Duell der Wächter Version: v1.0
Landrus Erinnerung Nicht einmal ich weiß, wie es dereinst begann. Niemand, der die Anf...
33 downloads
1401 Views
946KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Duell der Wächter Version: v1.0
Landrus Erinnerung Nicht einmal ich weiß, wie es dereinst begann. Niemand, der die Anfänge unserer schwermütigen Rasse kannte, wäre heute noch da, um zu berichten. Auch bin ich unsicher, ob wir Kelchhüter je mals, wie andere Vampire, ursprünglich Menschen waren – bis der magische Ritus uns über die Schwäche der Geburt erhob. Dieser Ritus, er ist ein bitterer Akt. Man trinkt den Tod und ge winnt allmählich Macht über seinen wiedererwachenden, kindli chen Körper. Und über die Sterblichkeit. Doch als ich erwachte, war ich bereits voll entwickelt, kein Kind mehr, das zum fertigen Vampir reifen mußte. Ich schlug die Au gen auf und kannte meine Bestimmung …
Was bisher geschah Hora, der neue Führer der Sydney-Sippe, will die Magie der Vampire mit menschli cher Wissenschaft kombinieren. Seine Firma, Salem Enterprises, konzentriert sich darauf, Vampire zu klonen – und damit den Lilienkelch zu umgehen! Lilith kommt Hora – mit Hilfe eines Vampirs namens Feyn – auf die Spur und dringt in die Firma ein, um sie zu zerstören. Duncan Luther, ihr von den Toten erstandener Mitstreiter, hat mittlerweile ein seltsames »Hobby« entwickelt: Er interessiert sich für Mesopotamien, den heutigen Irak, weiß aber nicht, warum. Schließlich hat er in einem Spiegel eine Vision. Eine gleißende Lichtgestalt ruft ihn – aber wohin? Er macht sich allein auf den Weg … Feyn läßt derweil seine Maske fallen: Er will Lilith töten! Beim folgenden Kampf verletzt er sie und den Symbionten schwer, doch dann kann Lilith seine Kraft gegen ihn selbst wenden, und Feyn wird von den Tätowierungen seiner Opfer, die seinen ganzen Körper bedecken, aufgefressen. Lilith wird ohnmächtig aufgefunden und in eine Klinik eingeliefert. Der dortige Chefarzt, Dr. Romano, erkennt ihre Fähigkeiten. Zusammen mit vier Kollegen löst er den Symbionten von Liliths Haut und trennt ein Stück davon ab. Zwar kann Li lith schließlich entkommen und auch den Symbionten befreien, doch von dem feh lenden Teil weiß sie nichts. Ihre Peiniger kommen ums Leben. Kurz vor seinem Tod trinkt Dr. Romano eine Blutprobe Liliths. Als er wieder »erwacht«, zieht es ihn mit Macht nach Uruk ins ehemalige Mesopotamien … Dort ist Paul Kravetz, einer von Liliths ersten »Blutspendern«, bereits angekom men. Auch er ist tot und gehorcht nun, wie die anderen beiden, einem magischen Programm. Er aktiviert ein Symbol in einer Felsenhöhle, das im fernen Schottland die Kelchdiebin aus langem Schlaf erwachen läßt: Felidae. Die Vampirin, die einst Liliths Mutter Creanna zeugte und somit »schuld« ist an Liliths Existenz, erkennt, daß nicht die geplanten 100 Jahre vergangen sind. Sie sucht und findet Lilith und tritt ihr gegenüber. Auch Landru spürt, daß der Kelch wieder da ist. Er hat die Spur schon aufge nommen …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und der Vampirin Creanna, dazu ge zeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. Für 98 Jahre lag sie schla fend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Ba stard sehen, bis sich ihre Bestimmung erfüllt. Dabei hilft ihr ein Symbiont. Der Symbiont – ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, ob wohl es fast jede Form annehmen kann. Einst gehörte es Creanna und wurde von ihr an Lilith weitergereicht. Der Symbiont ernährt sich von schwarzem Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire und der Mörder von Liliths Vater. Seit 267 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, ohne den es keinen Nachwuchs geben kann. Landru scheint irgendei ne Schuld auf sich geladen zu haben – welche, ist noch unklar. Duncan Luther – ehemaliger Priesteranwärter mit bewegter Vergangenheit. Er lernt Lilith kennen, verliebt sich in sie, wird in Indien von Vampiren getötet und taucht plötzlich und ohne Erinnerung wieder auf. Beth MacKinsey – Journalistin bei einer Sydneyer Zeitung. Beth kennt Liliths wahre Identität – und hat sich, gleichgeschlechtlich veranlagt, in die Halbvam pirin verliebt. Dies wurde jedoch durch die Nachwirkungen einer magischen Pest mittlerweile ins Gegenteil verkehrt: Unter deren Einfluß hat sie sich mit Landru gegen Lilith verbündet. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir be dingungslos gehorcht. Seinerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Seither bin ich ein Reisender in Sachen Tod und Leben. Wohin ich auch komme, werde ich mit Respekt empfangen. Aber nie hat ein Vampir das wahre Gesicht des Hüters erblickt. Nie. Und dies wird auch niemals geschehen. Schon damals war ich ein Suchender, der seine Wege mit zweierlei Nutzen verband. Der Kelch und ich, wir wanderten von Ort zu Ort in nie endender, finsterer Wallfahrt. Wir besuchten die Sippen und hörten uns die Sorgen, Nöte und Wünsche der Oberhäupter an. Was wir erfüllen konnten, taten wir. Maßlose Forderungen bestraften wir. Es war immer dasselbe. Auch in Andalusien … Sevilla, 1727 Der Sohn des Inquisitors schrie, aber nur ich vermochte das Ge plärre zu hören, das den Tod des Knaben einläutete. Alle anderen im weiten Rund sahen nur das stumme, saugende Öffnen und Schließen eines kleinen, noch unausgebildeten Mundes. Morisco stand mir am nächsten. Morisco, der Edle, stets im Stil ei nes Hildalgo Gekleidete, dessen Rufen und Bitten mich erreicht hat te, just da ich mit einer Beuteladung Silber, vom Rio de la Plata kom mend, hier vor Anker ging. (Oh, es ist nicht mein Silber, es war nur die billigste Passage hierher, nachdem ich in America lange und auf opferungsvoll »Missionsarbeit« geleistet hatte …) Moriscos pechfar benes Blut schimmerte im Lilienkelch und stürzte über den geneig ten Rand in dünnen Rinnsalen hinab in des Knaben bebenden Mund. Sein Kehlkopf hüpfte dabei in krampfhaftem Bemühen, den Trunk zu verweigern – und doch keinen einzigen, kostbaren Trop fen zu vergeuden.
Wie stets war das Blut des Sippenoberhaupts der Schlüssel zu Sterben und Wiedergeburt. Der Schlüssel zum Eingang in eine Ge meinschaft, die kein Leben in Schwäche duldet. Ich habe die Menschen oft mit ziellos gefräßigen Raupen vergli chen. Denn sie ahnen nichts von unserer Führung und breiten sich aus wie Heuschrecken, im Glauben, diese Welt sei ihnen »Untertan«. Man kann sich nichts Untertan machen, was bereits ei nem Mächtigeren und Klügeren gehört. Aber wir lassen ihnen ihren Irrglauben. Sie senden Flotten aus, um die entlegensten Orte dieser Welt aufzuspüren und für ihre niederen Begierden (Gold, Silber, Edelsteine … bah!) zu erschließen. Sie wissen nicht, daß bei jeder Entdeckung auch wir dabei sind – oder schon vor ihnen dort waren. Aus solchen »Raupen« werden erst durch das, was ich hier tat, nachtschöne, bizarr-verwegene, phantasievolle Geschöpfe, durchaus vergleichbar mit Schmetterlingen, die von Blüte zu Blüte flattern, um sich am Nektar zu ergötzen. Unser Nektar heißt Blut. Das Kind, das gebeugt hier vor mir auf dem Altar des Todes lag, ging durch ein Jammertal der Tränen, ehe sich seine Augen schlos sen. Vorher brüllte es noch lauter. Sein Leiden verfing sich in der sich leerenden Schale des Kelchs und damit in mir – denn Kelch und Hü ter sind eins. »Den nächsten!« rief ich Morisco durch den Mundschlitz meiner Maske zu, nachdem des Knaben Herz angehalten war wie das Räd chenwerk einer Uhr. Der Kelch entließ ihn aus seinem düsterroten Lichtkreis, als eben dieses Uhrwerk wieder zu schlagen begann – langsamer und effizi enter als zuvor. Ich sah noch, wie sich seine Lider flatternd öffneten. Dann wurde er von bereitstehenden Helfern weggehoben und fort
getragen, während aus anderer Richtung ein ängstlich starrendes Mädchen herangetragen wurde. »Warum habt ihr es nicht beruhigt?« tadelte ich Morisco über die Köpfe der Seinen hinweg. Zugleich tastete ich mit meinen vom Kelch geschärften Sinnen das Wesen jenes Kindes ab, so daß mich die Rechtfertigung des falschen Hildalgo kaum mehr überraschte. »Wir versuchten es – aber sein Geist widerstand!« Die Gedanken dazu ließ ich mir nicht anmerken. Morisco mochte es ahnen – ich wußte es: Immer häufiger wurden Menschen mit dem Makel geboren, daß sie dem Bannblick eines Vampirs standhielten. Über die Jahrhunderte hatte ich mit solchen Fällen kaum zu tun bekommen – doch nun häuften sie sich binnen weniger Monate und Jahre. Nicht allein hier in der Alten Welt. Selbst drüben in der »Neu en«, wohin ich mit Konquistadoren vom Schlage eines Pizarro oder Cortes gelangt war, traf ich unter den einheimischen Indios geistige »Widerständler« an. Ich prüfte das Mädchen noch ausführlicher. Der Kelch durchleuch tete sein verborgenstes Sehnen und Streben. Was ich suchte, fand ich bei ihm so wenig wie beim Sproß des Inquisitors, den Morisco aus purer Bosheit hatte rauben lassen. »Seine Frau kann nicht mehr ge bären«, hatte er mich wissen lassen. »Aber wir haben uns der Sache angenommen. Sie wird ihm bald einen ganz besonderen Balg schen ken. Ihr Bauch ist wieder dick und rund …« Ich war an Einzelheiten interessiert, doch wir waren unterbrochen worden. Vielleicht würde sich nach dem Ritus Gelegenheit bieten, das Gespräch zu vertiefen. Mein eigentlicher Sinn stand jedoch nach anderem. Mich interes sierte brennend, was aus Celeste geworden war, die ich bei meiner Abreise vor gut zwei Jahren hier zurückgelassen hatte. Ein Wim pernschlag für einen, der wie ich auf tausend Erdenjahre blicken
kann. Ich verstand nicht, warum mich diese Zahl im Innersten erschreck te. Tausend Jahre … Ich machte weiter. Vollendete das Ritual auch an dem Mädchen, das nicht war, wonach ich all die Zeit suchte. Jene Inkarnation, die unserer ermüdenden Rasse zu neuer Blüte verhelfen könnte. Ein … ja, nennen wir es beim Namen des ewig Verhaßten … Messias. Morisco hatte den Kelch erneut mit seinem Blute gefüllt, und er tat es noch weitere drei Mal. Das war wenig im Vergleich zu den Diens ten, die ich in der Neuen Welt verrichtete. Aber Sevilla ist nicht das weite Amazonasbecken. Als ich fertig war, fühlte ich mich ermüdet wie stets. Denn nicht nur der Kelch verrichtet die Magie, die zur Zeugung der Unsrigen nötig ist – auch der Hüter ist zeremoniell beteiligt und engagiert. Die Nähe des Unheiligtums, wenn es aktiv war, streifte auch mich stets mit dem Hauch der Neuschöpfung. Ich fühlte, was die Kinder fühlten, und zugleich entschädigte mich dieses Leid für eigenes Un gemach … »Ich zeige dir deine Unterkunft«, bot Morisco an, der die Maske vor meinem Gesicht mit schlecht verhohlenem Argwohn betrachte te, obwohl man sie als Maske kaum erkennen konnte. Niemand ver mochte die provisorischen Nähte zu sehen, mit denen sie an meiner wirklichen Haut befestigt war. Dieses falsche Gesicht hatte etwas Befremdliches, das selbst ich empfand, wenn ich es von Zeit zu Zeit in die Hände nahm und vor meine wahren Augen hielt. Es sah … ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll … ver altet aus. Nicht alt, aber doch wie etwas, das »unmodern« geworden ist. Es stammte aus der Zeit vor meinem Sein. Es lag zu meinen Fü ßen, als ich aus dem Traum erwachte, der mich erschuf. Schon da
mals sah es aus wie heute und nährte den Verdacht, daß ich nur ei ner von vielen bin, der es je trug. Es mußte Hüter vor mir gegeben haben. Denn unsere Rasse war schon verbreitet, als ich mir meiner bewußt wurde. Ich weiß nicht, was aus meinen Vorgängern wurde. Was ihnen zustieß und was es nötig machte, mich in ihre Fußstapfen treten zu lassen. Niemand hat je mit mir darüber gesprochen. Ich willigte ein, und Morisco führte mich aus der Initiierungshalle des Palacio. Er suchte keine Unterhaltung, die über meinen Dienst hinausging. Den Kelch hielt ich mit einem Tuch verhüllt an meine Brust gedrückt, und der Herzschlag darin fand vielfaches Echo. Mehr als einmal hatte ich das Gefühl, daß die letzten Schläge all der angehaltenen Kinderherzen in dem Gefäß konserviert wurden. Daß sie im Wettstreit miteinander dort weiterpochten … Während wir zwischen romanischen Säulen hindurch und unter düsteren Fresken entlang schritten, änderte ich meine Meinung. Ich blieb stehen und verlangte, daß man mir ein Pferd sattelte und be reitstellte. Damit beleidigte ich Morisco, und ich tat es noch mehr, als ich ihm eine Erklärung für den Sinneswandel versagte. Es war mir gleich. Niemand achtet den Vampir unter der Maske. Niemand weiß von dem, der sich unter fremdem Gesicht verbergen muß … Ich bin niemand als mir selbst verpflichtet. Und – natürlich – dem Kelch. »Wohin gehst du? Kann es nicht warten bis morgen?« Celeste, antwortete ich, so daß nur ich es hören konnte. Ich darf Ce leste nicht länger warten lassen. Mich giert nach ihr. Oder willst du tum ber Gernegroß sie mir ersetzen? Schweigend verließ ich den Palacio, der seine muslimischen Ein flüsse zu verbergen suchte, es aber so wenig vermochte wie diese
Stadt, in die ich mit zwiespältigen Gefühlen zurückgekehrt war. Schon beim Antritt meiner Passage nach America war Sevilla nicht mehr gewesen wie noch ein oder zwei Jahrhunderte zuvor. Ich kannte diese Stadt bedeutender und faszinierender. Zwar öffnete der Flußhafen noch immer das Tor zu den kostbaren Metallen in den Kolonien. Aber inzwischen hatte Cádiz ihm wohl den Rang gänzlich abgelaufen, und das war überall in den Gassen spürbar. Der Handel blühte nicht mehr wie ehedem. Mit erfrischenden Neue rungen tat man sich unleugbar schwer. Es wäre Moriscos Aufgabe gewesen, sich dem Wandel der Zeiten zu stellen. Aber er verließ sich lieber auf die ihm traditionell in den Schoß gefallene Macht. Er war ein faules, unerträglich selbstgefälli ges Oberhaupt. Meine Verachtung war ihm sicher.
* Gegenwart, Sydney Landru läutete an der Tür des Hauses. Es stand zurückversetzt zur Straße und hatte einen kleinen Garten, der Sichtschutz bot und Pri vatsphäre vorgaukelte. Aber keinen Schutz gegen Wesen wie ihn. Es war nachtschlafende Zeit. Hinter keinem der Fenster brannte Licht. Erst das Klingeln weckte die Bewohner. Trüber Schein ent flammte hinter der Türverglasung. Jemand schlurfte durch den Gang. Jemand rief: »Himmel, wer ist da?« »Der böse Gott!« rief Landru. Er hatte keine Mühe, es auszuspre
chen. Er kannte viele Götter. Auf seinen Reisen war er manchem Kult begegnet, manchem Glauben. »Mach auf!« Ein Schlüssel drehte sich, Riegel schnappten zurück. Dann schwang die Tür auf und gab den Blick frei auf einen alten Mann im gestreiften Pyjama. Landru lächelte bei dem Gedanken, daß er mehr als zehnmal so alt war wie dieser Greis. Aber noch immer erfüllte ihn dieselbe Vitalität wie damals, als er das Amt des Hüters übernahm. Auch die Ver dammnis hatte daran nichts ändern können. »Bitte mich herein!« sagte er. »Treten Sie ein …« Landru hatte bereits die Schwelle übertreten. Vom oberen Stock wehte eine dünne, brüchige Stimme zu ihnen herunter: »Wer ist das, Sam? Was will er?« »Sag ihr nicht, daß ich gekommen bin, euer Lebenslicht auszubla sen, Sam. Beunruhige sie nicht. Ich kümmere mich um sie.« Er ging die Treppe hinauf. An seinen Schritten hörte sie, daß nicht ihr Mann nach oben kam. Sie produzierte ein paar aufgeregte Atemzüge, halb erstickte Schreie. Es war keine Zeit, normale Besuche zu empfangen. Es war eine Zeit, in der alte Menschen starben … Sie hockte aufrecht im Bett, als Landru eintrat. Sie schien gerade die Lampe angeknipst zu haben. Ihre Pupillen waren weit aufgeris sen. Sie starrte zur Tür, während ihre Hand in der Nachttischschub lade kramte. Vielleicht eine Waffe … Aber es war nur ihre Brille, die sie irgendwann erwischte. Landru ging zu ihr. Er wartete, bis sie ihn sehen konnte. Er hatte sich würdig gekleidet.
»Steh auf«, sagte er. Sein Wille zermalmte das Aufbegehren der weißhaarigen, schreckensbleichen Frau, vor deren Blut ihn ekelte. Er beließ ihr die Angst. Sie durfte zittern. »Steh auf, beziehe das Bett neu mit deiner schönsten Wäsche. Kämme dich, und komm dann hinunter zu uns.« Er wandte sich um und kehrte zum Hausherrn zurück. Der stand immer noch im Flur. Seine Arme baumelten schlaff am Körper. Er hatte nicht viel Fleisch auf den Knochen. Nicht einmal die Würmer würden sich um ihn reißen. »Wo ist das Telefon?« fragte Landru. »Drüben.« Der Mann wies in den Nebenraum. Er ging voraus. Es machte Landru nichts aus, einen Zuhörer zu ha ben, während er telefonierte. Es dauerte nicht lange. Er faßte sich kurz. Als er fertig war, erklangen Schritte auf der Treppe. »Deine Frau kommt«, sagte er. Er faßte sich auch mit den beiden kurz. Dann wartete er.
* Beth MacKinsay reagierte in einer Weise auf den Anruf, daß es sie – wäre sie noch die »Alte« gewesen – selbst entsetzt hätte. Die blonde Reporterin hatte eigentlich auf Liliths Rückkehr gewar tet, von der sie wußte, daß sie sich bei Salem Enterprises umschauen wollte. Nun hatte er angerufen. Und sofort hämmerte ihr Puls und putsch te ihr Blut auf, als hätte sie eimerweise Kaffee getrunken.
