Sylvia Kruse Vorsorgendes Hochwassermanagement im Wandel
Sylvia Kruse
Vorsorgendes Hochwassermanagement im Wandel Ei...
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Sylvia Kruse Vorsorgendes Hochwassermanagement im Wandel
Sylvia Kruse
Vorsorgendes Hochwassermanagement im Wandel Ein sozial-ökologisches Raumkonzept für den Umgang mit Hochwasser
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Dissertation an der Leuphana Universität Lüneburg, 2009
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17208-8
Danksagung Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Doktorarbeit, die ich „selbständig und ohne unerlaubte Hilfsmittel“ verfasst habe. Gleichzeitig ist die Arbeit jedoch auch Ergebnis eines Entwicklungs- und Diskussionsprozesses, durch den mich zahlreiche Personen begleitet haben und der ohne diese Unterstützung nicht zum gleichen Resultat gekommen wäre. Von der ersten Idee bis zur Fertigstellung dieses Buches hat mich Prof. Dr. Sabine Hofmeister begleitet, die mich nicht nur ermutigte dieses Dissertationsvorhaben in Angriff zu nehmen, sondern mich auch im ganzen Prozess kritisch-konstruktiv unterstützt hat. Ihr, ebenso wie Prof. Dr. Jochen Monstadt, danke ich für diese intensive Betreuung. Für die Unterstützung in der Anfangsphase, bei der Themenfindung und Konzeption der Arbeit, sei insbesondere den Kolleginnen aus dem Forschungsverbund „Blockierter Wandel? Denk- und Handlungsräume für eine nachhaltige Regionalentwicklung“ und inter3 – Institut für Ressourcenmanagement (Berlin) gedankt. Auch die Diskussion mit Kolleg/innen in den Forschungskolloquien an der Universität Lüneburg und des ZTG der TU Berlin haben die kontinuierliche Entwicklung der Arbeit mit „katalytischen Impulsen“ befördert. Die empirische Forschung wäre nicht möglich gewesen, ohne die Bereitschaft zahlreicher Gesprächspartner/innen in der Region, die mir in Interviews geduldig ihre Sicht der Dinge erzählten, mich mit Dokumenten versorgten und mir ganz nebenbei ihre Region näher brachten. Um die Anonymität meiner Interviewpartner/innen zu wahren, möchte ich stellvertretend Babette Scurrell danken, die mein steter Anlaufpunkt in der Region gewesen ist und bleibt. In der Schreib- und Abschlussphase habe ich anregenden Austausch im Programm Nachhaltigkeitsforschung der Universität Basel, mit meinen Bürokolleg/innen im WerkraumWarteck.PP und mit Freunden genossen, die unabhängig von fachlicher Nähe oder Ferne mich durch konstruktive Textkritik, gemeinsamen Schreiballtag oder notwenige Ablenkung unterstützt haben. Explizit danken möchte ich hier Florian Baier, Tanja Mölders, Regina Rhodius, Andrea Berreth, Vanessa Aufenanger und Anni Kruse. Auch meinen Eltern gilt mein ausgesprochener Dank, dass sie mich über die Höhen und Tiefen dieses Schaffensprozesses begleitet und unterstützt haben. Die Heinrich-Böll-Stiftung schließlich ermöglichte mit einem Promotionsstipendium, dass ich mich über einen langen Zeitraum der Arbeit intensiv widmen konnte. Der Universitätsgesellschaft Lüneburg e. V., der Nachwuchsförderung der Leuphana Universität Lüneburg und der Stiftung Umwelt und Schadensvorsorge danke ich schließlich für die freundliche Druckkostenbeihilfe.
Inhalt
Tabellenverzeichnis ........................................................................................ 11 Abbildungsverzeichnis .................................................................................... 12 Abkürzungsverzeichnis .................................................................................. 13
1
Einleitung ................................................................................................. 15
2
Vorsorgender Umgang mit Hochwasser ............................................... 29
2.1
Entstehung und Verlauf extremer Hochwasserereignisse: natürlich oder vom Menschen gemacht? ............................................. 2.1.1 Meteorologische und klimatologische Bedingungen ....................... 2.1.2 Bedingungen im Einzugsgebiet ....................................................... 2.1.3 Bedingungen im Gewässersystem ................................................... 2.1.4 Zwischenfazit: Natürliche Prozesse und anthropogene Einflussfaktoren ...............................................................................
2.2 Risiko und Vorsorge im Umgang mit Hochwasser ............................. 2.2.1 Planung und Entscheidung unter Unsicherheit ................................ 2.2.2 Vorsorgendes Hochwassermanagement ........................................... 2.2.3 Zwischenfazit: Konzeptionelle Bestandteile eines vorsorgenden Umgangs mit Hochwasser ......................................... Strategische Veränderungsprozesse im Umgang mit Hochwasser .......................................................................................... 2.3.1 Strategien des Hochwasserschutzes im Wandel ............................... 2.3.2 Faktoren des Wandels und Handlungsspielräume der Akteure ........ 2.3.3 Zwischenfazit: Präzisierung der Fragestellung ................................
31 32 33 34 34 37 39 42 48
2.3
49 50 54 57
8
Inhalt
3
Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum ...................................... 59
3.1 Theoretischer Ausgangspunkt: Sozial-ökologische Krise ................... 3.1.1 Neue Qualität der Gefährdungen ..................................................... 3.1.2 Verhältnis von Natur und Gesellschaft ............................................ 3.1.3 Rolle der Wissenschaften ................................................................. 3.1.4 Gesellschaftliche Krisenwahrnehmung und -bearbeitung ................ 3.1.5 Zwischenfazit: Anforderungen an die Erforschung und Gestaltung der sozial-ökologischen Krise .................................
59 61 62 64 66
3.2 Forschungsheuristik: Gesellschaftliche Naturverhältnisse .................. 3.2.1 Konzeptualisierung von Natur und Gesellschaft .............................. 3.2.2 Naturbilder und das Schützenswerte ................................................ 3.2.3 Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse .............................. 3.2.4 Zwischenfazit: Begriffsstruktur der Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse ................................................
71 72 77 78
3.3 Analysekonzept: Raum ........................................................................ 3.3.1 Raum zwischen Reflexionsbegriff und dreidimensionalem Gebilde ...................................................... 3.3.2 Behälterraum und Beziehungsraum ................................................. 3.3.3 Integrierende Raumansätze ............................................................... 3.3.4 Zwischenfazit: Raum als Analysekonzept .......................................
82
3.4 4
67
81
82 84 86 92
Konturen eines sozial-ökologischen Raumkonzeptes .......................... 92 Forschungsperspektive und Methodik .................................................. 97
4.1 Forschungsperspektive ........................................................................ 98 4.1.1 Doppelseitige Kritik der sozial-ökologischen Raumforschung ........ 99 4.1.2 Interpretative Sozialforschung ....................................................... 100 4.1.3 Die Trias der Erkenntnisrichtungen ............................................... 101 4.2 Forschungsdesign und Forschungstechniken ..................................... 4.2.1 Exploration: Bestimmung der Untersuchungsregion ..................... 4.2.2 Datenerhebung und Datenaggregation im Forschungsprozess ...... 4.2.3 Auswertungsstrategie und zentrale Analysekategorien .................. 4.2.4 Darstellung der Ergebnisse ............................................................
102 103 107 110 112
Inhalt 5
9
Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel: Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung ...................................... 115
5.1 Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung ................ 5.1.1 Charakteristika des Flussgebiets und Geschichte des Hochwasserschutzes ...................................................................... 5.1.2 Das Hochwasserereignis an Elbe und Mulde 2002 ........................ 5.1.3 Institutionelle Strukturen, normative Vorgaben und relevante Akteure .................................................................... Strategische Hochwasserschutzplanung: Die Hochwasserschutzkonzeption Elbe des Landes Sachsen-Anhalt ....... 5.2.1 Hochwasserschutzkonzeptionen als planerische Leitlinie .............. 5.2.2 Ziele, Strategien und Maßnahmen ................................................. 5.2.3 Gesellschaftliche Naturverhältnisse ............................................... 5.2.4 Hochwasserschutzkonzeption Elbe: Räumliche Regulation im Wandel .................................................
116 117 118 120
5.2
Renaturierung und natürlicher Hochwasserschutz: Die Deichrückverlegung Lödderitzer Forst ....................................... 5.3.1 Naturschutzgroßprojekt „Mittlere Elbe“ ........................................ 5.3.2 Ziele, Strategien und Maßnahmen ................................................. 5.3.3 Gesellschaftliche Naturverhältnisse ............................................... 5.3.4 Lödderitzer Forst: Räumliche Regulation im Wandel ...................
123 124 126 136 141
5.3
Lokale Betroffenheit und bürgerschaftliches Engagement in Dessau-Waldersee ......................................................................... 5.4.1 Hochwasser in Dessau-Waldersee ................................................. 5.4.2 Ziele, Strategien, Maßnahmen ....................................................... 5.4.3 Gesellschaftliche Naturverhältnisse ............................................... 5.4.4 Dessau-Waldersee: Räumliche Regulation im Wandel .................
146 147 151 166 170
5.4
5.5
175 175 177 191 195
Zusammenführung: Räumliche Transformation für ein vorsorgendes Hochwassermanagement in der Region Mulde-Mündung ................. 196 5.5.1 Materiale Gestalt: Technische Schutzmaßnahmen und integratives Hochwassermanagement im Kontext unterschiedlicher zeitlicher und räumlicher Skalen ....................... 197 5.5.2 Kultureller Ausdruck: Risikobewusstsein und die Wahrnehmung von Unsicherheit ....................................... 202 5.5.3 Soziales Handeln: Kurzfristiges Handeln, Lernprozesse und bürgerschaftliches Engagement ..................................................... 205 5.5.4 Normative Regulation: Formelle Steuerung im Wandel ................ 207 5.5.5 Zwischenfazit: Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel .... 209
10
Inhalt
6
Reflexionen: Ein sozial-ökologisches Raumkonzept für den Umgang mit Hochwasser ........................................................ 213
6.1 Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement ......... 6.1.1 Materiale Gestalt: Räumliche und zeitliche Integration von natürlichen Prozessen, baulichen Maßnahmen und Schutz- und Nutzungsansprüchen ...................................................................... 6.1.2 Kultureller Ausdruck: Risikobewusstsein und Deutungen von Bedrohung und Sicherheit .............................................................. 6.1.3 Soziales Handeln: Risikokultur der Resilienz, Bewältigung und Vorsorge als langfristiger Lern- und Aushandlungsprozess .......... 6.1.4 Normative Regulation: adaptive governance durch gesellschaftliche Akteure, Realexperimente und Flexibilisierung der formellen Planung .......................................... Reflexion des theoretischen und methodologischen Analyserahmens ................................................................................. 6.2.1 Kontextualität und Wissensproduktion .......................................... 6.2.2 Multidimensionalität ...................................................................... 6.2.3 Verhältnis von Materialität und Symbolik ..................................... 6.2.4 Raum-Zeit-Zusammenhang ........................................................... 6.2.5 Anwendungsbereich und Übertragbarkeit ......................................
214 215 218 220 224
6.2
6.3 7
230 231 232 233 234 235
Fazit ................................................................................................... 236 Quellenverzeichnis ................................................................................ 243
7.1
Literatur ........................................................................................ 243
7.2
Gesetze .......................................................................................... 258
Anhang ........................................................................................................... 259
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Einflussfaktoren auf Hochwasserereignisse (eigene Darstellung) ......................................................................... 36 Tabelle 2: Gegenüberstellung zweier Leitbilder im Umgang mit Hochwasser (eigene Darstellung) .................................................... 51 Tabelle 3: Charakteristika der sozial-ökologischen Krise (eigene Darstellung) ......................................................................... 68 Tabelle 4: Intendierte und nicht-intendierte Regulationsprozesse (eigene Darstellung) ......................................................................... 79 Tabelle 5: Unterscheidung der Fallstudien nach charakteristischen Dimensionen (eigene Darstellung) ................................................. 105 Tabelle 6: Zusammenfassende Übersicht über die empirischen und theoretischen Auswertungsschritte (eigene Darstellung) ........ 112 Tabelle 7: Strukturierter Vergleich der Hochwasserschutzkonzeptionen 1994, 2003 und 2007 (eigene Darstellung) .................................... 135
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Zyklus des Risikomanagements (nach Merz, Emmermann 2006, 266) ................................................... 44 Abb. 2: Akteure und Handlungsfelder eines vorsorgenden Hochwassermanagements (nach Heiland 2002, 4) ............................... 46 Abb. 3: Hochwassermanagement-Kreislauf (verändert nach DKKV 2003, 19) ........................................................ 47 Abb. 4: Einflussfaktoren auf den Strategiewandel (eigene Darstellung) .......... 56 Abb. 5: Drei Axiome des Konzepts gesellschaftlicher Naturverhältnisse (eigene Darstellung) ............................................................................. 73 Abb. 6: Umgang mit Hochwasser als gesellschaftliches Naturverhältnis (eigene Darstellung) ............................................................................. 75 Abb. 7: Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse (eigene Darstellung).. 81 Abb. 8: Dynamisches Raummodell (Quelle: Breckner, Sturm 2007, o. S.) ...... 90 Abb. 9: Modell der räumlichen Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse (eigene Darstellung) ................................................ 95 Abb. 10: Phasen des Forschungsprozesses (eigene Darstellung) .................... 103 Abb. 11: Region Mulde-Mündung (Quelle: Nadine Seidl) ............................. 116 Abb. 12: Die drei Säulen des „modernen Hochwasserschutzes“ (Quelle: MLU 2003, 4.1) .................................................................. 128 Abb. 13: Hochwasserschutzkonzeption 1994: Räumliche Regulation (eigene Darstellung) ..................................... 142 Abb. 14: Hochwasserschutzkonzeption 2003: Räumliche Regulation (eigene Darstellung) ..................................... 144 Abb. 15: Hochwasserschutzkonzeption 2007: Räumliche Regulation (eigene Darstellung) ..................................... 145 Abb. 16: Projektgebiet Naturschutzgroßprojekt „Mittlere Elbe“ (Quelle: WWF 2003a) ...................................................................... 147 Abb. 17: Lödderitzer Forst: Räumliche Regulation (eigene Darstellung) ...... 171 Abb. 18: Regulative Faktoren in Dessau-Waldersee (eigene Darstellung) ..... 195 Abb. 19: Veränderungsprozess entlang der Dimensionen des sozial-ökologischen Raumkonzeptes (eigene Darstellung) .............. 210
Abkürzungsverzeichnis Abb. Abs. ARL BfG BfN BGBl. BImSchG BMBF BMU BNatSchG BUND bzw. ca. cm ebd. EEA et al. etc. EU DIN DDR DKKV e. V. f. ff. FFH GVBL LSA ha HW HWRRL HWSG HWSK LSA IKSE IOER IÖW IPCC
Abbildung Absatz Akademie für Raumforschung und Landesplanung Bundesanstalt für Gewässerkunde Bundesamt für Naturschutz Bundesgesetzblatt Bundes-Immissionsschutzgesetz Bundesministerium für Bildung und Forschung Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Bundesnaturschutzgesetz Bund für Umwelt und Naturschutz beziehungsweise circa Zentimeter ebenda European Environment Agency et altera et cetera Europäische Union Deutsches Institut für Normung Deutsche Demokratische Republik Deutsches Komitee für Katastrophenvorsorge eingetragener Verein folgende fortfolgende Flora-Fauna-Habitat Richtlinie Gesetz- und Verordnungsblatt Land Sachsen-Anhalt Hektar Hochwasser Hochwasserrahmenrichtlinie der Europäischen Union Hochwasserschutzgesetz Hochwasserschutzkonzeption Land Sachsen-Anhalt Internationale Kommission zum Schutz der Elbe Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung Institut für ökologische Wirtschaftsforschung Intergovernmental Panel on Climate Change
14 IWUD Kap. km LAU LAWA LfU LHW LPlG LSA LSA m MLU MUN NIMBY NN Nr. o. A. o. S. PLANAT ROG S. STAU u. a. UBA UMK UN UVPG vgl. vs. v. u. Z. WCED WG LSA WHG WRRL WWF z. B.
Abkürzungsverzeichnis Ingenieure für Wasser, Umwelt und Datenverarbeitung GmbH Kapitel Kilometer Landesamt für Umweltschutz Sachsen-Anhalt Länderarbeitsgemeinschaft Wasser Landesamt für Umwelt Sachsen-Anhalt Landesbetrieb für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft Sachsen-Anhalt Landesplanungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt Land Sachsen-Anhalt Meter Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt des Landes Sachsen-Anhalt Ministerium für Umwelt und Naturschutz des Landes Sachsen-Anhalt Not In My Backyard Normalnull Nummer ohne Angabe ohne Seitenangabe Nationale Plattform Naturgefahren Raumordnungsgesetz Seite Staatliches Amt für Umwelt, Sachsen-Anhalt unter anderem Umweltbundesamt Umweltministerkonferenz Vereinte Nationen Gesetz zur Umweltverträglichkeitsprüfung vergleiche versus vor unserer Zeitrechnung Weltkommission für Umwelt und Entwicklung Wassergesetz für das Land Sachsen-Anhalt Wasserhaushaltsgesetz Wasserrahmenrichtlinie der Europäischen Union World Wide Fund for Nature zum Beispiel
1 Einleitung
„Nachhaltigkeit oder nach uns die Sintflut?“ titelte die in Sachsen-Anhalt erscheinende Mitteldeutsche Zeitung im August 2002 anlässlich zweier parallel stattfindender Ereignisse: dem „Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung“ in Johannesburg sowie dem so genannten Jahrhundert-Hochwasser an der Elbe.1 Infolge lang anhaltender Niederschläge erreichten die Elbe und ihre Nebenflüsse vielerorts beispiellose Höchststände und insbesondere in den Mittelgebirgen sehr hohe Durchflussgeschwindigkeiten, sodass zahlreiche Ortschaften überschwemmt wurden (vgl. IKSE 2004). Die Schadenssumme des Hochwasserereignisses gehört zu den höchsten, die durch Überschwemmungen weltweit verursacht wurden (vgl. Münchner Rück 2005, 12). „Wir werden den Flüssen wieder mehr Raum geben. Sonst nehmen sie sich ihn einfach“, kommentierte der damalige deutsche Umweltminister ein knappes Jahr später die Bekanntgabe des Entwurfs einer neuen Hochwassergesetzgebung.2 Das „Gesetz zur Verbesserung des vorbeugenden Hochwasserschutzes“ war als Reaktion auf das extreme Hochwasserereignis an der Elbe im Sommer 2002 erarbeitet worden (vgl. Jekel 2005). „Nach der Elbeflut: Die gesellschaftliche Risikovorsorge bedarf einer transdisziplinären Hochwasserforschung“, folgert ein Vertreter der Wissenschaften (Schanze 2002, 247). Die Forschung sei angesichts der Komplexität der Ursachen und des Ausmaßes der Überschwemmung sowie der zum Teil unwirksamen Warn-, Informations- und Schutzmaßnahmen vor Herausforderungen gestellt, die einer neuen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bearbeitung bedürfen.
1
2
Jörg Telemann: „Nachhaltigkeit oder nach uns die Sintflut?“, Mitteldeutsche Zeitung, 24.08.2002, S. 2. Der Weltgipfel in Johannesburg steht in einer Reihe von internationalen Konferenzen, in denen Nachhaltige Entwicklung als normatives Leitbild verhandelt wird. Es steht für die integrative Gestaltung des Lebens, eingebettet in seine natürliche, ökonomische und soziale Umwelt. Gemäß einer frühen Definition im Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (WCED) ist eine Entwicklung nachhaltig, „die den Bedürfnissen der heutigen Generationen entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen“ (Hauff 1987, 46). Pressemitteilung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) Nr. 143/03, „Trittin legt Hochwasserschutzgesetz vor. Den Flüssen mehr Raum geben – sonst nehmen sie sich ihn“, Berlin, 08.08.2003.
16
1 Einleitung
Damit sind drei Hauptlinien der diskursiven Reaktion auf das Hochwasserereignis 2002 skizziert:
in den Medien die Betroffenheit über das Ausmaß des Hochwasserereignisses und die entstandenen Schäden sowie die Frage nach zukünftigen gesellschaftlichen Reaktionen und individuellen Handlungsmöglichkeiten, in der Politik die Forderung nach einer Anpassung der politischen Regulation von Hochwasser und in Planung und Wissenschaft das Erfordernis eines veränderten Managements von Hochwasserereignissen und einer umfassenderen Erforschung der Zusammenhänge im Flussgebiet.
Dass es sich bei diesen Forderungen nach Veränderungen im Umgang mit Hochwasser nicht um eine neue und allein in Deutschland geführte Debatte handelt, zeigen diverse Ausführungen und Untersuchungen aus dem europäischen Ausland (vgl. van der Werff 2004; Zaugg Stern 2006; Penning-Rowsell, Johnson, Tunstall 2006). Kein Zufall ist jedoch, dass diese Debatte nach einem extremen Hochwasserereignis so intensiv geführt wird: Extremereignissen wird eine katalytische Wirkung zu gesprochen (vgl. Felgentreff 2003; Johnson, Tunstall, Penning-Rowsell 2005). Welche Entwicklungen ‚katalysiert’ werden – ob Nachhaltigkeit oder die Bestrafung von ‚sündhaftem’ Verhalten –, welche strategischen Veränderungen also beschleunigt werden, wird durch die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflusst und kann je nach Art und Verlauf des Ereignisses sehr unterschiedlich ausfallen. Im Folgenden wird diese Problemstellung weiter ausgeführt, um wissenschaftliche Verortung, Ziele und Fragestellung der vorliegenden Forschungsergebnisse zu entwickeln und anschließend das methodische Vorgehen sowie den Aufbau der Arbeit zu erläutern. Problemstellung Das Extremereignis an der Elbe im Jahr 2002 dient in dieser Arbeit als Anknüpfungspunkt für die Untersuchung von Veränderungsprozessen im Hochwassermanagement. Unter Hochwassermanagement wird der planvolle gesellschaftliche Umgang mit Hochwasser verstanden. Es umfasst sowohl Strategien der unmittelbaren Gefahrenabwehr und Katastrophenbewältigung als auch vorsorgende Strategien und Maßnahmen, die der mittel- bis langfristigen Vermeidung und Verminderung von Schadensfällen dienen. Hochwassermanagement verfolgt einen intersektoralen, also einen verschiedene Politikfelder übergreifenden Ansatz und zielt sowohl auf die fachliche Ebene professionell und formell
1 Einleitung
17
geregelter Zuständigkeiten als auch auf die alltagspraktische Ebene der betroffenen und im Flussgebiet lebenden Menschen. Unter Hochwasserschutz wird demgegenüber ein bislang vor allem technisch orientierter und sektoral organisierter Umgang mit Hochwasser verstanden, der zum Ziel hat gesellschaftliche und wirtschaftliche Güter vor Schäden durch Überschwemmungen zu schützen.3 Die Elbeflut von 2002 steht in dieser Arbeit stellvertretend für extreme Hochwasserereignisse, die in den vergangenen Jahren weltweit sowohl in ihrer Häufigkeit als auch in ihrem Schadensausmaß signifikant zugenommen haben (vgl. Münchner Rück 2005, 8 ff.). Hochwasser sind in Flussgebieten keine Besonderheit.4 Vielmehr sind sie Teil der jahreszeitlichen Schwankungen von Wassertiefe und Wasserdurchfluss. Extreme Hochwasserereignisse übertreffen die durchschnittlichen Wasserschwankungen um ein Vielfaches. Sie entstehen oftmals durch eine Überlagerung verschiedener Faktoren (z. B. hohes und lang anhaltendes Niederschlagsaufkommen, Schneeschmelze, wenig wasseraufnahmefähige Böden). Menschen haben sich seit Jahrtausenden die vielfältigen Funktionen von Flussgebieten zu Nutze gemacht und siedeln bzw. wirtschaften daher auch in den potenziellen Überschwemmungsgebieten der Flüsse. Damit setzen sie sich mehr oder weniger bewusst der Gefahr der Überschwemmung aus.5 Insbesondere extreme Hochwasserereignisse sind eine nicht zu unterschätzende Bedrohung für ‚Leib und Leben’ sowie ‚Hab und Gut’ (vgl. Kap. 2.1). Seit Jahrtausenden werden verschiedene Strategien und Maßnahmen entwickelt, um mit den Gefahren durch Hochwasser umzugehen. Dies sind z. B. bauliche Strukturen, die Hochwasser von Siedlungen oder bewirtschafteten Flächen fernhalten (Deichbauten, angepasste Bauweisen etc.), oder Maßnahmen des Katastrophenschutzes, die der Bewältigung der krisenhaften Situation im Hochwasserfall dienen (Frühwarn- und Informationssysteme, zusätzliche Sicherung von Schutzobjekten, Notfallpläne etc.). Auch wurden bauliche Maßnahmen zur Vermeidung von Hochwasserereignissen
3
4 5
Diese Begriffsbestimmungen von „Hochwassermanagement“ und „Hochwasserschutz“ werden der Arbeit zugrunde gelegt und durch den Bezug auf den wissenschaftlichen und fachlichen Diskurs sowie auf die empirisch beobachtbare Handlungspraxis im Folgenden konkretisiert. Dabei wird berücksichtigt, dass die Begriffe in Diskurs und Praxis weder einheitlich noch widerspruchsfrei verwendet werden. Daher wird im Verlauf der Arbeit immer wieder auf verschiedene, abweichende Begriffsverständnisse und -verwendungen hingewiesen. Diese Arbeit bezieht sich ausschließlich auf Flusshochwasser im Binnenland. Andere Arten von Hochwasser können an der Küste durch Sturmfluten, in Gebirgsregionen durch Sturzfluten oder in Erdbebengebieten durch Tsunamis entstehen. Unter Gefährdung oder Gefahr wird eine potenziell schadensverursachende menschliche Aktivität oder ein bio-physisches Ereignis bzw. Phänomen verstanden, dessen Folgen Todesopfer und Verletzungen, Sachverluste, soziale und ökonomische Störungen oder Umweltschäden und -zerstörungen sind (vgl. Dikau, Weichselgartner 2005, 180).
18
1 Einleitung
ergriffen, um Hochwasser in unbesiedelten Gebieten zurückzuhalten (Polder, Talsperren etc.). Die signifikante Zunahme an extremen Hochwasserereignissen in den letzten Jahrzehnten sowie der noch deutlichere Zuwachs an wirtschaftlichen Schäden trotz intensiver Bemühungen im Katastrophenschutz und steigender Investitionen in Hochwasserschutzmaßnahmen lässt allerdings eine Krise im gesellschaftlichen Umgang mit Hochwasser erkennen. Der heutige Umgang mit Hochwasser muss verschiedene bekannte und neue Herausforderungen bewältigen: Hochwasserereignisse lassen sich nur ungenau vorhersagen, da die Komplexität der Einflussfaktoren auf Entstehung und Verlauf sehr hoch ist (Prognoseproblem). Im Rahmen des Klimawandels ist mit einer Zunahme an Niederschlägen und damit auch an extremen Hochwasserereignissen zu rechnen. Hierbei unterliegen regionale Szenarien jedoch hohen Unsicherheiten (vgl. Kap. 2.1.1). Gleichzeitig nehmen die monetären und gesellschaftlichen Werte in potenziellen Überschwemmungsgebieten sowie die Verwundbarkeit (Vulnerabilität) der Gesellschaft stetig zu (vgl. Dikau, Weichselgartner 2005, 94 ff.).6 Vor dem Hintergrund des Leitbildes einer nachhaltigen Entwicklung weist der derzeitige Umgang mit Hochwasser erhebliche Defizite auf, wie im Folgenden ausgeführt wird:7
In sozio-ökonomischer Hinsicht verursachen Überschwemmungen enorme gesellschaftliche und wirtschaftliche Schäden. Lebensqualität und Wirtschaftsfähigkeit der in den betroffenen Gebieten lebenden Menschen ist zumindest für die Phase des Wiederaufbaus nach einem Extremereignis stark beeinträchtigt. Trotz Verbesserung der Schutzmaßnahmen nach jedem größeren Hochwasserereignis steigen die Schadenssummen an, da auch Investitionen und Kapital in den überschwemmungsgefährdeten Gebieten ansteigen und akkumuliert werden (vgl. DKKV 2003, 34 ff.). Hinzu kommt, dass individueller Nutzen und Interessen an Flüssen räumlich ungleich verteilt sind. Vorsorgende Maßnahmen, wie z. B. Freiflächenschutz zum Was-
6
Vulnerabilität bezeichnet die Verwundbarkeit von Systemen (Gesellschaften, Individuen, Ökosystemen, technischen Systemen etc.) gegenüber Störungen von außen. Die Verwundbarkeit steigt mit der zunehmenden Spezialisierung der Gesellschaft, ihrer Exponiertheit gegenüber Risiken und der angesammelten Werte. Nachhaltigkeit ist ein normatives Konzept, das im Zusammenhang mit politischgesellschaftlichen Wertsetzungen Soll-Werte für langfristige Entwicklungen vorgibt (vgl. Wiesmann, Messerli 2007). Bisher gibt es allerdings keine klare Übertragung des Leitbildes der Nachhaltigkeit auf das Handlungsfeld Hochwasser. Die folgende Defizitanalyse orientiert sich an den verschiedenen Dimensionen der Nachhaltigkeit (ökologisch, sozial, ökonomisch) und den politisch-prozeduralen Anforderungen (vgl. Grunwald, Kopfmüller 2006, 46 ff.).
7
1 Einleitung
8 9
19
serrückhalt, die im Oberlauf der Flüsse vorgenommen werden, entwickeln ihre wasserstandsmindernden und damit sichernden Auswirkungen erst flussabwärts. Die Bereitschaft zur Kostenübernahme und die Akzeptanz von Nachteilen, die mit der Schaffung von vorsorgenden Maßnahmen verbunden sind, sind jedoch bei den Oberliegern oftmals kaum vorhanden, da deren ökonomischer Nutzen gering ist. Die notwendigen strukturellen und fachlichen Voraussetzungen für einen ökonomischen Ausgleich von Lasten durch Vorsorgeleistungen und Nutzen von Risikominderung zwischen Ober- und Unterliegern sind derzeit in Deutschland und auch in vielen anderen Ländern Europas nicht gegeben (vgl. Heiland 2002, 199 ff.). In ökologischer Hinsicht stehen Hochwasserschutzmaßnahmen häufig in Konkurrenz und Konflikt mit den ökologischen Ressourcen der Flusslandschaft. Deichbau und -sanierung, Wehre und Staubauwerke können z. B. zu einer Senkung des Grundwasserstandes, zur Abtrennung von Auenbereichen vom Hochwasserregime und dem Verlust alter Baumbestände führen (vgl. DFG 2003).8 Unter Umständen wirken sich technische Schutzmaßnahmen sogar hochwassersteigernd auf den Unterlauf des Flusses aus, da sie die Abflussgeschwindigkeit erhöhen und Retentionsräume verringern.9 Die Potenziale, die natürliche Überschwemmungsgebiete für die Retention bieten, bleiben vielfach ungenutzt. Auch andere vorsorgende Maßnahmen, wie eine gezielte ökologische Bodenbearbeitung in der Landwirtschaft oder eine extensive Waldwirtschaft, bieten Synergien zwischen Naturschutz, integriertem Flussgebietsmanagement und Hochwasserschutz, indem sie den Wasserrückhalt stärken und Retentionsräume für hohe Wasserstände schaffen. Sie finden jedoch nur selten Eingang in Konzepte des Hochwassermanagements (vgl. u. a. Goosen, Vellinga 2004). In politisch-prozeduraler Hinsicht wurde Hochwasserschutz in Deutschland über lange Zeit nicht flussgebietsbezogen, sondern föderal konzipiert und umgesetzt. Zwar fanden Kooperationen zwischen den Bundesländern und anderen Flussanrainerstaaten z. B. in der Länderarbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA) oder in den Internationalen Kommissionen zum Schutz von Elbe, Rhein und Oder statt. Eine verbindliche länderübergreifende und internationale Gestaltung des Hochwassermanagements oder Regelungen für flussgebietsbezogene Kooperationen fehlten jedoch über lange Zeit (vgl. u. a. Heiland 2002; Richter 2003). Auch im Bereich der intersektoralen KoordiUnter Hochwasserregime werden die unterschiedlichen Merkmale und wiederkehrenden zeitlichen und räumlichen Muster von Hochwasserereignissen eines Gewässers verstanden. Retention bezeichnet den Wasserrückhalt. Als natürliche Retentionsflächen werden Überschwemmungsgebiete bezeichnet, die bei Hochwasser ungesteuert fluten. Polder oder Talsperren zählen zu den gesteuerten Retentionsmaßnahmen.
20
1 Einleitung nation auf den Ebenen der verschiedenen Gebietskörperschaften – auf Länder- oder Gemeindeebene – bestehen Defizite: Strategien und Maßnahmen des Hochwassermanagements fallen oftmals in den Aufgabenbereich verschiedener Fachbehörden; den Ländern oder Gemeinden fehlen jedoch koordinierte, praxisrelevante Hochwasserschutzkonzepte, die die Aktivitäten der verschiedenen betroffenen Politikfelder koordinieren, sich am gesamten Flusseinzugsgebiet orientieren, mittel- und langfristig ausgerichtet sind und dem Vorsorgeprinzip folgen (vgl. Siegel 2003, 31).10 Durch verschiedene Gesetzesinitiativen der vergangen Jahre (u. a. die Novellierung des WHG im Jahr 2005, die Föderalismusreform im Jahr 2006, die Verabschiedung der EU-Richtlinie über die Bewertung und das Management von Hochwasserrisiken im Jahr 2007) ist neue Bewegung in den politischprozeduralen Bereich des Hochwasserschutzes gekommen (vgl. Wagner 2008; Reinhardt 2008; Kotulla 2007; Albrecht, Janssen 2006a; vgl. Kap. 5.1.3). Die Umsetzung der neuen rechtlichen Regelungen auf Gemeinde-, Länder- und Flussgebietsebene steht jedoch überwiegend noch aus.
Diese kurze Skizze der zentralen Defizite des Hochwassermanagements in ökonomischer, ökologischer und politisch-prozeduraler Hinsicht lässt darauf schließen, dass derzeitige Regulierungsstrategien, Schutzkonzepte sowie Maßnahmen der Bewältigung und Vorsorge von Hochwasser an ihre Grenzen geraten sind. Sie werden den Herausforderungen an einen nachhaltigen Umgang mit Hochwasser nur unzureichend gerecht und stehen daher im gesellschaftlichen sowie im wissenschaftlichen Diskurs insbesondere nach extremen Überschwemmungsereignissen auf dem Prüfstand (vgl. u. a. BMU 2002; ARL 2002; IOER 2002; IÖW 2002; IKSE 2003; Greiving 2003; Schanze 2003). Die Analyse zeigt ebenfalls, dass vorsorgende Maßnahmen und Strategien zentrale Bestandteile der verschiedenen Dimensionen der Nachhaltigkeit sind. In normativer Hinsicht sollte also nachhaltig gestaltetes Hochwassermanagement neben der kurzfristigen Bewältigung von Extremereignissen einen Schwerpunkt auf der mittel- und langfristigen Vermeidung und Verminderung von Hochwasserrisiken in den unterschiedlichen Nachhaltigkeitsdimensionen und Handlungsbereichen beinhalten.
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Das Vorsorgeprinzip ist eines der zentralen Prinzipien der Umweltpolitik, des Umweltrechts und der Umweltplanung. Nach dem Vorsorgeprinzip sollen Maßnahmen so getroffen werden, dass Schäden oder Gefahren erst gar nicht entstehen. Außerdem sollten Umweltgüter geschützt bzw. schonend in Anspruch genommen werden. Mit diesem Anspruch der schonenden Ressourcennutzung, Gefahrenabwehr und Zukunftsgerichtetheit birgt es konzeptionelle Anknüpfungspunkte an das Leitbild der Nachhaltigkeit (vgl. Kap. 2.2).
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Wissenschaftliche Verortung Schanze (2002) formuliert nach Auswertung der Ursachen des Elbehochwassers 2002 den Bedarf an einer Hochwasserforschung, die jenseits disziplinärer Grenzen und sektorübergreifend Entscheidungsgrundlagen für den gesellschaftlichen Umgang mit Hochwasser bereitstellt. Hochwasserbewältigung und Hochwasservorsorge könnten nicht mehr allein im Zuständigkeitsbereich der Hydrologie und des Wasserbaus liegen, sondern müssten als gesellschaftliches Querschnittsthema im Rahmen des Flussgebietsmanagements von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und gesellschaftlichen Akteuren getragen werden. Raum- und Planungswissenschaftler/innen fordern bereits seit Jahren, Hochwasserschutz als intersektorale, die Gebietskörperschaften übergreifende und gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen und die vielfältigen Handlungsspielräume der betroffenen und beteiligten Akteure einzubeziehen (vgl. u. a. UBA 1999; Heiland, Dapp 2001; Richter 2003; Petrow et al. 2006; Monstadt, Moss 2008; Geresonius, Zevenbergen, van Herk 2008). Aus raumwissenschaftlicher Perspektive wird das Flussgebiet als multidimensionaler und dynamischer Raum verstanden, in dem sich natürliche und physische Gegebenheiten, institutionelle Regelungen, Handeln verschiedener sozialer Akteure und Organisationen sowie kulturelle Verhaltens- und Deutungsmuster überlagern (vgl. u. a. Sturm 2000; Keim 2003; Roch 2003; Moss 2003a; Massey 2005). Die territorialen Grenzen dieser verschiedenen Raumdimensionen sind keineswegs deckungsgleich, sondern orientieren sich z. B. an den natürlichen Grenzen des Flussgebiets, an den Gebietskörperschaften, an der Ausdehnung der verschiedenen Handlungsräume der Akteure oder an kulturellen Zusammenhängen. Die Herausforderung besteht aus raum- und planungswissenschaftlicher Perspektive darin, diese unterschiedlichen Raumdimensionen sowie ihre Wechselwirkungen zu erfassen und integrativ zu gestalten. Governance wird in den Raum- und Planungswissenschaften als geeignetes Steuerungskonzept für diese multidimensionalen Anforderungen an die Gestaltung und politische Regulation diskutiert (vgl. u. a. Benz 2005; Mayntz 2004).11 Wird die Perspektive weiter geöffnet und der Umgang mit Hochwasser als Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichem Handeln und natürlichen Prozessen verstanden, bietet sich zusätzlich eine andere Wissenschaftsrichtung für die Problembearbeitung an: die Soziale Ökologie (vgl. u. a. Becker, Jahn 2006c). 11
Der Begriff Governance stammt ursprünglich aus der Institutionenökonomie und hat über die Sozialwissenschaften und die Politikwissenschaften Eingang in die Raum- und Planungswissenschaften genommen (vgl. Pütz 2004). Governance umfasst eine netzwerkartige Steuerung durch verschiedene öffentliche und private Akteure und ergänzt institutionalisierte Formen der staatlichen Steuerung.
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Auf die skizzierte Krisensituation im Umgang mit Hochwasser lassen sich die Kernfragen der Sozialen Ökologie übertragen: Hat die Krise vor allem natürliche Ursachen oder eher gesellschaftliche Gründe? Von welchen Faktoren sind krisenhafte Prozesse maßgeblich beeinflusst und inwieweit sind sie steuerbar und gestaltbar? Das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse stellt einen konzeptionellen Kern der Sozialen Ökologie dar, indem es diese Fragen aufgreift und in Form von drei Axiomen beantwortet: (1) Natürliche und gesellschaftliche Prozesse sind in Form einer unauflösbaren Wechselwirkung miteinander verbunden; (2) Natur und Gesellschaft werden jedoch gleichzeitig als zwei unterscheidbare Pole konstruiert; (3) dieses dialektische Verhältnis von Verbundenheit und Trennung ist historisch entstanden und veränderbar (vgl. Jahn, Wehling 1998, 82). Extreme Hochwasserereignisse wie die Elbeflut 2002 mit ihren natürlichen und gesellschaftlichen Ursachen und Konsequenzen können als sozialökologische Krisensituationen bezeichnet werden. Charakteristisch dafür sind Wechselwirkungen und Grenzziehungsprobleme zwischen gesellschaftlichen und natürlichen Prozessen, zwischen beabsichtigten und unbeabsichtigten Interventionen sowie zwischen den mit der Problembearbeitung befassten Wissenschafts- und Gesellschaftsakteuren (vgl. u. a. Jahn, Wehling 1998; Görg 2003; Wehling, Viehöver, Keller 2005). Die Soziale Ökologie beschäftigt sich mit Krisensituationen, in denen sich natürliche und soziale Ursachen und Auswirkungen wechselseitig verschränken und Grenzen von Regulation und Steuerbarkeit deutlich werden. Die Krise wird dabei als Wendepunkt einer Entwicklung verstanden, in der Handlungsentscheidungen für die Problembearbeitung notwendig sind (vgl. Jahn 1991; ausführlich Kap. 3.1). In diesem Sinne stehen insbesondere Transformationsprozesse im Zentrum der sozial-ökologischen Forschung, also Entwicklungen, in denen eine bisherige Form oder Gestalt grundlegend überwunden oder verändert wird (vgl. Kluge, Hummel 2006). Diese Veränderung kann beispielsweise durch Lern- und Anpassungsprozesse, durch gesteuertes Eingreifen oder durch gesellschaftliches Aushandeln von Lösungswegen erreicht werden. Die Raumwissenschaften und die Soziale Ökologie, zwei bislang kaum verbundene querschnittsorientierte Forschungsrichtungen, stellen im Rahmen dieser Arbeit die Zugänge für die Erforschung von Veränderungsprozessen im Umgang mit Hochwasser dar. Ziele und Fragestellung der Arbeit Thema dieser Arbeit sind Transformationsprozesse im Umgang mit Hochwasser. Im Zentrum des Forschungsinteresses stehen die Krise des Hochwasserschutzes
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und der vielfach geforderte Wandel von einem sektoralen, technisch-orientierten Hochwasserschutz zu einem integralen, vorsorgenden Hochwassermanagement.12 Die Ziele dieser Arbeit liegen auf zwei verschiedenen Ebenen: Auf der problemorientierten Ebene werden an einem konkreten Beispiel die Veränderungsprozesse des gesellschaftlichen Umgangs mit Hochwasser rekonstruiert und analysiert. Als Beispiel dient das Flussgebiet der Elbe, einer der größten Flüsse Europas. Die Elbe und ihre Nebenflüsse führen regelmäßig kleinere und mittlere Hochwasser. Das extreme Hochwasser des Sommers 2002 übertraf jedoch den bisherigen Erfahrungs- und Erwartungshorizont und stellt im Rahmen dieser Arbeit den Anknüpfungspunkt der empirischen Forschung dar. In der Untersuchungsregion Mulde-Mündung im Bereich der Mittleren Elbe wird erforscht, ob sich der Umgang mit Hochwasser in dieser Region verändert, und wenn ja, wie dieser Veränderungsprozess verläuft. Ein besonderer Schwerpunkt in dieser Arbeit liegt auf
den regulativen Faktoren, die diesen Transformationsprozess beeinflussen, den Phasen, die durchlaufen werden und den sich möglicherweise ändernden Handlungsspielräumen der Akteure.
Auf der theoretisch-konzeptionellen Ebene ist es Ziel der Arbeit, einen Analyserahmen für die Erforschung von Veränderungsprozessen im Hochwassermanagement zu entwickeln (vgl. Kap. 3.4). Der Umgang mit Hochwasser wird dabei als Ausdruck für ein räumlich relevantes, sich veränderndes Mensch-NaturVerhältnis konzipiert. Dafür wird ein sozial-ökologisches Raumkonzept entwickelt und in der empirischen Untersuchung angewandt. Durch die konzeptionelle Entwicklung dieses Analyserahmens wird ein Beitrag zur sozial-ökologischen Raumforschung geleistet. Durch die Anwendung des sozial-ökologischen Raumkonzeptes wird eine multidimensionale Perspektive auf das Themenfeld Hochwasser geworfen. Ein zweites Ziel auf der theoretisch-konzeptionellen Ebene ist daher, Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement zu formulieren, die sich, so die These, von denen eindimensionaler Analysen unterscheiden (vgl. Kap. 6.1). Ein
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Mit dieser Gegenüberstellung wird auf zwei Leitbilder Bezug genommen, die in der Hochwasserforschung und in der Planungspraxis folgendermaßen typisiert werden: Der sektorale, technisch-orientierte Hochwasserschutz fokussiert vor allem auf wasserbauliche Maßnahmen der Hochwasserabwehr und Schadensvermeidung im Hochwasserfall, während das integrative, vorsorgende Hochwassermanagement Maßnahmen aus verschiedenen Politik- und Handlungsfeldern (z. B. Landbewirtschaftung, Sieldungspolitik, Naturschutz, Katastrophenschutz) integriert und neben der Schadensvermeidung vorsorgend auch auf die Hochwasserreduktion zielt (vgl. ausführlich Kap. 2.3).
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drittes Ziel ist schließlich, die verwendeten Konzepte kritisch zu reflektieren und Ansatzpunkt zur deren Weiterentwicklung zu formulieren (vgl. Kap. 6.2). Vorgehensweise Das Forschungsvorhaben folgt methodisch dem Begründungszusammenhang der interpretativen Sozialforschung (vgl. u. a. Kelle 1998; Strübing, Schnettler 2004). Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse (vgl. u. a. Jahn, Wehling 1998) und das dynamische Raumkonzept (vgl. Sturm 2000) werden in einem sozial-ökologischen Raumkonzept zusammengeführt. Dieses strukturiert als „sensibilisierendes Konzept“ das Untersuchungsfeld und ist untersuchungsleitend für die Auswahl der empirischen Daten, die Strukturierung und Kategorisierung des Datenmaterials sowie die Auswertung der inhaltlichen Sinnzusammenhänge (vgl. Kelle, Kluge 1999, 25 ff.). Ziel des qualitativen Untersuchungsdesigns ist neben der Beantwortung der Forschungsfrage die wechselseitige Erarbeitung theoretischer Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement und die Reflexion und Weiterentwicklung des sozialökologischen Raumkonzepts als Analyserahmen. Zur Erfassung des Umgangs mit Hochwasser in der Untersuchungsregion Mulde-Mündung werden drei Fallstudien durchgeführt, die jeweils unterschiedliche Handlungsfelder des vorsorgenden Hochwassermanagements betreffen. Stellvertretend für die strategische Hochwasserschutzplanung in der Region werden die vorhandenen Hochwasserschutzkonzeptionen des Landes SachsenAnhalt untersucht. Die Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst ist Beispiel für eine Auenrenaturierung, die neben Naturschutzzielen auch eine Erhöhung des Wasserrückhalts erreichen soll. Der vom Hochwasser 2002 stark betroffene Ortsteil Dessau-Waldersee dient als dritter Fall, anhand dessen das bürgerschaftliche Engagement im Umgang mit Hochwasser erforscht wird. Die Region Mulde-Mündung wurde aufgrund ihrer starken Betroffenheit durch das Hochwasser 2002 und der vielfältigen Initiativen im Hochwassermanagement für die Erforschung von Veränderungsprozessen im Umgang mit Hochwasser ausgewählt. Die Fallanalysen im Rahmen der Untersuchungsregion dienen dazu, typische Vorgänge und das Zusammenwirken verschiedener Faktoren in einzelnen Handlungsfeldern herauszuarbeiten und in einen räumlichen Zusammenhang zu stellen. Die Reichweite und Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Regionen bleiben aufgrund des qualitativen Designs allerdings begrenzt und bedürfen der Reflexion vor dem Hintergrund anderer empirischer Studien im Elbegebiet bzw. in anderen Flussgebieten (vgl. Kap. 6.1 und Kap. 6.2.5). Die Veränderungsprozesse in den drei Fallstudien wurden durch einen Methoden-Mix erfasst: Mit Hilfe von qualitativen Interviews mit Akteuren des
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Hochwasserschutzes sowie der Analyse von Dokumenten und Medienberichten wurden empirische Daten erhoben und angelehnt an die Grounded Theory ausgewertet (vgl. Strauss 1991; Anselm, Corbin 1996).13 Aufbau Die Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert. Im Anschluss an die Einleitung in die Thematik, wissenschaftliche Verortung, Problem- und Zielstellung sowie Methodik der Arbeit wird in Kapitel 2 die Fragestellung argumentativ hergeleitet. Dafür wird zunächst die Problemstellung im Umgang mit Hochwasser ausgeführt: Die Wechselwirkungen zwischen natürlichen und anthropogenen Bedingungen für die Entstehung und den Verlauf von Hochwasserereignissen sind grundlegend für die sich verändernden Herausforderungen, die im Umgang mit Hochwasser bewältigt werden müssen (Kap. 2.1). Da Flussgebiete nicht nur die Gefahr der Überschwemmung mit sich bringen, sondern auch notwendige Lebensgrundlagen bieten, setzen sich Menschen mehr oder weniger bewusst den Hochwasserrisiken aus. Beim Management dieser Risiken muss eine hohe Unsicherheit über Ausmaß und Auswirkungen der Gefahr aufgrund der sozialökologischen Wechselwirkungen und Komplexität berücksichtigt werden. Das Konzept der Vorsorge bietet hier Ansatzpunkte für das Hochwassermanagement, bedarf jedoch in seiner Anwendung noch weiterer konzeptioneller und handlungspraktischer Ausarbeitung (Kap. 2.2). Ein vorsorgendes Hochwassermanagement ist Bestandteil eines empirisch zu beobachtenden strategischen Veränderungsprozesses im Umgang mit Hochwasser. Verschiedene politik- und planungswissenschaftliche Forschungen in Europa zeigen, dass sich die gesellschaftlichen Strategien im Umgang mit Hochwasser seit einigen Jahren im Wandel befinden. Der Stand der Forschung über die Entwicklungsrichtung dieser Transformationsprozesse und die zentralen Faktoren, die diesen Wandel beeinflussen, stellen die Basis für den der Arbeit zugrunde liegenden Forschungsbedarf und die zentrale Fragestellung dar. In Kapitel 3 wird der Analyserahmen für die empirische Erforschung der Veränderungsprozesse im Umgang mit extremen Hochwasserereignissen entwickelt. Ausgehend von den engen Wechselwirkungen zwischen natürlichen und 13
Die fachwissenschaftliche Verortung in der sozial-ökologischen Raumforschung, der Bezug zur Untersuchungsregion und ein Teil des empirischen Materials stammen aus der Projektarbeit im Rahmen des Forschungsverbundes „Blockierter Wandel? Denk- und Handlungsräume für eine nachhaltige Regionalentwicklung“ (vgl. Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007; Kruse, Schön 2006). Der Forschungsverbund wurde von 2003 bis 2006 im Rahmen des Förderprogramms „Sozial-ökologische Forschung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und erforschte Veränderungsprozesse in der Regionalentwicklung in der Region Mulde-Mündung.
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anthropogenen Faktoren, die bei Entstehung, Verlauf und Konsequenzen von Überschwemmungen sowie bei den getroffenen Gegenmaßnahmen wirksam werden, wird Hochwasser als Gegenstand der Sozialen Ökologie verstanden. Den theoretischen Ausgangspunkt stellt die Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse dar. Der derzeitige gesellschaftliche Umgang mit Hochwasser wird als Krise gedeutet und die allgemeinen Charakteristika und Anforderungen an die Erforschung einer sozial-ökologischen Krise auf das Handlungsfeld Hochwasser übertragen (Kap. 3.1).14 Anschließend wird das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse als Forschungsheuristik für die Erforschung von Veränderungsprozessen im Umgang mit Hochwasser entwickelt. Dafür wird die Beziehung von Natur und Gesellschaft theoretisch bestimmt. Empirisch beobachtbare Naturbilder stellen die forschungspraktischen Anknüpfungspunkte des Konzepts gesellschaftlicher Naturverhältnisse an den Umgang mit Hochwasser dar. Intendierte und nicht-intendierte regulativen Faktoren liegen der Planung und Steuerung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse zugrunde. Daher ergänzt das Konzept der Regulation die begriffliche Struktur der bis dahin entwickelten sozial-ökologischen Forschungsheuristik für den Umgang mit Hochwasser (Kap. 3.2). Um den analytischen Rahmen für die empirische Forschung weiter zu differenzieren, wird Raum als mehrdimensionales Konzept hinzugezogen. Dafür werden unterschiedliche Konzeptionen von Raum und deren wissenschaftstheoretische Hintergründe eingeführt, um anschließend Raum als ein integratives, mehrdimensionales Analysekonzept zu entwickeln (Kap. 3.3). Aus der Zusammenführung des theoretischen Ausgangspunkts, der Heuristik der Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse und der Strukturierung des integrierten Raumkonzeptes, wird schließlich ein sozial-ökologisches Raumkonzept entwickelt, das für die empirische Forschung und die theoretische Diskussion der Forschungsergebnisse untersuchungsleitend wirkt. Kapitel 4 erläutert die methodologischen und methodischen Zugänge für die empirische Analyse. Die Forschungsperspektive wird auf drei Ebenen dargelegt: auf der erkenntnistheoretischen Ebene der sozial-ökologischen Raumforschung, auf der methodischen Ebene der interpretativen Sozialforschung und auf der forschungspraktischen Ebene der für die Forschungsfrage gewählten Erkenntnisrichtung (Kap. 4.1). Darauf aufbauend werden das Forschungsdesign und die ausgewählten Forschungstechniken dargestellt und begründet (Kap. 4.2). Kapitel 5 umfasst die empirische Untersuchung und die Interpretation der Veränderungsprozesse im Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde14
Unter dem Handlungsfeld Hochwasser werden alle Teilbereiche derjenigen Politik- und Handlungsfelder verstanden, die den gesellschaftlichen und planerischen Umgang mit Hochwasser prägen oder davon betroffen sind. Dies umfasst die verschiedenen institutionellen Regelungen und die zuständigen und betroffenen Akteure (ausführlich vgl. Kap. 2.2.2).
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Mündung. Dafür wird zunächst in die ausgewählte Untersuchungsregion und in die spezifische Problemstellung eingeführt (Kap. 5.1). Anschließend werden in drei Fallstudien die Veränderungsprozesse im Umgang mit Hochwasser rekonstruiert und analysiert. Als erstes wird die Hochwasserschutzkonzeption des Landes Sachsen-Anhalt analysiert, die die politische Leitlinie und damit das Abbild der strategischen Hochwasserschutzplanung des Landes darstellt (Kap. 5.2). Die Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst steht als zweite Fallstudie stellvertretend für die Renaturierung und Wiederherstellung von Überschwemmungsgebieten (Kap. 5.3). Die dritte Fallstudie bezieht sich auf das bürgerschaftliche Engagement des von Hochwasser betroffenen Ortsteils Dessau-Waldersee (Kap. 5.4). In einer strukturierten Analyse werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der untersuchten Veränderungsprozesse in den drei Fallstudien entlang des sozial-ökologischen Raumkonzeptes interpretiert (vgl. Kap. 5.5). Kapitel 6 schließlich reflektiert die Ergebnisse der empirischen Untersuchung in zweierlei Hinsicht: Erstens werden anhand der empirischen Ergebnisse Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement diskutiert und damit ein Beitrag zur konzeptionellen Weiterentwicklung eines vorsorgenden Umgangs mit extremen Hochwasserereignissen geleistet. Dies geschieht entlang des sozial-ökologischen Raumkonzeptes (Kap. 6.1). Zweitens wird der theoretische und methodische Analyserahmen reflektiert, der dieser Arbeit zugrunde liegt. Das sozial-ökologische Raumkonzept wird auf seine Stärken und seinen Weiterentwicklungsbedarf hin geprüft (Kap. 6.2). Die Arbeit schließt mit einem zusammenfassenden Fazit (Kap. 6.3).
2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser
Wasser ist maßgebliche Grundlage menschlichen Lebens und Wirtschaftens. Darum steht der Umgang mit Hochwasser immer im Kontext des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Fluss und dem Flussgebiet. Denn warum sollten Menschen sich angesichts der Gefahr von Überschwemmungen überhaupt in die Nähe der Flüsse begeben? Die Antwort hängt mit der Multifunktionalität von Flussgebieten zusammen: Sie dienen der Trinkwasserversorgung und Bewässerung in der Landwirtschaft. Die Auenbereiche entlang der Flussläufe bieten sehr fruchtbare Böden für den Ackerbau. Die Fischerei leistete lange Zeit einen erheblichen Beitrag zur Nahrungsmittelversorgung. Oberflächengewässer eines Flusseinzugsgebietes dienen der privaten und gewerblichen Schifffahrt und dem Transport von Gütern. Wasser wird zur Energiegewinnung angestaut oder zum Kühlen von Industrieanlagen entnommen. Darüber hinaus sind die Gewässer nicht nur ‚Quelle’ des Wirtschaftens, sie sind auch ‚Senke’ für die Abwasserentsorgung und dienen als Vorfluter für Abflüsse aus der Siedlungswasserwirtschaft. Gleichzeitig stellen Oberflächengewässer vielfach attraktive Erholungsgebiete dar und werden für sportliche Zwecke genutzt. Schließlich sind sie notwendige Grundlage für viele Ökosysteme und bieten Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten. Gleichzeitig bringen Flussgebiete verschiedene Gefährdungen mit sich. Die wichtigste ist die Hochwassergefahr, die je nach geomorphologischen und klimatischen Bedingungen des Flussgebietes sowie des Gewässersystems sehr unterschiedlich ausfallen kann (vgl. Kap. 2.1). In früheren Jahrhunderten kam in Mitteleuropa die Seuchengefahr hinzu, die insbesondere durch stehende Gewässer in den Überschwemmungsgebieten und Auenbereichen gefördert wurde. Aufgrund ihrer Multifunktionalität werden Flussgebiete schon seit Jahrtausenden intensiv und vielfältig genutzt. Während die Flüsse in Deutschland um 1800 noch weitgehend frei flossen, veränderten sich in den letzten zwei Jahrhunderten die Flusslandschaften entscheidend durch gezielte Eingriffe ins Flusssystem. Die Nutzung der Wasserressourcen und der Schutz vor den Gefahren des Flussgebietes wurden über die Jahrhunderte durch verschiedene bauliche und technische Maßnahmen optimiert. Zu diesen gehören insbesondere
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2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser Eindeichungen von Überschwemmungsbereichen und Urbarmachung der wertvollen Auenböden für landwirtschaftliche Nutzung, Siedlungstätigkeiten und die Reduzierung der Seuchengefahr; Aufstauungen der Gewässer zur Trinkwasser- und Brauchwassernutzung, zur Energiegewinnung durch Wasserkraft oder für eine Verbesserung der Schiffbarkeit; Flussbegradigungen, Mäanderdurchstiche und Laufbegradigungen, die der Verbesserung der Schiffbarkeit oder der Erhöhung der Durchflussgeschwindigkeit im Hochwasserfall dienten; Befestigung der Uferbereiche, die den Bau von Siedlungen, industriellen Anlagen und Brücken entlang des Flusses ermöglichte.
In dieser kurzen Skizze der Nutzungsgeschichte und heutigen Nutzungssituation von Flussgebieten wird bereits deutlich, dass enge Wechselwirkungen zwischen Wasserkreislauf, Flusslandschaft und menschlichen Nutzungen bestehen. Hochwasser gehört als Teil des natürlichen Wasserkreislaufes zum Rhythmus eines Flusses. Je nach meteorologischen und klimatologischen Bedingungen, nach Gestalt des Einzugsgebietes sowie den spezifischen Verhältnissen des Gewässersystems führt der Fluss mehr Wasser, als sein Bett fasst, und tritt über die Ufer. Hochwasser als rein natürliches Ereignis zu bezeichnen, wäre jedoch verkürzt. Weichselgartner (2002) beschreibt die wechselseitige Bedingtheit von Hochwasser und Mensch als eine „Wirkungskette von auslösenden und sekundären Ereignissen (…), in die der Mensch sowohl als Verursacher wie auch als Betroffener miteinbezogen wird, da er mit seinen Handlungen und Reaktionen diese beeinflusst und modifiziert“ (ebd., 129). Diese wechselseitigen Verknüpfungen von natürlichen und anthropogenen Einflüssen auf die Entstehung von Hochwasser, den Ereignisverlauf sowie das Ausmaß der Schäden werden im Folgenden detaillierter in den Blick genommen, um eine differenzierte Analyse der sozialen und ökologischen Ursachen und Wirkungen von Hochwasserereignissen sowie deren Wechselwirkung vorzubereiten (vgl. Kap. 2.1). Anschließend werden die Kategorien Risiko, Unsicherheit und Vorsorge im Zusammenhang mit dem Umgang mit extremen Hochwasserereignissen konzeptionalisiert (vgl. Kap. 2.2). Darauf aufbauend werden die strategischen Veränderungsprozesse im Umgang mit Hochwasser in den Blick genommen. Im Fokus stehen hier empirisch beobachtete Veränderungsprozesse sowie deren theoretische Konzeptionalisierung als Transformationsprozess im Hochwassermanagement (vgl. Kap. 2.3).
2.1 Entstehung und Verlauf extremer Hochwasserereignisse
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2.1 Entstehung und Verlauf extremer Hochwasserereignisse: natürlich oder vom Menschen gemacht? „Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen“ – so brachte der Schriftsteller Max Frisch den Zusammenhang von Mensch, Natur und katastrophalen Ereignissen auf den Punkt (Frisch 1979, 103). Dennoch werden nicht selten extreme Hochwasserereignisse als Naturkatastrophen bezeichnet.15 Erklärungsmuster, wie der Fluss habe sich „sein Bett zurückerobert“16, „die Natur schlägt zurück“17 oder „die Flüsse rächen sich“,18 suggerieren ein Bild von einer bedrohlichen, ungezähmten Natur auf der einen Seite und dem Menschen als unschuldiges Opfer auf der anderen Seite. Seit einigen Jahrzehnten weist eine zunehmende Zahl an Stimmen in Wissenschaft und Gesellschaft jedoch auf die anthropogenen, also durch Menschen verursachten Einflüsse auf die Entstehungsbedingungen für Hochwasser und eine zunehmende Katastrophenanfälligkeit auf Seiten der Gesellschaften hin.19 Dennoch sind die Fronten zwischen ‚Naturkatastrophe’ und ‚menschengemachter Katastrophe’ in den mit Hochwasser oder Naturgefahren befassten Wissenschaften und Gesellschaftsbereichen noch lange nicht geklärt.20 Kurz nach dem extremen Hochwasserereignis von 2002 an der Elbe vertrat Schanze (2003) beispielsweise die Auffassung, dass die Frage nach natürlichen oder anthropogenen Ursachen auch im Falle der Elbeflut von 2002 eindeutig zu beantworten sei: 15
16 17 18 19
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Z. B. rief die UN für die Jahre von 1990 bis 1999 die Dekade zur Reduzierung von Naturkatastrophen aus. Auch die Versicherungswirtschaft verwendet den Begriff der Naturkatastrophen für Schadensereignisse durch Hochwasser, Stürme, Feuer etc. (vgl. u. a. Münchner Rück 2005). Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Rede zum ElbeHochwasser im Deutschen Bundestag, 14. Wahlperiode, 251. Sitzung. Berlin, den 29. August 2002, http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/14/254/14251254.20.pdf (Zugriff: 24.11.08). So der Titel eines vom Fernsehsender RTL produzierten Films: „Die Natur schlägt zurück. Feuer, Fluten und Erdbeben“, 2000, http://www.langbein-skalnik.com/film/wissen/naturschl aegtzurueck.htm (Zugriff: 14.11.2008). Überschrift eines Beitrags zu Flusshochwasser in Italien des Nachrichtenmagazins Der Spiegel: „Die Flüsse rächen sich“, 16.10.2000, http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,98115,00.html (Zugriff: 14.11.2008). Eine frühe und grundlegende Kritik übten O'Keefe, Westgate, Wisner 1976 in ihrem Beitrag „Taking the naturalness out of natural disasters”. Einen Überblick über die Entwicklung verschiedener Positionen in der Hazard-, Risiko- und Katastrophenforschung bieten Felgentreff, Dombrowsky 2008. Für den Begriff der Naturgefahren gilt die gleiche Unschärfe, wie für den Begriff der Naturkatastrophe. Eine Entwicklung wird immer erst durch die Beurteilung des Menschen zu einer Gefahr. Der Begriff der Natur benennt dabei nicht die Ursache der Gefahr, sondern den Deutungszusammenhang (vgl. Kap. 3.2.2). Mit Naturgefahr wird also ein durch so genannte natürliche Prozesse ausgelöstes und vom Menschen als potenzielle Bedrohung beurteiltes Ereignis bezeichnet.
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2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser
„Hochwasser sind natürliche Ereignisse, deren Ausmaß vom Menschen nur graduell beeinflusst werden kann“ (ebd., 148). Richtig ist, dass die vom Menschen getroffenen Schutz- und Gegenmaßnahmen das Ausmaß von Hochwasserereignissen nur teilweise beeinflussen. Im Folgenden wird jedoch argumentiert, dass Hochwasserereignisse keine natürlichen Ereignisse sind. Vielmehr sind die Entstehungsbedingungen und der Verlauf von Hochwasserereignissen durch natürliche Prozesse geprägt, die zu einem großen Teil anthropogen beeinflusst sind. Im Folgenden wird ein Überblick über die zentralen natürlichen Einflussfaktoren und deren enge Wechselwirkung mit anthropogenen Einflüssen gegeben. 2.1.1 Meteorologische und klimatologische Bedingungen Dauer, Intensität und räumliche Ausdehnung von Niederschlagsereignissen sind maßgebliche meteorologische Faktoren für die Entstehung von Flusshochwasser. Dabei hat sowohl der Umfang und die jahreszeitliche Verteilung der Niederschläge als auch die räumliche Verteilung des Niederschlagsverhaltens einen zentralen Einfluss. Niederschläge können ein sehr heterogenes raumzeitliches Verhalten aufweisen. Man unterscheidet großflächige bzw. lang anhaltende Hochwasser und lokale bzw. kurzfristig auftretende Ereignisse. Hinzu kommen verschiedene ereignisbezogene Bedingungen, die von den klimatologischen Verhältnissen in der entsprechenden Region abhängig sind. Vereisung des Bodens, Vorbodenfeuchte, Vegetationszustand, Ausdehnung des Niederschlagsgebiets oder Temperaturverhältnisse haben beispielsweise einen entscheidenden Einfluss auf die unterschiedlichen Auswirkungen vergleichbarer meteorologischer Gegebenheiten. Außergewöhnlich hohe Hochwasser treten überwiegend dann auf, wenn sich verschiedene meteorologische Bedingungen oder Ereignisse überlagern.21 Diese meteorologischen und klimatologischen Faktoren besitzen eine hohe Varianz und damit auch eine hohe Vorhersageunsicherheit. Vielfältige Einzelzustände und Überlagerungskonstellationen sind möglich. Dass meteorologische und klimatologische Bedingungen nicht frei von anthropogenen Einflüssen sind, zeigen die Berichte des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) von 1990 bis 2007 (vgl. IPCC 1992; IPCC 1995; IPCC 2001; IPCC 2007). Der Klimawandel gilt seither als einer der Hauptgründe für die Zunahme extremer Hochwasserereignisse in den vergangenen Jahrzehnten. Der vierte Bericht des IPCC (2007) verstärkt diese Annahme und erarbeitete Prognosen, die von einer weiteren Zunahme extremer Niederschlagsereignisse und Stürme ausgehen. In der Auswertung der bisherigen Klimaentwicklung wird 21
Z. B. können Hochwasserwellen von Nebenflüssen mit der des Hauptflusses zusammentreffen oder Niederschlagsereignisse sich mit Tauphasen überlagern.
2.1 Entstehung und Verlauf extremer Hochwasserereignisse
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zusammengefasst, dass das Niederschlagsaufkommen insbesondere in den östlichen Teilen Nord- und Südamerikas, in Nordeuropa und Nord- und Zentralasien signifikant zugenommen hat. Für die zukünftige Entwicklung wird prognostiziert, dass sowohl Hitzewellen als auch Starkregenereignisse zunehmend häufiger auftreten werden. Dies geschieht insbesondere in nördlichen Breitengraden, während das Niederschlagsvorkommen in subtropischen Regionen wahrscheinlich abnimmt. In einem Szenario, dass die Veränderung des Niederschlags von den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts bis zu den 90er Jahren des 21. Jahrhunderts modelliert, wird deutlich, dass in nördlichen Breiten vor allem in den Wintermonaten mit einer Zunahme des Niederschlagsvorkommens zu rechnen ist, während es in den Sommermonaten deutlich trockener wird (vgl. IPCC 2007, 15).22 2.1.2 Bedingungen im Einzugsgebiet Als weitere maßgebliche Faktoren bestimmen die Größe des Flusseinzugsgebiets und dessen Beschaffenheit die Entstehung von Hochwasser. Zu Überschwemmungen kommt es erst, wenn die Speicherkapazitäten für Niederschlagswasser im Einzugsgebiet überschritten sind. Einfluss auf das Speichervermögen haben dabei Topographie, Struktur und Beschaffenheit des Bodens, Art und Dichte der Vegetation, Grundwasserverhältnisse, Gewässerzustand und Struktur des Gewässernetzes. Diese Faktoren können sich über längere Zeiträume sowie durch anthropogene Eingriffe in natürliche Prozesse verändern. Wenn Wasser aus lang anhaltenden Niederschlägen oder Starkregen im Einzugsgebiet nicht mehr infiltriert oder gespeichert werden kann, werden entsprechend große Abflusswerte dem Vorfluter, also dem Fluss oder Zufluss, direkt als Oberflächenabfluss zugeführt. Bei kleineren Einzugsgebieten kann die Speicherkapazität bereits durch kurzzeitige Starkregenereignisse erreicht werden, in größeren Einzugsgebieten treten Überschwemmungen in der Regel erst bei lang anhaltenden Niederschlagsereignissen auf. Auch bei diesen Determinanten wird deutlich, dass zahlreiche Eigenschaften des Flussgebietes durch menschliche Aktivitäten beeinflusst sein können. Durch großflächige Entwaldungen, Umwandlung von Waldlandschaften in landwirtschaftliche Nutzungen, Flächenversiegelung und Veränderungen an der Gewässerstruktur kann die Retentionsfähigkeit des Flusseinzugsgebietes maßgeblich reduziert werden.
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Die Prognosen und deren Umsetzung in regionale Klimamodelle sind derzeit allerdings noch mit erheblichen Vorhersageunsicherheiten verbunden (vgl. UBA 2008, 62 f.; Kuhlicke, Kruse 2009).
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2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser
2.1.3 Bedingungen im Gewässersystem Eine dritte maßgebliche Rahmenbedingung für die Entstehung von Hochwasser stellt das Gewässersystem des Flusseinzugsgebietes dar. Der Querschnitt des Gewässers, das Gefälle, der Wasseraustausch mit dem Flusseinzugsgebiet, die Speicherung und Stauregelung im Verlauf des Wasserkörpers und das Abflussvermögen sowie mögliche Vegetation oder Verbuschung im Flussbett bzw. Überschwemmungsbereich haben Einfluss auf den Hochwasserabfluss (vgl. Rother 2001). Diese Faktoren legen fest, wie viel und wie schnell dem Gewässer zugeflossenes Wasser direkt vom Flussbett oder von vorhandenen Überflutungsflächen aufgenommen werden kann und welcher Anteil in weiteren Retentionsräumen temporär zurückgehalten wird. Nicht selten sind die Gewässersysteme und hydraulischen Bedingungen verschiedenen anthropogenen Einflüssen ausgesetzt, wie z. B. den Regulierungen des Flusses, baulichen Eingriffen zur Ent- und Bewässerung, Eindeichungen und Uferfestlegungen, Mäanderdurchstichen und Laufbegradigungen, dem Abschneiden von Überflutungsgebieten oder dem Bau von Staustufen oder Brücken. 2.1.4 Zwischenfazit: Natürliche Prozesse und anthropogene Einflussfaktoren In den hier benannten ursächlichen Bedingungen der Hochwasserentstehung wird deutlich, dass materiell-physische Prozesse zwar einen maßgeblichen Einfluss und gestaltende Wirkung auf den Hochwasserverlauf besitzen, gleichzeitig jedoch diese natürlichen Prozesse durch menschliche Aktivitäten zum Teil stark beeinflusst sind (vgl. Tabelle 1). Insbesondere bauliche und technische Eingriffe in den Wasserhaushalt oder das Flussgebiet spielen bei den anthropogenen Interventionen eine Rolle. Dennoch verbleibt in den ursächlichen Bedingungen ein nicht zu übersehender Anteil an natürlichen Prozessen, der eigenmächtige, unberechenbare und aktive Tendenzen aufweist, auf die die Gesellschaft in ihrem Umgang mit Hochwasser reagiert bzw. reagieren muss. Dieses gesellschaftliche Handeln in der Flusslandschaft lässt sich in zwei Bereiche unterscheiden: die intendierten Aktivitäten und Regulierungen, die auf das Gewässersystem selber zielen (z. B. auf die Nutzung des Flussgebietes oder den Schutz vor Hochwasser), und diejenigen Aktivitäten, die andere Funktionen und Ziele verfolgen und in nicht-intendierter Weise auf das Gewässersystem oder das Einzugsgebiet Einfluss nehmen. Beispiele für nicht-intendierte Auswirkungen auf das Hochwassergeschehen, die zu einer Reduzierung der Retentionsflächen führen, sind u. a. Maßnahmen der Flussregulierung und die intensive Nutzung der Ufer- und
2.1 Entstehung und Verlauf extremer Hochwasserereignisse
35
Auenbereiche.23 Auch Hochwasserschutzmaßnahmen können nicht-intendierte Auswirkungen haben, indem sie zu einer Verschärfung der Hochwassersituation für die Unterlieger, also die im Unterlauf siedelnden und wirtschaftenden Flussanrainer, führen. Doch nicht nur die Tätigkeiten und Eingriffe im unmittelbaren Bereich des Gewässers beeinflussen die Hochwasserentstehung und den Hochwasserverlauf. Auch Interventionen, die nicht direkt das Gewässersystem betreffen, wirken auf das Hochwassergeschehen. Solche als sekundär zu bezeichnenden Einflüsse im Einzugsgebiet sind z. B.:
zunehmende Flächenversiegelung durch Siedlungstätigkeit, die die natürlichen Speichereigenschaften des Bodens vermindert und zu einem raschen, zentralisierten Abfluss von Niederschlägen führt; großflächige Entwaldungen oder Waldschäden (z. B. durch sauren Regen oder Stürme), die insbesondere in den Hochwasserentstehungsgebieten die Speicherkapazitäten des Bodens herabsetzen; die veränderte Bodenbewirtschaftung durch die Landwirtschaft sowie anthropogene Klimaveränderungen, die nach derzeitigen Prognosen in Mitteleuropa zu einer Zunahme der Häufigkeit und Intensität von Niederschlägen führen werden.
Diese intendierten, nicht-intendierten und sekundären Aktivitäten im Flussgebiet sind Ausdruck des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Fluss und der komplexen Wechselwirkung von natürlichen und gesellschaftlichen Prozessen. Bauliche und technische Eingriffe erhalten dabei eine Sonderstellung. Maßnahmen des technischen Hochwasserschutzes oder Wasserbaus (z. B. Uferbefestigungen, Hochwasserschutzdeiche oder Flussverbauung) sind einerseits Ergebnis der gesellschaftlichen Bemühungen sich vor Hochwasser zu schützen und die Vorteile des Flussgebiets zu nutzen; gleichzeitig sind sie andererseits zum Teil bereits seit Jahrhunderten als irreversible materiell-physische Gegebenheiten Bestandteil des Flussgebietes und maßgebliche Faktoren für den Wasserabfluss.24
23
24
Z. B. Staustufen, Uferbefestigungen oder Mäanderdurchstiche, Nutzungen der Auenbereiche zur Kiesgewinnung, Wasserverwertung für industrielle oder landwirtschaftliche Nutzungen oder Maßnahmen zum Schutz der besiedelten und wirtschaftlich genutzten Bereiche vor Hochwasser durch Deichbau und Polder. Insofern kann die bauliche Infrastruktur des Hochwasserschutzes als sozio-technisches System bezeichnet werden, das ähnliche Merkmale wie andere bauliche Infrastruktursysteme aufweist, wie z. %. spezifische räumliche Ausbreitung, erhebliches Störpotenzial durch funktionale Abhängigkeit gesellschaftlicher Teilsysteme, staatsnahe Regulation, zeitlich und räumlich hohe Persistenz (vgl. Monstadt 2004, 29).
36
2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser
Tabelle 1: Einflussfaktoren auf Hochwasserereignisse (eigene Darstellung)
1. Meteorologische und klimatologische Bedingungen
2. Speichervermögen im Flusseinzugsgebiet
3. Gewässersystem
Einflussfaktoren
Anthropogene Veränderungen
x
Zeitliche und räumliche Verteilung des Niederschlagsgeschehens
x
Boden- und Vegetationsverhältnisse, Temperaturverhältnisse
Klimatologische Veränderungen durch den anthropogen verursachten Klimawandel mit regional unterschiedlichen Auswirkungen
x
Überlagerung der meteorologischen und klimatologischen Faktoren
x
Topografie
x
x
Boden- und Vegetationsverhältnisse
Wald- und Bodenbewirtschaftung
x
Flächenversiegelung
x
Grundwasserverhältnisse
x
x
Gewässerzustand und Struktur des Gewässernetzes
bauliche Regulierung der Gewässerstruktur
x
Querschnitt und Gefälle
x
x
Wasseraustausch
bauliche Regulierung des Gewässersystems
x
Speicherung und Stauregelung
x
Ent- und Bewässerung
x
Eindeichung, Uferbefestigung und Staustufen
x
Abflussvermögen und Vegetation
2.2 Risiko und Vorsorge
37
2.2 Risiko und Vorsorge im Umgang mit Hochwasser Hochwasser ist „der wichtigste – mehr oder weniger natürliche – Träger von Risiken in Stromtälern“, resümiert Pohl (2003, 200). Ungefähr ein Drittel der volkswirtschaftlichen Schäden so genannter Naturkatastrophen weltweit sind auf Überschwemmungen zurückzuführen (vgl. Münchner Rück 2005, 9). Hochwasserereignisse stellen dabei eine nicht unerhebliche Gefahr für Leib und Leben dar. Insbesondere in Ländern Südamerikas, Afrikas und Südostasiens kommt es bei Überschwemmungen häufig zu zahlreichen Toten. Doch auch das Hochwasserereignis 2002 an Elbe und Donau forderte insgesamt 60 Todesopfer in den betroffenen mitteleuropäischen Ländern. Es wird geschätzt, dass weltweit jährlich ca. 200.000 Todesopfer durch Überschwemmungen zu beklagen sind (vgl. Dikau, Weichselgartner 2005, 51). Zudem entstehen durch Überschwemmungen materielle Schäden an Gebäuden und Infrastruktur, in der Landwirtschaft und durch Produktionsausfall. Mindestens 20 Millionen Menschen sind jedes Jahr direkt durch Hochwasser betroffen (ebd.). Materielle Schäden werden in Schadensbilanzen meist ökonomisch erfasst (vgl. u. a. Münchner Rück 2005, 12). Die Schäden bei den Überschwemmungen an Elbe und Donau im Sommer 2002 werden allein in Deutschland mit 11,6 Milliarden Euro beziffert (vgl. Thieken et al. 2006). Es entstehen jedoch auch viele Arten von Schäden, die sich nicht ohne Weiteres monetär erfassen und bewerten lassen. Solche intangiblen Schäden sind z. B. negative Konsequenzen für Personen oder Ökosysteme sowie indirekte Schäden, die in räumlicher und zeitlicher Distanz zum Ereignis auftreten. Diese indirekten Schäden stehen in engem Zusammenhang mit der zunehmenden Vulnerabilität in stark vernetzten Gesellschaften.25 Hochwasser stellt also ein Risiko für die Besiedlung und Bewirtschaftung der Flussgebiete dar. Überschwemmungen können erhebliche Schäden verursachen. In der Risikoforschung existieren verschiedene Definitionen von Risiko und des Zusammenhangs zwischen Risiken und Schäden. Der probabilistische Ansatz bezeichnet mit Risiko die Wahrscheinlichkeit, dass durch unerwünschte Ereignisse Schäden für Menschen, Sachgüter und die Natur eintreten (vgl. Dikau, Weichselgartner 2005, 180). Der entscheidungstheoretische Risikoansatz basiert darauf, dass Risiken mit einer Entscheidung verbunden sind, in der zwischen unerwünschten Schadensereignissen und gewünschten Chancen abgewogen wird.
25
In der Katastrophenforschung und Ökosystemforschung werden inzwischen sehr vielfältige Vulnerabilitätskonzepte verhandelt, deren theoretische Reichweite sehr unterschiedlich sein kann (vgl. u. a. Birkmann 2008; Adger 2006).
38
2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser
Luhmann (1990) nutzt eben jenes Kennzeichen der Entscheidung als Differenz zwischen Gefahr und Risiko und entwickelt daraus eine akteursbezogene Perspektive. Eine Gefahr liegt dann vor, wenn potenzielle Schäden auf Ursachen zurückzuführen sind, die außerhalb der Kontrolle der Betroffenen liegen.26 Eine Gefahr wird zum Risiko, wenn die Möglichkeit besteht, gezielt auf einen Schadenseintritt Einfluss zu nehmen, und bewusst mögliche Schäden in Kauf genommen werden. Risiken sind somit von individuellen und gesellschaftlichen Entscheidungen abhängig. In der sozialwissenschaftlichen Risikoforschung oder der räumlichen Planung werden in Anlehnung an ein solchermaßen erweitertes Verständnis Risiken akteursbezogen bestimmt.27 Um neben der Wahrscheinlichkeit, der Abwägung zwischen Risiken und Chancen sowie der Entscheidungsmacht von Akteuren ein weiteres Spektrum an Faktoren zu berücksichtigen, wird in der Katastrophenvorsorge der Risikobegriff vielfach aus der Verbindung von (Natur-)Gefahr und Vulnerabilität abgeleitet. Die Vulnerabilität berücksichtigt insbesondere soziale, ökonomische, technische und natürliche Faktoren, die den Grad der Anfälligkeit von Personen, Gesellschaften oder Infrastruktur gegenüber einer Naturgefahr je nach Ereignisstärke bestimmen (vgl. Dikau, Weichselgartner 2005, 94 ff.). Durch den Einbezug der Vulnerabilität und der individuellen oder gesellschaftlichen Entscheidungsmacht entsteht in der sozialwissenschaftlichen Risikoforschung ein interaktions- und prozessorientierter Risikobegriff für das Management von Hochwasserrisiken, der auch der folgenden Argumentation zugrunde gelegt wird. Für die gezielte Interaktion und den planvollen Umgang mit Gefahren und Risiken spielt die mit Risiken verbundene Unsicherheit eine zentrale Rolle. Daher werden im Folgenden zunächst die Problematik der Planung und Entscheidung unter Unsicherheit entwickelt und Lösungsansätze der vorsorgenden Planung diskutiert (vgl. Kap. 2.2.1). Anschließend wird diese Problematik auf das Hochwassermanagement übertragen und konzeptionelle Bestandteile aus der Risiko- und Katastrophenforschung sowie der Raumordnung für den Umgang mit Hochwasser systematisiert (vgl. Kap. 2.2.2).
