zu schlagen. Eine ziemlich weise Entscheidung, von einem strategischen Blickwinkel aus betrachtet. Aber wieso hat sie nur ein so armseliges Heer zur Verfügung?« »Unser Vater hat Liutgard und Burchard sowie den größten Teil ihrer Heere mit nach Aosta genommen, außerdem noch viele andere, eigene und fremde.« »Theophanu hätte in der Lage sein müssen, sich aus Varingia und Arconia Hilfe zu holen«, meinte Sanglant. »Das ist wahr«, überlegte Bayan. »Aber von den westlichen Herzogtümern sind keinerlei Neuigkeiten gekommen. Vielleicht haben sie ebensolche Schwierigkeiten wie Salia.« »Ja, vielleicht«, erwiderte Sanglant. Anna wusste, dass er das nicht glaubte. Anna wusste, dass ihn etwas Tiefgründigeres beunruhigte, und wenn der kühne Prinz besorgt war, wie sollte sie dann schlafen können? Sie warf sich unruhig hin und her, döste ein bisschen, wachte auf, hörte Donnergrollen, das verklang und sich nicht wiederholte. Die Hitze wich nicht, wenn auch ein Nieselregen die größte Schwüle beseitigte, Gott sei gedankt. Danach hielt sie das ungleichmäßige Plitsch440 platsch wach, mit dem Feuchtigkeit von den Blättern tropfte. Hinter ihnen strömte der Fluss dahin, und einmal hörte sie Stimmen, die ein Lied sangen - wie die Engel, wenn sie zu ihrem Chor ansetzten; doch der durch die Herbstblätter rauschende Wind erstickte den Klang. Wie Gottes Ruhm, weggeschnappt, kaum dass die gefallene Seele in Sichtweite gekommen war. War es falsch von ihr gewesen, Edelmann Thiemo zu erlauben, Gnade die Geschichte vom Phoenix zu erzählen ? Was würde der Prinz tun, wenn er herausfand, dass Gnade bereits Fragen über das Märtyrertum des heiligen Daisan stellte, über den Ruhm seiner Heiligen Mutter, die Göttin sämtlicher Schöpfung? Sicherlich war es doch nicht falsch, die Wahrheit zu sagen? Sicherlich hatten diese jungen Mönche, die sie gesehen hatten, mit ihren Wandmalereien und ihrer Frömmigkeit, nicht gelogen? Sicher war es keine Ketzerei, sondern die lange verborgene Wahrheit. War es da nicht angemessen, dass sie jetzt, wo das Land von Krieg und Pest und Hungersnöten zerrissen wurde, ans Licht kam? Aber sie war nur ein gewöhnliches Mädchen, durch Gottes Hand verstummt, durch ein Wunder wieder genesen, durch Gottes Wille die Zofe einer Prinzessin geworden. Wie konnte sie wissen, was richtig und was falsch war? Wie konnte sie wissen, was Gottes Wille war und was die Lügen des Feindes? Das Einzige was sie wirklich wusste, war, dass Prinz Sanglant sehr, sehr böse sein würde, wenn er herausfand, dass Edelmann Thiemo seiner Tochter solche Geschichten erzählte. Schließlich wurde der Himmel von der Morgendämmerung erhellt. Als die Sonnenstrahlen den Boden berührten, stieg Nebel auf, bildeten sich Dunstschleier zwischen den Bäumen. Auch über dem Fluss hingen Nebelschwaden. Sie konnte kaum das andere Ufer sehen, hörte aber die Löwen bei der Arbeit, beim Holzhacken, Hämmern und Fluchen, während sie eine Barrikade für die Furt vorbereiteten. Das Heer rüstete sich zum Abmarsch; es rührte sich wie ein un441 ruhiges Tier. Prinz Sanglant gab seiner Tochter einen Kuss und schickte sie mit ihrem Gefolge auf die königliche Plattform - die Planken, auf denen am Abend zuvor Sapientia und Bayan Hof gehalten hatten. Von dort aus konnte sie zusehen, wie das Heer nach Westen marschierte. Anna stellte sich hinter Gnades Stuhl, während Heribert die endlosen Fragen der jungen Prinzessin beantwortete. »Wieso reitet mein Vater nicht als Erster? Sie mögen ihn nicht.« »Nein, das ist keine Beleidigung deines Vaters, Süße. Es ist Prinzessin Sapientias Recht und Pflicht, die Vorhut anzuführen. Sie ist König Henrys Erbin und muss sich als Anführerin beweisen.«
»Wieso?« »Wenn sie nicht die Fähigkeit besitzt, Truppen in die Schlacht zu führen, kann sie nicht herrschen.« »Aber sie ist mit Prinz Bayan verheiratet.« »Er ist ein Fremder, der als ihr Mann mitregieren kann, aber nicht selbst über die wendischen Soldaten herrschen kann.« »Wieso -?« »Still jetzt, Gnade, nichts mehr davon, bitte. Sapientia befehligt zwei Legionen.« »Was ist eine Legion?« Das Heer machte viel Lärm; Pferde wieherten, Männer riefen, Füße trampelten, Zweige knackten, als es der Straße folgte, die nicht viel mehr als ein Waldpfad war und kaum breit genug, dass zwei Wagen nebeneinander fahren konnten. »Eine Legion ist ein alter dariyanischer Begriff, er stammt aus dem alten Kaiserreich. Er beschreibt eine Einheit von Soldaten, die unter einem hohen Befehlshaber kämpfen.« »Wie viele Soldaten?«, fragte Gnade. Anna versuchte zu zählen, während Sapientias wendische Reiterei in Viererreihen vorbeiritt, aber jenseits der fünfzig kam sie durcheinander. »Es hängt davon ab, auf wen man sich beruft«, sagte Heribert. Er verfiel jetzt in jene bestimmte Art zu sprechen, wie es immer 442 dann der Fall war, wenn seine gute Bildung ihn am Schopf packte. In solchen Zeiten fand Anna es schwer, ihn zu verstehen. »Einige behaupten, einige tausend Fußsoldaten und ein paar hundert Berittene. Andere sagen, tausend Mann in zehn Hundertschaften, oder was wir Kohorten nennen, von denen jede Gruppe hundert Mann umfasst.« Es schien ewig zu dauern, bis das Heer vorbeimarschiert war. »Sind das tausend Mann?«, fragte Anna. Sie dachte einen Augenblick nach, erinnerte sich an die Summen, die Raimar und Suzanne ihr beigebracht hatten, wenn die Zeit gekommen war, die Fäden, die Wolle und die Stoffe zu zählen, damit sie nicht übers Ohr gehauen wurden. »Wenn es zwei Legionen waren, müssten es zweitausend Männer sein, nicht?« Die Zahl machte sie benommen. Sie musste die Augen schließen und konnte nur noch dem Geräusch der Hufe auf dem Pfad und dem beständigen Tröpfeln der Wassertropfen von den Blättern lauschen. »Ich würde sagen, nicht mehr als achthundert unter Sapientias Kommando«, erwiderte Heribert. »Wir haben wirklich kein Heer, wie die alten Dariyaner es gewohnt waren. Wir benutzen nur die dariyanischen Begriffe.« »Wieso?«, fragte Gnade. In der letzten Zeit hatte sie die Angewohnheit angenommen, immerzu »wieso« zu fragen. Die letzten Berittenen von Sapientias Heer verschwanden jetzt außer Sichtweite. Nach einer kleinen Pause geriet ein neues Banner in Sicht, folgte dem Pfad des Ersten. »Da kommt Edelfrau Bertha mit ihrer Legion Markländer aus Austra und Olsatia«, sagte Heribert. »Wieso?«, wiederholte Gnade. »Wieso wir die alten Begriffe benutzen? Um uns an die Stärke des alten Reiches zu erinnern.« »Ich werde Kaiserin sein«, sagte Gnade. »Dann nenne ich meine Heere auch Legionen.« Die Legion von Edelfrau Bertha war vielleicht halb so groß wie diejenige, die mit Sapientia vorausgeritten war. 443 Nach ihr folgte Sanglant, salutierte seiner Tochter und eilte mit Hauptmann Fulk und seinen Männern den Pfad entlang, mit den Freischärlern Gents unter Edelmann Hrodik und mit Edelmann Druthmar und den Kontingenten vom Land der Villams. Prinz Bayan und seine Ungrianer, die größte und erfahrenste Kampftruppe des Heeres, kamen als Nächstes, ihrerseits gefolgt von Edelmann Zwentibold, Edelmann Wichman, und ihren Legionen von Plänklern und der Reiterei aus Saony. Als Letztes zog der Versorgungstross unter dem Befehl von Herzog Boleslas vorbei, dem polensischen Herzog mit dem hellen Silberüberwurf und dem federgeschmückten Helm, dem Pfau des Heeres, wie Sanglant ihn eines Nachts genannt hatte, als er zu viel getrunken hatte. Der Wagen, in dem Gnade fahren sollte, hielt vor der Plattform an, und sie gestattete Edelmann Thiemo, ihr hineinzuhelfen, während Heribert den Stuhl zusammenfaltete. Obwohl sie bereits auf einem Pony reiten konnte, war sie noch nicht alt genug, um es unter diesen Umständen zu tun, daher hatten sie das Tier hinten am Wagen angebunden. Als sie sich zwischen den Kornsäcken niederließ, kniete Hauptmann Thiadbold von den Löwen vor ihr nieder. »Eure Hoheit, Euer Vater Prinz Sanglant hat mich und meine Kohorte Löwen beauftragt, dafür zu sorgen, dass Ihr sicher hinter die Stadtmauern von Osterburg gelangt. Ich bitte Euch, Hoheit, wenn es irgendwelche Schwierigkeiten gibt, tut genau das, was ich befehle, und wir werden dafür sorgen, dass Euch nichts geschieht.« »Ich mag es nicht, in der Nachhut zu sein«, sagte Gnade. Er grinste, dann wurde er rasch wieder ernst, denn er war sich nicht sicher, in welcher Stimmung sie war. »Nein, aber viele der schönen und wertvollen Dinge, die für einen Sieg nötig sind, befinden sich im Versorgungstross. Es ist sicher keine Beleidigung, wenn man zurückbleibt, um sie zu bewachen, Eure Hoheit. Und es ist auch keine Beleidigung Eurer Person, wenn Ihr mit dem Versorgungstross reitet. Versteht Ihr?« Er deutete auf den bemalten Wagen, der Prinz Bayans Mutter gehörte. »Ihr seid nicht die einzige Kriegerin, die mit dem Versorgungstross
fährt.« 444 Der Anblick dieses Wagens überzeugte Gnade davon, besser nicht zu streiten. Herzog Boleslas ritt herbei; zu beiden Seiten seines leuchtend bunt aufgeputzten Pferdes ein Dutzend Soldaten, die ebenfalls in farbenfrohe Gewänder gekleidet waren. Er verneigte sich vor Gnade. »Eure Hoheit«, sagte er, bevor er wieder an das Ende des Zuges ritt, während der Wagen sich in Bewegung setzte. Da der Boden noch immer feucht von dem kurzen Regenschauer der vergangenen Nacht war, war nicht viel Staub aufgewirbelt worden. Dennoch konnte Anna spüren, dass acht Legionen Soldaten vor ihnen diesen Weg genommen hatten. Schon bald klebte Dreck an ihren Lippen, kitzelte in ihrer Nase. Überhängende Zweige und Äste waren zurückgebogen oder von den vorbei ziehenden Körpern abgerissen worden. Furcht breitete sich in Annas Innerem aus, als sie weiterrollten und die Sonne höher stieg. Würde sie in der Lage sein, das Klirren der Waffen vor ihnen zu hören, wenn die Vorhut auf die Qumaner traf? Stimmte es, dass jeder qumanische Soldat einen geschrumpften Kopf als Trophäe am Gürtel trug? Sie fuhr sich mit der Hand an den Nacken und fragte sich, ob die Qumaner wohl auch Kindern den Kopf abschlugen, oder ob sie sie für alt genug befinden würden, um verheiratet oder versklavt zu werden. Aber schließlich waren sie hier in der Nachhut ein ganzes Stück von der Front entfernt, an der die Schlacht geschlagen werden würde. Gegen Mittag erreichten sie einen Bergkamm und erhaschten einen Blick auf die in der Ferne liegende Veser. Waffen und Rüstungen blitzten in den Bäumen unterhalb von ihnen auf, wo der andere Teil des Heers sich hinabwand, auf die Flussebene zu. Gnade stellte sich im Wagen hin und grabschte nach den Schultern des gutmütigen Wagenführers. »Sieh nur!«, schrie sie mit ihrer durchdringenden Stimme. »Ich kann das qumanische Heer sehen !« Anna glaubte einen kurzen Moment lang, sie würde einen 445 dunklen Fleck sehen, als würde ein Heuschrecken-Schwarm über der Flussebene ausschwärmen. Dann fiel die Straße in eine Schlucht ab, die stetig breiter wurde und sich schließlich ganz öffnete und in ein zerklüftetes Waldland aus Eichen und Weißbuchen überging, zwischen denen sich gelegentlich auch Kiefern oder Birken fanden. Die Bäume schirmten sie hin und wieder vor der grellen Sonne ab, aber sie schwitzte, obwohl sie nicht laufen musste. Die neben dem Wagen her laufenden Löwen hatten ihre Helme in den Nacken geschoben und wischten sich immer wieder die Stirn. Erklang da Donner in der Ferne? Anna hätte nicht sagen können, ob ein Sturm alles besser oder eher schlimmer machen würde. Der Wagen rumpelte in einem gleichmäßigen Rhythmus den Weg entlang, hüpfte hin und wieder an einer unebenen Stelle. Nichts davon kümmerte Gnade, die sich schließlich gelangweilt zwischen den Kornsäcken zusammenrollte und einschlief, nachdem sie Anna das Versprechen abgerungen hatte, sie »zum Kampf zu wecken«. Anna beneidete das Kind um die Fähigkeit, so einfach zu schlafen. Das Korn bildete ein festes Kopfkissen, und Anna war in der Lage, aus einem Stück Zeltstoff ein kleines Dach zu basteln, sodass Gnades Kopf im Schatten lag, während der Wagen durch den ständigen Wechsel von Licht und Schatten rollte. Eine Gruppe von mindestens hundert Löwen marschierte vor ihnen her, und davor befanden sich noch einmal einhundert polensische Reiter mit ihren farbenprächtigen Überwürfen. Edelmann Wichman und sein Bruder ritten mit der Legion aus Saony zu weit vorn, als dass sie sie noch hätte sehen können. Der Pfad war gerade breit genug, dass zwei Wagen nebeneinander fahren konnten. Eine Weile beobachtete Anna den bemalten Wagen, der Bayans Mutter gehörte, aber nie teilten sich die perlenbesetzten Vorhänge, gaben nie ein beobachtendes Gesicht preis. Sechs Sklaven marschierten hinter dem Wagen. Zwei gingen vorne und führten die Ochsen, die ihn zogen. In dieser Hitze hatten sich alle bis auf einen Lendenschurz entkleidet. Sie waren mögli446 cherweise diejenigen, die es am angenehmsten hatten: Sie trugen weder Rüstung noch Waffen. Falls sie nervös waren, war ihnen das jedenfalls nicht anzumerken. Anna versuchte sich vorzustellen, welche Gefühle sie hatten, aber obwohl sie ihr hin und wieder einen Blick zuwarfen, zog keiner die Mundwinkel zu einem Lächeln hoch oder als Zeichen seines Missmuts herab. Sie gingen einfach weiter gehorsam gegenüber dem Willen ihrer Herrin. Der Staubwolke, die sie aufwirbelten, folgte der übrige Tross: Versorgungswagen, ein paar Karren mit verletzten Soldaten, Karren mit den Pavillons und dem Feldmobiliar der Edlen, die nicht in den Krieg ziehen konnten, ohne auf einen Teil ihrer Annehmlichkeiten - sowie auf ein paar andere sichtbare Hinweise ihres Ranges und ihrer Wichtigkeit - zu verzichten, die geschlossenen Wagen mit dem Schatz der Prinzessin, mehrere Karren der Kirchenleute, in denen unter anderem ihre kostbaren Gefäße und das goldene Altartuch aufbewahrt wurden, das sie für die Abendmesse benötigten. Löwen marschierten über die gesamte Länge des Zuges verteilt nebenher, zusammen mit anderen Fußsoldaten. Hin und wieder sah sie Reiter weiter draußen im Wald. Sie wusste, dass hinter ihnen Herzog Boleslas mit dem übrigen Teil seiner Truppen ritt. Heribert saß auf dem hinteren Teil des Wagens und war tief in Gedanken versunken. Edelmann Thiemo, Matto und die anderen sechs Soldaten, die Sanglant dazu abgestellt hatte, Prinzessin Gnade
zu begleiten, ritten rechts von ihnen. »Wieso sind alle Fußsoldaten hier, Bruder Heribert?«, fragte Anna schließlich. Heribert fuhr zusammen, als hätte er ganz vergessen, dass Anna da war. »Ich bin kein Experte in Kriegsstrategie«, sagte er mit einem Lächeln. »Aber selbst ich weiß, dass die Qumaner alle Reiter sind. Es ist daher am Besten, wenn man ihnen auf dem Feld mit Reitern begegnet.« »Wieso musste Zacharias mit Prinz Bayan reiten?« 447 »Ich dachte, du magst ihn nicht?« »Ich mag ihn auch nicht. Ich glaube, es ist gut, dass er weg ist. Er ist schlimmer als ein Ungläubiger. Er ist einmal ein gottesfürchtiger Mann gewesen, aber was ist er jetzt?« »Ein sehr beunruhigter Mann, fürchte ich, und tief in seinem Herzen so gut, wie es ihm möglich ist. Du solltest ihn nicht hassen, Kind. Er hat dir nichts getan.« Sie blickte ihn stirnrunzelnd an, denn sie mochte es nicht, wenn sie belehrt wurde. »Mehr werde ich dazu nicht sagen«, fuhr er fort. »Da Zacharias sieben Jahre lang als Sklave bei Bulkezu gelebt hat, möchte Prinz Bayan ihn bei sich haben, für den Fall, dass er etwas Wichtiges sieht oder hört. Dann könnte er Bayan warnen.« »Aber nicht Prinz Sanglant.« »Prinz Bayan ist der Befehlshaber dieses Heeres. Das heißt, ich meine-« Erstaunlicherweise errötete er. »Prinzessin Sapientia ist die Befehlshaberin dieses Heeres, und bitte, Anna, kein Wort davon, dass ich jemals etwas anderes gesagt habe.« Es erstaunte sie zu hören, dass ein gebildeter, edler Geistlicher sie um irgendetwas bat, und sie setzte gerade zu einer Antwort an, als von hinten Rufe und ein Hornsignal erklangen. Heribert hüpfte vom Wagen, stolperte und richtete sich auf, als ein Reiter an ihm vorbei die Linie entlangpreschte. Edelmann Thiemo kam rasch zu ihnen, ebenso die anderen. »Es muss eine qumanische Patrouille sein«,sagte er zu Anna, wobei er einen Blick auf Gnade warf. »Aber es besteht kein Grund zur Sorge.« Lewenhardt hatte einen Pfeil locker an die Sehne gelegt und musterte argwöhnisch die Bäume, aber Anna konnte kein Anzeichen von geflügelten Reitern entdecken. Der Wind trug das Klirren von Rüstungen und Waffen zu ihnen. Ein paar Pfeile zischten zwischen den Wagen hindurch, und während sie noch entsetzt auf einen weiß befiederten Pfeil starrte, der über den Boden schlitterte, erschütterte ein hartes Tschak! den Wagen. Ein Pfeilschaft zitterte in einem Seitenbrett, die Spitze hatte sich tief ins Holz gegra448 ben. Chustaffus, der sich geweigert hatte, in Walburg zurückzubleiben, obwohl seine Verletzung den Schwertarm behinderte, schrie alarmiert auf, als ein Pfeil nur eine Handbreit an seiner Nase vorbeischwirrte. Er zuckte zurück, kaum in der Lage, auf dem Pferd zu bleiben. »Herr im Himmel«, fluchte Edelmann Thiemo und starrte auf den Wald; Nebelschwaden trieben zwischen den Bäumen. Aber es waren keine Nebelschwaden, sondern hundert oder noch mehr Schwingen. Die Löwen stießen Warnrufe aus. Sie rannten jetzt schneller, und der Wagenführer trieb die Maultiere mit der Peitsche an. Hinter ihnen riefen und schrien die Männer, und dann, als sie auf eine breite Lichtung kamen, hörte Anna einen kurzen, schrecklichen Augenblick lang über all dem anderen Lärm eine besonders laute Stimme. »Herzog Boleslas ist gefallen!« Panik verbreitete sich entlang der ganzen Wagenreihe. Die Reiter verteilten sich, und in dem Chaos konnte Anna an nichts anderes denken als daran, dass die Löwen ihre Formation beibehielten, während sie den Wagenführern zuschrien, auf einen kleinen, von einer Baumgruppe gekrönten Hügel am Ende der Lichtung zuzuhalten. Der Pfeilhagel wurde dichter. »Oh, Herr im Himmel, Thiemo«, rief Heribert, »wenn das eine qumanische Patrouille ist, dann muss jeder von ihnen vier Bögen auf einmal betätigen!« Weitere Wagen erreichten die Lichtung, aber es war bereits zu spät. Die vordere Gruppe der polensischen Reiter war zwischen den Bäumen verschwunden, um den qumanischen Angriff abzuwehren. Die Reihen trafen sich, und grollender Donner schien durch die Luft zu rollen, als ihre Waffen aufeinander prallten. Gnade erwachte. »Wo ist Papa?«, schrie sie. Lewenhardt sprang auf den Wagen und stellte sich - jeweils einen Fuß links und rechts ihres Körpers buchstäblich über das Kind. Thiemo, Matto, Bärbeiß, Immersieg, Den, Johannes und 449 Chustaffus bildeten einen Ring um den Wagen. Heribert stieg hastig auf Lewenhardts Pferd; er fiel zurück, als noch mehr Wagen vorwärts rasten, verzweifelt bemüht, den Qumanern zu entkommen. Anna kämpfte sich auf die Knie und warf einen Blick auf das Geschehen. Weiter hinten im Wald schwankte das polensische Banner gefährlich. Die Schlacht war ein einziges Chaos, fand zudem halb im Schatten der Bäume statt, während sie vom Sonnenlicht geblendet wurde. Sie hatte den Eindruck, als würde sie überall qumanische Schwingen sehen, als würden sie sich unter die Reihen der Polenser mischen. Ein weiteres, langes Hornsignal erklang und verstummte dann, als die ersten Reiter durch die polensische Linie brachen und die gut aussehenden
polensischen Reiter sich fliehend oder sterbend aus dem Kampfgeschehen zurückzogen. Gnade versuchte aufzustehen, aber Anna drückte sie zu Boden, als ein weiterer Pfeilhagel über sie hinwegschwirrte. Immersieg fluchte, riss einen Pfeil weg, der sich in seinem Kettenhemd verhakt hatte. Matto blutete an der Wange, wo ein Pfeil durch den Lederriemen seines Helms hindurchgegangen war. Das Schlimmste am Angriff der Qumaner war die Stille: keine Hörner, keine schrillen Schreie, nur das Pfeifen ihrer Schwingen, durch die der Wind fuhr. Schließlich geschah das Unvermeidliche: Die polensische Standarte sank im Gewühl zu Boden, und auch der Letzte von Herzog Boleslas Reiterei - waren es wirklich dreihundert, vierhundert Mann gewesen? - geriet außer Sicht, sodass nur noch Fußsoldaten übrig blieben. Die Hälfte von ihnen rannte, fiel oder kämpfte so gut es ging gegen die zahlenmäßig überlegenen Gegner. »Wir werden sterben«, sagte Thiemo. »Halt den Mund«, zischte Bärbeiß. »Ich hasse Jammerlappen.« Der Wagen quälte sich weiter, Kopf an Kopf mit dem bemalten Wagen, in dem sich Bayans Mutter befand. Ihre Sklaven liefen nebenher, hielten die Geschwindigkeit mit Leichtigkeit. Ihre ruhigen Mienen, die beinahe Gelassenheit verrieten, hatten sich nicht geändert. 450 »Ho! Prinzessin!« Ein alter Löwe gestikulierte wild. »Weiter, weiter!« Die erste Reihe der Löwen hatte den Hügel erreicht, und die Soldaten gruben sich bereits ein, hackten Bäume ab, machten alles Mögliche, um eine Barriere gegen die Reiter zu errichten. Hinten im Wald hatte es zu regnen begonnen. Donner grollte bedrohlich, und Wind peitschte die Baumwipfel. Die Qumaner waren überall. War das ihr gesamtes Heer, das einen Bogen geschlagen hatte, um sie von hinten anzugreifen? Ein großes Kontingent ritt vorbei, weit rechts von ihnen, auf das hintere Ende der arglosen Legion aus Saony zu. Andere drängten heran, um die letzten Wagen zu erwischen. Ein Wagenführer wurde getötet, als ein Qumaner ihm von hinten die Kehle durchschnitt, während er die Pferde anpeitschte. Ein anderer Mann sprang vom Wagen und versuchte, darunter Schutz zu finden, aber er wurde niedergetrampelt, bevor er dorthin gelangte. Ohne abzusteigen begannen die Qumaner, die Inhalte von den Karren zu ziehen. Kisten wurden aufgerissen und Beutel in den Matsch geworfen, um zu sehen, ob irgendetwas Wertvolles darin war. Die Hälfte der Löwen wich ein Stück zurück und versuchte, zwischen der ersten Hälfte des Versorgungstrosses und jenem Teil, der bereits überrannt worden war, in Aufstellung zu gehen. Andere Fußsoldaten mischten sich unter sie, obwohl bereits hunderte gestorben oder in den Wald geflohen sein mussten, in der Hoffnung, den Weg, den sie gekommen waren, als Fluchtweg nutzen zu können. »Runter, Mädchen!«, schrie Lewenhardt und sank dabei auf die Knie. Ein Hagel aus Pfeilen ging auf sie nieder. Jemand war getroffen worden; Immersieg vielleicht, oder Den. Anna warf sich auf Gnade. Das Mädchen zappelte und wehrte sich, versuchte freizukommen, damit sie etwas sehen konnte. »Halt still!« Vor Entsetzen war Annas Stimme kaum mehr als ein heiseres Krächzen. Lewenhardt warf sich zur Seite, als ein Pfeil dicht an seinem Ohr vorbeischwirrte und sich in den Nacken des Wagenführers bohr451 te, dessen Kopf nach vorn sackte. Er zuckte ein paar Mal, sank in sich zusammen, während ihm die Zügel aus der Hand rutschten, und stürzte schließlich vom Wagen. Sofort glitt Chustaffus anmutig von seinem Pferd auf den Kutschbock und griff mit seinem gesunden Arm nach den Zügeln. Hinter der zwölften Wagenreihe -mehr würden ohnehin nicht mehr zu retten sein - zogen sich die Löwen in geordneter Formation zurück, immer einen Schritt nach dem anderen. Die Qumaner - jene, die nicht damit beschäftigt waren, die letzten Wagen zu plündern -, zögerten noch; sie waren anscheinend nicht gewillt, die gut formierte Truppe anzugreifen, nun, da sie das Überraschungsmoment nicht mehr auf ihrer Seite hatten. Der Hügel war nur eine Speerwurflänge von ihnen entfernt. Eine behelfsmäßige Palisade wuchs bereits in die Höhe, während Hauptmann Thiadbold die Verteidigung organisierte. Als ihr Wagen ins Innere der Palisade rollte, wurde er sofort dazu abgestellt, eine Lücke in der Mauer zu stopfen. Anna sprang vom Wagen, während Thiemo Gnade mit sich zog. Einen Augenblick später stemmten sich ein paar Löwen gegen den Wagen und stürzten ihn auf die Seite. Alles, was sich noch darauf befunden hatte, verstreute sich in einem wilden Durcheinander. Ein Kornsack riss auf, und Weizenkörner ergossen sich auf den Boden. Ohne darauf zu achten, trampelten Männer darauf herum. Auch die anderen Wagen, die es bis hierher geschafft hatten, wurden sofort in Beschlag genommen, um weitere Lücken im behelfsmäßigen Schanzwerk zu füllen. Selbst Ochsen und Pferde band man in den kleineren Lücken fest. Nur der bemalte Wagen von Bayans Mutter blieb unberührt. Aber es war bereits zu spät. Ein qumanischer Hauptmann mit Schwingen aus wunderschönen Adlerfedern hatte seine widerspenstigen Männer mit einigem Nachdruck in Formation gebracht. Die Linie teilte sich. Die Hauptmacht der Qumaner und ihr Anführer griffen die rechte Flanke der sich zurückziehenden Fußsoldaten an, während eine kleinere 452 Streitmacht die linke Flanke umkreiste und dabei unaufhörlich Pfeile abschoss. Anna schleppte Gnade den Hügel hoch, zerrte sie in den Schutz einer Birke, schlang die Arme beschützend um das kleine Mädchen.
So nah. Pfeile surrten durch die Zweige. Männer schrien vor Schmerz. Die Linie der restlichen Löwen zog sich zurück, versuchte, sich den Rücken freizuhalten und die restlichen Wagen zu schützen, die noch auf den Hügel zurasten. Es war unmöglich, dass sie nicht alle getötet werden würden, bevor sie den Hügel erreichten. Und sie waren noch immer fast eine Bogenschussweite davon entfernt. Lewenhardt zielte, ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Das Pferd des qumanischen Anführers taumelte, und er wurde zu Boden geschleudert. Ein Triumphschrei erhob sich von den langsam zurückweichenden Löwen. Der alte Löwe in ihrer Mitte stieß bellend Befehle aus. In Dreier- oder Vierergruppen lösten sich die Männer aus dem Zentrum, liefen los, um die Flanken auszuweiten, damit die Linie hielt - und nahmen dabei in Kauf, das Zentrum zu schwächen, das bisher nicht angegriffen worden war. Die meisten Wagen hatten inzwischen den Hügel erreicht, waren umgekippt und in die Lücken geschoben worden. Doch es waren nicht genug, als dass sie den ganzen Hügel hätten verbarrikadieren können. Ein paar Pfeile wurden vom Hügel abgeschossen und landeten zwischen den Qumanern, die die linke Flanke angriffen. Eine Gruppe von zehn Löwen raste vom Hügel los, um zu verhindern, dass die Linie ihrer Kameraden von der Seite her umfasst wurde. Auf der rechten Seite ritten die Qumaner bis zur Linie, doch scheuten ihre Pferde vor dem Wall aus Speeren und Schilden zurück, der sich gleichmäßig vor ihnen zurückzog. »Gotfrid!«, brüllte Thiadbold vom Hügel hinunter. »Schließ auf!« Während Lewenhardt und andere Bogenschützen in rascher Folge und zielsicher ihre Pfeile abschössen, zog sich die Linie, die noch auf der Lichtung war, in doppelter Geschwindigkeit zum Hü453 gel zurück. Die Löwen, die ein Dutzend Männer tot auf dem Feld zurückließen, schlössen die Lücke. Lauter Jubel erhob sich von den Löwen, die auf dem Hügel auf sie warteten. Es war ein kleiner, bitterer Sieg, vermutlich auch ein sehr kurzlebiger. Von ihnen abgesehen war die Nachhut dahin -ausgelöscht. Aus weiter Ferne hörte Anna den Lärm des beginnenden Kampfes, als die Qumaner die Legion von Saony angriffen. »Sie werden das Heer von hinten aufrollen, eine Legion nach der anderen.« Heribert war weiß im Gesicht. Er atmete schwer, als er Gnades Arm packte und sie auf die Hügelkuppe zerrte. »Ich will nicht gehen!«, schrie Gnade und fuchtelte dabei mit ihrem Holzschwert herum, das sie irgendwie aus dem umgestürzten Wagen hatte retten können. »Ich muss auch kämpfen!« Anna gab ihr einen Klaps auf den Hintern, und sie setzte sich in Bewegung. Überall auf der Lichtung machten sich die Qumaner daran, das Gepäck zu plündern. Der Anführer, jetzt auf einem anderen Pferd, begann damit, den Angriff auf den Hügel zu organisieren. Reiter verteilten sich in einem Kreis um den Hügel und näherten sich langsam. Nahe der Hügelkuppe fand Heribert eine alte Eiche, die zum Teil ausgehöhlt war; hier hatten sich einst Reisende vor einem Sturm verkrochen. Anna schob Gnade dort hinein, trotz ihrer Proteste, und stellte sich davor, um mit ihrem Körper die Öffnung zu versperren. Die acht Sklaven hatten Bayans Mutter in ihrer Sänfte nach oben geschafft. Jetzt bezogen sie zu beiden Seiten Position. Anna roch Regen - rasch herannahenden Regen. Die Qumaner zogen den Ring enger. Da ihre Pfeile aus allen Richtungen kamen, war es unmöglich, einen Baum zu finden, der wirklich Schutz gewährte. Die Konkubine eines Edelmanns - eine Frau mit wunderschönen blonden Haaren, die ihr jetzt über die Schultern fielen -begann zu fluchen und mit Steinen nach den Angreifern zu werfen, bis sie von einem Pfeil in die Brust getroffen wurde. 454 Lewenhardt und die anderen Bogenschützen ließen sie teuer dafür bezahlen. Jeder Pfeil, den Lewenhardt abschoss, traf Mensch oder Pferd. Die Qumaner waren keine Dummköpfe. Wer immer auf dem Hügel einen Bogen aufnahm, wurde von einem Pfeilhagel überschüttet. Viele dieser Pfeile galten ganz besonders dem jungen Bogenschützen, aber er hatte eine Art, sich beinahe ruckartig zu bewegen, sodass er es immer irgendwie schaffte, dem nahenden Pfeil auszuweichen. Dennoch blutete er aus einem Dutzend Kratzern an Oberschenkeln und Armen. Ein Junge, der am Bein verletzte Sohn eines Wagenführers, krabbelte auf dem Boden herum und sammelte Pfeile ein, die er Lewenhardt zu Füßen legte. Doch selbst die umgestürzten Wagen konnten die Lücken nicht gänzlich schließen. Und trotz der starken Löwenkohorte und der verschiedenen Nachzügler waren die Qumaner noch immer in der Überzahl, und so weit Anna erkennen konnte, litten ihre Feinde auch nicht gerade unter einem Mangel an Pfeilen. Fünf qumanische Reiter preschten auf eine Lücke in der Wagenburg zu, die Thiadbold mit zwei Löwen mit erhobenen Schilden bewachte. Ihre Feinde schössen auf die Füße der Männer, weil das das Einzige war, was sie - abgesehen von ihren Helmspitzen - sehen konnten. »Auf sie!«, schrie Hauptmann Thiadbold und sprang auf sie zu; in seiner Stiefelsohle steckte ein zitternder Pfeil. Er schleuderte seinen Speer, traf einen der Qumaner in die Kehle, während seine Männer mit ihm vorwärts stürmten. Gut platzierte Axtschläge trafen auf Arme oder Beine, und die Löwen brachten drei weitere Reiter zu Boden, wo sie in einem Hagel aus Schlägen starben. Der Letzte schaffte es, sein Pferd zu wenden, und wollte gerade fliehen, aber der alte Gotfrid hatte seine Wurfaxt bereits in der Hand, und er schleuderte sie mit aller Kraft. Der Reiter sackte vornüber im Sattel zusammen; der Griff der Axt ragte zwischen seinen Schwingen in die Höhe, während die Klinge sich tief in die jetzt geborstenen, lamellenartigen Platten seiner Rüstung gegraben hatte.
455 Ein Stück weiter rechts versuchte eine andere Gruppe von Löwen einen ähnlichen Ausfall, aber als sie vorwärts stürmten, wurde ihr Anführer von einem Pfeil im Auge getroffen. Entsetzt krochen seine Kameraden zurück, um wieder Deckung zu finden. Der Beschuss nahm kein Ende. Es hatte den Anschein, als läge zwischen dem einen Atemzug und dem nächsten ein Drittel der Löwen tot oder sterbend da, während die meisten anderen mehrfach verwundet waren. Aber sie würden niemals aufgeben. Sie ließen den Pfeilhagel über sich ergehen, warteten auf den Augenblick, da sie ein Ziel für ihre Speere und Äxte finden konnten. Doch es gab jetzt so viele Lücken - zu viele, um sie alle zu halten. »Sieh nur«, sagte Heribert, aber Anna hatte es bereits gesehen. Eine Regenböe wogte über die Baumwipfel auf sie zu. »Lass mich sehen!«, schrie Gnade. Ihre Stimme klang erstickt, da sie noch immer in der Eichenhöhle saß. Sie versuchte herauszukommen, trommelte dabei mit ihren kleinen Fäusten gegen Annas Beine. Die qumanischen Reiter drängten näher heran. Einige packten die Karren und zogen sie weg, während die anderen angriffen. Der alte Gotfrid ließ seinen Schild fallen, damit er sich ganz auf seinen Speer konzentrieren konnte. Seine Speerspitze ließ die Gesichtsplatten der Qumaner bersten und traf sie in die Kehle, ihre verwundbarste Stelle. Er zögerte nicht, Pferd oder Reiter niederzumachen. Gotfrid war ein Veteran, der seine Energie nicht verschwendete. Er stieß nicht einmal halb so oft zu wie die jüngeren Löwen, aber jeder einzelne Stoß fand sein Ziel. Gotfrids Kameraden verteidigten ihn mit ihren Schilden; sie waren sich nur zu sehr des Schadens bewusst, den er anrichten konnte, wenn er am Leben blieb. Der Adlerreiter hielt jetzt auf Thiadbolds Gruppe zu, die eine Lücke zwischen einem Wagen und einem Karren hielt. Der Ochse, der zuvor den größten Teil der Lücke ausgefüllt hatte, lag von unzähligen Pfeilen tödlich getroffen am Boden. Das Pferd hatte sich losgerissen und war davongerast. Während der Qumaner über 456 den Kadaver des Ochsen setzte, schlug er auf Thiadbold ein. Der Löwe wehrte den Schlag mit seinem Schild ab und nutzte die Gelegenheit, trieb sein Schwert dem Pferd tief in den Bauch. Als das Tier zusammenbrach, versetzte ihm der Reiter einen Tritt gegen den Kopf. Ein anderer Qumaner stieß zu, traf Thiadbold in die Seite. Thiemo schlug den Speerschaft mit seinem Schwert beiseite, sodass er zerbarst, während Matto, Bärbeiß und Immersieg mit erhobenen Schwertern herbeieilten. Es gab einen wilden Austausch von Schlägen und Hieben, und dann taumelte Immersieg zurück, das Gesicht blutüberströmt. Den, in dessen Seite noch immer ein Pfeil steckte, warf sich in den Kampf, genau wie Johannes und Chustaffus, der nur seinen gesunden Arm benutzen konnte. Dann konnte Anna nicht mehr viel erkennen, aber vielleicht lag das auch nur an den Tränen in ihren Augen. Begann es zu regnen? Die übrigen Löwen wichen kämpfend einen Schritt nach dem anderen zurück. Hauptmann Thiadbold war wieder auf den Beinen, er hatte Glück gehabt; sein Kettenhemd hatte ihm das Leben gerettet. Anna flüsterte ein Gebet, schlug mit der Hand in der vertrauten Geste das Kreiszeichen der Einigkeit. Sie erinnerte sich an den Tag vor langer Zeit in der Kathedrale von Cent, als der Aikha-Prinz sie hatte gehen lassen. Sie erinnerte sich daran, wie ihr die Stimme im Halse stecken geblieben war, als sie Graf Lavastins Erben hatte erzählen hören, dass er einst einen Holzkreis wie den ihren, wie den, den der Aikha-Prinz um den Hals getragen hatte, einem Aikha-Prinzen gegeben hatte. Aber sie hatte nichts gesagt; sie hatte nicht gefragt, um herauszufinden, ob es der gleiche Prinz gewesen war. Sie hatte den Kreis nicht geschlossen. Deshalb hatten Gott sie bestraft. Nach zehn weiteren Schritten würden die Löwen ihre Position erreicht haben, und dann würden sie keine weitere Möglichkeit mehr haben, sich zurückzuziehen. Heribert hob seinen Stab und machte sich zum Kampf bereit; sein Gesicht zeigte den verzweifeltsten Ausdruck, den Anna sich nur vorstellen konnte. Er sah 457 wirklich tapfer aus, aber es war seiner Haltung anzumerken, dass er für seine Angreifer keinerlei Bedrohung darstellen würde. Er blickte sie an. »Versuch, zusammen mit der Prinzessin gefangen genommen zu werden«, sagte er leise zu ihr. »Und wenn du den Prinzen jemals wieder siehst, sag ihm, dass ich im Kampf gefallen bin.« Regentropfen platschten ihr ins Gesicht. Draußen auf der Lichtung regnete es noch heftiger, doch die qumanischen Reiter ließen sich davon nicht stören und plünderten weiter. Weit entfernt, wie in einem Traum, hörte sie ein wendisches Hörn, das zum Rückzug blies. Die Qumaner würden sie alle töten. Nicht einmal die Wettermagie der kerayitischen Prinzessin konnte sie jetzt noch retten. Die Spitze des Holzschwertes fuhr zwischen Annas Waden hindurch. Anna begann zu taumeln, und Gnade zappelte und drückte stärker. Schließlich streckte sie den Kopf zwischen den Beinen des Mädchens hindurch. Sie blinzelte, während sie die grauenhafte Szenerie betrachtete und ein Durcheinander aus Schreien, Schluchzern, ruhigen Befehlen und dem schrillen Gewieher verwundeter Pferde über sie hinwegschwappte und Regentropfen über ihr kleines Gesicht liefen. »Du brauchst keine Angst zu haben, Anna«, sagte sie auf ihre typisch zuversichtliche Weise. »Mein Papa kommt und rettet uns.« 2 Der Torhüter, der den schmalen Eingang zur Sphäre Aturnas bewachte, ähnelte Wulfhere auf bemerkenswerte Weise. »Liath!« Der Torhüter versperrte ihr den Weg mit seinem Speer. Hinter ihm wirbelten schwarze
Sturmwolken; sie konnte auf der anderen Seite nichts ausmachen, was ihr die Orientierung erleichtert hätte. »Wo bist du? Ich habe nach dir gesucht!« 458 »Was willst du von mir, Wulfhere? Wer ist meine Mutter? Sag mir die Wahrheit!« Als sie einen Schritt nach vorn machte, durchbohrte ihn die Spitze des Pfeils, den sie in ihrer rechten Hand hielt, und er löste sich auf wie ein Bild, das sich auf dem Wasser spiegelte und von Wellen zerstört wurde. Hatte Wulfhere sie wirklich mit der Adlersicht gesucht, oder war es nur ein Phantom gewesen, das geschickt worden war, um sie zu quälen oder zu prüfen? Mit einem Stirnrunzeln trat sie durch das Tor. Stürmische Winde peitschten ihre nackte Haut. Klingen aus Eis stachen sie, als sie vorwärts drängte, sich in den heulenden Sturm lehnte. Es war so bitterkalt. Böen aus eisigem Wind röhrten und brüllten. Ihre Haare wehten hinter ihr her, und sie musste die Augen mit einem Arm schützen. In der linken Hand hielt sie Herzsucherin, in der rechten den letzten Pfeil, der mit der goldenen Feder befiedert war; Ältester Onkel hatte ihn ihr gegeben. Dies war alles, was von all den Dingen übrig war, mit denen sie aufgebrochen war. Dies - und sie selbst. Der kalte Wind betäubte sie. Ihre Lippen platzten auf, wurden so steif, dass sie nicht einmal mehr sprechen konnte, dass sie nicht rufen konnte, um zu erfahren, ob in diesem schroffen Reich irgendeine Kreatur lebte, die sie möglicherweise retten konnte. Zitternd, schmerzerfüllt und übel zugerichtet von dem eiskalten Sturm konnte sie sich nur mit Mühe vorwärts kämpfen, während ihre Finger abstarben, der Schmerz der Kälte bis in ihre Knochen kroch. Es war so kalt hier, ein Tal aus Eis. Sie würde hier draußen sterben. Nicht diese Nacht, aber in einer anderen, morgen vielleicht. Hier gab es nicht einmal Schweine, die sie wärmen konnten. Sie würde sterben, oder sie würde umkehren, in die Kammer gehen, in der Hugh auf sie wartete, genau so, wie sie es in jener Winternacht in Friedleben getan hatte, als sie sechzehn Jahre alt gewesen war. Genau so, wie sie es in jener schrecklichen Nacht getan hatte, als sie ihm nachgegeben hatte, weil es der einzige Weg gewesen war, wie sie ihr Leben hatte retten können. 459 Aber es war nicht der einzige Weg gewesen. Pa hatte ihre Macht vor ihr verheimlicht, um sie vor Anne zu verbergen, die sie gejagt hatte. Pa hatte ihr niemals beigebracht zu kämpfen, er hatte ihr nur gezeigt, dass sie sich verstecken und weglaufen musste. Hugh hatte das besser begriffen, als sie es jemals getan hatte. Sie war kein machtloses Mädchen mehr, verängstigt und hilflos. Sie rief Feuer, und die eiskalte Luft um sie herum zerbarst. Die Wolken schmolzen wie Nebel unter der Sonne. Aturnas Reich machte sie benommen. Sie ging am Grund einer gewaltigen Schlucht, deren Wände so weit weg waren, dass ihre Höhe sich im Dunst verlor. Wasserfälle strömten von allen Seiten herab, blitzten blendend auf, als das Licht sich auf dem fallenden Wasser brach. Daemonen tanzten in dem leuchtenden Wasser; sie waren zu hell, um sie sehen zu können - es sei denn, man hatte Salamander-Augen. Vor ihr drehten sich dröhnend zwei riesige goldene Räder, die Quelle des Windes. Im Tal von Aturna, dem Heim der Weisheit, war nichts vor ihr verborgen; hier konnte sie lang und tief in ihr Inneres schauen, in die kalte Dunkelheit, die sie hinabzog. Sie hatte sich zu lange auf die Stärke von anderen verlassen: auf Pa und Hanna, auf Wulfhere und Sanglant, selbst auf Anne, die Versprechungen gemacht und niemals gehalten hatte. Selbst auf Jerna, die von ihr aus der Welt gerissen und zurück in die Sphäre von Erekes geholt worden war, wo sie sie gebraucht hatte, um den vergifteten See zu überqueren. Schließlich war es so, dass sie nach niemandem mehr die Hand ausstrecken konnte - nicht nach Hanna und Ivar, die sich mit aufrichtigen Herzen mit ihr angefreundet hatten, nicht nach Schwester Rosvita, die eine verwandte Seele in ihr gespürt hatte, nicht nach Thiadbold und den Löwen, die ihr Kameradschaft geboten hatten, nicht nach Alain, der ihr bedingungsloses Vertrauen entgegengebracht hatte. Nicht einmal nach ihrem geliebten Sanglant und ihrer kostbaren Gnade. Sie konnte ihnen nicht trauen, so lange sie sich nicht selbst traute. Als hätte dieser letzte Gedanke sie eben erst erschaffen, geriet 460 eine aus Marmor gehauene' Treppe in Sicht, die sich zwischen den goldenen Rädern erhob. Ranken aus Nebel umspielten den Fuß dieser Treppe, und die oberen Stufen verloren sich in einem hellen Feuersturm, der wie ein Ring aus flammenden Schwertern wirkte: der Eingang, wie sie augenblicklich wusste, zum Reich der Fixsterne. Heim. Der unerwartete Gedanke brachte sie dazu, schlagartig stehen zu bleiben. Ihr Herz hämmerte bedrohlich. Sie dachte, sie würde umkippen und sterben, denn sie bekam kaum Luft. Errötend und schwitzend vor Hochgefühl und Erstaunen, Hoffnung und Entsetzen - alles zugleich -, hockte sie sich hin, um sich zu fassen, und stützte sich mit der Faust auf dem Boden ab. Eine weißhaarige Gestalt saß auf der ersten Stufe, den Kopf geneigt. Sie war in die schlichte Tunika eines Geistlichen gekleidet. Als Liath nach Luft schnappte, stand die Gestalt auf und trat vor, hob dabei den Kopf. Es war Wulfhere. Nein, nicht Wulfhere. Es war nur die Verkleidung, die sie sah, den Mann mit den Geheimnissen, der mehr wusste, als er andere wissen ließ. »Du bist der Wächter dieser Sphäre«, sagte sie. »Ich möchte die Stufen hinaufgehen.« »Du hast einen weiten Weg zurückgelegt«, erklärte er, »aber ich warne dich, denn du hast nur noch einen Pfeil
übrig. Benutze ihn weiser, als du es mit den anderen getan hast. Es gibt da eine Person, die dir nahe steht und die du retten könntest, wenn du lernen kannst, mehr mit deinem Verstand zu sehen, als aus Furcht heraus zu handeln.« Er trat beiseite. Sie zögerte. War es ein Trick? Eine Prüfung? Aber sie musste hinaufgehen, um ihr Ziel zu erreichen. Es gab keinen anderen Weg. Sie stellte ihren Fuß auf die erste Stufe. »Ich danke dir«, sagte sie zu dem Wächter, aber er war bereits gegangen. 461 Die Stufen fühlten sich glatt und leicht unter ihren nackten Füßen an. Während sie sie erklomm, stoben Funken und Blitze von den dröhnenden Rädern auf, die sich hoch in der Luft zu beiden Seiten der Stufen drehten. Das strahlende Licht der Räder wurde immer stärker, je höher sie kletterte. Durch über ihr dahintreibende, goldene Wolken konnte sie in ein unendlich großes Zimmer sehen. Nester aus blauweißen Sternen glühten heiß - der Geburtsort der Engel. Dicke Staubklumpen wogten vor endloser Schwärze, bildeten seltsame verworrene Schemen. Ein schwach erkennbares Sternenrad, das wie ein Echo der goldenen Räder rechts und links von ihr wirkte, drehte sich mit quälender Langsamkeit. Hinter all dem lag Schweigen, tiefes, endloses und unermessliches Schweigen. Ein Blitz aus blauem Feuer erweckte ihre Aufmerksamkeit: die Kreuzungen zwischen Sphären und Welten. Die Flammen zitterten und flackerten, im einen Moment hell, im anderen verblassend, als würde das Feuer im Gleichklang mit dem Herzschlag des Universums pulsieren. In Blitzen sah sie durch die ferne Kreuzung auf andere Welten, andere Zeiten, andere Orte - für einen kurzen Augenblick erhaschte Blicke, rasch wieder verschwunden: ein Mädchen steht da mit Armen voller Blumen; eine Frau sitzt an einem Schreibtisch, schreibt mit einer seltsamen Feder etwas auf Papier - kein Pergament -, ihre schwarzen Haare sind zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, und ihr dunkler Mantel hat einen Schnitt, wie Liath ihn nie zuvor gesehen hat; Graf Lavastins steinernes Bildnis, mit zwei Steinhunden in treuer Kameradschaft daneben; ein Ei zerbricht, als eine dornige Klaue sich den Weg nach draußen bahnt; der langsame Zug von Flüssen aus Feuer, die ihre Richtung ändern; eine Zentaurin, die über die Steppe galoppiert und von der Schönheit der Geschwindigkeit und Macht kündet; eine Frau in einem Kleid aus Schnüren, die Zwillinge stillt; Kaiser Taillefer, wie er stolz und stark, auf der Höhe seiner Macht, zusieht, wie seine Lieblingstochter als Bischöfin eingesetzt wird. In einem Pavillon streicht Eisenkopfs Konkubine - die hübsche 462 mit den schwarzen Haaren - ihm mit sanfter Geste die Haare aus dem Gesicht, während er schläft. Dann nimmt sie einen Metallstift treibt ihn mit einem Hammerschlag so kräftig in seine Schläfe, dass die Spitze seinen Schädel durchdringt und sich in den Teppich darunter bohrt. Blut sammelt sich, wechselt die Farbe, als es sich wie ein Bach über den Boden schlängelt, ihren Blick mit sich zieht, bis sie den Mann sieht, der von einer dunklen Ecke im Zelt aus zusieht. Hugh. Er hebt den Kopf, als hätte er sie gespürt. Sie schießt eine andere Kreuzung hinunter, in eine andere Zeit. Langschiffe schälen sich geisterhaft aus dem Nebel, der den Fernes einhüllt. Mit kalter Zielstrebigkeit, still und beinahe unsichtbar, gehen sie unterhalb der befestigten Stadt Hefenfelthe an Land. Wie der Bug eines gewaltigen Schiffes ragt die große, von den Königinnen von Alba errichtete Halle jenseits der Mauer auf, die lange Zeit als uneinnehmbar galt. Die Macht der Königinnen und ihre Baum-Zauberer haben verhindert, dass Hefenfelthe jemals erobert wurde. Aikha-Krieger schwärmen von den Schiffen, während Nebel den Fluss verhüllt und sie verbirgt. Eine Fackel brennt am Flusstor. Die Kette rumpelt, und als die Vorhut auf die Mauer zurennt, öffnet sich das Tor. Was nicht durch Kraft eingenommen werden kann, lässt sich durch Verrat erringen. Starkhand hält inne, als drei Männer in den kostbaren Gewändern von Kaufleuten herausgeeilt kommen; sie gestikulieren wild, während sie Anstalten machen, das Heer zu begrüßen, dessentwegen sie ihre eigene Königin verraten haben. Die vordersten Krieger metzeln die Verräter nieder. Niemand kann zwei Herren dienen. Wenn sie ihr eigenes Volk für ein paar Münzen verraten konnten, kann man ihnen nie mehr trauen. Sein Heer strömt an den Leichen vorbei; nur ein paar Hunde bleiben stehen, wollen an ihnen fressen und müssen weggetrieben werden. Er wartet am Ufer, als die Sonne aufgeht, noch immer vom Nebel umfangen. Die ersten Warnrufe erklingen aus dem Innern der Stadt, doch da ist es be463 reits zu spät. Rauchschwaden winden sich gen Himmel, vermischen sich ... Sie hielt inne, sich wieder der Tatsache bewusst, dass sie weit oben auf den Stufen stand. Unter ihr, jenseits der goldenen Räder, glitzert die Sphäre von Aturna, und dahinter öffnet sich das Universum. Ein Silbergürtel windet sich durch die tiefe Kluft, kennzeichnet den Weg des Landes der Aoi, das jetzt unerbittlich zur Erde zurückgezogen wird. Es war ihr unmöglich, eine Seite von der anderen zu unterscheiden oder auch nur zu erkennen, ob es überhaupt zwei Seiten gab oder nicht nur eine einzige unendliche, strahlende Oberfläche. Mit ihren Blicken folgte sie ihr hinab, vorbei an den Sphären weiter unten, deren Tore jeweils ein Edelstein im strahlenden Bogen der Sphäre waren, den ganzen Weg hinunter, bis dorthin, wo die Erde sich
ausbreitete - zu breit, um hier auf der Höhe der Sphären mit ausgestreckten Armen umfangen zu werden. Auch ihre Wölbung war offensichtlich, wo die Linie der herannahenden Dämmerung sich in den Westen zurückzog und sich die Nacht im Osten erhob. Taillefers Krone glänzte, breitete sich über dem Land aus, sieben Kronen mit sieben Spitzen, das große Rad, das sich über so viele Reiche und unzählige Wegstunden erstreckte: der riesige Webstuhl der Magie. Sie sah: Weit unter ihr tobt eine Schlacht. Auf einem Hügel schwingt ein Kind ein nutzloses Holzschwert, während überall Löwen kämpfen und unter dem Ansturm geflügelter Reiter - es sind Qumaner- sterben. Ist das Thiadbold, der da Befehle erteilt? Die Löwen kämpfen tapfer, aber jedes Mal, wenn die geflügelten Reiter angreifen, werden sie weniger. Es ist nur eine Frage der Zeit. Wie vom Blitz getroffen erkennt sie das dunkelhaarige Mädchen. Sie stürzt sich hinunter in die Welt unterhalb des Mondes, den Bogen in der Hand. Wie war es möglich, dass Gnade schon so alt war - mindestens vier Jahre? Oh, Herrini War so viel Zeit vergangen? War das Kind 4:64: so groß geworden, ohne' seine Mutter zu kennen? Wird es auch mutterlos und verlassen sterben? Liath legt ihren Pfeil an die Sehne, bereit, zu spannen und loszulassen. Aber auf wen soll sie schießen? Es bewegen sich fünfzig oder hundert oder zweihundert qumanische Reiter um den Hügel, und weiter weg greift eine andere, ebenso große Truppe an und setzt dem hinteren Teil einer Legion wendischer Soldaten zu. Sie erkennt das Banner von Saony. Sie muss ihr Kind retten. Doch bei so vielen Feinden wird ein Pfeil nicht ausreichen, um Gnade zu retten. Wenn sie jetzt schießt, verschwendet sie die einzige Waffe, die sie noch hat. Oh, Herr. Wo ist Sanglant? Sie hatten gerade eine Stelle erreicht, von der aus sie einen guten Blick auf die Ebene und das qumanische Heer hatten - das sich bereits in Schlachtordnung befand -, da kam ein ungrianischer Soldat herangaloppiert. »Prinz Sanglant!« Der Hauptmann hatte in verschiedenen Botschaften gedient und sprach ziemlich gut Wendisch. »Prinz Bayan fordert Euch auf, die Reihen kehrtmachen zu lassen und -« »Ich soll meine Reihen kehrtmachen lassen?« Verärgert über die Nachricht, unterbrach Sanglant den Mann. Was mochte Bayan wohl vorhaben, dass er ihn aufforderte, seine Soldaten vom Feind zurückzuziehen und so auf die Ehre zu verzichten, gegen die Qumaner gekämpft zu haben? »Seht nur!«, rief Sibold, der an diesem Tag das Banner tragen durfte. Nur ein kurzes Waldstück trennte sie von dem offenen Gelände, auf dem die Qumaner sich versammelten. Die Vorhut des wendischen Heeres war gut zu erkennen, und die Banner flatterten, als die Soldaten aus dem Wald brachen und sich - durch einen 465 breiten Streifen offenes Gelände von den Qumanern getrennt - in geordneten Reihen aufstellten. Einen Augenblick lang bewunderte Sanglant die Truppen, die zwar Sapientias Befehl unterstanden, aber von Bayan im Laufe des Winters ausgebildet worden waren. War das, was ihn so zögern ließ, etwa Eifersucht? Fürchtete er, dass Sapientia ihre Pflicht so gut erfüllte, wie Bayan es offenkundig wünschte? Musste er ihr nicht die Chance geben, sich als geeignete Befehlshaberin - und damit als geeignete Herrscherin - zu beweisen ? Er wandte sich wieder an den Boten. »Fahrt fort.« »Prinz Sanglant.« Der Mann löste den Helmriemen und schob den Helm nach hinten, um sich bei der Hitze etwas Erleichterung zu verschaffen. »Prinz Bayan beauftragt Euch, Eure Legion kehrtmachen zu lassen und der Nachhut zu Hilfe zu kommen. Die Qumaner haben einen ganzen Teil ihres Heeres in weitem Bogen ausgeschickt, um die Nachhut anzugreifen. Herzog Boleslas und die Polenser hat es übel erwischt, und die Kämpfe haben bereits die Legion aus Saony erreicht, die bereits auseinander fällt -« »Was ist mit meiner Tochter?«, fragte Sanglant, während kalte Kampfeslust in ihm aufstieg. Der Bote errötete. »Es gibt weder eine Nachricht über den Verbleib Eurer Tochter noch darüber, was mit Prinz Bayans Mutter geschehen ist. Die gesamte Nachhut ist zusammengebrochen.« Er wartete nicht länger. »Hauptmann Fulk! Schickt Feldwebel Cobbo los, damit er Edelmann Druthmar Bescheid gibt, dass wir umkehren. Er soll unserer Einheit als Nachhut folgen. Ich selbst werde die Vorhut anführen. Sibold!« Hörner erklangen. Die Banner gaben das Signal zur Umkehr. Diese Truppen waren nicht so kampferprobt, wie seine Drachen es gewesen waren, aber er hatte ihre Bereitschaft ihm zu folgen in den letzten paar Monaten gesehen. Dies würde ihre wahre Prüfung sein. Angetrieben von seiner Wut und seiner Furcht rasten sie in vollem Galopp dahin. Er vertraute darauf, dass die anderen nachka466 men. Die Unwürdigen mochten ruhig zurückfallen. Er würde jeden Qumaner selbst töten, wenn es sein musste. Sie schwärmten durch das lichte Waldland, donnerten an Prinz Bayans Ungrianern vorbei, die ihnen zur Ermunterung Schlachtrufe zubrüllten, dabei aber weiter auf die Ebene zuhielten. Wieso war Bayan nicht selbst