Fahrig machte sie sich zurecht. Die Abhängigkeit, in die sie sich fast ohne Gegenwehr ergeben hatte, wurde ihr keinen Moment be wußt. Das magische Virus in ihrem Blut verrichtete immer noch zu verlässig seine Arbeit, verdrehte ihre Gefühlswelt um hundertacht zig Grad. Wen sie einmal geliebt hatte, haßte sie nun. Wen sie ver schmäht hatte, begehrte sie … Bei Landru war dies noch extremer ausgebildet als bei anderen Personen. Aber es kam ihr nicht in den Sinn, daß er etwas dazu bei getragen haben könnte. Es erschien ihr normal. Ihre Einstellung zu Freund und Feind hatte sich gewandelt. Jeder hatte das Recht, sich umzuorientieren, neue Beziehungen zu knüpfen, alte abzubrechen … Das schlimmste für sie war, Lilith vorspielen zu müssen, daß sie von den Nachwirkungen der magischen Pest geheilt wäre. Landru hatte es empfohlen. Er baute auf Beth als Spionin und … »Geliebte!« Das Wort erzeugte Hitze in ihrem Schoß. Feuchte Begierde. Un zähmbare Lust. Sie beendete ihr Make-up in Rekordzeit. Schlüpfte in ihren schärfs ten Fummel. Die hochhackigsten Pumps. Mit ihrem Wagen fuhr sie zu der Adresse, die sie von Landru er fahren hatte. Es war unweit ihres Apartments. Sie dort zu besuchen wollte er offenbar nicht mehr riskieren. Beth begrüßte dies, denn das Risiko, von Lilith überrascht zu werden, war in der Tat groß. Es war eine ruhige, wie ausgestorben wirkende Straße. An der Haustür stand S. & G. Fuller. Die Tür ging auf, bevor Beth läuten oder klopfen mußte. Erstaunlicherweise fand sie Landrus Kleidung nicht altmodisch und überholt, obwohl er, wie häufig, einen recht altertümlichen An zug mit Weste und Gamaschen trug. So als wäre ein Bewohner aus
der Gründerzeit dieses Viertels eben an die Tür gekommen, um einen Besucher aus der Gegenwart zu begrüßen … Beth ließ solche abstrusen Überlegungen nicht ausufern. Nur zu bereitwillig sank sie in die ausgestreckten Arme des Vampirs. Sie wußte, wer er war. Sie genoß es. Sie atmete seine Macht und Unerschütterlichkeit wie eine Droge … Während sie sich küßten, steigerte sie sich unrettbar in einen Rausch. Er schloß die Tür und führte sie tiefer ins Haus. Über eine Treppe gelangten sie nach oben. Vereinzelt brannte Licht. »Wem gehört das Haus? Sind wir allein?« »Allein«, bestätigte Landru. Sein Teint war blaß. »Ich wollte näher bei dir sein …« Das Schlafzimmer machte einen ordentlichen Eindruck. Ge schmackvoll eingerichtet war es nicht. Aber Beth hätte sich in Land rus Nähe überall wohl gefühlt. Sie ging auf das Bett zu. Als sie sich umdrehte, hatte sie bereits be gonnen, ihre Bluse zu öffnen. Landru begann wie selbstverständlich auch seine Kleidung abzu legen. »Ich wollte dir einen Gefallen tun«, gestand er, »aber ich bin ge scheitert.« Sie hielt kurz inne. »Ich meine Moskowitz«, sagte er. »Ich wollte ihn beseitigen, aber …« »Aber?« Der Stoff glitt von Beth’ Oberkörper. Sie trug keinen BH. Sie hatte kleine feste Brüste und strich nun sehnsuchtsvoll selbst darüber.
»Wo ist sie?« fragte Landru. Er sah aus, als könnte auch er sein Be gehren kaum noch bezähmen. Rasch schälte er sich aus der knistern den Kleidung. Nackt glitt Beth auf ihn zu. Sie war schlank wie ein Knabe. Aber auch die nicht sehr üppig ausgeprägten Rundungen wirkten eroti sierend. Früher waren nur Frauen in ihren Genuß gekommen. Auch das hatte sich geändert … Landru streichelte ihr kurzes Haar. Dann sank er mit ihr auf das Bett und zog sie über sich, so daß ihr Busen gegen seine breite Brust drückte, er ihre Wärme und Wünsche spüren konnte. Er seufzte. Seine Hand fuhr zwischen ihre Beine. Sie stöhnte und bedeckte seinen Hals mit kurzatmigen Küssen. Als ihre Hand sein Glied fand, begann sie es mit langsamen Bewegungen zu massieren. Dabei erzählte sie. Sie verriet, daß Lilith zu Salem Enterprises aufgebrochen war, um Feyns Behauptung zu überprüfen, das neue Oberhaupt der Sippe experimentiere mit einer Mischung aus Wissenschaft und Magie. Angeblich beabsichtigte er, die existierenden Vampire gentechnisch immun gegen bestehende Handicaps zu machen. Landru hörte aufmerksam zu, als sie davon sprach, daß Vampire möglicherweise künftig gefeit sein würden gegen die vernichtende Wirkung christlicher Reliquien oder die Letalwirkung von Hammer und Pflock. Er ließ sich nicht anmerken, ob er Horas Ambitionen für realisierbar hielt. Am Ende sagte er nur: »Henna machte schon An deutungen, daß sich etwas in der Sippe tut. Ich werde mich darum kümmern, sobald die Umstände es zulassen. Aber es gibt eine Ent wicklung, die meine ganze Kraft und Zeit beansprucht. Deshalb bin ich bei dem Sterblichen, den du ›Trottel‹ schimpfst, gescheitert …!« Er meinte Moskowitz. Beth begriff sofort. Aber sie verstand nicht,
was er ihr damit sagen wollte. »Was ist passiert?« fragte sie. Ihre Hand umschloß sein geschwol lenes, hart erigiertes Glied, nach dem sie sich mehr sehnte als nach Worten. Aber sie wollte ihn nicht enttäuschen. »Das, worauf ich immer gewartet habe«, sagte er. Sie blickte in seine Augen. Sie bekam eine Gänsehaut, als sie den Abgrund darin erspähte. »Ich spürte es, gerade als ich ihn umbringen wollte«, sagte Landru. »Es gibt keinen Zweifel: Er ist wieder da!« »Wer?« »Der Kelch …«
* Paddington Street Lilith hatte das Empfinden, ihr Körper würde, während ihr Blick dem amöbenhaft enteilenden Symbionten folgte, zu Porzellan er starren. Alles war so unwirklich. Alles schmerzte im Innersten. Nur Schritte entfernt kniete die personifizierte Sünde. Eine Frau mit der wie in einer Doppelbelichtung sichtbaren Physiognomie ei ner Raubkatze: zähnebleckend und geheimnisumwoben … Die Nacht war kalt und schrecklich. Hier in 333, Paddington Street, wo sich die Anfänge eines mehrstöckigen Gebäudes zum stel lenlosen Himmel reckten, stand Lilith jener Gestalt gegenüber, von der sie das sichere Gefühl hatte, sie hassen zu müssen.
Felidae. War dies ihr wirklicher Name – oder nur ein Hinweis darauf, wie sie sich selbst bevorzugt sah – als große, geschmeidige Raubkatze …? Einst hatte sie den Lilienkelch der Alten Rasse gestohlen und da mit Creanna, Liliths Mutter, gezeugt. Und weitere Leben, im Hoch land von Beinn Dearg, in der Ruine einer alten Abtei. »Komm näher! Ganz nahe!« Eingeschnürt in hautenges Riemengeflecht blickte Felidae zu Lilith empor. Ihre Stimme klirrte wie zerspringendes Porzellan – oder splitterndes Glas. Es paßte zur Kälte, die sich allmählich über jeden Zentimeter von Liliths verlassener Haut hermachte. Der Symbiont war von ihr abgefallen, um sich der rothaarigen Vampirin nun langsam und in vorsichtigem Bogen aus der entge gengesetzten Richtung zu nähern. Lilith versuchte ihr Mißtrauen gegen Felidae zu dämpfen. Es fiel ihr schwer. Sie wußte bereits zuviel über diese Schlüsselfigur. Was sie einst Creanna angetan hatte, empfand Lilith, als wäre es ihr selbst widerfahren. Und dann genügte ein tiefer Blick in die schwefelgelben Augen, um zur Erkenntnis zu gelangen: Sie ahnt nicht, daß ich sie kenne – wie könnte sie auch? Der Einblick, den der Symbiont mir in Creannas Leben gewährte, war nicht vorherseh bar. Lilith faßte einen kühnen Entschluß. Spontan entschied sie, ihr Wissen Felidae zu verschweigen – zumindest bis sie wußte, was sie von der Katzenhaften zu halten und zu erwarten hatte. »Wer bist du?« Es ging ihr leichter von den Lippen als befürchtet.
Ein trügerisches Lächeln tilgte die Reste animalischer Kraft aus Fe lidaes Zügen. Auch sie änderte ihre Taktik. Vermeintliche Sanftheit sollte die Betrachterin in Sicherheit wiegen. Die Kelchdiebin war zweifellos von reizvoller Gestalt. Aber es war die seelenlose, berechnende Schönheit einer Gottesanbeterin, die ih resgleichen zu Tode liebte – Und dann auffraß. Wie einst Karl seine Frauen, zuckte es durch Liliths Bewußtsein. Einen Moment überlagerten sich in ihrem Geist zweierlei Leben.* Felidae schürzte ihre Lippen. Statt die gestellte Frage zu beantwor ten, sagte sie: »Du bist nicht ganz die, die ich erwartete. Ich spüre Angst. Zweifel. Ein … Ungleichgewicht!« Liliths nackter Körper straffte sich. Es gefiel ihr nicht, daß schon Felidaes erste Worte klangen, als eröffnete sie ein Tribunal. Wie lange hatte sie insgeheim darauf gehofft und gewartet, einmal selbst jener Diebin gegenüberzustehen – und sie zur Verantwortung zu ziehen für das, was sie in grauer Vergangenheit angezettelt hatte! Doch nun, da sie greifbar nah vor ihr kniete, von den Jahrhunder ten unberührt (während Mutter längst zu Staub zerfallen ist!), hätte Li lith sich am liebsten abgewandt und wäre in die Nacht enteilt. Ich hätte dem Lilienkelch nie hinterherzujagen brauchen. Nun kommt er zu mir … Allein dieser Gedanke ließ sie aushalten. Sie starrte auf Felidae und wünschte sich gleichzeitig, der Symbi ont möge zu ihr zurückkehren und ihre Blöße bedecken. Wider Erwarten erhörte die amöbenhafte Masse sie, kritisch beob achtet von der Knienden, die auch jetzt keinerlei Anstalten machte, sich zu erheben. Behäbig kehrte das »Kleid« zurück. Die Berührung war vertraut. Doch ein Rest von Fremde blieb. *siehe VAMPIRA 15: »Ich, Creanna«
Der Symbiont war angeschlagen. Lilith hatte es spätestens bei ihrem Abstecher zu Salem Enterprises erkennen müssen.* Der Symbiont hatte ernste Schwierigkeiten, offe nem Feuer zu begegnen – ein Element, das ihn in der Vergangenheit nie vor Probleme gestellt hatte. Jetzt, da er sich wieder um ihre Haut schmiegte, offenbarte er wei tere Unsicherheiten. Ohne daß Lilith darauf einwirken konnte, ent hüllte er sein ganzes Spektrum – krümmte und wandelte sich wie in nervösen Anfällen zu ständig neuen Mustern und Formen … »Ist er verrückt geworden?« Schroff kam die Frage. Felidae hatte den Symbionten einst an Creanna verliehen. Sie wuß te am besten, worum es sich bei ihm handelte. Ein Versteckspiel war unnötig. »Du weißt, was es ist?« Felidae nickte. Sie deutete auf das Geflecht, das sie hauteng um gab. Plötzlich löste sich daraus etwas, das Lilith nur allzu vertraut war: ein haarfeiner Strang, der kurz wie eine Meduse durch den Wind taumelte – und ebenso abrupt wieder ins lederartige Geflecht zurückkehrte. Lilith wußte nicht, warum es sie zunächst bestürzte, daß auch Feli daes Riemenkleid ein Symbiont war. Vielleicht hatte sie bis zu die sem Moment wirklich geglaubt, ein Unikat zu besitzen. »Wie viele davon gibt es?« fragte sie rauh. »Zwei«, erwiderte Felidae, wobei sie den Eindruck erweckte, als fände sie es unter ihrer Würde, Liliths Fragen zu beantworten. »Hat dein Symbiont den meinen veranlaßt, mich hierher zu füh ren?« Lilith war nicht aus eigenem Antrieb zur Paddington Street *siehe VAMPIRA 23: »Felidae«
gekommen, nachdem sie den geklonten Vampir vernichtet und Sa lem Enterprises in hoffentlich anhaltendes Chaos gestürzt hatte. »Ja.« »Warum? Wer bist du?« »Du hast nie von mir gehört?« »Nie.« Lilith bildete sich ein, eine gute Lügnerin zu sein, wenn es darauf ankam. Dennoch hatte sie das Gefühl, mehr und mehr durchschaut zu werden. Endlich erhob sich Felidae. Die kniende Haltung hatte ohnehin nie etwas Unterwürfiges gehabt. »Wo ist das Licht, das ich vorhin sah?« fragte Lilith. Sie ging nicht darauf ein. Ihre Hand berührte den Symbionten – tauchte mitten hinein in eine Verwandlung. »Vielleicht kann ich helfen – wenn du es zuläßt«, bot sie an, ohne auf die eigentliche Frage einzugehen. »Wenn er es zuläßt.« Lilith nickte, obwohl ihr Unbehagen wuchs und die Nähe Felidaes alles andere in der Umgebung auszublenden schien. Und noch etwas war kaum mehr zu leugnen: Felidaes Charisma, das dem Landrus ähnelte! Zwei Schicksale, die den Lilienkelch zum Schnittpunkt hatten … Wo war jener bittere Kelch jetzt? Hier oben auf dem bisherigen Dach des Rohbaus befand er sich nicht. Felidae war – falls er sich noch in ihrem Besitz befand – offen bar klug genug, ihn nicht wie einen Wanderpokal mit sich herumzu schleppen. Mit dieser Einstellung hätte sie sich der Nachstellungen ihrer Jäger kein Jahr entziehen können. »Ich denke, er wird es zulassen«, sagte die Vampirin.
Lilith wußte nicht, ob sie es wirklich gestatten durfte, daß dieses Wesen sich mit ihrem außer Kontrolle geratenen Kleid beschäftigte. Sie wußte nicht einmal, ob sie es verhindern konnte. Offenbar ließ sich das Mimikrykleid bereits durch die bloße Nähe des anderen Symbionten beeinflussen. Langsam kam es zur Ruhe. Plötzlich wucherte ein einzelner Medusenfaden aus dem Riemen kleid und bohrte sich in Nabelhöhe in Liliths zweite Haut. Lilith wartete förmlich darauf, daß sich der wurzelartige Strang nicht auf ihren Symbionten beschränken, sondern tiefer in ihren Körper drin gen würde … Nichts dergleichen geschah. Lilith wollte dennoch protestieren, aber Felidaes Geste brachte sie zum Schweigen. Dann, nach einer Weile, fragte die Kelchdiebin: »Warum hast du nicht verhindert, daß er verstümmelt wurde?«
* Sein Leben bestand aus so vielen Bildern, so vielen Triumphen. Und doch genügte eine einzige, unvergeßliche Schmach, alle Siege zu entwerten! Landru genoß die Lust in den Armen einer Sterblichen. Aber nicht einmal jetzt vermochte er das Gestern ganz zu verdrängen. Die Sta tionen seines Lebens, seit ein Gelübde ihn kastrierte … Ihm war Ärgeres widerfahren als jedem anderen. Nicht grundlos jagte er dem Kelch seit mehr als zweieinhalb Jahrhunderten hinter her. Auch nicht aus Idealismus. Nur aus Schuld. Es war ein schlimmer Moment gewesen, als das magische Replikat des Unheiligtums vor seinen Augen zerstoben war und Moskowitz
fliehen konnte. Seither fand er keine Zuflucht mehr vor den einstür zenden Erinnerungen. Mit der Frau, die sich unter ihm wand und sein schwarzes Blut in Wallung brachte wie er ihr rotes, konnte er nicht darüber sprechen. Er konnte mit niemandem sprechen. Er war immer allein gewesen. Nur episodenhaft kannte er Freund schaften. Aber nie in einer Weise, wie Menschen sie sich vorstellten. Celeste … Nona … Laila … Es waren immer Frauen gewesen, zu denen er sich zeitweilig hin gezogen fühlte. Auch Creanna zählte dazu. Sie gehörte zu den Bil dern, die er gern in sich gelöscht hätte. Doch ihre Brut erinnerte ihn unentwegt, an sie … »Was ist? Wo bist du mit deinen Gedanken?« Verblüfft stockte er in den mechanischen Bewegungen. Daß er einen Vorwurf in ihren Augen las, verwunderte ihn tatsächlich. »Bei dir«, log er. »Spürst du es nicht?« Sie lächelte. Klammerte sich noch enger an ihn. Und Landru sah sich genötigt, doch etwas mehr Aufmerksamkeit auf Beth zu ver wenden. Er ahnte, daß sie ihm als Verbündete bald unersetzlich sein könnte. »Erzähl mir noch einmal«, bat er, als sie ermattet neben ihm lag, »was du von Lilith über die Geschehnisse in Llandrinwyth erfahren hast. Hatte die Diebin, die du nur vage beschreiben kannst, wirklich keinen Namen …?«
*
Landrus Erinnerung Es war Nacht, als ich nordwärts ritt. Der Kelch war sicher ver schnürt, das Pferd aus gutem Stalle. Ohne Pause ging es bis Las Pa janosas, wo Celestes Haus am Ortsrand lag. Es sah aus wie eine klei ne Hazienda, und ich war neugierig, was sich alles getan haben mochte in meiner Abwesenheit. Zugleich dürstete mich nach ver trautem Blut. Celeste war keine Kreatur. Gleichwohl trug sie meinen Keim. Die Erinnerung an orgiastische Tage und Nächte strömte in mir hoch. Als endlich das Gehöft in Sichtweite meiner mondlichttrinken den Augen geriet, stieg ich vom Pferd und stellte es in einen Bann kreis, den zu überwinden nur ich selber vermochte. Dann nahm ich das Gesicht ab, die kühl-vertraute Maske, verstau te sie in einer leeren Satteltasche und knetete das darunter ertaubte eigene Gesicht. Anschließend legte ich in Tiergestalt die Reststrecke zu den stillen Gebäuden zurück. Die Nacht war lau. Sie als Geliebte zu missen wäre unerträglicher als Celestes Verlust, deren Reiz von keiner Frau je übertroffen wur de. Das verhüllte Böse ihrer Seele war mir Liebreiz ganz eigener Art. Mit einer »guten« Geliebten hätte ich mich nur gelangweilt. Celeste kannte meine Maske nicht. Sie kannte nur mich, wie ich war, als ich dereinst erwachte. Natürlich wußte sie auch nicht, was ich wirklich bin oder verrichte. Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich hätte es ihr nicht verraten können … Ich flog also hinauf zum offenen Fenster ihres Erkerzimmers. Zwei Jahre können eine Saat, wie ich sie beim Abschied in die dunklen Äcker ihres Blutes pflanzte, nicht tilgen. Das Zimmer war unverändert. Meine Augen verschlangen das
Dunkel und weideten in den Winkeln des Gemachs. Mit dem von ei nem Baldachin beschirmten Bett verband ich Erinnerungen, die au genblicklich Hitze in meinen wiedererstandenen Lenden entfachten. Längst waren die ledrigen Schwingen wieder in menschlicher Haut verschwunden, und ich saß fiebernd auf der Fensterbank. Düfte – wohlbekannt, wenn auch nicht ausnahmslos geschätzt – bedrängten meine Sinnlichkeit. Ich sah Celestes Haarpracht. Sie lag da wie hin gegossen, wandte mir das Hinterhaupt zu. Ihr schlanker, weicher und üppiger Körper bildete sich unter der seidigen Decke ab, die bis zum Hals hinauf gezogen war. Ich versuchte ihren Atem zu erspü ren. Aber dann war meine Geduld auch schon am Ende. Beim Eindringen stieß ich gegen etwas, das ich für Spinnengewebe hielt. Es zerriß nicht sofort, sondern versuchte, mich klebrig festzu halten. Dann riß es doch, und ich schritt weiter auf meine Liebste zu, die noch immer nichts von meiner Rückkehr ahnte. Ich bin der Liebe nicht mächtig – wohl aber des Begehrens und der Lust. Was die Menschen an Unterschieden schaffen, um ihren Trie ben höhere »Weihen« zu verleihen, habe ich immer verpönt. Es scheint mir eitler Tand und Selbstbetrug. Gaukeleien, mit denen sie sich selbst betrügen. Einem jeden steht der Sinn am Ende doch nach Lustgewinn. Was sollte dagegen »Liebe« sein … Ich kniete neben Celeste. Ich strich das Haar zurück, das ihre selbst im Schlaf ausdrucksvollen Züge bedeckte … … und da erkannte ich den Irrtum. Durchschaute ich die Arg- und Hinterlist. Den Betrug. Ich erkannte dies alles spät und ohne zunächst zu verstehen. Doch im nächsten Moment schon fielen hinter mir eiserne Gitter hinter beiden Fenstern herab – und auch dort, wo ich die Tür erspähte, traf
etwas lärmend auf den Boden des Korridors. Oh, dies begriff ich sofort: Ich saß in einem Käfig! Jemand hatte es sich Mühe und Schweiß und einiges an Vermögen kosten lassen, dieses Arrangement zu treffen … Ich schlug die Decke zurück, die gewiß nicht meine Celeste ver barg, sondern eine üble Kopie. Nur die Haarpracht und die Haut, in der jedes einzelne Haar wurzelte, gehörten einmal meiner Liebsten. Ich spürte es, als sich meine Finger kurz hineingruben in den Schopf. Aber alles andere war nur böser Streich … Es gab für mich keinen Zweifel mehr, daß Celeste tot war. Selbst dort, woher ich kam, blieb niemand am Leben, dem sein »Skalp« er stritten wurde! Aber was war geschehen? Noch durchschaute ich nicht den Zweck der Tücke. Dies geschah erst, als ich mich den Fenstergittern zuwandte und ihre Unantast barkeit erkannte. Sie waren nicht einfach nur auf dem Amboß ge schmiedet, sondern auch mit jenen religiösen Stempeln versehen, die unserer Rasse soviel Unbill bringen! Und das vermeintliche Spinngewebe waren Fäden, die an Decke und Holzboden des Gemachs befestigt waren und dort im Boden verschwanden, als liefen sie weiter bis in untere Räumlichkeiten … Ein signalgebender Mechanismus. Die Tür wurde hinter dem Gitter aufgerissen. Ich drehte mich um, von keinerlei Panik erfaßt. Auch nicht von Schmerz oder Trauer, was Celeste anging. Ich empfand nur, daß etwas außer Takt geraten war. Als gäbe es auch in mir eine Uhr, anfechtbar für äußere Einflüs se. Ich begegnete Haß. Soviel Haß, wie ich es an einem Menschen noch nie gewahr ge worden war!