26 27
Mit Kontrolle ist im Falle von Naturgefahren, in denen anthropogene und natürliche Prozesse in Wechselwirkung treten, die Einflussnahme auf Entstehung, Verlauf und Konsequenzen von Extremereignissen gemeint (vgl. Greiving 2002, 71). Nicht immer sind diejenigen, die Entscheidungen über Risiken und Chancen treffen, auch jene, die von den negativen Auswirkungen eines eingegangenen Risikos betroffen sind. Je nach Entscheidungsmöglichkeit verschiedener Akteure kann es durchaus zu konfliktträchtigen Situationen zwischen Betroffenen und Entscheider/innen kommen (vgl. Greiving 2002, 15 ff.).
2.2 Risiko und Vorsorge
39
2.2.1 Planung und Entscheidung unter Unsicherheit Sicherheit ist ebenso wie Risiko ein relationales Konzept, da es von den jeweiligen Akteursperspektiven abhängig ist. Greiving (2002) bezeichnet es sogar als „soziale Fiktion, da es Sicherheit im Hinblick auf das Nicht-Eintreten künftiger Nachteile nicht gibt“ (ebd., 15). Vielmehr sind Aussagen über zukünftige Entwicklungen immer mit Unsicherheiten verbunden. Planerische Entscheidungen über das Management von Hochwasser und Hochwasserrisiken werden vor dem Hintergrund ständiger Unsicherheit getroffen, da die Faktoren für die Entstehung und den Verlauf von Hochwasserereignissen sowie Schadensursachen vielfältig und voller Wechselwirkungen sind. Weichselgartner (2002) resümiert, dass Hochwasserereignisse von so vielen verschiedenen natürlichen und anthropogenen Variablen abhängig sind, dass kein Hochwasser dem anderen gleicht und damit ihre Vorhersagbarkeit mit großen Unsicherheiten verbunden ist (ebd., 138). Nicht-Linearität und Diskontinuitäten in Raum und Zeit spielen dabei eine prägende Rolle. Mit Unsicherheit ist ein Zustand gemeint, in dem sich ein Risiko nicht abschätzen lässt, weil sichere Angaben über Wahrscheinlichkeit oder Schadensausmaß nicht möglich sind. Der Begriff der Unsicherheit bezieht sich bei Prognosen vor allem auf die Schwierigkeit der quantitativen Charakterisierung des Noch-nicht-genau-Gewussten.28 Diese Schwierigkeit resultiert vor allem aus den Variabilitäten der zugrunde liegenden stochastischen Prozesse (natural uncertainty) bzw. auf Problemen bei der Messung und der Interpretation von Prozessen (epistemic uncertainty) (vgl. u. a. Merz, Thieken 2005; Hutter, Schanze 2008; Jessel, Tobias 2002). So sind z. B. Prognosen über die zukünftige Entwicklung von Extremereignissen unter Bedingungen des Klimawandels mit hohen Unsicherheiten behaftet. Im Hochwassermanagement kommt noch ein dritter Typ von Unsicherheit hinzu: So sind nicht nur die Abschätzung und Bewertung von Gefahren, Risiken und möglichen Konsequenzen mit Unsicherheiten belegt. Auch die Sicherheit von Schutzmaßnahmen lässt sich nicht eindeutig abschätzen. Aussagen über die Effektivität und Effizienz der zur Entscheidung stehenden Maßnahmen beziehen sich meistens auf computerbasierte Simulationen. Petrow et al. (2006) erwarten, dass eine Evaluation der Effektivität und Effizienz von Schadensminderungsmaßnahmen erst in zwanzig Jahren aussagekräftig sein wird (ebd., 727). 28
Wissen ist ein relationaler Begriff. Etwas gilt als gewusst, wenn ein weitgehender Konsens über den Wissensanspruch besteht. Von unsicherem Wissen ist die Rede, wenn widersprüchliche Wissensansprüche bestehen. Nichtwissen bezeichnet die Grenzen des Wissens. Es liegt dann vor, wenn gar keine Wissensansprüche gestellt werden oder gestellt werden können, aber erkannt ist, dass etwas nicht gewusst wird (vgl. Groß 2007; Kuhlicke, Kruse 2009).
40
2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser
Folgenabschätzungen planerischen Handelns und Prognosen über zukünftige Entwicklung von räumlichen und gesellschaftlichen Strukturen gehören zu den grundlegenden Aufgaben der räumlichen Planung.29 Sie bilden die Grundlage für Planungsentscheidungen. In der Planungskrise der 1960er und 1970er Jahre veränderten sich jedoch die Prämissen, unter denen planerisches Handeln stattfindet (vgl. u. a. Faludi 1973; Forester 1984; Mayntz 1997; Ritter 1998). Das Weltbild einer umfassenden räumlichen Planung mit rationalem Ordnungs- und Gestaltungsanspruch wurde durch die Erkenntnis in Frage gestellt, dass sich Gesellschaft als hochkomplexes Handlungsfeld durch lineare, einfach gebaute Wirkungsketten aus steuerungspolitischer Sicht kaum beschreiben, geschweige denn beeinflussen lässt. Erkenntnisse der Kybernetik und Systemanalyse wurden in den 1970er Jahren auf die Planung übertragen. Zufall, Spontanität und Unberechenbarkeit sollten in Entscheidungen über die möglichen zukünftigen Entwicklungen einbezogen werden (vgl. Zibell 1995). Damit stellten sich auch neue Anforderungen an die Prognose und Folgenabschätzung. In dem sich daraufhin entwickelnden Planungsverständnis wird räumliche Planung als prozesshaftes Vorgehen und interaktiver sowie iterativer Erarbeitungsprozess verstanden. Planung soll mit flexiblen Instrumenten auf Veränderungen ihrer Ausgangsbedingungen schnell und situationsgerecht reagieren. Der Anspruch der umfassenden, zentral organisierten Planung weicht der Vorstellung einer kooperativen Planung, die Kommunikations- und Konsensbildungsprozesse zwischen beteiligten und betroffenen Akteuren organisiert und Planungsinhalte als Gegenstand politischer Auseinandersetzung aufbereitet (vgl. Ritter 1998, 18 ff.). Auch die Schnittstellen von Wissenschaft und Politik bzw. politischer Planung haben sich verändert. Lange und Garrelts (2007) diagnostizieren gerade vor dem Hintergrund des Managements von Hochwassergefahren eine Neubestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik, zwei gesellschaftlichen Systemen, die sich zunehmend gegenseitig beeinflussen. Der Umgang mit Unsicherheit und Risiko in den Entscheidungsprozessen führe dazu, dass sich die Grenzen von Politik und Wissenschaft auflösen: „In fact, science is influencing political decision making increasingly, but science is being politicized increasingly, too“ (ebd., 264). Parallel zu diesem Wandel des Planungsverständnisses und angesichts zunehmender Unsicherheit über zukünftige Entwicklungen und Folgen von steuernden Eingriffen in Gesellschaft und Umwelt entwickelte sich das Konzept der Vorsorge zu einem grundlegenden Prinzip der Umweltplanung und Umweltpoli29
Unter räumlicher Planung wird in dieser Arbeit die Entwicklung von räumlichen Leitvorstellungen und deren Umsetzung verstanden. Raumplanung umfasst in Deutschland die drei überfachlichen Planungsebenen: Bundesraumordnung, Raumordnung in den Ländern sowie kommunale, städtebauliche Planung (vgl. Turow 2005).
2.2 Risiko und Vorsorge
41
tik (vgl. u. a. Renn 2002; Jessel, Tobias 2002, 22 ff.; von Haaren 2004). Es dient dazu, in Regulations- und Steuerungsprozessen trotz Unsicherheiten und Nichtwissen über mögliche Gefahren und Risiken des menschlichen Handelns Entscheidungen über den gesellschaftlichen Umgang mit der natürlichen Umwelt zu treffen. Unsicherheit und Nichtwissen sollen kein Argument dafür sein, Schutzoder Gegenmaßnahmen zu verzögern oder auszusetzen. Gleichzeitig soll in einem vorsorgenden Ansatz die Kosten-Nutzen-Relation gewahrt bleiben, was sich angesichts des nicht-gewussten Nutzens nur sehr ungenau umsetzen lässt. Das Konzept der Vorsorge befindet sich also in einem Spannungsfeld zwischen einer uneffizienten Überregulation und einer Unterregulation, die im Schadensfall nachsorgend zu sehr hohen Kosten für die Allgemeinheit führt. Gerade vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Überlegungen ist der Vorsorgebedarf oftmals größer als die finanziellen und technologischen Möglichkeiten, Vorsorge zu betreiben. Dennoch gilt das Vorsorgeprinzip neben dem Verursacherprinzip und dem Kooperationsprinzip als ein zentraler Grundsatz der Umweltpolitik, des Umweltrechts und der räumlichen Planung. Mit dem zunehmenden Bewusstsein für lokale und regionale Umweltprobleme in den 1970er Jahren wurde das Vorsorgeprinzip zum ersten Mal in der politischen Reaktion auf das Waldsterben 1974 angewendet (vgl. EEA 2001). Obwohl bis heute seine konzeptionelle Unschärfe kritisiert wird, etablierte sich das Vorsorgeprinzip in verschiedenen Bereichen der deutschen Umweltgesetzgebung und wurde Bestandteil verschiedener internationaler Abkommen.30 Das Vorsorgeprinzip gewinnt seit einigen Jahren auch im Management von Technikrisiken und Naturgefahren, das häufig mit Unsicherheiten über Verlauf und Auswirkungen von Naturgefahren sowie Wirksamkeit der Gegenmaßnahmen umzugehen hat, an Bedeutung (vgl. u. a. Karl, Pohl, Zimmermann 2005; Renn 2002; von Gleich 1999). Der im Risikomanagement lange verwendete probabilistische und entscheidungstheoretische Risikobegriff wird vor dem Hintergrund wachsender Unsicherheiten insofern zunehmend als reduktionistisch kritisiert. Die Bestimmung der Wahrscheinlichkeiten eines Schadenseintritts und die anschließende Abwägung von Risiken und Chancen werde einerseits den vielfältigen Faktoren, die das Ausmaß des Schadens und die Varianz der betroffenen Menschen und Güter bedingen können, nicht gerecht (vgl. Pohl 2005; Klinke, Renn 2002). Andererseits setzen die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten und die Abwägung von Risiken gut informierte Entscheidungen voraus. 30
Das Vorsorgeprinzip ist u. a. in verschiedene deutsche Umweltgesetze (u. a. im ROG, BImSchG, UVPG und WHG), in zahlreiche Programme und Richtlinien der Europäischen Union (vgl. Europäische 2000) sowie in die UN-Deklaration zur Nachhaltigen Entwicklung integriert.
42
2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser
Da diese Informiertheit und das Wissen um Wahrscheinlichkeiten angesichts der bestehenden Unsicherheiten und Grenzen des Wissens (nicht nur im Kontext des Klimawandels) immer weniger gegeben sind, gewinnen resilienzorientierte Strategien an Bedeutung, die das Vorsorgeprinzip aufgreifen (vgl. Klinke, Renn 2002; Kuhlicke, Kruse 2009). Das Konzept der Resilienz stammt ursprünglich aus der Ökologie und bezeichnet in den ersten Entwürfen vor allem die Widerstandsfähigkeit von Ökosystemen gegenüber Veränderungsprozessen (vgl. Holling 1973; Folke 2006). Inzwischen wird Resilienz auch auf sozialwissenschaftliche Problemstellungen übertragen, um jene Bedingungen zu analysieren, die dazu beitragen, dass gesellschaftliche bzw. sozial-ökologische Systeme mit Veränderungen umgehen und sogar davon profitieren können (vgl. Walker et al. 2004). Resilienzorientierte Strategien zielen darauf, die Widerstandskraft und Robustheit von Systemen gegenüber Überraschungen und Unvorhergesehenem zu stärken (vgl. Klinke, Renn 2002, 1087). Der Soziologe Clausen (2003) bezeichnet Katastrophen als „RealFalsifikation“ von Vorhersagbarkeit und planbarer Gestaltung einer nachhaltigen Gegenwart. Sie führen das Unvermögen, dem Ungewollten und Ungeplanten mit gesellschaftlichen Gegenmaßnahmen zu begegnen, vor Augen. Dieses ‚menschliche Scheitern’ wird in der vorsorgeorientierten Katastrophensoziologie (vgl. u. a. Felgentreff, Dombrowsky 2008; Voss 2006) und der resilienzorientierten Risikoforschung (vgl. u. a. Klinke, Renn 2002, 164 ff.; Lebel et al. 2006; Bohle 2008) als Impulsgeber, Chance und „Window of opportunity“ für eine Neuausrichtung und langfristige Anpassung der Gesellschaft (um)gedeutet. Für die politische Steuerung und räumliche Planung ergibt sich daraus die Herausforderung, eine vorsorgende Planungskultur zu entwickeln und umzusetzen, die auf nichtgewusste Überraschungen und ungewollte Störungen reagiert, die Verwundbarkeit der Gesellschaft reduziert und deren Widerstandsfähigkeit erhöht. 2.2.2 Vorsorgendes Hochwassermanagement Vorsorgendes Handeln ist integrativer Bestandteil einer nachhaltigen Entwicklung und bezieht sich insbesondere auf die zeitliche Dimension der Nachhaltigkeit (vgl. Biesecker et al. 2000; Grunwald 2004). Vorsorgemaßnahmen greifen in unter Nachhaltigkeitskriterien ‚ungünstige’ Entwicklungen ein, bevor diese zu unerwünschten Ereignissen oder Prozessen führen. Vorsorge in der räumlichen Planung umfasst jedoch nicht nur eine Langfristplanung, sondern auch ein zeitliches und räumliches „Um-sich-, Vor-sich- und Hinter-sich-Schauen“ (Hofmeister, Scurrell 2006, 279).
2.2 Risiko und Vorsorge
43
Vorsorgendes Hochwassermanagement enthält also die normative Zielebene einer nachhaltigen Entwicklung. Jedoch ebenso wie das Vorsorgeprinzip als zentrales Konzept in der Umweltpolitik und Umweltplanung inhaltlich und instrumentell unscharf bleibt, müssen die Handlungsziele und Maßnahmen eines vorsorgenden Hochwassermanagements sowie die Kriterien, an denen es sich (qualitativ und quantitativ) messen lässt, inhaltlich bestimmt werden. Ein umfassendes Konzept für ein vorsorgendes Hochwassermanagement gibt es allerdings bislang nicht (vgl. Heiland 2002, 17 ff.). Die Risikoforschung und Risikomanagement, die hochwasserbezogene räumliche Planung sowie die Katastrophenforschung bieten verschiedene Ansatzpunkte für die konzeptionelle Ausgestaltung eines vorsorgendes Hochwassermanagements, die im Folgenden im Bezug auf ihre Potenziale diskutiert werden. Das Risikomanagement wird allgemein als ein Prozess konzeptionalisiert, in dem kontinuierlich Maßnahmen der Reduzierung von potenziellen Schäden an Menschen und ihrem Eigentum umgesetzt werden (vgl. u. a. Merz, Emmermann 2006; Grünewald 2005; DKKV 2003). Es werden Risiken identifiziert, analysiert und bewertet, Maßnahmen getroffen, um sie zu reduzieren, und schließlich Instrumente dafür entwickelt, wie mit den Restrisiken umgegangen werden soll (vgl. Abb. 1). Als Querschnittsdimension liegt diesem Prozess idealerweise ein Risikodialog zugrunde, der alle Beteiligten einschließt und sich auf alle Elemente des Risikomanagements bezieht (Merz, Emmermann 2006, 270 f.). Der Dialog soll Risiken transparent darstellen und offen für unerwartete Entwicklungen und unkonventionelle Lösungen sein. Dafür werden vergangene Krisensituationen aufgearbeitet, um einen Lernprozess zu initiieren, der über die übliche Suche nach den Schuldigen hinausgeht. Für den Umgang mit Hochwasser fordern Merz und Emmermann (2006) eine ständige Beobachtung und Anpassung des Risikomanagements, weil sich im Falle von Überschwemmungen die Ereignisse selber, aber auch die sozio-politischen Bedingungen für den Umgang mit Naturgefahren ständig verändern (ebd., 272). Das bezieht sich auf die Verwundbarkeit (z. B. durch die Ausweitung von Siedlungs- und Wirtschaftsräumen), die Risikowahrnehmung, Wertvorstellungen und Sicherheitsbedürfnisse, die sich als Rahmenbedingungen ändern können. Zentraler konzeptioneller Bestandteil des Risikomanagements, der sich auf ein vorsorgendes Hochwassermanagement übertragen lässt, ist also das prozessuale Verhältnis von Vorsorgebedarf (Risiken identifizieren, analysieren und bewerten) und Vorsorgemöglichkeiten (Risiken reduzieren und mit Restrisiken umgehen).
44
2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser
Mit Restrisiken umgehen
Risiken identifizieren
Risikodialog Risiken reduzieren
Risiken analysieren
Risiken bewerten
Abbildung 1:
Zyklus des Risikomanagements (nach Merz, Emmermann 2006, 266)
Die Raumordnung greift dieses Ziel der Vermeidung von Risiken als zentrale Aufgabe auf und verbindet es konzeptionell mit einer nachhaltigen Raumentwicklung (ROG § 2), jedoch ohne das dialogische Vorgehen des Risikomanagements verbindlich umzusetzen.31 Die Übertragung des allgemeinen Grundsatzes der Risikovermeidung auf den Umgang mit Hochwasser benennt vor allem das Instrument der Flächenvorsorge (§ 2 Abs. 2 Nr. 8 Satz 7 ROG): „Für den vorbeugenden Hochwasserschutz ist an der Küste und im Binnenland zu sorgen, im Binnenland vor allem durch Sicherung oder Rückgewinnung von Auen, Rückhalteflächen und überschwemmungsgefährdeten Bereichen.“
Damit verweist das Raumordnungsrecht auf die zentralen Grundsätze des Hochwasserschutzes, wie sie im Wasserhaushaltsgesetz formuliert sind (§ 31 WHG). Danach sind Oberflächengewässer so zu bewirtschaften, dass Hochwasser so weit wie möglich in der Fläche zurückgehalten werden, ein schadloser Wasserabfluss gewährleistet und der Entstehung von Hochwasser vorgebeugt wird (vgl. Breuer 2006, 618 ff.). Zentrale Instrumente dafür sind die Überschwemmungsgebiete (§ 31b WHG) und, seit der Verabschiedung des Artikelgesetzes vom vorbeugenden Hochwasserschutz vom 03.05.2005, die überschwemmungsge31
Raumordnung bezeichnet die rechtlich durch das Raumordnungsrecht geregelte, überörtliche und überfachliche Planung und Ordnung des Raumes. Im Gegensatz zur fachlichen Raumgestaltung durch die Fachplanungen (z. B. Verkehrsplanung, Wasserwirtschaft, Naturschutz) bezieht sich die Raumordnung auf die räumliche Gesamtstruktur (vgl. Sinz 2005).
2.2 Risiko und Vorsorge
45
fährdeten Gebiete (§ 31c WHG) (vgl. Albrecht, Janssen 2006a; Kap. 2.3.1; Kap. 5.1.3).32 Mit diesem Fokus auf den Erhalt und die Wiederherstellung des (natürlichen) Wasserrückhalts nimmt die räumliche Planung für die Umsetzung eines vorsorgenden Hochwassermanagements eine zentrale Position ein. Nach Petrow et al. (2006) liegen zentrale Potenziale der Vorsorge im Handlungsbereich der Raumordnung und Landesplanung, die durch ein gezieltes Management der Flächennutzungen in überschwemmungsgefährdeten Bereichen weitreichende Handlungsspielräume bei der Bewertung und Reduzierung von Schadenspotenzialen besitzen (ebd., 717 f.). Heiland (2002) weist jedoch darauf hin, dass die Akteure und Handlungsfelder beim vorsorgenden Hochwassermanagement weit über die der Raumordnung im engeren Sinne und Wasserwirtschaft hinausgehen (vgl. ebd., 28 ff.). Zentral sind weiterhin die Land- und Forstwirtschaft, der Naturschutz, die Versicherungswirtschaft, Bauleitplanung und Siedlungsentwicklung, die Bevölkerung als Betroffene und Handelnde, der Katastrophenschutz und verschiedene andere Akteure und Politikfelder, die Schnittmengen mit einem vorsorgenden Hochwassermanagement aufweisen (z. B. Tourismus, Schifffahrt, Wirtschaft) (vgl. Abb. 2). Die räumliche Planung im weiteren Sinne (vgl. Fußnote 29) besitzt in diesem breiten Akteurs- und Handlungsfeld eine Koordinierungsaufgabe, indem sie sowohl die verschiedenen Handlungszwecke und -rationalitäten der Akteure als auch die verschiedenen Planungsebenen (vertikal), verschiedenen Politikfelder (horizontal) und die natürlichen Zusammenhänge auf Flussgebietsebene berücksichtigt (vgl. Heiland 2002; Greiving 2002; Grünewald 2005, 82; ). In dieser Koordinierungsaufgabe ist die räumliche Planung insbesondere mit den drei Problemdimensionen, die Young (2002) für den globalen Umweltwandel formuliert hat, konfrontiert: das problem of fit bezeichnet die mangelnde Kompatibilität von territorialen Grenzen von Gebietskörperschaften und Naturräumen; das problem of scale benennt die mangelnde Übertragbarkeit von Gegebenheiten und Entwicklungen auf verschiedene institutionelle Ebenen; und das problem of interplay mit dem vertikale und horizontale Interaktionsproblemen zwischen verschiedenen Politikfeldern sowie zwischen Akteuren innerhalb eines Politikfeldes in den Blick genommen werden. Ein vorsorgendes, integratives und intersektorales Hochwassermanagement muss diese drei Problemdimensionen berücksichtigen (vgl. Greiving, Fleischhauer 2008). 32
Auch die EU-Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) sieht neben der Verbesserung der Gewässerqualität und der nachhaltigen Wassernutzung einen Beitrag zur Minderung der Auswirkungen von Überschwemmungen vor (Artikel 1 WRRL). Es werden allerdings keine konkreten Ziele für diese Aufgabe formuliert. Diesen Missstand hat die EU-Richtlinie über die Bewertung und das Management von Hochwasserrisiken (2007/60/EG) aufgenommen (vgl. Reinhardt 2008; Wagner 2008).
46
2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser
Wasserwirtschaft
Raumordnung
Bauleitplanung
Land-/Forstwirtschaft Kooperation
Bevölkerung
Naturschutz Katastrophenschutz Versicherungswirtschaft
Abbildung 2:
Andere Akteure
Akteure und Handlungsfelder eines vorsorgenden Hochwassermanagements (nach Heiland 2002, 4)
In Anlehnung an den Kreislauf des Katastrophenmanagements lässt sich Hochwassermanagement als ein Handlungsfeld beschreiben, in dem sich Phasen der Hochwassernachsorge und Hochwasservorsorge ergänzen (vgl. Abb. 3). Damit werden zwei zeitlich nacheinander erfolgende Phasen des Katastrophen- bzw. Hochwassermanagements genannt, die sich jedoch durchaus überschneiden können. Zur Aufgabe der Nachsorge oder Bewältigung eines extremen Hochwasserereignisses zählen der akute Katastrophenschutz, direkte Hilfe für Betroffene und die Wiederaufbauhilfe.33 Bereits in diesem letzten Schritt spielen Vorsorgeüberlegungen, z. B. durch eine an Hochwasser angepasste Bauweise, eine zentrale Rolle. Für die Phase der Hochwasservorsorge benennt das Deutsche Komitee für Katastrophenvorsorge (DKKV) folgende Aufgabenbereiche: Flächenvorsorge (z. B. Freihalten von Überschwemmungsgebieten), Eigen- und Verhaltensvorsorge (z. B. Vorbereitung der Bevölkerung auf Hochwassersituationen, Versicherung), Informationsvorsorge (z. B. Frühwarnsysteme), Erhöhung des natürlichen Wasserrückhalts (z. B. Aufforstung, Widerherstellung von Überschwemmungs-
33
Der akute Katastrophenschutz umfasst alle Maßnahmen, die im Katastrophenfalle getroffen werden, um Menschenleben, Gesundheit oder Umwelt zu schützen. Die Katastrophenvorsorge ist hingegen weiter gefasst, indem sie Maßnahmen beinhaltet, die vor dem Eintreten der Katastrophe darauf zielen, das Katastrophenrisiko oder den Umfang der Schäden zu verringern (siehe Abb. 3, rechte Seite der Grafik).
2.2 Risiko und Vorsorge
47
flächen) und technischer Hochwasserschutz (z. B. bauliche Anlagen der Wasserrückhaltung) (vgl. DKKV 2003).34 Zu einem vorsorgenden Hochwassermanagement zählen also vielfältige Politikfelder, Akteure und Aufgabenbereiche, die bereits für die Phase des Wiederaufbaus, jedoch vor allem für die Vorbeugung und Vorbereitung (preparedness) auf ein nächstes Extremereignis relevant sind. Der vorsorgende Umgang mit Hochwasser wird damit auch als Lernprozess konzeptionalisiert, indem von einem Kreislauf ausgegangen wird, in dem Schadensereignisse in ihrem Umfang und in ihrer Häufigkeit variierend wiederkehren und mit jedem Schadensereignis eine Anpassung der Schutz- und Vorsorgestrategien erfolgt (vgl. DKKV 2003; Pahl-Wostl et al. 2007b; Hutter, Schanze 2008).
•Flächenvorsorge •Bauvorsorge •Wiederaufbau
•Eigen-/ Verhaltensvorsorge
•Aufbauhilfe
•Informationsvorsorge
•Nothilfe
•Wasserrückhalt
•Katastrophenschutz
•Technischer Hochwasserschutz •Bauvorsorge
Abbildung 3:
34
Hochwassermanagement-Kreislauf (verändert nach DKKV 2003, 19)
An dieser Zuordnung wird deutlich, wie unterschiedlich im fachlichen Diskurs Begrifflichkeiten benutzt und konzeptionalisiert werden. Während im Katastrophenmanagement der technische Hochwasserschutz der Vorsorgeseite zugeordnet wird, stellt die Hochwasserforschung den technischen Hochwasserschutz als nachsorgendes Leitbild einem vorsorgenden, integrativen und intersektoralen Hochwassermanagement gegenüber (vgl. Kap. 2.3.1).
48
2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser
2.2.3 Zwischenfazit: Konzeptionelle Bestandteile eines vorsorgenden Umgangs mit Hochwasser Zusammenfassend stellt Hochwasser eine relevante Gefahr für das Leben und Wirtschaften in Flussgebieten dar. Menschen nutzen nicht nur die vielfältigen Vorteile eines Flussgebietes, sondern setzen sich gleichzeitig mehr oder weniger bewusst den Risiken einer Überschwemmung aus. Diese Risiken lassen sich nicht exakt bestimmen und bewerten, da die Wahrscheinlichkeit, der Verlauf und die Konsequenzen von Hochwasserereignissen sowie die Verwundbarkeit von Individuen, Siedlungen oder Infrastrukturen von vielfältigen natürlichen und anthropogenen Einflussfaktoren abhängen. Daraus resultiert eine mehrschichtige Unsicherheit, mit der beim Management von Hochwasserereignissen und der Planung von Hochwasserschutz umgegangen werden muss. Das Konzept der Vorsorge zielt darauf, in Planungsprozessen Entscheidungen über den gesellschaftlichen Umgang mit der natürlichen Umwelt trotz Unsicherheit über Wahrscheinlichkeiten und erwartbare Schadenspotenziale sowie Nichtwissen über mögliche Ereignisse oder zukünftige Entwicklungen zu treffen. In Umweltpolitik, Umweltrecht und Umweltplanung wird das Vorsorgeprinzip zwar vielfach verwendet, verbleibt als Handlungsprinzip jedoch unscharf (vgl. Kap. 2.2.1). Diese konzeptionelle und handlungspraktische Unschärfe wird auch durch bestehende Konzepte eines vorsorgenden Hochwassermanagements nicht aufgehoben. Bisher wird vorsorgendes Hochwassermanagement vor allem als normatives Konzept oder Leitbild einem technischen Hochwasserschutz gegenübergestellt. Folgende Kernpunkte können aus bisherigen konzeptionellen Ansätzen aus dem Risikomanagement, der Raumordnung und dem Katastrophenmanagement für ein vorsorgendes Hochwassermanagement abgeleitet werden (vgl. Kap. 2.2.2):
Es wird als dialogorientiert konzipiert. Risiken und Risikostrategien sollten also jeweils akteursbezogen verhandelt und bewertet werden. Damit beinhaltet das vorsorgende Hochwassermanagement einen relationalen Zugang, der jeweils von den beteiligten und betroffenen Akteuren abhängt. Es beinhaltet vielfältige Aufgabenbereiche und betrifft diverse Akteure und Politikfelder. Daher ist die räumliche, vertikale und horizontale Koordinierung von Nutzungs- und Schutzansprüchen der Akteure im Flussgebiet eine zentrale Aufgabe. Vorsorgendes Hochwassermanagement bezieht sich vor allem auf mittelund langfristige Handlungsoptionen und ergänzt damit die kurzfristigen Aufgaben der Katastrophenbewältigung. Der Zeitbezug ist also ein weiterer
2.3 Strategische Veränderungsprozesse
49
zentraler konzeptioneller Bestandteil des Hochwassermanagements. Werden extreme Hochwasserereignisse nicht als singuläre Ereignisse, sondern als wiederkehrende Bestandteile des Lebens und Wirtschaftens im Flussgebiet aufgefasst, so ist das vorsorgende Hochwassermanagement Teil eines Anpassungsprozesses, in dem aus Schadensereignissen für zukünftige Vermeidung gelernt wird. Zusammenfassend stellt das vorsorgende Hochwassermanagement bislang ein normatives Leitbild als Gegenkonzept für einen als defizitär beurteilten technischen und sektoralen Hochwasserschutz dar. Es lässt sich allerdings feststellen, dass die verschiedenen konzeptionellen Bestandteile aus den überwiegend anwendungsbezogenen Handlungsfeldern des Risikomanagements, der Raumordnung und des Katastrophenmanagements noch kein integriertes, theoretisches und handlungsbezogenes Konzept darstellen, das den vielschichtigen Anforderungen der Hochwasserproblematik, insbesondere der inhärenten Unsicherheit und sozial-ökologischen Komplexität, gerecht wird. Inwieweit die konzeptionellen Bestandteile dieses in groben Umrissen skizzierten Konzepts eines vorsorgenden Hochwassermanagements Berücksichtigung im sich verändernden strategischen Umgang mit extremen Hochwasserereignissen finden, wird im Folgenden diskutiert. 2.3 Strategische Veränderungsprozesse im Umgang mit Hochwasser Grundsätzlich lassen sich drei strategische Grundformen im Umgang mit Hochwasser unterscheiden: die Beherrschung des Hochwassers, die Anpassung an Hochwasser und die Reduzierung von Hochwasser (vgl. dazu Petrow et al. 2006, 718; Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007, 41 ff.).
Die Beherrschung der Natur wird als grundlegendes Paradigma des Mensch-Technik-Natur-Verhältnisses und damit als eine Grundideen der Moderne bezeichnet (vgl. Leiss 2003; von Gleich 1999; van der Loo, van Reijen 1997). Im Umgang mit Hochwasser geht es um die Kontrolle und Steuerung des Hochwassergeschehens durch vor allem baulich-technische Maßnahmen, die die Überschwemmung besiedelter oder bewirtschafteter Bereiche verhindern sollen (z. B. Hochwasserdeiche, Wehre, Flutungsrinnen etc.). Anpassungsstrategien zielen darauf, Schäden durch Überschwemmungen zu minimieren. Hier wird die Möglichkeit der Überflutung in Kauf genommen und versucht, die negativen Auswirkungen möglichst gering zu halten. Dies
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2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser geschieht überwiegend durch nicht-bauliche Maßnahmen wie z. B. Gefahrenkarten, hochwasserorientierte Raum- und Flächenplanung, Versicherungssysteme, Frühwarnsysteme oder Stärkung des Risikobewusstseins. Eine Risikominderung kann aber auch durch bauliche oder technische Maßnahmen erreicht werden, wie beispielsweise die bauliche Anpassung von Gebäuden im Überschwemmungsbereich sowie die Umsiedlung von Ortschaften oder Wirtschaftsbetrieben. Die Reduzierung von Hochwasser schließlich zielt einerseits auf die Minderung der abfließenden Niederschläge durch Wasserrückhalt in den Entstehungsgebieten sowie andererseits auf die Minderung der Hochwasserspitzen durch gesteuerte oder ungesteuerte Flutung von Überschwemmungsflächen.
Diese grundlegenden Strategietypen finden sich in unterschiedlicher Ausformung und Kombination in den politischen und planerischen Handlungskonzepten – dem technischen Hochwasserschutz ebenso wie dem vorsorgenden Hochwassermanagement – wieder. Wie sich der strategische Umgang mit Hochwasser verändert und welche Faktoren diesen Transformationsprozess beeinflussen, wird im Folgenden ausgeführt. 2.3.1 Strategien des Hochwasserschutzes im Wandel Angesichts der Krise im Umgang mit Hochwasser ist die zentrale Frage für die strategische und politische Planung, wie Veränderungsprozesse verlaufen, auf welche Strategien die handelnden Akteure dabei zurückgreifen, welche Faktoren auf Richtung und Verlauf der Transformation Einfluss haben und inwieweit und mit welchen Mitteln dieser Prozess gesteuert werden kann.35 Verschiedene Studien jüngeren Datums differenzieren die grundlegenden Strategien zum Umgang mit Hochwasser weiter aus und ordnen sie in einen längerfristigen Veränderungsprozess ein (vgl. van der Werff 2004; Adams, Perrow, Carpenter 2004; Penning-Rowsell, Johnson, Tunstall 2006; Lange, Garrelts 2007). Gemeinsam ist diesen Studien, dass sie in verschiedenen Fallbeispielen einen Strategiewandel von einer technisch-dominierten Beherrschung des Hochwassers zu einem vorsorgenden Umgang mit Hochwasser ausmachen, der Anpassungs- und Reduzierungsstrategien integriert und in dem Risiken proaktiv verhandelt und in die Planung einbezogen werden. Gleichzeitig werden in den Studien unterschiedliche Begrifflichkeiten verwandt, um diesen Strategiewandel zu bezeichnen. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie jeweils zwei Richtungen im 35
Zur Krise des Hochwasserschutzes vgl. Kap. 1, zu konzeptionellen Charakteristika der Krise vgl. Kap. 3.1.
2.3 Strategische Veränderungsprozesse
51
Umgang mit Hochwasser benennen, die sich gegenüberstehen und die sich dem Leitbild des technischen Hochwasserschutzes oder des vorsorgenden Hochwassermanagements zuordnen lassen (vgl. zusammenfassend Tabelle 2). Tabelle 2: Gegenüberstellung zweier Leitbilder im Umgang mit Hochwasser (eigene Darstellung) Moderner Sicherheitsdiskurs im Hochwasserschutz
Postmoderner Risikodiskurs im Hochwassermanagement
Naturverhältnis
Naturbeherrschung, Beherrschung des Flusses
Reduzierung von Risiken durch Renaturierung, Partnerschaft mit dem Fluss
Ursachen
Hochwasser als natürliches Phänomen
Hochwasser auch anthropogen beeinflusst
Handlungsebene
Funktionale Trennung von Handlungsbereichen im Flussgebiet nach Politikfeldern und Gebietskörperschaften
Integriertes Flussgebietsmanagement als intersektorales Management unterschiedlicher Politikfelder und Gebietskörperschaften
Rationalität
Instrumentelle Rationalität
Anpassungsorientierte Rationalität
Maßnahmen
Bauliche, technische Hochwasserschutzmaßnahmen
Verbindung von technischen und nicht-technischen Hochwassermaßnahmen
Planungsstrategie
Masterplan
Ortsbezogenes, inkrementelles Vorgehen
Steuerungsebene
Nationalstaat/Bundesland
Multilevel-GovernanceAnsatz: Nationalstaat ergänzt durch Kooperationen auf regionaler Ebene und lokale Selbsthilfe
52
2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser
Van der Werff (2004) systematisiert in einer Fallstudie zum Hochwassermanagement in den Niederlanden am Beispiel Helhoek (Hell’s Angle) moderne und postmoderne Denk- und Verhaltensmuster zum Umgang mit Hochwasser. Moderne Strategien verfolgen vorrangig eine instrumentelle Rationalität, nach der Probleme in einem Masterplan mit Hilfe von technischen Lösungen „ein für alle Mal“ gelöst werden sollen. Naturbeherrschung, zentralistische Regulierungsformen, funktionale Trennung von Handlungsbereichen und eine reduktionistische Weltsicht dominieren diese Denk- und Handlungsmuster (vgl. ebd., 146 f.). Postmoderne Strategien im Wassermanagement seien durch den Trend der „naturalisation“ (Renaturierung) gekennzeichnet, worunter van der Werff Maßnahmen fasst, die in der oben genannten Systematisierung der Strategien zur Reduzierung von Hochwasserrisiken beitragen (z. B. der Erhalt und die Wiederherstellung natürlicher Habitate oder das Wiederauffüllen von Grundwasserspeichern). Naturalisation integriert verschiedene Belange einer nachhaltigen Wasserwirtschaft: „The trend of naturalisation facilitates integrative thinking about hitherto separately treated functions of the river basins, such as flood safety, drinking water supply, fisheries, agriculture, residence, recreation and transport“ (ebd., 147). Zu postmodernen Denk- und Handlungsmustern zählen auch eine stärkere Flexibilisierung von Entscheidungsprozessen sowie die Berücksichtigung langfristiger Prozesse, die unkontrollierbar, voller Unsicherheiten oder sogar chaotisch sein können. Auf dieser Systematisierung basierend macht van der Werff einen Trendwechsel von einem modernen zu einem postmodernen Umgang mit Hochwasser aus: „Finally, the research is facing gradual and radical shifts that occur from modern patterns to postmodern trends, and from these trends to institutionalised patterns of postmodern thought and action“ (ebd., 146). Er veranschaulicht an seinem Fallbeispiel aus den Niederlanden einen Wandel von technokratischen, staatlich gesteuerten Projekten zu eher flexiblen, integrativen, dem Naturschutz zugewandten Projekten. Diese Veränderungen gehen mit einer Verschiebung der Machtverhältnisse von einer rein staatlichen Steuerung hin zur Beteiligung von lokalen Verwaltungen und Bevölkerung sowie internationalen Organisationen einher (ebd., 147 f.).36 Ein solcher Trendwechsel sei erkennbar, auch wenn er sich noch fragmentiert und heterogen darstelle. Es handle sich um einen Komplex sich verändernder Beziehungen zwischen modernen und postmodernen Elementen. 36
Diese Ergänzung der staatlichen Steuerung durch verschiedene Steuerungsebenen und Akteure wird als Multilevel-Governance bezeichnet. Damit ist ein Steuerungsprozess gemeint, in dem Entscheidungen und deren Umsetzung nicht ‚von oben’ (top-down), z. B. auf Bundebene getroffen werden, sondern auf verschiedenen Steuerungsebenen mitbestimmt werden, z. B. von Landeseinrichtungen, Kommunen, Bürgervertreter/innen, Verbänden etc.
2.3 Strategische Veränderungsprozesse
53
Einen vergleichbaren Veränderungsprozess im Umgang mit Hochwasser erkennen Penning-Rowsell, Johnson und Tunstall (2006) in England und Wales. Sie identifizieren in ihrer Policy-Analyse des letzten Jahrhunderts drei Phasen, die sich jeweils in ihren zentralen normativen Gedanken („core normative beliefs“) als auch in den zentralen Politikmustern („core policy beliefs“) sowie in den als angemessen erachteten Instrumenten („policy instruments beliefs“) unterscheiden (ebd., 325 ff.).37 Auch für England und Wales skizzieren die Autor/ innen einen Wandel von einer Beherrschung hin zu einer Partnerschaft mit der Natur. So ergänzen in der Phase der sich seit 1990 konstituierenden „Flood risk management coalition“ ökologische Belange die bisherige Konzentration auf ökonomisches Wachstum, nationale Sicherheit und Wohlstand als zentrale Werte. Im Gegensatz zur früheren „Flood defence coalition“ (1970–1990), in der Hochwasser als natürliches Phänomen gedeutet wurde, werden Überschwemmungen seit 1990 als anthropogen beeinflusst gesehen. In der „Flood risk management coalition“ werden die technisch-instrumentellen Handlungsstrategien des baulichen Hochwasserschutzes wegen mangelnder Effektivität beim Schutz vor Hochwasser kritisiert. Technischer Hochwasserschutz solle zukünftig nur noch kombiniert mit anderen Instrumenten (z. B. Flächenmanagement, Landnutzungsänderungen, Schaffung von Retentionsräumen) in Form eines integrierten Hochwassermanagements eingesetzt werden. Der Umgang mit Hochwasser ist – ebenso wie van der Werff es skizziert – nicht mehr vorrangig staatliche Aufgabe, sondern beinhaltet private Selbsthilfe und bezieht Kommunen sowie lokale Akteure in die Strategieentwicklung ein. Zusammenfassend resümieren die Autor/innen: „The trend in these debates now appears to be towards a greater reliance on a location-specific mix of non-structural and people-centred flood mitigation actions and a lessening of the influence of traditional engineering approaches” (Penning-Rowsell, Johnson, Tunstall 2006, 336). Lange und Garrelts (2007) und Petrow et al. (2006) stellen schließlich auch für Deutschland einen partiellen Strategiewechsel im Umgang mit Hochwasser fest. Sie argumentieren, es habe einen paradigmatischen Wandel vom bisher dominanten Sicherheitsdiskurs zu einem Risikodiskurs gegeben („paradigm shift towards ‘living with floods’“, Lange, Garrelts 2007, 274). Die Gesellschaft passe sich an Hochwassergefahren an. Unsicherheiten in Wissenschaft und politischen Entscheidungen würden nicht mehr ausgeklammert, sondern offen thematisiert und in Risikomanagement und Planung einbezogen. Dies verdeutlichen sie am 37
Mit diesen Kategorien verweisen die Autor/innen der Studie auf das „Advocacy Coalition Framework“, das insbesondere von Sabatier entwickelt wurde (vgl. Sabatier 1988; Sabatier, Jenkins-Smith 1993). Es bezieht im Vergleich zu anderen Politikanalysen moralische, religiöse und ideologische Einstellungen von Akteuren sowie deren grundlegende Politikverständnisse als zentrale Faktoren für Politikentwicklung ein.
54
2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser
Beispiel des Hochwasserschutzgesetzes, das 2005 vom Bundestag als Artikelgesetz beschlossen wurde (vgl. Breuer 2006). Den Wandel zum Risikoparadigma machen sie an der Planungskategorie der überschwemmungsgefährdeten Gebiete (§ 31c WHG) fest, nach der auch Gebiete als hochwassergefährdet eingestuft und kartiert werden müssen, die von Deichen geschützt sind. Damit würde der potenziellen Gefahr Rechnung getragen, dass die vorhandenen Deiche brechen oder überflutet werden könnten.38 Monstadt und Moss (2008) machen diesen Veränderungsprozess auch in anderen Politikfeldern fest. Nicht nur im Hochwasserschutz und der Wasserwirtschaft, sondern auch im Naturschutz sowie in der Land- und Forstwirtschaft kam es in Deutschland in den letzten Jahren zu Politikinnovationen durch steigendes Bewusstsein für intersektorale Zusammenhänge, wachsendes Interesse an Biodiversität und Wasserqualität im Flussgebietskontext und erhöhten Reformdruck nach vergangenen Hochwasserkatastrophen (vgl. auch Monstadt 2008a, 178 ff.).39 Zusammenfassend zeichnen diese Studien eine dichotome Gegenüberstellung zweier Leitbilder im Umgang mit Hochwasser (vgl. Tabelle 2). Sie rekonstruieren in Fallstudien einen Strategiewandel von einem am modernen Sicherheitsdiskurs orientierten technischen Hochwasserschutz zu einem am postmodernen Risikodiskurs orientierten vorsorgenden Hochwassermanagement. Weitgehend offen bleibt in den Studien, welche Faktoren einen solchen Wandel beeinflussen und wie sich die Handlungsspielräume der Akteure in diesen Prozessen verändern. 2.3.2 Faktoren des Wandels und Handlungsspielräume der Akteure Für die Veränderungsprozesse im Umgang mit Hochwasser ist eine zentrale Frage, wie sich der Wandel von einem technischen Hochwasserschutz zu einem vorsorgenden Hochwassermanagement vollzieht und welche Faktoren den Wandel beeinflussen. In den Planungswissenschaften und in der Policy-Forschung werden verschiedene Prozessmerkmale beschrieben, die Einfluss auf einen
38
39
Bis dahin wurden nur Gebiete als Überschwemmungsgebiete gekennzeichnet, die nicht durch Deiche geschützt sind (§ 31b WHG). Zu der neuen Bezogenheit von Sicherheit und Unsicherheit durch die eingeführte Planungskategorie der überschwemmungsgefährdeten Gebiete vgl. auch Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007, 102 f. Die für die Untersuchungsregion Mulde-Mündung relevanten institutionellen Rahmenbedingungen und Veränderungen im Hochwasserschutz sowie in anderen Politikfeldern werden in Kap. 5.1.3 erläutert.
2.3 Strategische Veränderungsprozesse
55
grundlegenden Strategiewandel (policy change) nehmen können (zusammenfassend Abb. 4; vgl. Kingdon 1984; Sabatier, Jenkins-Smith 1993; Sabatier 1999).40 Wie Kingdon (1984) und später Birkland (2006) zeigen, bedarf es zum einen so genannter Möglichkeitsfenster (windows of opportunity) oder fokussierender Ereignisse (focussing events), die einen Wandel auslösen und ermöglichen. Erst krisenhafte Situationen führten dazu, dass bis dahin unabhängig voneinander geführte Problemdiskurse, Lösungsdiskurse und politische Umsetzungsdiskurse verbunden und Transformationsprozesse beschleunigt werden (multiple streams). Zum anderen basieren Veränderungsprozesse auf Phasen eines inkrementellen Wandels, also Phasen, in denen sich gesellschaftliche und politische Konstellationen kontinuierlich und in kleinen Schritten weiterentwickeln. Diese längeren Phasen des stetigen Wandels werden von kurzen Phasen rapider Veränderung unterbrochen und dadurch ‚punktiert’ (punctuated equilibrium) (vgl. Baumgartner, Jones 1993).41 Verschiedene Studien, die den Strategiewandel im Umgang mit Hochwasser untersucht haben, gehen davon aus, dass grundlegende Veränderungen im Hochwassermanagement gerade durch eine Verbindung von inkrementellen Veränderungen und katalytischen Ereignissen entstehen (vgl. Penning-Rowsell, Johnson, Tunstall 2006; Lange, Garrelts 2007). Penning-Rowsell, Johnson und Tunstall (2006) bezeichnen eine solche Transformation als einen langfristigen Lern- und Strategieentwicklungsprozess: „Each crisis or unforeseen event presents an opportunity for social learning and accelerated policy enhancement, as punctuations within the slower timeframe of incremental moves towards more sustainable policies“ (ebd., 336).42 Diese Intensivierung des Veränderungsprozesses nach Extremereignissen basiere nicht unbedingt auf der Entwicklung von neuen Ideen, sondern bringe bereits existierende, jedoch bis dahin politisch nicht umsetzbare Ideen auf die Agenda, die während der inkrementellen Phase in klei40
41 42
In den Politikwissenschaften wird der im Deutschen unscharfe Begriff der Politik durch die englischsprachigen Begriffe politics (prozessuale Dimension), polity (formelle Dimension) und policies (inhaltliche Dimension) differenziert. Die Policy-Forschung beschäftigt sich also mit den politischen Inhalten zugrunde liegenden oder verhandelten Normen, Strategien und Inhalten sowie mit deren Umsetzung und Wirkung. In den Planungswissenschaften wurde die Idee der inkrementellen Entwicklung nach der Planungskrise der 1970er Jahre als Planungsstrategie weiterentwickelt (vgl. Forester 1984; Knieling 2005). Es gibt zahlreiche Definitionen und Differenzierungen von Lernprozessen (vgl. besonders Armitage, Marschke, Plummer 2008). Im Rahmen von Veränderungsprozessen lassen sich insbesondere experimentelle, transformative und soziale Formen des Lernens unterscheiden, die sich auf unterschiedliche Phasen des Veränderungsprozesses beziehen, z. B. auf Steuerungsprozesse, Ziele oder Handlungsansätze. Übergreifend ist Lernen ein Prozess, in dem Individuen oder soziale Gruppen Wissen, Wahrnehmungen und/oder Einstellungen reflektieren, erneuern oder anpassen.
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2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser
nen professionellen oder öffentlichen Foren diskutiert wurden (vgl. für Deutschland auch Kruse 2008a, 168; Lange, Garrelts 2007). Zudem erhöht sich in der Phase des katalytischen Wandels die Vielfalt der verhandelten Themen und beteiligten Akteure. In solchen Phasen gibt es oft einige zentrale Akteure, die eine prominente Rolle in dem Transformationsprozess von der Idee zur tatsächlichen Umsetzung von Veränderungen spielen (Penning-Rowsell, Johnson, Tunstall 2006, 327 f.). Verschiedene Faktoren nehmen auf diesen Transformationsprozess Einfluss: dies können materielle Faktoren, wie z. B. technologische Innovationen, Artefakte oder bio-physische Faktoren und Prozesse (z. B. ein Extremereignis), sein. Aber auch normative und institutionelle, Faktoren, wie z. B. Gesetze, politische Leitlinien oder Regelungen, soziale Faktoren, wie z. B. Schlüsselakteure oder Organisationen, sowie kulturelle Faktoren, wie z. B. Werte oder das Risikobewusstsein der beteiligten Akteure, können den Strategiewandel im Umgang mit Hochwasser prägen (vgl. ebd.). kulturelle Faktoren
Risikobewusstsein
soziale Faktoren
Organisationen
Werte
Schlüsselakteure
Existierende Konzepte Kontinuierliche Veränderung
Window of opportunity Strategiewandel im Umgang mit Hochwasser
Katalytischer Prozess
Inkrementeller Prozess Technologie materielle Faktoren
Abbildung 4:
Extremereignis
Institutionen bio-physische Faktoren
normative Faktoren
Einflussfaktoren auf den Strategiewandel (eigene Darstellung)
2.3 Strategische Veränderungsprozesse
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2.3.3 Zwischenfazit: Präzisierung der Fragestellung Da die Entstehung und der Verlauf von extremen Hochwasserereignissen sowohl von komplexen natürlichen als auch von vielfältigen anthropogenen Faktoren beeinflusst ist, müssen im Umgang mit Hochwasser vielschichtige Unsicherheiten berücksichtigt werden. Das Vorsorgeprinzip bietet verschiedene Ansatzpunkte für den Umgang mit Unsicherheit, auch wenn es konzeptionell und handlungspraktisch noch erhebliche Unschärfen beinhaltet (vgl. Kap. 2.21). Zentrale Bestandteile eines vorsorgenden Hochwassermanagements sind insbesondere die räumliche Koordinierung von Nutzungsansprüchen und Akteuren, Dialogorientierung bzw. Aushandlung und die Berücksichtigung verschiedener räumlicher und zeitlicher Dimensionen (vgl. Kap. 2.2.2). In der planungs- und sozialwissenschaftlichen Hochwasserforschung wird das Leitbild eines integrativen und vorsorgenden Hochwassermanagements einem defizitären, sektoral und technisch orientierten Hochwasserschutz gegenübergestellt. Die Reduzierung von Hochwasserrisiken durch Renaturierung, Anpassungsorientierung und Flexibilisierung von Schutzmaßnahmen sowie eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für den Umgang mit Hochwasser steht in diesen Konzepten idealtypisch einem technokratischen Hochwasserschutz gegenüber, der staatlich gesteuert und vor allem durch bauliche Maßnahmen Hochwasserrisiken zunehmend uneffektiv und uneffizient zu beherrschen versucht. In verschiedenen Fallstudien in Europa wird ein strategischer Veränderungsprozess festgestellt, in dem das Leitbild eines technischen Hochwasserschutzes durch Strategien der Anpassung an Hochwassergefahren und Reduzierung von Hochwasserrisiken im Sinne eines vorsorgenden Hochwassermanagements ergänzt wird (vgl. Kap. 2.3.1). Die Policy-Forschung und Planungswissenschaften schlagen für strategische Transformationsprozesse ein Modell vor, nach dem Veränderungen sowohl durch inkrementellen Wandel als auch durch katalytisch wirkende Ereignisse geprägt sind. Übertragen auf die Hochwasserthematik würden Veränderungen im Umgang mit Hochwasser sowohl durch Extremereignisse ausgelöst und beschleunigt als auch durch kontinuierliche, kleinteilige Veränderungen geprägt (vgl. Kap. 2.3.2). Im Rahmen dieser Arbeit stellt sich daher zunächst die Frage, ob für das Flussgebiet der Elbe, eines der größten Flussgebiete Europas, ebenfalls ein strategischer Veränderungsprozess zu einem vorsorgenden Hochwassermanagement festgestellt werden kann. Insbesondere nach dem extremen Hochwasserereignis von 2002 scheint eine neue Dynamik in die Diskussionen um den Umgang mit Hochwasser gekommen zu sein. Daran schließt sich die zentrale Forschungsfrage an: Wie verläuft der derzeitige Veränderungsprozess und welches sind die
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2 Vorsorgender Umgang mit Hochwasser
zentralen Faktoren für diese Transformation? Von besonderem Interesse sind Phasen und Verlauf der Veränderung, beteiligte und betroffene Akteure, deren Handlungsspielräume sowie institutionelle und sozio-ökonomische Bedingungen, die im Transformationsprozess von einem technischen Hochwasserschutz zu einem vorsorgenden Hochwassermanagement an der Elbe wirksam werden. Bei der weiteren Präzisierung und forschungspraktischen Umsetzung der Forschungsfrage sind insbesondere die engen Wechselwirkungen von natürlichen und gesellschaftlichen Prozessen bei Entstehung und Verlauf von Hochwasser, bei den gesellschaftlichen Konsequenzen und der Verwundbarkeit zu berücksichtigen. Ziel der Arbeit ist insofern auch, einen analytischen Untersuchungsrahmen zu entwickeln, der neben der empirischen Beantwortung der Fragestellung auch einen Beitrag zur konzeptionellen Ausarbeitung des vorsorgenden Hochwassermanagements als normatives und handlungsorientierendes Konzept leistet.
3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
Die Soziale Ökologie als Forschungsrichtung beschäftigt sich mit der Konzeption der Wechselwirkungen von Natur und Gesellschaft. Ihr Ausgangspunkt ist die Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse, die in ihren Charakteristika auf die Herausforderungen im Umgang mit Hochwasser übertragen werden kann. Aus dieser Krisensituation lassen sich Anforderungen an die Erforschung von sozialökologischen Problemlagen formulieren. Der Zugang über die Krise als Wendepunkt stellt die erste Annäherung an den konzeptionellen Forschungsrahmen dieser Arbeit dar (vgl. Kap. 3.1). Die zweite Annäherung wird über das theoretische Begriffsnetz der sozialökologischen Forschung vorgenommen, das im weiteren Verlauf der Arbeit der Erforschung des Problemfeldes Hochwasserschutz dient (vgl. Kap. 3.2). Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse dient dabei die Heuristik für die Analyse sozial-ökologischer Problemlagen.43 Der Begriff der Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse erweitert diese Heuristik, da er für Fragen nach strategischen Veränderungsprozessen relevant ist. In einem dritten Schritt werden Konzepte der Raumwissenschaften mit denen der Sozialen Ökologie in Verbindung gesetzt, um eine präzisere Dimensionierung der Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse im Raum zu erreichen (vgl. Kap. 3.3). Zusammenführend wird schließlich ein sozial-ökologisches Raumkonzept erarbeitet, das im empirischen Teil dieser Arbeit als untersuchungsleitendes Konzept für die sozialökologischen Transformationsprozesse im Handlungsfeld Hochwasser dient (vgl. Kap. 3.4). 3.1 Theoretischer Ausgangspunkt: Sozial-ökologische Krise Eine Krise bezeichnet einen Wendepunkt. Die „Krise“ – ebenso wie die „Kritik“ – lassen sich vom lateinischen crisis bzw. griechischen krísis ableiten, welche eine schwierige Situation oder den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen 43
Heuristiken sind Konzepte, die eine große Reichweite, jedoch einen geringen empirischen Gehalt und eine geringe Präzision besitzen (vgl. Kelle 1998, 223; Kelle, Kluge 1999, 35 ff.). Sie werden zu Beginn einer Untersuchung als theoretisches Raster verwendet, welches anhand empirischer Beobachtungen detailliert wird (vgl. auch Kap 4.1.1).
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3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
Entwicklung bezeichnen (vgl. Pfeiffer 1993, 735 f.). Das Verb krínein bedeutet „trennen“, „(unter-)scheiden“, „auswählen“ oder „entscheiden“. Die Krise ist also dadurch charakterisiert, dass Handlungsentscheidungen dringend notwendig sind, aber gleichzeitig Unsicherheit über die Folgen von Entscheidungen besteht. Krisensituationen sind folglich Zeiten der Entscheidung, in denen sich zugleich Strategien, Überzeugungen und Gewissheiten verändern können oder müssen. Seit den 1970er Jahren ist die „ökologische Krise“ oder die „Umweltkrise“ in aller Munde (vgl. Lotz 2002; Ruh 1995; Beck 1986). Es handelte sich zunächst um einen gesellschaftspolitischen Diskurs, der in seinem Verlauf zu einer „neuen Form politisch und ethisch motivierter Wissenschaftskritik“ führte (Becker, Jahn 2006b, 13). Parallel dazu entstand ein theoretischer Krisendiskurs, der von Autoren vorwiegend aus der Soziologie und den Sozialwissenschaften geführt wurde.44 Dieser Theoriediskurs der ökologischen Krise bezog sich nicht mehr auf einzelne, klar zuordenbare Phänomene, wie beispielsweise das Ozonloch, das Waldsterben oder den Reaktorunfall von Tschernobyl. Vielmehr standen Problemlagen im Fokus, die aus komplexen Wirkungsbeziehungen zwischen Natur und Gesellschaft bestehen. Das Vertrauen in die Beherrschbarkeit natürlicher und sozialer Prozesse wurde einer grundlegenden Kritik unterzogen. Der Begriff der Krise beinhaltet in dieser Deutung als Entscheidungspunkt ein reflektierendes Moment der Mensch-Natur-Beziehungen (vgl. hierzu Jahn 1991). Er lässt sich auf Prozesse der Transformation gesellschaftlicher Naturverhältnisse übertragen, in denen grundlegende Handlungs- und Strategieentscheidungen anstehen. Aus den Zusammenhängen der sozial-ökologischen Krise leitet Becker (2006) die grundlegende Frage der Sozialen Ökologie ab: Wie lässt sich die dynamische Verflechtung der Beziehungen zwischen Menschen, Gesellschaft und Natur denken und begreifen, erkennen und erforschen, beeinflussen und gestalten (vgl. ebd., 35 f.)? Für die Analyse des Handlungsfeldes Hochwasser ist es erkenntnistheoretisch hilfreich, den Krisenbegriff in seinem hier umrissenen Verständnis zu verwenden, da sich sowohl die Wechselwirkungen zwischen Mensch, Gesellschaft und Natur im Umgang mit Hochwasser krisenhaft verändern als auch angesichts zunehmender extremer Schadensereignisse ein Wendepunkt erreicht scheint. Ein theoretischer Zugang, der die Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft konzipiert, muss nach Jahn und Wehling (1998) sowohl naturwissenschaftliche wie auch sozialwissenschaftliche Reduktionismen bei der Untersuchung komplexer ökologischer Krisenphänomene forschungspraktisch überwinden und damit „die Krisendynamik weder nur als anthropogene ‚Störungen’ von Ökosystemen noch lediglich als kulturell bedingte ‚Innenweltprobleme’ zwischen Sys44
Vgl. hier insbesondere die Gesellschaftsanalysen von Beck 1986 und Luhmann 1986, auch Görg 1999; Becker, Jahn 2006b.
3.1 Theoretischer Ausgangspunkt: Sozial-ökologische Krise
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temen und Lebenswelt oder zwischen einfacher und reflexiver Moderne“ begreifen (ebd., 80). Natürliche und anthropogene Einflüsse auf Hochwasserereignisse lassen sich zwar zum Teil wissenschaftlich beschreiben. Bei den Wechselbeziehungen zwischen Natur und Gesellschaft und deren Steuerbarkeit gelangen jedoch sowohl Wissenschaft und staatliche Regulation als auch gesellschaftliche Handlungsfähigkeit an ihre Grenzen (vgl. Wehling, Viehöver, Keller 2005). Insofern lassen sich vier Charakteristika identifizieren, die eine analytische Beschreibung der Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse ermöglichen: die neue Qualität der Gefährdungen, das Verhältnis von Natur und Gesellschaft, die Rolle der Wissenschaft sowie die gesellschaftliche Krisenwahrnehmung und Bearbeitung. Im Folgenden werden diese vier Charakteristika der Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse erläutert, um anschließend Anforderungen an die Erforschung und Gestaltung sozial-ökologischer Problemlagen zu benennen. 3.1.1 Neue Qualität der Gefährdungen Zentrales Kennzeichen der sozial-ökologischen Krisendynamik ist nach Jahn und Wehling (1998), dass moderne Gesellschaften es nicht in erster Linie mit verschiedenen isolierten ‚Umweltproblemen’ zu tun haben, die jeweils naturwissenschaftlich beschrieben und technisch gelöst werden können (vgl. ebd., 82). Vielmehr sei der Umgang der Gesellschaft mit ihrer natürlichen Umwelt in der Form krisenhaft geworden, dass die „Reproduktion der natürlichen Grundlagen und Voraussetzungen der industriegesellschaftlichen Produktions- und Lebensweise – und damit auch Reproduktion, Stabilität und Entwicklungspotentiale dieser Gesellschaften selbst“ gefährdet seien (ebd.). Diese Gefährdungen erhalten zusätzlich dadurch neue Qualitäten, dass sie nicht ohne Weiteres eingrenzbar sind, nicht direkt einzelnen Quellen oder Ursachen zugerechnet werden können und nicht kompensierbar sind. Die neuen Formen der Gefährdungen wirken vielfach über den Ort ihrer Entstehung hinaus, treten möglicherweise an einem anderen, weit entfernten Ort in Erscheinung oder werden erst mit starkem Verzögerungseffekt deutlich. Mit diesen neuen sozial-ökologischen Gefährdungen wird auch der Diskurs um kalkulierbare, handlungs- und entscheidungsabhängige Risiken auf der einen und unkalkulierbare, extern verursachte und entscheidungsunabhängige Gefahren auf der anderen Seite neu geführt (vgl. Kap. 2.2). Die Unterscheidung in Risiken und Gefährdungen, die insbesondere mit der Diskussion um die Risikogesellschaft in den 1980er Jahren getroffen wurde, sei nicht mehr haltbar, schlussfolgern Jahn und Wehling, „weil Gesellschaften es nicht mehr mit einer Situation zu tun haben, in der sich bedrohliche Phänomene entweder internen
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3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
(Handlungen und Entscheidungen) oder externen Ursachen (natürlichen Wirkungszusammenhängen) zurechnen lassen“ (Jahn, Wehling 1998, 81). Vielmehr seien die sozial-ökologischen Krisenphänomene dadurch gekennzeichnet, dass sich gesellschaftliche Handlungszusammenhänge und natürliche Wirkungsverkettungen durchdringen, sich verschränken und wechselseitig „aufschaukeln“. Gleichzeitig sei ein neues „post-katastrophisches Bewusstsein“ entwickelt worden, das Krisensituationen und Gefährdungsmöglichkeiten zu einer „neuen Normalität“ macht – die Gesellschaft stelle sich auf dauerhafte Gefährdungsmöglichkeiten und Bearbeitung von Gefährdungslagen ein (vgl. ebd.). Damit ist die Steuerungsfähigkeit durch die Gesellschaft grundsätzlich in Frage gestellt. Görg (2003) macht hier eine paradoxe Entwicklung aus: Einerseits erscheint mit der ökologischen Krise das Scheitern der Strategie der Naturbeherrschung offenkundig. Andererseits wird im öffentlichen Diskurs die daraus resultierende Unsicherheit des Entscheidens als gesellschaftliches Ordnungsproblem thematisiert. Daraus resultierend wird gefordert, das Institutionensystem und die gesellschaftliche Arbeitsteilung zu optimieren (vgl. ebd., 135 f.). Görg bezeichnet dies als eine „Neuauflage des ‚Berechenbarkeitsglaubens’“ (ebd., 140), eine „Naturbeherrschung im anderen Gewand“, die an die Stelle einer reflektierten Umgestaltung der institutionellen und strukturellen Voraussetzungen tritt (ebd., 188).45 3.1.2 Verhältnis von Natur und Gesellschaft Die dualistische Differenzierung zwischen Natur und Gesellschaft wird in der Perspektive der sozial-ökologischen Forschung aufgehoben. Der Kern der sozialökologischen Krise besteht weder in einer ‚anthropogenen Störung’ von Ökosystemen noch in kulturell bedingten ‚Innenweltproblemen’ (vgl. Jahn, Wehling 1998, 80). Vielmehr seien solche Krisensituationen durch dynamische Verflechtungen von gesellschaftlichen Handlungsmustern, technischen Problemlösungen und ökologischen Wirkungsketten gekennzeichnet.46 Diese Durchdringung der beiden Pole ‚Natur’ und ‚Gesellschaft’ charakterisiert nach Beck (1986) den Einstieg in eine neue Phase der Modernisierung: „Natur kann nicht mehr ohne Gesellschaft, Gesellschaft kann nicht mehr ohne Natur begriffen werden“ (ebd., 45 46
Görg bezieht sich hier auf den Diskurs um ökologische Modernisierung, die nicht auf die Grenzen des Wachstums, sondern auf das Wachstum der Grenzen ausgerichtet sei (vgl. Görg 2003, 140). Technik bzw. technische Problemlösung werden hier zwar als relevanter Bestandteil der gesellschaftlichen Naturverhältnisse genannt, eine konsequente Konzeptionalisierung von Technik fehlt in der Sozialen Ökolgie jedoch weitgehen.
3.1 Theoretischer Ausgangspunkt: Sozial-ökologische Krise
63
107). Durch die neuen Qualitäten der Gefährdungen lassen sich sozialökologische Krisenphänomene „weder als ‚Vergesellschaftung der Natur’, noch als eine ‚Naturalisierung der Gesellschaft’ angemessen beschreiben und verstehen“ (Becker, Jahn 2003, 15). Auch Kropp (2002) arbeitet die Reduktionismen einer naturalistischen sowie einer soziozentristischen Herangehensweise an das Natur-Gesellschaft-Verhältnis treffend heraus (vgl. ebd., 137 ff.). Während in naturalistischen Konzeptionen die kulturellen, sozialen und politischen Vermittlungen von Umweltproblemen ausgeblendet werden und auch die Wirkungen von Natur auf Gesellschaft weitgehend unberücksichtigt bleiben, erhalten gesellschaftliche Prozesse in den soziozentrischen bzw. konstruktivistischen Perspektiven keine Anbindung an natürlich-materielle Bedingungen. Auch der Zusammenhang von materiellen und diskursiven Bedeutungen wird in dieser zweiten Perspektive systematisch übersehen und dem Sozialen eine hohe Eigenständigkeit zugewiesen. Weder die eine noch die andere Seite vermag den Anforderungen der ökologischen Krise analytisch und problemlösend gerecht zu werden. Die klaren Frontstellungen des ‚Entweder-oder’ der naturalistischen und sozialkonstruktivistischen Erklärungsmuster werden in der sozial-ökologischen Perspektive zugunsten eines ‚Sowohl-als-auch’ bzw. ‚Weder-noch’ aufgelöst. Dies führt dazu, dass Paradoxien und Widersprüche explizit Teil des neuen Denkraums werden (vgl. Becker, Jahn 2003, 15). Kropp (2002) sieht daher vermittlungstheoretische Konzeptionen, die „ein nachdualistisches Verständnis von ‚sozialökologischen Verhältnissen’ und ihren Politiken erarbeiten, erweitern und verfeinern“, als geeignet an, den Anforderungen einer gestaltungsorientierten Nachhaltigkeitsforschung gerecht zu werden (ebd., 146). Vermittlungstheoretische Ansätze entwickeln aus der Kritik an reduktionistischen Gegenüberstellungen von Natur und Gesellschaft programmatisch eine dialektische Vermittlung zwischen diesen Basiskategorien. Erst damit sei dann, so Kropp, eine Thematisierung von politischen Konsequenzen des NaturGesellschaft-Verhältnisses, also z. B. eine Aushandlung des Umgangs mit Natur, möglich (vgl. ebd., 151). Extreme Hochwasserereignisse sind aus dieser Perspektive weder ‚Naturkatastrophen’ noch ‚Sozialkatastrophen’, sondern entstehen durch ein wechselwirksames Verhältnis von Natur und Gesellschaft, welches sie gleichzeitig reproduzieren.47 Erst in diesem vermittlungstheoretischen Verständnis wird der Umgang mit Hochwasser aushandelbar und gestaltbar. Die Auflösung des klassischen Differenzschemas Natur vs. Gesellschaft erfordert eine differenzierte Analyse und Beschreibung der Vielfalt gesellschaftlicher Naturbeziehungen (vgl. Forschungsgruppe Soziale Ökologie 1989, 50 f.). 47
Zum Verhältnis von Produktion und Reproduktion in einem vermittlungstheoretischen NaturGesellschaft-Verhältnis vgl. Biesecker, Hofmeister 2006.
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3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
Daraus ergeben sich auch semantische Probleme. Hummel und Kluge stellen fest, dass es keine allgemein anerkannten Begriffe von Natur und Gesellschaft mehr gibt. In der Verflechtung des so genannten ‚Gesellschaftlichen’ mit dem so genannten ‚Natürlichen’ müssten diese beiden Kategorien in einzelnen Bereichen immer wieder neu bestimmt werden (Hummel, Kluge 2004, 5). 3.1.3 Rolle der Wissenschaften Durch die neuen Qualitäten der sozial-ökologischen Krise, die vielfältigen und problemspezifischen Wechselwirkungen von natürlichen und gesellschaftlichen Faktoren und Prozessen sowie durch den Bedarf an spezifischen Analyseschemata verändert sich auch die Rolle der Wissenschaften. Sie sind sowohl an der Hervorbringung, Analyse und Bearbeitung der sozial-ökologischen Krise als auch an der Grenzziehungsproblematik zwischen Natur und Gesellschaft beteiligt. Beck (1986) machte bereits in seiner „Risikogesellschaft“ deutlich, dass Wissenschaften in zweischneidiger Weise eng mit den neuen Qualitäten der Krise verbunden sind. Sie sind einerseits an der Verursachung der Krise beteiligt, andererseits aber auch mit der Entwicklung von Lösungen betraut (vgl. auch Beck, Giddens, Lash 1996). Durch die Wissenschaften produzierte Technik wird dabei ebenso auf der Ursachenseite als auch auf der Lösungsseite relevant. Die neuen Gefährdungslagen lassen sich sogar oftmals nur durch Wissenschaften und Technik vermittelt wahrnehmen, wie beispielsweise der Klimawandel oder das Ozonloch.48 Auch im Bezug auf die Grenzziehungsproblematik zwischen Natur und Gesellschaft nehmen Wissenschaften eine wichtige Position ein, indem sie Kriterien für die Benennung und Trennung von Natur und Gesellschaft systematisieren. Hier ist insbesondere in den Sozialwissenschaften ein, so Görg (2003), „unfruchtbarer Streit“ zwischen Naturalisten und Soziozentristen entbrannt (ebd., 12 f.). Auf wissenschaftlicher Ebene sei deshalb immer noch die Frage aktuell, wie jenseits naturalistischer und konstruktivistischer Reduktionismen nichtsoziale oder materiell-physische Bedingungen gesellschaftlicher Prozesse in den Sozialwissenschaften thematisiert werden können. Durch diese enge Verknüpfung der Wissenschaften mit den neuen Gefährdungslagen und dem sich ändernden Verhältnis von Natur und Gesellschaft geraten die Wissenschaften in ihrer Organisation und ihrem Selbstverständnis selbst 48
Ansätze aus der (Technik-)Soziologie bieten einige theoretische Anknüpfungspunkte, die Wechselwirkung von Natur, Technik, Gesellschaft und Wissenschaft zu konzeptionalisieren (vgl. Rammert 2007; Michael 2000; Latour 1996). Sie werden in der Sozialen Ökologie jedoch allenfalls am Rande berücksichtigt (vgl. Becker, Jahn 2006a).
3.1 Theoretischer Ausgangspunkt: Sozial-ökologische Krise
65
in die Krise. Ein Aspekt dieser Krise besteht darin, dass bisherige disziplinäre Beschreibungsmuster die Wirklichkeit nicht mehr zutreffend erfassen können. Hummel und Kluge (2004) betonen den Bedarf eines neuen Begriffsnetzes für sozial-ökologische Problemlagen, das der interdisziplinären und überfachlichen Bearbeitung gerecht wird (vgl. ebd., 6). Dafür müssen je nach Gegenstand und Fragestellung Begriffe aus ihren einzelwissenschaftlichen Bedeutungs- und Diskurszusammenhängen gelöst und neue Bedeutungszusammenhänge geschaffen werden. Die größte Herausforderung für die Wissenschaften besteht allerdings im Umgang mit begrenztem, vorläufigem und unsicherem Wissen.49 Das Handeln unter Unsicherheit ist zum Kennzeichen der sozial-ökologischen Krise bzw. der Risikogesellschaft geworden. Selbst die Naturwissenschaften, so Görg (2003), können immer weniger beanspruchen, der Gesellschaft sicheres Wissen zur Verfügung zu stellen (vgl. ebd., 9). Wie können also trotz beschränktem und unsicherem Wissen integrative Lösungen für komplexe sozial-ökologische Problemlagen gefunden und verantwortbar praktiziert werden? Nowotny, Scott und Gibbons (2001) bauen in ihren Ausführungen zum „Age of Uncertainty“ auf dieser Problematik auf und identifizieren grundlegende Veränderungen in der Wissensproduktion. Der bisherige Modus disziplinärer Organisation von Wissen wird durch einen zweiten Modus ergänzt. Dieser mode 2 findet in transdizisplinären Situationen statt und impliziert eine engere Verknüpfung einer großen Zahl von Akteuren.50 Durch seine Problemorientierung erfordert dieser zweite Modus eine Synthese verschiedener Wissensarten (beispielsweise theoretisches und empirisches Wissen, Alltags- und Expert/innenwissen). Gerade vor dem Hintergrund zunehmender Unsicherheit des Wissens muss Nichtwissen zu einer komplementären Größe für politische und planerische Entscheidungen werden (vgl. auch Willke 2002).51 Problemorientierte sozial-ökologische Forschung steht daher vor der Herausforderung, verschiedene Wissensformen aufeinander zu beziehen sowie Grenzen des Wissens zu identifizieren und in die Problemlösung zu integrieren. 49 50
51
Vgl. zur Problematik des Nichtwissens bzw. der Entscheidung unter Unsicherheit auch Becker, Jahn 2006b, 59; Groß 2007; Kuhlicke, Kruse 2009. Für das Handlungsfeld Hochwasser wurde diese Problematik bereits in Kap. 2.2.1 ausgeführt. Transdisziplinarität bezeichnet einen problemorientierten Forschungsprozess, in dem neben wissenschaftlichem Wissen verschiedener Disziplinen auch außer-wissenschaftliches Wissen (z. B. Alltags- oder Expert/innenwissen) berücksichtigt wird, um zu einer praktischen Lösung zu gelangen (vgl. u. a. Pohl, Hirsch Hadorn 2006, 26). Nichtwissen bezeichnet das Wissen über die Grenzen des Wissens: Es wird gewusst, dass etwas nicht gewusst wird (vgl. Groß 2007; Kuhlicke 2008). Für Beck (1996) ist Nichtwissen ein Produkt der Pluralisierung der Gesellschaft und eng mit den neuen Formen der Risikogesellschaft verbunden.
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3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
Methodologien und Untersuchungsmethoden für diese Form der Analysen stehen noch am Anfang ihrer Entwicklung. Sie müssen berücksichtigen, dass ein Untersuchungsgegenstand je nach Akteur unterschiedlich beschrieben und beurteilt wird (vgl. Becker, Jahn 2006b, 60). Rammert (2003) spricht in diesem Zusammenhang von einer fragmentierten und differenzierten Gesellschaft, wo sich hybride Netzwerke und Wissenskulturen über disziplinäre Strukturen der Wissenschaft hinweggesetzt haben. Verschiedene Quellen des Wissens – Orte, Professionen und Disziplinen – müssen zusammengeführt werden. Im Handlungsfeld Hochwasser besteht, ähnlich wie in anderen Problemfeldern nachhaltiger Entwicklung, die Situation, dass Wissenschaftler/innen, zuständige Verwaltungen, Interessengruppen und die lokale Bevölkerung jeweils ihre eigene spezifische Expertise haben, jede/r aber nur einen Teil oder Aspekte des Ganzen kennt (vgl. Kruse 2008b; allgemein Fischer, Hajer 1999). Unterscheiden lässt sich im Handlungsfeld Hochwasser eine
wissenschaftliche Fragmentierung des Wissens in verschiedene Disziplinen, die wissenschaftliches Wissen zum Umgang mit Hochwasser bereitstellen (beispielsweise Ingenieurwissenschaften, Hydrologie, Ökologie, Rechtswissenschaften, Psychologie etc.), Fragmentierung von Kompetenzen und Expertise der verschiedenen zuständigen oder betroffenen Fachbehörden,52 Fragmentierung des Alltags- und Erfahrungswissens, das je nach Akteursgruppe und auch innerhalb einer Akteursgruppe sehr unterschiedlich ausfallen kann.
3.1.4 Gesellschaftliche Krisenwahrnehmung und -bearbeitung In der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Bearbeitung der sozialökologischen Krise sind zwei gegenläufige Tendenzen auszumachen: die Partialisierung von Wirkungswahrnehmungen und -interpretationen sowie die Globalisierung von Wirkungszusammenhängen (vgl. Forschungsgruppe Soziale Ökologie 1989, 19). Auf individueller Ebene sind die Wahrnehmung und Beurteilung einer Krisensituation abhängig von diversen Faktoren (z. B. Alltags52
Die Verteilung von Expertise und Kompetenzen hängt mit den von Young (1999) benannten institutionellen Problemdimensionen zusammen: Territoriale Räume der Gebietskörperschaften (z. B. Nationalstaaten, Bundesländer, Landkreise) decken sich oft nicht mit den Funktionsräumen (z. B. dem Einzugsbereich eines Flusses) (problem of fit) und die sektorale Bearbeitung von Querschnittsthemen durch verschiedene Behörden führt zu Kooperationsproblemen (problem of interplay). Diese Problemdimensionen lassen sich insbesondere auch in der Flussgebietspolitik nachvollziehen (vgl. Greiving, Fleischhauer 2008; Moss 2003b).
3.1 Theoretischer Ausgangspunkt: Sozial-ökologische Krise
67
gestaltung, Problembewusstsein, Lebensform), sodass eine einheitliche, kollektive Krisenwahrnehmung kaum möglich ist. Gleichzeitig manifestieren sich die räumlichen und zeitlichen Wirkungszusammenhänge der Krise entsprechend den neuen Qualitäten der Gefährdungen in globalen sowie lokalen Maßstäben (vgl. 3.1.1). Neben dieser Multiperspektivität der Krisenwahrnehmung und dispersen raumzeitlichen Wirkungsmustern entsteht bezüglich der gesellschaftlichen Krisenwahrnehmung eine Situation, in der die Krise zur Alltäglichkeit, zur Normalität wird. Die Forschungsgruppe Soziale Ökologie (1989) argumentiert, dass es in der administrativen und politischen Krisenbearbeitung nicht mehr um die Verhinderung der Krise gehen müsse, sondern um den Umgang mit ihr (vgl. ebd., 27 ff.).53 Herkömmliche Modelle der Krisenbearbeitung funktionieren dann allerdings angesichts der Verschränkung realer Gefährdungslagen und gesellschaftlicher Verarbeitung nicht mehr; es werden neue Mechanismen der Transformation notwendig (Forschungsgruppe Soziale Ökologie 1989, 11). Becker und Jahn (2006b, 60) konstatieren, dass die Wahrnehmung, Beschreibung und Analyse sozial-ökologischer Problemlagen wissenschaftlich erst am Anfang stehe. Eine grundlegende Schwierigkeit bestehe darin, dass die Problemlagen von unterschiedlichen Akteuren je nach Wahrnehmungsmuster und Interessenlage unterschiedlich beschrieben und bewertet werden. Entsprechend der Fragmentierung des Wissens im Handlungsfeld Hochwasser ist auch nur eine fragmentierte Problemwahrnehmung und -bearbeitung möglich. Aus der zunehmenden Heterogenität der beteiligten Wissensformen und Akteure resultieren Konkurrenzen und Konflikte über die Deutungshoheit. Fragen der Legitimität von Bearbeitungs- und Lösungsstrategien machen eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung über die vielfältigen Akteursperspektiven notwendig (vgl. Wehling, Viehöver, Keller 2005; Rhodius 2006, 64 ff.). 3.1.5 Zwischenfazit: Anforderungen an die Erforschung und Gestaltung der sozial-ökologischen Krise Hochwasser wird im Rahmen dieser Arbeit als Handlungsfeld verstanden, in dem sich die Charakteristika der sozial-ökologischen Krise manifestieren (vgl. zusammenfassend Tabelle 3).
53
Ähnliche Konsequenzen lassen sich in der derzeitigen Debatte über den Klimawandel nachvollziehen. Diese wirft die Frage auf, ob dessen wissenschaftliche, gesellschaftliche und politische Implikationen vor allem der Vermeidung (mitigation) oder der Anpassung (adaptation) dienen sollen (vgl. exemplarisch u. a. Ziegler 2008; Stehr, von Storch 2008).