umgekehrt, um sich der Bedrohung entgegenzustellen? Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, darüber nachzudenken. Eine Lücke hatte sich zwischen der ungrianischen Nachhut und der Vorhut der Legion aus Saony aufgetan, die unter dem gemeinsamen Befehl der beiden miteinander im Streit liegenden Brüder stand. Nachzügler erschienen, eilten zwischen den Bäumen hindurch: Soldaten auf Pferderücken, ein paar unglückselige Trossnachfolger zu Fuß, die warnend aufschrien, als sie den Prinzen und seine Legion sahen. Er hob die Hand; Fulk blies zweimal ins Hörn, und sämtliche Männer - nicht weniger als sechshundert Reiter, eingeschlossen Druthmar und seine Markländer - zügelten abrupt ihre Pferde, als Sanglant einige Soldaten anhielt. Jeder erzählte etwas anderes. Das gesamte Heer der Qumaner hatte den Versorgungstross angegriffen. Edelmann Zwentibold war tot. Herzog Boleslas war tot. Herzog Boleslas machte mit den Qumanern gemeinsame Sache. Sämtliche Wagen brannten. Ein Mann hatte gesehen, wie sich die Löwen um einen Hügel herum formiert hatten. Seine kurze Beschreibung war zwar von Panik geprägt, doch Sanglant erinnerte sich an diese Anhöhe. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, sich strategische Stellen im Gelände zu merken, und so hatte er es auch bei diesem Hügel getan, als er zuvor daran vorbeigeritten war. Sanglant gab Fulk ein Zeichen und setzte sich wieder in Bewegung. Schon bald hörten sie weiter vorn Kampflärm. Sie fielen in Galopp, mit Sanglant an der Spitze. Die Legion aus Saony, die von den Qumanern völlig unerwartet von hinten angegriffen worden war, hatte sich in Gruppen tap467 ferer Männer zerstreut, die um ihr Leben kämpften, während die Übrigen versuchten zu fliehen oder von hinten niedergemäht wurden. Als Sanglant seine Lanze senkte und mit seinen Getreuen mit voller Wucht in die qumanische Linie preschte, sah er Wichmans Banner noch immer in die Höhe ragen. Die wendischen Truppen in ihren schweren Rüstungen mähten die deutlich leichter gepanzerten qumanischen Reiter nieder, überrannten sie einfach. Sanglant stieß einen Mann vom Pferd, bohrte seine Lanze tief in den ungeschützten Bauch eines anderen Qumaners, bevor er den Schaft losließ und sein Schwert zog. Einen lauten Schrei ausstoßend schlug er nach links und rechts, preschte mitten durch die Qumaner hindurch. Federn wirbelten durch die Luft. Knochen barsten. Pferde stolperten, fielen verwundet zu Boden und warfen ihren Reiter ab. Die Männer aus Saony, die bisher überlebt hatten, stießen einen Triumphschrei aus und verdoppelten ihre Anstrengungen. »Ruft zum Sammeln!«, schrie Sanglant über den Lärm hinweg und zog sich aus dem Kampfgeschehen zurück. Wichmann hatte die Hälfte der verbliebenen Saony-Truppen um sich versammelt. Von Zwentibold war keine Spur zu sehen. Sanglant winkte, und Edelmann Druthmar gesellte sich zu ihm. »Benutzt Eure Männer als die andere Seite der Zange. Da wir die qumanische Linie jetzt erschüttert haben, könnt Ihr sie zwischen Euren Leuten und denen aus Saony zermalmen.« »Wie Ihr befehlt mein Prinz.« Druthmar gab die entsprechenden Befehle, während Sanglant sich mit der Hälfte seiner Soldaten aus der Schlacht löste. Fulk blies zum Angriff. Sibold reckte das Banner dreimal in die Höhe, und mit Sanglant an der Spitze ritten sie eilig zum Versorgungstross. Hinter ihnen tobte der Kampf weiter, als Druthmar seine Soldaten erneut auf die Flanke der Qumaner hetzte, die jetzt von vorn und von hinten angegriffen wurden. Doch während schemenhafte Gestalten überall um sie herum durch den Wald flohen, konnte Sanglant nur an den Versorgungs468 tross denken. Er betete, dass seine Tochter noch lebte. Er hätte sie in Walburg lassen sollen, bei Waltharia; er wusste es, und er fühlte sich schuldig, aber er musste dieses Gefühl jetzt verdrängen. Wenn er seine Gedanken von Schuld benebeln ließ, gefährdete er das Leben all der Männer, über die er den Befehl hatte. Er würde noch Zeit genug haben, über seine Schuld nachzudenken, wenn all das hier vorüber war. Eine Horde von Gefangenen kam in Sicht, von einem halben Dutzend Qumanern angetrieben. Beim Anblick der neuen Streitmacht ließen die Qumaner ihre Gefangenen zurück und ritten davon; sie waren nicht bereit, sich einem Kampf zu stellen. Die Gefangenen jubelten heiser, als sie den Prinzen und sein goldenes Banner erkannten. Sanglant hatte jedoch nur eines im Sinn: Angestrengt hielt er in dem lichten Waldland nach dem Hügel Ausschau. War er dort vorn? Er hörte Schreie, das Klirren von Waffen. Er hörte Regen und das Donnern eines Gewitters. »Da!«, rief Fulk. Eine breite Lichtung öffnete sich vor ihnen. Überall auf dem grasbestandenen Gelände standen oder lagen verlassene Wagen und Karren herum; sie glänzten vor Nässe von dem leichten Regen, der auf unheimliche Weise vor dem Hügel Halt machte. Angezogen von den Reichtümern, die der Tross des Prinzen versprach, hatten sich unbesonnene Qumaner vom Kampf zurückgezogen, um stattdessen die Wagen zu plündern. Doch nicht alle waren so undiszipliniert. Wagen waren umgeworfen worden, um eine Palisade um den Hügel zu bilden, aber diese Linie war verlassen worden, als die Löwen gezwungen gewesen waren, sich zur Hügelkuppe zurückzuziehen. Trotz des ermüdenden Laufs fiel Resuelto in Galopp, als er die Erwartung seines Reiters spürte. »Fulk! Nehmt die Kompanie von Cobbo und tötet die Plünderer!« Ein Drittel der Männer löste sich von der Truppe und wandte sich gegen die Feinde, die jetzt versuchten, ihre
Pferde zu erreichen, ihre Waffen zu ziehen, bevor sie zertrampelt oder beiseite 469 gefegt wurden. Ein paar Qumaner ließen die Waffen fallen und sanken auf den feuchten Boden, versuchten sich zu ergeben Er sah nicht, was aus ihnen wurde. Der qumanische Anführer hatte sich vom Hügel zurückgezogen, um Sanglant anzugreifen. Beide Männer schwangen die Schwerter. Sanglant parierte und schlug zu, schlitzte den anderen Mann zwischen Schulter und Flügel auf. Mit einem Ruck fiel er vom Pferd. Ein qumanischer Reiter stieß gegen Resuelto, doch das Steppenpferd wirkte klein gegen das wendische Schlachtross. Der Aufprall brachte den Wallach ins Taumeln, aber der Qumaner stürzte zu Boden. Resuelto bäumte sich auf und ließ sich dann wieder auf alle Viere fallen. Der Qumaner starb rasch, doch das Pony kämpfte noch immer darum, wieder aufzustehen. Schließlich erreichte Sanglant die umgestürzten Wagen. Ein Stück weiter oben stemmten sich etwa zwanzig Löwen verzweifelt dem Ansturm der geflügelten Krieger entgegen. Jubel erhob sich bei den Löwen, als sie ihrer Retter gewahr wurden. Sie griffen mit neuer Kraft und frischem Mut an, benutzten ihre Schilde, um die Qumaner aus dem Gleichgewicht zu bringen, während Sanglant, dicht gefolgt von Edelmann Hrodik und seinen Leuten aus Gent, dem Feind in die Flanke fiel. Sibold und der Rest von Sanglants Kompanie hatten den Hügel umkreist, um einen Angriff von der anderen Seite zu verhindern. Während viele Männer, die ein Banner trugen, einfach nur der Truppe folgten und sich verteidigten, schien Sibold es zu genießen, das Banner vor seinem Feind sinken zu lassen und dann, während der Gegner noch immer verwirrt war, den entscheidenden Hieb anzubringen. Von allen Seiten bedrängt, brach der Angriff der Qumaner zusammen; sie zerstreuten sich und liefen wie Wildtiere um ihr Leben. Die etwa hundert wendischen Soldaten hinter Sanglant nahmen sich ihrer an, bis schließlich nicht mehr als zwei Dutzend von ihnen, viele von ihnen längst nicht mehr auf ihrem Pferd und verwundet, umzingelt waren. 470 Sanglant kannte zwei qumanische Wörter. »Ergebt euch!«, schrie er jetzt. Ein paar Qumaner fluchten. Die Übrigen, Unnachgiebigen blieben still. Von einem Atemzug zum nächsten hörte der Regen auf. Der rothaarige Hauptmann Thiadbold stand auf der Hügelkuppe, befehligte die letzten Reste der tapferen Löwen. Er trat vor. »Kein Erbarmen!«, rief er in die plötzliche Stille hinein. »Tötet sie alle!« Mit Jubel- und Wutschreien stürzten sich die wendischen Soldaten auf die in die Enge getriebenen Qumaner. Der Kampf war kurz und verzweifelt. Edelmann Hrodik stürzte, in die Seite getroffen, aber schon bald war auch der letzte Qumaner von der Axt eines Löwen geköpft, nachdem Gotfrid, den Sanglant von seinen Sklavenketten befreit hatte, ihn zu Boden gestreckt hatte. Gnade tauchte auf und Sprang auf ihren Vater zu. Sanglant fing sie auf und hielt sie fest, das Gesicht in ihre Haare gedrückt. Sie roch nach verrottendem Holz. Aber sie lebte. »Ich habe auf dich gewartet«, weinte sie, einen leicht scheltenden Unterton in der Stimme. »Aber es hat so lange gedauert, bis du gekommen bist und die bösen Männer getötet hast.« »Ich weiß, mein Liebling«, sagte er und versuchte, nicht aus Freude darüber, dass sie unverletzt war, zu weinen. »Sie werden dir jetzt nichts mehr tun. Ich muss aber weiterkämpfen. Die Schlacht gegen Bulkezu hat noch nicht begonnen.« »Hast du Bulkezu denn nicht getötet? War er nicht der Mann, der tot ist?« »Nein, meine Tochter.« Tränen brannten in seinen Augen. Das war immer so, wenn er ein solches Gemetzel mit ansehen musste. »Dies war nur ein Ablenkungsmanöver, ein Versuch, uns von hinten aufzurollen und in die Zange zu nehmen.« Er gab ihr einen Kuss und reichte sie Heribert weiter, der jetzt den Abhang herabtaumelte, das Gesicht blass, das Gewand blutverschmiert. qumanisches Blut bedeckte Gnades Wange, befleckte ihre Tunika, wo sie sich an ihren Vater geschmiegt hatte. 471 »Der Herrin sei Dank«, sagte Heribert. Das war alles. Anna kroch vorwärts und sank neben dem Geistlichen zu Boden. Kurz darauf humpelten auch der junge Matto und Edelmann Thiemo aus der Menge heraus. Waren sie als Einzige von den Männern übrig geblieben, die Gnade hatten bewachen sollen? Fulk und seine Kompanie hatten alle Qumaner niedergemetzelt, und jetzt jagten sie durch die verstreuten Überreste des Versorgungstrosses. Nichts von der unrechtmäßig erworbenen Beute würde jemals in den östlichen Ebenen ankommen, und diese kostbaren Stoffe und glitzernden Edelsteine würden auch niemals qumanische Frauen schmücken. »Mein Prinz.« Hauptmann Thiadbold kniete vor ihm nieder, blutverschmiert, aber nicht gebeugt. Das Stöhnen der Verwundeten - sowohl der Wendaner als auch der Qumaner - untermalte seine Worte auf entsetzliche Weise. »Wie lautet Euer Befehl?« »Errichtet ein Feldlazarett.« Sanglant sah sich um und fing einen Blick von Wulfhere auf, der ebenfalls seinen Beitrag geleistet und gekämpft hatte, aber jetzt auf der Suche nach Verwundeten über das Schlachtfeld ging. »Adler! Ihr bleibt bei den Löwen. Es sind sicherlich noch Verletzte hier, die überleben können, wenn man sich um sie kümmert. Diese Wagen können wieder gerichtet und beladen werden. Seid so bald wie möglich zum
Abmarsch bereit.« »Was ist mit den verletzten Qumanern? Meine Männer würden sie nur zu gern töten«,sagte Hauptmann Thiadbold. Sanglant zögerte. »Nein. Rettet die, die überleben können. Der Herr freut sich über Barmherzigkeit, und ich werde sie jetzt walten lassen. Unsere Feinde könnten sich noch als nützlich für uns erweisen.« Wulfhere blickte ihn an, und ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht, aber er sagte nichts. Stattdessen eilte er den Hügel hinunter, um die befreiten Gefangenen und die überlebenden Soldaten zu den verschiedenen Arbeiten einzuteilen. Thiadbold zuckte lediglich mit den Schultern und erhob sich. Er rief nach seinen Männern. 472 Hauptmann Fulk kam herbeigeritten. »Mein Prinz. Wir sind mit den Qumanern fertig.« »Gebt das Hornsignal und bringt die Männer in Aufstellung. Wir müssen zu Prinz Bayan zurückkehren.« Sibold hob das goldene Banner so hoch, dass alle die Farben des Prinzen erkennen konnten, während Fulk dreimal kurz hintereinander das Hörn erklingen ließ. Bald darauf waren alle Männer versammelt; Edelmann Hrodik war zu Boden gegangen und vermutlich tot. Insgesamt jedoch schätzte der Prinz, dass er nicht mehr als zehn Männer bei dem Angriff verloren hatte. Hätten nur die Löwen, Herzog Boleslas und seine Polenser ebenso viel Glück gehabt. Er konnte die Spuren der Schlacht sehen, die Leichen und das Blut, die einen Pfad nach Osten in den Wald hinein bildeten - bis zu jener Stelle, wo der erste Kampf stattgefunden hatte: zwischen den Qumanern, die den fliehenden Versorgungstross gejagt hatten, und den Polensern, die verzweifelt versucht hatten, sie aufzuhalten. Es machte keinen Sinn, jetzt darüber zu grübeln, was geschehen war. Jetzt war sicher nicht der richtige Zeitpunkt, etwas zu bedauern. Sanglant wusste, dass die entscheidende Schlacht jeden Augenblick in der VeserEbene beginnen würde, und so hob er die Hand zum Abmarsch. Die Haut zwischen seinen Schulterblättern prickelte, als hätte ein Pfeil versucht, seinen Rücken zu durchbohren. Er warf einen Blick über die Schulter zurück. Hauptmann Fulk trat neben ihn. »Seht Ihr etwas, mein Prinz? Ich glaube, wir haben alle getötet. Sie werden Eurer Tochter heute nicht noch einmal zusetzen.« »Nein, das ist es nicht - abgesehen davon, dass wir noch die bevorstehende Schlacht gewinnen müssen, bevor wir sicher sein können, dass es vorbei ist.« Sanglant hatte die kurze Illusion, dass Hornissen um seinen Kopf herumschwirrten, aber er verwarf das Gefühl gleich wieder. Dennoch konnte er den Gedanken nicht abschütteln, dass ihn jemand beobachtete. »Oh, beim Herrn, Fulk, es ist schwer genug zu wissen, dass mein kleine Tochter jeden Tag der 473 Gefahr ausgesetzt ist, weil ich sie mit hierher gebracht habe. Der Herr weiß, ich habe in den letzten Monaten Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin, aber Gott mögen mir vergeben, ich muss noch immer ständig an Liath denken. Werde ich sie jemals wieder sehen?« »Ich bete für Euch, dass Ihr das tun werdet, mein Prinz.« In solchen Momenten war eine Schlacht fast eine Erleichterung. Es war einfacher, zu kämpfen, als sich mit seiner Trauer und seinen Ängsten auseinander zu setzen. Er hob erneut die Hand, ließ sich eine neue Lanze bringen. Ein Donnerschlag zerriss die Luft um sie herum. Pferde wieherten und bäumten sich auf. Männer schrien alarmiert, beruhigten sich aber sogleich wieder. Als hätte die Stille selbst um Aufmerksamkeit gebeten, begannen, die Männer sich umzusehen. Auch Sanglant warf einen Blick über die Schulter; er sah eine winzige Gestalt vom Hügel herunterkommen. Ein Schleier verhüllte ihr Gesicht, aber ihre alten, von Arthritis knotigen Hände verrieten ihr Alter. Bayans Mutter war kaum größer als ein Kind; sie trug kostbare goldene Gewänder, die kunstvoll mit Greifen und Drachen bestickt waren, die miteinander kämpften. Als sie einem Soldaten befahl, ihr sein Pferd zu überlassen - der Mann sank so plötzlich auf die Knie, als wäre er gefällt worden -, und mit der Hilfe eines ihrer Sklaven aufstieg, erkannte Sanglant, dass ihr Gewand zum Reiten geteilt war. Hastig ritt er zu ihr, während die Soldaten zur Seite wichen, denn die Geschichten, die sie gehört hatten, und der unheimliche Regen hatten sie abergläubisch gemacht. »Ich bitte Euch, Prinzessin«, begann er auf Wendisch, »vergebt mir, dass ich die richtige Anrede für eine Frau von Eurer Geburt und Eurem Rang nicht weiß.« Obwohl das riesige Schlachtross, auf dem sie saß, sie klein erscheinen ließ, wirkte sie nicht im Geringsten lächerlich. Sanglant ragte über ihr auf. »Ich bitte Euch, hinten in der Nachhut seid ihr sicherer, jetzt, wo wir -« Einer ihrer Sklaven trat vor. »Stellt Euch der heiligen Frau nicht in den Weg.« Er war ein riesiger Mann mit dunkler Hautfarbe und 474 kräftigen Schultern und Armen - ganz und gar nicht die Sorte Mann, mit der man sich ohne Not auf einen Kampf einlassen würde. »Sie ist sicherer -« Sie ritt davon. Ihre Füße berührten nicht einmal die Steigbügel. »Die heilige Frau hat gesehen, dass ihr Glück in Gefahr ist«, sagte der Sklave. »Sie muss gehen.« Ihr Glück?
Plötzlich erinnerte sich Sanglant an den alten kerayitischen Brauch, dass das Glück einer Schamanin im Körper eines anderen Menschen wohnte. Ihr Glück war ihr Sohn. Als Sanglant dieses Mal die Hand hob, erscholl das Hörn zweimal. In der Ferne hörte er Druthmars Hörn als Antwort, und eine schreckliche Vorahnung erfasste ihn, als er das Zeichen zum Abmarsch gab. Sanglant führte seine Streitmacht im Trott die Straße zurück, an der ein Stück weiter vorn Druthmar darauf wartete, zu ihnen zu stoßen. Schon damals, als sie ihm im belagerten Cent zum ersten Mal begegnet war, hatte er diesen Drachenhelm getragen. Der Helm war wunderschön gewesen, genau wie er selbst. Und so sieht er auch jetzt noch aus, wunderschön. Die Begierde ist eine Flamme, wie eine in der Nacht brennende Fackel, von der Reisende angelockt werden, ohne ihr widerstehen zu können. Oh, Gott, sie vermisst ihn. Sie vermisst es so sehr, ihn anzufassen. Aber sie muss weitergehen. Sie hat weise entschieden, nie vergessen, dass sie nicht wirklich auf der Erde ist, sondern die letzte Sphäre emporsteigt. Kein Geschöpf, weder männlich noch weiblich, kann ihm etwas anhaben. Sie ruft es sich in Erinnerung und hält sich auch während des schlimmsten Teils der Schlacht zurück. In der Schlacht kann Sanglant auf sich selbst aufpassen, das kann er wirklich. Sie 475 hat die Lektion, die sie in der Sphäre Jedus, des Engels des Krieges, gelernt hat, nicht vergessen. Sie hat nicht vergessen, wie entsetzlich es gewesen ist, immer und immer wieder von dem getötet zu werden, den sie lieht. Aber die Hornissen beunruhigen sie. Sie hat sie als ätherische Pfeile gesehen, die ihm in Gesicht und Hände stechen. Er hat sie abgeschüttelt, aber es ist offensichtlich, dass eine andere Hand Magie webt, in der Hoffnung, dem Prinzen Schaden zufügen zu können. Sie berührt das goldene Gewand der alten, verschleierten Frau; die fährt daraufhin überrascht herum, kann sie aber nicht sehen, kann nur erahnen, dass sie beobachtet wird. Die alte Frau hat ein so faltiges Gesicht, dass es schwer ist, ihre Seele unter den Falten zu sehen, wie bei einem Insekt, das von seinem Rückenschild geschützt wird. Trotz ihres hohen Alters sind ihre Haare noch immer so schwarz wie die eines Mädchens. Sie hat eine dunkle Hautfarbe, und ihre dunklen Augen laufen in den Winkeln mandelförmig zu. Diese Gesichtszüge kennzeichnen sie als Bewohnerin der Steppe, als eine Frau von den Stämmen des Ostens - jenes Volkes, das mit seinen Herden und Zelten in den endlosen Grasebenen lebt. Sie besitzt mächtige Magie, und die Luft um sie herum summt, als wäre sie voller Bienen, aber es ist nicht ihre Magie, die Sanglant bedroht. Mit einem Bedauern lässt Liath Sanglant, Gnade und die alte Frau zurück und eilt weiter, ein Pfeil auf den ätherischen Winden, die die Erde binden. Sie ist zu dem Bogen geworden. Kämpfe werden tief in den Wäldern ausgefochten, bis hin zu den beiden Flüssen, die Richtung Norden fließen, wo sie sich unterhalb von Osterburgs Wällen vereinigen. Solche Gefechte verdienen nicht mehr als einen kurzen Blick. Sie sucht, und sie findet zwei Heere, die gleich hinter dem Wald auf offenem Gelände zur Schlacht aufgestellt sind. Über dem wendischen Heer weht das Banner von Prinzessin Sapientia, es trägt das Zeichen der Erbin von Wendar und Varre, sechs Tiere auf einem Schild: Löwe, Dra476 che, Adler, Falke, Pferd und Guivre. Eine große Streitmacht der Ungrianer mit dem Zeichen des doppelköpfigen Adlers wartet hinter der wendischen Linie — bereit, gegen das Zentrum der qumanischen Kampflinie vorzupreschen. Schon schießen die qumanischen Bogenschützen nach Belieben Pfeile ab, um ihren Feind weich zu klopfen, aber die Ungrianer vergelten es ihnen mit Gleichem, und die wendischen Legionen schwärmen aus und beginnen, sich in gleichmäßigem Tempo den Flanken zu nähern. Die qumanische Streitmacht wirkt größer, als sie wirklich ist. Liath, die wie ein Falke in der Höhe kreist, sieht, dass sie durch ihre Flügel den Eindruck erwecken, als wären sie viel zahlreicher, als sie tatsächlich sind. In dieser Begegnung wird rohe Stärke siegen, es sei denn, die Magie, die sie in der Luft spürt und die wie ein Prickeln über ihre Haut läuft, führt eine Wendung herbei. Ein Rumpeln wie Donner steigt in die Luft, als die Heere sich aufeinander zubewegen und angreifen. Staub wirbelt auf. Die wendischen und ungrianischen Streitkräfte schreien und rufen laut, ihre Stimmen übertönen das Trommeln der Hufe, doch die Qumaner greifen in geradezu unheimlicher Stille an, angeführt von ihrem Prinzen, dessen Greifenschwingen im Sonnenlicht schimmern und glitzern. Gerade, als die beiden Heere unter lautem Krachen aufeinanderprallen, findet sie einen Faden, der den Wind umspannt. Ätherische Hornissen leuchten auf seiner gesamten Länge, summen und brummen, während er sich auf die Heere zubewegt. Sie eilt den Faden entlang zurück zu seinem Ursprung, jenseits der Veser kauern verzweifelte Gefangene in einem behelfsmäßigen Lager, warten auf den Ausgang der Schlacht, aber der Faden führt sie im Abstand von einer Bogenschussweite an den hilflosen Gefangenen vorbei, zurück über den Fluss auf eine Anhöhe am östlichen Ufer, von der aus man einen guten Blick auf die Ebene hat. Der leuchtende Faden windet sich in eine Gruppe von Reitern: Die Gruppe besteht aus einem Dutzend Wachen, einer hellhaarigen 4.77 Person in zerrissenen wendischen Kleidern, einem seltsamen Mann, der nichts weiter trägt als eine aus hundert
verschiedenen Stoffstücken bestehende Hose. Blauschwarze Tätowierungen bedecken seinen Rumpf; sie scheinen zu zucken und sich zu winden, während er singt. Im Gegensatz zu den anderen qumanischen Kriegern trägt er keinen geschwärzten und geschrumpften Kopf an seinem Gürtel, aber seine Schmuckstücke sind grausam genug: Ohrringe aus geschrumpften menschlichen Nasen, eine Nadel, die die Scheidewand seiner Nase durchbohrt und an deren beiden Seiten jeweils ein welkes, geschrumpftes Menschenohr hängt. Er ist ein Schamane. Der Faden der Hornissen wird von seiner Stimme aus gesponnen, windet sich durch die Worte seiner Beschwörung ins Leben. Die Frau neben ihm hebt den Kopf. Im ersten Augenblick erkennt Liath sie nicht, wegen des Hasses, der ihr Gesicht entstellt, als sie auf das Schlachtfeld blickt. Hass verzerrt das Herz, hinterlässt Narben, so wie er ihr eigenes Herz vernarbt hat. Bei dem Gedanken daran erkennt sie, wer da neben dem Schamanen steht. »Hanna!« Hanna schüttelt den Kopf, als wolle sie lästige Fliegen verscheuchen. Ihre Hände sind vor ihrem Körper zusammengebunden; sie ist eine Gefangene und wird gezwungen, dem Kampf zuzuschauen. Das weiche Holz von Herzsucherin fühlt sich kühl in Liaths Händen an. Ein Pfeil wird Hanna nicht retten, denn zwölf Wachen umgeben sie, und weil sie selbst nicht in körperlicher Gestalt auf der Erde weilt, kann sie auch kein Feuer herbeirufen. Es ist nur ihr Bewusstsein, das auf die Erde hinuntergestürzt ist; ihr Körper bleibt oben. Aber der Rumänische Schamane führt etwas im Schilde. Soll sie ihn töten? Wird seine Magie den Ausgang der Schlacht beeinflussen? Sie erhebt sich auf Schwingen und betrachtet das Feld aus Blut, wo jetzt Jedus unsichtbarer Geist wütet, wo Männer töten und um ihr Leben kämpfen. Sanglant und seine Männer sind noch nicht 478 in Sicht. Der leuchtende Fäden entrollt sich über dem Gemetzel. Im Nahkampf bewähren sich die wendischen Speere, Schwerter und Kettenhemden gut gegen die leicht gerüsteten Qumaner. Aus der Höhe von Aturna, von wo aus sie wie von einem Grat in die Zukunft schaut, spürt Liath ganz deutlich, dass Prinzessin Sapientia und ihre Verbündeten gewinnen werden. Sie brauchen ihre Hilfe nicht. In diesem Augenblick hört sie den schwachen Schrei einer Stimme, die sie zwar noch nie gehört hat, die aber dennoch in ihrem Innern widerhallt. Sie erhebt sich, versucht, einen besseren Überblick zu bekommen, und der Kampf unter ihr wird kleiner. Schließlich sieht sie, wie die Hornissen um das Banner des ungrianischen Prinzen, des Befehlshabers, herumschwärmen. In einiger Entfernung, aber zu weit weg, als dass sie ihm hätte helfen können, schreit die alte kerayitische Frau vor Wut und Entsetzen. Wolken ziehen vom Osten herbei. Ein Blitz blendet Liath. Donner grollt, und dort, wo Gnade zwischen umgestürzten Wagen steht und ihren Blick fröhlich gen Himmel richtet, beginnt es zu regnen. »Herrin, gesegnete Heilige, verteidige uns!« Ein schriller Schrei wird von einem entsetzlichen Gurgeln abgeschnitten. Liath riecht den scharfen Eisengeruch der Galla. Mit einem Schritt, der eine wochenlange Reise ersetzt, springt sie auf das sich auftürmende Alfar-Gebirge und stolpert in eine seltsame Landschaft aus Felskaminen und schmalen Plateaus, die wie Säulen aus dem unfruchtbaren Boden aufragen. Jemand hat ein Kloster in eine dieser riesigen Felssäulen gehauen - ein Zufluchtsort in kriegerischen Zeiten. Wieder ertönt ein Schrei, und sie gleitet durch den Fels, sucht jene, deren Gebete ihr Herz berührt und ihre Ohren erreicht haben. In einem Gewirr aus Felsen findet sie sechs Nonnen in einer aus dem Fels gehauenen Kammer. Sieben Fenster lassen einen schwachen Schimmer der Nachmittagssonne herein, verdüstert durch die schreckliche Kreatur, die sich vom Eingang des Refektoriums 479 nähert. Der Tisch, auf dem Teller, Becher und ein einfaches Mahl aus Haferbrei und Brot gestanden haben, ist umgeworfen worden. Abkühlender Erbsenbrei fließt über den Boden. Eine der Trauen wird von Krämpfen geschüttelt, sie ist in vollkommene Panik ausgebrochen und schreit. Bei der Tür liegt ein Haufen unförmiger Knochen; sie dampfen leicht, als würde die Seele der Person, die diesen Körper noch kurz zuvor bewohnt hat, versuchen, sich in einen Geist zu verwandeln. Die alte Mutter Äbtissin humpelt - den goldenen Kreis der Einheit in der Hand - an ihren Nonnen vorbei und vollführt das Zeichen des Exorzismus, um die Kreatur zu vertreiben. Aber ein Kreis der Einheit und ein ehrlicher Glaube können ein Galla, das durch Blut gebunden ist, nicht abwehren. Liath legt den Bogen an die Sehne, spanntUnd zögert. Wer hat das Galla gebunden? Wer hat es mit dieser tödlichen Aufgabe betraut? Sie hat nur einen Atemzug lang Zeit, sich zu entscheiden. Das Galla ist hier, und bevor sie wieder Luft holt, wird es die alte Äbtissin verzehrt haben, wie es auch die arme Trau verzehrt hat, die in der Tür gestanden hat. Sie schießt den Pfeil ab. Die goldene Befiederung leuchtet auf, Blitze erstrahlen, als der Pfeil in dem schlanken Turm aus Schwärze explodiert, den der körperlose Körper des Galla darstellt. Mit einem qualvollen, aber auch freudigen Schrei verschwindet es, befreit von den Banden der Magie, die es in diese Welt gezogen haben. Die unerfüllte Absicht rast die schwache Verbindung zurück, die sie mit der Zauberin verbindet, die sie gerufen hat. Ganz kurz nur sieht Liath eine ältliche Trau mit apfelrunden Wangen in einer Kammer neben einem blutigen Körper sitzen. Die Trau zuckt zusammen, als sie von dem Rückschlag getroffen wird, und fällt in Ohnmacht. »Geht jetzt!«, schreit Liath in dem Versuch, die Aufmerksamkeit der sechs Trauen auf sich zu ziehen. »Bindet die
Zauberin, die das getan hat.« 480 Vielleicht hören sie sie', trotz des hysterischen Schluchzens, das eine Nonne von sich gibt, die sich nicht beruhigen lässt. Die alte Äbtissin gestikuliert wild. »Hilaria! Diocletia! Geht sofort zum Gästeraum und seht nach Schwester Venia. Aber nehmt ein Seil mit- und ein Schlafmittel.« Sie stützt sich schwer auf den Stock, macht vier Schritte nach vorn und bückt sich, hebt eine Goldfeder auf. Von dem Pfeil ist nichts mehr zu entdecken. Sie blickt auf. Sie scheint ganz plötzlich Liath in der Luft über sich sehen zu können. Ihre Augen weiten sich. »Wer ist da, in den Schatten?« Trotz ihrer Gebrechlichkeit und ihres hohen Alters klingt ihre Stimme noch sehr kräftig. »Fürchtet Euch nicht«, sagt Liath, aber sie vermutet, dass die alte Frau sie nicht sehen kann, denn sie ist körperlich auf der Erde ebenso wenig anwesend, wie das Galla es gewesen ist. Manche Augen sind schärfer als andere. Die alte Frau blinzelt, blickt überrascht drein, aber auch verwirrt und hoffnungsvoll. »Bernard?«, fragt sie, und ihre Stimme ist auf einmal ganz heiser, als würde sie gleich weinen. »Ist das mein süßer Sohn Bernard, den man mir weggenommen hat? Dein Gesicht - nein, du bist eine Frau. Wer bist du?« Wer ich bin? Und wer bist du, die in mir das Bildnis eines verlorenen Sohnes namens Bernard sieht? Liaht macht einen Schritt auf sie zu und fand sich auf den Marmorstufen von Aturna wieder, beinahe auf der Spitze. Pfeil und Bogen waren weg. Sie war nackt und allein; sie hatte nichts außer sich selbst. Das Reich der Fixsterne glühte vor ihr, weiß vor Hitze, so schrecklich wie ein Feuersturm. Aber sie warteten auf sie, versammelten sich an der unteren Grenze: Geister mit Flügeln aus Flammen und Augen, die leuchteten wie Messer. Ihre Blicke waren wie Blitze. Ihre Körper waren keine wirklichen Körper, wie man sie von der Erde kannte, sondern eher die Vereinigung aus Feuer und Wind, der Atem der weiß glühenden Sterne, die sich zu Geist und Wille vermischten. Der 481 Klang ihrer Flügel, die sich in unbarmherzigem Glanz entfalteten, dröhnte und hallte von dem sich krümmenden Glanz von Aturnas Sphäre zurück. Weit unter ihr drehten sich die goldenen Räder, angefeuert durch den stürmischen Wind, der der Atem der Seele der Sterne ist. Sie erkannte ihre Stimme. »Kind«, sagten sie, als Liath den letzten Schritt machte und ohne zu zögern in ihre fröhliche Umarmung trat. »Du bist nach Hause gekommen.« 3 Die Qumaner hielten dem ersten schweren Angriff stand, wehrten ihn gemeinsam mit ihrem Prinzen ab. Aber das bloße Übergewicht der wendischen Reiterei an beiden Flanken und das gewaltige ungrianische Heer in der Mitte zerbrachen ihre Linie schließlich. Zacharias sah jubelnd zu, wie zuerst die linke Flanke und dann Teile des Zentrums schwankten und wie die berüchtigten, grimmigen und harten qumanischen Soldaten ihre Pferde wendeten und flohen. Hätte Zacharias noch an Gott geglaubt, hätte er jetzt, genau in diesem Augenblick, ein Gebet gesprochen. So aber zog er nur eine Braue hoch. Er roch Regen und hörte Donner hinter sich dröhnen, obwohl es eigentlich unmöglich war, angesichts der Kakophonie der auf der gesamten Ebene wütenden Schlacht überhaupt noch etwas zu hören. Er wartete zusammen mit Bayans Befehlsstab und dem Berater des Prinzen, Bruder Breschius, bei der Nachhut. Prinz Bayan war mit der angreifenden Truppe geritten, aber jetzt löste er sich aus dem Kampf geschehen und kam zurück zu ihnen, rief nach einem Boten. »Reite zum wendischen Banner. Meine Frau muss sich jetzt aus der Schlacht zurückziehen. Wir haben für heute gewonnen, und es ist nicht nötig, dass sie noch weiter kämpft. Es ist häufig so, dass 482 Kämpfer erst dann - und unerwartet - zu Schaden kommen, wenn der Gegner bereits die Flucht ergreift.« Der Bote galoppierte davon. Bayan rief nach Wasser. Er löste die Riemen seines Helms und schob ihn mit der Hand zurück, damit er trinken konnte. »Bruder Zacharias, was wird Bulkezu wohl als Nächstes tun ? Ihr kennt ihn von uns allen sicherlich am besten.« Zacharias kicherte nervös. Er mochte die Art nicht, wie ihn alle ansahen. »Bulkezu ist ebenso schlau wie verrückt. Ich weiß nicht, was in seinem Kopf vorgeht.« »Ich bitte Euch, Eure Hoheit, setzt den Helm wieder auf«, sagte Bruder Breschius. »Es könnte Euch jederzeit ein verirrter Pfeil treffen.« Bayan schnaubte, leerte seinen Becher und schob den Helm, wieder über den Kopf. Er sah jetzt eine Zeit lang zu, wie die Linie der Qumaner sich immer weiter zurückzog und dann auf ihrer gesamten Länge zerbrach, musterte die Bewegungen der verschiedenen Einheiten, ihre Stärken und Schwächen, machte hin und wieder Bemerkungen zu seinen Hauptleuten, schickte Boten weg oder empfing welche. Prinzessin Sapientia hatte sich noch immer nicht aus dem Getümmel gelöst. »Verdammt«, fluchte Bayan und klatschte mit der Hand gegen seinen Helm. Mit einem Fluchen löste er den Riemen wieder. »Verdammte Hornisse.« Er nahm den Helm ab, sodass sein Gesicht bar jeden Schutzes war, und versuchte, etwas wegzuschlagen, das Zacharias nicht sehen konnte. »Sie hat mich gestochen!«
Der Pfeil, der aus dem Nichts kam, traf ihn in die Kehle. Lautlos glitt er vom Pferd. Sein Blut tränkte den Boden. Und die Welt hörte zu atmen auf. Niemand sprach ein Wort. Die Luft knisterte, stach - und schrie, wie die Stimme einer Frau. Niemand sollte jemals eine Frau so schreien hören, so voller nackter Trauer, voller rohem Schmerz. Donner grollte direkt über ihnen. Wind heulte aus dem Osten heran. Die Pferde gebärdeten sich wie wahnsinnig, bockten vor Angst, und Zacharias rutschte rücklings den Rumpf seines Pferdes 483 hinunter, traf hart auf dem Boden auf, während um ihn herum die ungrianischen Hauptleute und Edelleute sich bemühten, ihre Reittiere unter Kontrolle zu halten. Zacharias kauerte sich hin, um dem wütenden Sturm zu entgehen, während Bayans Blut auf die Erde tropfte und Zacharias' Finger rot färbte. So abrupt, wie der Sturm gekommen war, erstarb er auch wieder. Blätter flatterten durch die Luft, wurden langsamer und fielen zu Boden. Eine tödliche Ruhe legte sich über das Land. Unter ihnen schienen die beiden Heere eine Pause eingelegt zu haben. Als hätte Bulkezu auf diesen Augenblick gewartet, rief der mit Greifenfedern geflügelte Reiter zum Angriff, und die fliehenden Qumaner sammelten sich und drangen hart auf die zusammenbrechende wendische und ungrianische Linie ein. Prinzessin Sapientias Banner wurde zurückgedrängt, als würde es von einer Peitsche angetrieben. »Oh, Herr, ich flehe dich an, lass ihn am Leben«, sagte Bruder Breschius, während er abstieg und neben dem Prinzen niederkniete. Er nahm die schlaffe Hand des Prinzen, führte einen Finger an seine grauen Lippen und weinte. »Mein guter Herr Prinz Bayan ist tot.« In diesem Augenblick löste sich der Kreis der Befehlshaber auf. Das Geschrei und Geheul der ungrianischen Herren dröhnte vom Hügel hinab. Sie hatten ihren Prinzen verloren, ihr Glück, ihren Befehlshaber; für sie war die Schlacht vorbei. Das doppelköpfige Adler-Banner wurde eingerollt, und die ungrianischen Soldaten, denen das nicht entging, zogen sich aus dem Zentrum des Kampfgeschehens zurück. »Oh!«, schrie Zacharias. Er mühte sich auf die Beine. Blut tropfte von seiner Hand. Er erhaschte einen Blick auf sein Pferd, das gerade auf den Wald zu galoppierte. Er war auf dem Hügel gefangen, leichte Beute für Bulkezu. Mit einem Stöhnen der Verzweiflung warf er sich wieder auf den Boden. »Wir sind verloren!« Hörner erklangen in der Ferne. Ein gewaltiger Triumphschrei stieg aus den Reihen der Nachhut auf, als das goldene Banner von 484 Prinz Sanglant an der Spitze seiner berittenen, vielhundertköpfigen Truppe zwischen den Bäumen auftauchte. Sanglant wusste, wann eine Kampflinie kurz davor stand, zu zerbrechen, und er wusste auch, was er dann zu tun hatte. Er ließ seinen Blick über das Feld schweifen, um sich ein Urteil über die Situation zu bilden: Bayans eingerolltes Banner, die sich zurückziehenden ungrianischen Krieger, Sapientias wankende Truppen an den Flanken. Nur Edelfrau Berthas Truppen aus Austra an der linken Flanke hielten noch stand. Doch auch das würde sich ändern, wenn den Rest des Heeres der Mut verließ. War Bayan verwundet, möglicherweise sogar tot? Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Er hob die Hand. Fulk führte das Hörn an die Lippen und blies zum Angriff. Trommelklang mischte sich unter das Donnern der Hufe. Der Lärm machte ihn fast taub, und er musste schreien. Seine Stimme dröhnte über das Feld. »Für Wendar!« Sanglant drängte Resuelto vorwärts und führte den Angriff. Die entmutigten Ungrianer teilten sich vor ihm und seinen Soldaten. Beim Anblick seines Banners formierten sie sich wieder neu und schlössen sich seinen Soldaten an. Umgeben von Sibold, Fulk, Malbert und Anshelm preschte er in die vorderste Reihe der qumanischen Linie. Sie brach zusammen, Reiter stürzten, und der Druck der Qumaner ließ nach. Doch eine andere Gruppe von feindlichen Reitern schloss aus der zweiten Reihe auf. Er brachte seine Lanze in Position und hielt auf eine kleine Gruppe ungeflügelter Reiter zu, Wendaner vielleicht, Verräter, die sich von der Hoffnung auf Gold und Sklaven hatten hinreißen lassen. Etwas an ihren Schilden Einer der Soldaten drängte sein Pferd an dem Anführer vorbei, um die volle Wucht des Aufpralls abzufangen. Sanglants Lanze traf ihn direkt über dem Herzen, und der Mann fiel zu Boden. Während der Prinz noch sein Schwert zog, versetzte er einem qumanischen Reiter einen so harten Schlag mit seinem Schild, dass 485 der Mann aus dem Sattel flog; dann schlug er mit dem Schwert auf den ungeflügelten Anführer ein. Erst jetzt erkannte er den verunstalteten, mitgenommenen Schild des Jungen, der da vor ihm kauerte. »Ekkehard!« Mit einiger Mühe schaffte er es, seine Hand so zu drehen, dass sein jüngerer Halbbruder lediglich von der flachen Seite der Klinge am Helm getroffen wurde. Er schwankte zur Seite, konnte aber immerhin gut genug reiten, dass er im Sattel blieb und an Sanglant vorbeiritt. Seine drei Kameraden ließen die Waffen sinken und ergaben sich. Nur der eine lag tot da, von seinem eigenen Pferd zertrampelt. »Schafft sie vom Feld!«, schrie Sanglant und drängte mit Fulk und Sibold an seiner Seite weiter. Anshelm blieb zurück, um sich um Ekkehard zu kümmern. Druthmars Banner wanderte nach rechts; stolz wehte es in der Brise. An der linken Flanke hatte Edelfrau Bertha den Vorteil genutzt und schwärmte jetzt mit ihren Soldaten aus, um die Qumaner einzukreisen. Rechts von ihr, noch hinter Druthmar, schlug Sapientia sich ebenfalls recht gut,
angespornt durch seinen Erfolg. Aber Sanglant wusste, dass die Qumaner erst weichen würden, wenn ihr Anführer gefallen war. Greifenfedern blitzten im Sonnenlicht auf, als die Wolken auf einer steifen Brise davontrieben. Mit einem Triumphschrei bahnte er sich den Weg zu Bulkezu. Dieser Kampf würde sich deutlich von dem sechs Jahre zurückliegenden unterscheiden, als der qumanische Begh Sanglants Stimme ruiniert und ihn beinahe getötet hatte. Bulkezu wandte sich um und stellte sich ihm entgegen. Trotz des Schlachtlärms konnte Sanglant ihn lachen hören, als sie aufeinander zuritten. Sanglant hatte den Vorteil, höher zu sitzen als sein Gegner - die wendischen Pferde waren einfach größer als die unerschütterlichen qumanischen Ponys. Er ließ Hiebe auf Bulkezu niederregnen, aber der Greifenkrieger parierte jeden Schlag mit dem Schild oder dem Schwert. Funken stoben auf, als Greifenfedern und wendischer Stahl aufeinander krachten. Aber am Ende 486 siegte bloße Kraft, und ein gewaltiger Hieb wirbelte Bulkezu das Schwert aus der Hand. Bulkezu stürzte sich auf Sanglant, hämmerte mit dem Schild auf ihn ein. Er bekam Sanglants Gürtel zu fassen und zerrte den Prinzen vom Pferd. Sie taumelten beide zu Boden, als die Pferde davonschossen, sie zu Fuß zurückließen, während die Schlacht um sie herum tobte. Bulkezu zog seinen Dolch, während er versuchte, sich aus Sanglants Griff zu winden, aber Sanglant drehte seinen Schild um Bulkezus Rücken herum und stieß ihm den Griff ins Gesicht. Bei jedem Schlag erschien eine weitere Delle in Bulkezus Gesichtsmaske, und das Eisen begann schließlich zu zerbrechen. Blut tropfte aus den Augenlöchern, als Sanglant ein viertes Mal zustieß. Bulkezu zuckte zurück, drehte die Schultern zur Seite, sodass die Greifenfedern in Sanglants linken Arm schnitten. Der Prinz verlor den Schild, als die Lederriemen durchtrennt wurden. Bulkezu bekam Sanglants Unterarm zu packen, schob und drehte ihn, um das Schwert in dessen Hand in den Boden zu lenken. Er stieß mit seinem Dolch gegen Sanglants Kopf, und goldene Funken stoben vom Drachenhelm. Sanglant trat mit dem Stiefel gegen den Rahmen eines Flügels, der daraufhin zerbrach. Die beiden rangen, jetzt auf dem Boden miteinander. Bulkezus anderer Flügel zerbrach, und Greifenfedern verteilten sich auf der Erde, als sie miteinander kämpften, jeweils versuchten, die Oberhand zu gewinnen. Sanglant erhaschte einen Blick auf einen anderen Qumaner, der gerade zu einem Hieb auf ihn ansetzte; mit Mühe behielt er das Schwert in der Hand, riss es nach oben, um den Hieb zu parieren, der sonst seinen Kopf gespalten hätte. Bulkezu versetzte ihm einen Tritt, rappelte sich auf, und verschwand in dem wogenden Meer der Kämpfenden. Sanglant tötete einen weiteren qumanischen Reiter, bevor Fulk ihm ein bisschen Platz schaffen konnte, sodass er wieder auf Resuelto steigen konnte. 487 »Bulkezu?«, rief er, als Resuelto vor den Greifenfedern wegtänzelte, die so scharf waren, dass sie selbst Hufe zerschneiden konnten. Bulkezu war verschwunden; ohne seine Greifenfedern war es kaum möglich, ihn aufzuspüren. Die PechanekStandarte schwankte und brach dann plötzlich unter einem wendischen Angriff zusammen. Siegesgebrüll erhob sich von den wendischen Truppen, als die qumanische Linie sich auflöste. Die sich zusammenscharenden Ungrianer riefen Sanglants Namen. Binnen zweier Atemzüge war die Schlacht beendet, und die Qumaner versuchten zu flüchten. Auch die Kühnsten und Mutigsten von ihnen fanden sich plötzlich allein und von Feinden umgeben, wurden von ihnen getötet. »Schickt Boten!«, rief der Prinz Fulk zu. »Alle Furten und Fähren im Westen und Osten müssen gut bewacht werden!« Dann zogen er und seine Hauptleute sich vom Feld zurück, überließen den Soldaten die Aufgabe, die in alle Richtungen fliehenden Qumaner niederzumetzeln. Als Sanglant auf den Hügel zurückkehrte, waren Bruder Breschius und ein Dutzend ungrianischer Edelleute bereits dabei, Bayans Leiche die Rüstung auszuziehen und ihn für den Transport vorzubereiten. Auch Sapientia war anwesend, wehklagte wie ein verlorenes Kind und kratzte sich immer wieder in der alten, vertrauten Weise an den Wangen, während sie ihren toten Mann betrauerte. Ihre Begleiterinnen mussten sie zweimal davon abhalten, sich auf seinen blutüberströmten Körper zu stürzen. Sanglant beobachtete die Szenerie mit benommenem Herzen. Sämtliches Leben war aus Bayan gewichen; was von ihm noch übrig war, war nichts als eine Hülle. Der Prinz weinte, ehrte Bayan mit seiner Trauer, während Anshelm die Schnitte an seinem linken Arm, wo die Greifenfedern seine Haut aufgerissen hatten, wusch und verband. Die Wunden brannten wie verrückt, aber sie schmerzten nicht halb so sehr wie der Kummer darüber, dass Bayan tot war. 488 Hauptmann Fulk kam mit den neuesten Berichten herbeigeritten: Edelfrau Bertha war einem großen Kontingent nach Westen in Richtung der Veser gefolgt; Edelmann Wichman, der sich inzwischen davon erholt hatte, dass seine Truppen zuvor fast die Flucht ergriffen hätten, beteiligte sich an einem wilden Gemetzel - er und seine Männer versuchten alle Qumaner zu töten, derer sie habhaft wurden. Thiadbolds Löwen hatten einen Edelmann
gefangen genommen, den Sohn eines Beghs, aber es war nicht Bulkezu. Prinz Bayans Mutter war gefunden worden, umgeben von den Sklaven, die sie betrauerten: Auch sie war tot. »Wo ist mein Bruder Ekkehard?«, fragte Sanglant ruhig, bemüht, von Sapientia nicht gehört zu werden. Er hätte in diesem Augenblick nicht vorhersagen können, wie sie auf die Nachricht von Ekkehards Verrat reagieren würde. Fulk nickte weise. »Wir haben ihn zum Versorgungstross geschafft und in den Gewahrsam der Löwen gegeben, Prinz Sanglant. Sie sind beherrscht genug, um ruhig mit ihm umzugehen. Was ist mit Bulkezu? Werden wir ihn verfolgen?« »Nein. Ich bezweifle, dass uns heute noch mehr als eine Stunde Tageslicht bleibt. Schickt Druthmar zum Versorgungstross. Ich möchte, dass meine Tochter sofort unter strenger Bewachung zu mir gebracht wird. Ich sollte jetzt meiner Tante Respekt zollen und sie daran erinnern, wem sie es zu verdanken hat, dass ihre Stadt und ihr Herzogtum gerettet werden konnten. Sapientia und ich werden zusammen nach Osterburg reiten, mit Bayans Leiche.« »Aber Prinz Bulkezu ist noch auf freiem Fuß -«, wandte Sibold ein. Er stand aufgeregt in seinen Steigbügeln, während er das goldene Banner hochhielt und seinen Blick über das Schlachtfeld schweifen ließ. Zerbrochene Flügel bedeckten den Boden und die Leichen. Federn trieben im Wind. Ein Rotschimmel versuchte auf die Beine zu kommen, konnte aber nicht stehen. Aaskrähen kreisten in der Luft. Die Qumaner hatten sich in ihrer Eile, das Feld zu verlassen, zu Gruppen von zwei, zehn oder zwanzig Mann zusammengeschlossen; sie waren schwer zu fangen, aber leicht zu töten, 489 wenn man sie erst einmal eingeholt hatte. Manche entkamen in den Wald, flohen wie furchtsame Ratten Richtung Osten, ihrer fernen Heimat entgegen. Sanglant schüttelte den Kopf. Er kniff die Augen zusammen, als ein Soldat neben dem Rotschimmel abstieg und sich hinkniete, um dessen Wunden zu untersuchen. Sapientia schluchzte noch immer, sie konnte vor lauter Kummer gar nicht mehr aufhören. Er wischte sich die Tränen von der Wange, dachte an die vielen Trinksprüche die er nun nicht mehr gemeinsam mit Bayan erleben würde. »Morgen ist noch Zeit genug, Bulkezu zu jagen. Er liegt womöglich sogar schon tot auf dem Feld.« »Und wenn er es nicht tut?«, fragte Fulk. »Ich habe noch nie von einem Qumaner gehört, der schwimmen konnte. Er muss den Fluss entweder an einer Furt oder mit einer Fähre überqueren. Meine Soldaten werden auf ihn warten.« 4 Von einer Anhöhe am Ostufer der Veser aus sah Hanna in stillem Jubel zu, wie die beiden Heere aufeinander stießen. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, dass die Wendaner besser bewaffnet und gerüstet waren, und dass sie mit ihren größeren Pferden und den größeren Schilden trotz der drückenden Hitze im Vorteil waren. Schweiß lief ihr über die Stirn, und die Tunika klebte ihr am Rücken. Mit zusammengebundenen Händen schlug sie nach einem Mückenschwarm, der um ihr Gesicht herumschwirrte. Die Fesseln machten sie unbeholfen, und sie hatte keine Chance, zu fliehen oder einzugreifen. Erst als es bereits zu spät war, begriff sie, wieso ihre Hände wirklich zusammengebunden waren - nämlich damit sie den anderen, heimlichen Kampf nicht stören konnte. Erst als Cherbu mit dem Murmeln und Singen aufhörte, hielt sie den Atem an. Sie 490 spürte förmlich, dass etwas geschehen würde. Ein Ruf, der Verzweiflung und Verwirrung verriet, erhob sich aus den Reihen der Ungrianer. Prinz Bayans Banner, das aus dieser Entfernung zwar nicht größer als ihre Hand, aber immer noch leicht zu erkennen war, wurde zusammengerollt, als wenn er tot wäre. Tot. In diesem Augenblick, als sie Cherbus ernstes Gesicht sah, wusste sie, dass der qumanische Schamane ihn mit Hilfe der Magie getötet hatte. Cherbu seufzte, stieg ab und legte sich flach auf den Boden, die vier Gliedmaßen weit von sich gestreckt wie ein Seestern. Als würde er auf sein Schicksal warten. Lief ihm da eine Träne die Wange hinab ? Der Sturm schlug zu. Der erste Windstoß riss sie buchstäblich vom Pferd. Sie kam auf dem Boden auf, wobei die eine Hüfte den größten Teil der Wucht abbekam, und blieb benommen liegen, während um sie herum Donner grollte und Blitze zuckten - so nah, dass die Pferde schrill wieherten und ihr der Geruch von Verbranntem in die Nase stieg. Ein Wolkenbruch ging auf sie nieder, drückte das Gras zu Boden. Dann wurde alles still. Sie machte zwei zittrige Atemzüge. Ihre Haut prickelte bedrohlich, als wäre sie von tausend Hornissen gestochen worden. Ihr Gesicht schmerzte unangenehm, wo Bulkezu sie geschlagen hatte, und ihre Hüfte tat weh, als sie sich herumrollte und auf die Beine kämpfte. Eine Speerspitze geriet in ihr Blickfeld. Die Wachen hatten ihre Pflicht zumindest nicht vergessen. Steif und immer noch benommen stand sie da, biss die Zähne zusammen, als ein Schmerz ihr von der Hüfte bis in die Schulter fuhr. Der Gestank von verkohltem Fleisch brachte sie zum Würgen. Cherbu war tot, sein Körper geschwärzt und verrenkt. Er war von einem Blitz getroffen worden. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie torkelte von ihm weg, fiel auf die Knie und erbrach sich.