Ein Leben kann währen, solange es will, es gibt immer wieder ein erstes Mal … »Buenos tardes, Bestie!« Ich ging ihm entgegen. Ihm, den ich nicht kannte, wiewohl ich die Ähnlichkeit in seinen Zügen deutete. Es waren Celestes Augen. Das selbe warnende Funkeln. Nur nicht ihre alles dominierende, lustvol le Ergebenheit … »Wer bist du?« fragte ich. Doch ich wußte (ahnte) es längst. »Reden wir von dir«, parierte er die Frage. »Wer bist du, Elender?« »Wo ist Celeste?« So gingen die Fragen eine Weile hin und her. Vielleicht gab es Ant worten. Ganz sicher sogar. Aber niemand war daran interessiert, die Lücken des anderen zu schließen. Nicht bevor der Scheiterhaufen brannte … »Du hast mich lange warten lassen. Fast ein Jahr …« »Wovon redest du?« Ich versuchte ihn in meine Gewalt zu bekom men. Aber ich stieß gegen unsichtbare Schranken. Er trug einen Hut, mit Intarsien bestickt. Und ein Gewand, das wie der Talar eines Hei ligen aussah – und ebenso gräßlich stank. Außerdem war er behängt mit Ketten und Kruzifixen. Er war der wandelnde Glaube. Ein ge fährlich Verrückter, dessen Motive nur erahnt werden konnten. »Bist du Celestes Bruder?« Alter und Ähnlichkeit zufolge hätte es sein können. Aber er ant wortete wiederum nur mit Gegenfragen: »Und du ihr Mörder? Der sie hörig machte? Der sie entehrte und –« Er verstummte. Er betrachtete mich im Licht einer Laterne, die er hochhob. Die Ei senstäbe warfen Linien über meinen Körper, der keinen Schatten warf.
Er sah es. Dieser Mann hatte ein Auge für Augenfälligkeiten. Hart sog er den Atem ein. Hin und her pendelte die Laterne. Egal aus welchem Winkel, es blieb gleich. »Erschrick nicht zu sehr«, sagte ich. Es war genug. Mochte er sich verschanzen hinter Dingen, die aus zumerzen den meinen immer noch nicht gelungen war. Aufhalten lassen wollte ich mich davon nicht. Ich war der Hüter des Kelchs. Ich war verbunden mit ihm auch über läppische Distanzen wie die se. Es gab keine Mauern, keine Gitter, die mich halten konnten … Ich unterschätzte den Hassenden. Noch bevor ich meine Magie entfalten konnte, schlugen explosionsartige Flammen aus Boden, Decke und Wänden! Ein Feuerwerk ganz eigener Art entbrannte, und in all dem Lärm, dem Fauchen und Knistern war kein Wort mehr zu verstehen. Ohnehin war die Zeit des Redens vorbei. Ich sollte verbrennen, ohne über das Warum etwas erfahren zu haben. Gleichwohl handel te ich. Ätzender Qualm drängte in meine Lungen, und ich begriff, daß mit diesem Gemach das ganze prachtvolle Gebäude untergehen würde – womöglich war sogar das Leben des Brandschatzers einkal kuliert. Er war bereit zu sterben. Wenn er mich mitnehmen konnte … Er wußte weniger als nichts über mich. Sonst wären die Gitter vor der Tür engmaschiger gewesen. Ich transformierte in Gedanken schnelle. Ich mißachtete die überirdische Glut, die in dem Eisen stak. Unsichtbar im Rauch zwängte ich mich durch den Spalt. Mein Fell versengte. Aber zu halten war ich nicht. Auf dem Korridor stand immer noch jener von Celestes Geblüt. Er stand und starrte mich an wie den leibhaftigen Teufel, als ich aus dem Körper der Ratte vor ihm erstand – unversehrt.
Er zog sofort den Degen, der fauchend in meine Gedärme drang. Verächtlich faßte ich sein Gelenk und bog ihm die Hand, bis sie den Griff des Stahls losließ. Jede Berührung war Qual. Ich gönnte ihm nicht die Erkenntnis, daß ich litt. Eigenhändig zog ich den Degen wieder aus meinem Fleisch. Der Stahl war benetzt mit dunkler, quecksilbrig perlender Flüssigkeit. Er starrte nur. Versteinert vom Grauen. Gelähmt von der Erkennt nis eigener Bedeutungslosigkeit. Niedergeschmettert vom Bewußt sein, welchen Gegner er sich gerade geschaffen hatte. Ich stieß ihm den Spieß durch den Hals. Er röchelte. Ich tobte. »Insekt …!« Pure Verachtung lag in diesem Wort. Die Kruzifixe schienen mir entgegenspringen zu wollen wie stie bende Funken eines von Sturm durchbrausten Feuers. Ich wider stand den dunklen Schatten, die mich durchzuckten. Dem hohlen Heulen einer Stimme, die ich nicht hören wollte – die kein Vampir hören wollte. Ich drehte den Spieß. Mein Gegner ging in die Knie. Er versuchte die Qualen hinter den Lippen zu belassen. Es war ihm nicht möglich. Der Vorhang war zerrissen. Alles, was er sich selbst vorgemacht hatte, um sich gegen den un bekannten Feind zu wappnen, erwies sich spätestens jetzt als unzu reichend. »Wer – bist – du …?« Es bedurfte in diesem Stadium keiner Suggestion und keiner Ma gie mehr, ihn zum Reden zu bewegen. Er wußte, daß er des Todes war.
»Bist du – Celestes Bruder?« suchte ich die Antwort zu beschleuni gen. »Ja …« Röcheln. Nichts als erbärmliches, auf die bewegte Luft reduziertes Röcheln. »Was ist mit Celeste geschehen?« »Sie … wurde krank … Schwach und schwächer von Tag zu Tag …« »Warum?« »Deinetwegen – Scheusal!« Noch einmal bäumte er sich auf. »Ich – kehrte heim von weiter – Reise. Fand sie. Stellte sie – zur Rede. Hör te mir auch nachts – ihre Fieberträume an. Und erfuhr – Unglaubli ches. Über dich, Bastard!« Ein Schwall guten Blutes brach ihm über die Lippen. Ich war ver sucht, danach zu schnappen. Er blickte zu mir empor. »Du hast immer noch nicht gesagt, was ihr geschah!« »Das – fragst du? Sie – brachte sich um! Tötete mein Liebstes auf der Welt! Zuvor verzehrte sie sich in Wochen und Wochen wegen einem, der gegangen war und nicht wiederkehrte … keinem Men schen, wie ich bald erfuhr. Nein. Was also bist du? Satan …?« Ich lachte. Den, den sie Satan nennen, gibt es nicht. Es gibt das Bö se. Es ist überall … »Ich war deiner Schwester Trost. Ihre Labsal in kühlen Nächten und heißen Tagen. Du sagst, sie sei dein Liebstes gewesen – aber ich sage dir: Sie war zu dir nie annä hernd so zärtlich wie zu mir! Wo warst du, wenn sie das dumme Pack, die grobschlächtigen Bediensteten und Dörfler nicht mehr er trug? Wenn ihre Haut sich verzehrte nach anderer Haut …?« »Du … Monster!«
»Was ist aus ihr geworden? Sie trug mein Siegel – meinen Keim im lüsternen Blut …« Er schien zu begreifen, was ich wissen wollte. Vielleicht öffnete ihm die Nähe des Todes eine tiefere Einsicht in die zweite Seite der Realität. »Sie – erwachte in ihrem … Sarg … Man schimpfte sie … Hexe – hetzte sie und – schlug ihr den Kopf ab … Ihr prächtiges Haar … ich nahm es, bevor es mit ihr – verbrannte …« Ich spürte die Hitze, die vom Stahl auf mich überzuspringen schi en. Dann versetzte ich dem Narr einen Tritt. Er kippte nach hinten. Der Degen brach ab und fügte ihm noch ärgere Verletzungen zu. »Warum hast du sie skalpiert?« Er gab keine Antwort mehr. Ich hielt ihn für tot. Flammen leckten um uns herum. Ich beugte mich hinab, um ihm das Herz herauszu reißen. Ihn herzlos zur Hölle zu schicken. Oder zum Himmel … In diesem Moment traf mich seine Faust. Der Schlag war nur des halb so fürchterlich, weil zwischen den Fingern etwas eingeklemmt steckte, das mir das Gefühl gab, selbst die Dornenkrone aufgesetzt zu bekommen. Ein Kruzifix! Ein Kreuz mit einer Figur, die das Gegenteil dessen verkörperte, was ich auf all meinen Reisen bislang vergeblich gesucht hatte! Ich taumelte. Ich spürte, wie es sich in meine Wange hinein schmolz. Fleisch schmorte. Fleisch verbrannte. Ich packte die Hand, die das Kruzifix umschloß. Das Ungemach, das an mir klebte wie feuchte Lippen an einer rauhreifüberzogenen Scheibe. Als ich es wutentbrannt von mir zerrte, löste sich auch die Haut. Was blieb, war ein Mal von rohem, rotem Fleisch, das ich nie selbst
sah, das ich aber fühlen konnte. Denn es war nicht glatt und eben, sondern leicht vertieft in mein Gewebe eingebrannt! Ohne mich weiter um Celestes Bruder zu kümmern, verließ ich das Gehöft. Ich begegnete niemandem – als hätte dieser geduldige Narr alle Bediensteten entlassen und sich seit Monaten auf die Lauer gelegt. Er verbrannte dort oben, wo auch die Erinnerungen an seine Schwester zu Asche zerfielen. Ihr Haar, mit dem er mich täuschte (seit jenem Moment hasse ich Haare …). Solange ich sie am Leben glaubte, hätte ich Celeste nicht zu vergessen vermocht. Aber mit dem Tod wollte ich nicht um sie buhlen. Ich kehrte zu meinem Pferd zurück. Es stand unbehelligt unter ei ner Korkeiche. Ich löschte den Bannkreis und hatte nichts eiliger zu tun, als in den dämmernden Morgen zu reiten. Ich wollte nicht nach Las Pajanosas hinein und suchte dennoch nach baldiger Stillung meines Durstes. Alles, was ich fand, war ein nächtlich bei seiner Herde wachender Ziegenhirte. Ein junger, kräftiger Bursche, der mich heranreiten hör te und den Lärmverursacher verfluchte. Ich habe auch eines Knaben Blut nie verschmäht, wenn er dem Al ter entwachsen ist, das die Kelchtaufe möglich macht. Manche Augen vergißt man nie. Seine gehören dazu. Ich lag über ihm und trank, bis dem toten Körper nichts mehr abzupressen war. Mit den Nägeln von Daumen und Zeigefinger zog ich die dünnen Häute seiner Lider über die anklagenden Augen. Dann ersparte ich ihm ein Dienerdasein, säuberte meinen Mund, zog die Maske des Hüters aus der Satteltasche und stülpte sie über mein entstelltes Ge sicht. Nadel und Faden sorgten für Halt. Die zurückkehrende Taub heit des Fleisches half endgültig, mein Stigma hinzunehmen. Als ich jedoch weiterreiten wollte, Richtung Granada und Gebirge,
geschah das, womit ich nie rechnete. Nie rechnen konnte. Niemand bereitete mich je darauf vor. Bis dahin glaubte ich, ewig die Geschicke des Kelchs verfechten zu dürfen. Nun erfuhr ich, daß tausend Jahre wie ein Tag sein können. Wenn sie sich dem Ende neigen. Das Gesicht auf meinem Gesicht sagte unvermittelt: »Geh, wohin du einst kamst! Geh sofort. Du wirst erwartet!« Ich war wie vom Donner gerührt. Ich zwang mein Pferd, stehenzubleiben, und riß mir die Maske herunter, ungeachtet, daß ich sie gerade erst wieder befestigt hatte. Wie ein Pergament spannte ich sie zwischen meine Fäuste und stell te sie zur Rede. Bis dahin hatte sie nie gesprochen. Bis dahin hatte ich so etwas nicht für möglich gehalten. »Warum?« keuchte ich. »Warum soll ich dorthin?« Ausdruckslos sagte der zungenlose Mund, sagten Lippen, die ich sonst über meine Lippen stülpte: »Deine Zeit ist um.« Ich lachte. Laut. Hilflos wie nie. Und schrie: »Um? Was soll das heißen?« Die Augen der Maske glühten auf. Sie hatte eigene Augen, in de nen jetzt ein fremdes Gesicht erschien. Nicht meines (wie hätte dies auch gehen sollen?), sondern das eines Vampirs, den ich nie zuvor sah. Es prägte sich mir so unauslöschlich ein wie die schrecklichen Worte: »Dies ist dein Nachfolger. Reite. Übergib ihm den Kelch. Deine Ar beit ist getan.« Nachfolger.
Lava rann durch meine Adern. Eis überzog mein unnützes Ge därm, das in mir dörrte, seit ich dem Menschsein abschwor (ja, ich gestehe, ich glaube ein Mensch gewesen zu sein wie jeder meiner Rasse – aber ich hasse auch den Gedanken). Mein träges, genügsa mes Herz pochte, als müßte es brackiges Sumpfwasser durch ein Nadelöhr bewegen. Nachfolger. Ich wollte widersprechen, doch ich nickte. Und fühlte mich dabei wie ein Klotz, der seine Beweglichkeit für alle Zeiten eingebüßt hat. Dann zerfetzte ich die Maske des Hüters. Ich zerfleischte sie in ei nem Affekt, der nacktem Wahn gleichkam. Ich wütete und tobte mich an einem unschuldigen Stück organischer Materie aus. Trank gar das geringe darin enthaltene Blut, das gallebitter schmeckte. Ich kam erst wieder zu mir, als meine Maske tödlich verletzt und verstümmelt vor mir im Staub des Weges lag. Ich kam zu mir und doch nicht. Ich versuchte mir Argumente zu rechtzulegen, um mich dem Befehl der Maske zu verweigern. Vielleicht hätte ich es besser getan. Aber ich gehorchte. Das Bild meines Nachfolgers vor Augen, machte ich mich auf die beschwerliche Reise zu dem Ort, von dem ich einst aufbrach. Vor tausend Jahren.
* Gegenwart
»Verstümmelt …?« Lilith blickte auf die Frau, die so viel Stärke ausströmte, daß sie selbst sich klein und unbedeutend fühlte. »Amputiert«, bekräftigte Felidae. Die Zeit nach dem Kampf mit dem tätowierten Feyn spülte wieder aus Liliths Gedächtnis empor. Ohnmächtig war sie in die Hände skrupelloser Ärzte gefallen. Man hatte den Symbionten von ihrer Haut geschält und isoliert aufbewahrt – in einer Militärbasis außer halb der Stadt. Lilith hatte ihn zwar zurückerkämpfen können, doch seither wies er Fehler auf. Sie hatte schon geraume Zeit geahnt, daß unbekannte Experimente mit ihm durchgeführt worden sein könn ten. Aber verstümmelt … »Was wurde amputiert?« fragte sie. »Und was macht dich so si cher?« Felidae lächelte ihr Katzenlächeln. »Hätte alles seine Ordnung, hättest du es längst selbst erkannt. Aber du bist nicht einmal in der Lage, den Hilferuf deines symbiontischen Partners zu empfangen … Es ist eine Schande!« »Geschwätz!« Es reichte. Lilith hatte die Nase voll. »Aufhören!« Sie deutete auf den feinen, wurzelartigen Strang. Ohne die Arroganz zu mildern, befahl die schwefeläugige Vampi rin ihrem Symbionten, sich zurückzuziehen. Fast augenblicklich setzte wieder der blinde Verwandlungsdrang des Mimikrykleides ein. Lilith stöhnte auf. Sie litt unter dem Gedanken, Felidae wüßte viel leicht, wie der Symbiont zur Räson gebracht werden konnte – und sie müßte darum betteln, es zu erfahren. »Du hast ihn einst meiner Mutter gegeben«, sagte sie gepreßt.
»Woher kommt er? Wenn es wirklich nur zwei von ihnen gäbe …« »Drei«, korrigierte Felidae. »Jetzt drei …« Sie sah nun aus wie damals, als sie Owain Glyndwr heimsuchte und ihn mit Kelchmagie zum Dämon knechtete. »Ich verstehe nicht …« Felidae seufzte. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich das tue …« Sie streckte die Arme aus. Ihr Symbiont schob sich bis über die Fin gerspitzen, während Felidae mit beiden Händen Liliths Taille um faßte, als wollte sie ein Gefäß anheben (den Kelch …). Sie ließ sich nicht verunsichern von unmöglichen Formen oder Farben. Sie be rührte die Substanz, in der Leben und Bewußtsein und Erinnerung an eine unbekannte Zahl von Vorbesitzern gebunden waren. Sie be rührte sie und setzte etwas in Gang. Heilende Hände …? »Nein …« Es rann halbherzig über Liliths Lippen. Sie hatte kein Vertrauen. Sie sah in Felidae immer nur die grausame Göttin, die Rerraf Reh Resnu geschaffen und ein ganzes Dorf in Illusion verwan delt hatte.* Llandrinwyth … Cymru … Radnor … Wie lange war das her? Eine Ewigkeit. Felidae ließ sich nicht aufhalten. »Man hat ihm übel mitgespielt«, murmelte sie, als hätte sie das »Nein« überhört. »Vielleicht sollte man ihn …« Liliths Bewußtsein trübte sich. Sie taumelte unter explodierender Furcht. Der Todesfurcht des Symbionten …
*siehe VAMPIRA 10 und 11
* Zur gleichen Zeit Gene Bradley wachte schweißgebadet auf. Das Licht neben seinem Bett brannte. Er konnte nur noch einschlafen, wenn eine Lampe brannte. Falls einer seiner Untergebenen oder eine vorgesetzte Stelle je er fuhr, mit welchen Ängsten der Major seit geraumer Zeit zu kämpfen hatte, würde dies fatale Folgen nach sich ziehen. Vielleicht das Ende seiner Karriere bedeuten … Er richtete sich auf. Er war fast dienstfertig angezogen – auch so eine Marotte, gegen die er sich innerlich auflehnte, aber sie nicht abzustellen vermochte, seit … Weg! Manchmal hatte er das Gefühl, eine Erklärung für sein eigenartiges Benehmen zu besitzen. Aber sie blieb nebulös. Ungreifbar. Bradley haßte Unfähigkeit, ganz egal, welchen Lebensbereich es anging. Daß er selbst sich immer mehr Blößen gestattete, machte ihn völlig fertig. Er stand auf und ging ins Bad. Es war kein richtiges Bad – so wenig wie dieser Raum, wo sein Bett stand, ein richtiges Zuhause war. Gene Bradley leitete eine militärische Forschungsklinik ein Stück weit außerhalb Sydneys. Der Komplex war mit dem Hochsicher heitsfaktor eins belegt – nicht zuletzt, weil die Regierung hier den ein oder anderen mikrobakteriellen Versuch laufen hatte. Und spä testens seit der Katastrophe vor wenigen Tagen konnte niemand
auch nur mehr annähernd die Meinung vertreten, die Maßnahmen seien übertrieben. Es hatte Tote gegeben. Ein bis heute unvollständig aufgeklärtes Unglück hatte mehrere Angehörige der Wachmannschaft und einigen Gastwissenschaftlern das Leben gekostet … Bradley stöhnte auf. Vielleicht waren es die Gesichter der Toten, die ihn nicht mehr zur Ruhe kommen ließen – es wäre eine Erklärung gewesen. Aber keine Entschuldigung. Er hatte, bevor er sich für diesen Job entschied, gewußt, worum es ging. Jeder Soldat mußte auf irgendeine Weise sein Gewissen betäu ben oder mit lahmen Rechtfertigungen füttern, um täglich neu die Uniform zuzuknöpfen. Es gab Dinge, die getan werden mußten. Nie mand tötete oder befahl das Töten gern. Manchmal ergaben sich je doch Notwendigkeiten, die sich von keiner Moral hinterfragen lie ßen. Nein, dachte Bradley, wir leben in keiner idealen Welt. Wir könnten alle nur noch Körner fressen – aber wir überlassen das blutige Handwerk einigen wenigen. Dem Metzger um die Ecke, der uns das Fleisch pfannen gerecht liefert, ausgeblutet und entbeint. Und auf geheimnisvolle Weise seiner lebendigen Herkunft beraubt. Niemand sieht mehr das niedliche Kälbchen auf der Weide vor sich, wenn er kräftig zulangt … Er hielt den Kopf unter den Wasserhahn. Es rann ihm zu beiden Seiten den Nacken hinunter und näßte auch seinen Kragen. Egal. Er schlief angezogen, weil er von dem Trauma nicht loskam, jeden Moment könnte wieder der Alarm durch die Labor- und Schlaftrak te heulen!