68
3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
Tabelle 3: Charakteristika der sozial-ökologischen Krise (eigene Darstellung) Charakteristika der sozial-ökologischen Krise
Kennzeichen der neuen Herausforderungen
Neue Qualität der Gefährdungen
x Gefahrenquellen nicht eindeutig zuordenbar x Ursache–Wirkung ist räumlich und zeitlich entzerrt x Reproduktion der Gesellschaft gefährdet
Verhältnis von Natur und Gesellschaft
x Auflösung des klassischen Differenzschemas von Natur und Gesellschaft x Wechselwirkung von Natur und Gesellschaft x Vermittlungsverhältnis x Neubestimmung der Begrifflichkeiten
Rolle der Wissenschaften
x sowohl an Verursachung als auch an Lösung von sozial-ökologischen Krisensituationen beteiligt x interdisziplinäre und überfachliche Problembearbeitung, transdisziplinäre Wissensproduktion x Einbezug der Grenzen und Fragmentierung des Wissens x Anpassung von Methodologien
Gesellschaftliche Krisenwahrnehmung und -bearbeitung
x Partialisierung der Wirkungswahrnehmung und -interpretation x Multiperspektivität, akteursabhängig x Krise als Normalität x Legitimität der Krisenbearbeitung durch Aushandlung
3.1 Theoretischer Ausgangspunkt: Sozial-ökologische Krise
69
Die neue Gefährdungslage äußert sich auf verschiedenen Ebenen: Durch die Komplexität der Faktoren, die die Entstehung und den Verlauf der Überschwemmungen beeinflussen, sind Hochwasserereignisse nur begrenzt vorhersagbar und steuerbar. Gerade vor dem Hintergrund des prognostizierten Klimawandels lassen sich Ursache und Wirkung nur noch raumzeitlich verteilt bestimmen (vgl. Kap. 2.1.1). Die entstehenden volkswirtschaftlichen Schäden können in einigen Flussgebieten so groß sein, dass sie die Reproduktion der industriegesellschaftlichen Produktions- und Lebensweise selbst gefährden oder zumindest zeitweilig stark beeinträchtigen. Eine Unterscheidung von Natur und Gesellschaft lässt angesichts der starken Verschränkung von natürlichen und anthropogen beeinflussten Einflussfaktoren im Handlungsfeld Hochwasser nur noch schwer treffen. Im Schadensfall lässt sich die Frage nach Naturkatastrophe oder menschen-gemachter Katastrophe nicht eindeutig entscheiden. Stattdessen findet eine Verflechtung von natürlichen Wirkungsketten, technischen Interventionen und gesellschaftlichen Handlungsmustern statt, die intendierte sowie nicht-intendierte Folgen haben kann. Gerade im Bezug auf das Handlungsfeld Hochwasser sind technische Artefakte sowohl bei den Ursachen als auch bei Problemlösungen relevant und können als vermittelndes Element zwischen natürlichen Prozessen und gesellschaftlichen Handlungsmustern verstanden werden. Auch die skizzierte Rolle von Wissen und Wissenschaft in der sozialökologischen Krise lässt sich im Handlungsfeld Hochwasser nachvollziehen. Wissenschaftliche Prognosen, Modelle und Lösungskonzepte müssen mit unsicheren Wissensbereichen umgehen. Bestehendes Wissen verteilt sich auf verschiedene Disziplinen, auf die Expertise unterschiedlicher Fachbehörden und vielfältiger Akteure im Flussgebiet, deren Zusammenführung im Sinne einer transdisziplinären Wissensproduktion (mode 2) auch für das Hochwassermanagement zentral ist. Die Krisenwahrnehmung und -bearbeitung im Umgang mit Hochwasser bewegt sich oftmals in der Diskrepanz zwischen Normalität und Ausnahmesituation. Mit jedem extremen Hochwasserereignis entsteht zwar einerseits eine Ausnahmesituation, die bisherige Alltagsgestaltung, Problembewusstsein und fachliche Bewältigungsstrategien auf den Prüfstand stellt. Gleichzeitig werden Überschwemmungsereignisse zunehmend zur Normalität. In diesem Spannungsfeld zwischen Katastrophe und Normalität von Hochwasserereignissen stellt die Krise jedoch auch einen Wendepunkt dar: Bisherige Strategien für den Umgang mit Hochwasser können vor dem Hintergrund der neuen Qualitäten, des sich verändernden Verhältnisses von Natur und Gesellschaft (insbesondere im Klimawandel) und der sich wandelnden Rolle der Wissenschaften überprüft und revidiert werden. In diesem Sinne wirkt die Krise im Umgang mit Hochwasser als Kritik
70
3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
bisheriger Lösungs- und Bearbeitungsstrategien. Ein dialogisches Verfahren für die Identifizierung, Analyse und Bewertung von Risiken und Lösungsstrategien wird im Rahmen des integrierten Risikomanagements vorgeschlagen (vgl. Kap. 2.2.2). Aus der theoretischen Konzeptionalisierung der sozial-ökologischen Krise ergeben sich für deren Erforschung vier Anforderungen:
54
Im Sinne der neuen Qualitäten der Gefährdungen und des globalen Wirkungs- und Verantwortungszusammenhangs von sozial-ökologischen Problemlagen gilt es erstens, verschiedene räumliche Handlungs- und Wirkungsebenen zu berücksichtigen und miteinander zu verbinden. Auch die zeitliche Verteilung von Handlungen und Wirkungen erfordert eine vorsorgende Gestaltung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse, die verschiedene zeitliche und räumliche Ebenen berücksichtigt (vgl. Hofmeister, Spitzner 1999; Böschen, Weis 2007). Zweitens lassen sich sozial-ökologische Krisensituationen weder als ‚anthropogene Störung von Ökosystemen’, noch als ‚kulturelle Innenweltprobleme’ behandeln. Es bedarf nicht-dichotomer theoretischer Zugänge, die der Hybridität der Krisenphänomene gerecht werden und gleichzeitig eine Differenzierung der Einflussfaktoren ermöglichen.54 Dazu gehört auch, dass sowohl materielle als auch symbolische Dimensionen der Krise erfasst werden. So ließe sich die ‚neue Qualität’ ökologischer Selbstgefährdung auf materieller Ebene erfassen und gleichzeitig das Reflexionswissen der Konstruktivisten nutzen. Zum dritten bedarf es einer Wissenschaftskultur, die die Trennung zwischen Natur und Gesellschaft überwindet und ihre eigene Paradigmatisierung überdenkt. Ansatzpunkt kann eine interdisziplinäre Forschung sein, die die Trennung in einzelne Fachdisziplinen (insbesondere in Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften) überwindet und integrative Forschungsansätze entwickelt. Hierzu sind neue theoretische Ansätze nötig, die jenseits disziplinärer Paradigmen in nicht-reduktionistischer Weise diese Öffnung der Wissenschaftskultur fundieren. Viertens stellt sich für die Entscheidungssituation in der Krise und die Suche nach geeigneten Strategien die Frage nach der Steuerungsfähigkeit, Hybridität bezeichnet die Vermischung oder die Untrennbarkeit in Einzelteile. Die Forderung, der Hybridität gerecht zu werden und gleichzeitig die Einflussfaktoren zu differenzieren, spricht ein Paradox an, dem sich u. a. die „Hybrid-Konzepte“, wie Kropp (2002) sie nennt, widmen (z. B. das Cyborg-Konzept von Haraway 1991 oder die Akteur-Netzwerk-Theorie, Latour 1995). Aber auch andere Konzepte, z. B. das Zwischenraumkonzept (vgl. Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007) oder das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse (vgl. Jahn, Wehling 1998), verfolgen diesen Anspruch.
3.2 Forschungsheuristik: Gesellschaftliche Naturverhältnisse
71
den Möglichkeiten und Grenzen von Regulation und Gestaltung sozialökologischer Prozesse.55 Zentral für die Erforschung gesellschaftlicher Naturverhältnisse ist daher nicht nur die Beschreibung und Analyse, sondern auch die Formulierung von Ansatzpunkten für deren Gestaltung. Ein wesentlicher Fokus der sozial-ökologischen Forschung liegt damit auch auf der Transformation von Regulationsmustern. Diese Anforderungen an die Erforschung sozial-ökologischer Krisensituationen stellen die Basis für die Konzeption des Untersuchungsdesigns (vgl. Kap. 4) und die Interpretation der empirischen Ergebnisse (vgl. Kap. 6) dar. 3.2 Forschungsheuristik: Gesellschaftliche Naturverhältnisse Um krisenhafte Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur zu erkennen, zu beschreiben und zu gestalten, bedarf es der Bearbeitung verschiedener theoretischer und forschungspraktischer Probleme:
Wie ist es begrifflich möglich, Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur zu erfassen? Wie wird die Differenz zwischen Gesellschaft und Natur theoretisch begründet? Wie können Elemente von Natur und Gesellschaft analytisch bearbeitet werden? Wie ist ein gestaltender Einfluss auf die Beziehungen von Natur und Gesellschaft möglich?
Dies sind Fragestellungen, mit denen sich verschiedene Teildisziplinen und Forschungsrichtungen wie die Umweltsoziologie (vgl. u. a. Groß 2001; Dunlap, Michelson 2002), die Humanökologie (vgl. u. a. Katz 2004; Serbser 2004; Meusburger 2003), die Sozial- und Humangeografie (vgl. u. a. Werlen 2000; Weingarten 2005; Harvey 1996; Hubbard et al. 2002 ) und die Soziale Ökologie (vgl. u. a. Becker, Jahn 2006c; Fischer-Kowalski 1997) auseinandersetzen. Je nach disziplinärer Herkunft und Forschungstradition haben sie zunächst unabhängig voneinander verschiedene Ansätze für die Bearbeitung dieser Fragen entwickelt. In Deutschland kam Dynamik in dieses Forschungsfeld, als das Bundesministerium für Forschung und Wissenschaft (BMBF) 1999 einen Förderschwerpunkt zur Sozial-ökologischen Forschung (SÖF) auflegte, der erstmals 55
Die Begriffe der Regulation und Gestaltung werden in Kap. 3.2.3 eingeführt.
72
3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
Fragestellungen, Institute und Forschungseinrichtungen zu einem Forschungszusammenhang im Sinne einer ‚Scientific Community’ bündelte.56 Die verschiedenen Subdisziplinen und Forschungsrichtungen tragen jeweils Elemente zur Bearbeitung sozial-ökologischer Fragestellungen bei. Im Folgenden werden die Konzeptualisierung von Natur und Gesellschaft, deren Regulation und Gestaltung sowie die forschungspraktische Reichweite des Konzeptes gesellschaftlicher Naturverhältnisse diskutiert, das im Rahmen dieser Arbeit als untersuchungsleitende Heuristik für die Erforschung eines vorsorgenden Hochwassermanagements dient. Ziel dieser Ausführungen ist es, ein Begriffsnetz für die empirische Analyse zu formulieren, das es ermöglicht, den Umgang mit Hochwasser als sozial-ökologisches Handlungsfeld zu erforschen. 3.2.1 Konzeptualisierung von Natur und Gesellschaft Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse (vgl. u. a. Jahn, Wehling 1998; Becker, Jahn 2006c) wurde als „theoretisches Orientierungskonzept“ formuliert, um die Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft in ihrer Allgemeinheit einerseits und in ihrer empirisch vorfindlichen Besonderheit andererseits begreifen und analysieren zu können (Becker, Jahn 2003, 101). Zusammenfassend wird damit „das gesamte Geflecht der vermittelnden Beziehungen und Verhaltensformen zwischen Individuen, Gesellschaft und Natur sowie den sich herausbildenden Mustern“ bezeichnet (ebd.). Unterschiedliche soziale und materiellphysische Elemente treten prozesshaft miteinander in Verbindung, sind verknüpft, verkoppelt und vernetzt. Gleichzeitig bilden diese Elemente des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft aber auch keine „homogene und undifferenzierte Groß-Entität“, sondern lassen sich analytisch voneinander unterscheiden (Jahn, Wehling 1998, 83). Die theoretische Konzeption gesellschaftlicher Naturverhältnisse umfasst drei Axiome (vgl. Abb. 5; Jahn, Wehling 1998, 82): 56
die Vorstellung eines unaufhebbaren Zusammenhangs zwischen Natur und Gesellschaft, die Behauptung einer Differenz zwischen diesen Polen und die historische Konstituierung dieser Differenz (vgl. Kap. 1, S. 21). Die Forschungsprogrammatik der SÖF basiert maßgeblich auf Konzepten, die das Institut für Sozial-ökologische Forschung (ISOE) in Frankfurt am Main ausgearbeitet hat (vgl. Becker, Jahn, Schramm 1998; BMBF 2000; BMBF 2007). Das ISOE ist ein in den 1980er Jahren gegründetes außeruniversitäres Forschungsinstitut, das seither maßgeblich daran beteiligt ist, die Soziale Ökologie als Forschungsrichtung und Wissenschaft für die Erforschung und Gestaltung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse zu etablieren (vgl. Becker, Jahn 2003; Becker, Jahn 2006c).
3.2 Forschungsheuristik: Gesellschaftliche Naturverhältnisse
Natur
Abbildung 5:
73
Gesellschaft
Drei Axiome des Konzepts gesellschaftlicher Naturverhältnisse (eigene Darstellung)
Damit wird das Verhältnis von Natur und Gesellschaft als Vermittlungsverhältnis verstanden: Natur ist nur durch Gesellschaft und Gesellschaft nur durch Natur zu erfassen und zu erkennen. Obwohl in dem Konzept von einer Unterscheidbarkeit von Natürlichem und Sozialem ausgegangen wird, kann das, was als natürlich oder gesellschaftlich wahrgenommen wird, variabel sein. Die Unterscheidung als solche ist somit kontingent, also nicht eindeutig oder ‚natürlich’ gegeben, sondern an kulturelle Muster und Perspektiven gebunden (vgl. Görg 1999). Die so konzipierten gesellschaftlichen Naturverhältnisse umfassen eine materielle und eine symbolische Dimension: „Die Materialität von Naturverhältnissen bezieht sich auf die gegenständlichen, stofflich-energetischen Aspekte von Phänomenen und korrespondiert mit wirkungsabhängigen Folgen; der Symbolcharakter bezieht sich auf den Aspekt der Zeichenhaftigkeit von Phänomenen und korrespondiert mit deutungsabhängigen Folgen von Ereignissen“ (Jahn, Wehling 1998, 84).
Diese Unterscheidung in Materialität und Zeichenhaftigkeit von Natur und Gesellschaft als Vermittlungsverhältnis ist nur analytisch zu treffen. Empirisch durchdringen sich diese Dimensionen. Beide Pole sind auf verschiedene Weise materiell und symbolisch strukturiert.57 57
Die technische Vermittlung des Gesellschaft-Natur-Verhältnisses wird in der Konzeption der gesellschaftlichen Naturverhältnisse nur oberflächlich thematisiert, obwohl bereits in der 1980er Jahren die Techniksoziologie und die Science and Technology Studies (STS) auf die spezielle Rolle der Technik im Verhältnis von Materialität, Natur und Gesellschaft hingewiesen haben (vgl. Fußnote 48).
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3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
Der Verweis auf die historische Konstitution der Differenz von Natur und Gesellschaft deutet auf den prozessualen und dynamischen Charakter der gesellschaftlichen Naturverhältnisse hin. Durch die Verknüpfung, Vernetzung und Verkopplung sowie durch die Unterscheidung und Grenzziehung zwischen naturalen und sozialen Elementen wird das Vermittlungsverhältnis von Natur und Gesellschaft hergestellt. Damit beinhaltet es eine grundsätzlich historische Perspektive, die von der Veränderbarkeit sowie von einem ständigen Wandel des Verhältnisses ausgeht. Dies bedeutet auch, wie Kropp (2002) argumentiert, dass „solchermaßen kontingent gewordene Naturen kein Maßstab zur Beurteilung von Fehlentwicklung sein können“ und somit bei der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Naturverhältnissen die Frage unumgänglich ist, welche Natur(entwicklung) und welcher Umgang mit Natur anzustreben sei (ebd., 173 f.; Biesecker, Hofmeister 2006, 14 ff.). Mit der vermittlungstheoretischen Positionierung verortet sich die Soziale Ökologie vor allem in einer deutschsprachigen Diskurslandschaft (vgl. Becker, Jahn 2006a). Zwar knüpft das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse durchaus z. B. bei seinem „historischen Erbe“ bei der social ecology der Chicagoer Schule der 1920er und 1930er Jahre und damit an der Übertragung von ökologischen Begrifflichkeiten auf die menschliche Gesellschaft an (vgl. Park 1936; Becker 2006, 45 ff.), beschränkt sich dann jedoch überwiegend auf die deutschsprachigen Diskurse zur Konzeptionalisierung von Natur und Gesellschaft (vgl. Brand 1997; Brand 1998, Görg 1999; Kropp 2002; Becker, Jahn 2006c). Eine ausführliche Verortung in der internationalen Diskurslandschaft zu Natur-Gesellschaft-Beziehungen steht noch aus. Forschungspraktische und methodische Implikationen enthält das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse auf der Ebene der ‚empirischen Besonderheiten’: „Hier werden die Beziehungen einzelner Menschen in konkreten Situationen oder die bestimmter gesellschaftlicher Teilbereiche zu ihrer jeweiligen natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt untersucht. Gesellschaft und Natur sind hier nicht undifferenzierte Entitäten, sondern es werden vielmehr unterschiedliche gesellschaftliche und natürliche Elemente selektiv und dynamisch miteinander verknüpft. Auf dieser Ebene wird daher mit einem pluralen Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse gearbeitet“ (Becker, Jahn 2003, 100).
Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse eignet sich in der oben skizzierten Form als Heuristik für die empirische Forschungspraxis. Es besitzt eine große Reichweite bei gleichzeitig geringer Präzision (vgl. Fußnote 43). Wie Becker und Jahn (2003) betonen, bietet das Konzept keine kontextunabhängige, hypothesen- und lösungsgenerierende Theorie mit klar operationalisierten Beg-
3.2 Forschungsheuristik: Gesellschaftliche Naturverhältnisse
75
riffen (vgl. ebd., 110). Es muss vielmehr auf das jeweilige Forschungsfeld und die Forschungsfrage angepasst werden. Da das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse als Heuristik nicht unmittelbar forschungspraktisch anwendbar ist, bedarf es für die empirische Analyse und die methodische Erfassung gesellschaftlicher Naturverhältnisse zusätzlich jeweils spezifischer untersuchungsleitender Konzepte. Die empirischen Forschungsmethoden sind jeweils an den Untersuchungsgegenstand und gewünschten Forschungsprozess anzupassen. Auch für die Generierung von problembezogenen Hypothesen und Lösungen bedarf es zusätzlicher theoretischer und auf den Untersuchungsgegenstand angepasste Konzepte. Im Rahmen dieser Arbeit dient das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse als Heuristik und Forschungsperspektive, um den Transformationsprozess im Umgang mit Hochwasser analytisch erfassen zu können. Der Umgang mit Hochwasser wird als gesellschaftliches Naturverhältnis konzipiert, das in einem ständigen Konstitutionsprozess hergestellt und verändert wird (vgl. Abb. 6). Die Wechselwirkung von natürlichen und anthropogen beeinflussten Prozessen in der Entstehung und dem Verlauf von Hochwasserereignissen sind in diesem Sinne Ausdruck gesellschaftlicher Naturverhältnisse (vgl. Kap. 2.1). Mit der Konzeption dieser Wechselwirkung als historischer Konstitutionsprozess wird eine Analyseperspektive eingenommen, die es erlaubt, Veränderungsprozesse und Dynamiken in diesen Wechselwirkungen in den Blick zu nehmen.
Abbildung 6:
Umgang mit Hochwasser als gesellschaftliches Naturverhältnis (eigene Darstellung)
Innerhalb der verschiedenen Richtungen der Forschungen zum Verhältnis von Natur und Gesellschaft wird auch Kritik an dem Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse geübt. Kropp (2002) hebt zwar einerseits die vermittlungstheoretische Positionierung des Konzeptes gesellschaftlicher Naturverhältnisse als ambitioniert und viel versprechend hervor (vgl. ebd., 164 ff.). Sie kritisiert
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3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
jedoch, dass Natur in dieser Konzeption weitgehend ein Objekt der Gesellschaft bleibe, „das reguliert und kontrolliert, erkannt und transformiert werden könne“ (ebd., 172). Für Kropp besitzen sozial-ökologische Risiken einen fluktuierenden Charakter; es sind Risiken, „die weder Objekt- noch Subjektcharakter haben, konstruiert und materiell sind, institutionelle Praktiken strukturieren und von diesen strukturiert werden und schließlich in gleicher Weise dem natürlichen und sozialen Phänomenbereich zuzurechnen sind“ (ebd.).
Diesen Eigenschaften würde das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse nur begrenzt gerecht. In der Tat bleibt die Konzeption von Natur bezüglich der Rolle materieller, bio-physischer Elemente in Regulationsprozessen insofern unscharf, als dass allenfalls nach dem Einfluss von materiellen Gegenständen oder natürlichen Gegebenheiten auf die Entwicklung von Gesellschaften gefragt wird, dieser jedoch nicht weiter in der Konzeption gesellschaftlicher Naturverhältnisse differenziert wird. So verbleibt der Eindruck, dass die Wechselbeziehung, von der die Rede ist, sich vor allem einseitig von der Gesellschaft auf die Natur richtet (z. B. Umweltzerstörung, Übernutzung von Ressourcen etc.) und allenfalls durch nicht-intendierte Folgen wieder zurück auf die Gesellschaft wirkt. Trotz dieser Unschärfe erscheint das Konzept geeignet, die Wechselbeziehung als symmetrisch zu verstehen. Darüber hinaus bietet es die Möglichkeit, den unaufhebbaren Zusammenhang zwischen ‚Natur’ und ‚Gesellschaft’ im Spannungsfeld von Entgrenzung und Grenzziehung analytisch zu erfassen und sowohl die Fluktuation und Vermischung als auch die Differenzierung und Trennung in den Blick zu nehmen. Kropp äußert darüber hinaus Zweifel, wie „in den polaren, genau besehen doch dualistischen Konzepten [von Natur und Gesellschaft; SK] die Effekte von Hierarchisierung und Asymmetisierung verhindert werden [können], die sich mit den Verfahren der Unterscheidung und Kategorisierung im Rahmen der klassischen Logik unweigerlich einstellen“ (ebd., 172).
Sie spricht damit das grundlegende Problem von Semantik und Semiotik an, die Frage also, wie mit alten Worten und Kategorien neue Ideen und Zusammenhänge ausgedrückt werden können. Die Soziale Ökologie befindet sich hier in einem unvermeidbaren Paradox, dass dichotome Konstruktionen und polare Unter-
3.2 Forschungsheuristik: Gesellschaftliche Naturverhältnisse
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scheidungen, die überholt sind oder aufgebrochen werden sollen, dennoch benannt werden müssen.58 3.2.2 Naturbilder und das Schützenswerte Das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse spricht eine analytische Makroebene an, auf der die wechselseitige Beziehung der Gesellschaft oder von gesellschaftlichen Teilsystemen zu Natur untersucht wird. Für die Soziale Ökologie als Wissenschaft der gesellschaftlichen Naturverhältnisse stellt sich jedoch auch die Frage, wie sich diese Makroebene auf der Meso- und Mikroebene der Akteursgruppen oder Individuen darstellt und damit forschungspraktisch erfasst werden kann.59 Der Begriff der Naturbilder ermöglicht eine solche individuelle Perspektive. Naturbilder bezeichnen die lebensweltliche Vorstellung von Natur bzw. die Wahrnehmung und Bewertung von Natur aus Sicht der unterschiedlichen Akteure (vgl. Rink, Wächter, Potthast 2004; Krömker, Simon 2005). Bilder von Natur spiegeln die Überzeugungen der jeweiligen Personen oder Personengruppen wider und beziehen sich auf verschiedene Aspekte, z. B. die Funktionen und Eigenschaften von Natur oder das Verhältnis von Natur und Mensch. Über solche Aspekte, z. B. „Mensch-Natur-Einheit“, „Spiritualität“, „Natur als Ressource“, „schützenswerte Natur“ oder „bedrohliche Natur“, lassen sich Naturbilder empirisch individuell fassen und gleichzeitig als Ausdruck umfassenderer kultureller Deutungszusammenhänge begreifen (vgl. Krömker 2005). Für die Untersuchung des gesellschaftlichen Umgangs mit Hochwasser gewinnt die inzwischen oft in den Hintergrund gerückte Bedrohlichkeit von Natur an Interesse.60 Während das Flussgebiet eher als Ressource oder als schützenswerte Naturlandschaft konzipiert wird, werden einem Hochwasserereignis (zumindest in Mitteleuropa) üblicherweise bedrohliche Aspekte zugeschrieben (vgl. Kruse, Mölders 2005). Damit bekommt die Kategorie des „Schützenswerten“ eine Doppelfunktion: Einerseits bezeichnet sie eine vor Eingriffen und Zer58 59 60
Dieses Paradox findet sich auch in anderen Wissenschaftsbereichen, wie z. B. der Genderforschung oder feministischen Forschung, die dichotome Konstruktionen von Wirklichkeiten kritisieren, in ihrer Kritik jedoch gleichzeitig auf das trennende Vokabular angewiesen sind. Die Aufteilung in Makro-, Meso- und Mikroebene lässt sich keinesfalls trennscharf vornehmen. Kultureller Kontext, individuelle Wahrnehmung und Bewertung sind durchaus in umfassende sozio-historische Prozesse eingebettet. Historische Analysen verweisen darauf, dass das Bild der ‚schönen Natur’ erst mit der zunehmenden Verstädterung und späteren Industrialisierung sowie der Landschaftsmalerei und Literatur der Romantik aufgekommen ist. Bis dahin wurde die nicht domestizierte Natur vorwiegend als ‚bedrohlich’ oder ‚böse’ wahrgenommen (vgl. Groh, Groh 1991; Trepl 1994; Kirchhoff, Trepl 2008).
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3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
störung durch den Menschen zu schützende Natur (Perspektive des Naturschutzes); andererseits bezieht sie sich auf (menschliche) Schutzobjekte, die vor der Überschwemmung geschützt werden (Perspektive des Hochwasserschutzes) (vgl. ebd.). Die Frage nach dem „Schützenswerten“ hat also erkenntnisleitenden Charakter für die Analyse der gesellschaftlichen Naturverhältnisse (vgl. auch Weber 2007). Sie deckt Bewertungen in der Praxis von Hochwasser- und Naturschutz auf, die oft nicht explizit thematisiert und ausgehandelt werden. Die Frage nach dem „Schützenswerten“ verweist damit auf die Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Naturverhältnisse einerseits und auf die Deutungshoheit und Entscheidungsmacht (einzelner) gesellschaftlicher Akteure andererseits (vgl. Kruse, Mölders 2005, 36 ff.). 3.2.3 Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse Wird der Umgang mit Hochwasser als gesellschaftliches Naturverhältnis verstanden, so geraten regulative Faktoren und Prozesse in den Blick, die den Transformationsprozess zu einem vorsorgenden Hochwassermanagement prägen. Wie dieser Veränderungsprozess der gesellschaftlichen Naturverhältnisse verläuft, welches die zentralen Einflussfaktoren sind und wie Handlungsspielräume innerhalb dieses gesellschaftlichen Naturverhältnisses konzeptionalisiert werden können, wird im Folgenden mit Bezug auf den Gestaltungsanspruch der sozial-ökologischen Forschung diskutiert. Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse „soll gleichzeitig neue gesellschaftstheoretische Perspektiven und problemorientierte empirische Analysen anregen, aber auch neue gesellschaftliche Handlungsoptionen sichtbar machen“ (Jahn, Wehling 1998, 85). Damit ist eine normative Zielrichtung der sozialökologischen Forschung angesprochen: die Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung (vgl. Brand 1997; Keil, Hummel 2006). Gesellschaftliche Naturverhältnisse gelten in der Konzeption der Sozialen Ökologie als regulier- und gestaltbar (vgl. Becker, Jahn, Hummel 2006). Dass der gezielte, steuernde Eingriff in die gesellschaftlichen Naturverhältnisse jedoch nicht trivial ist, wird bereits in den Ausführungen zu den intendierten und nichtintendierten Auswirkungen menschlichen Handelns im Flussgebiet deutlich (vgl. Kap. 2.1). Daher ergänzen der Begriff der Regulation und die dahinter stehende Weiterführung des Konzepts gesellschaftlicher Naturverhältnisse die bisher skizzierte Heuristik. Für die Analyse des Transformationsprozesses im Hochwassermanagement wird konzeptionell zwischen intendierten und nicht-intendierten Einflussfaktoren
3.2 Forschungsheuristik: Gesellschaftliche Naturverhältnisse
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unterschieden (vgl. Kap. 2.1.4; präzisierend Tabelle 4). In Anlehnung an die Regulationstheorie nach Liepitz (1985) und deren Weiterentwicklung durch Goodwin und Painter (1997), Görg (2003) sowie Röttger und Wissen (2005) beeinflussen nicht nur die intendierten, sondern auch nicht-intendierte Regulationsprozesse die Funktionsfähigkeit eines Systems. Betont wird in diesem Regulationsverständnis, dass sich Regulation auch ohne steuerndes Subjekt ereignen kann und damit dem intentionalen Handeln das Moment des Nicht-Interndierten gegenübergestellt wird (vgl. Röttger, Wissen 2005, 214). Intendierte Prozesse umfassen von Akteuren gestaltete, gesteuerte bzw. regulierte Vorgänge. Es sind damit mehr oder weniger planmäßige Prozesse gemeint, die sowohl kognitiv bzw. sachlich als auch normativ bestimmten Zielsetzungen folgen (vgl. Görg 2003, 118f.). Nicht-intendierte Regulationsprozesse bringen Ergebnisse hervor, die nicht geplant wurden oder erzielt werden sollten. Damit bezeichnen sie die Grenzen der Gestaltbarkeit, ungeplante Nebenwirkungen anderer Regulationsprozesse, strukturelle und persistente Rahmenbedingungen und beinhalten nicht oder kaum steuerbare materiell-physische Prozesse, die die Funktionsfähigkeit eines Systems herstellen, aufrechterhalten oder in Frage stellen. Tabelle 4: Intendierte und nicht-intendierte Regulationsprozesse (eigene Darstellung) Intendierte Regulationsprozesse
Nicht-intendierte Regulationsprozesse
x
Gestaltung
x
x
Regulierung
ungeplante Nebenwirkungen anderer Regulationsprozesse
x
Steuerung
x
Grenzen der Gestaltbarkeit
x
Zielorientierung
x
strukturelle Rahmenbedingungen
x
biophysische Prozesse
Dieses Verständnis von Regulation erweitert den herkömmlichen Regulationsbegriff, in dem Regulationen als soziale Prozesse verstanden werden. Es betont, dass nicht nur ein oder mehrere Akteure gezielt Gestaltungsprozesse auslösen und steuern, sondern auch andere regulative Elemente solche Prozesse beeinflussen können.61 Diese Erweiterung des Regulationsverständnisses hebt neben dem 61
Dieser Gedanke wird, wenn auch nicht mit explizitem Bezug zur Regulationstheorie, von der Akteur-Netzwerk-Theorie weitergeführt, die davon ausgeht, dass nicht nur soziale Akteure,
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3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
Akteurshandeln zum einen den prozeduralen und raumzeitlichen Charakter von Regulation hervor. Zum anderen betont sie die Bedeutung von Strukturen im Sinne von institutionellen Rahmenbedingungen oder biophysischen Gegebenheiten, die nicht ohne Weiteres gezielt gesteuert werden können (vgl. Röttger, Wissen 2005). Damit wird der Verwobenheit von natürlichen und sozialen Prozessen Rechnung getragen, die für das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse konstitutiv ist. Für die Analyse von Veränderungsprozessen im Umgang mit Hochwasser ermöglicht diese Erweiterung des Regulationsverständnisses, Hochwasserereignisse als prägende Faktoren in die Analyse von transformativen Faktoren einbeziehen zu können (vgl. auch Kap. 2.3.2). Die hier vorgenommene begriffliche Differenzierung präzisiert die bisher von Vertreter/innen der Sozialen Ökologie verwendeten Begrifflichkeiten der Regulation und Regulierung. Jahn und Wehling (1998) verwenden vorwiegend den Begriff der Regulierung, um auf eine „schwache, aber doch bewusste Analogie“ zur ökonomischen Regulationstheorie von Lipietz zu verweisen (ebd., 85 ff.). Sie beziehen sich insbesondere auf die Annahme, dass gesellschaftliche Verhältnisse nicht durch einen zentralen Akteur, sondern „in einem komplexen, konflikthaften Geflecht sozialer Auseinandersetzungen und Definitionskämpfe, institutioneller Praktiken, kultureller Normen etc.“ reproduziert werden (ebd.). Gleichzeitig grenzen sich die Autoren jedoch von der ökonomischen Regulationstheorie ab, weil sie nicht nur die ökonomischen Strukturen, sondern auch die Bereiche der Wissenschaften, Technik, Politik und kulturellen Symboliken für die Regulation der gesellschaftlichen Naturverhältnisse als zentral erachten. Dieser Erweiterung ist vor dem oben benannten Hintergrund voll zuzustimmen. Dennoch muss die bei Jahn und Wehling (1998) darüber hinaus weitgehend unscharfe Verwendung der Begriffe Regulation und Regulierung kritisiert werden. Im Rahmen dieser Arbeit wird daher die semiotische Unterscheidung in intendierte und nicht-intendierte Prozesse eingeführt und unter dem Begriff der Regulation zusammengefasst. Diese Erweiterung erfolgt, um bei der Analyse des gesellschaftlichen Umgangs mit Hochwasser auch die Grenzen der Steuerbarkeit und Gestaltbarkeit erfassen und in eine Prozessbetrachtung einbeziehen zu können (vgl. hierzu auch Becker, Jahn, Hummel 2006).
sondern auch natürliche Elemente und technische Artefakte intendiert oder nicht-intendiert Einfluss auf Gestaltungsprozesse nehmen. Dies geschieht durch die Bildung von heterogenen Netzwerken zwischen gesellschaftlichen, technischen und natürlichen Akteuren und Aktanten (vgl. u. a. Latour 1996; Callon 1987)
3.2 Forschungsheuristik: Gesellschaftliche Naturverhältnisse
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3.2.4 Zwischenfazit: Begriffsstruktur der Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse Zusammenfassend wird der Transformationsprozess im Handlungsfeld Hochwasser konzeptionell als Regulationsprozess gefasst, der sowohl durch intendierte als auch durch nicht-intendierte Faktoren beeinflusst wird. Handlungsspielräume eröffnen sich im gestaltbaren Bereich der intendierten Regulationsprozesse. Sie können aber durchaus von nicht-intendierten Prozessen, z. B. strukturellen Rahmenbedingungen, materiell-physischen Ereignissen oder von anderen Gestaltungsprozessen beeinflusst werden. Durch die Erweiterung des Regulationsbegriffs um die nicht-intendierte Dimension von Regulationsprozessen wird der Kritik an der Gesellschaftslastigkeit des Konzepts gesellschaftlicher Naturverhältnisse (vgl. Kap. 3.2.1) begegnet und die materiell-physische und institutionelle Dimension des Wechselverhältnisses von Natur und Gesellschaft gestärkt. Die dargelegte Begriffsstruktur der Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse dient nun als vorläufige Heuristik, um die Transformationsprozesse im Hochwassermanagement konzeptionell und begrifflich erfassen und analysieren zu können (vgl. Abb. 7). Da das Konzept jedoch weiterhin forschungspraktisch nur schwer operationalisierbar ist, wird im Folgenden die Kategorie ‚Raum’ als natürliche und soziale Prozesse integrierende Analysekategorie diskutiert und ein Vorschlag für ein untersuchungsleitendes sozial-ökologisches Raumkonzept vorglegt. Intendierte Faktoren
Natur
Gesellschaft
Nicht-intendierte Faktoren
Abbildung 7:
Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse (eigene Darstellung)
82
3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
3.3 Analysekonzept: Raum Um die bisherige Analysestruktur weiter zu dimensionieren und damit für die empirische Analyse des Hochwassermanagements handhabbar zu machen, wird im Folgenden die Kategorie ‚Raum’ auf ihren Beitrag zur Differenzierung der bisherigen Analysestruktur geprüft. Raum stellt eine Analysekategorie für das Verhältnis der Gesellschaft und ihrer materiellen Umwelt dar. In den sich mit Raum befassenden Wissenschaften lassen sich vergleichbar mit den in Kap. 3.1.2 diskutierten Naturkonzeptionen naturalistische und soziozentristische Raumauffassungen identifizieren, die jeweils reduktionistische Tendenzen umfassen und der Komplexität sozial-ökologischer Problemlagen nicht gerecht werden. Neuere integrierende Raumkonzeptionen vermitteln jedoch zwischen den dualistischen Vorstellungen des Naturraums und des Gesellschaftsraums. Der theoretische und analytische Beitrag der Kategorie Raum wird im Folgenden mit Bezug auf vermittlungstheoretische Raumkonzepte und deren forschungspraktische Relevanz herausgearbeitet. 3.3.1 Raum zwischen Reflexionsbegriff und dreidimensionalem Gebilde In den Sozialwissenschaften ist die Kategorie ‚Raum’ seit einigen Jahren im Aufschwung. Von einem spatial turn ist die Rede, von einer Wende zu einer stärkeren Betonung der konzeptionellen Rolle des Raums für die Konstitution der Gesellschaft (vgl. u. a. Hubbard, Kitchin, Valentine 2004; Reuber 2005b, 6 f.; Löw 2001). Seit Anfang der 1990er Jahre kritisieren verschiedene Arbeiten in der Soziologie eine Raumvergessenheit in den Sozialwissenschaften (u. a. Lefebvre 1991; Läpple 1991a; Schroer 2006, 17 ff.). Diese hätten sich, so der Vorwurf, auf das Dogma der soziozentrischen Perspektive, ‚Soziales durch Soziales erklären’, geeinigt (Schroer 2006, 48 ff). Inzwischen wird Raum jedoch in verschiedenen Disziplinen der Sozialwissenschaften als Konzept wieder entdeckt, das die Fokussierung auf das Soziale als alleinige Erklärungsvariable um das Materiell-physische ergänzt (vgl. Reuber 2005a, 7).62 Raum wird zur abkürzenden Beschreibung von Problemen und Möglichkeiten der Handlungsverwirklichung, die sich auf physisch-materielle Komponenten beziehen. Doch auch das symbolische Verständnis von Raum wird betont. Weingarten (2005) bezeichnet 62
Belina und Michel werfen der jüngeren deutschsprachigen Theoriedebatte über „Raum“ allerdings vor, sich nur um einen Anschluss an die „internationale Exzellenz“ der angelsächsischen Debatte zu bemühen, die den Raum wesentlich früher als fruchtbare Kategorie für die Sozialwissenschaften erkannt habe (Belina, Michel 2007). Zur angelsächsischen Debatte vgl. Massey 2005.
3.3 Analysekonzept: Raum
83
Raum als Symbolisierung sozialer Verhältnisse (vgl. ebd., 9 ff.). Raum sei ebenso wie Natur ein Symbol, in dem sich gesellschaftliche Krisen und Umbruchserfahrungen verdichten und dadurch kommunizierbar gemacht werden können. Raum wird zum „Reflexionsbegriff über Momente menschlichen Tuns und Handelns“ im Umgang mit Natur (ebd., 16; vgl. auch Werlen, Weingarten 2005, 182). Im Wörterbuch der Allgemeinen Geografie klingt die Begriffsbestimmung anders: Raum sei in räumlich bezogenen Gebieten von Wissenschaft und Praxis ein „dreidimensionales Gebilde im Bereich der Erdoberfläche mit unterschiedlich großen Ausdehnungen in der Vertikalen und Horizontalen“ (Leser et al. 1995, 124). Raum erscheint hier als absoluter und materieller Gegenstand. Raum wird zum Untersuchungsobjekt, das je nach wissenschaftlicher Subdisziplin einen unterschiedlichen Schwerpunkt haben kann: Naturraum, Landschaftsraum, Wirtschaftsraum, Siedlungsraum etc. In diesem Begriffsverständnis findet sich das Alltagsverständnis von Raum als Zimmer oder Behälter wieder. Diese beiden sehr unterschiedlichen Bestimmungsversuche verdeutlichen bereits, wie vielfältig der Raumbegriff und die dahinter stehenden Konzepte sein können. Sie verweisen gleichzeitig auf die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung, die nicht nur zwischen sozial- und naturwissenschaftlich orientierten Raumwissenschaften, sondern auch innerhalb der einzelnen Wissenschaftsbereiche zwischen absoluten und relationalen, zwischen naturalistischen und soziozentristischen Raumkonzepten geführt wird. Überraschenderweise ist auch in den ‚klassischen’ raumbezogenen Wissenschaften – Geografie, Städtebau, Raumordnung und Landschaftsplanung, Architektur etc. – eine Theorielosigkeit und ausgeprägte Unbestimmtheit der verwendeten Raumkonzepte zu beklagen. Trotz der für die Wissenschaftsbereiche konstitutiven Bedeutung des Raumes diagnostiziert Blotevogel (1995) eine „mangelnde Klarheit und unbefriedigende theoretische Fundierung des Raumbegriffs in diesen Disziplinen und ihren Grundlagenwissenschaften“ (ebd., 733). Er führt in seiner Ausarbeitung zum Raumbegriff im Handwörterbuch der Akademie für Raumforschung und Landesplanung nicht weniger als siebzehn verschiedene Raumauffassungen und Typologien auf – was die Vielfalt wissenschaftlicher Raumkonzepte und Begriffstypologien verdeutlicht. Im Folgenden wird ein systematisierender Blick auf die grundlegenden Richtungen von Raumkonzepten, die in den Raumwissenschaften verhandelt werden, geworfen.
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3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
3.3.2 Behälterraum und Beziehungsraum In einer (wissenschafts-)geschichtlichen Rekonstruktion der kaum zu überblickenden Anzahl von Raumtheorien lässt sich die bereits angedeutete Kontroverse zwischen einem absolutistischen Raumbegriff und einem relativistischen Verständnis von Raum über Jahrhunderte nachvollziehen (vgl. hierzu Löw 2001, Sturm 2000, Schroer 2006). Bereits in der Antike werden die Auffassung von Raum als Behälter und die relative Raumauffassung gegeneinander in Stellung gebracht. Dient Raum bei Aristoteles (384–322 v. u. Z.) dazu, die absolute Ordnung der verschiedenen Teile der materiellen Welt zusammenzuhalten, kommt Theophrast (etwa 390–287 v. u. Z.) zu dem Schluss, dass Raum an sich keine Realität besitzt, sondern nur eine Ordnungsbeziehung von Körpern ist. Raum gilt als System miteinander verbundener Beziehungen (vgl. Jammer 1960, 22 ff.; Schroer 2006, 33 f.). Mit Beginn der Neuzeit und der beginnenden Differenzierung und Spezialisierung der Wissenschaften greift Isaac Newton (1643–1727) auf die aristotelische Vorstellung vom absoluten Raum (und der absoluten Zeit) zurück (vgl. Schroer 2006, 35 ff.; Löw 2001, 24 ff., Jammer 1960, 102 f.). Anders noch als bei den antiken Vertretern der absoluten Raumvorstellung, die von einem geschlossenen Kosmos oder einer abgetrennten Sphäre ausgehen, ist Raum nach Newtons Vorstellung unendlich und offen, unabhängig von äußeren Dingen immer gleich, unbeweglich und damit auch unveränderlich. Er spricht Raum eine Eigenexistenz und Unabhängigkeit von den in ihm enthaltenen Körpern und Dingen zu. Dies geschieht unter der Annahme eines absoluten Bezugssystems. Raum ist wie ein Container, in dem Dinge sein können oder auch nicht. Diese Raumvorstellung hat sich zusammen mit der Newtonschen Mechanik vor allem in der Physik, aber auch in vielen Bereichen der Wissenschaft und der Gesellschaft durchgesetzt.63 Bereits zu Newtons Lebzeiten gab es vehemente Kritik an dieser absolutistischen Raumauffassung (vgl. Jammer 1960, 126 f., Schroer 2006, 39 f.; Löw 2001, 27 f.). Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) beispielsweise setzte der Newtonschen Raumkonzeption als grundsätzliches Gegenkonzept das des relationalen Ordnungsraumes entgegen. Für Leibniz besitzen weder Raum noch Zeit eine substanzielle Realität. Raum steht vielmehr für die ideelle Ordnung der Erscheinungen. Entscheidend sind die Lagebeziehungen. Die Lage eines Körpers ergibt sich nicht absolut, sondern immer nur aus seiner jeweiligen Beziehung zu 63
Der Aspekt des absoluten Bezugssystems macht das Konzept des Behälterraumes auch im gesellschaftlichen Kontext attraktiv. Es ermöglicht, klare Grenzen zu ziehen sowie sichere und bestimmte Zuordnungen vorzunehmen. Kategorien wie ‚innen’ und ‚außen’, ‚eigen’ und ‚fremd’ erhalten ordnenden Charakter.
3.3 Analysekonzept: Raum
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einem anderen Körper. Daran geknüpft ist auch die Idee der Perspektivenvielfalt, nach der jede Beobachtung aus einem bestimmten Blickwinkel geschieht und anders ausfiele, wenn der Beobachter sich an einem anderen Ort befände. Leibniz konnte sich mit seiner relativistischen Raumauffassung im damaligen wissenschaftlichen Diskurs nicht gegen Newtons Konzeption durchsetzen. Nicht nur in der Physik, auch in der Philosophie wurde Newtons Vorstellung eines absoluten Raumes aufgegriffen, beispielsweise von Kant, der konstatierte, „dass der absolute Raum unabhängig von dem Dasein aller Materie und selbst als der erste Grund ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität habe“, und damit den absoluten Raum Newtons in ein erkenntnistheoretisches Konzept überführte (zitiert nach Schroer 2006, 41; vgl. auch Löw 2001, 29). Mit der zunehmenden Spezialisierung und Differenzierung der Wissenschaften in einzelne Wissenschaftsbereiche und Disziplinen bildeten sich zahlreiche eigene disziplinäre Raumverständnisse heraus, die in der Geschichte der Disziplinen oftmals kontrovers verhandelt wurden und sich durch neue Impulse veränderten. Für die Physik revolutionierte Einstein mit seiner Relativitätstheorie die euklidische Raumauffassung, indem er Raum und Zeit in ein Bezugssystem setzte, innerhalb dessen physikalisch gemessene Werte abhängig von Raum und Zeit und damit relativ sind. Raum wird von Einstein nicht als „Behälter aller körperlichen Objekte“, sondern als „Lagerungs-Qualität der Körperwelt“, als „relationale Ordnung körperlicher Objekte“ verstanden (Einstein 1960, 189, zitiert nach Schroer 2006, 43). Trotz dieses in der Physik durch Einstein vollzogenen Bruches mit dem Behälter-Modell und damit auch der absoluten Raumvorstellung, lässt ein vergleichbarer Umbruch in den Sozialwissenschaften bis heute auf sich warten (vgl. Schroer 2006, 45). So schwankt auch die Soziologie zwischen den beiden Konzeptionen des Behälterraumes einerseits und des Beziehungsraumes andererseits. Läpple (1991a) beklagt, dass in der Soziologie mit dem Behälter-Modell eine Externalisierung des „Raumproblems in die Systemumwelt der Sozialsysteme“ stattfinde (ebd., 165 f.). Raum erhalte nur mehr den Status einer Umweltbedingung im Sinne einer äußeren Restriktion. Dies führte z. B. in den Wirtschaftswissenschaften und frühen Theorien der Raumordnung zu einem ökonomischen Raumbegriff, der über die Kategorien des Standortes und der Entfernung Raumbeziehungen in ökonomische Preisverhältnisse umsetzte, unter der Prämisse, dass Raum geometrisch und homogen sei.64 Daraus entstanden ökonomische Standorttheorien, die Eingang in die Raumordnungstheorie und -politik des 19. und 20. Jahrhunderts erhielten und darauf zielten, die Hindernisse des Raumes bzw. die Raumdistanzen zu überwinden (vgl. 64
Vgl. z. B. die Theorie der zentralen Orte von Christaller, die Industriestandorttheorie von Weber oder die Theorie der Landnutzung von von Thünen (ausführlich Schätzl 1992).
86
3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
Läpple 1991a, 180).65 Allgemein gesprochen, so Läpple, gehe mit einer solchen Konzeption des Raumes als Behälter eine „Entkopplung der Konstitution des ‚Raumes’ von dem Funktions- und Entwicklungszusammenhang seines gesellschaftlichen ‚Inhalts’“ einher (Läpple 1991a, 191). Konstitutionsbedingungen und die Dynamik von Raum würden dann nicht beachtet und als nicht-soziale Bedingungen aus Erklärungszusammenhängen ausgeklammert. Gleichzeitig besitzen Beziehungsraumkonzepte die Tendenz zu soziozentrischen oder kulturalistischen Reduktionismen (vgl. Kap. 3.1.2), wenn Raum nur noch als sozial hergestellter Raum denkbar ist und physisch-materielle Bedingungen nurmehr als „Medien sozialer Orientierung und Differenzierung“ gedeutet werden (vgl. Werlen, Weingarten 2005, 186). 3.3.3 Integrierende Raumansätze Diese knappe Rekonstruktion der naturalistischen und soziozentristischen Positionen zum Raumbegriff verdeutlicht sowohl die Herkunft und Grundzüge der Diskurse über Raum als auch den reduktionistischen Charakter des Behälterraumkonzeptes sowie des Beziehungsraumkonzeptes. Seit einigen Jahren gibt es in der deutschsprachigen Diskussion um Raum zunehmend Ansätze, die die Dichotomisierung von sozial konstruiertem bzw. symbolischem Raum sowie materiell-physischem Raum und die damit einhergehenden Reduktionismen aufdecken und kritisieren.66 Integrierende Raumansätze stellen auf Basis eines relationalen Raumkonzeptes sowohl materiell-physische als auch symbolische und soziale Elemente in den Kontext eines gleichermaßen sozial wie materiell bedingten Herstellungsprozesses. Solche Raumkonzepte lassen sich in Analogie zu vermittelnden Konzeptionen von Natur und Gesellschaft auch als vermittlungstheoretische Raumkonzeptionen bezeichnen (vgl. Kap. 3.1.2 und Kap. 3.2.1; vgl. auch Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007, 97 ff.).
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Dadurch wurden beispielsweise die Qualitäten natürlicher und gesellschaftlicher Reproduktionszusammenhänge des Stadt-Land-Verhältnisses unter den ökonomischen Prämissen eines homogenen Distanzraumes vernachlässigt und der Fokus nur mehr auf die ökonomische Größe der Transportkosten gelegt. Die deutschsprachige Debatte orientiert sich dabei u. a. an Arbeiten von Lefebvre (1991), Harvey (1989) und Soja (1989). Einen weiteren Beitrag zu Debatte erbrachten diesbezüglich Arbeiten der feministischen Raumforschung (vgl. Massey 1994; Becker 1997; Hofmeister, Scurrell 2006; Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007).
3.3 Analysekonzept: Raum
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Der Matrix-Raum von Läpple Als einer der Ersten belebte Läpple (1991a; 1991b) die deutschsprachige Diskussion, indem er dem Soziozentrismus und dem Naturalismus der Gesellschaftswissenschaften ein Raumkonzept entgegensetzte, das die materielle und soziale Gestalt von Raum in einen gesellschaftlichen Herstellungs-, Verwendungs- und Aneignungszusammenhang stellt. Läpple konzipiert Raum zunächst in Abgrenzung zu den euklidischen Raumkonzepten der frühen Physik. Raum sei kein neutrales ‚Gefäß’, das leer, gleichförmig und homogen ist. Räumliche Strukturen befänden sich in solchen Konzepten außerhalb des gesellschaftlichen Erklärungszusammenhangs, sodass sie ohne Berücksichtigung ihres gesellschaftlichen Entstehungszusammenhangs in ökonomischen, geografischen oder anderen Theorien verarbeitet werden. Läpple grenzt seine integrierende Raumauffassung aber auch gegen den relationalen Ordnungsraum von Leibniz ab. Raum sei eben auch nicht allein eine relationale Ordnung oder ein passiver Rahmen für körperliche Objekte. Auch hier seien die gesellschaftlichen Bedingungs- und Entwicklungszusammenhänge, die diese Raumstrukturen hervorbringen, reproduzieren oder transformieren, nicht ausreichend erfasst. Entlang dieser Kritik an den zwei grundlegenden Raumkonzeptionen erweitert Läpple das Konzept des relationalen Ordnungsraumes um die dynamische Charakterisierung raumstrukturierender Tendenzen, die aus den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgehen. Diesen Raumbegriff nennt er in Anlehnung an Poulantzas (1978) „Matrix-Raum“, in dem „die gesellschaftliche[n] ‚Kräfte’ (…) das materiell-physische Substrat dieses Raumes und damit auch die Raumstrukturen ‚formen’ und ‚gestalten’“ (Läpple 1991a, 195). In diesem integrierenden Verständnis von Raum unterscheidet Läpple vier schematische Komponenten, die miteinander in Beziehung stehen und den Herstellungs-, Verwendungs- und Aneignungszusammenhang von Raum darstellen (vgl. Läpple 1991b, 42 ff.):
Das materiell-physische Substrat gesellschaftlicher Verhältnisse als materielle Erscheinungsform des gesellschaftlichen Raumes besteht aus von Menschen hergestellten Artefakten, aus gesellschaftlich angeeigneter und kulturell überformter Natur sowie aus den Menschen in ihrer Körperlichkeit. Die gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsstrukturen umfassen die Praxis der produzierenden, nutzenden, sich das Raumsubstrat aneignenden Menschen als soziale Akteure, deren Handeln jeweils durch spezifische Klassen- und Machtverhältnisse strukturiert wird.
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3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum Das institutionelle und normative Regulationssystem als dritte Raumdimension fungiert als Vermittlungsglied zwischen dem materiellen Substrat des gesellschaftlichen Raumes und der gesellschaftlichen Praxis seiner Produktion, Aneignung und Nutzung. Es „kodifiziert und regelt im Wesentlichen den Umgang mit den raumstrukturierenden Artefakten“ (z. B. Eigentumsformen, rechtliche Regelungen, Macht- und Kontrollbeziehungen, Planungsrichtlinien, ästhetische Normen etc.). Die vierte Komponente umfasst ein mit dem materiellen Substrat verbundenes räumliches Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssystem. Hierunter fasst Läpple u. a. auch „raumstrukturierende Artefakte“, die durch ihre funktionale oder ästhetische Gestaltung Symbol- und Zeichenträger sind (z. B. Verkehrsschilder).
Durch die vier Dimensionen des „Matrix-Raums“ und die von Läpple betonte Überlappung der vier Ebenen wird die Dualität von entweder materiellphysischem oder sozial-symbolischem Raum entkräftet. Es entsteht eine differenziertere, zwischen Naturalismus und Soziozentrismus vermittelnde Perspektive auf Raum. Ein weiterer hervorzuhebender Aspekt ist die dynamische bzw. historische Konzeption des Matrix-Raums. Läpple (1991b) betont, dass es einer Verknüpfung der Analyse der räumlichen Dimensionen mit zeitlichen Entwicklungsprozessen bedarf, da sich in historisch vorfindbaren Strukturen frühere Handlungs- und Entscheidungsprozesse materialisieren würden (vgl. ebd., 45). Dadurch, dass Läpple den „Matrix-Raum“ in den zeitlichen Rahmen historischer bzw. ständiger Herstellungsprozesse stellt, verbindet er die Konzeption von Raum mit der Konzeption von Zeit. Als relationales Konzept ist Raum nicht mehr der starre, unveränderliche Rahmen für gesellschaftliche Interaktion, sondern entsteht gerade durch die sich verändernden gesellschaftlichen Prozesse. Damit werden zwei grundlegende Kategorien der Gesellschaftsanalyse – Raum und Zeit – zusammengeführt. Sein Verständnis von Gesellschaft ist dadurch ein relationales: Gesellschaft ist ebenso wie Raum nicht ein starrer Behälter, sondern reproduziert sich in einem ständigen Herstellungsprozess. Ein Anspruch, den Läpple allerdings nicht einzulösen vermag, ist die symmetrische Vermittlung der materiell-physischen und sozial-symbolischen Konstituierungszusammenhänge von Raum. Zwar spielt die materiell-physische Dimension im Matrix-Raum eine zentrale Rolle, sodass sie in allen vier Komponenten Einfluss findet. Allerdings geht es ausschließlich um die einseitige Wirkung von Gesellschaft auf die materiell-physische Welt. Der die Gesellschaft wiederum formende Einfluss des materiell-physischen Substrates (z. B. in Form grundlegender natürlicher Ressourcen, physischer Einflussfaktoren) kommt in seinem Modell nicht vor.
3.3 Analysekonzept: Raum
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Sturm (2000) kritisiert in ihrer Weiterentwicklung des Matrix-Raums zum einen den „unscharfen Materie-Ansatz“ Läpples und zum anderen den allumfassenden Begriff des Gesellschaftlichen. Zwar tritt Läpple in seinem Ansatz an, ein gesellschaftszentriertes Raumkonzept zu formulieren, das er den zu dieser Zeit dominanten, „naturzentrierten Raumkonzepten“ gegenüberstellen will (Läpple 1991b, 40). In dieser Kritik konzipiert er Raum dann allerdings nahezu ausschließlich als Resultat des gesellschaftlichen Herstellungs-, Verwendungs- und Aneignungszusammenhangs. Das dynamische Raummodell von Sturm Diese beiden Kritikpunkte greift Sturm (2000) in ihrem methodologischen Raummodell auf. In Auseinandersetzung über die „Materialität von Raum“ in der modernen Physik (von der klassischen Mechanik über die Relativitätstheorie bis zur Quantenphysik) und die „Sozialität von Raum“ (u. a. Immanuel Kant, Hannah Arendt, Georg Simmel, Erving Goffman, Anthony Giddins) entwickelt Sturm ein dynamisches Modell für die strukturierte Raumanalyse. Grundlegende Annahme ist, dass nicht nur Menschen als handelnde Akteure oder durch gesellschaftliche Strukturen Raum gestalten, sondern auch materiale Elemente eine gewisse Gestaltungskraft in den Raumwerdungsprozessen besitzen. Das Raummodell besteht aus einem dynamischen Kreisrand in Form einer Zeitspirale und vier Quadraten, die jeweils miteinander unterschiedlich (vertikal, horizontal und diagonal) in Beziehung stehen können (vgl. Abb. 8).67 Der erste Quadrant beschreibt die materiale Gestalt des Raumes, z. B. Oberflächenstrukturen, Dinge, technische Artefakte und Lebewesen, das materiale Raumsubstrat von Handlungen, entstandene und entstehende Nutzungsmöglichkeiten (ebd., 202). Materiale Gestalt wird in diesem Verständnis nicht auf ein vorgesellschaftliches Stadium einer ‚unberührten Natur’ reduziert, sondern behält eine materielle Widerständigkeit und ist damit nicht ausschließlich Resultat menschlichen Handelns, sondern selber als Dimension raumkonstituierend. Zu dieser Raumdimension zählen z. B. das inzwischen seit Jahrhunderten technisch veränderte und bewirtschaftete Flussgebiet der Elbe, die Niederschlagsmengen und Klimabedingungen im Einzugsgebiet, bauliche Schutzmaßnahmen und die materielle Gestalt eines Hochwasserereignisses. 67
In ihrer konzeptionellen Herleitung des Raummodells von 2000 bezeichnete Sturm den zweiten Quadranten mit „strukturierende Regulation“ und den dritten Quadranten mit „historische Konstituierung“. In der hier abgebildeten Überarbeitung des Modells ersetzen Breckner und Sturm (2007) diese Kategorien durch „normative Regulation“ und „soziales Handeln“, inhaltlich sind die Kategorien jedoch nicht verändert. In dieser Arbeit werden der besseren Verständlichkeit wegen die neuen Bezeichnungen verwendet. Die Überarbeitung wird in dem Buch „Methoden der Raumerkundung“ veröffentlicht werden.
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3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
Abbildung 8:
Dynamisches Raummodell (Quelle: Breckner, Sturm 2007, o. S.)
Der zweite Quadrant umfasst die normative Regulation des Raumes. Gefragt wird nach Mitteln der Regulation, ihrem Ursprung und ihrer Durchsetzungskraft. Strukturierend wirken Gesetze, gesellschaftliche Normen, Werte oder Institutionen (ebd., 202 f.).68 Das Wasserhaushaltsgesetz, die Hochwasserschutzkonzeption des Landes Sachsen-Anhalt oder Sicherheit als gesellschaftliche Norm sind somit im zweiten Quadranten zu verorten. Im dritten Quadranten ist das soziale Handeln im Raum Gegenstand des Interesses. Dabei spielen das gesellschaftliche Tätig(gewesen)sein Einzelner, gesellschaftlicher Gruppen oder Organisationen, die Art und Weise gesellschaftlicher Interaktion und Handlung, die die Nutzung, Aneignung und Produktion 68
Unter Institutionen werden in Anlehnung an institutionalistische Theorieansätze Regeln, Normen und Deutungsmuster verstanden, die sich gesellschaftlich etabliert haben (vgl. Mayntz, Scharpf 1995; Schneider, Janning 2006, 82 ff.). Diese bilden den Handlungsrahmen für die Interaktion der relevanten Akteure. Insofern ist hier ein breites Verständnis der normativen Regulation zugrunde gelegt, das nicht nur Normen im engeren Sinne, sondern auch die institutionelle Dimension umfasst.
3.3 Analysekonzept: Raum
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von Raumsubstraten beeinfluss(t)en, sowie gesellschaftliche Strukturkategorien wie Alter, Geschlecht, Klasse und Ethnie eine entscheidende Rolle (ebd., 203). Im untersuchten Handlungsfeld kann die Arbeit der zuständigen Hochwasserschutzbehörde, die von einer Bürgerinitiative initiierte Kampagne zum Risikobewusstsein oder der hochwassergerechte Ausbau eines Hauses als soziales Handeln beschrieben werden. Der vierte Quadrant schließlich beschreibt den kulturellen Ausdruck des Raumes. Welche Spuren, Zeichen und Symbole lassen sich in der materialen Gestalt des Raumes entdecken? Wer repräsentiert was und warum in diesen kulturellen Ausdrucksformen? Markierungen früherer Hochwasserpegel sind ebenso Teil des kulturellen Ausdrucks wie die hohe Präsenz von hochwasserrelevanten Medienberichten. Diesem Raummodell liegt die Kernvorstellung einer doppelten Konstituiertheit von Raum zugrunde (vgl. Sturm 2000, 173 ff.; Löw, Sturm 2005, 42 f.). Jede Konstitution von Raum ist in Form eines empirischen Relativs sowohl durch soziale und materielle Güter und Menschen bestimmt als auch durch die Verknüpfung derselben mit anderen Dingen. Nur durch die Erfassung sowohl der ‚Bausteine’ des Raums als auch deren Beziehungen zueinander kann die Konstitution von Raum analysiert werden. Vor dem Hintergrund des Umgangs mit Hochwasser ist explizit der Aspekt hervorzuheben, dass Raumelemente in dieser Raumkonzeption nicht nur von Menschen platziert werden können, sondern umgekehrt auch natürliche Elemente oder Prozesse die (An)Ordnung von Menschen und Dingen im Raum beeinflussen können und damit Teil des Konstitutionsprozesses von Raum sind (vgl. Löw 2001). Ein so verstandenes Raummodell ermöglicht einen mehrdimensionalen Zugang zu Raum, indem vier verschiedene Raumfacetten in ihren spezifischen Wechselwirkungen und Dynamiken betrachtet werden. Durch einen weder nur naturalistischen, noch rein soziozentristischen Bezug auf Raum wird ein vermittlungstheoretischer Ansatz entwickelt, der eine umfassendere und differenziertere Analyse von Raum ermöglicht und Reduktionismen sowie ‚blinde Flecken’ vermeidet (vgl. auch Hofmeister, Scurrell 2006; Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007, 88 ff.; Thiem 2009).69
69
Weitere Ansätze, die das Verhältnis von Materie und Symbolik oder von Natur und Gesellschaft im Raum vermittlungstheoretisch konzipieren und insofern an das methodologische Raumkonzept anschlussfähig sind, sind das Konzept der Landschaft (vgl. Ipsen 2006), das Mehrebenenkonzept von Keim (2003) oder das humanökologische Raumkonzept nach Weichhart (vgl. Meusburger 2003).
92
3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
3.3.4 Zwischenfazit: Raum als Analysekonzept In den Sozialwissenschaften gewinnt die Kategorie Raum an Bedeutung, wenn es darum geht, nicht mehr Soziales allein aus Sozialem heraus zu erklären, sondern die materielle Dimension in der Gesellschaftsanalyse als konstitutiv zu berücksichtigen. Die hier dargestellten integrierenden Raumkonzepte sind als vermittlungstheoretische Ansätze geeignet, den Jahrhunderte alten Streit zwischen absolutistischen und relativistischen Konzepten und die damit verbundenen Reduktionismen zu überwinden (vgl. auch Hofmeister, Scurrell 2006, 278 f.; Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007). Insbesondere das dynamische Raummodell von Sturm (2000) vermag einen symmetrischen Ansatz für die Raumanalyse zu formulieren, der sowohl materielle als auch symbolische Dimensionen von Raum erfasst und zusammenführt. Damit ist das Raumkonzept anschlussfähig an die vermittlungstheoretische Konzeption von Natur und Gesellschaft (vgl. Kap. 3.2.1) Raum konstituiert sich durch Gegenstände – dies können stoffliche Dinge, Tätigkeiten, Menschen, Institutionen, Normen und Regeln, Weltbilder etc. sein – und den Beziehungsgefügen zwischen diesen Gegenständen (vgl. Löw, Sturm 2005). Die vier Dimensionen – materiale Gestalt, normative Regulation, soziales Handeln, kultureller Ausdruck – ermöglichen einen differenzierten Zugang zum Untersuchungsgegenstand. Durch die dynamische Konzeption der vier Dimensionen zueinander können Herstellungs- und Veränderungsprozesse von räumlichen Konstellationen analysiert werden. Sie werden damit Teil einer dynamischen Gesellschaftsanalyse, die die Wechselwirkung von materiellen und sozialen Prozessen in den Blick nimmt. Hervorzuheben ist allerdings, dass es kein allumfassendes jederzeit und allerorts gültiges Raumkonzept geben kann, sondern die Differenziertheit von Raum bewusst verhandelt und angepasst werden muss (vgl. Sturm 2000, 185). 3.4 Konturen eines sozial-ökologischen Raumkonzeptes In den vorangegangenen Ausführungen wurde der theoretisch-konzeptionelle Rahmen für die Analyse des Hochwassermanagements entwickelt. Dabei wurde der Umgang mit Hochwasser als reguliertes gesellschaftliches Naturverhältnis verstanden, das sich in einem Veränderungsprozess befindet. Diese Konzeptionalisierung bezieht sich auf Ansätze aus der sozial-ökologischen Forschung, die ausgehend von einer Krise der Mensch-Natur-Verhältnisse eben jenes Verhältnis als gegenseitig vermittelt verstehen. Das bedeutet, dass Natur und Gesellschaft in ständiger Wechselwirkung miteinander stehen und nicht getrennt voneinander
3.4 Konturen eines sozial-ökologischen Raumkonzeptes
93
behandelt werden können. Dieses Verhältnis wird durch intendierte und nichtintendierte soziale und materiell-physische Faktoren reguliert. Diese Konzeption der Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse ermöglicht es, sich dem Themenfeld Hochwasser zu nähern, ohne die bisher üblichen Trennungen zwischen so genannten ‚natürlichen’ und so genannten ‚gesellschaftlichen’ Bedingungsfaktoren aufrechtzuerhalten. Mit Hilfe des Konzeptes können diese Bedingungsfaktoren miteinander in Beziehung gesetzt werden. Hochwasser wird so als materiell-physischer und gleichzeitig gesellschaftlich geprägter Prozess verstanden, dessen Verlauf und dessen Beeinflussung nicht vollständig vorhersagbar und kontrollierbar sind. Damit lässt sich, so die These dieser Arbeit, ein Umgang mit Hochwasser konzipieren, der nicht mehr nur auf Beherrschung bzw. Ausgrenzung von Hochwasser setzt, sondern in der Anpassung und Reduzierung von Überschwemmungen Lösungskonzepte fördert, die die Komplexität der Wirkungsbeziehungen zwischen Natur, Technik und Gesellschaft berücksichtigen. Durch die Unterscheidung in intendierte und nicht-intendierte regulative Prozesse wird das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse weiter präzisiert. Strategische Veränderungsprozesse können so differenziert analysiert werden. Das Konzept verbleibt allerdings als Heuristik undetailliert und bedarf einer weiteren Differenzierung, wenn es empirisch als untersuchungsleitendes Konzept angewandt werden soll. Das integrierte Raumkonzept von Sturm (2000) ermöglicht eine weitere Dimensionierung der sozial-ökologischen Konzeption, da es materiell-physische und gesellschaftliche Produktionen von Raum gleichermaßen umfasst. Sowohl beim Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse als auch beim integrierten Raumkonzept geht es darum, einen nicht-reduktionistischen und vermittlungstheoretischen Zugang zum jeweiligen Handlungsfeld zu entwickeln. Raum ist als vermittelndes Konzept nicht dualistisch angelegt, sondern mehrdimensional, dynamisch und relational. Über die vier bei Sturm angelegten Raumdimensionen wird das Verhältnis von materiell-physischen, kulturellen, sozialen und normativ-institutionellen Raumaspekten differenziert bestimmbar. Die vier Raumdimensionen stehen miteinander in Wechselwirkung und verändern sich in zeitlicher Hinsicht. Dadurch wird der relationale Charakter von Raum hervorgehoben: Raum wird durch die bestehenden Raumelemente und deren Beziehungen bestimmt, die in einem ständigen Herstellungs- und Veränderungsprozess stehen. Im Gegensatz zu reduktionistischen Ansätzen, die nur auf die materiellphysische oder nur auf die soziale Konstruktion von Raum fokussieren, ist das sozial-ökologische Raumkonzept geeignet die im Handlungsfeld Hochwasser vorherrschende Wechselwirkung zwischen Natur und Gesellschaft zu untersuchen und insbesondere auch natürliche Prozesse und technische Artefakte als Raum(an)ordner bzw. als gesellschaftsgestaltend in die Gestaltungsansätze ein-
94
3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum
zubeziehen. Im Bezug auf technische Artefakte und ihre Verwobenheit mit materiell-physischen und gesellschaftlichen Prozessen verbleibt das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse vage. Technische Einflussfaktoren auf das Mensch-Natur-Verhältnis werden zwar als relevant genannt, jedoch nicht explizit konzeptionalisiert. Gerade im Umgang mit Hochwasser prägen vielfältige technische Elemente auf verschiedenen Strategieebenen das gesellschaftliche Naturverhältnis und sind auf Grund der langen Geschichte des technischen Hochwasserschutzes im Elbegebiet bereits fester Teil der Flusslandschaft. Durch die Zusammenführung des Konzeptes gesellschaftlicher Naturverhältnisse und des dynamischen Raummodells lassen sich nun auch technische Raumelemente und Strategien des technischen Hochwasserschutzes auf der Ebene der materiellen Dimension in ihrer Wechselwirkung mit anderen Raumelementen konzeptionalisieren. Das vermittlungstheoretische Potenzial des methodologischen Raumkonzeptes von Sturm (2000) im Bezug auf die Überwindung von dualistischen und reduktionistischen Analysekategorien machte sich auch der Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ für die Analyse und Gestaltung einer nachhaltigen Regionalentwicklung zunutze (vgl. Hofmeister, Scurrell 2006; Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007). Das dynamische Raummodell von Sturm diente als methodologische Brücke für die empirische Erforschung verschiedener Handlungsbereiche der Regionalentwicklung. Eine konzeptionelle Verschränkung des Raummodells mit dem Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse wurde allerdings nur implizit vorgenommen. Die vorliegende Arbeit geht über die dort bereits angelegte „Annäherung an ein sozial-ökologisches Raumkonzept“ hinaus (vgl. Hofmeister, Scurrell 2006; Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007), indem sie beide Konzepte in einem untersuchungsleitenden Modell explizit zusammenführt, das sowohl für die empirische Forschung als auch für die analytische Auswertung der Ergebnisse erkenntnisleitend ist (vgl. Abb. 9). Wie hängen die Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse und Raum im Bezug auf den zu untersuchenden Transformationsprozess im Umgang mit Hochwasser nun zusammen? Die regulativen Faktoren, die auf das gesellschaftliche Naturverhältnis einwirken, können im dargelegten Verständnis von Regulation sowohl intendierte als auch nicht-intendierte Prozesse umfassen (vgl. Kap. 3.2.2). Dies können zielgerichtete oder nicht-gezielte Handlungen von Akteuren sein, strukturelle Rahmenbedingungen, ungeplante Nebenwirkungen, natürliche Prozesse etc. Mit Hilfe des dynamischen Raummodells lassen sich diese regulativen Strukturen in vier Dimensionen fassen: materiale Gestalt, normative Regulation, soziales Handeln und kultureller Ausdruck. Diese vier Di-
3.4 Konturen eines sozial-ökologischen Raumkonzeptes
95
mensionen und ihre Wechselwirkungen konstituieren in einem dynamischen Herstellungsprozess den Raum.70 In der Zusammenführung der beiden Konzepte sind die regulativen Faktoren einerseits raumkonstituierend, andererseits wirken die Raumdimensionen auf die Konstitution der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Raum wird damit beispielsweise sowohl durch intendiertes soziales Handeln und gezielte normative Regulation hergestellt als auch durch nicht-intendierte Elemente der materialen Gestalt, der symbolischen oder kulturellen Konstruktion oder Rahmenbedingungen auf gesetzlicher oder gesellschaftlicher Ebene geprägt.
kultureller Ausdruck
Intendierte Faktoren
Natur
soziales Handel
Gesellschaft
Materiale Gestalt
Normative Regulation
Nicht-intendierte Faktoren
Abbildung 9:
Modell der räumlichen Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse (eigene Darstellung)
Mit dieser Struktur besitzt das sozial-ökologische Raumkonzept analytisches Potenzial auf verschiedenen Ebenen:
In erkenntnistheoretischer Hinsicht ermöglicht das Konzept eine Verknüpfung von Materialismus bzw. Naturalismus und Konstruktivismus bzw. Soziozentrismus (vgl. Kap. 3.1.2). In wissenssoziologischer Hinsicht leistet es eine Zusammenführung von sozial- und naturwissenschaftlichem Wissen und multiperspektivischem Wissen. Ebenso wie die Soziale Ökologie ist
70
Auf eine Nummerierung der Raumdimensionen wird in Abb. 9 verzichtet, da im Sinne eines symmetrischen Ansatzes keine Reihenfolge notwendig ist.
96
3 Analyserahmen: Soziale Ökologie und Raum eine am Nachhaltigkeitsleitbild orientierte Raumwissenschaft auf interdisziplinäre Zugänge angewiesen, die anwendungsbezogenes Wissen integrativ zusammenführen (vgl. Keim 2003, 40 ff.). Sowohl auf der begrifflichen als auch auf der konzeptionellen Ebene ermöglicht das sozial-ökologische Raumkonzept eine Integration der sozialen und der ökologischen Dimension der sozial-ökologischen Krise. Auf der funktionalen Ebene verbindet das Konzept die ‚bodenständige’ Dimension materialer Gestalt mit derjenigen der Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssysteme von Raum und bezieht damit vielfältige Nutzungen und Funktionszuweisungen von Raum auf verschiedenen materiellphysischen und sozio-politischen Ebenen ein (vgl. Keim 2003, 43 f.). Ebenso gelingt durch die Verbindung der zeitlichen und räumlichen Ebene eine komplexere Erfassung und Formulierung von Lösungsvorschlägen für Raum- und Zeitkonflikte (vgl. Sturm 2000, 246). Auf der normativen Ebene des Handlungsraumes ermöglicht es eine Integration, indem materiell-physischer und sozio-kultureller sowie ökonomischer Raum als Einheit betrachtet werden, in der Nachhaltigkeit realisiert werden kann (vgl. Hofmeister, Scurrell 2006).
Zusammenfassend bietet das sozial-ökologische Raumkonzept einen vermittlungstheoretischen Forschungsrahmen, der in der Analyse von sozialökologischen Transformationsprozessen im Umgang mit Hochwasser geprüft wird. Es ermöglicht, Reduktionismen in der Konzeption von Mensch-NaturVerhältnissen sowie in der Konzeption von räumlichen Zusammenhängen entgegenzuwirken. Die These lautet, dass mit einem solchen integrativen Konzept eine umfassende Analyse ermöglicht wird, die einerseits den Anforderungen an die Erforschung sozial-ökologischer Krisensituationen und andererseits dem Leitbild eines vorsorgenden Umgangs mit Hochwasser gerecht wird. Ob diese Ansprüche bereits konzeptionell und theoretisch ausreichend ausgeführt sind und empirisch untersuchungsleitend wirken können, wird im empirischen Teil der Arbeit durch die Anwendung des sozial-ökologischen Raumkonzeptes als untersuchungsleitendes Rahmenkonzept geprüft (vgl. Kap. 5). Daran anschließend werden die empirischen Anforderungen an ein untersuchungsleitendes Raumkonzept diskutiert und als Reflexion in die Weiterentwicklung des sozialökologischen Raumkonzeptes für den Umgang mit Hochwasser einfließen (vgl. Kap. 6).
4 Forschungsperspektive und Methodik
Eine Methode bezeichnet ein planmäßiges Verfahren, das sich nach den Zielen, deren Umsetzung und den benötigten Mitteln ausrichtet, um Lösungen für theoretische und praktische Fragestellungen zu entwickeln (vgl. Sturm 2000, 20 f.). Die problemorientierte Fragestellung dieser Arbeit bezieht sich auf den gesellschaftlichen und planerischen Umgang mit Hochwasser. Im Zentrum des Interesses steht die Frage wie ein Transformationsprozess von einem technisch dominierten zu einem vorsorgenden Hochwassermanagement verläuft. Ziel ist, an einem konkreten Beispiel Veränderungsprozesse nach einem extremen Hochwasserereignis zu rekonstruieren und zu analysieren. Auf theoretischkonzeptioneller Ebene ist es Ziel der Untersuchung, das zuvor entwickelte sozial-ökologische Raumkonzept im Themenfeld Hochwasser anzuwenden und damit konzeptionelle Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement auszuarbeiten. Die These dieser Arbeit lautet, dass mit Hilfe des mehrdimensionalen sozial-ökologischen Raumkonzeptes eine umfassende Analyse des Transformationsprozesses gelingt, die ermöglicht, in der Untersuchungsregion blockierende und fördernde Faktoren zu identifizieren und in der theoretischen Reflexion verschiedene konzeptionelle Stränge eines vorsorgenden Hochwassermanagements zusammen zu führen. Durch die Auswahl der Untersuchungsregion Mulde-Mündung erhält die Analyse einen konkreten naturräumlichen, politischen und gesellschaftlichen Bezug zu einem Flussgebiet und den dort lebenden und handelnden Akteuren. Die Region Mulde-Mündung liegt im Bereich der Mittleren Elbe in SachsenAnhalt. Das extreme Hochwasser von Elbe und Mulde im Sommer 2002 hat die Region direkt betroffen (vgl. Kap. 5.1, zur Auswahl der Untersuchungsregion vgl. Kap. 4.2.1). Für die empirische Untersuchung sind daher zwei zentrale Fragen untersuchungsleitend:
Lässt sich in der Region Mulde-Mündung ein Strategiewandel von einem technisch orientierten Hochwasserschutz zu einem integrativen, vorsorgenden Hochwassermanagement erkennen? Wenn ja, wie vollzieht sich dieser Transformationsprozess und welches sind die zentralen Faktoren, die diesen Prozess prägen?
98
4 Forschungsperspekte und Methodik
Auf Basis der bisher angestellten theoretischen und konzeptionellen Überlegungen sind dafür zwei Aspekte besonders zu berücksichtigen: die den Veränderungsprozess beeinflussenden regulativen Faktoren und die Handlungsspielräume der beteiligten und betroffenen Akteure. Die intendierten und nicht-intendierten regulativen Faktoren beeinflussen als Kontextfaktoren den Veränderungsprozess, der sich, wenn es um den Umgang mit extremen Hochwasserereignissen geht, zwischen der katalytischen Veränderung durch das Extremereignis und dem inkrementellen Prozess in Phasen der Normalität bewegt (vgl. Kap. 2.3.2). Mit der Kategorie der Handlungsspielräume wird die Perspektive der verschiedenen Akteure im Umgang mit Hochwasser eingenommen. Unter Akteuren werden Einzelpersonen oder Personengruppen verstanden, die von Hochwasser betroffen sind (z. B. Anwohner oder Wirtschaftsbetriebe in Überschwemmungsgebieten) oder die professionell mit Hochwasser zu tun haben (z. B. Naturschutz- oder Wasserwirtschaftsverwaltung des Landes und der Kommunen oder politische Vertreter/innen) (vgl. auch Abb. 2). Im Folgenden wird dargestellt, welcher Analyseperspektive und welchem Forschungsdesign die empirische Untersuchung folgt. 4.1 Forschungsperspektive Die Soziale Ökologie besitzt als eine noch im Entstehen befindliche und heterogene Forschungsrichtung kein klares methodisches Vorgehen. Es lassen sich jedoch Anforderungen an die Erforschung von sozial-ökologischen Problemlagen formulieren (vgl. Kap. 3.1.5): Es bedarf nicht-dichotomer, theoretischer Zugänge, die sowohl materielle als auch symbolische Dimensionen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse erfassen und verarbeiten. Die Forschungsperspektive muss dabei sowohl räumliche als auch zeitliche Handlungs- und Wirkungsebenen berücksichtigen. Dies erfordert eine interdisziplinäre Wissenschaftskultur und integrative Ansätze zur Erfassung von komplexen Phänomenen. Als lösungs- und anwendungsorientierte Wissenschaftsrichtung zielt die sozial-ökologische Forschung schließlich darauf, Ansatzpunkte für die Gestaltung und Regulation von Transformationsprozessen zu formulieren, und muss sich damit auch der Frage der normativen Zielrichtung der Forschung stellen. Die in dieser Arbeit verfolgte Forschungsperspektive, die auf diese Anforderungen reagiert, wird im Folgenden auf drei Ebenen erläutert: auf der erkenntnistheoretischen Ebene der sozial-ökologischen Raumforschung, auf der methodischen Ebene der interpretativen Sozialforschung und auf der forschungspraktischen Ebene der für die Forschungsfrage gewählten Erkenntnisrichtung.