491 Laute, ungleichmäßige Jubelschreie erschollen aus den Reihen ihrer Wachen. Vor Überraschung wandte sie den Kopf - genau im richtigen Augenblick, um mit anzusehen, wie Bulkezu, dessen Greifenfedern wie ein helles Leuchtfeuer auf dem Feld erstrahlten, einen Angriff gegen das wendische Heer führte. Die ungrianische Legion begann sich zurückzuziehen. Tränen brannten in Hannas Augen, aber sie schluckte sie mühsam hinunter, während sie hilflos auf die Szenerie dort unten starrte. Aber war das nicht ihre Pflicht? Zu bezeugen und in Erinnerung zu behalten, damit sie dem König berichten konnte? Sie richtete sich stolz auf, obwohl es schmerzte zu stehen. Was auch immer geschah, sie musste stark genug sein, um sich Bulkezu zu widersetzen. Wenn er sie besiegte, würde es sein, als hätte er König Henry besiegt. Vielleicht war das das Spiel, dass Bulkezu die ganze Zeit mit ihr gespielt hatte. Als dann Hörner erklangen und ein goldenes Banner im Osten aus dem Wald auftauchte, konnte sie nicht verhindern, dass ihr ein Aufschrei entfuhr - ein Aufschrei, in dem sich Hoffnung und Triumph mischten. Wer trug das goldene Banner? Welcher Fürst, welche Edelfrau war Sapientia zu Hilfe gekommen? Staubwolken behinderten ihren Blick. Die Wachen murmelten unruhig vor sich hin, als der Schlachtlärm mit einer steifen Brise aus dem Osten zu ihnen heraufdrang. Es war unmöglich zu erkennen, wer gewinnen und wer verlieren würde. Es war unmöglich, überhaupt irgendetwas zu erkennen; sie konnte die Rufe, und Schreie und Befehle lediglich deuten, die vom Schlachtfeld heraufhallten. Zuerst erkannte sie den Reiter nicht, der auf ihre Linie zupreschte und - gefolgt von einem Dutzend qumanischer Soldaten - den Dunst der Schlacht hinter sich ließ. Das zerborstene Holzgerüst seiner Schwingen ragte über ihm in die Höhe, und immer mehr leuchtende Federn fielen herab. Greifenfedern. Als Bulkezu zu ihr hochgeritten kam, lachte sie, weil sie ihn so erniedrigt sah, aber als er den eingedellten Helm und die kontur492 lose Gesichtsmaske abnahm, blieb ihr das Lachen im Halse stecken. Aus einer Wunde am Augenwinkel - der Stelle, an der die Maske in seine Haut getrieben worden war — rann Blut über sein Gesicht. Ein Hautstück hing lose herab; sie konnte sogar den Knochen erkennen. Er drehte die Leiche seines Bruders mit der Speerspitze um, und das schreckliche Gesicht, das er dabei machte, brachte sie zum Zittern. Ohne irgendeine Bemerkung drehte er sich um und gab ein Signal, ritt dann in raschem Tempo nach Süden. Inzwischen folgten ihm dreißig Soldaten. Prinz Ekkehard und seine Kameraden waren nirgendwo zu entdecken. Sie bewegten sich erst ein Stück nach Süden, bevor sie sich nach Osten wandten, ihre Pferde bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit trieben. Zweimal stießen sie auf eine Gruppe wendischer Soldaten, konnten ihnen aber nach einem kurzen Gefecht entkommen. Sie ließen jedoch jedes Mal ein paar Männer verwundet oder tot zurück. Nachdem sie beim ersten Mal versucht hatte, während eines solchen Kampfes die Flucht zu ergreifen, band Bulkezu ihr einen Strick um den Nacken und zwang sie so, direkt hinter ihm zu reiten. Als sie einmal etwas zu viel Abstand ließ, hätte das Seil sie beinahe erwürgt. Als sie sich ihm näherte, in der Hoffnung, sein Pferd verletzen oder zum Stolpern bringen zu können, drehte er sich um und schlug ihr mit der einzigen Waffe, die ihm noch geblieben war ins Gesicht: mit einem Stock. Zu dem Zeitpunkt, da es zu dunkel geworden war, um noch weiterzureiten, blutete ihre Nase, und ihre Hüfte wurde von wilden Krämpfen geschüttelt. Auf jeden Fall waren die Pferde vollkommen erschöpft. Es war mindestens eine Woche nach Vollmond, und der abnehmende Halbmond war noch nicht aufgegangen. Sie mussten anhalten und das bisschen, was ihnen noch geblieben war, essen und trinken. Es waren noch etwa zwei Dutzend Qumaner übrig, die durch den Wald krochen, sich gegenseitig mit Zischlauten und Pfiffen verständigten. Von weiter vorn hörte sie Schreie und den Lärm 493 von Pferden und Kämpfen. Bulkezu riss an ihrem Seil und zerrte sie vorwärts. Inzwischen konnte sie kaum noch gehen; der Schmerz in ihrer Hüfte fuhr ihr bis in den Kopf, und sogar ihre Zähne taten weh. Sie suchten Schutz in einem dichten Buschwerk am Rande einer Lichtung. Blätter kitzelten in ihrem Gesicht. Er presste ihr eine Hand auf den Mund, damit sie keinen Laut von sich geben konnte. Warmes, klebriges Blut tropfte ihr auf die Wange, wo er sie berührte, und sie schluckte reflexartig, als es ihr zwischen die Lippen lief, versuchte, sich wegzudrehen, schaffte es aber nicht. Niemand hatte Hanna, die an harte Arbeit gewöhnt gewesen war, jemals als Schwächling bezeichnet, aber Bulkezus Griff war so fest wie eine Eisenkette - beinahe, als wäre er kein richtiger Mensch, sondern eine Art unnatürlicher Daemon. Eine Gruppe von wendischen Reitern, die aus mindestens fünfzig Personen bestand, hatte eine weit kleinere Gruppe qumanischer Soldaten in einem kleinen Weiler in die Enge getrieben. Die fliehenden Qumaner hatten in zwei Höfen Zuflucht gesucht und benutzten diese Deckung jetzt, um Pfeile auf den Feind abzuschießen. Ein Edelmann ritt herbei, gefolgt von einem Dutzend anderer, geringerer Edelleute. Sie alle fluchten und lachten, als sie die in die Enge getriebenen Qumaner verhöhnten. Sie kümmerten sich nicht darum, dass sie die Gärten zertrampelten, die Zäune niederrissen und die leeren Hühnerställe der Bauern zerstörten. Vermutlich hatten die Familien, die sonst hier lebten, Schutz in Osterburg gefunden. Hanna erkannte Edelmann Wichman, der jetzt sechs Bogenschützen zu sich rief. Feuer erwachte an den sechs Pfeilen zum Leben und malte wunderschöne Bögen, als die Geschosse sich in die Luft erhoben und auf den Dächern landeten.
Ein paar Qumaner versuchten, sich aus der brennenden Todesfalle zu befreien, doch sie wurden sogleich mit Pfeilen beschossen. Die Übrigen zogen es vor zu sterben, bei lebendigem Leib und ohne einen Laut von sich zu geben, zu verbrennen. Bulkezu schnaubte und zog sich in den Wald zurück. Sie mar494 schienen weiter. Der feuchte Boden machte das Gehen unangenehm. Schon bald waren ihre Stiefel schlammverschmiert. Nach einer Weile mussten die Soldaten Hanna abwechselnd tragen. Nach einer unendlich scheinenden Reise, während der sie hin und her geruckelt wurde und der pochende Schmerz in ihrer Hüfte langsam zu einer gleichmäßigen Qual verklang, roch sie Pferdedung, und sie hörte das Rauschen eines Flusses. Man schob sie achtlos in die verrottenden Überbleibsel einer alten Hütte. Sie konnte nichts sehen, nur lauschen, als Bulkezu und die überlebenden Männer sich etwas zuflüsterten, während sie sich um sie herum niederließen. Der Boden unter dem einstürzenden Dach war trocken. Sie zog eine Grimasse, als sie das Bein ausstreckte, rollte sich auf den Rücken und massierte mit den Händen den Knoten in der Hüfte. Der Schmerz ließ nach. In diesem Augenblick hörte sie die Löwen. Zuerst verstand sie das Durcheinander der Stimmen nicht, denn sie vermischten sich mit dem Rauschen des Flusses. »Da! Sie kommen aus dem Wasser!« »Hinter dir, du Idiot!« »Ich hab ihn!« »Gott seien gepriesen!« Die Stimmen wurden schwächer. Sie überlegte, ob sie möglicherweise eingedöst war und die Worte in einem Traum gehört hatte. Es war seltsam, denn eine der Stimmen hatte wie die ihres alten Freundes Ingo geklungen. Hoffnung plagte sie, machte es ihr unmöglich zu schlafen, während die Nacht sich in die Länge zog. Bulkezu ließ sich neben ihr nieder. »Ihr habt verloren.« Es scherte sie nicht länger, was mit ihr geschehen würde. Es scherte sie nicht länger, ob er sie töten würde. So oder so ließ sie sich in diesem Augenblick von ihrem Hass leiten. »Jetzt bleibt Euch nichts übrig, als wie ein geschlagener Hund die Flucht zu ergreifen!« »Ich bin noch immer der einzige Mann in den Stämmen, der 495 zwei Greifen getötet hat«, sagte er, aber er lachte nicht. Er ächzte leise. Sie hoffte, seine Wunde würde ordentlich schmerzen. Sie hoffte, er würde leiden. »Die Beghs können mir nicht den Rücken kehren. Eine Niederlage bedeutet nicht das Ende des Krieges.« »Was wollt Ihr? Was habt Ihr all die Zeit über gewollt?« Er schwieg so lange, dass sie sich aufsetzte, mit dem Handrücken modriges Stroh von den Lippen wischte. Durst machte ihre Kehle rau. Er sagte noch immer nichts. Ein Schleier aus Schweigen sank herab, nur durch das Geräusch des Flusses unterbrochen. Dieser Fluss hatte nicht die Kraft der Veser. Er floss leichter, gurgelte sanft über Steine und flache Stellen, sodass der Bass der Hauptströmung unter diesen helleren Klängen und dem beständigen, durch die Bäume rauschenden Wind beinahe verloren ging. Es erinnerte sie an das Rauschen des Flusses nach der Schlacht beim Hügelgrab, als Bayans Mutter eine Flut herbeigerufen hatte, die die Vorhut der sie verfolgenden Qumaner weggeschwemmt und den Fluss blockiert hatte. Bulkezus Heer war so lange aufgehalten worden, dass Bayan und Sapientia in der Lage gewesen waren, mit ihren geschlagenen Truppen einen geordneten Rückzug anzutreten. War Bayan wirklich tot? Was war mit seiner Mutter geschehen? War es ihre Magie gewesen, die Cherbu getötet hatte? Sie konnte es nicht länger ertragen. »Wenn das Glück einer kerayitischen Schamanin stirbt, was geschieht dann mit dieser Schamanin?« »Sie stirbt.« »Wieso habt Ihr es riskiert, Prinz Bayans Mutter zu töten, aber nicht, mich zu töten? Fürchtet Ihr Euch denn gar nicht vor den kerayitischen Wetterhexen?« »Jeder kluge Mann tut das. Aber es war unsere einzige Chance. Der andere Prinz hat sich gegen Cherbus Magie geschützt, also musste ich gegen Bayan vorgehen.« Er lachte, ein wenig zuerst, dann immer mehr, dieses widerliche hämische, verrückte Lachen. 496 »Ich wollte ihn schon seit einiger Zeit loswerden. Aber ich bedaure, dabei Cherbu verloren zu haben.« Nichts in seiner Stimme verlieh dieser Aussage Glaubwürdigkeit. »Sicherlich hat Cherbu gewusst, dass Bayans Mutter ihren Sohn rächen würde, wenn er gegen Bayan vorging.« »Cherbu hat mich sowieso nicht gemocht. Er war eifersüchtig, weil ich der Ältere war und er mir gehorchen musste.« »Habt Ihr Euch überhaupt etwas aus ihm gemacht?« Er antwortete nicht, als hätte sie zu ihm in einer Sprache gesprochen, die er nicht verstand. »Wieso habt Ihr mich nicht töten lassen, wenn der Zorn meiner kerayitischen Schamanin nur diejenige Person trifft, deren Hand den tödlichen Schlag geführt hat?« »Nein, es ist nicht deine junge Schamanin, die ich fürchte. Es ist die Eule, die dich bewacht, die Botin der
Fürchterlichen.« Hanna glaubte, beinahe etwas wie Furcht in seiner Stimme gehört zu haben, aber nur sehr flüchtig. Er erhob sich und ging so schnell nach draußen, dass ihr Erde ins Gesicht wirbelte. Sie spuckte aus, und wischte sich den Mund ab. Zwei Wachen hockten am Eingang und beobachteten sie. Einer hielt das Seil, das an ihrem Nacken befestigt war. Mit einem Seufzen lehnte sie sich zurück. Als sie eindöste, hörte sie keine Löwenstimmen mehr, aber sie wachte immer wieder in Abständen auf, da ihr viele Fragen durch den Kopf gingen. Oh, Gott, welchen anderen Prinzen hatte Bulkezu gemeint? Wer führte das Goldbanner, das sie aus dem Wald hatte hervorbrechen sehen? War es Sanglant, der an diesem Tag den Sieg herbeigeführt hatte ? War es möglich, dass Liath bei ihm war, verborgen durch Magie ? Die Dunkelheit ließ langsam nach. Als sie sie holten, war sie in der Lage, ohne allzu viel Unbehagen zu gehen, während eine der Wachen ihr Pferd führte. Sie gingen ein kurzes Stück flussabwärts, bevor sie versuchten, den Fluss zu überqueren, aber der erste Mann, der sich ins Wasser traute, wurde von der Strömung mit497 gerissen, die an dieser Stelle sehr stark war. Er glitt aus dem Sattel, und seine Schwingen zogen ihn nach unten. Das Pferd kämpfte gegen das Wasser an, bevor es im Licht der frühmorgendlichen Dämmerung außer Sicht geriet. Die Soldaten gestikulierten, als wollten sie den bösen Blick abwehren. Selbst Bulkezu schien unwillig, sich ins Wasser zu wagen; Hanna hingegen wäre nur zu gerne geschwommen, hätte sie die Möglichkeit dazu erhalten. Sie hatte sich nie vor Wasser gefürchtet, aber es erfreute sie zutiefst, dass die anderen es taten. Wenn sie hier blieben, vom Fluss aufgehalten wurden, würden ihre Feinde sie schließlich zu fassen kriegen. Ein Zweig knackte hinter ihnen. Ein Warnschrei erscholl, wurde abrupt unterbrochen. Die qumanischen Soldaten wirbelten herum und erhoben ihre Waffen - jene, die welche hatten. Sie erkannte ihre Chance. Sie zog kräftig an dem Seil, riss es Bulkezu genau in dem Augenblick aus der Hand, als er seine Aufmerksamkeit von ihr abwandte, und sprang in den Fluss. Sie traf mit einem gewaltigen Platschen auf die Wasseroberfläche und tauchte unter. Als sie wieder an die Oberfläche kam, strampelte sie bereits auf das tiefere Wasser zu, während Bulkezu hinter ihr fluchte und laute Rufe sich erhoben. Eine Gruppe von Männern brach zwischen den Bäumen hervor und umzingelte die Qumaner und ihre Pferde. Die Strömung riss sie mit. Mit zusammengebundenen Händen war es schwer, den Kopf über Wasser zu halten. Das hinter ihr hertreibende Seil verfing sich an einem Ast und zerrte an ihr. »Hanna!« In dem Augenblick, als die Schlinge sich festzog und sie zu ersticken drohte, als ihr die Sicht vor den Augen verschwamm und das Wasser über ihrem Gesicht zusammenschlug, griff eine Hand nach ihr. Das Seil löste sich, wurde durchgeschnitten, und der Druck ließ nach. Sie erschlaffte, wurde ans Ufer gezogen, wo sie wie ein nach Luft schnappender Fisch liegen blieb. »Hanna! Wir haben schon gedacht, du wärst tot!« 498 Hustend und prustend rollte sie sich auf den Bauch und stemmte sich auf dem felsigen Untergrund hoch. Schließlich erkannte sie die besorgten und erschreckten Gesichter der ihr vertrauten Männer: Ingo, Leo, Folquin und Stephen, ihre guten Freunde bei den Löwen. »Bulkezu!«, schrie sie und versuchte erneut, auf die Füße zu kommen, aber als sie taumelte, fing Ingo sie auf. »Ist schon gut, wir haben ein paar von ihnen zu fassen gekriegt, diejenigen, die dich gefangen genommen haben. Aber soll das etwa heißen, dass der Edelmann mit den zerbrochenen Schwingen da Prinz Bulkezu höchstpersönlich ist?« Er lachte laut und gab Folquin einen fröhlichen Klaps auf die Schulter. »Da haben wir ja eine tolle Beute für Prinz Sanglant!« »Oh, Gott«, flüsterte Hanna. »Ich bin frei.« Jetzt gaben ihre Beine endgültig nach, und während Ingo sie hielt, brach sie zusammen und schluchzte unbeherrscht. Es war einfach unmöglich, die Tränen noch länger zurückzuhalten. 5 Rosvita erhob sich bei Anbruch der Morgendämmerung, und nachdem sie mit den Gebeten fertig war, studierte sie das Erste der Bücher, die Heriburg und Ruoda am Tag zuvor in der Palastbibliothek gefunden hatten. Die Abschrift von Das Leben Taillefers, die der Geistliche Albinus, Taillefers Vertrauter und Berater, verfasst hatte der als der gebildetste Mann seiner Zeit bezeichnet worden war -, bestätigte nur, was sie schon wusste. Taillefer hatte vier Töchter gehabt, die das Erwachsenenalter erreicht hatten. Drei waren der Kirche beigetreten, darunter auch die berühmte Bischöfin Tallia. Das vierte Mädchen Gundara war - nach bestimmten ungenannt bleibenden Peinlichkeiten - mit dem Duc de Rossalia ver499 heiratet worden, dem mächtigsten Edlen im Königreich außerhalb von Taillefers eigener Familie. Albinus sagte nichts über Gundaras Leben, erwähnte nur eine reiche Ausstattung an Bettvorhängen, drei Wandteppiche aus Beligua, einen rechteckigen Tisch, in den eine Darstellung des Universums in Form von sieben Sphären eingeschnitzt worden war, sowie vier Kisten mit Schätzen, darunter Gefäße aus Gold und Silber, die ihr in Taillefers Testament zugesprochen worden waren. »Hier ist die Chronik von Vitalia.« Ruoda öffnete das nächste Buch beim entscheidenden Kapitel. Die Geistliche und Diakonissin Vitalia vom salianischen Nonnenkloster St. Ceneri auf dem Eides hatte eine ausführliche
Geschichte ihres Klosters niedergeschrieben, und es war ihrem hervorragenden Verständnis als Frau zu verdanken, dass sie mehr Einzelheiten über das erfahren konnten, was sie wissen wollten. Aus den Bürgerkriegen nach Taillefers Tod war am Ende Lothair, ein Cousin des Neffen des großen Kaisers, als Sieger hervorgegangen und 629 zum König von Salia gekrönt worden. Doch er war niemals stark genug gewesen, um den Kaisertitel für sich beanspruchen zu können. Aikha-Plünderungszüge hatten im gleichen Jahr Rossalia verwüstet, und der Duc war bei der Verteidigung seines Landes gestorben, hinterließ Gundara als reiche Witwe mit drei Kindern. Lothair selbst beanspruchte Gundara für sich und schickte seine erste Frau ins Kloster, um Taillefers Tochter heiraten zu können. Nach Meinung Vitalias war er von Gott für diese Sünde der Arroganz und des Neides verflucht worden, denn als er ein hohes Alter erreicht hatte, rebellierten seine Söhne, die unablässig miteinander im Streit lagen, mehrfach gegen ihn. »Das besagt aber nichts über das Schicksal von Gundaras anderen Kindern, die sie mit dem Duc de Rossalia gehabt hat«, bemerkte Ruoda. »Der älteste Junge, Charles, hat das Herzogtum geerbt, als er mündig wurde. Er hat Margaret von Derisa geheiratet und einen Sohn gehabt, der nach ihm das Erbe antreten konnte. Wonach suchen wir eigentlich, Schwester Rosvita?« 500 Die klare Schrift auf der vergilbten Seite gab ihnen keinerlei Hinweise. Sie zeugte nur von Worten, die von einer Schreiberin abgeschrieben worden waren, kündete von Ereignissen, die von einer seit langem toten Person verzeichnet worden waren. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass eine Maus an den Rändern eines geheimen Wissens knabbert, das in meinem Innern verborgen ist. Wenn ich der Maus nur ein bisschen länger etwas zu fressen geben könnte, würde ich entdecken, was ich wissen will. Wenn ich nur geduldig sein könnte.« Sie blickte auf und runzelte die Stirn, als sie Heriburgs verbundene Hand sah. Das Mädchen hatte sich am Tag zuvor verbrannt, als sie versucht hatte, magische Zeichen in ein dünnes Medaillon zu kratzen. Der Vorfall hatte sie alle erschreckt und verunsichert, und so gab Rosvita sich zunächst damit zufrieden, Fenchelzweige und Erlenäste über die Türen und Fenster zu hängen, um zu verhindern, dass das Böse bei ihnen spionierte. »Schwester Rosvita.« Aurea erschien in der Tür. »Bruder Petrus ist gekommen.« Es war Zeit, den König aufzusuchen, doch Rosvita fand es seltsam, dass ein Presbyter kam, um sie abzuholen, und nicht einer von Henrys eigenen Bediensteten. Sie nahm Fortunatus mit und schickte die jungen Frauen zur Gelehrtenschule. Sie nahm gemeinsam mit Henry und dem Hof an der mittäglichen Andacht in der Kapelle des Königs teil, während, wie in Aosta üblich, Königin Adelheid und ihr Gefolge in der Kapelle der Königin beteten. Ein Säulengang verband die beiden Gebäude miteinander, und nachdem die Messe der Sext beendet worden war, führte Henry seine Gefolgschaft in den königlichen Garten. »Geht ein Stück mit mir, Schwester Rosvita«, sagte der König zu ihr und begann einen Gartenweg entlangzugehen. Statuen sämtlicher den Jägern bekannten Tiere standen entlang der Kiespfade, die von Zwergenbüschen gesäumt wurden oder sich hinter größeren Zypressen-Hecken verbargen. Hirsche und Wölfe, Eber und Löwen, Auerochsen, Guivren, Greifen und Bären 501 blickten finster und drohend auf sie herab. Doch ihre Rachen waren, wie Rosvita dachte, bei weitem nicht so groß wie die der geschäftigen Höflinge von Aosta mit ihrem einschmeichelnden Lächeln und ihrem bezaubernden Wesen. Hinter einem rechteckigen Zaun erstreckte sich ein reizvolles Pflanzenlabyrinth, dessen verschlungene Pfade zwischen Beeten hindurchführten, die mit Ysop, Bienenragwurz, Kamille, einer purpurnen Wolke aus Lavendel und kaum noch blühendem Thymian bedeckt waren. Der Sommer hatte den Blumen den intensiven Duft genommen, aber es war noch immer genug vorhanden, als Henry das Tor öffnete und ihr bedeutete, ihm auf einen der schmalen Pfade zu folgen. Es war, als würde sie geradewegs in ein Parfümsäckchen marschieren. Sie kannte den Pfad besser als er und musste ihn an zwei falschen Abbiegungen vorbeiführen, ehe sie die Bank erreichten, die in der Mitte stand, umgeben von einem Kreis kunstvoll beschnittener Rosenbüsche. Von hier aus konnten sie über die niedrigen Buchsbaumbüsche hinweg sehen, wie Adelheid aus der Kapelle der Königin trat, begleitet von Hugh und ihren Edelfrauen. Als sie Henry sah, löste sie sich von ihren Höflingen und kam auf ihn zu. »Ich möchte schnell noch mit Euch sprechen, Schwester.« Der Sommerfeldzug hatte Henry ermüdet. Neue Falten hatten sich in seinen Augenwinkeln eingenistet, und er zog ein Bein nach. »Es ist mir zu Ohren gekommen, dass es in Wendar ernsthafte Unruhen gibt, noch ernsthaftere als hier in Aosta. Herzog Conrad hat gegen meinen Willen geheiratet. Es gibt Gerüchte, dass er versucht, sich als mir gleichwertiger Fürst im Westen zu erheben. Ein qumanisches Heer ist im Osten eingedrungen. Kaufleute bringen Geschichten von einem AikhaAngriff auf Alba mit, mehr eine Invasion als ein Plünderungszug, der den Handel viele Jahre lang behindern könnte. Die Pest, die Hungersnöte und Dürren beunruhigen meine loyalen Edlen. Wie kann ich in Aosta herrschen, wenn Wendar in Schutt und Asche zu versinken droht? Sicher, Aosta hat diese mannigfaltigen Prüfungen seit Jahren erdulden müssen. 502 Noch ein Feldzug im nächsten Jahr, und ich kann mich zum Kaiser krönen lassen, ohne dass auch nur eine
mächtige edle Familie die Hand gegen mich erhebt. Aber in meinem Innern weiß ich, dass es klüger wäre, jetzt nach Wendar zurückzukehren. Und doch möchte ich Eure Ansicht hören, Schwester, bevor ich eine öffentliche Erklärung abgebe.« »Ihr übertragt mir damit eine schwere Verantwortung, Eure Majestät.« Er nickte. »Ja, das tue ich. Villam hat seine Meinung bereits klar und deutlich geäußert. Er rät mir, so bald wie möglich nach Norden aufzubrechen, angesichts der Gerüchte über frühe Schneefälle in den Bergen, die wir gehört haben. Wenn wir uns nicht beeilen, werden wir die Pässe erst wieder nächstes Jahr überqueren können. Ich weiß nicht, was im Laufe des Winters und Frühlings in Wendar alles passieren könnte, wenn ich nicht da bin, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Was ratet Ihr, Schwester Rosvita?« Sein Blick war scharf, beinahe unbarmherzig. Er trug heute eine efeugrüne Tunika, die mit heller Seide gesäumt war, und eine Hose und Beinkleider, wie sie ein gewöhnlicher Edelmann tragen mochte. Dennoch hätte ihn nie jemand für einen anderen Menschen als den König gehalten. »Ich bitte Euch, gebt mir einen Augenblick Zeit, um nachzudenken.« Adelheid erreichte das Tor, ließ es von einer ihrer Dienerinnen öffnen, und mit einem lieblichen Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht schritt sie die raffinierten Pfade entlang. Sie kannte das Labyrinth sehr gut. »Es gibt welche, die mich davon abhalten wollen, nach Wendar zurückzukehren.« Er betrachtete die junge Königin mit einem seltsamen Blick, wie ein Mann, der zugleich zufrieden und verzweifelt ist. Sein Blick schweifte flackernd zu Hugh, der sich in eine Unterhaltung mit Helmut Villam, Herzogin Liutgard und anderen Edelleuten vertieft hatte. »Ich habe Gerüchte gehört.« »Das habe ich auch, Eure Majestät, und ich sehe keinen Grund 503 zu glauben, was Tratsch und Klatsch behaupten. Es ist eine Sünde, schlecht von anderen zu sprechen, die nicht nur eine, sondern drei Leute verletzt, nämlich die Person, von der gesprochen wird, diejenige, die die Unwahrheiten ausspricht und diejenige, die ihnen lauscht. Königin Adelheid ist eine ehrbare Frau, und auch eine kluge. Ich glaube nicht, dass Ihr Grund zu der Annahme habt, dass sie Eure Heirat entehrt haben könnte.« Es war Rosvita ohnehin schleierhaft, wie eine Frau auch nur daran denken konnte, einen anderen Mann anzusehen, wenn sie mit Henry verheiratet war. Der Gedanke überstieg ihre Vorstellungskraft. Henry pflückte eine wunderschöne, blutrote Rose vom nächsten Busch. »Doch selbst die frischeste Blume trägt Dornen.« Er zupfte ein Blütenblatt vom Stängel und berührte es mit den Lippen. »Was ratet Ihr mir Schwester?« »Wenn Ihr nach Wendar zurückkehrt, dürft Ihr es nicht so aussehen lassen, als hätte Aosta Euch besiegt. Doch wenn Ihr hier bleibt und Euer Königreich geschwächt wird, weil Ihr nicht dort seid, um es zu stärken, ist Eure Position hier verloren. Wendar und Varre sind die Königreiche, die Euer Vater Euch übergeben hat, Eure Majestät. Vergesst nicht, dass Ihr vor allem ein Wendaner seid, der einer langen, illustren Ahnenreihe eines kühnen und kämpferischen Volkes entstammt.« »Meine Königin«, sagte er mit einem aufrichtigen Lächeln, als Adelheid zu ihnen trat. Henrys Rückkehr hatte die junge Frau aufgeheitert; sie lachte erfreut, als er ihr die Rose reichte, wenngleich sie sorgfältig auf die Dornen achtete, als sie sie in die Hand nahm. »Ich grüße Euch an diesem schönen Tag, Schwester Rosvita«, sagte sie beinahe fröhlich, während sie den feinen Duft der Rose einatmete. »Ich fürchte nur, dass Ihr und der König etwas ausheckt und alle meine Intrigen umsonst sein werden. Ihr habt die Truppe in der Arena gesehen, nicht? Ich dachte, es wäre eine schöne Überraschung.« Auf diese Weise fröhlich weiterplaudernd zog Adelheid den Kö504 nig zurück zu den anderen. An diesem und am nächsten Tag wurde ein Festmahl abgehalten, an dem es unendlich viel zu essen und zu trinken gab. Bittsteller kamen und gingen. Eine Akrobatentruppe unterhielt sie mit Seiltricks, Reifen und Bällen, und Barden sangen Loblieder auf den König und die Königin. Rosvita genoss so ein Festmahl gewöhnlich ebenso wie alle anderen, aber dennoch war sie erleichtert, als sie am Abend des zweiten Tages früh zu Bett gehen konnte. Sie hatte keinerlei Möglichkeit mehr gehabt, mit dem König allein zu sprechen, auch nicht mit Villam, der ganz davon in Anspruch genommen schien, die Frauen allesamt jung und höchst attraktiv - zu bewundern. Selbst Hathui, der Adler des Königs, war an diesem Abend damit beschäftigt, Wein nachzugießen, Nachrichten hin und her zu tragen und am Tisch des Königs zu bedienen. Morgen würde das Fest weitergehen, doch der königliche Hof würde den Hof, der den irdischen von dem spirituellen Palast trennte, überqueren und mit der Skopos in ihrer großen Halle ein Mahl zu sich nehmen, das so wurde gemunkelt - eines Kaisers würdig war. Fortunatus verwickelte sie in ein harmloses Gespräch, während sie zu ihren Gemächern zurückkehrten. »Glaubt Ihr, dass diese Akrobaten auch für die Heilige Mutter eine Vorstellung geben? Diese Mädchen hätten genauso gut auch Affen sein können. Ich habe noch nie solche Tricks mit dem Seil gesehen. Und erst das Jonglieren! Wusstet Ihr, das ich als Kind einen dressierten Affen gesehen habe? Die Ernte war in jenem Jahr schlecht - Ihr könnt Euch vorstellen, dass ich mich daran erinnere! -, und wir haben später erfahren, dass die reisenden Spieler gezwungen waren, alles zu verkaufen, was ihnen gehörte, um aus Mainni herauszukommen und der Hungersnot zu entgehen. Der Affe wurde zu Hackfleisch verarbeitet, und alle, die von der Wurst gegessen haben, die aus ihm hergestellt wurde, sind daran erkrankt und gestorben.«
»Eine sehr erbauliche Geschichte, Bruder. Ich weiß nicht, ob ich mehr Mitleid mit den armen, hungernden Seelen haben soll oder 505 mit der bedauernswerten Kreatur, die von ihrem Herrn im Stich gelassen und geschlachtet wurde.« »Der Affe hat mich gebissen«, fügte er hinzu, und seine Lippen verzogen sich schelmisch. »Ich habe nur versucht, ihn zu streicheln. Ich muss etwa sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Daher glaube ich, dass die Spieler ihn verkauft haben, weil er eine Plage war. Vielleicht war es aber auch nur eine Geschichte, die meine Schwestern mir erzählt haben, um mich zum Weinen zu bringen. Sie glaubten wohl, ich würde als Nächster sterben, weil das Tier eine Narbe auf meinem Daumen hinterlassen hatte.« Er hielt die Hand hoch, und in der Tat verlief eine dünne, weiße Narbe zackig über seinen Daumen. Sie lachte. »Dann stimmt es also, dass Ihr es immer schafft, Euch in Schwierigkeiten zu begeben, Bruder. Das habe ich mir gedacht.« Er hatte eine sehr reizvolle Art, zu grinsen - das war einer der Gründe, weshalb sie ihn so mochte. »Nein, Schwester, ich bin unschuldig. Ich bemühe mich nur, Eurem Beispiel zu folgen, was die Neugier betrifft.« Aurea sah sie kommen und öffnete die Tür, aber sie folgte ihnen nicht ins Zimmer, in dem Ruoda, Heriburg und Gerwita warteten. Die Frauen standen am Tisch; vor ihnen lag ein geöffnetes großes Buch. Sie zuckten schuldbewusst zusammen, als Rosvita eintrat, aber wenigstens Heriburg war geistesgegenwärtig genug, eine Pergament-Seite umzuschlagen, als würden sie es nur durchblättern. Kaum hatte die Tür sich wieder geschlossen, schlug Heriburg die ursprüngliche Seite auf. »Wir haben es gefunden!«, rief Ruoda triumphierend. »Das heißt«, fügte sie errötend hinzu, »Gerwita hat es gefunden.« »Was habt ihr gefunden?« Gerwita, die zu schüchtern war, um antworten zu können, bedeutete Heriburg, es zu erklären. »Dies sind die Annalen von Antun aus den Jahren, als Bischöfin Tallia im Besitz des Bischöfinnenstabs war. Sie enden mit dem Konzil von Narvone, als Bischö506 fin Tallia auf Befehl der Heiligen Mutter Leah, der Dritten dieses Namens, den Bischöfinnenstab und den Bischöfinnensitz von Autun verloren hat. Es scheint, als wären die Heilige Mutter und ihre Beraterinnen und Berater fest entschlossen gewesen, die Macht von Taillefers Töchtern zu brechen, die diese über die salianische Kirche besaßen.« »Das ist eine Angelegenheit von höchstem geschichtlichem Interesse«, pflichtete Rosvita ihr bei. »Aber was hat das mit der Frage zu tun, über die wir vor zwei Tagen gesprochen haben?« Ruoda sprang vor und deutete mit dem Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle. »Wir haben die anderen Kinder von Edelfrau Gundara gefunden. Hier, seht! Ein Mädchen namens Thiota wurde der Kirche übergeben, starb aber, bevor sie ihr Gelübde ablegen konnte. Ein jüngerer Sohn mit Namen Hugo wurde im Alter von vier Jahren mit der kleinen und einzigen Tochter des Grafen von Lavas verlobt, genannt Lavastina.« Sie grinste triumphierend. »Daher also die Hunde.« »Nein«, sagte Gerwita schwach, »denn die Hunde sind erst in den Besitz der Grafen von Lavas gekommen, nachdem Gräfin Lavastinas Sohn Charles Lavastin nach dem Tod seiner Mutter das Erbe angetreten hat. Die meisten behaupten, es wäre ein Fluch des Feindes, weil Charles Lavastin seinen Vater und seine Mutter getötet hat, aus Angst davor, dass sie eine Tochter bekommen könnten, die ihn ersetzt hätte.« Als sie merkte, dass alle anderen sie anstarrten, faltete sie die Hände vor der Brust und machte sich klein, als wäre sie am liebsten im Boden versunken. »Die Geschichte ist im nördlichen Varre sehr bekannt, Schwester. Meine Familie stammt aus dieser Region, aus der Nähe von Fiersbarg.« »Hat man denn nie darüber geredet, dass die Grafen von Varre deshalb mit Kaiser Taillefer verwandt waren?«, fragte Rosvita. Gerwita zuckte mit den Schultern; sie schien entsetzt darüber, dass sie so plötzlich die Aufmerksamkeit aller vier Personen auf sich gezogen hatte. Sie rang nervös die Hände. »Nein.« »Das kommt mir seltsam vor, angesichts der Tatsache, dass Tail507 lefer keine anderen rechtmäßigen Abkömmlinge hatte«, meinte Fortunatus. »In Salia können Töchter keinen Titel erben, nur die Söhne«, erklärte Ruoda, »und in Varre erben die Söhne nur, wenn es keine Töchter gibt.« »Gundara hätte gut daran getan, ihren jüngeren Sohn in eine Position zu bringen, in der er leicht hätte vergessen werden können, von der aus man ihn aber auch leicht hätte zurückholen können, falls der ältere Bruder ohne Erben gestorben wäre«, sagte Rosvita. Sie zog die Lampe näher an die alten Seiten der Annalen heran. Ihre Augen waren nicht mehr so scharf wie die ihrer jungen Helferinnen. Sie bewunderte die raffinierten kleinen Minuskeln, die für Annalen aus der Zeit von Taillefers Herrschaft typisch waren, aber die Worte sagten nichts anderes als das, was ihre Geistlichen bereits erwähnt hatten: der Junge, Hugo, verlobt im Alter von vier Jahren. Diese Seiten enthielten keinerlei Hinweise darauf, wie er aufgewachsen war oder was er später getan hatte, so sehr waren sie bestrebt, nur von den Handlungen der Skopos Leah zu berichten, die die Macht von Taillefers mächtigster Tochter Tallia zunichte gemacht hatte. Vielleicht war das Kind nach Varre geschickt worden, um
dort im Verborgenen, den Blicken anderer entzogen, mit der zukünftigen Braut aufzuwachsen - er war immerhin der Enkel des Kaisers, der aufgrund seiner Geburt als Sohn einer Tochter des Kaisers niemals Anspruch auf den Thron erheben konnte. Aber seine Kinder, sollte er überleben, hätten sich durch eine entsprechende Heirat zurück in die königliche Linie bringen können. »Ist Charles Lavastin das einzige Kind von Lavastina und Hugo gewesen?«, wollte Rosvita von Gerwita wissen. »Nein, Schwester. Gräfin Lavastina ist beinahe zwanzig Jahre nach der Geburt von Charles Lavastin im Kindbett gestorben, als sie ihr zweites Kind, wieder einen Jungen, geboren hat. Der Junge hieß Jeoffrey.« »Ah, ja.« Rosvita erinnerte sich jetzt an die Geschichte. »Das muss der Großvater von dem Jeoffrey gewesen sein, dessen Toch508 ter nach Lavastins frühzeitigem Tod Gräfin geworden ist. Es gab da eine Verhandlung -« Ruoda hatte wie es schien eine Verwandte, die bei dieser Verhandlung um die Nachfolge von Lavas anwesend gewesen war. Sie hätte die ganze Nacht damit verbracht, die Besonderheiten von Edelmann Alain und den Hunden von Lavas und dem Sieg von Jeoffrey und seiner Familie zu erzählen, aber es war schon spät. Abgesehen davon würde es am nächsten Morgen noch viel zu tun geben, sofern Henry seine Absicht, nach Wendar zurückzukehren, noch bevor der Schnee die Gebirgspässe schloss, schließlich verkünden würde, wie Rosvita vermutete. Sie machten sich zur Nachtruhe bereit; Fortunatus zog sich in die angrenzende Kammer zurück, während Aurea die Pritschen für die Mädchen vorbereitete und für sich selbst eine Strohmatratze neben der Tür auslegte. Rosvita hatte das Gefühl, kaum geschlafen zu haben, als sie höchst schroff geweckt wurde. »Schwester Rosvita! Wacht auf!« Eine Lampe erhellte die dunkle Kammer; sie schwankte, und ihr Lichtschein durchschnitt die Luft, als jemand sie schüttelte. »Ich bitte Euch!« Rosvita schwang ihre Beine unter dem leinenen Bettlaken hervor - das Einzige, was sie in einer solch warmen Nacht benötigte. Ihr Nachthemd wehte ihr um die Beine, während sie in die Dunkelheit blinzelte. Erstaunlicherweise war keines der Mädchen aufgewacht. Vielleicht war das Pochen gar keine Faust an der Tür gewesen, sondern nur das Hämmern ihres Herzens. »Was ist denn?« »Kommt schnell, Schwester. Eine höchst grauenhafte Tat ist -« Plötzlich erkannte Rosvita die Stimme, die jetzt ganz erschüttert klang, von Entsetzen und Tränen gezeichnet. »Seid Ihr das, Hathui? Was führt Euch so spät in der Nacht zu mir?« »Kommt schnell, Schwester.« Es schien, als wäre die sonst so pragmatische Hathui derart durcheinander, dass sie nur noch diese Worte wiederholen konnte. 509 Rosvita, inzwischen ebenfalls besorgt, griff in die Kiste am Fußende des Bettes, holte eine lange Tunika hervor und zog sie sich rasch über den Kopf. Kaum hatte sie sie heruntergezogen - wobei sie immer noch seitlich verdreht saß -, da packte Hathui sie bereits an den Handgelenken und zog sie drängend mit sich. Rosvita bekam einen Gürtel zu fassen und stolperte hinter ihr her, stieß sich den Oberschenkel am Tisch, einen Zeh an der geöffneten Tür und hörte schließlich die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Hathui hob die Lampe, während Rosvita hastig die Tunika glatt strich und den Gürtel zweimal um die Taille wickelte. »Vertraut Ihr mir, Schwester?«, flüsterte der Adler heiser. Rosvita sah blankes Entsetzen und eine leidenschaftliche, mühsam beherrschte Wut in Hathuis Blick. »Ihr müsst mir trauen, sonst werdet Ihr nicht glauben, was ich heute Nacht gesehen habe. Ich bitte Euch, Schwester, es ist möglicherweise schon zu spät.« »Der König ist doch nicht -« Sie konnte das grauenhafte Wort nicht aussprechen, denn wenn sie es einmal gesagt hatte, würde sie es nicht mehr zurücknehmen können. »Nein, nicht tot.« Ihre Stimme brach. »Nicht tot.« »Schwester Rosvita.« Fortunatus erschien an seiner Tür. »Ich habe Lärm gehört -« »Bleibt hier, Bruder. Und geht nicht schlafen, ehe ich wieder zurück bin. Folgt mir aber auf keinen Fall und hindert die jungen Schwestern daran, etwas Voreiliges zu tun.« Er nickte gehorsam und starrte mit blassem, rundem Gesicht besorgt hinterher, als sie mit Hathui den Korridor entlang verschwand. Mit einiger Mühe gelang es Hathui, wieder zu sprechen. Es schien, als würde lediglich die Bewegung ihrer Beine den Adler davon abhalten, hysterisch in Tränen auszubrechen. »Nicht tot«, wiederholte sie, wie eine Frau, die in einer Zeit der Hungersnöte ihre Speisekammer noch ein weiteres Mal prüfte, um sicherzustellen, dass sie die Krüge mit Korn und Öl, die sie für harte Zeiten zurückgestellt hatte, auch wirklich noch besaß. Sie kamen an eine Gangkreuzung, wandten sich nach links und 510 stiegen Stufen hinab; 'über Bedienstetenwege, die Rosvita bisher nicht gekannt hatte, gelangten sie zu dem großen Hof, der sich zwischen dem Palast der Herrschenden und dem Palast der Skopos erstreckte. »Wohin gehen wir?«, murmelte Rosvita. »Nicht tot«, wiederholte Hathui ein letztes Mal, als sie hinter einer Säule stehen blieb, die ihre Lampe möglicherweise vor neugierigen Augen verbergen würde. Ihr Gesicht, vom Schatten ganz grau, wirkte durch das Lampenlicht unnatürlich groß, als sie sich jetzt zu Rosvita herabbeugte. »Verzaubert. Verhext. Ich habe gesehen, wie es geschehen ist.«
Sie verlagerte ihr Gewicht, zog ein Lederband über den Kopf. »Das hätte ich fast vergessen. Ihr müsst es tragen, um Euch vor der Sicht zu schützen.« Sie drückte Rosvita ein Amulett in die Hände. Das Silbermedaillon brannte in Rosvitas Handfläche. Schützte sich der König gegen die Sicht seiner eigenen Adler, oder war er Anne gegenüber bereits misstrauisch geworden? Als Hathui sich weiter in den Hof wagte, hielt Rosvita sie am Arm zurück. »Nein, Adler. Ihr müsst mir erst sagen, was Ihr gesehen habt, bevor ich auch nur einen einzigen Schritt weitergehe. Hier.« Sie zog sich in den Schutz eines Alkovens zurück, wo Reisende sich erfrischen und ihre Gesichter waschen konnten, bevor sie die königliche Halle betraten. Ein Springbrunnen plätscherte leise vor sich hin, aber als Hathui ihre Lampe hochhielt, grinste eine Medusa sie anzüglich an, während aus den Mündern der schlangenähnlichen Haare Wasser in den Behälter darunter tropfte. Der Adler schnappte geräuschvoll nach Luft und drehte der bösartigen Skulptur den Rücken zu. »Was ich gesehen habe ... nein, zuerst müsst Ihr das Amulett anlegen, Schwester.« Rosvita gehorchte, und Hathui fuhr fort. »Ich schlafe in einem Alkoven in der Kammer des Königs. Ich bin aufgewacht, und ich schwöre Euch, Schwester, es war ein Engel, der mich geweckt hat. Ich bin also aufgewacht und habe gesehen, 511 wie die Bettvorhänge zurückgezogen wurden und Hugh von Austra ein Band über den schlafenden König gehalten hat. Das Band hat sich gewunden und gezuckt, als wäre es ein lebendiges Wesen, und ich schwöre Euch, auch wenn ich es selbst kaum glauben kann, ich habe gesehen, wie eine Kreatur so hell wie Glas und so leicht wie Nebel aus diesem Band und in den Körper des Königs geströmt ist. König Henry hat nur ein einziges Mal gezuckt und dann die Augen geöffnet. Aber die Stimme, mit der er dann gesprochen hat, war nicht mehr seine eigene.« Rosvita stützte sich am Rand des Wasserbeckens ab. Wasser platschte auf ihre Hand und ihre Wange, spritzte aus den Mündern der Schlangen. »Hugh«, flüsterte sie, erinnerte sich an die Passage, die er in Das Buch der Geheimnisse gelesen hatte, an jenem Tag, als sie und Theophanu sowie die junge Paloma ihn in der Gästekapelle des Klosters St. Ekatarina belauscht hatten. Sie erinnerte sich an den Daemon, den er in jener Nacht an ein seidenes Band gebunden hatte, als er Adelheid, Theophanu und ihren Gefolgschaften zur Flucht vor Eisenkopfs Belagerung verholfen hatte. »Ein Zauberer kann einen Daemon an seinen Willen binden, und wenn er stark genug ist, kann er ihn dazu bringen, in einer anderen Person zu hausen. >Bis der eine Mund ausspricht, was der andere Geist flüstert.<« »Ist das denn möglich, Schwester?« »Wenn Ihr gesehen habt, was Ihr beschrieben habt, kann es gar nicht anders sein. Aber ich zittere bei dem Gedanken, dass es wahr sein könnte.« Ihr Herz war kalt, nicht heiß. Ihre Hände schienen wie erfroren, und ihr Geist war benebelt und nutzlos. Das Amulett brannte an ihrer Brust. »Aber wo ist die Königin gewesen?« »Oh, das war ja das Schlimmste daran! Sie stand daneben und hat ihm dabei zugesehen! Kalt wie Eis hat sie ihren Bediensteten aufgetragen, der Skopos mitzuteilen, dass die Tat ausgeführt worden wäre und von jetzt an die Dinge sich so entwickeln würden, wie es am besten ist.« Und die ruhige, praktische und gelassene Hathui, eine gewöhnliche Frau mit so viel gesundem Menschen512 verstand und schlichtem Mut, dass sie die Aufmerksamkeit des Königs errungen hatte, brach zusammen und weinte; Tränen rannen ihr die Wangen hinab, ein Echo des monströsen Springbrunnens. Aber sie war in der Lage, leise zu weinen, damit ihr Schluchzen die Nachtwachen nicht hellhörig machen konnte. Rosvita nahm ihr die Lampe aus der Hand. »Wisst Ihr, wo Villam jetzt ist?« »Ich bin zuerst zu ihm gegangen, aber als wir zur Kammer des Königs zurückkehrt sind, war der König weg, und sein Verwalter sagte, dass er gegangen sei um bei der Skopos eine Audienz zu bekommen. Villam hat mich geschickt, um Euch zu wecken. Er sagte, wir sollten uns mit ihm im Palast der Skopos treffen. Er hat gedacht, wir kriegen König Henry möglicherweise zu fassen, bevor der Zauber sich zu sehr festfrisst, und dann -« Das Entsetzen wich einer neugierigen, beinahe strahlenden Klarheit. Selbst in der Dunkelheit, wo der zunehmende Viertelmond und der schwache Schimmer der Lampe ihr einziges Licht darstellten, konnte sie das Gesicht der Medusa erkennen. Der Marmor, aus dem sie gehauen war, war so weiß, dass er beinahe zu leuchten schien, leprös und blass - ein übler Geist, dazu ausersehen, die Klagen jener Reisenden zu belauschen, die an den Hof gekommen waren, um sich die Bürde ihrer armseligen Sorgen und Streitereien nehmen zu lassen. »Villam ist in Gefahr.« Die Worte klangen in ihrem Herzen wie die Totenglocke, die die Gestorbenen durch die Sphären zur Kammer des Lichts hinaufsang. »Wir dürfen nicht voreilig handeln, denn sie haben eine Macht, gegen die uns unser guter Glaube nicht hilft. Wir müssen Villam finden, bevor er irgendetwas Voreiliges tut. Kommt.« Hathui kannte die Bedienstetengänge im Palast der Skopos recht gut, da sie oft Nachrichten zwischen der Skopos und der Königin oder dem König hin und her gebracht hatte. Zwei Wachen am Eingang zur Küche plauderten einen Augenblick freundschaftlich mit ihr über die gegenwärtigen Favoriten beim Pferderennen in drei Tagen, dann ließen sie sie durch, 513 ohne Fragen zu stellen. Hathui führte Rosvita rasch in den Hauptteil des Palastes. Selbst mitten in der Nacht gingen ein paar Bedienstete durch die hinteren Gänge, trugen Abfälle oder Nachttöpfe hinaus, holten Wasser für die vielen Presbyter und edlen Gefolgsleute der Skopos, die sich am nächsten Morgen würden waschen müssen.