Ohne sich abzutrocknen, ging er zurück in den für hiesige Verhält nisse fast luxuriös ausgestatteten Wohn-Schlaf-Raum und goß sich ein kleines Glas bis zum Rand mit Kentucky Bourbon voll. Obwohl niemand Soldaten gern trinken sah, machte es die Armee erstaunli cherweise leicht, an verbilligte Importware heranzukommen. Natür lich für die knapp bemessenen privaten Stunden. Bradley lächelte dumpf. Er wußte, daß das, was er sich gerade die Kehle hinunterkippte, schnell zu einem Problem werden konnte – und daß er wahrscheinlich schon seine Probleme damit hatte. Aber es dämpfte nun mal die seltsamen Flüsterungen in seinem Schädel. Dieses grausame Gefühl, jemand habe ein erstickendes Tuch über Geschehnisse gebreitet, die zu kennen er ein Anrecht hat te. Die er gekannt und wieder vergessen hatte. Bradley stürzte den Rest des Glasinhalts hinunter und goß noch einmal nach. Dann jedoch zögerte er, es an die Lippen zu setzen. Er fing übergangslos an zu zittern. Nicht ein wenig – und nicht, wie er sich ein Zittern vorstellte. Er verfiel urplötzlich in beinahe spasmische Zuckungen, die den Whisky im Glas überschwappen ließen und seinen Handrücken damit tränkten. Ungeschickt stellte er das Glas ab und stützte sich auf der Konsole ab, die eine kleine Auswahl hochprozentiger Getränke trug. Er ließ wieder los, um nicht alles umzuschmeißen. Mit weit aufgerissenen Augen taumelte er zum Bett. Er setzte sich auf die Kante und stützte die Handflächen auf den Knien ab. Die In nenseiten der Hände waren naß. Auch auf seinem Gesicht perlte Schweiß. Er zog die rechte Schulter hoch, drehte den Kopf und wischte über den Uniformstoff. Aber der Schweiß wurde sofort durch neuen ersetzt. Bradleys Herz klopfte bis zum Hals.
Mit fahrigen Bewegungen tastete er nach dem Puls, der unter der Schlagader pochte. Er berührte pelziges Narbengewebe, dachte sich aber nichts dabei. Tief zog er den Atem ein und stieß ihn gleich wie der aus. Sein Brustkorb wölbte und senkte sich wie ein Blasebalg. Nach einer Weile ging es ihm etwas besser. Bradley bemerkte, daß sein Blick auf einen Spind geheftet war, in dem er nichts zum tägli chen Bedarf aufbewahrte. Erstaunlicherweise fühlte er das Bedürfnis, ihn zu öffnen. Er wartete, bis sich seine Nerven beruhigt hatten. Dann ging er darauf zu und öffnete die Blechtür. Ein hohes Maß an Unordnung starrte ihm entgegen. Doch in dem ganzen Tohuwabohu interessier te ihn nur ein einziges Objekt. Ein faustgroßer Stahlbehälter, den er kurz nach den tödlichen Unfällen hier hinterlegt hatte – er erinnerte sich plötzlich wieder. Doch selbst jetzt war ihm unklar, warum er das getan hatte und was dieser Behälter beinhaltete … Er nahm ihn mit einer Hand heraus. Er war schwer. Diese Art von Sicherheitszylindern hatte auch leer schon sein Ge wicht. Sie waren ausgelegt, selbst radioaktive Stoffe von der Außen welt abzuschirmen. Einen solchen Zweck konnte Bradley jedoch von vornherein aus schließen. Es gab zwar eine Testkammer, in der auch Strahlung frei gesetzt werden konnte, aber spaltbare Produkte waren nirgends auf dem Gelände zugänglich. Auch für ihn nicht. Zumal er lebensmüde hätte sein müssen, wenn er sich einen eige nen Vorrat davon in seiner Unterkunft gehortet hätte! Nein, lebensmüde war er nicht. Nur …
Wieder entglitt das Motiv seines absonderlichen Verhaltens im letzten Moment dem Zugriff. Kopfschüttelnd ging er mit der Stahlkapsel zu einem kleinen Kar tentisch. Bradley setzte sich auf einen Stuhl und stellte den Behälter vor sich ab. Obwohl er es sich einzureden versuchte, war das, was ihm im Sinn stand, nicht ungefährlich. Im Gegenteil: Es war unverantwortlich. Beklommen gestand er sich die Möglichkeit ein, daß die zurücklie gende Katastrophe seinen Verstand getrübt hatte. Daß sein Geist in ein Fahrwasser geraten war, das ihn immer tiefer und immer schnel ler in einen Strudel oder Mahlstrom entführte. Am Ende würde er daran zerbrechen, wenn er nicht … Er nahm den Zylinder in beide Hände. Er erschrak, aber er verhinderte es nicht. Mit einer kraftvollen Drehbewegung (mehr war nicht nötig) schraubte er die beiden gleich großen Hälften auseinander. Nein! Tu das nicht! Er mißachtete die Warnungen. Sie waren zu schwach. Etwas ande res war stärker. Dann hielt er die beiden Hülsen offen vor sich. Im ersten Moment war er beinahe enttäuscht. Er hielt sie für leer. Als er sie umstülpte, fiel nichts heraus. Aber dann begriff er, daß die eine Hälfte im Innern dunkler war als die andere. Und daß sie auch nicht metallisch schimmerte, sondern – Er ließ die Hülsen fallen. Mit einem Schrei sprang er auf und wich vom Tisch zurück. Der Stuhl stürzte um und drohte sich zwischen seinen Beinen zu verhed dern. Wie durch ein Wunder kam Bradley nicht zu Fall.
Aus einigen Schritten Entfernung sah er, wie etwas, das die Innen wandung der einen Hülse wie eine Lackierung überzogen hatte, jetzt wie Quecksilber auf die Tischplatte tropfte und sich dort zu ei ner kleinen, unheimlichen Pfütze sammelte. Im nächsten Augenblick bildeten sich aus dieser zähen Masse, die nicht mehr als die Fläche eines Handtellers bedeckte, mehrere Aus beulungen, die teleskopartig versuchten, der Schwerkraft zu trotzen und irgend etwas darzustellen. Major Bradley schnürte es die Kehle zu – zumal er ansatzweise Mitleid für dieses … Gebilde empfand. Gleichzeitig stiegen merkwürdige Szenen aus seinem Unterbe wußtsein empor. Verschwommen glaubte er sich an ein weit größe res Exemplar dieses »Dings« zu erinnern, das … die Schuld an der Katastrophe trug, die mehrere Menschenleben gefordert hatte … Unsinn? Das Zittern kehrte in Bradleys Muskulatur zurück. Schüttelfrost. Er versuchte zu begreifen, was um ihn herum geschah. Das Un heimliche auf dem Tisch wirkte zunächst mehr mitleiderregend als gefährlich. Aber dann blickte Bradley fast zufällig auf seine Hand, die offen bar die eine Zylinderhälfte doch nicht rechtzeitig genug losgelassen hatte. Er suchte die Kuppe seines Mittelfingers. Der skelettierte Knochen ragte wie ein abgenagter Stumpf heraus. Haut, Fleisch und Blut wa ren verschwunden. Blut schoß aus der Wunde und tropfte in schnel ler Folge zu Boden … Aber wo war der Schmerz? Bradleys Hand zuckte zum Mund. Er mußte ihn zuhalten, um
nicht richtig zu schreien. Loszubrüllen. Es war die blutende Hand. Blut lief über sein Gesicht. Die Lache wogte und zuckte immer noch auf dem Tisch. Bradley taumelte zur Tür. Überall hinterließ er Blut. Bei jedem Schritt. Er hetzte über den Gang und in die besetzte Wachstube. Bestürzte Gesichter sahen ihm entgegen. »Eine freie Leitung!« krächzte er. »Eine Verbindung zum General – schnell!« Er erinnerte sich plötzlich wieder. Der Schock hatte die Barriere in seinem Hirn niedergerissen. Daß sich ein Sanitäter um ihn kümmerte, erfaßte er kaum. Dann stand die befohlene Verbindung, und die Worte sprudelten hem mungslos über seine Lippen. Er redete wie ein Wahnsinniger. Er fühlte sich wie ein Wahnsinniger. Aber konnte nicht mehr aufhören. Er redete und redete, während die Gesichter um ihn herum steinern wurden. Angst flackerte allenthalben auf. Zuerst Angst um den Major, der recht beliebt war. Dann um sich selbst …
* Der geistige Aufschrei verstummte. Die Angst des Symbionten er losch. Felidaes Hände lösten sich von Liliths Taille. »Er dachte wirklich, ich wollte ihm ans Leben. Dieses dumme Ding …« »Was hast du getan?« fragte Lilith rauh. Sie blickte an sich herab.
Sie trug ein wunderschönes karminrotes Kleid. Tiefdekolletiert. Es veränderte sich nicht, sondern blieb erhalten. »Ich habe ihm gut zugeredet«, spöttelte die Vampirin. Dann, erns ter: »Leider kann auch ich ihm nicht zurückgeben, was man ihm dreist stahl …« Sie berichtete, was sie von ihrem Symbionten erfahren hatte, und Lilith wurde vieles an dem sonderbaren Verhalten des Symbionten in den letzten Tagen klarer. Zum erstenmal hörte sie, was dem le benden Kleid während der zeitweiligen Trennung widerfahren war: Man hatte ihm ein unersetzliches Teil geraubt! »… ehe der Symbiont zurückschlug und sich für das, was ihm an getan worden war, rächte. Keiner seiner Peiniger überlebte!« schloß Felidae ihren knappen Rapport. Lilith sann schaudernd über die Worte nach. »Und was bedeutet dieser Verlust?« »Eine Schwächung.« »Inwieweit?« »Wie ich schon sagte: Er vermag sich nicht mehr gegen Feuer zu behaupten – und dich nicht mehr davor zu schützen. Auch eure Verständigung wird nur noch in sehr beschränktem Umfang mög lich sein.« Das, dachte Lilith, war nie anders. »Und was ist mit diesem – unkontrollierten Verwandeln …?« »Ein Ausdruck seiner Qual, die er dir offenbar nicht mitteilen konnte. Du weißt wenig – fast nichts – über deinen Begleiter.« Kopf schüttelnd strich die Vampirin über das eigene Riemengeflecht. Es war eine Geste, die so viel Behutsamkeit und Zartheit beinhaltete, daß Lilith kaum ihren Augen traute. »Du wüßtest es, wenn alles plangemäß verlaufen wäre. Wenn du hundert Jahre hier verbracht hättest …«
Zweifellos war ihr bekannt, daß an dieser Stelle einst Liliths Ge burtshaus gestanden hatte. Lilith begriff, daß sie ihre Meinung, die Kelchdiebin habe sich damals nach dem Treffen in Amsterdam nicht mehr um die Belange Creannas gekümmert, revidieren mußte. Of fenbar hatte Felidae Creannas Weg weiterverfolgt. Über Beinn Dearg hinaus … »Seine Qual konnte ich lindern«, fuhr Felidae fort. »Er wird dir dienen wie bisher – jedoch mit den erwähnten Einschränkungen.« »Woher stammen diese Symbionten? Hast du sie geschaffen – mit Kelchmagie?« Felidae lachte. Es klang bedauernd. »Nein. Dazu wäre ich auch mit dem Lilienkelch nicht imstande. Ich erhielt dieses Geflecht einst, als es keine andere Möglichkeit mehr gab, mein Leben zu bewahren …« Sie verstummte, als hätte sie verraten, was für niemandes Ohr be stimmt war. »Bescheide dich einfach damit, daß es sie gibt … und jetzt zu uns!« Lilith versteifte. Sie begriff, daß alles bis zu diesem Moment nur Vorgeplänkel gewe sen war. Felidae hatte sie nicht kommen lassen, um ihren Symbion ten zur Räson zu bringen. Sie wollte mehr. »Du mußt mir vertrauen!« Keineswegs wie eine Bittstellerin redete die Vampirin mit den Raubtieraugen. »Und endlich aufhören, mich zu belügen! Du bist nicht ehrlich. Du spiegelst Unwissenheit vor, aber in deinen Augen lese ich ein Ungleichgewicht zwischen Wis sen, über das du noch nicht verfügen dürftest – und solchem, das du längst haben müßtest …!« Sie kam auf Lilith zu. Als sie die Hand hob, gab es kein Entrinnen. Lilith spürte die Berührung auf der Stirn – und eine Welle lähmen der Müdigkeit. Ihre Gedanken kamen zum Stillstand …
* Felidae Ich lese in einem Tagebuch, das nie geschrieben wurde. Seite um Seite gehe ich durch. Jahr um Jahr. Von 1896 bis heute. Die Quintessenz dessen, was ich erfahre, ist: Lilith ist unvollkom men! Ihr mangelt es an der wichtigsten Voraussetzung, ihre Bestim mung zu erfüllen! Ich sehe auch, wie es dazu kam. Schon mit Sean Lancasters Tod fing es an. Er, der über ihren Schlaf wachen sollte, starb zu früh – und ausgerechnet durch die Hand meines ärgsten Widersachers! Später verschüttete der Schock des frühen Erwachens selbst erlern tes Wissensgut in Lilith … Sie tötet Vampire. Sie trinkt Blut, aber sie tut es ohne die nötige Konsequenz. OHNE ZU TÖTEN …! Sie verbreitet ihren Keim, aber er ist nutzlos, solange die Opfer am Leben bleiben! Aufgewühlt lese ich das »Buch« zu Ende. Immer wieder stoße ich dabei auf den Namen des Widersachers, der Liliths Wege mehrfach kreuzte. Auch indirekt. Vergeblich suche ich die Erklärung, wer mich aus der Stasis weck te. Habe ich etwas übersehen? Noch einmal gehe ich ein Stück weit zurück. Und finde diese Sze ne: …Meine Vampirzähne schoben sich zügellos über die Unterlippe. Und
ebenso unaufhaltsam berührten sie die pochende, bläulich hervortretende Ader, in die sie sich einen Atemzug später senkten, ohne einen Tropfen der darin fließenden Kostbarkeit zu vergeuden. Wie im Rausch trank ich das Lebenselixier des Mannes. Ein nie versagender Mechanismus in meinem Bewußtsein beendete den kontrollierten Blutrausch rechtzeitig … Rechtzeitig? … Mehrere Fenster barsten gleichzeitig unter der Wucht der Flederm ausgestalten, die sich noch in der Metamorphose auf mich, Paul und Beth stürzten. Paul schrie wie ein Wahnsinniger. All das mühsam in ihm aufge baute Beruhigungswerk brach unter dem unwirklichen Angriff zusammen. Bestien in Menschengestalt bohrten erst ihre Klauen – und dann ihre Zäh ne in sein Fleisch! Ich wollte ihm zu Hilfe eilen, aber die Übermacht zwang mich, erst die eigene Haut zu retten. Für Paul kam danach jede Hilfe zu spät. Einer der Vampire hatte ihm die Kehle durchtrennt. Er war verblutet, starrte mit gebrochenen Augen ins Leere … Ich verstehe. Möglicherweise habe ich ähnliche Geschehnisse über sehen. Möglicherweise ist es das einzige, von dem Lilith weiß. Ich muß mich vergewissern. Als ich in die Knie gehe, vollführt Lilith die Bewegung synchron mit. Meine Rechte liegt weiter auf ihrer Stirn, während ein Fingerna gel meiner Linken ein Symbol auf den rauhen Beton zeichnet. Magie kommt ins Spiel. Hütermagie. Mühelos male ich die Schlange mit den zwei Köpfen. Den Kreis, der zum Fenster wird. Dessen innere Fläche sich unter dem fordern den Druck meiner Gedanken verwandelt und öffnet und Bilder ge biert … Uruk. Die Höhle, in der ich meinen Abdruck hinterließ. Das Gegenstück der Schlange. Ein Mann kniet dort. Es ist derselbe, den ich in Liliths Erinnerung durch die Hand von
Vampiren sterben sah – nachdem Lilith sein Blut trank und den Keim an ihn abgab! Ich rufe die anderen ab, die sich inzwischen am Ort ihrer Bestim mung eingefunden haben. Obwohl ich es ahnen müßte, durchfährt es mich wie kalter Stahl, daß es nur zwei weitere sind! Davon einer, dessen außergewöhnliches Schicksal mich erneut mit meinem Widersacher konfrontiert … Lilith hatte Monate Zeit, Diener um sich zu scharen … Keine Krea turen im eigentlichen Sinn, sondern Tote, die sich anschicken, die Bedingungen für die ZEREMONIE zu schaffen … Das Resultat ist ein Trio: drei armselige Gestalten, die in neun Mo naten endlich ihre Arbeit auf genommen haben …! Ich bin so erregt, daß ich nicht merke, wie meine Hand von ihrer Stirn gleitet – und der Bann erlischt. Erst ihr Stöhnen macht es mir bewußt …
* Über Liliths Lippen rann ein gepreßter Ton. Sie fand sich am Boden neben Felidae kniend – und sah geradewegs in Duncan Luthers Ge sicht! Krasser hätte die Rückkehr ihres Bewußtseins nicht eingeleitet werden können. »Was – soll das? Warum zeigst du mir ausgerechnet ihn!« Felidae vermittelte einen Moment lang den Eindruck, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Duncans Gesicht verschwand aus dem Innern eines Symbols, das
vorher nicht dagewesen war: eine Schlange mit einem Kopf an je dem Ende. Es erinnerte vage an die Tätowierung in Feyns Hand – die Schlange am Kreuz … »Ich mußte mich informieren«, sagte Felidae. »Über dich. Über je den deiner Schritte, seit du deinen Träumen entrissen wurdest. Jetzt kenne ich deine Geschichte von ihrem Anfang bis heute – und kann dir helfen.« »Helfen?« »Hör auf, mir etwas vorzumachen! Du suchst deine Bestimmung – und ich will dir dazu verhelfen. Wir streiten für dieselbe Sache!« »Welche Sache?« »Deine Frage betrübt mich. Du bist nicht mehr als ein Schatten dessen, was du sein könntest.« Lilith konnte sich das Lachen nicht länger verkneifen. Gallebitter drängte es aus ihrer Kehle. »So wie du redeten schon viele. Ich wur de immer nur vertröstet …« »Das ist vorbei!« behauptete Felidae. »Ich mache keine leeren Ver sprechungen. Du hast ein Anrecht, alles über deine Bestimmung zu erfahren – aber du mußt dir dessen selber bewußt werden. Ich kann nur den Anstoß geben. Alles Weitere muß aus dir selbst kommen!« Lilith unterdrückte den heillosen, in ihr aufkochenden Zorn. Sie haßte solche Reden. Felidae klang nicht anders als Jeff Warner. Es kam ihr wie ein billiges Ablenkungsmanöver vor, als Felidae fragte: »Du weißt nicht, wohin dein Freund verschwunden ist?« »Wer? Duncan?« »Ja.« »Nein.« Schroff fügte sie hinzu: »Warum interessiert dich gerade das?« »Ich las in deinen Gedanken, daß du Landru dafür verantwortlich
machst, daß dein Freund von den Toten zu dir zurückkehrte … Ist es nicht so?« Auch daß Felidae einfach in ihren Gedanken gestöbert hatte, ent fachte Liliths Wut. Sie zügelte sich nur, weil diese Frau wirklich der Schlüssel zu allem sein konnte. Sie hatte den Kelch. Wenn sie die Wahrheit sagte. »Dann interessiert dich also Landru?« »Warum sollte ich es leugnen?« »Habt ihr je eure Kräfte gemessen?« »Was soll diese Frage?« »Wo hast du dich verkrochen, damit er dich nicht finden konnte?« Lilith provozierte ungerührt weiter. Es schien ihr der einzige Weg, Felidae aus der Reserve zu locken. Sie wollte nicht wieder mit leeren Versprechungen abgespeist werden. »Landru scheint dein einziger ernsthafter Jäger gewesen zu sein …« »Das war er. Und das ist ganz natürlich, wenn man seine Herkunft kennt.« »Seine Herkunft?« »Er und ich waren einst gleichgestellt. Nur daß er das Pech hatte, zu einem von der Zeit überholten Fossil zu werden, während ich …« Felidae verstummte. Blitzschnell wischte ihre Hand über den Beton und radierte das Schlangensymbol aus. Fast in derselben Bewegung schnellte sie in den Stand. »Du kannst alles erfahren – aber nicht hier. Es dämmert bald. Dies ist kein guter Platz, Ereignisse von großer Tragweite zu bereden. Ich mache dir ein einmaliges Angebot – ein wirklich einmaliges: Ich ver helfe dir dazu, dir deiner selbst bewußt zu werden. Der Größe deiner Aufgabe. Dem Grund, warum du geboren wurdest …«
»Wann?« fragte Lilith. »Wann würdest du das tun – und wo?«
* Felidae Sie geht, und ich lasse es zu. Wir haben eine Verabredung getroffen, die der Vorbereitung be darf. Ich habe Hoffnungen geweckt, Zweifel geschürt. Es war der einzige Weg. Sie muß begreifen, worauf es ankommt. Sie muß lästige Skrupel ablegen. Der Plan darf nicht an Menschenleben scheitern. Der Plan ist erhaben über das Schicksal einzelner. Ich werde dafür sorgen, daß sie ihre Opfer in Zukunft gezielter auswählt. Sinnvoller schlägt, aussaugt und tötet. Bisher ahnt sie nicht einmal, daß sie einen Keim verbreitet. Ich werde sie diese und andere Erkenntnis aus dem Kelch trinken lassen.