4.1 Forschungsperspektive
99
4.1.1 Doppelseitige Kritik der sozial-ökologischen Raumforschung Die Soziale Ökologie und die raumwissenschaftliche Forschung haben gemeinsam, dass sie keine klar abgegrenzten Wissenschaftsdisziplinen oder Forschungsrichtungen mit einem einheitsstiftenden Rahmen von paradigmatischen Theorien und Methoden darstellen (vgl. Keim 2003, 32 ff.; Jahn, Schramm 2006). Beides sind Forschungsrichtungen, die mit ihrem Anspruch an eine ‚nützliche’ Wissensgenerierung anwendungs- und problemorientiert arbeiten. In diesem Sinne befinden sich die Forschenden in einer „zirkulären Erkenntnissituation“, in der sie einerseits als Subjekte eine objekthafte Welt zu erkennen trachten und andererseits verändernd in diese Welt eingreifen, womit sie zum Objekt unter Objekten werden (Becker, Jahn 2006a, 114). Dieser paradoxen Situation zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz wird mit einer doppelseitigen Kritik begegnet: einer Kritik sowohl am Kulturalismus bzw. Konstruktivismus als auch am Naturalismus bzw. Realismus (vgl. Becker, Jahn 2006a, 112 ff.). Die Welt wird also weder nur als kulturelle, symbolische oder diskursive Konstruktion verstanden, noch ausschließlich als materieller und objektiv erfassbarer Wirkungszusammenhang aus der Perspektive eines ‚gottähnlichen’ Betrachters erklärt. Die doppelseitige Kritik eröffnet, so Becker und Jahn (2006a), einen Denkraum, der komplementäre Beschreibungen sozial-ökologischer Phänomene ermöglicht. Gemeint ist damit ein Zugang, der die Beschreibungen von sowohl erklärenden Wirkungszusammenhängen als auch von verstehenden Deutungszusammenhängen verbindet. Diesen doppelten Erkenntnisanspruch gilt es, in der Umsetzung von konkreten Forschungsvorhaben methodisch zu erfassen (vgl. auch Becker, Jahn, Hummel 2006, 187 ff.). Für die Rekonstruktion des Veränderungsprozesses im Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung wird der formulierte erkenntnistheoretische Anspruch folgendermaßen deutlich: Das extreme Hochwasserereignis wird in seiner Relevanz von verschiedenen Akteuren unterschiedlich gedeutet und bewertet. Gleichzeitig ist es jedoch kein rein diskursives Ereignis, sondern bewirkt in seiner Materialität beschreibbare Konsequenzen für die Region. Um beide Wirklichkeitsdimensionen in die Forschungsarbeit einbeziehen zu können, werden über die regulativen Faktoren die Wirkungsstrukturen und über die Akteursperspektiven die Deutungsmuster analysiert (vgl. auch Kap. 4.2.3). Für die sozial-ökologische Raumforschung – die sozial-ökologische Erforschung räumlicher Phänomene bzw. die raumwissenschaftliche Erforschung gesellschaftlicher Naturverhältnisse – lassen sich verschiedene Wissensarten unterscheiden, die mit diesen erkenntnistheoretischen Anforderungen verbunden sind (vgl. u. a. Nölting, Voß, Hayn 2004, 254; Jahn, Schramm 2006, 100):
100
4 Forschungsperspekte und Methodik Auf der analytischen Ebene der erkennenden Forschung wird Systemwissen über räumliche Problemzusammenhänge erarbeitet. Auf der normativen Ebene der gestaltenden Forschung bedarf es Ziel- und Orientierungswissens über die gesellschaftlich anzustrebende räumliche Entwicklung. Auf der operativen Ebene der anwendungs- und lösungsorientierten Forschung gilt es Prozesswissen bzw. Transformationswissen zu generieren.
Mit dem Fokus auf der Entwicklungsrichtung von einem technischen zu einem vorsorgenden Hochwassermanagement und der Frage nach den Anforderungen, denen der Umgang mit Hochwasser gerecht werden muss, sind sowohl die analytische, die normative als auch die operative Ebene der sozial-ökologischen Raumforschung angesprochen. Insofern sind im Forschungsprozess alle drei Wissensarten von Relevanz. 4.1.2 Interpretative Sozialforschung Die entwickelten Untersuchungsfragen zielen nicht darauf, vor Beginn des Forschungsprozesses formulierte Hypothesen zu verifizieren oder zu falsifizieren. Vielmehr strukturieren sie einen suchenden Forschungsprozess, der darauf zielt, Neues zu entdecken.71 Durch die Fokussierung auf eine Untersuchungsregion werden in Fallstudien „empirische Besonderheiten“ rekonstruiert und interpretiert (Becker, Jahn 2003, 100). Nicht auf der Ebene der begrifflichen Allgemeinheit, sondern auf der Ebene konkreter Situationen werden die MenschUmwelt-Beziehungen untersucht. Ausgehend vom Umgang mit extremen Hochwasserereignissen in der Region Mulde-Mündung wird über den Einzelfall hinaus konzeptionell darauf geschlossen, wie Veränderungsprozesse im Umgang mit Hochwasser verlaufen (vgl. Kap. 5, insbesondere Kap. 5.5) und welche Anforderungen sich daraus für ein vorsorgendes Hochwassermanagement aus Sicht der sozial-ökologischen Raumforschung ableiten lassen (vgl. Kap. 6.1). Damit folgt das Forschungsvorhaben methodisch dem Begründungszusammenhang der interpretativen Sozialforschung (vgl. u. a. Kelle 1998; Strübing, Schnettler 2004). Die Entwicklung neuer Konzepte anhand empirischen Datenmaterials erfordert laut Kelle und Kluge (1999) „eine Art ‚Zangengriff’, bei dem der Forscher oder die Forscherin sowohl von dem vorhandenen theoretischen 71
Strauss (1991) nennt diese Art von offenen Fragestellungen im Rahmen einer suchenden Forschungsstrategie „generative Fragen“, die für die empirische Untersuchung Richtungen aufweisen, zu nützlichen Vergleichen führen oder auf Probleme aufmerksam machen können (vgl. ebd., 50).
4.1 Forschungsperspektive
101
Vorwissen als auch von empirischem Datenmaterial ausgeht“ (ebd., 21). Unter Vorwissen verstehen Kelle und Kluge „sensibilisierende Konzepte“, die als Heuristiken die Untersuchung theoriegeleitet strukturieren (ebd., 25 ff.). Diese Konzepte werden allerdings „nicht vor einer empirischen Untersuchung (etwa durch eine genaue Definition und Operationalisierung) präzisiert (…), ihre Konkretisierung muss vielmehr in Auseinandersetzung mit der Realität einer sozialen Lebensform stattfinden“ (Kelle, Kluge 1999, 27; Hervorhebung im Original). Das sozial-ökologische Raumkonzept, das die räumliche Regulation von sozial-ökologischen Zusammenhängen konzeptionell erfasst, strukturiert in diesem Sinne als Heuristik das Untersuchungsfeld (vgl. Kap. 3.4, insbesondere Abb. 9). Zusammen mit dem konzeptionellen Modell zu den regulierenden Faktoren für einen Strategiewandel im Umgang mit Hochwasser (vgl. Kap. 2.3.2, insbesondere Abb. 4) ist es untersuchungsleitend für das Sampling, die Strukturierung und Kategorisierung des Datenmaterials sowie die Auswertung der inhaltlichen Sinnzusammenhänge. 4.1.3 Die Trias der Erkenntnisrichtungen Methoden sind als Handlungsraster zu verstehen, um eine vorher formulierte Forschungsfrage zu beantworten. Dafür bedarf es einer Entscheidung bezüglich der Richtung des Erkenntnisprozesses (vgl. Sturm 2000, 44). In der Sozialforschung lassen sich drei Erkenntnisrichtungen oder logische Schlussweisen unterscheiden: die Deduktion, die Induktion und die Abduktion. Während die Deduktion darauf abzielt, vorab theoretisch gesetzte Annahmen über Zusammenhangsstrukturen am empirischen Material zu überprüfen und zu verfeinern, dient der Induktionsschluss dazu, allgemeine theoretische Aussagen auf Basis von strukturellen Annahmen aus empirischer Forschung zu generieren. Die Abduktion zielt als dritte Erkenntnisrichtung darauf ab, von theoretischen Vorannahmen und empirischem Material ausgehend die Zusammenhangsstrukturen eines Phänomens zu dechiffrieren (vgl. ebd., 48; auch Kelle 1998, 143 ff.). Das typische Erhebungsdesign für die abduktive Schlussweise ist die Fallstudie. Die drei Erkenntnisrichtungen haben jeweils unterschiedliche Ausgangspunkte (empirisches Material, theoretisch-konzeptionelle Aussagen und Zusammenhangsstrukturen) und Zielrichtungen (Überprüfung von Setzungen, Generierung allgemeiner Aussagen, Dechiffrierung der Grundstruktur). In einem problembezogenen Forschungsprozess sind alle drei vorhanden, jeweils mit unterschiedlichen Ausprägungen. Jede Forschung wählt normalerweise einen Schwerpunkt innerhalb der drei Erkenntnisrichtungen, die anderen Richtungen
102
4 Forschungsperspekte und Methodik
und Schlussweisen spielen in einzelnen Forschungsphasen jedoch ebenfalls eine Rolle (vgl. Sturm 2000, 50 f.; Kelle, Kluge 1999, 14 ff.). Das Ziel im Rahmen dieser Arbeit – die Analyse von Veränderungsprozessen und der relevanten Faktoren im vorsorgenden Hochwassermanagement am Beispiel eines extremen Hochwasserereignisses – legt nahe, dass die zentrale Erkenntnisrichtung die der Abduktion ist, also die Dechiffrierung der Zusammenhangsstrukturen im Transformationsprozess des Umgangs mit extremen Hochwasserereignissen. Den empirischen Bezugspunkt stellt das extreme Hochwasserereignis von 2002 an der Elbe dar. Der theoretisch-konzeptionelle Ausgangspunkt ist das sozial-ökologische Raumkonzept als Heuristik über die Wechselwirkung von Natur und Gesellschaft sowie deren Regulation. Die anderen Erkenntnisrichtungen sind in den Forschungszielen und Untersuchungsfragen ebenfalls enthalten. Auf einer theoretisch-konzeptionellen Ebene wird das Ziel verfolgt, das sozial-ökologische Raumkonzept an einem empirischen Handlungsfeld zu überprüfen (deduktive Erkenntnisrichtung). Zudem sollen Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement auf Basis der theoretisch strukturierten empirischen Ergebnisse formuliert werden (induktive Erkenntnisrichtung). 4.2 Forschungsdesign und Forschungstechniken Ein Forschungsdesign ist von mehreren zentralen Auswahlentscheidungen geprägt, die entlang des Forschungsprozesses getroffen werden: von der Auswahl des Untersuchungsgegenstandes, der Entscheidung über aussagekräftige Datenquellen, deren Erhebung und Interpretation bis hin zur Darstellung der Ergebnisse. Der Forschungsprozess dieser Arbeit lässt sich dementsprechend in drei Phasen einteilen (vgl. Abb. 10):
die Explorationsphase, in der grundlegende Entscheidungen über die Ausdifferenzierung der Fragestellungen und die Identifikation von zu untersuchenden Fällen in der Untersuchungsregion getroffen werden; die Hauptphase der empirischen Untersuchung, in der die Datenerhebung, Datenaggregation und Auswertung stattfindet, und die Abschlussphase, in der offene Fragen geklärt und die untersuchten Prozessverläufe aktualisiert werden.
Im Folgenden werden die zentralen Entscheidungen entlang des Forschungsprozesses erläutert.
4.2 Forschungsdesign und Forschungstechniken
1. Phase: Exploration
Interviews
Gruppendiskussion
Dokumentenanalyse
Analyse: Hochwasserschutzkonzeption
Analyse: Lödderitzer Forst
Analyse: DessauWaldersee
Strukturierte Zusammenführung
Recherche und Dokumentenanalyse
Identifikation der fallbezogenen Handlungsbereiche
Explorative Gespräche
103
2. Phase: Datenerhebung, -aggregation und Auswertung
Abschließende Gespräche
Abschließende Recherchen
3. Phase: Aktualisierung
Abbildung 10: Phasen des Forschungsprozesses (eigene Darstellung)
4.2.1 Exploration: Bestimmung der Untersuchungsregion Die Veränderungsprozesse im Umgang mit Hochwasser werden in dieser Arbeit nicht übergreifend und allgemein erörtert, sondern entlang von drei Fallstudien innerhalb einer Untersuchungsregion empirisch rekonstruiert. Fallanalysen dienen in der empirischen Sozialforschung dazu, typische Vorgänge herauszuarbeiten sowie einen genaueren Einblick in das Zusammenwirken einer Vielzahl von Faktoren zu erhalten (vgl. Lamnek 1995, 4 ff.). In dieser Arbeit werden durch den Fallbezug drei „empirische Besonderheiten“ als regulierte gesellschaftliche Naturverhältnisse detailliert analysiert. Durch den Zugang über eine Untersuchungsregion und nicht über einzelne unzusammenhängende Fallbeispiele werden die konzeptionellen Prämissen der Wechselwirkung von Natur und Gesellschaft im Raum berücksichtigt (vgl. Kap. 3.3.4). Die Region Mulde-Mündung eignet sich aufgrund ihrer vielfältigen Struktur, dem Einfluss zweier Flussläufe sowie der starken Betroffenheit beim extremen Hochwasserereignis 2002 als Untersuchungsregion für die Analyse von Veränderungsprozessen im Umgang mit Hochwasser (vgl. ausführlich Kap. 5.1). Neben diesen inhaltlichen Gründen, hängt die Auswahl der Mulde-Mündung als Untersuchungsregion auch mit dem Forschungsprojekt „Blockierter Wandel? Denk- und Handlungsräume für eine nachhaltige Regionalentwicklung“ zusam-
104
4 Forschungsperspekte und Methodik
men, das in der Region durchgeführt wurde.72 Diese Vorarbeiten vereinfachten den Zugang zu Material und Kontaktpersonen in der Region. Auch konnten im Rahmen des Projektes bereits erste Gespräche und Interviews geführt werden, die einen Teil der Datenbasis für die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Analysen bilden. Innerhalb der Untersuchungsregion Mulde-Mündung werden drei Handlungsfelder ausgewählt und fallbezogen untersucht. Die Handlungsfelder – strategische Hochwasserschutzplanung, natürlicher Hochwasserschutz und bürgerschaftliches Engagement – sind möglichst unterschiedlich gewählt, um bei der Analyse der räumlichen Regulationsfaktoren für den Umgang mit extremen Hochwasserereignissen möglichst vielfältige Aspekte, Phänomene und Strukturen zu berücksichtigen. Um die Vielfalt gleichzeitig bearbeitbar zu machen, wurde für jedes Handlungsfeld jeweils eine Fallstudie ausgewählt:
Die Hochwasserschutzkonzeption Elbe des Landes Sachsen-Anhalt wird als Beispiel für die strategische Hochwasserschutzplanung in der Region herangezogen. Andere strategische Planungsinstrumente werden berücksichtigt, wenn sie mit den Konzeptionen verknüpft sind (z. B. die Neuregelung der Ausweisung von Überschwemmungsgebieten). Für die Untersuchung des Handlungsfelds der Auenrenaturierung und des natürlichen Hochwasserschutzes wird stellvertretend die Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst untersucht. Als Fallstudie für das dritte Handlungsfeld, die lokale Betroffenheit der Bevölkerung und das bürgerschaftliche Engagement, wird der Stadtteil Dessau-Waldersee ausgewählt, der während des Hochwasserereignisses 2002 überschwemmt wurde und in dem sich eine intensive bürgerschaftliche Diskussion über den Umgang mit Hochwasser entwickelt hat.
Diese drei Handlungsfelder und Fallstudien wurden nach einer ersten Sondierung in der Untersuchungsregion ausgewählt. Unterschiedliche Interviewpartner/innen nannten in den ersten explorativen Gesprächen diese Fälle als Referenzpunkte, an denen Veränderungen im Umgang mit Hochwasser in der Region besonders deutlich würden.
72
Das Forschungsprojekt (Förderkennzeichen 07VPS09E) wurde von 2003 bis 2006 in der Region Mulde-Mündung durchgeführt (vgl. Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007). Das Teilprojekt „Normative Räume“, an dem die Verfasserin dieser Arbeit beteiligt war, befasste sich mit den normativen Grundmustern der nachhaltigen Regionalentwicklung am Beispiel des Hochwasserschutzes in der Region Mulde-Mündung (vgl. ebd., 42 ff., 133 ff.; Kruse, Schön 2006).
4.2 Forschungsdesign und Forschungstechniken
105
Die Fallstudien wurden kontrastierend ausgewählt (vgl. Tabelle 5). Sie unterscheiden sich in folgenden Dimensionen: den Zeithorizonten, den Raumskalen, dem Formalisierungsgrad der Gestaltungsprozesse, den Konfliktlinien und den betroffenen und beteiligten Akteuren und Akteursgruppen. Tabelle 5: Unterscheidung der Fallstudien nach charakteristischen Dimensionen (eigene Darstellung) Hochwasserschutzkonzeption Sachsen-Anhalt
Deichrückverlegung Lödderitzer Forst
Bürgerschaftliches Engagement DessauWaldersee
Zeithorizont
langfristig
mittelfristig
kurz- bis mittelfristig
Raumskala
großräumig, landesweit gültig
kleinräumige Maßnahmen (600 ha), großräumige Wirkung
kleinräumig bis überregional wirksam
Formalisierungsgrad der Gestaltungsprozesse
stark formalisiert, strategische Leitlinie
Kooperation von privaten und öffentlichen Einrichtungen
überwiegend informelle Aktivitäten
Konfliktlinien
Hochwasserschutz vs. andere Raumnutzungen
Naturschutz vs. Hochwasserschutz und lokale Interessen
lokale Interessen vs. Landespolitik
Betroffene und beteiligte Akteure
vor allem Landespolitik und Landesbehörden
vor allem Naturschutzakteure (Behörden und Verbände), auch lokale Bevölkerung und Hochwasserbehörden
vor allem lokale Bevölkerung, auch kommunale Politik und Landespolitik
106
4 Forschungsperspekte und Methodik
Die Auswahl der Untersuchungsregion, der Handlungsfelder und der Fallstudien erfolgte mit dem Ziel, eine möglichst hohe Varianz der empirischen Datenbasis herzustellen und gleichzeitig die empirische Analyse einzugrenzen. Anders als sonst in der qualitativen Sozialforschung ist das Fallverständnis in dieser Arbeit sehr weit gefasst (vgl. Flick 2005a, 253). Ein Fall bezieht sich nicht auf eine einzelne Person oder Organisation, sondern auf einen Prozess, der entweder durch ein regulatives Instrument (Hochwasserschutzkonzeptionen), eine Maßnahme (Rückverlegung eines Deiches) oder ein Ereignis (Überschwemmung Waldersees) geprägt wird. Einfluss auf diese Prozesse nehmen im Sinne des sozial-ökologischen Raumkonzeptes die konstitutiven natürlichen und technischen Elemente der materialen Gestalt, die praktizierenden Akteure, die regulativen Instrumente sowie die Symbole und deren kulturelle Bedeutung. Auf diese Weise bietet das sozial-ökologische Raumkonzept ein Analyseraster für eine strukturierte Zusammenführung der Ergebnisse aus den drei Fallstudien (vgl. Blatter, Janning, Wagemann 2007, 140 ff.). Die Zusammenführung der nach ihrer Varianz ausgewählten Fallstudien ermöglicht schließlich, die herausgearbeiteten Kategorien und regulativen Faktoren aufeinander zu beziehen (vgl. Kap. 5.5). Durch den gemeinsamen räumlichen Bezug auf die Untersuchungsregion lassen sich die Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen den Fallstudien und verallgemeinernd zwischen den Handlungsfeldern – strategische Hochwasserschutzplanung, natürlicher Hochwasserschutz und bürgerschaftliches Engagement – nachzeichnen. Für die theoretische Generalisierbarkeit qualitativer Forschung ist weniger die Zahl der untersuchten Fallstudien entscheidend als vielmehr die Unterschiedlichkeit der einbezogenen Fälle (maximale Variation) sowie der Abstraktionsgrad und damit die theoretische Reichweite der durchgeführten Fallinterpretationen (vgl. Böhm 2005, 483). Auch durch den Einsatz unterschiedlicher Methoden zur Untersuchung eines Phänomens an wenigen Fällen kann die theoretische Generalisierbarkeit erhöht werden (vgl. Flick 2005a, 260). Eine gegenstandsbezogene Generalisierung der Ergebnisse und die Übertragung auf andere Fälle (z. B. andere Deichrückverlegungen), auf andere Untersuchungsregionen oder Flussgebiete sind aufgrund des qualitativen Designs der Analyse nur begrenzt möglich. Hier bedarf es der Auseinandersetzung und des Vergleichs der Ergebnisse mit anderen empirischen Studien zu Veränderungsprozessen im Elbegebiet bzw. in anderen Flussgebieten (vgl. Kap. 6.1). Die Übertragbarkeit der Ergebnisse wird in Auseinandersetzung mit den Ergebnissen anderer empirischer Studien zu Veränderungsprozessen im Elbegebiet und in anderen Flussgebieten diskutiert (vgl. Kap. 6.1).
4.2 Forschungsdesign und Forschungstechniken
107
4.2.2 Datenerhebung und Datenaggregation im Forschungsprozess Die Datenerhebung fand kontinuierlich in allen drei Phasen des Forschungsprozesses statt. In der ersten Phase wurden explorative Gespräche zum Umgang mit Hochwasser und den Veränderungsprozessen in der Untersuchungsregion geführt. Als Gesprächspartner/innen wurden Schlüsselpersonen ausgewählt, die einen Überblick über die Thematik in der Untersuchungsregion besitzen. Parallel wurden Dokumente recherchiert und analysiert, die über die Positionen einzelner Akteure oder Akteursgruppen Aufschluss geben. Durch diese explorativen Gespräche und Dokumentenanalyse wurden die Fälle identifiziert und erste Kernthemen, Konfliktlinien sowie Besonderheiten des Veränderungsprozesses im Umgang mit Hochwasser in der Region skizziert. Gleichzeitig wurden potenzielle Gesprächspartner/innen mit unterschiedlichen Akteursperspektiven identifiziert, die für ausführlichere Gespräche angefragt wurden. In der zweiten Phase der empirischen Untersuchung schloss sich eine ausführliche Dokumentenrecherche für die drei ausgewählten Handlungsfelder an, auf deren Basis die drei Fallstudien rekonstruiert wurden. Datengrundlagen bildeten Positionspapiere der einzelnen Akteure, Medienberichte, Sitzungsprotokolle und schriftliche Konzeptionen für den Umgang mit Hochwasser. Für jedes Handlungsfeld wurden außerdem Leitfadeninterviews (vgl. Flick 2004, 158 ff.; Schmidt 2005) und Expert/inneninterviews (vgl. Meuser, Nagel 1991; Bogner, Littig, Menz 2005) mit Akteuren des Hochwasserschutzes geführt. Die Auswahl der Gesprächspartner/innen in der Hauptphase der empirischen Untersuchung richtete sich danach, ob sie als relevante – das heißt betroffene, beteiligte oder zuständige – Akteure über die Dokumentenanalyse identifiziert werden konnten oder von anderen Interviewpartner/innen genannt wurden. Es wurden insgesamt 20 Einzelinterviews, ein Gruppeninterview und eine Gruppendiskussion geführt.73 Die Leitfadeninterviews wurden als offene, strukturierte Interviews geführt, in denen die Akteure zu ihren biografischen Bezügen und zu verschiedenen Themenbereichen im Umgang mit Hochwasser befragt wurden. Die Fragen des Leitfadens dienten in erster Linie als Gesprächsanstoß, da insbesondere die Erzählungen und Deutungen des Umgangs mit Hochwasser und der Veränderungsprozesse aus Sicht der Akteure von Interesse waren. Die Expert/inneninterviews dienten dazu, gezielte Informationen über Prozesse oder Entwicklungen 73
Eine Liste der Interviews im Anhang gibt Auskunft über die Art der Interviews, die Funktionen der Gesprächspartner/innen und Art der Protokollierung (vgl. Anhang). Das Interview LöBR1 wurde nachträglich in den Datenkorpus der empirischen Untersuchung einbezogen und ist nicht von der Verfasserin konzipiert und durchgeführt worden. Für die Bereitstellung sei Tanja Mölders (Lüneburg) und Babette Scurrell (Dessau) herzlich gedankt.
108
4 Forschungsperspekte und Methodik
zu erhalten. Die Forschungstechnik des Expert/inneninterviews nach Meuser und Nagel (1991) bezieht sich insbesondere auf die Phänomenstruktur des Untersuchungsgegenstands, also auf Zusammenhangsstrukturen, Zuständigkeiten, Werteimplikationen etc. (vgl. ausführlich Kap. 4.2.3). Die Methodik der offenen, teilstrukturierten Leitfadeninterviews zielt hingegen vor allem auf die zugrunde liegenden Deutungsmuster, also Bedeutungen, die dem Untersuchungsgegenstand zugeordnet werden.74 Die Gruppendiskussion wurde durch Thesen angeregt, um die jeweils individuellen Perspektiven und Positionen zum Umgang mit Hochwasser der beteiligten Diskutant/innen auszutauschen (vgl. Bohnsack 2005). Die Interviews sowie die Gruppendiskussion wurden nach Einverständniserklärung der Gesprächspartner/innen aufgenommen und anschließend vollständig oder in Auszügen transkribiert. Mit einigen zentralen Gesprächspartner/innen wurden mehrere Interviews im Abstand von ca. einem Jahr geführt (vgl. LöWWF1b, WaBI1b, WaOB1b, MmLHW1b, MmUI1b). Dies diente zum einen dazu, die Veränderungen der untersuchten Prozesse im Verlauf der Forschungsarbeit zu erfassen. Zum anderen wurden den Interviewpartner/innen in einem Teil des zweiten Gesprächs Thesen und Zwischenergebnisse vorgestellt, die sie kommentieren sollten. Diese Rückmeldung wurde wiederum in die Auswertung einbezogen. Durch dieses Vorgehen wurde der Forschungsprozess zumindest in Teilen als kommunikativer Prozess zwischen Forschenden und ‚Beforschten’ gestaltet (vgl. Sturm 2000, 47).75 In der dritten Phase wurden gegen Ende der empirischen Auswertung gezielt Gespräche mit einzelnen Gesprächspartner/innen geführt, um offen gebliebene Fragen zu klären oder Rekonstruktionen von laufenden Prozessen auf einen aktuellen Stand zu bringen. Diese Gespräche wurden in Gesprächsprotokollen festgehalten. Durch die Verwendung verschiedener Datenquellen (Dokumente, Interviews, Gruppendiskussionen) wird eine Triangulation, also eine Verbindung verschiedener methodischer Zugänge, erreicht (vgl. Flick 2005b). Die Triangulation wird als Strategie verwendet, um zu einem tieferen Verständnis des untersuchten Gegenstandes zu gelangen und „Erkenntnisse durch die Gewinnung 74
75
Die Gesprächspartner/innen für beide Interviewtypen können als Expert/innen bezeichnet werden. Darunter werden Personen verstanden, die selbst Verantwortung für den Entwurf, die Implementierung oder die Kontrolle einer Problemlösung tragen und einen privilegierten Zugang zu Informationen über Entscheidungsprozesse besitzen (vgl. Meuser, Nagel 1991, 443). Dieses Vorgehen dient auch der „kommunikativen Validierung“ und Rückbindung der entwickelten Theorie an die Untersuchten (vgl. Steinke 2005, ausführlicher Kap. 4.2.3). Für die Bereitschaft, an der vorliegenden Untersuchung mitzuwirken, sei an dieser Stelle allen Interviewund Gesprächspartner/innen ein großer Dank ausgesprochen.
4.2 Forschungsdesign und Forschungstechniken
109
weiterer Erkenntnisse zu begründen und abzusichern“ (ebd., 311). Dabei werden im Rahmen der vorliegenden Untersuchung sowohl verschiedene Datenquellen und Datentypen der Analyse unterzogen (Daten-Triangulation) als auch verschiedene Forschungsmethoden angewandt (Methoden-Triangulation). Beispielsweise fanden ergänzend zu der Dokumentenanalyse der Hochwasserschutzkonzeptionen des Landes Sachsen-Anhalt verschiedene Expert/inneninterviews mit Personen statt, die an der Entwicklung der Konzeptionen mitgewirkt haben, um deren Wissen über den Entstehungsprozess einzubeziehen (Between-Method-Triangulation). Außerdem wurden auch innerhalb einer Forschungsmethode verschiedene Elemente kombiniert (Within-MethodTriangulation). So wurden beispielsweise in den Leitfadeninterviews sowohl themenzentrierte als auch narrative und biografisch-retrospektive Elemente einbezogen. Bei der fallbezogenen Rekonstruktion von Veränderungsprozessen gilt es, die zeitlichen Dimensionen des Prozesses auch methodisch zu berücksichtigen. Dafür wurden drei verschiedene Zugänge gewählt:
76
Zum einen wurden die Interviewpartner/innen in einem Teil des Interviews gebeten, rückblickend über die Geschehnisse der vergangenen Jahre und Jahrzehnte zu berichten. Diese retrospektive Perspektive ermöglicht weniger einen Rückschluss auf das ‚tatsächlich’ Geschehene als vielmehr ein Abbild der subjektiven Akteursperspektive.76 Dies gilt insbesondere für die Geschehnisse vor dem Hochwasserereignis 2002. Dieser subjektive Rückblick konnte zum Teil mit Dokumenten (z. B. Planungsunterlagen, Positionspapiere, Medienberichte, Sitzungsprotokolle) aus den vergangenen Jahren und Jahrzehnten verglichen werden. Allerdings sind beispielsweise für die Fallstudie „Dessau-Waldersee“ kaum aussagekräftige Unterlagen aus der Zeit vor dem Hochwasserereignis 2002 vorhanden, sodass der Veränderungsprozess ausschließlich anhand der Beschreibungen der Interviewpartner/innen rekonstruiert werden kann. Zum zweiten wurde in den Interviews eine Zustands- und Prozessbeschreibung zum Zeitpunkt der Forschung sowie eine subjektive Einschätzung der derzeitigen Situation erfragt. Drittens wurden mit einigen Akteuren mehrere Gespräche im Abstand von ca. einem Jahr geführt, um auf mögliche Veränderungen der Situation, des Prozesses oder der Deutung der Geschehnisse zu fokussieren. Insgesamt wurden die Interviews und Recherchen in einen Zeitraum von über vier JahEs ist davon auszugehen, dass das, was die Akteure damals ‚tatsächlich’ über den Umgang mit Hochwasser gedacht haben, rückblickend umgedeutet wird (vgl. Lenk, Maring 1997).
110
4 Forschungsperspekte und Methodik ren durchgeführt, sodass auf eine gewisse Entwicklung und Veränderung im Verlauf der Jahre geschlossen werden kann (Dezember 2003 bis Mai 2008).
4.2.3 Auswertungsstrategie und zentrale Analysekategorien Im Sinne der interpretativen Sozialforschung zeichnet sich eine gelungene qualitative Untersuchung in ihrem gesamten Verlauf durch die beständige Integration von empirischen und theoretischen Arbeitsschritten aus (vgl. zusammenfassend Tabelle 6; Kelle 1998, 353 ff.; Kelle, Kluge 1999, 37). Ziel des qualitativen Untersuchungsdesigns dieser Arbeit ist sowohl die Beantwortung der empirischen Forschungsfragen als auch die Weiterentwicklung des sozial-ökologischen Raumkonzeptes als untersuchungsleitendendes Konzept. Daher wurde die empirische Untersuchung als zirkulärer Prozess gestaltet. Das heißt, Datenerhebung, Auswertung und die Formulierung der Ergebnisse erfolgten nicht nacheinander, sondern in Anlehnung an die Grounded Theory systematisch ineinandergreifend (vgl. Strauss 1991; Anselm, Corbin 1996; Böhm 2005). Die Daten (Interviewtexte und Dokumente) wurden durch theoriegeleitetes Kodieren ausgewertet. Gleichzeitig wurden kontinuierlich Kommentare und Auswertungsnotizen verfasst, die zur Dokumentierung und (Re-)Formulierung von Thesen und Zwischenergebnissen dienten. Die Kodierung des Datenmaterials erfolgte in zwei Durchgängen. In einem ersten Schritt wurden so genannte ‚offene Codes’ entwickelt. Die transkribierten Interviews oder Texte wurden also entlang der dem Vorhaben zugrunde liegenden Fragestellung interpretiert und einzelne Aussagen und Phänomene mit Begriffen benannt (vgl. Anselm, Corbin 1996, 21). Dieser erste Durchgang hat einen eher deskriptiven Charakter. Ziel ist es, die von den Interviewpartner/innen benannten Phänomene und Zusammenhänge zu verstehen. In einem zweiten Auswertungsdurchgang werden verschiedene Codes zu Kategorien zusammengefasst. Codes und Kategorien werden theoriegeleitet benannt und systematisiert. Das bedeutet, dass sie sich am Vorwissen und zugrunde gelegten sensibilisierenden Konzept orientieren. Keller (2004) empfiehlt, bei der Analyse von Interviews und Textdokumenten Phänomenstruktur und Deutungsmuster getrennt zu behandeln (ebd., 97 ff.). Für die Phänomenstruktur ist zu klären, wie das Thema oder Problem benannt wird, welche (kausalen) Zusammenhangsstrukturen, Zuständigkeiten, Problemdimensionen, Werteimplikationen und Handlungsmöglichkeiten genannt werden. Für die ausgewählten Fallstudien sind dies im Sinne der Fallrekonstruktion Fragen nach den Zielen, Strategien, Maßnahmen und Zuständigkeiten im Umgang mit Hochwasser.
4.2 Forschungsdesign und Forschungstechniken
111
Für die Analyse der Deutungsmuster eignet sich eine Sequenz- oder Feinanalyse ausgewählter Textpassagen. Unter Deutungsmustern versteht Keller den Interpretationsrahmen, der unterschiedliche Bedeutungselemente zu einer Deutungsfigur verknüpft (ebd., 104). Diese werden mit Bezug auf die Analyseperspektive der sozial-ökologischen Raumforschung über die Naturbilder und Naturverständnisse im Umgang mit Hochwasser sowie die Frage nach dem Schützenswerten interpretiert (vgl. Kap. 3.2.2). In diesem Analyseschritt wird insbesondere die formale und rhetorische Struktur des Textmaterials (der Dokumente bzw. Interviewtranskripte) analysiert. Hier steht im Vordergrund, welche Themen behandelt werden, in welchen Kategorien und Argumentationsfiguren diese Themen ausgeführt werden, welche Unterthemen und Kernbegriffe Bestandteil der Aussage sind und welche Beispiele angeführt werden, um die Aussage zu erläutern. Dabei gilt es, die Akteursperspektive und Situiertheit der Aussage zu berücksichtigen: Wer spricht und vor welchem zeitlichen und sozialen Hintergrund werden die Aussagen getroffen? Für die Analyse der Phänomenstruktur und der Deutungsmuster wurden ausgehend von der Analyseperspektive vorstrukturierende Fragen im Sinne einer Feinanalyse der Akteursperspektive formuliert und durch untersuchungsleitende Fragen entlang des Raumkonzeptes im Sinne einer Globalanalyse des Falles ergänzt.77 Bei den Expert/inneninterviews, die insbesondere im Bezug auf die Hochwasserschutzkonzeptionen ergänzend zu der Dokumentenanalyse geführt wurden, spielte vor allem die Phänomenstruktur eine Rolle. Im Zentrum des Interesses stand das Betriebs- und Kontextwissen der Interviewten über die Erarbeitung der Hochwasserschutzkonzeptionen.78 Anschließend wurden die Analysen der drei Fallstudien strukturiert zusammengeführt (vgl. Blatter, Janning, Wagemann 2007, 140 ff.). Die Zusammenführung erfolgt entlang der vier Dimensionen des sozial-ökologischen Raumkonzeptes und stellt die jeweils zentralen Faktoren des Veränderungsprozesses zueinander in Beziehung (vgl. Kap. 5.5).
77
78
Unter Feinanalyse wird in der Grounded Theorie die Tiefenanalyse kurzer, aussagekräftiger Interviewsequenzen verstanden. Eine Globalanalyse bezieht sich auf ein ganzes Interview und benennt die zentralen Themen des Interviews als Ganzes und damit der Akteursperspektive des bzw. der Interviewpartner/in. Unter Betriebswissen wird Erfahrungswissen verstanden, das die Expertin oder der Experte über Strukturen und Strukturzusammenhänge seines Handlungsfeldes besitzt; das Kontextwissen umfasst Informationen und Hintergrundwissen bezüglich eines bestimmten Sachverhaltes. Zur Unterscheidung von Betriebs- und Kontextwissen vgl. Meuser, Nagel 1991, 446 ff.
112
4 Forschungsperspekte und Methodik
Tabelle 6: Zusammenfassende Übersicht über die empirischen und theoretischen Auswertungsschritte (eigene Darstellung) Arbeitsschritte
Material
Analyseebene
Analysekategorien
Phänomenstruktur
x Leitfadeninterviews
deskriptive Globalanalyse entlang eines Codierleitfadens
x Ziele
interpretierende Fein-/Sequenzanalyse durch offenes Codieren
x Naturbilder
x Dokumente x Expert/inneninterviews Deutungsmuster
x Leitfadeninterviews x Dokumente
x Strategien x Maßnahmen x Zuständigkeiten
x Naturveständnisse x Schützenswertes
Zusammenführung
Fallanalysen
Fallstudie
regulative Faktoren
(Re-)Formulierung von Thesen und Ergebnissen
Auswertungsnotizen, Memos
Handlungsfelder des Hochwassermanagements
Anforderungen an vorsorgendes Hochwassermanagement
4.2.4 Darstellung der Ergebnisse Die Wahl der Darstellung von Ergebnissen ist ebenfalls Teil des Forschungsdesigns und bedarf der Begründung. Die Gliederung der drei Fallstudien in Kapitel 5 ist in vier Analyseschritte gegliedert, die jeweils einen tieferen Interpretationsgrad erreichen:
Zuerst werden einführend das zentrale Thema, die damit in Beziehung stehenden Akteure und die Rahmenbedingungen der Fallstudie beschrieben. Im zweiten Analyseschritt werden in jeder Fallstudie die Ziele, Strategien, Maßnahmen und Zuständigkeiten im Umgang mit extremen Hochwasserereignissen aus der Perspektive der jeweils beteiligten oder betroffenen Akteure dargestellt. Durch diese eher deskriptive Analyse ist eine differen-
4.2 Forschungsdesign und Forschungstechniken
113
zierte Darstellung der jeweiligen Fallstudie möglich, die auch Ambivalenzen und gegenläufige Meinungen abbildet. Drittens werden durch die Analyse der Naturbilder und Naturverständnisse die gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Umgang mit Hochwasser rekonstruiert. Diese stärker interpretierende Analyse berücksichtigt insbesondere die Veränderungen vor und nach dem extremen Hochwasser von 2002. Der vierte Analyseschritt bezieht sich auf die regulativen Faktoren, die den Veränderungsprozess im Umgang mit Hochwasser maßgeblich bestimmen. Entlang der Dimensionen des sozial-ökologischen Raumkonzeptes werden jene Faktoren herausgestellt, die den Transformationsprozess in der jeweiligen Fallstudie beeinflusst haben.
In der Darstellung wurde das empirische Material dazu verwendet, einerseits die systematische Aufbereitung der unterschiedlichen Interview- und Dokumentenquellen zu veranschaulichen und andererseits die Interpretation und Argumentation der Analyse an den Wortlaut der jeweiligen Akteure zurückzubinden (vgl. Flick 2005a). Die in Kapitel 5 verwendeten wörtlichen Zitate dienen in erster Linie dazu, die Interpretationen und Deutungen der empirischen Daten nachvollziehbar zu machen und zu illustrieren. Die Zitate aus den Interviews sowie den politischen und planerischen Dokumenten, die zusammen das empirische Material bilden, werden kursiv gesetzt, um sie von Zitaten aus der Fachliteratur zu unterscheiden. Die zitierten Interviewaussagen sind zum Teil sprachlich und grammatikalisch geglättet, sodass sie flüssig lesbar und ohne das Audiomaterial verständlich sind. Die Anonymisierung der Interviewpartner/innen erfolgt durch die Vergabe von Interviewkürzeln. Die Funktion der Interviewpartner/innen wird jedoch in der Argumentation des Textes genannt und lässt sich durch die Interviewliste im Anhang nachvollziehen (vgl. Anhang). Für die sprachliche Darstellung der Forschungsarbeit wird die sachliche Textform gewählt. Im Gegensatz zu „selbst-bekennenden“ oder „impressionistischen“ Beschreibungen stehen in der textlichen Darstellung nicht die persönlichen Erfahrungen der Forscherin im Vordergrund (vgl. Matt 2005, 583). Vielmehr wird eine dokumentarische oder interpretierende Darstellung in der dritten Person gewählt, ohne dabei jedoch eine absolute Objektivität zu suggerieren. Diese kann ebenso wie Reliabilität und Validität, zwei Gütekriterien der quantitativen Forschung, kaum ein Kriterium zur Beurteilung qualitativer Forschung sein (vgl. Steinke 2005). Daher wird unter Beibehaltung der sachlichen Textform darauf geachtet, dass Bezüge und Interpretationsebenen der getroffenen Aussagen transparent dargestellt werden. Die Offenlegung des Vorgehens, Klärung des Vorverständnisses, Dokumentation des Interpretationsprozesses und die Präsentation des Datenmaterials machen den Forschungsprozess und die
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4 Forschungsperspekte und Methodik
Interpretation der Ergebnisse für andere nachvollziehbar. Auch die MethodenTriangulation und kommunikative Validierung der Ergebnisse im Kolleg/innenkreis sowie mit einzelnen Interviewpartner/innen aus der Untersuchungsregion tragen zur Qualitätssicherung der Forschung bei.79
79
Einzelne Interviewteile und Dokumente sowie Codes- und Kategorienschemata wurden mehrfach im Rahmen von Methodenwerkstätten in Gruppen interpretiert. Durch dieses Vorgehen konnte die Perspektive der Forscherin auf die Interpretationsmöglichkeiten des Datenmaterials hilfreich erweitert, korrigiert oder bestätigt werden. Dank gilt hier insbesondere der Arbeitsgruppe Umweltplanung an der Universität Lüneburg und dem Kolloquium für qualitative Sozialforschung an der Technischen Universität Berlin.
5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel: Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung
Die Untersuchungsregion Mulde-Mündung bezeichnet geografisch den Bereich, in dem der im Erzgebirge entspringende Fluss Mulde in die Elbe mündet (vgl. Abb. 11). Im Mündungsbereich liegt die Stadt Dessau-Roßlau.80 In der Region befinden sich große Teile des unter UNESCO-Weltkulturerbe stehenden DessauWörlitzer Gartenreichs und des Biosphärenreservats Mittelelbe. Auch wirtschaftlich ist die Region stark durch die Eigenschaften der Flussgebiete geprägt: Insbesondere wasser- bzw. abwasserintensive Wirtschaftsunternehmen (Energieund Chemieunternehmen) siedelten sich hier an und prägten seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Region (vgl. Lenz 1999; Knothe 2002, 70 ff.). Im Folgenden werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchung der Veränderungsprozesse im Hochwassermanagement dargestellt. Dafür wird zunächst ein Überblick über die naturräumlichen Voraussetzungen und die historische Entwicklung des Hochwasserschutzes in der Region, über die Besonderheiten und den Verlauf des Sommerhochwassers 2002 sowie über die Planungsgrundlagen des Hochwasserschutzes in der Region und die zentralen betroffenen und beteiligten Akteure gegeben (vgl. Kap. 5.1). Anschließend werden die Ergebnisse der drei Fallstudien dargestellt. Die erste Fallstudie untersucht die Veränderungen in der strategischen Hochwasserschutzplanung in Sachsen-Anhalt anhand der drei Hochwasserschutzkonzeptionen von 1994, 2003 und 2007 (vgl. Kap. 5.2). Die zweite Fallstudie verfolgt die Veränderung des Umgangs mit Hochwasser im Rahmen einer Deichrückverlegungsplanung, die sich im Lödderitzer Forst von ersten Initiativen Mitte der 1990er Jahre bis zu ihrer Fertigstellung im Jahre 2013 über fast 20 Jahre erstreckt. Im Zentrum stehen hier insbesondere Synergien und Konflikte zwischen Hochwasserschutz und Auenschutz (vgl. Kap. 5.3). Die dritte Fallstudie fokussiert auf das bürgerschaftliche Engagement des vom Hochwasser 2002 sehr stark betroffenen Ortsteils DessauWaldersee und damit auf Veränderungsprozesse im lokalen Umgang mit Hoch80
Dessau wurde 01.07.2007 mit der Stadt Roßlau im Rahmen einer Gebietsreform zusammengelegt. Da ein großer Teil der empirischen Untersuchung vor der Zusammenlegung stattfand, ist im Folgenden überwiegend von der Stadt Dessau die Rede.
116
5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
wasser (vgl. Kap. 5.4). In der anschließenden Zusammenführung werden die Ergebnisse aus den drei Fallstudien strukturiert diskutiert (vgl. Kap. 5.5).
Abbildung 11: Region Mulde-Mündung (Quelle: Nadine Seidl)
5.1 Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung Der Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung ist einerseits eng mit den naturräumlichen Zusammenhängen in der Region sowie im gesamten Flussgebiet verbunden und andererseits durch die historische Entwicklung des Hochwasserschutzes geprägt (vgl. Kap. 5.1.1). Die Auswertung des Hochwasserereignisses 2002 geben Aufschluss darüber, was die Besonderheiten des ElbeHochwassers waren und wie effektiv das derzeitige Hochwassermanagement in der Region auf dieses Ereignis reagieren konnte (vgl. Kap. 5.1.2). Die allgemeinen Planungsvorgaben und die formellen sowie informellen Handlungsspielräume der Akteure sind ebenfalls entscheidend für den Umgang mit Hochwasser in der Region. Ein Überblick ist den Analysen der Fallstudien vorangestellt (vgl. Kap. 5.1.3).
5.1 Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung
117
Die Region stellt den empirischen Bezugspunkt für die Untersuchung der Veränderungsprozesse im Hochwassermanagement dar. Sie ist allerdings im Sinne eines relationalen Raumverständnisses als ein Raum zu verstehen, der eng mit anderen Regionen und überregionalen raumstrukturierenden Zusammenhängen verbunden ist. Insofern ist die Region insbesondere in das Flusseinzugsgebiet, in die administrative und rechtliche Regulation Sachsen-Anhalts, Deutschlands und der Europäischen Union (EU) sowie in mitteleuropäische Deutungsmuster eingebettet. Im Folgenden liegt der Fokus auf Faktoren, die die Region Mulde-Mündung direkt betreffen. Regionsübergreifende Rahmenbedingungen werden erläutert, wenn sie für die Region relevant sind. 5.1.1 Charakteristika des Flussgebiets und Geschichte des Hochwasserschutzes Die Elbe ist mit 1.091 km einer der längsten Flüsse in Mitteleuropa. Ihr Flussgebiet erstreckt sich von der Quelle im Riesengebirge, über den Oberlauf im Nordosten der Tschechischen Republik, den mittleren und oberen Flusslauf durch Ost- und Norddeutschland bis zu ihrer Mündung in die Nordsee bei Cuxhaven. Das Flusseinzugsgebiet umfasst 148.268 km2 (IKSE 2004, 7). Obwohl sie im Riesengebirge auf einer Höhe von 1.384 m über NN entspringt verläuft der größte Teil der Elbe als langsam mäandrierender Flusslauf in der norddeutschen Tiefebene zwischen Meißen und Geestacht. Die größten Zuläufe sind die Moldau auf tschechischem Gebiet und die Mulde, Saale und Havel im Bereich der Mittleren Elbe. Neben dem Mündungsbereich in der unteren Elbe zwischen Hamburg und Cuxhaven und dem Ursprungsgebiet im Riesengebirge erstreckt sich der größte Teil des Flussgebiets, die Mittlere Elbe, im Norddeutschen Tiefland. Insgesamt leben ca. 24,52 Millionen Einwohner/innen im Einzugsgebiet der Elbe (vgl. IKSE 2005, 16). Im Gegensatz zum Oberlauf der Elbe ist das Gebiet der Mittleren Elbe ab ihrem Eintritt in die Dresdner Elbtalweitung verhältnismäßig stark besiedelt und landwirtschaftlich genutzt. Zunächst fand die Besiedlung vor allem auf höher gelegenen Geländebereichen oder an Talrändern statt. Bereits im 12. Jahrhundert sind jedoch erste Ringdeiche gebaut worden, um einzelne Gehöfte oder landwirtschaftliche Güter zu schützen. Im 18. Jahrhundert begannen im Bereich der Mittleren Elbe die Landesfürsten damit, systematisch überwiegend geschlossene Deichlinien zu errichten. Zuerst unter Fürst Leopold (1676–1747), dann unter Fürst Franz von Anhalt-Dessau (1740–1817) wurde umfassender Deichbau betrieben, um die landwirtschaftliche Nutzung zu intensivieren und das ‚Gartenreich’ vor Überflutungen zu schützen.81 Dafür wurden 81
Das Dessau-Wörlitzer-Gartenreich, heute UNESCO-Weltkulturerbe, entstand unter dem Fürsten Franz, der unter dem Bild ‚Das Reich als Garten’ im Geiste der Aufklärung‚ das Schöne
118
5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
holländische Siedler/innen ins Land geholt, die als Fachkundige des Wasser- und Deichbaus galten. Die Hochwasserjahre 1770, 1772, 1784, 1799, 1845 und 1890, die starke Schäden hinterließen, boten weitere Anlässe für den Ausbau des Deichsystems (vgl. insbesondere Reichhoff, Noack 2005; IKSE 2005, 22 f.). Mit der einsetzenden Industrialisierung wurden die Elbe und einige ihrer Nebenflüsse schiffbar gemacht. Dadurch sind insbesondere die natürlichen Überschwemmungsgebiete und Weichholz- sowie Hartholzauengebiete stark dezimiert worden. Heute werden nur noch 838 km2 der Uferbereiche regelmäßig überschwemmt, das entspricht 13,6 % der natürlichen Retentionsflächen entlang der Elbe (vgl. Jährling 1998; BfG 1998). Dennoch sind in der Flusslandschaft Elbe im Vergleich zu anderen Flussgebieten in Europa noch weitgehend naturnahe Uferbereiche und Gewässerstrukturen erhalten geblieben. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass ein großer Teil des Flusses im Bereich der ehemaligen DDR lag oder Grenzgebiet war, sodass der Fluss nicht, wie bereits vor der Teilung Deutschlands geplant, für eine ganzjährige Schiffbarkeit ausgebaut wurde. Heute schützt im Bereich der Mittleren Elbe eine 730 km lange durchgehende Deichlinie beidseitig des Flusses eine Fläche von ca. 3.285 km2 vor Überschwemmungen (249 Städte und Gemeinden mit einer Bevölkerung von 365.000 Menschen).82 5.1.2 Das Hochwasserereignis an Elbe und Mulde 2002 Meteorologische Ursache für die extremen Niederschläge in der ersten Augusthälfte des Jahres 2002 war eine so genannte Vb-Wetterlage, bei der feuchtwarme Luftmassen aus dem Mittelmeerraum östlich um die Alpen nach Norden geführt wurden und auf kühlere, aus Westen kommende Luftmassen trafen (vgl. IKSE 2004, 8 f.; DKKV 2003, 28). Als Konsequenz dieser Großwetterlage kam es zu lang anhaltenden und starken Flächenniederschlägen. Von einer ersten Niederschlagswelle zwischen dem 06. und 08.08.2002 waren zunächst die Oberläufe der Elbe in Tschechien, insbesondere die Moldau, betroffen. Die zweite Phase extremer Niederschläge vom 09.–13.08.2002, die vor allem im Osterzgebirge auftraten, betraf insbesondere die Einzugsgebiete von Mulde, Weißeritz und Müglitz. In Tschechien traf diese zweite Niederschlagsphase auf das bereits gesättigte Einzugsgebiet, sodass es zu einem schnellen Abfluss des Nieder-
82
mit dem Nützlichen’ verband. So entstand zwischen Wörlitz und Dessau eine Landschaft, in der Schlösser, Parks und gestaltete Kulturlandschaft zusammen mit den unbewirtschafteten Bereichen der Elbe das ‚Gartenreich’ bilden (vgl. Eisold 2000; Mölders 2009). Insgesamt gibt es 1231,6 km Deiche entlang der Elbe.
5.1 Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung
119
schlags kam. Das Resultat in Tschechien sowie in Deutschland waren außergewöhnliche Hochwassersituationen, bei denen es innerhalb weniger Stunden zu sehr großen Abflüssen an den Elbe-Nebenflüssen kam. Im Bereich der Mittleren Elbe kam es zu einem deutlich langsameren, aber dennoch erheblichen Wasseranstieg.83 Für den Hochwasserrückhalt stehen im Elbegebiet ca. 500 Millionen m3 gesteuerte Retentionsflächen zur Verfügung. Allein in Sachsen existieren 190 Talsperren, die einen Nutzraum von mehr als 100.000 m3 aufweisen (vgl. DKKV 2003, 30). In jenen Einzugsgebieten, die von zwei Niederschlagsereignissen betroffen waren, wurden die freien Stauräume allerdings schon durch den Abfluss des ersten Ereignisses gefüllt. Die Internationale Kommission zum Schutz der Elbe (IKSE) beurteilt den Einfluss der Talsperren auf den Hochwasserverlauf als positiv: Durch die Talsperrenbewirtschaftung wurden eine Verzögerung des Hochwasserscheitels und in einer Reihe von Fällen eine deutliche Reduzierung des Scheitels im Gewässer unterhalb der Talsperre erzielt (vgl. IKSE 2004, 32 ff.). Die Retention im Bereich der Havelmündung durch die Öffnung der Havelpolder und die Steuerung der Wehrgruppe Quitzöbel wird für die Abminderung des Scheitels der Elbe insgesamt als sehr wirksam eingeschätzt.84 Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass zahllose Deichbrüche an Elbe und Mulde sowie an deren Nebengewässern die Abflüsse in der Elbe zum Teil erheblich reduziert haben (vgl. IKSE 2004, 18 ff.). Die große Zahl der Deichbrüche lässt sich in ihrer Wirkung auf das Hochwasserereignis nicht exakt beschreiben. Erwiesen ist allerdings, dass Unterlieger von solchen Entlastungen profitiert haben und die Hochwasserscheitel um mehrere Dezimeter niedriger eingetreten sind.85 Insgesamt kam es zu bisher nie aufgetretenen Schadenssummen, die allein für Deutschland auf 11,6 Milliarden Euro geschätzt werden (vgl. Thieken et al. 2006). Laut einer Studie des Deutschen Komitees für Katastrophenvorsorge (DKKV) waren 337.000 Menschen in Deutschland von der Elbeflut direkt betroffen. Es kam zu 21 Todesfällen. 83 84
85
Eine ausführliche Darstellung des Hochwasserverlaufs mit den entsprechenden Durchflussgrößen je Teileinzugsgebiet findet sich in IKSE 2004, 11 ff. In Abhängigkeit von der Vorhersage und der Scheitelausbildung konnte mit der Steuerung der Wehrgruppe Quitzöbel der Elbescheitel am Pegel Wittenberge um 41 cm gesenkt werden. Die angewendete Steuerung der Havelpolder hat in Wittenberge und noch deutlicher in Neu Darchau die ursprüngliche Wellenspitze zu einem niedrigen, drei Tage andauernden horizontalen Wellenscheitel reduziert. An diesem Beispiel wird deutlich, wie sich Wasserrückhalt in der Fläche effektiv auf den Hochwasserspiegel auswirken und so vorsorgend Schaden gemindert werden kann. In Sachsen und Sachsen-Anhalt wurden 21 Deichbrüche an der Elbe und 125 an der Mulde registriert. Zu berücksichtigen ist ebenfalls, dass durch hohe Aufwendungen zur Sicherung und Verteidigung der Deiche mit Hilfe Tausender Einsatzkräfte und freiwilliger Helfer ein Versagen weiterer Hochwasserschutzanlagen verhindert werden konnte.
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
Für den Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung sind auch die Hochwasserereignisse des Winters 2002/2003 und des Frühjahrs 2006 zu nennen. Hier kam es in der Untersuchungsregion ebenfalls aufgrund extrem hoher Wasserabflüsse in Elbe und Mulde zu sehr prekären Situationen an den Deichen. Die Schäden hielten sich jedoch in Grenzen, was beim Hochwasserereignis von 2006 auf die inzwischen weitgehend instand gesetzten Schutzbauwerke in Sachsen-Anhalt zurückgeführt wird (vgl. LHW 2006). 5.1.3 Institutionelle Strukturen, normative Vorgaben und relevante Akteure Materiell und formell ist Hochwasserschutz in der Region Mulde-Mündung durch das Hochwasserschutzrecht und die Verwaltungsorganisation von Bund und Ländern reguliert.86 Hochwasserschutzrecht ist in Deutschland eine Querschnittsmaterie (vgl. Albrecht, Janssen 2006a). Es findet nicht nur auf verschiedenen Rechtsebenen (u. a. Völker-, Europa-, Bundes-, Landes-, und Ortsrecht), sondern auch in verschiedenen Rechtsgebieten (u. a. Wasserwirtschaft, Landschaftsplanung und Naturschutz, Raumordnung, Bauplanungsrecht, Bodenschutz, Umweltprüfungen) seinen Niederschlag (vgl. Albrecht, Janssen 2006b; Kotulla 2007). Der Schwerpunkt des Hochwasserschutzrechts liegt auf der wasserrechtlichen Fachplanung. Zentrales Instrument seit der Novelle des Wasserhaushaltsgesetzes durch das Bundes-Hochwasserschutzgesetz vom Mai 2005 (BGBl. 1, S. 1224) sind die Hochwasserschutzpläne (§ 31d WHG) sowie der wasserwirtschaftliche Gebietsschutz durch Überschwemmungsgebiete (§ 31b WHG bzw. § 96 WG LSA) und überschwemmungsgefährdete Gebiete (§ 31 c WHG bzw. § 98a WG LSA) (vgl. Kap 2.2.2). Deren Umsetzung in Sachsen-Anhalt steht überwiegend noch aus, wobei beispielsweise durch die Hochwasserschutzkonzeption Elbe sowie die Hochwasserschutzkonzeption Mulde bereits erhebliche Vorarbeiten geleistet sind (vgl. MLU 2003; MLU 2007; Schulze, Güttel 2006). Das Raumordnungs- und Landesplanungsrecht verfolgt vor allem einen planungsrechtlichen Koordinierungsauftrag. Hochwasserschutz als eine Raumfunktion und Raumnutzung muss mit anderen Anforderungen an den Raum abgestimmt werden (vgl. Heiland, Dapp 2001; Stüer 2004). Dabei wird der Auftrag einer vorsorgenden und nachhaltigen Raumentwicklung verfolgt (§ 1 Abs. 1, S. 1 f. Nr. 2 ROG). Der Grundsatz des vorbeugenden Hochwasserschutzes ist in § 2 Abs. 2 Nr. 8 S. 7 ROG ausdrücklich festgeschrieben. Umgesetzt werden die 86
In den Rechtswissenschaften wird zwischen materiellem Recht, also der Summe der Rechtsnormen, und formellem Recht, welches die gerichtliche Feststellung und Durchsetzung des Rechtes betrifft, unterschieden.
5.1 Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung
121
Grundsätze und Aufgaben der Raumordnung vor allem über Raumordnungs- und Regionalpläne, zentrale Planungsinstrumente der Landesplanung (vgl. § 3 LPlG LSA; Albrecht, Janssen 2006a, 40 ff.). Des Weiteren enthalten neben der wasserrechtlichen auch andere Fachplanungen, wie die naturschutzrechtliche, forstwirtschaftliche und die landwirtschaftliche Fachplanung, rechtliche Instrumente, die die Belange eines vorsorgenden Hochwassermanagements fördern (z. B. über die Landschaftspläne, die forstliche Rahmenplanung oder die agrarstrukturelle Entwicklungsplanung; vgl. Albrecht, Janssen 2006a, 32 ff.). Internationale Vorgaben für die Gestaltung des Hochwasserschutzes finden sich insbesondere in der Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) und der 2007 verabschiedeten Richtlinie über die Bewertung und das Management von Hochwasserrisiken (HWRRL) der Europäischen Union (vgl. Albrecht, Janssen 2006a, 24 ff.; Albrecht, Janssen 2006b; Dworak 2008; Reinhardt 2008; Wagner 2008). Diese schlagen sich in den entsprechenden Bundes- und Landesgesetzen nieder (insbesondere WHG bzw. WG LSA). Mit Hochwasser und Hochwasserschutz an der Elbe beschäftigt sich insbesondere die IKSE, in der Vertreter/innen aus Politik, Verwaltung und Verbänden aus allen Elb-Anrainerstaaten vertreten sind. Die Beschlüsse der Kommission haben zwar keinen verbindlichen Charakter, fließen in Deutschland jedoch in Gesetzesnovellen und Hochwasserschutzkonzeptionen ein. Entsprechend der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes zwischen Bund und Ländern sind die meisten Verwaltungsbehörden, die für Belange des Hochwassermanagements zuständig sind oder davon tangiert werden, auf der Ebene der Bundesländer zu finden. Bis zum 31.08.2006 kam dem Bund in Belangen des Hochwasserschutzes die Rahmengesetzgebung zu (z. B. WHG und ROG). Die Länder mussten diesen Rahmen durch Ländergesetze ausfüllen. Mit der Föderalismusreform unterliegen diese Rechtgebiete seit dem 01.09.2006 der konkurrierenden Gesetzgebung. Der Bund kann von seiner Befugnis Gebrauch machen, nationale Regelungen zu treffen. Die Länder erhalten in den hochwasserrelevanten Bereichen (z. B. dem Wasserhauhalt, der Raumordnung und dem Naturschutz) jedoch eine umfassende Abweichungskompetenz, nach der sie abweichende Regelungen treffen können. Die Verwaltungsorgane, die für die Belange des Hochwasserschutzes zuständig sind, befinden sich weiterhin auf Länderebene (vgl. ausführlich Albrecht, Janssen 2006a, 73 ff., 107 ff.). Für das Land Sachsen-Anhalt, in dem sich die Untersuchungsregion befindet, ist dies als oberste Verwaltungsbehörde in den Bereichen Wasserwirtschaft und Raumplanung das Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt (MLU) (vgl. § 170 WG LSA, GVBl. LSA 2006). Die unteren Wasserbehörden und Naturschutzbehörden sind in den Landkreisen und kreisfreien Städten angesiedelt. Für
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
Dessau als kreisfreie Stadt ist dies beispielsweise das Umweltamt. Auch die Bauleitplanung und der Katastrophenschutz werden auf kommunaler Ebene geregelt. In Dessau übernehmen diese Aufgaben das Stadtplanungsamt und das Amt für Brand-, Katastrophenschutz und Rettungsdienst. Das Landesamt für Umweltschutz (LfU) und der Landesbetrieb für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft (LHW) unterstützen in Sachsen-Anhalt die obere und die unteren Wasserbehörden insbesondere in technischen Fragen. Der LHW ist u. a. mit Aufgaben des Hochwasserschutzes betraut, insbesondere Planung und Bau von Hochwasserschutzanlagen, Aufstellung von Hochwasserschutzplänen sowie Unterhaltung der Gewässer. Ein weiterer relevanter Akteur auf Landesebene ist die Biosphärenreservatsverwaltung Mittelelbe. Diese ist u. a. für Erhaltung und Schutz gebietstypischer Artenvielfalt und naturnaher Ökosysteme der Elbtalaue, insbesondere des Hartholzauenwaldes, zuständig. Auch die Kulturstiftung DessauWörlitz, die als Denkmalschutzbehörde für das Dessau-Wörlitzer Gartenreich zuständig ist, ist von Planungen des Hochwasserschutzes betroffen, da in der Region MuldeMündung einige Deiche unter Denkmalschutz stehen. Insbesondere nach dem extremen Hochwasserereignis von 2002 gründeten sich verschiedene Bürgerinitiativen in der Region Mulde-Mündung, die sich für Hochwasserschutz engagierten. Doch auch schon vor dem Hochwasser beschäftigten sich verschiedene Vereine oder Verbände mit Belangen des Flussgebietes. Zu nennen sind hier insbesondere die Umweltstiftung WWF und das Elbe-Büro des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND). Diese beschäftigten sich vor allem mit der Erhaltung und Ausweitung von Auenbereichen, dem Flussausbau und Fragen des Naturschutzes. Weiterhin sind als zentrale Akteure des Hochwassermanagements die (unorganisierten) Bürger/innen zu nennen. Insbesondere wenn sie in potenziellen Überschwemmungsgebieten leben, sind sie sowohl Zielgruppe von Behördenaktivitäten als auch – gerade wenn sie von Hochwasser betroffen waren – aktiv Handelnde, die sich als Einzelpersonen oder über ihre politischen Vertreter/innen in der Kommune, auf Landes- oder Bundesebene in die Gestaltung des Hochwassermanagements einbringen. Auf politischer Ebene gibt es seit dem Hochwasser 2002 sowohl im Landtag Sachsen-Anhalts einen zeitweiligen Ausschuss „Hochwasser“ als auch im Stadtrat der Stadt Dessau einen interfraktionellen Hochwasserausschuss, an dem neben den Stadtratsmitgliedern auch berufene Bürger/innen teilnehmen. Die Ausschüsse waren zum einen für die Auswertung des Hochwasserereignisses von 2002 zuständig, befassen sich aber inzwischen auch mit aktuellen Planungen und Entscheidungen des kommunalen bzw. landesweiten Hochwassermanagements.
5.2 Strategische Hochwasserschutzplanung
123
Wie Heiland (2002) ausführt, sind noch wesentlich mehr Politik- und Handlungsfelder und Akteure von einem vorsorgenden Hochwassermanagement betroffen (vgl. Kap. 2.2.2). Land- und Forstwirtschaft, Schifffahrt, Tourismus oder Versicherungswirtschaft sind für die Untersuchungsregion zwar durchaus relevant, spielen jedoch für die ausgewählten Fallstudien keine zentrale Rolle. Damit sind die zentralen institutionellen Vorgaben und relevanten Akteure in Sachsen-Anhalt bzw. der Region Mulde-Mündung überblicksartig beschrieben. Eine genauere Ausführung der formellen Vorgaben und eine Charakterisierung der Ziele und Zuständigkeiten der Akteure finden im Folgenden jeweils in den Analysen der einzelnen Fallstudien statt. 5.2 Strategische Hochwasserschutzplanung: Die Hochwasserschutzkonzeption Elbe des Landes Sachsen-Anhalt Die strategische Hochwasserschutzplanung von Politik und Fachbehörden stellt das erste Handlungsfeld der empirischen Untersuchung dar. Am Beispiel der Hochwasserschutzkonzeption Elbe des Landes Sachsen-Anhalt werden die Veränderungsprozesse im strategischen Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung analysiert. Als strategische Leitlinie hat die Hochwasserschutzkonzeption vor allem formell regulierenden Charakter. Sie wirkt jedoch auch auf die materielle Gestaltung des Hochwasserschutzes, auf das Handeln verschiedener Akteure sowie auf die kulturelle und symbolische Deutung von Hochwasserereignissen. Im Folgenden wird zunächst einführend dargestellt, welche Bedeutung die Hochwasserschutzkonzeption des Landes Sachsen-Anhalt für den Umgang mit Hochwasser hat, welche Handlungsfelder sie umfasst und für wen sie wirksam ist. Anschließend wird anhand der vorliegenden Hochwasserschutzkonzeptionen von 1994, 2003 und 2007 vergleichend herausgearbeitet, welche Ziele und Aufgaben, Strategien und Maßnahmen für den Hochwasserschutz vorgesehen sind, welche Probleme im Umgang mit Hochwasser beschrieben werden und welche Zuständigkeiten bestehen.87 Im Vergleich der Konzeptionen lässt sich analysieren, wie sich diese Aspekte im Prozess ihrer Fortschreibung seit 1994 verändert haben. In einem weiteren Interpretationsschritt wird untersucht, welche Rückschlüsse über die gesellschaftlichen Natur87
Die neueste Fortschreibung der Hochwasserschutzkonzeption von 2007 liegt zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit in einem Entwurf vor (Stand: Mai 2007), der noch nicht dem Landesparlament zum Beschluss vorgelegt wurde. Nach Aussagen von Gesprächspartnern im MLU und im LHW verzögert sich die Veröffentlichung der Fortschreibung nicht aus inhaltlichen, sondern aus finanziellen Gründen. Es sind daher keine grundlegenden inhaltlichen Änderungen mehr zu erwarten. Sie besitzt zum jetzigen Zeitpunkt bereits die Funktion einer strategischen Leitlinie für das fachliche Handeln im Hochwasserschutz in Sachsen-Anhalt.
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
verhältnisse aus der Analyse der Konzeptionen gezogen werden können und wie sich diese über die Jahre verändert haben. Abschließend werden die regulativen Faktoren im Veränderungsprozess bestimmt, um die Frage zu beantworten, ob sich ein Strategiewandel erkennen lässt und wie dieser verläuft.88 Die Ausführungen stützen sich auf die Analyse der Dokumente der Hochwasserschutzkonzeptionen sowie auf Interviews mit Personen aus dem Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt des Landes Sachsen-Anhalt (MLU) und dem Landesbetrieb für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft Sachsen-Anhalt (LHW), die an der Erarbeitung der Konzeptionen beteiligt waren oder derzeit damit befasst sind. 5.2.1 Hochwasserschutzkonzeptionen als planerische Leitlinie Die Hochwasserschutzkonzeption des Landes Sachsen-Anhalt ist die strategische Leitlinie für den Umgang mit Hochwasser. Sie hat zwar keine unmittelbare Rechtswirkung, besitzt jedoch Bindungswirkung für die Fachpolitik und die behördliche Praxis, da sie politisch abgestimmt und vom Landesparlament bestätigt wird. Ziel der Hochwasserschutzkonzeption ist es, eine einheitliche Strategie für das Land Sachsen-Anhalt zu formulieren. Sie gibt den „groben Fahrplan“ (HskMLU1) bzw. die „strategische Linie“ (HskLHW1) vor, an denen sich die Landespolitik und die Fachbehörden orientieren. In der Hochwasserschutzkonzeption von 2007 wird das Anliegen explizit formuliert: „Sie dient als Grundlage für die koordinierte Umsetzung eines wirksamen Maßnahmenbündels für einen nachhaltigen, vorbeugenden Hochwasserschutz“ (MLU 2007, 1). Zielgruppen der Konzeptionen sind neben Politik und Fachbehörden Bürger/innen und Interessengruppen, die sich so über mittelfristige Strategien des Hochwasserschutzes und dessen Umsetzung informieren können. Insbesondere in den Hochwasserschutzkonzeptionen von 2003 und 2007 wird über die vergangenen Aktivitäten und deren Effektivität bei aufgetretenen Hochwasserereignissen Bericht erstattet. Auf diese Weise legt das MLU als zuständiges Ministerium öffentlich Rechenschaft über sein Handeln und den Umgang mit den finanziellen Mitteln ab. Die erste Konzeption nach der Wiedervereinigung entstand in SachsenAnhalt 1994. Zuvor hatte nach der Wende jedes Regierungspräsidium und zuständige Staatliche Amt für Umwelt (STAU) in Sachsen-Anhalt eigene Schwerpunkte und Strategien zugrunde gelegt. Daher diente die erste Hochwasserschutzkonzeption vor allem dazu, eine landeseinheitliche Strategie zur 88
Zur Erläuterung der Analysestruktur und analytischen Kategorien vgl. Kap. 4.2.4.
5.2 Strategische Hochwasserschutzplanung
125
Umsetzung der neuen bundesdeutschen Gesetzgebung für Hochwasserbelange zu formulieren. Ein Kernpunkt bestand darin, fehlendes Grundlagenwissen zu erarbeiten sowie den Zustand und die Notwendigkeit der vorhandenen baulichen Hochwasserschutzanlagen zu prüfen. Die Konzeption war noch nicht mit konkreten Maßnahmen untersetzt, sondern hatte eher allgemeinen Charakter. Im Jahr 2003 wurde die Hochwasserschutzkonzeption vor dem Hintergrund des extremen Hochwasserereignisses von 2002 überarbeitet und fortgeschrieben. Neben der Aufarbeitung der Geschehnisse des Extremereignisses beinhaltet die Konzeption von 2003 Ausführungen über Hochwasserursachen, Ziele und Strategien im Umgang mit Hochwasser sowie über Maßnahmen und Finanzierung bis zum Jahre 2010. Die Fortschreibung von 2007 bezieht sich explizit auf die vorherige Konzeption und führt diese grundsätzlich weiter. Änderungen und Konkretisierungen erfolgen insbesondere aufgrund von Gesetzesnovellen und politischen Vereinbarungen. Von der kurzfristigen Strategie der Schadensbeseitigung soll zunehmend Abstand genommen werden und eine Ausrichtung auf mittel- und langfristige Schutzmaßnahmen im gesamten Deichsystem erfolgen, die verstärkt Maßnahmen des Wasserrückhalts und der Vorsorge einbezieht (ausführlich in Kap. 5.2.2, vgl. MLU 2007, 5, 16). Die Hochwasserschutzkonzeption und deren Fortschreibungen entstehen in einem Prozess der Strategieentwicklung in Abstimmung zwischen dem MLU und dem LHW – also zwischen Politik und Fachbehörde. Fachlich wird die Hochwasserschutzkonzeption vom LHW erstellt.89 Der Landesbetrieb setzt den fachplanerischen Rahmen und achtet auf die Umsetzbarkeit der strategischen Richtung und der genannten Maßnahmen. Die Umsetzung soll sowohl in fachlicher, politischer und finanzieller Hinsicht wie auch im Bezug auf die Zeitplanung realistisch sein. Der LHW nimmt auch eine Priorisierung der benannten Ziele und Maßnahmen für den Umsetzungsprozess vor. Das MLU gibt den politischen Rahmen vor, der sich sowohl auf die inhaltliche Ausrichtung der Ziele als auch auf die Bereitstellung von finanziellen Mitteln bezieht. Sind die Ziele oder Vorgaben des MLU aus Sicht des LHW nicht umsetzbar, so werden Gegenvorschläge erarbeitet (vgl. HskLHW1). Nachdem die Konzeptionen zwischen Fachbehörde und Ministerium abgestimmt worden sind, können innerhalb des MLU die anderen Abteilungen und anschließend innerhalb des Kabinetts die anderen Ministerien Stellung zur Konzeption nehmen. Nach diesem Abstimmungsprozess wird die Konzeption vom Landesparlament bestätigt. Die Erarbeitung und Fortschreibung der Konzeptionen sehen die Interviewpartner/innen aus dem MLU und LHW als langfristigen Lernprozess (vgl. 89
Vor der Gründung des LHW im Jahre 2002 wurde die Konzeption vom Landesamt für Umweltschutz (LfU) erarbeitet.
126
5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
HskMLU1; HskLHW1). Die wasserwirtschaftliche Grundlagenarbeit des LHW gehört zu den langfristigen Aufgaben der Strategieentwicklung und ist die Basis für die Konzeption des Hochwasserschutzes. Bei der Erarbeitung der Konzeptionen musste allerdings mit der Schwierigkeit umgegangen werden, dass die benötigten Grundlagen (z. B. Geländemodelle, Gefahrenkarten, Deichkataster) zum Teil fehlten und erst noch interdisziplinär und intersektoral erarbeitet werden mussten oder müssen. Forschungsprojekte leisteten hier oftmals einen wichtigen Beitrag, um die notwendigen Erkenntnisse zu liefern. Auch die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Praxisakteuren in Umsetzungskonflikten wird als wichtiges Element in diesem Lernprozess verstanden (vgl. HskLHW1). Die Hochwasserschutzkonzeption als strategische Leitlinie für die Gestaltung und Umsetzung des Hochwasserschutzes in Sachsen-Anhalt ist eng mit anderen Instrumenten der normativen Regulation verknüpft. Maßgeblichen Einfluss auf die Fortschreibungen der Konzeption von 2003 und 2007 hatten die politischen und rechtlichen Änderungen nach dem Hochwasserereignis von 2002, insbesondere das Fünf-Punkte-Programm der Bundesregierung und das daraus hervorgegangene Artikelgesetz für die Verbesserung des vorbeugenden Hochwasserschutzes (vgl. Kap. 5.1.3). Diese Novellierung stellt auch neue Anforderungen an die Hochwasserschutzkonzeptionen der Länder, indem sie u. a. die Formulierung von Hochwasserschutzplänen und die Festsetzung von Überschwemmungsgebieten und überschwemmungsgefährdeten Gebieten vorschreibt. Dieser Entwicklung wurde bereits in der Konzeption von 2003 vorgegriffen und in der Fortschreibung von 2007 Maßnahmen entsprechend ergänzt. Auch die Vorgaben und Umsetzung der WRRL, die Vereinbarungen in der ElbeErklärung vom November 2006 und der Länderarbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA) finden Eingang in die Hochwasserschutzkonzeption von 2007.90 Die Erarbeitung der Hochwasserrahmenrichtlinie auf EU-Ebene wird ebenfalls in die Strategieentwicklung aufgenommen. Dabei sind Vertreter/innen des MLU in die Entwicklung von regionsübergreifenden normativen und strategischen Instrumenten, wie beispielsweise in die Verhandlung des Artikelgesetzes zum vorbeugenden Hochwasserschutz, der Hochwasserschutzrichtlinien der LAWA oder des Aktionsplans Hochwasserschutz Elbe der IKSE, eingebunden (HskLHW1). 5.2.2 Ziele, Strategien und Maßnahmen Um Rückschlüsse auf Veränderungen in der Strategieformulierung im Rahmen der Hochwasserschutzkonzeption von Sachsen-Anhalt zu ziehen, werden im 90
Vgl. für die Elbe-Erklärung http://fgg-elbe.de und für die LAWA www.lawa.de.
5.2 Strategische Hochwasserschutzplanung
127
Folgenden die dort formulierten Ziele und Aufgaben, Strategien und Rationalitäten sowie Maßnahmen und Zuständigkeiten herausgearbeitet. Dabei werden die Konzeptionen von 1994, 2003 und 2007 systematisch verglichen. Zielebene In der Konzeption von 1994 wird als Ziel des Hochwasserschutzes in SachsenAnhalt zunächst sehr allgemein und mit Bezug auf das Landeswassergesetz von 1993 (GVBl. LSA, S. 477) das Wohl der Allgemeinheit und damit verbunden der Nutzen Einzelner und die Vermeidung von Beeinträchtigungen durch Hochwasser genannt (MUN 1994, 2). Dieses Ziel wird im Verlauf der Konzeption anhand von drei verschiedenen Schwerpunkten konkretisiert: Hochwasserschutz soll
dem Schutz von Menschen und Tieren sowie Sach- und Kulturgütern in Siedlungsgebieten und der Beseitigung lokaler Gefährdungspunkte dienen, für die Erhaltung und Sanierung der notwendigen Schutzsysteme sorgen und die natürliche Retention durch Renaturierung erhalten und erhöhen (ebd., 3).
Darüber hinaus sollen die Bereiche der Hochwasserwarnung und Hochwasserinformation verbessert werden, um Hochwasserschäden und deren Folgewirkung zu verhindern (ebd., 2). In der Hochwasserschutzkonzeption von 2003 wird das Ziel des Hochwasserschutzes ähnlich allgemein formuliert, allerdings explizit auf das Leitbild der Nachhaltigkeit bezogen: „Ziel ist deshalb die Entwicklung eines umweltgerechten nachhaltigen Hochwasserschutzes durch ein sinnvoll verknüpftes Maßnahmenbündel mit den Schwerpunkten des natürlichen Hochwasserrückhaltes auf der Fläche des Einzugsgebietes sowie in Gewässern und Auen (z. B. Deichrückverlegungen), des technischen Hochwasserschutzes vor allem durch Deiche, Flutungspolder, Rückhaltebecken und Talsperren sowie der weitergehenden Vorsorge, wie Flächen-, Bau-, Verhaltens- und Risikovorsorge“ (MLU 2003, 1)91.
91
Die Hochwasserschutzkonzeption von 2003 enthält keine Seitenzahlen. Daher wird im Folgenden bei Zitaten oder Verweisen die Kapitelnummer angegeben.
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
Damit werden die Inhalte des „modernen Hochwasserschutzes“, die auch schon in der Konzeption von 1994 angelegt sind, präzisiert (vgl. Abb. 12).92 In beiden Zielkonzeptionen wird bereits auf die geplanten Maßnahmen verwiesen, mit denen ein „nachhaltiger Hochwasserschutz“ erreicht werden soll. Der „natürliche Wasserrückhalt“ in der Fläche wird dabei gleichrangig neben Maßnahmen des technischen Deichschutzes genannt.
Abbildung 12: Die drei Säulen des „modernen Hochwasserschutzes“ (Quelle: MLU 2003, 4.1) In der Konzeption von 2007 werden ähnliche Aufgaben für den Hochwasserschutz in Sachsen-Anhalt formuliert. Die Konzeption dient als Basis für die koordinierte Umsetzung eines Maßnahmenpakets für einen nachhaltigen und vorbeugenden Hochwasserschutz (MLU 2007, 1). Sie knüpft explizit an die Konzeption von 2003 an, weist aber darauf hin, dass im nächsten Planungszeitraum die Schwerpunkte verlagert werden sollen: „Verstärkt bilden neben techni-
92
Das Modell des „modernen Hochwasserschutzes“ mit den drei Säulen geht auf die Ausarbeitung der Umweltministerkonferenz von 1999 zurück (vgl. UMK 1999).