Niemand schien argwöhnisch zu sein, als Hathui fragte, ob sie den König gesehen hätten; der Adler konnte gut mit Worten umgehen und wirkte sehr Vertrauen erweckend, obwohl es Hathui sichtlich anstrengte, ein gleichgültiges Gesicht aufzusetzen. Aber am Ende wussten sie Bescheid, denn Bedienstete sehen alles: Der König war, begleitet von Presbyter Hugh, zur Brustwehr hinaufgegangen. Königin Adelheid hatten sie nicht gesehen. Eine Wendeltreppe führte von den Unterkünften der Wachen hinauf zur Brustwehr. Als sie oben angekommen waren, keuchte Rosvita schwer. Die Nachtluft, die über die Brustwehr strich, brachte zumindest einen Hauch von Herbst mit. Eine leichte Brise kühlte den Schweiß auf ihrer Stirn und in ihrem Nacken. Hathui machte einen Schritt auf den Wehrgang, der scharf am Klippenrand entlangführte; von dort hatte man einen Blick auf den Fluss, der jetzt allerdings von der Dunkelheit verborgen wurde. »Wartet.« Rosvita nahm ihr die Lampe ab und drückte zwischen feuchtem Daumen und Zeigefinger den Docht aus. »Es ist besser, wenn wir unbemerkt bleiben.« Sie warteten, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, aber phantasievolle Lampen in der Gestalt von Hähnen, Gänsen und Fröschen standen immer wieder in Abständen auf den Mauern, kleine Lichtflecken, die ihren Weg auf dem schmalen Gang beleuchteten. Wolkenfetzen verbargen die Sterne teilweise. War das Jedu, der Engel des Krieges, der dort bösartig in der Konstellation strahlte, die als der loyale Hund bekannt war? Hathui, die vorausging, streckte eine Hand aus, um sie in einem Teich aus Schatten zwischen zwei weiter auseinander stehenden Lampen zum Anhalten zu bewegen. 514 Ein schwacher Modergeruch drang vom Fluss herauf, die Begleiterscheinungen des Sommers. Wie die Ortsansässigen behaupteten, konnte nur der Winterregen diesen Gestank vertreiben. Der Wind drehte, und Rosvita zog ihren Ärmel vors Gesicht, um den Gestank nicht riechen zu müssen. Sie hörte die Stimmen von zwei Männern; die des einen klang ärgerlich, die des anderen sanft und ruhig wie die eines Heiligen. Sie ging - begleitet von Hathui - vorsichtig weiter, folgte immer der inneren Mauer, bis sie an die scharfkantige Ecke des Hauptturms gelangten. Von dort konnten sie in einen breiteren Teil des Ganges blicken, der sich zwischen dem eckigen Turm hinter ihnen und dem Zwillingsturm gegenüber befand. Drei Männer standen dort; der eine stumm neben einem Absatz, der zu einer anderen Treppe führte, der zweite lehnte anmutig an der taillenhohen Brüstung oberhalb des Abgrunds, und der dritte stand in der Mitte der beiden, als wollte er seinen Körper als Schild benutzen. Selbst ohne das Licht der beiden jeweils auf einem Dreifuß stehenden Lampen hätte Rosvita zwei von ihnen erkannt. Die Glocke rief zu den Vigilien. »Aber Markgraf Villam«, sagte Hugh höchst vernünftig. Er lehnte lässig an der Brüstung; der Wind spielte mit seinen Haaren und wirbelte die Ecken seines Presbyter-Umhangs hoch. »Ihr versteht den vollen Ernst der Gefahr nicht, die uns allen droht und die den Sterblichen verborgen ist. Wie meine Mutter tue ich alles, um dem König zu dienen.« Villam schien kurz davor, vor Wut auszuspucken. Sie konnte es an der Art sehen, wie er einen einzigen, bedrohlichen Schritt auf Hugh zu machte, wie seine Hand an den Schwertgriff fuhr. Hugh war unbewaffnet. »Ihr! Ihr ... Zauberer! Ich habe nie richtig begriffen, was Ihr in Zeitsenburg gemacht habt, aber der ganze Hof weiß, was Eure Mutter unter einer angemessenen Bestrafung für Euch versteht - für ihr goldenes Kind! Sie hat Euch erniedrigt, indem sie Euch als gewöhnlichen Frater nach Norden geschickt hat. Aber was würde sie wohl zu dem Verrat dieser Nacht sagen?« 515 »Welchen Verrat meint Ihr? König Henry geht mit mir zusammen zur Heiligen Mutter. Wer hat mit Euch gesprochen, Freund Villam?« Villam blickte den Mann an, der steif bei der Treppe stand. In diesem Augenblick begriff Rosvita, dass sie ihn nicht erkannt hatte; seine Haltung und sein Benehmen waren vollkommen falsch, ganz und gar nicht das ihres geliebten Königs. »Eure Majestät«, flehte Villam den König an. »Reiten wir denn nicht in zwei Tagen nach Wendar zurück, wo die Leute weinend darum bitten, dass Ihr zurückkehrt und ihnen helft?« »Wir werden nicht nach Wendar zurückkehren«, erwiderte Henry mit einer Stimme, die wie eine hohle Glocke klang. »Aber die Nachrichten von Theophanu! Die Überfälle der Qumaner, die die Marklande zerstören! Jeoffrey in Lavas ist von einer Dürre, einer Hungersnot und Banditen bedroht. Was ist mit Conrad, der bereits seine eigenen Intrigen spinnt? Zwei Adler sind gekommen und bitten Euch um Eure Rückkehr! Eure Majestät!« »Wir werden hier bleiben und Aosta vereinigen, und wir werden unsere Krone erhalten, Adelheid und ich. Wir werden zur Kaiserin und zum Kaiser gekrönt werden. Wir werden Botschafter in jedes Königreich entsenden, an jeden Ort, an dem eine Steinkrone mit sieben Steinen gekrönt ist, und dort werden sie darauf warten, ihre Pflicht zu tun, um die ganze Menschheit vor der bösartigen Zauberei der Verlorenen zu schützen.« »Aber ich bitte Euch, Majestät, das ist nicht sehr vernünftig. Die Kaiserkrone wird Euch bald vom Kopf fallen, wenn Ihr Wendar an die Qumaner verliert, oder an Conrad, der Eure Nichte geheiratet hat! Was ist mit Sapientia, die in den Marklanden kämpft? Was ist mit Theophanu, die einen Adler ausgeschickt hat, um Euch um Eure rasche Rückkehr zu bitten? Aosta muss warten, bis Ihr Eure Angelegenheiten in Wendar erledigt habt!«
»Und Mathilda zu unserer Erbin ernennen.« »Eure Majestät!« Der leise Gesang der Geistlichen und Presbyter, die die Vigilien anstimmten, drang zu ihnen herauf. Villams 516 Stimme klang, als stünde er kurz davor zu weinen. »Eure Majestät. Eure Kinder von Königin Sophia -!« »Mathilda zu meiner Erbin ernennen«, wiederholte Henry. Er hatte die Arme eng an die Seiten gepresst und bewegte nur die Hüfte, wie eine Statue, wie ein Sklave, der Angst um sein Leben hatte. Villam zog sein Schwert und wandte sich an Hugh. Der Presbyter hatte sich nicht bewegt, sondern sah nur zu, die eine Hand auf der Brüstung. Seine schlanken Finger strichen über das feste Holzgeländer, als würde eine Frau ihre Katze streicheln. »Ihr habt ihn verhext! Das ist nicht die Stimme des Königs! Das ist nicht der König! Ihr habt üble Zauberei benutzt, um seinen Körper zu beschmutzen und seinen Geist gefangen zu nehmen!« Es war unmöglich zu sagen, was als Nächstes geschah. Villam machte einen Satz nach vorn. Hugh wich zur Seite, so schnell wie ein Panther und so anmutig wie eine der Akrobatinnen, die sie am Abend zuvor noch bewundert hatte. Er zeigte sogar eine verwirrte Miene, als wäre er überrascht. Aber Villam prallte mit einem lauten Krachen gegen das Holzgeländer, das Schwert noch erhoben. Das Geländer zerbarst. Villam taumelte nach vorn, schrie auf, als ihm das Schwert aus den Fingern glitt. Hugh streckte ihm die Hand entgegen, aber der alte Markgraf hatte nur einen Arm. Es reichte nicht, um ihn zu retten. Er stürzte. Hathui schnappte laut nach Luft. Ihre Hand schloss sich um Rosvitas und blieb zunächst dort, so fest wie ein Schraubstock. Keine der Frauen konnte sich rühren, als Villams Wut- und Angstschrei leiser wurde und schließlich verstummte. König Henry ließ sich nicht im Geringsten anmerken, dass sein ältester, teuerster und vertrauenswürdigster Weggefährte gerade eben direkt vor seinen Augen in den Tod gestürzt war. Nach einem Augenblick, in dem Rosvita schon glaubte, sie wäre taub geworden, drangen wieder die entfernten Stimmen verschiedener Kapellen im Palast und unten in der Stadt gen Himmel; sie kannte die Messen so gut, dass ihr die Melodie- und Wortfetzen genügten, um den gesamten Psalm zu enthüllen. 517 »Ich rufe laut zu Gott, wenn Schmerz mich überfällt, aber Gott haben Ihre Hand zurückgehalten. Haben Sie mich vergessen, in der Dunkelheit der Nacht? Kennt der Herr kein Erbarmen mehr? Hat die Herrin ihre Gnade zurückgezogen?« »Kommt raus«, sagte Hugh. »Ich weiß, dass Ihr da seid.« Wie weich seine Stimme klang, und wie zart. Ganz und gar nicht bedrohlich. Ein Wirbelwind erfasste sie plötzlich, so wie eine unsichtbare Strömung ein Boot in einem rasch dahinfließenden Fluss umwerfen konnte. »Tretet vor, ich bitte Euch«, sagte er. Sie entzog ihre Hand Hathuis festem Griff, versuchte, den Adler wegzuschieben, versuchte, ihr irgendwie die Botschaft zu geben, dass sie weglaufen sollte, dass sie fliehen sollte, so lange es eine von ihnen noch konnte. Wer würde ihnen zu Hilfe kommen? Wem konnten sie trauen? Sie trat ins Licht und sagte das Einzige, von dem sie glaubte, dass der Adler darin ihre Botschaft erkennen konnte. »Ein Bastard wird seinen wahren Verdienst zeigen, wenn Verführung seinen Pfad kreuzt und die schlimmsten Geschichten, die er sich vorstellen kann, seine Aufmerksamkeit erringen.« »Schwester Rosvita!« Hugh blickte aufrichtig überrascht drein, als hätte er eine andere Person erwartet. »Ich bedaure, dass Ihr hier seid.« Er pfiff. Vier Wachen kamen die Stufen hoch, hielten nur kurz an, um sich vor dem König zu verneigen, bevor sie vor Hugh niederknieten. »Nehmt sie in Gewahrsam. Hütet euch vor den wüsten Anschuldigungen, die sie vielleicht ausstoßen wird, denn ich fürchte, ihr Herz ist vom Feind berührt worden.« Henry stand steif da und sah zu, als wäre er ein Fremder. Seine Miene war kalt und hart. Ganz sicher hatten sich seine Gesichtszüge nicht geändert, aber er sah ganz und gar nicht so aus wie der König, den sie kannte. »Kommt, Eure Majestät. Wir müssen zur Heiligen Mutter gehen.« Aber bevor Hugh die Treppe betrat, blieb er kurz neben Rosvi518 ta stehen. Er runzelte die" Stirn. »Ich habe das alles hier nicht gewollt, Schwester Rosvita, auch nicht das, was jetzt folgen muss. Ihr wisst, wie sehr ich Euch bewundere.« »Verräter«, sagte sie kühl. Das Entsetzen über Villams Tod brannte in ihrem Herzen, aber sie würde Hugh nicht sehen lassen, wie sehr es sie schmerzte. Zweifellos konnte er sie in einem winzigen Augenblick vernichten. Alles, was sie noch besaß, war ihr Verstand. Sie musste Zeit gewinnen, damit Hathui eine bessere Chance hatte zu entkommen. »Ist es möglich, dass alles, was ich jemals gelernt habe, falsch ist? Dass das Äußere nicht das Innere widerspiegelt? Kann es sein, dass Ihr einer würdigeren Seele dieses gut aussehende Äußere gestohlen habt, das Ihr tragt, als wäre es Euch von Gott gegeben worden ? Vertrauen Euch wegen Eurer Schönheit und Euren raffinierten Worten so viele, während die Finsternis Euer Herz zerfrisst? Fürchtet Ihr nicht das Urteil Gottes und die Schrecken des Abgrunds? Ist es möglich, dass Ihr die Königin und die Heilige Mutter mit Eurem Zauber und Euren Bescherungen gebunden habt? Was würde Eure Mutter sagen, wenn sie jetzt hier stehen und sehen würde, was ich sehe?«
»Genug!« Seine Wut flackerte nur kurz auf und erstarb rasch wieder, als er die Kontrolle über sich zurückerlangte. »>Der reine und ernste Geist hat die Leidenschaften vergessen<«, sagte er wie zu sich selbst als müsste er sich selbst an eine Lektion erinnern, die er noch nicht richtig gelernt hatte und die er sehnlichst zu verstehen versuchte. »Tugenden allein machen noch keinen Heiligem«, erwiderte Rosvita. Er seufzte und schritt weiter. »Was sollen wir mit ihr tun, Edelmann?«, fragte eine der Wachen. »Bringt sie in den Kerker. Ich werde mich später um sie kümmern.« Er und Henry schritten die breite Treppe hinab, und schon bald geriet der Schein ihrer Lampe außer Sicht. 519 Der Anführer der Wachen machte sich gar nicht erst die Mühe, mit ihr zu sprechen, sondern gestikulierte lediglich mit seinem Speer. Rosvita sah keinen Sinn darin, sich ihm zu widersetzen. Sie wurde den gleichen Weg zurückgeführt, den sie mit Hathui gekommen war - den Gang entlang zur Wendeltreppe der Bediensteten, die sich hinunter in den Palast wand, dann weiter in die Eingeweide des Hügels hinein, wo der Kerker lag, in dem die üblen Seelen eingesperrt wurden, die der Kirche zuwider gehandelt hatten. Die feuchte Luft bereitete ihr Schwierigkeiten beim Atmen; noch immer ging es weiter den dunklen Gang entlang. Schließlich wurde sie in eine Zelle geworfen, die kaum breiter als ihre ausgestreckten Arme war. Dennoch verzweifelte sie nicht ganz, als sie in tiefster Finsternis auf feuchtem, modrigem Stroh zurückgelassen wurde. Oh Gott, Villam war tot, ermordet durch einen Trick von Hugh. König Henry war zu einer Marionette geworden, die nach den Fäden eines anderen Mannes tanzte, und er war von dem gleichen Daemon besessen, den Hugh aus dem Steinkreis beim Kloster St. Ekatarina befreit hatte. Aber seit sie von Hugh gefangen genommen worden war, hatte sie nicht den geringsten Hinweis auf Hathui gesehen. 6 Herzogin Rotrudis lag im Sterben. Wegen des widerlichen Gestanks ihrer Krankheit war die Luft in ihrem Schlafzimmer beinahe unerträglich. Sanglant stand so nahe wie möglich am Fenster, obwohl es gar keine frische Brise gab, die den Raum hätte durchlüften können. Auch die angezündeten Fackeln und der Weihrauch der drei Brennschalen, die im Raum verteilt waren, nützten nichts. Ihre pflichtbewussten Töchter standen neben ihrem Bett und stritten sich; sie schienen die halb bewusstlose Frau, die leise stöhnend im Bett lag, nicht weiter zu beachten. 520 »Nein, ich bin die Erstgeborene. Diakonissin Rowena wird das bestätigen!« »Aber nur, weil du ihr versprochen hast, dass sie Bischöfin wird, wenn Mutter erst einmal tot ist! Alle wissen, dass ich das Geburtsmal auf der Brust habe und deshalb die Erstgeborene bin.« Die beiden Frauen erweckten den Eindruck, als würden sie jeden Augenblick aufeinander losgehen, und ihre jeweiligen Begleiterinnen und Begleiter wirkten wie halb verhungerte Hunde, die sich zum Kampf um einen saftigen Knochen bereit machten. Edelmann Wichman räkelte sich derweil auf dem Stuhl der Herzogin, die Beine weit von sich gestreckt, die Arme vor der Brust verschränkt. Ein verschmitztes Grinsen lag auf seinem Gesicht, als er zusah, wie seine älteren Schwestern sich keifend stritten, während ihre Mutter unbeachtet neben ihnen lag. Er hatte seiner Mutter nicht einmal die Hand geküsst, als er den Raum betreten hatte; er hatte sie auch nicht richtig angesehen, sondern nur kurz das Gesicht verzogen, als er des zusammengesunkenen Körpers der einst so robusten Frau gewahr wurde. »Ich bitte Euch, Cousinen«, sagte Sapientia und versuchte, zwischen die beiden Frauen zu treten. »Dieser Streit führt doch zu nichts. Sicherlich weiß Eure Mutter, wer zuerst geboren wurde. Sicherlich war eine Hebamme bei der Geburt anwesend.« »Die Hebamme ist tot, von Imma vergiftet!« »Lügnerin und Hure! Wir waren keine fünf Jahre alt, als die alte Frau gestorben ist. Ich hatte nichts damit zu tun. Aber du hast niemals erklären können, wie es dazu gekommen ist, dass die Berichte der Diakonissin vor sechs Jahren dem Feuer zum Opfer gefallen sind.« »Oh! Jetzt tust du ja so, als hättest nicht du die Idee dazu gehabt, Sophie!« Wichman wurde erst aufmerksamer, als sein Bruder Zwentibold auf einer Trage hereingebracht und diese neben dem Herd abgestellt wurde. Auch er lag aufgrund der Wunden, die er sich auf dem Feld zugezogen hatte, im Sterben. Zwentibold war still, abge521 sehen von dem gequälten Stöhnen, das er ab und zu von sich gab. Eine hübsche junge Frau eilte zu ihm, offensichtlich seine gegenwärtige Konkubine, und benetzte ihm die Lippen mit Wein. Es war verführerisch, den Blick auf ihrem Körper ruhen zu lassen, der sich unter ihrem dünnen Gewand nur zu deutlich abzeichnete, wenig verbarg und viel versprach. Es war nicht schwer zu bemerken, dass Wichman seinen Blick nicht ein einziges Mal von ihr abwandte. »Wie ist es möglich, dass Ihr nicht wisst, wer zuerst geboren wurde?«, fragte Sapientia erstaunt und blickte von der einen Schwester zur anderen. Die beiden sahen sich mit ihren breiten Gesichtern und dem geröteten Teint
sehr ähnlich, große Frauen, die offensichtlich viele Jahre gut ernährt worden waren. Imma hatte die Nase ihrer Mutter, während Sophie die rötlich braunen Haare ihres Vaters besaß. Die unschuldige Frage brachte einen Schwall von neuen Anklagen und Vorwürfen hervor, die die beiden abwechselnd gegeneinander ausstießen. »Sie hat dich immer vorgezogen!« »Nein! Sie hat nur so getan, als würde sie mich vorziehen, denn sie wollte mich wie einen Hund an der kurzen Leine führen. Du bist diejenige gewesen, die alle Freiheiten bekommen hat. Du bist diejenige gewesen, die immer etwas bekommen hat, weil alle dachten, dass du nach dem Titel trachten würdest!« »Ich bitte Euch, Cousinen, dies ist kein respektvolles Verhalten. Herzogin Rotrudis kann jedes Wort hören -« »Als würde sie nicht jedes einzelne Wort genießen, die alte Hexe!« »Ha! Du hast an der Honigwabe nur zu gern geleckt, so lange noch Honig dran war!« Sapientia, die nur halb so dick war wie die beiden Schwestern und nichts von ihrem schrillen Gehabe hatte, wirkte hilflos und unfähig, sie aufzuhalten. Währenddessen kamen immer mehr Edelleute und Gefolgsleute herein - sie waren entweder begierig auf diese Darbietung oder entsetzt darüber. Sanglant beobachtete 522 Sapientia und ihre vergeblichen Versuche, die beiden zu beruhigen. Sie wusste, was sie eigentlich hätte tun müssen, aber sie besaß nicht die innere Autorität, es zu tun. Und so sahen die beiden Schwestern keinerlei Grund, ihr zuzuhören. Wichman stand auf und streckte sich, bevor er zu Zwentibolds Trage ging. Die hübsche Frau wich zurück, aber hier in Osterburg gab es keine Möglichkeit, dem Sohn der herrschenden Herzogin zu entkommen. Schließlich hatte auch Zwentibold sie sich - mit oder ohne ihr Einverständnis - genommen, und Wichman hatte ganz offensichtlich beschlossen, diesbezüglich in die Fußstapfen seines Bruders zu treten. Wichmans Gesicht war völlig verzerrt von dem hässlichen Funken unbeherrschter Begierde, als er mit seiner Hand über den Hintern des Mädchens fuhr, um zu prüfen, wie rund er war. In diesem Augenblick griff Sanglant ein. Er packte Wichmans anderen Arm und riss ihn von ihr weg, sodass er neben seinen Schwestern zum Stehen kam. Wichman wehrte sich, versuchte sich loszureißen. »Ich würde das nicht tun, wenn ich an Eurer Stelle wäre«, sagte Sanglant leise. »Ich beanspruche sie für mich, und ich werde Euch die Eier abschneiden, wenn Ihr sie berührt. Ihr wisst, was mein Versprechen wert ist, Cousin.« Kochend vor Wut fuhr sich Wichman durch die Haare und warf Zwentibolds Konkubine einen lüsternen Blick zu. Aber er blieb stehen, wo er war, neben Sophie. Jetzt stellte sich Sanglant zu den beiden Schwestern. Selbst Sapientia trat instinktiv einen Schritt zurück, um ihm Platz zu machen. Er musste sich anstrengen, nicht zu würgen, da ihm der Gestank vom Bett in die Nase stieg. Herzogin Rotrudis war nur noch Haut und Knochen. Ihre einst runden Wangen waren jetzt hohl, die Augen eingesunken und dunkel. Sanglant war sich nicht sicher, ob sie überhaupt irgendetwas von dem mitbekam, was um sie herum vorging. Er erinnerte sich noch gut an die Zeit, als sie gesund gewesen war. Er hatte sie nie gemocht, aber niemand hätte behaupten kön523 nen, dass Rotrudis das Herzogtum von Saony nicht wirkungsvoll und mit eiserner Hand regiert hätte. »Ich bitte Euch, Cousinen«, sagte er jetzt. »Antwortet mir ehrlich. Hasst Ihr Euch gegenseitig mehr, als Ihr Eure gesegnete Mutter hasst? Oder ist es andersherum?« Schlagartig kehrte Stille ein, unterbrochen lediglich von dem überraschten Luftschnappen eines Verwalters und dem leisen Gemurmel der Herzogin. Hatte sie Sanglants Worte gehört, oder versank sie nur in den Qualen ihrer Krankheit ? »Es scheint mir doch, als hätte sie Euch nur wenig gemocht, angesichts der großen Mühe, die sie dafür aufgewandt hat, dass Ihr Euch bis ans Ende Eurer Tage darum streitet, wer wirklich die Erstgeborene ist. Sie muss es schließlich gewusst haben - es sei denn, die Hebamme hat Euch vertauscht. Wenn Ihr aber wirklich nicht wisst, wer die Ältere ist, hat Eure Mutter es Euch vermutlich aus ganz bestimmten, persönlichen Gründen nicht gesagt.« Wichman lachte. »Sie hat euch zum Narren gehalten!«, krähte er. »All die Jahre hat sie euch vorenthalten, wen Gott zur Erbin bestimmen würden. Sie hat es die ganze Zeit über gewusst und wollte nur zusehen, welchen Tanz ihr deswegen aufführt, ihr blöden Kühe.« Sophie versetzte ihm eine Ohrfeige. Er grunzte, streckte die Hand nach ihr aus, wurde jedoch von Imma zurückgestoßen, die ihrer Schwester zu Hilfe kam. Die Konkubine, die bei dem bewusstlosen Zwentibold kauerte, begann zu weinen. Rotrudis rührte sich, ihre Hände verkrallten sich in der Bettdecke, und ein ersticktes Wort kam ihr über die Lippen, ging jedoch im Lärm unter, den ihre schreienden Kinder und die anderen erregten Anwesenden machten. »Ruhe!«, befahl Sanglant. »Ruhe!«, befahl auch Sapientia, als der Lärm sich soweit gelegt hatte, dass man sie verstehen konnte. Alle wandten sich Sanglant zu. »Da gibt es doch noch ein anderes Kind, nicht wahr?«, fragte er. 524 Als offensichtlich wurde, dass seine Schwestern nicht vorhatten, darauf zu antworten, meldete sich Wichman zu
Wort. »Reginar, der Tugendbold. Er ist jetzt Abt von Fiersbarg, und wir sind froh, dass wir ihn los sind.« »Dann wird er nicht in der Position sein, das Erbe für sich zu fordern?« Jetzt wurden auch die Schwestern aufmerksam. »Er ist der Jüngste, und er ist ein Junge«, wandte Imma ein. »In seiner Position kann er nicht erwarten, das Herzogtum zu erben.« »Ist es nicht so«, fuhr Sanglant fort, »dass König Arnulf der Jüngere das Herzogtum Rotrudis übergeben hat, als er Henry zu seinem Erben ernannte? Ihr werdet sicherlich verstehen, dass der König, sollte er mit Eurer Verwaltung des Herzogtums unzufrieden sein, es auch einem anderen Enkelkind von Arnulf übertragen kann, einem würdigeren und fähigeren.« »Wie könnt Ihr so etwas vorschlagen!«, schrie Sophie. »Kraft welcher Autorität wagt Ihr es, auf diese arrogante Weise mit uns zu sprechen?«, verlangte Imma zu wissen. »Kraft der Autorität des Heeres, das da draußen vor Euren Mauern steht und Euch davor bewahrt hat, von den Qumanern verjagt oder ermordet zu werden.« Huschte da etwa ein schwaches Lächeln der Erheiterung über das eingesunkene Gesicht der Frau auf dem Totenbett? Es war unmöglich zu sagen, da kein anderes Geräusch mehr zu hören war, als die wütenden Kinder ihrem Protest lauthals Luft verschafften. Sanglant lächelte bloß, packte Sapientia am Arm und zog sie aus dem Raum und die Treppen hinunter zum unteren Stockwerk. »Du hast sie verärgert«, sagte sie. »Sie sind nicht besser als eine Meute Schakale. Aber das, was eben geschehen ist, wird sie für ein paar Tage ernüchtern.« Sie blickte ihn von der Seite an. Ihre Augen waren noch immer rot vom Weinen, aber immerhin griff sie ihn nicht an, weil er an ihrer Stelle das Wort ergriffen hatte. Durch die Ehe mit Bayan waren ihre schlimmsten Impulse etwas besänftigt worden; vielleicht 525 hatte sie sich auch daran gewöhnt, der Führung einer stärkeren Person zu folgen. »Würde Vater sie wirklich enterben? Möchtest du das Herzogtum von Saony erben?« »Nein, das will ich nicht. Aber es tut dem Königreich nicht gut, wenn Saony von einem Haufen Narren und Streitsüchtiger regiert wird. Vergiss nicht, dass unser Urgroßvater, der erste Henry, Herzog von Saony gewesen ist. Dies hier ist die Basis für die Macht unserer Familie. Der Herrscher sollte besser Theophanu zur Herzogin von Saony ernennen.« Er machte eine Pause, wartete auf eine stürmische Reaktion, denn er wusste, wie eifersüchtig Sapientia auf Theophanu war, doch seine Schwester sagte nichts, hörte nur zu. Sie schritten schweigend den langen Gang entlang, und ihre Schritte hallten leise auf dem Holz, während Sapientias Begleitpersonen ihr in angemessenem Abstand folgten und dabei miteinander tuschelten. Das Fackellicht ließ unruhige Schatten an den Wänden tanzen. Viele Edelleute, die nicht den entsprechenden Rang oder die notwendigen Verbindungen besaßen, um in die privaten Gemächer der Herzogin eingelassen zu werden, hatten sich eingefunden, und auch sie beäugten sie und flüsterten leise, als der Prinz und die Prinzessin vorbeigingen. »Theophanu hat genauso viel Recht auf das Herzogtum wie sie, und sie eignet sich viel besser zum Herrschen.« »Sie ist in Quedlingham. Wir könnten sie herholen lassen.« »Es würde die da oben nachdenklich stimmen, wenn sie mit ihrem Gefolge herkäme. Aber weder du noch ich besitzen die Autorität, Theo zur Erbin von Rotrudis zu erklären.« »Ich besitze diese Autorität. Vater hat mich zu seiner Erbin ernannt!« Er hielt sie davon ab, weiterzusprechen, indem er sie an den Handgelenken packte und auf die Veranda zog. Lampen hingen an den Dachvorsprüngen, schwankten in der Brise. Eine Dunstschicht bedeckte den Nachthimmel und verdeckte die Sterne. »Tust du das, Sapientia?«, fragte er ruhig. »Besitzt du diese Autorität?« 526 Sie brach in Tränen aus.' Auf dem Hof des herzoglichen Palastes ging es auch spät in der Nacht noch geschäftig zu: Karren brachten Tote und Verwundete oder Beute vom Schlachtfeld herein; Bedienstete kümmerten sich trotz der späten Stunde um ihre Aufgaben; Soldaten ruhten sich hier aus, weil sie sonst keinen Platz hatten, wo sie sich hätten hinlegen können. Die Bevölkerung von Osterburg hatte deutlich zugenommen, was eine Folge der Belagerung war, und selbst innerhalb der Grenzen des Palastes konnte man die vielen Körper riechen. Ständig hörte er das unterschwellige Summen der vielen, gesenkten Stimmen - einzelne Wortfetzen, Flüche, unterdrücktes Gelächter, herzzerreißendes Weinen, geflüsterte Gerüchte. Er hatte gelernt, in solch engen Unterkünften die Geräusche auszublenden. »Sie folgen mir nicht«, schluchzte sie heiser. »Sie trauen mir nicht. Es war Bayan, dem sie gefolgt sind und dem sie die ganze Zeit über vertraut haben. Mit Bayan an meiner Seite hätte ich regieren können, denn er hat mich stark gemacht. Aber was soll ich jetzt tun?« Er führte sie über den Hof in die Kapelle. Lampen umgaben das Steingebäude, und eine Ehrengarde aus ungrianischen Soldaten stand mit gesenkten Köpfen zu beiden Seiten der Tür. Sie knieten nieder, als Sapientia sich ihnen näherte, doch als sie den Arm von Edelfrau Brigida nahm, um sich von ihr in die Kapelle geleiten zu
lassen, wo sie beten wollte, winkte der Hauptmann der Wachen Sanglant zu sich. »Prinz Sanglant, was habt Ihr für morgen geplant?« »Wir müssen beim ersten Tageslicht aufbrechen, um so viele Qumaner wie möglich zu erwischen. Wenn wir ihnen jetzt das Rückgrat brechen, werden sie für lange Zeit nicht in der Lage sein, neue Überfälle durchzuführen. Vielleicht überhaupt nicht mehr, wenn Gott so wollen.« »Ohne unseren guten Herrn Prinz Bayan können wir nicht lange in diesem Land bleiben«, sagte der Hauptmann mit ausdruckslosem Blick auf die Frau, die für ihn übersetzte. 527 »Dann bleibt so lange bei mir, wie es dauert, die Qumaner zu vernichten. Das ist alles, worum ich Euch bitte.« »Um Euretwillen, Prinz Sanglant, und um der Ehre unseres guten Prinzen Bayan willen werden wir Euch also noch eine Weile begleiten.« Die Übersetzerin des ungrianischen Hauptmanns war gleichzeitig auch seine Konkubine, eine drahtige, hitzköpfige Mailänderin, die zu einiger Berühmtheit gelangt war, als sie während des Marsches einen gefangen genommenen Banditen zu Tode gepeitscht hatte, weil er - wie sie behauptete - ihre Schwester vergewaltigt hatte. Es ging das beständige Gerücht, dass der Mann weder ein Bandit noch ein Vergewaltiger gewesen war, sondern ihr unschuldiger Ehemann, der sie zurück nach Hause hatte holen wollen, und dass sie ihn getötet hatte, um bei ihrem ungrianischen Geliebten bleiben zu können. Sie war Sanglant natürlich schon zuvor im Lager aufgefallen, und sie fiel ihm auch jetzt wieder auf. Sie schien zu jenen Frauen zu gehören, die mitten in einer Liebesnacht Blut vergießen konnten - was man gewöhnlich erst zu spät bemerkte. »Ich bitte Euch, Prinz Sanglant«, fügte sie hinzu, nachdem sie die Worte des Hauptmanns übersetzt hatte. »Es heißt, Ihr würdet die Ungrianer sehr gut kennen. Sind sie Männer von Ehre? Er hat mir angeboten, mich mit nach Hause zu nehmen, aber er hat bereits eine Frau, und ich bin nur eine Gewöhnliche, nicht die Sorte Frau, die ein Mann wie er heiraten würde. Er sagt, er würde für mich und die Kinder, falls ich welche von ihm bekommen sollte, sorgen, als wären sie rechtmäßig. Haltet Ihr das für wahrscheinlich?« »Ungria ist von den Marklanden weit entfernt. Wenn du erst einmal dort bist, wirst du deine alte Heimat vermutlich nie wieder sehen.« Sie spuckte aus, Ärger stand in ihrem Gesicht. Ihr Hauptmann grinste und verbarg seine Erheiterung dann rasch hinter einer finsteren Miene. Aber vielleicht war er auch nur besorgt, dass San528 glant sie beleidigt haben" könnte, was ihn in eine schwierige Lage gebracht hätte - hin und her gerissen zwischen der Verpflichtung, eine Beleidigung zu rächen und damit einen Prinzen zu verärgern, und der Sorge, seine Ehre zu verlieren, indem er nichts tat. Die Frau war schlau genug, sein Unbehagen zu bemerken, und sprach rasch ein paar Worte zu ihm, bevor sie sich wieder Sanglant zuwandte. »Ich habe in meiner alten Heimat nichts, zu dem ich zurückkehren könnte. Aber ich werde mich und irgendwelche Kinder, die ich haben werde, nicht zur Armut oder Sklaverei verdammen.« »Niemand kann sagen, was in der Zukunft liegt. Wer immer dir etwas anderes erzählt, lügt. Aber selbst Prinz Bayan hatte mehr als eine Frau, bevor er meine Schwester geheiratet hat, und all seine Kinder werden als rechtmäßig anerkannt und haben einen Anspruch auf einen Teil seines Vermögens. Selbst dann, wenn dein Hauptmann nach Sicht der Kirche nur eine Frau haben kann, nehme ich an, dass er die alten Bräuche pflegt. Wenn er dich jetzt nicht schlägt, wird er es vermutlich auch dann nicht tun, wenn du mit ihm nach Ungria zurückkehrst. Ich sehe keinen Grund, wieso das Leben dort für dich zur Qual werden sollte, abgesehen davon, dass es ein fremdes Land ist und dass es in jedem fremden Land schwer ist, wendische Kinder zu erziehen.« »Ihr seid selbst ein Bastard, nicht?« Sie spielte mit dem Ende ihres Gürtels, der fest um ihre Taille geschlungen war. Er war hübsch bestickt und mit Goldfäden durchwirkt - ein kostbares Stück für eine Frau ihres Ranges. »Was kümmert es mich, ob meine Kinder Halbblute sind, so lange sie eine bessere Stellung im Leben haben? Wieso sollten meine Söhne nicht darauf hoffen können, in der Streitmacht eines Edelmannes mitzureiten, meine Töchter, die Schlüssel einer Schatztruhe zu bewachen, die sie verwalten und benutzen können? In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, hat nicht eine einzige Familie ein Pferd besessen. Jetzt laufe ich nicht mehr, sondern reite!« Ihre Worte trafen ihn mit voller Wucht. Er hatte so wenig vom Leben erwartet, war zum Hauptmann der Drachen des Königs er529 zogen worden, um dem König und Wendar zu dienen, nichts weiter. Aber er wollte diesen Pfad nicht weiter beschreiten. Er hatte keine Lust mehr dazu. Er hatte ein Kind, auf das er Rücksicht nehmen musste. »Geh nach Ungria«, sagte er sanft. »Ich bete, dass Gott mit dir gehen werden.« In der Kapelle lag Bayans Leiche aufgebahrt vor dem Herdfeuer der Herrin. Seine Mutter war draußen vor den Mauern der Stadt, verborgen in ihrem Wagen und bewacht von ihren Sklaven und einem Kontingent ungrianischer Soldaten. Es ging das Gerücht, dass ihre Begleiter um ein Fass Honig gebeten hatten, um ihren Körper zu konservieren. Bruder Breschius lag vor der verhüllten Leiche Bayans; er weinte noch immer herzzerreißend um den Verlust seines Herrn. Sapientia fiel neben ihm auf die Knie. Sie musste sich von zwei Begleiterinnen stützen lassen, und
eine dritte Frau legte ihr einen leichten Schal über den Kopf, um ihr Gesicht vor den Geistlichen und den anderen Trauernden in der Kirche zu verbergen. Sanglant hatte jedoch bereits alle Tränen vergossen, als er in der Dämmerung neben der schlaffen, quer über ein Pferd geworfenen Leiche durch Osterburgs Tor geritten war. Er fing Heriberts Blick auf, und der Geistliche drängte sich durch die Menge zu ihm. »Was hast du gehört?«, fragte Sanglant leise. »Nur wenig. Sie trauern alle noch viel zu sehr, um über Bayans Tod hinausdenken zu können. Er war ein guter Mann.« »Wahre Worte.« Er betrachtete seine weinende Schwester und ihren toten Ehemann, der vom Schein der Lampe beleuchtet wurde. Eine Wandmalerei hinter dem Altar, die allerdings wegen der flackernden Schatten der Öllampen nicht deutlich zu erkennen war, zeigte das Martyrium von St. Justinian, der den Tod einer Heirat mit einer ungläubigen Königin vorgezogen hatte. »Sapientia könnte Herzogin von Saony werden.« »Seltsame Worte, Prinz. Ich bin nicht sicher, ob ich dich gerade richtig verstanden habe,« 530 »Doch, du hast schon richtig gehört, Heribert. Bleib noch ein bisschen, bitte. Ich habe in der Kammer meiner Tante den Fuchs losgelassen. Ich bin sicher, sie werden auch bald hier davon sprechen, und ich möchte gerne wissen, was sie dazu sagen.« Heribert lächelte spöttisch. »Ein etwas holpriger Versuch einer Intrige, aber für den Anfang wird es genügen.« »Auch Darre ist nicht an einem Tag erbaut worden.« Er lachte, wurde aber rasch wieder ernst, als die Leute neben ihm ihn anstarrten; sie wunderten sich, wer so dreist sein und die Trauernden auf solche Weise stören konnte. Glücklicherweise hatte Sapientia ihn nicht gehört. »Wo habe ich diese Zeile nur gehört? Ich werde mich bald in einen Geistlichen verwandeln.« »Nein, mein Freund, niemand wird dich jemals mit einem Geistlichen verwechseln.« Ein qualvoller Schrei von draußen unterbrach das gleichmäßige Gemurmel der Gebete. Schon bald waren auch andere Rufe und Wehklagen zu hören. Ein Mann kam in die Kapelle gestürzt. »Edelmann Zwentibold ist tot!« Sanglant ging zum Herdfeuer der Herrin und kniete dort nieder, fügte rasch noch ein Gebet für Bayan hinzu, bevor er sich erhob und nach draußen ging. Die engen Räume machten ihm zu schaffen. Er brauchte Platz, um auf und ab schreiten zu können. Im dunklen Hof erhaschte er einen Blick auf eine vertraute Gestalt, die sich mit einer widerspenstigen Frau im Schlepptau auf das Tor zubewegte. »Wichman! Cousin!« Wichman hatte wenig Zeit verstreichen lassen, die Konkubine von Zwentibold an sich zu reißen. Zweifellos wollte er sie in ein sicheres Haus in der Stadt zerren, wo Sanglant sie unter all den vielen Flüchtlingen niemals finden würde. Mit einem angeekelten Schnauben blieb Wichman stehen und drehte sich zu ihm um. Die Konkubine wand ihren Arm aus seinem Griff. Sie sah aus, als wollte sie davonstürzen, aber sie zögerte, als sie Sanglant näher kommen sah. Sie richtete sich auf, strich 531 das Kleid über ihrem Bauch glatt. Der Stoff war so seidig, dass er eng am Körper klebte, die Form ihrer Brüste enthüllte und die Länge ihrer Oberschenkel erahnen ließ sowie den verborgenen Schatz, zu dem ein Mann wohl Zugang zu gewinnen trachtete, sollte er ihre Gunst errungen haben - oder sie einfach in Besitz nehmen. Sie war ziemlich hübsch, voll entwickelt und willig: kein Wunder, dass Zwentibold sie zu seiner Konkubine gemacht hatte. »Ich danke Euch«, sagte Sanglant zu Wichman, ihn dabei finster anstarrend, »dass Ihr sie mir gebracht habt. Ich bin in der Kapelle gewesen und habe für die Toten gebetet.« Sanglant kannte die Männer gut genug, um zu wissen, dass Wichman darüber nachdachte, gegen ihn zu kämpfen, aber dieser Impuls verflog rasch wieder. Wichman traute sich nicht, ihn herauszufordern. Sie beide wussten das. Schließlich drehte Wichman sich um und stapfte davon. »Mein Prinz.« Sie versuchte eine unbeholfene Geste des Gehorsams, zur Hälfte Verbeugung, zur Hälfte ein Bücken, das einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Brüste offenbarte. Er konnte sogar die Brustwarzen sehen, wo der Ausschnitt aufklaffte. Ihre Stimme zitterte, als würde sie Tränen unterdrücken. »Ich schulde Euch meinen Dank, mein Prinz. Ich habe so viel Angst vor Edelmann Wichman gehabt, nachdem er meiner Schwester das angetan hat.« Nein, in der Tat, niemand würde ihn je mit einem Geistlichen verwechseln. »Wie heißt du?« Sie hatte einen starken Akzent. »Ich heiße Marcovefa.« »Bist du aus Salia? Wie bist du nach Osterburg gekommen?« Ihr Blick war scheuer als ihr Körper, der immer näher kam - so nah, dass er schon erwartete, zu spüren, wie der Stoff ihres Gewandes über seine Hände streifte ... als Aufforderung, das zu berühren, was darunter lag. »Meine Schwester und ich sind als Bedienstete mit einer Edelfrau aus Salia gekommen. Ihre Eltern haben sie mit Edelmann Zwentibold verheiratet, damit sie dem Krieg aus dem Weg gehen konnte.« 532 »Welchen Krieg meinst du?« »Nun, mein Prinz, natürlich den, den die Brüder des Königs und seine Cousins und sein ältester Sohn um die Krone von Salia führen. Männer kämpfen um das, was sie am meisten haben wollen.« Ihr scheuer Blick, die Art, wie sie ihn durch die halb geschlossenen Wimpern von unten ansah, veranlasste ihn, einen Schritt
zurückzuweichen. Es war eine extrem warme Nacht, selbst für die frühe Herbstzeit. Wann war es nur so heiß geworden? »Edelmann Zwentibold ist auf meine Schwester Merofled aufmerksam geworden, nachdem unsere Herrin krank geworden ist. Aber Edelmann Wichman hat sie eines Tages vergewaltigt, und sie konnte die Scham darüber nicht ertragen. Gott, sie hat sich umgebracht!« Mit dem Handrücken ihrer hübschen, nicht von Arbeit gezeichneten Hand wischte sie eine Träne weg. »Ich habe keine Familie mehr. Meine Eltern sind tot. Ich glaube, ich habe noch einen Bruder in Salia, aber ich weiß nicht, wie ich jemals wieder dorthin zurückkehren könnte. Meine Schwester ist meine Familie gewesen. Jetzt ist sie tot, und ich werde ihr nie wieder begegnen, nicht einmal in der Kammer des Lichts, denn sie hat sich das Leben genommen. Ich hasse Edelmann Wichman. Ich bitte Euch, Eure Hoheit, lasst nicht zu, dass er mich bekommt, denn ich sehe keinen Grund, wieso ich meiner Schwester nicht in einen schändlichen Tod folgen sollte, wenn er mich zwingt, seine Grausamkeiten zu erdulden.« Jetzt lehnte sie sich tatsächlich an ihn, griff Hilfe suchend nach seinen Schultern, während sie ihren weichen, üppigen Körper an ihn schmiegte. Mit einiger Mühe löste er sich sanft von ihr. »Wo ist Edelmann Zwentibolds Frau jetzt?« »Im Kloster St. Ursula. Sie ist immer so krank, und sie betet zu Gott, dass sie geheilt wird.« »Was wird sie tun -jetzt, da Edelmann Zwentibold tot ist?« Sie weinte, offensichtlich aufrichtig. »Ich weiß es nicht, Eure Hoheit. Er war ein anständiger Mann, der Beste von diesem ganzen traurigen Haufen!« Sie errötete und zog abrupt den Kopf ein. »Ich bitte um Vergebung, mein Prinz.« 533 »Würde deine Herrin dich jetzt zurücknehmen, wenn du ins Kloster St. Ursula eintreten würdest?« »Um das Leben einer Nonne zu führen? Das würde mir nicht gefallen, den ganzen Tag zu beten!« Sie schmiegte sich wieder an ihn, drückte ihre Hüfte gegen seine, ließ ihre Hände auf Erkundungsreise gehen. »Aber Ihr würdet mir gefallen. Ich könnte Euch sehr viel Freude bereiten, mein Prinz.« Wieso eigentlich nicht? Liath hatte ihn verlassen und würde vielleicht nie mehr zurückkehren - genauso, wie Alia Henry verlassen hatte. Alia hatte sich überhaupt nichts aus Henry gemacht. Aber Henry hatte nicht zugelassen, dass sein Ärger darüber ihn etwas tun ließ, von dem er wusste, dass es nicht recht war. Vielleicht war Zwentibolds Konkubine eine anständige Frau, die das Einzige tat, was sie kannte, um für sich einen Ort der Zuflucht zu finden. Vielleicht war sie nur eine Mitläuferin, die schöne Kleider und gutes Essen wollte, wann immer sie etwas davon bekommen konnte. Ein anderer Mann, eine andere Frau mochten sich durchaus nehmen, was sie kriegen konnten, und es danach achtlos wegwerfen, ohne an die Folgen zu denken. Aber Sanglant wusste jetzt, wie es sich anfühlte, verlassen zu werden. Er hatte Waltharia über den Tod des Kindes trauern hören, das sie zusammen gehabt hatten - das Kind, das er niemals kennen gelernt hatte, das er nicht hatte kennen lernen dürfen. Was war, wenn Frederun in Gent ebenfalls schwanger von ihm geworden war? Was würde sie tun mit einem Bastard-Kind, ohne eine Familie, die ihr zur Seite stand? Er hatte ihr nicht einmal eine Nachricht geschickt, um herauszufinden, was aus ihr geworden war! Er hatte sie noch viel gedankenloser zurückgelassen, als Liath es mit ihm getan hatte, damals, als sie ihn verlassen hatte. »Nein«, murmelte er in dem Wissen, dass diese Gedanken unfair gegenüber Liath waren. Hatte er nicht ihre Stimme in Gent gehört? Hatte sie ihm nicht zugerufen: »Warte auf mich, ich bitte dich. Hilf mir, wenn du kannst, denn ich bin hier verloren.« Die Wut auf seine Mutter hatte ihn betäubt. Er hatte das 534 Schlimmste glauben wollen, und hatte es auch getan. Wenn er Liath jemals wieder fand, sollte er sich vielleicht erst einmal in Ruhe anhören, was sie zu sagen hatte. »Aber wenn Ihr mich nicht haben wollt, was soll ich dann tun?«, flehte Marcovefa ihn an, immer noch dicht an ihn geschmiegt. »Mein Prinz.« »Gedankt seien Gott.« Er wandte sich von Marcovefa ab, als sein guter Freund mit der Lampe in der Hand herbeigeeilt kam. »Heribert, du kommst gerade zur rechten Zeit. Sorge dafür, dass diese Frau ein paar Sceattas erhält, genug, damit sie irgendein Geschäft eröffnen, nach Salia zurückkehren oder es als Mitgift für ein Kloster benutzen kann.« Heribert wölbte eine Augenbraue, aber seine Miene blieb ernst. »Wie du willst, Prinz.« Marcovefa war bei Sanglants Worten zurückgewichen, aber jetzt rückte sie Heribert auf die Pelle. Vielleicht glaubte sie, ihre Tricks würden bei ihm funktionieren. Sanglant lächelte leicht, dann runzelte er die Stirn, als Heribert fortfuhr. »Du solltest dich um deinen Bruder kümmern. Es gibt Ärger.« Es war eine Erleichterung, die Stufen des Steinturms zu erklimmen; der Turm zählte zum ältesten Teil des herzoglichen Palastes, wo edle Gefangene in einer zugigen Kammer hinter einer robusten, mit Eisenbändern beschlagenen Tür eingesperrt wurden. Sanglant hatte seine eigenen Männer dazu abgestellt, Ekkehards Tür zu bewachen, denn er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte; sie würden die Leute daran hindern, den vier Männern, die sich selbst als Verräter gebrandmarkt hatten, Schaden zuzufügen. »Es gibt Ärger«, sagte Feldwebel Cobbo, als er Sanglant sah. Immersieg lächelte nervös. »Der Hauptmann ist
mit den Edelfrauen reingegangen.« »Welche Edelfrauen könnten das sein ? Doch wohl nicht meine Schwester?« Er hatte die Vision, dass Sapientia ihren Bruder mit dem Breitschwert zu erschlagen versuchte, doch Ekkehard war trotz seiner Jugend größer und kräftiger als seine ältere Schwes535 ter; er hatte Henrys Größe, wenn auch nicht seine Stämmigkeit geerbt. »Es ist allerdings Eure Schwester. Und Markgräfin Judiths Tochter, Eure Hoheit. Sie sind beide sehr wütend.« Er lachte kurz angebunden, dachte an Marcovefas verführerischen Körper. »Und ich bin verdammt durstig. Ich habe schon so lange nichts mehr getrunken. Wir werden ja sehen, wer am schlechtesten gelaunt ist.« Cobbo öffnete ihm die Tür. Sanglant trat ein und fand Edelfrau Bertha mit vier mürrisch dreinbhckenden Soldaten vor. Ekkehard war von Sapientia zwischen dem Herdfeuer und einem Tisch in die Enge getrieben worden. »Es ist dein Fehler!«, schrie Sapientia. »Bayan wäre jetzt nicht tot, wenn du nicht zum Verräter geworden wärst!« Sie stürzte sich auf Ekkehard, der die Arme hob, um sich vor ihr zu schützen. Ekkehards drei Kameraden versuchten, ihrem Prinzen zu Hilfe zu kommen, wurden aber von Sanglants Soldaten zurückgehalten. Einer der Kameraden trug einen Leinenverband um den Kopf. Der Arm eines anderen hing in einer Schlinge. Ihr toter Kamerad lag von einem Tuch verhüllt auf dem einzigen Bett in der Kammer. Nicht einmal Sanglant hatte sich getraut, den Gedanken zu äußern, dass der Junge in der Kapelle einen Platz neben Bayan und dem anderen toten Edelmann erhalten könnte. »Prinz Sanglant.« Es war Hauptmann Fulk anzumerken, wie erleichtert er war, Sanglant zu sehen. »Sapientia.« Sanglant überquerte den Holzfußboden mit wenigen Schritten, packte seine Schwester bei den Schultern und zerrte sie von Ekkehard weg. »Lass dich nicht von deiner Trauer um Bayan zu einer vorschnellen Tat hinreißen. Gott und unser Vater werden dafür sorgen, dass er für seine Verbrechen bestraft wird.« »Ich will ihn hängen sehen!«, schrie sie; dann brach sie weinend zusammen, sank in Sanglants Arme. Er winkte ihren Begleiterinnen, die hastig zu ihm eilten, sie ihm abnahmen und davonführten. 536 Berthas Soldaten wichen rasch zur Seite, um sie durchzulassen, aber kaum hatte Sapientia die Kammer verlassen, trat Bertha einen Schritt vor. »Was glaubt Ihr - was wird König Henry mit einem Sohn machen, der des Verrats überführt wurde?« »Ich stehe als Bürge für meinen Bruder. Was er getan hat, war sicherlich falsch. Aber er ist noch jung, und vielleicht kann ihm vergeben werden, dass er sich hat verleiten lassen.« »Bruder!« Ekkehard stürzte auf Sanglant zu. Er war noch immer so schlank wie ein Halbwüchsiger - allerdings war er ja auch kaum älter als sechzehn -, doch als er jetzt seine Arme um Sanglant schlang, musste der regelrecht keuchen, nachdem er sich von ihm gelöst hatte. Bertha lächelte. Sie sah aus wie ihre Mutter, klug, bissig und stark. Sie besaß kein bisschen von der berühmten Schönheit Hughs. »Ihr und Eure Legion habt Euch in der Schlacht gut gehalten«, sagte Sanglant. »Und wir haben auch ein paar gute Markländer verloren«, erwiderte sie ein wenig schroff. »Ich habe meiner älteren Schwester Gerberga versprochen, ihr eine Belohnung für das Opfer mitzubringen, das Austra und Olsatia gebracht haben, um Wendar von der Plage der Qumaner zu befreien. Sie hat ihren Ehemann im letzten Winter bei einem Überfall der Qumaner verloren. Und sicherlich wisst Ihr, dass Bulkezu sich damit gerühmt hat, unsere Mutter eigenhändig getötet zu haben.« Selbst als ein Mann, der mit Intrigen nicht sehr vertraut war, konnte Sanglant erkennen, worauf sie hinauswollte. »Sie möchte einen königlichen Prinzen als Entschädigung.« »Er ist jung«, bemerkte Bertha und betrachtete Ekkehard mit dem gleichen, kalten Blick, als würde sie ein neues Pferd auswählen. »Nicht ganz mein Geschmack, aber ich bin sicher, dass Gerberga den Eindruck gewinnen wird, König Henry würde ihre Loyalität reichlich belohnen, wenn sie sein jüngstes Kind als neuen Ehemann erhält.« 537 »Ein stolzer Preis, keine Frage. Unglücklicherweise ist Ekkehard Abt von St. Perpetua in Gent.« Bertha lachte. »Und wie es heißt, ist mein Bastard-Bruder Hugh Presbyter in Darre und Vertrauter der Heiligen Mutter. Das Gelübde gegenüber Gott lässt sich rasch beiseite schieben, wenn irdische Belange es erfordern. Eure Schwester Sapientia möchte den Jungen als Verräter hängen sehen, weil sie sich an ihm für Prinz Bayans Tod rächen will.« Sie war eine harte Frau, wurde aber jetzt für einen Augenblick weich und berührte ihre Wange, als hätte eine Fliege sie dort gekitzelt. »Er war ein guter Mann. Wenn Ihr weise seid, Prinz Sanglant, werdet Ihr Eurer Schwester davon abraten. Wendar wird leiden, wenn Verwandte sich gegenseitig töten - was dieser Junge hätte wissen müssen. Ich denke, mein Vorschlag kommt uns allen zugute.« »Wir werden später noch darüber sprechen. Ekkehard ist in der Zwischenzeit am besten in Quedlingham aufgehoben, in der Obhut unserer Tante, Mutter Scholastika. Ich werde mit dem Heer bei Morgengrauen aufbrechen und die restlichen Qumaner jagen.« Bertha verschwendete keine Zeit mit vielen Worten. Sie verstand die Notwendigkeit schnellen Handelns
während eines Feldzugs. »Wir werden später darüber sprechen«, stimmte sie zu. Mit einem letzten Blick auf Ekkehard verschwand sie mit ihren Männern. »Ich ... ich will nicht gehängt werden«, flüsterte Ekkehard, sich immer noch an Sanglants Arm klammernd. »Daran hättest du denken sollen, bevor du zu den Qumanern übergelaufen bist.« »Aber du lässt doch sicher nicht zu, dass sie mich auf eine solch unehrenhafte Weise töten. Ich hatte kein Wahl, seit ich in Bulkezus Gefangenschaft war -« »Erspare mir deine Erklärungen, Ekkehard. Du bist ein Narr gewesen, und jetzt wirst du die Konsequenzen tragen müssen.« Er blickte zum Bett, wo die verhüllte Gestalt lag. »Oh, Gott, wie war noch der Name von dem da, den ich getötet habe?« 538 »Weif.« Ekkehard hatte offensichtlich geweint, und jetzt füllten sich seine Augen erneut mit Tränen. »Er hat sich vor mich geworfen. Er hat mir das Leben gerettet.« »Ich denke, er wollte sterben«, murmelte einer seiner Kameraden. »Das ist ihm gelungen«, bemerkte Sanglant. »Ist das nicht das Wesen des Krieges? Ich habe Neuigkeiten für dich, Ekkehard. Einer deiner Kameraden, Thiemo, lebt noch -« »Thiemo lebt! Wo ist er?« »Er dient jetzt einem anderen Prinzen. Ich lasse ihn wissen, dass du lebst, aber er untersteht nicht mehr deinem Befehl. Was diese drei da betrifft -«, - sie stammelten ihre Namen: Benedict, Frithuric und Mähnegold - »Ihr könnt zum Kloster zurückkehren oder das gleiche Schicksal erleiden, das Prinz Ekkehard zu erwarten hat. Was davon wählt Ihr?« Trotz ihrer Jugend, trotz ihrer Dummheit und trotz all der Verbrechen, die sie gegen Henry und Wendar verübt hatten, knieten sie höchst anmutig nieder und erklärten Ekkehard ihre ewige Treue. Sie würden mit ihm gehen, wo immer er auch hingehen mochte, selbst in den Tod. »So sei es also.« Sanglant war froh, dass sie zumindest so viel Ehre besaßen. Er kehrte zu der ihm zugewiesenen Kammer zurück und ließ sie mit ihren Sorgen und Ängsten allein. Die Glocken kündigten die Vigilien an. Gnade, Anna und Zacharias schliefen; Matto und Chustaffus standen Wache, und Thiemo würfelte mit Sibold, während sie auf den Prinzen warteten. Die Kammer war geräumig genug, dass zwei Tische und drei Betten hineinpassten. Wulfhere hatte seinen Stuhl zum kalten Herdfeuer hinübergezogen. Dort saß er jetzt und starrte in die Asche, als würde das erloschene Feuer noch immer mit ihm sprechen. Er blickte auf, als Sanglant zu ihm trat und sich neben ihn stellte. Ein paar verkohlte Stöcke lagen auf einem Haufen an der Seite, wo sie hingefallen waren, als sie gebrannt hatten. 539 »Ihr seht besorgt aus«, sagte Sanglant ruhig. Als Wulfhere darauf nicht antwortete, ließ er sich neben ihm nieder. Die Trauer über Bayans Verlust schnitt Sanglant tief ins Herz, während er dem alten Adler zusah, der mit dem Schürhaken in den verkohlten Stöcken herumstocherte, sie mit dem Aschehaufen vermischte. Staub erhob sich vom Herdfeuer, senkte sich wieder zum Boden. Bayan hatte es geschafft, mit vier Frauen umzugehen, ohne dabei getötet zu werden; er hatte sich sogar von einer getrennt, als ihm die Heirat mit Sapientia angeboten worden war, und diese abgeschobene Frau hatte ihn weder vergiftet noch mit dem Fluch der Impotenz belegt. Der Gedanke, dass Bayans Leiche verweste und seine Seele entflohen war, war unvorstellbar. Die Gedanken an den Tod erstickten ihn. »Was ist nicht in Ordnung? Habt Ihr wieder die Adlersicht angewandt? Sicher ist mein Vater doch nicht -?« »Schlimmer.« Wulfheres Stimme zitterte regelrecht. »Anne ist noch immer Skopos. Henry ist nach dem Feldzug in den Süden wohl behalten zum Palast zurückgekehrt. Aber dann, was dann geschehen ist - es sei denn, meine Fähigkeiten haben mich im Stich gelassen -« Er konnte einen Augenblick nicht weiterreden, und als er dann endlich sprach, war seine Stimme nur ein heiseres Flüstern. »Ich schließe es aus dem, was ich sehen kann, obwohl Anne mit Hilfe ihrer Zauberei sicherlich die ganze Wahrheit verhüllt hat.« »Um Gottes willen, sprecht weiter!« »Ich hätte nie gedacht, dass Anne sich zu so etwas herablassen würde.« »Habt Ihr nicht? Ich hatte daran keinen Zweifel.« Wulfheres scharfer Blick veranlasste Sanglant, das Gesicht zu einem säuerlichen Grinsen zu verziehen. »So sei es also«, sagte Wulfhere. »Ihr seid weiser als ich, mein Prinz, aber ich kenne sie seit weit längerer Zeit als Ihr. Mein ganzes Leben in ihrem Dienst -« Er konnte nicht weitersprechen. 540 »Und mein Vater, dem zu dienen Ihr geschworen habt? Ich bitte Euch, Adler, erzählt mir von meinem Vater!« Wulfhere zitterte. »Er ist von einem Daemonen besessen. Eine Marionette von Anne und Hugh. Welche Rolle Königin Adelheid bei all dem spielt, weiß ich nicht. Oh, Gott! Dass so etwas passieren musste! Er hat sogar erklärt, dass er das Kind von ihm und Adelheid zum Erben ernennen will.« Anne und Hugh. Was immer Wulfhere sonst noch gesagt hatte, ging in einem Anfall von Wut unter, der wie ein Sturm raste und ihn vollkommen blendete. »Er hätte ihnen niemals trauen dürfen. Doch wer ist schlimmer, der Mann, der jenen vertraut, die nicht vertrauenswürdig sind - oder der, der sich wegdreht, obwohl er weiß, welche Gefahren den Arglosen drohen?«