* Als Lilith in die Wohnung zurückkehrte, war diese verlassen. Beth hatte keine Nachricht geschrieben, aber das war kein Grund zur Be sorgnis. Ihr Job brachte es mit sich, daß die Zeiger einer Uhr bedeu tungslos wurden. Eine Reporterin lebt auf Abruf – jederzeit. Die Wohnung war immer noch abweisend leer. Sie lud nicht zum
Verweilen ein. Wenn Lilith an die ursprüngliche Einrichtung dachte (nicht jenes schrill-giftende Dekor, das hier mit Beth’ Krankheit Ein zug gehalten hatte und zum Glück wieder verschwunden war), überkam sie Wehmut. Wann würden die letzten sichtbaren Spuren einer schweren Zeit getilgt sein? Werde ich es noch erleben? Es war ein merkwürdiger Gedanke. Lilith führte ihn auf ihre Be gegnung mit Felidae zurück. Was sollte sie von deren Angebot halten? Hätte sie es überhaupt ablehnen können? Lilith wechselte ins Schlafzimmer hinüber. Dort stand kein Bett mehr. Es gab nur eine große Matratze, gleichsam als »Denkmal« ei nes Bettes. Lilith setzte sich darauf. Sie ließ das Licht aus. In unwirklichem Dunkel hoffte sie auf Beth’ baldige Heimkehr.
* Landrus Erinnerung Großer Ararat, 1727 Als ich das Land der Sunniten, jenes von Vulkanen gekrönte und von Erdbeben erschütterte Hochland Ost-Anatoliens, erreichte, wa ren Wochen seit der Zerstörung der Maske vergangen. Die Kreuz wunde in meinem Gesicht schmerzte nicht mehr. Aber ein Anden
ken würde mich ewig an den Kampf mit Celestes Bruder erinnern. Ich fand den Weg hinauf zum Gipfel des größten Berges, als hätte ich ihn erst gestern genommen. Kannten andere ihn auch? Kein Pferd oder ein anderes Lasttier konnte ihn ersteigen. Er war nur auf den Schwingen meiner Art, vielleicht noch mit den Flügeln stolzer Adler, zu überwinden. In dünner Hochgebirgsluft, fast 5000 Meter über dem Meeresspiegel, glitt ich in den engen Schacht, der den Ort meiner Entstehung zugänglich machte. Dieser Stollen führte hinab ins hohle Herz des Bergmassivs. Dort hin, wo Geschöpfe und Geheimnisse erdacht und bewahrt wurden, von denen ich selbst höchstens einen Zipfel kannte. Ich hatte nie die Zeit, mehr zu ergründen. Mir genügte, daß es die Heimstatt der Hü ter war. Der Platz, wo ich Kelch und Aufgabe erhielt – und wohin ich mich seither nie wieder begeben hatte. Hier füllte ich einst den unscheinbaren Beutel, den ich auf endloser Reise mit mir trug. All überall. Heimaterde … Ich weiß nicht, welchen Empfang ich erwartete. Die Worte der Maske hatten sich mir unauslöschlich ins Bewußtsein gegraben. »Deine Zeit ist um … Geh, wohin du einst kamst! Geh sofort. Du wirst er wartet!« Und dann hatte sie mir meinen »Nachfolger« präsentiert … Ich hätte ihn aus Abermillionen heraus wiedererkannt. Auf dem ganzen Weg hierher hatte ich Pläne geschmiedet, wie ich meiner »Abberu fung« entgehen könnte. Ich hatte sie alle wieder verworfen. Tausend Jahre lang hatte ich getreulich im Dienste des Kelchs gewirkt. Daß man mich nun in den Staub treten wollte, war für mich unfaßbar. Es fiel schwer, Gedanken und Gefühle zu bezähmen. Ich bereute es, die Maske zerfleischt zu haben. Vielleicht hätte ich klüger die
Nerven verloren, wenn ich dem Unbekannten gegenüberstand, der mir mein Amt streitig machte … Zugleich versuchte ich mich zu erinnern, wie es vor tausend Jah ren gewesen war. Hatte damals auch ich jemanden verdrängt …? Ich konnte mich nicht erinnern. Was das anging, ließ sich der Ne bel der Zeit nicht lichten. Vielleicht, um den Hüter des Kelchs nicht auf den Gedanken zu bringen, frühzeitig Gegenmaßnahmen zu er denken. Das unterirdische Reich, es empfing mich so kühl und teilnahms los, daß ich mich fragte, ob es überhaupt vorgesehen war, daß ich diesen Ort wieder verlassen würde. Zu diesem Zeitpunkt hielt ich alles für möglich. So betrat ich den Dunklen Dom, der dem Kegel eines Vulkans nachgebildet ist und in dessen Mitte der eherne Altar stand. Der Kelch lag schwer in meiner Hand, bis ich ihn dort abstellte. Paßgenau auf jene Stelle, wo ich ihn damals wegnahm … Viele Gänge führten in den Dom. Sie alle waren versiegelt bis auf den einen, den ich einst selbst beschritten hatte. Niemand war zu sehen – und doch glaubte ich mich beobachtet. Schon die letzten Tage meiner Reise war es vorgekommen, daß ich mich belauert und verfolgt fühlte. Doch weder mit meiner eigenen noch mit der Magie des Kelchs vermochte ich ein Indiz dafür zu fin den. Hier war es ebenso. Vielleicht täuschte ich mich. Nichts geschah, nachdem ich den Kelch auf seinen angestammten Platz gestellt hatte. Niemand zeigte sich mir. Ich war und blieb al lein. Hatte die Maske gelogen? Plötzlich schien es mir denkbar. Denkbar auch, daß die Maske von
jemandem mißbraucht worden war, um mich zu verwirren. Was sollte ich tun? Fortgehen? Tausend Jahre abstreifen wie einen alten Mantel oder zu eng gewordene Haut? Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber ich litt entsetzlich. Ich, der ohne Wimpernzucken tötet, erfuhr, was Demütigung heißt. Heute frage ich mich, ob etwas anders gekommen wäre, hätte ich mich damals meinem Schicksal gefügt. Wäre ich gegangen, als noch die Zeit war. Es ist müßig. Denn ich blieb. Ich wollte ihn sehen. Meinen Nachfolger leibhaftig kennenlernen. Den, der tausend unbeschreibliche Jahre vor sich hatte, während mein Dasein schon jetzt Geschichte war. Kein Vampir wußte, daß ich der Bewahrer des Kelchs war. Doch mein wahres Gesicht war nun stigmatisiert, ein Inkognito kaum noch möglich. Einmal gesehen, würde mich jeder wiedererkennen … Mit solchen Gedanken beschäftigt, kehrte ich Altar und Kelch den Rücken und schritt in den schicksalhaften Stollen, der dorthin führ te, wo ich einst als Hüter zu mir kam. Es war kein langer Weg, bis ich die Tür erreichte, hinter der alles begann.
* Gegenwart
Homer lachte schallend, als der Stützpunkt unter ihm auftauchte. Der Pilot des Helikopters drehte ihm verblüfft das von Helm und Sprechfunk umrahmte Gesicht zu, doch er sagte nichts. Homer wuß te, daß er Angst hatte. Nicht einfach Unbehagen, wie man es manch mal in der Nähe mißliebiger Personen empfand, nein, Angst. Major Bradleys »Vorgesetzter« genoß es. Er liebte sogar die Uni form, die er trug. Sie rieb auf seiner Haut und raschelte wie Papier. Ebenso leicht hätte er sie sprengen können, wenn ihn der Durst überkam … Er beherrschte sich. Der Pilot war nicht sein Typ. Sie setzten auf einem Landekreis neben den Gebäuden auf. Sicher heitskräfte näherten sich dem Fluggerät. Bradley hatte sie antanzen lassen, und Homer genoß es, unterdrückte von nun an aber sein ho merisches Gelächter. Seine Rolle verlangte Ernst. Autorität. Er besaß all dies – und auch den Hang, sich gehenzulassen, den wahren Begierden zu folgen … Jedes zu seiner Zeit. Er entdeckte Bradley und ging an den salutierenden Idioten vorbei auf ihn zu. Auch der Major grüßte militärisch einwandfrei. Er trug an einer Hand einen Verband. Homer fragte: »Wo ist es jetzt?« »Immer noch in meiner Unterkunft.« »Sie haben nichts unternommen?« Bradley schien unter dem zwingenden Blick zu schrumpfen. Als Homer ihm das letzte Mal gegenübergestanden hatte, war er noch ein anderer Kerl gewesen. Schon nach wenigen Augenblicken war klar, daß es – abgesehen von dem eigentlichen Problem – Zeit war, einen Wechsel zu vollziehen.
Bradley mußte weg. Er … Homer traute seinen Augen nicht, als sein Blick an einer Stelle über dem Uniformkragen des Majors hängen blieb. Er ging auf ihn zu, legte ihm plump-vertraulich die Hand auf die Schulter und sagte: »Reden wir zunächst unter vier Augen …« Bradley schien über diesen Vorschlag fast erleichtert. Er nickte. »Kommen Sie.« Homer bewegte sich mit federnden Schritten über das weitläufig umzäunte Gelände. Er sog die Luft ein und labte sich am Frühlicht, das bleich aus dem Boden zu sickern schien. Seit ein frischer Wind in der Sippe wehte, fühlte er sich davon mitgerissen. Er begrüßte es, daß mit dem neuen Hora als Oberhaupt auch ein neuer Geist Einzug gehalten hatte. Hora besaß genügend Weitblick, um zu erkennen, daß die ausgetretenen Pfade nicht mehr zeitgemäß waren. Er gab auch Ideen eine Chance, die unter dem alten Hora verpönt gewesen waren. Geschickt verwob er menschliche Wissenschaft mit vampiri scher Magie. Er förderte Institutionen wie diese, etwas außerhalb Sydneys gelegene. Was genau er bezweckte, darüber kursierten vie le Gerüchte. Die Katze aus dem Sack gelassen hatte Hora noch nicht. Während Homer dem Major folgte, sprangen seine Gedanken von da nach dort. Auch in Sydney war es zu einem Zwischenfall gekommen. Ausge rechnet im Herz der Sippe, wo sich auch der aktuelle Versamm lungsort befand. In den Anlagen von Salem Enterprises war ein Großfeuer ausgebrochen. Es war, als Homer abflog, noch nicht unter Kontrolle gebracht, und somit konnte über die entstandenen Schä den vorläufig nur spekuliert werden. Aber, dachte er, es konnte einen herben Rückschlag für Horas Kurs bedeuten. »Hier … Gehen wir hier hinein. Dort sind wir ungestört.«
Bradley öffnete eine Tür zu einem fensterlosen Besprechungsraum und knipste das Licht an. Homer ließ ihn gewähren. Er setzte sich auf den erstbesten Stuhl und sagte: »Schließen Sie ab.« Dann wartete er, bis auch Bradley sich gesetzt hatte. »Sie zittern«, sagte Homer. Sein Gegenüber zuckte zusammen. Er wollte zu einer Rechtferti gung ansetzen, aber Homer kam ihm zuvor. Er sagte: »Sehen Sie mich an!« Bradleys Verwirrung wuchs. »Wer hat Ihnen das zugefügt?« Der Major mußte nur Homers Blick folgen, und er tat es, indem er Zeige- und Mittelfinger auf Entdeckungsreise schickte. Er fand so fort die Narbe über seinem Kragen. Sein Blick flackerte stärker. Ho mer fing ihn ein. »Ich … weiß … nicht.« Es war leicht, den Block zu durchdringen, der Bradleys Geist nur noch wie ein löchriger Zaun umzog. »Wirklich nicht?« Bradley stöhnte. Er sank mit dem Oberkörper nach vorn, und nur seine angewinkelten Ellbogen verhinderten, daß er mit dem Kopf auf die Tischplatte fiel. Das Grauen stand plötzlich riesengroß in seinen Augen. Er begann zu sprechen. Nicht über das, was vor wenigen Stunden geschehen war, sondern über etwas, das schon länger zurücklag. Ein paar Ta ge. Er erzählte von einer unglaublichen Frau, die er hier aufgenom men hatte, um einem befreundeten Chefarzt einen Gefallen zu tun. Diese Frau hatte einen völlig abnormen Organismus, und sie war es gewesen, die Bradley vor ihrer Flucht noch heimsuchte, um …
»Sie trank Ihr Blut?« Bradley schürzte die Lippen. Seine Fingernägel bohrten sich wie die geschliffenen Backen einer Zange in die gutverheilte Narbe, aber er schien keinen Schmerz zu empfinden. Seine Augen sahen aus wie mit stumpfem Lack übersprayt. Gurgelnde Laute lösten sich aus sei ner Kehle. Er rutschte hin und her … »Genug! Beruhigen Sie sich!« Homer wartete, aber Bradleys verzerrtes Gesicht entspannte sich nicht. Es bekam im Gegenteil einen gehetzten Ausdruck. Die Augen stierten in Homers Richtung … … und dann passierte etwas, was nicht einmal der Vampir erwar tet hätte. Bradley hielt plötzlich seine Waffe in der Hand und keuchte: »Du … du bist – wie sie. Ich durchschaue euch – ich durchschaue euch alle! Ihr –« Die Mündung zeigte auf Homers Brust. Der Stahl wackelte. Der Vampir blieb nach außen völlig ruhig. Er streckte langsam die Hand aus und sagte: »Hören Sie mit dem Unsinn auf, Major! Geben Sie mir Ihren Revolver!« Schweiß lief über das Gesicht des anderen. Etwas Unvorhergese henes war mit ihm geschehen. Schon vor Homers Ankunft mußte er geistig labil gewesen sein. Das neuerliche Aufzwingen eines frem den Willens hatte eine Kettenreaktion ausgelöst. Und nun – lief er Amok … Wenn man ihn ließ. Der Vampir in der Uniform eines 3-Sterne-Generals hatte es nicht vor. Aber er rechnete damit, daß Bradley schießen würde. Er war außer
Kontrolle. Sein Hirn hatte sich eine eigene Logik zurechtgelegt, und obwohl Homer in keiner Weise zu erkennen gegeben hatte, wer sich hinter seiner menschlichen Fassade verbarg, schien Bradley es auf mysteriöse Weise zu durchschauen. Er wäre ein lohnenswertes Studienobjekt gewesen. Andererseits war Homer kein Freund zeitraubender Analysen. »Darf ich?« Er begann, vorsichtig, seine Jacke aufzuknöpfen. Bradley zwinkerte nervös. Fasziniert und verständnislos zugleich ließ er geschehen, daß Homer seine Uniformjacke auszog und neben sich auf den Boden legte. »Den Revolver!« wiederholte er erst, als er damit fertig war, seine Forderung. »Sie haben Schlimmes durchgemacht, Gene. Ihre Über reaktion ist verständlich. Ich bin der letzte, der so etwas nachträgt … Lassen Sie uns wie zwei erwachsene Männer miteinander umgehen. Geben Sie mir die Waffe!« Bradley reagierte wie ein in die Enge getriebenes Tier. Homer sah, wie sich der Finger am Abzug krümmte. Er saß da wie ein Fels. Unternahm keinen Versuch, dem Unheil auszuweichen. Dann erschütterte ein Knall den Raum. Die Kugel drang mit einem unnatürlichen Geräusch, das nur der Vampir hörte, in seine Brust. Die kurze Distanz war schuld, daß das Projektil am Rücken wieder austrat und in der Stuhllehne stecken blieb. »Fühlen Sie sich jetzt besser?« Homer wußte, daß er schnell handeln mußte. Der Schuß konnte nicht überhört worden sein. Dennoch unternahm er einen letzten Versuch, Bradley selbst die Sache beenden zu lassen. »Versuchen Sie es bei sich – vielleicht haben Sie dort mehr Erfolg!« Bradley produzierte abgehackte, irre Laute. Er zog noch einmal
durch. Die Kugel schlug nicht weit von der anderen ein. Das reichte. Der Vampir schnellte aus dem Stuhl und warf sich auf Bradley, der ihm mit dem Revolverlauf zu folgen versuchte. Aber er war zu langsam. Homer packte sein Handgelenk und brach es. Der Knauf sprang aus den sich spreizenden Fingern. Der Vampir fing ihn auf. Mit der freien Hand packte er Bradley am Kragen und zog ihn aus seinem Sitz. »Sie Idiot!« fuhr er ihn an. Der Atem eines Wesens, das nur eine Nahrung kannte, fauchte dem Major entgegen. Er krümmte sich und versuchte, mit der anderen, von dem Verband umwickelten Hand nach seinem Vorgesetzten zu schlagen. Homer brach ihm auch diesen Arm. Lüstern schoben sich spitze Eckzähne über seine Lippen. Dann bog er Bradleys Kopf zurück und biß in seinen gestrafften Hals. Nur erstickte Laute rannen über die Lippen des Mannes. Sein blas ser Teint wurde fast weiß, während Homer ihm den Stoff stahl, der ihm von innen heraus Farbe verlieh. Jemand rüttelte an der Tür. Bradley schloß die Augen. Erstmals entspannte sich sein Gesicht etwas, während die Ohnmacht ihn entführte. Homer hielt den wegsackenden Körper spielerisch fest, bis er ge nug hatte. Jemand hämmerte gegen die Tür und fragte, was da drinnen vor sich gehe. Der Vampir in der Uniform setzte die Mündung des Revolvers an das Doppelmal an Bradleys Hals und zog durch. Der Körper des Majors bäumte sich in einem finalen Reflex auf.
Dann fiel er schwer zu Boden. Homer wischte das Blut vom Mund, säuberte mit der Zunge die Zähne und mit einem Taschentuch den Revolverknauf. Dann drück te er ihn zurück in Bradleys Hand und bog die steif werdenden Fin ger darum. Sekundenlang, während das Getöse draußen immer lauter wurde, besah er sich kritisch sein Werk. Es war okay. Er schlüpfte zurück in die Uniformjacke und knöpfte sie zu, damit niemand die Einschüsse in seinem Hemd sehen konnte. Anschließend ging er zur Tür und schloß auf. Zurückweichend ließ er die Wachen eintreten. Sie entdeckten den Toten sofort. »Er muß den Verstand verloren haben«, kam Homer den Fragen zuvor. »Noch während er mir von dem Vorfall erzählte, zog er sei nen Revolver. Er drohte mir und schoß. Er war mit seinen Nerven am Ende und verfehlte mich beide Male. Vielleicht wollte er mich gar nicht treffen … Aber dann setzte er sich die Mündung selbst an den Hals und …« Er hob vielsagend die Schultern. »Kümmern Sie sich um ihn. Vielleicht …« »Er ist tot«, sagte der Mann, der bereits neben Major Bradley knie te. Er hob den Kopf und blickte abwartend zu Homer. »Was sollen wir tun?« »Das überlasse ich Ihnen – führen Sie mich jetzt zu Bradleys Un terkunft. Ich will mir ansehen, was ihn um den Verstand gebracht hat …«
* »Du bist schon da?« fragte Beth.