5.2 Strategische Hochwasserschutzplanung
129
schen Maßnahmen der Wasserrückhalt in der Fläche und die Hochwasservorhersage Schwerpunkte“ (ebd., 5). Diese Betonung einer Schwerpunktverschiebung lässt bereits darauf schließen, dass in vergangenen Jahren trotz der gleichrangigen Nennung auf der Zielebene dem technischen Hochwasserschutz zeitlicher und strategischer Vorrang eingeräumt wurde. Strategien und Maßnahmen Als Strategien, um den jeweils angestrebten Hochwasserschutz zu erreichen, werden in der Konzeption von 1994 vor allem Anpassungs- und Rückzugsstrategien genannt (vgl. Kap. 2.3): Schutz und Erhalt ausgewiesener Überschwemmungsgebiete bei allen Raumordnungs- und Bauleitplanungen, Nutzungsbeschränkung und baulichen Auflagen bei „unumgänglichen Baumaßnahmen“, Umsiedlung und Freimachung von besonders gefährdeten Flächen sowie eine funktionierende Soforthilfe im Katastrophenfall (vgl. MUN 1994, 4 f.). Strategisches Anliegen bei der Erhaltung und Sanierung der technischen Schutzanlagen ist es, die Notwendigkeit der Schutzfunktion sowie Effektivität und Effizienz der Hochwasserschutzanlagen zu überprüfen. In Form von Hochwasserschutzstudien soll eine systematische Bestandsaufnahme der Hochwassersituation erfolgen und Lösungsvarianten nach der erreichten Sicherheit, den Auswirkungen auf Naturhaushalt und Landschaftsbild und der Wirtschaftlichkeit beurteilt werden (ebd., 4). Diese Strategieformulierung ist mit dem Hinweis verknüpft, dass auch in Zeiten, in denen keine extremen Überschwemmungen auftreten, die Hochwassergefahr nicht unterschätzt werden darf (ebd., 1). Die Hochwasserschutzkonzeption von 2003 reagiert in ihrer Strategieformulierung auf das extreme Hochwasserereignis des Sommers 2002 und dessen Folgen für Sachsen-Anhalt. Die Strategieentwicklung basiert insbesondere auf der Ergebnisanalyse und den Lehren, die aus dem Extremereignis gezogen wurden (vgl. MLU 2003, 1 und 4.4.2). Diese reaktive Haltung bezieht sich insbesondere auf technische Schutzmaßnahmen und bauliche Vorsorge. Anpassungs- und Rückzugsstrategien spielen in der Konzeption von 2003 eher eine untergeordnete Rolle. Gerade mit Blick auf die vorgeschlagenen Maßnahmen scheint die technische Beherrschung und Kontrolle von Hochwasser als grundlegende strategische Ausrichtung vorherrschend zu sein. Zu den zentralen Maßnahmen zählen aufbauende Maßnahmen wie z. B. die Instandsetzung und Sanierung schadhafter Deiche und anderer Schutzbauwerke, der Neubau von Deichen, die Errichtung von Rückhaltebecken, Sielbauwerken und Schöpfwerken. Hierzu zählt auch die damit verbundene Unterhaltung und Pflege der technischen Schutzbauwerke. Sanierung und Neubau nach der DIN-Norm für Flussdeiche als technischer
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
Standard stellt eine fachliche und zeitliche Priorität dar: „Als inhaltlich und zeitlich dringendste Aufgabe wird die Herstellung DIN-gerechter Deiche im Elbe/ Mulde/Elster-Bereich der Landkreise Wittenberg, Bitterfeld, Anhalt-Zerbst sowie Stadtgebiet Dessau angesehen“ (MLU 2003, 4.3.3). Es sind auch planerische Maßnahmen, wie z. B. die Feststellung von Überschwemmungsgebieten sowie Vorrang- und Vorbehaltsgebieten und die Vereinfachung der Genehmigungsverfahren für die Sanierung von Deichen vorgesehen. Rückbauende Maßnahmen, wie z. B. Deichrückverlegungen oder die Renaturierung von Auengebieten, spielen eher eine untergeordnete Rolle. Sie werden als konfliktbehaftet und für die Ziele des Hochwasserschutzes als nicht so dringlich angesehen: „Die Umsetzung der Deichrückverlegungen gestaltet sich jedoch insgesamt sehr problematisch. In der lokalen Öffentlichkeit wird die Schaffung neuer Überflutungsflächen häufig kritisch diskutiert, da mit solchen Maßnahmen Nutzungsänderungen, Veränderungen der Grundwasserverhältnisse u. dgl. einhergehen können. In Sachsen-Anhalt werden bei den konkreten Planungen im Rahmen der Deichsanierung an geeigneten Standorten auch die Rückverlegungsmöglichkeiten mit betrachtet. Über diese Einbeziehung hinaus kann die Dringlichkeit eines umfassenden Deichrückverlegungsprogramms mit alleinigen Anforderungen des Hochwasserschutzes nicht begründet werden“ (MLU 2003, 4.2.3).
Diese klare Positionierung steht in Widerspruch zu der in der Hochwasserschutzkonzeption von 2003 formulierten Gleichrangigkeit von technischen und natürlichen Schutz- und Vorsorgemaßnahmen. Die Konzeption von 1994 bleibt bei der Benennung von Maßnahmen wesentlich unkonkreter als die Konzeption von 2003. Ein Schwerpunkt liegt darauf, Grundlagenwissen über Sanierungsbedarf und Schutzniveau der vorhandenen Deiche und den Hochwassermeldedienst zu verbessern. Ein zentrales Anliegen ist dabei, die Notwendigkeit der vorhandenen Hochwasserschutzanlagen zu prüfen. Dabei gilt, dass bei vorbeugenden Hochwasserschutzmaßnahmen den „ökologischen, naturnahen Lösungen der Vorzug gegeben werden [soll]“ (MUN 1994, 3). Im Vergleich wird deutlich, dass die Hochwasserschutzkonzeption von 2003 unter dem Eindruck des Extremereignisses von 2002 auf ein schnelles und effektives Handeln ausgerichtet war. Sie verfolgte an erster Stelle das Ziel, die Sicherheit der Bevölkerung durch bauliche Schutzmaßnahmen wiederherzustellen. Die Frage der Schutzgüter ist eindeutig geklärt: „Das Schutzgut Mensch in seinen Siedlungsbereichen hat absoluten Vorrang vor anderen Schutzgütern.“ (MLU 2003, 4.3.3). Die Konzeption von 1994 steht weniger unter dem Eindruck akuten Handlungsdrucks, sondern zielt vielmehr auf eine Evaluierung der bisherigen Maß-
5.2 Strategische Hochwasserschutzplanung
131
nahmen und die Prüfung einer stärker naturnahen Gestaltung des Hochwasserschutzes. Viele andere Aspekte bleiben allerdings unberücksichtigt, wie z. B. Maßnahmen der Verhaltensvorsorge oder der überregionalen bzw. internationalen Zusammenarbeit. In der Fortschreibung der Konzeption von 2007 wird grundsätzlich an den 2003 formulierten Zielen festgehalten, es wird jedoch in der Bilanzierung der seit 2002 vorgenommenen Maßnahmen und des extremen Hochwasserereignisses im April 2006 auf „neue Schwerpunktsetzungen“ in der strategischen Orientierung hingewiesen: „Im Gegensatz zur HWSK LSA vom März 2003, in der unter dem unmittelbaren Eindruck der Hochwässer vom August 2002 und Winter 2003 mit zerstörten bzw. schwer geschädigten Hochwasserschutzanlagen, deren anlagenkonkrete Wiederherstellung unter DIN-gerechten Gesichtspunkten den Schwerpunkt bildeten, besteht zu geben“ (MLU 2007, 5).
Es wird in einer Gegenüberstellung der Schwerpunkte von 2003 und 2007 deutlich, dass entscheidende Unterschiede der Hochwasserschutzstrategien in ihrer zeitlichen Reichweite liegen (vgl. zusammenfassend Tabelle 7). Wurde 2003 trotz des ausgewogenen Drei-Säulen-Modells des „modernen Hochwasserschutzes“ vor allem der Wiederherstellung des technischen Schutzes Priorität zugewiesen, so sollen nach der Konzeption von 2007 neben den technischen Maßnahmen der Wasserrückhalt in der Fläche und die Hochwasservorsorge zukünftig Schwerpunkte bilden.93 In diesem Sinne wird in der Fortschreibung von 2007 ein sehr viel breiteres und konkreter ausformuliertes Maßnahmenspektrum anvisiert als noch 1994 und 2003. Es umfasst
93
die fachtechnische Bearbeitung der Hochwasserschutzpläne, die Ermittlung und Darstellung von Hochwasserrisiken und -schäden, die Ausweisung von Überschwemmungsgebieten, die Reaktivierung ehemaliger Überschwemmungsgebiete und Schaffung zusätzlicher Retentionsräume (Deichrückverlegungen, Flutungspolder und Hochwasserrückhalt in Entstehungsgebieten), Auch Maßnahmen des Wasserrückhalts und der Hochwasservorsorge, im Konzept des „modernen Hochwasserschutzes“ (MLU 2003, 4.1) die erste und dritte Säule, beinhalten technische Maßnahmen, wie z. B. den Bau von Poldern oder Deichrückverlegungen. Die Gegenüberstellung von technischem Schutz, Hochwasservorsorge und natürlichem Wasserrückhalt birgt also begriffliche Unschärfen, wird jedoch in den Konzeptionen so verwendet. Die Problematik ‚missverständlicher’ Begrifflichkeiten besteht diesbezüglich nicht nur in der Planungspraxis, sondern setzt sich ebenfalls in der wissenschaftlichen Fachdiskussion fort (vgl. Kap. 2.3.1).
132
5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel Erhöhung der Retentionswirkung durch land- und forstwirtschaftliche sowie infrastrukturelle Maßnahmen, technischen Hochwasserschutz (Deichdokumentation, -sanierung und -neubau), Deich-, Gewässer- und Anlagenunterhaltung sowie Hochwasservorsorge (Verhaltens-, Flächen- und Bauvorsorge, sowie Risikovorsorge).
Das Aufgaben- und Maßnahmenspektrum des Hochwasserschutzes wird damit unter der Leitlinie „Hochwasserschutz als Flächenaufgabe ist (...) weit mehr als Deichbau“ (MLU 2007, 1) ausgeführt und als gesamtgesellschaftliche Aufgabe konzipiert (vgl. ebd., 27 f.). Zusammenfassend steht insbesondere die Schwerpunktverschiebung von einer grundlegenden Überprüfung von Notwendigkeit und Effizienz der Hochwasserschutzanlagen in der Konzeption von 1994 zu einer Beherrschung von Hochwasser vor allem durch kurzfristige technische Maßnahmen in der Konzeption von 2003 im Widerspruch zu der auf der Zielebene genannten Gleichrangigkeit von Hochwasservorsorge, technischem Hochwasserschutz und natürlichem Wasserrückhalt. In der Konzeption von 2007 findet auf der Strategie- und Maßnahmenebene explizit ein Rückbezug auf diese Gleichrangigkeit und daher eine Stärkung von Maßnahmen der Vorsorge und des Wasserrückhalts statt. Zuständigkeiten In der Konzeption von 1994 wird neben der Wasserwirtschaft, die für die Aufgaben des Hochwasserschutzes sowie für vorbeugende Maßnahmen zuständig ist, der räumlichen Planung eine zentrale Rolle für die Koordination der verschiedenen Nutzungsansprüche zugewiesen. Es wird mehrmals auf die besondere Berücksichtung von Naturschutz und Landschaftspflege bei der Konzeption und Umsetzung des Hochwasserschutzes hingewiesen. Formell besitzt das MLU als oberste Wasserbehörde zusammen mit dem Landesamt für Umweltschutz (LfU) als Landesbehörde die Zuständigkeit für die Ausgestaltung des Hochwasserschutzes und die Abstimmungen überregionaler Hochwasserschutzmaßnahmen.94 In der Konzeption von 2003 werden die gleichen Akteure als zentral benannt. Neu ist allerdings, dass die Zuständigkeit und Verantwortung ausgeweitet und die Ausgestaltung eines flächenbezogenen Hochwasserschutzes explizit als „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ bezeichnet wird, in der alle – auch die einzel-
94
Das LfU wurde 2002 in den Landesbetrieb für Hochwasserschutz (LHW) überführt.
5.2 Strategische Hochwasserschutzplanung
133
nen Bürger/innen – ihren Beitrag zu leisten hätten (MLU 2003, 4.2.4).95 Diese Erweiterung der Zuständigkeit und Verantwortung für einen umfassenden Hochwasserschutz und eine mittel- bis langfristige Hochwasservorsorge findet sich auch in der Konzeption von 2007. Neben den Fachbehörden werden explizit auch die Kommunen und die Land- und Forstwirtschaft aufgerufen, ihre Handlungsspielräume zur Erhöhung der Retentionswirkung zu nutzen (vgl. MLU 2007, 27 ff.). Der Naturschutz ist insbesondere im Bereich der Auenrenaturierung und bei Deichrückverlegungen, also dem „natürlichen Wasserrückhalt“, als Partner angesprochen (vgl. ebd., 20) Problemdimensionen im Umgang mit Hochwasser In der Hochwasserschutzkonzeption von 1994 wurden vor allem zwei Aspekte als problematisch im Umgang mit Hochwasser benannt:
Zum einen müsse die Hochwassergefahr und der vorhandene und notwendige Schutz vor Hochwasser erfasst und beurteilt werden. Dabei gehe es auch um eine Beurteilung der Kosten-Nutzen-Effizienz der Maßnahmen. Wissenslücken in diesem Bereich erschwerten die Planung und sollten daher zunächst behoben werden. Zum anderen wurden Zielkonflikte zwischen Hochwasserschutz und anderen Politik- und Handlungsfelder, insbesondere dem Naturschutz, als problematisch beschrieben. Die räumliche Planung solle die Koordination der Nutzungsansprüche an das Flussgebiet übernehmen und Synergien in Form eines vorbeugenden Hochwasserschutzes forcieren.
Auffällig ist, dass die Frage nach den Ursachen für Hochwasserentstehung und -verlauf sowie Schäden in der Konzeption nicht gestellt wird. In der Hochwasserschutzkonzeption von 2003 wird die Problematik im Umgang mit Hochwasser anders benannt:
95
Zentraler Aspekt ist die Hochwassergefahr, die Menschen und menschliche Nutzungen bedrohen und zu „verheerenden Katastrophen“ führen kann (MLU 2003, 1). Es scheint, als ob die Gefahr, die es 1994 noch zu erfassen und zu beurteilen galt, durch das Ereignis von 2002 bewiesen wurde. Mit der Gefahr als zentrale Problematik ist in der Konzeption von 2003 die Suche nach den Ursachen von Hochwasserereignissen verbunden. Damit ist allerdings eine Tendenz zur Verlagerung von Verantwortung auf den privaten Bereich verbunden, die bereits in der Novellierung des WHG angelegt ist (vgl. u. a. Kuhlicke, Steinführer 2006).
134
5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel Dritter Aspekt der Problemdimension ‚Hochwasser’ ist die Unsicherheit und das Nichtwissen im Umgang mit Hochwasser. In der Konzeption wird angemerkt, dass eine klare Kausalität zwischen Ursache und Wirkung nicht nachgewiesen werden könne. Auch ließen sich Überschwemmungen nicht vollständig verhindern, es bleibe immer ein Restrisiko (vgl. ebd.).
Schließlich wird auch auf den Zielkonflikt zwischen Hochwasserschutz und anderen Politik- und Handlungsfeldern verwiesen. Anders als 1994 wird jedoch nicht Koordination und Ausgleich zwischen den verschiedenen Nutzungsansprüchen gefordert, sondern ein kompromissloser Vorrang des Hochwasserschutzes gegenüber anderen Belangen, insbesondere dem Naturschutz, hervorgehoben. Die Rückverlegung von Deichen wird als problematisch gesehen und konstatiert, dass die Dringlichkeit eines umfassenden Deichrückverlegungsprogramms mit alleinigen Anforderungen des Hochwasserschutzes nicht begründet werden könne (vgl. MLU 2003, 4.2.3). In der Fortschreibung der Hochwasserschutzkonzeption von 2007 werden ähnliche Problemdimensionen genannt wie in der Konzeption von 2003. Die Diskussion über eine anthropogene Verschärfung der Hochwasserentstehung durch Verringerung des Wasserrückhalts und die Zunahme an Hochwasserschäden durch eine unangepasste Nutzung der Überschwemmungsbereiche, die bereits in der vorangegangenen Konzeption geführt wurde, wird wieder aufgenommen. Allerdings spielen diese Fragen insgesamt eine weniger wichtige Rolle. Dafür werden die Synergien zwischen Hochwasserschutz und Auenrenaturierung bzw. der Stärkung des natürlichen Wasserrückhalts wieder betont. Eine zusammenfassende Übersicht über die Ziele und Aufgaben, Strategien und Maßnahmen sowie Zuständigkeiten und Problemdimensionen macht deutlich, dass alle drei untersuchten Konzeptionen auf der Zielebene von einer Gleichrangigkeit von technischem Hochwasserschutz, Vorsorge und natürlichem Wasserrückhalt ausgehen (vgl. Tabelle 7). Auf der Strategie- und Maßnahmenebene wird jedoch eine durchaus unterschiedliche Schwerpunktsetzung gewählt. Insbesondere nach dem Hochwasserereignis 2002 kommt es zu einer Verschiebung der Prioritäten in zeitlicher und strategischer Hinsicht: Während 1994 noch eine Vereinheitlichung der strategischen Linie in Sachsen-Anhalt, eine grundlegende Situationsanalyse und die Bearbeitung von Wissensdefiziten im Bezug auf Sicherheit und Notwendigkeit der Schutzanlagen im Vordergrund standen, orientiert sich der Hochwasserschutz nach 2002 stärker an Maßnahmenpaketen, die eine kurzfristige Sicherung durch technischen Deichschutz forcieren.
5.2 Strategische Hochwasserschutzplanung
135
Tabelle 7: Strukturierter Vergleich der Hochwasserschutzkonzeptionen 1994, 2003 und 2007 (eigene Darstellung) 1994
2003
2007
Ziele und Aufgaben
Am Allgemeinwohl orientierter Hochwasserschutz: x Schutz von Menschen, Tieren, Sachund Kulturgütern x Erhaltung und Sanierung der notwendigen Schutzsysteme x natürliche Retention und Renaturierung
Umweltgerechter und nachhaltiger Hochwasserschutz: x Technischer Hochwasserschutz x Hochwasservorsorge x Stärkung des natürlichen Wasserrückhalts
Nachhaltiger, vorbeugender Hochwasserschutz: x Technischer Hochwasserschutz x Hochwasservorsorge x Stärkung des natürlichen Wasserrückhalts Schwerpunkt auf Vorsorge und natürlicher Wasserrückhalt.
Strategien und Maßnahmen
Wissensbasis vergrößern: x Überprüfung der Notwendigkeit, Effektivität und Effizienz der technischen Schutzanlagen x Überprüfung von Anpassungs- und Rückzugsstrategien x Risikobewusstsein in hochwasserarmen Zeiten
Kontrolle und Beherrschung von Hochwasser: x Kurzfristige (wieder-) aufbauende Maßnahmen, DIN-gerechte Sanierung x Rückbauende Maßnahmen zu konfliktbehaftet, Vorrang des Schutzes der Menschen gegenüber dem Naturschutz
Mittel- und langfristig nachhaltige Schutzmaßnahmen: x Planerische Maßnahmen x Reaktivierung von Retentionsräumen x Technische Sanierung und Neubau x Maßnahmen der Risikovorsorge, Risikokartierung
Zuständigkeiten
x Wasserwirtschaft x Raumordnung x Berücksichtigung von Naturschutz und Landschaftspflege
Gesamtgesellschaftliche Aufgabe: x Wasserwirtschaft x Raumordnung x Naturschutz
Gesamtgesellschaftliche Aufgabe: x Wasserwirtschaft x Raumordnung x Kommunen x Land- u.d Forstwirtschaft x Naturschutz
Problemdimensionen
x Wissensdefizite bezüglich der Anlagensicherheit x Abschätzung der Notwendigkeit x Zielkonflikt Hochwasserschutz – Naturschutz
x Gefahr durch Hochwasser x Defizitäre Schutzeinrichtungen x Anthropogene Ursachen x Wissensdefizit bezüglich Gefahr und Ursachen
x Gefahr durch Hochwasser x Defizitäre Schutzeinrichtungen x Anthropogene Ursachen x Wissensdefizit bezüglich Gefahr und Ursachen
136
5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
War vor dem Ereignis von 2002 noch von einer Abwägung von Interessen des Hochwasserschutzes und des Naturschutzes bzw. anderer Raumnutzungen die Rede, wurde in der Konzeption von 2003 dem Schutz von Menschen und Siedlungsbereichen durch technische Schutzmaßnahmen eindeutige Priorität zugewiesen. In der Konzeption von 2007 wird wiederum mehr Wert auf ein mittel- bis langfristig orientiertes, ausgewogenes Verhältnis von technischem Hochwasserschutz, Vorsorge und natürlichem Wasserrückhalt gelegt. Synergien zwischen technischen und landschaftsbezogenen Strategien (z. B. Auenmanagement) sollen gefördert werden. Außerdem wird als Reaktion auf neue Gesetzgebungen bzw. überregionale Abkommen zum Hochwasserschutz ein stärkerer Schwerpunkt auf länderübergreifende Strategiekonzepte und vorbeugende Maßnahmen (z. B. Risikokartierungen, planerische Umsetzungen von Vorrang- und Vorbehaltsgebieten etc.) gelegt.96 5.2.3 Gesellschaftliche Naturverhältnisse Im Folgenden wird untersucht, wie sich das Verhältnis von Natur und Gesellschaft im Vergleich der verschiedenen Konzeptionen (1994, 2003, 2007) darstellt und verändert. Vor dem Hintergrund der vermittlungstheoretischen Beziehung von Natur und Gesellschaft im Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse, das das historisch entstandene und veränderbare Verhältnis von Natur und Gesellschaft als Wechselwirkung unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Differenz versteht (vgl. Kap. 3.2.1), lassen sich in den drei Hochwasserschutzkonzeptionen von 1994, 2003 und 2007 verschiedene Hinweise auf die Beschaffenheit und die Veränderung dieses Verhältnisses finden. In der Hochwasserschutzkonzeption von 1994 finden sich insgesamt wenige explizite Hinweise auf das zugrunde liegende Verständnis gesellschaftlicher Naturverhältnisse im Umgang mit Hochwasser. Ursachen von Hochwasser und der Anteil von natürlichen und anthropogenen Faktoren bei Entstehung und Verlauf von Hochwasserereignissen werden nicht explizit erörtert. Hochwasser werden jedoch eindeutig als Gefahren benannt, die auch in hochwasserarmen Zeiten nicht unterschätzt werden dürften und den Einsatz verschiedener Schutzmaßnahmen notwendig machten (vgl. MUN 1994, 1). Natur wird nicht als bedroh-
96
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich die Analyse nur auf die programmatische Hochwasserschutzplanung bezieht. Die Umsetzung der Hochwasserschutzkonzeptionen wurde im Rahmen dieser Arbeit nicht evaluiert. Eine Realisierung der programmatischen Schwerpunktverschiebung der Konzeption von 2007 bleibt abzuwarten.
5.2 Strategische Hochwasserschutzplanung
137
lich, sondern vielmehr als schützenswert konzipiert.97 Mehrfach wird darauf hingewiesen, dass Hochwasserschutzmaßnahmen zu einem Eingriff in Natur und Landschaft führen können, der vermieden oder ausgeglichen werden sollte: „Alle mit dem aktiven Hochwasserschutz98 im Zusammenhang stehenden notwendigen Eingriffe in Natur und Landschaft sind in Abstimmung mit der Raumordnung unter besonderer Berücksichtigung von Naturschutz und Landschaftspflege zu lösen“ (MUN 1994, 3).
Die Notwendigkeit vorhandener Hochwasserschutzanlagen sei mit Bezug auf ein Fortbestehen des Schutzinteresses zu prüfen. Bei Wegfall der Schutzinteressen seien diese Bereiche zu renaturieren. Bei vorbeugenden Hochwasserschutzmaßnahmen soll „grundsätzlich ökologischen naturnahen Lösungen der Vorzug gegeben werden“ (ebd.). Es wird also eine Synergie zwischen Naturschutz und Hochwasserschutz erkannt und programmatisch unterstützt. Dabei wird auch auf die historische Konstitution der gesellschaftlichen Naturverhältnisse verwiesen, die sich im Hochwasserschutz manifestieren: In den letzten Jahrzehnten sei es in Sachsen-Anhalt vor allem Ziel gewesen, die wasserbaulichen Voraussetzungen für eine Intensivierung der Landbewirtschaftungen in den ursprünglichen Auenbereichen zu schaffen. Dies sei auch mit Fehlentwicklungen einhergegangen, die es in Zukunft zu vermeiden gelte (ebd., 2). Jedoch wird gleich zu Anfang darauf verwiesen, dass die derzeitige Schutzinfrastruktur in Sachsen-Anhalt nicht erst in den letzten Jahrzehnten geprägt wurde, sondern dass der Hauptteil der heute noch bestehenden Deichanlagen zwischen den Jahren 1180 und 1900 entstanden ist (ebd., 1). In diesem Zuge seien die natürlichen Überflutungsgebiete von 6172 km2 auf 836,5 km2 reduziert und Deiche sowie Talsperren errichtet worden. Durch diese historische Entwicklung müsste die Notwendigkeit der Schutzanlagen sowie ihre Standsicherheit und Zuverlässigkeit im Hochwasserfall neu geprüft werden. Das gesicherte fachliche Wissen um den Zustand der Schutzsysteme sei unzureichend und von unterschiedlicher Aussagekraft. Aus diesem Grund seien die zentralen Aufgaben die Erfassung und Bewertung bestehender Hochwasserschutzanlagen sowie die Durchführung von Sicherheitsanalysen und Prognosen in einzelnen Flussgebieten. Die gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Umgang mit Hochwasser werden also sowohl als historisch konstituiert als auch als veränderbar verstanden. 97 98
Zur Konzeption des Schützenswerten als Ausdruck gesellschaftlicher Naturverhältnisse am Beispiel von Naturschutz und Hochwasserschutz in der Region Mulde-Mündung vgl. Kruse, Mölders 2005, auch Kap. 3.2.2. Unter aktivem Hochwasserschutz werden in der Hochwasserschutzkonzeption von 1994 Maßnahmen des Deichbaus, der Gewässergestaltung und der Abflussregelung durch Talsperren, Speicher und Polder verstanden.
138
5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
In der Hochwasserschutzkonzeption von 2003 wird das Verhältnis von Natur und Gesellschaft nicht über die schützenswerte Natur, sondern über Hochwasser als Naturgefahr bestimmt. Damit werden die Kategorien Natur und Gesellschaft als unverbunden konzipiert. Hochwasser wird als ein natürlicher Prozess bezeichnet, der zur Flusslandschaft dazugehört (vgl. u. a. MLU 2003, 2.1.1). Das Niederschlagsgeschehen und die wassergesättigten Böden werden als bio-physische Ursachen des Hochwasserereignisses genannt. „Hochwasser haben als Folge meteorologischer Ereignisse eine natürliche Ursache und sind somit Teil des natürlichen Wasserkreislaufes. Mit ihnen muss immer gerechnet werden“ (MLU 2003, 1). Unberechenbarkeit wird also als ein zentrales Element der natürlichen Prozesse benannt. Hochwasser sind in dieser Funktion als natürliche Prozesse für die Gesellschaft bedrohlich. Sie können zu „verheerenden Katastrophen“ führen (ebd.), wenn die Gesellschaft so nahe an die Natur bzw. den Fluss rückt, dass menschliche Nutzungen von den natürlich auftretenden Abflussgeschehen beeinträchtig werden: „Die Natur kennt keine Hochwasserschäden. Hochwasserschutz ist immer erst erforderlich, wenn menschliche Nutzungen betroffen sind“ (ebd., 4.1.). Damit trägt die Gesellschaft einen Teil der Schuld selber, denn „je intensiver und je weniger angepasst insbesondere die Überschwemmungsgebiete genutzt werden, desto größer ist das Schadenspotential und der Schaden bei Eintritt eines Hochwassers“ (ebd., 1). Mit der Dimension der Bedrohung gewinnt auch die Kategorie des Risikos an Bedeutung. Menschen sind bereit, das Risiko der Überschwemmung einzugehen, um im Gegenzug die Attraktivität des Flussgebietes zu nutzen: „Die fruchtbaren Flusslandschaften und die Nähe zum Gewässer waren seit jeher für Siedlungen und Nutzungen so attraktiv, dass die Gefahren und Belastungen, die von Hochwasser ausgehen, unterschätzt bzw. in Kauf genommen wurden“ (ebd., 4.1). Mit diesem Risiko wird das Verhältnis von Gesellschaft und Natur zur Wechselwirkung, wie im vorangegangenen Zitat angedeutet wird: Die Gesellschaft nutzt die Vorteile der Flusslandschaft und begibt sich wissentlich in Gefahr. Der Fluss ist also für die Gesellschaft sowohl bedrohliche als auch nützliche Natur. Diese Wechselwirkung zwischen Natur und Gesellschaft wird noch enger, wenn es um die Ursachen von Hochwasser geht, die in der Hochwasserschutzkonzeption von 2003 wesentlich zentraler thematisiert werden als noch in der Konzeption von 1994. Eine Trennung in Natur und Gesellschaft lässt sich nur noch zugunsten einer widersprüchlichen Argumentation aufrechterhalten. Neben den als natürlich benannten Ursachen werden zahlreiche Eingriffe anthropogener Art aufgeführt, die in Flussgebieten negativ auf das Hochwassergeschehen wirken können. Im Unterkapitel „Anthropogene Hochwasserverschärfung“
5.2 Strategische Hochwasserschutzplanung
139
werden negativ wirkende Veränderungen der natürlichen Speichereigenschaften aufgeführt (MLU 2003, 2.1.2): Versiegelung, Umwandlung von Überschwemmungsgebieten in Ackerland, Waldschäden in Hochwasserentstehungsgebieten, unangepasste Landbewirtschaftung, Kanalisierung von Gewässern etc. Gleichzeitig wird jedoch argumentiert, dass eine klare Kausalität anthropogener Einflüsse auf das Hochwassergeschehen nicht nachgewiesen werden könne: „Bisher haben Trendanalysen von langjährigen Abflussreihen aber noch keinen generellen Anstieg extremer Hochwasserabflüsse als Folge dieser anthropogenen Veränderungen in Mitteldeutschland ausgewiesnen.“ (ebd.) Schließlich wird noch der Klimawandel (ob anthropogen verursacht oder nicht, wird nicht erwähnt) ins Feld geführt, der, sollte es so kommen wie prognostiziert, jede anthropogene Hochwasserverschärfung ohnehin bei Weitem übertreffen würde (ebd.). Die Frage, wer an einer möglichen Verschärfung der Hochwassersituation in Sachsen-Anhalt schuld ist, wird zwar nicht offen thematisiert, scheint jedoch bei der gesamten Argumentation im Hintergrund zu stehen. Eine klare Positionierung zu diesem unaufhebbaren Zusammenhang von Natur und Gesellschaft und der Frage nach den Ursachen bzw. dem/der Verursacher/in, wird nicht vorgenommen. Insofern ist auch nicht explizit von selbst-induzierten Risiken oder nicht-intendierte Folgen (vgl. Kap. 2.1.4) die Rede. Resümierend lässt sich vor der begrifflichen Folie des Konzeptes gesellschaftlicher Naturverhältnisse eine Gleichzeitigkeit von einem als wechselwirksam und zugleich als trennend konzipierten Verhältnis von Natur und Gesellschaft feststellen. Auch auf die historische Konstitution des Verhältnisses wird hingewiesen, wenn von der Jahrhunderte alten Bewirtschaftung und Gestaltung des Flussgebietes sowie von den sich durch den Klimawandel zukünftig verändernden ursächlichen Bedingungen von Hochwasser die Rede ist (vgl. MLU 2003, 2.1.2). In dieser Konzeption von Natur und Gesellschaft spielt das Wissensproblem eine zentrale Rolle: Es wird sowohl ein mangelndes Wissen um UrsacheWirkung-Verhältnisse in der Hochwasserentstehung sowie der anthropogenen Beeinflussung von Hochwassergeschehen festgestellt als auch ein noch erheblicher Wissensbedarf bei der Einschätzung des Hochwasserrisikos, also der Gefahr und des Schadenspotenzials. Der Aspekt, dass Schutzmaßnahmen auch mit anderen Zielen der Landschaftsentwicklung oder -gestaltung in Konflikt stehen können und verhandelt werden müssen, wird in der Konzeption von 2003 zwar ebenfalls angesprochen, allerdings mit einem deutlich anderen Duktus, als dies noch 1994 geschah. Statt auf eine Vermeidung von Eingriffen in Natur und Landschaft zu drängen, wird in der Konzeption von 2003 deutlich kritisiert, dass in Konfliktsituationen zwischen
140
5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
Naturschutz und Hochwasserschutz Versäumnisse im Hochwasserschutz entstanden sind, „die in den vergangenen Jahren aufgrund von Konzessionen gegenüber einem teilweise überzogenen Naturschutz und Denkmalschutz im Mittelelbebereich eingetreten sind“ (MLU 2003, 4.3.3). Diese Schwächung des Hochwasserschutzes müsse überwunden werden. Daher wird in der Konzeption von 2003 ein kompromissloser Schutz der Menschen vor den Bedrohungen durch Hochwasser gefordert (vgl. ebd.). Wie bereits durch die Analyse der Ziel-, Strategie- und Maßnahmenebene deutlich wurde, hat durch das Hochwasserereignis 2002 eine Verschiebung der Schwerpunkte stattgefunden, die auch die gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Umgang mit Hochwasser prägt: War 1994 Hochwasserschutz als eine von mehreren Raumnutzungen mit anderen Nutzungsansprüchen (Naturschutz, Denkmalschutz, Tourismus etc.) zu vereinbaren, so wird nach 2002 dem Schutz von Siedlungsbereichen vor Hochwasser eine eindeutige Priorität zugewiesen. Auch in der Hochwasserschutzkonzeption von 2003 werden der Umgang mit Hochwasser und der etablierte Schutz in den historischen Kontext der letzten tausend Jahre gestellt. Es wird darauf hingewiesen, dass die früheren Landnutzungsformen den linienförmigen Deichschutz notwendig machten, sich die Raumansprüche heute aber geändert haben. Gleichzeitig heißt es, dass „eine Änderung der Linienführung der Deiche (...) aufgrund der intensiven Besiedlung der ehemaligen Flussauen mit einer gewachsenen Infrastruktur vielfach nicht mehr möglich [ist]“ (MLU 2003, 2.3). In der Konzeption von 2007 wird, ähnlich wie in der von 1994, wieder weniger explizit Bezug auf das Verhältnis von Natur und Gesellschaft im Umgang mit Hochwasser genommen als in der Konzeption von 2003. In der Frage nach den Ursachen für Hochwasserentstehung und -verschärfung werden Argumente aus der vorangegangenen Konzeption von 2003 aufgegriffen. Allerdings werden die anthropogenen Einflüsse nur sehr knapp angesprochen. Ebenfalls ist die Rede von Hochwasser als Teil des natürlichen Wasserhaushalts (MLU 2007, 1) und von nicht-angepassten Nutzungen und Siedlungstätigkeiten im Flussgebiet, die die Hochwassersituation verschärfen (vgl. ebd., 27). Anders allerdings als noch 2003 werden Deichrückverlegungen nicht grundsätzlich als nachrangig abgelehnt, sondern es wird eine Auswahl an Projekten vorgeschlagen, die sowohl dem Hochwasserschutz als auch der Verbesserung der ökologischen Situation dienen (vgl. ebd., 19 ff.). Die Synergien zwischen Hochwasserschutz und Naturschutz werden also nicht kategorisch abgelehnt, sondern mit konkreten Maßnahmenvorschlägen unterlegt (vgl. ebd.). Zusammenfassend lässt sich eine deutliche Veränderung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse in den Konzeptionen von 1994, 2003 und 2007 feststellen, die mit dem Hochwasserereignis 2002 in Verbindung steht. In der
5.2 Strategische Hochwasserschutzplanung
141
Hochwasserschutzkonzeption von 1994 wurde der Umgang mit Hochwasser weniger unter dem Gesichtspunkt einer Bedrohlichkeit als unter dem Aspekt schützenswerter Natur diskutiert: Hochwasserschutz sollte nach Möglichkeit keine Eingriffe in Natur und Landschaft verursachen. Darüber hinaus sollte die Notwendigkeit der baulichen Hochwasserinfrastruktur in Anbetracht der deutlichen Veränderung der Nutzungsstrukturen im Flussgebiet überprüft werden. In der Hochwasserschutzkonzeption von 2003 wird angesichts des Extremereignisses des Vorjahres Hochwasserschutz eindeutig unter dem Vorzeichen der bedrohlichen Natur gesehen. Die gesellschaftlichen Naturverhältnisse lassen sich insbesondere in der Diskussion der Ursachen für das Extremereignis ablesen. Angeführt werden sowohl natürliche als auch anthropogene Einflussfaktoren. Dabei wird auf eine anthropogene Verschärfung der Hochwassergefahr hingewiesen, die allerdings noch nicht mit eindeutiger Sicherheit nachgewiesen werden könne. Im Unterschied zu der Konzeption von 1994 wird die Rücksicht auf Naturschutzaspekte als Fehler bezeichnet (vgl. MLU 2003, 4.2.3). Auf die historische Konstitution des jetzigen Hochwasserschutzes wird zwar ebenfalls hingewiesen, jedoch mit anderer Konsequenz: Die heutige Gestaltung des Hochwasserschutzes leite sich zwar aus Bedürfnissen ab, die sich inzwischen verändert hätten; allerdings könne die Linienführung vielfach nicht mehr angepasst werden, da die Siedlungsstrukturen unverrückbare Fakten geschaffen hätten (vgl. MLU 2003, 2.3). In der Konzeption von 2007 wird ebenso wie in der Konzeption von 2003 auf die Wechselwirkung von natürlichen und anthropogenen Faktoren bei der Entstehung von Hochwasser hingewiesen. Anders als 2003 werden allerdings explizit die Synergien zwischen dem Schutz der natürlichen Auenstruktur und einem Hochwasserschutz, der wieder mehr Retentionsräume schafft, hervorgehoben (vgl. MLU 2007, 19 ff.). 5.2.4 Hochwasserschutzkonzeption Elbe: Räumliche Regulation im Wandel Im Vergleich der drei Hochwasserschutzkonzeptionen bezüglich der angestrebten Ziele, Strategien und Maßnahmen wurde bereits deutlich, dass das Extremereignis im Sommer 2002 einen maßgeblichen Einfluss auf den programmatischen Umgang mit Hochwasser hat. Im Folgenden liegt der Schwerpunkt der Analyse auf den Faktoren der räumlichen Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse und deren Veränderung. In der bisherigen Analyse der Ziele, Strategien und Maßnahmen der Hochwasserschutzkonzeptionen sowie der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Naturverhältnisse wurden bereits verschiedene Faktoren genannt, die den Umgang mit Hochwasser regulieren. Mit dem in Kapitel 3.4 entwickelten sozial-ökologischen Raumkonzept werden nun die zentralen regula-
142
5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
tiven Faktoren zusammengefasst und entlang der verschiedenen räumlichen Dimensionen systematisiert.99 So lassen sich die Veränderungen der räumlichen Regulation anhand der Hochwasserschutzkonzeptionen von 1994 über 2003 bis 2007 verfolgen und grafisch strukturieren (vgl. Abb. 13, Abb. 14, Abb. 15). IV Kultureller Ausdruck
Hochwasserschutzkonzeption 1994
III Soziales Handeln
Kosten-Nutzen-Effizienz v. Wissensdefizite bezüglich Deichsicherheit & Notwendigkeit Schutzmaßnahmen
Risikobewusstsein
Koordination konfligierender Nutzungsansprüche
(potenzielle) Bedrohung Die schützenswerte Natur
Natürliche Retention
Baulich-technische Schutzmaßnahmen I Materiale Gestalt
Umgang mit Hochwasser Neustrukturierung der Behörden
Gesamtdeutsche Gesetzesgrundlage II Normative Regulation
Abbildung 13: Hochwasserschutzkonzeption 1994: Räumliche Regulation (eigene Darstellung)100 Zentraler Auslöser für die Formulierung der Hochwasserschutzkonzeption von 1994 war die politische, behördliche und gesetzgeberische Umstrukturierung in Sachsen-Anhalt Anfang der 1990er Jahre (vgl. Abb. 13). Die Wissensdefizite bezügliche der Sicherheit der Deichanlagen, deren Notwendigkeit und deren Kosten-Nutzen-Effizienz können als prägende Faktoren für den strategischen Umgang mit Hochwasser und Hochwasserschutz bezeichnet werden. Da Natur sowohl als potenziell bedrohlich eingestuft wird als auch als schützenswert und gleichzeitig durch Hochwasserschutzmaßnahmen beeinträchtigt, gewinnt die 99
Die Zuordnung der regulativen Faktoren zu einzelnen Raumdimensionen gelingt nicht immer trennscharf. Manche Einflussfaktoren betreffen mehrere Raumdimensionen. Daher bedarf es neben der grafischen Zuordnung auch der sprachlichen Erläuterung der Beziehungen (vgl. auch Kap. 3.4). 100 Die zentralen Auslöser und prägenden regulativen Faktoren sind grafisch hervorgehoben.
5.2 Strategische Hochwasserschutzplanung
143
Koordination konfligierender Nutzungsansprüche für die Regulation des Umgangs mit Hochwasser an Bedeutung. Diese Aufgabe wird der räumlichen Planung zugewiesen, wobei die Schaffung natürlicher Retentionsflächen als Synergie zwischen Naturschutz und Hochwasserschutz erkannt wird. Für die Überarbeitung und Fortschreibung der Hochwasserschutzkonzeption im Jahr 2003 ist das extreme Hochwasserereignis 2002 zentraler Auslöser (vgl. Abb. 14). Es machte aus der 1994 noch zu bestimmenden, potenziellen Gefahr eine ‚reale’ Bedrohung, die zu der „verheerenden Katastrophe“ führte (MLU 2003, 1). Natürliche Prozesse im Flussgebiet werden nicht mehr nur als schützenswert, sondern auch als bedrohlich angesehen, wenn sie z. B. Hochwasser verursachen oder fördern. Zentralen Einfluss besitzt die unter hohem politischen Druck und kurzfristig zu realisierende DIN-gerechte Wiederherstellung der Schutzanlagen. Die zeitnahe Sanierung der baulich-technischen Schutzanlagen wurde zur obersten Priorität des behördlichen Handelns. Erst die Bereitstellung umfangreicher finanzieller Mittel aus Sofortprogrammen des Bundes und der EU ermöglichte die Realisierung dieser kurzfristigen Bewältigungsstrategie: „Durch das Hochwasser ist (...) der Anteil, den wir jetzt an Geldern bekommen haben, sprunghaft in die Höhe gegangen. (...) Vorher (...) wurde das ja eigentlich immer mehr zurückgefahren, weil man sagte, ‘Es ist ja kein Hochwasser’ und ‘Brauchen wir nicht’“ (vgl. HskMLU1).
Die Aufarbeitung der Überschwemmung brachte die Fragen nach den Ursachen des Hochwasserereignisses und der ‚katastrophalen’ Folgen in den Vordergrund der Diskussion. Daher nimmt auch die Hochwasserschutzkonzeption von 2003 darauf Bezug und stellt einerseits ein Zusammenspiel aus anthropogenen und natürlichen Faktoren fest, proklamiert andererseits jedoch auch ein Wissensdefizit bezüglich der Berechenbarkeit, Kontrollierbarkeit und des Restrisikos. Einen maßgeblichen Einfluss haben auch normative Steuerungsinstrumente, wie der Aktionsplan Hochwasserschutz Elbe der IKSE oder das Fünf-Punkte-Programm der Bundesregierung, aus dem das Artikelgesetz zum vorbeugenden Hochwasserschutz hervorging (vgl. IKSE 2003; Jekel 2005). Der Einfluss durch andere Konzeptionen, Gesetzesentwürfe oder programmatische Erklärungen gewinnt für die Hochwasserschutzkonzeption 2007 weiter an Bedeutung (vgl. Abb. 15). Sowohl das Hochwasserschutzgesetz und die inzwischen verabschiedete Hochwasserrahmenrichtlinie der EU (HWRRL) als auch die Elbe-Erklärung zum vorsorgenden Hochwasserschutz der 3. Elbministerkonferenz sowie andere politische Vereinbarungen innerhalb der LAWA und der IKSE nehmen Einfluss auf die Strategieformulierung in Sachsen-Anhalt (vgl. HskLHW1).
144
5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
IV Kultureller Ausdruck
Hochwasserschutzkonzeption 2003 Wissensdefizite bezügl. HW-Ursachen & -Verlauf
(faktische) Gefahr, „Katastrophe“, Restrisiko
Die bedrohliche Natur
Kurzfristiges Handeln, politischer Druck, Priorität: Wiederherstellung des Schutzes
Umgang mit Hochwasser
Anthropogene Verschärfung, unangepasste Nutzung Gesamtgesellschaftliche Verantwortung
Extremereignisse 2002/2003 Wiederherstellung d. baulich-technischen Schutzmaßnahmen I Materiale Gestalt
III Soziales Handeln
Finanzielle Mittel
5-Punkte-Programm, IKSE DIN-Norm
II Normative Regulation
Abbildung 14: Hochwasserschutzkonzeption 2003: Räumliche Regulation (eigene Darstellung) Ansonsten besitzen in der Hochwasserschutzkonzeption von 2007 ähnliche regulative Faktoren Einfluss auf den Umgang mit Hochwasser wie 2003 (z. B. die als bedrohlich verstandene Natur und die anthropogene Verschärfung der Hochwassergefahr). Es lässt sich allerdings eine Schwerpunktverschiebung erkennen von der kurzfristigen Orientierung auf die Sanierung des Deichsystems hin zu einer mittel- bis langfristigen Konzeption von vorsorgenden Maßnahmen und Stärkung natürlicher Retentionspotenziale. Diese waren zwar auf der Zielebene bereits in der Konzeption von 2003 angelegt, allerdings ließ sich auf der strategischen Ebene sowie bei den Maßnahmen ein klarer Schwerpunkt auf der kurzfristigen Bewältigung baulich-technischer Missstände erkennen. Mit dieser Schwerpunktverschiebung bekommt auch das Verständnis von Hochwasserschutz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe in der Konzeption von 2007 eine stärkere Bedeutung, da in den Handlungsbereichen der Vorsorge und Retention eine wesentlich breitere Basis von Akteuren und Zuständigkeiten angesprochen ist als bei der baulichen Wiederherstellung der Deichanlagen.
5.2 Strategische Hochwasserschutzplanung IV Kultureller Ausdruck
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Hochwasserschutzkonzeption 2007
III Soziales Handeln
Mittel- und langfristige Orientierung (faktische) Gefahr, Katastrophe, Restrisiko
Vorsorgende Maßnahmen Anthropogene Verschärfung, unangepasste Nutzung
Die bedrohliche Natur
Umgang mit Hochwasser Gesamtgesellschaftliche Verantwortung
Retentionsmaßnahmen Finanzielle Mittel Deichsystem I Materiale Gestalt
Politische Vereinbarungen: IKSE, LAWA, Elbeerklärung Neue Gesetze: HWSG, HWRRL
II Normative Regulation
Abbildung 15: Hochwasserschutzkonzeption 2007: Räumliche Regulation (eigene Darstellung) Zusammenfassend und bezogen auf das sozial-ökologische Raumkonzept lässt sich feststellen, dass in den Hochwasserschutzkonzeptionen von 1994 und 2007 insbesondere Faktoren aus dem Bereich der normativen Regulation gestaltend Einfluss auf den Umgang mit Hochwasser nehmen. Sind es zunächst Änderungen in der Verwaltungsstruktur und gesetzliche Anpassungen im Zuge der Wiedervereinigung, so sind es in der Konzeption von 2007 insbesondere programmatische, länderübergreifende Erklärungen und Gesetzesvorhaben auf Bundesebene, die die Ziel-, Strategie- und Maßnahmenebene der Konzeptionen prägen. Für die Konzeption von 2003 gewinnen Faktoren der materiellen und symbolischen Dimension an Bedeutung: Das Hochwasser in seiner materialen Gestalt und seinem kulturellen Ausdruck als Gefährdung oder ‚Katastrophe’ prägt maßgeblich die Ausgestaltung der konzeptionellen Leitlinie zum Hochwasserschutz in Sachsen-Anhalt. Im Bezug auf die zeitliche Orientierung lässt sich feststellen, dass 1994 zentrales Anliegen war, mit einer Situationsanalyse die Koordinierung bisheriger Aktivitäten im Hochwasserschutz zu vereinheitlichen und zu verbessern. 2003
146
5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
wandte sich die strategische Entwicklung eher kurzfristigen Vorhaben der Bewältigung zu, die als dringlich eingestuft wurden. Mittel- und langfristige Initiativen, die auch eine stärkere Vorsorgeorientierung und den Einbezug von retentionsfördernden Landschaftsfunktionen beinhalten, erhalten erst wieder 2007 eine stärkere Fundierung in der strategischen Leitlinie des Landes. 5.3 Renaturierung und natürlicher Hochwasserschutz: Die Deichrückverlegung Lödderitzer Forst Deichrückverlegungen werden in der Diskussion über den Umgang mit Hochwasser häufig als Musterbeispiel für den Wandel zu einem vorsorgenden Hochwassermanagement angeführt. Die Rückverlegung besitzt nicht nur das Potenzial zur Wasserstandsminderung, sondern auch symbolischen Gehalt: Indem der Deich zurückverlegt wird, tritt die menschliche Zivilisation einen Teil der Flusslandschaft wieder an den Fluss ab. Dem Fluss wird mehr Raum zugestanden, in der Vergangenheit abgetrennte Überflutungsbereiche werden an ihn ‚zurückgegeben’. Gleichzeitig jedoch bergen Deichrückverlegungen auch erhebliches Konfliktpotenzial, weil bisherige Nutzungen im zurückverlegten Gebiet durch temporäre Überschwemmungen beeinträchtigt werden oder weil Zweifel an der Sicherheit und der Effektivität der Rückverlegungsmaßnahme bestehen (vgl. Dehnhardt, Meyerhoff 2002). Im Folgenden wird die Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst auf ihre Potenziale als Vorzeigeprojekt für ein vorsorgendes Hochwassermanagement untersucht. Dafür wird zunächst das Naturschutzgroßprojekt „Mittlere Elbe“ vorgestellt, in dessen Rahmen die Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst stattfindet. Anschließend werden in einem ersten Interpretationsschritt die Ziele, Strategien, beabsichtigten bzw. umgesetzten Maßnahmen und Kommunikationsprozesse herausgearbeitet. Da die Perspektiven der verschiedenen beteiligten und betroffenen Akteure und Akteursgruppen durchaus unterschiedlich sind, liegt ein zentraler Fokus der Analyse auf Konflikten und Konfliktlösungen. In einem zweiten Schritt werden die gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Umgang mit Hochwasser aus Sicht der verschiedenen Akteursgruppen herausgearbeitet. Diese geben schließlich im dritten Teil Aufschluss über die regulativen Faktoren, die den Umgang mit Hochwasser beeinflussen.
5.3 Renaturierung und natürlicher Hochwasserschutz
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5.3.1 Naturschutzgroßprojekt „Mittlere Elbe“ Die Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst ist Teil des Naturschutzgroßprojektes „Mittlere Elbe“. Naturschutzgroßprojekte sind Fördermaßnahmen des Bundes, in denen die ökologische und naturschutzfachliche Qualität großflächiger und naturnaher Landschaftsteile von herausragender überregionaler Bedeutung geschützt und verbessert wird. Diese Projekte müssen sich hinsichtlich ihrer Größe, Komplexität, Naturausstattung, Besonderheit und Realisierung von den üblichen Schutzgebieten abheben (vgl. Eichhorn 2004, 49). Das Naturschutzgroßprojekt „Mittlere Elbe“ verfolgt das Ziel, die zwischen den Mündungen der Mulde und der Saale bestehenden Auenwälder zu einem zusammenhängenden Auenwaldkomplex zu entwickeln. Entlang von ca. 36 Flusskilometern soll ein durchgehender Verbund überflutbarer Auenwälder mit auentypischen Tier- und Pflanzenarten, Gesellschaften und Lebensgemeinschaften gesichert und renaturiert werden. Das Projektgebiet umfasst eine Fläche von 9050 ha im westlichen Teil des Biosphärenreservats Mittelelbe, wobei sich die Fördermaßnahmen auf ein Projektkerngebiet mit einer Größe von 5700 ha konzentrieren (vgl. Abb. 16).
Abbildung 16: Projektgebiet Naturschutzgroßprojekt „Mittlere Elbe“ (Quelle: WWF 2003a) Um diese naturschutzfachlichen Ziele zu erreichen, werden verschiedene Maßnahmen durchgeführt:
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel Entwicklung und Wiederherstellung der Hartholz- und Weichholzauenwälder, Sicherung und Entwicklung von Laubmischwäldern auf Niederterrassen und Dünen, Reaktivierung von Hochflutrinnen, nachhaltige, naturschutzorientierte Nutzung von Auengrünland und Waldbereichen, Erhaltung und Entwicklung von Überschwemmungsflächen, u. a. durch die Rückverlegung eines Hochwasserdeiches im Lödderitzer Forst.
Die Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst ist also eine Maßnahme neben anderen. In ihrem Ausmaß ist sie jedoch das aufwändigste Maßnahmenpaket des Naturschutzgroßprojektes. Auf 600 ha sollen ehemalige Eichen-Ulmen-Auenwälder an das Hochwasserregime der Elbe wieder angeschlossen werden. Das Naturschutzgroßprojekt hat mit dieser Komplexität von Maßnahmen und der Größe der Deichrückverlegung für Deutschland Modellcharakter. Dass sich eine derart umfangreiche Auenrenaturierung im Lödderitzer Forst realisieren lässt, hängt mit den naturschutzfachlichen Besonderheiten des Gebietes zusammen. Zwar wurden auch hier Deichbauten errichtet, um die angrenzenden Ortschaften und Ländereien vor Überflutungen zu schützen, und damit gleichzeitig eine regelmäßige Überflutung der Auenwaldbereiche bei Hochwasser verhindert, mit negativen Auswirkungen für das Ökosystem der Aue. Doch kam es im letzten Jahrhundert aufgrund der ökologischen Besonderheiten des Forstes schon früh zu einer naturschutzfachlichen Regulierung der Bewirtschaftung und des Zugangs zum Gebiet. Bereits 1929 wurde ein Schutzgebiet ausgewiesen, das insbesondere dem Biber- und dem Vogelschutz dienen sollte. 1955 wurden die Auen und die Hochfläche des Steckby-Lödderitzer Forstes zum Naturschutzgebiet und 1981 ein Teil des Gebietes (ca. 500 ha) zum Totalreservat erklärt.101 1979 wurde das Naturschutzgebiet Steckby-Lödderitzer Forst als eines der beiden ersten deutschen Biosphärenreservate durch die UNESCO anerkannt und 1988 sowie 1990 um die Dessau-Wörlitzer Kulturlandschaft auf eine Fläche von 43.000 ha erweitert (vgl. auch Hentschel 1995). Seit 1997 ist das Biosphärenreservat Mittelelbe Teil der länderübergreifenden „Flusslandschaft Elbe“ und wurde 2006 erneut auf eine Fläche von 125.743 ha erweitert.102 Der Steckby-Lödderitzer Forst ist Teil der Kernzone des Biosphärenreservates und unterliegt damit heute einer strengen
101 Der Steckbyer Forst nahe der Ortschaft Steckby liegt rechtsseitig der Elbe dem Lödderitzer Forst gegenüber. Das Naturschutzgebiet Steckby-Lödderitzer Forst umfasst beide Auenwaldbereiche. 102 Vor der Erweiterung von 2006 trug das Biosphärenreservat den Titel „Mittlere Elbe“.
5.3 Renaturierung und natürlicher Hochwasserschutz
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Reglementierung.103 Darüber hinaus wurde das Gebiet des Steckby-Lödderitzer Forstes mit weiteren Schutzkategorien auf Basis der Ramsar-FeuchtgebietsKonvention, der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH) sowie der EU-Vogelschutzrichtlinie belegt (vgl. u. a. Eichhorn, Puhlmann 2000; Reichhoff 2002). Das Gebiet der Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst liegt zum größten Teil in der Kernzone des Biosphärenreservats Mittelelbe. Die Ortschaften Kühren, Lödderitz und Obselau grenzen direkt an das Gebiet, im Süden liegt die Stadt Aken. Die Kernzone ist für wirtschaftliche, sportliche und touristische Nutzungen gesperrt, sodass im Bereich der Deichrückverlegung die Nutzungskonflikte verhältnismäßig gering sind. Im gesamten Projektgebiet des Naturschutzgroßprojektes „Mittlere Elbe“ finden aufgrund der frühen und inzwischen vielfältigen Unterschutzstellung allenfalls Nutzungen durch Forstwirtschaft und zu Erholungs- bzw. Freizeitzwecken statt. Die zugänglichen Bereiche werden z. B. von der örtlichen Bevölkerung zum Spazierengehen, Jagen und Angeln genutzt. Ein zunehmender Wirtschaftsfaktor ist auch der Tourismus, im Gebiet des Naturschutzgroßprojektes vor allem der Fahrradtourismus entlang des Elberadweges. Aufgrund der langen Geschichte des Naturschutzes im Projektgebiet sowie seiner besonderen Stellung im Biosphärenreservat zählt es zu einem der am besten erforschten Gebiete in Sachsen-Anhalt und ist zum größten Teil in öffentlichem Eigentum. Lediglich kleinere Acker- und Waldflächen befinden sich in Privatbesitz. Dieser Sachverhalt ist für das Naturschutzgroßprojekt von entscheidender Bedeutung, da ein großer Teil der geplanten Maßnahmen, insbesondere die Deichrückverlegung, zu Eingriffen in das Privateigentum führen würde. Daher ist vorgesehen, dass der Projektträger die betroffenen Flächen von den Privatbesitzer/innen kauft oder gegen andere Flächen tauscht. Flächen, die sich in öffentlichem Eigentum befinden, werden dem Projektträger übertragen. Das Naturschutzgroßprojekt, das im November 2001 offiziell begonnen hat, kann auf eine lange Entstehungsgeschichte zurückblicken und ist eingebettet in vorherige Aktivitäten zum Auenmanagement. Bereits Anfang der 1990er Jahre wurde in der Naturschutzfachverwaltung des Landes Sachsen-Anhalt, den Staatlichen Ämtern für Umwelt (STAU), eine Analyse möglicher Deichrückverlegungen durchgeführt. Identifiziert wurden ca. 60 Bereiche an Elbe, Mulde, Saale, Schwarzer Elster und Unterer Havel. Diese Analyse wurde 1999 in den Landesentwicklungsplan aufgenommen und bildet bis heute die Grundlage für ökologi103 Biosphärenreservate sind je nach dem Einfluss menschlicher Tätigkeiten räumlich in Kern-, Pflege- und Entwicklungszonen unterteilt. In der Kernzone soll sich „die Natur vom Menschen möglichst unbeeinflusst entwickeln“; Ziel ist, „menschliche Nutzungen auszuschließen“ (Erdmann et al. 1995, 12). Zur Zonierung des Biosphärenreservats Mittelelbe vgl. Hentschel 1995, 216 f.
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sche Entwicklungs- und Hochwasserschutzkonzepte (vgl. u. a. Puhlmann, Jährling 2003, 144; Puhlmann 1994; Jährling 1993). Ende der 1990er Jahre wurde im Rahmen des BMBF-Forschungsverbundes „Ökologische Forschung in der Stromlandschaft Elbe“ ein Vorhaben mit dem Titel „Rückgewinnung von Retentionsflächen und Altauenreaktivierung an der Mittleren Elbe in Sachsen-Anhalt“ realisiert, das u. a. Chancen und Risiken von Deichrückverlegungen am Beispiel verschiedener Varianten analysierte. Damit liegen seit 2002 umfangreiche praxisorientierte und umsetzungsreife Vorschläge für Rückdeichungen im Bereich des Biosphärenreservats Mittelelbe vor (vgl. u. a. Dehnhardt, Meyerhoff 2002; LAU 2002). An diesen Vorarbeiten war die Biosphärenreservatsverwaltung maßgeblich beteiligt. Sie hat auch die Konzeption des Naturschutzgroßprojektes „Mittlere Elbe“ in Zusammenarbeit mit einem örtlichen Planungsbüro vorangetrieben. Durch die formellen Vorgaben des Förderprogramms für Naturschutzgroßprojekte des Bundesamts für Naturschutz (BfN) musste ein Projektträger gefunden werden, der zehn Prozent der Kosten für das Projekt übernimmt. Die angestrebte Projektträgerschaft durch einen kommunalen Zweckverband konnte aufgrund der Finanzknappheit der Kommunen nicht realisiert werden. So wurde die Umweltstiftung WWF angesprochen, die durch das ihr angegliederte Aueninstitut umfangreiche Kompetenzen in der Auenrenaturierung vorweisen kann.104 Mit dieser Projektkonstruktion konnte ein Gesamtbudget von 15 Millionen Euro aufgebracht werden, von denen das BfN 75 %, das Land Sachsen-Anhalt 15 % und die Umweltstiftung des WWF 10 % übernimmt. Ursprünglich war das Naturschutzgroßprojekt „Mittlere Elbe“ auf eine Laufzeit von zehn Jahren angelegt (2001–2010). Nach den extremen Hochwasserereignissen im Sommer 2002 und Winter 2002/2003 wurde es aufgrund der daraus resultierenden Verzögerungen bis zum Jahr 2013 verlängert. Das Projekt gilt aufgrund seiner Größe und Komplexität als Modellprojekt für Auenrenaturierung und ökologischen Hochwasserschutz. Es trifft in der Region allerdings auf unterschiedliche Reaktionen, die von Zustimmung und Unterstützung bis hin zu Ablehnung und Widerstand reichen. Der Naturschutzbeirat der Stadt Dessau begrüßt das Projekt und das damit verbundene Ziel, den Retentionsraum flussabwärts der Stadt zu vergrößern und so zu einer Verbesserung des Hochwasserschutzes beizutragen (O. A. 2003). Auch das Umweltministerium von Sachsen-Anhalt und der LHW unterstützen das Projekt. Seit 2003 ist die Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst in den Maßnahmenplan zur Hochwasserschutzkonzeption des Landes Sachsen-Anhalt aufgenommen. Der LHW 104 Das WWF-Aueninstitut in Rastatt wurde 1985 als Forschungseinrichtung für Auenökosysteme eingerichtet und ist seit 2001 an die Universität Karlsruhe angegliedert. Nähere Informationen: www.auen.uni-karlsruhe.de.
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ist seit Anfang 2004 Vorhabensträger für die Realisierung der Deichrückverlegung. Kritische Stimmen sind vor allem von den Bewohner/innen der an das Projektgebiet angrenzenden Ortschaften sowie von deren politischen Vertreter/innen im Stadtrat Aken und auf Landesebene zu hören (vgl. ausführlich Kap. 5.3.2). So hat sich nach dem Hochwasserereignis 2002 z. B. eine Bürgerinitiative in Aken gegründet, die sich gegen das Projekt der Deichrückverlegung wendet. 5.3.2 Ziele, Strategien und Maßnahmen Zielebene: Die Deichrückverlegung im Spannungsfeld von Auenschutz, Hochwasserschutz und „Menschenschutz“ Mit der Deichrückverlegung im Rahmen des Naturschutzgroßprojektes wird das Ziel verfolgt, die noch vorhandenen, derzeit allerdings von den regelmäßigen Überschwemmungen abgeschnittenen Auenwaldstrukturen im Lödderitzer Forst wieder an das Hochwasserregime anzuschließen. Damit sollen sowohl die Flussauen renaturiert als auch ungesteuerte Retentionsflächen an der Mittleren Elbe wiederhergestellt werden. Die Priorität der Zielsetzungen hat sich allerdings im Projektverlauf verändert. Blieb im Jahresbericht der Umweltstiftung WWF Deutschland von 2001 die Hochwasserrelevanz des Projektes unerwähnt, so wurde das Naturschutzgroßprojekt im Jahresbericht von 2002 unter dem Eindruck des extremen Hochwasserereignisses an der Elbe ausdrücklich als Pilotprojekt in den Kontext der Wende in der Hochwasserpolitik gestellt: „Unter dem Eindruck der Rekordpegelstände gelobten Politiker aller Parteien, die Fehler der Vergangenheit beim Ausbau der Flüsse zu revidieren. Klar ist: Für die ‘Gewässerwende’ wird ein langer Atem gebraucht. Wie so etwas aussehen kann, zeigt das WWF-Projekt an der Mittleren Elbe“ (WWF 2003b).
Da Auengebiete aufgrund ihrer Multifunktionalität sowohl für den Naturschutz, den Tourismus und die Siedlungsentwicklung interessant sind, als auch sensible Bereiche für den Hochwasserschutz darstellen, gibt es typische Konfliktlinien zwischen den verschiedenen Nutzungsformen und zentralen Akteuren. Insbesondere bei Deichrückverlegungen oder dem Bau von Poldern kann es immer wieder zu vehementem Widerstand aus unterschiedlichen Richtungen kommen, wie verschiedene Studien an Rhein und Elbe zeigen (vgl. u. a. Monstadt 2008b; Kruse 2008a; Rhodius 2006; Dehnhardt, Meyerhoff 2002). Die beiden zentralen Zielkonflikte für das Projekt der Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst
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bestehen zum einen zwischen Naturschutz und Hochwasserschutz und zum anderen zwischen Naturschutz und den Interessen der örtlichen Bevölkerung. Für die erste Konfliktlinie zwischen Naturschutz und Hochwasserschutz ist zentral, dass durch Hochwasserschutzmaßnahmen Eingriffe in Natur und Landschaft entstehen können. Dies geschieht u. a. durch Deichneubau, durch die Sanierung und die damit verbundene Verbreiterung des Deichfußes sowie durch den Bau von so genannten Deichverteidigungswegen, also befestigten Zuwegen, die im Hochwasserfall auch von schwerem Gerät befahren werden können. Im Zuge dieser Maßnahmen werden häufig Bäume und Gehölze im Deichbereich gefällt bzw. entfernt. Solche Eingriffe führen auch im Projektgebiet des Lödderitzer Forstes, der als Naturschutzgebiet einem besonderen Schutz vor Eingriffen in Natur und Landschaft unterliegt, zu Konflikten. Akteure des Naturschutzes räumen den Belangen des Hochwasserschutzes seit dem Extremereignis 2002 dabei durchaus Priorität ein, wie im folgenden Zitat eines Vertreters des Biosphärenreservats deutlich wird: „Wir sind natürlich bemüht, dass wir da auch für die Bevölkerung die notwendige – was heißt bemüht – wir müssen die notwendige Sicherheit für die Bevölkerung gewährleisten. Das ist also oberstes Ziel und oberstes Gebot. Also wir werden nicht für viel Geld einen neuen Deich bauen und hinterher ist die Situation schlechter, als sie vorher war“ (LöBR3).
Der ökologische Schaden solle allerdings so gering wie möglich gehalten werden. Die Biosphärenreservatsverwaltung, der WWF und das örtliche Umweltamt stellen sich hinter diese Position und verstehen sich in der Aushandlung der Hochwasserschutzmaßnahmen als Fürsprecher der Natur (vgl. LöBR2). Durch das Hochwasserereignis 2002 haben sich auch die Kompetenzverteilung und das Verfahren der Aushandlung der Belange des Hochwasserschutzes und des Naturschutzes verändert. So hat das Ministerium für Landwirtschaft und Umweltschutz (MLU) den LHW bereits am 22.09.2002 durch einen Erlass für alle Maßnahmen der Schadensbeseitigung an den Landesdeichen von der Durchführung von Plangenehmigungs- und Planfeststellungsverfahren nach Wasserrecht freigestellt (vgl. Schulze, Schlegel, Noack 2008, 100).105 Ziel war es, eine effiziente und kurzfristige Schadensbeseitigung an den Landesdeichen zu gewährleisten (ebd.). Damit wurde u. a. die Beteiligung von Trägern öffentlicher Belange sowie die Regelung von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen ausgesetzt. 105 Die Aussetzung der Plangenehmigungs- und Planfeststellungsverfahren galt nur für die Sanierung von Deichen. Für den Neubau von Deichen, die auch im Rahmen der Deichrückverlegung Lödderitzer Forst notwendig ist, mussten weiterhin die regulären Genehmigungsverfahren durchlaufen werden.
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Die Vertreter/innen des Naturschutzes und andere Träger öffentlicher Belange konnten sich daher nur ungeregelt in die laufenden Planungen einbringen. Ein Vertreter des LHW berichtet jedoch davon, dass er sich nach einer problematischen Anfangsphase darum bemüht habe, trotz Aussetzung der formellen Beteiligung von Trägern öffentlicher Belange Planungsentscheidungen vorher mit den betroffenen Interessengruppen abzustimmen (vgl. MmLHW1a). Waren zunächst die Fronten nach Aussetzung der Beteiligung verhärtet, hat sich in einem gemeinsamen Lernprozess zwischen Planungsbehörde und den Interessengruppen des Natur- und Denkmalschutzes eine informelle Aushandlungspraxis etabliert, mit der die meisten Beteiligten zufrieden sind (vgl. LöBR2, MmKS1, WaBI1a). Ein Vertreter des LHW zieht folgende Zwischenbilanz: „Es ist natürlich bei so einem Bauprogramm, da gehen ein paar Dinge einfach durch die Lappen und dann kriegt man seine Ohrfeigen [lacht]. (…) Aber dennoch wissen doch alle zu würdigen, (…) dass wir bemüht sind, die Dinge in einem Konsens miteinander hinzubekommen. Und ich denke, das ist ein guter Weg, den wir da gefunden haben“ (MmLHW1a).
Um die naturschutzrechtlichen Belange ausreichend zu berücksichtigen, wurde schließlich in Absprache mit den Akteuren des Naturschutzes entschieden, für alle durchgeführten Maßnahmen im Zuge der Schadensbeseitigung an den Deichen eine Gesamtausgleichs- und Ersatzbilanz zu erstellen (vgl. Schulze, Schlegel, Noack 2008, 100). Für die zweite Konfliktlinie zwischen Naturschutz und Bevölkerung liegt der zentrale Konfliktpunkt in dem Verhältnis zwischen ‚Auenschutz’ und ‚Menschenschutz’. Die lokale Bevölkerung, im Falle der Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst u. a. vertreten durch den Stadtrat der Stadt Aken und die örtliche Bürgerinitiative, ist überwiegend der Meinung, dass Hochwasserschutz und die (Wieder-)Herstellung von Sicherheit vor Überschwemmungen absoluten Vorrang vor Maßnahmen des Naturschutzes haben müssen.106 Ein Teil der Bevölkerung steht dem Projekt skeptisch gegenüber. Sie befürchten, dass sie angesichts der überregionalen Bedeutung und der Unterstützung des Projektes durch Landes- und Bundesakteure bei ihren lokalen Interessen überstimmt wer106 Die Vertreter der Bürgerinitiative sehen nicht nur die Deichrückverlegung im Rahmen des Naturschutzgroßprojektes kritisch. Sie kritisieren auch den technischen Hochwasserschutz und die Zuständigen beim LHW und dem Unterhaltungsverband „Taube-Landgraben“, der für die Unterhaltung und Pflege der Entwässerungsgräben zuständig ist. Zentrale Kritikpunkte sind die vernachlässigte Pflege und Sanierung der Schutzanlagen und Entwässerungsgräben (vgl. LöBI1, LöBI2, LöBI3). Diese Problematik wird an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt, weil sie nicht direkt mit der Deichrückverlegung in Verbindung steht. Auf den Aspekt der Deichpflege sowie Unterhaltung und die Interessen der Bevölkerung wird ausführlich im Kapitel 5.4 eingegangen.
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den und finanzielle Mittel zwar für Naturschutz ausgegeben werden, jedoch nicht für die Herstellung eines ‚sicheren’ Hochwasserschutzes. Ein Vertreter des Stadtrats der Stadt Aken positioniert sich in der lokalen Zeitschrift „Pegellatte Aken“ folgendermaßen: „Ich stehe dem Projekt aus folgenden Gründen skeptisch gegenüber: Es steht die Frage, ob man sich bei der augenblicklichen finanziellen Gesamtlage ein derart kostspieliges Projekt leisten darf (allein ca. 13 Mio. € von Bund und Land). Das Projekt kann nicht dem Hochwasserschutz, sondern eher einer Erhöhung der Hochwassergefahr durch die Vergrößerung des Elbstaus bei der Tochheimer Flussenge dienen“ (Stadtratsvertreter der Stadt Aken im Interview mit der „Pegellatte Aken“, Nr. 25, 07.05.2004).
Auch ein Vertreter der Bürgerinitiative äußert sich ähnlich: „Zur Deichrückverlegung jetzt, ja da gibt es natürlich Aufstände von den Bürgern in Aken, in Lödderitz und so weiter. Also, definitiv ist – dazu stehe ich und das sagen auch andere Fachleute –, diese Deichverlegung bringt nichts für den Hochwasserschutz“ (LöBI3).
Ein Teil der Interviewpartner/innen vertritt die Meinung, dass im Rahmen des Projektes kein Hochwasserschutz realisiert werde, auch wenn es von den Projektverantwortlichen anders dargestellt werde. Hier würden Experimente auf Kosten der örtlichen Bevölkerung gemacht, die man sich angesichts der prekären Sicherheits- und Finanzlage nicht leisten könne, wie ein Vertreter der Bürgerinitiative erläutert: „Man verkauft den Akenern eine Dreiviertelstunde und länger, das wäre die Hochwasserschutzmaßnahme, bis dann schließlich der Begriff fiel: (…)‘Das wird doch lediglich eine Spielwiese der Grünen.’ (…) Wenn ich wenig im Staatssäckel habe, dann kann ich solche Experimente hier nicht machen“ (LöBI2).
Es besteht ebenfalls die Befürchtung, dass der Naturschutz in der Region so dominant werden könnte, dass er sich negativ auf die Wirtschaft auswirke und z. B. die Schifffahrt auf der Elbe behindere. Ein Vertreter des Akener Stadtrats formuliert dies folgendermaßen: „Es ist eine zusätzliche Existenzgefährdung des Akener Hafens durch eine mögliche Forderung des Naturschutzes gegeben, nun erst recht auf Instandhaltungsmaßnahmen der Elbe zugunsten der Schifffahrt zu verzichten, um die Entfaltung der Auenwälder nicht zu gefährden“ (Stadtrat der Stadt Aken im Interview mit der „Pegellatte Aken“, Nr. 25, 27.05.2004).
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Ein weiterer Konfliktpunkt zwischen dem Naturschutzgroßprojekt Lödderitzer Forst und der Bevölkerung ist die Zugänglichkeit der Auenbereiche. Die örtliche Bevölkerung befürchtet, der Naturschutz werde den Zutritt der Gebiete so regulieren, dass die Deichverteidigungswege nicht mehr zugänglich sind, was im Hochwasserfall von 2002 zu Problemen geführt hat: „Hier haben wir auf dem Deich gestanden zu Hunderten und haben alle bis zu zweieinhalb Kilometer weit die Sandsäcke durchgegeben, weil alle Zufahrten, die früher mal waren, zugewachsen waren. Es ist ja so: Das ist hier Biosphärenreservat, Totalzone und da lässt man keinen rein. – Irgendwo hört es auf“ (LöBI1).
Damit verbunden ist die Befürchtung, dass die örtliche Bevölkerung das Gebiet nicht mehr als Erholungsgebiet nutzen könne: „JK: Das ist ein herrliches Ausflugsgebiet hier. H: Ja, gewesen. JK: Radwanderer. H: Gewesen. JK: Fußgänger. H: Bis die Grünen kamen. JK: Und das würde entfallen. H: Ja. (…) Sie dürfen nicht mehr rein“ (LöBI3, LöBI1).
Hinzu kommt allerdings auch, dass den befragten Vertretern der Bürgerinitiative nach eigener Aussage die Ziele des Naturschutzes nicht richtig vermittelt werden: „Es ist den Bürgern nicht klar, was man mit der Deichrückverlegung erreichen will, Natur … also vom Naturschutz her, von Fauna und Flora. (...) Ich als Laie sehe keinen Unterschied in den Gräsern, was da so wächst“ (LöBI3). Die Vertreterin des WWF stellt die Konfliktsituation anders dar. Sie verweist darauf, dass schon vor Projektbeginn eine intensive Öffentlichkeitsarbeit geplant war und inzwischen bereits verschiedene Bürgerversammlungen durchgeführt und Informationsmaterialien erarbeitet wurden, die die Bevölkerung über Ziele und Maßnahmen sowie die Auswirkungen des Naturschutzgroßprojektes insgesamt und über die Deichrückverlegung im Speziellen aufklären (vgl. LöWWF1a, 11; LöWWF1b, 30 ff.).107 Aus ihrer Sicht liegen die Fakten anders: Die Sicherheit des neuen Deiches sei höher, da er nach DIN-Norm gebaut werde. Darüber hinaus sei er besser instand zu halten und zu verteidigen, da er nicht mehr in der Kernzone des Biosphärenreservats liegt, für die grundsätzlich ein Zutritts- und Nutzungsverbot gilt. Außerdem wird eine naturverträgliche Erho107 Beispiele für Informationsmaterialien, die sich an die breite Öffentlichkeit richten, sind u. a.: LHW 2005; LHW 2004; WWF 2005a; WWF 2003a.
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lungsnutzung mit neu angelegten touristischen Wegen im Bereich der Deichrückverlegung geplant (vgl. WWF 2005a). Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hier nicht so sehr um ein Vermittlungsproblem als um einen Ziel- und Wertekonflikt handelt, der nicht einfach durch Information aufzulösen ist (vgl. ausführlich Kap. 5.3.2, S. 160 ff.). Strategieebene: Entscheiden unter Unsicherheit In strategischer Hinsicht sind die Akteure im Rahmen des Naturschutzgroßprojektes im Lödderitzer Forst mit der Herausforderung konfrontiert, mit Unsicherheit und unsicherem Wissen über ökologische Zusammenhänge und hydrologische Auswirkungen der Deichrückverlegung und der anderen Projektmaßnahmen umzugehen.108 Es zeigt sich, dass bei der Beurteilung der einzelnen Projektkomponenten unterschiedliche Wissensbereiche und fachliche Kompetenzen gefragt sind. Da sich die verschiedenen Akteure – der Projektträger WWF, die Planungsbehörde, das örtliche Umweltamt, die Bevölkerung vor Ort – in der Erarbeitung und Verteidigung ihrer Positionen nicht immer auf eigenes Wissen stützen konnten, wurde mehrfach Expert/innenwissen herangezogen und Gutachten in Auftrag gegeben. Nicht selten standen sich allerdings widersprüchliche Wissensansprüche gegenüber. Beispielsweise stellt ein Landtagsabgeordneter mit dem allgemeinen Verweis auf „namhafte Experten“ klar: „Das momentane Deichrückverlegungsprojekt ist ein reines Naturschutzprojekt. Namhafte Experten sind sich darin einig, dass es zur nennenswerten Kappung von Hochwasserscheitelwellen ungeeignet ist. Wir bestehen auf dem Erhalt der jetzigen Deichtrasse“ (Landtagsabgeordneter im Interview mit der „Pegellatte Aken“, Nr. 24, 23.04.2004).
Eine genau gegenteilige Stimme kommt von Seiten des WWF, der zusammen mit dem LHW eine Modellierung des Oberflächenabflusses sowie des Grundwasserabflusses in Auftrag gegeben hat (vgl. IWUD 2005b; IWUD 2005a): „Im Endeffekt gibt es auch eine Wasserspiegelsenkung durch die Deichrückverlegung. Das ist in Abhängigkeit von den Hochwassersituationen, aber eine Entlastung ist es auf jeden Fall für den Bereich um Aken“ (LöWWF1b). Vertreter des Biosphärenreservats Mittelelbe zieht aus diesen sich widersprechenden Bezügen auf scheinbar gesichertes Wissen den Schluss, dass hier die Gegner/innen des Projektes ihre Positionen nicht auf sachliche, wissensbasierte Argumente stützen würden, sondern Wissen politisch und strategisch einsetzten: 108 Zum Zusammenhang von Unsicherheit und Wissen vgl. Kap. 2.2.1.
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„Wir haben mit der Deichrückverlegung in Aken völlig absurde Probleme. Durch diese Geschichte verringert sich der Hochwasserstand in Aken um 23 cm, was wirklich ein Hammer ist. Und es wird trotzdem gegen das Projekt Sturm gelaufen. Das ist zwar eine Minderheit, aber die nutzt das kommunalpolitisch zu verschiedenen Zwecken“ (LöBR1).
Die Projektleiterin beim WWF bemängelt ebenfalls, dass die so genannte Sachebene in den Diskussionen zwischen Bevölkerung und Projekt oft verlassen würde: „Das ist halt leider so, dass man oft zum Spielball von solchen Dingen wird. Und es geht nachher gar nicht mehr um die Sache an sich, sondern es geht um ganz andere Entscheidungen“ (LöWWF1a). Sie stellt fest, dass insbesondere nach dem Hochwasserereignis 2002 sich der Umgang mit Unsicherheit im Projektkontext verändert habe. Die Bevölkerung und ihre kommunalen Vertreter/innen seien dem Projekt gegenüber sehr viel kritischer eingestellt und übten vermehrt öffentlich politischen Druck auf Entscheidungsträger aus. Die zuständigen Behörden wiederum wollten ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren und versuchten daher, sich bei vielen Entscheidungen möglichst gut abzusichern. So müssten z. B. für die Entwicklung von Weichholzauen im Deichinnenbereich mathematische Modellierungen des Abflussgeschehens und der Grundwasserentwicklung in Auftrag gegeben werden, bevor eine Entscheidung gefällt wird (vgl. LöWWF1a, LöWWF1b). Die Vertreterin des WWF sieht diese Modelle jedoch auch kritisch, da ihre Erarbeitung den Planungsprozess verzögert: „Die Behörden sind also auch viel sensibler geworden nach dem Hochwasser 2002. (…) Man ist sehr, sehr vorsichtig geworden. (…) Und man ist dann auf der sicheren Seite, wenn man sagt, machen wir ein Strömungsmodell, und jetzt simulieren wir das alles im Computer, wie das sein könnte, und zu unterschiedlichen Wuchshöhen und so weiter und so fort. Nur, dann ist das Modell schließlich teurer als die Maßnahme dort“ (LöWWF1b).
Ein Vertreter des Biosphärenreservats weist darauf hin, dass beim derzeitigen Stand der Planung auch durch wissenschaftliche Untersuchungen und Modellierungen die Auswirkungen nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden können: „Dass man nicht genau weiß, wie das mit dem Wasser in den Kellern nachher aussieht. Da gibt es nachher natürlich auch Untersuchungen, die man dazu begleitend führt. Aber ganz hundertprozentig auf den Zentimeter kann es natürlich heute keiner genau sagen“ (LöBR3).