Wulfhere stützte den Kopf in die Hände; in diesem Augenblick wirkte er zehn Jahre älter als sonst und absolut müde. »Was können wir tun? Es ist hoffnungslos, wenn sie bereits so weit gekommen sind.« »Nein, sagt das nicht«, meinte Sanglant und starrte auf das Herdfeuer. Ein einzelner Funke glitzerte in den weißen Kohlen. »Es ist noch nicht vorbei mit uns.« Sie brachen in der Morgendämmerung auf. Angesichts des üblen Zustands der Mauern fand Sanglant es beachtlich, dass es den Qumanern nicht gelungen war, durch eine der vielen Lücken zu stürmen. Vielleicht hatten sie es nur deshalb nicht geschafft, weil sie keine Zeit gehabt hatten. Nach Edelfrau Sophies Aussage waren Bulkezu und sein Heer nur drei Tage vor Sanglant angekommen. Sanglant betrachtete das Heer, das hinter ihm ritt: Edelleute und ihre eifrigen Gefolgschaften, die Ungrianer mit der Leiche von Prinz Bayan, der sie - in einem Fass Wein - noch im Tode so führte wie im Leben, und Sapientia, die still und ergeben wirkte. Seine Tochter lachte über etwas, das Edelmann Thiemo gesagt hatte. Der arme Junge hatte geweint, als man ihm erzählt hatte, dass Prinz Ekkehard noch am Leben war. Dennoch schien er erleichtert darü541 ber zu sein, dass er nicht zu ihm zurückkehren konnte. Fulk ritt an der Spitze von Sanglants Leibgarde; dem scharfen Blick des Hauptmanns entging nichts, als sie der nach Osten führenden Straße folgten. Ein rasches Vorgehen war jetzt das Einzige was ihm noch möglich war. Seit er seinem Vater in Angenheim den Rücken gekehrt hatte, hatte er im Stillen gewusst, dass er dies eines Tages würde tun müssen. Er hatte nur nicht damit gerechnet, dass so viel auf dem Spiel stehen würde. Drastische Zeiten erforderten drastische Maßnahmen. Er ließ Edelmann Wichman neben sich reiten, denn er traute ihm nicht. »Wie geht es Eurer Mutter?«, fragte er höflich. Wichman lachte heiser. »Die alte Hexe. Sie ist störrisch genug, um noch monatelang am Leben zu bleiben. Ich bete darum, dass sie es tut - wenn auch nur deshalb, um meine Geschwister zu quälen. Habt Ihr wirklich vor, sie zu enterben?« »Ich bin kein Herrscher, und ich bin auch nicht in der Lage, ein solches Urteil zu fällen. Ein Bote ist zu meiner Schwester Theophanu nach Quedlingham unterwegs. Sapientia muss ebenfalls befragt werden.« »Das habt Ihr bereits gesagt, Cousin, aber ohne Bayan an ihrer Seite ist sie nichts.« Wichmans nachdenklicher Blick schien so gar nicht zu seiner gewöhnlichen Arroganz, seinem sonst so begierigen Blick zu passen. Es war, als würde ein gänzlich anderer Mann darum bitten, angehört zu werden. »Er war ein rechter Stecher, aber der Herr weiß, wir haben ihn alle geachtet.« Er hob sein Kettenhemd hoch, um sich im Schritt zu kratzen. »Hat die Frau Euch zufrieden gestellt? Ich musste mich mit ein paar Kriegshuren unten in der Stadt begnügen. Manchmal denke ich, ich sollte heiraten. Mir könnte ein gutes Arrangement durchaus gefallen, so wie das von Druthmar mit Villams Tochter. Edelfrau Brigida sucht einen Ehemann, heißt es.« »Wenn ich es richtig verstanden habe, ist auch Judiths Tochter, Edelfrau Bertha, noch unverheiratet.« 542 Dies veranlasste Wichman, schallend zu lachen, was sich auch auf seine Kameraden übertrug, kaum dass sie den Witz gehört hatten. Rasch entwickelte sich eine so grauenhafte Unterhaltung, dass Sanglant es nicht mehr aushalten konnte. Er ritt mit Fulk und Wulfhere weiter nach vorn, gesellte sich zu den ernsthaften Edlen, die Prinzessin Sapientia bei der Vorhut begleiteten. Südlich der Stadt kamen sie zu dem Schlachtfeld, auf dem es jetzt von Plünderern, Raben, Krähen und den stets über ihnen kreisenden Aasgeiern, die auf ihre Chance warteten, nur so wimmelte. Viele der wendischen Edelleute waren letzte Nacht vom Feld geschafft worden, und jetzt wurden die gewöhnlichen Soldaten zu den Massengräbern gekarrt. Die ungrianischen Priester hatten ihre eigenen Riten, die er absichtlich ignorierte. Die Qumaner wurden natürlich verbrannt. Federn, die von den zerbrochenen Schwingen stammten, trieben wie Spreu in der morgendlichen Brise. Eine Frau weinte über dem Körper eines Geliebten. Ein Karren rumpelte vorbei, mit Leichen hoch beladen. Etwas weiter weg wanderten zerlumpte Leute benommen und verwirrt wie Geister am Rand des Schlachtfeldes entlang. War diese junge Frau mit den langen schwarzen Haaren wirklich so hübsch, wie sie aus der Entfernung aussah? Sie führte die Gruppe an, die aus etwa einem Dutzend dünner, verängstigter Leute bestand, darunter sogar einige Kinder. Sie kauerten sich eine Zeit lang nieder, während sie über das Schlachtfeld hinweg auf Sanglant starrten. Hinter ihnen, entlang eines brachliegenden Feldes, das vom kürzlichen Regen noch immer grün war, waren Bäume zu sehen. Schließlich drehten sie sich um und marschierten nach Osterburg, dessen Palasttürme sich kräftig vor dem blassrosa Himmel abzeichneten, als die Sonne sich im Osten über die Baumwipfel schob. Das Heer wurde schneller, hatte das offene Waldland auf dem Weg zur Veserain-Furt aber immer noch nicht zur Hälfte durchquert, als sie auf eine fröhliche Gruppe von Löwen stießen, die ihnen mit dem Rest des Versorgungstrosses - der in der vorherigen 543 Nacht nicht mehr bis Osterburg gekommen war - in ordentlichen Zweierreihen entgegenkamen. Ihr zerfetztes Banner wehte stolz im Wind, und Hauptmann Thiadbold ließ anhalten, damit einer der Löwen vortreten und den Prinzen begrüßen konnte. »Prinz Sanglant! Eure Hoheit, ich bin Ingo, Feldwebel der ersten Kohorte. Seht nur, was für eine Beute wir Euch mitgebracht haben!«
Sanglant sah den Adler zuerst. Sie wirkte erschöpft und weinte, als sie ihn erkannte. »Mein Prinz«, rief sie und drängte ihr Pferd dabei näher zu ihm, »ist Liath bei Euch?« Er musste nicht antworten - er hätte es auch gar nicht gekonnt -, denn er wusste, dass seine Miene soviel sagte wie Worte. Sie hielt sich die Hände vor die Augen, um die neuen Tränen zu verbergen. Sie war nicht die einzige Beute, die die Löwen gemacht hatten. Völlig unerwartet hatten sie den größten Schatz überhaupt erbeutet, ihn gefesselt, festgebunden und wie einen gewöhnlichen Sklaven dazu gezwungen, zu Fuß zu gehen. Sein Gesicht sah schrecklich aus: Hautfetzen waren von der Wange abgerissen und bluteten noch immer, obwohl jemand versucht hatte, sie mit Salbe zu behandeln. Es war unmöglich zu erkennen, wie viel Schmerzen er hatte. Als er jetzt über Hannas Frage lachte, hatten seine Augen einen irren Glanz. »Ich hätte wissen müssen, dass das Glück einer kerayitischen Schamanin nicht so leicht zerbricht. Du hast gelogen, Eisfrau!« »Ja!«, rief sie und drehte sich wütend zu ihm um. »Ich habe gelogen ! Ich habe gelogen! Sie ist niemals in Osterburg gewesen!« »Still, ich bitte darum!« Als es wieder ruhiger war, sagte Sanglant ein einziges Wort: »Bulkezu.« Die Schwingen des qumanischen Prinzen waren vollkommen zerbrochen, aber ein paar leuchtende Greifenfedern hingen noch an ihm, klebten in Fetzen an dem, was von seinem Geschirr noch existierte. 544 »Hängt ihn«, sagte Hanna heiser. »Nein, lasst mich ihn töten!«, rief Wichman und ritt hinzu; der Schrei erhob sich in sämtlichen Reihen, als andere Soldaten die Ehre für sich beanspruchten. Sapientia zog ihr Schwert und ritt nach vorn, forderte die Löwen auf, Bulkezu zu ihr zu bringen. »Ich will seinen Kopf als Entschädigung für den Tod meines Mannes!« Männer kamen von hinten herbei, um das Spektakel zu beobachten; sie grölten und verhöhnten die etwa zwanzig qumanischen Gefangenen, die mit ausdruckslosen Mienen dastanden. Bulkezu lachte, als wollte er Sapientias Wut noch weiter anstacheln. Sie schrie regelrecht, reckte ihr Schwert in die Luft. »Still!« Sanglants Stimme übertönte all den Lärm. Er ritt neben Sapientia und hielt ihren Arm fest, bevor sie zuschlagen konnte. »Nein, Schwester, wir werden keine Gefangenen töten. Nicht, wenn sie uns noch auf andere Weise dienen können.« »Hänge ihn, wie der Adler sagt! Dann werden alle wissen, mit welcher Unehre wir Ungläubige behandeln!« »Er wird uns lebendig besser dienen als tot.« Die Worte brachten zunächst ungläubige Stille hervor; dann konnte man die Männer murmeln hören, als sie Sanglants Worte leise in die hinteren Reihen weitergaben. Nur eine hatte den Mut, laut etwas zu sagen. »Er ist ein Ungeheuer«, schrie Hanna. »Ihr müsst dafür sorgen, dass ihm Gerechtigkeit widerfährt, für all das Übel, das er angerichtet hat. Ich bin dabei gewesen, im Namen von König Henry.« »Schlimmeres Übel wird kommen, wenn wir nicht den Feind bekämpfen, der uns am meisten bedroht. Edelfrau Bertha, ich bitte Euch, tretet vor.« Bertha ritt mit ihrem Standarten-Träger zu Sanglant; sie warf Sapientia nur einen flüchtigen Blick zu. Judiths Tochter hatte die Situation sofort begriffen. Ein Schnitt war auf ihrem Gesicht zu sehen, der am vergangenen Abend noch nicht da gewesen war, und eine Hand war mit einem Stück Stoff umwickelt - ihr würde er ge545 wiss nicht gerne auf dem Schlachtfeld begegnen, so stark, scharfsinnig und rücksichtslos wie sie war. »Ich werde Euch geben, was Ihr begehrt«, sagte er, »wenn Ihr mir die Treue schwört.« Sapientia schnappte nach Luft. »Henry hat mich zu seiner Erbin ernannt! Das hier ist mein Heer -« »Nein, Schwester. Es ist jetzt mein Heer.« Er winkte Heribert zu sich. »Ich möchte ihn jetzt haben«, sagte er mit leiser Stimme. »Es ist an der Zeit.« Mit einem strahlenden Grinsen griff Heribert in den Beutel, der an seinem Gürtel hing, und brachte den Goldreif zum Vorschein, den Waltharia ihm Monate zuvor gegeben hatte. Der Prinz nahm ihn, bog ihn an den Enden etwas auseinander und legte ihn sich um den Nacken. Er hatte vergessen, wie natürlich sich das Gewicht des Goldes auf der Haut anfühlte, das greifbare Symbol seines Ranges, seines Geburtsrechts, seiner Autorität. Seine Soldaten stimmten ein Ohren betäubendes Jubelgeschrei an. Sapientias Gesicht wurde aschfahl, und sie schwankte, als würde der Lärm sie schwindlig machen. Sanglant ritt vor und nahm Ingo das Seil aus den Händen, das um Bulkezus Nacken hing. »Das ist mein Heer«, wiederholte er, »und Bulkezu ist mein Gefangener.« Der qumanische Anführer sagte nichts; er sah nur zu, aber seine Lippen zuckten, als stünde er kurz davor, laut loszulachen. Sanglant wandte sich an Judiths Tochter. »Edelfrau Bertha, haben wir eine Vereinbarung?« »Dass Ekkehard meine Schwester als Gegenleistung dafür heiraten wird, dass meine Truppen unter Eurem Befehl reiten werden? Ich nehme das Angebot an.« Sie grinste. »Ich hatte gehofft, dass es noch ein paar Schlachten zu schlagen gibt.« Er stand in den Steigbügeln, drehte sich halb um, damit er die Soldaten sehen konnte, deren Reihen sich hinter ihm bis zum Waldrand erstreckten. Er hob die Stimme, damit auch die ganz hinten ihn verstehen konnten. »Der Krieg ist noch nicht zu Ende, auch wenn wir hier einen großen Sieg errungen haben. Die Be546
drohung Wendars durch" die Qumaner ist beendet. Aber unsere Feinde sind noch nicht besiegt. Jetzt reite ich nach Osten. Wer wird mit mir reiten?« Nicht einer im ganzen Heer verweigerte sich. VII Enthüllung 1 Adica kehrte kurz nach Sonnenuntergang in ihr Heimatdorf zurück. Als sie durch das aus Sternenlicht gewobene Tor schritt und ihren Fuß auf vertrauten Boden setzte, kam sie von der Hitze des Südens geradewegs in die Kühle des Herbstes. Hustend und zitternd stand sie da, während ihre Lungen noch mit der Umstellung kämpften. Sie versuchte, sich im Rad des Jahres zurechtzufinden. Der Himmel war ungewöhnlich klar. Im Osten erhob sich der Vollmond, tauchte den Himmel in ein silbriges Licht, sodass nur die hellsten Sterne noch zu erkennen waren. Diese Sterne teilten ihr mit, was sie wissen musste. An der Position des Tauchenden Bechers und dem Schwanz der Schlange am südwestlichen Horizont erkannte sie, dass die Herbst-Tagundnachtgleiche kurz vor dem letzten Vollmond gewesen sein musste. Die Sonne würde auf ihrem Weg über den Himmel schon bald ihren Tiefstand erreichen. Es blieb ihr also nicht einmal ein ganzer Mondzyklus bis zu der Nacht, in der Sternzeichen und Himmelssphären am rechten Platz für das große Weben waren. 548 Sie würde nie wieder einen anderen Vollmond sehen. Sie würde nie wieder mit Alain zusammenliegen und im Schimmer des Mondes seinen Körper liebkosen. Sie musste weinen. Shu-Shas Weben weit im Süden musste sich schon vor zig Tagen in Funken aufgelöst haben - genauso, wie Alain und die Männer, die zu seinem Schutz zurückgeblieben waren, sich in Nichts aufgelöst hatten. Sie drehte den Lapislazuli-Ring an ihrem Finger und wischte mit einiger Mühe die Tränen weg. Shu-Sha hatte während der fünf Tage, die sie in ihrer Halle verbracht hatte, mehr als nur einmal mit ihr gescholten. »Betrauere nicht das Glück, das du haben durftest, sonst verkehrst du die Freude in Trauer. Sei froh, dass du etwas gehabt hast, was andere nie in ihrem Leben erfahren werden. Die Götter haben es gut mit dir gemeint, Tochter.« Es war unmöglich, mit Shu-Sha zu streiten, mit der großen Königin, die mit ihrem riesigen Leibesumfang und ihrer atemberaubenden Schönheit auch häufig die lebendige Verkörperung der Fetten genannt wurde, der mächtigsten Göttin überhaupt, die Leben und Tod in ihren Händen hielt. In der Sprache des Volkes, über das Königin Shuashaana herrschte, hieß diese Göttin natürlich nicht die Fette, aber tief in ihrem Innern wusste Adica, dass es dieselbe Macht war, die an beiden Orten herrschte. Als Kind hatte sie gelernt, Tränen zu unterdrücken und nicht weiter zu beachten. Sie schlang sich also ihren Beutel über die Schulter und machte sich auf den Weg zum Dorf. Die Bewohner ihres Dorfes waren fleißig gewesen. Um den niedrigen Erdwall des Tumulus erstreckte sich eine so lange Palisade aus kräftigen Stämmen, dass sie im Mondlicht weder ihren Anfang noch ihr Ende erkennen konnte. Hügel aus frisch aufgeworfener Erde wechselten sich mit behelfsmäßigen Unterständen ab, die für die Arbeiter zwischen den einzelnen Teilen des Schutzwalls errichtet worden waren. Ein Mann bog pfeifend um den gewundenen Wall, sah sie und blieb abrupt stehen. Er legte ein Hörn an die Lippen und blies dreimal darauf, um das Dorf zu warnen. 549 »Wer ist da?«, rief sie, da sie ihn nicht erkannte, aber er rannte davon. Er hatte sie sehr wohl erkannt, und er fürchtete sich vor ihr, wie es alle getan hatten, bevor Alain gekommen war. Die Erdwälle überlappten sich an einigen Stellen, um leicht zu verteidigende Öffnungen zu bilden. Die Arbeiter hatten einen tiefen Graben ausgehoben und seine Sohle mit zugespitzten Pfählen bestückt; Planken waren über den Graben gelegt worden und bildeten eine Brücke. Zwei Erwachsene standen Wache, aber sie hielten sich die Hände vor die Augen und murmelten höflich zur Begrüßung, ohne sie anzublicken. Als Adica durch die Öffnung trat, konnte sie einen Blick auf den Abhang und das Dorf werfen, und mit Hilfe des Mondlichts schaute sie sich die Veränderungen an, die während der zwei vergangenen Jahreszeiten stattgefunden hatten. Während sie weg gewesen war, hatten die Dorfbewohner die Holzpalisade um das Dorf fertig gestellt; Wachstationen waren in Abständen errichtet, und zu beiden Seiten des Tors stand ein Turm. Bei jeder Wachstation brannten Fackeln. Wachen standen daneben, blickten hinaus in die Nacht. Wie seltsam es war, ihr friedliches Dorf so verwandelt zu sehen; es war jetzt ein auf den Krieg vorbereitetes Lager. Die schlangengleich gewundenen Erdwälle waren mit Holzpfählen gespickt und erinnerten an den zerfurchten Rücken eines gekrümmten, schlafenden Drachen. Der Anblick störte den Frieden der Landschaft. Und doch konnten sie nur in Frieden und ohne ständige Furcht leben, wenn die Verfluchten besiegt waren. Verglichen mit dem Leben ihres Stammes war ihr eigener Schmerz, ihr eigenes Leben ziemlich unwichtig. Sie wappnete sich innerlich und schritt den Pfad hinab. Die Holzbrücke war eingezogen worden und gab den Blick auf einen frisch ausgehobenen Graben mit zugespitzten Pfählen frei. Sie hob ihren Stab, sodass die Glöckchen bimmelten, und rief der Wache am Tor etwas zu. »Geweihte!« Zufällig hatte ausgerechnet ihr Cousin Urtan in dieser Nacht Wache. Rasch wurde das Tor geöffnet, die Holzbrü550
cke über den Graben geschoben und sie drinnen willkommen geheißen. »Wo ist Alain?«, fragte Urtan. Andere Dorfbewohner, durch das Hornsignal aufmerksam geworden, eilten jetzt mit Fackeln herbei. »Wir hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, Geweihte!« »Die Fette ist barmherzig, Geweihte. Sie hat dich wieder zu uns zurückgebracht!« Beor drängte sich durch die Menge und blieb vor ihr stehen. »Wo ist Alain?«, fragte er. Der Gedanke an Alain erschöpfte sie so sehr, dass sie schon glaubte, an Ort und Stelle zu Boden sinken zu müssen, aber es war niemand da, der ihr wieder hätte aufhelfen können. Nur Alain konnte so etwas tun. »Lasst mich schlafen«, bat sie heiser; sie war unfähig, noch mehr zu sagen. Sie musste ihr Herz so fest zusammendrücken, als würde sie es in ihrer Faust halten. Sie traute sich nicht, jetzt zu weinen. Mutter Weiwara trat vor. Sie wirkte gesund und blühend. »Lasst die Geweihte zu Bett gehen«, sagte sie zu den anderen. Sie begleitete Adica zu ihrem Haus und blieb draußen vor der Schwelle stehen, während Adica durch die niedrige Tür ins Innere trat. Sie ließ ihren Beutel auf den Boden fallen und sank auf die modrige Pritsche. »Du bist eine ganze Weile weg gewesen«, sagte Weiwara, von draußen. »Mehr als zwei Jahreszeiten. Die Dunkelzeit der Sonne ist nur noch einen halben Mondzyklus entfernt -« »Ich weiß.« »Oh, Adica.« Früher einmal war Weiwara ihre beste Freundin gewesen - sie waren zusammen im Dorf aufgewachsen. Da die Dunkelheit sie voreinander verbarg, fand Weiwara den Mut, an die verlorene Freundschaft anzuknüpfen, trotz der bösen Geister, die die Fäden riechen konnten, die eine Person an die andere banden, und die solche Verbindungen benutzten, um ihre Klauen in die Arglosen zu treiben. »Wo bist du gewesen?« 551 »Auf einer langen Reise. Ich bin so müde. Ich habe Alain verloren.« Der Name blieb ihr beinah im Halse stecken. Sie musste sich in den Nacken zwicken, um ein Schluchzen zu unterdrücken. »Du musst aber keine Angst haben, Mutter Weiwara.« Adicas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Das Wirken wird weitergehen. Schon bald werdet ihr von der Furcht erlöst sein.« Wenn das Wetter hielt. Wenn die Geheiligte noch lebte. Wenn Laoina ihr Volk rechtzeitig erreichte, um Zweifinger im Land Horns mit einer starken Gruppe von Kriegern zu Hilfe zu kommen. Wenn sie die Verfluchten von diesem Steinwebstuhl vertreiben und sich so mit den anderen verbinden konnten. Wenn Hehoyanah tat, worum ihr Onkel sie gebeten hatte, und ihren Teil zum Weben beitrug. Wenn keine Verfluchten die Zelte von Helle-Hört-Mich angriffen. Wenn Fallender nicht starb. Wenn sie selbst nicht vor Kummer zerbrach. »Sag mir, was du gesehen hast«, hauchte Weiwara. Sie wollte schon Einwände erheben, aber dann hielt sie ihre Worte zurück. Alain hatte ihr beigebracht, so zuzuhören, dass sie einen Blick auf das werfen konnte, was hinter den Worten verborgen lag. Schwang da etwa Neugier, vielleicht sogar Wehmut in Weiwaras Stimme mit? Hegte ihre Freundin tief in ihrem Innern die Sehnsucht, ferne Länder und fremde Dinge zu sehen? Manchmal endete ein Schmerz nur dann, wenn man zu erzählen begann, oder er ließ zumindest nach. Sie erzählte Weiwara die Geschichte ihrer langen Reise, berichtete von den seltsamen Kreaturen, die sie gesehen hatten, den unbekannten Städten, den Hinterhalten, denen sie entkommen waren. Sie erzählte ihr sogar von der Vision, die sie von dem üppigen Festbankett gehabt hatte, von dem Gold und der Frau mit dem Feuer in ihrem Innern, die ihr einen Ring gegeben hatte, den sie Alain zurückgeben sollte. Während sie die Geschichte erzählte, drückte sie den Ring an sich. »Aber ich habe Alain danach nicht wieder gesehen. Als ich aus meiner Trance erwacht bin, war ich in Shu-Shas Palast, wohin 552 Laoina und die anderen mich getragen hatten. Alain war mit drei Männern von Shu-Shas Stamm zurück zu den Hunden gegangen. Er ist nicht mehr zum Palast gekommen. Ich habe fünf Tage dort gewartet, aber er ist nicht gekommen.« Wind ließ die Glöckchen sanft erklingen, die an den Dachvorsprüngen befestigt waren. Eine Kuh in einem nahe gelegenen Stall muhte. Wenn sie jetzt aufhörte, würde sie zerbrechen und nie wieder fortfahren können. »Erzähl mir von Shu-Sha«, sagte Weiwara, als hätte sie in Adicas Inneres geschaut. »Wie sieht ihr Palast aus? Sehen die Leute ihres Landes genauso aus wie wir? Was essen sie?« »Königin Shuashaana ist mächtig fett. Ich habe noch nie eine Frau gesehen, deren Körper so viel Kraft ausstrahlt. Ihre Oberschenkel sind so dick wie meine Taille, und ihre Arme sind so dick wie meine Oberschenkel. Ihr Bauch ist so groß wie ein Kessel, und ihre Brüste sind wie Melonen.« »Sie muss sehr mächtig sein«, flüsterte Weiwara voller Ehrfurcht. »Nicht einmal damals, als ich mit den Zwillingen schwanger war, bin ich annähernd so fett gewesen.« Adica war so in ihrem eigenen Kummer, in ihre eigenen Ängste versunken gewesen, dass sie nicht ein einziges Mal daran gedacht hatte, sich nach den Zuständen im Dorf zu erkundigen. So viel war geschehen, seit sie gegangen war, und doch musste sie Vorsicht walten lassen, wenn sie sich erkundigte, durfte keine Person mit Namen erwähnen, da diese dadurch empfänglich für die Pfeile der bösen Geister werden konnte, die um sie
herum lauerten. »Ich hoffe, dass die Gunst der Fetten noch immer auf das Dorf herablächelt.« »Frühling und Sommer sind rasch vergangen, Geweihte. Es hat zwei Überfälle der Verfluchten gegeben, nördlich von hier, bei Siebenquell und Vierhausen, und einige Leute sind getötet worden, aber die Verfluchten konnten vertrieben werden. Dorren ist von Fallender gekommen und hat uns gesagt, dass wir die Befestigun553 gen von Königinnengruft verbessern müssen. Den ganzen Sommer über waren Arbeitertrupps aus anderen Dörfern hier, um die Palisade um den Tumulus zu errichten und den Steinwebstuhl zu schützen. Einmal, gleich nach der Herbst-Tagundnachtgleiche, hat eine Gruppe von Spähern Pfeile auf uns abgeschossen, aber da waren beide Palisaden schon fertig. Als sie gesehen haben, dass sie nicht genug waren, um uns Schaden zufügen zu können, sind sie wieder abgezogen. Trotzdem haben wir aus anderen Weißhirsch-Dörfern Verstärkung angefordert, für den Fall, dass sie zurückkommen. Seit du weggegangen bist, hat die Fette uns mit drei Geburten während der Mondzeiten gesegnet. Es ist niemand gestorben. Ihre Gunst ruht noch immer auf uns.« »Möge es so weitergehen«, betete Adica leise. »Vergib mir, wenn ich jetzt, wo die Geister mich so dicht umschwärmen, vom Schicksal spreche. Aber eine Sache beschäftigt mich. Da du die Mutter unseres Dorfes bist, muss ich dich fragen.« »Ich habe unsere Freundschaft nicht vergessen. Ich werde dich jetzt nicht im Stich lassen.« Adica seufzte zitternd. »Versprich mir, dass du mich neben die alten Königinnen betten wirst, wenn es möglich ist.« Adica roch Weiwaras Tränen. »Du wirst von uns geehrt werden, als wärst du selbst eine der Königinnen aus lang vergangener Zeit. Ich verspreche es dir. Niemand in diesem Stamm wird dich je vergessen, so lange wir Kinder haben.« »Ich danke dir.« »Gibt es sonst noch etwas, was ich für dich tun kann?« Der Gedanke, sich allein auf ihre alte Pritsche zu legen, lenkte ihre Erinnerung auf die Königinnen, die unter dem Hügel schliefen, aber sie wusste, dass sie schlafen musste, um ihre Kraft zu behalten, und dass sie essen musste. Das hatte auch Shu-Sha gesagt. Nichts war jetzt wichtiger, als dass das große Weben erfolgreich durchgeführt wurde. »Ich werde schlafen. Du musst dich um das Dorf kümmern, und ich werde mich auf das vorbereiten, was geschehen wird.« 554 Seltsamerweise konnte' sie schnell einschlafen, nachdem Weiwara gegangen war und sie sich ausgezogen und in Felle gewickelt auf die Pritsche gelegt hatte. Die Müdigkeit forderte ihren Tribut. Sie schlief, und sie träumte nicht. Aber der Morgen brach kalt und rücksichtslos an, und auch der Schlaf hatte ihren Kummer nicht besänftigen können. Sie stand auf und bemühte sich, ihr Bettzeug zu lüften. Sie untersuchte die getrockneten Kräuter, die von den Dachsparren hingen, sonderte Lavendelzweige aus, die von Pilzen befallen waren, verbrannte ein Büschel Disteln, der zu verschrumpelt war, als dass sie ihn noch hätte benutzen können. Obwohl die Morgendämmerung gerade erst angebrochen war, hatten sich die ersten Dorfbewohner bereits vor ihrem Haus versammelt. »Geweihte, das Geburtshaus ist nicht ordnungsgemäß gereinigt worden.« »Geweihte, meine Tochter ist krank geworden, nachdem sie Apfelwein getrunken hat, aber Agda sagt, es liegt an den Beeren, die sie gegessen hat, nicht an dem Apfelwein. Es sind noch immer fünf Gläser übrig. Vielleicht sind böse Geister hineingekommen, vielleicht ist der Apfelwein aber auch noch gut.« »Geweihte, stimmt es, dass Alain nicht mit dir zurückgekommen ist? Mein Hund hat sich einen Dorn in die Pfote getreten, und eine der Gänse hat sich den Fuß aufgerissen -« Es war eine Erleichterung, so beschäftigt zu sein. Sie zog sich an, aß Haferbrei und trank etwas Ziegenmilch zum Frühstück und ging zuerst zum Geburtshaus. Nach drei Geburten war eine Reinigung dringend nötig; sie roch die Geister, die sich in den Dachvorsprüngen herumdrückten und es der nächsten Frau, die hier gebären wollte, schwer machen würden. Sie untersuchte das Haus von außen, sah nach, wie gut das Strohdach den Sommer überstanden hatte, suchte nach Vogelnestern, Spinnweben und anderen Stellen, an denen die Geister sich hinkauern mochten. Als sie damit fertig war, warf sie einen flüchtigen Blick auf das Dorf. 555 Dung von den Kuhställen wurde zu den entferntesten Feldern gekarrt, als Vorbereitung für den Winter. Beor und seine Cousins schlachteten ein Dutzend Schweine, um die Krieger zu ernähren, die jenseits der Palisade ihr Lager aufgeschlagen hatten, und seine Schwester hatte gerade einen großen Topf kochend heißer Gerste hingeschafft, um das Blut einzudicken und Blutwurst daraus zu machen. Der junge Deyilo kümmerte sich draußen auf einem abgeernteten Stoppelfeld um eine Schar Gänse. Getsi tauchte mit einem zugedeckten Korb auf. Sie war eine Handbreit gewachsen, seit Adica sie das letzte Mal gesehen hatte, und die Form ihres Gesichts hatte sich bereits etwas geändert. Im nächsten Jahr würde sie die Schwelle zum Frausein überschreiten, doch Adica würde ihr nicht dabei helfen können. »Was hast du da?«, fragte sie das Mädchen etwas schärfer, als sie beabsichtigt hatte.
»Meine Mutter hat Kräuter und Blumen für dich gesammelt. Wo kann ich sie hinstellen?« »Hierhin, Tochter«, erwiderte Adica. Sie war leicht beschämt und deutete auf den Boden vor der Tür. »Sag deiner Mutter meinen Dank. Dieses Stroh muss neu befestigt werden. Es muss einen harten Frost gegeben haben, dass es sich gelöst hat.« »Es ist zu Beginn dieses Jahres sehr kalt gewesen«, stimmte Getsi zu. »Ich werde meiner Schwester Bescheid geben, dann kann sie das übernehmen. Meine Mutter sagt, ich wäre noch nicht kräftig genug, um es richtig zu machen.« »Das wirst du aber schon bald sein.« Getsi lächelte, vorsichtig bemüht, ihr nicht in die Augen zu sehen, und lief hüpfend zurück zum Dorf; sie wirkte gleichermaßen geschmeidig und eifrig. Es war am besten, sie suchte sich eine neue Beschäftigung, dann musste sie nicht an das denken, was sie verloren hatte. Adica vollendete den Gang um das Geburtshaus, bevor sie neben dem Korb niederkniete und das Tuch zurückschlug. Intensive Düfte wehten ihr entgegen, und Staub wirbelte auf, als der Wind an der getrock556 neten Sommerschafgarbe zerrte und zupfte, die obenauf lag. Darunter fand sie kleine, gewebte Beutelchen mit Blüten oder Wacholderbeeren, darunter wiederum Fettkraut, Zehrkraut und Minzblätter, die gebündelten Halme von Rainfarn und fünfblättriges silbriges Fingerkraut, ebenso Lavendel, der so zerbrechlich war, dass er bei der Berührung beinahe zerfiel. Sie legte den Inhalt eines der Beutelchen auf ihre Knie, um ihn zu sortieren, schützte die leichten Blüten dabei vor der Brise: Geißblatt und Wildrose, die blass vom Alter geworden war. Ein Hornsignal erklang: ein dreifacher Warnruf vom Dorf, der sämtliche Bewohner in den Schutz der Palisaden zurückrief. Sie erstarrte vor Entsetzen, hob den Kopf und starrte einfach nur vor sich hin, während Kinder aufschrien und Männer und Frauen aus den Händen fallen ließen, was immer sie gerade festgehalten hatten, und zum Dorf rannten. Das Hörn erklang erneut, ein einzelner Ruf gefolgt von Stille, gefolgt von einem weiteren kurzen Ruf. Die Schreie und Rufe, bisher zur Warnung ausgestoßen, klangen jetzt eher verwundert, und die Leute strömten durch das Tor hindurch nach draußen, rannten auf das zu, vor dem sie einen Augenblick zuvor noch weggelaufen waren. Noch immer rührte sie sich nicht. Ein Dutzend Reiter erschien an der südlichen Flanke des großen Tumulus. Im nächsten Augenblick sah sie, dass es keine Reiter waren, sondern Zentaurinnen vom Pferde-Volk. Eine von ihnen trug einen Reiter, einen Menschen. Zwei schwarze Hunde rannten neben ihr her. Blütenblätter rutschten unbeachtet über ihre Oberschenkel, verfingen sich in den Bändern ihres Rocks. Niemals hätte sie ihn mit jemandem verwechseln, ihn für jemand anderen halten können. Sie sprang auf, und Rosenblätter fielen in Wolken um sie herum zu Boden, als wollten sie eine Spur bilden, als sie auf ihn zurannte. Er drängte sich zwischen den vielen Leuten hindurch, die die 557 Zentaurinnen anstarrten. Die Dorfbewohner machten Platz, als sie seine Absicht begriffen. Er drängte sich durch die Menge hindurch, fing sie mit den Armen auf und hielt sie so fest, als wollte er sie niemals wieder loslassen. Er drückte sein Gesicht in ihre Haare. Er sagte nichts. Sie weinte hemmungslos vor Freude und Erleichterung, und nach einer Weile löste er sich etwas von ihr und küsste ihre Tränen weg, doch es war unmöglich, sie alle aufzufangen. »Schsch, Adica, es ist alles gut. Die Geheiligte ist gerettet. Wegen der Schlacht war uns der Weg nach Süden versperrt, aber als wir erfahren haben, dass Königin Shuashaana dich bereits nach Hause geschickt hatte, haben meine Freundinnen sich sofort bereit erklärt, mich hierher zu bringen. Alles ist gut, mein Schatz. Alles ist so, wie es sein sollte.« »Ich liebe dich«, flüsterte sie unter Tränen, während die Hunde aufgeregt wie kleine Welpen um sie herumsprangen, begierig darauf, endlich von ihr begrüßt zu werden. »Ich hatte solche Angst, dass ich dich nicht mehr wieder sehen würde, dass ich dich verloren hätte.« »Das wird niemals geschehen«, versprach er und umarmte sie wieder. »Niemals!« Umfangen von seinen warmen Armen wusste sie, dass sie jetzt nicht versagen würde - auch dann nicht, wenn es an der Zeit war, in den Tod zu gehen. Natürlich würde sie es nicht fröhlich tun, das sicher nicht, aber sie wusste, sie würde es tun können, ohne zu zögern, denn das Geschenk der Liebe verlieh ihr Stärke und Freude. 2 Paläste trieben auf einem Fluss aus Feuer dahin, jeder mit dem nachfolgenden durch Brücken verbunden, die so hell erstrahlten wie Gold. In bestimmten Abständen stoben leuchtende Funken 558 vom Feuerfluss auf, auf die gleiche Weise, wie Funken aufwirbelten und erstarben, wenn ein Schmied geschmolzenes Eisen mit einem Hammer bearbeitet. Diese Funken erhellten ihren Körper, als sie von einer wahren Heerschar von Kreaturen umarmt wurden - Daemonen, die ganz und gar aus Feuer bestanden. Dort, wo sie sie berührten und sie umgaben, brannte sie. Ihre Hände brannten, ihre Haut brannte, und das Feuer in ihrem Innern brachte die Bindungen, in die ihr Vater sie so viele Jahre zuvor eingewickelt hatte, zum Schmelzen. Er hatte sie dazu gebracht, sich so zu verschließen, dass sie selbst nicht an sich herankam. So viele
Jahre lang hatte er sie verkrüppelt, aber an diesem Ort besaß seine Magie keine Macht mehr über sie. Funken drangen durch die verschlossene Tür, hinter der Pa ihre Seele verborgen hatte, schmolzen das Schloss, sodass die Tür weit aufschwang und in einer Wolke aus Dampf verschwand, und sie brannte, bis ihr Fleisch verzehrt war und das Feuer in ihrem Innern auf das Feuer draußen traf. Sie war wie sie. Sie besaß eine Seele aus Feuer, die genauso war wie die ihren. Freude durchzuckte sie wie ein Blitz. Das Universum um sie herum verwandelte sich in Reinheit, und in ihrem Herzen und in ihrer Seele wusste sie, dass sie einen Ort betreten hatte, der jenseits der Grenzen der sterblichen Menschen existierte. Selbst ihr Bogen, Herzsucherin, war verschwunden. Sie hatte nichts mehr, was sie noch länger an die Erde band. In dieser Umarmung des Feuers brannte sie eine Ewigkeit oder vielleicht auch nur einen Augenblick. Dann fand sie ihre Stimme wieder. »Wo bin ich?« Hier im Reich des Feuers dröhnten ihre Stimmen, als wären sie gespannte Fäden, auf denen die Musik der Sphären tanzte. »Tritt in den Feuerfluss, Kind. Hier kann nichts von dem verborgen bleiben, was du Vergangenheit nennst - die dich bindet-, und was du Zukunft nennst - die das Auge der Sterblichen blendet.«. Sie ließ sich fallen, und der Fluss riss sie mit sich in die Vergangenheit. 559 Sie kennt diese hübsche Villa, ihre stolze Architektur und die solide Grundstruktur - ein kleiner, in sich selbst ruhender Kosmos. Sie erinnert sich an den Anblick der zerklüfteten Hügel und des Waldes, der so dicht und grün ist, dass die Mittagssonne in den Blättern zu ertrinken droht. leider umgeben das Haus, unterstreichen den Eindruck eines ordentlich gepflegten Anwesens. Nicht das kleinste bisschen Unkraut wächst an diesem Ort. Selbst die Bienen stechen nicht. Dies ist der Ort, an dem sie geboren wurde und an dem sie ihre frühe Kindheit verbracht hat. Sie kennt diesen angenehmen Garten, der einst voller träge flatternder Schmetterlinge war und jetzt durch eine Fülle an leuchtenden Ringelblumen wie in Gold getaucht zu sein scheint. Aber das hoch geschätzte Safranbeet fehlt, ist verbrannt, zertrampelt. Ein Mann steht da und betrachtet die zerstörten Safranpflanzen; er hat den Übrigen den Rücken zugekehrt. Die anderen fünf versammeln sich ernst und erschöpft um eine siebte Gestalt, die in Wirklichkeit eine Leiche ist. Einer von ihnen kniet vor dieser Leiche und untersucht sie behutsam, das Gesicht dabei verborgen. Einer von den Sieben Schläfern ist bei ihren Bemühungen gestorben, und Anne verliert zum ersten Mal ihre majestätische Ruhe. Sie schreit vor Wut, und auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck, der so erschreckend falsch ist, dass es einen Augenblick dauert, ehe Liath begreift, um wie viel jünger Anne hier in der Vergangenheit ist. Sie hat das Aussehen ihres Großvaters Taillefer, einen guten Körperbau und hervorragende Proportionen, schöne Augen und eine würdevolle Haltung. Sie kann nicht älter als dreißig sein - ja, sie ist in ihren besten fahren und stark und außerordentlich hübsch. »Wir wollten einen Daemonen binden!«, schreit sie wütend über das Versagen, das ihnen unterlaufen ist. »Er hätte der Vater sein sollen, und ich hätte mein Blut und meine Reinheit opfern und das Kind austragen sollen!« »Dies ist jetzt schon das zweite Mal, dass jemand stirbt«, sagt Severus, »wenn ich auch gestehen muss, dass ich Theoderadas un560 ablässige Gebete in den letzten sechs Jahren nicht wirklich vermisst habe.« Obwohl auch er um fahre jünger ist, mildert das seine verbitterte Ausstrahlung nicht im Geringsten. »Dürfen wir das Risiko eingehen, dass noch jemand stirbt?« »Wir müssen es tun«, beharrt Anne, während sie die tote Trau finster anstarrt, die zusammengeschrumpelt auf dem Boden liegt, das Gewand vollkommen verbrannt, die Haut aschfahl, aber noch immer heiß. »Wir brauchen ein Kind, das aus Feuer geboren ist und diesen Bastard, den König Henry großzieht, besiegt. Zweifelt Ihr etwa daran, dass alles verloren ist, wenn wir uns dem Einfluss der Aoi nicht entgegenstellen? Wollt Ihr, dass wir unseren Nacken unter ihrem Joch beugen?« »Nein«, sagt Severus gereizt, da ihm diese Trage schon zu häufig gestellt worden ist. Meriam seufzt, als sie die tote Trau betrachtet. »Wie finden wir jetzt nur eine andere Person, die unserem Kreis beitritt? Die arme Hiltrudis ist noch viel zu jung gewesen, um schon ans Sterben zu denken.« »Sind wir das nicht alle?«, blaffte Severus. Seine Arme zeigen Brandspuren, die Wangen sind flammend rot, als hätte er Fieber. Bläschen bilden sich bereits auf seiner Unterlippe, und seine Augen sind feucht. Die jüngste von ihnen, eine schlanke Trau mit dünnen, weißen Haaren, steht etwas weiter weg; sie hält sich die Hand vor Mund und Nase, um den schrecklichen Gestank abzuwehren. Sie alle haben Spuren von Verbrennungen auf ihren Körpern. »Ich habe Angst«, flüstert sie. Sie blickt zu der siebten Person, dem Mann, der einen Steinwurf entfernt mit dem Rücken zu ihnen steht. Licht schimmert in einer Art Nimbus um seine Gestalt, die den Blick auf etwas behindert, das in der Mitte des verbrannten Safrans zu stehen scheint. Sie beginnt vor Furcht leise zu weinen. »Ich habe Angst, es noch einmal zu versuchen. Ihr habt mir nicht gesagt, dass es so sein würde.« Sie deutet auf die Leiche. »Hiltrudis hat es auch nicht gewusst. Wieso habt Ihr uns nicht gewarnt?« 561 »Still, Rothaide«, murmelt Meriam und nimmt die junge Frau am Arm. »Sicherlich habt Ihr schon vorher gewusst, dass Zauberei gefährlich ist.«
Der Mann, der neben der Leiche kniet, blickt auf. Zuerst erkennt Liath ihn nicht. Er sieht so viel jünger aus als zu der Zeit, als sie ihn kannte, und in seinen Haaren ist nur ein Hauch von Silber. Er wirkt sogar ein bisschen reizlos, als gehörte er zu jenen Menschen, die interessanter aussehen, wenn sie älter werden. »Wenn wir es noch einmal versuchen«, sagt Wulfhere, »wird es sicherlich noch schlimmer werden. Genügt denn das, was wir haben, noch nicht? Wir hatten schon viel Erfolg, mehr als wir erwartet hatten.« Anne gibt ein angeekeltes Geräusch von sich und wendet sich ab. »Dann muss ich eben allein handeln. Das hier ist kein Erfolg.« Aber der Mann, der in der Asche steht, der den anderen den Rücken zukehrt, seufzt leise. »Sie ist so hübsch.« »Geht!«, sagt Anne plötzlich, als hätte die Stimme sie dazu veranlasst. »Lasst die Leiche liegen. Ich muss nachdenken.« Sie sträuben sich nicht dagegen, sich zurückziehen zu müssen; so können sie in Ruhe ihre Wunden lecken. Meriam führt die weinende Rothaide weg, Severus humpelt hinter ihr her, und einen Augenblick später folgt auch Wulfhere, aber nicht, ohne noch zwei, drei Blicke auf Anne geworfen zu haben. Die Schmetterlinge sind zurückgekehrt, flattern um sie herum wie geflügelte Juwelen. Dann ist Anne allein mit der Leiche, und mit dem Mann, der ihr den Rücken zukehrt, der offensichtlich ihre Aufforderung nicht gehört hat. »Bernard«, sagt sie leise. Überrascht, seinen Namen zu hören, dreht er sich um. Oh, Gott, da ist Pa, aber so viel jünger, etwa dreißig Jahre alt, und dem Aussehen nach ein paar Jahre jünger als Anne. Liath hat nicht gewusst, dass er so hübsch gewesen ist. Sie hat nie begriffen, wie sehr sie ihm ähnelt trotz ihrer goldbraunen Haut und der Sa562 lamander-Augen. Die Jahre des Weglaufens hatten ihren Preis. Die Magie, die er hatte aufbringen müssen, um sie zu verstecken, hat Narben hinterlassen, hat ihn kleiner gemacht. Dies ist der furchtlose Mann - mit rasiertem Gesicht und einem Haarschnitt, wie er für einen Frater üblich war -, der voller Inbrunst in das Land der Ungläubigen im Osten gereist ist, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Aber das war alles vor ihrer Geburt, vor ihrer gemeinsamen Flucht, vor diesem Tag, an dem er, indem er sie verkrüppelte, auch sich selbst verkrüppelt hat. Bis zu diesem Augenblick, da sie Annes Miene sieht, hat Liath nicht gewusst, wie sehr diese Frau ihn dafür hasst, dass sie ihn hübsch findet. Sie hat bis zu diesem Augenblick nicht gewusst, wie viel Macht Pa gehabt hat, welch starke Ausstrahlung er gehabt hat - so leuchtend wie die Sonne und mit einem Hauch Sarkasmus in den Augen. Die Erinnerungen, die sie an ihn hat, stammen alle aus den Jahren, da er von der Furcht schon ganz ausgedörrt gewesen war. »Bernard«, wiederholt Anne. »Ihr seid jetzt lange genug ein Dorn in meiner Seite. Ich Weiß, dass Ihr Euch nie etwas daraus gemacht habt, dass wir versuchen, die Menschheit vor der Bedrohung durch die Verlorenen zu retten. Ich weiß, dass Ihr uns nur beigetreten seid, um Euren Verstand zu schärfen und Eure Neugier zu befriedigen. Wir haben Euch all diese Jahre wegen der Stärke Eurer Gabe ertragen - nicht wegen Eurer Loyalität gegenüber unseren Zielen. Aber es ist die Zeit gekommen, da Ihr für mich nicht mehr von Nutzen seid. Könnte es sein, dass Ihr schließlich eine Kreatur gesehen habt, die Ihr mehr begehrt als das Wissen?« Wut jagt Gelächter, jagt Sehnsucht über sein ausdrucksvolles Gesicht. Er tritt zur Seite, und Liath sieht, was sie in dem Käfig gefangen halten, der nicht aus Eisenstangen, sondern aus Spinnenfäden besteht, die sich in der Brise aufblähen. Sie ist Feuer, weiß glühendes Feuer, eine lebendige Kreatur, die durch Magie unter dem Mond gebunden ist, wo sie nicht hinge563 hört. Sie hat die Gestalt einer Frau angenommen, schillernd und strahlend wie die blauweiße Sonne, und ihre Flügel schlagen vergebens gegen die unzerbrechlichen weißen Fäden. Glühende Hitze strömt von ihr aus, doch der Käfig neutralisiert diese Flammen, und als sie ihren Mund öffnet, um zu schreien, dringt kein Laut heraus. »Ihr könnt sie haben, Bernard, denn ich sehe, dass Ihr sie begehrt. Aber nur, wenn das, was geschieht, ein Geheimnis zwischen Euch und mir bleibt.« Er ist hin und her gerissen. Er vermutet, dass sein Einverständnis ihn in einer Weise bloßstellen wird, die er nicht vorhersehen kann, aber noch während er kämpft, erkennt Liath, dass er verlieren wird. Er ist der Feuerdaemonin verfallen, einer Kreatur, die so jenseits jeglicher menschlicher Vorstellungskraft ist, dass schon allein die Tatsache, sie zur Erde herabzuziehen, lebensgefährlich ist. »Wie soll das möglich sein?«, fragt er heiser. »Wenn sie den Tod der armen Hiltrudis verursacht hat, während der bindende Zauberspruch gesprochen wurde, wie kann dann ein Mensch auch nur daran denken, pures Feuer zu berühren?« Er hebt einen Arm und errötet sodann. »Zuerst müssen wir die anderen wegschicken, um Hiltrudis eine angemessene Beerdigung zu geben, und eine siebte Person suchen, die unsere Runde vollständig macht. Ich kenne gewisse Beschwörungsformeln, die Feuer in Licht verwandeln können, sodass ihr Wesen Euch nicht verbrennen wird. Aber es wird an Euch liegen, ihre Einwilligung zu erlangen.« Sie mustert ihn, während die Daemonin sich windet, versucht, sich zu befreien. »Alles hat seinen Preis.«
»Was muss ich tun?« Er ist bereits gefangen. Er wird allem zustimmen, denn die Begierde hat ihn in Form eines Käfigs von überwältigender Schönheit gefangen, in der Verkleidung einer Frau mit Schwingen aus Feuer, Tochter der höchsten Sphäre, Seele eines Sterns. Er wird allem zustimmen, wenn er sie nur haben kann. 564 Anne wischt sich etwas Asche vom Ärmel; das ist alles, was von einem Safranzweig übrig geblieben ist. »Zum einen wird diese Beschwörung mich schwächen. Ich werde krank sein, und Ihr müsst für mich sorgen, bis ich mich wieder erholt habe. Dann müssen die anderen glauben, dass dieses Kind von mir stammt, nicht von Euch, dass wir beide diese Kreatur befreit und eine andere gefangen genommen haben, ein männliches Wesen, das mich schwängern konnte. Es muss der Eindruck entstehen, als würde das Kind von Taillefer stammen. Doch nicht nur von Taillefer, sondern auch rechtmäßig geboren. Daher müsst Ihr mich in einer von der Kirche sanktionierten Zeremonie heiraten.« »ja«, sagt er abwesend; er ist offensichtlich so sehr damit beschäftigt, die Daemonin anzustarren, dass er nicht auf die Widersprüche hinweist, die sich in diesem Angebot verbergen. Die Daemonin hat sich inzwischen genug beruhigt, um die Flügel einzuklappen und voller Sorge und Wut ihr Gefängnis zu betrachten. »Schließlich will ich das Kind selbst aufziehen.« »Was immer Ihr sagt«, flüstert er, denn die Daemonin hat ihn jetzt gesehen. Sie hat keine erkennbaren Gesichtszüge, kein Gesicht nach menschlichen Maßstäben, doch da sind Augen, die ihn sehen können, die seine Anwesenheit erkennen, und sie weicht nicht zurück, als er ihrem Blick offen begegnet. Sie betrachtet ihn, strahlend und lodernd, das atemberaubendste Wesen, das er in seinem Leben je gesehen hat - und er ist schon mit vielen wunderlichen Geschöpfen in Berührung gekommen. Er fürchtet sie nicht. Er ist zu sehr von Begierde gepackt, der Mann, der bisher sein Gelübde der Keuschheit treu erfüllt hat, trotz der vielen Verführungen, die sich ihm in den Weg gestellt hatten. Was immer Ihr sagt. Die Worte verfolgen Liath. Die Leiche wird weggeschafft und ordnungsgemäß beerdigt. Am nächsten Tag treten Anne und Bernard in der Kapelle in den heiligen Stand der Ehe, während die anderen als Zeugen zugegen sind. Wulfhere schreitet während der gesamten Zeremonie unru565 hig auf und ab, er sieht aus, als wollte er jeden Augenblick ausspucken. Rothaide, Meriam und Severus brechen zu fernen Landen auf, doch Wulfhere bleibt noch ein paar Tage, als wäre er ein von Eifersucht geplagter Mann, der glaubt, dass seine Frau Ehebruch begeht. Erst, als seine Adlersicht ihm zeigt, dass der alte König Arnulf mit einem schrecklichen Fieber darniederliegt, bricht auch er auf, um an die Seite jenes Königs zu eilen, dem treu zu dienen er all die fahre vorgegeben hat. Als Wulfhere endlich gegangen ist, kann Anne mit der Beschwörung beginnen. Aber sie hat einen verschlagenen Geist und die nötigen Mittel, den einzigen Mann zu bestrafen, der jemals unerträgliche, körperliche Begierde in ihr erweckt hat. Das Feuer der Daemonin ist gezähmt, ihr ätherischer Körper erhält den Anschein eines sterblichen Wesens, aber in diesem Prozess gestaltet Anne die Züge der Daemonin so, dass sie ihr selbst ähneln. Gefangen und herabgesetzt wendet sich die Daemonin demjenigen zu, der ihr Freundlichkeit und Zuneigung entgegenbringt. Feuer sucht Hitze, wenn es am Ersterben ist. Bernard ist sich sehr wohl bewusst, dass Anne seinen Wunsch derart auf ihn zurückgeworfen hat, dass es schließlich, als die Daemonin sein geduldiges Werben erhört, so ist, als würde er Liebe mit Anne machen, mit ihrem Gesicht, ihrem Körper, aber erhellt von einem ätherischen Feuer im Innern - als hätte er Anne in Gestalt eines Engels vor sich. Mit jenem bösen, sardonischen Humor, der es ihm möglich gemacht hat, bei seinen Reisen im Osten viel Leid zu überstehen, nennt er sie sogar »Anne«, obwohl Anne hilflos wie ein Neugeborenes im Haus liegt. Bernard pflegt sie, denn er hält sein Wort. Sein gesamtes Universum ist auf dieses Haus zusammengeschrumpft, auf die Pflege, die er pflichtgemäß der Kranken angedeihen lässt, die seinen Wunsch hat Wirklichkeit werden lassen, und auf die Sphäre der stürmischen Daemonin, die er verehrt und mit der er Liebe macht. Vielleicht ist das, was er für die Daemonin empfindet, Liebe, vielleicht ist es auch nur Lust, ein Sehnen, entstanden durch einen 566 kurzen Blick auf die höchsten Bereiche des Universums, die zu weit entfernt für den menschlichen Geist sind, als dass er sie ermessen könnte. Aber wenn das, was er empfindet, keine Liebe ist, dann ist es schwer zu sagen, was in einer kalten Welt überhaupt Liebe sein soll. Denn die Welt ist kalt, und das Universum ist nicht interessiert an den Gefühlen eines unbedeutenden Mannes, wie stark auch immer diese Gefühle sein mögen. Bestimmte Gesetze regieren den Kosmos, und nicht einmal Liebe vermag sie zu ändern, oder vielleicht ist Liebe auch die unbewegte Bewegerin, die sie weiter vorantreibt. Samen fallen auf fruchtbaren Boden, in die Wege geleitet durch Mittel, die der Menschheit unbekannt sind, vielleicht beeinflusst durch die Strömungen der Magie. Ein Same reift und wächst, und das Kind, das in dem nicht auf der Erde geborenen Wesen heranwächst, muss sich einen sterblichen Körper erbauen, in dem es leben kann. Es geschieht so langsam, dass es am Ende aussieht, als wäre es ganz plötzlich geschehen. Das Kind verzehrt die Substanz der Mutter, um selbst existieren zu können. All ihr leuchtendes Feuer wird von
dem Kind, das sie gebiert, vereinnahmt - und die Geburt selbst wird zu ihrem Tod. Alles, was sie war, hat sie gegeben, selbst ihre Seele ist jetzt ein Teil des Kindes. Sie selbst aber, die strahlende Kreatur, die vor Monaten gebunden und gefangen worden war, ist vollständig dahin. Dass sie überhaupt jemals existiert hat, lässt sich nur an den erstaunlich blauen Augen des neugeborenen Kindes erkennen, die so hell leuchten wie Blitze. Er weint lange Zeit, zerbrochen, erbärmlich, bis Anne plötzlich neben ihn tritt, gesund und munter, nun, da der Zauber, der ihre Kraft geraubt hat, mit dem Tod der Daemonin verschwunden ist. »So«, sagt sie und begutachtet den Säugling, als suche sie nach Fehlern. »So endet die Lust - in Tod und Verzweiflung.« Sie, 567 scheint zufrieden damit, einen Weg gefunden zu haben, wie sie diesem Schicksal entgehen kann, obwohl die grausame Hand der Lust auch sie berührt hat. Voller Abscheu betrachtet sie Bernards gekrümmte Gestalt. »Gib mir jetzt das Kind, wie du es versprochen hast.« »Nein«, sagt er und umklammert das kleine, nackte Ding, das noch glitschig von der Geburt ist. In dem Wochenbett, das er gemacht hat, damit seine Liebe das Kind gebären konnte, liegt jetzt nur eine weiche Decke, nichts weiter, keinerlei Spur von ihr. »Sie hat ihre Mutter getötet, die du geliebt hast.« »Ich weiß.« Er weint, denn Anne hat ihn hereingelegt, wie sie es die ganze Zeit geplant hatte. Sie hat gewusst oder zumindest geahnt, was geschehen würde. Er hat einen Fehltritt begangen, genau wie die Engel vor so langer Zeit, verführt von fleischlicher Begierde, und jetzt sieht er nichts als den gähnenden Abgrund zu seinen Füßen. Seine innere Stärke ist in diesem Augenblick zerbrochen. In den kommenden Jahren wird auch seine körperliche Stärke zerbrechen, Stück für Stück. Aber seine Tochter liebt er dennoch. Schließlich ist das Kind unschuldig. Wenn jemand schuldig ist, dann Anne wegen ihrer rücksichtslosen Zielstrebigkeit. Wenn jemand schuldig ist, dann die anderen fünf Zauberer und Zauberinnen, weil sie ihr bereitwillig geholfen haben. Wenn jemand schuldig ist, dann er. Er wird niemals aufhören, sich selbst zu bestrafen. Und weil er schwach und unvollkommen ist, wie alle menschlichen Seelen, wird er am Ende auch seine Tochter bestrafen, auch wenn er niemals vorgehabt hat, ihr Schaden zuzufügen. Anne gewinnt. Sie hat das Kind, das sie gewollt hat, den Ehemann, nach dem es sie verlangt hat, aber sie hat ihren Körper rein gehalten, was für sie von großer Wichtigkeit war, denn sie hält alle menschlichen Wesen für befleckt und unwürdig. Bernard bleibt, weil er jetzt völlig bloßgestellt ist, weil er schuldig ist, weil er erfahren hat, was es bedeutet, Angst zu haben. 568 Er bleibt. Er benennt das Kind nach einer alten Zauberin, über die er vor Jahren in einem Buch gelesen hat, als er in Arethusa war: Li'at'dano, die Zentaurin und Schamanin, die in den alten Chroniken viele Male über viele Generationen hinweg erwähnt wird. Einige bezeichneten sie als unsterblich. Alle bezeichneten sie als mächtig jenseits jeder menschlichen Vorstellungskraft. In der Sprache des Westens klingen die Konsonanten weicher, machen daraus Liathano. Er nennt sie Liath. Er bleibt bei den Sieben Schläfern, plagt sich unter Annes unerschütterlichen und unversöhnlichen Blicken ab, sorgt für sein geliebtes Kind, bis eines Tages, auf den Tag genau acht fahre später, die Feuerdaemonen nach ihrer verlorenen Schwester suchen. Die Zeit in den oberen Sphären vergeht anders; ein Augenzwinkern kann Monate umfassen, das Aufplustern der Flügel ganze fahre. Das ist der Augenblick, da er mit seiner Tochter flieht. Das ist der Augenblick, da er das unangetastete Potential seiner eigenen magischen Kräfte erweitert, um ihre Seele und ihre Macht wegzuschließen, die wie ein Leuchtfeuer scheinen, damit niemand ihnen folgen kann. Vor allem Anne nicht. Vor allem die Feuerdaemonen nicht, die Verwandten der Daemonin, die er geliebt und ermordet hat. Ist er weggelaufen, um sich selbst zu retten? Um Liath zu retten? Oder wollte er das Einzige retten, was ihm von der Daemonin, die er so geliebt hat, geblieben ist? Hat er Liaths wahres Ich weggeschlossen, um sie vor Annes Machenschaften zu schützen oder um sie vor den Verwandten ihrer Mutter zu verbergen, damit sie sie niemals finden und ihm wegnehmen konnten? Wut war ein Fluss aus Feuer, geschmolzen und zerstörerisch, aber auch reinigend und machtvoll. Sie hatte bis jetzt nie verstanden, wie sehr sie ihren Vater dafür verachtet hatte, dass er schwach war. In manchen Momenten hasste sie ihn schon deswegen, weil sie ihn liebte, weil sie wollte, dass er stark war, was er vielleicht 569 niemals hatte sein können, weil sie vielleicht die ganze Zeit, ohne es wirklich zu wissen, geahnt hatte, dass es eine andere Person gab, die er mehr liebte als sie. Weil sie sich selbst dafür hasste, schwach zu sein, weil sie diesen Teil ihres Ichs hasste, den zerbrochenen und verkrüppelten Teil, der sie so lange angekettet hatte. Der Fluss der Vergangenheit - das, was uns bindet, weil es bereits seine Ketten um uns gewoben hat -, floss rasch und ohne offensichtlichen Übergang in die Zukunft - das unerreichbare Ziel, wo wir von der Möglichkeit geblendet werden, von Hoffnung, ungeprüftem Ärger und Furcht.