»Wo warst du?« fragte Lilith zurück. »Unterwegs. Arbeiten.« »In diesem Aufzug …?« »Ich weiß, es sieht nuttig aus. Aber dort, wo ich für Moe recher chierte, war das noch fast zu brav …« Beth verschwand im Bad. »Willst du mehr darüber hören oder mir statt dessen verraten, was bei dir gelaufen ist? Bist du in die Firma reingekommen, wie du es vorhattest?« Lilith lehnte mit dem Rücken gegen die Wand. Die Worte rausch ten in ihrem Kopf. »Nimm mich in den Arm«, flüsterte sie. »Hast du etwas gesagt?« rief Beth aus dem Nebenraum. Lilith schwieg. Sie verstand nicht, warum sie sich auch nach Beth’ Heimkehr nicht besser fühlte. Sie stand auf und ging ihr nach. Beth stand vor dem Spiegel und entfernte ihr Make-up. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte Lilith. Beth hielt inne. Sie beugte sich vor, drehte den Wasserhahn auf und wusch sich über das Gesicht. Lilith reichte ihr ein Handtuch. Sie täuschte Geduld vor, aber die Wahrheit war viel deprimierender. Sie hatte das Gefühl, immer mehr den Kontakt zu ihrer Umwelt einzu büßen. Selbst zu einer greifbaren Person wie Beth. Seit sie Felidae gegenübergestanden hatte, wußte sie weniger denn je, wer sie war. Wer sie sein sollte oder sein wollte. Felidaes Andeutungen hatten sie noch verletzlicher, noch dünn häutiger gemacht … »Nimm mich in den Arm«, sagte sie. Beth ließ das Handtuch sinken. Lilith schien es, als sähe sie sie an wie ganz zu Beginn ihrer Beziehung. Als noch nichts zwischen ih nen passiert war. Als das meiste noch ungesagt war. »Was ist mit dir los?«
»Ich weiß es nicht … Du ahnst nicht, was passiert ist …« »Dann sag es mir!« Beth trat auf sie zu. Ihre Umarmung brach die Dämme, die Lilith mühsam aufrechterhalten hatte. Sie schlang die eigenen Arme um Beth’ Körper. Drückte sie fast zu fest – und stammelte: »Ich war in der Firma. Ich habe Dinge gesehen, die nie an die Öffentlichkeit ge langen dürfen. Hora experimentiert mit Klonen. Vampiren aus der Retorte. Er will künstlich schaffen, was bisher nur der Kelch vermag. Und er steht kurz vor dem Erfolg. Ich konnte Verwirrung stiften, Brände legen. Aber das wird ihn nicht dauerhaft hindern …« »Das ist wirklich keine gute Nachricht«, sagte Beth, ohne loszulas sen. Lilith sog den charakteristischen Duft ihrer Haut ein und küßte Beth’ Mund. Sie brauchte diesen Beweis, daß ihre Freundschaft wie der werden konnte wie früher. Sie wußte, daß dies nicht von heute auf morgen machbar war. Aber sie brauchte einen Anfang. Beth erwiderte die zärtliche Geste mit eigener, nur zu verständli cher Scheu. Dann lächelte sie tröstend. »Rede. Rede weiter. Ich bin eine gute Zuhörerin …« Lilith hing an ihren Lippen. Sie nickte. Sie schüttelte den Kopf. Ihr Haar bewegte sich wie ein eigenständiges Ding. Starr und fremd. Alles büßte nach und nach seine Vertrautheit ein. »Das mußt du auch sein. Ich brauche deinen Rat. Es geht nicht um Salem Enterprises. Nicht um Hora oder irgendeinen Vampir … Es geht um mich!« »Das hört sich verzweifelt an.« »Dann hörst du richtig …« Lilith zögerte einen letzten Moment – dann schilderte sie ihre Begegnung mit der Kelchdiebin. Erzählte bis ins kleinste, was in der Paddington Street passiert war.
Beth’ Augen schimmerten betroffen, als sie ihr nachsprach: »Feli dae … Endlich kennst du den Namen …« »Was soll ich tun?« Beth küßte sie beruhigend. Gleichzeitig streichelte sie über eine nackte Stelle ihres Rückens. »Das Kleid ist wieder … okay?« »Ich weiß es nicht …« »Sie hat dir wortwörtlich angeboten, dich mit dem Kelch zusam menzuführen, damit er dir die fehlende ›Reife‹ verleiht – die Jahre ersetzt, die dir fehlen?« »Nicht wortwörtlich, aber sinngemäß …« »Wo?« fragte Beth. »Und wann soll das stattfinden? Warum hat sie es nicht sofort an Ort und Stelle getan?« Lilith schüttelte den Kopf. Wieder hatte sie das Gefühl, ein Stück von Beth wegzurücken, obwohl die Nähe nicht größer hätte sein können. »Du verstehst nicht. Mir geht es nicht darum, wo und wann es geschieht, sondern ob ich es will!« Beth runzelte die Stirn. »Warum solltest du es nicht wollen? Es kann dir nur helfen. Du wirst danach vermutlich noch stärker, noch unüberwindlicher für deine Feinde sein …« Lilith seufzte erstickt. »Ich wußte, daß du es nicht verstehst. Ich habe Angst!« Beth zögerte, dann entgegnete sie fast im selben Tonfall: »Wovor?« Lilith ließ sie abrupt los. Sie wich einen Schritt zurück und blieb in der Tür des kleinen Raumes stehen. »Daß es mich verändert«, sagte sie dunkel. »Es wird mich verändern – ich weiß es. Die Furcht davor und die Hoffnung, endlich den Sinn meiner Existenz zu begreifen, streiten miteinander! Deshalb wollte ich deinen Rat!« »Wo ist der Kelch, wo ist Felidae jetzt?« »Wir haben einen Treffpunkt für die kommende Nacht verabredet.
Du mußt mir noch sagen, wie ich am besten hingelange. Er liegt im Viertel ›The Rocks‹ …« »Das historische Sträflingsgebiet«, murmelte Beth. »Wo dort ge nau?« »Sie sprach von einer Art Freilichtmuseum … Wo das Leben von damals nachgestaltet wurde … Weißt du, wovon ich rede?« Beth nickte. Dann sagte sie: »Laß dir Zeit. Überstürze nichts. Wenn du denkst, es könnte dir schaden, gib Felidae einen Korb …!« »Das rätst du mir?« Beth schüttelte den Kopf. »Was diese Entscheidung angeht, kann dir niemand raten. Es ist dein Leben. Du mußt glauben, das Richtige zu tun … Meinst du …?« »Was?« Beth lächelte abstrakt. »Meinst du, du würdest dich so verändern, daß sich zwischen uns etwas ändert?« Lilith schwieg.
* Landrus Erinnerung Der Stollen erschien mir heiß und stickig, als gäbe es direkte Verbin dungen zu den giftigen Schwefelklüften der Unterwelt. Vielleicht entsprang aber selbst diese Wahrnehmung meiner angeschlagenen Psyche. Ich weiß nicht, wie lange ich vor der Tür stand und sie nur an starrte. Wie lange ich meine Instinkte drängte, durch diese Barriere vorauszueilen, um mich auf das vorzubereiten, was dahinter warte
te. Tausend Jahre zuvor hatte ich die Runen, die ins Holz der Tür ge ritzt waren, nicht bemerkt. Es mußte ein besonderes Holz sein, das diese Zeit ohne Spuren der Verrottung überstand. Und besondere Runen. Ich hatte dergleichen nirgends auf der Welt gesehen – und ich ver mochte sie auch nicht zu deuten. Der Gedanke, sie könnten nur da sein, um mir die Grenzen meiner bis vor kurzem noch so hoch eingeschätzten Macht noch bewußter werden zu lassen, offenbarte, wie es bereits in mir aussah. Ich pen delte zwischen gekränkter Eitelkeit und anderem Schmerz. Auch Celestes Verlust und die Dinge, die ich in America gesehen und er lebt hatte, mochten dazu beitragen. Ich gab mir einen Ruck. Ich betrat den Ort meiner Herkunft. Den kargen Raum, in dessen Dunkel meine Augen zum erstenmal gesehen hatten. Er war leer. Völlig verwaist. Niemand erwartete mich – weder hier noch anderswo. Der Ararat war meine Heimstatt gewesen. Geh! drängte ich. Und kehre nie mehr zurück! Rühre nicht länger an Dingen, zu denen du keinen Zugang mehr hast. Du bist Landru – nicht mehr der Hüter. Die Maske nannte dir die schonungslose Wahrheit! Aber du kannst dort draußen noch einmal tausend Jahre überstehen, wenn du klug und verschwiegen bist. Dein Erfahrungsschatz wird dir zugute kom men … Welch lächerliche Beruhigungspillen mir mein Innerstes als Köder hinwarf! Verächtlich verließ ich den Raum und kehrte in den Dom zurück.
Auf dem Altar stand der Lilienkelch. Niemand hatte Anspruch darauf erhoben. Noch nicht. Ich fragte mich, was geschehen wäre, wäre ich nicht einfach nur gegangen, sondern hätte ihn mitgenommen. Mitzunehmen versucht. Hätten sich spätestens dann jene gezeigt und offenbart, denen ich ein volles Jahrtausend gedient hatte? Die, die ich bis heute nicht kannte – nicht wußte, aus welchem Stoff sie gemacht waren und welcher Entwicklungen sie harrten …? Ich stand vor dem Altar und spielte hypothetisch die Strafen für solchen Frevel durch. Aber ich glaube, ich ahnte bereits, daß meine Phantasie nicht ausreichte, das wahre Maß der Verdammnis zu er gründen, das mich getroffen hatte. Nicht um ihn zu stehlen, sondern um ihn ein letztes Mal zu spüren, streckte ich die Hände nach dem Lilienkelch aus. Es mochte Zufall sein, daß die Ereignisse in diesem Moment zu sammenfielen. Vielleicht hatte etwas auch nur diesen Moment abge paßt. In der Sekunde, da sich meine Finger um den kalten Kelch schlie ßen wollten, hallte ein Ton wie der Aufschrei von Seelen durch den Dom. Ich erschrak. Und im Zurückweichen bemerkte ich die Veränderung. Einer der gerade noch versiegelten Stollen hatte sich geöffnet. Aus den Schatten näherte sich eine Gestalt. Ich begriff, daß ich den besten Zeitpunkt, mein Gesicht zu wahren, verpaßt hatte. Wie angewurzelt stand ich da und blickte dem Schicksal ins Auge.
Es lag nun nicht mehr in meiner Hand …
* Gegenwart Die Unterkunft des toten Majors war hermetisch abgeriegelt. Als Homer eintraf, blickte er in streßzerfurchte Gesichter. Die Männer, die mit angewinkelten MPi um die offene Tür standen, traten fast er leichtert zurück, als sie ihn bemerkten. Nur zwei Gestalten in Spezi alanzügen blieben stehen. Durch die Transparentscheiben ihrer Hel me war zu sehen, daß sie eine Heidenangst hatten, in den »Krieg« geschickt zu werden. Wahrscheinlich wußten sie hier noch nichts von Bradleys Tod, ob wohl man den internen Nachrichtenverkehr einer Militärbasis nicht unterschätzen durfte. »Wo ist es?« fragte der Vampir. Zwei Arme zeigten ausgestreckt auf den Kartentisch neben dem zerwühlten Bett. Ein umgeworfener Stuhl lag daneben. »War schon jemand drinnen?« fragte Homer. »Nein, Sir!« Dumpf klang es aus den Sprechrillen der Atemfilter. »Warum nicht?« Seine Frage stieß auf Hilflosigkeit. Er lachte schallend. Im Umkreis zuckten alle zusammen. Später würden sie das Ver halten des Generals als höchst befremdlich und pietätlos einstufen. Aber vorher … Homer trat in die Unterkunft.
»Sir, seien Sie vorsichtig, Sir! Wir wissen nicht …« Der Vampir brachte den Schwätzer mit einer Geste zum Schwei gen. Für wie naiv hielt ihn dieser dumme Kerl? »Ist kein Wissenschaftler hier, der sich damit beschäftigen könnte? Der Ahnung von der Materie hat?« rief er über die Schulter. »Leider nein, Sir. Wir sind noch mit der Beseitigung der Schäden beschäftigt. Es gab Tote bei dem Unglück vor Tagen …« Wieder schnitt ihm Homer das Wort ab. Nachhaltig. Er näherte sich dem Kartentisch. Er hatte seine festen Vorstellungen, um wen es sich bei der Frau, von der Bradley gesprochen hatte, und dem seltsamen Kleid, das sie bei ihrer Ankunft trug, gehandelt hatte. Wenn es sich bewahrheitete, hatten sie mit diesem Fragment dort auf dem Tisch etwas in der Hand, was damals maßgeblich an der Vernichtung des alten Hora beteiligt gewesen war … Nein, Homer war gewarnt. Andererseits sah die breiige, tentakelbildende und blasenschlagen de Lache dort drüben nicht gerade gefährlich aus. Wie der Teil eines Kleides schon gar nicht. Der Vampir hätte es eher für eine Art Protoplasma gehalten. Le bender Zellstoff, ähnlich jenem, mit dem man bei Salem Enterprises arbeitete und den man aus Leichenteilen filtrierte. Zwei Gründe verleiteten Homer, näher an das Gebilde heranzuge hen, das zwar fähig war, sich in sich zu bewegen – offenbar aber nicht, sich fortzubewegen. Erstens wollte er sich vor den gebannt auf ihn starrenden Soldaten keine Blöße geben. Zweitens war er neugierig. Dies war für ihn keine Unart, und deshalb hatte er sich nie be müht, abgeklärter zu werden. Übertriebene Vorsicht war nichts für
ihn. Er wollte auch nicht ewig leben … Jeder hatte so seine Macken. Er wollte es einfach nicht. »Sie sollten nicht noch näher herangehen, Sir. Es war in der Hülse, Sir, sehen Sie …?« Homer sah den offenen Stahlbehälter. Er lag immer noch neben dem quecksilbrigen Fragment. »In Ordnung.« Drei Schritte von dem amöbenhaften Gebilde ent fernt blieb er stehen und drehte sich um. »Dann kümmern Sie sich gefälligst darum! Worauf warten Sie? Sie werden doch in Ihren ›Rüstungen‹ keine Angst haben. Es beißt schon nicht …« Mit lahmen Bewegungen kamen die Träger der Spezialanzüge nä her. Sie trugen Schaufeln und eine Art Gummischieber als Besener satz bei sich. Nicht nur ihre Bewegungen, auch ihre Strategie wirkte linkisch. Homer spürte, wie es ihm in den Fingern kribbelte, die Sa che selbst in die Hand zu nehmen. Aber er beherrschte sich. Er war hier der Chef. Sollten andere die Dreckarbeit erledigen … »Schaffen Sie es in den Zylinder zurück!« Sie gaben keine Antwort. Offenbar benötigten sie alle Konzentrati on, um sich gegen diesen Anblick zu wappnen. Es existierte kein Lehrbuch, das etwas Derartiges behandelte. Es gab nicht einmal eine Theorie dazu. Es schien zu leben – aber was für ein Leben steckte dar in? Was hatte sich die Natur dabei gedacht, als sie so etwas entwarf? Natürlich hatte sich herumgesprochen, daß es Bradleys Fingerkup pe verspeist hatte. Entsprechend angespannt waren die Nerven. Homer sah es weniger dramatisch. Bradley hatte dieses Ding mit nackter Haut berührt. Ihn anzufallen wäre es nicht in der Lage gewe sen. Dazu wirkte es selbst zu hilflos. Zu verwirrt. Erstaunlicherweise schien niemand der Anwesenden von den wahren Hintergründen des zurückliegenden Unglücks zu wissen.
Alle direkt Beteiligten mußten dabei umgekommen sein – außer Br adley, dessen Erinnerung manipuliert worden war … Der Vampir verfolgte aus nächster Nähe, wie einer der Spezialis ten dem anderen das unbeirrt weiterzuckende Fragment auf die Schaufel zu kehren versuchte. Anfangs widersetzte es sich den Be mühungen, als klebe es auf dem Untergrund fest. Dann ging es plötzlich ganz leicht. »Sehr gut!« lobte Homer. Hora würde sich über dieses außerge wöhnliche Präsent freuen. »Jetzt in den Behälter.« Er zeigte auf die beiden Zylinderhälften. Es war eine eher unbewußte Geste, aber der ausgestreckte Arm verkürzte die Distanz zwischen ihm und dem … Ding um einen guten halben Meter. Und darauf schien es gewartet zu haben. Heimtückisch schlug es zu, als Homer nicht mehr mit einer Kom plikation rechnete. Es bildete mehrere haarfeine Fäden aus, die wie aus einer Spinn drüse abgespult wurden und von dem immer vorhandenen, gering fügigen Lufthauch – vielleicht aber auch von etwas ganz anderem – getragen wurden. Direkt auf den Vampir zu, der gar nicht so schnell ausweichen konnte, wie die Fäden da waren und sich ohne Zögern in den immer noch ausgestreckten Arm bohrten. Homer fühlte eine Serie elektrischer Schläge durch seinen Körper zucken. Überall gleichzeitig traten nie erlebte, stechende Schmerzen auf. Er wich mit einem Aufschrei zurück. Sein Arm schlug zur Seite, in der Hoffnung, die dünnen Tentakel damit wieder loszuwerden, aber die Fäden verlängerten sich einfach und machten die Ausweichbewe gung mit. Der Schmerz schwoll an.
Im Arm. In den Beinen. In der Brust. Um ihn herum ertönten Schreie, mischten sich in die eigenen. Die beiden Männer in den Schutzanzügen hatten als einzige noch nicht in vollem Umfang erkannt, was mit dem General geschah. Ihr Sicht feld war eingeschränkt, und sie bemühten sich immer noch, das zähe Gebilde in den Zylinder zu verfrachten. Einer von ihnen zerrte zusätzlich mit der behandschuhten Hand an den Fäden, aber auch er versagte. Indes glaubte Homer zu begreifen, was mit ihm geschah. Er fühlte seine Kräfte schwinden, obwohl er nach Bradleys Blut zum Bersten mit Energie erfüllt gewesen war. Und die Kraft verließ ihn eindeutig über die haarfeinen Verbindungen, die von diesem Fragment zu ihm herüberliefen. Er sah es nicht, aber er spürte, daß die Kraft und die Fähigkeit, zielgenau zu denken, durch diese Fäden verschwand. Sein schwarzes Blut verschwand! Etwas … melkte ihn! Homer begann noch unmenschlicher zu brüllen. Und im Brüllen verwandelte er sich zum Unmensch. Zu dem, der er wirklich war. Hinter den Orden. Hinter den Uniformknöpfen. Hinter … Irgendwo verlor jemand die Nerven. Ein Schuß dröhnte durch das Gebäude. Verschiedentlich mischten sich neue Schreie in das Durcheinander. Homer wußte, daß nicht mehr das Fragment, sondern er die Ursa che für die ausbrechenden Tumulte war. Zäh sickerte das Szenario in sein von Nebeln umwogtes Bewußtsein. Wieder hallte ein Schuß. Er fuhr in den Arm, in dem die Stränge sich in den Blutkreislauf des Vampirs eingefädelt hatten. Die Kugel
explodierte darin wie ein Dumdum-Geschoß. Worauf der Schütze gezielt hatte, blieb unklar. Auf jeden Fall bewirkte er etwas anderes als beabsichtigt. Denn Homer zeigte längst sein wahres Gesicht. Ein Gesicht voller Barbarei und dunkler Begierden. Ein Gesicht, dem normaler Schmerz fremd war und das doch verzerrt wurde von Qualen, die sein Innerstes ausweideten … Er nutzte seine Chance. Er nutzte den Moment, in dem der Schmerz ganz plötzlich inne hielt, als würde er Atem schöpfen. Als hätte die Kugel das Fragment mehr geschockt als Homer … … der noch einmal an den gebündelten Strängen zog, sie von sich riß und wegschleuderte. Und zurückwich zur Tür, wo das Grauen die Männer in Salzsäulen verwandelte. Der Vampir kämpfte gegen dunkel wallende Nebel. Gegen Schwärze, die sich aus seinem eigenen Leib über ihn zu ergießen und ihn zu verschlingen schien. Er handelte nur noch in Überlebensreflexen. »Packt – es ein! Weg-schlie-ßen!« keuchte er den beiden silbrig glänzenden Gestalten zu, die ebenfalls erstarrt waren. Sie gehorchten. Die Kraft seiner Hypnose reichte auch jetzt noch. Reichte sie wirklich? Nicht für alle. Er taumelte auf den Gang. Blickte in kreidebleiche, haßentstellte Grimassen. Haß, der sich gegen – ihn wandte. Die Attacke des Fragments hatte die Barbarei in ihm entlarvt. Sein wahres, verwildertes Wesen. Wieder schlug eine Kugel in ihm ein. Wieder kostete es ihn im mense Reserven, sie zu neutralisieren. Danach verselbständigte sich sein nach Stärkung lechzender Leib.