Mit den hier beschriebenen Facetten von Unsicherheit ist auch die Herausforderung verbunden, die Verantwortung für Entscheidungen zu übernehmen, die
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unter Unsicherheit getroffen werden müssen. Die Projektleiterin des WWF weist darauf hin, dass sich sowohl für den LHW und die Genehmigungsbehörden als auch für den Projektträger WWF immer wieder neue Fragen und Schwierigkeiten im Projektablauf ergeben, da das Projekt in seiner Größe und Komplexität eines der ersten in Deutschland ist und bei vielen Aspekten nicht auf bereits vorhandene Erfahrungen aus vergleichbaren Projekte aufgebaut werden kann. Es werden für den Umgang mit Unsicherheit also verschiedene Strategien verfolgt: Einerseits wird auf so genanntes Expert/innenwissen oder gezielt in Auftrag gegebene Studien Bezug genommen. Modellierungen und Prognosen werden hierzu oft hinzugezogen, auch wenn diese ebenfalls Vereinfachungen und Unsicherheiten beinhalten. Andererseits kann diese unsichere Wissenslage auch strategisch eingesetzt werden, um bereits bestehende Positionen zu untermauern. Darüber hinaus zeichnet sich ab, dass die Entscheidungsträger/innen insbesondere seit dem Hochwasserereignis 2002 und der gestiegenen Aufmerksamkeit versuchen, ihre Entscheidungen auf eine möglichst fundierte wissenschaftliche Basis zu stellen. Durch eine detaillierte Prüfung der potenziellen Hochwasserrelevanz und die Erarbeitung zusätzlicher Gutachten wird allerdings die Umsetzung von Maßnahmen der Auenrenaturierung im Lödderitzer Forst verzögert. Maßnahmenebene: Konflikte und Lösungen im Detail Die Maßnahmen, die im Kontext des Naturschutzgroßprojektes durchgeführt werden, decken verschiedene Aspekte der Auenrenaturierung ab: von der Entwicklung verschiedener Auenwaldgesellschaften, über die Wiederherstellung von Flutungsrinnen und den Rückbau von Entwässerungskanälen bis hin zur Rückverlegung des Hochwasserdeiches im Lödderitzer Forst. Für das gesamte Vorhaben musste zunächst ein Pflege- und Entwicklungsplan erarbeitet und abgestimmt werden (vgl. WWF 2005b). Außerdem mussten die Flächen, auf denen Maßnahmen ergriffen werden sollten, durch Übertragung, Kauf oder Tausch ins Eigentum der WWF Umweltstiftung überführt werden. Seit dem Hochwasser 2002 gibt es im Gebiet des Lödderitzer Forstes zudem Planungen für die Sanierung der beschädigten Deiche, die mit den Maßnahmen des Naturschutzgroßprojektes abgestimmt werden müssen. Bei der Umsetzung ist also die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure (WWF, LHW, Biosphärenreservat, Untere Wasserbehörde, Waldbesitzer/innen, Landwirte, lokale Bevölkerung etc.) besonders wichtig. Die unterschiedlichen Ziele und Absichten der Akteure werden dabei zu einem bestimmenden Moment des Abstimmungsprozesses. Die Zielkonflikte zwischen den unterschiedlichen Akteuren konkretisieren sich insbesondere auf der Maßnahmenebene. Der WWF als Projektträger
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befindet sich im Spannungsverhältnis zwischen Naturschutz und anderen Handlungsfeldern wie Hochwasserschutz, Denkmalschutz, Tourismus, Land- und Forstwirtschaft. So hat er verschiedene administrative und strukturelle Herausforderungen zu bewältigen: Wie bereits dargestellt kann für die Deichrückverlegung als Pilotvorhaben und Modellprojekt in vielen Detailfragen erst auf wenig Erfahrung aus vergleichbaren Projekten zurückgegriffen werden. Daher ist der WWF bei der Umsetzung der geplanten Maßnahmen jeweils auf die Genehmigung, Kooperationsbereitschaft oder fachliche und praktische Unterstützung durch die zuständigen Behörden (u. a. LHW, Biosphärenreservat Mittelelbe, Umweltamt Dessau) und andere Akteure (Forst, Jäger) angewiesen. Die Vertreterin des WWF beschreibt dies sogar als Bittstellerrolle: „Es ist eben so, ich habe natürlich keinen Stand dahingehend, dass ich irgendwem [gegenüber] weisungsbefugt bin. Es geht wirklich alles nur auf dieser freundschaftlichen Basis ‘Könntest du mal, würdest du bitte?’“ (LöWWF1a). Die Abstimmung mit den zuständigen Ämtern und Behörden wurde zu Projektbeginn von der Vertreterin des Projektträgers WWF als schwierig bezeichnet. Dies hing vor allem mit einer Umstrukturierung innerhalb der Verwaltung und dem Wechsel der Ansprechpartner/innen zusammen. Die Zusammenarbeit verbesserte sich, als der LHW 2004 Vorhabensträger für die Umsetzung der Deichrückverlegung wurde. Neben einer intensiveren Zusammenarbeit profitiert der WWF seither von der Fachkompetenz des LHW und davon, dass dieser in der Öffentlichkeit als kompetenter und glaubwürdiger Partner im Bezug auf Hochwasserschutz wahrgenommen wird. Der LHW profitiert wiederum von den naturschutzfachlichen Kompetenzen des WWF. Die beiden Akteure beschreiben die Zusammenarbeit als erfolgreich. Sie haben beide ein großes Interesse daran, dass das Projekt erfolgreich umgesetzt wird, und stehen in der Aushandlung mit anderen Behörden und Akteuren füreinander ein (LöWWF1b). In den Interviews mit den verschiedenen Akteuren wird deutlich, dass Konflikte zwischen Naturschutz und Hochwasserschutz sowie zwischen Naturschutz und Bevölkerung im Fall der Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst auf einer allgemeinen und abstrakten Ebene kaum lösbar sind. Vorurteile, strategische Argumentation und unterschiedliche Werthaltungen prägen die Auseinandersetzungen, werden jedoch auf allgemeiner Ebene weder benannt, noch entsprechend berücksichtigt. Auf der konkreten Maßnahmenebene gibt es jedoch immer wieder Kompromissmöglichkeiten, die gemeinsam ausgehandelt werden. Kompromisse werden jeweils projektspezifisch getroffen und der Erfolg ist von der Kommunikations- und Kompromissbereitschaft der involvierten Akteure abhängig. Dies drückt die Projektleiterin des WWF folgendermaßen aus:
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel „So richtig lösbar ist es [der Konflikt; S.K.] dann eigentlich gar nicht oder nur in Kompromissen, und die Kompromissbereitschaft muss von beiden Seiten gegeben sein. Das sind immer wieder individuelle Möglichkeiten. Man kann das nicht allgemein sagen: ‘Macht das so.’ (…) Wo man einfach immer im Detail nachsuchen muss: Was kann ich bieten, was kann er [der Landwirt; S.K.] bieten und wo finden wir eine Lösung? Das hängt von den Menschen ab, wie bereit sie sind, da irgendwo etwas zu finden“ (LöWWF1b).
Auf den Aspekt der Notwendigkeit konkreter und individueller Aushandlung von Kompromissen zwischen den einzelnen Personen wird auch in anderen Interviews hingewiesen. So resümiert ein Vertreter des Biosphärenreservats, nachdem er den Aushandlungsprozess über einen möglichst naturverträglichen Ausbau der Deiche beschrieben hat: „Das Ganze hängt ja eigentlich immer nur an Einzelpersonen. (…) In jedem Fall ist das so eine objektkonkrete Herangehensweise, in der Sie jedes Mal wieder mit neuen Leuten zu tun haben“ (LöBR2). Auch der Vertreter des für die Hochwasserschutzplanungen zuständigen LHW hebt die Bedeutung der individuellen Kommunikation hervor: „Ich denke, da haben wir eine ganz gute, auch konstruktive Zusammenarbeit gefunden. Und ich habe auch gemerkt, dass man doch vieles im persönlichen Gespräch viel besser hinbekommt: Dann macht man mal eine Ortsbegehung oder eine kurze Abstimmungsrunde, dann ist vieles einfacher und pragmatischer zu behandeln“ (MmLHW1a).
Kommunikation und Kommunikationsblockaden Bereits zu Projektbeginn hat der Projektträger WWF mit Widerstand aus der Bevölkerung gerechnet und im Projektverlauf Bürgerversammlungen und ein Moderationsverfahren vorgesehen. Schon in den ersten Projektinformationen des WWF zum Naturschutzgroßprojekt wird versucht, einen möglichen Vorwurf der Intransparenz und mangelnden Offenheit des Projektes zu entkräften. Es ist von Konflikten, Problemen, Ängsten, Sorgen und Nöten der örtlichen Bevölkerung die Rede, denen sich der WWF als Projektträger widmen muss (WWF o. J. -b). Die Projektleiterin des WWF beschreibt die Haltung der Bevölkerung zu Projektbeginn rückblickend zwar als kritisch, aber noch nicht stark emotional aufgeladen: „Als ich angefangen habe (…), da haben wir das [Projekt; SK] vorgestellt und da war erst mal so ein bedecktes Verhalten, aber nicht eine Ablehnung in dem Sinne. Man hat gesagt: ‘O. k., wir lassen das erst mal auf uns zukommen’“ (LöWWF1a). Dies veränderte sich durch das Hochwasserereignis im Sommer 2002, bei dem der bisherige, lange Zeit unsanierte Deich im Lödderitzer Forst sich als eine der
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prekären Stellen in der Region erwies und intensiv mit Hilfe von Sandsäcken durch Einsatzkräfte gesichert werden musste. Unmittelbar danach hat sich in Aken eine Bürgerinitiative gegen das Projekt gegründet und auch Bürger/innen sowie Bürgervertreter/innen aus den anliegenden Kommunen waren gegen das Projekt aufgebracht. Die Fronten verhärteten sich und die Kommunikation bekam einen undifferenzierten und emotional aufgeladenen Charakter, wie bereits in einigen Zitaten deutlich wurde. Es kam zu Vorwürfen und Unterstellungen in „billiger Preislage“ und „unterhalb der Gürtellinie“, wie eine Gesprächspartnerin betonte (LöWWF1a). Zwar vertraten nicht alle interviewten Bürger/innen die gleiche Meinung, doch die Befürworter/innen der Deichrückverlegung zogen sich zum Teil aus der öffentlichen Diskussion zurück, wie ein Bewohner einer angrenzenden Ortschaft schildert: „Und diese Diskussion wird sehr, sehr emotional geführt. Und wenn man da anderer Meinung ist, wird es eigentlich schwierig, sich überhaupt noch zu melden, weil man dann zusammengebuttert wird. (...) weil die Emotionalität im Denken und in der Diskussion so stark ist, dass wirklich eine Riesentrennlinie zwischen diesen verschiedenen Meinungen besteht. (...) Und es ist kaum noch möglich, dass man sachlich, fachlich, ruhig und bescheiden über dieses Thema reden kann. Und man will dann auch gar nicht mehr darüber reden“ (LöAN1).
Auch ein Vertreter des Biosphärenreservats erläutert, dass sich die ablehnende Haltung nach dem Hochwasser 2002 verschärft habe: „Komischerweise wird nach dem Hochwasser eine Deichrückverlegung als negativ empfunden, vor dem Hochwasser fand man das gut. Das ist unglaublich, aber gut, da muss man sich mit auseinandersetzen und da arbeiten wir dran“ (LöBR1). Im Vergleich schätzt er die Konflikte zwischen Naturschutz und Bevölkerung größer ein als die zwischen Naturschutz und Hochwasserschutz. Im Lödderitzer Forst würden Konflikte mit der Deichrückverlegung entstehen, weil die Menschen Angst vor dem näher an den Ort verlegten Deich und dem möglichen Drängewasser haben. Er ist der Ansicht, man müsse den Menschen die entsprechenden Gegen- und Schutzmaßnahmen erläutern und Vorteile, wie z. B. die dadurch entstehende örtliche Wasserstandsminderung im Hochwasserfall, viel deutlicher kommunizieren (vgl. LöBR1, auch LöBR2). Die These, dass es sich um eine Kommunikationsblockade handelt, lässt sich auch durch die bereits zitierte Aussage eines betroffenen Anwohners stützen, der moniert, dass den Bürger/innen der Sinn und Zweck des Projektes nicht deutlich genug vermittelt werde (vgl. LöBI3). Ein betroffener Landwirt äußert ebenfalls seine Verunsicherung über die Veränderungen, die durch das Projekt der Deichrückverlegung möglicherweise entstehen:
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel „Aber welche Auswirkungen die Rückverlegung haben wird, das wissen viele nicht. Das ist ein großes Fragezeichen. Und viele empfinden das auch als Bedrohung, sozusagen. Weil, ja, die wissen dann letzten Endes nicht, ob sie weiter so wohnen können wie bisher“ (LöAN1).
Ein Informationsdefizit über die möglichen Folgen der Deichrückverlegung wird also sowohl von der betroffenen Bevölkerung als auch von den Akteuren des Naturschutzes gesehen. Bei der Analyse der Interviews zeigt sich jedoch auch, dass nicht alle Kommunikationsblockaden auf ein Informationsdefizit zurückzuführen sind. Ein Vertreter des Biosphärenreservats ist der Ansicht, dass man einige Gegner/innen des Projektes nicht mit sachlichen Argumenten überzeugen könne: „Wir haben auch jede Menge Veranstaltungen. Wir haben vor, ein bisschen aufzuklären. Aber da habe ich das Gefühl, dass sie es nicht hören wollen, ja, das können wir also tausendmal erzählen: ‘Es wird alles untersucht, die Hochwassersicherheit ist ja auf keinen Fall verschlechtert eher verbessert.’ (...) Da hat man dann wirklich das Gefühl, die wollen das nicht hören, die Leute. (...) Na, dann gibt es natürlich auch Leute, die wirklich mit Absicht dagegen halten, obwohl sie [es] eigentlich besser wissen müssten, weil man fünfmal die Argumente dargelegt [hat]. Da wird eben selbst so ein öffentlich-rechtliches Verfahren, das wirklich nach Rechtsgrundlagen läuft, in Frage gestellt. Ich meine, irgendwann ist man dann einfach mit [den] Argumenten zu Ende“ (LöBR2).
Ein anderer Mitarbeiter der Biosphärenreservatsverwaltung argumentiert ähnlich: „Aber manche Leute wollen es nicht hören, die schießen mit Absicht dagegen“ (LöBR1). Informationen über die Planungen und möglichen Auswirkungen können also helfen Informationsdefizite aufzuklären; allerdings lösen sie keine grundsätzlichen Ziel- und Wertekonflikte (vgl. Kap. 5.3.2, S. 156, 158). Insgesamt stellt eine Vertreterin des WWF fest, dass bereits drei Jahre nach dem Extremereignis die Brisanz der Konflikte mit der Bevölkerung nachlässt (vgl. LöWWF1b). Sie vermutet, dass der abnehmende Widerstand zum einen mit der Informations- und Aufklärungsarbeit zu tun hat (LöWWF1b). In der Zwischenzeit seien verschiedene Bürgerversammlungen, Diskussions- und Informationsveranstaltungen über die Planungen im Projekt und mögliche Auswirkungen durchgeführt worden. Zum anderen erklärt sie sich den abnehmenden Widerstand dadurch, dass den Gegner/innen der „lange Atem“ ausgegangen sei. Sie vermutet, dass die Bevölkerung nicht überzeugt sei, sondern dass mit der Zeit die Brisanz des Themas wieder von anderen Fragen überdeckt worden sei (LöWWF1b). Die Auseinandersetzung sei zwar immer noch kritisch, aber nicht mehr so emotional. Die Kritik und das Interesse der Menschen beschränkten sich
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überwiegend auf die Zugänglichkeit des Gebietes, die Wegeführung und Betretbarkeit sowie die Betroffenheit des eigenen Eigentums. In der Stadt Aken sei der Widerstand allerdings noch aktiver als in den kleineren Gemeinden, da dort die Politik nur ehrenamtlich tätig ist, wohingegen die Politiker/innen in Aken versuchen würden, sich auch auf Landesebene mit ihrer Kritik zu profilieren (vgl. LöWWF1b).109 Synergien und Konfliktlösungen Neben verschiedenen Konfliktlinien haben sich im Projektverlauf auch Lösungsstrategien und Synergien entwickelt, die Kompromisse zwischen verschiedenen Raumnutzungen ermöglichen. Die Akteure bewerten die Potenziale zu Synergien zwischen den Bereichen Naturschutz und Hochwasserschutz allerdings unterschiedlich. Die Projektleiterin des Rückverlegungsprojektes vom WWF resümiert die Potenziale aus ihrer Projekterfahrung im Naturschutz als ambivalent: „Naturschutz (...) ist immer im Brennpunkt. Der Naturschutz ist immer ein Gebiet, wo ich eigentlich sehr viele (...) Kompromisslösungen nur nehmen kann, weil ich überall Brennpunkte habe. Naturschutz und Landwirtschaft – eigentlich kann ich sie verbinden, aber ich kann sie auch nicht verbinden. Und ich denke, das ist natürlich genauso mit dem Hochwasserschutz“ (LöWWF1a).
Sie spricht davon, dass sie, um in den Zielkonflikten Lösungen zu erreichen, auf Kompromisse angewiesen ist, die von den beteiligten Parteien auszuhandeln seien. Anders sieht es ein Vertreter des Biosphärenreservats (vgl. LöBR1). Er erkennt eine grundlegende Synergie zwischen Auenschutz und einem nicht nur sichernden, sondern auch vorsorgenden Hochwasserschutz. Dadurch, dass im Überschwemmungsbereich des Flusses z. B. Retentionsflächen für die Hochwasservorsorge freigehalten werden, stehen diese Flächen anderen Nutzungen nur noch eingeschränkt zur Verfügung. Ähnliches gilt auch für den Naturschutz bzw. die Auenwaldentwicklung. Wird in Gebieten die natürliche Durchnässung gefördert, so ist bei der Begehbarkeit und Zugänglichkeit mit Einschränkungen zu rechnen. Z. B. sind Wege nicht mehr ganzjährig betret- oder befahrbar und es 109 Es zeigte sich auch, dass trotz zahlreicher Informations- und Diskussionsveranstaltungen im formellen Genehmigungsverfahren immer noch 46 Einwendungen von Bürger/innen zur Erörterung eingereicht wurden. Diese enthielten überwiegend Argumente und Fragen, die bereits in den vorangegangenen Informationsveranstaltungen bearbeitet worden waren. Die Information allein war also nicht ausreichend, um Widerstand und Bedenken in der Bevölkerung zu mindern.
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kann für die Bevölkerung sowie für die Forst- oder Landwirtschaft zu Beeinträchtigungen kommen. Dies gilt nicht permanent, sondern nur für Zeiten der Überschwemmung. Nach Ansicht eines Vertreters des Biosphärenreservats reiche dies jedoch aus, um die Flächen für andere Nutzungen, insbesondere die wirtschaftliche Entwicklung, unattraktiv zu machen: „Aber in dem eigentlichen Überschwemmungsgebiet, wo die Elbe ohnehin noch breit laufen kann, da gibt es ja aufgrund des Wasserschutzes so viele Einschränkungen, dass man dort ziemlich viel Spielraum hat. Da geht es uns besser als anderen Schutzgebieten, wo es eben diese objektiven Zwänge nicht gibt. Da, wo das Wasser regelmäßig steht, kann man eben sehr viele Dinge einfach nicht machen. Und das ist mittlerweile auch akzeptiert. Das ist sicherlich ein Vorteil“ (LöBR1).
Aus diesen Einschränkungen der Nutzbarkeit können sich, so resümiert der Vertreter des Biosphärenreservats, Synergien für Hochwasserschutz und Naturschutz ergeben: Flächen der Auenwaldentwicklung können gleichzeitig zu Retentionsflächen für den Hochwasserschutz werden und umgekehrt. Synergien ergeben sich auch durch die Rückverlegung von Deichen, indem in den neuen Überschwemmungsgebieten sowohl Auenwaldrenaturierung stattfinden kann als auch Retentionsflächen mit einer lokalen Wasserspiegelabsenkung entstehen. Sowohl ein Vertreter des Biosphärenreservats als auch ein Interviewpartner des LHW weisen darauf hin, dass gerade der Wiederaufbau nach einem extremen Hochwasserereignis dafür genutzt werden könnte, Fehlplanungen z. B. bei Strömungseigenschaften zu verbessern oder beim Neubau von geschädigten Deichen eine Rückverlegung zu prüfen. Dadurch könnten während der Sanierungsphase neue Retentionsflächen geschaffen werden (vgl. LöBR2, MmLHW1a). Mit zunehmender Priorität des Hochwasserschutzes, beispielsweise durch ein extremes Hochwasserereignis, scheinen die Synergien zwischen Hochwasserschutz und Naturschutz jedoch zunächst für die behördlichen Akteure in den Hintergrund zu treten und die Grenzen zwischen den beiden Bereichen stärker betont zu werden. So werden aus Sicht der Projektleiterin vom WWF Maßnahmen mit potenziellen Synergien zwischen Naturschutz, Auenschutz und Hochwasserschutz, die in vorigen Jahren genutzt wurden, von den Genehmigungsbehörden in den Jahren unmittelbar nach dem Hochwasser 2002 eher einseitig mit Fokus auf die Hochwassersicherheit beurteilt: „Es ist einfach so, dass im Moment Behörden, die Entscheidungsträger für bestimmte Sachen sind, nur sehr einseitig sehen. Jetzt ist es z. B. verboten, dass irgendwelche Anpflanzungen in Flussnähe gemacht werden. Dass aber der Wald vielleicht eine gewisse Speicherfunktion hat, so etwas wird einfach übersehen. (…) Da kom-
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men sofort so knallharte Entscheidungen von irgendwo, sehr einseitig, aus einem Blickwinkel nur betrachtete Entscheidungen“ (LöWWF1a).
Einige Jahre nach dem Hochwasser macht die Gesprächspartnerin jedoch schon wieder eine Veränderung der Haltung der Behörden aus. So trete der LHW, seit er 2004 Vorhabensträger für die Durchführung der Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst geworden ist, deutlich für diese Maßnahme ein. Dies wird auch von der Gesprächspartnerin beim WWF positiv wahrgenommen: „Die [Vertreter des LHW; S.K.] haben [die Aufgabe] schon als solche wahrgenommen und sehen auch, dass man den Naturschutz und technischen Hochwasserschutz irgendwie miteinander verbinden kann“ (LöWWF1b). Schließlich ergeben sich verschiedene finanzielle Synergien. So weist die Vertreterin des WWF darauf hin, dass der Hochwasserschutz auch von den finanziellen Mitteln des Naturschutzgroßprojektes profitiere: „Das ist immer eine zweiseitige Sache. (...) Die Gelder kommen natürlich vom Naturschutz. Und wenn die Rückverlegung nicht käme, würden auch die Gelder nicht fließen. Und im Endeffekt kann man es auch andersherum drehen, kriegt das Land für 15 % der Summe einen neuen Deich. Wenn man es jetzt mal so herum sieht, ist es schon ein Synergieeffekt“ (LöWWF1b).
Eine weitere Synergie zwischen Hochwasserschutz und Naturschutz ergibt sich in der Realisierung von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen durch den Bau von Hochwasserschutzanlagen. Diese werden in Zusammenarbeit zwischen LHW und den Naturschutzakteuren dann beispielsweise in kleinere Projekte der Auenwaldrenaturierungen investiert (vgl. LöWWF1b). Zusammenfassend stellt sich der Veränderungsprozess im Umgang mit Hochwasser am Beispiel der Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst bisher folgendermaßen dar: Bei der Analyse der Zielebene wird deutlich, dass sich die Deichrückverlegung im Spannungsfeld zwischen Auenschutz, Hochwasserschutz und dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung bewegt. In der Konfliktlinie zwischen dem Naturschutzgroßprojekt und dem Hochwasserschutz ist die Frage nach Eingriffen in Natur und Landschaft durch Hochwasserschutzmaßnahmen zentral. Diese haben sich insbesondere nach dem Hochwasserereignis 2002 und den damit verbundenen Sanierungen der schadhaften Deiche sowie aufgrund der Freistellung von Deichsanierungen von der Durchführung wasserrechtlicher Zulassungsverfahren zugespitzt. Gleichzeitig wird sowohl vom WWF als Träger des Naturschutzgroßprojekts als auch vom LHW die Bedeutung der Deichrückverlegung für ein vorsorgendes Hochwassermanagement hervorgehoben. In der Konfliktlinie zwischen der Deichrückverlegung und der Bevölkerung trifft der Projektträger insbesondere seit dem Hochwasser 2002 auf Skepsis und Wider-
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stand von Seiten der Bevölkerung, die sich zum Teil sogar für einen Abbruch des Projektes ausspricht. Auf der strategischen Ebene müssen die Akteure, die an der Deichrückverlegung beteiligt oder von ihr betroffen sind, vor allem mit den bestehenden Unsicherheiten bezüglich des Planungsverlaufs und der möglichen positiven und negativen Auswirkungen umgehen. Dabei wird vor allem auf Expert/innenwissen, wissenschaftliche Modelle und Prognosen gesetzt, was allerdings die Problematik der Unsicherheit nicht vollständig aufzulösen vermag. Auf der Maßnahmenebene wird deutlich, dass sich sowohl die Zielkonflikte als auch die Lösungswege vor allem in der detaillierten und persönlichen Aushandlung zwischen den verschiedenen Akteuren klären lassen. Funktionierende Kooperation und Kommunikation sind wesentliche Grundlagen für die Konfliktlösungen. Diese haben sich nach 2002 insbesondere zwischen den fachlichen Akteuren verbessert. Mängel in der Kommunikation werden besonders in der Interaktion von Bürgervertreter/innen und Projektträger bzw. Naturschutzakteuren beklagt. Die interviewten Naturschutzakteure versuchen dem zu begegnen, indem sie Informationen aufbereiten und bereitstellen und Bürgerversammlungen veranstalten. Sie stellen jedoch auch eine Kommunikationsblockade bei einigen bürgerschaftlichen Akteuren fest, wenn es um die Bereitschaft geht, die Informationen aufzunehmen und konstruktiv zu verhandeln. Synergien und Konfliktlösungen werden vor allem zwischen den Naturschutz- und den Hochwasserschutzakteuren verhandelt. Hier ist eine Veränderung zu beobachten: War die Kooperation und Nutzung von Synergien unmittelbar nach dem Hochwasserereignis noch schwierig, so ist die Zusammenarbeit der Akteure einige Jahre nach der großen Überschwemmung intensiver geworden und wird von beiden Seiten positiv bewertet. Synergien werden insbesondere im Flussgebietsmanagement und in der organisatorischen, fachlichen und finanziellen Kooperation gesehen. 5.3.3 Gesellschaftliche Naturverhältnisse Aufbauend auf der bisher deskriptiv strukturierten Analyse des Falles der Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst wird nun in einem weiteren Interpretationsschritt der Fokus auf die gesellschaftlichen Naturverhältnisse gelegt. Wie wird der Umgang mit Hochwasser als gesellschaftliches Naturverhältnis aus Perspektive der unterschiedlichen Akteure konzipiert und gestaltet? Dafür wird zunächst der Frage nachgegangen, wie die verschiedenen Akteure über Natur bzw. über das Verhältnis von Natur und Gesellschaft sprechen. Hierfür wird das Konzept der Naturbilder und des Schützenswerten verwendet (vgl. Kap. 3.2.2). Daraus lässt sich anschließend das damit verbundene Verhältnis zu Sicherheit und Unsicherheit im Umgang mit Hochwasser analysieren und darstellen.
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In den herausgearbeiteten Konfliktlinien und -lösungen wird bereits deutlich, dass sich die gesellschaftlichen Naturverhältnisse in der Untersuchung des Projektes Lödderitzer Forst als komplex darstellen. Konkretisiert an der Konfliktlinie zwischen Naturschutz und Bevölkerung lassen sich die Perspektiven der Akteure folgendermaßen darstellen: Die Perspektive des Projektträgers WWF bezieht sich sowohl zu Projektbeginn als auch nach dem Hochwasserereignis 2002 vor allem auf Natur als schützenswerte Natur.110 Im Kontext des Projektes Lödderitzer Forst wird diese relativ allgemein und abstrakt mit Adjektiven wie „besonders“, „rein“, „vielfältig“, „ursprünglich“, „einzigartig“, „artenreich“ und „großflächig“ beschrieben.111 Im Zentrum stehen die Auenwälder als schützenswerte Natur, die es zu bewahren oder wiederherzustellen gilt. Der Lödderitzer Forst wird als größter Auenwald Mitteleuropas in seiner Einzigartigkeit als so ‚wertvoll’ verstanden, dass er sich auch im Vergleich zu anderen Nutzungen behaupten kann, wie die Projektleiterin des WWF hervorhebt: „Und wir hier mit unseren größten Auenwäldern Mitteleuropas, mit dieser Artenvielfalt, mit dem Biosphärenreservat und (…) Rote Liste Arten und was alles so eine Rolle spielt, da haben [wir] eigentlich schon so ein Pfund, das man da in die Waagschale werfen kann“ (LöWWF1a).
Die Natur ist aber nicht nur Schutzobjekt, sondern besitzt auch eine aktive Komponente. So heißt es in einer Reportage des WWF über das geplante Projekt: „Die Natur hat es uns an diesen Durchbrüchen schon vorgemacht, durch das freie Spiel der Kräfte entstehen die vielfältigsten Strukturen“ (WWF o. J. -a). Der Fluss soll wieder in den Wald ‚hereingeholt’ werden; ihm soll genug Spielraum gegeben werden, um landschaftsgestaltend zu wirken. Dieser Aspekt der Aktivierung der selbstorganisierenden, strukturbildenden Funktionen der Natur wird ebenfalls von Vertreter/innen des Biosphärenreservats Mittelelbe betont. Natur besitzt in dieser Perspektive zum einen eine dynamische und aktive Rolle, kann dadurch zum anderen aber auch bedrohlich und zerstörend wirken. Daher müsse diese Dynamik begrenzt werden, wenn die Hochwassersituationen zur Gefährdung werden, wie ein Interviewpartner aus der Biosphärenreservatsverwaltung erläutert: „Das ist das Schöne eigentlich bei solchen Landschaften, die dynamisch hier der Kraft des Wassers unterworfen sind. Eigentlich gibt die Natur, gibt der Fluss vor, 110 Zum Konzept des Schützenswerten vgl. Kap. 3.2.2. 111 Die zitierten Textstellen stammen aus einer Analyse von Dokumenten, die der WWF über das Projekt der Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst veröffentlicht hat (WWF o. J. -a; WWF o. J. -b; WWF 2003a; WWF-Auen-Institut 2001; WWF 2005c).
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel welche Natur entsteht. Und eigentlich muss man nur gucken: Wo kann man dieses uneingeschränkt zulassen und wo kann man’s weniger eingeschränkt zulassen. (...) Man muss natürlich irgendwo klare Grenzen [setzen]. Klar, am Deich ist Schluss. Da muss dann die Dynamik aufhören“ (LöBR1).
Der bedrohliche Aspekt des Hochwassers wird also von dem Interviewpartner aus der Biosphärenreservatsverwaltung durchaus gesehen und mit dem Schützenswerten der Flusslandschaft in Beziehung gesetzt. Bedrohliche und schützenswerte Natur schließen sich für den Interviewpartner nicht aus, sondern lassen sich durch das Setzen von Grenzen verbinden. Ein anderer Vertreter des Biosphärenreservats sieht das Flussgebietsmanagement ebenfalls an dieser Schnittstelle zwischen Schützenswertem und Bedrohlichem. Er entwirft ein Leitbild, das er „Landschaftsmanagement“ nennt, in dem die natürlichen Charakteristika der Landschaft und Region – und damit auch die Auenwälder und die natürliche Überflutungsdynamik – gefördert werden und mit anderen Nutzungsstrukturen (z. B. Landwirtschaft oder Siedlungsstrukturen) in Einklang gebracht werden (vgl. LöBR3). Die Biosphärenreservatsverwaltung nimmt dabei die Rolle ein, Ideen zu entwickeln, Projekte anzustoßen und Netzwerke zu organisieren. Dadurch könne die Region durchaus als Vorreiter in der Integration von Auenmanagement und nachhaltiger Regionalentwicklung in Deutschland gelten, wie ein Interviewpartner hervorhebt (vgl. LöBR1, siehe auch Kap. 5.4.3). Die befragten Vertreter/innen der Bevölkerung vermitteln ein anderes Naturbild, wenn sie über den Umgang mit Hochwasser sprechen. Die bedrohlichen, zerstörerischen und Existenzgefährdenden Eigenschaften von Hochwasserereignissen sind für sie von zentraler Bedeutung in der Diskussion um die Deichrückverlegung. Hochwasser wird als „die kritische Welle“ (LöBI1) oder als „Wassergefahr“ (LöBI2) bezeichnet. Aus Sicht der interviewten bürgerschaftlichen Akteure sind Deiche ein geeignetes Mittel, um sich vor der Gefahr zu schützen. Darüber hinaus bedarf es aus der Sicht der Akener Bürgerinitiative einer Steuerung des Hochwassers, anstatt ihm freien, landschaftsgestaltenden Raum zu geben (vgl. LöBI2). Natur darf und muss in den für sie vorgesehenen Bereichen, z. B. festgelegten Überschwemmungsbereichen oder Poldern, bleiben und darf diese nicht verlassen (vgl. ebd.). Auch die Toleranzschwelle der Bürgerinitiative gegenüber anderen natürlichen Prozessen ist gering, wie Aussagen z. B. zur Verbuschung der Deichbereiche im Naturschutzgebiet oder Verbreitung von Bibern, Wildschweinen etc., die sich „über das ihnen zugewiesene Gebiet hinaus vermehrt [haben]“, zeigen („Pegellatte Aken“, Nr. 13, 07.11.2003). Ein Vertreter des Akener Stadtrats sieht das ähnlich und wird in der lokalen Zeitschrift „Pegellatte Aken“ folgendermaßen zitiert:
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„Das Vorkommen von wühlenden Säugetieren, z. B. Wildschwein, Maulwurf, Bisam, Fuchs, Dachs, Nutria und Biber, auf den Deichen hat sich in den letzten Jahren, bedingt durch unterschiedliche Gründe, auch stärkere Restriktion der Bekämpfung, erhöht und teilweise konzentriert. Deichanlagen sind technische Schutzbauwerke und keine Biotope bzw. Lebensräume für wühlende Säugetiere. Eine wirksame Bekämpfung bzw. Vertreibung ist vorzunehmen. Wühltierschäden sind unverzüglich zu beseitigen“ (Stadtrat Aken, Hochwasserresolution, zitiert nach „Pegellatte Aken“, Nr. 13, 07.11.2003).
Auch ein Vertreter der Akener Bürgerinitiative sieht die Freihaltung von Entwässerungsgräben und die Aufrechterhaltung des Deichschutzes von den unter Schutz stehenden Bibern bedroht: „Biber gibt es in der Zwischenzeit an der Elbe so viele. Das ist eine Katastrophe“ (LöBI1). Die Bevölkerung ist jedoch nicht als Gruppe mit einheitlichen Naturverständnissen zu sehen. Das Verhältnis zu Natur bzw. Hochwasser kann durchaus differieren. Ein betroffener Einwohner einer direkt an die Rückverlegung grenzenden Ortschaft ist beispielsweise der Meinung, dass er mit regelmäßigem Hochwasser leben könne. Er sieht in der Rückverlegung den Vorteil, dass ein DIN-gerechter Deich gebaut werde, der für mehr Schutz sorge als der alte Deich, und gleichzeitig Retentionsflächen geschaffen werden, die den Wasserstand senken können: „Ich lebe lieber mit einem Deich, der sicher ist, der dann ein Stückchen näher an meinem Haus dran ist. Und dann habe ich vielleicht mal drei Wochen länger Wasser im Keller, weil der Deich etwas näher dran steht, aber ich stehe nicht zwei Meter hoch unter Wasser. Also ich sage mir, ich nehme dann lieber dieses Übel auf mich, als dass ich dann … (...) Also ich bin so richtiger Ur-Kührener, wir haben immer mit dem Wasser gelebt. (...) wie gesagt, die Keller sind so gebaut, dass eben dann in einigen Wintern die Kartoffeln hochgestellt wurden, dass das Eingeweckte da mal herumschwamm. Das ist gang und gäbe“ (LöAN1).
Ein Landwirt, der in einer Ortschaft wirtschaftet, die direkt an die Deichrückverlegung grenzt, vertritt eine ähnliche Position. Er betont aber auch die Unsicherheit durch die Hochwassergefahr, die für seinen Wirtschaftsbetrieb mit den Auswirkungen der Deichrückverlegung verbunden ist: „Als praktizierender Landwirt sehe ich da schon eine große Unsicherheit, wenn ein Deich zurückgelegt wird und wir müssen da wirtschaften. (...) Wir haben das Hochwasser gesehen. Was das für Naturgewalten letzten Endes sind. (...) Aber wir sehen das eben zwiespältig. Die Schutzbedürftigkeit ist da und ein neuer Deich ist gut, weil das Land Sachsen-Anhalt eigentlich pleite ist. Da ist ein Deichneubau eine ganz große Sache. Aber die Auswirkungen eben, wie wirkt sich das auf das Leben am
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel Fluss direkt aus? (...) Wir wissen eigentlich nicht allzu viel. Wenn man irgendwie nicht weiß, wie sich das auswirken wird, hat man einfach nur Angst davor, oder sagen wir mal so: Befürchtungen, nicht unbedingt Angst. Man ist froh, wenn ein neuer Deich gebaut wird. Aber es ist eben zweischneidig“ (LöAN1) .
Für den Landwirt stellt Sicherheit für seinen Wirtschaftsbetrieb einen zentralen Wert dar. Die von ihm benannten Befürchtungen kommen einerseits durch das Hochwasser zustande, das im Jahr 2002 durch den schlecht instand gehaltenen alten Deich eine akute Bedrohung für seinen Betrieb dargestellt hat. Insofern würde ein neuer DIN-gerechter Deich, der im Rahmen der Deichrückverlegung gebaut würde, einen besseren Schutz bedeuten. Andererseits befürchtet er jedoch negative Auswirkungen durch die Rückverlegung und mögliche Veränderungen des Grundwassers, die die Bewirtschaftung seiner Flächen einschränken könnten. Was lässt sich aus dieser Betrachtung der unterschiedlichen Perspektiven auf die gesellschaftlichen Naturverhältnisse schließen? Es werden grundlegende Unterschiede zwischen den Naturschutzakteuren und der Bevölkerung bezüglich des jeweiligen Naturverständnisses und der Wahrnehmung von Hochwasserereignissen an der Elbe deutlich. Insbesondere die Bedrohung durch Hochwasser und die gewünschte und mögliche Sicherheit wird unterschiedlich eingeschätzt. Konflikte ergeben sich nicht nur aus den unterschiedlichen Zielvorstellungen, gewählten Strategien und Maßnahmen, sondern auch aufgrund der unterschiedlichen Einschätzung von Bedrohung und Schutzwürdigkeit im Zusammenhang mit dem Hochwasser. In der einen Perspektive soll eine wertvolle, aktive und dynamische Natur geschützt und unterstützt werden. In der anderen Perspektive wird natürlichen Zuständen und Prozessen ausdrücklich eine untergeordnete Priorität zugewiesen. Hochwasser und natürliche Prozesse, die mit der Auenentwicklung zusammenhängen, sollten stark reglementiert und nur in dafür vorgesehenen Räumen zugelassen werden. Gleichzeitig wird jedoch deutlich, dass die Bevölkerung keine homogene Gruppe darstellt und durchaus unterschiedliche Naturverständnisse repräsentiert. Die Gegner/innen des Deichrückverlegungsprojektes besitzen jedoch stärkeren politischen und gesellschaftlichen Rückhalt und können sich dadurch wesentlich besser Gehör verschaffen als die Befürworter/innen innerhalb der Bevölkerung. 5.3.4 Lödderitzer Forst: Räumliche Regulation im Wandel Im Folgenden werden in einem weiteren Interpretationsschritt die regulativen Faktoren herausgearbeitet. Sie werden entlang des sozial-ökologischen Raum-
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konzeptes zusammengefasst und systematisiert. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei den Veränderungen seit dem Hochwasserereignis 2002 (vgl. Abb. 17). Kultureller Ausdruck
Deichrückverlegung Lödderitzer Forst
Risikobewusstsein, Sicherheit/Bedrohung
Entscheidungen unter Unsicherheit
„LandschaftsManagement“ Kommunikation, Kooperation, Aushandlung
Die schützenswerte und die bedrohliche Natur Umgang mit Hochwasser Extremereignis 2002
Widerstand der Betroffenen
Politischer Druck
Maßnahmen der Auenrenaturierung Materiale Gestalt
Soziales Handeln
Baulich-technische Schutzmaßnahmen
BNatSchG
Eigentum Normative Regulation
Abbildung 17: Lödderitzer Forst: Räumliche Regulation (eigene Darstellung) Zentrale regulative Faktoren zu Projektbeginn, die raumgestaltend wirkten, sind in der Wechselwirkung zwischen materialer Gestalt und der normativen Regulation zu sehen: Baulich-technische Maßnahmen, insbesondere im Zusammenhang mit dem alten Deich und der geplanten Deichrückverlegung sowie andere Maßnahmen der Auenrenaturierung prägen das Projekt im Lödderitzer Forst. Durch gezielte Eingriffe in die materiale Raumstruktur wird die Gestalt des Lödderitzer Forstes verändert, um im Rahmen des Naturschutzgroßprojektes einen Wiederanschluss bestehender Auenwälder an die Flussdynamik zu erreichen. Neben diesen gezielt initiierten Maßnahmen strukturieren zwei Faktoren aus dem Bereich der normativen Regulation von Anfang an maßgeblich die Raumgestalt:
die bereits bestehenden gesetzlichen Schutzbestimmungen zum Naturschutzgebiet „Steckby-Lödderitzer Forst“ und Biosphärenreservat Mittelelbe, die die Gestaltung und Nutzung des Raumes reglementieren;
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel die Eigentumsverhältnisse, die nach erfolgter Übertragung der Flächen im Projektgebiet an den WWF die Umsetzung der geplanten Renaturierungsmaßnahmen ermöglichten.
Der WWF war als Projektträger zentraler Akteur, der insbesondere mit behördlichen Akteuren in Verhandlung stand und für die Umsetzung zuständig war. Die kulturelle und symbolische Gestalt des Lödderitzer Forstes war vornehmlich durch die schützenswerte Natur geprägt. Das Hochwasserereignis vom Sommer 2002 löste in der räumlichen Regulation des Lödderitzer Forstes grundlegende Veränderungen aus. Die Forderung „Mehr Raum für den Fluss“ dominierte den öffentlichen Diskurs um Hochwasserschutz, schon bevor das Hochwasser an der Mittleren Elbe vollständig abgeflossen war. Das Konzept eines nachhaltigen und vorsorgenden Hochwassermanagements gewann in der allgemeinen öffentlichen und politischen Diskussion über den Umgang mit Hochwasser an Bedeutung. Damit rückten Projekte wie das Naturschutzgroßprojekt „Mittlere Elbe“, das im Zuge der Deichrückverlegung Retentionsflächen in größerem Maßstab schafft, in die öffentliche Aufmerksamkeit. Den zuständigen Behörden, dem MLU und dem LHW, wurde in Zusammenhang mit der gestiegenen Aufmerksamkeit für vorbeugende Maßnahmen von verschiedenen Seiten vorgeworfen, in der Vergangenheit zu stark auf technischen Hochwasserschutz und zu wenig auf die Schaffung von Retentionsflächen gesetzt zu haben. Der politische Druck auf die Behörden des Landes verstärkte sich gleichzeitig durch Vorwürfe, die eine mangelnde Instandhaltung und Sanierung der ‚maroden’ Deichanlagen beklagten. Das Extremereignis des Sommers 2002 und das darauf folgende starke Hochwasser im Winter 2002/2003 führte dazu, dass bei allen Akteuren – den Behörden, Naturschutzverbänden und Anwohner/innen – die Wahrnehmung und das Bewusstsein für das Hochwasserrisiko stark anstiegen. Der daraus resultierende Handlungsdruck führte zu zwei gegenläufigen Reaktionen bei den zuständigen Fachbehörden:
Einerseits wurde das Projekt durch die Behörden nach 2002 als Beispiel für einen vorsorgenden Umgang mit Hochwasser stärker unterstützt. Die Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst wurde damit zu einem Vorzeigeprojekt für das MLU und den LHW im Land Sachsen-Anhalt. Sie galten sowohl als Beispiel dafür, dass durchaus etwas in Richtung eines vorsorgenden Hochwassermanagements getan werde, als auch als Objekt medialen, wissenschaftlichen und planerischen Interesses, wie solche Vorhaben initiiert, geplant und umgesetzt werden können. Die Vertreterin des WWF bezeichnete in diesem Sinne die Deichrückverlegung als „gefundenes Fres-
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sen“ (LöWWF1a) für die Akteure des Hochwasserschutzes. Diese Entwicklung führte auch dazu, dass das Land Sachsen-Anhalt und der LHW seither als Fürsprecher für das Projekt auftreten und dem WWF als wichtige Partner in der Realisierung des Projektes auch gegen den Widerstand lokaler Akteure zur Seite stehen. Nicht nur bei den Behörden, auch beim WWF verschob sich nach dem Hochwasser 2002 der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit zugunsten des Hochwasserschutzes. Wurden vor dem Hochwasserereignis in Projektbeschreibungen und Jahresberichten des WWF ausschließlich Ziele des Natur- und Auenschutzes mit dem Projekt in Verbindung gebracht, so wird nach 2002 das Naturschutzgroßprojekt explizit als Modellprojekt für einen alternativen, nachhaltigen Hochwasserschutz bezeichnet. Andererseits sehen sich die Behörden durch die zunehmende Aufmerksamkeit seit 2002 unter genauer Beobachtung durch eine kritische Öffentlichkeit und agieren in Entscheidungen mit potenzieller Hochwasserrelevanz sehr viel vorsichtiger als zuvor. Das Hochwasserereignis von 2002 hat die Gefährdung und die Verwundbarkeit der Region durch Überschwemmungen gezeigt und das Risikobewusstsein der verschiedenen Akteure verstärkt.112 Für das Naturschutzgroßprojekt bedeutet diese Entwicklung, dass die Genehmigungsverfahren für die geplanten Maßnahmen sehr viel kritischer geprüft werden und sich dadurch wesentlich in die Länge ziehen. Auch auf Seiten der bürgerschaftlichen Akteure verstärkte sich nach dem Hochwasserereignis 2002 eine kritische Beobachtung des Projektes. Es formierte sich Widerstand bei politischen Vertreter/innen und in Aken wurde eine Bürgerinitiative gegründet. Der Wandel von verhaltener Kritik zu vehementem Widerspruch insbesondere gegen die Deichrückverlegung hängt vermutlich auch mit der prekären Situation entlang des alten Deiches im Lödderitzer Forst während des Hochwasserereignisses zusammen, der nur aufgrund einer intensiven Deichverteidigung unbeschadet blieb.
Vor dem Hintergrund dieser gegenläufigen Konsequenzen der gestiegenen Aufmerksamkeit lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die beiden Bereiche Naturschutz und Hochwasserschutz, die im Falle der Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst vor dem Hochwasser 2002 weitgehend getrennt verhandelt wurden, inzwischen als zwei sich gegenseitig beeinflussende Bereiche wahrgenommen werden, die es aufeinander abzustimmen gilt. Die Analyse der Kommunikationsstrukturen macht deutlich, dass daraus ein erhöhter Bedarf an Information, Kommunikation und Aushandlung entsteht. Im Falle des Lödderitzer 112 Vergleichbare Entwicklungen des Risikobewusstseins nach Extremereignissen sind auch an anderen Flüssen zu beobachten (vgl. u. a. Kruse 2008a; Wagner 2004).
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
Forstes wird insbesondere der Konflikt zwischen dem Deichrückverlegungsprojekt und der örtlichen Bevölkerung von den Akteuren des Naturschutzes bearbeitet. Sie setzten mit den Kommunikationsmaßnahmen vor allem bei der Information und Aufklärung der Bevölkerung an. Die Naturschutzakteure vertreten die Position, dass der Bevölkerung die richtigen Argumente nähergebracht und Fehlschlüsse aufgeklärt werden müssten, um Akzeptanz zu erreichen. So würde z. B. der neue, zurückverlegte Deich, der näher an der Ortschaft liegt, nicht nur mehr Schutz, sondern auch eine Wasserstandsreduktion im Hochwasserfall sowie touristische Vorteile mit sich bringen. Gleichzeitig wird aber von verschiedenen Akteuren im Naturschutz bekräftigt, dass Information und Wissensvermittlung nur dann erfolgversprechend seien, wenn die Bevölkerung offen ist und sich nicht strategisch gegen dass Projekt positioniert oder mit Absicht „dagegen schießt, (…) obwohl sie [es] eigentlich besser wissen müssten“ (vgl. LöBR2).113 Die befragten bürgerschaftlichen Akteure wiederum verlangen eine offene und ehrliche Kommunikation und Kooperation. Die Bürgerinitiative bietet außerdem ihre Zusammenarbeit und Mithilfe bei der Gewässerinspektion sowie Grundwassermessung an und verweist auf ihre fundierte Ortskenntnis. Bisher fühlt sie sich als Verhandlungspartnerin nicht ernst genommen (vgl. LöBI2). Vertreter/innen des Biosphärenreservats sehen das „Landschaftsmanagement“ als Handlungsfeld, in dem die Synergien zwischen Naturschutz und Hochwasserschutz verhandelt und realisiert werden können (vgl. Kap. 5.3.3, S. 168). Dabei geht es im Falle des Lödderitzer Forstes darum, landschaftsbildende Prozesse des Flusses und der Aue zu reaktivieren und sowohl für eine Erhöhung der Retention als auch für eine Renaturierung des Auenökosystems zu nutzen. Dies setze ein funktionierendes Netzwerk zwischen den Akteuren des Naturschutzes, der Wasserwirtschaftsverwaltung und der Landespolitik voraus, auf das auch nach Extremereignissen aufgebaut werden könne (vgl. LöBR1). In diesem Sinne könne die Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst ein Modell dafür sein, wie eine Rückverlegung sowohl Naturschutzprojekt als auch Teil einer Hochwasserschutzstrategie sein kann. Diese Synergien werden auch vom LHW als umsetzende Behörde wahrgenommen. Neben Deichrückverlegungen realisieren sie auch im Rahmen von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen bei der Sanierung und dem Neubau von Deichen Naturschutzaspekte im Hochwasserschutz.
113 Die Haltung, die richtigen Informationen würden die Konflikte lösen, ist kritisch zu beurteilen, da sie die den Konflikten zugrunde liegenden unterschiedlichen Werte und Interessen ausblendet.
5.4 Lokale Betroffenheit und bürgerschaftliches Engagement
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5.4 Lokale Betroffenheit und bürgerschaftliches Engagement in DessauWaldersee Mit der dritten Fallstudie wird ein Ortsteil von Dessau in den Blick genommen, der 2002 stark von Hochwasser betroffen war. Damit steht die Perspektive der Betroffenen im Zentrum. Es wird untersucht, wie die Bevölkerung auf Hochwasser reagiert und wie sich diese Reaktionen verändert haben. Zentrale Fragen für diese Fallstudie sind daher, welche Ziele, Strategien und Maßnahmen die Bevölkerung für wünschenswert hält und worin aus ihrer Perspektive die Probleme im Umgang mit Hochwasser liegen. Damit verbunden ist auch die Frage, wer aus Sicht der Bevölkerung für den Umgang mit Hochwasser bzw. für die Erreichung der Ziele zuständig ist und wer Handlungsspielräume besitzt. Anschließend wird untersucht, welche gesellschaftlichen Naturverhältnisse sich in diesem Umgang mit Hochwasser ausdrücken und welche Faktoren den Umgang mit Hochwasser in Dessau-Waldersee regulieren. 5.4.1 Hochwasser in Dessau-Waldersee Waldersee ist ein Ortsteil der Stadt Dessau-Roßlau und liegt unmittelbar im Mündungsbereich der Mulde, einem Nebenfluss der Elbe. Der Ortsteil zählt ca. 2600 Einwohner/innen.114 Von der Innenstadt Dessaus ist Waldersee durch die Mulde getrennt, mehrere Brücken verbinden den Ortsteil mit dem Innenstadtbereich. Im Norden grenzt der Ort an die Schlossanlage des Luisiums, das Teil des Dessau-Wörlitzer Gartenreiches ist und damit unter UNESCO-Weltkulturerbe steht. Waldersee befindet sich im Überschwemmungsgebiet von Elbe und Mulde und ist von einem Ringdeich umgeben. Teile des Ringdeiches zwischen dem Ortsteil und dem Schloss Luisium gehören zur Schlossanlage und stehen somit unter Denkmalschutz. Im Sommer 2002 wurde die Stadt Dessau durch das ansteigende Wasser der Mulde und der Elbe akut bedroht. Am 13.08.2002 wurde in Dessau Katastrophenalarm ausgerufen und für zwei Ortsteile, einer davon Waldersee, die Evakuierung angeordnet. Einen Tag später erreichte die Flutwelle der Mulde Dessau mit einem Stand von 625 cm am Pegel Muldebrücke (Normalpegel ca. 150 cm). Die Elbe erreichte ihren höchsten Wasserstand am 18.08.2002 mit 674 cm115 am Pegel Roßlau (vgl. Schulze, Schlegel, Noack 2008, 94). Während der Stadtkern 114 Die Bevölkerungszahl variierte in den letzten 15 Jahren von ca. 2600 (1993 und 2008) bis ca. 2822 (1998) Einwohner/innen, vgl. www.dessau.de (Zugriff: 30.10.2008). 115 Bei Helbig (2003) ist von einem Elbehöchststand von 716 cm zu lesen (Normalpegel ca. 250 cm).
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Dessaus trotz der angespannten Lage an den Deichen überwiegend trocken blieb, kam es am 18.08.2002 auf etwa 70 Metern zu einem Deichbruch am Schwedenwall (Süd), sodass fast der gesamte Ortsteil Waldersee mit ca. 1000 Haushalten überschwemmt wurde (vgl. Schulze, Schlegel, Noack 2008, 95; Helbig 2003, 69 ff.). Das Wasser stand stellenweise bis zu zwei Meter hoch. Fast alle Häuser waren direkt von dem Hochwasser betroffen. Es entstanden Schäden an Gebäuden und Infrastruktur in Höhe von ca. 140 Millionen Euro. Damit ist das Hochwasserereignis von 2002 eines der einschneidendsten in der Geschichte Waldersees. Überschwemmungen sind in der Geschichte des Ortes nichts Ungewöhnliches (vgl. Helbig 2003, 13 ff.). Seit der ersten urkundlichen Erwähnung der Orte Naundorf und Jonitz, die später zu Waldersee zusammengelegt wurden, im 12. Jahrhundert waren sie regelmäßig von Hochwasser betroffen. Bereits im Mittelalter wurden in der Region zum Schutz von Ackerland vereinzelt Verwallungen errichtet. Auch der Bau von ringförmigen Wällen in der Muldeaue kann für diesen Zeitraum bereits nachgewiesen werden (vgl. Schulze, Schlegel, Noack 2008, 92). Erste zusammenhängende Deichlinien mit strategischer Bedeutung wurden jedoch erst im 18. Jahrhundert errichtet. Ziel war insbesondere, die sich in die Überschwemmungsbereiche ausdehnenden Siedlungsgebiete und landwirtschaftlich genutzten Flächen zu schützen. Einer der ersten Hochwasserschutzdeiche aus dieser Zeit ist der bis heute bestehende Schwedendeich, den Fürst Leopold von Anhalt-Dessau 1707 errichten ließ und der auch heute noch eine zentrale Rolle im Deichschutz von Waldersee spielt. 1771 erreichte ein starkes Sommerhochwasser von Mulde und Elbe die Region Mulde-Mündung und führte zur Überschwemmung großer Teile von Jonitz sowie der neu errichteten Gartenanlagen des Fürsten Franz im nahe gelegenen Wörlitz. Daraufhin wurden die Deichanlagen erhöht und ausgebaut. Das Schloss Luisium, als Landhaus für die Frau des Fürsten gebaut, und die dazugehörigen Parkanlagen wurden mit einem Ringdeich umgeben. Die in dieser Zeit geschaffenen Deichsysteme bestehen in ihren Grundzügen bis heute (vgl. ebd.). In den 1930er Jahren wurden unter dem Namen Waldersee die beiden bis dahin unabhängigen Orte Jonitz und Naundorf zusammengefasst. Sie zählten zu diesem Zeitpunkt ca. 2250 Einwohner/innen. Bei Kriegsende lebten dort nur noch ca. 700 Ortsansässige, es zogen jedoch zahlreiche aus Dessau evakuierte Bewohner/innen zu. 1945 wurde Waldersee nach Dessau eingemeindet und wird seither von einem eigenständigen Ortschaftsrat und Ortsbürgermeister politisch vertreten. 1954 bedrohte ein weiteres extremes Hochwasserereignis von Mulde und Elbe die Dämme von Waldersee und die Einwohner/innen mussten evakuiert werden. Trotz eines Elbepegels von 601 cm und eines Muldepegels von 584 cm gelang es durch die intensive Deichverteidigung, die Dämme zu halten.
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Die Wasserstände des Hochwasserereignisses im Sommer 2002 übertrafen die Extremereignisse der vergangenen Jahrhunderte allerdings erheblich. Nach der Überschwemmung Waldersees musste ein großer Teil der Häuser sowie der örtlichen Infrastruktur saniert werden. Seither engagieren sich viele Bürger/innen Waldersees für die Belange des Hochwasserschutzes. Insbesondere die politischen Vertreter/innen Waldersees im Ortschaftsrat bzw. im Stadtrat sowie eine Interessengemeinschaft, die sich nach 2002 in Dessau gegründet hat, nahmen nach dem Extremhochwasser an den öffentlichen und politischen Diskussionen über die Gestaltung des Hochwasserschutzes teil. 5.4.2 Ziele, Strategien, Maßnahmen „Das darf in Zukunft nicht mehr passieren“ (WaBI1a). Dieses Zitat drückt das Hauptanliegen der Bevölkerung Waldersees aus und bezieht sich in Gesprächen mit der Bevölkerung immer wieder auf verschiedene Aspekte des Hochwasserereignisses von 2002, z. B. auf die mangelnde Koordination der Katastrophenhelfer/innen, die „maroden“ Deiche oder die Nachlässigkeit bei der Deichpflege (WaOB1a). Das Hochwasserereignis von 2002 hat den Ortsteil Waldersee so grundlegend getroffen, wie es niemand dort erwartet hatte. Im Zuge des Wiederaufbaus initiierten die Bewohner/innen Waldersees zahlreiche Aktivitäten und Diskussionen über die zukünftige Gestaltung des Hochwasserschutzes in ihrem Ortsteil. Im Folgenden werden die zentralen Ziele, Strategien und Maßnahmen aus Sicht der Bevölkerung herausgearbeitet und durch die Vorstellungen über Zuständigkeiten und Handlungsspielräume ergänzt. Zielebene: Sicherheit und „relativer Schutz“ Seit dem Hochwasserereignis 2002 ist Hochwasser und der Schutz vor Hochwasser ein nicht mehr wegzudenkendes Thema in Waldersee. Zentrales Ziel der Auseinandersetzung ist, den Schutz vor Hochwasser in Waldersee wiederherzustellen und langfristig zu erhalten. Sicherheit wird als zentrale Norm in der Aushandlung des Umgangs mit Hochwasser formuliert. Der Schutz der Bevölkerung und deren ‚Hab und Gut’ hat Vorrang gegenüber anderen gesellschaftlichen Anliegen. Der Ortsbürgermeister von Waldersee beispielsweise fordert eindeutige Priorität für den Hochwasserschutz: „Man muss einfach Prioritäten setzen. Und an der Stelle, wo der Hochwasserschutz für die Menschen da ist, hat der Hochwasserschutz die Priorität“ (WaOB1a).
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Dies gilt insbesondere in Raumnutzungskonflikten, die in Waldersee vor allem bei der Sanierung der beschädigten oder veralteten Deiche zwischen Hochwasserschutz und Denkmalschutz sowie Hochwasserschutz und Naturschutz auftreten. Da die Deiche schon sehr lange in die im 18. Jahrhundert gestaltete Landschaft des Dessau-Wörlitzer Gartenreichs integriert sind, haben sie inzwischen nicht nur als Schutzanlage, sondern auch als kulturhistorisches Landschaftselement gesellschaftliche Bedeutung. Darüber hinaus liegen die Deichbereiche zu großen Teilen im Gebiet des Biosphärenreservats Mittelelbe. Der Ortsbürgermeister positioniert sich in dieser Auseinandersetzung klar für den Schutzzweck der Deiche: „Wir haben ja auf der einen Seite den Konflikt mit den Umweltschützern, die meinen, die Deiche müssen aus biologischen Gründen geschützt werden, und [auf der anderen Seite mit, S.K.] den Denkmalschützern, die meinen, die Deiche um Waldersee herum sind Denkmale, weil sie so alt sind. Das ist beides schlichtweg falsch. Das kann doch nicht sein. Ein Deich ist eine technische Hochwasserschutzanlage, um Mensch, Hab und Gut und Tiere zu schützen, und nichts anderes. (...) Und diesen Zweck muss er erfüllen und dafür muss er auch ständig ertüchtigt werden“ (WaOB1a).
Mit dem letzten Satz des Zitates ist die Deichpflege als ein weiterer Aspekt des Hochwasserschutzes angesprochen, der für die Bevölkerung besonders wichtig ist. Aufgabe der für Hochwasserschutz Zuständigen sei es, nicht nur Deiche als Schutzanlagen nach dem Stand der Technik zu errichten, sondern sie auch kontinuierlich instand zu halten und zu pflegen. Ein ungepflegter Deich, bei dem beispielsweise die Grasnarbe nicht intakt ist oder Bäume und Sträucher die Deichschichten durchwurzeln, kann bei Hochwasser leichter beschädigt werden und im schlimmsten Fall brechen. Doch dieser Deichpflege wurde aus Sicht der Bevölkerung nicht nur in den vergangenen Jahrzehnten, sondern auch nach dem Hochwasserereignis 2002 zu wenig Beachtung geschenkt. Dazu führt der Ortsbürgermeister von Waldersee weiter aus: „Es wird ja nichts gemacht. Die Deiche wurden unter [der rot-grünen Landesregierung] nicht einmal regelmäßig gemäht. Weil man plötzlich der Ansicht war, diese Deiche sind Biotope. Da halten sich ein Haufen Tiere auf und da wachsen Pflanzen, die geschützt werden müssen. Und genau das ist tödlich für die Menschen, die dahinter wohnen. Weil so ein Deich eine technische Hochwasserschutzanlage ist und kein Biotop und auch kein Denkmal. (...) Sondern das ist ein technisches Hochwasserschutzgebilde, eine Hochwasserschutzanlage, die den heutigen und auch den künftigen technischen Erfordernissen gerecht werden muss“ (WaOB1a).
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Die Deichsicherheit ist also aus Sicht der Bevölkerung vor allem durch zwei Situationen gefährdet: einerseits durch mangelhafte Sanierung nach dem Extremhochwasser 2002 sowie ausbleibende regelmäßige Pflege und Instandhaltung der Deiche; und andererseits durch die Nutzungs- und Gestaltungsansprüche von Seiten des Denkmalschutzes und Naturschutzes, die sich sowohl gegen einen grundsätzlichen Ausbau der Deiche als auch gegen die regelmäßige Pflege richteten (vgl. auch WaSR1). Ein weiteres Anliegen der Bevölkerung ist, die Geschehnisse in der Extremsituation von 2002 aufzuarbeiten und auszuwerten (vgl. WaSR1, 24; WaBI1a; WaOB1a). Ziel sei es dabei, nicht Vorwürfe und Schuldzuweisungen zu erheben, sondern Verbesserungen im Hochwasser- und Katastrophenschutz zu erlangen, wie der Ortsbürgermeister von Waldersees betont: „Wir haben bei dieser Auswertung gesagt: Wir wollen keine dreckige Wäsche waschen. Es sind viele menschliche Fehler gemacht worden, weil niemand auf die Katastrophe richtig vorbereitet war. Jetzt wissen wir, was alles schief gelaufen ist. Wir wollen das objektiv auswerten, wollen sehen, dass die entsprechenden Strukturen im Katastrophenschutz in der Stadt in Ordnung kommen, (...) dass die Grundlagen dafür ordentlich geschaffen werden und auch gepflegt werden“ (WaOB1a).
Allerdings geht es dem Befragten auch darum, die Verantwortungen und Zuständigkeiten in solchen Katastrophensituationen zu klären, was in der Aufarbeitung der Geschehnisse nicht frei von Vorwürfen abläuft (vgl. auch WaBI1a, ausführlich Kap. 5.4.2, S. 186). Dies wird beispielsweise in folgendem Zitat eines Vertreters von Waldersee deutlich: „Die Stadtverwaltung hat während der Katastrophe und auch ein Stück danach ihre Verantwortung nicht wahrgenommen. Die haben es einfach nicht begriffen, nicht begreifen wollen. Das hat eine ganze Weile gedauert, bis wir ihnen das klar gemacht haben, dass das eigentlich alles ihre Verantwortung ist“ (WaOB1a).
Die Interviews zeigen jedoch auch, dass die Gesprächspartner/innen sich ebenfalls mit den Realisierungsmöglichkeiten ihrer Forderung nach Sicherheit auseinandersetzen und dabei Grenzen des technischen Hochwasserschutzes erkennen und benennen. Der Ortsbürgermeister Waldersees spricht z. B. von einem „relativen Schutz“: „Einen absoluten Schutz gegen Naturkatastrophen werden sie nie haben, das sage ich den Menschen hier auch immer wieder. Es gibt nur einen relativen Schutz, deshalb muss man sehen, dass man jetzt auch nicht einseitig Deiche macht“ (WaOB1a). Durch die Anerkennung dieses „relativen Schutzes“ wird den Unsicherheiten in der Berechnung und Beherrschung von Hochwasserereignissen Rechnung
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getragen und der Sicherheitsanspruch relativiert. Insbesondere die Schutzpotenziale des Deichschutzes, der für die Bevölkerung Waldersees eigentlich eine hohe Priorität gegenüber anderen Schutzmaßnahmen und Nutzungsformen besitzt, werden relativiert. Allerdings wird vom selben Interviewpartner später diese Erkenntnis zumindest teilweise wieder zurückgenommen: „Man kann, wie gesagt, [die Deiche] ja nicht beliebig erhöhen. Aber ich sage mal, mir wäre es schon lieber gewesen, sie hätten sie wenigstens einen halben Meter höher gebaut“ (WaOB1a). Auch eine Vertreterin der Interessengemeinschaft Hochwasserschutz drückt diese Ambivalenz aus. Sie spricht ebenfalls von Grenzen der Sicherheit, ist jedoch gleichzeitig der Meinung, dass im technischen Hochwasserschutz immer die Möglichkeit bestehe, doch Sicherheit zu erreichen: „Dass wir nie einen völlig hundertprozentigen Schutz hinkriegen, ist mir völlig klar. Deswegen muss man aber jetzt sehen, dass man mit dem, was man erreichen kann, auch versucht, es zu erreichen. (...) Es gibt im technischen Bereich immer Möglichkeiten, den Hochwasserschutz trotzdem hinzubekommen“ (WaBI1a).
Anhand dieser Interviewausschnitte wird deutlich, dass zwar einerseits von der Bevölkerung erkannt wird, dass auch technische Schutzanlagen keine vollständige Sicherheit gewährleisten können. Andererseits wird dennoch vor allem für technische Lösungen und die Erhöhung des Schutzniveaus der Deiche plädiert. Das Vertrauen in den technischen Deichschutz ist trotz der Überschwemmung von 2002 nach wie vor sehr hoch, auch wenn erkannt wird, dass er keinen absoluten Schutz liefern kann. Ein Interviewpartner aus dem Landesbetrieb für Hochwasserschutz, der für die Sanierung der beschädigten Deiche in Waldersee zuständig ist, führt diesen Gedanken der „relativen Sicherheit“ noch weiter aus. Er reflektiert über zukünftige Entwicklungen, die seiner Meinung nach derzeit noch gar nicht antizipiert werden können, und spielt damit, wenn auch nicht explizit, auf den Klimawandel an: „Die großen Hochwasser in Dessau ’54, ’74, 2002, also dass so alle dreißig Jahre doch immer mal ein extremeres Hochwasser hier aufgetreten ist, belegt, dass wir natürlich auch keinen hundertprozentigen Schutz nur durch technische Maßnahmen bieten können. Das hört man nicht gerne, aber es ist letztendlich in der Tat so, dass man ja auch immer wieder davon ausgehen muss, dass künftig, wann auch immer, das ist sehr hypothetisch, größere Hochwasser kommen, die auch das ganze Deichsystem in Frage stellen könnten. Dann müssten sicherlich auch ganz andere Konzepte greifen, perspektivisch“ (MmLHW1a).
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Solche nicht nur in ihrem Ausmaß mit hohen Unsicherheiten belegten, sondern heute noch gar nicht vorstellbaren Entwicklungen stellen aus seiner Sicht die Schutzkonzepte des deichbasierten Hochwasserschutzes grundsätzlich in Frage. Strategieebene: „ein Komplex an Maßnahmen“, Ambivalenzen in der Umsetzungsstrategie und eine aktive Erinnerungskultur In strategischer Hinsicht wird dem Risiko der Überschwemmung, den Problemen von Berechenbarkeit, Prognose und Unsicherheit sowie den erkannten Grenzen des technischen Deichschutzes in der Form begegnet, dass sowohl Vertreter/innen der Bevölkerung Waldersees als auch des LHW fordern, dass „ein Komplex an Maßnahmen“ (WaOB1a) oder „ein ganzes Paket an Maßnahmen“ (MmLHW1a) umgesetzt werden soll. Darunter verstehen die Befragten unterschiedliche Strategien eines integrierten Hochwassermanagements, die Sicherung, Anpassung und Vorsorge verbinden sollen: die Sanierung und der Neubau von DIN-gerechten Deichen, die Schaffung und Wiederherstellung von Retentionsflächen durch Deichrückverlegungen und Polder, Aufforstung der Waldgebiete in den Hochwasserentstehungsgebieten, die bauliche Anpassung der Siedlungsgebiete an wiederkehrende Überschwemmungen und die Verbesserung des operativen Katastrophenschutzes (vgl. WaOB1a, WaOB1b, WaSR1, WaBI1a, WaBI1b, MmLHW1a). Mit diesen sowohl kurzfristig sichernden und als auch langfristig vorsorgenden Maßnahmen soll den Grenzen des technischen Hochwasserschutzes Rechnung getragen werden. Bei der Frage, wie dieser „Komplex an Maßnahmen“ und die geforderte Verbesserung der Deichsicherheit und des Schutzes vor Überschwemmung realisiert werden soll, positionieren sich die befragten Vertreter/innen aus der Bevölkerung allerdings ambivalent. Zwar soll der Hochwasserschutz absolute Priorität vor anderen Raumnutzungen erhalten und die beschädigten und „maroden“ Deichabschnitte möglichst schnell saniert und gegebenenfalls neu gebaut werden (vgl. WaOB1a, WaBI1a, WaSR1). Andererseits sollen die Deiche aber auch nicht näher an den Ort gelegt werden, weil das zu Problemen mit ansteigendem Grundwasser führen könnte, wie der Ortsbürgermeister Waldersees erklärt: „Der Hochwasserschutz muss einfach für den Ort den Vorrang haben. Man kann aber andererseits die Deiche nicht so nahe an den Ort ranlegen. Da gibt es wieder andere Interessenkonflikte mit Kleingärtnern. Je näher Sie den Deich an den Ort ranlegen, desto schlimmer wird auch die Einwirkung des Grundwassers. Sie haben dann in den Häusern nicht nur die Hochwassergefahr, sondern wenn das Hochwasser eine Weile ansteht, drückt auch das Grundwasser von unten in die Häuser. Umso näher der Deich dran ist, desto schneller passiert so was und desto heftiger. Und das kann man den Menschen auch nicht zumuten. Das geht nicht“ (WaOB1a).
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Aus dieser Argumentation heraus werden dann auch Lösungen für die Deichführung befürwortet, die wasserwirtschaftlich gesehen suboptimal sind. Der Vertreter des LHW führt dazu aus: „Wir hätten da eine Lösung parat gehabt, auf 200 Metern Länge nur, wo acht Kleingärten hätten aufgegeben werden müssen. Da gab es vehemente Proteste seitens des Verbands der Kleingärtner, auch der Stadt Dessau, obwohl eigentlich die Tendenz des Interesses an Kleingärten rückläufig ist [und] sehr viel leer stand (...). Das sehe ich schon regelrecht als Blockade an. Und da mussten wir uns mächtig bewegen, um letztendlich eine Lösung hinzubekommen. Sicherlich war ein Entgegenkommen von deren Seite da, aber: ‘Fünf Meter, mehr kriegt ihr von den Gärten nicht.’ Und das hat die Kosten für diesen Bauabschnitt letztendlich verdreifacht“ (MmLHW1a).
Eine ähnlich ambivalente Haltung wird von der Bevölkerung Waldersees vertreten, wenn es um zusätzliche Retentionsflächen geht, um den Wasserstand im Hochwasserfall zu senken. Auch hier vertreten die befragten Bürger/innen die Meinung, dass Retentionsmaßnahmen durchaus zentral für den Hochwasserschutz in Waldersee sind. Sie müssten jedoch vor allem im Oberlauf durchgeführt werden. In Dessau selber sei ja schon viel gemacht worden und keine weitere Möglichkeit für Retentionsräume vorhanden (vgl. WaOB1a, WaSR1, WaBI1b). Eine Vertreterin der Interessengemeinschaft führt aus: „Sicherlich kann man hier im Dessauer Bereich nicht groß von Deichrückverlegungen sprechen, das ist ja weiter elbauf oder elbab zu machen“ (WaBI1b). Nicht in räumlicher, sondern in zeitlicher Hinsicht wird diese Strategie der Verlagerung auch in der Forderung ausgedrückt, dass durchaus Elemente eines integrierten Hochwasserschutzes realisiert werden sollten, den Maßnahmen, z. B. zusätzliche Retention, Aufforstung im Oberlauf etc., jedoch keine zeitliche Priorität eingeräumt wird. Vielmehr sei dies eine Strategie, die langfristig verfolgt werden könne. Zunächst jedoch stehe die kurzfristige Sanierung der Deiche an (vgl. WaOB1a). Diese ambivalenten Verlagerungsstrategien lassen sich, zugespitzt formuliert, in drei Facetten beobachten: ‚Deichsanierung, aber nicht vor meiner Haustür’, ‚Retentionsmaßnahmen, aber nicht bei uns’ und ‚nachhaltiger Hochwasserschutz, aber nicht jetzt’. Sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht wird eine Verlagerung der Umsetzung gefordert.116 116 Diese strategische Haltung wird in den Politikwissenschaften als NIMBY-Phänomen bezeichnet. NIMBY, „Not In My Backyard“, beschreibt eine Haltung, die vorgeschlagenen oder geplanten Maßnahmen bzw. Problemlösungen zwar grundsätzlich zustimmt, gleichzeitig aber ablehnt, dass diese in unmittelbarer Nähe realisiert werden. Dadurch kommt zum Ausdruck, dass die Vorteile der Maßnahme genutzt werden, die Nachteile jedoch auf andere Personen (-gruppen) verlagert werden sollen (vgl. Fischer 1993).
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Eine weitere Strategie im Umgang mit Hochwasser sehen die befragten Bewohner/innen darin, das Risikobewusstsein von Bevölkerung, Politik und Verwaltung zu wecken und wachzuhalten. Der Ortsbürgermeister beklagt, dass vor dem Hochwasserereignis das Bewusstsein für das potenzielle Risiko und die seit Langem schadhaften und schlecht gepflegten Deiche kaum vorhanden war: „Ich denke schon, es muss halt erst so eine Katastrophe passieren, dass den Menschen bewusster wird, wie groß die Gefahr eigentlich ist“ (WaOB1a). Erst mit dem Extremereignis von 2002 war wieder „der Hochwasserschutz in den Köpfen“ (WaOB1a). Auch ein Vertreter des LHW vertritt die Meinung, dass das Hochwasserrisiko schnell in Vergessenheit gerät und erst durch ein Hochwasserereignis selber wieder in Erinnerung gerufen wird: „Deiche sind schöne große Bauwerke in der Landschaft. Aber wenn jetzt zehn Jahre kein Hochwasser kommt, dann – das ist wahrscheinlich menschlich – macht sich so eine Mentalität breit: ‘Da kommt sowieso kein Hochwasser.’ Insofern ist doch ein regelmäßig kommendes Hochwasser irgendwie gesund, um die Leute bei der Stange zu halten (lacht.). Es müssen ja nicht immer Katastrophen sein, aber dass sich alle doch bewusst sind, wo sie leben und was den Schutz gewährleistet“ (MmLHW1a).
Die Bürger/innen von Waldersee wollen jedoch nicht auf die Hochwasserereignisse warten, die an das Risiko erinnern. Der Ortsbürgermeister ist ebenfalls der Meinung, dass das Vergessen schnell wieder einsetzt: „Das muss man in den Köpfen einfach wachhalten, weil das geht oft ... wenn ein paar Jahre kein richtiges Hochwasser war, dann ist das wieder vergessen“ (WaOB1a). Das derzeit hohe Bewusstsein für das Hochwasserrisiko und für die Bedeutung der technischen und operativen Schutzmaßnahmen soll aufrechterhalten werden. Für diese aktive Erinnerungskultur haben die interviewten Walderseer/innen verschiedene Ideen entwickelt und umgesetzt, die von Bildungsmaßnahmen in Schulen, über die Gründung einer Wasserwehr, die Koordination und Schulung bürgerschaftlicher Deichläufer bis hin zu regelmäßigen Deichschauen und Stadtfesten reichen (vgl. WaOB1a, WaBI1a, WaSR1). Gleichzeitig äußert der Ortsbürgermeister von Waldersee jedoch die Hoffnung, dass das Risiko und die Bedrohung wieder mehr in den Hintergrund treten. Dies soll nicht nur geschehen, damit für die Bevölkerung Waldersees wieder der Alltag einkehrt, sondern auch damit die Grundstücke, die durch das Hochwasser betroffen waren, mit der Zeit langsam wieder an Wert gewinnen, wie im folgenden Zitat deutlich wird: „… weil im Grunde genommen die Grundstücke ja durch die Hochwasser nahezu wertlos geworden sind. So lange, bis die Deiche wirklich in Ordnung sind und sich
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel das alles beruhigt hat und dann langsam wieder Normalität einkehrt. Und das wird sicherlich Jahrzehnte dauern, so lange können sie so ein Haus da nicht vernünftig verkaufen. Sie können da ja nichts erzählen, das kauft Ihnen ja keiner ab“ (WaOB1a).
Maßnahmenebene Viele der von der Bevölkerung geforderten, forcierten oder gewünschten Maßnahmen wurden bereits im Bezug auf die Ziel- und Strategieebene genannt. An dieser Stelle werden sie systematisiert und ausgeführt. Die Sanierung und der Neubau von Deichen ist aus Sicht der Walderseer Bevölkerung, hier exemplarisch der Ortsbürgermeister, eine der zentralen Maßnahmen des Hochwasserschutzes: „Wichtige Vorraussetzung ist natürlich, dass der Deichbau zu Ende kommt (...) mit der Qualität und bei dem Niveau, das notwendig ist“ (WaOB1a). Die ‚notwendige’ Qualität und das Niveau sollen an der DIN-Norm für Flussdeiche (DIN 19712) orientiert sein. Diese gibt Höhe, Breite, Böschungsneigung und Materialzusammensetzung der Deiche vor – Kriterien, die vor 2002 von den wenigsten der bestehenden Deiche erfüllt wurden. Die DIN-gerechte Sanierung verfolgt auch der LHW an allen Stellen, wo das möglich ist, wie ein Vertreter des Landesbetriebs ausführt: „Insofern wird eigentlich zunächst erst mal (...) ein DIN-gerechter Zustand – das Wort wird hier in Dessau oft gebraucht – der Deiche hergestellt und auch angestrebt“(MmLHW1a). Wie in diesem Zitat bereits angedeutet wird, ist der DIN-gerechte Deich in Dessau schon zum Symbol geworden und steht in seinem Erscheinungsbild für eine positive Veränderung des Schutzniveaus (vgl. WaSR1). Neben den Sanierungsmaßnahmen des technischen Hochwasserschutzes fordern und forcieren die Walderseer Bürger/innen, die Strategie eines integrierten Hochwasserschutzes. Insbesondere ein Vertreter Waldersees im Stadtrat von Dessau geht in seinen Forderungen entsprechender Maßnahmen sehr weit (vgl. WaSR1). Er unterstützt besonders einen flächenbezogenen Wasserrückhalt und fordert hierfür Deichrückverlegungen überall dort, wo dies möglich sei. Auf möglichst vielen Flächen sollte außerdem für eine Erhöhung des Wasserrückhalts gesorgt werden, sowohl in Siedlungsgebieten als auch in der Land- und Forstwirtschaft. Für letztere fordert er eine angepasste Bodenbewirtschaftung und eine Einschränkung der Landnutzung in Überschwemmungsbereichen. Wälder in Hochwasserentstehungsgebieten sollten aufgeforstet und auch in Siedlungsflächen durch dezentrale Versickerung von Regenwasser für mehr Rückhalt des Wassers gesorgt werden. Der Bereich des angepassten Bauens ist für ihn ein weiterer Baustein zu einer integrierten Hochwasserschutzstrategie. Hier verweist er auf die Erfahrungen in Waldersee, aus denen man lernen sollte: Ölheizungen
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im Überschwemmungsbereich sollten ausgetauscht, die Baumaterialien der Häuser an die Hochwassersituation angepasst oder sogar innovative Bauweisen (wie z. B. aufschwimmende Häuser) eingesetzt werden. Außerdem setzt er sich dafür ein, dass die Hochwassergefahr für Siedlungsgebiete auch unter Berücksichtigung eines möglichen Deichbruchs ausgewiesen und öffentlich kommuniziert werden sollte – auch auf die Gefahr hin, dass Grundstücke an Wert verlieren und Investitionen zurückgehen könnten (vgl. WaSR1). Für die Problematik der regelmäßigen Deichinstandhaltung und -pflege schlagen die Walderseer/innen die Wahl und Schulung von bürgerschaftlichen Deichläufer/innen vor (vgl. InLE, WaSR1). Diese bekommen jeweils einen Deichabschnitt zugewiesen und kontrollieren regelmäßig den Zustand des Deiches sowie des Bewuchses und melden ihre Beobachtungen an den LHW. Für den operativen Katastrophenschutz haben die Walderseer Bürger/innen die Gründung einer Wasserwehr initiiert, in der ähnlich wie in der freiwilligen Feuerwehr Einsatzkräfte auf den Katastrophenfall vorbereitet werden (vgl. WaBI1a, WaOB1a). Die Gründung der Wasserwehr sowie die Rekrutierung von Freiwilligen und deren Schulung finden in Zusammenarbeit zwischen der Interessengemeinschaft Hochwasserschutz aus Dessau und dem Amt für Katastrophenschutz statt. Außerdem wurde von den Walderseern und verschiedenen politischen Vertreter/innen Dessaus die Gründung einer interkommunalen Hochwassernotgemeinschaft forciert (vgl. InLE, WaBI1a, WaSR1).117 Zur Förderung und Aufrechterhaltung des Risikobewusstseins veranstalten die Bürger/innen Waldersees regelmäßige Feste zum Jahrestag der Überschwemmung, zu denen in den ersten Jahren auch zahlreiche Helfer/innen aus dem ganzen Bundesgebiet eingeladen wurden (vgl. insbesondere WaBI1a, InLE). Die interviewten Vertreter/innen Waldersees im Stadtrat Dessaus setzten sich erfolgreich für die Gründung und Verlängerung des zeitweiligen interfraktionellen Hochwasserausschusses ein, zu dem neben den Stadtratsmitgliedern auch Vertreter/innen aus der Bevölkerung berufen wurden (vgl. InLE, WaSR1). Zu den Aufgaben des Hochwasserausschusses gehört es, die Belange der Bevölkerung zu diskutieren und gegenüber der Stadt und den Landesinstitutionen zu vertreten.
117 Nach einem ersten Treffen in Dessau im Jahr 2004, an dem Vertreter/innen verschiedener an Elbe und Mulde grenzender Kommunen aus Sachsen-Anhalt und Sachsen teilnahmen, kamen die Aktivitäten aufgrund mangelnden Interesses bei vielen Städten und Gemeinden zunächst wieder zum Erliegen. Nach einer erneuten Initiative im Jahr 2007 befindet sich die „Hochwasserpartnerschaft Elbe“ zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit in der Gründungsphase (vgl. ausführlicher BTU 2007, 27 f.).