Sie ging, umströmt von dem Feuerfluss, in die Zukunft und sah König Henry, von einem Daemonen erwürgt, und ein hübsches Kind, ein Mädchen, das Königin Adelheid ähnelt und den kaiserlichen Thron besteigt, während ihre Mutter beschützend neben ihr steht. Schwester Rosvita, die gealtert und an Lepra sterbend in einem Kerker liegt. Ein Schuh liegt neben ihrer ausgestreckten Hand, das Leder ist von Ratten oder auch von ihr selbst angefressen. Den Löwen Thiadbold, der mehr als einmal freundlich zu ihr gewesen war und sich in einer schmuddeligen Taverne bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt, indem er Bier aus einer Schüssel säuft. Er hat beide Hände verloren, aber irgendwie überlebt. Ist es nicht ein schlimmes Schicksal, als Krüppel zu leben und hilflos auf das angewiesen zu sein, was einem von anderen zugeworfen wird, als wäre man ein Hund? Ivar, der vor der Skopos steht, weil er der Ketzerei angeklagt ist. Die Heilige Mutter Anne verurteilt ihn und seine Kameraden zum Tode, aber er lächelt müde, als wäre der Tod das, was er die ganze Zeit erstrebt hatte. Hanna, die sich selbst getötet hat. Die Wunden, an denen sie gestorben ist, sind auf der Haut nicht zu sehen. Sanglant, der noch immer kämpft, stets kämpft, weil er niemals aufgeben wird, bis zu seinem letzten Atemzug nicht, als die Greifin zum Schlag auf seine entblößte Brust ausholt. 570 Gnade, die an einem Fenster steht. Liath erkennt das herrliche Wesen kaum, das erst vor kurzem zur Frau geworden ist, groß wie ihr Vater und mit einem cremebraunen Teint und grünen - oder blauen - Augen, je nachdem, wie das Licht darauffällt oder wie die Farbe des Gewandes ist, das sie gerade trägt. Sie ist so hübsch, die Erfüllung sämtlicher Verheißungen, die einem geliebten Kind jemals gemacht wurden. Dann öffnet sich die Tür, und das Mädchen dreht sich um. Sie weicht zurück. Stolz und jugendliche Zuversicht verwandeln sich in blankes Entsetzen, als der Mann, der gekommen ist, um sie als Braut zu beanspruchen, über die Schwelle tritt. »Hugh!« Liath schrie ihre Wut heraus, und der Ärger ließ die Flügel an ihrem Rücken sich entfalten. Ihre Verwandten, deren Flügel im Äther zischten, deren Stimmen wie Donner dröhnten und grollten, traten zur Seite, damit sie Platz hatte, als sie aus dem Feuerfluss trat. Trotz allem hatte Pa sie nicht verlassen. Und sie würde ihr Kind jetzt auch nicht verlassen. Niemals würde sie ihr Kind verlassen. Aber war es vielleicht schon zu spät? Weil Pa die letzten Jahre seines Lebens nichts anderes getan hatte, als wegzulaufen, hatte er auch Liath beigebracht, wegzulaufen, sich umzudrehen, sich zu verbergen. Sie konnte nicht einmal jene richtig lieben, die sie lieben wollte, weil sie sie nicht erreichen konnte, nicht mit ganzem Herzen. Sie hatte schon vor langer Zeit den Schlüssel genommen und weggeworfen, als sie sich vor, Hugh in Sicherheit gebracht hatte, aber sie hatte damals nicht gewusst, dass sie sich damit auch selbst einmauerte, dass die Stadt des Gedächtnisses, die sie mit Pas Hilfe in ihrem Innern errichtet hatte, eine weitere Barriere war gegen jene, die sie voller Freundschaft und Liebe umarmen wollten. Ivar hatte sie niemals bedroht. Aber sie hatte seine Verliebtheit als Bedrohung gesehen. Sie hatte ihn verschmäht, weil sie nicht wusste, wie sie sich als seine Freundin verhalten sollte. 571 Hanna hatte ihr ihre Freundschaft geboten, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten, aber Liath war von ihr weggegangen, um bei Sanglant zu sein. Doch sie war nicht einmal in der Lage gewesen, Sanglant mit ganzem Herzen zu lieben. Sie hatte ihn wegen seines Körpers und seiner Ausstrahlung geliebt, aber sie hatte ihn nicht wirklich gekannt. Er blieb ihr ein Rätsel; trotz seiner Behauptung, er wäre keine Zwiebel mit verschiedenen bedeutungsvollen und komplexen Schichten, die noch enthüllt werden müssten, war auch er nicht so einfach. Niemand war das. Sie hatte nie nachgesehen, was unter der Oberfläche lag, weil es ihr einfach genügt hatte, die Oberfläche zu polieren und strahlend zu halten. Oh, Gott, sogar Gnade. Sie hatte gesehen, wie uneingeschränkt Sanglant das Kind liebte. Aber sie selbst hatte immer einen Teil von sich zurückgehalten, den verkrüppelten Teil, den Teil, der niemals gelernt hatte zu vertrauen. Den Teil, der Angst davor hatte, verletzlich zu sein; der Angst davor hatte, von der Liebe getötet zu werden, und von der Hoffnung, und von Vertrauen, wieder und immer wieder. Und wieder. »Nein«, sagte sie, als sie von dieser Höhe auf die herrlichen Paläste und den Feuerfluss blickte, auf die Verwandten, die sich unten zusammengeschart hatten, zwischen der schweren Silberdecke des Himmels und der aufblitzenden, geschmolzenen Oberfläche des Flusses kauerten. »Ich bin nicht bereit, sie zu verlassen, denn ich kenne sie doch noch gar nicht richtig.« Sie öffnete sich vollständig, auch ihre Flügel, und ließ sie in ihr Inneres sehen, in die brennende, leuchtende Seele - das Geschenk, das ihre Mutter ihr vermacht hatte. »Vielleicht wird dies einst mein Zuhause sein«, fügte sie hinzu, »aber jetzt ist das unmöglich.« »Kind«, sagten sie, voller Liebe und als Abschiedsgruß. Warum mussten sie ihren Weggang betrauern? Das gesamte Leben einer Sterblichen auf der Erde konnte in der gleichen Zeit vergehen, die es brauchte, um diese schimmernden Brücken, die 572
die goldenen Paläste miteinander verbanden, zu überqueren: tausend Schritte, ein Lied. Ihre Seele war immerhin unsterblich, und ihr Wesen bestand zur Hälfte aus Feuer. Sie konnte zurückkehren. »So sei es«, sagte sie. Ältester Onkel hatte ihr beigebracht, dass im geheimen Herzen des Universums die Elemente erleuchtet, berührt und geschmolzen werden konnten. Sie tastete, fand Feuer und zog aus der unsichtbaren Architektur des Äthers den brennenden Stein, der die Kreuzungen zwischen den Welten kennzeichnete. Blaues Feuer flackerte um ihn herum auf. Sie trat hindurch, stellte fest, dass sie mit einem überraschend harten Plumps mitten in ein Blumenbeet fiel, in ein Meer aus himmlischem Blau, blutgetränktem Rot und so vielen kräftigen Goldtönen und durchdringendem Weiß, dass ihre Augen wehtaten. Ihr Hintern und ihre Hüfte schmerzten von dem Aufprall, selbst in ihren Schultern war ein ordentlicher Ruck zu spüren gewesen. Neben ihr auf einem Haufen lagen ihr Umhang und die Stiefel, Kleidung, Schwert, Gürtel, Messer und Köcher, der allerdings leer war. Sämtliche Pfeile fehlten. Ihr Bogen und Sanglants Goldreif lagen obenauf, als wäre all dies in der Reihenfolge ihres Abstiegs hierhin gefallen. -Sie war wieder auf der Blumenwiese, im Land der Aoi. Sie zitterte noch immer, griff nach dem kalten, geflochtenen Goldreif, runzelte die Stirn, als sie ihn aufhob, denn sie hatte nicht länger das Recht, ihn zu beanspruchen. Anne ist nicht meine Mutter. Sie lachte laut, völlig überflutet von einem erheiternden Gefühl von Freiheit. »Nun«, sagte ein Mann mit schroffer Stimme, keine zehn Schritte von ihr entfernt. »Mehr als ein Tag und eine Nacht sind vergangen, Strahlende. Federkleids Schutz nützt dir nichts mehr. Jetzt werde ich dein Blut bekommen und damit mein Volk stark machen.« 573 Verblüfft blickte sie auf und stellte fest, dass sie von etwa fünfzig Ashioi umzingelt war, die sich grauenhafte Tiermasken vor das Gesicht gezogen hatten. Sie hielten Waffen in den Händen; derjenige, der ihr am nächsten stand, zielte mit seinem Speer direkt auf ihr Herz. Katzenmaske und seine Krieger waren gekommen, um sie zu töten. 3 Wieder zu Hause. Er war wieder nach Hause gekommen, und Adica war hier, war gesund und lebendig und wartete auf ihn, wie er es sich erhofft und erträumt hatte. Eine furchtbar lange Zeit hielt er sie einfach nur eng umschlungen fest, als wollte er sie nie wieder loslassen, und sog den Lavendelgeruch ihrer Haare ein, bis er sich schließlich der Hunde bewusst wurde, die ihn aufgeregt anstupsten, und der Dorfbewohner, die darauf warteten, ihn endlich auch begrüßen zu dürfen. Auch das dauerte eine ganze Weile. Selbst Beor lachte, als er ihn sah, und Alain war überrascht, wie glücklich es ihn machte, all diese vertrauten, fröhlichen Gesichter zu sehen. Das war jetzt sein Volk. Sein Heim. Er musste Sos'ka und ihre Kameradinnen mit Adica und Mutter Weiwara bekannt machen. Tatsächlich musste er für alle übersetzen, denn das Pferde-Volk sprach eine Sprache, die der Stamm des Weißhirsch-Volkes nicht beherrschte. Die Zentaurinnen machten eine elegante Verbeugung vor Adica, ehrten sie als Geweihte, und es wurde vereinbart, dass sie bis zum Beginn der Dunkelzeit der Sonne bleiben und sie beschützen würden. Erst danach würden sie zu ihrem eigenen Stamm zurückkehren. Die Kinder des Dorfes waren begierig darauf, einmal auf ihnen zu reiten, und die stolzen Zentaurinnen erklärten sich bereit dazu, sodass den 574 Kindern auf ihre Rücken geholfen wurde. In der Zwischenzeit bestanden Urtan, Beor und die anderen Männer darauf, Alain die Folgen der harten Arbeit zu zeigen, die die Dorfbewohner mit den anderen Arbeitertrupps im Laufe des Frühlings, Sommers und frühen Herbstes geleistet hatten. »Sieh nur, was für eine schöne Palisade wir errichtet haben!«, prahlte Beor, als hätte er allein dadurch, dass er Baumstämme an Ort und Stelle geschafft hatte, einen persönlichen Sieg gegen die Verfluchten errungen. »Aber ich stelle fest, dass du genau in dem Augenblick wiederkommst, wo alle Arbeit getan ist.« »Königinnengruft hat eine Mauer!«, stieß Alain verwundert aus und staunte, wie sehr die Holzpfähle das Aussehen des großen Tumulus veränderten, der jetzt eher wie ein schlummerndes Stachelschwein wirkte. »Wie habt ihr das nur in den zwei Jahreszeiten geschafft?« »Es haben Arbeitertrupps aus allen anderen Dörfern geholfen -Zweistrom, Kieferwipfel, Matschweg, Altfeste und Vierhausen. Selbst aus Quellwasser sind welche gekommen. Es hat den ganzen Sommer gedauert, sie zu bauen, und ich fürchte, wir haben den Wald bis Vierhausen dafür gefällt!« Die Männer lachten, aber niemand erhob einen Einwand. »Was spielt es schon für eine Rolle, was wir getan haben?«, rief Kel. »Du musst uns alles erzählen, was du gesehen hast!« »Ich hoffe, das tust du«, kicherte Urtan. »Und wenn es nur dazu dient, diese Fliege daran zu hindern, den ganzen Tag zu summen. Wir hatten nicht einen Augenblick Ruhe vor ihm, seit du weggegangen bist.« »Du hättest mich mitnehmen sollen!«, protestierte Kel, als alle lachten. »Ich hätte nicht versagt! Wann erzählst du uns von deiner Reise?« »Hab Geduld«, erwiderte Alain. Er lachte mit den anderen, aber in Wirklichkeit versuchte er zu erkennen, wohin
Adica gegangen war. Sie hatte sich leise zurückgezogen, als sich die Aufmerksamkeit auf die Zentaurinnen und ihn verlagert hatte. Schließlich ent575 deckte er sie in der Ferne beim Geburtshaus, wo sie eine ihrer Aufgaben als Geweihte ausführte. Urtan verscheuchte die anderen Männer, selbst Kel. »Nun geh schon«, sagte er zu Alain. Alain eilte den Fluss entlang zum Geburtshaus. Die Hunde sprangen neben ihm her, aber er achtete sorgfältig darauf, dass sie nicht den Bereich betraten, der nur den Frauen erlaubt war. Auf der anderen Seite des Zauns sammelte Adica mit nachdenklicher Miene die Blüten vom Boden auf; sie durchsuchte das hohe Gras nach denen, die weggeweht worden waren. Hatte sie sich seit dem ersten Mal, als er sie gesehen hatte, so sehr verändert? Oder hatte er selbst sich verändert? Sie war ganz sicher schon damals attraktiv gewesen, an dem Tag vor beinahe einem Jahr, und sie war es ganz besonders, wenn sie diesen herausfordernden Rock aus Bändern trug, der bei jeder Bewegung den Blick auf ihre Haut und andere Geheimnisse preisgab. Dennoch hätte er sie nie als wirklich hübsch bezeichnet - nicht mit der leicht gekrümmten Nase, der Brandnarbe auf der Wange, den allzu vollen Lippen und dem schmalen Kinn. Jetzt erkannte er, dass sie wunderschön war. »Adica.« Sie blickte auf und trat an den Zaun, um ihn zu umarmen. Es war ihr Lächeln, das sie so hübsch machte, das strahlende Gesicht, der leicht abgehackte Singsang ihrer Stimme, die anmutige Zuversicht ihrer Bewegungen. Ein Schatten von Traurigkeit lag auf ihrer Miene, und er hätte ihn am liebsten weggewischt, damit sie nichts als Freude empfand. »Was ist das?«, fragte Alain, als er sie endlich wieder loslassen konnte. Er hob ihre rechte Hand und betrachtete den Lapislazuli-Ring, der ihren Mittelfinger schmückte. »Dieser Ring sieht genauso aus wie der, den ich einmal einer Frau gegeben habe, als sie meine Hilfe benötigt hat.« »Das stimmt. Ich habe sie in einer Vision gesehen, und sie hat ihn mir gegeben. Sie dachte, du würdest ihn vielleicht brauchen.« 576 Er zitterte, aber vielleicht war es nur die kalte Brise, die über seinen Nacken strich. »Welche Magie macht es möglich, dass ein Ring durch Visionen reist? Wo hast du sie gesehen? Du bist in einer Trance gewesen, als ich dich das letzte Mal gesehen habe. Oh, Gott, ich habe so viele Fragen. Ich weiß inzwischen, dass du sicher zum Palast von Königin Shuashaana gelangt bist und dass sie dich hierher zurückgebracht hat. Ist Laoina zu ihrem Stamm zurückgekehrt? Ich hatte schon Angst, ich hätte dich verloren, Liebste.« »Nein«, sagte sie, beinahe zu Tränen gerührt. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Brust und hielt ihn einfach nur fest. Kummer und Rage ließen sich neben ihnen nieder, warteten geduldig. Nach einer Weile war sie in der Lage, fortzufahren: Sie war in der Obhut von Shu-Sha aus der Trance erwacht. Nachdem sie sich erholt und einige Tage auf Alain gewartet hatte, hatte Shu-Sha sie durch die Steinwebstühle nach Hause zurückgeschickt. »Ich bin erst gestern zurückgekommen. Ich dachte, ich hätte dich verloren.« »Aber das hast du nicht. Ich habe dir doch gesagt, ich würde dich nicht verlassen. Wie oft muss ich dir das noch sagen?« Er lächelte und küsste sie. »Erzähl mir von dem Ring.« Sie beschrieb die Trance, aber ihre Worte ergaben für ihn nicht viel Sinn. Hatte sie wirklich Liath gesehen? War Liath tot? Oder war Adica einfach nicht in der Lage, den Ort zu beschreiben, den er einst gekannt hatte, die Hallen, in denen die Edelleute sich aufhielten und speisten, wo die Kirche in Glanz und Ruhm regierte ? Hatte Adicas Vision ihr die Zukunft oder die Vergangenheit gezeigt ? »Ich dachte, ich hätte den Prinzen von Liathano sprechen hören«, sagte er bei der Erinnerung an die beiden Brüder. »Aber er hat von der Geheiligten gesprochen, die in ihrer eigenen Sprache Li'at'dano genannt wird.« Adica schlug die Hände vor die Ohren. »Ich darf den heiligen Namen nicht hören, damit er mich nicht verbrennt!« »Nein, Geliebte, hab keine Angst. Er wurde mir freiwillig gegeben. Wieso sollte ich ihn dir nicht mitteilen dürfen?« Er seufzte 577 und schüttelte den Kopf. »Vielleicht habe ich selbst Angst davor, ihn zu sagen. Sie hat mir gesagt, da wäre eine andere, die ihren Namen in einer zukünftigen Zeit erhalten würde. Aber wenn das so ist -« Er schüttelte den Kopf. Die einzige Erklärung, die sich ihm aufdrängte, schien so gewaltig, so verwirrend, so unmöglich, dass er Zuflucht zu der Antwort nahm, die die Schamanin ihm schließlich gegeben hatte. »Ich lebe jetzt. Nichts anderes ist wichtig. »Ich werde das Glück nicht in Frage stellen, das mich an deine Seite geführt hat, Adica.« Sie machte Anstalten, den Ring vom Finger zu ziehen. »Nein, du musst ihn tragen. Der Stein wird dich vor Bösem beschützen.« »Alain«, begann sie, zögernd und mit erstickter Stimme. »Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss.« Sie brach ab, blickte mit einem Ausdruck plötzlicher Erleichterung an ihm vorbei. »Mutter Weiwara!« »Ich dachte, ich könnte dir helfen, Geweihte. Ich kann die Kräuter und Blütenblätter für dich einsammeln. Ich weiß, dass du die Reinigung beenden willst, damit du schneller mit deinem Mann allein sein kannst.« Mit einem Lächeln zu Alain trat Weiwara über den Zaun, und die zwei Frauen schritten davon. Adica beugte sich zu ihrer
Freundin herab, flüsterte ihr eindringlich etwas zu. Sicherlich war es nicht sein Fehler, dass der Wind sich in diesem Augenblick drehte und ihre gemurmelten Stimmen an sein Ohr trug. »Was soll ich tun? Er weiß es nicht.« »Hast du es ihm nicht gesagt?« »Ich konnte es nicht. Was ist, wenn es ihn so ängstigt, dass er wegläuft?« »Nein, Geweihte, sag so etwas nicht. Du weißt, dass das nicht stimmt. Die Geheiligte hat ihn dir geschickt. Er wird dich nicht verlassen.« Adicas Antwort konnte er nicht mehr hören, da die zwei Frauen im Geburtshaus verschwanden. Kurz darauf tauchte Weiwara 578 wieder auf, gestikulierte in Alains Richtung und machte sich daran, die Beutelchen und Blütenblätter einzusammeln, die auf dem Boden herumlagen. Alain hatte die Aufforderung begriffen. Er zog sich in die weniger komplizierte Kameradschaft der Männer zurück. Um diese Jahreszeit waren sie mit verschiedenen Vorbereitungen auf den bevorstehenden Winter beschäftigt. Urtan trug ihm auf, gemeinsam mit Kel und Tosti Stroh für das Dach des Männerhauses zu binden, das während der starken Regenfälle im Frühjahr mehrere Löcher bekommen hatte. Vom Dach aus hatte er einen weiten Blick über das Dorf bis hin zum Tumulus. Die meisten der älteren Kinder waren damit beschäftigt, Fackeln herzustellen; sie banden Holzspäne mit Flachs oder Hanf zusammen und tauchten sie anschließend in Bienenwachs oder Harz. Frauen saßen bei den Türen vor ihren Häusern und webten Körbe. Holzäpfel waren aufgeschichtet, warteten darauf, süß zu werden. Hin und wieder sah er Männer die Befestigung entlanggehen und durch eine Spalte verschwinden, wo sich zwei der Brustwälle überlappten, um Wasser oder Feuerholz zu holen. Das Beste daran, auf dem Dach zu arbeiten, war jedoch, - abgesehen davon, dass er seinen Kameraden lauschen konnte, die über die Mädchen sprachen, die sie heiraten oder einfach nur küssen wollten -, dass er einen guten Blick auf das in einiger Entfernung liegende Geburtshaus hatte, später auch auf Adica, als sie durch das Dorf ging, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Alle wussten, dass er nicht mit voller Konzentration bei der Arbeit war, und seine Freunde machten sich einen Spaß daraus, mit ihm darüber zu scherzen, welche Pflichten er denn wohl am Abend übernehmen würde: Wache stehen, die Gänse waschen, Häute bearbeiten, schlafen. Ihre gutmütigen Spaße und ihre Fröhlichkeit ließen die Zeit rasch vergehen, denn er wartete bereits sehnsüchtig auf das Festmahl, das es an diesem Tag noch geben würde. Doch gerade dieses Fest, bei dem die Zentaurinnen gefeiert und er und Adica zu Hause willkommen geheißen wurden, verging mit quälender Lang579 samkeit. Die Nacht brach um diese Jahreszeit rasch herein, und Mutter Weiwara beeilte sich, sie gleich bei Einbruch der Dämmerung wegzuschicken, auch wenn sie es nicht verhindern konnte, dass seine Freunde unanständige Lieder sangen, als er versuchte, mit Adica an der Hand zu verschwinden. Lachend rannten sie durch das dunkle Dorf zu ihrem Haus. Sie brauchten kein Licht. Sie brauchten nur sich selbst, zerrten sich die Kleider vom Leib und sanken aufs Bett. Die mit Federn gefüllte Matratze gab nach, als sie sich zusammen unter die Felle drängten. Er hätte hinterher nicht mehr sagen können, was er alles zu ihr sagte, er war sich dessen wohl nicht einmal in dem Augenblick, da er es sagte, bewusst. Allein sie zu berühren war eine Art Delirium, ein Ertrinken. Sie ertranken vielleicht zwei- oder dreimal auf diese Weise, bis sie so erschöpft waren, dass sie einfach nur noch in der Dunkelheit daliegen konnten. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter, sein Arm lag über ihrer Schulter. Sie hatte ein Bein um seine Hüfte geschlungen, und so blieben sie eine Zeit lang liegen, während sie seinen Nacken liebkoste, sanfte Schmetterlingsküsse auf seine Haut drückte, gelegentlich auch auf seine Lippen. Er hörte, wie einer der Hunde aufstand und unruhig um das Haus strich, bevor er sich wieder an der Schwelle niederlegte. Er fand den Ring an ihrem Finger und drehte ihn, zog ihn über den Knöchel und schob ihn wieder zurück. »Was war das, was du mir vorhin sagen wolltest?«, fragte er. »Ich weiß, dass du etwas vor mir verbirgst.« Sie hörte abrupt auf, ihn zu küssen, und atmete geräuschvoll ein, als hätte er ihr einen Schlag in die Magengrube versetzt. »Ich habe zufällig gehört, wie du dich heute mit Weiwara unterhalten hast. Ich erinnere mich auch, dass andere Leute ... bestimmte Dinge gesagt haben. Sie flüstern miteinander. Was ist es, was du mir vor lauter Angst nicht erzählen kannst?« Seine Stimme klang brüchig. Nun, da er endlich ein Heim gefunden hatte, wünschte er sich all das, was auch andere Leute sich wünschten: eine Kameradin, Unterkunft und Nahrung, eine Gemeinschaft, in 580 der sie miteinander leben konnten, Kinder, die ihnen nachfolgen würden. Aber vielleicht sollte es nicht so sein. »Ich weiß, dass du möglicherweise versucht hast, es mir schon früher zu sagen, und dass ich es vielleicht nicht hören wollte. Aber falls es um Kinder geht, Adica, solltest du wissen, dass ich dich nie verlassen werde, was immer auch passiert.« Sie atmete ebenso geräuschvoll wieder aus, presste ihr Gesicht in seine Haare. »Es stimmt«, begann sie so leise, dass er seine Position verändern musste, um sie besser verstehen zu können. »Ich werde niemals Kinder haben. Es ist ... ein Teil des Schicksals, das mir als Geweihte auferlegt wurde.« Es war unnötig, den Schmerz zu verbergen, der sich einstellte, als er diese klaren Worte hörte. Er hatte Gott
gebeten, Tallias Herz zu erweichen, damit sie zusammen ein Kind machen konnten. Er hatte stundenlang gebetet und gegen jegliche Hoffnung gehofft, dem sterbenden Lavastin das Enkelkind doch noch schenken zu können, nach dem er sich so sehr gesehnt hatte. Aber am Ende waren Gott weiser als das menschliche Herz. Er wusste jetzt, dass Adicas Seele wie ein strahlender Schatz war und dass er sich in Tallia, deren Seele klein und verdorben gewesen war, die ganze Zeit über getäuscht hatte. Er bedauerte Tallia jetzt, da er erkennen konnte, wie sehr sie sich - verängstigt, selbstbezogen und oberflächlich - in ihren eigenen Lügen verfangen hatte. Und doch schien es grausam zu sein, dass Gott Adica das vorenthielten, was sie verdiente. Er konnte mit dem Schicksal nicht richten. Und er würde auch Adicas Kummer nicht dadurch vergrößern, dass er gegen etwas protestierte, über das er keinerlei Macht besaß. »Sicher werden wir traurig sein, wenn wir kein Kind zusammen machen können. Aber das heißt doch nicht, dass wir keine Kinder großziehen können, mein Herz. Gott wissen, dass es genug Waisenkinder gibt, die kein Heim haben. War nicht auch ich eins von ihnen? Mich hat auch ein netter Mann als sein eigenes Kind angenommen.« 581 Er weinte jetzt ein bisschen. Es war so lange her, dass er an Tante Bei und seinen Ziehvater Henri gedacht hatte. Hatten sie ihm nicht stets die gleiche Freundlichkeit entgegengebracht, mit der sie auch die eigenen Familienmitglieder behandelt hatten? Wie immer die Wahrheit über seine Herkunft auch lauten mochte, sie hatten ihn wie ein eigenes Kind großgezogen. Sie hatten ihm ihr Herz geöffnet. Vielleicht war es an ihm, das Gleiche für ein anderes Kind zu tun, nun, da er ein wirkliches Heim gefunden hatte. »Wirklich?« Sie drückte ihn an sich, als wollte sie ihm die Rippen brechen. Sie war so angespannt. »Waren es nette Leute, die dich angenommen haben?« »Ja, das waren sie. Ich habe dir die Geschichte doch schon einmal erzählt. Wir finden ein Kind, Adica. Oder zwei Kinder. Oder fünf. Wie viele du auch immer willst. So können wir Gott dienen, indem wir einem Kind ein Heim bieten, dass sonst keines hat. Das ist sehr gut. Aber nur für den Fall -« »Nur für den Fall?« Er rollte sich auf sie, sodass sie unter ihm festgeklemmt war. »Gott helfen jenen, die sich selbst helfen. Urtan sagt manchmal etwas Ähnliches, aber ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, was es war.« >»Gebete können auf einem Feld nichts wachsen lassen, so lange kein Samen darauf liegt.< Uff! Du zerdrückst mich. Was hat das mit -« Sie keuchte, als er mit den Fingern über ihre Brustwarze strich. »Nur für den Fall«, erklärte er. »Vielleicht kann in deinem Leib kein Kind wachsen, aber es gibt ein bestimmtes Ritual, das ein Mann und eine Frau befolgen müssen, wenn sie überhaupt eins haben wollen, und ich denke, wir sollten es nicht vernachlässigen.« »Noch einmal?« Sie lachte. Noch einmal. Der nächste Tag verlief ereignislos. Adica hatte so viele Pflichten zu erfüllen, dass er sie kaum zu Gesicht bekam. In der Morgendämmerung war sie aufgestanden, um die Sonne zu begrüßen; da582 nach meditierte sie beim Steinwebstuhl als Übung für das große Weben, das sie und die anderen Geweihten in nur siebzehn Tagen zu vollbringen haben würden. Gegen Mittag aßen sie etwas, und den ganzen Nachmittag kümmerte sie sich um die Dorfbewohner oder die bei ihnen verweilenden Krieger, die auf der anderen Seite des Hügels lagerten. Sie widmete sich den Kranken, verjagte die bösen Geister, die im Dorf herumhingen, untersuchte ein frisch geschlachtetes Schwein auf mögliche Krankheiten, suchte in den Eingeweiden nach Zeichen, die auf Glück oder Unglück schließen ließen, beobachtete den Flug der Vögel, um daraus etwas über den Verlauf und die Strenge des bevorstehenden Winters zu erfahren. So verging auch der nächste Tag und der danach. Es gab Eicheln zu sammeln, Schweine und Gänse zu mästen, bevor die Winterschlachtungen sie zwangen zu entscheiden, welche Tiere getötet und welche durch die kalte Jahreszeit gebracht werden sollten. Jeden Tag kamen noch mehr Erwachsene, meist junge Männer, von anderen Dörfern nach Königinnengruft, um die Geweihte zu beschützen. Alain half, im Schutz des Erddamms Unterkünfte für sie zu errichten. Er übernahm seinen Teil an den Wachen, und an den Nachmittagen versuchte er, mit Urtans und Agdas Hilfe ein Katapult zu bauen, während in der Nähe Beor seinem immer größer werdenden Kriegstrupp beibrachte, wie man mit Stäben, Hellebarden oder Knüppeln kämpfte. Rinde oder zusammengenähte Häute, die über ein Gerüst aus fest verzurrten Stöcken gezogen wurden, bildeten behelfsmäßige Schilde. Mehr und mehr Krieger zogen nach Königinnengruft, und aus dem anfänglichen Tröpfeln wurde eine richtige Flut von Leuten, als schließlich ganze Familien mit ihren Herden von den Dörfern der nahen Umgebung kamen. Die behelfsmäßigen Hütten, die sie im Schutz des Walls errichteten, nahmen beinahe die Dimensionen eines eigenen Dorfes an. Die allgemeine Befürchtung, dass die Verfluchten jederzeit angreifen könnten, verstärkte sich, je kürzer die Tage und je kälter die Nächte wurden. Alain sprach mit Sos'ka und ihren Kameradinnen darüber, wie die Angriffe der Verfluch583 ten in der Vergangenheit vonstatten gegangen waren: in der Morgendämmerung, auf den Schwingen des Nebels, kurz vor Sonnenuntergang, hin und wieder bei Nacht. Beor und die anderen geachteten Kriegsführer lauschten, warfen hin und wieder Bemerkungen ein, die Alain übersetzte. Die Hände des großen Mannes waren währenddessen stets beschäftigt, er band entweder Speerspitzen an Schäfte, befiederte Pfeile, formte scharfe
Spitzen aus Geweihen. Pur, der Steinschläger, wurde jetzt von fünf Gesellen und zwei anderen Steinschlägern unterstützt. Da das erste Katapult einen Fehler hatte, mussten sie ein zweites bauen. Fackeln brannten die ganze Nacht an der Palisadenmauer und auf der Brustwehr, und sie schickten verschiedene Spähtrupps in den Wald, die mit ganzen Wagenladungen voller Holz sowie mehreren Armen voll Kerbel und Schierling zurückkehrten. Die hohlen Stängel dieser Pflanzen ließen sich mit Öl füllen und bildeten so wirkungsvolle kleine Fackeln, die man leicht in der Hand halten konnte. Sie schafften so viel Wasser heran, dass sie schon glaubten, der Fluss würde austrocknen. Am achten Tag nach Alains Rückkehr bewiesen die Zentaurinnen ihren Wert als wirkungsvolle Wachen, als sie eine kleine Gruppe von Verfluchten vertrieben, die am Waldrand aufgetaucht waren. Danach befand sich die gesamte Dorfgemeinschaft in andauernder Alarmbereitschaft. Die Leute verließen selten den Schutz des Dorfes, und wenn, dann nur in Gruppen von zehn oder noch mehr, und auch nur, um den kurzen Pfad zu benutzen, der vom Tor zum äußeren Ring der Brustwehr führte. «Wir sollten deine alte Unterkunft am Hügel erneuern«, sagte Alain in dieser Nacht zu Adica, als sie im Bett lagen. Sie lauschte schweigend. Sie wirkte in den letzten Tagen so angespannt wie eine Bogensehne kurz vor dem Abschuss eines Pfeils. »Es hat mir da oben nicht gefallen«, erklärte sie schließlich. »Ich habe mich dort wie eine Ausgestoßene gefühlt, eine Fremde in meinem eigenen Volk.« »Aber jetzt bin ich bei dir. Dort oben ist es sicherer für dich. Wir 584 können die Zentaurinnen bitten, sich entlang der Brustwehr niederzulassen, da ihr Gehör so scharf ist. Das Gerüst der alten Unterkunft steht noch, zumindest der größte Teil davon. Es ist jedenfalls noch nicht so weit heruntergekommen, dass ich es nicht reparieren könnte. Wir werden unsere Felle mitnehmen. Vielleicht ist der Untergrund anfangs etwas hart -« »Schsch.« Sie seufzte hörbar, dann küsste sie ihn, so, dass er gar keine andere Wahl hatte, als still zu sein, während sie bei ihm jene Magie wirken ließ, die er am meisten begehrte. Aber sie erhob keine Einwände, als er Kel und Tosti bat, mit ihm die Unterkunft zu reparieren. Sie ließ ihn sogar die heiligen Regalien und die Kiste mit ihren Habseligkeiten hinauftragen, zusammen mit den Fellen und dem Bettzeug. Die Kräuter und die verschiedenen, kleinen magischen Gegenstände ließ er jedoch in ihrem Haus zurück; sie konnte sie während des Tages, wenn sie ihren Aufgaben nachging, dorthin bringen. Sie schien sich nicht sehr viel daraus zu machen, wo sie schlief, so lange er nur neben ihr lag. Doch nur in der Nacht verwandelte sich ihre Wärme in heiße Glut. Tagsüber jedoch - manchmal sogar in der Nacht, wenn sie beisammen lagen - war sie abgelenkt; sie schien sich jeden Tag weiter von ihm zu entfernen, als würde der Pfeil mehr und mehr entschwinden und ihn und alle anderen zurücklassen. Der Mond begann abzunehmen. Frost legte sich als dünne Eisschicht über den Boden. Die Sterne pulsierten am klaren Himmel. Seit Tagen standen keinerlei Wolken mehr am Himmel, wenn auch gelegentlich Donner in der Ferne zu hören war. Am Tag des Neumonds erhob sich Adica noch vor der Morgendämmerung und vollführte mit den erwachsenen Frauen die Zeremonie für den neuen Mond, verborgen vor den Augen der Männer. Große Sorge nagte an Alain. Neid fraß an ihm. Er hasste jeden Augenblick, den sie nicht in seiner Gegenwart verbrachte, obwohl er nicht hatte sagen können, wieso. Hatte das Glück ihn eifersüchtig gemacht? Doch worauf sollte er eifersüchtig sein, wo er sie doch jede Nacht 585 für sich hatte? Urtan hatte ihn von den Nachtwachen entbunden, und nicht einer der Erwachsenen, die stattdessen die Wachen übernehmen mussten, beklagte sich. Seltsamerweise ließ auch die Ungezwungenheit nach, mit der die Dorfbewohner und besonders die Verwandten vom Weißhirsch-Stamm in all den vergangenen Monaten Adica angesehen hatten. Er erinnerte sich jetzt wieder daran, wie es gewesen war, als er nach Königinnengruft gekommen war, wie nervös sich die anderen in ihrer Gegenwart verhalten hatten. Ihre Befangenheit hatte sich jedoch im Laufe der Zeit gelegt, und so hatte er in den Monaten, die seither vergangen waren und in denen er und Adica sich in dem Dorf eingerichtet hatten, gar nicht mehr daran gedacht. Jetzt fürchteten sie sich jedoch wieder vor ihr, unausgesprochen und mit einem entschuldigenden Ausdruck im Gesicht. Sie sprachen immer weniger mit ihr und beachteten sie häufig nicht, baten sie aber weiter um Hilfe, wenn sich ein Pilz in ihren Emmervorräten ausgebreitet hatte oder eins ihrer Kinder von einer Entzündung befallen war. Selbst Weiwara schob ihre Kinder beiseite, wenn die Geweihte vorbeiging. »Sie sammelt Macht für das große Weben«, sagte sie und blickte beschämt drein, als Alain sie eines Tages offen darauf ansprach. »Es ist gefährlich für uns, eine Geweihte auf dem Höhepunkt ihrer Macht anzusehen.« »Was ist mit mir? Ich fürchte sie nicht. Und ich habe noch keine schlechten Auswirkungen bei mir feststellen können.« »Oh.« Sie lächelte, aber es wirkte angespannt, gar nicht richtig wie ein Lächeln. »Du bist ihr Partner. Du bist anders, Alain. Deine spirituellen Führer schützen dich vor dem Bösen.« »Es stimmt, dass die Macht einer Geweihten böse Geister in ein Dorf bringen kann«, bestätigte Urtan, als Alain auch ihn fragte. Aber er zappelte nervös herum, fühlte sich sichtlich unbehaglich. »Das ist nicht ihre Absicht. Sie würde niemals etwas tun, was uns schadet, sie ganz sicher nicht. Schließlich gibt sie alles - aber das ist auch ihre Pflicht, nicht wahr?«
»Ich darf nicht darüber reden«, erklärte Kel und wurde puterrot. 586 »Ich bin noch nicht verheiratet. Ich muss meinem Onkel beim Holzhacken helfen.« Schließlich ging Alain zu Beor, in der Hoffnung, der Mann, der einst sein Feind gewesen war, würde offener mit ihm sprechen. »Sie ist eine mutige Frau«, sagte Beor jedoch nur und wich Alains Blick aus. So ging es weiter, bis der Tag kam, an dem sie jedes einzelne Haus im Dorf aufsuchte und einen komplizierten Segen sprach, um seinen Bewohnern Gesundheit und Glück für den bevorstehenden Winter zu sichern. Als würde sie nicht mehr da sein, um sich um sie zu kümmern. Er folgte ihr mit Rage und Kummer, achtete jedoch darauf, sie bei ihrer Arbeit nicht zu behindern. Es dauerte den halben Tag, aber schließlich begriff er, wieso sie sich so fürchtete. Und er begriff, wieso am Abend ein so hehres Fest veranstaltet wurde, mit in Fett gebratenen Schweinelenden mit einer Soße aus Sahne und zerstoßenen Wacholderbeeren, gebratener Gans mit Wasserkresse, Fischsuppe, Haselnussbrei, einem Eintopf mit Morcheln, Met mit Preiselbeergeschmack und Sumpfmyrte. Er war ganz benommen von dem Met, als sie über die Brustwehr zu ihrer Unterkunft gingen. Die kalte Nachtluft prickelte auf seinem Gesicht. Sie wickelten sich in ihre Felle, küssten sich und kuschelten sich aneinander. Adica war still, aber sogar noch ein bisschen leidenschaftlicher als sonst. »Das große Weben findet morgen Nacht statt, nicht wahr?«, fragte er leise. »Ja.« Obwohl er sie an sich presste, konnte er ihre Antwort kaum verstehen. »Nach dem Weben wirst du frei sein, nicht? Niemand kann dann noch etwas von dir verlangen, mein Herz. Du wirst frei sein und kannst wieder im Dorf leben.« Er hörte, wie seine Stimme lauter wurde, drängender, ärgerlicher wegen der Art und Weise, wie sie von Shu-Sha und den anderen benutzt wurde. Sie war noch so jung, jünger als er, und von sich selbst glaubte er, inzwischen 587 das zwanzigste Jahr erreicht zu haben. Es war nicht recht, dass die anderen Geweihten ihr die Pflicht zu einer solchen Bürde machten. Ein paar Tränen tropften von ihren Augen auf seine Wangen. »Ja, Liebster. Dann werde ich frei sein.« Sie holte zitternd Luft, strich über seinen Bart, berührte die Kuhle an seinem Hals, zog mit ihrem Finger eine Linie zum Nabel und über die kräftigen Muskeln seines Bauchs. »Ich bedauere nicht den Preis, den ich zu zahlen habe, nur, dass ich dich verlassen muss. Ich bin so glücklich. So glücklich.« Sie küsste ihn heftig und rollte sich auf ihn. Sie war so süß wie die Wiesenblumen und doppelt so schön. »Ich will nicht schlafen«, flüsterte sie danach. »Ich will dich nicht verlassen.« Bei dieser Bemerkung dämmerte ihm etwas in seinem vom Met benebelten Hirn. »Du hast Angst vor dem Weben.« »Ja.« Sie brach ab, fuhr dann stockend fort. »Ich fürchte mich sehr davor.« »Du hast Angst, dass du sterben könntest. Mir gefällt das nicht.« »Alle Menschen fürchten den Tod. Du bist der Einzige den ich kenne, der keine Angst vor dem Sterben hat.« »Ich begleite dich morgen.« Er hätte natürlich längst an so etwas denken müssen. Die Verfluchten könnten immer noch angreifen. Sie und die anderen Geweihten mussten durch die Steine hindurch das Weben bewerkstelligen, was große Magie erforderte. Das wussten alle, aber das Wirken der Zauberer blieb natürlich vor allen anderen verborgen, so, wie nur Geistliche die geheimen Namen Gottes lesen konnten. Wissen war gefährlich, und Magie war noch gefährlicher. Aber er hätte alles für sie riskiert. »Ich werde beim Wirken neben dir stehen. Du weißt, ich würde niemals zulassen, dass dir irgendetwas zustößt. Ich habe es geschworen. Ich schwöre es jetzt.« »Ich weiß, du würdest es niemals zulassen, dass mir Schaden zugefügt wird, so lange ich lebe.« »Ich werde niemals zulassen, dass du mich verlässt.« Nach einer 588 Weile, nachdem er ihr klargemacht hatte, wie tief seine Gefühle für sie waren, schlief sie ein. Aber er konnte nicht schlafen. Er wagte nicht, sich zu bewegen, aus Angst, er könnte sie, die so müde war, aufwecken. Er wagte nicht, sich zu rühren, aber als er so dalag, reiste sein Herz in unruhige Lande. Er sah immer und immer wieder das sterbende Kind in den Armen seiner hungernden Mutter, der er an dem Tag, als er mit Lavastin auf die Jagd gegangen war, seinen Mantel gegeben hatte. Er sah immer wieder die schroffe, alte Hure, die Hathumod während des Marsches nach Osten aufgenommen hatte und der er ein freundliches Wort entgegengebracht hatte. Er sah immer wieder die Hungrigen und Armseligen, die von Ärger und Verzweiflung Verkrüppelten. Er sah Simplizius, die Art, wie er den schiefen Kopf in den Nacken legte und ein Lachen ausstieß. Er sah das Guivre, aus dessen zerstörtem Auge Maden krabbelten. So viel Leid. Wieso ließen Gott den Feind Betrübnis und Kummer in die Welt tragen? Oh, Gott, brachte die Natur nicht schon genug Ärger mit sich, in Gestalt von Überflutungen und Dürren, Stürmen und Gewittern? Wieso musste die Menschheit noch weiter im Topf herumrühren und dafür sorgen, dass das Wasser noch mehr kochte? Konnte Magie den Krieg eindämmen und Frieden bringen? Er hoffte es so sehr. Er musste daran glauben, dass Adica und die anderen Geweihten einen Weg kannten, um die Auseinandersetzungen und die Feindseligkeit in Frieden zu verwandeln. Das war doch wohl der Zweck des großen Webens, oder? Den Krieg zwischen den
Verfluchten und den Menschen zu beenden. Am nächsten Morgen trug Adica ihre Zedernkiste aus der Hütte, warf Alains wenige Habseligkeiten über die Schwelle, und bevor er begriff, was sie tat, hatte sie die Hütte schon in Brand gesteckt. »Adica!« Er packte sie, zog sie zurück, als die Flammen hochschlugen und drohten, das Strohdach zu entzünden. Sie zitterte, aber ihre Stimme klang fest, wenn auch flach. »Es muss gereinigt werden.« 589 Kummer und Rage jaulten, hielten Abstand von dem Feuer. Sie standen alleine hier oben, auf dem höchsten Punkt des Hügels, nur einen Speerwurf von dem Steinkreis entfernt. Die Flammen griffen nach dem gebündelten Ried. Die Flüchtlinge aus den anderen Dörfern hatten ihre Hütten unten beim Erddamm errichtet, in einiger Entfernung von der Hügelspitze und der Macht der Steine. Ein paar Kinder reckten die Hälse und blickten zu dem aufsteigenden Rauch, doch ältere Kinder zerrten sie weg und verschwanden mit ihnen den Hügel hinunter. Niemand störte sie. Die Hütte brannte lichterloh. Eine riesige Eule glitt durch den Rauch, aber als Alain blinzelte, verschwand sie. Rage hob den Kopf und rannte los, auf den tiefer gelegenen Erdwall zu. Eine Menge Leute kletterten auf die Brustwehr im Innern der Palisade, deuteten auf das Dorf hinunter und murmelten. Rauch stieg aus dem Dorf auf, wie ein Echo des Rauchs neben ihnen. Es dauerte eine Weile, bis Alain begriff, dass auch ihr Haus im Dorf Feuer gefangen hatte. »Das ist unser Haus!« Er drehte Adica so, dass sie es sehen konnte. Sie sagte nichts. Sie blickte auch nicht überrascht drein. »Man verbrennt ein Haus nur dann, wenn -« Die Erkenntnis flackerte wie Zunder in ihm auf und brannte so heiß wie Feuer. »Du glaubst wirklich, dass du sterben wirst!« »Nein, Liebster. Ich glaube es nicht. Ich weiß es.« Sie weinte nicht, als sie seine Hände nahm. Sie war über das Weinen inzwischen hinaus. Sie hielt seinem Blick stand, versuchte ihn davon abzubringen, etwas zu sagen. »Ich konnte es dir nicht eher sagen, mein Liebling. Ich habe es nicht übers Herz gebracht. Dass ich überhaupt glücklich gewesen bin, liegt nur an dir. Was ich an Gutem erfahren habe, habe ich dir zu verdanken. Ich hätte es niemals anders haben wollen. Aber meine Pflicht wurde schon lange vorher bestimmt. Ich werde das große Weben nicht überleben.« Panik und Ungläubigkeit wogten über ihn hinweg. Die Hitze der Flammen schlug ihm ins Gesicht. Es war unmöglich. Er würde es nicht zulassen. 590 »Ich werde dich nicht verlassen, Geliebte.« Seine Stimme stockte bei den vertrauten Worten, die er schon so oft gesprochen hatte. Waren sie die ganze Zeit über bedeutungslos gewesen? Er hasste den erstarrten, beinahe unnahbaren Ausdruck, der aus ihren Gesichtszügen eine Maske machte, als wäre sie eine ihren Untergebenen weit entrückte Königin. »Ich werde mit dir in den Tod gehen, wenn es sein muss. Ich lasse nicht zu, dass ich dich verliere. Niemals!« »Schsch«, sagte sie, tröstete ihn, umarmte ihn. »Es macht keinen Sinn, über etwas zu sprechen, das längst beschlossen ist.« Aber er wollte nicht aufgeben. Er war bei Lavastin geblieben, als dieser gestorben war. Er hasste das Gefühl von Hilflosigkeit, diese Klaue, die sich immer tiefer in seinen Hals bohrte. »Nein«, sagte er. »Nein.« Aber er erinnerte sich an die Worte von Li'at'dano, an dem Morgen, als er gefallen war und blutend, sterbend und verloren zu Füßen des Kessels gelegen hatte. Er erinnerte sich an den Morgen, als die Schamanin seine Verletzungen geheilt und ihm ein neues Leben an einem Ort geschenkt hatte, den er nicht gekannt hatte. Er erinnerte sich an das, was Adica gesagt hatte, an die ersten Worte, die er aus ihrem Mund gehört hatte. »Wird er bis zu meinem Tod bei mir bleiben, Geheiligte?« Und Li'at'dano hatte geantwortet: »Ja, er wird bis zu deinem Tod bei dir bleiben.« »Schsch«, flüsterte sie. »Ich liebe dich, Alain. Ich hätte mir gar nichts anderes wünschen können als die Zeit, die wir zusammen verbracht haben.« »Ich werde es nicht zulassen!«, schrie er, vor Wut schäumend. War das Donner, was da in der Ferne grollte und dröhnte? Es stand nicht eine einzige Wolke am Himmel. Die Flammen fauchten, während sie die Hütte verzehrten. Der Rauch, der von ihrem Haus im Dorf aufstieg, wirbelte in den klaren Himmel empor, blähte sich dort auf. Der schrille Ton eines Hornsignals durchschnitt die eigenartige Ruhe, die über allem lag. Die Erwachsenen, die noch auf der Brustwehr standen, begannen laut zu schreien, 591 sie gestikulierten und brüllten. Rage, die unten am Spalt stand, bellte wie wild, und dann stimmten Kummer und all die anderen Hunde mit ein, steigerten den Lärm zu einer wahren Kakophonie. »Die Verfluchten!«, schrien die Leute voller Angst und Schrecken. »Sie sind gekommen, um unsere Geweihte zu töten!« Alain rannte hinunter, zwischen den unteren Erdwällen hindurch und auf die Brustwehr hinauf, um es mit eigenen Augen zu sehen. Die Verfluchten waren auf Pferden gekommen - mehr, als er zählen konnte. Er erkannte ihren Federkopfschmuck, die kurzen Umhänge, die mit Perlen geschmückten Arm- und Wadenschoner, auf denen sich die Sonnenstrahlen spiegelten. Jeder Krieger trug eine Kriegsmaske mit einem Tiergesicht, die
sein wahres Antlitz verbarg. Er sah lediglich Echsen und Guivren, fauchende Panther und stolze Falken. Unter lauten Rufen und Gesten verteilten sie sich, bildeten einen losen Ring erst um das Dorf, dann um den Tumulus. Alain verlor die zwei Dutzend Vorreiter rasch aus den Augen, als sie gen Osten ausschwärmten. Die größte Gruppe aus etwa zweihundert Kriegern verteilte sich zwischen dem Dorf und dem Hügel. Das Sonnenlicht kroch den westlichen Hang des Hügelgrabs hinunter, als die Sonne über den Steinen aufstieg. Adica kletterte neben ihn. Sie keuchte leicht, und ihre Miene hatte sich vollkommen geändert. Sie würde ihm nicht mehr den geringsten Trost spenden können. All ihre Sinne waren auf die Aufgabe gerichtet, die sie bei Anbruch des Abends zu erfüllen hatte. »Sie müssen angreifen. Ihre einzige Hoffnung besteht darin, mich davon abzuhalten, meinen Teil zum großen Weben beizutragen. Sie werden versuchen, uns sieben gleichzeitig anzugreifen.« Sie blickte zum Himmel. »Mit dem Segen der Götter ist es dir und den anderen gelungen, die Geheiligte aus den Fesseln der Verfluchten zu befreien. So konnte sie ihre Wettermagie wirken, und der Himmel ist klar. Wir müssen nur diesen Tag überleben, dann sind wir für immer von ihrem Fluch befreit.« Alain versuchte, die Größe der Streitmacht abzuschätzen, die sich jetzt im Dorf versammelte, wo Beor, Urtan, Kel und die ande592 ren sich befanden. Hier auf der Brustwehr hatten sich selbst die Kinder mit Knüppeln und Stöcken bewaffnet. Hufgetrappel erklang tief unter ihm, als Sos'ka und ihre Kameradinnen an die Brustwehr herangetrabt kamen. Sie hatten keinerlei Möglichkeit, die Leiter zu erklimmen und selbst einen Blick auf die andere Seite der Palisade zu werfen. »Wie lautet der Wunsch der Geweihten?«, rief Sos'ka. »Wir sind hier, um sie zu beschützen.« Sie hatten sich auf alles Mögliche vorbereitet, nur nicht auf ein Heer, das aus hunderten von Verlorenen bestand. Er taumelte. Wie leicht es war, rücksichtslos über das Leben anderer zu verfügen! Aber die Zentaurinnen und Menschen musterten ihn eingehend. Sie würden nicht versagen, um welchen Preis auch immer. Sie hatten einen schwierigeren Weg beschritten als er - und noch dazu viele Jahre länger. Die Entschlossenheit würde sie antreiben. Doch er hatte gesehen, dass die Verfluchten näher rückten, und sicher waren auch sie von einer tiefen Entschlossenheit erfüllt. Kein Wunder, dass der Krieg ein Fluch war. Einer der Verfluchten näherte sich dem Dorf jetzt auf Bogenschussweite und schoss einen brennenden Pfeil ab. Das Geschoss surrte über die Palisade und landete zuckend in der Erde. Ein anderer Pfeil kam, dann ein dritter und ein vierter, schließlich ein ganzer Pfeilhagel. Kinder rannten auf die Häuser zu, machten aber sofort wieder kehrt, als das Strohdach des Männerhauses Feuer fing und zu brennen begann - ein zweiter Scheiterhaufen neben Adicas Haus. Kummer und Rage standen unten vor der Brustwehr und keuchten, blickten mit treuen Augen zu Alain herauf. Das Denken fiel ihm jetzt, da sein Herz erneut vor Kummer gestorben war, leichter. Auch das Handeln fiel ihm leichter, denn er wusste, dass auch er sterben würde. Es war einfach unmöglich, ohne sie weiterzuleben. »Adica, du musst zum Steinwebstuhl gehen. Dort bist du vor ihren Pfeilen geschützt. Ich möchte, dass zehn Erwachsene sie be593 gleiten. Sorgt dafür, dass sie geschützt ist. Du wirst dort den ganzen Tag in Deckung bleiben, Geliebte. Glaubst du, du schaffst das?« Sie nickte. »Was sollen wir tun?«, fragte die Frau namens Ulfrega, die Kriegssprecherin von Vierhausen. »An der gesamten Palisade entlang brauchen wir Leute. Sie ist unsere Schwäche.« »Nicht die Spalte und der Graben?« »Die Holzplanken sind zurückgezogen, also können die Verfluchten über diesen Weg nicht angreifen. Ein Trupp mit Speeren und Schilden soll sich dort aufstellen, und die besten Bogenschützen sollen Position entlang der Palisade beziehen. Dort werden die Verfluchten es zuerst probieren. Falls es ihnen irgendwie gelingt durchzubrechen, müsst ihr die Speere mit dem Ende schräg auf dem Boden aufsetzen und gut festhalten. Auf diese Weise werden sie ihre Pferde in die Speerspitzen treiben.« Sie nickte. Ein Pfeil schwirrte über sie hinweg, kam auf dem Hügel auf und rollte den Abhang hinunter, bis er vor den Hufen einer Zentaurin liegen blieb. »Was ist mit den Dorfbewohnern?«, fragte sie. »Beor kann sie führen. Er soll warten, bis die Bogenschützen der Verfluchten sämtliche Pfeile verschossen haben. Es wird uns von Nutzen sein, dass die Verfluchten sich in der Zange befinden, die wir gebildet haben, denn so müssen sie sich auf beiden Seiten schützen. Abgesehen davon haben wir ein paar Tricks in der Hinterhand, mit denen sie nicht rechnen werden. Gib an der Palisade die Nachricht aus, dass erst dann Pfeile abgeschossen werden sollen, wenn ein direkter Angriff droht. Die Kinder sollen alle Pfeile einsammeln, die über die Palisade fallen. Wir können sie zurückschießen.« Ein drittes Haus hatte jetzt im Dorf Feuer gefangen. »Sos'ka, du musst mit deinen Kameradinnen dafür sorgen, dass um den gesamten Hügel herum Wachen aufgestellt sind. Wenn es irgendwo eine Schwachstelle gibt, muss mir jemand 594 Bescheid geben, damit wir Verstärkung schicken können. Wenn sie hinter uns durchbrechen, sind wir verloren.