Wurde zur reinen Bestie. Tötete. Sammelte Blut, das begierig durch seinen dörrenden Schlund hinab in die Dürre des Körpers rann. Warmer Regen netzte sein welkendes Fleisch. Ließ es neu und wun derbar erblühen … Homer richtete ein Blutbad an. Nur die beiden in ihren Silberanzügen wie Astronauten wirken den Männer ließ er am Leben. Sie hatten seinen Befehl befolgt und harrten nun weiterer Befehle. Das Fragment hatte sie nicht angegriffen. Es nicht einmal versucht. Nachdem Stille im Korridor eingekehrt war, kehrte Homer zu ih nen zurück. Dynamisch betrat er Bradleys Unterkunft. Er sah wieder aus wie ein Mensch. Wenn auch wie einer, der gerade aus einer Schlacht zurückkam. Einem Schlachten. Furchtlos nahm er die Kapsel entgegen. Selbst durch den Stahl glaubte er die Fäden zu spüren, die sich von innen zu ihm hindurchzubohren versuchten …
* Landru war im Keller, als es oben an der Tür läutete. Er spielte Theater. Inzwischen kannte er die Namen seiner Darsteller. Der Alte war Sam. Sein Weib hieß Greta. Sie tanzten irgendeinen lateinamerikanischen Tanz. Die Melodie dazu existierte noch irgendwo in ihren erkalteten Gehirnen. Landru ließ sie allein, stieg nach oben und hörte noch, wie sie hin ter ihm im Dunkel zusammenfielen. Tot waren sie amüsanter als le bendig. Und erstaunlicherweise wesentlich beweglicher …
Noch bevor er öffnete, wußte er, wer gekommen war. »Ich habe nicht viel Zeit«, sagte Beth. Sie wirkte aufgeregt. Aber selbst jetzt glomm Begierde in ihren Augen. Er bat sie herein. »Ich halte dich nicht auf. Was ist?« Beth berichtete, was Lilith ihr anvertraut hatte. Das ganze senti mentale Beiwerk sparte sie sich. Dennoch war ihren Untertönen zu entnehmen, daß sie das Theater, das sie betrieb, immer mehr anekel te. Landru ließ sich nicht anmerken, was Beth’ Worte in ihm beweg ten. Die Kelchdiebin hatte Kontakt zu Lilith aufgenommen! Er hatte sich nicht getäuscht: Der Lilienkelch war aus der Versen kung zurückgekehrt – zusammen mit seiner Diebin! Beth war nicht zu bremsen. Ohne Zögern erzählte sie ihm, wo Li lith sich in der kommenden Nacht mit der Vampirin verabredet hat te. Als Landru hörte, daß Lilith ihre volle Bestimmung bewußt ge macht werden und daß der Kelch entscheidenden Anteil daran ha ben sollte, entfuhr ihm ein unartikulierter Laut. Beth ging darüber hinweg. Erst ganz am Ende verriet sie, daß Li lith nun auch den Namen der Diebin erfahren hatte. »Wie? Wie nennt sie sich?« fragte er. Wieder drängten Erinnerungen in ihm empor. Erinnerungen an den Moment, als … »Felidae«, sagte Beth. Sie sah, wie er wankte. Sie sah, wie die perfide Note um seinen Mund zu offener Grau samkeit mutierte. Etwas wischte über sein ganzes Gesicht, brachte die Narbe wie einen aufgesetzten Blutegel zum Pulsieren. »Felidae …«
Aus seinem Mund klang es anders. Er konnte die Bilder, die Stimmen nicht mehr zurückhalten. Sie überrollten ihn. Rissen alte Wunden auf. Wunden, die nie vernarben würden. Felidae …
* Landrus Erinnerung Ein Gesicht leuchtete aus der Düsternis einer Kapuze heraus. Dieses Gesicht hatte mir die Maske gezeigt. Es war mannhaft und aus drucksvoll. Aber ich hatte Erfahrung mit diesen Dingen und wußte sofort, was mich störte. Die Stimme beseitigte letzte Zweifel. »Wer bist du? Sollst du mir den Kelch übergeben?« fragte die Ge stalt. Ich schüttelte den Kopf. »Was ist dann dein Begehr?« »Bist du der neue Hüter?« erkundigte ich mich. »Ich bin der Hüter …« »Ich war der Hüter«, sagte ich rauh. Danach wartete ich, was mei ne Worte bewirkten. Die Gestalt in dunkler Kutte verharrte. Das Gesicht, das mich an sah, spiegelte die Ratlosigkeit seines Trägers wider. Spätestens in diesen Momenten der Stille faßte ich den Entschluß, mir nicht gefallen zu lassen, was man mir antun wollte. Niemand durfte mich so behandeln!
Ich sprang vor. Daß ich dem Kelch dabei den Rücken kehrte, war bedeutungslos. Ich griff die Gestalt in der Kutte an, weil ich den Be trug durchschaut hatte. Ich war meiner Sache sicher, als meine Hän de blitzschnell unter die Kapuze tauchten … … und die Maske wegrissen! Auch sie war mit schnellen Nähten befestigt. Fäden, die nun bars ten. Ein Schrei hallte durch den Dunklen Dom, und dieser Schrei kam aus dem wahren Mund. Nicht von der durchbluteten Halb schale, die ich an mich gerissen hatte und nun mit unverhohlener Anklage in Richtung des Kuttenträgers hielt. »Du bist nicht der nächste Hüter!« schrie ich. Mein Zorn schwoll an. »Verbirg dich nicht länger hinter Maske und Tuch!« Gebeugt stand die Gestalt da. Das Gesicht in meiner Hand lächelte verkrampft, als wollte es den sich anbahnenden Streit schlichten. Endlich straffte sich der, der Anspruch auf den Kelch erhob. Seine Arme hoben sich, streiften die Kapuze zurück. Rotes Haar quoll aus den Rändern. Eine dunkle, nun nicht mehr verstellte Stimme sagte: »Es ändert nichts: Deine Zeit ist um! In mei ne Obhut wurde das Unheiligtum übertragen. Ich soll es künftig durch die Welt leiten. Ich bin dazu berufen … Geh!« »Von wem bist du berufen? Wo sind die Mächte, die das wollen? Ich wurde von einer Maske hierher beordert – und eine Maske wollte mich gerade täuschen. Was soll ich noch glauben? Warum sollte ich dir glauben? Gib mir einen Beweis, daß du die Wahrheit sagst.« Ich wußte, daß sie nicht log. In meinem Innersten wußte ich es, aber dieses Innerste suchte zu gleich nach einem Alibi, sich der Forderung meiner Nachfolgerin zu verweigern. Ich stellte sie ins Unrecht – um mein eigenes Unrecht zu kaschieren. »Den Beweis wird der Kelch liefern. Du glaubst doch nicht, daß er
mich verschonen würde, wenn wir nicht zueinander affin wären …« Sie wollte auf den Kelch zugehen. Sie wollte ihn in die Hände neh men und ihre Worte besiegeln. In mir aber brach durch, was ich nicht stoppen konnte. Ich war entschlossen, den Kelch in keines an deren Vampirs Hand zu geben. Ich fühlte mich in der Lage, ihm noch mindestens weitere tausend Jahre zu dienen. Im Sinn seiner Schöpfer – unserer Schöpfer. Ich legitimierte es mit dem Gedanken, daß mich sogleich ein Blitz treffen und auslöschen würde, wenn ich meine Kompetenzen über schritt. Wir waren beide an dem Ort, wo die Kraft wohnte, die die Hüter erschuf. Diese Kraft hatte mich abberufen – aber vielleicht ließ sie sich um stimmen, wenn sie erkannte, daß ich die bessere Wahl für das Amt war. Der Stärkere sollte gewinnen – oder etwas hier würde in den nächsten Sekunden auf mich herabstürzen und mich zerschmettern, zermalmen, vernichten …! Damals hielt ich es für eine gute Ausrede. Ich ging das Risiko ein, zu sterben, weil ich mir ein Leben ohne den Schatten des Kelchs nicht mehr vorzustellen vermochte. Ein Le ben unter denen, die ich als Hüter bereiste. Ich war keiner Sippe zu gehörig. Wenn ich eine wollte, mußte ich sie mir selbst schaffen, und ich zweifelte, daß der Kelch mir je dazu verhelfen würde. Auch nicht die neue Reisende in Sachen Tod und Leben. »Wie heißt du?« fragte ich. Es sollte sie ablenken. Sie hatte den Kelch fast erreicht. »Felidae«, sagte sie. In diesem Moment war meine Verwandlung abgeschlossen. Ich sprang sie an und warf sie zu Boden, bevor sie den Kelch auch nur berührte.
Ein Wolf schleuderte sie nieder – ein Wolf suchte ihre Kehle. Ich war diese Bestie. Ich verehre den Wolf seiner Kraft und Schläue wegen. Und seiner Zähigkeit. Auch als Wolf blieben mir meine übernatürlichen Kräfte treu. Doch auch Felidae erwies sich als der Magie mächtig. Sie täuschte mich, indem sie kurz regungslos liegenblieb – und dann ihre Kutte sprengte. Daraus hervor sprang nicht die, die ich nun kannte. Sie hatte sich ebenfalls verändert. Eine große Katze stand fauchend vor mir, ein mit messerscharfen Krallen bewehrter Luchs. Menschlicher oder vampirischer Sprache war dieser Rachen nicht mehr mächtig – so wenig wie der meine. Wir verständigten uns mit anderen Mitteln. Mit uralten Drohgebär den und Blicken, Fauchen und Knurren. Ich hatte dieses Duell gewollt, um mich zu beweisen. Um mich zu rehabilitieren – obwohl ich nie versagt hatte. Doch noch bevor wir den ersten Biß, den ersten Prankenhieb tauschten, geschah etwas, das mich schlagartig daran gemahnte, was ich vorgetäuscht hatte zu akzeptieren, wenn es einträte. Der Dunkle Dom erzitterte. Es war kein natürliches Beben, das kristallisierte sich binnen kurz em heraus. Der Altar erhob sich wie eine unerschütterliche Insel inmitten der Beben. Er war nicht betroffen. Auch die kegelförmig zusammenlau fenden Wände des Domes nicht. Nur der Boden unter unseren Pfo ten und um den Altar herum …! Fels knirschte. Urgewalten schienen gegeneinanderzureiben, als gälte es, Pangäa auseinanderzustemmen. Auch Felidae wurde von dem Vorgang überrascht. Ich las es in ih ren schwefelgelben Katzenaugen.
Rings um uns senkte sich der glatte Boden, formte Schründe und Klüfte, tiefe Abgründe, aus denen Rauch und Dämpfe stiegen. Wolf und Luchs standen sich auf einem schmalen Grat gegenüber. Der Altar schien zu entrücken, der Fels uns immer weiter fortzutra gen. An den Wänden des Doms glommen Augen auf, die zu uns herabstarrten, als befänden wir uns in der Arena eines Amphithea ters. Augen, die schrien: KÄMPFT! Auch Felidae verstand den Befehl. Sie warf sich mir entgegen. Ihre Zähne bissen sich in meine Flanke, denn ich warf mich instinktiv herum. Das wahre Ziel des Angriffs war mein Genick. Sie wußte, wie sie es anstellen mußte. Ich wußte es auch. Und ich begriff schnell, daß wir beide in Tiergestalt keinen Vorteil erwirken konnten. Deshalb transformierte ich zu meiner eigenen Form zurück und bohrte ihr meine Klauen in den weichen Bauch, durch das weiche Fell … Um uns herum zuckten Schattenspiele. Der Dunkle Dom war nicht für Licht geschaffen, aber etwas durchgeisterte ihn. Etwas erschuf nie gehörte Töne und Bewegungen. Ich hatte keine Zeit, sie zu deuten. Ich hatte mein Schicksal heraus gefordert und mußte nun kämpfen bis zum Ende. Ein Prankenhieb riß mir eine klaffende Wunde in der Hüfte. Ich konzentrierte mich sofort, sie zu schließen, aber diese Konzentration machte mich anfällig für die nächste Attacke. Felidae mutierte vor meinen Augen zu einem Mischwesen aus Raubkatze und Mensch, einem Werwesen nicht unähnlich. Ich war nicht der, der ich sein konnte. Ich büßte soviel Kraft und Entschlossenheit ein, nur weil ich wußte, daß ich mich einer natürli chen Abfolge widersetzte. Die Macht, die mich einst zum Hüter er
hob, hatte mich auch wieder fallen lassen. Sie kannte keine Moral. Und ich kannte sie auch nicht. Wer gab mir also das Recht, mich zu widersetzen? Wer billigte, daß ich den nächsten Hüter um seine Be stimmung brachte? Die Aufgabe hätte über allem eigensüchtigen Streben stehen müs sen! Ich war mir dessen bewußter als je zuvor – und doch vermochte ich nicht zu ändern, daß ich egoistisch handelte. Daß ich Verdamm nis auf mich lud, indem ich das GESETZ mir unterstellte … Mir schauderte. Ich fühlte Eis in meinem Gedärm. Ich schrie meine Qual und Zerrissenheit hinaus. Sie hallte von den Wänden wider, zerbrach die glotzenden Augen, erstickte die flüs ternden Stimmen. Nur Felidae fegte sie nicht hinweg. Felidae zeigte mir, daß sie mir ihre Zukunft nicht kampflos opfern wollte. Ich verstand sie. Ich fühlte mit ihr. Es machte es nicht leichter. Die Anziehung des Abgrunds wurde stärker, unerbittlicher. Ich begriff, worauf es hinauslaufen würde. Auch Felidae mußte es er kennen. Dort unten lauerte der Tod auf einen von uns – oder auf uns beide. Zwei von vielen Stollen standen offen. Andere waren immer noch versiegelt. Schliefen dahinter noch mehr von unserer Art? Mehr po tentielle Hüter? Abrufbereit? Auch solche Gedanken bargen keinen Trost. Sie machten die De pression perfekt. Aber es gab kein Zurück mehr.
Felidaes Anspruch war legitim. Der meine nicht … Sie schien die Zweifel in meinen Augen zu erkennen. Und wollte sie sich zunutze machen, als ich verletzlich wie nie dastand, ihr un bewußt vielleicht sogar die Flanke anbot … Sie sprang. Zur Hälfte Katze, zur Hälfte Vampirin, warf sie sich mir entgegen, und in mir explodierte all das Böse, das mich selbst über mein wah res Wesen betrog. Das mir Zweifel gestattete, aber nie die Kapitula tion. Mühelos übernahm es die Regie. Mühelos zog es die Register tau sendjähriger Erfahrung. Ich ließ mich fallen. Rückwärts auf den schmalen Grat. Felidae wollte sich mit ausgebreiteten Armen auf mich stürzen, aber ich zog die Glieder an und verwandelte meinen Körper in ein lebendiges Katapult. Ich nutzte ihre Wucht und ihren Schwung und ergänzte sie um die Kraft meiner eigenen Muskeln. Es ging schnell. Schneller, als ich Sekunden vorher auch nur ahnen konnte. Ich packte sie – und ließ sofort wieder los, um nicht mit hin abgerissen zu werden in die Tiefe, die zu uns emporschrie. Felidaes Schrei hallte grausam von den Wänden der Schlucht wi der. Ich folgte ihm, bis er abrupt abbrach. Bis der Dom mich mit seiner absoluten Stille wieder fesselte. Und marterte. Und mir lautlos zuzurufen schien: Bist du nun zufrieden? Ist es das, was du wolltest? Das Ende der Kette? Du kannst kein Hüter mehr sein – niemals. Und die, die es werden sollte, ist nun vernichtet … Ich verschloß mich den Vorwürfen. Aber ich konnte sie nicht wirk lich zum Verstummen bringen. Es kam mir vor, als würde mir erst jetzt bewußt, was ich getan hatte. Ich schwankte unter dem Verlan gen, das Geschehene ungeschehen zu machen. Ich verstand mich weniger denn je. Was hatte ich getan?
Warum hatte ich es getan? Ich richtete mich auf. In der Ferne stand der Altar. Stand der Kelch. Der Boden blieb zerklüftet. Kein Weg führte zum Lilienkelch. Nur auf Schwingen war er noch zu erreichen. Plötzlich war mir, als hörte ich Felidaes Stimme von unten zu mir heraufwehen, mich um Hilfe anflehen. Ich zitterte. Wieder schien mir etwas zuzuraunen: Rette Sie! Nur so kannst du der Verdammnis noch entrinnen! Ich klammerte mich daran. Ich suchte einen Weg in die Tiefe und fand einen steilzerklüfteten Pfad, wie für mich gemacht. Mühsam kletterte ich hinab. Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, bis ich den Grund erreichte. Manchmal hörte ich ein Knirschen, das mir vorgaukelte, die Schluchten würden sich gleich wieder schließen und mich wie ein Insekt zerquetschen. Aber niemand wollte es mir so leicht machen. Ich erreichte den Boden der Schlucht. Aber Felidaes Flehen, falls es je existiert hatte, war verstummt. Statt ihrer fand ich einen domähn lichen Stalagmiten, der von dunklem Blut benetzt war und um den herum ascheartige Flocken wölkten. Todesstaub unserer Art. Ich ging sogar noch hin, um sie zu berühren, mich zu vergewis sern. Meine Finger stießen in den Staub, rieben und erfühlten ihn. Danach gab es keinen Zweifel mehr. Ich hatte erreicht, was der Wahnsinn mir einflüsterte: Ich hatte meine Nachfolgerin besiegt! Welcher Lohn sollte mich dafür erwarten? Erneutes Knirschen drängte mich zur Rückkehr. Ich konnte meine Fähigkeiten nicht ausspielen in dieser Enge. Mühsam mußte ich
dorthin, woher ich gekommen war, zurückklettern. Ich war völlig erschöpft, als ich mich das letzte Stück hinauf auf den Grat schob. Und sogleich begannen sich die Klüfte um mich herum zu schließen. Als hätten sie nur gewartet, bis ich in Sicherheit war. Ich nahm es als Omen, daß man mir verziehen haben könnte. Doch dann entdeckte ich die grausame Wahrheit. Mein Blick fand den Altar, der wieder ganz nah stand. Was ich nicht fand, war der Lilienkelch. Er war und blieb verschwunden!
* Ich hatte nicht gesiegt. Ich hatte getötet für nichts! Der Dom (die Macht, die ihm innewohnte) hatte den Lilienkelch vor mir in Sicherheit gebracht! So dachte ich damals. Ich irrte noch unbestimmte Zeit durch das hohle Reich. Ich fand Winkel und Orte, die ich nie zuvor betrat. Aber ich fand keine Seele, die mein Flehen um Vergebung erhörte. Vergebung … Welch ein Wort in meinem Hirn! Damals hätte ich mich selbst richten sollen – vieles wäre mir er spart geblieben. Ich tat es nicht. Ich kehrte zur Oberfläche zurück. Ins Freie. Fünf tausend Meter hoch in dumpfer Kälte breitete ich meine Schwingen aus und suchte nach einem Ort, wo ich mich verkriechen konnte. Wo ich mit der Schuld fertig werden konnte.