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
Ein Vertreter des Landesbetriebs für Hochwasserschutz bewertet das Engagement der Walderseer/innen für die Verbesserung des Hochwasserschutzes und die Stärkung des Risikobewusstseins als sehr positiv: „Ich denke, in Waldersee ist sehr deutlich zu spüren, dass sich da sehr viele Bürger engagieren und zum Beispiel auch sehr viel Kontakt mit mir halten, um so im Interesse des Hochwasserschutzes auch immer wieder Dinge zu bewegen – auch nachdem die Deiche fertiggestellt sind“ (MmLHW1a).
Im Kontext der Frage nach den geeigneten Maßnahmen und Grenzen der technischen Vorsorge kommt, wenn auch vereinzelt, in Waldersee auch die Frage nach der Kosteneffizienz und Kostenübernahme der Hochwasserschutzmaßnahmen auf. Ein Vertreter der Walderseer Bevölkerung im Stadtrat stellt die bei der betroffenen Bevölkerung eher unbeliebte Frage, wie viel Schutz sich die Gesellschaft leisten kann und will. Er schlägt einen ‚Deichpfennig’ vor und damit eine finanzielle Beteiligung derjenigen, die vom Deichschutz und der regelmäßigen Deichpflege profitieren (vgl. WaSR1). Zuständigkeiten, Handlungsspielräume und Aushandlungsprozesse: „Hochwasserschutz als politische Aufgabe“ Insgesamt ist für die Walderseer Bevölkerung auf der strategischen Ebene im Umgang mit Hochwasser wichtig, dass Hochwasserschutz und Hochwasservorsorge nicht „auf Verwaltungsebene stecken bleibt“, sondern „als politische Aufgabe“ auf verschiedenen Ebenen begriffen wird (WaSR1). Ein Walderseer Vertreter im Stadtrat vertritt die Ansicht, dass man dafür Sorge tragen müsse, dass die verschiedenen Akteure ihre jeweiligen Handlungsspielräume, die sie auf formeller Ebene haben, nutzen (vgl. WaSR1). Zuständigkeiten und Handlungsspielräume für die Umsetzung der geforderten Ziele, Strategien und Maßnahmen sehen die befragten Bürger/innen sowohl auf Ebene des Landes und der Kommunen wie auch bei der Bevölkerung. Das Land sei zuallererst für die Sanierung und Pflege der Deiche zuständig. Über den technischen Hochwasserschutz hinaus solle, so fordern die interviewten Vertreter/innen der Bevölkerung, das Land seine gesetzlichen Handlungsspielräume auch im Bezug auf vorsorgende Maßnahmen nutzen, z. B. durch ein Verbot von Ölheizungen in Überschwemmungsgebieten (vgl. WaSR1, WaBI1a, WaOB1a). Aber auch Kommunen haben aus Sicht der Walderseer Bevölkerung zahlreiche Handlungsspielräume, um die von ihnen geforderten Maßnahmen umzusetzen oder die Umsetzung zu unterstützen. Vorgeschlagen wird beispielsweise die Förderung einer Umstellung von Ölheizungen auf Gasheizungen durch städ-
5.4 Lokale Betroffenheit und bürgerschaftliches Engagement
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tische Versorgungsträger, die Ausweisung von Bebauungsflächen unter Berücksichtigung der Überschwemmungsgefährdung oder die Revitalisierung von Überschwemmungsgebieten (vgl. WaSR1). Einen weiteren Handlungsspielraum sowohl für Kommunen als auch für das Land sieht ein Vertreter Waldersees im Stadtrat in der überregionalen Kooperation im Umgang mit Hochwasser: „Jeder Oberlieger ist auch wieder Unterlieger am Fluss. (...) Da, denke ich, kann sich dann keiner rausnehmen“ (WaSR1). Die befragten Vertreter/innen der Bevölkerung fordern, dass Maßnahmen und Strategien zwischen Ober- und Unterliegern im Flussgebiet abgestimmt und koordiniert werden (vgl. WaSR1, WaOB1a). Die Hochwassernotgemeinschaft wird hier als wichtiges Instrument auf kommunaler Ebene gesehen, in der möglicherweise Städte und Gemeinden sich sogar bei der Finanzierung von Vorsorge oder Katastrophenschutzmaßnahmen gegenseitig unterstützen könnten (vgl. auch WaBI1a und WaBI1b). Auf Landesebene wird eine Kooperation mit den anderen Bundesländern und auch übergreifend mit Tschechien gefordert. Hier sehen nicht nur die Bürger/innen Defizite. Auch ein Vertreter des LHW erkennt Handlungsbedarf: „Für eine Flussgebietsbetrachtung ist es immer ein Hemmnis, wenn ein Fluss über eine Landesgrenze fließt. Sicherlich gibt es auch Kontakte zwischen Sachsen-Anhalt und Sachsen, aber ich würde es besser finden, wenn man hier eine Stelle hätte, die das ganze Einzugsgebiet letztendlich bearbeiten könnte“ (MmLHW1a).118
Neben den Zuständigkeiten und der Verantwortung der politischen Vertreter/innen und Fachplanung auf Landesebene und bei den Kommunen sehen die Bewohner/innen Waldersees Potenzial für vielfältiges bürgerschaftliches Engagement im Aushandlungsprozess um die Gestaltung des Hochwasserschutzes. Insbesondere in den Monaten unmittelbar nach dem Hochwasserereignis von 2002 nutzten die Bewohner/innen Waldersees verschiedene Möglichkeiten, politischen Druck auf die Entscheidungsträger in Land und Kommune auszuüben. Dies geschah durch Proteste sowohl auf offiziellem Wege in schriftlicher und mündlicher Auseinandersetzung mit Kommune, Land, Bund und EU als auch durch informellen Widerstand und Protestaktionen. Letztere richteten sich vor allem gegen die Landesregierung, die aus Sicht der Walderseer/innen die Sanierung der Deiche und Wiederherstellung des Schutzes zu langsam in Angriff genommen hätten. Der Ortsbürgermeister Waldersees beschreibt eine der Protestaktionen folgendermaßen:
118 Eine solche Stelle mit formellen Kompetenzen gibt es bisher im Elbeeinzugsgebiet nicht. Ein Verhandlungsforum ohne unmittelbare Umsetzungskompetenz bietet die IKSE.
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel „Da haben wir gesagt, wir schreiben eine Resolution an die Landesregierung von Sachsen-Anhalt, weil die ja eigentlich zuständig ist, aber auch an die Bundesregierung, an die Europäische Union und an die Stadt Dessau, (...) weil die alle wissen sollen, dass da nichts passiert. (...) Es gibt so ein paar neuralgische Stellen, wo sie die Leute durchaus treffen können, und wir haben uns natürlich überlegt, was können wir machen, dass die überhaupt ein Bein anheben, wenn wir da etwas fordern“ (WaOB1a).
Die Forderung, schnell zu handeln, war mit der Drohung verbunden, die Autobahn zu blockieren. Von den Konsequenzen berichtet der Ortsbürgermeister Folgendes: „Das hat erstens bewirkt, dass sich in der Woche Bagger gedreht haben“ (WaOB1a). Außerdem hätten die Bürgervertreter/innen sofort einen Gesprächstermin mit der Stadtverwaltung erhalten. Mit einem gewissen Stolz wird von dem Erfolg dieser Protestmaßnahmen berichtet. Anfang 2005 resümiert ein Stadtratsvertreter, der zum Teil radikale Protest hätte nicht nur für Waldersee positive Konsequenzen gehabt: „Heute sagt man allgemein: ‘Sachsen-Anhalt, Dessau ist inzwischen sehr gut eingedeicht.’ Das hängt sicher damit zusammen, dass wir als Walderseer einen ungeheuren Druck gemacht haben“ (WaSR1). Trotz dieses aus seiner Sicht erfolgreichen Engagements schätzt er jedoch die Einflussnahme der Bürger/innen und ihrer politischen Vertreter/innen auf kommunaler Ebene als begrenzt ein: „Trotzdem müssen wir feststellen: An vielen Punkten sind wir nach wie vor hilflos. Also, manche Dinge, die jetzt gebaut wurden, sind gegen den gemeinsamen Protest von Ausschuss, Stadtrat und aber auch von der Stadtverwaltung gebaut worden“ (WaSR1). Auch der Ortsbürgermeister Waldersees fühlt sich in den Aushandlungen mit der Landesebene nicht immer ernst genommen und beklagt mangelnden Einfluss: „Sie stehen dann als kleiner Ortsbürgermeister mit ihrem Ortschaftsrat und als Ehrenamtlicher den Institutionen doch relativ hilflos gegenüber. Sie können bis zu einem bestimmten Maße politischen Druck [ausüben], aber nur bis zu einem bestimmten Maße“ (WaOB1a).
Einige Bewohner/innen Waldersees geben sich allerdings wenig kompromissbereit. Wie bereits auf der Zielebene deutlich wurde, hat aus ihrer Sicht die Deichsicherheit oberste Priorität. Für Kompromisse oder andere Positionen im Aushandlungsprozess zeigen sie keine Offenheit (vgl. den Streit um die Kleingärten, S. 181 f.). Andere Teile der Bevölkerung wollen sich jedoch nicht nur auf Protestaktivitäten und die Ausübung von politischem Druck beschränken, sondern auch konstruktiv an der Aushandlung von Strategien und Maßnahmen
5.4 Lokale Betroffenheit und bürgerschaftliches Engagement
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beteiligen (z. B. durch die Unterstützung der Hochwassernotgemeinschaft, des Hochwasserausschusses, der Wasserwehr und der Bildungsarbeit). Die Interessengemeinschaft für Hochwasserschutz beispielsweise sieht ihre Aufgabe u. a. darin, in der Aushandlung zwischen verschiedenen Zielen und Raumnutzungen zu vermitteln: „Und da haben wir dann auch (...) überlegt: Wo gibt es denn einen Kompromiss, womit können denn alle leben? Wo haben wir [eine Lösung, mit der] auf der einen Seite der Hochwasserschutz, das Leben, die Existenz der Menschen, der Dessauer geschützt ist und auf der anderen Seite auch dem Kulturgut und der Natur Rechnung getragen worden ist. Und bisher haben wir das, denk ich mal, im Großen und Ganzen ganz gut hingekriegt“ (WaBI1a).
Ein Interviewpartner in Waldersee erklärt das hohe bürgerschaftliche Engagement der Walderseer im Vergleich zu anderen Ortsteilen Dessaus durch die starke Betroffenheit: „Wenn die selbst, persönlich mit ihrem Hab und Gut so betroffen wären und alles verloren hätten, wie viele Walderseer alles verloren haben, dann würden die auch anders reden. (...) Die Betroffenen sind immer die, die am heftigsten reagieren (...) und die weitestgehenden Forderungen stellen“ (WaOB1a).
Das Hochwasser 2002 überschwemmte fast den gesamten Ortsteil und hat beinahe bei allen Walderseern zu direkten Erfahrungen im Umgang mit Hochwasser geführt. Diese direkte Betroffenheit durch das Hochwasserereignis wurde zum Auslöser und Motor für ein vielfältiges bürgerschaftliches Engagement. Zusammenfassend wird bei der Analyse der Ziele, Strategien, Maßnahmen, Zuständigkeiten und Handlungsspielräume in der Gestaltung und Aushandlung des Hochwasserschutzes aus Sicht der Bürger/innen Waldersees deutlich, dass das Hochwasser 2002 das Verständnis von Sicherheit und den Umgang mit Hochwasser grundlegend verändert hat. Auf der Zielebene verlangen die Walderseer/innen oberste Priorität für den Schutz der Menschen und deren Besitz. Dies gilt insbesondere in Raumnutzungskonflikten mit Denkmalschutz und Naturschutz. Eine Konsequenz ist die Forderung von möglichst sicheren und gepflegten Deichen. Technischer Hochwasserschutz besitzt also weiterhin eine zentrale Bedeutung für die lokale Bevölkerung. Es wird allerdings einschränkend berücksichtigt, dass technischer Hochwasserschutz Grenzen hat und daher immer nur ein „relativer Schutz“ erreicht werden kann. Ein anderes Ziel der Bevölkerung in ihrem Umgang mit Hochwasser ist die Aufarbeitung des Extremereignisses 2002 und die Verbesserung von strukturellen Fehlern und Versäumnissen. In strategischer Hinsicht
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
fordern die Walderseer/innen einen integrierten Hochwasserschutz, der Sicherheitsorientierung und Vorsorgeorientierung verbindet. Durch letztere soll den Grenzen des technischen Hochwasserschutzes Rechnung getragen werden. Bei der Frage nach den entsprechenden Umsetzungsstrategien äußern die Walderseer/innen allerdings ambivalente Verlagerungsstrategien. Insbesondere die für notwendig erachteten vorsorgenden Maßnahmen sollen nicht in unmittelbarer Nähe und auch nicht sofort, sondern eher langfristig umgesetzt werden. Eine weitere zentrale Strategie ist, den „Hochwasserschutz in den Köpfen“ wachzuhalten. Es soll in Waldersee eine aktive und vielfältige Erinnerungskultur gepflegt werden, um das Risikobewusstsein aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig wünschen sich die Bürger/innen aber auch einen gewissen Grad der Verdrängung: Waldersee soll nicht als Katastrophengebiet in Erinnerung bleiben. Auf der Ebene der Maßnahmen soll vor allem ein qualitativ hohes Niveau der Deiche durch einen DIN-gerechten Ausbau erreicht werden. Der Deich ist nicht mehr nur ein Bauwerk, er wird auch zum Symbol des Schutzes. Darüber hinaus soll „ein ganzer Komplex von Maßnahmen“ im Rahmen des integrierten Hochwasserschutzes umgesetzt werden, um der Integration von Schutz und Vorsorge gerecht zu werden (z. B. Deichrückverlegungen und Polder, Landnutzungsänderungen, dezentrale Versickerung von Regenwasser, angepasstes Bauen, Risikokommunikation, Wasserwehr, Hochwassernotgemeinschaft, Kostenlenkung durch Abgabe). Im Bezug auf die formellen Zuständigkeiten und ihre eigenen Handlungsspielräume verstehen die Walderseer/innen Hochwasserschutz als politische Aufgabe und nicht als Verwaltungsaufgabe. Sowohl formelle als auch informelle Handlungsspielräume der Kommunen und des Landes sollen voll ausgeschöpft werden. Dazu gehört für die Befragten insbesondere auch eine überregionale Kooperation zwischen Nationalstaaten und Regionen sowie zwischen Kommunen. Die Walderseer/innen sehen jedoch durchaus zahlreiche Möglichkeiten, wie sie selber aktiv werden können. Das bürgerschaftliche Engagement reicht von der Ausübung von Druck auf die politisch Zuständigen durch Protestaktionen bis hin zur konstruktiven Beteiligung an Aushandlungen in Konflikten sowie Initiierung von kommunalen und interkommunalen Aktivitäten im Hochwasserschutz (z. B. Hochwasserausschuss und Hochwassernotgemeinschaft). Als Auslöser und Motor für ein vielfältiges bürgerschaftliches Engagement wird die direkte Betroffenheit der Bevölkerung Waldersees gesehen.
5.4 Lokale Betroffenheit und bürgerschaftliches Engagement
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5.4.3 Gesellschaftliche Naturverhältnisse Nach der Analyse der Perspektive der Walderseer Bevölkerung auf die Ziele, Strategien, Maßnahmen, Zuständigkeiten und Handlungsspielräume im Umgang mit Hochwasser werden nun die gesellschaftlichen Naturverhältnisse untersucht: Wie wird das Verhältnis von Gesellschaft und Natur aus Sicht der Walderseer Bevölkerung konzipiert, welche Wechselwirkungen werden gesehen und in welchen historischen Kontext werden die gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Umgang mit Hochwasser gestellt? Im Falle Waldersees, seiner Geschichte, Betroffenheit im Extremereignis 2002 und dem daraus resultierenden bürgerschaftlichen Engagement spielt dabei einerseits die Bedrohung und das Risiko, das von Elbe und Mulde ausgeht, und andererseits der starke Bezug der Bevölkerung zum Flussgebiet eine Rolle. Hochwasser stellt für die Bevölkerung Waldersees grundsätzlich eine Bedrohung dar. Es wird als „gefährlich“ und „beängstigend“, sogar als „tödlich“ bezeichnet (WaOB1a). Das Vokabular, mit dem die Bedrohung und der Schutz vor Hochwasser beschrieben werden, enthält zahlreiche Kriegsmetaphern, wenn z. B. vom „Kampf gegen die Fluten“ und der „Deichverteidigung“ die Rede ist (WaOB1a). Hochwasser bekommt in dieser Darstellung den Charakter eines ernst zu nehmenden Gegners. Auch wird beschrieben, dass das Treibeis des Winterhochwassers 2003 wie eine „Pflugschar die Deiche rasiert und die Grasnarbe metertief abgeschält hat“ (MmKS1). Die Deiche werden als Schutzmaßnahme gegen diese Bedrohung durch Hochwasser gesehen. Doch gleichzeitig wird mit den Deichen auch die Bedrohung selbst assoziiert. Ein Bewohner Waldersees bezieht diesen Zusammenhang direkt auf die geografische Lage Dessaus im Flussgebiet: „Bis auf ganz, ganz wenige Teile von Dessau, ich sage mal ein Zehntel, eigentlich nur ein Zwölftel oder Fünfzehntel der Fläche, leben wir alle unter dem Schutz der Deiche. Und das ist ja die große Furcht gewesen, dass der Deich irgendwo da bricht, wo dann ganz Dessau vollläuft“ (WaSR1).
Über die Wechselwirkungen zwischen dem bedrohlichen Hochwasser, den (potenziellen) Überschwemmungsgebieten und dem menschlichen Wirtschaften und Siedeln im Flussgebiet äußern sich fast alle interviewten Bewohner/innen. Die Walderseer/innen haben während des Hochwasserereignisses 2002 im Gegensatz zu den meisten anderen Bewohner/innen von Dessau selbst erfahren, was es heißt, im potenziellen Überflutungsgebiet zu wohnen. Doch auch schon vor dem Ereignis von 2002 sei die Gefährdung in Waldersee bekannt und bewusst gewesen. So betont der Ortsbürgermeister z. B., dass schon seit mehr als hundert Jahren in Waldersee nicht mehr im Überschwemmungsgebiet gebaut
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
worden sei. Es gehöre zum lokalen Wissen, dass die Auen- und Überschwemmungsbereiche notwendig seien, damit sich das Hochwasser „naturbelassen“ ausbreiten könne (vgl. WaOB1a). Die Auenlandschaft, so fasst er zusammen, sei so weitläufig, dass sie viel Platz für Überschwemmungen bietet. Dieser müsse erhalten bzw. freigehalten werden. Neben den Auen- und Überschwemmungsbereichen führt der Befragte die „Pufferfunktion“ der Wälder und der Talsperren an, die große Wassermassen im Hochwasserfall zwischenspeichern können. Es wird also sowohl eine Polarisierung von Hochwasser als natürliches Element, das menschliche Siedlungen bedroht, vorgenommen, gleichzeitig werden jedoch auch die Potenziale von ‚natürlichen’ Überschwemmungsbereichen für den Hochwasserschutz erkannt. Die landschaftliche Risikovorsorge und die Freihaltung von Landschaften für Überschwemmungsereignisse werden als zentral für die Entschärfung der Wechselwirkungen zwischen Hochwasser und menschlichem Handeln angesehen. Die interviewten Walderseer/innen thematisieren ebenfalls die historische Konstitution der Verhältnisse von Natur und Gesellschaft in der Flusslandschaft. Dabei weisen viele Interviewpartner/innen insbesondere auf die Entstehung des Deichschutzes im Zusammenhang mit dem Dessau-Wörlitzer Gartenreich des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau hin. Ein Gesprächspartner aus der für die Pflege des Gartenreichs zuständigen Kulturstiftung DessauWörlitz stellt die Wechselwirkung zwischen Flussgebiet, Besiedlung und Bewirtschaftung folgendermaßen dar: „Das ist ja eine Landschaft, die durch die Elbe geprägt und entstanden ist, wo aber auch vieles, was Fürst Franz gemacht hat, die Elbe beeinflusst hat. Franz ist ja einer von denjenigen, die dazu beigetragen haben, dass die Elbe hier durch Deichbaumaßnahmen eingeengt wird, einfach um sein Land besser nutzen zu können. Sodass also das, wo man heute versucht gegenzusteuern (...) – die Elbe hat ja 85 % ihres historischen Ausbreitungsgebietes verloren –, unter anderem eben durch Franz und seine Vorfahren hier beeinflusst worden ist“ (MmKS1).
In diesem Zitat macht der Interviewpartner die Wechselwirkung in ihrer historischen Konstitution deutlich: Einerseits beeinflusst die Elbe die Kulturlandschaft, die Waldersee und seine Umgebung prägt; andererseits gestalten die historischen Eingriffe zum Schutz vor Hochwasser das Flussgebiet. Diese Wechselwirkungen werden als historisch konstituiert dargestellt und gleichzeitig vor dem Hintergrund der heute veränderten gesellschaftlichen Naturverhältnissen kritisiert. Heute habe man, so der Interviewpartner, erkannt, dass eben jene historischen Deichbaumaßnahmen zu einer Verringerung der Überflutungsflächen geführt haben, die im Rahmen eines integrierten Hochwassermanagements wiederhergestellt werden sollten.
5.4 Lokale Betroffenheit und bürgerschaftliches Engagement
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Die historische Konstitution und Veränderbarkeit der Wechselwirkung zwischen Hochwasser und der Bevölkerung Waldersees wird von den Interviewten auch auf mögliche zukünftige Entwicklungen übertragen. Sie weisen mit indirektem oder direktem Bezug auf den Klimawandel darauf hin, dass sich das Ausmaß und die Häufigkeit der Hochwasserereignisse durchaus verändern können bzw. eine Veränderung zu erwarten sei. Die Befragten verbinden damit eine hohe Unsicherheit, aus der unterschiedliche Konsequenzen gezogen werden. Ein Vertreter der Kulturstiftung DessauWörlitz vermutet, dass die Veränderungen durch den Klimawandel wohl „nicht so gravierend“ sein werden, und verweist darauf, dass an Elbe und Mulde in den vergangenen Jahrhunderten ebenfalls sehr hohe Überschwemmungen stattgefunden hätten (vgl. MmKS1). Er argumentiert, dass man sich heute sehr viel besser als früher durch Anpassungsstrategien (insbesondere bauliche Anpassung) auf hohe Überschwemmungsereignisse einstellen könne. Deshalb sei im Dessau-Wörlitzer Gartenreich, insbesondere im Streit um das an Waldersee grenzende Schloss Luisium, eine Erhöhung der Deiche oder Veränderung der Deichlinie nicht nötig, wenn stattdessen in die Bausubstanz und in andere Anpassungsmaßnahmen investiert würde (vgl. ebd.). Andere Gesprächspartner/innen aus Waldersee gehen jedoch davon aus, dass zukünftige Hochwasser das von 2002 noch bei Weitem übertreffen und auch die jetzt sanierten Deiche dann nicht mehr ausreichen könnten (vgl. WaOB1a, WaBI1a). Wie mit dieser hohen Unsicherheit umzugehen sei, ist den Befragten jedoch weitgehend unklar. Auch im Bezug auf die Zukunft wird also das Verhältnis von Natur und Gesellschaft als veränderbar konzipiert – mit dem Hinweis darauf, dass sich durch den Klimawandel die Gefährdung ohne zentrale Eingriffsmöglichkeit des Menschen verändern könnte. Die historische Konstitution des Umgangs mit Hochwasser wird auch dann reflektiert, wenn es um das Risikobewusstsein geht. Der Ortsbürgermeister stellt fest, dass insbesondere den Alteingesessenen auch schon vor dem Hochwasser 2002 sehr bewusst gewesen sei, dass sie in einem ehemaligen Überschwemmungsgebiet leben und dass der Deichschutz schon einige Jahrhunderte alt und zum Teil nicht mehr gut instand gehalten sei. Sie hätten auch schon vor der Überschwemmung von Waldersee im Jahr 2002 vor dem Risiko gewarnt. Allerdings verweist er darauf, dass erst das Hochwasserereignis selber dazu geführt habe, dass sich diese Vermutung einer potenziellen Bedrohung von Elbe und Mulde zu einer „breiten Überzeugung“ gewandelt habe (WaOB1a). In dem Konflikt über die Prioritäten bei den Raumnutzungen – Deiche als Schutzbauwerke, als Denkmäler oder als Naturschutzgebiete – wird ähnlich wie im Falle des Lödderitzer Forstes ein gesellschaftliches Naturverhältnis deutlich, in dem natürliche Prozesse nur in bestimmten Bereichen toleriert werden. In der
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
Frage, ob beispielsweise Bäume im Deichbereich stehen dürfen, stellen zwei Vertreter Waldersees klar, dass es hier eine eindeutige Zuweisung der Räume gebe, unabhängig davon, ob der Bewuchs unter Naturschutz stehe oder ein historischer Baumbestand zu schützen sei (vgl. auch WaOB1a): „Da muss man einfach klar sehen, wo Bäume hingehören und wo sie nicht hingehören. Mir tut es um jeden Baum leid, den wir fällen. Und wir haben gerade mal wieder tausend gefällt und in Dessau manche, meine ich, auch nicht sinnvollerweise. Aber auf Deiche gehören sie einfach nicht, das muss man einfach deutlich sagen. Da kann man Bäume drum herum pflanzen, auch sehr viele, (...) da habe ich überhaupt nichts dagegen. Ganz im Gegenteil, ich pflanze selber gerne Bäume und tue das auch. Aber auf Deichen haben sie nichts verloren“ (WaSR1).
Die allgemeine Wertschätzung von Natur wird also von den Interviewten Walderseern bekräftigt, allerdings klargestellt, dass im Konfliktfall der Mensch und nicht die Natur schützenswert sei und der Naturschutz hinter dem Hochwasserschutz zurückstehen müsse. Die Vertreterin der Interessengemeinschaft gibt sich in dem Konflikt um Bäume und Bewuchs im Deichbereich kompromissbereiter. Sie sieht die Qualitäten der Natur- und Kulturlandschaft als wichtige Ressource der Region und erkennt sie daher ebenfalls als schützenswert an. Sie fordert eine Abwägung der unterschiedlichen Raumnutzungen: „Wir müssen hier der Region auch entsprechend Rechnung tragen. Wir haben das Weltkulturerbe, wir leben immer mehr vom Tourismus, die Natur ist super. Und all diese Dinge sollte man erhalten. Da muss man sich also sehr wohl überlegen, ob man am Deich entlang einen Baum fällt oder mal einen stehen lässt“ (WaBI1a).
Zusammenfassend stellt sich der Umgang mit Hochwasser aus Sicht der Bevölkerung Waldersees als Ausdruck gesellschaftlicher Naturverhältnisse komplex und vielschichtig dar. Hochwasser wird vor allem als bedrohlicher natürlicher Prozess verstanden, aber auch in seinen Wechselwirkungen mit der Flusslandschaft und den menschlichen Siedlungstätigkeiten gesehen. Die Walderseer/innen fühlen sich stark mit der Flusslandschaft verbunden und haben ein Bewusstsein für die historische Konstitution dieses Verhältnisses. Dies betrifft sowohl den Entstehungsprozess der Siedlungstätigkeiten und des Deichbaus in der Vergangenheit als auch die Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Naturverhältnisse in der Zukunft. Es bestehen allerdings unterschiedliche Ansichten darüber, wie sich die Bedrohung durch Hochwasser in Zukunft verändern könnte und wie darauf zu reagieren sei. Auf der konkreten Handlungsebene im Umgang mit Hochwasser sind die gesellschaftlichen Naturverhältnisse durch Raumnut-
5.4 Lokale Betroffenheit und bürgerschaftliches Engagement
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zungskonflikte geprägt. Es wird überwiegend die Ansicht vertreten, dass es eine räumliche Trennung verschiedener Raumfunktionen geben sollte – also Räume für den Schutz der Bevölkerung und Räume für den Schutz der Natur. 5.4.4 Dessau-Waldersee: Räumliche Regulation im Wandel Im Folgenden liegt der Schwerpunkt auf den Faktoren der räumlichen Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse und deren Veränderung. In der bisherigen Analyse der Ziele, Strategien und Maßnahmen aus Sicht der Walderseer Bevölkerung sowie der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Naturverhältnisse wurden bereits verschiedene Faktoren genannt, die den Umgang mit Hochwasser regulieren. Mit dem sozial-ökologischen Raumkonzept lassen sich diese intendierten und nicht-intendierten regulativen Faktoren bestimmen und den verschiedenen Raumdimensionen zuordnen (vgl. Abb. 18). DessauDessau-Waldersee
IV Kultureller Ausdruck
Risikobewusstsein, Risikokultur, -praktiken
III Soziales Handeln
Bürgerschaftliches Engagement
„relativer Schutz“, Grenzen der Beherrschbarkeit
Bedrohliche Natur Umgang mit Hochwasser
Räumliche und zeitliche Verlagerung, NIMBY
Extremereignis 2002
„Komplex an Maßnahmen“
I Materiale Gestalt
Baulich-technische Schutzmaßnahmen
Hochwasserschutz als „politische Aufgabe“ DIN-Norm II Normative Regulation
Abbildung 18: Regulative Faktoren in Dessau-Waldersee (eigene Darstellung)
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
Zentraler Faktor ist das Extremereignis von 2002, das der Bevölkerung das Bewusstsein für das Risiko der Überschwemmung und die Grenzen der Beherrschbarkeit sehr deutlich gemacht hat. Die Bedrohlichkeit des Hochwassers steht seither für die Bevölkerung Waldersees im Vordergrund, die zu einem Großteil selber direkt betroffen war, und es hat sich ein intensives und vielfältiges bürgerschaftliches Engagement zum Umgang mit Hochwasser entwickelt. Es findet eine Diskussion um Schutzziele und zu schützende Werte, über geeignete Maßnahmen, Prioritäten und finanzielle Ressourcen statt. In diesem Aushandlungsprozess kann man durchaus einen Wandel von einem Sicherheitsdenken zu einer Risikokultur feststellen, in der die Grenzen der technischen Beherrschbarkeit des Hochwassers erkannt und die staatliche Zuständigkeit um eine breite Beteiligung aller politischen und gesellschaftlichen Ebenen ergänzt wird („Hochwasserschutz als politische Aufgabe“). Auf der Ebene der Maßnahmen erachtet die Bevölkerung einen integrierten Hochwasserschutz für sinnvoll, der einen „Komplex an Maßnahmen“ beinhaltet. Allerdings besitzt dieser Aspekt nur geringen Einfluss auf den tatsächlichen Umgang mit Hochwasser. Auf der Umsetzungsebene wird immer wieder deutlich, dass doch immer noch ein großes Vertrauen in die technische Gewährleistung der Sicherheit besteht. Man kann davon sprechen, dass eine Gleichzeitigkeit von Vertrauen in die Sicherheit des technischen Hochwasserschutzes und Wissen um dessen grundsätzliche Unsicherheit vorliegt. Insofern überwiegt in der Phase der Bewältigung und des Wiederaufbaus nach dem Extremereignis ein starker Fokus auf technische Maßnahmen, insbesondere die Deichsanierung nach DIN-Norm, welche zu einem Symbol der Sicherheit geworden ist. Gleichzeitig prägt eine zeitliche und räumliche Verlagerungsstrategie (NIMBY) den Umgang der Bevölkerung mit Hochwasser. Insgesamt lässt sich jedoch feststellen, dass die direkte Betroffenheit durch das Extremereignis als Motor für ein hohes Risikobewusstsein und ein vielfältiges bürgerschaftliches Engagement der Walderseer gewirkt hat. Die Bevölkerung nimmt hier sowohl formelle als auch informelle Handlungsspielräume wahr, die sie zum Teil durch innovative Initiativen ausfüllt. 5.5 Zusammenführung: Räumliche Transformation für ein vorsorgendes Hochwassermanagement in der Region Mulde-Mündung Die Analyse der drei untersuchten Fallstudien – Hochwasserschutzkonzeption Elbe, Deichrückverlegung Lödderitzer Forst und bürgerschaftliches Engagement in Dessau-Waldersee – bieten einen detaillierten Einblick in den Strategiewandel in verschiedenen Handlungsfeldern des Hochwassermanagements. Diese Verän-
5.5 Zusammenführung
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derungen in den Bereichen der Hochwasserschutzplanung, der Renaturierung von Flussgebieten und dem bürgerschaftlichen Engagement im Hochwasserschutz sind einerseits von dem Extremereignis von 2002 beeinflusst und andererseits Bestandteile von langfristigen Transformationsprozessen. Entlang der Analyse von Zielen, Strategien und Maßnahmen in den einzelnen Fallstudien, der gesellschaftlichen Naturverhältnisse und der regulierenden Faktoren lässt sich der Verlauf dieses Strategiewandels im Umgang mit Hochwasser detailliert rekonstruieren. Trotz der Unterschiedlichkeit der Fallstudien lassen sich in einer Zusammenführung zentrale Faktoren identifizieren, die in allen drei untersuchten Handlungsfeldern die Veränderungsprozesse prägen. Im Folgenden werden sie entlang der vier Dimensionen des sozial-ökologischen Raumkonzepts zusammengeführt. Die Zusammenführung geschieht vor dem Hintergrund der für die empirische Untersuchung grundlegenden Forschungsfragen:
Lassen sich in den untersuchten Handlungsfeldern Veränderungsprozesse im Umgang mit Hochwasser beobachten? Welche regulativen Faktoren sind für die Veränderung zentral?
Vor dem Hintergrund der theoretischen Modelle zu Transformationsprozessen im Umgang mit Hochwasser ist in diesem Kontext zu fragen, welche Phasen dieser Veränderungsprozess durchläuft. Handelt es sich um einen eher katalytischen oder einen eher inkrementellen Veränderungsprozess; kommt es also eher zu grundlegenden Umbrüchen, die durch einen zentralen Auslöser entstehen, oder handelt es sich um einen kontinuierlichen und kleinschrittigen Wandel? Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen diesen verschiedenen Veränderungsmodi? Für die Analyse der Handlungsspielräume gilt es zu erörtern, welche Akteure in die Veränderungsprozesse involviert sind und welche Handlungsspielräume sie besitzen und nutzen (vgl. Kap. 2.3.4 und Kap. 4). Ziel der Zusammenführung ist es, von den einzelnen Fallstudien zu abstrahieren und Aussagen über die übergreifenden Veränderungsprozesse im Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung zu treffen. 5.5.1 Materiale Gestalt: Technische Schutzmaßnahmen und integratives Hochwassermanagement im Kontext unterschiedlicher zeitlicher und räumlicher Skalen Vor dem Hochwasserereignis von 2002 spielte Hochwasserschutz und Hochwassermanagement vor allem für die zuständigen Fachverwaltungen in Sachsen-
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Anhalt eine Rolle (vgl. Kap. 5.2.1, S. 124 f.). In baulich-physikalischer Hinsicht bestand deren Hauptaufgabe darin, die bestehenden Deiche zu erhalten oder zu sanieren. Ein Großteil der Deiche entsprach nicht dem angestrebten Sanierungsniveau und wies zum Teil erhebliche Mängel auf. Sowohl große Teile der Landespolitik als auch der Bevölkerung schenkten dem Thema allerdings nur geringe Aufmerksamkeit. Darüber hinaus begrenzten die finanziellen Ressourcen die Handlungsspielräume der zuständigen Verwaltungen für die Umsetzung konkreter Maßnahmen. Da Hochwasserschutz nur als eine von mehreren Raumnutzungen angesehen wurde, mussten Kompromisse auf finanzieller sowie auf baulicher und räumlicher Ebene getroffen werden. In diesem Sinne bestand beispielsweise ein Ziel der Hochwasserschutzkonzeption von 1994 darin, den Ausgleich verschiedener Raumansprüche zu erreichen und Synergien insbesondere zwischen Naturschutz und Hochwasserschutz zu nutzen. Auch andere konzeptionelle Vorschläge für eine Renaturierung der Auenbereiche in der Region Mulde-Mündung benannten bereits in den 1990er Jahren das Anliegen, die Multifunktionalität des Flussgebietes und Synergien zwischen unterschiedlichen Nutzungen zu fördern, zu erhalten oder wiederherzustellen (vgl. Jährling 1993, Puhlmann 1994, Neuschulz, Purps 2000, Puhlmann, Jährling 2003).119 Mit dem Extremereignis von 2002 verlagerte sich in allen drei Fallstudien zunächst der Schwerpunkt: Dem technischen Hochwasserschutz wurde höchste Priorität zugewiesen. Die Bewältigung des Extremereignisses, die Bewertung des Schadens und die Erneuerung des Deichsystems stellten die als zentral und dringend erachteten Aufgaben dar. Andere Raumnutzungen im Flussgebiet (wie z. B. Naturschutz, Tourismus etc.) und Synergien zwischen diesen Raumnutzungen (wie z. B. Retentionsmaßnahmen) traten zunächst in den Hintergrund oder wurden vom zuständigen Landesbetrieb für Hochwasser und Teilen der Bevölkerung sogar abgelehnt (vgl. Kap. 5.2.2, S. 130 f.). Der Anspruch der Vereinbarkeit von technischen Schutzmaßnahmen mit anderen Raumnutzungen (z. B. Synergien zwischen Renaturierung von Auen und Hochwasserschutz) wurde zunächst als zweitrangig zurückgestellt. Sowohl für die zuständigen Behörden des Landes und der Kommunen als auch für viele bürgerschaftliche Akteure standen die Wiederherstellung der Schutzanlagen und der Ausbau auf den technischen Standard der DIN im Vordergrund (vgl. Kap. 5.4.2, S. 177). Teile der Bevölkerung 119 Die Multifunktionalität von Flussgebieten war also kein neues Thema, sondern wurde insbesondere in den Handlungsfeldern der Renaturierung von Auengebieten und in der strategischen Hochwasserschutzplanung auch schon vor 2002 behandelt und bearbeitet. Nach dem Extremereignis von 2002 wurde die Diskussion jedoch in einer breiteren Fachöffentlichkeit geführt (vgl. u. a. Dehnhardt, Meyerhoff 2002; Moss 2003a; Roch 2003, Moss, Monstadt 2008, 328 ff.).
5.5 Zusammenführung
199
und der lokalen Politik übten auf die Akteure des operativen Hochwasserschutzes starken Druck aus, die Sanierung der Deiche zügig und umfassend umzusetzen. Für den LHW als umsetzende Behörde ergaben sich hieraus Handlungsverpflichtungen und Zwänge, aber auch neue Handlungsspielräume. Er erhielt nicht nur eine größere politische und öffentliche Unterstützung für seine Arbeit als vor dem Hochwasserereignis 2002, sondern auch entscheidend mehr Finanzmittel, um die Sanierung der Deichanlagen, den Bau von Zuwegen und andere bauliche Maßnahmen umzusetzen. Auch Naturschutzakteure wie der WWF und die Biosphärenreservatsverwaltung traten nach dem Extremereignis offen für die Verbesserung und Priorisierung technischer Schutzmaßnahmen ein (vgl. Kap. 5.3.2, S. 151). Die Naturschutzvertreter/innen konnten ihre Strategie der Auenrenaturierung und Reduzierung von Hochwasser durch die Reaktivierung natürlicher Prozesse nicht mehr uneingeschränkt vertreten. Von ihnen wurde öffentlich gefordert, ihre Interessen zurückzustellen und den technischen Ausbau der Schutzanlagen nicht länger zu behindern (vgl. u. a. Kap. 5.3.2, S. 153; Kap. 5.4.2, S. 178). Sie mussten ihre Planungen zur Reaktivierung der Auenwaldbereiche auf mögliche negative Folgen für den Hochwasserschutz überprüfen (z. B. im Falle der Renaturierung von Weichholzauen im Deichinnenbereich). Raumnutzungskonflikte wurden insofern in den kurzfristigen Reaktionen zunächst überwiegend zugunsten des Hochwasserschutzes entschieden (vgl. u. a. Kap. 5.3.2, S. 157; Kap. 5.4.2, S. 177). Die Bewältigung der Hochwassergefahr durch den Bau technischer Schutzanlagen (z. B. Polder, Deiche, Sperrwerke) wurde als prioritäre Lösung benannt, die andere, integrative Lösungen ausschloss. Gleichzeitig thematisierten die meisten Befragten in allen drei Fallstudien auch die Grenzen der Beherrschbarkeit durch technische Lösungen. Es herrschte demnach trotz der anfänglichen Bevorzugung technischer Maßnahmen ein Bewusstsein darüber, dass allein mit einer vor größeren Hochwassern schützenden Technik das Problem nicht adäquat gelöst werden könne (vgl. Kap. 5.3.4, S. 172, Kap. 5.4.2, S. 179 f.). Diese Skepsis gegenüber technischen Lösungen führte in mittelfristiger Hinsicht und mit einiger zeitlicher Distanz zum Extremereignis zu einer zunehmenden Offenheit für integrierte Ansätze, die baulichtechnische Maßnahmen mit nicht-baulichen Maßnahmen verbinden. Letztere bestehen z. B. in der Ausweisung von überschwemmungsgefährdeten Gebieten und Risikokartierungen oder in der Stärkung der Eigen- und Verhaltensvorsorge der betroffenen Bevölkerung.120 Sowohl die betroffene Bevölkerung als auch
120 Mit Eigen- und Verhaltensvorsorge sind im Hochwassermanagement präventive Verhaltensmaßnahmen gemeint, die den möglichen Schaden bei einem Extremereignis vermeiden oder vermindern sollen (z. B. die frühzeitige Evakuierung von Menschen und Tieren, die Verlegung
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
Vertreter/innen des Hochwasserschutzes sehen in diesen Maßnahmen eine mögliche Reaktion auf die Grenzen des technischen, stark auf Deichschutz basierenden Hochwasserschutzes. In der öffentlichen Diskussion vor Ort gewinnt die im wissenschaftlichen Diskurs schon länger geforderte Verbindung verschiedener Schutzstrategien und deren Zusammenführung in ein umfassendes Konzept des Hochwassermanagements an Bedeutung (vgl. Kap. 2.2.2). Verbunden mit der offenen Thematisierung der Grenzen baulicher Schutzmaßnahmen und einem gestiegenen Risikobewusstsein in der Bevölkerung forderten viele der Interviewten eine solche Integration verschiedener Schutzstrategien sowie die Umsetzung von einem „Komplex an Maßnahmen“. Diese sollen nicht nur auf die akute Bewältigung oder Abwehr von Hochwasserereignissen zielen, sondern auch bauliche Vorsorge und Verhaltensvorsorge, Schaffung und Ausbau von Retentionsmaßnahmen etc. einbeziehen. Außerdem beinhaltet der integrative Ansatz des Hochwassermanagements eine Verbindung verschiedener räumlicher Ebenen (lokale, regionale und überregionale bzw. internationale Ebene im Flusseinzugsgebiet) und verschiedener zeitlicher Reichweiten von Strategien (kurz-, mittelund langfristig).121 Diese durch das Extremereignis ausgelöste Ausweitung des Diskurses über integratives, vorsorgendes Hochwassermanagement – von einer Fachdiskussion auf eine öffentliche Debatte – kann als Verstärkung eines inkrementellen Prozesses verstanden werden, der schon seit einigen Jahrzehnten vor allem in Expert/innenkreisen stattfindet, in Deutschland insbesondere nach den Extremereignissen an Rhein und Oder in den 1990er Jahren (vgl. u. a. Felgentreff 2003; Monstadt, Moss 2008; vgl. Kap. 2.3). Einige Jahre nach dem extremen Hochwasser lässt sich in den untersuchten Handlungsfeldern beobachten, dass Fragen nach Prioritäten, Vereinbarkeiten und Synergien, Kompromissen und Koordination von Raumnutzungen wieder offener gestellt werden. Insbesondere die Aufmerksamkeit bezüglich der Synergien zwischen Hochwasserschutz und anderen Politik- und Handlungsfeldern, wie z. B. Naturschutz, Siedlungsentwicklung und Wasserwirtschaft, steigt wieder an (vgl. Kap. 5.2.2, S. 134). Noch in der Hochwasserschutzkonzeption von 2003 formulierte die Landesebene unter Mitwirkung des LHW beispielsweise eine klare Positionierung gegen Deichrückverlegungsprojekte (vgl. Kap. 5.2.2, S. 130). Ab 2004 entwickelte der LHW allerdings ein zunehmendes Interesse für von Elektronik und Heizanlagen vom Keller in ein Obergeschoss oder der Einbau von wasserdichten Türen und Fenstern im Keller und Erdgeschoss). 121 Die im Folgenden verwendete Unterscheidung zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Zeitspannen bezieht sich auf den Untersuchungszeitraum der Analyse von ca. 15 Jahren und einen zukünftigen Planungshorizont von weiteren 15 Jahren. Mit kurzfristigen Reaktionen ist insofern ein Zeitraum von bis zu 2 Jahren nach dem Extremereignis gemeint, mittelfristige Entwicklungen beziehen sich auf ca. 3–6 Jahre und mit langfristigen Veränderungen oder Entwicklungen ist ein Zeitraum von 7–15 Jahren gemeint.
5.5 Zusammenführung
201
Deichrückverlegungen, die vormals vor allem vom staatlichen Amt für Umwelt (STAU), von der Biosphärenreservatsverwaltung und den Naturschutzverbänden gefordert und entwickelt wurden. Diese zunehmende Unterstützung von Rückverlegungs- und Renaturierungsprojekten durch die Fachbehörde lässt sich als Zeichen für den bereits benannten Veränderungsprozess auf der planerischen und politischen Seite werten. Auch der Entwurf der Hochwasserschutzkonzeption Sachsen-Anhalt von 2007 enthält einen Schwerpunktwechsel hin zur Förderung eines integrativen und vorsorgenden Hochwassermanagements (vgl. Kap. 5.2.2, S. 128).122 Dies geschah u. a. als Reaktion auf Kritik und Protest von Umweltorganisationen (vgl. WWF 2007, 81 ff.). Diese mittelfristige Schwerpunktverlagerung ermöglicht den Akteuren des Naturschutzes – den sich engagierenden Vereinen und Verbänden sowie der Naturschutzverwaltung – wieder mehr Aufmerksamkeit für die Umsetzung von Strategien der Renaturierung und Schaffung neuer Retentionsmaßnahmen. Durch den von vielen Seiten geforderten integrierten Hochwasserschutz, der u. a. mehr Retentionsraum durch veränderte Landbewirtschaftung schaffen soll, gewinnen auch die Synergien zwischen Hochwasserschutz und Naturschutz wieder mehr an Bedeutung. Bezüglich der Realisierung dieses breiten Maßnahmenpakets fällt auf der lokalen Umsetzungsebene und bei der betroffenen Bevölkerung jedoch auf, dass insbesondere den vorsorgenden und Retentionsraum schaffenden Strategien kaum zeitliche Priorität zugewiesen oder die Umsetzung auf andere Bereiche entlang des Flusses verschoben wird. Es kommt zu räumlichen und zeitlichen Verlagerungsphänomenen (NIMBY): Retentionsräume sollen in anderen Regionen oder zu einem späteren Zeitpunkt umgesetzt werden (vgl. insbesondere Kap. 5.4.2, S. 182). In anderen Bereichen zeigen die Bürger/innen jedoch direktes Engagement für die Umsetzung, insbesondere bei der Stärkung des Risikobewusstseins und den bürgerschaftlichen Anteilen an der Katastrophenvorsorge (Wasserwehr). Zusammenfassend lässt sich in der Dimension der materialen Gestalt in den letzten 15 Jahren eine Schwerpunktverschiebung feststellen. Diese verlief als Wechselwirkung zwischen der katalytischen Veränderung durch das extreme Hochwasser von 2002 und einem inkrementellen Strategiewandel in Richtung eines vorsorgenden Hochwassermanagements, der bereits vor mehreren Jahr122 Zwar wird die Integration von verschiedenen Schutzstrategien bereits in der Hochwasserschutzkonzeption von 2003 als zentrales Element eines umfassenden Hochwasserschutzes verstanden. In den zur Umsetzung vorgeschlagenen Maßnahmen wird jedoch ein einseitiger Schwerpunkt auf die Verbesserung und Sanierung der Deichanlagen gelegt (vgl. Kap. 5.2.2, S. 129). Erst in der Konzeption von 2007 spiegelt sich das geplante Maßnahmenpaket (ansatzweise) wider.
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5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
zehnten einsetzte. Dabei muss zwischen kurz-, mittel- und langfristigen zeitlichen Skalen sowie zwischen lokalen, regionalen und überregionalen Maßstäben unterschieden werden. Fallstudienübergreifend zeigt die Analyse, dass materiell-physische Zusammenhänge und sozio-kulturelle Wechselwirkungen im Flussgebiet (z. B. anthropogene Einflüsse auf das Flusssystem, negative Auswirkungen baulicher Schutzmaßnahmen, überregionale Wechselwirkungen, klimatische Veränderungen) erst durch das Hochwasserereignis 2002 von den verschiedenen Akteursgruppen offen thematisiert werden.123 5.5.2 Kultureller Ausdruck: Risikobewusstsein und die Wahrnehmung von Unsicherheit Die kulturelle Dimension räumlicher Transformation umfasst symbolische Deutungen und Wahrnehmungen von Schutz vor und Bedrohung durch Hochwasser. Zwar sind kleinere, regelmäßig wiederkehrende Überschwemmungen in der Region Mulde-Mündung nichts Unbekanntes und auch die Flusslandschaft ist für die örtliche Bevölkerung Teil des lokalen Handlungsfeldes sowie der regionalen Identität. Dennoch war vor 2002 die Aufmerksamkeit für Fragen des Hochwasserschutzes und für Belange des Flussgebietes sowie das Bewusstsein für Hochwasserrisiken bei vielen Akteursgruppen aus Bevölkerung und Politik eher gering.124 Das Extremereignis von 2002 kam für die meisten Akteure in seinem Umfang und seinen Auswirkungen völlig unerwartet und führte zu einer katalytischen Veränderung der regulativen Faktoren in der Dimension des kulturellen Ausdrucks. Schlagartig wurde dem Thema Hochwasser eine sehr viel größere Aufmerksamkeit zuteil. Diese war gekennzeichnet von der Wahrnehmung der materiellen Bedrohung von Siedlungen, landwirtschaftlichen Flächen und anderen wirtschaftlichen Tätigkeiten. Das Bewusstsein für diese potenzielle Bedrohung – die sich möglicherweise jederzeit wiederholende Gefahr – war auch nach der akuten Bewältigung ein prägender Faktor für den mittel- und langfristigen Umgang mit Hochwasser und äußerte sich insbesondere in einem gestiegenen Risikobewusstsein (vgl. u. a. Kap. 5.3.4, S. 173; Kap. 5.4.2, S. 181). Dieses prägte sowohl die Verhandlungen um die Deichrückverlegung in Lödderitz als auch
123 Dies zeigt die enge Wechselwirkung zwischen der analytischen Dimension der materialen Gestalt und der des sozialen Handelns im sozial-ökologischen Raumkonzept (vgl. ausführlicher Kap. 6.2). 124 Für die Stadt Eilenburg an der sächsichen Mulde vgl. Kuhlicke 2008.
5.5 Zusammenführung
203
die Reaktionen auf die Überflutung Waldersees sowie die strategische Hochwasserschutzplanung in der Hochwasserschutzkonzeption von 2003. Der Umgang mit Unsicherheit ist ein weiterer Aspekt, der sich durch das Extremereignis von 2002 bei den Akteuren in der Region Mulde-Mündung verändert hat. Es lässt sich eine dreifache Unsicherheit beschreiben, die den Umgang mit Hochwasser in der Region prägt:
Zum einen handelt es sich um eine materielle Unsicherheit durch die direkte Bedrohung durch Hochwasser. Die potenzielle Verwundbarkeit der Region durch Hochwasserereignisse und die daraus folgenden materiellen Schäden und individuellen Verluste in ganzen Siedlungsbereichen wird durch die Überschwemmung Waldersees besonders deutlich (vgl. Kap. 5.4.1, S. 175). Zweitens ist der Umgang mit zukünftigen Extremereignissen von Unsicherheiten geprägt, die durch Nichtwissen entstehen. Die Frage nach den möglichen Auswirkungen des Klimawandels wird sowohl im bürgerschaftlichen Diskurs Waldersees als auch in der strategischen Hochwasserschutzplanung durch die Landesbehörden gestellt. Strategien für den Umgang mit Nichtwissen über die zukünftigen Entwicklungen und die möglichen Auswirkungen auf die Region sind noch nicht gefunden (vgl. Kap. 5.2.2, S. 134; Kap. 5.3.2, S. 156 f.). Die dritte Form der Unsicherheit manifestiert sich in politischen Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen, in denen auf Basis von unsicherem Wissen Entscheidungen getroffen werden müssen.125 Dies wird insbesondere im Fall von Lödderitz deutlich, wo die Verantwortlichen für die Deichrückverlegung aufgrund des Pilotcharakters in einigen Problembereichen Entscheidungen fällen müssen, ohne gesichertes Wissen über die Folgen zu besitzen. Durch wissenschaftliche Gutachten sollen Teilentscheidungen auf eine sicherere Basis gestellt werden. Diese Gutachten werden jedoch zum Teil von der betroffenen Bevölkerung nicht anerkannt (vgl. Kap. 5.3.2, S. 156). Insofern bleibt in manchen Bereichen der Charakter eines Experiments bestehen. Durch die Evaluation des Projektes kann mittelfristig Prozesswissen über die erprobte Vorgehensweise und die eingesetzten Maßnahmen aufgebaut und auf andere Projekte dieser Art übertragen werden.126
125 Mit unsicherem Wissen wird Wissen über Prozesse und Auswirkungen von Strategien oder Maßnahmen bezeichnet, über das kein Konsens zwischen den beteiligten oder betroffenen Akteuren herrscht (vgl. Kap. 2.2.1). 126 Zur Differenzierung von Prozesswissen und anderen Wissensarten vgl. Kap. 4.1.1.
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Die Akteure reagieren unterschiedlich auf die verschiedenen Formen von Unsicherheit: Die Bürger/innen von Dessau-Waldersee und der an den Lödderitzer Forst grenzenden Gemeinden zeigen überwiegend ein hohes bürgerschaftliches Engagement (vgl. u. a. Kap. 5.3.4, S. 173; Kap. 5.4.2, S. 177 f.). Sie beteiligen sich aktiv am Aushandlungsprozess zum Umgang mit Risiken, indem sie sich in die Thematik einarbeiten, neue Einrichtungen gründen (z. B. Interessengemeinschaften oder Wasserwehr) oder sich in bestehende oder neu entstehende Institutionen einbringen (z. B. Hochwasserausschuss). Der LHW und andere wasserwirtschaftliche Fachplanungen entwickelten nach dem Hochwasserereignis einen sehr vorsichtigen Umgang mit Unsicherheiten. Zum Teil initiieren sie einen informellen Beteiligungsprozess, um verschiedene Akteure in Entscheidungsprozesse einzubeziehen und damit die Verantwortung zu teilen (vgl. Kap. 5.3.2, S. 153). Auch die Erarbeitung von (natur)wissenschaftlichen Studien und Modellen sollte die Unsicherheit reduzieren. Zum Teil bezogen sich die Fachbehörden allerdings auch auf bisherige Risikostrategien, obwohl sie um die hohe Unsicherheit der Risikoabschätzung aufgrund mangelnder Informationsbasis wissen.127 Die Naturschutzakteure (z. B. WWF, Biosphärenreservatsverwaltung und Umweltinitiativen) reagieren nach dem Extremereignis von 2002 bei der Durchsetzung von Maßnahmen der Auenrenaturierung sehr vorsichtig. Die Möglichkeit, dass Naturschutzmaßnahmen einen negativen Einfluss auf das Hochwassergeschehen haben könnten und es in Schadensfällen zu Vorwürfen gegen den Naturschutz kommen könnte, soll weitestgehend ausgeschlossen werden. Als Reaktion auf diese Unsicherheit über den Einfluss der Naturschutzmaßnahmen auf das Hochwassergeschehen werden engere Kooperationen mit Akteuren aus den Fachplanungen geschlossen, um so Verantwortung teilen zu können. Bereits fünf Jahre nach dem Ereignis berichten verschiedene Akteure über einen langsamen Rückgang der öffentlichen Risikowahrnehmung und des Risikobewusstseins. Lokale Akteure und Bürgerinitiativen bemühen sich, das Bewusstsein für das Überschwemmungsrisiko, die Aufmerksamkeit und die Erinnerung an das Ereignis und dessen Bewältigung aufrechtzuerhalten (vgl. Kap. 5.4.2, S. 181 f.).
127 Zum Prognoseproblem und einem vorsorgenden Umgang mit Unsicherheit vgl. Kap. 2.2.1 und Kap. 6.1.3.
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205
5.5.3 Soziales Handeln: Kurzfristiges Handeln, Lernprozesse und bürgerschaftliches Engagement In der Dimension des sozialen Handelns können verschiedene Lernprozesse nachgezeichnet werden, die insbesondere durch das Extremereignis 2002 geprägt wurden.128 Vor 2002 beschäftigten sich bis auf den LHW vergleichsweise wenige professionelle und private Akteure mit bestehenden und potenziellen Hochwasserrisiken, dem Bedarf an Schutzmaßnahmen und notwendigen Vorbereitungen. Auch Hochwasservorsorge war nur sehr wenigen Akteuren ein Anliegen. Durch das Extremereignis von 2002 wurden Hochwasserschutz und -management für fast alle Akteure in der Untersuchungsregion schlagartig zu einem zentralen Thema. Unmittelbar nach den Überschwemmungen dominierten Fragen danach, wer eine mangelnde Vorbereitung oder die Vernachlässigung von vorsorgenden Maßnahmen zu verschulden oder zu verantworten habe. Diese Diskussionen wurden oftmals emotional geführt. Aktivitäten folgten weniger strategischen Entscheidungen, als vielmehr dem Drang, sofort zu reagieren und kurzfristig sichtbare Veränderungen zu produzieren. Beispiele hierfür sind (zum Teil illegale) Baumfällungen oder suboptimale Deichsanierungen, die unter dem herrschenden Zeitdruck nicht ausführlich verhandelt, geplant und realisiert werden konnten (vgl. u. a. Kap. 5.4.3, S. 194). Besondere Bedeutung erlangen diese kurzfristigen Reaktionen, da sie in langfristiger Perspektive durchaus nicht oder kaum reversible Auswirkungen haben. Dieses kurzfristige Engagement stellt jedoch nicht die einzige Reaktion auf das Extremereignis dar. Nach und nach haben sich viele Aktivitäten etabliert, die auf langfristige Maßnahmen zielen (z. B. Hochwassernotgemeinschaft, Wasserwehr). Oftmals waren einzelne Schlüsselakteure entscheidende Promotoren dieser Aktivitäten. Durch solche von bürgerschaftlichen oder intermediären Akteuren initiierten Aktivitäten veränderte sich im Vergleich der verschiedenen Fallstudien die Steuerungsrichtung schrittweise von einem Top-down-Ansatz zu einem Multilevel-Governance-Prozess (vgl. auch Kap. 5.5.4).129 Unmittelbar nach dem Extremereignis findet allerdings überwiegend ein Rückbezug auf die staatliche Steuerung und den Top-down-Ansatz statt: Vor allem Bundes- und Landeseinrichtungen übernahmen die kurzfristige Bewälti128 Zum Zusammenhang von Lernen und Transformationsprozessen vgl. Fußnote 42. Lernen ist dabei nie wertfrei oder politisch neutral (vgl. Armitage, Marschke, Plummer 2008, 96). Vielmehr hängt es von den Akteuren sowie den formellen und informellen (Macht-)Beziehungen ab, wer was aus sozial-ökologischen Transformationsprozessen lernt. Für die empirische Untersuchung der Fallstudien bedeutet dies z. B., dass es keine „richtigen“ Verhaltensweisen gibt, die von den Akteuren gelernt werden. 129 Zum Begriffsverständnis vgl. Fußnote 36.
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gung der Überschwemmung und den Wiederaufbau. Sie legten in dieser akuten Situation weniger Wert auf die Kommunikation und Aushandlung der geplanten Maßnahmen des Wiederaufbaus bzw. der akuten Sicherung von Schwachstellen. Dies führte zu Konflikten mit der Bevölkerung, die sich schlecht informiert fühlte und aktiv an der Gestaltung beteiligt werden wollte. Im Rahmen der Konfliktbewältigung kam es jedoch z. B. in Waldersee zu einem Lernprozess bei den Landesbehörden und der Stadtverwaltung und in der Folge zu einer breiteren Beteiligung und Aushandlung der Hochwasserschutzplanungen in konkreten Planungsabschnitten. Zum Teil konnte dabei auf bestehende Netzwerke und Konzepte aufgebaut werden (z. B. die Vorarbeiten des STAU und der Biosphärenreservatsverwaltung in Lödderitz). Zum Teil wurden neue Allianzen und Konstellationen geschaffen (z. B. durch die Einrichtung des städtischen Hochwasserausschusses oder die Gründung der Wasserwehr unter Zusammenarbeit von Bürgervertreter/innen, Stadtrat und Stadtverwaltung). Wichtige Einflussfaktoren waren hierbei das hohe Risikobewusstsein in der Bevölkerung, die Gestaltung der Kommunikationsprozesse sowie das bürgerschaftliche Engagement.130 Die aktive Beteiligung der Bevölkerung an der Aushandlung über den Umgang mit Hochwasser wird z. B. im Fall Waldersees von den staatlichen oder behördlichen Akteuren durchaus geschätzt und ernst genommen (vgl. Kap. 5.4.2, S. 186). Fallübergreifend lässt sich zudem feststellen, dass sich verschiedene lokale Aushandlungspraktiken etabliert haben, bestehende soziale Netzwerke intensiviert wurden und neue Kooperationen entstanden sind. Auch im Bereich der Auenrenaturierung lässt sich beobachten, dass nicht mehr nur die Fachplanungen, sondern auch die Umweltverbände eine zentrale Rolle in der Entwicklung von Konzepten und der Umsetzung von Pilotprojekten einnehmen.131 Die Naturschutzakteure sahen sich nach 2002 jedoch auch mit starker Kritik durch die 130 Im Rahmen der empirischen Untersuchung wurden nur bestimmte Aspekte von Lernprozessen als Ausdruck des sozialen Handelns der Bevölkerung untersucht (insbesondere Reaktionen, Aktivitäten, bürgerschaftliches Engagement nach dem Extremereignis). Andere Fallstudien im Elbegebiet zeigen, dass z. B. in Hinsicht auf die privaten Vorsorgemaßnahmen nicht von einer grundsätzlichen Verhaltensänderung und damit auch nicht von einem Lernprozess gesprochen werden kann (vgl. Kuhlicke 2008). Dieser Aspekt wurde im Rahmen der Fallstudie „DessauWaldersee“ nicht systematisch untersucht. Aussagen der Interviewten weisen jedoch darauf hin, dass zumindest bei Einzelnen aus den verursachten Schäden Lehren gezogen wurden und bei der Renovierung der Häuser eine Anpassung an zukünftige Überschwemmungen verfolgt wurde (vgl. Kap. 5.4.2). 131 Diese Tendenz lässt sich auch in anderen Renaturierungsprojekten beobachten. So führte beispielsweise das Aueninstitut des WWF in Rastatt in den letzten 25 Jahren zahlreiche Projekte am Rhein durch (vgl. www.auen.uni-karlsruhe.de). Auch in Lenzen an der Elbe realisiert der Verein „Trägerverbund Burg Lenzen (Elbe) e.V.“ eine Deichrückverlegung, maßgeblich unterstützt durch den BUND (vgl. Monstadt 2008b).
5.5 Zusammenführung
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Bevölkerung konfrontiert und waren dadurch herausgefordert, neue Kommunikationsstrategien zu entwickeln. Diese waren zu Beginn des Umsetzungsprozesses der Deichrückverlegung nicht sehr erfolgreich. Bei den Projektverantwortlichen erfolgte ein Lernprozess im Bezug auf den Umgang mit unterschiedlichen Interessen, Unsicherheiten und Ängsten der Bevölkerung. Außerdem baute der WWF nach dem Extremereignis erfolgreiche Kooperationen mit dem LHW auf. Beide Akteure gingen nach dem Extremereignis offener aufeinander zu und nutzten die Kompetenzen des anderen für ihre Ziele. Beide Akteure profitierten dabei auch von der auf Bundesebene zunehmenden politischen Unterstützung von Renaturierungsprojekten, wie dem Naturschutzprojekt „Mittlere Elbe“. Der LHW als wasserwirtschaftliche Fachplanungsstelle auf föderaler Ebene öffnete teilweise seine Entscheidungsprozesse für eine breitere Beteiligung. Im Falle der Sanierung der Walderseer Deiche beispielsweise erprobte er eine informelle Beteiligung, innerhalb derer Abstimmungen mit verschiedenen Akteuren stattfanden. Dabei profitierte der LHW stark von der Flexibilisierung der Genehmigungspflicht bei Deichsanierungen. Durch die Aussetzung des Genehmigungsverfahrens konnte der LHW den Planungsprozess sehr viel schneller und unkomplizierter umsetzen. Dabei entstanden einerseits neue Kooperationen und Instrumente des Interessenausgleichs, wie z. B. die neu eingerichtete Kompensationskartei, die in Zusammenarbeit mit Naturschutzakteuren entwickelt wurde (vgl. Kap. 5.3.2, S. 165). Andererseits wurden auch bestehende soziale Netzwerke aufgegriffen und verstärkt (z. B. die Zusammenarbeit zwischen Biosphärenreservatsverwaltung und WWF, vgl. Kap. 5.3.2, S. 158 f.). Die beteiligten Akteure handelten solche Synergien oder gleichzeitigen Raumnutzungen oftmals in konkreten Projekten aus und stimmten Kompromisse detailliert im Einzelfall ab. Einige Interviewpartner/innen bezeichneten dieses Vorgehen als Landschaftsmanagement, in dem die jeweils spezifischen Anforderungen der Raumnutzungen berücksichtigt werden (vgl. Kap. 5.3.4, S. 174). 5.5.4 Normative Regulation: Formelle Steuerung im Wandel Auch in normativer und institutioneller Hinsicht hatte das Hochwasserereignis von 2002 einen grundlegenden Einfluss auf den Umgang mit Hochwasser. Dieser manifestiert sich sowohl in der Region der Mulde-Mündung als auch auf Bundesebene sowie auf Ebene der EU. Vor dem Extremereignis war Hochwasserschutz vor allem durch die Landesgesetzgebung und die politischen Aktivitäten des Landes Sachsen-Anhalt reguliert. Vorrangiges Ziel war, die regional unterschiedlichen Hochwasser-
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schutzkonzepte zu vereinheitlichen und an die föderalen Vorgaben des Wasserhaushaltsgesetzes (WHG) anzupassen. Durch das Hochwasser im Jahr 2002 entwickelten sich zwei Handlungsstränge: Zum einen führte der LHW und die Landesregierung parallel zur akuten Bewältigung der Folgen des Hochwasserereignisses eine grundlegende Situationsanalyse des Zustandes und Erfolgs des derzeitigen Hochwasserschutzes sowie eine kritische Revision der politischen Vorgaben durch. Ein Schwerpunkt lag auf der Förderung von technischen Hochwasserschutzmaßnahmen. Zum anderen stießen die Bundesregierung und die EU fast gleichzeitig verschiedene Gesetzesinitiativen an.132 Diese führten einerseits zu einer Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes (WHG) durch das „Gesetz zum vorbeugenden Hochwasserschutz“ im Mai 2005 und andererseits zur Verhandlung und Verabschiedung der EU-Rahmenrichtlinie über die Bewertung und das Management von Hochwasserrisiken im Jahr 2007 (vgl. u. a. Jekel 2005; Breuer 2006; Nacken 2007; Wagner 2008; vgl. auch Kap. 5.1.3).133 2005 prägten also Elemente der normativen Regulation wieder stärker den Umgang mit Hochwasser an der Elbe (vgl. Kap. 5.2.4, S. 143). Mit diesen Initiativen auf der Ebene der formellen Regulation stellt sich gleichzeitig eine inhaltliche Schwerpunktverschiebung im Hochwassermanagement ein: In beiden Gesetzesinitiativen stehen die Prinzipien der Vorsorge im Vordergrund. Auf der operativen Ebene beinhalten sie vor allem Maßnahmen, die ihren Schwerpunkt nicht auf baulichen Schutz legen (z. B. Maßnahmen der Raumplanung, des Auenmanagements, der Verbesserung von Warn- und Informationssystemen). Außerdem bezieht sich insbesondere das Bundesgesetz zum vorbeugenden Hochwasserschutz auf die Grenzen technischer Maßnahmen, indem es neben den Überschwemmungsgebieten die Planungskategorie der von Hochwasser potenziell gefährdeten Gebiete einführt (vgl. Kap. 5.2.1, S. 126; auch Lange, Garrelts 2007, 271 ff.). Im Bezug auf die Steuerungs-, Macht- und Akteursstrukturen, die Teil der normativen Regulation sind, lässt sich beobachten, dass unmittelbar nach dem Extremereignis von 2002 vor allem staatliche Akteure die Bewältigung des Ereignisses koordinierten, auch wenn lokale und private Akteure einen erheblichen Anteil am akuten Katastrophenschutz hatten. Auch durch die darauf folgenden Initiativen auf Ebene der EU sowie der Bundesregierung wird langfristig der Top-down-Ansatz klassischer staatlicher Steuerung fundiert. Allerdings besitzen sowohl das Bundesgesetz zum vorbeugenden Hochwasserschutz als 132 Die Bundesregierung legte bereits einen Monat nach dem Elbe-Hochwasser ihr Fünf-PunkteProgramm zum vorbeugenden Hochwasserschutz vor (vgl. http://www.bmu.de/gewaesser schutz/doc/ 3114.php (Zugriff: 16.09.08). 133 Zu Veränderungen im Rahmen der Föderalismusreform vgl. Breuer 2006, 616 f.; Kotulla 2007.
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auch die EU-Richtlinie zum Hochwasserrisikomanagement Elemente, die eine stärkere Beteiligung von privaten Akteuren und Trägern öffentlicher Belange fördern. Das novellierte WHG sieht beispielsweise eine stärkere Eigenvorsorge von Privathaushalten vor (vgl. Kuhlicke, Steinführer 2006; Kuhlicke, Steinführer 2007). Hochwasserschutz wird darin als gesamtgesellschaftliche und nicht mehr nur als rein staatliche Angelegenheit bezeichnet.134 Doch auch unabhängig von dieser formell regulierten Beteiligung lässt sich bereits in der ersten Phase des Wiederaufbaus nach 2002 eine stärkere Partizipation gesellschaftlicher Akteure an Aufgaben und Aktivitäten des Hochwassermanagements beobachten, die sich nicht in direktem Bezug zu rechtlichen Regulierungen entwickelt hat. Dabei werden auf informeller Ebene zentrale Aspekte des Hochwassermanagements von intermediären oder bürgerschaftlichen Akteuren übernommen (Bottom-up-Ansatz, vgl. S. 184 ff., ausführlich Kap. 5.3.3).135 5.5.5 Zwischenfazit: Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel Der Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung – verstanden als räumlich wirksames und reguliertes gesellschaftliches Naturverhältnis – verändert sich in dem untersuchten Zeitabschnitt und in den analysierten Handlungsfeldern in mehrfacher Hinsicht. Entlang der vier Dimensionen des sozial-ökologischen Raumkonzeptes – materiale Gestalt, kultureller Ausdruck, soziales Handeln und normative Regulation – lässt sich ein differenziertes Abbild eines Veränderungsprozesses zeichnen, in dem inkrementelle Prozesse durch das katalytisch wirkende extreme Hochwasser von 2002 überlagert werden.136 Ziel der empirischen Untersuchung war es, diesen Transformationsprozess des gesellschaftlichen Umgangs mit Hochwasser differenziert zu untersuchen. Die Annahme einer eindeutigen Entwicklung von einem sektoralen, technischen Hochwasserschutz zu einem integralen, vorsorgenden Hochwassermanagement, wie sie im wissenschaftlichen und fachlichen Diskurs mitunter festgestellt werden (vgl. Kap. 2.3.1), konnte durch die empirische Forschung nicht vollumfäng134 Da die EU-Richtlinie über die Bewertung und das Management von Hochwasserrisiken auf den gleichen Management-Strukturen aufbaut wie die WRRL, ist davon auszugehen, dass auch die Hochwasser-Richtlinie einen Einfluss auf die Governance-Strukturen nehmen und die Beteiligung breiter Akteursgruppen im Managementprozess fördern wird (vgl. Dworak 2008, 50 f.). Dies wird sich jedoch mit der Implementierung auf der Ebene der Nationalstaaten und in Deutschland der Bundesländer erweisen. 135 Bottom-up bezeichnet als Gegenpol zu Top-down-Prozessen eine Steuerungsbewegung, die ‚von unten’ also von Bürger/innen oder kommunalen Initiativen ausgeht. 136 Vgl. Modell des Strategiewandels und der prägenden Kontextfaktoren in Abb. 4, Kap. 2.3.
210
5 Gesellschaftliche Naturverhältnisse im Wandel
lich bestätigt werden. Vielmehr stellte sich ein komplexer Transformationsprozess dar. In Abb. 19 sind die wesentlichen Kennzeichen der Entwicklungslinien, die in diesem Kapitel ausgeführt wurden, zusammenfassend dargestellt. Materiale Gestalt
Abwägung von technischem HWS u. anderen Nutzungen
geringes Risikobewusstsein
Soziales Handeln
geringe Vorbereitung (preparedness)
Normative Regulation
Vereinheitlichung der formellen Vorgaben
Hochwasserereignis 2002
Kultureller Ausdruck
hohe Priorität für technische Maßnahmen
hohe Aufmerksamkeit, hohe Wahrnehmung der Risiken
Schwerpunkt auf ökologischem Hochwasserschutz u. Wasserrückhalt
Abnahme von Risikobewusstsein u. Aufmerksamkeit
kurzfristige Aktivitäten, emotional
vielfältiges bürgerschaftliches Engagement, Multilevel-Governance
Situationsanalyse
Revision der Gesetzgebung auf nationaler u. EU-Ebene
Zeit
Abbildung 19: Veränderungsprozess entlang der Dimensionen des sozialökologischen Raumkonzeptes (eigene Darstellung) In den Fallstudien wurden die die Veränderungsprozesse prägenden regulativen Faktoren entlang der vier Dimensionen des sozial-ökologischen Raumkonzeptes differenziert, um die Komplexität zu reduzieren und gleichzeitig möglichst vielfältige Faktoren des gesellschaftlichen Veränderungsprozesses zu erfassen. Wie sich in den ausführlichen Fallstudienanalysen gezeigt hat, stehen die Dimensionen des sozial-ökologischen Raumkonzeptes in enger Wechselwirkung miteinander (vgl. Kap. 6.2.2). Resümierend lässt sich im Bezug auf einen Strategiewandel im Umgang mit Hochwasser im beobachteten Zeitraum in den Fallstudien ein inkrementeller Prozess feststellen, in dem sich schrittweise ein (zumindest überwiegend) integ-
5.5 Zusammenführung
211
rierter Umgang mit Hochwasser im Rahmen des Flussgebietes entwickelt.137 Die zuständigen Verwaltungen, bürgerschaftlichen Akteure und Naturschutzakteure legen einen stärkeren Fokus auf Risikovorsorge. Auf der strategischen Ebene des Hochwassermanagements werden dabei gesellschaftliche Schutzansprüche und ökologische Funktionen des Flussgebietes verbunden. Bauliche und nichtbauliche Maßnahmen werden zunehmend kombiniert und Synergien zwischen Nutzungen berücksichtigt. Das Extremereignis von 2002 wirkt in diesem kontinuierlichen, langsam fortschreitenden Entwicklungsprozess als einschneidendes Ereignis, das katalytische Impulse in zwei verschiedene Richtungen setzt:
Auf der einen Seite führt es zu kurzfristigen Reaktionen, die sich zum Großteil auf Prinzipien eines sektoralen, technisch-dominierten Hochwasserschutzes beziehen. Es werden technische Maßnahmen favorisiert und Governance-Strukturen unterstützt, die zentral und von oben gesteuert werden. Auf der anderen Seite eröffnet das Extremereignis in mittel- und längerfristiger Hinsicht ein ‚window of opportunity’, das Strategien und Maßnahmen befördert, die dem Leitbild eines integralen, vorsorgenden Umgangs mit Hochwasser entsprechen. Des Weiteren entstehen Steuerungsstrukturen, die die Handlungsspielräume vielfältiger Akteursgruppen auf verschiedenen Ebenen umfassen.
Darüber hinaus sind bei einer Betrachtung über einen längeren Zeitraum die dauerhaften Effekte der kurzfristigen Aktivitäten von besonderer Bedeutung. Einige der kurzfristigen Reaktionen und Bewältigungsstrategien haben kaum oder nicht reversible Bedingungen geschaffen, die einem vorsorgenden Hochwassermanagement entgegenstehen und nun als ‚Fakten’ in der mittel- und langfristigen Planung berücksichtigt werden müssen (vgl. Kap. 5.2.4, S. 141; Kap. 5.5.3, S. 205).138 Die Konsequenzen, die sich für eine sozial-ökologische Gestaltung des Hochwassermanagements aus dieser mehrdimensionalen Analyse ergeben, werden im folgenden Kapitel ausgeführt. Darauf aufbauend erfolgt eine Reflexion des Analyserahmens. 137 Für die Reichweite der Ergebnisse der Analyse ist es zentral, den zeitlichen Rahmen der Untersuchung zu berücksichtigen (vgl. Kap. 6.2.5). 138 Felgentreff (2008) warnt vor diesen kurzfristig geschaffenen Fakten: „Kurzfristig getroffene (und im Angesicht der akuten Notlage gut begründete) Entscheidungen können Bedingungen schaffen, die langfristigen Zielsetzungen zuwiderlaufen“ (ebd., 282). Auch Merz und Emmermann (2006) verweisen darauf, dass insbesondere bauliche Schutzmaßnahmen langfristig Mittel binden und schwer umkehrbare Fakten schaffen (ebd., 273).
6 Reflexionen: Ein sozial-ökologisches Raumkonzept für den Umgang mit Hochwasser
Zentrales Thema dieser Arbeit ist die sozial-ökologische Transformation des Hochwassermanagements. Als theoretisch-konzeptioneller Zugang zu der empirischen Fragestellung wurde der Umgang mit Hochwasser als räumlich reguliertes gesellschaftliches Naturverhältnis gefasst. Damit ist diese Arbeit in der sozial-ökologischen Raumforschung verortet. Problemorientiertes Ergebnis der Analyse ist die Rekonstruktion der Veränderungsprozesse im Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung. Entlang des zuvor erarbeiteten analytischen Rahmens, des sozial-ökologischen Raumkonzeptes, wurden in drei Fallstudien die zentralen Faktoren, die diese Veränderungsprozesse prägen, untersucht und die sich verändernden Handlungsspielräume der beteiligten und betroffenen Akteure für die Gestaltung des Hochwasserschutzes aufgezeigt (vgl. Kap. 5). Das folgende Abschlusskapitel reflektiert die Ergebnisse der empirischen Untersuchung auf zwei Ebenen:
In analytischer Hinsicht werden die sich aus der empirischen Untersuchung ergebenden Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement formuliert und mit Bezug auf aktuelle Diskurse der sozial-ökologischen Forschung einerseits und der Raumforschung bzw. raumbezogenen Naturgefahrenforschung andererseits reflektiert. Dabei werden die Schnittmengen dieser beiden bisher weitgehend unverbundenen wissenschaftlichen Diskurse herausgearbeitet (vgl. Kap. 6.1). In konzeptioneller Hinsicht wird der entwickelte und in der empirischen Untersuchung angewandte Untersuchungsrahmen, das sozial-ökologische Raumkonzept, reflektiert. Im Zentrum steht die Frage, welche Rückschlüsse aufgrund der empirischen Analyse im Handlungsfeld Hochwasser für das sozial-ökologische Raumkonzept als untersuchungsleitender Ansatz gezogen werden können (vgl. Kap. 6.2).
Ziel dieser Reflexionen besteht auch darin, weiteren Forschungsbedarf aufzuzeigen. Zum Abschluss werden die zentralen Ergebnisse der Arbeit in einem Fazit zusammengefasst.
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6 Reflexionen
6.1 Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement Welche Anforderungen lassen sich also aufgrund der empirischen Ergebnisse für die Gestaltung eines vorsorgenden Hochwassermanagements formulieren? Diese Frage knüpft an das Forschungsdesiderat an, das der Analyse vorangestellt wurde: Ein integrales, vorsorgendes Hochwassermanagement wird zwar als Gegenentwurf zum bisherigen sektoralen, technisch-orientierten Hochwasserschutz gesehen. Dennoch bleibt im bisherigen wissenschaftlichen und planerischen Diskurs weitgehend unscharf, wie die konzeptionellen Bestandteile eines vorsorgenden Hochwassermanagements in normativer und handlungspraktischer Hinsicht verbunden und ausgeführt werden sollten (vgl. Kap. 2.2). Daher werden im Folgenden auf Basis der empirischen Ergebnisse konzeptionelle Anforderungen an einen vorsorgenden Umgang mit Hochwasser aus der Perspektive der sozial-ökologischen Raumforschung ausgeführt. Entlang der Dimensionen des sozial-ökologischen Raumkonzeptes lassen sich vier zentrale Anforderungen formulieren, die miteinander in Verbindung stehen:
In der Dimension der materialen Gestalt der Flusslandschaft gilt es, bauliche Maßnahmen sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht mit verschiedenen Nutzungsansprüchen und Maßnahmen abzustimmen und zu integrieren, um Synergien zwischen Hochwasserschutz und anderen Nutzungen im Flussgebiet zu gestalten (vgl. Kap. 6.1.1). In der Dimension des kulturellen Ausdrucks bedarf es eines Risikobewusstseins, welches von einem veränderten Verständnis von Bedrohung und Sicherheit geprägt ist (vgl. Kap. 6.1.2). In der Dimension des sozialen Handelns gilt es eine Risikokultur der Resilienz zu etablieren und auszubauen. Die Bewältigung von extremen Hochwasserereignissen und die Vorsorge vor Schadenseintritten werden dann als langfristiger Lern- und Aushandlungsprozess gestaltet (vgl. Kap. 6.1.3). Die Dimension der normativen Regulation eines vorsorgenden Umgangs mit Hochwasser bezieht sich auf neue Governance-Strukturen, die den Umgang mit Hochwasser als gesellschaftliche Aufgabe normativ und institutionell gestalten, den Unsicherheiten mit begleiteten Realexperimenten begegnen und eine Planung und Koordinierung von Raumnutzungen etablieren, die flexibel auf Veränderungen reagieren können (vgl. Kap. 6.1.4).
Zur theoretischen Reflexion werden sowohl die Grundlegungen aus Kapitel 2 aufgegriffen als auch neue theoretische Bezüge eingeführt und entlang der empirischen Ergebnisse diskutiert.