Ulfrega, du musst hier bleiben, um den Befehl zu übernehmen, falls ich weggerufen werde. Adica!« Adica beobachtete noch immer die Verfluchten und den Rauch, der von den brennenden Häusern aufstieg. Ein viertes Haus brannte jetzt, aber es waren bereits Leute dabei, das Dach des nebenstehenden Ratshauses mit Wasser zu tränken. Eine Reihe von Verfluchten rückte näher, um den Tumulus zu untersuchen. Ein vorwitziger Soldat mit einer Fuchsmaske kam noch näher herangeritten und wirbelte dabei eine Schlinge über dem Kopf. Steine prallten gegen die Palisade. Ein Dutzend Bogenschützen kam so nahe, dass sie schießen konnten. Alain packte Adica am Arm und zerrte sie nach unten, während die Leute um ihn herum nach Luft schnappten, als sie sahen, wie er sie behandelte. »Du musst dich in Sicherheit bringen.« »Wo wirst du sein?« Eine einzelne Träne lief ihre Wange hinab. »Ich werde immer bei dir sein. Ich komme nach, sobald ich kann.« Sie stieg die Leiter hinunter. Sofort traten mehrere Erwachsene zu ihr und eilten mit ihr durch die höher gelegenen Erdwälle auf den Steinkreis zu. »Sollen wir auf sie schießen ?«, rief einer der Bogenschützen neben Alain. »Nein, sie sind noch keine Bedrohung für uns. Sollen sie ihre Pfeile ruhig verschwenden.« Beors Bogenschützen hatten bereits begonnen, zurückzuschießen, und die Bogenschützen der Verfluchten zogen sich zu ihrer Hauptstreitmacht zurück, offensichtlich zufrieden mit dem, was ihre Pfeile im Dorf angerichtet hatten: fünf Häuser brannten jetzt lichterloh. Rauch wirbelte gen Himmel, und überall schwebte Asche in der Luft. Doch die Verfluchten warteten, während eine unsichtbare Trommel einen gleichmäßigen Rhythmus schlug, der von der Erde widerzuhallen schien. Alain, der sich gegen die dicken 595 Stämme der Palisade lehnte, spürte den pochenden Rhythmus, der etwas seltsam Beruhigendes hatte, seine Gedanken ablenkte, Erinnerungen in ihm aufkommen ließ. Oben bei den Ruinen in der Nähe von Burg Lavas sieht er die Schatten dessen, was gewesen ist, nicht die Schatten der Ruinen, die sich jetzt hier befinden. Das schwache Licht der Laterne und der Glanz der Steine beleuchten die Schatten der Gebäude, als wären sie noch ganz und nicht in sich zusammengestürzt. Die filigrane Mischung aus Bögen, Säulen und stolzen Wänden, die sich als unmögliche Schatten am Boden entlangziehen, ist der Geist der alten Festung, die zum Leben erwacht, während sich Erinnerungen aufdrängen ... Liath steht vor einem Haufen Holz. Alles ist feucht. Selbst die Luft schwitzt Feuchtigkeit; schon bald wird es regnen. Ganz plötzlich schießt Feuer zwischen den Zweigen hervor, züngelt und knistert. Liath sinkt auf ein Knie, starrt in das Feuer, als eine Flamme gen Himmel schießt. Tanzen da Schatten in der Flamme? Sie starrt darauf, ebenso entrückt, wie Adica inzwischen geworden ist, und zieht eine glänzende Goldfeder aus ihrer Tunika. Oh! Er kennt diese Feder, oder er kannte zumindest eine wie diese: Es ist eine Phoenix-Feder wie jene, die er vom Boden der Höhle aufgehoben hat. In ihren Händen blitzt Feuer. Der Schleier, der die Schatten im Feuer verbirgt, wird zur Seite gezogen, von dessen reinem Licht weggebrannt, und er sieht: Einen alten Mann, der auf seinem Oberschenkel Flachs zu Seil spinnt. Wieso sieht er so vertraut aus? Rage bellte und riss ihn aus seiner Versunkenheit. Er rieb sich die Augen, während die Leute um ihn herum unsicher miteinander tuschelten. Unten stieg von den grasigen und stoppeligen Feldern dunstiger Nebel in die Luft. Der Feind verblasste unter der Sonne, als wäre er nur eine Illusion gewesen, erst zu Schatten verdunkelt und dann in einem alles umhüllenden Nebel verborgen, der aus der Erde selbst zu strömen schien. Der Nebel kroch über 596 den Boden, verteilte sich in so breiter Front, dass er sowohl das Dorf als auch den Hügel einhüllen würde. Kein einziger Reiter war in den wogenden Nebelschwaden mehr zu erkennen. Die Verfluchten verbargen sich mittels Magie. Der Wind drehte abrupt und kam jetzt von Osten; als er stärker wurde, erzitterte der magische Schleier und wich zurück, sodass die Hand voll Reiter - die Vorhut - sich rasch beeilte, in den Schutz des Nebels zurückzugelangen. Ein Krachen erklang vom Dorf her. »Das Katapult!«, rief Alain. Ein großes Etwas segelte über die Mauer und verschwand im Nebel. Beor hatte die erste Überraschung offenbart. Schrille Schreie und panisches Gejammer drangen aus dem treibenden Dunst, als die jetzt wieder freien und wütenden Bienen sich an den Verfluchten rächten. Der Nebel wallte zurück, enthüllte eine Truppe, die es beinahe bis zum Dorftor geschafft hatte, während andere sich dem Tumulus näherten. Ihres magischen Schutzes beraubt und von den Bienen gestört, zogen sich die feindlichen Soldaten zurück, um sich neu zu formieren, während die Weißhirsch-Stämme einen Pfeilhagel auf die vordersten Reiter niedergehen ließen. Eine dritte Streitmacht der Verfluchten versuchte derweil, in einem Bogen an die östliche Seite der Steinkrone zu gelangen. »Sos'ka!«, rief Alain. Sie hatte bereits acht ihrer Kameradinnen zum Tumulus geschickt. »Folge diesen Verfluchten und finde heraus, wo sie hinwollen.« Sie trabte davon. Die feindliche Vorhut, die ihm am nächsten und eigentlich im Rückzug begriffen war, machte plötzlich kehrt und griff den Schutzwall an. Pfeile regneten herab, und danach folgte ein Steinhagel aus den wirbelnden
Schlingen. Kinder schrien. Der Mann neben Alain machte einen Schritt zurück und stürzte mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Blut sammelte sich unter seinem Körper zu einer Lache. Die Verfluchten sprangen von den Pferden und rannten die Erdschanzen hoch, kletterten der Brüstung entgegen. »Verschwendet eure Speere nicht!«, rief Alain, aber trotzdem 597 vergeudeten einige ihre Speere, als sie erfolglos versuchten, die Feinde unter ihnen zu treffen. Doch was hatten die Verfluchten davon, dicht an die Palisade heranzukommen, wenn sie sie ohne Leitern nicht erklettern konnten? Die Soldaten hielten ihre Schilde hoch, beschützten jemanden - eine Frau, die leichter bekleidet war als die anderen. Sie rannte jetzt selbst auf die Palisade zu. Wo sie die Stämme berührte, begann das Holz zu brennen. »Wasser! Wasser!« Der Schrei hallte die Brüstung entlang. Wasser in Eimern wurde nach oben auf den Laufgang gereicht und dort auf die Brandherde geschüttet, während die Verfluchten weiter Pfeile auf die Verteidiger abschössen. Die Dorfbewohner warfen Steine und Felsbrocken von oben auf die Schilde, zerschmetterten sie und abgehackte Jubelschreie ertönten aus ihren Reihen, als ein großer Stein die Zauberin direkt am Kopf traf und sie den Abhang hinuntertaumelte. »Sie bringen Leitern und Holzplanken!« Ulfregas mächtige Stimme erklang von der Spalte, wo sie die Verteidigung organisierte. »Speerkämpfer, haltet stand. Bogenschützen, wartet, bis sie näher gekommen sind.« Der magische Nebel wallte wie eine Wolke neben dem Dorf auf. Ein zweites Krachen erklang; der zweite Bienentopf stieg in einem Bogen vom Katapult auf und fiel steil herunter, aber dieses Mal waren die Verfluchten auf die Bienen vorbereitet, rannten aus dem Nebel, um ihnen zu entkommen. Zwei weitere Häuser des Dorfes standen in Flammen. Schreie und Rufe erklangen von überallher. Ranken aus Rauch verdeckten die Felder. Donner krachte, und seltsame dunkle Wolken drängten von Westen heran. »Alain!« Sos'ka galoppierte zu ihm; Schweiß lief ihr über die Flanken, und ihre Miene war grimmig. »Da war noch eine andere Streitmacht im Hinterhalt, abgesehen von der, die du gesehen hast. Sie sind am östlichen Abhang beinahe durchgebrochen, bei der heiligen Schwelle zur Gruft der Königinnen. Komm rasch mit!« 598 Er kletterte die Leiter hinunter, sprang von der vierten Sprosse auf den Boden und wäre beinahe auf einer Leiche gelandet. Er rief zwei Mädchen zu sich, die unter dem Laufgang warteten und nicht viel jünger als Adica sein konnten. »Du da! Du musst zu Ulfrega gehen. Sag ihr, sie muss jetzt den Eingang halten. Und du musst zur Geweihten laufen. Sie muss einen Weg finden, der Magie der Angreifer etwas entgegenzusetzen, wenn möglich.« Er sprang hoch, hievte seinen Bauch über Sos'kas Flanke und schwang ein Bein auf die andere Seite. »Lass den Kopf unten«, sagte die Zentaurin. Er klammerte sich an der Mähne fest, den Kopf tief eingezogen, als sie in ungleichmäßigem Tempo dahintrabte und dabei Wasserfässern und Kornkisten, Unterständen und vier verwundeten Männern, die von der Palisade weggekrochen waren, auswich. Schließlich löste sie sich aus dem Chaos und fiel in Galopp. Um sie herum dröhnten noch immer die Geräusche der Schlacht; Rufe hallten vor und hinter ihnen. Sos'ka kannte den Weg durch das Labyrinth aus Erdwällen, Sackgassen und Dämmen, aus denen das Verteidigungssystem des Hügels bestand, sehr gut. Die Palisade war voller Kämpfer, die mit Speeren zustießen oder Steine über die Brüstung warfen. Hin und wieder kamen sie an Bereichen vorbei, in denen es unerwartet ruhig war, während die nervösen Wachen warteten und die Hälse reckten, um einen guten Blick auf die Kämpfe entlang der Palisade zu bekommen. Er hatte solche Geräusche schon zuvor gehört. Die Erinnerung machte ihn benommen. Die Löwen halten noch immer den Hügel, während Bayerns Heer sich über den Fluss zurückzieht. Die erste Kohorte bildet die Nachhut, und Alain hält Schritt mit seinen Kameraden, als sie sich den Hügel hinauf zurückziehen. Die Erdwälle erstrecken sich in einem Wirrwarr um sie herum, alte Erddämme, die sich um die Hänge des Hügels winden. Er erinnerte sich an diese Erddämme, aber als er sie zum letzten Mal gesehen hatte, waren sie so alt gewesen, dass sie zerfallen und 599 halb von Wind und Wetter und dem Lauf der Zeit weggewaschen worden waren. Er hatte an dieser Stelle schon einmal gekämpft. Doch jetzt waren die Erdwälle um ihn herum frisch; jeder Narr konnte das erkennen. Er hatte hier bereits in einer Zeit gekämpft, die erst noch kommen würde. Hier hatte die Herrin der Schlachten ihn getötet. Sie folgten einer Biegung des Erdwalls und wären beinahe in einen wilden Kampf hineingerast. Verfluchte hatten die Palisade überwunden, und jetzt kämpften Sos'kas Zentaurinnen und vielleicht zwanzig Krieger des Weißhirsch-Volkes Seite an Seite, schlugen mit Keulen auf sie ein, stießen mit Messern zu. Eine rotgraue Zentaurin parierte einen Speerstoß mit ihrem Stab, warf ihren Gegner zu Boden und versetzte ihm einen gut platzierten Tritt gegen den Kopf. Flammen züngelten an der Palisade empor. Geschrei erhob sich auf Seiten der Feinde, die noch auf der anderen Seite und daher nicht zu sehen waren. Eine Frau, deren Tiermaske abgerissen worden war, glitt über die Stämme, ließ sich auf den Laufgang fallen. Sie
richtete sich auf, parierte den Angriff eines Mannes mit ihrem Bronzeschwert, ließ sich dann auf ein Knie fallen, riss den anderen Arm hoch und wirbelte eine Schlinge über dem Kopf. Ließ los. »Runter!«, schrie Sos'ka. Er duckte sich. Ein Luftzug strich an seinem Ohr vorbei, als der Stein vorbeiflog. Der zweite prallte von seinem Skrolin-Armband ab. Aber der dritte prallte ohne jede Vorwarnung gegen seine Schläfe. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Kopf, als er rücklings von Sos'ka herunterfiel. Der Aufprall auf dem Boden war sogar noch schlimmer als der Treffer. »Aber ich habe geschworen, dir zu dienen«, flüstert er verwundert, denn er hätte so etwas wirklich niemals für möglich gehalten. Er hätte niemals gedacht, dass er derjenige sein würde, der auf dem Schlachtfeld sterben würde. »Das hast du.« Ihre Stimme, tief und dunkel wie eine Kirchen600 glocke, hallt in seinem Kopf. »Viele dienen mir, indem sie den Tod bringen. Die Übrigen dienen mir, indem sie den Tod erleiden. Das ist das Wesen des Krieges.« »Adica!« Er zuckte hoch, setzte sich mit einiger Mühe auf. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, und vor seinen Augen verschwamm alles. Vertraute Hände drückten ihn sanft nieder. »Still, mein Liebling. Leg dich hin.« Ihre Tränen fielen auf sein Gesicht. »Ich habe Angst um dich gehabt.« Sie küsste ihn. Einen Moment lang sah er sie doppelt, seine geliebte Adica neben der Geweihten mit ihrem Geweih, wie sie mächtig und erhaben vor ihm kniete. Wieso stieg die Sonne nicht hinter den Steinen in die Höhe? Er sah sie, wie sie aufgebläht und dunstverhangen jenseits der vage zu erkennenden Palisade unterging, umgeben von rotgoldener Glut. Rauch trieb in Streifen zwischen den Bäumen. Übelkeit stieg in ihm auf, und er legte sich wieder hin. Kurz darauf nahm er trotz des quälenden Pochens in seinem Kopf den Lärm der Schlacht wahr. »Was ist passiert?« »Du bist von einem Stein am Kopf getroffen worden.« Es war anstrengend, sich in Erinnerung zu rufen, was geschehen war. »Sie sind am östlichen Hang durchgebrochen, bei der heiligen Schwelle!« Er sprang auf die Beine, bevor sie ihn daran hindern konnte, und er taumelte, konnte sich gerade noch auf einen der Hunde stützen, sonst wäre er hingefallen. War es Kummer? Oder Rage? Es war schwer zu erkennen; er sah noch immer ziemlich verschwommen. »Adica?« Er drehte sich um und sah sie. Sie hatte ihr Goldgeweih angelegt und das bronzene Taillenband, die Regalien einer Geheiligten, einer Frau mit Macht. Er konnte noch immer Kampfgeräusche hören, aber jetzt ging die Sonne im Westen unter. »Wie lange war ich ...?«, fragte er heiser. Wo einst die Birkenhütte gestanden hatte, in der sie geschlafen hatten, sich geliebt hat601 ten, gab es jetzt nur noch schwelende Kohlen und weiße Asche, die von der abendlichen Brise aufgewirbelt wurde. »Den ganzen Tag«, sagte sie. »Wir haben sie den ganzen Tag abgewehrt.« Um welchen Preis ? Jetzt sah er, dass das, was er zuerst für die untergehende Sonne gehalten hatte, in Wahrheit das brennende Dorf war. Sämtliche Gebäude waren entweder abgebrannt, standen noch in Flammen oder waren eingestürzt. In der Palisade klafften zahlreiche Breschen; hier und dort war sie einfach niedergebrannt. Er konnte nicht sehen, was mit den Dorfbewohnern geschehen war, aber die Verfluchten, die noch übrig waren, kämpften noch immer verzweifelt beim Hügelgrab und versuchten durchzubrechen. Doch so verzweifelt sie auch kämpften, die Weißhirsch-Leute kämpften noch verzweifelter. Er erhaschte einen Blick auf Sos'ka, die unten an der Spalte stand. Sie war blutüberströmt und verschwand förmlich unter einem Speerhagel. Sein zweiter Hund kam zu ihm, gerade als er nach vorn sackte, und er konnte sich an der starken Schulter abstützen. »Sind alle tot? Habe ich den ganzen Tag hier gelegen, während sie gestorben sind?« Sie stand immer noch hinter ihm. »Beor und die anderen Kämpfer haben am Nachmittag einen Ausfall aus dem Dorf unternommen und versucht, hierher zu kommen. Als der Angriff losging hat Weiwara die Kinder und die alten Leute in den Wald geführt. Ich habe für sie gebetet. Ich habe Kiefernblätter verbrannt, um ihnen Unsichtbarkeit zu verleihen. Ich hoffe, einige haben es geschafft. Sie werden dort eher in Sicherheit sein als hier.« »Kel? Tosti? Urtan? Beor?« »Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.« Ihre Stimme klang so weit weg, viel zu ruhig, als wäre Adica gegangen, entführt von der Geweihten, eine entrückte, unerreichbare Frau, die er nicht wirklich kannte und die jetzt in Adicas Körper herumlief. Der untere Rand der Sonne berührte den Horizont. »Alain.« So süß klang ihre Stimme. 602 Er drehte sich um. Sie trat auf ihn zu. Sie standen allein auf der Hügelkuppe, während um sie herum die Kämpfe tobten. Hinter ihr lag der Steinkreis. Wer irgendwie konnte, half jetzt dabei, die Verfluchten aufzuhalten, nur noch für diese letzte Stunde. Das war alles, was sie noch brauchte.
Weinend griff er nach ihrem Arm. »Musst du das tun, Adica? Oh, Gott. Wie soll ich es nur ertragen?« »Denk an die vielen Leute, die sterben werden, wenn wir keinen Erfolg haben. Denk daran, wie viele bereits gestorben sind, um mich zu beschützen!« Jetzt flackerte Ärger in ihr auf. »In meinem Innern trauere ich, dass ich dich verlassen muss, Alain. Du weißt, wie sehr ich dich liebe. Aber du darfst dich mir nicht in den Weg stellen. Zerbrich nicht die Liebe, die uns verbindet, indem du der Selbstsüchtigkeit anheimfällst. Mein Leben gehört nicht mir, sondern meinem Volk. Und es gehört auch nicht dir.« »Du hast mich angelogen! Du hast es die ganze Zeit gewusst!« Sie blinzelte Tränen zurück und küsste ihn. »Ich konnte es nicht ertragen, dich unglücklich zu sehen.« Sie küsste ihn erneut. Umarmte ihn lange Zeit, die Arme fest um ihn geschlungen. Dann verließ sie ihn, ging stolz und aufrecht davon, während das Geweih auf ihrem Kopf den Eindruck erweckte, als würde es die Himmel berühren. Den Kopf stolz erhoben, trat sie in den Kalkkreis, während das Licht schwächer wurde und im Osten das düstere Zwielicht den Himmel emporkroch, auch wenn im Westen noch der letzte purpurne Schimmer der Sonne zu sehen war. Der Nachthimmel wurde dunkler. Der letzte Strahl der untergehenden Sonne verfing sich in ihrem Geweih, sodass sie ganz und gar nicht mehr menschlich wirkte. Sie hatte ihn die ganze Zeit über angelogen. Aber war ihre Lüge so viel anders als die, die er dem sterbenden Lavastin gegenüber ausgesprochen hatte? Sie hatte ihm lediglich Schmerzen und Angst ersparen wollen. Er folgte ihr. »So sei es also. Dann werde ich mit dir sterben.« Hinter ihm jaulten Kummer und Rage. 603 Ihr Rücken versteifte sich, als sie seine Worte hörte. Sie antwortete nicht, aber sie befahl ihm auch nicht, sie zu verlassen. Der erste Stern blinkte am düsteren Himmel; Somorhas ging im Westen unter, ertrank beinahe im letzten Schimmer der Sonne. Sie atmete zitternd ein und hob den Spiegel, um ihr Licht aufzufangen. Weitere Sterne erschienen jetzt, immer mehr, als wären sie in Eile, und mit ihrem Stab wob sie sie, einen nach dem anderen, in den Webstuhl ein. Durch seine Fußsohlen hindurch hörte Alain das Wehklagen der alten Königinnen und die wütenden Schreie vom Schlachtfeld. Fäden aus Sternenlicht verfingen sich in den Steinen, verflochten sich zu einem komplexen Muster, das durch das helle Licht von Mok stark gemacht wurde, die auf dem Scheitelpunkt zwischen Heiler und Büßer war. Sie hatte andere Namen für die Sterne. »Was sich im Osten öffnet- höre mich. Was sich im Westen öffnet- höre mich.« Hörte er andere Stimmen, ein Echo von Adicas Stimme, die über der schimmernden Beschwörung erklang, verflochten mit den Fäden des Lichts, die im Steinwebstuhl gewoben wurden? »Möge das Leuchtfeuer der Schamanin sich mit unserem Wehen erheben. Beantworte unseren Ruf, oh Fette.« Sie weinte, während sie wob. Dann sah er sie - die Gruppe der sieben Sterne, die er als Sternenkrone kannte, die sie jedoch den Kopfschmuck der Schamanin nannte. Als sie sich im Osten erhob, verfing sich ihr Licht in ihrem Spiegel. Dieses Licht tanzte um ihn herum, und er wurde so benommen, dass er vornübergefallen wäre, hätten sich die Hunde nicht neben ihn gestellt, um ihn aufrecht zu halten. Über ihm wanderten langsam die Sterne, stiegen im Osten auf, stiegen höher und höher, bis er begriff, dass die Beschwörung auch um ihn herum gewoben wurde, dass sie im Innern gefangen waren, während die Zeit verging, während aus der Abenddämmerung Mitternacht wurde. Der Kopfschmuck der Schamanin kroch den Himmel empor. Die Schlacht tobte weiter, 604 Fackeln blitzten an den Mauern auf, die Schreie der Verwundeten wurden von dem pochenden Schmerz an seiner Schläfe gedämpft, wo sich eine Beule bildete. Ein Kind schrie, schluchzte verzweifelt. »Möge das, was wir gewoben haben, freikommen. Mögen alle an ihrem Ort das Muster bewahren.« Sie sang ihre Namen, und ihre Stimme klang unerträglich schön, als sie von den glitzernden Fäden der Beschwörung zurückhallte. »Spuckt-Zuletzt. Fallender. Adica. Hehoyanah. Helle-Hört-Mich. Zweifinger. Shuashaana!« Es war Mitternacht. Der Drache erhob sich im Osten, und auf seinen Flügeln ritt Jedu, der Engel des Krieges, in der Nähe des blassen Rosensterns der Alten, des Roten Magiers, bekannt als Aturna. Die Herrin der Fülle, die strahlende Mok, ging im Westen unter, als der Büßer seine schwere Bürde niederlegte und den Horizont berührte. Die Sternenkrone erreichte den Zenit, krönte hoch oben die Himmel. Unterhalb der Erde erreichte die Sonne, die nicht zu sehen war, den Tiefpunkt. »Möge das Weben vollständig sein!«, rief sie, und ihre Stimme vermischte sich mit den Stimmen der sechs anderen, hallend und triumphierend. Licht blitzte in ihrem Geweih auf, wogte wie Blitze durch ihren Körper. »Adica!«, schrie er, sprang auf sie zu, doch die Hunde rissen ihn um, oder vielleicht zitterte auch der Boden unter seinen Füßen, sodass er stürzte und sie nicht erreichen konnte. Licht explodierte vor seinen Augen. Angstgeheul erhob sich aus den Kehlen der Verfluchten. Ihr Angriff brach zusammen, und sie begannen wegzulaufen. Aber es war zu spät. Magie riss die Welt auseinander. Erdbeben erschüttern das Land, aber was auf der Erdoberfläche zu sehen ist, ist nichts verglichen mit der
Zerstörung, die im Innern der Erde folgt. Höhlen stürzen ein. Tunnel werden zusam605 mengeschoben, verschüttet. Die atemberaubenden Städte des Koboldvolks, dem Anblick der Menschen verborgen und daher unbekannt und unbeachtet, verschwinden in so riesigen Spalten, dass sich das Land darüber unwiderruflich verändert. Flüsse aus geschmolzenem Teuer strömen herbei, brennen das weg, was überlebt hat. Teuer wallen unter Wasser auf, spülen eine Woge der Zerstörung über die riesige Stadt unter den Wellen, die Heimat der Merwesen. Wo sie einst zu gezeitengeborenen Rhythmen getanzt und gesungen haben, treiben Leichen in der Dünung, halten die Haie ein Festmahl ab. Die Überlebenden fliehen voller Entsetzen, lassen alles hinter sich zurück, bis die Erde sich wie ein im Todeskampf zuckender Tisch aufbäumt. Der Meeresboden steigt. Wasser strömt in die Spalten, die in die Erde getrieben wurden, tiefer und tiefer und tiefer, trifft auf geschmolzenes Teuer und verströmt zischenden und spuckenden Dampf in jede kleine Ritze, bis die Rückströmung den Dampf und das zischende Wasser zurück ins Meer spült. Die Höhlen, in denen Horns Leute sich verkrochen haben, werden von dampfendem Wasser überflutet. Ein Sturm aus Erde und Geröll begräbt Shu-Shas Palast. Gewaltige Wellen löschen eine Reihe friedlicher Dörfer an den Ufern von Fallenders Insel aus. Kinder schreien hilflos nach ihren Eltern, während sie in dem wirbelnden Wasser um sich schlagen. Weißes Teuer schießt auf die Drachen zu, die besorgt in den Himmel springen, aber sie schaffen es kaum noch in die Luft über dem Fjell, wo Spuckt-Zuletzt und seine Verwandten in der Mitte ihres Steinwebstuhls stehen, eine alte Weis-Frau an jedem Stein und der verkrüppelte Zauberer in der Mitte. Schreiend vor Wut und Schmerz stürzen die Drachen sich wieder in die Tiefe, doch bevor sie die Sicherheit der Erde erreichen, zerplatzen ihre Herzen. Blut und Eingeweide regnen auf die Menschen herab, die verzweifelt versuchen, sich vor den Steinen zu schützen. Der Hagel aus glühend heißem Blut brennt Fleisch in den Stein, vermischt sie zu einem einzigen Wesen. 606 Ein Tsunami aus Sand begräbt die Oase, in der die Wüstenleute gelagert haben, Bäume werden von dem gewaltigen Wind einfach umgeknickt. Die Löwenfrau rast vor der Sturmwelle davon, aber am Ende wird auch sie unter einem Berg aus Sand begraben. Sturmböen zerstören die Zelte des Pferde-Volks, Winde, die so stark sind, dass alles, was nicht sofort umgeworfen wird, gen Himmel gepeitscht wird und schließlich mit einem harten Aufprall auf den Boden zurückkehrt. So viel zerbrechliche Spreu. Sämtliche Bäume im Umkreis von vielen Wegstunden um Königinnengruft gehen in Flammen auf, und jene vom Weißhirsch-Stamm, die die Pfeile und der Krieg bisher verschont hatten, sterben jetzt. »Adica!«, schrie er heiser. Er kämpfte gegen Rage und Kummer an, wollte zu ihr, sich neben ihrem zusammengesunkenen Körper auf den Boden werfen. Sie war bereits tot. Weißes Feuer explodierte auf der Hügelkuppe, schlitzte den Steinwebstuhl auf und verschluckte ihn. 4 Sie reagierte blitzschnell, packte den Schaft von Katzenmaskes Speer gleich unterhalb der Spitze. Noch während er verdutzt zurückwich, fand sie die Erinnerung an Feuer in dem Holz und rief Flammen herbei. Mit einem Schmerzensschrei, der zugleich auch seine Verblüffung verriet, ließ Katzenmaske den Speer fallen und machte einen Satz zurück. Sie erhob sich mit dem brennenden Speer in der Hand, und streckte ihn ihnen herausfordernd entgegen. Der Speer zischte und versprühte Funken, die so hell waren, als hielte sie einen Blitz in der Hand. »Ich bin nicht eure Feindin!« Die Krieger, die ihr gegenüberstanden, wichen nervös vor ihr zurück, denn der Speerschaft ver607 brannte zwar, doch ihre Haut blieb davon unberührt. Sie fing die Obsidian-Spitze auf, bevor sie zu Boden fallen konnte, und stach sich in den Mittelfinger. Blut tropfte aus der Wunde. »Kind! Tue nichts Voreiliges!« Sie wagte nicht, sich nach ihm umzudrehen, nicht angesichts der fünfzig bewaffneten Krieger, die gegen sie angetreten waren. Da sie alle Masken trugen, konnte sie unmöglich ihre Mienen erkennen; sie sah nichts als stolze Falken, wilde Panther, fauchende Bären und zuschnappende Echsen. Kurze Umhänge bedeckten ihre Schultern; die meisten waren aus Leinen gewoben, doch ein paar wirkten wie verarbeitete Haut. Einige Krieger stellten ihre nackten Oberkörper zur Schau, aber die meisten trugen kurze, schwere Tuniken, die jeweils besondere Zeichen trugen: eine Feder, ein Schilfrohr, ein Messer, einen Schädel. Alle hatten Tätowierungen auf den Armen oder am Kinn, von schlichten Linien bis hin zu komplizierteren Schraffierungen, Rauten oder verblassenden Punkten. Katzenmaske zog ein Feuersteinmesser und machte einen Satz auf sie zu. Sie drückte den Finger zusammen und ließ Blut auf den Boden tropfen. Wo es auf dem Boden aufkam, brodelten zehn Schlangen aus der Erde empor, zischten und wanden sich. Katzenmaske sprang zurück. Ein weiterer Tropfen fiel auf den Boden, dann ein dritter und ein vierter. Blumen schwankten Besorgnis erregend, als die Schlangen zwischen ihnen hindurchglitten. Die Krieger schrien vor Furcht auf und wichen zurück. Eine hell geringelte Schlange glitt über ihren eigenen Fuß, und sie zuckte erschrocken zusammen. Überall schlängelten sich die Tiere, erwachten zwischen den Blumen zum Leben.