Es brauchte Wochen, Monate, Jahre. Die Zeit verstrich, und mir wurde klar, daß ich mich geirrt hatte. Schrecklich geirrt. Kein neuer Hüter erschien. Überall, wohin ich kam, hörte ich die Klagen. Keine Sippe verstand, warum ihre Rufe nach dem Kelchhü ter ungehört verklangen. Damals begann ich das Gerücht zu verbrei ten, der Kelch sei gestohlen worden, der Hüter verschwunden. Ich tat, als habe auch ich es nur aus anderer Kehle erfahren, und nie fand jemand den Ursprung der Sage. Ich kehrte zum Ararat zurück. Inzwischen waren Jahre vergangen. Der Dunkle Dom öffnete mir seine Pforte nicht mehr. Hatte er den Kelch in sich verschlossen? Warum sollte er? Warum sollte er alle Vampire für das Versagen ei nes einzelnen strafen? Eine andere Erklärung drängte sich mir immer stärker auf. An fangs erschien sie mir unwahrscheinlich, aber mit den Jahren klam merte ich mich immer mehr daran: Jemand hatte meinen Kampf mit Felidae belauscht und – als ich hinab in die Schlucht stieg – die Gele genheit genutzt, den Kelch zu stehlen! Es war mein Strohhalm, an den ich mich klammerte. Der Glaube daran ermöglichte es mir, auch zu glauben, mich für meine Schand tat rehabilitieren zu können. Ich mußte nur den Dieb finden, redete ich mir ein, ihn stellen und das unheilige Gefäß in die Obhut unserer Rasse zurückgeben. Mit dem Kelch in der Hand würde der Dom mich nicht wieder abweisen. Ich würde den Kelch dorthin stellen, wo er schon einmal stand, als Felidae ihn forderte. Ich würde nicht mehr eigensüchtig darauf beharren, selbst der Hüter zu sein … Aber bis dahin war ich verdammt. Bis dahin mußte ich mich kas teien. Ich legte mir selbst gegenüber ein Gelübde ab. Ich schwor, meine
Zähne nie mehr in den Hals eines Menschen zu graben, bis das Un ersetzliche wiedergefunden war! Daran hielt ich mich. Ich wurde wieder zum Reisenden – Wenn auch in anderer Sache. Je mehr Zeit verging, desto weniger stellte ich in Zweifel, daß es einen Dieb geben mußte. Doch Indizien dafür erhielt ich erst viele Jahre später. Als ich die Vampirin Creanna kennenlernte und so lange an ihrer Seite wandel te, bis sie ihre wahre Absicht, ihren wahren Zweck offenlegte. Es ge schah just, als ich eine Spur des Kelchs nach Nürnberg in Deutsch land gefunden zu haben meinte. Creanna suchte mich zu vernich ten. Ihr Anschlag ging fehl, aber danach hatte ich viel Zeit, den Ver dacht zu pflegen, daß sie vom Kelchdieb auf mich angesetzt worden war. Ich verfolgte sie und fand neue, besorgniserregende Hinweise. Die Hure (ich kann sie ihres Verrats wegen nicht anders mehr nen nen) entpuppte sich mehr und mehr als etwas Besonderes. Sie hatte vom ersten Moment unserer Begegnung an jung auf mich gewirkt – viel jünger, als sie es hätte sein dürfen, nahm man den Zeitpunkt zum Maßstab, als ich mein Hüteramt verlor und der Kelch ver schwand. Dann fand ich konkrete Hinweise, daß sie sich mit einem Sterbli chen eingelassen hatte. Ihr Fluchtweg wies nach Australien. Aber als ich dort eintraf, hatte sich die Hure bereits in eine uneinnehmbare Festung zurückgezogen. Eine Festung, von Kelchmagie geschützt. Von da an gab es keinen Zweifel mehr, daß der Kelch einem Raub zum Opfer gefallen war. Aber wer raubte ihn? Creanna nicht. Sie schien selbst von ihm – nach seinem Verschwin den – gezeugt worden zu sein! Jemand hantierte unbefugt mit dem Kelch. Jemand mißbrauchte
ihn, um vampirisches Leben zu schaffen, das außerhalb der Norm war … Ja, damals suchte ich Ratschlag bei Astrologen und Sehern, bei al len Geschöpfen, die sich priesen, Zukünfte schauen zu können. Von einem erfuhr ich erstmals von der PROPHEZEIUNG. Von der Keim zelle, die in jenem Haus in Sydney heranwuchs, um unsere schwer mütige Rasse zu vernichten! Es paßte zum Raub des Kelchs, dessen Verschwinden das Seine zum Erreichen dieses irrwitzigen Planes beisteuern würde! Es wurde wichtiger und dringender denn je, das Diebesgut zu rückzuerlangen. Mein Leben erhielt einen neuen Sinn. Lange glaubte ich, der Kelch könne mit der Brut in jenem Hause stecken – aber darauf wollte ich mich nicht verlassen. Weiterhin be reiste ich die Welt, ging jedem noch so nichtigen Hinweis nach, ver suchte die Sippen auf die gemeinsame Aufgabe einzuschwören. Ich stieß auf geringe Bereitschaft. Statt dessen mehrten sich die Hinweise, daß die Abwesenheit des Lilienkelchs, das Fehlen seiner Aura, nachteilige Folgen für die Un seren hatte. Die Vampire als Ganzes schienen den Zenit ihrer Größe überschritten zu haben und sich nun fast widerstandslos zu einem Volk von Übersatten und Zufriedenen zu entwickeln! Auch dem versuchte ich entgegenzuwirken. Aber Worte sind nichts. Es bedarf des Kelchs, dies alles wieder ins Lot zu bringen. Der Gleichgewicht der Welt muß wiederhergestellt werden. Ein Gleichgewicht in unserem Sinne. Ich werde alles dafür tun. Noch immer liegt die Schuld wie das Gewicht eines ganzen Berges auf mir. Ich bin verantwortlich, wenn unsere Rasse vom Antlitz die ses Planeten verschwindet. Auch wenn niemand es zu ahnen scheint, ich selbst kann der Wahrheit nicht entfliehen. Niemals.
* Gegenwart Sydney, The Rocks Im Jahre 1788 war hier das erste Sträflingscamp errichtet worden. Zweihundert Jahre später tummelte sich an gleicher Stelle ein bun tes Völkchen, das sein Amüsement aus Pubs, Galerien, malerischen Geschäften, Restaurants und Museen zog. Besonderer Anziehungspunkt für Sydneysider und Touristen war – wenn auch nur tagsüber – ein Freilichtmuseum, in dem die steini ge Entwicklung vom einstigen Sammelbecken der Gescheiterten zur heutigen Weltstadt mit Flair begreiflich dargestellt wurde. Lilith nahm die liebevoll rekonstruierten Straßenszenen Dickens scher Gassen und den Hauch verruchter Vergangenheit nur beiläu fig wahr. Sie hatte die Mauer überwunden und bewegte sich nun auf den Treffpunkt zu, den Felidae unmißverständlich beschrieben hatte. An einigen Stellen gestatteten Lücken zwischen den historischen Häuserfronten den Blick zum offenen Meer. In der Sydney Cove dümpelten Vergnügungsschiffe, und man mußte sich nicht einmal anstrengen, um hier und da ein Gelächter aufzuschnappen. Gleiches wehte von Old Sydney Inn herüber. Die Nacht war in weitem Um kreis nicht zum Schlafen da. Nur das Museum hatte seine Pforten geschlossen – anderenfalls hätte Felidae es gewiß auch nicht als Ver abredungsort gewählt. Lilith bewegte sich rasch zwischen den Marktständen und Bäu
men hindurch, die die gepflasterten Gassen säumten und noch enger machten. Anfangs überkam sie beim Anblick der künstlichen Men schen in ihren der Epoche angepaßten Kleidern vages Unbehagen. Aber das legte sich. Bald wurden die maskenhaft starren Gesichter zur Gewohnheit. Und bald tauchte auch jenes Gebäude am Ende der Straße auf, das Felidae nannte. Francis Greenway Building stand über dem Eingang. Dahinter wur den all die Dinge bewahrt, die nicht der Witterung ausgesetzt wer den durften. Ein Museum im Museum gleichsam. Das Portal war normalerweise verschlossen, aber als Lilith die drei hinaufführen den Stufen erklommen hatte und die Hand ausstreckte, gab die Glastür sofort nach, schwang nach innen. Lilith wußte, was es bedeutete. Felidae war bereits da und wartete auf sie. Vor etwa sechzehn Stunden hatten sie sich zuletzt gegenüberge standen. So lange hatte Lilith Zeit gehabt, über das Angebot der Kelchdiebin nachzudenken. Sie hatte sich entschieden. Beth hatte recht behalten: Sie hatte die Entscheidung für sich selbst treffen müssen. Niemand konnte ihr dabei raten. Es ging um zuviel. Es ging um alles. Hinter dem Portal entstand im Dunkel plötzlich ein Funke, der wie ein taumelndes Glühwürmchen vor Lilith herwanderte und ihr zweifellos als Wegweiser dienen sollte. Lilith konnte nicht erkennen, worum genau es sich dabei handelte. Aber sie zögerte nicht, sich ihm anzuvertrauen. Riesige Räume öffneten sich vor ihr. In Vitrinen, auf Konsolen und an den Wänden standen oder hingen Kunstwerke zur Besichtigung: Bildhauereien, Schnitzereien, Malereien – auch einige wenige Abori ginalwerke. Traumzeit-Reminiszenzen …
Lilith schauderte gerade bei ihrer Betrachtung. Aber sie vertiefte das Gefühl nicht. Sie war zu sehr darauf fixiert, was geschehen wür de. Vergangenes war nur noch von untergeordneter Bedeutung. Hier war es konserviert. Hier atmete alles die Bestätigung von Vergäng lichkeit. Lilith war gekommen, die Zukunft zu gewinnen. Ihre Zukunft. Von den Ängsten und berechtigten Zweifeln ließ sie sich nicht mehr hindern. Sie glaubte erkannt zu haben, daß sie nur dann eine Perspektive erhielt, wenn sie sich endlich dem Schicksal stellte, das von vornherein für sie vorgesehen war. Felidae war auch nur ein Handlanger jener Macht, die Creanna da mals in der Abtei von Beinn Dearg mit ihrem »Kuß« versehen hatte – ihrem Abdruck. Demselben unsichtbaren Mal, das auch Sean Lan caster getragen hatte. Diese beiden hatten Lilith gezeugt. Von Anfang an war beschlossen worden, sie hundert Jahre im Haus in der Paddington Street schlafend und träumend ihre Bestim mung erfahren zu lassen. Dies war gescheitert – um zwei lächerliche Jahre nur. Nun war Felidae gekommen, um das Versäumte zu korrigieren. Um das fehlende Wissen in Lilith aufzufüllen … Sie mußte es tun! Selbst wenn sie sich dadurch charakterlich oder wie auch immer veränderte … es war ihre Bestimmung! So wie sie jetzt war – ein Produkt ihrer Selbstzweifel und auf der Suche nach sich selbst –, konnte sie nicht weitermachen. Zufälle hat ten ihr einzelne Mosaiksteinchen um die Zusammenhänge ihrer
Existenz in die Hände gespielt. Zufällig hatte sie vom Lilienkelch und seiner Bedeutung erfahren. Die Magie des HAUSES (Kelchma gie, wie es den Anschein hatte) hatte tröpfchenweise über Jeff War ner einige Einblicke und Hinweise gewährt. Aber all dies würde nie genügen, Liliths Bewußtsein in einem Maße zu öffnen, wie Felidae es ihr angeboten hatte. Ihre BESTIMMUNG würde alles Abstrakte, alles Vage und Hypo thetische verlieren. Sie würde künftig ganz gezielt darauf hinarbeiten können …! Der Funke erlosch plötzlich vor ihr. Lilith fand sich in einer Umgebung, die mit den Wachsnachbildun gen historisch bedeutsamer Personen bereichert war, ansonsten aber echte Kostbarkeiten hinter dicken Panzerglasscheiben ausstellte. Es mußte Alarmvorrichtungen geben. Aber Felidaes Magie war of fensichtlich stark genug, sie zu überlisten. Und dann entdeckte Liliths durch das Dunkel schweifender Blick etwas, das typisch für Felidaes Aberwitz und Sarkasmus zu sein schien: Auf einem Sockel, nicht einmal von einer gläsernen Hülle gesi chert, stand ein Objekt, das für Unbedarfte wie das normale Trink gefäß eines eigenwilligen Künstlers aussehen mochte. Aber es war mehr. Es war – der Lilienkelch. Mit leisem, kargem Lachen trat Felidae hinter dem Kelch hervor. Sie tat es, als böten Sockel und Kelch tatsächlich genügend Deckung, sie zu verbergen – aber dem war nicht so. Nicht real. Felidae spielte mit der Wirklichkeit. Mit Liliths Sinneswahrneh mung. Und es geschah – wie alles, was sie tat – nicht spontan, son
dern sehr auf Liliths labile Beeinflußbarkeit gezielt. »Willkommen«, sagte sie. Felidaes sparsame Gestik verblüffte. Sie schien sich vollkommen zu kontrollieren und der Situation zu unterwerfen. Sie sah aus wie eine amazonenhafte Kriegerin. Das offenbar unver zichtbare Riemengeflecht schirrte ihre überquellende Weiblichkeit, aber darüber hinaus gab es weitere Details preis. Weitere »Acces soires«. Felidae ähnelte irgendwie einem gefallenen Engel. Aus ihrer Schulterpartie wuchs eine flügelartige Konstruktion aus einem me tallisch stumpfen Material, bei dem sich nicht ersehen ließ, ob es auch Bestandteil des Symbionten oder aufgesetzt war. Die Ränder dieser facettenartig überlappenden Flügelstreifen sahen rasiermes serscharf aus, und es bedurfte nicht allzuviel Phantasie, um darin Bestandteile einer verwegenen Rüstung zu erkennen. Felidaes Handrücken waren zudem mit schimmernden Metallplättchen im selben matten Ton überspannt, die den Fingerwölbungen folgten und deren einzelne Glieder den Eindruck erweckten, als könnten sie bei Bedarf mühelos über die Länge der Finger hinausspringen, um ebenfalls als Waffe eingesetzt zu werden. Eine Vampirin bedurfte solcher Zusätze eigentlich nicht. In der Metamorphose wuchsen die eigenen Hände zu mörderischen Klau en. Lilith fragte sich, ob Felidaes »Will-kommen« wirklich ausdrückte, was in ihr selbst gerade vorging und was sie durchmachte. Wollte sie kommen – oder tat sie es einfach aus dem Fehlen einer Alternative heraus? »Lassen wir alles, was unnütze Zeit kostet, beiseite«, sagte Lilith entschlossen. »Fangen wir an … Geht das?« »Natürlich«, erwiderte die Kriegerin in der Rüstung. »Ich bin oh
nehin kein Freund langer Worte!« Das mochte stimmen oder nicht. Lilith war es gleichgültig. Sie hielt die Spannung, die sich ihrer bemächtigt hatte, nicht mehr aus. Sie war jetzt zu dem bitteren Gang bereit, aber sie wünschte, er läge schon hinter ihr. »Was muß ich tun?« »Erst muß ich etwas tun«, sagte Felidae. »Du kannst nichts falsch machen. Ich werde dich behutsam führen.« »Dann fang an.« »Komm näher!« Lilith nahm alles in Kauf. Vielleicht wollte Felidae ihr wieder »die Hand auflegen« – vielleicht griff ihr Symbiont erneut nach dem ih ren … Was spielte es für eine Rolle, wie es geschah? Sie hatte 98 Jahre lang Träume für Realität gehalten. Es gab nichts, was zweifelsfrei belegte, daß sie nicht immer noch träumte. Felidae würde sie aus diesem unwirklichen Zustand herausstoßen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde es ein unsanfter Akt werden. Aber sie WOLLTE es auf sich nehmen. Felidae dirigierte sie zu dem Sockel mit dem Lilienkelch. Sie selbst stellte sich genau gegenüber, so daß das Gefäß zwischen ihnen stand. Wenige Worte einer fremdartigen und aufwühlenden Sprache ge nügten, den Kelch zu aktivieren, das Dunkel durch eine andere Qualität von Finsternis abzulösen. Der Kelch strahlte. Er erlangte plötzlich ein Gewicht und eine Be deutung, die man ihm Augenblicke zuvor noch nicht angesehen hat te. Aus welchem Material er einst geschaffen worden war, ließ sich auch aus dieser Nähe nicht erkennen. Sicher schien nur, daß die
Nachbildung eines Lilienblütenkelchs nicht aus einem Stück heraus, sondern aus unzähligen Teilchen geschaffen worden war. Von wem? Wer hatte diesem Gegenstand jenen Atem eingehaucht, der es er laubte, unschuldige Menschenkinder in blutsaugende Bestien zu verwandeln? Und warum? Vampire behaupteten, seit Anbeginn der Menschheit neben den Menschen zu wandeln, sie zu knechten und zu leiten. Wer gab ihnen die Macht dazu? Wer setzte sich damit gegen jene andere Kraft durch, die dem Menschen selbst Glauben machte, er sei die Krone der Schöpfung? Ich werde alles erfahren, dachte Lilith. Werde ich? Sie mußte! Sie hätte es nicht ertragen, wenn vermeintlicher Erkenntnis doch wieder nur neue Fragen und Zweifel gefolgt wären … Bitte, flehten ihre Augen zu Felidae, beeile dich! Ich kann nicht länger warten …! Sie sah, was die Katzenhafte tat, die Frau im Riemenkleid, die vor langer Zeit den Kelch stahl, hinter dem Landru mit solcher Vehe menz herjagte. Landru … Einen Moment glaubte Lilith, seinen Atem im Nacken zu spüren. Aber das war unsinnig. Felidae hätte diesen Ort nicht gewählt, wenn er nicht sicher gewesen wäre. Blut floß! Vor Liliths Augen ritzte Felidae sich an der Kante ihrer seltsamen Flügel, mit überkreuzten Armen gleichzeitig beide Handgelenke auf
und hielt sie danach über die Kelchöffnung. Vampirblut tropfte hinein. In diesem Moment und obwohl sie keinen bewußten Gedanken daran verschwendet hatte, wurde Lilith erstmals klar, was der Un terschied zwischen Felidaes und ihrem Symbionten war: Ihr Mimi krykleid nährte sich von schwarzem Vampirblut. Felidae war eine Vampirin. Nährte sich ihr Symbiont deshalb nicht zwangsläufig von Menschenblut? Wäre es anders gewesen, hätte er sich der beständi gen Versuchung ausgesetzt gesehen, sich an seiner Wirtin zu verkös tigen … Selbst dieses Rätsel verblaßte jedoch sofort wieder in Anbetracht des Geschehens. Des Rituals, das Felidae schlicht und mit unüber sehbarer Konsequenz durchführte. Lilith sah, wie sich der Grund des unheiligen Kelchs mit Flüssig keit überzog, kurz darauf schlossen sich Felidaes selbst zugefügte Wunden wieder. Ihr Blick wurde fordernd. Er sagte, was Lilith zu tun hatte. ICH MUSS! Sie verweigerte sich auch jetzt nicht, obwohl es vielleicht die letzte Gelegenheit gewesen wäre, weiterzumachen wie bisher. Mühsam Krümel um Krümel nach Erkenntnis zu suchen. Die Bestimmung so zu interpretieren wie bisher: TÖTE VAMPIRE! Aber Creanna hatte nie Felidaes Weitblick besessen. Nie ihre Er fahrung. Eigentlich war es leicht, sich zu entscheiden. Eigentlich war es unmöglich … Lilith beugte sich vor. Ihre Finger berührten die Außenschale des Kelchs. Fremde Zungen, unsichtbar und wohl nur in ihrer Einbil dung existent, leckten über die Innenflächen ihrer Hände. Das Ver
langen, loszulassen, wurde von der Gier nach einer Sinngebung für ihr Leben überstimmt. Lilith hob den Kelch vom Sockel. Er war federleicht. Und zentnerschwer. Welche Erkenntnis tranken Kinder daraus, ehe sie zu verderbten Geschöpfen entarteten? Sollte sie es wirklich wagen? JA! Sie hob den Kelch an die Lippen. Über seinen Rand hinweg sah sie Felidae, die wartete. Scheinbar geduldig. Aber der Schwefel ihrer Augen weckte Zwei fel daran. Änderte es etwas? NEIN! Lilith wischte die letzten Zweifel beiseite, wie ein Patient, der vor einer lebenswichtigen Operation über die möglichen Risiken aufge klärt wurde – und der einwilligt, weil diese Operation seine einzige Hoffnung ist. Entschlossen öffnete Lilith die Lippen und hob den Lilienkelch. Dann wartete sie auf das herausrinnende Blut der Erleuchtung.
* Felidae Es ist soweit. Was hätte ich getan, wäre sie nicht gekommen?
Ihre Stärke habe ich gelesen im Tagebuch ihrer Seele. Ich bin froh, daß sie sich besann. Sie muß es aus sich selbst heraus wollen. Sie ist der Schlüssel zu al lem. Sie sieht mich prüfend an, während der Kelch bereits an ihren Lip pen hängt. Ich sehe keinen Zweifel. Ich spüre mein Blut, das ich gab, noch immer, als ranne es durch meine Adern. Ich spüre auch, als Lilith den Kelch neigt und es ihrer Kehle entge genfließt. Es ist soweit. Dieses irregeleitete, anmutige Geschöpf wird nie wieder ein Opfer verschmähen und am Leben lassen … ENDE
Der Ewige Krieg von Adrian Doyle DER EWIGE KRIEG – ausgetragen nicht nur zwischen Menschen und Vampiren, son dern auch von zwei der mächtigsten Blutsauger um ein äonenaltes Kleinod: den Lilienkelch. Nach 267 Jahren treffen sie wieder aufeinander: der Kelchhüter und die Diebin. Und der Ewige Krieg entflammt erneut. DER EWIGE KRIEG hat Konsequenzen auch für drei Tote, die im Irak mit geheimnisvol len Ausgrabungen begonnen haben. Was sie dort unter dem Wüs tensand finden werden, wird die Geschicke von Menschen und Vampiren gleichermaßen bestimmen …