6.1 Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement
215
6.1.1 Materiale Gestalt: Räumliche und zeitliche Integration von natürlichen Prozessen, baulichen Maßnahmen und Schutz- und Nutzungsansprüchen Die zentrale Anforderung, die sich in der Untersuchung der Veränderungsprozesse in der Region Mulde-Mündung im Bezug auf die Dimension der materialen Gestalt ergibt, bezieht sich auf die Integration der baulichen Maßnahmen zur Hochwasservorsorge und der Schutz- und Nutzungsansprüche im Flussgebiet in räumlicher und zeitlicher Hinsicht sowie deren Abstimmung auf die natürlichen Prozesse im Flussgebiet (vgl. Kap. 5.5.1). Die empirische Untersuchung in der Region Mulde-Mündung hat gezeigt, dass die Ansprüche an die Nutzungen und Funktionen des Flussgebietes vielfältig sind: von Landwirtschaft über Forstwirtschaft, Besiedlung, Freizeit und Sport bis hin zu Hochwassersicherheit und Naturschutz. In dieser Multifunktionalität besteht eine enge Wechselwirkung zwischen den natürlichen Prozessen, den materiell-physischen und baulichen Bedingungen im Flussgebiet und den gesellschaftlichen Aktivitäten. Die baulichen Maßnahmen zum Schutz vor Hochwasserereignissen sind nur ein Element neben anderen und geraten in einem breiteren räumlichen und zeitlichen Kontext mitunter in Konflikt mit anderen Raumansprüchen. Auch Glade und Felgentreff (2008) arbeiten in ihrem Resümee zum Zusammenhang von „Naturrisiken und Sozialkatastrophen“ heraus, dass insbesondere vor dem Hintergrund von Unsicherheit, Unkenntnis oder Nicht-Messbarkeit einzelner Faktoren ein Zugang zum Umgang mit materiellen Gefahren notwendig ist, in dem „Wechselwirkungen in Raum und Zeit, innerhalb eines Systems und zwischen Systemen verstärkt betrachtet werden“ (ebd., 446). Damit ist vor allem ein räumlicher und zeitlicher Bezug zwischen der materialen Ebene des Flussgebiets, den Politiken, Strategien und dem sozialen Handeln angesprochen. Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser sozial-ökologischen Perspektive auf die räumlichen und zeitlichen Wechselwirkungen zwischen natürlichen Prozessen, baulichen Maßnahmen und Nutzungsansprüchen für ein vorsorgendes Hochwassermanagement? Die Wechselwirkungen werden im Folgenden entlang von drei Problemdimensionen diskutiert: problem of fit, problem of scale und problem of interplay. Diese Strukturierung hat Young (1999, 45 ff.; 2002; vgl. Kap. 2.2.2) für die Analyse und Bewertung von umweltbezogenen Entscheidungsprozessen entwickelt. Sie lässt sich jedoch nicht nur auf die globale Dimension des Umweltwandels, sondern auch auf die Wechselwirkung zwischen natürlichen Prozessen,
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6 Reflexionen
baulichen Maßnahmen und institutionellen Schutz- und Nutzungsansprüchen bei Gestaltung des Hochwassermanagements auf regionaler Ebene anwenden:139
Das problem of fit bezeichnet die Problemdimension der Inkompatibilität von materiellen und institutionellen Strukturen. Dies betrifft im Umgang mit Hochwasser z. B. die Fläche des Hochwasserentstehungsgebietes im Flusssystem, die nicht mit den institutionellen Grenzen und Zuständigkeiten von Wasserbehörden übereinstimmen, wie das z. B. in der Region MuldeMündung der Fall ist. Die Hochwasserentstehungsgebiete liegen in Sachsen und Tschechien, der LHW ist als Landesbehörde jedoch nur für SachsenAnhalt zuständig. Vor dem Hintergrund der empirischen Forschungen erscheint es sinnvoll, diese Problemdimension der räumlichen Inkompatibilitäten auch auf die zeitliche Dimension auszuweiten. Es hat sich in der empirischen Untersuchung in der Region Mulde-Mündung gezeigt, dass vielfach Bewältigungsstrategien, Normen und Instrumente in zeitlicher Hinsicht nicht mit den Phasen und Dynamiken des Hochwasserereignisses und der Prozesse im Flussgebiet zusammenpassen (vgl. insbesondere Kap. 5.5.1). So blieb in Dessau-Waldersee z. B. in der Phase der Bewältigung nur wenig Zeit für breite Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse, weil sich aufgrund kurzfristiger Wetterentwicklungen ein weiteres Hochwasserereignis bereits in kurzem Abstand wiederholen könnte, ohne dass die Akteure Schutzmaßnahmen wiederhergestellt und ihre Siedlungen vorbereitet haben (vgl. Kap. 5.4). Mit dem problem of interplay werden Interaktionsprobleme bezeichnet, die vertikal zwischen verschiedenen institutionellen Ebenen (z. B. zwischen Unterer Wasserbehörde und dem Landesbetrieb für Hochwasserschutz) und horizontal zwischen Planungsträgern auf einer institutionellen Ebene (z. B. zwischen Unterer Naturschutzbehörde und Bauleitplanung) auftreten. Die Ebene der Interaktion ist in einem vorsorgenden Hochwassermanagement besonders angesprochen, da es, wie in den Fallstudien gezeigt wurde, um die Abstimmung vielfältiger Nutzungsansprüche auf die materiellphysischen Gegebenheiten im Flussgebiet geht. Nutzungsansprüche zu koordinieren, sie mit den materiellen Bedingungen zu vereinbaren und die Interaktion der verschiedenen Akteursgruppen zu fördern, ist daher integraler Bestandteil eines vorsorgenden Hochwassermanagements. Auch hier hat sich gezeigt, dass zusätzlich die zeitliche Dimension zu berücksichtigen ist,
139 Diese dreiteilige Strukturierung wurde in den vergangenen Jahren insbesondere von der wasserbezogenen Umweltforschung auf den politischen Wandel im Umgang mit Flussgebieten übertragen (vgl. u. a. Moss 2003a). Sie lässt sich auch auf den Umgang mit Naturgefahren anwenden, wie jüngst Greiving und Feischhauer (2008) vorgeschlagen haben.
6.1 Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement
217
da sich die Interaktionen zwischen den verschiedenen Akteuren mit zeitlicher Distanz zu einem Extremereignis verändern (vgl. Kap. 5.5.1). Politische Entscheidungsträger/innen und Vertreter/innen agieren beispielsweise in einem sehr viel kürzeren Handlungszeitraum als die für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft zuständigen Behörden. Die Vorbereitung, Planung und Fertigstellung der Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst benötigt insgesamt ca. 20 Jahre. Der kurzfristigen Forderung nach mehr Retentionsräumen nach dem Hochwasserereignis 2002 ist also nicht innerhalb weniger Jahre nachzukommen. Teil dieser Problematik sind allerdings auch die räumlichen und zeitlichen Verlagerungsstrategien, die sich bei Hochwasserbelangen in der Region Mulde-Mündung äußerten (z. B. NIMBY, vgl. Kap. 5.4). Bauliche Vorsorge durch Rückverlegungen oder Polder wird z. B. in der Fallstudie Waldersee durchaus gewünscht, umgesetzt werden sollten sie jedoch in anderen Regionen. Zeitliche und räumliche Verlagerungsstrategien lassen sich vor allem durch Ausgleichs- oder Kooperationsmodelle bearbeiten (vgl. auch Fischer 1993). Die Hochwasserpartnerschaften, wie sie in der Region Mulde-Mündung bzw. an der Elbe entworfen wurden, oder ein ökonomischer Kostenausgleich, wie ihn ein Interviewpartner vorschlägt, sind Beispiele, die im Rahmen eines vorsorgenden Hochwassermanagements durchgeführt werden können, um die problems of interplay zu bearbeiten (vgl. auch Haupter 2003; Heiland 2002). Für die räumliche Planung führen Greiving und Fleischhauer (2008) vergleichbar aus, dass insbesondere Unsicherheiten bezüglich zukünftiger Änderungen der materiell-physischen Bedingungen im Rahmen des Klimawandels sowie unterschiedliche Zeithorizonte dafür verantwortlich sind, dass Probleme bei der Umsetzung von vorsorgenden Maßnahmen entstehen. Das „zeitliche Auseinanderfallen“ der Planungshorizonte führe in der Praxis oft dazu, dass „die Diskussion über Anpassungsmaßnahmen aufgeschoben oder nur halbherzig geführt wird“ (Greiving, Fleischhauer 2008, 65 f.). Das problem of scale bezieht sich auf Probleme der Übertragbarkeit und Vergleichbarkeit von Gegebenheiten und Entwicklungen auf unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Ebenen (großräumig – kleinräumig, langfristig – kurzfristig). Dabei müssen insbesondere auch die Phasen und Dynamiken von materiell-physischen Veränderungsprozessen berücksichtigt werden, die auf den verschiedenen Ebenen unterschiedlich wirksam sind. Die Extremwetterlage des Sommers 2002 entwickelte sich innerhalb weniger Tage, die Sanierung der Deichverläufe nach dem Hochwasser nahm jedoch mehrere Jahre in Anspruch und ist immer noch nicht abgeschlossen. So wurde versucht, durch provisorische Instandsetzungen, die Deiche auch vor der richtigen Sanierung im Falle erneuter Niederschlagser-
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6 Reflexionen eignisse zu ertüchtigen. Dies spielte insbesondere im Bereich des Lödderitzer Forstes eine Rolle, wo sich die Sanierung bzw. der Neubau des Deiches aufgrund des aufwändigen Planfeststellungsverfahrens über fast zehn Jahre hinzieht. Die Koordination von Strategien und Maßnahmen stellt vor dem Hintergrund dieser verschiedenen zeitlichen und räumlichen Ebenen eine wesentliche Herausforderung für ein vorsorgendes Hochwassermanagement dar. Die Vergleichbarkeit und Übertragbarkeit von Gegebenheiten, Problemkonstellationen und Lösungsmodellen von der einen auf die andere Ebene müssen jeweils genau geprüft werden. Dafür gilt es sowohl die Prozesskenntnisse über materielle sowie soziale Veränderungsdynamiken als auch die qualitative Folgenabschätzung zu verbessern (z. B. durch Monitoring im Rahmen bestehender Planungsinstrumente, vgl. exemplarisch Hanusch, Glasson 2008).
Die Strukturierung entlang dieser drei Problembereiche verdeutlicht die konzeptionellen Herausforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement in der materialen Dimension: Bauliche Maßnahmen sollten so gestaltet werden, dass sie in räumlicher und zeitlicher Hinsicht sowohl mit natürlichen Prozessen als auch mit gesellschaftlichen Schutz- und Nutzungsansprüchen kompatibel sind, Interaktionen der Akteure und Skalenphänomene berücksichtigen. Deutlich wird hier die enge Wechselwirkung zwischen Faktoren der materiellen Gestalt und institutionellen und sozialen Prozessen im Flussgebiet (vgl. auch Kap. 6.1.3 und Kap. 6.1.4). Die Koordinierung von baulichen Maßnahmen, Raumnutzungen und natürlichen Prozessen innerhalb eines multifunktional gedachten Flussgebiets eröffnet auf diese Weise konzeptionelle Handlungsspielräume für ein vorsorgendes Hochwassermanagement. 6.1.2 Kultureller Ausdruck: Risikobewusstsein und Deutungen von Bedrohung und Sicherheit Die Wahrnehmung und Deutung von Hochwasser „beruht nicht nur auf der Eintrittshäufigkeit und der Schadenswahrscheinlichkeit, sondern auch auf Faktoren wie Wissen, Erfahrung und Werthaltung“ (Weichselgartner 2006, 18). Zentral für die Gestaltung eines vorsorgenden Umgangs mit Hochwasser ist das sich aus diesen Faktoren zusammensetzende Risikobewusstsein der Akteure. Risikobewusstsein umfasst die Wahrnehmung und Deutung von Bedrohung durch Hochwasser und von Sicherheit vor Hochwasser sowie die Einschätzung des möglichen Schadens und der möglichen Schutzmaßnahmen. Mit dem Begriff der Deutung wird, basierend auf Schütz (1991), auf individuelle oder kollektive
6.1 Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement
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Sinnschemata Bezug genommen, die die Wahrnehmung vorprägen und damit die wahrgenommene Umgebung in ihrer realen Komplexität reduzieren und strukturieren. Sie basieren auf implizitem Wissen und ermöglichen die Bewertung von neuen Erfahrungen und Informationen.140 In dieser Eigenschaft prägen Deutungsmuster entscheidend die Handlungspraxis der Akteure mit (vgl. auch Kap. 3.2.2 und Kap. 4.2.3). In der Untersuchungsregion Mulde-Mündung hat sich gezeigt, dass sich insbesondere die dem Umgang mit Hochwasser zugrunde liegenden Deutungen von Bedrohung und Sicherheit seit dem Extremereignis im Sommer 2002 verändert haben und von Akteur zu Akteur sehr unterschiedlich ausfallen. Unterschiede zeigen sich insbesondere bei Akteuren des professionellen Hochwassermanagements, der Gruppe der direkt betroffenen Bevölkerung und den Naturschutzakteuren (vgl. Kap. 5.5.2). Die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten, qualitativen Interpretationen decken sich insofern mit quantitativen Studien zu Risikowahrnehmung und Risikobewusstsein verschiedener Akteursgruppen im Naturgefahrenmanagement (vgl. Weichselgartner 2002; Wagner 2004; Jurt, Buchecker 2007; Kuhlicke 2008). Unterschiedliche Deutungen von Natur und Naturgefahr sowie von Sicherheit und Bedrohung können zu Konflikten im Hochwassermanagement führen, wie sich insbesondere in der Fallstudie Lödderitzer Forst gezeigt hat. Eine Konfliktbearbeitung durch das Angebot von zusätzlichen Informationen über Hochwassergefährdung, natürliche Prozesse und geplante Maßnahmen hat im Projekt der Deichrückverlegung nicht zu der gewünschten Konfliktlösung geführt. Aufgrund der durchgeführten Analyse liegt die Annahme nahe, dass den sich gegenüberstehenden Positionen unterschiedliche implizite Deutungsmuster zugrunde liegen (vgl. Kap. 5.3.2). Eine Basis für eine Konfliktbearbeitung könnte dementsprechend eine Offenlegung dieser unterschiedlichen Deutungen sein, um sie dadurch einem Aushandlungsprozess zugänglich zu machen. Deutungen von Naturgefahren und deren Risiken verändern sich insbesondere vor dem Hintergrund von direkten oder indirekten Erfahrungen mit Extremereignissen.141 Neue Erfahrungen, so die These von Schütz, zwingen zu einer Revision oder Veränderung der Deutungsmuster (vgl. Schütz 1991). Dieser Zusammenhang konnte durch die qualitative Forschung im Rahmen der Arbeit nachgewiesen werden (vgl. Kap. 5.5.2). Auch Akteure, die vor dem Extremereignis von 2002 der Bedrohung durch Hochwasser kaum Bedeutung zugemessen 140 Der Begriff des impliziten Wissens, ein Konzept der Wissenssoziologie, geht auf Polanyi zurück und bezeichnet nicht formalisiertes oder nicht einfach in Regeln oder Anweisungen explizierbares Wissen (vgl. Polanyi 1985). 141 Mit Naturgefahr ist ein durch so genannte natürliche Prozesse ausgelöstes und vom Menschen als potenzielle Bedrohung beurteiltes Ereignis gemeint (vgl. Fußnote 20).
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6 Reflexionen
haben, nehmen die Bedrohung als Deutungsmuster von Hochwasser in ihre Argumentationen auf (vgl. Kap. 5.3.3). Breiter angelegte quantitative oder teilstandardisierte Erhebungen könnten hier weitere Erkenntnisse liefern, insbesondere wenn sie die Veränderung der Deutungsmuster durch Extremereignisse und den daraus resultierenden Wandel des Risikobewusstseins durch die Befragung der gleichen Gruppe vor und nach einem extremen Hochwasserereignis untersuchen.142 Auch der Zusammenhang von Deutungen von Hochwasserrisiken und der damit verbundenen sozialen Handlungspraxis bedarf weiterer empirischer Untersuchung. In dieser Arbeit wurden die Deutungen von Bedrohung und Sicherheit in den Zusammenhang von Deutungen und Wahrnehmung von Natur (Naturbilder und Naturverhältnis) gesetzt.143 Dieser Zusammenhang zwischen Wahrnehmung bzw. Deutung von Bedrohung und Risiken sowie Wahrnehmung bzw. Deutung von Natur ist allerdings theoretisch noch wenig ausgearbeitet. Eine Weiterentwicklung der Konzepte einer ‚schützenswerten Natur’ und einer ‚bedrohlichen Natur’ und deren Wechselwirkungen könnten hierfür Ansatzpunkte bieten (vgl. Walter 1995; Kruse, Mölders 2005; Weber 2007). 6.1.3 Soziales Handeln: Risikokultur der Resilienz, Bewältigung und Vorsorge als langfristiger Lern- und Aushandlungsprozess Mit dem Fokus auf der Raumdimension des sozialen Handelns kristallisiert sich eine weitere zentrale Anforderung für einen vorsorgenden Umgang mit Hochwasser heraus: die Gestaltung einer Risikokultur der Resilienz (vgl. Kap. 2.2.1). Unter Risikokultur wird die kulturelle und gesellschaftliche Gestaltung von Risikostrategien und die Handlungspraxis im Umgang mit Risiken verstanden, die in enger Wechselwirkung mit den Deutungsmustern von Risiko, Gefahr und Natur zusammenhängen (vgl. u. a. PLANAT 2005; vgl. auch Kap. 5.5.2). In neuere Konzepte des Risikomanagements für den Umgang mit Naturgefahren wird die Risikokultur als zentraler Bestandteil einbezogen. Allerdings bleibt der Aspekt im sonst vor allem technokratisch verstandenen Risikomanagement-Kreislauf unscharf (vgl. Merz, Emmermann 2006; vgl. Kap. 2.2.2). Auf Basis der empirischen Untersuchung in der Region Mulde-Mündung und neuerer Konzepte der Naturgefahrenforschung lässt sich der Begriff der Risikokultur an das Konzept 142 Solche Ex-ante-/Ex-post-Untersuchungen sind im Handlungsfeld des Naturgefahrenmanagements allerdings sehr schwierig durchzuführen, da sich das Extremereignis solchen experimentellen Settings entzieht. 143 Dies geschah insbesondere im zweiten Analyseschritt der Fallstudienbeschreibungen (Kap. 5.2.3, Kap. 5.3.3, Kap. 5.4.3).
6.1 Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement
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der Resilienz anknüpfen. Resilienz – ein ursprünglich aus der Ökosystemforschung stammender Begriff, der später auf gesellschaftliche und sozial-ökologische Systeme übertragen wurde – bezeichnet die Widerstandsfähigkeit von gekoppelten Mensch-Umwelt-Systemen (vgl. u. a. Holling 1973; Berkes, Colding, Folke 2003; Lebel et al. 2006). Überraschungen, Störungen und Krisen werden dabei als Wendepunkte verstanden, an denen sich zeigt, ob sozialökologische Systeme widerstandsfähig sind, ob sie kurzfristig auf unvorhergesehene Störung reagieren und diese längerfristig durch initiierte Lern- und Anpassungsprozesse überwinden können. Solche Krisensituationen und damit verbundene Störungen werden als Impulsgeber für den Aufbau von Problemlösungsstrategien verstanden, die, „wenn sie auf Dauer erfolgreich sein sollen, in tiefere Schichten von Werten, Normen und ‚kulturellem Gedächtnis’ eingebettet sein müssen“ (Bohle 2008, 436, mit Bezug auf Berkes, Colding, Folke 2003). Insofern spricht Resilienz die Akteurs- und Handlungsperspektive im Umgang mit Störungen, Unsicherheit und Risiko an. In diesem Verständnis bildet Resilienz ein grundlegendes Kennzeichen einer veränderten Risikokultur. Zwei Teilstrategien zur Förderung von Resilienz lassen sich auf Basis der empirischen Untersuchung in der Region Mulde-Mündung konkretisieren: Preparedness und Bewältigung In den untersuchten Fallstudien in der Region Mulde-Mündung zeigt sich, dass die materielle Bedrohung durch das Extremhochwasser und deren Wahrnehmung zu einer doppelten Herausforderung führte: Sowohl die kurzfristige Reaktion auf die akute Bedrohung als auch die temporäre Schwerpunktverlagerung zu einer vor allem technischen Bewältigung müssen in die langfristige strategische Planung einbezogen werden (vgl. zusammenfassend Kap. 5.5.3). So wurden z. B. unter hohem Zeitdruck im Fall Waldersees Sanierungsmaßnahmen ausgehandelt, die aus Sicht verschiedener Akteure als suboptimal bezeichnet werden (vgl. Kap. 5.4.3, S. 181), die nun aber in die langfristige Hochwasserplanung einbezogen werden müssen. In der akuten Bewältigungssituation wurden also andere Maßnahmen relevant als in der langfristig vorsorgenden Planung. Für die Umsetzung eines vorsorgenden Hochwassermanagements gilt es daher, die Schutzbedürfnisse der betroffenen Bevölkerung bei der kurzfristigen Bewältigung von Extremereignissen mit langfristig orientierten baulichen und nicht-baulichen Maßnahmen zu vereinbaren. Dies setzt eine Vorbereitung und Einsatzbereitschaft (preparedness) voraus, die auf akute Extremereignisse reagiert, ohne langfristige Strategien aus dem Blick zu verlieren (vgl. Tierney 2001). Wissen und Information führen dabei nicht automatisch zu einer besseren Bewältigung der Situation, wie Egner (2008) „über den (Nicht-)Zusammenhang von wissenschaft-
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licher Erkenntnis und politischen Entscheidungen“ in der Bewältigung und Vorsorge ausführt. Vielmehr besteht das Ziel der Wissensgenerierung darin, für die verschiedenen handelnden Akteure geeignete Wissenszusammenhänge zu erarbeiten, die diese interpretieren und entsprechend ihrer Risikokultur in politisches und soziales Handeln umsetzen können (vgl. Weichselgartner 2006). Dies erscheint gerade vor dem Hintergrund relevant, dass sich insbesondere die bürgerschaftlichen Akteure nach dem Hochwasserereignis schlecht informiert über den Verlauf des Hochwassers und die ergriffenen Sicherungsmaßnahmen fühlten. Dies führte zu einer hohen Unzufriedenheit und bürgerschaftlichen Protesten, die von den Verwaltungsakteuren durch aufwändige Aushandlungs- und Informationsmaßnahmen aufgefangen werden mussten (vgl. 5.5.3). Der Erfolg der preparedness hängt in hohem Masse von den Erfahrungen und der Vernetzung der Akteure ab. Die vor einem Extremereignis bestehende Aushandlungskultur ist damit Bestandteil einer erfolgreichen Bewältigung von unvorhergesehenen Störungen. In der Auswertung von Katastrophenereignissen wurde festgestellt, dass die preparedness wesentlich mit dem Lernprozess aus bereits bewältigten katastrophalen Ereignissen zusammenhängt (vgl. Felgentreff 2008). Weiterer Forschungsbedarf besteht allerdings darin, die Bedingungen für einen in diesem Sinne positiven Lernprozess zu bestimmen, denn nicht immer führt die Bewältigung tatsächlich zu einer verbesserten Vorbereitung und Einsatzbereitschaft für das nächste Extremereignis (vgl. Felgentreff 2008, 290; Egner 2008; exemplarisch für die Stadt Eilenburg an der Mulde vgl. Kuhlicke 2008). Vorsorge und adaptive capacity Die zweite Strategie zur Förderung einer resilienten Entwicklung setzt an der Verwundbarkeit der Gesellschaft an (vgl. Kap. 2.2). Ziel ist es, die Verwundbarkeit langfristig zu verringern, indem Schäden möglichst nicht entstehen oder geringe Auswirkung auf die Funktionsfähigkeit der Gesellschaften haben (vgl. Adger 2006; Folke 2006, Gallopín 2006). Bohle bezeichnet die Fähigkeit zur Anpassung (adaptive capacity) von Mensch-Umwelt-Systemen gegenüber Stress, Schocks und Krisen als Schlüsselstrategie zur Förderung von Resilienz (vgl. Bohle 2008, 436). Allerdings ist damit nicht eine kurzfristige Anpassung (adjustments) an eine Störung gemeint, in der die Grundstrategie nicht wirklich verändert wird, wie Gallopín (2006) herausarbeitet. Vielmehr geht es um ein grundlegendes Umdenken und eine Veränderung der Handlungsstrategien (adaptation), die möglicherweise auch die bisher bestehende Risikokultur grundlegend ändern (vgl. auch Kasperson et al. 2005). Wie eine solche grundlegende Anpassung und Veränderung der Strategien im Umgang mit Hochwasser aussehen könnte oder sollte und wie dementsprechend Gesellschaften eine adaptive capa-
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city im Sinne einer resilienten Risikokultur entwickeln können, sind zentrale Forschungsfragen, die weiterer empirisch und konzeptionell gestützter Ausführungen bedürfen. Anhand der empirischen Untersuchung in der Mulde-Mündung lassen sich bisher lediglich Anhaltspunkte identifizieren. So können beispielsweise das hohe Risikobewusstsein und das Bemühen um den Erhalt der Erinnerungen an das Extremereignis als ein Element einer adaptive capacity benannt werden. Auch die Verbindung verschiedener Governance-Strukturen und das Schaffen neuer Steuerungsstrukturen und Allianzen im vorsorgenden Hochwassermanagement (vgl. Kap. 5.5.3) ist eine Voraussetzung für die grundlegende Aushandlung und Veränderung von Anpassungsstrategien. Die Bestimmung und Förderung der adaptive capacity bedarf jedoch einer systematischen empirischen Untersuchung (vgl. Füssel, Klein 2006; Vincent 2007). Grundlegend für beide Teilstrategien ist die kulturelle Haltung ‚Leben mit dem Risiko’, also mit unvermeidlichen Bedrohungen aktiv umzugehen und vermeidbare Risiken aktiv zu reduzieren oder zu eliminieren. Bohle (2008) sieht dabei Störungen durch Naturgefahren als ‚normalen’ Bestandteil der MenschNatur-Verhältnisse. Insofern ist eine resiliente Risikokultur zentraler Teil eines sozial-ökologisch konzipierten vorsorgenden Risikomanagements: „Leben mit dem Risiko heißt also in allererster Linie, aktiv mit gesellschaftlichem Wandel und sozio-ökologischen Transformationen umgehen zu lernen, um auf die Unsicherheiten, Störungen und Überraschungen in den Risikowelten von morgen eingestellt zu sein“ (Bohle 2008, 435). Der Fokus der Resilienz als Richtung einer neuen Risikokultur liegt auf der Perspektive der Betroffenen, die mit dem Risiko leben müssen (vgl. Bohle 2008). Resiliente Strategien müssen daher auf den lokalen Ressourcen und Wissensvorräten, die den vom Risiko betroffenen Gemeinschaften eigen sind, aufbauen. Auch in den Fallstudien in der Region Mulde-Mündung hat sich gezeigt, dass nach anfänglichen Konflikten die politische und planerische Steuerung Rücksicht auf die Prioritäten und Wertstrukturen der lokal Betroffenen nehmen muss, um robuste und realisierbare Strategien und Instrumente der Bewältigung und Vorsorge hervorzubringen. Die Gestaltung des Aushandlungsprozesses ist also Teil einer partizipatorischen Risikokultur (auch im Sinne eines adaptive governance, vgl. Kap. 6.1.4), die, wenn sie die Resilienz einer Gesellschaft stärkt, den Grundprinzipien von lokaler Nachhaltigkeit entspricht (vgl. Bohle 2008, 439 f.; Lebel et al. 2006). Eine zentrale Voraussetzung für den Aufbau von Resilienz im Sinne eines langfristigen individuellen und kollektiven Lernprozesses besteht darin, veränderte Wissenssysteme zu etablieren. In Resilienz fördernden Wissenssystemen werden verschiedene Wissensformen kombiniert, es wird aus Erfahrungen gelernt und das Unerwartete antizipiert (vgl. Weichselgartner 2006, 236 f.; Bohle
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2008, 437; Kuhlicke, Kruse 2009). Sie werden sowohl im langfristigen Prozess des gesellschaftlichen Experimentierens als auch in der Evaluation erfolgreicher oder gescheiterter Bewältigungs- und Vorsorgeprozesse ausgefüllt und erweitert (vgl. Berkes, Colding, Folke 2003; Groß, Hoffmann-Riem, Krohn 2005; ausführlich Kap. 6.1.4). Zusammenfassend stehen bei einer Resilienz fördernden Risikokultur soziale Kapazitäten, adaptives Risikomanagement und soziales Lernen für die Begegnung mit Unvorhergesehenem im Vordergrund.144 Wie sich in der Untersuchung der Veränderungsprozesse in der Region Mulde-Mündung zeigt, lässt sich die Bewältigung und Vorsorge von extremen Hochwasserereignissen und deren Schadensauswirkung als zentraler Teil der Risikokultur verstehen. In der Region Mulde-Mündung wirkte das Hochwasser von 2002 als katalytisches Ereignis, das mittelfristig zu einer aktiven Teilhabe verschiedenster Akteursgruppen an Aushandlung und Gestaltung der Bewältigungs- und Vorsorgepraxis führte (vgl. zusammenfassend Kap. 5.5.3). Ob diese Entwicklung sich in der Region MuldeMündung auch unabhängig von impulsgebenden Extremereignissen im Sinne eines langfristigen Lernprozesses und einer grundlegend veränderten Risikokultur verstetigen wird, muss sich in den kommenden Jahren erweisen. 6.1.4 Normative Regulation: adaptive governance durch gesellschaftliche Akteure, Realexperimente und Flexibilisierung der formellen Planung Die Untersuchung des Umgangs mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung zeigt die Etablierung vielfältiger Akteursstrukturen, Kooperationen und Aushandlungspraktiken, durch die extreme Hochwassersituationen bewältigt oder vermieden werden können. Mit Bezug auf die normative Regulation sind diese Veränderungen Ausdruck eines sich wandelnden Steuerungsverständnisses. Vielfältige Steuerungsstrukturen auf verschiedenen Ebenen ergänzen den klassischen Top-down-Ansatz der staatlichen Steuerung (vgl. Kap. 2.3.1 und Kap. 5.4). Diese Entwicklung im Umgang mit Hochwasser steht exemplarisch für ein verändertes Verständnis von Staatlichkeit, das auch in anderen Handlungsfeldern der politischen und raumbezogenen Planung beobachtet werden kann. Kaufmann (1994) sieht als Ausgangspunkt für diese Entwicklung die zunehmende Zahl von Risiken und ein unkalkulierbares sowie nicht prognostizierbares Zusammenspiel verschiedener sozialer Systeme mit ihrer Umwelt. Die neue Aufgabe des Staates sei es, die Selbstorganisationskraft der Systeme zuzu144 Zum Zusammenhang von adaptive governance und Lernprozessen vgl. insbesondere Armitage, Marschke, Plummer 2008, zur Rolle von sozialem Lernen im Rahmen von Wassermanagement vgl. Pahl-Wostl et al. 2007a; Pahl-Wostl et al. 2007b.
6.1 Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement
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lassen und gleichzeitig etwaige schädliche Dynamiken steuernd in Grenzen zu halten. Für Staat und Verwaltung ergeben sich daraus zwei grundlegende Aufgaben: die eigene Steuerungsfähigkeit zu flexibilisieren, um sie den eintretenden Überraschungen anzupassen, und den Zeit- und Sachhorizont der Steuerung auszuweiten. Mayntz (2004) sieht in diesem Veränderungsprozess zwei Entwicklungsrichtungen:
Prozesse werden zunehmend nicht mehr nur von staatlichen, sondern auch von nicht-staatlichen Akteuren gesteuert; Es entstehen institutionelle Regelungen und Rahmenbedingungen, die nicht nur staatliche Normen und Regeln sondern auch andere Regelungsstrukturen umfassen und dementsprechend das Handeln der Akteure ermöglichen oder begrenzen.
Diese beiden Erweiterungen des klassischen Steuerungs- bzw. Staatsverständnisses im Sinne einer akteurszentrierten Steuerung und einer Multilevel-Governance lassen sich auf die empirische Beobachtung einer sich in der Region MuldeMündung etablierenden resilienten Risikokultur übertragen, die es ermöglicht, auf Störungen und Überraschungen zu reagieren. Intermediäre Organisationen und bürgerschaftliche Akteure auf kommunaler Ebene initiieren, koordinieren und setzen Aktivitäten einer Hochwasservorsorge um und ergänzen damit staatliche Zuständigkeiten. Parallel dazu wurde Eigenvorsorge und Partizipation im Hochwassermanagement auch im Rahmen der Gesetzesinitiativen auf Bundesund EU-Ebene rechtlich gestärkt.145 Lebel et al. (2006) assoziieren mit einem auf Resilienz ausgerichteten normativen Governance-Konzept konstitutive Bestandteile wie Partizipation, Empowerment, soziale Gerechtigkeit, Aushandlung, diskursive Legitimität und Verantwortungsübernahme. Mit ähnlichen normativen Bezügen entwickeln Brunner et al. (2005) auf Basis von Fallstudien das Konzept des adaptive governance weiter. Es beschreibt eine Ergänzung der staatlichen Regulierung von Mensch-Natur-Verhältnissen, die auf in den (Natur-)Wissenschaften erarbeitete Managementstrategien (scientific management) zurückgreifen, durch eine zivilgesellschaftlich initiierte Regulierung, die sich aus vielfältigen lokalen sowie
145 Eine Veränderung der Governance-Strukturen im Umgang mit Hochwasser wird auch durch jüngste Veränderungen der staatlichen und EU-Gesetzgebung weiter unterstützt (vgl. Kap. 5.5.4). Greiving und Fleischhauer (2008) plädieren für eine noch engere Verschränkung einer auf Resilienz zielenden Steuerung mit formellen Regulationsinstrumenten, wenn sie fordern, die Erhaltung und Steigerung der Resilienz der Gesellschaft als Ziel der Raumordnung in das Bundesraumordnungsgesetz aufzunehmen (vgl. ebd., 63).
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6 Reflexionen
überregionalen Akteurskonstellationen zusammensetzt (adaptive governance).146 Diese Ergänzung der Governance-Strukturen, so die Argumentation, verbessert die Anpassungsfähigkeit an Veränderungen (z. B. durch Störungsereignisse, neue Unsicherheiten, institutionellen Wandel etc.). Sie erfordern aber auch eine intensivere Koordination der Governance-Strukturen. Auf Basis der empirischen Ergebnisse sind drei Faktoren relevant: Integration zivilgesellschaftlicher Akteure in die Steuerungsstrukturen, Realexperimente und eine Flexibilisierung formeller Planungsverfahren. Integration zivilgesellschaftlicher und intermediärer Akteure Ein zunehmendes Engagement von zivilgesellschaftlichen und lokalen Akteuren in Handlungsfeldern des Hochwassermanagements lässt sich auch in der Region Mulde-Mündung beobachten. Ebenso wie in anderen empirischen Untersuchungen von hochwasserrelevanten Maßnahmen hat sich gezeigt, dass bestehende Netzwerke und Kooperationen die Basis für erfolgreiche Governance-Strukturen sein können (vgl. u. a. Rhodius 2006; Zaugg Stern 2006; Monstadt 2008b). Insbesondere durch die Herausforderungen von unvorhergesehenen bzw. nicht erwarteten Extremsituationen entstanden neue Kooperationen, die sich nach der Phase der akuten Bewältigung verfestigten. Daraus ergibt sich für eine unterstützende staatliche Steuerung die Herausforderung, bestehende Netzwerke und die Gründung neuer Kooperationen zu fördern und in existierende GovernanceStrukturen einzubinden, um z. B. die Synergien zwischen Hochwasserschutz und anderen Raumnutzungen flexibel zu gestalten. Die stärkere Rolle nicht-staatlicher Akteure und der damit verbundenen Regelungsstrukturen im Umgang mit Hochwasser etabliert sich jedoch auch unabhängig von einzelnen Extremereignissen. So übernehmen zunehmend intermediäre Institutionen der Zivilgesellschaft die Projektierung und Durchführung von Maßnahmen im vorsorgenden Umgang mit Hochwasser. In der Region MuldeMündung führt beispielsweise eine Naturschutzstiftung eine Deichrückverlegung und die Renaturierung von Überschwemmungsflächen durch. Dieses Projekt reagierte nicht auf ein Extremereignis, sondern wurde bereits in den 1990er Jahren als Teil eines nachhaltigen Flussgebietsmanagements konzipiert. Auch in anderen Regionen und Flussgebieten übernehmen Umwelt- und Naturschutzverbände Schlüsselpositionen in Renaturierungsprozessen (vgl. Kap. 5.5.4). Oft sind diese Projekte mit eigenen finanziellen Mitteln ausgestattet, die der lokalen 146 Die Autor/innen arbeiten mit einer idealisierten dichotomen Gegenüberstellung von scientific management und adaptive governance entlang ähnlicher Konzepte, z. B. die Leitbilder eines technischen Hochwasserschutzes und eines vorsorgenden Hochwassermanagements (vgl. Kap. 2.3.1; vgl. Brunner et al. 2005, 33).
6.1 Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement
227
Fachverwaltung alleine nicht zur Verfügung ständen (z. B. EU-Mittel, Förderungen aus Bundesmitteln, Mittel des Naturschutzes). Kommunale Zweckverbände oder Vereine als intermediäre Institutionen entstehen auch in anderen Bereichen des Hochwassermanagements, z. B. als Trägerschaften für die Koordinierung der überregionalen Zusammenarbeit zwischen kommunalen Akteuren, in Form einer Hochwasserpartnerschaft, Nothilfegemeinschaft oder bei der Organisation des lokalen Katastrophenschutzes. Diese neuen Akteure sind auf eine enge Zusammenarbeit mit der fachlichen, lokalen und föderalen Verwaltung angewiesen. Für die politische und staatliche Steuerung ergibt sich also eine Koordinierungsfunktion dieser vielfältigen, von neuen intermediären Institutionen getragenen Aktivitäten. Eine Aufgabe zukünftiger sozialwissenschaftlicher Forschung über Naturgefahren besteht darin, zu untersuchen, wie sich die Regelungs- und die Wertstrukturen, die diesen neuen Akteurskonstellationen zugrunde liegen, verändern (vgl. Sabatier, Jenkins-Smith 1993). Realexperimente als Regulationsstrategie Im Umgang mit Hochwasser müssen die handelnden Akteure mit Nichtwissen oder unsicherem Wissen über Hochwasserentstehung, Verlauf, Konsequenzen und Gegenmaßnahmen umgehen (vgl. Kap. 2.2.1 und Kap. 5.5.2). Dies ist eng mit ungeplanten Entwicklungen verbunden, die ein Extremereignis auslösen kann. Eine Strategie, um Prozess- und Entscheidungswissen über das Ungewollte und Unregulierte zu entwickeln, besteht darin, Realexperimente zuzulassen oder zu initiieren. Groß, Hoffmann-Riem und Krohn (2005) verstehen Realexperimente in ihrem Konzept als Experimente innerhalb der Gesellschaft, bestehend aus experimentellen Praktiken, deren Rahmenbedingungen nur zum Teil festgelegt werden können und deren Wissensbasis Lücken aufweist. Die Ergebnisse von Realexperimenten sind nicht voraussagbar, der Verlauf kann nur teilweise modelliert und simuliert werden. Sie stellen keine endgültigen Lösungen dar, sondern sind als Prozesse ständigen Anpassens zu verstehen. In dieser Form gewinnen experimentelle Praktiken, so die Autoren, in zahlreichen sozialökologischen Problemfeldern an Bedeutung: „Das Experimentieren unter Unsicherheit wird höchstwahrscheinlich eine der bestimmenden Eigenschaften von Entscheidungen in den Gesellschaften der Zukunft“ (Groß, Hoffmann-Riem, Krohn 2005, 74).147
147 Auch Weichselgartner (2006) weist darauf hin, dass angesichts des globalen Wandels und seiner Auswirkungen auf sozial-ökologische Gefährdungslagen die Wissensproduktion zur Minderung und Vorsorge von Extremereignissen an die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen angepasst werden muss (Vgl. ebd., 24).
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6 Reflexionen
Gerade im Rahmen eines vorsorgenden Hochwassermanagements nimmt die Relevanz dieser Entscheidungspraxis und Planungskultur zu. Insbesondere bei der Implementation von Auenrenaturierungen gibt es angesichts der hohen räumlichen Komplexität und zeitlichen Dynamik von Vorsorgestrategien im Umgang mit Hochwasser zahlreiche Unsicherheiten und Wissenslücken (vgl. Moss, Monstadt 2008). Pilotprojekte, wie die Deichrückverlegung im Lödderitzer Forst, weisen den Charakter eines solchen Realexperimentes auf. Wissen wird in der Planung und Realisierung des Projektes angewandt und gleichzeitig erzeugt. Deutlich wird im Lödderitzer Forst allerdings auch, dass die Legitimation von Realexperimenten als Teil einer neuen Planungskultur nicht unproblematisch ist. Teile der Bevölkerung und der lokalen Politik sehen genau diesen experimentellen Charakter des Projektes als Pilotvorhaben sehr kritisch und protestieren mitunter vehement gegen das Projekt. Groß, Hoffmann-Riem und Krohn (2005) nennen einige Bedingungen, unter denen die Legitimität von Realexperimenten gegeben ist. Eine Voraussetzung sei, dass es sich um anwendungsorientierte Lösungen von Problemen handelt, die anders nicht angemessen gelöst werden können. Auch die Beteiligung der Öffentlichkeit an Realexperimenten müsste als Rahmenbedingung eines rekursiven, kollektiven Lernprozesses gewährleistet sein. Böschen und Weis (2007, 170 ff.) plädieren daher dafür, zukunftsrelevante Entscheidungen, in denen Nichtwissen überwiegt, auf eine gesellschaftlich breit ausgehandelte Basis zu stellen. Sie führen das Konzept der Gestaltungsöffentlichkeiten ein, die Entscheidungen unter Uneindeutigkeit mitgestalten sollen. Durch die direkte Einbindung der betroffenen Öffentlichkeit in die Gestaltung der experimentellen Vorsorge und Bewältigung kann verhindert werden, dass Realexperimente als „Interventionen von außen“ realisiert oder wahrgenommen werden (vgl. Böschen, Weis 2007; Groß, Hoffmann-Riem, Krohn 2005).148 Weiterhin zentral für die Erprobung von neuen Lösungen und für die experimentelle Generierung von Prozess- und Entscheidungswissen ist, dass entsprechende Bedingungen gesetzt werden, die es ermöglichen, bei Fehlentwicklungen schnell einzugreifen und bei Erfolg Lernprozesse zu bewirken.149 Monitoring und Evaluation sind daher zentrale und unabdingbare Bestandteile mittel- und langfristiger Vorsor148 Dass solche Interventionen die Anpassungsfähigkeit der betroffenen Bevölkerung sogar einschränken können, lässt sich mitunter bei der klassischen Katastrophenhilfe nachvollziehen (vgl. Felgentreff, Dombrowsky 2008; Bollin 2008). Felgentreff und Dombrowsky (2008) gehen sogar so weit, Interventionen der Katastrophenhilfe insbesondere in Entwicklungsländern einen katastrophenträchtigen Charakter zuzuweisen, wenn sie nicht lokale Akteure in die Gestaltung von Maßnahmen einbinden (vgl. ebd., 25). 149 Eine Basis bieten Kriterien, die für die von Nichtwissen geprägte Technik- und Stoffbewertung formuliert wurden: „Revidierbarkeit“ (Fehlerfreundlichkeit), „Eingriffstiefe“, „Sophistication“ (elegante Lösungen) und „Flexibilität“ (vgl. von Gleich 1999).
6.1 Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement
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gemaßnahmen. Für deren auf Prozesse unter Nichtwissen angepasste Ausgestaltung besteht allerdings noch weiterer Forschungs- und Entwicklungsbedarf (vgl. auch Kuhlicke, Kruse 2009). Flexibilisierung der formellen Planungsverfahren Seit einer intensiven Theoriediskussion in den 1990er Jahren wird räumliche Planung zunehmend als prozesshaftes Vorgehen und als interaktiver sowie iterativer Erarbeitungsprozess verstanden. Sie soll mit flexiblen Instrumenten auf Veränderungen ihrer Ausgangsbedingungen schnell und situationsgerecht reagieren (vgl. u. a. Forester 1984; Ritter 1998, 18 ff.; Kaufmann 1994). Dies gilt besonders für die Reaktion auf schwer prognostizierbare Entwicklungen und überraschende Störungen. Für die normative Dimension ist zentral, wie ein vorsorgendes Hochwassermanagement flexibel gestaltet werden kann, sodass es adaptive governance fördert. In der Region Mulde-Mündung wurde diese in Planungskontexten oft gestellte Frage folgendermaßen formuliert: Sollen Planungsverfahren im Sinne einer effizienten Planung beschleunigt werden, indem die Partizipation verschiedener Akteure begrenzt wird, um auf diese Weise schneller auf akute Veränderungen reagieren zu können (Beschleunigungsplanung)? Oder wird gerade durch die Beteiligung von vielfältigen Akteuren die Planung effizienter und anpassungsfähiger (partizipative Planung)? In Sachsen-Anhalt entschied die Landesregierung als Reaktion auf das Hochwasser 2002, die Durchführung von Genehmigungsverfahren bei der Sanierung von Deichen zeitweilig auszusetzen, um die Umsetzung zu beschleunigen. Nach einer konfliktreichen Anfangsphase gingen die für Hochwasserschutz zuständigen Planer/innen zum Teil dazu über, trotz der temporären Aussetzung der formellen Beteiligung die betroffenen Akteure in einen informellen Aushandlungsprozess einzubeziehen. Ziel war dabei, Konflikte zu begrenzen, aushandelbar zu machen und Blockadehaltungen zu vermeiden. Dadurch sollten effizientere Lösungen erreicht werden, die dann auch in der Implementation die Akzeptanz, wenn nicht sogar Unterstützung möglichst vieler Akteure erhalten. Auch sollte durch deren Einbeziehung eine breitere Legitimität der Sanierungsplanung erreicht werden. Der Einsatz von informellen Planungsprozessen, in denen eine Vielzahl von heterogenen Akteuren an Entscheidungen beteiligt wurde, hat sich in dem untersuchten Fall in der Region Mulde-Mündung in Einzelfällen bewährt. Ähnliche Ergebnisse sind auch in anderen Hochwasserprojekten dokumentiert worden (vgl. Rhodius 2006). Zentrale Fragen bei der Flexibilisierung von Planungsprozessen durch informelle Aushandlungsprozesse bleiben allerdings bestehen: Wie werden (demokratische) Teilhabemöglichkeiten gewährleistet, wer erhält in
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6 Reflexionen
solchen informellen Prozessen die Deutungshoheit und wie wird das Verhältnis von formeller und informeller Planung gestaltet? Diese Fragen gilt es in der weiteren konzeptionellen Erarbeitung von anpassungsorientierten GovernanceKonzepten und flexiblen Planungsinstrumenten zu berücksichtigen (vgl. Lebel et al. 2006; Brunner et al. 2005; Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007, 139 ff.). 6.2 Reflexion des theoretischen und methodologischen Analyserahmens Für die Analyse der Veränderungsprozesse im Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung wurden zwei theoretische Zugänge gewählt und zusammengeführt: ein sozial-ökologischer und ein räumlicher Zugang. Mit dem sozial-ökologischen Zugang lässt sich der Umgang mit Hochwasser als Ausdruck gesellschaftlicher Naturverhältnisse konzipieren. Das Phänomen Hochwasser wird dabei als Wechselwirkung aus natürlichen und gesellschaftlichen Prozessen interpretiert. Der Umgang mit Hochwasser ist in diesem Verständnis sowohl von natürlichen als auch von gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst. Dieses Verständnis ermöglicht, die Problematik nicht auf einen dualistischen Umwelt-Mensch-Wirkungsmechanismus zu reduzieren, sondern als interdisziplinäre und intersektorale Herausforderung für eine Vielzahl von gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Akteuren aufzufassen (vgl. insbesondere Becker, Jahn 2006c; Jahn, Wehling 1998; ausführlich Kap. 3.2). Der räumliche Zugang fokussiert vor dem Hintergrund eines relationalen Raumverständnisses vor allem auf die Interaktionen und die daran beteiligten Elemente im Raum. Nach diesem Verständnis konstituiert sich Raum mehrdimensional und dynamisch. Raum ist weder ‚Behälter’ noch soziales Konstrukt. Vielmehr setzt sich Raum aus sowohl materialen Elementen und Prozessen als auch aus normativen Grundlegungen, sozialen Aktivitäten sowie symbolischen und kulturellen Interpretationen zusammen (vgl. insbesondere Läpple 1991b; Sturm 2000; Löw 2001; ausführlich Kap. 3.3). Da Hochwasser ein räumlich wirksames Phänomen ist, das umfassend nur im Kontext des gesamten Flussgebietes und der darin wirksamen natürlichen, normativen, sozialen und kulturellen Prozesse erfasst werden kann, bedurfte es der Zusammenführung dieser beiden Forschungsperspektiven in einem Analyserahmen. Daher wurde ein methodologisches Untersuchungskonzept formuliert, das sozial-ökologische Raumkonzept, das Analyseelemente aus der Sozialen Ökologie und den Raumwissenschaften verbindet (vgl. Kap. 3.4). Die Reflexion dieser Forschungsperspektive, also des theoretischen Zugangs und des methodologischen Analyserahmens, wird in diesem Kapitel
6.2 Reflexion des theoretischen und methodologischen Analyserahmens
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entlang folgender Gesichtspunkte strukturiert: der Kontextualität und Wissensproduktion, der Multidimensionalität des sozial-ökologischen Raumkonzeptes, der Rolle von Materialität und Symbolik, den Raum-Zeit-Zusammenhängen und der Übertragbarkeit auf andere Anwendungsbereiche. Ziel der Reflexion ist es, aufgrund der empirischen Analyse im Handlungsfeld Hochwasser Rückschlüsse für das sozial-ökologische Raumkonzept als untersuchungsleitendes Konzept zu ziehen. Im Vordergrund stehen sowohl Stärken und Potenziale des Ansatzes als auch Grenzen sowie weiterer Anpassungs- und Forschungsbedarf. 6.2.1 Kontextualität und Wissensproduktion Die empirische Untersuchung des Hochwassermanagements in der Region Mulde-Mündung verdeutlicht, dass eine Betrachtung von Naturkatastrophen nicht auf die hydrologische Rekonstruktion der Wasserabflüsse oder die ökonomische Erfassung von Schadenswerten beschränkt sein kann, sondern auch deren Kontextualität herausarbeiten sollte (vgl. auch Weichselgartner 2006, 24). Komplexe Zusammenhänge zwischen natürlichen und gesellschaftlichen Dynamiken und Reaktionsmustern wurden in der Hochwasserforschung und im Hochwassermanagement bislang ungenügend berücksichtigt. So genannte Naturkatastrophen wurden selten als integraler Bestandteil eines Gesamtkontextes – der NaturGesellschaft-Beziehung – verstanden, sondern vielmehr als Wirkungsresultat von singulären Ursachen. Sind Vorsorgekonzepte allein auf die auslösenden Prozesse, z. B. auf ein hohes Abflussaufkommen aufgrund extremer Niederschläge, gerichtet, so übersehen sie Gesellschaftsstrukturen, die maßgeblich für die Verwundbarkeit im Schadensfall verantwortlich sind, z. B. die Minderung des Wasserrückhalts durch Entwaldung in den Hochwasserentstehungsgebieten oder der Bau sensibler Infrastrukturen in potenziellen Überschwemmungsgebieten. Die Aufmerksamkeit für diese sozial-ökologischen Zusammenhänge ist in den vergangenen Jahren jedoch gestiegen. Katastrophale Ereignisse sind für Weichselgartner (2006) ein „Beleg für Wissen, dessen Gültigkeitsdatum abgelaufen ist“ (ebd., 23). Er argumentiert, dass „insofern (…) für eine wirkungsvolle Minderung von Naturkatastrophen auch Prozesse der Wissensproduktion verbessert (…) werden [müssen]. Der globale Wandel mit seinen Auswirkungen zwingt uns zu einer neuen Theoretisierung des Verhältnisses von Kultur und Raum“ (ebd., 24). Das sozial-ökologische Raumkonzept als Untersuchungskonzept für den Umgang mit Naturgefahren greift genau diese Kritik an reduktionistischen Konzeptualisierungen auf, indem es die Kontextualität von Prozessen berücksichtigt.
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Felgentreff und Dombrowsky (2008) kritisieren eine Naturgefahrenforschung, die historische Ursachen, Langzeitfolgen und andere Auswirkungen, die außerhalb des Betrachtungsspektrums liegen, ignoriert. Sie verweisen darauf, dass diese Herausforderungen nur durch mehrere Disziplinen bearbeitet werden können. Weichselgartner (2006) erweitert diese Kritik um die Forderung nach einer politisch, sektoral und disziplinär übergreifenden Risikovorsorge, um mit funktionalen Ungewissheiten im Rahmen von Naturgefahren umgehen zu können (ebd., 22). In der vorliegenden Arbeit wurde mit dem sozial-ökologischen Raumkonzept ein interdisziplinärer Forschungsansatz entwickelt.150 Es wurde gezeigt, dass eine multidimensionale Bearbeitung des Themas möglich ist, die die verschiedenen Handlungsfelder eines vorsorgenden Hochwassermanagements intersektoral verbinden und kontextualisieren kann. 6.2.2 Multidimensionalität Die methodologisch angelegte Multidimensionalität des sozial-ökologischen Raumkonzeptes ermöglicht es, Themenfelder differenziert zu analysieren. Die vier Dimensionen – materiale Gestalt, normative Regulation, soziales Handeln und kultureller Ausdruck – stellen jeweils unterschiedliche Analyseperspektiven dar. Auf diese Weise wird die Analyse nicht auf eine Dimension oder zwei sich dualistisch gegenüberstehende Aspekte beschränkt, sondern folgt einem multidimensionalen Zugang. In den untersuchten Handlungsfeldern des Hochwassermanagements – strategische Hochwasserschutzplanung, Renaturierung der Überschwemmungsbereiche und bürgerschaftliches Engagement – konnten mit Hilfe des sozial-ökologischen Raumkonzeptes Komplexität analytisch reduziert und gleichzeitig vielfältige Kontextfaktoren des gesellschaftlichen Veränderungsprozesses erfasst werden. Die durch das Raumkonzept gestützte analytische Reduktion der Komplexität ermöglichte ein differenziertes Bild des Veränderungsprozesses innerhalb der einzelnen Fallstudien und der Zusammenführung der Ergebnisse. Insofern ermöglicht das sozial-ökologische Raumkonzept eine Komplexitätsreduktion des Analysegegenstands, ohne dessen Vielschichtigkeit zu stark zu vereinfachen und Zusammenhänge naturalistisch oder konstruktivistisch zu reduzieren. Durch die analytische Trennung in vier Raumdimensionen wurde in der empirischen Analyse der Fallstudien deutlich, dass die den räumlichen Kontext und gesellschaftlichen Umgang mit Hochwasser konstituierenden 150 Dass Raum als methodologisches Konzept auch in der interdisziplinären Zusammenarbeit in einem Team dienen kann, zeigen die Forschungen des Projektes „Blockierter Wandel? Denkund Handlungsräume für eine nachhaltige Regionalentwicklung“ (vgl. Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007).
6.2 Reflexion des theoretischen und methodologischen Analyserahmens
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Faktoren in enger Wechselwirkung miteinander stehen (vgl. Kap. 5.2–5.4). Diese Wechselwirkungen lassen sich durch ausführliche Fallbeschreibungen erfassen und systematisieren.151 6.2.3 Verhältnis von Materialität und Symbolik In der Analyse von Naturgefahren und Naturgefahrenmanagement nimmt die Dimension der materialen Gestalt eine Sonderstellung ein. Materielle Raumelemente in Form von extremen natürlichen Prozessen setzen einschneidende Impulse in der Raumentwicklung. Materiell-physische Bauten wie Deiche stellen zentrale Schutzinstrumente dar und materielle Güter wie Häuser, Siedlungen und Infrastruktur sind oftmals Schadensobjekte (vgl. Wilford 2008). Die Materialität des Raumes wird jedoch immer auch mit Symboliken und Bedeutungen belegt. Felgentreff und Glade (2008) weisen darauf hin, dass der Naturverweis im Zuge von schadenbringenden Naturereignissen, so genannten „Naturkatastrophen“, oft eine „leicht durchschaubare Entlastungsfunktion besitzt“, in der sich Menschen ihrer Verantwortung entziehen (vgl. ebd., 3). Konstruktivistische Positionen der Hazardforschung verstehen Natur sogar immer als kulturell gedeutete Natur, die zwar als Determinante von Gefahren gesehen wird, nicht jedoch als „Natur, wie sie wirklich ist“ (Felgentreff, Dombrowsky 2008, 18). Das sozial-ökologische Raumkonzept verfolgt durch die Mehrdimensionalität einen vermittlungstheoretischen Zugang, der weder soziozentrisch, noch naturalistisch argumentiert. Es löst sich damit von dichotomen Gegenüberstellungen von Natur vs. Gesellschaft oder von Naturkatastrophe vs. menschen-gemachter Katastrophe, wie sie in der frühen geografischen Hazardforschung verfolgt wurden (vgl. Felgentreff, Dombrowsky 2008). Vielmehr verfolgt das sozialökologische Raumkonzept eine erkenntnistheoretische Perspektive, in der der Materialität von Extremereignissen und der räumlichen Umwelt genauso Rechnung getragen wird wie deren kultureller Deutung, den institutionellen Rahmenbedingungen sowie dem gesellschaftlichen und individuellen Handeln. Die besondere Rolle von Technik, die im Handlungsfeld Hochwasser den Dualismus von Natur und Gesellschaft ergänzt, wird durch diese Betonung der Materialität von Raum und deren Symbolik Rechnung getragen. Damit wird einem der Kritikpunkte am Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse begegnet, das technisch Elemente und Prozesse nicht in die dialektische Konstruktion von Natur und Gesellschaft integriert (vgl. Kap. 3.4). 151 Für die analytische Systematisierung der Wechselwirkungen schlägt Sturm (2000) diagonale, vertikale und horizontale Achsen zwischen den Raumquadranten vor (vgl. ebd., 195).
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6.2.4 Raum-Zeit-Zusammenhang Raum und Zeit stehen in engem Zusammenhang und prägen als grundlegende Dimensionen sozial-ökologische Handlungsfelder (vgl. u. a. Hofmeister, Spitzner 1999; Held, Geißler 2000; Held, Kümmerer 2004; Vinz 2005). Sowohl das Raumkonzept in seiner Ausformulierung durch Sturm (2000) als auch das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse (vgl. Jahn, Wehling 1998) integrieren die zeitliche Dimension, indem beide die Wechselbeziehung der Raumelemente sowie der natürlichen und gesellschaftlichen Faktoren als veränderbar und historisch konstituiert verstehen.152 Durch diesen dynamischen Charakter des sozial-ökologischen Raumkonzeptes können insbesondere Veränderungs-, Entwicklungs- und Transformationsprozesse untersucht werden. Gerade im Problemfeld Hochwasserschutz haben sich sowohl die zeitlichen Prozesse als auch die räumlichen Zusammenhänge als zentral erwiesen (vgl. auch Kap. 6.1). Für die Ebene des Raumes bietet das sozial-ökologische Raumkonzept vier Dimensionen zur Differenzierung an, die miteinander in Beziehung stehen. Für die Zeitebene wurde im Rahmen dieser Arbeit auf die Unterscheidung von kurzfristigen, mittelfristigen und langfristigen Zeitspannen sowie auf rapides oder schleichendes Tempo der Veränderungen Bezug genommen. Diese Unterteilung bleibt noch recht undifferenziert. Insbesondere mit Bezug auf Konzepte der Katastrophenforschung könnte für Hochwasser hier differenzierter vorgegangen werden, indem spezifische Phasen (z. B. Bewältigungsphase, Wiederaufbauphase, Normalisierungsphase) und Rhythmen (z. B. Systemzeiten: Wiederkehrwahrscheinlichkeiten von Hochwasser, Planungszyklen) berücksichtigt werden. Diese müssten sowohl gesellschaftliche als auch natürliche Zeitskalen berücksichtigen und mit den Raumskalen in Verbindung bringen (vgl. Held, Kümmerer 2004, 121 ff.). Diese zeitlichen Differenzierungen für die empirische Forschung zu operationalisieren, wäre eine sinnvolle Erweiterung für ein sozialökologisches Raumkonzept, das grundsätzlich dem Raum-Zeit-Zusammenhang sowohl theoretische als auch methodologische Relevanz zuweist. Eine Grenze erreicht das sozial-ökologische Raumkonzept, wenn es um Veränderungsprozesse in der Zukunft geht. Es enthält kaum konzeptionelle
152 Sturm spricht hier von einer Zeitspirale, die den Zusammenhang von räumlichen und zeitlichen Faktoren repräsentiert (vgl. Sturm 2000, 199).
6.2 Reflexion des theoretischen und methodologischen Analyserahmens
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Bestandteile, die eine Prognose der räumlichen Veränderungsprozesse ermöglichen, könnte jedoch für die Szenarienformulierung weiterentwickelt werden.153 6.2.5 Anwendungsbereich und Übertragbarkeit Schließlich bleibt zu diskutieren, ob das sozial-ökologische Raumkonzept thematisch auf die Untersuchung von Hochwassermanagement und den Umgang mit Naturgefahren beschränkt ist oder ob es sich auch in anderen Problemfeldern der sozial-ökologischen Raumforschung anwenden lässt. Grundsätzlich lässt sich das Konzept auf Problemstellungen übertragen, in denen räumliche Zusammenhänge relevant werden. Dafür ist eine erkenntnistheoretische Perspektive notwendig, die ein relationales Verständnis von Raum und gesellschaftlichen Naturverhältnissen verfolgt. Dies beinhaltet, dass die Problemkonstellationen nicht als gegeben, sondern als historisch entstanden und veränderbar wahrgenommen werden. Wie bereits andere Forschungsarbeiten zeigen, unterstützt eine raumbezogene Dimensionierung auch die Analyse von Handlungsfeldern wie z. B. der nachhaltigen Regionalentwicklung (vgl. Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007), der Gestaltung des öffentlichen Raums in ländlichen Regionen und städtischen Strukturen (vgl. Thiem 2009; Breckner, Sturm 1997) oder dem Verhältnis von Natur und Wirtschaft in Biosphärenreservaten (vgl. Mölders 2009). Die vorliegende Arbeit leistet einen Beitrag zur Weiterentwicklung der sozialökologischen Raumforschung, indem sie einen konzeptionellen Ansatz für die Zusammenführung der Sozialen Ökologie und der Raumforschung erarbeitet und für die empirische Analyse operationalisiert. Im Forschungsprozess erfüllt das sozial-ökologische Raumkonzept verschiedene Funktionen. Es dient zum einen dazu, in empirischen Forschungsprozessen die Erhebung der Daten zu strukturieren, indem für die einzelnen Raumdimensionen und die Wechselwirkungen zwischen natürlichen und gesellschaftlichen Faktoren untersuchungsleitende Fragen formuliert werden (vgl. auch Sturm 2000, 202). Zum zweiten strukturiert es die Analyse der empirischen Daten, indem die mehrdimensionale Struktur des Raumkonzeptes und die erkenntnistheoretischen Grundlagen interpretative Schritte vorgeben. Zum dritten ermöglicht das sozial-ökologische Raumkonzept eine Systematisierung und Darstellung der Ergebnisse (vgl. Kap. 5.5 und Kap. 6.1). Durch die Fokussierung 153 Prognosen über zukünftige Entwicklung von natürlichen, räumlichen und gesellschaftlichen Strukturen stellen eine zentrale Voraussetzung für planerisches Handeln dar (vgl. Stiens 2005). Wie Prognosen jedoch unter Bedingungen hoher Unsicherheit methodisch und konzeptionell zu gestalten sind, unterliegt weiterhin intensiver Diskussion in der Raumforschung (vgl. Tietzel 1989; Scholles 2001). Eine räumliche und sozial-ökologische Erweiterung der Prognoseproblematik insbesondere für den Bereich des Naturgefahrenmanagements wäre gewinnbringend.
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der empirischen Analyse auf eine Untersuchungsregion und innerhalb dieser auf drei Fallstudien müssen die empirischen Ergebnisse immer innerhalb dieses Forschungsrahmens reflektiert werden. Ein Vergleich mit ähnlich oder anders gelagerten empirischen Arbeiten, ermöglicht die Kontrastierung und eine begrenzte Abstraktion der Ergebnisse (vgl. insbesondere Kap. 5.5 und Kap. 6.1). Die empirisch abgeleiteten Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement (vgl. Kap. 6.1) zeigen, dass mit Hilfe der Forschungsperspektive des sozial-ökologischen Raumkonzepts in analytischer Hinsicht qualitativ andere Ergebnisse hervorgebracht werden. Gleichzeitig wird jedoch auch deutlich, dass das sozial-ökologische Raumkonzept vor allem als untersuchungsleitendes Analysemodell wirkt. Es lassen sich keine normativen Schlussfolgerungen oder Empfehlungen aus dem Raumkonzept ableiten. Zur Hypothesen- und Lösungsgenerierung müssen andere Theorien und Konzepte herangezogen werden. Das sozial-ökologische Raumkonzept ermöglicht einen breiten Zugang, in dem die Komplexität des Handlungsfeldes zwar reduziert, nicht aber zugunsten einer einzelnen Dimension aufgelöst wird. Auch können unterschiedliche disziplinär erarbeitete Konzepte - in diesem Fall insbesondere aus der (Katastrophen-) Soziologie, der Sozialen Ökologie, der geografischen Naturgefahrenforschung und den raum- und umweltorientierten Planungswissenschaften – zusammengeführt werden. 6.3 Fazit „Nachhaltigkeit oder nach uns die Sintflut?“, oder anders gefragt: In welche Richtung entwickeln sich das Hochwassermanagement und der Umgang mit Flussgebieten? Diese zentrale Forschungsfrage ist verbunden mit dem Leitbild eines vorsorgenden Hochwassermanagements, das frühzeitig und vorausschauend auf Hochwasserereignisse reagiert, um extreme Schäden an Menschen, Besitztümern, Infrastruktur und Ökosystemen zu vermeiden oder zumindest zu vermindern. Durch die Erarbeitung der Problemstellung konnte festgestellt werden, dass dieses Leitbild im wissenschaftlichen und fachlichen Diskurs zwar gefordert wird, dessen konzeptionelle Ausarbeitung bisher jedoch vage bleibt (vgl. Kap. 2.2). Daher waren Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit die Fragen, was einen vorsorgenden Umgang mit Hochwasser ausmacht, was zentrale Bestandteile eines vorsorgenden Hochwassermanagements sind und wie sie sich erfolgreich umsetzen lassen. Die empirische Forschung in der Region Mulde-Mündung verfolgte also zwei Ziele:
6.3 Fazit
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Zum einen wurden die Veränderungsprozesse im Umgang mit Hochwasser rekonstruiert und analysiert. Es wurden zentrale Einflussfaktoren benannt, Phasen und Richtungen der eingeschlagenen Entwicklung analysiert, relevante Akteure mit ihren Handlungsspielräumen benannt und Rahmenbedingungen berücksichtigt (vgl. Kap. 5). Zum anderen wurden konzeptionelle Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement anhand der konkreten Problemsituationen und Lösungswege in der Region Mulde-Mündung erarbeitet (vgl. Kap. 6.1).
Forschungsprämissen und Forschungsrahmen Forschungsprämisse ist, dass Hochwasserereignisse Ursache einer komplexen Wechselwirkung von natürlichen Prozessen und anthropogener Einflussnahme sind. Der Umgang mit Hochwasser ist demnach Ausdruck von räumlich wirksamen und gesellschaftlich regulierten Naturverhältnissen. Die weltweite Zunahme an Extremereignissen und deren gesellschaftliche Auswirkungen zeigen, dass der Umgang mit Hochwasser in die Krise geraten ist. Gleichzeitig können die Extremereignisse jedoch auch als Impulsgeber wirken und Veränderungen auslösen. Mit Bezug auf die genannte Forschungsprämisse bezieht sich diese Arbeit einerseits auf die politik- und planungswissenschaftliche Frage nach den zentralen regulativen Faktoren, die eine Transformation von Politiken und Planungsstrategien im Umgang mit Hochwasser bestimmen. Andererseits ist diese Arbeit wissenschaftlich im Bereich der sozial-ökologischen Raumforschung verortet. Als Analyserahmen wurde ausgehend vom Konzept der gesellschaftlich regulierten Naturverhältnisse (vgl. insbesondere Jahn, Wehling 1998) und dem dynamischen Raummodell (vgl. Sturm 2000) ein sozial-ökologisches Raumkonzept erarbeitet. Ergebnis dieser konzeptionellen Zusammenführung ist ein Modell, das sozial-ökologische Problemlagen auf intendierte und nicht-intendierte regulative Faktoren hin untersucht, ohne dabei entweder naturalistische oder soziozentristische Raum- und Naturkonzeptionen zugrunde zu legen. Vielmehr beinhaltet das sozial-ökologische Raumkonzept eine zwischen diesen erkenntnistheoretischen Richtungen vermittelnde Raum- und Naturauffassung. Es ist in vier Raumdimensionen strukturiert: die Dimension der materialen Gestalt, des kulturellen Ausdrucks, des sozialen Handelns und der normativen Regulation. Dem zugrunde liegt ein historisch-dynamisches Verständnis des Raumwerdungsprozesses und damit auch der Veränderbarkeit von Mensch-NaturBeziehungen.
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Veränderungen in der Region Mulde-Mündung Die empirische Untersuchung in der Region Mulde-Mündung kommt zu dem Ergebnis, dass sich der Umgang mit Hochwasser in dem untersuchten Zeitabschnitt durchaus verändert. Es herrscht also weder Stillstand noch Desinteresse; von einem grundlegenden Paradigmenwechsel im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung, wie die eingangs gestellte Frage polarisierend nahe legt, kann jedoch ebenfalls nicht die Rede sein. Vielmehr ergibt sich ein differenziertes Bild mehrschichtiger Veränderungsprozesse: Einerseits kann ein inkrementeller Wandel, also eine kontinuierliche und kleinschrittig verlaufende Entwicklung zu einem vorsorgenden Hochwassermanagement beobachtet werden. Aspekte der Risikovorsorge, Flächen- und Verhaltensvorsorge und die ökologischen Funktionen des Flussgebietes werden zunehmend mit den gesellschaftlichen Schutzansprüchen und technischen Schutzmaßnahmen zusammengedacht und verbunden. Das Leitbild eines integrierten und vorsorgenden Umgangs mit Überschwemmungen gewinnt sowohl für professionelle Akteure als auch für die von Hochwasser betroffene Bevölkerung an Bedeutung. Andererseits setzt das extreme Hochwasserereignis von 2002 in diesem inkrementellen Prozess katalytische Impulse in zwei unterschiedliche Richtungen:
Kurzfristige Reaktionen auf das Extremereignis greifen überwiegend auf Maßnahmen und Strategien eines sektoralen, technischen Hochwasserschutzes zurück und basieren auf zentralen Steuerungsstrukturen. Eine Abstimmung mit mittel- und langfristiger Zielrichtung der Entwicklung findet in dieser akuten Bewältigung kaum statt. In mittel- und langfristiger Hinsicht fördert das extreme Hochwasserereignis allerdings Strategien und Maßnahmen, die einem vorsorgenden und integrierten Vorgehen entsprechen. Der Rückbezug auf die staatliche Steuerung des Hochwassermanagements wird wieder durch vielfältige GovernanceStrukturen ergänzt.
Die Integration der kurzfristig getroffenen Entscheidungen in ein längerfristiges Hochwassermanagement sowie die Koordination der komplexen GovernanceStrukturen werden zu zentralen Herausforderungen für die nächste Phase dieses stetigen Transformationsprozesses in der Region Mulde-Mündung sein.
6.3 Fazit
239
Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement Aus der Analyse lassen sich auf den folgenden vier Ebenen Anforderungen an die Konzeption und Umsetzung eines vorsorgenden Hochwassermanagements ableiten:
Auf der materiellen Ebene sind bei der Integration von natürlichen Prozessen, baulichen Maßnahmen und Schutz- und Nutzungsansprüchen sowohl räumliche als auch zeitliche Kontexte zu berücksichtigen. Es bietet sich dabei an, die räumlichen Problemdimensionen – problem of fit, problem of interplay und problem of scale (vgl. Young 2002) – auf das Handlungsfeld des Hochwassermanagements zu übertragen und um die zeitliche Dimension zu erweitern. Das bedeutet, räumliche und materielle Bedingungen des Flussgebiets und der Schutzinfrastruktur ebenso zu berücksichtigen wie die Probleme institutioneller Zuständigkeiten, Interaktionsprobleme und Probleme der Übertragbarkeit sowie die verschiedenen Phasen und Dynamiken vor, während und nach einem extremen Hochwasserereignis. Auf der Ebene des kulturellen Ausdrucks und der symbolischen Deutungen hat sich gezeigt, dass das Risikobewusstsein und die Deutung von Hochwasser als Bedrohung je nach Akteursgruppe sehr unterschiedlich ausfallen können. Diese Differenzen in den Deutungsmustern können Grundlage von Konfliktsituationen im Umgang mit Hochwasser sein. Die Konflikte werden bearbeitbar, wenn vorsorgendes Hochwassermanagement nicht nur wie bisher weitgehend üblich als Ablaufschema betrachtet wird, sondern vor allem als Resultat von Erfahrungen und Deutungsmustern. Extremereignisse können als Impulsgeber wirken, um bisherige Erfahrungs- und Erwartungshorizonte zu revidieren. Auf der Ebene des sozialen Handelns lässt sich die Risikokultur, also die kulturelle und gesellschaftliche Gestaltung von Risikostrategien und deren Umsetzung, an das Konzept der Resilienz anbinden. Dieses bezeichnet die Widerstandsfähigkeit, mit der eine Gesellschaft auf Krisensituationen und unvorhergesehene Störungen reagiert. Resilienz setzt einerseits eine Vorbereitung und Einsatzbereitschaft (preparedness) voraus, die auf akute Extremereignisse reagiert, ohne langfristige Strategien aus dem Blick zu verlieren. Andererseits gilt es, die mittel- und langfristige Anpassungsfähigkeit (adaptive capacity) als Schlüsselstrategie einer resilienten Risikokultur zu fördern. Grundlage dafür sind Aushandlungsprozesse zwischen den verschiedenen Akteuren, in denen lokale Ressourcen und Wertstrukturen mit den politischen und planerischen Handlungskonzepten verbunden werden,
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6 Reflexionen um robuste und realisierbare Strategien der Bewältigung und Vorsorge zu erarbeiten. Auf der Ebene der normativen Regulation bedarf es, anknüpfend an das Konzept der Resilienz, einer adaptive governance, also einer Steuerungsstruktur, die anpassungsfähig auf neue Situationen und Herausforderungen reagieren kann. Bestandteil ist zum einen eine effiziente Koordinierung der verschiedenen gesellschaftlichen, staatlichen und intermediären Aktivitäten im Umgang mit Hochwasser, die die staatliche Steuerung häufig erweitert. Zum zweiten gilt es, für den Umgang mit der zunehmenden Unsicherheit Realexperimente als regulierte Lösungsansätze zuzulassen. Die in Pilotprojekten und neuen Strategien im vorsorgenden Hochwassermanagement enthaltenen experimentellen Anteile bedürfen regulierender Bedingungen, um deren experimentelle Potenziale konstruktiv nutzen zu können. Drittens bedarf es für die Umsetzung einer adaptive governance einer Flexibilisierung der Planungsvoraussetzungen, um schnell und situationsgerecht auf sich ändernde Bedingungen (z. B. im Falle von Extremereignissen) reagieren zu können. Diese Flexibilisierung erfordert jedoch eine Einbettung in demokratische Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse.
Reflexionen des sozial-ökologischen Raumkonzeptes Die Analyse der Veränderung des Umgangs mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung und die Erarbeitung von konzeptionellen Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement lassen wiederum Rückschlüsse auf den gewählten Analyserahmen, das sozial-ökologische Raumkonzept, zu. In einem reflektierenden Resümee kann die Untersuchung mit Hilfe des sozialökologischen Raumkonzeptes durchaus als gewinnbringend eingeschätzt werden: Es vereinfachte zum einen auf der Ebene des Forschungsprozesses die Strukturierung des unterschiedlichen Datenmaterials (Dokumentenanalyse, Interviewanalyse, Planungsunterlagen) entlang der vier Dimensionen. Auch die Darstellung der Ergebnisse und die inhaltliche Diskussion der Teilergebnisse wurden durch das sozial-ökologische Raumkonzept geleitet. Zudem ermöglichte es, die Kontextualität von komplexen sozial-ökologischen Wechselwirkungen aufrechtzuerhalten. Durch die multidimensionale Anlage des Konzeptes konnte Komplexität reduziert und gleichzeitig eine Vielzahl von Kontextfaktoren der Veränderungsprozesse berücksichtigt werden. Es ermöglichte außerdem, sowohl die materiellen als auch die symbolischen Qualitäten von extremen Hochwasserereignissen zu berücksichtigen und räumliche sowie zeitliche Faktoren der Veränderungsprozesse zueinander in Beziehung zu setzen. Zur Formulierung von normativen Anforderungen an ein vorsorgendes Hochwassermanagement bedarf
6.3 Fazit
241
es jedoch der Verknüpfung mit anderen Theorien und Konzepte, die die Formulierung spezifischer konzeptioneller Empfehlungen zulassen.
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7.2 Gesetze BImschG, Bundes-Immissionsschutzgesetz vom 26.09.2002 (BGBl. I S. 3830), zuletzt geändert durch Gesetz vom 11.08.2009 (BGBl. I S. 2723). BNatSchG, Bundesnaturschutzgesetz vom 25.03.2002 (BGBl. I S. 1193), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.12.2008 (BGBl. I S. 2986). HWRRL, Richtlinie 2007/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2007 über die Bewertung und das Management von Hochwasserrisiken. LPlG LSA, Landesplanungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt vom 28.04.1998 (GVBl. LSA 1998, S. 255) zuletzt geändert durch Gesetz vom 19.12.2007 (GVBl. LSA S. 466). ROG, Raumordnungsgesetz vom 22.12.2008 (BGBl. I S. 2986), zuletzt geändert durch Gesetz vom 31.07.2009 (BGBl. I S. 2585). UVPG, Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung vom 25.06.2005 (BGBl. I S. 1757, 2797), zuletzt geändert durch Gesetz vom 11.08.2009 (BGBl. I S. 2723). WG LSA, Wassergesetz für das Land Sachsen-Anhalt vom 12.04.2006 (GVBl. LSA 2006, S. 248) zuletzt geändert durch Verordnung vom 07.10.2009 (GVBl. LSA S. 504). WHG, Wasserhaushaltsgesetz vom 19.08.2002 (BGBl. I S. 3245), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.12.2008 (BGBl. I S. 2986). WRRL, Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik.
Anhang: Liste der Interviewpartner/innen
Anonym. Kürzel
Funktion
Datum des Interviews
Typ, Bemerkungen
Hochwasserschutzkonzeption (Hsk) 1
HskMLU1
Vertreterin des MLU
29.01.2007
Expert/innenterview, transkribiert
2
HskMLU2
Vertreter des MLU
07.11.2007
Expert/innenterview, Gesprächsprotokoll
3
HskLHW1
Vertreter des LHW
26.03.2007
Expert/innenterview, teilweise transkribiert
Lödderitz (Lö) 1
LöWWF1a
Vertreterin des WWF, Projektleiterin
20.01.2004
Leitfadeninterview, teilweise transkribiert
2
LöWWF1b
Vertreterin des WWF, Projektleiterin
23.11.2005
Leitfadeninterview, teilweise transkribiert
3
LöWWF1c
Vertreterin des WWF, Projektleiterin
13.05.2008
Interview, Gesprächsprotokoll
4
LöBR1
Vertreter des Biosphärenreservats Mittlere Elbe
17. 05.2005 Leitfadeninterview, transkribiert, geführt von Babette Scurrell und Tanja Mölders
5
LöBR2
Vertreter des Biosphärenreservats Mittlere Elbe
16.08.2004
Leitfadeninterview, transkribiert
260
Anhang
6
LöBR3
Vertreter des Biosphärenreservats Mittlere Elbe
08.12.2006
Gruppendiskussion Workshop „Fließraum Elbe“, transkribiert
7
LöBI1
Vertreter der Bürgerinitiative Aken
31.03.2005
Gruppeninterview, transkribiert
8
LöBI2
Vertreter der Bürgerinitiative Aken
31.03.2005
Gruppeninterview, transkribiert
9
LöBI3
Vertreter der Bürgerinitiative Aken
31.03.2005
Gruppeninterview, transkribiert
1 0
LöAN1
Anwohner einer an die Deichrückverlegung grenzenden Ortschaft
08.12.2006
Gruppendiskussion Workshop „Fließraum Elbe“, transkribiert
1 1
LöAN2
Landwirt und Anwohner einer an die Deichrückverlegung grenzenden Ortschaft
08.12.2006
Gruppendiskussion Workshop „Fließraum Elbe“, transkribiert
Waldersee (Wa) 1
WaBI1a
Vertreterin Bürgerinitiative Hochwasserschutz Dessau
24.08.2004
Leitfadeninterview, transkribiert
2
WaBI1b
Vertreterin Bürgerinitiative Hochwasserschutz Dessau
22.11.2005
Leitfadeninterview, Gesprächsprotokoll
3
WaOB1a
Ortsbürgermeister DessauWaldersee
12.04.2005
Leitfadeninterview, transkribiert
4
WaOB1b
Ortsbürgermeister DessauWaldersee
23.08.2005
Leitfadeninterview, Gesprächsprotokoll
5
WaSR1
Vertreter des Stadtrats und Bewohner Dessaus
31.03.2005
Leitfadeninterview, transkribiert
Anhang
261
Allgemein Umgang mit Hochwasser in der Region Mulde-Mündung (Mm) 1
MmUAD1
Vertreterin Umweltamt Dessau,
10.12.2003
Exploratives Interview, transkribiert
2
MmKS1
Vertreter der Kulturstiftung Dessau-Wörlitzer Gartenreich
23.08.2004
Leitfadeninterview, transkribiert
3
MmB1
Biologe
24.08.2004
Exploratives Interview, transkribiert
4
MmLHW1a
Vertreter des LHW
12.04.2005
Leitfadeninterview, transkribiert
5
MmLHW1b
Vertreter des LHW
31.08.2005
Leitfadeninterview, Gesprächsprotokoll
6
MmUI1a
Vertreterin einer Umweltinitiative
17.08.2004
Leitfadeninterview, transkribiert
7
MmUI1b
Vertreterin einer Umweltinitiative
06.09.2005
Leitfadeninterview, Gesprächsprotokoll