Sie breitete ihre Flügel aus Flammen aus und erhob sich über die Wiese; Feuer strömte von ihr aus. Katzenmaske und sein Kriegstrupp hatten genug. Sie drehten sich schlagartig um und rannten auf den Fluss zu. Liath steckte den Finger in den Mund und leckte das Blut ab, 608 dann ließ sie sich am Rand des Kiefernwäldchens nieder, neben Ältester Onkel und einer jung wirkenden Frau. Die beiden Ashioi hoben die Hände vors Gesicht, um sich vor der Hitze ihrer Flügel zu schützen, und sie rollte sie wieder ein, band sie fest in ihre Seele zurück, wo sie die ganze Zeit über schon immer gewesen waren. »Nun«, sagte Ältester Onkel, während er seinen Blick mit einem bezaubernden Grinsen an ihr auf und ab wandern ließ. Er hatte das Vergnügen, das darin lag, einen jungen Frauenkörper zu bewundern, nicht vergessen. »Du bist durch die Sphären gewandelt. Du hast deine Antworten gefunden - und deine Macht.« »Ich habe die Wahrheit gefunden«, gab sie zu, errötete, als sich ihr Schamgefühl meldete. Sie wusste gar nicht, wo überall sie ihre Hände hintun sollte. Ein Blick auf die Wiese zeigte ihr, dass die leuchtenden Blumen noch immer betrunken tanzten, während sich das Gewimmel aus Schlangen, die von ihrem Blut erweckt worden waren, durch den dichten Bewuchs wand. Ihre gesamte Kleidung lag da draußen, umgeben von den Schlangen. »Nun«, sagte die Frau, die neben Ältester Onkel stand und Liath ebenfalls mit Blicken maß. »Ihre Anziehungskraft überrascht mich nicht.« »Wer ist das ?«, fragte Liath und musterte ihrerseits die Frau. Allerdings fiel es ihr einigermaßen schwer, einen selbstsicheren Eindruck zu erwecken, wo sie doch nicht das geringste Kleidungsstück am Körper trug. Die andere Frau trug allerdings auch nur einen blassen Rock aus Häuten, die in Knielänge ungleichmäßig abgeschnitten worden waren. Sie hatte einen kräftigen Oberkörper, mit breiten Schultern und vollen Brüsten. Ein Doppelstreifen aus roter Farbe verlief von beiden Handrücken die Arme hinauf bis zur Schulter, wurde an einer Stelle von einem Kleidungsstück verdeckt, das zusammengefaltet über ihrem linken Unterarm hing. Eine grüne Feder ragte schief aus dem Dutt, zu dem sie ihre Haare aufgesteckt hatte; sie passte zu ihren jadegrünen Augen. Die Augen und die Form ihres Gesichts kamen Liath irgendwie vertraut vor. 609 »Dies ist meine jüngste Tochter, das Kind meines hohen Alters«, sagte Ältester Onkel; Ärger blitzte in seiner Miene auf, als er seine Begleiterin anblickte. Er wirkte nicht erfreut darüber, sie vorstellen zu müssen. »JeneDie-Ungeduldig-Ist. Die genug Ärger verursacht hat!« Alte Wut schwelte unter der Oberfläche, als Vater und Tochter sich einen Blick zuwarfen. Als hätten sie beide den gleichen Gedanken zur gleichen Zeit gehabt, wandten sie den Blick rasch wieder ab. Die Frau verlagerte ihr Gewicht, und das über ihrem Arm hängende Kleidungsstück entfaltete sich. »Das ist meine Tunika«, rief Liath. »Ich habe sie in der Satteltasche von Resuelto vergessen. Oh, Gott! Du warst die Frau, die am Flussufer gestanden und meine Tunika getragen hat, als ich das erste Mal den Blumenpfad benutzt habe.« Sie griff nach dem Kleidungsstück, schüttelte es auf und glitt ohne um Erlaubnis zu fragen hinein. Jetzt, da sie ordentlich angezogen war, konnte sie sprechen, ohne sich schämen zu müssen. »Wo hast du sie her?« »Von meinem Sohn.« Die Ähnlichkeit war offensichtlich, hatte man sie erst einmal bemerkt. »Sanglant!« Zitterte der Boden, oder waren es nur die Gefühle, die sie so überschwemmten? »Du bist Sanglants Mutter! Oh, Gott.« Diejenige, die ihn verlassen hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Aber das konnte sie nicht sagen. Es machte sie regelrecht sprachlos und verwirrte sie, dass sie einer Frau gegenüberstand, die genau das Gleiche getan hatte wie sie selbst. Sie wandte sich an den alten Zauberer. »Dann bist du also der Urgroßvater meiner Tochter?« »So!« Ältester Onkel sprang vor und schlug mit seinem Stab kräftig auf den Boden, sodass einer der Schlangenköpfe zerplatzte. Der Körper zuckte, bebte und regte sich nicht mehr. »Ich hasse solche Dinge! Frauen denken niemals nach, bevor sie etwas tun! Blut! Sex! Was kümmern sie sich um die Folgen? Ihre Leiber beschützen sie. Ihre Magie gibt ihnen Macht!« Zischend schlug er 610 auf eine weitere Schlänge ein, hüpfte von einem Fuß auf den anderen, um einer dritten auszuweichen, während sich noch mehr von der Wiese in ihre Richtung schlängelten. »Schnell! Klettert auf einen Baum!« Sie kletterten die Äste hoch, hingen unbeholfen im Baum, als zwanzig Schlangen über den Boden glitten und im Kiefernwäldchen verschwanden. Der weiße Umhang des alten Zauberers berührte noch den Boden, aber seine etwas prekäre Position machte es ihm unmöglich, ihn hochzuziehen. Jedes Mal, wenn eine Schlange sich unter dem Umhang hindurchschlängelte, klapperte leise der weiße Muschelrand, und die Schlange zischte und stieß nach dem flatternden Stoff, bevor sie sich eiligst aus dem Staub machte. Liath begann schließlich über ihre lächerliche Situation zu lachen. »Sind alle Schlangen giftig?«, fragte sie. »Schlangen sind die Kreaturen der Frauen«, murmelte der alte Mann mürrisch. »Natürlich sind sie giftig genauso, wie Frauen für Männer giftig sind. Deshalb herrschen die Frauen.« »Das ist nicht wahr! Dort, wo ich aufgewachsen bin, herrschen sowohl Frauen als auch Männer. Wenn es auch stimmen mag, dass das Erbe meistens über die mütterliche Linie weitergegeben wird.« »Tss!« Er zischte, als eine weitere schlanke, braune Schlange sich unter seinem Mantel hindurchschlängelte. Das Tier hob den Kopf, zischte und verschwand im Unterholz. »Ich werde nicht auch noch mit dir darüber streiten, Strahlende. Ich habe mit meiner Tochter drei Tage lang darüber diskutiert. Aber welchen Nutzen hat es denn
gehabt, dass sie die gefährliche Reise hinab zur Erde ein zweites Mal unternommen hat - nur um zurückzukehren und mir zu erklären, dass die Männer der Menschen-Stämme sich den Rat einer Frau nicht einmal anhören!« »Du bist auf der Erde gewesen? Was ist mit meinem Mann?« »Sanglant ist so dickköpfig wie sein Vater!« Die Ungeduldige schwang sich von ihrem Sitzplatz nach unten und stocherte mit einem Stock auf dem Boden herum. Zufrieden stellte sie fest, dass inzwischen auch die letzten Schlangen von der Wiese geflüchtet 611 waren, und entspannte sich - sofern eine Frau wie sie sich überhaupt jemals entspannen konnte. »Henri« - sie sprach den Namen salianisch aus - »hat sich geweigert, meine Geschichte zu glauben, und er hat auch seinem Sohn nicht geglaubt. Er ist blind in die Falle gelaufen, die ihm die Menschen-Zauberer gestellt haben.« Sie spuckte auf den Boden. »Ich bin dafür, ihn und sein Volk durch die Hand der Üblen leiden zu lassen. Du hast oft genug gesagt, dass es dort eine Unterkunft für uns gibt, mein Vater, und ich habe auf dich gehört und entsprechend gehandelt, indem ich eine Brücke errichtet habe -« »Ohne irgendeine Erlaubnis dazu zu haben! Ohne es richtig durchdacht zu haben! Voreilige Handlungen führen zu einstürzenden Brücken!« Die Art, wie sie ihre Lippen fest zusammenpresste, verriet ihre Wut, aber sie fuhr fort, als hätte er nichts gesagt. »Aber jetzt glaube ich nicht länger daran, dass wir Frieden mit ihnen schließen können, wenn sie noch nicht einmal bereit sind, uns zuzuhören. Die alten Geschichten sind wahr. Statt die Masken von Tieren zu tragen, um sich deren Macht anzueignen, handeln die Menschen, als wären sie in ihrem Innern wie Tiere!« »Nein! Nicht schon wieder dieser Streit! Ein Fremder hat mir die Goldfeder des Friedens gegeben. Er war kein Tier. Ich habe sie wiederum ihr gegeben, weil sie zu mir gekommen ist, um Hilfe zu erbitten. Jetzt ist sie zurückgekehrt, und selbst du musst zugeben, dass sie in Frieden zu mir gekommen ist.« »Vielleicht wäre es dir lieber, wenn sie deine Tochter wäre und nicht ich.« »Schweigt!«, rief Liath. Dann fuhr sie etwas sanfter fort: »Ich bitte um Vergebung. Ihr könnt euch gerne streiten, wenn ich weg bin, aber ich bitte euch, mir zuzuhören, so lange ich hier bin. Ich bin nur gekommen, Onkel, um dir zu sagen, dass ich zur Erde zurückkehren muss.« Sie wandte sich an Sanglants Mutter. »Ich bitte dich, wenn du ein bisschen Liebe für deinen Sohn und dein Enkelkind empfindest, sage mir jetzt, ob es irgendetwas gibt, das ich 612 wissen sollte, bevor ich über die Kreuzungen zu denen zurückkehre, die auf mich warten. Ich weiß nicht, wann du hierher gekommen bist oder wie viel Zeit vergangen ist, seit ich in den Sphären gewandelt bin. Ich weiß nicht, wie viele Monate oder Jahre auf der Erde vergangen sind, seit ich dort weggegangen bin. Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir bleibt, ehe die Sieben Schläfer ihre Macht bündeln werden, um das große Wirken in Gang zu setzen. Ich verstehe auch nicht, wie sie soviel Macht entwickeln wollen, dass sie einen derart starken Zauber erschaffen können, der ein ganzes Land wie dieses zurück in den Äther schleudert.« Ältester Onkel neigte den Kopf, von der Last der Erinnerung niedergedrückt. »Wir haben nur darunter gelitten. Wir haben nie ganz verstanden, welche Magie sie gegen uns gewoben haben.« »Ich hätte auf Katzenmaske hören sollen«, murmelte seine Tochter. »Man kann den Menschen nicht trauen. Vielleicht sollte ich jetzt einmal mit ihm sprechen.« Sie begann wegzugehen, blieb dann aber stehen und blickte Liath an. »Mein Sohn lebt in seinem eigenen Land wie ein Verbannter. Er hat seinem Vater den Rücken gekehrt, als Henry weder ihm noch mir zuhören wollte, und dann ist er weggegangen, um die Zauberer selbst zu bekämpfen. Das war der Stand der Dinge, als ich ihn und das Kind verlassen habe. Du müsstest am besten wissen, ob er es schaffen kann.« »Du hast es ihm allein überlassen, sich den Sieben Schläfern entgegenzustellen? Deinem eigenen Sohn?« »Du hast es ihm allein überlassen, sich euren Feinden entgegenzustellen?«, wiederholte die andere Frau. »Welche Waffe richtest du auf mich, Schwester? Sicher nur eine, die dich selbst aufspießen wird. Ich bin bei seiner Geburt beinahe gestorben. Hat er mir auch nur ein bisschen Wärme entgegengebracht, als ich ihm und seinem Kind das Leben gerettet habe? Nein, er hat mich wie eine Fremde behandelt, trotz unserer Blutsbande. Auf diesem Feld werde ich kein weiteres Blut und auch keine Tränen mehr vergießen.« Sie hob ihren Stab und ging hochmütig davon, zurück durch den Kiefernwald und auf den alten Wachturm zu. 613 »Sie hat kein Herz«, murmelte Ältester Onkel traurig, als sie auf dem Pfad verschwand. »Sie hat es vor langer Zeit den Göttern geopfert, als sie durch die Sphären gewandelt ist.« »Ist sie wie ich durch die sieben Sphären gewandelt und dann zurückgekehrt?« »Dass sie den Pfad emporgestiegen ist, steht außer Zweifel. Dass sie zurückgekehrt ist, siehst du an ihrer Anwesenheit. Aber was sie auf der Reise geopfert hat, weiß niemand außer ihr. Ich kann nur Vermutungen anstellen.« Er seufzte. »Mein Kind, du hast dich verändert. Was haben die Feuerdaemonen dir gesagt?« »Ich bin ihr Kind«, sagte sie leise; die Erkenntnis machte sie demütig. Hatte ihre eigene Mutter weniger gegeben als Sanglants Mutter? Sie hatte immerhin ihr Leben und ihre Substanz gegeben, um ein Kind auf die Welt zu bringen. Sie hatte ihre Seele gegeben. »Ich bin mehr und weniger als das, was ich zu sein geglaubt habe. Aber zumindest bin ich frei von den Ketten, die mich gebunden haben, frei von den Schleiern, die die Wahrheit verborgen haben. Sag mir aufrichtig, Onkel, hasst dein Volk das meine? Gibt es eine Hoffnung auf Frieden?«
»Muss es nicht immer Hoffnung auf Frieden geben? Wir müssen daran glauben, weil ich weiß, dass das Gegenteil von Frieden die schlimmste Art von Trauer mit sich bringt. Ich habe jene verloren, die mir am wichtigsten waren. Ich bin nicht der Einzige, der in den vielen Nächten, in denen ich mich an die erinnert habe, die vor ihrer Zeit gehen mussten, Tränen vergossen hat.« Er lächelte, aber es war nur ein kurzes Zucken seines Mundes. Sein Gesicht war so alt; es war von Falten und Runzeln übersät, die gleichermaßen vom Stirnrunzeln und Lächeln, vom Lachen und Weinen stammten. Er streckte die Hand aus, zögerte und berührte sanft ihren Arm. »Hass ist ein Feuer, das zu schnell in einen Sturm ausartet, der alles auf seinem Weg versengt.« Tränen traten ihm in die Augen, obwohl er versuchte, sie wegzublinzeln. Es war schwer, eine Ähnlichkeit zwischen ihm und Sanglant zu erkennen, abgesehen von der Hautfarbe und dem dunklen Glanz seiner Haare, 614 die trotz seines hohen Alters noch immer dicht waren. »Ich bitte dich, mein Kind. Rette uns. Lass nicht zu, dass die Abkömmlinge der früheren Zauberer uns vollkommen zerstören, so wie jene es getan haben, als ich noch ein Halbwüchsiger war.« »Ich werde es versuchen«, versprach sie; dann beugte sie sich vor und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Er errötete heftig, was bei seinem kupferfarbenen Teint allerdings schwer zu erkennen war. Aber in den scharfen, alten Augen, die er jetzt leicht zusammenkniff, blitzte ein Gefühl auf. »Ich werde dich wieder sehen, Onkel. Halte Ausschau nach mir.« »Lebwohl, Tochter.« Die Blumenwiese wartete stumm, regte sich kaum in der sanften Brise. Hitze umströmte sie, als sie ins Sonnenlicht trat, in den Dunst leuchtender Farben - blasse Akelei - Glöckchen, üppige Pfingstrosen, ganze Flächen voller Mohnblumen und eine gewaltige Wolke aus Lavendel. Sie blieb auf dem Pfad, sorgfältig darum bemüht, auf den Boden zu achten, bevor sie mit dem Fuß auftrat. Der Gedanke an all die Schlangen bereitete ihr Übelkeit. Sie sammelte ihre Sachen zusammen, zog sich ordentlich an, band sich den Gürtel um, das Schwert, den Köcher, den Beutel, das Messer und den Umhang. Den Goldreif verstaute sie in ihrem Beutel. Der Weg führte sie durch das Kastanienwäldchen, und sie überquerte den Fluss, der jetzt sogar noch flacher als zuvor war. Die Lichtung, auf der sie den alten Zauberer zum ersten Mal gesehen und getroffen hatte, war jetzt leer bis auf den flachen Stein, auf dem er oft saß und Flachs zu Seilen flocht. Ein paar trockene Halme lagen neben dem Stein verstreut auf dem Boden herum. Eine Brise rauschte durch die ausgedörrten Blätter. Nicht einmal eine Fliege schwirrte in der Luft. Die Stille umhüllte sie wie ein schwerer Schleier. Das Land lag im Sterben. Es würde sterben, wenn es nicht an den Platz zurückkehrte, an den es gehörte. Genauso, wie sie an den Platz zurückkehren musste, an den sie gehörte. Sie griff in ihr Herz aus Feuer und rief den brennenden Stein. Er flackerte in der 615 Mitte der Lichtung auf, und blaues Feuer strömte um ihn herum. Sie packte ihren Bogen noch fester, trat hindurch zu den Kreuzungen zwischen den Welten, wo der Feuerfluss als Äther durch die Sphären rann, dessen viele Nebenarme die Vergangenheit mit der Zukunft, der Gegenwart und der Unendlichkeit verbanden. In den endlosen, gewundenen Gängen suchte sie nach dem Tor, das sie zurück zur Erde bringen würde. Unzählige Türschwellen gewährten Blicke auf andere Welten, andere Zeiten, andere Orte, die Gegenwart und die Vergangenheit, zur Hälfte sichtbar und rasch wieder verschwunden. Ein Junge schläft mit sechs Kameraden; ihre Betten bestehen aus kostbaren Schätzen - aus glänzendem Schmuck und goldenen Armbändern, silbernen Gefäßen, Kästchen aus Elfenbein und scharlachroten Perlenketten. Ein Wintersturm wirbelt Schnee um ein Kloster auf, in dem eine große Gruppe von Soldaten Unterschlupf gefunden hat, einige in Nebengebäuden, andere in Zelten. Hanna hackt in der Gesellschaft einiger Löwen Holz. Ihr Gesicht ist angespannt, ihr Körper gestrafft, aber jedes Mal, wenn sie die Axt in das Holz schlägt und ein Holzscheit absplittert, flucht sie, als würde sie versuchen, den Kummer und die Trauer aus sich selbst herauszuschlagen. Eine Frau im Gewand einer Nonne trifft am Rand eines Birkenwalds einen jungen Mann mit rotblonden Haaren. Der Wind streicht in Wellen durch die silbrigen Blätter. Sie gibt ihm die Leinen von einem halben Dutzend riesiger schwarzer Hunde als Tausch gegen eine winzige, eingewickelte Gestalt, ein kleines Mädchen, das sanft schläft, während es von einem grimmgesichtigen Wächter in die Obhut des nächsten gegeben wird. Ein Heer marschiert in vollkommener Formation durch die grasbewachsenen Ebenen des Ostens. Pappeln säumen die Ufer der Bäche, machen Hagedorn und Hartriegel Platz, schließlich weiten Flächen von Federgras und Flockenblumen. Frühlingsblumen bedecken das freie Land mit weißgelben Blüten, die so zahlreich wie die Sterne sind. Ist das Sanglant, der da an der Spitze des 616 Heeres reitet? Er trägt einen leuchtend roten Umhang und an seinem Hals blitzt ein Goldreif. Ist das Gnade, die - beinahe unvorstellbar - aussieht wie ein gesundes Mädchen von fünf oder sechs fahren? Beim Zusammenfluss zweier Flüsse wartet ein König darauf, in Frieden das Heer zu begrüßen. Sein Banner zeigt den doppelköpfigen Adler des ungrianischen Königreichs. Sie treffen sich, schütteln sich die Hände und geben sich den Kuss des Friedens. Seltsam nur, dass das erste Geschenk, das Sanglant ihm bietet, ein Weinfass ist. Eine alte, von Arthritis geplagte Frau sitzt in ihrem Turmzimmer und schreibt emsig. Eine Karte liegt geöffnet auf dem Tisch neben ihr, eine vage Darstellung von Salia. Die Karte wird an den Ecken von Steinen
niedergehalten, aber die Zeichen auf der Wachstafel interessieren Liath mehr: ein Horoskop, das für einen noch in der Zukunft liegenden Tag geschrieben ist, oder für einen längst vergangenen Tag, an dem die Umwälzung die Erde erschüttert hat. Die ältliche Geistliche hebt den Kopf, um eine Bedienstete zu rufen. Die Frau, die dann kommt, ist dieselbe Frau, die die Hunde übergeben und das Kind angenommen hat, obwohl sie jetzt, da sie ihrer Herrin ein beruhigendes, heißes Molkegetränk reicht, viel älter aussieht. »Was gibt es Neues, Clothilde?«, fragt die erste Frau; ihr Ton ist der einer Edelfrau, die gewohnt ist zu befehlen. Ist es Bischöfin Tallia, Taillefers Lieblingskind? Ihre Stimme ist bereits heiser von dem, was in ihrem Hals wächst und sie später töten wird. »Es ist vollbracht, Euer Gnaden«, sagt die andere Frau. »Genau wie wir es geplant haben. Das Mädchen ist schwanger. Das Kind, das sie trägt, wird durch beide Elternteile mit dem Kaiser verwandt sein.« Schatten rissen eine Lücke in das Bild. Andere Bilder traten zitternd hervor, nur um sogleich wieder weggerissen zu werden, als wären die Welten im Innern der Kreuzungen instabil, als wären sie der Widerhall der Unruhen alter oder noch bevorstehender Zeiten. 617 Gekrümmte, missgestaltete Kreaturen kriechen durch Tunnel, schleppen auf ihren Rücken Körbe voller Erz. Ein Ei, das verborgen unter silbernem Sand liegt, zerbirst, und eine Klaue kratzt sich den Weg ins Freie. Ein Löwe mit dem Gesicht einer Frau und den Flügeln eines Adlers schreitet majestätisch über den Sand; als sie sich umdreht, begegnet sie dem überraschten Blick von Liath. Eine Zentaurin teilt das Schilf eines flachen Seeufers. Ihr Umhang schimmert dunkel wie der Nachthimmel, und schwarze Haare fallen ihr bis zur Taille. Eine raue, helle Pferdemähne, der einzige Kontrast zu ihrem schwarzen Umhang, verläuft über ihrem Rückgrat; wie ihre Haare ist auch die Mähne geflochten, mit Perlen und den Knöchelchen von Mäusen geschmückt. »Sieh nur!«, schreit sie. »Sieh nur, was wir gemacht haben!« Sie schießt einen Pfeil ab. Der Flug des brennenden Pfeils treibt Liath zurück durch die Kreuzungen der Welten, weit in die Vergangenheit zurück, als das Land in Stücke gerissen wurde. Ein gewaltiger Zauber hat das Land zerrissen. Die Flüsse fließen rückwärts. Die Küstenstädte entlang der Ufer des Mittleren Meeres werden von steigenden Wassermassen begraben, wohingegen die Boote aus mit Häuten überzogenem Weidengeflecht, die am Nördlichen Meer an den Strand gezogen worden sind, auf dem Trockenen bleiben, während das Wasser sich zurückzieht und große Flächen Meeresboden dem Sonnenlicht aussetzt und Fische in der kalten Luft ersticken. Feuer lässt die Berge entlang eines Gebirgsrückens weit im Süden rauchen, und rötliche Felsen rutschen den Abhang hinunter, verbrennen alles auf ihrem Weg. Im Norden stürzt ein Drache zur Erde, verknöchert in einem winzigen Augenblick zu einem steinernen Gerippe. Liath sieht jetzt den Zauberspruch - sieben Steinwebstühle, die mit dem Licht verwoben sind, das sie von den Sternen herabziehen. Sie kann kaum die Himmel selbst sehen, weil das Licht des Zaubers sie behindert, aber sie hat scharfe Augen: Die Position 618 der Sterne in dieser Nacht entspricht dem Horoskop, das Bischöfin Tallia gezeichnet hat. Der Zauberspruch schneidet die Erde entzwei, als wäre er ein glänzendes Messer. Die Macht seines Wirkens folgt einem Kalkpfad, der auf den Boden gemalt worden war, um die alte nördliche Grenze des Landes zu kennzeichnen, das Generationen zuvor von den Ashioi in Besitz genommen wurde. Die Linie schneidet direkt durch eine riesige Stadt, von der aus man das Meer sehen kann. Sie schneidet sogar durch die Wellen, als würden auf einander folgende Blitze eine unmöglich große Grenze um das Land ziehen, in dem die Ashioi sich niedergelassen haben. Die sieben Zauberer, die diesen Zauber in den sieben Steinwebstühlen weben, sterben sofort, als die volle Wucht des Zaubers auf sie zurückprallt. Das Land, in dem das Volk von Ältester Onkel sich niedergelassen hat, wird direkt an den Wurzeln ausgerissen, wie ein Baum, der von der Hand eines Riesen aus der Erde gezogen und in den Himmel geschleudert wird. Alle Ashioi, die zu diesem Zeitpunkt jenseits der Grenze ihres Landes wandeln, werden dadurch nach draußen gezerrt, in dem folgenden Strudel ertränkt, aber sie können ihm nicht in den Äther folgen. Sie werden in die Spalten zwischen der Erde und der Anderen Seite gerissen, sind für immer als Schatten gefangen, sind weder das eine noch das andere - Geister, die weder ganz auf der Erde wandeln noch sie hinter sich lassen können. Aber sie sind nicht die Einzigen, die leiden. Die Umwälzung trifft Unschuldige und Schuldige gleichermaßen, Alte und junge, Tiere und denkende Kreaturen, Guivren und Mäuse, Menschenkinder und maskierte Krieger, Ashioikinder und Soldaten der Menschen mit Waffen aus Stein. Die Erde krümmt und spannt sich unter der Macht des Zaubers. Haben die Zauberer begriffen, was sie da getan haben? Haben sie gewusst, welche Folgen ihr Zauberspruch haben würde? Wollten sie ihr Volk ausdünnen, um es zu retten? 619 Es ist unmöglich zu erkennen, und sie kann sie auch nicht mehr fragen: Sie sind schon lange tot, können nicht mehr aufgeweckt werden. Etwas Blaues blinkte in dem leuchtenden Glanz des Zauberspruchs. Plötzlich sah sie Alain auf den Knien auf einem niedrigen Hügel, zu beiden Seiten von einem Hund flankiert. Die Hunde zerrten verzweifelt an ihm,
versuchten, ihn vom Rand des brennenden Steinkreises zurückzuziehen. Alain klammerte sich hilflos an den Körper der jungen Frau, die zusammengesunken auf dem Boden lag. War das nicht die Frau mit dem Geweih, die sie im Reich von Mok getroffen hatte? Die mit ihrem scharfen Blick in Liaths Inneres gesehen hatte, bevor Liath selbst in der Lage gewesen war, ihre Tiefen zu ergründen? Sie war unglaublich jung, jünger jedenfalls als Liath, vermutlich nicht älter als siebzehn, aber sie war mausetot. In wenigen Augenblicken, sobald die letzte stürmische Welle des Zaubers zurückschwappen würde - in den Webstuhl, in dem er zum Leben erweckt worden war -, würde auch Alain tot sein. Liath entfaltete ihre Flügel. Sie griff in die Vergangenheit, griff nach ihm und den Hunden und zog sie mit sich zurück in die Welt, die sie Monate, ja vielleicht sogar Jahre zuvor verlassen hatten. Epilog Die Königin mit dem messerscharfen Lächeln, die Pfeilhelle genannt wird, ist schon lange tot, doch noch immer stark genug, um mit dem Herzen und den Augen jener Frau zu sehen, die in der Morgendämmerung die Letzten ihres Volkes durch die Überreste des Waldes führt. Sie verlassen schließlich den Schutz der versengten Bäume. Die meisten Kinder weinen, ein paar sind schrecklich still und die Erwachsenen allesamt auf die eine oder andere Weise verletzt. Sie stehen am Rand der bewirtschafteten Felder und betrachten benommen das zerstörte Dorf. »Kommt«, sagt jene, die Weiwara heißt und sich auf ihren Stock stützt. Sie hat ein freundliches Herz, das jetzt wütend ist -wegen ihres Ärgers, wegen einer Weisheit, die zu teuer erkauft wurde, und wegen der Zwillinge, die kaum älter als ein Jahr sind und sich an sie lehnen. Eines hängt an ihrer Brust, das andere an ihrem Rücken, und das dreijährige Kleinkind trottet lahm neben ihr her. »Die Verfluchten sind weg. Es ist jetzt sicher.« Sie taumeln in einen seltsam warmen Morgen. Verbrannte Häuser glimmen noch, aber seltsamerweise ragt der Versammlungsstab noch immer aus dem eingestürzten Dach des Ratshauses. Nebel wabert um die kreuz und quer zusammengestürzten Stämme der Palisade. Hier und da liegen Leichen auf dem Boden -Verfluchte, die beim ersten Angriff gestorben sind. Sie erkennt Beor; er ist in einen Graben gleich jenseits des Tores gefallen. Er hat den Angriff geleitet, als sie sich schließlich entschieden haben, aus dem Untergang geweihten Dorf auszubrechen, und er hat die größte Wucht des Vergeltungsschlages abbekommen. Es ist seinem Mut und seiner Kühnheit zu verdanken, dass überhaupt jemand aus dem belagerten Dorf entkommen konnte. Sein Bronzeschwert liegt halb unter seiner Hüfte. Eine Fliege krabbelt 621 über das ins Leere starrende Auge. Ein Kind schluchzt bei dem entsetzlichen Anblick laut auf. »Kommt«, sagt sie ernst und treibt sie weiter: etwa vierzig Kinder in verschiedenen Altersstufen und nicht mehr als zwei Dutzend Erwachsene, schwangere Trauen, Altere und Agda und Pur, die beide lieber mitgekämpft hätten, aber deren Wissen über Kräuter, Hebammenkunst und Steinschlagen als zu kostbar gegolten hat, als dass man ihren Verlust riskiert hätte. Sie folgen dem Pfad, der zum Tumulus führt. Dort liegt Urtan mit aufgeschlitztem Bauch. Ein Hieb hat Tosti den Kopf zerschmettert. Beors Schwester Etora sieht aus, als wäre sie von Pferden niedergetrampelt worden und schließlich bei dem Versuch, sich zum Dorf zurückzuschleppen, gestorben. Es Hegen auch viele tote Verfluchte herum, doch von verletzten Verfluchten gibt es keine Spur. Ein Ruf dringt zu ihnen. Hinter den Erdwällen, die den Tumulus bewachen, erheben sich Leute. Sie sind mitgenommen, blutbefleckt und erschöpft, viele von ihnen humpeln. Aber sie triumphieren, trotz der Zerstörung, die überall auf dem Boden zu sehen ist, trotz der vielen Toten auf beiden Seiten. Weiwara weint, als sie ihren teuren Mann wieder sieht. Er kann nicht gehen, aber die Schnittwunde an seinem rechten Oberschenkel, die bis zum Knochen geht, sieht sauber aus und könnte durchaus heilen. Die kleine Useti stürzt sich brüllend auf ihren Vater, und nachdem Weiwara mit Ulfrega von Vierhausen gesprochen hat, klettert sie grimmig weiter durch das Gewirr aus Erdwällen. Oben passiert sie die Überreste einer verbrannten Hütte, zumeist Asche und verkohlte Äste, und eilt auf die kleine Gruppe zu, die sich vor dem Steinkreis versammelt hat: die fünf Überlebenden vom Pferde-Volk, die bereits zur Reise gerüstet sind, und ein schluchzender junger Mann. Der Anblick der umgestürzten Steine macht sie benommen. Der Bronzekessel Hegt in Torrn eines missgestalteten Klumpens da, von der Kraft des Zauberspruchs regelrecht geschmolzen. Sie hat gedacht, nichts könnte so sehr schmerzen wie der Anblick des 622 zerstörten Dorfes und- der Leichen ihrer Freunde und Verwandten, aber es gibt etwas, das schmerzt noch mehr. Adica liegt auf dem Boden, die Arme von sich gestreckt, das Geweih schief auf dem Kopf. An ihrem Körper ist keine einzige Wunde zu sehen - bis auf die alte Narbe an ihrer Wange. Sie sieht so jung aus. Die Zwillinge rühren sich. Alter-Faltiger-Mann, der jüngere der beiden, ballt eine Taust, klopft seiner Mutter damit auf den Rücken. Blau-Haut, das kleine Mädchen, dessen Leben Alain vom Pf ad zur Anderen Seite mitgebracht hat, jammert, als es erwacht. Sie ist häufig quengelig - eines dieser Kinder, die vor dem hellen Sonnenlicht zurückzucken, aber weinen, wenn sie in der dunklen Nacht aufwachen. Der junge Mann, der einen Steinwurf von Adicas Körper entfernt kniet, blickt auf, als er das Geräusch vernimmt. »Mutter Weiwara!« Kel hat etwas aus dem Boden ausgegraben, und jetzt eilt er zu ihr, um ihr die Sachen zu zeigen: zusammengefaltete Kleidungsstücke, einen Gürtel, ein Messer, einen Beutel und einen Haufen rostiger
Metallringe. »Dies müssen die Sachen sein, die Alain mitgebracht hat, als er aus dem Land der Toten zu uns gekommen ist. Aber er ist weg, und seine spirituellen Führer sind mit ihm gegangen. Selbst der Stab, den ich ihm geschnitzt habe, ist nicht mehr hier.« Er bricht wieder zusammen, weint hemmungslos. Obwohl er voller getrocknetem Blut ist, hat er in der Schlacht keine Wunde zugefügt bekommen. Das heißt, keine außer der Wunde der Trauer. Die graue Zentaurin macht einen Schritt auf sie zu, ernst, aber entschlossen. Sie zieht das vierte Bein nach, was ihr das Gehen beschwerlich macht. Getrocknetes Blut bedeckt ihre Flanken. Nach einer höflichen Verbeugung spricht sie, aber die Worte, die vermischt mit kehligem Gewieher ausgestoßen werden, haben für Weiwara keinerlei Bedeutung. Der Wind dreht sich, bläst plötzlich aus dem Osten. Eine Eule schwebt heran und lässt sich auf den Steinen nieder, ein schlechtes Omen bei Tageslicht. Nebel wallt innerhalb des zerbrochenen 623 Steinkreises vom Boden auf. Kel schnappt geräuschvoll nach Luft. Die Zwillinge werden still. Weiwara sinkt auf die Knie, als sie eine majestätische Gestalt auf sich zukommen sieht, halb von den Nebelschwaden verborgen. Sie bedeckt ihre Augen. »Geheiligte. Vergib mir.« »Fürchte dich nicht, Nichte. Du hast mich nicht beleidigt. Ich bin wegen des Kindes gekommen, der älteren von den Zwillingen.« »Was ist mit dem Baby?« Kann sie nach so viel Kummer noch mehr ertragen? Die Stimme der Geheiligten klingt so melodiös wie das Plätschern eines Bachs in der Ferne, getränkt von den Wassern der Melancholie. »Wir werden sie bei uns aufziehen. Wir werden sie unterrichten, ihr die Geheimnisse unserer Magie beibringen, ebenso ihren Kindern und den Kindern ihrer Kinder. Dieses Band zwischen deinem Volk und meinem Volk wird so lange existieren, so lange es Abkömmlinge von ihr gibt, denn auf diese Weise können wir Adica ehren, die mir sehr lieb gewesen ist.« Obwohl Weiwaras mütterliches Herz bei dem Gedanken erstarrt- sie weiß, dass sie einer Geheiligten gegenüber nicht »nein« sagen kann, sie weiß aber auch, dass sie es nicht ertragen kann, »ja« zu sagen -, schleicht sich ein kaltes, leises Flüstern in ihr Ohr. Mit einem Kleinkind wird sie besser zurechtkommen als mit zweien. In Zeiten solcher Verzweiflung, wo der Winter bevorsteht und ihre Nahrungsvorräte vermutlich verbrannt sind, wird es eine schwere Aufgabe sein, Zwillinge zu ernähren, und da ist ja auch noch Useti, die früh entwöhnt worden ist, um Platz für ihre jüngeren Geschwister zu machen. Blau-Haut hat ihr ohnehin niemals wirklich gehört. Sie gehörte von Anfang an den Geistern. Aber ihre Lippen weigern sich, die zustimmenden Worte zu formen. Sie hat das Kind jetzt schon so viele Monate lang geliebt und ernährt. »Was ist mit meinem Volk, Geheiligte? Wir haben jetzt keine Geweihte mehr, die über uns wachen kann.« »Sind in den Augen der Macht, die ihr die Fette nennt, Zwillin624 ge nicht besonders begünstigt? Kennzeichnet den jüngeren Zwilling als jenen, der dem geweihten Pfad folgen soll. Ich werde mich selbst um seine Ausbildung kümmern, hier in deinem eigenen Land, und wenn er groß ist, wird er als Geweihter allen Hirsch-Stämmen zur Seite stehen.« Nebel windet sich um die Steine. Ein kalter Wind weht von Norden heran, sodass sie zittert. Der Winter naht, und sie werden in diesen Ruinen um ihr Überleben kämpfen müssen. Der Zauber, den die Geweihten gewirkt haben, hat die Verfluchten von der Welt verjagt, wie es scheint, aber sie muss nur ihren Blick über den versengten Wald schweifen lassen, um zu erkennen, dass jede Seele auf der Erde von seiner Ehrfurcht gebietenden Macht berührt worden ist. Die Geheiligte fährt fort, als würde sie Weiwaras Zögern verstehen. »Meine Verwandten werden das kleine Mädchen zu mir bringen. Sie werden sie nähren, als wäre sie ihr eigenes Kind. Sie wird bei ihnen sicher und gut versorgt sein, als hätte sie fünf Mütter und nicht nur eine. Wir vom Pferde-Volk schätzen jede Einzelne unserer Töchter. Du musst keine Angst haben, dass es deiner Tochter an irgendetwas mangeln wird. Hast du einen Namen, den sie erhalten soll, wenn sie älter wird?« »Kerayi«, flüstert Weiwara. Sie hat nicht gewusst, dass sie diese Worte hatte sagen wollen; es war, als hätte eine andere Stimme mit ihren Lippen gesprochen. Sos'ka kommt näher und breitet die Arme aus. Plötzlich fällt Weiwara auf, dass es seltsamerweise nur Zentaurinnen gibt, aber keine Zentauren. Besser, es schnell hinter sich zu bringen. Weiwara hebt das kleine Mädchen aus der Schlinge, küsst sie sanft und reicht sie Sos'ka. Das Kind schreit vor Wut, aber eine andere Zentaurin tritt vor und legt das jammernde Kind mit einer raschen, sanften Bewegung an ihre Brust. Nach einem kurzen Augenblick bekommt das Kind die Brustwarze zu fassen und nuckelt zufrieden daran. Der Nebel löst sich auf, während die Zentaurinnen sich mit 625 stummen Gesten verabschieden und davontraben. Es ist immer besser, sich rasch zu trennen. Die Schlinge hängt schlaff und leer vor Weiwaras Brust. Ihre Brüste schmerzen, als ihre Milch hinuntersackt, und Alter-FaltigerMann, der ihre Stimmung spürt, bekommt einen Schluckauf und beginnt zu schluchzen. Die Sonne streift über die
versengten Spitzen der umgestürzten Steine. »Was ist mit Alain?«, ruft Kel. Zu spät. Die Sonne vertreibt die letzten Nebelschwaden zwischen den Steinen. Die Geheiligte ist fort, und auch die Eule hockt nicht mehr in den mittlerweile aufgelösten Schatten. »Ich habe sie gesehen1.« Kel vergisst für einen Augenblick seinen Kummer, als er in den Ring aus Steinen stolpert. »Ich habe sie gesehen!« Er lässt den Kopf sinken, und seine Schultern beben. »Aber sie werden es niemals sehen. Tosti und Onkel und Alain, sie werden es niemals wissen.« Sobald sich Weiwara stark genug fühlt, und nachdem sie das Kind gesäugt hat, führt sie Kel hinunter zu den anderen Überlebenden. Die meisten Leute von den anderen Weißhirsch-Stämmen bereiten sich darauf vor, zu ihren eigenen Dörfern aufzubrechen, um nachzusehen, wie sie den Sturm überstanden haben. Während Weiwara sich die Zerstörung ansieht, überlegt sie, ob nicht auch sie und die anderen Überlebenden ihres Dorfes mitgehen sollten. Geister und Gespenster umschwärmen jetzt diesen Ort. Sie kann sie beinahe sehen. Hin und wieder erblickt sie aus dem Augenwinkel die Schatten der Verfluchten; sie weinen und fluchen, weil sie für immer auf der Straße zur Anderen Seite gefangen sind, weder tot noch lebendig. Aber die alten Königinnen sind noch nicht fertig. Ff eilhelle, Goldsau und Zahnlos haben die Bande nicht vergessen, die sie mit ihrem Volk verbinden. Als der letzte Widerhall des gewaltigen Zauberspruchs im Boden versinkt, greifen sie nach den verblassenden Fäden, und auf diesen Fäden flüstern sie. Als Weiwara und Agda die Leiche von Adica auf einer Bahre in die Stille des alten Hügelgrabs tragen, flüstern die Königinnen ih626 nen ins Ohr. Weiwära rückt den Leichnam zurecht, während Agda die Fackel hält. Sie flicht Adicas wunderschöne Haare ein letztes Mal. Sie befestigt das goldene Geweih an ihrer Stirn und glättet ihr Gewand, legt ihr die schlaffen Hände schließlich auf den Bauch. Der Lapislazuli-Ring, den Alain ihr gegeben hat, blinkt sanft im Fackellicht. Dann legt sie die Dinge, die Alain mitgebracht, dann aber zurückgelassen hat, zu ihr. Auf diese Weise wird ein Teil von ihm immer bei der toten Adica sein. Schließlich stellt sie einen Eimer aus Rinde mit Bier aus Honig, Weizen und Freiseibeeren zu ihren Füßen ab. »Lass mich diesen letzten Trank mit dir teilen, geliebte Freundin.« Sie taucht die Hand in den Met und trinkt eine Hand voll. Als das scharfe Getränk ihre Kehle hinunterrinnt, scheint es ihr, als würden sich die alten Königinnen in ihren stillen Gräbern rühren. »Verlass uns nicht, Tochter. Verlass nicht jene, die euch stark machten und euch das Leben gaben. Verlass nicht deine geliebte Freundin, auf dass sie alleine schlafen muss. Das war alles, was sie erbeten hat, dass sie nicht allein sterben muss.« Weinend - würde sie jemals aufhören können zu weinen? -spricht Weiwara die Gebete über der Toten, während Agda die richtigen Antworten singt. Danach tritt sie mit Agda - und mit einiger Erleichterung - wieder ins Tageslicht. Auf der Schwelle zur Königinnengruft reinigen sie sich mit Lavendel, den sie auf ihrer Haut verreiben, bevor sie zu den versammelten Dorfbewohnern zurückkehren. »Was sollen wir jetzt tun, Mutter Weiwara?«, fragen sie. »Wohin sollen wir jetzt gehen?« Kel kommt angelaufen. Sie hat ihn zum Dorf geschickt, und voller Aufregung verkündet er, dass acht der zehn Gruben, in denen sie ihr Korn für den bevorstehenden Winter gelagert haben, die Feuersbrunst überstanden haben. »Dies ist unser Heim«, erklärt Weiwara, »und außerdem würde ich die alten Königinnen nur ungern verlassen und meine ge627 liebte Freundin, die uns das Leben gegeben hat. Lasst uns hier bleiben und von vorn beginnen.« Als Pfeilhelle sieht, dass sich alles so entwickelt, wie sie es sich wünscht, zieht sie ihre Hand von der Welt zurück. »Komm, Schwester«, sagt sie zu Adicas Geist, der noch immer verwirrt ist und trauert. »Hier ist der Pfad, der zur Anderen Seite führt, wo die Wiesenblumen ewig blühen. Geh mit mir.« Die Erinnerungen an sie verblassen. Im Laufe der Zeit, da die Toten schlafen und die Lebenden das Leben an ihre Kinder und Enkelkinder und andere Generationen weitergeben, werden auch sie vergessen. Ivar prallte so hart auf dem Boden auf, dass es in seinen Knien knackte. Seine Arme gaben nach, und er krachte mit Gesicht und Brust auf die Erde. Eine Weile lag er benommen da, während der unglaubliche Traum, den er gehabt hatte, verblasste und sich in Verwirrung verwandelte. Er hatte Erde im Mund und auch an den Lippen. Dreck klebte an seiner Zunge. Sein Ohr schmerzte, das Ohrläppchen war zurückgebogen, aber er konnte den Kopf nicht bewegen, um den Druck zu erleichtern. Während er dalag und versuchte, sich daran zu erinnern, wie man sich bewegte, hörte er einen Mann sprechen. Er erkannte die Stimme jedoch nicht. »Ich bin eine Straße entlanggegangen, und ich habe geweint, denn ich wusste, dass diese Straße zur anderen Welt führt, und weißt du, Onkel, mehr als meine Mutter vermisse ich meine Fridesuenda, denn wir sollen ja im Winter verheiratet werden. Aber ich habe einen Mann gesehen. Er kam die Straße entlang, auf beiden Seiten von einem schwarzen Hund begleitet. Er war genauso gekleidet wie ein Löwe, aber er hatte einen schrecklichen Blutfleck auf dem Überwurf. Er hat die Hand nach mir ausgestreckt, und da wusste ich, dass er kein Löwe sein
konnte, denn er hatte einen Schleier aus Licht über dem Gesicht - und eine Sternenkrone. Ich 628 schwöre dir, er hat genauso ausgesehen wie dieser neue Löwe, der einmal ein Edelmann gewesen ist und in Thiadbolds Kompanie war.« Gerulf kicherte. »Ich erinnere mich noch sehr gut an ihn, Dedi.« Es dauerte eine Weile, bis Ivar die feuchte Färbung in der Stimme des alten Löwen begriffen hatte: Er weinte, während er sprach. »Er hat dich beschämt, als er dich dazu gebracht hat, dem Burschen die Tunika wiederzugeben, die er beim Würfelspiel an dich verloren hatte.« »Nein, Onkel, er hat mich ganz sicher nicht beschämt. Er hat mir nur die Geschichte von Folquins Tante erzählt, wie sie die Tunika eigens für ihren Neffen gewoben hat, als er zu den Löwen gegangen ist. Dann haben er und seine Kameraden angeboten, die Schulden abzuarbeiten, indem sie bestimmte Aufgaben für mich übernommen haben. Ich wäre mir wirklich hartherzig vorgekommen, wenn ich >nein< gesagt hätte.« »Oh, Junge«, sagte Gerulf mit zittriger Stimme. »Ruh dich jetzt aus. Ich habe deiner Mutter versprochen, dich heil nach Hause zurückzubringen, und das werde ich auch tun. Ich muss jetzt Feuer machen und nachsehen, wie es den anderen geht.« Ivar stöhnte; inzwischen konnte er seine Arme bewegen, und so kämpfte er sich auf Hände und Knie. Jetzt erklangen auch andere Stimmen, flüsternd erst, doch dann schienen alle gleichzeitig zu sprechen. »Ruhe, ich bitte euch«, sagte er heiser. »Sprecht nacheinander, damit wir wissen, ob alle da sind.« »Ich bin hier«, sagte Gerulf, »genau wie mein Neffe Dedi -« »Ich kann für mich selbst sprechen, Onkel.« »Bist du das, Ivar?«, fragte Sigfrid. »Ich kann nicht besonders gut hören. Meine Ohren klingeln. Ich hatte einen sehr seltsamen Traum. Ich habe einen Engel gesehen -« »Das ist der Nagel, den er Tallia weggenommen hat«, sagte Hathumod. Sie weinte noch immer. »Wie ist er hierher gekommen?« »Still, Hathumod«, sagte Ermanrich. »Wir sollten still sein, da629 mit wir niemanden aufwecken. Ich hatte einen Albtraum! Ich bin von Ungeheuern gejagt worden, von Ungeheuern mit menschlichen Körpern und Tiermasken ...« Er stockte plötzlich, wartete wie alle anderen darauf, dass die siebte Stimme etwas sagte. In der Stille konnte Ivar das Wasser tröpfeln hören. »Baldwin?«, flüsterte er. Dann etwas lauter: »Baldwin?« Sein Herz klopfte wild vor Angst. Geister wollten immer Blut und Leben, weil sie sich davon ernährten, und Baldwin war derjenige gewesen, der das Skelett gestört hatte. »Ivar!« Die Stimme hallte unheimlich durch die unbekannten Gänge, doch so verzerrt sie auch sein mochte, der triumphierende Ton in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Sieh dir das mal an!« Ivar fluchte leise. Ermanrich bekam einen Schluckauf, den er wohl einer Mischung aus Erleichterung und Furcht zu verdanken hatte. »Wenn unsere Augen so hübsch wären wie deine, könnten wir vielleicht auch im Dunkeln sehen. Wo bist du?« Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein helles, goldenes Licht auf. Baldwins Kopf erschien, und das weiche Licht schälte seine Gesichtszüge so vollkommen heraus, dass es schon unheimlich war. Er lächelte, während erst seine Schultern folgten und dann sein Rumpf. Es dauerte einen Augenblick, ehe Ivar, der noch immer auf Händen und Knien kauerte und den Kopf zur Seite gewandt hatte, begriff, dass Baldwin Stufen heraufkam. »Das müsst ihr sehen!«, rief Baldwin, als seine zu einem Becher geformten Hände zum Vorschein kamen. Ein Ring mit einem blauen Stein blinkte an seinem Zeigefinger. Er trug ein merkwürdiges Etwas - eine filigran gearbeitete, golddurchwirkte, mit Perlen besetzte Kugel. Das Gold selbst glänzte in einem sanften Licht, das auch die Wände der Kammer erhellte. Sie waren nicht mehr am gleichen Ort. Die Steintafel und das alte Grab waren verschwunden. Die schwach beleuchteten Alkoven waren ebenfalls weg, ersetzt von einer leeren Kammer mit glatten 630 Wänden, die aus dem Fels gehauen worden war. Ivar mühte sich auf die Beine. Seine Knie schmerzten so sehr, dass er die Zähne zusammenbeißen musste. Er starrte die Wände an; sie trugen keines der seltsamen Zeichen, die die Wände des Hügelgrabs geschmückt hatten, in dem sie vor den Qumanern Zuflucht gefunden hatten. »Kommt mit«, sagte Baldwin, ohne die Treppe ganz zu verlassen. »Ihr werdet es nicht glauben!« Er begann wieder hinabzusteigen. Weil er das einzige Licht hatte, beeilten sie sich, ihm zu folgen. Sigfrid nahm Hathumods Hand, und Ermanrich ging hinter ihnen, während Gerulf seinem Neffen aufhalf. Ivar tastete mit den Händen umher und fand die Fackel, die Gerulf gehalten hatte, bevor das blaue Feuer sie ausgeblasen hatte. Da das Licht rasch schwächer wurde, eilte er zu der Öffnung und stieg hinab. Furcht erfüllte plötzlich sein Herz, und er konnte nur noch mühsam atmen. War Baldwin von den Geistern der Toten besessen? Oder war er über eine Beschwörung gestolpert? Wo waren sie? Oh, Gott, wie sehr seine Knie schmerzten. Zwanzig Schritte benötigte er, dann stand er in einer Kammer, die nicht größer war als jene, aus der er gekommen war, aber auch so anders, dass er sich genau wie seine Kameraden nur voller Erstaunen umschauen konnte.
Sie hatten eine Schatzhöhle gefunden, in der sich Gold und Juwelen und alle Arten von kostbaren Kisten und Bündeln mit feinstem Leinen und Seidenstoffen stapelten. Am seltsamsten war, dass die Wächter der Kammer schliefen - sieben junge Männer, die in den Gewändern eines jungen Edelmannes und seiner Freunde gekleidet waren. Sie schliefen so entspannt und behaglich auf den Münzenhaufen, als würden sie auf den weichsten Federbetten liegen. Der junge Herr, der sich von seinen Begleitern durch seine außerordentlich kostbare Kleidung unterschied, lag halb gekrümmt auf der Seite, die eine Wange auf eine Handfläche gestützt. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen leicht geöffnet. Seine hellen Haare brachten seinen gesunden, rosigen Teint be631 sonders gut zur Geltung. Seine Lippen waren zu einem leichten Lächeln verzogen, als hätte er süße Träume. »Die Sieben Schläfer!«, rief Sigfrid leise aus. »Die Kirchenmütter haben sie erwähnt. Könnte es sein, dass wir auf ihr Versteck gestoßen sind?« »Ich kann zählen!«, entgegnete Baldwin entrüstet. »Haben wir nicht in Eusebes Kirchengeschichte über die Sieben Schläfer gelesen?«, fragte Ermanrich. »Möge der Herr uns bewahren«, fluchte Gerulf. »Das ist Markgraf Villams Sohn. Der jüngste, Berthold. Ich erinnere mich an den Tag, an dem er verschwunden ist. Die Herrin möge uns segnen, aber ich schwöre, das ist jetzt zwei Jahre oder noch länger her.« Voller Angst, aber dennoch entschlossen trat er zu dem jungen Herrn und kniete neben ihm nieder. Doch trotz all seiner Versuche, ihn durch Schütteln oder Zureden zum Wachwerden zu bewegen, konnte er ihn nicht aufwecken, genauso wenig wie einen seiner schlafenden Begleiter. Weder er noch die anderen konnten den Schlafzauber brechen. »Das ist Zauberei«, sagte Gerulf schließlich. Er gab als Letzter von ihnen auf, während die anderen längst nervös in der Nähe der Stufen kauerten, die zu der darüber gelegenen Kammer führten. Die glühende Kugel in Baldwins Händen tauchte die Kammer in einen dünnen Goldhauch, aber in den verzerrten und unruhigen Winkeln ruhten immer noch stumme Schatten, blieben vom Licht unberührte schwarze Flecken. »Ich glaube, wir sollten von hier verschwinden«, sagte Ivar unsicher. »Was ist mit den Qumanern?«, fragte Baldwin. »Ich kann nicht länger vor ihnen davonlaufen.« Er kniete nieder, hob eine Hand voll Goldmünzen auf und ließ sie durch seine Finger rinnen. Schatten bewegten sich über den Boden der Kammer wie Reben im Wind - sich windend, suchend. »Baldwin!«, rief Ivar scharf, als ein Schattenfaden sich von dem Schatz wegschlängelte und um Baldwins Beine wand. »Geh da weg!« 632 Baldwin gähnte. »Ich bin so müde.« Ivar schoss vor, packte Baldwins Handgelenk und schüttelte ihn so kräftig, dass das ganze Gold auf den Boden fiel. »Du darfst nichts davon mitnehmen!« Die Kugel rollte Baldwin aus der Hand und über den Boden, blieb mit einem leisen Klirren vor einer Kiste mit Juwelen liegen. Schatten schlängelten sich dahinter. »Ihr dürft nichts davon mitnehmen«, sagte Ivar schroff, während er jetzt auch die anderen anblickte. Das Licht der Kugel begann zu verblassen. »Es ist alles verzaubert. Es ist alles Zauberei! Ich habe Zauberei gesehen.« Der alte Hass und die Eifersucht stiegen wie eine Flutwelle in ihm auf. Er schien Hugh zu sehen, wie er ihn aus den Schatten anstarrte, die sich hinter dem Schatz sammelten. Er spürte eine düstere Feindseligkeit in der Mitte der Schatten, die ihm Lügen zuflüsterten: Hanna ist tot. Liath hasst dich. »Gehen wir!« Er zog Baldwin unbarmherzig mit sich und drängte ihn auf die Stufen zu. Gerulf brachte mit seinem Feuerstein einen Funken zustande, der jedoch auf der geschwärzten Fackel erstarb. Ein zweiter Funken erweckte die Fackel zum Leben. Sie stiegen die Stufen hinauf, Gerulf gleich hinter Baldwin; zuletzt kam Ivar. Er spürte kalte Tentakel an seinem Rücken, aber sie ließen ihn gehen. Das reine goldene Licht hinter ihm strahlte vor Gier und uralter Wut. Er taumelte über die letzte Stufe in die kühle, leere Kammer, wo die anderen auf ihn warteten. »Da vorn ist ein Tunnel«, sagte Baldwin, der bereits ein Stück vorausgegangen war. Es gab keinen anderen Weg, den sie hätten nehmen können, doch schon bald erkannten sie, dass sie auf ein Labyrinth gestoßen waren. Dies war kein einfacher Tumulus mit einem gerade verlaufenden Tunnel, der zur Grabstätte in der Mitte führte, wo die alten Königinnen und Prinzen vor langer, langer Zeit begraben worden waren, sondern ein Labyrinth aus Korridoren, von denen einige niedrig waren, andere jedoch so hoch, dass Ivar nicht einmal 633 die Decke berühren konnte. Sie alle führten zu sich selbst zurück, kreuzten sich in einem verwirrenden Muster, das allerdings noch seltsamer wurde, als Sigfrid auf die Idee kam, an jeder Kreuzung ein Zeichen zu hinterlassen, damit sie wussten, ob sie schon einmal da gewesen waren. Auf diese Weise begriffen sie rasch, dass sie sich in einem komplizierten Kreis bewegten. Schließlich riss Baldwin Gerulf wütend die Fackel aus der Hand. »Hierher!«, sagte er mit der Sicherheit eines Menschen, der aufgrund seiner Schönheit immer die größte Portion Fleisch und den besten Wein erhalten hatte. Nachdem sie erst diese, dann jene Abzweigung genommen hatten, ohne einem offensichtlichen Muster zu folgen, rochen sie frische Luft; wenig später sahen sie einen schwachen Lichtschein und spürten eine leichte Brise auf der Haut. Die Fackel zuckte und ging aus, hinterließ eine Rauchfahne. Der Tunnel führte jetzt aufwärts,
aber die Decke senkte sich, sodass sie gezwungen waren zu kriechen. Dann spürte Ivar Erde unter seinen Händen, ineinander verschlungene Wurzeln und einmal auch ein feuchtes, krabbelndes Etwas. Von weiter vorn erklang Baldwins Stimme. Ivar hörte die anderen antworten, und dann war er an der Reihe, sich durch dichtes Gebüsch zu zwängen und dann blinzelnd ins grelle Sonnenlicht zu rollen. Er schlug die Hände vor die Augen, erinnerte sich erst jetzt wieder daran, dass er zwei Finger verloren hatte. Doch die Wunde schmerzte nicht mehr. Eine weiße Narbe verschloss die Haut unter dem ersten Knöchel, wo die Finger der rechten Hand abgerissen worden waren, als hätte er die Wunde vor ein oder zwei Jahren zugefügt bekommen. Nach einer Weile traute er sich, seine Hände etwas zu senken, und er stellte fest, dass es ein bewölkter Tag war. Das Licht hatte nur deshalb so grell gewirkt, weil seine Augen so lange an die Dunkelheit gewöhnt gewesen waren. Er lachte leise. Baldwin kam zu ihm herüber und legte sich neben ihm ins Gras. »Bist du in Ordnung?«, fragte er. 634 »Woher hast du den Weg gewusst?« Noch immer schien alles viel zu hell, daher bildete er mit seinen Händen ein Zelt über den Augen. »Ich habe es nicht gewusst. Ich wollte einfach nur da raus.« Und während sie so im Gras lagen und die frische Luft, die über sie hinwegstrich, tief einatmeten, brach plötzlich die Erkenntnis über Ivar herein: Alles, was Baldwin getan hatte, vom Weglaufen aus dem Kloster bis zum Weglaufen vor Markgräfin Judith - all das, was so absichtlich und schlau und geplant gewirkt hatte, war in Wirklichkeit lediglich aus einem ähnlich gedankenlosen Impuls heraus entstanden. Nur um wegzukommen. Es war nur Glück, wenn Baldwin Erfolg hatte. Tatsächlich hatte Gott ihm Schönheit und Glück gewährt, aber er war damit so ausgefüllt worden, dass augenscheinlich für etwas anderes nicht mehr sehr viel Platz gewesen war. »Es ist in Ordnung«, sagte Ivar müde und setzte sich auf. Sein Körper schmerzte überall, und er blinzelte die Tränen weg, als er die Hände sinken ließ, um einen ersten Eindruck von der Umgebung zu erhalten. »Ich weiß zwar nicht wie, aber ich glaube, wir sind den Qumanern entkommen.« Die Wolken hatten den sanften Glanz von Perlen, mehr Licht als Grau. Die sieben Gefährten saßen verstreut auf einer ihnen vollkommen unvertrauten, von hohen Bäumen umgebenen Lichtung, die von einem Steinkreis und vier großen, zugewachsenen Hügeln gekennzeichnet war. Solche Bäume wuchsen nicht in den östlichen Grenzlanden, wo Grasland direkt an den ausgedünnten Wald grenzte. Die Blätter waren rötlich, gelb oder orange verfärbt, und eine Mischung all dieser Farben verteilte sich auch auf dem Boden. Die Luft roch sauber, unbefleckt von dem Gemetzel einer Schlacht, und sie hatte die scharfe Klarheit des Spätherbstes. Es war Spätsommer gewesen, als sie die Schlacht am alten Tumulus gefochten hatten. Doch allem Anschein nach waren Wochen vergangen und nicht nur eine einzige Nacht. Eine Zeit lang schwiegen alle; er konnte Baldwin einatmen hö635 ren, dann erklangen hinter ihm die Stimmen der anderen. Sigfrid sang eine Hymne, und Edelfrau Hathumod weinte entweder oder betete mit hingebungsvoller Leidenschaft, während Ermanrich in dem Versuch, sie zu beruhigen, immer wieder auf sie einredete. Gerulf und Dedi sprachen so aufgeregt miteinander, dass er sie nicht verstehen konnte; sie betonten die Worte manchmal so eigenartig. Sie gingen auf die Lichtung, sprachen über die Bäume und den Himmel. Die zwei Löwen waren schwer verletzt gewesen, und er hatte fest geglaubt, dass Dedi so gut wie tot gewesen war. Wie konnten sie dann jetzt wie übermütige Fohlen herumspringen? »Ivar!«, rief Gerulf und hastete zu ihm. Der alte Löwe war beinahe außer sich vor Aufregung; sein Gesicht glänzte, als würde ein Lichtstrahl darauf fallen. »Wisst Ihr, wo wir sind?« »Solange wir ein gutes Stück von den Qumanern weg sind, ist es mir ziemlich egal, wo wir sind.« Mit einem Ächzen stand Ivar auf und rieb sich den Rücken. »Es ist ein Wunder! Gott hat uns von den Qumanern erlöst. Dies ist der Hügel oberhalb von Kloster Herford, im westlichen Saony. Wir können von hier aus das Herzogtum Fesse sehen.« »Das Kloster Herford?« Ermanrich trat zu ihm. »Das ist doch unmöglich. Wir waren in den Marklanden -« »Es war Sommer!«, rief Hathumod stockend. »Und er war noch bei uns.« »Alle unsere Wunden sind verheilt«, fügte Sigfrid zögernd hinzu, ging zu Ivar, um sich seine Verletzung anzusehen. »Sieh doch, Ivar. Es sieht aus, als wäre dir diese Wunde schon vor Monaten oder Jahren zugefügt worden.« »Ich habe Durst«, erklärte Baldwin. »Haben wir hier nicht irgendetwas zu trinken?« »Still.« Ivar betrachtete seine sechs Kameraden und dann die Lichtung, auf der sie standen. Die niedrigen Erdhügel und der Steinkreis erinnerten ihn vage an den großen Tumulus mit seinen Erdwällen. War auf der Kuppe des alten Hügels nicht auch ein zerfallener Steinkreis gewesen? Doch ganz offensichtlich befanden sie 636 sich nicht mehr dort. Ivar hatte noch nie in seinem Leben einen Steinkreis gesehen, der so gut erhalten gewesen war wie dieser hier. Jeder Stein stand aufrecht, alle Türstürze waren intakt. Irgendwie waren sie im Laufe einer einzigen Nacht von den Marklanden den ganzen Weg zurück ins Herz von Wendar gereist. Im Laufe einer einzigen Nacht waren sie vom Sommer zum Herbst gelangt. Zauberei. Zitternd griff er nach Sigfrids Hand, dann nach Baldwins. »Kommt, Freunde«, sagte er, als er sah, dass sie sich alle angesichts so vieler Dinge, die sie sich nicht erklären konnten, an den Händen hielten. »Ich verstehe nicht,
was mit uns geschehen ist, aber ich glaube, dass unser Freund Gerulf Recht hat. Gott hat uns vor dem Tod durch die Hand der Qumaner bewahrt, damit wir Ihre Arbeit hier auf der Erde weiter fortführen können. Vergesst den Phoenix nicht. Unsere Aufgabe beginnt gerade erst.« Hathumod brach erneut in Tränen aus und presste den verrosteten Nagel an die Brust, als wäre er eine heilige Reliquie. »Gott sei gepriesen«, murmelte Gerulf, und die anderen wiederholten seine Worte, bis auf Baldwin, der sich ängstlich auf der Lichtung umblickte. »Es wird bald Nacht«, sagte Baldwin, »und mir gefällt die Vorstellung nicht, neben diesem alten Grabhügel schlafen zu müssen. Ich mag gar nicht daran denken, was aus ihm herauskriechen könnte, wenn es erst dunkel wird.« »Nein, ich möchte auch nicht neben diesem alten Hügel schlafen«, bestätigte Dedi mit einem nervösen Lachen und dann lachten sie alle, als das Gefühl der Erleichterung und Entspannung sie nach all den Stunden der Furcht und des Kampfes regelrecht überschwemmte. »Gibt es einen Pfad, auf dem wir zum Kloster gelangen können, Gerulf?«, fragte Ivar, denn er hatte den gleichen Gedanken wie die anderen. Aber sollte er nicht in Gott vertrauen, dass sie vor bösen Geistern und Blut saugenden Wichten geschützt wären, angesichts 637 des Wunders, das bereits geschehen war? Doch es konnte wohl nicht schaden, wenn man Gottes Plan ein bisschen auf die Sprünge half, wenn es möglich war. »Es ist ein paar Jahre her«, sagte der alte Löwe und kratzte sich am Bart, »aber ich glaube ...« Er deutete auf eine schmale Öffnung in der dichten Mauer aus Gebüsch. »Ich glaube, es ist der Pfad dort drüben.« Jetzt standen alle wartend da, den Blick auf Ivar gerichtet. Irgendwie war er im Laufe der Schlacht und der langen, bitteren Nacht, in der sie in dem Hügel gefangen gewesen waren, zu ihrem Anführer geworden. »Wir haben noch einen langen Weg vor uns«, sagte er. »Gehen wir also.«